Text und Emotion
Theorie, Methode und Anwendungsbeispiele emotionslinguistischer Textanalyse
1210
2014
978-3-8233-7910-2
978-3-8233-6910-3
Gunter Narr Verlag
Heike Ortner
Der Zusammenhang zwischen Sprache und Emotion wird in der Linguistik aus vielen verschiedenen Perspektiven untersucht. Dieser Band dient als Zusammenfassung des aktuellen Forschungsstandes zu dem komplexen Thema. Berücksichtigt werden Erkenntnisse aus verschiedenen Teildisziplinen, z.B. Semiotik, Lexikologie, Pragmatik, kognitive Linguistik und Textlinguistik. Im methodischen Teil wird gezeigt, wie eine emotionslinguistische Analyse emotive Strukturen in Texten offenlegt, wobei die vorgeschlagene Methode leicht an verschiedene Fragestellungen angepasst werden kann. Ihre Anwendung und empirische Überprüfung findet an sehr unterschiedlichen Textkorpora statt: Briefe von Franz Kafka als Beispiel für einen Individualstil sowie Nachrichtenartikel von verschiedenen Online-Plattformen als Beispiel für Medientexte.
Forschende, Lehrende und Studierende finden hier sowohl einen umfassenden Überblick über theoretische Grundlagen als auch Anregungen für die Anwendung in der eigenen Forschung und Lehre.
<?page no="0"?> Text und Emotion Theorie, Methode und Anwendungsbeispiele emotionslinguistischer Textanalyse Heike Ortner <?page no="1"?> Te TT xt und Emotion <?page no="2"?> Europäische Studien zur Textlinguistik herausgegeben von Kirsten Adamzik (Genf) Martine Dalmas (Paris) Jan Engberg (Aarhus) Wolf-Dieter Krause (Potsdam) Arne Ziegler (Graz) Band 15 <?page no="3"?> Heike Ortner Te TT xt und Emotion Theorie, Methode und Anwendungsbeispiele emotionslinguistischer Textanalyse <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 1860-7373 ISBN 978-3-8233-6910-3 <?page no="5"?> Vorwort Das vorliegende Buch ist eine aktualisierte, stark gekürzte und überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die 2011 an der Universität Innsbruck approbiert wurde. Die Änderungen betreffen nicht nur die Einarbeitung neuer Literatur und erhebliche Streichungen in allen Kapiteln, sondern auch grundlegendere Aspekte: Da die Analyse von Twitter-Tweets aus dem Jahr 2011 zum Zeitpunkt der Überarbeitung angesichts des schnellen Wandels im World Wide Web hoffnungslos veraltet war, musste dieses Kapitel aus dem empirischen Teil gestrichen werden. Aus Umfanggründen war eine Neubearbeitung nicht angezeigt. Ich habe jedoch Beiträge zur Emotivität in der Online-Kommunikation verfasst, die diese Lücke teilweise schließen können (vgl. Ortner 2011c, 2013). Die Dissertation in ihrer ursprünglichen Fassung sei jenen empfohlen, die an einer detaillierteren Aufarbeitung aller Einzelthemen und linguistischen Porträts zu diversen Emotionsqualitäten interessiert sind. Für die finanzielle Unterstützung hinsichtlich der Druckkosten danke ich folgenden Institutionen: der Universität Innsbruck bzw. der Dr. Otto Seibert- Stiftung für die Verleihung des Dr. Otto Seibert-Preises zur Förderung wissenschaftlicher Publikationen 2013 sowie dem Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung (heute Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft) für die Zuerkennung des Würdigungspreises 2012. Dem Narr Francke Attempto Verlag und insbesondere Herrn Tillmann Bub bin ich sehr dankbar für die reibungslose, professionelle und angenehme Zusammenarbeit. Außerdem drücke ich hiermit allen Personen, die mich während der Dissertationsphase und bei der Überarbeitung kräftig unterstützt haben, meinen herzlichsten Dank aus: Es sind dies vor allem Frau Ao. Univ.-Prof. Dr. Lorelies Ortner und Herr Univ.-Prof. Dr. Thomas Schröder, die meine Dissertation betreut und mich auch danach immer wieder beraten haben, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Instituts für Germanistik an der Universität Innsbruck, meine Familie und treue Freundinnen und Freunde, die sich auch ohne namentliche Erwähnung angesprochen fühlen werden. <?page no="7"?> Inhaltsverzeichnis Vorwort................................................................................................................ V 1 - Einleitung.......................................................................................................1 2 - Emotionen im Spiegel der Emotionsforschung ............................................5 2.0 - Ziele dieses Kapitels................................................................................................... 5 2.1 - Annäherungen an den Terminus Emotion............................................................ 5 2.1.1 Alltagspsychologische Vorstellungen......................................................... 6 2.1.2 Disziplinen, Fragestellungen und Methoden ............................................ 8 2.2 - Zum Problem der Emotionsdefinition .................................................................13 2.2.1 Überblick ......................................................................................................13 2.2.2 Abgrenzung von anderen Termini ...........................................................16 2.2.3 Die Ordnung der Emotionen ....................................................................21 2.3 - Aspekte von Emotionen: Streiflichter...................................................................25 2.3.1 Emotion und Individuum ..........................................................................25 2.3.2 Evolution und Funktionen von Emotionen ............................................28 2.3.3 Verhalten, Ausdruck und Handlungen....................................................29 2.3.4 Physiologische Parameter ..........................................................................32 2.3.5 Kognitive Komponente ..............................................................................35 2.3.6 Soziale, kulturelle und historische Bedingungen ....................................40 2.4 - Zusammenfassung...................................................................................................42 3 - Sprache und Emotion: Ein Forschungsüberblick .......................................45 3.0 - Ziele dieses Kapitels.................................................................................................45 3.1 - Ausgangslage ............................................................................................................46 3.1.1 Die (Un-)Mitteilbarkeit des Gefühls ........................................................46 3.1.2 Von der Abwertung zur Anerkennung ....................................................47 3.2 - Theoretische Perspektiven im Überblick .............................................................50 3.2.1 Linguistische Disziplinen und Fragestellungen ......................................51 3.2.2 Emotionslinguistik: Integrativer oder partitiver Zugang? .....................52 3.2.3 Funktionale Gesichtspunkte ......................................................................53 3.2.4 Definitionen: Emotional, emotiv, expressiv, evaluativ ..........................60 3.2.5 Beschreibung emotiver Bedeutung ...........................................................65 3.3 - Wirkungen und Wechselwirkungen: Sechs Thesen ...........................................94 3.4 - Zusammenfassung.................................................................................................103 4 - Emotion, Kognition und Sprache ............................................................. 105 4.0 - Ziele dieses Kapitels...............................................................................................105 4.1 - Kognitive Prozesse, Sprache und Emotionen....................................................105 4.1.1 Sprachrezeption: Verarbeitung und Emotionalisierung......................106 <?page no="8"?> Inhaltsverzeichnis VIII 4.1.2 Sprachproduktion: Modelle und Anwendung ......................................111 4.2 - Linguistische Konzepte von Emotionen ............................................................123 4.2.1 Emotionale Repräsentationen, Kategorien und Konzepte ..................124 4.2.2 Emotionsmetaphern und emotive Metaphern......................................127 4.2.3 - - - - Weitere kognitive Einheiten ...................................................................136 4.3 - Zusammenfassung.................................................................................................141 5 - Historische, kulturelle und soziale Aspekte.............................................. 143 5.0 - Ziele dieses Kapitels...............................................................................................143 5.1 - Historische Aspekte: Sprache und Emotion in der Zeit...................................144 5.1.1 - - - - Geschichtstheorien ...................................................................................144 5.1.2 Sprachevolution und Sprachwandel .......................................................145 5.1.3 Gefühlsepochen .........................................................................................148 5.2 - Gefühlskulturen: Sprache und Emotion in der Welt........................................150 5.2.1 Überblick: Kulturspezifische Emotionen...............................................150 5.2.2 Relativität und Universalien ....................................................................152 5.2.3 Kontrastive Analysen................................................................................157 5.3 - Soziales: Sprache und Emotion in der Kommunikation..................................159 5.3.1 Emotion und Kommunikation................................................................159 5.3.2 Soziale Merkmale: Varietäten, Gruppen, Abweichungen ...................164 5.4 - Zusammenfassung.................................................................................................180 6 - Emotive sprachliche Mittel........................................................................ 183 6.0 - Ziele dieses Kapitels...............................................................................................183 6.1 - Überblick: Klassifikationen und Aufzählungen ................................................183 6.1.1 Kategorien der Systematisierung ............................................................184 6.1.2 Klassifikation sprachlicher Mittel ...........................................................189 6.2 - Am Rande: Para- und nonverbale Hinweise auf Emotionen ..........................197 6.3 - Lexikologie: Emotive Lexeme und Phraseologismen .......................................200 6.3.1 Emotionen zu Wörtern, Wörter zu Emotionen ...................................200 6.3.2 Zur Ordnung emotiver Lexeme ..............................................................204 6.3.3 Emotionswortschatz und Wortfelder.....................................................206 6.3.4 Emotionsausdrückende Lexeme .............................................................220 6.3.5 Besonders emotionsträchtige Kategorien ..............................................224 6.3.6 Kollokationen und Phraseologismen .....................................................233 6.3.7 Etymologische Untersuchungen .............................................................236 6.3.8 Zusammenfassung: Der emotive Wortschatz .......................................237 6.3.9 Exkurs: Emotive Morpheme und Wortbildung....................................237 6.4 - Im Zentrum: Bewertungen...................................................................................239 6.5 - Syntax: Emotive syntaktische Strukturen...........................................................248 6.5.1 Emotiv markierte Strukturen ..................................................................248 6.5.2 Unmarkierte emotive Konstruktionen...................................................252 6.6 - Pragmatik: Sprechakte, Perlokutionen und Normen .......................................257 6.6.1 Emotionen im Rahmen der Sprechakttheorie ......................................258 <?page no="9"?> Inhaltsverzeichnis - IX 6.6.2 Normen, Maximen und Verstöße...........................................................268 6.7 - Textlinguistik: Emotive Texte, Stilistik und Textsorten...................................277 6.7.1 Einordnung der Stilistik ...........................................................................278 6.7.2 Emotivität in Texten: Beschreibungsansätze.........................................287 6.7.3 Emotive Textsortenspezifika ...................................................................299 6.8 - Zusammenfassung.................................................................................................311 7 - Emotionslinguistische Textanalyse: Methode .......................................... 313 7.0 - Ziele dieses Kapitels...............................................................................................313 7.1 - Idee und Kritik .......................................................................................................314 7.1.1 Ansprüche an das Modell und Probleme ..............................................314 7.1.2 Ansätze zur Analyse von Textstrukturen im Überblick ......................317 7.1.3 Textstruktur und Emotionsstruktur.......................................................328 7.2 - Darstellung der Methode......................................................................................333 7.3 - Emotionslinguistische Textanalyse im Überblick.............................................354 7.4 - Eine Beispielanalyse ..............................................................................................355 7.5 - Zusammenfassung.................................................................................................360 8 - Empirischer Teil: Anwendungsbeispiele................................................... 363 8.0 - Ziele dieses Kapitels...............................................................................................363 8.1 - Hypothesenbildung, Material und Fragestellungen .........................................364 8.1.1 Hypothesenbildung...................................................................................364 8.1.2 Material.......................................................................................................366 8.1.3 Fragestellungen..........................................................................................367 8.2 - Forschungshintergründe ......................................................................................367 8.2.1 Forschungshintergrund zu Franz Kafka ................................................367 8.2.2 Forschungshintergrund von Medien und Emotionen.........................374 8.3 - Analyseergebnisse..................................................................................................383 8.3.1 Emotive Verfahren ....................................................................................384 8.3.2 Emotive Textstruktur oder emotives Chaos? ........................................396 8.3.3 Inhaltliche Aspekte und qualitative Fragen...........................................400 8.3.4 Überprüfung der Hypothesen .................................................................406 8.4 - Zusammenfassung.................................................................................................411 9 - Zusammenfassung und Ausblick .............................................................. 413 Anhang.............................................................................................................. 417 Tabellenverzeichnis ......................................................................................................417 Quellen für die empirische Analyse ...........................................................................417 Briefe von Franz Kafka .........................................................................................417 Online-Artikel........................................................................................................419 Literaturverzeichnis ......................................................................................... 429 Sachregister....................................................................................................... 479 <?page no="11"?> 1 - Einleitung „Wenn du dich fürchtest, sage es nicht. Wenn du es sagst, fürchte dich nicht.“ 1 Das einleitende Sprichwort aus dem Arabischen offenbart eine Konzeptualisierung von Emotionen, die auch in unserem Kulturkreis verbreitet ist: Unsere wahren, echten Gefühle sind etwas Persönliches, etwas Intimes, das wir nicht mit jedem beliebigen Menschen teilen sollten. Insbesondere wenn uns Emotionen wie Angst bzw. Furcht zu Verhaltensweisen drängen, die das Selbstbild gefährden oder anderen Menschen gegenüber unsere Schwächen entblößen, sollten diese Gefühle verborgen werden. Die Bewertung von Emotionen ist variabel, auch innerhalb ein und desselben Individuums. Manchmal verfluchen wir uns dafür, dass wir ein Gefühl nicht hinunterschlucken konnten, sondern ihm freien Lauf gelassen haben. Manchmal sind wir dankbar dafür, keine Computer zu sein, denen die in unseren Augen essenziellen Dinge des Lebens entgehen. Manchmal sind wir stolz darauf, nicht wie Tiere jedem Impuls hilflos ausgeliefert zu sein. Manchmal überwältigen uns Glücksgefühle, manchmal wiederum eine Trauer, die körperlichem Schmerz nicht unähnlich ist. Manchmal empfinden wir etwas, das in unserer Kultur als negative Emotion betrachtet wird, und würden alles dafür geben, dass dieses Gefühl möglichst schnell verraucht; manchmal jedoch suhlen wir uns auch in destruktiven Ausschüttungen unserer Empfindungswelt. Und oft, so sehr wir auch darum bemüht sind, uns nicht nur eine einheitliche, sondern auch eine gefällige Identität zu verleihen, müssen wir einfach über all das sprechen, mit uns nahe stehenden, vertrauten Menschen, mit Therapeutinnen und Therapeuten oder auch mit Wildfremden, wenn eine Kamera auf uns gerichtet wird. Eine wesentliche Eigenschaft unserer Sprache ist die Möglichkeit, die Unwahrheit zu sagen, also andere über unsere Gefühle zu täuschen. Die meiste Zeit maskieren wir auf die eine oder andere Weise das, was wir wirklich denken und fühlen. Doch ebenso gut eignet sich die Sprache dafür, uns selbst zu beruhigen, uns selbst gegenüber eine innere Aufwühlung herunterzuspielen, mitunter auch eine Missempfindung schönzureden, die eine leicht auszumachende, aber unangenehme Ursache hat. Mitunter wird die Sprache als ziemlich machtlos angesichts einer heftigen emotionalen Bewegung empfun- 1 Arabisches Sprichwort. Aus: Frühwald, Dagmar; Schimek, Hanna (2004): Ein Tag Honig. Ein Tag Zwiebel. Ähnlichkeiten/ Bilder/ Gleichnisse. Sprichwörter aus fünfzehn Kulturen. Wien: Verband Wiener Volkshochschule (= Edition Volkshochschule), o.S. [Zitat formal angepasst]. <?page no="12"?> 1 - Einleitung 2 den. Und manchmal, selten, führen wir ein offenes Gespräch, aus dem wir durch das Sprechen über unsere Gefühle beglückt hervorgehen, obwohl sich keinerlei Veränderung unserer ausweglos erscheinenden Situation ergeben hat. Auch können wir umfangreiche Texte über unsere Empfindungen oder über fiktive Gefühle erfundener Figuren verfassen. Über all diese und noch viele weitere Zusammenhänge zwischen Sprache und Emotion wird ausführlich diskutiert. Der linguistische Mainstream beschäftigt sich noch nicht lange mit diesem Aspekt der Sprache, in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten ist die Forschungslage jedoch unübersichtlich geworden. Mittlerweile wird in allen linguistischen Teildisziplinen nach der Rolle von Emotionen in der Sprache und nach der Rolle von Sprache für das emotionale Leben gefragt. Die Erforschung des Phänomens ist vor allem eine methodische Herausforderung, aber auch ein Akt der Trennung zwischen der wissenschaftlichen Objektivität und dem eigenen subjektiven Erleben, also den eigenen Erfahrungen, die man im Laufe eines Lebens angesammelt hat. Am Beginn meiner Beschäftigung mit Emotionen stand eine Bemerkung, die in vielen linguistischen Arbeiten zu lesen ist: Sprache dient dem Ausdruck und der kommunikativen Bewältigung von Gefühlen. Auch die schriftliche Kommunikation ist davon nicht ausgenommen, obwohl das Schreiben sehr oft als eine vor allem kognitive Tätigkeit betrachtet wird, zu deren Ausführung es klare Gedanken, Ruhe, Konzentration und Fleiß braucht. Vor allem aber sind Emotionen sehr oft Thema, Entstehungshintergrund (z.B. Motivation) und/ oder das Ziel von Texten. Systematische Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen Text und Emotion sind allerdings rar. Zu komplex scheint diese Frage, zu vielfältig die möglichen Forschungsansätze, zu vielschichtig die einzelnen Untersuchungsgegenstände - Text und Emotion - schon für sich allein. Da mich als Linguistin beide Einzelthemen für sich interessieren, lag es nahe, trotz allem eine Verknüpfung zu versuchen oder wenigstens einen Beitrag zu leisten, den bisherigen Forschungsstand aufzuarbeiten und etwas Klärendes hinzuzufügen. Die vorliegende Arbeit ist in diesem Kontext zu sehen. Von Anfang an war offensichtlich, dass jeder Ansatz zum Zusammenhang von Sprache und Emotion ohne ein gewisses Maß an Interdisziplinarität nicht auskommen kann. Diese Herangehensweise hat zwei Seiten: Zum einen ist die Linguistik auf Erkenntnisse über Emotionen aus anderen Wissenschaften angewiesen, da zunächst das Phänomen selbst umrissen werden muss, bevor es mit Sprache in Beziehung gesetzt werden kann. Auch eine kleinere, aber nur unwesentlich einfachere Form der Interdisziplinarität ist vonnöten: der Blick über die Grenzen des eigenen Fachgebietes, in meinem Fall die Textlinguistik. Alle Ebenen der Sprache und somit auch der Linguistik können unter dem Aspekt der Emotivität betrachtet werden. <?page no="13"?> 1 - Einleitung - 3 Zumindest Ansätze zur Integration zu bilden, ist erklärtes Ziel dieser Arbeit. Wie in der Wissenschaft notwendig müssen dabei aber auch Einschnitte und Auslassungen in Kauf genommen werden. In dieser Arbeit wird Folgendes geleistet: • die Aufarbeitung des Forschungsstandes zu Sprache und Emotion auf einer breiten linguistischen Basis • die Ableitung einer Methode für die Analyse der Emotivität in Texten • die exemplarische empirische Anwendung dieser Methode An die Formulierung der Ziele schließt sich zwangsläufig die Frage an, was nicht geleistet wird. Es werden zwar ältere Studien eingebunden, aber beim Forschungsstand liegt der Schwerpunkt auf neueren Ergebnissen. Ebenso wird weitgehend die diachrone Perspektive ausgespart - nicht, weil es nicht wichtig wäre zu wissen, woher man kommt, um festzustellen, wohin man gehen möchte, sondern ebenfalls weil sonst unter Umständen gar kein Ziel erreicht werden würde. Viele relevante Aspekte der Emotivität in der Sprache werden verhältnismäßig kurz abgehandelt, vor allen jene pragmatischer Art: Witze/ Humor, Flüche, Argumentation (Manipulation) und Konflikte sind nur am Rande vertreten. An den Anforderungen orientiert sich der Aufbau der Arbeit. In Kapitel 2 (Emotionen im Spiegel der Emotionsforschung) wird ein interdisziplinärer Überblick über die Emotionsforschung gegeben. Definitionen, Ordnungsansätze, verschiedene Komponenten von Emotionen im Sinne eines psychischen Prozesses, aber auch Theorien über die soziale Bedeutung von Emotionen und ihre Rolle im Lebenszusammenhang werden kurz zusammengefasst. Kapitel 3 (Sprache und Emotion: Ein Forschungsüberblick) wendet sich speziell der linguistischen Erforschung von Emotionen zu. Hier werden terminologische Abgrenzungen vorgenommen, grundsätzliche Herangehensweisen geklärt und abstrakte theoretische Modelle referiert. Vor allem geht es um eine Diskussion der Bedeutung emotiver Zeichen. Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Formulierung von Thesen, die für die restliche Arbeit leitend sind. In Kapitel 4 (Emotion, Kognition und Sprache) geht es um Sprache und Denken. Verschiedene Untertypen von Repräsentationen und Konzepten werden anhand kognitionslinguistischer Forschungsliteratur erklärt, darunter eine Kernkategorie: Metaphern. Nicht unmittelbar für eine Textanalyse nutzbar, aber eine Betrachtung wert ist der Schreibprozess, der in vielfältiger Weise von Emotionen gelenkt wird und diese lenkt - eine Perspektive, die in der Forschung nicht durchgehend eingenommen wird. <?page no="14"?> 1 - Einleitung 4 Kapitel 5 (Historische, kulturelle und soziale Aspekte) beschäftigt sich mit der Abhängigkeit der sprachlichen Emotivität von situativen bzw. kontextuellen Faktoren. Wie unterschiedlich sind Konzeptualisierungen von Emotionen in verschiedenen Sprachen, Kulturen und historischen Epochen? Drücken alle Menschen ihre Emotionen auf dieselbe Weise aus oder gibt es individuelle und gruppenspezifische Abweichungen? Im darauffolgenden Kapitel 6 (Emotive sprachliche Mittel) werden die wichtigsten Voraussetzungen für die Entwicklung der Methode geschaffen. Besprochen wird vor allem die grammatische Kodierung von Emotionen, Erwähnung finden auch darüber hinausgehende Modelle des Festmachens von Emotivität in sprachlichen Äußerungen auf allen sprachlichen Ebenen. Ein Problem ist hier die Vielfältigkeit der Perspektiven bzw. die Widersprüchlichkeit mancher Kategorien. Anhand von Vergleichen unterschiedlicher Ansätze wird versucht, Ordnung in diesen Forschungsbereich zu bringen. All diese Vorüberlegungen kulminieren in Kapitel 7 (Emotionslinguistische Textanalyse: Methode) in der Ableitung eines Ansatzes zur Beschreibung von Emotivität in Texten. Das Modell ist weder zu komplex noch zu simplifizierend. Es wird festgehalten, welche Aspekte den Kern einer solchen Textanalyse bilden, egal, welche Feinabstimmung gewählt wird. Der Vorschlag soll vor allem für Weiterentwicklungen anschlussfähig sein. Im empirischen Kapitel 8 schließlich (Empirischer Teil: Anwendungsbeispiele) werden zwei Textkorpora analysiert, um größere Klarheit über Vor- und Nachteile der Methode und erste Hinweise auf textspezifische Muster der Emotivität zu erhalten. Untersucht werden Briefe von Franz Kafka und Online-Artikel. Kapitel 9 (Zusammenfassung und Ausblick) rundet die Arbeit ab. Selbst wenn alle Sprecherinnen und Sprecher den Ratschlag, der im Eröffnungszitat geäußert wird, befolgen würden, lässt dies nicht den Rückschluss zu, dass eine linguistische Untersuchung des Zusammenhangs von Text und Emotion zum Scheitern verurteilt ist. Sprache ist niemals ein Abbild der wie auch immer definierten Wirklichkeit. Auch beim Sprechen und Schreiben über andere Themen werden nicht einfach Erfahrungen in Worte gegossen. Insofern bilden Emotionen keinen außergewöhnlich schwierigen Bereich der Linguistik. Dennoch ist die Hauptaufgabe der vorliegenden Arbeit - die Komplexität in den Griff zu bekommen - kein leichtes Unterfangen. Manche Lösungen fallen pragmatisch aus, einige Widersprüche werden nicht bereinigt. Eine besondere Schwierigkeit liegt wie schon erwähnt darin, die eigenen Auffassungen über Emotionen, die nun einmal jeder Mensch als fühlendes Wesen hat, hintanzustellen. In der wissenschaftlichen Erforschung von Emotionen ergeben sich einige Überraschungen. Texte jedoch repräsentieren vorrangig das geteilte Wissen einer Sprachgemeinschaft. Die vorliegende Arbeit interessiert sich für die linguistischen Wege, dieses Wissen zur Sprache zu bringen. <?page no="15"?> 2 - Emotionen -im -Spiegel -der -Emotionsforschung „Ich bin in allen Winkeln meines Wesens leer und sinnlos, selbst im Gefühl meines Unglücks.“ 2 2.0 - Ziele dieses Kapitels Eine Voraussetzung für das Erfassen des Zusammenhangs zwischen Sprache und Emotion ist das Bewusstsein darüber, was unter Emotionen zu verstehen ist. Diese Tradition oder vielmehr wissenschaftliche Notwendigkeit wird in der vorliegenden Arbeit bereitwillig aufgegriffen, zumal im Bereich der Emotionsforschung immer wieder beklagt wird, dass eine verbindliche Definition ihres Gegenstandes nach wie vor aussteht. In diesem Kapitel werden keine fertigen Antworten präsentiert, sondern es wird die Komplexität des Phänomens Emotion skizziert. Die vorgenommenen Schwerpunktsetzungen ergeben sich aus dem spezifischen Erkenntnisinteresse des Forschungsvorhabens. Die in der Zusammenfassung vorgeschlagene Definition von Emotionen ist eine heuristische in dem Sinne, dass wie mit einem Scheinwerfer nur jene Aspekte beleuchtet werden können, die für die Beantwortung der Forschungsfragen von Bedeutung sind. Diese Auswahl aus dem sehr breiten und tiefen Pool der Emotionsforschung erfüllt drei Zwecke: 1) Das Kapitel gibt einen groben Überblick über den Gesamtzusammenhang der Emotionsforschung. 2) Notwendige Vorkenntnisse für die Besprechung der Emotionslinguistik werden geschaffen. 3) Zusammenfassend werden weiterführende Forschungsfragen formuliert, deren Beantwortung im Rahmen der restlichen Kapitel der vorliegenden Arbeit erfolgt. 2.1 - Annäherungen an den Terminus Emotion In diesem Abschnitt nähere ich mich einer Definition von Emotionen. Zunächst kommen intuitive Kenntnisse und Bewertungen von Emotionen zur Sprache, wie sie tagtäglich von Menschen ohne wissenschaftlichen Hinter- 2 Franz Kafka an Felice Bauer. Prag, am 6. November 1913 (Kafka 1999b: 295). <?page no="16"?> 2 - Emotionen -im -Spiegel -der -Emotionsforschung 6 grund vorgenommen werden. Dieser Aspekt ist meines Erachtens ebenso wichtig wie die im Weiteren vorgestellten akademischen Ansätze zur Beschreibung und Erklärung von Emotionen, da sprachliche Konzeptualisierungen auf diesen alltäglichen Auffassungen beruhen. In diesem Abschnitt wird auch ein Überblick über jene Wissenschaftszweige und ihre Methoden gegeben, die sich mit der Erforschung von Emotionen befassen. Im Zentrum steht die Einführung der wichtigsten Aspekte, die in den unterschiedlichen Disziplinen als Definitionsmomente für Emotionen angeführt werden. 2.1.1 - Alltagspsychologische -Vorstellungen Nur wenige Menschen leiden unter Alexithymie, einem Unvermögen, eigene und fremde Gefühle wahrzunehmen, zu deuten, auszudrücken und zu beschreiben (vgl. Wimmer 2007: 103; Foolen 2012: 364). 3 Emotionen sind ein Alltagsphänomen, dessen Faktizität sich die Menschen bewusst und sicher sind. Aus Befragungen von Probandinnen und Probanden hat Averill (1996: 27) die folgenden konsensuellen Kennzeichen von Emotionen abgeleitet: • Emotionen beeinflussen das Denken und das Verhalten. Insbesondere nennen Menschen Emotionen oft als Ursache scheinbar irrationalen Verhaltens. • Emotionen sind schwer zu kontrollieren. • Emotionen motivieren zu bestimmten Verhaltensweisen, steigern die Beharrlichkeit, mit der Ziele verfolgt werden, und ermöglichen das Weitermachen und Durchhalten. • Emotionen sind allen Menschen gemeinsame, universelle Erfahrungen. • Emotionen werden von angenehmen und/ oder unangenehmen Erfahrungen begleitet. • Emotionen können sehr intensive Erfahrungen sein. • Emotionen können kathartisch wirken, zum Spannungsabbau beitragen oder ein Gefühl der Befriedigung verschaffen. • Emotionen sind sehr persönliche Erfahrungen und kommen von innen. • Emotionen richten sich auf externe Dinge oder Ereignisse. • Emotionen können ausgedrückt werden, und zwar durch Gestik, Mimik, Sprache und Handlungen. 3 Schmidt-Atzert (1996: 65) weist darauf hin, dass nicht erwiesen ist, ob diese Störung tatsächlich existiert. Neuere Forschungen, die Schrott/ Jacobs (2011: 70) ansprechen, deuten allerdings darauf hin, dass ca. 10 Prozent der Bevölkerung als ‚gefühlsblind‘ eingestuft werden müssen und dass die Störung mit bestimmten neuronalen Abweichungen zusammenhängt. <?page no="17"?> 2.1 - Annäherungen -an -den -Terminus -Emotion - 7 • Emotionen sind ein notwendiger Teil des Lebens. • Emotionen sind nur schwer beschreibbare, nicht greifbare Erfahrungen. • Emotionen können plötzlich auftreten oder auch wieder verschwinden und sind schnellem Wandel unterworfen. • Emotionen sind Zustände hoher Erregung. Großteils ähnliche „Komponenten alltagsweltlicher Konzeptualisierungen“ finden sich bei Fiehler (1990b: 41, Hervorhebung i.O.) Für westliche Kulturen beschreibt Fischer (1991: 1ff.) die alltagspsychologischen Emotionsmerkmale ‚Körperlichkeit‘, ‚Irrationalität‘, ‚Unkontrollierbarkeit‘ bzw. ‚Unwillkürlichkeit‘ und ‚Tierhaftigkeit‘. Sie weist allerdings darauf hin, dass die von ihr untersuchten emotion scripts wesentlich differenziertere Ansichten über Emotionen verraten. Es ist von den einzelnen Emotionsqualitäten sowie von individuellen und kulturellen Faktoren abhängig, ob Emotionen als unkontrollierbar (und damit als bedrohlich) oder als positiv bewertet werden (vgl. Fischer 1991: 195f.). Andere alltagspsychologische Überzeugungen betreffen nach Schürer- Necker (1994: 39f.) den Einfluss von Emotionen auf kognitive Prozesse wie z.B. Gedächtnisleistungen. Teilweise decken sich diese Einschätzungen mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und werden als Erklärungsmodelle für individuelle Leistungen, z.B. bei Prüfungen, herangezogen. Averill und Nunley (1992: 67-78) zählen eine Reihe weiterer Mythen über Emotionen auf, die teilweise auch in der Wissenschaft 4 wirksam sind: 1) Erster Mythos: Emotionen sind unkontrollierbar. Die Zuschreibung, wer oder was Emotionen lenkt, ist kulturabhängig. Dies können z.B. Geister bewerkstelligen. 2) Zweiter Mythos: Für unsere Emotionen sind wir nicht vollständig verantwortlich, beispielsweise wenn wir im Affekt Verbrechen begehen. Dieser Mythos dient dem Selbstschutz. 3) Dritter Mythos: Emotionen haben eine Essenz, einen Kern, den es zu enthüllen gilt. Von diesem Mythos gibt es mehrere Varianten, die vor allem in der Emotionspsychologie beheimatet sind. Dazu gehört erstens die Annahme von Basisemotionen; zweitens die Überzeugung, dass es wahre Gefühle gebe, die unter der Oberfläche unseres Denkens und Handelns liegen und mit denen wir in schwierigen Situationen in Kontakt treten 4 Weber (2000: 145) betont allerdings, dass Alltagskonzepte ihrerseits „von popularisierten wissenschaftlichen Konzepten beeinflusst“ werden, dass also eine Wechselwirkung zwischen Alltagspsychologie und Wissenschaft vorliegt. Vgl. auch Russell/ Lemay (2004: 492), die einen fließenden Übergang zwischen kindlichen, alltagspsychologischen und wissenschaftlichen Emotionskonzepten annehmen. <?page no="18"?> 2 - Emotionen -im -Spiegel -der -Emotionsforschung 8 sollen; drittens die Auffassung, dass körperliche Veränderungen zentral, ja allein ausreichend für die Erklärung von Emotionen seien; viertens die Hypothese, dass Emotionen Teil unseres tierischen Erbes, also phylogenetisch älterer Stufen seien; fünftens die Ansicht, dass frühe Kindheitserfahrungen einen entscheidenden Einfluss auf unsere Emotionalität haben; und sechstens die Vermutung, dass alle Menschen auf dieselbe Weise emotional reagieren können. White (2004: 30f.) weist darauf hin, dass durch die Fortschritte in der neurowissenschaftlichen Forschung zunehmend das Gehirn als Sitz der Emotionen und neurophysiologische Korrelate als hinreichende Erklärung für emotionale Prozesse angesehen werden. Eine wichtige Ergänzung zu diesen Vorstellungen lässt sich mit dem Mythos der Rationalität (vgl. z.B. Ankowitsch 2002: 11f.; Bednarek 2008: 2f.) umschreiben: nämlich der Glaube daran, dass der Mensch ein rational denkendes Wesen sei, das Entscheidungen auf der Grundlage von vernünftigen Abwägungen treffe und in diesem Unterfangen von Emotionen manchmal empfindlich gestört werde. Vielfach werden Emotionen im Alltagsverständnis mit Kontrollverlust und Schwäche, mit Weiblichkeit und in weiterer Folge mit Unmännlichkeit in Verbindung gebracht, wobei männlich-rationales Verhalten die Norm bzw. das Ideal darstellt (vgl. Voss 2004: 15f.; Pieper 2000: 37). Dem widersprechen Konzepte, in denen Emotionen auch als Kräfte beschrieben werden, die das Leben bereichern oder erst Handeln ermöglichen, zwischenmenschliche Beziehungen steuern und das Authentischste an uns sind. In manchen Kulturen ist diese Denkweise lebendiger als in anderen (vgl. Bednarek 2008: 2f.). Populärwissenschaftliche Publikationen jüngeren Datums (vgl. z.B. Goleman 1999) neigen geradezu zur Verherrlichung von Emotionen, wie dies literarische Strömungen in der Vergangenheit (speziell die Romantik, vgl. Oatley 2004 für eine ausführliche Darstellung) und in der Gegenwart getan haben. Allerdings erfahren auch diese positiven Bewertungen Kritik: Emotionen eine eigene Rationalität zuzuschreiben kann auch als Abwertung verstanden werden, weil die Vernunft dadurch als anzustrebendes Ideal erhalten bleibt - mit Konnotationen wie maskulin, ökonomischer Erfolg und Deutungsmacht. Emotionen würden nicht mehr verdammt, aber diesem Ideal untergeordnet (vgl. Pieper 2000: 43f.). 2.1.2 - Disziplinen, -Fragestellungen -und -Methoden Viele Wissenschaften befassen sich mit Emotionen. Einige, wie z.B. die Psychologie, etablieren einen eigenständigen Forschungszweig; andere, wie z.B. die Literaturwissenschaft, betrachten sie innerhalb ihres Programms als wich- <?page no="19"?> 2.1 - Annäherungen -an -den -Terminus -Emotion - 9 tigen, aber nicht autonomen Aspekt, der auch nicht mit neuen Methoden untersucht wird (z.B. Emotionalität in literarischen Werken). Die Philosophie war bis zur Ausbildung der heute bekannten geistes- und naturwissenschaftlichen Einzeldisziplinen eine Universalwissenschaft. Bestimmte Paradigmen der Philosophiegeschichte üben bis in die Gegenwart nachhaltigen Einfluss auf Emotionsmodelle aus. Umgekehrt rekurrieren moderne philosophische Emotionstheorien (wie z.B. jene von Goldie 2000) auf die empirischen Erkenntnisse dieser mannigfaltigen Disziplinen und versuchen Ergebnisse aus der Neurobiologie, der Psychologie, der Soziologie usw. zu integrieren. Auf zwei Nenner gebracht lassen sich die historisch bedeutsamen philosophischen Emotionstheorien nach Schönpflug (2000: 20) in zwei Strömungen einteilen: auf der einen Seite der Idealismus oder Rationalismus, in dem „das Wahre und das Gute“, die „Sittlichkeit“ und das „apollonisch[e]“ Prinzip im Mittelpunkt stehen. Emotionen, in diesem Zusammenhang oft mit dem Terminus Affekte bezeichnet, sind in diesem Paradigma meist schädliche Einflüsse, die passiv erduldet und letzten Endes durch die Vernunft unterdrückt werden müssen (vgl. Schönpflug 2000: 20f.; Ulich/ Mayring 2003: 16; Folkersma 2010: 133). Diese Tradition wurde beispielsweise von Platon (427-347 v.Chr.), von den Stoikern (ab 300 v.Chr.), von Aurelius Augustinus (354-430) und von Thomas von Aquin (um 1225-1274) elaboriert und ist nach wie vor lebendig (vgl. Gardiner/ Clark Metcalf/ Beebe-Center 1970: 37ff., 64f., 97f., 108). Der Behaviorismus gehört ebenso in dieses Paradigma wie die Psychoanalyse nach Sigmund Freud (vgl. Schönpflug 2000: 21). Dem steht jene Tradition gegenüber, die Emotionen weit positiver bewertet und ihnen eine wichtige, vitale Rolle in der Lebensbewältigung zuteilt (vgl. Hartmann 2005: 12f.). Ein Beispiel für eine relativ frühe differenzierte Bewertung von Emotionen findet sich bei Baruch bzw. Benedictus de Spinoza (1632-1677). Passive, negative Emotionen entstehen ihm zufolge aus dem eklatanten Missverständnis, dass das Universum der willentlichen Kontrolle des Menschen unterliege. Sie spiegeln die Schwierigkeiten in unserem Streben (conatus) nach Erhaltung der eigenen Existenz wider. Aktive, positive Emotionen hingegen basieren auf der Akzeptanz des von Gott Gegebenen. Sie gehen mit positiv erhöhter Aktivität sowie mit dem Streben nach geistiger Perfektion einher (vgl. Calhoun/ Solomon 1984: 72; Gardiner/ Clark Metcalf/ Beebe-Center 1970: 198). Die moderne Emotionsforschung, der ich mich nun zuwende, betrachtet ihren Gegenstand mit dem Vorsatz, weder positive noch negative Wertungen abzugeben. Grundsätzlich werden Emotionen aber als notwendig, ja, als das Salz in der Suppe des Lebens konzeptualisiert. Dies ist aus wissenschaftlicher Sicht für Vester (1991: 11) sinnvoll: „Wären Emotionen tatsächlich primitiv, minderwertig oder dysfunktional für die Entwicklung der Menschheit [...], <?page no="20"?> 2 - Emotionen -im -Spiegel -der -Emotionsforschung 10 müßte man annehmen, daß die Evolution die Emotionen schon längst ausgelöscht hätte.“ Obwohl die Psychologie erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und damit noch nicht sehr lange als eigenständige Disziplin gilt (vgl. Zimbardo/ Gerrig 2008: 8), lässt sich eine Reihe von hoch spezialisierten Forschungsbereichen mit jeweils eigenen Zielen, Hintergrundannahmen und Methoden differenzieren, darunter auch die Emotionspsychologie. Diese beschäftigt sich „mit den Emotionen, ihrem Ausdruck, ihren körperlichen und zwischenmenschlichen Auswirkungen“ (Merten 2003: 9). Im Bereich der Medizin sind vor allem zwei Fragestellungen in Zusammenhang mit Emotionen relevant: Welche Störungen des emotionalen Erlebens lassen sich feststellen? Wie äußern sie sich, wie entstehen sie und wie lassen sie sich behandeln? Mit diesen Problemstellungen beschäftigt sich insbesondere die Psychiatrie. Außerhalb der Medizin ist auch die Psychotherapieforschung bemüht, Antworten und Behandlungsmethoden zu finden. Die zweite Frage betrifft den Zusammenhang zwischen Emotionen und körperlichen Beschwerden. Diesem komplexen Bereich spüren die Psychosomatik und die Psychoneuroimmunologie (vgl. Hennig 1998) nach. In der Soziologie wurden Emotionen zugunsten der Rationalisierung menschlichen und gesellschaftlichen Handelns lange Zeit stark vernachlässigt (vgl. Vester 1991: 12f.). Ungefähr seit der Mitte der 1970er Jahre wird versucht, Emotionen als „dringend benötigte Verbindungsglieder zwischen wichtigen Fragen und Problemen der Forschung“ (Vester 1991: 14) in Theoriegebäude zu integrieren. Die gesellschaftlichen Bedingungen von Emotionen, die Erklärung von kollektivem Verhalten und Gruppenprozessen, Auswirkungen von Emotionen auf das Verhalten sowie die Beziehung zwischen angeborenen und sozial geprägten emotionalen Phänomenen sind hier zentrale Fragestellungen (vgl. Vester 1991: 14-23; Flam 2002: 165ff., 204f., 247ff., 296ff.; Gerhards 1988: 54f., 108ff.). Geschichtswissenschaft, Kulturanthropologie und Ethologie beschäftigen sich mit historischen Veränderungen und kulturellen Unterschieden im Erleben und Ausdruck von Emotionen bzw. im Umgang mit Emotionen. Geistes- und Sozialwissenschaften thematisieren in jüngerer Zeit im Rahmen der Cultural Studies verstärkt die Bedeutung von Emotionen für jedwede kulturelle Praxis. All diesen Einzeldisziplinen ist neben ihren Beiträgen zur Definition von Emotionen eine Fragestellung gemeinsam: Welche praktischen Anwendungsmöglichkeiten entfalten sich im Gefolge der theoretischen Erforschung von Emotion? Worin liegt also die Relevanz des Fachgebiets, abgesehen von wissenschaftlichem Erkenntnisgewinn? Eine kurze Antwort (vgl. Schmidt-Atzert 1996: 259-276): Emotionen sind zwar schwer zu beobachtende Phänomene, für das psychische Erleben und <?page no="21"?> 2.1 - Annäherungen -an -den -Terminus -Emotion - 11 die menschliche Gesellschaft jedoch nichtsdestoweniger maßgeblich. Ihre auch nur zum Teil gelungene Entschlüsselung eröffnet bedeutende Anwendungsmöglichkeiten für Bereiche wie die Ätiologie, Diagnostik und Therapie psychischer sowie psychosomatischer Störungen, für Pädagogik, Sport, Ästhetik (z.B. bezüglich der Wirkung von Kunstwerken) sowie für Politik und Wirtschaft (z.B. in Hinblick auf die Vorhersage oder sogar Regulierung von Emotionen). Werbeagenturen appellieren an die grundlegendsten, möglicherweise genetisch bestimmten Emotionsprogramme (vgl. Oatley 2004: 45). Ratgeber, wie erfolgshungrige Menschen ihr Verständnis für eigene und fremde Emotionen verbessern und für den privaten bzw. beruflichen Erfolg nutzen können, wurden zu Bestsellern (vgl. z.B. Goleman 1999). Ankowitsch (2002: 230-255) entwirft ein regelrechtes Pandämonium der Gefahren, die durch einen verantwortungslosen oder manipulativen Umgang mit Emotionen entstehen, und versucht die Leser mit beunruhigenden Zukunftsvisionen zu sensibilisieren, z.B. hinsichtlich Manipulationsmöglichkeiten über den Einsatz von Mimik und Gestik oder die Wirkung von Düften. 5 Doch auch ohne Sensationalisierung ist die Relevanz von Emotionen für Individuum und Gesellschaft offensichtlich. Die Methoden der Emotionsforschung sind so mannigfaltig wie umstritten (vgl. Hartmann 2005: 25ff.). Zu unterscheiden sind Induktionsmethoden, ausdruckspsychologische Methoden, psychophysiologische Methoden und qualitative Methoden. Induktionsmethoden dienen der Auslösung von Emotionen bei Versuchspersonen in Laborsituationen, damit in der Folge spezifische Emotionsqualitäten untersucht werden können. Hierzu gehört z.B. die sogenannte Velten- Technik, wonach Aussagesätze mit positiven, negativen oder neutralen Inhalten vorgelesen werden (z.B. Ich bin heute voller Energie), in die sich die Probandinnen und Probanden in der Folge hineinversetzen sollen. Manipulationen der Emotionen können auch die Situation (gespielte Interaktionen), den Gesichtsausdruck (aufgrund der Facial-Feedback-Hypothese, siehe 2.3.3) oder den biochemischen Haushalt (z.B. durch Psychopharmaka) betreffen. Neben ethischen Bedenken ist auch die fragwürdige Zuverlässigkeit problematisch (vgl. Otto 2000: 396ff.). Ausdruckspsychologische Methoden werden eingesetzt, um Merkmale emotionalen Verhaltens wie Mimik, Gestik, Stimme, Blickbewegungen, Körperhaltung und Körperbewegungen zu untersuchen. Der mimische Ausdruck 5 Allerdings ist empirisch abgesichert, dass verbale, nonverbale und paraverbale Mittel aufeinander abgestimmt sein müssen, um manipulative Effekte zu erzielen; rhetorische Tricks allein sind kaum wirksam (vgl. Jackob/ Petersen/ Roessing 2008). Auch die Wirkung von Düften auf das Unterbewusstsein ist nicht so linear, dass bestimmte Düfte das Kaufverhalten vollkommen umkrempeln (vgl. Traindl 2007). <?page no="22"?> 2 - Emotionen -im -Spiegel -der -Emotionsforschung 12 von Emotionen wird beispielsweise mittels der Messung von Muskelaktivität oder durch die Videoanalyse und detaillierte Kodierung von Muskelkontraktionen erforscht (z.B. EMFACS, Emotional Facial Action Coding System) (vgl. Kaiser/ Wehrle 2000: 421-424 sowie Kaiser/ Wehrle 2009; Schmidt-Atzert 1996: 106f., 110f., 115-125). Psychophysiologische Methoden lassen sich in zwei verschiedene Kategorien unterteilen: Einerseits beziehen sie sich auf peripher-physiologische Abläufe, die mit Emotionen in Verbindung gebracht werden (z.B. Messung von Hautleitfähigkeit, Schweißexkretion, Reflexen und kardiovaskulärer Aktivität wie Blutdruck und Herzschlagfrequenz), andererseits auf die Aktivität im Zentralen Nervensystem, hier vor allem im Gehirn (z.B. indirekte Hinweise durch Läsionen, Elektroenzephalogramme, Positronen-Emissions- Tomographie, funktionelle Magnetresonanztomographie) (vgl. Schmidt- Atzert 1996: 164f.; Vossel/ Zimmer 2000: 434ff.). Darüber hinaus beeinflussen Psychopharmaka psychische Störungen und emotionale Zustände. Interessanterweise hat sich gezeigt, dass die mit Emotionen verbundenen Kognitionen durch Psychopharmaka nicht auszuschalten sind und Medikamente dieser Art Emotionen nicht signifikanter beeinflussen als z.B. verbale Mittel (vgl. Erdmann/ Ising/ Janke 2000). Qualitative Methoden, die auch in naturwissenschaftlichen Disziplinen Anwendung finden, sind vor allem Inhaltsanalysen sprachlicher Mitteilungen von Versuchspersonen über ihr subjektives Befinden, wie sie mit Leitfadeninterviews, Fragebögen, mündlichem oder schriftlichem Erzählen gewonnen werden. Häufig Anwendung finden auch Wortfeldanalysen von Emotionswörtern, Priming-Aufgaben (Wortassoziationstests) und Selbstbeurteilungen wie über die Differential Emotions Scales (vgl. Ulich/ Mayring 2003: 38f.; Plutchik 1994: 108-120; Schmitt/ Mayring 2000). Obwohl auf diese Weise nicht Emotionen gemessen werden und viele Fehlerquellen berücksichtigt werden müssen (z.B. Antworttendenzen, schwankende sprachliche Kompetenzen, vgl. Schmidt-Atzert 2009b: 533f.), beruhen diese Methoden auf einem deskriptiven und interpretativen Zugang, der durchaus valide, bei genauem Vorgehen auch sehr differenzierte Ergebnisse hervorbringen kann und ökonomisch ist. Mit sprachlichen Methoden gewonnene Selbstbeurteilungen und physiologische Messungen bringen jedoch relativ unähnliche Ergebnisse hervor (vgl. Ulich/ Mayring 2003: 43). Emotionen sind nicht direkt beobachtbar, was Fragen zur Objektivität, Validität und Reliabilität der Emotionsforschung aufwirft (vgl. Schmidt- Atzert 1996: 22; Oller/ Wiltshire 1997: 34f.). Kochinka (2004: 20) hebt hervor: „[E]mpirisch erfaßbar werden Gefühle erst mit ihrer Symbolisierung“, also durch ihren sprachlichen und mimischen/ gestischen Ausdruck oder durch physiologische Parameter, die einer sorgfältigen Interpretation bedürfen. Der wissenschaftstheoretische Zündstoff dieses Grundproblems wird dadurch <?page no="23"?> 2.2 - Zum -Problem -der -Emotionsdefinition - 13 entschärft, dass der Ansatz, Symbolisierungen oder Indizien für Emotionen zu untersuchen, der vorläufig einzig mögliche ist. 2.2 - Zum Problem der Emotionsdefinition Zahlreiche Aspekte der Entstehung, Verarbeitung und Phänomenologie von Emotionen mögen bekannt sein, doch Ursache-Wirkung-Beziehungen und auch Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Aspekten sind nach wie vor umstritten (vgl. Schmidt-Atzert 1996: 16). Zudem fehlt eine allgemein verbindliche Definition des Terminus Emotion, was jedoch kein Manko sein muss: Definitionen dienen lediglich der Orientierung und sollen die angestrebten Untersuchungsschwerpunkte, nicht jedoch bereits die Antworten vorwegnehmen (vgl. Ulich/ Mayring 2003: 55). Es gibt aber eine Reihe von wesentlichen Aspekten, die in der Diskussion um die Bestimmung von Emotionen immer wieder genannt werden. Notwendig bleibt eine Abgrenzung des Lexems Emotion von anderen, verwandten Konzepten. Schließlich folgt in diesem Abschnitt die Besprechung einiger Ansätze, wie Emotionen aus emotionspsychologischer, nicht aus linguistischer Sicht geordnet werden können. 2.2.1 - Überblick Das Wort Emotion lässt sich vom lateinischen emovere herleiten, was den dynamischen Charakter von Gefühlen unterstreicht: Emotionen bewegen (vgl. Benthien/ Fleig/ Kasten 2000: 10; Roth 2001: 257). Gemeinsam ist allen Definitionen, dass sie Emotionen als plötzlich auftretende Veränderungen betrachten: Veränderungen in Hinblick auf körperliche Prozesse, auf die aktuelle Situation, auf die Bindung an Objekte und Personen, auf Handlungsbereitschaften, auf Einstellungen, auf Ausdrucksbewegungen etc. (vgl. Oatley 2004: 3-6). Diese Veränderungen müssen signifikant, also für das emotionale Individuum von Belang sein (vgl. Ben-Ze’ev 2009: 29ff.). In einem älteren, aber nach wie vor viel zitierten Aufsatz haben Kleinginna und Kleinginna (1981: 347) eine große Zahl an psychologischen Emotionsdefinitionen (genau 92, zusätzlich neun kritische Aussagen) gesammelt und in elf Kategorien eingeteilt - je nach dem entscheidenden Definitionsmoment. Die Kategorien tragen folgende Etiketten (in Klammer jeweils die entscheidenden Definitionsmomente): affektiv (starke Gemütsbewegung), kognitiv (Einschätzungen), externale Stimuli (Auslöser), physiologisch (körperliche Aspekte), expressiv (Ausdruck), disruptiv (Unterbrechen von Denken und Handeln), adaptiv (evolutionärer Sinn), komplex (mehrere Aspekte umfassend), restriktiv (Bestimmung vor allem in Abgrenzung von anderen Konzepten), motivational (Handlungsbereitschaft), skeptisch (die Möglichkeit, Emotionen zu definieren, wird grundsätzlich infrage gestellt). <?page no="24"?> 2 - Emotionen -im -Spiegel -der -Emotionsforschung 14 Im Laufe des Kapitels tauchen viele dieser Kategorien in den unterschiedlichen Perspektiven auf Emotionen wieder auf. Die folgende Aufzählung trägt die wesentlichen Aspekte emotionspsychologischer Definitionsversuche zusammen. • Emotionen sind Zustände hoher Erregung, die mit einer bestimmten Intensität, Qualität und Dauer einhergehen. Sie sind untrennbar mit einem erlebenden Individuum verbunden und haben in der Regel einen erkennbaren Auslöser. Zudem lässt sich ihnen Intentionalität zuordnen. Emotionen haben zudem einen Verlauf und sind nicht zeitlich überdauernd, sondern instabil (vgl. Kochinka 2004: 141f.; Engelen 2005: 291; Voss 2004: 184; Wassmann 2002: 142). • Emotionen sind evolutionär verankert und erfüllen bestimmte biologische Funktionen. Sie motivieren zu Verhaltensweisen, Ausdrucksformen und Handlungen. • Emotionen sind körperliche Veränderungen auf verschiedenen Ebenen: im zentralen Nervensystem, in peripher-physiologischen Systemen (z.B. Herzschlag, Hautleitfähigkeit, Darmtätigkeit) und in den biochemischen Prozessen (Hormone, Neurotransmitter). • Emotionen hängen mit kognitiven Prozessen wie Wahrnehmung, Bewertung, Benennung und Klassifikation zusammen. • Obwohl selten in naturwissenschaftliche Emotionsdefinitionen integriert, ist es auch ein Merkmal von Emotionen, dass sie in soziale, (individuell-)biographische und historische Kontexte eingebettet sind (vgl. Gerhards 1988: 16). Zudem werden Emotionen von Individuen und Gesellschaften als narrativ strukturiert bzw. in ein Narrativ eingebettet wahrgenommen. Das heißt, Emotionen stellen eine sich entfaltende Sequenz von Handlungen und Ereignissen, Gedanken und Gefühlen dar (vgl. Goldie 2000: 12f., 144; Lazarus/ Lazarus 1994: 151). Während die ersten drei Definitionsaspekte in der Folge nur gestreift werden, sind die kognitive Komponente und der soziale Zusammenhang der Emotionen für die vorliegende Arbeit zentral. Zudem sind diese Bereiche der Emotionsforschung nicht von der Sprachwissenschaft und der emotionslinguistischen Theoriebildung zu trennen, da Sprache sowohl von kognitiven Prozessen geprägt wird als auch das gesellschaftliche Kommunikationsmittel schlechthin ist. Auf die verschiedenen Definitionsaspekte wird in Abschnitt 2.3 noch einmal kurz eingegangen. <?page no="25"?> 2.2 - Zum -Problem -der -Emotionsdefinition - 15 Komponentenmodelle Emotionspsychologische Komponentenmodelle oder Komponentenprozessmodelle versuchen, die Komplexität des Phänomens Emotion darzustellen. Ein bekanntes Modell dieser Art stammt von Scherer (1990; 2013). Zwischen den einzelnen Komponenten, die Zustandsformen der Subsysteme darstellen, bestehen enge Wechselwirkungen, deren letztendlicher Zweck die „Gesamtmobilisierung des Organismus“ (Scherer 1990: 5) ist. Das Modell in der Fassung von Scherer (1990) enthält folgende Komponenten: • Kognitive Komponente: Es handelt sich hierbei um ein Informationsverarbeitungssystem, das für die Reizbewertung zuständig ist und externe und interne Veränderungen überwacht und bewertet. • Neurophysiologische Komponente: Zu dieser Komponente gehören das neuroendokrine System und das autonome Nervensystem; die wesentliche Aufgabe der Komponente ist die Systemregulation. • Motivationale Komponente: Dieses Steuerungssystem ist für die Vorbereitung von Handlungen zuständig. • Ausdruckskomponente: Im Aktionssystem werden die Handlungen (z.B. mimischer und gestischer Emotionsausdruck) ausgeführt. • Gefühlskomponente: Schließlich nimmt Scherer noch ein Monitorsystem an, das für die Reflexion und Kontrolle der Emotion zuständig ist. Hier werden die Resultate der anderen Komponenten zu subjektivem Erleben integriert. In neueren Versionen des Modells (vgl. Scherer 2013; Brosch/ Scherer 2009) sind im Großen und Ganzen dieselben Systeme beteiligt, allerdings wird der kognitiven Komponente größere Bedeutung eingeräumt. Von der Abfolge her sind komplexe Appraisal-Prozesse (z.B. Relevanzbeurteilung, Attributionen, Beurteilung der Bewältigbarkeit) die erste Stufe und somit die Voraussetzung für die anderen Prozesse. Scherers Definition verlangt nach Veränderungen in allen genannten Systemen - ein Ansatz, der von anderen Forscherinnen und Forschern kritisiert wird. So muss nach Merten (2003: 34) von einer Emotion gesprochen werden, wenn auch nur ein Subsystem aktiv wird. Ulich und Mayring unterscheiden zwischen konstitutiven und fakultativen Komponenten und verlegen den Schwerpunkt von Emotionsprozessen auf - bei Scherer nicht genannte - Komponenten wie persönliche Dispositionen und die Art des auftretenden Ereignisses, das emotional verarbeitet werden muss. Die bei Scherer obligatorische Aktivierung von Systemen betrachten Ulich und Mayring (2003: 46-51) eher als Folgen denn als Bestandteile von Emotionen. Als Vermittlungsversuch weist Mees (1991: 186ff.) in Anlehnung an Laucken und den logographi- <?page no="26"?> 2 - Emotionen -im -Spiegel -der -Emotionsforschung 16 schen Ansatz in der Psychologie darauf hin, dass unterschiedliche Perspektiven auf den unterschiedlichen Analyseebenen beruhen, die in den Einzelwissenschaften im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. Die ‚Lebenswelt‘ 6 - unsere unmittelbare, aber subjektive Lebenswirklichkeit - kann in Bezug auf Emotionen mit dem Erlebensaspekt übersetzt werden. Die Geisteswelt - Ideen, Symbole, Information - entspricht der kognitiven Komponente. Die Körperwelt - die experimentell erfassbaren, wissenschaftlich-mathematisch beschreibbaren Anteile an der Wirklichkeit - wird bei der Analyse der physiologischen Komponente berührt. Ebenso lassen sich mit Laucken (1989: 104) L-Gefühle (episodische, subjektive Emotionserlebnisse), G- Gefühle („geistige Gehalte, Informationen und Modi deren Verarbeitung“) und K-Gefühle (z.B. „neurochemische Ereignisse“) unterscheiden. Eine weitere kritische Frage betrifft den Zeitaspekt von Emotionen: Wie lange dauern sie an? Sekunden, Minuten, Stunden? Es wird vielfach unterschieden zwischen Emotionen, die lange andauern können, und emotionalen Episoden, die nur von kurzer Dauer sind und eher Affektprogrammen bzw. -reaktionen entsprechen (vgl. Zimmer 1981: 16ff.; Kochinka 2004: 40ff., 141f.). Psychologische Emotionsdefinitionen setzen meist bei dieser zweiten zeitlichen Ebene an, auf der die kurzfristigen Komponenten Emotionsausdruck, physiologische Parameter und der Erlebensaspekt in Aktion sind. Es können jedoch auch mehrere gleichwertige Zeithorizonte in Bezug auf Emotionen angenommen werden, wonach beispielsweise die physiologischen Veränderungen einen sehr kurzfristigen Zeithorizont haben, während der evolutionäre Zeithorizont gattungsspezifische Veränderungen umfasst. Für die vorliegende Arbeit sind vor allem der situationale Lebenshorizont, das heißt die momentane Abstimmung, und der biographische Lebenshorizont relevant, also die Emotionalität über die Lebensspanne hinweg betrachtet. Für einige emotionslinguistische Fragestellungen spielt auch der historische Horizont eine Rolle, der sich über mehrere Generationen erstreckt (vgl. Vester 1991: 42). Bevor die wichtigsten Definitionsmomente vertieft werden, soll festgehalten werden, was Emotionen nicht sind und wie sie in der Emotionsforschung klassifiziert werden. 2.2.2 - Abgrenzung -von -anderen -Termini Grenzziehungen zwischen Emotion und anderen Phänomenen sind meist nicht eindeutig, was meines Erachtens daran liegt, dass die in der Folge diskutierten Termini und dahinter stehenden Konzepte ein semantisches Netz mit 6 Für eine nähere Bestimmung der Begriffe Lebenswelt, Geisteswelt und Körperwelt vgl. Laucken (1989: 20, 34, 71ff., 104-109). <?page no="27"?> 2.2 - Zum -Problem -der -Emotionsdefinition - 17 vielerlei Verknüpfungen, Assoziationen und auch Überschneidungen bilden. Teilweise handelt es sich auch um Aspekte von Emotionen. Auf diese Weise entsteht ein Bedeutungsfeld, dem ich das Etikett ‚Emotionales Leben des Menschen‘ verleihen möchte. Kategorisierungen wie jene innerhalb der Emotionspsychologie sind laut Engelen (2005: 302) in erster Linie semantische Abgrenzungen und nicht als ‚natürliche Klassen‘ misszuverstehen. Scharfkantige Demarkationslinien sind in Anbetracht des Erkenntnisinteresses der vorliegenden Arbeit unter Umständen gar nicht notwendig, weil sie auch in der Alltagssprache sehr oft nicht vorgenommen werden (vgl. Schmidt-Atzert 1980: 25). In der Analyse ist das gesamte semantische Spektrum von Interesse. Auf historische Aspekte und die Erklärung von veralteten Lexemen wie Leidenschaften und Pathos wird verzichtet. 7 Besprochen werden in der Folge die Begriffe Gefühl, Empfindung, Affekt, Stimmung, Motivation, trait bzw. state, Empathie und Stress. In der Alltagssprache wird Gefühl oft synonym mit Emotion verwendet; andererseits ist der Begriff weiter gefasst und bezeichnet etwa ungenaue Gedanken (Ich habe das Gefühl ...) und auch Schmerz- und Hungergefühle, die keineswegs Emotionen sind (vgl. Zimmer 1981: 17f.). Emotion und Gefühl sowie abgeleitete Lexeme (wie z.B. emotional und gefühlvoll) sind wissenschaftlich betrachtet jedoch keine Synonyme. Unter einem Gefühl wird in der Emotionspsychologie meistens das subjektive Erleben einer Emotion verstanden, inklusive der Wahrnehmung der körperlichen Veränderungen und des Ausdrucksverhaltens (vgl. Jäncke 2013: 685; Otto/ Euler/ Mandl 2000b: 13f.). Ein Gefühl ist in dieser Fassung Token, während das Konzept der dazugehörenden Emotion als Type einzustufen ist (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 78). Allerdings gibt es auch abweichende Definitionen: Zimmer (1981: 16f.) etwa fasst Gefühle als „Augenblickszustand“, während eine Emotion ein länger andauernder Prozess ist. Ein Gefühl kann sowohl ein aktueller Zustand als auch eine latente Disposition sein (vgl. Hartmann 2005: 31). Genau umgekehrt sieht es Engelen (2005: 300): Sie schlägt vor, Emotionen als stereotype, relativ kurzfristige Reaktionen zu verstehen - mit allen empirisch gut nachweisbaren Aspekten, die in der Emotionsforschung, vor allem in der Emotionspsychologie, im Vordergrund stehen. Gefühle hingegen sind von längerer Dauer und weisen keine Erregungskomponente auf, weswegen sie schwerer zu untersuchen sind. Fries (2004: 3) wiederum verwendet das Lexem Emotion für „durch Zeichen codierte seelische Empfindungen“, während Gefühl diffusere Bedeutung hat, etwa auch Ahnungen umfasst und in verschiedenen Komposita wie z.B. Sprachgefühl mit abweichender Bedeutung vorkommt. 7 Überblicke hierzu finden sich beispielsweise im Sammelband Craemer-Ruegenberg (1981). Vgl. auch Schwarz-Friesel (2007: 139ff.) für einen Überblick über verschiedene Verwendungsweisen in der Fachliteratur. <?page no="28"?> 2 - Emotionen -im -Spiegel -der -Emotionsforschung 18 Gefühle im engeren Sinn „stellen eine Kombination dreier Verhaltensebenen dar: der subjektiv-psychologischen, der motorisch-verhaltensmäßigen und der physiologisch-humoralen Ebene“ (Fries 2004: 4). Kailuweit (2005: 59ff.) kritisiert die wissenschaftliche Verwendung des Terminus Emotion. Dieser sei gerade in der englischen Sprache, durch die er in die deutschsprachige wissenschaftliche Literatur eingegangen ist, keineswegs neutral, sondern lege bestimmte, durchaus problematische Deutungen (wie etwa kurze Dauer) nahe. In der vorliegenden Arbeit wird jedoch der emotionspsychologischen Definition der Vorzug gegeben. Schwarz-Friesel (2007: 143) fasst diese unterschiedliche lexikalische Bedeutung von Emotion und Gefühl anschaulich zusammen: • Emotion: MENSCHLICH, SYNDROMKOMPLEX, MEHRDIMENSIO- NAL, BEWERTUNGSSYSTEM. • Gefühl: MENSCHLICH, ERLEBENSKOMPONENTE VON EMOTION, BEWUSST, SUBJEKTIV. In Bezug auf die vorliegende Arbeit muss dieser Definition folgend klargestellt werden, dass nicht Emotionen, sondern bestenfalls Gefühle - noch genauer formuliert: die sprachliche Repräsentation von Gefühlen - linguistisch untersucht werden können (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 78). Da das Wort Gefühl allerdings durch seine vielen Bedeutungsnuancen und die Konnotation von Unwissenschaftlichkeit besetzt ist (vgl. Wierzbicka 1999: 1f., 23), bleibe ich bei dem Distanz schaffenden Terminus Emotion. Eine Empfindung ist die Wahrnehmung körperlicher Veränderungen, die mit einer Emotion einhergehen (z.B. Temperaturanstieg, Herzklopfen o.Ä., vgl. Voss 2004: 13, abweichender Gebrauch z.B. bei Hartmann 2005: 31). Im Deutschen wird Affekt als kurz andauernde, sehr heftige Emotion verstanden, meist in Zusammenhang mit gewalttätigen oder anderweitig gesellschaftlich nicht akzeptierten Handlungen (vgl. Otto/ Euler/ Mandl 2000b: 13: Merten 2003: 11). Im Englischen ist affect ein Synonym zu emotion oder der Oberbegriff für alle emotionalen Phänomene. Ein ähnlicher Gebrauch findet sich in deutschsprachigen philosophischen Arbeiten (vgl. Voss 2004: 11). Für die Abgrenzung der Stimmungen von den Emotionen werden drei Kriterien herangezogen: Stimmungen sind erstens weniger intensiv (Kriterium der Intensität), zweitens länger andauernd (Kriterium der Dauer) als Emotionen und haben drittens für gewöhnlich eine weniger klare Ursache (Kriterium der Objektbezogenheit) (vgl. Otto/ Euler/ Mandl 2000b: 12f.; Engelen 2005: 289ff.). Es handelt sich also nicht um strikt voneinander getrennte Entitäten, sondern um „Abstufungen auf einem grundlegenden Kontinuum <?page no="29"?> 2.2 - Zum -Problem -der -Emotionsdefinition - 19 emotionaler Prozesse“ (Otto/ Euler/ Mandl 2000b: 13). Stimmungen werden auch als Vorstufen zu Emotionen verstanden (vgl. Siegel 2006: 150). Für die Analyse in der vorliegenden Arbeit sind nicht nur Emotionen im engeren Sinn, sondern auch Stimmungen relevant, zumal eine eindeutige Abgrenzung im kommunikativen Zusammenhang oft nicht möglich sein wird. Motivation wird von Zimbardo/ Gerrig (2008: 738) folgendermaßen definiert: „Der Prozess der Initiierung, der Steuerung und der Aufrechterhaltung physischer und psychischer Aktivitäten; einschließlich jener Mechanismen, welche die Bevorzugung einer Aktivität sowie die Stärke und Beharrlichkeit von Reaktionen steuern.“ Positive Emotionen motivieren laut Hamm (2006: 530) zu einer Annäherung („appetitives Motivationssystem“), negative hingegen zu Vermeidungsverhalten („aversives“ Motivationssystem). Das Verhältnis von Motivation zu Emotion ist jedoch umstritten. Für Frijda (1987: 77, 460) ist die Unterscheidung zwischen den beiden Begriffen praktisch aufgehoben, indem er davon ausgeht, dass die Bereitschaft zu einem bestimmten Verhalten (die Motivation) dem Individuum bewusst wird und dann als Emotion erlebt wird. Gegen diese Gleichsetzung zwischen Motivation und Emotion argumentieren Kochinka und Sokolowski. Für Kochinka (2004: 86) existiert „kein direkter Berührungspunkt“ zwischen den beiden Konzepten - sie sind lediglich über die Zwischenschritte Verhalten und Handlungen 8 lose verbunden, denn weder Verhaltensweisen noch Handlungen seien integrale, unerlässliche Bestandteile eines Gefühls. Im sogenannten Regelkreismodell, das Jäncke (2013: 684) darstellt, sind Emotionen ein Zeichen für die Abweichung des Ist-Zustands vom Soll-Zustand, was den Organismus zu Handlungen motiviert, den Ist-Zustand dem Soll-Wert anzugleichen. Auch für Sokolowski (1993: 178) ist ein vermittelnder Schritt zwischen Emotion und Motivation notwendig: Dieser Schritt besteht in den sogenannten hot cognitions, die vor allem die Aufmerksamkeit und die Handlungsbereitschaft beeinflussen. Unter traits versteht man zeitlich überdauernde Charaktereigenschaften, die in Zusammenhang mit Stimmungen oder Emotionen stehen. Ein Beispiel ist Ängstlichkeit, also die Tendenz, vergleichsweise oft mit Angst auf Reize zu 8 In der Motivationspsychologie gibt es zwei unterschiedliche Perspektiven auf den Zusammenhang zwischen Individuum und Antrieb. In der Konzeption der push- Motivation wird eine bestimmte Motivation (hier übersetzbar mit Beweggründen) als Ursache für ein bestimmtes Verhalten angenommen, im Sinne eines Getriebenseins durch diese Beweggründe. Anhänger des Konzeptes der pull-Motivation hingegen verstehen Motivation als Handlungsgrund. Menschen verfolgen durch Handlungen Absichten, sie handeln intentional. Kochinka (2004: 68ff.) streicht ausführlich den Unterschied dieser beiden Haltungen heraus, denn je nach Sichtweise verschiebt sich auch die Perspektive auf Emotionen. <?page no="30"?> 2 - Emotionen -im -Spiegel -der -Emotionsforschung 20 reagieren. Ein state hingegen ist ein aktueller emotionaler Zustand, beispielsweise das einmalige Erleben von Angst in einer ganz bestimmten Situation. Empathie bezeichnet das Einfühlungsvermögen in die emotionalen Zustände anderer Personen bzw. eine emotional ähnliche Reaktion auf Emotionen anderer Menschen. Im Gegensatz dazu ist Mitgefühl eine kummervolle Reaktion auf die Wahrnehmung des emotionalen Zustandes einer anderen Person, ohne dass eine Übereinstimmung in der Emotionsqualität bestehen muss (vgl. Steins 2009: 723f.). Man unterscheidet nach Wallbott (2000: 370f.) grundsätzlich zwischen zwei verschiedenen Arten von Empathie: Kognitive Empathie ist das Ergebnis einer rationalen Analyse und beruht auf der bewussten Wahrnehmung von emotionalen Zuständen anderer Personen, während affektive Empathie ein unbewusster Prozess der Einfühlung ist. Die Grundlage dafür könnte ein Rückgriff auf eigene Emotionserfahrung und Emotionsschemata sein oder die automatische Imitation und Ansteckung, z.B. aufgrund von unbewusster Nachahmung von emotionaler Mimik. Das individuelle Empathieverhalten hängt Steins (2009: 725f.) zufolge sowohl von der Disposition zur Emotionsregulationsfähigkeit als auch von der Sozialisation ab (speziell vom Erziehungsstil der Eltern). Hinsichtlich der Empathiefähigkeit erhält in letzter Zeit ein neurobiologisches Forschungsgebiet viel Aufmerksamkeit, insbesondere von der populärwissenschaftlichen Ratgeberliteratur, aber auch von der Philosophie, sodass es hier kurz gestreift wird: Spiegelneurone. Dabei handelt es sich um Neurone, die sowohl beim Ausführen von Handlungen als auch beim Beobachten von Handlungen anderer Menschen feuern, das heißt, elektrische Erregung (Aktionspotenziale) weiterleiten (vgl. Rizzolatti/ Sinigaglia 2008: 91; Bauer 2006: 23ff., 55f.). Bestimmte Gehirnareale fungieren laut Rizzolatti/ Sinigaglia (2008: 56, vgl. auch 57ff., 61ff., 80) als erworbenes „Wörterbuch der Akte“, das Mustern für Handlungen wie z.B. Ergreifen umfasst und die Integration von Wahrnehmen und Handeln, die Orientierung im Raum sowie das Erreichen von Handlungszielen ermöglicht. Die Funktionen von Spiegelneuronen sind mit dem Verstehen von Handlungen und mit dem Lernen durch Nachahmung zu beschreiben. Es werden unter anderem auditiv-visuelle, ingestive (mit der Nahrungsaufnahme zusammenhängende) und kommunikative Spiegelneurone unterschieden. In Hinblick auf Emotionalität und Empathie, aber auch in Hinblick auf Sprache sind die kommunikativen Spiegelneurone entscheidend. Ihren Ursprung haben sie in den sozial bedeutsamen Handlungen zur Fellpflege (Grooming) bei den Primaten, die wiederum eng mit motorischen Handlungen zur Nahrungsaufnahme verknüpft sind (vgl. Rizzolatti/ Sinigaglia 2008: 96f., 99f.). Stress wird mitunter, beispielsweise bei Zimbardo/ Gerrig (2008: 468), selbst als Emotion aufgefasst. Häufiger wird er jedoch als ein wichtiger Auslöser von Emotionen wie Wut, Neid, Angst usw. eingestuft (vgl. Laza- <?page no="31"?> 2.2 - Zum -Problem -der -Emotionsdefinition - 21 rus/ Lazarus 1994: 228ff., 238; Faller/ Verres 1990: 719ff.). Stress ist in der Definition von Zimbardo/ Gerrig (2008: 745) das „Muster spezifischer und nichtspezifischer Reaktionen eines Organismus auf Ereignisse, die sein Gleichgewicht stören und seine Fähigkeit, diese zu bewältigen, stark beansprucht oder übersteigt“. Unterschieden werden eustress und distress: Eustress ist die positive Anspannung, die uns hilft, Ziele zu erreichen, während distress den als unangenehm empfundenen Stress bezeichnet (vgl. Vester 1991: 45). Ein zweites Begriffspaar, z.B. verwendet von Lazarus/ Lazarus (1994: 223), ist physiologischer versus psychologischer Stress. Je länger Stress andauert, desto unangenehmer wird er empfunden und desto destruktiver wirkt er auf die Gesundheit. Die Intentionalität ist für Ben-Ze’ev (2009: 74f.) ein sehr wichtiges Kriterium für die Abgrenzung von Emotionen gegenüber anderen Emotionsphänomenen. Er unterscheidet vier Typen aufgrund von vier Formen der Intentionalität: Emotionen weisen spezifische Intentionalität auf und sind ein okkurenter (aktuell auftretender) Zustand (z.B. Zorn). Sentiments sind ebenfalls spezifisch, aber dispositionale Zustände (z.B. Liebe). Stimmungen haben nur allgemeine Intentionalität und sind okkurent (z.B. Niedergeschlagenheit). Affektive Merkmale (traits) sind allgemein intentional und dispositional (z.B. Schüchternheit). 2.2.3 - Die -Ordnung -der -Emotionen Freude, Wut, Liebe, Trauer, Eifersucht, Stolz, Hass, Verzweiflung, Angst, Neid ... Diese und zahlreiche andere Lexeme bezeichnen dem Alltagsverständnis nach Gefühle, die wohl jedem Menschen vertraut sind. Was Liebe von Angst unterscheidet, wissen wir durch unsere Intuition, unsere Lebenserfahrung, unser Weltwissen, die Eintragungen in unser mentales Lexikon, kognitive Schemata und Scripts. Diese impliziten Kenntnisse sind für die vorliegende Arbeit von vorrangiger Bedeutung. Für eine wissenschaftliche Identifizierung, Ordnung, Beschreibung und Analyse einzelner Emotionsqualitäten sind diese Alltagserfahrungen und (kognitions-)linguistischen Aspekte jedoch nur eine schmale Basis. Gesucht wird nach der psychologischen und insbesondere nach der physikalischen Wahrheit der Ordnung der Emotionen. Das wesentliche Problem einer solchen Ordnung ist stets das Kriterium, das ihr zugrunde liegt: Häufig herangezogen werden Gesichtsausdrücke, peripher-physiologische Reaktionen, kognitive Prozesse, Handlungstendenzen und Gehirnprozesse, was jeweils sehr unterschiedliche Ergebnisse hervorbringt (vgl. Russell/ Lemay 2004: 500). <?page no="32"?> 2 - Emotionen -im -Spiegel -der -Emotionsforschung 22 Basisemotionen Die Überzeugung, dass einige Emotionen „biologisch und psychologisch grundlegend“ (Meyer/ Schützwohl/ Reisenzein 1997: 157) sind, findet sich besonders häufig in evolutionspsychologisch orientierten Emotionstheorien. Sogenannte Basisemotionen sollten in den Bedingungen ihres Auftretens und in ihrer Ausprägung kulturell universell sein, in der kindlichen Entwicklung früh auftreten und wichtige adaptive - also die Anpassung des Organismus an die äußeren Lebensbedingungen betreffende - Funktionen übernehmen (vgl. Meyer/ Schützwohl/ Reisenzein 1997: 67ff.; Euler 2000: 47). Basisemotionen zeigen ein bestimmtes, weitgehend vorhersagbares Profil auf allen emotionsrelevanten Ebenen. Diese Ebenen stimmen mit den genannten Komponenten einer Emotion überein. Beispielsweise sind also Emotionsauslöser, peripher-physiologische Erregungsmuster und zentralnervöse Veränderungen sowie emotionsspezifische Handlungstendenzen (bei Furcht etwa Flucht) für Basisemotionen genetisch festgelegt und laufen nach einem determinierten Programm ab (vgl. Mitmansgruber 2003: 27f.), während sekundäre und tertiäre Emotionen (auch: komplexe Emotionen) nach Vester (1991: 33) „kulturell variabler“ und von sozialen Rahmenbedingungen abhängig sind. Primärgefühle sind zudem kaum verbalisierbar und treten entwicklungspsychologisch bereits im vorsprachlichen Stadium auf, während die Voraussetzung für Sekundärgefühle „anspruchsvolle epistemische und sprachliche Kompetenzen“ (Voss 2004: 211) sind. Auch die sekundären Emotionen basieren auf biologischen Mechanismen, werden aber sehr stark durch soziale und kulturelle Konstruktionen geformt (vgl. Johnson-Laird/ Oatley 2004: 466f.). Insbesondere der für universell erachtete mimische Ausdruck bestimmter Emotionsqualitäten wird immer wieder als Beweis für das Vorhandensein von Basisemotionen herangezogen. Bestimmte Muster des mimischen Ausdrucks sind schon bei sehr kleinen Kindern zu beobachten und insofern wahrscheinlich angeboren - hier spricht man von Precursor-Emotionen, obwohl es sich eigentlich, wie Kurilla (2013: 439) richtig bemerkt, um precursor expressions handelt. Häufig genannte Qualitäten sind Abscheu (Ekel), Ärger, Freude (Glück), Trauer, Angst und Verachtung (vgl. Ellgring 2000: 90; Schwarz/ Ziegler 1996: 48ff. für eine Übersicht). Es besteht jedoch kein Konsens in Hinblick auf Anzahl und Benennung der Basisemotionen (vgl. Ulich/ Mayring 2003: 145). Nicht nur aus diesem Grund, sondern vor allem wegen seiner bisher nicht gelungenen empirischen Absicherung ist das Konzept umstritten (vgl. Mees 1991: 170ff.). Insbesondere die Annahme, dass alle anderen Emotionsqualitäten von den Basisemotionen ableitbar bzw. aus ihnen zusammengesetzt seien, stößt auf Ablehnung. Plädiert wird auch für die Annahme von nur <?page no="33"?> 2.2 - Zum -Problem -der -Emotionsdefinition - 23 zwei nicht weiter zerlegbaren Basisemotionen, nämlich Lust und Unlust (vgl. Meyer/ Schützwohl/ Reisenzein 1997: 169; Siegel 2006: 145f.). Für die vorliegende Arbeit und die vorzunehmende Analyse ist die Frage, ob es Basisemotionen gibt, weniger relevant, da das gesamte Emotionsspektrum wichtig ist und eine nähere Bestimmung von emotionalen Zuständen durch ihre Zerlegung in vermeintliche Basiskomponenten (z.B. Hass = Ekel + Wut, vgl. Plutchik 1994: 61) willkürlich erscheint. Beispielsweise ist Eifersucht zweifellos im Empfinden des Individuums eine eigene Qualität, und dieses Erleben ist der für die Analyse wesentliche Aspekt einer Emotion. Zur -Dimensionierung -und -Klassifikation -von -Emotionen Die meisten Untersuchungen zur Dimensionierung oder Klassifikation von Emotionen sind sprachlich-qualitativer Natur: Paarvergleiche, Clusteranalysen, die Erstellung von Semantischen Differenzialen sowie die Untersuchung von empirischer Kovariation (vgl. Schmidt-Atzert 2000: 34 sowie 2009a: 572; Ulich/ Mayring 2003: 151; Plutchik 1994: 47, 65f.; Gessner 2004: 46; Rummer/ Engelkamp 2000: 325). Bei den genannten qualitativen Methoden wird also meist nur die Semantik von Emotionswörtern gemessen - und selbst das oft unbefriedigend, wenn dies kontextfrei erfolgt (vgl. Plutchik 1994: 48f.). Dennoch wurden im Wesentlichen dieselben drei Dimensionen der Beschreibung extrahiert (vgl. Roth 2001: 267f.; Rummer/ Engelkamp 2000: 326): 1) Valenz (hedonische Dimension): Wird die Emotion als positiv oder negativ erlebt? 2) Aktivität: Wird die Emotion als erregend oder beruhigend empfunden? 3) Potenz oder Intensität: Wie stark oder wie schwach wird die Emotion empfunden? Eine Bemerkung zur Valenz: Die Unterscheidung von positiven und negativen Emotionen betrifft die Art, wie die Emotion für gewöhnlich empfunden wird. Negativ beurteilte Emotionen werden keineswegs immer negativ erlebt (z.B. ‚kathartische Wut‘, ‚süße Melancholie‘). Einen Gedanken von Vester (1991: 28) aufgreifend ist „bereits die Etikettierung von emotionalen Phänomenen als ‚positiv‘ oder ‚negativ‘ das Ergebnis kulturell bedingter Konnotation und Assoziation“. Izard (1999: 25) schlägt vor, die Unterscheidung von positiv und negativ so zu sehen, dass manche Emotionen eher „zu psychologischer Entropie führen“, während andere „eher konstruktives Verhalten oder die Umkehrung von Entropie fördern“. Die Einzelemotionen weisen ein gewisses Spektrum zwischen positiver und negativer Valenz auf, was bei der Analyse im Einzelfall zu berücksichtigen ist. <?page no="34"?> 2 - Emotionen -im -Spiegel -der -Emotionsforschung 24 Alternativvorschläge sehen weitere Dimensionen vor, beispielsweise die Beziehung zum Emotionsauslöser (Annäherung - Entfernung - Gegenbewegung) sowie den Glauben an die Bewältigbarkeit (Verbesserung - Inkompetenz - Unzulänglichkeit) (vgl. Davitz 1970: 256). Empirisch gut bestätigt sind lediglich die beiden Skalen Lust - Unlust und Erregung - Beruhigung, doch eine Ordnung der Emotionen aufgrund dieser Pole ist für eine zufriedenstellende Unterscheidung von Emotionen zu ungenau. Beispielsweise gehen sowohl Wut als auch Hass mit starken Unlustgefühlen und großer Erregung einher (vgl. Schmidt-Atzert 2009a: 572f., 575). Ein sehr ausgefeiltes, aber auch umstrittenes dreidimensionales Strukturmodell findet sich bei Plutchik (1970; 1994: 102 für graphische Darstellungen). Ein anderer Ansatz zur Ordnung der Emotionen sieht vor, Emotionen als diskrete Zustände zu betrachten und sie in klare Kategorien einzuteilen. Die Kriterien, nach denen diese Einteilung geschieht, sind jedoch von Studie zu Studie verschieden und hängen wesentlich von den Hintergrundannahmen des jeweiligen Emotionskonzepts ab. Mit sprachlich-qualitativen Methoden bestätigte Kategorien sind Ärger, Angst, Traurigkeit und Freude. Außerdem werden in vielen Studien Abneigung/ Ekel, Unruhe, Scham, Zuneigung und Überraschung als eigenständige Klassen genannt (vgl. Schmidt-Atzert 2000: 37). Unter diesen Kategorien haben wir nun jedoch nichts anderes als Oberbegriffe für unterschiedliche Cluster von Emotionswörtern zu verstehen. Ein Vergleich mit anderen Methoden - mit der Untersuchung der Kovariation im Alltag und von mimischem Emotionsausdruck - ergibt, dass Freude, Angst, Traurigkeit und Ärger von allen Emotionspsychologinnen und -psychologen genannt werden (vgl. Schmidt-Atzert 2009a: 574). An dieser Stelle sei nur ein Modell zur Klassifikation von Emotionen vorgestellt, nämlich der Ansatz von Ortony, Clore und Collins (1988), Vertretern der Attributionstheorie aus dem Paradigma der kognitiv orientierten Emotionspsychologie (siehe 2.3.5). Die verschiedenen Emotionsqualitäten beruhen auf Bewertungen von Ereignissen, Handlungen und Objekten. Die Klassifikation wird in der Folge knapp wiedergegeben. 1) Ereignisfundierte Emotionen sind Gefühle in Bezug auf ein erwünschtes oder unerwünschtes Ereignis und beruhen auf einem persönlichen Wunsch. a) Empathieemotionen betreffen das Wohlgefühl anderer, hier werden Sympathieemotionen (positiv: Mitfreude, negativ: Mitleid) und Antipathieemotionen (positiv: Schadenfreude, negativ: Neid/ Missgunst) unterschieden. b) Emotionen, die das eigene Wohlbefinden betreffen, sind weiter unterteilt in Wohlergehen-Emotionen (positiv: Freude, negativ: Leid) und erwartungsfundierte Emotionen. Für letztere nehmen Ortony, Clore <?page no="35"?> 2.3 - Aspekte -von -Emotionen: -Streiflichter - 25 und Collins drei Untertypen an: Ungewissheitsemotionen (positiv: Hoffnung, negativ: Furcht), Emotionen der Erwartungsbestätigung (positiv: Befriedigung, negativ: bestätigte Furcht) und Emotionen der Erwartungsentkräftigung (positiv: Erleichterung, negativ: Enttäuschung). 2) Handlungsfundierte Emotionen sind als Gefühle in Reaktion auf eine lobenswürdige oder tadelnswerte Handlung definiert. Selbstlob- und Selbstvorwurfsemotionen sind z.B. Stolz (positiv) und Schuld (negativ), während als Beispiele für Lob- und Vorwurfemotionen Bewunderung (positiv) und Empörung (negativ) gelten können. 3) Objektfundierte Emotionen schließlich beziehen sich auf ein Objekt bzw. auf seine Attraktivität und mit ihm verbundene Einstellungen. Sie lassen sich in Mögen-Gefühle (z.B. Liebe) und Nicht-Mögen-Gefühle (z.B. Hass) unterscheiden. 9 Ordnungsversuche jüngeren Datums entstehen auf der Grundlage von modernen bildgebenden Verfahren wie der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) und der funktionalen Magnet-Resonanz-Tomographie (fMRT). Vorläufige Ergebnisse deuten darauf hin, dass der vermeintliche Gegensatz zwischen dimensionalen und klassifikatorischen Ansätzen obsolet sein könnte. Demnach sind Emotionen im menschlichen Organismus sowohl nach dimensionalen als auch nach kategorialen Kriterien geordnet (vgl. Merten 2003: 22). 2.3 - Aspekte von Emotionen: Streiflichter Die folgende Besprechung der einzelnen Aspekte von Emotionen, die bereits genannt wurden, ist ein kursorischer Überblick. Ergebnisse der Emotionsforschung werden knapp, gewiss auch vereinfachend dargestellt. Ziel ist ein besseres Verständnis der genannten Komponenten einer Emotionsdefinition sowie die Darstellung von Forschungsergebnissen, die für die Emotionslinguistik von Interesse sind. 2.3.1 - Emotion -und -Individuum In diesem Abschnitt werden zwei Zusammenhänge zwischen dem individuellen Erleben von Emotionen gestreift: das Erleben selbst sowie die organisierende Funktion von Emotionen für die Persönlichkeit. 9 Die deutsche Übersetzung der Fachbegriffe ist Reisenzein/ Meyer/ Schützwohl (2003: Kap. 4) und Reisenzein (2009: 438) entnommen, der graphische Überblick über das Originalmodell findet sich bei Ortony/ Clore/ Collins (1988: 69). <?page no="36"?> 2 - Emotionen -im -Spiegel -der -Emotionsforschung 26 Der Erlebensaspekt betrifft die subjektive Komponente einer Emotion: Emotionen sind untrennbar mit einem erlebenden Individuum verbunden (vgl. Oatley/ Jenkins 1998: 96). Sie werden durch relevante Ereignisse ausgelöst und sowohl durch Zustandsvariablen (z.B. die aktuelle körperliche und psychische Verfassung) als auch von „erfahrungsabhängige[n] Persönlichkeitsdeterminanten“ (Ulich/ Mayring 2003: 84) und vom Kontext beeinflusst, wodurch sie stets eine einzigartige, individuelle Angelegenheit sind (vgl. Hamm 2006: 528f.). Daher lehnen es z.B. Ortony, Clore und Collins (1988: 176ff.) ab, unbewusste Gefühle anzunehmen, während zugrunde liegende Prozesse und Hintergrundannahmen sehr wohl dem Bewusstsein unzugänglich bleiben können. Eine Emotionstheorie sollte nach Ansicht von Voss (2004: 8f., 67) neben wissenschaftlichen Ansprüchen auch dem Kriterium genügen, dass sie mit dem alltäglichen menschlichen Erleben von Emotionen in Einklang zu bringen ist. Um dies zu bewerkstelligen, müsse die subjektive Komponente einer Emotion berücksichtigt werden. Hier eröffne sich jedoch das bereits angesprochene Problem, dass Emotion und Gefühl nicht gleichzusetzen sind. Emotionale Episoden, die ganzheitlich vom Individuum als ein einziges Emotionserlebnis empfunden werden, können mit sehr unterschiedlichen körperlichen und kognitiven Abläufen einhergehen. Wir haben keine absolute Kontrolle über unsere Selbstwahrnehmung, können inkonsequent sein, uns irren, Erkenntnisse willentlich und unwillentlich verzerren. Dennoch verfügen wir über vielfältige Wissensbestände für Emotionen, wie Schmidt (2005b: 23f.) sie näher beschreibt: „unbewusstes Wissen auf der neuronalen Prozessebene, assoziatives nonverbales Wissen auf der Ebene der Script- und Prototypenbildung, bewusstes Wissen auf der kognitiven Ebene und kulturelles Wissen auf der Ebene von Kommunikation und Kultur“. Doch wie gesichert ist dieses Wissen, wie unbestechlich ist unsere Erfahrung? Körperempfindungen von physiologischen Prozessen und Ausdrucksempfindungen, die den unwillkürlichen Emotionsausdruck und Handlungsbereitschaften betreffen, bilden die Grundlage des Bewusstseins. Die erlebten Gefühle sind von diesen Prozessen abhängig, ja, sie werden von ihnen verursacht (vgl. Holodynski 2006: 45). Durch Gefühle wiederum wird die Aufmerksamkeit des Organismus auf ein Problem verlagert, dessen Bearbeitung durch die Emotion bereits begonnen wurde (vgl. Damasio 2003: 341f.). Wichtig für das Gefühlserleben ist jedoch der Emotionsanlass, sei es eine Situation, eine Person oder auch nur ein Gedanke. Ohne die Verknüpfung einer Körperempfindung mit einer Wahrnehmung äußerer Umstände liegt keine Emotion vor. Wir neigen jedoch dazu, unseren Emotionen ihre Konstruiertheit abzuspre- <?page no="37"?> 2.3 - Aspekte -von -Emotionen: -Streiflichter - 27 chen - das heißt, Gefühle werden als etwas Reales wahrgenommen, das uns überwältigt, nicht etwas, das wir aktiv erzeugen (vgl. Holodynski 2006: 45f.). Typisch für diese Konstruktion von Emotionen ist auch unsere Annahme, dass Emotionen eine Ursache haben. Unterschiedliche Situationen, Objekte, Kognitionen usw. können als Auslöser für Emotionen fungieren, und zwar auf der Grundlage verschiedener Kriterien wie z.B. der angenommenen Realität des emotionsauslösenden Geschehens, seiner Relevanz und situativer Umstände (vgl. Ben-Ze’ev 2009: 88-113 für eine Übersicht). Emotionen sind wie erwähnt für gewöhnlich intentional (man ist ‚wütend auf etwas‘). Die Eigenständigkeit bzw. Wichtigkeit dieses Aspekts ist insofern umstritten, als zwischen dem auslösenden Objekt, das nicht unbedingt real sein muss, und dem Auftreten der Emotion ein im weiten Sinne kognitiver Zwischenschritt wahrscheinlich ist (vgl. Meyer/ Schützwohl/ Reisenzein 2001: 24, 31). Während das subjektive Erleben als state definiert werden kann, haben auch traits große Auswirkungen auf den aktuellen Emotionsprozess. Der psychologische Terminus Persönlichkeit bezieht sich nach Zimbardo/ Gerrig (2008: 504) auf „eine komplexe Menge von einzigartigen psychischen Eigenschaften, welche die für ein Individuum charakteristischen Verhaltensmuster in vielen Situationen und über einen längeren Zeitraum hinweg beeinflussen“. Die Persönlichkeit nimmt eine „Moderatorfunktion“ (Krohne/ Kohlmann 1990: 487, Hervorhebung i.O.) zwischen emotionsauslösenden Ereignissen und resultierenden Emotionen ein. Zahlreiche Persönlichkeitsfaktoren lassen sich mit Emotionen in Verbindung bringen - angefangen von der genetischen Disposition über das Temperament, Bindungsmuster (Attachment), die Fähigkeit zur Emotionsregulation, Vulnerabilität bis hin zu Bewältigungsstrategien (Coping), zum Selbstkonzept und zur Emotionalen Intelligenz (vgl. Krohne/ Kohlmann 1990: Pekrun 2000). Exemplarisch erwähnt sei das häufig genannte Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit nach Eysenck (hier zitiert nach Zimbardo/ Gerrig 2008: 509), da alle genannten Persönlichkeitsfaktoren eng mit Emotionen zusammenhängen. Die fünf Faktoren sind Neurotizismus/ Emotionale Stabilität, Extraversion/ Introversion (Grad der Schüchternheit, Geselligkeit und Stärke der emotionalen Reaktion), Offenheit für Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit (Verantwortungsbewusstsein, Sorgfalt) und Verträglichkeit (Zuverlässigkeit, Freundlichkeit und Empathiefähigkeit). Bei dem Ansatz von Magai und McFadden (1995) handelt es sich um eine explizit an Emotionalität aufgehängte Persönlichkeitstheorie. Ihre Kernüberzeugung lautet: „emotions can become structuralized in the personality in form of personality traits“ (Magai/ McFadden 1995: 226). Die Persönlichkeit ist um ‚affective biases‘ (dt. etwa ‚affektive Voreingenommenheiten‘) organisiert. Diese affective biases werden zum einen durch genetische Einflüsse, zum anderen aber auch durch den elterlichen Erziehungsstil bestimmt (vgl. <?page no="38"?> 2 - Emotionen -im -Spiegel -der -Emotionsforschung 28 Magai/ McFadden 1995: 244f.). Emotionen beeinflussen alle kognitiven Prozesse und das Verhalten. Bei einer normalen emotionalen Entwicklung finden wir als Ergebnis relativ große Flexibilität in den persönlichen Eigenschaften (traits) vor, die mit Emotionen in Verbindung gebracht werden. Wir verfügen also über ein mehr oder weniger breites Emotionsrepertoire, aus dem das Individuum bei der alltäglichen Lebensbewältigung wählen kann (vgl. Magai/ McFadden 1995: 291f.). Auch Persönlichkeitsveränderungen, die sowohl sehr schnell und dramatisch als auch kaum merklich ablaufen können, sind eng mit Emotionen verbunden. Krisen, neue Rollenanforderungen usw. verändern emotionale Erfahrungen, indem ein emotionaler Schock ein emotionales Ungleichgewicht und neue Bewertungen auslöst. Nach entsprechender Reflexion kann eine Persönlichkeitsveränderung eintreten. Persönlichkeiten, die durch Emotionen wie Hass, Ekel und Verachtung definiert sind, weisen vermutlich rigidere kognitive Muster auf und sind folglich weniger flexibel als Persönlichkeiten, die rund um Emotionen wie Scham, Traurigkeit und Interesse organisiert sind (vgl. Magai/ McFadden 1995: 322). 2.3.2 - Evolution -und -Funktionen -von -Emotionen Unseren Emotionen liegen genetisch determinierte Mechanismen zugrunde, die sich im Laufe der Evolution durch natürliche Selektion herauskristallisiert haben und Verhaltensdispositionen begründen; diese helfen uns dabei, vielfältige umweltbezogene Anpassungsaufgaben des einzelnen Organismus und seiner Artgenossen zu lösen. Wie weit der Einfluss dieser angeborenen Mechanismen im Vergleich zu erworbenen Aspekten geht, ist fraglich (vgl. Izard 1999: 85). 10 Es gibt allerdings mimische, gestische und vokale Muster des Emotionsausdrucks, die nicht erlernt wurden und über unterschiedliche Kulturen hinweg konstant sind (vgl. Euler 2000: 46). Emotionen sind für Izard (1999: 63) das „Hauptmotivationssystem des Menschen“, in der Zusammenfassung von Meyer/ Schützwohl/ Reisenzein (1997: 146) „komplexe Ketten von Reaktionen mit stabilisierenden Rückmeldeschleifen, die eine gewisse Art von Homöostase des Verhaltens herstellen“. Buck (1999: 303) bezeichnet Emotionen als „readouts“ (dt. etwa ‚Auslesung‘) grundlegender motivationaler Zustände und Bedürfnisse, die genetisch festgelegt, neurochemisch bedingt und hoch spezialisiert sind. Im Laufe der Ontogenese entwickeln sie sich jedoch in Verbindung mit Lernprozessen, kognitiven Verknüpfungen und Sprache zu vielschichtigen Verhaltensweisen weiter (vgl. Merten 2003: 56). Auch evolutionspsychologische Emotions- 10 Vgl. Eibl-Eibesfeldt (1995) für ein Grundlagenwerk zur Humanethologie bzw. zur Biologie der Emotionen. <?page no="39"?> 2.3 - Aspekte -von -Emotionen: -Streiflichter - 29 theorien teilen also der Sozialisation eine wichtige Rolle für den Charakter unseres emotionalen Lebens zu. Emotionen erfüllen jeweils spezifische biologische Funktionen (vgl. Lazarus/ Lazarus 1994: 151), die in drei Klassen eingeteilt werden: motivierende Funktionen (Auslösung von adaptiven Verhaltensweisen), informative Funktionen (Information über den eigenen Zustand und Aufmerksamkeitslenkung) und soziale Funktionen (Kommunikation eigener und Erkennen fremder Bedürfnisse und Zustände) (vgl. Jäncke 2013: 683; Mitmansgruber 2003: 24ff.; Oatley/ Jenkins 1998: 310ff.). Von Ankowitsch (2002: 41) auf den Punkt gebracht: Emotionen „sagen uns, was gut für uns ist und was nicht.“ Hier besteht jedoch die Gefahr eines Zirkelschlusses: Man nimmt an, dass Emotionen dem Überleben einer Art dienen, und im selben Atemzug wird behauptet, dass eine Art überlebt hat, weil sie bestimmte Emotionen hat (vgl. Ulich/ Mayring 2003: 64, 78; Kochinka 2004: 26ff.; Fries 2000: 53ff.). Aus kognitionswissenschaftlicher Sicht sind die Funktionen von Emotionen zwar ähnlich, aber insgesamt komplexer: Emotionen sind nach Schwarz- Friesel (2008: 284f.) „Kenntnissysteme“, in denen sowohl angeborene Affektprogramme als auch sozial erworbene Erfahrungen und erlerntes Wissen festgehalten sind, aber ebenso „Bewertungssysteme“. Auch wenn die Gewichtsverteilung noch nicht feststeht, ist die nach wie vor häufig gestellte Frage ‚Kultur oder Natur? ‘ obsolet: Scheinbar paradox ausgedrückt ist die Plastizität dem menschlichen Gehirn angeboren. Das heißt, die Abhängigkeit des Menschen von seinen (Lern-)Erfahrungen ist evolutionär vorgesehen, wobei die biologische Grundausstattung bestimmte Themen (z.B. Bedrohungen), Reaktionen (z.B. Flucht) und Beziehungen (z.B. Mutter - Kind) und ein bestimmtes Spektrum der möglichen Ausprägungen vorgibt (vgl. LeDoux 2003: 19; Siegel 2006: 33). 2.3.3 - Verhalten, -Ausdruck -und -Handlungen Emotionen beeinflussen das Verhalten im Sinne von körperlichem Ausdruck, Verhaltensweisen und Handlungen (vgl. Engelen 2005: 291). Die Unterscheidung, ob bloßes Verhalten oder eine Handlung vorliegt - z.B. unwillkürlicher versus willkürlicher mimischer Emotionsausdruck -, ist in der Praxis oft kaum möglich und wird darüber hinaus von der Gehirnforschung infrage gestellt. Das sichtbare Verhalten ist im Alltag, aber auch in vielen Versuchsanordnungen jedenfalls das wesentliche Kriterium für die Zuschreibung von Emotionen eines Individuums durch Außenstehende. Wir interpretieren mithilfe kognitiver Prozesse Verhalten als Ausdruck interner Zustände: Beispielsweise beobachten wir eine Person, die wegläuft, und ein Objekt, vor dem sie weglaufen könnte, und identifizieren als Ursache für dieses Verhalten die Emotion Angst (vgl. Voss 2004: 114). <?page no="40"?> 2 - Emotionen -im -Spiegel -der -Emotionsforschung 30 Goldie (2000: 124, 134f.) hält es allerdings nicht für zielführend zu behaupten, dass Emotionen direkt ausgedrückt werden können - weder durch Verhalten noch durch Handlungen. Ein Beispiel: Jemand zerschlägt eine Vase. Hier sind mehrere Interpretationen möglich, unter anderem, dass es sich gar nicht um einen Ausdruck von Emotion handelt, sondern beispielsweise um eine Szene in einem Theaterstück, dass die Person ihre Wut zeigen möchte oder dass die Zerstörung Ausdruck eines Wunsches ist, eigentlich das Gegenüber zu verletzen. Wesentlich ist hier, dass diese Zuschreibung auf Interpretationen beruht, sodass Verhalten eine eher unsichere Grundlage für eindeutige Zuschreibungen von Emotionen ist (vgl. auch LeDoux 2003: 268ff.). Der Ausdrucksaspekt betrifft die expressive Seite von Emotionen: In Mimik, Gestik, Körperhaltung und in der Stimme zeigen sich Emotionen. Wie direkt diese Externalisierung ist und ob diese Komponente integraler Bestandteil einer Emotion ist, bleibt umstritten (vgl. Merten 2003: 15f.; Hartmann 2005: 18f.). Dem mimischen Ausdruck wurde und wird dabei in der Forschung am meisten Aufmerksamkeit geschenkt (vgl. Ekman 2000 für einen historischen Überblick). Ekman ist in diesem Gebiet der profilierteste Forscher aufgrund der von ihm formulierten neuro-kulturellen Theorie des mimischen Emotionsausdrucks. Der mimische Ausdruck und die physiologischen Parameter der Basisemotionen Freude, Ärger, Traurigkeit/ Trauer, Ekel, Furcht, Verachtung und Überraschung sind demnach genetisch festgelegt und somit zunächst universell, das heißt kulturunabhängig (vgl. Ekman 1988: 36, 78f.; Keltner/ Ekman 2004: 241f.). Allerdings gibt es sogenannte display rules, das sind die „erlernten individuellen bzw. kulturspezifischen Darstellungsregeln“ (Euler 2000: 47, vgl. auch Jäncke 2013: 691f.). Menschen können den mimischen Emotionsausdruck bis zu einem gewissen Grad steuern, das heißt unterdrücken, abschwächen oder verstärken. Die Regeln betreffen die erwartbare Intensität des Emotionsausdrucks, welche Emotionen wann ausgedrückt werden dürfen, wie Emotionen soziale Beziehungen regulieren, wie Emotionen enkodiert werden und wie sie dekodiert werden (vgl. Hess/ Kirouac 2004: 374f.). Die Facial-Feedback-Hypothese wiederum besagt, dass Emotionen von der Wahrnehmung und Differenzierung verschiedener Muster mimischer Veränderungen des Gesichtsausdrucks bestimmt werden, die ihrerseits von angeborenen Programmen abhängig sind. Experimente haben gezeigt, dass die Manipulation von Mimik und Körperhaltung das Empfinden beeinflussen können (vgl. Schmidt-Atzert 1996: 154-159; Meyer/ Schützwohl/ Reisenzein 2001: 162-166). Einzelne empirische Ergebnisse widersprechen der neurokulturellen Theorie und der Facial-Feedback-Hypothese laut Holodynski (2006: 14) allerdings. Die Kritik entzündet sich unter anderem daran, dass zur Benennung von mimischen Konstellationen Emotionswörter wie fear oder <?page no="41"?> 2.3 - Aspekte -von -Emotionen: -Streiflichter - 31 anger herangezogen werden, als handele es sich dabei um universale Konzepte - was nicht der Fall ist. Außerdem scheint es auch für die zentralsten Basisemotionen kulturabhängige Effekte zu geben - so entschlüsseln Versuchspersonen die Mimik von Angehörigen der eigenen Kultur besser (vgl. Metts/ Planalp 2011: 286). Vertreterinnen und Vertreter des verhaltensökologischen Standpunktes (vgl. Fridlund/ Duchaine 1996: 278 für eine kurze Darstellung der Theorie) nehmen aus diesen und ähnlichen Gründen an, dass der mimische Ausdruck von Emotionen ausschließlich erlernt wird und vollkommen kontextabhängig ist. Er dient der Signalisierung von Emotionen in sozialen Situationen, unabhängig von tatsächlichen Gefühlen (vgl. Meyer/ Schützwohl/ Reisenzein 1997: 80-88; Ellgring 2000: 88ff.). Nur ein Beispiel: Ein echtes Lächeln drückt nicht (nur) Freude aus, sondern ist auch eine klare Botschaft an das Gegenüber, je nach Kontext z.B. eine Aufforderung, etwas Begonnenes fortzusetzen oder die Beziehung zu vertiefen (vgl. Fridlund/ Duchaine 1996: 279). Auch wenn dieser These nicht vollinhaltlich zugestimmt wird, ist eine immer bedeutsamer werdende Überlagerung genetisch festgelegter, kulturübergreifender mimischer Ausdrucksweisen durch soziale Regeln im Laufe des Erwachsenwerdens plausibel (vgl. Ellgring 2000: 92; Schmidt-Atzert 1996: 159f.). Emotionen motivieren zu Handlungen, das heißt, sie lösen Handlungstendenzen bzw. -impulse aus (entsprechende Gedanken finden sich bereits bei Aristoteles, vgl. 1995: 84). Unter Handlungen kann man auch verbale Kommunikation verstehen. Wir handeln, um unsere Ziele zu erreichen. Wir sind dabei an unsere Handlungsressourcen, an subjektive Faktoren und an situative Gegebenheiten gebunden, deren Bewertung Emotionen auslösen. Diese wiederum können einen Handlungsimpuls setzen, eine Energetisierung veranlassen oder auch Handlungen hemmen und dazu führen, dass Menschen Ziele aufgeben. Unser Handeln oder Nicht-Handeln kann in der Folge wiederum Emotionen bei uns selbst und bei anderen bewirken (vereinfachte Wiedergabe von Rothermund/ Eder 2009). Für Frijda (1987: 455-458, 469; 2007: 4; 20) ist die Veränderung in der Handlungsbereitschaft das Kriterium zur Definition von Emotionen. Sie tritt am Ende des Emotionsprozesses ein. Emotionale Erfahrungen hängen wesentlich vom Vorliegen einer Handlungsbereitschaft bzw. von der nichtvorhandenen Handlungsbereitschaft ab, z.B. von einem Impuls zu fliehen/ anzugreifen oder eben vom Fehlen jeder Tendenz. Emotionen sind demnach vor allem ein Monitorsystem für die Relevanz von Ereignissen und über die Herstellung der Handlungsbereitschaft für die Bedürfnisbefriedigung zuständig (vgl. Frijda 1987: 475). Unterschiedliche Handlungstendenzen (z.B. Weglaufen versus Verstecken) rufen unterschiedliche physiologische Reaktionen bei ein und derselben Emotion (z.B. Angst) hervor. Frijda (1987: 476f.) erklärt die vermeintliche Dysfunktionalität von Emotionen damit, dass eher <?page no="42"?> 2 - Emotionen -im -Spiegel -der -Emotionsforschung 32 kurzfristige als langfristige Bedürfnisbefriedigung angestrebt wird, was sich nachteilig auswirken kann. In einer neueren Publikation formuliert Frijda (2007) zwölf Gesetze der Emotionen, die viele Auswirkungen von Emotionen auf das Verhalten und Handeln thematisieren und zu erklären versuchen. Beispielsweise besagt das Law of Closure, dass Emotionen zu einseitigen Interpretationen unter Ausblendung von alternativen Szenarien und Informationen führen, die mit der Emotion nicht kongruent sind, wodurch sich unsere Entscheidungen auf das verengen, was im Lichte einer aktuellen Emotion wichtig erscheint (vgl. Frijda 2007: 15). Konsequenzen für das Selbstbild des Menschen als rational handelndes Wesen werden durch neuere Ergebnisse der Neurowissenschaften infrage gestellt: Handlungen werden Experimenten zufolge durch vorbewusste Entscheidungen ausgelöst, ja, der bewusste Entschluss, eine Handlung auszuführen, fällt erst nach dem Beginn der Handlungsausführung. Demnach bestimmt das limbische System unser Handeln (vgl. Roth 2001: 441, 453; Hamm 2006: 528f.). Wie Ankowitsch (2002: 79) es formuliert: „Wir wollen, was wir fühlen.“ Bei starker Erregung übernehmen ‚niedere‘ Gehirnstrukturen wie der Hirnstamm, das limbische und das sensorische System die Verarbeitung, während der Neokortex, der das ‚höhere‘ Denken kontrolliert, nicht aktiv ist (vgl. Siegel 2006: 287). Starke emotionale Erregung hemmt demzufolge ‚höheres‘ Denken. Auch Damasio (2003: 85ff.) berichtet von empirischen Untersuchungen, die darauf hindeuten, dass Emotionen vor Empfindungen und vor Gedanken auftreten und nicht umgekehrt Gedanken Emotionen auslösen. Doch dazu mehr in den nächsten beiden Abschnitten. 2.3.4 - Physiologische -Parameter Emotionen ohne körperliches Empfinden sind undenkbar. Körperliche Veränderungen im Emotionsprozess geschehen laut Merten (2003: 73f.) und Zimbardo/ Gerrig (2008: 459f.) auf drei Ebenen: 1) auf der peripher-physiologischen Ebene (vegetatives Nervensystem, Variablen wie Herzfrequenz, Hautleitfähigkeit, Temperatur, EKG-Parameter) 2) in bestimmten Hirnstrukturen 3) auf der Ebene der Biochemie (Neurotransmitter, Hormone und Neuropeptide) Die Erforschung emotionsspezifischer Muster im peripher-physiologischen Bereich stand schon sehr früh im Mittelpunkt der Emotionspsychologie. William James, ein amerikanischer Psychologe und Philosoph, verfasste bereits 1884 einen Aufsatz mit dem Titel ‚What is an emotion? ‘, in dem er die These aufstellte, dass Emotionen körperlichen Reaktionen nicht vorausgehen, son- <?page no="43"?> 2.3 - Aspekte -von -Emotionen: -Streiflichter - 33 dern ihnen folgen. 11 Sein zehn Jahre später verfeinertes Modell des Emotionsprozesses sieht folgenden Ablauf vor: Direkt nach der Wahrnehmung eines auslösenden Reizes (z.B. die Idee von der Bedeutsamkeit eines Ereignisses) erfolgen die typischen körperlichen, viszeralen (peripher-physiologischen) und instrumentellen Reaktionen. Erst danach kommt es zur Empfindung dieser Veränderung, zur Emotion. Auf den Punkt gebracht bedeutet dies, dass wir uns freuen, weil wir lachen, dass Angst auftritt, wenn wir weglaufen usw. (vgl. Merten 2003: 68; Zimbardo/ Gerrig 2008: 460f.). Diese These hat viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zur Suche nach den physiologischen Korrelaten von Emotionen herausgefordert. Physiologische Muster von emotionsspezifischen Gehirnaktivitäten und von peripher-physiologischen Parametern sind für die Emotionen Freude, Trauer, Wut, Angst und Neugier empirisch gut bestätigt (vgl. Sokolowski 1993: 23). Dennoch gibt es in diesem Bereich noch viele Unsicherheiten, insbesondere in Hinblick auf Ursache-Wirkung-Beziehungen (vgl. Ulich/ Mayring 2003: 68). Eine völlig andere Auffassung als James vertreten Schachter und Singer mit der Zwei-Faktoren-Theorie: In Experimenten versuchten sie nachzuweisen, dass Emotionen nur eine unspezifische Erregung (arousal) zugrunde liegt, etwa eine diffuse unangenehme Empfindung. Erst durch kognitive Einschätzungsprozesse wird aus der Interpretation dieser Erregung eine spezifische Emotionsqualität abgeleitet (vgl. Meyer/ Schützwohl/ Reisenzein 2001: 170-210 für eine genauere Darstellung). Auch wenn diese These von anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern empirisch nicht bestätigt werden konnte, ist doch erwiesen, dass Fehlinterpretationen von physiologischer Erregung zu veränderter emotionaler Wahrnehmung führen, etwa bei psychischen Erkrankungen (vgl. Merten 2003: 76f.). Die Erforschung emotionsrelevanter Gehirnstrukturen und neurochemischer Prozesse ist ein relativ junges Gebiet. Die wesentlichen emotionsbezogenen Fragen lauten, in welcher Gehirnhemisphäre Emotionsprozesse ablaufen, welche Gehirnareale für Emotionen im Allgemeinen und spezifische Emotionsqualitäten im Besonderen zuständig sind und ob bestimmte Neurotransmitter (chemische Botenstoffe), Hormone und Neuropeptide (kurze Ketten von Aminosäuren) bestimmten Emotionen zugeordnet werden können (vgl. Wagner/ Born 2009: 483). Hierzu nur einige grundlegende Bemerkungen. Was die Lateralisierung angeht, werden unterschiedliche Hypothesen geprüft. Häufig werden Emotionen, zumindest die primären, der rechten Hemi- 11 Der dänische Physiologe Carl Lange entwarf ungefähr zur selben Zeit ein ähnliches Modell, daher wird dieser Gedankengang oft auch als James-Lange-Theorie bezeichnet, vgl. Meyer/ Schützwohl/ Reisenzein (2001: 136), Jäncke (2013: 686). <?page no="44"?> 2 - Emotionen -im -Spiegel -der -Emotionsforschung 34 sphäre zugeordnet (vgl. Merten 2003: 88; Pauli/ Birbaumer 2000: 80f.). Tatsächlich ist die rechte Hemisphäre für die Verarbeitung para- und nonverbaler Hinweise entscheidend - also für das Erkennen von Emotionen aufgrund mimischer und vokaler Signale (vgl. Siegel 2006: 205f.). Ebenso sicher ist jedoch, dass dies nur einen Teil der zentralnervösen Prozessierung von Emotionen darstellt (vgl. Adolphs 2006: 542f.). In anderen Hypothesen sind feinere Verteilungen der Emotionsqualitäten vorgesehen, etwa dass die linke Hemisphäre mit prosozialen Emotionen zu assoziieren ist, die rechte Hemisphäre hingegen mit egoistischen Emotionen (vgl. Jäncke 2013: 705f.; Merten 2003: 89f.; Pauli/ Birbaumer 2000: 80f.). Hinsichtlich der Lokalisierung von Emotionen im Gehirn sind sich Forscherinnen und Forscher einig über die zentrale Rolle des (subkortikalen) limbischen Systems, das unter anderem den Gyrus cinguli, den Orbitofrontalkortex, die Amygdala und den Hippocampus umfasst (vgl. Merten 2003: 86, 90; Bösel 2009: 475ff.). Die Amygdala, auch als Mandelkörper bezeichnet, wird allgemein als das „Tor zur Emotion“ (Zimbardo/ Gerrig 2008: 459) betrachtet. Sie ist für die Reizbewertung zuständig, also für die Zuschreibung emotionaler Bedeutung - dies insbesondere bei unangenehmen Reizen (vgl. Metts/ Planalp 2011: 287). Ebenso wenig, wie das limbische System ausschließlich mit Emotionen beschäftigt ist, ist es der einzige mit Emotionen befasste Teil des Gehirns. Nicht einzelne Strukturen sind für Emotionen zuständig; vielmehr resultieren Gefühle aus einer jeweils vorübergehenden netzartigen Verbindung sehr vieler kortikaler und subkortikaler Strukturen, wie auch Siegel (2006: 287) betont: „Emotion, Bedeutung und soziale Interaktion [werden] über die gleichen Gehirnschaltkreise vermittelt“. Theorien aus dem kognitiven Paradigma sind also durchaus im Einklang mit moderner Gehirnforschung (siehe 2.3.5). Hinsichtlich der biochemischen Seite der Emotionen sind Rezeptor- und Transmittersysteme für Botenstoffe über das ganze Gehirn verteilt, treten aber an bestimmten Stellen gehäuft auf (vgl. Wagner/ Born 2009: 482), insbesondere im limbischen System, wo sich laut Pert (2001: 202) 85 bis 95 Prozent der Neuropeptidrezeptoren im Gehirn finden lassen. Bestimmte Rezeptorsysteme bzw. Hormone lassen sich nicht eindeutig bestimmten Emotionen zuordnen; meist arbeiten mehrere Transmittersysteme zusammen (vgl. Merten 2003: 99; Wagner/ Born 2009: 488). Es gibt jedoch einige Korrelationen, etwa dass das Hormon Phenylethylamin mit dem Prozess des Sich-Verliebens in Verbindung zu bringen ist und dass Serotonin wichtig für Sexualverhalten, Neugierde, Aggressionsverhalten und die allgemeine Stimmung ist (vgl. für weitere Emotionen Rauland 2001: 67, 88ff., 108ff.). Letzten Endes ist für die von mir geplante Analyse ausschließlich wichtig, was das Individuum von seinen körperlichen Veränderungen weiß und wie es diese ausdrückt. In diesem Zusammenhang lässt sich in Experimenten ein <?page no="45"?> 2.3 - Aspekte -von -Emotionen: -Streiflichter - 35 interessantes Phänomen beobachten: Die Selbstwahrnehmung körperlicher Prozesse (beispielsweise der Herzfrequenz) weicht von gemessenen Werten signifikant ab und hängt von kognitiven Bewertungen ab (vgl. Krohne/ Kohlmann 1990: 499; Averill/ Nunley 1992: 73f.). 2.3.5 - Kognitive -Komponente Seit der kognitiven Wende in den 1960er Jahren stellen zahlreiche Emotionstheorien die kognitive Komponente in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. In diesem Paradigma sind Emotionen zwingend an Bewertungen, Einschätzungen und/ oder Attributionen (Ursache-Wirkung-Zuschreibungen) geknüpft (vgl. Schmidt-Atzert 1996: 70). Gemeinsam ist den kognitiven Theorien die zentrale Bedeutung des Terminus hot cognitions: Die allgemeine Funktion von Kognitionen besteht laut Sokolowski (1993: 38) in der „Bereitstellung von auch über die eigene Person und die aktuelle Situation hinausgreifendem deklarativen Wissen über die wahrnehmbaren und erfahrenen Tatsachen der Welt“, wobei Emotionen dieses deklarative Wissen einfärben und ihm in Hinblick auf den Person-Umwelt-Bezug Relevanz verleihen. Es wird auch manchmal zwischen hot emotions und cold emotions unterschieden: In diesem Sinne ist das subjektive Erleben einer Emotion heiß, während „emotionale Bewertungen, die rein kognitiv anhand konzeptuellschematischer Informationen getroffen werden können“ (Hielscher 2003a: 471), kalt sind. Historische -Auffassungen Beiträge zur Klärung des Verhältnisses zwischen Emotion und Kognition sind so alt wie die Philosophie. Platon (427-347 v.Chr.) wird im Allgemeinen als Urheber jener Sichtweise auf Emotionen identifiziert, die ein Bild von Gefühlen als Widerpart zum Konzept der Vernunft entwirft. Die mit diesem Grundgedanken verwandte Dreiteilung der menschlichen Seele in Vernunft (~ Kognition), Willen (~ Motivation) und Sinnlichkeit (~ Emotion) übte einen nachhaltigen Einfluss auf die Emotionsforschung aus (vgl. Gardiner/ Clark Metcalf/ Beebe-Center 1970: 22). René Descartes (1596-1650) ist die zweite berühmte Persönlichkeit aus der Philosophiegeschichte, die in diesem Zusammenhang zu nennen ist - seine Bedeutung für die Unterscheidung zwischen Emotion und Kognition sowie jene zwischen Körper, Seele und Geist ist schon allein daraus ersichtlich, dass Damasio (1994) eines seiner Bücher provokant ‚Descartes’ Irrtum‘ betitelt. Die in Descartes’ Werk ‚Die Leidenschaften der Seele‘ geäußerten Ansichten über die physiologischen Aspekte von Emotionen sind aufgrund des wissenschaftlichen Fortschritts und verbesserter Methoden weitgehend widerlegt (vgl. Hartmann 2005: 14f.). Allerdings wirkt sein Grundgedanke einer <?page no="46"?> 2 - Emotionen -im -Spiegel -der -Emotionsforschung 36 Trennung von Wahrnehmung, Erkenntnis, Vernunft einerseits und Emotion, Leidenschaft, Triebhaftigkeit andererseits immer noch nach (vgl. Wilce 2009: 35f.). Kognition lässt sich mit Dörner/ Stäudel (1990: 295) bestimmen als Gesamtheit der „Prozesse, die unmittelbar den Aufbau oder Umbau von Realitätsmodellen bewirken“. Sie umfasst somit Wahrnehmen, Schlussfolgern, Erinnern, Denken, Problemlösen (vgl. Zimbardo/ Gerrig 2008: 736; Schwarz- Friesel 2007: 94). Beginnt Kognition bei bloßer Reizwahrnehmung oder sind höhere, abstrakte, komplexe und vor allem bewusste Denkoperationen beteiligt? Diese Frage wurde in der Lazarus-Zajonc-Kontroverse oder -Debatte ausführlich erörtert (vgl. Mandl/ Reiserer 2000: 102ff. für eine genauere Darstellung). Fazit ist die mittlerweile vorherrschende Auffassung, dass Emotion und Kognition nicht unabhängig voneinander sind, sondern zwei Phasen bzw. Aspekte von Informationsverarbeitungsprozessen sind, die dem Individuum helfen, sich in seiner Umwelt zurechtzufinden (vgl. Vester 1991: 71f.; Merten 2003: 112). Kognitionen können sowohl Ergebnisse als auch Ursachen von Handlungen sein - ganz ähnlich wie Emotionen (vgl. Zimbardo/ Gerrig 2008: 277). Emotionen und Kognitionen gemeinsam erlauben eine flexiblere Anpassung des Verhaltens, können sich aber auch gegenseitig behindern (vgl. Dörner/ Stäudel 1990: 302). Appraisal--‐, -Einschätzungs--‐ -und -Attributionstheorie Emotionen werden in vielen kognitiven Theorien mit Urteilen (appraisals) in Verbindung gebracht. Darunter ist ein evaluatives Urteil über Ereignisse bzw. über die persönliche Bedeutung von Ereignissen zu verstehen (vgl. Reisenzein 2009: 435). Durch eine Änderung des Urteils ändere sich auch die Emotion. 12 Während manche Theorien Urteile als Ursachen von Emotionen ansehen, nehmen andere sie als Bestandteil von Emotionen auf oder setzen sie sogar mit Emotionen gleich (vgl. Reisenzein 2009: 441). In der Perspektive des Psychologen Lazarus sind Emotionen vernünftig, mit einer bestimmten Logik ausgestattet und somit kein Gegensatz oder gar eine Konkurrenz zu kognitiven Prozessen. Wenn alle Ziele, Bewertungen und Überzeugungen des Individuums bekannt sind, sind laut Lazarus/ Lazarus (1994: 214f.) auch die emotionalen Reaktionen vorhersagbar. Ein Individuum bewertet zunächst die Relevanz eines Ereignisses (primäre Bewertung), dann die Frage, ob es bewältigt werden kann (Copingpotenzial) und mit welchen Konsequenzen gerechnet werden muss. Daraus wird eine Handlungstendenz abgeleitet, die unterschiedliche Formen von problem- oder emotionsorien- 12 Als Begründerin des kognitiven Ansatzes in der Emotionspsychologie gilt Magda Arnold, vgl. Reisenzein/ Meyer/ Schützwohl (2003: 53ff.). <?page no="47"?> 2.3 - Aspekte -von -Emotionen: -Streiflichter - 37 tierten Bewältigungshandlungen und physiologische Reaktionen nach sich zieht (vgl. Schema bei Reisenzein/ Meyer/ Schützwohl 2003: 71). Eine Neubewertung (reappraisal) ist jederzeit möglich (vgl. Mandl/ Reiserer 2000: 98f.). Eine empirische Überprüfung dieses Modells nahm Lazarus vor, indem er Versuchspersonen ein sehr blutiges Video von einem Beschneidungsritual zeigte: Die emotionalen Reaktionen der Probandinnen und Probanden hingen wesentlich davon ab, ob der Audiokommentar neutral-informierend (intellektualisierend) oder emotionalisierend war (vgl. Reisenzein/ Meyer/ Schützwohl 2003: 65f., 74-77). Zwei wesentliche Kritikpunkte an Lazarus’ Konzept sind die Erkenntnis, dass nicht alle Gefühle Handlungen nach sich ziehen (geschweige denn dieselben), und die Tatsache, dass Bewertungen keine hinreichenden Erklärungen für Emotionen sind: Beispielsweise verhindern das Wissen um die schädlichen Auswirkungen einer Schlägerei und die negative Bewertung dieses Umstandes aggressives Verhalten nicht. Ebenso lassen sich Phobien meistens nicht durch Überzeugungen von der Ungefährlichkeit des gefürchteten Objekts bekämpfen. 13 Appraisal ist in vielen jüngeren Modellen dennoch ein selbstverständlicher Teil des Emotionsprozesses (vgl. Holodynski 2006: 42f.). Ähnliche Grundannahmen wie Lazarus’ Arbeiten liegen der bereits erwähnten Einschätzungstheorie von Ortony, Clore und Collins (1988) zugrunde: Emotionen - mit hedonischer Qualität ausgestattete Gefühle - basieren auf kognitiven Einschätzungen und Bewertungen von Situationen, Objekten oder Handlungen. Die unterschiedlichen Urteile rufen unterschiedliche Emotionsqualitäten hervor (vgl. Reisenzein/ Meyer/ Schützwohl 2003: 136-140). Ein anderer Typ kognitiver Emotionstheorien stellt Attributionen - Zuschreibungen von Ursachen - in den Mittelpunkt des Emotionsgeschehens, so z.B. Weiner (1986: 161-165): Menschen neigen demnach dazu, nach Ursachen und nach den belebten oder unbelebten Verantwortlichen für Ereignisse zu suchen. Den Kern des Emotionsprozesses bildet die Kausalanalyse, die durch Vorwissen, Situation und andere Vorbedingungen geprägt wird. Ein Sachverhalt, der vom Individuum als unerwartet, negativ oder wichtig erkannt wurde, wird in den Dimensionen Lokation (internale oder externale Faktoren), Stabilität (zeitlich überdauernd oder momentan) und Kontrollierbarkeit beurteilt. Die resultierende Emotion ist von diesen Bewertungen abhängig. Zum Beispiel wird ein nicht angemessenes Verhalten anderer Personen in Hinblick auf ihre Verantwortlichkeit und die Intentionalität des Verhaltens beurteilt. Ergibt die kognitive Einschätzung eine unkontrollierbare Ursache und keine Verantwortung der betroffenen Person, besteht eher die 13 Vgl. Reisenzein/ Meyer/ Schützwohl (2003: 82-87), aber auch die neueren Hinweise bei Reisenzein (2009: 443), wonach einerseits Affektives Priming, andererseits auch kognitive Einschätzungen für Phobien verantwortlich sein könnten. <?page no="48"?> 2 - Emotionen -im -Spiegel -der -Emotionsforschung 38 Bereitschaft, dem Gegenüber zu helfen (Mitleid), während sonst eher Wut auftritt (vgl. Försterling 2009: 431f.). Aus alltagspsychologischer Sicht sind sowohl Einschätzungsals auch Attributionstheorien der genannten Art sehr plausibel und werden von empirischen Untersuchungen gut gestützt (vgl. Reisenzein 2009: 441f.). Allerdings sind sie keineswegs als common sense der Emotionsforschung zu betrachten, wie die folgenden Ausführungen zeigen. Kognition -≠ -Emotion Laut der Kognitionslinguistin Schwarz-Friesel (2007: 95) haben emotionale Faktoren „keinen Einfluss auf die mikro- oder makrostrukturellen Komponenten und Prozeduren der Kognition“, woraus folgen würde, dass keine Interaktion zwischen Emotion und Kognition angenommen werden muss. Was Gefühle im Sinne von Schwarz-Friesel angeht, ist die Trennung schwieriger. Der Unterschied zwischen Gedanken und Gefühlen - beides mentale Repräsentationen - besteht demnach darin, dass kognitive Repräsentationen eine Proposition haben, während Gefühle semantisch leer sind bzw. nur nach bestimmten Dimensionen (± positiv, ± intensiv, ± dauerhaft) beurteilt werden können. Darüber hinaus sind Gefühle insofern nicht kontrollierbar, als sie nicht bewusst hervorgerufen werden können (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 97ff.). Dennoch ist keine eindeutige Abgrenzung möglich und Gefühle haben vielfältigen Einfluss auf Gedanken. Gefühle sind „kognitive Phänomene mit emotionaler Information“ (Schwarz-Friesel 2007: 102), die insofern sehr rational (vernünftig, angemessen, gut begründet) sein können. Erkenntnisse aus der Hirnforschung haben neue Ergebnisse mit Konsequenzen in die Diskussion eingebracht. Der gemeinsame Nenner von Neurowissenschaftlern wie LeDoux (2003; 2004), Damasio (2003) und Roth (2001) kann damit zusammengefasst werden, dass sie Kognitionen (insbesondere Appraisals) nicht als Voraussetzung für alle Emotionen ansehen, sondern von verschiedenen Verarbeitungstiefen, -ebenen und -strukturen ausgehen. LeDoux, der sich mit dem Angstsystem beschäftigt, stellt die Amygdala in das Zentrum von Emotionsprozessen und nimmt an, dass Emotionen andere subsymbolische Systeme und mehr Gehirnsysteme als kognitive Prozesse im Sinne von Gedanken verwenden. Emotionen aktivieren und machen auf Aufgaben aufmerksam, während Gedanken nur über Emotionen Erregung auslösen können - für den Emotionsprozess selbst ist keine bewusste Verarbeitung notwendig, für das Erleben bzw. Empfinden der Emotion hingegen schon (vgl. LeDoux 2004: 299; Jäncke 2013: 689f.). Damasio beschäftigt sich insbesondere mit dem Bewusstsein und geht von verschiedenen Formen aus, die mit unterschiedlichen Bewusstheitsgraden zusammenhängen. Emotionen definiert Damasio (2003: 73) als genetisch <?page no="49"?> 2.3 - Aspekte -von -Emotionen: -Streiflichter - 39 festgelegte, wenn auch durch Lernen und Kultur beeinflussbare, „[k]omplexe stereotypisierte Reaktionsmuster“, Gefühle sind „[s]ensorische Muster, die Schmerz, Lust und Emotionen signalisieren“ und „zu Vorstellungen“ werden. Weiter lassen sich unterscheiden: Hintergrundgefühle (Ermüdung, Energie, Aufregung, Krankheit, Elan, Lethargie, Stabilität, Harmonie, Dissonanz), primäre Emotionen (Freude, Trauer, Furcht, Ärger, Überraschung, Ekel) und soziale Emotionen (z.B. Eifersucht und Schuld) (vgl. Damasio 2003: 51). Emotionale Zustände können „nichtbewusst“ (ebda.) bleiben. Unter Gefühlszuständen sind im Wesentlichen Körpergefühle zu verstehen, also aus körperlichen Reizen hervorgehende Gefühle - sie können sowohl nichtbewusst als auch bewusst repräsentiert werden. Die körperlichen Empfindungen bezeichnet er als ‚somatische Marker‘ und sieht sie als wichtige Signale für kognitive Prozesse im Arbeitsgedächtnis, verknüpft vor allem mit Aufmerksamkeit und Entscheidungen, sodass eine Trennung zwischen Fühlen und Denken für Damasio obsolet ist (vgl. Jäncke 2013: 691, 697ff.). Roth teilt viele Auffassungen von LeDoux und Damasio. Auch er meint, dass Kognitionen keine Erregung auslösen können und dass unbewusste Wahrnehmungen, oberflächlich verarbeitet, schnelle, stereotype Reaktionen ermöglichen. Die bewusste kortikale Verarbeitung hingegen ist laut Roth (2001: 273) „detailreich“, die „bewusste Handlungssteuerung flexibel“. Daher tritt Roth für eine Unterscheidung zwischen emotionalen und kognitiven Zuständen ein (vgl. Roth 2001: 269, 273f.). Emotionen laufen auch in seinem Modell auf mehreren Ebenen des Gehirns ab, und nicht alle davon sind an das Bewusstsein im alltagssprachlichen Sinne gekoppelt. Auf der dritten und höchsten Ebene werden komplexe, bewusste Bewertungen vorgenommen. Diese Ebene wird von den niedrigeren beiden (von den Ebenen der kognitiv nicht durchdringbaren Affekte und der „emotionalen Konditionierung“, Roth 2001: 319) stark beeinflusst, hat selbst aber kaum Einfluss auf die anderen (vgl. Roth 2001: 320). Einen meines Erachtens sehr wichtigen Hinweis auf eine Lösung des Kognition-Emotion-Problems liefern Battacchi, Suslow und Renna (1997: 43). Sie unterscheiden zwischen einem emotionalen Ereignis und dem emotionalen Prozess: „Die kognitiven Prozesse, wie komplex sie auch sein mögen, sind unerläßliche Bestandteile des emotionalen Prozesses, aber keine Bestandteile des Ereignisses Emotion.“ Kognition ist demnach für die subjektive Erfahrung des Emotionsereignisses und die Repräsentation („Die-Emotionen-Denken“, ebda.) maßgeblich. Als Fazit aus all diesen Überlegungen können nun mindestens zwei unterschiedliche Ausprägungen oder Verarbeitungstiefen ein und derselben Emotionsqualität angenommen werden: <?page no="50"?> 2 - Emotionen -im -Spiegel -der -Emotionsforschung 40 1) die plötzlich auftretende, weitgehend ohne Kognitionen oder zumindest ohne bewusste Denkprozesse einhergehende Reaktion (z.B. Angst vor einer Spinne) 2) eine bewusst reflektierte Emotion, die von höheren kognitiven Prozessen begleitet wird (z.B. Angst vor einer schlechten Schulnote) 14 Unabhängig davon, ob es sich bei Kognition und Emotion um getrennte Systeme handelt, wurden empirisch zahlreiche Wechselwirkungen in Bezug auf Wahrnehmung, Gedächtnisleistungen sowie Selbst- und Umweltbeurteilungen festgestellt. Auf diesen Aspekt sowie auf kognitive Repräsentationen von Emotionen in Form von Konzepten, Schemata, Frames, Scripts etc. wird erst in Kapitel 4 näher eingegangen, da wir uns hier am Übergangsbereich zur Sprache befinden. 2.3.6 - Soziale, -kulturelle -und -historische -Bedingungen Emotionen gehören zur „Grundausstattung des Menschen“ (Voss 2004: 42). Diese Perspektive auf Emotionen wird in ‚organismischen Emotionsmodellen‘ betont (vgl. Hochschild 1990: 161). Doch offensichtlich sind sie auch mehr als genetische Dispositionen und Reiz-Reaktions-Programme, wie Vester (1991: 18) betont: „Emotionen beinhalten und transportieren Sinn“, und dieser Sinn ist nicht rein individuell-privat, sondern wird vor allem sozial und kulturell weitergegeben. Durch Entwicklung und Erfahrung vor allem im kognitiven Bereich erweitern die Emotionen im Erwachsenenleben ihr Formen- und Funktionenrepertoire beträchtlich (vgl. Oatley 2004: 68). Der Gegensatz zwischen Natur und Kultur ist wie bereits erwähnt ein künstlich aufgeblähter, wie beispielsweise Engelen (2005: 304ff.) ausführt. Emotionalität ist im realen Lebenszusammenhang eine ganzheitliche Fähigkeit, die von der Umwelt und vom kulturellen Hintergrund geformt wird (vgl. auch Goldie 2000: 85, 101, 117f.). Selbst wenn Emotionen kognitiv nicht völlig durchdringbar und Veränderungen affektiver Reaktionsprogramme nur schwer herbeizuführen sind, ist es möglich, ‚dem Pfad eine neue Form zu geben‘. Diese Auffassung wird von Hochschild (1990: 168) als ‚interaktionsorientiert‘ bezeichnet. Insbesondere für die sozialwissenschaftliche Erforschung der Emotionen gilt die Feststellung, dass nicht Gefühle, sondern ihre Repräsentationen das Untersuchungsobjekt sind. Diese Repräsentationen sind abhängig vom Darstellungsmedium, also von der Art der stets kulturell 14 Für diese Unterscheidung vgl. Goldie (2000: 115), Hartmann (2005: 128ff.), Fischer (1991: 28, 36), Reisenzein/ Meyer/ Schützwohl (2003: 160), Rost (2001: 78), Schwarz- Friesel (2007: 104f.), Hielscher (2003a: 471). <?page no="51"?> 2.3 - Aspekte -von -Emotionen: -Streiflichter - 41 und historisch geprägten Quelle wie etwa literarische Zeugnisse (vgl. Benthien/ Fleig/ Kasten 2000: 9). Vester (1991: 39f.) schlägt vor, Emotionen so zu fassen, als wären sie lebende Systeme - das heißt adaptiv, dynamisch selbstgesteuert, nichtlinear. Soziale Emotionen sind Elemente von Beziehungen und steuern drei soziale Motivationen: erstens die Sicherheit über den eigenen Status, zweitens die Bindung an andere zu unserem eigenen Schutz und drittens die Zuneigung bzw. freiwillige Zugehörigkeit zu einer Gruppe zum Zweck der Zusammenarbeit. Sowohl die Basisemotionen als auch komplexere Emotionen können in sozialen Kontexten auftreten und soziales Handeln fördern: Wut beispielsweise, wenn das Individuum an Respekt oder Status zu verlieren droht und wenn durch das Verüben von Rache oder die Aufnahme eines Kampfes dieser unangenehme Zustand beendet werden soll (vgl. Oatley 2004: 80f.). Ein radikaler Ansatz zur Klärung des Verhältnisses von Natur und Kultur in Bezug auf Emotionen ist der Soziale Konstruktivismus. Ihm zufolge sind nicht nur emotionale Konzepte, sondern auch emotionale Erfahrungen an sich sozial determiniert (vgl. Geisler/ Weber 2009: 457; Eiselen/ Sichler 2001: 50f.). Das heißt, Emotionen werden im Sozialisationsprozess erlernt und durch soziale Interaktion aktiv konstruiert bzw. ausgehandelt (vgl. Flam 2002: 127f.; Gerhards 1988: 62ff.), wodurch emotionale Scripts, Schemata und Rollen entstehen (vgl. Geisler/ Weber 2009: 457). Auch wenn die starke Ausprägung des Konstruktivismus, also die ausschließliche soziale Determiniertheit der Emotionalität, von den meisten Emotionsforscherinnen und -forschern abgelehnt wird, ist doch mittlerweile der Konsens festzustellen, dass Emotionen nicht nur innerpsychische Zustände sind, sondern auch von sozialen Strukturen geprägt werden (vgl. Flam 2002: 150). Ein Anwendungsbeispiel dieser Überzeugung: Hochschild (1990) befragte Flugbegleiterinnen und -begleiter sowie Geldeintreiberinnen und -eintreiber über ihren Umgang mit erwünschten bzw. unerwünschten Gefühlen. Sie kam zu dem Schluss, dass ein wesentlicher Teil der Arbeit dieser dienstleistungsorientierten Berufsgruppen im Maskieren und vor allem Transformieren von Emotionen besteht, wobei dieses Bemühen mit hohen emotionalen Kosten verbunden ist und im Privatleben nicht einfach abgelegt werden kann (vgl. Hochschild 1990: 28). Um diese Leistung zu erbringen, bedienen sich die betroffenen Personen kognitiver, physischer und expressiver Techniken. Hochschild prägte dafür die Begriffe ‚Gefühlsarbeit‘ und ‚Gefühlsmanagement‘ (vgl. Hochschild 1990: 30). Gefühlsarbeit ist laut Hochschild (1990: 74, 123ff., Kap. 8) ein unerlässlicher Bestandteil bzw. die Voraussetzung für den Erfolg in vielen Berufen, die vor allem von Frauen und Angehörigen der Mittelschicht ausgeübt werden, und verhält sich „wie eine Ware“ (Hochschild 1990: 37). <?page no="52"?> 2 - Emotionen -im -Spiegel -der -Emotionsforschung 42 Gefühle sind darüber hinaus aber eine Art sechster Sinn, durchaus mit Hören und Sehen zu vergleichen, da auch die körperlichen Empfindungen Informationen für die Realitätskonstruktion liefern, wie Hochschild (1990: 41) ausführt: „Indem wir an unseren Gefühlen arbeiten, erschaffen wir sie zugleich.“ Sowohl ‚Oberflächenhandeln‘ (Zeigen von ‚echten‘ oder ‚unechten‘ Emotionen) als auch ‚Inneres Handeln‘ (Erzeugen von ‚echten‘ Emotionen) setzt Kontrolle, Regulierung, Mitigierung von Emotionen, mit anderen Worten Gefühlsmanagement voraus (vgl. Hochschild 1990: 56, 64, in Anlehnung an Goffman). Wie diese Arbeit vonstatten geht, hängt von erlernten Scripts ab, bei Hochschild (1990: 73) als ‚Gefühlsnormen‘ bezeichnet: Sie regeln das richtige Fühlen von Emotionen innerhalb einer sozialen Situation; Verstöße werden mit Sanktionen bestraft. Gefühlsnormen werden vor allem wegen zweier Prinzipien befolgt: Erstens versuchen Menschen stets, negative Aspekte ihrer Emotionalität zu umgehen (Prinzip der Schmerzvermeidung). Zweitens sind Menschen in sozialen Situationen auf der Suche nach dem größtmöglichen eigenen Vorteil, wobei der Erfolg von der Treffsicherheit in Bezug auf die Erwartungen der Mitmenschen abhängig ist (vgl. Hochschild 1990: 79). Obwohl Gefühlsmanagement und -arbeit auch mit Problemen verbunden sind, sollte dieses normengeleitete Empfinden von Emotionen Hochschilds (1990: 85) Meinung nach nicht abgewertet werden. Dadurch, dass Emotionen erzeugt werden, verlieren sie nicht ihre Authentizität - das Einnehmen von Rollen ist in der gesellschaftlichen Realität der Defaultwert, nicht die Abweichung. Die Abhängigkeit des emotionalen Erlebens von der Kultur, vom historischen Hintergrund, von weiteren Faktoren wie Gender und von der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe wird im Zusammenhang mit der Emotionslinguistik in Kapitel 5 erörtert. 2.4 - Zusammenfassung Was ist also eine Emotion? Vor der Klärung dieser Frage erfolgt eine nochmalige Rückkehr auf die Metaebene. Im Emotionsdiskurs sieht Schmidt (2005b: 27, Hervorhebung i.O.) „zwei Richtungen von Bezugnahmen“: 1) „die Richtung Körper, Gehirn, Bewusstsein, Kognition“ 2) „die Richtung Sprache, Kommunikation, Gesellschaft und Kultur“ Jede dieser Richtungen bringt eigene Fragestellungen, Untersuchungsmethoden und Ergebnisse hervor: <?page no="53"?> 2.4 - Zusammenfassung - 43 • Emotionen werden als genetisch festgelegte Affektprogramme aufgefasst, die auch im Tierreich vorkommen. Emotionen sind in dieser Tradition Funktionen des Gehirns, die auf bestimmten Konstellationen von elektrischen Impulsen und Botenstoffen beruhen. • In psychologischen Theorien werden die einzelnen Emotionen als „sich selbst organisierendes psychisches System“ (Holodynski 2006: 166) mit verschiedenen Komponenten verstanden. • Sozialwissenschaftlich betrachtet sind Emotionen Diskurselemente. • Emotionen sind ebenso subjektive Erfahrungen, die durch Narrationen überformt werden. Dies ist die andere Seite, der größere Zusammenhang von Emotionen: ihre Einbettung in persönliche, zeit- und kulturabhängige oder auch -übergreifende Strukturen, die trotz aller phylogenetischen Vorprägungen nicht nur in früher Kindheit, sondern über das ganze Leben hinweg geformt und verändert werden können (vgl. Voss 2004: 214). Im Rahmen dieser Arbeit ist die letzte genannte Sichtweise zentral: Als Linguistin ist für mich nur die sprachliche Repräsentation des subjektiven Erlebens erfassbar - und selbst dies nur mit Einschränkungen, wie das nächste Kapitel zeigen wird. Weder ist die erste eingangs genannte Richtung der zweiten übergeordnet, noch sind die beiden Perspektiven voneinander unabhängig, auch wenn sie aus wissenschaftlichen Gründen meist analytisch voneinander getrennt werden. Welche Erkenntnisse der Emotionsforschung besonders aufschlussreich für die vorliegende Arbeit sind, ist in der folgenden Aufzählung zusammengefasst. • Alltagspsychologische Vorstellungen über Emotionen stimmen nur teilweise mit empirischen Ergebnissen der Emotionsforschung überein. Doch gerade diese kultur- und zeitabhängigen Einschätzungen üben besonderen Einfluss auf den Sprachgebrauch aus. • Mit sprachlichen Methoden gewonnene Selbstbeurteilungen und physiologische Messungen bringen relativ unähnliche Ergebnisse hervor. Die Selbstwahrnehmung körperlicher Prozesse (beispielsweise der Herzfrequenz) weicht von gemessenen Werten signifikant ab. Berichte über das Ausdrucksverhalten und körperliche Veränderungen sind für die Analyse von Bedeutung, jedoch nicht mit den empirisch erfassbaren Emotionen gleichzusetzen. • Emotionen sind Prozesse auf unterschiedlichen Ebenen und mit unterschiedlichen zeitlichen Horizonten. Für die Analyse sind all diese Ebenen und Horizonte insofern von Bedeutung, als ihre subjektive Wahrnehmung in der Kommunikation von Emotionen thematisiert und ausge- <?page no="54"?> 2 - Emotionen -im -Spiegel -der -Emotionsforschung 44 drückt wird. Da unsere Kategorisierungen und Konzepte nicht trennscharf abgegrenzt sind, ist für eine emotionslinguistische Analyse das gesamte semantische Netz ‚Emotionales Leben des Menschen‘ von Interesse, nicht nur Emotion im emotionspsychologischen Sinne. • Dimensionierungen und Klassifikationen von Emotionen (z.B. positiv/ negativ, Unterscheidung zwischen Wut und Zorn) können nicht nur situationsabhängig variieren, sondern auch höchst individuell sein. • Emotionskonzepte befinden sich wegen ihrer sozialen, kulturellen und historischen Bedingtheit im Fluss, sodass sich selbstverständliche Annahmen über Emotionen als ‚Falsche Freunde‘ erweisen. • Kognitive Prozesse sind jener Anteil an Emotionen, der am ehesten sprachlich differenziert thematisiert werden kann. Es besteht eine Differenz zwischen Emotion und Gefühl. Gefühle werden aktiv konstruiert. Wir sprechen nicht über Emotionen, sondern über Gefühle. In der vorliegenden Arbeit werden sprachliche Repräsentationen von Gefühlen und zugrunde liegende Schemata, Scripts und Narrationen untersucht. <?page no="55"?> 3 - Sprache -und -Emotion: -Ein -Forschungsüberblick „Hinweise auf die Schwäche der Sprache und Vergleiche zwischen der Begrenztheit der Worte und der Unendlichkeit des Gefühls sind ganz verfehlt. Das unendliche Gefühl bleibt in den Worten genau so unendlich wie es im Herzen war. Das was im Innern klar ist, wird es auch unweigerlich in Worten. Deshalb muß man niemals um die Sprache Sorge haben, aber im Anblick der Worte oft Sorge um sich selbst.“ 15 3.0 - Ziele dieses Kapitels Dieses Kapitel bietet einen Überblick über die wichtigsten theoretischen Grundlagen und das Forschungsfeld der Emotionslinguistik. Im ersten Schritt wird eine Einbettung in den wissenschaftshistorischen Zusammenhang vorgenommen. Eine kurze Aufarbeitung von zentralen theoretischen Perspektiven schafft die Voraussetzungen für das Verständnis der folgenden Kapitel. Einige (Definitions-)Probleme werden nicht in Wohlgefallen aufgelöst, aber zumindest sichtbar gemacht. Thematisiert wird auch der relativ neue Terminus ‚Emotionslinguistik‘ und das damit bezeichnete Forschungsfeld. Zusätzlich werden die wichtigsten Phänomene der sprachlichen Emotionalität in Form von Thesen besprochen. Ausgewählte Aspekte dieses ersten Abrisses werden in den darauffolgenden Kapiteln vertieft. Die gesellschaftliche Relevanz der Frage, wie Emotionen und Sprache zusammenhängen, ist offensichtlich: Einerseits können Emotionen mittels Sprache hervorgerufen und manipuliert werden (vgl. Jahr 2000: 3), andererseits sind Emotionen eine wichtige Inhaltskategorie unserer alltäglichen Kommunikation. Über Emotionen wird - öffentlich, privat und künstlerisch, mündlich und schriftlich, interindividuell und interkulturell (vgl. Fomina 1999: 11) - verhandelt, gestritten, diskutiert und räsoniert. Das Individuum ver-, be- und überarbeitet seine Emotionen sprachlich. Viele sprachliche Handlungen werden nur durch einen angemessenen Emotionsausdruck erfolgreich vollzogen oder verstanden. Soziale Beziehungen im großen und kleinen Maßstab werden über emotionale Sprache hergestellt, gesteuert und zerstört (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 6; Fries 2000: 14f.; Bowers/ Metts/ Duncanson 1985: 532ff.). 15 Franz Kafka an Felice Bauer am 18./ 19.02.1913 (Kafka 1999b: 98f., Normverstöße im Original). Siehe aber 3.4. <?page no="56"?> 3 - Sprache -und -Emotion: -Ein -Forschungsüberblick 46 3.1 - Ausgangslage Dass kompetente Sprecherinnen und Sprecher die Emotivität von Äußerungen aufgrund ihrer Intuition, ihrer Kommunikationserfahrung und ihres Weltwissens in sehr vielen Fällen erkennen und einordnen können (vgl. Wilce 2009: 19), ist eine Kompetenz, die oft erst dann hinterfragt wird, wenn Missverständnisse und Konflikte auftreten. Bei näherer Betrachtung ist emotiver Sprachgebrauch in besonderem Maße unscharfer Logik (fuzzy logic) unterworfen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich mit dem Zusammenhang zwischen Sprache und Emotion beschäftigen, versuchen, die intuitiven Überzeugungen über die Kategorie der sprachlichen Emotivität auf eine theoretische und empirische Basis zu stellen. Obwohl in der Linguistik schon sehr früh vereinzelte Wissenschaftler (! ) dem Emotiven große Bedeutung beimaßen, ist das Interesse an einer systematischen Aufarbeitung des Gebiets relativ jung. In diesem Abschnitt werden die Gründe für die lange andauernde Zurückhaltung genannt und die in den letzten Jahrzehnten erfolgte Neuorientierung der Linguistik beschrieben. 3.1.1 - Die -(Un--‐)Mitteilbarkeit -des -Gefühls Menschen nehmen mit Sprache, speziell mit Wörtern und Narrativen, auf ihre Emotionen Bezug. Hier ist jedoch wichtig festzustellen, dass ihre Vorstellungen über Emotionen von diesen sprachlichen Bezugnahmen geprägt werden. Sigmund Freud etwa fand über das Sprechen Zugang zu den Gefühlen seiner Patientinnen und Patienten (vgl. Voss 2004: 40). Allerdings ist Skepsis angebracht, die bereits in Kapitel 2 angedeutet wurde: Der eigentliche Untersuchungsgegenstand der Linguistik und jeder Auseinandersetzung mit Emotionen in Texten sind nicht Emotionen, sondern die Konzeptualisierungen von Emotionen, wie sie in verbalen Manifestationen mehr oder weniger greifbar werden (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 62; Eming 2006: 67). Zwischen der Emotion als physiologischem Prozess, dem Gefühl im Sinne einer „mentale[n] Repräsentation interner Zustände“ (Schwarz-Friesel 2007: 236) und deren sprachlicher Kodierung liegen mehrere Schritte. Emotionen in der Kommunikation sind Symbole, semiotisch codiert, arbiträr. Ihre Versprachlichung sagt zwar etwas über ein Individuum, eine Gesellschaft und eine Sprachgemeinschaft aus, aber nicht auf ikonische Art und Weise, etwa indem ein differenziertes Emotionsvokabular auch emotionale Differenziertheit bedeute (vgl. Bowers/ Metts/ Duncanson 1985: 532). Diese kognitive Komplexität ist ein Grund für die gängige Auffassung, dass Gefühle sprachlich nicht zufriedenstellend ausgedrückt und beschrieben werden können. Ich kann mein Gefühl nicht in Worte fassen! oder Ich weiß <?page no="57"?> 3.1 - Ausgangslage - 47 nicht, wie ich dieses Gefühl beschreiben soll! sind typische Äußerungen, die dieses Problem thematisieren (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 235; Mair 1992: 73f.; Sapir 1961: 43). Dem steht das Bedürfnis gegenüber, Gefühle angemessen und unmissverständlich zum Ausdruck zu bringen (vgl. Hayakawa 1993: 125). Starke Emotionen machen uns jedoch mitunter sprachlos oder führen zu einer unüberwindlichen Blockade zwischen Fühlen und sprachlichem Ausdruck dieses Fühlens. Geringe emotionale Aktivierung hingegen erzeugt kein Bedürfnis nach Gefühlsausdruck. Die Äußerungsdichte nimmt bei geringer und starker emotionaler Erregung ab und erreicht bei mäßiger Erregung ein Maximum (vgl. Daneš 1987: 283; Fries 2000: 109). In seinem Beitrag über die ‚Grenzen des Ausdrückbaren‘ setzt Bierwisch im Kontrast zu Wittgenstein die Grenzen der Welt nicht bei der Grenze der Sprache an. Er verweist auf die Möglichkeit und Allgegenwärtigkeit sprachungebundener, beispielsweise bildlicher Kommunikation: Emotionen wird dabei zugeschrieben, ‚nicht-propositional‘ strukturiert zu sein (vgl. Bierwisch 1999: 92, 96ff.). Ergebnisse aus der Hirnforschung (vgl. z.B. Damasio 2003: 134ff.) unterstützen die Auffassung, dass Sprache nicht notwendig für das Denken ist und somit auch keine Voraussetzung für Emotionen. Selbst wenn dieser Einwand zutrifft, gibt es offenkundig doch die Möglichkeit, über Emotionen zu sprechen und zu schreiben. Die Gegenposition zur angesprochenen Skepsis vertritt Schmidt (1989: Bemerkungen 23, 26, 29, 31-35, 42, 44, 50, 67, 74f.): Ihm zufolge beruht die vermeintliche Ungenauigkeit der Sprache im Beschreiben und Ausdrücken von Gefühlen auf der Instabilität bzw. auf der Dynamik von Emotionen selbst. Sprache sei sogar die Voraussetzung dafür, dass wir Emotionen haben können, da uns sonst das ‚Haben‘ von Emotionen und ihre Bedeutung nicht zugänglich wären. Emotionen seien auch kein radikal privates Phänomen, sondern - zumindest meistens - gegenseitig verständlich. Wer auf der Unmitteilbarkeit von Emotionen beharrt, erliege einer Selbsttäuschung, die auf dem Wunsch nach einem kleinen Bereich der Direktheit oder der Privatheit beruhe. 3.1.2 - Von -der -Abwertung -zur -Anerkennung Wie in anderen wissenschaftlichen Disziplinen auch wurden Emotionen von weiten Teilen der Linguistik bis vor wenigen Jahrzehnten ausgeklammert, vernachlässigt, zugunsten strukturalistischer oder rationalisierender Sichtweisen marginalisiert, als Störfaktor bewertet oder nur unsystematisch behandelt (vgl. Fiehler 1990b: 20, 24f.; Fries 1992a: 2). Weigand (1998a: 35f.) meint, dass es in der Linguistik einander abwechselnde Moden gibt und dass die Emotion für diese Strömungen bisher kaum relevant war. Verantwortlich für diese Vernachlässigung ist eine Reihe von Gründen. Die Linguistik folgte dem gesamtgesellschaftlich und in den Wissenschaften <?page no="58"?> 3 - Sprache -und -Emotion: -Ein -Forschungsüberblick 48 anzutreffenden „Gebot der emotionalen Neutralität“ (Fiehler 1990b: 23, Hervorhebung i.O.), das mit der Vernachlässigung oder Abwertung von Emotionen einherging. Emotionen wurden - beispielsweise im Strukturalismus - als dysfunktionale Störfaktoren, als Ausnahmeerscheinungen, als Normabweichungen bzw. als ungewöhnliche Vorkommnisse beurteilt (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 9ff.; Ihnken 1998: 65f.; Volek 1987: 1f.). Die bis zur pragmatischen Wende vorherrschende Systemlinguistik betonte die langue. Sie konzentrierte sich zudem auf grammatisch unmarkierte Formen wie den Aussagesatz und auf schriftliche Texte (vgl. Daneš 1987: 273; Fiehler 1990b: 21, 23ff.), außerdem auf die wörtliche Bedeutung und auf die Wahrheitsbedingungen von Äußerungen. Alle anderen Arten von Bedeutungen und Kommunikationsmodi - übertragene Bedeutung, emotive und poetische Sprache, Ironie und andere Formen uneigentlichen Sprechens - wurden vernachlässigt (vgl. Gibbs 1994: 61). Eine andere Tradition hatte dasselbe Ergebnis: Das Konzept des idealen Sprechers/ Hörers (! ) (nach Noam Chomsky) sieht keine emotionalen Einflüsse vor. 16 Ähnlich führten in der Kognitiven Linguistik das cartesianische Weltbild und in jüngerer Zeit die Computermetapher zur Vorstellung des Sprachverarbeitungssystems als Apparat ohne Emotionen (vgl. Schwarz- Friesel 2007: 92). Sprache wird vor allem als rationale Operation angesehen, die der Weitergabe von Informationen im Sinne von sachlichem, neutralem Wissen dient. Doch auch nach der pragmatischen Wende wurden Emotionen nicht sofort als linguistisches Thema entdeckt. Diese Perspektive spiegelt sich z.B. in der Festlegung des neutralen wissenschaftlichen Stils als die unmarkierte Form der Sprachverwendung wider (vgl. Drescher 2003a: 54). Emotionen wurden und werden hauptsächlich der prosodischen Ebene, außersprachlichen Faktoren, der parole oder der Ebene der Äußerungsbedeutung und grammatischen Randkategorien zugeordnet (z.B. Exklamativsätze). 17 Hinzu kamen methodische Probleme: Laut Marten-Cleef (1991: 2) „kapituliert[e]“ die Linguistik vor Emotionen wegen der Komplexität des Phänomens Emotion selbst. Die systematische Beschreibung von Emotivität in der Sprache sei wegen ihrer Vielgestaltigkeit und idiosynkratischen Natur nicht möglich (vgl. Janney 1996: 6f.). Vor allem der Aspekt der vermeintlichen Dysfunktionalität sorgte dafür, dass die Beschäftigung mit emotionaler Sprache kein attraktives Forschungsgebiet war. Konstantinidou (1997: 2) zeichnet 16 Vgl. Weber (2010) für Bemerkungen zu historischen Rationalisierungstendenzen in der Linguistik und zu älteren Ansätzen der Erfassung der emotionalen Komponente. 17 Vgl. Stankiewicz (1989: 74f.), Fries (1991b: 36) und Fries (2000: 109), der dies allerdings nicht abwertend versteht. <?page no="59"?> 3.1 - Ausgangslage - 49 die verschiedenen Entwicklungslinien der linguistischen Beschäftigung mit Emotionen nach und arbeitet drei Richtungen heraus: 1) „von kognitiv zu emotiv“ 2) „von propositional (deskriptiv) zu nicht-propositional“ 3) „von propositional (empirisch verifizierbar) zu pseudo-propositional“ Die erste Richtung - von kognitiv zu emotiv - entspricht der Abkehr von der genannten Tendenz zur Rationalisierung von Sprache, die mit der Unterordnung oder Ausgliederung der Emotionen aus der Linguistik einherging (vgl. Konstantinidou 1997: 14f.). Andererseits wurden Emotionen schon früh von einzelnen Forscherinnen und Forschern berücksichtigt (z.B. Marty, Bally, Sapir). Allerdings wurden Emotionen dabei oft abgewertet: Schon bei Sapir (1961: 43f.) findet sich die Auffassung, dass die Ausdrucksmöglichkeiten von Emotionen eng begrenzt sind und sich auf den Randbereich beschränken, weil es sich um ein subjektives, nicht verstandesmäßiges Phänomen handelt. Teilweise, etwa von den Junggrammatikern und der neo-idealistischen Schule, wurde die Emotivität von Sprache auch überbetont, wobei Emotivität hauptsächlich als stilistisches Phänomen, also im Sprachgebrauch angesiedelt, betrachtet wurde (vgl. Stankiewicz 1972: 240f.). Die zweite Richtung - von propositional zu nicht-propositional - beruht auf der Gegenüberstellung von Termini wie ‚emotiv‘, ‚expressiv‘ oder ‚subjektiv‘ auf der einen Seite und ‚deskriptiv‘, ‚objektiv‘ und ‚darstellend‘ auf der anderen Seite. In dieser Tradition wurde gewissen sprachlichen Elementen wie z.B. bestimmten Partikeln, Konjunktionen, Intonationsmerkmalen und Stilphänomenen eine Sonderstellung als expressive Zeichen zugeordnet und die darstellende Funktion abgesprochen (vgl. Konstantinidou 1997: 25). Die dritte Entwicklungslinie - von propositional zu pseudo-propositional/ emotiv - bewegt sich in der Tradition des logischen Positivismus und bezeichnet jene sprachlichen Äußerungsanteile als ‚emotiv‘, die sich nicht verifizieren lassen und/ oder dem Hervorrufen von Gefühlen dienen (z.B. ästhetische und moralische Urteile, vgl. Konstantinidou 1997: 26f.). Sprache wird nach wie vor oft als prototypisch rationale Operation des Neokortex angesehen, wohingegen Emotionen niedrigeren Gehirnfunktionen und -ebenen zugeordnet werden. Wie bereits in Kapitel 2 dargestellt, ist diese Auffassung nicht zutreffend. Ebenso verworfen wurde die Auffassung, dass Emotionen nur in primitiven Stadien der phylo- und ontogenetischen Entwicklung von Bedeutung sind; ihre Rolle verändert sich lediglich durch immer stärkere Wechselwirkungen zwischen Kognition und Emotion beim erwachsenen Individuum und durch die Bedeutung von Emotionen für die soziale Interaktion (vgl. Péter 1984: 242-245). Von der allgemeinen Aufwer- <?page no="60"?> 3 - Sprache -und -Emotion: -Ein -Forschungsüberblick 50 tung der Emotionsforschung wurde auch die Linguistik mit all ihren Teilbereichen erfasst (vgl. Stoeva-Holm 2005: 26). Stark vertreten sind Untersuchungen im semantisch-lexikalischen Bereich, in der formalen Analyse grammatischer Mittel, die pragmatisch-kommunikative Ebene (insbesondere Gesprächs- und Diskursanalyse), aber auch die Kognitive Linguistik (vgl. Schwarz-Friesel (2007: 12f.). Vom gesteigerten Interesse zeugt beispielsweise der Cluster Languages of Emotion an der Freien Universität Berlin (seit 2007), in den zahlreiche Projekte aus verschiedenen geistes-, sozial- und naturwissenschaftlichen Disziplinen integriert sind. Im Mittelpunkt des Clusters steht die Definition von Emotionen als Zeichen. Der Cluster ist in vier Areas unterteilt: Emotions and Language, Emotions and Art, Emotional Competence und Cultural Codes of Emotion. Dementsprechend breit werden linguistische, literaturwissenschaftliche, psychologische und (kultur-)soziologische Fragen abgedeckt. 18 Die Klärung des Zusammenhangs zwischen Sprache und Emotion ist nicht nur für die Linguistik von Bedeutung. Viele nicht-sprachwissenschaftliche Studien stützen sich auf die Untersuchung von Emotionen über den Zwischenschritt von Emotionswörtern (vgl. Danelzik 2005: 40). Die linguistische Beschäftigung mit Emotionen spielt in der interdisziplinären Emotionsforschung eine Schlüsselrolle, da die Grundlage von Wissenschaft sorgfältige Begriffsarbeit und somit auch die kritische Auseinandersetzung mit Sprache ist (vgl. Niemeier 1997a: ix). Letztendlich wird hauptsächlich mithilfe von Sprache eine kognitive Verknüpfung zwischen einem Ereignis und Emotionen, aber auch zwischen verschiedenen Emotionserfahrungen (intraindividuell und interindividuell) hergestellt. Auf diese Weise verleiht Sprache den Emotionen Struktur und lenkt letztendlich unsere Wahrnehmung von Emotionen, wodurch das Phänomen Emotion sowohl greifbarer als auch in bestimmten, von der Sprache nicht erfassten Aspekten dunkler wird (vgl. Wierzbicka/ Harkins 2001: 2f.). 3.2 - Theoretische Perspektiven im Überblick Der einfachste Zusammenhang zwischen Sprache und Emotion lässt sich in wenigen Worten wie von Schwarz-Friesel (2007: 11) zusammenfassen: „Mit der Sprache drücken wir unsere Gefühle und Empfindungen aus.“ Diese ebenso grundlegende wie einleuchtende Feststellung ist im Folgenden zu präzisieren und auch zu hinterfragen. In diesem Abschnitt werden verschiedene Perspektiven auf den Zusammenhang zwischen Sprache und Emotion eingeführt. Nach einer Einordnung der Emotionslinguistik werden verschie- 18 URL: <http: / / www.loe.fu-berlin.de/ > [01.07.2014]. <?page no="61"?> 3.2 - Theoretische -Perspektiven -im -Überblick - 51 dene Ansätze der Klassifikation von Sprachfunktionen im Kontext der Emotionalität dargestellt. Unerlässlich sind genauere Begriffsbestimmungen für das Verständnis der weiteren Kapitel. Unter Berücksichtigung des wissenschaftshistorischen Hintergrunds werden schließlich theoretische Differenzierungen emotionaler Bedeutungen im weitesten Sinne vorgenommen. 3.2.1 - Linguistische -Disziplinen -und -Fragestellungen Viele verschiedene Disziplinen und Sichtweisen sind in die Aufarbeitung des Zusammenhangs zwischen Sprache und Emotion involviert. In der vorliegenden Arbeit werden nicht alle, aber doch einige Ansätze berücksichtigt. Die folgenden Bemerkungen bieten einen Überblick über die wichtigsten Perspektiven und Fragestellungen. Fiehler (1990b: 14-20) gibt einen umfassenden Literaturüberblick bis 1990 (dem Erscheinungsjahr seiner Arbeit) - wo nicht anders angegeben, sind die folgenden Fragestellungen aus diesem Abschnitt übernommen. Aus einer funktionalen Perspektive wird danach gefragt, welche Funktionen emotionale Sprache erfüllt und welchen (semiotischen) Status emotive Zeichen haben. Die sprachsystematische Perspektive betrifft emotive Mittel auf allen linguistischen Ebenen des Sprachsystems. Welche sprachlichen Mittel und Formen zeigen auf welche Weise Emotionen an? Wie äußern sich Emotionen im para- und nonverbalen Bereich, also bezüglich Mimik, Intonation, Prosodie und Stimmqualitäten (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 13; Janney 1996: 6)? Welche syntaktischen Muster und grammatischen Besonderheiten verweisen auf Emotionen? Hier rücken besonders Exklamativsätze, der Emotionswortschatz mit seinen syntaktischen Besonderheiten und Interjektionen in den Mittelpunkt (vgl. Bednarek 2008: 8; Schwarz-Friesel 2007: 12ff.; Tischer 1988: 11). Wird eine kognitive Perspektive eingenommen, rücken Bewertungen, Einstellungen und Konzepte in den Fokus. Welche Prototypen und Szenen, Metaphern und Konnotationen sind hier aktiv (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 13f.)? Laut Bednarek (2008: 7) wird dieser Zweig auch als emotionology bezeichnet. Eine verwandte Frage: Auf welche Weise werden Emotionen kategorisiert und konzeptualisiert und welche Rolle spielt bei diesen kognitiven Prozessen die Sprache (vgl. Fomina 1999: 7; Rummer/ Engelkamp 2000)? Welchen Einfluss haben Emotionen auf die kognitiven Prozesse der Sprachproduktion und der Sprachrezeption (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 12)? Welche Rolle spielen Emotionen im Spracherwerb bzw. inwiefern trägt umgekehrt Sprache zur emotionalen Entwicklung bei (vgl. Käsermann 1995: 41f.)? Kontrastive und diachrone Perspektiven legen folgende Fragen nahe: Gibt es typologische Unterschiede in der Emotionskommunikation, wenn man verschiedene Sprachen miteinander vergleicht? Lässt sich eine Veränderung <?page no="62"?> 3 - Sprache -und -Emotion: -Ein -Forschungsüberblick 52 emotiven Sprachgebrauchs im Zuge des Sprachwandels feststellen? Inwiefern verändert sich die Kommunikation von Emotion? Damit verwandt ist die sprachanthropologische Perspektive: Gibt es sprach-, kultur-, gruppen- und geschlechtsspezifische Unterschiede in der Konzeptualisierung, Kodifizierung und Kommunikation von Emotionen? (Vgl. Bednarek 2008: 7f.) In der konversations- und diskursanalytischen Perspektive ist die Rolle von Emotionen in Gesprächen (vgl. Fries 1996: 3) und Diskursen der zentrale Forschungsbereich. Inwiefern übernehmen sie gesprächsorganisierende Funktionen (vgl. Janney 1996: 5f.)? Aus stilistischer oder literaturwissenschaftlicher Perspektive wird stilistischen Phänomenen und rhetorischen Mitteln nachgespürt, die besonders emotiv sind (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 12f.; Bednarek 2008: 8; Janney 1996: 6). Gibt es so etwas wie eine emotive Stilistik? Pragmatische und textlinguistische Perspektiven eröffnen ein großes Gebiet mit vielen unterschiedlichen Fragestellungen, die mit den bisherigen Bereichen eng zusammenhängen, von der Emotionskodierung im Text über Emotionalisierung bis hin zu Genderaspekten (vgl. Bednarek 2008: 9). Welche sprachlichen Handlungen sind typischerweise emotional? Welchen Stellenwert haben Emotionen bzw. expressive Handlungen (Expressiva) in der Sprechakttheorie? Auf welche Weise erkennen, deuten und benennen wir unsere eigenen Emotionen und jene anderer Personen? Lassen sich spezifische kommunikative Muster in bestimmten Situationen und Kommunikationsmodi unterscheiden (vgl. Stoeva-Holm 2005: 25)? Welche Emotionsaufgaben und welche Emotionsregeln lassen sich formulieren? Gibt es textsortenspezifische Muster von Emotivität in Texten (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 12f.)? Auch im Bereich der Angewandten Linguistik gibt es vielfältige Fragestellungen, die Emotionen berühren, beispielsweise die Frage, inwiefern sich Störungen der Emotionalität in der Sprache äußern (vgl. Stoeva-Holm 2005: 29), ferner Emotionen in der medizinischen Kommunikation, im Fremdspracherwerb usw. 3.2.2 - Emotionslinguistik: -Integrativer -oder -partitiver -Zugang? Das Interesse am sprachlichen Ausdruck von Emotionen führte zur Prägung eines Terminus für eine neue Bindestrich-Linguistik: Emotionslinguistik (Begriff beispielsweise bei Fomina 1999: 7). Kritik an diesem Kompositum ist insofern berechtigt, als es sich nicht um ein neues Forschungsparadigma handelt, das gleichberechtigt neben Textlinguistik, Psycholinguistik und anderen etablierten Bindestrich-Linguistiken stünde, wie auch Fiehler (1990a: 72) betont: „Die Kommunikation von Emotionen ist [...] kein eigenständiger Gegenstandsbereich, obwohl es möglich ist, die Kommunikation von Emoti- <?page no="63"?> 3.2 - Theoretische -Perspektiven -im -Überblick - 53 onen analytisch gesondert zu behandeln.“ Nimmt man dies ernst, ist unter ‚Emotionslinguistik‘ eine eklektisch anmutende Ansammlung von Erkenntnissen über Sprachsystem und Sprachgebrauch unter der spezifischen Perspektive der Emotionalität zu verstehen. Dressler und Barbaresi (1994: 574f.) beispielsweise warnen davor, die Kategorie der Emotionalität, die sie als peripheres linguistisches Phänomen betrachten, ohne brauchbare Methodologie aus unreflektierter Begeisterung für das Thema heraus in den Mittelpunkt zu stellen. Doch da dem Neologismus das elegante Verknappen einer sonst umständlichen Umschreibung wie ‚linguistische Untersuchung der vielfältigen Zusammenhänge zwischen Sprache und Emotion‘ zugrunde liegt, halte ich an ihm fest. Nach dieser terminologischen Klärung zum Inhaltlichen: Was ist die Aufgabe der Emotionslinguistik? Fomina (1999: 7) beschreibt sie folgendermaßen: „Die Erforschung der sprachlichen Fähigkeit eines Menschen zur Modellierung derjenigen Prozesse, die die Formierung und das Verstehen der emotionalen Äußerungen und Texte beeinflussen, sollte im Mittelpunkt der Emotionslinguistik stehen.“ Dieser Forderung nach wäre emotionslinguistische Forschung stark kognitiv ausgerichtet. Das ist meines Erachtens ein wichtiger Zweig, aber nicht der einzige, wie der bisherige Forschungsüberblick gezeigt haben sollte. Die in der Überschrift dieses Abschnitts gestellte Frage, ob Emotionslinguistik als integrativer oder als partitiver Zugang verstanden werden sollte, ist mit einer möglicherweise unbefriedigenden Sowohl-als-auch-Antwort zu quittieren: Integrativ ist die Emotionslinguistik, weil sie eine Verknüpfung unterschiedlicher sprachlicher Ebenen und unterschiedlicher linguistischer Teildisziplinen (Lexikologie, Semantik, Textlinguistik, Psycholinguistik, Grammatiktheorie, ...) anstrebt. Partitiv wirkt die Einengung auf eine ganz bestimmte Forschungsperspektive. Der bereits eingeführte Scheinwerfervergleich (s. 2.0) soll in diesem Zusammenhang noch einmal bemüht werden: Die Emotionslinguistik beleuchtet wie ein Scheinwerfer nämlich nur den Aspekt der Emotionalität in der Sprache. Es zeigt sich jedoch, dass diese Einengung immer noch eine breite Palette an Forschungsfragen und Schwierigkeiten offen lässt. Das ultimative Ziel der Emotionslinguistik ist die Verknüpfung der Frage nach dem ‚Wie? ‘ und nach dem ‚Warum? ‘ sprachlicher Emotivität (vgl. Drescher 2003b: 219f.). 3.2.3 - Funktionale -Gesichtspunkte Welche Funktionen haben Emotionen für die Sprache? Der Terminus ‚Funktion‘ an sich ist mehrdeutig, sodass er hier eingeordnet werden muss. Dressler <?page no="64"?> 3 - Sprache -und -Emotion: -Ein -Forschungsüberblick 54 und Barbaresi (1994: 15f.) unterscheiden verschiedene Konzepte für sprachliche Funktionen: • den linguistischen Ansatz des Funktionalismus, der hier nicht weiter berücksichtigt wird • die Ansicht, dass mit sprachlichen Handlungen bestimmte Ziele verfolgt werden und zu ihrer Erreichung bestimmte gesellschafts-, sprach- und kulturspezifische Regeln eingehalten werden müssen (funktionales Verhalten) (vgl. auch Battacchi/ Suslow/ Renna 1997: 53) • eine Vorstellung von Funktion, die auf das Sprachsystem abzielt und den Zweck eines einzelnen sprachlichen Elements innerhalb dieses Systems beschreibt (z.B. die Funktion eines Derivationsmorphems in der deutschen Sprache) Hier wird eine Unterscheidung zwischen den Funktionen emotiver Sprache und dem Platz der Emotion in der theoretischen Formulierung der Funktionen von Sprache vorgenommen (vgl. auch Suslow 1993: 122). Klassifikationen -von -Sprachfunktionen Zuerst zu letzterem Aspekt, also zur Frage, ob und wie eine expressive Funktion der Sprache angenommen werden kann. Die übergeordnete Funktion von Sprache ist Kommunikation, alle anderen Funktionen stützen diesen Zweck (vgl. Nuyts 1990: 231). Einfach gesagt: „[Die Sprache] dient der Darstellung von Sachverhalten in der Welt, dem Ausdruck von Befindlichkeiten, der Anweisung von Dritten. Weniger augenfällig, aber sehr bedeutsam ist die Schaffung und Stärkung des sozialen Bandes durch Rede, wobei der Inhalt gänzlich in den Hintergrund treten kann.“ (Battacchi/ Suslow/ Renna 1997: 10) In diesem Zitat stecken viele Verweise auf Funktionen, die in den meisten Modellen genannt werden, unter anderem auch die emotive oder expressive Funktion, die in Funktionsklassifikationen postuliert wird (vgl. Nuyts 1990: 229; Hübler 1998: 3). In der Folge werden einige bekanntere Ansätze angeführt. Emotionen sind einerseits Teil unserer Weltmodelle und andererseits Ursache, Begleiter und Ziel unseres (sprachlichen) Handelns und in diesem Sinne kommunikativ nicht per se dysfunktional oder disruptiv. Auch wenn keine absolute Deckung zwischen Emotionsempfinden und Emotionsausdruck besteht, wenn Missverständnisse auftreten und Missbrauch und Manipulation möglich sind, ist emotive Sprache grundsätzlich leistungsfähig (vgl. Schmidt-Atzert 1980: 191). <?page no="65"?> 3.2 - Theoretische -Perspektiven -im -Überblick - 55 Am bekanntesten ist nach wie vor das Bühler’sche Organon-Modell 19 mit der Differenzierung der sprachlichen Funktionen in Darstellungs-, Ausdrucks- und Appellfunktion: • Darstellungsfunktion: Zeichen sind Symbole für Gegenstände und Sachverhalte (grammatische Person: er/ sie/ es). • Ausdrucksfunktion: Zeichen sind Symptome für den Zustand eines Senders (grammatische Person: ich). • Appellfunktion: Zeichen sind Signale an den Empfänger (grammatische Person: du). Die Darstellungsfunktion der Sprache wird prototypisch mit dem Aussagesatz realisiert, der in Hinblick auf seine Wahrheitsbedingungen untersucht werden kann. Diese Funktion war in der Linguistik traditionell vorherrschend (vgl. Bublitz 1978: 3). Für die Emotionslinguistik ist jedoch auf den ersten Blick die Ausdrucksfunktion am interessantesten (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 135). Sie wird mit der Emotion des Senders gleichgesetzt, während Darstellung mit Kognition und Appell mit Intention umschrieben werden können. Allerdings sind diese Funktionen nicht voneinander zu trennen. Jede sprachliche Handlung ist als dreifaches Zeichen zu verstehen, dessen Einzelteile eine Gesamtbedeutung bilden (vgl. Hermanns 1995: 141f., 144). Alle drei Funktionen werden also gleichzeitig vollzogen, wobei in konkreten Äußerungen unterschiedliche Dominanzverhältnisse festgestellt werden können (vgl. Bühler 1978: 31f.). Die Ausdrucksfunktion ist beispielsweise bei Charakteristika der Handschrift oder des Tonfalls dominant (vgl. Konstantinidou 1997: 36). An diesen Beispielen wird deutlich, dass die Ausdrucksfunktion hauptsächlich nicht für Sprache im engeren Sinne relevant ist, sondern „extralinguistische[n] Charakter“ (Konstantinidou 1997: 37) hat. Ihr fehlt in vielen von Bühler genannten Beispielen die Intentionalität, die für Sprache im Sinne einer Handlung typisch ist. Dies stellt eine Reduzierung des Emotionalen auf den indexikalischen Bereich dar (Ausdruck als Anzeichen für Emotionen) und unterstützt die traditionelle Entflechtung von Kognition und Emotion (vgl. Péter 1984: 245, 256). Allerdings ist auch grundsätzlich infrage zu stellen, ob die Ausdrucksfunktion tatsächlich mit Emotionen gleichgesetzt werden kann. In der Tat sind sowohl die Darstellungsals auch die Appellfunktion 19 Vgl. Bühler (1978: 28ff.), Reisigl (1999: 29-40), Janney (1996: 18, 280ff.), Kurilla (2013: 481ff., 499ff.). Für Kritik an Bühler, die vor allem auf die Einfachheit des Modells bei gleichzeitiger Vermischung vieler unterschiedlicher Aspekte abzielt, vgl. Hermanns (1995: 143), Weigand (2003: 46), Battacchi/ Suslow/ Renna (1997: 53). <?page no="66"?> 3 - Sprache -und -Emotion: -Ein -Forschungsüberblick 56 für die Kommunikation von Emotionen zentral (vgl. Dressler/ Barbaresi 1994: 33f.; vgl. auch Kurilla 2013: 503ff. für eine genauere Auseinandersetzung). Während Bühlers Modell zeichentheoretische (semiotische) Aspekte beschreibt, sind die von Jakobson formulierten Funktionen eher inhaltlichsemantisch bestimmt (vgl. Drescher 2003b: 24). 20 Er nennt sechs Funktionen, in Anlehnung an die sechs Seiten eines Sprachereignisses: 1) Die emotive (auch: remotive, vgl. Jakobson 1971: 147) oder expressive Funktion bezieht sich auf den SENDER. Mit Sprache werden Einstellungen des Sprechers bzw. der Sprecherin vermittelt (z.B. Ironie). Dieser „egozentrische“ (Mair 1992: 44) Ansatz betont die Subjektivität von Emotionen. 2) Die konative oder appellative Funktion bezieht sich auf den EMPFÄN- GER. Mit Sprache werden andere Personen angesprochen und bewegt (z.B. durch Aufforderungen). 3) Die poetische Funktion bezieht sich auf die MITTEILUNG und betrifft die Art und Weise der Kodierung einer Nachricht („Zentrierung auf die Nachricht um ihrer selbst willen“, Jakobson 1971: 151). Von Bedeutung ist diese Funktion vor allem in der Literatur, aber auch immer, wenn mit Sprache Konstruktionen von Wirklichkeit erzeugt werden. 4) Die referenzielle Funktion bezieht sich auf den KONTEXT. Mit Sprache können Sachverhalte und Objekte beschrieben werden (z.B. durch die Bezeichnung von Objekten). 5) Die metasprachliche Funktion bezieht sich auf den KODE. Über Sprache selbst kann gesprochen werden (z.B. zur Verständnissicherung). 6) Die phatische Funktion bezieht sich auf den KONTAKT (das MEDIUM). Sie drückt sich vor allem in der Beziehungsgestaltung aus, also beim Verfolgen sozialer Zwecke (z.B. Aufrechterhalten der Kommunikation). Den Begriff ‚phatische Kommunikation‘ hat Malinowski geprägt. 21 In natürlichen Texten sind in der Regel mehrere Funktionen vertreten; allerdings kann meist eine dominante Funktion festgestellt werden, die dann auch die Oberflächenstruktur einer Äußerung bestimmt. Die referenzielle Funktion wird als zentral angesehen, aber Jakobson (1971: 147f.) hebt explizit hervor, dass nicht nur dieser Aspekt von Sprache informativ ist, sondern dass auch expressive Sprache Informationen vermittelt und semiotisch bedeutsam ist. 20 Vgl. Reisigl (1999: 53-60) für eine ausführliche Darstellung der einzelnen Funktionen und Kritik. 21 Supplement „Das Problem der Bedeutung in primitiven Sprachen“. In: Ogden/ Richards (1974: 323-384; speziell: 350f.). <?page no="67"?> 3.2 - Theoretische -Perspektiven -im -Überblick - 57 Mit der expressiven oder emotiven Funktion der Sprache wird eine Haltung des Sprechenden, mit anderen Worten die Wertung des Mitgeteilten bzw. die zum Ausdruck gebrachte Emotion als wichtiger Anteil einer Äußerung erfasst. Sprachliche Mittel, mit denen diese Funktion - mehr oder weniger unwillkürlich (vgl. Volek 1987: 5f.) - erfüllt wird, sind nach Jakobson (1971: 147f.) beispielsweise Interjektionen und Lautphänomene, aber auch bestimmte grammatische und lexikalische Mittel. Ein Kriterium für die Erfüllung der expressiven Funktion ist die Unmittelbarkeit eines Ausdrucks. Emotionsthematisierungen, also Beschreibungen von emotionalen Zuständen oder Einstellungen, sind somit nicht dem Expressiven zuzurechnen (vgl. Konstantinidou 1997: 39). Ob diese Auffassung tatsächlich zutrifft oder ob Emotionsausdruck auch durch oberflächlich betrachtet informative (referenzielle) Äußerungen vollzogen werden kann, wird noch zu diskutieren sein (vgl. z.B. Omondi 1997: 89f. für eine Kritik dieser engen Auffassung des Expressiven). Wie bereits angedeutet ist nicht nur die emotive Funktion emotionslinguistisch bedeutsam, sondern in besonderem Maße auch die konative, die phatische und die poetische Funktion (vgl. Stankiewicz 1989: 75f.). Letztere bezieht sich nicht nur auf literarische Texte, sondern betrifft vielmehr den Stil jedes Textes (vgl. Büscher 1995: 20). Die konative Funktion wird etwa mit Vokativ und Imperativ vollzogen (vgl. Jakobson 1971: 148f.). Die emotive und die konative Funktion werden von Bublitz (1978: 4) zur emotiv-konativen Funktion zusammengefasst, da mit emotiver Sprache bestimmte kommunikative Ziele verfolgt werden. Volek (1987: 7ff.) kritisiert sowohl an Bühler als auch an Jakobson, dass sich nicht alle vermeintlich unmittelbar ausgedrückten Emotionen auf den Inhalt der betreffenden Äußerung beziehen, sondern ebenso gut auf den Adressaten oder ein vergangenes Ereignis referieren können. Außerdem werde nicht zwischen intentionalem und nicht-intentionalem Emotionsausdruck differenziert. Expressive und emotive Formen sind nicht immer auffällig. Andere Ansätze zur Klassifikation von Sprachfunktionen weichen von den bisher genannten in einzelnen Punkten ab, sind insgesamt aber ähnlich. Beispielsweise unterscheidet Leech (1975: 47ff.) die informative, die expressive, die direktive, die ästhetische und die phatische Funktion der Sprache, was dem Modell von Jakobson, auf den er sich auch explizit beruft, sehr nahe kommt. Allerdings hält er die emotive Bedeutung für sekundär. Er unterscheidet zudem eine reflexive, eine emotive und eine operative Funktion der Sprache. Der Ausdruck von Gedanken ist demnach genauso wichtig wie die soziale Funktion (vgl. Sager 1981: 25f.; Janney 1996: 17f., 277f.). 22 22 Für Zusammenfassungen anderer Klassifikationen vgl. Sager (1981: 28ff.), Battacchi/ Suslow/ Renna (1997: 55), Suslow (1993: 123f.), Reisigl (1999: Kap. 2). <?page no="68"?> 3 - Sprache -und -Emotion: -Ein -Forschungsüberblick 58 Ogden und Richards (1974: 17) unterscheiden den „bezugnehmenden“ (referential = Referenz auf die Wirklichkeit außerhalb des Individuums) und den „emotionale[n]“ Wortgebrauch (nonreferential = Referenz auf innere Zustände). Sie nehmen fünf Sprachfunktionen an: 1. die Symbolisierung, 2. Anzeigen von Einstellungen gegenüber Hörerinnen und Hörern (z.B. Anzeichen für Höflichkeit), 3. Anzeigen von Einstellungen gegenüber dem Referenten (z.B. Emphase, Redundanz), 4. das sprachliche Umsetzen von Absichten (Wirkung auf den Hörer) und schließlich 5. das Herstellen des Bezugs zur außersprachlichen Wirklichkeit (vgl. Ogden/ Richards 1974: 261ff.). All diese Funktionen lassen sich auf Emotionen beziehen (vgl. Sager 1981: 24f.). In seinem ältere Literatur zusammenfassenden und präzisierenden Modell differenziert Sager (1981: 32) mehrere Ebenen der Sprache mit jeweils eigenen Funktionen. In jeder Äußerung werden alle Funktionen realisiert: Er unterscheidet gesellschafts-zentrierte Funktionen (Gebrauchs- und Beziehungs- Funktion), benutzer-zentrierte Funktionen (z.B. referenzielle und expressive Funktion) sowie medium-zentrierte Funktionen (z.B. textuelle und poetische Funktion). Nuyts (1990: 232f.) nennt die informative, die intentionale, die kontaktpflegende (engl. socialising) und die kontextualisierende Funktion als Stützfunktionen der übergeordneten kommunikativen Funktion von Sprache. Die emotive Funktion von Sprache siedelt er auf zwei anderen Ebenen an: erstens auf der Ebene dessen, worauf Sprache referieren kann (Emotion als Konzept im kognitiven Sinn). Emotionen können auf dieser Ebene direkt ausgedrückt werden. Zweitens auf der Ebene der Stilistik in dem Sinne, dass emotionale Einstellungen, Dispositionen und aktuelle Stimmungen auf indirekte Weise ausgedrückt werden (z.B. durch Lautstärke beim Sprechen, in der Themenwahl usw., vgl. Nuyts 1990: 234ff.). Als funktional aus der Perspektive der Produzentin bzw. des Produzenten wird dabei nur die erste Form, der direkte Emotionsausdruck, gewertet, während für Rezipientinnen und Rezipienten sowohl indirekte als auch direkte Hinweise funktional sind, außer wenn diese Wirkungen bewusst eingesetzt werden (vgl. Nuyts 1990: 239). Fraglich ist allerdings, ob die Linguistik von solchen Differenzierungsversuchen profitiert, wie Konstantinidou (1997: 42) näher ausführt: „Die ganze Diskussion über die Funktionen der Sprache ist allerdings nichts anderes als eine Diskussion über die Funktionen von unterschiedlichen Komponenten bzw. Differenzierungen der Sprache, wenngleich oft der Eindruck erweckt wird, man spreche von den Funktionen ein und desselben Objektes, ein Eindruck, der darauf beruht, daß alle Komponenten oder Differenzierungen Teile eines und desselben Objektes, der Sprache, sind.“ Péter (1984: 246) hält die Annahme einer expressiven Funktion für nicht notwendig. Auch für Volek (1987: 234) ist Emotivität keine Funktion der <?page no="69"?> 3.2 - Theoretische -Perspektiven -im -Überblick - 59 Sprache, sondern eine Inhaltskategorie, „a special type of content“. Dennoch könne bei bestimmten sprachlichen Mitteln, die den direkten, prototypischen Emotionsausdruck darstellen, von der expressiven Funktion gesprochen werden (vgl. Volek 1987: 235). Wie in Kapitel 2 erwähnt, sind die Funktionen von Emotionen für das Individuum sehr vielfältig und bestehen insbesondere darin, Informationen auf verschiedenen Ebenen bereitzustellen (intrapsychische Organisation, interpersonelle Interaktion und gesellschaftliche bzw. interkulturelle Zusammenhänge, vgl. Battacchi/ Suslow/ Renna 1997: 11, 25). Daher kann die Emotivität in der Sprache nicht rein in den Ausdrucksbereich (‚Person X drückt einen emotionalen Zustand Y aus‘) abgeschoben werden. Eine andere Perspektive auf die emotive Funktion bezieht sich auf die Aufgabe einzelner sprachlicher Mittel. Hervorzuheben ist hier, dass diese emotive Funktion in vielen Sprachen mit grammatisch markierten Formen korrespondiert. Oft geht dies mit einer Tendenz zur grammatischen Neutralisierung einher (Neutralisierung im Sinne der Aufhebung von Oppositionen), im Deutschen z.B. Genuswechsel bei Derivation auf -chen, -lein. Andererseits gibt es auch viele Beispiele für ein ungewöhnliches grammatisches Verhalten emotiver Formen (vgl. Stankiewicz 1989: 80ff.). Dieser Aspekt wird im Kapitel 6 im Mittelpunkt stehen. Warum -emotional -werden? Nun zur anderen Perspektive, zu den Funktionen emotiver Sprache - mit anderen Worten zum Nutzen von emotionaler Kommunikation. Mit Sprache werden Emotionen sowohl konzeptualisiert als auch ausgedrückt (vgl. Foolen 2012: 350). Während in den bisher genannten Ansätzen die Sprache als Ganzes und der Emotionalität ein Teilbereich der Funktionen zugestanden wird, fragt Ehrhardt (2010: 147) umgekehrt danach, was die Sprache für die Emotionalität des Menschen tun kann. Er nennt die Nominationsfunktion (Emotionen bezeichnen), die emotionale Funktion (Emotionen ausdrücken) und die emotionalisierende Funktion (Emotionen hervorrufen). Auf diese grundlegende Unterscheidung wird unter 3.2 genauer eingegangen. Das Sprechen und Schreiben über Emotionen hilft dabei, vielfältige Emotionsaufgaben zu erfüllen, die in der folgenden Aufzählung knapp dargestellt werden (wo nicht anders angegeben, vgl. Schmidt-Atzert 1980: 189; Fries 2004: 7; Fiehler 1990b: 3, 136ff.; Hickey 1990: 122ff): • Das eigene Verhalten kann erklärt, beschrieben, gerechtfertigt und bewertet werden. Ergebnisse interner Evaluationsprozesse werden mitgeteilt. Diese Transparenz kann jedoch auch missbraucht werden. Dieser informatorische Aspekt kann sich auf vergangene, gegenwärtige und zukünftige, auf eigene und fremde Emotionen beziehen. <?page no="70"?> 3 - Sprache -und -Emotion: -Ein -Forschungsüberblick 60 • Das Verhalten von Kommunikationspartnern kann beeinflusst werden, z.B. über Drohungen, Bitten, aber auch mit Sprechmustern und rhetorischen, manipulativen Elementen. • Das Sprechen über Gefühle dient der Abfuhr von Emotionen, aber auch der Emotionskontrolle bzw. dem Emotionsmanagement. Durch den verbalen Ausdruck von Emotionen werden schwerwiegendere (z.B. tätliche) Gefühlsreaktionen oftmals verhindert. Andererseits kann die sprachliche Verarbeitung von Emotionen diese auch intensivieren (vgl. Magai/ McFadden 1995: 285). • Die Möglichkeit der Emotionsbenennung, des Sprechens und Schreibens über Emotionen ist wichtig für die (Re-)Konstruktion von Gefühlen und verleiht dem emotionalen Erleben Struktur (vgl. Fischer 1991: 53ff.). Die sprachliche Verarbeitung ist eine wichtige Hilfe bei der Bewusstwerdung, Einordnung und gemeinschaftlichen Prozessierung von Emotionen. 3.2.4 - Definitionen: -Emotional, -emotiv, -expressiv, -evaluativ Bisher wurden die Termini ‚emotional‘, ‚emotiv‘, ‚expressiv‘ und ‚evaluativ‘ ohne genauere Unterscheidung verwendet. Es gibt jedoch zahlreiche widersprüchliche Bedeutungen, sodass eine Klärung, wie diese Ausdrücke in der vorliegenden Arbeit verwendet werden, notwendig ist. In einigen Ansätzen, die in der Folge vorgestellt werden, findet auch ‚affektiv‘ Verwendung. Emotional ‚Emotionale Bedeutung‘ (emotional meaning) ist eine ambige Kollokation, die sich sowohl auf linguistische, speziell semantische Aspekte als auch auf außersprachliche (z.B. biologische und soziologische) Interpretationen von Emotionen beziehen kann (vgl. White 2004: 31). Unter ‚emotionaler Sprache‘ (emotion(al) language) kann jene Sprache verstanden werden, die durch ihre Bedeutung oder ihre Funktion Emotionen linguistisch greifbar macht (vgl. Omondi 1997: 90; Daneš 1987: 284). Die Übersetzung von sensorischen Codes in sprachliche Codes - vereinfacht gesagt das Sprechen oder Schreiben über Gefühle - wird als emotion talk bezeichnet und entspricht im Wesentlichen den später angesprochenen Emotionsbeschreibungen (vgl. Bednarek 2008: 2). Hayakawa (1993: 85) kritisiert, dass ‚emotional‘ zu einseitig auf starke Emotionen referiert und als Gegenbegriff zu ‚intellektuell‘ verwendet wird. Er zieht ‚affektiv‘ vor, da dies sowohl starke als auch ‚subtile‘ emotionale Reaktionen meinen kann. Andere Definitionen reservieren das Wort ‚emotional‘ hingegen rein für paralinguistische Phänomene (z.B. Lachen) und Erscheinungen wie nichtintentionale Fehler in der Satzstruktur, die den emotionalen Zustand der <?page no="71"?> 3.2 - Theoretische -Perspektiven -im -Überblick - 61 Sprecherin bzw. des Sprechers widerspiegeln (vgl. Volek 1987: 13). Eine spezifisch textlinguistische Definition stammt von Frier (1976: 8) und engt den Terminus ‚Emotionalität‘ auf pragmatische Phänomene ein, die sich auf die Texttiefenstruktur auswirken und als Voraussetzungen des Textproduktionsprozesses gelten können (z.B. psychologische und soziologische Voraussetzungen, semantisch-thematische Basis). Diese idiosynkratische Definition wird jedoch nicht weiter berücksichtigt. Eine Möglichkeit der terminologischen Trennung besteht also darin, Phänomene aus dem außersprachlichen und nicht-sprachlichen Bereich ‚emotional‘ zu nennen und sprachliche Aspekte ‚emotiv‘ (vgl. Konstantinidou 1997: 19). Emotiv Die soeben angesprochene Abgrenzung zwischen ‚emotional‘ und ‚emotiv‘ wurde von Marty (1908: 364f.) in die Linguistik eingeführt: ‚Emotional‘ meint bei ihm die kathartische, lautliche, nicht-intentionale Seite affektiver Sprache (z.B. Prosodie, Interjektionen), ‚emotiv‘ hingegen zielt auf die zeichenhafte (sprachsystematische), intentionale Ebene - diese Unterscheidung ist also im Einklang damit, wie das Emotionale bestimmt wurde. Er bezeichnet Äußerungen, die der Kundgabe von Gefühlen dienen, als ‚Emotive‘ und sieht ihre Funktion vor allem im Wecken von Interesse bei Hörerinnen und Hörern. Emotive Äußerungen können in Manifestationen von Evaluationen (Beurteilungen) und von Interessen (Wünschen) unterteilt werden (vgl. Janney 1996: 268; weitere Unterteilungen dieser beiden Typen: vgl. 269ff.). Da diese Auffassung von ‚emotiv‘ eine sehr große Kategorie zur Folge hat, wurden genauere Untersuchungen vorgenommen, beispielsweise von Bally, Stevenson, Stankiewicz und Volek, die in manchen Aspekten ähnliche, in manchen Fragen jedoch sehr unterschiedliche Entwürfe des Emotiven vorgelegt haben - dazu weiter unten mehr. Eine Vorabzusammenfassung: Bestimmte sprachliche Phänomene wie z.B. Interjektionen, Konnotationen und stilistische Unterschiede können nicht mit ihrer deskriptiven, darstellenden Bedeutung erklärt werden (vgl. Konstantinidou 1997: 53). Vielmehr sollen diese sprachlichen Mittel Fries (1991a: 2) zufolge „emotive Einstellungen der Sprachteilnehmer repräsentieren“, wobei hier die Betonung auf repräsentieren liegt, da von einer Trennung zwischen Emotion und Emotivität ausgegangen werden muss. Emotiv bezieht sich somit auf die linguistischen Aspekte von Emotionen und ist demnach der Terminus der Wahl für die Zwecke der vorliegenden Arbeit. <?page no="72"?> 3 - Sprache -und -Emotion: -Ein -Forschungsüberblick 62 Expressiv Expressiv ist jener Terminus in unserer Reihe von Definitionsproblemen mit den vielfältigsten Bedeutungen (vgl. Konstantinidou 1997: 41f.). 23 Meistens ist ‚expressiv‘ sehr ähnlich wie oder sogar synonym zu ‚emotiv‘ zu verstehen (vgl. Dressler/ Barbaresi 1994: 32f.), wie beispielsweise in folgender Definition von Löbner (2002: 43, andere Hervorhebung als i.O.): „Ein Ausdruck hat genau dann expressive Bedeutung, wenn er dem unmittelbaren Ausdruck subjektiver Empfindungen, Gefühle, Bewertungen und Einstellungen dient.“ Löbner (2002: 44f.) bezeichnet Vertreter dieser Klasse als ‚Expressive‘ und rechnet dazu Interjektionen, vollständige Propositionen (z.B. Ausrufe wie Das tut weh! ), expressive Adverbien (z.B. leider, hoffentlich), Adjektive und Affixe bzw. Affixoide, die eine Wertung ausdrücken (blöd, Super-, Scheiß-) sowie Schimpfwörter (deskriptiv und expressiv in einem). Diese Mittel können und werden genauso häufig als emotive sprachliche Mittel bezeichnet. Dass emotiv schwer von expressiv abzugrenzen ist, geht auch aus folgender Definition von Rössler (2001: 11) hervor: Man kann „unter den emotiven Bedeutungsanteilen alle diejenigen sprachlichen Mittel versteh[en], mit denen nicht nur einfach (deskriptiv) mitgeteilt werden kann, dass jemand eine Emotion hat, sondern mit denen diese expressiv benannt wird“. Hier wird also für die Definition von ‚emotiv‘ das Kriterium der Expressivität herangezogen. Zur Klärung dieses Verhältnisses unterscheidet Mair (1992: 52ff., 56ff.) drei Richtungen in der Bestimmung von Expressivität: 1) Affekttheoretische Konzeption: Dieser Ansatz beurteilt Expressivität als „Ausfluß der menschlichen Emotionalität, wie sie sich in der Sprache manifestiert“ (Mair 1992: 48) - als Nebenphänomene neben der kognitiven Ebene und von dieser getrennt. 2) Personalistische Konzeption: Damit ist „Expressivität als Ausdruck der Individualität des Sprechers“ (Mair 1992: 52) gemeint. Einerseits wird in solchen Ansätzen sprachliche Expressivität als Phänomen der Stilistik (individueller oder gruppenspezifischer Stil) gesehen, andererseits als Interpretationshilfe für die Persönlichkeit eines Menschen (Rückschlüsse von der Wortwahl, Intonation etc. auf die Persönlichkeit). 3) Evokative Expressivität: Dieser Ansatz beschäftigt sich mit Lautsymbolismus bzw. mit phonetischem Ikonismus (Annahme der Isomorphie zwischen Emotionalität und Lautgestalt - Onomatopoetika, Lautmalerei etc.). 23 Bei Mair (1992) findet sich ein umfänglicher historischer Rückblick bis in die Antike mit besonderem Fokus auf die Romanistik. <?page no="73"?> 3.2 - Theoretische -Perspektiven -im -Überblick - 63 Volek (1987: 9) unterscheidet zwei Linien der Begriffsbestimmung des Expressiven: Die erste Definition geht in die Richtung, nicht-begriffliche Bedeutungen in der Sprache zu beschreiben - direkten Emotionsausdruck, der normalerweise intentional vorgenommen wird (z.B. in Form von Konnotationen). Die zweite Definition, die Volek ablehnt, ordnet der Expressivität nicht-intentionale Symptome von Emotionen beim Sprecher zu (z.B. Bühler). Auch Fomina (1999: 30) macht einen nachvollziehbaren Unterschied zwischen ‚emotiv‘ und ‚expressiv‘: Während ‚emotiv‘ unmittelbar Emotionen betrifft, bezieht sich ‚expressiv‘ auf die Intensität oder Ausdruckskraft der Emotionen. Emotiv beschreibt demnach ein Kontinuum von ‚positiv - ambivalent - negativ‘, expressiv hingegen von ‚stark - schwach‘. Bedeutungsgleich sind die beiden Termini jedenfalls nicht. Expressiv bezieht sich explizit auf den Emotionsausdruck, emotiv ist meines Erachtens etwas weiter gefasst und deckt auch Emotionsbeschreibung oder nur vage Andeutungen von Emotionalität ab. Evaluativ Bewertungen ausdrücken zu können ist eine bedeutsame Fähigkeit und Aufgabe der Sprache (vgl. Thompson/ Hunston 2003: 2). Es wurde bereits angesprochen, dass Emotionen in manchen emotionswissenschaftlichen, kognitiven Theorien mit Bewertungen gleichgesetzt werden. Auch in der Emotionslinguistik wird manchmal keine Unterscheidung zwischen evaluativ und emotiv vorgenommen, weil die meisten emotiven Zeichen auch eine evaluative Bedeutung tragen, also eine bestimmte Bewertung ausdrücken (vgl. Fomina 1999: 8, für die Bewertungen ein Teil der Modalität sind). Viele Bewertungen, z.B. der Qualität eines Produkts oder des Verhaltens einer Person, müssen keineswegs Emotionen beim Urheber einer Äußerung anzeigen (vgl. Michel/ Zech 1994: 227). Meines Erachtens sollten drei unterschiedliche Perspektiven auseinandergehalten werden, und zwar 1) dass Emotionen eine bestimmte Wertung eines Sachverhalts, eines Ereignisses, einer Person etc. darstellen (Appraisal-Theorien) (vgl. Fiehler 1990b: 37), 2) dass bestimmte sprachliche Bewertungen auf Gefühlen basieren (vgl. Michel/ Zech 1994: 227f.) und 3) dass bestimmte sprachliche Bewertungen Gefühle ausdrücken. Zillig (1982a: 63) nennt drei Fragenkomplexe der Linguistik in Hinblick auf Bewertungen: erstens sprachphilosophische Betrachtungen inklusive Semantiktheorie (beispielsweise Wahrheitsbedingungen von Bewertungen), zwei- <?page no="74"?> 3 - Sprache -und -Emotion: -Ein -Forschungsüberblick 64 tens Untersuchungen wertender sprachlicher Ausdrücke und die funktionale Grammatik von Bewertungen sowie drittens Wertungen von Wörtern als Gegenstand der Stilistik (z.B. ‚umgangssprachlich‘, ‚Modewort‘). Die erste Frage wird im Kontext der vorliegenden Arbeit weitgehend vernachlässigt, doch verwandt ist sie mit Überlegungen zur inhaltlichen Füllung und zur Referenz bewertender Stellungnahmen, wie sie immer wieder zur näheren Bestimmung von Bewertungen auftauchen werden. Auf die linguistische Beschreibung von Bewertungen im zweiten Sinn nach Zillig wird in Kapitel 6 ausführlich eingegangen. Was die dritte Frage angeht, sind viele verschiedene Bezeichnungen in Verwendung: ‚Konnotationen‘, ‚Einstellung‘ (engl. attitude, stance), ‚Urteil‘ (engl. appraisal), ‚Meinung‘ (vgl. Thompson/ Hunston 2003: 2). Diesem Bereich wende ich mich erst im nächsten Abschnitt zu, da es sich nicht nur um evaluative Aspekte emotiven Sprachgebrauchs handelt. Ein vorläufiges Fazit: Es mag zwar sein, dass jede Emotion eine Bewertung darstellt (je nach Theoriehintergrund), aber nicht jede Bewertung vermittelt eine emotionale Einstellung. 24 Da aber letztendlich jede Äußerung eine Bewertung enthält, müssen emotionale von nicht-emotionalen Bewertungen abgegrenzt werden können. Das Kriterium dafür könnte nach Jahr (2000: 76) die „Ich-Beteiligung“ sein, die jedoch auch nicht immer eindeutig zugeschrieben werden kann. Abschließend ist jedenfalls mit Jahr (2000: 79f.) festzuhalten, dass mit der Erfassung und Kategorisierung von Bewertungen in einem Text bei Weitem nicht alle emotiven Elemente der Sprache erfasst sind. Spannung Ein weiterer Aspekt, allerdings am Rande unseres terminologischen Spektrums anzusiedeln, betrifft das Phänomen ‚Spannung‘. Spannung ist keine Emotion, aber das Lösen oder auch Anhalten einer Spannung ist mit Emotionen verknüpft - aus diesem Grund möchte ich die Spannungstheorie von Fill (2007), die den Aspekt der Spannung linguistisch aufbereitet, hier kurz ansprechen. Spannung wird von Fill (2007: 10, andere Formatierung als i.O.) definiert als „Gegensatz in einer Funktion der Zeit“ bzw. als Metapher für das menschliche Bedürfnis nach „positiver Erregung“, wobei sich positive Spannung (Eutension) und negative Spannung (Dystension) unterscheiden lassen. Spannende sprachliche Formen sind meistens markiert, weniger optimal (im Sinne der Optimalitätstheorie), weniger prototypisch und nicht maximal funktional (im Sinne der Informationsübermittlung). Dennoch ist Spannung ein notwendiges Prinzip, da völlige Harmonie, Homöostase und Spannungs- 24 Vgl. auch Fiehler (1990b: 33), der von vielfältigen Bewertungsaufgaben in der sozialen Interaktion spricht. Diese Aufgaben werden nur teilweise von Emotionen gelöst. <?page no="75"?> 3.2 - Theoretische -Perspektiven -im -Überblick - 65 losigkeit in der Sprache als Defaultwert viele wesentliche Aspekte nicht erklären könnten - vielmehr ist das Bedürfnis nach Spannung ein Motor für Textproduktion und -rezeption (vgl. Fill 2007: 16-20). Dem Erzeugen von Spannung dient eine Vielzahl von sprachlichen Mitteln auf allen linguistischen Ebenen. Allgemein handelt es sich meist um Regelverletzungen, Variationen und Abweichungen (z.B. Neologismen, Abweichungen in der Wortstellung, Kataphorik, Code-Switching). 3.2.5 - Beschreibung -emotiver -Bedeutung Der Kern der Emotionslinguistik ist meines Erachtens die Frage nach der Bedeutung des Emotionalen: Was bedeutet emotional? Was ist die emotionale Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks? Was bedeuten emotionale Äußerungen? Welche Bedeutungen (und zwar Bedeutungen sowohl im semiotischen als auch im normativ-wertenden Sinne) werden Emotionen im individuellen, historischen, kulturellen und sozialen Zusammenhang zugewiesen? Im Wesentlichen sind damit auch alle Probleme der Linguistik angesprochen, besonders jene von Semantik und Pragmatik und die Verknüpfung dieser Ansätze. So operieren beispielsweise viele semantische Theorien mit kognitiven Begriffen und kognitive Studien beziehen sich auf soziokulturelle Fragestellungen. Beschreibungen sprachsystematischer Möglichkeiten der Bezugnahme auf Emotionen können unterschiedlichen linguistischen Ansätzen zugeordnet werden und greifen entsprechend unterschiedliche Modellvorstellungen auf. Es sind also vielfältige Vernetzungen mitzubedenken. Die meisten emotiven sprachlichen Mittel sind polysem in dem Sinne, dass die durch sie vorgenommene emotive Wertung bzw. ihre emotive Bedeutung nicht eindeutig ist, sondern vom Kontext festgelegt wird (vgl. Nowoshilowa 1997: 187). Meines Erachtens gilt dies sogar für vermeintlich eindeutig positive oder negative emotionsbezeichnende Lexeme wie Liebe, ängstlich, freuen, aber im besonderen Maße für typische Mittel des Emotionsausdrucks (z.B. Interjektionen, Exklamativsätze, vgl. Kryk-Kastovsky 1997: 155). In der Folge geht es um unterschiedliche und doch im Kern sehr ähnliche Antworten auf die Frage, ob es so etwas wie emotive Bedeutung oder eine emotionale Bedeutungskomponente gibt und wie sie in das Sprachsystem einzugliedern ist. Diese Frage bezieht sich sowohl auf die Wortals auch auf die Äußerungsebene, oft steht jedoch die Bedeutung von Lexemen im Vordergrund. Bei genauerer Betrachtung ergeben sich vier wesentliche Richtungen der Diskussion, die jedoch teilweise miteinander zusammenhängen. 1) In welcher Beziehung zu Emotionalität steht emotionale Sprache: deskriptiv, expressiv, emotionsauslösend? <?page no="76"?> 3 - Sprache -und -Emotion: -Ein -Forschungsüberblick 66 2) Inwiefern ist die emotive Bedeutung im Sprachsystem zu suchen oder kontextabhängig? Hierher gehört auch die Frage nach denotativen und konnotativen Bedeutungsanteilen. 3) Welcher Zeichenstatus ist dem Emotiven in der Sprache zuzuschreiben? Die Ikonizität und Indexikalität (Letzteres oft in Verbindung mit Intentionalität) wird dabei sehr oft hervorgehoben. 4) Hinzu kommt eine weitere Perspektive: nämlich unterschiedliche semantische Modelle und Methoden zur Bestimmung von emotiver Bedeutung. Emotionsbeschreibung, -Emotionsausdruck, -Emotionalisierung Emotionalität bezeichnet einen emotionalen Zustand einer Sprecherin bzw. eines Sprechers. Mit „Emotionsmarkern“ (Dorfmüller-Karpusa 1989: 535) sind ‚Spuren‘ dieser Emotionalität im sprachlichen Produkt gemeint. Emotionalisierung ist schließlich Emotionsauslösung durch eine Äußerung bei einer Hörerin bzw. bei einem Hörer. Einige zentrale Gedanken der Emotionslinguistik formuliert bereits Bally, einer der ersten mit der Frage des Emotionalen in der Sprache befassten Linguisten: Für ihn hat jede Aussage emotive Bedeutung. Er unterscheidet zwischen direkten und indirekten Mitteln der Emotionssymbolisierung, zwischen einer logischen und einer affektiven Komponente der Bedeutung und auch bereits zwischen dem Ausdruck von Gefühlen durch Sprache und dem Einfluss der Sprache auf Gefühle. Darüber hinaus betont er die soziale Dimension der Emotivität in der Sprache und gleichzeitig die sprachsystematische Bedeutung von Emotivität. Beides sind zentrale Konzepte der Stilistik. Kognition und Emotion, Expressivität und Darstellung/ Referenz auf die Wirklichkeit sind immer miteinander verflochten. 25 Die gefühlsmäßige Komponente kann sich also auf unterschiedliche Aspekte beziehen: erstens auf die Gefühle der Sprecherin/ des Sprechers (Selbstausdruck), zweitens auf die Gefühle der Hörerin/ des Hörers (Hervorrufen von Gefühlen), drittens auf die Gefühle von Sprecher/ in und Hörer/ in gleichermaßen (Ausdruck und Hervorrufen zugleich) und viertens auf das Sprachzeichen selbst (vgl. Konstantinidou 1997: 75ff.). Es können sich folglich drei völlig unterschiedliche Emotionsqualitäten darstellen: die Emotion einer Sprecherin bzw. eines Sprechers, die in einer Äußerung ausgedrückte Emotion oder die Emotion einer Hörerin bzw. eines Hörers. Diese drei Seiten können zusammenfallen, sich teilweise decken oder divergieren (vgl. Daneš 1987: 282; Rössler 2001: 11f.). Darauf komme ich in Abschnitt 3.3 noch einmal zurück. 25 Vgl. Charles Bally (1909): Traité de stylistique francaise. 2 Bände. Heidelberg: Winter; zit. nach Janney (1996). Vgl. Drescher (2003b: 29-35) und Janney (1996: 261-266) für ausführliche Darstellungen von Ballys Ansatz. <?page no="77"?> 3.2 - Theoretische -Perspektiven -im -Überblick - 67 Kövecses (2000b: 6) schlüsselt mögliche Ausformungen von emotion language auf: Er unterscheidet expressive und deskriptive Formen, wobei die deskriptiven wörtlich oder figurativ sein können, im figurativen Bereich metonymisch oder metaphorisch. Expressiv sind z.B. Wörter wie shit! , deskriptiv hingegen anger, fear usw. Diese Definition sieht also keine Einschränkung emotionaler Sprache auf den expressiven Bereich vor (in dem Sinne, dass ein emotionaler Zustand unmittelbar ausgedrückt wird). Der deskriptive Bereich bietet viel umfangreichere Möglichkeiten. Diese von Kövecses vorgenommene Unterscheidung zwischen ‚expressiv‘ und ‚deskriptiv‘ weist auf die zentrale terminologische Differenzierung in diesem Abschnitt hin: nämlich auf den Unterschied zwischen Emotionsausdruck und Emotionsthematisierung. Es ist intuitiv sehr eingängig, dass hier zwei verschiedene Kategorien des Emotiven in der Sprache vorliegen. Dennoch ist diese Unterscheidung nicht unproblematisch. Zunächst zur klaren Abgrenzung, vorgeschlagen von Fiehler (1990b: 100, Hervorhebung i.O.): „Unter Emotionsausdruck verstehe ich alle Verhaltensweisen (und physiologischen Reaktionen) im Rahmen einer Interaktion, die im Bewußtsein, daß sie mit Emotionen zusammenhängen, in interaktionsrelevanter Weise manifestiert und/ oder so gedeutet werden.“ Damit wird auch der Unterschied zwischen Emotionsthematisierung in einer kommunikativen Situation und der emotionalen Aufladung einer kommunikativen Situation deutlich (vgl. Schmidt 2005b: 26). In ersterem Fall reflektiert und konstruiert Sprache Emotionen, verleiht ihnen Sinn. In letzterem Fall wird Sprache emotional ausgeführt, 26 indem Emotionen einerseits mit nicht- und parasprachlichen Mitteln, andererseits mit sprachlichen Mitteln im engeren Sinn (z.B. Lexik) ausgedrückt werden (vgl. Bamberg 1997: 209). Hier kann nach Fiehler (1990b: 102) „zwischen der ‚Produktion‘ von Ausdruck und ‚sich ereignendem‘ Ausdruck (unwillkürlicher Ausdruck)“ unterschieden werden. Ähnlich stellt dies Fries (2000: 67) dar. Er differenziert drei Arten des Emotionsausdrucks: physiologische, nicht bewusste und nicht intentionale Arten des Emotionsausdrucks (z.B. Erröten, Zittern), mehr oder weniger bewusst gesteuerte nonverbale Signale (z.B. Mimik) und sprachliche bzw. verbale Signale im engeren Sinn. Hierzu zählen auch paraverbale Phänomene. Vor allem der dritte Aspekt ist für die Emotionslinguistik relevant, auch wenn die erste Art als Inhaltskategorie der Emotionsthematisierung von Interesse ist und die zweite Art in der Analyse mündlicher Kommunikation eine Beobachtungsgröße sein kann. In seiner Terminologie unterscheidet Fries 26 „Talk may carry affect without referring to it“ (Wilce 2009: 57). Der Autor stellt sich hier gegen den „referentialist view“ auf Sprache (siehe unten). <?page no="78"?> 3 - Sprache -und -Emotion: -Ein -Forschungsüberblick 68 (2007: 7f.) zwischen der propositionalen Kodierung von Emotionen und der nicht-propositionalen Kodierung: • Propositionale Kodierung: z.B. Ich habe eine riesige Angst. Die Emotion wird in Form einer Prädikation, also einer Zuschreibung kodiert. Fries spricht hier von einer E-Prädikation (E = Emotion), die zweiwertig ist und Experiencer und Stimulus umfasst. In solche Äußerungen können die Intensität, die situativen Bedingungen, Auslöser bzw. Ziel, Dauer, die Art und die Häufigkeit der Emotion mitangesprochen werden. • Nicht-propositionale Kodierung: Hierzu gehören alle sprachlichen Mittel, in denen Emotionen nicht lexikalisch kodiert werden, sondern z.B. durch prosodische Mittel, Satzadverbiale (z.B. leider), Satzfragmente (z.B. Du Ignorant! , Entsetzlich für mich! ). Zur Klärung der Abgrenzung zwischen Emotionsausdruck und Emotionsthematisierung kann auch der Hinweis von Lang (1983: 310) darauf dienen, dass im Deutschen ‚ausdrücken‘ metasprachlich zwei völlig verschiedene Bedeutungen haben kann, die eigentlich strikt getrennt werden sollten: Die erste Bedeutung meint „die Relation zwischen einem Zeichengebilde und der ihm als Sinn zuzuordnenden Interpretation“, also die „Relation zwischen Sätzen und Gedanken“ (Lang 1983: 312) oder zwischen Sätzen und Propositionen. Ein Beispiel: Der Satz Ich bin müde ist kein Ausdruck von Müdigkeit, sondern Ausdruck einer Proposition. Die zweite Bedeutung von ‚ausdrücken‘ bezieht sich auf Einstellungen (Gefühle und Wertungen). Einstellungen können sprachlich, aber auch mimisch, gestisch und motorisch ausgedrückt werden. Lang (1983: 316) nennt drei Bedingungen für das Vorliegen dieser Relation zwischen Einstellungen und Ausdrücken: „Person als Agens/ Subjekt, Intentionalität des Zeigens und psychische Natur des Gezeigten“. Zu unterscheiden sind nach Fiehler (1990b: 109) primärer und sekundärer Emotionsausdruck, wobei beide konventionalisiert sind. Primär ist das „Normalrepertoire“ des Emotionsausdrucks, sekundärer Emotionsausdruck ist vor allem in institutionellen Kontexten zu beobachten und durch die in solchen Situationen vorherrschende Maskierung von Emotionen gekennzeichnet. Insgesamt ist Emotionsausdruck also keineswegs etwas Unwillkürliches, Rohes, Natürliches, sondern genauso sozial geformt und vor allem interaktiv bedeutsam wie die Emotionsthematisierung (vgl. Fiehler 1990b: 111). Die Emotionsthematisierung, das Benennen und Beschreiben von Emotionen, ist für gewöhnlich keine Form der Emotionsmanifestation (vgl. Daneš 1987: 275). Emotionsthematisierungen liegen laut Fiehler (1990b: 113, Hervorhebung i.O.) vor, wenn emotionale Prozesse und Emotionsausdruck zum „Thema der Interaktion“ werden. Hier lassen sich Anlässe, Verfahren der <?page no="79"?> 3.2 - Theoretische -Perspektiven -im -Überblick - 69 Thematisierung und Verfahren der Signalisierung von Qualität und Intensität untersuchen (vgl. Fiehler 1990b: 114). Emotionsbeschreibung kann nach Bednarek (2008: 10, Hervorhebung i.O.). unter anderem auch als „language about emotion (linguistic expressions denoting emotions)“, Emotionsausdruck als „language as emotion (linguistic expressions as conventionalized reflexes or indices of speaker’s emotions)“ bezeichnet werden. Péter (1984: 246ff.) ordnet die sprachlichen Mittel der Emotivität nach der ‚Bezeichneten Seite‘ bzw. ‚Inhaltsebene‘ und nach ihrer ‚Bezeichnenden Seite‘ bzw. ‚Ausdrucksebene‘ ein, die autonom oder nicht autonom sein kann. Bezogen auf die Inhaltsebene nennt er drei Gruppen von sprachlichen Mitteln: • Gefühlsbezeichnend: Hierunter fallen alle begriffsmäßigen Bezeichnungen von Gefühlen (z.B. ängstlich, traurig). Allerdings sind diese Benennungen nicht so exakt kategorisierend, wie sie auf den ersten Blick erscheinen. • Emotional gefärbt: Damit sind sprachliche Elemente gemeint, die emotiv bewertend sind, z.B. Lexeme wie weibisch, Gelaufe, Ross (positiv) vs. Mähre (negativ). Oft liegen diesen Möglichkeiten „Metaphorisierungsvorgänge“ (Péter 1984: 247) zugrunde. • Nicht begriffsmäßig gestalteter Bewusstseinsinhalt: Hierher gehören Intonation, Interjektionen und Modalwörter. Emotionen im Sinne eines psychischen Geschehens werden hier mit Umschreibungen oder Indizien angedeutet (vgl. auch Plum 1992: 177). Nowoshilowa (1997) hingegen klassifiziert sprachliche Mittel danach, ob sie gefühlswertend, gefühlsintensivierend oder gefühlsbeschreibend sind. Ein Beispiel: Und doch welch Glück geliebt zu werden/ Und lieben, Götter, welch ein Glück! Hier ist das Lexem Glück gefühlsbeschreibend und die Satzstruktur gefühlsintensivierend. Diesen Kategorien kann ich mich aus terminologischen Gründen nicht anschließen. ‚Gefühlsintensivierend‘ legt nahe, dass mit einer solchen Äußerung Gefühle intensiviert werden - nicht, dass intensive Gefühle ausgedrückt werden. Ähnlich verhält es sich mit ‚gefühlswertend‘. Allerdings, und hier kommen wir zu einem zentralen Punkt, kann Emotionsthematisierung unter bestimmten Bedingungen auch Emotionsausdruck sein, und zwar, wenn sie mit unmittelbarem Ich- oder Wir-Bezug und im Präsens realisiert wird (z.B. Ich bin traurig, vgl. Gebauer/ Stuhldreher 2008: 625; Daneš 1987: 282; Kövecses 2000b: 2f.). Direkte Emotionsbenennung bzw. Emotionsthematisierung mit Bezug auf die Sprecherin bzw. den Sprecher selbst (selbstbezüglich) sind jedoch in allen Tempora und Modi verhältnismäßig selten, während Emotionsausdruck häufiger auftritt - allerdings ist dies abhängig von der Situation, vom Kontext der sprachlichen Interaktion und von anderen Faktoren (vgl. Fiehler 1990b: 54, 138). <?page no="80"?> 3 - Sprache -und -Emotion: -Ein -Forschungsüberblick 70 Ein deutliches Abgrenzungskriterium wäre, dass Emotionsausdruck nur in der 1. Person möglich ist (man kann nur eigene Emotionen ausdrücken), während Emotionsthematisierung auch die Emotionen anderer Personen betreffen kann (z.B. Er ist wütend, vgl. Fries 1991b: 37). Umgekehrt ist es allerdings nicht so, dass jede emotive sprachliche Form in der 1. Person automatisch Emotionsausdruck darstellt. Bednarek (2008: 11f.) hingegen unterscheidet strikt zwischen emotion talk und emotional talk: Emotion talk entspricht wie hier angeführt der Emotionsthematisierung (Denotation von Emotionen), emotional talk hingegen dem Emotionsausdruck ohne explizite Emotionsthematisierung. Ihr zufolge spielt Emotionsausdruck auch in einer anderen als der 1. Person eine Rolle. Beispielsweise kann beim Referieren von Äußerungen anderer indirekter Emotionsausdruck erfolgen (z.B. And then he goes ‚Oh fuck! ’). Meines Erachtens ist dies ein Spezialfall, den man auch als Emotionsbeschreibung auffassen kann (die Thematisierung eines Emotionsausdrucks einer dritten Person). Abschließend soll noch einmal auf die dritte wichtige Größe dieser Differenzierungen hingewiesen werden, wie beispielsweise aus der neueren Aufstellung von Lüdtke (2006b: 20, 2006a: 8f. mit Bezug zur Unterscheidung von Konstantinidou 1997) ersichtlich ist. Im emotionalen Modus bezeichnen wir unsere Gefühle z.B. mit dem Emotionswortschatz (Emotionsthematisierung). Im emotiven Modus drücken wir entweder unsere Gefühle aus (Emotionsausdruck) oder lösen Gefühle bei anderen aus (Emotionalisierung). Diese Dreiteilung zwischen Emotionsthematisierung, Emotionsausdruck und Emotionalisierung liegt allen weiteren Ausführungen zugrunde. An dieser Stelle nur einige Anmerkungen: Sprache kann dem Beeinflussen und Hervorrufen von Gefühlen dienen. Die Wahl emotiver oder auch anderer Mittel zielt auf die Emotionalisierung des Rezipienten bzw. der Rezipientin ab. ‚Emotional‘ wäre dann auf die Sprecherin/ den Sprecher bezogen, ‚emotiv‘ auf die Rezipientin/ den Rezipienten (vgl. Konstantinidou 1997: 32; Daneš 1987: 284). Die evozierten Gefühle können jedoch asymmetrisch bzw. antagonistisch zu den ausgedrückten oder beschriebenen Gefühlen sein, also weder der Sprecher/ -innen-Emotionalität noch den intendierten Emotionalisierungseffekten entsprechen. Die -Kontextabhängigkeit -emotiver -Bedeutung Auch wenn in der vorliegenden Arbeit in Zweifel gezogen wird, dass eine emotionslinguistische Textanalyse völlig ohne außersprachliche Informationen auskommt, kann doch ein Kontinuum zwischen sprachsystematischen Möglichkeiten der Emotionsthematisierung und vor allem des Emotionsausdrucks am einen Ende und völlig kontextuell entstehenden Möglichkeiten am anderen Ende angenommen werden. <?page no="81"?> 3.2 - Theoretische -Perspektiven -im -Überblick - 71 In seiner frühen Arbeit über emotive Bedeutung erklärt Stevenson, dass der Terminus ‚emotiv‘ als eine Art Restkategorie für alle markierten sprachlichen Phänomene mit unklarem Status verwendet wurde (vgl. Stevenson 1969: 76f.). In der Gegenwart wird emotive Sprache wie gesagt meist mit dem Ausdruck und der Thematisierung von Gefühlen in Verbindung gebracht, also mit der sprachlichen Erfassung von psychischen Zuständen bzw. dem sprachlichen Ausdruck von Einstellungen (vgl. Stevenson 1969: 76f.). Emotiv wird dann im Sinne von ‚emotiver Bedeutungskomponente‘ im Gegensatz zur kognitiven Bedeutungskomponente verstanden (vgl. Konstantinidou 1997: 48, 52; Janney 1996: 119f.). Während die notionale/ begriffliche (denotative) Bedeutung im Mittelpunkt von Bedeutungsexplikationen steht, wird die emotive Bedeutung oft als Nebenbedeutung, als Beiklang definiert und wenig differenziert mit der ‚Konnotation‘ gleichgesetzt (vgl. Drescher 2003b: 35; Kiener 1983: 14). Die emotive Bedeutungskomponente wird in der Regel als „kontextbedingt“ (Konstantinidou 1997: 59) bestimmt (z.B. Tiernamen in der Verwendung als Kosenamen). Stevenson und Stankiewicz differenzieren dies genauer und legen sehr ähnliche Klassifikationen von Bedeutung vor. Stevenson (1969: 72f., 78f.) unterscheidet die ‚unabhängige emotive Bedeutung‘ von der ‚abhängigen emotiven Bedeutung‘. Unabhängige emotive Bedeutung tragen nur sehr wenige und darüber hinaus markierte sprachliche Elemente wie Interjektionen und Diminutiva oder ethische Termini wie gut, richtig, die nicht deskriptiv definiert werden können; die abhängige emotive Bedeutung variiert je nach deskriptiver Bedeutung, evoziertem Geisteszustand, bildlicher Bedeutung und Kontext. Stevenson macht bei der abhängigen emotiven Bedeutung noch feinere Abstufungen, je nachdem, ob die emotive Bedeutung von der deskriptiven Bedeutung, vom evozierten Geisteszustand oder von der bildlichen Bedeutung abhängig ist - ein vierter Untertyp ist in etwa der Konnotation gleichzusetzen. Hier spricht Stevenson (1969: 78) von der „cognitive suggestiveness“ eines Zeichens, z.B. von stark emotiv konnotierten Wörtern wie democracy, die einen Übergangsbereich zwischen kontextabhängigen und kontextunabhängigen emotiven Bedeutungen darstellen. Bei Stankiewicz (1972) sind die entsprechenden Termini ‚inhärent expressiv‘ und ‚kontextuell expressiv‘: Inhärent expressive sprachliche Mittel sind Teil der langue, kontextuell expressive Mittel entstehen in der parole. 27 Zu Ersteren zählt er phonologische Mittel wie Emphatika (z.B. rrraus! ), lexikalische Mittel wie Interjektionen und expressive Lexeme (z.B. vergewaltigen) 27 Vgl. Konstantinidou (1997: 10f.), Frier (1976: 6). Kritik an Stankiewicz’ Auffassung, dass die Linguistik nur sprachlich-symbolische Aspekte von Emotionalität und keine situativen bzw. kommunikativen Aspekte betrachten soll, bei Daneš (1987: 273f.). <?page no="82"?> 3 - Sprache -und -Emotion: -Ein -Forschungsüberblick 72 sowie grammatische Mittel wie Pejorative und Diminutive. Kontextuell expressiv sind z.B. soziolinguistisch relevante Mittel wie der bewusste Einsatz von Elementen aus Varietäten (z.B. Dialekten). Der Unterschied zwischen Stevenson und Stankiewicz besteht im Ausgangspunkt: Stevenson nimmt als Grundlage eine mentalistische Konzeption, Stankiewicz macht eine Aussage über Möglichkeiten des Sprachsystems und über den Sprachgebrauch. Weitere Bestimmungsmerkmale nach Stevenson sind, ob die emotive Bedeutungskomponente positive oder negative bzw. pejorative oder meliorative Wertungen ausdrückt. Außerdem können unterschiedliche Intensitäten zugeordnet werden. Ob das kognitive oder das emotive Bedeutungselement vorherrschend ist, entscheidet sich bei allen Formen der abhängigen emotiven Bedeutung durch die Pragmatik, also dadurch, ob die Sprecherin bzw. der Sprecher bestimmte Lexeme bewusst einsetzt, um eine Wertung auszudrücken (vgl. Konstantinidou 1997: 59f.). Die Unterscheidung zwischen der Ausdrucksbedeutung (kontextunabhängige Satzbedeutung, Proposition, Referenzpotenzial), der Äußerungsbedeutung (kontextabhängige Bedeutung) und dem kommunikativen Sinn einer Äußerung (Illokution) weist ebenfalls in diese Richtung (vgl. Skirl/ Schwarz-Friesel 2007: 49f.). Egal, ob man von emotiv oder expressiv spricht: Immer wird ein Vertreter dieses Wortfeldes als Gegensatz zu deskriptiv erfasst. Dem liegt nach Löbner die semantische Unterscheidung verschiedener Formen von Bedeutung zugrunde: • Deskriptive Bedeutung: „Die deskriptive Bedeutung eines Inhaltswortes ist ein Konzept für seine potenziellen Referenten.“ (Löbner 2002: 29, andere Hervorhebung als i.O.) Mit anderen Worten: Die deskriptive Bedeutung bezieht sich auf die Entsprechung zwischen Konzepten und Größen der außersprachlichen Wirklichkeit. Emotiven oder expressiven Zeichen werden mitunter der symbolische Charakter und der propositionale Gehalt abgesprochen (vgl. Rössler 2001: 16). • Soziale Bedeutung: Bestimmte Elemente der Sprache haben primär soziale Bedeutung, das heißt, sie dienen „dem Ausdruck sozialer Beziehungen oder dem Vollzug sozialer Handlungen“ (Löbner 2002: 39, andere Hervorhebung als i.O.). Diese Bedeutung wird von sozialen Regeln bestimmt. Beispiele: Grußformeln und im Deutschen die relativ komplexen Regeln, ob in bestimmten Situationen Duzen oder Siezen angebracht ist. • Expressive Bedeutung: Hiermit ist die emotive Bedeutung gemeint, wie sie in diesem Abschnitt problematisiert wird. Im Gegensatz zur sozialen Bedeutung ist die expressive Bedeutung subjektiv und weniger gesellschaftlich geregelt bzw. weniger ritualisiert. Das Kriterium für den Wahrheitsanspruch ist in allen Fällen die Übereinstimmung mit persönlichen <?page no="83"?> 3.2 - Theoretische -Perspektiven -im -Überblick - 73 Gefühlen (vgl. Löbner 2002: 47f.). Ähnlich definiert Jahr (2000: 62) die ‚emotionale Bedeutungskomponente‘ als etwas, das über die Bedeutung einzelner Wörter hinausgeht. Pavlenko (2005: 115) hingegen lehnt diese Dreiteilung mit der Begründung ab, dass emotionale Kommunikation auch deskriptive und soziale Bedeutung hat. Die letzte von Löbner genannte Art der Bedeutung ist nun jene Unterart, über deren Bezeichnung wie bereits weiter oben berichtet Uneinigkeit herrscht. ‚Emotional‘, ‚emotiv‘ und ‚expressiv‘ werden manchmal synonym, manchmal abweichend verwendet. Diese Diskussion lässt sich nicht unter den Schlagwörtern Denotation und Konnotation zusammenfassen. Die ‚emotive Bedeutung‘ ist von der konnotativen Bedeutung zu unterscheiden: Während sich die emotive Bedeutung auf die Gefühle des Sprechers bezieht, werden mit der Beschreibung der Konnotation Assoziationen mit der außersprachlichen Wirklichkeit erfasst (vgl. Konstantinidou 1997: 54). Daraus folgt laut Drescher (2003b: 39): „Konnotationen [...] müssen nicht affektiv gefärbt sein und emotionale Bedeutungen umfassen mehr als Konnotationen.“ Umgekehrt ist die sogenannte deskriptive Bedeutung nicht von Emotivität befreit, wie die folgende Diskussion zeigt. Der Terminus Denotation bezeichnet eine Unterform der deskriptiven Bedeutung, wird aber unterschiedlich verwendet: • Denotation im Sinne der Grundbedeutung eines Wortes als Gegenbegriff zur Konnotation (auch: lexikalische Bedeutung, vgl. Skirl/ Schwarz-Friesel 2007: 2f.) • Denotation als auf die Größe Kategorie bezogene Unterform der deskriptiven Bedeutung (vgl. Löbner 2002: 31; Schippan 1992: 144; vgl. Battacchi/ Suslow/ Renna 1997: 57ff. für ältere linguistische Modelle der denotativen Bedeutung, die hier nicht berücksichtigt werden können) Bestimmte Lexeme können denotativ emotiv sein. Schippan nennt wertende Lexeme und Komposita (teilweise durch bestimmte Affixe und Affixoide nahegelegt, wie z.B. -ling wie in Widerling). Die emotive Bedeutung liegt hier im Denotat begründet, weil diese Elemente laut Schippan (1992: 148) „usuell emotionale Wirkungen“ hervorrufen (andere Beispiele: Hochwertwörter, metaphorische Wörter wie Kadavergehorsam, Schimpfwörter, starke positive oder negative Assoziationen auslösende Wörter wie Mord). Schippan (1992: 147f.) spricht hier vom ‚Gefühlswert‘, der in der Wortbedeutung verankert ist. In diesem Zusammenhang sind außerdem insbesondere emotionsbezeichnende Lexeme, Interjektionen und Modalpartikeln von Interesse. Emotionsbezeichnende Lexeme drücken Emotionen nicht aus, sondern benennen <?page no="84"?> 3 - Sprache -und -Emotion: -Ein -Forschungsüberblick 74 sie deskriptiv (z.B. Freude, Wut, vgl. z.B. Rössler 2001: 9f.). Battacchi, Suslow und Renna (1997: 12f.) weisen darauf hin, dass die denotative Bedeutung von Emotionslexemen besonders schwer zu bestimmen ist: „Aus den spezifischen Bedingungen des Erwerbes des Emotionslexikons und den Charakteristiken der Sprache im allgemeinen ist abzuleiten, daß bei Anlegen strenger Maßstäbe der ‚Gegenstand‘ von Emotionsbezeichnungen (wie ‚Wut‘, ‚Überraschung‘) von Person zu Person strukturell und funktional verschieden ausgeprägt ist. Die Mitglieder einer Kulturbzw. Sprachgemeinschaft neigen dazu, unter ein und demselben Emotionswort unterschiedliche Bedeutungsstrukturen zu verstehen, dennoch sind innerhalb einer Sprachgemeinschaft deutliche Konvergenzen der Wortbezüge und Wortfunktionen zu erwarten.“ Potenziell alle Wörter einer Sprache sind in der Lage, kontextuell stark emotive bzw. expressive Bedeutung zu erlangen (vgl. Battacchi/ Suslow/ Renna 1997: 82). Hier gerät die Problematik der Konnotationen ins Blickfeld. Der Terminus ist in der Linguistik umstritten, wird teilweise schlichtweg abgelehnt und uneinheitlich verwendet, aber meist mit Emotivität in Verbindung gebracht (vgl. Hermanns 2002: 361). Der wesentliche Streit entzündet sich daran, ob die Konnotation als zusätzliche, erweiterte Bedeutung ein fester Teil der Bedeutungsstruktur eines Wortes ist oder eher etwas Individuelles, nicht Festgelegtes - in letzterem Fall wäre sie eher Teil der Stilistik (vgl. Havryliv 2009: 34f.; Blumenthal 1983: 95). Die einfachste Definition bestimmt Konnotationen als jene Ebene der Bedeutung, die über die Denotation hinausgeht und in der vor allem emotionale Bewertungen mitschwingen (Untertöne) - in dem Sinne, dass eine emotionale Bewertung transportiert oder ausgelöst wird. Diese Bewertung wird innerhalb einer Sprachgemeinschaft von ihren Mitgliedern geteilt (vgl. Duck/ McMahan 2010: 34). Doch diese Definition ist keineswegs konsensfähig. Dieckmann (1981b: 111) untersucht die verschiedenen Definitionen von Konnotationen und stellt fest, dass der Terminus für alle Randphänomene der Bedeutung verwendet wird, die nicht gut in einer linguistischen Beschreibung operationalisierbar sind (wörtlich: „Rumpelkammer“). Mitunter werden überhaupt nur individuelle Assoziationen damit gemeint und nur die rein kognitive Bedeutung von Wörtern als Untersuchungsgegenstand der Linguistik anerkannt (vgl. Hermanns 2002: 361). Die folgende Aufzählung unterschiedlicher Sichtweisen auf Konnotationen ist gezwungenermaßen unvollständig - es wurden nur einige Ansätze ausgewählt. Obwohl Erdmanns wissenschaftliche Arbeit über Konnotationen schon über 100 Jahre alt ist (sie erschien erstmals 1900), bildet sie immer noch Grundlage und Ausgangspunkt vieler linguistischer Diskussionen über Konnotationen und auch über Emotionen. Erdmann (1925: 105-110), unterschei- <?page no="85"?> 3.2 - Theoretische -Perspektiven -im -Überblick - 75 det den begrifflichen Inhalt (~ Denotation), den Nebensinn (unreflektierte, automatisch ausgelöste Nebenvorstellungen eher kognitiver, nicht emotionaler Art) und den ‚Gefühlswert‘ (~ Konnotation). Der ‚Gefühlswert‘ (auch: ‚Stimmungsgehalt‘) wird mit den durch ein Wort erzeugten Gefühlen gleichgesetzt, beispielsweise durch Wörter wie Mord und Kuss. Wörter wie diese rufen jedoch nicht nur Gefühle hervor, sondern treffen auch eine Aussage über den Zustand der Sprechenden (vgl. Hermanns 2002: 358; Sperber 1965 [1923]: 2). Der Gefühlswert eines Wortes ist bei Erdmann Teil der Bedeutung und nicht kontextabhängig (auch wenn er durch den Kontext modifiziert werden kann). Auch Sapir (1961: 44) verwendet den Terminus in dieser Weise, hält den Gefühlswert eines Wortes aber nicht für sprachwissenschaftlich relevant. Dieckmann (1981b: 95f.) arbeitet die Erdmann-Rezeption in der Linguistik und auch den Primärtext von Erdmann ausführlich auf. Er weist darauf hin, dass Erdmann als Psychologe mit der Unterscheidung zwischen begrifflichem Inhalt, Nebensinn und Gefühlswert nicht eine quasi dreigeteilte Bedeutung definiert, sondern zwei Bedeutungsbegriffe vermischt: einen logischen (begrifflicher Inhalt) und einen psychologischen (Nebensinn, Gefühlswert). Bally nimmt als Bestimmungsmerkmal von Konnotationen an, dass es neutrale lexikalische Alternativen gibt, denen eine markierte Option vorgezogen wird (z.B. Hure als markierte Alternative zum neutralen Wort Prostituierte) (vgl. Havryliv 2009: 41f.). Diese Sichtweise ist für die vorliegende Arbeit insofern wichtig, als auch ich die Ansicht vertrete, dass Konnotationen in irgendeiner Art und Weise markiert oder für die Emotivität des Textes funktional sein müssen, um in der Textanalyse berücksichtigt zu werden (s. Kap. 7). Sperber (1965 [1923]) nennt den emotiven Teil der Bedeutung eines Wortes ‚Gefühlston‘ und ordnet ihm großen Anteil am Bedeutungswandel von Wörtern und Benennungspraktiken zu (z.B. bei Phänomenen wie Euphemismus, Vulgarismus, Übertreibung, Litotes, wo gewissermaßen eine emotiv markierte Variante dem neutralen Lexem vorgezogen wird). Behavioristischen Auffassungen von Bedeutung zufolge ist nur Sprache im Sinne von Verhalten beobachtbar und somit ist Bedeutung nur durch die Funktion sprachlicher Zeichen im kommunikativen Verhalten erfassbar; Gefühle sind nur über ihre Manifestation im Kommunikationsverhalten Gegenstand von Bedeutungsanalysen (vgl. Schippan 1992: 122f.). Osgood, Suci und Tannenbaum (1971 [1957]: 321ff.) können als Neobehavioristen eingestuft werden (vgl. Flade 1984: 33), sind insofern Sprachpsychologen und nicht Psycholinguisten. Für sie entspricht die Konnotation evaluativen Aspekten, das heißt, Bedeutung beruht auf der wiederholten Verknüpfung von Reiz- Reaktions-Mustern bzw. von Signifikaten (Reizen) mit Zeichen. Das, worauf referiert wird, kann jedoch bei einzelnen Sprecherinnen und Sprechern voll- <?page no="86"?> 3 - Sprache -und -Emotion: -Ein -Forschungsüberblick 76 kommen unterschiedlich kognitiv repräsentiert sein und in weiterer Folge vollkommen unterschiedlich bewertet werden. Zur Beurteilung der Konnotation durch Versuchspersonen werden die drei Dimensionen Valenz (Evaluation), Aktivierung und Potenz herangezogen - mit ihrer Methode des Semantischen Differenzials (s. Kapitel 6) werden also in erster Linie Konnotationen gemessen bzw. Beurteilungen, die an bestimmte Situationen (Reiz-Reaktions- Muster) gebunden sind (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 163f.; Tischer 1988: 23ff.). Hörmann (1978: 101f.) unterstützt dieses Modell: Er lehnt die strikte Trennung zwischen konnotativ und denotativ ab, da in vielen Fällen (z.B. Freiheit, Liebe) keine Grenze gezogen werden kann. Er sieht in diesem Problem einen großen Vorteil von Osgoods Ansatz. Mithilfe der Dimensionen können differenziert unterschiedliche Qualitäten und Intensitäten und auch Übergangsbereiche hin zu neutralen Beurteilungen beschrieben werden. Konnotationen sind aber nicht nur Nebenbedeutungen, sondern für die Abbildung der Bedeutung eines Wortes maßgeblich. Leech (1975: 18ff.) meint mit ‚affective meaning‘ das, was der Sprecher bzw. die Sprecherin über seine/ ihre Gefühle preisgibt. Sowohl der konzeptuelle als auch der konnotative Aspekt kann solche emotionalen Einstellungen übermitteln. Er bezeichnet diese affektive Bedeutung als großteils ‚parasitär‘, weil sie sich anderer Kategorien von Bedeutung bedient (konzeptuelle, konnotative, stilistische Bedeutung; als Ausnahmen nennt er paraverbale Mittel und Interjektionen). Durch häufige Verwendung, Vertrautheit oder die Auslösung von starken suggestiven Assoziationen kann sich der emotive Bedeutungsanteil eines Wortes auf seine Kernbedeutung ausweiten. Peter von Polenz (1985: 302ff.) spricht vom Mitbedeuteten, Mitgemeinten und Mitzuverstehenden einer Äußerung, also auf der Satzebene: Mitbedeutetes wird von den Rezipientinnen und Rezipienten aufgrund von Sprachwissen verstanden - damit meint von Polenz Konnotationen (Gefühlswerte) und Sprachökonomie. Das Mitgemeinte und das Mitzuverstehende hingegen werden über den außersprachlichen Kontext und Weltwissen rekonstruiert. Mitzuverstehendes betrifft vor allem ‚Sprachsymptome‘ wie soziolinguistische Merkmale (Dialekt, Gruppenzugehörigkeit usw.) und subjektive Faktoren (Einstellungen, Gefühle). Hayakawa (1993: 87) bezeichnet Konnotationen als ‚affektive Begriffsinhalte‘, die er von den informativen Begriffsinhalten trennt. Er definiert sie als „Aura persönlicher Gefühle, die es [ein bestimmtes Wort, Anm. v. H.O.] hervorruft“. Die Bedeutung dieser affektiven Begriffsinhalte in der alltäglichen Kommunikation ist sehr groß (vgl. Hayakawa 1993: 88). Nicht Konnotation, sondern die emotive Bedeutung steht im Mittelpunkt der Ausführungen von Stevenson. Er wendet sich gegen nebulose Bestimmungen dieser emotiven Bedeutung und definiert sie in Abgrenzung zur deskriptiven Bedeutung wie folgt: „Emotive meaning is a meaning in which <?page no="87"?> 3.2 - Theoretische -Perspektiven -im -Überblick - 77 the response (from the hearer’s point of view) or the stimulus (from the speaker’s point of view) is a range of emotions“ (Stevenson 1969: 59). Die emotive Bedeutung ist vom gewachsenen Gebrauch des Wortes abhängig. Die meisten Wörter haben sowohl deskriptive als auch emotive Bedeutungsanteile bzw. die Disposition, sowohl kognitive als auch emotive Wirkungen zu entfalten. Dennoch sind emotive und deskriptive Bedeutung nicht zu trennen, sondern nur verschiedene Aspekte einer gesamten, situational abhängigen Bedeutung (vgl. Stevenson 1969: 71). Für Fomina (1999: 26) ist die Konnotation „ein unentbehrlicher Bestandteil der Wortbedeutung“, obwohl sie gegenüber der denotativen Bedeutung sekundär und auch flexibler ist. Die von ihr angenommene emotiv-wertende Komponente (s. Kapitel 6.3) kann sowohl in der Denotation (z.B. bei rabiat) als auch in der Konnotation (z.B. Strohkopf) enthalten sein. Oft wird sie durch das Vorwissen bzw. die Präsupposition ausgelöst (vgl. Fomina 1999: 26). Neuere kognitiv orientierte Ansätze ordnen die Konnotation als einen Teil der Repräsentation von Bedeutung ein. Allerdings steht die denotative Bedeutung im Rahmen von Prototypen, Frames und Wortnetzen im Vordergrund von Sprachverarbeitung und Sprachverwendung (vgl. Ehrhardt 2010: 146). Der Platz der Konnotation und der Assoziation ist nun für Schwarz-Friesel (2007: 166) in jenem Teil der Bedeutung zu suchen, der außerhalb des ‚Referenzpotenzials‘ liegt: in der „Reihe von mentalen Informationen, die zum einen enzyklopädisch und zum anderen emotional, bewertend geprägt sind“. Den bisher genannten Ansätzen, die Konnotation zumindest teilweise als fixen Bestandteil der Wortbedeutung definieren, entgegengesetzt betont Alfes (1995: 102) die kommunikative und vor allem zutiefst individuelle Bestimmtheit von Konnotationen. Ähnlich bezeichnet Blumenthal (1983: 97) die nichtindividuellen, ‚paradigmatischen‘, quasi stereotypen Assoziationen innerhalb einer Sprachgemeinschaft als Konnotation. Er ordnet sie in den Bereich der Rhetorik ein. Demnach umfasst die Konnotation Bedeutungsanteile, die nicht in der deskriptiven Bedeutung enthalten und kulturell geprägt bzw. erlernt sind, also Erscheinungen der parole. Der Unterschied zwischen Konnotation und Assoziation ist somit, dass Konnotationen einer Sprachgemeinschaft gemein sind, Assoziationen hingegen rein individuell (vgl. Blumenthal 1983: 103f.). Dieses Verständnis liegt vielen modernen Auffassungen und Lexikondefinitionen von Konnotationen zugrunde. Dieckmann (1981b: 83f.) begründet meines Erachtens sehr sinnvolle Unterscheidungskriterien in zwei Gruppen: Das erste Kriterium ist die Häufigkeit bzw. der Anlass einer konnotativen Bedeutung, das zweite betrifft die Verbreitung. Okkasionelle sprachliche Erscheinungen sind in diesem Sinne instabil, während usuelle sprachliche Erscheinungen in einer Sprachgemeinschaft gebräuchliche Bedeutungen betreffen. Hinsichtlich der Verbreitung sind individuelle (idiolektale) sprachliche Erscheinungen rein idiosynkratisch, <?page no="88"?> 3 - Sprache -und -Emotion: -Ein -Forschungsüberblick 78 während konventionelle sprachliche Erscheinungen für die ganze Sprachgemeinschaft Gültigkeit besitzen. Eingeschränkt konventionelle sprachliche Erscheinungen gelten für bestimmte Gruppen. Für die Lexikologie sind nur usuelle und konventionelle Bedeutungen analysierbar (vgl. Hermanns 2002: 358). Konnotation liegt Dieckmann (1981b: 125) zufolge darin begründet, „daß die Sprecher nicht nur ein Wissen über die Zugehörigkeit bestimmter Sprachmittel zu bestimmten Kommunikationsbereichen haben, sondern diese Kommunikationsbereiche bzw. die Sprechergruppen auch bewerten.“ Konnotationen definiert er nicht als stilistisches Phänomen, sondern als „Evokationsvermögen“ von Wörtern „in konkreten Äußerungen“ (Dieckmann 1981b: 127, andere Hervorhebung als i.O.). Sandhöfer-Sixel (1990: 274f.) versucht, die Begriffsverwirrung aufzulösen, indem sie zwei Arten der Konnotation differenziert: die Konnotation I, die die emotionale Wertung eines Sprachelements enthält, und die Konnotation II, mit der eine soziolinguistische Komponente gemeint ist (z.B. Fachwortschatz, Dialekt, Stil). Konnotation I ist demnach „die Eigenschaft sprachlicher Mittel, die dafür verantwortlich zeichnet, daß die Sprachform neben ihrer begrifflichen Bedeutung zugleich positive oder negative Bewertungen, d.h. auf den begrifflichen Kern bezogene Gefühlshaltungen des Plus- oder Minusbereichs zum Ausdruck bringen können“ (Sandhöfer-Sixel 1990: 275). Sie nimmt an, dass Konnotationen ein Untertyp emotionaler Bewertungen sind. Daran anknüpfend unterscheidet Schwarz-Friesel (2007: 162f.) drei Arten von Konnotationen. Alle drei Arten sind emotiv, allerdings auf unterschiedliche Weise: • Stilistische Konnotationen: Oft sind die Bedeutungsunterschiede zwischen vermeintlichen Synonymen nur auf der konnotativen Ebene zu finden und dann eher ein stilistisches Phänomen (z.B. vollschlank vs. dick). Nicht zu vergessen sind in diesem Zusammenhang entsprechende Markierungen in Wörterbüchern (wie z.B. ‚vulgär‘, ‚scherzhaft‘, vgl. auch Ehrhardt 2010: 145f.). • Semantische und/ oder pragmatische Konnotationen: Sie sind geprägt durch emotiv/ evaluativ positive oder negative Bedeutungsanteile oder das Weltwissen (z.B. Unkraut, Auschwitz). Teilweise werden sie erst durch den Textzusammenhang erzeugt, was auch eine völlige Umdeutung bewirken kann (z.B. negative Bewertung mit einem eigentlich positiv konnotierten Lexem, vgl. auch Ehrhardt 2010: 152). Unterschieden werden hier Wort-, Satz- und Textkonnotation (vgl. Schippan 1992: 155). • Durch grammatische Aspekte ausgelöste Konnotationen: Beispielsweise können bestimmte Morpheme eine emotive Konnotation bedingen, etwa die pejorativen Suffixe -ler und -ling. <?page no="89"?> 3.2 - Theoretische -Perspektiven -im -Überblick - 79 Schippan (1992: 156) definiert Konnotation wie folgt: „Konnotationen sind über die denotative Bedeutung hinausgehende Informationen, die mit einem Formativ verbunden sind. Sie signalisieren usuelle kommunikative Rahmenbedingungen der Wortverwendungen.“ Konnotationen sind einerseits zusätzliche Informationen, die über die Denotation hinausgehen, andererseits in vielen Fällen aber nicht unabhängig von ihr oder bloße Aufpfropfungen: „Zwischen Denotation und Konnotation bestehen Wechselbeziehungen [z.B. Überlagerung, Durchdringung, Anm. v. H.O.], durch die der Wortgebrauch geregelt wird.“ (Schippan 1992: 157.) Die Konnotation kann unterschiedliche Arten von Informationen über die kommunikative Verwendung von sprachlichen Elementen liefern, wie Schippan (1992: 157ff.) ausführt: • Emotional: Informationen über soziale Beziehungen, emotionale Einstellungen gegenüber dem Denotat (z.B. ‚scherzhaft‘, ‚zärtlich‘, ‚abwertend‘). • Kommunikativ: Informationen über die Kommunikationssituation (z.B. ‚ungezwungen‘, ‚umgangssprachlich‘, ‚derb‘). • Funktionsbereich: Informationen über Verwendungszusammenhänge (z.B. ‚amtssprachlich‘, ‚medizinisch‘). • Sozial: Informationen über die soziolinguistischen Bedingungen (z.B. ‚jugendsprachlich‘, ‚familiär‘). • Regional: Informationen über regional begrenzte Verwendung (z.B. ‚landschaftlich‘). • Zeitlich: Informationen über historischen oder aktuellen Gebrauch (z.B. ‚veraltet‘). • Kommunikationsabsicht/ Modalität: Informationen über den Zweck einer Äußerung (z.B. Erlauben Sie! als Aufforderung). • Politisch: Informationen über politische Besetzungen (z.B. gebunden an bestimmte Parteien, Staaten, Ideologien). Auch wenn diese letzten vier genannten Ansätze (Dieckmann, Sandhöfer- Sixel, Schwarz-Friesel und Schippan) meines Erachtens sehr hilfreich sind, muss berücksichtigt werden, dass sie nicht den allgemein anerkannten Forschungsstand der Linguistik darstellen. So bleiben viele ungelöste theoretische Probleme des Terminus Konnotation (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 169; Ehrhardt 2010: 146). Bei vielen Lexemen besteht eine intersubjektiv relativ große Übereinstimmung über ihren emotiven Wert, aber dieser ist nicht einmal bei scheinbar eindeutig bestimmten Wörtern wie Liebe und Freiheit allgemeingültig und konstant. Verantwortlich für den Bedeutungswandel sind Konstantinidou <?page no="90"?> 3 - Sprache -und -Emotion: -Ein -Forschungsüberblick 80 (1997: 59) zufolge „Veränderungen in der kognitiven Bedeutung, weltanschauliche Umschichtungen oder Revolution, häufige ironisierende oder euphoristische Verwendung durch breite gesellschaftliche Schichten oder einzelne Prominente“. Somit unterliegt die emotive Bedeutung teilweise denselben Mechanismen des Sprachwandels wie alle anderen sprachlichen Zeichen (Moden, Fluktuationen im Gebrauch, Bedeutungswandel), andererseits auch anderen. Beispielsweise können emotive Wörter nicht wie technische Termini eingeführt werden; sie haben vielmehr ein Eigenleben (vgl. Stevenson 1969: 40). Veränderungen im Gebrauch von Wörtern können auch durch negative Konnotationen und Tabus bedingt sein, die bestimmte Begriffe belasten (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 168; Hayakawa 1993: 92f.). In diesen Fällen kommen aus strategischen und manipulativen Gründen häufig Euphemismen zum Einsatz. Euphemismen beruhen ebenfalls auf Konnotationen, genauer gesagt auf negativen, die mit stärkeren, eindeutigeren, unangenehmen Wörtern verbunden wären, z.B. Konzentrationslager statt Tötungslager (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 168). Leech (1975: 53) bezeichnet dies als associative engineering. Konnotationen sind zweifellos nicht nur an einzelne Wörter gebunden, sondern entstehen oft erst im Satz- oder Textzusammenhang. Außerdem ist die Konnotation in vielen Fällen gegenüber der denotativen Bedeutung dominant und kein Nebenphänomen (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 170f.). Einzelwortanalysen bzw. das Hervorheben einzelner Konnotationen sind jedenfalls für eine Textanalyse von geringem Nutzen. Es sind die syntagmatischen Beziehungen zwischen emotional konnotierten Wörtern und ihrer Umgebung, was die tatsächliche Bedeutung ausmacht. Ein Beispiel: Die Kollokation mordende Mutter hat insgesamt negative emotionale Wirkung, obwohl Mutter ein positiv konnotiertes Wort ist (vgl. Büscher 1995: 66). Ich schließe mich den oben genannten Erklärungsversuchen und Winkos (2003: 101) praktischem Ansatz an, dass nur kollektiv geteilte Konnotationen Gegenstand einer Textanalyse sein können. Zeichenstatus: -Ikonisch, -indexikalisch, -symbolhaft, -intentional, -explizit Eine weitere wichtige Frage für die Erfassung des Zusammenhangs zwischen Sprache und Emotion ist der Zeichenstatus emotiver Äußerungen. Lüdtke (2006b: 22) nimmt das klassische Semiotische Dreieck von Peirce (Symbol - Begriff - Ding) als Ansatzpunkt. Ausgehend von einem interaktionistischen Verständnis von Sprache verknüpft sie die drei Konstituenten des Modells auf folgende Weise mit Emotionen: 1) Bedeutung (Symbol, Zeicheninhalt, Signifikat): Zeichen haben intersubjektiv emotionale Bedeutungsanteile (entspricht in etwa der Denotation). <?page no="91"?> 3.2 - Theoretische -Perspektiven -im -Überblick - 81 2) Form (Begriff, Zeichenträger, Signifikant): Zeichenträger können auf unterschiedliche Weise emotiv markiert sein. 3) Gebrauch (Ding, Referenzobjekte): Zeichen sind eingebettet in „emotional gefärbte Narrative“ (Lüdtke 2006b: 22), die von Kommunikationspartnerinnen und -partnern geteilt werden. Zieht man die grundlegenden Zeichenklassen Ikon, Index und Symbol heran, sind emotive Zeichen kurz gesagt in der Regel weder ikonisch noch indexikalisch, sondern symbolisch. Allerdings wird das nicht immer so gesehen. Dem para- und nonverbalen Bereich des Emotionsausdrucks wird ein hohes Maß an Ikonizität zugesprochen. Auch Primaten kennen das Phänomen Ideophonie und Lautikonizität: Je größer die Gefahr, in der sie schweben, desto lauter und aufgeregter werden ihre Schreie. Am anderen Ende der Konventionalitätsskala begegnen uns Soziolekte mit ihren phonologisch emotional markierten Eigenschaften (vgl. Wilce 2009: 43), aber auch Phänomene der Heteroglossie (z.B. Parodien, Vielstimmigkeit), wo lautliche bzw. analoge Anteile auf sehr komplexe Weise zur Emotivität beitragen (vgl. Fries 2004: 9f.). Auch Lüdtke (2006a: 11) weist auf den engen Zusammenhang zwischen Ikonizität und intensiver Emotionalität hin: Ikonische Zeichen sind demnach wegen ihrer Motiviertheit stark emotional markiert, indexikalische Zeichen hingegen gering, da nur eine Kausalbeziehung zum Bezeichneten besteht. Symbolische Zeichen sind per se überhaupt nicht emotional markiert, weil arbiträr. Schwitalla (2010: 162) betont allerdings die kontextabhängige Ikonizität, aber auch „Nicht-Ikonizität [...] von Äußerungsaufwand und dem Grad der Intensität des Gefühls“ in gesprochener Sprache, womit er die prosodische Seite anspricht: Starker Emotion entspricht oft, aber nicht immer starke prosodische Markierung. Kryk-Kastovsky (1997: 157-163) erstellt eine Ikonizitätsskala am Beispiel der Emotion Überraschung: Während Interjektionen relativ ikonisch sind, sind Phraseologismen wie sprachlos sein oder exklamative Formen wie Unglaublich! stark konventionalisiert. Daneš (1987: 280f.) unterscheidet zwei Typen von sprachlichen Mitteln in Hinblick auf Emotionalität: erstens deskriptive und zweitens signalartige Mittel, wobei die signalartigen weiter in verbale und nonverbale Mittel differenziert werden können. Was hier anklingt, sind zwei Seiten des Organon- Modells von Bühler. Signalartig könnte auch mit indexikalisch umschrieben werden: Sie zeigen einen bestimmten emotionalen Zustand bei der Sprecherin bzw. beim Sprecher an. Ist emotive Sprache also vielleicht doch vor allem indexikalischer Natur, also als Anzeichen für Emotionen zu deuten? Konstantinidou (1997: 94f.; 101f.) sieht es differenzierter, indem sie unterschiedliche semiotische Verbindungen annimmt: zunächst eine zwischen einem Sprachzeichen, das ein Ge- <?page no="92"?> 3 - Sprache -und -Emotion: -Ein -Forschungsüberblick 82 fühl ausdrücken soll, und dem Gefühl selbst - in dem Sinne, dass in einer Kommunikationssituation dem Gesprächspartner das tatsächliche Vorhandensein des Gefühls mitgeteilt werden kann, ohne auf das Gefühl (z.B. mit Emotionslexemen) explizit referieren zu müssen. Sprachzeichen dieser Art sind z.B. Interjektionen, Intonationsmerkmale und exklamatorische Formen. Ein anderer Fall ist die Verbindung zwischen dem Sprachzeichen und einem Emotionskonzept - hier besteht kein direkter Bezug (vgl. Konstantinidou 1997: 96). Es gibt jedoch auch Übergangsformen, in denen Sprachzeichen sowohl Index für ein Gefühl als auch Bezugnahme auf ein Konzept sein können, z.B. in der Terminologie von Konstantinidou (1997: 98) „inhärent (System-) emotive Elemente“ wie besoffen. Die bereits angesprochene Unterscheidung zwischen Emotionsausdruck und Emotionsthematisierung spiegelt sich hier wider: Emotionen ausdrückende sprachliche Mittel „sind konventionell mit Gefühlen verbunden, während sprachliche Einheiten, die Gefühle darstellen/ thematisieren, konventionell mit Konzepten von Gefühlen verbunden sind“ (Konstantinidou 1997: 100). Hier eröffnet sich die Frage nach der Intentionalität emotiver Zeichen. Jäger und Plum (1988: 39) unterscheiden nicht-intentionalen Gefühlsausdruck (z.B. mit parasprachlichen Mitteln), intentionalen, aber nicht expliziten Gefühlsausdruck (z.B. Andeutungen, Äußerungen ohne Emotionswörter) und intentionalen, expliziten Gefühlsausdruck (mit Emotionswörtern). Nur intentionale indexikalische Zeichen können als kommunikativ gelten. Als Beispiel nennt Fries (2003: 108f.) Emoticons. Wenn emotive Zeichen indexikalisch sind, verweisen sie wie erwähnt stets auf die Senderin bzw. den Sender. Man kann sogar so weit gehen, die Annahme einer nicht-intentionalen und nicht sozial vermittelten Form von Emotionsausdruck zurückzuweisen (vgl. Hübler 1998: 10). So spielt die Unterscheidung zwischen intentional und nicht-intentional für Wierzbicka (1999: 176f.) überhaupt keine Rolle, weil in jedem Fall ausschließlich nach der Bedeutung einer kommunikativen Einheit gleich welcher Art gefragt werden sollte, nicht nach dahinter liegenden psychischen Zuständen - eine Auffassung, der ich mich vollinhaltlich anschließe. Gibbs, Leggitt und Turner (2002: 128f.) lösen das Problem ähnlich: Sie gehen davon aus, dass aufseiten der Textproduzentin bzw. des Textproduzenten keineswegs eine bewusste Entscheidung für eine bestimmte propositionale Kodierung eines emotionalen Zustandes fallen muss, damit sich Emotivität sprachlich manifestieren kann; Inferenzen über den emotionalen Zustand von Sprecherinnen und Sprechern während einer Äußerung können Gegenstand von Aushandlungsprozessen in der Kommunikation sein, aber auch implizit erfolgen. Aus beiden Perspektiven ist Intentionalität nicht die Voraussetzung für linguistische Erfassbarkeit. Allerdings gehen dennoch die meisten Forscherinnen und Forscher davon aus, dass die symbolisch kodierten Emotionen meistens an indexikalische, oft <?page no="93"?> 3.2 - Theoretische -Perspektiven -im -Überblick - 83 nicht-intentionale und dennoch arbiträre Zeichen gekoppelt sind - etwa Mimik, Gestik, Körperhaltung, Intonation, aber auch das Textdesign etc., deren Interpretation von sozialem und kulturellem Wissen abhängig ist. Von diesen indexikalischen Zeichen hängt oft die Beurteilung ab, ob der sprachliche Emotionsausdruck authentische Gefühle kodiert (vgl. Fries 2003: 109f.). Ebenfalls mit dieser Frage beschäftigt sich Mair (1992: 61-76). Er knüpft an die Differenzierung zwischen Emotionsbeschreibung, Emotionsausdruck und Emotionalisierung an. Zeichen, mit denen Emotionen versprachlicht werden, nennt er ‚affektrepräsentierend‘. Zeichen, mit denen Emotionen hervorgerufen werden sollen, sind in seiner Terminologie ‚affekttragend‘. Die affektrepräsentierenden Zeichen lassen sich weiter unterteilen in ‚begriffliche‘ Repräsentation (Konzeptualisierung, Darstellung), ‚symptomatische‘ Repräsentation (Indexikalisierung) und ‚zeichenhafte‘ Repräsentation (Symbolisierung). Die Konzeptualisierung kann völlig unemotional, reflektiert und bewusst erfolgen. Die Indexikalisierung hingegen ist eine direkte Form des Emotionsausdrucks, im Wesentlichen Kundgabe und Katharsis, z.B. mit ‚Affektlauten‘, paraverbalen Mitteln oder Rhythmus (kurz: eher Phänomene im Bereich der ‚Körperlichkeit‘ von Sprache). Die Ergebnisse von Symbolisierungen wiederum können als ‚Emotive‘ bezeichnet werden. Sie sind sprachliche Korrelate von psychischen Zuständen ohne notionale Bedeutung. Emotive sind Interjektionen, interjektionsartige Wendungen, z.B. Vokative, Satzwörter wie Verdammt! und bestimmte Phraseologismen. Emotive mit notionalen Anteilen sind Hypokoristika (Verkleinerungen), Invektiva (Beleidigungen), Fluchwörter, Laudativa (Lobwörter), Exklamativ- und Emphasesätze und bestimmte grammatische Kategorien (z.B. Potentialis), wobei die analytische Trennung zwischen kombinierten und reinen Emotiven manchmal nicht möglich ist. All diese Fassungen zurückweisend, differenziert Janney (1996: 92f., genauere Ausführungen: 93-128) in dieser Frage zwischen zwei Sichtweisen auf emotive Kommunikation: eine indexikalische und eine pragmatische. Die indexikalische Sichtweise versteht bestimmte sprachliche Mittel als indexikalische Hinweise auf emotionale Befindlichkeiten einer Sprecherin bzw. eines Sprechers oder auf die Beziehung zwischen Sprecher/ in und Hörer/ in. Die pragmatische Sichtweise hingegen betont, dass Emotivität auf der Ebene der Interaktivität anzusiedeln ist: Emotive sprachliche Mittel zeigen keine Emotionen an, sondern sind Anzeichen bzw. Werkzeuge von Prozessen der sozialen Konstruktion von Emotionen. In der vorliegenden Arbeit wird dieser Sichtweise Vorrang eingeräumt. Volek (1987: 219-230) entwirft eine Typologie emotiver Zeichen, die hier nicht vollständig abgebildet werden kann. Sie unterscheidet reine Indexe von symbolischen Indexen. Reine Indexe sind nicht arbiträr. Die Emotivität des Sprechers wird durch die Kontiguität mit dem Referenten hergestellt. Oft <?page no="94"?> 3 - Sprache -und -Emotion: -Ein -Forschungsüberblick 84 geschieht dies paralinguistisch, z.B. durch Stottern, Anakoluthe, Lachen und den Atemrhythmus. Symbolische Indexe sind arbiträr, aber indexikalisch, weil sie auf den Emotionsträger hinweisen. Hier ist eine Art Kontinuum von stark ikonisch zu stark symbolisch anzunehmen. Volek unterscheidet fünf Gruppen emotiver Zeichen: 1) Kontiguität zwischen der äußeren Form des Signifikanten und des Signifikats besteht z.B. bei phonetisch expressiven Zeichen. 2) Ikonizität zwischen Signifikant und Signifikat weisen z.B. Onomatopoetika auf. 3) Zeichen ohne motivierte Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat sind z.B. lexikalische Elemente. 4) Zeichen mit figurativer Bedeutung (z.B. Metaphern und Metonymien auf Wort-, Satz- und Textebene) sind praktisch nicht ikonisch. 5) Das Spektrum wird abgeschlossen von rein kontextuell emotiven Zeichen (z.B. bestimmte Kollokationen). Auch eine genaue Definition und Beschreibung des Emotiven findet sich bei Volek, „der das Verdienst zukommt, zeichentheoretische und inhaltlichsemantische Definitionen der emotiven Funktion klar gegeneinander abzugrenzen“, wie Drescher (2003b: 25) betont. Für Volek (1987: 11ff.) ist Emotivität weder in Assoziationen und Konnotationen noch in deskriptiven Wörtern wie Liebe enthalten, sondern nur im direkten Ausdruck von aktuellen emotionalen Einstellungen des Sprechers. Emotivität wird manchmal als stilistische Nuance betrachtet; Volek besteht aber darauf, dass emotive Elemente Teil der Bedeutung auf unterschiedlichen linguistischen Ebenen sind. Emotivität ist ihrer Auffassung nach auch nicht Teil der Modalität. Die Opposition ‚kognitiv - emotiv‘, die beispielsweise von Stankiewicz (1972) vertreten wird, ersetzt Volek durch ‚begrifflich (notional) - emotiv‘. Emotivität ist in der Folge definiert als der Ausdruck von psycho-physiologischen Erfahrungen oder Einstellungen der Sprecherin bzw. des Sprechers, die während des Sprechens auftreten und ausgedrückt werden, ohne in das Begriffliche einzugehen Beispielsweise ist das Beschreiben oder Bezeichnen der Symptome von Emotionen nicht emotiv, es sei denn, es wird damit eine Einstellung ausgedrückt (z.B. ist mouth-watering emotiv im Gegensatz zu the eyes dim in agitation, vgl. Volek 1987: 12f.). Emotionen sind das Objekt emotiver und expressiver sprachlicher Zeichen. Die emotive Komponente der Bedeutung bezeichnet Volek als „Excitizer“ („relating directly or through an associative component to its objectemotion“, Volek 1987: 26). Der Rezipientin bzw. dem Rezipienten ist die Verknüpfung zwischen der Emotion und dem Zeichen klar, denn emotive <?page no="95"?> 3.2 - Theoretische -Perspektiven -im -Überblick - 85 Äußerungen sind nicht allein durch ihre begriffliche Bedeutung zu verstehen. Volek (1987: 27-34) ermittelt auch eine Skala der Emotivität von ‚begrifflich‘ zu ‚emotiv‘ von rein denotativ-begrifflichen Lexemen ohne emotive Konnotation (z.B. table, to run, green) über emotiv konnotierte Lexeme (z.B. mother), Interjektionen und teilweise emotive Lexeme (z.B. Kleidchen) hin zu Äußerungen, die von emotiven Zeichen dominiert sind. Für sie gelten verschiedene grammatische und pragmatische Beschränkungen (z.B. ist *Fuck that work, and therefore I left inkorrekt, auch Tempus und Modus können nicht frei gewählt werden). Verwandt mit all dem erscheint mir die Frage nach der Explizitheit oder Implizitheit einzelner emotiver Zeichen. Auch hier kann ein Kontinuum angenommen werden: Sehr explizit sind beispielsweise psychische Verben, Interjektionen und Exklamativsätze, eher implizit Beschreibungen von emotionalem Verhalten (z.B. Er lief im Zimmer hin und her) und konventionalisierte Emotionsmetaphern. Implizit sind Konnotationen, individuelle Metaphern und Bewertungen (vgl. Zimmer 1981: 18; Bednarek 2008: 146f.). Die impliziten Mittel sind wesentlich häufiger. Drescher (2003b: 85-91, 93f.) nennt als Merkmale emotiver Zeichen, dass sie konventionell, kontextsensitiv und weitgehend emotionsunspezifisch sind. Das heißt, die spezifische Emotivität ergibt sich erst aus der Kombination verschiedener Verfahren, z.B. paraverbaler Information plus lexikalischer Mittel. Außerdem sind sie dynamisch in dem Sinne, dass Emotivität in Gesprächen und in Texten oft einen Verlauf nimmt (z.B. Eskalation, Steigerung, Kontrast). Letztendlich hat emotive Sprache oft Verfahrenscharakter, da auf Routinehandlungen zurückgegriffen wird. Zur Frage der Spezifität meint Volek (1987: 247): Je spezifischer die emotive Einstellung wird (z.B. allgemeine Negativität vs. ganz spezifisch negative Emotion wie Hass), desto expliziter und denotativer muss die Emotion benannt werden. Mit anderen Worten muss die Evaluation disambiguiert, also sehr spezialisiert und eindeutig positiv oder negativ ausgedrückt werden. Beispielsweise kann der Ausruf Jesus! evaluativ Ablehnung, aber auch Ungeduld signalisieren und ist somit kein sehr spezifisches Mittel. Um die emotive Komponente eindeutig zu realisieren, müssen andere, deskriptive Formen gewählt werden. Volek (1987: 247) fasst zusammen: „Herein consists the ultimate paradox of emotive language.“ Der Unterschied zwischen begrifflichdenotativ (notional) und emotiv kann auch durch die grammatischen Bedingungen der Formulierung erkannt werden: Begriffliche Darstellung von Emotionen erfordert ein Personalpronomen oder eine entsprechende Endung, also explizite Referenz, um den Bezug zum Sprecher bzw. zur Sprecherin als Subjekt deutlich zu machen (z.B. I hate it), während diese Relation bei emotiven Zeichen implizit enthalten ist (vgl. Volek 1987: 31f.). <?page no="96"?> 3 - Sprache -und -Emotion: -Ein -Forschungsüberblick 86 Theoretische -Beschreibungsmodelle -emotiver -Bedeutung -in -Kürze Schippan (1992: 127, weitere Ausführungen 128ff.) nennt drei Ansätze zur Bestimmung von Bedeutung, wie sie in zeichentheoretischen Modellen immer wieder aufgegriffen werden: Bedeutung wird erstens mit Referenz auf die außersprachliche Wirklichkeit erklärt, zweitens als kognitiver Inhalt (Denotat, Signifikat) und drittens als Relation zwischen dem Bezeichneten und seiner Repräsentation. Eine zweite Möglichkeit der Unterteilung von theoretischen Ansätzen besteht in der Frage, ob Bedeutung als etwas Zerlegbares angesehen wird (analytische Ansätze) oder als etwas Ganzheitliches, nicht weiter Analysierbares (holistische Ansätze, vgl. Schippan 1992: 170f.). Ein Überblick über semasiologische und onomasiologische Ansätze speziell zur Explikation von Emotionswörtern findet sich bei Soriano (2013). Frege (1967b: 145) definiert die Bedeutung von Wörtern noch als „das, wovon man sprechen will“. In der modernen Wissenschaftssprache würde man dies wohl als ‚Repräsentation‘ bezeichnen. Er unterscheidet Bedeutung (Referenz), Sinn (Gemeintes) und Vorstellungen von dem Bedeuteten (ein ‚inneres Bild‘, das auch von Emotionen beeinflusst sein kann, vgl. Frege 1967b: 145). Dem von dieser Auffassung abgeleiteten Frege-Prinzip zufolge sind Wort- und Satzbedeutungen unverrückbar feststehend, kontextunabhängig verständlich und die Bedeutung von Komposita ist aus den Bedeutungen ihrer Einzelbestandteile ableitbar. Dieses Prinzip wird gegenwärtig kaum noch vertreten, zugunsten eines Verständnisses von Bedeutung als kontextabhängig, flexibel und ungenau (vgl. Hielscher 1996: 75). Im Folgenden wird ein knapper Überblick über Vor- und Nachteile bekannterer Modelle geboten, wie sie in der emotionslinguistischen Fachliteratur diskutiert werden. Auch hier musste eine Auswahl getroffen werden. Eingegangen wird in aller gebotenen Kürze auf die referenzialistische Sicht, auf Komponentialanalysen, auf Annahmen einer Kernbedeutung, auf dimensionale Ansätze, auf kognitiv orientierte Ansätze, auf Prototypensemantik (mit einem kurzen Exkurs zur Frame-Semantik), auf gebrauchstheoretische Ansätze und auf die distributive Semantik. 28 Die Referenztheorie geht davon aus, dass mit sprachlichen Bezeichnungen, aber auch beispielsweise mit Gesichtsausdrücken auf außersprachliche Entitäten Bezug genommen wird, etwa auf Emotionen (vgl. Kienpointner 2004: 63; Schippan 1992: 125). Aus dieser Perspektive wird ein Etikett (z.B. ein Wort) mit einer Emotion und einer Situation verknüpft. Denotativ an Emotionen gebunden sind emotionsbezeichnende Lexeme (z.B. Liebe, glücklich). Mit ihnen werden Emotionen etikettiert, kategorisiert, differenziert und reflektiert (vgl. Stoeva-Holm 2005: 17; Hermanns 2002: 356). Wesentlich sind 28 Vgl. Kövecses (2000b: 6-14) sowie Folkersma (2010: Kap. 7.2.2.1.1) für einen kurzen Forschungsüberblick über die meisten dieser Richtungen. <?page no="97"?> 3.2 - Theoretische -Perspektiven -im -Überblick - 87 dabei kognitive Deutungen von Situationen bzw. Emotionskonzepte (z.B. Angst als Folge einer Bedrohung). Doch in den einzelnen Lexemen sind auch unterschiedliche Aspekte der Emotionen enthalten, etwa bei erschrecken der Aspekt des plötzlichen Einsetzens oder bei bereuen der Umstand, dass es sich um einen aktiven Prozess handelt. Gefühlswörter können also sowohl das Verständnis einer Situation als auch die emotionale Bewertung ausdrücken, z.B. werden mit das macht mir Angst eine Situation und ihre Bewertung genannt (vgl. Glas 1990: 96f.). Der Ansatz von Davitz (1969: 136-146), ein emotionales Wörterbuch zu erstellen, geht auch in diese Richtung: Er nimmt an, dass bestimmten emotionalen Zuständen bestimmte Bezeichnungen im Sinne von Wörtern (labels) verliehen werden, basierend auf einer intersubjektiven Übereinstimmung in wesentlichen Aspekten des Erlebens, bei allen Ungenauigkeiten und individuellen Abweichungen. Im Wesentlichen ist die Emotionsbenennung jedoch eine Etikettierung von kognitiven, verhaltensmäßigen und körperlichen Zuständen. Dieser Sichtweise muss beispielsweise aus der Sicht der erheblichen Unterschiede im Emotionsvokabular verschiedener Sprachen widersprochen werden (vgl. Kienpointner 2004: 64f.). Die sozialen bzw. pragmatischen Bedeutungen stehen nicht im Mittelpunkt (vgl. White 2004: 32f.), zudem sind Konzepte als Zwischenschritt nicht in allen Fassungen vorgesehen (vgl. Kövecses/ Palmer 1999: 242; Gibbs 1994: 29). Generell ist eine Auffassung von Bedeutung, die Wörtern Dinge oder Prozesse zuordnet, problematisch (vgl. Tischer 1988: 11). In Komponentialanalysen wird versucht, semantische Merkmale (nach Hörmann, 1978: 71, „Bedeutungsatome“) von Wortbedeutungen erschöpfend zu beschreiben, mithilfe von Gegensatzpaaren wie [± menschlich]. Hinzu treten semantische Projektionsregeln, wie die Lexikoneinträge anzuwenden sind. Dieser Ansatz wurde scharf kritisiert, unter anderem dafür, dass die Merkmale weder ausreichend definiert noch ontologisch sowie empirisch begründet werden konnten. 29 Ein moderner komponentieller Ansatz ist das GRID-Modell, das auf dem Komponentenmodell der Emotion von Scherer beruht (siehe Kap. 2). Das besondere Erkenntnisinteresse des GRID-Ansatzes ist der interkulturelle bzw. interlinguale Vergleich von Emotionswörtern. Als wichtigste Methode zur Bestimmung der Bedeutung von Emotionswörtern werden Ratingverfahren anhand eines Rasters (engl. grid) herangezogen, der den Emotionsprozess sehr detailliert in kleinere Bedeutungskomponenten bzw. Emotionsmerkmale aufschlüsselt. 29 Vgl. Herrmann et al. (1996: 146f.), Hörmann (1978: 73f., 79ff.), Gibbs (1994: 31ff.), Schippan (1992: 181ff., 186f.), Baldauf (1997: 48ff.) und Rössler (2001: 55f.). <?page no="98"?> 3 - Sprache -und -Emotion: -Ein -Forschungsüberblick 88 Grundlage ist also die Auffassung, dass die Bedeutung von Emotionswörtern definiert werden kann als „specific pattern of appraisal and response changes in all components that are implied when a specific word is used to describe an emotion episode“ (Scherer 2013: 27, Hervorhebung i.O.). Die angesprochenen Komponenten sind die fünf organismischen Subsysteme aus Scherers Komponentenmodell: Appraisal (kognitive Komponente), Bodily reaction (körperliche Komponente), Expression (Ausdruckskomponente), Action tendency (Motivationale Komponente), Feeling (Gefühlskomponente) (vgl. Fontaine et al. 2013b: 89). Beispielsweise wird bei dem Ratingverfahren bezüglich der Motivationalen Komponente detailliert nach den typischen Verhaltensweisen gefragt, die mit dem fraglichen Emotionswort in Verbindung stehen (z.B. ob die Emotion eher aktiviert oder Handlungen behindert). Das heißt, die Bedeutung von Emotionswörtern wird an den Emotionsprozess selbst bzw. an seine Wahrnehmung durch das erlebende Subjekt geknüpft - es handelt sich also eher um einen psychologischen als um einen linguistischen Ansatz, wenn auch die Ergebnisse umfassender empirischer Untersuchungen Grundlage eines vergleichenden Wörterbuchs der Emotionen sein könnten (vgl. den Sammelband von Fontaine et al. 2013a für eine umfassende Darstellung des Ansatzes mit Beispielanalysen und dem kompletten Raster). Kurilla (2013: 423) weist Modelle dieser Art grundsätzlich zurück, da sie die ganzheitliche Erfahrung von Emotionen nicht widerspiegeln. Komponentialanalysen entgegengesetzt ist der Ansatz von Johnson-Laird und Oatley. 30 Sie gehen nach Battacchi/ Suslow/ Renna (1997: 57) davon aus, „daß die Bedeutung eines Emotionswortes auf der Grundlage seines Beitrages zur Bestimmung der Wahrheitsbedingungen der Äußerung, in der es angewandt wird, analysiert werden kann“. Dabei werden nur Wörter, die in Sätzen der Form I am X (nicht I feel X) auftreten, als Bezeichnungen für Basisemotionen aufgefasst (vgl. Hielscher 2003b: 684). Während die Wahrheitsbedingungen von Äußerungen mit Emotionswörtern analysiert werden können (z.B. Vorbedingungen, Sachverhalte, Folgen), sind die Emotionswörter selbst nicht weiter zerlegbar, sondern gewissermaßen semantische Primitiva (nicht im Sinne Wierzbickas, siehe unten). Dieselbe Auffassung vertreten viele andere Semantikerinnen und Semantiker. Manchen Ansätzen wie jenem der strukturellen Semantik liegt eine problematische Unterscheidung zugrunde, und zwar jene zwischen sprachlichem Wissen, das in einer eindeutig bedeutungsunterscheidenden Kernbedeutung enthalten ist (core meaning, kognitiv, denotativ, konzeptuell), und 30 Johnson-Laird, Philipp N./ Oatley Keith (1989): The meaning of emotions. Analysis of a semantic field. In: Cognition and Emotion 3, S. 81-123, zit. n. Battacchi/ Suslow/ Renna (1997: 57). <?page no="99"?> 3.2 - Theoretische -Perspektiven -im -Überblick - 89 enzyklopädischem Wissen, das für die periphere Bedeutung (konnotativ, residual, sozial, situational, affektiv) ausschlaggebend ist (vgl. Heringer 1999: 18; Kienpointner 2004: 66; Kövecses/ Palmer 1999: 242). Die Grundbedeutung - die Wörterbuchinformation, das Sprachwissen - sollte demnach relativ eindeutig beschrieben werden können, während die Redebedeutungen - mit anderen Worten: Weltwissen, enzyklopädische Information - nicht vollständig abbildbar sind. Die periphere Bedeutung wurde infolgedessen oft hintangestellt. Die Grenzen zur Redebedeutung bzw. zum enzyklopädischen Wissen sind dabei jedoch nicht immer strikt zu ziehen (vgl. Kienpointner 2004: 66). Die Grundbedeutung wird in Modellen dieser Art oft mit einer semantischen Metasprache beschrieben. Ein solcher Ansatz ist die Natural Semantic Metalanguage (NSM) von Wierzbicka (1972, 1996), die im Wesentlichen der strukturellen Semantik und Merkmalsanalysen zuzuordnen ist. Die Bedeutung von Emotionswörtern kann ihr zufolge nicht mit Definitionen beschrieben werden, sondern nur mit typischen Situationen, in denen sie auftreten, oder mit Gedanken, die sie begleiten - also aufgrund eines Vergleichs mit anderen Vorkommen der Wörter (vgl. Wierzbicka 1972: 58f.). Wierzbickas Ansatz beruht zudem auf der Annahme, dass die Bedeutung von Wörtern aus einer begrenzten Klasse sehr kleiner Einzelteile (ähnlich Atomen) zusammengesetzt ist - diese kleinsten Einheiten, konkret handelt es sich um kognitive Konzepte, können selbst nicht weiter zerlegt oder definiert werden (vgl. Wierzbicka 1996: 9f., 28f.). Es sind universale Konzepte wie FEEL, WANT, KNOW, THINK, SAY, DO, HAPPEN, IF, die Wierzbicka über Dekomposition, Prototypen- und Skriptanalyse ermittelt. Sie verwendet dafür nur ca. 60 Lexeme, die in allen Einzelsprachen der Welt vertreten sein sollen. 31 Mit der NSM, die eine vollständige Auflistung dieser universalen Konzepte enthält, können mit einer einfachen, ebenfalls universellen Syntax allgemeingültige und selbsterklärende Bedeutungsdefinitionen formuliert werden, wobei diese Definitionen eher als Szenarien eingestuft werden können (vgl. Wierzbicka/ Harkins 2001: 9ff.; Wierzbicka 1996: 19f., 22f.; ferner Aitchison 1997: 95-103 für eine Diskussion der Vorgänger von Wierzbicka). Mit diesen Primitiva werden Konzepte beschrieben, unter anderem auch Emotionskonzepte oder ‚prototypische Szenarien‘. Fühlen, Denken und Wollen sind dabei die wichtigsten Primitiva, die für fast alle Emotionskonzepte konstitutiv sind (vgl. Wierzbicka 1972: 60f.). Als konkretes Beispiel will ich hier nur Pleased anführen: 31 Vgl. Wierzbicka (1996: 14f.); „ca. 60“, weil sich die Liste mehrmals verändert hat. <?page no="100"?> 3 - Sprache -und -Emotion: -Ein -Forschungsüberblick 90 „(a) X felt something because X thought something (b) sometimes a person thinks: (c) ‚something good happened (d) I wanted this to happen‘ (e) when this person thinks this, this person feels something good (f) X felt something like this (g) because X thought something like this“ Wierzbicka ist vielfältig kritisiert worden. Für Kienpointner (2004: 68) beispielsweise sind die Beschreibungen „eher umständlich und nicht gerade einfach zu verstehen“ bzw. insgesamt nicht sehr praktisch. Wilce (2009: 74- 77) kritisiert an Wierbicka, dass die NSM einen Widerspruch zwischen ‚natürlich‘ und ‚nicht-natürlich‘ erzeuge - die NSM soll Universalien widerspiegeln, aber selbst anders als natürliche Sprache sein. Außerdem ist die NSM ihm zufolge nicht, wie gefordert, sprachunabhängig (vgl. auch Bamberg 1997: 210f.). Harras (1982: 96) lehnt die Beschreibung von Wierzbicka aus zwei Gründen ab: Erstens, weil Sprecherinnen und Sprecher nicht so allwissend sind, wie die Beschreibungen suggerieren; zweitens, weil die Definitionen nicht in allen Kontexten zutreffen. Generelle Probleme von metasprachlichen Beschreibungen führen viele Linguistinnen und Linguisten dazu, nur die Bedeutung von einzelsprachlichen Lexemen mithilfe von semantischen Merkmalen oder anderen Verfahren zu beschreiben, ohne Anspruch auf die Ermittlung von Universalien (vgl. Kienpointner 2006: 191). Trotz aller Probleme ist der grundsätzliche Ansatz, mit einer einfachen Metasprache die Bedeutung von Wörtern zu beschreiben, mit einigen Anpassungen nicht völlig von der Hand zu weisen (vgl. Kienpointner 2006: 192 für neuere Ansätze). Auch die dimensionale Sichtweise (dimensional view) wurde im Rahmen der Diskussion von Konnotationen bereits angesprochen (in Bezug auf Osgood): Es werden in verschiedenen Bedeutungsdimensionen Werte festgelegt. Die Anzahl und Benennungen der Dimensionen variiert dabei von Ansatz zu Ansatz stark (vgl. Kövecses/ Palmer 1999: 244). In der Kognitiven Linguistik wird Bedeutung unter Rekurs auf konzeptuelle Domänen erklärt, wie dies beispielsweise Schwarz (2008: 114) umschreibt: „Eine Bedeutung (Sem) entsteht aus einer selektiven Lexikalisierung (x 2 -x 5 ) von Konzeptinformationen Kon (x 1 -x n ) und der Bindung an eine phonologische/ graphemische Repräsentation (R phon ) sowie ein syntaktisches Subkategorisierungsraster (syn).“ Bedeutung ist also eng an das enzyklopädische Wissen gebunden bzw. ein Ausschnitt aus diesem Wissen, das mittels Inferenzen bei der Konstitution von Bedeutung im Rezeptionsprozess abgerufen wird (vgl. Schwarz 2008: 114f.). Den derzeit stark verfolgten Ansätzen mit dem Etikett Frame- <?page no="101"?> 3.2 - Theoretische -Perspektiven -im -Überblick - 91 Semantik liegen unterschiedliche Definitionen von Frames zugrunde: Im weiten Sinne sind Frames kognitive Einheiten, die automatisierte Verarbeitung von Reizmustern erlauben, im engen Sinne eine Beschreibungsgröße für semantische Bedeutungen mit aufzufüllenden Leerstellen. In beiden Fällen wird Bedeutung holistisch verstanden, als Wissensrepräsentation (vgl. Rössler 2001: 41f.). In frame-semantischen Ansätzen wird Bedeutung eingebettet in ‚schematische Repräsentationen von Situationen, beruhend auf wiederholten Erfahrungen, die von der Sprache festgehalten werden‘ (Soriano 2013: 73, grobe Übersetzung aus dem Englischen von H.O.). Die durch Korpusanalysen ermittelten Frames enthalten Informationen zum Gebrauch und zu semantischen Beziehungen von Lexemen, vor allem aber zu den assoziierten Konzepten, z.B. bei Emotionswörtern Angaben zum Experiencer und zur Ausdruckskomponente. Beispielsweise ist Ärger ein Lexem, das den Frame ‚gerichtete Emotion‘ (Emotion_directed) aktiviert, während Überraschung eher durch eine Fokussierung auf den Stimulus (Stimulus_focus) gekennzeichnet ist (vgl. Soriano 2013: 73). Die Kernfrage in der holistisch ausgerichteten Prototypensemantik lautet: Welche Vertreter sind die besten Beispiele einer Kategorie (vgl. Gibbs 1994: 49ff.; Schippan 1992: 172f.)? Angenommen wird, dass Emotionsklassifikationen auf kognitiven Konzepten und Kategorien beruhen. Einzelne Emotionen werden als besser oder weniger gut in die Kategorie Emotion (und Unterkategorien) passend eingeordnet. Innerhalb einer Kategorie bestehen Ähnlichkeitsbeziehungen (vgl. Kienpointner 2004: 70; Baldauf 1997: 52f.). Zentral sind die Termini Gradedness (dt. ‚Abgestuftheit‘) und Adjudication (dt. ‚Entschluss‘): Es gibt Abstufungen in der Zugehörigkeit und Sprecherinnen und Sprecher sind sich über die Zugehörigkeit eines Phänomens zur Kategorie Emotion nicht immer einig (vgl. Clore/ Ortony 1988: 388; Russell/ Lemay 2004: 494). Auch bei den entsprechenden Emotionswörtern gibt es daher ungenaue Grenzen (vgl. Clore/ Ortony 1988: 390). Prototypische Instanzen werden früher erlernt, schneller kategorisiert und verstanden. Welche Emotionen und Emotionswörter prototypisch sind, ist stark kulturabhängig, z.B. ist Ärger im Englischen eine zentrale Emotion, in der indonesischen Kultur jedoch nicht (vgl. Kövecses/ Palmer 1999: 246f.). Eine Weiterentwicklung der Prototypentheorie ist die Stereotypensemantik: In diesem Ansatz ist Bedeutung als gesellschaftlich verankertes, stereotypes Wissen definiert - Stereotyp meint hier „geistiges Bild“, „Bewusstseinsinhalt“ (Rössler 2001: 35). In Hinblick auf Emotivität bedeutet dies, dass der richtige Gebrauch eines Emotionswortes vom Wissen über stereotype Verwendungsweisen, Ursachen, Objekte und Konsequenzen der benannten Emotionen abhängt (vgl. Rössler 2001: 31ff.). Der explikativsemantische Ansatz ist eine Kombination und Erweiterung von komponential-, prototypen- und stereotypensemantischen Ansätzen. <?page no="102"?> 3 - Sprache -und -Emotion: -Ein -Forschungsüberblick 92 Hier werden Bedeutungen unter Zuhilfenahme von Merkmalen beschrieben, die auf dem enzyklopädischen Wissen beruhen (vgl. Rössler 2001: 35). Um Bedeutung zu explizieren (daher der Name des Ansatzes), werden einige inhaltlich bestimmte Fragen an das konkrete Auftreten von Lexemen in Texten gestellt, z.B. über Verlauf, Objekt, Ursachen von Emotionen (vgl. Rössler 2001: 81ff.). Ziele sind die Einordnung der verschiedenen textuell bestimmten Bedeutungen in verschiedene Konzepte und letztendlich die Formulierung einer alle Konzepte umfassenden Konzeptstruktur (vgl. Rössler 2001: 104f.). Eine der am häufigsten zitierten Äußerungen Wittgensteins (1992: § 43: 262) ist bekanntlich: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“ Die Gebrauchstheorie geht dieser grundlegenden Auffassung entsprechend davon aus, dass die Bedeutung eines Wortes seiner regelgeleiteten Verwendung entspricht. Der Bezug zur außersprachlichen Wirklichkeit ist dabei von untergeordneter Bedeutung. 32 Wittgenstein stellt nach Gebauer/ Stuhldreher (2008: 615) zwei entscheidende Fragen: „Worüber redet man, wenn man über eigene Emotionen spricht? Und worüber, wenn man sich auf die Emotionen anderer bezieht? “ Von diesen Fragen ausgehend bestimmt er in verschiedenen Arbeiten 33 das Sprechen über Emotionen als Sprachspiel (vgl. Rolf 2008: 124; Löbner 2002: 263f.; Hörmann 1978: 249ff.). Die theoretische Annahme einer Privatsprache, die ebenso wie die Gegenstände und Ereignisse, die mit ihr benannt werden, nur dem Individuum zugänglich ist, weist Wittgenstein zurück. Die traditionelle Auffassung, dass wir nicht mit Sicherheit wissen können, was andere fühlen und denken, gehe am Essenziellen vorbei (vgl. Gebauer/ Stuhldreher 2008: 619). Ebenso kritisiert Wittgenstein die Auffassung, dass Emotionen eine private Empfindung seien, wie Gebauer und Stuhldreher (2008: 633) ausführen: „Mit dem Argument gegen die Privatsprache weist er drei Merkmale zurück, die gewöhnlich als konstitutiv für das Sprechen über Inneres und damit über Emotionen angesehen werden: die Gegenständlichkeit des Inneren, eine eigene Sprache für dessen Beschreibung und die Möglichkeit, das Innere direkt zu erkennen.“ 32 Diese und die folgenden Ausführungen beziehen sich auf Wittgenstein (1992: §§ 244- 317, S. 357-380; zentral §§ 244-272, S. 357-366), vor allem anhand des Beispiels der Schmerzempfindung und des Sprechens über diese. Die hier gegebene Zusammenfassung beruht außerdem auf Altmann (1976: 45), Kienpointner (2004: 73f.), Battacchi/ Suslow/ Renna (1997: 60), Rolf (2008: 124), Löbner (2002: 263f.), Hörmann (1978: 249ff.), Schippan (1992: 123f.), Heringer (1999: 10f.) und Folkersma (2010: 169ff.). 33 Vor allem in den Philosophischen Untersuchungen, aber z.B. auch in den Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie. <?page no="103"?> 3.2 - Theoretische -Perspektiven -im -Überblick - 93 Somit kritisiert Wittgenstein behavioristische, physiologische und mentalistische Emotionstheorien, die Emotionen jeweils als unabhängige Ereignisse beschreiben (vgl. Gebauer/ Stuhldreher 2008: 625). Emotionen sind niemals außerhalb von Sprachspielen erfassbar, kein innerpsychisches Geschehen, das denotativ benennbar wäre. Wittgenstein knüpft Emotionen an das Ausdrucksverhalten (z.B. Mimik), das die Grundlage für die Wahrnehmung, die Interpretation und die Benennung von Emotionen ist, setzt sie aber nicht gleich und stellt auch keine Kausalbeziehung her (vgl. Gebauer/ Stuhldreher 2008: 626). Der Frage nach dem Status von Gefühlsausdruck in der Sprache geht Wittgenstein mit dem Beispiel des Schmerzempfindens nach. Seiner Auffassung zufolge äußert das Kind seinen Schmerz zunächst auf natürliche Weise - durch Schreien - und erlernt in der Folge durch die Zuwendung der Umwelt andere Formen des sprachlichen Ausdrucks (etwa mit Sätzen); dazu Wittgenstein (1992: § 244: 357): „der Wortausdruck des Schmerzes ersetzt das Schreien und beschreibt es nicht“ (vgl. auch Marten-Cleef 1991: 36; Plum 1992: 171, 177). Wenn man nun für sich selbst über eine Empfindung schreiben möchte (z.B. in einer Tagebuchnotiz), kann man nur introspektiv entscheiden, ob eine andere Empfindung zu einem anderen Zeitpunkt dieser ersten Empfindung entspricht - Sicherheit darüber ist nicht möglich. Wichtig an dieser Auffassung von Bedeutung ist ihre Einbettung in soziale Zusammenhänge. Emotive Bedeutung ist in der Sprache und in ihrem Gebrauch verankert, nicht nur in paralinguistischen Elementen (vgl. Marten-Cleef 1991: 38). Fazit: Muster des Sprechens über Emotionen bestimmen nicht nur das emotionale Verhalten, sondern das gesamte Verständnis einer Emotion (vgl. Gebauer/ Stuhldreher 2008: 631f.). Eine Verknüpfung von struktureller Semantik, Gebrauchstheorie und Prototypentheorie strebt Kienpointner (2004: 74) an: „Man kann nämlich Grundbedeutungen als ‚minimale Gebrauchsbedingungen‘ auffassen. Diese können aus der prinzipiell unendlichen Vielfalt des Gebrauchs herausabstrahiert werden und ausschließlich den prototypischen Gebrauch von Lexemen in Form von kurzen Skripts und Szenarios erfassen. [...] Wenn diese Skripts und Szenarios auf einer reichen Datengrundlage aus vielen Sprachen mit großer genetischer, typologischer und kultureller Distanz beruhen, sollte es auch möglich sein, minimale Gebrauchsbedingungen für Lexeme, z.B. (metaphorische) EA [= emotionsbezeichnende Ausdrücke, Anm. v. H.O.] zu formulieren, die für die meisten oder in Teilbereichen sogar für alle Sprachen, d.h. (weitgehend) universal gelten.“ Ähnlich knüpft der Ansatz der distributiven Semantik sowohl an die Gebrauchsals auch an die Prototypentheorie an. Heringer (1999: 23f.) kritisiert die meisten bisher genannten Ansätze: „In traditionellen Semantiken ist es <?page no="104"?> 3 - Sprache -und -Emotion: -Ein -Forschungsüberblick 94 üblich, verschiedene Arten der Bedeutung zu unterscheiden: die eigentliche, die sprachliche, die emotive, die assoziative, die subjektive, die stilistische usw.“ Er hält die Annahme einer (sprachlichen) Kernbedeutung gegenüber einer peripheren (enzyklopädischen) Bedeutung für verfehlt und bevorzugt ein Modell flexibler und assoziativer Bedeutung - assoziativ in dem Sinne, dass Wörter nicht alleine für sich stehen, sondern stets in einen Kommunikationskontext eingebettet sind, aus dem heraus sich ihre Bedeutung erklärt. Sein linguistischer Beschreibungsansatz sieht keine Metasprache und keine Syntax, sondern nur Assoziativität in der Strukturierung des Mentalen Lexikons vor (vgl. Heringer 1999: 24-31, 39ff.). In Anlehnung an die Gebrauchstheorie nimmt Heringer (1999: 10) also an, „dass die Bedeutung von Lexemen sich im Textstrom konstituiert, dass sie im Textstrom erworben wird, dass sie sich im Text zeigen muss“. Linguistische Definitionen weist er zugunsten einer sprachgebrauchsbetonten Auffassung von Bedeutung zurück: „Die Bedeutung eines Wortes W 0 kann charakterisiert werden in der Struktur eines Korpus“ (Heringer 1999: 56). Er führt computergestützt umfangreiche Korpusanalysen durch, um die Distribution von Wörtern in Beziehung zu anderen Wörtern zu untersuchen - Bedeutung ist für ihn in Ermangelung einer besseren Methode eben diese Distribution. Das Ergebnis stellt er in Form eines Sterns dar, dessen Wurzel ein Wort ist, um das sich weitere Begriffe gruppieren. Je weiter diese Wörter im Stern von der Wurzel entfernt sind, desto weniger oft kommen sie in Texten im Zusammenhang mit dem Wurzelwort vor. Dies lässt sich beispielsweise sehr aufschlussreich mit Emotionslexemen wie Liebe vorführen (vgl. Heringer 1999: Kap. 1.5., 4.3.). Stoeva-Holm (2005: 29) und Kienpointner (2004: 75) kritisieren Heringers Ansatz nicht aus methodischen Gründen, sondern weil die Interpretation der Ergebnisse schwer abzuleiten und die Aussagekraft dadurch begrenzt ist. Was ist nun emotionale Bedeutung und wie lässt sie sich erfassen? Bei der Bestimmung der Emotivität eines Zeichens sind verschiedene Kriterien heranzuziehen, die keinem speziellen linguistischen Ansatz verpflichtet sein sollten. Diese Kriterien werden in den folgenden Kapiteln erarbeitet. 3.3 - Wirkungen und Wechselwirkungen: Sechs Thesen In diesem Abschnitt werden sechs Thesen formuliert, die teilweise in den bisherigen Äußerungen implizit enthalten waren: zwei Kernthesen bezüglich des grundlegenden Zusammenhangs zwischen Sprache und Emotion, Zusammenhänge zwischen Sprache, Denken und Emotion und auf der Ebene der sozialen Zusammenhänge vor allem pragmatische Aspekte. Die meisten <?page no="105"?> 3.3 - Wirkungen -und -Wechselwirkungen: -Sechs -Thesen - 95 Thesen werden in den weiteren theoretischen Teilen dieser Arbeit hinterfragt, sodass hier nur kurze Hinweise erfolgen. Die Thesen lauten: Kernthesen 1. Emotionen -können -auf -allen -sprachlichen -Ebenen -kodiert -werden. 2. Das - Kongruenzproblem: - Bei - sprachlichen -Äußerungen - über - Emotionen - können, müssen - diese - aber - nicht - tatsächlich - empfunden - werden. - Nicht - alle - empfunde--‐ nen - Emotionen - müssen - in - gleichzeitigen - sprachlichen - Äußerungen - zum - Aus--‐ druck -kommen. Kognitive -Zusammenhänge 3. Emotionen - wirken - sich - auf - kognitive - Prozesse - aus, - also - auch - auf - die - Sprache. Emotionen - können - durch - sprachliche - Prozesse - ausgelöst, - verstärkt - oder - auch abgeschwächt -werden. 4. Sprache - hat - aber - umgekehrt - auch - Auswirkungen - auf - Emotionen. - Mittels - Spra--‐ che - können - Textproduzentinnen - und - --‐produzenten - bzw. - Textrezipientinnen und - --‐rezipienten - in - emotionale - Zustände - versetzt - werden. - Das - Spre--‐ chen/ Schreiben - über - Emotionen - kann - Rückwirkung - auf - das - Erleben - einer - Emo--‐ tion -haben. 5. Eine -gedankliche -Einheit -ist -auch -eine -emotionale -Einheit. Soziale -Zusammenhänge 6. Emotionen - affizieren - Kommunikation, - und - zwar - sowohl - aufseiten - der - Spre--‐ cher/ --‐innen - als - auch - aufseiten - der - Hörer/ --‐innen - im - Sinne - eines - interaktiven Austauschs - von - Emotionskonzepten. - Emotionen - motivieren - zu - Äußerungen - (im Sinne -von -sprachlichem -Verhalten). These -1: -Alle -sprachlichen -Ebenen -können -Emotionen -kodieren 34 Diese These bezieht sich auf sprachliche Mittel für den Emotionsausdruck, ferner für die Emotionsthematisierung. Eine erste wichtige Einsicht ist, dass Äußerungen über Gefühle unter Zuhilfenahme von Wörtern, die Emotionen bezeichnen (z.B. Liebe, freudig), nicht das einzige emotionslinguistisch relevante Phänomen sind. Eine Äußerung wie Ich kann nicht mehr! ist wesentlich emotiver als Ich habe mich über deinen Anruf gefreut! , wenn Letzteres nur aus Höflichkeit geäußert wird (vgl. Glas 1990: 93). In der Analyse emotionaler Sprache sind also phonetische, prosodische, morphologische, lexikalische, syntaktische, pragmatische, stilistische und rhetorische Mittel gleichermaßen zu berücksichtigen (vgl. Janney 1996: 3). „Prinzipiell scheint es möglich zu sein, jeden Sprachhandlungstyp auch emotional und emotionalisierend realisieren zu können.“ Ehrhardt (2010: 147) meint damit emotive lexikalische Alternativen wie flehen statt bitten oder 34 Vgl. Péter (1984: 246), Wierzbicka (1999: 29), Jahr (2000: 65f.), Löffelad (1990: 169f.), Fries (1992a: 15), Fries (1994: 10), Janney (1996: 3). <?page no="106"?> 3 - Sprache -und -Emotion: -Ein -Forschungsüberblick 96 prahlen als implizite negative Bewertung eines vorhergehenden positiv bewertenden Sprechaktes und nennt damit einen wichtigen Aspekt des Zusammenhangs zwischen Sprache und Emotion: Jede Äußerung kann kontextuell emotiv interpretiert werden, Emotionen anzeigen, beschreiben oder auslösen, und zwar unabhängig von ihrer sprachlichen Form (vgl. Rössler 2001: 12). Bei genauerer Betrachtung stellt sich für Dressler/ Barbaresi (1994: 31) tatsächlich ein Bild dar, das alle sprachlichen Ebenen inklusive Ko- und Kontext als wichtige, notwendige Größen für die Beschreibung des Zusammenhangs zwischen Sprache und Emotion einschließt. Die Möglichkeiten sind mannigfaltig: Sie reichen von nur einem Wort (direkte Nennung von Emotionswörtern) bis hin zu umfangreichen Texten (z.B. Die Verwandlung von Franz Kafka als Demonstration der Emotionskonzepte Scham und Schuld). Dazwischen liegen Ausrufe, rhetorische Mittel wie Euphemismen und Metaphern und viele andere (vgl. Planalp 1998: 35). Vorläufiges Fazit von Fries (1991b: 34): „Grundsätzlich können emotionale Bedeutungskomponenten in jede Äußerungsbedeutung eines jeden Ausdrucks involviert sein“, was auch für nicht-sprachliche Ausdrücke gilt. Es sei jedoch daran erinnert, dass spezifische Emotionsqualitäten mit grammatischen Kategorien nicht systematisch zum Ausdruck gebracht werden können (z.B. gibt es keine syntaktische Struktur, die eindeutig Ärger anzeigt) - diese Spezifizierung muss über Ko- und Kontextinformationen oder über lexikalische Mittel erfolgen (vgl. Fries 1992a: 23). Angezeigt werden können jedoch unterschiedliche Grade an Direktheit, abhängig von Faktoren wie Höflichkeit oder vom Bestreben, negative Emotionen beim Gegenüber zu vermeiden (vgl. Bowers/ Metts/ Duncanson 1985: 526; Leech 1975: 50). Diese These birgt die Gefahr der Beliebigkeit in sich. Wenn ‚alles irgendwie‘ emotiv ist, ist eine emotionslinguistisch ausgerichtete Textanalyse zum Scheitern verurteilt. Andererseits berichten Dressler und Barbaresi (1994: 31, 574f.), dass in ihrem Korpus wenige eindeutig emotive Signale enthalten waren und dass der Ko- und Kontext für eine Festlegung auf Emotivität und für die Disambiguierung derselben eine wesentliche Rolle spielt. In Kapitel 7 wird auf dieses Problem noch einmal eingegangen. These -2: -Das -Kongruenzproblem Diese These enthält zwei Aspekte. Erstens: Bei sprachlichen Äußerungen über Emotionen und beim Ausdruck von Emotionen können, müssen diese aber nicht tatsächlich empfunden werden. Zweitens: Nicht alle empfundenen Emotionen müssen in gleichzeitigen sprachlichen Äußerungen zum Ausdruck kommen (vgl. Fries 1992a: 7; Bednarek 2008: 6f.). Was selbstverständlich erscheint, wird in der Praxis schnell vergessen. <?page no="107"?> 3.3 - Wirkungen -und -Wechselwirkungen: -Sechs -Thesen - 97 Bei der Frage nach der emotiven Bedeutung von Wörtern müssen wir uns einer gegenseitigen Beeinflussung von Sprache und Emotion bewusst werden: Kommunikativer Ursprung der Emotionsbenennung ist das Bedürfnis, psychischen und physiologischen Phänomenen einen Namen zu geben. Diese Konzeptualisierungen sind vom psychischen Phänomen Emotion nicht völlig losgelöst, aber auch keine Abbildungen der psychischen Realität. Darüber hinaus haben diese sprachlichen Hinweise auch für die Wissenschaft Bedeutung, und zwar sowohl als Indizien als auch als unbewusste Hintergrundannahmen (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 63). Fries (2007: 2f.) führt die Unterscheidung zwischen Ausdrücken und Signalisieren an: Der Satz Ich bin neidisch kann einerseits die Emotion des Neides ausdrücken, andererseits auch Neid signalisieren. In der Folge hebt er jedoch hervor, dass eher bestimmte Verhaltensweisen Neid ausdrücken und die Äußerung Ich bin neidisch! eher Wertschätzung gegenüber der Leistung einer anderen Person ausdrückt oder Lob signalisiert und keine Aussage über den eigenen Zustand ist. In der affektiven Sprachinhaltsanalyse, einem psychologischen Verfahren, wird von drei Grundannahmen ausgegangen (vgl. Gottschalk/ Gleser 1980: 19; Schöfer 1980b; Suslow 1993: 39f.): 1) Je häufiger emotionale Erlebensaspekte thematisiert werden, desto intensivere Emotionen liegen zugrunde (‚Frequenztheorem‘); 2) je direkter etwas thematisiert wird, desto intensivere Emotionalität ist vermutbar (‚Ausmaß der Direktheit‘ einer Äußerung); 3) je deutlicher die persönliche Involviertheit in einen Sachverhalt zum Ausdruck kommt, desto stärker ist auch die Emotionalisierung (‚Ausmaß der persönlichen Beteiligung‘). Meines Erachtens kann auf keinen Fall aufgrund eines Textes auf die Emotionen der Textproduzentin oder des Textproduzenten geschlossen werden, alleine deshalb nicht, weil schon unser subjektives Erleben eine Interpretation verschiedener Signale ist und bei der Weitergabe dieser Signale vielfältige Mechanismen zum Einsatz kommen (vgl. auch Fries 2000: 62f.). Insbesondere bei der Emotionsthematisierung ist klar, dass hier keine reale und/ oder aktuelle Emotion zugrunde liegen muss, etwa wenn auf eine vergangene Emotion einer anderen Person Bezug genommen wird (vgl. Fiehler 1990b: 135). Aber auch ein Emotionsausdruck in der 1. Person mit Bezug auf die Gegenwart und mit eindeutigen Emotionsmarkern kann immer sowohl eine sprachlich kodierte expressive Reaktion als auch Emotionsdisplay sein (vgl. Bodor 1997: 201). Käsermann (1995: 42) kritisiert ganz grundsätzlich die Annahme, dass Emotionen im Sinne von Entitäten in sprachlichen Prozessen abgebildet werden können bzw. die Redeweise, dass Emotionen in Gesprä- <?page no="108"?> 3 - Sprache -und -Emotion: -Ein -Forschungsüberblick 98 chen vermittelt, übertragen, mitgeteilt werden. Emotive Sprache kann also Jahr (2000: 77), Fries (1991b: 39) und Drescher (2003b: 27f.) zufolge • echte Emotionen anzeigen, • durch soziale Regeln geleitet oder • bewusst und strategisch eingesetzt werden. Allerdings lässt sich das anhand der sprachlichen Oberfläche nicht eindeutig unterscheiden. Ebenso ist die Unterscheidung zwischen spontaner, nichtintentionaler Emotionsmanifestation, unterdrückter Emotion und intentional manifestierter Emotion (authentisch oder nicht-authentisch) 35 in der Praxis nicht anwendbar. Auch die bereits erwähnten Mittel des Emotionsausdrucks - z.B. Intonation, Interjektionen, Flüche - sind nur relativ direkt, am ehesten noch die nonverbalen Anteile (vgl. Foolen 1997: 20ff.). Austin (1975: 96f.) diskutierte dieses Problem aus philosophischer Sicht. Die Zuschreibung von Gefühlen ist nicht dieselbe Art von Wissen wie das Wissen über objektive Sachverhalte. Wenn jemand über seine Gefühle spricht, kann das Gefühl im Wesentlichen auf drei verschiedene Weisen verfehlt werden: durch Täuschungen, durch Missverständnisse oder durch unabsichtliches, fahrlässiges Irren des Kommunizierenden (ferner auch durch abweichendes Empfinden, z.B. aufgrund einer psychischen Störung). In bestimmten Kontexten können wir Aussagen über Gefühle zurückweisen, z.B. bei notorischen Lügnerinnen und Lügnern, aber der Normalfall ist doch, dass wir die Richtigkeit der Äußerung annehmen, sofern wir nicht dem Solipsismus verfallen wollen. Was Austin als ‚Fremdseelisches‘ bezeichnet, muss im Normalfall als wahr angenommen werden, auch wenn die Gefühle einer anderen Person introspektiv nicht wahrnehmbar sind (vgl. Austin 1975: 99ff.). Eine meines Erachtens gute Lösung auf der Ebene der Interaktion schlägt Bamberg (1997: 212) vor, der darauf hinweist, dass das Sprechen über Emotionen als Index beschrieben werden sollte, wie Menschen verstanden werden wollen - nicht als Index dafür, was sie wirklich empfinden. Daher hat ein und dasselbe Emotionswort in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Bedeutungen. Auch andere, an und für sich nicht emotionale Sprachformen können dieselbe emotionale Bedeutung haben. Dennoch sind das Frequenztheorem, das Ausmaß der Direktheit und die persönliche Beteiligung, wie sie in der Sprachinhaltsanalyse genannt werden, nach einer leichten Umformulierung relevant: Je häufiger, je direkter und je persönlicher Emotion sprachlich thematisiert oder ausgedrückt wird, desto 35 Vgl. Daneš (1987: 284), in Anlehnung an: Mathesius, Vilém (1975): A functional analysis of present day English on a general linguistic basis. Den Haag/ Prag: Mouton/ Academia (englische Übersetzung, tschechische Erstauflage: 1961). <?page no="109"?> 3.3 - Wirkungen -und -Wechselwirkungen: -Sechs -Thesen - 99 emotiver ist ein Text und desto eindeutiger der Appell an Rezipientinnen und Rezipienten, die emotiven Signale als Ausdruck von Emotionalität zu verstehen. Erfolgreich ist Emotionskommunikation nach Danelzik (2005: 48), „wenn der Kommunikationspartner für den jeweils Anderen sinnvolle Anschlusskommunikationen vollzieht“. Sprache kann über ihre Arbitrarität, Konventionalität und Situationsgebundenheit hinwegtäuschen. Grundlage dafür ist jedoch eine ähnliche sprachliche Sozialisation von Kommunikationspartnerinnen und -partnern und ein sich überschneidendes Sprachverwendungswissen (vgl. Danelzik 2005: 50). Es gibt also einen Unterschied zwischen den Emotionen als psychische Phänomene eines Individuums und Emotionen als semiotische Größen (vgl. auch Schwarz-Friesel 2007: 80; Fiehler 1990b: 163; Fries 1991b: 37), auch wenn Menschen dazu neigen, semantische Beziehungen und Konzepte als Abbildungen bzw. Beschreibungen der psychologischen Realität zu betrachten (vgl. Smedslund 1997: 12f.). Diese Trennung zwischen Emotionen und Zeichen für Emotionen ist eine der Ursachen für das beschriebene Dilemma der (Un-)Mitteilbarkeit der Emotionen sowie eine wichtige Inhaltskategorie in Texten und Gesprächen (vgl. Fries 1991b: 40). Insgesamt ergibt sich als Fazit: Wir äußern keine Emotionen, sondern Konzeptualisierungen von Emotionen. Meiner Auffassung nach gilt dies sogar für vermeintlich ikonische und indexikalische Zeichen wie z.B. Interjektionen. Nimmt man das Kongruenzproblem ernst, wird Emotionskonstruktion durch Textproduzentinnen und -produzenten der Normalfall. Authentizität ist jedenfalls keine Beschreibungskategorie in der Emotionslinguistik (vgl. Lang 1983: 335), im Gegensatz zu Mitteln und Mustern der Ausdrucksmöglichkeiten (vgl. Drescher 2003b: 28f.; Fries 1994: 7). These -3: -Emotionen -wirken -sich -auf -kognitive -Prozesse -aus Konkret können Emotionen durch sprachliche Prozesse ausgelöst, verstärkt oder auch abgeschwächt werden (vgl. Suslow 1993: 100). Ein Beispiel von Bowers/ Metts/ Duncanson (1985: 526): Stress setzt die Direktheit, die Intensität und die lexikalische Diversität in sprachlichen Äußerungen herab. Theoretisch lassen sich nach Schwarz-Friesel (2007: 131ff.) folgende mögliche Auswirkungen von Emotionen auf kognitive sprachliche Prozesse formulieren: • Emotionen führen zur Abnahme der Äußerungs-Quantität: z.B. Verstummen. • Emotionen führen zur Zunahme der Äußerungs-Quantität: z.B. vor Aufregung plappern. • Emotionen führen zur Abnahme der Äußerungs-Qualität: z.B. unzusammenhängend reden. <?page no="110"?> 3 - Sprache -und -Emotion: -Ein -Forschungsüberblick 100 • Emotionen führen zur Zunahme der Äußerungs-Qualität: z.B. zur rhetorischen Höchstform auflaufen. • Emotionen führen zur Abnahme der semantischen Äußerungs-Qualität: z.B. Konzentrationsschwierigkeiten bei der Wortfindung. • Emotionen führen zur Abnahme der phonologischen bzw. graphemischen Qualität: z.B. undeutlich sprechen. Die Emotionalisierung von Kommunikationsteilnehmerinnen und -teilnehmern durch kommunikative Prozesse ist eine weitere wichtige Perspektive in diesem Zusammenhang, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit jedoch nur am Rande diskutiert werden kann. These -4: -Sprache -hat -aber -umgekehrt -auch -Auswirkungen -auf -Emotionen 36 Auch dieser Zusammenhang wird in Kapitel 4 ausführlicher beschrieben. Insbesondere die Auswirkungen des Schreibens auf Emotionen sind im Kontext der vorliegenden Arbeit von Interesse. Auf den Punkt gebracht ist an dieser Stelle zu den Thesen 3 und 4 nicht mehr zu sagen als mit Battacchi/ Suslow/ Renna (1997: 13): „Sprache ist sowohl Produkt als auch produktive Kraft in der emotionalen Sphäre.“ These -5: -Eine -gedankliche -Einheit -ist -auch -eine -emotionale -Einheit Sprache spielt eine sehr große Rolle in der Konstruktion von Emotionen. Manche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vertreten die Auffassung, dass durch die Möglichkeit, Emotionsqualitäten differenziert zu benennen, das ohne Sprache eher diffuse Empfinden dieser Emotionsqualitäten differenzierter werden könnte. Auf diesen problematischen Punkt wird in Kapitel 5 genauer eingegangen. Doch in der Tat sind kognitive und emotionale Prozesse, wie auch schon aus der These 4 hervorgeht, voneinander durchdrungen (vgl. Mair 1992: 63, 80). Einige Grundannahmen von Schwarz-Friesel (2008: 287) präzisieren diesen Gedanken weiter: • „Gefühle sind kognitiv vermittelt.“ Das heißt: „Im Aktivierungs- und Kodierungszustand sind Gefühle stets sprachlich kategorisierte Konzeptrepräsentationen.“ • „Denken besteht zu einem großen Teil aus emotional determinierten Bewertungen.“ Das heißt: Es gibt kein unemotionales Denken. 36 Vgl. Fiehler (1990b: 167f.) für den grundlegenden Gedanken. <?page no="111"?> 3.3 - Wirkungen -und -Wechselwirkungen: -Sechs -Thesen - 101 • Ein Gedanke ist eine „kognitive, bewusst erfahrbare Informationsrepräsentation, also ein mentaler Bewusstseinsinhalt, der mittels sprachlicher Symbolstrukturen kodiert wird“ (Schwarz-Friesel 2008: 292). Gedanken sind intentional, wenn auch nicht immer kontrollierbar, informativ (in Komponenten zerlegbar), oft bewertend. Dasselbe gilt für Gefühle, mit dem Unterschied, dass sie nicht bewusst hervorrufbar und auch weniger gut kontrollierbar sind. Sie sind zwar zerlegbar, aber nur in den Dimensionen Valenz (Bewertung), Dauer und Intensität (vgl. Schwarz-Friesel 2008: 292-296). Insgesamt sieht Schwarz-Friesel (2008: 296) mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede zwischen Gefühlen und Gedanken. Die hier formulierte These spielt spezieller auf das Modell der ‚konzeptuellen Struktur der Äußerungsbedeutung‘ von Fries (1992a, 1994, 1995, 1996) an. Fries (2000: 36) unterscheidet primäre und sekundäre Gefühlsreaktionen: Primäre Gefühlsreaktionen sind wenig komplexe Reaktionen ohne „symbolischen Gehalt“. Emotionen hingegen definiert Fries (1992a: 6) nicht als psychische Prozesse, sondern als „ein spezifisches Subsystem ausdrückbarer Äußerungsbedeutungen“, genauer als eine von vier Komponenten der Äußerungsbedeutung, die kognitiv als Konzeptuelle Struktur - eine semantische Repräsentation - beschreibbar ist. Diese vier Bedeutungskomponenten sind „Emotion, Illokution, Informationsgewichtung, Repräsentationsgehalt“ (Fries 1996: 31; bei Fries, 1994: 24, wird statt Repräsentationsgehalt der Terminus Proposition verwendet). Für die emotionale Komponente nimmt Fries (1996: 23f.) folgende Dimensionen an, die sich auf den Repräsentationsgehalt beziehen: • EM ± : Positive oder negative Valenz eines ausgedrückten Affekts. • EM INT : Intensität des ausgedrückten Affekts. • PROX: ausgedrückte emotionale Nähe des Individuums zu Personen, Sachverhalten, Objekten oder Ereignissen. Jede sprachliche Äußerung kann auf diesen drei Skalen evaluiert werden (bei emotionaler Neutralität eben mit 0, hingegen z.B. Scheißuni als EM-; die Intensität ist auf einer Skala >0 zu beschreiben). Mit linguistischen Mitteln können jedoch keine absoluten Werte auf diesen Dimensionen angegeben werden, sondern nur höhere oder niedrigere Grade im Vergleich mit anderen <?page no="112"?> 3 - Sprache -und -Emotion: -Ein -Forschungsüberblick 102 Äußerungsbedeutungen (also relativ und situativ). 37 Der Repräsentationsgehalt, auf den sich die emotionalen Bedeutungen beziehen, kann auf höchst unterschiedliche Weise, unter Umständen auch gar nicht sprachlich kodiert sein (vgl. Fries 1996: 25f.). Daneš (1987) nimmt ebenfalls an, dass jede Äußerung und jede Diskurseinheit einen emotionalen Wert hat, selbst vermeintliche sprachliche Neutralität, die umso emotionaler sein kann (vgl. auch Jahr 2000: 73; Schmidt 2005b: 22). Sandhöfer-Sixel (1990: 274) begründet die prinzipielle Unmöglichkeit einer emotional neutralen Äußerung damit, dass ohne den Bewertungstyp INTEREST (also ohne grundsätzliche Bewertung einer Proposition als ‚von Interesse‘) keine sprachliche Äußerung zustande kommt. These -6: -Emotionen -affizieren -Kommunikation, -und -zwar -sowohl -aufseiten der -Sprecher/ --‐innen -als -auch -aufseiten -der -Hörer/ --‐innen Die „dialektische Beziehung zwischen der Sprache als sozialer Institution einerseits und als individueller Rede andererseits“ tritt laut Drescher (2003b: 19) in den Fragestellungen und Forschungen der Emotionslinguistik besonders stark hervor. Sprache ist eine soziale Angelegenheit - umso mehr emotive Sprache, die der Kommunikation von emotionalen Zuständen dient (vgl. Dressler/ Barbaresi 1994: 32). Eine grundlegende Arbeit zu diesem sozialen Zusammenhang zwischen Sprache und Emotion stammt von Fiehler (1990b). Sie bildet den Ausgangspunkt für die folgenden Bemerkungen. Wie aus der Formulierung der These hervorgeht, motivieren Emotionen zu bestimmten Äußerungen, aber auch sprachliches Verhalten kann Emotionen auslösen (vgl. Fiehler 1990b: 163). Eine derartige wechselseitige Beziehung besteht auch beim Modifizieren von kommunikativem Verhalten bzw. von Emotionen (vgl. Fiehler 1990b: 167). Dieser Zusammenhang lässt sich beispielsweise in der Psychotherapie zeigen. Der Kommunikationsprozess ist in Fiehlers (1990b: 38) Definition „eine unauflösliche Einheit eines Informations- und Bewertungsaspektes“ 38 mit situativ unterschiedlichen Dominanzverhältnissen. Ohne ein Mindestmaß an sprachlich erzeugter Gemeinschaft kann jedoch auch keine Information übertragen werden (vgl. Fiehler 1990b: 38f.). In den Vordergrund tritt die Sichtweise, dass Emotionen keine privaten, individuellen Phänomene, sondern ein 37 Vgl. Fries (1996: 24f.). In früheren Arbeiten gibt Fries nur zwei Dimensionen an, und zwar Lust-Unlust und Intensität, vgl. z.B. Fries (1994: 16f.). In späteren Arbeiten - z.B. Fries (2007) - sind es die Dimensionen Lust-Unlust, Erwartung und Intensität. 38 Die bekannte Unterscheidung zwischen Inhaltsaspekt und Beziehungsaspekt von Watzlawick, Beavin und Jackson (1974: 56) kommt in diesem Zusammenhang auch in den Sinn, wird in der vorliegenden Arbeit aber nicht weiter berücksichtigt. <?page no="113"?> 3.4 - Zusammenfassung - 103 wesentlicher Aspekt der interpersonellen Kommunikation sind. Ähnlich Schwarz-Friesel (2007: 236): „Mit der Versprachlichung von Gefühlen geht ein Prozess der Objektivierung einher, ein Transfer von innen nach außen, vom individuellen zum sozialen Phänomen, vom einmaligen zum intersubjektiven Zustand.“ Der soziale Aspekt wird gemeinsam mit historischen, kulturellen und gruppenspezifischen Zusammenhängen in Kapitel 5 vertieft. 3.4 - Zusammenfassung Als Zusammenfassung dieses Kapitels können einerseits die Forschungsfragen in Abschnitt 3.2.1 dienen, andererseits die Thesen unter 3.3. An dieser Stelle möchte ich auf das Eingangszitat von Franz Kafka zurückkommen und hervorheben, dass diese Aussage von alltagspsychologischen Auffassungen des Zusammenhangs zwischen Sprache und Emotionen sowie von älteren (teilweise auch neueren) wissenschaftlichen Konzeptionen stark abweicht. Kafka wertet hier weder Gefühle noch Sprache ab. Beides ist für ihn sinnvoll, leistungsfähig und unauflöslich miteinander verbunden. Dieses Zitat kann jedoch nicht als Verteidigung des direkten Zusammenhangs von Sprache und Emotion ins Treffen geführt werden, ohne dass ich sofort auf eine Passage in einem anderen Brief an Felice Bauer hinweisen muss, den Kafka nur wenige Wochen später schrieb: „Als ich im vollen Schreiben und Leben war, schrieb ich Dir einmal, daß jedes wahre Gefühl die zugehörigen Worte nicht sucht, sondern mit ihnen zusammenstößt oder gar von ihnen getrieben wird. Vielleicht ist es so doch nicht ganz wahr.“ 39 In der Folge stellt Kafka sowohl die Legitimität seiner zwiespältigen Gefühle als auch die Macht des Wortes (speziell des Schreibens) infrage. Ähnliche Zwiespältigkeit - Sowohl-als-auch, Weder-noch, Entweder-oder - begegnet uns vielerorts in der Linguistik im Allgemeinen und in der Emotionslinguistik im Besonderen. Daraus erklären sich auch die teilweise widersprüchlichen Aussagen in diesem Kapitel, die durch ihre Kontextualisierung jedoch deutlicher geworden sein sollten. 39 Kafka an Felice Bauer, Prag, 17./ 18.03.1913. Kafka (1999b: 138, Normverstöße i.O.). <?page no="115"?> 4 - Emotion, -Kognition -und -Sprache „Es ist in den letzten Tagen in mir gewiß etwas nicht in Ordnung, immer drängen sich in meine Briefe Sätze hinein, die ich nicht haben will, die wie von außen kommen und doch wohl ihre Quelle in einem verdorbenen Innern haben müssen.“ 40 4.0 - Ziele dieses Kapitels Aus emotionspsychologischer und neurowissenschaftlicher Sicht hängen kognitive und emotionale Prozesse in vielfältiger Weise miteinander zusammen, sind aber dennoch als getrennte Systeme zu konzipieren. Aus alltagspsychologischer, soziologischer und linguistischer Sicht sind Emotionen kulturell geprägte, sozial bzw. diskursiv verankerte abstrakte Repräsentationen. Diese Trennungen können heuristisch sinnvoll sein, aber letzten Endes wäre eine all diese Aspekte (Gefühle, kognitive Prozesse, soziokulturelle Kontexte) integrierende Sicht auf Emotionen zu bevorzugen (vgl. White 2004: 30ff., 42f.). Obwohl der Zusammenhang zwischen Sprache und Emotion Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit großen methodischen Problemen konfrontiert, wird er immer öfter thematisiert und empirisch untersucht (vgl. Schwarz, 2008: 128f., die von einer ‚emotionalen Wende‘ spricht). Der Einfluss von Emotionen auf sprachliche Prozesse und umgekehrt die Veränderung von Emotionen durch Sprache ist Gegenstand des ersten Abschnitts. Da es sich für die vorliegende Arbeit um ein Randthema handelt, ist die Darstellung sehr basal gehalten. Im Anschluss geht es um Konzepte, Kategorien, Schemata, Metaphern, Szenen, Scripts und Narrative als kognitive Beschreibungsgrößen, die Emotionserfahrungen repräsentieren können. 4.1 - Kognitive Prozesse, Sprache und Emotionen Die grundsätzliche Tatsache, dass Kognition und Emotion miteinander interagieren, wurde bereits in Kapitel 2 und 3 angesprochen. Dass Emotionen in kognitiven Modellen aufgrund einer starken Rationalisierungstendenz vernachlässigt werden, wie Jahr (2000: 55ff.) moniert, kann für neuere Arbeiten nicht mehr behauptet werden. Mittlerweile wird in praktisch allen Modellen angenommen: Emotionen beeinflussen sowohl die Textproduktion als auch die Textrezeption, je nach Emotion und Situation in förderlicher oder in hin- 40 Franz Kafka an Felice Bauer, Prag, 18. Februar 1913 (Kafka 1999b: 98). <?page no="116"?> 4 - Emotion, -Kognition -und -Sprache 106 derlicher Weise (vgl. Schwarz 2008: 129). Während diffuse Stimmungen bzw. der permanente Erlebensstrom das Individuum ständig affizieren (vgl. Hielscher 1996: 49), wirken sich Emotionen der Schreibenden auf die Formulierung des Textes aus, aufseiten der Lesenden wird das „Emotionalisierungspotenzial“ (Schwarz-Friesel 2007: 6) des Textes aktualisiert. Umgekehrt hat aber auch das Schreiben Auswirkungen auf das emotionale Erleben. Wolff (2004: 97) fasst die kognitiven Effekte von Emotionen auf die Sprachverarbeitung folgendermaßen zusammen: • Der emotionale Zustand wirkt sich auf das Verstehen von mündlichen und schriftlichen Äußerungen aus - nur stimmungskongruente Informationen werden korrekt und schnell verarbeitet. • Emotionen und Emotionserfahrungen beeinflussen, welches Wissen in die Verstehensprozesse einbezogen wird bzw. einbezogen werden kann und ob die Verstehensprozesse erfolgreich abgeschlossen werden. • Dasselbe gilt für den Textproduktionsprozess: Die Wissensbasis, die Auswahl und der Ablauf werden durch Emotionen mitbestimmt. Betrachtet man den Einfluss von Emotionen auf kognitive Prozesse, sind die Wechselwirkungen in Bezug auf Wahrnehmung, Gedächtnisleistungen sowie Selbst- und Umweltbeurteilungen von besonderem Interesse und intensiv untersucht worden. Die resultierenden Forschungsergebnisse können hier nicht dargestellt werden (vgl. Klauer/ von Hecker 2009 für einen Überblick zum Erinnern). Als Fazit formuliert Schwarz-Friesel (2008: 291) pointiert: „Emotion ist prä- und post-kognitiv“ und „Kognition ist prä- und postemotional“. In der Folge wird nur auf sprachbezogene Aspekte eingegangen. 4.1.1 - Sprachrezeption: -Verarbeitung -und -Emotionalisierung Obwohl eine Textanalyse, wie sie im empirischen Teil der Arbeit erfolgt, eine Form von Interpretation und Rekonstruktion ist, die nicht nur bottom up auf Daten beruht, sondern top down von den vorhandenen Schemata, Einstellungen und Wissensstrukturen abhängig ist, wird der Aspekt der Sprachrezeption hier nur gestreift. In der Folge werden der Stimmungskongruenzeffekt und exemplarische Ergebnisse der Textwirkungsforschung dargestellt. Effekte -emotionaler -und -stimmungskongruenter -Texte Der sogenannte Stimmungskongruenzeffekt wurde erstmals von Bower beschrieben und bezieht sich einerseits auf das stimmungsabhängige Abspeichern, andererseits auf das selektive Abrufen von Gedächtnismaterial. Es gibt <?page no="117"?> 4.1 - Kognitive -Prozesse, -Sprache -und -Emotionen - 107 einige Varianten (vgl. Schmidt-Atzert 1996: 179-183, 197-205; Parrott/ Spackman 2004: 478ff.; Hielscher 1996: Kap. 2): • Was in einer bestimmten emotionalen Situation abgespeichert wurde, lässt sich in einer ähnlichen emotionalen Situation leichter abrufen. • Das Einprägen emotionaler Inhalte fällt leichter, wenn die emotionale Aufladung der aktuellen Stimmung entspricht. • Positives und negatives Gedächtnismaterial wird in kongruenter Stimmung besser erinnert (stimmungsabhängiges Abrufen/ Verarbeiten). Das heißt: In negativer Stimmung werden negative Inhalte eher wahrgenommen bzw. erinnert. Doch in positiver Stimmung wird eher Material erinnert, das in einem emotional positiven Zustand aufgenommen wurde. Diese Ergebnisse lassen sich jedoch nicht verallgemeinern, sondern sind auch abhängig von Kontextfaktoren, von aktiven (Re-)Konstruktionsprozessen sowie von der Intensität des emotionalen Erlebens (vgl. Schürer-Necker 1994: 25ff., Parrott/ Spackman 2004: 487f.). Auf der Wortebene hat sich erwiesen, dass emotional positive Wörter (z.B. Sonnenschein) am schnellsten erkannt werden, danach folgen neutrale Wörter (z.B. Tisch). Am langsamsten erfolgt das Erkennen von emotional negativen Wörtern (z.B. Tod) (vgl. Fomina 1999: 9). In einer neueren Reihe von Versuchen anhand der Berlin Affective Word List im Rahmen des Clusters Languages of Emotion wurde festgestellt, dass emotionale Reaktionen auf Wörtern anhand der Pupillengröße überprüft werden können - so erweitern sich die Pupillen eher bei positiven Wörtern und verengen sich bei negativen (vgl. Schrott/ Jacobs 2011: 67ff.). Texte mit emotional aufwühlender Thematik werden gegenüber neutralen Texten schneller gelesen und sowohl besser als auch länger behalten. Bei der Reproduktion treten weniger Fehler auf (vgl. Tsiknaki 2005: 37; Hielscher 2003b: 688). Emotionale Texte werden bei gleichem Schwierigkeitsgrad als besser verständlich eingestuft. Texte mit negativer emotionaler Valenz führen zu besseren Behaltensleistungen als positiv getönte Texte (vgl. Schürer- Necker 1994: 118, 185f., 189). Diese Effekte sind jedoch auch abhängig von der Stimmungskongruenz (vgl. Hielscher 2003b: 694f.). Auf Schreibprozesse und somit auf die sprachliche Verarbeitung von Emotionen in Texten haben diese Effekte indirekte Auswirkungen. Emotionen -in -der -Textwirkungsforschung In diesem Abschnitt fasse ich kurz wichtige Ergebnisse der Textwirkungsforschung zusammen. Hinsichtlich der Rezeption besteht die Hauptaufgabe von Leserinnen und Lesern im Inferieren vor allem bei impliziten Informationen <?page no="118"?> 4 - Emotion, -Kognition -und -Sprache 108 im Text. Dies gilt auch für die Verarbeitung des Ausdrucks und der Darstellung von Emotionen. Schwarz-Friesel (2007: 41) postuliert: „Jeder Text hat somit neben seinem Referenzpotenzial nicht nur noch ein kognitives Inferenzpotenzial, sondern auch ein Emotion(alisierung)spotenzial.“ 41 Auch das Inferieren selbst wird von emotionalen Prozessen beeinflusst: Dabei werden spontan und unreflektiert Zuschreibungen von Basisemotionen vorgenommen, während komplexere Emotionen auch von kognitiv komplexeren sprachlichen und expliziteren Repräsentationen vermittelt werden müssen (vgl. auch Rickheit/ Weiss/ Eikmeyer 2010: 78). Emotionsbezogene lexikalische Informationen aus dem Gedächtnis sowie konnotative Bedeutungsanteile werden wahrscheinlich sehr schnell, automatisch und unabhängig von der Verarbeitung auf der morphosyntaktischen Ebene abgerufen, offensichtlich unter Einfluss der subkortikalen Ebene (vgl. Schwarz 2008: 130). Hielscher (2003b: 685) vermutet beispielsweise einen Unterschied in der Verarbeitung bei Derivationen (z.B. mein Frauchen) gegenüber der konnotativen Bedeutung von Stammmorphemen (z.B. mein Weib). Die Voraussetzung für Verstehensprozesse ist eine annähernde Passung oder zumindest Vereinbarkeit zwischen Schemata bei den Textproduzentinnen bzw. -produzenten und jenen bei den Textrezipientinnen bzw. -rezipienten (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 39). Das gilt auch für Emotionen, die Emotionalisierung beruht dabei auf der kognitiven Verarbeitung der dargestellten, emotionsrelevanten Sachverhalte und anderer Textmerkmale, zunächst vage als emotionale Aufladung zu beschreiben. Beispielsweise emotionalisieren emotive Lexeme und Konnotationen, rhetorische Fragen und andere emotive sprachliche Mittel. Empathie, Identifikation und eigene Erfahrungen, Erwartungen und Interessen der Textrezipientinnen und -rezipienten wirken hier mit (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 212ff.). Emotionen werden beim Lesen also durch die Verarbeitung von sprachlichen Informationen und die Aktivierung von emotionsrelevanten Konzepten hervorgerufen und verändert (vgl. Tsiknaki 2005: 38, 44). Schwarz-Friesel (2007: 211) nennt dies Textweltmodelle (TWM), gemeint ist „eine komplexe Konzeptualisierung der im Text dargestellten Sachverhalte“, u.a. auch eine Rekonstruktion der Konzeptualisierungen des Textproduzenten bzw. der Textproduzentin, die wiederum jeder sprachlichen Äußerung zugrunde liegen. Unter ‚Affektiver Stilistik‘ versteht Fish (1994: 200, Hervorhebung i.O.) die „Analyse der sich an den zeitlich aufeinanderfolgenden Wörtern entwickelnden Reaktionen des Lesers“, und zwar über eine linguistische Analyse 41 Anstatt von Emotionalisierung durch Texte vom Emotionspotenzial eines Textes zu sprechen, ist meines Erachtens eine terminologisch sinnvolle Konsequenz aus der angesprochenen Erkenntnis, dass konkrete Emotionen bei der Textrezeption nicht der Untersuchungsgegenstand der Textlinguistik sind (vgl. auch Skirl 2012: 352). <?page no="119"?> 4.1 - Kognitive -Prozesse, -Sprache -und -Emotionen - 109 textinterner und textexterner Faktoren (z.B. welche Erwartungen bestimmte syntaktische Konstruktionen oder erste Teile von häufigen Kollokationen erwecken und ob diese in der Folge enttäuscht oder erfüllt werden). Lesen wird hier als aktiver Prozess der Aneignung und Erfahrung, als Leseerlebnis konzeptualisiert. Textwirkung wird vor allem anhand von literarischen Texten untersucht. Tan (2004: 118, 120f.) unterscheidet A- und R-Emotionen, die durch kulturelle Artefakte ausgelöst werden: A-Emotionen beziehen sich unmittelbar auf das Kunstwerk, mit R-Emotionen hingegen sind empathische oder nichtempathische Reaktionen auf die dargestellten Personen, Objekte oder Ereignisse gemeint. Emotionen bei der Rezeption von Kunstwerken können aber nicht nur auf Themen beruhen, sondern auf dem Stil (im Sinne eines wahrgenommenen Musters von künstlerischen Techniken), auf dem Verstehen des Kunstwerks aufgrund von Hintergrundwissen sowie auf der emotionalen Teilnahme an der fiktiven Welt (Simulation) (vgl. Tan 2004: 123f., 126f.). Bei Habermas (2012: 73f., Hervorhebungen i.O.) sind die wesentlichen emotionalisierenden Elemente von erzählenden Texten die „Schwere der erzählten Situation“ (also wie drängend beispielsweise eine Bedrohung ist), „die Art der erzählten Situation“ (z.B. Ungerechtigkeit, Tragik), vor allem jedoch „in welchem Ausmaß subjektive Perspektiven in der Erzählung repräsentiert werden“ und wie vielfältig die sprachliche Vermittlung der Perspektiven ist (z.B. distanzierend durch einen allwissenden Erzähler oder aber stark personalisiert). Habermas (2012: 77, 81) stellte in einer Studie fest, dass eine stark an einen Protagonisten gebundene Perspektive in einer Erzählung eher Emotionalisierung aufgrund von Empathie bewirkt, während das weitgehende Fehlen von Subjektivität negative emotionale Bewertungen der erzählenden Person anstößt. Der literaturwissenschaftliche Ansatz von Hillebrandt (2011), die das ‚Wirkungspotenzial‘ von Texten beschreiben möchte, greift die linguistisch eruierten Mittel der Emotionskodierung (siehe Kap. 6) auf und differenziert sehr genau zwischen verschiedenen Bezugsgrößen und produktionsseitigen Strategien zur Auslösung von Artefakt- und Fiktionsemotionen (z.B. Desorientierung, Überraschung, Spannung) (vgl. auch Hogan 2011 für einen englischsprachigen Überblick über die Bedeutung der Literaturwissenschaft in der Emotionsforschung und Fallbeispiele). In seiner literaturwissenschaftlichen und -historischen Studie zum literarischen Lesen unterscheidet Anz (2002) verschiedene Lesemotive, die bestimmten Lesegratifikationen entsprechen und durch die Lektüre literarischer Texte befriedigt werden können. Er fasst die Bedürfnisse unter dem Begriff der Leselust zusammen und differenziert verschiedene Arten, unter anderem Lust am Spiel (z.B. sprachliche Spielen, Spiel mit Konventionen), ästhetische Lust (z.B. bestimmte Maße an Ordnung und Unordnung) und Lust am Negativen (wie <?page no="120"?> 4 - Emotion, -Kognition -und -Sprache 110 z.B. Lust am Traurigen). Die emotionalisierende Wirkung von literarischen Texten erklärt Anz (2012) damit, dass es sich bei künstlerischen Produkten um Reizkonfigurationen handelt, deren Gestalt und Rezeption von vielfältigen textinternen und textexternen Faktoren abhängig sind (z.B. Intentionen der Produzierenden, Strategien der Emotionsdarstellung, Verarbeitungskomponenten bei den Rezipierenden etc.). Tsiknaki (2005) verfolgt das Ziel, die Affektivität von literarischen Texten objektiv zu beschreiben und von den Textmerkmalen ausgehend ein Modell für die Prognose jener Emotionen zu entwerfen, die während des Lesens auftreten. Sie stützt sich dabei auf die Hypothese, dass die Emotionalität eines Textes von den verwendeten Wörtern abhängt, wobei jedes einzelne Wort ein bestimmtes emotionales Profil aufweist (ermittelbar durch das Semantische Differenzial, s. Kap. 6.3). Sie manipuliert vier relativ kurze Texte - in Richtung positiver Affektivität, neutraler Affektivität und negativer Affektivität. Versuchspersonen sollen dann ihre emotionale Befindlichkeit während des Lesens und nachher angeben und auf das Wortmaterial im Text beziehen. Hier ergeben sich geringfügige Unterschiede zwischen den Gruppen (L1/ Nicht-L1, Männer/ Frauen) in der Bewertung positiv emotionaler Texte und etwas extremere Bewertungen für beide Richtungen der Manipulation bei weiblichen Versuchspersonen (vgl. Tsiknaki 2005: 127f.). Insgesamt stimmen die Bewertungen der Versuchspersonen und die referierte Affektivität mit der Affektivität des Textes überein. Das heißt, dass beispielsweise ein Text, in dem positiv bewertete Wörter überrepräsentiert sind, auch positive Emotionen beim Lesen erzeugen dürfte. Die Beschränkung auf die Wortebene ohne Ko- und Kontext ist in diesem Ansatz jedoch problematisch, wie Tsiknaki (2005: 132) selbst einräumt und Schwarz-Friesel (2007: 130f.) kritisiert. Neuere Ansätze versuchen, Textwirkungsmodelle mithilfe neurolinguistischer experimenteller Methoden zu überprüfen (vgl. Jacobs 2014 für eine Zusammenfassung). Ein neurokognitives Modell literarischen Lesens legen Schrott und Jacobs (2011) vor. 42 Ihre Grundannahme ist, dass beim Lesen literarischer Texte Veränderungen auf vier Ebenen stattfinden: auf der neuronalen, auf der kognitiven, auf der affektiven und auf der behavioralen Ebene (vgl. Schrott/ Jacobs 2011: 495 für eine graphische Darstellung). Eine weitere zentrale Unterscheidung ist jene zwischen foregrounding und backgrounding, die auf allen vier Ebenen getroffen werden kann und der gestaltpsychologischen Figur-Grund-Unterscheidung ähnelt. Beim Lesen von Texten werden demnach Vordergrundelemente wahrgenommen, z.B. ein Reim, eine Metapher oder ein anderes Element, das sich vor dem unauffälligen, von bekannten Schemata geprägten Hintergrund abhebt (vgl. Schrott/ Ja- 42 Raoul Schrott steuerte seine Expertise als Schriftsteller bei, Arthur Jacobs ist Professor für Allgemeine und Neurokognitive Psychologie. <?page no="121"?> 4.1 - Kognitive -Prozesse, -Sprache -und -Emotionen - 111 cobs 2011: 499f.). Die kognitiv-affektive Ebene umfasst die Module implizite Verarbeitung (z.B. Aktivierung von Schemata) mit nicht-ästhetischen Gefühlen (z.B. Fiktionsemotionen) sowie die explizite Verarbeitung (z.B. Aufmerksamkeitssteigerung, Schemata-Adaption) mit ästhetischen Gefühlen (z.B. Artefaktemotionen) (vgl. Schrott/ Jacobs 2011: 504ff.). Die neuronale Basis für emotionale Reaktionen auf Hintergrundelemente sind Aktivierungen von sogenannten Kernaffektsystemen (vor allem LUST, SUCHEN, SPIELEN, vgl. Schrott/ Jacobs 2011: 507f.). 43 Vordergrundelemente sowohl auf der sprachlichen als auch auf der inhaltlichen Ebene führen hingegen zu einer Unterbrechung oder Verzögerung des automatisierten Lesens und somit zu einem anderen Verarbeitungsmodus, in dem emotionale Bewertungen stattfinden (vgl. Schrott/ Jacobs 2011: 510ff.) Weitere wichtige Aspekte des Modells sind die Lesemotivation, die bei literarischen Texten zum Gutteil emotionaler Art sein dürfte, und die Immersion in den Text. Die Emotionalisierung beruht im Wesentlichen auf der ‚ästhetischen Trajektorie‘, auf einem neuronalen ‚Aha-Erlebnis‘, das auf anfänglichem Wiedererkennen von Vertrautem, einer darauf folgenden Phase der Spannung aufgrund von einer Überraschung und schließlich einer Auflösung dieser Spannung beruht (vgl. Schrott/ Jacobs 2011: 513ff.; vgl. außerdem Jacobs 2014: 148ff. für eine Kurzdarstellung sowie für den Hinweis, dass nicht alle Voraussagen des Modells empirisch bestätigt werden konnten). Die betreffende Diskussion auf den Punkt gebracht zeigt sich, dass Texte mit emotionslinguistischen Merkmalen mit höherer Aktivierung einhergehen, was zur Folge hat, dass sie besser verstanden und erinnert werden. Lesen ist ebenso wie Schreiben ein aktiver Prozess, dessen Resultat von vielfältigen Selektionsentscheidungen abhängig ist (vgl. Büscher 1995: 77f.). 4.1.2 - Sprachproduktion: -Modelle -und -Anwendung In diesem Abschnitt werden der Platz von Emotionen in einigen psycholinguistischen Modellen des Textproduktionsprozesses und Hinweise aus der Neurolinguistik diskutiert. Ausgespart werden bekannte Modelle, in denen Emotionen keine Erwähnung finden (etwa Levelts serielles Konstrukt, vgl. Rickheit/ Weiss/ Eikmeyer 2010: 41ff.). Auch auf psychoanalytische Schreibmodelle kann hier nicht eingegangen werden, da sie von einem völlig anderen, hier nicht abbildbaren theoretischen Hintergrund ausgehen (konkret von der Unterscheidung zwischen Phänotext, der sprachlichen Oberfläche, und Genotext, der unbewussten Tiefenstruktur, vgl. Matt 1972, Lüdtke 2006ab). 43 Schrott und Jacobs (2011) rekurrieren hier auf ein Modell von Panksepp: Panksepp, J. (1998): Affective neuroscience. The foundations of human and animal emotions. New York: Oxford University Press. <?page no="122"?> 4 - Emotion, -Kognition -und -Sprache 112 Grundlegende -Gedanken In der mündlichen Sprachproduktion ist die Tatsache, dass Emotionen die Art und Qualität des Sprechens stark beeinflussen, anerkannt (z.B. Stimmqualität, grammatikalische Fehler). Was die schriftliche Textproduktion angeht, muss jedoch festgestellt werden, dass der Zusammenhang zwischen Emotionen und Schreiben nicht gut erforscht ist, was möglicherweise darauf beruht, dass Emotionen in Texten nicht direkt ausgedrückt werden können und Schreiben eher als rationale Operation dargestellt wird (vgl. Fiehler 1990b: 25; Oller/ Wiltshire 1997: 40f.). Selbstverständlich unterscheidet sich die schriftliche emotionale Kommunikation von der mündlichen hinsichtlich der Spontaneität beträchtlich. Lügen, Verschleiern, Unterdrücken von Emotionen fällt leichter. Da Gefühle bewusste Repräsentationen voraussetzen, greifen Beschreibungen von Gefühlen zwingend auf kognitive Repräsentationen zurück (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 103). Fries (2009: 29) weist darauf hin, dass gerade durch die fehlende prosodische Information beim Schreiben explizite Emotivität und Expressivität über alternative Strategien hergestellt werden muss, um emotionale Mehrdeutigkeit zu vermeiden. Emotionen beim Verfassen von Texten sind jedoch streng zu trennen von Emotionen, die in Texten zum Ausdruck kommen bzw. thematisiert werden. Ersterer Aspekt hat auf zweiteren Einfluss, allerdings in ungeklärter Weise. Alfes (1995: 100f.) betrachtet Emotionen als funktionale Elemente im Schreibprozess, die auf Diskrepanzen aufmerksam machen. Emotionen, die beim Schreiben auftreten, können sich demnach auf sehr unterschiedliche Aspekte beziehen, etwa auf die Schreiberfahrung, auf den Stil des Textes, auf die Schreibsituation, auf die Wichtigkeit des Textes für den Verfasser, auf das Schreibmotiv, auf die Adressatin bzw. auf den Adressaten (Schreiben als kommunikative Aufgabe), auf thematische (inhaltliche) Elemente des Textes und auf wahrgenommene Diskrepanzen, Inkohärenzen und andere Probleme. 44 Inwiefern können sich Emotionen überhaupt auf den Formulierungsprozess auswirken? Viele Sprachproduktionsmodelle gehen davon aus, dass die ‚innere Sprache‘ eines Menschen im Verschriftlichungsprozess in eine ‚äußere Sprache‘ übersetzt wird. Es wäre jedoch naiv anzunehmen, dass simultan zum Erleben einer Emotion dieselbe in eine sprachliche Form gegossen wird. Textrevisionen und Metakognitionen sind ein wesentlicher Teil des Textproduktions-, vor allem des Formulierungsprozesses und nicht nur ein Randphänomen, obwohl sie hauptsächlich die Oberflächenstruktur eines Textes 44 Alfes bezieht sich auf ein älteres Schreibprozessmodell: Murray, D. (1978): Internal revision: A process of discovery. In: C. Cooper/ L. Odell (eds.): Research on composing: Points of departure. Urbana, S. 85-103. <?page no="123"?> 4.1 - Kognitive -Prozesse, -Sprache -und -Emotionen - 113 betreffen. Allerdings sind auch hier Emotionen von Bedeutung, beispielsweise beim Erkennen von unlogischen Passagen (Stichwort Textkohärenz) sowie bei der Evaluation des Textes (vgl. Keseling 1993). Das bedeutet, dass Texte keine Wiedergaben des Bewusstseinsstroms sind. Schreiben kann in einem Zug erfolgen, ist meistens aber ein immer wieder stockender Prozess. Es gibt keine eindeutigen Korrelationen zwischen Teilprozessen des Schreibens und Pausen; Phasen und Teilprozesse laufen nicht linear ab. Schreiben kann wie von Molitor (1984: 9) als „ein Abwechseln zwischen Routinen und Problemlöseprozessen“ definiert werden. Seine Funktionen sind mannigfaltig: Es werden nicht nur Informationen vermittelt, sondern auch Einstellungen. Zudem übernimmt Schreiben organisierende Aufgaben, sodass es mit dem Denken gleichgesetzt werden kann (epistemisch-heuristische Funktion - Lösung inhaltlicher Probleme). Darüber hinaus kann das Schreiben aber auch dazu dienen, die eigenen Emotionen zu prozessieren. (Vgl. Molitor 1984: 5, 10; Ortner 2000.) Emotionen -in -verschiedenen -Schreibprozessmodellen Im Folgenden werden einige einflussreiche Schreibprozessmodelle in Hinblick auf ihre emotionalen Implikationen dargestellt. Der einflussreiche Ansatz von Bower (1981) beruht auf einer Reihe von Effekten, die bei verschiedenen Gedächtnistests in positiver oder negativer Stimmung aufgetreten sind, darunter verschiedene Stimmungskongruenzeffekte. Allgemein hat die aktuelle Stimmung starken Einfluss auf freie Assoziationen, Fantasien, schnelle Entscheidungen (snap judgements), Inferenzen, Selbstwahrnehmung usw. Um diese Effekte der Stimmungsabhängigkeit von Gedächtnisprozessen zu erklären, entwirft Bower ein assoziatives Netzwerkmodell (vgl. Bower/ Cohen 1982: 296ff. sowie Bower 1983: 389 für eine Kurzzusammenfassung). Emotionen sind hier Knoten in einem semantischen Netzwerk von Repräsentationen, die untereinander aktivierende oder hemmende Verbindungen haben. Außerdem verfügen sie über Input- Verbindungen, die Informationen über die Verarbeitung aktueller Situationen und die Bewertung, ob eine Emotion folgen soll, beschäftigt sind, und Output-Verbindungen (z.B. zum Gesichtsausdruck und zu emotionsbezogenen Gedächtnisinhalten) (vgl. Bower 1981: 134f.). Diesem Netzwerkmodell zufolge können in Informationsknoten gespeicherte Emotionen beim bzw. durch das Schreiben schnell und oft in gleicher Intensität reaktiviert werden (vgl. Jahr 2000: 14; Hielscher 1996: 12). Daraus folgt nicht, dass beim Sprechen oder Schreiben über ein Ereignis die mit ihm verknüpften Emotionen auch zwingend wieder auftreten; dies geschieht nur unter bestimmten Voraussetzungen, nämlich wenn Faktoren wie Relevanz und zeitliche Nähe des Ereignisses erfüllt sind (vgl. Bower 1981: 136). Es gibt <?page no="124"?> 4 - Emotion, -Kognition -und -Sprache 114 jedoch auch Einflüsse in die andere Richtung: Emotionen können bestimmte Repräsentationen aktivieren (vgl. Hielscher 2003a: 472). Als Beispiel kann die Freude, die ein Kuss einer geliebten Person auslöst, genannt werden: Der Kuss, all seine situativen Merkmale, die dabei ablaufenden Bewertungsprozesse und die Emotion Freude stellen miteinander verknüpfte Knoten im Gedächtnis dar. Bei Aktivierung eines Knotens werden auch die Verknüpfungen wiederbelebt (vgl. Bower/ Cohen 1982: 298f.). Hielscher (2003a: 472f. und 1996: 49) kritisiert an dem Modell unter anderem, dass es keinen Erklärungsspielraum für ‚kalte‘ Emotionen lässt, also für kognitive Repräsentationen emotionaler Aspekte ohne gleichzeitiges emotionales Erleben, dass die empirische Absicherung postulierter stimmungsabhängiger Effekte nicht gelungen ist und dass Unterschiede zwischen den einzelnen Emotionsqualitäten nicht berücksichtigt werden. Hayes und Flower (1980) 45 entwickelten das wahrscheinlich bekannteste und am häufigsten zitierte kognitive Modell des Schreibprozesses. Die Grundlage ist die Auffassung, dass Schreiben ein Problemlösungsprozess ist, der Planen, Übersetzen und Überprüfen umfasst (vgl. Rickheit/ Weiss/ Eikmeyer 2010: 58f.; Keseling 1993: 7f.; Kellogg 2003: 533ff.). Erst das modifizierte Modell von Hayes (1996) berücksichtigt emotionale Aspekte. Der Schreibprozess, der aus den Teilaktivitäten Schreibplanung, Aufschreiben und Kontrollieren besteht, ist eingebettet in ein Aufgabenumfeld (die soziale und physische Umwelt). Zudem ist er abhängig von der Motivation bzw. dem aktuellen Affekt und dem Gedächtnis. Schreibende berücksichtigen also die Bedürfnisse und Erwartungen der Rezipientinnen und Rezipienten und stehen unter dem Einfluss von Textsortennormen sowie anderen Konventionen (z.B. von Berufsgruppen oder wissenschaftlichen Disziplinen, vgl. Hayes 1996: 5f.; Kellogg 2003: 541f.). Nach Suslow (1993: 297f.), der an die Mannheimer Regulationstheorie der Sprachproduktion von Herrmann und Grabowski (1994, vgl. auch Grabowski 2003) anknüpft und es unter emotionspsychologischer Perspektive weiterführt, ist der Einfluss von Emotionen auf das Schreiben im Umgebungsrepräsentations- und Operatorenauswahlsystem (UOS) zu lokalisieren, das dem Konzept des Arbeits- oder Kurzzeitgedächtnisses ähnelt. Alle Wissensbestände, die mit einer gleichartigen emotionalen Qualität verknüpft sind, werden gemeinsam repräsentiert. Es besteht nur eine indirekte, über andere Mechanismen vermittelte Einflussnahme der Emotionen auf die Linearisierung des Enkodier-Inputs und des grammatischen Enkodiermechanismus’, und zwar über moderierende Gedächtnisprozesse (vgl. Suslow 1995: 31ff., Jahr 2000: 45 Hayes, John R./ Flower, Linda S. (1980): Identifying the organization of writing processes. In: Gregg, L. W. & Steinberg, E. R. (Hg.): Cognitive Processes in Writing. Hillsdale: Erlbaum, S. 3-30; zit. n. Brand (1989). <?page no="125"?> 4.1 - Kognitive -Prozesse, -Sprache -und -Emotionen - 115 59). Praktische Konsequenz ist, dass Textproduzentinnen und -produzenten, die in einem bestimmten emotionalen Zustand sind, dadurch andere Tendenzen bei der Aktivierung von emotionalen Knoten im Kurzzeitgedächtnis haben und in Texten häufiger die entsprechenden emotionalen Inhalte thematisieren (vgl. Suslow 1995: 35 für eine Abbildung). Das explizit emotional ausgerichtete Modell von Brand (1989) räumt den Emotionen einen wichtigen Platz in der Sprachproduktion ein und untersucht in einer Reihe von empirischen Studien den Einfluss von Emotionen auf die schriftliche Sprachproduktion. Als Ausgangspunkt nennt sie die Erkenntnis, dass Schreiben ein komplexer kognitiver Prozess ist, der jedoch durch das Motiv ausgelöst wird, jemandem etwas mitteilen zu wollen. Dieses Motiv ist deutlich emotional besetzt (vgl. Brand 1989: ix, ferner Molitor 1984: 5). Die den Schreibprozess begleitenden Emotionen beziehen sich auf den Zweck des Schreibens (z.B. beruflicher Erfolg), auf das Schreiben selbst oder auf die sozialen Umstände (z.B. Zwang in schulischen Kontexten, vgl. Brand 1989: 17f.). Das Modell von Hayes und Flower modifizierend, geht Brand (1989: 28ff.) von der Existenz eines affektiven Langzeitgedächtnisses aus, das unter anderem bisherige Erfahrungen mit dem Schreiben enthält. Emotionen nehmen sowohl fördernden als auch hemmenden Einfluss auf die kognitiven Auswahlprozesse, die beim Schreiben ablaufen (vgl. Brand 1989: 60). Emotionen beeinflussen also Formulierungs- und Revisionsprozesse (vgl. Brand 1989: 210, 212). Brands (1989: 199ff., 203ff.) Fragebogenstudie mit unterschiedlichen Gruppen (z.B. Studierende) ergab, dass Emotionen während des Textproduktionsprozesses im Fluss sind und sich über mehrere Schreibeinheiten hinweg signifikant verändern. Während sich positive Emotionen (z.B. Zufriedenheit) während des Schreibens intensivieren, werden negative passive Emotionen (z.B. Einsamkeit) schwächer und seltener. Negative aktive Emotionen (z.B. Wut) bleiben in etwa gleich. Die Veränderungen während des Schreibprozesses sind jedoch stark abhängig vom verbalen Selbstkonzept, also davon, ob sich die Versuchspersonen als kompetente Textproduzentinnen und -produzenten wahrnehmen, unabhängig von der tatsächlichen Leistung. Großen Einfluss haben auch die Schreibumgebung und die Schreibaufgabe. Wichtiger noch als die Emotionalität ist jedoch das Sich-Einlassen (engaging), das mit der Schwierigkeit der Aufgabe, also mit der kognitiven Herausforderung zusammenhängt. An dieser Stelle sei kurz das Orchester-Modell der Textproduktion von Baer et al. (1995) erwähnt, weil es eine sehr umfassende Sicht auf die Textproduktion bietet und die Befindlichkeit als eine Hauptkomponente positioniert (neben Exekutive, Aufgabenanalyse, Konstruktion der semantischen Tiefenstruktur, sprachlicher Kodierung der Oberflächenstruktur, externaler Repräsentation von Produkten, Prüfkomponente, Sachklärung, internaler <?page no="126"?> 4 - Emotion, -Kognition -und -Sprache 116 Repräsentation). Gemeinsam mit der Motivation spielen Emotionen daher laut Baer et al. (1995: 191) eine wichtige Rolle: „Der Befindlichkeitszustand wird laufend an die ‚Exekutive‘ übermittelt. Weicht dieser von einem bestimmten ‚Normalzustand‘ ab, entscheidet die ‚Exekutive‘, etwas vorzukehren.“ Das kann beispielsweise eine Pause sein. Geübte und erfolgreiche Textverfasserinnen und -verfasser unterscheiden sich von den weniger erfolgreichen in emotionaler Hinsicht dadurch, dass sie ihrer emotionalen und motivationalen Befindlichkeit weniger Aufmerksamkeit schenken und ihr weniger Bedeutung beimessen (vgl. Baer et al. 1995: 199). In Reaktion auf das Modell von Bower und auf der Grundlage der Ansätze von Levelt, Suslow sowie Hermann und Grabowski entwirft Hielscher ein modulares Modell des Sprachproduktionsprozesses, das Emotionen einen wichtigen Platz zuweist. Eine weitere wichtige Vorarbeit ist Barnards und Teasdales Modell der interagierenden kognitiven Subsysteme (ICS). 46 Laut Teasdale und Barnard können aktuelle Emotionen die Wortwahl, den konzeptuellen Inhalt, die Proposition, prosodische und stimmliche Aspekte beeinflussen, bei der Satzstruktur sind die Einflüsse unklar (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 127). Hielschers (2003a: 476ff.) Reformulierung dieses Modells beruht auf der Annahme, dass es drei Formen der Gedächtnisrepräsentation gibt, die am emotionalen Erleben und Bewerten beteiligt sind: ein propositionales Bedeutungssystem (semantisch, explizit), ein implikationales Bedeutungssystem (episodisch, explizit) und ein affekt-regulatorisches Bedeutungssystem (ungenau, archaisch wertend, implizit). Diese Gedächtnissysteme beeinflussen die konzeptuelle Verarbeitung (inhaltliche Planung mit Fokussierung, Selektion, Linearisierung und Perspektivenwahl), die Formulierung (Lemmaauswahl und grammatikalische, morphologische, phonologische, prosodische, phonetische Enkodierung) und die Artikulation (z.B. Geschwindigkeit und Lautstärke). Das Ergebnis der konzeptuellen Verarbeitung ist eine präverbale (propositionale) Botschaft, die auch pragmatische Aspekte und die Bewertung sowie die emotionale Einstellung zum Berichteten und zur Kommunikationssituation beinhaltet. Die präverbale Botschaft stößt auf der Ebene der Formulierung die Enkodierprozesse an. Während Battacchi, Suslow und Renna (1997) einen Einfluss auf die grammatischen Enkodierprozesse ablehnen, hält Hielscher dies nicht für ausgeschlossen. Bei der Lemmaauswahl kommen kontextuelle, varietätenlinguistische und individuelle Faktoren ins Spiel. Hielscher (2003a: 482f.) bemerkt, dass vermutlich aus kulturellen Gründen explizite Emotionsthematisierungen (mit Emotionslexemen) im Deutschen nicht 46 Teasdale, J.D./ Barnard, P.J. (1993): Affect, cognition and change: Remodelling depressive thought. Hove: Erlbaum; zit. n. Hielscher (2003a). <?page no="127"?> 4.1 - Kognitive -Prozesse, -Sprache -und -Emotionen - 117 sehr häufig vorkommen, sondern dass eher implizite Formen wie Situationsbeschreibungen und indirekte Bewertungen (z.B. mit leider) gewählt werden. Was die morpho-phonologische Enkodierung angeht, gibt es wahrscheinlich keinen Einfluss - die affektive Wirkung passiert bereits auf der lexikalischen Ebene, auf der auch schon einige morphologische Entscheidungen wie z.B. Komparativ oder Präfigierung mitfallen. Dafür ist die Wirkung auf der prosodischen und artikulatorischen Ebene umso stärker (vgl. Hielscher 2003a: 484f.). Inwiefern dieses Modell auf das Schreiben übertragbar ist, müsste überprüft werden. Mittlerweile wird eher von einem modularen Aufbau der Sprachverarbeitung ausgegangen: Pragmatische, semantische, syntaktische, phonologische/ artikulatorische Prozesse arbeiten weder rein autonom noch interaktiv, sondern integriert (vgl. Rickheit/ Strohner 2003: 277-281). Neuere Ansätze in der Kognitionswissenschaft enthalten auch andere Interpretationen des Anteils der Emotionen. Zu einem wichtigen Paradigma werden gegenwärtig Embodied-Cognition-Ansätze, wonach die multimodale physische, kognitive und soziale ‚verkörperte‘ (embodied) Wahrnehmung für unsere Konzepte und ihre Verarbeitung grundlegend ist. Sprachverstehen und auch Sprachproduktion beruhen in diesem Modell auf der ‚mentalen Simulation‘ von propositionalen Inhalten (vgl. Rickheit/ Weiss/ Eikmeyer 2010: 65ff.). Das bedeutet vereinfacht gesagt, dass Sprache zutiefst körperlich verankert ist und die Aktivierung von linguistischen Konzepten auch körperliche Aktivierungen bewirken kann (vgl. Foolen 2012: 360ff.). Dazu gehören z.B. emotionale Simulationen, wie sie sich etwa in Experimenten zur Kongruenz von Mimik und Sprachverstehen zeigen: Wenn bei Versuchspersonen durch Halten eines Stiftes mit dem Mund ein Lächeln simuliert wurde, waren sie schneller im Verstehen angenehmer Sätze (vgl. Foolen 2012: 361; Schrott/ Jacobs 2011: 128f.). Diese und andere Befunde sprechen für die Multimodalität emotionaler Verarbeitung (vgl. Rickheit/ Weiss/ Eikmeyer 2010: 114f.). Neurolinguistische -Hinweise Die Neurolinguistik ist jener Teil der Linguistik, der sich mit den neurophysiologischen Grundlagen der Sprache beschäftigt, also mit der Organisation von Sprache im Gehirn (vgl. Obler/ Gjerlow 1999: 1). Neuere Ergebnisse aus dieser Forschungsrichtung geben auch interessante Einblicke in den Zusammenhang zwischen Schreiben und Emotion. Es ist empirisch gesichert, dass Emotionen und Sprache unterschiedliche Muster neuronaler Aktivität aufweisen. Eine Trennung der rechten und linken Gehirnhälfte teilt der rechten Emotionen, räumliche Informationen und paralinguistische Aspekte zu, der linken hingegen sprachsystematische Aspekte (Syntax, Logik). Die linke Gehirnhälfte ist demnach besser ausgestattet <?page no="128"?> 4 - Emotion, -Kognition und -Sprache 118 für analytisches Denken, die rechte für ganzheitliches Denken (vgl. Glezerman/ Balkoski 1999: 47; Herrmann/ Fiebach 2007: 110). Dazu gehört auch, dass die linke Hemisphäre objektive Informationen über Situationen verarbeitet, während die rechte mithilfe der emotionalen Informationen für die symbolische, ganzheitliche Repräsentation und somit für eine Verknüpfung der objektiven Einzelinformationen zuständig ist (vgl. Glezerman/ Balkoski 1999: 48f.). Emotionen hingegen werden stark der rechten Hemisphäre zugeordnet - somit scheint es wenige hirnphysiologische Verbindungen zwischen Sprache und Emotion zu geben (vgl. Obler/ Gjerlow 1999: 78). Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass bei Weitem nicht alle Menschen eine derartige Lateralisierung aufweisen: Bei ca. 5% der Rechtshänder und immerhin 30% der Linkshänder ist das Sprachzentrum nicht in der linken Hemisphäre angesiedelt (vgl. Herrmann/ Fiebach 2007: 108). Sprache und Emotion werden möglicherweise im Gehirn ‚orchestriert‘ verarbeitet (vgl. Reilly/ Seibert 2003: 542). Beispielsweise zeigen sich starke Effekte in der Verarbeitung von Sätzen mit irritierendem oder überraschendem Inhalt, was auf einen emotionalen Einfluss auf Sprachverarbeitungsprozesse hindeutet (vgl. Roth 2001: 359f.). Funktional unterschiedlich ausgerichtete Teile müssen einander offenbar ergänzen (vgl. Rico 1999: 89). Einige Forschungsergebnisse zur Lokalisierung von sprachlichen Prozessen im Gehirn können wertvolle Hinweise liefern. Beispielsweise wird laut Reilly/ Seibert (2003: 542) die linke Hemisphäre für gewöhnlich mit phonologischen, morphologischen und syntaktischen Prozessen in Verbindung gebracht, und zwar sowohl bei der Sprachproduktion als auch bei der Sprachrezeption; die rechte Hemisphäre hat jedoch Bedeutung für das Verstehen und Strukturieren von Narrativen und Diskursen, für die Inferenzbildung und für uneigentliches Sprechen (Metaphern, Ironie, Sprichwörter). Außerdem ist sie bei bestimmten pragmatischen Aufgaben involviert: Bei Schädigungen entstehen unter anderem Probleme mit der Gesprächsorganisation, mit Konversationsmaximen, mit Beschreibungen emotionaler Situationen, auf der Diskursebene, mit Registerunterschieden und mit nicht-wörtlichem Sprechen (vgl. Obler/ Gjerlow 1999: 84ff., 154). Werden speziellere Studien einbezogen, die explizit dem Verhältnis zwischen Sprache und Emotion nachspüren, zeigt sich noch deutlicher, dass es komplexe Zusammenhänge gibt. Rico (1999: 21, 118) referiert Studien, denen zufolge je nach Situation zwei verschiedene Systeme für Sprache zuständig sind. Unter Stress und bei emotional aufgeladenen Wörtern sei eine Verbindung mit dem Limbischen System nachweisbar. Der Gyrus cinguli, ein Teil des Limbischen Systems, ist auch für Berger (2008: 198) ein Schlüsselareal im Gehirn, was den Zusammenhang zwischen Sprache und Emotion angeht: „Je stärker [das Gefühlsleben] ausgeprägt ist, desto höher scheint [die Sprache] <?page no="129"?> 4.1 - Kognitive -Prozesse, -Sprache -und -Emotionen - 119 entwickelt.“ Beispielsweise gehen Läsionen im Gyrus cinguli mit stark verminderter Emotionalität einher und auch mit der Tendenz, weniger zu sprechen, da kein Ausdrucksbedürfnis mehr besteht (vgl. Berger 2008: 199). Liebe, Mitgefühl, Emotionsregulation, Lügen und alle Formen von Lautäußerungen, auch die komplexeren, sind allesamt mit diesem Gehirnareal assoziiert (vgl. Berger 2008: 203-207). Die häufig herausgestrichene Bedeutung der rechten Hemisphäre bezieht sich vor allem auf lexikalische Aufgaben mit Wörtern aus dem Emotionswortschatz, hier kann sogar eine „Vorrangstellung“ (Schwarz/ Ziegler 1996: 37) der rechten Hemisphäre angenommen werden. Außerdem ist die Verarbeitung emotiver Konnotationen und Assoziationen - also Bedeutungen jenseits der denotativen Bedeutung - der rechten Hemisphäre zuzuordnen, während die denotative Bedeutung vermutlich in der linken Hemisphäre repräsentiert wird (vgl. Schwarz/ Ziegler 1996: 40f.). Das Verstehen von Emotionswörtern könnte also von der rechten Hemisphäre abhängen: So deuten einzelne Studien auf eine Vorherrschaft bei negativ-valenten Wörtern hin, während positive Wörter eher linkshemisphärisch verarbeitet werden. Auch auf der produktiven Seite scheint der positive Emotionsausdruck eher der linken, der negative eher der rechten Hemisphäre zugeordnet werden zu können (speziell dem Frontallappen) (vgl. Reilly/ Seibert 2003: 542; Schwarz/ Ziegler 1996: 41f.). Es gibt jedoch auch Studien, die all den genannten Punkten widersprechen und die Aufgabenverteilung zwischen rechter und linker Hemisphäre relativieren (vgl. Schwarz 1998: 162-166). Emotion -und -Schreiben -in -der -Praxis In diesem Abschnitt werden hauptsächlich praxisbezogene Forschungsergebnisse zum Zusammenhang zwischen Schreiben und Emotionen aufgegriffen. Dazu gehören Untersuchungen zu Schreibertypen und Schreibstrategien, schreibtherapeutische Ansätze und Hinweise auf gestörte Schreibprozesse (z.B. Schreibblockaden). Eine Klassifikation verschiedener Schreibertypen und die von ihnen verwendeten Schreiberstrategien werden von Hanspeter Ortner (2000) anhand der Selbstaussagen von Textproduzentinnen und -produzenten in Hinblick auf das Wissen schaffende Schreiben erstellt. Grundlage ist eine gestalttheoretische Vorstellung des Schreibens. Letztendliches Ziel ist der Text als gute Gestalt - gut in pragmatischer, syntaktischer und sigmatischer (auf die Welt bezogener) Hinsicht (vgl. Ortner 2000: 174ff.; Zusammenfassung: 214-223). Dies verbindet er mit einer an Piaget angelehnten Auffassung des schemagesteuerten Schreibens. Die drei Kerntermini sind Assimilation (Einpassung in ein bestehendes Schema), Akkomodation (Anpassung des Schemas) und Äquilibration (Balance zwischen Assimilation und Akkomodation) (vgl. <?page no="130"?> 4 - Emotion, -Kognition -und -Sprache 120 Ortner 2000: 65ff., 70ff.). Ich sehe bei einer Reihe von Aspekten und Merkmalen des Schreibprozesses, die von Ortner in seiner umfangreichen Arbeit beschrieben werden, emotionale Anteile: • Illokutionsabgewandtheit bzw. -vergessenheit: Ortner betrachtet insbesondere das synkretistische, das heißt verschiedene Wissensarten und Gedanken verbindende, neue Zusammenhänge herstellende Schreiben (vgl. Ortner 2000: 15ff., 24f.). Schreiben ist in diesem Zusammenhang eins mit dem Denken. • Motivation: Schreiben hat eine motivationale Basis, die sich auf die einzelnen Schritte im Schreibprozess auswirkt (Intentionsbildung, konzeptuelle Prozesse, Intentionsinitiierung, innersprachliche und motorische Prozesse, Intentionsdesaktivierung, Bewertung des Geschriebenen) (vgl. Ortner 2000: 7ff.). • Kreativität: Kreativität ist das Abrücken von bekannten Problemlöseroutinen, um komplexe, diffuse Probleme zu lösen und um das Explorationsbedürfnis sowie die Neugierde zu befriedigen. Ein Einfall ist das Finden einer Lösung, die im weiteren Schreibprozess verfolgt wird, um positive Gefühle aufrechtzuerhalten (vgl. Ortner 2000: 21ff.). Ortner (2000: 152) nennt somit Gefühle im Zusammenhang mit der Textproduktion auch explizit als wichtige Größe im Gestaltproduktionsprozess: „Gefühle sind die Basis aller intuitiven Beurteilung von Fremd- und Eigentexten und damit die Basis allen Äquilibrierens“. Gefühle gehören zum Grund, vor dem sich die Gestalten abheben. Diese Gefühle sind oft intuitiv, diffus und können nicht explizit erklärt werden, aber sie sind dennoch eindeutig in ihrer Valenz. Ihre Intensität (z.B. starke Irritation) ist dabei ein ebenso deutlicher Hinweis auf den Schweregrad von Fehlern oder auch auf geglückte Lösungen (vgl. Ortner 2000: 161ff.). Ortners (2000: Teil IV) Klassifikation von globalen Strategien, denen grob Schreibertypen zugeordnet werden können, beruht auf der Zergliederung des Schreibprozesses - je nachdem, ob in wenigen großen Schritten, in vielen kleinen Schritten oder extrem produktzerlegend geschrieben wird. Die feineren Unterteilungen können hier nicht dargestellt werden, die emotionslinguistisch relevante Konsequenz ist, dass keine einzelne Schreibstrategie per se die zufriedenstellendere ist, sondern dass die positiven oder negativen Gefühle beim Schreiben davon abhängen, ob die richtige Strategie für die aktuelle Schreibaufgabe und für die eigenen Dispositionen gefunden wird. In seinem vor allem auf das journalistische Schreiben bezogenen Ansatz geht Perrin (2007) davon aus, dass Schreibende verschiedene Strategien anwenden. Perrin (2007: 203, Hervorhebung i.O.) definiert Schreibstrategien als <?page no="131"?> 4.1 - Kognitive -Prozesse, -Sprache -und -Emotionen - 121 „die verfestigte, bewusste und damit benennbare Vorstellung davon, wie Entscheide beim Schreiben zu fällen sind, damit der Schreibprozess bzw. das Textprodukt mit höherer Wahrscheinlichkeit die zielgemäße Gestalt annimmt und die zielgemäße Funktion erfüllt“. Auf den Punkt gebracht gilt die handlungsleitende Maxime: „Ich tue X, um Y zu erreichen“ (Perrin 2001: 18). Unterschieden werden produktgerichtete Strategien (Gestaltung von Textfunktion, Textbedeutung, Textstruktur, Texttyp) und prozessgerichtete Strategien (Zielfindung, Prozessplanung, Prozesssteuerung, Prozesskontrolle (vgl. Perrin 2007: 203f., 2001: Kap. IV). Die emotionalen Implikationen betreffen zum einen die Emotionsregulation beim Schreiben - Stimmungsmanagement im Sinne des Aufrechterhaltens einer positiven oder wenigstens neutralen Stimmung, aber auch das Vermeiden von unangenehmen Konsequenzen eines Textes (z.B. juristisches Nachspiel). Zum anderen geht es auch um Versuche der Textproduzentinnen und -produzenten, auf die Emotionen der Leserschaft abzuzielen (vgl. Perrin 2007: 213f.). Schreibangst, Schreibhemmungen und Schreibblockaden sind häufige Hindernisse für einen gelingenden Text. Ein Scheitern aus emotionalen Gründen ist angesichts der Anstrengungen beim Schreiben möglich (vgl. Kellogg 2003: 552), auch bei hoher Motivation. Die häufigste den Schreibprozess begleitende Emotion ist Brand (1989) zufolge Ängstlichkeit/ Besorgnis (anxiety) in unterschiedlichen Intensitätsgraden. Eine gewisse Grundspannung wird jedoch nicht als negativ erlebt, sondern als notwendig, um die Schreibaufgaben bewältigen zu können. Echte Schreibangst betrifft vor allem Personen, die ihre Schreibkompetenz negativ einschätzen und gute Schreibkompetenz als Frage der Begabung auffassen (vgl. Hayes 1996: 11). Anzeichen für Schreibblockaden sind laut Kellogg (2003: 552) „Zögern und Zaudern, exzessive Beunruhigung, Ungeduld, Perfektionismus und Bewertungsangst“. Die Grenze zwischen zeitweisem Hinausschieben der Erfüllung der Schreibaufgabe, das sehr häufig ist, und ernsthafter Schreibblockade sind dabei fließend. Keseling (2004: 14-28) arbeitet den Forschungsstand zu Schreibblockaden auf und erstellt eine Klassifikation aufgrund eigener Studien und Erfahrungen im Rahmen eines universitären Schreiblabors für Studierende. In der Forschungsliteratur werden am häufigsten schlechte Ausbildung, kognitive Defizite (fehlende Kompetenz) oder emotionale Probleme (Hemmungen) als Ursachen von Schreibblockaden angesehen (vgl. Keseling 2004: 14f.). In Keselings Ansatz werden als Hauptgrund aber unzureichende Strategien bei der Planung und Durchführung des Textproduktionsprozesses angenommen, da es den untersuchten Studierenden nicht an der grundlegenden Kompetenz mangelt (vgl. Keseling 2004: 18f.). Er benennt und begründet eine Reihe von Störungen, etwa Frühstarter, die zu schnell mit dem Schreiben beginnen und die anfängliche Euphorie bald verlieren (vgl. Keseling 2004: 61- <?page no="132"?> 4 - Emotion, -Kognition -und -Sprache 122 69). Neben den eher kognitiven Problemen auf der Ebene der Konzeptbildung und beim Zusammenfassen und Zitieren (die jedoch emotionale Konsequenzen haben) sind es vor allem zwei psychologische Fehlattribuierungen, die beim Schreiben destruktiv wirken: die negative Selbsteinschätzung bzw. die Angst vor Kritik (zerstörerischer innerer Adressat) sowie die Annahme, dass sich ohnehin niemand für den Text interessieren wird (fehlender innerer Adressat) (vgl. Keseling 2004: 108-119, 120-131). Hinweise aus der Schreibtherapieforschung und aus Erkenntnissen zum Kreativen Schreiben verraten einiges über Emotionen im Textproduktionsprozess. Zu unterscheiden sind psychoanalytische Ansätze, automatisches Schreiben, die Poesietherapie und expressives Schreiben. Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass das Schreiben als Mittel zum Zweck für den angestrebten Spannungsabbau gesehen wird und dem Umformen von negativen Assoziationen und Narrativen in positive Vorstellungen dient (vgl. Heimes 2009: 12f.; Werder 1988: 9f., 12ff., 19-27 für einen historischen Überblick). Bekannte Formen sind die Kindheitsautobiographie, die Beschreibung von vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Gefühlen sowie die Spiegelung eigener Erfahrungen in Mythen, Märchen und Visionen (vgl. Werder 1988: 16). Andere Techniken der Schreibtherapie sind beispielsweise Stream-of- Consciousness-Writing (Bewusstseinsstrom niederschreiben) und semiautomatisches Schreiben (Schreiben in einem tranceartigen Zustand, vgl. Pennebaker 2007: 63ff., 67f.). Im Folgenden gehe ich nur exemplarisch auf den schreibtherapeutischen Ansatz von Pennebaker (z.B. 2007) ein, der ein Programm zur Bewältigung von Traumata darstellt. Langfristig beobachtet wurden positive biologische Auswirkungen, z.B. bessere Schlafgewohnheiten und Stärkung des Immunsystems, psychologische Auswirkungen, z.B. Minderung depressiver und ängstlicher Zustände, sowie Auswirkungen auf das Verhalten, z.B. bessere Arbeitseffizienz und soziale Beziehungen. Pennebaker (2007: 10-13) hat festgestellt, dass Männer und verschlossene Persönlichkeiten von dem Programm mehr profitieren als Frauen und offene Menschen. Die kulturelle Zugehörigkeit, der sozioökonomische Status und der Bildungsgrad haben keinen Einfluss auf die Wirkung. Um ein Trauma zu bearbeiten, kann schon ein viertägiges Programm mit je 20 Minuten Schreibtätigkeit helfen. Möglich sind gleichermaßen eine Verstärkung, die Stabilisierung oder auch eine Abschwächung durch die schriftliche Verarbeitung von emotionalen Inhalten und deren Reflexion. Entscheidend für den Erfolg dieser Art von Schreibtherapie ist, dass verschiedene Perspektiven eingenommen und sowohl negative als auch positive Emotionen ausgedrückt werden, letztendlich um kausale Zusammenhänge zu konstruieren und das traumatische Ereignis besser zu verstehen (vgl. Pennebaker 2007: 11ff., Kap. 2 und 3, 56f.; Jerusalem 2009: 745f.). Es zeigt sich, dass während des Schreibens besonders negative <?page no="133"?> 4.2 - Linguistische -Konzepte -von -Emotionen - 123 Emotionen abgemildert werden können, während positive Emotionen sich mitunter intensivieren. Da auch gegenteilige Beobachtungen vorliegen, sind wohl auch andere Variablen wichtig (z.B. Schreibertyp, Produktionssituation). 47 Das Schreiben kann auch als fließend und angenehm erfahren werden. In seinen populären Arbeiten zum Flow-Phänomen stellt der Psychologe Csikszentmihalyi (1999: 68) fest, dass Glücklichsein stark von der Fähigkeit zum Flow-Erleben abhängt. Er definiert Flow als „optimalen Zustand innerer Erfahrung“ (Csikszentmihalyi 1999: 19) bei gleichzeitig möglichst geringer Entropie bzw. guter Kontrollmöglichkeit und Komplexität des Bewusstseins (vgl. Csikszentmihalyi 1999: 62). Flow-Erleben tritt unter bestimmten Bedingungen ein, beispielsweise wenn eine Aktivität gerade im richtigen Maße anspruchsvoll ist, hohe Konzentration und eine gewisse Ausblendung der Selbstaufmerksamkeit erfordert, klare Rückmeldungen über den Erfolg liefert, weder zu wenige noch zu viele soziale Regeln vorgegeben werden und die Ausführung der Tätigkeit ‚autotelisch‘ ist, das heißt, auf intrinsischer Motivation beruht (vgl. Csikszentmihalyi 1999: 75-87, 91-95, 106f., 121. 124-130). Schreiben ist nun eine typische Flow-Aktivität. Tagebücher, Briefe und andere Texte dienen für Csikszentmihalyi (1999: 176f.) dazu, den entropisch erscheinenden Ereignissen um uns herum Struktur zu verleihen und sie zu analysieren. Neben dem Flow-Erleben ist auch das Fehlen von Flow oder die Blockade von Flow für das Schreiben relevant. Angst und Langeweile sind dabei die Feinde des Flows. Angst beruht darauf, dass Menschen mit Herausforderungen konfrontiert sind, die sie als nicht bewältigbar wahrnehmen bzw. für die sie sich selbst als nicht ausreichend kompetent einstufen. Langeweile hingegen ist das Resultat eines zu niedrigen Anforderungsniveaus, wobei auch hier die subjektive Wahrnehmung des Niveaus und der eigenen Kompetenz ausschlaggebend sind (vgl. Csikszentmihalyi 2008: 76). 4.2 - Linguistische Konzepte von -Emotionen In diesem Abschnitt werden einige Termini der Kognitiven Linguistik mit Emotionen verknüpft. Als übergeordnete Kategorien sind dabei Repräsentationen und Emotionskonzepte zu definieren. Im Mittelpunkt stehen Metaphern als einer der wichtigsten Forschungsgegenstände der Emotionslinguistik. Schließlich sind unterschiedliche Unterformen von Schemata wie Szenen, Einstellungen und Scripts mit ihren emotionslinguistischen Implikationen zu besprechen. 47 Vgl. Besnier, Niko (1995): Literacy, Emotion, and Authority. Reading and Writing on a Polynesian atoll. Cambridge: Cambridge University Press; zit. n. Wilce (2009: 21). <?page no="134"?> 4 - Emotion, -Kognition -und -Sprache 124 4.2.1 - Emotionale -Repräsentationen, -Kategorien -und -Konzepte Inwiefern können Sprache und Emotion miteinander zusammenhängen? Pavlenko (2005: 154f.; ähnlich Ekstrand 1994: 18f.) geht von folgendem Mechanismus aus: In der allgemeinen Entwicklung von Konzepten wird Wörtern und Phrasen zunächst denotative Bedeutung zugeordnet, und zwar durch ihre häufige Verwendung in verschiedenen Kontexten unter Eindruck von sensorischen Informationen (visuell, auditiv, olfaktorisch, taktil, kinästhetisch, viszeral). Ihre emotionalen Konnotationen und individuellen Bedeutungen erhalten die Konzepte bzw. Wörter in einem zweiten Schritt durch die emotionale Aufladung in verschiedenen Gebrauchssituationen und durch die Speicherung dieser Aufladung im Gedächtnis. Emotionale Sprache ist also an körperliche Erfahrungen gebunden. An dieser Stelle kommen Konzeptualisierungen, Repräsentationen und Schemata ins Spiel. Auf einige emotionslinguistisch relevante Termini wird in der Folge eingegangen. Repräsentationen -von -Emotionen Repräsentationen sind in der Definition von Schwarz (2008: 120) „systeminterne Zustände, die externe Zustände (der Umwelt) in einer bestimmten Art und Weise abbilden“. Repräsentationen von Emotionen oder emotionalen Komponenten sind die Voraussetzung für ihre bewusste, nicht nur sprachliche Verarbeitung (vgl. Hogan 2011: 14). Folgende Bestimmungsgrößen können Repräsentationen genauer beschreiben: Das Repräsentat ist dasjenige, was repräsentiert (z.B. ein Wort), während das Repräsentandum das ist, was repräsentiert werden soll (z.B. ein Objekt) (vgl. Herrmann et al. 1996: 120). Je nach Kontext werden nun bestimmte Repräsentanda für die Repräsentation ausgewählt (vgl. Herrmann et al. 1996: 125). Herrmann et al. (1996: 123) schlagen eine ‚bivariate Einteilung‘ von Repräsentaten vor: einerseits nach Repräsentatkategorien, andererseits nach Repräsentatmodi. Als Repräsentatkategorien unterscheiden sie Figuren (Gestalten oder Gebilde), Wörter (als visuelle oder auditive Reize) und Konzepte (begriffliche Repräsentate von Klassen von Dingen, Ereignissen und Sachverhalten). Die Repräsentationsmodi werden als imaginal, strukturellabstrakt und emotiv-bewertend bezeichnet. 48 Der emotiv-bewertende, also gefühlsmäßige Qualitäten umfassende Repräsentationsmodus ist für die vorliegende Arbeit natürlich von besonderem Interesse. Emotiv-bewertende Figuren betreffen beispielsweise die spontane 48 Eine andere Klassifikation sieht eine Unterteilung in enaktive (motorische), analoge (räumliche) und symbolische (sprachliche) Repräsentationen oder aufgrund unterschiedlicher Modalitäten (z.B. visuell, taktil) vor (vgl. Schwarz 2008: 124ff.). <?page no="135"?> 4.2 - Linguistische -Konzepte -von -Emotionen - 125 Einordnung einer Figur als schrill, nervtötend, albern, dekorativ etc. Emotivbewertende Konzepte sind z.B. Konnotationen von Konzepten wie personale Nähe. Emotiv-bewertende Wörter sind unter anderem durch Wortkonnotationen und emotive Klangqualität (z.B. wuschig) gekennzeichnet (vgl. Herrmann et al. 1996: 139f., 142). Was die Textproduktion angeht, schlägt sich der emotiv-bewertende Modus vor allem in sprachlich expliziten oder impliziten Bewertungen und Thematisierungen von Emotionen nieder, also in den verwendeten sprachlichen Mitteln (s. Kap. 6). Emotionskonzepte Konzeptualisierung ist nach Schwarz-Friesel (2007: 37) der Prozess der „Bildung von geistigen, intern gespeicherten Repräsentationen“ auf der Grundlage von Perzepten (Wahrnehmungsdaten), z.B. beim Lesen eines Textes. Sie umfassen temporale und kausale Aspekte, meist eine Sequenz (vgl. Kövecses/ Palmer 1999: 245), sind relativ flexibel, können sich also weiterentwickeln, erweitern und verändern (vgl. Hielscher 1996: 75f.; Pavlenko 2005: 81). Konzepte sind nach Schwarz (2008: 108) Ergebnisse von Konzeptualisierungen bzw. „mentale Organisationseinheiten“, die von Erfahrungen und Wissensbeständen im Langzeitgedächtnis abhängig sind. Ein Beispiel für Konzeptualisierungen von Emotionen sind die abstrakten Vorstellungen, die emotionalen Metaphern zugrunde liegen, aber auch allgemeine Repräsentationen der Ursachen, der phänomenologischen Erscheinung und sozialen Konsequenzen von Emotionen. Emotionskonzepte umfassen verschiedene Bestimmungsgrößen, z.B. physiologische Reaktionen (siehe unten). Sie liegen sprachlichen Emotionsthematisierungen und dem Emotionsausdruck zugrunde, sind im episodischen Gedächtnis verankert und somit autobiographisch, erlernt, kultur- und sprachabhängig. Verknüpft mit körperlichen Prozessen, haben sie auch Verbindungen zum prozeduralen Gedächtnis (Handlungsmuster und Darstellungsregeln, vgl. Pavlenko 2005: 81). Emotionen sind aus linguistischer Sicht hauptsächlich über den Zwischenschritt ihrer Konzeptualisierung von Interesse. Emotionskonzepte sind im Wesentlichen an das autobiographische Gedächtnis für emotionale Erfahrungen gebunden (vgl. Russell/ Lemay 2004: 495; Pavlenko 2005: 81ff.) und nicht nur aus diesem Grund sehr heterogen. Teilweise sind sie sehr generell (z.B. STIMMUNG, GEFÜHL), teilweise spezifisch (z.B. STOLZ). Manche Konzepte beziehen sich auf Objekte (z.B. ‚ANGST haben vor‘), andere nicht (z.B. ‚ÄNGSTLICH sein ohne Grund‘). Außerdem bilden sie nur zum Teil Gegensätze (z.B. FRÖHLICH - TRAURIG) (vgl. Russell/ Lemay 2004: 495). Weitere wichtige Eigenschaften von Emotionskonzepten nach Russell/ Lemay (2004: 496) sind ihre unscharfen Grenzen („fuzzy boundaries“), die verschiedenen Beschreibungsdimensionen (z.B. Valenz), die Unterteilung in teilweise kul- <?page no="136"?> 4 - Emotion, -Kognition -und -Sprache 126 turspezifische Emotionskategorien, ihre Prototypikalität, ihre hierarchische Ordnung (EMOTION - LIEBE - GESCHWISTERLIEBE) und die Tatsache, dass Emotionskategorien in eine allgemeine theory of mind (Vorstellungen über andere Personen) eingebettet sind (vgl. Russell/ Lemay 2004: 495ff.). Johnson-Laird und Oatley gehen davon aus, dass die grundlegenden, das heißt prototypischen Emotionskonzepte bzw. -wörter semantisch nicht weiter zerlegbar bzw. erklärbar sind. 49 Sie nehmen nur fünf Basisemotionen an (happiness, sadness, fear, anger, disgust), denen sich alle anderen Gefühle zuordnen lassen (vgl. Kailuweit 2005: 62f.; manchmal werden nur die ersten vier akzeptiert, vgl. Russell/ Lemay 2004: 499f.). Fischer (1991: 3f.) untersucht das Wissen über Emotionen („emotion knowledge“) in westlichen Kulturen und hält die intra- und interindividuellen Emotionskonzepte für ebenso wichtig wie wissenschaftliche Erkenntnisse aus der psychologischen oder neurobiologischen Emotionsforschung. Emotionskonzepte umfassen demnach folgende Informationen: • Vorbedingungen und Ursachen von Emotionen (vgl. Fischer 1991: 77) • positive oder negative Bewertung der Emotion (vgl. Fischer 1991: 85) • die Situation, in der eine Emotion auftritt (vgl. Fischer 1991: 11) • Attribution von Verantwortlichkeit oder Kontrollmöglichkeiten (internal und external) (vgl. Fischer 1991: 85) • Aktivität oder Passivität (begreift sich das Individuum eher als aktiv handelnd oder passiv erduldend? ) (vgl. Fischer 1991: 89) • Verlauf einer Emotion und Handlungen in Zusammenhang mit einer Emotion (Reaktionen) (vgl. Fischer 1991: 11, 77) • Auswirkungen einer Emotion (vgl. Fischer 1991: 11) • Regulationsnotwendigkeiten und -strategien (vgl. Fischer 1991: 94) • Normen und Emotionsregeln (betreffend den Ausdruck, die Situation und kulturelle Einstellungen), die jedoch nicht für alle Menschen, auch nicht innerhalb eines Kulturkreises, gleich sind (vgl. Fischer 1991: 97) Auch Kövecses (1990a: 44f., 1999: 220f.) beschreibt Emotionskonzepte sehr ausführlich und kommt zu ähnlichen Eigenschaften, die er vor allem in der Alltagssprache, insbesondere in Emotionswörtern, Metaphern, Metonymien und ähnlichen Phänomenen kodiert sieht. Das grundlegende kognitive Modell für Emotionen ist durch einen stereotypen Ablauf geprägt: Ruhe - Ursa- 49 Johnson-Laird, P.N./ Oatley, Keith: The language of emotions. An analysis of a semantic field. In: Cognition and emotion 3, S. 81-123, zit. n. Hielscher (1996: 78f.). Vgl. aber auch den neueren und hier herangezogenen Aufsatz von Johnson-Laird/ Oatley (2004), in dem ähnliche Gedanken wiederholt werden. <?page no="137"?> 4.2 - Linguistische -Konzepte -von -Emotionen - 127 che - Emotion - Kontrollversuch - Kontrollverlust - Handeln - Ruhe (vgl. Kövecses 1990a: 184f., vereinfachte Darstellung; 1999: 229, 2000a: 167 und 2000b: 58, mit kleinen Abweichungen). Kövecses entwirft zudem Szenarios von Einzelemotionen, in denen er über die Beschreibung einer eng gefassten Kernbedeutung hinaus situative Bedingungen und Merkmale der Emotion festlegt. Das Ergebnis sind kurze Texte, die eine Beschreibung der Konzepte geben und somit konkretere, der Alltagssprache nähere Vorstellungen ermöglichen (vgl. Kienpointner 2006: 191f.). Beispielsweise enthält das Emotionskonzept ROMANTISCHE LIEBE Angaben zum Objekt der Begierde (z.B. ‚Das Objekt der Liebe ist schön‘), inhärente Konzepte (z.B. Zuneigung, Begeisterung, Interesse, Vertrautheit, Sehnsucht) und Teilemotionen wie Liebe und Glücklichsein (vgl. Kövecses 1990a: Kap. 8). Ein anderer interessanter Ansatz zur Erklärung von Emotionskonzepten stammt von Inchaurralde (1997: 136f.): Er nennt Raumvorstellungen als Grundlage für Konzeptualisierungen von Emotionen. Grundgedanke ist, dass es gute und schlechte Regionen in unserer nächsten Umgebung gibt. Konzeptualisierungstendenzen sind beispielsweise, den eigenen Raum abzuschließen oder größer zu machen, in die Mitte und/ oder nach oben zu streben, die Bevorzugung der rechten Seite und die negative Einstellung gegenüber Eindringlingen. Die affektive Bedeutung von Diminutiva liegt entsprechend darin, dass die Verkleinerung das Eindringen in den persönlichen Raum ermöglicht und gleichzeitig harmlos macht (vgl. Inchaurralde 1997: 138f.). Hinsichtlich textlinguistischer Implikationen kann das Verhältnis wie folgt auf den Punkt gebracht werden: In Texten werden Emotionskonzepte kodiert, beim Lesen dekodiert. Fiehler (1990; 2010) verknüpft die Inhalte von Konzeptualisierungen mit der sprachlichen Oberfläche - dieser Ansatz wird erst im Zusammenhang mit den emotiven sprachlichen Mitteln näher besprochen (s. Kap. 6.), hängt aber eng mit den hier vorgestellten theoretischen Beschreibungen von Emotionskonzepten zusammen. 4.2.2 - Emotionsmetaphern -und -emotive -Metaphern Metaphern sind die am häufigsten untersuchten kognitionslinguistischen Kategorien und auch innerhalb der Emotionslinguistik am eindringlichsten erforscht. Aus Sicht der klassischen Rhetorik sind Metaphern sprachliche Mittel der Bewertung und des Emotionsausdrucks; Metaphernkonzepte sind die ihnen zugrunde liegenden Formen der kognitiven Repräsentation zur Veranschaulichung von schwer greifbaren Sachverhalten (vgl. Skirl/ Schwarz- Friesel 2007: 1; Gibbs 1994: 207). Es handelt sich um teilweise konventionalisierte Formen der emotiven Konnotation, in denen das alltagspsychologische Wissen über Emotionen enthalten ist. Auf diese Weise machen Metaphern Emotionen für das Individuum und für die Gesellschaft zugänglicher (vgl. <?page no="138"?> 4 - Emotion, -Kognition -und -Sprache 128 Dobrovol’skij 1995: 318). Zu unterscheiden sind Emotionsmetaphern und emotive Metaphern. Erstere kodieren Emotionskonzepte (einzelne Emotionsqualitäten wie LIEBE oder Anteile von Emotionsprozessen), Letztere sind Metaphern, die dem Emotionsausdruck oder der Emotionalisierung dienen. In diesem Abschnitt werden hauptsächlich Emotionsmetaphern besprochen. An dieser Stelle können nur die wichtigsten, speziell mit Emotionen befassten Hinweise aus der umfangreichen Metaphernforschung berücksichtigt werden, abgesehen von einer sehr kurzen allgemeinen Einführung. Theoretische -Grundlagen Ältere Definitionen und Beschreibungen gehen davon aus, dass es sich bei Metaphern um verkürzte Vergleiche (Vergleichstheorie) oder um sprachliche Abweichungen (Substitutionstheorie) handelt (vgl. Baldauf 1997: 14; Levinson 2000: 161). Entgegen den älteren rhetorisch-stilistischen Auffassungen setzte sich in den 1980er Jahren ein Verständnis von Metaphern als alltägliche, kognitionswissenschaftlich beschreibbare Phänomene durch. Dieser Traditionsstrang stützt sich auf die einflussreiche prototypensemantische Sicht, der G. Lakoff, Johnson und Kövecses zuzuordnen sind. Die Metapherntheorie von Lakoff und Johnson ist wohl die bekannteste, während Kövecses (der auch mit Lakoff zusammenarbeitete) Emotionsmetaphern am ausführlichsten beschreibt. Auf der Grundlage der Prototypen-, Gestalt- und Frametheorie entwirft Lakoff in ‚Women, Fire, and Dangerous Things‘ die Theorie der sogenannten ‚idealisierten kognitiven Modelle‘ (Idealized Cognitive Models, ICM). Darunter versteht er nach Baldauf (1997: 72) „idealisierte Modelle der Realität, als Strukturen, die eine idealisierte Repräsentation rekurrenter Erfahrungen darstellen“- eine Gestalt, die auf vier Strukturierungsprinzipien beruht: auf Frames (propositionale Struktur), räumlichen Vorstellungen (bildschematische Struktur), metaphorischen Übertragungen (mappings) und metonymischen Übertragungen (z.B. Teil-Ganzes-Beziehungen) (vgl. Lakoff 1994 [1987]: 68; Lakoff/ Johnson 2007: 49f.). In Metaphern werden ICMs besonders offensichtlich. Die Kernaussage von Lakoff und Johnson (2007: 13, Hervorhebung i.O.) lautet: „Das Wesen der Metapher besteht darin, daß wir durch sie eine Sache oder einen Vorgang in Begriffen einer anderen Sache bzw. eines anderen Vorgangs verstehen und erfahren können.“ Mithilfe von konkreten, aus der Erfahrung bekannten Sachverhalten werden abstrakte Konzepte veranschaulicht und somit besser greifbar. Diese Konzeptualisierungen sind teilweise so allgegenwärtig, dass sie nicht mehr als Metaphern wahrgenommen werden (vgl. Baldauf 1997: 15). Lakoff und Johnson (2007: 18-22) unterscheiden Strukturmetaphern, in denen abstrakte Konzepte <?page no="139"?> 4.2 - Linguistische -Konzepte -von -Emotionen - 129 durch anschauliche Konzepte erfahrbar werden (z.B. POLITIK IST KRIEG), Orientierungsmetaphern, die auf räumlichen Vorstellungen beruhen (z.B. TRAURIG SEIN IST UNTEN) und ontologische Metaphern (z.B. ABS- TRAKTA SIND PERSONEN). Metaphern betonen nicht nur bestimmte Merkmale und blenden andere aus, sondern implizieren auch Bewertungen von Objekten, Sachverhalten, Handlungen usw. (vgl. Lakoff/ Johnson 2007: 163ff., 170ff.). Die Kritik an Lakoff und Johnson sowie Kövecses bezieht sich unter anderem auf die nicht völlig plausiblen Erklärungen der Übertragungsrichtungen (aus der Erfahrung zum Abstrakten), auf vage Formulierungen und die fehlende empirische Absicherung (vgl. Wilce 2009: 70f.; Baldauf 1997: 17ff., 28, 77f.). Dennoch ist dieser Ansatz richtungsweisend für eine moderne Metaphernbeschreibung und prägend für die folgenden Ausführungen. Baldauf (1997) entwickelte die Grundgedanken von Lakoff und Johnson auf der Grundlage umfangreicher empirischer Untersuchungen weiter. Ihre Unterteilung sieht vier Metapherntypen vor: Attributsmetaphern, die direkt auf der Wahrnehmung beruhen (z.B. NEGATIV IST DUNKEL), ontologische Metaphern, die abstrakte Bereiche mit Objekten gleichsetzen, bildschematische Metaphern, bei denen gestalthafte Aspekte hervorgehoben werden (z.B. POSITIV IST HOCH, DER MENSCH IST EIN BEHÄLTER FÜR EMO- TIONEN) und Konstellationsmetaphern, die komplexe Gestalten projizieren (z.B. WISSEN IST SEHEN). Eine für meine Zwecke hilfreiche Definition von Skirl/ Schwarz-Friesel (2007: 3) legt Metaphern als „den nicht-wörtlichen Gebrauch eines sprachlichen Ausdrucks in einer bestimmten Kommunikationssituation“ fest. Die sprachliche Formel lexikalisierter Metaphern lautet: „X ist ein Y“ (Schwarz- Friesel 2007: 200, z.B. Der neue Film von XY ist eine Ladehemmung). Man spricht vom Zielbereich (Konzept 1; im Beispiel: der neue Film) und vom Ursprungsbereich (Konzept 2; im Beispiel: eine Ladehemmung). Ziel- und Ursprungsbereich stehen laut Skirl/ Schwarz-Friesel (2007: 4) „in einer spezifischen Ähnlichkeits- oder Analogiebeziehung“: Dem Zielbereich wird ein bestimmtes Attribut aus dem Ursprungsbereich zugeordnet, das in der Rezeption erst interpretiert werden muss. Zusammenfassend bei Schwarz-Friesel (2007: 200): „Metaphern sind somit [...] geistige Brücken für den menschlichen Verstand, sie zwingen den menschlichen Geist dazu, eine höhere Verbindung zwischen den involvierten Konzept-Entitäten zu konstruieren.“ Dabei können unterschiedliche Grade der Abstraktheit der verknüpften Konzepte festgestellt werden: Meist wird ein abstraktes Konzept mit einem konkreten verknüpft (z.B. Die Welt ist ein Gefängnis, in dem Einzelhaft vorzuziehen ist - Karl Kraus), aber auch zwei konkrete Konzepte können in einer Metapher miteinander in Beziehung gesetzt werden (z.B. eine Gleichsetzung von langen, dürren Fingern mit Ästen). Ebenso können verschiedene Sinneswahrnehmungen verbunden werden (Synästhesien, z.B. schreiende Farben) <?page no="140"?> 4 - Emotion, -Kognition -und -Sprache 130 (vgl. Skirl/ Schwarz-Friesel 2007: 8f.). Diese Sichtweise, dass Emotionsmetaphern vor allem eingesetzt werden, um das abstrakte innere Erleben greifbar zu machen, wird beispielsweise von Crawford (2009) 50 und Foolen (2012: 359) kritisiert: Während Crawford den Fokus auf die Funktionen metaphorischer Sprache legt und in Emotionsmetaphern einen kommunikativen Mehrwert als ausschlaggebend für ihren Gebrauch vermutet, sieht Foolen eine Verbindung zwischen dem subjektiven, körperlichen Empfinden einer Emotion und dem Bedürfnis, dieses Empfinden auch mit entsprechend körperlichen, starken Bildern auszudrücken. Nun wende ich mich der formalen und der typologischen Ebene zu. Es gibt eine Reihe von Kategorisierungen von Metaphern, die von unterschiedlichen Kriterien ausgehen. Formal sind grammatische Metaphern und lexikalisierte Metaphern zu unterscheiden. Bei grammatischen Metaphern werden Fill (2007: 33) zufolge syntaktische Rollen übertragen (z.B. der nächste Tag sah ihn am Gipfel - die Zeitbezeichnung tritt hier als Agens auf). Eine weitere Form der grammatischen Metapher ist z.B. die Wahl einer oberflächlich betrachtet falschen Satzart für eine bestimmte Illokution (z.B. Thank you for lending me your bicycle als indirekte Aufforderung). Lakoff/ Johnson (2007: 148f., 153ff.) nennen Metaphern, die direkt an die sprachliche Form gebunden sind. Es handelt sich nicht unmittelbar um grammatische Metaphern in der oben genannten Definition, aber auch um sprachsystematische Metaphern. Dazu gehört unter anderem MEHR FORM IST MEHR INHALT (z.B. Wiederholungen), NÄHE IST EINFLUSS (z.B. sind Negationen mit unstärker als Negationen mit nicht) (vgl. Lakoff/ Johnson 2007: 150-153), DIE ORI- ENTIERUNG ICH ZUERST (vorne und hinten ist gebräuchlicher als hinten und vorne, weil wir von uns selbst ausgehen) und viele Formulierungen, die auf metaphorischen Konzepten beruhen (z.B. Kollokationen wie EIN IN- STRUMENT IST EIN BEGLEITER in mit dem Messer schneiden). Lexikalisierte Metaphern lassen sich nach ihren grammatischen Merkmalen weiter klassifizieren (bei Skirl/ Schwarz-Friesel 2007 z.B. Substantivmetaphern - Kompositummetaphern, Adjektivmetaphern - prädikativ und attributiv, metaphorische Phraseologismen usw.). In der Metaphernforschung wird außerdem zwischen konventionalisierten und individuellen bzw. lexikalisierten, kreativen und innovativen Metaphern unterschieden. Lakoff/ Johnson (2007: 160ff.) nennen als Beispiel für unkonventionelle Metaphern LIEBE IST EIN GEMEINSAM GESCHAFFENES KUNSTWERK, das seinerseits einige konventionelle Teilkonzepte beinhaltet (z.B. ‚Liebe fordert Opfer‘, ‚Liebe verlangt Hingabe, Ehrlichkeit‘). Konventionalisierte Metaphern sind usuell, manchmal auch klischeehaft, in der Sprachgemeinschaft eingebürgert und 50 Crawford, L.E. (2009): Conceptual metaphors of affect. Emotion Review 1, S. 129-139, zit. n. Foolen (2012). <?page no="141"?> 4.2 - Linguistische -Konzepte -von -Emotionen - 131 werden teilweise gar nicht mehr als Metaphern empfunden (z.B. Er ist ein Schatz, Sie ist eine dumme Kuh, vgl. Schwarz-Friesel 2007: 202; Kienpointner 1999: 164). Innovative Metaphern hingegen verbinden zwei Konzepte auf völlig neue Weise (z.B. Er ist das Telefonbuch meiner Seele, vgl. Skirl/ Schwarz-Friesel 2007: 31). Im Extremfall werden sie nur von dem Individuum verstanden, das sie aus einem bestimmten Konzeptualisierungsbedürfnis heraus entworfen hat. Zwischen konventionalisierten und innovativen Metaphern bewegen sich kreative Metaphern: Laut Schwarz-Friesel (2007: 202) „basieren [sie] auf bekannten Konzeptmustern (MENSCHEN ALS KOSTBARES GUT, MEN- SCHEN ALS TIERE), für die es bereits metaphorische Manifestationen in der Sprache gibt, weisen aber neue lexikalische Mittel auf“. Sowohl konventionalisierte als auch individuelle Metaphern sind nicht losgelöst von unserem Weltwissen. Die Grundlage für die Konzeptpaarung können quantitative, qualitative und strukturelle Ähnlichkeiten sein (vgl. Fries 2000: 93). Emotionsmetaphern Schwarz-Friesel (2007: 199) äußert einen weiteren wichtigen Grundgedanken dieses Abschnitts: „Metaphern können emotionsbezeichnend und/ oder emotionsausdrückend sein.“ Metaphern wird eine überragende Bedeutung für die Einordnung, für die Interpretation und für das Verständnis von Emotionen zugesprochen (vgl. Kövecses 1999: 228). Tatsächlich werden Metaphern häufiger zur Konzeptualisierung von Emotionen als für andere Aspekte der außersprachlichen Wirklichkeit herangezogen, und dies gilt insbesondere für sehr intensive Emotionen (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 201f.; Gibbs 1994: 126). Ein großer Teil dieses von Metaphern geprägten Wissens über Emotionen beruht auf Annahmen über ihre Körperlichkeit, das heißt, „auf konkreten Funktionen und Prozessen des menschlichen Körpers [...] sowie auf seiner Interaktion mit anderen Objekten des physischen und kulturellen Raums“ (Kövecses 1999: 219). Die meisten emotionalen Metaphern lassen sich auf einige wenige Emotionskonzepte zurückführen, hier die bekanntesten: • Körperlichkeit: Negative Emotionen werden häufig als körperliche Verletzungen konzeptualisiert (z.B. etwas nagt in mir). Positive Emotionen sind mit einem unbeschadeten, leichten Körper assoziiert (Gewichtsverlust, Schweben, Fliegen, z.B. mir ist leicht ums Herz, vgl. Fiehler 2010: 25). • BEHÄLTER-Metapher: EMOTIONEN SIND FLÜSSIGKEITEN IN EI- NEM BEHÄLTER. Der Ursprung dieser Metapher liegt bereits in der Antike, die Nous-Lehre von Anaxagoras (500-428 v.Chr.) prägte das Gleichnis vom menschlichen Leib als Hohlkörper, der mit Spiritus gefüllt ist - aus diesem Bild entstanden BEHÄLTER-Metaphern, wie z.B. die <?page no="142"?> 4 - Emotion, -Kognition -und -Sprache 132 Wendung bodenlose Trauer (vgl. Fries 2000: 89f.). Allerdings ist dieses Bild nicht nur in westlichen Kulturen feststellbar. • KRAFT-Metapher: Emotionen sind eine Art Kraft, der schwer widerstanden werden kann (z.B. Angst überkam mich, vgl. Fries 2000: 99). • GEFÜHLE SIND ETWAS STOFFLICHES: Gefühlen werden stoffliche Eigenschaften verliehen (z.B. zerbrechlich, brennend, vgl. Fries 2000: 99). • EMOTIONEN SIND FLÜSSIGKEITEN, EMOTIONEN SIND MEER: Man kann in Emotionen versinken, sie können einem den Atem rauben (z.B. in der Trauer ertrinken, vgl. Schwarz-Friesel 2007: 203f.). • HITZE- und KOCHEN-KONZEPTUALISIERUNG: Hier besteht ein direkter Zusammenhang mit der BEHÄLTER-Metapher. Intensive Emotionen lassen die Temperatur der Flüssigkeit im Behälter steigen (z.B. bis zum Überkochen, vgl. Schwarz-Friesel 2007: 203f.; Aitchison 1997: 199f.). • VERSCHLUSS IM BEHÄLTER: Diese Seite wird beim Unterdrücken, Maskieren von Gefühlen angesprochen (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 203f.). • EMOTION IST TEMPERATUR: Dazu gehören alle Metaphern, die Emotionen mit Veränderungen der Temperatur in Verbindung bringen (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 203f.). • EMOTION IST BEWEGUNG: Hier wird vor allem die Dynamik von Emotionen, aber auch die körperliche Agitation konzeptualisiert (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 203f.). • EMOTION IST KRANKHEIT: Am bekanntesten ist wohl die Annahme LIEBE IST KRANKHEIT/ WAHNSINN (z.B. Ich bin verrückt nach dir, vgl. Schwarz-Friesel 2007: 203f.). • NEGATIVE EMOTIONEN SIND FEINDE und PROBLEME SIND KRANKHEITEN: Im Ansatz von Baldauf (1997: 246f.) sind dies die beiden Superkonzepte für Emotionen. Kövecses legt umfangreiche, gut nachvollziehbare Beschreibungen von Emotionskonzepten vor 51 und sammelt die wichtigsten Metaphern zu zentralen Emotionen. Sie können hier nicht vollständig wiedergegeben werden, aber in der folgenden Aufzählung werden einige Beispiele gegeben, die für die jeweilige Emotion typisch sind (vgl. Kövecses 2000b: 21-33; im Sinne der Lesbarkeit werden die Konzepte nicht wie üblich in Großbuchstaben geschrieben): 51 Er beruft sich teilweise auf Lakoff/ Johnson. Lakoff (1994 [1987]: 380ff.) selbst vertritt die Überzeugung, dass Emotionen eine sehr komplexe konzeptuelle Struktur aufweisen. Er nennt als Beispiel ÄRGER-Metaphern und beschreibt auch ein Szenario von Zorn, das prototypischerweise fünf Phasen umfasst: eine Kränkung oder Störung, physiologische Effekte, Kontrollversuch, Kontrollverlust, Vergeltung oder Abklingen - vgl. Lakoff (1994 [1987]: 397f., 400f.). Für die sprachliche Seite vgl. Kailuweit (2005: 165f.). <?page no="143"?> 4.2 - Linguistische -Konzepte -von -Emotionen - 133 • ÄRGER: Ärger ist Wahnsinn, ärgerliches Verhalten ist aggressives tierisches Verhalten, die Ursache von Ärger ist eine Grenzüberschreitung. • ANGST: Angst ist ein versteckter Feind, Angst ist eine Naturgewalt. • FREUDE: Freude ist oben, Freude ist warm, Freude ist Entrückung bzw. Rausch. • TRAURIGKEIT: Traurigkeit ist unten, Traurigkeit ist das Fehlen von Wärme, Traurigkeit ist ein lebender Organismus. • LIEBE: Liebe ist ein Nährstoff, Liebe ist eine Reise, Liebe ist ein Band, Liebe ist ein ökonomischer Austausch, das Objekt von Liebe ist appetitliches Essen/ etwas Göttliches/ ein wertvolles Objekt. • LUST: Lust ist Hunger, Lust ist ein wildes Tier, Lust ist Druck in einem Behälter, Lust ist ein Spiel. • STOLZ: Stolz ist ein Vorgesetzter, Stolz ist ein ökonomischer Wert, Einer stolzen Person zu schaden ist jemanden zu verletzen. • SCHAM: Eine beschämte Person ist eine nackte Person, Scham ist eine Abnahme an Größe, Scham ist physischer Schaden, Eine beschämte Person ist ein wertloses Objekt. • ÜBERRASCHUNG: Eine überraschte Person ist ein geplatzter Behälter, Überraschung ist eine physische Kraft. Je nach Emotionsmetapher werden unterschiedliche Aspekte fokussiert, z.B. die Intensität, die erlebte Passivität, Evaluationen oder der Schaden, der aus Emotionen erwachsen kann (vgl. Kövecses 2000b: 41-46). Als Kernmetapher sieht Kövecses (2000a: 148, Kap. 5) die KRAFT- Metapher, von der die meisten anderen Metaphern für Basisemotionen abgeleitet werden können. Emotionsmetaphern lassen sich danach unterscheiden, ob die Ursache oder die Auswirkungen (ausgelöste Reaktionen) im Mittelpunkt stehen. Kövecses (2000b: 113) kontrastiert Emotionsmetaphern mit Metaphern zu zwischenmenschlichen Beziehungen und stellt fest, dass sie einer völlig anderen konzeptuellen Domäne angehören: Während Emotionen als Kräfte konzeptualisiert werden, werden Beziehungen in Metaphern relativ rational als komplexe Objekte erfasst. Eine Unterform emotionaler Metaphern sind sogenannte Somatismen: Das sind Metonymien und Metaphern in der Form von Phraseologismen oder Kollokationen mit dem Wortnetz [Körper] als Ursprungsbereich. Häufig werden dabei das Herz, die Augen, die Lippen und die Hände mit Emotionen in Verbindung gebracht (z.B. Liebe auf den ersten Blick, Mein Herz schlägt für dich, vgl. Stoeva-Holm 2005: 65-70; Šichová 2010: 88ff.; Skirl/ Schwarz-Friesel 2007: 46). Ein weiteres häufiges Anwendungsgebiet von Metaphern mit emotiven Konsequenzen sind Personifizierungen: Unbelebten Objekten werden <?page no="144"?> 4 - Emotion, -Kognition -und -Sprache 134 Eigenschaften von belebten zugesprochen (z.B. ein Vulkan speit Feuer, das Auto gibt den Geist auf, vgl. Hayakawa 1993: 129). So bedeutend Metaphern für Emotionsthematisierung und Emotionsausdruck sind - nicht alle Metaphern sind automatisch emotiv, wie Bowers/ Metts/ Duncanson (1985: 527) betonen. Außerdem sind von all diesen aufgezählten Fällen Metaphern zu unterscheiden, die keine Emotionen kodieren, aber Emotionen auslösen oder transportieren. Der sprachliche Mechanismus von Metaphern besteht dann darin, den emotiven Bedeutungsanteil eines Wortes von seiner deskriptiven Bedeutung zu trennen, um emotive Effekte zu erzielen. Bekannte Metaphern, die Emotionen auslösen, sind beispielsweise Bezugnahmen auf Dunkelheit und Licht oder politische Metaphern wie die Gleichsetzung bestimmter Gruppen mit Krebs (vgl. Bowers/ Metts/ Duncanson 1985: 527). Skirl/ Schwarz-Friesel (2007: 63) zufolge bewerten und emotionalisieren nicht nur Emotionsmetaphern, sondern sie tragen allgemein wesentlich zur Lebendigkeit der Sprache bei, da sie besonders gut geeignet sind, Einstellungen, Markierungen und Gefühle zu vermitteln (z.B. Ironie und Humor, Distanz und Nähe, vgl. auch Gibbs 1994: 124, 135ff.). Sie sind somit auch Mittel der persönlichen Repräsentation, der Individualisierung (vgl. Gibbs/ Leggitt/ Turner 2002: 137). Metaphern -verstehen -und -kulturelle -Aspekte Metaphern entstehen nach Bühler (1978: 344, Hervorhebung i.O.) aus „Ausdrucksnot“- angesichts der manchmal so empfundenen Unaussprechlichkeit des Gefühls (s. Kap. 3) ist es nicht überraschend, dass Metaphern besonders häufig für die Versprachlichung von Emotionen herangezogen werden. Ben- Ze’ev (2009: 71) nennt diesen Zusammenhang „‚Als-ob‘-Erkennbarkeit“ der Gefühle, die sprachlich durch Metaphern und als-ob-Konstruktionen gekennzeichnet wird. Das heißt: Durch Metaphern entsteht die Vorstellung (möglicherweise eine Illusion), dass Emotionen kognitiv durchdringbar seien. Menschen verfügen laut Fries (2000: 93) über „metaphorische Kompetenz“, die unter anderem dafür sorgt, dass unangemessene - z.B. wörtliche - Interpretationen von Metaphern nicht auftreten und die Kommunikation stören. Gibbs (1994: 5). hebt hervor, dass nicht nur Metaphern, sondern auch Metonymien, Ironie, Oxymora und andere Verfahren unserer Art zu denken und zu argumentieren zugrunde liegen. Er stellt fest, dass es eine begrenzte Anzahl an basalen metaphorischen Konzeptualisierungen gibt, die das Denken formen. Die Beschränkungen der möglichen Konzeptualisierungen schlagen sich auch in deren sprachlichen Umsetzungen nieder, sodass es nur eine relativ kleine Menge an konzeptuellen Metaphern innerhalb einer Kultur gibt. <?page no="145"?> 4.2 - Linguistische -Konzepte -von -Emotionen - 135 Beispielsweise liegt vielen idiomatischen Wendungen über Ärger die Behältermetapher zugrunde (vgl. Gibbs/ Leggitt/ Turner 2002: 134ff.). Die Verstehensprozesse bei der Dekodierung von Metaphern sind jedoch noch nicht ausreichend untersucht, ebenso wie die Frage, wie der Kontext die Interpretation beeinflusst (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 205ff.). Klar ist allerdings mittlerweile, dass es keine scharfe Trennung zwischen den kognitiven Verarbeitungsmechanismen wörtlicher und nicht-wörtlicher Bedeutung gibt, da für beide Formen des Sprachgebrauchs nicht-sprachliche Wissensbestände und kognitive Schemata einbezogen werden müssen (vgl. Skirl/ Schwarz- Friesel 2007: 3f., 57f.). Gibbs (1994: 17, 20, 119) und Baldauf (1997: 88ff.) wenden sich insbesondere gegen die Auffassungen, dass figurative Sprache eine Abweichung von ‚wörtlichem‘ Sprachgebrauch sei. Selbst die sehr basalen Konzepte wie die von Lakoff und Johnson genannten Orientierungsmetaphern sind nicht universell gültig - es gibt auch abweichende Wertvorstellungen bei bestimmten Subgruppen oder einzelnen Individuen, insbesondere aber auch bei anderen Kulturen (z.B. KLEINER IST BESSER, vgl. Lakoff/ Johnson 2007: 32ff.). Auch wenn man wie Kövecses (2000b: 161f.) so unterschiedliche Sprachen wie Englisch, Ungarisch, Chinesisch, Japanisch, Tahitianisch und Wolof vergleicht, ergibt sich beispielsweise für die Emotion ÄRGER als Kern die Konzeptualisierung ÄRGER IST EINE HEISSE FLÜSSIGKEIT IN EINEM BEHÄLTER, DER UNTER DRUCK STEHT, vermutlich wegen der körperlichen Wurzel dieser Metapher. Dies ist auch die Grundlage für alle Annahmen über die Universalität bestimmter Metapherntypen (vgl. Kienpointner 2004: 71; Fries 2000: 97, 100). Vor diesem Hintergrund und in diesem gemeinsamen Rahmen der grundlegenden Bedingungen des Menschseins werden kulturelle Unterschiede aber umso deutlicher sichtbar: Beispielsweise sind japanische Ärgermetaphern zwar ähnlich wie englische, aber die Möglichkeit der Kontrolle über die Emotion wird als besser eingeschätzt (vgl. Kövecses 2000b: 166ff., 173f.). Wilce (2009: 41, 70f.) kritisiert grundlegend die sehr westliche Sicht auf Emotionen und hält auch die körperlichen Prozesse nicht für universell (z.B. erleben Frauen in Japan die Menopause auch körperlich anders als europäische Frauen). Kienpointner (2004) wiederum vergleicht Liebes- und Zornmetaphern im Deutschen, Englischen, Türkischen, Chinesischen und in nordamerikanischen Indianersprachen. Die Kontraste werden Kienpointner (2004: 62) zufolge umso größer, „je weniger sich die betreffenden Sprachen genetisch und/ oder typologisch nahestehen und je weniger die betreffenden Kulturen geographisch und historisch in einem Naheverhältnis standen oder stehen (d.h. umgekehrt: je größer die sprachliche und kulturelle Distanz ist“. Für die vorliegende Arbeit ist angesichts der untersuchten Texte jedoch die westliche Sicht auf Metaphern zentral. <?page no="146"?> 4 - Emotion, -Kognition -und -Sprache 136 4.2.3 - Weitere -kognitive -Einheiten In diesem Abschnitt werden folgende kognitive Einheiten eingeordnet und knapp dargestellt: Schemata, Frames, Scripts, Szenen, Einstellungen und Narrative. Emotionale -Schemata -und -Emotionsscripts Schemata sind „[k]omplexe konzeptuelle Wissensstrukturen“ (Schwarz- Friesel 2007: 38), die Eigenschaften eines Gegenstandes repräsentieren. Schemata strukturieren emotionale Erfahrungen und bedingen den Umgang mit ihnen. Frames, Scripts, Szenarien und Szenen sind Unterformen mit unterschiedlichen Teilaspekten als Fokus, z.B. zusammengesetzt aus Rollen- Konzepten, Requisiten-Konzepten, Voraussetzungskonzepten und Resultatkonzepte (vgl. Schwarz 2008: 118). Frames sind konzeptuelle Einheiten, die stereotype Interpretationsrahmen für Situationen darstellen. Slots, Lücken, werden dabei mit fillers, aktuellen Daten, besetzt (vgl. Schwarz/ Ziegler 1996: 44). Es gibt relativ feststehende Frames, aber auch temporäre, die in bestimmten Situationen erst gebildet werden, wenn auch auf Grundlage einiger festgelegter Fixpunkte (vgl. Aitchison 1997: 90f.). Scripts sind stark oder schwach festgelegte „stereotype Handlungssequenzen“ (Prestin 2003: 496). Emotionsscripts sind stereotype Vorstellungen über den Verlauf und die einzelnen Bestandteile von Emotionen, die als Reaktionen auf Ereignisse konzeptualisiert werden. Relevante Größen sind Appraisals (kognitive Einschätzungen), Handlungsbereitschaften (Reaktionen), Informationen über die Situation und Aspekte der Regulation. Schemata sind Muster, die im Laufe der Ontogenese aufgrund von Erfahrungen mit verschiedenen Situationen und durch das Erlernen kultureller Normen erworben werden. Emotionsschemata dienen dem Verstehen eigener und fremder Gefühlsregungen und der Bildung relativ stabiler Reaktionen auf Ereignisse (vgl. Brand 1989: 28). Ulich und Mayring (2003: 100-107) nehmen verschiedene Substrukturen emotionaler Schemata an: Gefühlstypen sind Repräsentationen typischer erlernter Konfigurationen (z.B. das spezielle Profil von Freude hinsichtlich Auslösern, subjektivem Empfinden etc.). Gefühlsschablonen betreffen das kulturabhängige Wissen über emotionale Regeln. Unter emotionalen Wertbindungen verstehen sie individuelle Wertesysteme, Überzeugungen und Wünsche (z.B. ob Treue ein Wert ist und Untreue mit Wut quittiert wird). Emotionale Gewohnheitsstärken sorgen dafür, dass manche Schemata leichter zu aktivieren sind als andere. Eine Emotion wird im Alltagsverständnis als eine Sequenz von Ereignissen wahrgenommen. Solche Sequenzen folgen bestimmten Regeln und formen somit typische Scripts (vgl. Wintermantel 2003: 666f.). Ein Emotionsscript (emotion script) ist in Fischers (1991: 12) Definition „knowledge of episodes, <?page no="147"?> 4.2 - Linguistische -Konzepte -von -Emotionen - 137 in which certain reactions are more or less likely to be interpreted as emotions“. Sie sind normativ, zeit- und kulturabhängig und darüber hinaus an die Persönlichkeit des Individuums, das einem bestimmten Script folgt, gebunden (vgl. Fischer 1991: 13f., 16). Typische Konzeptanteile sind Appraisals, also Beurteilungen der emotionsauslösenden Objekte, des sozialen Kontextes, von Zielen, sozialen Beziehungen etc. in den Dimensionen Valenz, Kontrolle, Neuheit, Sicherheit und Aktivität. Weitere grundlegende Kategorien sind der Verursacher (z.B. eine unangenehme Situation), die Reaktion (kognitiv oder volitional), physiologische Veränderungen, Leidenschaft (starke, schwer zu kontrollierende Bewegung), die Behältermetapher (Flüssigkeiten in einem Behälter), die negative Selbstbeurteilung und Selbstbestätigung. Weitere inhaltliche Detailkategorien für Verlauf, Handlungsbereitschaften und typische Ausdrucksmöglichkeiten sind für jede Emotion gesondert zu erstellen. Fischer (1991: 204) tut dies detailliert für Ärger und Angst und kommt zu zwei sehr unterschiedlichen Profilen: So wird Angst eher unterdrückt, als irrational und schwer zu kontrollieren gebrandmarkt, insgesamt also negativ betrachtet. Bei Wut herrscht das Script vor, dass diese Emotion ausgedrückt werden sollte, weil dies kathartisch wirkt und weil Wut sehr oft eine legitime Reaktion auf Hindernisse im Verfolgen rationaler Ziele ist. (Vgl. Fischer 1991: 60, 64, 66ff., 72f., 76.) Emotionale -Einstellungen Schwarz-Friesel (2007: 81) definiert Einstellungen als „konzeptuelle Bewertungsrepräsentationen hinsichtlich bestimmter Referenzbereiche“, Fries (2004: 7) sehr ähnlich als „Komponenten der semiotischen Äußerungsbedeutung“ bzw. bei Fries (2007: 1) als „die bewertende Beziehung zwischen einem Emotionsträger und einem bedürfnisrelevanten Konzept“. Sie können in folgenden Dimensionen beurteilt werden: Evaluation, Potenz, Orientierung, Intensität, Erwartetheit (vgl. Fries 2007: 14f.; Schwarz-Friesel 2007: 84f.). Je nachdem, wie die Referenzdomäne (z.B. bestimmte Gruppen oder Ereignisse) wahrgenommen wird und welche kulturellen und sozialen Bedingungen diese Wahrnehmung steuern, kommen unterschiedliche Bewertungen und somit auch Einstellungen zustande, wie Schwarz-Friesel (2007: 81, 84f.) ausführt: Hier können weiter permanente und aktuelle Einstellungen unterschieden werden, wobei die permanenten Einstellungen zwar nicht statisch sind, aber nur selten einer Reevaluation unterzogen werden. Sprachlich können die Einstellungen mit höherer oder geringerer Intensität zum Ausdruck kommen, oft jedenfalls sehr deutlich. Die folgende Reihe weist steigende Intensität auf: nicht leiden (können) < zuwider (sein) < zum Kotzen. Während Schwarz-Friesel die Dimensionen von Osgood (Evaluation, Potenz und Orientierung) anwendet, plädiert Fries (2007) für Evaluation (EM- <?page no="148"?> 4 - Emotion, -Kognition -und -Sprache 138 pol ), Intensität der Erregung (EM int ) und Erwartetheit (EM exp ). Hier einige Beispiele für jede Dimension: • EM pol- : kinderfeindlich, Drecksuni. EMpol+: das ist klasse! • EM int+ (außerdem EM pol+ ): Das ist irre gut! ; Danke, danke, danke! • EM exp+ : ohnehin, eh. EM exp- : Lasst mich doch in Ruhe! Emotionale -Szenen Szenen sind komplexe Konzepte der situativen Bedingungen von Konzeptualisierungseinheiten, die auf unterschiedlichen Ebenen des Textes - einzelnen Sätzen, aber auch längeren Passagen - implizit oder explizit konstruiert werden (vgl. Hielscher 1996: 77). Szenarien hingegen fokussieren laut Prestin (2003: 496) „Wissen über soziale Situationen und die sozialen Beziehungen der im Text vorkommenden Personen“. Unter Emotionalen Szenen versteht Fries (2000: 48; 2003: 111f.) komplexe Konzepte der situativen Bedingungen von Emotionen, die auch sprachlich dargestellt werden können und unsere Wahrnehmung stark beeinflussen. Er nennt folgende Beschreibungseinheiten: • Experiencer: Der Experiencer ist jene Entität, der eine emotionale Bewertung zugeschrieben wird. • Stimulus: Der Stimulus ist die Ursache dieser Emotion (z.B. Personen, Situationen). • Emotionale Werte: Die emotionalen Werte können auf den Skalen Valenz/ Evaluation (EM ± ) und Intensität (EM INT ) angegeben werden. • Urteile über Bedingungen emotionaler Bewertungen: Die Urteile und Bewertungen über Bedingungen von (EM ± ) und (EM INT ) hängen mit internen emotionalen Zuständen und externen Bedingungen dieser Zustände zusammen (vgl. Fries 2000: 11ff.; Fries 2007: 1, 21f.). Die Urteile betreffen den Experiencer, den Stimulus (R), das Prädikat DENKEN, das dem Experiencer zugeschrieben wird, sowie weitere Variablen, die Zustände (Z) und Ereignisse betreffen. Zudem gelten als Basis-Prädikate für introspektiv wahrnehmbare Zustände Behagen (ausgedrückt z.B. in Lexemen wie Freude), Empathie (z.B. ach), Wertschätzung (z.B. Scham), Attraktivität (z.B. Ekel) und Erwartung (z.B. bloß). Das folgende Beispiel für eine Analyse einer konkreten Textstelle soll dies verdeutlichen (vgl. Fries 2007: 30). Hier sind zwei Szenen miteinander kombiniert. <?page no="149"?> 4.2 - Linguistische -Konzepte -von -Emotionen - 139 Beispielsatz: Hui, wie kalt, wie beleidigend kalt! (1) Emotionale Szene <AROUSAL NEG> X denkt R X ist in einem Zustand, für den gilt: BEHAGEN (Z) (Z) ist als EM int+ , EM polbewertet VERURSACHT b. (2) Emotionale Szene <ERWARTETHEIT NEG> X denkt R X ist in einem Zustand, für den gilt: BEHAGEN (Z) (Z) ist als EM exp- , EM polbewertet a. VERURSACHT b. Ausgedrückt durch beleidigend, Exklamativsatz Ausgedrückt durch hui Schwarz-Friesel (2007: 148) kritisiert diesen Entwurf, weil die Argumentation zirkulär zu werden droht: Die Definitionen von Emotionalen Szenen beruhen auf geteiltem Wissen, aber das geteilte Wissen wird mit Emotionalen Szenen beschrieben. In Kailuweits (2005: 68f., 72, 75f., 92, 100). Ansatz werden Gefühle als Szenen definiert, die bestimmte Rollen umfassen, wie sie sich auch bei Fries finden: Empfindungsträger (Experiencer), Korrelat (bewerteter Sachverhalt), Ursache (fakultativ), Bezugspunkt. Diese Rollen können syntaktisch ausgedrückt werden, müssen aber nicht in die Konstruktionen eingehen. Ihre Beschreibungen der Rollen sind wesentlich differenzierter als hier darstellbar. Die -Narrativität -der -Emotionen Narrative im kognitionswissenschaftlichen Sinn sind Repräsentationen von Geschichten, also abstrahierte Geschichtenstrukturen (vgl. Battacchi/ Suslow/ Renna 1997: 70). Ein Kernaspekt narrativer Strukturen ist für Drescher (2003b: 190f.) die Bezugnahme auf Emotionen bzw. auf Manifestationen von Emotionen, und zwar unter einer persönlichen Perspektive. Allerdings spielt ein anderes Verständnis von Narrativ indirekt eine Rolle, nämlich wenn Erzählen als Handlungsmuster aufgefasst wird und die abstrakte Kategorie Narrativ auf konkrete Textbeispiele angewendet wird (vgl. Lehnert/ Vine 1987 für einen kognitiven Ansatz einer solchen Analyse). Klassische Modelle sind jenes von Labov und Waletzky (1971: 111-125) mit Abstract, Orientierung, Komplikation, Evaluation, Auflösung, Koda oder jenes von van Dijk (1980: 141ff.) mit Geschichte (Plot, Episoden mit Komplikation und Auflösung, Evaluation) und Moral. Habermas (2012: 67) weist darauf hin, dass der Emotionsprozess einen ähnlichen Ablauf aufweist wie die genannten Erzählmodelle. Auch Hogan (2011: 73ff.) beschreibt den allgemeinen Verlauf einer Emotionsepisode und bringt dies mit Geschichtenstrukturen in Verbindung, da diese wichtige Hinweise für die Lebens- und damit Emotionsbewältigung liefern. Betont wird der soziale, interaktive Aspekt, denn auch individuelle Narrationen über das <?page no="150"?> 4 - Emotion, -Kognition -und -Sprache 140 eigene Selbst werden in der Diktion von Siegel (2006: 78) „sozial cokonstruiert“. Erlebtes wird nach Hogan (2003: 85) in Form von Geschichten gespeichert, die im Laufe der Kindheit gemeinsam mit den Eltern entwickelt werden. Die Leerstellen, die in Emotionsnarrativen zu füllen sind, ähneln den Slots in Schemata und Scripts: Auslöser, Phänomenologie, Folgen (Verhalten, Handeln, Ausdruck), Rechtfertigung, Normen und Kontrolle. Was abgerufen wird, ist jedoch vom aktuellen mentalen Zustand abhängig. Somit bestehen wir wiederum laut Siegel (2006: 80) aus vielen „Selbste[n]“. Doch gerade bei der Überwindung dieser Spaltung helfen Narrationen, indem sie zur „spatiotemporalen Integration“ (Siegel 2006: 334) neuronaler Prozesse beitragen. Das Ziel ist die Herstellung von geistiger Kohäsion und Kohärenz, da sie Wahrnehmung, Erleben und Lernen bedingen. Menschen werden im narrativen Paradigma als aktiv Handelnde gesehen, die die Welt durch Geschichten formen, anstatt Emotionen passiv zu erleiden (vgl. Sarbin/ Keen 1998: 132, 135; Weber 2000: 140). Das psychotherapeutisch motivierte „narratory principle“ von Sarbin/ Keen (1998: 132) besagt, dass Unverbundenes durch die Menschen aktiv verbunden wird, beispielsweise durch Rituale und Bräuche. Voss (2004) stellt das Narrative in den Mittelpunkt ihrer Emotionsdefinition. Zu den in anderen Emotionstheorien üblichen Komponenten Intentionalität, kognitiver Aspekt, Verhaltens-, Ausdrucks- und Handlungsaspekt sowie körperliche Veränderungen tritt die „hedonistische Komponente“ (Voss 2004: 184), womit Lustbzw. Unlustgefühle (H-Gefühle) im Gegensatz zu Körperwahrnehmungen wie Hunger (S-Gefühle) gemeint sind. Die H- Gefühle verknüpfen alle anderen Komponenten miteinander, indem den unterschiedlichen Veränderungen - beispielsweise körperlichen ‚Symptomen‘ - ein bestimmter narrativer Sinn zugeschrieben wird. Alle aktiv werdenden Teilkomponenten erwecken einen Erklärungsbedarf, der auf unterschiedliche Art und Weise abgedeckt wird (vgl. Voss 2004: 200). Konkret bedeutet dies beispielsweise, dass H-Gefühle auslösen können und H-Gefühle wiederum ihrerseits verstärkend oder abschwächend auf Kognitionen wirken. Sprache (z.B. Emotionswörter, Metaphern) und soziale Erfahrungen (z.B. frühere Erlebnisse, Vorbilder) dienen als Klassifikations- und Interpretationshilfen. Formulierungen wie ‚und dann‘ stellen Kausalität her (vgl. Voss 2004: 211). Voss’ (2004: 209) Kerngedanke: „Geschichten - nicht isolierte Propositionen - sind damit sozusagen die kleinsten Bedeutungseinheiten der Emotionen.“ Zurück zur Verknüpfung mit der alltäglichen sprachlichen Handlung des Erzählens. In einer Studie von Habermas (2012) sollten die Probandinnen und Probanden von positiven und negativen Alltagsgeschehnissen mitteilen. Hier waren die Geschichten über negative Erlebnisse länger und komplexer, was Habermas (2012: 71f.) damit erklärt, dass unangenehme Erfahrungen <?page no="151"?> 4.3 - Zusammenfassung - 141 einer stärkeren kognitiven Verarbeitung bedürfen. Zudem wurde offensichtlich, dass Geschichten über Freude und Traurigkeit statischer als z.B. Ärgererzählungen ausfallen und Schilderungen von Emotionen eher im Evaluationsteil des Narrativs als in der Komplikation vorkommen. Hogan (2003: 5f.) sucht nach literarischen Universalien und findet sie zu einem guten Teil in der emotionalen Struktur von Narrationen, speziell in paradigm stories, also prototypischen Geschichten einer literarischen Tradition bzw. eines Kulturkreises. Er unterscheidet drei Arten von Emotionen, die in Narrative eingebettet sind: junctural emotions sind kurz auftretende Emotionen an kritischen Punkten einer Geschichte (z.B. Angst, Wut); outcome emotions sind anhaltende Emotionen, auf die Narrative hinsteuern (z.B. Traurigkeit als Resultat); sustaining emotions sind zu bestimmten Handlungen motivierende Emotionen (vgl. Hogan 2003: 91ff.). Freude ist für ihn die Kernemotion von Geschichten, von der ausgehend alle anderen Emotionen evaluiert werden. Basierend auf diesen Überlegungen nennt Hogan (2003: 98ff., 200) zwei interkulturell weit verbreitete Strukturen von literarischen Narrativen: romantische und heroische Tragikomödien, die nach sehr ähnlichen Mustern verlaufen. Gründe des Erzählens sind für ihn drei Proto- Emotionen: zu starke Stimulation, zu schwache Stimulation und das ästhetische Vergnügen bzw. das Verlangen nach Staunen und Genuss (vgl. Hogan 2003: 260ff.). 4.3 - Zusammenfassung Emotionskonzepte, Emotionsscripts, Szenen, Einstellungen und Narrative weisen teilweise große Ähnlichkeiten hinsichtlich der semantisch bestimmten Analysekategorien auf. Eine scharfe Abgrenzung zwischen diesen Termini ist in der Praxis daher schwierig; vielmehr stellen sie unterschiedliche Schwerpunktsetzungen und Ansatzpunkte für die Beschreibung der übergeordneten Kategorie KONZEPTE dar. Das Eingangszitat zu diesem Kapitel soll darauf aufmerksam machen, dass das Schreiben nach wie vor etwas Geheimnisvolles und Rätselhaftes ist. Es handelt sich dabei auch um emotionale Prozesse, die das Ergebnis unserer Bemühungen um den gelungenen Text stark beeinflussen können. Aus den bisherigen Ausführungen leite ich folgende Thesen ab: • Ein differenziertes Schreibprozessmodell sollte auch Emotionen berücksichtigen. Sprache, Gefühlswörter, Textstrategien usw. sind Rahmen, in die unsere Emotionen eingebettet sind und die das Erleben einer Emotion verändern (vgl. Stoeva-Holm 2005: 20). <?page no="152"?> 4 - Emotion, -Kognition -und -Sprache 142 • Auf emotionale Prozesse während des Schreibens kann im Nachhinein nur in Ausnahmefällen zugegriffen werden. Das gilt auch für eruptive Schreibertypen (wie z.B. Franz Kafka). Für Textanalysen können nur Emotionen von Belang sein, die in irgendeiner Form kognitiv und in weiterer Folge sprachlich verarbeitet wurden. • Entschieden wird dem Standpunkt entgegengetreten, dass Schreiben in neutraler Stimmung die unmarkierte Situation und emotionalisiertes Schreiben die markierte Form der Textproduktion ist. Vielmehr gehe ich davon aus, dass sich der/ die Schreibende in einem permanenten Erlebensstrom befindet, der auch Einfluss auf den Problemlöseprozess Schreiben hat. • Textproduktion ist Emotionsproduktion, und zwar in Hinblick auf eigene und fremde Emotionen. Schreiben ist eine soziale Praxis. Konsequenzen für die praktische Analyse sind daraus jedoch nur wenige abzuleiten. Die Beschreibungskriterien emotionaler Konzepte, Metaphern, Szenen, Einstellungen und Frames sind in der Methode auf der thematischen Ebene zu berücksichtigen. <?page no="153"?> 5 - Historische, -kulturelle -und -soziale -Aspekte „Ohne Sprache ist man nichts und niemand und mit Sprache doppelt nackt.“ 52 5.0 - Ziele dieses Kapitels Sprache ist ein Medium der individuell-persönlichen Reflexion und Expression und gleichzeitig ein Kommunikationsmittel, das in historische, soziale und kulturelle Bedingungen eingebettet ist (vgl. Daneš 1987: 279). Neben vielen anderen Funktionen dienen Emotionen laut Wimmer (2007: 99, Hervorhebung i.O.) auch der „Soziale[n] Affektabstimmung“, also dem Verstehen des emotionalen Horizontes des Gegenübers. Beim Menschen ist die symbolische und kulturelle Kommunikation so dominant, dass Emotion, Kognition und Sprache gerade in diesem Zusammenhang eng aufeinander bezogen sind. Zahlreiche Normen bestimmen Rahmen, Form und Inhalt von Emotionsausdruck und Emotionsthematisierung (vgl. Wimmer 2007: 99ff.). Einige dieser Zusammenhänge sind Gegenstand dieses Kapitels. Die Frage nach dem evolutionären Ursprung der Sprache wird in der Gegenwart mit dem Einfluss von Emotionen in Verbindung gebracht. Auch in der Geschichts- und Kulturwissenschaft wird Emotionen eine wichtige Rolle in der Definition und Beschreibung verschiedener Epoche eingeräumt. Darauf wird kurz in Abschnitt 5.1 eingegangen. Kontrovers wird seit jeher die Frage diskutiert, ob Sprache unsere Wahrnehmung prägt oder umgekehrt die Wahrnehmung die Sprache. Hinzu kommen Annahmen zu sprachlichen Universalien oder kultureller Relativität. In Abschnitt 5.2 wird vor allem die sprachliche Komponente verschiedener emotionaler Kulturen erörtert. Schließlich kehre ich zu dem Kulturkreis zurück, in den die vorliegende Arbeit eingebettet ist. Abschnitt 5.3 widmet sich sozialen Aspekten: Inwiefern sind Alter, Geschlecht, Gruppenzugehörigkeit und einzelne soziale Situationen für die emotionale Kommunikation ausschlaggebend? In diesem Rahmen kommen zudem einige Modelle emotionaler Kommunikation zur Sprache. 52 Sprichwort (Bosnisch/ Kroatisch/ Serbisch). Entnommen aus: Frühwald, Dagmar/ Schimek, Hanna (2004): Ein Tag Honig. Ein Tag Zwiebel. Ähnlichkeiten/ Bilder/ Gleichnisse. Sprichwörter aus fünfzehn Kulturen. Wien: Verband Wiener Volkshochschule (= Edition Volkshochschule), o.S. [Zitat angepasst]. <?page no="154"?> 5 - Historische, -kulturelle -und -soziale -Aspekte 144 5.1 - Historische Aspekte: Sprache und Emotion in der Zeit In der historischen Dimension des Zusammenhangs zwischen Sprache und Emotion lassen sich zwei Ebenen unterscheiden: die Entstehung der Sprache und historische Forschungen, die Veränderungen in der Emotionalität der jüngeren Geschichte der Menschheit untersuchen. Da Textdokumente die wesentliche Quelle der Geschichtswissenschaft sind, sind hier sprachliche Veränderungen einzubeziehen. Zuerst werden aber einige Ansätze zur Einbettung von Emotionen in Geschichtstheorien gestreift. 5.1.1 - Geschichtstheorien Im Laufe der Menschheitsgeschichte lassen sich historische Veränderungen im Umgang mit Emotionen bzw. in ihrer Konzeptualisierung feststellen (vgl. Flam 2002: 145ff.). Ein Beispiel ist die Annahme von Elias (1976 [1939]), dass die Emotionsverarbeitung einen Prozess der Introjektion durchgemacht hat: Demnach wurden Emotionen im Laufe der letzten Jahrtausende immer stärker nach innen verlagert und immer weniger äußeren Ursachen (wie etwa Dämonen) zugeschrieben. Damit einhergehend und insbesondere in der Nachfolge von Descartes kam es zur Einführung des Leib-Seele-Dualismus sowie zu dem Bedürfnis, Emotionen zu kontrollieren, zu regulieren und zu psychologisieren (vgl. Benthien/ Fleig/ Kasten 2000: 11). Unterschiedlichen Epochen werden unterschiedliche Gefühlskulturen zugeschrieben, meist aufgrund schriftlicher Texte (vgl. Kasten 2003: XV). Im Mittelalter beispielsweise soll der Ausdruck von Emotionen intensiver erfolgt sein als in der Gegenwart. Westliche Hintergrundannahmen konzeptualisieren Emotionen ja als heiße Flüssigkeit in einem Behälter, die überzukochen droht - im Mittelalter schien dieses Überkochen häufiger zu geschehen (vgl. Oatley 2004: 16f.). Im Barock wurden Emotionen in den höheren Schichten regelrecht inszeniert, während im 18. Jahrhundert mit dem Aufstieg des Bürgertums und der Aufklärung eine neue Natürlichkeit propagiert wurde. In der Gegenwart werden Gefühle laut Benthien/ Fleig/ Kasten (2000: 12) „als das Eigentlichste und zugleich Subjektivste eines Menschen verstanden“. Ein gänzlich anderer Ansatz sei an dieser Stelle kurz erwähnt, weil er sich auf Textanalysen stützt. Der Psychohistoriker DeMause (2005) bezeichnet seine Herangehensweise als ‚psychogene Geschichtstheorie‘. Demnach sind die eigentlichen Ursachen für Kriege und gesellschaftliche Entwicklungen Traumata, die in der frühesten bis frühen Kindheit erlitten wurden. Noch vor der Ausbildung der expliziten, deklarativen Gedächtnissysteme gibt es ein frühes emotionales Gedächtnis: das Amygdala-Angstsystem, in dem Erfahrungen gespeichert werden (vgl. DeMause 2005: 58). Unter Stress wird die Reaktion auf das traumatische Erlebnis mit gesteigerter Intensität wiederholt <?page no="155"?> 5.1 - Historische -Aspekte: -Sprache -und -Emotion -in -der -Zeit - 145 (vgl. DeMause 2005: 63). Dieses von Traumata ausgelöste „Fehlalarmsystem“ (DeMause 2005: 70) hat Dissoziationen und die Ausbildung von ‚sozialen Alter Egos‘ zur Folge. Diese alternativen Identitäten gehen in gefährliche Gruppenfantasien ein, die in Kriege und Faschismus münden. Liebevolle Kindererziehung - erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit ein gesellschaftliches Ideal - ist laut DeMause (2005: 75) der „zentrale[…] Mechanismus für historische Veränderungen“. Eine gelungene kollektive Individuation ohne Traumata ermöglicht in der Folge Innovation und letzten Endes auch eine kulturelle Evolution. DeMause (1989a, 2005) entwickelte in diesem Zusammenhang eine Analysemethode zur Aufdeckung emotionaler Strukturen in Propaganda- und Pressetexten und bezeichnet seine Vorgangsweise als ‚Fantasieanalyse‘. Wichtige Schritte sind dabei die Hervorhebung von Metaphern und Redewendungen, das Ignorieren von Negationen und Subjekt-Objekt- Relationen. Der Analyseansatz ist jedoch nicht linguistisch, sondern tiefenpsychologisch motiviert (vgl. DeMause 1989b: 163ff.; 2005: 90f.). 5.1.2 - Sprachevolution -und -Sprachwandel Die rationalisierende Sicht auf Sprache hatte auch die lange vorherrschende Überzeugung zur Folge, dass Sprache entstanden sei, um zweckorientiertes, instrumentelles, strategisches Handeln zu erleichtern und Informationen weiterzugeben - vor allem für praktische Aufgaben wie Jagd und Werkzeugbau. Ein wesentliches Charakteristikum menschlicher Sprache ist laut Hörmann (1978: 340) die Möglichkeit der zeitlichen Verzögerung einer Reaktion auf einen Reiz, unter anderem auch eine Trennung der „affektive[n] ‚Ladung‘ einer Mitteilung von ihrem instruierenden Gehalt“. Mit anderen Worten: eine Trennung zwischen Reiz und Reaktion oder aus emotionaler Sicht eine gewisse Abstraktionsfähigkeit (Emotionskonzeptualisierung). Doch diese oft als patriarchalisch interpretierte Auffassung wird immer stärker infrage gestellt. Neuere Modelle der Sprachevolution postulieren andere Mechanismen, die sehr häufig emotionale Bedingungen des Ursprungs der Sprache enthalten. Kommunikation ist demnach in erster Linie sozial und emotional geprägt - Gestik, Mimik, Laute dienen auch in tierischer Kommunikation zunächst dem Ausdruck von starken emotionalen Reaktionen (vgl. Berger 2008: 190ff.). Auch Wilhelm Wundt, einer der ersten Emotionspsychologen, vermutet den Ursprung der Sprache im Affekt, der sich zuerst rein körperlich, dann in sogenannten Ausdrucksbewegungen wie Gestik und Mimik und schließlich in der Sprache manifestierte (vgl. Wundt 1911: 45ff.). Während Gefühle mit allen Ausdrucksbewegungen mitgeteilt werden können, ist das Mitteilen von Gedanken allein der Sprache vorbehalten (vgl. Rolf 2008: 112f.). <?page no="156"?> 5 - Historische, -kulturelle -und -soziale -Aspekte 146 Bemerkenswert ist, dass Wundts Überzeugungen aus dem Jahr 1911 von neueren Untersuchungen über die Funktion der kommunikativen Spiegelneurone (s. Kap. 2) gestützt werden: Manuelle Handlungen (z.B. das Ergreifen von Gegenständen) und orofaziale Handlungen (z.B. Beißen) sind demnach die Vorstufe für kommunikativ, sozial und pragmatisch bedeutsame gestische Handlungen und letztendlich für verbale Sprache (vgl. Rizzolatti/ Sinigaglia 2008: 159, 162-173; Bauer 2006: 75). Unter ‚verbalen Gesten‘ ist mit Wilce (2009: 68) vokaler Emotionsausdruck (z.B. Schreien) zu verstehen, der meistens als Vorstufe für die Lautsprache betrachtet wird. Doch bereits Affektlaute sind komplexe Zeichen, die mit kognitiven Bewertungsprozessen einhergehen und von Hörerinnen und Hörern interpretiert werden (vgl. Battacchi/ Suslow/ Renna 1997: 11). Ähnlich sieht Wimmer (2007: 105ff.) die Sprachevolution als Übergang von mimetischem Emotionsausdruck (z.B. Schreien als Ausdruck von Schmerz) zu allmählicher Entkoppelung zwischen den lautlichen Zeichen und den Objekten hin zu einer symbolischen Repräsentation. In diesem Kontext wird auch der Ursprung von Interjektionen gesucht: Möglicherweise begleiteten bestimmte Laute mimische Emotionsausdrücke und wurden in der Folge konventionalisiert, lexikalisiert und vom Mimischen losgelöst. Auch physiologische Prozesse wie die Respiration, die Muskelspannung oder Geräusche, die bestimmte Emotionen gut signalisieren, könnten eine Erklärung sein (vgl. Scherer 1977: 208f.). Sapir (1961: 15ff.) lehnt allerdings Erklärungen, die den Ursprung der Sprache im Instinkt, in Interjektionen, Lautmalerei oder anderen ikonischen Zeichen vermuten, wegen des rein symbolischen Charakters der Sprache ab. Andere Modelle bringen weitere Bedingungen der Sprachevolution ein. Dunbars (1998: 67ff.) zentrale These lautet, dass die Sprache nicht hauptsächlich für die Weitergabe von Information im Sinne von deskriptivem Wissen - hard facts - entstanden ist, sondern zur Kommunikation von Emotionen und für die Gestaltung sozialer Beziehungen. Er untersuchte intensiv die Kommunikation von Primaten, die komplexer ist und menschlichen Sprachsystemen stärker ähnelt als allgemein angenommen. Dennoch gibt es beim Menschen offenbar einen quantitativen und qualitativen Sprung in der Kommunikationsfähigkeit. Die Erklärung dafür liegt ihm zufolge im aufwändigen Sozialverhalten, das bei Primaten durch die gegenseitige Fellpflege gekennzeichnet ist. Ab einer gewissen Gruppengröße ist Sprache die ökonomischere Variante der Gestaltung von Sozialkontakten (vgl. Dunbar 1998: 145ff.; ähnlich Keller 2000: 380ff.). Zimmer (1994: 178ff.) und Berger (2008: 196f.) verorten den Ursprung der Sprache in der Mutter-Kind-Beziehung und in ihren neurologischen Korrelaten. Auch in einigen Modellen zum Sprachwandel haben Emotionen ihren Platz. Da emotive Zeichen dynamischer zu sein scheinen als nicht-emotive, <?page no="157"?> 5.1 - Historische -Aspekte: -Sprache -und -Emotion -in -der -Zeit - 147 kann angenommen werden, dass emotive Zeichen den Sprachwandel fördern (vgl. Volek 1987: 247). Zu dieser Auffassung kam Sperber (1965 [1923]: 36f., 39ff., 45f., 53) bereits 1923 - er war einer der Ersten, die sich mit der Emotivität der Sprache auseinandersetzten. Der von ihm als ‚Gefühlston‘ bezeichnete Bedeutungsanteil eines Wortes, in etwa mit der Konnotation gleichzusetzen, ist häufig in Prozesse des Bedeutungswandels involviert, etwa indem eine emotiv markierte lexikalische Alternative der neutralen vorgezogen wird und diese verdrängt. Umgekehrt aber gibt es Phänomene der Abschwächung und Ersetzung von emotiven Wörtern durch neutralere, aus Gründen der (Selbst-)Zensur und der Rücksichtnahme auf andere. Allerdings kann der Gefühlswert durch häufige Verschiebung von emotiven Wörtern in sachliche Zusammenhänge schwächer werden. Unter ‚Attraktion‘ versteht Sperber (1965 [1923]: 47) die „Fähigkeit einer affektbetonten Vorstellung, von verschiedenen Seiten her sprachliches Material in ihr [sic! ] Bereich zu ziehen“. Er meint damit viele Benennungsalternativen für ein und dasselbe Signifikat bzw. innerhalb eines Wortfeldes, also z.B. die metaphorisch-emotive Verwendung eines eigentlich neutralen Lexems, was er anhand der Militärsprache demonstriert. Er formuliert ein Gesetz, demzufolge emotional stark aufgeladene Konzeptbereiche den Bedeutungswandel von assoziierten Wörtern vorantreiben. Als Beispiel nennt er den Bedeutungswandel von Wörtern wie einleuchten, Eindruck, entzückt, gelassen, Mitleid, auftragen, die ursprünglich aus demselben konzeptionellen Bereich - aus der Religion - stammen (vgl. Sperber 1965 [1923]: 67). In der gegenwärtigen Forschung finden sich teilweise ähnliche Gedanken. Auch für Györi (1998: 102f.) hängt Sprachwandel eng mit semantischen Verschiebungen (meist metonymischer Art) sowie mit Veränderungen in den zugrunde liegenden Konzepten zusammen. Dies gilt auch für Emotionswörter, die in besonders auffälliger Weise metonymisch motiviert sind, und zwar aufgrund von Ursachen und Verhaltensweisen, die in den entsprechenden Emotionskonzepten festgelegt sind. Ein Beispiel: Das Wort Schreck lässt sich auf das protoindoeuropäische Wort für ‚springen‘ zurückführen, was eine typische Verhaltensweise bei dieser Emotion ist (vgl. Györi 1998: 109, 113). Neuere Untersuchungen zum Bedeutungswandel nennen unter anderem folgende Tendenzen für emotive Lexeme: Es zeigt sich diachron laut Kienpointner (2006: 196) oft eine Bedeutungsverengung, also eine Entwicklung hin zu einer spezifischeren Bedeutung, z.B. wie im Englischen affection, das früher allgemeiner für Emotionalität stand, heute jedoch nur noch im Sinne von Zuneigung gebräuchlich ist. Emotionslexeme sind besonders stark von den üblichen semantischen Wandlungsprozessen wie Verschiebungen und Ersetzungen etc. betroffen (vgl. Györi 1998: 118). Die emphatische Bedeutung schwächt sich oft ab, das heißt, die Intensität der signalisierten Emotivität nimmt ab: z.B. wird hassen/ lieben ebenso wie hate/ love im Englischen heutzu- <?page no="158"?> 5 - Historische, -kulturelle -und -soziale -Aspekte 148 tage häufig hyperbolisch für einfaches Mögen oder Nicht-Mögen verwendet (vgl. Kienpointner 2006: 196). Foolen (1997: 23) nimmt an, dass negative Konnotationen zu einem schnelleren Abbau der ursprünglichen kognitiven Bedeutung führen und expressive Formen meist kurzlebiger sind. Zusammenfassend kann davon ausgegangen werden, dass die Entwicklung der Sprache ihren vielen Funktionen entsprechend unterschiedliche Anstoßpunkte haben dürfte, die sich in ihrer gegenwärtigen Komplexität niederschlagen. Es gibt jedoch auch hier alternative Konzeptionen, beispielsweise solche, die den Ursprung der Sprache in kulturellen Praktiken wie Musik und Tanz suchen (vgl. Wilce 2009: 69). 5.1.3 - Gefühlsepochen Einzelnen historischen Epochen wurden in den Geschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaften (vor allem in der Literaturwissenschaft) verschiedene Emotionen gewissermaßen als Leitthemen zugeschrieben. Im Kontext der vorliegenden Arbeit erscheint eine ausführliche Aufarbeitung dieser Zuordnungen nicht sinnvoll. Daher werden an dieser Stelle nur einige sehr allgemeine Bemerkungen referiert. Hübler (1998: 15f.) legt eine umfangreiche Arbeit über emotive grammatische Mittel des Englischen und Altenglischen vor. Er bezeichnet das Phänomen als Expressivität und grenzt sie ein auf grammatische Mittel, deren Auswahl im Formulierungsprozess zwar keine Auswirkungen auf die Proposition hat, sehr wohl aber auf den emotiven Bedeutungsgehalt. Aus diachroner Sicht diskutiert er verschiedene Konstruktionen im Englischen und setzt historische Epochen mit dem bevorzugten Gebrauch der einzelnen Formen in Beziehung. Daraus leitet er kulturhistorische Aussagen ab, z.B. eine Entwicklung hin zu Modaladverbien für den Ausdruck von Bindungen anstelle der grammatischen Mittel, was auf gestiegene Rationalisierung bzw. eindeutigere, lexikalisierte, expressiv-ausdrückende und weniger grammatische Kodierung des Emotionalen in der Sprache und damit auf größere Reflektivität hindeutet. Andererseits spiegelt sich in diesen sprachlichen Veränderungen auch die historische Entwicklung der Krise des Selbst wider (vgl. Hübler 1998: 197ff.; vgl. auch Hielscher 2003a: 483). Über Thematisierungen und Ausdruck von Emotionen in mittelalterlicher Literatur gibt es in jüngerer Zeit umfangreiche Forschungen. Beispiele sind die Sammelbände von Jaeger und Kasten (2003), Plotke et al. (2014) zur Emotion Trauer und Benthien, Fleig und Kasten (2000, auch zu anderen historischen Epochen). Eming (2006) bietet einen Forschungsüberblick und arbeitet die spezifische Emotionsqualität Liebe im mittelalterlichen Liebes- und Abenteuerroman auf. Koch (2006) leistet Ähnliches für Trauer. Ein Beispiel für spätere Epochen: Frevert et al. (2011) vollziehen den Bedeutungswandel von <?page no="159"?> 5.1 - Historische -Aspekte: -Sprache -und -Emotion -in -der -Zeit - 149 Gefühlswörtern wie Affekt, Gemüt und Emotion in Konversationslexika aus dem 18. bis 20. Jahrhundert aus kulturwissenschaftlicher Sicht nach. Intensiver Emotionsausdruck zur Emotionsabfuhr ist nach Eming (2006: 39) eine „zentrale Darstellungsstrategie“ in mittelalterlichen Texten. Es werden ebenso Muster und Regeln der textuellen Verhandlung von Emotionen befolgt (allerdings offensichtlich andere als in der Gegenwart), sodass auch für diese Texte eine undifferenzierte Zuordnung von sprachlichen Äußerungen zu authentischen Affekten nicht zielführend ist. Besonders ergiebig sind semantisch-lexikologische Untersuchungen zum Emotionswortschatz. Offenbar war im Mittelalter die Trennung zwischen Fühlen und Denken noch nicht vollzogen, wie Eming (2006: 45) zeigt: „Das Wort muot zum Beispiel bezeichnet eine heftige Erregung oder Stimmung, aber auch eine Absicht oder einen Entschluss“, also eine Mischung aus Emotion und Rationalität. Ähnliche Beobachtungen lassen sich auch an anderen Lexemen machen. Beispielsweise herrschte im Mittelalter, zumindest wenn man literarische Texte betrachtet, offenbar eine völlig andere Auffassung über Liebe vor: Bis ins 12. Jahrhundert war die nicht erotische Liebe zwischen Männern das Ideal, beeinflusst von Ciceros Vorstellung von Freundschaft (vgl. Jaeger 2003: X). Die Emotion Trauer etwa hat im Mittelalter Koch (2006: 284-288) und Eming (2006: 328f., 332) zufolge starke Beziehungen zu schame, zorn und êre (Identitätsverlust), ist also nicht nur oder nicht primär im klassischen Sinne eines Todesfalls zu verstehen. Starke Überwältigung durch Trauer ist ein stilisiertes Element in den von Koch und Eming analysierten Texten. Generell dient die Ritualisierung dieser Emotion der Konstruktion von Identität und Gemeinschaft, etwa über intensiven körperlichen Ausdruck (gestisch und mimisch, z.B. durch Haareraufen). Zudem finden sich in den Texten keine Thematisierungen der ‚Unsagbarkeit des Gefühls‘. Eming (2006: 330) spricht im Zusammenhang der starken Maskierung der Emotionalität von „Ökonomisierung“. Geht man über das Mittelalter hinaus, sind regelrechte Gefühlsmoden rekonstruierbar (z.B. Melancholie als Pose für Intellektuelle und Genies im 16. und 17. Jahrhundert, vgl. Jaeger 2003: XI). Auf der Makroebene zeigt sich, dass Emotionen im Vergleich zu früheren Epochen zunehmend „diskursfähig“ (Gerhards 1988: 244) werden, weil die Affektkontrolle gegenüber der Informalisierung von Emotionen an Bedeutung verliert: Sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich wird mehr über Emotionen reflektiert. Emotionen werden stärker nach außen getragen und dargestellt, und dies vor allem mittels Sprache. Mit dieser Versprachlichung geht ein Prozess der Veröffentlichung und Rationalisierung von Emotionen einher. Heringer (1999: 223) spricht ein wesentliches ‚Paradox‘ historischsemantischer Forschungen an: „Wir sind der theoretischen Überzeugung, <?page no="160"?> 5 - Historische, -kulturelle -und -soziale -Aspekte 150 dass anderswo und anderswann die Liebe anders konzipiert sein könnte, aber wir sprechen doch von der Liebe und wir wissen, dass sie universal und zeitlos ist.“ Allein wegen der Quellenlage lassen sich jedoch kaum verallgemeinernde Aussagen ableiten (vgl. Heringer 1999: 231f.). Dem stellt Heringer exemplarische Analysen literarischer Texte mit der Methode der distributiven Semantik (s. Kap. 3) gegenüber, mit der diachron Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Verteilung von Emotionswörtern in Texten untersucht werden können. Allerdings lässt diese Methode auch nur Aussagen in einem ganz bestimmten Korpus zu, z.B. über einen deutlichen Kontrast im Gebrauch von Liebe in Texten von Goethe gegenüber zeitgenössischen Texten. Beispielsweise steht bei Thomas Mann Liebe auffällig oft nahe beim Lexem Wort, in Zeitungstexten hingegen eher in menschlichen Zusammenhängen (vgl. Heringer 1999: 228ff.). 5.2 - Gefühlskulturen: Sprache und Emotion in der Welt Kultur wird von Helfrich (2003: 394) bestimmt durch „Muster des Denkens, Fühlens und Handelns, die über die einer Gesellschaft je eigenen Symbole erworben und weitergegeben werden“. Aus dieser Definition geht hervor, dass Sprache, Kultur und Emotion eng miteinander verwoben sind (vgl. Porter/ Samovar 1998: 465). In diesem Zusammenhang stellen sich einige Fragen: Wie ist die emotionale Sprache in verschiedenen Kulturen geprägt? Wie verläuft die sprachlich-emotionale Sozialisierung in verschiedenen Kulturen? Was ist phylogenetisch bzw. evolutionär vorbereitet, was ist kulturspezifisch? Einen Forschungsüberblick dazu liefert Wilce (2009). Hier angesichts des übergeordneten Themas der Arbeit nur einige grundlegende Bemerkungen. 5.2.1 - Überblick: -Kulturspezifische -Emotionen Jede Erforschung von Emotion muss sich dem Problem der kulturellen und einzelsprachlichen Bedingtheit von Emotionskonzepten stellen: Emotionswörter geben ganz bestimmte Interpretationen vor, die in interkulturellen Untersuchungen in die Irre führen können (vgl. Wierzbicka 1999: 27f.). Eine wesentliche Forschungsfrage in diesem Bereich betrifft die lexikologische Analyse des Emotionsvokabulars verschiedener Sprachen, ähnlich wie dies mit Bezeichnungen für Farben und Verwandtschaftsbeziehungen unternommen wurde (vgl. White 2004: 33). So, wie das Farbspektrum von Sprache zu Sprache höchst unterschiedlich mit Wörtern belegt wird, sind auch die Abstufungen der Emotionalität unterschiedlich fein und von verschiedenen Kategorienbildungen geprägt. Im Umgang mit Emotionen lassen sich große kulturelle Unterschiede feststellen, ja, sogar Emotionsqualitäten beschreiben, die nicht weltweit verbreitet <?page no="161"?> 5.2 - Gefühlskulturen: -Sprache -und -Emotion -in -der -Welt - 151 sind und doch in der jeweiligen Kultur von zentraler Bedeutung sein können (vgl. Flam 2002: 137; Weber 2000: 141). Als Beispiele nenne ich zwei oft zitierte Emotionen: • Fago ist ein Zustand von Traurigkeit und gleichzeitig Liebe und Hingabe, der von den Ifaluk, einem Volk eines mikronesischen Atolls, häufig empfunden wird. Song ist gerechtfertigter Ärger. Bei den Ifaluk werden Emotionen nicht als innere Zustände einer Einzelperson konzeptualisiert, sondern als ein soziales Geschehen (vgl. Lutz 1991: 119). • Mit amae bezeichnen Japanerinnen und Japaner eine als sehr positiv empfundene Abhängigkeit von einem geliebten Menschen (vgl. Geisler/ Weber 2009: 459; Holodynski 2006: 175f.). Man sieht: Emotionswörter aus bestimmten Sprachen werden mit kulturspezifischen Empfindungsweisen assoziiert. Die Phylogenese des Menschen ist untrennbar mit der Entwicklung und Verfeinerung von Artefakten verbunden. Unter Artefakten sind nicht nur Gebrauchsgegenstände wie Werkzeuge zu verstehen, sondern auch alle Arten von Symbolen, mit deren Hilfe Sinn transportiert wird, unter anderem auch die Sprache. Artefakte dienen der Handlungsregulation in einer Gemeinschaft; Emotionen sind für das Zusammenleben in einer Gemeinschaft sehr bedeutend und daher häufig Gegenstand von Artefakten (vgl. Holodynski 2006: 171). Kulturen weisen nach Holodynski (2006: 174-178, 183) und Helfrich (2003: 409) 53 folgende Differenzen hinsichtlich emotionsbezogener Kriterien auf: • Individualismus: Wird die Bedürfnisbefriedigung des Individuums oder die Rücksichtnahme auf die soziale Umgebung positiver bewertet? In kollektivistischen Kulturen wie etwa der japanischen wird Ärger beispielsweise wesentlich stärker maskiert und unterdrückt als in einer individualistischen wie der US-amerikanischen, weil in Japan Ärger nicht als legitime Emotion bewertet wird, die als Anstoß für die Durchsetzung individueller Interessen dient, sondern als Störung in den sozialen Beziehungen, die unbedingt vermieden werden muss. • Gefühlskomponente: Werden Emotionen eher als ein privates Phänomen oder als eine hauptsächlich sozial relevante Erfahrung aufgefasst? • Moralische Wertigkeit einzelner Emotionen und situative Einbettung: Welche Emotionen gelten als angemessen in welchen Situationen? 53 Beide berufen sich auf ein Standardwerk von Hofstede, in dem diese Ebenen im kommunikativen Verhalten von Personen unterschiedlicher Herkunft im Kontext von Organisationen untersucht werden: Hofstede, Geert (1980): Culture’s consequences. International differences in work-related values. Beverly Hills: Sage. <?page no="162"?> 5 - Historische, -kulturelle -und -soziale -Aspekte 152 • Emotionsregulation: Welche Strategien im Umgang mit Emotionen werden für effektiv und zulässig erachtet? • Emotionsentwicklung und Emotionsausdruck: Wie unterstützt die Bezugsperson, die sehr stark durch ihre kulturelle Herkunft geprägt wird, die Emotionsentwicklung? Welche Formen des Emotionsausdrucks sind üblich? Teilweise korrelieren diese Faktoren miteinander, z.B. ist in kollektivistischen Kulturen oft auch eine höhere Machtdistanz zu beobachten (vgl. Helfrich 2003: 410). Als Gegenargument zum Postulat der Kulturabhängigkeit von emotionalem Erleben kann die Auffassung von Goldie (2000: 93f.) dienen, dass die narrative Struktur von Emotionen je nach kulturellem Hintergrund variieren mag, die einzelnen Komponenten bzw. Kernthemen von Emotionen jedoch über verschiedene Kulturen hinweg dieselben bleiben. 5.2.2 - Relativität -und -Universalien Dass es kulturelle Unterschiede im Sprachverhalten gibt, ist unumstritten. Sie manifestieren sich auf der Ebene der Direktheit (z.B. direkte oder indirekte Meinungsäußerung), hinsichtlich der Perspektive (partnerzentriert - selbstzentriert) und hinsichtlich der Orientierung (beziehungsorientiert - sachorientiert, vgl. Helfrich 2003: 411). Insbesondere was die emotionale Kommunikation angeht, sind diese Dimensionen und Faktoren relevant: Zum einen werden Emotionsaufgaben in verschiedenen Kulturen in deutlich unterschiedlicher Art und Weise gelöst, zum anderen beruhen darauf interkulturelle Missverständnisse oder Missstimmungen, aber auch Bewertungen von Kulturen. Für die Sprachwissenschaft sind hier zwei Fragen zentral (vgl. Foolen 2012: 351): Lassen sich Universalien hinsichtlich der Emotivität feststellen? Und gibt es Emotionen ohne Sprache, also Empfinden, das überhaupt nicht sprachlich benannt werden kann? Während biologische Ansätze von der Unabhängigkeit zwischen Fühlen und Sprechen ausgehen, wird im sozialkonstruktivistischen Ansatz das Gegenteil behauptet, wie Wimmer (2007: 109) erklärt, ohne selbst diesen Standpunkt zu vertreten: „Ohne Sprache keine Emotion, d.h. verfügt ein Subjekt nicht über die entsprechenden sprachlichen Kompetenzen, die es erlauben Emotionen zu verbalisieren, werden diese Emotionen auch nicht empfunden.“ Auch wenn dieser starken Auffassung nicht zugestimmt wird, muss zugestanden werden, dass eine linguistische Auseinandersetzung von sprachlichen Daten lebt und eben nicht von dem, was nicht ausgedrückt wird oder werden kann. Bestehen bleibt jedoch die Frage, inwiefern unterschiedliche sprachli- <?page no="163"?> 5.2 - Gefühlskulturen: -Sprache -und -Emotion -in -der -Welt - 153 che Möglichkeiten auch unterschiedliches Fühlen implizieren. Ob Emotionen in einem Kulturkreis, in dem die betreffenden Emotionen semantisch nicht differenziert werden, auch nicht empfunden werden, lässt sich derzeit nicht beantworten (vgl. Danelzik 2005: 59; Wilce 2009: 68). Hinsichtlich der Universalität oder Relativität der sprachlichen Emotivität lassen sich nach Pavlenko (2005: 79f.) drei wissenschaftliche Traditionen unterscheiden: Nativistische Auffassungen sehen Konzepte - also auch Emotionskonzepte - als angeboren und universal an. Diese innere Sprache wird als mentalese bezeichnet. Universalistische Ansätze fassen Emotionen als eng an körperliche Erfahrungen und somit biologisch determiniert auf. Nur sekundäre Emotionen sind kulturell variabel. Relativistische Ansätze hingegen gehen davon aus, dass die sprachlichen Möglichkeiten des Emotionsausdrucks in einer Einzelsprache das Erleben von Emotionen beeinflussen, ja, formen. Die nativistische und die universalistische Auffassung werden meistens zusammengefasst. Während die Universalitätshypothese also davon ausgeht, dass in allen Sprachen dieselben Ausdrucksbedürfnisse und Prioritäten und nur eine Realität existiert, nimmt die Relativitätshypothese eine grundlegende linguistische Diversität und sprachlich geformte unterschiedliche Realitäten an. Universale Prinzipien des Sprachbaus werden aus relativistischer Perspektive abgelehnt, Übersetzungen sind aufgrund der unterschiedlichen zugrunde liegenden Konzepte schwierig bis unmöglich (vgl. Janney 1996: 396). Hier bietet sich eine vermittelnde Position an: Offensichtlich gibt es Elemente von Emotionen, die bei allen Menschen festgelegt sind, aber auch emotionale Erfahrungen im sozialen Kontext, die gemeinsam mit den Vorprägungen höchst unterschiedliche Emotionskonzepte und -kulturen hervorbringen. 54 Ebenso offensichtlich ist die Kommunikation über Emotionen in verschiedenen Sprachgemeinschaften nicht nur an der sprachlichen Oberfläche höchst verschieden (z.B. festgemacht an Emotionslexemen), sondern offenbart auch tiefergehende Unterschiede. Unter anderem variiert die Anzahl der Emotionen, die in der Sprachverwendung differenziert werden können, z.B. ist der taiwanesische Emotionswortschatz reichhaltiger als jener in vielen westlichen Kulturen (vgl. Heelas 1996: 174f.). Die Unterschiede sind insgesamt groß (vgl. Hielscher 2003b: 685). Auch die Expressivität ist unterschiedlich: In einer exemplarischen Studie von de Bleser (2006: 21ff., 29) wurde festgestellt, dass in allen untersuchten Kulturen ein quantitativer Unterschied zwischen den durch soziale Interaktion hervorgerufenen Emotionen Freude und Ärger und den eher individuellen 54 Vgl. Leventhal, H. (1980): Toward a comprehensive theory of emotion. In: Berkowitz, L. (Hg.): Advances in experimental social psychology. London: Academic Press, S. 149-207, zit. n. Heelas (1996: 171f.). <?page no="164"?> 5 - Historische, -kulturelle -und -soziale -Aspekte 154 Emotionen Traurigkeit und Angst zu beobachten ist: Die sozialen Emotionen werden allgemein häufiger ausgedrückt. Hier ist im Gegensatz zum Nonverbalen eine höhere verbale Expressivität bei japanischen Versuchspersonen festzustellen. Bei Fragen zu Kontrollversuchen zeigen sich jedoch keine Unterschiede in Selbstaussagen, was möglicherweise auf unbewusstere stärkere Maskierung von Emotionen bei japanischen Versuchspersonen hinweist. Zudem divergiert die sprachliche Klassifikation von Emotionen: Dies wird durch die Unterscheidung zwischen hypercognized und hypocognized beschrieben (vgl. Levy 1984: 219f.). Hypocognized bedeutet vereinfacht gesagt, dass einzelnen Emotionen in der entsprechenden Kultur wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird und sie kognitiv daher nicht gut durchdrungen sind, während hypercognized eine starke Repräsentation einer Emotion in einer bestimmten Kultur meint. Dieser Zusammenhang lässt sich auch gut am emotionalen Wortschatz ablesen: an der Menge und an der Untergliederung von Emotionswörtern in Einzelsprachen. Beispielsweise sind Traurigkeit und Schuldgefühl im Tahitianischen hypocognized (vgl. Levy 1984: 219f.). Ein weiterer deutlicher Unterschied betrifft die Konzeptualisierung von Emotionen: Kulturen lokalisieren Emotionen sehr unterschiedlich, z.B. als mentale Zustände, in verschiedenen Organen, als Verhalten oder als externe Kräfte Auch die mit Emotionen verknüpften Normen z.B. hinsichtlich des Ausdrucks und der Regulation sind sehr variabel (vgl. Heelas 1996: 179ff., 187ff.). Diese Konzepte schlagen sich auch in der Sprache nieder. Daraus leitet Fries (2003: 107, Hervorhebung i.O.) folgende Hypothese ab: „Je differenzierter die semiotischen Fähigkeiten eines Lebewesens sind, desto nuancierter sind seine Gefühle.“ Von manchen Forscherinnen und Forschern - insbesondere in älteren Arbeiten - wird eine derartige Form von Ikonizität zwischen Sprache, Emotion und Kultur angenommen, z.B. dass ein strenger Sprachbau strengen sozialen Strukturen entspreche (vgl. Porter/ Samovar 1998: 465ff.). Dieser Gedanke ist eine Fortführung des in der Linguistik des 20. Jahrhunderts intensiv diskutierten Relativitätsprinzips. Herder, Wilhelm von Humboldt, Boas, Sapir und Whorf begründeten die Tradition, unsere Wahrnehmung der Welt als von unseren Zeichensystemen geformt zu betrachten (vgl. Wilce 2009: 69f.). Dazu gehört auch die Ansicht, dass „emotionales Erleben und Verhalten von eben der Sprache beeinflußt wird, mit Hilfe derer man Emotionen beschreibt“ (Vester 1991: 28). Die Sapir-Whorf-Hypothese ist die prototypische Ausformung der relativistischen Position, obwohl Sapir Sprache als menschliche Universalie beschreibt (vgl. Werlen 2002: 191). Auf die Diskussion um diese wissenschaftshistorisch wichtige, aber von Anfang an umstrittene Hypothese und ihre Nachfolger kann hier nicht eingegangen werden (vgl. Werlen 2002 für eine Aufarbeitung), doch der emotionale Aspekt sollte zumindest erwähnt werden. Sapir (1961: 14) sieht die Sprache als „eine erworbene, zivilisatorische Funkti- <?page no="165"?> 5.2 - Gefühlskulturen: -Sprache -und -Emotion -in -der -Welt - 155 on des Menschen“ und betont, dass es sich um ein biologisch betrachtet sekundäres Phänomen handelt (vgl. Sapir 1961: 18). Er setzt Sprechen und Denken nicht gleich, sondern definiert Sprache als „prärationale Funktion“ (Sapir 1961: 23) und eine Grundbedingung für das Denken, indem es Begriffe formt. Sprachliche Symbole sind somit die Voraussetzung dafür, dass Ideen übertragen werden können (vgl. Sapir 1961: 28). Auch der emotive Wert von Wörtern hängt damit zusammen, wie Sapir (1961: 24f.) ausführt: „Sobald sich nämlich das Wort einstellt, atmen wir erleichtert auf in dem befreienden Gefühl, daß wir nun auch den Begriff verwendungsfertig zur Verfügung haben. Nicht ehe wir uns das Symbol zu eigen gemacht haben, fühlen wir uns sicher im Besitz des Begriffs. Wären der Tod fürs ‚Vaterland‘, der Kampf für ‚Freiheit‘ und andere ‚Ideale‘, was sie sind, wenn nicht die Wörter selbst uns in ganz besonderer Weise erregten? Das Wort, wie wir gesehen haben, ist nicht nur ein ‚Sesam öffne dich! ‘, es kann auch zum Hemmschuh werden.“ Sprache ist bei ihm also nicht eine rein rationale, begriffliche Operation, sondern stark von Emotionen beeinflusst. Im Gegensatz zu Sapir war Whorf kein anerkannter Linguist (vgl. Werlen 2002: 31f., 201ff.). Er bestimmt Sprache als „ein riesiges Struktursystem, in dem die Formen und Kategorien kulturell vorbestimmt sind, aufgrund deren der einzelne sich nicht nur mitteilt, sondern auch die Natur aufgliedert, Phänomene und Zusammenhänge bemerkt oder übersieht, sein Nachdenken kanalisiert und das Gehäuse seines Bewußtseins baut“ (Whorf 1963: 53). Sprache ist also Denken, wobei Whorf eine stark antirationalistische Sichtweise bevorzugt. Konnotationen haben für ihn beispielsweise gegenüber der referenziellen Bedeutung besonders wichtige strukturierende Funktionen für unser Verhalten (vgl. Whorf 1963: 63f.). Während sich Menschen hinsichtlich ihrer vorsprachlichen visuellen Wahrnehmung nicht unterscheiden, wirken sich die Kategorien und Konzepte, die in einer Einzelsprache vorliegen, auf das Weltbild einer Kultur aus (vgl. Werlen 2002: 229). Die Sicht von Sapir und insbesondere von Whorf wird - z.B. von Harris (1995: 354) - als empirisch nicht haltbar kritisiert. Insbesondere ist jede Form von Sprachideologie abzulehnen, zu der relativistische Positionen einzuladen scheinen. Dies lehnt übrigens auch Sapir (1961: 192ff.) explizit ab, indem er sich bei aller Interdependenz gegen eine Gleichsetzung von Kultur und Sprache ausspricht (vgl. auch Werlen 2002: 197). Doch auch in der modernen Forschung gibt es sprachideologische Ansätze: Fomina (2005: 375f.) beispielsweise meint, dass die Sprache Spuren „des nationalen Charakters“ aufweise und begründet dies mit einem Vergleich zwischen literarischen Texten deutscher und russischer Sprache, die teilweise ähnliche, teilweise jedoch auch sehr unterschiedliche Muster der Emotionskonzeptualisierung und des Ge- <?page no="166"?> 5 - Historische, -kulturelle -und -soziale -Aspekte 156 brauchs emotiv-wertender Lexik aufweisen. Beispielsweise ist in deutschsprachigen Texten das Emotionskonzept ANGST quantitativ und qualitativ am bedeutendsten, bei den russischen Texten hingegen LIEBE, was Fomina als Ausdruck des hochemotionalen russischen Nationalcharakters deutet (vgl. Fomina 2005: 381, 400). Solche Verallgemeinerungen und Stereotype, z.B. dass das komplexe System von Höflichkeitsformen im Japanischen auf eine allgemein höflichere Kultur schließen lasse (vgl. Helfrich 2003: 405f.), halte ich für problematisch, zumal es für solche Übertragungen von ästhetischen, moralischen und politischen Urteilen und Normvorstellungen auf andere Gruppen keine empirische Grundlage gibt (vgl. Wilce 2009: 27, 83). Die Position des Relativismus erhält durch semantische und kontrastive Untersuchungen des Emotionswortschatzes verschiedener Sprachen argumentative Unterstützung: Semantische Analysen fördern große Unterschiede in den Emotionslexika verschiedener Sprachgemeinschaften zutage. Forscherinnen und Forscher müssen sich jedoch stets der Gefahr bewusst sein, aufgrund der eigenen erworbenen Alltagspsychologie (folk psychology) Irrtümern zu erliegen (vgl. Goddard 2002: 20-24 für einen Forschungsüberblick). Allerdings zeigt sich, dass die grundlegenden Emotionskonzepte auch in typologisch und geographisch sehr unterschiedlichen Sprachen große Ähnlichkeiten aufweisen (vgl. Kövecses 2002 für Beispiele). Wierzbicka, deren Natural Semantic Metalanguage bereits thematisiert wurde (s. Kap. 3), formuliert einige sprachliche Universalien hinsichtlich der Emotivität. Demnach gibt es in allen Sprachen ein Wort für FÜHLEN, zumindest einige Emotionswörter, vergleichbare Wörter für weinen und lächeln, emotive Interjektionen und grammatische Konstruktionen für die Beschreibung von Gefühlen. Universell ist zudem, dass Emotionen mit Mimik, körperlichen Symptomen und positiver oder negativer Bewertung sprachlich in Verbindung gebracht werden (vgl. Wierzbicka 1999: 275f.). Insgesamt nimmt sie jedoch eine vermittelnde Perspektive zwischen Relativismus und Universalismus ein. Ähnliche Positionen vertreten Kailuweit (2005) und Janney (1996): Dass positive und negative Gefühle thematisiert und ausgedrückt werden können, ist allen Sprachen inhärent, „[d]ie konkrete Ausgestaltung des Phänomenbereichs Gefühl ist dagegen kulturspezifisch und stellt damit ein Wissen dar, das der einzelne in einem Akkulturationsprozess in prekärer Weise erwirbt“ (Kailuweit 2005: 18). Kulturelle Missverständnisse betreffen oft weniger den Inhalt als die emotive Tönung einer Äußerung und beruhen auf falscher Projektion der eigenen Vorstellungen auf andere (etwa über emotive Strategien). Solchen Problemen kann vorgebeugt werden, indem man sich über die beschränkte Übersetzbarkeit von Bedeutungen bewusst ist und sich über Gemeinsamkeiten und Unterschiede explizit verständigt (vgl. Janney 1996: 418, 438ff.). <?page no="167"?> 5.2 - Gefühlskulturen: -Sprache -und -Emotion -in -der -Welt - 157 5.2.3 - Kontrastive -Analysen Auch und gerade bei einer stark konstruktivistischen Sicht kann die lexikologische Analyse sehr fruchtbar sein, und zwar wenn klar ist, dass sich in der Struktur des Lexikons und in der Verwendung von Wörtern Emotionskonzepte manifestieren (vgl. Wierzbicka 1999: 32f.). Was Personen fühlen, ist zweitrangig gegenüber dem, wie sie das Gefühl erfassen, und hierfür ist die Sprache ein wichtiger Hinweis. Emotionskonzepte und Emotionslexika sind über verschiedene Sprachen hinweg betrachtet sehr unterschiedlich hinsichtlich ihrer Quantität und Qualität (vgl. Omondi 1997: 107f. für das Beispiel der afrikanischen Sprache Dholou, in der LIEBE kein Emotionskonzept ist, sondern eine andere Kategorie sprachlichen Erlebens umfasst). Es handelt sich um ein sehr umfangreiches Forschungsgebiet. Relevante Sammelbände sind etwa Athanasiadou und Tabakowska (1998) mit semantischen und kognitiven Detailanalysen zur Konzeptualisierung von Emotionen in so unterschiedlichen Sprachen wie z.B. Russisch, Japanisch, Zulu und Tagalog, der Sammelband von Harkins und Wierzbicka (2001) und Fontaine et al. (2013a) mit Untersuchungen nach dem GRID-Ansatz (vgl. Kap. 3). Es liegt eine große Anzahl von kontrastiven lexikographischen Analysen vor. An dieser Stelle kann ich nur einzelne Beispiele nennen. Drescher (2003b) kontrastiert Deutsch und Französisch. Französisch scheint im Wesentlichen dieselben emotiven sprachlichen Mittel bzw. grammatischen und lexikalischen Kategorien wie das Deutsche zu haben und in beiden Sprachen sind emotive Formen stark markiert, aber es gibt auch signifikante sprachspezifische Unterschiede. Eine bereits genannte sehr umfangreiche Studie von Lutz (1991) betrifft das Volk der Ifaluk. Danelzik (2005: 45) hält fest, dass die von Lutz postulierte Unübersetzbarkeit des Emotionsbegriffs fago als Beleg dienen kann für „die Unausdrückbarkeit des subjektiven emotionalen Erlebens“ bzw. für die Unüberprüfbarkeit, ob das den Emotionsausdrücken zugrunde liegende Empfinden intersubjektiv identisch ist. Doch sogar sehr einfache Basisemotionslexeme, die auf Basisemotionen referieren sollen, sind nicht 1: 1 übertragbar, sondern weisen mehr oder weniger subtile kulturelle, situative, evaluative, kognitiv-konzeptuelle Bedeutungs- und Verwendungsunterschiede auf (vgl. Wierzbicka/ Harkins 2001: 5ff. für einen Überblick). Weigand (1998b) vergleicht Deutsch, Englisch und Italienisch hinsichtlich der Emotion ÄRGER. Dem’jankov (1998) nimmt ebenfalls einen Vergleich zum Ärgerkonzept vor, allerdings hinsichtlich Russisch und Deutsch. In beiden Untersuchungen zeigt sich, dass auch typologisch ähnliche Sprachen aus derselben Sprachfamilie deutliche Unterschiede aufweisen. Heringer (1999: 155f.) kritisiert alle Ansätze dieser Art als von vornherein methodisch unzureichend, da Emotion als Universalie schon vorausgesetzt ist <?page no="168"?> 5 - Historische, -kulturelle -und -soziale -Aspekte 158 und da angenommen wird, dass Übersetzungen möglich sind, während gerade eine Nicht-Gleichsetzung notwendig wäre, also die genaue interkulturelle Analyse der zugrunde liegenden Emotionsqualitäten an sich, bevor der Wortschatz verglichen werden kann. Vorannahmen über die Gleichartigkeit des Gefühls in verschiedenen Kulturen sind für ihn unzulässig. Eine Zusammenfassung der wesentlichen Unterschiede liefert Pavlenko (2005: 117f.): • Nicht alle Sprachen verfügen über einen Basisbegriff ‚Emotion‘. • Es werden unterschiedliche grammatische Kategorien zur Kodierung von Emotionen bevorzugt: Verben (Emotionen als Prozesse), Adjektive oder Nomen (Emotionen als interne Zustände). • Nicht einmal für Basisemotionen haben alle Sprachen lexikalische Elemente. Hielscher (2003b: 686) und Diller (2005: 1578f.) halten dem entgegen, dass es deutliche Überschneidungen bei Clusteranalysen von Basisemotionen gibt, obwohl oft auch sehr einfache Emotionswörter nicht gut übersetzbar sind. • Die Differenziertheit in den Kodierungsmöglichkeiten einzelner Emotionskategorien ist höchst unterschiedlich (beispielsweise kann das englische Lexem anger im Deutschen Zorn, Wut und Ärger bedeuten). • Verschiedene Kulturen haben unterschiedliche fokale, also zentrale Emotionen (siehe die Unterscheidung zwischen hypo- und hypercognized). Für viele Emotionslexeme gibt es nicht in allen Sprachen Entsprechungen (z.B. Schadenfreude). • Bestimmte pathologische emotionale Zustände werden nur in bestimmten Kulturen beobachtet, was auch auf unterschiedliches körperliches Erleben von Emotionen hindeutet. • Emotionskonzepte unterscheiden sich in den grundlegenden Komponenten kausale Bedingungen, Kategorisierung von Ereignissen, Appraisal, körperliche Zustände, Konsequenzen, Emotionsregulationsmechanismen, Emotionsausdruck (display rules). • Das ‚affektive Repertoire‘ auf der Diskursebene (z.B. reflektiert in Konversationsstilen, Literatur, sprachlichen Konflikten) unterscheidet sich ebenso signifikant von Kultur zu Kultur. Da in der vorliegenden Arbeit ausschließlich deutschsprachige Texte analysiert werden, wird auf diesen Aspekt trotz seiner Bedeutung für die emotionslinguistische Forschung nicht näher eingegangen. <?page no="169"?> 5.3 - Soziales: -Sprache -und -Emotion -in -der -Kommunikation - 159 5.3 - Soziales: Sprache und Emotion in der Kommunikation Untersuchungen von Rimé/ Corsini/ Herbette (2002: 189) zufolge teilen Menschen einen Großteil ihrer Emotionserfahrungen, und zwar in der Mehrzahl der Fälle sehr bald nach dem Ereignis, in jedem Alter - je älter eine Person, desto öfter werden die Erfahrungen mitgeteilt -, weitgehend unabhängig vom Geschlecht, von der Persönlichkeit und von der Intensität bzw. Valenz des Ereignisses. Nicht (mit-)geteilte Emotionsepisoden sind an Scham- und Schuldgefühle gekoppelt oder kognitiv (noch) zu überwältigend. Der Prozess des Mitteilens ist metaphorisch gesprochen Klebstoff, der die sozialen Beziehungen festigt. Nicht zuletzt werden gehörte emotionale Geschichten auch an andere Personen weitergegeben - mündlich und schriftlich, im Alltag und in künstlerischen Produkten. Das Teilen emotionaler Erfahrungen ist ein Prozess ihrer kognitiven Verarbeitung. Insgesamt kann also davon ausgegangen werden, dass die soziale Funktion des Sprechens und Schreibens über Emotionen im Alltag eine große Rolle spielt. Dass Emotionsausdruck und Emotionsthematisierung von verschiedenen Normen und Regeln geprägt werden, ist laut Rohde-Höft (2005: 276f.) eine Voraussetzung dafür, dass die Kommunikation von und über Emotionen erfolgreich sein kann. Nicht nur die Regulation der eigenen Emotionen ist dafür von Belang, sondern auch die Beeinflussung des Gegenübers. Dabei handelt es sich nach Schwitalla (2010: 155) um „weitgehend sozial regulierte Prozesse“. Zunächst werden in diesem Abschnitt Überlegungen und Modelle emotionaler Kommunikation integriert. Anschließend werden einige Forschungsergebnisse zur emotionalen Kommunikation spezifischer sozialer Gruppen referiert, die sich durch Merkmale wie Alter, Herkunft und Geschlecht unterscheiden. 5.3.1 - Emotion -und -Kommunikation Bei der Auswahl der folgenden Kommunikationsmodelle und Differenzierungen - von Fiehler, Kurilla, Adamzik, Weigand und Drescher - galt einerseits das Kriterium, dass das Emotionale im Mittelpunkt der theoretischen Konzeption von Kommunikation stehen sollte, und andererseits das Ziel, möglichst disperse Ansätze vorzustellen. Die bis dato umfang- und einflussreichste deutschsprachige Publikation zum Thema ‚Kommunikation und Emotion‘ ist die gleichnamige Habilitationsschrift von Fiehler (1990b). Darin untersucht er die Rolle und den sozialen Charakter von Emotionen in der sprachlichen Interaktion. Demnach sind Emotionen interaktive, öffentliche Phänomene, die sich in der Kommunikati- <?page no="170"?> 5 - Historische, -kulturelle -und -soziale -Aspekte 160 on manifestieren, wobei Emotionsaufgaben erfüllt und Emotionsregeln befolgt werden müssen (vgl. Fiehler 1990b: 45f.). Die Kommunikationsaufgaben unterteilt er in drei Gruppen (vgl. Fiehler 1990b: 31ff., 95, 149): 1) Manifestation von Emotionen (z.B. wechselseitige Darstellung der eigenen momentanen emotionalen Befindlichkeit) 2) Deutung von Emotionen (z.B. wechselseitige Deutung und Typisierung der momentanen emotionalen Befindlichkeit der beteiligten Personen) 3) Prozessierung von Emotionen (z.B. Typisierung der emotionalen Qualität der Beziehung zwischen den Interagierenden). Die grundlegenden Strategien sind hier Eingehen, Hinterfragen, Infragestellen oder Setzen einer Gegenmanifestation und Ignorieren/ Übergehen. Davon ausgehend beschreibt Fiehler Regeln der Emotionalität, die in der Kommunikation befolgt werden (sollten): • Emotionsregeln: In bestimmten Situationen sind bestimmte Emotionen üblich. Stirbt beispielsweise ein naher Verwandter, ist man traurig (vgl. Fiehler 1990b: 78). • Manifestationsregeln: Dem Ausdruck von Emotionen müssen keine realen Gefühle zugrunde liegen, vielmehr gibt es Regeln dafür, wann Emotionen in der Interaktion manifestiert werden müssen (vgl. Fiehler 1990b: 78). Wird ein naher Verwandter begraben, zeigt man bei diesem Anlass seine Trauer. • Korrespondenzregeln: „Wenn gedeutet wird, dass der Interaktionspartner die Emotion X hat, dann ist es angemessen und wird sozial erwartet, dass man eine korrespondierende Emotion Y hat und/ oder interaktionsrelevant manifestiert.“ (Fiehler 1990b: 79) Begegnet man bei einem Begräbnis einer trauernden Person, zeigt man sich trauernd oder betroffen. • Kodierungsregeln: Diese Regeln legen fest, welche Verhaltensweisen als Manifestation einer Emotion gelten können (vgl. Fiehler 1990b: 80). Trauer zeigt man beispielsweise mit Tränen, herabhängenden Mundwinkeln oder spezifischen Äußerungen wie z.B. Ich bin am Boden zerstört. Die Regeln unterliegen historischem Wandel und zeigen rollen-, geschlechts-, schicht- und (sub-)kulturspezifische Variation, in denen sich gesellschaftliche Bewertungen von Emotionen ausdrücken. Verstöße, Abweichungen und Abschwächungen sind möglich. Die Regeln sind jedoch funktional in dem Sinne, dass sie die alltägliche Kommunikation erleichtern (vgl. Fiehler 1990b: 80ff., 86). Es können vielfältige Diskrepanzen auftreten, z.B. zwischen Emoti- <?page no="171"?> 5.3 - Soziales: -Sprache -und -Emotion -in -der -Kommunikation - 161 onen und Emotionsregeln, zwischen den Erwartungen und den tatsächlich realisierten Manifestationen, zwischen der Emotionsdeutung und der Manifestationsdeutung usw. (vgl. Fiehler 1990b: 180-183). Solche Diskrepanzen können zu Störungen der Kommunikation führen. Ein weiteres sozial bzw. kommunikativ gesteuertes Phänomen ist die Emotionsregulation. Einerseits müssen unangemessene Gefühle reguliert werden, andererseits muss die aktuelle Situation in vielerlei Hinsicht schnell und flexibel gedeutet werden: Welche Möglichkeiten der Emotionsmanifestation eröffnen sich, welche Emotionsaufgaben sind zu erfüllen, welche Emotionsregeln sind zu befolgen (vgl. Fiehler 1990b: 88)? Neben kognitiven, körperlichen und expressiven Möglichkeiten der Regulation werden dafür auch verbal-kommunikative Techniken benötigt (vgl. Fiehler 1990b: 91). Die wichtigsten kommunikativen Verfahren und Muster werden in Kap. 6 dargestellt. Für Kurilla (2013: 463f.) ist eine wichtige, aber oft vernachlässigte Fragestellung, wie diese Regeln tradiert werden. Er unterscheidet zwischen Emotionsregeln und Emotionsschablonen - mit Letzteren meint er Schemata der Emotionalität, die interaktiv geteilt und ebenso wie Regeln durch diverse ‚Medien‘ (im allgemeinen Sinne von Vermittlungsinstanzen) tradiert werden. In der Definition von Kurilla (2013: 463): „Der Unterschied ergibt sich aus der Präsentation von Emotionsregeln als explizite Wissenstatsachen im Vergleich zur Präsentation von Emotionsschablonen in Handlungszusammenhängen.“ Er betrachtet Emotionen bzw. ihren Ausdruck selbst als Medien, die bestimmte ‚Leistungen‘ erbringen (was bei ihm ein umfassenderer Ersatzterminus für Funktionen ist, vgl. Kurilla 2013: 475). Hier unterscheidet er drei wesentliche Leistungen: • Emotionen als Steuerungsmedium: Gemeint ist hier die Handlungssteuerung, wobei dies nicht nur den unmittelbaren Emotionsausdruck, sondern auch kulturelle Praktiken wie die Wohnraumgestaltung einschließt (vgl. Kurilla 2013: 481). • Emotionen als Vergesellschaftungsmedium: Mit drei Stichwörtern lässt sich die Leistung von Emotionen in diesem Zusammenhang umreißen, nämlich mit Kohäsion, Identität und Distinktion (vgl. Kurilla 2013: 492). • Emotionen als Erfolgsmedium: Kurilla rekurriert hier auf Luhmanns Verständnis dieses von Parsons eingeführten Begriffs und meint, dass Emotionen unter bestimmten Bedingungen erfolgreiche Interaktionen anstoßen und begleiten können (vgl. Kurilla 2013: 493f.). Er beschreibt weitere mögliche Zusammenhänge zwischen Emotion und Kommunikation sehr grundlegend und kommt zum Schluss, dass Emotionen, aber auch die Regeln und Schablonen in der Interaktion permanent im Fluss <?page no="172"?> 5 - Historische, -kulturelle -und -soziale -Aspekte 162 sind, in komplexe Wechselspiele eingebunden sind (z.B. bezüglich der wahrgenommenen oder tatsächlichen Authentizität oder der willentlichen oder unwillentlichen Mitteilung von Gefühlszuständen) und die Kommunikation erst konstituieren (vgl. Kurilla 2013: 512ff., 517ff.). Bei Adamzik (1984) ist der Beziehungsaspekt (im Sinne von Watzlawick/ Beavin/ Jackson 1974) eine Analysekategorie neben anderen wie den einzelnen Teilakten eines Sprechakts, sozialen Charakteristika (Rollen, Gruppen) und der psychischen Befindlichkeit. Wesentlich wichtiger als Repräsentativa, die nur selten zum Emotionsausdruck verwendet werden, sind unterschiedliche Typen von Partnerbewertungen. Adamzik (1984: 257) unterscheidet hier extradyadische Bewertungen, die sich auf Einstellungen zu Sachverhalten und Personen beziehen, Selbstbewertungen und Partnerbewertungen. Bei extradyadischen Bewertungen spielen starke emotionale Bewertungen (z.B. emotionsausdrückende Wörter wie fantastisch, Flüche) eine wichtige Rolle: Bei übereinstimmender Einschätzung kann von Solidarisierung und größerer Nähe ausgegangen werden, umso mehr, je emphatischer und extremer die Bewertung ausfällt. Schätzen die Kommunikationsbeteiligten dies unterschiedlich ein, spricht insbesondere eine emphatische und intensive Bewertung für eine starke Distanzierung (vgl. Adamzik 1984: 257- 261). Wenn die Bewertung nicht intensiv ausfällt und der Gültigkeitsanspruch relativiert wird, kann aber auch eine Annäherung eintreten. Positive Selbstbewertungen mit expliziten Formulierungen sind selten, da dies in unserer Kultur als Eitelkeit aufgefasst wird. Daher sind verschiedene Strategien häufig, beispielsweise Abschwächung, etwa über Ironie, ‚fishing for compliments‘ und Understatement (vgl. Adamzik 1984: 262ff.). Durch negative Selbstbewertungen wird vor allem versucht, das Gegenüber zur Hilfestellung oder zu einer milderen Beurteilung zu bewegen (z.B. sich entschuldigen, negative Partnerbewertungen vorwegnehmen) (vgl. Adamzik 1984: 266ff.). Direkte Partnerbewertungen des Gegenübers stellen die größte und vielfältigste Gruppe und sind in ihrer beziehungsgestaltenden Kraft am offensichtlichsten. Bei den positiven Bewertungen unterscheidet Adamzik Objektbewertungen (z.B. Komplimente) und Gesamtbewertungen (z.B. Ausdruck von Wertschätzung überdauernder Eigenschaften wie durch Anredeformen, vgl. Adamzik 1984: 269ff., 280ff.). Partnerkritik kann unterschiedlichste Funktionen erfüllen, darunter emotionale Entladung, Prestigekampf (rituelle Beschimpfung, z.B. in der Jugendkultur), den Versuch einer Kränkung und vor allem die Veränderung des Partnerverhaltens (vgl. Adamzik 1984: 288ff.). Weigand (1998b, teilweise 2003: 5, 288) untersucht die ‚Sprache als Dialog‘ unter sprechakttheoretischen Vorzeichen. Sie stellt eine Reihe von Prinzipien zusammen, denen Gespräche folgen, darunter beispielsweise dass Kommunikationspartner verschiedene kognitive Voraussetzungen hinsichtlich ihrer Ziele oder des Erfahrungswissens mitbringen und dass wir uns an Konventio- <?page no="173"?> 5.3 - Soziales: -Sprache -und -Emotion -in -der -Kommunikation - 163 nen halten, von denen wir aber auch abweichen können. Emotionen müssen in der Kommunikation kontrolliert werden und sollten nicht übermächtig werden - dennoch geraten Emotionen und rationales Verhalten in bestimmten Situationen in einen Widerspruch, der aufgelöst werden muss, manchmal durch Kontrolle (z.B. sich nicht provozieren lassen), manchmal durch den Abbruch der Kommunikation. Drescher (2003b: 81) betont den sozialen und in weiterer Folge den diskursiven Charakter von Emotionen, was für sie gleichbedeutend ist mit einer Fokussierung auf Formulierungsverfahren, also auf rhetorisch-stilistische Fragen. Unter dem Kernterminus ‚emotionale Beteiligung‘ versteht Drescher (2003b: 82f.) eine gemeinsame Betrachtung der Ausdrucksseite und ihrer interaktiven Bedingtheit. Weitere theoretische Voraussetzungen ihrer Analysen sind die beiden Termini ‚Rahmen‘ und ‚Rollen‘ (in Anlehnung an Goffman). 55 Die wesentlichen Zusammenhänge lauten wie folgt: • Rahmen sind „Schematisierungen sozialer Situationen unterschiedlicher Komplexität“ (Drescher 2003b: 179). In der Analyse von Gesprächen unterscheidet Drescher (2003b: 220) affektive und nicht-affektive Rahmen: „Im Falle affektiver Rahmen ist [die emotionale Beteiligung, Anm. v. H.O.] ein konstitutives Element der mit der Relevantsetzung des Rahmens aktivierten Erwartungen“. Der Rahmen gibt die Emotionalität vor und entscheidet darüber, dass sie als nicht-markiert wahrgenommen wird. Das heißt, dass in bestimmten Gesprächsrahmen Emotionen erwartbar sind, in manchen nicht. Unter ‚Modulation‘ versteht Drescher das emotionale Ausfüllen nicht-affektiver Rahmen. In diesem Fall gibt der Rahmen die Emotionalität nicht vor, sodass sie markiert erscheint. • Es sind jedoch auch Rahmenwechsel möglich, also Umkehrungen der Markiertheit bzw. Unmarkiertheit (vgl. Drescher 2003b: 183). • Während Rahmen die Situation betreffen, beziehen sich Rollen auf die Akteure bzw. auf die Erwartungen an Akteure aufgrund ihrer sozialen Position (vgl. Drescher 2003b: 179). Drescher nennt nun folgende emotionale Aktivitäten im Gespräch: Bewerten/ Evaluieren, Intensivieren, Subjektivieren und Veranschaulichen (alles, was Eindruck von „Präsenz und Unmittelbarkeit“ - Drescher 2003b: 101 - bewirkt). Dieses Schema kann, wie Drescher im empirischen Teil ihrer Arbeit zeigt, sehr fruchtbar auf konkrete Textanalysen angewendet werden, etwa auf die Handlung des Klagens oder auf die narrative Struktur von Selbstdarstellungen (vgl. Drescher 2003b: Kap. 7). 55 Goffman, Erving (1980): Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, zit. n. Drescher (2003b). <?page no="174"?> 5 - Historische, -kulturelle -und -soziale -Aspekte 164 In einem ganz anderen Ansatz verknüpft Schröder (2009) das linguistische Instrument des Semantischen Differenzials mit einem sozialwissenschaftlichen Modell zur Erklärung von Verhalten, nämlich mit der Theorie der Affektsteuerung. Schröder (2009: 34) geht davon aus, „dass Menschen ihre sozialen Handlungen danach auswählen, dass sie affektiv zu den beteiligten Personen ‚passen‘“. Entscheidend dafür sind die sprachlichen Benennungen in der Interaktion. Die emotionalen Assoziationen von Wörtern, die in einem ‚affektiven Lexikon‘ mit Durchschnittswerten für die prototypische Bewertung festgehalten sind, werden als Grundlage für die Prognose von Verhalten herangezogen (vgl. Schröder 2009: 41ff., 46). Ein Beispiel: Bei der Beurteilung des Beispielsatzes Die Mutter schimpft mit dem Kind kann man anhand der emotionalen Profile der Wörter Mutter und schimpfen errechnen, dass eine Mutter, die mit ihrem Kind schimpft, einen Gefühlszustand erleben muss, der dem Emotionskonzept ZORN entspricht (vgl. Schröder 2009: 50; stark vereinfachte Darstellung). Um das aus solchen Sätzen wahrscheinlich hervorgehende Verhalten vorherzusagen, werden Verben aus dem affektiven Lexikon herausgesucht, deren Bewertungen einem Computermodell zufolge in den Dimensionen Evaluation, Potenz und Aktivität optimal zwischen Subjekt und Objekt stehen. Subjekt, Objekt und Verb drücken dann eine bestimmte Rollenerwartung aus (z.B. Bürger als Akteur - erwarten - Abgeordneter als Objekt). Die von Schröder (2009: 101) formulierte Emotionshypothese besagt: „Versuchspersonen erleben mit höherer Wahrscheinlichkeit solche Emotionen, die strukturell zu den Bedeutungen passen, die sie sich selbst und ihren Interaktionspartnern zuschreiben.“ Tatsächlich decken sich erlebte Emotionen mit den Emotionen, die semantisch betrachtet am besten zur Situation passen (vgl. Schröder 2009: 133). Aus diesen Ergebnissen kann für die vorliegende Arbeit zumindest folgender Nutzen gezogen werden: Interpretationen von Sätzen, Äußerungen und Texten hängen ganz wesentlich an lexikalischen Entscheidungen und semantischen Beziehungen zwischen den einzelnen sprachlichen Elementen. Emotionale Kommunikation ist somit nicht völlig idiosynkratisch, sondern durch soziale und kulturelle Schemata mitbestimmt. 5.3.2 - Soziale -Merkmale: -Varietäten, -Gruppen, -Abweichungen Die Überschrift zu diesem Abschnitt ist möglicherweise irreführend, da streng genommen jede mündliche oder schriftliche emotionale Äußerung in irgendeiner Art und Weise als Sonderfall zu klassifizieren wäre. Jede Kommunikationsteilnehmerin, jeder Kommunikationsteilnehmer bringt bestimmte Vorbedingungen mit: ein konkretes Alter, ein Geschlecht, einen sozioökonomischen Status, eine regionale Herkunft, verschiedene Konstellationen von <?page no="175"?> 5.3 - Soziales: -Sprache -und -Emotion -in -der -Kommunikation - 165 beherrschten Sprachen (Mehrsprachigkeit) und vieles andere. Die folgenden Bemerkungen sollen eine Abgrenzung und Präzisierung darstellen. Varietätenlinguistische -Hinweise Die Beherrschung von Sprachen, Dialekten und anderen varietätenlinguistischen Spezifika ist ein wichtiger Teil der Identität. Zimmer (1981: 179) drückt dies so aus: „Jeder trägt seine Sprache wie eine unauslöschliche Tätowierung, die allen bis an sein Lebensende verraten wird, in welche Gruppe er gehört.“ Bei plurizentrischen Sprachen entwickeln sich in der Regel dominante und nicht-dominante Varietäten. Die dominante Varietät wird dann häufig als Standardnorm angesehen. Die Einstellungen, also die emotionalen Besetzungen, sind jedoch sehr unterschiedlich: Einerseits werden nicht-dominante Varietäten im alltäglichen Sprachgebrauch bevorzugt, andererseits wird die Standardnorm als die richtige Varietät betrachtet; sie verfügt entsprechend über höheres Prestige sowie höhere Verbindlichkeit - z.B. für öffentliche und formelle Kontexte, aber auch im Schulunterricht -, was wiederum zu einer Abwertung der nicht-dominanten Varietät führt (vgl. Muhr 2005: 18). Ein Beispiel für eine einflussreiche soziolinguistische Untersuchung ist Labovs Standardwerk ‚Language in the inner city‘ (Erstauflage: 1972). In dieser Arbeit beschreibt Labov (1976: Kap. 8) nicht nur die phonetischphonologischen und syntaktischen Regeln des Black English Vernacular, die Umgangssprache der afro-amerikanischen Bevölkerung in US-amerikanischen Innenstadtbezirken in den 1970er Jahren, sondern auch pragmatische und letztendlich emotional relevante Aspekte. Dazu gehört beispielsweise das rituelle Beleidigen (ritual insults), in dem sich bestimmte narrative Muster und Konventionen nachweisen lassen: Beispielsweise können rituelle Beleidigungen (sounds), die sich inhaltlich sehr oft auf die Eltern der Angegriffenen beziehen, nicht geleugnet werden, sondern müssen mit einer cleveren Antwort bedacht werden. Häufig wird darauf hingewiesen, dass in emotionaler Sprechweise eher Dialekt verwendet wird (vgl. Kranich 2003: 216 anhand ihrer phonetischen Untersuchung). Dialekt als die emotional getönte Varietät ist eine beliebte alltagspsychologische Vorstellung, auf der auch Mundartdichtung beruht. Dialekt ist authentisch, drückt Nähe aus, stellt Beziehungen zur Herkunft und somit zur Identität her - Code-Switching in Gesprächen von einer Varietät in eine andere kann starke Emotionalität anzeigen (vgl. Vaňková 2011: 217). Während in Gesprächen die Verwendung von Dialekten je nach regionalen Bedingungen völlig unmarkiert ist, sind dialektale Elemente in schriftlichen Texten (außer z.B. in Chats) nicht nur ungewöhnlich und auffällig, sondern meistens auch emotiv. <?page no="176"?> 5 - Historische, -kulturelle -und -soziale -Aspekte 166 Mehrsprachigkeit Emotionalen und motivationalen Aspekten wird im Erlernen von Fremdsprachen große Bedeutung beigemessen. Ein lange schwelender Konflikt in der Forschung zum L2-Erwerb betraf die Frage, ob das Erlernen einer L2 negative Auswirkungen auf die L1 hat und mit emotionalen Problemen einhergeht oder ob vielmehr das Nicht-Erlernen einer zweiten Sprache zu emotionalen Konflikten führt. Gegenwärtig wird Mehrsprachigkeit im Mainstream der Forschung eindeutig positiv bewertet. Ekstrand (1994: 10) kommt in seiner Reanalyse und seinen eigenen Studien zu dem Schluss, dass soziale bzw. emotionale Faktoren wie z.B. die Einstellung gegenüber der L2 oder L1 und deren Beherrschung nur sehr schwach miteinander korrelieren. Dies widerspricht nicht unbedingt der Erkenntnis von Pavlenko (2005: 32ff., vgl. auch Vandermeeren 2005: 1324), wonach es einen eindeutig feststellbaren Einfluss von Ängstlichkeit (anxiety) auf den Erfolg des L2-Erwerbs in schulischen Kontexten gibt - demnach sind funktionale und dysfunktionale Ängstlichkeit zu unterscheiden. Einen starken Einfluss hat laut Ekstrand (1994: 6f.) das Urteil oder vielmehr Vorurteil von Lehrpersonen über die (kognitive) Sprachkompetenz von Schülerinnen und Schülern und deren sozio-emotionale Charakteristika (z.B. eine schüchterne Persönlichkeit). Hier ergibt sich ein Anknüpfungspunkt zu Pavlenko: Die mehr oder weniger störende Ängstlichkeit und der Erfolg oder Misserfolg im Fremdsprachenlernen sind abhängig von der Lernsituation, die förderlich oder hinderlich sein kann. Auch die Motivationen für den Fremdsprachenerwerb spielen mit: Hier unterscheidet Vandermeeren (2005: 1324) grob instrumentale Motivationen (zweckgebunden, z.B. für den Beruf), integrative Motivationen (Aufnahme von Beziehungen als Ziel) und assimilative Motivationen (Aufnahme in die Zielkultur als Anreiz). Aus soziolinguistischer Sicht kann die emotionale Bindung an Sprachen bei mehrsprachigen Menschen sehr unterschiedlich sein, was ein wichtiger Faktor im Sprachwandel und in der Sprachbewahrung ist. ‚Affective borrowing‘ beispielsweise bezeichnet das Phänomen, dass zum Ausdruck von Emotionen Elemente aus einer anderen Sprache übernommen werden (vgl. Pavlenko 2005: 36). In der Spracheinstellungsforschung wird versucht, Fragen nach der Bewertung eigener und fremder Sprachen auf eine theoretische und empirische Basis zu stellen, wie Vandermeeren (2005: 1319) definiert: „A language attitude is an idea charged with emotion with respect to language behaviour and predisposes a type of (language) behaviour to a particular class of language situations.“ Spracheinstellungen werden von kognitiven Faktoren (Wissen über die Sprache), emotionalen Faktoren (Bewertungen der Sprache), konativen Faktoren (Verhaltensdispositionen) und vom sozialen Kontext beeinflusst (vgl. Van- <?page no="177"?> 5.3 - Soziales: -Sprache -und -Emotion -in -der -Kommunikation - 167 dermeeren 2005: 1319f.). Sie beziehen sich unter anderem auf die Einzelsprachen und ihre Verwendung selbst, z.B. auf gruppenspezifische Stile und Code-Switching, oder auf die Sprecherinnen und Sprecher, z.B. hinsichtlich stereotyper negativer Attributionen. Vandermeeren (2005: 1319, 1321) hebt die evaluativ-normative Komponente hervor: Soziale Normen sind demnach zentral für Spracheinstellungen. Dies hat viel mit der ethnolinguistischen Identität sowie mit der Gruppenmitgliedschaft zu tun, und zwar sowohl mit der objektiven, das heißt durch die Herkunft festgelegten, als auch der subjektiven, das heißt der mehr oder weniger bewusst gewählten. Konkret drücken sich Spracheinstellungen sowohl im beobachtbaren Verhalten als auch in Äußerungen über Spracheinstellungen aus, was Vandermeeren (2005: 1321) an folgenden Fragen festmacht: Welche Sprache wird in welcher Situation, bei welcher Person und mit welcher Intention gewählt? Wird eine bestimmte Sprachgemeinschaft diskriminiert? Eine umfassende Aufarbeitung der emotionalen Bedingungen und Konsequenzen von Mehrsprachigkeit bietet Pavlenko (2005). Die Ergebnisse ihrer Fragebogenstudie führen sie zu einigen Schlüssen, die traditionelle Auffassungen von Emotion und Mehrsprachigkeit revidieren: So bedeutet der Erwerb einer L2 auch den Erwerb neuer und die Veränderung bestehender Emotionskonzepte (vgl. Pavlenko 2005: 85f., 88f.). Das Emotionslexikon ist diesbezüglich besonders aufschlussreich; es kann höchst unterschiedlich organisiert sein: Es ist sowohl möglich, dass die L1 die L2 stark beeinflusst, als auch dass das Emotionslexikon der L2 jenes der L1 verändert - oder auch, dass es keine erkennbaren Unterschiede zu monolingualen Personen aufweist. Keineswegs ist die L1 automatisch jene Sprache, in der bevorzugt Emotionen ausgedrückt werden und die mit positiveren Emotionen assoziiert wird. Zwar wird laut Pavlenko (2005: 158ff.) tatsächlich oft auf die L1 zurückgegriffen, um sowohl positive als auch negative Emotionen auszudrücken, z.B. in psychotherapeutischen Kontexten. Doch Pavlenko (2005: 132ff., 148f., 184ff.) zeigt unter anderem anhand von Fallstudien, dass Sprachbiographien mit sehr individuellen emotionalen Mustern einhergehen. Die Auswahl der aktuell angewendeten Sprache beruht dabei auf individuellen Faktoren (z.B. Kompetenz, Zeitpunkt des Erwerbs), kontextuellen Faktoren (z.B. Prestige) und sprachsystematischen Faktoren (z.B. Emotionswortschatz), insbesondere jedoch auf dem aktuellen Ausdrucksbedürfnis und auf der Entscheidung, wie dieses am besten erfüllt werden kann. Hier bilden sich komplexe Identitätsnarrative heraus (vgl. Pavlenko 2005: 199, 220). Gruppensprachen Die soziale Gruppe, der Personen angehören, hat starke Einflüsse auf das Enkodieren und das Dekodieren von Emotionen. Hess/ Kirouac (2004: 370f.) <?page no="178"?> 5 - Historische, -kulturelle -und -soziale -Aspekte 168 nennen eine Reihe von Variablen, die sich auf kognitive Interpretationen auswirken: • Durch die Gruppenzugehörigkeit verändert sich die Wahrnehmung und letztendlich die Beurteilung eines Ereignisses (Appraisal). • Neben den allgemeinen kulturellen Regeln werden gruppenspezifische Normen wirksam, wodurch sich das Emotionsdisplay verändert. • Beim Dekodieren von Emotionen ist die Fähigkeit und Bereitschaft zur Perspektivenübernahme unterschiedlich ausgeprägt. • Ebenfalls beim Dekodieren gibt es Unterschiede hinsichtlich des vorhandenen Wissens, etwa über emotionsauslösende Faktoren, bekannte (erlernte) Muster des Emotionsausdrucks, Wissen über Einstellungen, Überzeugungen, Normen und Persönlichkeit von Kommunikationspartnern oder stereotypes Wissen vor allem bei einem unbekannten Gegenüber. • Außerdem herrschen unterschiedliche Vorstellungen über die Expressivität verschiedener Gruppen vor. Gruppensprachen, z.B. von Subkulturen oder bestimmten Berufsgruppen, entstehen als Gegenentwurf zu vorhandenen ‚Kulturprogrammen‘, die spezifische Ausdrucksbedürfnisse nicht befriedigen können (vgl. Danelzik 2005: 61). Nicht nur im beruflichen Kontext helfen diese gruppenspezifischen Sprachen dabei, unangenehme Situationen zu bewältigen (vgl. Gibbs 1994: 137). Erreichen die alternativen Entwürfe eine kritische Masse, kann laut Danelzik (2005: 61) ein gesamtgesellschaftlicher „Wandel der Semantik“ folgen. Einerseits sind gruppenspezifische sprachliche Merkmale wie z.B. bestimmte Wortkonnotationen - erinnert sei hier an Dieckmanns Unterscheidung von allgemeinen und gruppenspezifischen Bedeutungen - für die Mitglieder ein wesentliches Erkennungszeichen und identitätsstiftend, andererseits nutzt sich diese emotive Bedeutung durch die häufige und selbstverständliche Verwendung ab. Für die restliche Sprachgemeinschaft kann die Bedeutung und ihre Wertung erhalten bleiben (vgl. Hermanns 2002: 358). Ein wesentlicher Aspekt von zwischenmenschlichen Beziehungen ist nach Auffassung von Duck/ McMahan (2010: 36f.), individuelle emotionale Konnotationen kennenzulernen, zu verstehen und schließlich nicht mehr erklären zu müssen, welche emotionalen Reaktionen Wörter oder Situationen auslösen. Durch geteilte Erfahrungen werden Bedeutungen von simplen Wörtern, die in anderen Kontexten neutral auf Gegenstände und Sachverhalte referieren, verändert. Gerade diese Feinheiten stiften die Identität einer Gruppe. <?page no="179"?> 5.3 - Soziales: -Sprache -und -Emotion -in -der -Kommunikation - 169 Alter Das Alter ist eine nicht zu vernachlässigende Größe im sprachlichen Umgang mit Emotionen. Zwar sind allgemeine Aussagen schwer zu treffen, da viele verschiedene Faktoren das individuelle Ausdrucksspektrum beeinflussen, aber bei einer gezielten Auswertung von Äußerungen und Texten hinsichtlich der altersspezifischen Emotivität sind oft Unterschiede festzustellen: Beispielsweise zeigt sich in Studien, in denen verbale Beschreibungen des emotionalen Befindens gesammelt werden, dass Jugendliche über wesentlich mehr negative Ereignisse und Gefühle berichten, je älter sie werden, und dass sich Muster der Ängstlichkeit ändern (vgl. Schmidt-Atzert 1996: 240f.). Am Beispiel von Liebesbriefen untersucht Wyss (2002) altersspezifische Unterschiede in Ausdruck und Thematisierung der Emotion Liebe. Allerdings stellt sie fest, dass die Grenzen zwischen verschiedenen Lebensaltern fließend und die Schemata des Liebesbriefes stark mit der Beziehungsphase korrelieren. Sie fand altersabhängige Muster der Schreibmotivation, der Textfunktionen und der sprachlichen Merkmale, die unterschiedliche Beziehungskonstruktionen verraten. So differenziert sie Kinder, Jugendliche, Erwachsene in der ersten Phase ihrer Beziehung (Verliebtheit), Erwachsene in stabilen, länger andauernden Beziehungen und ältere Erwachsene. Während bei Kindern und Jugendlichen beispielsweise die Vermeidung der Face-toface-Situation den Schreibanlass darstellt, sind bei Erwachsenen die Überbrückung von Distanz, die Konstruktion des gemeinsamen Alltags oder besondere Anlässe (Geburtstage, Jubiläen) die Motive. Stilistisch entwickeln sich die Briefe von formelhafter Sprache und vagen Arten des Emotionsausdrucks und der Emotionsthematisierung zu elaborierten Darstellungen verschiedener Beziehungsaspekte und Emotionen (vgl. Wyss 2002: 83f.). Schneider (2006: 41, 43f., 46, 47ff.) untersucht eine Stichprobe von Liebesbriefen 16bis 17-jähriger Jugendlicher, abgerundet durch eine Fragebogenstudie mit denselben Versuchspersonen und einem Vergleich mit einer Stichprobe 51bis 80-jähriger Personen. Als Ergebnis sieht sie einerseits signifikante Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen, andererseits zwischen den Jugendlichen und den Erwachsenen hinsichtlich Explizitheit, Stil, Vulgärsprache, Bezeichnungen für attraktive Personen und bezüglich des Einflusses der Umgangssprache, des Dialekts und der gesprochenen Sprache. Beispielsweise schildern Mädchen ihre Gefühle offener (z.B. durch direkte Anredeformen, mehr Adjektive), während Jungen ein breiteres Spektrum von Flüchen abgeben, die auch derber und sexualisierter sind. In Hinblick auf Altersunterschiede zeigen sich die deutlichsten Abweichungen beim Fluchen, Schimpfen und bei den Bezeichnungen für Geschlechtsverkehr. Ein gut untersuchtes Beispiel für die Emotivität in altersabhängigen Gruppenstilen ist die Jugendsprache, die sich unter anderem durch spezifische <?page no="180"?> 5 - Historische, -kulturelle -und -soziale -Aspekte 170 Grüße, Namen und Sprüche, Redensarten und Floskeln, Übertreibungen, Metaphern, Neologismen und Kurzwörter auszeichnet (vgl. Schneider 2006: 41). Ortner (2003: 146ff., 153ff.) untersucht Leserbriefe in Jugendzeitschriften und nennt unter anderem folgende emotive Merkmale: Die explizite Emotionsthematisierung ist im mündlichen Sprachgebrauch vermutlich eher selten. Im schriftlichen Bereich ist die Emotionsthematisierung weniger häufig anzutreffen als der Emotionsausdruck, der mit vielfältigen Mitteln vollzogen wird. Von einem jugendspezifischen Emotionswortschatz kann - mit wenigen Ausnahmen - nicht gesprochen werden. Häufig verwendet werden der Intensivierungswortschatz und adjektivische Wertwörter - Entzückungswörter, euphorisierende bzw. frohlockende Adjektive -, negativ wertende Adjektive (z.B. blöd), Hochwertwörter (z.B. Hammer, fett) und Interjektionen (z.B. wow! ). Ferner sind häufig gradierende und modifizierende hyperbolische Elemente (z.B. Superlative) und Wortbildungsformen aufzufinden. Ebenfalls typisch ist das ritualisierte Beschimpfen mithilfe von Schimpfwörtern. Abkürzungen, Emoticons und Smileys implizieren die Annäherung an eine Bildsprache. Gegenüber der Auffassung, dass Jugendsprache stark abweichend ist, kann im schriftlichen Bereich eine Orientierung an der Standardsprache beobachtet werden (vgl. Ortner 2003: 157). Da Jugendsprache jedoch sehr dynamisch ist, sind Untersuchungsergebnisse in diesem Bereich nicht einfach auf die Gegenwart zu übertragen. Emotionen, -Gender -und -Sprache Fuhrer/ Trautner (2005: 393) stellen fest: „Sollte man aus der Kenntnis eines einzigen Merkmals den Lebensweg eines Menschen voraussagen, dürfte die Geschlechtszugehörigkeit das beste Kriterium sein.“ Sie meinen damit (ohne Wertung), dass das Geschlecht ein sehr wichtiger sozialer Stimulus ist und Menschen ununterbrochen mit den dazugehörigen Stereotypen und Differenzierungen konfrontiert werden, was erhebliche Auswirkungen auf das allgemeine und insbesondere sprachliche Verhalten hat. Die negativen Bewertungen von Emotionen und die Zuordnung von Emotionalität zum Weiblichen wurde bereits in Kapitel 2 angesprochen. In der Alltagspsychologie ist die Auffassung, dass Frauen das emotionale Geschlecht seien, weit verbreitet (vgl. Abele 2009: 697). Wissenschaftliche Erkenntnisse dazu sind sehr widersprüchlich. Eine ausführliche Diskussion dieser Frage soll hier nicht erfolgen, da sie für die vorliegende Arbeit nicht fruchtbar ist. Kurz zusammengefasst: Es bestehen genetische und hormonelle Unterschiede zwischen Frauen und Männern (vgl. Bischof-Köhler 2006 für eine eingehende Aufarbeitung), ihre Interpretation und Bewertung ist jedoch ebenso unklar wie viele wesentliche Details. Hartl (2008) bietet eine sachliche, aber auch unterhaltsame Auseinandersetzung mit historischen und modernen <?page no="181"?> 5.3 - Soziales: -Sprache -und -Emotion -in -der -Kommunikation - 171 (pseudo-)wissenschaftlichen Mythen über Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Sie kommt in Anlehnung an Metaanalysen zum Schluss, dass zwischen den Geschlechtern eine Übereinstimmung von etwa 80 Prozent bei den häufiger untersuchten Eigenschaften (z.B. Sprachvermögen, abstraktes Denken) besteht und die restlichen 20 Prozent keine substanziellen Bereiche betreffen. Der vermeintlich eindeutige Dimorphismus ‚Mann - Frau‘ aufgrund von Kriterien wie genetischer Unterschiedlichkeit wird insbesondere vom sozialen Konstruktivismus grundsätzlich infrage gestellt (vgl. de Sousa 2008: 220ff.). Mit bildgebenden Verfahren wurden strukturelle Unterschiede in den Gehirnen von Männern und Frauen festgestellt, die jedoch schwer zu interpretieren sind. Es erweist sich, dass die beiden Geschlechter zwar teilweise unterschiedliche Areale und Netzwerke nutzen - Sprache etwa wird von Frauen stärker bilateral verarbeitet als von Männern (vgl. Herrmann/ Fiebach 2007: 65f.) -, dass sich dies jedoch nicht eindeutig auf der Verhaltens-, Fähigkeits- und Leistungsebene widerspiegelt. Ebenso wenig können mit diesen Methoden die Ursachen der Unterschiede festgelegt werden (vgl. Habel/ Derntl 2008: 78ff., 83). Das Stereotyp, dass Frauen sowohl im Empfinden als auch im Ausdrucksverhalten emotionaler sind als Männer, ist in vielen Kulturen präsent. In Fragebogenstudien berichten Frauen über häufigere und intensivere Emotionsepisoden als Männer, sowohl im positiven als auch im negativen Valenzbereich. Insbesondere geben sie eher Traurigkeit und depressive Zustände an, Männer zeigen und nennen hingegen häufiger Ärger. Bei physiologischen Messungen weisen jedoch Männer stärkere Aktivierung in emotionsrelevanten neurologischen und peripher-physiologischen Systemen auf - insbesondere, aber nicht nur bei visuell-erotischen Reizen (vgl. Abele 2009: 699; Brody/ Hall 2004: 339ff., 344; Habel/ Derntl 2008: 82ff.). Was den Emotionsausdruck angeht, sind Frauen speziell in Hinblick auf Mimik und Gestik bei Freude, Furcht und Trauer expressiver und somit leichter zu dechiffrieren als Männer, während Letztere Ärger und Enttäuschung deutlicher zeigen und tendenziell ihre Emotionen vokal stärker zum Ausdruck bringen (vgl. Abele 2009: 700; Brody/ Hall 2004: 341f.; Nunner-Winkler 2008: 94; Berger 2008: 198f.; für genauere Differenzierungen Klann-Delius 2005b: 97, 99-103). In allen Kulturen scheinen Frauen Emotionen besser erkennen zu können als Männer (vgl. Abele 2009: 700ff.; Brody/ Hall 2004: 344; Habel/ Derntl 2008: 82f.; Nunner-Winkler 2008: 94f.). Pavlenko (2005: 71f.) referiert jedoch diesen Beobachtungen widersprechende Studien und Klann-Delius (2005b: 96ff.) differenziert genauer zwischen verschiedenen Kulturen, einzelnen Emotionsqualitäten und Kanälen, wobei sich unterschiedliche Leistungen zeigen. Es gibt jedoch kulturelle Unterschiede, die unter anderem vom Status von Frauen abhängig sind. Überraschenderweise „vergrößern sich die Geschlechtsun- <?page no="182"?> 5 - Historische, -kulturelle -und -soziale -Aspekte 172 terschiede [sic! ] je mehr Frauen am politischen und wirtschaftlichen Leben beteiligt sind“ (Merten 2009: 426). Offensichtlich variieren das Emotionsempfinden und der Emotionsausdruck aufgrund situativer Gegebenheiten: Beispielsweise berichten Frauen häufigere positive Emotionalität während der Arbeitszeit, Männer hingegen in der Freizeit (vgl. Brody/ Hall 2004: 342). Eine Unterscheidung zwischen Geschlecht als biologischem Merkmal (biologische Unterschiede zwischen Mann und Frau), Geschlecht als psychologischem Merkmal (Selbstbild) und Geschlecht als sozialer Kategorie (z.B. durch Rollenerwartungen bestimmt) rückt viele empirische Befunde - insbesondere widersprüchliche Ergebnisse - in ein neues Licht (vgl. Abele 2009: 698). Beispielsweise sind bei Fragebogenstudien gewonnene Selbstaussagen möglicherweise eher ein Ausdruck des psychologischen und des sozialen Geschlechts mit den entsprechenden Geschlechterstereotypen, entstanden unter anderem durch die Erwartung, dass Frauen emotionaler seien als Männer bzw. dass Männer ihre Gefühle zu unterdrücken haben (vgl. Abele 2009: 699, 703; Brody/ Hall 2004: 340f.). Lutz (2008) bietet einen Überblick über feministische Kritik an wissenschaftshistorischen Emotions- und Geschlechtsstereotypen. Entsprechend gibt es auch unterschiedliche Ansätze zur Erklärung von Geschlechtsunterschieden. Biologistische Theorien gehen von der (evolutions-)biologischen Bedingtheit der oben formulierten Unterschiede aus, sozialisationstheoretische Ansätze hingegen von ihrer allmählichen Entstehung im Verlauf der Sozialisation, abhängig vom sogenannten Erziehungsgeschlecht. Kognitive Theorien wiederum betonen die Bedeutung kognitiver Prozesse der Kategorienbildung mit Kriterien für eine Zuordnung zu den Kategorien männlich bzw. weiblich (vgl. Fuhrer/ Trautner 2005: 401). Nur ein Beispiel für Kontroversen dieser Art: Während Nunner-Winkler (2008) differenziert gegen die naturwissenschaftliche Differenzhypothese argumentiert und Universalien der Emotionalität hervorhebt, arbeiten Bischof-Köhler (2006) und Baron-Cohen (2006) ebenso sorgfältig sowohl die biologischen als auch die sozialen Bedingungen der Geschlechtsidentität auf. Ein wichtiger Ansatzpunkt sind die deutlichen Unterschiede in der Sozialisation zwischen Jungen und Mädchen (vgl. Abele 2009: 701f.; Nunner- Winkler 2008: 101ff.; Bischof-Köhler 2006: 99ff.; Klann-Delius 2005b: 117ff., 128f.): Bereits unmittelbar nach der Geburt zeigt sich, dass Mädchen höheres Interesse an sozialen Interaktionen haben und emotional stabiler (leichter zu beruhigen) sind als Jungen. Abgesehen davon gibt es in den ersten Lebensmonaten keinen Unterschied im Spektrum, in der Häufigkeit und in der Intensität des Emotionsausdrucks. Im Laufe der Entwicklung zeigt sich jedoch bald höhere verbale und emotionale Kompetenz bei Mädchen. Wesentlich dafür verantwortlich dürfte die früh zu beobachtende Geschlechterdifferenz in der Kommunikation zwischen Eltern und Kindern sein: Die Emotions- <?page no="183"?> 5.3 - Soziales: -Sprache -und -Emotion -in -der -Kommunikation - 173 kommunikation zwischen Eltern und Mädchen ist differenzierter. Zur Erlangung von Aufmerksamkeit müssen Mädchen mehr Empathie an den Tag legen, während das Zeigen von Emotionen bei Jungen eher sanktioniert wird, obwohl oder weil sie ihre Emotionen intensiver ausdrücken. Die Konversationsstile von Männern und Frauen unterscheiden sich laut den meisten Studien gerade in Hinblick auf die Emotivität signifikant. Allerdings zeigt sich bei allen Untersuchungen, dass verallgemeinernde Aussagen unzutreffend sind und weitere Faktoren moderieren. Ein anderes Problem, das nicht immer berücksichtigt wird: Die meisten Studien beziehen sich auf die englische Sprache, und obwohl Englisch und Deutsch typologisch und kulturell relativ nahe beieinander liegen, lassen sich Ergebnisse aus einem Sprachraum nicht auf einen anderen übertragen (vgl. z.B. Newman et al. 2008 für einen Überblick über die englischsprachige Forschungsliteratur). Unter diesen starken Einschränkungen sind die folgenden Bemerkungen zu lesen. Frauen haben wie erwähnt eine stärkere Tendenz als Männer zum Ausdruck ihrer Gefühle auf verschiedenen linguistischen Ebenen (vgl. Bowers/ Metts/ Duncanson 1985: 501). Klann-Delius (2005a: 1566) nennt insbesondere den suprasegmentalen Bereich und warnt vor einer Vermischung von beobachtbaren Phänomenen und ihrer Erklärung bzw. Absolutsetzung. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass Frauen häufiger Emotionswörter verwenden (vgl. Klann-Delius 2005a: 1567). Frauen wird zudem ein größeres Bedürfnis nach Verbundenheit (involvement), Männern der Drang nach Unabhängigkeit (independence) zugesprochen. 56 Dies drückt sich laut Newman et al. (2008: 216) vor allem im Gebrauch von Funktionswörtern wie z.B. Personalpronomen aus. Frauen werden also oft als partnerorientierter und einfühlsamer bzw. unterwürfiger und machtloser - zwei Seiten derselben Medaille - beschrieben (vgl. Klann-Delius 2005a: 1570; Helfrich 2003: 418f.). Sie versuchen, Gespräche in Gang zu halten, spüren den Metabotschaften stärker nach, während Männer handlungsorientiert sprechen oder eher Anweisungen, Meinungen und Behauptungen von sich geben (vgl. Newman et al. 2008: 212f.). Ein weiteres Beispiel: Frauen fassen Signale von Männern, dass sie noch zuhören, als Signale der Zustimmung auf. Andererseits sprechen Männer in Gruppen mehr und unterbrechen Frauen öfter als umgekehrt, sodass die Zuspitzung der geschwätzigen Frau gegenüber dem schweigenden Mann nicht zutreffend ist - im Gegenteil sagen Männer insgesamt mehr und übernehmen in einem Gespräch mehr Turns (vgl. Newman et al. 2008: 213; Pusch 1985a: 9). Es handelt sich also bei vielen Zuordnungen um Stereotype, die der Reali- 56 Vgl. Klann-Delius (2005a: 1570), die eine einschlägige Arbeit von Tannen zitiert und gleichzeitig kritisiert: Tannen, Deborah (1990): You just don’t understand. Women and men in conversation. New York: Morrow. <?page no="184"?> 5 - Historische, -kulturelle -und -soziale -Aspekte 174 tät nicht gerecht werden: Nicht in allen Situationen und auch nicht in allen Kulturen zeigen Frauen emotionaleres Gesprächsverhalten (vgl. Klann-Delius 2005b: 77f.). In Detailbereichen hingegen wird über deutliche quantitative Unterschiede berichtet. Obwohl Männer insgesamt mehr Wörter benutzen, bilden Frauen längere Sätze. Außerdem setzen sie mehr intensivierende Formen ein (vgl. Klann-Delius 2005b: 43f.; Newman et al. 2008: 213; diese Aussagen beruhen auf Studien von Robin Lakoff). Möglicherweise (nicht alle Auswertungen sprechen dafür) formulieren Frauen häufiger Sätze in der 1. Person Singular, ein Muster, das auch bei depressiven Personen häufiger ist (wobei Frauen häufiger an Depressionen leiden als Männer, vgl. Newman et al. 2008: 214). Wichtiger als das Geschlecht sind jedoch Statusunterschiede in der Wahl höflicher und indirekter sprachlicher Mittel (vgl. Klann-Delius 2005b: 56f.). In einer groß angelegten Studie auf der Grundlage von Wortauszählungen verschiedener Texte (u.a. stream of consciousness writing) stellen Newman et al. (2008: 233) ‚kleine, aber systematische‘ sprachliche Unterschiede zwischen Frauen und Männern fest. Frauen verwenden mehr Pronomen, Verben, Negationen und Wörter, die sich auf psychologische und soziale Prozesse beziehen, während Männer häufiger Sorgen thematisieren und fluchen, aber auch eher Eigenschaften von Objekten und unpersönliche Themen erwähnen (vgl. Newman et al. 2008: 223, 229). Das Alter spielt dabei keine Rolle, sehr wohl jedoch der Kommunikationskontext und der Kommunikationsmodus (schriftlich oder mündlich): In Gesprächen drücken Männer eher negative und vergangene Emotionen aus (vgl. Newman et al. 2008: 226). Worin sich Männer und Frauen nach Newman et al. (2008: 229) nicht unterscheiden: Bezugnahmen auf Sexualität, Ärger, Gebrauch der 1. Person Plural, Wortanzahl, Fragezeichen, ausschließende Partikeln (but, although). Newman et al. (2008: 233) betonen jedoch, dass damit nichts über die Ursache und die Bedeutung dieser Unterschiede ausgesagt ist und dass die Forschung Stereotypen gegenüber misstrauisch sein sollte. Eine Untersuchung ‚männlicher‘ Narrative legt Galasiński (2004) vor, der sich gegen Auffassungen wendet, wonach Männer weniger expressiv seien als Frauen. Maskulinität wird in den von Männern erzählten Narrativen stark über Emotionen konstruiert, und zwar nicht hauptsächlich über negative, wie Männern oft unterstellt wird. Emotionen werden als bedeutsamer Teil des Lebens, der Persönlichkeit, bestimmter Lebensphasen und einzelner Ereignisse wahrgenommen (vgl. Galasiński 2004: 27ff., 45). Männer setzen jedoch auch häufig Distanzierungsstrategien ein: Emotionen werden verneint, als ‚weiblich‘ konzeptualisiert, nicht den tatsächlichen Experiencern zugeschrieben, sondern eher allgemein in Situationsbeschreibungen und Ereignisse eingebettet oder als durch externe Umstände verursacht dargestellt (vgl. Galasiński 2004: 33ff., 50). Dies deutet darauf hin, dass Männer zwar versuchen, <?page no="185"?> 5.3 - Soziales: -Sprache -und -Emotion -in -der -Kommunikation - 175 den gesellschaftlichen Stereotypen gerecht zu werden, indem sie auf spezifische Weise über ihre Emotionen sprechen und bestimmte Konzeptualisierungen von Emotionen wiedergeben. Daraus lässt sich aber keinesfalls ableiten, dass Männer nicht emotional kommunizieren oder ihre Emotionen um jeden Preis zu kontrollieren versuchen (vgl. Galasiński 2004: 76f., 95f.; er legt auch Detailanalysen von Narrativen über Vaterschaft und Arbeitslosigkeit vor). Die Debatte um genderabhängigen Sprachgebrauch wird emotional, sobald Geschlechterstereotype auch an Bewertungen und Normen gebunden sind: an Bewertungen von Männlichkeit und Weiblichkeit und an präskriptive Normen über die daraus zu ziehenden Konsequenzen, beispielsweise die optimale Betreuung von Kindern (vgl. Habel/ Derntl 2008: 78). Meines Erachtens sind all diese Urteile abzulehnen und die Emotionalität aus dem Diskurs herauszunehmen. Statistische Werte treffen keine Aussage über den konkreten Einzelfall (eine bestimmte Frau und einen bestimmten Mann), wie auch De Sousa (2008: 218) hervorhebt: „the statistical norm is not normative“. Die Abweichungen zwischen Angehörigen desselben Geschlechts sind zudem beachtlich (vgl. Hartl 2008: 142; Zimbardo/ Gerrig 2008: 403f.). Neben der Korpusauswahl ist dies ein Grund, warum Genderfragen nicht in den empirischen Teil der vorliegenden Arbeit einfließen. Paarbeziehungen -und -familiäre -Bindung Für eine Paarbeziehung spielt die Sprache eine sehr wichtige Rolle, und zwar sowohl für ihre Anbahnung als auch für ihren Fortbestand und ihr etwaiges Ende. Paradox ist, dass in engen Beziehungen emotionale Konvergenz entstehen kann, die leichtere Koordination und offeneren Emotionsausdruck ermöglicht, was andererseits aber auch negative Auswirkungen wie Ärger und gegenseitige Verletzungen haben kann (vgl. Metts/ Planalp 2011: 297). In einer engen Beziehung wird sehr oft ein gemeinsamer Privatcode entwickelt, der außerordentlich kreativ und abwechslungsreich sein kann. Leisi (1993: 12ff., 28) beschreibt die wichtigsten Merkmale, etwa dass vielfältige neue Namen für die geliebte Person gefunden werden wie Kosenamen, Diminutive, zärtlich verwendete Schimpfwörter und Tiermetaphern. Häufig werden sogenannte Chiffern eingesetzt, das sind „Wörter, Sätze oder ganze Passagen, die aus einem literarischen Text stammen und vom Paar als Teil seines Privatcodes verwendet werden“ (Leisi 1993: 98). Wichtig ist, dass der Privatcode auch privat bleibt (vgl. Leisi 1993: 43f.). Komplimente, Tabubrüche (z.B. Anzüglichkeiten) und andere Verfahren dienen der Erotisierung der Kommunikation. Je länger eine Beziehung dauert, desto individueller und kreativer, aber auch transparenter werden die Muster der Emotionskommunikation, was sowohl Intimität als auch Übersättigung bewirken kann. Die Muster ergänzen <?page no="186"?> 5 - Historische, -kulturelle -und -soziale -Aspekte 176 einander zunehmend - in dem Sinne, dass kommunikative Schwächen der einen Person von der anderen Person kompensiert werden (vgl. Bowers/ Metts/ Duncanson 1985: 531, 536f.; siehe dort für die verschiedenen Phasen von Beziehungen und die entsprechenden typischen emotionalen Muster). Es kann aber auch zu vielfältigen Störungen in der Paarkommunikation kommen, die auf unterschiedlichen Problemen in der Kompetenz oder Performanz oder auf missglückter Metakommunikation (zu viel oder zu wenig) zurückzuführen sind (vgl. Leisi 1993: 133ff., 143). Menschen neigen übrigens laut Bowers/ Metts/ Duncanson (1985: 500f.) dazu, ihre Entscheidungen in der Gestaltung von Beziehungen retrospektiv zu rationalisieren. Diese Rationalisierungstendenz lässt sich auch allgemeiner auf das Sprechen und Schreiben über Emotionen übertragen. Für die familieninterne Kommunikation gilt teilweise Ähnliches wie für Paarbeziehungen. Narrative im Sinne von Familiengeschichten oder allgemeiner geteiltes Wissen und gemeinsame kommunikative Erlebnisse spielen eine wichtige Rolle für den Familienzusammenhalt - oder bei missglückter Kommunikation auch für die familiäre Desintegration (vgl. Duck/ McMahan 2010: 190f.). Gestörte -Kommunikation: -Konflikte, -Missverständnisse -und -Pathologien Roth (2001: 364f.) nennt vier konsensuelle Bereiche, die für die erfolgreiche zwischenmenschliche Kommunikation mitverantwortlich sind: 1) Intuitives Verstehen aufgrund von teilweise angeborenen mimischen, gestischen und vokalen Mustern; 2) gesellschaftliche Übereinstimmungen hinsichtlich Sprache, Verhalten und Denken; 3) Übereinstimmungen aufgrund ähnlicher sozialer Umgebung; 4) Übereinstimmungen in den individuellen Erfahrungen. Von Stufe zu Stufe (1-4) ist von einem abnehmenden Grad an Übereinstimmung innerhalb der gesamten Gesellschaft auszugehen. Aus diesem Grund müssen wir uns ständig für unsere Gefühle rechtfertigen und in unseren sozialen Interaktionen mitteilen, können sie aber kognitiv-bewusst nicht durchdringen (vgl. Roth 2001: 371). Diese fundamentale Missverständlichkeit emotionaler Kommunikation ist in sehr vielen alltäglichen Fällen nicht von Belang und lässt sich kaum als ‚gestörte‘ Kommunikation klassifizieren. Dennoch ist dies der Ausgangspunkt für echte Schwierigkeiten. Viele dieser Probleme haben ihren Ursprung in frühestem Kindesalter. Im Laufe des Spracherwerbs kann es nach Salisch/ Kunzmann (2005: 18) zu „Fehletikettierungen“ kommen: Werden von den Betreuungspersonen un- <?page no="187"?> 5.3 - Soziales: -Sprache -und -Emotion -in -der -Kommunikation - 177 zutreffende emotionale Bedeutungen (Emotionswörter, emotionale Szenen und Konzepte) übernommen, kann dies zu Missverständnissen mit anderen Menschen führen (vgl. Battacchi/ Suslow/ Renna 1997: 80f.). Aber auch bei gelungener sprachlicher und emotionaler Sozialisation sind Konflikte und Missverständnisse nichts Ungewöhnliches. Kurilla (2013) unternimmt einen interkulturellen Vergleich der kommunikativen Bewältigung von Konfliktemotionen (z.B. Ärger, Angst, Scham, Neid) in San Sebastián (Baskenland), in Bali und im Ruhrgebiet anhand von qualitativen Interviews, in denen auch die Semantik der Emotionsbezeichnungen stark thematisiert wurde. Da es sich nicht um einen linguistischen Ansatz handelt, werde ich hier nicht näher auf die Untersuchungsergebnisse eingehen, angeführt sei aber Kurillas (2013: 557) Fazit zur Beziehung zwischen Emotion und Konflikt: „Emotionen stimulieren Konflikthandeln im Allgemeinen und Konfliktkommunikation im Besonderen. Im Gegenzug werden Emotionen durch Konflikthandeln und Konfliktkommunikation geprägt und fortwährend modifiziert bzw. bestätigt oder intensiviert. Emotionen können als Konfliktstrategie fungieren [...] Kommunikation, also auch Konfliktkommunikation, und Emotion sind konstitutiv füreinander insofern, als sich nur in wechselseitiger Abhängigkeit von bestimmten Kommunikationsformen und -voraussetzungen und Emotionszuschreibungen Rahmenklassifikationen einerseits und akteursspezifische Emotionsdeutungen andererseits erstellen lassen. Von Dritten ist zu erwarten, dass sie die Kommunikation bestimmter Emotionen bzw. die kommunikative Reaktion auf bestimmte Emotionskommunikationen steuern, was vor allem für Stolz und Scham, jedoch auch allgemein gilt. Ethische Maximen steuern die Kommunikation und das Erleben von Emotionen im Konflikt. Gesellschaftshistorische Faktoren prägen indessen die Ausprägungen der ethischen Bewertungen spezieller Emotionen, emotionsmotivierte Konfliktstrategien und den Emotionsausdruck.“ Nach Käsermanns (1995) Ansatz lösen Diskrepanzen zwischen Erwartung und realem Gesprächsverlauf Bewertungen und in weiterer Folge Emotionen aus. Diskrepanzen betreffen ganz allgemein die Kooperation und die Kopartizipation (vgl. Käsermann 1995: 197), also Verletzungen der Kooperativitätserwartung: beispielsweise inhaltliche Missverständnisse in Hinblick auf die Darstellung der Anliegen des Gegenübers wie bei unzulässigen Umdeutungen (vgl. Käsermann 1995: 69ff., 193ff.). Irritationen gefährden die Zielgerichtetheit eines Gesprächs und müssen bis zur Neuorientierung der Beteiligten und bis zur Reorganisation des Gesprächs überbrückt werden, wofür sich beispielsweise Floskeln oder Copingstrategien höherer kommunikativer Kompetenz eignen (vgl. Käsermann 1995: 200, 202f.). Auf schriftliche Texte ist dies nur insofern anwendbar, als Diskrepanzen zwischen Erwartungen und Realisierungen auf Rezipientinnen und Rezipienten emotionalisierend wirken und <?page no="188"?> 5 - Historische, -kulturelle -und -soziale -Aspekte 178 verschiedene Strategien beim Schreiben Irritationen fördern oder abschwächen können. Missverständnisse haben jedoch nicht nur emotionale Folgen, sondern auch emotionale Ursachen (vgl. Fomina 1999: 10). Tannen (1992) identifiziert unterschiedliche Konversationsbzw. Gesprächsstile vor allem in Hinblick auf Direktheit oder Indirektheit der Kommunikation als Hauptgrund für Kommunikationsprobleme. In Metamitteilungen (metamessages) wird ausgedrückt, was wirklich gemeint ist - mithilfe von sprachlichen oder para- und nonverbalen Zeichen wie z.B. Pausen, Rhythmus, Lautstärke, Intonation, Tonhöhe (vgl. Tannen 1992: 33f.). Durch das diffizile Spiel zwischen notwendiger Verbundenheit (involvement) einerseits und Unabhängigkeit (independence) andererseits entsteht ein schwer aufzulösendes Double-Bind. Expressive Reaktionen und Nachfragen können erforderlich sein, aber auch als unangebracht rezipiert werden (vgl. Tannen 1992: 38f.; die englischsprachigen Ausdrücke in Klammern sind der Originalausgabe von 1986 entnommen). Beispielsweise ist die höfliche Frage, ob jemand etwas essen möchte, wenn man sich selbst etwas zubereitet, als Zeichen für Empathie wichtiger als die tatsächliche Wahrscheinlichkeit, dass das Gegenüber etwas essen möchte. Mit indirekten Kommunikationsstilen werden Konfrontationen vermieden. Andererseits besteht dadurch auch immer die Gefahr eines Missverständnisses oder einer Manipulation (vgl. Tannen 1992: 85). Ironie, Sarkasmus und Witze provozieren gemeinsames Lachen, das ebenso bandstiftend wirkt wie das gemeinsame Erkennen der eigentlichen Bedeutung indirekter Kommunikation. Diese Zeige- und Erkennensprozesse indirekter Kommunikation können mit den Termini Rahmung (framing) und Neurahmung (reframing) erfasst werden (vgl. Tannen 1992: 99f., 104f.; 113ff.). Ein Unterschied in den Beziehungen zwischen Sprecherinnen und Sprechern kann dieselbe Botschaft völlig unterschiedlich wirken lassen: Macht und Solidarität sind wichtige Größen in der Kommunikation und bei falscher Anwendung Grundlage von Konflikten (z.B. unangebrachtes Lob eines Niedrigerstehenden, Freundschaftlichkeit als Verkaufsstrategie, Duzen versus Siezen, vgl. Tannen 1992: Kap. 6). Auch Bowers, Metts und Duncanson (1985: 528) weisen darauf hin, dass verbale Aggression - Beleidigungen, Angriffe, Drohungen - im Wesentlichen eine Machtfrage sind. In engen Beziehungen wirken sich Unterschiede im Konversationsstil stärker aus. Streitereien über scheinbare Kleinigkeiten entpuppen sich als Missverständnisse aufgrund unterschiedlicher Konversationsstile. Dies mündet manchmal in eine Spirale immer heftigerer Auseinandersetzungen (z.B. wird der eine immer lauter, der andere aber immer leiser, wobei für jeden von beiden das eigene Benehmen normal erscheint; Beispiel auch bei Watzlawick/ Beavin/ Jackson 1974). Als intimer Kritiker wird von Tannen (1992: Kap. 9) der Prozess bezeichnet, dass vermeintliche Hilfe als verletzend aufge- <?page no="189"?> 5.3 - Soziales: -Sprache -und -Emotion -in -der -Kommunikation - 179 nommen wird, Sarkasmus als persönlicher Angriff, Lob als Kritik, Kritik an einer Sache oder am Sprachgebrauch (z.B. Grammatikfehler) als Kritik an der Person. Eine Gegenmaßnahme ist das Hinterfragen des eigenen Kommunikationsstils. Abseits dieser alltäglichen Missverständnisse und Probleme gibt es einen großen Bedarf an Wissen über den Zusammenhang zwischen Emotionen und Sprache im Kontext psychischer Krankheiten und Störungen, insbesondere in der Psychotherapieforschung (vgl. Wodak 1981 für eine linguistische Studie zur Dynamik von gruppentherapeutischen Prozessen). Hier wird oft davon ausgegangen, dass es einen Zusammenhang zwischen frühkindlichen Erfahrungen mit unangenehmen Emotionen und erworbenen Kommunikationsstilen gibt, die sich synchron in psychischen Problemen ausdrücken (vgl. Hielscher 2003a: 480). Es werden zudem systematische Korrelationen zwischen Sprachverhalten und psychischen Störungen postuliert, etwa dass bei Depressiven mehr Passivkonstruktionen erwartbar sind (Machtlosigkeit), außerdem kürzere und einfachere Sätze (begrenzter Arbeitsspeicher) oder dass bei Angstpatienten viele Nominalisierungen vorkommen, die auf eine externe Bedrohung referieren. Schizophrenie wiederum wird im kommunikationstheoretisch orientierten Ansatz als Folge und Ausdruck einer kommunikativen Störung betrachtet. Die meisten psychiatrischen Erkrankungen werden jedoch mit physiologischen Ursachen erklärt. Kommunikative Dysfunktionalität wird dabei als Begleit-, Folge- oder die Krankheit verschlechternde Erscheinung betrachtet (vgl. Käsermann 1995: 44-48 für eine Kritik kommunikativer Erklärungsansätze). Andererseits werden auch Sprachstörungen mit Emotionen in Verbindung gebracht. Im Allgemeinen sind emotionale Dispositionen (traits), die sozio-emotionalen Entwicklungsbedingungen, aktuelle emotionale Zustände und situative Bedingungen wichtige Faktoren für die Entstehung, die Ausprägung und die Therapie sprachlicher Störungen (vgl. Schoor 2005 für ein entsprechendes Modell). Damit ist nicht gemeint, dass Sprachstörungen tiefenpsychologisch erklärt werden, sondern dass unabhängig von der Ursache emotional-psychologische Faktoren moderieren. Beispielsweise ist der (s)elektive Mutismus eine „psychosomatische Kommunikationsstörung“ (Ulsamer 2002: 158), bei der Betroffenen das Sprechen aus emotionalen Gründen in bestimmten Situationen oder bei bestimmten Personen nicht möglich ist. Praktisch alle Sprachstörungen - egal welcher Genese und Symptomatik - sind wegen des sozialen Charakters von Sprache emotional belastend. Sie erfordern laut Schoor (2005: 190) einen „Belastungs- Bewältigungs-Prozess“, eine Auseinandersetzung mit kritischen Lebensereignissen, die eine Störung verursachen oder mit ihr einhergehen. Dies kann Gegenstand einer Psychotherapie sein. In psychotherapeutischen Gesprächen ist die „Verbalisierung emotionaler Erlebensinhalte (VEE)“ <?page no="190"?> 5 - Historische, -kulturelle -und -soziale -Aspekte 180 (Fiehler 1990b: 239) von überragender Bedeutung. Erlebensthematisierungen und Erlebensmanifestationen sind laut Fiehler (1990b: 239) nicht grundsätzlich anders als in Alltagsgesprächen, aber „häufiger, [...] ausgebauter und differenzierter“; zudem sind Thematisierungen häufiger als Ausdruck, da über emotionale Erfahrungen berichtet und verhandelt wird. Dabei werden die Emotionen oft reaktualisiert (vgl. Fiehler 1990b: 243). Die wesentlichen Verfahren dabei sind Fiehler (1990b: 244f.) zufolge Erlebensfokussierung, Erlebensexploration, Hypothesenbildung (z.B. über Ursache-Wirkung- Beziehungen in einer psychischen Störung) und Unterstellungen. Individuelle -Unterschiede Zuletzt soll noch betont werden, dass die Art der Emotionskommunikation auch von sehr individuellen Faktoren abhängig ist. Menschen, die sich ihrer selbst bewusst sind, können Emotionen authentischer ausdrücken, sozial unangemessene Emotionen besser verbergen und sozial angemessene Emotionen leichter zeigen. Von sich selbst etwas preiszugeben kann strategisch als beziehungsstiftendes Mittel eingesetzt werden, dem Prinzip der Reziprozität - quid pro quo - folgend (vgl. Bowers/ Metts/ Duncanson 1985: 501, 528f.). Aber auch bei ein und demselben Individuum sind die emotionale Ausdrucksfähigkeit, das Ausdrucksbedürfnis, die Ausdrucksbereitschaft, die Ausdrucksstrategien, das Ausdrucksbewusstsein und der Einsatz der emotionalen Ausdrucksmittel nicht konstant, weder im gesamten Lebensverlauf noch zu einem bestimmten Zeitpunkt. Stimmungen, Intentionen, Tagesverfassung, öffentlicher, beruflicher, familiärer, freundschaftlicher Kontext und viele weitere Faktoren spielen hier mit. Insbesondere dieser Befund verbietet eine voreilige und absolute Verknüpfung zwischen Charakter und Sprache. 5.4 - Zusammenfassung Die Interpretation des Sprichwortes, mit dem dieses Kapitel eröffnet wurde - „Ohne Sprache ist man nichts und niemand und mit Sprache doppelt nackt“ - sei allen Leserinnen und Lesern selbst überlassen. Ich habe es ausgewählt, weil es für mich den sozialen Charakter der Sprache und die damit verbundenen emotionalen Implikationen nahelegt. Historische Texte weisen auch historische Emotionskonzepte, Grammatik, Semantik und Pragmatik auf, was in der Analyse eines Textes, der nicht aus der Gegenwart stammt, berücksichtigt werden muss. Doch auch in der synchronen Perspektive haben Texte einen (zeit-)geschichtlichen Hintergrund, der nicht als selbstverständlich angenommen werden sollte. Indem wir über unsere Emotionen sprechen können, werden wir jemand, aber wir offenbaren gleichzeitig etwas von uns, das wir zunächst für etwas <?page no="191"?> 5.4 - Zusammenfassung - 181 Inneres, Privates halten. Dass Sprache jedoch keine Übersetzung von Gedanken oder inneren Zuständen in Laute, sondern unweigerlich sozial, kulturell und historisch verortet ist, sollte in diesem Kapitel anhand des Beispiels der emotionalen Kommunikation deutlich geworden sein. Der Streit zwischen Relativisten und Universalisten lässt sich nach wie vor nicht schlichten. Eine Sowohl-als-auch-Formulierung erscheint zwar unbefriedigend, wird der Faktenlage aber eher gerecht. Bestimmte Merkmale, insbesondere auf der Ebene des Lexikons, sind über das Maß des Zufalls hinaus in höchst verschiedenen Kulturen und Sprachen ähnlich, was krasse Unterschiede in zentralen Bereichen nicht ausschließt. Unsere sprachliche Identität - z.B. unsere Muttersprache (L1), unser Selbstverständnis als ein- oder mehrsprachig, unsere individuelle Sprachbiographie - macht uns zu dem, was wir sind, aber auch verwundbar. Sprachkontaktsituationen, insbesondere Konflikte zwischen Sprachgruppen, Sprachwechsel und Sprachtod, sind meist Gegenstand emotionaler Auseinandersetzungen im Positiven wie im Negativen. Auch individuelle Mehrsprachigkeit öffnet Türen in andere Welten und hilft dabei, sich über phylo- und ontogenetisch frühe Konzepte und unausgesprochene Vorannahmen klarer zu werden. Innerhalb einer Sprachgemeinschaft unterscheiden sich Menschen hinsichtlich ihres emotionalen Sprachgebrauchs. In der wissenschaftlichen Erforschung solcher Verhältnisse werden klassische Parameter wie Alter, Geschlecht, soziale und regionale Herkunft sowie Gruppenzugehörigkeit mit auffälligen Abweichungen korreliert. Ein Anliegen dieses Kapitels war es, Verallgemeinerungen kritisch entgegenzutreten. <?page no="193"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel „Allein die Namen der Affekte haben [...] mehr den Sprachgebrauch als die Sache im Blick.“ 57 6.0 - Ziele dieses -Kapitels Einleitend sei an zwei Feststellungen aus Kapitel 3 erinnert: Die sprachlichen Mittel des Emotionsausdrucks und die Möglichkeiten der Emotionsthematisierung sind grundsätzlich nicht erschöpfend aufzuzählen (vgl. Daneš 1987: 281; Jahr 2000: 228). Und: Wir finden auf allen sprachlichen Ebenen relevante sprachliche Mittel (vgl. Fries 2004: 9). Im Folgenden werden typische Realisierungen emotiver Sprache behandelt, genauer differenziert und systematisiert. In diesem Kapitel bleibe ich also an der sprachlichen Oberfläche, aber es bieten sich zahlreiche Verknüpfungen mit den bisherigen theoretischen Überlegungen an. Zunächst wird ein grober Überblick über die verschiedenen Ebenen und Mittel gegeben, der anschließend für jede Ebene vertieft wird. Die Trennung zwischen den einzelnen Bereichen ist teilweise praktisch und nicht theoretisch begründet. Zum Beispiel lässt sich die morphologische Ebene meines Erachtens nicht sinnvoll besprechen, bevor nicht grundlegende semantische und lexikologische Aspekte angesprochen wurden, obwohl grammatologisch die Morphologie der Lexikologie vorgezogen werden müsste und morphologische Aspekte ihrerseits zum besseren Verständnis des Lexikalischen beitragen. Viele sprachliche Mittel wären auf unterschiedlichen Ebenen anzusiedeln (beispielsweise Bewertungen oder Metaphern, die sowohl durch einzelne Lexeme als auch durch ganze Sätze realisiert werden können). 6.1 - Überblick: Klassifikationen und Aufzählungen In diesem Abschnitt wird eine Übersicht über bestehende Aufzählungen zu emotiven sprachlichen Mitteln gegeben und auf die wichtigsten Kriterien der Klassifikation hingewiesen. In der Literatur finden sich zahlreiche Überblicke, die mehr oder weniger systematisch vorgehen. Die Aufstellungen gehen außerdem von unterschiedlichen Kriterien der Kategorisierung aus. Trotzdem wird hier eine Verknüpfung in Form von Tabellen versucht. 57 De Spinoza (1999: 359). <?page no="194"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 184 6.1.1 - Kategorien -der -Systematisierung Kehrein (2002: 321) verwirft alle Aufzählungen, in denen typische emotive sprachliche Mittel so verstanden werden, dass sie systematisch Emotionen ausdrücken. Tatsächlich sind selbst prototypische emotive sprachliche Mittel weder kontextunabhängig noch eindeutig. Dies ist allen Linguistinnen und Linguisten, deren Aufzählungen in der Folge verarbeitet werden, ohnehin bewusst. Dennoch verlocken ihre Listen dazu, den Blick auf einige sehr augenscheinliche sprachliche Mittel und Verfahren zu lenken. Das ist nicht notwendigerweise negativ: Eine praktikable Methode der emotionslinguistischen Textanalyse muss zentrale Phänomene fokussieren. Zunächst zur übergeordneten abstrakten Ebene, um eine erste Eingrenzung zu erreichen. Janney (1996: 12-16, 139-154) schlägt sechs Kategorien emotiver Phänomene vor, die nicht nur sprachliche Mittel im engeren Sinn, sondern alle Wahlmöglichkeiten in Texten und Gesprächen umfassen: • Phänomene der Evaluation (valence): Wahl positiv oder negativ bewertender Mittel, z.B. Stimmqualität, Emotionswörter, gradierbare Adjektive. • Phänomene der Unmittelbarkeit/ Nähe (immediacy, proximity): Wahl von Mitteln, die unterschiedliche räumliche, zeitliche und soziale Distanzen zwischen Sprecherinnen und Sprechern bzw. Themen anzeigen, z.B. Anrede, Tempus, Reihenfolge der Referenz. • Phänomene der Spezifität (specificity): Wahl von unterschiedlich direkten Mitteln (Benennung vs. Implizitheit), z.B. Indefinit-/ Definitpronomen, Kürze vs. Ausführlichkeit, Explizitheit. • Phänomene der unzweifelhaften Assertivität (evidential/ ideational assertiveness): Wahl von Mitteln, die unterschiedliche Verlässlichkeit, Richtigkeit, Autorität, Gültigkeit oder Wahrheitswerte des Gesagten anzeigen, z.B. Modalität, Ausdrücken von Notwendigkeit. • Phänomene der relationalen Assertivität (relational assertiveness): Wahl von Mitteln, die unterschiedliche Selbstkonzepte bzw. Sprecheridentifikationen anzeigen, z.B. Aktivität/ Passivität im Diskurs - Aktiv vs. Passiv, appellative Techniken, Empathie. • Phänomene der Involviertheit (involvement, intensity): Wahl intensivierender oder abschwächender Mittel, z.B. unerwartete Betonungen, Wiederholungen. Hier sind einige wichtige Kriterien der Klassifizierung genannt. Ähnlich, aber stärker auf im engeren Sinne linguistische Kategorien bezogen führt Drescher (2003b: 64f.) als Kriterien für die Trennung zwischen emotiv und nichtemotiv die Intensität, Bewertung, Quantität, Qualität und Markiertheit an. Zum Kriterium Markiertheit weist Drescher darauf hin, dass sprachliche <?page no="195"?> 6.1 - Überblick: -Klassifikationen -und -Aufzählungen - 185 Emotivität aus pragmatischer Sicht insofern per se markiert sei, als emotionale Passagen in Gesprächen (und in Texten) stets hervorgehoben sind. Auch Foolen (2012: 355f.) meint, dass expressive Formen eher markiert sind. Weitere Kriterien sind die Intentionalität, Explizitheit oder Implizitheit und Spezifiziertheit, die bereits Gegenstand von Kapitel 3 waren. Hier nur eine kurze Einordnung. • Zur Intentionalität: Emotionsausdruck geschieht mehr oder weniger bewusst, mehr oder weniger gezielt und mehr oder weniger absichtlich. Dieses Kriterium ist im Rahmen der vorliegenden Arbeit jedoch nicht anwendbar, da die (zwingend spekulative) Rekonstruktion des emotionalen Zustands von Textproduzentinnen und -produzenten und die Absichtlichkeit nicht die Aufgabe der Textanalyse sind. • Zur Explizitheit und Implizitheit: Es kann ein Kontinuum zwischen expliziten und impliziten sprachlichen Mitteln angenommen werden. In der konkreten Analyse kann jedoch nur annäherungsweise entschieden werden, wie implizit oder explizit einzelne sprachliche Mittel sind. Bei vielen Unterkategorien (z.B. Bewertungen) ist die Explizitheit jedoch ein brauchbares Beurteilungskriterium. • Zur Spezifiziertheit: Abgesehen von lexikalischen Möglichkeiten sind emotive sprachliche Mittel nicht auf die Kodierung einzelner Emotionsqualitäten spezialisiert (vgl. auch Foolen 2012: 355). Daraus folgt, dass konkreten Textstellen nur in seltenen Fällen Emotionsqualitäten wie Freude oder Angst zugeschrieben werden können. Dimensionale Angaben (z.B. Valenz, Intensität) sind vorzuziehen, aber auch problematisch. Ebenfalls auf der konzeptuellen Ebene bleibt die Aufstellung von Fiehler, die zusammenfassend darstellt, in welchen Bereichen bzw. auf welchen Ebenen der Kommunikation Emotionen manifestiert werden (siehe Tab. 1). Ähnlich wie in der Emotionspsychologie können auch für die sprachliche Verarbeitung von Emotionen Beurteilungsdimensionen herangezogen werden. Häufig (vgl. z.B. Kranich 2003: 46; Fries 1992a: 24; Schwibbe et al. 1981: 489) werden folgende Dimensionen genannt: • Valenz: Qualität der Emotivität/ Affektivität (unangenehm/ angenehm, Lust/ Unlust, Begehren). • Erregung: Intensität der Emotivität/ Affektivität. • Potenz: stark/ schwach, hart/ weich usw. • Dringlichkeit: Motivation, ein Thema zu behandeln oder zu vermeiden. • Emphase/ Neuheit/ Erwartetheit: Gewöhnlichkeit bzw. Außergewöhnlichkeit eines Sachverhalts, eines Ereignisses oder einer Person. <?page no="196"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 186 Tab. 1: Kommunikation von Emotionen 58 Manifestationsebenen Beispiele (1) Physiologische Manifestationen Zittern (2) Nonvokale nonverbale Manifestationen Mimik, Gestik, Haltung (3) Vokale nonverbale Manifestationen Affektlaute, Lachen, Stöhnen (4) Verbalisierungsbegleitende Manifestationen Stimmcharakteristika (5) Manifestationen (M.) im verbalen Anteil von Äußerungen (5.1.) M. in der sprachlich-inhaltlichen Form der Verbalisierung Wortwahl (5.2.) M. in der inhaltlich-thematischen Ausrichtung der Verbalisierung Äußerung über ein emotionales Ereignis (5.2.1.) M. in emotional-verbalen Äußerungen Ausrufe (5.2.2.) M. in verbal-emotionalen Äußerungen Vorwürfe, Disziplinierungen (5.2.3.) M. durch die verbale Benennung/ Beschreibung erlebensrelevanter Ereignisse/ Sachverhalte Mein Hund ist gestern überfahren worden (5.2.4.) M. durch Beschreibung/ Erzählung der situativen Umstände eines Erlebens Beschreibung einer Beerdigungsszene (5.3.) M. durch verbale Thematisierung des Erlebens Mir geht es echt dreckig (5.3.1.) M. durch Erlebensbenennung Emotionswortschatz, körperliche, mentale und verhaltensdispositionelle Aspekte (5.3.2.) M. durch Erlebensbeschreibung Metaphern (Es kocht in mir) (6) M. im Gesprächsverhalten (6.1.) M. durch das Thema Wahl eines traurigen Themas (6.2.) M. durch den Diskurstyp Blödelei, Streit (6.3.) M. in Strategien der Gesprächsführung demonstrative Verweigerung (6.4.) M. in der Gesprächsorganisation einander nicht ausreden lassen (6.5.) M. in der Gesprächsmodalität engagiert, locker, ironisch Die Emotionsthematisierung kann der Emotion in der sprachlichen Interaktion wichtigere oder weniger wichtige Rollen zuordnen - manchmal sind Emotionen der zentrale Gegenstand eines Gesprächs oder eines Textes, manchmal nur ein Nebenthema (vgl. Fiehler 1990b: 113). Hervorzuheben ist mit Fries (2000: 33f.), dass sich ein sprachlicher Ausdruck und eine verbale Thematisierung einer Emotion auch bei der Wahl desselben sprachlichen Mittels keineswegs immer auf dasselbe Phänomen oder denselben Aspekt beziehen. Emotionsausdruck und Emotionsthematisierung sind insofern immer mehrdeutig, ambig. Hinzu kommt das Problem, dass grundsätzlich jede Äußerung emotive Interpretationen erfahren kann, selbst wenn die Proposition auf den ersten Blick neutral, informierend, rein sachlich ist (vgl. 58 Nach Fiehler 1990b: 96f., Erläuterungen und Beispiele 167-177. <?page no="197"?> 6.1 - Überblick: -Klassifikationen -und -Aufzählungen - 187 Rössler 2001: 12). In der Aufstellung von Fiehler sind das etwa die Fälle 5.2.3 und 5.2.4 Es gibt jedoch prototypischere und weniger prototypische sprachliche Elemente, beispielsweise auf der Wortebene - prototypisch wäre hier z.B. Angst, weniger prototypisch z.B. Entrüstung (vgl. Kövecses 2000b: 3). Ein letztes, aber entscheidendes Kriterium ist der inhaltliche Bezug: Es handelt sich an und für sich um eine Kategorie, die über die sprachliche Oberfläche hinausgeht und daher nur teilweise Gegenstand des vorliegenden Kapitels ist, aber in verschiedenen Zusammenhängen (z.B. bei Fragen der Bewertung) immer wieder auftaucht. Allgemein kann auf folgende Merkmale von Emotionen mit sprachlichen Mitteln referiert werden, sowohl bei Emotionsausdruck als auch bei Emotionsthematisierung (vgl. Planalp 1998: 36; Bamberg 1997: 211): • Ursache • Dauer • Intensität • Empfundene körperliche Störung, Aufwühlung, körperliche Reaktionen • Charakteristisches Display (Mimik, Gestik, physiologische Parameter, Anspannung und Entspannung, Ausdrucksformen sowie instrumentelle und motorische Handlungen) • Ausdruck eines Urteils • Kontrollversuche • Bestimmte illokutionäre Wirkung (force) • Soziale Folgen Emotionsausdruck involviert nach Oller/ Wiltshire (1997: 39) und Zillig (1982b: 332) folgende Aspekte des Emotionsprozesses: • Produzent/ in des Affekts • Ausdruck des Affekts • Logisches Objekt des Affekts • Ursachen der Emotion (endogen/ exogen) • Emotionale Beziehung zum Objekt • Erwartungen und zukünftige Handlungen • Konsument des Affekts (fakultativ) • Emotionaler Zustand selbst Der Stimulus (also das logische Objekt der Emotion) ist stets vorhanden, aber nicht immer leicht erkennbar und auch nicht immer das Objekt der Äußerung (vgl. Volek 1987: 30). <?page no="198"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 188 Nach diesen konzeptuellen Unterscheidungen komme ich zu den konkreten sprachlichen Mitteln, die immer wieder genannt werden. Es wurde versucht, verschiedene Aufzählungen (Volek, Fries, Konstantinidou, Löffelad, Janney, Fomina, Jahr, Lüdtke und einige andere) in Tabellen zu integrieren. Zuvor sind jedoch einige Bemerkungen über die einzelnen Ansätze notwendig, da sie von unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehen. Als universal Emotionen anzeigend nennt Fries (2003: 110) Interjektionen und Reduplikation. Noch einmal auf sein Modell der konzeptuellen Repräsentation der Äußerungsbedeutung zurückkommend (Unterscheidung der vier Bedeutungsaspekte Emotionen, Illokutionen, Informationsgewichtung und Repräsentationsgehalt, s. Kap. 3), können bestimmte Korrelationen zwischen Bedeutung und grammatischen Formen angenommen werden. Beispielsweise besteht bei den drei Sätzen a. er trinkt Milch, b. trinkt er Milch und c. Milch trinkt er der Bedeutungsunterschied in den Aspekten Illokution und Informationsgewichtung, also in der Verbstellung und in der Thema-Rhema- Gliederung, während thematische Relationen eher durch syntaktischhierarchische Strukturen ausgedrückt werden (vgl. Fries 1994: 24f.). Insgesamt hält Fries (2009: 10f.) emotionale Bedeutungen für unterspezifiziert. Die Aufzählungen von Volek, Konstantinidou, Fomina, Jahr, Schwarz- Friesel und Lüdtke listen im Wesentlichen dieselben Ebenen und sehr ähnliche Mittel auf. Glas, Löffelad und Bednarek hingegen verknüpfen in ihren Überblicken sprachsystematisch und inhaltlich bestimmte Kategorien. Bei Löffelad (1990) wird eine Instanz von sprachlicher Emotivität nach drei Kriterien beurteilt: 1) nach der Systematik der formal-grammatischen Ebenen (Phonetik, Prosodik, Lexik, Morphologie, Phraseologie, Syntax, Stilistik) 2) nach den Manifestationsebenen bei Fiehler (siehe Tab. 1) 3) nach der Systematik der emotionalen Modalität nach Sandhöfer-Sixel (Kap. 6.4). Dabei werden drei Evaluationstypen angenommen: Interessantheit [INTEREST], Zustimmung ([APPROVAL] oder [DISAPPRO- VAL]), affektiv in den Dimensionen Valenz ([PLEAS]/ [DISPLEAS]), Attachment ([ATT]/ [DISATT]) und Überraschung [SURPR] Ein konkretes Beispiel aus dem dialektalen Korpus von Löffelad (1990: 175): was waaiß der Teifel ist der formal-grammatischen Ebene Phraseologie zuzuordnen (eine Sprachformel mit negativer Konnotation), die Prosodik ist stark emotiv (Stimmfärbung geringschätzig, stark ablehnend, Rhythmus und Melodie) und die kognitive Evaluation ist deutlich [DISAPPR]. Eine Analyse all dieser Instanzen in einem Text erlaubt eine Gesamtaussage. Auf den Ansatz von Bednarek gehe ich in Abschnitt 6.7 ein. <?page no="199"?> 6.1 - Überblick: -Klassifikationen -und -Aufzählungen - 189 6.1.2 - Klassifikation -sprachlicher -Mittel Die folgenden Tabellen, eine Zusammenfassung verschiedener Aufzählungen und Klassifikationsansätze, sind nur ein erster Schritt in der Entwicklung einer Methode für die emotionslinguistische Textanalyse. Zu betonen ist, dass Emotivität in der Sprache durch bestimmte Entscheidungen auf unterschiedlichen Ebenen erzeugt wird. Die Abgrenzungen sind wie schon erwähnt teilweise schwierig. Die Einordnung erfolgt aufgrund eines Eher-Verhältnisses: Strittige Mittel werden der Ebene zugeschlagen, der sie am ehesten entsprechen. Allerdings sind beispielsweise die meisten stilistischen Mittel syntaktischer und/ oder pragmatischer Art und umgekehrt. Die Tabellen sind nicht durchnummeriert, da die Zwischenüberschriften ausreichend strukturieren. 59 Nonverbale -Ebene Sprachliches Mittel und Nachweis Bestimmungskriterien/ Erläuterungen Beispiele Blickverhalten (RJ) Dimension: Nähe (nah/ fern) Wegsehen: Scham; Ansehen: Nähe, Konfrontation Proxemik (Näheverhalten) (RJ) Dimension: Nähe (nah/ fern) Distanz halten Mimik (RJ) Dimension: Valenz (positiv/ negativ) Lächeln - Freude Phonetisch--‐phonologische -Ebene Sprachliches Mittel und Nachweise Bestimmungskriterien/ Erläuterungen Beispiele Stimmqualität (NF1, NF2, RJ, PL) Dimension: Valenz Stimmfärbung, -höhe Intonation (NF1, RJ, MK, BV) Dimension: Selbstbewusstsein Steigend: Unsicherheit (z.B. Es ist 9 Uhr? ) Akzentuierung, Betonung (BK, PL, UL1, BV) Dimension: Intensität Exklamativ Lautstärke (RJ, PL) Dimension: Intensität Schreien - Wut Quantität (Länge, Dauer, Tempo) (NF1, RJ, UL1, BV) Dimension: Intensität Vokaldehnungen (z.B. süüüüß) 59 In den Tabellen werden in der Spalte „Nachweise“ die folgenden Abkürzungen verwendet. SF = Fomina (1999: 146f., 153). NF1 = Fries (1994: 10ff.). NF2 = Fries (1996: 10-21). NF3 = Fries (2003: 110). NF4 = Fries (2009: 24f.). SJ = Jahr (2000: 80-100). RJ = Janney (1996: 247-250, Erläuterungen 161-250). MK = Konstantinidou (1997: 68-74). BK = Kryk-Kastovsky (1997: 155f.). PL = Löffelad (1990: 169f.). UL1 = Lüdtke (2006a: 8f.). UL2 = Lüdtke (2006b: 20). MSF = Schwarz-Friesel (2007: Kap. 5). BV = Volek (1987: 15-25). <?page no="200"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 190 Lautsymbolik (MK, BK, BV) 1. mit qualitativ ikonischem Potenzial 2. Emphatica 3. mit quantitativ ikonischem Potenzial 1. rutschen, ballern 2. Comicsprache 3. ticktack Phonemkonstellationen (UL1, UL2) Dimension: Intensität z.B. Alliterationen (Mars macht mobil) Typographische -Ebene Sprachliches Mittel und Nachweise Bestimmungskriterien/ Erläuterungen Beispiele Graphisch hervorgehobene Elemente (NF3, SJ) Dimension: Intensität Anführungszeichen, Großbuchstaben Auffällige Interpunktion (MK, Wolf 2010: 31f.) Dimension: Intensität Rufzeichen, Fragezeichen, v.a. mehrfach (! ! ! , ? ! ? ) Bedeutsame Buchstabenveränderungen (NF3) Expressivität (ikonisches Potenzial) sh! t, Buchstabenverdrehungen Anzahl und Länge der Absätze (NF3) Relevanzzuschreibung, Hinweise auf kognitive Organisation bzw. Geordnetheit Keine Absätze - Eindruck von Atemlosigkeit, auch kein Durchatmen für Leser/ -innen Schrifttypen, Schriftgröße, Schriftfarbe (NF4) Expressivität (ikonisches Potenzial) Verspielte Schrift, Farbänderung mit Signalwirkung Schriftauszeichnungen (NF4) Expressivität (ikonisches Potenzial) Kursiv- und Fettdruck Spationierung, Zeilensprung, -einzug, Zeichenorientierung (NF4) Nur loser Zusammenhang mit Emotivität Bewusste Entscheidungen im Textdesign, Gesamtbild des Textes Graphische Elemente (z.B. Emoticons) (NF4) Dimension: Intensität Imitation para- und nonverbaler Signale, Lautverschriftung (geeeeil) Morphologische/ grammatische -Ebene Sprachliches Mittel und Nachweise Bestimmungskriterien/ Erläuterungen Beispiele Diminutiv (SF, NF1, NF2, RJ, MK, PL, UL1, UL2, BV) Dimension: Valenz Kann Zuneigung oder Machtverhältnisse ausdrücken -lein, -chen Wessi, Kiddies, Ami Augmentativ (SF, NF1, NF2, BV) Dimension: Valenz Vergrößerung, im Deutschen nicht systematisch. Unsumme, Affenhitze, Abertausende Emotive Affixe und Affixoide (meliorativ, intensivierend, pejorativ) (SF, NF1, NF2, SJ, MK, PL, BV) Dimensionen: Intensität, Valenz Verstärkung: super-, Mega-, Mords-, scheiß- Pejorativ: -ler, -ling <?page no="201"?> 6.1 - Überblick: -Klassifikationen -und -Aufzählungen - 191 Bestimmte Pluralformen (SF) Meist negative Konnotation die Dinge vs. die Dinger Komparativ und Superlativ (SF) Dimension: Intensität Bewertung besser, beste Bedeutungsunterscheidender Einsatz des Artikels oder von Demonstrativpronomina (SF, SJ) z.B. Abwertung, Typisierung durch unbestimmten Artikel das Mensch, ein Faßbinder, diese Grünen Abkürzungen (UL1, UL2) Positive oder negative Evaluation Demo Verbalisierung von Anglizismen (UL1, UL2) Expressiv und soziale Selbstzuordnung (z.B. Jugendsprache) cashen, smsen, rumhaten Reduplikation (SF, UL1, UL2) Dimension: Intensität jaja, tagtäglich, mannomann Lexikalische -Ebene Sprachliches Mittel und Nachweise Bestimmungskriterien/ Erläuterungen Beispiele Emotionsbezeichnende Lexeme (NF1, NF2, RJ) Dimension: Valenz Wortfeld: z.B. ANGST Referenz: z.B. Bezug auf Produzent/ in Temporal: z.B. Gegenwart Freude, traurig, lieben Emotionsausdrückende Lexeme (MSF) Wörter, denen der Emotionsausdruck inhärent ist scheußlich, Mistkerl Konventionalisiert emotive, expressive bzw. emotiv bewertend konnotierte Lexeme (SF, NF1, NF2, SJ, MK, UL1, UL2) Minimalpaare Benennungsverschiebungen Dimensionen: Valenz, Intensität Frau - Weib - Weibsstück - das Mensch, der Weise, Kopf vs. Rübe, Mord, Penner, Krüppel, Titten Kontextuell emotiv bzw. bewertend konnotierte Lexeme (SF, SJ, MK, UL1, UL2) Dimensionen: Valenz, Intensität Abhängig vom Vorwissen und von gesellschaftlichen Hintergründen Stasi, Jude Schlagwörter (SF, SJ) Oft in der Pressesprache Lobbyist, Wutbürger Hochwertwörter, Leit- und Fahnenwörter (SF, SJ) Emotive Bedeutung abhängig von gesellschaftlichen Bewertungen Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit Feind- und Stigmawörter (SF, SJ) Emotive Bedeutung abhängig von gesellschaftlichen Bewertungen konservativ De-Personifikation (UL1, UL2) z.B. Tierbezeichnungen für Menschen Bulle, Wurm, Maus <?page no="202"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 192 Kosenamen, Hypokoristika (Abkürzungen von Namen) (SJ, BK, BV) Dimension: Nähe/ Distanz Emotionsausdrückend und emotionalisierend Schätzchen, Hansi Schimpfwörter, Schimpfnamen (SJ, BK) Emotionsausdrückend und emotionalisierend (Wut, Scham) Schweinehund, Dödel, dummer August Geheimnamen (SJ) Starke gesellschaftlich bedingte Konnotationen, Kontrolle über Wortmagie Operation Geronimo (Osama bin Laden) Expressive Komposita (SJ, MK, MSF) 1. mit intensivierendem Erstglied 2. metaphorisch 3. semantisch unstimmig 4. undurchsichtig 5. markiert 6. Affixoidbildungen 1. Heidenkrach 2. Aktenhengst 3. Bevölkerungsexplosion 4. Zinsburg 5. todviolett 6. allerbeste Koppelung von mind. zwei Grundmorphemen (SJ) Dimension: Intensität feucht-fröhlich Wertende Modalwörter (SJ, RJ) Dimension: Valenz bedauerlicherweise, gottlob, hoffentlich Emotiv getönte Modalpartikeln (SJ) Siehe 6.3.5 ja, mal, halt Emotive Formen der Gradierung/ Intensivierung, Bewertung/ Modifizierung (SJ) Dimensionen: Intensität, Valenz extrem schön, vollkommen umsonst, echt schlecht, zweifellos Expressive Neologismen (UL1, UL2) Ähnlich einem Schlagwort, aber unverbrauchter fremdschämen Interjektionen (NF1, NF2, MK, PL, UL1, UL2, BV) 1. Interpretation von Situation abhängig 2. Primär/ sekundär 3. Expressiv/ appellativ 1. oh! (Erstaunen oder Verstehen) 2. ach/ verdammt 3. au! / he! Onomatopoetika (BK, BV) Schall- oder Lautnachahmungen, gerade bei häufiger Verwendung in einem Text geeignet, bestimmte Stimmung zu erzeugen Lautsymbolik Stereotype emotive Kollokationen (SJ) Emotive Bedeutung steckt in der Kollokation graue Theorie Allgemein emotive Phraseologismen (NF1, NF2, SJ, BV) Idiomatische Wendungen mit Emotionsbezug etw. zieht jmdm. die Schuhe aus Phraseologismen: Sprichwörter, Sentenzen, Sprachformeln (SJ, PL) Leicht abrufbar, Emotionskonzepte verratend, emotive Konnotationen Angst verleiht Flügel <?page no="203"?> 6.1 - Überblick: -Klassifikationen -und -Aufzählungen - 193 Syntaktische -Ebene Sprachliches Mittel und Nachweise Bestimmungskriterien/ Erläuterungen Beispiele Bestimmte Arten von Deklarativ-, Imperativ- und Interrogativsätzen (SJ) Kontextabhängig neutral oder dem Emotionsausdruck dienend Vergewisserungsfragen, aggressive Befehle, objektivierendes Erzählen Exklamativa (SJ, MK, BV) Exklamativsätze, exklamatorische Feststellungen und Fragen, Affektfragen Ist Peter gekommen? ! , Du hast was gemacht? Optativsätze (NF1, NF2, SJ) Siehe 6.5 Käme er bloß! Passiv (RJ) Dimensionen: Selbstbewusstsein, Nähe/ Distanz Es wurde [vs. Maria hat] beschlossen Modus (SJ, PL) z.B. Konjunktiv zur Distanzierung Sie sei krank Abweichende Wortstellung, kreative Abweichungen, unkonventionelle Syntax, Topikalisierung (SJ, BK, MK, PL, UL1, UL2) Subjektive Wortstellung, Hervorhebung auch durch den Kontext (z.B. Anführungszeichen) Aufmerksamkeitssteigernd, emotionsausdrückend Weg war er Ziemlich scharf, dein Kleid Bestimmte Konjunktivkonstruktionen (MK) Emotionsausdrückend Oh, dass ich bloß wieder jung wäre! Konstruktionen mit Demonstrativ- und Relativpronomen (BV) Hervorhebung im positiven oder negativen Sinn Schwächlinge [Genies] - das ist es, was wir sind Negation (SJ) Insbesondere doppelte Verneinung nicht unschön Intensivierende Proformen und Interrogativpronomen (SJ, RJ) Die Aufmerksamkeit wird auf das Element fokussiert und dessen Außergewöhnlichkeit hervorgehoben welch ein, was für ein Pragmatische -Ebene Sprachliches Mittel und Nachweise Bestimmungskriterien/ Erläuterung Beispiele Grüße (SJ) Dimension: Nähe/ Distanz Hi/ Grüß Gott Anredeverhalten (RJ) Dimension: Nähe/ Distanz Duzen, Vor-/ Nachname, Titel Joschi/ Herr Professor Mehrle Flüche (SJ) Negative Emotion ausdrückend, negative Emotionalisierung Geh zum Teufel! <?page no="204"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 194 Ironie (UL1, UL2) Funktionen: Ausdruck einer Einstellung zum Gegenüber, gesichtswahrend, geistreicher Eindruck, emotionalisierend (positiv oder negativ) Signale: z.B. sogenannt, angeblich, Anführungszeichen Sarkasmus, Provokation (UL1, UL2) Beißender Spott, beziehungsgefährdend, Provokation (z.B. Imitation) Danke für nichts Sprachschichtveränderungen (PL) Kann sehr unterschiedliche emotionale Funktionen übernehmen (Respekt, Lächerlichmachen, Relevanz, Wirkung) z.B. von umgangssprachlichem in hochgestochenen Stil wechseln Befehle (MK) Höflich oder unhöflich - unterschiedliche Einstellung ausdrückend und unterschiedliche Emotionen auslösend (Face, Status, Beziehung) Sei bitte so nett ... vs. Bring mir gefälligst ... Ehrlichkeit (BK) Entwaffnend, angreifend, beziehungskittend oder beziehungsgefährdend Kritik, auch Selbstkritik Direkte Ansprache (Vokative) (RJ, BV) Primär expressiv: keine neutrale Äußerung, die modifiziert wird Sekundär expressiv: erst durch die Ableitung emotiv Geh zum Teufel! ; Du Idiot! ; Mein Liebling! Karlchen! Idiolekt, Dialekt, Soziolekt, Urbanolekt (SJ, UL1, UL2) Emotionsausdrückend und emotionalisierend leiwand (Wienerisch) Code-Mixing, Code- Switching (UL1, UL2) Funktionale Wechsel, oft zur Markierung von Nähe/ persönlicher Relevanz/ Emotivität Und ich dachte mir nur noch, oh, great! Jargonismus (UL1, UL2) Gruppensprache, Berufssprache, Fachsprache als Mittel der Gruppenkennzeichnung und Distanzierung gegenüber anderen Medizinischer Wortschatz Illokutionen und Illokutionsstrukturen (SJ) Siehe 6.6 z.B. Häufung von Expressiva Bestimmte direkte und indirekte Sprechakte (SJ) Mit emotiven Funktionen, emotionsausdrückend, emotionsbeschreibend oder emotionalisierend Emotionsbeschreibende Repräsentativa <?page no="205"?> 6.1 - Überblick: -Klassifikationen -und -Aufzählungen - 195 Ausbeutung (flouting) von Konversationsmaximen, Konversationsimplikaturen (SJ) Qualität, Quantität, Modalität, Relevanz - kann emotionsausdrückend und emotionalisierend sein Schweigen (vgl. Ulsamer 2002, Stadler 2010) Inszenierung konzeptueller Mündlichkeit (Perrin 2007: 203) Eindruck von Mündlichkeit, Nähe Online-Kommunikation Stilistische -Ebene Sprachliches Mittel und Nachweise Bestimmungskriterien/ Erläuterungen Beispiele Metaphern (SF, UL1, UL2, BV) Emotionsmetaphern (emotionsbezeichnende Metaphern), emotiv wertende Metaphern Mir geht gleich der Hut hoch! Metonymien, Synekdochen (SF, SJ, UL1, UL2) z.B. PHYSISCHE ERREGUNG STEHT FÜR ÄRGER. Leder statt Haut Unser tägliches Brot Vergleiche (SF) wie-Zusammenhang stolz wie Oskar Eigesicht Hyperbeln (SF, UL1, UL2) Übertreibungen Sprühteufel, todmüde Intensivierende Genitivkonstruktionen (NF1, NF2) Betonung das Buch der Bücher Wörtliche Rede (PL, BV) Statt indirekter Rede in Redewiedergabe - Unmittelbarkeit „Ich bin total fertig! “, sagte er Figuren der Auslassung (Ellipsen) (SJ, PL, UL1, UL2, BV, Gansel/ Jürgens 2008: 70f.) z.B. syntaktische Ellipsen: situative Ellipsen (fehlende Elemente sind klar), Struktur-Ellipsen (z.B. Präposition, Kopulaverb, Vollverb), empraktische Ellipsen (z.B. Für Hunde verboten), Aposiopesen (bewusste Auslassungen am Satzende), Zeugma, Anakoluth: Satzabbruch Siehe 6.7 Figuren der Addition (Wiederholungen) (RJ, PL, UL1, UL2, BV) Emphatische Wiederholung (wörtlich, variierend, synonymisch, syntaktisch), Wiederholung auffälliger Elemente (z.B. expressiver Wörter), Parallelismus (gleicher Satzanfang), Häufung gleichrangiger Elemente (z.B. Adjektive bzw. Attribute), Parallelismus (gleichrangige Konstruktionen), Klimax (Steigerung) Siehe 6.7 Antithesen (SJ) Bedeutungsgegensätze, Widersprüche, Kreuzstellung aufmunternde Einschüchterung <?page no="206"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 196 Inversionen und Spaltungen (RJ, PL) Umstellungen: Betonungen Recht hast du Rhetorische Fragen (SJ, PL, UL1, UL2) Eher emotionalisierend, mobilisierend Wie lange noch, Catilina, ... Euphemismen (PL, UL2) Beschönigungen kräftig statt dick Paronomasie (UL1, UL2) Wortspiel z.B. ole (! ) Maloche Textuelle -Ebene Sprachliches Mittel und Nachweise Bestimmungskriterien/ Erläuterungen Beispiele Emotionsbeschreibungen Siehe 6.5 - Emotionsschemata, Emotionsscripts, Emotionale Szenen, Episoden- und Situationsstereotype mit emotiven Konnotationen (SF, SJ, MSF) Siehe Kap. 4 Siehe Kap. 4 Art des entworfenen Textweltmodells (MSF) Siehe 6.7 Textwelt eines Romans Hinweise auf Emotionsregeln und auf das Erfüllen von Emotionsaufgaben, Emotionsprozessierung (Fiehler 1990b) Emotions-, Manifestations-, Korrespondenz-, Kodierungsregeln, Emotionsdeutungen Prozessierung: Eingehen, Hinterfragen, Infragestellen, Ignorieren Siehe 6.6 Thematisierungen von non-/ paraverbalen Zeichen (MK, BV, Davitz 1969 60 ) Indirekte Hinweise auf para- und nonverbale Zeichen z.B. Er sagte erstaunt; seufzend Thematisierungen körperlicher (physiologischer) Prozesse im Zusammenhang mit Emotionen (Empfindungen und Symptome) (Davitz 1969) Spezifisch oder unspezifisch (z.B. generalisiert oder einem einzelnen Körperteil zugeordnet - Herz, Bauch, Atmung) Äußerlich sichtbare Zeichen für Emotionen z.B. zitternd, Bauchweh, rot werden Thematisierungen von Ausdrucksverhalten (Davitz 1969) Lachen, Weinen, Schreien, Singen Mimik, Gestik Hin- oder Wegbewegung grinsen, schluchzend Thematisierungen von Einstellungen, Kontrollversuchen und Zeitwahrnehmung (Davitz 1969) Einstellungen: selbstgerichtet, allgemein Kontrolle: Verlust, Notwendigkeit, Gleichgültigkeit Zeitverlauf: beschleunigt oder verlangsamt ich fühle mich gut; nichts geht mehr; die Zeit steht still 60 Davitz (1969: 152-156) zitiert seinerseits eine nicht veröffentlichte Dissertation: Farmer, C. (1967): Words and feelings. A developmental study of the language of emotion in children. New York: Teachers College, Columbia University. <?page no="207"?> 6.2 - Am -Rande: -Para--‐ -und -nonverbale -Hinweise -auf -Emotionen - 197 Unvereinbares vereinen (BV) Widerspruch zwischen zwei Konzepten oder Bewertungen Yuk, that’s beautiful! Der Rest des Kapitels ist der näheren Besprechung der meisten Mittel gewidmet. 6.2 - Am Rande: Para--‐ und -nonverbale Hinweise auf Emotionen Para- und nonverbale Mittel wie Suprasegmentalia, Mimik, Körperhaltung, Proxemik und Gestik werden im Vergleich zur symbolischen Seite der Sprache als effizienter für die Kommunikation von Emotionen angesehen, weil sie Gefühle direkter zum Ausdruck bringen und auch als unmittelbare Anzeichen für emotionale Zustände rezipiert werden (vgl. Daneš 1987: 273, 279; Dem’jankov 1998: 105f.). Speziell die Stimme ist ein wichtiger Träger emotionaler Information und für die emotionale Qualität des Gesagten entscheidend (vgl. Kranich 2003: 41, 48). Intonation, Mimik und Gestik liefern oft jene Zusatzinformation, die einen Emotionsausdruck als solchen erkennbar macht. Beispielsweise wird das Lexem arm in Der arme Kerl! erst durch die Art der Äußerung oder begleitende körperliche Signale ein konventionalisierter Ausdruck von Mitleid oder aber Ironie (vgl. Hermanns 1995: 153). Im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit, die nur schriftliche Texte untersucht, fallen diese Formen von Information jedoch weitgehend weg (vgl. Dorfmüller-Karpusa 1990: 29), mit zwei Ausnahmen, die Daneš (1987: 280f.) nennt: • analoge Signale in der grundsätzlich digitalen schriftlichen Kommunikation (z.B. zittrige Schrift) • explizite Thematisierungen (Beschreibungen) para- und nonverbaler Eindrücke Für eine emotionslinguistische Textanalyse ist nur letztere Möglichkeit relevant. Aus diesem Grund wird hier der Forschungsstand für diese sprachliche Ebene nicht aufgerollt. Zur Abrundung werden in der Folge aber einige zentrale Punkte genannt. Ob und wie der Sprachinhalt mit dem mimischen Emotionsausdruck systematisch zusammenhängt, ist weitgehend unklar. Empirische Ergebnisse dazu sind widersprüchlich. Es handelt sich zwar um zwei unterschiedliche Möglichkeiten des Ausdrucks und der mimische Ausdruck ist ontogenetisch eine frühere Entwicklung als die Sprache (vgl. Benecke 2002: 77-81). Beim Erwachsenen ist die Funktion des mimischen Emotionsausdrucks aber oft, einen Sprachinhalt zu kommentieren, zu bewerten, zu illustrieren oder zu imitieren (vgl. Benecke 2002: 85). Stassen (1995) beispielsweise untersucht <?page no="208"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 198 gesunde, depressive und schizophrene Versuchspersonen miteinander und stellt signifikante Unterschiede in der Tonhöhe (Länge und Verteilung stimmhafter Abschnitte), Klangfarbe (Spektralmuster) und im Sprachfluss fest, vor allem bei Schizophrenie. Auch die Persönlichkeit korreliert mit Sprachparametern, ohne dass das Sprachverhalten näher analysiert werden müsste. Es gibt zahlreiche Untersuchungen, in denen einzelne Emotionsqualitäten mit spezifischen mimischen Mustern in Beziehung gesetzt werden (z.B. Überraschung = Augenbrauen und Augenlider heben, Unterkiefer senken, vgl. Scherer/ Wallbott 1990: 382; Kranich 2003: 56f.). Diese Konfigurationen entsprechen im Wesentlichen intuitiven Kenntnissen kompetenter Sprecherinnen und Sprecher. Über diesen Zwischenschritt - also über stereotype Vorstellungen zum Zusammenhang von Mimik und Emotionen - finden diese Muster auch Eingang in Texte, etwa wenn Emotionen von Personen nicht benannt, sondern über die Beschreibung von Gesichtsausdrücken thematisiert werden. Ähnliches gilt für die Gestik, die jedoch stärker kulturell geprägt und erlernt ist als die Mimik. Besonders emotionsträchtig sind sogenannte Affekt- Darstellungen: Mit ihnen werden Emotionen direkt gezeigt (z.B. Herzklopfen mit sanftem Schlagen der Hand auf der Brust andeutend). Je nach Geste kann es sich dabei um Embleme, also konventionalisierte Gesten, Illustratoren (unterstreichende Gesten) oder Adaptoren (unwillkürliche Bewegungen und Selbstberührungen) handeln. Spezifische gestische Ausdrucksmuster für einzelne Emotionen konnten empirisch bisher nicht nachgewiesen werden. Eher sehr allgemein wird die Intensität der Erregung angezeigt (vgl. Niemeier 1997b: 289ff.). Zittern, Erröten, Weinen, verkrampfte Körperhaltung und andere physische Merkmale gehören in den Bereich der unmittelbaren Interaktion (vgl. Bowers/ Metts/ Duncanson 1985: 520). Dauer und Richtung von Blicken, Körperhaltung, Muskelspannung und Proxemik werden als Indexe für Emotionen interpretiert. Diese Aspekte sind in hohem Maße kulturabhängig. Beispielsweise wird die Vermeidung von Blickkontakt in Verbindung gebracht mit Zurückweisung, mit Angst oder auch mit dem Versuch, Aggressionen beim Gesprächspartner zu verringern (vgl. Bowers/ Metts/ Duncanson 1985: 523, 525). Formal betrachtet unemotionale Äußerungen können durch phonetischphonologische und prosodische Mittel emotional eingefärbt werden (z.B. Es ist 9 Uhr? ). Vor allem die Quantität bzw. Dauer, das Sprechtempo, spezifische Akzentuierungen (wie Exklamativakzent, zwei Satzhauptakzente, höhere Lautstärke) und Intonationsaspekte (z.B. Tonhöhenverlauf) werden in diesem Zusammenhang genannt (vgl. z.B. Fries 1994: 10f., 15 sowie 1996: 12, 19ff.). Emotionen werden durch vokale Muster kodiert und dekodiert - es besteht <?page no="209"?> 6.2 - Am -Rande: -Para--‐ -und -nonverbale -Hinweise -auf -Emotionen - 199 eine korrelative Beziehung zwischen emotionalen Reaktionen und akustischen Variablen. Diese Korrelation wird als ‚Kovariationsprinzip‘ bezeichnet. Beispielsweise ist bei starkem Ärger die Grundfrequenz erhöht. Für die Interpretation sind neben lexikalischen und anderen sprachsystematischen Informationen oft auch die Äußerungssituation, kulturelle Einflüsse und weitere Informationen, z.B. Gestik und Mimik, ausschlaggebend (‚Konfigurationsprinzip‘ (vgl. Scherer/ Wallbott 1990: 353f.; Johnstone/ Scherer 2004: 221f.; Fries 1996: 12, 19ff.). Die Ergebnisse von empirischen Untersuchungen zu den emotionsspezifischen prosodischen Mustern sind teilweise widersprüchlich und nicht auf andere Sprachen übertragbar (vgl. Kranich 2003 für eine Zusammenfassung der nicht sehr übersichtlichen Forschungsergebnisse). Auch hier gibt es kategoriale Ansätze, die Einzelemotionen eindeutige paraverbale Merkmale zuordnen (z.B. Kranich 2003), sowie dimensionale Ansätze, die von semantischen Dimensionen wie Valenz und Aktivierung ausgehen (z.B. Kehrein 2002; Tischer 1993). Traurigkeit ist beispielsweise gekennzeichnet durch niedrige Intensität und Lautstärke, niedrige Grundfrequenz, eher geringe Grundfrequenzvariation, tiefe Tonhöhe, monotonen Tonhöhenverlauf, fallende oder flache Intonation und sehr langsames Sprechtempo (vgl. Kehrein 2002: 137; Kranich 2003: 205-210; Scherer/ Johnstone/ Klasmeyer 2003: 439). Dabei handelt es sich jedoch wie erwähnt um stereotype Assoziationen von Versuchspersonen (vgl. Reilly/ Seibert 2003: 538). Intonationsmerkmale können sowohl emotionale Wertungen der Sprecherin bzw. des Sprechers anzeigen als auch emotionale Wertungen bei Zuhörerinnen und Zuhörern auslösen (vgl. Konstantinidou 1997: 111ff.). Beispielsweise wird schnelles Sprechen als hohe Erregung, bei zusätzlich hoher Stimme als Lügen interpretiert (vgl. Bowers/ Metts/ Duncanson 1985: 521f.). Paraverbale emotionale Botschaften und der Sprachinhalt können divergieren, und zwar insbesondere in sozialen Situationen unter dem Einfluss von Konventionen, weniger jedoch bei einem unmittelbaren Ausdrucksbedürfnis (vgl. Battacchi/ Suslow/ Renna 1997: 100f.). Insgesamt ist von einer komplexen Interaktion mimischer, prosodischer und lexikalisch-sprachlicher Parameter auszugehen, wobei redundante, einander ergänzende und widersprüchliche Informationen in den verschiedenen Kanälen kommuniziert werden können (vgl. Reilly/ Seibert 2003: 553; Hielscher 2003b: 681; Konstantinidou 1997: 119). In geschriebenen Texten sind para- und nonverbale Informationen Hermanns (1995: 153f.) zufolge über den kognitiven Prozess der Gestaltergänzung rekonstruierbar: Das heißt, dass Textrezipientinnen und -rezipienten diese Ebene inferieren, beim Lesen mitdenken. - <?page no="210"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 200 6.3 - Lexikologie: Emotive Lexeme -und -Phraseologismen Auf dieser Ebene ist nach Fomina (1999: 9, Hervorhebung i.O.) insbesondere die „Unerschöpfbarkeit des emotionalen Wortbestandes“ eine schwer zu bewältigende Herausforderung für die Darstellung. Diese Komplexität ist eine Folge der Notwendigkeit und des Bedürfnisses, emotionales Erleben sprachlich differenziert zu beschreiben bzw. auszudrücken (vgl. Fiehler 1990b: 84). Entsprechend komplex ist auch die Forschungslage, zumal Semantik und Lexikologie jene Gebiete der Emotionslinguistik sind, welche die meisten wissenschaftlichen Untersuchungen hervorgebracht haben. Da die Analysen oft bei solchen Wortschatzanalysen stehen bleiben, kann mit Wilce (2009: 40) kritisch von ‚Lexikozentrismus‘ (vor allem der Kognitiven Linguistik) gesprochen werden. Die Angaben über die Anzahl der Emotionswörter im engeren Sinn schwankt dabei, dürfte aber im Bereich von 500 bis 1.000 Wörtern liegen (vgl. Fiehler 2010: 23). In diesem Abschnitt wird ein Überblick über verschiedene lexikologische Ansätze gegeben. Zuletzt erfolgt ein kurzer Exkurs zur Morphologie. 6.3.1 - Emotionen -zu -Wörtern, -Wörter -zu -Emotionen Der Emotionswortschatz wird mit verschiedenen Methoden ermittelt. Die Überschrift deutet bereits die zwei unterschiedlichen Perspektiven an, die jeweils auf ihre eigene Weise zur Bestimmung des Emotionswortschatzes beitragen: Bei den psychologischen Methoden werden Listen mit Emotionswörtern als Mittel zu dem Zweck erstellt, Erkenntnisse über die psychologische Organisation von Emotionen zu gewinnen, auch als ‚Zuordnung von Emotionen zu Wörtern‘ zu fassen (vgl. Schwarz/ Ziegler 1996: 43). In der Linguistik hingegen wird umgekehrt von Emotionskonzepten ausgegangen und unter diesem Gesichtspunkt eine lexikographische Beschreibung des Emotionswortschatzes vorgenommen, also eine ‚Zuordnung von Wörtern zu Emotionen‘ (vgl. Diller 2005: 1579). So unterschiedlich diese Perspektiven erscheinen und so wichtig es ist, sie auseinanderzuhalten, so ähnlich sind teilweise die Ergebnisse. Fragebogenstudien -und -Clusteranalysen Hierbei handelt es sich um linguistische Methoden oder Vorstudien zu psychologischen Forschungen, um zuverlässige Wortlisten für die weitere Beurteilung zu erhalten. Die einfachste Methode ist, Versuchspersonen Wortlisten vorzulegen und sie zu fragen, ob es sich dabei um Wörter handelt, die Emotionen bezeichnen. Assoziationsstudien, in denen Versuchspersonen Emotionswörter frei aufzählen, und andere Varianten von probandengestützten Wortfeldanalysen sind ähnliche Verfahren (vgl. Debus 1988: 107f.). Auf diese <?page no="211"?> 6.3 - Lexikologie: -Emotive -Lexeme -und -Phraseologismen - 201 Weise können Listen emotionsbezeichnender Lexeme erstellt werden, wobei jedoch Versuche dieser Art zu teilweise sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen (vgl. Debus 1988: 109; Plutchik 1994: 46-51 für exemplarische Studien). Diese Uneinigkeit beruht auf mehreren Problemen, vor allem aber darauf, dass die Zusammenstellung der Wortlisten selbst schon eine Vorauswahl ist, dass die sprachliche Erfahrung der Versuchspersonen stark variiert und dass meist kein Kontext angegeben ist (vgl. Clore/ Ortony 1988: 369f.). In Clusteranalysen werden Versuchspersonen angewiesen, Wörter mit ihrer Meinung nach ähnlicher Bedeutung oder semantischen Beziehungen in Gruppen zu ordnen (vgl. Debus 1988: 112f.). Konkrete Beispiele sind die Studien von Davitz und Schmidt-Atzert (s. 6.3.3). Die Eigenschaftswörterliste (EWL) von Janke und Debus (ursprünglich 1978) ist ein Beispiel für eine von Wissenschaftlern erstellte und in Fragebogenstudien gut bestätigte Wortliste, in diesem Fall ausschließlich Adjektive. 61 Differential -Emotions -Scales Um Rückschlüsse auf emotionales Erleben zu ermöglichen, werden in verschiedenen psychologischen Kontexten Aussagen zur Selbstbeurteilung vorgelegt, die konkretes Verhalten und Sachverhalte beschreiben. Diese Aussagen können verbal (z.B. ich zittere), adverbial (z.B. ich reagiere ängstlich, wenn ...), adjektivisch (z.B. ich bin traurig) und substantivisch (z.B. ich habe Angst) gestaltet sein, verschiedene Dimensionen wie Intensität, Dauer und Häufigkeit einbeziehen und aktuelle oder retrospektive Emotionen betreffen (vgl. Debus 2000: 410; Izard 1999: 150ff.; Plutchik 1994: 108-120). Am häufigsten werden Adjektivlisten abgefragt, weil die adjektivische Form auch der häufigste alltagssprachliche Fall ist, auf Emotionen Bezug zu nehmen (vgl. Schmidt-Atzert 2009b: 535ff. für einen Überblick über deutschsprachige Fragebogenverfahren). Es handelt sich also um ein psychologisches, nicht um ein linguistisches Beobachtungsinstrument zur Einschätzung des Erlebens von Emotionen und von Emotionskombinationen. Aus linguistischer Sicht ist dieser Ansatz interessant, weil sehr umfangreiche Wortlisten erstellt werden. Methodisch problematisch ist der Ansatz, wenn unkritisch angenommen wird, dass unterschiedliche Personen mit denselben Emotionswörtern auf dieselbe subjektive Erfahrung oder gar denselben emotionalen Prozess referieren (vgl. Debus 1988: 124f.; er diskutiert auch die verschiedenen Gründe für individuelle Benennungstendenzen, z.B. unterschiedliche Urteilssicherheit). 61 Vgl. Janke, W./ Debus, G. (1978): Die Eigenschaftswörterliste EWL. Göttingen: Hogrefe; zit. n. Debus (1988: 110f.). <?page no="212"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 202 Sprachinhaltsanalyse -nach -Gottschalk -und -Gleser -(1980) Ebenfalls ein psychologisches Verfahren zur Untersuchung von aktueller emotionaler Befindlichkeit, aber mit linguistischen Implikationen ist die Sprachinhaltsanalyse. Die Grundauffassung von Gottschalk/ Gleser (1980: 18): „Die relative Größe eines Affektes kann valide aus dem Transkript eines gesprochenen Textes beurteilt werden, wenn allein inhaltliche Variablen und keine parasprachlichen Variablen berücksichtigt werden.“ Die Analyse konzentriert sich auf die lexikalische Ebene. Versuchspersonen (oder Personen, deren psychischer Zustand überprüft werden soll) werden gebeten, einen Fantasietext zu schreiben oder einige Minuten frei zu sprechen. Es können auch Interviews und Gesprächsprotokolle auf diese Weise ausgewertet werden. Untersucht werden die Qualität der zum Ausdruck kommenden Gefühle und die Intensität jedes grammatikalischen Haupt- und Nebensatzes (vgl. Mayring 2009: 565f.; Battacchi/ Suslow/ Renna 1997: 11f.). Jedes Element wird entweder auf Angst- oder Aggressivitätsskalen beurteilt. Das Frequenztheorem, das Ausmaß der Direktheit und persönliche Beteiligung als Kriterien der Auswertung wurden bereits genannt und kritisch hinterfragt (s. 3.3). Für psychologische Zwecke funktioniert das Verfahren offenbar - wenn auch mit Unschärfen - gut (vgl. Battacchi/ Suslow/ Renna 1997: 12, 110f.; ausführliche Darstellung in Osgood/ Suci/ Tannenbaum 1971 [1957]). Suslow (1993: 15f.) stellte in einer Studie jedoch fest, dass die ermittelten Werte teilweise durch die Aversion der Versuchspersonen gegen die Erhebungsmethode verfälscht werden und dass eher die affektive Tönung der berichteten Ereignisse gemessen wird. Insbesondere hebt Suslow (1993: 290ff.) den für die vorliegende Arbeit wichtigen Hinweis hervor, dass das Sprechen über Emotionen bzw. das mentale Lexikon mit den gespeicherten Emotionswörtern sehr individuell ist, viel über die Geschichte und Persönlichkeit eines Menschen aussagt, aber für inhaltsanalytische Untersuchungen nur sehr schwer erfasst werden kann. Daher spricht er sich für die Einbeziehung kognitiver Theorien und eine ergänzende hermeneutische Interpretation von Texten aus (Perspektivenübernahme, Metawissen heranziehen etc.). Affektives -Diktionär -Ulm Ein ähnliches Verfahren ist das Affektive Diktionär Ulm. Auch bei dieser psychologischen Methode wird anhand von Sprachanalysen, hier ausschließlich aufgrund des verwendeten Vokabulars, der emotionale Zustand von Personen erfasst. Das bevorzugte Anwendungsgebiet sind therapeutische Dialoge. Das Verfahren soll Rückschlüsse auf den Therapieverlauf zulassen (vgl. Hölzer/ Scheytt/ Kächele 1992: 131ff.; Mayring 2009: 566). Als ‚Affektives Vokabular‘ definieren Hölzer, Scheytt und Kächele (1992: 133) „all die Wörter eines Sprechers, die auf der Einzelwortebene eine emotionale Konnotation <?page no="213"?> 6.3 - Lexikologie: -Emotive -Lexeme -und -Phraseologismen - 203 besitzen: als die Summe aller verwendeten Gefühlsworte“. Emotive Adjektive und Substantive eines geschriebenen Textes werden nach einer Liste mit Emotionswörtern acht Basisemotionskategorien zugeordnet und quantitativ ausgewertet: Dabei ist die Häufigkeit des Vorkommens von Wörtern aus den verschiedenen Emotionskategorien das entscheidende Beurteilungskriterium der Emotionalität in den ausgewerteten Texten bzw. Gesprächen (vgl. Hölzer/ Scheytt/ Kächele 1992: 138-142, die Schwierigkeiten wie die Kontextabhängigkeit und die Beschränkung auf Adjektive und Substantive diskutieren). Emotionskategorien sind nach Hölzer/ Scheytt/ Kächele (1992: 134f.; 141f.) Liebe (z.B. Anteilnahme, sehnsuchtsvoll), Begeisterung und Überraschung (z.B. faszinierend, Respekt), Wut (z.B. gehässig, Antipathie), Furcht (z.B. zurückgewiesen, Bedrohung), Zufriedenheit (z.B. entspannt, Befriedigung), Freude (z.B. munter, Lebenskraft), Depression (z.B. ratlos, Scheu) und Angst (z.B. kribbelig, Unruhe). In der Folge wird ein direkter Schluss von Emotionswörtern auf Basisemotionen vorgenommen (vgl. Battacchi/ Suslow/ Renna 1997: 107; Jahr 2000: 86). Es handelt sich also um eine Untersuchung des Wortschatzes von Texten. Das -Semantische -Differenzial Dieses einfache und auf viele Fragestellungen anwendbare Instrument wird sowohl in der Psychologie und verschiedenen Natur- und Sozialwissenschaften als auch in der Linguistik häufig eingesetzt (vgl. Tischer 1988: 25). Ursprünglich wurde diese Methode von Osgood zur Einschätzung von Wörtern auf mehreren Skalen meist mit sieben oder neun Stufen entwickelt, und zwar in den Dimensionen Valenz (Evaluation), Erregung (Aktivierung) und Kraft (Potenz) (vgl. Hörmann 1978: 96-104 für eine ausführliche Diskussion von Osgoods Verhaltensmodell, das die theoretische Grundlage seiner semantischen Untersuchungen bildet; vgl. auch Flade 1984: 35ff.). Aus linguistischer Sicht können mit dieser Beurteilungsmethode die denotativen und konnotativen Bedeutungsanteile von Wörtern gemessen werden, indem Emotionswörter von Versuchspersonen nach diesen Dimensionen beurteilt werden (vgl. Schwarz/ Ziegler 1996: 45; Tsiknaki 2005: 47). Auch Zugehörigkeits- oder Ähnlichkeitsurteile über Emotionswörter (vgl. z.B. Schmidt-Atzert 1987) oder der Gebrauch von Gefühlswörtern zur Benennung eigener Gefühle werden auf diese Weise erfragt. Auch hier sind die kontextfreie Präsentation und die Annahme, dass es sich um kulturunabhängige, intersubjektive Bedeutungen handelt, problematische Vorannahmen (vgl. Flade 1984: 42f.; Zillig 1982a: 64f.; Jahr 2000: 63). Ein groß angelegtes Projekt zu emotiven Wortassoziationen in verschiedenen Sprachen ist das Projekt Magellan (vgl. Schröder 2009: 65ff. sowie Heise 2001 für eine allgemeine Darstellung). Beispielsweise ist das Wort Freund <?page no="214"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 204 in der Evaluationsdimension (E) mit +3,80/ 3,78 (männlich/ weiblich), in der Potenzdimension (P) mit +1,90/ 2,11 und in der Aktivierungsdimension (A) mit -0,62/ +0,61 beurteilt worden, Verkäufer hingegen mit E +0,20/ -0,30, P +0,27/ +0,40 und A +0,94/ +1,28. Ein konkretes Anwendungsbeispiel ist die Überprüfung der emotionalisierenden Wirkung von Medienprodukten wie einer Werbung. 6.3.2 - Zur -Ordnung -emotiver -Lexeme Es ist zunächst ein sehr grundlegendes und keineswegs gelöstes Problem, emotive von nicht-emotiven Lexemen eindeutig abzugrenzen (vgl. Jäger/ Plum 1988: 36f.). Auch für die lexikalische Ebene kann die Unterscheidung zwischen Emotionsthematisierung und Emotionsausdruck herangezogen werden. Hermanns (2002: 356) hält einige hilfreiche terminologische Differenzierungen bereit: 1) Als emotiver Wortschatz oder emotive Lexik bezeichnet Hermanns (2002: 356) die „Gesamtheit aller emotiven Wörter und Lexeme einer Sprache“. Andere Termini: ‚affective lexicon‘ (vgl. Clore/ Ortony 1988: 373) und entsprechend deutsch ‚Affektives Lexikon‘ (vgl. Schröder 2009). 2) Die Termini Gefühlswortschatz, Emotionswortschatz und Emotionsbegriffe beziehen sich hingegen ausschließlich auf die Wortklasse der emotionsbezeichnenden Lexeme (z.B. Liebe, lieben, liebreich). Meistens steht in Klassifikationsansätzen diese Kategorie im Mittelpunkt. Andere Termini, die hierfür in Verwendung sind: Gefühlsbegriffe, Lexikon emotionsbezeichnender Wörter (z.B. Fiehler 1990) und Gefühlswörter (z.B. Jäger/ Plum 1988; Schwarz-Friesel 2007: 144). 3) Emotive Wörter sind emotionsausdrückende Lexeme. Mit ihnen werden emotionale Bewertungen ausgedrückt, und zwar teilweise unumstößlich, teilweise nur in bestimmten Kontexten Jäger und Plum (1988: 38), die an der Erstellung eines historischen Wörterbuchs interessiert sind, definieren die unter zweitens genannte Klasse - Emotionswörter - als Ausdrücke, „mit denen Sprecher in nicht-egologischen Verwendungen die Emotionen oder emotionalen Zustände einer Person charakterisieren [...] und mit denen sie in egologischen Verwendungen ihre Emotionen oder emotionalen Zustände explizit zum Ausdruck bringen.“ Ausgeschlossen werden Wörter, die nicht als Objekte bei den Verben empfinden und fühlen auftreten können, Wörter, die sich nur auf Sinnesempfindungen beziehen und nicht mit dem Possessivpronomen an ein Subjekt gebunden werden können (z.B. Kälte), sowie Wörter, die nicht sowohl Ursachen als auch Objekte haben (z.B. Schmerz, vgl. Jäger/ Plum 1988: 41f.). <?page no="215"?> 6.3 - Lexikologie: -Emotive -Lexeme -und -Phraseologismen - 205 Wie lassen sich nun emotionsbezeichnende und emotionsausdrückende Lexeme voneinander abgrenzen? Eine kurze Antwort: aufgrund ihres semantischen Bezugs. Emotionslinguistisch relevante Wörter können sich nach Fiehler (1990b: 84), Ulich/ Mayring (2003: 34-37) und Fries (2000: 32f., 77) auf mehrere Aspekte beziehen: • auf einen subjektiven, erlebten psychischen Zustand • auf körperliche Prozesse, Ausdrucksverhalten und Handlungen • auf den Auslöser eines Gefühls (sowohl Objekte, Personen als auch Sachverhalte, Situationen) Emotionsbezeichnende Lexeme sind laut Schwarz-Friesel (2007: 144) also „Lexeme, deren referenzielle Funktion in der Bezeichnung von emotionalen Zuständen und Erlebensformen besteht“. Einige Beispiele: Trauer, Wut, Angst, Neid, Freude, Liebe. Grundsätzlich können Substantive, Adjektive, Verben und Partizipien Emotionskonzepte, emotionale Zustände und emotionale Handlungen bezeichnen (vgl. Zillig 1982b: 327f.). Emotionsausdrückende Lexeme bezeichnen nicht Emotionen, sondern Personen, Gegenstände, Sachverhalte, Prozesse und Eigenschaften bzw. ihre Bewertung durch Sprecherinnen und Sprecher (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 144; Kövecses 1995: 3). Auch hier einige Beispiele: dämlich, Liebling, motzen. So einfach diese Abgrenzung erscheint, so schwierig wird sie im Detail, auch innerhalb der beiden Kategorien. Wichtig hervorzuheben ist, dass sowohl emotionsbezeichnende als auch emotionsausdrückende Lexeme oft nur in bestimmten Kontexten als emotiv zu interpretieren sind: Clore, Ortony und Collins (1988: 374) demonstrieren dies anhand des Wortes neglected, indem sie auf den Unterschied zwischen feeling neglected (zwingend emotive Lesart) und being neglected (nicht emotiv) unterscheiden. Hinsichtlich der emotionsbeschreibenden Lexeme sind auch Stimmungen, Einstellungen und Charaktereigenschaften durchaus relevante Referenzobjekte, aber keine Emotionen im strengen Sinn - viele Wörter beziehen sich jedoch sowohl auf Emotionen als auch auf diese anderen Phänomene, z.B. Depression (vgl. Diller 2005: 1578). Außerdem enthalten sie meistens ein Bündel an Merkmalen - auch mit dem eindeutigen Emotionslexem Angst bezieht man sich auf Auslöser, kognitive Prozesse, physiologische Reaktionen und Handlungen (vgl. Bednarek 2008: 147f.). Im Unterschied zu emotionsausdrückenden Lexemen sind diese Aspekte jedoch nur implizit enthalten und über das Weltwissen zu erschließen, während emotionsausdrückende Lexeme einen oder mehrere dieser Aspekte explizit benennen oder eine emotive Wertung ausdrücken. <?page no="216"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 206 Ein weiterer Faktor, der die klare Trennung nur scheinbar aufhebt, ist der Umstand, dass unter bestimmten Bedingungen mit emotionsbezeichnenden Lexemen auch Emotionsausdruck möglich ist, und zwar sofern sie in eine grammatische Konstruktion in der 1. Person eingebettet sind (vgl. Hermanns 2002: 356). Allerdings wirken diese Formen im Vergleich zum unmittelbaren Emotionsausdruck oft schwach auf den Kommunikationspartner bzw. auf die Kommunikationspartnerin (vgl. Dem’jankov 1998: 106). Es gibt jedoch auch Gegenbeispiele, wie etwa von Schwarz-Friesel (2007: 147) dargestellt: „Ob eine ‚spontane‘ Liebesbekundung wie [Oh mein süßer Hase! ] eine expressivere, emotional effektivere Äußerung als [Ich liebe dich mehr als alles andere auf der Welt] ist, muss entschieden bezweifelt werden.“ 6.3.3 - Emotionswortschatz -und -Wortfelder 62 Der Emotionswortschatz verweist nicht auf reale Emotionen, sondern auf „die bewußte Erfahrung der eigenen Reaktion“ (Schmidt-Atzert 1980: 187). Andererseits sind beispielsweise Emotionswörter auch nicht unabhängig von den Prozessen, auf die sie sich beziehen. Ihre Funktion besteht in der kognitiven Ordnung und Kategorisierung von Gefühlszuständen sowie in der Thematisierung emotionaler Zustände in Gesprächen bzw. Texten (vgl. Fries 2000: 77). Emotionsbezeichnende Lexeme werden nach verschiedenen Kriterien genauer kategorisiert (vgl. Hielscher 1996: 53; 2003b: 686): • Emotionskategorien und dimensionale Ansätze: Wie bei den Ordnungsansätzen zu Emotionen gibt es wie erwähnt auch bei den Emotionswörtern dimensionale und kategoriale Ansätze. Einerseits stimmen diese Klassifikationen nicht miteinander überein, andererseits schließen sie einander nicht notwendigerweise aus. • Wortfeldanalysen: Hier wird nicht der gesamte Emotionswortschatz verglichen, sondern ein bestimmtes Emotionskonzept herausgegriffen. Zuerst wende ich mich Aufzählungen und Strukturierungsversuchen des gesamten Emotionswortschatzes zu. Die -Wörterbücher -von -Dornseiff -und -Wehrle--‐Eggers Erstmals 1934 erschien der Dornseiff: Franz Dornseiff (1888-1960) stellte ein onomasiologisches Wörterbuch zusammen, also eines, das nicht alphabetisch, 62 Einen Forschungsüberblick zur Klassifikation von Gefühlswörtern, Wortfeldanalysen und Einzellexembeschreibungen bieten Diller (2005) und Hermanns (2002). <?page no="217"?> 6.3 - Lexikologie: -Emotive -Lexeme -und -Phraseologismen - 207 sondern nach Sachgebieten geordnet ist (vgl. Wiegand 2004 für eine allgemeine Einführung, historische Hintergründe und Funktionen des Wörterbuches). Dieser deutsche Wortschatz nach Sachgruppen (derzeit in der achten Auflage wesentlich verändert gegenüber dem ursprünglichen Werk) enthält ein Kapitel mit der Überschrift ‚Fühlen, Affekte, Charaktereigenschaften‘ (Hauptgruppe 10), das hinsichtlich des Emotionswortschatzes eine interessante Sammlung darstellt (vgl. Fomina 1999: 134f.). Neben prototypischen Emotionen wie Liebe, Hass und Zorn werden auch andere Wortgruppen zu Schlagwörtern wie Wählerisch, Hoffnung, Wunsch, Reizbar, Charakter etc. in diese Kategorie eingeordnet. Hervorzuheben sind zwei Gründe, warum die Aufstellung für eine empirische Analyse nur bedingt brauchbar ist: Erstens enthalten auch andere Sachgruppen emotionslinguistisch relevante Einträge- einerseits hinsichtlich ihrer Konnotationen, andererseits hinsichtlich des Emotionsausdrucks. Zweitens handelt es sich vielfach um Assoziationen mit unklarem, das heißt nicht interpretiertem Bezug, was auf die korpusbasierte und computergestützte Erstellungsweise der neuen Auflage zurückzuführen ist. Zentrale Emotionsqualitäten wie Trauer sind nicht als eigene Kategorien eingeführt, die relevanten Lemmata sind stark verstreut. Es ist jedoch auch nicht der Anspruch des Wörterbuchs, den Emotionswortschatz vollständig und streng geordnet abzubilden. Der Sinn eines onomasiologischen Wörterbuchs liegt Wiegand (2004: 20) zufolge unter anderem darin, dass Synonyme leichter auffindbar sind und die Wortwahl im Schreibprozess unterstützt wird, aber auch in der Hilfe „bei sprachwissenschaftlichen Versuchen, einen Überblick darüber zu gewinnen, was in einer Einzelsprache versprachlicht ist und was nicht“. Der ‚Wegweiser zum treffenden Ausdruck‘ von Wehrle und Eggers (1993 [1961]) 63 ist nach vergleichbaren Prinzipien aufgebaut, kommt aber im Kapitel mit dem Titel ‚Gefühlsleben‘ zu einer deutlich anderen Einteilung und Aufstellung des Emotionswortschatzes und seiner Verwandten. Das Wörterbuch wurde allerdings seit 1961 nicht mehr überarbeitet. Interessant ist es aus historischen Gründen und weil hier eine systematischere Gliederung des Emotionswortschatzes als bei Dornseiff vorliegt, und zwar aufgrund von Emotionskategorien. Gegliedert ist der Wortschatz in die folgenden Großgruppen: Gemütsanlage (Charaktereigenschaften), individuelle Gefühle (z.B. Grundgefühle wie Lust/ Unlust, ästhetische Gefühle, z.B. Schönheit), Gemeinschaftsgefühle (z.B. Gefühle der Verbundenheit, z.B. Liebe), sittliche Gefühle (z.B. Gerechtigkeit) und religiöse Gefühle (z.B. religiöse Betätigung). 63 Erstmals erstellt wurde der Wortschatz Anfang des 20. Jahrhunderts von Hugo Wehrle (auf der Grundlage des englischen Wörterbuches von P.M. Roget), überarbeitet ab 1911 durch Hans Eggers. Die endgültige Fassung erschien 1961. <?page no="218"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 208 Davitz: -Alltagsbeschreibungen, -Clusteranalysen und -Dimensionen Davitz (1969) wendet sich wegen der Unsicherheit über die Bedeutungen emotionalen Sprechens dem alltäglichen Sprachgebrauch zu und untersucht, wie Emotionen erlebt werden und wie dieses Erleben sprachlich benannt wird (vgl. Davitz 1969; Kövecses 1990a: 6ff.). Zu 50 aus dem Wörterbuch ausgewählten Emotionswörtern (z.B. anger, gratitude) formuliert er 556 kognitive, verhaltens- und handlungsmäßige oder körperliche Gefühlsbeschreibungen wie z.B. Ich tue mir leid oder Ich spüre Magendrücken. Davon ausgehend erstellt er ein ‚Wörterbuch‘ der Emotionsbenennungen (vgl. Davitz 1969: Kap. 2; Heringer 1999: 153), das allerdings nicht auf das Deutsche übertragbar ist. Erwähnenswert ist der Ansatz aber, weil Davitz nicht nur kategoriale und dimensionale Ansätze miteinander verknüpft, sondern dadurch auch herausgefunden hat, dass die intersubjektive Übereinstimmung bei den Benennungen sehr groß ist, zumindest bei Basisemotionen. Außerdem ist seine Unterteilung in zwölf Cluster von Emotionswörtern auch in neueren Untersuchungen herangezogen worden und intuitiv gut zugänglich. Es sind dies die Cluster Activation, Hypoactivation, Hyperactivation, Moving Toward, Moving Away, Moving Against, Comfort, Discomfort, Tension, Enhancement, Incompetence: Dissatisfaction, Inadequacy (vgl. Davitz 1969: 110-114). Schmidt--‐Atzert: -Fragebogenstudien -und -Clusteranalyse Einen Überblick über ältere Studien zum Emotionswortschatz bietet Schmidt-Atzert (1980). In seiner eigenen Untersuchung erstellt er, geleitet durch andere Arbeiten, eine Liste von 112 potenziellen Emotionswörtern (Substantiven) und befragt Versuchspersonen, ob diese Wörter Emotionen bezeichnen. Bis auf Mangel, Unanständigkeit und Kräftigkeit ist die Übereinstimmung groß genug, um allen Lexemen den Status von Emotionswörtern zu verleihen (vgl. Schmidt-Atzert 1980: 39f.). Ziel seiner Arbeit ist eine harmonische Einordnung der Emotionsnamen in eine überschaubare Anzahl an Clustern mittels einer Clusteranalyse, bei der die Versuchspersonen Ähnlichkeit und Unähnlichkeit von 60 Items ermitteln sollten. Als Ergebnis schlägt Schmidt-Atzert (1980: 39f.) zwölf Cluster vor: Freude, Lust, Zuneigung, Mitgefühl, Sehnsucht, Unruhe, Abneigung, Aggressionslust, Traurigkeit, Verlegenheit, Neid und Angst. Im Vergleich mit anderen, ähnlichen Ansätzen zeigt sich, dass die Cluster Überraschung, Interesse, Schuld, Reue, Verlegenheit und Scham/ Schüchternheit umstritten sind, während Freude, Aggressionslust, Traurigkeit, Abneigung und Angst überall vertreten sind, wenn auch oft mit anderen Etiketten (vgl. Schmidt-Atzert 1980: 65f.). <?page no="219"?> 6.3 - Lexikologie: -Emotive -Lexeme -und -Phraseologismen - 209 Im Vergleich zu Davitz finden sich jedoch keine Übereinstimmungen, da Davitz als Kriterium für die Erstellung der Cluster nicht Emotionsqualitäten, sondern abstraktere Konzepte ansetzt. In späteren Untersuchungen von Schmidt-Atzert sind leicht abweichende Ergebnisse zu finden, bei Schmidt- Atzert (1987: 157) etwa die Grundemotionen Abneigung, Ärger, Angst, Unruhe, Traurigkeit, Scham, Freude, Zuneigung, Überraschung, Schuld. 64 Dies liegt möglicherweise daran, dass Versuchspersonen unterschiedliche Lebenserfahrung und unterschiedliches semantisches Wissen mitbringen (vgl. Marten- Cleef 1991: 60-63 für Kritikpunkte an Schmidt-Atzert). Durst (2001: 119f.) betont, dass es in diesen Versuchen nicht um Wortbedeutungen geht, sondern um hyponymische Beziehungen zwischen Emotionswörtern. Clore/ Ortony -(1988): -Psychische -Zustände -und -Wörter Clore und Ortony (1988: 380, 386), deren kognitionswissenschaftliche Ordnung der Emotionen (gemeinsam mit Collins) bereits beschrieben wurde (s. Kap. 2), erstellen für ihr affektives Lexikon eine Taxonomie emotionaler Zustände, die mit der Strukturierung des Emotionswortschatzes korreliert. Ihre Taxonomie psychologischer Bedingungen (vgl. für eine Abbildung Clore/ Ortony 1988: 376) unterscheidet internale und externale Zustände. External sind subjektive Evaluationen (z.B. sexy) oder objektive Beschreibungen (z.B. abandoned), internal mentale oder physische Zustände (z.B. aroused). Zentral sind die mentalen Zustände, die in affektzentriert (z.B. happy, encouraged), verhaltenszentriert oder kognitionszentriert (z.B. careful, certain) unterteilt werden können. Auf die noch genauere Unterscheidung wird an dieser Stelle verzichtet. Mees -(1991): -Klassifikation -in -Anlehnung -an -Ortony, -Clore -und -Collins Für Mees (1991: 26f.) ist die Grundlage für die Strukturierung der Emotionen alltagspsychologisches und umgangssprachliches Wissen: geteilte Auffassungen über die Welt, kulturelle Maximen und in der Sprache präsente Konzepte. Als echte Gefühlswörter lässt er nur Lexeme gelten, die sowohl in der Konstruktion Ich fühle x als auch in Ich bin x Gefühle bezeichnen (z.B. aus dem Wortfeld Ärger). Gegenbeispiel: Ich bin verlassen drückt nur einen Sachverhalt aus - dass dieser emotiv im Sinne von emotionsausdrückend sein kann, wird damit nicht bestritten (vgl. Mees 1991: 40). Mees’ Ansatz zur Klassifikation von Emotionswörtern ist eine Fortführung von Ortony, Clore und Collins bzw. eine Übertragung auf das Deutsche (vgl. 64 In dieser Untersuchung wird beurteilt, wie Versuchspersonen Emotionswörter umgangssprachlich beschreiben und wie austauschbar diese Beschreibungen sind (vgl. auch Tischer 1993: 53f., 63ff.). <?page no="220"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 210 Schmitt 1996: 141-147). Es geht in dieser Klassifikation zwar um Emotionsqualitäten, aber Emotionswörter können demnach auch den Emotionskategorien der referierten Emotionen zugeordnet werden. Er unterscheidet Empathieemotionen (Mitfreude, Neid, Schadenfreude, Mitleid), Erwartungsemotionen (Hoffnung, Furcht, Befriedigung, Erleichterung, Enttäuschung), Wohlergehenemotionen (Freude, Leid), Attributionsemotionen (internal: Stolz und Scham, external: Billigung und Zorn), Kombinationen aus Wohlergehen- und Attributionsemotionen (Selbstzufriedenheit, Selbstunzufriedenheit, Dankbarkeit, Ärger), Wertschätzungsemotionen (Bewunderung oder Verachtung) und Attraktivitätsemotionen (Liebe, Hass) (vgl. Mees 1991: 54- 60, Kap. 4-6 für Detaildarstellungen). Der Wahl eines Emotionsworts liegt also eine bestimmte Bewertung zugrunde. Mees führt auch das Kriterium an, wie spezifisch Emotionen benannt werden oder wie stark der Kontext herangezogen werden muss (z.B. Heimweh als sehr spezifische Emotion). Dimensionale -Ansätze Neben der Einteilung in Kategorien müssen auch dimensionale Konzepte berücksichtigt werden, wie sie etwa beim Semantischen Differenzial angewendet werden. Kriterien der Analyse und Differenzierung von Emotionswörtern sind neben verschiedenen semantischen Merkmalen, die auch für andere Wortfelder gelten, nach Schwarz-Friesel (2007: 136f.), Fries (2000: 77f.) und Tischer (1993: 60) folgende Dimensionen: • Intentionalität/ Gerichtetheit: [±REAKTION AUF X], [±ERWARTUNG HINSICHTLICH X]. • Valenz: [POSITIV], [NEGATIV]. • Intensität: [±INTENSIV]. • Dauer: [±PERMANENT]. • Aktivität und Potenz: z.B. [±AKTIVIERT], [±MÄCHTIG]. Hier können sehr viele unterschiedliche Kriterien in die Beschreibung aufgenommen werden: syntaktische, textuelle, diskursive, (sprachlich, situativ, kognitiv) kontextuelle Aspekte. Schwarz-Friesel (2007: 136f.) und Fries (2000: 80f.) nennen beispielsweise die Einschätzung einer Emotion als pathologisch (z.B. Depression vs. Trauer), situative Faktoren (z.B. Furcht vs. Angst), Voraussetzungen und Folgeerscheinungen (z.B. Liebe vs. Zuneigung) sowie ritualisierte und religiöse Aspekte (z.B. Scham als soziale Angst). Auch Fiehler (1990b: 72f.) betont, dass der Emotionswortschatz sozial geprägt ist, da in die emotionale Kommunikation nicht nur individuelle, sondern auch gesell- <?page no="221"?> 6.3 - Lexikologie: -Emotive -Lexeme -und -Phraseologismen - 211 schaftliche und kulturelle Vorstellungen einfließen. Welche Wörter wie präzise, kreativ oder stereotypisiert verwendet werden, hängt von den Anforderungen der Kommunikationssituation ab (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 136f.). In einem sehr umfassenden Ansatz nehmen Mel’čuk und Wanner (1996) eine Reihe von semantischen Dimensionen an, um Emotionslexeme zu beschreiben - auch die Kombinationsmöglichkeiten mit anderen Lexemen werden von diesen Dimensionen bestimmt (vgl. Mel’čuk/ Wanner 1996: 217). Die semantischen Dimensionen sind Intensity (Intensität), Polarity (Valenz), Manifestability (Ausdrückbarkeit), Directionality (Gerichtetheit auf ein Objekt), Mentality (Glauben, Sicherheit, Vorannahmen), Attitudinality (Emotionen aufgrund einer Einstellung), Activity (Handlungstendenzen auslösend), Excitation (Erregung), Self-control (Selbstkontrolle) und Permanence (längere Dauer). Wut ist etwa gekennzeichnet durch hohe Intensität, negative Valenz, Manifestabilität (Ausdrückbarkeit), Aktivität, Erregung, mangelhafte Selbstkontrolle und kurze Dauer (vgl. Mel’čuk/ Wanner 1996: 218 für eine umfangreichere Tabelle mit vielen weiteren Beispielen). Jäger -und -Plum -(1988): -Die -pragmatische -Perspektive Das Ziel, das sich Jäger und Plum (1988: 5) setzen, ist die Erstellung eines ‚Historischen Wörterbuchs des deutschen Gefühlswortschatzes‘, wobei die theoretischen Vorüberlegungen auch für die synchrone Perspektive verwertbar sind. Die Korrelation zwischen Emotionswörtern und Emotionen bzw. die Definition von Emotionswörtern mit Aussagen über Erlebnisqualitäten lehnt Plum (1992: 172) ab, weil sie am Essenziellen - der Verwendung in Sprachspielen - vorbeigeht. Sinnvoller seien systematische Angaben zu stereotypen Anlässen, Verhaltensweisen und Verwendungszusammenhängen. Der Sinn eines Wörterbuchs besteht also in der Erklärung von Gebrauchsbedingungen und Sprachkritik unter Berücksichtigung von historischen Hintergründen (vgl. Jäger/ Plum 1988: 20). Gefühlswörter sind in der Definition von Plum (1992: 173) „prädikative Ausdrücke [...], die dazu verwendet werden können, die Emotionen einer Person zu charakterisieren“. Dies kann auf unterschiedliche Weise geschehen: z.B. ist die Kollokation Angst haben je nach Kontext aktueller Zustand oder eine Disposition (z.B. Angst vor Schlangen haben, vgl. Plum 1992: 174f.). Ein weiteres typisches Merkmal der Emotionswörter ist, dass Zuschreibungen von Emotionen selten mit Substantiven, sondern eher mit Verben und Adjektiven vorgenommen werden (z.B. sind Konstruktionen wie Er empfindet Freude selten). Die einzige Ausnahme in dieser Hinsicht ist Angst (vgl. Plum 1992: 175f.). Außerdem sei in einem solchen Wörterbuch vor allem der Unterschied zwischen emotionsbeschreibender und emotionsausdrückender Funktion von Emotionswörtern (Ich habe Angst vs. Er hat Angst) auszufüh- <?page no="222"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 212 ren, ferner ihre Funktionen in appellativen, wertenden und darstellenden Sprachhandlungen (vgl. Plum 1992: 178f.). Im folgenden Zitat ein Beispiel bei Plum (1992: 179, Hervorhebungen i.O.) für einen Wörterbucheintrag, der von Textverwendungen ausgeht: „sich freuen Durch den Ausdruck A freut sich deutet ein Sprecher B ein bestimmtes Benehmen einer anderen Person A (charakteristisch: Jauchzen, Jubeln, Lachen, Hochwerfen der Arme) als Ausdruck eines bestimmten emotionalen Zustandes von A. Die Deutung Bs setzt voraus, daß die Emotion As entweder durch das Eintreten eines Ereignisses ausgelöst wurde, das A als besonders positiv für sich empfindet, sich gewünscht oder ersehnt hat (vgl. A freut sich über etw./ daß etw. geschehen ist) oder durch die Überzeugung und Erwartung von A, daß ein solches Ereignis in Zukunft eintreten wird (vgl. A freut sich auf etw./ daß etw. eintreten wird). Anstelle oder im Kontext des oben beschriebenen Verhaltens kann die Person A ihren emotionalen Zustand und ihre positive Stellungnahme zu einem Ereignis auch explizit zum Ausdruck bringen: Ich freue mich | riesig, sehr | (über/ daß/ auf).“ Heringer -(1999): -Distributive -Semantik -von -Gefühlswörtern Heringers Ansatz der Bedeutungsbeschreibung wurde bereits in Kapitel 3 vorgestellt. Zur Erinnerung: Bedeutung ist bei ihm bestimmt durch das Auftreten, die Verteilung und die Kombination von Wörtern in Textkorpora. Heringer spricht von ‚semantischen Plots‘, in denen Szenen und Beziehungen, quasi das ‚Porträt‘ eines Wortes repräsentiert sind (vgl. Heringer 1999: 113). Dieses Bild eignet sich gut für den Gefühlswortschatz, den Heringer folglich in seinen empirischen Analysen intensiv untersucht. Die mit einfachen Sätzen ausformulierten Plots geben ein differenziertes Bild der Verwendung eines Wortes. Die Beschreibungen klingen in etwa so (Auszug aus dem Plot zu Angst, Heringer 1999: 116): „Es ist ein Ideal, keine Angst zu haben und ohne Angst, angstfrei, zu leben. Wir sollten unsere Angst selbst bewältigen, und möglichst nicht verdrängen, wenngleich wir das oft genug tun. Bei der Bewältigung der Angst können Worte und Sprechen helfen: Angst verschlägt einem zwar das Wort, aber Ängste kann man auch zur Sprache bringen, man kann etwas über sie sagen und versuchen, anderen die Angst zu nehmen.“ Im Wesentlichen handelt es sich also um wenig formalisierte, extensive Beschreibungen von Sprach- und Weltwissen, das in einer Sprachgemeinschaft geteilt wird. Eine weitere Idee von Heringer sind die sogenannten ‚semantischen Formulare‘, die er in Anlehnung an Wierzbicka entwirft. Er versteht darunter „eine Textform, [...] ein strukturiertes semantisches Formular, das den Ge- <?page no="223"?> 6.3 - Lexikologie: -Emotive -Lexeme -und -Phraseologismen - 213 brauch eines Wortes beschreibt, indem es nacheinander auf die wichtigen Aspekte eingeht“ (Heringer 1999: 127). Dieses Konzept entspricht in etwa Frames (s. Kap. 4) mit aufzufüllenden Slots und Rollen, denen auch bestimmte Möglichkeiten der grammatischen Belegung entsprechen (vgl. Heringer 1999: 128f.). Ein weiterer Terminus, den Heringer (1999: 138) einführt, ist jener der ‚Satzbatterie‘, „eine strukturierte Menge von Sätzen[, die] den Gebrauch eines Wortes, etwa eines Gefühlsworts offenlegen [soll]“. Gesucht werden prototypische Beispiele für die Verwendung von bestimmten Wörtern, und zwar nach den Kriterien ‚repräsentativ‘, ‚produktiv‘ (zum Inferieren einladend), ‚transparent‘ und ‚natürlich‘ (vgl. Heringer 1999: 138f.). Die Sätze sollen außerdem unterschiedliche Aspekte (z.B. Ursachen, Verlauf, Verhaltensweisen) in Zusammenhang mit dem Wort widerspiegeln. 65 Durch Ersetzungsproben kann die Ähnlichkeit bzw. Bedeutungsgleichheit oder eben auch die abweichende Bedeutung von Wörtern analysiert werden. Mit diesen Verfahren untersucht Heringer beispielsweise die Bedeutung und das Wortbildungsverhalten des zentralen Emotionslexems Gefühl und stereotypische Verwendungsweisen von Liebe. Das Lexem Gefühl beispielsweise ist ein Kontinuativum, das heißt, ohne Artikel und mit Quantifikatoren wie etwas und viel zu verwenden. Es kann aber auch individuativ, mit bestimmtem Artikel eingesetzt werden (z.B. das Gefühl der Leere). In letzterem Fall liegt oft eine Spezifizierung vor: mit Abstrakta (z.B. Gefühl der Ungewissheit), substantivierten Infinitiven (z.B. Gefühl des Entbehrens), von-Attributen (z.B. Gefühl von Wahrheit), für (Gefühl für Ehre), Infinitivphrasen (z.B. das Gefühl, moralisch gut zu sein) und dass-Phrasen (z.B. das Gefühl, dass sie gebraucht wird) (vgl. Heringer 1999: 162-167). Die Methode Heringers kann ich für die Analyse meines Korpus nicht heranziehen, aber ich übernehme zumindest die Überzeugung, dass die Bedeutung von emotiven Lexemen textuell bestimmt ist - dies ist einer der Gründe dafür, warum kein emotionales Wörterbuch erstellt werden sollte. Emotive -Verben: -Psychische -Verben/ Gefühlsverben Eine übersichtliche Klassifikation von verschiedenen Arten emotiver Verben bietet Römer (2012: 374ff.) an: 65 Einige Beispiele für Misstrauen: Misstrauen vergiftet die Atmosphäre im Verein; Man wirft einander misstrauische Blicke zu; Jeden politischen Aufstieg beobachtet er mit Misstrauen - vgl. Heringer (1999: 148). <?page no="224"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 214 • Verben des emotionalen Bewegens: z.B. erfreuen, drohen, kränken, quälen, belustigen. • Expressive Verben: z.B. wünschen, hoffen, erflehen, sehnen. • Psychische Wirkungsverben: z.B. erschrecken, langweilen, verabscheuen, lieben. • Epistemische Verben: glauben, vermuten, hoffen, wissen. Diese Klasse hat jedoch auch evaluativen Charakter. • Metaphorische Verben: versinken, sich versündigen. Die psychischen Wirkungsverben werden auch nur als psychische, als affektive oder als emotionale Verben bezeichnet. Härtl (1999), Miyake (2004: 18f.) und Fries (2007: 8) zählen dazu z.B. ängstigen, ärgern, aufregen, beruhigen, deprimieren, entsetzen, enttäuschen, erschrecken, freuen, interessieren, kümmern und verblüffen (im Englischen als mental verbs oder psych verbs bezeichnet, vgl. Foolen 2012: 352). Sie können sowohl in reflexiver (Ich ärgerte mich über seine Anwesenheit) als auch in transitiver Verwendung (z.B. Seine Anwesenheit ärgerte mich) verwendet werden. Transitiv gebraucht sind diese Verben kausativ: Ein Verursacher bewirkt beim Experiencer einen bestimmten psychischen Zustand, z.B. Das ängstigt mich (vgl. Miyake 2004: 24f.). Foolen (2012: 352) unterscheidet genauer kausative Verben, in denen die Ursache der Emotion als Subjekt auftritt (z.B. Das ängstigt mich), von Verben, für die keine Passivierung oder Paraphrase möglich ist (z.B. Das gefällt mir) und von Verben, in denen das Subjekt auch der Experiencer ist. Für welche Emotion welches Muster verwendet wird, lässt sich aber nicht vorhersagen, wie auch Möller (2012) in seiner Untersuchung zu valenz- und konstruktionsgrammatischen Eigenschaften von Resultativkonstruktionen mit emotionaler Bedeutung feststellt. Er unterscheidet psychische Wirkungsverben (z.B. jemanden begeistern), Konstruktionen mit machen und psychischem Adjektiv (z.B. jemanden glücklich machen) und Resultativkonstruktionen (z.B. jemanden glücklich singen). Er stellt fest, dass psychische Verben insbesondere im Vergleich zu Resultativkonstruktionen im Deutschen sehr vielgestaltig sind, was dem Bedürfnis nach möglichst differenzierter Beschreibung von Gefühlszuständen bei Sprecherinnen und Sprechern entspringen könnte (vgl. Möller 2012: 107f.). Das Ziel und die Ursache der Emotion können unterschiedliche satzgrammatische Positionen einnehmen, beispielsweise tritt der Experiencer als Subjekt und der Stimulus als Akkusativobjekt auf (z.B. ich fürchte ihn) oder der Experiencer als Akkusativobjekt und der Stimulus als Präpositionalobjekt (z.B. mich ekelt vor dir, vgl. Fries 2007: 9). Dass der Experiencer bei diesem Typ Verben sowohl im Akkusativ als auch im Nominativ vorkommen kann, ist ein eher ungewöhnliches syntaktisches Verhalten (vgl. Miyake 2012, die <?page no="225"?> 6.3 - Lexikologie: -Emotive -Lexeme -und -Phraseologismen - 215 dafür eine konstruktionsgrammatische Erklärung vorlegt, deren Diskussion hier jedoch zu weit führen würde). Für den normgerechten Gebrauch sind nach Härtl (1999: 191f.) zwei Prinzipien zu befolgen: 1) Prinzip der Kovariation zwischen den Konzepten CONSENSUS (Intersubjektivität) und DISTINCTIVENESS (Abgrenzung): Beispielsweise verhält es sich beim psychischen Verb verehren so, dass viele Personen verehren (HIGH CONSENSUS), aber nur wenige Menschen verehrt werden (HIGH DISTINCTIVENESS). 2) Prinzip der Balanciertheit: Bei psychischen Verben sind EXPERIENCER und STIMULUS aufeinander abgestimmt. Das heißt beispielsweise, dass ein positives Verb (lieben) mit positiven Eigenschaften des Stimulus zusammenhängt (z.B. Hans liebt Maria, weil sie klug ist). Das ist natürlich nur der Normalfall. Es ist ohne Probleme ein Kontext denkbar, in dem die positiven Gefühle keinerlei Zusammenhang mit dem Stimulus haben bzw. sogar ein Widerspruch besteht (z.B. Er liebt sie trotz ihrer Widerwärtigkeit). Befindlichkeitsadjektive Als Befindlichkeitsadjektive bezeichnet Harras (1982: 92) „emotive und kognitive zustände und einstellungen [sic! ]“, z.B. froh, ernst, unglücklich. Unterschieden werden bei Harras (1982: 98-102) fünf Verwendungsweisen: 1) Deskriptive Verwendung: Beschreibungen wie ich bin X; ich fühle mich X/ A ist x; A fühlt sich x. 2) Interpretative Verwendung: Hier ist die Form A ist x eine Verkürzung von ich finde, dass A x ist (*ich finde, dass A sich x fühlt). 3) Verwendung als Dispositionsprädikate: z.B. A ist ein trauriger Mensch. 4) Verwendung mit Angabe eines Anlasses: wertend (es ist traurig, dass p) oder deskriptiv (A ist froh darüber, dass p). 5) Verwendung als Bewertungen: z.B. das ist ein lustiges Geschehen. Wortfeldanalysen Nach dieser Einordnung von verschiedenen Klassifikationsansätzen des gesamten Emotionswortschatzes komme ich nun zu den Versuchen, emotionsbezeichnende Lexeme in Wortfelder zu ordnen bzw. die lexikalischen Alternativen für die Denotation einzelner Emotionskonzepte zu erfassen. Der Terminus Wortfeld ist jedoch umstritten und wird unterschiedlich definiert (vgl. Dem’jankov 1998: 96f.; Stoeva-Holm 2005: 74ff.). Auf diese Diskussion <?page no="226"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 216 kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden, ich konzentriere mich in der Folge auf emotionslinguistisch relevante Aspekte (wesentliche Punkte finden sich bei Kienpointner 1999: 165f.). Die Grenzen zwischen den Wortfeldern sind unscharf und die genaue Anzahl der Mitglieder kann nicht festgelegt werden (vgl. Kienpointner 2006: 184). Ein Hinweis zur Lösung kommt aus der Unterscheidung zwischen Fachwissen oder Alltagswissen und dem Wissen über Sprache und deren Strukturen. Um ein Wortfeld einer Emotion zu beschreiben, müssen daher Wörter ausgeschlossen werden, die nicht im alltäglichen Sprachgebrauch, sondern nur in der Fachsprache Verwendung finden. Kienpointner (2006: 184) hebt den sehr wichtigen Punkt hervor, dass unscharfe Grenzen zwischen Bedeutungen auf unscharfer Referenz, nicht auf Unschärfe der Wörter beruhen. Das heißt, dass der semantische Unterschied beispielsweise zwischen Wut und Ärger relativ klar ist, aber die Referenz auf das außersprachliche Phänomen ist durch die Unschärfe der Objekte bedingt (Beispiel von H.O.). Bedeutung hängt auch von varietätenlinguistischen, stilistischen und situativen Gebrauchsbedingungen (diatopisch, diastratisch, diaphasisch) ab, beispielsweise davon, ob Lexeme eher in poetischen Texten verwendet werden oder Entlehnungen bzw. Fremdwörter sind. Dieser letzten Gruppe kann geringere Emotivität zugeordnet werden als Erbwörtern (vgl. Kienpointner 2006: 186f.). Nicht zu vergessen sind auch diachrone Bedeutungsveränderungen (z.B. entspricht mhd. angest eher dem nhd. Sorge als Angst, vgl. Fries 2000: 82). Dem’jankov (1998: 98) prägt den Ausdruck ‚semantische Dörfer‘, „um die Bilder vom ‚Sinnbezirk‘ (oder ‚conceptual domain‘) einerseits und von der ‚Wortfamilie‘ andererseits zu vereinheitlichen“. Die einzelnen Emotionsdörfer (z.B. ÄRGER) sind in sich strukturiert, haben Beziehungen zueinander, können in andere Dörfer ‚verbannt‘ werden (z.B. Zornader) oder im Rahmen einer ‚Dienstreise‘ entsandt werden (z.B. Zorneswut). Umgekehrt können Bewohner anderer Dörfer einziehen (z.B. böse im Sinne von auf jemanden böse sein). Es gibt eine Reihe von Einzeluntersuchungen zu spezifischen Emotionsqualitäten bzw. -konzepten und ihrer sprachlichen Kodierung. An dieser Stelle führe ich beispielhaft nur Bergenholtz (1980) und Kasberger (2007) an. Bergenholtz legt eine sehr systematische Arbeit über Terminologie, Methoden und Grenzen der Lexikographie im Allgemeinen und von Wortfeldanalysen im Besonderen vor. Der Emotionswortschatz der Angst, den er genauer untersucht, ist also ein Aufhänger für die größere Perspektive, nämlich wie eine umfassende Lemmadarstellung mit lexikographischen, grammatischen, paradigmatischen, syntagmatischen und etymologischen Angaben durchgeführt werden kann (vgl. Bergenholtz 1980: 234-239). <?page no="227"?> 6.3 - Lexikologie: -Emotive -Lexeme -und -Phraseologismen - 217 Für seine Wortfeldanalyse zu ANGST betrachtet er nur emotionsbezeichnende Wörter. Er diskutiert die Methoden Introspektion, Informantenbefragung, Wörterbuchanalysen und Textanalysen und bedient sich vorrangig der letzten beiden Möglichkeiten (vgl. Bergenholtz 1980: 48-55 für eine Diskussion der Vor- und Nachteile der einzelnen Methoden). Nach einem Wörterbuchvergleich bleiben folgende Lexeme, Kollokationen und Phraseologismen als Mitglieder des Wortfeldes ANGST übrig (vgl. Bergenholtz 1980: 59; angepasst an die Neue deutsche Rechtschreibung und andere Form der Aufzählung als im Original): „Angst, ängstigen, ängstlich, Bammel haben, bange, bangen, bange Ahnung, Bangigkeit, beängstigen, beben, befürchten, Befürchtung, besorgen, Besorgnis, Bestürzung, einschüchtern, entfärben, Entsetzen, entsetzen, entsetzlich, erblassen, erbleichen, erschrecken, Furcht, fürchten, furchtbar, fürchterlich, furchtsam, Gänsehaut bekommen, Gorgo, grässlich, grauen, grauenvoll, Grausen, gräulich, Herzklopfen, ins Bockshorn jagen, mit den Knien schlottern, mit den Zähnen klappern, Panik, Schauder, schaudern, Scheu, Spuk, Schreck, Schrecken, schrecklich, Schreckensherrschaft, Schüchternheit, Sorge, Unentschlossenheit, versteinert, weiß wie Kreide, zaghaft, zittern am ganzen Leibe, zittern wie Espenlaub, zusammenfahren.“ Er stellt verschiedene Vergleiche an: auf der einen Seite Gebrauchsweisen von Angstlexemen in philosophischen, theologischen, psychologischen, medizinischen, literaturwissenschaftlichen Fachtexten, auf der anderen Seite Definitionen in verschiedenen Fachwörterbüchern, Enzyklopädien und anderen Wörterbüchern, da sich hier jeweils deutliche Abweichungen in der Definition und Verwendung der einzelnen Wörter zeigen (vgl. Bergenholtz 1980: Kap. 5, 6). Die endgültige Wortfeldgliederung nimmt er anhand einer detaillierten Korpusanalyse von Texten unterschiedlichster Art vor. Angst stellt sich dabei als das zentrale Lexem des Wortfeldes heraus, auch noch als zentral sind unter anderem erschrecken, fürchten, Schock anzusehen (vgl. Bergenholtz 1980: 163). Im peripheren Bereich sind beispielsweise scheu, Terror und entsetzlich angesiedelt. Zentrale Kriterien für die Zuordnung zum Wortfeld ANGST sind unter anderem, ob die assoziierte Emotion plötzlich oder allmählich eintritt, kurz oder lange dauert, Auswirkungen auf den Körper hat, auf Zukunft oder Vergangenheit ausgerichtet ist und ob sie unterdrückt werden kann. Beispielsweise ist befürchten auf die Zukunft gerichtet, Panik tritt plötzlich ein, panisch hat keine körperlichen Auswirkungen, Schrecken lässt sich bekämpfen, Angst wird gemeinsprachlich verwendet, Bange kommt eher selten vor (vgl. Bergenholtz 1980: 230f.). Es muss festgehalten werden, dass Bergenholtz hier nur die Ergebnisse aus seinem Korpus wiedergibt und keine allgemeingültigen Aussagen trifft. Beispielsweise ist Angst ein fachsprachlich durchaus gebräuchli- <?page no="228"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 218 ches Wort und je nach Kontext ist panisch sehr wohl mit körperlichen Symptomen verknüpft. Kasberger (2007) nimmt sich des Konzeptes TRAUER an. Unter Rekurs auf die Wortfeldtheorie von Coseriu und ausgehend von einem Korpus unterschiedlicher Textsorten (unter anderem Trauerratgeber, Romane, Todesanzeigen) beschreibt sie das semantische Feld ‚Trauer‘. Daraus entwickelt sie eine Gesamtdarstellung des Konzeptes. Hier können nur einige zentrale Ergebnisse zusammengefasst werden. Zunächst sind nicht-metaphorische und metaphorische Bezeichnungen für Trauer zu unterscheiden. Im nicht-metaphorischen Bereich können aufgrund verschiedener semantischer Merkmale (z.B. sinnliche Wahrnehmung) die folgenden Typen unterschieden werden (in Klammer Beispiele für Vertreter): 1. Trauer (z.B. Traurigkeit), 2. Schmerz (z.B. schmerzerfüllt), 3a. Niedergeschlagenheit (z.B. deprimiert), 3b. Sehnsucht (z.B. ersehnen), 4. Untröstlichkeit (z.B. Unglücklichsein), 5. Enttäuschung (z.B. Frust), 6. Erschütterung (z.B. betroffen), 7. Melancholie (z.B. Schwermut), 8. Bitterkeit (z.B. verbittert), 9. Mitleid (z.B. sich selbst leid tun) und 10. allgemein Trauererleben (z.B. Trauerart). Die einzelnen Typen und ihre Vertreter werden in der Folge mit ihren Wörterbuchdefinitionen und einigen Besonderheiten aus der Korpusanalyse beschrieben (z.B. Jammer - an der Peripherie des Typs ‚Schmerz‘). Am häufigsten ist im Korpus Typ 1 vertreten, dann folgen 2, 3, 9, 5, 4, 6, 7 und 8 (vgl. Kasberger 2007: 61, Diskussion der einzelnen Vertreter 62-101). Bei den metaphorischen Bezeichnungen lassen sich folgende Kategorien bilden: [+SCHADEN] (z.B. sich am Boden zerstört fühlen), [+LOKA- LISATION: Herz]/ [+SCHADEN] (z.B. herzzerreißend), [+SCHWERE] (z.B. unerträglich), [+DUNKELHEIT] (z.B. schwarzer Tag), [+BETÄUBUNG] (z.B. Versteinerung), [+KLANG], (z.B. in Moll) [+NEGATIVER ZUSTAND] (z.B. schlimm), [+ARZNEI] (z.B. bitterste Pille) und [+NEGATIVE BEFIND- LICHKEIT] (nichts zu lachen haben) (vgl. Kasberger (2007: 101-107). Es gibt auch weitere Bezeichnungsklassen wie z.B. die Einstellung zur Trauer (z.B. Leidensmüdigkeit), Trauerkleidung, Veranstaltungen (z.B. Trauergottesdienst). Von diesen Untersuchungen leitet Kasberger (2007: 125-165, Zusammenfassung 168) in Anlehnung an Lakoff und Johnson Teilkonzepte des übergeordneten Konzeptes TRAUER ab. Dabei stößt sie auf Konzepte wie z.B. TRAUER IST ANFANG/ ENDE, TRAUER IST LAST, TRAUER IST FLÜS- SIGKEIT IN EINEM BEHÄLTER, TRAUER IST PERSON (vereinfachte Darstellung). Untersucht werden auch Kollokationen und Modifikationen (z.B. Intensivierungen) und Interjektionen. Für die Textanalyse sind solche Wortfeldbeschreibungen jedoch wenig aufschlussreich. <?page no="229"?> 6.3 - Lexikologie: -Emotive -Lexeme -und -Phraseologismen - 219 Prototypenansätze Prototypenansätze können sowohl für den gesamten Emotionswortschatz als auch nur für einzelne Wortfelder herangezogen werden. Die Prototypentheorie lässt im Gegensatz zu anderen kategorialen Ansätzen unscharfe Grenzen zu. Beispielsweise ist erotische Liebe ein typischerer Vertreter der Kategorie LIEBE als Nächstenliebe; Angst ist grundlegender als Grusel. Es können also unterschiedliche Grade an basicness unterschieden werden - nicht zu verwechseln ist diese hierarchische Unterscheidung innerhalb einer Emotionskategorie mit einem Vergleich verschiedener Emotionskategorien hinsichtlich ihrer Prototypikalität (Basisemotionen) (vgl. Kövecses/ Palmer 1999: 239). Typische Attribute von Emotionskonzepten sowie Familienähnlichkeiten und Unterkategorien werden mithilfe von Fragebögen und Bewertungsskalen ermittelt. Ein Beispiel: ANGST ist eine NEGATIVE EMOTION, ANTIZIPA- TION VON GEFAHR ODER KONTROLLVERLUST (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 150). Für die deutsche Sprache untersucht Tischer die prototypische Strukturierung von Emotionswörtern. 66 Er spricht vom ‚Wortfeld der Gefühlsbegriffe‘ und legt dem Terminus ein anderes Verständnis als im vorhergehenden Abschnitt zugrunde. Ansatzpunkt ist ein Vergleich unterschiedlicher Verfahren, um zu entscheiden, welche der 20 untersuchten Wörter tatsächlich Gefühlswörter sind (z.B. Nennungshäufigkeit bei freier Abfrage, Bewertung der Zugehörigkeit, Austauschbarkeit mit Gefühl in konkreten Sätzen). Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass sich je nach Zuordnungskriterium unterschiedliche Werte selbst für intuitiv prototypische Emotionswörter wie Liebe ergeben. Dennoch können ihm zufolge bestimmte Wörter als prototypische Vertreter für Gefühlswörter angenommen werden, hier nennt er neun primäre Kategorien, die in allen Untersuchungen (sowohl linguistischer als auch psychologischer Art) berücksichtigt werden sollten: Ärger, Abneigung, Angst, Scham/ Verlegenheit, Traurigkeit, Unruhe, Zuneigung, Freude, Überraschung (vgl. Tischer 1993: 54ff., 65). Eine allgemeine Aussage über die konkret-textuellen Anwendungen von Emotionswörtern trifft Kasberger (2007: 88): „Wenn ein Gefühl im prototypischen Fall mit einem ‚starken‘ Emotionswort bezeichnet wird, kann es in der Regel ganz allgemein nicht mit einem ‚schwachen‘ Emotionswort bezeichnet werden. Wenn ein Gefühl allerdings im prototypischen Fall mit einem ‚schwächeren‘ Emotionswort bezeichnet wird, kann es auch genau so gut mit einem ‚stärkeren‘ Emotionswort bezeichnet werden“. 66 Tischer, B. (1988): Kein Spaß im Wortfeld der Gefühlsbegriffe? Zehn Methoden zur Kennzeichnung der Wortfeldzugehörigkeit. In: Archiv für Psychologie 140, S. 15-31; zit.n. Tischer (1993). <?page no="230"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 220 Ein Beispiel: Die Äußerung Ich bin enttäuscht, dass mein Vater gestorben ist ist nicht angemessen, während bei Ich bin enttäuscht/ traurig, dass meine Freundin nicht mehr mit mir redet beide Varianten - die stärkere und die schwächere - möglich sind. 6.3.4 - Emotionsausdrückende -Lexeme Mit emotionsausdrückenden Lexemen wird, wie die Bezeichnung schon sagt, vor allem die expressive Seite der Sprache bzw. die Ausdrucksfunktion im Sinne Bühlers vollzogen. Kommuniziert werden Einstellungen, Wertungen und emotionale Zustände (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 151). Vorab sollen einige Beispiele der Veranschaulichung dieser Kategorie dienen. Tab. 2: Beispiele für emotionsausdrückende Lexeme 67 Wortart Beispiele Emotive Interjektionen ach, ächz, ätsch, ah, au, bäh, brr, ei, hu(ch), hurra, igitt, Emotive Satzadverbien ärgerlicherweise, gottlob, hoffentlich, leider, Emotive Adjektive (verraten Einstellung) sympathisch, eklig, gruselig, fürchterlich, entsetzlich, schrecklich, peinlich, appetitlich Emotive Substantive Arschloch, Schätzchen, -chen, -lein, Präfixoide (Drecks-) Emotive Verben labern, lamentieren, hudeln, murksen, stümpern, verrecken Emotive Phraseologismen Grußformeln, Flüche, sich die Haare raufen Fomina: -Emotiv -wertende -Lexeme Die umfangreichste Arbeit zur Beschreibung und Klassifikation von emotionsausdrückenden Wörtern legt Fomina vor, die von ‚emotiv wertenden Lexemen‘ spricht. Sie extrahiert 12.000 lexikalische Einheiten aus verschiedenen schriftlichen Quellen, und zwar aufgrund formaler, syntagmatischer, lexikographischer und etymologischer Kriterien (vgl. Fomina 1999: 13, 2002). Emotion und Wertung werden zwar unterschieden, aber die beiden Komponenten wirken laut Fomina (1999: 20, Hervorhebung i.O.) zusammen, „wobei Emotionen als psychisches Verhältnis eines erlebenden Subjekts zur Außen- und Innenwelt zu verstehen sind, und Wertungen als Ergebnisse dieses Prozesses“. Die Emotivität ist den von ihr ausgewählten Lexemen inhärent, also nicht kontextabhängig (vgl. Fomina 1999: 21). Die emotiv-wertende Komponente von Substantiven bezieht sich auf die Wertung von Personen oder Ereignissen durch die Sprecherin bzw. den Sprecher (vgl. Fomina 1999: 26f.). Bei den Adjektiven betrifft die Wertung entsprechend Eigenschaften, Gefühle oder Äußerlichkeiten (z.B. zornsprühend, heidenfroh). In Verben wiederum spiegelt sich die „vom Sprechenden ausgedrückte[...] emotionale[...] Wertung, die 67 Vgl. Hermanns (2002: 360). <?page no="231"?> 6.3 - Lexikologie: -Emotive -Lexeme -und -Phraseologismen - 221 auf a) Ziel, b) Art und Weise, c) Objekt, d) Subjekt der verbalen Handlung gerichtet ist“ (Fomina 1999: 27, Hervorhebungen i.O.). Als Großklassen der emotiv-wertenden Lexik nennt Fomina (1999: 22ff.; 2002: 396ff.): • Lexeme mit der emotiv-wertenden Komponente im denotativen Teil der Bedeutung (auch durch Affixe ausgedrückt), z.B. herrlich, Emporkömmling, Frömmelei • Emotional-expressive Lexeme (Intensiva oder Lexeme mit Grenzsemantik), z.B. brillant, reizend, faszinierend • Emotional-bildliche Wörter und Wörter mit metaphorischer Bedeutung, z.B. bestimmte Anthroponyme • Emotional-stilistische Wörter, das heißt Wörter, die im Wörterbuch z.B. als ‚umgangssprachlich‘ markiert sind. Typische Verfahren sind Distanzierung (z.B. nicht richtig ticken), Anschaulichkeit und Bildlichkeit (z.B. Topfgucker), Vergrößerung (z.B. Affenliebe), Verkleinerung (z.B. Bubi), Verstärkung (z.B. Pfundskerl), Abschwächung (z.B. Madamchen), Verschlechterung (z.B. Klappe für Mund) und Verbesserung (z.B. Stahlross). • Invektivische (beleidigende) Lexik, z.B. Schimpfwörter • Emotiv-pathetische Lexik, z.B. Gnade, Huldigung, Verehrung • Sozial-politische Wörter (emotive Soziologeme), z.B. Schlagwörter • Randkategorien sind Wörter mit modaler Wertung und assoziativemotionale Wörter (z.B. Weihnachten) In der Folge nennt Fomina zahlreiche Kategorien und Untertypen der emotiv-wertenden Lexik nach inhaltlichen Kriterien (z.B. emotive Subjektsubstantive mit der Wertung eines Menschen dem intellektuellen Merkmal nach wie Wunderkind, Hornochse). Diese Klassifikation kann hier nicht vollständig wiedergegeben werden. Einigen Zuordnungen von Beispielen kann ich mich nicht anschließen, zumindest nicht, wenn kein Kontext angegeben ist. Beispielsweise hat die negative Bezeichnung einer Person als Ratte meines Erachtens meist nichts mit der äußeren Gestalt, sondern mit Charaktermerkmalen zu tun. Fomina (1999: 159f.) untersucht zudem die quantitative Verteilung der emotiv-wertenden Lexik und kommt zu dem Schluss, dass die Emotion Liebe am umfangreichsten repräsentiert ist. Auch Freude, Unzufriedenheit und Ekel sind breit repräsentierte Konzepte. Eitelkeit, Dummheit und Geschmacklosigkeit sind die am stärksten strukturierten Charaktereigenschaften. Substantive machen 46% des emotiv-wertenden Wortschatzes aus, Adjektive 45% und Verben nur 9%. Obwohl es mehr emotiv-wertende Substantive als Adjektive gibt, ist der adjektivische Wortschatz vielfältiger. Es <?page no="232"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 222 gibt mehr negativ als positiv wertende Lexeme, aber im alltäglichen Sprachgebrauch sind insbesondere pejorative Lexeme unterrepräsentiert. Derivationen und Komposita machen einen großen Teil der emotiv-wertenden Lexik aus. Auch vielfältige grammatische Möglichkeiten sind in der Kommunikation für den Reichtum emotiver Sprache mitverantwortlich. Wertbegriffe, -Hochwertwörter, -Fahnenwörter, -Stigmawörter, -Schlagwörter Diesen Gruppen von Wörtern ist gemein, dass die emotive Bedeutung ausschließlich in der Konnotation zu suchen und diese ausgesprochen variabel ist. Während Wertbegriffe, Hochwertwörter und Fahnenwörter eher positiv besetzt sind und ihre Umwertung ins Negative auf gesellschaftlich-historischen Prozessen beruht, sind Schlagwörter diesbezüglich völlig offen und Stigmawörter üblicherweise negativ konnotiert (was Umwertungen durch betroffene Gruppen nicht ausschließt). Hannappel und Melenk (1981: 209) bezeichnen Wörter, die bestimmte Wertungen ausdrücken, die in der öffentlichen Diskussion häufig, teilweise inflationär verwendet werden und die Gegenstand von Meinungsäußerungen oder Meinungsverschiedenheiten sind, als Wertbegriffe (z.B. konservativ, angepasst, kritisch, radikal, Wirtschaftswachstum, Geborgenheit). Ihre wichtigste Eigenschaft ist die bereits erwähnte kontextabhängige Wertung, die mit ihnen ausgedrückt wird. Darüber hinaus gibt es meistens auch Gegenbegriffe, welche die entgegengesetzte Wertung ausdrücken (vgl. Hannappel/ Melenk 1981: 209f., 221). Wertbegriffe können sehr vage sein, weswegen sie oft als semantisch leer abgetan werden. Ihr Einsatz kann jedoch auch kritisch und sinnvoll sein (vgl. Hannappel/ Melenk 1981: 218f.). Die pragmatische Bedeutung von Wertbegriffen liegt in ihrer Eigenschaft, Handlungsorientierungen zu ermöglichen und Entscheidungsprozesse zu beeinflussen. Beispielsweise werden mit negativen Wertbegriffen besetzte Produkte eher nicht gekauft. Konnotationen, Assoziationen und Kontext werden dabei teilweise strategisch geplant und verleihen den Wertbegriffen hohe Komplexität, die durch die notwendige Analyse gesellschaftlicher Zusammenhänge weit über rein semantische Beschreibungen hinausreicht (vgl. Hannappel/ Melenk 1981: 233ff.). Im Zusammenhang mit ihrer Untersuchung von Schlagertexten verwendet Stoeva-Holm (2005) den Ausdruck Reizwörter. Das sind beispielsweise Somatismen (z.B. Metonymien und Metaphern, Phraseologismen und Kollokationen mit körperbezogenen Wörtern wie Auge, Herz, Kuss) oder Wörter aus den Bereichen Natur (z.B. Sonnenschein), Farben (z.B. rot - Blut, Feuer, Liebe), Geschmack (z.B. bitter), Religion (z.B. Engel) oder Romantik (z.B. Märchen, Traum, vgl. Stoeva-Holm 2005: 65ff., 70ff.). <?page no="233"?> 6.3 - Lexikologie: -Emotive -Lexeme -und -Phraseologismen - 223 Hayakawa (1993: 44f.) nennt negativ bzw. positiv aufgeladene Lexeme und Phraseme, mit denen eine Bewertung vollzogen wird, Knurr-Wörter (engl. snarl words) und Schnurr-Wörter (engl. purr words). Bei beiden ist die konzeptuelle Bedeutung von einer wertenden Konnotation völlig überdeckt, bei den Knurr-Wörtern im negativen Sinne (z.B. nigger), bei den Schnurr- Wörtern im positiven Sinne (z.B. human rights). Hermanns -Mischklassifikation Hermanns (1995) setzt sich mit der Differenzierung und gleichzeitig Verknüpfung von Kognition, Emotion und Intention auseinander. Er sieht folgende Unterteilungen im Emotionswortschatz vor, wobei sowohl emotionsbezeichnende als auch emotionsausdrückende Lexeme berücksichtigt werden: • Quasi-psychologische Vokabeln: Hierher gehören z.B. Gefühlswörter (Liebe, Hass), die Emotionen beschreiben, also rein deskriptiv und nicht emotiv sind. Sekundär können sie jedoch in bestimmten Konstruktionen auch dem Emotionsausdruck dienen (z.B. in einer Emphase wie Ich hasse das! , vgl. Hermanns 1995: 145). • Empfindungswörter: Gemeint sind beispielsweise Schimpf- und Kosenamen, aber auch Interjektionen (vgl. Hermanns 1995: 146f.). • Affektive Adjektive: Lexeme wie z.B. niedlich, lieb, goldig dienen dem Emotionsausdruck und haben nur wenig Deskriptives an sich, da sie sich auf die Einstellung bzw. das Empfinden des Sprechers bzw. der Sprecherin und nicht auf den Gegenstand beziehen (vgl. Hermanns 1995: 147ff.). • Kausative Adjektive: Für sie gilt dasselbe wie für die affektiven Adjektive, mit dem Unterschied, dass Vertreter dieser Kategorie - wie z.B. entzückend - auch einen Zustand bezeichnen können (z.B. Ich bin traurig vs. eine traurige Geschichte, vgl. Hermanns 1995: 149f.). • Affektive Substantive: Lexeme wie Scheusal, Schatz sowie andere Schimpf- und Kosenamen haben neben der deskriptiven auch eine emotive Bedeutung. Formalsprachlich lässt sich dieses Verhältnis nach Hermanns (1995: 150f., Hervorhebung i.O.) folgendermaßen darstellen: „x bewirkt, daß ich bezüglich y im affektiven Zustand z bin“. • Affektive Verben: Verben wie freuen, leidtun, ärgern drücken aus, dass ein bestimmtes Objekt einen emotionalen Zustand verursacht. Auch Wörter wie saufen sind zu dieser Klasse zu zählen (vgl. Hermanns 1995: 151f.). Hermanns fügt noch einen weiteren Aspekt hinzu, nämlich jenen der Intention, die sich in bestimmten Emotionslexemen ausdrückt: beispielsweise in erwünscht, günstig, Unkraut, Lexemen mit -andum oder -and, Miete, Ziel u.Ä. <?page no="234"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 224 Unkraut etwa drückt die Intention aus, dass etwas vernichtet werden soll. Somit ist dieses Lexem gleichzeitig deskriptiv (ein bestimmtes Gewächs denotierend), expressiv (eine negative Einstellung zu der Pflanze ausdrückend) und präskriptiv (eine auszuführende Handlung in Bezug auf das Bezeichnete nahelegend). Hier sind die Funktionen von Bühler - Darstellung, Ausdruck und Appell - in prototypischer Weise vereint (vgl. Hermanns 1995: 164f.). 6.3.5 - Besonders -emotionsträchtige -Kategorien In diesem Abschnitt werden einige besonders wichtige - hauptsächlich emotionsausdrückende - Klassen von Lexemen besprochen: Onomatopoetika, Interjektionen, Modalpartikeln und Modaladverbien, lexikalische Mittel der Intensivierung, Reflexivpronomina und Metaphern. Onomatopoetika Aus allgemeinlinguistischer Sicht ein Randphänomen, sind Onomatopoetika in der Emotionslinguistik von größerer Bedeutung. Onomatopoetika (Onomatopöie bedeutet wörtlich ‚Wortmalerei‘, vgl. Bühler 1978: 198) imitieren den Klang dessen, was sie bezeichnen, vorrangig Geräusche aus der Natur oder aus der unmittelbaren Lebensumwelt. Sie haben meistens emotiven Charakter (vgl. Stevenson 1969: 39). In der Duden Grammatik (2006: § 893f.) werden als Beispiele für Onomatopoetika nur kikeriki, wau wau, wuff wuff, miau, quak, peng, boing, klingeling, tatütata (Einsatzwagen), ticktack (Uhr), bum bum (Herz), die syntaktisch integrierten Adverbialonomatopoetika (schwupp! , wumm! , zack! ) und weniger konventionalisierte Wörter aus der Comicsprache genannt. In den meisten Bemerkungen zu diesem lexikalischen Bereich wird unter Onomatopoetika alles verstanden, was den Eindruck von Lautmalerei (Lautikonizität, Schallnachahmung) nahelegt. Mair (1992: 57ff.) differenziert Formen des phonetischen Ikonismus (z.B. Interjektionen, die Tier- und Naturgeräusche nachahmen, z.B. Kikeriki), phonostilistische Expressivität (Laute oder Lautfolgen, die Assoziationen mit Sinneswahrnehmungen erwecken, z.B. / kl/ in klatschen) und phonosymbolische Expressivität (archaische Ur-Verbindungen zwischen Lauten und Bedeutungen, z.B. Assoziation von / i/ mit Kleinheit). Er stellt jedoch infrage, dass diese Formen auch synchron noch ikonisch sind. Ein wichtiger Hinweis auf den Status von Onomatopoetika ist für Bühler (1978: 205, Hervorhebung i.O.), dass die Möglichkeiten ihrer Bildung begrenzt sind durch einen sogenannten „Phonem-Riegel“: Wörter wie ächzen, jauchzen, kichern, umso mehr andere Sinnesmodalitäten betreffende Wörter wie bummeln, kuschen, kribbeln sind nicht ikonisch, sondern vom Phonemsystem des Deutschen geprägt und letzten Endes arbiträr (vgl. Bühler 1978: 207f.). <?page no="235"?> 6.3 - Lexikologie: -Emotive -Lexeme -und -Phraseologismen - 225 Was genau gilt nun als Onomatopoesie und wie hängt sie mit Emotivität zusammen? Schuppener (2010: 132, 135) unterscheidet folgende emotionslinguistisch relevante Typen: • Lautäußerungen von Tieren, die metaphorisch mit emotiver Evaluation auf Menschen übertragen werden: z.B. blöken, brüllen, brummen, fauchen, gackern, grunzen, krächzen, meckern, schnattern etc. • Geräusche aus der unbelebten Natur, die metaphorisch mit emotiver Evaluation auf Menschen übertragen werden: z.B. donnern, gluckern, pfeifen, poltern, quietschen. • Auf menschlichen Lautäußerungen beruhende Wörter mit emotiver Evaluation: z.B. ächzen, kichern, plärren. Emotionale Onomatopoetika sind also Abbildungen lautlicher emotionaler Äußerungen, sie beruhen auf akustischen Wahrnehmungen. Zu berücksichtigen ist außerdem nach Schuppener (2010: 130f.), der deutsche und tschechische Bildungen vergleicht, ihre starke Sprach-, Kontext- und Kulturabhängigkeit. Schuppener (2010: 130) weist schließlich darauf hin, „dass emotionale Onomatopoetika in manchen Textsorten dazu dienen, mit minimalem Aufwand emotionale Regungen in der Schriftsprache auszudrücken und zu dokumentieren“, vor allem in Comics und Kinderbüchern. Andere Formen von Onomatopoetika haben keinen direkten Zusammenhang mit Emotionen, aber ihr gehäuftes Auftreten (vor allem in literarischen Texten) hat einen ähnlichen Stimmungseffekt bzw. eine expressive Funktion. Interjektionen Interjektionen wurden schon mehrmals als die prototypischsten sprachlichen Mittel für den Emotionsausdruck genannt (vgl. z.B. Stevenson 1969: 38; Hermanns 1995: 146f.). Sie dienen laut den meisten Definitionen wie z.B. jener von Péter (1984: 253; Hervorhebung i.O.) der „Andeutung eines meist gefühlsmäßigen Bewußtseinsinhalts“, wenn nicht sogar dem unmittelbaren Emotionsausdruck. 68 Tatsächlich werden sie als das Paradebeispiel der Emotionslinguistik angeführt: für eine Wortklasse ohne denotativen Inhalt, ohne Darstellungsfunktion und ohne Referenz auf etwas anderes als auf Gefühle, die aktuell in einer Kommunikationssituation erlebt werden (vgl. Admoni 68 Dies ist beispielsweise bei Burkhardt (1998: 44, 50) das wesentliche Definitionskriterium. Er zählt daher zu den Interjektionen auch sprachliche Phänomene, die in anderen Ansätzen als andere Wortklassen bestimmt werden, z.B. Lautnachahmungen (miau), Kurzkommandos (hüh), Gesprächspartikeln (hm, äh), Klangwörter (z.B. fiderallala), Flüche, Grüße und Ausrufe (z.B. Idiot! ). <?page no="236"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 226 1970: 255; Fries 2000: 101; Schwarz-Friesel 2007: 155). Scherer (1981: 199) bezeichnet Interjektionen als „vokale Embleme“, um ihre Konventionalität zu betonen. Interjektionen können insofern keine Konnotation haben, als ihnen die emotionale Bewertung inhärent ist und nicht nur mitgemeint ist (vgl. Sandhöfer-Sixel 1990: 275). Bezeichnenderweise handelt es sich um eine Randklasse, der oft sogar die Sprachlichkeit zugunsten einer Einordnung in den para- und nonverbalen Bereich abgesprochen wird und die teilweise in die Richtung von Urlauten gerückt wird - vor allem mit der Begründung, dass sie ungewöhnliche Konsonantencluster aufweisen und daher möglicherweise sprachliche Fossilien sind (vgl. Berger 2008: 185ff.). Sie werden oft als nicht hochsprachlich abgewertet und seien lediglich in der Comicsprache, Boulevardpresse und in niedriger Literatur angemessen (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 158ff., Fries 2002: 654, Berger 2008: 185f., die diese negative Einschätzung aber nicht teilen). Bühler (1978: 310) beispielsweise plädiert dafür, Interjektionen, die er als „Kundgabe-Partikel“ bezeichnet, nicht als eigentliche Wörter zu verstehen. Reber und Couper-Kuhlen (2010) schlagen vor, Interjektionen in eine größere Klasse von Vokalisierungen einzugliedern, für die sie den Terminus ‚Lautobjekte‘ vorschlagen - sie gehen davon aus, dass es mehr oder weniger lexikalisierte Formen gibt, die jeweils bestimmte prosodisch-phonetische Merkmale aufweisen und unabhängig von ihrem Grad an Lexikalisierung in der Interaktion ähnliche soziale und emotionale Funktionen übernehmen, in der Regel eingebettet in eine ganzheitliche Gestalt mit visuell-räumlichen Anteilen. Phonologische Besonderheiten sind beispielsweise ungewöhnliche Laute (z.B. [ui] wie in hui oder pfui, vgl. Fries 1992b: 312). Es ist richtig, dass eine gewisse Ähnlichkeit mit dem prosodischen Emotionsausdruck besteht und dass sich Interjektionen zum Teil auf onomatopoetische Prozesse zurückführen lassen. Phonologisch, prosodisch und syntaktisch nehmen sie eine Sonderrolle ein. Außerdem ist ihre Interpretation stark vom Kontext und von der prosodischen Gestaltung abhängig, und sie werden oft mit mimischen Mustern kombiniert (vgl. Fries 1992b: 310f.; Burkhardt 1998: 52; Berger 2008: 186; Schwarz-Friesel 2007: 156f.). Scherer (1977: 201, 208) betont, dass Interjektionen sowohl reflexhaft als auch strategisch geplant in der Kommunikation auftreten können. Es gibt also Abstufungen der Intentionalität. Dennoch handelt es sich um komplexe sprachliche Symbole: Interjektionen sind nicht über verschiedene Sprachen hinweg konstant (wenn es auch Ähnlichkeiten gibt, vgl. Kryk-Kastovsky 1997: 161), es zeigen sich varietätenlinguistische Unterschiede und sie müssen erlernt werden, sind also konventionalisiert (vgl. Fries 2000: 104; Burkhardt 1998: 51). Zudem sind Interjektionen keineswegs inhaltsleer, sondern sie drücken mit einer sehr kurzen Form eine relativ komplexe Information aus (z.B. Au! = ‚Ich habe mich verletzt, es tut weh, richte deine Aufmerksamkeit auf mich‘, vgl. Berger <?page no="237"?> 6.3 - Lexikologie: -Emotive -Lexeme -und -Phraseologismen - 227 2008: 186). Darüber hinaus ist der Zusammenhang zwischen Interjektionen und Emotionen keineswegs direkt (vgl. Drescher 2003b: 106). Interjektionen werden aus formaler und aus funktionaler Sicht in verschiedene Kategorien eingeteilt (vgl. Fries 2000: 105f.; Schwarz-Friesel 2007: 155). Formal werden unterschieden: • Primäre Interjektionen: Sie sind nicht weiter zerlegbar, nicht flektierbar und nicht ableitbar und haben lexikalisch eigenständigen Charakter (vgl. Drescher 1997: 236; Fries 1992b: 308f., 314 für eine ausführlichere Darstellung des Wortklassenstatus von Interjektionen). Im Vergleich mit sekundären Interjektionen und anderen Symbolen handelt es sich um relativ motivierte Zeichen (vgl. Péter 1984: 253). Beispiele: uff! , oi! , ach! , igitt! . • Sekundäre Interjektionen: Sie sind von Phrasen oder autosemantischen Wörtern der deutschen Sprache abgeleitet oder auf andere Weise weiter analysierbar, auch wenn die ursprüngliche Bedeutung der Bestandteile „verblaßt“ (Péter 1984: 253). Beispiele: mein Gott! , Mist! . Morphologisch fällt auf, dass Interjektionen nicht flektierbar und kaum durch Wortbildung erweiterbar sind (nur durch Reduplikation und Wiederholung, z.B. dalli dalli, vgl. Fries 1992b: 312). Schwarz-Friesel (2007: 155f.) erstellt eine nahezu vollständige Liste der primären Interjektionen, die Emotionen ausdrücken. Beispielsweise drückt ach! Erstaunen, Verwunderung, Enttäuschung oder Ablehnung aus, hoppla! ist eindeutig der Emotionsqualität Überraschung zuzuordnen und uh! kann Angst oder Überraschung signalisieren. Weitere Interjektionen: aha, au(a), autsch, bäh, brrr, hm, hihi, hu(ch), hui, hurra, ih, igitt, juhu, na, na ja, nanu, oh, oho, oi, oje, pah, pfui, phhh, puh, tja, uff, uh, ui. Bei Fries (2000: 101) finden sich zudem die Interjektionen ha! und ts! . Schwarz-Friesel (2007: 157) unterteilt die sekundären Interjektionen in vier Gruppen: • Interjektionen mit denotativen Bedeutungsanteilen: z.B. meine Güte! , au Backe! , Donnerwetter! • Inflektive: z.B. stöhn! , kotz! , würg! • Onomatopoetika: z.B. miau, platsch, peng. Sie referieren auf Geräusche und Töne (beispielsweise in Comics, für die sich bestimmte Konventionen herausgebildet haben, z.B. dass mit [k] beginnende Lautfolgen Gewalt codieren) (vgl. auch Fries 1992b: 333ff., 2002: 656). • Gruß- und Glücksformeln: z.B. hey! <?page no="238"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 228 Reisigl (1999: 28) unterscheidet zudem Nominalinterjektionen (z.B. ach Gott) und Verbalinterjektionen (z.B. a geh! ). Ein weiterer formaler Aspekt ist die Einbettung von Interjektionen in den Satz. Péter (1984: 253) hebt die „syntaktische Nicht-Eingegliedertheit“ hervor, weswegen Interjektionen auch als Satzäquivalente eingestuft werden. Fries (1992b: 312f.) unterscheidet verschiedene Grade der Integration (z.B. maximal: die ach so liebe Großtante; periphere Position und intonatorische Abgrenzung: z.B. Pst, komm mal! ). Interjektionen können zudem Interjektionsphrasen bilden, also miteinander oder mit nominativischen Substantivgruppen kombiniert werden, wofür bestimmte Restriktionen gelten (z.B. i pfui, jesses diese Handbücher! , aber *Prost pfui). Es handelt sich meist um Imperativsätze oder wenn- und dass-Konstruktionen (z.B. ach dass er käme! , vgl. Fries 2002: 655f.). Nun zur funktionalen Unterscheidung: Burkhardt (1998: 65) weist darauf hin, dass Interjektionen im Sinne von Bühler expressiv, darstellend und appellativ sind, wobei unterschiedliche dominante Funktionen angenommen werden können: • Expressive Interjektionen: Sie dienen dem Ausdruck unangenehmer oder angenehmer Emotionen und nehmen ihre endgültige Bedeutung erst durch den Kontext und die Betonung an. • Appellative Interjektionen: Sie werden zur Beeinflussung der Rezipientinnen und Rezipienten verwendet (z.B. indirekte Handlungs- und Reaktionsaufforderungen). • Darstellende Interjektionen: Sie versprachlichen primär ein bestimmtes Konzept (vgl. auch Fries 2002: 657). Auf einer konkreteren Ebene werden Interjektionen hinsichtlich der emotionalen Kommunikation die folgenden Funktionen zugesprochen, wie in der Folge näher ausgeführt wird: • Emotionsausdruck • Beziehungsgestaltung • Emotionsdisplay • Gesprächsstrukturierung Mit Interjektionen können Emotionen kodiert und Bewertungen abgegeben werden (vgl. Reisigl 1999: 27). Sie können aber auch sehr differenziert zur Markierung von affektiven und sozialen Relationen beitragen (z.B. Sympathie oder Dominanz, vgl. Scherer 1977: 205; Fries 2002: 657). Interjektionen dienen somit auch dem Emotionsdisplay, also dem situationsadäquaten Zeigen <?page no="239"?> 6.3 - Lexikologie: -Emotive -Lexeme -und -Phraseologismen - 229 von Emotionen. Drescher (1997: 241, 2003b: Kap. 5.3 nennt mit Bezug zum Französischen als Funktionen Erwartungsbruch (Aktivitätswechsel, z.B. Code-Switching, Selbsteinbringung), Emphase (Bewertungen, Zustimmung, Ablehnung), Einladung zur Reziprozität (Zeigen von Gefühl bzw. Empathie - Erwarten einer Reaktion, Einfordern von Empathie), informative Veranschaulichung sowie das Markieren von Redewiedergaben. Reisigl (1999: 77- 80) spezifiziert die Funktionen von Interjektionen in seiner Monographie wesentlich differenzierter in Anlehnung an die Fünffeldertheorie der Funktionalen Pragmatik. Dieser Ansatz ist zu partikular für die vorliegende Arbeit und wird daher nicht weiter ausgeführt. Zur gesprächsstrukturierenden Funktion schließlich gehören unter anderem die Segmentierung des Sprachflusses und die Regulierung des Gesprächsablaufs (Gliederungssignale, Sprecherwechsel, Diskurseröffnung). Gehäuft treten Interjektionen folglich in emotional aufgeladenen Gesprächsabschnitten auf (vgl. Hielscher 2003a: 482). Scherer (1977: 204) wiederum unterscheidet nach anderen Kriterien parasemantische (ganze Äußerungen ersetzende), parasyntaktische (die Rede segmentierende) und parapragmatische (emotionsausdrückende und bewertende) Funktionen. Die Funktion ist jedoch wesentlich von der Position im Satz abhängig, wie Schwarz-Friesel (2007: 157) bemerkt: „Am Anfang eines Satzes (also linksperipher) signalisieren sie den emotionalen Wert der darauffolgenden Proposition, am Ende (rechtsperipher) summieren sie komprimiert die emotionale Einstellung des Produzenten, fassen den Gefühlswert der vorangegangen Aussage zusammen.“ Die Position hängt auch von der Plötzlichkeit, Intensität und Qualität der Emotion ab - je stärker, überraschender und primärer die Emotion in der Situation, desto eher tritt die Interjektion linksperipher auf. Solche komplexen Verwendungsmöglichkeiten verbieten die Abwertung von Interjektionen als ‚primitive‘ oder nicht-sprachliche Arten des Emotionsausdrucks (vgl. Marten-Cleef 1991: 104f.). Vielmehr können Interjektionen Péter (1984: 253) zufolge vollständige Sprechakte konstituieren, vor allem Expressiva - wenn auch nur solche ohne propositionalen Gehalt (z.B. Pfui! = Rüge). Dafür kann ein und dieselbe Interjektion unterschiedliche Sprechakte vollziehen, z.B. kann Oh! sowohl Jubeln, ein Kompliment, Bedauern, Bekunden und Jammern realisieren (vgl. Marten-Cleef 1991: 105). Modalpartikeln -und -Modaladverbien Als Modalpartikeln werden aber, auch, bloß, denn, doch, eben, etwa, eigentlich, ja, mal, nun (mal), nur, ruhig, schon, wohl eingestuft. Modalwörter bzw. Modaladverbien sind wahrscheinlich, natürlich, sicherlich, nein (vgl. Bublitz 1978: 31). <?page no="240"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 230 Modalpartikeln werden auch als „Würzwörter“, „Einfühlungs- und Erlebniswörter“ und „Mittel der Satzbelebung“ (Péter 1984: 254) bezeichnet. Die umfangreichste Untersuchung zu Modalpartikeln und Modalwörtern legt Bublitz (1978) vor, der sie mit Sprechereinstellungen in Beziehung setzt (z.B. Milderung, Verstärkung, Überraschung, Erwartung, Übereinstimmung, Gesprächsorganisation). Es handelt sich um sprachliche Mittel, mit denen neben der Sicherheit, Behauptung oder der Zurückweisung eines Sachverhalts vor allem die emotive Modalität angezeigt wird. Diese Wortklasse kann also viele emotionale Nuancen ausdrücken, etwa Anteilnahme, Interesse, Ungeduld, Zweifel, Erstaunen, Überraschung und Einschränkungen, wobei ihre Interpretation oft von der Intonation abhängt. Diese Wörter sind aus syntaktischer Sicht multifunktional (teilweise auch als Adverbien gebraucht), aber es gibt bestimmte Restriktionen: Beispielsweise muss ein emotiv gebrauchtes Adverb an eine Phrase angebunden sein, bei Verwendung als Temporaladverb nicht (vgl. Fries 1994: 25). Sie sind in schriftlichen Texten allerdings verhältnismäßig selten (vgl. Bublitz 1978: 227). Borst (1985: 7ff., 10ff.) untersucht speziell die ‚affirmativen Modalpartikeln‘ doch, ja und schon und ordnet ihnen diffizile Bedeutungen zu. Die Partikel doch etwa kann sowohl Affirmation (z.B. Doch, ich kenne ihn) als auch ‚Spuren eines Widerspruchs‘ signalisieren (z.B. Das sehen Sie doch), darüber hinaus als Begründung, Beweis oder Hervorhebung dienen (z.B. Er war doch der beste Kandidat). Sehr komplex sind die Bedeutungen von schon: Es kann unterschiedliche Grade der Affirmation ausdrücken und die Interpretation eines Satzes als Feststellung, als Zugeständnis oder als rhetorische Frage nahelegen. Intensivierung: -Gradpartikeln, -Gradadverbien -und -andere -Möglichkeiten Mit der Sprache kann die Intensität einer Emotion beschrieben werden, das heißt der Grad der Abweichung von einem neutralen emotionalen Zustand (vgl. Bowers/ Metts/ Duncanson 1985: 526; Dorfmüller-Karpusa 1990 für einen Überblick über sprachliche Intensivierungsmittel). Intensitätsbeschreibungen (z.B. starke Angst) beziehen sich oft auf wahrgenommene physiologische Reaktionen. Neben der Intensität ist auch die individuell zugeschriebene Bedeutung wichtig für die empfundene und kommunizierte Emotionsqualität (vgl. Schmidt-Atzert 1980: 187ff.). Intensität kann also die Quantität, die Handlung, die Dauer und die Qualität betreffen (vgl. Volek 1987: 236). Der höchste Grad der Intensität wird durch eine Kategorie signalisiert, die Dressler und Barbaresi (1994: 558f.) in Anlehnung an das Ungarische als Exzessiv bezeichnen: z.B. allerhöchste, allerletzte. Diese Form dient der Markierung besonderer Wichtigkeit, Dringlichkeit und Endgültigkeit (z.B. um das letzte Wort zu haben), aber auch als Mit- <?page no="241"?> 6.3 - Lexikologie: -Emotive -Lexeme -und -Phraseologismen - 231 tel der Ironie (z.B. das Allerbeste im Sinne von das Allerschlimmste, vgl. Dressler/ Barbaresi 1994: 563ff., 570). Eine systematische Aufarbeitung intensivierender Mittel nimmt van Os (1989) vor. Er betrachtet Intensivierung als ‚funktionalsemantische Kategorie‘ der Prädikatsverstärkung bzw. -abschwächung (vgl. van Os 1989: 1f., 85, 109). Graduierung hingegen ist seiner Definition nach ausschließlich ein morphologisches Mittel, das wertende Adjektive betrifft. Durch verschiedene Intensivierungsmittel (bzw. -operatoren) können Intensivausdrücke erzeugt werden. Die Intensivierungsmittel sind eine offene Klasse, zu der er folgende nicht nur lexikalische Mittel zählt (vgl. van Os 1989: 215ff.): • Lexikalische Intensivierer: Hier unterscheidet van Os konventionalisierte und polyfunktionale Intensivierungsmittel. Im Wesentlichen handelt es sich um wertende Adjektive und Modalwörter (Einstellungsmodifikatoren) bzw. um skalare Prädikate (Werte auf einer Skala markierend, z.B. groß - riesig - gigantisch). Seltener per se Intensivausdrücke, aber auf vielfältige Weise modifizierbar sind Verben, die Veränderungen eines Zustands ausdrücken (z.B. verbleichen, wachsen, beglücken, verrosten), Substantive (z.B. Vollidiot), Adverbien und Präpositionalphrasen (z.B. zum Leidwesen) (vgl. van Os 1989: 36-82). • Akzent und Intonation: Diese Möglichkeit besteht vor allem im mündlichen Bereich, aber auch graphische Hervorhebungen (z.B. Fettdruck oder Großbuchstaben) können diese Art der Intensivierung markieren (vgl. van Os 1989: 90f., 115ff.). • Häufung: Mit ‚Stapelung‘ meint van Os (1989: 89, 106ff., 112) Formen wie ganz besonders herzlichen Dank, ‚Reduplikationen‘ sind hier Verdoppelungen wie Es ist sehr sehr schwierig. • Intensivierende Wortbildung: Einerseits handelt es sich um morphologische Intensivierung (z.B. höchstwahrscheinlich), andererseits um Ableitungen und Komposita wie angeknackst, sternhagelvoll und Universalidiot (vgl. van Os 1989: 117f.). • Idiome: Feste intensivierende Wendungen sind z.B. die Gewissenhaftigkeit in Person, nach Strich und Faden und sich vor Lachen kringeln. • Negation. • Syntax: Intensivierend sind Wortstellungsvarianten, in denen eine intensivierende Partikel betont ist, das heißt, als Fokuspartikel vorliegt (z.B. Nur er/ Er nur weiß die Antwort! , vgl. van Os 1989: 219f.). Van Os (1989: Kap. 5, 211f., 217) analysiert vor allem den Bereich der wertenden Modalwörter und stuft ihn in acht Intensivierungsbereiche ab: 1. absolut - z.B. total, 2. extrem hoch - z.B. bestmöglich, 3. hoch - z.B. wesentlich, 4. <?page no="242"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 232 gemäßigt - z.B. ziemlich, 5. abschwächend - z.B. geringfügig, 6. minimal - z.B. kaum, 7. approximativ - z.B. beinahe, 8. negativ - z.B. nicht im Geringsten. Echte Intensivierer sind nach van Os (1989: 217) nur die extrem hohe und hohe Stufe. Wenn ein Lexem mit hoher Intensivierungsstufe mit einem weiteren Intensivierer versehen ist, wird der Stil sehr expressiv. Aber in allen Fällen entscheidet erst der modifizierte sprachliche Ausdruck darüber, ob eine Intensivierung vorliegt. Minimaler Intensivierungsbereich bedeutet nicht, dass die Emotivität minimal ist. Sie kann vielmehr starke Unsicherheit ausdrücken, insbesondere bei gehäuftem Auftreten. Ein wichtiges Mittel der Intensivierung sind wie erwähnt Gradpartikeln (auch als Gradadverbien oder Intensivpartikeln bezeichnet) wie z.B. sehr, echt, viel, ziemlich, etwas, irre, hochgradig. Sie stammen nach Hentschel (1998: 119ff., 125, 130) aus den semantischen Bereichen Mengenangaben (z.B. viel), Gewicht, Stärke, Größe (z.B. schwer, stark, riesig), Wahrheitsbeteuerungen (z.B. wirklich), lokale Adverbiale (z.B. durch und durch) und intensive Empfindungen (z.B. schmerzlich, horrend, schrecklich, beängstigend). Bei letzterer Klasse liegen besonders intensive Mittel bei positiver Wendung vor (z.B. schrecklich schön). Bei Altmann (1976: 311-321) haben die Gradpartikeln quantifizierende (z.B. einzig, allein), skalierende (z.B. sogar, selbst) oder skalierende und quantifizierende Funktion (z.B. nur, auch, ebenfalls). Reflexivpronomina Reflexivpronomina werden von Shibles (1990: 304) als „Träger psychischer Prozesse“ bezeichnet. Er widerspricht der in der Grammatikforschung teilweise vorherrschenden Auffassung, dass Reflexivpronomina semantisch leer seien. Stattdessen hebt er hervor, dass sie sich nicht nur einfach auf das Subjekt beziehen bzw. mit diesem völlig zu identifizieren sind, sondern unterschiedliche Aspekte des Selbst ansprechen. Sie nehmen nach Shibles (1990: 297f., 300) beispielsweise Bezug auf: • einen Körperteil (Er wäscht sich die Hände) • den gesamten Körper (Ich überarbeite mich) • das psychische Selbst (Ich ärgere mich) • ein idiomatisches oder metaphorisches Selbst (Es gibt sich von selbst) Shibles (1990: 301ff.) hebt auch ihre Fähigkeit hervor, eine Aussage zu intensivieren. Dies spricht für eine erweiterte emotive Bedeutung von Reflexivpronomina: Sie referieren auf kognitive Prozesse, die Emotionen zugrunde liegen, und auf Emotionskonzepte, indem reflexive Formulierungen die Aktivität im Emotionsprozess hervorheben (z.B. Das Mädchen hat sich verliebt - aktiver als Das Mädchen ist verliebt). Emotionsverben lassen sich auch <?page no="243"?> 6.3 - Lexikologie: -Emotive -Lexeme -und -Phraseologismen - 233 danach unterscheiden, ob sie ausschließlich reflexiv (z.B. sich ereifern, sich verlieben) oder auch nicht-reflexiv (z.B. amüsieren, wagen) verwendet werden können (vgl. Shibles 1990: 307ff.). Metaphern Metaphern sind nicht nur als Mittel auf der lexikalischen Ebene zu klassifizieren und wurden an anderer Stelle (s. Kap. 4) ausführlich besprochen. Sie dienen sowohl der Emotionsbeschreibung als auch dem Emotionsausdruck und der Emotionalisierung - insbesondere um intensive Emotionen auszudrücken oder um Emotionen anderer Personen zu beschreiben (vgl. Gibbs/ Leggitt/ Turner 2002: 133). Die Unterscheidung zwischen grammatischen und lexikalisierten Metaphern sowie die Unterscheidung aufgrund der Konventionalität in konventionalisierte, kreative und individuelle Metaphern wurde bereits angesprochen. In der formalen Beschreibung von lexikalisierten Metaphern (vgl. Skirl/ Schwarz-Friesel 2007: 20-27) orientiert sich die formale Beschreibung daran, welche grammatische Konstruktion gewählt wird - Substantivmetaphern können beispielsweise als Komposita (z.B. Stundenpizza) oder substantivisches Prädikativ (z.B. die Stunden sind eine Pizza) realisiert sein, Adjektivmetaphern prädikativ (z.B. das Unheil ist stumpf) oder attributiv (z.B. verkratzte Töne). Bei Verbmetaphern besteht ein Widerspruch zwischen dem gewählten Verb und dem beschriebenen Vorgang (z.B. Gedanken durcheinanderwürfeln). Metaphorische Phraseologismen sind in der Regel Phraseologismen mit stark idiomatisierter Bedeutung (z.B. jemandem den Marsch blasen) und Somatismen (z.B. kalte Füße bekommen). Auf Textebene werden Metaphern häufig über längere Textpassagen fortgesetzt (Metaphernkomplexe). 6.3.6 - Kollokationen -und -Phraseologismen Kollokationen und Phraseologismen sind sehr oft emotionsausdrückend, insbesondere wenn es neutrale lexikalische Alternativen gäbe. Pragmatisch betrachtet sind Phraseme vor allem evaluativ und expressiv, in bestimmten Fällen aber auch emotionsbeschreibend (z.B. eine Wut im Bauch haben, jmdm. ans Herz wachsen) (vgl. Šichová 2010: 84ff.). Kollokationen mit Emotionswörtern beruhen auf folgender, von Weigand (1998b: 52f.) als universal angenommener Struktur von Emotionen, die mit bestimmten Typen des syntaktischen Gebrauchs zusammenhängt: • EMOTION + BE/ BECOME, LOSE/ CAUSE → VP, S. Beispiele: sich ärgern (BE), in Wut geraten (BECOME), den Ärger hinunterschlucken (LOSE), ein Ärgernis sein (CAUSE). <?page no="244"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 234 • EMOTION AS MOTIVATING CONCEPT → VP [Adv/ PP ...] Beispiele: rot vor Zorn, außer sich vor Wut. • GRADING EMOTIONS → NP, VP [Adv ...] Beispiele: leidenschaftlicher Zorn, dumpfe Wut. Eine umfangreiche lexikologische Untersuchung von Kollokationen für die 40 häufigsten Emotionslexeme nehmen Mel’čuk und Wanner (1996) vor. Ihr komplexer Ansatz, der lexikalische Funktionen operationalisiert, kann hier nicht näher ausgeführt werden. Sie stellen eine Liste üblicher Kollokationen mit zentralen Emotionswörtern zusammen. Die folgenden drei Beispiele verdeutlichen, wie vielfältig sich manche Emotionswörter zu Kollokationen verbinden, während andere sehr eingeschränkt eingesetzt werden: • ANGST: empfinden, fühlen, haben, bekommen, versetzen, aufkommen, erfassen, packen, überkommen, einflößen, erregen, hervorrufen, machen, schüren, wecken, sich legen, verfliegen, überwinden, unterdrücken. • HASS: empfinden, entgegenbringen, fühlen, haben, bekommen. • EMPÖRUNG: empfinden. Phraseologismen sind im Unterschied zu Kollokationen durch Idiomatizität in unterschiedlichen Graden (voll-, teil-, schwach idiomatisch) gekennzeichnet. Trotz der synchronen Demotivation können idiomatische Wendungen wie z.B. jemandem platzt der Kragen präziseren Emotionsausdruck realisieren als andere sprachliche Mittel (vgl. Gréciano 1988: 50f., 53). Die wesentliche Funktion von Phraseologismen aus emotionslinguistischer Sicht ist Fleischer (1997: 164) zufolge die „Expressivitätssteigerung“. Sie beruht auf verschiedenen Faktoren wie z.B. auf der metaphorischen oder metonymischen Qualität (z.B. den Spieß umdrehen), auf der Klangqualität (z.B. null und nichtig) und auf der Auffälligkeit mancher Phraseologismen (z.B. fröhliche Urständ feiern, vgl. Fleischer 1997: 164f.). Dabei kommt es jedoch im Laufe des Gebrauchs zur Abschwächung der Expressivität, was wiederum zur Schaffung neuer, spannenderer Formen führt. Einerseits drücken Phraseologismen nach Fleischer (1997: 198ff.) eine emotive Bewertung bzw. Einstellung zu einem Sachverhalt aus, andererseits entfalten sie stilistische Wirkungen (z.B. ‚bildungssprachlich‘, ‚pejorativ‘, ‚euphemistisch‘). Durch Phraseologismen werden stereotype Konzepte der physischen und psychischen Aspekte von Emotionen versprachlicht - Emotionen werden also vorrangig durch die Nennung indirekter Anzeichen eingebracht, dies sehr oft auch noch in Form von Metaphern. Phraseologismen verraten also viel über Emotionskonzepte und Emotionswissen gesellschaftlicher und individueller <?page no="245"?> 6.3 - Lexikologie: -Emotive -Lexeme -und -Phraseologismen - 235 Art und werden daher vor allem im Rahmen typischer Emotionsmetaphern untersucht (vgl. Stoeva-Holm 2005: 57). Eine Analyse körperbezogener Phraseologismen mit Bezug zu den Emotionen Angst, Liebe und Wut legt Folkersma (2010) vor. Als Basiskonzept stellt sie die metonymische Beziehung DAS KÖRPERLICHE BEGLEITSYMPTOM DER EMOTION STEHT FÜR DIE EMOTION fest. Diese Beziehung beruht auf einem kulturabhängigen folk model von Emotionen und wird im Sprachgebrauch immer wieder aktualisiert und damit gefestigt. Daher spiegeln sich in Phraseologismen häufig kulturspezifische oder historische Vorstellungen zum Zusammenhang von Körperlichkeit und Emotionen wider. Beispielsweise ist jemandem kommt die Galle hoch eine Konzeptualisierung von Wut, die auf die Behälter-Metapher rekurriert, aber auch die altgriechische Säftebzw. Temperamentenlehre perpetuiert (vgl. Folkersma 2010: 202, 250; Glas 1990: 101). Erstellt wird eine Systematik der untersuchten Phraseologismen zu Wut, Angst und Liebe. Folkersma (2010) knüpft an Lakoff und Johnson an, versucht aber vor allem die Motiviertheit von Phraseologismen an der Schnittstelle von Kognition und Pragmatik theoretisch einzuordnen. Phraseologismen sind laut Gréciano (1988: 55f.) oft hyperbolisch (Übertreibung, Pathos, Emphase, z.B. nach einer Erklärung schreien), intensiviert (z.B. durch Wiederholung, Alliteration, Assonanz, z.B. mit Bausch und Bogen) und durch semantische Merkmale der Amplifikation gekennzeichnet (z.B. [+HEFTIG] - in die Luft sprengen, [+RADIKAL] - zu Tode erschrecken, [+ MIT ANSTRENGUNG] - an einem Problem kauen). Manchmal jedoch sind sie auch euphemistisch, vor allem im konzeptuellen Bereich TOD (z.B. jmdn. ins Grab bringen). Gréciano (1988: 55f.) unterscheidet zwischen idiomatischen Wendungen, die Emotionen benennen oder beschreiben (z.B. die Nase rümpfen), und solchen, bei denen Emotionen mitschwingen (z.B. sich den Kopf zerbrechen). Diese Unterscheidung ist meines Erachtens die grundlegendste, müsste aber noch weiter verfeinert werden. Bei emotionsbeschreibenden Phraseologismen kann versucht werden, eine Emotionsqualität oder zumindest eine grobe Emotionskategorie zuzuordnen. Hier muss aber unterschieden werden, • ob primär die Emotion einer Person beschrieben wird, meist indirekt über die Schilderung eines Emotionsausdrucks, einer emotionalen Verhaltensweise bzw. einer Handlung, die eine emotionale Beteiligung nahelegt (vgl. Stoeva-Holm 2005: 57), • ob primär eine emotionale Reaktion auf die enthaltene Proposition (z.B. ein Sachverhalt, eine Handlung) folgen dürfte, und zwar durch die beteiligten Personen oder <?page no="246"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 236 • ob primär eine emotionale Bewertung der Proposition bei Rezipientinnen und Rezipienten der Äußerung angeregt wird. Einige Beispiele dafür werden in der folgenden Tabelle dargestellt. Tab. 3: Typologisierungsansatz für idiomatische Wendungen Phraseologismus Typ Kriterium der Zuordnung Nahegelegte Emotion oder Bewertung die Achseln zucken Emotionsbeschreibend Gestik Gleichgültigkeit, Resignation Dampf ablassen Emotionsbeschreibend Behältermetapher, Ausdruck Unlust, Erleichterung (Zukunft) ins Fettnäpfchen treten Emotionale Reaktion Situation, Handlung Scham (Zukunft) seine Felle davonschwimmen sehen Emotionale Reaktion Situation, Wahrnehmung Verzweiflung jemanden auf den Arm nehmen Emotionale Bewertung Verhalten Negative Bewertung sich auf Französisch empfehlen Emotionsbeschreibend Emotionale Reaktion Emotionale Bewertung Verbales Verhalten Emotionsbeschreibend: Ärger Emotionale Reaktion: Ärger Emotionale Bewertung: negativ An diesen wenigen Beispielen wird ersichtlich, wie problematisch, wenn auch intersubjektiv im Groben einleuchtend eine solche Zuordnung ist. Andere Interpretationen sind kontextunabhängig - und umso mehr kontextabhängig - leicht vorstellbar. 6.3.7 - Etymologische -Untersuchungen Das Grimm’sche Wörterbuch, die Deutsche Wortgeschichte sowie das Archiv für Wort- und Begriffsgeschichte liefern wichtige Hinweise auf den Bedeutungswandel von Emotionswörtern (vgl. Glas 1990: 96). Dieser ist bemerkenswert, da er historische Unterschiede in den Emotionskonzepten nahelegt. Liebe beispielsweise wird im 18. Jahrhundert eher als göttliche Liebe oder als Gewährleister der Fortpflanzung betrachtet, während sich im Laufe des 19. Jahrhunderts eine im doppelten Wortsinn romantische Vorstellung von Liebe durchsetzt (vgl. Mees 1991: 23). Ein allgemeinerer Hinweis von Schmidt-Atzert (1980: 187), der den konzeptuellen Wandel in der übergeordneten Kategorie EMOTION verdeutlicht: „Die etymologische Betrachtung mentalistischer Begriffe wie ‚Angst‘ zeigt, daß diese Begriffe früher nur metaphorisch gebraucht wurden. Später wurde <?page no="247"?> 6.3 - Lexikologie: -Emotive -Lexeme -und -Phraseologismen - 237 ihr ‚als-ob‘-Charakter verleugnet und man nahm an, sie bezeichneten reale Ursachen“. In verschiedenen Beiträgen in Jäger (1988) wird versucht, die Etymologie von Gefühlswörtern zu erhellen. Eine genauere Darstellung dieser und anderer Arbeiten ist an dieser Stelle nicht zielführend, da sie sehr konkret unter Bezugnahme auf einzelne Emotionskonzepte und Epochen erfolgen müsste. Der allgemeine Hinweis auf die Zeitabhängigkeit emotiver Bedeutung ist jedoch insbesondere für den empirischen Teil der vorliegenden Arbeit entscheidend. 6.3.8 - Zusammenfassung: -Der -emotive -Wortschatz Ein früher Plan, für die vorliegende Arbeit ein emotionales Wörterbuch zu erstellen, wurde aus mehreren Gründen verworfen: Durch die Polysemie der meisten emotiven Wörter ergeben sich keine klar getrennten Kategorien oder Wortfelder, sondern zahlreiche Überschneidungen (vgl. Fomina 1999, in deren Ansatz gerechtfertigte Doppelzuordnungen vorkommen). Konnotationen, Assoziationen und Kontext lassen sich nicht formalisieren, sprachliche Produktivität und Kreativität verbieten sowohl die Suggestion der Abgeschlossenheit des emotiven Wortschatzes als auch eine automatisierte Analyse. Auch Phraseologismen und Kollokationen müssen berücksichtigt werden, was den Rahmen eines solchen Wörterbuches endgültig sprengen würde. Am schwersten wiegt jedoch eine zentrale textlinguistische Einsicht, nämlich dass emotive Wörter ohne ihre syntaktische Rahmung weder Emotionsthematisierungen noch Emotionsausdruck konstituieren (vgl. Zillig 1982b: 327f.). Außerdem sei abschließend Clore und Ortony (1988: 387) folgend noch eine wichtige Überzeugung, die mehrmals durchgeklungen ist, explizit angeführt: Worauf Emotionswörter referieren, ist gegenüber ihren pragmatischen Funktionen weniger wichtig. 6.3.9 - Exkurs: -Emotive -Morpheme -und -Wortbildung Die emotive Interpretation von morphologischen und syntaktischen Formen ist oft kontextabhängig (z.B. Nähe- und Distanzkommunikation, vgl. Wilce 2009: 44). Dennoch lassen sich zumindest auf der morphologischen Ebene die emotiven Elemente leichter systematisieren, sodass dieser Abschnitt verhältnismäßig kurz ausfällt. Bereits Sperber (1965 [1923]: 75ff.) weist darauf hin, dass bestimmte Morpheme (speziell Präfixe und Suffixe) emotive Bedeutung auf systematische Weise vermitteln können (z.B. das produktive anim militärischen Kontext). Die formale Markierung von Emotivität auf der morphologischen Ebene wird ausführlich von Fomina (1999: 146-156) dargestellt. Die folgende Aufzählung gibt ihre viel feinere Auflistung in groben Zügen wieder. <?page no="248"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 238 • Grammatische Mittel: Zu nennen sind der Gebrauch eines abweichenden Artikels (z.B. der Mensch vs. das Mensch), verschiedene Pluralformen (z.B. die Dinge vs. die Dinger) und Formen wie der Superlativ und Exzessiv (z.B. allerklügste, allerletzte; vgl. auch Dressler/ Barbaresi 1994: 558f.). • Emotive Affixe: Die deutsche Sprache verfügt über vielfältige Affixe zur emotiven Markierung, insbesondere adjektivische und verbale Präfixe (z.B. unter-, ver-, erz-, un-) und Suffixe mit meist negativer Wertung (z.B. -bold, -chen, -erei, -ei, -i, -ian, -lein, -ler, -ling), aber auch Halbaffixe (Affixoide). Derartige Halbpräfixe sind z.B. Blitz-, Bomben-, Engel-, dick-, stink-, Halbsuffixe z.B. -affe, -angst, -bruder, -feind. Substantivische Halbaffixe sind von der Semantik her meist neutral, abgeleitet von anthropologischen Begriffen (z.B. Frauensperson), von abstrakten Begriffen (z.B. Knallhitze), von religiösen Begriffen (z.B. Höllenangst), von konkreten Begriffen (z.B. Bombenerfolg), von Naturerscheinungen (z.B. Blitzmädel), von sozialen Erscheinungen (z.B. Mordlust) und von physiologischen Zuständen (z.B. Todesschrecken). • Emotive Derivationen: Hier nennt Fomina als emotive Bildungen bestimmte substantivierte Adjektive wie z.B. jämmerlich, departizipiale Adjektive, gebildet mit dem Partizip II ( z.B. abgefeimt), seltener mit Partizip I (Statik, Dynamik vermittelnd, z.B. blühend), deverbale Adjektive (z.B. brummig), dephraseologische Adjektive (z.B. wichtigtuerisch) und vereinzelte depronominale Adjektive (z.B. selbstisch). • Komposita: Die emotive Bedeutung von Komposita ergibt sich aus den verknüpften Konzepten, formal kommen hier alle Möglichkeiten der Bildung vor, substantivisch z.B. Windbeutel, Leisetreter und Zusammenrückungen (z.B. Rührmichnichtan), adjektivisch z.B. kaltblau, leichenbleich, angstverzerrt, furchteinflößend, denkfaul. Als prototypisch emotiv werden Diminutiva (Verkleinerungsformen) und Augmentativa (Vergrößerungsformen) betrachtet. Volek untersuchte extensiv russische Diminutiva. Einige allgemeine Aussagen über die emotive Komponente lassen sich meines Erachtens auch auf das Deutsche übertragen. Die emotive Komponente liegt in der semantischen Bedeutung geringe Quantität (Kleinheit). Diese Kleinheit kann sowohl positivals auch negativ-valent sein: positiv im Sinne von angenehm, leicht handhabbar, niedlich, liebenswert - negativ im Sinne von verachtenswürdig, minderwertig und banal (vgl. Volek 1987: 57). Diminutiva können also gleichzeitig eine emotionale Einstellung und Quantität ausdrücken (vgl. Volek 1987: 145; Dressler/ Barbaresi 1994: 89ff.). Ein relativ häufiger emotiver Fall sind Verkleinerungsformen von Namen (z.B. Pauli, vgl. Janney 1996: 182). <?page no="249"?> 6.4 - Im -Zentrum: -Bewertungen - 239 6.4 - Im Zentrum: Bewertungen Emotionen werden häufig mit Bewertungen gleichgesetzt, doch viele Bewertungen können völlig emotionslos erfolgen und nicht alle Emotionen sind Resultat einer Bewertung (vgl. Hermanns 2002: 359). Insbesondere auf der sprachlichen Ebene gilt es, verschiedene Arten von Bewertungen - emotive und nicht-emotive - zu differenzieren. Eine erste Unterscheidung betrifft das Ziel der Bewertung: zum einen die Bewertung eines Gegenstandes, Sachverhalts etc. auf dem Kontinuum ‚gut - schlecht‘ (z.B. Das Wetter ist schön). Diese Art der Bewertung bezieht sich auf Entitäten (NPs) (vgl. Thompson/ Hunston 2003: 2f.) und ist oft emotiv (z.B. Flüche), wird eher dem lexikalischen Bereich zugeordnet und ist formal in der Linguistik nicht sehr ausführlich beschrieben worden (vgl. Thompson/ Hunston 2003: 20f.). Zum anderen kann die Bewertung eines Gegenstandes, Sachverhalts etc. nach anderen, nicht-emotiven Kriterien erfolgen. Beispielsweise enthält die Feststellung Der Berg ist 3.000 Meter hoch eine sachliche Bewertung, aber ohne Kontext ist sie nicht als emotiv einzustufen. Eine dritte wichtige Möglichkeit ist die Bewertung der Wahrscheinlichkeit bzw. Wirklichkeit eines Sachverhalts (z.B. Das ist wahrscheinlich nicht wahr). Diese Art der Bewertung bezieht sich auf Propositionen (Sätze) und wird manchmal der Modalität zugerechnet. An dieser Stelle ist meines Erachtens ein Exkurs über Modalität angebracht. Emotivität wird von manchen Forscherinnen und Forschern nicht als Teil der Modalität angesehen, da Modalität nur auf den Realitätsgrad des Ausgesagten hinweist (Faktizität, Möglichkeit, Unmöglichkeit, vgl. Volek 1987: 13). Andererseits ist in der Modalität eine subjektive Einstellung der Sprecherin bzw. des Sprechers zum referierten Sachverhalt enthalten, die durchaus emotiv sein kann. Sandhöfer-Sixel (1990: 267) versteht Modalität als „subjektive Stellungnahme eines Sprechers zu einem in P dargestellten Gegenstand“. Bei Bublitz (1978: 6ff.) wird unter Modalität ganz ähnlich die Markierung der Sprechereinstellung verstanden. Er unterscheidet die kognitive Modalität, die eine Einstellung gegenüber dem Inhalt einer Äußerung nach Wahrheitskriterien kodiert, die volitive Modalität, die sich auf den Wunsch nach Veränderung eines Sachverhalts bezieht, und die emotive Modalität, die eine Einstellung gegenüber Emotionen, Gedanken, Beziehungen in einer Kommunikationssituation vermittelt. Letztere wird vor allem mit Modalpartikeln ausgedrückt, ferner mit Zusatz- und Vergewisserungsfragen, Emphasebetonung und Intonation. Die analytische Trennung zwischen Modalität und Bewertung kann jedoch aufrechterhalten werden, indem Modalität epistemisch (Wahrscheinlichkeit) und deontisch (Verpflichtung) bestimmt ist, während eine emotive <?page no="250"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 240 Bewertung ausschließlich den hier genannten ersten Typ meint (vgl. Thompson/ Hunston 2003: 4f.). Dennoch kann in Einzelfällen - in bestimmten Kontexten - eine Evaluation des dritten Typs Emotionen anzeigen. Zurück zu den Bewertungen, die enger mit Emotionalität zusammenhängen. Ihre Funktionen liegen vor allem im Ausdruck von Meinungen, in der Gestaltung der Beziehung zwischen Produzent/ in und Rezipient/ in und in der Diskursorganisation. Mit Bewertungen werden nicht nur persönliche Einstellungen kommuniziert, sondern auch Wertesysteme, Ideologien, gesellschaftliche und soziale Aspekte (vgl. Thompson/ Hunston 2003: 6ff.). Bewertungen können der mehr oder weniger subtilen Manipulation dienen - z.B. durch vorausgesetzte Bewertungen, absolut gesetzte Bewertungen, Anaphorik, Konjunktionen wie aber und weil -, aber auch der Höflichkeit und der Absicherung, z.B. indem nicht sichere Fakten abgeschwächt werden (vgl. Thompson/ Hunston 2003: 8ff.). Bewertungen sind in Gesprächen und in Texten wichtige Strukturmarker (Organisationshinweise, Einschnitte, vgl. Thompson/ Hunston 2003: 10-13). Wertungen stellen eine Beziehung zwischen dem bewertenden Subjekt, einem bewerteten Objekt oder Sachverhalt, einem Bewertungskriterium und der Qualität der Bewertung (positiv/ erstrebenswert bzw. negativ/ nicht erstrebenswert) dar (vgl. Michel/ Zech 1994: 227; Thompson/ Hunston 2003: 22f.). Dieser letzte Punkt, die Qualität einer Bewertung, ist der Kern des Zusammenhangs von Bewertungen und Emotionen. Laut Hayakawa (1993: 265) ist emotionale Beurteilung grundsätzlich zweiwertig, das heißt, sie bringt ‚zweiwertige Einstellungen‘ zum Ausdruck, und zwar werden Sachverhalte und Personen wie erwähnt entweder als gut oder als schlecht bewertet. Doch es werden noch weitere Dimensionen und Parameter der Bewertung genannt, die ebenso emotive Komponenten haben: Gewissheit/ Sicherheit (wie sicher ist eine Information? ), Erwartetheit (wie überraschend ist etwas? ), Wichtigkeit/ Relevanz und einige weitere (vgl. Thompson/ Hunston (2003: 23f.). Fünf Untersuchungen über Bewertungen werden in der Folge kurz dargestellt, da sie sehr unterschiedliche Aspekte des Phänomens Bewertung abdecken: Martin beschreibt die möglichen Kategorien einer Bewertung, Bednarek stellt das meines Erachtens anwendungsbezogenste Modell bereit, Zillig bestimmt den Platz von Bewertungen in der Sprechakttheorie, Fries bezieht sich auf die Kognitive Linguistik und Fiehler betont die Bedeutung von emotionalen Bewertungen für die Kommunikation. Es gibt Fomina (1999: 26) zufolge unterschiedliche Arten von Wertungen: „normative, psychologische, intellektuell-logische, moralische, ethische, ästhetische, rechtsnormative u.a.“. Eine systematische Aufarbeitung dieser Typen findet sich bei Martin (2003). Er nennt drei semantische Appraisal- Subsysteme speziell für die englische Sprache, die aber im Wesentlichen auch auf das Deutsche übertragbar sind und jeweils eine andere Appraisal- <?page no="251"?> 6.4 - Im -Zentrum: -Bewertungen - 241 Funktion erfüllen: Emotion (affect), Urteil (judgement) und Anerkennung (appreciation). Das Emotionssystem dient der Konstruktion von Emotionen und der Entscheidung über emotionale Reaktionen, die auch in der Sprache sichtbar werden und daher analysierbar sind. Als Kriterien der Analyse dieser sprachlichen Reaktionen nennt Martin (2003: 147) folgende: • die Valenz, also ob die Bewertung positiv oder negativ ist • ob die Bewertung durch ein Verhalten (z.B. Lachen) oder durch eine geistige Disposition ausgedrückt wird (z.B. X mögen) • die Intentionalität, also ob die Bewertung gerichtet ist oder eher eine ungerichtete Stimmung ausdrückt (ungerichtet z.B. the boy was happy - gerichtet z.B. the boy liked the teacher) • die Intensität (z.B. the boy liked/ loved/ adored the present) • ob die Bewertung sich auf etwas Reales, Aktuelles oder auf etwas in der Zukunft Liegendes bzw. auf etwas Mögliches bezieht (real z.B. the boy liked the present, möglich z.B. The boy wanted the present) • welche Emotionsqualität vorliegt, und zwar nach den Kriterien ‚unhappiness‘ oder ‚happiness‘ (sprachliche Hinweise auf Traurigkeit, Wut, Liebe, Freude), ‚insecurity‘ oder ‚security‘ (sprachliche Hinweise auf Angst, Selbstvertrauen, soziales Wohlergehen) und ‚dissatisfaction‘/ ‚satisfaction‘ (sprachliche Hinweise auf Ziele, Neugierde, Respekt, Missmut) • wie direkt oder wie implizit im Text die Emotion konstruiert wird, also wie offen die Interpretation ist (z.B. metaphorische Formen) Doch auch in den anderen beiden Systemen (Urteil und Anerkennung) werden Gefühle kodiert, sodass Emotion nur das Basissystem darstellt. Das Urteilsystem nimmt die moralische Bewertung von Verhalten (z.B. betrügerisch, mutig) vor, und zwar nach Kriterien wie soziale Normalität (z.B. exzentrisch), Fähigkeit (z.B. ehrgeizig) oder Zuverlässigkeit (z.B. unermüdlich, faul) (vgl. Martin 2003: 145). Das dritte Subsystem, Anerkennung, betrifft die ästhetische Beurteilung von Natur und Kultur (z.B. als elegant, innovativ), die Institutionalisierung von Gefühlen und Normen. Beurteilungskriterien sind hier die Wirkung (z.B. fesselnd), die Qualität (z.B. abstoßend), die Balance (z.B. harmonisch), die Komplexität (z.B. simplizistisch) und die Evaluierung (z.B. herausfordernd) (vgl. Martin 2003: 145f., 159). Teilweise ähnliche Kategorien finden sich bei Bednarek (2006: 209). Ihr Bestreben ist, die ‚evaluative Prosodie‘ eines Textes, also die Gesamtheit der in ihm enthaltenen Einstellungen zu erfassen. Sie schlägt eine Reihe von Parametern vor, die sie in Kern- und Randbereiche unterteilt. Die Kernparameter - in Klammer werden jeweils ein positives und ein negatives Beispielwort <?page no="252"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 242 genannt - sind nach Bednarek (2006: 42, Erläuterungen 44-58) Verständlichkeit (plain, unclear), Emotivität (polished, a rant), Wichtigkeit (landmark, minor), Möglichkeit/ Notwendigkeit (had to, need not) und Zuverlässigkeit (real, choreographed). Die peripheren Evaluationsparameter sind der mentale Zustand (Angaben zu Glauben/ Nicht-Glauben, Emotion, Erwartung, Wissen, aktueller Zustand, Prozesse, Volition), der Sprachstil und Hinweise auf Wissensquellen (z.B. Zuschreibungen, wer eine Bewertung ausdrückt und wie sicher diese Information ist, z.B. He said it was a lie oder seem, proof that). Bei Bednarek (2006: 19) ist Evaluation stark kognitiv bestimmt, während dies bei Emotionen nicht der Fall sein muss. Das entscheidende Kriterium für die Zuordnung des Parameters ‚Emotivity‘ ist lediglich, ob eine zustimmende oder eine ablehnende Bewertung hinsichtlich der Eigenschaft eines Sachverhalts ausgedrückt wird. Dies bedeutet, dass dieser Parameter weder mit dem Ausdruck einer Emotion bzw. eines Persönlichkeitsmerkmals noch mit Emotionalisierung gleichzusetzen ist (vgl. Bednarek 2006: 19). Hinsichtlich des Parameters der Emotivität sieht Bednarek (2006: 46ff.) verschiedene Beurteilungskontinua für konkrete Textaussagen, die uns bereits in anderen Zusammenhängen begegnet sind: • die Basisunterscheidung zwischen emotiv und nicht-emotiv • evaluativ/ nicht evaluativ (z.B. mayhem vs. neutral offence) • inhärent (kontextunabhängig) emotiv - kontextabhängig emotiv (z.B. eindeutig idiot) • Intensität (z.B. execution - murder - slaughter) • ideologisch motivierte oder interpersonell ausgehandelte Evaluation (z.B. terrorist vs. guerrilla, beautiful) • die Frage, für wen die Bewertung angenehm oder unangenehm ist (für den/ die Sprecher/ in oder für eine andere Person) Die einzelnen oben genannten Parameter können auch miteinander kombiniert werden, was in konkreten Texten häufig vorkommt (vgl. Bednarek 2006: 44). Bednarek wendet ihre theoretischen Überlegungen auf ein Korpus von Qualitäts- und Boulevardzeitungen an und liefert sehr interessante Detailanalysen. Von ihrem Modell kann für die vorliegende Arbeit die genaue Unterteilung verschiedener Arten von Evaluationen übernommen werden. Trotz dieser Differenzierungen scheinen in bestimmten sprachlichen Fällen die emotive und die evaluative Komponente zu verschmelzen (vgl. Volek 1987: 241). Auch in Hinblick auf die sprachliche Bewertung von Sachverhalten, Personen oder Gegenständen wird die emotive Bedeutung mit Evaluation gleichgesetzt. Allerdings muss einer sprachlich ausgedrückten emotionalen Bewertung kein entsprechendes Gefühl zugrunde liegen, sondern es kann <?page no="253"?> 6.4 - Im -Zentrum: -Bewertungen - 243 beispielsweise eine soziale Regel oder eine Strategie ausschlaggebend (vgl. Jahr 2000: 77). Bewertung ist insofern insbesondere ein pragmatisches Phänomen und unter anderem deswegen bisher vor allem in diesem Rahmen untersucht worden, etwa in Bezug auf bestimmte Sprechakte mit Bewertung als Illokution (vgl. Fries 1991a: 2f.). Ein umfangreiches sprechakttheoretisches Modell der Bewertung entwirft Zillig (1982a). Bewertungen sind zunächst Aussagen, die nicht wahrheitsfähig sind (vgl. Zillig 1982a: 306) und bei denen „der Sprecher konstatiert, daß ein Objekt der BEWERTUNG einem Wert entspricht oder nicht entspricht“ (Zillig 1982a: 300). Diese Werte können mit dem Objekt selbst oder eher mit dem verfolgten Zweck zusammenhängen und mehr oder weniger nachvollziehbar bzw. begründet sein (vgl. Zillig 1982a: 300; er unterscheidet drei Stufen von Werten, worauf hier nicht eingegangen wird). Explizit performativ kann BEWERTEN nur sehr eingeschränkt oder gar nicht vollzogen werden (z.B. ? Hiermit bewerte ich diese Arbeit: Sie ist ungenügend; mit bewerten als eingeschränkt möglich). Es gibt hierfür andere Marker, z.B. Adverbien wie ausdrücklich (beteuern) und Floskeln wie ich finde (vgl. Zillig 1982a: 40f.). Das Grundmuster BEWERTEN kann in POSITIV-BEWERTUNGEN und NEGATIV-BEWERTUNGEN unterteilt werden; Auf- und Abwertungen sind in Folgehandlungen möglich (vgl. Zillig 1982a: 31, 89, 303). Zillig (1982a: 87, 103ff., 299) unterscheidet drei Untermuster des BEWERTENS sowie implizite Bewertungen als eigenen Typ: U-Bewertungen sind Wiedergaben von Bewertungen anderer Personen ohne eigene Wertung durch den Sprechenden (z.B. LOBEN, KLAGEN). Bewertungsbewertungen sind Wiedergaben der Bewertung einer anderen Person durch den Sprechenden mit eigener Wertung des Sprechers (z.B. AUFSCHNEIDEN, DEMÜTIGEN). Sprechaktbewertungen beziehen sich auf Sprechakte (z.B. FASELN, SICH AUFSPIELEN). Für alle Sprechakte lassen sich Unterbedingungen formulieren, beispielsweise ist LOB mit nur einer Äußerung vollziehbar, während NÖRGELN mehrere Äußerungen erfordert (vgl. Zillig 1982a: 305). Dass einige dieser Sprechakte emotiv sind, ist naheliegend, sollte aber präzisiert werden. Bewertende Aussagen liefern Informationen über Objekte, Einstellungen und den Gebrauch, z.B. im Satz Das war ein ausgezeichneter Vortrag - hier wird über den Vortrag informiert, aber auch eine Einstellung kundgetan und die implizite Anweisung gegeben, die Bewertung einzuordnen (vgl. Zillig 1982a: 302). Neben diesen primären Zielen werden aber auch sekundäre Ziele verfolgt, z.B. beziehungs- oder statusorientierte wie Solidarisierung oder sich als Experte zu zeigen (vgl. Zillig 1982a: 304f.). Bewertungen kommen in verschiedenen Situationen vor, unter anderem auch in der Kommunikation von Emotionen - vielen Bewertungen liegen Gefühle zugrunde. Als Beispiele nennt Zillig <?page no="254"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 244 (1982a: 108) TRÖSTEN, KONDOLIEREN, GRATULIEREN und DANKEN (sogenannte Expressiva, s. 6.6). Ein anderer Ansatz ist in die Kognitive Linguistik einzuordnen und stammt von Fries (1991a). Sein Ziel ist es, den „Bewertungsbegriff plausibel im Rahmen eines Konzeptes der konzeptuellen Repräsentation“ (Fries 1991a: 29, Hervorhebung i.O.) zu explizieren. Damit ist der Umstand angesprochen, dass die linguistische Beschreibung von bestimmten Formen der Bewertung nicht auf semantisch-lexikalische und grammatische Eigenschaften reduziert werden kann (vgl. Fries 1991a: 8). Fries (1991a: 11f., 15f.) differenziert zwei Arten von skalenbezogenen Vergleichen: Adjektive wie schnell, hoch, laut sind auf einer Skala mit ausschließlich positiven Werten graduierbar (auch leise ist ein Wert >0). Eine emotiv bewertende Lesart ist nur in bestimmten Kontexten inferierbar (z.B. Peter ist ein kleiner Schachspieler im Sinne von schlechter Schachspieler, vgl. Fries 1991a: 18). Adjektive wie gut, schlecht, blöd etc. sind hingegen auf einer Skala mit negativen und positiven Werten skalierbar. Beispielsweise ist schlecht nicht nur eine etwas geringere Abstufung von gut, sondern auf einer Skala zwischen gut und schlecht im negativen Bereich jenseits eines Nullpunktes angesetzt (vgl. Fries 1991a: 16f.). Ihre semantische Spezifikation enthält zwingend eine (kontextabhängige) Bedingung, unter der ein Sachverhalt oder ein Objekt im Vergleich mit einer Vergleichsklasse als GUT bewertet werden kann - auch explizit mit sprachlichen Mitteln (z.B. Der Aufsatz ist gut hinsichtlich seiner Gliederung, vgl. Fries 1991a: 14, 17). Die evaluative emotive Bedeutung, die Bewertung als gut oder schlecht, ist immer abhängig vom größeren sprachlichen oder situativen Kontext. Beispielsweise können Lexeme wie Schuft, blöd auch positiv gemeint sein. Anhand von einigen Beispielsätzen lässt sich dieses Wechselspiel zwischen kontextunabhängig und kontextabhängig veranschaulichen (vgl. Fries 1991a: 19): 1) Das Kleidchen ist süß. 2) Der Hammer taugt nichts. 3) Das Essen ist verbrannt. 4) Haben die viele Kinder! 5) Steck das nicht in den Mund! Nur die ersten beiden Sätze sind in jedem Kontext Bewertungen - und zwar emotional positive (1.) oder negative (2.) Bewertungen. Die restlichen drei Sätze sind nur in bestimmten Kontexten und unter bestimmten Voraussetzungen bzw. Wertmaßstäben Bewertungen, also auf der Grundlage von kognitiven, sprachlichen oder nicht-sprachlichen Größen. Kognitive, extragrammatische Faktoren sind beispielsweise Wert-Zuweisungen auf der <?page no="255"?> 6.4 - Im -Zentrum: -Bewertungen - 245 Grundlage von Wertskalen und Vergleichsobjekten (z.B. lang, hoch), Bewertungszwecke, Bewertungsperspektive, Bewertungsintention und die Dynamik einer Bewertung (vgl. Fries 1991a: 23ff.). Bei der Analyse von Bewertungen können und sollten solche Faktoren ebenso einbezogen werden wie die sprachlichen Verfahren der Bewertung, die zum Abschluss dieses Kapitels zusammengefasst werden. Der letzte hier angeführte Ansatz zielt auf Bewertungen im Rahmen von kommunikativen Situationen ab. Für Fiehler (1990b) ist Kommunikation an Bewertungen gebunden und Bewertung wiederum eng an Emotionen. Die Vermittlung von Bewertungen ist ebenso bedeutsam wie die Weitergabe von Informationen (vgl. Fiehler 1990b: 36ff.). Eine Emotion definiert er als ‚bewertende Stellungnahme zu X [Situation, Person etc.] auf der Grundlage von Y [z.B. Erwartungen, Normen] als Z [gut entsprechend/ nicht gut entsprechend]‘ (vgl. Fiehler 1990b: 46f., formal leicht abgewandelt). Dabei sind laut Fiehler (2010: 20) folgende Füllungen der Variablen möglich: • zu X: Situation, andere Person (Handlung oder Eigenschaft), eigene Person (Handlung oder Eigenschaft), Eigenschaft/ Sachverhalt, Gegenstände, mentale Produktionen • auf der Grundlage von Y: Erwartungen, Interessen und Wünsche, (akzeptierte) soziale Normen/ Moralvorstellungen, Selbstbild, Bild des anderen • als Z: (gut) entsprechend, nicht entsprechend. Fiehler (1990b: 51) bringt sprachliche Bewertungen mit dem Handlungsaspekt von Emotionen in Verbindung in dem Sinne, dass sie „Handlungsorientierung“ ermöglichen. Die von ihm genannten sprachlichen Realisierungsformen von Bewertungen fließen in die Zusammenstellung am Ende dieses Abschnitts ein. Weitere Aspekte der Emotivität von Bewertungen sind in anderen Kontexten genauer zu beschreiben, sollten jedoch in Hinblick auf Bewertungen nicht aus den Augen verloren werden. Eine Form der impliziten Bewertung ist die Perspektivierung in Texten, also der Standpunkt, von dem aus Sachverhalte in Texten dargestellt werden (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 212). Eine besondere Form der Perspektivierung ist die Empathieverteilung, also inwiefern die sprachliche Gestaltung das Mitfühlen mit Subjekten oder Objekten erleichtert oder erschwert (vgl. Pusch 1985b). Näheres dazu unter 6.7. Welche sprachlichen Mittel und welche Signale in Texten weisen nun auf Bewertungen hin? Grundsätzlich kann jeder Satz wertend sein, auch ohne entsprechende Marker (vgl. Zillig 1982a: 69f.). Dennoch gibt es einige sprachliche Mittel, die prototypischerweise auf Bewertungen hindeuten. Die folgen- <?page no="256"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 246 de Tabelle soll einen Überblick bieten. Sie beruht im Wesentlichen auf den bisher genannten Autorinnen und Autoren sowie auf Sandig (2006). Tab. 4: Sprachliche Mittel des Bewertens Konzeptuelle Signale für Bewertungen Anzeichen für Subjektivität und Sprechereinstellungen (vgl. Wolf 2010: 32) • Epistemisch (Wissen/ Gewissheit), Modalwörter wie fraglos, unzweifelhaft, offenkundig, begreiflicherweise. • Doxastisch (Annahmen, Vermutungen, Hypothesen), z.B. anscheinend, wahrscheinlich, sicher. • Distanzierend (Bezweifeln): z.B. angeblich, scheinbar. • Evaluativ (Bewerten): z.B. begrüßenswerterweise, kurioserweise, bedauerlicherweise, leider. • Außerdem: Konjunktionen, Konjunktiv, indirekte Rede (vgl. Thompson/ Hunston 2003: 13, 21) Anzeichen für soziale Werte (vgl. Thompson/ Hunston 2003: 13, 21) • Lexikalisch • Zielerreichung (ja/ nein) beschreibend, z.B. only available during desk opening time Grammatische sprachliche Mittel mit inhärenter bewertender Komponente 69 Anzeichen für Vergleiche mit irgendeinem Wertmaßstab (vgl. Thompson/ Hunston 2003: 13, 21; Jahr 2000: 87ff.; Sandig 1993: 164f.) Emotiv gefärbte Adjektive (z.B. blöd), bewertende Ausdrücke (z.B. falsch), Adverbien, Gradadverbien (vor allem in Kombination mit bewertenden Adjektiven, z.B. ungeheuer anstrengend), komparatorische Elemente (z.B. nur, zumindest), Negativität/ Verneinung (morphologisch, grammatisch und lexikalisch ausgedrückt - z.B. un-, nicht, never, hardly; fail, lack). Komparierbare Einheiten Superlative, Komparative Graduierbare Einheiten z.B. graduierbare Adjektive (positiv/ negativ) Intensivierbare Einheiten z.B. Attribute Steigerungs- oder Intensivierungspartikeln z.B. überaus, besonders Vergleichskonstruktionen z.B. Hans ist kleiner als Fritz Bestimmte Wendungen und Satzarten • Du ... (negativ), X des Jahres (positiv), Abtönungspartikeln (z.B. denn, ja, doch), wertende Metaphern. • Imperativ-Sätze sind emotiv wertend, und zwar positiv oder negativ. • Optativsätze sind positiv bewertend. • Exklamativsätze können komplexere Bewertungen und emotionale Zuschreibungen vornehmen. Bewertungsmanagement (vgl. Sandig 2006: 251f.) Verstärkungen und Abschwächungen als Form der adressatengerechten Aufbereitung von Bewertungen (z.B. emotionale und emotionalisierende Bewertungen) - etwa durch das Herstellen starker Kontraste, expressive Sprachhandlungen, Provokationen. 69 Wo nicht anders angegeben, vgl. Fries (1991a: 3f.). <?page no="257"?> 6.4 - Im -Zentrum: -Bewertungen - 247 Grammatische und lexikalische Mittel mit teilweise kontextabhängiger wertender Bedeutung 70 • Adverbien, Substantive, Verben, die Affekt, Sicherheit oder Zweifel ausdrücken • Implizite Bewertungen, die von der Interpretation der Rezipientinnen und Rezipienten und von vorausgesetzten Wertmaßstäben abhängig sind (z.B. Der Apfel ist wurmstichig) • Subordinatoren (während, obwohl, weil, nicht nur ... sondern auch) • Vage Sprache (ungefähr, gewissermaßen) • Emphatika (ganz bestimmt, wirklich) • Interjektionen: Ihre evaluative Bedeutung kann auf positive oder negative Wertung und teilweise sogar auf einzelne Emotionen festgelegt werden (s. 6.3). • Sentenzen, stereotype Wendungen • Textebene: z.B. Position einer Evaluation im Text (Evaluation als Abschluss), Wiederaufgreifen. Beurteilung aufgrund von Explizitheit bzw. Implizitheit 71 Explizite Bewertung z.B. Das Essen ist miserabel, pejorative Nomina (z.B. Zigeunerpack), Adjektive (z.B. dämlich), Verben (z.B. verschwenden) (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 212) Explizite Erlebens- oder Emotionsthematisierung z.B. Ich ekle mich vor dem Essen Übergangsstufe hin zur impliziten Bewertung z.B. Ich finde das Essen miserabel Implizite Bewertungen z.B. So’n Fraß! ; expressive Sprechakte wie DANKEN, GRATULIEREN; Konstruktionen wie „Sie ist Ausländerin, aber sehr sauber“ (Schwarz-Friesel 2007: 212, Hervorhebung i.O.). Da grundsätzlich jede Äußerung eine implizite Bewertung vollziehen kann, ist eine implizite Bewertung nur dann zu konstatieren, wenn eine Mitteilungsabsicht besteht (vgl. Marten-Cleef 1991: 88). Zu den lexikalischen Mitteln sind noch genauere Bemerkungen notwendig: Ihre wertende Funktion ist teilweise kontextabhängig, teilweise kontextunabhängig. Beispielsweise ist die lexikalische Wahl von unterstützen Hinweis auf eine positive Wertung im Gegensatz zu dazwischenfunken. Nicht immer ist dies so leicht zu unterscheiden, z.B. kann Student in manchen Kontexten negativ sein. Diese Beurteilung ist nach Zillig (1982a: 70ff., 79, 82f.) abhängig von den konkreten kommunikativen Situationen des Gebrauchs (‚Gebrauchsnormen‘, im Unterschied zu ‚Experten-Idealnormen‘ und ‚poetologischen Idealnormen‘), also aufgrund von pragmatischen Informationen. Inwiefern Bewertungen auch emotionalisierende Funktion haben, untersucht Weidacher (2010) anhand von Texten mit politisch persuasiver Intention. Er identifiziert eine Reihe von Strategien (bzw. Prozeduren): z.B. Bewer- 70 Vgl. Thompson/ Hunston (2003: 18f.) in Anlehnung an Labov (1976: 378-392); Jahr (2000: 98f.). 71 Formen und Beispiele: Fiehler (1990b: 49ff.), vgl. auch Sandig (1993: 160). <?page no="258"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 248 tungen über Emotionsthematisierungen (z.B. das ärgert mich), Präsuppositionen, quasi automatisierte Emotionalisierung durch Blending (Aktivierung von Wissensframes) sowie Ausnutzung der Konnotationen von stark emotional besetzten Wörtern. 6.5 - Syntax: Emotive syntaktische Strukturen Dass Sätze emotiv sind, wurde in der Linguistik gegenüber Wahrheitsbedingungen lange Zeit vernachlässigt (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 177). Die emotive Bedeutung lässt sich jedoch nicht als Gegensatz zur propositionalen Bedeutung darstellen oder von ihr völlig abkoppeln und in einem zweiten Schritt als Nebenbedeutung abwerten, weil die Repräsentation einer Äußerung auch die emotive Bedeutung umfasst, wie Schwarz-Friesel (2007: 182ff.) verdeutlicht. Auf der syntaktischen Ebene ergeben sich jedoch undeutlichere Korrelationen zwischen Emotion und Emotionsausdruck bzw. -thematisierung als etwa auf der lexikalischen. Wenn bestimmte Formen als inhärent expressiv verstanden werden, dann handelt es sich um in der Syntaxtheorie markierte Formen wie den Exklamativsatz. In diesem Abschnitt wird versucht, verschiedene Ebenen der Satzstruktur nicht zu vermischen, aber zu verknüpfen: auf der einen Seite die Ausdrucksebene (z.B. syntaktische Funktionen), auf der anderen Seite die Inhaltsebene (Propositionen, Informationsstruktur) (vgl. Kailuweit 2005: 42; ihn selbst interessiert das Zusammenwirken dieser Ebenen, das Linking). 6.5.1 - Emotiv -markierte -Strukturen In Bezug auf das Französische, aber durchaus auch für das Deutsche relevant, meint Drescher (2003b: 62f.): „Letztlich dürften viele der in den Grammatiken als ‚expressiv‘ bzw. ‚affektiv‘ charakterisierten syntaktischen Strukturen als pragmatisch bedeutsame Veränderungen in der Informationsstruktur des entsprechenden Satzes zu beschreiben sein. Deren pauschale Rückführung auf die Gefühlslage des Sprechers greift natürlich zu kurz.“ Und zwar greift dies aus dem Grund zu kurz, dass damit dem Psychologisieren und der beliebigen Zuschreibung von Emotionen Tür und Tor geöffnet ist. Dennoch gibt es einige Arten von Sätzen, denen der Emotionsausdruck inhärent zu sein scheint - zumindest werden sie häufig so definiert. Dazu zählen vor allem der Wunschsatz und der Ausrufesatz. Bevor diese beiden Formen ausführlicher diskutiert werden, erfolgen einige allgemeine Bemerkungen über verschiedene Satzarten. <?page no="259"?> 6.5 - Syntax: -Emotive -syntaktische -Strukturen - 249 Satztypen -und -emotive -satzwertige -Konstruktionen Deklarativsätze, Interrogativsätze und Imperativsätze können emotionale Bedeutungsaspekte nur durch lexikalische oder prosodische Mittel kodieren (vgl. Rosengren 1992: 47; Fries 1994: 10). Dennoch bieten sich auch diese Satztypen für emotive Äußerungen an. Nach Wolf (2010: 35) gibt es keine emotionale Grammatik, aber „[w]ir erfahren und versprachlichen Expressivität und somit auch Emotionalität als einen markierten merkmalhaltigen Prozess, der sich auf diese Weise von der ‚Darstellung‘ im Bühler’schen Sinn unterscheidet“. Er teilt Satztypen nach dem Organon-Modell ein und ordnet ihnen spezifische Aufgaben in der Emotionskommunikation zu. Der Darstellungssatz dient demnach dem Sprechen über Emotionen, Appellsätze (Frage- oder Aufforderungssätze) dem Erregen von Emotionen und Ausdrucksbzw. Expressivsätze (Exklamativsätze, Optativsätze) dem Ausdruck von Emotionen (vgl. Wolf 2010: 33f.). Diese Zuordnungen sind natürlich modifizierbar. Es ist durchaus möglich, beispielsweise mit einem Appellsatz eine eigene Emotion auszudrücken: Die Expressivität von Küss das Mädchen, verdammt nochmal! (der Fluch besteht hier in verdammt nochmal) wird allerdings durch das lexikalische Mittel des Fluchens bewerkstelligt, nicht durch den Satztyp. Bestimmte syntaktische Strukturen drücken Emotionen systematisch aus. Die folgenden fünf Typen bezeichnet Fries (1994: 11) als „satzwertige Konstruktionen“ - es handelt sich zwar um oberflächenstrukturell unvollständige Sätze, aber es werden mit ihnen vollständige Aussagen und Handlungen vollzogen. Fries (1994: 11ff.; 1996: 13-21) ordnet den verschiedenen Gruppen auch spezifische Emotionen zu, die mit ihnen in der Regel ausgedrückt werden, wobei selbstverständlich die lexikalischen Bedeutungen mitwirken, teilweise auch modifizierend (z.B. Modalpartikeln). Es sind dies Konstruktionen, die verschiedene Arten von emotionaler Erregung ausdrücken: • die Erregung über einen Sachverhalt (z.B. Wenn du das tust! ) • Begehren oder Ablehnung (z.B. Eine Lokalrunde für alle! ) • die Erregung über eine Eigenschaft eines Sachverhalts, eines Objekts oder eines Ereignisses (z.B. Fantastisch! ) • Ausdruck des Begehrens über die Position eines Objekts (lokal, temporal, modal oder kausal), z.B. Raus! , In den Keller damit! • das Begehren einer zu vollziehenden Handlung (z.B. Alle mal herhören! ) Eigenständig realisiert ist diesen Formen der Emotionsausdruck inhärent, eingebettet (z.B. Ich weiß nicht, ob er kommt) verlieren sie ihre emotive Bedeutung jedoch (vgl. Fries 1994: 12). Fries (1996: 18) hebt deutlich hervor, <?page no="260"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 250 dass diese Konstruktionen nicht rein pragmatisch, sondern im Sprachsystem verankert sind. Bei Satzfragmenten wie z.B. Du Ignorant! , Superfilm! , Entsetzlich für mich! , Mein Beileid! muss als Experiencer stets die Textproduzentin bzw. der Textproduzent angenommen werden (auch bei einer Äußerung wie Entsetzlich für Fritz! ), so wie allgemein in allen Äußerungen, in denen der Experiencer nicht sprachlich kodiert ist (vgl. Fries 2007: 12ff., 2009: 6; er begründet dies mit der Optimalitätstheorie). Weitere Phänomene, denen Fries (1996: 18f.) systematisch emotive Bedeutung beimisst, sind Wiederholungen (z.B. Ich komme langsam, langsam auf den Geschmack! ) und Sätze mit Verb-Erststellung (z.B. BIST du blöd! ). Es zeigt sich, dass aus grammatischer und auch aus alltagslinguistischer Sicht insbesondere unvollständige Sätze markiert sind. Rosengren (1992: 47f.) geht davon aus, dass sich unvollständige Sätze, wie sie auch Exklamativ- und Optativsätze sind, daher besonders gut dafür eignen, Gefühle sprachlich auszudrücken. Rosengren begründet dies mit dem vermeintlichen Gegensatz zwischen Kognition und Emotion, demzufolge Emotionen ein eigenständiges konzeptuelles Subsystem sind und daher durch eigenständige grammatische Formen kodiert werden. Der -Exklamativsatz Exklamativsätze zeigen die hohe Intensität des Empfindens unter dem Eindruck eines oft ungewöhnlichen Sachverhalts an, meist also einen emotionalen Zustand im Bereich von Überraschung (vgl. Nicoloff 1990: 221; Drescher 2003b: 59). Rinas (2010: 114) unterscheidet Erstaunen über das Wie, z.B. Die ist aber schön! , und das Erstaunen über das Dass, z.B. Die Suppe ist ja kalt! . Es können jedoch auch Verärgerung und andere Emotionsqualitäten zum Ausdruck gebracht werden (vgl. Fries 1994: 19). Diese Formen sind sehr stark markiert und im sprachlichen Randbereich angesiedelt. Einige Beispiele von Fries (2000: 108): Ich Narr! Wie schön du bist! Dass du auch immer Recht haben musst! Oft sind Suprasegmentalia, im schriftlichen Bereich Ausrufezeichen allein ausschlaggebend dafür, dass ein Ausrufesatz konstatiert wird (z.B. The cat is on the mat! ); in diesem Fall handelt es sich um ein Performanzphänomen (vgl. Nicoloff 1990: 207 mit Bezug zur englischen Sprache). Von diesen Fällen zu trennen und für die Emotionslinguistik relevanter sind jedoch Typen von Ausrufesätzen, die Emotionen eindeutiger anzeigen, <?page no="261"?> 6.5 - Syntax: -Emotive -syntaktische -Strukturen - 251 und zwar in jedem Kontext. Admoni (1970: 255) weist darauf hin, dass Ausrufesätze in älteren Grammatiken als eigener Satztyp geführt wurden. Aber abgesehen von der abweichenden Intonation sind Ausrufesätze nur dadurch gekennzeichnet, dass sie starke Emotionen verbalisieren. Sie zeigen einen hohen Grad irgendeines Sachverhalts, eines Merkmals oder von etwas Ähnlichem an, oft durch Intensivierungen und Quantifizierungen (z.B. Wie schnell er läuft! ). Formal sind sie in der graphischen Realisierung von Sprache wie erwähnt durch Ausrufezeichen markiert, in der gesprochenen Sprache durch einen Exklamativakzent. Häufig werden Abtönungspartikeln eingesetzt. Das wichtigste Merkmal ist jedoch, dass Emotionen hier gezeigt, nicht thematisiert werden (vgl. Nicoloff 1990: 208, 209f.; Rinas 2010: 113f.). Es gibt einige Restriktionen für die Realisierung von Exklamativa: Beispielsweise können bei Ausrufen der Art Du Dummkopf! nur Personalpronomen der 1. und 2. Person und bestimmte - belebte - Substantive genannt werden. Graduierbare Adjektive erfordern in dass-Sätzen eine Skalierung mit so, nicht skalierbare Adjektive können nicht in Exklamativa eingehen (z.B. *Wie schwanger ich bin! , vgl. Fries 2000: 108). Außerdem sind in vielen Fällen Negation, andere Modi und syntaktische Erweiterung oder Einbettung nicht möglich (z.B. *Was für ein Lügner er nicht wäre! , vgl. Nicoloff 1990: 216ff.). Wie Interjektionen sind Ausrufesätze lexikalisch und syntaktisch stark eingeschränkt, was Nicoloff (1990: 221) dazu führt, ihnen Ähnlichkeit mit Interjektionen zuzusprechen. Außerdem ordnet er ihnen ikonischen Charakter zu, da sie offenbar grammatikalisierte Formen eines ikonischen Wertes sind - die unvollständige und grammatikalisch falsche Form verweist auf die auszudrückende Überraschung (in der Art von Es verschlägt mir die Sprache). Der Status und die Definition von Exklamativsätzen werden aber immer wieder infrage gestellt (vgl. Rinas 2010: 113f.). Der -Optativsatz Der Wunsch- oder Optativsatz drückt, wie sein Name schon sagt, einen Wunsch der Sprecherin oder des Sprechers aus. Einige Beispiele: Wäre ich doch (nicht) ... Hätte ich doch (nicht) ... getan Käme er doch ... Wenn er nur ... wäre/ könnte/ ... Dass ich ... könnte. Optativsätze (Wunschsätze) wie z.B. Hätte ich bloß Urlaub! drücken in jedem Fall eine positive Wertung gegenüber dem erwünschten Sachverhalt aus. Es wird also eigentlich kein Wunsch ausgedrückt, sondern eine positive oder <?page no="262"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 252 negative Wertung (vgl. Rosengren 1992: 48; Schwarz-Friesel 2007: 185; Fries 1994: 18). Meist wird dennoch negative Emotivität ausgedrückt, und zwar sehr oft Bedauern darüber, dass etwas als positiv Bewertetes nicht erreicht wurde (z.B. Hätte ich doch nur X getan! ). Grammatisch sind Optativsätze markiert. Ähnlich wie Exklamativsätze werden Wunschsätze in manchen Grammatiken als Sonderkategorie geführt, von manchen Klassifikationen aber nicht als eigene Satztypen oder Satzmodi anerkannt. Strukturell ähneln sie Konditionalsätzen (Verberst- oder Verbletztsätzen, eingeleitet mit wenn, meistens Konjunktiv II). Rosengren (1992: 42) ordnet den Wunschsatz als selbstständigen Konditionalsatz ein, teilweise werden die einzelnen Typen auch als besondere Formen von Imperativsätzen oder als eigener Satzmodus definiert. Stoeva-Holm (2005: 184f.) nimmt an, dass illokutionär betrachtet kein Unterschied zu Konstruktionen wie Ich wünschte, ich hätte X getan besteht. Rosengren (1992: 49ff.) sieht dies anders: Der Optativsatz ist expressiv, während der Aussagesatz (Ich wünschte, dass ...) kognitiv ist. Eine große Rolle für die Interpretation spielen Modalpartikeln und Prosodie; bestimmte Modalpartikeln (z.B. bloß) sind sogar nur in Wunsch- und Imperativsätzen möglich. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Exklamativ- und Optativsatz besteht Rosengren (1992: 52) zufolge darin, dass Exklamativa selbstständige Matrixsätze mit unterstellten Konditionalsätzen sind (Wäre ich glücklich! ... wenn dies tatsächlich der Fall wäre). Optativsätze hingegen sind selbstständige Konditionalsätze (Wäre ich glücklich! ... dann wäre alles gut). Außerdem sind Exklamativsätze nur in bestimmten Kontexten verwendbar, einen hypothetischen Sachverhalt quasi hinausschreiend, während Optativsätze auch kontextunabhängig verwendet werden und einen Wunsch in der wirklichen, nicht in der hypothetischen Welt kodieren. Zusammenfassend lässt sich zudem sagen, dass der Optativsatz auf die Dimension Valenz Bezug nimmt, der Exklamativsatz hingegen auf die Intensität. 6.5.2 - Unmarkierte -emotive -Konstruktionen In der emotionslinguistischen Analyse von syntaktischen Strukturen sind keineswegs nur Exklamativ- und Optativsätze zu berücksichtigen. Aber was konstituiert einen emotiven Satz? In seiner Grammatik der deutschen Sprache stellt Admoni (1970: 249ff.) den ‚emotionalen Gehalt des Satzes‘ in eine Reihe mit anderen, klassischeren Themen der Syntax wie Satztypen und Modalität. Zuvor nennt er die ‚Erkenntniseinstellung oder die psychologisch-kommunikative Einstellung des Sprechenden‘ als wichtigen Aspekt: Er meint damit alle sprecherseitigen psychischen Faktoren, die den Satzbau lenken, vor allem die Thema-Rhema- Gliederung, die Perspektive (z.B. Passivkonstruktionen, abweichende Wort- <?page no="263"?> 6.5 - Syntax: -Emotive -syntaktische -Strukturen - 253 stellung wie Prolepsen zur Hervorhebung), Betonung und Parenthesen. Neben der psychologisch-kommunikativen Einstellung ist in jedem Satz die emotionale Einstellung des Sprechers bzw. der Sprecherin enthalten. Die Emotionsqualität wird jedoch hauptsächlich mit lexikalischen Mitteln zum Ausdruck gebracht, weniger durch die Grammatik (vgl. Admoni 1970: 255f.). Die bisher genannten Bemerkungen sollen jedoch nicht nahelegen, dass Emotivität ein rein pragmatisches Phänomen ist. Nach Schwarz-Friesel (2007: 174, 178ff.) sind die hauptsächlichen Möglichkeiten, wie Emotivität in Sätzen verankert ist, die folgenden: • Emotionen sind das Thema einer Äußerung und werden eindeutig benannt: z.B. Ich habe Angst! . Es sind unterschiedliche syntaktische Konstruktionen und Wortarten möglich (z.B. Sie hatte Angst; Sie ängstigte sich; Ängstlich saß sie da). • Emotionen sind die Inhalte einer bewertenden Stellungnahme oder einer Situationsbeschreibung: z.B. Ich wünschte, die Prüfung wäre schon vorbei (direkt), Ich habe eine Sechs in der Prüfung bekommen (indirekt) oder Wäre doch die Prüfung schon vorbei! (Bewertung muss aus der Form der Äußerung erschlossen werden). • Schwarz-Friesel spricht von ‚Doppelpropositionen‘, wenn in einem Satz eine ‚Sachverhaltsproposition‘ in eine ‚Einstellungsproposition‘ eingebettet ist (z.B. Ich befürchte, dass der Junge das Mädchen liebt). Expressive Verben (z.B. hoffen, erflehen) sind sehr explizite Marker für die emotionale Einstellung, aber auch epistemische Verben (z.B. glauben) können in bestimmten Verwendungsweisen emotiv sein (z.B. Sie glaubt, dass er bald sterben wird) (vgl. auch Weigand 2003: 116). • Emotionsbezeichnende Lexeme markieren, wie bereits mehrmals erwähnt, nur in bestimmten Fällen Emotivität im engeren Sinn: Bei Äußerungen wie Ich habe Angst (Präsens, selbstbezüglich). Aber auch diese Äußerung kann neutral (diagnostisch) sein (vgl. Hermanns 2002: 356). • Schon einzelne Lexeme - z.B. Interjektionen, Modalpartikel - können einen Satz emotiv machen. Schwarz-Friesel spricht hier von ‚satzinternen Expressiva‘, die die Proposition modifizieren. Die von Fiehler genannten Typen der Manifestation von Emotionen (s. 6.1) sind noch weiter zu präzisieren, insbesondere die Typen 6.3.1 (Manifestation durch Erlebensbenennung) und 6.3.2 (Manifestation durch Erlebensbeschreibung) sowie Möglichkeiten des Emotionsausdrucks. Die folgenden beiden Überblicke sollen dies zusammenfassen. Zunächst zur Erlebensthematisierung. <?page no="264"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 254 Unter begrifflichen Erlebens- und Emotionsbenennungen versteht Fiehler (1990b: 129) Benennungen mithilfe des Emotionswortschatzes. Benannt werden körperlich-physiologische, mentale und verhaltensdispositionelle Aspekte. Ein Beispiel: Ich bin frustriert/ ärgerlich. Bei Erlebens- und Emotionsbeschreibungen können folgende Aspekte thematisiert werden, nicht alle sind obligatorisch: • Träger des Erlebens: P • Art des Erlebens: E (unspezifiziertes Erleben), A (differenzielles Erleben) • Intensität des Erlebens: I • Dynamik/ Verlauf des Erlebens: D • Objekt/ Bezugspunkt des Erlebens: O • Grundlagen des Erlebens, Maßstäbe der bewertenden Stellungnahme: G • Veranlasser bzw. Veranlassung des Erlebens: V • Lokalisierung im Körper: K • Ausdruckserscheinungen, somatisch-physiologische Auswirkungen: AUS • Folgen des Erlebens: F Die syntaktischen Varianten sind nach Fiehler (1990b: 119-129) wie folgt: • Erlebensdeklarative Formeln (EDF) + Erlebensbenennungen: Erlebensbenennende Begriffe stehen im Skopus. Sie sind nur dann erlebensdeklarativ, wenn ein eingeleiteter Vergleich folgt (z.B. wie betäubt). Stehen sie im Skopus, handelt es sich um Benennungen (Übergangsbereich zwischen Beschreibung und Benennung). Beispiele: Ich fühlte (mich) X, ich hatte das Gefühl X, ich (ver)spürte (ein Gefühl von) X, ich erlebte (es als) X, es war mir/ ich war X, ich fand Y X. • EDF + Kurzvergleiche: Diese Form ist konventionalisiert oder individuell. Meist handelt es sich um Analogisierungen und Vergleiche. Beispiel: Ich fühlte mich leer/ beschissen/ wie neugeboren. • EDF + wie/ als ob-Vergleiche und Bilder: z.B. Ich fühlte mich wie ein Sonnenkönig/ als ob mir der Boden unter den Füßen wegglitt/ wie damals in der Situation als ... • Feste metaphorische Wendungen: z.B. Das haut mich aus den Schuhen. • Metaphorischer Gebrauch von Begriffen [Lexemen]: z.B. Ich war völlig zu, Die Prüfung steht bevor. • Benennung/ Beschreibung von erlebensrelevanten Ereignissen/ Sachverhalten: Es geht hier um Ereignisse, Sachverhalte und Konsequenzen mit negativer oder positiver Valenz. Möglicherweise handelt es sich um Kurz- <?page no="265"?> 6.5 - Syntax: -Emotive -syntaktische -Strukturen - 255 formen längerer Thematisierungen. Beispiel: Mein Hund ist gestern überfahren worden. • Beschreibung/ Erzählung der situativen Umstände eines Erlebens: Wenn das Erleben als Hauptthema behandelt wird, wird es nicht durch erlebensdeklarative Formeln eingeleitet, sondern durch umfangreichere, eigenständige Beschreibungen. Ist das Erleben ein Nebenthema, erfolgt die Kodierung z.B. durch Satzadverbiale, unpersönliche Es-Konstruktionen, präpositionale Wendungen und Einschübe in Ausrufform. Beispiele: Satzadverbiale (traurigerweise), unpersönliche Es-Konstruktionen (Es ist ärgerlich ...), präpositionale Wendungen (Zu meinem Ärger...), Einschübe in Ausrufform (Ich habe gerade - wie ärgerlich! - ...). Explizite Emotionsthematisierungen mit Emotionswörtern sind verhältnismäßig selten (vgl. Dem’jankov 1998: 106; Hielscher 2003a: 481). Die Häufigkeit hängt offensichtlich von der Emotionsqualität ab: Trauer z.B. wird seltener thematisiert als Angst und Ärger (vgl. Schmitt 1996: 143). Außerdem handelt es sich bei Äußerungen wie Ich bin sehr wütend auf dich oft vielmehr um ritualisierte Formen des Appells als um eine Bezugnahme auf Gefühle (vgl. Parrott/ Harré 1996: 42). Eine Nebenbemerkung zu Attributen: Eine Untersuchung von Reimann (2011) beschäftigt sich mit formalen und semantischen Aspekten von Attribuierungen des Lexems Angst in einem Online-Diskussionsforum - es zeigt sich, dass vielfältige Konstruktionen dazu beitragen, persönliche Angstzustände differenziert zu beschreiben und zu bewerten (z.B. mit Infinitivkonstruktionen wie die Angst verletzt zu werden, durch präpositionale Fügungen wie Angst vor X, Angst davor, aber auch über komplexere Satzkonstruktionen mit dass usw.). Seltener gebraucht werden Relativsätze (z.B. die Angst, die ...), Genitivattribute (z.B. die Angst deiner Tochter) oder präpositionale Fügungen mit um, mit und über (wobei Angst mit und über grammatisch für das Deutsche unkorrekt ist). Für die Formen des Emotionsausdrucks gelten Fiehler (1990b: 100, 102f.) zufolge dieselben Aspekte des Erlebens wie in der Aufzählung weiter oben (Träger, Art des Erlebens, Intensität etc.), auch wenn sie noch seltener expliziert werden. Es kann unterschieden werden, ob der Emotionsausdruck aufgrund einer tatsächlichen Emotion realisiert wird oder wegen einer Manifestationsregel, darüber hinaus ob es sich um eine bewusste Produktion von Emotionsausdruck handelt oder ob dieser sich ereignet. Die üblichen verbalen Ausdrucksformen sind nach Fiehler (1990b: 127) Affektlaute (z.B. Au! , was aber manchmal als Interjektion gewertet wird), Interjektionen (z.B. Oh! , Ih! , Huch! ), Bewertungen (z.B. E-kel-haft, Scheiße! ), Manifestationen der Überraschung und des Unglaubens (z.B. Unglaublich! Ja gibt’s denn das? ), Beschimp- <?page no="266"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 256 fungen (z.B. Du Trottel! ), Koseformen, Flüche, Drohungen (z.B. Na warte! ) und Empörungen (z.B. Bist du denn noch zu retten! ). Beurteilungskriterien für Emotivität in Sätzen sind die Direktheit einer emotiven Äußerung, ihr Grad an Explizitheit, die Intensität und die Involviertheit. Zunächst eine Reihe an Beispielen in absteigender Unmittelbarkeit (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 179): 1) Ich bin traurig. 2) Ich fühle mich traurig. 3) Ich empfinde Traurigkeit. 4) Ich fühle Traurigkeit in mir. Hinsichtlich der Explizitheit bringt Schwarz-Friesel (2007: 186) folgendes Beispiel für eine zunehmend explizite Ausdrucksweise: 1) Toll finde ich ihn nicht. 2) Ich mag ihn nicht. 3) Ich finde ihn zum Würgen. 4) Ich könnte den Mistkerl erwürgen! 5) Wie ich den schleimigen Widerling hasse! (Emotionsausdrückende + emotionsbezeichnende Lexeme + Exklamativsatz) Folgende intensivierende syntaktische Mittel ohne Reihung führt Dorfmüller- Karpusa (1990: 30ff.) an: • Redundanz oder Reduktion • Bestimmte Morpheme (z.B. scheiß-) • Modalpartikeln und emotives Adjektiv (z.B. Diese wirklich tolle Rede) • Andere Partikeln (z.B. Ungeheuer wütend stürmte sie herein) • Dimensionsadjektive (z.B. Sie empfand große Wut) • Metaphern • Vergleiche • Rhetorische Fragen • Ellipsen • Tempus, z.B. Sprung zu historischem Präsens Die Involvierheit in einen Sachverhalt ist schließlich abhängig von den betroffenen Personen. In absteigender Reihenfolge: <?page no="267"?> 6.6 - Pragmatik: -Sprechakte, -Perlokutionen -und -Normen - 257 1) Bezug auf Produzent/ in 2) Bezug auf Rezipient/ in 3) Bezug auf andere Person 4) Bezug auf niemand Bestimmten (man) Bednarek (2008: 95, Erläuterungen in Kap. 3) führt korpuslinguistische Untersuchungen zu emotionsbezeichnenden Lexemen durch. Sie untersucht syntagmatischen emotive Muster (bei ihr als local grammar of affect bezeichnet), die sie in Anlehnung an den FrameNet-Ansatz analysiert. Dabei wird die grammatische mit der semantischen Seite verknüpft, ähnlich wie in Kailuweits Ansatz der Gefühlsszenen (s. Kap. 4). Es kann hinsichtlich der syntaktischen Realisierung nach Bednarek (2008: 71) unterschieden werden, • ob ein Emotionsträger (emoter) vorkommt (emoted/ unemoted) • ob ein Objekt der Emotion (ein trigger) enthalten ist (directed/ undirected) • ob eine emotionale Reaktion impliziert ist oder unmittelbar ausgedrückt wird (covert/ overt) • weitere Kategorien: Expressor (Körperteil, Geste oder andere Form des Ausdrucks von Emotion bei einem Experiencer); Empathy target (mit wem sich der Experiencer identifiziert, mit wem er seine emotionale Reaktion teilt), Action (Handlung, die mit einem Emotionswort in Verbindung gebracht wird). Dazu nur ein Beispiel: Der Satz His axing was a surprise lässt sich als ‚emoted, directed, covert affect‘ einstufen. Emoter ist der Sprecher bzw. die Sprecherin, der Trigger his axing. Die emotionale Reaktion ist Überraschung. Bednarek benutzt diese Kategorien, um Muster in größeren Korpora zu finden. Ich halte diese Unterscheidungen für sehr sinnvoll (und sie sind in ähnlicher Form auch in anderen Ansätzen vertreten). Meines Erachtens ist hier jedoch noch feiner zu unterscheiden, ob der emoter genannt wird (I feel ...) oder nur implizit enthalten ist (This is a surprise). Ein sehr kurzes Fazit: Grundsätzlich kann jeder Satz Emotionen ausdrücken oder thematisieren. Manche Konstruktionen legen Emotivität näher als andere. 6.6 - Pragmatik: Sprechakte, Perlokutionen und -Normen In der linguistischen Pragmatik wird untersucht, warum bestimmte emotive Mittel gewählt werden und welche Funktionen sie erfüllen (z.B. das Erreichen von Zielen, die Beeinflussung des Gegenübers, vgl. Janney 1996: 253, der einen historischen Abriss der Entwicklung dieser Perspektive von Aristoteles <?page no="268"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 258 bis Brown/ Levinson bietet). Auch bei der Definition von Glückensbedingungen spielen Emotionen eine große Rolle. Beispielsweise funktionieren Drohungen durch das Erzeugen von Angst und verschiedene Sprechakte beruhen auf Bewertungen (vgl. Fries 1991b: 35). In der klassischen Sprechakttheorie und in der pragmatischen Forschung werden Weigand (1998a: 36) zufolge Emotionen unter verschiedenen Blickwinkeln betrachtet: • als illokutionäre Kraft (illocutionary force) in Expressiva • als ausgedrückte psychische Einstellung in anderen Sprechakttypen • als perlokutionärer Effekt • im Rahmen von Konversationsmaximen und anderen Fassungen von Gesprächs- und Argumentationsnormen, Fragen der Höflichkeit, entsprechend auch bei Normverstößen 6.6.1 - Emotionen -im -Rahmen -der -Sprechakttheorie Zunächst ist zu bemerken, dass die Unterscheidung zwischen Satzbedeutung und Äußerungsbedeutung, die der Sprechakttheorie zugrunde liegt (vgl. Battacchi/ Suslow/ Renna 1997: 59), für die Emotionslinguistik sehr fruchtbar ist. Der Status von Emotionen in der klassischen Sprechakttheorie ist jedoch eher vage: Searle verortet sie insbesondere in expressiven illokutionären Akten. Austin ordnet Emotionen eher dem Perlokutionären zu, zusätzlich aber auch den Indikatoren der illokutionären Kraft (vgl. Sbisà 1990: 279). Auf den ersten Blick sind Expressiva bzw. expressive Sprechakte eine Kernkategorie der Emotionslinguistik. Ihre emotionsausdrückende Funktion ist jedoch nicht in jedem Kontext gegeben. Bereits Austin hebt hervor, dass auch vermeintlich neutrale, deskriptive (konstative) Aussagen nicht nur etwas aussagen, sondern beispielsweise auch dazu dienen können/ sollen, Gefühle hervorzurufen. Zunächst also zu Austin, der noch nicht von Expressiva spricht, sondern eine andere Terminologie einführt. Austin Austins grundlegende Unterscheidung zwischen performativ und konstativ beruht unter anderem darauf, dass mit performativen Äußerungen Gefühlshandlungen vollzogen werden können (vgl. Austin 1985: 26f.). Er unterscheidet diesbezüglich explizite Performative (wie z.B. Ich fürchte) von primären Performativen, bei denen mithilfe der Intonation eine emotionale Einstellung implizit ausgedrückt wird (vgl. Bodor 1997: 201f.). In seiner Einteilung der Sprechakttypen ist der Ausdruck von Emotionen eine eigene Kategorie, nämlich die sogenannten konduktiven Äußerungen - neben expositiven (feststellenden), verdiktiven (urteilenden), exerzitiven (Macht ausübenden) und <?page no="269"?> 6.6 - Pragmatik: -Sprechakte, -Perlokutionen -und -Normen - 259 kommissiven (den Sprecher zu etwas verpflichtenden) Äußerungen (vgl. Austin 1985: 7. Vorlesung, 12. Vorlesung). Konduktive sind performative Äußerungen, Verhaltensweisen und Reaktionen darauf, die für Austin (1985: 169) unter anderem zum Ausdruck von Gefühlen und Einstellungen geeignet sind. Der Emotionsausdruck kann jedoch in vielen Fällen nicht mit einer performativen Formel erfolgen (z.B. *Ich fluche, dass ..., vgl. Austin 1985: 122). Austin unterscheidet sieben Gruppen von behabitives, also Sprechakten, die Einstellungen und soziales Verhalten betreffen: apologies (Entschuldigungen), thanks (Dank), sympathy (Mitgefühl), attitudes (Einstellungen), greetings (Grüße), wishes (Wünsche), challenges (Herausforderungen). Der Ausdruck von Gefühlen ist bei Austin in manchen Schriften kein illokutionärer Akt, weil er eher paralinguistisch und nicht explizit performativ realisiert wird (vgl. Marten-Cleef 1991: 30ff.). Zu den Unglücksfällen zählt Austin (1985: 58f.) die Unehrlichkeit in Bezug auf Gefühle, etwa indem man sagt, „‚Ich beglückwünsche Sie‘, obgleich man mit der Sache gar nicht zufrieden ist, sich vielleicht sogar darüber ärgert“. Hier wird zwar die sprachliche Handlung (erfolgreich) vollzogen, aber sie ist ‚unredlich‘. Weder das Vorhandensein noch die Abwesenheit von Emotionswörtern ist ein hinreichendes Kriterium, um eine Äußerung als expressiv oder nicht expressiv zu klassifizieren (vgl. Marten-Cleef 1991: 9). Höflichkeitsfloskeln (z.B. Ich habe das Vergnügen, ...) sind für Austin (1985: 103) nicht performativ, sondern dienen nur dem Bezeugen von Gefühlen. Searle -und -seine -Nachfolge: -Emotive -sprachliche -Handlungen Searles Einteilung des Sprechaktes lässt sich auch aus emotionslinguistischer Sicht betrachten. Gilbert (2001: 245ff.) bezeichnet die Teilakte neu und weist ihnen spezifisch emotionale Funktionen zu: • Message act: Er betrifft den emotionalen Inhalt einer Äußerung bzw. den durch den Hörer identifizierbaren und als angemessen interpretierbaren Ausdruck einer Emotion. • Information act: Hier geht es um das Zeigen eines emotionalen Zustands (ähnlich dem propositionalen Akt), die Prädikation lautet ‚S erlebt eine Emotion E aufgrund von I‘. • Illocutionary act: Durch das Zeigen einer Emotion wird eine Handlung vollzogen (z.B. Anklagen, Drohen, Warnen, Schmeicheln, Appellieren, Ängstigen, Verunsichern, Anmaßung, Langweilen, Besänftigen). • Perlocutionary act: Manchmal ist der emotionale Effekt, der mit einer Äußerung erzielt wird, entscheidend für den Diskussionsverlauf. <?page no="270"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 260 Bei Searle ist ein Kategorisierungskriterium für Sprechakte der illokutionäre Zweck/ Witz (illocutionary point). Ein theoretisches Problem der Statusfestlegung von Emotionen im Sprechakt liegt in der Voraussetzung, dass jeder illokutionäre Akt explizit performativ formulierbar sein sollte. Auf den Emotionsausdruck trifft dies nicht zu (vgl. Sbisà 1990: 282f.). Doch für alle Sprechakte gilt auch, dass mit ihnen ein bestimmter psychologischer Zustand ausgedrückt wird. Für jeden illokutionären Akt kann also eine Aufrichtigkeitsbedingung formuliert werden, die sich auf einen internen Zustand der Sprecherin bzw. des Sprechers bezieht, aber von außen zugeschrieben wird (vgl. Sbisà 1990: 281f.). Mit Repräsentativa werden Überzeugungen ausgedrückt, mit Direktiva Wünsche oder Hoffnungen, mit Kommissiva Absichten oder der Wille, etwas zu tun, mit Expressiva Dankbarkeit oder Genugtuung. Nur Deklarativa implizieren keinen psychologischen Zustand (vgl. Lang 1983: 336ff.; Marten-Cleef 1991: 12f.; Levinson 2000: 262). Allerdings spricht sich Lang (1983: 338) gegen eine strikte Trennung zwischen einzelnen Sprechakttypen aus, da jeder Sprechakt Anteile mehrerer oder sogar aller Sprechakttypen haben kann. Sbisà (1990: 286-293) unterscheidet, ob die Spezifizierung eines emotionalen Zustandes Teil des illokutionären Aktes ist oder unabhängig davon kommuniziert wird. Im ersten Fall sind intensivierende und spezifizierende Elemente unmittelbar am illokutionären Akt beteiligt, häufig naturgemäß bei Expressiva, aber auch beim Versprechen, Drohen, Evaluieren, Anflehen, Beten, Erlauben und Vorwerfen. Für diesen Typ schlägt Sbisà den Terminus behabitive vor (in der Nachfolge von Austin). Im zweiten Fall tragen verschiedene Emotionsmarker (z.B. intensivierende Elemente wie Wiederholungen) dazu bei, dass Äußerungen als emotional eingestuft werden. Der illokutionäre Akt besteht jedoch nicht primär im Ausdruck von Emotionen. Der erste und der zweite Typ sind miteinander verwoben: Beispielsweise dienen Evaluationen einerseits dem Emotionsausdruck, andererseits der Illokution (z.B. beim Loben). Auf die vielen anderen leicht oder stärker abweichenden Aufzählungen innerhalb der Pragmatik kann hier nicht eingegangen werden, aber im Großen und Ganzen findet diese Klassifikation nach wie vor Anwendung in der Sprechakttheorie. Nur ein Alternativvorschlag, in dem Emotivität explizit eine Rolle spielt, sei hier angeführt: von Polenz (1985) geht von einem anderen Verständnis der Satzsemantik aus. Bei ihm spielen Emotionen im Rahmen des ‚Handlungsgehaltes‘ bzw. des ‚pragmatischen Gehaltes‘, der ‚Sprechereinstellung‘ und der ‚Sprecherhandlung‘ eine große Rolle (vgl. von Polenz 1985: 195f. für die Definition dieser Termini). Seine Klassifikation ist insofern interessant, als soziale Aspekte im Mittelpunkt stehen. Er unterscheidet drei Typen von Sprachhandlungen: ichorientierte, partnerorientierte und kooperative Sprachhandlungen. Sie können jeweils auf die eigenen Handlungen, auf die <?page no="271"?> 6.6 - Pragmatik: -Sprechakte, -Perlokutionen -und -Normen - 261 Welt oder auf den Partner bezogen sein. Hier eine Auflistung nach Polenz (1985: 207ff.) mit einigen Beispielen: • Ichorientierte eigenhandlungsbezogene Sprachhandlungen: z.B. etwas leugnen, schwören, sich zu etwas bereiterklären, sich weigern, verzichten. • Ichorientierte weltbezogene Sprachhandlungen: z.B. bezweifeln, behaupten, etwas benennen, anerkennen, etwas gutheißen, kritisieren. • Partnerorientierte eigenhandlungsbezogene Sprachhandlungen: z.B. sich rechtfertigen, gestehen, etwas versprechen, drohen, um Rat fragen. • Partnerorientierte weltbezogene Sprachhandlungen: z.B. etwas mitteilen, berichten, beweisen, belehren, nach etwas fragen, sich beschweren. • Partnerorientierte partnerhandlungsbezogene Sprachhandlungen: z.B. widersprechen, beipflichten, vorwerfen, loben, bitten, befehlen, raten. • Kooperative weltbezogene Sprachhandlungen: z.B. wetten, diskutieren. • Kooperative eigen- und partnerhandlungsbezogene Sprachhandlungen: z.B. vereinbaren, verabreden, planen, Kompromiss schließen. Sprachliches Berichten über Emotionen ist als Referenz auf Syndrome bzw. einzelne Aspekte von emotionalen Ereignissen zu verstehen und wird oft in Form von assertiven Sprechakten realisiert - doch es handelt sich nicht um Assertiva respektive Konstativa im engeren Sinn, da Emotionen kein objektiver Sachverhalt sind, sondern ein komplexer Prozess, in den die sprachliche Äußerung integriert ist (vgl. Reddy 2001: 105). Explizit performativ ist der sprachliche Emotionsausdruck nur in der 1. Person und mit eindeutigen Emotionsmarkern wie Emotionslexemen (bei Wilce 2009: 62 und Reddy 2001: 105 als „emotives“ bezeichnet). Sie haben illokutionäre Kraft und als mögliche Perlokution die Veränderung der Gefühle des Sprechers bzw. der Sprecherin. Beispielsweise kann die Äußerung wie Ich liebe dich die Selbstreflexion anstoßen und zu ganz anderen Emotionen führen (z.B. Scham über die eigene Unehrlichkeit); allgemeine Funktionen sind das Verändern, Aufbauen, Verstecken und Intensivieren von Emotionen (vgl. Reddy 2001: 105). Emotive sind nicht deskriptiv und können daher nicht wahr oder falsch sein. Nur in seltenen Fällen sind emotive Äußerungen unzulässige, bewusste Täuschungen (vgl. Reddy 2001: 108f.). Reddy (2001) bezeichnet dieses ständige Suchen und Verhandeln der eigenen emotionalen Befindlichkeit als emotional navigation. Er unterscheidet mehrere sprechaktbezogene Formen des Emotionsausdrucks, je nachdem, ob sie selbstbezüglich in der 1. Person geäußert werden, sich auf die Vergangenheit, die Gegenwart oder längere Zeiträume beziehen, Behauptungen über die Emotionen anderer oder emotional expressive Signale sind (etwa Gesten, mimische Ausdrücke, Wortwahl oder Intonation). Äußerungen über Emoti- <?page no="272"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 262 onen anderer (z.B. Du siehst wütend aus) können sowohl emotionale Auswirkungen auf die Sprecherin bzw. den Sprecher als auch auf die Hörerin bzw. den Hörer haben, z.B. neuerliches Aufflammen der Emotion, Zurückweisung, Empathie. Wenn sie sich auf das direkte Gegenüber beziehen, handelt es sich um Emotive (vgl. Reddy 2001: 105ff.). Eine ähnliche Klassifikation schlägt Daneš (1987: 276) vor. Assertive Sprechakte (Repräsentativa) und Direktiva können also wesentlich emotionaler als Expressiva sein, wenn sie durch Kontextinformationen als indirekte Sprechakte zu identifizieren sind. Beispielsweise ist Ich liebe dich unter Umständen assertiv, direktiv, expressiv oder kommissiv. Bei indirekten Sprechakten - z.B. Schön, dass du kurz vorbeikommst als indirekte Aufforderung, bald wieder zu gehen - sind komplexe Interpretationsprozesse unter Zuhilfenahme verbaler, paraverbaler und nonverbaler Informationskanäle aktiv (vgl. Hielscher 2003b: 691f.). Janney (1996: 305) erstellt ein ‚Modell strategischer emotiver Entscheidungen beim Sprechen‘. Er geht von der Annahme aus, dass bestimmte sprachliche Verfahren sowohl affektiv als auch zweckmäßig (purposeful) sind, während etwa Fluchen oder Stottern nur affektiv und grammatische Anpassungen nur zweckmäßig sind (vgl. Janney 1996: 305). Er verwendet die Vorstellung von Frames (Rahmen) zur Beschreibung der emotiven Wahlmöglichkeiten. Es handelt sich dabei um Regeln und Problemlöseverhalten aufgrund von Erfahrungen mit Gesprächsnormen. Er unterscheidet drei Arten von Subframes: Sprecherrollen-Subframes (S-R) liefern Informationen über Einstellungen des Sprechers zu sich selbst, Sprecher-Inhalts-Subframes (S-C) betreffen Leerstellen in der Formulierung der Beziehung eines Sprechers zu den Inhalten einer Äußerung, Sprecher- Partner-Subframes (S-P) enthalten Slots für Beziehungs-Metainformationen (vgl. Janney 1996: 316-320). Beurteilungsdimensionen wie die Evaluation, die Nähe und die Intensität können sich auf diese verschiedenen Frames beziehen und an der sprachlichen Oberfläche ausgedrückt werden. Beispielsweise kann der folgende Satz hinsichtlich der Subframes und der emotiven Betonungen zerlegt werden (vgl. Janney 1996: 324): Dear Jane (S-P Nähe), I’m sorry (S-R Evaluation), but I (S-R Spezifizierung) am writing (S-R Volitionalität) to tell you (S-R Spezifizierung) that your very (S-C Intensität) interesting (S-C Evaluation) paper on modality (S-C Spezifizierung) has not been (S-C Modalität) accepted for publication in our (S- C Nähe) journal. In der Folge widmet sich Janney (1996: 326f.) emotiven Strategien: Dies sind übergeordnete emotive Muster. Emotive Taktiken dienen einem bestimmten Zweck oder dem Erreichen eines Zieles im Rahmen einer emotiven Strategie. Sowohl prozedurales Wissen, Analogieschlüsse, strategisches Wissen über die <?page no="273"?> 6.6 - Pragmatik: -Sprechakte, -Perlokutionen -und -Normen - 263 Bedingungen einer erfolgreichen emotiven Handlung als auch taktisches Wissen über den Einsatz emotiver Handlungen sind notwendig, um erfolgreich emotive sprachliche Handlungen durchzuführen (vgl. Janney 1996: 329f.). Hier können nicht alle emotiven Strategien, die Janney anführt, wiedergegeben werden. Die Taktiken beziehen sich auf Nähe-Distanz-Verhalten (z.B. durch die Art der Ansprache), Klarheit oder Vagheit (z.B. unklare Referenz), Sicherheit oder Zweifel (z.B. klare oder unklare Quantifizierungen), Selbstbehauptung oder Selbstunsicherheit (z.B. Aktiv versus Passiv), Betonen oder Nicht-Betonen (vor allem prosodisch) sowie positive oder negative Evaluation (vgl. Janney 1996: 346-350). Expressiva Die Definition von Expressiva durch Marten-Cleef (1991: 6) scheint zunächst relativ einfach und wird bereits durch die Benennung dieser Sprechaktklasse angedeutet: „Expressive Sprechakte sind sprachliche Handlungen, mit denen ein Sprecher zu erkennen gibt, wie ihm zumute ist, oder anders ausgedrückt, Sprechakte, die vollzogen werden, um ein Gefühl des Sprechers auszudrücken.“ Der Status von Expressiva ist jedoch umstritten. 72 Wie bereits erwähnt sind nach Searle nur sehr wenige, sehr spezifische Sprechakte zu dieser Klasse zu zählen (z.B. DANKEN, GRATULIEREN, ENTSCHULDIGEN), und zwar nur in der explizit performativen Form (z.B. Ich gratuliere ... - performativer Vorspann + eingebetteter Satz/ nominaler Ausdruck, der die Proposition enthält, vgl. Marten-Cleef 1991: 13, 18). Die konduktiven Äußerungen bei Austin sind weiter definiert und enthalten den Ausdruck von Einstellungen und Mitgefühl. Das Wesentliche ist jedoch, dass Expressiva gerade nicht Emotionen ausdrücken, sondern stark konventionalisierte Formen des Mitteilens, des Signalisierens von Emotionen sind. Langacker (2008: 475ff.) verwendet in seiner kognitiven Grammatik den Terminus expressive in ähnlicher Weise für emotive, expressive und interaktive Äußerungen mit keinem oder geringem deskriptivem Gehalt, die bestimmte Szenarien aufrufen (z.B. Autsch! , aber auch elliptische Formen wie Glückwunsch! ). Eine Abgrenzung gegenüber den repräsentativen Sprechakten ist teilweise schwierig, etwa bei Emotionsthematisierungen: Die Sprecherin bzw. der Sprecher macht eine Aussage über die Welt (repräsentativ), aber sie bezieht sich auf das Innenleben. Die Illokution besteht erstens darin, die psychische Einstellung (z.B. Dankbarkeit) darzustellen, und zweitens darin, die psychische 72 Vgl. Marten-Cleef (1991: 22-29) für einige ältere Ansätze, in denen die Annahme von Expressiva als eigener Sprechakttyp teilweise gänzlich abgelehnt wird; vgl. auch Staffeldt (2007: 102ff.). <?page no="274"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 264 Einstellung dem anderen zu erkennen zu geben (vgl. Marten-Cleef 1991: 21). Dieser zweite Aspekt ist der wichtigere bzw. dem anderen übergeordnet: Für das Gelingen des Sprechakts ist nicht die entsprechende psychische Einstellung erforderlich, sehr wohl aber, dass die psychische Einstellung für die Hörerin bzw. den Hörer ersichtlich wird. Dennoch ist die Wesentliche Bedingung (im sprechakttheoretischen Sinn) die Aufrichtigkeitsbedingung, nicht die Wahrheit des Sachverhalts, der oft bereits bekannt ist und in der Äußerung nicht zwingend thematisiert werden muss - z.B. genügt Entschuldigung! , um den expressiven Sprechakt des Entschuldigens zu vollziehen (vgl. Marten-Cleef 1991: 13). Staffeldt (2007: 104ff.) hebt hervor, dass das Ergebnis eines Sprechaktes von seiner Folge getrennt werden muss, was bei der Definition von Expressiva teilweise nicht konsequent getan wird. Expressiva sind auf den Geist der Hörerin bzw. des Hörers ausgerichtet - es werden nicht Emotionen als interne Zustände ausgedrückt, sondern Beziehungen zu Sachverhalten hergestellt, die H betreffen. Die Klassifikation von Expressiva (vgl. Marten-Cleef 1991: 42-48 für einen Forschungsüberblick über ältere Klassifikationen) fällt entsprechend unterschiedlich aus. Während z.B. DANKEN und GRATULIEREN manchmal zu den Deklarativa gezählt werden, werden JAMMERN und KLAGEN teilweise als konventionell betrachtet, von Austin beispielsweise aber nicht als eigenständige Illokution anerkannt (vgl. Marten-Cleef 1991: 35f.). Marten-Cleef (1991: 51ff., 56) legt eine umfangreiche Arbeit über Expressiva vor und legt fest, dass ein wichtiges Kriterium für die Definition von Expressiva die Selbstbetroffenheit, aber auch Objektbezogenheit ist - dieser Art von Sprechakten liegt eine Wertung eines Sachverhalts zugrunde, und zwar mit einem zeitlichen Bezug zur nahen Vergangenheit, Gegenwart oder nahen Zukunft. Sie müssen jedoch keine Proposition haben. Expressiva erfolgen spontan und sind primär expressiv - deswegen wäre eine Todesanzeige, die hauptsächlich informativ ist, kein expressiver Sprechakt (vgl. Marten-Cleef 1991: 85, 87). Als Abgrenzung von Bewertungen kann Marten-Cleef (1991: 90) zufolge das Kriterium gelten, dass Expressiva „eine Bewertung zwar beinhalten, das mit ihnen verfolgte Kommunikationsziel aber nicht im Ausdrücken dieser Bewertung besteht“ (beispielsweise ist So ein Mist! ein Expressivum, Du bist sehr unkonzentriert als Bewertungs-Information aber nicht). Für ihre Klassifikation zieht Marten-Cleef (1991: 73ff.) Clusteranalysen heran und nimmt an, dass auch die Sprechhandlungstypen des Emotionsausdrucks in begrenzte Klassen einzuteilen sind. Eine grundlegende Unterscheidung ergibt sich daraus, ob der bewertete Sachverhalt auf Sprecher-Präferenz (Freude, Sehnsucht, Zuneigung) oder Sprecher-Aversion (Traurigkeit, Unruhe, Abneigung, Aggressionslust, Neid, Verlegenheit, Angst, Mitgefühl) stößt. <?page no="275"?> 6.6 - Pragmatik: -Sprechakte, -Perlokutionen -und -Normen - 265 Die folgenden Sprechakte sind nun nach Marten-Cleef (1991: 79, Erläuterungen 74-81) als Expressiva einzustufen, auf die genauere Unterteilung wird hier verzichtet: KOMPLIMENT ÄUSSERN, GRATULIEREN, GUTER WUNSCH (WOHL- ERGEHEN/ GELINGEN), WILLKOMMEN HEISSEN, SPRACHLICHER GUNSTERWEIS, DANKEN, SPOTTEN, TRIUMPHIEREN, ANTIPATHI- SCHER WUNSCH, FROHLOCKEN, JUBELN, HOFFNUNG ÄUSSERN, MITLEID BEKUNDEN (BEDAUERN/ KONDOLIEREN), SORGE BEKUN- DEN, SICH ENTSCHULDIGEN, KLAGEN, SCHIMPFEN, KRITTELN, JAMMERN, FLUCHEN, ANGST ÄUSSERN Marten-Cleef (1991: 105-120; Überblick auf 121) unterscheidet ferner sechs Muster der sprachlichen Realisierung von Expressiva: 1) Der performative Gefühlsausdruck erfolgt mit deklarativ-performativen Formeln oder elliptischen Formen und wird meist bei Komplimenten, beim GRATULIEREN und DANKEN angewendet. 2) Ein Empfindungsausdruck wird vor allem mit Interjektionen oder einfachen Ausrufen realisiert (z.B. Ach, du grüne Neune! ). 3) Man kann auch explizit sagen, wie man sich fühlt, hier muss ein Emotionswort angewendet werden (z.B. Ist das eine Freude! ). 4) Ein Hinweis auf die Fakten kann expressiv sein (z.B. Ich habe gewonnen! ). 5) Bewertungen mit einfachen Aussagesätzen oder W-Ausrufesätzen sind wie oben erwähnt expressiv, wenn sie den Sprecher, den Adressaten oder ein Objekt auf emotive Art bewerten (z.B. Sauwetter! , Ich Trottel! ). 6) Auch Reaktionen auf Fakten können expressiv sein, vor allem wenn die Reaktionen heftig ausfallen (z.B. Das zieht mir jetzt aber die Schuhe aus! ). Dieser Fassung widerspricht Weigand (2003: 129), die Expressiva im Searle’schen Sinne zum Teil eher den Deklarativa zuordnet, weil sie stark konventionalisiert, ja, floskelhaft sind und keine Einstellung zum Ausdruck bringen müssen. Sie unterscheidet Konstative, mit denen Gefühle ausgedrückt werden, und Expressive: „Gefühle ausdrückende Konstative stellen entweder das Gefühl an sich fest [...] oder das Gefühl als Prädikation über einen Weltausschnitt“ (Weigand 2003: 153). In bestimmten Fällen können diese Konstative auch als Deklarative gewertet werden (z.B. Liebesbekenntnis, Ausdruck der Reue vor Gericht). Expressive Sprechakte werden von Weigand (2003: 112) als Sprechakte definiert, „bei denen der Sprecher von einem Sachverhalt überwältigt ist und seinen Gefühlen freien Lauf lässt“. Diese Sprechakte werden beispielsweise mit Exklamativsätzen, Interjektionen und Flüchen realisiert. Übertreibungen und spätere Rücknahmen sind bei diesen Sprechakten typisch (vgl. Weigand <?page no="276"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 266 2003: 113, 154f.). Expressiva treffen laut Weigand (2003: 40ff.) eine Aussage über den internen Zustand des Sprechers und sind insofern als Unterklasse der Repräsentativa zu betrachten. Wie alle Sprechakte zielen Expressiva auf die Empathie des Gegenübers ab. Dieser Punkt bietet sich als Überleitung zu den emotiven perlokutionären Effekten an. Emotion -als -Perlokution Die bisher immer wieder vorgenommene Trennung zwischen dem Manifestieren und dem Hervorrufen von Emotionen muss auch im Rahmen der Pragmatik fortgesetzt werden (vgl. Sbisà 1990: 280). Ersterer Aspekt ist in der Illokution zu suchen, Letzterer in der Perlokution. Während die Theoriebildung bei Illokutionen umfangreich ist, werden Perlokutionen sehr uneinheitlich definiert und selten systematisch behandelt (vgl. Staffeldt 2007: 13, 19, 23). Hier können nur einige allgemeine Bemerkungen erfolgen. Unter Perlokution versteht Austin das Erreichen eines Ziels, die Wirkung auf Gefühle, Gedanken und Handlungen, also etwas Außersprachliches (vgl. Staffeldt 2007: 31). Das Abgrenzungskriterium zwischen Illokution und Perlokution ist, dass die Perlokution nicht konventionell ist, während die Illokution ein konventionalisiertes Ergebnis hat (vgl. Staffeldt 2007: 25f.). Der Terminus Perlokution wurde in der Nachfolge von Austin immer wieder abweichend definiert (vgl. Staffeldt 2007 für einen Forschungsüberblick). Bei Searle ist der perlokutionäre Akt als gleichwertiger Teilakt neben dem lokutionären und illokutionären Akt nach Staffeldt (2007: 29) „derjenige Akt, der vom Sprecher mit dem Plan, der Absicht, zu dem Zweck ausgeführt wird, Wirkungen auf die Gefühle, Gedanken oder Handlungen bei sich, der Hörerschaft oder Dritten auszuüben“. Manche Linguistinnen und Linguisten lehnen die Perlokution als Teil des Sprechakts gänzlich ab: Es gebe nur perlokutionäre Effekte, aber keine perlokutionären Akte (vgl. Weigand 2003: 12; Büscher 1995: 34f., 29-42 für eine ausführliche Diskussion des Perlokutionskonzeptes). Als Kompromiss kann Weigand (2003: 12f.) folgend vorgeschlagen werden, perlokutionäre Effekte als nicht-konventionelle, psychische Prozesse bei Hörerinnen und Hörern zu definieren, während perlokutionäre Akte an bestimmte Erwartungen und Konventionen gebundene reaktive Sprechakte sind (z.B. Versprechen oder Zurückweisungen nach Drohungen). Allerdings sind weder Perlokutionen noch perlokutionäre Effekte vollkommen beliebig - es gibt zumindest üblichere/ erwartbare und weniger übliche/ nicht erwartbare Möglichkeiten der Reaktion (vgl. Büscher 1995: 48). Staffeldt (2007: 119-123) knüpft in seinem eigenen Ansatz die Perlokution an die Illokution: Für die Perlokution gelten dieselben Erfüllungsbedingungen und Aufrichtigkeitsbedingungen wie für die Illokution. So lassen sich für die Sprechakttypen Assertiva, Direktiva und Expressiva hinsichtlich der Illokuti- <?page no="277"?> 6.6 - Pragmatik: -Sprechakte, -Perlokutionen -und -Normen - 267 on bestimmte Sprecher/ -innen-Intentionen formulieren, die hinsichtlich der Perlokution bestimmten H-Zuständen entsprechen. Beispielweise entspricht bei Kommissiva die Verpflichtung von S, etwas zu tun, dem Interesse von H und bewirkt bei H eine bestimmte Emotion. Die intendierte Wirkung eines Sprechakts betrifft unterschiedliche Bereiche: Sie kann sich auf das Fühlen, das Denken oder das Handeln von Rezipientinnen und Rezipienten beziehen (vgl. Staffeldt 2007: 19, 133). Die drei Perlokutionsklassen heißen entsprechend EMOTIONAL, EPISTEMISCH und MOTIVATIONAL (vgl. Büscher 1995: 40f. für eine ähnliche Klassifikation). Staffeldt (2007: 175-185) ordnet die emotionalen perlokutionären Kräfte nach dem Kriterium der Scherzhaftigkeit (Iocativa) bzw. Ernsthaftigkeit (Seriativa). Iocativ ist beispielsweise NECKEN und SPOTTEN. Die Seriativa sind feiner unterteilt - dazu gehören unter anderem Effekte, die positive Gefühlszustände bewirken (z.B. BEGEISTERN, BERUHIGEN) oder negative (z.B. BEUNRUHIGEN, ANEKELN), Rufschädigungen (z.B. VERLEUMDEN), Würde- und Ehrverletzungen (z.B. DEMÜTIGEN, BELEIDIGEN) und Misshandlungen (z.B. PIESACKEN). Für die Emotionslinguistik stellt sich die Frage, wie Gefühle von Sprechakten ausgelöst werden können; im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist dies jedoch von untergeordnetem Interesse. Über die Reaktionen im emotionalen Bereich legt Zillig (1982b: 320) einige theoretische Überlegungen vor. Er hebt hervor, dass die Perlokution aus Sicht der Sprecherinnen und Sprecher entscheidender ist als die Illokution: „Sprecher warnen nicht, damit ein anderer gewarnt ist, sondern um durch ihre Warnung eine Handlung zu verhindern.“ Er sieht grundsätzlich zwei Wege, worauf das Auslösen einer Handlung durch einen Sprechakt beruht (vgl. Zillig 1982b: 325): 1) Sp2 (Sprecher 2) verfügt durch die sprachliche Handlung von Sp1 (Sprecher 1) über mehr Informationen. 2) Bei Sp2 wird durch die sprachliche Handlung von Sp1 eine Emotion hervorgerufen. Dass der perlokutionäre Effekt dennoch nicht vorhersagbar, also nicht konventionell ist, beruht wiederum auf zwei Aspekten: Erstens hat Sp2 immer noch einen Reaktionsspielraum und zweitens einen spezifischen Charakter, womit nicht der Charakter im psychologischen Sinn gemeint ist, sondern alle Faktoren, die sich auf das Verhalten von Sp2 auswirken (vgl. Zillig 1982b: 321, 325). Zillig (1982b: 324, 336ff., 342, 345f.) unterscheidet in der Folge mehrere Klassen von perlokutionären Effekten. Zentral sind die perlokutionären Effekte erster Ordnung, die auf folgenden Aspekten beruhen: auf Informationshandlungen (Emotionsauslösung aufgrund der berichteten Sachverhalte), auf <?page no="278"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 268 dem illokutionären Akt (z.B. Reaktion auf eine Bitte) oder auf Annahmen über Ehrlichkeit, Offenheit und Intention von Sp1. Die perlokutionären Effekte zweiter und dritter Ordnung betreffen den weiteren Verlauf. Ein anderer wichtiger Aspekt ist nach Büscher (1995: 43f., 49ff.), dass das Glücken des perlokutionären Aktes oft davon abhängig ist, dass die Rezipientinnen und Rezipienten die intendierte Perlokution nicht erkennen, manchmal jedoch genau umgekehrt davon, dass sie diese erkennen. Indirekte Sprechakte (z.B. rhetorische Fragen, vgl. von Polenz 1985: 201f.) können sowohl eine Sprechereinstellung zum Ausdruck bringen als auch emotionale Wirkungen entfalten. Intendierte Effekte können eintreten oder ausbleiben, ebenso können nicht-intendierte oder gar keine Effekte einsetzen. 6.6.2 - Normen, -Maximen -und -Verstöße Etikette und gutes Benehmen, aber auch Regelverstöße sind ein wichtiges emotives Phänomen im Gespräch. Emotionen werden ausgedrückt, aber auch hervorgerufen. In diesem Abschnitt wird auf einige emotionslinguistisch relevante Aspekte aus dem erweiterten Bereich der Pragmatik eingegangen: auf Argumentationsstrukturen, auf Höflichkeit, auf negativ-valente Sprechakte (wie Fluchen, Schimpfen, Beleidigen) und auf Konversationsmaximen. Argumentieren Fiehler (1992: 151ff.) geht genauer auf Emotionen in der Argumentation und in Streitgesprächen ein. Emotional zu argumentieren kann ein Argumentationsstil sein. In Streitgesprächen werden häufig Bewertungen abgegeben, die sich auf die Position des Gegenübers beziehen, aber auch direkt auf die Person, die diese Position vertritt. Wird primär auf die sachlichen Aspekte hin argumentiert (also auf Positionen), handelt es sich um ein eher ruhiges Gespräch, bei Argumentation in Richtung von Personen besteht die Gefahr einer emotionalen Auseinandersetzung und einer Eskalation (vgl. Fiehler 1992: 154). Sprecherinnen und Sprechern stehen vielfältige Möglichkeiten zur Verfügung, differierende Positionen zu kommunizieren: z.B. die explizite Thematisierung des Positionsgegensatzes (z.B. Ich bin gar nicht deiner Meinung), eine Bewertung der Position durch Thematisierung und/ oder Ausdruck (z.B. Das ist doch eine merkwürdige Auffassung - implizit; Was du da sagst, macht mich ziemlich sauer - Bewertung durch Erlebensthematisierung; Ach, papperlapapp! - Bewertung durch Erlebensausdruck), aber auch eine Bewertung der Person, die eine Position vertritt, durch Thematisierung und/ oder Ausdruck (z.B. Du bist ein Vollidiot; Du enttäuschst mich). Dazu Fiehler (1992: 155): „In dem Maße, wie die Interagierenden beim Austragen von Gegensätzen die entsprechenden Mittel einsetzen, wird eine Auseinandersetzung emotionalisiert oder versachlicht.“ Besonders emotiona- <?page no="279"?> 6.6 - Pragmatik: -Sprechakte, -Perlokutionen -und -Normen - 269 lisierend wirken der Gebrauch von Interjektionen und der Vorwurf des Lügens (vgl. Fiehler 1992: 157ff.). Weitere wichtige Aspekte von Streitgesprächen, die emotional geprägt sind, sind Übertreibung, Wiederholung und die Turn-Organisation (vgl. Fiehler 1992: 160ff.). Auch Gilbert (2001: 239) sieht Emotionen als zentralen Aspekt pragmatischer Beschreibungen von Argumentationsstrukturen: Emotionen fließen immer in die Argumentation ein, ihre Ausprägung in der Interaktion liefert wichtige Hinweise für die Analyse. Argumente können emotionale Aspekte bzw. Inhalte/ Bezugnahmen, Rechtfertigungen und Forderungen beinhalten. Emotionen werden entweder direkt Gegenstand eines Gespräches oder indirekt vermittelt, wobei implizite Emotionen in der Argumentation besonders relevant sind (vgl. Gilbert 2001: 240). In Fällen der impliziten Emotionskommunikation ist die emotionale Kompetenz für das Entschlüsseln gefragt; bei offener Emotionskommunikation sind Emotionen Gegenstand der Diskussion, was beispielsweise bei Entschuldigungen wichtig für die Glaubwürdigkeit ist - das Gelingen einer Reihe von Sprechakten hängt von der angemessenen Einbindung von sprachlichen Hinweisen auf das emotionale Erleben ab (vgl. Gilbert 2001: 240ff.). In der traditionellen Auffassung (Logik, Rhetorik), die dem rationalen Paradigma zuzurechnen ist, handelt es sich bei emotionalen Argumenten um unzulässige Mittel, um logische Fehlschlüsse (fallacies, vgl. Walton 1992: 67). Sie haben außer bei manchen ethischen Fragen keinen Platz in einer kritischen Diskussion, da sie rationale Argumente vernebeln. Walton (1992: 1, 25ff.) hingegen geht davon aus, dass Formen des emotionalen Argumentierens nicht per se negativ zu bewerten sind. Dass emotionale und emotionalisierende Strategien (appeals to emotion, emotional appeals) missbräuchlich verwendet werden können, macht sie nicht in jedem Kontext unangebracht - unter bestimmten Voraussetzungen sind sie nicht nur zulässig, sondern als positive Beiträge zur Auseinandersetzung zu bewerten, sogar als rational, wenn sie dem Ziel der Diskussion zuträglich sind. Walton untersucht klassische Argumentationsstrategien - Argumentum ad populum, Argumentum ad hominem etc. - und legt Bedingungen fest, unter denen ihr Gebrauch unzulässig oder zulässig ist. Beispielsweise ist ein Argumentum ad hominem (persönlicher Angriff auf den Charakter von Personen) unzulässig, wenn sie nur zur Vergiftung des Gesprächsklimas beitragen oder Unterstellungen enthalten, aber sie sind legitim, wenn man einwandfreie Quellen verwendet und wenn sonst zu wenige Fakten feststehen (vgl. Walton 1992: Kap. 6; vgl. auch Kienpointner 2008: 248f.). Walton (1992: 256f.) nennt schließlich noch emotionale Appelle in Diskussionen, die auf Vorannahmen (bias) beruhen und nur in bestimmten Kontexten (un)zulässig sind: <?page no="280"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 270 Halte dich von furchterregenden Dingen fern! Richte dich nach der populären Meinung! Handle deinen Sympathien entsprechend! Stelle Äußerungen von unehrlichen Menschen mit schlechtem Charakter infrage! Wesentlich für richtiges Argumentieren ist der kritische Zweifel gegenüber den unvermeidlichen Vorannahmen und emotionalen Einstellungen (vgl. Walton 1992: 269). Höflichkeit -und -Unhöflichkeit Die Höflichkeitsforschung kann in verschiedene Zweige eingeteilt werden: erstens in Ansätze zur Formulierung von Konversationsmaximen (Grice), zweitens normative Zugänge (vor allem in der Sprachdidaktik), drittens Face- Ansätze mit der Frage nach der Universalität und viertens pragmatische Theorien, die Höflichkeit als Kontrakt zwischen Sprecher/ in und Hörer/ in ansehen (vgl. Vorderwülbecke 2001: 29-33). Die Konversationsmaximen nach Grice werden weiter unten besprochen. Die Kernfrage lautet in allen Fällen, ob und welche Emotionen sprachlich auszudrücken oder zurückzuhalten sind (vgl. Hübler 1998: 10f.). Die mittlerweile klassische Höflichkeitstheorie von Brown und Levinson (2008 [1978]) bietet nur teilweise Anknüpfungspunkte für die Emotionslinguistik. Die Face-Theorie geht dabei weit über Fragen nach Höflichkeit hinaus: Der Wunsch des Individuums, sowohl das positive als auch das negative Gesicht zu wahren, ist ein grundlegendes emotionales Bedürfnis und hat viele Konsequenzen für die sprachliche Expressivität, etwa für Regeln der Emotionalität (s. Kap. 5). Zudem geht es in der Theorie vor allem um Strategien, die eigenen Interessen zu wahren (vgl. Janney 1996: 295f.). Mit dem Unterdrücken oder mit dem Ausleben von Gefühlen können verschiedene Gesichtsbedrohungen verbunden sein. Das positive Gesicht - das Bedürfnis nach einem positiven, konsistenten Selbstbild - und das negative Gesicht - das Bedürfnis nach Freiheit im weitesten Sinne - werden durch face-threatening acts (FTA) auf unterschiedliche Art und Weise bedroht (vgl. Duck/ McMahan 2010: 43); das positive Gesicht vor allem durch eine negative Evaluation, beispielsweise durch das Äußern von Missfallen, Kritik, Verachtung, Beschwerden, Rügen, Anklagen, Beleidigungen, Widerspruch etc. Doch auch das Demonstrieren von Missachtung oder Gleichgültigkeit bedroht das positive Gesicht eines Kommunikationspartners, etwa durch den Ausdruck gewalttätiger Emotionen (Erzeugen von Angst, Beschämung), Pietätlosigkeit (z.B. Tabuwörter), das Verbreiten negativer Neuigkeiten über H, Angeben, Einbringen gefährlicher emotionaler Themen (z.B. Politik, Religion, Gleichberechtigung) und Nicht-Kooperation (z.B. <?page no="281"?> 6.6 - Pragmatik: -Sprechakte, -Perlokutionen -und -Normen - 271 Unterbrechen, Unaufmerksamkeit, Themensprung) (vgl. Brown/ Levinson 2008: 66f.; Janney 1996: 296ff.). Das negative Gesicht hingegen wird von Anweisungen, Ratschlägen, Warnungen usw. bedroht oder durch den Ausdruck von Wünschen (z.B. Neid, Bewunderung) (vgl. Brown/ Levinson 2008: 65f.). Die verschiedenen Strategien für FTAs haben unterschiedliche emotionale Auswirkungen: Je stärker der intendierte FTA, desto größer ist auch das Risiko des Gesichtsverlustes. Obwohl Modellpersonen grundsätzlich versuchen, FTAs zu vermeiden, können diese auch bewusst eingesetzt werden (bald on record, vgl. Brown/ Levinson 2008: 59ff.). Bei dieser Art des FTA ist die Gefahr des Gesichtsverlusts hoch, während Formen off record (z.B. indirekte Sprechakte) wenig gesichtsbedrohend sind. Große Machtunterschiede, Distanz und Zumutungen können sowohl negative als auch positive Emotionen hervorrufen - teilweise ist dies kulturabhängig. Gerade gesichtsbedrohende Akte (Face Threatening Acts - FTAs) haben häufig mit Emotionen zu tun, wie Hickey (1990: 124ff., 130f.) ausführt. Beispielsweise ist es ein FTA, Personen dazu zu bringen, Regeln der Emotionalität zu brechen, z.B. eine Emotion zu empfinden oder zu zeigen, die nicht angemessen ist. Die Thematisierung von vergangenen oder gegenwärtigen Emotionen ist jedoch mit weniger Restriktionen behaftet als der Emotionsausdruck. Das heißt, eine Äußerung wie Ich bin sehr wütend wird eher akzeptiert als das überdeutliche Zeigen dieser Erregung. Allgemein werden FTAs weniger bedrohlich, wenn sie auf wenig emotionale Weise ausgeführt oder von Warnungen und Entschuldigungen eingeleitet werden (in Form von Ich will dich nicht unter Druck setzen, aber ...). Nun zu allgemeineren, nicht an eine bestimmte Theorie gebundenen Aspekten von Höflichkeit. Kienpointner (2008: 245, 249) definiert Unhöflichkeit anhand folgender Merkmale: • Unkooperatives oder kompetitives kommunikatives Verhalten • Destabilisierung zwischenmenschlicher Beziehungen mit dem Effekt, dass die Auswahl oder das Erreichen eines Ziels erschwert wird • Emotionale Atmosphäre gegenseitiger Missachtung oder Abneigung • Einschränkung der Kommunikation durch Dominanz von Macht, Distanz, emotionalen Einstellungen und Kosten-Nutzen-Rechnungen • Einsatz von unhöflichen Strategien: z.B. bald on record, Face- Verletzungen, offensichtliche Unaufrichtigkeit bei oberflächlicher Höflichkeit, Schweigen, Missachten von Regeln der Höflichkeit Allerdings ist Höflichkeit bzw. Unhöflichkeit sehr komplex, da es - wie aus der Aufzählung bereits hervorgeht - stark von Kontextbedingungen abhängt, was als höflich oder unhöflich verstanden wird. Hier offenbaren sich unterschiedliche ‚Höflichkeitsstile‘, also nach Lüger (2001: 9f.) „die jeweilige Art <?page no="282"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 272 und Weise, mit der Textproduzenten einer bestimmten kulturellen oder sozialen Gruppe die kommunikative Aufgabe, dem bzw. den Adressaten nicht unhöflich zu begegnen, konkret zu lösen versuchen“. Dabei müssen die Art der Formulierung, der Kontext und die Verknüpfung mit den anderen Äußerungen berücksichtigt werden (vgl. Lüger 2001: 8). Lüger (2001: 16ff.) führt folgende sprachliche Mittel und Verfahren als Manifestationen von Höflichkeit (oder Unhöflichkeit) an: • Anredeverhalten (z.B. du gegenüber Sie) • Formulierungsverfahren für Aufforderungen (von sehr direkt bis sehr indirekt, z.B. Du leihst mir das Buch gegenüber Könntest du mir bitte mal das Buch leihen? ) • Widerspruch und Ablehnung (abgeschwächt oder nicht abgeschwächt) • Negativbewertungen (direkt oder relativiert) Wichtig sind zudem Formen der Konfliktvermeidung (z.B. Themenwechsel) (vgl. Lüger 2010). Überwiegend handelt es sich um Formen, die über einzelne Sätze hinausgehen, also um textuelle Phänomene. In einer Arbeit zu unhöflichen im Sinne von kompetitiven Verwendungsweisen von Abtönungs-, Grad- und Steigerungspartikeln stellt Kienpointner (2003: 77ff.) dar, wie mit kleinen Wörtern stark gesichtsbedrohende, ja, destruktive Strategien verfolgt werden können: beispielsweise durch verletzende Ironisierung (z.B. mit besonders) oder indem inhaltlich der Konflikt verschärft wird (z.B. Sie wollen ja nur Klagen provozieren). Höflichkeit und Unhöflichkeit bilden also ein Kontinuum mit vielen Abstufungen und Übergangsformen. Unhöflichkeit ist kein markiertes, sekundäres Phänomen, sondern in manchen Kommunikationssituationen wie z.B. im Gerichtssaal oder in politischen Debatten durchaus normal (vgl. Kienpointner 2008: 244). Die emotionalen Auswirkungen sind unterschiedlich und auch unterschiedlich intensiv: Beispielsweise ist ritualisiertes Beschimpfen weniger emotional bedeutsam als aggressive Unhöflichkeit in kompetitiven Situationen. Manche Unterformen von emotionalen Argumenten, bei denen sowohl eine Täuschungsabsicht vorliegt als auch sehr unhöflich vorgegangen wird, sind destruktiv. Allerdings sind nicht alle unhöflichen Strategien und Täuschungen emotiv und umgekehrt nicht alle negativen emotionalen Argumente unhöflich (vgl. Kienpointner 2008: 248f.). Verbale -Aggression: -Pejorativa, -aggressive -Sprechakte, -Tabus Verbale Aggression (vgl. Havryliv 2009 für einen Forschungsüberblick) tritt in vielen Formen auf - sie ist weniger sanktioniert als physische Gewalt und kann eingesetzt werden, um intellektuelle Überlegenheit auszudrücken, aller- <?page no="283"?> 6.6 - Pragmatik: -Sprechakte, -Perlokutionen -und -Normen - 273 dings auch Unterlegenheit. Kiener (1983: 14) unterscheidet zwei übergeordnete Formen von verbaler Aggression: 1) Aggression, bei der die kognitive Komponente überwiegt (‚Signifikativ- Funktion‘, z.B. begründete Kritik). 2) Aggression, bei der die ‚Expressiv-Funktion‘ überwiegt und vor allem stark emotional konnotierte Wörter verwendet werden (z.B. Interjektionen), oft auch mit ungewöhnlicher Syntax. Außerdem kann zwischen offener oder verdeckter und direkter oder verschobener Aggression unterschieden werden (vgl. Havryliv 2009: 25). Kiener (1983: 32, 35, 38-44, 53-61, 67-107 für nähere Beschreibungen) nennt sechs grundlegende Kategorien von Aggression: Angriffe aufgrund von Normverletzungen (z.B. Tadeln), heimtückische verbale Angriffe (z.B. Verdächtigen, Verleumden), anprangernde Angriffe (z.B. Bloßstellen), Drohungen (z.B. Herausfordern), störendes Verbalverhalten (z.B. Lärmen, Taktlosigkeit) und Lächerlichmachen (z.B. Nachäffen). Aggressive Satzformen sind nach Kiener (1983: 174-180) und Havryliv (2009: 21f., 62ff.) beispielsweise: • bestimmte Redensarten (z.B. Rutsch mir den Buckel runter! ) • unschmeichelhafte Vergleichssätze (z.B. dumm wie Bohnenstroh) • bildhafte Abwertungen (z.B. Du typischer Hutfahrer) • Emotionsthematisierungen (z.B. Mich zerreißt’s gleich) • begleitende Äußerungen, die Überraschung, das Ende der Geduld, Beruhigungen oder Abwehr signalisieren (z.B. Und Schluss! ) Ein wichtiges Merkmal aggressiver Sprechakte ist, dass sie nicht explizit performativ vollzogen werden können (z.B. *Hiermit beleidige ich Sie, vgl. Krämer 2007: 35). Auch weitere indirekte Hinweise auf Aggressivität sind an der Satzoberfläche auszumachen: Bei starker Erregung zeigen sich mehr Anakoluthe, eine Vereinfachung der Sprache, Einengung der Wortwahl, kurze, nebengeordnete Sätze, Überlappungen, Wiederholungen, Exklamativa und absolute Intensivierung (z.B. nie, immer). In welcher Situation bzw. in welchem Kontext und auf welche Weise verbale Aggression eingesetzt wird, ist abhängig von der Stilebene (z.B. Textsorte, varietätenlinguistisch) und von sozialen Aspekten (z.B. situativ, sozio-ökonomischer Status, rollen- und gruppenspezifische Einstellung, Alter) (vgl. Kiener 1983: 183-210; Havryliv 2009: 26-30). Einen bedeutenden Platz im Bereich der verbalen Aggression und folglich auch in ihrer Erforschung nimmt das Schimpfen ein (vgl. Holod 1998 für einen Überblick). Vor allem die formalen und pragmatischen Aspekte von <?page no="284"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 274 Schimpfwörtern sind gut erforscht. Schimpfwörter - linguistisch auch den Pejorativen (Abwertungen) und Invektiven (Beleidigungen) zugeordnet - beruhen meist auf konnotativen Bedeutungsaspekten bestimmter Wörter, z.B. dass Schweine schmutzig seien und Schwein! daher eine effektive Beleidigung ist (vgl. Löbner 2002: 49; Kiener 1983: 165f.). Die pejorative Komponente kann sich auch erst langsam entwickeln (vgl. Kiener 1983: 15). Dagegen gibt es auch Kraftausdrücke (z.B. Kerl, Typ, Weib), die eine deskriptive Bedeutung in Kombination mit einem expressiven Bedeutungsanteil aufweisen. Im Gegensatz zu Schimpfwörtern können sie auch positive Bewertungen signalisieren (vgl. Löbner 2002: 46). Die Funktion von Kraftausdrücken und Schimpfwörtern besteht einerseits in der kathartischen Entladung starker Erregung aufseiten der Sprecherinnen und Sprecher, andererseits in der Veränderung des emotionalen Zustands der Hörerinnern und Hörer (vgl. Fomina 1999: 48). Somit gehören Schimpfwörter für Havryliv (2009: 33) zur „emotiven Lexik“. Sie sind zwar per se emotional, aber die Intensität dieser negativen Wirkung ist vom Gebrauchskontext abhängig (z.B. ernsthafter vs. scherzhafter Gebrauch, vgl. Kiener 1983: 15). Es gibt mehr und kreativere Formen pejorativer als meliorativer (aufwertender) Art, weil Abweichungen von der positiven Norm ein größeres Ausdrucksbedürfnis nach sich ziehen. Semantisch unterscheidet Havryliv (2009: 40ff.) Personenschelten (oft metaphorisch oder metonymisch z.B. Esel, Dumpfbacke), Regional- und Nationalschelten (z.B. Piefke), Berufs- und Sachschelten (z.B. Bullenschwein) oder Beschimpfungen auf der Grundlage eines Wertsystems (z.B. Schmarotzer). Sie analysiert Schimpfwörter morphologisch und lexikalisch sehr detailliert und unterscheidet Pejorativa, die aufgrund der denotativen Bedeutung negative Einschätzungen und Emotionen nahelegen (z.B. Arschkriecher) von ‚Affektiva‘, deren negative Bedeutung durch Weltwissen und aufgrund von konventionellen Bewertungsmaßstäben zugeschrieben wird (z.B. Äußeres, Alter, Beruf, Geschlecht). Alle Arten der Wortbildung finden Anwendung, etwa Affigierung (z.B. Dichterling), Komposita (z.B. Dummschwätzer), Konversion (z.B. Depperter) und Zusammenrückungen (z.B. Gehscheißen) (vgl. Havryliv 2009: 47ff.; ihre Probandinnen und Probanden stammen aus Wien). Aggressive Sprechakte sind Beschimpfen, Fluchen, Verwünschen, Drohen und aggressives Auffordern. Das Ziel solcher Akte ist nicht oder nicht nur die Herabsetzung und Schädigung des anderen zugunsten der eigenen Aufwertung (vgl. Havryliv 2009: 22f.). Beschimpfungen werden für gewöhnlich im Zustand der emotionalen Erregung ausgesprochen und haben vor allem die Funktion, sich abzureagieren oder den Adressaten zu kränken (vgl. Havryliv 2009: 72f.). Fluchen übernimmt vielfältige emotionale Funktionen: ‚Dampf ablassen‘, Anzeigen des sozialen Status, von Nähe und Distanz, Intensivierung einer emotiven Äußerung, Erstaunen und Erschrecken, ferner Schädigung des <?page no="285"?> 6.6 - Pragmatik: -Sprechakte, -Perlokutionen -und -Normen - 275 Adressaten (z.B. Verfluchen, Wortmagie), aber auch Kommunikation in scherzhafter Modalität (vgl. Havryliv 2009: 87, 94f., 118; Hammer 2004: 278- 284; Kiener 1983: 211f.). Flüche, Schimpfwörter und obszöne Sprache sind stark tabuisiert, gleichzeitig konventionalisiert und idiosynkratisch (vgl. Hammer 2004: 275f.). Sprachliche Tabus betreffen unter anderem als primitiv konnotierte menschliche Bedürfnisse, das Sprechen über Geld, Tod, Geschlechtlichkeit sowie Namen religiöser und mythologischer Figuren (z.B. Gott, Teufel, Dämonen, vgl. Hayakawa 1993: 89ff.; Havryliv 2009: 151). Krämer (2007: 36f., 43f.) zufolge liegt unsere Verletzbarkeit durch aggressive oder sogar gewaltsame sprachliche Handlungen in unserer ‚Doppelkörperlichkeit‘ begründet: Wir haben einen physischen und einen sozialen Körper, sodass wir auf doppelte Art und Weise - in einem physischen und in einem sozialen Raum - verletzt werden können. Aus linguistischer Sicht beruht dies auf sprachlichen Verfahren der Verdrängung durch Grenzziehungen, z.B. durch Stereotypisierungen, Abwertungen und Rollenzuweisungen. 73 Witze, -Humor, -Ironie, -Sarkasmus Humor ist ein nur am Rande emotionaler Aspekt der Sprache, der in der vorliegenden Arbeit nur als grobe Kategorie berücksichtigt werden kann. Eine knappe Zusammenfassung bietet Hielscher (2003b: 689): „Aus emotionspsychologischer Sicht könnte man den emotionalen Verlauf des Witzverstehens vielleicht über das Moment der Überraschung bei einer wahrgenommenen Inkohärenz des Verstandenen, gefolgt von Erleichterung oder Freude über die gelungene kognitive Auflösung fassen.“ Ferner ist Humor -z.B. in Form von Anekdoten, gemeinsamen Erinnerungen an lustige Erlebnisse und Wortspielen - eine wichtige Größe in der emotionalen Kommunikation, da er die allgemeine Stimmung verbessern, aber auch verschlechtern kann (z.B. wenn er als unwillkommene Ablenkung verstanden wird, vgl. Hielscher 2003b: 690). Witze und andere Formen des Humors sind also hauptsächlich Rezeptionsemotionen zuzuordnen. Ironie bedeutet vorrangig, etwas anderes als das Gemeinte oder das Gegenteil des Gemeinten zu sagen; manchmal werden für die Definition auch unaufrichtiges Loben oder andere Formen von Spott herangezogen. Es handelt sich somit um konversationelle Implikaturen (vgl. Groeben/ Scheele 2003: 735f.). Ironiesignale können mehr oder weniger deutlich sein oder auch ganz fehlen. In schriftlichen Texten sind sie oft schwerer zu erkennen (vgl. 73 Vgl. den Sammelband von Herrmann et al. (2007) für weitere Auseinandersetzungen mit dem Themenkomplex ‚sprachliche Gewalt‘. <?page no="286"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 276 Skirl/ Schwarz-Friesel 2007: 17). Groebe und Scheele (2003: 747) unterscheiden vier Arten von Ironie: 1) Liebevolle Ironie: Die durch diese Form von Ironie geäußerte Kritik ist eigentlich eine ‚positive Stellungnahme‘. 2) Schützende Ironie: Mit dieser Art von Ironie setzen sich machtmäßig unterlegene, kognitiv aber überlegene Kommunikationspartnerinnen und -partner zur Wehr. 3) Konstruktiv-kritische Ironie: Es handelt sich hier um eine nicht verletzende Kritik unter Gleichgestellten. 4) Arrogante Ironie: In asymmetrischen sozialen Situationen wird diese Form gegenüber Schwächeren eingesetzt, um sie lächerlich zu machen. Ironie ist also nicht nur eine Art, humorvoll zu sein, sondern eine Form, soziale Beziehungen und den eigenen Status zu regulieren - dies geschieht sehr stark durch emotionale Kontrolle und die Provokation von Emotionen (vgl. Gibbs/ Leggitt/ Turner 2002: 143). Ironie kann also einerseits als Emotionsausdruck gewertet werden, andererseits als emotionalisierend - sowohl im negativen Sinne (verletzende Ironie) als auch im positiven (ästhetische Komponente) (vgl. Groeben/ Scheele 2003: 748). Gibbs/ Leggitt/ Turner (2002: 140- 145) führen weitere Kriterien für die Wirkung solcher Äußerungen an: Je stärker ironische Bemerkungen vom eigentlich Gemeinten und vom Erwartbaren abweichen, als desto expressiver und emotionalisierender werden sie beurteilt. Andererseits kann Ironie auch Gleichgültigkeit im Sinne fehlender Empathie und Missachtung der Kommunikationspartnerinnen und -partner signalisieren. Es hängt zudem von der Art der Ironie ab, welche Emotion ausgelöst wird: Nicht gegen bestimmte Personen gerichtete Ironie wirkt auf Hörerinnen und Hörer eher positiv, Sarkasmus und rhetorische Fragen hingegen sehr negativ; Untertreibungen und satirische Bemerkungen werden relativ neutral aufgenommen. Dies beruht auf der vermuteten Intention hinter ironischen Äußerungen: Die Annahme einer Absicht zu verletzen wird entsprechend negativ beurteilt. Was die Emotionalität der ironisch sprechenden Personen angeht, wird festgestellt, dass Sarkasmus mit negativen Emotionen zusammenhängt, aber nur teilweise mit dem Wunsch, diese Negativität zu übertragen (vgl. Gibbs/ Leggitt/ Turner 2002: 146). Implikaturen, -Maximen, -Präsuppositionen Zuletzt seien noch kurz weitere wichtige pragmatische Phänomene mit emotiven Implikationen angesprochen, die in der konkreten Analyse aber nur in Ansätzen berücksichtigt werden können. <?page no="287"?> 6.7 - Textlinguistik: -Emotive -Texte, -Stilistik -und -Textsorten - 277 Konversationelle Implikaturen - ‚pragmatische Schlussfolgerungen/ Inferenzen‘ (vgl. Levinson 2000: 107, 113) - sind in schriftlichen Texten allgegenwärtig und so selbstverständlich, dass sie hauptsächlich in Fällen von Missverständnissen und somit beim Bedürfnis nach Metakommunikation emotive Wirkungen entfalten. Sie hängen eng mit den Konversationsmaximen von Grice zusammen (Qualität, Quantität, Relevanz, Modalität, vgl. Grice 1975: 45ff.; Bublitz 1978: 23ff.). Das Befolgen oder auch Durchbrechen dieser Konversationsmaximen hat unterschiedliche emotionale Auswirkungen. Wenn Konversationsmaximen bewusst nicht befolgt werden, um konversationelle Implikaturen zu erzeugen, hat dies eine andere Bedeutung für das Gespräch als das Nicht-Befolgen aus Nachlässigkeit oder die mutwillige Schädigung des Gesprächsklimas. Metaphern sind ein häufig herangezogenes Beispiel für die Ausbeutung von Konversationsmaximen bzw. für die Erzeugung von Implikaturen (vgl. Levinson 2000: 160ff.), ohne dass die emotive Bedeutung bzw. Wirkung unmittelbar mit dieser pragmatischen Eigenschaft zusammenhängen muss. Auf der Grundlage seiner bereits mehrmals zitierten theoretischen Vorüberlegungen entwirft Fries (2011) ein Modell für sogenannte E-Implikaturen - er bezieht sich auf E-Prädikationen, also Zuschreibungen von emotionalen Zuständen zu einem Experiencer in Reaktion auf einen Stimulus (z.B. Das ärgert mich). Eine E-Implikatur liegt vor, wenn die Prädikation sprachlich unterspezifiziert ist, z.B. in Das Steak ist blutig: Das Steak ist ein Stimulus, der eine Empfindung bei der den Satz äußernden Person auslöst, doch diese Beziehung wird nicht explizit gemacht. Unterschieden werden können auch bei diesem Typ konventionelle und konversationelle Implikaturen, es gelten die üblichen Bedingungen (z.B. Kontextunabhängigkeit bei konventionellen und Streichbarkeit bei konversationellen Implikaturen). Ausgelöst werden E- Implikaturen beispielsweise von bestimmten Lexemen und Phraseologismen (z.B. Das ist zum Kotzen! ), markierten syntaktischen Verfahren und Satzfragmenten (z.B. bei Exklamativsätzen) und anderen typischen Verfahren des Emotionsausdrucks (vgl. Fries 2011: 20ff.). Ähnlich verhält es sich mit Präsuppositionen, die ebenfalls als ‚pragmatische Inferenzen‘ definiert werden können, allerdings als solche, die die Äußerungsvoraussetzungen betreffen (vgl. Levinson 2000: 183, 195). Eine unzulässige Präsupposition kann Geringschätzung ausdrücken und eine sehr emotionale Reaktion hervorrufen. 6.7 - Textlinguistik: Emotive Texte, -Stilistik und -Textsorten In diesem Abschnitt werden die textuelle Ebene angesprochen und einige Voraussetzungen für die Entwicklung der Methode geschaffen. Dazu gehört <?page no="288"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 278 eine Einordnung der Stilistik, in der emotive sprachliche Mittel beschrieben und auch satzübergreifende Aspekte behandelt werden, eine Darstellung bisheriger textlinguistischer Ansätze zur Beschreibung von Emotionen in Texten und Erkenntnisse der Textsortenlinguistik zu spezifischen emotiven Mustern ausgewählter Textsorten. 6.7.1 - Einordnung -der -Stilistik Stil ist eine Eigenschaft von Texten, die vielfältige emotionale Implikationen hat. Da dieser Terminus jedoch oft recht beliebig eingesetzt wird, um vage Merkmale von Texten zusammenzufassen, ist an dieser Stelle eine genauere Auseinandersetzung nötig. Aus linguistischer Sicht überholt ist die Annahme, dass Stil im Rahmen der Rhetorik anzusiedeln ist, und zwar in der klassischen Lehre von inventio, dispositio, elocutio und persuasio. Die Auswahl rhetorischer Figuren erfüllt emotionale Funktionen (vgl. Büscher 1995: 70ff.), doch damit ist die Frage nach emotionalem Stil noch nicht erschöpfend beantwortet. Grundsätzlich ist zwischen Stil im Sinne von Stillagen (z.B. hoher Stil vs. niedriger Stil), stilistischen Prinzipien (Richtigkeit, Klarheit, Schmuck, Angemessenheit) und stilistischen Techniken (z.B. Stilfiguren) zu unterscheiden (vgl. Janney 1996: 224). Bei Bally wird Stil affektiv definiert: Es gibt verstandesmäßige und affektive Sprachelemente, wobei der Stil durch die affektiven Elemente ausgemacht wird (vgl. Büscher 1995: 65; siehe Fn. 25). Doch ich bleibe vorerst bei allgemeineren Fassungen der modernen Linguistik. Zunächst kann man wie Fix (2008b: 417) Stil sehr allgemein definieren als: „[...] die Art und Weise (das WIE), in der das Mitzuteilende, also die Primärinformation des Textes (das WAS) im Hinblick auf einen Mitteilungszweck (das WOZU) gestaltet wird, wobei das WIE auch eine - sekundäre - Information zu vermitteln hat, nämlich eine pragmatische (Rezeptionssteuerung, Beziehungsgestaltung, Selbstdarstellung).“ Stilelemente sind sprachliche Mittel im Mikrobereich (Interpunktion, Formen, Wörter, Stilfiguren), die im Text stilistische Funktionen übernehmen und den Gesamtstil eines Textes, das Stilganze prägen (vgl. Fix 2008b: 453). Unter Stilzügen sind ebenfalls nach Fix (2008b: 454) Texteigenschaften zu verstehen, „die auf der Art, Häufigkeit und Zuordnung sprachlicher Elemente eines Textes beruhen“. Stilmuster wiederum sind „die Menge formulativstilistischer Mittel, die in sozialer Konvention als Mittel des Stilbildens festgelegt sind und die in bestimmter Auswahl für ein jeweiliges Textmuster als kennzeichnend gelten“ (Fix 2008a: 71f.). Sandig (1978, 2006) kommt das Verdienst zu, den Stilbegriff für die Linguistik neu und fruchtbar zu bestimmen. Stil ist demnach „Bestandteil von Texten, er ist die Art, wie Texte zu bestimmten kommunikativen Zwecken gestal- <?page no="289"?> 6.7 - Textlinguistik: -Emotive -Texte, -Stilistik -und -Textsorten - 279 tet sind“ (Sandig 2006: 3). Dies geht weit über eine Systematisierung von Stilelementen hinaus und bestimmt Stil als umfassende Eigenschaft eines Textes, die auf allen sprachlichen Ebenen - global und lokal, unter Zuhilfenahme von textinternen und textexternen Kriterien - beschrieben werden kann (vgl. Sandig 2006: 4). Im Weiteren bettet Sandig (2006: 9) Stil in ein umfassendes Kommunikationsmodell ein, und zwar auf der Grundlage der Annahme, dass Stil eine „sozial relevante (bedeutsame) Art der Handlungsdurchführung“ 74 ist. Das Vermitteln von Einstellungen und Haltungen, auch emotionaler Art, ist dabei eine wichtige Aufgabe (vgl. Sandig 2006: 15f.). Stilebenen definiert Sandig (2006: 290) als „Ressourcen zum Ausdruck von globalen Einstellungen“. Die Gesamtheit der Textmerkmale trägt dazu bei, ob eine Stilebene als ‚überneutral‘, ‚neutral‘ oder ‚unterneutral‘ wahrgenommen wird. Überneutral sind beispielsweise gehobene Stile (Pathos, positive Selbstdarstellung), unterneutral hingegen etwa auffälliger Gebrauch der Umgangssprache und sehr idiosynkratische Formulierungen. Insbesondere die Mischung aus den verschiedenen Stilebenen in ein und demselben Text hat dabei starke Stilwirkungen (vgl. Sandig 2006: 294-306). Sprecherbezogene Unterstellungen in der Rezeption beziehen sich auf Dispositionen, Einstellungen (Gefühle, Einstellungen zum Handlungsinhalt und zur Handlung) sowie auf die Beziehungsgestaltung. Sprechereinstellungen werden bewusst oder unbewusst zum Ausdruck gebracht (vgl. Jahr 2000: 83f.). Damit hängen die bereits erwähnten Stilwirkungen eng zusammen: Darunter versteht Sandig (2006: 25) das, „was die Art der Äußerung(en), die einzelnen Eigenschaften der Äußerung(en) zur Wirkung der ganzen Handlung beitragen“, z.B. den ganz spezifischen Beitrag des Stils zur Emotionalisierung der Rezipientinnen und Rezipienten, in Abgrenzung, aber auch gleichzeitig Interaktion mit inhaltlich begründeten Wirkungen. Stil trägt auch wesentlich zur Beziehungsgestaltung bei, beispielsweise durch feine Unterschiede in der Formulierung oder in der pragmatischen Gestaltung einer Aufforderung (z.B. RATEN versus ANDEUTEN, vgl. Sandig 2006: 26f.). Die Stilwirkung ist dabei stark von der Situation abhängig und muss nicht mit der Stilabsicht übereinstimmen, da aufseiten der Rezipientinnen und Rezipienten unkontrollierbare Wertvorstellungen und andere Faktoren einfließen (vgl. Sandig 2006: 31ff.). Stilwirkungen beruhen also auf Konventionen und Erwartungen; die Aufnahme des Sinnangebots ist abhängig von der Stilkompetenz der Rezipierenden, vom Wissen über Situationen sowie Muster und vom Weltwissen, besonders aber auch von Überzeugungen und Dispositionen. Dies gilt auch für die Produktionsseite, insbesondere bei emotionalen 74 Das Kommunikationsmodell findet sich bei Sandig (2006: 18) - es umfasst kulturelle, historische und situative Einflüsse ebenso wie Eigenschaften, Erwartungen, Wissen und Einstellungen der Produzentinnen/ Produzenten und Rezipientinnen/ Rezipienten. <?page no="290"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 280 Äußerungen, die einerseits mit Wirkungsabsicht (gezielter Emotionsausdruck), andererseits als Symptom (unabsichtlicher Emotionsausdruck) realisiert werden können (vgl. Sandig 2006: 29). Stilwirkungen lassen sich zunächst sehr allgemein auf den beiden Skalen [unangemessen - angemessen - überaus angemessen] und [unwirksam - wirksam - wirkungsvoll] einordnen (vgl. Sandig 2006: 36f.). Bei den spezifischeren Stilwirkungstypen lassen sich nach Sandig (2006: 38-43) drei große Gruppen unterscheiden: • Sprecherbezogene Unterstellungen bei Rezipientinnen und Rezipienten: Hierzu gehören Bewertungen wie ‚höflich‘ (unterstellte Intentionen), aber auch ‚emotional‘ (angenommene Einstellungen von Produzentinnen/ Produzenten), ‚freundlich‘, ‚unpersönlich‘ (Annahmen über die intendierte Beziehungsgestaltung) und ‚gekonnt‘ (Texteigenschaften). • Rezeptionsaspekte: Diese Wirkungen betreffen die Rezipientinnen und Rezipienten direkt, etwa Einstufungen wie ‚erheiternd‘, ‚brechreizerregend‘ (Einstellungen, Bewertungen, Gefühle), ‚lesbar‘ (Rezeptionsprozess), ‚eindrucksvoll‘, ‚nachdenklich machend‘ (Aktivierung). • Weitere Handlungsaspekte: Diese letzte Gruppe umfasst Beurteilungen des Textes im engeren Sinn, etwa Bewertungen der thematischen Gestaltung (‚knapp‘, ‚suggestiv‘), der Texteigenschaften (‚poetisch‘, ‚klar‘), der Erwartbarkeit (‚sonderbar‘) und des Zeitbezugs (‚modern‘, ‚barock‘). Aus emotionslinguistischer Sicht zeigt sich also, dass Stil auch als die Art des Ausdrucks von Einstellungen, Wertungen und Gefühlen auf Produzentinnenbzw. Produzentenseite verstanden werden muss und dass sich Stilwirkungen auf Einstellungen, Wertungen und Gefühle auf Rezipientinnenbzw. Rezipientenseite beziehen (vgl. Sandig 2006: 44). In diesem Sinne ist emotionslinguistische Textanalyse vor allem mit dem emotiven Stil eines Textes betraut. Alle sprachlichen Mittel, die bisher in diesem Kapitel besprochen wurden, können als Bestandteile von Merkmalbündeln verstanden werden, die nicht nur dazu beitragen, das Stilganze eines Textes als emotiv zu charakterisieren, sondern auch bestimmte Stilwirkungen mitbedingen. Die Bewertung emotiven Stils ist von Textsorten, Kommunikationssphären und auch historischen Aspekten abhängig. In der neueren Stilistik werden anstelle der traditionellen Abwertung von emotiven sprachlichen Mitteln als ‚unsachlich‘ und ‚ungebildet‘ die emotiven Stilwirkungen, Stilabsichten und Prinzipien der inhaltlichen und formalen Selektionen (paradigmatisch) und Kombinationen (syntagmatisch) werturteilsfrei untersucht (vgl. Büscher 1995: 60-69). Für die Beurteilung des Stils von Texten sind objektive Kriterien einzuführen. <?page no="291"?> 6.7 - Textlinguistik: -Emotive -Texte, -Stilistik -und -Textsorten - 281 Als eines dieser Definitionskriterien von Stil nennt Fix (1990) die kommunikative Adäquatheit, die unterschiedliche Aspekte umfasst, teilweise auch solche, die relevant für die emotionale Struktur des Textes sind. In der folgenden Tabelle werden die einzelnen Kriterien genannt und anhand einiger Beispiele hinsichtlich ihrer Bedeutung für textuelle Emotivität kommentiert. Tab. 5: Kriterien stilistischer Adäquatheit und emotive Implikationen 75 Regeladäquat Grammatische Richtigkeit Regelbewusstheit oder Ignoranz, Erwartungen über grammatische Richtigkeit Lexikalische Richtigkeit Angemessene Auswahl von emotionsbezeichnenden Lexemen für den aktuellen Zustand, unerwartete Intensität eines emotionsausdrückenden Lexems Textbildende Richtigkeit Emotionale Kohärenz Situativ adäquat Inhaltsadäquat Angemessene Beschreibung einer emotionalen Szene Strategisch adäquat Nicht zu viel von sich preisgeben Intentionsadäquat Die emotionale Botschaft ‚rüberbringen‘ Sprecheradäquat Emotionsmanagement betreiben Medienadäquat Text-Bild-Funktionsverteilung Kanaladäquat Vorteile von (non-)verbalen emotionalen Signalen einsetzen Musteradäquat Textsortenadäquatheit Höreradäquat Wertmaßstäbe auf Hörerseite berücksichtigen Erwartungsadäquat Auf Hörererwartungen abgestimmte emotive Mittel Annahmenadäquat Geteiltes Wissen über Emotionskonzepte berücksichtigen Ästhetisch adäquat Höreradäquat Erwartungsadäquat Annahmenadäquat Verständlichkeit Klarheit Offenheit Anschaulichkeit Ästhetische Qualität Auch wenn in der vorliegenden Arbeit Stil nicht als Ansammlung von rhetorischen Figuren, sondern im Sinne von Sandig und Fix betrachtet wird, sind viele stilistische Merkmale auf Mikro-, Meso- und Makroebene wie der Satzbau, Satzanfänge und Wortwiederholungen für die Emotionslinguistik von Belang. Die rhetorischen Mittel, die immer wieder als emotionale (das heißt emotionsausdrückende und emotionalisierende) Strategien genannt werden, können auch als „Affektfiguren“ (Drescher 2003b: 89) bezeichnet werden. Ihre rhetorische Wirkung, das Bauen von ‚Affekt-Brücken‘ zwischen Sprecher/ in und Hörer/ in, ist das entscheidende Kriterium der Bestimmung: delectare, movere. Movere wurde dabei in der Vergangenheit häufig moralisch 75 Linke Spalte: Fix (1990: 77, 96); rechte Spalte: eigene Kommentare und Beispiele. <?page no="292"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 282 abgewertet (vgl. Winko 2003: 35). Die Kategorien von Fix (2008b) werden in der folgenden Aufzählung grob mit Emotionen in Verbindung gebracht, wobei aber jeweils nur Beispiele genannt werden können. Einige dieser Mittel werden in der Folge genauer besprochen. • Satzgebundene Mittel: Fix unterscheidet hier Mittel der Hinzufügung und der Auslassung. Als typische Mittel der Hinzufügung gelten Figuren der Wiederholung (z.B. Anapher), Figuren der Anordnung (z.B. Antithese, Chiasmus, Oxymoron) und Figuren der Häufung des Verschiedenen (z.B. Asyndeton). Die Emotionalisierung durch Oxymora basiert beispielsweise auf Verwirrung (vgl. Gibbs 1994: 394f.), Parallelismus wird als rhythmisch und daher spannungssteigernd empfunden. Mittel der Auslassung sind z.B. Ellipsen und Zeugma. • Wortgebundene Mittel (Tropen): Zu diesen rhetorischen Elementen gehören unter anderem Personifikation, Synästhesie, Synekdoche, Metonymie sowie phonostilistische, rhythmische und onomatopoetische Figuren. Auf textueller Ebene zu nennen sind Isotopie (semantische Kohärenz), fortgesetzte Metaphern, die thematische Entfaltung (z.B. deskriptiv, narrativ), Stilzüge sowie die innere und äußere Gliederung. Metonymien, -Metaphern, -Vergleiche Figurative Sprache erfüllt wie bereits in Kapitel 4 angesprochen verschiedene Funktionen: Zum einen können abstrakte und schwer zu verbalisierende Sachverhalte ausgedrückt werden, zum anderen aber gleichzeitig auf so indirekte Weise, dass mehrere Interpretationen möglich sind. Aber figurative Sprache ist auch kompakt, expressiv, lebendig und intim (vgl. Gibbs/ Leggitt/ Turner 2002: 125, 128). Teilweise werden in der Rhetorik Synekdochen von Metonymien unterschieden, teilweise nicht. Bei einer Unterscheidung besteht bei Synekdochen ein direkter Bezug zwischen dem ersetzenden und dem ersetzten Element (z.B. Teil-Ganzes, Gattung-Art, Stoff-Produkt, z.B. Wir sind Papst! ), bei einer Metonymie hingegen nicht (z.B. Ursache-Wirkung, Gefäß-Inhalt, z.B. der neue Fforde für ein Buch von Jasper Fforde) (vgl. Skirl/ Schwarz-Friesel 2007: 16). Beide Figuren können stark bewertend und somit auch emotiv sein (z.B. die Warze für einen Menschen, der eine Warze im Gesicht hat). Dies hängt davon ab, welche Eigenschaften oder Teile von Personen oder Objekten für die Metonymie ausgewählt, also betont werden. Vergleiche können von Metaphern durch die sprachliche Formulierung mit wie unterschieden werden (z.B. Ich zittere wie Espenlaub). Es handelt sich bei dieser Art von Vergleich Schwarz-Friesel (2007: 190) zufolge um eine „direkte Analogie zu einem anderen Referenten oder Referenzbereich“. Ver- <?page no="293"?> 6.7 - Textlinguistik: -Emotive -Texte, -Stilistik -und -Textsorten - 283 glichen werden kann mittels Eigenschaften, Objektidentifikationen, Ortsangaben und körperbezogenen Prozessen (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 190). Das wie kann jedoch aus der Oberflächenrealisation herausfallen, was die Identifikation bzw. Unterscheidung von Metaphern erschwert (z.B. Ich bin doch kein Idiot! , vgl. Hayakawa 1993: 129). Außerdem werden in Texten Metaphern und Vergleiche oft kombiniert (vgl. Skirl/ Schwarz-Friesel 2007: 13f.). Sowohl für Metaphern als auch für Vergleiche gilt, dass bei negativen Emotionen häufig die Domänen TOD und STERBEN, dunkle Farbe, unangenehme Jenseitsvorstellungen, Kälte und Tiefe als Referenzbereiche verwendet werden. Bei positiven Emotionen sind es entsprechend Licht, Helligkeit, Wärme (bei Erotik Hitze) und Höhe. Tierbezeichnungen werden sehr häufig für negative Vergleiche verwendet (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 193ff.). Insgesamt werden sowohl konventionalisierte als auch individuelle Metaphern als deutlich intensiver bewertet als wörtliches Sprechen, und hier werden Metaphern für positive Emotionen als intensiver wahrgenommen als negative Emotionsmetaphern (vgl. Gibbs/ Leggitt/ Turner 2002: 139). Perspektivierung Perspektivierung ist eine äußerst wichtige Strategie, die die Art und Weise betrifft, wie in Texten Interpretationen nahegelegt werden (vgl. Schwarz- Friesel 2007: 152f.; Skirl 2012). Eine Sonderform der Perspektivierung ist die sprachlich signalisierte Empathie, die nach der Definition von Pusch (1985b: 127) unter anderem an folgendem Kriterium erkannt werden kann: „Empathie mit einer der beschriebenen Personen liegt dann vor, wenn für sie selbst und die anderen Personen diejenigen Bezeichnungen gewählt werden, die diese Person selbst gewählt hätte.“ Kuno/ Kaburaki (1987) beschreiben einige diesbezügliche Prinzipien. Demnach ist die Empathie mit einem Deskriptor höher als jene mit einem abhängigen Deskriptor (z.B. John’s brother → Empathie für John ist größer als die Empathie für den Bruder). In einem Satz kann nicht mehr als ein Empathieträger vorkommen, es sei denn, es entsteht dadurch kein logischer Konflikt; nicht angemessen ist beispielsweise die Äußerung Then, Mary’s husband hit his wife. Textrezipientinnen und -rezipienten haben eher Empathie mit jener Person, aus deren Sicht laut Oberflächenstruktur eines Satzes ein Sachverhalt geschildert wird. Die Hierarchie ist also: Subjekt > Objekt > Passiv- Agens. Auch Topic und Comment sind unterschiedlich markiert, es wird eher Empathie mit dem bereits eingeführten Referenten ausgedrückt als mit einem anaphorisch noch nicht bekannten Element (vgl. Kuno/ Kaburaki 1987: 207ff.; auf eine frühere Arbeit der beiden Autoren bezieht sich Pusch 1985b). Diese Prinzipien sind nicht als grammatische Regeln zu sehen, sondern betreffen die Akzeptabilität von Äußerungen (vgl. Kuno/ Kaburaki 1987: 212). <?page no="294"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 284 Haupt- und Nebenempathiezentren, textsortenabhängige Regeln und schnelle Wechsel mit sehr unterschiedlichen Funktionen sind möglich. Empathiekonflikte treten auf, wenn Erwartungen verletzt werden (vgl. Pusch 1985b: 125ff.). Eine andere wichtige, wenn auch implizite Form der Perspektivierung sind Auslassungen, also Aspekte eines Diskurses, die nicht thematisiert werden (vgl. Skirl 2012: 350, der dies anhand der öffentlichen Diskussion um den Rücktritt von Karl-Theodor zu Guttenberg expliziert). Anapher Anaphern sind nicht nur eine zentrale Konstituente von Kohäsion und Kohärenz, sondern auch ein wichtiges emotives Mittel. Anaphorische Nominalphrasen können Evaluationen komprimiert zum Ausdruck bringen (z.B. Mein Freund X ist schon wieder durch eine Prüfung gerasselt. Dieser Faulenzer ...). Komplex-Anaphern sind noch großräumigere evaluative Zusammenfassungen ganzer Passagen (z.B. ausführliche Beschreibung eines Ereignisses, die mit dieses Chaos zusammengefasst wird) (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 215). Informationsstrukturierung Ein weiteres Element der Textstruktur, in dem Emotivität besonders deutlich zum Ausdruck kommt, ist die Informationsstrukturierung, also die „Art und Weise der Informationsentfaltung und -verteilung“ (Schwarz-Friesel 2007: 216). Die Thema-Rhema-Abfolge sowie die Gestaltung von Fokus und Hintergrund bzw. Topik und Kommentar gehören ebenfalls zu diesem Punkt. Auch das Fehlen von Informationen kann wie unter dem Punkt Perspektivierung gesagt eine bestimmte emotive Deutung nahelegen. Über--‐ -und -Untertreibungen Menschen neigen dazu, ihre eigenen Gefühle zu übertreiben. Sie tun dies mit Hyperbeln, extremen Vergleichen und Metaphern (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 186; Gibbs 1994: 391). Es handelt sich also um einen Überbegriff für verschiedene Formen. Doch auch Euphemismen und Untertreibungen haben emotiven Wert (vgl. Gibbs 1994: 391f.). Vagheit, also ungenaue Referenz, das Unterdrücken von Fakten oder Unterspezifizierung sind ebenso euphemistische Strategien (vgl. Grondelaers/ Geeraerts 1998). Alle diese Formen verletzen die Wahrheitsbedingungen und die Konversationsmaximen von Grice, allerdings oft in intentionaler und angemessener Weise (vgl. Gibbs 1994: 392). <?page no="295"?> 6.7 - Textlinguistik: -Emotive -Texte, -Stilistik -und -Textsorten - 285 Wiederholungen, -Betonungen, -Intensivierungen Mit Emphasen werden die Außergewöhnlichkeit und die Wichtigkeit eines Ereignisses hervorgehoben, vor allem mit syntaktischen Mitteln wie der Betonung, der Wiederholung, dem Parallelismus und der Thema-Rhema-Abfolge (vgl. Volek 1987: 238f.). Die folgende Darstellung beruht auf Besch (1989). Wiederholungen werden für gewöhnlich nur dann als Stilmittel eingestuft, wenn sie intentional gesetzt werden; ansonsten handelt es sich um Fehler (vgl. Besch 1989: 15). Allerdings können auch nicht-intentionale Wiederholungen - wohl sogar gerade sie - emotiv sein, da sie die besondere (teilweise unbewusste) Relevanz eines Sachverhalts markieren. Die wichtigsten Formen der Wiederholung werden von Besch (1989: 35-50) wie folgt aufgezählt: graphisch-graphemische Wiederholungen (z.B. gaaanz laaangsam), phonologisch-phonemische Wiederholungen (z.B. Alliteration, Reim), Wiederholungen von freien oder gebundenen Morphemen (z.B. Gemination), Wortspiele (vor allem in der Werbung, z.B. Fahr fair! ), auf der syntaktischen Ebene Parallelismus, Chiasmus, Asyndeton, auf der semantischen Ebene Isotopie, Synonymie, textlinguistische Formen der Wiederaufnahme und Metaphern. Nur einige dieser Formen sind emotiv, beispielsweise Diaphora, also Wiederholungen eines Lexems mit Betonung eines Bedeutungsunterschiedes (z.B. A: Was hast du gemacht? - B: Gemacht? ). Im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit ist weniger das ästhetische Moment von Wiederholungen als ihre Funktion als Stilfiguren, die auf Emotionalisierung der Rezipienten abzielen, interessant, also die intensivierende Wirkung von Wiederholungen. Darüber wird im nächsten Abschnitt mehr gesagt. Die Intensität eines Textes kann im Wesentlichen mit zwei Verfahren erhöht werden. Erstens durch Expansion: Hier deuten Wiederholungen und Paraphrasen desselben Elements auf höhere Emotionalität hin. Durch die wortgleiche oder variierte Wiederholung von Wörtern, aber auch von Phrasen, Sätzen, Gedanken oder Konzepten werden Teiltexte intensiviert. Dies kann ‚nur‘ der Verständlichkeit und der Bestätigung von bereits Gesagtem dienen, aber auch dem Emotionsausdruck und der Erhöhung der emotionalen Wirkung. Wiederholungen können verschiedene ästhetische Wirkungen entfalten (z.B. ‚monoton‘, ‚dynamisch‘, ‚irritierend‘, vgl. Besch 1989: 68, 97, 99ff., 101, 113). Zweitens kann auch Reduktion emotiv sein: Ellipsen, bestimmte Formen von Pronominalisierungen (z.B. nach alldem), bestimmte Partikeln, Metaphern und Allquantoren (jedes, alles) intensivieren - kurz: Mittel, mit denen eine komplexere Aussage verknappend auf den Punkt gebracht wird (vgl. Dorfmüller-Karpusa 1989: 531ff.). <?page no="296"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 286 Strategien -der -Emotionalisierung Viele Mittel, die in Aufzählungen zur emotiven Sprache angeführt werden, dienen nicht nur oder nicht vorrangig dem Emotionsausdruck und der Emotionsbeschreibung, sondern insbesondere der Emotionalisierung. Sandig (2006: 249) beschreibt das stilistische Verfahren EMOTIONALI- SIEREN sehr allgemein als „‚gesteigertes‘ Bewerten“, das das Erleben der Sprecherin bzw. des Sprechers einschließt. Es handelt sich um eine übergeordnete Kategorie, um ein komplexes stilistisches Handlungsmuster, das durch verschiedene Unterhandlungsmuster und Textmerkmale konstituiert werden kann (z.B. KONTRASTIEREN, VERDICHTEN, HERVORHEBEN - konkret durch Metaphern, Intensivierungen, Bilder usw., vgl. Sandig 2006: 256-260). Auch die Typographie hat emotionalisierende Wirkung: Gutschi (2008: 109, 122) legte Probandinnen und Probanden verschiedene Schriften in bekannten und unbekannten Sprachen vor. Dabei zeigt sich, dass Schrifttypen tatsächlich mit einzelnen Emotionsqualitäten eher assoziiert werden als mit anderen. Vor allem bei Freude und Trauer liegen relativ eindeutige Zuordnungen vor, während Überraschung und Zorn weniger klar sind - was wohl darauf zurückzuführen ist, dass die Anlässe für die typographische Unterstützung der Vermittlung von Freude und Trauer häufiger sind (z.B. in Todesanzeigen). Durch die Versuchsanordnung wird auch klar, dass die emotionale Wahrnehmung einer Schrift von vielen Faktoren abhängig ist, darunter vom Sprachraum, von der Verwendungsgeschichte, von der inhaltlichen Konnotation und vom Umfeld, in dem die Schrift auftritt (vgl. Gutschi 2008: 127ff.). In der traditionellen und auch in der modernen, vor allem praktisch ausgerichteten Rhetorik ist die emotionalisierende Wirkung von Stilfiguren ein häufig adressiertes Thema (vgl. Winko 2003: 34ff.). Emotionalisierungsstrategien sind bewusste Entscheidungen von Textproduzentinnen und -produzenten. Die folgenden persuasiven Strategien zielen besonders offensichtlich auf die Emotionalisierung der Rezipientinnen und Rezipienten ab (vgl. Schwarz- Friesel 2007: 230; Hayakawa 1993: 127, 132ff., 135f.): • Klangwirkungen wie Reim, Alliteration, Assonanz, Rhythmus • Unmittelbare Anrede und Wir-Kunstgriff • Behauptungen mit Autoritäten stützen • Vermeintlich natürliche Beziehungen und Kausalität herstellen • Authentizität suggerieren (z.B. unsere Augenzeugen vor Ort) • Sympathieträger einführen (z.B. die junge Mutter) • Analogien (z.B. wie im Schlaraffenland) • Hervorhebungen (z.B. besonders brutal) • Kontraste (z.B. die Armen ... die Reichen) und Antithesen <?page no="297"?> 6.7 - Textlinguistik: -Emotive -Texte, -Stilistik -und -Textsorten - 287 • Anspielungen, Ironie, Pathos, Humor • „Affektgehalt von Tatsachen“ (Hayakawa 1993: 135f.): Details in der Beschreibung von emotionalisierenden Fakten angeben oder aussparen (z.B. Beschreibung eines Autounfalls) • Ansprechen/ Selbstverständlichsetzen von Stereotypen • Ansprechen/ Selbstverständlichsetzen von Normen: Wertvorstellungen, Erwartungen Die Art und Weise der Kombination verschiedener Verfahren kann dazu beitragen, einen Text als eher sachlich (distanziert) oder emotionalisierend (personalisierend) zu klassifizieren (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 228). 6.7.2 - Emotivität -in -Texten: -Beschreibungsansätze Obwohl die Lexikologie und Semantik den größten Anteil an der bisherigen emotionslinguistischen Forschung einnehmen, werden Gefühle nicht vorrangig mit einzelnen Wörtern, sondern in ganzen Texten dargestellt (vgl. Michel/ Zech 1994: 227). Auf der Textebene finden wir laut Dorfmüller-Karpusa (1989: 529) ein „komplexes Zusammenspiel von lexikalischen, grammatischsyntaktischen sowie extralinguistischen Elementen“. Zwei Fragen sind für diesen Bereich zentral (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 211; Wilce 2009: 57). Erstens: Wie werden Emotionen in Texten repräsentiert? Was machen Textproduzentinnen und -produzenten, um Emotionen auszudrücken und zu thematisieren? Zweitens: Wie werden Emotionen durch Texte ausgelöst? Woran erkennen Textrezipientinnen und -rezipienten Emotionalität in Texten und inwiefern werden sie davon in ihrem eigenen Empfinden beeinflusst? Der zweite Aspekt, die Emotionalisierung in der Textrezeption, wurde bereits in Kapitel 4 und im vorhergehenden Abschnitt erörtert. Die Antworten auf beide Fragen sind in der Linguistik bisher kaum systematisch gesucht worden, was unter anderem an der Komplexität der Emotionalität selbst und den vielfältigen Verfahren ihrer Vertextung liegen dürfte (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 130; Nowoshilowa 1997: 191). Kratochvílová (2010: 178) behauptet: „Es gibt keine grammatische, stilistische oder textuelle Norm, wie man über Emotionen sprechen oder Emotionen ausdrücken kann.“ Sie meint damit erstens die bereits angesprochene fehlende Spezifität emotiver sprachlicher Mittel und zweitens den Umstand, dass die Kodierung von Emotionen in Texten kontextabhängig ist und großteils auf Erwartungen aufgrund von kognitiven Schemata (z.B. Scripts) und Textsortennormen beruht (vgl. Kratochvílová 2010: 178f.). Das ist ein wichtiger Punkt: Emotionen sind stets an etwas gebunden, einerseits an ein erlebendes Subjekt (auch eine Gruppe oder eben etwas Abstraktes, dennoch etwas Feststellbares) und andererseits an ein Objekt. Das Instrumentarium der Textlinguistik kann jeden- <?page no="298"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 288 falls dabei helfen, emotive Muster in Texten zu erkennen (vgl. Kratochvílová 2010: 178). Schon in seiner frühen Arbeit über Emotionen in einem literarischen Text stellt Frier (1976: 308) fest, dass Emotionalität in Texten „eine interpretative, metasprachliche Kategorie“ ist. Die folgende Aufzählung zeigt die wichtigsten emotiven Aspekte von Texten, die immer wieder genannt werden: • Die Häufung von emotionsausdrückenden und emotionsbeschreibenden Lexemen sowie der bisher genannten emotiven Mittel ist eine naheliegende Möglichkeit. Das Fehlen prototypischer emotionslinguistischer Mittel schließt Emotivität allerdings nicht aus. • Situationsbeschreibungen, implizite und explizite Thematisierungen (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 152f.; Fiehler 1990b: 231; Michel/ Zech 1994: 232). • Konsoziation: Zusammenhänge, in denen Wörter bei bestimmten Autoren oder in bestimmten Epochen häufig vorkommen (vgl. Sperber 1965 [1923]: 4ff.). • Thema-Rhema: Dorfmüller-Karpusa (1989: 533) vermutet, dass sich die emotionale und die kognitive Komponente antagonistisch verhalten und mit der Unterscheidung in background- und foreground-Information korrelieren. Jeweils kann nur eine Komponente im Vordergrund stehen. In den folgenden Abschnitten werden einige Arbeiten zur Beschreibung von Emotivität in Texten aufgerollt. 76 Inhaltsanalysen -und -Logographie Eigentlich ein sozialwissenschaftlicher Ansatz und keine Beschreibung der Textstruktur, wegen ihrer Berührungspunkte mit der Linguistik jedoch erwähnenswert sind inhaltsanalytische Verfahren. Definiert werden sie nach Mayring (2009: 563, vgl. auch Knapp 2005: 20) als „kategoriengeleitete, systematische (theorie- und regelgeleitete, an Gütekriterien überprüfte) Textauswertungsmethoden“. Die untersuchten Texte sind häufig Transkriptionen von Interviews, aber auch Medientexte. Unterschieden werden Häufigkeitsanalysen, die relevanten Textpassagen Werte auf verschiedenen Skalen zuordnen, und Kontingenzanalysen, in denen der Kontext und die Verknüp- 76 Stellvertretend für Ansätze, die zwar die Textlinguistik berühren, aber hier nicht berücksichtigt werden können, sei auf eine psychoanalytisch orientierte literaturwissenschaftliche Arbeit von Wilk 2004 verwiesen: Ihr geht es um unbewusste Bedürfnisstrukturen, die sich in Texten anhand von sprachlichen Indizien (z.B. Metaphern) in Symbolisierungen (z.B. Verschiebungen) widerspiegeln. Zentral ist der Terminus ‚Zeichenleib‘, der zur körperlichen Komponente des Empfindens zurückführen soll. <?page no="299"?> 6.7 - Textlinguistik: -Emotive -Texte, -Stilistik -und -Textsorten - 289 fungen der relevanten Elemente berücksichtigt werden (vgl. Mayring 2007: 14f.). Dabei können sehr unterschiedliche Aspekte von Texten untersucht werden, beginnend bei quantitativen Worthäufigkeitsanalysen bis hin zur quantitativen und qualitativen Auswertung umfangreicher Diskurse (vgl. Mayring 2009: 563). Nach Mayring (2005: 10, 2007: 51, 2009: 567) werden typischerweise folgende Schritte vollzogen: • Einordnung in das Kommunikationsmodell: In diesem Schritt wird das Ziel der Analyse festgelegt (z.B. Einstellungen von Textproduzentinnen und -produzenten zu ergründen). Das Kommunikationsmodell von Mayring berücksichtigt sehr viele Variablen, unter anderem auch den emotionalen Hintergrund einer Äußerung, das Vorverständnis der analysierenden Person und nonverbale Bedeutungsanteile. • Regelgeleitetheit: Die Texte werden in Einheiten unterteilt und nach den entwickelten Kriterien analysiert. • Arbeiten mit Kategorien: Anwendung auf das Textmaterial. • Gütekriterien: Objektivität, Validität, Reliabilität (Intra- und Intercoderreliabilität) sind die wesentlichen Qualitätsansprüche. Die Durchführung sieht die Festlegung und formale Analyse des Materials vor, dann die Zusammenfassung, die eine Paraphrasierung oder Reduktion des Materials, z.B. auf Makropropositionen, sein kann, weiter die Explikation in Form einer Kontextanalyse und schließlich die Strukturierung, also Ordnung des Materials anhand des festgelegten Kategoriensystems (formal, inhaltlich, typisierend, skalierend) (vgl. Mayring 2007: 54, 58, 62-74, 77ff., 83ff., 90ff., 96). Eine Weiterentwicklung und Verfeinerung der Inhaltsanalyse ist die Grounded Theory (vgl. Mayring 2009: 566). Ein Beispiel für eine inhaltsanalytische Untersuchung betrifft die Analyse von Gesprächen in der Psychotherapie von Kemmler, Schelp und Mecheril (1991). Sie unterscheiden als Hauptkategorien unemotionale Äußerungen, das Ansprechen von subjektivem emotionalem Erleben mit einem Emotionswort oder mit Metaphern, das Ansprechen einer bewertenden Kognition (z.B. Ich glaube, dass ich es nicht schaffe oder Ich habe das Gefühl, dass meine Mutter mich ablehnt), das Ansprechen von physiologischen Reaktionen (z.B. Vor lauter Angst wurde mir übel) und das Ansprechen von expressivinstrumentellem Verhalten im Rahmen einer Emotion (z.B. Da habe ich gebrüllt). Das Analyseziel ist nicht linguistisch motiviert, sondern liegt in der Verbesserung der therapeutischen Kommunikation. Andere inhaltsanalytische Arbeiten mit Fokus auf Emotionen sind z.B. Rohde-Höft (2005), die Liebesbriefe untersucht, und Wilms (1994), die Medientexte zu einem emotionalen Nachrichtenthema analysiert. Konkret unter- <?page no="300"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 290 sucht Letztere Emotionsthematisierungen in der Technikberichterstattung, da dieser oft nachgesagt wird, auf das Erzeugen von Angst und Unsicherheit abzuzielen (vgl. Wilms 1994: 1ff.). Ihr wesentliches Ergebnis ist, dass in der Berichterstattung häufiger negative Emotionen - vor allem durch die überdurchschnittlich häufige Nennung von Abneigung und Unruhe - thematisiert werden (vgl. Wilms 1994: 47). Das bedeutet aber nicht, dass die Berichterstattung negativ ist. Die Gefühlsdramaturgie bzw. die Ausgewogenheit zwischen positiven und negativen Emotionsthematisierungen hängt stark von der Länge der Artikel, von der Art der Darstellung (fokussiert oder narrativ) und von der Position im Text ab. Ein Beispiel: Am Textanfang finden sich viele, oft negative Emotionsthematisierungen - damit wird Unsicherheit thematisiert, nicht hervorgerufen; im zweiten Absatz werden dann häufig neutrale wissenschaftliche Hintergründe dargestellt (vgl. Wilms 1994: 54f., 61f., 65). Insgesamt wird emotional komplex und nicht einseitig berichtet. In Anlehnung an den logographischen Ansatz (s. Kap. 2) widmet sich Schmitt (1996) in einer empirischen Arbeit Eifersuchtsgeschichten, die Probandinnen und Probanden schriftlich aus ihrem eigenen Erleben dargelegt haben. Er bildet 400 Mikrokategorien, die er in ein hierarchisches Kategoriensystem gliedert. Als Oberkategorien wählt er ‚Kommentierende Aussagen‘, ‚Vorgeschichte‘, ‚Vernachlässigung‘, ‚Vermutete Untreue‘, ‚Subjektive Gewissheit über Untreue‘, ‚Nachgeschichte‘, als Unterebenen ‚Anlässe‘, ‚Kognitionen und Emotionen‘, ‚Umgangsweisen‘ und ‚Reaktionen des Partners‘. Aus linguistischer Sicht ist zunächst festzustellen, dass Inhaltsanalysen nur bestimmte Aspekte der ‚Inhalte‘ eines Textes beschreiben können, was eigentlich keine linguistische Fragestellung ist (vgl. Knapp 2005: 22, der weitere Probleme der Inhaltsanalyse aus der Perspektive eines Linguisten nennt). Außerdem ist die Inhaltsanalyse für die Zwecke der vorliegenden Arbeit insofern nicht geeignet, als die Reduktion des Textes auf die wichtigsten thematischen Aspekte jenseits der Oberflächenrepräsentation dem eigentlichen Ziel, genau diese sprachlichen Strukturen aufzudecken, widerspricht. Fiehler -(1990b): -Ebenen -der -Emotionsanalyse Fiehler bezieht sich auf Gespräche, aber einige seiner Überlegungen lassen sich ohne Aufwand auf geschriebene Texte übertragen. Er nennt verschiedene Ebenen der Emotionsanalyse, die für eine Textanalyse einerseits als Inhaltskategorien wichtig sind, andererseits als Texthandlungen, die durch einzelne Teiltexthandlungen vollzogen werden. Die Ebenen (auch als idealisierter Ablauf eines Gespräches zu lesen) sind wie folgt: <?page no="301"?> 6.7 - Textlinguistik: -Emotive -Texte, -Stilistik -und -Textsorten - 291 • Deutung der eigenen Emotionen • Erwartungen/ Vorstellungen über angemessene Emotionen bei einem selbst, beim unmittelbaren Kommunikationspartner und bei Dritten (auf der Grundlage von Emotionsregeln) • Erwartungen/ Vorstellungen über die der Situation angemessene Manifestation von Emotionen bei einem selbst, beim unmittelbaren Kommunikationspartner und bei Dritten • Manifestierte eigene Emotionen (Ausdruck oder Thematisierung) • Deutung der von anderen manifestierten Emotionen (auf der Grundlage von Ausdruck oder von Thematisierung) • Zuschreibung von Emotionen (auf der Grundlage von Unterstellung, des Ausdrucks oder der Thematisierung) Ein meines Erachtens wichtiger Gedanke von Fiehler ist die Unterscheidung zwischen Emotionsindikatoren und Emotionsdeutungsindikatoren. Erstere sind Hinweise auf den emotionalen Zustand eines Interaktionspartners, Letztere sind Hinweise darauf, wie emotionale Befindlichkeit attribuiert wird (vgl. Fiehler 1990b: 186ff.). Jahr -(2000): -Emotionsstrukturen -in -Sachtexten Jahr entwickelt eine Methode zur Aufdeckung von Emotionsstrukturen in Sachtexten. Sie setzt sich intensiv mit der Frage auseinander, woran emotionale Betroffenheit der Textproduzentinnen und -produzenten in Texten zu erkennen ist (vgl. Jahr 2000: 10; 2008). Es geht also dezidiert um die emotionale Struktur der schreibenden Person. Dabei nutzt sie vor allem emotionspsychologische Hinweise auf den Grad der Ich-Beteiligung bzw. der Selbstbetroffenheit und Scheeles (1990) Unterscheidung zwischen Innen- und Außen-Emotionen. 77 Bei Innen-Emotionen stehen Kognitionen, also Bewertungen und Selbstaufmerksamkeit sowie auch flexible Strategien der Reaktion und Regulation im Vordergrund (prototypische Kernemotionen), während Außen-Emotionen unwillkürliche, mit starker Erregung einhergehende und kognitiv nicht durchdringbare Emotionen sind (vgl. Jahr 2000: 13ff.). Beim Schreiben von Texten sind hauptsächlich Innen-Emotionen von Bedeutung. Ich-Betroffenheit und Emotionen müssen im Text Spuren hinterlassen, da Emotionen den Textproduzenten bzw. die Textproduzentin beeinflussen (vgl. Jahr 2000: 9). Jahr (2000: 231ff.) nimmt an, dass jede Textstruktur neben der grammatischen und der pragmatischen Ebene auch eine emotionale Ebene hat, eine eigene Emotionsstruktur. 77 Scheele, Brigitte (1990): Emotionen als bedürfnisrelevante Bewertungszustände. Grundriß einer epistemologischen Emotionstheorie. Tübingen: Francke; zit. n. Jahr (2000). <?page no="302"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 292 Erst wenn im Text außersprachliche und sprachliche Hinweise darauf enthalten sind, dass bestimmte Faktoren der Intensität erfüllt sind, kann von Emotionen die Rede sein. Die Intensitätsvariablen (I-Variablen), die Jahr (2000: 35) für die Analyse von Texten heranzieht, sind die folgenden: psychologische Nähe zur Thematik des Textes, Wichtigkeit der thematisierten Sachverhalte für die Gesellschaft, Wichtigkeit für die eigene Person, Erwartung oder Nichterwartung, Tadelnswürdigkeit oder Verdiensthaftigkeit, Grad der sozialen Zustimmung, Grad der Überzeugtheit von der eigenen Position, gesteigerte Betroffenheit. Um sprachliche Hinweise auf die I-Variablen zu finden und somit Textpassagen Emotionalität zuweisen zu können, zieht Jahr drei Klassen von Elementen heran. 1) Der situative Rahmen betrifft bei Jahr (2000: 25) außersprachliche Aspekte wie beispielsweise das Überzeugtsein von der eigenen Position aufgrund der persönlichen Verantwortlichkeit: „Je überzeugter er [= der Textverfasser, Anm. v. H.O.] ist, um so intensiver werden seine Emotionen bezüglich jeweiliger Gegenstände sein und um so nachdrücklicher wird seine Überzeugung in den geschriebenen Text eingehen.“ Diese Auffassung ist insofern zu kritisieren, als auch Menschen, die im Unrecht sind und dies wissen, ihren Irrtum weiterhin vertreten können und ihn oft sogar noch emotionaler verteidigen. 2) Die zweite wichtige Kategorie von Hinweisen speist sich aus der Inhaltsseite. Hier sind zu berücksichtigen: das explizite oder implizite Thematisieren der Wichtigkeit von Sachverhalten und Wünschen, Hinweise auf die persönliche Betroffenheit und implizite oder explizite Bewertungen, die mit den I-Variablen zusammenhängen. 3) Natürlich ist die sprachliche Ausdrucksseite zu analysieren, konkret Hinweise auf der lexikalischen, der syntaktischen und der textuellen Ebene, Äußerungsformen der Bewertung und Expressivität (vgl. Jahr 2000: 35f.). All diese Hinweise werden von Jahr (2000: 38f.) verschiedenen Emotionsgruppen in einem Strukturschema der Emotionen zugeordnet (Zufriedensein, Unmut, Resignation, Hoffnung, Befürchtung, Befriedigung, Enttäuschung, Vorwurf-Emotion, Billigung-Emotion, Geringschätzung, Wertschätzung, Abwehrgefühl, Selbstwertschätzung und Selbstunzufriedenheit). Schließlich stellt Jahr (2000: 109ff.) auch einen quantitativen Zusammenhang zwischen Text und Emotion her, indem sie folgende Formel entwirft: <?page no="303"?> 6.7 - Textlinguistik: -Emotive -Texte, -Stilistik -und -Textsorten - 293 Emotionale Intensität = [Betroffenheitsfaktor (immer 1) x (Summe der wertenden sprachlichen Mittel + Faktor der Expressivität) x Wert für die I- Variablen] / Anzahl der Wörter der jeweiligen Texteinheit 78 Das Ergebnis ist eine Art Emotionskoeffizient, der Aussagen über die relative Emotionalität eines Textes im Vergleich zu anderen erlaubt. Es besteht keine lineare, sondern eine vektorielle Beziehung zwischen der Zahl bewertender sprachlicher Mittel und der emotionalen Intensität. Zwischen der kommunizierten Intensität und der tatsächlich empfundenen muss keine Korrespondenz bestehen, unter anderem wegen der Kontextabhängigkeit und eines Synergieeffekts (gegenseitige Beeinflussung sprachlicher Mittel) (vgl. Jahr 2000: 112, 223). Aus ihrer Untersuchung von Sachtexten leitet Jahr (2000: 216ff.) Muster signalisierter Emotionen in Texten ab. Zunächst zu allgemeinen Aspekten: Sie stellt für ihr Korpus fest, dass negativ besetzte Emotionen mit höherer emotionaler Intensität kommuniziert werden als positiv besetzte. Die höchsten emotionalen Intensitäten treten bei gravierenden Auswirkungen auf die menschliche Gesellschaft oder bei starker persönlicher Nähe der Verfasserin oder des Verfassers zu den Sachverhalten auf. Zum Verlauf der Emotionalität: Der Anfang eines Textes ist häufig in einem unemotionalen Stil oder mit einer nur geringen emotionalen Intensität verfasst. Der Textverlauf ist durch mehrfaches Anwachsen und Abfallen der emotionalen Intensität gekennzeichnet; am Ende des Textes wird meist ein Maximum erreicht. Im letzten Abschnitt der untersuchten Texte sinkt die emotionale Intensität, wenn der gesamte Text endet, sie bleibt aber hoch bei der Fortführung des Themas in nachfolgenden Kapiteln. Die Intensität ist aber nicht nur von der Emotionsqualität und von der Position im Text abhängig, sondern auch von inhaltlichen Aspekten: Die Spezifizierung von Sachverhaltsaussagen und die Erläuterung von illustrierenden Beispielen erfolgen in geringer emotionaler Intensität. Wenn die Fakten nur unzureichend für sich selbst sprechen, wird eine hohe emotionale Intensität kommuniziert. Hingegen wird niedrigere Intensität vermittelt, wenn antizipierend Kritik abgewehrt wird. Die Textdarstellung erscheint lebendiger, wenn die Qualität der Emotionen wechselt. Texte wissenschaftlicher Inhalte unterscheiden sich vorrangig entweder durch die Ablehnung bzw. die Annahme von Sachverhalten oder durch die Missbilligung des Verhaltens von Urhebern. 78 Der Betroffenheitsfaktor muss immer 1 entsprechen, weil ohne Ich-Betroffenheit keine Emotionalität eines Textes erwartet werden kann. Der Faktor der Expressivität errechnet sich aus der Summe der Wichtungswerte, die einzelnen sprachlichen Mitteln der Bewertung wegen ihrer Ausdrucksstärke zugeordnet wurden. <?page no="304"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 294 Jahr (2000: 222) gibt zu bedenken, dass bei Texten mit hoher Emotionalität die Analyse erschwert ist: „Solch ein Text wirkt als Ganzes sehr emotional und möglicherweise trägt jedes Lexem, jede syntaktische Konstruktion und jedes Stilelement zur Emotionalität bei. Dies sprengt dann die Möglichkeiten einer linguistischen Analyse, die mit einer Selektion sprachlicher Mittel spezifische Aussagen belegen möchte.“ Dieses Problem gilt auch für die vorliegende Arbeit. Zur Gesamteinschätzung von Jahrs Ansatz verweise ich auf die Kritikpunkte, die sie selbst äußert, als da wären der Umstand, dass Emotionen unterstellt, nicht gemessen werden, dass Emotionsbenennungen generell semantisch unscharf sind und dass anhand der Emotionsindikatoren situativer Rahmen, Inhaltsseite und sprachliche Ausdrucksseite nicht eindeutig entschieden werden kann, ob eine Emotion vorliegt oder nicht (vgl. Jahr 2000: 49f.). Jahr stützt sich auf Emotionsdefinitionen von Scheele und Mees, was in der vorliegenden Arbeit nicht übernommen wird. Die von ihr angegebene Formel ist nicht unplausibel, aber die Beispielanalysen zeigen, dass die Anwendung kompliziert ist und die mathematischen Operationen eine Reliabilität, Validität und Objektivität suggerieren, die nicht gegeben ist: Eine andere Person, die nach demselben Schema vorgehen würde, würde aller Wahrscheinlichkeit nach ein anderes Ergebnis ausrechnen. Damit soll nicht behauptet werden, dass Jahrs Ansatz keine brauchbare Aussage über die Emotionalität eines Textes erlaubt. Schwarz--‐Friesel -(2007): -Anwendung -auf -Korpora Bei Schwarz-Friesel (2007: 212) wird die Emotivität eines Textes als inhärenten Teil der Informationsstruktur konzeptualisiert. Die verschiedenen Ebenen, die dabei zusammenwirken, fasst sie folgendermaßen zusammen: „Jeder Text stellt eine Abfolge von Sätzen (S1 etc.) dar, denen bestimmte semantische Repräsentationen zugeordnet werden, die als Propositionen (P1 etc.) beschrieben werden können. Diese Propositionen, die in ihrer Gesamtheit das textsemantische Potenzial bilden, beziehen sich auf referenzielle Sachverhalte (RS1 etc.) und liefern die Informationen zum Aufbau einer konzeptuellen Referenzialisierungsstruktur. Diese interne, durch die sprachlichen Informationen vermittelte Sachverhaltsrepräsentation ist das Textweltmodell (TWM) eines Textes. Das TWM stellt eine geistige Referenzstruktur in unserem Gedächtnis dar, die eine bestimmte Realität repräsentiert. In dieser Referenzialisierungsstruktur sind die Text-Referenten (und die jeweiligen Relationen zwischen diesen) in ihrer raum-zeitlichen Verankerung und den diversen Zuständen und Prozessen repräsentiert.“ (Schwarz-Friesel 2007: 35) <?page no="305"?> 6.7 - Textlinguistik: -Emotive -Texte, -Stilistik -und -Textsorten - 295 Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Feststellung, dass das TWM zwar im Text angelegt ist, sich aber erst durch den Aneignungsprozess der Rezipientinnen und Rezipienten und in einem bestimmten kulturellen Kontext entfaltet: Unterschiedliche (vor allem kulturelle) Erwartungen führen zu unterschiedlichen Emotionsmanifestationen (vgl. auch Dorfmüller-Karpusa 1989: 529; Wilce 2009: 47f.). Schwarz-Friesels empirische Untersuchungen beziehen sich auf die satzübergreifenden Emotionsmanifestationen in Holocaustdarstellungen und Presseberichten über den Nahostkonflikt. Winko -(2003): -Emotivität -in -literarischen -Texten Winko widmet sich der Analyse der Repräsentation von Emotionen in Texten (speziell in literarischen, wissenschaftlichen und Alltagstexten), stellt also eine ähnliche Frage, wie sie in der vorliegenden Arbeit zentral ist. Im theoretischen Teil kommt sie dabei zu ähnlichen Schlüssen, wie sie bisher formuliert worden sind: • Unterscheidung zwischen Emotionsthematisierung und Emotionsausdruck (bei ihr als ‚Präsentation‘ bezeichnet, vgl. Winko 2003: 111) • Betonung der kulturellen (z.B. auch epochen-, gruppen- und textsortenspezifischen) Kodiertheit von Emotionsrepräsentationen (gegenüber der Gleichsetzung von Emotionsausdruck und Emotionen, vgl. Winko 2003: 110ff., 115) • Einbeziehung aller sprachlichen Ebenen und des Kontextes (textexterner Informationen als ‚Korrektiv‘, vgl. Winko 2003: 113, 118) • Schwierigkeiten einer eindeutigen Zuordnung emotiver sprachlicher Elemente zu einzelnen Emotionsqualitäten (höchstens ausgenommen explizite Thematisierungen, vgl. Winko 2003: 112f.). Für literarische Texte sind neben den verwendeten sprachlichen Mitteln, ihrer Hierarchisierung in der Textanalyse und ihren Funktionen vor allem Fragen der Fiktionalität und der Narrativität von Bedeutung (vgl. Winko 2003: 130). Daher sieht ihr Ansatz zur Beschreibung von Lyrik literaturspezifische Analyse-Ebenen vor: • Emotionen in der fiktiven Welt: Zu berücksichtigen sind z.B. Beschreibungen von Handlungen und Situationen, die in einem bestimmten kulturellen Kontext emotionale Interpretationen nahelegen (z.B. Naturszenen, Auftreten von personifizierten Emotionen, Tod und Geburt, vgl. Winko 2003: 131f.). <?page no="306"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 296 • Oberflächenpräsenz: Hier werden implizite und explizite Verfahren des Emotionsausdrucks oder der Emotionsthematisierung hervorgehoben; explizit ist der Gebrauch des Emotionswortschatzes, implizite Mittel sind z.B. phonetische/ lautliche sowie rhythmisch-metrische Präsentation, grammatisch-syntaktische Präsentation (z.B. Ausrufe), lexikalische Präsentation (z.B. emotional konnotierte Wörter), bildliche Präsentation (z.B. Metaphern), rhetorische Präsentation (z.B. rhetorische Figuren) (vgl. Winko 2003: 132-137). • Narrative Präsentation: Hierzu zählen erzähltheoretische Kategorien wie Distanz und Fokalisierung (nach Genette) und die Position des Sprechers (homo-, hetero- oder autodiegetisch) (vgl. Winko 2003: 137ff.). • Textinterner Aufbau und Gewichtung von Emotionen: Näher betrachtet werden die Textstruktur und die Bewertung von Emotionen im Text als positiv oder negativ (vgl. Winko 2003: 140f.). • Ziele der Emotionsgestaltung: Ziele können sein, dass die Rezipientinnen und Rezipienten die textuelle Emotionalität verstehen, nachvollziehen oder auch übernehmen. Direkte Aufforderungen und direktes Ansprechen können dies einleiten (vgl. Winko 2003: 141ff.). • Kulturelle Kontextualisierung: Auf dieser Ebene geht es um die Identifikation und Bestimmung impliziter Emotionen (z.B. stark konventionalisierte Konnotationen, intertextuelle Bezüge, Stereotype, typisierte Situationen), die Auswahl von Kontexten und die Legitimation dieser Wahl (Einbeziehung literarhistorischen Wissens, populärer Texte aus der Zeit, Literaturpraxis) (vgl. Winko 2003: 144-149). Winko nutzt diese theoretischen Vorüberlegungen zur Beantwortung von verschiedenen Fragestellungen mit Bezug auf die Zeit um 1900, z.B. um Konzeptionen von Emotionen bei spezifischen Autoren (wie Rainer Maria Rilke) und von zeittypischen Lyrikanthologien aufzuspüren. Ein wesentliches Ergebnis ist, dass sowohl Differenzen als auch Kontinuitäten zu beobachten sind, ein Wechselspiel zwischen Tradition und Innovation, konventionalisierten und individuellen Konzeptualisierungen bzw. Stereotypen und originellen Emotionsthematisierungen und -präsentationen (vgl. Winko 2003: 421ff.). Bednarek -(2008): -Emotionsthematisierungen Bednarek (2008: 14, 154) zieht folgende Kriterien für die Beschreibung von Instanzen der sprachlich vermittelten Emotionalität (bei ihr der englischen Wissenschaftstradition folgend affect) heran: <?page no="307"?> 6.7 - Textlinguistik: -Emotive -Texte, -Stilistik -und -Textsorten - 297 • Persönlicher Bezug: Sprecher (authorial affect, z.B. I love) - dritte Personen (non-authorial affect). • Wortart: Adjektiv, Verb, Nomen, Adverb. • Kulturell bedingte Konstruktion eines Sachverhalts: als positiv/ negativ. • Ausdrucksebene: para-/ nonverbale Manifestation oder mental-innerlicher emotionaler Zustand (Verhaltensweise oder mentale Disposition). • Intentionalität: Emotion als intentional auf etwas gerichtet oder als nicht gerichtete Stimmung. • Intensität: niedrig (z.B. like) - mittel (z.B. love) - hoch (z.B. adore). • Realitätsbezug: Gegenwart und tatsächlich vorhandene Zustände (Realis) oder zukünftige und nicht vorhandene Zustände (z.B. the boy wanted the present). • Emotionsklasse: Bednarek nimmt drei große Emotionsgruppen an, denen die einzelnen Instanzen zugeordnet werden können, nämlich in/ security, dis/ satisfaction, un/ happiness. Jeder Teilsatz eines Textes kann nach diesen Kriterien bestimmt werden, sofern grundsätzlich eine emotive Färbung gegeben ist. Analyseergebnisse von Bednarek nach diesem Schema werden im nächsten Abschnitt mit Bezug auf Textsorten beschrieben. Rothenhöfer -(2011): -Einstellungsindikation -und -Ereignissemantik Rothenhöfer (2011) untersucht politische Reden, Zeitungsartikel und andere thematisch einschlägige Texte aus den Jahren 1945 bis 2005 zur Konzeptualisierung des Kriegsendes 1945 in Deutschland. Sein Erkenntnisinteresse ist, auf welche Weise kollektive Grenzerfahrungen sprachlich und hier vor allem emotional kodiert werden - er bezeichnet dies als ‚emotive Ereigniskonstitution‘ (vgl. Rothenhöfer 2011: 50). Seine zentralen Thesen: „Die Ereignisbezeichnungen - als komplexe Nominalisierungen - verhalten sich mit ihren lexikalisch präsupponierten Teilnehmer- und Erlebnisrollen abbildhaft (ikonisch) zu den unterstellten (kognitiven) Schematisierungen des Umbruchsereignisses.“ „Komplexe Nominalisierungen indizieren Sprechereinstellungen, die sich aus den Erlebnisperspektiven der diagrammatisch präsupponierten Teilnehmerrollen herleiten lassen. Die sachverhaltskonstitutive Referenz der präsupponierten Teilnehmerrollen kann jedoch (durch konversationelle bzw. konventionelle Implikaturen oder diskursive Routinen) außer Kraft gesetzt werden.“ (Rothenhöfer 2011: 55) Ausgehend von theoretischen Positionen zur sprachlichen Kodierung von Identifikation und Umbrüchen im Sinne „einer individuellen und sozial ge- <?page no="308"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 298 teilten Zeitwahrnehmung“ (Rothenhöfer 2011: 69) entwickelt er ein Textanalysemodell, das auf der lexikalischen Ebene als Analysekategorien Hochwert- und Fahnenwörter, neutrale Wörter, Unwert- und Stigmawörter vorsieht, auf der syntaktischen Ebene die verschiedenen semantischen Rollen sowie Zustands-, Handlungs- und Vorgangsprädikate und auf der Handlungsebene Sprechereinstellungen und die deontische Indizierung (vgl. Rothenhöfer 2011: 82 für einen Überblick). Auf diese Weise arbeitet er die sich im Laufe der Zeit wandelnden Perspektivierungen und argumentativen bzw. narrativen Strategien im Diskurs über den Umbruch 1945 heraus. Emotionen -im -Diskurs Unter ‚Diskurs‘ und folglich unter einer ‚Linguistik des Diskurses‘ wird teilweise Unterschiedliches verstanden, und zwar wegen der komplexen wissenschaftshistorischen Entwicklung und wegen der Begriffsverwirrung bezüglich des Kernterminus ‚Diskurs‘ (vgl. Habscheid 2009: 72ff.). Auf diesen seit einigen Jahren florierenden Forschungszweig kann in der vorliegenden Arbeit nicht näher eingegangen werden, was kurz zu begründen ist. Als Beispiel für eine konkrete Methode soll der breiter rezipierte Ansatz einer ‚Diskurslinguistik nach Foucault‘ (so der Titel eines von Warnke herausgegebenen Sammelbandes) erwähnt werden (vgl. Warnke/ Spitzmüller 2008; Warnke 2008; Warnke 2007). Foucaults rhizomatisches Werk bietet hierfür den Impuls, die Methode DIMEAN (Diskurslinguistische Mehr- Ebenen-Analyse) erlaubt ein stark strukturiertes Vorgehen für den Vergleich von Texten. Im Mittelpunkt steht hier laut Warnke (2008: 40) die „Analyse sozialer Praktiken der Hervorbringung und Verteilung von Wissen“. Wie der Name schon sagt, werden unterschiedliche Ebenen berücksichtigt und aufeinander bezogen (vgl. Warnke/ Spitzmüller 2008: 44, Erläuterungen 24-43; Warnke 2008: 51, Erläuterungen 45-50): • wortorientierte Analyse (z.B. Schlüsselwörter, Namen) • propositionenorientierte Analyse (z.B. Syntax, soziale, expressive, deontische Bedeutung, Implikaturen) • textorientierte Analyse (Textstruktur, Textthema, Textteile mit den üblichen textlinguistischen Fragestellungen und Termini) • Analyse der Akteure (Interaktionsrollen, Diskurspositionen, Medialität) • eine Analyse der transtextuellen Ebene (z.B. Topoi, Historizität) Eine Analyse nach diesem Schema ist sehr aufwändig und umfassend. Eine Anwendung auf emotionsbezogene Fragestellungen ist möglich - bei den Anwendungsbeispielen in den Sammelbänden von Warnke (2007) sowie <?page no="309"?> 6.7 - Textlinguistik: -Emotive -Texte, -Stilistik -und -Textsorten - 299 Warnke und Spitzmüller (2008) sind zahlreiche Hinweise auf die Rolle von Emotionen im Diskurs enthalten. Diese Mehr-Ebenen-Analyse umfasst vor allem auf der intratextuellen Ebene viele Aspekte, die auch in der emotionslinguistischen Textanalyse untersucht werden. Im empirischen Teil der Arbeit wird aber keine Diskursanalyse im Sinne der oben angegebenen Definition angestrebt, wenn auch textübergreifende Muster untersucht werden, was durchaus einem weiteren Verständnis von Diskurs entspräche. Es geht dabei aber nicht um Gesellschaftskritik oder das Aufdecken von Wissens- und Machtstrukturen, wie dies für die Diskursanalyse zentral ist. Um Missverständnissen vorzubeugen, wird in den folgenden Kapiteln der Terminus ‚Diskurs‘ vermieden. 6.7.3 - Emotive -Textsortenspezifika Textsorten werden unter anderem durch bestimmte Textsortenstile geprägt. Dabei kommt es auf eine angemessene Balance zwischen typischen und kreativen Formulierungen, zwischen Konventionalität und Individualität an (vgl. Lage-Müller 1995: 65). Die Möglichkeiten des Einsatzes emotiver Mittel sind dabei nicht für jede Textsorte gleich. Offensichtlich gibt es Restriktionen dafür, welche Ausdrucksmittel in welcher Intensität und in welcher Häufigkeit angemessen sind. Zu dieser Frage gibt es eine Reihe von Untersuchungen, einige werden in der Folge zusammengefasst. Einordnung -in -die -Textsortenlinguistik Auf eine allgemeine Einführung in die Textsortenlinguistik wird an dieser Stelle verzichtet. Hingewiesen sei nur darauf, dass die wesentlichen Richtungen der Textsortenlinguistik - formale/ sprachstrukturelle, kognitive und pragmatische/ funktionale Ansätze - in Wahrheit nicht zu trennen sind. Textgestalt, Formulierungsmuster, Textthema, Textfunktion und situative Aspekte sind gleichermaßen textsortenkonstituierend, und zwar je nach Textsorte oder sogar Einzeltext in unterschiedlichen Dominanzverhältnissen (vgl. W. Heinemann 2000b: 513). In der vorliegenden Arbeit wird der Terminus Textsorte im Sinne von Brinker (2010: 125) verstanden: „Textsorten sind konventionell geltende Muster für komplexe sprachliche Handlungen und lassen sich als jeweils typische Verbindungen von kontextuellen (situativen), kommunikativ-funktionalen und strukturellen (grammatischen und thematischen) Merkmalen beschreiben. Sie haben sich in der Sprachgemeinschaft historisch entwickelt und gehören zum Alltagswissen der Sprachteilhaber; sie besitzen zwar eine normierende Wirkung, erleichtern aber zugleich den kommunikativen Umgang, indem sie den Kommunizierenden mehr oder weniger feste Orientierungen für die Produktion und Rezeption von Texten geben.“ <?page no="310"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 300 Offensichtlich unterscheiden sich Textsorten hinsichtlich des Faktors Emotivität (vgl. Rössler 2001: 13f.). Ein wissenschaftlicher Text geht anders mit den Möglichkeiten der Emotionsbenennung und des Emotionsausdrucks um als ein Privatbrief, um ein triviales Beispiel zu nennen. Dieser Umgang beruht auf dem Textsortenwissen der Textproduzentinnen und -produzenten. Gerade die unbewussten oder bewussten Textsortennormen eröffnen die Möglichkeit, wiederum unbewusst oder bewusst gegen sie zu verstoßen, wodurch besonders starke Emotionalisierung bewirkt werden kann (vgl. Lage-Müller 1995: 66ff.). Textsortenbrüche sind also für die Emotionslinguistik von großem Interesse. Es gibt wie erwähnt einige Einzelstudien zu typischen Mustern der Emotivität in verschiedenen Textsorten (z.B. Bamberg 1997, Ungerer 1997, Stoeva- Holm 2005), „doch ist die Erforschung schriftlicher Vertextungsprinzipien hinsichtlich ihrer emotionalen Manifestationen noch ein Desiderat“ (Schwarz-Friesel 2007: 14). Bei vielen besprochenen Textsorten handelt es sich um Alltagstexte, da hier emotionale Aspekte naheliegen (vgl. M. Heinemann 2000: 607f., 610ff. für die wichtigsten Merkmale von Alltagstexten, vor allem die Funktion Kontakterhaltung und -festigung). Schmidt (1980) stellt einen Ansatz für eine explizit emotional bestimmte Textsortentypologie vor, die auf funktionalistischen Ansätzen beruht. Seine Hierarchie sieht auf der obersten Ebene die Textklasse vor (generelle Textfunktion), auf einer mittleren Ebene Texttypen (dominierende Textfunktion) und auf der untersten Ebene die Textart (dominierendes Kommunikationsverfahren). Die Hauptfunktionen bzw. Textklassen können weiter in unterschiedliche Textfunktionen bzw. Textarten unterteilt werden (vgl. Schmidt 1980: 83; Büscher 1995): • Informierende Texte dienen primär dem Übermitteln von Information. Dies kann sachbetont erfolgen (z.B. Mitteilung, Bericht), aber auch erlebnisbetont, subjektiv (z.B. Mitteilen von Empfindungen). • Aktivierende Texte sollen Einfluss auf das Handeln, Denken und Fühlen der Rezipientinnen und Rezipienten nehmen. Hier lassen sich unterscheiden: überzeugende Texte, mobilisierende Texten (z.B. Bitte, Aufruf, Befehl), normierende Texten (z.B. Gesetze), interessierende, die Aufmerksamkeit lenkende Texten (z.B. Buchankündigungen) und emotional bewegende Texte (z.B. Laudatio, Traueranzeigen). • Klärende Texte haben Erörtern und Problemlösung zum Zweck. Untersuchende Texte sind meist wissenschaftlich und teilen neue Sachverhalte mit, während problemlösende Texte bei den Rezipientinnen und Rezipienten die Erkenntnis fördern sollen (z.B. Erörterung, Essay). <?page no="311"?> 6.7 - Textlinguistik: -Emotive -Texte, -Stilistik -und -Textsorten - 301 In der Folge werden einige Textsorten bzw. Textsortengruppen, die in der bisherigen Forschung höhere Aufmerksamkeit erhalten haben, näher betrachtet: Briefe, Tagebücher, literarische Texte, wissenschaftliche Texte und Anzeigen. 79 Auf Medientexte wird an anderer Stelle näher eingegangen (s. Kap. 8). Vergleichende -Korpusanalysen: -Textsortenspezifische -Muster -der Emotivität Neben der Typologisierung der emotiv-wertenden Lexeme des Deutschen (s. 6.3) erstellte Fomina (1999: Kap. 4.3.) auch Profile der Häufigkeitsverteilung der von ihr entwickelten Kategorien in unterschiedlichen Textsorten. Ihre Ergebnisse kurz zusammengefasst: Es gibt große Unterschiede zwischen literarischen, wissenschaftlichen sowie populärwissenschaftlichen Texten und Zeitungstexten bezüglich der Verwendung des emotiven Wortschatzes. Gemeinsam ist diesen Textsorten, dass vor allem denotativ emotive Lexeme verwendet werden, insbesondere solche, die Tätigkeiten, Eigenschaften, Zustände und Äußerlichkeiten von Menschen beschreiben (vgl. Fomina 1999: 162). Eine andere Gemeinsamkeit ist, dass Lexeme mit pejorativer Bedeutung überproportional stark vertreten sind (vgl. Fomina 1999: 165). Während in literarischen, wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Texten die Tendenz besteht, konkrete Personen mit emotiv wertender Lexik zu beschreiben (egozentrische Tendenz), werden in Zeitungstexten eher Gruppen oder die Gesellschaft als Ganzes bewertet (vgl. Fomina 1999: 192). Nicht nur in literarischen Texten, sondern auch in wissenschaftlichen sowie in populärwissenschaftlichen Texten und Zeitungstexten kommt emotivsakrale Lexik vor (z.B. Paradies, apokalyptisch) (vgl. Fomina 2002: 396). Die Grenzlexik, also ein Lexemtyp mit extrem hoher Emotivität (z.B. Horror, traumhaft), ist stark vertreten. Insbesondere menschliche Eigenschaften werden mit brisanten Wörtern angesprochen (z.B. exaltiert, vgl. Fomina 1999: 165f.). Ferner zeigt sich eine Bevorzugung von Konkreta gegenüber Abstrakta, eine Vorliebe für Metaphern und die Neigung zu Kollokationen bzw. anderen relativ festen Fügungen (vgl. Fomina 1999: 192). Andere Schwerpunkte setzt Bednarek (2008) in ihren umfangreichen korpuslinguistischen Analysen zum Emotionswortschatz, also zu emotionsbezeichnenden Lexemen in der englischen Sprache auf der Grundlage einer Wortliste von 1.500 lexikalischen Einheiten. Sie untersucht die Häufigkeit und Verteilung von emotionsbezeichnenden Lexemen, von Substantiven, Verben und Adjektiven, von grammatischen Konstruktionen und von syntagmatischen lexikalisch-grammatischen Mustern in verschiedenen Korpora. 79 Beispielanalysen verschiedener Textsorten - Gedichte, Filmrezensionen, Comics, Pressetexte (speziell Schlagzeilen) - von verschiedenen Autorinnen und Autoren in: Studia Germanistica. Acta Facultatis Philosophicae Universitatis Ostraviensis 6 (2010). <?page no="312"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 302 Grundlage sind Texte aus vier verschiedenen Kommunikationsbereichen: Ihr Korpus umfasst belletristische Werke, wissenschaftliche Texte, Presseberichterstattung aus verschiedenen Pressemedien und Rubriken sowie konversationelle Texte. Ihre Ergebnisse lassen sich natürlich nicht ohne Überprüfung auf das Deutsche übertragen. Die wichtigsten Aussagen ihrer Korpusanalyse möchte ich dennoch in aller Kürze in Form einer Tabelle zusammenfassen. Tab. 6: Korpusspezifische Formulierungsmuster 80 Gespräche Journalistische Texte Eher adjektivisch geprägt. Häufig Emotionsausdruck in 1. Person, offen und im Präsens. Für Konversationstexte sind z.B. Konstruktionen in der Art von I’m (not) surprised (+ that-clause) mit den Emotionswörtern surprised, disappointed, surprise und hate häufig. Relativ häufig Intensivierungen (z.B. mit very). Auch häufig in der Vergangenheitsform und mit Bezug zu anderen Personen (in der Art von x was delighted). Eher nominal geprägt, eher Präteritum, häufig emotionale Verben für indirekte Rede und Passiv. First person affect: Dieser Typ kommt fast ausschließlich in Zitaten vor (der emoter ist nicht der Textproduzent). Häufige Lexeme: hate, admire, surprised. Third person affect: Dieser Typ wird eher in der indirekten Rede oder in Beschreibungen von Akteuren eingesetzt. Häufig verdeckte Emotivität in Komposita (z.B. surprise attack, hate trap). Häufig Intensivierungen (mit so, very), insbesondere mit disappointed und impressed. Häufig Vermutungen und Andeutungen, oft mit modalen Formulierungen (z.B. I would not be surprised; x will be disappointed). Ein weiterer häufiger Typ sind Muster mit attributiv verwendeten Adjektiven (undirected overt affect, z.B. an enthusiastic response). Literarische Texte Wissenschaftliche Texte Dieses Teilkorpus weist die größte Anzahl an Instanzen von emotionaler Sprache auf. Eher nominal und adjektivisch geprägt, eher Präteritum. Häufig Beschreibungen von Dispositionen (Charaktereigenschaften) in erzählenden Passagen und in Dialogen (z.B. x was anxious). Typisches Muster: Handlung + Emotion (Präp. + N) (z.B. giggled in surprise). Häufig attributiv verwendete Adjektive (undirected overt affect, z.B. anxious faces). In diesen Texten gibt es am wenigsten Beispiele für emotionalen Sprachgebrauch. Eher nominal geprägt, eher Präsens, häufig Passiv und viele Modalverben. Sowohl offene als auch verdeckte Emotionsthematisierungen in der 1. Person, allerdings oft im Plural (z.B. we should not be surprised; x COME as no surprise). Ähnlich wie in journalistischen Texten häufig Vermutungen, Vorhersagen, Andeutungen, oft mit modalen Formulierungen (z.B. x may/ must/ will/ would be pleased). 80 Nach Bednarek (2008: 35ff., 42-49, 101f., 106ff., 136f.). <?page no="313"?> 6.7 - Textlinguistik: -Emotive -Texte, -Stilistik -und -Textsorten - 303 Zur lexikalischen Verteilung noch ein paar Bemerkungen: Beispielsweise kommt love (Verb) am häufigsten im Konversationskorpus und in fiktionalen Texten vor, fear (Nomen) in Presseberichterstattung und feeling (Nomen) in wissenschaftlichen Texten. Insgesamt gibt es relativ wenige Übereinstimmungen in der Häufigkeit (vgl. Bednarek 2008: 37). Die Lexeme hope, love, fear, feeling, happy, worried, surprised, happily, desperately, passionately, to love, to worry, to enjoy, to care scheinen der kleinste gemeinsame Nenner zu sein (vgl. Bednarek 2008: 42-49). Am meisten gemeinsam haben fiktionale Texte und Presseberichterstattung, da beide Textgattungen mit Geschichtenerzählen zu tun haben; Menschen treten als Akteure auf. Für alle Korpora gilt, dass negative Emotionswörter bei den 50 häufigsten Lexemen überwiegen, am stärksten in den Gesprächen (vgl. Bednarek 2008: 50). Insgesamt aber ist das Bild über die Verteilung von positiven und negativen Lexemen sehr komplex und nicht einseitig beschreibbar. Emotionslexeme werden nicht-steigerbar (Adjektive), nicht-zählbar (Substantive), statisch (Verben) und privat (nicht öffentlich) eingesetzt (entsprechend den Emotionskonzepten in westlichen, individualistischen Kulturen, vgl. Bednarek 2008: 61). In Bednareks Arbeit werden noch viele weitere Detailergebnisse referiert, beispielsweise wie ausgewählte Emotionswörter kontextuell eingebettet sind und welche Funktionen Emotionsbeschreibungen in den verschiedenen Texten haben. In Gesprächen etwa sind Emotionsthematisierungen narrativ, evaluativ, sie zeigen soziale Rangordnung an und dienen dem Scherzen (auch Necken) sowie der Rechtfertigung, kurz allem Zwischenmenschlichen (vgl. Bednarek 2008: 211-215). In journalistischen Texten hingegen werden Emotionsthematisierungen hauptsächlich eingesetzt, um Sachverhalte zu evaluieren und Rezipientinnen und Rezipienten zu emotionalisieren - eher selten mit Bezug auf die Textproduzentin bzw. den Textproduzenten (vgl. Bednarek 2008: 215f.). Briefe Die Textsorte Brief zeichnet sich durch eine besonders große Formenvielfalt aus, sodass auch eine Definition als Kommunikationsform angemessen ist (vgl. Ermert 1979; M. Heinemann 2000: 612). Nach einer Unterscheidung in Sachbrief und persönlichen Brief sind noch zahllose weitere Textsortenvarianten mit je eigenen Spezifika möglich und in Gebrauch (z.B. Leserbrief, offener Brief, Blauer Brief usw.). Es handelt sich nicht zuletzt auch um eine literarische Textsorte (vgl. Nickisch 1991: 19-22, der unterschiedliche Typen der Fingiertheit von Briefen unterscheidet). Briefe sind also eine Textsortengruppe, was eine einheitliche Definition schwierig macht. Wissenschaftsgeschichtlich waren die Nachahmung des mündlichen Gesprächs und die persönliche <?page no="314"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 304 Kundgabe wesentliche Definitionskriterien, hinzu kommen Dialogizität und thematische Offenheit. Briefe dienen also vor allem dem Informieren, dem Appellieren und dem Manifestieren von produzentenbezogenen Botschaften (z.B. Emotionen). Sie sind aber auch Medien der Reflexion (vgl. Nickisch 1991: 1-9 für eine Zusammenfassung älterer Briefdefinitionen und die Entwicklung der Textsorte). Nicht nur, aber insbesondere in Privatbriefen lässt sich hohe Emotivität vermuten. Hier werden Emotionsausdruck und -reflexion bzw. Interesse an den Emotionen des Adressaten sogar erwartet. Nickisch (1991: 17) weist jedoch darauf hin, dass die Funktion von Briefen als Mittel des Emotionsausdrucks historisch betrachtet an Bedeutung verliert. Dieser 1991 postulierte Trend wurde bestätigt: Durch neuere Entwicklungen wie die vielen Möglichkeiten der digitalen Kommunikation (E-Mails, Chats, Diskussionsforen, Social Networks usw.) ist der Brief in seiner materiellen Form als Schreiben auf Papier auf dem Rückzug. Liebesbriefe wurden von der Linguistik eingehend untersucht. Historisch betrachtet sind sie keine alte Textsorte und großen Wandlungen unterworfen. Beispielsweise waren laut Wyss (2002: 77f.) Brautbriefe, die Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts geschrieben wurden, Briefe an die Braut in der Verlobungszeit, die ganz bestimmten Mustern folgten: Das bürgerliche Milieu spiegelte sich darin wider, indem literarische Codes und Bibelzitate verwendet wurden. Diese Briefe waren ein wichtiger Teil der Eheeinleitung und der Beziehungsgestaltung, vor allem aber der eigenen Rollendefinition. Authentische Emotionalität war keine wesentliche Beurteilungskategorie. Eine spezielle Art von Brief, nämlich das Briefinserat, untersucht Ortner (1996: 259ff.) hinsichtlich der Emotivität: In dieser nicht-privaten Form der Kommunikation mit geliebten Personen finden sich Kosenamen, Ausrufe und andere sehr expressive Formen. Neuere Liebesbriefe sind gekennzeichnet durch das Wechselspiel von Annäherung und Distanz (Codierung von Intimität), durch poetischen oder prosaischen Stil und den Einsatz von besonders vielen positiv-emotionalen Adjektiven, Attributen und Adverbien. Obligatorischer Bestandteil ist die Thematisierung der Liebe (vgl. Rohde-Höft 2005: 284). Alter, Geschlecht und historische Einbettung spielen eine große Rolle (vgl. Wyss 2000 für eine genauere Aufarbeitung von Briefanreden und Geschlechterunterschieden). Tagebücher Das Tagebuch ist eine besonders problematische Textsorte. Aufgrund der vielfältigen Formen lässt sich kaum eine allgemein brauchbare Definition finden. Es sind weitere Untergliederungen je nach Funktion und formalen Charakteristika notwendig. Die Bedeutung von Tagebüchern als literarische <?page no="315"?> 6.7 - Textlinguistik: -Emotive -Texte, -Stilistik -und -Textsorten - 305 Gattung sowie Textsorte des Alltags nimmt seit der Renaissance durch die steigende Wichtigkeit des ‚Ichs‘ zu, mit einem Höhepunkt im 19. Jahrhundert. Tagebücher können in jeder materiellen Form vorliegen (z.B. handschriftlich, digital), haben meist engen Zeitbezug zu den berichteten Ereignissen und sind üblicherweise aus der Perspektive der schreibenden Person verfasst. Ein wichtiges Merkmal ist ihre Privatheit: Tagebücher werden als Selbstgespräch (monologisch), als Mittel der Introspektion verstanden. Produzent/ in und Rezipient/ in sind identisch, mit Ausnahmen wie literarischen Tagebüchern, Blogs 81 u.Ä. Sie sind daher weniger an sprachliche Normen gebunden als andere Textsorten, beim privaten Tagebuch nur an jene, dass die Verfasserin bzw. der Verfasser sich selbst versteht. Wir begegnen oft Geheimcodes und Fragmenten. Je nach formaler, inhaltlicher und sprachlicher Gestaltung sowie Produktionssituation können Tagebücher einerseits den stream of consciousness darstellen und/ oder sich mündlicher Kommunikation annähern, andererseits dienen sie oftmals der geplanten und mehrmals überarbeiteten Selbststilisierung (vgl. Guntermann 1991: Teil A). Meyer-Sickendiek (2005: 424ff.) ordnet in seiner Affektpoetik (siehe unten) dem Tagebuch den Schmerz als zentralen Affekt zu. Die Schlüsselszenarien sind dabei sehr individuell, ebenso wie das subjektive Empfinden des Schmerzes, der selbst keine Emotion ist, aber Emotionen auslösen kann (vgl. Meyer-Sickendiek 2005: 428). Als Kernthema kann dabei die Hemmung eines Drangs angenommen werden. Dies trifft insbesondere auf Kafka zu, dessen Tagebücher sehr häufig mit detaillierten Beschreibungen auf körperliche Defizite und Blockaden Bezug nehmen: Kafka konzeptualisiert seinen schwachen Körper als Hindernis auf dem Weg zum schriftstellerischen und sozialen Erfolg (vgl. Meyer-Sickendiek 2005: 448ff.). Literarische -Texte Auch in der Literaturwissenschaft werden Emotionen zunehmend als textuelle Phänomene erkannt und analysiert. Literarische Texte sind typischerweise emotionale Texte. 82 Diese Aussage bezieht sich ebenso auf die Themen (Emotionen als sowohl individuelle als auch universelle Erfahrungen, vgl. Oatley 2004: 6ff., 11) wie auf die Funktion des Emotionsausdrucks und auf die Wirkung auf Rezipientinnen und Rezipienten (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 218; Alfes 1995: 116f.). Winko (2003: 31-39, 47-58) unterscheidet entsprechend 81 Blogs sind allerdings nicht einfach eine digitale Form von Tagebüchern, sondern eine wesentlich komplexere neue Kommunikationsform (vgl. Myers 2010). 82 Vgl. Tsiknaki (2005: 43), Hayakawa (1993: 137f.), Alfes (1995: 114). Winko (2003: 10ff.) weist auf unterschiedliche Phasen in der historischen Entwicklung der Literaturwissenschaft hin, von unreflektiertem Einfühlen in literarische Werke über Abwertung von Emotionalität hin zu differenzierten Auseinandersetzungen. <?page no="316"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 306 produktionsbezogene, rezeptionsbezogene, textbezogene und kontextbezogene Ansätze. Literatur wird eine wichtige Rolle im kulturellen Verständnis von Emotionen zugewiesen (vgl. Hogan 2003: 2). Typisch für Literatur sind Spiele mit Realität, Authentizität und Fiktion, Textsortennormen und sozialen Normen, Experimente mit kreativer Freiheit, ästhetischer Tradition und Innovation, und nicht zuletzt mit Konventionen hinsichtlich der Darstellung von Emotionen (vgl. Kruse 2002: 108). Narrative, erzählende Texte nicht nur literarischer Art kreisen um Protagonistinnen und Protagonisten, um die Hindernisse, die sie überwinden müssen, und um die Emotionen, die sie dabei durchlaufen (vgl. Oatley 2003: 497). Literatur ermöglicht dabei die Identifikation und zeigt Wege des Emotionsausdrucks oder des Verstehens der eigenen Gefühle auf (vgl. Leisi 1993: 85ff.; Hayakawa 1993: 140f. - Letzterer nennt dies ‚symbolische Erfahrung‘). Die Sprachprozesse sind in literarischen Texten Nowoshilowa (1997: 188) zufolge „maximal aktiviert“, das heißt, wertende, expressive und intensivierende Verfahren sind überrepräsentiert. Fomina (1999: 165, 168-175) stellte für ihr Korpus fest, dass in der Literatur verhältnismäßig viele umgangssprachliche Lexeme, emotive Zustandslexeme mit Bezug auf Personen, Grenzlexik, assoziativ-emotionale Lexeme, substantivierte Komposita, invektivische Lexik, intellektuell-kulturelle Lexik, das Äußere bewertende Lexeme und viele Metaphern verwendet werden. Außerdem dominieren negative Emotionen, hohe Expressivität und Intensität. In der Literatur geht es aber laut Kruse (2002: 104) auch darum, „das Latente, Emotionale, Tabuisierte, Unbegriffene, das Gelebte also, das noch nicht ausgesprochen werden kann, zur Sprache zu bringen.“ Alfes (1995) nimmt eine umfangreiche theoretische Aufarbeitung der Zusammenhänge zwischen literarischem Schreiben und Gefühlen vor. Emotionen werden als individuelle, historische, soziale und kulturelle Erfahrungen in literarischen Texten kodiert und sind im Schreibprozess, beim literarischen Handeln, von besonderer Bedeutung. Sie tragen zu wesentlichen Entscheidungen bei. Alfes’ (1995: 149, Hervorhebungen i.O.) Fazit: „Mit dem kon-/ textuell evozierten Befolgen der literarästhetischen Konventionen sind Gefühlsaktualisierungen verbunden, die spezifisch für literarisches Handeln erscheinen. Emotionen sind in diesem Zusammenhang sozial akzeptiert, handlungstragend und weniger intersubjektiv normiert als literarspezifisch codiert. Die gegenüber anderen Handlungszusammenhängen größere Stärke und Eigenheit von Gefühlskomponenten beruht a) kontextuell auf der im Literaturbereich zugestandenen (Referenz-, Monovalenz-, Bewertungs- und Zweck-) Freiheit und Individualität von Sprachhandlungen und b) textuell auf der im Literaturbereich zugestandenen (Sprach-, Begriffs-, Vernunfts-)Konventions- und Stereotypenbrechung beim Umgang mit Schriftmedien.“ <?page no="317"?> 6.7 - Textlinguistik: -Emotive -Texte, -Stilistik -und -Textsorten - 307 Die sogenannte Affektpoetik, die Meyer-Sickendiek (2005: 9) einführt, „begreift literarische Gattungen, d.h. übergeordnete Textformen als Medien, in denen sich menschliche Affekte artikuliert, transformiert oder kanalisiert haben“. Die Affektpoetik „geht davon aus, daß sich spezielle literarische Gattungen als von den menschlichen Affekten geprägte und von den Affekten erzählende Formen begreifen lassen“ (Meyer-Sickendiek 2005: 9). Dies ist als Gegenmodell zu strukturalistischen Auffassungen von Literatur als reinem Affektausdruck zu verstehen (vgl. Meyer-Sickendiek 2005: 10). Meyer-Sickendiek vollzieht den literarischen Umgang mit Emotionen von der Antike bis zur Gegenwart nach und ordnet den verschiedenen literarischen Gattungen Kernemotionen zu, deren Bewältigung bzw. Versprachlichung den Mittelpunkt der Gattungen bildet. Allerdings ist dieses Verhältnis historischem Wandel unterworfen, sodass sich Meyer-Sickendiek (2005: 40) zufolge Funktionsänderungen ergeben: „Sie [= die literarischen Gattungen, Anm. v. H.O.] tendieren zu einer Vervollkommnung bzw. Totalisierung des ‚emotionalen Standards‘.“ Zum Beispiel veränderte sich das Kernthema des literarischen Tagebuchs, der Schmerz, grundsätzlich nicht, aber das Verständnis von Schmerz sehr wohl von nicht körperlichem ‚Weltschmerz‘ hin zu einer ‚Resomatisierung‘, also zu einem körperlich definierten Schmerzkonzept fernab von ‚Empfindsamkeit‘ (vgl. Meyer-Sickendiek 2005: 43). Um die Kernemotionen der einzelnen literarischen Gattungen herauszuarbeiten, beruft sich Meyer-Sickendiek auf emotionspsychologische und linguistische Arbeiten, beispielsweise auf die Appraisal-Theorie und die Idee von Darstellungsregeln im Sinne von gattungstypischer Maskierung oder Übertreibung von Emotionen. Ausgehend von diesen Bedingungen und Schlüsselszenarien, das sind emotionale Episoden in der Entstehungsgeschichte, können kognitive Kernthemen bestimmt werden - beispielsweise in der Gattung Tragödie der ‚Tabubruch als Überschreitung eines moralischen Verbots‘ (vgl. Meyer-Sickendiek 2005: 52). Auch zu berücksichtigen sind die ‚emochronische‘ und die ‚emotopische‘ Ebene, also zeitliche und räumliche Aspekte der Emotionen (z.B. der Bezug zu Gegenwart bzw. Vergangenheit oder verschiedene Sinnesmodalitäten, die von den Emotionen affiziert werden, z.B. gustatorisch oder taktil). Schließlich ordnet Meyer-Sickendiek die Emotionen in verschiedene Gruppen von Affekten und ordnet ihnen literarische Gattungen zu. Plenische Affekte werden demnach in lyrischen Formen behandelt (z.B. Begeisterung in Hymnen). Dramatische Formen hängen mit interaktiven Affekten zusammen (z.B. Schuld mit der Tragödie). In Prosaformen geht es hauptsächlich um expektatorische Affekte (z.B. Angst im Märchen). Ästhetische Deformation ist demnach mit repulsiven Affekten assoziiert (z.B. Aggression mit der Satire) (vgl. Meyer-Sickendiek 2005: 36, 58, 63). <?page no="318"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 308 Einen anderen literaturhistorischen Ansatz verfolgt Lutz von Werder (1992). Seine ‚kreative Literaturgeschichte‘ kann hier nicht genauer besprochen werden, obwohl die emotionale Geprägtheit des Schreibens in seiner Arbeit ausdrücklich berücksichtigt wird. Er ordnet die Literaturgeschichte auf der Grundlage von expressiven Schreibstrategien neu und leitet Literatur aus der oralen Tradition der Urpoesie und Wortmagie her: Unter anderem zieht er Schreibstrategien von Goethe und in verschiedenen Epochen heran und verknüpft dabei Literatur mit ihrem größeren historischen Kontext, z.B. expressionistisches Schreiben mit Freuds Psychoanalyse. Eine Verknüpfung zwischen Emotionslinguistik und Literaturwissenschaft legt Frier (1976) in seiner Arbeit über die ‚Sprache der Emotionalität‘ in Musils ‚Verwirrungen des Zöglings Törleß‘ vor. Er untersucht darin detailliert Formen und Funktionen emotiver literarischer Sprache des Romans in verschiedenen thematisch-inhaltlich und linguistisch begründeten Kategorien wie z.B. Gefühlswortschatz, Emotionsmetaphern und vielen anderen emotiven Mitteln, die in diesem Kapitel bereits besprochen wurden. Besonders intensiv setzt er sich mit der Vielgestaltigkeit der Attribute bei Musil auseinander. Der Schwerpunkt liegt auf der Semantik des Emotionswortschatzes im weiten Sinne. Frier (1976: 309) hebt hervor, dass literarische Texte gerade versuchen, die Unaussprechlichkeit des Gefühls zu umgehen. Wissenschaftliche -Texte Thim-Mabrey (2012) und Drescher (2003a: 53) stellen den „affektleeren Stil“ wissenschaftlicher Texte infrage. Die traditionelle Auffassung fordert von wissenschaftlichen Texten Sachlichkeit und Objektivität, was mit Unabhängigkeit von Subjekten und mit Emotionslosigkeit gleichgesetzt wird. Emotionslosigkeit wiederum spiegele sich am besten in einem nüchternen, distanzierten, schmucklosen Stil ohne rhetorische Mittel bzw. in einer Sprache wider, die „rational, sachbezogen, eindeutig, explizit, konsistent, ökonomisch und entpersonalisiert“ (Drescher 2003a: 56) ist. Diese Affektleere soll die Abgrenzung zwischen Wissenschaftssprache und Alltagssprache einerseits sowie literarischer Sprache andererseits gewährleisten (vgl. Drescher 2003a: 55). Emotive sprachliche Mittel entsprechen nicht den Normen wissenschaftlichen Schreibens und werden daher von Personen, die als Expertinnen und Experten in einem Fachgebiet wahrgenommen werden wollen, möglichst vermieden (vgl. Thim-Mabrey 2012: 59). Dennoch lassen sich durchaus emotive Elemente in wissenschaftlichen Texten finden, wenn auch eher solche gemäßigter oder subtiler Art wie evaluative Modalwörter (z.B. bemerkenswerterweise), expressive Negationspartikel (z.B. keineswegs), Bewertungen und expressive Gradpartikel (z.B. äußerst, vgl. Thim-Mabrey 2012: 61). Hauptsächlich kommen emotiv-wertende Adjektive <?page no="319"?> 6.7 - Textlinguistik: -Emotive -Texte, -Stilistik -und -Textsorten - 309 und Adverbien vor, insbesondere solche, die von Verben abgeleitet sind (z.B. beeindruckend), wesentlich weniger Substantive und kaum Verben. Im Korpus von Fomina (1999: 188ff.) waren pejorative Lexeme, Superlative, Deverbativa wie z.B. Erschütterung, Wertsubstantiva wie z.B. das Rätselhafte und Reduplikationen wie z.B. Hick-Hack vertreten, obwohl die geforderte Affektleere dies nicht nahelegen würde; auch in der Untersuchung von Thim- Mabrey (2012) sind vereinzelt relativ stark emotionale Belege zu finden (z.B. Exklamativsätze). Dennoch sind einige der wichtigsten Merkmale wissenschaftlicher Sprache betont nicht-emotiv, darunter viele Passiv- und Infinitivkonstruktionen, Entagentivierung, das Vorherrschen von assertiven Sprechakten, das Ego-Tabu (vorzugsweise unpersönliche Formulierungen), das Erzähltabu (Vermeiden narrativer Strukturierung) und das Metapherntabu (vgl. Drescher 2003a: 58-66). In der Gegenwart wird dieses Paradigma zunehmend hinterfragt und die Notwendigkeit der verständlichen Kommunikation wissenschaftlicher Ergebnisse in den Vordergrund gerückt (vgl. Drescher 2003a: 57). So sind Drescher (2003a: 61f.) zufolge sowohl das Ego-Tabu als auch das Erzähltabu und insbesondere das Metapherntabu nicht mehr verbindlich, da auch die Stärken dieser Verfahren offensichtlich werden. Die vermeintliche Affektleere ist außerdem nicht in jedem Medium (etwa nicht bei Vorträgen) und nicht bei allen Textsorten gegeben, außerdem wird Emotivität nicht in allen Disziplinen gleich negativ bewertet (z.B. Geistesversus Naturwissenschaften). Wissenschaft als soziales Handeln muss auf persuasive Strategien zurückgreifen und ist Ergebnis vielfältiger Konstruktionsprozesse (vgl. Drescher 2003a: 71f.). Anzeigen Anzeigen informieren über einen bestimmten Sachverhalt und/ oder dienen der Kontaktaufnahme über Angebote oder Suchanfragen; dabei gilt vor allem die Konversationsmaxime der Qualität (Wahrheit, Offenheit, Vertrauen) (vgl. Ortner 1997: 98f., 103ff.). Dies betrifft insbesondere Todes- und Traueranzeigen, zu denen sehr intensive Forschung betrieben wurde (für einen Forschungsüberblick bis 1995 vgl. Lage-Müller 1995: 30-35; ferner Schwarz-Friesel 2007: 277-284; Gächter 2008; Stein 2012). Allein durch den Kommunikationsanlass ist offensichtlich, dass es sich um eine emotionslinguistisch relevante Textsorte handelt, in der kulturelle, gesellschaftliche und individuelle Vorstellungen über Trauer und Tod sichtbar werden. Durch den starken Grad an Konventionalisierung und die oft sehr unpersönliche Wahl fester Wendungen verlieren jedoch selbst stark emotive Mittel ihre Intensität. Gerade durch Abweichungen von Textsortennormen kann in Anzeigen jeder Art ein hoher Grad an Aufmerksamkeit oder Emotivität erzielt werden (vgl. Ortner 1997: 102, 108, 114). <?page no="320"?> 6 - Emotive -sprachliche -Mittel 310 In ihrer sehr umfangreichen Arbeit über Todesanzeigen in der deutschsprachigen Schweiz ist von der Lage-Müller (1995) der handlungsorientierten Beschreibung von Textsorten verpflichtet und betrachtet aus quantitativer und qualitativer Sicht die wesentlichen Texthandlungen, typische Teilhandlungen und fakultative Zusatzhandlungen, darüber hinaus para- und nonverbale Eigenschaften der Textsorte (z.B. Typographie, graphische Symbole etc.). Die wichtigsten Texthandlungen sind die Todesmitteilung (obligatorisch), Ehrung und Würdigung (fakultativ), Kontaktherstellung oder Kontaktverweigerung (fakultativ), die Gefühlsäußerung (siehe unten, fakultativ), eine Handlungsanweisung (z.B. Aufruf zur Teilnahme an der Beerdigung, fakultativ), Danksagung, Metakommunikation (z.B. dass keine Leidzirkulare versendet werden) sowie der Ausdruck von Wünschen und Hoffnungen (z.B. dass die verstorbene Person Ruhe finde) (vgl. Lage-Müller 1995: 169 für eine graphische Übersicht, 193-261 für genauere Ausführungen). Bei der Teilhandlung Gefühlsäußerung können nach Lage-Müller (1995: 243ff.) unterschiedliche Muster beschrieben werden, z.B. Trauer bekunden + evtl. positive Eigenschaften hervorheben (Wir trauern um, in tiefer Trauer) und verschiedene Konstellationen des Ausdrucks von Trauer, Dankbarkeit, Schmerz und Erschütterung. Stilistisch typisch für Todesanzeigen sind Sprüche (mit der Funktion, Trost zu spenden, z.B. durch Lebensweisheiten), eingeschränkte Lexik, viele vorgefertigte Formulierungen und Phraseologismen (z.B. in Liebe und Dankbarkeit). Es bestehen bei aller Normiertheit jedoch vielfältige Möglichkeiten der Kreativität und Individualität, etwa Abweichungen in allen genannten Teilhandlungen und im Erscheinungsbild. Damit wird oft starke Emotionalität signalisiert bzw. der Versuch, besondere Wertschätzung gegenüber der verstorbenen Person auszudrücken. Es gibt aber auch - selten - Abweichungen im negativen Bereich (vgl. Lage-Müller 1995: Kap. 10). Neuere Entwicklungen der Textsorte weisen in die Richtung größerer Individualität, Kreativität und einer Perspektivenverschiebung weg von der Information über das Ableben einer verstorbenen Person hin zur Trauerbekundung der Hinterbliebenen (vgl. Stein 2012: 167). Konventionellere Exemplare der Textsorte, insbesondere bei Anzeigen von Unternehmen, neigen eher zu schwächerer sprachlich ausgedrückter Emotionalität (vgl. Gächter 2008: 126f.); textexterne Aspekte wie das Alter der Verstorbenen und die Todesursache wirken sich auf die Intensität und Art der ausgedrückten Emotionalität aus - zudem ist der Ausdruck von Trauer kein obligatorischer Bestandteil von Todesanzeigen mehr (vgl. Stein 2012: 176f.). <?page no="321"?> 6.8 - Zusammenfassung - 311 6.8 - Zusammenfassung Da die Emotivität alle sprachlichen Ebenen und alle großen theoretischen Strömungen der Linguistik berührt, ist der Forschungsstand zu dieser Frage vielschichtig und unübersichtlich. Ein Problem ist die Disparität der Ansätze, mit denen sich die einzelnen Forscherinnen und Forscher den sprachsystematischen oder auch darüber hinausgehenden Elementen annähern: Welche grammatische ‚Schule‘ liegt zugrunde? Nach welchen Kriterien und welcher Tradition folgend werden lexikalische Mittel beschrieben? Werden kognitive Aspekte einbezogen? Welches Verständnis von Semantik, Pragmatik und Stilistik liegt den jeweiligen Ansätzen zugrunde? Nach welchen Kriterien wird analysiert und systematisiert? Es wurde versucht, diese wissenschaftshistorischen Hintergründe, wenn erkennbar, transparent darzulegen. Was sich daraus nicht ergibt, ist eine kohärente Gesamtschau, in der solche Widersprüche und Einzelheiten neutralisiert werden, doch ich halte eine solche kontextfreie Aufarbeitung nicht für wünschenswert. Auch die sehr umfangreiche Übersicht über emotive sprachliche Mittel lässt einige Lücken offen. In den folgenden beiden Kapiteln muss geklärt werden, inwiefern die kognitive und soziolinguistische Dimension einbezogen werden kann, auf welche Ebenen, Kriterien und Ziele ich mich festlege und wie tragfähig diese Differenzierungen in der empirischen Arbeit sind. <?page no="323"?> 7 - Emotionslinguistische -Textanalyse: -Methode „Falsch: Ich habe soeben einen Weg gefunden, um zwei und zwei auf möglichst komplizierte Weise zusammenzuzählen. Richtig: Ich habe soeben einen bedeutenden Beitrag zu aktuellen methodologischen Streitfragen geleistet.“ 83 7.0 - Ziele dieses Kapitels Nicht ganz so pointiert, aber ebenso treffend wie das Eingangszitat weist Bednarek (2006: 215) auf das meines Erachtens bedeutendste Kriterium bei der Entwicklung einer Methode hin: nämlich eine Lösung für die Frage, „[...] how to identify common aspects without too much simplification, and how to take account of complexity without making the theory as complex as the data“. Mit anderen Worten: Eine emotionslinguistische Textanalyse sollte weder überflüssige Daten sammeln noch eine zu grobe Vereinfachung sein. Das übergeordnete Ziel dieses Kapitels ist die Erstellung einer Methode, in die die Erkenntnisse der bisherigen Abschnitte sowie verschiedene textlinguistische Kriterien einfließen. Linguistische Textanalysen stützen sich auf Daten, Kategorien und Belege und machen intersubjektiv nachvollziehbare Aussagen. Dennoch müssen wir uns der Grenzen unserer Deutungsfähigkeit bewusst sein. In diesem Kapitel werden folgende Stadien auf dem Weg zur endgültigen Methode durchlaufen: 1) Versucht wird eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten Ansätze zur Beschreibung von Textstrukturen ohne spezifischen Emotionsbezug. 2) Die Darstellung der Methode beginnt mit der Nennung der wichtigsten Ansprüche und der Klärung von Problemen. In der Folge wird ein Versuch unternommen, Textstruktur und Emotionsstruktur zu parallelisieren, wobei Erkenntnisse der bisherigen Kapitel integriert werden. 3) Die beiden Vorschläge werden in Form der Vorlagen für die empirische Arbeit präsentiert. 4) Damit die Überlegungen besser nachvollziehbar sind, wird eine Beispielanalyse durchgeführt. 83 Soles, Roger E. (1986): Richtlinien für Dissertationen. In: Scherr, George J. (Hg.): Journal der unwiederholbaren Experimente. [...]Aus dem Amerikanischen von Ernst Guggolz, Gabriele Herbst und Walter Sielski. Frankfurt am Main: Krüger, S. 152. Mit Dank an Frau Ao. Univ.-Prof. Dr. Lorelies Ortner. <?page no="324"?> 7 - Emotionslinguistische -Textanalyse: -Methode 314 7.1 - Idee -und -Kritik In diesem Abschnitt werden wichtige Überlegungen zur Methode mit textlinguistischen Beschreibungsansätzen verknüpft. Zunächst werden allgemeine Ansprüche an ein emotionslinguistisches Textanalysemodell genannt, danach einige Ansätze zur Beschreibung von Textstrukturen eingeführt und schließlich die Konsequenzen und Grundideen für das Analysemodell dargestellt. 7.1.1 - Ansprüche -an -das -Modell -und -Probleme Welche Anforderungen muss eine Methode für emotionslinguistische Textanalyse erfüllen? Wesentlich sind meines Erachtens folgende Punkte: • Es sollen weder zu wenige noch zu viele textlinguistische Kriterien angewendet werden. Dies bedeutet beispielsweise: Es muss nicht gezeigt werden, dass kohärente Texte vorliegen, da dies als gegeben angenommen werden kann. Selbstverständlich kann gerade Inkohärenz ein deutlicher Hinweis auf Emotionalisierung oder Emotivität sein, doch im Anlassfall muss dies so augenscheinlich sein, dass das Kriterium in der Analyse aufgegriffen werden kann. Dies führt mich gleich zum nächsten Punkt. • Die Methode sollte nicht völlig abgeschlossen sein, sondern beliebig erweiterbar, abkürzbar und an unterschiedlichste Fragestellungen anpassungsfähig, kurz: möglichst flexibel bleiben. • Das Modell muss die Textstruktur sichtbar machen, ohne den Text unsichtbar zu machen. Ziel ist also nicht die Reduktion des Textes (etwa auf Makrostrukturen). • Grundlage und Endprodukt soll kein partikularer linguistischer Ansatz sein, sondern ein möglichst anschlussfähiges Modell, das auf gängigen, erprobten und konsensfähigen textlinguistischen Kriterien aufbaut. Diese Ansprüche zu erfüllen ist Gegenstand der nächsten Abschnitte. Vorab sind jedoch auch drei theoretische Probleme zu klären, die teilweise bereits angesprochen und vorläufigen Lösungen zugeführt wurden. Unzulässige Schlüsse von Sprache auf psychisches Erleben: Das Sprechen oder Schreiben über innere Zustände wird von zahlreichen Faktoren (individueller und sozialer Art) beeinflusst (vgl. Plutchik 1994: 53). Darauf ist Rücksicht zu nehmen und die Methode sollte grundsätzlich auch anwendbar sein, um persönlichkeitsabhängige oder sozial bestimmte Muster aufzudecken. Allerdings bedeutet dies keine Gleichsetzung von Emotivität und Emotion. Hermeneutischer Zirkel und Persönlichkeit der Interpretierenden: Kulturell und „sozial determinierte Bewertungsmuster“ (Jahr 2000: 22) fließen in eine emotionslinguistische Textanalyse zwangsläufig ein. <?page no="325"?> 7.1 - Idee -und -Kritik - 315 Die Gefahr der Beliebigkeit: Es ist eine genaue Abgrenzung zwischen emotiv und nicht emotiv vorzunehmen. Kategorien wie ‚möglicherweise emotiv‘ oder ‚irgendwie auch emotiv‘ würden die Analyse allzu sehr aufweichen. Zu diesem Problem gehören auch die Fragen nach dem Kontext und der Konnotation. Die Kontextabhängigkeit textueller Emotivität wurde bereits mehrfach angesprochen, ist aber methodisch schwer in den Griff zu bekommen. Konnotationen sind nicht nur kaum objektiv zu bestimmen, sondern auch wandelbar (vgl. Jahr 2000: 100ff.). Diese Probleme hängen miteinander zusammen. Aus emotionslinguistischer Perspektive präzisieren Battacchi, Suslow und Renna (1997: 61): „Es kann festgestellt werden, daß der Bedeutungsbegriff sehr unterschiedlich ausgelegt werden kann, beispielsweise als individuenspezifische Bezeichnungspraktik, als Assoziations- und Vorstellungstendenz, als emotionale Resonanz, als Motivkonstellation und kognitives Verarbeitungsmerkmal. Um einen Text oder eine Aussage zu verstehen, muß die Sprecherperspektive erarbeitet werden. Die spezifische Sicht der Dinge seitens des Sprechers ist Ausgangspunkt einer authentischen Interpretation. Die Sprache des Einzelnen, sein Idiolekt, will auf dem Hintergrund seiner Lebensform hermeneutisch verstanden sein.“ Die meines Erachtens einfachste Lösung ist wie bereits mehrfach angesprochen, sich von dem Vorhaben zu verabschieden, von sprachlichen Äußerungen auf das Erleben von Individuen zu schließen. Die psychologisch beschreibbare Entität Emotion ist in diesem Zusammenhang relativ unwichtig. Untersucht werden Äußerungen über Gefühle. In der Analyse geht es zudem um sprachliche Verfahren der Emotionsprozessierung, nicht um die Verfahren der Emotionalisierung bei Textrezipientinnen und -rezipienten. Speziell zum zweiten Problem, das auch aufrechtbleibt, wenn nicht das Erleben von Individuen, sondern die Konzeptualisierung dieses Erlebens im Mittelpunkt der Analyse steht: Der Hermeneutische Zirkel ist im Rahmen emotionslinguistischer Textanalyse von besonderer Bedeutung, da das Verständnis emotiver Strukturen vom eigenen Emotionserleben, von den Emotionserfahrungen, von den Emotionskonzepten der Analysierenden mitgeprägt ist (vgl. Battacchi/ Suslow/ Renna 1997: 63). Durch den Terminus ‚Text-Leser- Interaktion‘ wird deutlich gemacht, dass es keinen Text ohne Leserinnen und Leser gibt und dass Emotionen nicht im Text stecken, sondern beim Lesen konstruiert werden. Das Vorgehen in einer Textanalyse wird immer gleichzeitig dem Top-down- und dem Bottom-up-Prinzip folgen, weil zur Bestimmung der kleinsten Einheiten das Textganze betrachtet werden muss und die kleinsten Einheiten den Blick auf den Gesamttext verändern. Dieser Konflikt spiegelt wider, dass Textverstehen nicht isoliert auf unterschiedlichen Ebenen abläuft, sondern ein integrativer Prozess ist, bei dem sich Ebenen nur analy- <?page no="326"?> 7 - Emotionslinguistische -Textanalyse: -Methode 316 tisch unterscheiden lassen, nicht praktisch. Sie greifen ineinander, sie speisen ihre Ergebnisse aus gegenseitigem Austausch, insbesondere in der Rezeption (vgl. Lötscher 2008: 102). In einer Analyse lässt sich das nicht abbilden. In Wahrheit ist also eine Analyse, die nur auf die sprachlichen Verfahren von Emotionsthematisierung und -ausdruck abzielt, eine Analyse der Reaktion der Linguistin als Einzelperson auf einen Text. Es gibt nun mehrere Wege, dem zu begegnen, vor allem aber die Beschränkung auf hard facts, die klare Formulierung von Hypothesen sowie Kriterien der Überprüfung und Transparenz über die Maßstäbe (vgl. Battacchi/ Suslow/ Renna 1997: 64f.). Wenn die Methode transparent ist, ist eine Analyse wie die in diesem Abschnitt vorgeschlagene und im empirischen Teil durchgeführte besser als keine Analyse. Das Kontextproblem ist ebenso schwer aufzulösen: Die Entscheidung darüber, ob ein sprachliches Mittel eine emotionale Bewertung darstellt, ist oft nicht sicher zu treffen - Ironie und andere Formen uneigentlichen Sprechens noch gar nicht eingerechnet. Dass relativ neutrale Wörter in Kollokationen und Kombinationen stark expressiv sein können, ist offensichtlich. Dass Konnotationen - und letztendlich ist jedes Lexem konnotiert - nicht immer aktualisiert sind (z.B. bei Demokratie nur in bestimmten Kontexten), ebenso. Es besteht, wie Jahr (2000: 222-229) in ihrer Arbeit zu Emotionsstrukturen in Sachtexten feststellt, keine lineare Beziehung zwischen der Zahl bewertender sprachlicher Mittel und der emotionalen Intensität. Es lässt sich beispielsweise nicht behaupten, dass Sätze im Aktiv emotionaler sind als Passivsätze oder umgekehrt (etwa Passiv als Ausdruck von Distanz oder Niedergeschlagenheit). In Kombination mit anderen sprachlichen Mitteln kann ein emotionaler Ausdruck auch unemotional wirken, z.B. wenn Syntax und Lexik einander behindern wie bei einem ausgeprägten Nominalstil. Die Konsequenz, die ich aus all diesen Punkten ziehe, ist ein Verzicht auf eine allzu ausgefeilte Methode, die durch überbordende Filigranität und Raffinesse fehleranfällig und unüberprüfbar (subjektiv) wird. Dies bedeutet im Detail: • Verzicht auf eine allumfassende Methode: Der vorliegende Ansatz erhebt keinen Anspruch darauf, die Textlinguistik unter dem Aspekt der Emotivität neu zu schreiben. Weder wird behauptet, dass Emotivität in jedem Text ein relevantes Phänomen ist, noch wird versucht, jedes textlinguistische Analysekriterium in Hinblick auf Emotionen umzudeuten. • Verzicht auf feingliedrige Kategorisierung und Dimensionierung: Die Beurteilungskategorien und -dimensionen sollten möglichst basal bleiben. Ohne diese Einschränkung wäre es beispielsweise denkbar, eine Beurteilung einzelner Fundstellen (z.B. einer Emotionsthematisierung) in verschiedenen Dimensionen (wie Valenz, Aktivität, Intensität) mit sehr feinen Abstufungen (++/ +/ 0/ -/ --) vorzunehmen. Mit solchen Modellen <?page no="327"?> 7.1 - Idee -und -Kritik - 317 habe ich Pretests durchgeführt und bin zu dem Schluss gekommen, dass das Potenzial für Willkür und Unsicherheit viel zu hoch ist und der Erkenntnisgewinn im Vergleich dazu gering. • Verzicht auf eine komplexe Quantifizierung: Die Methode sollte nicht rein qualitativ bleiben, sondern sehr wohl quantitative Aussagen erlauben, allerdings auf einem leicht nachvollziehbaren Niveau. • Verzicht auf weiche und beliebige Kriterien: Auf alles, was in den weiteren Bereich der Emotivität fällt und nicht gut operationalisierbar ist, wird ausdrücklich verzichtet. Genaueres zur praktischen Umsetzung dieser Schlussfolgerungen findet sich in den nächsten Abschnitten. 7.1.2 - Ansätze -zur -Analyse -von -Textstrukturen -im -Überblick Die hier vorgenommene Einteilung der Ansätze zur Beschreibung von Textstrukturen orientiert sich an der Einordnung in verschiedenen textlinguistischen Arbeiten, die wiederum auf der Schwerpunktsetzung der einzelnen Modelle beruht. Grob lassen sich textgrammatische, semantisch-thematische und pragmatische Ansätze unterscheiden. Allerdings berücksichtigen die meisten Entwürfe verschiedene Ebenen der Sprache - so ist etwa die textgrammatische Analyse in den meisten anderen Ansätzen als selbstverständliche Grundlage textlinguistischer Beschreibungen enthalten. Textgrammatische -Ansätze Zunächst kurz zur textgrammatischen Perspektive: Texte als ‚transphrastische Einheiten‘ entstehen durch die folgerichtige sequenzielle Verknüpfung von Sätzen, mit anderen Worten durch den angemessenen Einsatz von Satzverknüpfungsmustern bzw. Mitteln der Kohäsion und Wiederaufnahmestrukturen (z.B. Pronomina, Konjunktionen, bestimmter und unbestimmter Artikel, Tempus, Modus, vgl. Heinemann/ Viehweger 1991: 26f., 29ff.; Brinker 2010: 26-37 sowie Brinker 2000b: 165ff. für einen Überblick über diese Formen). Schon früh wurde jedoch erkannt, dass sprachsystematische, speziell syntaktische Textanalysen nur dann zielführend sind, wenn sie Strukturen des realen Sprachgebrauchs aufdecken (vgl. Gansel/ Jürgens 2008: 56ff.). Genau diese Strukturen sind der Gegenstand der zweiten Generation textgrammatischer Ansätze, die textsemantische und textpragmatische Aspekte miteinbeziehen. Grammatik, Semantik und Pragmatik sind hier (z.B. im Lunder Forschungsprogramm rund um Rosengren, Motsch und Brandt) eigenständige, aber interagierende Module - die Textgrammatik ist eine Komponente einer umfassenden, integrierten Textanalyse. Damit geht auch ein <?page no="328"?> 7 - Emotionslinguistische -Textanalyse: -Methode 318 Verständnis von Textgrammatik als nicht präskriptiv-normierend, sondern deskriptiv-empirisch einher. 84 Wiederaufnahmestrukturen können für die Emotionslinguistik wie in Abschnitt 6.7 bereits dargestellt bedeutsam sein, nämlich dann, wenn die Ersetzung eine emotive Bewertung des Referenzobjektes nahelegt (z.B. Heino kam gestern zu spät zur Arbeit. Der faule Hundling sollte sich besser ranhalten! ). Allerdings ist eine durchgehende - sehr aufwändige - Abbildung der Wiederaufnahmestruktur nicht zielführend, sodass nur in Ausnahmefällen auf diesen Aspekt zurückgegriffen wird. Semantische -und -thematische -Ansätze In semantischen und thematischen Ansätzen werden unterschiedliche theoretische Vorannahmen und Ausgangspunkte für die Analyse der Textstruktur angenommen: Wortbedeutungsanteile (Isotopiekonzept), die Verknüpfung von Propositionen (im Sinne einer referierenden und prädizierenden Prädikat-Argument-Struktur), die Abfolge von Themen (z.B. Thema-Rhema- Analyse) oder semantische Beziehungen zwischen größeren Einheiten (z.B. Rhetorical Structure Theory). Für alle semantischen Ansätze ist die Frage leitend, wie Kohärenz entsteht. Die strukturalistische Antwort darauf wird von Greimas 85 mit dem Isotopiekonzept gegeben: Kohärenz ist in den semantischen Merkmalen der im Text vorkommenden Lexeme angesiedelt. Greimas unterscheidet hier Klasseme - gemeinsame Merkmale, die über einen Satz hinausreichen - und Seme, die kleinste Einheit der Bedeutung. Durch Rekurrenzen von Semen entstehen Isotopien. Isotopieketten, Isotopienetze und Oppositionen sind dabei von besonderem Interesse für die Erschließung der semantischen Struktur eines Textes (vgl. Heinemann/ Viehweger 1991: 38f.; Lötscher 2008: 87ff.; Gansel/ Jürgens 2007: 40f.). Kohärenz wird also mit Semrekurrenz erklärt (z.B. Synonymie, Hypo-/ Hyperonymie, Kohyponymie, Antonymie und Paraphrasen, vgl. Heinemann/ Viehweger 1991: 38; Lötscher 2008: 91). In Weiterentwicklungen des Isotopiekonzeptes wird eine feinere Unterteilung von textkonstituierenden Semen in inhärente (kontextunabhängige), konventionelle (z.B. konnotativ festgelegte), aktualisierte und virtualisierte (aufgehobene) Seme vorgenommen - das Erkennen und Einordnen der Seme ist ein Prozess aufseiten der Textrezipientinnen und -rezipienten (vgl. Löt- 84 Vgl. Gansel/ Jürgens (2007: 6.3.) sowie Gansel/ Jürgens (2008: 63ff.) für eine Auflistung textpragmatisch relevanter textgrammatischer Merkmale. Siehe auch dort - Gansel/ Jürgens (2008: Kap. 3.2.4.) - für beispielhafte Analysen, wie textgrammatische Analysen für pragmatische Zwecke fruchtbar gemacht werden können. 85 Greimas, Algirdas Julien (1971 [1966]): Strukturale Semantik. Methodologische Untersuchungen. Braunschweig: Vieweg, zit. n. Heinemann/ Viehweger 1991. <?page no="329"?> 7.1 - Idee -und -Kritik - 319 scher 2008: 90). Ebenso sinnbildend ist die Entschlüsselung von semantischen Kontiguitäten, unter anderem logischer (z.B. Sieg - Niederlage), ontologischer (z.B. Elefant - Rüssel), kultureller (z.B. Haus - Tür), räumlicher bzw. zeitlicher, situativer und kausaler Art (vgl. Lötscher 2008: 91, 93). Während Greimas hauptsächlich auf der Wortebene verbleibt, sind semantische und thematische Textstrukturanalysen auf größere Einheiten, meist Propositionen bezogen. Ein Problem für eine widerspruchsfreie Sicht stellen die unterschiedlichen Themadefinitionen dar (vgl. Hoffmann 2000: 344f.; Brinker 2000b: 169). Obwohl in der gegenwärtigen Textlinguistik klar ist, dass mit Thema je nach Forschungskontext das Satzthema (Thema- Rhema-Abfolge) oder das Textthema (als Textinhalt, Thema als das Fragliche, als Referenzobjekt, als Inhaltskern) gemeint sein kann, gibt es keine andere Lösung, als diese uneinheitlichen Verwendungsweisen immer wieder sauber zu trennen (vgl. Hoffmann 2000: 346f.; Adamzik 2004: 120). 86 Alle anderen hier besprochenen Ansätze siedeln das Thema auf der inhaltlichen Ebene des Textes an. Agricola (1979: 40) beispielsweise knüpft an das Isotopiekonzept von Greimas an, führt es aber weiter, indem er auch grammatische und pragmatische Hinweise heranzieht (vgl. auch Lötscher 2008: 97; Heinemann/ Viehweger 1991: 48f.; Schröder 2003: 53). Agricolas (1979: 32) eigener Entwurf für die Analyse der Textstruktur geht von den kleinsten Einheiten, den Textemen (Sprechakten) aus, die gemeinsam den Textinhalt konstituieren. Das Thema eines Textes ist sein gedanklicher Kern, der im Text entfaltet wird. Die von ihm entworfene Textstrukturanalyse sieht sechs Schritte vor: 1. die Analyse von Isotopieketten, 2. die Ableitung eines Leitsynonyms, 3. die Analyse der Aktantenstruktur (Subjekte, Objekte), 4. die Ableitung einer Hyperproposition für jeden Abschnitt, 5. die Verknüpfung der Hyperpropositionen durch Konnektoren und 6. die Darstellung der Aktanten als vernetzte Knoten (Abbildung der Beziehungen, vgl. Agricola 1979: 43-71). Van Dijks (1980) breit rezipiertes Modell der Makrostruktur von Texten baut auf einem älteren Ansatz auf, nämlich auf der Annahme einer semantischen Texttiefenstruktur, die unter der sprachlichen Oberfläche liegt und die ‚globale Bedeutung‘ des Textes darstellt (vgl. Brinker 2000b: 168ff.; Lötscher 2008: 98f.; Heinemann/ Viehweger 1991: 40f.). Ziel ist das Erstellen von globalen Textstrukturen, sogenannten Makrostrukturen (vgl. van Dijk 1980: 41). Anhand von rekursiv angewendeten Makroregeln werden Makropropositionen abgeleitet. Superstrukturen hingegen betreffen textsortenspezifische Muster (vgl. Hoffmann 2000: 346; Heinemann/ Viehweger 1991: 45; Gansel/ Jür- 86 Zusätzlich zu unterscheiden sind Thema (Given) und Rhema (New), Topik (Satzgegenstand, Rahmen) und Kommentar (Satzaussage) sowie Fokus (größter Informationswert) und Hintergrund. Vgl. Schröder (2003: 154-162) für eine ausführliche terminologische Klärung. <?page no="330"?> 7 - Emotionslinguistische -Textanalyse: -Methode 320 gens 2007: 47f. für eine Kritik). Die Regeln sind Auslassen (von Unwichtigem), Selektieren (Auslassen von aus dem Rest erschließbaren Informationen), Generalisieren (z.B. Hyperonym finden) und Konstruieren (aus implizierten und explizierten Propositionen rahmenbildende Proposition ableiten, vgl. van Dijk 1980: 42-49). Den verschiedenen Varianten des Quaestio-Ansatzes ist die Grundannahme gemeinsam, dass Textualität auf kognitiven Strukturen, auf einer Gesamtvorstellung, auf Mustern beruht (vgl. Hoffmann 2000: 347). Wie der Name des Ansatzes schon verrät, wird davon ausgegangen, dass dem Text eine leitende Frage zugrunde liegt. Für narrative Texte lautet diese Frage beispielsweise ‚Was geschah an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit? ‘. In der Textstruktur schlägt sich die fortgesetzte Frage-Antwort-Beziehung zwischen den Teiltexten nieder (vgl. Hellwig 1984: 60ff. 65f.; Schröder 2003: 60ff.). Sätze, die direkt zur Klärung der Quaestio beitragen, werden als Hauptinformation verstanden, alle anderen liefern Nebeninformationen (vgl. Stede 2007: 80). Nicht unmittelbar dem Quaestio-Ansatz zuzurechnen und sich von diesem ausdrücklich abgrenzend, aber einen ähnlichen Grundgedanken vertretend, hält Lötscher die Beseitigung eines Mangels für das Thema von Texten. Aus dem Mangel erklärt sich die Festlegung auf ein Handlungsziel, die Planung und Durchführung, also die Behandlung des Themas (vgl. Adamzik 2004: 121; Schröder 2003: 67f.). Für alle thematischen Ansätze ergibt sich ein praktisches Problem: Die Themen, die ein Text haben kann, sind unbegrenzt und lassen sich schwer auf eine festgelegte Anzahl an Typen begrenzen. 87 Hoffmann (2000: 350) schlägt vor, die Definition des Themas an die alltagspsychologische Vorstellung anzunähern, das Thema ist demnach „der kommunikativ konstituierte Gegenstand oder Sachverhalt, von dem in einem Text/ Textteil oder Diskurs/ Diskursteil fortlaufend die Rede ist“. Das Thema kann letzten Endes nur aufgrund von Wissen und Interpretation im Nachhinein (nach dem Lesen) erkannt werden, unter Zuhilfenahme von Oberflächenhinweisen (z.B. Titel, thematische Ausdrücke). Sobald klar ist, dass es ein übergeordnetes Thema und Teiltextthemen gibt, stellt sich die Frage nach der Verknüpfung zwischen den Themen. Diesem Problem widmen sich beispielsweise Brinker, Hoffmann und Lötscher. Brinkers Ansatz zur Themenentfaltung geht die Auffassung voraus, dass die Festlegung des Themas ein rezipientenseitiger, komplexer Rekonstruktions- 87 Vgl. Schröder (2003: 54-58) für grundlegende Kritik an Agricola und van Dijk, die sich vor allem auf die Uneindeutigkeit und somit Subjektivität der Analyse und auf das Problem bezieht, dass offenbar nicht alle Textsorten mit diesen Modellen beschrieben werden können. <?page no="331"?> 7.1 - Idee -und -Kritik - 321 bzw. Verstehensprozess ist (vgl. Brinker 2000b: 169f.). Er nimmt vier Typen der Themenentfaltung an, die durch die weite Verbreitung seines Buches ‚Linguistische Textanalyse‘ sehr bekannt geworden sind: deskriptiv, narrativ, explikativ, argumentativ (vgl. Brinker 2010: 56-76 für Details, vgl. auch Adamzik 2004: 122; Gansel/ Jürgens 2007: 43f.). Brinker (2000b: 170; 2010: 50f., 54) geht davon aus, dass eine Themenhierarchie mit Hauptthema und Nebenthemen entworfen werden kann. Diese Hierarchie muss zwei Prinzipien genügen, nämlich dem Ableitbarkeitsprinzip - das Hauptthema ist jenes, aus dem sich die Teilthemen ableiten lassen - und dem Kompatibilitätsprinzip - das Hauptthema lässt sich überzeugend mit der Textfunktion vereinbaren. Die Wiederaufnahmestruktur liefert hierfür wichtige Hinweise. Um die Themenentfaltung zu ermitteln, müssen erstens die einzelnen Propositionen inhaltlich analysiert und zweitens die so ermittelten Teilthemen in ihrer Relation zum Textthema kategorisiert werden. Unter dem Schlagwort Themenentfaltung nimmt Hoffmann (2000: 352ff.) ähnlich wie Brinker folgende Möglichkeiten an: Themafortführung (z.B. durch Anaphern), Themensplitting (Aufteilen), Themensubsumtion (Bündelung, Zusammenführen), Themenkomposition (Gesamtbild über Subthemen), Themenassoziation (wissensbasierter Zusammenhang) sowie die Themenreihung (Wechsel, auch Kontrast). Ähnliche Typen der Themenverknüpfung nennt Lötscher (2008: 107f.), bei ihm sind sie aber pragmatisch fundiert: kontextunabhängige Einführung eines Themas, Themenassoziation, Themaeinführung über Problematisierung, Themaeinführung zur Inhaltsergänzung (Voraussetzungen nennen), Themaspaltung, Teilzielsetzung bei Suchhandlungen (Problemlösungen, Argumentationen, Planungen) und inhaltsstrukturell bedingte Themenverknüpfung (aufgrund der Struktur eines Gegenstandes). In einer Arbeit speziell über deskriptive Texte arbeitet Lötscher (1991: 82-95) texttypspezifische Maximen für die Themenentfaltung aus, z.B. ‚Das Nächste ist das Nächste‘, ‚Zuerst das Ganze, dann die Teile thematisieren‘, ‚Zuerst das Wichtige, dann das weniger Wichtige thematisieren‘ und ‚Reihenfolge der Thematisierungen an die erwartbare Aufmerksamkeit (Relevanz- und Empathiefaktoren) anpassen‘. In allen semantischen und thematischen Ansätzen taucht immer wieder die Frage nach der Referenz auf: Worauf beziehen sich Texte, Teiltexte, einzelne Sätze, wie werden Elemente im Text wiederaufgenommen, welche Referenzstruktur kann festgestellt werden (vgl. Stede 2007: 50f.)? Eine umfassende Analyse eben dieser Referenzstruktur wird in dem Ansatz der ‚Referenziellen Bewegung‘ von Klein und von Stutterheim (1992) verfolgt, die sich auch in <?page no="332"?> 7 - Emotionslinguistische -Textanalyse: -Methode 322 der Tradition des Quaestio-Ansatzes bewegen. 88 Jede Proposition enthält Bezüge zu außersprachlichen Referenzbereichen (zu konzeptuellen Domänen). Es gibt für jeden Referenzbereich in jeder Proposition Leerstellen, die von Proposition zu Proposition unterschiedlich gefüllt werden können. Die Referenzbereiche sind Zeitreferenz (Rt), Raumreferenz (Rl), Referenz auf Umstände (Rc), Personenreferenz (grammatisches Subjekt) (Rp), Prädikate (grammatisches Prädikat, Ra) und Modalität (real, hypothetisch, bedingt, irreal, Rm) (vgl. Klein/ Stutterheim 1992: 86). Rp und Rc bilden den sogenannten ‚inneren Kern‘, Rt, Rl und wenn vorhanden Rc den ‚äußeren Kern‘. Äußerer und innerer Kern machen gemeinsam mit Rm eine Proposition aus. Wie erwähnt ändern sich die Besetzungen jedoch im Laufe eines Textes. Durch das Nachverfolgen der Konstanten und der Wechsel erhält man die vollständige Referenzstruktur eines Textes bzw. eine Vorstellung der ‚referenziellen Bewegung‘, die dem Ansatz seinen Namen verleiht - unterschieden wird Einführung von Fortführung mit verschiedenen Untertypen. Stede (2007: 53-58) knüpft an die ‚referenzielle Bewegung‘ an, nennt aber andere Referenzbereiche und bringt einige Beispiele dafür, woran sie an der Textoberfläche festgemacht werden können. Die Gegenstandsreferenz wird z.B. indefinit realisiert bei Neueinführung, definit bei generischen, einzigartigen, kontextuell klaren oder bereits eingeführten Objekten. Die anderen Referenzbereiche sind die Ereignisreferenz (wozu auch Bewertungen gezählt werden), Ortsreferenz und Zeitreferenz. Referenzielle Ketten entstehen durch eben diese beschriebenen Mittel wie indirekte Wiederaufnahme, Meronymien (Teil-von-Beziehung), Menge-Teilmenge-Beziehungen usw. Nun zum letzten semantischen bzw. thematischen Ansatz, den ich hier vorstellen möchte, und zwar zur Rhetorical Structure Theory (RST) nach Mann und Thompson. 89 Die Theorie dient der näheren Bestimmung der Kohärenz eines Textes: Welche Funktionen haben die einzelnen Elemente in einem Text? Dabei wird angenommen, dass die Einheiten eines Textes hauptsächlich durch ihre Relation zu benachbarten Einheiten bedeutsam sind (vgl. Stede 2007: 132). Letztendliches Ziel der Methode ist die Erstellung eines 88 In der Originalfassung wird das Wort den damals herrschenden orthographischen Normen entsprechend ‚referentiell‘ geschrieben. Aus Gründen der Einheitlichkeit wird hier die neue Variante gewählt. 89 Einen Hinweis auf die Rhetorical Structure Theory (RST) verdanke ich Herrn Univ.- Prof. Mag. Dr. Manfred Kienpointner. Die folgende Darstellung beruft sich auf die Einführung von Mann (unter Mitarbeit von Malte Taboada) auf einer Website für die RST unter der URL: <http: / / www.sfu.ca/ rst> bzw. speziell <http: / / www.sfu.ca/ rst/ 01intro/ index.html > [zuletzt geprüft am 01.07.2014]. Dort auch der Hinweis auf den Originalaufsatz: Mann, William C./ Thompson, Sandra A. (1988): Rhetorical Structure Theory: Toward a functional theory of text organization. In: Text 8 (3), 243-281. <?page no="333"?> 7.1 - Idee -und -Kritik - 323 Strukturbaums. Mann und Thompson formulieren eine begrenzte Anzahl an Relationen, durch die in einem ersten Schritt zwei benachbarte Sätze miteinander in Beziehung gesetzt werden. In einem zweiten Schritt lassen sich die Relationen rekursiv auf größere Textteile anwenden (vgl. Lötscher 2008: 96f.). Das Modell ist flexibel, so ist es etwa möglich, als kleinste Texteinheit Absätze zu wählen. Die auf diese Weise miteinander verknüpften Elemente sind jedoch nicht gleichwertig. In jeder Einheit gibt es einen Nukleus, der die Hauptaussage trägt, und einen Satelliten, der Informationen über den Nukleus transportiert, von diesem abhängig ist und eine unterstützende Rolle innehat. Für jede Einheit wird eine Nukleus-Satellit-Relation bestimmt. Die Relationen und die Bedingungen ihrer Zuschreibung sind genau festgelegt. Das Definitionskriterium ist die Absicht der Textproduzentin bzw. des Textproduzenten: der intendierte Effekt auf Leserinnen und Leser (vgl. Stede 2007: 140). Außerdem werden in der Definition Bedingungen (Beschränkungen) für den Nukleus und für den Satelliten sowie für ihre Kombination festgehalten. Unter dem locus of effect versteht man die Frage, ob sich der intendierte Effekt auf den Nukleus oder den Satelliten bezieht. Auf dieser Grundlage definieren Mann und Thompson 24 rhetorische Relationen in zwei Klassen (vgl. Stede 2007: 185): 1) Subject matter relations: Der Zusammenhang zwischen Nukleus und Satellit ist thematisch im Sinne von inhaltlich bestimmt. Die Rezipientin bzw. der Rezipient soll die Relation wahrnehmen und verstehen. 2) Presentational relations: Durch diese Relation soll bei den Leserinnen und Lesern ein bestimmter Effekt, eine Veränderung (z.B. eine Handlung) erzielt werden (increased inclination). Die Relationen nach Mann/ Thompson im Überblick: • Nucleus and satellite (subject matter): Elaboration, Circumstance, Solutionhood, (Non-)Volitional Cause, (Non-)Volitional Result, Purpose, Condition, Otherwise, Interpretation, Evaluation, Restatement, Summary. • Nucleus and satellite (presentational): Motivation, Antithesis, Background, Enablement, Evidence, Justify, Concession. • Multi-nuclear: Sequence, Contrast, Joint. Aus den einzelnen Relationen wird über Anwendung von Schemata (schema applications) ein Strukturbaum erstellt (vgl. Stede 2007: 138, 143). Hintergrund und Ziel der RST ist die computerlinguistische Erfassung von Texten, also die automationsgestützte Ableitung eines Strukturbaums. Problematisch <?page no="334"?> 7 - Emotionslinguistische -Textanalyse: -Methode 324 laut Stede (2007: 185ff.) ist vor allem in der Anwendung, dass immer nur eine Zuordnung von Nukleus, Satellit und Relation möglich sein sollte, was in der Praxis oft nicht so ist (schon die Entscheidung darüber, was der Nukleus und was der Satellit ist, ist Interpretationssache). Es gibt meist mehrere mögliche Baumstrukturen. Außerdem scheinen nicht alle Textsorten mit diesem Modell gut beschreibbar zu sein. Pragmatische -Ansätze Pragmatische Ansätze sind in der Tradition der Sprechakttheorie zu sehen und stellen die kommunikative Funktion von Texten in den Mittelpunkt (vgl. Brinker 2000a: 175). Im deutschen Sprachraum waren und sind die Ansätze von Brandt, Rosengren und Motsch sehr einflussreich. Die grammatische Struktur hängt dieser Forschungslinie zufolge mit der Illokution zusammen, die Illokutionsstruktur wiederum mit der Textstruktur (vgl. Heinemann/ Viehweger 1991: 57f.). Die Konzentration liegt auf illokutiven Handlungen (vgl. Schröder 2003: 8f., 18ff.), sodass ein Text definiert wird als eine „hierarchisch strukturierte Abfolge von elementaren illokutiven Handlungen“ (Brinker 2000b: 171; vgl. auch Motsch 2000: 419). Die Analysen von Brandt und Rosengren (1992) sehen zwei Ebenen vor: erstens die Illokutionshierarchie und zweitens Prinzipien der Sequenzierung. Es gibt demnach dominierende und stützende Illokutionen, die eine als Baum darstellbare Illokutionshierarchie bilden. An der Spitze steht mindestens eine übergeordnete Illokution, in der eine den gesamten Text leitende Illokution, die Textillokution, greifbar ist (vgl. Brandt/ Rosengren 1992: 13; Heinemann 1991: 58ff.; Stede 2007: 110f. verweist auf daran anknüpfende Ansätze). Was die Sequenzierung der Illokutionen angeht, sind drei Prinzipien zu befolgen: das Hierarchieprinzip, wonach die Konstruktion der Illokutionshierarchie die Sequenzierung (Aufteilung der Propositionen) nicht behindern soll, das Ikonizitätsprinzip, das eine Berücksichtigung der logischen, außersprachlichen inhaltlichen Struktur vorschreibt, und das Situationsprinzip, demzufolge auch die Textsorte, außersprachliche Faktoren und die Intention zu berücksichtigen sind (vgl. Brandt/ Rosengren 1992: 13, 23f.; Schröder 2003: 9f., 10-15 für Details und Kritik). Die Anwendung dieses Modells ist problematisch, zumal die Textfunktion nicht zwingend sichtbar wird (vgl. Brinker 2000a: 177; als Beispiel nennt er Werbung, die nur aus Behauptungen besteht, aber Appellfunktion hat). Andererseits weisen Brandt und Rosengren (1992: 9) selbst darauf hin, dass es sich nicht um eine erschöpfende Textstrukturanalyse, sondern um eine Ebene von mehreren handelt. Auch Heinemann/ Viehweger (1991: 104ff.) sehen die Illokutionshierarchie als wichtigen Hinweis auf die Textstruktur an und unterscheiden dominierende und untergeordnete/ subsidiäre Sprechakte. Schmitt knüpft an <?page no="335"?> 7.1 - Idee -und -Kritik - 325 Brandt und Rosengren an und unterscheidet unmittelbar und mittelbar stützende Illokutionen. Während mittelbar stützende Illokutionen für den Erfolg der Illokution nicht entscheidend sind (z.B. Hintergrundinformation geben, die persönliche Beziehung pflegen), ist der Beitrag der unmittelbar stützenden Illokutionen sehr wichtig (Illokutionen der Verstehenssicherung, des Begründens, der Motivation und der Erleichterung einer Handlung). 90 Schmitts Klassifikation von illokutiven Handlungen ist zumindest erwähnenswert, da hier Gefühle auf vielfältige Weise berücksichtigt werden: Reportiva (Berichten, Bekanntmachen, Ankündigen; Kriterium: Bericht über vergangenes Ereignis), Estimativa (Einschätzen, Behaupten, Vermuten; Kriterium: Ungewissheit), Evaluativa (Bewertungen), Identifikativa (Gefühle, Hoffnungen, Wünsche, Grundwerte; Kriterium: Mitteilung über einen Aspekt der eigenen Persönlichkeit), Relationata (Danken, Begrüßen, Verabschieden; Kriterium: Beziehung zum Adressaten), Direktiva (Aufforderungen) (vgl. Stede 2007: 122). Emotivität wird hier nicht mit Identifikativa gleichgesetzt, sondern kann in mehreren illokutiven Handlungen - auch in Bewertungen - enthalten sein. Ähnlich wird in Motschs (1987: 58, 64f.) Ansatz der Text in seine einzelnen Illokutionen - in dominante und subsidiäre - zerlegt, die in einer Baumstruktur mit einer zentralen Textillokution darstellbar sind (vgl. Heinemann 2008: 130). Diese Globalstruktur wiederum ist ein entscheidendes Textsortenmerkmal: Beispielsweise ergibt sich bei einem Geschäftsbrief eine Globalstruktur ‚Einleitung - Kerntext - Schluss‘, die durch lokale Strukturen mit Illokutionen wie Informieren und Bitten konstituiert wird (vgl. Motsch 2000: 419ff.). Eine große Rolle spielen in seinem Ansatz auch die Einstellungen, die in verschiedenen Aussagen enthalten sein können (epistemische Aussagen, Aussagen über das Wollen, Aussagen über die Evaluation und Repräsentativa ohne Einstellungskundgabe) (vgl. Motsch 1987: 53; Schröder 2003: 15f.; Stede 2007: 123ff.). Zum Thema Einstellungen gleich mehr. In pragmatischen Ansätzen ist die Textfunktion ein zentraler Faktor. Sie wirkt sich auf die Textstruktur aus, und zwar indem die angewendeten Textstrategien auf sie abgestimmt werden. In Brinkers (2000a: 176f.) Ansatz wird davon ausgegangen, dass in jedem Text eine dominierende Textfunktion festgestellt werden kann, auch wenn unterschiedliche Funktionen enthalten sein können. Die fünf Grundfunktionen sind Informationsfunktion, Appellfunktion, Obligationsfunktion (Verpflichtung), Kontaktfunktion und Deklarationsfunktion (vgl. Brinker 2010: 98-118; Heinemann 2008: 139; Adamzik 2004: 108). Die Textfunktion kann direkt (z.B. durch eindeutige sprachliche 90 Vgl. Schmitt, Holger (2000): Zur Illokutionsanalyse monologischer Texte. Frankfurt: Lang (= Europäische Hochschulschriften Reihe 21: Linguistik 225), zit. n. Stede (2007: 110f.). <?page no="336"?> 7 - Emotionslinguistische -Textanalyse: -Methode 326 Formen) oder indirekt (z.B. bei Diskrepanz zwischen sprachlichen Mitteln und Kontextfaktoren) signalisiert werden (vgl. Brinker 2000a: 183). Ein ganz wesentlicher Hinweis auf die Textfunktion ist die ausgedrückte propositionale Einstellung. Brinkers (2000a: 180; 2010: 92) Einteilung erinnert einerseits an Motsch, andererseits an einige andere, die bereits in Kap. 6 an unterschiedlichen Stellen genannt wurden: • Epistemische/ doxastische Einstellung: Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit, Sicherheit (z.B. glauben, wissen, zweifeln, tatsächlich). • Evaluative Einstellung: positive und negative Wertung (z.B. für gut halten, schlecht finden). • Motivationale, intentionale, exspektative, normative Einstellung: Interesse (z.B. wünschen, wollen, vorziehen, hoffen, für notwendig halten). • Emotive Einstellung: psychische Haltung (z.B. bedauern, erfreut sein). Die evaluative Einstellung ist für Brinker (2000a: 180; 2010: 92) der zentrale Hinweis auf die Textfunktion. Für meine Zwecke sind alle Einstellungen relevante Hinweise. Welche Einstellung in einer Proposition enthalten ist, ist daher ein Kernaspekt der Analyse. Nun zum letzten Ansatz für diesen Abschnitt, zur Analyse der Handlungsstruktur nach Schröder (2003), der eine Verknüpfung von Textthema und Texthandlung anstrebt, also über die textpragmatische Ebene hinausgeht. Er entwickelt seinen Ansatz auf der Grundlage der Praktischen Semantik (Heringer, Fritz, Muckenhaupt, vgl. Schröder 2003: 26-29). Texte werden von Schröder (2003: 3) definiert als „Äußerungseinheiten, mit denen Handlungen vollzogen werden“. Grundlegend ist der Gedanke, dass die Textstruktur als eine Konstituentenstruktur (im Gegensatz zu einer Dependenzstruktur) aufgefasst werden kann, deren Bestandteile über einen Zerlegungszusammenhang zu einer komplexen sprachlichen Handlung verknüpft werden (vgl. Schröder 2003: 35ff.). Die Konstituententypen sind die Texthandlung, die Teiltexthandlung und die Satzhandlung, der auf Äußerungsebene der Text, der Teiltext und der Satz entsprechen (vgl. Schröder 2003: 33). Schröder parallelisiert damit die textgrammatische und die textpragmatische Ebene. Die zwei Zerlegungszusammenhänge, die für die Analyse dieser Konstituentenstruktur auf unterschiedlichen Ebenen herangezogen werden, sind bei Schröder (2003: 23) indem-Zusammenhänge („Eine Handlung X wird vollzogen, indem die Handlung Y vollzogen wird.“) sowie und-Zusammenhänge. Das Resultat ist eine einzige Handlung aufgrund einer komplexen Regel, die allgemein so formuliert wird: „Man kann x-en, indem man y-t.“ Mit anderen Worten: Eine Texthandlung ist eine Sequenz von Teiltexthandlungen, aber auch selbst eine komplexe Handlung (vgl. Schröder 2003: 33). <?page no="337"?> 7.1 - Idee -und -Kritik - 327 Dabei muss nicht unbedingt eine Hierarchie mit einer übergeordneten Handlung, von der alle anderen funktional abhängig sind, erkennbar sein. Alle Teilhandlungen stehen aber im Dienste einer gemeinsamen Textfunktion. Als Handlungshierarchie wird folgende Abstufung angenommen: Gesamttext → Texthandlung → (wobei) → Teilhandlung → (indem) → Zusatzhandlung. In der konkreten Analyse wird in einem ersten Schritt der Text in Einzelhandlungen zerlegt (aufgrund des und-dann-Zusammenhangs). In einem zweiten Schritt werden die funktionalen Beziehungen zwischen den Teil- Handlungen festgelegt (indem-Zusammenhang, nebengeordnete Teilhandlungen, vgl. Schröder 2003: 41f.). Schröder stellt aber nicht nur einen Zusammenhang zwischen textgrammatischer und textpragmatischer Ebene her, sondern auch zwischen der thematischen Struktur und der Handlungsstruktur. Das Thema ist demnach der Gegenstand, „auf den mit Handlungen Bezug genommen wird“ (Schröder 2003: 79). Die oben angeführte Zerlegung in Teilhandlungen lässt sich somit auf die thematische Struktur übertragen bzw. mit dieser zusammenführen. Beispielsweise sind Themenwechsel gleichzeitig Hinweise auf einen funktionalen Wechsel. Somit gelangt Schröder zu funktionalen und gleichzeitig auch thematischen Beziehungen zwischen Sätzen, Teiltexten und Texten (grammatische Ebene), Satzhandlungen, Teilhandlungen und Texthandlungen (pragmatische Ebene) und Satzthema, Teilthema und Textthema (thematische Ebene) - je nachdem, ob ein funktionaler Wechsel der dominierenden Handlung vorliegt oder ein funktionaler Zusammenhang/ Themenerhalt. Hier können Unterordnungen oder Nebenordnungen - Ergänzung, Reihung, Fortsetzung - der Teiltexthandlungen unterschieden werden (vgl. Schröder 2003: 49 und 91 für Abbildungen, 42-48 und 85-90 für Erläuterungen). Mehr--‐Ebenen--‐Analysen Nicht nur Brinker (2000b: 172) formuliert das Desiderat, die vor allem aus historischen Gründen voneinander abgegrenzten Ebenen Grammatik, Semantik und Pragmatik in einem integrativen Modell zusammenzubringen (vgl. auch Gansel/ Jürgens 2007: 128). Stede (2007: 28f.) kritisiert sehr allgemein Ansätze, die versuchen, die Textstruktur analog zur Satzstruktur an der textuellen Oberfläche zu verankern (wie etwa in der Textgrammatik). Zum einen sind Texte semantische Gebilde, zum anderen werden in allen Ansätzen nur ganz bestimmte Merkmale von Texten fokussiert. Eine brauchbare Abbildung der Textstruktur müsste die verschiedenen Ebenen miteinander verknüpfen. Dass eine vollständige Textanalyse die Größen ‚sprachliche Gestalt‘, ‚Thema‘, ‚Funktion‘ und ‚Situativer Kontext‘ berücksichtigen sollte, ist in der moder- <?page no="338"?> 7 - Emotionslinguistische -Textanalyse: -Methode 328 nen Textlinguistik unumstritten (vgl. Adamzik 2004: 59). Die wesentliche Frage ist das Wie. Brinker (2010: 139f.) nennt folgende Arbeitsschritte für eine Mehr-Ebenen-Analyse: • Analyse des Kontextes: Kommunikationsform, Handlungsbereich, Interaktionsbedingungen. • Analyse der Textfunktion: sprachliche Faktoren (z.B. Illokutionsindikatoren), nicht-sprachliche Hinweise (z.B. Layout) und kontextuelle Aspekte (z.B. Intention), außerdem Indirektheit/ Direktheit. • Analyse der thematischen und grammatischen Textstruktur: Teilthemen und Textthema, Themenentfaltung, Modalität (sachbetont, meinungsbetont, wertend, ernsthaft, spaßig, ironisch), einzelne sprachliche Mittel (Schlüsselwörter, Bilder etc.). Stede (2007: 181ff.) interessiert sich für textlinguistische Voraussetzungen computerlinguistischer (also automatischer) Textanalysen. Er nennt und behandelt die folgenden Aspekte der Textstruktur, die teilweise in die bisherigen Ausführungen eingeflossen sind: • Referenzielle Struktur • Thematische Struktur • Temporale Struktur • Illokutionsstruktur • Argumentationsstruktur • Rhetorische Struktur Die konkrete Analyse ist stets an das Erkenntnisinteresse gebunden, sodass eine Reduktion der Komplexität in der Empirie angezeigt ist. Auf diesem Gedanken baut der nächste Abschnitt auf. 7.1.3 - Textstruktur -und -Emotionsstruktur Die meisten bisher beschriebenen Ansätze konzentrieren sich auf ‚informationelle‘ Strukturen von Texten. Sie klammern Emotivität zwar nicht aus, betonen sie aber auch nicht gerade (vgl. Tsiknaki 2005: 39). Allerdings wäre eine Definition von Information im Sinne von sachlichen Wissensbeständen eine unzureichende Begriffsbestimmung. Emotionen sind Informationen und somit auch mit allgemeinen textstrukturellen Parametern zu erfassen. Dennoch sind einige Anpassungen nötig, um die Emotivität eines Textes zu beurteilen bzw. sinnvolle Ergebnisse zu erhalten. In Kapitel 6 wurden einige Ansätze zur Analyse von Emotionen in Texten vorgestellt und kritisch diskutiert. <?page no="339"?> 7.1 - Idee -und -Kritik - 329 An dieser Stelle erfolgt eine kurze Zusammenfassung, auf welche der besprochenen Ansätze die hier vorgeschlagene Methode rekurriert und auf welche nicht. Nicht berücksichtigt wird die Herangehensweise der Inhaltsanalyse bzw. der Logographie. Größere Aufmerksamkeit verdient der Ansatz von Jahr. Die hier vorgeschlagene Methode ist teilweise ähnlich, denn im Wesentlichen sind alle ihre Kategorien in der eigenen Analyse enthalten. Völlig anders sind jedoch die Operationalisierung und das Anliegen. Bei Jahr geht es um die Rekonstruktion der Emotionalität der Textproduzentinnen und Textproduzenten mit einem stark psychologischen Anstrich, da sie ihre Variablen in Anlehnung an spezifische psychologische Modelle entwirft. Außerdem verleiht sie den einzelnen Textstellen ‚Wichtungswerte‘, die in einer komplizierten Operation verrechnet werden. In meinem Vorschlag stehen die Kategorisierung und eine vorsichtige Quantifizierung der einzelnen Kategorien im Vordergrund, ohne dass eine Gesamtbeurteilung des Textes in Form eines Emotionsquotienten erfolgt. Winkos literaturwissenschaftlicher Ansatz beruht auf der Zuweisung von Kernkategorien, die in praktisch allen Arbeiten zum Zusammenhang zwischen Text und Emotion, also auch im hier vorgeschlagenen Ansatz, enthalten sind. Worauf stärker Bezug genommen wird: Fries’ Beschreibung der konzeptuellen Struktur der Äußerungsbedeutung (s. Kap. 3). Zur Erinnerung: Jede Äußerung enthält eine Illokution (Deklaration, Ausdruckshandlung, Regulierungshandlung; emotiv/ evaluative, epistemisch/ doxastische oder volitiv/ intentionale Einstellungsbekundung), eine Emotion (Dimensionen Valenz, Intensität Nähe - Bezug zum Repräsentationsgehalt), eine Informationsgewichtung (Thema-Rhema-Gliederung) und einen Repräsentationsgehalt (Referenz und Prädikation). Die Emotivität einer einzelnen Aussage kann aber auch 0/ neutral/ unbestimmt sein. Insgesamt hält Fries emotionale Bedeutungen für unterspezifiziert, das heißt stark kontextabhängig und auf sehr unterschiedlichen Ebenen kodiert (vgl. Fries 2009: 10f.). All diesen Punkten schließe ich mich an und versuche daher, in der Analyse die Ebene der Spezifikation jeweils sehr deutlich darzulegen. Im Detail, also in der konkreten Vorgangsweise orientiert sich der eigene Ansatz jedoch auch an vielen anderen Vorarbeiten, sodass die einzelnen Bezugspunkte von Fries - Illokution, Emotion, Informationsgewichtung, Repräsentationsgehalt - in deutlich abgewandelter Form vertreten sind. Beispielsweise wird keine Thema-Rhema- Analyse vorgenommen. Aus den im vorhergehenden Abschnitt dargestellten Ansätzen zur Textstruktur ergeben sich Anknüpfungspunkte und Abgrenzungsnotwendigkeiten. Aus einigen Pretests folgt eine wesentliche Erkenntnis für die vorliegende Arbeit: Es ist fraglich, ob es so etwas wie eine Emotionsstruktur in ei- <?page no="340"?> 7 - Emotionslinguistische -Textanalyse: -Methode 330 nem Text überhaupt gibt. Deduktiv betrachtet würde das aus allem bisher Gesagten folgen. Induktiv betrachtet, also nach den Pretests, scheint dies nicht so zu sein. Die folgenden Ausführungen sollen dies genauer begründen. Die Idee der ‚Referenziellen Bewegung‘ (Klein und von Stutterheim) wurde kurzzeitig aufgegriffen, unter der Annahme, dass es möglicherweise so etwas wie eine ‚emotive Bewegung‘ in einem Text gibt. Die Fortführung oder der Wechsel verschiedener Referenzen und ihrer Bewertung wäre durchaus ein Hinweis auf Einstellungen und Emotionen, doch bei der konsequenten Anwendung ergab sich ein Problem, das auch bei Versuchen mit einem anderen Ansatz aufgetreten ist. In Anlehnung an Schröder wurde nämlich versucht, die unterschiedlichen Ebenen und Abschnitte eines Textes gleichzusetzen und sie in Hinblick auf ihre Emotivität zu beurteilen. Die folgende Tabelle soll diesen Grundgedanken, die Parallelisierung von Textstruktur und emotiver Struktur, veranschaulichen. Tab. 7: Parallelisierung von Textstruktur und Emotionsstruktur Textstruktur Emotionsstruktur Grammatische Ebene (Textverknüpfung) Grammatische Ebene (emotionslinguistische Mittel im Mikrobereich) Thematische Ebene (Propositionen, Themen) Thematische Ebene (Emotivität im Äußerungsinhalt) Pragmatische Ebene (Handlungsstruktur) Pragmatische Ebene (emotionale Handlungsstruktur) Der Ausdruck Emotionsstruktur wird hier nur verwendet, weil er kompakter als ‚emotive Struktur‘ ist. Wie mehrfach betont geht es nicht um eine Rekonstruktion der Emotionen. Wiederum Schröder folgend kann dies noch feiner ausgeführt werden. In Tabelle 8 wird die von ihm vorgeschlagene Textkonstituentenstruktur mit Emotivität in Verbindung gebracht. Ein Beispiel zur Konkretisierung: Auf der textgrammatischen Ebene, also bei den sprachlichen Möglichkeiten der Textverknüpfung, können Mittel wie unterschiedliche Satzlänge oder kohäsive Mittel je nach Ko- und Kontext emotive Spuren darstellen (z.B. die Ersetzung von die perfekte Schauspielerin durch die emotiv bewertende Benennung das Aas im darauffolgenden Satz). Textsemantisch sind bestimmte Teiltextthemen als emotiv einzustufen und mit inhaltlichen Leerstellenbesetzungen kognitiver Art belegt. Textpragmatisch werden emotive Handlungen vollzogen (z.B. A drückt Emotion Z in Bezug auf Y aus, indem A einen Vorwurf macht; A thematisiert eine Emotion, um zu X-en - z.B. um von einer Emotionsepisode zu berichten). <?page no="341"?> 7.1 - Idee -und -Kritik - 331 Tab. 8: Detaillierte Parallelisierung 91 Oberste Ebene Allgemeines Modell Textgestalt Textthema Texthandlung Emotionslinguistisches Modell Verteilung emotiver Mittel Emotivität in der thematischen Struktur Emotivität in der Handlungsstruktur Mittlere Ebene Allgemeines Modell Teiltextstruktur Teiltextthema Teiltexthandlung Emotionslinguistisches Modell Verknüpfung einzelner emotiver Mittel zu einem größeren Abschnitt Emotives Teiltextthema (z.B. Emotionsbeschreibung) Emotive Teiltexthandlung (z.B. Spezifizierung des Erlebens) Detailebene Allgemeines Modell Satzstruktur Satzthema Satzhandlung Emotionslinguistisches Modell Emotive Konstruktion Emotive Satzaussage (z.B. Emotionsthematisierung) Emotive Illokution Daraus leitete ich probeweise die Formulierung eines Gesamtzusammenhangs ab, der in der Analyse festgehalten werden sollte und auf dem die weitere Zerlegung und Zusammensetzung des Textes beruht hätte: In der Texteinheit n wird die emotive Handlung X ausgeführt, indem durch die Konstruktion Y auf die Emotionsaspekte n-m Bezug genommen wird. Dies hat sich in der konkreten Analyse jedoch als zu komplex herausgestellt. Dazu gleich mehr. Auch die Rhetorical Structure Theory wäre ein interessanter Ausgangspunkt, wenn es gelänge, emotive Nukleus-Satellit-Relationen zu formulieren und zu integrieren. Doch dies wäre möglicherweise eine Überinterpretation. Bei all diesen Versuchen ergab sich das grundlegendste Problem sehr deutlich: Es ist ein großer Unterschied, ob wie in den Modellen von Klein und von Stutterheim, Schröder sowie Mann und Thompson allgemeine Textstrukturen bzw. allgemeine ‚ontologische‘ Kriterien untersucht werden oder ob sich die Analyse auf einen ganz spezifischen Aspekt der Sprache konzentriert. Allgemeine Modelle lassen sich nicht ohne Weiteres auf den Fokus auf Emotivität übertragen. Ein Text zerfällt nicht in emotive Konstituenten, wie er etwa in Illokutionen, Referenz-Prädikat-Strukturen oder Themen zerfällt. Einzelne Illokutionen, Propositionen und Konstruktionen mögen emotive Anteile haben bzw. kodieren - ein emotives Gerüst ergibt sich daraus nicht zwingend. Auch wenn es grundsätzlich möglich ist, jedes Element hinsichtlich seiner Emotivität zu beurteilen und dann zu größeren Einheiten zusammenzusetzen 91 Die Bezeichnungen für die Kategorien im allgemeinen Modell sind dem Konstituentenstrukturmodell von Schröder (2003) entnommen - vgl. Schröder (2003: 36) für eine Abbildung sowie Schröder (2003: 35ff.) für eine Beschreibung. <?page no="342"?> 7 - Emotionslinguistische -Textanalyse: -Methode 332 (woran auch im endgültigen Vorschlag für die emotionslinguistische Textanalyse festgehalten wird), wäre es unzulässig zu behaupten, dass sich daraus eine eindeutige Baum-, Konstituenten- oder wie auch immer geartete Struktur der Emotivität für jeden Text ergibt, die eine Aussagekraft hat. Von der Emotionsstruktur eines Textes zu sprechen ist also problematisch, weil es die Erweiterung der Textlinguistik um eine Ebene nahelegt und zu einer Überbewertung der Emotivität in der Sprache verleitet. Das ist nicht das Anliegen dieser Arbeit. Vielmehr geht es hier um die Art, wie Emotionen in Texten thematisiert, beschrieben, ausgedrückt, bewertet, verhandelt werden. Dies geschieht in Texten nicht auf systematische Weise, die sich etwa als Zerlegungszusammenhang, als ‚Funktionaler Wechsel‘ oder ‚Erhalt‘ beschreiben ließe. Die zweite wesentliche Aussage, die sich durch die Pretests ergeben hat, ist nämlich, dass nicht alle Texte und Textsorten gleich gut geeignet sind, um Emotivität in der Sprache zu untersuchen. Wie in Kapitel 6 ausführlich belegt, geht Emotivität zwar weit über Emotionsbeschreibungen und prototypischen Emotionsausdruck hinaus, und Fries’ Ansicht, dass jede Äußerung eine Bewertung, eine Einstellung enthält, ist nicht von der Hand zu weisen. Allerdings ist diese Emotivität sehr oft vage, nicht stark hervortretend. Deshalb wäre eine Umformulierung der Rhetorical Structure Theory oder auch anderer Ansätze (z.B. der Illokutionsstrukturanalyse) letztendlich nicht wünschenswert. Soll deswegen der Ausdruck Emotionsstruktur fortan vermieden werden? Wenn klar ist, dass es sich weder um einen Terminus noch um eine Entität handelt, die im Text verankert ist, sondern um eine heuristische Metapher, kann der Ausdruck weiter verwendet werden. Die Vorarbeiten und die bisherigen Ausführungen sind jedoch nicht umsonst. An den wesentlichen Grundgedanken dieser Überlegungen, beispielsweise an Schröders Verknüpfung verschiedener Textebenen, ist festzuhalten. Nun komme ich also zum eigentlichen Lösungsansatz. Die Beurteilung der emotiven Struktur beruht auf etwas, das ich Indizien nenne. Indizien - Emotionsmarker - sind Hinweise auf der sprachlichen, textgrammatischen Oberfläche. Die Kategorisierung der Indizien erfolgt anhand der bisherigen Aufarbeitung, vor allem der emotiven sprachlichen Mittel. Die Indizien miteinander in Beziehung zu setzen und nutzbar zu machen, um qualitative Fragen zu beantworten, ist die Kernaufgabe der Analyse. In einem ersten Schritt müssen die Indizien der Emotivität ausfindig gemacht und in einem zweiten Schritt eingeordnet werden - nach textgrammatischen, textsemantischen und textpragmatischen Kriterien. Es wird jedoch versucht, diese drei Ebenen nicht zu trennen, auch nicht einander gegenüberzustellen, sondern miteinander zu vereinen. Durch einzelne emotive sprachliche Mittel wird referiert und prädiziert, und zwar mit einer bestimmten Funktion - doch diese Funktion erklärt ihrerseits die Auswahl der sprachlichen Mittel und der Konzepte. <?page no="343"?> 7.2 - Darstellung -der -Methode - 333 Ein zweiter zentraler Gedanke ist, dass diese Emotivität auf unterschiedlichen Textebenen und in unterschiedlichen Einheiten auftreten kann. Das heißt, dass kognitive und emotive Einheiten variabel sind: Textproduzentinnen und -produzenten können mit beliebig großen Abschnitten - mit einzelnen Sätzen, mit Absätzen, ganzen Kapiteln oder auch Zwischenstufen - Emotionen zum Ausdruck bringen, thematisieren und implizit kommunizieren. Die grundsätzliche Vorgangsweise für die emotionslinguistische Textanalyse besteht also in der Zerlegung des Textes, in der Zuweisung von Kategorien und in der Kombination zu größeren Einheiten. Es wird davon ausgegangen, dass jede Einheit eines Textes hinsichtlich ihrer Emotivität analysiert werden kann, wobei jedoch auch ein Nullwert möglich ist; gegebenenfalls liegt also keine Emotivität vor. Die Frage, die an jeden Text zu stellen ist, lautet also: Mit welchen Mitteln an der sprachlichen Oberfläche wird welche emotive Aussage getroffen und mit welcher emotiven Funktion? Diese sehr allgemein gehaltenen Bemerkungen werden im nächsten Abschnitt unter Bezugnahme auf detaillierte Analysekategorien konkretisiert. 7.2 - Darstellung der Methode In diesem Abschnitt wird geklärt, welche Aspekte der bisherigen theoretischen Aufarbeitung tatsächlich in der Analyse berücksichtigt werden und in welcher Weise sie sich in ein Gesamtmodell integrieren lassen. Da sich bereits bei der ersten Auflistung zeigt, wie komplex eine solche emotionslinguistische Textanalyse ist, bietet sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit an. Welches Ziel könnte mit einer solchen detaillierten Analyse erreicht werden? Wozu dient dieses sehr zeitaufwändige Verfahren? Was könnte mit ihr besser erklärt werden als mit einer einfacheren Variante, die sich rein auf emotionslinguistische Kernkategorien beruft und sich nicht auf die Mikroebene begibt? Aus dieser Frage folgt die Konsequenz, dass dieses aufwändige Verfahren auch abkürzbar sein sollte. Hier ein kurzer Überblick über die Schritte, die für die emotionslinguistische Textanalyse vorgeschlagen werden: 1) Gesamteindruck verschaffen: Top-down-Analyse. 2) Einheitenbildung: Zerlegung in kleinste textgrammatische, thematische und pragmatische Einheiten. 3) Kategorisierung: Zuteilung von emotionslinguistischen textgrammatischen, textthematischen und textpragmatischen Kategorien aufgrund von Indizien. <?page no="344"?> 7 - Emotionslinguistische -Textanalyse: -Methode 334 4) Kombination: Zusammensetzen zu größeren emotionslinguistischen Einheiten auf der Grundlage einer Analyse des Zusammenwirkens kleinerer Einheiten. 5) Quantifizierung: Zuweisung von Werten nach einer Checkliste (im Verhältnis zu den angelegten Einheiten). 6) Qualitative Fragen an den Text und Interpretation: Übergeordnete Fragen an den Text beantworten, emotives Textweltmodell (im Sinne Schwarz- Friesels) erschließen. 7) Gesamtdarstellung: Zusammenfassung der Analyseergebnisse. 8) Vergleich der Syntheseergebnisse über das Korpus hinweg: optional. 9) Themengeleitete Analyse über das gesamte Korpus hinweg: optional. 1. -Schritt: -Gesamteindruck -verschaffen -(Top--‐down--‐Analyse) Dieser Schritt ist wenig formalisiert und dient lediglich der Orientierung. Auffällige Indizien werden markiert, erste Zuweisungen von Emotionsthematisierungen, Emotionsausdruck und Bewertungen werden vorgenommen, auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlich großen Einheiten, zunächst ohne Rücksichtnahme auf genauere Unterteilungen und Kategorien. Es wird außerdem versucht, eine erste intuitive thematische Struktur zu erstellen - welches übergeordnete Thema wird behandelt, wo könnten Teiltextgrenzen liegen, welche Teiltextthemen sind auszumachen, wie könnten sie zusammenhängen? Auch die übergeordnete Textfunktion wird zunächst aus dem Text- und Weltwissen der Anwenderin erschlossen. Ein erster Eindruck über die vollzogenen Teilhandlungen kann hier ebenso gebildet werden. Gibt es auffällig viele Appelle, werden vor allem Fakten wiedergegeben, wird sehr persönlich über die eigene emotionale Befindlichkeit geschrieben? Das Endergebnis der Analyse kann dieser ersten groben Strukturierung widersprechen. Es kann etwa sein, dass bei diesem Schritt überhaupt keine Emotivität im Text enthalten zu sein scheint - etwa keine einzige Emotionsthematisierung, keinerlei emotionsausdrückende Lexeme, nicht einmal Bewertungen nach dem Kriterium ‚gut/ schlecht‘. Gerade in solchen Fällen kann sich eine detaillierte Analyse lohnen, da versteckte emotive Strukturen bei einem oberflächlichen Durchgang nicht sofort erkennbar sind. Andererseits kann sich die Emotionslinguistin bzw. der Emotionslinguist nach diesem Schritt auch dafür entscheiden, die weitere Analyse abzubrechen, wenn sie nicht ergiebig erscheint. 2. -Schritt: -Zerlegen Lemnitzer und Zinsmeister (2010: 63f.) nennen die verschiedenen Annotationsebenen eines Textes: Morphosyntax, Morphologie, Syntax, Semantik, <?page no="345"?> 7.2 - Darstellung -der -Methode - 335 Pragmatik und Textstruktur. In einer emotionslinguistischen Textanalyse sind wie erwähnt unterschiedliche Ebenen und unterschiedlich große Einheiten von Interesse. Ein wesentliches Problem ist daher die Einheitenbildung. Natürliche Einheiten sind Sätze, Absätze, Kapitel oder vollständige Texte. Denkbar wäre auch die Wahl künstlicher Einheiten, die relativ willkürlich festgelegt werden (z.B. 100 Wörter, eine Seite, vgl. Tsiknaki 2005: 48). Diese Möglichkeit wird hier nicht gewählt, da bereits erörtert wurde, dass die sichtbare Strukturierung eines Textes (in Absätze, Zwischenüberschriften usw.) mit der kognitiven Struktur der Textverfasserinnen bzw. -verfasser und ferner mit der emotionalen Struktur in Beziehung gesetzt werden kann. Zu berücksichtigen ist aber auch, dass nicht jede Grenzziehung intentional im Sinne von reflektiert erfolgt. Eine Aufarbeitung verschiedener Textgliederungsebenen bzw. traditioneller und neuerer Ansätze zur Einteilung von Texten diskutiert Stein (2003) ausführlich. Er unterscheidet folgende Ebenen: • Grammatisch-syntaktische Textgliederung: Im Mittelpunkt dieses Traditionsstranges steht die Frage nach der Definition des Satzes. Hier konkurrieren intuitive Vorstellungen (Satz = das, was zwischen zwei Punkten steht, strukturell abgeschlossen und wohlgeformt, Großschreibung am Anfang, finites Verb und Komplemente, vgl. Stein 2003: 47f.) und theoretische sowie praktische Probleme bei der linguistischen Bestimmung (Umgang mit Ellipsen, Gewichtung und Kriterien formal-grammatischer und/ oder funktionaler Bestimmung). Wichtige Indikatoren sind hier die Satzgliedstellung und Interpunktionszeichen (vgl. Stein 2003: 49ff., 90ff.). • Inhaltlich-thematische Textgliederung: In dieser Richtung ist die thematische Einheit bzw. die Kohärenz das Entscheidungskriterium. Idealerweise fallen die formale Kennzeichnung (Absätze) und die funktionale Seite zusammen (vgl. Stein 2003: 109ff.). • Lexikalische Textgliederung: Hier geht es um sogenannte ‚Schaltstellen‘, das sind alle Elemente, die die textstrukturelle Metaebene betreffen und die Orientierung im Text ermöglichen (Textkonnektoren und textorganisierende Ausdrücke wie z.B. Fassen wir zusammen, Ich will eines klarstellen, In der Folge entwerfen wir ein Modell usw., vgl. Stein 2003: 125ff.). • Typographische Textgliederung: Neben Spationierung und anderen begrenzenden und hervorhebenden typographischen Merkmalen sind hier besonders Textauszeichnungen wichtig, mit denen sprechsprachliche Konzeptionalität markiert werden kann, etwa durch Fettdruck oder zur Symbolisierung von Lautstärke, durch kursiven Text für Betonungen usw. (vgl. Stein 2003: 142f.). Hinzufügen könnte man auch noch Bilder. <?page no="346"?> 7 - Emotionslinguistische -Textanalyse: -Methode 336 Es ist von einem Zusammenwirken all dieser Gliederungsmittel auszugehen, doch die Frage nach der kleinsten beurteilbaren Einheit ist damit noch nicht beantwortet. Stede (2007: 157ff.) spricht von Minimalen Texteinheiten bzw. Minimalen Einheiten für die Analyse der Textstruktur (EDU) - die kleinsten Einheiten, in die ein Text segmentiert werden kann und meines Erachtens eine Voraussetzung für die Untersuchung der emotiven Textstruktur. Es handelt sich dabei mindestens um einen Teilsatz - Haupt- und Nebensätze sind als zwei EDUs zu werten (z.B. [Die Sonne schien vier Stunden lang,] [und der Wald erwärmte sich kräftig]), außer bei Satzkomplementen des Matrixverbs (z.B. [Sie schlug vor, dass wir schwimmen gehen]; psychische Verben zählen ebenfalls dazu). Auch Partizipialkonstruktionen und Infinitivsätze sind außer bei derselben Ausnahme eigenständig. Stede selbst konzessiert aber eine große Schwierigkeit mit den bisher genannten Kriterien: Neben den syntaktischen Kriterien gelten auch semantische, sodass die Bestimmung der EDU teilweise auch von den Forschungsfragen und von der Intuition der Analysierenden abhängig ist. Dem stimme ich zu, denn es ist durchaus möglich, dass zwei Teilen einer einzelnen EDU trotz ihrer Abhängigkeiten eine eigenständige emotionslinguistische Kategorie zugewiesen werden muss (z.B. Was für ein beängstigendes Szenario! , hier liegt gleichzeitig ein Exklamativsatz und eine attributive Verwendung eines Emotionswortes vor). Das Kriterium für meine Abgrenzung ist ein semantisch-thematisches, vor allem aber ein kognitives: Auf welche Einheiten können die Kategorien der emotionslinguistischen Analyse angewendet werden? Meiner Auffassung nach ist das Kriterium der Trennung, dass der Teilsatz oder der Teiltext prototypischerweise ein Subjekt und ein Prädikat enthält - ein Subjekt, das die Emotivität trägt (z.B. durch ein Attribut wie in der glückliche Mensch) oder jemandem/ etwas anderem (einem grammatischen Objekt) Emotivität zuschreibt, sowie einen Rest, in dem die Möglichkeiten der Emotionsthematisierung und des Emotionsausdrucks so mannigfaltig sind, wie sie in Kapitel 6 beschrieben wurden. Die Betonung liegt hier auf prototypischerweise. Ellipsen, Ausrufe (z.B. auch nur durch eine Interjektion realisiert) und andere wesentliche emotive Phänomene sind selbstverständlich auch ohne die einfache Subjekt-Prädikat-Struktur problemlos als eigenständige Einheiten zu erkennen. Dieser Ansatz entfernt sich also etwas von Stede, einfach weil das Erkenntnisinteresse ein anderes ist. Das schließt natürlich nicht aus, dass erst zwei EDUs gemeinsam die Bedeutung enthalten - im Gegenteil (vgl. Stede 2007: 157ff.). Hier wird in meinem Analyseansatz zwar den einzelnen EDUs jeweils die emotive Kategorie zugeteilt, aber im vierten Schritt wird der Zusammenhang zwischen den beiden Einheiten deutlich gemacht. Im Zweifelsfall ist der Satz mit dem Punkt als <?page no="347"?> 7.2 - Darstellung -der -Methode - 337 Grenze, die von der Textproduzentin oder dem Textproduzenten intentional gesetzt wurde und somit Signalcharakter hat, heranzuziehen (vgl. Gansel/ Jürgens 2007: 179). 3. -Schritt: -Kategorisieren Der wahrscheinlich komplexeste Schritt ist die Kategorisierung der gebildeten Einheiten. Hier geht es darum, die grammatische, die semantisch-thematische und die pragmatische Ebene einerseits auseinanderzuhalten, andererseits zu vereinen, und zwar unter Einbeziehung der Summe aller emotionslinguistischen Untersuchungen, die in der bisherigen Arbeit rezipiert wurden. Zuvor ist jedoch noch eine übergeordnete Frage zu klären, nämlich jene, ob die Textstruktur und textlinguistische Merkmale auch ganz allgemein beschrieben werden sollen oder ob von Anfang an eine Konzentration auf emotive textlinguistische Mittel angestrebt wird. Eine emotionslinguistische Analyse sollte stringent und selektiv, letztendlich zielführend sein. Allerdings lassen sich viele emotionslinguistische Merkmale erst anhand allgemeiner linguistischer Phänomene erklären. In den folgenden Ausführungen beziehe ich mich auf eine umfangreiche Aufstellung von Textanalysekriterien von Ortner (1992). Situative Merkmale wie die Kommunikationsform, die Kommunikationsfrequenz, der Handlungsbereich und die Partnerkonstellation sind sehr relevant, um die Rahmenbedingungen der Textproduktion zu verstehen und emotive Signale richtig einordnen zu können. Von den sprachstrukturellen Daten der Textgrammatik kommen hier Wortverteilung, Satzlänge, Modus, Genus verbi, Affirmation oder Negation, die allgemeine Satzstruktur, Person, Tempus und Wiederaufnahmestrukturen in den Sinn. Hierzu einige Überlegungen. Auf eine Analyse der Wortverteilung wird aus Kosten-Nutzen-Erwägungen verzichtet. In einer umfangreichen Korpusanalyse ist es interessant zu unterscheiden, ob eher adjektivische, verbale oder substantivische Emotionslexeme für Emotionsbeschreibungen und Emotionsausdruck herangezogen werden. In der vorliegenden Arbeit wird dies nicht geleistet, weil die empirische Analyse andere Ziele verfolgt und sich eher an größeren Einheiten bzw. höheren Ebenen als der lexikalischen orientiert. Außerdem liegen hierzu bereits beispielhafte und im Rahmen dieser Arbeit referierte Studien vor (z.B. Bednarek 2008; Fomina 1999). Die Satzlänge kann unter bestimmten Umständen emotiv sein (beispielsweise ‚atemlose‘ Aneinanderreihung von Ellipsen) und wird daher berücksichtigt. Dabei wird eine einfache Wortzählung vorgenommen und eine durchschnittliche Satzlänge errechnet. <?page no="348"?> 7 - Emotionslinguistische -Textanalyse: -Methode 338 Die allgemeine Satzstruktur wird nicht analysiert. Sehr wohl jedoch wird die spezifische Konstruktion in jenen Texteinheiten, die emotiven Charakter haben, nach einfachen Kriterien aufgeschlüsselt (siehe unten). Modus (Indikativ, Konjunktiv, Imperativ) ist eine relevante Kategorie in der Emotionslinguistik, wird aber nur indirekt in das Schema aufgenommen: einerseits, indem der Modus Einfluss auf die Art der Einstellungsbekundung hat (eigene Analysekategorie), andererseits indem er oft für den Satzmodus (Deklarativ-, Interrogativ-, Imperativ-, Exklamativ-, Optativsatz), der im Schema enthalten ist, bestimmend ist. Das Genus verbi ist manchmal eine wichtige Information und wird daher ausgewertet. Allerdings ist hier bei der Interpretation besondere Vorsicht angebracht, da eine Häufung von Aktiv- oder Passivsätzen oft durch die Textsorte bedingt ist und keinen Signalcharakter hat. Beispielsweise wird in wissenschaftlichen Texten das Passiv wesentlich häufiger als in anderen Kommunikationszusammenhängen verwendet, ohne dass damit etwas anderes als die Einhaltung von Textsortennormen ausgedrückt wird. Wiederaufnahmestrukturen werden wie bereits erwähnt nicht im Einzelnen analysiert. Auffällige Anaphern (beispielsweise Komplex-Anaphern im Sinne Schwarz-Friesels, s. 6.7), mangelnde Kohäsion, krasse Themensprünge und ähnliche Elemente werden jedoch in der Analyse anlassbezogen berücksichtigt. Affirmation und Negation, Person und Tempus sind wesentliche Kategorien, die nicht systematisch, sondern in den als emotiv beurteilten Einheiten kodiert werden. Ein wichtiger Aspekt von sprachlichen Handlungen, der auch bei den nicht emotiven Einheiten interessant ist, ist die vermittelte Einstellung. Hier geht es nicht um emotionale Einstellungen im Sinne der Kognitiven Linguistik (s. Kap. 4.2), sondern um die grundlegende Sprechereinstellung, die in jeder Äußerung enthalten ist. Bei der Klassifikation von Einstellungen gibt es unterschiedliche Ansatzpunkte, ich entscheide mich für folgende sehr einfache Unterteilung, die auch der klassischen Dreiteilung in der Psychologie entspricht und von Fries (1994: 24) aufgegriffen wird (bei ihm wird die Einstellung als Teil der Illokution verstanden): • Emotiv/ evaluativ: Eine genauere Unterteilung in emotiv oder evaluativ erfolgt erst bei der weiteren Analyse. • Epistemisch/ doxastisch: Epistemisch betrifft Wissen und Gewissheit, doxastisch ist durch Annahmen, Vermutungen, Hypothesen gekennzeichnet. Auch distanzierende, bezweifelnde Einstellungen gehören dazu. Das Kriterium ist, dass es sich um kognitive Einschätzungen handelt. <?page no="349"?> 7.2 - Darstellung -der -Methode - 339 • Volitiv/ intentional: Diese Einstellung liegt vor, wenn Wünsche und Intentionen signalisiert werden oder wenn Erwartungen und Reaktionen auf Ereignisse thematisiert werden. Dies entspricht auch den von Bublitz (1978) genannten Modalitäten ‚kognitive Modalität‘ (Einstellung gegenüber dem Inhalt nach Wahrheitskriterien), volitive Modalität (Wunsch nach Veränderung) und emotive Modalität (Einstellungen gegenüber Emotionen, Gedanken, Beziehungen). Alle drei Arten von Einstellungen können emotiv sein. Zurück zu den kleinsten Texteinheiten. In einem zweiten Teilschritt wird die übergeordnete Frage geklärt, ob in einer Texteinheit ein emotiver Anteil vorliegt. Diese Frage lässt sich nur mit ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ beantworten. Wenn die Entscheidung für ‚Nein‘ fällt, ist die Einheit nicht emotiv, entspricht also quasi einem Nullwert. Dies bedeutet, dass es kein Indiz für Emotivität gibt. Eine schematische Darstellung dieser Frage: Liegen Indizien für sprachliche Emotivität vor? Ja → Genauere Analyse Nein → 0 Worauf beruht diese Entscheidung? Auf allem, was in Kapitel 6 über emotive sprachliche Mittel ins Treffen geführt wurde. Eine Einheit, die keinen dieser Hinweise enthält, hat für sich keinen emotiven Wert. Diese Hervorhebung ist bewusst gewählt: Auf einer höheren Ebene als jener der kleinsten Einheiten ist es durchaus möglich, dass eine als emotiv neutral bewertete Einheit eine andere Funktion übernimmt, beispielsweise indem sich herausstellt, dass eine Sachaussage eine emotive Aussage stützen oder einleiten soll. Hier offenbart sich der Grund dafür, warum der allererste Schritt, eine Top-down-Analyse, hilfreich ist. Durch sie sind solche Beziehungen zumindest in Ansätzen bereits vor der Detailanalyse bekannt. Doch diese Re-Analyse eigentlich unemotiver Einheiten ist auf einer höheren Ebene der Textanalyse (konkret beim vierten Schritt) angesiedelt. Zunächst ist zu klären, wie emotive Einheiten beurteilt werden sollen. In Kapitel 6.1 wurden umfangreiche Listen mit sprachlichen Mitteln auf unterschiedlichen Ebenen erstellt, die Emotivität anzeigen (das WIE emotiver Sprache auf der grammatischen Ebene). Im Zuge dessen wurden auch Bestimmungskriterien (Dimensionen, kognitive Größen etc.) genannt und im restlichen Kapitel vertieft. Hier spielten auch immer inhaltliche Kriterien (das WAS im Sinne von ‚worauf wird Bezug genommen? ‘) und pragmatische Faktoren (das WARUM) eine wesentliche Rolle zur näheren Bestimmung einer sprachlichen Form. An dieser Stelle offenbart sich die Verwobenheit dieser analytisch getrennten Ebenen: um sprachsystematische Mittel als emotiv zu bestimmen, muss auf ihre Bedeutung und ihre Funktion im Satz- und Textzu- <?page no="350"?> 7 - Emotionslinguistische -Textanalyse: -Methode 340 sammenhang Bezug genommen werden - umgekehrt werden diese Mittel herangezogen, um die Emotivität eines Textes zu bestimmen. In der Folge wird versucht, diese komplexen Zusammenhänge auf einfache Analysekategorien herunterzubrechen. Folgende Fragen sind für jede kleinste Texteinheit zu beantworten: 1) Handelt es sich um eine Emotionsbeschreibung/ Emotionsthematisierung, einen Emotionsausdruck oder eine emotive Bewertung? 2) Wodurch, also durch welche(s) sprachliche(n) Mittel wird diese Kernfunktion ausgeführt? 3) Wie lässt sich dieses sprachliche Mittel näher bestimmen? Wie wirken diese sprachlichen Mittel syntagmatisch zusammen? Wie ist die Texteinheit inhaltlich bestimmt? Welche semantischen Leerstellen sind auf welche Weise gefüllt? Die Bestimmungskriterien hängen vom jeweiligen Mittel ab. Bevor dieses Schema schlussendlich konkretisiert wird, noch einige Vorab- Erklärungen zu den einzelnen Punkten. Ad 1) Als grundlegendste Unterscheidung der Emotionslinguistik wurde jene zwischen propositionaler und nicht-propositionaler Kodierung bzw. zwischen Emotionsbeschreibung/ Emotionsthematisierung und Emotionsausdruck eingeführt. Emotionsausdruck wurde als Form der Bewertung erklärt, doch Bewertungen wurde eine eigenständige, komplexe Rolle zugeteilt (s. 6.4). Abgetrennt wurde die Emotionalisierung. Ad 2) Vor allem unter 6.1 kamen verschiedene Ansätze zur Kategorisierung von Äußerungen (Syntagmen) auf einer abstrakten Ebene zur Sprache: Erinnert sei an die Manifestationsebenen von Fiehler, an die Kriterien nach Sandhöfer-Sixel und Bednarek, an die grundlegenden Verfahren von Glas, an die wesentlichen Anzeichen für Emotivität bei Janney und an die zusammenfassenden Tabellen in 6.1. Diese Aufstellungen sind eine Richtschnur für die Analyse. Ad 3) Mit einer Zuweisung einer groben linguistischen Kategorie wie z.B. ‚Exklamativsatz‘ ist es jedoch noch nicht getan. Es gibt eine Reihe von Unterkriterien: der genaue Typ, die Referenz, weitere intensivierende Hinweise usw. Diese Kriterien sind für jedes sprachliche Mittel unterschiedlich und in Kapitel 6 festgehalten. Eine Gesamtabbildung dieser Bestimmungskriterien ist in einer einzigen Tabelle oder auch in einer anderen Form nicht möglich, ohne dass zu stark vereinfacht werden müsste. In die meisten syntagmatischen Analyseansätze fließen kognitive Größen wie der Experiencer oder der Stimulus ein. Es wurde bereits erwähnt, dass sich in solchen Verfahren die Verwobenheit von grammatischen und seman- <?page no="351"?> 7.2 - Darstellung -der -Methode - 341 tischen Fragestellungen offenbart. Daher sind eine geschlossene Anzahl an thematischen Aspekten zuzuweisen, die nicht alle in einer Teiläußerung realisiert sein müssen (auch nicht auf einer höheren Ebene, aber dort können diese Instanzen, z.B. einer emotionalen Szene, ergänzt werden). Dies gilt vor allem für Emotionsbeschreibungen. Fraglich ist, ob eine Kategorisierung bzw. Spezifizierung der einzelnen Emotionsqualität kodiert werden kann (z.B. Angst, Ärger). Außer bei einigen wenigen sprachlichen Mitteln, etwa bei eindeutig emotionsbezeichnenden Lexemen oder bestimmten Satztypen, ist dies nicht möglich. Hier stellt sich jedoch die Frage, ob wenigstens zwei Dimensionierungen und eine sehr grobe Kategorisierung eingeführt werden können: die Dimensionen Valenz und Intensität und die basalen Emotionskategorien, die Ortony, Clore und Collins sowie Mees nennen (siehe unten). Geklärt werden muss, welche Analyseansätze aus Kapitel 6 herangezogen werden, um die Bestimmung der emotiven Mittel in den Griff zu bekommen. Dabei ist außerdem die Trennung zwischen Emotionsbeschreibung, Emotionsausdruck und emotiver Bewertung mitzubedenken. Bevor diese Aufschlüsselung in Form von Tabellen erfolgt, werden einige Beurteilungskriterien noch einmal explizit angeführt, nämlich dort, wo die Theoriebildung in der Linguistik so komplex und vielfältig, also widersprüchlich ist, dass eine Festlegung auf einen Analyseansatz unbedingt notwendig ist. Zunächst zur lexikalischen Ebene. Hier beschränke ich mich auf die Unterscheidung zwischen emotionsbezeichnenden und emotionsausdrückenden Lexemen mit wenigen Unterspezifizierungen: Für emotionsbezeichnende Lexeme herangezogen wird ein Teil der Klassifikation psychischer Zustände und Wörter von Clore und Clore und die von Ortony, Clore und Collins bzw. Mees vorgenommene Klassifikation von Emotionen (z.B. Empathie-, Erwartungs-, Wohlergehen-, Attributionsemotionen, ...), wenn es sich um eine Emotion im engeren Sinn handelt. Details unten in der zusammenfassenden Tabelle. Zu komplex wären weitere Beurteilungen für jedes einzeln auftretende Emotionswort, aber für Personen, die den hier angeführten Ansatz weiterführen wollen, seien noch Erweiterungsmöglichkeiten angeführt: Zum einen die Überprüfung des Vorkommens in Dornseiff, zum anderen die Berücksichtigung von Ergebnissen des Semantischen Differenzials (beispielsweise die im Rahmen des Projektes Magellan vorgenommenen Beurteilungen durch Angehörige der Sprachgemeinschaft, vgl. Schröder 2009: 71 bzw. Anhang D). Weitere häufig genannte Bestimmungskriterien wie die kontextuelle Valenz, die Intensität, Dauer und Intentionalität schlage ich einer ‚höheren‘ Ebene als der lexikalischen zu, nämlich der thematischen, da sie nicht durch das Einzellexem entstehen, sondern erst durch seine Einbettung in den Satz. Kurz noch einmal zum Problem der Konnotationen: Sie sind in der Analyse zu überprüfen, allerdings nur in begrenztem Ausmaß, etwa wenn es sich <?page no="352"?> 7 - Emotionslinguistische -Textanalyse: -Methode 342 um sehr klare oder ausdrücklich durch den Kontext deutlich gemachte Konnotationen handelt. Das heißt, es geht um folgende Arten von Konnotationen unter folgenden Bedingungen: • Allgemein ausschließlich usuelle, konventionelle Konnotationen (im Sinne Dieckmanns), außer wenn die Konnotation von der Textproduzentin bzw. vom Textproduzenten thematisiert wird • Stilistische Konnotationen, wenn der Kontrast zur unmarkierten Variante offensichtlich ist • Semantische/ pragmatische (vom Weltwissen abhängige) Konnotationen, wenn sie sich im Textzusammenhang aufdrängen, ebenso grammatische Konnotationen (-ler, -ling - gleichzeitig Aspekt der Wortbildung) (nach Schwarz-Friesel) • Emotionale, also emotionale Einstellungen verratende Konnotationen (nach Schippan) Was Metaphern angeht, wird die grundlegende Unterscheidung zwischen Emotionsmetaphern und emotiven Metaphern übernommen. Wenn es sich um erstere Art handelt, wird der Typ der Emotionsmetapher wie in Kap. 4.2 dargelegt bestimmt. Bewertungen (s. 6.4) wurden sehr intensiv theoretisch behandelt. Welche Bestimmungskriterien bleiben für die praktische Analyse übrig? Ganz allgemein werden Bewertungen auf dem Kontinuum ‚gut - schlecht‘ als emotive Bewertungen berücksichtigt. Die Aufzählung der sprachlichen Mittel des Bewertens dient als Orientierungspunkt. Dabei wird nach dem von Fiehler vorgegeben Schema vorgegangen: Bewertende Stellungnahme zu X (Person, Ereignis) auf der Grundlage von Y (Interessen, Erwartungen, Wünsche, Normen, Selbstbild) als Z (entsprechend/ nicht entsprechend). Alle weiteren Bewertungskriterien und Vorgangsweisen von Bewertungen berücksichtige ich auf der inhaltlichen Ebene. Es sind dies: • Adamziks Bewertungen in der Beziehungsgestaltung: Extradyadische Bewertungen, Selbstbewertungen und Partnerbewertungen. • Parameter nach Bednarek: Emotivity (Ausdruck von Zustimmung oder Ablehnung), Expectedness (Erwartetheit), Importance (Wichtigkeit), Possibility/ Necessity (Möglichkeit/ Notwendigkeit), Reliability (Zuverlässigkeit), Evidentiality (Herkunft des Wissens), Mental State (Glauben/ Nicht-Glauben, Emotion, Erwartung, Wissen, geistiger Zustand, Stil). <?page no="353"?> 7.2 - Darstellung -der -Methode - 343 Hinsichtlich der syntaktischen Ebene beschränke ich mich auf eine einfache Festlegung in wenigen Kategorien anstelle von einer ausführlichen Satzanalyse. Die Satzart ist wie erwähnt eine übergeordnete Kategorie (Auswahlmöglichkeiten: Deklarativsatz, Interrogativsatz, Imperativsatz, Optativsatz, Exklamativsatz, vgl. Stede 2007: 162). Für unmarkierte syntaktische Konstruktionen stütze ich mich auf den Überblick von Fiehler und auf die Beurteilungskriterien Unmittelbarkeit, Direktheit, Explizitheit, Intensität, Involviertheit (s. 6.5). Hier befinden wir uns bereits im Übergang zu inhaltlichen Kategorien der Bestimmung, die von der syntaktischen Ebene gerade bei unmarkierten Konstruktionen nicht zu trennen ist, während diese wiederum an die pragmatische Funktion gebunden sind. Thematische Strukturen drücken sich auch in syntaktischen Strukturen aus, syntaktische Strukturen tragen zur Illokution bei (vgl. Fries 1994: 24f.). Auf der pragmatischen Ebene werden emotive Funktionen zugewiesen: Nähe-Distanz-Verhalten, Klarheit oder Vagheit, Sicherheit oder Zweifel, Selbstbehauptung oder Selbstunsicherheit, Betonen oder Nicht-Betonen sowie positive oder negative Evaluation auf der Beziehungsebene. Größere Kategorien sind auffällige Argumentationsweisen, Höflichkeit und Unhöflichkeit (gleichzeitig Inhaltskategorie), verbale Aggression (Pejorativa, Normverletzungen, aggressive Sprechakte wie Schimpfen, Drohen, Fluchen), Witze, Humor, Ironie, Sarkasmus, emotive Implikaturen, destruktive Verletzungen der Konversationsmaximen und Präsuppositionen. Die kognitiven Beurteilungskriterien für Sätze, Scripts, Szenen, Einstellungen und Narrative sollten auf Satz- und auf Textebene zusammengebracht werden. Bei größeren Einheiten können die unterschiedlichen Konzepttypen genauer unterschieden werden, je nachdem, ob es sich eher um eine Szene, ein Script oder ein Narrativ handelt. Ein Problem bei einer Dimensionierung sehe ich darin, dass nicht jede Dimension für jede Äußerung oder jede Kategorie der Emotivität geeignet ist, sondern teilweise nur für ganz bestimmte Äußerungen. Am ehesten sind noch Valenz und Intensität für jede Einheit gleich welcher Größe applizierbar. Allerdings halte ich alle Dimensionen eher für Inhaltskategorien, die ich auf der thematischen Ebene ansiedeln würde - mit der Dimensionierung wird meist nicht eine Aussage über eine textuelle Einheit getroffen, sondern über einen in der Einheit referierten Sachverhalt. Dies gilt auch für die Valenz. Lediglich die Intensität bezieht sich teilweise auf die Konstruktion selbst. Diese Einsicht führt zum letzten Punkt, bevor eine Gesamtdarstellung versucht wird: zu den Inhaltskategorien der Emotionalität, die sich also teilweise mit den genannten Dimensionen überschneiden. Zahlreiche Aufzählungen wurden im Laufe der bisherigen Arbeit angeführt, jeweils unter anderen Voraussetzungen, in der Sache jedoch sehr ähnlich. Die folgende Liste ist eine <?page no="354"?> 7 - Emotionslinguistische -Textanalyse: -Methode 344 Zusammenfassung aller genannten Aspekte (u.a. Bergenholtz, Kailuweit, Kemmler/ Mecheril/ Schelp, Fischer, Fries, Fiehler, Schwarz-Friesel, Jahr). • Emotionsträger, Experiencer, personale Orientierung: Auf wen bezieht sich die Äußerung? (Produzent/ in, Rezipient/ in, andere Person im unmittelbaren Umfeld oder in weiter räumlicher und/ oder zeitlicher Entfernung, fiktive Personen, Unbelebtes/ Abstraktes, Unbekanntes? ). • Temporale Orientierung: Plusquamperfekt, Präteritum etc. • Ursache, Stimulus, Auslöser, Objekt, Ziel, Korrelat: Die Ursache kann endogen oder exogen sein. In vielen Aufzählungen wird nur die Ursache angeführt, bei anderen wird unterschieden zwischen der Ursache einer Emotion (z.B. eine bedrohliche Situation), dem Sachverhalt, dessen Bewertung die Emotion anstößt (z.B. die Möglichkeit einer körperlichen Verletzung), und dem Objekt der Emotion (z.B. eine Person, die als verantwortlich wahrgenommen wird). Wenn eine genauere Differenzierung erforderlich ist, kann sie in der Analyse vorgenommen werden. • Valenz: positiv - negativ - ambivalent - unklar. • Erregung, Aktivierung: z.B. aktiv - passiv. • Intensität: z.B. hoch - mittel - niedrig. • Quantität: dauerhaft (trait), langfristig (z.B. lebenslanger Groll), mittelfristig (Tage, Wochen), kurzfristig (Minuten, Stunden). • Neuheit: Emphase/ Neuheit/ Unerwartetheit bzw. Erwartetheit. • Explizitheit/ Implizitheit. • Verlauf, Dynamik: z.B. anschwellend/ abschwellend, plötzlich/ langsam. • Deutlichkeit: subjektive Eindeutigkeit/ Uneindeutigkeit. • Aktionsrichtung: Subjekt betroffen oder aktiv handelnd. • Beziehung zum Emotionsauslöser: Annäherung/ Entfernung/ Gegenwehr. • Bewältigbarkeit, Kontrolle: Verbesserung/ Inkompetenz; Unveränderbarkeit/ Unzulänglichkeit; Kontrolle möglich/ nicht möglich; modifizierende, einschränkende, hinderliche Elemente. • Manifestation 1: Körperliche Reaktionen, Auswirkungen auf den Körper, physiologische Korrelate. • Manifestation 2: Sichtbarer Emotionsausdruck (Mimik, Gestik). • Manifestation 3: Verhalten und Handlungen. • Konsequenzen: Kognitive Prozesse, soziale Folgen. • Hinweise auf Funktion: Subjektive, soziale, kommunikative Funktionen. • Normen: Hinweise auf Emotionsregeln, soziale Bewertung. Diese Inhaltskategorien sind vor allem für die Emotionsthematisierung relevant, aber auch für die nähere Bestimmung von Instanzen des Emotionsaus- <?page no="355"?> 7.2 - Darstellung -der -Methode - 345 drucks, teilweise auch für Bewertungen. Eine emotive Einheit wird nun also einem der drei Typen zugeschlagen, und zwar aufgrund der in den folgenden Tabellen dargestellten Kriterien und unter Einbeziehung der vorgeschlagenen feineren Unterteilungen. Es ist dabei aus Gründen des Umfangs nicht möglich und sinnvoll, alle bisherigen Erkenntnisse zu wiederholen, weswegen nur auf die entsprechenden Kapitel und Tabellen, in denen vollständige Aufzählungen enthalten sind, verwiesen wird. Neu ist die striktere Unterteilung in Thematisierung, Ausdruck und Bewertung. Tab. 9: Kriterien für die Analyse von Emotionsthematisierungen Kriterium der Zuschreibung • Thematisierung von subjektivem emotionalem Erleben, physiologischen Reaktionen oder Verhalten (Ausdruck, Handlungen) • Beschreibungen der Manifestationsebenen nach Fiehler (s. Tab. 1) • Thematisierungen/ Beschreibungen von nonverbaler, phonetisch-phonologischer und typographischer Ebene, Thematisierungen von körperlichen Prozessen, Ausdrucksverhalten, Einstellungen, Kontrollversuchen und Zeitwahrnehmung Typen der syntaktischen Präsentation • Begriffliche Erlebens- und Emotionsbenennungen mit Emotionswortschatz (z.B. ich bin verärgert) • Erlebensdeklarative Formeln + Erlebensbenennungen im Skopus (z.B. Ich fühlte mich x, ich erlebte es als x) • Erlebensdeklarative Formeln + Kurzvergleiche (z.B. Ich fühlte mich leer) • Erlebensdeklarative Formeln + wie/ als-ob-Vergleiche und Bilder (z.B. Ich fühlte mich wie ein Schneekönig) • Feste metaphorische Wendungen (z.B. auf die Palme treiben), Emotionsmetaphern (formaler und inhaltlicher Typ) • Metaphorischer Gebrauch von Lexemen (z.B. Es steht mir bevor) • Benennung/ Beschreibung von erlebensrelevanten Ereignissen/ Sachverhalten (z.B. Mein Hund ist gestern gestorben) • Beschreibung/ Erzählung der situativen Umstände eines Erlebens (z.B. traurigerweise, Es ist ärgerlich, Zu meinem Ärger, wie ärgerlich! ) • Performativer Gefühlsausdruck (Expressiva): Emotionsdisplay Beurteilungskriterien der syntaktischen Präsentation • Valenz • Unmittelbarkeit, Direktheit, Explizitheit, Intensität, Involviertheit (s. 6.5) • Temporale Orientierung Nähere Bestimmung von emotionsbezeichnenden Lexemen • Gruppen bei Fomina: Emotive Zustandssubstantive, Zustandsverben, Zustandsadjektive, charakterbezeichnende Substantive • Psychische Verben (syntaktisch: Subjekt-Objekt Verteilung von Experiencer und Stimulus), Befindlichkeitsadjektive (deskriptiv, interpretativ, Dispositionsprädikat) • Bezug zu kognitivem Zustand, körperlichem Prozess, Ausdrucksverhalten, Handlungen, Auslösern des Gefühls? Teile der Klassifikation psychischer Zustände und Wörter von Clore und Ortony (s. 6.3), nur die internalen • Emotionskategorien: Empathieemotionen (z.B. Schadenfreude), Erwartungsemoti- <?page no="356"?> 7 - Emotionslinguistische -Textanalyse: -Methode 346 onen (z.B. Furcht), Wohlergehenemotionen (z.B. Freude), Attributionsemotionen (z.B. Zorn), Kombination von Wohlergehen- und Attributionsemotionen (z.B. Dankbarkeit), Wertschätzungsemotionen (z.B. Verachtung), Attraktivitätsemotionen (Liebe, Hass) • Phraseologismen und Kollokationen: Bezüge, ‚X sein/ verlieren/ bekommen‘, ‚Emotion als motivierendes Konzept‘, ‚Gradierung‘ Inhaltliche Bestimmung (fakultativ) • Experiencer, personale Orientierung • Ursache, Stimulus, Auslöser, Objekt, Ziel, Korrelat • Dauer • Verlauf • Eintreten • Manifestation: Körperliche Reaktionen, Emotionsausdruck (Mimik/ Gestik), Verhalten, Handlungen • Kontrolle • Konsequenzen • Hinweise auf Funktionen • Normen Zuweisung einer pragmatischen Funktion • Repräsentativ, Direktiv, Kommissiv, Expressiv, Deklarativ • Ichorientiert, Partnerorientiert, Kooperativ (von Polenz) • Nähe-Distanz-Verhalten, Klarheit oder Vagheit, Sicherheit oder Zweifel, Selbstbehauptung oder Selbstunsicherheit, Betonen oder Nicht-Betonen, positive oder negative Evaluation auf der Beziehungsebene (Janney) Tab. 10: Kriterien für die Analyse von Emotionsausdruck Kriterium der Zuschreibung Expressives Element. Es wird eine aktuelle Emotion externalisiert (bzw. gezeigt). Typische Formen • Physiologische Manifestation, nonvokale, nonverbale Manifestation, verbalisierungsbegleitende Manifestationen (in schriftlichen Texten praktisch nicht möglich) • Möglichkeiten auf der typographischen Ebene • Möglichkeiten auf der morphologischen Ebene • Emotionsausdrückende Lexeme und alle anderen Mittel der lexikalischen Ebene: vor allem Interjektionen, Satzadverbien, Adjektive (Sprechereinstellung, bei Überwiegen der bewertenden entgegen der expressiven Komponente ist dieser Typ den Bewertungen zuzuschlagen, siehe auch unten), Substantive, Verben • Phraseologismen: Beschreibung der Emotion einer Person, Nahelegen einer emotionalen Reaktion auf die Proposition, Anregung einer emotionalen Bewertung; Bezug auf Zustand, Einstellungen, Geschehen oder Aktivität • Passiv: zur Signalisierung von Nähe/ Distanz • Modus: zur Signalisierung von Nähe/ Distanz • Negation: insbesondere doppelte Verneinung, Häufung von Negationen • Alles auf der pragmatischen Ebene, was Rückschlüsse auf Wichtigkeit und negative oder positive Emotionalität liefert (z.B. verbale Aggression, Ironie, intensives Argumentieren, Höflichkeit oder Unhöflichkeit) • Überprüfung von Konnotationen Typen der syntaktischen Präsentation • Abweichende Wortstellung, unkonventionelle Syntax • Unvollständige Sätze: Unterscheidung nach Ausdruck der Erregung über einen Sachverhalt, des Begehrens oder der Ablehnung, der Erregung über eine Eigen- <?page no="357"?> 7.2 - Darstellung -der -Methode - 347 schaft, des Begehrens über die Position eines Objekts oder des Begehrens einer zu vollziehenden Handlung (teilweise auch Ausdruck der Erregung, s. 6.5) • Optativsatz (Unterscheidung zwischen positiver Bewertung des Gewünschten und negativer Bewertung des aktuellen Zustands) • Exklamativsatz (hohe Intensität des Empfindens, meist Überraschung) • Affektfragen, spezielle Formen wie aggressive Befehle • Bei Emotionsthematisierungen in 1. Person Präsens: kontextuell Emotionsausdruck oder Emotionsthematisierung + Emotionsausdruck • Stilistisch: Alles auf der stilistischen Ebene, sofern selbstbezüglich • Emotive Metaphern (keine Emotion beschreibend, eine Emotion ausdrückend) • Konstruktionen mit emotionsausdrückenden Lexemen Beurteilungskriterien der syntaktischen Präsentation • Valenz • Intensität • Unmittelbarkeit, Direktheit, Explizitheit, Intensität, Involviertheit Nähere Bestimmung von emotionsausdrückenden Lexemen • Onomatopoetika, Interjektionen, Modalpartikeln und -adverbien (oft nur schwach emotiv), Formen der Intensivierung • Emotive Satzadverbien (z.B. ärgerlicherweise) • Emotive Adjektive, die nicht nur eine positive oder negative Bewertung darstellen, sondern auch Emotivität anzeigen/ expressiv sind (z.B. gruselig) • Emotive Substantive (z.B. emotive Personenbezeichnungen) und Phraseologismen Inhaltliche Bestimmung (fakultativ) • Experiencer, personale Orientierung • Ursache, Stimulus, Auslöser, Objekt, Ziel, Korrelat • Dauer • Verlauf • Eintreten • Manifestation: Körperliche Reaktionen, Emotionsausdruck (Mimik/ Gestik), Verhalten, Handlungen • Kontrolle • Konsequenzen • Hinweise auf Funktionen • Normen Zuweisung einer Illokution • Repräsentativ, Direktiv, Kommissiv, Expressiv, Deklarativ • [Ichorientiert, Partnerorientiert, Kooperativ (von Polenz)] • Nähe-Distanz-Verhalten, Klarheit oder Vagheit, Sicherheit oder Zweifel, Selbstbehauptung oder Selbstunsicherheit, Betonen oder Nicht-Betonen, positive oder negative Evaluation auf der Beziehungsebene (Janney) Tab. 11: Kriterien für die Zuweisung und Analyse von Bewertungen Kriterium der Zuschreibung • Ansprechen einer bewertenden Kognition (hot cognition) mit emotiven Anteilen (nicht Emotionsausdruck als Bewertung eines Sachverhalts) - Bewertung eines Sachverhalts auf dem Kontinuum ‚gut - schlecht‘ • Wertungen, die sich auf den Wahrheitsgehalt einer Äußerung beziehen oder Volition betreffen, nur in bestimmten Kontexten (wenn damit eine positive oder negative Bewertung verbunden ist - siehe epistemische/ doxastische und volitionale/ intentionale Einstellungen) <?page no="358"?> 7 - Emotionslinguistische -Textanalyse: -Methode 348 • Kontextuell anhand von Normen und Wertvorstellungen (Fiehler: ‚Bewertende Stellungnahme zu X auf der Grundlage von Y als Z‘) • Bewertungen, die dem Ausdruck von Meinungen, der Beziehungsgestaltung und der Diskursorganisation dienen Bestimmungskriterien • Bewertungsparameter: Emotivity (Ausdruck von Zustimmung oder Ablehnung), Expectedness (Erwartetheit), Importance (Wichtigkeit), Possibility/ Necessity (Möglichkeit/ Notwendigkeit), Reliability (Zuverlässigkeit), Evidentiality (Herkunft des Wissens), Mental State (Glauben/ Nicht-Glauben, Emotion, Erwartung, Wissen, geistiger Zustand, Stil) - nur in bestimmten Kontexten können alle Formen emotiv sein (Bednarek) • Sprecherbewertung, Adressatenbewertung, Objektbewertung (Marten-Cleef) • Teilweise damit überschneidend: Extradyadische Bewertungen, Selbstbewertungen und Partnerbewertungen (Adamzik) • Die Parameter nach Janney: Wert-Zuweisung, Bewertungszweck, Bewertungsperspektive, Bewertungsintention, Träger der Bewertung, Veranlassung der Bewertung, Emotionale Wertemenge (Lust/ Unlust), Dynamik der Bewertung. • Anzeichen für Gradierung/ Intensivierung und andere Merkmale • Bewertungsdimensionen: Intensität und Valenz Zuweisung einer Illokution • Repräsentativ, Direktiv, Kommissiv, Expressiv, Deklarativ • [Ichorientiert, Partnerorientiert, Kooperativ (von Polenz)] • Nähe-Distanz-Verhalten, Klarheit oder Vagheit, Sicherheit oder Zweifel, Selbstbehauptung oder Selbstunsicherheit, Betonen oder Nicht-Betonen, positive oder negative Evaluation auf der Beziehungsebene (Janney) Wie gesagt handelt es sich hier nur um eine Richtschnur, die mit den Angaben aus den Kapiteln 4 bis 6 im Anlassfall erweitert werden kann bzw. muss. Es hängt auch von der Forschungsfrage ab, wie tiefgehend jedes einzelne emotive Element analysiert wird. Eine sehr umfassende, maximale Kategorisierung sollte auf dieser Grundlage aber möglich sein. Wird dies auf alle emotiven Einheiten angewendet, können die einzelnen Einheiten in der Folge verglichen und ausgewertet werden. 4. -Schritt: -Kombinieren -und -Re--‐Kategorisieren Auf dieser Ebene sollen die kleineren Einheiten miteinander in Beziehung gesetzt werden. Wie oben beschrieben wurden Ansätze verworfen, die eine sehr genaue Schritt-für-Schritt-Zerlegung des Textes ergeben, und zwar aus dem Grund, dass dies für die meisten Texte nicht möglich ist. Dennoch bietet sich in vielen Fällen eine Bildung von emotiven Blöcken an: Zunächst gibt es oft sehr enge Zusammenhänge zwischen zwei unmittelbar benachbarten kleinsten Einheiten, wie sie in Schritt 3 behandelt wurden. Hierzu gehören umfangreichere Emotionsbeschreibungen, Emotionsschemata, Scripts, Sze- <?page no="359"?> 7.2 - Darstellung -der -Methode - 349 nen, Episoden und Situationsstereotype, aber auch höherrangige pragmatische Phänomene wie durchgehende emotive Argumentationen. Das Vorgehen in diesem Schritt ist nicht so systematisch wie im vorhergehenden Stadium, aber dies liegt vor allem an der hohen Variabilität der in konkreten Texten möglichen Einheitenbildungen auf höheren textuellen Ebenen. Teilweise können direkte handlungsstrukturelle (gleichzeitig thematische) Zusammenhänge zwischen benachbarten Elementen konstruiert werden. Emotive sprachliche Handlungen können einander stützen, begründen, widersprechen usw. Sehr oft wird aber die Emotivität unterbrochen und an einem anderen Punkt fortgesetzt oder auch innerhalb eines Absatzes eine neue, völlig andere emotive Handlung vollzogen. Dies ist der wesentliche Grund für das bereits diskutierte Verwerfen eines Modells, das sich auf einige starr anzuwendende Kategorien festlegt und das jede Äußerung mit der vorhergehenden oder der nachfolgenden verknüpfen will. Dies wäre zwar methodisch konsequenter, aber auch ein Korsett, in das viele Texte nicht sinnvoll zu zwängen sind. Dennoch sollen die kleineren Einheiten zu größeren, funktional und thematisch bestimmten zusammengesetzt werden. Um hierfür die wichtigsten Kategorien zur Verfügung zu haben, greife ich teilweise auf Fiehlers gesprächsanalytische Ebenen der Emotionsanalyse zurück, teilweise auf andere Kategorien. Folgende größere Einheiten der Emotivität in Texten werden angenommen (grundsätzlich erweiterbare Aufzählung): • Deutung der eigenen Emotionen • Manifestierte eigene Emotionen • Deutung der von anderen manifestierten Emotionen • Zuschreibung von Emotionen • Fortgesetzter Emotionsausdruck (z.B. anhaltender Ausdruck von Empörung) • Kumulative Bewertung einer Person, eines Ereignisses oder eines Sachverhalts (aneinandergereihte oder über den Text verstreute Bewertungen) • Über verschiedene Einheiten verstreute Besetzungen der inhaltlichen Kategorien (Leerstellen) auf der thematischen Ebene 5. -Schritt: -Quantifizieren Über die inhaltsanalytischen Theoriegebäude - vor allem durch Frequenztheorem, Ausmaß der Direktheit und der persönlichen Beteiligung gekennzeichnet - wurde bereits genug gesagt (s. 3.3, 6.7). Diese Überzeugungen sind, auch wenn sie für die vorliegende Arbeit in dieser direkten Form verworfen werden, zumindest insofern relevant, als es sehr wohl etwas über das emotive Profil eines Textes aussagt, wenn bestimmte Mittel und Kategorien gehäuft <?page no="360"?> 7 - Emotionslinguistische -Textanalyse: -Methode 350 auftreten. Alle komplexeren Modelle, in denen mit Dimensionierungen und anderen Valorisierungen gearbeitet wurde, haben sich als nicht fruchtbar erwiesen. Die in diesem Ansatz vertretene Form der Quantifizierung ist denkbar einfach: Die kleinsten emotiven Einheiten werden im Verhältnis zur Gesamtanzahl an kleinsten Einheiten betrachtet und untereinander verglichen. Das Ergebnis sind einfache Prozentzahlen. Angenommen, ein Text besteht aus 50 Texteinheiten, von denen 25 ein emotives Element enthalten, so ist der Gesamtanteil emotiver Einheiten 50% (0,5). Wenn davon fünf Instanzen Emotionsbeschreibungen, fünfzehn Formen des Emotionsausdrucks und fünf emotive Bewertungen sind, so ist das Verhältnis zwischen Emotionsbeschreibung, Emotionsausdruck und Bewertung 1: 3: 1 (20: 60: 20). Auf den höheren Ebenen halte ich eine Quantifizierung wegen der angesprochenen Flexibilität der Kategorien für schwierig, außer in absoluter Form (Aussagen wie ‚In Text X im Umfang von 500 Wörtern sind drei Emotionsthematisierungen enthalten, die erste erstreckt sich von Satz 1-x, ...‘ usw.), was erst im Vergleich mehrerer Texte eine gewisse relative Aussage erlaubt. Ebenso kann in einer Korpusanalyse noch viel feiner nach den einzelnen Untertypen gefragt werden (z.B. ‚Das Korpus enthält x Beispiele für erlebnisdeklarative Formeln, davon x mit dem Emotionslexem z‘). Die sonstigen quantitativen Werte wie die allgemeinen Merkmale (z.B. Satzlänge) müssen sorgfältig interpretiert werden. Wie weit die Quantifizierung geht, ist also auch an die Fragestellung anzupassen. Im empirischen Teil der vorliegenden Arbeit wurde auf Quantifizierungen jedoch verzichtet, da die Beantwortung der Fragestellungen davon nicht profitiert. 6. -Schritt: -Qualitative -Fragen -an -den -Text -und -Interpretation Hier wird eine Reihe von Fragen formuliert bzw. von den bisherigen Kapiteln aufgegriffen, die sich auf größere Abschnitte eines Textes beziehen. Teilweise handelt es sich um Inhaltskategorien, teilweise jedoch auch um linguistische Aspekte. • Leitfrage: Wie wird das subjektive Emotionserleben sprachlich repräsentiert? Hier geht es um eine globale Beurteilung des Textes auf der Grundlage der in den bisherigen Schritten durchgeführten Detailanalyse. • Textfunktion: Auf welche Weise trägt die Darstellung bzw. der Ausdruck von Emotionen zur Erfüllung der dominierenden Textfunktion bei? • Kommunikationsaufgaben (nach Fiehler): Welche Kommunikationsaufgaben werden auf welche Weise erfüllt? • Grenzen: Was wird nicht versprachlicht? <?page no="361"?> 7.2 - Darstellung -der -Methode - 351 • Regeln: Gibt es Hinweise auf kommunikative Regeln und Probleme (z.B. Emotionsregeln, Diskrepanzen zwischen Erwartungen, Regeln, Manifestationen und Deutungen, gestörte Kommunikation)? • Varietätenlinguistische Besonderheiten: Gibt es Hinweise auf soziolinguistische Aspekte? Wie schlagen sie sich sprachlich nieder? Welche Rolle spielen Mehrsprachigkeit und Gruppenmitgliedschaft (Peergroup, Alter, Geschlecht, Paarbeziehungen), individuelle Unterschiede (kognitive, emotionale Faktoren, Einstellungen, Normen)? • Alltagspsychologische Konzepte und Bewertungen: Gibt es Hinweise auf alltagspsychologische Konzepte sowie positive oder negative Bewertungen von Emotionen bzw. eine Kritik an diesen Stereotypen? Wie werden diese Vorstellungen sprachlich vermittelt? • Metasprachliche Aussagen: Wird beispielsweise auf Sprachlosigkeit, Schwierigkeiten der Verbalisierung, Unzulänglichkeit der Sprache hingewiesen? Wird auf die Funktionen von emotiver Sprache hingewiesen oder auf die emotive Funktion der Sprache? • Intentionalität: Gibt es Hinweise auf die Absichtlichkeit des Emotionsausdrucks (Unterscheidung zwischen intentionalem/ strategischem und kathartischem/ nicht-kommunikativem Ausdruck)? Das betrifft sowohl Thematisierungen, in denen die Unabsichtlichkeit von Dritten referiert wird, als auch die Intentionen der schreibenden Person. Diese Kategorie kann nur zugewiesen werden, wenn sie explizit im Text thematisiert wird. • Verhalten, Ausdruck: Wie werden emotionale Verhaltensweisen und Handlungen beschrieben? Welche (stereotypen) Beschreibungen von mimischem, gestischem und vokalem Emotionsausdruck kommen vor? Welche Überzeugungen bezüglich des Einflusses von Emotionen werden geäußert oder sind im Hintergrund enthalten? • Körperlichkeit: Wie wird auf die Körperlichkeit von Emotionen Bezug genommen? Welche Wörter, Phraseologismen, Vergleiche und Metaphern rekurrieren auf körperliche Erfahrungen? Welche physiologischen Korrelate von Emotionen werden beschrieben? Wird das Leib-Seele- Problem angesprochen? • Kognition: Werden Auswirkungen von Emotionen auf kognitive Prozesse, auch allgemein auf die Sprache (vor allem auf den Schreibprozess) thematisiert (z.B. auch Schreibblockaden)? Zu unterscheiden sind hier wie überall Äußerungen, die sich auf die Textproduzentin bzw. den Textproduzenten beziehen, und Beschreibungen thematisierter Personen. • Persönlichkeit: Lassen sich Konstanten in Emotionsausdruck und Emotionsbeschreibung feststellen, die mit Persönlichkeitsfaktoren und Emotionaler Intelligenz in Zusammenhang gebracht werden können? Wie werden Emotionsentwicklung und Emotionsregulation konzeptualisiert? <?page no="362"?> 7 - Emotionslinguistische -Textanalyse: -Methode 352 • Soziale, kulturelle und historische Aspekte: Gibt es Hinweise auf soziale, historische und kulturelle Varianz? Dies ist für die vorliegende Arbeit nur teilweise von Bedeutung, könnte aber der Kern weiterführender Fragestellungen sein. • Verwendung emotionspsychologischer und anderer Termini: Wie werden Lexeme aus dem erweiterten Wortfeld der Emotionen (z.B. Stimmung, Stress, Empathie) verwendet und konzeptualisiert? • Semantische Ebene: Gibt es auffällige Häufungen von Lexemen aus einem Wortfeld, von bedeutungsähnlichen Lexemen etc.? (In Anlehnung an das Isotopiekonzept.) • Konzepte: Welches Emotionsspektrum ist im Korpus vertreten? • Ambiguität und Ambivalenz: Wie eindeutig werden Emotionen benannt? Werden Einschränkungen und Differenzierungen vorgenommen? Wird Zweifel oder Unsicherheit ausgedrückt? • Meta-Aussagen: Gibt es Feststellungen über gerade präsente Emotionalität und die Art der Kommunikation darüber? • Authentizität: Gibt es Hinweise, ob die emotive Sprache echte Emotionen anzeigt, durch soziale Regeln geleitet oder bewusst gesteuert wird? • Emotionalisierung: Verfügt der Text über ein starkes Emotionalisierungspotenzial? Welche Teile oder Aspekte tragen dazu bei? Wenn die einzelnen Fragen bejaht werden, muss dies unter Bezugnahme auf den Text (Stelle des Indizes) begründet werden. 7. -Schritt: -Gesamtdarstellung -- -Ergebnis Zuletzt stellt sich die Frage, in welcher Art und Weise die Analyseergebnisse zusammenfassend dargestellt werden können. Lemnitzer und Zinsmeister (2010: 95f.) nennen als Kriterien für eine sinnvolle Annotation die transparente Dokumentation, das Unabhängigbleiben des Ursprungstextes und die nicht an eine bestimmte Theorie gebundene Form der Annotation. Vor allem sollte die Beziehung zur Position im Text aufrechterhalten werden. Aus diesen Gründen ist eine Satz-für-Satz-Abbildung mit der Zuweisung von Kategorien wie in Schritt 3 (Mikroebene) die erste Aufgabe. Anschließend werden diese kleineren Einheiten dem vierten Schritt entsprechend zu größeren Einheiten zusammengefasst. Dies kann nicht in einer Art Baumdiagramm erfolgen, da wie gesagt Einheiten enthalten sind, die keinen emotiven Wert haben und sich insofern nicht integrieren lassen. Durch die Nummerierung der einzelnen emotiven Einheiten und die Zusammenfassung zu Absätzen ergeben sich jedoch eindeutige Zuordnungen, die in der Folge auch in eine Datenbank übernommen werden können. <?page no="363"?> 7.2 - Darstellung -der -Methode - 353 Für die Zukunft, in der umfangreichere Korpusanalysen zu bewältigen sind, halte ich einen stärker technisierten Ansatz für eine hilfreiche Idee: Die Annotation könnte unmittelbar im Text - ähnlich wie in XML <Titel></ Titel> mit kleineren und größeren, übergeordneten und untergeordneten Einheiten (Einrückungen etc.) erfolgen (vgl. Lemnitzer/ Zinsmeister 2010: 96 sowie Lobin 2010 für computerlinguistische Ansätze der Annotation von Texten). Eine automatisierte elektronische emotionslinguistische Textanalyse, wie sie von der Sentimentanalyse versucht wird (vgl. Boiy et al. 2007), kann nur bestimmte Parameter erheben, aber kaum die qualitativen Fragen beantworten, die in den bisherigen Abschnitten enthalten sind. Für Aufgaben wie die Zerlegung eines Textes in lexikalische Einheiten, Worthäufigkeitsanalysen u.Ä. eignen sich Computerprogramme aber gut, und dies könnte auch für die emotionslinguistische Textanalyse eine Entlastung sein (vgl. Tsiknaki 2005: 51ff.). In der vorliegenden Arbeit wurde dies nicht versucht, weil der Fokus nicht empirischer, sondern theoretischer Art ist. 8. -Schritt: -Vergleich -der -Syntheseergebnisse Bednarek gibt wichtige Hinweise darauf, dass die Methode dem Korpus und dem Ziel angemessen sein muss und dass keine Form alle Ansprüche zufriedenstellen kann. Es hängt stark davon ab, ob große oder kleine Korpora oder nur ein Einzeltext analysiert werden sollen, ob Repräsentativität oder eher eine detaillierte Interpretation geplant sind (vgl. Bednarek 2008: 220). Wird die Gesamtdarstellung auf sehr viele Texte angewendet, ergeben sich durch einen weiteren vergleichenden Analyseschritt im idealen Fall signifikante Auffälligkeiten, Entwicklungslinien und Veränderungen. Dies hängt wiederum von der jeweiligen Fragestellung ab. Es könnten große Kategorien (Emotionsbeschreibungen, Emotionsausdruck), sehr feingliedrige Unterteilungen (z.B. Anzahl und Typ der Emotionsmetaphern) oder eine globale Beurteilung des Korpus erfolgen. Zur -Bewältigung -großer -Textmengen So viel zur theoretischen Darstellung der Methode. Es ist klar geworden, dass diese Analyse sehr aufwändig ist und bei bestimmten Textsorten oder bei vielen Fragestellungen zu wenig ergiebig ist. Aus der hier dargestellten Maximalvariante lässt sich ohne Schwierigkeiten ein vereinfachtes Modell ableiten, das sich dafür eignet, ausgewählten Kategorien der Emotivität in größeren Korpora nachzuspüren oder ganz spezifische Fragestellungen zu beantworten, für die eine vollständige Analyse des Textes ein nicht zu rechtfertigender Aufwand wäre. <?page no="364"?> 7 - Emotionslinguistische -Textanalyse: -Methode 354 7.3 - Emotionslinguistische Textanalyse im Überblick Das folgende Codebuch bzw. die Checkliste soll alle Hinweise der bisherigen Kapitel enthalten und für die Analyse nutzbar machen. 1. Top-down-Analyse • Markieren eindeutiger Emotionsthematisierungen, Emotionsausdrücke, Bewertungen • Ansatz einer thematischen Struktur (Abschnitte, Sprünge) • Vorformulierung einer Textfunktion 2. Zerlegung Gesamtanzahl an kleinsten Einheiten (im Text markieren) 3. Kategorisieren 3a. Übergeordnete Kategorien • Kommunikationsform: Kommunikationsmedium, -richtung, Spontaneitätsgrad • Kommunikationsfrequenz: Häufigkeit vorausgehender Kommunikationsakte, Zeitpunkt der Textproduktion • Relation Textproduzent - Textthema: Interesse, Grad der Vorbereitetheit • Partnerkonstellation: Produktionsbedingungen, Identität des Textproduzenten und Senders, Abhängigkeit von wirtschaftlichen Bedingungen, Situationsvertrautheit, Kontakt der Partner, Partnerbeziehung (gesprächstaktisch, sozial, Rollenverständnis) • Ideologische Orientierung • Handlungsbereich • Distributionelle und formale Merkmale: Erscheinungsmodus, Position in Textkonglomeraten, Textanfang, -ende, Format, Layout, Text-Bild-Beziehungen usw. 3b. Auf alle Texteinheiten anzuwendende Kategorien Satzlänge • Durchschnittliche Satzlänge in Wörtern • Hinweis auf Emotivität? Genus verbi • Aktiv-Passiv-Verteilung • Hinweis auf Emotivität? Kohäsion • Sind auffällige Wiederaufnahmen im Textganzen zu beobachten? (Position? ) • Handelt es sich um Hinweise auf Emotivität? Position? Beispiel: Anaphern Kohärenz • Ist die Kohärenz gegeben? • Finden sich thematische Sprünge? Assoziationen? (Mit emotiver Funktion? ) Satzmodus Abfolge von Deklarativ- (DS), Interrogativ (IRS), Imperativ- (IMP), Exklamativ- (ES), Optativsatz (OS) Einstellung Evaluativ/ emotiv (EE), Epistemisch/ doxastisch (ED) oder Volitiv/ intentional (VI) 3c. Nur auf emotive Einheiten anzuwendende Kategorien Liegen Indizien für sprachliche Emotivität vor? <?page no="365"?> 7.4 - Eine -Beispielanalyse - 355 Ja → Genauere Analyse Nein → 0 Übergeordnete Frage für jede Texteinheit WIE wird WORAUF und MIT WELCHER FUNKTION Bezug genommen? Affirmation oder Negation Kategorisierung als • Emotionsthematisierung/ Emotionsbeschreibung (ET) • Emotionsausdruck (EA) • Bewertung (B) Kategorisierung des sprachlichen Mittels Nach den Aufstellungen unter 7.2 Zuweisung der Illokution Repräsentativ (R), Direktiv (D), Kommissiv (K), Expressiv (E), Deklarativ (D) Ichorientiert (IO), Partnerorientiert (PO), Kooperativ (KO) 4. Kombinieren und Re-Kategorisieren • Allgemein: Aufschlüsse über größere zusammenhängende Einheiten formaler, kognitiver und funktionaler Art • Funktionale/ thematische Beziehungen (Wechsel, Unterordnung, Nebenordnung) zwischen den einzelnen Einheiten (Zerlegung, soweit möglich) • Aufschlüsse auf größere zusammenhängende Texthandlungen, Deutung, Manifestation, Zuschreibung, Ausdruck, Bewertung, inhaltliche Kategorien, qualitative Fragen 5. Quantifizieren Verhältnis zwischen emotiven und nicht emotiven Teiltexteinheiten Verhältnis zwischen emotiven und nicht emotiven Texteinheiten auf Textebene (soweit quantifizierbar) Verhältnis zwischen Emotionsbeschreibung, Emotionsausdruck und Bewertung 6. Qualitative Fragen (jeweils Kodierung der Position und des Umfangs) • Leitfrage: Sprachliche Repräsentation • Textfunktion • Kommunikationsaufgaben • Regeln • Gruppenspezifität • Alltagspsychologische Konzepte und Bewertungen • Wissenschaftliche Termini? • Semantische Ebene • Konzepte/ Emotionsspektrum • Ambiguität und Ambivalenz • Meta-Aussagen • Authentizität • Emotionalisierungspotenzial 7. Gesamtdarstellung 8. Vergleich der Syntheseergebnisse über das Auswahlkorpus hinweg 9. Themengeleitete Analyse 7.4 - Eine Beispielanalyse Da die Detailanalysen der Einzeltexte im empirischen Teil (s. Kap. 8) nicht abgebildet werden können, ist an dieser Stelle eine Demonstration der Methode angebracht. Ausgewählt wurde ein Text aus dem Korpus: ein Brief von Franz Kafka. <?page no="366"?> 7 - Emotionslinguistische -Textanalyse: -Methode 356 Beispieltext: -Franz -Kafka -an -Max -Brod -(Prag, -Anfang -September -1908) 92 (1) - (1a) - Ich - freue - mich - (1b) - mein - lieber - Max - (1c) - über - dein - Glücklichsein - (1d) - über Euer - aller - Glücklichsein, - (1e) - nur - schade - (1f) - daß - es - euch - nicht - ein - bißchen - gesprä--‐ chiger - macht. - (2) - (2a) - Aber - es - ist - so - (2b) - und - ich - stimme - Dir - bei, - (2c) - man - schreibt ungern -(2d) -wenn -man -auf -der -Reise -ist -und -(2e) -ungern, -(2f) -wenn -man -glücklich -ist. (3) -(3a) -Sich -dagegen -wehren -hieße -(3b) -sich -gegen -das -Glücklichsein -wehren. -(4) -(4a) Also -bade -nur -ruhig, -(4b) -mein -lieber -Max. - (5) - (5a) -Nur -muß - ich, - (5b) -da -Du -mir -keine - instruktive -Ansichtskarte -des - Genfer - Sees geschickt -hast, -(5a) -mich -ganz -auf -meine -Geographiekenntnisse -verlassen, -(5c) -wenn ich - an - Dich - denke. - (6) - (6a) - Diese - sind - allerdings - im - allgemeinen - vorzüglich, - (6b) - im Detail -aber -wieder -nur -auf -die -vorzügliche -Allgemeinheit -gestützt. -(7) -Wie -ist -es -also? (8) - (8a) - Steigst - du - in - Riva - in - den - See, - (8b) - schwimmst - ein - bißchen, - (8c) - kommst - zu einer -der -Borrmäischen -Inseln -- -(8d) -wie -heißt -sie? -- -(8e) -und -liest -im -Gras -den -Brief (8f) -den -ich -mitschicke? -(9) -(9a) -Es -ist -ein -hübscher -Brief, -(9b) -nicht -wahr? -(10) -Du -er--‐ kennst -schon -aus -der -Schrift -den -Schreiber. -(11) -Adieu. -(12) -Dein -Franz -K. Analyse 1. Top-down-Analyse Markieren eindeutiger Emotionsthematisierungen, Emotionsausdrücke, Bewertungen Ansatz einer thematischen Struktur (Abschnitte, Sprünge) Vorformulierung einer Textfunktion Von (1) bis (3) offensichtlich eine Reihe von Thematisierungen (selbstbezüglich und auf Gegenüber und Dritte referierend) und Emotionsausdruck, (5b) Vorwurf, (6a) und (9b) Thema: Umstände des Urlaubes von Max Brod Funktion: Kontakt Anrede erst an zweiter Position (häufig bei Kafka), zwei Schlussformeln 2. Zerlegung Gesamtanzahl an Einheiten 34 3. Kategorisieren 3a. Übergeordnete Kategorien Kommunikationsform: Kommunikationsmedium, -richtung, Spontaneitätsgrad Kommunikationsfrequenz: Häufigkeit vorausgehender Kommunikationsakte, Zeitpunkt der Textproduktion Relation Textproduzent - Textthema: Interesse, Brief Häufiger Briefpartner (regelmäßige Korrespondenz) Privater Kontext Gleichberechtigte Partner (enge Freundschaft) 92 Kafka (1999a: 88). Anmerkung: Der Text wirkt wie sehr bewusst ausgewählt, ist in seiner starken Emotivität aber nicht untypisch für Kafkas Briefe an enge Freunde wie Max Brod. <?page no="367"?> 7.4 - Eine -Beispielanalyse - 357 Grad der Vorbereitetheit Partnerkonstellation: Produktionsbedingungen, Identität des Textproduzenten und Senders, Abhängigkeit von wirtschaftlichen Bedingungen, Situationsvertrautheit, Kontakt der Partner, Partnerbeziehung (gesprächstaktisch, sozial, Rollenverständnis) Ideologische Orientierung Handlungsbereich Distributionelle und formale Merkmale: Erscheinungsmodus, Textanfang, -ende, Format, Layout, Text-Bild-Beziehungen usw. Handschriftlich verfasst „Spontan-geplante“ Textproduktion 3b. Auf alle Texteinheiten anzuwendende textgrammatische Kategorien Satzlänge Durchschnittliche Satzlänge in Wörtern Hinweis auf Emotivität? 15 Wörter (ohne Schlussformeln) Schwankungsbreite: zwischen 4 und 28 Wörtern Keine Auffälligkeiten Genus verbi Aktiv-Passiv-Verteilung Hinweis auf Emotivität? Nur Aktiv Keine Auffälligkeiten Kohäsion Sind auffällige Wiederaufnahmen im Textganzen zu beobachten? (Angabe der Position) Handelt es sich um Hinweise auf Emotivität? Position? Beispiel: Anaphern Keine Auffälligkeiten Kohärenz Ist die Kohärenz gegeben? Finden sich thematische Sprünge? Assoziationen? (Mit emotiver Funktion? ) Keine Auffälligkeiten Satzmodus Abfolge von Deklarativ- (DS), Interrogativ (IRS), Imperativ- (IMP), Exklamativ- (ES), Optativsatz (OS) (1) DS, (2) DS, (3) DS, (4) IMP, (5) DS, (6) DS, (7) IRS, (8) IRS, (9) IRS, (10) DS Einstellung: Evaluativ/ emotiv (EE), Epistemisch/ doxastisch (ED) oder Volitiv/ intentional (VI) (1) EE, (2a-b) ED (2c) EE, (2d) EE, (2e) EE, (2f) ED, (3) ED, (4) EE, (5) VI, (6) EE, (7) ED, (8) ED, (9) EE, (10) ED/ EE, (11-12) ED/ EE 3c. Nur auf emotive Einheiten anzuwendende Kategorien Liegen Indizien für sprachliche Emotivität vor? Ja → Genauere Analyse Nein → 0 Ja: (1), (2), (3), (4), (6), (9), (10), (11), (12) Nein: (7), (8) Fraglich: (5) (siehe Kategorisierung unten) Übergeordnete Frage für jede Texteinheit WIE wird WORAUF und MIT WELCHER FUNKTION Bezug genommen? Siehe Aufschlüsselung der einzelnen Einheiten Affirmation oder Negation Keine Auffälligkeiten <?page no="368"?> 7 - Emotionslinguistische -Textanalyse: -Methode 358 Kategorisierung als Emotionsbeschreibung/ Emotionsthematisierung (ET) Emotionsausdruck (EA) Bewertung (B) (1a) EA, (1b) EA, (1c-1d) ET, (1e- 1f) EA, (2c-2f) ET, (3a-3b) ET, (4a- 4b) EA, (6a-6b) B, (9a) B, (10) B, (11-12) EA Kategorisierung des sprachlichen Mittels (textgrammatische Ebene, semantisch-thematische Ebene und funktionale Ebene) 1a, 1c, 1d: Begriffliche Erlebens- und Emotionsbenennung in der Funktion eines Emotionsausdrucks (freue: Zustandsverb, Valenz positiv, Bezug zu kognitivem Zustand, Wohlergehenemotion), Experiencer: Kafka, Ursache: Zustand von Max und seiner Familie, Dauer: längerfristig, Temporale Orientierung: Präsens, durch Selbstbezüglichkeit gleichzeitig auch Emotionsausdruck, Valenz: positiv, Intensität: mittel. Eingebettet in 1c und 1d: ET (Glücklichsein, Bezug auf Max und Familie) 1b: EA, Anrede, positive Valenz, niedrige Intensität (stark konventionalisiert) 1e-1f: EA (Mittel: emotives Adj. + Begründung, Ausdruck der Ablehnung eines Sachverhalts, Valenz: negativ, Intensität: mittel, explizit, direkt, mittlere Involviertheit), Stimulus: Verhalten von Brod. (2c-f): Komplexe Emotionsthematisierung, personale Orientierung unpersönlich, temporale Orientierung „zeitlos“ (allgemeine Aussage) 3a-3b: indirekte ET durch Glücklichsein (wie 1c) (4a) EA (Mittel: ruhig), (4b) wie 1b (5) Möglicherweise indirekter Vorwurf, schwach emotionsausdrückend (6) Bewertung der Geographiekenntnisse nach dem Kriterium gut-schlecht, aber nur schwach emotiv (in Richtung Stolz) (9) Schwach emotive Bewertung, Stimulus: Brief, Bewertungskriterium: ästhetisch (10) Indirekte Bewertung des Schreibers (Kafka), Valenz und <?page no="369"?> 7.4 - Eine -Beispielanalyse - 359 Intensität nicht eindeutig (11-12) Vertraute Schlussformel Zuweisung der Illokution Repräsentativ (R), Direktiv (D), Kommissiv (K), Expressiv (E), Deklarativ (D) Ichorientiert (IO), Partnerorientiert (PO), Kooperativ (KO) (1) E/ PO, (2) R / PO, (3) R/ IO, (4) D/ PO, (5) R/ IO, (6) R/ IO, (7) D/ PO, (8) D/ PO, (9) R/ D/ PO, (10) R/ IO, (11-12) E/ PO 4. Kombinieren und Re-Kategorisieren Allgemein: Aufschlüsse über größere zusammenhängende Einheiten formaler, kognitiver und funktionaler Art Funktionale/ thematische Beziehungen (Wechsel, Unterordnung, Nebenordnung) zwischen den einzelnen Einheiten (Zerlegung, soweit möglich) Aufschlüsse auf größere zusammenhängende Texthandlung, Deutung, Manifestation, Zuschreibung, Ausdruck, Bewertung, inhaltliche Kategorien, qualitative Fragen (1)-(4): Umfangreichere Emotionsthematisierung (auch positive Bewertung, im Vordergrund steht jedoch die eigene Positionierung) mit Einschränkung der Freude (1e- 1f), gleichzeitig Rechtfertigung des kritisierten Verhaltens (2-3) und Aufforderung, das Verhalten nicht zu beenden (4). (5)-(6): Vorwurfhandlung mit Entkräftigung des Vorwurfs (7)-(8): Erkundigung nach Verhalten des Adressaten mit genauerer Spezifizierung des Interesses (9)-(10): Meta-kommunikative Behandlung des aktuellen Schreibprozesses, möglicherweise ironische Selbstbeurteilung Die vier Teile des Textes hängen untereinander nur über das gemeinsame übergeordnete Thema zusammen. 5. Quantifizieren Verhältnis zwischen emotiven und nicht emotiven Teiltexteinheiten Hier auf der Satzebene gerechnet, da die einzelnen kleineren Einheiten teilweise auf komplexe Weise miteinander zusammenhängen (siehe 3.) 5: 1 (emotiv: nicht emotiv) Verhältnis zwischen emotiven und nicht emotiven Texteinheiten auf Textebene (soweit quantifizierbar) Jeder einzelne Teiltext ist emotiv. Verhältnis zwischen Emotionsbeschreibung, Emotionsausdruck und Bewertung 7: 8: 3 6. Qualitative Fragen (jeweils Kodierung der Position und des Umfangs) Leitfrage: Sprachliche Repräsentation Textfunktion Kommunikationsaufgaben Regeln Gruppenspezifität Leitfrage: Sehr emotive Verhandlung, Hin und Her von Ausdruck, Einschränkung und Re-Evaluation (Ambivalenz) Semantische Ebene: Auffällige <?page no="370"?> 7 - Emotionslinguistische -Textanalyse: -Methode 360 Alltagspsychologische Konzepte/ Bewertungen Verwendung wissenschaftlicher Termini Semantische Ebene Konzepte/ Emotionsspektrum Ambiguität und Ambivalenz Meta-Aussagen Authentizität Emotionalisierungspotenzial Wortwiederholung von Glücklichsein (3x) (2c-f): Meta-Aussage, allgemeine Aussage über Glück - Verknüpfung des emotionalen Zustandes mit dem Schreiben (Schreiben in glücklichem Zustand nicht notwendig) Emotionsspektrum: Dominant positiv (Glück, Freude) Authentizität: Modus der Scherzhaftigkeit Historischer Aspekt: Der Text ist über 100 Jahre alt und in einem bestimmten kulturellen Milieu (bürgerlich) entstanden, aber es gibt keinen eindeutigen Hinweis auf Auswirkungen dieses Umstands auf den Text (die Emotionsthematisierungen sind konventionalisiert und nach wie vor gut verständlich, der Emotionsausdruck ebenso) - höchstens die Präposition von ich stimme Dir bei (2b) (möglicherweise auch nur ein Flüchtigkeitsfehler) und die Schlussformel Adieu sind aus heutiger Sicht ungewöhnlich 7.5 - Zusammenfassung Die praktische Analyse, wie sie in dem Beispiel festgehalten ist, wird mit ein bisschen Übung wesentlich weniger aufwändig, als sie auf den ersten Blick erscheinen mag. Der Verzicht auf einige textlinguistische Kategorien ist eine Maßnahme, die auch bei Anwendung der ausführlichen Methode schnell Erleichterung verschafft, ohne dass die Analyse stark an Qualität einbüßt. Was aus den gesammelten Daten abgeleitet wird, hängt stark von den Forschungsfragen ab. Dies ist eine wichtige Einschränkung und gleichzeitig eine Stärke des eigenen Ansatzes: Eine zweckfreie Analyse nach dem unter 7.4 vorgestellten Schema führt lediglich zu dem greifbaren Ergebnis, dass die Verteilung von emotiven sprachlichen Mitteln geklärt wird. Im Vergleich mehrerer Texte oder unter einer ganz spezifischen Fragestellung werden diese Strukturen jedoch interessanter. Es ist auch leicht möglich, sich nur auf einen einzelnen Aspekt zu konzentrieren. <?page no="371"?> 7.5 - Zusammenfassung - 361 Die wesentlichen Probleme wurden jedoch auch immer wieder angesprochen. Leicht sind völlig andere Operationalisierungen denkbar, eine Betonung anderer Kategorien oder ein anderes Modell der Quantifizierung. Es wurde nicht der Anspruch erhoben, die Methode emotionslinguistischer Textanalyse zu präsentieren. Die Offenheit und Anpassbarkeit wurde sogar als Kernkriterium für die Beurteilung der Methode, als ultimativer Prüfstein hinterlegt. Dem wurde Rechnung getragen, indem an jenen Stellen, an denen eine eindeutige Abgrenzung zwischen Kategorien schwierig ist, diese unscharfen Grenzen kenntlich gemacht wurden. Texte sind ein komplexes Phänomen, Emotionen sind vielschichtig, die Emotivität in der Sprache ist ebenso mannigfaltig wie die Linguistik an sich. Was nun mit diesen Vorüberlegungen anzufangen ist, wird sich in Kapitel 8, der empirischen Analyse, erweisen. <?page no="373"?> 8 - Empirischer -Teil: -Anwendungsbeispiele „Alles geben die Götter die unendlichen Ihren Lieblingen ganz Alle Freuden die unendlichen Alle Schmerzen die unendlichen ganz.“ Johann Wolfgang von Goethe 93 8.0 - Ziele dieses Kapitels In diesem Kapitel wird versucht, alles bisher theoretisch Erfasste in die Empirie zu tragen. Der Anspruch an diesen Teil ist nicht sehr hoch angesetzt, da wegen der umfassenden theoretischen Aufarbeitung, die in den bisherigen Kapiteln erfolgte, nicht mehr als eine exemplarische Anwendung auf empirische Fragestellungen geleistet werden kann. Weitere Anwendungsmöglichkeiten werden in der endgültigen Zusammenfassung in Form eines Ausblicks eröffnet (s. Kap. 9). Anhand eines Vergleichs der Kernmerkmale von zwei verschiedenen Kommunikationsformen soll einerseits deutlich werden, wie eine konkrete emotionslinguistische Textanalyse aussehen kann, andererseits aber sollen auch einige allgemeinere Aussagen über die Emotivität in Texten möglich sein, da sich gewisse Muster abzeichnen. Kurz zu den zwei Korpora im Überblick. Sie decken sehr unterschiedliche Bereiche der alltäglichen Kommunikation ab: 1) Das erste Korpus ist eine Auswahl der Briefe von Franz Kafka als Beispiele für einen Individualstil, also für den Umgang einer Einzelperson mit Emotionalität. Franz Kafka bietet sich einerseits deswegen an, weil sein Briefwerk von literatur- und kulturgeschichtlicher Bedeutung (und leicht zugänglich) ist, andererseits aber auch, weil seine Art, über Emotionen zu schreiben, sehr differenziert und diffizil ist, jedenfalls aufschlussreiche Aussagen erlaubt. Zudem kommt die historische Komponente ins Spiel. 2) Das zweite Teilkorpus ist eine Auswahl an Online-Artikeln von fünf unterschiedlichen Nachrichten-Plattformen als Beispiel für Emotivität in der Presse. Hiermit sollen Muster des journalistischen Umgangs mit Emotionen aufgezeigt werden. 93 Johann Wolfgang (von) Goethe: Briefe an Auguste Gräfin zu Stolberg. Herausgegeben von Jürgen Behrens. Bad Homburg [u.a.]: Gehlen, S. 47 (Hervorhebung v. H.O.). <?page no="374"?> 8 - Empirischer -Teil: -Anwendungsbeispiele 364 In einem ersten Schritt werden einige allgemeine Hypothesen gebildet, die für jedwede emotionslinguistische Textanalyse handlungsleitend sein können. In einem eigenen Punkt werden einige Hintergrundinformationen über die untersuchten Texte geboten. Die Analyseergebnisse werden kompakt als Vergleich der zwei Korpora unter Heranziehung des Analyseschemas aus Kapitel 7 präsentiert. 8.1 - Hypothesenbildung, Material und Fragestellungen In diesem Abschnitt wird auf einige allgemeine Hypothesen, das ausgewählte Material und die spezifischen Fragestellungen eingegangen. 8.1.1 - Hypothesenbildung Eine Grundannahme der vorliegenden Arbeit ist, dass nicht in jedem Text dieselben emotiven Mittel in derselben Frequenz und Qualität eingesetzt werden, um Emotionen zu kodieren. Vielmehr ist die konkrete sprachliche Umsetzung der Intention, Emotionen zu beschreiben oder auszudrücken, von verschiedenen Faktoren abhängig, wie in der Folge näher ausgeführt wird. Abhängig von der Textsorte und von der Kommunikationsform: Wie schon in Abschnitt 6.7 diskutiert, weisen unterschiedliche Textsorten auch unterschiedliche Muster an Emotivität auf. Es gibt hier ebenso Einschränkungen der Ausdrucksmöglichkeiten wie den Zwang, bestimmte Emotionen zu manifestieren. Beispielsweise sind hyperbolische, emotionsausdrückende idiomatische Wendungen in privaten Textsorten wie Briefen häufiger, weil hier Positionierungen der Schreibenden verlangt werden: Positionierungen sich selbst und den Briefpartnern gegenüber (vgl. Gréciano 1988: 55). Abhängig von der Textfunktion: Textfunktionen und Textsorten hängen allein insofern eng miteinander zusammen, als die Textfunktion ein wesentliches Kriterium zur Differenzierung von Textsorten ist. W. Schmidts (1980) Unterteilung in informierende, aktivierende und klärende (problemlösende) Textsorten ist nur ein typisches Beispiel dafür. Auch die Textfunktion scheint darüber zu bestimmen, auf welche Weise Emotionen in Texten konzeptualisiert, thematisiert und ausgedrückt werden können. Abhängig vom Thema: Dass Emotionen im Alltagsverständnis eine Ursache haben, schlägt sich in diesem Aspekt nieder. Die wahrgenommene Relevanz von Ereignissen, Sachverhalten und beschriebenen Personen verändert auch ihre sprachliche Aufbereitung. Abhängig von den Bedingungen der Textproduktion: Die Situation, in der ein Text entsteht, hat großen Einfluss auf die letztendliche Formulierung und auf die Textgestalt. Dazu gehört auch beispielsweise das spezifische Medium, <?page no="375"?> 8.1 - Hypothesenbildung, -Material -und -Fragestellungen - 365 in dem Texte publiziert werden, also die institutionelle Einbindung (z.B. Normen, Selbstverständnis, intendiertes Publikum). Abhängig von der Textproduzentin bzw. vom Textproduzenten: Die konkrete Ausprägung jedes einzelnen textlinguistischen Faktors ist letzten Endes abhängig von der Person oder von den Personen, die einen Text verfasst bzw. verfassen. Dies gilt insbesondere für die Emotivität. Allerdings ist diese einleuchtende Hypothese die am schwierigsten zu überprüfende. Es wurde bereits mehrmals darauf hingewiesen, dass in Texten ausgedrückte Emotionen nicht mit einem physisch-psychischen Emotionsprozess bei Textverfasserinnen und Textverfassern gleichgesetzt werden dürfen. Doch auch wenn dies klar ist und nur nach Mustern in der sprachlichen Verarbeitung von Emotionen gesucht wird, muss bei der Analyse zurückhaltend verfahren werden. In der vorliegenden Arbeit wird zwar ein Beispiel für einen Individualstil (nämlich jener Franz Kafkas) angeführt, aber es wird dabei nicht versucht, allgemeine Aussagen über den Autor abzuleiten oder ein gültiges emotives Profil zu erstellen. Die Individualität interessiert hier nur im Vergleich. Abhängig von der Emotion: Die bisher genannten Faktoren legen nahe, dass sich die sprachliche Prozessierung von Emotionen im Allgemeinen von Text zu Text unterscheidet. Es lässt sich aber auch genauer danach fragen, ob es für jede einzelne Emotionsqualität spezifische Muster der Kodierung gibt. Beispielsweise stellt Mostýn (2009: 66) in seinem Korpus (Online-Postings zu Fußballspielen) fest, dass die Emotionen SCHAM, NEID, EKEL und HASS häufiger explizit mit Emotionslexemen benannt werden, ÄRGER, ABNEI- GUNG und TRAUER hingegen eher durch Emotionsausdruck. Abhängig von der multimodalen Umgebung: Gemeint sind hier beispielsweise Text-Bild-Zusammenhänge oder andere Beziehungen zwischen Text nach der traditionellen Textdefinition und anderen Arten von Zeichen, die vor allem in der Medienkommunikation - etwa in den Kontexten World Wide Web, Werbung, Presseberichterstattung usw. - nur noch analytisch von Texten zu trennen sind. Dieser letzte Zusammenhang wird in der vorliegenden Arbeit jedoch bewusst ausgeklammert (s. Kap. 9 für einen Impuls dazu). Ein Problem für die Anwendung ist, dass die Emotivität von all diesen Faktoren gleichzeitig abhängt. Eine Analyse, die etwa ausschließlich das Textthema betrachtet, ist nur bedingt aussagekräftig. Eine Pressemeldung zu einem hochemotionalen Thema muss nicht emotiver sein als eine Nachricht über ein mäßig wichtiges Ereignis. Ein Meinungsaustausch in einem Diskussionsforum kann jedoch in beiden Fällen mit sehr starken emotiven Mitteln erfolgen, weil hier ganz andere Einflüsse mitbestimmend sind. Daher ist nicht nur die Abhängigkeit der Emotivität von diesen Faktoren, sondern auch die gegenseitige Abhängigkeit der Faktoren untereinander zu berücksichtigen. <?page no="376"?> 8 - Empirischer -Teil: -Anwendungsbeispiele 366 8.1.2 - Material Die Auswahl des Materials ist ein Schritt, der die Ergebnisse der Analyse unweigerlich beeinflusst. Es wurde versucht, möglichst viele Fehlerquellen auszuschalten, indem der Zufall einen großen Teil übernahm, allerdings durch bewusste Entscheidungen abgefangen wurde. Da aus der Analyse keine statistischen Aussagen abgeleitet werden, halte ich ein qualitatives Zusatzkriterium für angemessen. Das Korpus zu Franz Kafka besteht aus 50 Briefen aus der Zeit zwischen 1900 und 1917. Herangezogen wurden ausschließlich Texte aus den ersten drei Briefbänden der Kritischen Ausgabe. Dabei wurde wie erwähnt weitgehend nach dem Zufallsprinzip vorgegangen. In den drei Bänden sind 1.113 Briefe dokumentiert, davon wurde etwa jeder 25. ausgewählt, nach einem einfachen Algorithmus (alle 100 Briefe eine Nummer niedriger, also z.B. 24 - 49 - 74 - 99 - 123 - ...). Wenn der auf diese Weise ermittelte Text extrem kurz war (oder auch gar nicht vorhanden - in der Kritischen Ausgabe werden auch nicht überlieferte Briefe gezählt), wurde der vorhergehende oder der nachfolgende längere Text aufgenommen. Es gab dabei keine Einschränkung auf bestimmte Adressatinnen und Adressaten. Dennoch ist im Korpus Felice Bauer, Kafkas zweimalige Verlobte, überrepräsentiert, was auf die Fülle an Briefen, die der Autor an sie schrieb, zurückzuführen ist, insofern also keine Verzerrung darstellt, sondern das Schreibverhalten Kafkas abbildet. Bei der zusätzlichen bewussten Auswahl handelt es sich um die Briefe Nr. 255, 272, 1.066 und 1.068, gewissermaßen Schlüsselbriefe, die in der Kafka-Forschung oft zitiert werden: der allererste Brief an Felice, jener Brief, in dem er ihre erste Begegnung beschreibt und die beiden letzten Briefe. Das zweite Korpus besteht aus 100 Online-Artikeln verschiedener Nachrichtenplattformen im World Wide Web. Die gewählten Portale sind: • ORF.at, die Online-Präsenz des Österreichischen Rundfunks • DerStandard.at, der Internetauftritt der österreichischen Tageszeitung, die allgemein als Qualitätsmedium eingestuft wird • Zeit.de, Web-Dependance der deutschen Qualitätswochenzeitung • Bild.de, die Online-Ausgabe der deutschen Boulevardzeitung • Krone.at, der Internetauftritt der österreichischen Boulevardzeitung Es wurden jeweils 20 Texte aus unterschiedlichen Rubriken (Politik, Chronik, Unterhaltung, Wissenschaft/ Gesundheit, Sport) entnommen. Dabei wurden vorwiegend informierende Pressetextsorten ausgewählt, nur vereinzelt reine, als solche gekennzeichnete Kommentare. <?page no="377"?> 8.2 - Forschungshintergründe - 367 8.1.3 - Fragestellungen Die übergeordnete Frage dieses Kapitels lautet: Wie werden Emotionen thematisiert, ausgedrückt und wie werden Bewertungen in den beiden Korpora versprachlicht? Welche Auffälligkeiten ergeben sich im Vergleich? Dabei sind eher die übergeordneten Kategorien von Interesse: • Welche Verfahren werden bevorzugt angewendet? Emotionsbeschreibungen, Emotionsausdruck, emotive Bewertungen? In welchem Verhältnis stehen diese zum Rest der Texte? • Wie genau werden die einzelnen Verfahren vollzogen? Ergeben sich Muster von Emotionsthematisierung, Emotionsausdruck und emotiven Bewertungen, und wenn ja: welche? • Zeichnet sich eine Art emotive Textstruktur ab? Dabei wird auf die unter 6.7 referierten Ergebnisse von Jahr Bezug genommen, etwa dass der Anfang eines Textes häufig unemotional ist, aber auch auf das eigene Modell, wonach die größeren Einheiten nicht in linearer Weise zusammenhängen. • Wie sind die inhaltlichen Kategorien - z.B. die Füllungen der emotionalen Szenen - besetzt? Wie ist also die thematische Ausrichtung? • Hängen die Textproduktionsbedingungen, Textsortennormen, die Textfunktion und die anderen genannten Faktoren mit der Ausprägung der Emotivität zusammen? • Auch die qualitativen Fragen, die in der Methode festgehalten sind, werden in die Untersuchung aufgenommen, da sie die meines Erachtens interessantesten Vergleichsmöglichkeiten bieten. • Eine wichtige Teilfrage betrifft jedoch auch das, was im Korpus nicht vorkommt. 8.2 - Forschungshintergründe In diesem Abschnitt werden einige zentrale Ergebnisse und mögliche Perspektiven referiert, die als Hintergrund für die empirische Analyse dienen. 8.2.1 - Forschungshintergrund -zu -Franz -Kafka In diesem Abschnitt möchte ich mich nur auf zwei Aspekte zu Franz Kafka (1883-1924) beschränken: auf die wesentlichen biographischen und wissenschaftlichen Voraussetzungen zum Verständnis der untersuchten Texte und auf einige allgemeine Bemerkungen zu Kafkas Sprache(n) Der Grund für die Wahl Franz Kafkas: Er ist ein beinahe einzigartiges Beispiel in Hinblick auf die Fülle des Materials und die Dokumentation seines <?page no="378"?> 8 - Empirischer -Teil: -Anwendungsbeispiele 368 Lebens. Darüber hinaus gibt es ästhetische Gründe: Selbst seine privaten Briefe genießen Weltruhm und werden sicher auch in Zukunft noch rezipiert werden. Außerdem genießt er den zweifelhaften Ruf, ein höchst verwickeltes emotionales Leben geführt zu haben. Wichtig sind Respekt und Distanz: Respekt vor einem Leben, das sich über mehrere Jahrzehnte erstreckte, weswegen von einigen Briefen nicht auf den ganzen Menschen Kafka geschlossen werden kann; Distanz zur historischen Persönlichkeit und zum Emotionalisierungspotenzial der Texte. Kafkas Lebenslauf soll hier nicht vollständig aufgerollt werden. Verwiesen sei auf die Biographien von Binder (1979c), Haring (2010b) und insbesondere Stach (2002, 2008). Letzterer zeichnet nicht nur den Lebensweg Kafkas sehr ausführlich nach und setzt diesen mit seinem Werk in Beziehung, sondern gewährt auch aufgrund sorgfältiger Recherchen völlig neue Einblicke in bisher unbekannte Hintergründe. In der Folge werden einige der wichtigsten Stationen von Kafkas Leben mit ihrer Bedeutung für den Dichter verknüpft. Von vielen Forscherinnen und Forschern wird die Rolle von Prag, Kafkas Geburtsstadt, die er kaum für längere Zeit verlassen hat, hervorgehoben. Nicht nur die Atmosphäre der Stadt, sondern auch Kafkas Zugehörigkeit zur deutschsprachigen Minderheit vor dem Hintergrund der (im Laufe von Kafkas Leben zerfallenden) k. u. k. Doppelmonarchie prägten den Autor. Nicht unterschätzt wird der Einfluss seiner Eltern: der aus einfachen Verhältnissen in Südböhmen stammende Vater, der soziale Aufsteiger Hermann Kafka und die aus gutem Hause kommende Julie Kafka. Aufgewachsen ist Kafka in der Obsorge von Ammen und unter dem Eindruck eines autoritären Vaters. Das Schlüsselerlebnis, als Kind wegen anhaltenden Weinens vom Vater kurzerhand auf die Pawlatsche, eine Art Balkon im Innenhof, gestellt zu werden, wird ausführlich im ‚Brief an den Vater‘ beschrieben. Damit wird ein zentrales Motiv von Kafkas literarischem Werk erklärt: die dominante Vaterfigur, der zentrale Konflikt mit übermächtigen Autoritäten, verstärkt noch durch andere gesellschaftliche (vor allem bürgerliche) Zwänge, die typisch für die Zeit waren, in der Kafka lebte (vgl. Anz 2009: 85ff., der dies als „Bindungskonflikte“ zusammenfasst). Bei Alt (2005) wird dieser Aspekt zum Kern einer umfangreichen Biographie. Kafka selbst stilisiert sich als ängstliches, unsicheres Kind, berichtet wird auch in der Forschung vom hohen Leistungsdruck in der Schule und später im Jurastudium. Schließlich wurde Kafka nach nur kurzen Zwischenstationen Beamter in der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen in Prag (in der Folge AUVA), eine Stelle, die er bis zu seiner frühen Pensionierung innehatte. Einflussreich war das Leben im literarisch und künstlerisch sehr regen Prag in Dichter- und Künstlerkreisen, das die eigenen literarischen Ambitionen stets anregte. Kafka wird immer wieder nachgesagt, zu Lebzeiten völlig <?page no="379"?> 8.2 - Forschungshintergründe - 369 erfolglos und unbeachtet gewesen zu sein, was in dieser starken Form nicht stimmt. Auch wenn er nur wenig zu Lebzeiten veröffentlichte, wurde er durchaus von wichtigen Zeitgenossen beachtet und geschätzt und hatte Kontakt zu vielen Prager Schriftstellern jener Zeit (z.B. Franz Werfel). Kafka wird ein eruptives Schreibverhalten zugesprochen, gewissermaßen Schreiben im Schub, am liebsten in den Nachtstunden in einem Zug. Meist wurden diese Ausbrüche angeregt durch ein besonderes Vorkommnis in seinem Privatleben (z.B. das Gericht im Askanischen Hof, der erste Bruch mit Felice Bauer, siehe unten, vgl. Haring 2010a: 393). Ein in der Forschung ebenfalls häufig thematisierter Aspekt seines Lebens ist die Auseinandersetzung mit dem Judentum, sowohl im religiösen wie im kulturellen Sinne. Davon zeugen etwa der Kontakt zur oft von ihm idealisierten ostjüdischen Kultur über ein jiddisches Theater, Hebräischkurse und damit zusammenhängende Überlegungen, nach Palästina auszuwandern. Die drei Verlobungen Kafkas (1914 und 1917 mit Felice Bauer, 1919 mit Julie Wohryzek) und die Art ihres Scheiterns sind beliebte Themen der populärkulturellen Aufarbeitung des Kafka’schen Lebens. 94 Die Zögerlichkeit in der Anbahnung und Durchführung, der Zwiespalt zwischen Schreiben und Ehe und das Spannungsfeld von Askese und Erotik gehören zu dieser Linie der wissenschaftlichen und öffentlichen Rezeption (vgl. Anz 2009: 97ff.). Ebenso bekannt dürfte die Bedeutung von Kafkas Krankheit sein, der Tuberkulose, an der er letzten Endes 1924 starb. Darüber findet sich weiter unten Näheres, ebenso wie zu einigen der bisher genannten Punkte. Franz Kafkas Werk provozierte eine Tradition von psychoanalytischen Interpretationen, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht in den Fokus rücken werden (vgl. Beicken 1979: 803; Danzer 1998, der insbesondere das Vaterbild im ‚Brief an den Vater‘ mit biographischen Daten angereichert tiefenpsychologisch erklärt). Der Autor kannte Schriften Freuds und war sich über Implikationen für die Interpretation seiner eigenen Prosa (speziell der Erzählung ‚Das Urteil‘) bewusst (vgl. Jahraus 2006: 228). Doch jeder literaturwissenschaftliche Ansatz versucht sich früher oder später darin, Kafkas Werk neu zu interpretieren. Die Klarheit von Kafkas Sprache (zumindest in seinem literarischen Werk) ist die immer wieder hervorgekehrte Grundeigenschaft des Schriftstellers, obwohl Kafka selbst - wie schon in verschiedenen Eingangszitaten zu den einzelnen bisherigen Kapiteln klar geworden - mit der Sprache an sich und seiner eigenen Ausdrucksfähigkeit im Besonderen rang (vgl. Thieberger 1979: 177ff., siehe auch diesen Beitrag für eine zusammenfassende Darstellung von Kafkas Stil, etwa über die Einflüsse der Amts- und Kanzleisprache). Es ist aber zu berücksichtigen, dass Kafkas literarische Texte eine deutlich 94 Vgl. z.B. Franzobel (1997): Kafka. Eine Komödie. Klagenfurt: Edition Selene. <?page no="380"?> 8 - Empirischer -Teil: -Anwendungsbeispiele 370 andere Sprache aufweisen als seine Briefe, so literarisch Letztere teilweise auch sein mögen. Eine umfangreiche - und lesenswerte - Arbeit über Kafkas Sprache bzw. seine Mehrsprachigkeit legt Nekula (2003: 83ff.) vor. Er zeichnet die familiäre und die allgemeine soziolinguistische Situation von Kafkas Spracherwerb und seiner Sprachkenntnisse nach. Kafka als Prager Jude war in einer besonders komplexen multilingualen Situation, die mit ‚deutsche Sprachinsel‘ oder ‚Prager Deutsch‘ nicht treffend umrissen sind, obwohl Kafka seine Sprache selbst als Prager Deutsch bezeichnet und Zweifel über seine hochsprachliche Kompetenz äußert. Nekula diskutiert ausführlich regionale orthographische, lexikalische, syntaktische Eigenheiten und regionale Besonderheiten eines vom Tschechischen, Jiddischen und Österreichischen (Oberdeutschen) beeinflussten Deutsch. Er kommt jedoch zum Schluss, dass Kafka Regionalismen und andere varietätenlinguistische Besonderheiten gezielt zu stilistischen Zwecken einsetzt und über sehr unterschiedliche Register verfügt, die er je nach Textsorte und Kommunikationszusammenhang anzupassen versteht. Außerdem sollte Kafka als multilingual und nicht einsprachig Deutsch eingestuft werden. 95 Kafkas Souveränität im Umgang mit verschiedenen Kommunikationssphären zeigt sich auch in seinem Beruf, der hauptsächlich aus Korrespondenz bestand (vgl. Haring 2010a: 393). Haring (2010a: 390) stellt fest: „Briefe stehen zweifellos im Zentrum der literarischen Existenz Kafkas.“ Sie sind zwischen Monolog und Dialog angesiedelt und nicht nur deswegen, sondern auch wegen ihrer Rätselhaftigkeit eine Herausforderung an die Literaturwissenschaft sowie an die Textrezipientinnen und -rezipienten (vgl. Nickisch 1991: 61f., 165f.). Historisch betrachtet befindet sich Kafkas Briefwerk im Übergangsstadium zu modernen Kommunikationsformen wie dem Telefon, die von Kafka stets kritisch reflektiert wurden - Briefe waren ihm in diesem Kontext notwendiges Reflexionsmedium und Entfremdung zugleich. Es sind vielfältige Brüche mit Textsortennormen festzustellen; er hält sich beispielsweise nicht an Textsortenerfordernisse wie Anreden usw. Wenn etwas Einheitliches über seine Briefe ausgesagt werden kann, dann dass er über einen vielseitigen Stil verfügte (vgl. Haring 2010a: 391f.). Umfangmäßig und auch in ihrem Stellenwert außergewöhnlich sind die zwischen 1912 und 1917 entstandenen Briefe an Felice. 96 Felice Bauer, aus Berlin stammend und eine sehr selbstbewusste und lebenstüchtige Frau, lern- 95 Vgl. Nekula (2003: Kap. 4, 307ff.). In derselben Arbeit analysiert Nekula auch ausführlich Kafkas Tschechischkenntnisse, was ihn zu diesem zuletzt geäußerten Fazit führt. 96 Vgl. Stach (2002) für eine ausführliche Aufarbeitung der Hintergründe und Phasen dieser Beziehung, der einige wesentliche Bemerkungen - auch allgemein über Kafkas Leben und Persönlichkeit - entnommen sind. In Stach (2008) wird die letzte Phase (die zweite Verlobung) genau aufgerollt. <?page no="381"?> 8.2 - Forschungshintergründe - 371 te Kafka 1912 kennen, woraus sich bald ein intensiver Briefkontakt ergab (vgl. Alt 2005: 263). 1913 machte er ihr erstmals einen Heiratsantrag, die Verlobung erfolgte im Frühling 1914. Doch Kafka befand sich immer wieder auf dem Rückzug mittels seiner Briefe, die in ihrem Ton und Inhalt nicht angemessen waren, worauf sich als Vermittlerin Grete Bloch anbot. Letztendlich war ihre Einmischung eher hinderlich, da Kafka ihr die Gründe für seine Angst vor einer Heirat anvertraute und außerdem fast zu freundlich mit ihr im Rahmen eines eigenen intensiven Kontakts umging (vgl. Anz 2009: 104f.). In diesem Kontext ist die bereits erwähnte Gerichtsszene im Askanischen Hof in Berlin zu sehen, ein Anlass, bei dem Felice Kafka zur Rede stellte, woraufhin es im Juli 1914 zur Entlobung kam. Bald wurde der Kontakt aber wieder aufgenommen. Währenddessen begannen bereits Kafkas gesundheitliche Probleme. Im August 1917 folgte die zweite Verlobung, kurz darauf erlitt Kafka einen Blutsturz und nahm ihn als Ausdruck seines inneren Kampfes (siehe unten), was letztendlich zum Verwerfen der Heiratspläne führte (vgl. Haring 2010b: 18ff.; Anz 2009: 104ff.). Andere wichtige Korrespondenzen werden an dieser Stelle nicht näher ausgeführt, verwiesen sei nur auf die Briefe an Milena Jesenská, eine in Wien lebende Übersetzerin und Journalistin, mit der Kafka zwischen 1920 und 1924 intensiven brieflichen und persönlichen Kontakt hatte, allerdings schon in ständig schlechter werdendem Zustand durch die Tuberkulose und unter dem Eindruck von vielen Kuraufenthalten (vgl. Haring 2010b: 21ff.). Diese Briefe tragen einen anderen Charakter als jene an Felice, wie Haring (2010a: 397) darstellt: „Statt der früheren literarischen Selbstdarstellungen (Milena ist selbst literarisch tätig) führt Kafka der christlichen Tschechin die Eigenheiten seiner gebrochenen jüdischen Identität vor Augen und unterstreicht diese mit gelegentlichen Exkursen in die Topik des Selbsthasses. Anknüpfend daran wird auch die Frage der Angst vertieft und bildet ein durchgehendes Thema der Briefe“. Nach einem anfänglich intensiven Briefwechsel kam es aber bald zur Distanzierung. Zurück zu den Briefen an Felice und den Persönlichkeitsmerkmalen, die in der Kafka-Forschung aus diesen Dokumenten abgeleitet werden. Als Mittelpunkt von Kafkas Wesen arbeitet Danzer (1998: 229f., 233) die Ambivalenz heraus: eine von Angst, Unsicherheit, Scham und Schuld bzw. Schuldfantasien geprägte Persönlichkeit. Die Angst betrifft vor allem die Angst vor dem Versagen, woraus Distanziertheit, Hilflosigkeit, Selbstzweifel, aber auch das Bedürfnis nach Annäherung und Schutz zu erklären sind (vgl. auch Haring 2010a: 392f.). Diese allgemeine Ambivalenz schlägt sich insbesondere in den Briefen an Felice nieder. Auch für Borner (1991: 20) ist das wesentliche Ele- <?page no="382"?> 8 - Empirischer -Teil: -Anwendungsbeispiele 372 ment dieser Briefe Kafkas Unsicherheit, seine Zweifel, die in der Korrespondenz mit Felice aufgehoben werden sollten. Das Schreiben bzw. Nicht-Schreiben ist das wesentliche Thema. Es geht um Verhandlungen darüber, wie oft und wann geschrieben wird, wie angemessen die Briefe sind, ob einzelne Formulierungen kränkend oder missverständlich sind. Kafka entfaltet eine regelrechte Schreibwut, der Umfang der Briefe ist immens. Felice jedoch schreibt - wie Stach sehr ausführlich zeigt aus völlig nachvollziehbaren familiären Gründen - nicht so häufig, wie Kafka dies gerne hätte. Diese Klagen über Felices Nicht-Schreiben bzw. die Freude über das Ab-und-zu-Schreiben Felices bzw. die Diskussion darüber, wann von wem geschrieben werden kann, darf, soll, muss, sind Konstanten in der gesamten Korrespondenz (vgl. Borner 1991: 22ff., 30ff.; Alt 2005: 269ff.). Auch nicht angekommene Briefe, unglückliche Kreuzungen und die Ungewissheit über die Zuverlässigkeit des Postweges sind solche Fixpunkte (vgl. Borner 1991: 47ff.). Ferner geht es häufig um Entschuldigungen Kafkas. Die Briefe sind mit ihren ständigen Selbstanschuldigungen und auch sonst unkonventionellen Zügen höchst zeit- und zweckuntypisch. Kafka gibt sich jedenfalls Mühe, sich selbst unattraktiv für eine Ehe zu machen, nicht nur Felice, sondern auch ihren Eltern gegenüber (vgl. Haring 2010a: 393; Anz 2009: 101ff.). Ausführlich räsoniert Borner (1991: 55ff.) über Träume, die Kafka in den Briefen an Felice referiert, und über die Bedürfnisstruktur, die sich daraus für Kafka ergibt. Aus emotionslinguistischer Sicht interessant (aber nicht im Korpus vertreten) ist der indirekte, über harsche Kritik erfolgende Ausdruck von Eifersucht auf andere Autoren, die Felice liest (vgl. Anz 2009: 100; Alt 2005: 282ff.). Es geht in diesen Briefen jedoch nicht nur um die Metakommunikation über die schriftliche Beziehung zwischen Kafka und Felice, sondern auch um das Schreiben an sich. Die Opposition zwischen Schreiben und Leben, der Verzicht auf das Leben zugunsten des Schreibens oder die Unmöglichkeit des Schreibens inmitten eines erfüllten Lebens ist Kafkas zentrales Thema. Dem Schreiben wird geopfert, andererseits stört die Beziehung zu Felice die Kreise der Literatur. Eine Ehe mit Felice hätte in Kafkas Gedankenwelt das Ende des literarischen Schreibens bedeutet; der Widerstreit zwischen bürgerlicher und künstlerischer Existenz wird in den Briefen und Tagebüchern zum Kampf seines Lebens stilisiert, wobei beides - das Leben als Ehemann und Vater sowie die Existenz als Schriftsteller - gleichermaßen Ideale sind, allerdings solche, die für ihn unvereinbar sind (vgl. Binder 1979c: 418ff.; Alt 2005: 271f.; Danzer 1998: 238f., 241f.; Anz 2009: 99). Borner (1991: 37) fasst zusammen: „Es scheint, als ob das, wozu Kafkas Briefe an Felice, als Liebes- und später als Verlobungsbriefe, bestimmt wären, von ihnen selbst verzehrt würde; als ob nur deshalb alles darin, nach Kafkas unablässigem Drängen, zur Sprache <?page no="383"?> 8.2 - Forschungshintergründe - 373 kommen müsse, damit es nicht mehr geschehe, damit das Briefschreiben ein vollkommener Ersatz für das Handeln wäre.“ Und andere Meinungen wiedergebend schreibt Borner (1991: 47): „Einige Interpreten gehen sogar noch einen Schritt weiter und bestimmten das Nicht-Wörtliche näher als dem Wörtlichen genau Entgegengesetzte. Sprächen die Briefe von Annäherung, dann meinten sie Aufrechterhaltung der Ferne; Verbindung heisse darin Trennung, Gemeinsamkeit Einsamkeit, Vertrauen Fremdheit, Liebe Hass. Seine Briefe habe Kafka nicht über Jahre hinweg beinahe täglich nach Berlin oder anderswohin geschickt, um Felice an sich zu binden, sondern um sie von sich fern zu halten, zu welcher Feststellung es allerdings auch nicht mehr als etwas Menschenkenntnis bedarf.“ Zwar hat dieser Briefwechsel die Beziehung und die beiden Verlobungen erst ermöglicht, letztendlich aber auch untergraben, wie Kafka selbst feststellt. Hervorgehoben wird in der Forschung der literarische Wert der Briefe, bemerkt Haring (2010a: 395): „Jedes Detail dieser Briefe, von der Anrede bis zur subtil verschlüsselten Grußformel, scheint in ein Netz bedeutungstragender Strukturen bzw. intertextueller Verweise eingebunden und somit einer kompositorischen Intention zu folgen.“ Sind Kafkas Briefe an Felice also die Geschichte einer missglückten Verführung über Briefe, einer Beziehung in und durch Briefe? 97 Unstrittig ist, dass das Briefeschreiben für Kafka wichtige Funktionen hinsichtlich seines literarischen Schaffens innehatte (Haring 2010a: 394 bezeichnet dies als „Brief-Fetischismus“). Die Auffassung, dass Kafka nur in Briefen seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen vermochte und im wirklichen Leben gehemmt und beziehungslos war, ist ein Mythos, der mit dem von vielen Seiten berichteten Charme und mit der von Zeitgenossen betonten Sensibilität Kafkas - trotz eines insgesamt zurückhaltenden Charakters - nicht übereinstimmt (vgl. Danzer 1998: 230, 232; Haring 2010b: 4f.), ähnlich, wie seine Selbstbeschreibungen als nutzloser Arbeitnehmer nicht mit seiner Gewissenhaftigkeit in der Versicherungsanstalt, in der er tätig war, zu vereinen ist. Außerdem zeigt Kafka durchaus Einfühlungsvermögen und Eingehen auf Briefpartnerinnen und Briefpartner, insofern sind seine Briefe nicht monologisch (vgl. Haring 2010a: 391f.; Anz 2009: 99). Alt (2005: 266ff.) sieht dies anders, er hält Felice Bauer für eine völlig austauschbare Figur, die Briefe dienen hauptsächlich der Identitätskonstruktion. Zeitweilige Einsamkeit und Depressionen sind damit aber nicht wegzuleugnen (vgl. Danzer 1998: 230, 232). Auch Kafkas Krankengeschichte - sein langes Leiden an Tuberkulose, der eine übersteigerte Aufmerksamkeit für die Schwächen des eigenen Körpers voranging - wird von ihm selbst und in der Forschung als psychosomati- 97 Vgl. Alt (2005: 272f.) für Beispiele für Kafkas erotische Annäherung über Wörter. <?page no="384"?> 8 - Empirischer -Teil: -Anwendungsbeispiele 374 scher Ausdruck seiner Dissoziation vom eigenen Leib, als Ausdruck einer Identitätsstörung mystifiziert (vgl. Danzer 1998: 250ff.). Nicht von der Hand zu weisen ist allerdings, dass die Beziehung mit Felice ganz besonders bei persönlichen Begegnungen auf eine harte Probe gestellt wurde und letztendlich nur in kurzen Phasen Übereinstimmung im direkten Kontakt herzustellen war, während die Briefe vielerlei Zärtlichkeiten enthalten und eine andere Inszenierung der Beziehung erlauben (vgl. Alt 2005: 285ff.). Dass Kafka sich in seinen Briefen auf eine ganz bestimmte Weise selbst darstellt, ist nicht mit seiner Persönlichkeit zu verwechseln. Alle Deutungen der bislang referierten Art sind für die vorliegende Arbeit uninteressant. Hier geht es um emotive Muster, Verfahren des Emotionsausdrucks, der Emotionsthematisierung und der Bewertung, und dies im Vergleich mit den anderen Texten. Kafkas Briefe werden hier als Beispiele für einen Individualstil verstanden, wenn auch für einen auf literarischem Niveau. 8.2.2 - Forschungshintergrund -von -Medien -und -Emotionen Ein wesentliches Ziel der meisten journalistischen Texte ist die Vermittlung von Informationen. Neutralität, Objektivität und Sachlichkeit sind journalistische Tugenden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Emotionen nicht in den Medien thematisiert werden und tatsächlich keine Emotionen zum Ausdruck kommen oder dass keine Emotionen geschürt werden. Zum einen liegt dies daran, dass es nicht nur eine Vielzahl an verschiedenen Medien mit unterschiedlichen Qualitäts- und Gestaltungsansprüchen gibt, sondern auch höchst unterschiedliche Textsorten und Formate, die jeweils völlig andere Verfahren bei der Auswahl, Herstellung, Darstellung, Rezeption und Nutzung zeigen. Zum anderen ändern sich durch den gesellschaftlichen Wandel auch die Ansprüche an Medien, insbesondere in Hinblick auf die Emotionskultur. Die Forschung zur Präsentation und Evokation von Emotionen in den Medien und durch die Medien ist sehr mannigfaltig und erstreckt sich über die Medien- und Kommunikationswissenschaft, die Psychologie, die Soziologie und die Linguistik (speziell innerhalb einer weiteren Bindestrich- Linguistik, deren Status sich von jenem der Emotionslinguistik jedoch deutlich unterscheidet: Medienlinguistik). In diesem Abschnitt sollen nur einige besonders augenscheinlich mit Emotionen zusammenhängende Modelle und emotionsspezifische Forschungsergebnisse referiert werden. Den grundlegenden Zusammenhang zwischen Medien und Emotionen fasst Döveling (2005: 117) aus kommunikationssoziologischer Sicht folgendermaßen zusammen: „Massenmedien erweitern nicht bloß den Erfahrungshorizont der Rezipienten in Bezug auf kognitive und verhaltensorientierte Aspekte, sondern auch die Erlebniswelt ihrer Emotionen. Sie können Gefühle stilisieren und kultivieren, <?page no="385"?> 8.2 - Forschungshintergründe - 375 sie stimulieren oder durch gestalterische Mittel künstlich propagieren. Der fühlende Rezipient ist hierbei immer (konstruierendes) Subjekt und (konstruiertes) Objekt zugleich.“ In vielen Ansätzen innerhalb der Medienwissenschaft wird die Rolle von Emotionen betont, beispielsweise im Uses-and-Gratifications-Ansatz. Hier wird davon ausgegangen, dass Medien bestimmte Bedürfnisse ihrer Rezipientinnen und Rezipienten erfüllen. Die Auswahl aus den Medienangeboten beruht darauf, ob die Konsumentinnen und Konsumenten sich davon die Befriedigung von kognitiven, emotionalen, sozialen und persönlichen Bedürfnissen versprechen (vgl. Zillmann 2004: 120; Bonfadelli 2004: 169ff.). Die Textproduzentinnen und -produzenten bemühen sich entsprechend, Strategien der Wahrnehmungserleichterung und der Vermeidung von Wertkonflikten anzuwenden; ferner sollen die Rezipientinnen und Rezipienten schnell die dargebotenen Inhalte und Personen bewerten und emotional verarbeiten können. Medien helfen also dabei, sowohl Spannung aufzubauen als auch eine Spannungsauflösung zu ermöglichen (vgl. Büscher 1995: 85ff.). Inhaltlich-thematische Relevanz, kognitiv-intellektuelle Adäquanz, emotionale Adäquanz (Bestätigung) und die Aktivierung von spezifischen oder unspezifischen Emotionen sind in dem Modell die bestimmenden Rahmenbedingungen der Textwirkung (vgl. Büscher 1995: 93-100). Ähnlich ist die Grundannahme der Mood-Management-Theorie, dass die Rezipientinnen und Rezipienten mediale Inhalte nutzen, um ihre Stimmung zu gestalten (vgl. Döveling 2005: 79ff.; Konijn/ Holt 2011: 39). In den letzten beiden Jahrzehnten lässt sich ein Trend zum Infotainment feststellen: Darunter werden nach Held (2007: 108) alle Darstellungsstrategien verstanden, „die auf der Basis einer gezielten Verbindung von kognitiven und emotionalen Elementen eine vergnüglich-unterhaltende Wissensvermittlung gewährleisten“. Dittgen (1989: 43) formuliert für Infotainment die folgende Superregel: „Wecke die Aufmerksamkeit des Rezipienten, überrasche ihn, indem du eine unerwartete Wendung machst.“ Als wichtigste Merkmale werden Abwechslung, Unbeschwertheit, Interessantheit, Eingängigkeit, Personalisierung, Intimisierung, Authentizität und Emotionalisierung genannt (vgl. Mangold 2004). Die Personalisierung ist dabei der Kernaspekt, damit Medienprodukte als unterhaltsam angenommen werden, und erfolgt vor allem über verschiedene Benennungs- und Charakterisierungsverfahren, die eine Identifikation, Bewertung und Aktivierung der Rezipientinnen und Rezipienten bewirken. Es gibt Untersuchungen zu ganz spezifischen Themen in der Berichterstattung, die jeweils eigenständige Muster aufweisen. Dazu gehören vor allem die Politikberichterstattung (z.B. Personalisierung von Politikerinnen und Politikern), die Wirtschaftsberichterstattung (meist eher negativ), die Desasterberichterstattung, die Kriegsberichterstattung (z.B. Emotionalisierung über Schaffung von Feindbildern, Darstellung von Opfern) sowie die Sportbericht- <?page no="386"?> 8 - Empirischer -Teil: -Anwendungsbeispiele 376 erstattung (z.B. narrative Struktur von Geschichten vom Aufstieg, Untergang und Wiederaufstieg von Sportlerinnen und Sportlern). Auch spezifische Muster medial vermittelter emotiver Metaphern spielen hier eine besondere Rolle (z.B. SPORT IST KAMPF, vgl. Skirl/ Schwarz-Friesel 2007: 81). Ein mit der Personalisierung verknüpftes Phänomen ist die parasoziale Interkation: Rezipientinnen und Rezipienten nehmen Akteure in den Medien (bzw. ihre Persona) wie echte Menschen wahr und binden sich emotional an sie (vgl. Döveling 2005: 85ff.). In der Medienwirkungsforschung werden unter anderem die emotionale Wirkung von Werbung sowie die Effekte der Darstellung von Aggression und Gewalt untersucht. Beispielsweise wurde auch in diesem Kontext herausgefunden, dass emotionale Inhalte länger und besser erinnert werden (vgl. Saxer/ Märki-Koepp 1992: 16). Die Medien spielen eine wichtige Rolle für das Erlernen von Strategien der Emotionsregulation (vgl. Konijn/ Holt 2011 für einen Überblick über diesbezügliche Ansätze wie z.B. die Terror Management Theory, derzufolge menschliches Verhalten, darunter auch die Medienrezeption, durch das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit geleitet wird; vgl. den Sammelband von Döveling et al. 2011 für emotionale Prozesse in der Medienrezeption aus medienpsychologischer Sicht). Den Terminus Medien-Gefühlskultur prägten Saxer und Märki-Koepp (1992: 15), die darunter Folgendes verstehen: „Medien erbringen objektive Leistungen im Sinne der Informationsvermittlung, aber auch eher subjektive Leistungen, umschreibbar als Gratifikation oder emotionale Bedürfnisbefriedigung.“ Das Publikum zu erreichen ist die Legitimation für die Medien. Dabei kommt es zur Verschmelzung von Information und Emotion. Das Ziel ihrer empirischen Arbeit ist die Untersuchung von Emotionsdarstellungen in nicht-fiktionalen journalistischen Formen über eine Inhaltsanalyse von Text und Bild (vgl. Saxer/ Märki-Koepp 1992: 16). Die von ihnen verwendeten Kategorien haben teilweise Ähnlichkeit mit den in der vorliegenden Arbeit angewendeten Kriterien, obwohl es sich bei ihnen nicht um eine linguistische Untersuchung handelt. Sie betrachten Gefühlsthematisierungen als ganz zentrale Strategie in Publikumszeitschriften, da Gefühle ein wesentlicher Nachrichtenwert sind (vgl. Wilms 1994: 18). Saxer und Märki-Koepp (1992: 151ff.) kommen zu dem Schluss, dass jede der untersuchten Zeitschriften ein eigenes emotives Muster (einen eigenen ‚Gefühlsstil‘) aufweist, dass aber die Präsentation auch stark von der journalistischen Form und von der zu thematisierenden Emotion abhängig ist. Beispielsweise sind narrativ aufgebaute Texte sehr gut geeignet, um Emotionen zu kodieren, und einzelne Gefühlsqualitäten passen nur in bestimmte Kontexte und zu einem bestimmten Publikum. Auch Döveling (2005: 186) spricht von einer Medien-Gefühlskultur, die in einem Zusammenspiel der emotionalen Agenda der Medien, der Bedürfnisse der Rezipientinnen und Rezipienten, Emotionsmanagement, allgemeiner <?page no="387"?> 8.2 - Forschungshintergründe - 377 gesellschaftlicher Gefühlsnormen und Bedingungen der Zeichenproduktion besteht. Auf dieser Grundlage führt sie eine Inhaltsanalyse zur Berichterstattung über einen Papstbesuch durch und weist nach, wie die Agenda der Medien die emotionale Agenda der lokalen Bevölkerung mitbestimmte, durch sie aber auch mitbestimmt wurde. Aus der Zusammenschau aller bisher genannten Ansätze entwirft Döveling (2005: 27f.) ein Modell der Medienkommunikation auf der Grundlage von Emotionen. Ihre zentrale Fragestellung enthält auch gleichzeitig die wesentlichen Größen ihres Modells: „Welche Form von Gemeinschaft hebt in ihrem Medienorgan durch welche Art der Thematisierung einer emotionalen Mobilisierung welcher Emotionen und damit verbundenen Möglichkeit der Befriedigung von Zugehörigkeitsbedürfnissen welchen Grad von gemeinschaftlicher Kohäsion hervor? “ Medien geben Informationen über zwischenmenschliche Beziehungen, unter anderem indem Emotionen dargestellt werden (vgl. Duck/ McMahan 2010: 359). In Medientexten sind Personalisierung und Lebendigkeit wichtige Ansprüche, die emotionale Sprache begünstigen (vgl. Bednarek 2008: 35). Medientexte informieren auch über Emotionen: über Konzepte, Normen, Regeln, Stereotype, aber auch über Abweichungen und Veränderungen. Sowohl die Verstärkung des emotionalen Erlebens als auch seine Verflachung kann dadurch von Medien angestoßen werden (vgl. Alfes 1995: 169f.). Sehr kritisch sieht Schmidt (2005b: 35) das Emotionsmanagement in den Medien: „Medien stereotypisieren und schematisieren Emotionen [...]. Medien kommunalisieren bzw. sozialisieren den Umgang mit Emotionen. Und schließlich kommerzialisieren und instrumentalisieren Medien Emotionen im Kontext der Aufmerksamkeitsökonomie, und zwar nicht nur für Werbung und Unterhaltung, sondern zunehmend für alle Formate, womit der selbstdestruktive Kreislauf von Innovation, Trivialisierung und Vampirisierung in Gang gesetzt wird.“ Schmidt (2005b: 36) spielt damit auf das „Authentizitätsparadox“ an, demzufolge Emotionen in den Medien zwar in hohem Maße gemacht sind, aber den Eindruck der Authentizität vermitteln müssen. Wie schon in anderen Zusammenhängen muss auch hier eindeutig zwischen Strategien der Emotionsdarstellung, der Emotionskundgabe und der Emotionalisierung unterschieden werden (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 222). Die Funktion von Medien liegt eben nicht nur darin, Wissen über die Welt zu transportieren, sondern auch im Emotionalisieren. Hier kann auch neutrale Berichterstattung sehr emotionale Effekte haben - nicht nur bei schockierenden oder erfreulichen Ereignissen, sondern auch in Hinblick auf ganz persönliche Interessen (z.B. der Wetterbericht bei eigenen Plänen zum Wochenende). Es gibt allerdings Nachrichtenwerte, die Rückschlüsse auf das <?page no="388"?> 8 - Empirischer -Teil: -Anwendungsbeispiele 378 Emotionalisierungspotenzial einer Meldung zulassen, wie Ungerer (1997: 307, 311) ausführt: • Größe, Volumen, große Zahlen • Nähe/ Relevanz • Referenz auf Personen • Referenz auf Elitenationen • Referenz auf Negatives • Vorhersagbarkeit bzw. Unerwartetheit eines Ereignisses • Eindeutigkeit • Aktualität • Kontinuität des Themas • Gesamtzusammenstellung des Mediums (z.B. der Zeitung) Fomina (1999: 176f.) nennt unter anderem folgende Merkmale von Zeitungstexten hinsichtlich der emotiv-wertenden Lexik (s. 6.3): Soziale, politische und ideologische emotiv-wertende Lexik ist stark vertreten, wobei die positive oder negative Wertung meist sehr klar ist (z.B. Obdachlose, Flüchtlingsdrama). Schlagwörter oder auch Wortgruppen und Sätze mit Schlagwortcharakter kommen relativ häufig vor. Sie sind jedoch sehr zeitabhängig und teilweise für ganz bestimmte Zeitabschnitte kennzeichnend (Fomina nennt diese Wörter ‚Chronotope‘ oder ‚Wörter-Chronofaktoren‘, z.B. Wessis, vgl. Fomina 1999: 177ff., 2002: 397f.). Stark wertende Neologismen sind häufig; produktiv sind besonders -i (z.B. Promi), -erei (z.B. Gesundbeterei) und Mord-, Terror-, und Konsum-. Abkürzungen werden häufig eingesetzt, ebenso wie verbale Periphrasen (z.B. Panik auslösen, vgl. Fomina 1999: 183ff.). Negativ-wertende Lexeme, unter anderem mit Bezug zu Gewalt und Verbrechen, sind sehr mannigfaltig vertreten (vgl. Fomina 1999: 185ff.). Speziell in Schlagzeilen, deren Funktion im Wecken von Interesse und im Anregen zum Weiterlesen liegt, werden emotionale Verfahren verwendet. Einer Untersuchung von Kaňovská/ Křížková (2010) zu tschechischen und deutschen Schlagzeilen zufolge enthalten ca. 80% der Schlagzeilen emotive sprachliche Mittel wie explizite und implizite Emotionsthematisierungen (z.B. Emotionsbenennung), Metaphern und Metonymien, implizite und explizite Bewertungen (z.B. Quantifizierungen), quantitativ betrachtet vor allem aber affektive Lexeme (positiv oder negativ konnotiert, z.B. Zensur) und morphologische Mittel (Gerangel, kindisch, Wunder-, Riesen-). Dabei wurde festgestellt, dass die Qualität der Emotivität von der Rubrik abhängig ist: In politischen Zusammenhängen werden eher negative Emotionen angesprochen, im Bereich Kultur überwiegend positive. Weitere Studien zum Vergleich <?page no="389"?> 8.2 - Forschungshintergründe - 379 deutsch- und tschechischsprachiger Medientexte liegen in Vaňková et al. (2012) vor. Der wesentliche Unterschied zwischen Qualitätszeitungen und Boulevard liegt Hayakawa (1993: 135f.) zufolge darin, dass in Boulevardmedien die Bewertung bzw. das Urteil über die berichteten Sachverhalte den Rezipientinnen und Rezipienten bereits mitgeliefert wird. Mit anderen Worten: Boulevardmedien legen durch die Textgestaltung eine bestimmte emotionale Reaktion auf ihre Inhalte nahe. Doch diese emotionale Gatekeeper-Funktion gilt für alle Medien: Es werden vermutlich besonders emotionsträchtige Inhalte ausgewählt, weil dies die Rezipientinnen und Rezipienten interessiert, gleichzeitig werden damit aber auch Normen vorgegeben, was zu interessieren hat (vgl. Büscher 1995: 11f.). Das Prinzip der Nähe (z.B. von tragischen Ereignissen) ist dabei sehr häufig für die Emotionalisierung wesentlich verantwortlich (vgl. Hermann 1999: 164). Es gibt laut Ungerer (1997: 324f.) jedoch einige Unterschiede hinsichtlich der angewendeten Strategien: Für Boulevardzeitungen ist das Prinzip der Nähe am wichtigsten, für Qualitätszeitungen das der Größe bzw. Belebtheit. Qualitätszeitungen thematisieren eher sekundäre, also komplexere Emotionen (z.B. Mitleid), Boulevardzeitungen eher primäre (z.B. Angst, Wut). Bei Qualitätszeitungen finden sich weniger explizite Mittel der emotionalen Einflussnahme (wie z.B. Interjektionen), die emotionale Bedeutung muss stärker inferiert werden. Boulevardzeitungen setzen deutlichere emotionale Signale. Qualitätszeitungen sind subtiler im Umgang mit emotional konnotierten lexikalischen Mitteln, Boulevardzeitungen agieren offener emotional und enthalten daher auch mehr Geschichten aus dem Bereich human interest. Büscher (1995) untersuchte Schlagzeilen der BILD-Zeitung aus dem ‚Assoziationsbereich TOD‘ speziell unter dem Aspekt der Emotionalisierung der Rezipientinnen und Rezipienten. Die Schlagzeilengestaltung wird dabei bewusst oder unbewusst von den Zielen der BILD-Zeitung geprägt: Aufmerksamkeit zu erregen und Leserinnen und Leser an sich zu binden (vgl. Büscher 1995: 5, 55f.). Bei Schlagzeilen aus dem Bereich Tod bezieht sich die Emotionalisierung auf die Emotionsqualitäten Mitleid, Empörung, Wahrnehmung des Tragischen, in gewissen Fällen auch auf Erleichterung, Dankbarkeit (für Warnungen, Hilfen von BILD), aber auch auf Ekel, Ärger und Enttäuschung (vgl. Büscher 1995: 110f.). Büscher (1995) nennt die wesentlichen Prinzipien für die emotionalisierende Schlagzeilenformulierung: • das Prinzip Ins-Auge-Springen (z.B. durch erschreckende Bilder, große Schriftzüge, hohe Opferzahlen) • das Prinzip Thanatisierung (z.B. irreführende Formulierungen, die fälschlich auf einen tödlichen Ausgang eines Ereignisses hinweisen oder <?page no="390"?> 8 - Empirischer -Teil: -Anwendungsbeispiele 380 eine Aktualität eines Todesfalles vorspiegeln, die nicht mehr gegeben ist; Absicherung mit Fragezeichen) • das Prinzip Aktivierung (z.B. mit Ausrufezeichen, expressive Komposita mit Killeru.Ä., Prominenz, Kontrastierung, z.B. zwischen harmloser Ausgangssituation und tragischem Ausgang, Narrativierung) • das Prinzip der Adäquanz (z.B. adressatenadäquate vereinfache Darstellung eigentlich komplexer Sachverhalte und Vermittlung eindeutiger Ursachen, Ängste schüren und Ratschläge anbieten, aber auch emotionale Adäquanz durch Anpassung an Werte und Gefühle der Leserschaft, etwa über das Bedienen von Feindbildern, das Schüren von Angst). Ebenfalls auf die BILD-Zeitung, allerdings nicht nur auf deren Schlagzeilen bezieht sich die Untersuchung von Voss (1999), und zwar speziell unter dem Aspekt der Emotionalisierung. Voss (1999: 15) fasst zusammen: „Die Hauptfunktion der Boulevardpresse ist die Unterhaltung ihrer Leserschaft.“ Um dies zu erreichen, wird besonders intensiv auf Emotionen Bezug genommen, ja, laut Voss (1999: 20) wird ein Ereignis „in BILD erst durch ihren hohen Gefühlsanteil berichtenswert“. Einige wesentliche Ergebnisse: Emotionale Berichte nehmen fast ein Drittel des Platzes ein (vgl. Voss 1999: 30f., 36). Die Syntax ist geprägt durch kurze, parataktische Sätze, oft fehlende finite Verben (Fragmente, Telegrammstil - Spannung, Neugierde, Unruhe), häufige Fragesätze und Entscheidungsfragen als Überschrift (Verunsicherung, Aktivierung), Exklamativsätze (Freude, Pathos, Empörung) sowie Aufforderungssätze (Aufrütteln) (vgl. Voss 1999: 37-41). Es wird praktisch kein Konjunktiv und nur wenig Passiv verwendet (wenn, dann meist elliptisch oder zur Kennzeichnung von Leiden). Der Gedankenstrich dient der Akzentuierung (z.B. Mädchen vergewaltigt - keiner half), Auslassungspunkte markieren Mutmaßungen und bewusste aktivierende Auslassungen (vgl. Voss 1999: 41f, 45ff.). In der Lexik fällt die Häufung von intensiven Ausdrücken, emotiv konnotierten Wörtern und stark emotiven Bewertungen auf (z.B. lähmend, erschreckend), ferner Explosionsvokabular (z.B. Eklat, explodieren), die Themen Blut, Gewalt, Drastik, Umgangssprache bis hin zu Kraftausdrücken (vor allem im Bereich Sport) und lautmalerische Ausdrücke. Bei den Wortbildungen sind vor allem expressive Ad-hoc-Komposita (z.B. Porno-Haus) markant. Es werden fern