Gewalt und Trauma im haitianischen Gegenwartsroman
Die Post-Duvalier-Ära in der Literatur
0617
2015
978-3-8233-7916-4
978-3-8233-6916-5
Gunter Narr Verlag
Julia Borst
Die Studie setzt sich mit der Fiktionalisierung der anhaltenden Gewalt in Haiti nach dem Sturz der Duvalier-
Diktatur im Jahr 1986 auseinander. Vor der Folie einer
kritischen Bestandsaufnahme der Diskurse über Gewalt
in der Post-Duvalier-Ära erörtert die Autorin, wie Gewalt
im haitianischen Gegenwartsroman als kollektiv relevante
traumatische Erfahrung aufgearbeitet und so
über den symbolischen Raum der Fiktion für die kollek -
tive Erinnerung verfügbar gemacht wird. In diesem
Kontext legt die Untersuchung dar, wie der literarische
Text kritische Impulse für gesellschaftliche Aufarbeitungs -
prozesse liefert und aus der Perspektive einer margina -
lisierten Kultur einseitige Stigmatisierungen subversiv
durchkreuzt.
<?page no="0"?> edition lendemains 39 Julia Borst Gewalt und Trauma im haitianischen Gegenwartsroman Die Post-Duvalier-Ära in der Literatur <?page no="1"?> Gewalt und Trauma im haitianischen Gegenwartsroman <?page no="2"?> edition lendemains 39 herausgegeben von Wolfgang Asholt (Osnabrück), Hans Manfred Bock (Kassel), Andreas Gelz (Freiburg) und Christian Papilloud (Halle) <?page no="3"?> Julia Borst Gewalt und Trauma im haitianischen Gegenwartsroman Die Post-Duvalier-Ära in der Literatur <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Fanmi Zonbi ; © KBT (Konbatan) Patrick Élie. © 2015 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 1861-3934 ISBN 978-3-8233-6916-5 <?page no="5"?> Für meinen Großvater Sepp <?page no="7"?> VII Danksagung Auch wenn es gemeinhin heißt, die Wissenschaft sei eine einsame Sache, so bin ich doch vielen Menschen für ihre Unterstützung sehr verbunden. An erster Stelle ist mein Doktorvater Prof. Dr. Markus Klaus Schäffauer zu nennen, der mich stets unterstützt und in zahlreichen intensiven und fruchtbaren Arbeitsgesprächen unverzichtbare Impulse für die vorliegende Studie geliefert hat. Gleichermaßen danke ich Prof. Dr. Silke Segler-Meßner für ihre konstruktiven und hilfreichen Anregungen. Viele gewinnbringende Hinweise und Lesevorschläge habe ich im Rahmen zahlreicher Konferenzen und Workshops im In- und Ausland erhalten, weshalb ich mich bei allen Kolleginnen und Kollegen bedanken möchte, die sich bereit gezeigt haben, sich mit mir über meine Thesen auszutauschen. Mein Dank geht überdies an Lyonel Trouillot, Yanick Lahens, Gary Victor, Kettly Mars, Louis-Philippe Dalembert und Emmelie Prophète für die Bereitschaft, ihr Werk und die haitianische Gegenwartsliteratur mit mir zu diskutieren; ebenso an meine Freundinnen und Freunde in Haiti für ihre Unterstützung bei den Recherchen vor Ort. Bei den Herausgebern der Reihe edition lendemains und dem Narr Verlag bedanke ich mich für das Interesse an meiner Forschung und die konstruktive Zusammenarbeit. Mein uneingeschränkter Dank gilt Dr. Rebecca Fuchs. Ihr kritisches Feedback, ihr umfassendes Fachwissen zur Karibik und ihre Hilfsbereitschaft haben einen wichtigen Beitrag zu meiner Forschung geleistet. Für zahlreiche Anregungen und Korrekturen, Krisen- und Erfolgsgespräche sowie nicht zuletzt aufmunternde Gesellschaft in der Bibliothek gebührt mein Dank außerdem Jasmin Ahmadi und Anja Schwennsen. Für ihre bedingungslose Unterstützung danke ich von ganzem Herzen schließlich meiner Familie, die mir Kraft gegeben und immer an mich geglaubt hat. Hamburg, Mai 2015 <?page no="9"?> IX Inhalt Einleitung .......................................................................................................... 1 Fragestellung, Methodik und Untersuchungsgegenstand ........................ 1 Forschungsstand ............................................................................................ 13 Aufbau der Studie.......................................................................................... 22 1 Theoretische Überlegungen .......................................................... 25 1.1 Gewalt als Angriff auf die Unversehrtheit des Subjekts: Zur Verletzung von Körper und Psyche ........... 25 1.1.1 Das Subjekt als Körper: Gewalt und die Erfahrung der eigenen Körperlichkeit............................................................. 27 1.1.2 Das traumatisierte Subjekt und die ‚Wunde der Psyche‘........................................................................................ 33 1.1.3 Kollektives Trauma als ‚Trauma-Erzählung‘ - Traumatheorie an der Schnittstelle zu Kultur- und Literaturwissenschaft............................................................... 41 1.2 Zwischen Realität und Stigma: Diskursive Stellungnahmen zu Gewalt in Haiti ........................................ 48 1.2.1 Tendenzen der Gewalt in der Realität der Post- Duvalier-Ära ............................................................................. 49 1.2.2 ‚Ein Ort barbarischer Gewalt‘: Zur Stereotypisierung Haitis in der globalen Wahrnehmung................................... 55 1.2.3 Eine kritische Bewertung der Stigmatisierung Haitis aus Sicht der Theorie: Diskursive Subalternisierung und epistemische Gewalt ........................................................ 60 1.2.4 Ambivalente Reaktionen aus Haiti: Gewalt zwischen Re-Exotisierung und kollektivem Trauma ........................... 68 1.3 Narrative der Zer/ Verstörung: Gewalt und Trauma im haitianischen Gegenwartsroman ....................................... 72 2 Lyonel Trouillots Rue des pas-perdus (1996): Gewalt als Exzess und die Zerrüttung der Erzählung ................................................................................................... 86 2.1 Urbane Räume der Gewalt .......................................................... 86 2.1.1 ‚Être dedans sans être dedans‘: Gewalterfahrung, urbaner Raum und sozialer Status......................................... 88 2.1.2 Gewalt als neue (Un-)Ordnung im urbanen Raum ............. 93 2.2 Haitianische Geschichte als ‚nuit sans centre ni fin‘ ....... 104 <?page no="10"?> X 2.3 ‚Laurence perdait son odeur de jardin‘: Die Demontage des Liebespaares ................................................... 113 2.4 Körpersymboliken: Bildhaftes Erzählen der Zerstörungsmacht von Gewalt ................................................ 120 2.4.1 Der ‚cadavre marassa‘ und der zerstückelte Text .............. 121 2.4.2 Der vernichtete Körper, der Schrecken des Ungesagten und das ‚verlorene‘ Zeugnis ........................... 126 2.4.3 Der überlebende Zeuge und das verkörperte Trauma...... 134 2.5 Die Auflösung des narrativen Diskurses und das Trauma der Erzähler .................................................................... 138 2.5.1 Das zersplitterte Zeugnis: Narrative Vielstimmigkeit....... 138 2.5.2 Das verstörte Zeugnis: Traumatisierte Erzähler................. 146 2.6 ‚Les histoires pas perdues‘: Erzählen und Erinnern ....... 158 3 Yanick Lahens’ La couleur de l’aube (2008): Erzählen zwischen Trauma, Selbstermächtigung und Trauer ............................................................................................... 166 3.1 Gewalt als Konstante in der haitianischen Geschichte ........................................................................................ 166 3.2 Das Verschwimmen von Täter- und Opferrollen ............ 172 3.3 Leerstellen im Text: Fignolés Abwesenheit als Protagonist und der Verlust seiner Stimme ....................... 179 3.4 Die violente Begegnung mit dem Anderen: Gewalt und das Ende der Zwischenmenschlichkeit ...................... 186 3.4.1 Sexuelle Gewalt und gesellschaftliche Zerrüttung ............ 188 3.4.2 ‚Ce fut la toute première image que j’ai gardée de lui, la main et le sang‘: Gewalt und die Entfremdung des Liebespaares ............................................................................ 198 3.5 Das traumatisierte Subjekt zwischen Sprachlosigkeit und Erzählen ................................................................................... 203 3.5.1 Die Bürde des Traumas und das Verstummen der Opfer......................................................................................... 204 3.5.2 Traumabewältigung und Selbstermächtigung durch Erzählen ................................................................................... 209 3.6 Erzählen als Form der Trauer und die (Un-)Sichtbarkeit des Opfers in seiner Verletzbarkeit ................................................................................. 216 3.6.1 Die Preisgabe des haitianischen Subjekts: Der diskriminierende Diskurs der Elite und des Auslands..... 217 <?page no="11"?> XI 3.6.2 Erzählen als Erinnern des betrauernswerten Subjekts ...... 224 3.6.3 Die ‚restavèk‘ Ti Louze: Die nicht-erzählte Geschichte des unsichtbaren Opfers ........................................................ 230 Schlussbemerkungen und Ausblick ............................................ 236 Literaturverzeichnis ................................................................................ 251 Verzeichnis der Siglen ................................................................................. 251 Primärliteratur haitianischer Autorinnen und Autoren ........................ 251 Andere Primärliteratur ............................................................................... 253 Sekundärliteratur ......................................................................................... 253 Webseiten ...................................................................................................... 289 Filme .............................................................................................................. 289 <?page no="13"?> 1 Einleitung Fragestellung, Methodik und Untersuchungsgegenstand Als am 7. Februar 1986 der Diktator Jean-Claude Duvalier, genannt ‚Baby Doc‘, infolge zunehmender Unruhen gestürzt wurde und das Land verließ, war die Zuversicht in Haiti hinsichtlich einer Verbesserung der Lebensumstände groß. Nach fast drei Jahrzehnten diktatorialer Repression unter den Duvaliers (1957-1986), deren Regime nur ein neuer Höhepunkt eines autoritären Herrschaftshabitus war, der die haitianische Politik seit der Unabhängigkeit des Landes bestimmt hatte (vgl. Fatton 2007; Hurbon 2002: 122), hoffte eine Nation, die Ideale einer gleichen und gerechten Gesellschaft, die bereits 200 Jahre früher im Kontext der Haitianischen Revolution propagiert worden waren (vgl. Munro/ Walcott-Hackshaw 2005: ix), endlich zu verwirklichen. 1 Doch auch die folgende Zeit war von einem Klima der Unsicherheit und gewaltsamen, politisch-gesellschaftlichen Konflikten geprägt, sodass die in den Demokratisierungsprozess gesetzten Erwartungen der Haitianer 2 nicht erfüllt werden konnten. 3 Obwohl nach den bürgerkriegsähnlichen, politischen Wirren der späten 1980er Jahre im Dezember 1990 mit Jean-Bertrand Aristide, dem Anführer der zivilgesellschaftlichen ‚Lavalas‘-Bewegung, der erste demokratisch gewählte Präsident die Macht im Land übernahm, brach die Gewalt nicht ab und die Lage blieb in den folgenden Jahren des politisch-gesellschaftlichen Umbruchs äußerst prekär. 4 Weiterhin bestimmten gewaltsame Auseinandersetzungen die politische Bühne, die insbesondere von den Konflikten zwischen diktatorialen 1 Nach seiner Machtübernahme im Kontext der Präsidentschaftswahlen 1957 etablierte François Duvalier (‚Papa Doc‘) in Haiti eine Diktatur, die sich durch systematische Gewaltanwendung und staatlichen Terror gegenüber allen Bevölkerungsschichten auszeichnete (vgl. Dupuy 2007: 31-42; Gilles 2008: 49; M.-R. Trouillot 1990a: 166-69). Als ‚Präsident auf Lebenszeit‘ wurde er 1971 von seinem Sohn Jean-Claude ‚beerbt‘, der die repressive Machtausübung des Vaters bis zu seiner Flucht aus dem Land 1986 fortsetzte (vgl. Dupuy 2007: 42-54; M.-R. Trouillot 1990a: 200). Dass Haiti jedoch auch vor 1957 keine tatsächliche Demokratie darstellte, sondern despotische Strukturen, Militärregierungen wie auch Besatzungen (u. a. USA) die Geschichte des Landes geprägt hatten, arbeitet z. B. Fatton 2007 heraus. 2 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung beider geschlechtsspezifischen Bezeichnungen verzichtet. Die verwendete männliche Form bezieht gleichwohl die weibliche immer gleichermaßen mit ein. 3 Vgl. z. B. Abbott 1991: 332-66; Fatton 2007: 193-224; Schöberlein 2008: 46-62. 4 Zumal mit dem (ersten gelungenen) Putsch gegen Aristide im September 1991 unter Raoul Cédras eine von gewaltsamen Ausschreitungen geprägte Militärdiktatur errichtet wurde, die erst 1994 (mithilfe der USA) mit der Wiedereinsetzung des 1990 gewählten Präsidenten ein Ende fand. Vgl. u. a. Dupuy 2007: 101-34; Fatton 2002: 77- 96. <?page no="14"?> 2 und militärischen Kräften, die im neuen Machtapparat aufgegangen waren, und aus den zivilgesellschaftlichen Bewegungen hervorgegangenen Akteuren, die sich eine Demokratisierung der Gesellschaft und die politische Partizipation der Gesamtbevölkerung auf die Fahnen schrieben, geprägt waren und zugleich die Interessenkonflikte innerhalb einer tief gespaltenen haitianischen Gesellschaft widerspiegelten. 5 Hieraus resultierten unzählige (teils gewaltsame) Machtwechsel, was zur Folge hatte, dass Gewalt auch während dieser vermeintlichen Phasen der Demokratisierung ein gängiges Mittel des Machterhalts bzw. der -übernahme darstellte. Ihre Ausübung ging hierbei allerdings nicht mehr nur von staatlichen Institutionen, sondern zunehmend von einer Vielzahl unterschiedlicher Gruppierungen aus. Des Weiteren verlagerte sich die Gewalt in den Jahren nach 1986 immer mehr in die Alltagswirklichkeit der Menschen, indem sie durch kriminelle Gruppen sichtbar entpolitisiert wurde. 6 Hieraus entwickelte sich eine „situation d’insécurité permanente se manifestant par des cas d’enlèvement, de viol ou de meurtre“ (Gilles 2008: 50). 7 Die Frage danach, wie diese traumatische Gewalterfahrung der Post- Duvalier-Ära im zeitgenössischen haitianischen Roman in französischer Sprache 8 literarisch aufgearbeitet wird, steht im Zentrum dieser Studie und 5 Vgl. u. a. Chamberlain 1995a; Dupuy 2007; Fatton 2007; Schöberlein 2008; Slavin 1995. 6 Vgl. etwa Fatton 2007: 211; Gilles 2008: 37; Kovats-Bernat 2006: 83. Ein Beispiel stellen die sogenannten ‚zenglendo‘ dar, worunter in Haiti bewaffnete, kriminelle Banden im Allgemeinen verstanden werden (vgl. Kovats-Bernat 2006: 86-89). 7 Vgl. ebenso Fatton 2007: 212-13; Gewecke 2007: 102. Für einen komprimierten Überblick zur Geschichte der Post-Duvalier-Ära vgl. z. B. Gewecke 2007: 99-105. 8 Meine Betrachtungen in der vorliegenden Arbeit beschränken sich auf den haitianischen Roman in französischer Sprache. Dies rührt zum einen daher, dass mir die notwendigen Sprachkenntnisse fehlen, um Texte auf Kreyòl angemessen aufarbeiten zu können. Zum anderen ist zu konstatieren, dass in Haiti gerade im Bereich des Romans vorrangig auf Französisch publiziert wird. Es finden sich Ausnahmen, wie einzelne Prosatexte (u. a. Frankétienne, Louis-Philippe Dalembert) bzw. insbesondere Publikationen im Bereich der Lyrik (z. B. Lyonel Trouillot, Georges Castera). Wenn im Folgenden aus Gründen der Lesbarkeit lediglich vom haitianischen Gegenwartsroman die Rede ist, ist jener in französischer Sprache gemeint. Zur kreyòlsprachigen haitianischen Literatur, ein Randgebiet auch innerhalb der Haiti-Forschung, vgl. u. a. Castera 2001; Dalembert/ L. Trouillot 2010: 54-58; Gewecke 1991a: 83; Hoffmann 1995: 221-45; Lang 2004; Ludwig 2008: 129-33. Zur Sprachsituation in Haiti (Französisch als Sprache der Bildung und der Elite vs. Kreyòl als Sprache der Oralität, des Alltags und einer (in weiten Teilen analphabetisierten) Bevölkerungsmehrheit) vgl. u. a. Fattier 2006; Laroche 1999: 13-14, 22-23; Shelton 1993: 162-165, 184; Spears 2010: 8. Auch wenn Kreyòl 1987 zur offiziellen Amtssprache neben dem Französischen erhoben wurde (vgl. Berotte Joseph 2010: 233), so blieb Letzteres doch auch fortan die dominierende Sprache in Politik und Bildung und somit ein Indikator der sozialen Stellung (vgl. Hoffmann 1995: 32). Zum Stellenwert der französischen Sprache in der haitianischen Literatur vgl. z. B. L. Trouillot (2007b: 199), der hervorhebt, dass diese auch den Opfern des Verbrechens der Kolonisierung ‚gehöre‘, und sie als „outil [qui] doit être manié sans complexe et sans remords“ (ebd.: 199) bezeichnet. Vgl. ferner Des Rosiers 2009: 97-98. Zugleich betont Trouillot, dass die Sprache heute vielmehr vom Text ‚vorgegeben‘ werde und viel weniger ein politischer Akt sei, wie dies noch <?page no="15"?> 3 wird im Rahmen der Untersuchung am Beispiel der Romane Rue des pasperdus (1996) 9 von Lyonel Trouillot und La couleur de l’aube (2008) 10 von Yanick Lahens beleuchtet. Es geht hierbei nicht darum, eine mimetische Nachahmung von Wirklichkeit zu dokumentieren und die literarische Gewaltdarstellung mit den Ereignissen der Realität abzugleichen. Vielmehr lautet die grundlegende These dieser Studie, dass sich die Texte einer spezifischen Ästhetik bedienen, um das verstörende Moment der Gewalt auf der Ebene des Symbolischen zu inszenieren. Die Fiktionen bieten so einen Raum, innerhalb dessen diese kollektive, die Post-Duvalier-Ära prägende Erfahrung in ihrer traumatischen Dimension versprachlicht und bearbeitet werden kann. Während sich die Politik- und Sozialwissenschaften bereits intensiv mit der Situation in Haiti nach dem Sturz der Duvaliers 1986 beschäftigt haben (vgl. z. B. Dupuy 2007; Fatton 2007; Gilles 2008), wurde der haitianischen Gegenwartsliteratur als alternativem Ort der kollektiven Erinnerung der Gewalt dieser Zeit bislang kaum Aufmerksamkeit zuteil. Dieses Desiderat in der Forschung ist erstaunlich, da sich viele namhafte haitianische Autoren in ihren Werken mit der Thematik befassen. Das Ziel der vorliegenden Studie ist es, diese Lücke zu schließen. Mit ihrem Fokus auf einen in der Frankoromanistik häufig nur am Rande rezipierten Gegenstand (vgl. Forschungsstand) versteht sich die Arbeit zudem als Beitrag, der innerhalb einer zunehmenden Öffnung gerade auch der romanischen Literatur- und Kulturwissenschaft in Deutschland auf marginalisierte (post)koloniale Kulturen zu verorten ist. 11 Durch eine solche Neuausrichtung innerhalb der Wissenschaft wird eine eurozentristische Perspektive konterkariert, die über die Marginalisierung von Ländern wie Haiti die zentrale Rolle dieser Kulturen in der Weltgeschichte haben in Vergessenheit geraten lassen (vgl. z. B. M.-R. Trouillot 1995b): Auf der einen Seite steht das singuläre Ereignis der Haitianischen Revolution, die sich - vor dem Hintergrund einer Geschichte des gewaltsamen Kulturkontakts zwischen Europäern, Indigenen in der Vergangenheit der Fall gewesen sei (vgl. Spear/ L. Trouillot 2011: 12: 10- 13: 08 Min.). Vergleichbar äußert sich Lahens: „[…] I believe that we must, first, extricate ourselves from this paralyzing guilt [= to write in French within a Creole society; Anm. J. B.] and just write“ (Lahens in: Zimra/ Lahens 1993: 87); vgl. ebenso Spear/ Lahens 2009: 18: 06-18: 20 Min. 9 Im Folgenden zitiert als RPP; alle Seitenangaben im laufenden Text beziehen sich auf folgende Ausgabe: Trouillot, Lyonel (1998a): Rue des pas-perdus. Arles: Actes Sud. 10 Im Folgenden zitiert als CA; alle Seitenangaben im laufenden Text beziehen sich auf folgende Ausgabe: Lahens, Yanick (2008): La couleur de l’aube. Port-au-Prince: Éd. Presses Nationales d’Haïti. 11 Neben einer steigenden Zahl an Publikationen aus der hiesigen Romanistik - zur Karibik z. B. Ette et al. 2011; Febel/ Ueckmann i. E.; Hoffmann et al. 2008; Meyer- Krentler 2013; Müller 2012; Tauchnitz 2014; Ueckmann 2014 - wird diese auch über die Gründung von Forschungsinstituten wie z. B. dem America Romana Centrum an der Universität Trier oder dem Institut für postkoloniale und transkulturelle Studien (INPUTS) an der Universität Bremen (unter Beteiligung der Romanistik) sichtbar. <?page no="16"?> 4 der Karibik und verschleppten afrikanischen Menschen - eine konsequente Umsetzung der Ideale der Aufklärung auf die Fahnen geschrieben hatte. Sie mündete 1804 in die Unabhängigkeit des ersten von ehemaligen Sklaven gegründeten Staates, was laut dem haitianischen Wissenschaftler Michel-Rolph Trouillot das Weltverständnis der europäischen Moderne in einer einzigartigen Weise auf den Kopf stellte (vgl. M.-R. Trouillot 2002b). Auf der anderen Seite gilt das Land heute in der öffentlichen Wahrnehmung - inbesondere der westlichen Welt - als Paradebeispiel des gescheiterten postkolonialen Staates, der nicht in der Lage zu sein scheint, seine Probleme selbst in den Griff zu bekommen. Dieser Niedergang wirft die dringliche Frage nach den Ursachen für diese Entwicklung auf und fordert Haiti wie auch die ehemaligen Kolonialmächte und die westliche Welt generell dazu auf, ihre eigene Rolle in diesem Prozess kritisch zu reflektieren. Die Aufarbeitung der Post-Duvalier-Ära und ihrer Reflexion in der Literatur, wie sie in dieser Studie erfolgt, liefert einen wichtigen Baustein für diese komplexe Thematik, stellt doch das Jahr 1986 nicht nur eine wichtige historische Zäsur in der postkolonialen haitianischen Geschichte dar, sondern markiert auch den Beginn der aktuellsten Auflage gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen in dem karibischen Land. Gewalt wird in der vorliegenden Arbeit grundsätzlich als Angriff auf den Körper des Anderen betrachtet, dem das Potenzial zur Traumatisierung innewohnt, und somit als Verletzung der körperlichen und psychischen Unversehrtheit des Subjekts. Dieser im Zentrum der Untersuchung stehende, eng gefasste Gewaltbegriff wurde bewusst gewählt, um auf der einen Seite der wesentlichen Rolle Rechnung zu tragen, die dieses Phänomen sowohl in der haitianischen Realität als auch in den zeitgenössischen haitianischen Texten spielt. Auf der anderen Seite ist die zunehmende Übertragung des Gewaltbegriffs auf andere Bereiche und Phänomene (z. B. gesellschaftliche Strukturen) als nicht unproblematisch zu erachten, 12 da dieser durch eine derartige Definitionsausweitung dem Risiko unterliegt, seine Aussagekraft zu verlieren (vgl. Nunner-Winkler 2004: 24). Im Vordergrund stehen folglich zum einen grundlegende Überlegungen aus der Philosophie und Soziologie, die sich daran versuchen, Gewalt als intendierte Verletzung des anderen Körpers zu beschreiben, und die auf das Subjekt in seiner physischen Dimension fokussieren. Zum anderen werde ich diesen Gewaltbegriff mit Erkenntnissen der Traumaforschung zusammenführen, die es erlauben, die Verletzung in ihrer psychischen Dimension weiterzudenken, und die Tatsache berücksichtigen, dass Gewalt auch schmerzende Spuren hinterlassen kann, die am Körper selbst nicht sichtbar sind. Ein Einbezug der Traumatheorie in die Diskussion um 12 Burgess-Jackson erklärt eine inflationäre Verwendung des Gewaltbegriffs damit, dass man ein Konzept, dem wie der Gewalt (neben einer deskriptiv-inhaltlichen) eine negative evaluative Bedeutung innewohne, auf andere Bereiche übertrage, deren (moralische) ‚Verurteilung‘ man ebenfalls erreichen wolle (vgl. Burgess-Jackson 2002: 1247-50). <?page no="17"?> 5 Gewalt ist darüber hinaus auch und gerade dann von Bedeutung, wenn, wie es in dieser Untersuchung der Fall ist, der literarische Text als Medium betrachtet wird, in dem eine Auseinandersetzung mit der haitianischen Wirklichkeit und somit die Aufarbeitung einer angesichts der verstörenden Wirkung von Gewalt traumatischen, kollektiv relevanten Erfahrung stattfindet. Vor diesem theoretischen Hintergrund werde ich in der vorliegenden Studie die Frage erörtern, wie die Gewalt, welche die Realität der Post- Duvalier-Ära in Haiti prägte und prägt, in Rue des pas-perdus und La couleur de l’aube aufgegriffen und durch bestimmte erzählerische Prozesse und Motive im Text zur Anschauung gebracht wird. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive werden die Romane somit als Reflexion einer kollektiven Erfahrung der haitianischen Gemeinschaft betrachtet, die über die Ebene des Symbolischen zur Darstellung gelangt. Die literarische Repräsentation von Gewalt wird in dieser Arbeit vergleichbar mit der Perspektive des von Michael Hensen und Annette Pankratz herausgegebenen Bandes The Aesthetics and Pragmatics of Violence (2001) als narrative Strategie betrachtet, die über eine rein mimetische Spiegelung der Wirklichkeit hinausgeht und Gewalt über eine bestimmte ‚Ästhetik‘ im Text ins Werk setzt (vgl. Hensen/ Pankratz 2001: 10). 13 Im Zentrum meiner Untersuchung steht folglich nicht der Nachweis einer wirklichkeitsgetreuen Beschreibung der haitianischen Realität in der Literatur. 14 Stattdessen frage ich neben den Spielarten der Gewalt, die im Text dargestellt werden, insbesondere nach der Abbildung von und dem Erzählen über Gewalt und nehme somit auch die Art und Weise der narrativen Inszenierung des Phänomens über bestimmte Motive und Erzählstrategien in den Fokus. Die Darstellung der Gewalt in Rue des pas-perdus und La couleur de l’aube ist somit nicht als dokumentarische Wiedergabe von Wirklichkeit zu verstehen, sondern als ‚Bild‘ nach dem Verständnis des Philosophen Jean-Luc Nancy, das „[s]tatt eines Dings, das bloß ist, zeigt […], dass und wie das Ding ist“ (2007: 39). Übertragen auf den vorliegenden Kontext bedeutet dies, dass der Frage nachgegangen wird, wie Gewalt in ihrer Destruktivität und traumatischen Wirkung auf das Subjekt über die Ästhetik des Texts zur Anschauung gelangt. Der Studie liegt deshalb die Annahme zugrunde, dass die Texte nicht nur etwas über die Gewalt aussagen, sondern auch 13 Mit ‚Ästhetik‘ ist nicht dem Alltagsgebrauch der Sprache gemäß eine Analyse besonders ‚ästhetischer‘, d. h. ‚schöner‘, Elemente der Gewaltdarstellung gemeint, sondern es wird unter dem Begriff in Anlehnung an P. Wolf (2008a) eine durch den literarischen Text vermittelte Wahrnehmungsweise von Welt verstanden, die sich in bestimmten stilistischen und formalen Strukturen niederschlägt. 14 Vgl. in diesem Kontext auch den Vorwurf von L. Trouillot (2003b) an eine westlich geprägte Literaturwissenschaft, gegenüber den Texten postkolonialer Kulturen wie der haitianischen häufig eine ‚ethnologisierende Perspektive‘ einzunehmen und verkürzende Rückschlüsse von der Fiktion auf die jeweilige Wirklichkeit zu ziehen bzw. die Fiktion auf ihren Realitätsbezug reduziert zu betrachten; ebenso die Kritik in Lahens 1997: 62-63; Ménard 2011b: 17; Ménard 2003: 32. <?page no="18"?> 6 eine Aussage über die Art und Weise beinhalten, wie über Gewalt gesprochen wird. Während in der Forschung teils davon ausgegangen wird, dass eine unbeschönigte Darstellung von Gewalt, die in ihrer Zerstörungsmacht zugleich die Strukturen der Erzählung ‚anfalle‘, selbst in narrative Violenz umschlagen könne, 15 distanziere ich mich von einer solchen Denkrichtung. Es wäre fehlgeleitet, zu behaupten, die Romane übten über ihre Ästhetik Gewalt aus, denn der Text kann lediglich (Schock-)Effekte nachbilden, mit denen die Leserschaft im Rezeptionsprozess konfrontiert wird und welche die zerstörende wie auch verstörende Dimension der Gewalt versprachlichen. Diese sind allerdings keinesfalls mit tatsächlichem Gewalterleben gleichzusetzen, was es im Folgenden stets im Gedächtnis zu behalten gilt. 16 In Haiti, wo Lucienne Nicolas zufolge das Schreiben schon immer eine Notwendigkeit dargestellt habe „à cause des nombreux problèmes sociaux et économiques qui ne cessent d’interpeller les écrivains“ (2007: 375), lässt sich allgemein eine lange literarische Tradition der sozialkritischen Bezugnahme auf die Lebenswirklichkeit beobachten. Insbesondere die Gattung des Romans steht hierbei in dem Ruf, politische und gesellschaftliche Missstände ins Visier zu nehmen (vgl. Bernard 2003: 10; Dalembert/ L. Trouillot 2010: 28-29; Fleischmann 1969: 9-10; Hoffmann 1995: 43; Mariñas Otero 1965: 328; Munro 2010b: 69-70; Ollivier 2001: 55-56; Shelton 1993: 28-31). 17 Entsprechend wurde auch das Gewaltproblem von den Literaten des Landes rezipiert, welches sich der Literaturwissenschaftlerin Alba Pessini zufolge gleich einem roten Faden durch das Schaffen der haitianischen Romanautoren zieht (vgl. Pessini 2005: 117-18; ebenso Lucas 2004: 55). 15 Vgl. z. B. Geier 2005: 4; Haas 2012: 3; Milne 2007a: 29; Scharfmann 1996. 16 Vgl. u. a. die Kritik von Kansteiner (2011) hinsichtlich einer teils fehlenden Trennschärfe in der Forschung zu kulturellem Trauma hinsichtlich der Erfahrung von Trauma durch den Überlebenden und der Begegnung des Zuschauers mit traumatischer Erfahrung im Medium; ebenso Sofskys Anmerkung, dass der Beobachter von Gewalt immer nur Zuschauer sei, für den „die Marter […] ein Schauspiel [bleibt]“ (2005: 108); überdies die grundlegende Differenzierung von Keppler (1997: 382-83, 398) zwischen realer und fiktiver Gewalt hinsichtlich der Gestaltung des triadischen Verhältnisses zwischen Täter, Opfer und Zuschauer (‚Ausführung‘ vs. ‚Vorführung‘), weshalb im Falle medial vermittelter oder gar inszenierter Gewalt eine Teilnahme (des Zuschauers am Ereignis) von vorneherein ausgeschlossen sei. 17 Mit dem Aufkommen des indigenistischen und sozialkritischen Romans in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der sich neben einer Wiederaufwertung der haitianischen Volkskultur insbesondere dadurch auszeichnete, dass er soziale Probleme aufdeckte und unverblümt Gesellschaftskritik aussprach (vgl. u. a. Gewecke 2007: 191-94; Lucas 2004: 54-55; Ludwig 2008: 97-99), setzte laut Shelton der Triumphzug dieser Textform in Haiti ein, welche die Lyrik als zentrale Gattung nach der Unabhängigkeit ablöste (vgl. Shelton 1993: 7, 17). Dieser sozialkritische Fokus wurde durch die Aufarbeitung diktatorialer Repression (insbesondere durch die Exilautoren) auch in der Folgezeit fortgesetzt (vgl. ebd.: 28-30). Zur zunehmenden Popularität des Romans in Haiti vgl. Munro 2007a: 27. <?page no="19"?> 7 Mit Lyonel Trouillot (*31. Dezember 1956, Haiti) und Yanick Lahens (*22. Dezember 1953, Haiti) werden in der vorliegenden Arbeit zwei der namhaftesten Autoren des Landes in den Blick genommen, deren Lebensmittelpunkt in Haiti selbst liegt (vgl. Coates 1992c: 873; Marsaud/ L. Trouillot 2009; Zimra/ Lahens 1993: 78). Beide sind bekannte Größen in der literarischen Szene der Hauptstadt Port-au-Prince (vgl. u. a. Bongie 2010: 126; Marty 2000b: 206; Vitiello 2004: 172-73; Zimra/ Lahens 1993: 77), engagieren sich in verschiedenen Bereichen der Kultur und des öffentlichen Lebens und melden sich u. a. in Form von Beiträgen im Radio sowie in Zeitungen und Zeitschriften regelmäßig zu gesellschaftspolitischen und kulturellen Belangen zu Wort. 18 Als Angehörige einer Generation, die unter den Schrecken der Duvalier-Diktatur erwachsen geworden ist und das Ende des Regimes als eine Zeit des Aufbruchs erlebt hat, repräsentieren sie die politische Desillusionierung einer Gesellschaft, deren Hoffnungen auf einen Neuanfang nach 1986 angesichts immer wieder aufbrandender innergesellschaftlicher Konflikte und anhaltender Gewalt bitter enttäuscht wurden. Beide haben nach der Diktatur zu publizieren begonnen und gehören somit zugleich zu jenen Schriftstellern Haitis, die nach Jahrzehnten der Zensur die neue Freiheit ausschöpfen konnten, offen die Missstände der Gesellschaft zu kritisieren (vgl. Vitiello 2011a: 368). 19 Während sich der zeitgenössische haitianische Diaspora-Roman auch nach 1986 noch primär retrospektiv mit der Duvalier-Diktatur und der 18 So beispielsweise bezüglich der Debatte um Jean-Bertrand Aristide, im Rahmen des Erdbebens 2010 oder im Zusammenhang mit anderen gesellschaftlichen und kulturellen Themen (u. a. Lahens 2010c; Rousseau/ Lahens 2011; L. Trouillot 2010; L. Trouillot 2004a; L. Trouillot 2004b; Escarpit/ L. Trouillot 2004; L. Trouillot/ Ménard 2009; L. Trouillot 2007c). Sie engagieren sich auch im Rahmen unterschiedlicher kultureller Projekte (u. a. Lahens bei der Zeitschrift Chemins Critiques oder der ‚Association des Écrivains haïtiens‘; Trouillot im Rahmen des ‚Atelier Jeudi Soir‘, des ‚Centre Culturel Anne-Marie Morisset‘, den ‚Vendredis Littéraires‘ an der Université Caraïbe sowie den ‚Étonnants Voyageurs Haïti‘) oder nehmen Stellung zur Politik durch ihre aktive Rolle in gesellschaftspolitischen Gruppierungen (z. B. Trouillot im ‚Collectif NON‘ und Lahens in der ‚groupe des 184‘). Vgl. hierzu Chaulet Achour 2013: 202-03; Marsaud/ L. Trouillot 2009; Marty 2000b: 206; Ménard/ Lahens 2011: 194-95; Pessini 2005: 120; Raffy-Hideux 2013: 228-30; Spear/ L. Trouillot 2011; Taleb- Khyar/ Lahens 1992: 443-44; L. Trouillot 2012b: 191-93, 209; Vitiello o. J.; Zimra/ Lahens 1993: 77. Biografische Informationen zu beiden Autoren finden sich u. a. auf der Webseite Île en île des Lehman College der City University of New York, der Webseite von Lahens’ Verleger Sabine Wespieser Éd. sowie in unterschiedlichen Interviews (u. a. Dorcely/ L. Trouillot 2007; Marsaud/ L. Trouillot 2009; Marty 2000b; Ménard/ Lahens 2011; Taleb-Khyar/ L. Trouillot 1992; Taleb-Khyar/ Lahens 1992; Tegomo/ L. Trouillot 2009a; Zimra/ Lahens 1993) bzw. in L. Trouillot 2012b; Ruyter- Tognotti/ Poiesz 2005: 354-55. 19 Vgl. Castor 2012: 41 uur neu gewonnenen Meinungsfreiheit in der Post-Duvalier-Ära nach Jahrzehnten der Diktatur, welche sich auch in einer (politischen) Sichtbarwerdung marginalisierter Bevölkerungsschichten niederschlug. Vgl. außerdem Voinchet/ L. Trouillot 2012: 75: 30-76: 00 Min.; Lahens 1992: 745. <?page no="20"?> 8 kollektiven Erinnerung an die Schrecken dieser weiter zurückliegenden Vergangenheit beschäftigte, 20 setzte vor allem in Haiti selbst eine literarische Aufarbeitung der Post-Duvalier-Ära ein (vgl. Gewecke 2007: 225). 21 Eine zentrale Rolle spielt hierbei die Gewalt, die zum einen im Kontext eines beständig schwelenden gesellschaftspolitischen Konflikts und zum anderen in ihrer Veralltäglichung - insbesondere im Leben sozial marginalisierter Gesellschaftsschichten - im urbanen Raum von Port-au-Prince thematisiert wird. 22 Die Geschichten sind meist von einer schonungslosen Darstellung ausufernder Gewalt geprägt, deren zerstörerische und ver- 20 U. a. Dany Laferrières Le goût des jeunes filles (1992) oder Le cri des oiseaux fous (2000), Louis-Philippe Dalemberts L’autre face de la mer (1998), Marie-Célie Agnants Un alligator nommé Rosa (2007) oder Edwidge Danticats The Dew Breaker (2004). Zur Rolle der Erinnerung an die verlassene Heimat in der haitianischen Diaspora-Literatur vgl. u. a. N’Zengou-Tayo 2001: 151; Suárez 2006: 5. Daneben existieren aber auch Romane in Haiti lebender Literaten wie Kettly Mars’ Saisons sauvages (2010) und L’heure hybride (2005) oder Évelyne Trouillots La mémoire aux abois (2010), die sich mit der Duvalier-Diktatur beschäftigen. Historisch weiter zurückliegende Gewalt wird darüber hinaus insbesondere hinsichtlich des Massakers an haitianischen Gastarbeitern in der Dominikanischen Republik 1937 unter der Trujillo-Diktatur, der sogenannten ‚Matanza‘ (u. a. Edwidge Danticats The Farming of Bones (1998); zum historischen Hintergrund vgl. Gewecke 1991a; Turits 2002), oder der Sklaverei (u. a. Marie-Célie Agnants Le livre d’Emma (2001), Évelyne Trouillots Rosalie l’infâme (2003)) reflektiert. Für einen Überblick zum historischen Bezug haitianischer Romane vgl. Marin La Meslée 2004. 21 Neben Lyonel Trouillot und Yanick Lahens sind u. a. Marie-Andrée Manuel Étienne mit Déchirures (2001), Gary Victor mit À l’angle des rues parallèles (2000) oder La chorale de sang (2001), Guy Régis mit Le trophée des capitaux (2011) ebenso wie die in der Ermordung des berühmten haitianischen Radio-Journalisten Jean Dominique ihren Ausgang nehmenden, autobiografisch inspirierten Texte Le reste du temps (2010) von Emmelie Prophète und Mémoire errante (2008) von Jan J. Dominique zu nennen. Ausnahmen unter den Diaspora-Texten bilden z. B. Dany Laferrières L’énigme du retour (2009) und Émile Olliviers Les urnes scellées (1995), die aus der Perspektive in die alte Heimat zurückkehrender Protagonisten einen Blick auf die haitianische Gesellschaft der Post-Duvalier-Ära und ihre Probleme werfen, wobei jedoch Themen wie Exil und Rückkehr sowie die Frage nach transkulturellen Identitäten weitaus mehr im Vordergrund stehen als die kollektive Gewalterfahrung. Mit dem Erdbeben vom 12. Januar 2010 hat eine erneute Fokusverschiebung der Literatur hin zu diesem prägenden Ereignis stattgefunden, wie sich anhand der innerhalb kurzer Zeit erschienenen, beträchtlichen Zahl an autobiografisch inspirierten Zeugnissen sowie fiktionalen Erzählungen belegen lässt, die - mehr oder weniger zentral - auf die Naturkatastrophe und ihre Folgen Bezug nehmen (u. a. Aupont 2010; Laferrière 2010; Lahens 2010b; Mars 2012; Milcé 2011; Orcel 2012; Pierre et al. 2011; Prophète 2012; Saint-Éloi 2010; É. Trouillot 2013; G. Victor 2011, 2010; M. Victor 2011). 22 Die Konzentrierung auf die haitianische Hauptstadt ist nicht nur der Tatsache geschuldet, dass dieser Raum auch in der Realität vornehmlich von der Gewalt betroffen ist (vgl. Gilles 2008: 38), sondern entspricht auch einem grundsätzlichen Trend in der haitianischen Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sich dem städtischen Raum (v. a. Port-au-Prince) zuzuwenden, vor dessen Hintergrund ein kritisches Bild der haitianischen Gesellschaft entworfen wird (vgl. Lucas 2004: 70). Zur Darstellung von Port-au-Prince in der haitianischen Literatur vgl. z. B. N’Zengou-Tayo 2003; Pautonnier 2003; Vitiello 2011b. <?page no="21"?> 9 störende Macht die Erzählungen aus dem Rhythmus bringt und die traumatische Dimension der kollektiv relevanten Erfahrung spürbar werden lässt. Auch Lyonel Trouillot und Yanick Lahens greifen in ihrem Prosawerk die sie umgebende Wirklichkeit auf und setzen sich über die Fiktion kritisch mit der jüngeren Geschichte des Landes auseinander (vgl. Kleine 2008: 218; Ménard 2011b: 8; Pessini 2005), 23 wobei ihre Texte insbesondere auch auf die von Gewalt geprägte Realität der Post-Duvalier-Ära Bezug nehmen. Hierbei fangen sie deren traumatische Dimension besonders eindrücklich ein, weshalb die beiden Autoren im Zentrum dieser Arbeit stehen. Die kollektive Gewalterfahrung nach 1986 durchzieht insbesondere Lyonel Trouillots Romane wie einen roten Faden, wie Pessini in einem Beitrag zu dessen Werk anmerkt: „La violence charpente les textes […] de même qu’elle dévaste la société sur laquelle il se penche et qu’il nous convoque à découvrir“ (2005: 121). Während der Autor die Thematik in Les fous de Saint-Antoine. Traversée rythmique (1989), Les enfants des héros (2002) und Yanvalou pour Charlie (2009) vor allem unter einem sozialkritischen Gesichtspunkt in einem Kontext von Ungerechtigkeit, sozialer Diskrepanz und Armut beleuchtet, 24 ist die traumatische Dimension der Gewalterfahrung der Post-Duvalier-Ära in Rue des pas--perdus (1996) besonders einprägsam gestaltet. Die Fiktionalisierung der gesellschaftspolitischen Konflikte, die Haiti in der Post-Duvalier-Ära prägten und auch in dem 2004 publizierten Roman Bicentenaire am Beispiel der Ereignisse um den zweiten Sturz von Jean-Bertrand Aristide im gleichen Jahr thematisiert werden (vgl. Flamerion/ L. Trouillot 2007), 25 erreicht in jenem frühen Text des Literaten einen düsteren Höhepunkt und fällt bemerkenswert exzessiv aus, weshalb sich das Einzelwerk für eine Untersuchung der narrativen Strategien der literarischen Repräsentation dieser Gewalt ausdrücklich anbietet. Der erstmals 1996 26 in Port-au-Prince veröffentlichte Roman, der über weite Strecken ein geradezu lyrisches Sprachregister anschlägt, berichtet 23 In verschiedenen Interviews (u. a. Dorcely/ L. Trouillot 2007: 168; Ette/ Lahens 2002: 230; Flamerion/ L. Trouillot 2010; Flamerion/ L. Trouillot 2007; Marsaud/ L. Trouillot 2009; Ménard/ Lahens 2011: 194; Spear/ L. Trouillot 2011) bestätigen die beiden Literaten diese Bezugnahme auf ihre unmittelbare Alltagswirklichkeit und verweisen zugleich auf die ‚moralische‘ Verantwortung der haitianischen Schriftsteller, die Augen vor der sie umgebenden Realität nicht zu verschließen, sie gleichzeitig aber auch in ihrer Vielschichtigkeit darzustellen. Vgl. ferner Dalembert/ L. Trouillot 2010: 10. 24 Vgl. für eine Analyse Blondi 2008; Borst 2011; John 2010; Lucas 2006; Ruyter- Tognotti/ Poiesz 2005; Vitiello 2011b. 25 Vgl. für eine Analyse Blondi 2008; Borst 2013b; Brodziak 2013a; Munro 2011, 2008a, 2008b. 26 1998 wurde Rue des pas-perdus in Frankreich bei Actes Sud neu aufgelegt. Im Rahmen dieser Neuauflage wurde die Orthografie des Titels - so gibt die Verlegerin L. Trouillots bei Actes Sud, Marie-Catherine Vacher, in einer privaten Korrespondenz mit der Autorin dieser Arbeit vom 20.10.2012 an - an übliche Konventionen der <?page no="22"?> 10 von einer Nacht roher, exzesshafter Gewalt und verdichtet die Ereignisse der Post-Duvalier-Ära. Angelehnt ist der beschriebene Konflikt um die Anhänger des ‚Dictateur Décédé Eternellement Vivant‘ und jene des ‚Prophète‘ an realhistorische Auseinandersetzungen im Zuge der politischen Umstürze nach dem Ende des Duvalier-Regimes (u. a. der erste Sturz von Aristide und die Militärdiktatur 1991-1994). Ideologische Zugehörigkeiten treten im Roman jedoch in den Hintergrund. Im Zentrum steht die in ihrer Grausamkeit und Willkürlichkeit verübte Gewalt. Erfasst werden die Ereignisse mittels dreier Erzählerstimmen, die sich ohne feste Ordnung abwechseln: Ein Taxifahrer, der selbst Opfer wird, berichtet von seiner chaotischen Flucht durch die Straßen von Port-au-Prince; eine Bordellwirtin beobachtet die Ereignisse aus dem Schutze ihres Etablissements und zieht hierbei eine bedrückend negative Bilanz der jüngeren haitianischen Geschichte; ein Angestellter wiederum flüchtet sich in das Haus eines Freundes, wo er die Nacht aussitzt und die Gewalt lediglich in Form übermittelter Meldungen miterlebt. Von Lahens wird die traumatische Gewalterfahrung der Post-Duvalier- Ära in dem 2008 erschienenen Text La couleur de l’aube aufgegriffen. 27 Dieser verdichtet Gewalt nicht im politischen Konflikt, sondern arbeitet unterschiedliche Spielarten heraus (z. B. sexuelle Übergriffe, Überfälle, eskalierende Demonstrationen). Im Fokus stehen die beiden Ich-Erzählerinnen Joyeuse und Angélique, die um ihren Bruder Fignolé bangen, der nicht nach Hause gekommen ist. Am Ende des Romans bewahrheitet sich die im Raum stehende Befürchtung: Fignolé ist - möglicherweise aufgrund seines politischen Engagements - ermordet worden. Zuvor begleitet der Leser die zwei Frauen in ihrem Tagesablauf und erfährt anhand von Anekdoten, dass Gewalt ein ständiger Begleiter ist. Die beiden Protagonistinnen beschwören so neben dem persönlichen Verlust das Trauma einer zerrütteten Gesellschaft, die von Resignation, Verrohung und Hoffnungslosigkeit gezeichnet ist und in einer Sackgasse der Gewalt angekommen zu sein scheint. Schreibung von Ortsbezeichnungen und Straßennamen mit Bindestrich angepasst. Die haitianische Erstausgabe hingegen wurde noch unter dem Titel Rue des pas perdus veröffentlicht. Im Rahmen der vorliegenden Studie wird die Schreibweise der zitierten Ausgabe von Actes Sud beibehalten. 27 Vgl. Ménard/ Lahens 2011: 192. Während die traumatische Gewalterfahrung der Post-Duvalier-Ära in L. Trouillots Prosa immer wieder im Mittelpunkt steht, ist sie im Roman-Werk von Lahens weitaus weniger präsent. Failles (2010) und Guillaume et Nathalie (2013) fokussieren zwar im Gegensatz zu Lahens’ von der Forschung vorrangig berücksichtigtem Roman Dans la maison du père (2000) (u. a. Blondi 2008; Ette 2011; Ette 2005: 146-47; Kleine 2008; Munro 2008a; Parisot 2006a) das 21. Jahrhundert, doch spielen die Wirren der Zeit nach 1986 nur eine untergeordnete Rolle: So thematisiert Failles die prägenden Eindrücke des Erdbebens von 2010, während Guillaume et Nathalie vor dem Hintergrund einer ungewöhnlichen Liebesgeschichte v. a. das Fortbestehen eines kolonialen Rassismus in der haitianischen Gesellschaft der Gegenwart kritisch beleuchtet. <?page no="23"?> 11 In diesem Roman greift Lahens zahlreiche inhaltliche und formale Elemente auf, die bereits in einigen ihrer Kurzgeschichten anzutreffen sind (vgl. Gyssels 2000: 114; Spear/ Lahens 2009). Sie arbeitet diese dort weiter aus, weshalb sich La couleur de l’aube als repräsentativer Text, der viele der Leitmotive ihres Werks bündelt, für eine detaillierte Analyse empfiehlt. 28 Im Rahmen einer Untersuchung zur fiktionalen Darstellung der traumatischen Gewalterfahrung nach 1986 erweist sich eine Gegenüberstellung von Rue des pas-perdus und La couleur de l’aube als vielversprechend. Beide Romane, angesiedelt in Port-au-Prince als von Zerfall und Unsicherheit geprägtem urbanen Raum, fangen beispielhaft die Desillusionierung der Post-Duvalier-Ära ein, welche nicht die erhoffte Beilegung der gesellschaftspolitischen Konflikte in Haiti erbracht hatte. Dies schlägt sich in den Texten in einer düsteren Grundstimmung nieder. Die Autoren präsentieren Gewalt als eine Konstante der haitianischen Geschichte, die sich in unterschiedlichen Spielarten immer wieder reproduziert. Gleichwohl mit mehr als zehn Jahren Abstand publiziert - 1996 und 2008 - bergen beide Texte ein Gefühl der Hilflosigkeit, was vor Augen führt, dass die Bewältigung dieser Gewalterfahrung nach wie vor aussteht. 29 Zugleich sind aber sowohl Rue des pas-perdus als auch La couleur de l’aube von dem Bewusstsein geprägt, dass der scheinbare Teufelskreis der Gewalt endlich durchbrochen und die Gewalterfahrung der Post-Duvalier-Ära aufgearbeitet werden muss. Rue des pas-perdus nähert sich dem kollektiven Trauma der Gewalt durch eine Exzesshaftigkeit der Darstellung, eine fiktionale Inszenierung einer haitianischen ‚Apokalypse‘ ohne Hoffnung auf Neuanfang, eingefangen in einem polyfonen, deliriösen Bericht. In La couleur de l’aube hingegen werden die unterschiedlichen Spielarten hervorgehoben, welche die Gewalt annehmen kann, und das Phänomen wird als ständiger Be- 28 Hierunter v. a. die Kurzgeschichtensammlung La folie était venue avec la pluie (2006) mit „La folie était venue avec la pluie“, „Trois morts naturelles“, „Lave ta mémoire à grande eau“ und „Corossols, oranges et citronnelles“; aber auch „Le jour fêlé“ aus Tante Résia et les dieux (1994) und „La petite corruption“ aus der gleichnamigen Sammlung von 1999. Zur Gewaltthematik in Lahens’ Kurzgeschichten vgl. auch N’Zengou-Tayo 2010. Der Aussage der Autorin gemäß hat sie in ihren Kurzgeschichten ‚ihr literarisches Territorium markiert‘, das sie in der Folge ‚immer wieder aufsucht‘ (vgl. Spear/ Lahens 2009: 16: 03-16: 10 Min.). Für motivische Überschneidungen sei auf die Verweise in den Unterkapiteln dieser Arbeit verwiesen. Zu Lahens’ Kurzgeschichten vgl. ferner Adamson 1997; Gyssels 2000; N’Zengou-Tayo 2010; Saint-Éloi/ Lahens 1999; Vitiello 2004; Walcott-Hackshaw 2011. 29 Es ist aufschlussreich, dass beide Texte in der Folge einer Phase der Enttäuschung publiziert wurden. So waren die Erinnerungen an die willkürliche und omnipräsente Gewalt der repressiven Militärdiktatur (1991-1994) zur Zeit der Veröffentlichung von Rue des pas-perdus noch mehr als frisch. Auch 2008 wiederum, als La couleur de l’aube erschien, war die Ernüchterung, die mit der zweiten, von gewaltsamen Auseinandersetzungen geprägten und vorzeitig beendeten Amtszeit von Aristide einhergegangen war, keineswegs vergessen. Zum zeitgeschichtlichen Kontext vgl. z. B. Dupuy 2007. <?page no="24"?> 12 gleiter im Alltag der Figuren inszeniert. Von besonderem Interesse sind die beiden Romane darüber hinaus, weil sich die destruktive Maßlosigkeit der erzählten Gewalt wie auch ihre traumatische Dimension in den narrativen Motiven und den Strukturen der Texte niederschlagen. Des Weiteren verdeutlichen die Fiktionen, dass auch das Erzählen der Gewalt nicht ‚unbeschadet entkommt‘ und weisen es zugleich als Möglichkeit aus, um der Gewalt jenseits weiterer Destruktivität auf der Ebene des Symbolischen etwas entgegenzusetzen. Die Entscheidung, zwei Romane ins Zentrum der Analyse zu stellen, rührt vom dezidierten Erkenntnisinteresse der Studie her, narrative Strategien herauszuarbeiten und zu beschreiben, vermöge derer sich der literarische Text der traumatischen Gewalterfahrung annähern und das vermeintlich Unaussprechliche zur Sprache bringen kann. Ziel ist es somit nicht, Prozesse, Kontinuitäten und Brüche über eine möglichst große Zahl von Texten in der haitianischen Gegenwartsliteratur aufzuzeigen - was mit einer nur unzureichenden Betrachtung der Ästhetik des Einzeltexts einhergegangen wäre -, sondern eine profunde Interpretation zweier Romane zu liefern, die exemplarisch und in gebündelter Form zeigen, wie Gewalt in der Fiktion verhandelt werden kann. Bestreben war es hierbei, die gesamte Bandbreite der Gewaltthematik in den ausgewählten Texten zu beleuchten, die in dieser Hinsicht eine bemerkenswerte Dichte aufweisen. Ungeachtet dessen sind die gewählten Korpustexte in vielerlei Hinsicht repräsentativ und bieten Anknüpfungspunkte an weitere haitianische Gegenwartsromane, die die Gewalterfahrung nach 1986 thematisieren. 30 Auf Rue des pas-perdus und La couleur de l’aube fiel die Wahl vor dem Hintergrund einer breit gefächerten Lektüreerfahrung haitianischer Gegenwartsromane. Ausschlaggebend war zum einen die bereits angesprochene thematische und ästhetische Ausrichtung. Zum anderen spielte das Gewicht der Stimmen beider Autoren in der haitianischen Gesellschaft eine Rolle, welche sich anhand ihrer weiter oben dargelegten Bedeutung im gesellschaftlichen und kulturellen Leben des Landes und ihres Engagements hinsichtlich vielfältiger Themen festmachen lässt. Durch diesen Status sind sie in der Lage, (über literarische Texte wie auch nicht-fiktionale Stellungnahmen) aktiv an der Formung diskursiver Praktiken innerhalb der haitianischen Kultur mitzuwirken. Des Weiteren handelt es sich um zwei Schriftsteller, die dem Literaturbetrieb auch über die Landesgrenzen hinaus ein Begriff sind, wenngleich sie nicht den internationalen Bekanntheitsgrad namhafter frankokaribischer Autoren wie Édouard Glissant, Maryse Condé oder Patrick Chamoiseau für sich beanspruchen können (vgl. Vitiello 2004: 170; Vitiello 2011a: 368-69). Ihre Prosatexte, die mitunter von den französischen Verlagshäusern Actes Sud und Sabine Wespieser Éd. heraus- 30 Auf besonders prägnante Beispiele wird im Verlauf der Studie an entsprechender Stelle verwiesen. Vgl. außerdem den Ausblick auf mögliche Anknüpfungspunkte zukünftiger Studien im Rahmen der Schlussbemerkungen. <?page no="25"?> 13 gegeben wurden, 31 wurden so bereits mit verschiedenen Literaturpreisen 32 honoriert und u. a. ins Englische und Deutsche übertragen. 33 Dies ist nicht unbedeutend, geht man davon aus, dass die Romane nicht ausschließlich für ein haitianisches Publikum geschrieben sind, sondern sie es sich auch zur Aufgabe machen, einem internationalen (westlichen) Publikum ein Trauma der Gewalt in Erinnerung zu rufen, das aus den Nachrichten längst verschwunden ist oder darin vielmehr nie wirklich präsent war. 34 Zumal, wie die vorliegende Studie zeigen wird, die Gewalt in Haiti auch gerade das (westliche) Ausland dahingehend tangiert, dass so manche (politische wie gesellschaftliche) Strukturen, welche die Ausbreitung des Phänomens in der (postkolonialen) Gegenwart doch zumindest ‚befördern‘, auf die Kolonialherrschaft der Europäer und eine (neokoloniale) Außenpolitik und Attitüde der westlichen Welt gegenüber dieser karibischen Nation zurückgehen. Forschungsstand Mit ihrem Untersuchungsgegenstand tangiert die vorliegende Arbeit eine Vielzahl unterschiedlicher Forschungsgebiete. Eine fundierte Auseinandersetzung mit den theoretischen Grundlagen von Gewalt und Trauma erfordert eine Berücksichtigung von Erkenntnissen aus Soziologie und Psychologie. Zugleich hat eine Sichtung kultur- und literaturwissenschaftlicher Ansätze zu erfolgen, die sich im Kontext des Memoria-Diskurses mit der kollektiven Aufarbeitung traumatischer Erinnerung und der Rolle des 31 Dies hat zur Folge, dass die Romane der beiden Autoren mittlerweile auch im Ausland gut zugänglich sind. Einzelne Texte hingegen, die nur in Haiti verlegt wurden (z. B. Les fous de Saint-Antoine und Le livre de Marie (1993) von Trouillot sowie Lahens’ Kurzgeschichtensammlungen La folie était venue avec la pluie und La petite corruption), sind in Europa kaum erhältlich und nur in ausgewählten Bibliotheken vorhanden. Zu den Veröffentlichungsmöglichkeiten haitianischer Autoren generell vgl. Bernard 2003: 10; Vitiello 2004: 172. 32 U. a. den Prix Millepages, den Prix du Livre RFO, den Prix des Amériques insulaires et de la Guyane, den Prix Wepler-Fondation la Poste sowie den Prix Femina. L. Trouillot rangierte darüber hinaus 2011 mit La belle amour humaine (2011) unter den Finalisten des renommierten Prix Goncourt. Einen Überblick über verschiedene Literaturpreise, die in den letzten Jahren an haitianische Schriftsteller gegangen sind, bietet Chaulet Achour 2013. 33 Vgl. Trouillot 2003a, 2008, 2012a, 2014sowie Lahens 2010a, 2004, 2011, 2012. 34 Die mediale Präsenz Haitis hielt sich seit jeher in Grenzen und hat erst mit dem Erdbeben vom 12. Januar 2010 wieder stark zugenommen, mit der Folge, dass die Wahrnehmung des Landes zumeist von Vorurteilen und nicht von tatsächlichen Fakten geprägt ist. Berichterstattungen hingegen, die ein komplexeres Bild entwerfen, sind eher rar. Vgl. im Detail die Ausführungen in Kap. 1.2.2. Angesichts der hohen Analphabetenrate in Haiti gilt es, die Leserschaft der haitianischen Romane grundsätzlich immer auch über die Landesgrenzen hinaus zu denken (vgl. Hoffmann 1995: 35, 184), weshalb Hoffmann von einem „double public“ (ebd.: 38) mit je unterschiedlichem ‚Vorwissen‘ und verschiedenen Erwartungshaltungen spricht (vgl. ebd.: 37-38; ebenso Shelton 1993: 184). Vgl. hierzu außerdem Kap. 1.3. <?page no="26"?> 14 literarischen Texts in diesem Zusammenhang beschäftigen. Das Ziel ist es, mit dem folgenden Forschungsstand einen grundlegenden Einblick in das breite Panorama an Studien aus diesen Bereichen zu ermöglichen, maßgebliche Tendenzen aufzuzeigen und auf jene Punkte näher einzugehen, die für diese Untersuchung relevant sind. Eine lückenlose Aufarbeitung aller genannten Forschungsgebiete hingegen ist weder zu leisten noch zielführend. Grundsätzlich liegt eine Fülle von Studien vor, die sich aus politik- und sozialwissenschaftlicher Perspektive mit dem Gewaltphänomen beschäftigen, 35 wovon auch zahlreiche Überblickswerke wie das umfangreiche Internationale Handbuch der Gewaltforschung (Heitmeyer/ Hagan 2002b) oder der Band Gewalt. Entwicklungen, Strukturen, Analyseprobleme (Heitmeyer/ Soeffner 2004) zeugen, die einen detaillierten Einblick in unterschiedlichste Facetten des Phänomens bieten. 36 In der Forschung zeichnen sich zentrale Fragestellungen ab, wie Gewalt im Spannungsfeld von Macht, Herrschaft und Rechtssystem - etwa im Kontext der Frage nach legitimierter und nicht-legitimierter Gewalt (‚violentia‘ vs. ‚potestas‘) - sowie das prekäre Verhältnis von Moderne und Gewalt vor dem Hintergrund eines kulturtheoretischen Forschungsinteresses, 37 Versuche einer grundsätzlichen Definition oder Typologie von Gewalt auf rein theoretischer Ebene bzw. eine genuin soziologische Bestimmung des Phänomens in seiner Wirkungsmacht 38 oder aber eine konzeptuelle Öffnung des Gewaltbegriffs im Hinblick auf benachbarte Phänomene. 39 Hierbei fällt auf, dass insbesondere in den Überblicksstudien die (faktualwie auch fiktional-)mediale Darstellung von Gewalt häufig nur marginal angerissen wird. 40 35 Zur zunehmenden Beschäftigung mit Gewalt in der Forschung vgl. u. a. Imbusch 2000: 24; Sieferle 1998: 9. Gewalt wird in der vorliegenden Arbeit grundsätzlich als eine Form der „Transgression von Ordnung“ (Imbusch 2005: 27) verstanden und nicht - wie im Sprachgebrauch des Deutschen möglich - im Sinne „legitimierter Staats-Gewalt“ (ebd.: 27) als „Ordnungsbegründung“ (Imbusch 2002: 26; vgl. auch Waldenfels 1990: 106), weshalb weiterführende Überlegungen zum staatlichen Gewaltmonopol aus dieser Untersuchung ausgeblendet werden. 36 Beide Bände stellen grundlegende Paradigmen zur Diskussion und gehen neben konventionellen Gewaltauffassungen auch neue Formen der Gewalt an. Sie streifen dabei zahlreiche Forschungsfelder (u. a. Philosophie, Politikwissenschaft, Soziologie, Psychologie) und beleuchten das Phänomen sowohl diachron als auch synchron. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf den westlichen Industriegesellschaften (vgl. Heitmeyer/ Hagan 2002a: 17). Weitere Überblicksstudien sind u. a. Dabag et al. 2000; Imbusch 2005; Reemtsma 2009; Trotha 1997a. 37 U. a. Adorno/ Horkheimer 1987; Arendt 1970; Benjamin 1993; Bauman 1992; R. Girard 1972; Imbusch 2005; Pinker 2011; Reemtsma 2009; Sorel 1987. Für einen Überblick vgl. Imbusch 2005. 38 U. a. Delhom 2000; Reemtsma 2009; Trotha 1997a; Waldenfels 2000a, 1990; Wieviorka 2006. 39 U. a. Bourdieu/ Passeron 1970; Galtung 1990, 1982; R. Girard 1972. 40 Zu den wenigen Ausnahmen zählen z. B. Keppler 1997; Lukesch 2002; Nieraad 2002. <?page no="27"?> 15 Darüber, wie Gewalt begrifflich konkret zu bestimmen ist, ist sich die Forschung uneins (vgl. Dubet 1997: 220; Reemtsma 1993a: 8) und es finden sich die unterschiedlichsten Definitionen, Konzeptualisierungen und Typologien, was jene zu „eine[m] der schillerndsten und zugleich schwierigsten Begriffe der Sozialwissenschaften“ (Imbusch 2002: 26; vgl. auch Bauman 1997: 226) macht. 41 Dies liegt nicht nur daran, dass der Gewaltbegriff einem beständigen Wandel unterworfen ist und vom jeweiligen historischen wie kulturellen Kontext abhängt (vgl. Reemtsma 2009: 111, 190-191; Imbusch 2002: 51; Schroer 2004: 152), sondern auch an den verschiedenen Herangehensweisen der Forschungsdisziplinen. Einerseits finden sich Ansätze, die eine ‚klassische‘ Perspektive einnehmen und davon ausgehen, dass Gewalt ganz konkret eine direkte „intendierte körperliche Verletzung“ (Trotha 1997b: 31) meint. 42 Andererseits gibt es zahlreiche Theorien, die sich konzeptuell (teils sehr stark) von einer körperzentrierten Kerndefinition entfernen und Gewalt in Systemen und gesellschaftlichen wie symbolischen Strukturen verorten. 43 Konzeptualisierungen, die den Gewaltbegriff über die körperliche Verletzung hinaus denken, prägen auch viele post- und dekoloniale Studien, die sich insbesondere mit den violenten Strukturen einer kolonial geprägten Gesellschaft sowie der 41 Vgl. ebenso Barthes 1995: 902; Heitmeyer/ Hagan 2002a: 17; Wieviorka 2006: 11-12. Zur Problematik der Definition von Gewalt vgl. Burgess-Jackson 2002: 1245-46; Heitmeyer/ Hagan 2002a: 16; Hitzler 1999; Stewart/ Strathern 2002: 1; Wasmuht 1997. Zur Abgrenzung des Gewaltbegriffs von verwandten Konzepten (u. a. Macht, Konflikt, Krieg, sozialer Zwang und Aggression) vgl. Imbusch 2002: 31-34. 42 U. a. Briceño-León 2007; Popitz 1992; Trotha 1997b. Einen Aufschwung hat eine solche - zum Teil auch stark kritisierte (vgl. z. B. Riel 2005) - Verengung der Begriffsdefinition insbesondere durch die sogenannten ‚Innovateure‘ der Gewaltsoziologie erfahren, die das Opfer und seinen Körper ins Zentrum der Überlegungen rücken. Vgl. hierzu Imbusch 2000: 28. 43 Das prominenteste Beispiel ist Galtungs Begriff der ‚strukturellen Gewalt‘ (Gewalt als Dauerzustand ohne konkreten Täter, deren Manifestierung nicht unbedingt direkt sichtbar ist; vgl. hierzu Galtung 1997; Galtung 1969: 168; Imbusch 2002: 39-40; Nunner-Winkler 2004: 23). Weitere Konzeptualisierungen von Gewalt, die den Begriff auf Bereiche jenseits des Physischen öffnen, finden sich u. a. in Galtung 1990 (kulturelle Gewalt zur Rechtfertigung/ Legitimierung/ Verschleierung anderer Gewaltformen innerhalb der Gesellschaft, z. B. in Wirkungsbereichen wie Religion, Ideologie, Sprache, Kunst, Wissenschaft); Žižek 2008 (objektive Gewalt als in Sprache enthaltene symbolische Gewalt sowie als der existierenden politischen und ökonomischen Ordnung inhärente systemische Gewalt); Riel 2005 (Gewalt als ‚Leidverursachung‘ und ‚Machthandeln‘, was jegliche Art von über „Strukturen, Institutionen, körperliche und psychische Handlungen ausgeübt[en]“ (ebd.: 41) Zwang umfasst); Bourdieu/ Passeron 1970 (symbolische Gewalt als in „Begriffen, Sprache und Symbolsystemen eingelagerte Gewalt“ (Imbusch 2005: 25), die dem Ziel der Verklärung von Herrschaftsverhältnissen unterliegt und eine ‚Mittäterschaft’ der Zeichenbenutzer impliziert); Nancy 2007 (Gewalt als Instrumentalisierung exzessiver Kraft, z. B. eine „widerspenstige[.] Schraube“ (ebd.: 34), die unter Gewalt herausgerissen werden muss; vgl. ferner Schäffauer i. E.). Für eine Gegenüberstellung ‚enger‘ und ‚weiter‘ Gewaltdefinitionen vgl. Riel 2005. Zur Kritik einer Ausweitung des Gewaltbegriffs vgl. z. B. Trotha 1997b: 14. <?page no="28"?> 16 Wirkung von (rassistischer) Diskriminierung und Unterdrückung beschäftigen. 44 Der wissenschaftliche Diskurs umfasst demnach ein breites Spektrum an Definitionen, sodass nicht von dem Gewaltbegriff schlechthin die Rede sein kann, den sich die vorliegende Studie als Vorlage zu eigen machen könnte. 45 Als Werkzeug für die Analyse gilt es diesen deshalb im Theorie-Teil in einem ersten Schritt zu definieren. Im Bereich der Literaturwissenschaft finden sich zwar zahlreiche thematische Studien zu Gewalt in den unterschiedlichsten kulturellen Kontexten, 46 doch fehlt es diesen meist an einer konsequenten Aufarbeitung der Gewalttheorie (insbesondere aus dem Bereich der Soziologie) und ihrer Verknüpfung mit Fragen der Repräsentation im narrativen Diskurs (vgl. Nieraad 2002: 1276), wie sie in der vorliegenden Analyse geleistet wird. Im Zentrum vieler Studien aus dem Bereich der Literatur- und Kulturwissenschaft zur Gewaltthematik steht die Frage nach der Rolle des literarischen Texts im Kontext von Erinnerungsarbeit und Vergangenheitsaufarbeitung. 47 Weitere Schwerpunktsetzungen sind eine Betrachtung der Wechselwirkungen von Gewalt in der Realität und ihrer Darstellung in der Literatur sowie des testimonialen Charakters von literarischen Texten und 44 U. a. Fanon 1961; Glissant 1981; Maldonado-Torres 2010; Memmi 1957; Spivak 1988. Auch direkte physische Gewalt wird in diesen Ansätzen zumeist hinsichtlich ihrer Relation zu aus diesem spezifischen historischen Kontext hervorgegangenen Strukturen, Diskursen und Wissensproduktionen befragt. Im Fokus steht vielfach die Diskussion des von Gewalt geprägten ‚Gründungsakts‘ (post)kolonialer Gesellschaften (durch Kolonialismus, Sklaverei etc.). Zugleich fällt auf, dass Gewalt etwa bei Fanon und Memmi ein konstruktives Befreiungspotential aus Sicht der Unterdrückten zugeschrieben wird. Der Rolle solcher Gegengewalt (‚contradictory violence‘) als Widerstand gegen bereits erfahrene Gewalt und Möglichkeit der Bewältigung kollektiv relevanter, traumatischer Erfahrung, ihrer Fiktionalisierung und schließlich ihrer Bedeutung im nationalen/ pan-karibischen Identitätsbildungsprozess widmet sich Waller 2005. 45 Im Grunde genommen, so ist sich die Forschung weitestgehend einig (vgl. z. B. Imbusch 2002: 51; Riel 2005: 3), richtet sich die Gewaltdefinition letztendlich nach dem Erkenntnisinteresse der Einzelstudie. Burgess-Jackson folgert deshalb, dass es keine allgemeingültige Definition von Gewalt geben könne, ohne dass diese durch zu unscharfe Kriterien, die es ermöglichten Grenzfälle einzubeziehen, hinfällig würde (vgl. Burgess-Jackson 2002: 1242). 46 Das Interesse von Studien aus dem Bereich der Romanistik richtet sich hierbei u. a. auf die Aufarbeitung von Trauma und Gewalt in den (post)diktatorialen Gesellschaften Lateinamerikas (u. a. Unnold 2002; Wirshing 2009) oder die Fiktionalisierung von (Bürger-)Krieg, bürgerkriegsähnlichen Konflikten und Genozid (z. B. in Kolumbien, Rwanda) (u. a. Bandau et al. 2005; Bazié/ Lüsebrink 2011b; Milne 2007b; Osorio 2005; Nickel/ Segler-Meßner 2013a; Tittler 1989), aber auch spezifische Ausformungen der Gewalt (z. B. urbane Gewalt, gendermarkierte Gewalt) (u. a. Biron 2000; Close 2008; Haas 2012; B. Kaplan 2007). Mitunter finden sich auch Untersuchungen (v. a. aus dem anglofonen Raum), die auf Gewaltdiskurse in der Karibik und ihre literarische Darstellung Bezug nehmen (u. a. Fratta 1992; Kalisa 2009; Milne 2007b; Waller 2005). 47 U. a. Bandau et al. 2005; Kopf 2005; S. Neumann 2002; Nickel/ Segler-Meßner 2013a; Siegel 2010; Unnold 2002; Waller 2005; Wirshing 2009. <?page no="29"?> 17 ihrer Rolle innerhalb eines gesellschaftlichen Diskurses über Gewalt, 48 aber auch die Faszination des (moralisch) Bösen in Literatur und Kunst, 49 die Frage nach diskursiver Gewalt und einem sprachlicher wie auch bildlicher Repräsentation inhärenten Gewaltpotenzial, 50 spezifische Erzähltechniken der Gewaltdarstellung, 51 die Nichtdarstellbarkeit bzw. ‚Unsagbarkeit‘ von Gewalt und das Erzählen traumatischer Erfahrung in unterschiedlichen historischen und kulturellen Kontexten. 52 Die literaturwissenschaftliche Traumaforschung, die sich umfassend mit den theoretischen Grundlagen des Konzepts aus der Psychologie auseinandergesetzt und es gezielt für den eigenen Untersuchungsgegenstand aufgearbeitet hat, 53 bietet ebenfalls aufschlussreiche Ansätze für diese Analyse. Von Interesse für den vorliegenden Kontext ist vor allem die Beschäftigung mit der Frage, wie individuelle oder kollektive Traumata versprachlicht und erzählt werden können, wo die Rolle der Literatur (etwa im Vergleich zu faktualen Zeugnissen oder Geschichtsschreibung) zu verorten ist und auf welche (narrativen) Verfahren sie zurückgreifen kann, um das vermeintlich Unfassbare (vgl. u. a. Assmann 1999a: 260; Hartman 1995) in Worte zu fassen, was den Text stetig zwischen bedeutungsstiftender Trauerarbeit und Verweigerung eines erschöpfenden Zugangs zum Innersten der traumatischen Erfahrung oszillieren lässt (vgl. Ueckmann 2013). Diskutiert werden vor diesem Hintergrund nicht nur die Möglichkeiten des Individuums, ein Trauma zu be-/ verarbeiten, sondern insbesondere auch die Frage nach der kollektiven Dimension und damit einhergehend nach den Möglichkeiten und Grenzen des literarischen Texts, um dazu beizutragen, Zeugnis abzulegen und diese Erfahrung in kollektive Erinnerung zu überführen (vgl. u. a. Basseler 2008; Febel 2004). Zentral hierbei sind die Rolle des literarischen Texts als möglicher ‚Raum‘ der Trauer (vgl. z. B. Reichardt 2008; Suárez 2006) und die Frage nach narrativen Strategien, die das Erzählen des Traumas in seiner Unzugänglichkeit ermöglichen. Als für diese Studie aufschlussreich haben sich insbesondere Ansätze erwiesen, die sich damit auseinandersetzen, wie traumatische Gewalterfahrungen erzählt werden können, respektive mit welchen narrativen Verfahren, und welche Rolle dem Erzählen bei ihrer Aufarbeitung zukommt. Signifikant ist etwa die Frage nach Möglichkeiten der Repräsentation und Codierung des Phänomens, wie sie im Sammelband Die Szene der Gewalt. 48 U. a. Bandau et al. 2005; Geier 2005; Haas 2012; Osorio 2005; Terao 2005; Unnold 2002. 49 U. a. Bohrer 2004. 50 U. a. Armstrong/ Tennenhouse 1989; Erzgräber/ A. Hirsch 2001; González 2001; Knape 2006; Nancy 2007. 51 U. a. Haas 2012; S. Neumann 2002. 52 U. a. Granofsky 1995; Hermann 2000; Nieraad 1994. 53 U. a. Basseler 2008; Bronfen et al. 1999a; Caruth 1996; Craps 2013; Craps/ Buelens 2008; Fricke 2004; Granofsky 1995; Hartman 1995; Kopf 2005; Kuon 2008c; Laub/ Podell 1995; Mauser/ Pietzcker 2000; Tal 1996; Whitehead 2004. <?page no="30"?> 18 Bilder, Codes und Materialitäten (2009) aufgeworfen wird (vgl. Macho/ Scherpe 2007: 10; Tyradellis/ Wolf 2007: 16). Die Autoren gehen dort davon aus, dass Gewalt „immer nur […] in eine Symbolsprache übersetzt [verhandelt] […]“ (Macho/ Scherpe 2007: 9) werden könne, wie sie auch im literarischen Text in Form von Bildern, Metaphern und anderen narrativen Verfahren zum Tragen kommt. Mit der Frage, was die Fiktion der Gewalt entgegensetzen könne, setzt sich Markus Klaus Schäffauer (i. E.) auseinander, der in bestimmten Formen der narrativen/ filmischen Inszenierung von Gewalt das Potenzial erkennt, Gewalt aufzuarbeiten und zu ‚überwinden‘. 54 Der Gewaltakt werde dementsprechend nicht einfach im Text reproduziert, sondern narrativ transformiert und somit zu einem Akt des Erzählens, der in der Lage sei, Gewalt kulturell einzuhegen. Schäffauer bezieht sich mitunter auf Ottmar Ette (2010: 303-25), der die Literatur als zur Überwindung der Gewalt befähigenden Sprachraum und folglich den Akt des Erzählens als Möglichkeit betrachtet, um den Zyklus von Gewalt und Gegengewalt zu durchbrechen. Auch Martina Kopf (2005) kontrastiert in ihrer Studie zu Traumata und Literatur das destruktive Wirken der Gewalt mit der dieser ‚Sinnzerstörung‘ entgegengesetzten, konstruktiven und sinnstiftenden Kraft literarischen Erzählens, welches in der Lage sei, die Symptomsprache des Traumas (auf kollektiv-gesellschaftlicher Ebene) in ein narratives Gedächtnis zu überführen. In eine ähnliche Richtung zielen die Überlegungen Peter Kuons (2008b), der darlegt, dass sich der Text die vom Trauma hinterlassene Leere zu eigen mache und sie über den Schreibprozess mit symbolischen Inhalten neu besetze, wodurch sie der Leserschaft als Erfahrung offenstehe. Ausdrücklich der narrativen und ästhetischen Umsetzung von (traumatischer) Gewalt in Text und Medium widmen sich darüber hinaus einige Studien zur literarischen bzw. medialen Darstellung des Phänomens in postkolonialen Kontexten (u. a. Bazié/ Lüsebrink 2011b; Milne 2007b; o. Hg. 2002). Vor dem Hintergrund der Frage, welche Formen von Gewalt erzählt werden und insbesondere wie dies geschieht, wird dort herausgearbeitet, dass die Narrativierung von Gewalt ein ‚Auseinanderbrechen‘ der Erzählung im Hinblick auf Handlung und Struktur herbeiführe (u. a. in Form von Leerstellen, Brüchen, Vermischung von Genres, narrativer Unzuverlässigkeit) und eine Verwendung von Sprache erfordere, die Tabus überschreite und somit als Akt des Widerstands verstanden werden könne. 55 Im Vordergrund steht in diesen Beiträgen meist die Rolle des Texts oder Mediums als Mittel zur Aufarbeitung traumatischer Vergangenheit, die Gewalt und ihrem erneuten Aufbranden auf kultureller Ebene begegnen und zugleich andere Diskurse (Politik, Presse etc.) ergän- 54 Schäffauer (i. E., 2013) spricht in diesem Kontext von sogenannter ‚Gewaltarbeit‘, die vom Text geleistet werde und die im Gegensatz zur (individuellen) Trauerarbeit nach Sigmund Freud auf kollektiv-kultureller Ebene und medial stattfinde. 55 Vgl. insbesondere Garnier 2002: 54; Milne 2007a; Ngalasso 2002: 73. <?page no="31"?> 19 zen kann. Die frankofone Karibik und insbesondere Haiti spielen in den Einzelbeiträgen der hier genannten Studien, deren Schwerpunkt meist auf afrikanischen Literaturen liegt, jedoch eine äußerst untergeordnete Rolle. 56 Darüber hinaus ist grundsätzlich festzustellen, dass sich die Haiti- Forschung bislang kaum mit der Fiktionalisierung der traumatischen Gewalterfahrung der Post-Duvalier-Ära im haitianischen Gegenwartsroman beschäftigt hat, sodass keine umfassende und systematische Studie zur Thematik vorliegt. Innerhalb der frankofonen Karibikforschung war die haitianische Literatur trotz der literarischen Produktivität innerhalb der haitianischen Kultur, die unermüdlich betont wird (vgl. Antoine 2000: 5; Hoffmann 1995: 23; Dash 1994: 310; Taleb-Khyar/ Frankétienne 1992: 385), über lange Zeit ein ‚Randgebiet‘ (vgl. Glover 2010: 19; Kaussen 2007: 21; Torres-Saillant 1997: 38). 57 Bestehende Studien beschäftigten sich meist mit haitianischen ‚Klassikern‘ aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts 58 bzw. dem Werk der unter der Duvalier-Diktatur emigrierten Exilautoren, 59 wohingegen nach 1986 erschienene Romane in der Regel lediglich am Rande beleuchtet wurden. 60 56 Einzig Fendler (2011) untersucht mit Raoul Peck einen haitianischen Filmemacher. Sie setzt sich mit dem Spannungsfeld von Täter, Opfer und Zuschauer auseinander und analysiert das Medium Film auf seine Funktion als Träger von Erinnerung extremer Gewalt hin. 57 Für Überblicksstudien zur frankofonen Karibik vgl. z. B. Antoine 1992, 1998; Arnold 1994; Aub-Buscher/ Noakes 2003; Corzani et al. 1998; Gyssels/ Ledent 2008; Ludwig 2008; Müller/ Stemmler 2009; Rinne/ Vitiello 1997. Im Rahmen des steigenden Interesses der Forschung für außereuropäische Literatur in französischer Sprache fand auch die haitianische Literatur zunehmend Beachtung (vgl. Ménard 2003: 28). Zur traditionell randständigen Rolle außereuropäischer Literaturen in französischer Sprache innerhalb der französischen Literaturwissenschaft vgl. Donadey/ Murdoch 2005: 1, 8; Laronde 2005: 186. 58 U. a. Chemla 2003; Dash 1981; Fleischmann 1969; Hoffmann 1982; Jonassaint 2002; Laroche 1999; Marty 2000a; Shelton 1993. Für einen Überblick vgl. Jonassaint 2002: 21- 22. Diskutiert werden insbesondere Fragen der literarischen Repräsentation von sozialgeschichtlicher Realität und Gesellschaftskritik, Aspekte (afro-)haitianischer Kultur und (haitianischer) Identität sowie Sprach- und Oralitätsthematiken. 59 U. a. Bernard 2003; Chemla 2003; Hoffmann 1995; Munro 2007a; Jonassaint 1986. Das Hauptaugenmerk dieser Studien liegt u. a. auf der Auseinandersetzung mit der (erzwungenen) Emigration einerseits und der Aufarbeitung der Schrecken der Diktatur andererseits. Vgl. auch Hoffmann 1992. 60 Eine knappe Zusammenfassung der Tendenzen und Strömungen des haitianischen Romans des ausgehenden 20. Jahrhunderts und des 21. Jahrhunderts findet sich u. a. in Dalembert/ L. Trouillot 2010: 17-30; Gewecke 2007: 225; Gewecke 1991a: 71-84; Hoffmann 1998; Hoffmann 1995: 183-220; Hoffmann 1992; Ludwig 2008: 129-38. Zentrale Themen und Charakteristika sind u. a. die Beschäftigung mit (traumatischen) Ereignissen der haitianischen Geschichte und Gegenwart (u. a. US-amerikanische Besatzung, die ‚Matanza‘ in der Dominikanischen Republik 1937, Diktatur, Post-Duvalier-Ära), eine Hinwendung zum urbanen Raum (wodurch u. a. der desolate Zustand der ‚bidonvilles‘ in den Fokus gerät), die Rolle von Hautfarbe und sozialem Status (u. a. verhandelt als Relikte der Kolonialzeit) in einer von rigiden Hierarchien und sozialer Ungleichheit bestimmten Gesellschaft, die Erfahrung des Exils <?page no="32"?> 20 Erst in den letzten Jahren wurde der neueren haitianischen Literatur wachsende Aufmerksamkeit zuteil (vgl. Ménard 2011b: 7; Munro 2007a: 206), 61 was sich in einer steigenden Zahl von akademischen Publikationen in Form von Monografien, Zeitschriftensondernummern und Sammelbänden niederschlug. 62 Häufig liegt auch hier der Schwerpunkt auf den Diaspora-Autoren, doch findet sich ebenfalls eine Reihe von in Haiti wie im Ausland herausgegebenen Studien (u. a. Bouffartigue et al. 2006; Brodziak 2013b; Collectif 2007; Chemla/ Constantini 2007; Ménard 2011a; Sourieau/ Balutansky 2004) sowie z. B. die im Hinblick auf den untersuchten Korpus sehr breit aufgestellte Monografie Les réalismes haïtiens contemporains. Récit et conscience sociale (2013) von Peggy Raffy-Hideux, die sich explizit der Gegenwartsliteratur aus der haitianischen Diaspora und Haiti selbst zuwenden und sowohl bekannte als auch weniger bekannte Autoren sowie unterschiedliche Gattungen einbeziehen. 63 bzw. der Emigration und der ‚errance‘, das Leben in der Diaspora und Erinnerungen an die haitianische Heimat, Fragen der Identität, Vodou und afrokaribische, kreolische Kultur. Auch ein Experimentieren mit neuen Erzähltechniken und Gattungen ist charakteristisch für die neuere haitianische Prosa (u. a. ‚spirales‘, ‚lodyans‘, Kriminalroman, Spielarten der Autofiktion, Elemente des Surrealen oder Fantastischen sowie des magischen Realismus, multiperspektivisches bzw. fragmenthaftes Erzählen). 61 So erhielten zahlreiche haitianische Autoren in den vergangenen Jahren wichtige Literaturpreise (vgl. Le Bris 2010: 31; Ménard 2011b: 7) und es erschienen in zunehmendem Maße Anthologien zur haitianischen Literatur (u. a. Adisa 2011; M. Bell et al. 2011; Cave et al. 2010; Collectif 2009b; Fievre et al. 2012; Collectif 2009a; Pierre et al. 2011), wo vermehrt auch weniger etablierte Autoren zu Wort kommen. Damit einher ging ein gesteigertes Interesse ausländischer Verleger (vgl. Magnier 2002: 91), was die zuvor teils schwer zugängliche, auf einen nationalen Markt beschränkte (vgl. Hoffmann 1995: 24) haitianische Literatur einem internationalen Leserkreis erschloss. Hinzu kamen historische Ereignisse wie der Zweihundertjahrestag der Unabhängigkeit 2004 sowie das Erdbeben vom 12. Januar 2010, die Haiti nicht nur mediale, sondern auch zusätzliche akademische Aufmerksamkeit einbrachten. 62 U. a. Benedicty 2004; Bernard 2003; Bouffartigue et al. 2006; Braziel 2010; Chancé 2009; Chancy 1997; Chemla/ Constantini 2007; Coates 1992a, 1992b; Collectif 2007; Conteh 2004; Dalembert/ L. Trouillot 2010; Desroches 2000; Douglas 2009; Fuchs 2014; Gewecke 1991b; Glover 2010; Gyssels 2010; Jonassaint 1986; Kaussen 2007; Mathis- Moser 2003; Ménard 2011a; Munro 2010a, 2007a; Raffy-Hideux 2013; Sourieau/ Balutansky 2004; Suárez 2006; Ueckmann 2014; Walcott-Hackshaw/ Munro 2005; o. Hg. 2011; o. Hg. 2005; o. Hg. 1998. Für einen Überblick über haitianische Autoren und ihre Werke vgl. die Datenbank der Webseite Île en île, die Auflistungen zu frankokaribischen Werken und Sekundärliteratur in Wilson 2003 sowie die Bio- Bibliografien haitianischer Autoren in Ménard 2011a. 63 Raffy-Hideux (2013) untersucht in ihrer Studie anhand von Gegenwartsprosa u. a. von L. Trouillot, Ollivier, Laferrière, Mars und G. Victor, inwieweit literarische Traditionen haitianischer Spielarten des ‚réalisme‘ (u. a. ‚socialiste‘, ‚merveilleux‘) im 20. und 21. Jahrhundert fortgeschrieben, modifiziert bzw. durchkreuzt werden. Darüber hinaus liegt der Fokus der aktuellen Forschung zum haitianischen Gegenwartsroman (aus Haiti und der Diaspora) neben dem Trauma der Diktatur auf Themen wie (haitianischen/ diasporischen) Identitätskonstruktionen, haitianischer Geschichte, <?page no="33"?> 21 Eine Aufarbeitung der Gewaltthematik in der Forschung ist angesichts einer intensiveren Rezeption der zeitgenössischen Diaspora-Autoren insbesondere im Hinblick auf das in deren Werk dominierende kollektive Trauma der Diktatur erfolgt, wobei das Interesse neben Dany Laferrière vor allem auf der erfolgreichen US-haitianischen Schriftstellerin Edwidge Danticat liegt. 64 Im Zentrum dieser Studien stehen meist die Frage nach dem Zusammenhang zwischen individuellem und kollektivem Trauma, die Rolle der Literatur bei der Erinnerung und Aufarbeitung von (traumatischer) Vergangenheit, das Bezeugen des ‚Unsagbaren‘ und die Grenzen von Sprache. Die Fiktionalisierung der Gewalterfahrung der Post-Duvalier-Ära im zeitgenössischen Roman aus Haiti selbst hingegen hat in akademischen Kreisen bisher nur wenig Beachtung gefunden. Hervorzuheben ist Pessinis Aufsatz „L’œuvre romanesque de Lyonel Trouillot. La violence dans tous ses états“ (2005), der sich vor dem Hintergrund einer Unterscheidung zwischen vom Staat und seinen Institutionen ausgeübter Gewalt und weniger offensichtlicher Formen des Phänomens im privaten Raum (u. a. häusliche Gewalt, strukturelle Armut) mit der Darstellung der Thematik in verschiedenen Romanen des Autors beschäftigt. Auch Joëlle Vitiello schneidet die Gewaltthematik in Lyonel Trouillots Werk in „La littérature postduvaliériste en Haïti“ (1998) an und hebt hervor, dass die Ästhetik seiner Romane die Austauschbarkeit des Konflikts und damit die Kontinuität der Gewalt herausstreiche, welche in Form individueller Geschichten erzählt werde. Sie beschreibt den Akt des Schreibens über die Gewalt hierbei als notwendigen Widerstand gegen die Resignation, als Schreiben „contre l’histoire, mais aussi sur l’histoire […]“ (Vitiello 1998: 111). In unterschiedlichen Beiträgen fragt darüber hinaus Martin Munro (2011, 2008a, 2008b, 2007a) danach, inwieweit in der neueren haitianischen Literatur ein historisch gewachsener Zyklus der Rache und des (Selbst-)Hasses entworfen Exil und dem Themenkomplex ‚départ‘/ ‚errance‘/ ‚retour‘, Literatur als Medium kollektiver Erinnerung, Genderzuschreibungen, Sozial- und Gesellschaftskritik, Vodou und afrokaribischen Kulturformen, Elementen der Oralität, aktuellen ästhetischen Strömungen (u. a. ‚spiralisme‘, neue Formen des ‚réalisme merveilleux‘), Intertextualität sowie Schreiben/ Erzählen als Akt des Widerstands. Angesichts der schweren Zugänglichkeit der Werke weniger bekannter Autoren ist die Breite des in diesen Studien analysierten Text-Spektrums bedeutsam. 64 U. a. Borst 2009; Braziel 2010; Clerfeuille 2010; Fuchs 2014; Hopwood 2011; Kaussen 2007; Lyngaas 2011; Meacham 2005; Mehta 2009; Parisot 2007; D. Smith 2007; Sourieau 2005. Für Autoren aus Haiti selbst hingegen, die die Duvalier-Diktatur thematisieren (z. B. É. Trouillot, Mars) steht diese Forschungsarbeit größtenteils noch aus. Darüber hinaus finden sich u. a. Studien zur Diktatur- und Gewaltthematik in haitianischen Diaspora-Romanen der Duvalier-Zeit (z. B. Constantini 1992; Cottenet- Hage 1984; M. Dorsinville 1992; Scharfmann 1996) sowie zur literarischen Aufarbeitung anderer kollektiver Traumata der haitianischen Geschichte (z. B. die Sklaverei, die ‚Matanza‘ 1937) (u. a. Adamowicz-Hariasz 2010; Chancy 2010; Cordova 2007; De Maeseneer 2006; Frémin 2011; Kalisa 2009; Munro 2006; Novak 2006; Šesni 2006; Shemak 2002; Suárez 2006). <?page no="34"?> 22 werde, der sich in sozialem Misstrauen und einem multidimensionalen Konflikt niederschlage, welcher das Individuum beständig bedrohe. 65 Eine wichtige Rolle für die vorliegende Arbeit spielt darüber hinaus der Aufsatz „The Aesthetics of Degradation in Haitian Literature“ (2005) von Raphaël Lucas, der diskutiert, dass die traumatische Erfahrung der Duvalier- Diktatur auch die Sphäre des Imaginären geprägt habe, weshalb es in Haiti zu einem Bruch mit bisher vorherrschenden Schreibstrategien gekommen sei, die von einer ‚Ästhetik der Degradierung‘ abgelöst worden seien. 66 Sein Ansatz bietet interessante Anknüpfungspunkte für den Kontext dieser Untersuchung, da im Folgenden ebenfalls nach einem Echo des kollektiven Gewalttraumas in der Ästhetik der Texte gefragt wird. Dieser Überblick hat vor Augen geführt, dass zwar Ansätze zur Untersuchung der Gewaltthematik in der haitianischen Gegenwartsliteratur bestehen, diese in der Regel aber nur stichprobenartig erfolgt. Die vorliegende monografische Studie bedient somit ein wichtiges Forschungsdesiderat, indem sie die Fiktionalisierung der Gewalterfahrung der Post-Duvalier- Ära bei Lyonel Trouillot und Yanick Lahens, deren Werk durch den Schwerpunkt vieler Publikationen auf ältere Texte sowie die haitianische Diaspora-Literatur bis dato nur am Rande rezipiert wurde, grundlegend aufarbeitet und darüber hinaus mit Rue des pas-perdus und La couleur de l’aube zugleich Romane in den Fokus rückt, zu denen bislang generell keine umfassenden Analysen vorliegen. 67 Aufbau der Studie Die vorliegende Studie ist in drei Teile gegliedert, wobei der erste eine theoretische Aufarbeitung der Thematik leistet und in den anderen beiden eine Analyse der Gewaltdarstellung in Rue des pas-perdus bzw. La couleur de l’aube erfolgt. Den Ausgangspunkt des Theorie-Kapitels bildet eine Auseinandersetzung mit dem Gewaltbegriff, der in einem ersten Schritt in Kapitel 1.1 unter Einbezug sozialwissenschaftlicher, psychologischer und kulturwissenschaftlicher Theorien aufgearbeitet wird. Ausgehend von einem Verständnis des Phänomens als Angriff auf den Menschen in seiner Körperlichkeit wird er zum Trauma in Relation gesetzt und um eine psychische Dimension erweitert, wobei zugleich eine Übertragbarkeit desselbi- 65 Sourieau (2012) greift diese Thematik hinsichtlich Lahens’ Roman La couleur de l’aube ebenfalls auf. 66 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Lucas 2006; L. Trouillot 1998b; Ueckmann 2012. 67 Zu Lahens’ La couleur de l’aube vgl. z. B. Aiello o. J. (Zeitstruktur); Sourieau 2012 (Gewaltthematik und Zerissenheit der haitianischen Gesellschaft); Vitiello 2011b. L. Trouillots Rue des pas-perdus fand bislang etwas mehr Beachtung, vgl. z. B. Borst 2012, 2011, 2009; Bernard 2003; Blondi 2008; Cordova 2004; Gyssels o. J.; Lucas 2004; Munro 2011; Nimis 2005; N’Zengou-Tayo 2004; Pessini 2005; Raffy-Hideux 2013; Vitiello 1998). Untersucht werden neben der Gewaltthematik u. a. das Motiv der Rache, die Vatersymbolik, das Scheitern des Intellektuellen, die Darstellung des urbanen Raums, Literatur und ‚Histoire‘ (vs. ‚histoires‘), narrativer Diskurs und Sprachstil. <?page no="35"?> 23 gen auf die Ebene des Kollektiven sowie die Rolle der Literatur als Raum der (symbolischen) Auseinandersetzung mit dem Trauma recherchiert werden. Vor diesem Hintergrund wird in Kapitel 1.2 in einem zweiten Schritt das Spannungsfeld skizziert, in dem die Diskurse zur Gewalt in Haiti zu verorten sind. Unzweifelhaft Bestandteil der Realität der Post- Duvalier-Ära ist Gewalt zugleich ein Allgemeinplatz, der die globale Wahrnehmung des Landes prägt und den es unter Einbezug post- und dekolonialer Ansätze im Hinblick auf die Kritik eines durch Strukturen der Kolonialität geprägten (‚westlichen‘) Wissens über Haiti differenziert zu diskutieren gilt. In Kapitel 1.3 schließlich werden die bisherigen Überlegungen zur Darstellung der Gewalt in Rue des pas-perdus und La couleur de l’aube in Bezug gesetzt und zentrale Thesen hinsichtlich der Fiktionalisierung dieser Thematik und der Ästhetik der Romane geäußert. In den Kapiteln 2 und 3 wird anhand der beiden Korpustexte analysiert, in welcher Form und in welchen Kontexten Gewalt evoziert wird und anhand welcher Motive und Erzähltechniken sie bei Trouillot und Lahens zur Darstellung gelangen. In Bezug auf Rue des pas-perdus wird in Kapitel 2.1 zunächst beleuchtet, wie die Stadt als Raum der Gewalt inszeniert wird, dem sich das Individuum nicht mehr nach Belieben entziehen kann und in dem es der Gewalt ausgeliefert ist. Daran anschließend wird in Kapitel 2.2 gezeigt, dass Gewalt den Text nicht nur räumlich durchdringt, sondern der dargestellte Konflikt auch von realhistorischen Bezügen losgelöst als stellvertretend für eine beständige Wiederkehr der Gewalt in der haitianischen Geschichte gelesen werden kann. In Kapitel 2.3 wird das Motiv des Liebespaares untersucht, das auf den ersten Blick (noch) als vermeintlicher Gegenentwurf zur Gewalt aufscheint, auf den zweiten Blick allerdings als in einer violenten Welt hinfällig demontiert wird. Nachfolgend werden in Kapitel 2.4 die Symboliken zerstückelter und versehrter Körper als Formen des bildhaften Erzählens der Zerstörungsmacht von Gewalt und traumatischer Erfahrung ergründet und insbesondere auf deren Übertragbarkeit auf den ‚Text-Körper‘, das heißt die narrativen Strukturen, hin inspiziert. Gleichzeitig kommt in diesem Zusammenhang die Rolle des überlebenden Opfers zur Sprache, dessen verstümmelter Körper zum Symbol der traumatischen Erfahrung und ihrer unauslöschlichen Spur wird. Kapitel 2.5 wendet sich schließlich den Erzählerfiguren sowie dem narrativen Diskurs zu und weist nach, dass auch das Erzählen angesichts der überbordenden Gewalt nicht unbeschadet ‚davonkommt‘. Das Resultat, so wird hergeleitet, ist ein zerrüttetes, verworrenes und vielstimmiges Zeugnis traumatisierter Erzähler. Abschließend wird in Kapitel 2.6 erörtert, inwieweit Rue des pasperdus trotz des Unbehagens, das die beschriebenen Exzesse und die immer wieder beschworene Ausweglosigkeit beim Leser zurücklassen, eine Geschichte des Überlebens ist und inwiefern das Erzählen über seine erinnerungsstiftende Funktion der Gewalt auf der Ebene des Symbolischen die Stirn bietet. <?page no="36"?> 24 La couleur de l’aube wird in Kapitel 3.1 zunächst hinsichtlich der Frage analysiert, inwieweit Gewalt als Konstante der haitianischen Geschichte präsentiert wird, die sich in der Post-Duvalier-Ära abermals reproduziert. Lediglich die Akteure scheinen zu wechseln, die Auseinandersetzungen indes dauern an, was dazu führt, dass zahlreiche Figuren eine ambivalente Position einnehmen und eine klare Täter-Opfer-Dichotomie im Text aufgebrochen wird, wie in Kapitel 3.2 gezeigt wird. Kapitel 3.3 beschäftigt sich im Anschluss vor dem Hintergrund von Fignolés Abwesenheit als handelnde Figur und Erzählerstimme mit dem Motiv der Absenz als Symbol für den gewaltsamen Tod des Subjekts und Möglichkeit, um den schmerzhaften Verlust im Text zu inszenieren. In Kapitel 3.4 wird herausgearbeitet, dass Gewalt im fiktiven Universum des Romans allgegenwärtig ist und sich nicht auf den Kontext der politischen Auseinandersetzungen beschränkt. Vielmehr verdeutlicht eine Analyse des Motivs der sexuellen Gewalt und der Entfremdung des Liebespaares, dass bei Lahens die gesellschaftlichen Strukturen zerrüttet sind und auch die zwischenmenschliche Begegnung mit dem Anderen von Gewalt durchdrungen ist. Daraufhin reflektiert Kapitel 3.5 das Ringen der Figuren mit der verstörenden Gewalterfahrung, welches sich in ihrem Scheitern, diese zu versprachlichen, äußert. Es setzt sich zudem mit der Frage auseinander, inwieweit der Roman Erzählen als Möglichkeit ausweist, um die Hilflosigkeit des Opferstatus zu überwinden und Traumata aktiv anzugehen. Abschließend wird in Kapitel 3.6 thematisiert, in welcher Form Erzählen in La couleur de l’aube als Form der Trauer gestaltet ist, sodass an die vielfach vergessene Verletzbarkeit des haitianischen Subjekts erinnert wird, und inwieweit Lahens zugleich am Beispiel der marginalisierten Figur Ti Louze problematisiert, wie zahlreiche Opfer in der öffentlichen Wahrnehmung unsichtbar bleiben. <?page no="37"?> 25 1 Theoretische Überlegungen 1.1 Gewalt als Angriff auf die Unversehrtheit des Subjekts: Zur Verletzung von Körper und Psyche Um sich der Frage anzunähern, wie Gewalt im haitianischen Gegenwartsroman dargestellt wird, gilt es zunächst, das Phänomen der Gewalt an sich greifbar zu machen, indem unter Einbezug unterschiedlicher Fachdisziplinen wie Soziologie, Philosophie und Psychologie zentrale Erkenntnisse der Gewalt- und Traumaforschung herausgearbeitet werden und auf dieser Grundlage eine geeignete Definition von Gewalt für die Textanalyse entwickelt wird. Hierbei werden verstärkt Theorien herangezogen, die eine abstrakte Auseinandersetzung mit dem Phänomen ermöglichen und dieses losgelöst von seinem kulturellen Entstehungskontext betrachten lassen. 68 Explizit sehe ich in diesem Zusammenhang von dem Versuch ab, eine neue Begrifflichkeit zu prägen, um die Gewalt in der haitianischen Wirklichkeit eindeutig und endgültig mit einem sprachlichen Etikett versehen zu können. Ein solcher Versuch, jene auf eine bestimmte Spielart herunterzubrechen (wie politische Gewalt, urbane Gewalt o. Ä.) und somit über einen exakten Begriff vermeintlich einzuhegen, 69 ist problematisch, da er der Komplexität des Phänomens - nicht nur in Haiti, sondern grundsätzlich - nicht wirklich gerecht würde. 70 Der Gewalt einen - oder mehrere - 68 Viele postkoloniale und karibische Theoretiker hingegen, tendieren dazu, Gewalt vorrangig vor der Folie der historischen Erfahrung kolonialer Unterdrückung und ihrer Fortsetzung in Strukturen der Kolonialität zu denken. Vgl. z. B. Fanon 1961; Glissant 1981; Memmi 1957. 69 Vgl. die Forderung des karibischen Philosophen Glissant nach einem ‚Recht auf Opazität‘, welches eine Ablehnung absoluter Wahrheiten postuliert und beschreibt, dass sich komplexe Phänomene einem ganzheitlich durchdringenden Verstehen entziehen können (vgl. Glissant 1990: 206). Übertragen auf den vorliegenden Kontext bedeutet dies nicht, dass das Gewaltphänomen als undurchschaubar stehen gelassen werden muss. Glissants Überlegungen können jedoch als Aufforderung gelesen werden, anzuerkennen, dass es möglicherweise nicht abschließend und unwiderruflich über Begriffe durchdrungen werden kann. 70 Auch der Begriff der ‚postkolonialen Gewalt‘, den sich andere Studien zu postkolonialen Kontexten (vgl. z. B. Milne 2007b; Bazié/ Lüsebrink 2011b), zu eigen machen, betrachte ich als problematisch, da damit eine konzeptuelle Einschränkung einhergeht. Definiert man postkoloniale Gewalt wie Bazié und Lüsebrink als ein spezifisches Phänomen, das in Kulturen anzutreffen ist, welche die Erfahrung des Kolonialismus als Ursprung struktureller Unterdrückung teilen, und das sich durch signifikante Erscheinungs- und Darstellungsformen auszeichnet (vgl. Bazié/ Lüsebrink 2011a: 1, 7), droht man nicht nur, aktuelle Gewaltphänomene in erster Linie und exklusiv an das Erbe der Kolonialzeit zurückzubinden (vgl. hierzu Milne 2007a: 10). Die Gefahr besteht zudem, dass der Eindruck entsteht, postkoloniale Kulturen besäßen alleinigen Anspruch auf besonders komplexe, indirekte oder verschleierte <?page no="38"?> 26 Namen zu geben, liegt zudem nicht im dezidierten Erkenntnisinteresse dieser literaturwissenschaftlich ausgerichteten Studie und fällt in den Bereich der Politik- oder Sozialwissenschaften. Ziel der vorliegenden Analyse ist hingegen eine Auseinandersetzung mit der Frage, wie Gewalt hinsichtlich ihrer Zerstörungsmacht und traumatischen Wirkung generell in der Literatur reflektiert werden und ob und wie eine Gemeinschaft diese verstörende Erfahrung in der und über die Literatur aufarbeiten kann. Die Annäherung an das Phänomen findet mithin über die Perspektive des Opfers statt, dessen Verletzung unabhängig von Intention, Motivation und Handlungsrahmen des Täters bestehen bleibt. 71 Im Zentrum steht die These, dass Gewalt als Akt der intendierten Zerstörung nicht nur sichtbare Verletzungen am Körper, sondern auch unsichtbare ‚Verletzungen‘ in der Psyche des Subjekts hinterlässt, die gewöhnlich als Traumata bezeichnet werden. 72 Im Folgenden wird zunächst hergeleitet, dass sich das Opfer im Moment der Gewalterfahrung als ‚Körper im Schmerz‘ erlebt, weshalb Gewalt das Subjekt grundsätzlich mit der physischen Seite seines Daseins konfrontiert. Der eigenen Verletzbarkeit ausgesetzt, so wird zu zeigen sein, wird der Einzelne jedoch nicht nur, wenn er Gewalt tatsächlich selbst erleidet, sondern auch, wenn sie ihn in seiner Lebenswirklichkeit kontinuierlich bedroht. Während Arbeiten, die sich in postkolonialen Kontexten bewegen, dazu tendieren, den Gewalt- Formen der Gewalt, während das Problem in westlichen Gesellschaften etwa einfacher gelagert sei. Eine solche künstlich geschaffene Singularisierung postkolonialer Gewalt wirft letztlich ähnliche Probleme auf, wie der von M.-R. Trouillot vehement kritisierte Diskurs über die Einzigartigkeit Haitis, die das Land mehr verrätselt denn erklärt (vgl. Kap. 1.2.1 und M.-R. Trouillot 1990b). Da sich auch die Forschung nicht einig ist, ob ‚postkoloniale Gewalt‘ als struktureller oder rein chronologischer Begriff (als Gewalt nach dem Ende der Kolonialzeit) zu verstehen ist (vgl. Bazié/ Lüsebrink 2011a: 7-8; Milne 2007a: 10), droht die Bezeichnung schließlich beliebig und nichtssagend zu werden. 71 Wenn im Folgenden von Opfern und Tätern die Rede ist, geht damit keine moralische Wertung im Sinne einer Schuldzuweisung einher und es soll keine Opposition von ‚Gut‘ und ‚Böse‘ aufgebaut werden. Unter ‚Opfer‘ ist ganz neutral derjenige zu verstehen, der Gewalt (in einem konkreten Fall) erleidet, ohne dass dies impliziert, dass er nicht auch gleichzeitig selbst Täter (gewesen) sein kann. Dies ist umso wichtiger, da auch in der haitianischen Realität die Grenzen zwischen Tätern und Opfern angesichts der Vielschichtigkeit der Konflikte und der beständigen innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen zunehmend verschwommen sind, was sich auch in der Täter- und Opferdarstellung in den Romanen niederschlägt. 72 Imbusch verortet psychische Gewalt entsprechend auch in einem Grenzbereich zur körperlichen Gewalt (vgl. Imbusch 2002: 38-39; ferner Wieviorka 2006: 11). Grundsätzlich wird Gewalt in der vorliegenden Arbeit in Übereinstimmung mit Waldenfels als destruktives Phänomen verstanden: „Gewalt ist nicht einfach Gewalt; doch bleibt sie Gewalt, auch wenn die Gewaltausübung sich legitimiert und wenn Opfer in Denkmälern wiederauferstehen“ (Waldenfels 1990: 103). Vgl. Barthes 1995: 904; Schäffauer i. E. Gewalt ist folglich als Mittel keinesfalls ‚gut‘ oder ‚konstruktiv‘. Lediglich die durch sie erreichten Ziele können sie im Nachhinein gegebenenfalls ‚rechtfertigbar‘ erscheinen lassen. <?page no="39"?> 27 begriff auf strukturelle, systemische oder diskursive Phänomene (z. B. Diskriminierung in der Tradition kolonialer Epistemologien) zu übertragen (vgl. Bazié/ Lüsebrink 2011a: 2), will ich in der vorliegenden Studie in dieser Hinsicht zum „Kernbereich von Gewalt“ (Imbusch 2005: 21) zurückkehren: dem violenten Akt, der sich im Sinne einer intendierten physischen Verletzung gegen den Körper richtet. 73 Im Anschluss wird unter Einbindung der Traumatheorie erörtert, dass Gewalt jedoch nicht nur den Körper versehrt, sondern die Existenz des Subjekts ganzheitlich erschüttert. Die Folge ist ein Trauma, das als Wunde der Psyche der andauernden Verstörung des Opfers Ausdruck verleiht und den Gewaltakt in seinen Auswirkungen in der Zeit fortschreibt. Abschließend gilt es in diesem Kontext gemäß dem Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Studie auch nach der kollektiven Dimension von Traumata zu fragen, um davon ausgehend die Rolle des literarischen Texts bei der Überwindung von Trauma auszuloten. 1.1.1 Das Subjekt als Körper: Gewalt und die Erfahrung der eigenen Körperlichkeit „Gewalt ist zunächst physische Gewalt, der Übergriff auf den Körper eines anderen ohne dessen Zustimmung.“ (Reemtsma 2009: 104) Die neuere soziologische Gewaltforschung hat es sich zur Prämisse gesetzt, „[…] Gewalt primär aus der Körperlichkeit zu begreifen […]“ (Reemtsma 2009: 105) und somit Gewalterleben als Erfahrung des eigenen Körperseins zu betrachten. Der Körper ist im Gewaltkontext deshalb so zentral (vgl. Imbusch 2000: 30; Popitz 1992: 45-46), da der Mensch sich nicht einfach von ihm lösen und ihn „stehen lassen [kann] wie einen Schirm […]“ (Waldenfels 2000b: 31), 74 woraus sich mit Heinrich Popitz die ‚Verletzungs- Offenheit‘ des Menschen herleiten lässt. Darunter versteht dieser die Kreatürlichkeit und damit „Ausgesetztheit“ (Popitz 1992: 24) des menschlichen Wesens, da „[a]llem, was lebt, […] das Leben genommen werden“ (ebd.: 24) könne. 75 73 Vgl. den Ansatz in Milne 2007b. Milne kritisiert in der Einleitung des Sammelbands Postcolonial Violence, Culture and Identity in Francophone Africa and the Antilles (2007), dass ‚reale, physische Gewalt‘ in Untersuchungen zu postkolonialen Kulturen häufig zugunsten anderer Phänomene wie etwa epistemischer Gewalt vernachlässigt werde (vgl. Milne 2007a: 12). 74 Vgl. auch Butler 2004: 26; Gugutzer 2004: 12; Popitz 1992: 45-46; Waldenfels 1990: 123. 75 Gleichzeitig besitzt das Subjekt laut Popitz auch die Fähigkeit der ‚Verletzungsmächtigkeit‘ (vgl. Popitz 1992: 43-44), die es ihm ermögliche, „die Verletzungsoffenheit anderer auszunutzen […]“ (Nedelmann 1997: 61), sodass Gewalt den Worten von Trothas gemäß jederzeit und als „Jedermanns-Ressource“ (Trotha 1997b: 18) zur Verfügung steht. <?page no="40"?> 28 Aufgrund dieses primären Körperbezugs erklärt der Soziologe Trutz von Trotha Gewalt zum „Inbegriff der sinnlichen Erfahrung“ (1997b: 26): „Die Gewalt ist ein Antun und, auf der Seite des Opfers, ein Erleiden. Antun wie Erleiden haben als primären Gegenstand den Körper des Menschen“ (ebd.: 26), weshalb dieser als letztendlicher Bezugspunkt des violenten Akts im Mittelpunkt der Untersuchungen zu stehen habe (vgl. ebd.: 26-27). Als zentralen Moment der körperlichen Gewalterfahrung nennt von Trotha den Schmerz sowohl in seiner imaginierten wie auch seiner tatsächlich erlebten Form (vgl. ebd.: 28). Eine solch enge Bindung zwischen Körpersein und Schmerzerleben des Opfers wird auch von Ansätzen aus der Philosophie bestätigt, so nennt Bernhard Waldenfels in seinen Überlegungen zum Selbstbezug des Leibes ebenfalls den Schmerz als einen Weg, um sich selbst (als Leib) zu empfinden (vgl. Waldenfels 2000b: 43). 76 Auch Pascal Delhom hebt explizit die schmerzhafte Erfahrung der Körperlichkeit im Gewaltakt hervor: Die […] physische oder körperliche Verletzung […] ist die traumatische Aktualisierung und Einschreibung der eigenen Verletzbarkeit im Körper selbst. Durch sie ist die Verletzbarkeit keine bloße Möglichkeit für den Leib, sondern sie prägt den Leib unmittelbar und bestimmt seine Möglichkeiten mit. (2000: 284) Seine Reflexionen zur zentralen Rolle des Schmerzerlebens ergänzt von Trotha durch den Hinweis auf den Verlust der Instrumentalität des Körpers im Gewalterleben, was den Menschen in einem „Prozeß der Verleiblichung“ (Trotha 1997b: 29) auf seinen Körper reduziere (vgl. ebd.: 28-29). In Anlehnung an Helmuth Plessner (1981) spricht er gar von einer „Verpflanzlichung“ (ebd.: 29) des Subjekts. Einen ähnlichen Gedankengang verfolgt David Le Breton, wenn er schlussfolgert, dass Gewalt die „vom Menschen gelebte Einheit“ (2003: 21) geradezu zerstöre. Von Trotha spielt mit diesen Begrifflichkeiten darauf an, dass der Schmerz den Menschen nicht nur gleich einem Tier ‚zentrisch‘ werden lasse, sondern zu einer ‚zentrumslosen‘ Pflanze mache (vgl. Trotha 1997b: 76 Einige Theoretiker plädieren für eine konsequente begriffliche Unterscheidung zwischen ‚Leib‘ und ‚Körper‘ (vgl. z. B. Gugutzer 2006; Gugutzer 2004; Plessner 1981; Waldenfels 2000b). Die Begriffe ‚Leib‘ bzw. ‚Leiblichkeit‘ referieren in diesen Ansätzen auf das ‚Körpersein‘ des Menschen, d. h. auf die Tatsache, dass dieser (spürender) Körper sei (vgl. Gugutzer 2004: 150). Demgegenüber bezieht sich der Begriff ‚Körper‘auf das ‚Körperhaben‘, welches die Möglichkeit zur Distanznahme von sich selbst und zur Selbstreflexion impliziere, ebenso wie die Option, den eigenen Körper als Instrument zu benutzen (vgl. ebd.: 30, 146-155). Auch wenn eine derartige Differenzierung für gewisse Forschungskontexte signifikant sein kann, ist sie für den vorliegenden nicht weiter von Belang. In der Gewaltforschung wird selten unterschieden (vgl. z. B. Sofsky 2005: 31), i. d. R. ist von Gewalt als Erfahrung der eigenen Körperlichkeit die Rede und Leib und Körper werden als Begriffe synonym verwendet. <?page no="41"?> 29 28-29). 77 In diesem Prozess erfahre sich das Subjekt als von der Außenwelt bestimmter Körper, da ihm im Moment des Gewalterlebens die Kontrolle über ebendiesen entzogen und es auf das eigene Körpersein zurückgeworfen werde. Vermag es der Mensch Plessner zufolge zunächst trotz der Bindung an den eigenen Körper grundsätzlich, „zwischen sich und seine Erlebnisse eine Kluft zu setzen“ (1981: 363), so spricht von Trotha ihm diese Fähigkeit im Moment des Gewalterlebens ab, da dieses nicht distanziert, sondern als sinnliche Erfahrung immer auch an den Körper gebunden stattfinde. 78 Da der Mensch jedoch nicht nur Körper ist, sondern sich auch seines Körperhabens bewusst ist, sei die Rede von der ‚Verpflanzlichung‘ im Gewaltakt zwiespältig, wie von Trotha feststellt, wenn er einwendet, dass es sich doch immer noch um „gewußte ‚Verpflanzlichung‘“ (1997b: 29) handeln müsse, das heißt, dass das Opfer das Zurückgeworfensein auf die eigene Körperlichkeit sehr wohl zu erkennen vermöge. Gewalt als Ursache von Schmerz und als Erlebnis, über das der Mensch die körperliche Form seiner Existenz nachhaltig wahrnimmt, konfrontiert das Subjekt dementsprechend mit der „unüberwindliche[n] und unerträgliche[n] Dualität“ (Le Breton 2003: 22) des Gefangenseins in der eigenen Körperlichkeit und des Kontrollverlusts über den ‚Körper im Schmerz‘. Sie „hält ihn in einem sich widersetzenden Körper gefangen und nötigt ihn zu einem Leiden, dessen Gefäß er selbst ist“ (ebd.: 22-23), sodass Schmerz mit Le Breton gesprochen als „absolute[.] Fremdheit“ (ebd.: 22) erfahren wird, die das Subjekt doch zugleich im tiefsten Inneren trifft (vgl. ebd.: 22-23). 79 Darüber hinaus legt die soziologische Forschung dar, dass die Erfahrung körperlichen Schmerzes im Gewaltakt zugleich mit einer radikalen Vereinsamung des Opfers einhergehe, da sich dessen Erleben jeglicher Nachfühlbarkeit versperre (vgl. Trotha 1997b: 29): 77 Plessner, auf den sich von Trotha hier stützt, unterscheidet zwischen Tier und Mensch dahingehend, dass das Tier zwar „aus seiner Mitte heraus, in seine Mitte hinein [lebt] […]“ (Plessner 1981: 360), es sich jedoch nicht selbst als Mitte erlebe. Diese volle Reflexivität sei erst dem menschlichen Wesen möglich, dem die sogenannte ‚exzentrische Positionalität‘ vorbehalten bleibe. Der Mensch sei so zwar wie das Tier in seinem Fühlen an das ‚Hier-Jetzt‘ gebunden, aber er könne „sich von sich […] distanzieren […]“ (ebd.: 363), er „lebt und erlebt nicht nur, sondern er erlebt sein Erleben“ (ebd.: 364) und sei somit „das Subjekt seines Erlebens“ (ebd.: 365). Die Pflanze wiederum könne hingegen keine Zentren ausbilden und zeichne sich durch eine offene Form aus, „welche den Organismus in allen seinen Lebensäußerungen unmittelbar seiner Umgebung eingliedert und ihn zum unselbständigen Abschnitt des ihm entsprechenden Lebenskreises macht“ (ebd.: 284). 78 Von Trotha relativiert diese Aussagen im Falle der Erfahrung extremer Gewalt, da er davon ausgeht, dass diese zu einer radikalen Distanznahme gegenüber dem eigenen Körper führen könne (vgl. Trotha 1997b: 29). 79 Scarry geht entsprechend im Falle des Schmerz erlebenden Opfers von einer Auflösung von Welt (‚unmaking of the world‘) aus (vgl. Scarry 1985: 23; ferner Kopf 2005: 28). Analog beschreibt auch Laub die Wirkung von Trauma als „alle Grenzen von Raum und Zeit sowie von Selbst und Subjektivität durch[brechend] und zersetz[end]“ (2000b: 69). Zur Relation von Gewalt und Trauma vgl. Kap. 1.1.2. <?page no="42"?> 30 Der Schmerz […] widersetzt sich der Kommunikation. Die jäh erstarrte Grimasse, das Aufbäumen des Körpers, der Schrei, diese Gebärden stellen den Schmerz nicht dar, sie sind selbst der Schmerz. Der Schrei sagt nichts, er ist nicht beredt. Im Schrei fährt die Stimme aus dem Leib heraus, der Kopf ist in den Nacken zurückgeworfen, damit sie ohne Umweg aus dem Inneren heraus kann. Aber diese Gebärde ist keine Geste, kein Zeichen, sie ist Teil des schmerzenden Leibs. Im Gegensatz zu anderen inneren Zuständen fehlt dem Schmerz die Intentionalität. Er ist reines Empfinden. Er ist auf nichts gerichtet. Wahrnehmung ist stets Wahrnehmung von etwas, Hunger ist Hunger nach etwas, Furcht ist Furcht vor etwas. Der Schmerz aber hat kein Objekt. Er ist nur er selbst. […] [S]o hält der Schmerz das Opfer in sich gefangen und stürzt es in Verlassenheit. (Sofsky 2005: 79) 80 Das Zusammenspiel zwischen den beiden erläuterten Faktoren ist in diesem Zitat klar zu erkennen: Zum einen ist das Gewaltopfer durch das Schmerzerleben auf seine eigene Körperlichkeit zurückgeworfen. Zum anderen trennt dieses Reduziertsein auf den eigenen Körper das (er)leidende Individuum radikal vom Anderen, denn der empfundene Schmerz, so Le Breton, „[steckt] in den Tiefen des Körpers […] und [ist] dem Blick nicht zugänglich […]“ (2003: 43). Dies macht die Gewalterfahrung nicht-mitteilbar, sodass sie sich in ihrer hieraus für den Außenstehenden resultierenden Abstraktheit der Nachempfindbarkeit entzieht (vgl. Trotha 1997b: 30; Delhom 2000: 286). Elaine Scarry bezeichnet den Schmerz des Opfers entsprechend als noch nicht an die Oberfläche gedrungene „invisible geography“ (1985: 3), „as at once that which cannot be denied and that which cannot be confirmed“ (ebd.: 4), was den beobachtenden Anderen permanent zwischen Gewissheit und Zweifel schwanken lässt. 81 Zumal dieser, auch wenn er um den gefühlten Schmerz zwar nicht wissen kann, aufgrund der von allen Menschen geteilten Körperlichkeit in der Lage sein sollte, das Leid des Gewaltopfers zumindest zu erahnen. Reemtsma bringt dies auf den Punkt, wenn er Folgendes aufwirft: „Was Glück für einen anderen bedeutet, weiß ich nicht, nicht einmal, was Leid ihm ist, aber ich weiß, was es bedeutet, wenn er schreit“ (2009: 212). War bislang vorrangig von Gewalt als tatsächlicher physischer Verletzung die Rede (vgl. Imbusch 2002: 38), so beschränken sich die hier angestellten Überlegungen nicht auf diesen speziellen Fall. Der Soziologe Peter Imbusch leitet her, dass „das Beunruhigende der Gewalt“ (2005: 22) und damit „ihre Mächtigkeit […] ganz elementar aus der Verletzbarkeit 80 Vgl. auch Scarry: „[P]hysical pain - unlike any other state of consciousness - has no referential content. It is not of or for anything. It is precisely because it takes no object that it, more than any other phenomenon, resists objectification in language“ (1985: 5); ebenso Delhom 2000: 286; Scarry 1985: 161. 81 Vgl. in diesem Kontext Kap. 1.1.2 zur grundlegenden Annahme der Traumaforschung, dass das Trauma zwar da sei, aber dennoch vom Subjekt nicht bewusst erfasst werden könne. <?page no="43"?> 31 des menschlichen Körpers [resultiert]“ (ebd.: 22). 82 Die von ihm gewählte Formulierung erweist sich als äußerst aufschlussreich, spricht er doch nicht von der Verletzung, sondern allein von der Verletzbarkeit. Das Primat der Körperbezogenheit des Gewaltphänomens, auf welches sich die bisherigen Ausführungen beziehen, muss sich mithin nicht allein in der bereits realisierten „absichtsvolle[n] […] physische[n] Schädigung“ (Nunner- Winkler 2004: 27) des anderen Körpers erschöpfen, was Kritiker eines solchen Ansatzes vielfach anführen (vgl. z. B. Riel 2005: 30-31). 83 Infolgedessen definiert Reemtsma Gewalt zwar als „zunächst physische Gewalt, de[n] Übergriff auf den Körper eines anderen ohne dessen Zustimmung“ (Reemtsma 2009: 104), relativiert dies aber sogleich: ‚Zunächst‘ heißt, dass sich auch unsere Vorstellung von nichtphysischer Gewalt an physischer orientiert […]. Auch für psychische Gewalt ist die physische die Bezugsgröße, an ihr orientieren sich die Vergleichsmaßstäbe, aus ihr gewinnen die Metaphern ihre Überzeugungsmacht. […]. Wenn wir unsere Seele über ihr Leid sprechen lassen wollen, geben wir ihr einen Körper, über dessen Malträtiertsein sie klagen kann. (ebd.: 104) Das Zitat lässt erkennen, dass die Annahme der Körperbezogenheit von Gewalt eben gerade nicht mit einer Einschränkung der Betrachtung auf physische Gewalt und einer tatsächlichen Verletzung des Körpers einhergehen muss. Die Angst vor dem Ausgeliefertsein an den Anderen und die im eigenen Körpersein angelegte physische Verletzbarkeit setzen Reemtsma zufolge auch den psychischen Gewaltakt der Drohung zum Körper in Relation (vgl. Reemtsma 1998a: 128). Der Gewaltforscher denkt dadurch die Körperlichkeit violenter Erfahrung für Bereiche weiter, in denen Gewalt möglicherweise nur drohend im Raum steht, ohne zwingend ‚zuzuschlagen‘. Hieraus resultierend leitet Reemtsma her, dass die reine Vorstellung von Gewalt, der auch seine Vorgänger schon einen wichtigen Platz in ihren Überlegungen eingeräumt haben, 84 quasi in die gleiche Kerbe schlage wie das physische Gewalterleben selbst: „Das Wesen der Gewaltandrohung ist die 82 Vgl. Popitz 1992: 48, 50; Trotha 1997b: 18 zur Verletzungs-Offenheit des Menschen und Gewalt als allgegenwärtiger Handlungsoption. 83 Zur Kritik der Beschränkung des Gewaltbegriffs allein auf physische Gewalt bei den sogenannten ‚Innovateuren‘ der soziologischen Gewaltforschung vgl. z. B. Riel 2005: 3, 12; Imbusch 2004: 132. Die ‚Innovateure‘ vertreten eine Richtung der soziologischen Gewaltforschung, die zu einem körperorientierten Gewaltbegriff zurückkehren und ‚genuine Gewaltsoziologie‘ betreiben möchte. Mit dieser Ausrichtung grenzen sie sich von den sogenannten ‚Mainstreamern‘ ab, die sich einer Ursachenforschung der Gewalt verschrieben haben (vgl. Siegel 2010: 11; Trotha 2000: 26). Für eine Gegenüberstellung der beiden Richtungen vgl. z. B. Hüttermann 2004; Imbusch 2004, 2000; Nedelmann 1997; Riel 2005. 84 Vgl. Popitz 1992: 51-52, 79 (physische Schädigung als eine Variante der Androhung von Sanktionen im Kontext der instrumentellen Macht); Trotha 1997b: 28 (‚Vernichtung‘ des Opfers durch Schreckensvisionen vor der eigentlichen Tortur). <?page no="44"?> 32 Drohung mit der Reduktion auf den Körper, indem sie das Mögliche schon antizipiert“ (Reemtsma 2009: 126), sodass „der Geist [erfährt], dass er selbst Körper ist […]“ (ebd.: 127). 85 Delhom schließt sich dieser Sichtweise an und betrachtet in der Konsequenz Gewalt als imstande, das Opfer „mit der Unmittelbarkeit seines künftigen Schmerzes zu konfrontieren“ (2000: 285). Drohend im Raum stehender und tatsächlich erlittener Schmerz sind zwar keineswegs gleichzusetzen, doch beinhalte, so Delhom, auch bereits die Androhung „die Elemente seiner Unentrinnbarkeit und der entsprechenden Zerstörung jeder anderen intentionalen Beziehung zur Welt, der Reduzierung des bedrohten Menschen auf seinen verletzbaren Leib“ (ebd.: 285). Die Feststellung, dass nicht nur die tatsächliche physische Verletzung, sondern auch ihre imaginative Antizipation vom Subjekt als verstörende Gewalterfahrung wahrgenommen werden kann, ist von weitreichender Bedeutung für den vorliegenden Kontext. Geht man davon aus, dass sich - wie im nächsten Kapitel hergeleitet wird - Gewalt als für das Opfer traumatisch auswirken kann, bildet die hier geführte Argumentation eine theoretische Grundlage, die es erlaubt, auch die traumatischen Auswirkungen potenziell bevorstehender Gewalt auf mögliche Beobachter in die Überlegungen einzubeziehen. 86 Reemtsma geht grundsätzlich davon aus, dass die (Drohung mit) Gewalt immer auch das ihr innewohnende ‚autotelische‘ Moment der eigenen Destruktivität kommuniziere, 87 da sie ihre Wirkung über „das schockartige Innewerden der Zerstörbarkeit des eigenen Körpers“ (Reemtsma 2009: 476) erziele. Diese Erfahrung beschränkt sich seiner Argumentation gemäß jedoch nicht nur auf das tatsächliche Opfer, sondern kann auch auf den bezeugenden Dritten übertragen werden (vgl. ebd.: 476- 78). Dieser müsse, so Reemtsma, indes nicht einmal Zeuge einer konkreten Gewalttat geworden sein; es genüge vielmehr, dass er um die Gewalt wisse (vgl. ebd.: 470-72). Übertragen auf den haitianischen Kontext der Post- Duvalier-Ära bedeutet dies, dass das kollektive Trauma der ausufernden 85 In der Drohung, so Reemtsma, entwerfe sich der Bedrohte auf eine Zukunft der „antizipierten Gewalt“ (2009: 129) und werde in der eigenen Vorstellung zu demjenigen, „dem bereits Gewalt angetan wird und […] dem Gewalt angetan worden ist“ (ebd.: 129). 86 Zu Gewalt als triadischem Akt der Kommunikation zwischen Täter, Opfer und beobachtendem Dritten vgl. z. B. Reemtsma 2009: 467. 87 Unter ‚autotelischer Gewalt‘ versteht Reemtsma „die Zerstörung der Integrität des Körpers […]. Sie ist nicht die Verletzung oder Zerstörung eines Körpers, weil es sich im Vollzug einer anderen Form der Gewalt ‚so ergibt‘. […]. Autotelische Gewalt zerstört den Körper nicht, weil es dazu kommt, sondern um ihn zu zerstören“ (2009: 116-17). Mit dem autotelischen Moment der Gewalttat wiederum beschreibt er die Tatsache, dass jede Gewaltform mit ihrer Zerstörungsmacht an das Opfer herantrete und dem Täter in seiner Machtposition eben immer auch die Möglichkeit offenstehe, autotelische Gewalt auszuüben, die allein auf die Zerstörung des Anderen abziele (vgl. ebd.: 132-33), ohne hierbei wie im Falle ‚lozierender‘ oder ‚raptiver Gewalt‘ einen weiteren Zweck (das ‚Aus-dem-Weg-Räumen‘ respektive das ‚Benutzen‘ des anderen Körpers; vgl. ebd.: 106) zu verfolgen. <?page no="45"?> 33 Gewalt in der Realität des Landes nicht ausschließlich diejenigen betrifft, die ihr tatsächlich zum Opfer gefallen sind. Vielmehr können auch jene die Situation als traumatisch empfinden, für die Gewalt in der eigenen Lebenswirklichkeit drohend im Raum steht. Bevor jedoch näher auf das Konzept der kollektiven Traumatisierung eingegangen wird, gilt es zunächst zu klären, inwieweit sich die physische Verletzung des Körpers in einer symbolischen ‚Wunde der Psyche‘ spiegelt. Das Gewalterleben des Opfers ist zwar unzweifelhaft an dessen Körpersein gekoppelt, doch lässt sich die Existenz des Subjekts auch nicht losgelöst von der Sphäre des Geistes betrachten. Im folgenden Kapitel gehe ich deshalb gezielt auf diese Relation ein und reichere die bisherigen Überlegungen mit den Erkenntnissen der Traumatheorie an. 1.1.2 Das traumatisierte Subjekt und die ‚Wunde der Psyche‘ Indem die menschliche Verletzbarkeit auch jenseits der Ebene des Physischen weitergedacht wird, eröffnet sich eine zusätzliche Dimension der Gewalt. Die Rede ist hier vom Trauma, welches das Opfer erfährt und das als Erschütterung des Zeit-, Selbst- und Weltverständnisses (vgl. Caruth 1996: 4; Fricke 2004: 14) auch als ‚Verletzung‘ der Psyche betrachtet werden kann. Beide Phänomene gehen mit dem Erleben eines Bruchs „jegliche[r] Erfahrungskontinuität“ (Assmann 1999b: 115) und einer prägenden Ohnmachtserfahrung einher, „die Individuen einsam macht und die in sehr schmerzhafter Weise als trennend, oft unerzählbar erlebt wird“ (Kühner 2008: 24). Die Zerstörung der Unversehrtheit des Subjekts, die im Moment des Schmerzerlebens als punktueller Gewalterfahrung begonnen hat, 88 wirkt so in Form der Traumatisierung dauerhaft fort. Wie die Psychologin Ronnie Janoff-Bulman betont, ist der Mensch „both biological and symbolic creature[.]“ (1992: 59). Das heißt nicht nur materieller Körper, sondern auch Geist, der sich selbst jenseits der Körperlichkeit entwirft, sodass eine existenzielle Bedrohung, wie sie im Gewaltakt vorliegt, als Anerkennung der eigenen Fragilität immer auch die psychische Unversehrtheit erschüttert (vgl. ebd.: 59-60). 89 Eine Verknüpfung 88 Respektive im Falle der imaginierten Antizipation der Gewalterfahrung aus dem Moment der Vorstellung möglichen Schmerzes. 89 Vgl. Janoff-Bulman im Detail: „The threat to symbolic survival should not be trivialized, in the sense that death would obviously put an end to psychological existence as well. Rather, the threat should be understood in terms of the massive disintegration of the individual’s symbolic world that frequently follows the survivor’s confrontation with mortality. It is the recognition of our fragility as physical creatures that threatens our psychological integrity. […]. Clearly the assumptions we hold about ourselves and our world provide us with illusions about our own invulnerability. […] [W]e approach the world with optimism and trust; we believe in our safety and security; we fail to truly appreciate the reality of our fragility as physical creatures. […]. To experience a traumatic victimization is to powerfully, experientially, confront mortality, danger, and our ‚creatureliness.‘ The result is terror. […]. <?page no="46"?> 34 der Konzepte Gewalt und Trauma ermöglicht es, dieser Feststellung Rechnung zu tragen und den Angriff der Gewalt auf die Existenz des Subjekts in der Konsequenz auch jenseits der Ebene des rein Körperlichen weiterzudenken. 90 Dies ist essenziell, denn wie Kopf vor Augen führt, zeigt sich gerade „im Trauma […] die zerstörende Wirkung von Gewalt“ (2005: 27). Auch wenn nicht jedem Trauma eine Gewalttat zugrunde liegen und wiederum die Erfahrung eines gewaltsamen Übergriffs nicht zwingend ein Trauma verursachen muss, 91 so ist der Gewalt das Potenzial zur Traumatisierung doch gleichwohl inhärent (vgl. z. B. Eggers 2001: 602; Platt 2000: 260; Waldenfels 2000a: 12), denn als Phänomen, das die Unversehrtheit des Subjekts angreift, übersteigt sie vielfach die „gewohnte[n] Wahrnehmungs- und Verarbeitungsformen“ (Reemtsma 1993a: 9) des Einzelnen (vgl. Fricke 2004: 15). An dieser Stelle gilt es abermals explizit zu unterstreichen, dass sich nicht nur die tatsächliche Gewalterfahrung traumatisch auf das Individuum auswirken kann, sondern gerade auch der am Ende des vorherigen Kapitels beschriebene Fall, dass das Subjekt Gewalt in der eigenen Lebenswirklichkeit bezeugt und von der Vorstellung, in der Zukunft möglicherweise Gewalthandlungen am eigenen Körper zu erleben, zutiefst erschüttert wird. 92 In diesem Sinne kann auch Cathy Caruths Hinweis verstanden werden, dass sich gerade das eigene Überleben als traumatische Krise erweisen kann (vgl. Caruth 1996: 60, 64; Caruth 1995: 9). Da in der Forschung - insbesondere in den Geistes- und Kulturwissenschaften - allerdings eine Tendenz besteht, den Begriff des Traumas geradezu inflationär zu verwenden, und er als „universelle[s] Deutungsmuster gegenwärtiger Kultur“ (Bronfen et al. 1999b: viii) immer mehr seine Konturen zu verlieren droht (vgl. Kansteiner 2011: 109-10), ist er im Folgenden gezielt zu definieren. 93 Als Fachterminus aus der Medizin, der seinen ety- This terror is the lot of trauma survivors, who have been forced to ‚see the world as it really is,‘ or can be“ (1992: 59-61). 90 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Galtung 1969: 169; Nedelmann 1997: 61, 77; Wieviorka 2006: 11. 91 Vgl. z. B. G. Fischers 2000: 13; Freud 1975b; Janoff-Bulman 1992. 92 Vgl. hierzu die - nicht unumstrittene (vgl. Kansteiner 2011: 121-22) - Definition von ‚Posttraumatic Stress Disorder‘ der American Psychiatric Association im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (2000) (zit. in: Kansteiner 2011: 121), die nicht nur das Erleben von Beschädigung/ Bedrohung der eigenen Unversehrtheit anführt, sondern auch das Beobachten der traumatischen Erfahrung einer anderen Person umfasst. 93 Vgl. die Kritik in Bronfen et al. 1999b: viii; Eggers 2001: 603; Kühner 2003: 11; Reemtsma 1993b: 41; Strasser 2000: 221. Eine Einführung in die psychologische Traumatheorie (auch aus historischer Sicht) bieten Bohleber 2000 und M. Hirsch 2011. Ihren Ausgangspunkt nahm die gesteigerte Rezeption psychologischer Traumaforschung (u. a. im Bereich der Kultur- und Literaturwissenschaften) mit der zunehmenden Auseinandersetzung mit der Shoah (vgl. E. Kaplan 2005: 1; Weigel 1999: 51). Die Erkenntnisse dieses Forschungsgebiets fanden in der Folge vermehrt Anwendung im Kontext von Kriegen und Genoziden (z. B. Vietnam, Rwanda) sowie anderen einschneidenden Erlebnissen (z. B. der 11. September 2001) (u. a. Meyer 2008; Tal 1996; S. Kaplan <?page no="47"?> 35 mologischen Ursprung im griechischen Wort für ‚Wunde‘ hat (vgl. Eggers 2001: 602), bezieht sich der Begriff ‚Trauma‘ zunächst auf eine körperliche Verletzung, die „von außen durch Kraft verursacht wird“ (Kühner 2008: 34). 94 Als Konzept der Psychologie findet das Trauma als ‚Wunde der Psyche‘ Kühner zufolge somit schon eine metaphorische Verwendung (vgl. ebd.: 34). Charakteristisch für das Trauma erweist sich nach Auffassung der Psychologie insbesondere, dass das traumatisierte Subjekt weder in der Lage ist, das traumatische Ereignis zu vergessen, noch darüber „erinnernd zu ‚verfügen‘“ (Weilnböck 2007: 8). Die Traumatisierung geht hierbei aus „einer Diskrepanz zwischen bedrohlichem Ereignis einerseits und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten andererseits“ (G. Fischer 2000: 12) hervor (vgl. Kühner 2008: 37). Die traumatische ‚Erregung‘ durchbricht nach der Auffassung des Psychoanalytikers Sigmund Freud den „Reizschutz“ (1975b: 239) des Bewusstseins (vgl. ebd.: 239), was eine nachhaltige Erschütterung der Psyche des Individuums nach sich zieht und dazu führt, dass der Betroffene im Moment des Erlebens nicht in der Lage ist, das traumatische Ereignis „hinreichend“ (Eggers 2001: 602) zu verarbeiten, und es vom Bewusstsein nicht gänzlich erfasst werden kann (vgl. Caruth 1996: 2, 91; Ehlert-Balzer 2000: 727; Rosenberg 2010: 44): The idea is that, owing to the emotions of terror and surprise caused by certain events, the mind is split or dissociated: it is unable to register the wound to the psyche because the ordinary mechanisms of awareness and cognition are destroyed. As a result, the victim is unable to recollect and integrate the hurtful experience in normal consciousness; instead, she is haunted or possessed by intrusive traumatic memories. The experience of the trauma, fixed or frozen in time, refuses to be represented as past, but is perpetually reexperienced in a painful, dissociated, traumatic present. (Leys 2000: 2) 95 Die Philologin Aleida Assmann erfasst die Tatsache, dass das traumatische Ereignis „zwar registriert“ (Assmann 2007: 94) werde, aber „in dem Augenblick, in dem es erlebt worden ist, nicht vollständig in einen Bedeutungszusammenhang integriert […]“ (Laplanche/ Pontalis 1972: 314) und ihm kein Sinn zugeschrieben werden könne (vgl. Caruth 1996: 59), sehr an- 2010, 2005; Kühner 2003). Für eine Kritik kulturwissenschaftlicher Traumatheorien aus psychotherapeutischer Sicht vgl. Weilnböck 2007. Für eine Aufarbeitung v. a. aus philosophischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive vgl. Kansteiner 2011. 94 Hervorgehoben wird eine solche konzeptuelle Nähe beispielsweise auch durch post- und dekoloniale Denkansätze, die im Falle des (ehemals) kolonisierten Subjekts und seiner traumatischen Erfahrung der Versklavung bzw. kolonialen Unterdrückung explizit von einer ‚kolonialen Wunde‘ sprechen (vgl. z. B. Kilomba 2008: 95; Lugones 2010: 750; Mignolo 2009: 3; Lastra/ Mignolo 2008: 291). 95 In der Psychologie ist anstelle von ‚Trauma‘ auch der Begriff der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) gebräuchlich, wie ihn auch Leys (2002: 2) verwendet. Vgl. auch Kansteiner 2011: 121. <?page no="48"?> 36 schaulich mit der Metapher der ‚Einkapselung‘ (vgl. Assmann 2007: 94). Die traumatische ‚Erinnerung‘ entzieht sich dieser Argumentation zufolge der bewussten ‚Kontrolle‘ durch das Subjekt (vgl. Caruth 1996: 2), sie kann weder gezielt abgerufen (und somit zunächst auch nicht kohärent verbalisiert) noch unterdrückt werden und sucht das Individuum in Form „fragmentierte[r] Sinneseindrücke[.]“ (G. Fischer 2000: 14) und „symptomatische[r] Leiden“ (Eggers 2001: 602) heim. 96 Die Psychologin Angela Kühner sieht in den „bleibenden Nachwirkungen“ (2008: 35) ein entscheidendes Spezifikum des psychischen Traumas, das weniger als „Ergebnis“ (ebd.: 25) denn als „Prozess“ (ebd.: 25) zu betrachten ist. Dies hat zur Folge, dass das Trauma „nicht nur (linearkausal) auf das gegenwärtige Erleben, sondern das gegenwärtige Leben […] auf die traumatische Erinnerung zurück[wirkt], die Gegenwart […] die Vergangenheit [verändert]“ (Kühner 2003: 29; vgl. ebenso M. Hirsch 2011: 10). Mit der Betonung dieser Nachträglichkeit und des Prozesscharakters von Trauma spielt Kühner nicht lediglich auf die Möglichkeit einer umdeutenden Rekonstruktion der Vergangenheit aus der Gegenwart heraus an, wie sie gemeinhin im Kontext der Herausbildung kollektiver Erinnerung angenommen wird (vgl. z. B. Erll 2008: 161). Stattdessen liegt ein weitaus vielschichtigerer Sachverhalt vor, da das erlebte Trauma im Moment des Erlebens noch außerhalb des bewussten Begreifens lag (vgl. Caruth 1996: 2, 91; Caruth 1995: 8; Laplanche/ Pontalis 1972: 314), sodass im Falle einer nachträglichen Sinnzuschreibung des vergangenen Traumas weniger von einer Umdeutung denn einer Deutung gesprochen werden kann. Im Kontext meiner Untersuchung erlangt insbesondere das Konzept des kumulativen oder sequenziellen Traumas Gewicht. Im Gegensatz zur singulären oder akuten Traumatisierung entfaltet jenes seine Wirkung erst durch ein kontinuierliches Erleben bzw. „eine Abfolge von Ereignissen“ (Kühner 2003: 26) und beschreibt dementsprechend einen weitaus komplexeren Prozess (vgl. M. Hirsch 2011: 42-43; Kühner 2003: 21). Gerade die post- und dekoloniale Forschung fordert einen solchen ‚erweiterten‘ Traumabegriff ein (vgl. Craps/ Buelens 2008: 2-3; Craps 2013), um eine graduelle traumatische Erschütterung der Psyche, wie sie, so Craps und Buelens, im (post)kolonialen Kontext häufig anzutreffen sei, erklären zu können. In diesem Sinne ermöglicht jener es auch, die traumatische Dimension alltäglicher Formen von Gewalt und Unterdrückung ebenso wie die „traumatogenic effects of oppression that are not necessarily overtly violent or threatening to bodily well-being at the given moment but that do violence to the soul and spirit“ (L. Brown 1995: 107) zu beschreiben (vgl. 96 Zu nennen sind u. a. Albträume, Flashbacks, schematisches Handeln, Halluzinationen, Albträume oder andere intrusive und repetitive Phänomene (vgl. Eggers 2001: 602; Fricke 2004: 14-16; Kolk/ Streeck-Fischer 2002: 1022-23; Rosenberg 2010: 44). <?page no="49"?> 37 Craps 2010: 54). 97 Eine solche Perspektive erlaubt nicht allein nichtphysische Formen der Schädigung des Subjekts (beispielsweise kontinuierliche Diskriminierung) mitzudenken, sondern trägt auch dem haitianischen Kontext Rechnung, in dem die Gewalterfahrung nicht mehr unbedingt eine Ausnahme darstellt, die „außerhalb menschlicher Erfahrung lieg[t] […]“ (G. Fischer 2005: 107), sondern sich längst im Alltag und kollektiven Erfahrungsschatz einer Gemeinschaft eingenistet hat (vgl. Hurbon 2002). Der Forschungsliteratur zufolge besitzt gerade die Erfahrung der Gewalt das Potenzial zur Traumatisierung, da sie „dieses Gefühl, ‚ein Ich zu sein‘ […]“ (Reemtsma 2009: 134), gravierend beeinträchtigt und eine „Negation des Subjekts“ (Wieviorka 2006: 100) zur Folge hat. 98 Umschrieben werden hiermit die Bewusstwerdung der eigenen physischen und/ oder psychischen Verletzbarkeit sowie die Tatsache, dass Gewalt den Glauben an die „Robustheit“ (Reemtsma 2009: 134) des eigenen Ichs beschädigt und seine Identität erschüttert respektive bedroht (vgl. Le Breton 2003: 13, 16; Reemtsma 2009: 134-35; Sofsky 2005: 66; Wieviorka 2006: 15, 100). 99 Somit sollte Gewalt eben nicht allein als Angriff auf die körperliche Unversehrtheit des Subjekts verstanden werden: Der im Erleiden violenter Handlungen empfundene Schmerz repräsentiert für das Subjekt „kein rein körperliches Ereignis [mehr], sondern ein existentielles“ (Le Breton 2003: 47), weshalb Gewalt immer den „Mensch[en] als Ganzes“ (ebd.: 47) betrifft und als Erschütterung seiner psychischen Integrität weiterzudenken ist. Einer solchen Logik verpflichtet betrachtet Assmann Trauma als „Störung, ja Zerstörung von Identität“ (Assmann 2007: 68), was ein „beschädigtes Selbst“ (Assmann 1999a: 258) hervorbringe, dessen „[…] Möglichkeit einer integralen Selbstkonstitution zerschlagen“ (ebd.: 259) worden sei. Während im Normalfall Erinnerungen an vergangene Erlebnisse in das (individuelle oder kollektive) Gedächtnis überführt werden können, versperrt sich das Trauma hingegen einer bewussten, erinnernden Rekonstruktion von Vergangenheit, die identitätsstiftend wirksam werden könnte (vgl. z. B. ebd.: 258; Erll et al. 2003: iii; Jelin 2002: 9-10), denn es hat die „Kontinuität[.] des Lebens“ zunichte gemacht (Reemtsma 1997: 45) und entzieht sich deshalb einer „aktiven Aneignung“ (Reemtsma 2009: 131). Die Folgen für das Individuum sind dramatisch, denn Traumata „zersprengen jegliche Erfahrungskontinuität, welche Bedingung für Handlungsfähigkeit und Identitätsbildung ist“ (Assmann 1999b: 115). Hieraus resultiert eine Nichtfassbarkeit des Erlebten, welche Assmanns Definition 97 Vgl. ebenso Kira 2001: 73, 82. Gerade im vorliegenden Kontext ist ein solches Denken von Trauma, das Anknüpfungspunkte über die rein individualpsychologische Perspektive hinaus erlaubt (vgl. Kap. 1.1.3), von besonderer Bedeutung. 98 Vgl. ferner Reemtsma 1997: 46, 199. Zu Wieviorkas Subjektbegriff vgl. Wieviorka 2006: 182-99. 99 Vgl. auch Janoff-Bulman 1992: 6, 17 zur Erschütterung des Glaubens an eine grundsätzlich ‚wohlwollende Welt‘ und der vermeintlichen eigenen Unverwundbarkeit. <?page no="50"?> 38 in Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik (2007) greifbar auf den Punkt bringt: Das psychische Trauma geht auf lebensbedrohende und die Seele tief verwundende Erfahrungen von extremer Gewalt zurück, deren Wucht den Reizschutz der Wahrnehmung zerschlägt und die aufgrund ihrer fremdartigen und identitätsbedrohenden Qualität psychisch nicht verarbeitet werden können. (2007: 93) Es handelt sich folglich um ein im originären Moment unbegreifliches Geschehen (vgl. Freud 1975b: 222), weshalb das Trauma den Erkenntnissen der Forschung zufolge auch nicht im ursprünglichen Gewaltakt der Vergangenheit festzumachen ist, sondern vielmehr in der Folge den Überlebenden befällt (vgl. Caruth 1996: 3-4, 8; Fricke 2004: 14-16). Die Konsequenz ist ein Spannungsverhältnis zwischen Unmittelbarkeit und Ausdehnung in der Zeit, zwischen Gegenwart und Permanenz. 100 Caruth, die ihre Auffassung des Phänomens in Unclaimed Experience (1996) an Freuds Konzept der ‚traumatischen Neurose‘ aus dem 1920 erschienenen Text Jenseits des Lustprinzips anlehnt (vgl. Freud 1975b; Caruth 1996: 2), stellt eine interessante Analogie zum durch Gewalt versehrten Körper auf und beschreibt Trauma als eine ‚Wunde der Psyche‘. Sie schränkt diesen Vergleich jedoch zugleich ein und betont, dass die versehrte Psyche im Gegensatz zum verletzten Körper nicht einfach heilen könne (vgl. ebd.: 3). Die Diagnose des ‚Nicht-Heilen-Könnens‘ sollte in diesem Kontext jedoch nicht allzu apodiktisch verstanden werden, 101 sondern ist auf die Tatsache zu beziehen, dass das Trauma unterbewusst fortbesteht, „‚latent‘ bleib[t]“ (Kühner 2003: 28): 102 „The experience of trauma, the fact of latency, would thus seem to consist, not in the forgetting of a reality that can hence never be fully known, but in an inherent latency within the experience itself“ (Caruth 1996: 17), was unterstreicht, dass das 100 Interessanterweise wird in der Forschung davon ausgegangen, dass ein solches zeitliches Spannungsverhältnis auch das Schmerzerleben im Gewaltakt auszeichne (vgl. z. B. Delhom 2000: 285; Le Breton 2003: 22; Sofsky 2005: 74; Sofsky 1997). Dieses führe ebenfalls zu einem „Bruch aller Zeitroutinen“ (Trotha 1997b: 30), da Gewalt als „Jetztzeit ohne Horizont“ (Sofsky 1997: 120) nicht nur „[überwältigende] Gegenwärtigkeit“ (Trotha 1997b: 30) impliziere, sondern auch unerträgliche Dauer im Sinne eines antizipierten potenziellen Fortwährens des Schmerzes (vgl. Delhom 2000: 285; Sofsky 2005: 76). 101 Vgl. die Kritik von Weilnböck (2007: 51-52) an kulturwissenschaftlichen Traumatheorien, die eine Unmöglichkeit der Heilung postulierten, was jedoch der empirischtherapeutischen Erfahrung widerspreche. 102 Damit einher geht das Phänomen der ‚Nachträglichkeit‘ im Sinne einer nachträglichen Bewusstwerdung der Tragweite des Erlebten (vgl. Kühner 2008: 44-45). In der potenziellen transgenerationellen Form des Traumas erfährt die „Zeitstruktur der Nachträglichkeit“ (Weigel 1999: 65) gemäß Weigel eine zusätzliche Ausweitung, da das Trauma in seiner Dauer, so folgert sie, die „Zeitmarke eines Lebens“ (ebd.: 65-66) übersteige. Für eine (z. T. kritische) Diskussion des Konzepts des transgenerationellen Traumas vgl. z. B. Bar-On 1997; Kansteiner 2011: 123-26; Kühner 2008: 60-65. <?page no="51"?> 39 Subjekt trotz seiner vermeintlichen (äußerlichen) Unversehrtheit (vgl. ebd.: 17) die unsichtbaren Spuren des Traumas weiterhin in die Psyche eingeschrieben trägt, sodass es mit Caruth und Freud gesprochen über bestimmte Symptome immer wieder an die Oberfläche durchbrechen kann (vgl. Caruth 1996: 3; Freud 1975b: 222-24). Diese körperlichen Symptome, über die sich das unverarbeitete Trauma aktualisiert, stehen Delhom zufolge für ein ‚körperliches Gedächtnis‘, welches der bewussten Erinnerung entgegengesetzt ist (vgl. Delhom 2000: 284) 103 und insofern die vom Bewusstsein abgespaltene permanente Spur der traumatischen Verletzungserfahrung birgt, über die das originäre Ereignis der Vergangenheit in die Gegenwart ‚hineinragt‘ (vgl. Freud 1975b: 223; LaCapra 2001: 143-44). Das körpermetaphorische Bild der Wunde wird auch von dem Historiker Dominick LaCapra bemüht, der hiermit die Langzeitfolgen der Traumatisierung beschreibt: [C]ertain wounds […] cannot simply heal without leaving scars or residues in the present; there may even be a sense in which they have to remain open wounds even if one strives to counteract their tendency to swallow all of existence and incapacitate one as an agent in the present. (2001: 144) Dieses Zitat ist äußerst aufschlussreich, da es zum einen verdeutlicht, was Caruth meint, wenn sie von der sinnbildlichen ‚Unheilbarkeit des Traumas‘ spricht: jene noch ‚offenen Wunden‘, die das Leben des Opfers fortan (mit)bestimmen. 104 Zum anderen zeigt es, dass auch nach einer vermeintlichen ‚Heilung‘ des Körpers Spuren in Form von (psychischen) ‚Narben‘ zurückbleiben können, die gleichzeitig viel perfider sind als physische Narben, sind sie doch äußerlich nicht zwingend sichtbar. Die Betonung der dauerhaften Implikationen traumatischer Erfahrung durch die Metapher der ‚Unheilbarkeit‘ darf jedoch nicht den Blick darauf verstellen, dass ungeachtet dessen der Forschung zufolge aus therapeu- 103 Delhom leitet her, dass „der Augenblick der Verletzung nicht oder zumindest nie vollständig [vergeht]“ (2000: 284), weshalb „der Körper nicht vergessen [kann]“ (ebd.: 284). Assmann spricht deshalb auch von einer „Körperschrift des Traumas“ (1999a: 248). Zum Körpergedächtnis vgl. auch Beise 2007. 104 Vgl. hierzu auch Reemtsmas Beschreibung der Welt des traumatisierten Individuums als Welt der „wiedergewonnenen Normalität […], in der das früher Nicht-fürmöglich-Gehaltene möglich bleibt“ (2009: 433), da es mit dem traumatischen Ereignis bereits unumkehrbar in die Erfahrungswirklichkeit des Opfers eingebrochen sei. Reemtsmas in diesem Kontext geäußerte Überlegungen zur Abstumpfung durch permanentes Gewalterleben und eine hieraus resultierende abgeschwächte Sensitivität, welche er der leichten Traumatisierbarkeit des Subjekts der westlichen Moderne entgegenstellt (vgl. ebd.: 136), möchte ich jedoch infrage stellen. Auch wenn ihm sicherlich dahingehend Recht zu geben ist, dass Gewalt in der westlichen Moderne angesichts des verbreiteten Glaubens an eine mögliche Gewaltfreiheit der eigenen Gesellschaft zunehmend marginalisiert wurde, erscheint mir eine solche Übertragung auf das tatsächliche Gewalt- und Schmerzerleben von Individuen, die Kulturen entstammen, die aus westlicher Perspektive als vermeintlich ‚gewalttätiger‘ wahrgenommen werden (wie eben auch der haitianischen), doch zumindest problematisch. <?page no="52"?> 40 tischer Sicht eine heilsame Aufarbeitung in Form einer aktiven Begegnung mit dem Trauma durchaus möglich ist (vgl. Weilnböck 2007). Diese Überlegungen berühren den Bereich der Repräsentierbarkeit des Traumas durch Sprache, welche nicht nur für die psychologische Traumatherapie, sondern auch eine literaturwissenschaftliche Betrachtung wie die vorliegende von Bedeutung ist, die sich mit der narrativen Darstellung des Phänomens beschäftigt. Assmann beschreibt das Trauma in seiner Persistenz zwar als „Unmöglichkeit der Narration“ (1999a: 264) und bringt in dieser Formel die konsensuelle Auffassung auf den Punkt, dass sich die ‚eingekapselte‘ traumatische Erfahrung zunächst einer sprachlichen Aufarbeitung versperre (vgl. u. a. Assmann 1999a: 260; Caruth 2000: 86; Felman/ Laub 1992: 79). 105 Gleichzeitig insistiert die Forschung jedoch darauf, dass nur eine Verarbeitung des Traumas über Sprache dem Erlebten den Status erfahrener Wirklichkeit verleihen könne, indem „unbewusste[.] Anteile […] in bewusste Formen von Erinnerung“ (Assmann 2007: 94) überführt würden. Dies erst erlaube es, jenes als vergangen anzuerkennen, ihm einen Platz im Gedächtnis zuzuweisen und den erlittenen Schmerz schließlich in das eigene Selbstbild zu integrieren (vgl. u. a. Assmann 1999a: 260; Felman/ Laub 1992: 78; La- Capra 2001: 143; Laub 2000b: 68, 78; Leys 2000: 2). LaCapra bringt dies prägnant auf den Punkt, wenn er resümiert: „Mourning brings the possibility of engaging trauma and achieving a reinvestment in, or recathexis of, life which allows one to begin again“ (2001: 66). Die Forschung geht deshalb davon aus, dass erst ein sprachliches ‚Durcharbeiten‘ - ein Konzept, das Freud inspiriert und LaCapra unter dem Begriff ‚working through‘ für die Traumaforschung weiterentwickelt hat (vgl. Freud 1975a: 124-215; LaCapra 2001: 142-44) - 106 der Erfahrung diese Wirklichkeit werden lasse (vgl. Laub 2000b: 68) und nur ihre Überführung in Narration es ermögliche, einen Heilungsprozess in Gang zu setzen (vgl. 105 Die Nichtdarstellbarkeit von extremen Gewalterfahrungen und Traumatisierung wurde insbesondere im Kontext der Shoah ausführlich diskutiert (vgl. Jelin 2002: 79; Kühner 2008: 225-26). Entgegen jenem Topos beschäftigt sich gerade die literarische Traumaforschung immer wieder mit der Rolle von Sprache und Erzählen im Kontext der Aufarbeitung individueller wie kollektiver Traumata bzw. den Möglichkeiten der Literatur, vergessene Geschichten in das kollektive Bewusstsein zurückzuholen (vgl. auch den Forschungsstand in der Einleitung). Zur Diskussion, inwiefern sich Trauma und Gewalt einer Darstellung durch Sprache entziehen, vgl. u. a. Hermann 2000: 45; Le Breton 2003: 39; Scarry 1985: 19. 106 LaCapra betont, dass nur in einem solchen Prozess des ‚working through‘ (im Gegensatz zum ‚acting out‘ als beständigem Wiedererleben der Vergangenheit in Ermangelung einer notwendigen Distanznahme) als Loslösung und Distanzierung des Individuums von der traumatischen Erfahrung und einer bewussten Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft letztlich eine Verarbeitung des Traumas bewirkt werden könne (vgl. LaCapra 2001: 142-44). <?page no="53"?> 41 Weilnböck 2007: 23), 107 der in eine Überwindung des Traumas münden könne. ‚Überwindung‘ sollte hier jedoch nicht fälschlicherweise als eine Tilgung des Traumas aus der eigenen Geschichte verstanden werden. Vielmehr ist damit ein Prozess gemeint, innerhalb dessen dem Trauma in der Erinnerung ein Platz zugewiesen wird, sodass das Individuum fortan in der Lage ist, bewusst zu erinnern. 108 Auch wenn Sprache das Trauma aufgrund der „Diskrepanz zwischen intersubjektiven Worten und subjektiver Erfahrung“ (Assmann 1999a: 260) nur unzureichend repräsentieren könne, so betont Assmann, „bedarf gerade das Trauma der Worte“ (ebd.: 259). Es erfordert explizit seine Repräsentation, selbst wenn diese die Singularität der Erfahrung immer nur ungenügend fassen kann (vgl. Weilnböck 2007: 20). Die Frage der Repräsentation des Traumas spielt gerade auch im Hinblick auf eine kollektive Dimension von Traumata eine Rolle, die es im Folgenden zu erörtern gilt. Diskutiert man Gewalt in der haitianischen Gesellschaft der Post-Duvalier-Ära, genügt es nämlich nicht, ihre traumatischen Auswirkungen auf das einzelne Individuum zu beleuchten. Vielmehr geht es hier um die Erfahrungswirklichkeit einer kulturellen Gemeinschaft, weshalb es im Anschluss zu verhandeln gilt, in welcher Form von einer traumatischen Gewalterfahrung auf kollektiver Ebene gesprochen werden kann. 1.1.3 Kollektives Trauma als ‚Trauma-Erzählung‘ - Traumatheorie an der Schnittstelle zu Kultur- und Literaturwissenschaft Die Tendenz, Trauma nicht mehr nur als individualpsychologisches Phänomen zu betrachten und die Möglichkeit in Augenschein zu nehmen, dass ein Trauma für ein Kollektiv relevant werden kann, ist in der Forschung 107 Laub, der in seinen Untersuchungen den Fokus auf die Rolle des aktiven Zuhörers legt, spricht von einem therapeutischen Prozess, in dem „eine Erzählung geschaffen und die Geschichte rekonstruiert […]“ (2000b: 77) werden, was eine ‚Reexternalisierung‘ des traumatischen Ereignisses bewirke, sodass dieses zunächst mittels Sprache „einer anderen Person übermittelt […]“ (ebd.: 78) werde, „um danach wieder aufgenommen, integriert werden“ (ebd.: 78) zu können. Insbesondere im Kontext kollektiver Traumatisierung gewinnt die ‚Erzählung‘ des Traumas eine besondere Bedeutung, da Basseler zufolge erst hierüber jener Konsens über die kollektive Dimension traumatischer Erfahrung erreicht werden könne, der notwendig sei, um es schließlich in kollektive (und möglicherweise identitätsstiftende) Erinnerung überführen zu können (vgl. Basseler 2008: 69-71; ferner Alexander 2004: 22). Die detaillierte Ausarbeitung dieser Überlegungen ist Gegenstand des folgenden Kapitels. 108 Vgl. auch Janoff-Bulman 1992: 93, 117 sowie insbesondere folgende Textstelle: „Trauma survivors do not simply get over their experience. It is permanently encoded in their assumptive world; the legacy of traumatic life events is some degree of disillusionment. […] [V]ictims recover not when they return to their prior assumptive world but when they reestablish an integrated, comfortable assumptive world that incorporates their traumatic experience“ (ebd.: 171). <?page no="54"?> 42 zunehmend populär geworden, 109 sodass in der heutigen Zeit Trauma häufig „allgemein auf soziale Brüche, physische und psychische Verletzungen, aber eben auch auf historische Kontexte bezogen“ (Platt 2000: 261) wird. Die Literaturwissenschaftler Craps und Buelens betonen die Bedeutung einer solchen Übertragung des Traumabegriffs auf die Ebene des Kollektivs speziell im postkolonialen Kontext, lägen doch gerade in diesem Bereich häufig kollektiv relevante erschütternde Erfahrungen vor (vgl. Craps/ Buelens 2008: 4), weshalb der sozialpolitischen Dimension des Traumas gesondert Raum gegeben werden müsse (vgl. ebd.: 4). 110 Für eine literaturwissenschaftliche Analyse ist ein Blick auf die kollektive Dimension von Traumatisierung darüber hinaus insbesondere dann bedeutsam, wenn ein Text, wie es in der vorliegenden Studie der Fall ist, nicht als autobiografisches Zeugnis eines traumatisierten Individuums, sondern als fiktionale Aufarbeitung von Geschehnissen mit traumatischer Dimension gelesen wird, die für eine Gemeinschaft von Relevanz sind. 111 Hinsichtlich der aktuell inflationären Beschäftigung mit kollektiven Traumata gibt die Psychologin Angela Kühner zu bedenken, dass die „Übertragung der Krankheitsmetapher ‚Trauma‘ auf eine weitere Bedeutungsebene, die des Kollektivs […]“ (2008: 111; vgl. Kap. 1.1.2) nicht unproblematisch sei, da durch den Begriff eine „Erlebniseinheit“ (Keupp 2008: 19) des Kollektivs als abstrakte Entität und prozessuale Analogien zum individuellen Trauma auf kollektiver Ebene suggeriert werden, die zum Teil kritisch zu betrachten sind. 112 In ihrer Studie Trauma und kollektives Gedächtnis (2008) erläutert sie, dass eine kollektive Dimension von Trauma dahingehend bestehen kann, dass „massenhafte, individuelle traumatische Erfahrungen im Laufe der Zeit auch für das kollektive 109 Zur Diskussion dieser Übertragung und der teils inflationären Verwendung des Begriffs des kollektiven Traumas vgl. Basseler 2008: 66-67; Kühner 2003; Platt 2000: 262. Für eine Untersuchung von Parallelen und Unterschieden zwischen individualpsychologischen und kollektiven Traumata vgl. Kühner 2008, 2003. 110 Dass sich eine Betonung der singulären Qualität von Trauma im postkolonialen Kontext als problematisch erweisen kann, wurde bereits in Kap. 1.1.2 vermerkt. Ungeachtet dessen ist Craps und Buelens Forderung nach einem komplexeren Traumabegriff, der die kollektive Dimension verstärkt einbezieht, generell und jenseits dieses spezifischen Zusammenhangs Beachtung zu schenken. Kira weist angesichts der Möglichkeit transgenerationeller Traumatransmission - wie im Fall sogenannter ‚historischer Traumata‘ (u. a. Sklaverei in der Neuen Welt, Holocaust), die in identitäre Konstruktionsprozesse der jeweiligen Gruppen eingeflossen seien - darauf hin, dass eine Betrachtungsweise von Trauma in seiner kollektiven Dimension nicht nur für die Kulturwissenschaften, sondern auch für die Psychologie von Bedeutung sei (vgl. Kira 2001: 80). Das Vorliegen solcher kollektiver Formen der Traumatisierung würde, so Kira, gerade bei der psychologischen Behandlung des Individuums häufig ausgeblendet, sei aber eigentlich ausschlaggebend, um die tatsächliche Dimension einer Traumatisierung verstehen zu können (vgl. ebd.: 80). 111 Vgl. hierzu die Ausführungen in Kap. 1.3. 112 Für eine detaillierte, kritische Auslotung des Begriffs ‚kollektives Trauma‘ hinsichtlich seiner wissenschaftlichen ‚Tauglichkeit‘ vgl. die Ausführungen in Kühner 2008. <?page no="55"?> 43 Gedächtnis eine wichtige Bedeutung bekommen […]“ (Kühner 2008: 24) und sie „als Teil dessen [relevant werden können], was man sich schließlich gegenseitig als gemeinsame traumatische Geschichte erzählt“ (ebd.: 24). Andere Traumaforscher wie Markus Brunner plädieren aus diesem Grund dafür, den teils schwammig verwendeten Begriff des kollektiven Traumas durch konkretere Begrifflichkeiten wie „collective processing of mass individual traumatizations“ (Brunner 2012: 204) oder „discursive collectivization of individual traumas“ (ebd.: 205) zu ersetzen, die der Tatsache Rechnung tragen, dass aus psychologischer Sicht nur Individuen traumatisiert sein können. Darüber hinaus warnt Kühner davor, dass qualitative Unterschiede relativiert werden, wenn etwa die Erfahrungen der tatsächlichen Opfer und die einer Gemeinschaft, für die das Trauma „nur ein relevantes Ereignis ist“ (Kühner 2008: 275), unter dem gleichen Phänomen gefasst werden (vgl. ebd.: 27, 275-76; Kansteiner 2011: 110). 113 Dass ein ‚kollektives Trauma‘ somit nicht analog zur Traumatisierung eines Individuums zu verstehen ist, ist ein für die anschließenden Erörterungen wesentlicher Punkt, den es im Blick zu behalten gilt. Wenn ich im Folgenden von einem kollektiven Trauma spreche, dient die Begrifflichkeit zum einen dazu, zu signalisieren, dass die traumatische Erfahrung einer großen Zahl von Mitgliedern eines Kollektivs gemeinsam ist - wenngleich sie je nach Betroffenheit (z. B. als Opfer, Zuschauer etc.) in unterschiedlicher Intensität vorliegen kann - und so eine soziale Dimension erreicht. Zum anderen wird hierüber darauf abgehoben, dass der Erfahrung hinsichtlich des Selbstbilds der Gemeinschaft und ihres Vorrats an für die Gruppe signifikanten Erinnerungen im Sinne einer „identitätsrelevante[n] Erzählung“ (Kühner 2008: 191) besondere Bedeutung zukommt (vgl. ebd.: 88). Bezogen auf meinen konkreten Forschungskontext ist hiermit gemeint, dass Gewalt in der Post-Duvalier-Ära keine Erfahrung Einzelner ist, sondern - als Trauma erlittener Gewalt wie auch als verstörendes Erleben bezeugter oder gewusster Gewalt (vgl. auch Kap. 1.1.2) - eine in der haitianischen Lebenswirklichkeit allgegenwärtige und von vielen Haitianern geteilte Erfahrung. Im Gegensatz zu Studien zu kollektiven Traumata, die sich auf historisch teils weiter zurückliegende traumatische Ereignisse (z. B. die Shoah oder die Versklavung ‚Schwarzer‘ Menschen) beziehen und die transgenerationelle Weitergabe bzw. „kulturelle[.] Identitätseffekte[.]“ (Kansteiner 2011: 129) dieser kollektiv relevanten Ereignisse diskutieren, bezieht sich meine Untersuchung somit auch nicht auf ein medial vermitteltes Ereignis der Vergangenheit (vgl. ebd.: 129-30), sondern ein Phänomen der Gegenwart. Außerdem rekurriere ich über die Begriff- 113 Diskutiert wird diese Problematik in der Forschung (vgl. u. a. Kansteiner 2011; Kühner 2008) etwa hinsichtlich der Shoah oder des 11. September 2001 als Ereignisse, deren über die Gruppe der tatsächlichen Opfer hinausgehende globale Relevanz z. T. gleichermaßen als kollektives Trauma (einer Nation, der westlichen Welt usw.) bezeichnet wird. <?page no="56"?> 44 lichkeit darauf, dass die Gewalt der Post-Duvalier-Ära innerhalb diskursiver Praktiken als Trauma-Narration einer kollektiv geteilten Erfahrung mit Relevanz für identitäre Kollektivierungsprozesse in der haitianischen Gesellschaft inszeniert wird, wie dies beispielsweise in literarischen Texten wie den in dieser Studie untersuchten Romanen der Fall ist. Die Diskussion um eine kollektive Dimension traumatischer Ereignisse innerhalb der Kulturwissenschaften geht folglich mit einer Verschiebung des Erkenntnisinteresses hin zu einem Fokus auf die Integration von Traumata in die Erinnerungskultur einher, wie Michael Basseler in seiner richtungsweisenden Studie zu kultureller Erinnerung und Trauma ausführt (vgl. u. a. Basseler 2008: 69-71): Konzentriert sich die Psychotherapie dem Literaturwissenschaftler zufolge vornehmlich darauf, dem Opfer eine ‚heilende‘ Überwindung des Traumas zu ermöglichen, sodass es das vergangene Ereignis hinter sich lassen kann (vgl. ebd.: 71; Weinberg 1999: 173), so betrachten kulturwissenschaftliche Ansätze Trauma am Schnittpunkt zum kollektiven Gedächtnis und interessieren sich dafür, wie und mit welchen Auswirkungen ein derart einschneidendes, kollektiv relevantes, traumatisches Ereignis dort fest verankert und präsent gehalten werden kann (vgl. Basseler 2008: 71). Hierbei steht entsprechend „die Aneignung des Traumas“ (Kühner 2008: 153) etwa im Sinne „kulturelle[r] Repräsentationen“ (ebd.: 200) im Fokus. Hierfür sei es entscheidend, so erläutert Basseler, dass ein gemeinschaftlicher Konsens über „die traumatische Qualität der Erfahrung“ (2008: 69) vorliege, denn ein kollektives Trauma werde generell „retrospektiv von seinen sozialen Folgen her definiert“ (ebd.: 70; vgl. Kühner 2008: 87). Er stützt sich in seiner Argumentation auf Jeffrey C. Alexanders Konzept des ‚kulturellen Traumas‘, der damit eine Situation beschreibt, in der ein im Rahmen „eines soziokulturellen Interpretationsprozesses“ (Kühner 2008: 200) als traumatisch empfundenes Ereignis das Bewusstsein eines Kollektivs entscheidend präge und Gruppengedächtnis und -identität unwiderruflich verändere: Cultural trauma occurs when members of a collectivity feel they have been subjected to a horrendous event that leaves indelible marks upon their group consciousness, marking their memories forever and changing their future identity in fundamental and irrevocable ways. (Alexander 2004: 1) Alexander betont, dass es sich bei diesem Phänomen weniger um eine objektive Tatsache als vielmehr um eine sozial-kollektive Konstruktion handle (vgl. ebd.: 2, 8-10; Kühner 2008: 195): Traumatic status is attributed to real or imagined phenomena, not because of their actual harmfulness or their objective abruptness, but because these phenomena are believed to have abruptly, and harmfully, affected collective identity. (Alexander 2004: 9-10) Das kollektive Trauma könne in der Folge entsprechend Eingang in jene Selbstbilder finden, die offiziell erinnert würden (vgl. Basseler 2008: 70, 75). <?page no="57"?> 45 Somit verschiebt die Frage nach der kollektiven Dimension von Trauma den Fokus auf die sozialen Folgen der (für die jeweiligen Individuen) traumatischen Ereignisse und ihre diskursiven Konstruktionen innerhalb eines Memoria-Diskurses (vgl. Brunner 2012: 204-05). Generell weist Basseler dem kollektiven Trauma fünf Dimensionen zu, die er wie folgt definiert (vgl. Basseler 2008: 76): Im Kollektiv müsse Einigkeit über die Anerkennung einer historischen Erfahrung als Trauma vorliegen (‚kollektive Dimension‘) und es wähle diese Erfahrung aus, um sich (u. a.) darüber als Gruppe zu definieren (‚selektive Dimension‘). Das kollektive Trauma sei ferner nicht im historischen Ereignis selbst, sondern in dessen Repräsentation zu verorten (‚repräsentative Dimension‘). Seine Festlegung und Bedeutung seien darüber hinaus vor dem Hintergrund sozialer Prozesse und ihrer Kontexte zu deuten (‚soziale Dimension‘). War das ursprüngliche traumatische Ereignis noch „identitätszerstörende[r] Natur“ (ebd.: 76), ermöglichen die nachträgliche kollektive Deutung und Repräsentation schließlich eine Umkehr dieser rein destruktiven Wirkung und eine Integration der Erfahrung als „wesentliche[.] Konstituente kollektiver bzw. kultureller Identität“ (ebd.: 76) (‚identitätsstiftende Dimension‘). 114 Die Möglichkeit, durch die Einschreibung des kollektiven Traumas in die Erinnerung Gemeinschaft und kollektiv relevante Identitätsbezüge zu schaffen, die sich (u. a.) über diese gemeinsame Erfahrung definieren, ist im vorliegenden Kontext wesentlich, da die Option der Identifikation des Einzelnen mit dieser Gruppe die Perspektive bietet, der Einsamkeit des Opfers im Gewaltakt, wie sie in Kapitel 1.1.1 beschrieben wurde, entgegenzuwirken. Trauma ist Kühner zufolge deshalb sowohl ‚trennend‘ als auch ‚verbindend‘ (vgl. Kühner 2003: 138-39). Wenngleich der Fokus auf das kollektive Trauma wie eingangs erläutert je nach Fachdisziplin unterschiedlich gelagert ist, kommt der ‚Repräsentation‘ des Traumas sowohl aus individualpsychologischer als auch kulturwissenschaftlicher Sicht eine entscheidende Rolle zu. Für das Individuum stellen die ‚Auskapselung‘ der traumatischen Erfahrung und ihr Greifbarmachen für das Bewusstsein den ersten Schritt im individuellen Verarbeitungsprozess dar. Aktives Erinnern, mit einer „narrative[n] Verbalisierung“ (Weilnböck 2007: 37) einhergehend, so wurde in Kapitel 1.1.2 hergeleitet, kann einen Prozess des Durcharbeitens traumatischer Erfahrung initiieren und beim Betroffenen eine Heilung im therapeutischen Sinne bewirken. Auf kollektiver Ebene indes geht es zunächst grundsätzlich darum, das Trauma in seiner intersubjektiven Dimension zu definieren. Ein solcher Prozess der Repräsentation und eine Transformation 114 Vgl. auch Kühner 2008: 193. Basseler verwendet in seiner Studie vorrangig den von Alexander übernommenen Begriff ‚kulturelles Trauma‘ (vgl. Basseler 2008: 68-69), den er jedoch weitestgehend synonym mit der Bezeichnung ‚kollektives Trauma‘ benutzt. Zur besseren Lesbarkeit wird in der vorliegenden Studie der Begriff ‚kollektives Trauma‘ durchgehend verwendet. Für eine mögliche begriffliche Unterscheidung vgl. Kühner 2008: 203. <?page no="58"?> 46 des Erlebten in Symbole, Erzählungen etc. sind notwendig, um eine Überführung dieses Traumas in seiner kollektiven Dimension in das Gedächtnis der Gemeinschaft zu ermöglichen, sodass es als kollektives Trauma im Sinne einer kollektiven ‚Traumanarration‘ (vgl. Brunner 2012: 205) überhaupt erst erwachsen und identitätsstiftende Wirkung entfalten kann. Geht es im ersten Fall bei der ‚erfolgreichen‘ Repräsentation der Erfahrung um eine ‚Überwindung‘ des individuellen Traumas in dem Sinne, dass das Individuum das Erlebte als Vergangenheit hinter sich lassen kann, so steht im zweiten Fall die gezielte Bewahrung von Erinnerung an die kollektiv relevante Erfahrung und explizit ihre traumatische Dimension im Vordergrund. 115 Über den Repräsentationsprozess findet beide Male somit eine nachträgliche ‚Sinnzuweisung‘ zu etwas zunächst Unfassbarem statt, 116 wie es Elsa Blair zusammenfasst: „El trauma es una impresión, una marca que, más allá de lo que tiene de inasimilable, puede tomar retroactivamente valor de símbolo, aunque en su origen haya escapado a la simbolización“ (2005: 119). An diesem Punkt finden sich zentrale Berührungspunkte zwischen der Traumatheorie und der Literaturwissenschaft. Gemeinhin gilt die Literatur als ein Ort, an dem das kollektive Gedächtnis einer Kultur und für sie 115 Vgl. auch Basseler 2008: 71. Irreführend ist in diesem Kontext ein Diskurs, der auf sprachlicher Ebene die Bewahrung der Erinnerung an das kollektiv relevante traumatische Ereignis mit der Bewahrung des kollektiven Traumas gleichsetzt und in diesem Sinne die notwendige ‚Unheilbarkeit‘ desselbigen postuliert. Vgl. etwa Weinberg 1999 sowie die kritische Bestandsaufnahme des geisteswissenschaftlichen Traumadiskurses in Weilnböck 2007. Wenn Weinberg in diesem Kontext zudem vom Interesse der Psychoanalyse an der „Abschaffung des Traumas“ (Weinberg 1999: 173) spricht, suggeriert seine Begriffswahl, dass eine individuelle Heilung ein vollständiges Vergessen des traumatischen Ereignisses impliziere (‚Abschaffung‘), weshalb das kollektive Trauma unangetastet bleiben müsse, gerade um es vor dem Vergessen zu bewahren und in das kollektive Gedächtnis der Gemeinschaft zu integrieren. Weilnböck wirft Weinberg deshalb die moralisch zweifelhafte Position vor, „den gesellschaftlichen Möglichkeiten der psychound/ oder sozialtherapeutischen Gesundung […] entgegen[zu]arbeiten“ (Weilnböck 2007: 52; vgl. ferner ebd.: 51-52). Entsprechend kann es bei der Diskussion der Integration des Traumas in das Gedächtnis weniger um ein Aufrechterhalten der Traumatisierung (wie es die Formulierung von Weinberg fälschlicherweise vermuten lassen mag) als um eine Bewahrung der Erinnerung an die traumatische Erfahrung und die Kultivierung ihrer Bedeutung für kollektiv relevante Identitätskonstruktionen gehen. Diese Kontroverse um die Begrifflichkeiten zeigt beispielhaft die teils bildhafte, uneindeutige Sprache im kulturwissenschaftlichen Diskurs über kollektive Traumata, die zu missverständlichen Bezügen und verkürzten Analogien führen kann, wenn mit denselben Begriffen auf unterschiedliche Phänomene referiert wird, ohne dass hinreichende Definitionen erfolgen. Vgl. auch die Argumentation in Kühner 2008. 116 Mit Sinnzuweisung ist jedoch keinesfalls eine Rechtfertigung des erlittenen Traumas gemeint. Stattdessen wird mit dem Begriff auf individueller Ebene der Prozess der Überführung des Traumas in bewusste Erinnerung und somit seine Integration in die eigene (Lebens-)Geschichte bzw. auf kollektiver Ebene die (diskursive) Inszenierung des Traumas als gruppenidentitätsstiftendes Ereignis erfasst. <?page no="59"?> 47 identitätsrelevante Diskurse in besonders verdichteter Weise zum Ausdruck kommen. Dort können kollektive Memoria-Diskurse ausgehandelt, kritisch reflektiert und neu generiert werden (vgl. Erll et al. 2003; B. Neumann 2003: 50). Deshalb ist davon auszugehen, dass in der Fiktion auch das Phänomen des kollektiven Traumas über die literarische Ästhetik und Symbolik auf besondere Art sinnstiftend verhandelt und narrativ inszeniert werden kann. 117 Auch die im Zentrum der Studie stehenden Romane von Lyonel Trouillot und Yanick Lahens fiktionalisieren in diesem Sinne die massive Gewalterfahrung in der Lebenswirklichkeit der Post-Duvalier- Ära als kollektives Trauma der haitianischen Gesellschaft. Von besonderer Bedeutung ist hierbei, dass die Wechselwirkung zwischen Literatur und kollektivem Gedächtnis laut Astrid Erll, Marion Gymnich und Ansgar Nünning mehrdimensional ist. In dem Sammelband Literatur, Erinnerung, Identität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien (2003) gehen sie von einem dreistufigen Modell - an Paul Ricœurs Überlegungen zur Mimesis angelehnt (vgl. Ricœur 1988) - aus. Sie leiten dort her, dass der literarische Text zunächst kulturell präformiert sei und sich auf eine außerliterarische Wirklichkeit beziehe, in der bestimmte Identitäts- und Erinnerungsdiskurse Bestand hätten (‚Präfiguration‘). Darüber hinaus könne er aber selbst (kollektive) Erinnerung und Identität über ästhetische Verfahren zur Darstellung bringen und bedeutungszuschreibend neue Diskurse und Vorstellungen generieren (‚Konfiguration‘), die letztlich wiederum sinnstiftend und aktiv gestaltend auf die Realität und die jeweilige Erinnerungskultur Einfluss nehmen könnten (‚Refiguration‘) (vgl. Erll et al. 2003: iv-v; ebenso B. Neumann 2003). Gerade im Hinblick auf die Fiktionalisierung kollektiver Traumata hat diese wechselseitige Beeinflussung Gewicht, da sich hierdurch das dem literarischen Text innewohnende Potenzial, die Erfahrung nicht nur auszusprechen und referenziell zu benennen, sondern auch - jenseits historischer Akkuratheit - im obigen Sinne sinnzuweisend zu wirken und Affekte hervorzurufen, ausdrücken lässt. Ihm obliegt bildlich gesprochen eine ‚Auskapselung‘ dessen, was bisher nicht zugänglich war und sich der Kontrolle entzog. Dem Text fällt zu, die unkontrollierbare, obsessive Heimsuchung durch die traumatische Erfahrung durch eine gezielte Aufarbeitung im Rahmen kollektiver Erinnerungskultur zu ersetzen, die sinnstiftend über ein Narrativ dahingehend wirksam werden kann, das Nichtfassbare des Traumas durch seine symbolische Repräsentation erinnerbar zu machen und zugleich einzuhegen. Die Möglichkeit der Literatur, Phänomene nicht direkt formulieren zu müssen, sondern über eine sym- 117 Dass der literarische Text auch als Ort verstanden werden kann, an dem das individuelle Trauma (eines Autors) zur Darstellung gelangt und ‚bearbeitet‘ wird, sei hier nur am Rande erwähnt, da ich die Romane von L. Trouillot und Lahens als Fiktionen verstehe und folglich nicht als literarischen Ausdruck eines persönlichen (Autor-)Traumas lese. Zu einer Differenzierung von fiktionalisiertem Zeugnis und Fiktion vgl. auch Kap. 1.3 bzw. Kalisky 2006. <?page no="60"?> 48 bolische Darstellung, die einer mehrdeutigen, assoziativen und poetischen Verwendung von Sprache geschuldet ist, zur Anschauung zu bringen und so gezielte Effekte beim Leser hervorzurufen, spielt in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle, da über eine solche Ästhetik die Ambivalenz des Unbegreiflichen traumatischer Erfahrung und der Notwendigkeit ihrer Bewusstmachung bewahrt werden kann. Auf diese Weise kann auch ein Trauma ausgesprochen werden, das möglicherweise in seiner ‚Essenz‘ (noch gar) nicht zu fassen ist (vgl. Suárez 2006: 21). 118 Gleichermaßen lässt sich vermöge des Ansatzes von Erll, Gymnich und Nünning reflektieren, inwieweit die Texte Wirkung auf das Kollektiv und seinen Umgang mit dem kollektiven Trauma entfalten können, etwa indem sie einen notwendigen Bearbeitungsprozess anstoßen. Bevor jedoch konkret darauf eingegangen wird, in welcher Form das kollektive Trauma der Gewalterfahrung der Post-Duvalier-Ära in Rue des pas-perdus und La couleur de l’aube verhandelt wird, 119 gilt es zunächst den Stellenwert der Gewalt in der Fremd- und Selbstwahrnehmung Haitis kritisch zu diskutieren. 1.2 Zwischen Realität und Stigma: Diskursive Stellungnahmen zu Gewalt in Haiti Gewalt ist ein Allgemeinplatz, der sogleich abgerufen wird, wenn die Situation Haitis in der heutigen Zeit zur Sprache kommt. Eine derartige gedankliche Verknüpfung bestimmter Attribute mit einer Kultur ist stets kritisch zu hinterfragen, da nicht unbedingt einzig Tatsachen, sondern auch andere Faktoren wie bestimmte diskursive Praktiken ein solches Bild mitbestimmen können. Vor der Folie einer Beschreibung allgemeiner Tendenzen des Gewaltphänomens in der Post-Duvalier-Ära wird deshalb im Anschluss eine die globale Wahrnehmung dominierende Vorstellung von Haiti als Ort der Gewalt kritisch diskutiert. Eine differenzierte Beschreibung einer derartigen Stigmatisierung Haitis sowie ihrer Gegenstimmen ist im vorliegenden Kontext von Bedeutung, da diese ein Netz an Diskursen bilden, vor deren Hintergrund es Gewaltdarstellungen in der Literatur zu erfassen gilt. 118 Dies ist bedeutsam, wenn wie in dieser Untersuchung Texte behandelt werden, die sich mit ihrer unmittelbaren Lebenswirklichkeit beschäftigen und somit nicht retrospektiv ein traumatisches Ereignis einer weiter zurückliegenden Vergangenheit reflektieren. Vgl. ausführlicher Kap. 1.3. 119 Die hier konturierten Überlegungen werden in Kap. 1.3 erneut aufgegriffen und weiterentwickelt. Ein kurzer Exkurs zum literarischen Text als Medium der Repräsentation von Trauma war jedoch an dieser Stelle bereits notwendig, um das Konzept des Traumas in seiner kollektiven Dimension angemessen ausarbeiten und erklären zu können. <?page no="61"?> 49 1.2.1 Tendenzen der Gewalt in der Realität der Post-Duvalier-Ära Dass Gewalt eine Konstante in der haitianischen Realität der Post- Duvalier-Ära ist, belegen zahlreiche historische und politikwissenschaftliche Studien, weshalb an dieser Stelle auf eine erneute Zusammenfassung der konkreten Lage verzichtet und für eine detaillierte Auseinandersetzung mit den konkreten zeitgeschichtlichen Ereignissen auf die bereits existierenden Analysen verwiesen wird. 120 Dieses Kapitel verfolgt stattdessen das Ziel, einen globalen Überblick über das Phänomen zu bieten und allgemeine Tendenzen aufzuarbeiten, wobei der Schwerpunkt zum einen darauf liegt, die ‚neue Qualität‘ der Gewalt nach dem Sturz der Duvalier-Diktatur 1986 herauszuarbeiten. Zum anderen wird aufgezeigt, dass sich historische Kontinuitäten beschreiben lassen und die Gewalt in der postkolonialen 121 Gegenwart nicht losgelöst von der Geschichte betrachtet werden kann. Die Situation Haitis in der Post-Duvalier-Ära lässt sich mit einem Phänomen beschreiben, das Kees Koonings und Dirk Kruijt als ‚new violence‘ bezeichnen. Die beiden Wissenschaftler subsumieren hierunter eine Erscheinung, welche im Rahmen der Demokratisierungsprozesse der postdiktatorialen Gesellschaften Lateinamerikas die repressive Staatsgewalt der autoritären Regime der 1960er-, 1970er- und 1980er-Jahre abgelöst habe (vgl. Koonings/ Kruijt 2004: 6): […] ‚new violence’ is socially or politically organized to wield coercion by evading or undermining the legitimate violence monopoly of formally democratic states. This implies the permanent ‚uneasy coexistence’ of the legal democratic order and the new violence in a parallel logic that is at the 120 Vgl. u. a. Amnesty International 2008; Amnesty International et al. 2006; Dillmann 2004; Dupuy 2007; Fatton 2007, 2002; Gewecke 2007: 99-105; Gilles 2012, 2008; P. Girard 2010; Hallward 2007; Hurbon 2002, 2001; Kovats-Bernat 2006; Laguarta Ramírez 2008; McFadyen et al. 1995; A. Nicolas 1991; Nissen 2006, 2004; Perusse 1995; Schöberlein 2008; Shamsie/ Thompson 2006; Wargny 2008. Für einen Überblick zu politikwissenschaftlichen Studien zur Gewalt in der Karibik generell vgl. Imbusch 2011. Eine einprägsame Bestandsaufnahme der Unsicherheit und Veralltäglichung der Gewalterfahrung in der Post-Duvalier-Ära liefert außerdem Dominique in ihrer autobiografischen Erzählung Mémoire errante (2008). 121 Der Begriff ‚postkolonial‘ ist sicherlich ambivalent zu bewerten, suggeriert er doch zum einen eine chronologische Dimension und somit ein zeitliches Ende kolonialer Macht- und Herrschaftsstrukturen, das in der Realität in dieser Weise anzuzweifeln ist. Vgl. hierzu etwa die Diskussion zum Konzept der Kolonialität in Kap. 1.2.3. Zum anderen kann das Präfix ‚post-‘ nicht nur rein zeitlich, sondern auch in einer „epistemische[n] Dimension“ (Conrad/ Randeria 2002: 25) als „Dekonstruktion und Verabschiedung zentraler Annahmen des kolonialen Diskurses“ (ebd.: 25) gedacht werden. Zur Diskussion vgl. S. Hall 2002. Im Bewusstsein um diese Vielschichtigkeit und auch die Problematik des Begriffs verwende ich ihn im Folgenden historisch-deskriptiv, um (ehemals kolonisierte) Gesellschaften zu beschreiben, die auch nach der Entlassung in die formale Unabhängigkeit nachhaltig durch koloniale Machtstrukturen geprägt waren. <?page no="62"?> 50 same time antagonistic and complementary in present-day Latin America […]. (ebd.: 8-9) Diese ‚neue Gewalt‘ dringt Koonings und Kruijt zufolge in die Zwischenräume der legalen politischen Ordnung vor, die aufgrund ihrer Fragilität Machtvakuen hinterlassen und verschiedene bewaffnete Akteure auf den Plan gerufen hat, welche das Gewaltmonopol formal demokratischer Staaten unterminieren und die in diesem Prozess entstehenden Lücken besetzen (vgl. ebd.: 8). Die hierdurch hervorgerufene fortwährende Spannung zwischen der eigentlichen demokratischen Ordnung und der neuen Gewalt führt Koonings und Kruijts Argumentation gemäß aufgrund einer Vielzahl an Erscheinungsformen, Akteuren und Motiven zu einer Wahrnehmung von Gewalt als sich durch Omnipräsenz und Willkür auszeichnendes Phänomen. Dies lasse, so fahren sie fort, ein Gefühl der permanenten Unsicherheit - „citizenship insecurity“ (Koonings/ Kruijt 2007b: 13) - und eine „culture of violence, of hostility, of disintegration, of desolation“ (Koonings/ Kruijt 2007a: 138) entstehen, die vornehmlich im urbanen Raum anzutreffen sei. Gilles bestätigt diese Häufung gewaltsamer Handlungen in der Stadt auch für den Fall Haitis: „[C]ette violence, elle est d’abord urbaine et a pour territoires privilégiés ces quartiers que l’on nomme bidonvilles, slums […]“ (2008: 38; vgl. ebenso Gilles 2012). Er betont hierbei, ähnlich wie Koonings und Kruijt (2007b: 13), dass ungeachtet dessen keine direkte Kausalität zwischen Armut und Gewalt bestehe, sondern dass vielmehr in den haitianischen ‚bidonvilles‘ ein struktureller Rahmen vorgegeben werde, der ein Gewaltpotenzial zu aktivieren in der Lage sei, welches durch die Politik instrumentalisiert, von der mangelhaften Infrastruktur begünstigt und schließlich angesichts eines schwachen Staats nicht mehr eingehegt werde (vgl. Gilles 2008: 39). Betroffen von der Gewalt sind den Erkenntnissen von Koonings und Kruijt nach jedoch nicht einzig jene Bürger ‚zweiter Klasse’, die als Bewohner stigmatisierter Viertel marginalisiert und sozial ausgegrenzt würden, sondern - wenngleich in geringerem Ausmaß - auch Ober- und Mittelschicht, da sich die Gewalt auf den urbanen Raum in seiner Gesamtheit auswirke (vgl. Koonings/ Kruijt 2007c: 1; Koonings/ Kruijt 2007a: 138). Mit dieser Entwicklung geht laut Hurbon in Haiti allerdings nicht nur eine um sich greifende Atmosphäre der Unsicherheit, sondern gerade auch ein ausufernder Diskurs über eben diese Unsicherheit einher (vgl. Hurbon 2002: 117). Auch wenn sich Koonings und Kruijt in ihrer Analyse der ‚neuen Gewalt‘ konkret auf den lateinamerikanischen Kontext beziehen, lässt sich für die haitianische Post-Duvalier-Ära eine ähnliche Entwicklung belegen. Das hoffnungsvoll erwartete Ende der Diktatur 1986, das durch die Flucht Jean-Claude Duvaliers Wirklichkeit geworden war, mündete in einen in- <?page no="63"?> 51 stabilen Demokratisierungsprozess. 122 Dieser war von politischen Unruhen, zahlreichen Staatsstreichen und der Ausbreitung unterschiedlicher bewaffneter Gruppen geprägt: Auf der einen Seite sind dies die nach 1986 nur zum Teil entmachteten Gruppierungen der Duvalier-Diktatur wie die ‚Tonton Macoutes‘ (mit offiziellem Namen ‚Volontaires de Sécurité Nationale‘) und die ‚chefs de séction‘ (lokale Machthaber in ländlichen Regionen), die auch in der Post-Duvalier-Ära noch an gewaltsamen Auseinandersetzungen beteiligt waren; oder aus dem Militär hervorgegangene paramilitärische Vereinigungen wie die ‚Front Révolutionnaire pour l’Avancement et le Progrès d’Haïti‘ (FRAPH), die zahlreiche Gewaltexzesse zu verantworten hat; auf der anderen Seite teils zu politischen Zwecken instrumentalisierte kriminelle Gruppierungen (v. a. aus den Elendsvierteln der Hauptstadt) wie die sogenannten ‚zenglendo‘ oder die ‚chimères‘, von denen insbesondere Letztere, die mit der ‚Lavalas‘-Bewegung und Aristide in Verbindung gebracht werden, für eine Veralltäglichung der Gewalt in der Lebenswirklichkeit der Menschen gesorgt haben. 123 Hinzu kamen die äußerst prekären Lebensumstände eines Großteils der Bevölkerung, die sich nach 1986 angesichts der politischen Instabilität, der wachsenden öffentlichen Unsicherheit und der hiermit einhergehenden Verschärfung wirtschaftlicher Probleme zunehmend verschlechterten. Eine Zersetzung des Gewaltmonopols im Sinne von Koonings und Kruijt ist im Falle Haitis mithin unzweifelhaft festzustellen, so bestätigt auch Robert Fatton in seiner Studie zu despotischen Herrschaftsstrukturen in dem karibischen Staat Folgendes: While Lavalas had its Chimères, its foes had their own paramilitary groups. Disbanded by Aristide in 1994, the army went underground without a clear chain of command only to resurface with the anti-Aristide insurgency. The army, however, had no monopoly over the use of violence. Different political and private forces formed a number of armed gangs over which they had uncertain control. Former makouts who had joined the Cédras junta’s brutal attachés reemerged to form the new death squads and criminal Zinglendos bands. Narcotrafficants established their own violent syn- 122 Einen Vergleich repressiver Strukturen unter der Regierung Aristides mit diktatorialen Regimen in Haiti präsentiert Dupuy (2007: 146-47). Er arbeitet heraus, dass zwar eklatante Unterschiede bestanden hätten - so sei Aristide legitim gewählt worden und habe nicht wie die Duvaliers nach einer derartig umfassenden Auslöschung jeglicher Opposition gestrebt (vgl. ebd.: 146). Dennoch lässt sich Dupuy zufolge nicht verleugnen, dass insbesondere Aristides zweite Amtszeit von einem zunehmend autoritären Regierungsstil geprägt war (vgl. ebd.: 145). Deshalb und da durch die Militärregierung unter Raoul Cédras die Demokratisierungsphase in Haiti von 1991 bis 1994 erneut unterbrochen wurde, erachte ich den Begriff der ‚Post-Diktatur‘ als unpassend, um die Post-Duvalier-Ära zu bezeichnen. Zur teils sehr umstrittenen Rolle von Aristide vgl. z. B. die Polemik zwischen Hallward und L. Trouillot in Hallward 2009; L. Trouillot/ Ménard 2009. 123 Vgl. Dupuy 2007; Gilles 2008; M. Hall 2012: 59; Johnson 2008; Kovats-Bernat 2006: 86- 89; Schöberlein 2008; M.-R. Trouillot 1990a. <?page no="64"?> 52 dicates. Thus, while violence remained the traditional means by which the dominant class acquired and kept political power, it became a decentralized source of illicit wealth accumulation for a small segment of the urban lumpen-poor. Those without access to weapons, particularly in the cities, were the marginalized victims of a society that has descended into a Hobbesian spiral of criminality. (Fatton 2007: 211) Der Politikwissenschaftler bekräftigt vor diesem Hintergrund die Entstehung eines „climate of generalized insecurity“ (ebd.: 212) als Folge, das sich dadurch auszeichne, dass Gewalt zufällig und wahllos zuschlage (vgl. ebd.: 234). 124 Zu einer Legitimierung interner Gewalt in Haiti damals wie heute hat eine Tradition despotischer Herrschaftsstrukturen beigetragen, die auch als einer der Hauptgründe dafür zu nennen ist, warum die Demokratisierungsbemühungen seit der Unabhängigkeit immer wieder gescheitert sind (vgl. u. a. Dupuy 2007: 29; Gilles 2008: 35; Lundahl 2011: 41-43). 125 Studien zur jüngeren Geschichte des Landes betonen, dass jene auch nach dem Fall des Duvalier-Regimes fortgeführt worden seien, weshalb auch nach 1986 noch von einem ‚predatory state‘ gesprochen werden könne (vgl. Dupuy 2007; Fatton 2007, 2002). 126 Fatton definiert diesen als „despotic structure of power that preys on its citizens without giving much in return […]“ (2002: 27). Dies manifestiere sich in Form der Herrschaft einer privilegierten Minderheit, welche die Bevölkerungsmehrheit kontinuierlich marginalisiere und ausbeute (vgl. Fatton 2007: 203; Fatton 2002: 10, 27). 127 Die Folge seien personalisierte Machtstrukturen und klientelistische Netzwerke, die das Wohl der Allgemeinheit aus den Augen verlieren würden (vgl. Dupuy 2007: 28; Hurbon 2001: 14). Ein solcher politischer Habitus der „grands mangeurs“ (Fatton 2002: 10), die sich auf Kosten der seit jeher vom politischen Prozess ausgeschlossenen und häufig sozial marginalisierten Massen bereichern (vgl. Dash 2010: 65), 124 Vgl. ebenfalls die Aussagen des Autors G. Victor in Marin La Meslée/ G. Victor 2004: 97. Verstärkt wird ein solches Gefühl der Unsicherheit in Haiti insbesondere durch eine grassierende Straflosigkeit, infolge derer bereits die Verbrechen der Duvalier-Diktatur ungesühnt blieben (vgl. Hurbon 2001: 14). Zur Straflosigkeit vgl. auch Wargny 2008: 163-64 bzw. die Diskussion um die Rückkehr von Jean-Claude Duvalier im Januar 2011 aus dem Exil nach Haiti in Amnesty International 2011. 125 Die Rolle zu Zeiten der Unabhängigkeit vorgefundener, kolonialer Strukturen hinsichtlich der Herausbildung despotischer Herrschaftsstrukturen in Haiti nach 1804 gilt es laut Fatton zwingend anzuerkennen, anstatt eine besondere Affinität der Haitianer gegenüber solchen Machtgefügen anzunehmen (vgl. Fatton 2007: 2-4). Dash spricht deshalb auch von dem Beginn einer „neo-colonial relationship with the outside world“ (2010: 64) nach der Unabhängigkeit. 126 Vgl. ferner Hurbon 2001: 10; Manigat 1998. 127 Vgl. auch Mathurin 2012: 51. Der Schriftsteller Laferrière setzt diesem Machtbestreben ein ‚literarisches Denkmal’, wenn er in Pays sans chapeau (1996) das Verlangen aller Haitianer, Präsident auf Lebenszeit des eigenen Landes zu werden, parodiert (vgl. Laferrière 2001: 214-15). <?page no="65"?> 53 sowie die damit einhergehende sozioökonomische Spaltung der Gesellschaft konnten auch in der Post-Duvalier-Ära nicht überwunden werden und unterliegen daher bis in die Gegenwart einer kontinuierlichen Fortführung. Diese Machtverhältnisse und ihre Akteure, die vor einer gewaltsamen Durchsetzung ihrer Interessen nicht zurückschrecken, bilden die Ausgangsbedingungen, innerhalb derer Gewalt in der haitianischen Wirklichkeit gedacht werden muss. Auch Alain Gilles stellt in seiner sozialwissenschaftlichen Studie État, conflit et violence en Haïti (2008) für die Zeit nach 1986 eine neue Qualität der Gewalt in Haiti fest - beeinflusst durch die Herausbildung neuer bewaffneter Gruppen u. a. im Kontext des internationalen Drogenhandels -, 128 die sich in ihrer Veralltäglichung sowie einer Zunahme an Willkür geäußert hätte (vgl. Gilles 2008: 36). Er spricht in diesem Kontext von sogenannter ‚infrapolitischer Gewalt‘, worunter er eine spezielle Form der Gewalt versteht, deren Akteure nach einer Schwächung des Staates strebten, um ungestört ihren eigenen Interessen nachgehen zu können (vgl. ebd.: 37), 129 was jene Instrumentalisierung des Gewalthandelns durch nicht-staatliche Akteure, von der weiter oben die Rede war, verdeutliche. In einer Untersuchung aus dem Jahr 2012 arbeitet Gilles überdies explizit heraus, dass sich die Gewalt in der Post-Duvalier-Ära eben nicht allein auf den politischen Kontext beschränke, sondern auch auf die Alltagswirklichkeit und das soziale Gefüge übergegriffen habe, dessen Solidarstrukturen zunehmend zerstört würden (vgl. Gilles 2012: 5, 59). Als Beispiele für diese Entwicklung nennt der Forscher etwa violente Übergriffe im Alltag, die Misshandlung von Frauen und Kindern und Vergewaltigung, aber auch patriarchalisch-repressive Gesellschaftsstrukturen, Armut und soziale Ungerechtigkeit (vgl. Gilles 2012: 59). 130 Vor diesem Hintergrund spielen historische Überlegungen erneut eine bedeutende Rolle, denn der soziale Zerfall, auf den Gilles anspielt, lässt sich gleichermaßen bis in die Kolonialzeit zurückverfolgen. Von den europäischen Machthabern übernommene Strukturen haben nach den Erkenntnissen des Soziologen Laënnec Hurbon die Mentalität der Anführer des Landes nachhaltig geprägt, weshalb sich Praktiken wie autoritärer Führungsstil, Streben nach absoluter Macht, Verweigerung der Gleichstellung aller Mitglieder der haitianischen Gesellschaft, skrupelloser Umgang mit jeglicher politischer Opposition, in der Hautfarbe begründete Vorurteile und viele weitere Faktoren in der Geschichte Haitis immer wieder reproduziert haben und die politische Kultur des Landes bis in die Gegenwart prägen (vgl. Hurbon 2001: 22). An die Stelle der alten Elite der Kolonialherren ist zwar die neue haitianische Oberschicht getreten. Eine tiefe gesellschaftliche Kluft 128 Vgl. auch Kovats-Bernat 2006: 86-89. 129 Während der Duvalier-Diktatur diente Gewalt hingegen vorrangig dem Erhalt der (politischen) Macht (vgl. Gilles 2008: 37; ferner Koonings/ Kruijt 2004: 8). 130 Gilles Studie widmete sich insbesondere der Situation in den haitianischen ‚bidonvilles‘, die von dieser Art der Gewalt vornehmlich betroffen sind (vgl. ebd.: 1, 58). <?page no="66"?> 54 sowie massive soziale Ungleichheit blieben ungeachtet dessen aber bestehen und begünstigten eine Zerrüttung der sozialen Verhältnisse (vgl. ebd.: 102), die der Argumentation von Gilles zufolge das kontinuierliche Auftreten von Gewalt auch in der heutigen Zeit befördert (vgl. Gilles 2012: vi). 131 Anhand der bisherigen Ausführungen konnte gezeigt werden, dass es sich bei der Gewalt in der haitianischen Wirklichkeit der Post-Duvalier-Ära um ein äußerst komplexes Phänomen handelt. Dies ist von zentraler Bedeutung, da im anschließenden Kapitel eine die globale Wahrnehmung dominierende Sicht auf Haiti beschrieben wird, die dieser Komplexität durch vereinfachende Stereotypen und verrätselnde Bilder wie jenem von Haiti als ‚pays maudit‘ auszuweichen versucht. Dash bringt diese problematische Sichtweise der karibischen Nation auf den Punkt, wenn er feststellt: „[…] Haiti’s tragedy is not natural, but manmade, not destiny but history“ (2010: 63). In diesem Sinne ist gerade auch das Mitdenken einer historischen Perspektive wesentlich, um nicht den Fehler zu begehen, plakativ erklären zu wollen, wie sich das unabhängige Haiti nach 1804 von der ‚Perle der Karibik‘ zu einem ‚im Chaos versunkenen Dritte-Welt-Land‘ habe wandeln können (vgl. z. B. P. Girard 2010: 221), ohne hierbei die Persistenz kolonialer Strukturen nach der Unabhängigkeit bis in die Gegenwart in angemessener Weise zu berücksichtigen (vgl. Dash 2010: 65; Wilentz 2015). Während die im Zentrum dieser Arbeit stehenden haitianischen Romane genau diese Komplexität des Gewaltphänomens offenlegen, wie die anschließende Textanalyse belegen wird, tendiert ein von der westlichen Moderne geprägter Diskurs dazu, die Gemengelage auf eindimensionale Phrasen herunterzubrechen und das Land diskursiv als „deviance“ (M.-R. Trouillot 1990b: 5) oder „place apart“ (R. Rotberg, zit. nach: M.-R. Trouillot 1990b: 6) zu inszenieren, das sich dadurch, so argumentiert der haitianische Anthropologe Michel-Rolph Trouillot, automatisch herkömmlichen Analysekategorien und Erklärungsansätzen versperre (vgl. ebd.: 6). 132 Er folgert hieraus: 131 Zur gesellschaftlichen Kluft in Haiti vgl. S. Fischer 2004: 18; Fleischmann 1971: 87; Garrigus 2010: 124-25; Gliech 2010; Gilles 2008: 35; Lawless 1992: xxv; Schöberlein 2008: 34-38; Shelton 1993: 78; Weinstein/ Segal 1984: 1-2. Vgl. außerdem die Erläuterungen in Kap. 2.1.1, 3.4.1 und 3.6.1. Als ein Klassiker, der vor dem Hintergrund der Duvalier-Diktatur diese Thematik aufgreift und mit der haitianischen Bourgeoisie und dem Rassismus in der haitianischen Gesellschaft abrechnet, gilt Marie Vieux Chauvets berühmte Trilogie Amour, colère et folie (1968). 132 Vgl. hierzu Glissants Ausführungen in der Poétique de la Relation (1990), wo der Philosoph herausarbeitet, dass westliche Epistemologien nach einem holistischen Verständnis des Anderen strebten, während karibische Wissenssysteme die Komplexität von Welt in ihrer möglichen Opazität als wertvoll anerkennen würden. Für eine Diskussion dieser Thematik vgl. Borst 2013a. <?page no="67"?> 55 When we are being told over and over again that Haiti is unique, bizarre, unnatural, odd, queer, freakish, or grotesque, we are also being told, in varying degrees, that it is unnatural, erratic, and therefore unexplainable. (1990b: 6) 133 Ein solcher Diskurs, der Haiti als unerklärbar abstempelt und auf vereinfachende Stereotype reduziert, die es Paul Farmer zufolge selbst denjenigen schwer machen, die Wirklichkeit des Landes zu verstehen, die mit den besten Absichten antreten (vgl. Farmer 2003: 41; Lawless 1992: xiii, 3), werde ich im anschließenden Abschnitt nachzeichnen und im übernächsten Kapitel kritisch bewerten. 1.2.2 ‚Ein Ort barbarischer Gewalt‘: Zur Stereotypisierung Haitis in der globalen Wahrnehmung „[A] place so often portrayed as maddening and incapable of change, hope, and human dignity.“ (John 2010: 190) „Rares, les États ayant cultivé le long de leur histoire une telle somme de déshonneurs.“ (L. Trouillot 2011b: 12) Eva-Maria Siegel konstatiert in ihrer Studie zu Gewalt in der Moderne, dass aufgrund der meist medialen Erzeugung von Kulturwahrnehmung in der heutigen Zeit „die Darstellung bestimmter Regionen der Erde ausschließlich über Gewaltphänomene zu funktionieren [scheint]: Nur da, wo wieder einmal die Völker aufeinanderschlagen, knüpft sich das öffentliche Interesse kurzzeitig an ein: Warum? “ (2010: 12). Mit diesen Worten fordert sie zugleich dazu auf, die (westliche) Wahrnehmung des (nicht-westlichen) Anderen neu zu überdenken und kritisch zu hinterfragen. 134 Gerade in Bezug auf Haiti scheint Siegels Feststellung mehr als zutreffend, taucht das Land doch meist nur dann weltweit in den Nachrichten auf, wenn sich ein neues Unglück - in Form eines blutigen Gewaltausbruchs im Rahmen politischer Konflikte oder der desaströsen Folgen einer Naturkatastrophe - zugetragen hat (vgl. P. Girard 2010: 3). In welchem Ausmaß derartige Meldungen, die zu einem gewissen Sensationalismus tendieren, nachhaltig das Bild einer Kultur prägen können, zeigt sich etwa daran, wie das den Vereinten Nationen zugeschriebene Diktum, 133 Vgl. Dashs Überlegungen zu einem Denken von karibischen Realitäten in Kategorien der absoluten Differenz bzw. „in terms of images of savage otherness“ (Dash 2004: 785); ferner Dash 2008: 32; Glover 2010: 15-19; Laroche 2001: 15; M.-R. Trouillot 1990b: 3. 134 Vgl. die Diskussion der Konzeptualisierung des Anderen in Relation zum Selbst bei Glissant und L. Trouillot sowie ihrer Rolle als möglicher epistemologischer Schlüssel zur Überwindung von Gewalt in Borst 2013a. <?page no="68"?> 56 Port-au-Princes berühmt-berüchtigter Slum Cité Soleil sei „the most dangerous place on earth“, zu einem geflügelten Wort unter den Vorurteilen über Haiti geworden ist, nachdem diese Äußerung in Asger Leths Dokumentation Ghosts of Cité Soleil (2006) aufgegriffen worden war. 135 Ob diese Aussage tatsächlich Vertretern der UN zuzuschreiben ist, war trotz meines Versuchs einer Nachfrage bei den Vereinten Nationen leider nicht abschließend zu klären. Dies ist jedoch auch gar nicht entscheidend. Viel ausschlussreicher ist die Tatsache, dass sich das Zitat in unzähligen Internetbeiträgen wie ein Lauffeuer ausgebreitet hat, 136 ohne dass sich die jeweiligen Autoren die Mühe gemacht hätten, die ursprüngliche Quelle zu lokalisieren, um deren Authentizität zu überprüfen. Dass der Gehalt der Aussage über die Gefährlichkeit des haitianischen Slums sicherlich der Wahrheit entsprechen müsse, scheint von ihnen somit zu keinem Zeitpunkt infrage gestellt worden zu sein. Bei besagtem Zitat handelt es sich nur um ein einzelnes Beispiel dafür, wie sich ein einseitiges Bild von Haiti als „place of abuse, violence, and lawlessness“ (Lionnet 2008: 232) rasant verbreitet hat. 137 Grundsätzlich wird die globale Wahrnehmung Haitis in der heutigen Zeit von einer Vorstellung bestimmt, die einer Diskurstradition der westlichen Moderne entspringt und dazu tendiert, die Kultur des Landes auf bestimmte Stereotype zu reduzieren (vgl. Borst 2013a: 202-04; Wargny 2008: 14). 138 Eine mitunter groteske Wahrnehmung des Landes nahm bereits mit einer diskursiven Missrepräsentation der Haitianischen Revolution ihren Ursprung und führte zu einem ganzen Bündel an althergebrachten Porträtierungen Haitis als ‚barbarische und unkultivierte‘ Nation (vgl. Hurbon 1988: 15-16; ebenso Hoffmann 1995: 47-48; Sylvain 2011; M.-R. Trouillot 2002b, 1995b), die zum Teil bis heute Bestand haben. 139 135 Vgl. Vitiellos Kritik, dass Cité Soleil, wenngleich vom Erdbeben 2010 relativ wenig betroffen, in der Folge von den Medien als „endroit dangereux, devenu un quartier général de pilleurs violents“ (Vitiello 2011b: 92), inszeniert worden sei. Zur Stereotype bestärkenden Darstellung der haitianischen ‚bidonvilles‘ in Leths Film vgl. abermals Vitiello 2011b: 107. 136 Wie durch eine simple Suchmaschinen-Suche nach den entsprechenden Stichworten zu belegen ist. 137 Auch der Beiname ‚ärmstes Land der westlichen Hemisphäre‘ haftet Haiti heutzutage wie eine zweite Haut an und es finden sich nur wenige Pressemitteilungen, die gänzlich ohne derlei Allgemeinplätze in ihrem Wortlaut auskommen (vgl. z. B. Meyer 2010: 17; B. Bell 2001: 9; Vitiello 2011b: 91). 138 Unter Diskurs wird im vorliegenden Kontext eine Wissensformation bzw. institutionalisierte Rede verstanden, die bestimmte Vorstellungen und Werte einer bestimmten Epoche zum Ausdruck bringen, mit deren Hilfe Wirklichkeit strukturiert und erzeugt wird (vgl. Gerhard et al. 2008: 133; Link/ Link-Heer 1990: 90; Ruoff 2007: 92). 139 U. a. brandete damals wie heute ein rassistisch behafteter Diskurs auf, der Zweifel daran laut werden ließ, ob die ‚Schwarze‘ Republik Haiti tatsächlich in der Lage sei, sich selbst zu regieren (vgl. z. B. Lawless 1992: 51; Meyer 2010: 17; M.-R. Trouillot 1995b: 73; M.-R. Trouillot 1990b: 7 bzw. insbesondere hinsichtlich der Lage nach dem Erdbeben Confiant 2010; Quéméner 2010). Vgl. ferner Abmayr 2012; Farmer 2003; <?page no="69"?> 57 Doch tragen Françoise Lionnet zufolge gerade die neuen Medien im Zeitalter globaler Informationsflüsse zu einer zunehmend dekontextualisierten und unkritischen Verbreitung von Klischees über Haiti bei (vgl. Lionnet 2008: 232). 140 Wie penetrant sich unzählige „clichéd, exaggerated images“ (Munro 2010c: 2) über diese karibische Nation in der globalen Wahrnehmung festsetzten, zeigte sich zuletzt im Rahmen des Erdbebens vom 12. Januar 2010, als der Topos „Haïti maudite“ (Lahens 2010c: o. S.) erneut bemüht wurde. Die Anthropologin und Augenzeugin des Erdbebens Laura Wagner kommentiert dementsprechend: The news that emerged in the first few days after the earthquake salivated over ‚looters‘ and ‚criminals‘ set loose on a post-apocalyptic wasteland. This is the same story that has always been told about Haiti, for more than two hundred years, since the slaves had the temerity to not want to be slaves anymore. This is the same trope of savagery that has been used to strip Haiti and Haitians of legitimacy since the revolution. (2010: 18) 141 Eine zentrale Rolle innerhalb der Stereotypen, die der haitianischen Kultur zugeschrieben werden, spielt die vielfach vorherrschende Wahrnehmung des Landes als Ort der Gewalt. Seine turbulente Vergangenheit brachte Haiti gar den Ruf ein, „d’être ‚écrite dans la [sic] sang‘“ (Gilles 2008: 45). 142 Eine solche Sichtweise hält sich in Abwandlungen zum Teil hartnäckig bis in die Gegenwart, wie Robert Lawless anhand einer derart von Stereotypen aufgeladenen Studie zur Geschichte Haitis aus dem Jahr 1978 zeigt, aus der er folgende Frage zitiert (vgl. Lawless 1992: 2): „Are the Haitian people, living endlessly in a perverse continuum, oblivious of their past, doomed always to repeat a history that is written in blood? “ (Heinl/ Heinl 1996: 764). Ein solches Bild von Haiti prägt in der heutigen Zeit zunehmend das Denken über den Inselstaat, so stellt Farmer folgende Verschie- Lawless 1992; Braziel 2010: 177; Hron 2009: 142-47; Meyer 2010; Sommerfeld 1994: 73- 74 für weitere gängige Klischees gegenüber der haitianischen Kultur (u. a. hinsichtlich des Vodou-Glaubens, Haiti als Ursprung von HIV etc.). 140 Man denke etwa an die bereits erwähnte und durchaus kritisch einzuschätzende Dokumentation Ghosts of Cité Soleil über bewaffnete Gangs in den Slums von Port-au- Prince, die eine gewisse Tendenz dazu besitzt, deren Anführer zu „outlaw popculture heroes“ (Scott 2007: o. S.) zu stilisieren. Zur Verantwortung der internationalen Medien bezüglich der Verbreitung eines Bildes von Haiti als ‚pays maudit‘ und der damit einhergehenden Verfestigung bereits bestehender Stereotype vgl. Rainhorn 2012: 28. Zur Verbreitung und Zementierung derartiger Vorstellungen in der haitianischen Presse selbst vgl. Saint Fleur 2012: 89, 94-95. 141 Für eine derartige Kritik der globalen Wahrnehmung des Erdbebens 2010 durch ein „prisme de la fatalité“ (Etoke 2011: 88) vgl. außerdem Etoke 2011: 88; Jenson 2010: 103; Munro 2010c: 1; Peck 2010: 46; Rainhorn 2012: 26. Für kritische Reaktionen haitianischer Intellektueller und Schriftsteller hinsichtlich der (vornehmlich von außen kommenden) Rede von der ‚malédiction‘ des Landes vgl. z. B. Rousseau/ Laferrière 2010; Pouchet 2011; Lahens 2010c; Métellus 2010; Savigneau/ Théodat 2010; L. Trouillot 2010: 28-29, 31. 142 Vgl. auch Lawless 1992: 51-53; Farmer 2003: 189. <?page no="70"?> 58 bung der Kategorien fest: „[A]s the symbolic and pragmatic uses of Haiti change over time, so, too, do the terms of its singularity. In the nineteenth century, Haiti was ‚the Black Republic.’ Haiti is now the poor, the violent republic“ (2003: 197, Herv. J. B.). 143 Valerie Kaussen bestätigt dies, wenn sie beim US-amerikanischen Publikum das Fortbestehen eines Pseudowissens von „Haiti’s shocking ‚savagery‘“ (2009: 158) konstatiert. Studien zur Gewalt in der Karibik und Lateinamerika belegen jedoch, 144 dass die Gewalt in Haiti im Vergleich zu anderen Ländern eben gerade nicht singuläre Ausmaße angenommen hat und auch Lawless betont, dass sich die haitianische Geschichte keineswegs durch außergewöhnliches Blutvergießen auszeichne (vgl. Lawless 1992: 2). 145 Haiti wird vom globalen Norden mithin nur allzu oft herabgestuft zu einer Anomalie, einer „longue nuit de barbarie“ (Hurbon 1988: 6), deren „cultural presence on the world stage has been marginalized as the spatiotemporal site of a never-ending story of carnage and brutality“ (Glover 2010: 15). Derlei Behauptungen stilisieren Haiti geradezu zum ‚barbarischen‘ Gegenpol der westlichen Moderne, die sich des Selbstbilds der eigenen Gewaltfreiheit zu versichern sucht, indem sie Gewalt als Zeichen vermeintlicher Primitivität anderswo verortet (vgl. Mignolo 2010b: 324-25; Reemtsma 2009: 266). 146 Während (exzessive) Gewalt innerhalb der Kultur der Moderne zur Ausnahme erklärt werde, so folgert der Philologe Reemtsma deshalb, werde ihr Auftauchen in der ‚fremden‘ Kultur als Relikt archaischer Zeiten als Zeichen von Unzivilisiertheit und Barbarei 143 Vgl. durch besonders sprechende Bilder aufgebauschte Beschreibungen der Gewalt in Haitis Geschichte wie folgendes Beispiel aus einer Studie von P. Girard: „But Haiti’s past is also dark as a tropical night, its violence rarely matched in the annals of human history. Over the course of its history, this country has witnessed four massacres or genocides, one of the most brutal slave systems in the Caribbean, countless civil wars and foreign invasions, and the refined cruelty of Papa Doc’s torture chambers. Even today, settling a political score can mean burning someone to death or hacking a body with machetes“ (2010: 9). Zur vermeintlichen Singularität Haitis vgl. M.-R. Trouillot 1990b sowie Kap. 1.2.1. 144 Vgl. Briceño-León 2007; Caroit 2007; Maingot 2003; UNODC/ Weltbank 2007: 9 (Abb. 1.6); Geneva Declaration Secretariat 2011: 61. Dem stehen offizielle Warnungen vor Reisen nach Haiti von den Regierungen westlicher Länder gegenüber, so z. B. vom U.S. Department of State (bis heute gültig) oder dem Auswärtigen Amt, das seine langjährige Reisewarnung erst 2014 aufhob (Stand: 18.04.2015). 145 Auch die US-dominikanische Autorin Julia Alvarez greift diese Thematik kritisch auf, wenn sie in ihrem autobiografischen Text A Wedding in Haiti (2012) über eine Reise in das Land angesichts ihrer eigenen Ängste bestürzt ist: „I am left puzzled by my own expectations. What scenarios have I absorbed from the media or books […] that have led me to assume that poverty and misfortune will always bring out the worst in people? “ (Alvarez 2012: 259). 146 Vgl. außerdem Boatc 2006: 299; Reemtsma 1996: 30; M.-R. Trouillot 2002a: 850; Scheiffele/ Frings 2010: 23. Zur Rolle der Logik binärer Oppositionen im Selbstbild der Moderne vgl. Pratt 2002: 25, zum Dualismus von europäischem Subjekt und dem (nicht-europäischen) Anderen als Objekt vgl. Quijano 2010: 26-27. Zum Topos der gewaltfreien Moderne vgl. z. B. Joas 2000: 51. <?page no="71"?> 59 betrachtet (vgl. Reemtsma 1998b: 11; Reemtsma 2009: 196, 265): 147 „Der moderne Feind ist der Feind der Moderne: der Barbar. Jemanden zum Barbaren zu erklären bedeutet, ihn einer Zone zuzuordnen, in der Gewalt - noch - erlaubt und oft geboten ist“ (Reemtsma 2009: 293). Das Adverb ‚noch‘ in Reemtsmas Text drückt aus, dass in einer solchen Sicht die Annahme eines „Zivilisationsauftrag[s]“ (Reemtsma 2009: 266) verborgen liegt. In der Folge wird Gewalt aus Sicht der westlichen Moderne an diesen Orten regelrecht zur Normalität erklärt und verliert damit geradezu ihre Skandalösität, so kommentiert Sofsky: Es ist wahr: Tun wir nicht so, als würde ein Massenmord in Ostasien oder Afrika in derselben Weise wahrgenommen und empfunden wie ein Massaker an Europäern. Die Empörung kennt sehr wohl regionale Grenzen, Grade der Distanz, bis zur Gleichgültigkeit.“ (1993: 38) Der Aufbau einer solchen Opposition zwischen ‚Hier‘ und ‚Dort‘ als „a space for the inherently Other“ (M.-R. Trouillot 2003: 1) führe unweigerlich, so Reemtsma, zu einer „Pathologisierung und […] Verrätselung“ (Reemtsma 2009: 267) jener Gewaltphänomene, die dem Selbstverständnis der westlichen Moderne widersprechen würden, was insbesondere ihre autotelischen, häufig als besonders barbarisch und unmenschlich wahrgenommenen Manifestationsformen betreffe (vgl. ebd.: 269). 148 Ein solcher Entwurf von Haiti als ‚unzivilisierter Alterität‘ der westlichen Moderne, der seinen Ursprung bereits darin nahm, dass sich an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert die Möglichkeit der Auflehnung von Sklaven gegen ihre Unterdrücker und die Fähigkeit jener zur Selbstreflexion dem Vorstellungsvermögen der Kolonialmächte versperrte (vgl. M.-R. Trouillot 2002b, 1995b: 70-107), 149 konnte sich bis in die heutige Zeit 147 Vgl. auch Imbusch 2005: 86; Imbusch 2000: 33. Reemtsma leitet her, dass die „Begegnung mit anderen Zivilisationsformen“ (Reemtsma 2009: 196) aufgrund der Tendenz zur Generalisierung der eigenen Gebote und Verbote und der Nichtreflexion der „eigene[n] Art, gewalttätig zu sein […]“ (ebd.: 196) dazu führe, dass „die andere [Art, gewalttätig zu sein] nicht nur als eine andere Form wahrgenommen [wird], sondern als formverletzend schlechthin, als zur Formlosigkeit, zum Losgelassenen, Barbarischen gar Teuflischen wenigstens tendierend“ (ebd.: 196). Vgl. in diesem Kontext auch die Ausführungen zum Entwurf von ‚Otherness‘ durch eine Zuschreibung unterdrückter Aspekte der eigenen (‚weißen‘) Identität an den (‚Schwarzen‘) Anderen in Kilomba 2008: 19. 148 Zu autotelischer Gewalt als Gewaltform, die explizit auf die Zerstörung des anderen Körpers aus ist, vgl. Reemtsma 2009: 116-17, 132-33 sowie Kap. 1.1.2. Reemtsma bekräftigt, dass autotelische Gewalt im Kontext der westlichen Moderne als „pathologische Monstrosität“ (Reemtsma 2008: o. S.) wahrgenommen werde (vgl. auch Reemtsma 2009: 119), da sich diese Form der Gewaltanwendung deren Erfahrungshorizont entziehe und sie für die autotelische Gewalt keinen legitimierbaren Ort mehr bereithalte (vgl. ebd.: 124). 149 M.-R. Trouillot spricht von der ‚Undenkbarkeit‘ der Haitianischen Revolution zur damaligen Zeit, da sie „die Begriffe untergr[ub], in denen die Fragen formuliert wurden“ (M.-R. Trouillot 2002b: 94). Der Wissenschaftler zielt mit dieser Formulierung <?page no="72"?> 60 halten. Er wurde zum festen Bestandteil einer eurozentristischen Vision des Karibikstaats, die zu einem Ignorieren der Errungenschaften Haitis tendiert, während die Misserfolge des Landes unermüdlich hervorgehoben werden. 150 1.2.3 Eine kritische Bewertung der Stigmatisierung Haitis aus Sicht der Theorie: Diskursive Subalternisierung und epistemische Gewalt Die Gültigkeit eines solchen Diskurses über Haiti als Ort der Gewalt gilt es kritisch zu hinterfragen, da er historisch nicht unbelastet ist. Vielmehr wird er vor dem Hintergrund kolonial geprägter Machtstrukturen und eines Weltbilds geführt, welches die Diskurstraditionen der westlichen Moderne nachhaltig beeinflusst hat. 151 Wenn in der vorliegenden Studie von einem eurozentristisch geprägten Diskurs über Haiti die Rede ist, der auf Vorstellungen der westlichen Moderne basiert, wird dieser Begriff mit einer gewissen Vorsicht verwendet (vgl. auch Borst 2013a: 202-07). 152 Aktuelle Forschungen haben gezeigt, dass eine homogene, uniforme Sichtweise der Moderne als rein westliches Phänomen, das auf andere Kulturen übertragen werden könne, selbst ein eurozentristisches 153 Konzept darstelle (vgl. Eisenstadt 2000: 1; Randeria auf die Tatsache ab, dass einer eurozentristisch-kolonialen Weltsicht gemäß die Vorstellung, dass afrikanische Sklaven Werte wie Freiheit reflektieren und „[…] Strategien zu ihrer Eroberung und Verteidigung entwickeln könnten […]“ (ebd.: 84), undenkbar erschien (vgl. ebd.: 84-85). Dieses Denken setzte sich in der Folgezeit in der Verweigerungshaltung der Kolonialmächte gegenüber der Existenz eines unabhängigen haitianischen Staates fort (vgl. Dubois 2004: 303; Nesbitt 2008: 127) sowie in einem ‚Silencing‘ bzw. einer Bagatellisierung der Haitianischen Revolution durch eine eurozentristische Geschichtswissenschaft (vgl. M.-R. Trouillot 2002b: 102; M.-R. Trouillot 1995b: 96). Vgl. Horatschek 2008a zum Konzept kultureller Alterität als Möglichkeit, koloniale und imperialistische „Dominanzansprüche zu legitimieren“ (Horatschek 2008a: 15). 150 Vgl. hierzu Randeria 2000: 90-91; M.-R. Trouillot 1995b. 151 Zum Zusammenhang zwischen der ‚westlichen‘ Moderne und der Kolonialisierung der Neuen Welt vgl. Escobar 2007: 185; Mignolo 2000: 22. Zur Korrelation von Wissen und Macht vgl. u. a. Foucault 1994: 39. Vgl. außerdem die Kritik des Orientalismus und insbesondere die Ausführungen zur politischen Dimension von Wissen in Said 1995: 6, 11. 152 Zur Problematik eindeutiger Begrifflichkeiten wie ‚der Westen‘ oder ‚die Peripherie‘ vgl. auch Coronil 2002: 179. 153 Unter ‚Eurozentrismus‘ wird mit Conrad und Randeria ein Denkmodell verstanden, von dem angenommen wird, dass es aus einer „allgemeine[n] historische[n] Entwicklung [hervorgegangen ist], die als charakteristisch für das westliche Europa und das nördliche Amerika betrachtet wird […]“ (Conrad/ Randeria 2002: 12). Ihm liegt ein lineares Fortschrittsdenken zugrunde, das Wertungen anderer Gesellschaften - häufig hinsichtlich ihrer Defizite - im Vergleich zum eigenen Selbstbild vornimmt (vgl. ebd.: 12). Eine Folge ist die Vision einer „fortschreitenden Verwestlichung“ (ebd.: 12) der Welt. Wissensaustausch findet in diesem Modell nur einseitig vom ‚Zentrum‘ in die <?page no="73"?> 61 2000: 90; Rothberg 2008: 227-28). 154 Innovative Ansätze, die sowohl Kontinuitäten und Parallelen als auch Brüche und lokale Besonderheiten betonen, gehen vielmehr davon aus, dass eine Vielzahl unterschiedlicher und äußerst heterogener Formen der Moderne existiere. 155 Wenn hinsichtlich der Stigmatisierung der haitianischen Kultur mithin ein stereotyper Diskurs über Haiti angenommen wird, der sich aus westlichen, auf binären Oppositionen fußenden Denktraditionen entwickelt hat, 156 zielt dies dennoch nicht darauf ab, einen statischen Dualismus zwischen dem ‚Westen‘ und dem ‚Rest der Welt‘ fortzuschreiben. 157 Wie bereits Achille Mbembe betont, geht es an dieser Stelle nicht um eine Pauschalkritik des Westens, sondern eine reflektierte Beurteilung jener „effects of cruelty and blindness produced by a certain conception […] of reason, of humanism, and of universalism“ (Mbembe in: Mongin et al. 2008: 1). Entsprechend ist nicht zu verleugnen, dass ein derartiger Diskurs existiert, der eine solche Dichotomie zwischen Selbst und Anderem als „ontologisch gegeben“ (Conrad/ Randeria 2002: 21) annimmt (vgl. ebd.: 20-21). Jener gründet auf einer spezifischen „epochalen Wissensformation“ (Kastner/ Waibel 2012: 24) und den historischen Diskurstraditionen der westlichen Moderne, die auf Totalitätsansprüchen wie hierarchischer Verortung von Differenz basieren (vgl. Mignolo 2012: 51) und einer Logik des „Imperialismus/ Kolonialismus“ (ebd.: 46) verhaftet sind. 158 Das stereotype ‚Peripherie‘ statt und Zusammenhänge zwischen Moderne und Kolonialismus bzw. Kolonialität werden ausgeblendet (vgl. ebd.: 12-13; Escobar 2007: 183-84; Mignolo 2000: 51). 154 Vgl. z. B. die Kritik von Hörmann (2010: 150-54) an den Thesen M.-R. Trouillots. Jener wirft dem haitianischen Anthropologen vor, die Vielfalt der europäischen Diskurse auszublenden und nur jene anzuführen, die sein Argument, die westlichen Geschichtsbücher würden die globale Bedeutung der Haitianischen Revolution verschweigen, bekräftigen. 155 Vgl. Eisenstadt 2000, 2006; Randeria et al. 2004. Hierzu zählt auch das Konzept der ‚Transdifferenz‘, das es sich zum Ziel setzt, Differenzen anders zu denken, indem die Starrheit binärer Oppositionen aufgebrochen und „durch Momente der Transdifferenz komplementiert wird“ (Allolio-Näcke et al. 2005: 10; vgl. auch Allolio- Näcke/ Kalscheuer 2005: 16-17). Dies erlaube es, Differenzen temporär auszusetzen, ohne sie grundsätzlich zu verleugnen (vgl. Lösch 2005: 27). 156 Zu einer Kritik derartiger Denktraditionen und ihrer Grenzen im Erkennen der Komplexität von Welt vgl. z. B. Glissant 1991: 275; Glissant 1996: 85. 157 Vielmehr handelt es sich laut M.-R. Trouillot auch beim sogenannten ‚Westen‘ um ein fiktives Konstrukt (vgl. M.-R. Trouillot 2003: 1), „[that] operates only in opposition to the populations that it marks“ (ebd.: 2) und dessen Zentren sich verschieben können (vgl. ebd.: 2-3). Vgl. auch Conrad/ Randeria 2002: 12. 158 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Coronils Definition des ‚Okzidentalismus‘ als Diskurstradition, die eine hierarchisierende Einteilung der Welt vorgenommen habe, welche die Asymmetrie der globalen Machtbeziehungen widerspiegele und auf diesem Wege ein „greifbares und unausweichliches Bild der Welt“ (Coronil 2002: 179) konstruiert habe (vgl. ebd.: 186). Es ist vorrangig eine solche Rhetorik der Moderne, die dekoloniale Denkansätze kritisieren; vgl. u. a. Mignolo 2000, 2012; Mignolo/ Escobar 2010; Moraña et al. 2008; Quijano 2010, 1992; M.-R. Trouillot 2002a. <?page no="74"?> 62 Haiti-Bild hat sich historisch gesehen aus solchen diskursiven Konventionen heraus entwickelt. Er stützt sich auch heute noch auf Denkmuster, die einer Rhetorik verpflichtet sind, welche die Welt diskursiv in den ‚Westen‘ und nicht-westliche Peripherien aufspaltet. Wird in dieser Studie eine stereotype, auf derartigen Epistemologien fußende Vorstellung von Haiti folglich als für die westliche Moderne charakteristisch angeführt, geschieht dies in dem Bewusstsein, dass es weder den Diskurs der westlichen Moderne noch den Diskurs über Haiti gibt. Auch wenn eine derartige kritische Sicht der Moderne Gefahr läuft, dem Vorwurf zu unterliegen, selbst Verkürzungen vorzunehmen, 159 sind die Benennung eines solchen Diskurses und seine Annäherung an epistemologische Ursprünge jedoch ungeachtet dessen essenziell wichtig, um Denkmuster zu beschreiben, welche auch heute noch die öffentliche Wahrnehmung bestimmen. Zumal sich laut Mignolo ein solcher Diskurs gern selbst als einheitlich präsentiert, um das eigene Universalitätspostulat und die eigene hegemoniale Stellung zu unterstreichen (vgl. Mignolo 2000: 310; ebenso M.-R. Trouillot 2002a: 848). Das verzerrte Bild von Haiti als ‚unzivilisierter Alterität‘, wie es aus solchen Diskurstraditionen hervorgegangen ist, existiert jedoch nicht nur innerhalb der westlichen Welt. Es hat auch innerhalb der karibischen Kulturen selbst Bestand, wie etwa André Lucrèce im Rahmen seiner Relektüre von Frantz Fanon erläutert: Relire Fanon aujourd’hui, c’est comprendre pourquoi des Antillais clament haut et fort que les malheurs historiques et naturels qui touchent Haïti sont les conséquences d’une malédiction qui fait de ce pays une nation maudite, reprenant quasiment les mêmes mots et les mêmes expressions qu’employaient les évangélisateurs à propos de tous pays habités par des nègres. (2011: 112-13) Dieses Zitat verdeutlicht, dass jener Diskurs, der als typisch für die westliche Moderne angenommen wird, keineswegs auf diesen Raum eingegrenzt werden kann, sondern sich auch andernorts wiederfindet. Lucrèce bezieht sich mit dieser Anmerkung konkret auf jenen Minderwertigkeitskomplex und Mechanismus der Entfremdung der eigenen Selbstwahrnehmung, der Fanon zufolge im kolonialen Kontext zu Wirkung gelangt ist (vgl. Fanon 1952: 80, 90). Auch Lyonel Trouillot merkt an, dass der Diskurs des Westens längst nicht nur von außen an Haiti herangetragen werde, sondern sich auch innerhalb der haitianischen Gesellschaft reproduziere, deren Elite ihren Blick „vers l’ailleurs“ (L. Trouillot 2011b: 13) gerichtet habe. 160 159 Vgl. abermals Hörmann 2010: 150-54. 160 Vgl. in diesem Kontext auch M.-R. Trouillot 1990b: 7. Die Annahme, dass eine haitianische Elite den vom Westen geprägten Diskurs über Haiti allerdings schlicht und einfach übernommen habe, ist irreführend. Vielmehr wurde er auch innerhalb <?page no="75"?> 63 Es zeigt sich somit, dass sich das stereotype Bild von Haiti, wie es in Kapitel 1.2.2 beschrieben wurde, zwar aus einer westlichen Diskurstradition heraus entwickelt hat und auch heute noch eine vorherrschende Stellung in der globalen Wahrnehmung des Landes einnimmt. Dies impliziert aber weder, dass nicht auch innerhalb der westlichen Moderne andere Tendenzen aufzufinden sind, noch, dass ein solcher Diskurs geografisch auf den globalen Norden eingegrenzt werden kann. Diese Vielschichtigkeit des Phänomens ist mitzudenken, wenn im Kontext der vorliegenden Arbeit der Handhabbarkeit halber von einem stereotypen Diskurs, der unter dem Einfluss der Denkstrukturen der westlichen Moderne steht, die Rede ist. Obgleich eine solche Benennung auf den ersten Blick reduzierend und plakativ anmuten mag, so ist sie aber doch bewusst gewählt, um den epistemologischen Ursprung eines solchen Diskurses wie auch die immer noch existierende Dominanz westlicher Denkmodelle in der heutigen Welt (vgl. z. B. Mignolo 2000) zu unterstreichen. 161 Stereotype, wie sie das eurozentristisch geprägte, die globale Wahrnehmung dominierende Haiti-Bild bestimmen, definiert der Postkolonialismus-Theoretiker Stuart Hall als eine Form der Differenz, die zum einen „reduziert, essentialisiert, naturalisiert und fixiert […]“ (2004: 144). Zum anderen marginalisiere sie ‚das Andere‘ als das „Anormale[.] und Unakzeptable[.]“ (ebd.: 144) und grenze es aus, sodass aus der „Illusion einer in der Welt herrschenden Ordnung“ (Gilman 1992: 19) eine hegemoniale Beziehung zwischen Eigenem und Anderem zustande komme (vgl. S. Hall 2004: 144-45). Ein solcher Mechanismus liegt auch den im vorherigen Kapitel beschriebenen herrschenden Vorstellungen über die haitianische Kultur zugrunde. Sie sind Bestandteil von Wissenskonstruktionen, welche die Dominanz einer eurozentristischen Weltsicht auch in der Gegenwart durch die Festschreibung der Machtbeziehungen zwischen ‚Zentrum‘ und ‚Peripherie‘ 162 in Form einer Kontrolle über kulturelle und epistemische Produktionen immer wieder neu generieren und in diesem Zuge universelle der haitianischen Gesellschaft instrumentalisiert, um (koloniale) Machtstrukturen zu erhalten und zu perpetuieren. Vgl. hierzu Borst 2013a. 161 Die anschließende Analyse der beiden Romane von L. Trouillot und Lahens wird gleichermaßen nachweisen, dass auch in der Fiktion von der Existenz eines solchen Diskurses ausgegangen wird, der sowohl als für Vertreter des Auslands wie auch der haitianischen Elite typisch gezeigt wird. 162 Die Gegenüberstellung von ‚Zentrum‘ und ‚Peripherie‘ wird von der post- und dekolonialen Forschung äußerst kritisch betrachtet. Im vorliegenden Kontext wird sie bewusst eingesetzt, um das immer noch bestehende Machtgefälle zwischen (ehemaligen) Kolonialherren und Kolonien semantisch einfließen zu lassen. Vgl. etwa Ashcroft et al. 2007: 121; Conrad/ Randeria 2002: 12; Coronil 2002: 179. S. Hall argumentiert in diesem Sinne, dass das postkoloniale Paradigma eine solche imperialistische „Innen-Außen-Dichotomie des Kolonialsystems“ (2002: 227) aufgebrochen und durch eine Betrachtung gegenseitiger Wechselbeziehungen in einer postkolonialen Welt ersetzt habe (vgl. ebd.: 227). <?page no="76"?> 64 Gültigkeit beanspruchen (vgl. Castro-Gómez 2008: 268; Quijano 2007b: 169). 163 Der stereotype Diskurs über Haiti ist mithin Anzeichen für das Fortdauern von Kolonialität in Denkmustern und -strukturen, welche die gegenwärtige globale Machtverteilung widerspiegeln und Formen der Diskriminierung in epistemischen Kategorien kodifiziert haben (vgl. Quijano 2010: 22-23). Der Begriff der ‚Kolonialität der Macht‘, von dem peruanischen Soziologen Aníbal Quijano geprägt (u. a. 1992, 2007b), bezeichnet im Gegensatz zum ‚Kolonialismus‘, der die tatsächliche territoriale und wirtschaftliche Dominanz der Kolonien durch die europäischen Mächte beschreibt, eine „epistemological expropriation“ (Castro-Gómez 2008: 268), welche die Kolonialzeit überdauert hat und eine „wirtschaftliche, soziale, kulturelle und ideologische Aspekte umfassende Machtbeziehung zwischen (kolonialen) Zentren und (kolonisierten) Peripherien […]“ (Boatc 2006: 298) darstellt, die bis in die Gegenwart fortbesteht (vgl. Quijano 2010: 22): 164 „The repression fell, above all, over the modes of knowing, of producing knowledge, of producing perspectives, images and systems of images, symbols, modes of signification […]“ (ebd.: 23). Quijanos Konzept der Kolonialität betont mithin die Existenz eines epistemischen Machtmonopols des globalen Nordens, das sich in einem „machtdurchzogene[n] Konstitutionsverhältnis zum/ zur Anderen“ (Kastner/ Waibel 2012: 21) äußert und ein eurozentristisches, vorgeblich ‚universelles‘ Wissen produzierte und immer noch produziert, welches damals wie heute der Sicherung und dem Erhalt der epistemologischen Dominanz des ‚Westens‘ diente und dient (vgl. Castro-Gómez 2008: 281; Quijano 2000: 534-36). Walter Mignolo stellt in seinen Überlegungen zur „Dekolonialisierung des Denkens“ (Kastner/ Waibel 2012: 29) die Allgemeingültigkeit dieser ‚westlichen‘ Epistemologie grundlegend infrage (vgl. Mignolo 2008: 252) und bezeichnet sie als ‚global design‘, dem die Intention zugrunde liege, den eigenen ‚Ort der Artikulation‘ zu verschleiern und die eigene ‚local history‘ zum „unique and universal point of enunciation and production of knowledge“ (Castro-Gómez 2008: 279) zu erheben. Ein solcher Anspruch auf Allgemeingültigkeit wertet Mignolo zufolge an anderen Orten produziertes Wissen gleichzeitig als „irrelevant and ‚prescientific‘“ (Castro-Gómez 2008: 279) ab (vgl. Delgado et al. 2000: 8; Mignolo 2000: 65, 116, 120). 163 Für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Totalitätsanspruch westlicher Epistemologien vgl. auch Borst 2013a; Mignolo 2008: 252; Glissant 1990: 206. 164 Quijano spricht deshalb von einer „colonization of the imagination of the dominated“ (2010: 23). Vgl. auch S. Hall 2002: 226, 228. Zentral innerhalb dieser Machtbeziehungen der Kolonialität ist Quijanos Auffassung nach insbesondere die Kategorie der ‚Rasse‘ als pseudo-biologischer Hierarchisierungsmechanismus (vgl. u. a. Quijano 2008, 2007a, 1992; ebenso Escobar 2007: 185). Zum Fortbestehen asymmetrischer Machtbeziehungen auch in einer postkolonialen Welt vgl. ferner Conrad/ Randeria 2002: 24. <?page no="77"?> 65 Mignolo steht mit dieser Auffassung in der Tradition einer post- und dekolonialen Kritik der westlichen Moderne, die insbesondere den „Universalitätsanspruch des westlichen Rationalismus“ (Conrad/ Randeria 2002: 34) und seinen Einfluss auf das ‚koloniale Projekt‘ in den Fokus nimmt (vgl. ebd.: 34-35). 165 Angesichts einer solchen ‚Geopolitik des Wissens‘ (vgl. Kastner/ Waibel 2012: 28) spricht Santiago Castro-Gómez von „epistemological violence“ (2008: 281), da hier Gewalt gegen andere Formen der Wissensproduktion ausgeübt werde (vgl. ebd.: 281). Er greift mit diesem Konzept den von Gayatri Chakravorty Spivak geprägten Begriff der ‚epistemischen Gewalt‘ auf, mit dem sie das Phänomen der „violence of knowledge, or […] knowledge-production“ (Nanda 2005: 575) bezeichnet (vgl. Spivak 1988). 166 Spivak führt ihn ins Feld, um den dialektischen Prozess des sogenannten ‚Othering‘ fassen zu können, der den ‚Subalternen‘ 167 - in Abgrenzung vom ‚imperialen Subjekt‘ - als marginalisierten, „undifferenzierten kollektiven Anderen“ (Reckwitz 2000: 6) definiert und somit über Stereotypenbildung eine hegemoniale, inegalitäre Beziehung aufspannt (vgl. Spivak 1999: 211- 17; Spivak 1988: 280-81; Hitchcock 2008: 197). Dem ‚subalternen‘ Anderen wird in diesem Akt dahingehend Gewalt angetan, dass seine „Subject-ivity“ (Spivak 1988: 281) infrage gestellt und er diskursiv als inferior, minderwertig und entindividualisiert entworfen wird (vgl. Ashcroft et al. 2007: 142; Reckwitz 2000: 6). Die Psychologin Kilomba verortet diese Form der Gewalt symbolisch im Bild jener Maske, die afrikanischen Sklaven angelegt wurde, um ihren Mund zu verschließen (vgl. Kilomba 2008: 16-17). Jene diente vordergründig dazu, die Sklaven davon abzuhalten, die geernteten Produkte auf den Feldern zu essen; Kilomba zufolge stellt sie indessen auch eine Metapher des Strebens der westlichen Moderne nach universeller Gültigkeit dar, denn sie symbolisiert die Sprachlosigkeit des ‚Subalternen‘: 165 Dieses Forschungsfeld ist äußerst umfangreich und kann im Folgenden nur angerissen werden. Für eine ausführlichere Auseinandersetzung sei insbesondere auf Sammelbände zur Thematik verwiesen wie Isasi-Díaz/ Mendieta 2012; Mignolo/ Escobar 2010; Moraña et al. 2008. Vgl. auch die Überlegungen von Said, der eine Delegitimierung alternativer Formen der Wissensproduktion durch die Vorherrschaft des westlichen Diskurses über den ‚Orient‘ konstatiert (vgl. Said 1995: 1-3, 6; ebenso Castro-Gómez 2008: 264-68; Reckwitz 2000: 4-5). 166 Spivak zeichnet dies am Beispiel der indischen Praxis des ‚sati‘ (Witwenselbstverbrennung) nach, deren Ächtung durch die Kolonialregierung sie als epistemische Gewalt betrachtet, „because they reclassified what tradition condoned as a noble act, as an act of violence“ (Nanda 2005: 575). Vgl. Spivak 1988: 297-308. 167 Mignolo kritisiert in Iñigo Clavo et al. 2007, dass dem Begriff des ‚Subalternen‘ bereits eine diskursive Subalternisierung des (post)kolonialen Subjekts innewohne. Um der Ambivalenz des Begriffs und der Tatsache, dass in der Denomination bereits eine begriffliche Inferiorisierung mitschwingen kann, Rechnung zu tragen, verwende ich den Begriff konsequent in Anführungszeichen. <?page no="78"?> 66 The mask sealing the mouth of the Black subject prevents the white masters from listening to those truths she/ he […] ‚keeps at a distance,‘ at the margins, invisible and ‚quiet.‘ […] [I]t protects the white subject from listening to ‚Other‘ truths and from acknowledging ‚Other‘ knowledge. (ebd.: 21) Ein derartiger Gewaltbegriff, wie ihn Spivak geprägt hat, basiert auf einer ähnlichen Annahme wie Pierre Bourdieus Konzept der symbolischen Gewalt als in „Begriffen, Sprache und Symbolsystemen eingelagerte Gewalt“ (Imbusch 2005: 25). Diese setzt den Erläuterungen des Soziologen zufolge unter Verschleierung der eigentlichen Herrschaftsverhältnisse und ohne, dass der violente Charakter ihres Wirkens offenkundig zutage tritt, bestimmte Bedeutungen durch, etabliert deren Legitimitätsanspruch und sorgt auf diese Weise für die Bewahrung von Machtstrukturen (vgl. Bourdieu/ Passeron 1970: 18, 56). 168 Sprache als Symbolsystem wird in diesem Kontext zum zentralen Träger symbolischer Gewalt, sodass die Machtbeziehungen, die ihr zugrunde liegen, im Diskurs Aktualisierung finden (vgl. Bourdieu/ Wacquant 1992: 118). 169 Auch die diskursive Praxis, die Haiti mit dem Stigma der Gewalt versieht, kann vor dem Hintergrund der angestellten theoretischen Überlegungen als Akt epistemischer Gewalt betrachtet werden. Selbst wenn es sich hierbei um eine Verletzung auf symbolischer Ebene handelt, ist diese in ihrer Wirkung nicht (zwingend) minder traumatisch für das haitianische Kollektiv. Es handelt sich im vorliegenden Fall um eine graduelle Traumatisierung des (post)kolonialen Subjekts, das eine diskursive Subalternisierung und Inferiorisierung erfährt. 170 Janoff-Bulmanns Ausführungen, dass eine Erschütterung des Glaubens an die Würde des eigenen Selbst als 168 Dies impliziert in Bourdieus Denken, dass die Gewalt bereits dem Zeichen(system) selbst eingelagert sei und der Zeichenbenutzer in einem Spannungsfeld zwischen ‚reconnaissance‘ und ‚méconnaissance‘ der symbolischen Macht gewissermaßen zum Mittäter werde (vgl. Imbusch 2005: 26; Moebius 2011: 58). Vgl. auch Galtungs Begriff der kulturellen Gewalt als Bestandteil der Sphäre des Symbolischen, die der Rechtfertigung oder Legitimierung (und somit der Verschleierung) anderer Gewaltformen innerhalb der Gesellschaft diene. Galtung betont hierbei, dass der Begriff immer nur auf Teilaspekte von Kulturen referiere, nie jedoch auf eine bestimmte Kultur als Ganzes (vgl. Galtung 1990: 291-92). Vgl. bereits den Forschungsstand dieser Arbeit. 169 Zur Sprache und ihrer Dimension als Medium symbolischer Macht im postkolonialen Kontext vgl. Bourdieu/ Wacquant 1992: 118-19. 170 Eine Berücksichtigung der traumatischen Dimension von Rassismus und Diskriminierung fordert die postkoloniale Traumaforschung explizit ein. Craps und Buelens werfen in diesem Zuge der ‚klassischen‘ (westlichen) Traumatheorie eine eurozentristische Perspektive vor, die nicht-westliche traumatische Ereignisse sowie Arbeiten kaum aufgreife und kulturelle Differenzen im Umgang mit Trauma nicht berücksichtige (vgl. Craps/ Buelens 2008: 2). Ich schließe mich jedoch Rothberg an, wenn dieser davor warnt, im Zuge der Forderung nach einer ausdrücklichen postkolonialen Perspektive in Partikularismen zu verfallen. Er zeigt auf, dass eine konzeptuelle Öffnung des Traumabegriffs sehr wohl auch neue Einblicke in die sogenannten ‚klassischen‘ Traumata der westlichen Welt ermögliche (vgl. Rothberg 2008: 228-29). <?page no="79"?> 67 traumatisch erfahren werden könne (vgl. Janoff-Bulman 1992: 6), 171 bietet in diesem Kontext einen interessanten Anknüpfungspunkt an Nelson Maldonado-Torres’ Analyse der ‚Kolonialität des Seins‘ (‚coloniality of Being‘), die in diesem Sinne als traumatische Begegnung mit dem imperialen Anderen beschrieben werden kann (vgl. Maldonado-Torres 2010: 97). Die Erfahrung der (möglichen) „annihilation“ (Janoff-Bulman 1992: 56), die Janoff-Bulman ins Zentrum ihrer Überlegungen stellt, geschieht hier jedoch auf einer symbolischen Ebene, indem nicht unbedingt das Leben des ‚Subalternen‘ 172 im wörtlichen Sinne bedroht, sondern ihm letztlich seine Menschlichkeit abgesprochen wird: „The coloniality of Being refers […] to the violation of the meaning of human alterity to the point where the alter-ego becomes a sub-alter“ (Maldonado-Torres 2010: 111). Vergleichbar spricht auch Kilomba von einer „traumatic reality“ (Kilomba 2008: 13) des ‚Schwarzen‘ Subjekts, dessen Degradierung zum „subordinate and exotic ‚Other‘“ (ebd.: 13) in der kolonialen Szenerie im alltäglichen Rassismus der Gegenwart neu inszeniert werde. 173 Der Argumentation von Maldonado- Torres nach führt diese epistemische Marginalisierung dazu, dass das (post)koloniale Subjekt als ‚killable‘ und ‚rapeable‘ betrachtet wird (vgl. Maldonado-Torres 2010: 109). 174 Inwieweit diese Gemengelage im vorliegenden Kontext eine Rolle spielt, zeigt eine genauere Betrachtung der Reaktionen auf die Stigmatisierung des Landes als Ort der Gewalt aus Haiti selbst, die im Folgenden skizziert werden. 171 Janoff-Bulman spricht in diesem Sinne von ‚shattered assumptions‘ hinsichtlich der Vorstellung des Individuums von seiner Beziehung zur Welt bzw. von einer „injury […] to the victim’s inner world“ (1992: 52). Vgl. auch ebd.: 6, 17, 19-20; G. Fischer 2000: 13-14; A. Hirsch 2001: 21 sowie Kap. 1.1.2. 172 Maldonado-Torres selbst spricht nicht vom ‚Subalternen‘ (vgl. Mignolos Kritik in Iñigo Clavo et al. 2007). Stattdessen gibt er Fanons Begriff des ‚damné‘ den Vorzug, um, wie er erläutert, zu betonen, dass dieser im Sinne einer „invisible entity“ (Maldonado-Torres 2010: 111) nicht ‚da ist‘ (‚being there‘), sondern vielmehr ‚nicht ist‘ (‚nonbeing‘) (vgl. ebd.: 110-11). 173 Kilomba greift in diesem Kontext auf die Erkenntnisse Fanons in dessen berühmter Schrift Peau noire masques blancs (1952) zurück, der davon ausgeht, dass der Kolonisierte sich die Vorstellung der eigenen Unterlegenheit durch die Begegnung mit der eigenen „noirceur“ (Fanon 1952: 90) im diskriminierenden „regard blanc“ (ebd.: 89) selbst aneigne und einen Minderwertigkeitskomplex herausbilde (vgl. ebd.: 80). Entsprechend geht auch Kilomba von einer Selbstentfremdung des ‚Schwarzen‘ Subjekts (vgl. Fanon 1952: 91, 154-155) aus, die durch eine aufoktroyierte Identifizierung mit ‚weißen‘ Idealen und eine negativ konnotierte Stereotypisierung von ‚Blackness‘ herbeigeführt werde (vgl. Kilomba 2008: 19). 174 Maldonado-Torres zufolge ist das Dasein des ‚Subalternen‘ von der Veralltäglichung eines Gewaltrepertoires bestimmt, das eigentlich der Sphäre des Krieges zuzuordnen ist (z. B. Mord, Vergewaltigung), sodass dieser kontinuierlich mit der Realität des eigenen Todes konfrontiert werde (vgl. Maldonado-Torres 2010: 109, 111; Maldonado-Torres 2008: xii). In einem Kontext der Kolonialität überdauert eine solche Zuschreibung der Gewalterfahrung als Normalität der ‚subalternen‘ Existenz die Kolonialzeit und wirkt bis in die Gegenwart fort. <?page no="80"?> 68 1.2.4 Ambivalente Reaktionen aus Haiti: Gewalt zwischen Re-Exotisierung und kollektivem Trauma „Maligned as we were in the media at the time, as disasterprone refugees and boat people and AIDS carriers, many of us had become overly sensitive and were eager to censor anyone who did not project a ‚positive image‘ of Haiti and Haitians.“ (Danticat 2010: 32) Das traumatische Potenzial einer diskursiven Konstruktion von Haiti als Ort violenter Exzesse liegt in der darin enthaltenen Zuschreibung der Gewaltaffinität an eine ganze Kultur, deren von gewaltsamen Ausschreitungen geprägtes Schicksal in der globalen Wahrnehmung angesichts des vorherrschenden Topos des ‚pays maudit‘ resignativ als unabänderlich hingenommen zu werden scheint. Dies hat zur Folge, dass die haitianischen Intellektuellen selbst sehr unterschiedlich zur Gewaltproblematik Stellung beziehen und sich ein überaus heterogenes Bild offenbart (vgl. Borst 2013a: 203). 175 Während zum einen ebenfalls von einem „fantasme de la violence“ (Hurbon 2002: 116) oder einem „pays profondément zombifié“ (Depestre in: Sroka/ Depestre 2000: o. S.) gesprochen wird, das in einem beständigen Kreislauf der Gewalt und Gegengewalt gefangen sei (vgl. Hurbon 2002: 116), werden zum anderen Stimmen laut, die sich kritisch gegenüber einer solchen Zuschreibung äußern, welche mit einer Reduktion Haitis auf eine Realität der Gewalt Hand in Hand geht (vgl. Djebar/ L. Trouillot 2006: 37). Der haitianische Autor Lyonel Trouillot mahnt in diesem Zusammenhang in einem Gespräch mit der algerischen Schriftstellerin Assia Djebar an, dass es sich hierbei lediglich um einen neuen Gemeinplatz über Haiti handle, der das alte Bild des idyllischen karibischen Tourismus-Paradieses ersetzt habe: 176 I reflect violence in my work because one writes with one’s gaze. But it would be a mistake for a New York or a Parisian reader to view this violence as a sort of new exoticism. Violence is one aspect of the reality of my country - a country where one lives, one makes love, one drinks, one sings. I say this both to you as the reader and to me as the writer, so that I will not replace cocoa trees with cadavers.“ (L. Trouillot in: Djebar/ L. Trouillot 2006: 37) 177 175 Spivak warnt in diesem Sinne auch davor, den ‚Subalternen‘ als homogene Masse wahrzunehmen und seine Heterogenität zu verkennen (vgl. Spivak 1988: 284). 176 Zum Aufschwung des haitianischen Tourismussektors unter der Duvalier-Diktatur vgl. Larrier 2006: 13; San Miguel 2011: 563; jener ist auch Thema in der haitianischen Literatur, so z. B. in La chair du maître (1997) bzw. Vers le sud (2006) von Laferrière sowie in der gleichnamigen filmische Adaption aus dem Jahr 2005 von Laurent Cantet. 177 Laferrière beschreibt diese Wandlung des Haiti-Bilds vom idyllischen Inselparadies zu einem ambivalenten Ort der Gewalt und Armut in seinem Roman L’énigme du <?page no="81"?> 69 Eine diskursive Stigmatisierung des Landes als Ort ‚außergewöhnlicher‘ Gewalt stellt ein prägnantes Beispiel für die von M.-R. Trouillot kritisierte Rede von der „apartness“ (M.-R. Trouillot 1990b: 8) Haitis dar (vgl. Kap. 1.2.1) und verdeutlicht, wie die an der Schwelle zum 19. Jahrhundert ‚undenkbare‘ Nation als Kultur weitergedacht wird, die Gewalt und Chaos anheimgefallen ist. 178 Eine solche Sicht befeuert zusätzlich die herrschende Resignation angesichts der vermeintlichen Ausweglosigkeit und stellt damit beständig die Überlebensfähigkeit Haitis ohne Hilfe (des Westens) infrage (vgl. Meyer 2010: 17). 179 Die Stigmatisierung des Landes in der globalen Wahrnehmung wird deshalb nicht nur in zahlreichen haitianischen Romanen thematisiert und kritisiert, 180 sondern lässt viele Intellektuelle und Schriftsteller aus Haiti wie auch der Diaspora in unterschiedlichster Form (darunter wissenschaftliche Studien, Essays, Artikel und Interviews) öffentlich Stellung beziehen. 181 Sie fordern generell eine differenziertere Sichtweise Haitis, das nicht auf die negativen Seiten seiner Realität sowie oberflächliche und phrasenhafte Klischees reduziert werden dürfe (vgl. u. a. J. Brown/ É. retour (vgl. z. B. Laferrière 2009: 133-34). Vgl. ferner die Aussagen von Dalembert in Gyssels et al. 2008: 132. 178 Zur ‚Undenkbarkeit‘ Haitis als erster unabhängiger ‚Schwarzer‘ Nation aus Sicht der westlichen Kolonialmächte vgl. bereits Kap. 1.2.2. 179 Aktuelle Beispiele hierfür sind etwa die Diskussionen hinsichtlich der Präsenz der zahlreichen Nichtregierungsorganisationen bzw. der gegenwärtigen UN-Mission MINUSTAH. Vgl. Kristoff/ Panarelli 2010: 1; Ramachadan/ Walz 2012; Jurt/ Scheiffele 2012 bzw. Dillmann 2010b; Dubois 2012: 367-68; Engler 2011; Frantz 2011; ebenso die Dokumentation Haiti. Tödliche Hilfe (2012) des Regisseurs Raoul Peck. Für eine kritische Perspektive auf diese Entwicklungen vgl. Bellegarde-Smith 2010: 143 sowie die kritischen Äußerungen haitianischer Intellektueller, z. B. in Prophète 2010b; L. Trouillot 2012b: 20-21. Die Thematik findet gleichermaßen Widerhall im haitianischen Gegenwartsroman, so etwa in Laferrières L’énigme du retour, Dalemberts Noires blessures (2011) oder Lahens’ Guillaume et Nathalie (vgl. u. a. Laferrière 2009: 132-33; Dalembert 2011: 162-63; Lahens 2013: 61-62, 66). 180 Auch in der Literatur (z. B. Marvin Victors Corps mêlés (2011), Laferrières L’énigme du retour) findet sich eine derartige Kritik an klischeehaften Vorurteilen, die der haitianischen Realität (von außen) übergestülpt werden. Dort steht der Vorwurf im Raum, dass gerade das (westliche) Ausland Haiti als Inbegriff eines von Gewalt, politischen Wirren, Armut und Naturkatastrophen gepeinigten Landes betrachte, für das man längst jegliche Hoffnung aufgegeben habe (vgl. Laferrière 2009: 132-34; M. Victor 2011: 55-56). Häufig treten ‚westliche‘ Journalisten oder andere Ausländer in den Romanen auf, die als Stellvertreter eines solchen Diskurses inszeniert werden, so der Fall in L’énigme du retour, aber auch in L. Trouillots Rue des pas-perdus und La belle amour humaine oder Lahens’ La couleur de l’aube. Vgl. ferner Dominique 2008: 120. 181 Gerade der Autor L. Trouillot äußert sich in diesem Kontext immer wieder, vgl. u. a. L. Trouillot 2011b; Dalembert/ L. Trouillot 2010; Djebar/ L. Trouillot 2006; Tegomo/ L. Trouillot 2009a; L. Trouillot 2003b. Eine umfangreiche Fiktionalisierung hat diese Kritik aus seinen programmatischen Schriften durch den Roman La belle amour humaine erfahren, wo der Literat das Haiti-Bild und die Naivität westlicher Helfer wie Touristen parodiert und offensiv mit der diskursiven Stereotypisierung des Landes abrechnet (vgl. u. a. L. Trouillot 2011a: 21, 29, 32-34, 36-37, 87-93, 118). <?page no="82"?> 70 Trouillot 2011: 0: 35-1: 25 Min.; Djebar/ L. Trouillot 2006: 37; Flamerion/ L. Trouillot 2010; Ménard/ Lahens 2011: 191; Saint-Éloi/ Lahens 1999; Zimra/ Lahens 1993: 90). Zudem dürfe die haitianische Kultur nicht als generell gewalttätig gebrandmarkt werden, sondern Gewalt sei vielmehr als systemisches Problem zu erkennen (vgl. Henri 2012; Hurbon 2002: 116). 182 Kritische Äußerungen finden sich insbesondere gegenüber der Rede der vermeintlichen ‚malédiction‘ Haitis (vgl. hierzu Kap. 1.2.2), da eine solche Wahrnehmung ein Entwicklungspotenzial Haitis regelrecht ausschließe (vgl. Métellus 2003: 9; Voinchet/ Laferrière 2011: 4: 13-5: 39 Min.) und somit das Klischee von Haitis ‚Andersartigkeit‘ (vgl. M.-R. Trouillot 1990b) und ‚Gewaltaffinität‘ perpetuiere. Im vorliegenden Kontext stellt sich sicherlich die Frage, inwieweit ein solches Zurückweisen des Vorwurfs der Gewalt und eine Relativierung ihrer Bedeutung in der haitianischen Realität eine relativierende ‚Richtigstellung‘ der bestehenden Stereotypisierung des Landes darstellen oder inwieweit von haitianischer Seite möglicherweise gar ein Bestreben vorliegt, das Bestehen von Klischees durch eigene Stellungnahmen nicht noch zu verlängern. 183 So moniert z. B. Lyonel Trouillot, dass manche seiner Schriftstellerkollegen dem weit verbreiteten verzerrten Bild und schlechten Ruf der Heimat in Form öffentlicher Äußerungen durch eine übertriebene Bestätigung derartiger Klischees zusätzlich Nahrung bieten würden (vgl. Tegomo/ L. Trouillot 2009b). 184 Die Sachlage wird umso delikater, wenn man die Frage aufwirft, ob sich in einer solchen Sichtweise nicht möglicherweise gerade eine vom Westen sehr wohl beeinflusste Perspektive einer Elite verbirgt, die gerade bestrebt ist, das Stigma der Gewaltaffinität abzustreifen und so die Gleichwertigkeit der eigenen Zivilisiertheit zu unterstreichen. Hinweise auf diese Möglichkeit finden sich etwa in den Untersuchungen Hurbons, der betont, dass die haitianische Oberschicht es nach der Haitianischen Revolution als ihre Mission angesehen habe, die Kultur der ‚monde noir‘ gegenüber dem Westen zu verteidigen und Bilder der Barbarei und Unkultur zurückzuweisen, was teils auch die literarischen Texte beeinflusst habe (vgl. Hurbon 1988: 53-55; Hurbon 1979: 77). Zumal Strukturen aus der Kolonialzeit in der heutigen haitianischen Gesellschaft ihre Spuren hinterlassen haben, was sich u. a. im Bestehen einer tiefen sozialen Kluft äußert. 185 Angesichts der hohen Analphabetenrate und der prekären Bildungssituation in Haiti (vgl. Hoffmann 1995: 24; Lundahl 2011: 27) gehören so auch die haitianischen Schriftsteller sicherlich zu einer gewissen ‚Bildungselite‘ und entstammen eher den privilegierteren Gesellschaftsschichten (vgl. Hoffmann 1995: 27). Gleichzeitig gilt es, eine solche haitianische Kritik gegenüber der Stigma- 182 Vgl. hierzu auch Kap. 1.2.1. 183 Zur ‚Empfindlichkeit‘ vieler Haitianer gegenüber negativen Stellungnahmen zu ihrem Land vgl. Danticat 2010: 32. 184 Vgl. außerdem L. Trouillots Aussagen in: Taleb-Khyar/ L. Trouillot 1992: 405. 185 Vgl. hierzu die Erläuterungen in Kap. 1.2.1. <?page no="83"?> 71 tisierung des Landes durch einen von westlichen Vorstellungen geprägten Diskurs als rhetorische Gegenwehr dahingehend zu lesen, dass, so stellt Shalini Randeria fest, meist die „westliche Erfahrung den Maßstab für Normalität und Universalität vorgibt […]“ (2000: 90), sodass eher die Verfehlungen und Misserfolge der nicht-westlichen Gesellschaften (über)betont würden als ihre jeweils spezifischen Errungenschaften (vgl. ebd.: 90-91). 186 In seiner Studie zu kultureller Erinnerung und Trauma erläutert Basseler, dass im Falle kollektiver Traumata „[a]uf der einen Seite […] das Bedürfnis nach totaler Verdrängung [besteht], während auf der anderen Seite eine geradezu obsessive Beschäftigung mit dem Trauma einsetzt […]“ (2008: 71). Diese Argumentation des Literaturwissenschaftlers bietet eine mögliche Erklärung für das gespaltene Verhältnis der haitianischen Gesellschaft zur Gewaltproblematik, wie es in diesem Kapitel beschrieben wurde. Dies ist umso zutreffender angesichts Haitis Status als postkolonialer karibischer Gesellschaft, da es die traumatische Erfahrung auf verschiedenen Ebenen zu denken gilt: zum einen die traumatische Erfahrung der Gewalt in der Alltagswirklichkeit der Post-Duvalier-Ära; zum anderen aber auch die gravierenden Implikationen eines überheblichen Diskurses, der Haiti als ‚unzivilisierte Alterität‘ der westlichen Moderne und ‚pays maudit‘ aburteilt. Bisher nicht in die Überlegungen einbezogen wurde die Präsenz der Gewaltthematik im haitianischen Gegenwartsroman. Auch hier findet eine Auseinandersetzung mit der Problematik statt, die es im Folgenden zu skizzieren und im Umfeld der beschriebenen Diskurse zur Gewalt in Haiti zu verorten gilt, bevor die Darstellung des Phänomens in Lyonel Trouillots Rue des pas-perdus und Yanick Lahens’ La couleur de l’aube in der Textanalyse im zweiten Teil der Arbeit näher in Augenschein genommen wird. 186 M.-R. Trouillot hat diese Problematik in Silencing the Past. Power and the Production of History (1995) explizit für den haitianischen Kontext aufgearbeitet. <?page no="84"?> 72 1.3 Narrative der Zer/ Verstörung: Gewalt und Trauma im haitianischen Gegenwartsroman „[Going back to literature w]e can safely step into someone else’s shoes, and sometimes understand the depth of an experience much more than we could by meeting an actual person. A great work of art can really change the way that you see individual men and women and the experiences that surround them, the experiences that shape them.“ (Danticat in: Mirabal/ Danticat 2007: 34) „Ces créateurs s’efforcent de retraduire le politique en enjeux littéraires. […]. Ponctuellement, ils descendent dans la mêlée, dénonçant à grands fracas la répression, la violence, la barbarie à visage humain ou pas.“ (Ollivier 2001: 85) Ungeachtet des in Haiti und seiner Diaspora geführten Gegendiskurses, der eine Verengung der globalen Wahrnehmung des Landes auf sein ‚Gewaltproblem‘ angreift, zeugen die haitianischen Gegenwartsromane ebenfalls davon, dass Gewalt in der Post-Duvalier-Ära innerhalb der haitianischen Kultur ein signifikantes Thema darstellt, und bieten einen Raum, um diese traumatische Erfahrung zu verhandeln. Hierbei stellt sich zwangsläufig die Frage, ob die Literatur hiermit den Stereotypen, welche die Sicht der Weltöffentlichkeit auf Haiti bestimmen, möglicherweise zusätzlichen Brennstoff liefert. 187 Bedienen die Texte vornehmlich den Erwartungshorizont einer westlichen Leserschaft von einer gewalttätigen haitianischen Kultur oder durchbrechen sie diesen, indem eine entscheidende Fokusverschiebung stattfindet? 188 Diese Studie geht davon aus, dass sich der literarische Text über seine Schwerpunktsetzung und spezifische Ästhetik als symbolischer Raum auszeichnet, innerhalb dessen das Phänomen der Gewalt differenziert diskutiert und zur Anschauung gebracht wird, sodass ein komplexer Diskurs über die Problematik generiert wird. 189 187 So merkt Shelton an, dass aufgrund der Tatsache, dass viele haitianische Autoren im Ausland verlegt würden, grundsätzlich das Risiko bestehe, dass diese mit Blick auf die Erwartungshaltung der dortigen Leserschaft schrieben: „En effet, l’écrivain qui s’adresse à un public étranger […] peut souscrire à un discours exotique pour plaire à ses lecteurs d’outre-mer“ (1993: 184). Als Beispiel nennt sie etwa die zentrale Stellung der (für eine westliche Leserschaft exotischen) Vodou-Thematik in zahlreichen haitianischen Romanen. 188 Vgl. die Feststellung von Hoffmann (1995: 43, 56), dass sich das Schaffen der haitianischen Autoren grundsätzlich dadurch auszeichne, dass sie auf der einen Seite (im Sinne einer ‚littérature engagée‘) die sozialen Missstände im eigenen Land in der Hoffnung auf Veränderung kritisierten und auf der anderen Seite Haiti gegen Zuschreibungen von außen verteidigten. 189 Zur Bedeutung der Literatur bei der Veränderung bestehender Diskurse in der Realität und der Möglichkeit, im literarischen Text z. T. widersprüchliche Diskurse - wie <?page no="85"?> 73 Im Folgenden werden in diesem Sinne als Orientierung für die anschließenden Analysekapitel drei zentrale Thesen zur Darstellung der Gewalt in Rue des pas-perdus und La couleur de l’aube formuliert, die auf zahlreiche andere haitianische Romane der Post-Duvalier-Ära und ihre Fiktionalisierung von Gewalt übertragbar sind und für deren Interpretation Anschluss bieten. In Rue des pas-perdus und La couleur de l’aube wird Gewalt als entfesseltes und allgegenwärtiges Phänomen der Wirklichkeit inszeniert. Sie wird als Konstante der haitianischen Geschichte präsentiert, die auch nach 1986 fortbesteht und die Gesellschaft der Post-Duvalier-Ära fest im Griff hat. Munro bestätigt dies im Rahmen seiner Reflexionen zum generellen Verhältnis der haitianischen Literatur zur Historie: Haitian authors, on the contrary, tend to stress the unfinished, repetitive nature of their history. […]. Haitian novelists generally express the lack of any satisfactory sense of the past; history is often lived and presented as a recurring, murderous, (self-)destructive cycle […]. (2007b: 168) Betrachtet man den genannten thematischen Fokus vor einem literaturgeschichtlichen Hintergrund, ist ersichtlich, dass die Texte der beiden Autoren in einer langen Tradition der sozialkritischen Bezugnahme der Gattung des haitianischen Romans auf die Lebenswirklichkeit der Menschen stehen (vgl. Bernard 2003: 10; Dalembert/ L. Trouillot 2010: 28-29; Fleischmann 1969: 9-10; Hoffmann 1995: 43; Mariñas Otero 1965: 328; Munro 2010b: 69-70; Ollivier 2001: 55-56; Shelton 1993: 28-31). 190 Gewalt als zentraler Bestandteil der haitianischen Alltagswirklichkeit, der die Gesellschaft nicht Herr zu werden vermag, wird in der Fiktion mithin in keinerlei Hinsicht verleugnet oder beschönigt. Um bei Lyonel Trouillots anschaulicher Metapher, dass in der haitianischen Literatur Kakaobäume (als Symbol vergangener Exotisierungen der karibischen Realität) nicht einfach durch Kadaver (als Beleg für einen stereotypen Diskurs über Haiti als Sinnbild der Barbarei) ersetzt werden dürften (vgl. Kap. 1.2.4 und sie, so wird im Verlauf dieser Studie nachgewiesen, auch im vorliegenden Kontext existieren - abbilden zu können, vgl. die Anmerkung von B. Neumann, dass sich durch „die Darstellung von gesellschaftlich Vergessenem oder Verdrängtem […] das Symbolsystem Literatur diese Erfahrungen auf die Erinnerungskultur zurück[bezieht] und […] sie somit erinnerbar [macht]. Zudem gewährt die literarische Zusammenführung gemeinhin kulturell unverbundener, weil antagonistischer oder inkompatibler Erinnerungsdiskurse neuartige, in der extraliterarischen Erinnerungskultur so nicht vorhandene Perspektiven auf die Kollektivvergangenheit“ (2003: 68). 190 Vgl. auch die Ausführungen in der Einleitung. Zur expliziten Bezugnahme der Fiktion auf die haitianische Alltagswirklichkeit vgl. auch Stellungnahmen der beiden Korpusautoren in Dalembert/ L. Trouillot 2010: 10; Dorcely/ L. Trouillot 2007: 168; Ette/ Lahens 2002: 230; Flamerion/ L. Trouillot 2010; Flamerion/ L. Trouillot 2007; Ménard/ Lahens 2011: 194. Sowohl L. Trouillot als auch Lahens betonen entsprechend, dass die haitianische Realität den Autoren des Landes einen Rückzug in einen ‚Elfenbeinturm‘ unmöglich mache (vgl. Dorcely/ L. Trouillot 2007: 168; Ménard/ Lahens 2011: 194). <?page no="86"?> 74 Djebar/ L. Trouillot 2006: 37), zu bleiben, erliegt die haitianische Literatur nach 1986 somit gerade eben nicht der Versuchung, neue ‚narrative Kakaobäume zu pflanzen‘, um ‚herumliegende Kadaver zu verdecken‘, und die Gewalterfahrung in der haitianischen Realität, die den Texten als Grundlage dient, zu verschleiern. 191 Entscheidend ist hierbei allerdings die Tatsache, so meine erste These, dass über die Literatur eine haitianische Sicht der traumatischen Gewalterfahrung der Post-Duvalier-Ära angeboten wird, welche die haitianische Kultur aus der Rolle des ‚gewussten‘ Objekts befreit und stattdessen als ‚wissendes‘ Subjekt präsentiert (vgl. Mignolo 2000: 18), das kritisch bestehende Diskurse und Wissensproduktionen hinterfragt. 192 Dies lässt neue Narrative entstehen, die die Gewaltthematik aus haitianischer Perspektive zugänglich machen, welche in der global-öffentlichen Wahrnehmung bislang vielfach marginalisiert wird (vgl. Kap. 1.2.3). So kritisiert der Autor Lyonel Trouillot die westliche Welt für ihre ‚Taubheit‘, welche den haitianischen Diskurs zu einem ‚Selbstgespräch‘ verkommen lasse, das ungehört verklinge, und die sich dementsprechend selbst die Deutungshoheit über die haitianische Realität anmaße (vgl. L. Trouillot 2011b: 12). 193 Dies gilt, folgt man Mignolo, nicht nur für Haiti, sondern grundsätzlich für (post)koloniale Kulturen. Er betont, dass es Gayatri Chakravorty Spivaks Frage, ob der ‚Subalterne‘ sprechen könne (vgl. Spivak 1988), dahingehend zu relativieren gelte, dass dieser schon seit jeher gesprochen habe, man ihm jedoch nicht zuhöre und ihm zugleich jegliche epistemische Kompetenz abspreche (vgl. Mignolo 1993: 130). 194 191 Die haitianische Schriftstellerin É. Trouillot sieht entsprechend die Aufgabe der Autoren (post)kolonialer Kulturen darin, die Realität des eigenen Landes anzuerkennen, ohne durch das eigene Schreiben lediglich jene von Klischees geprägte Erwartungshaltung der westlichen Leserschaft zu bedienen (vgl. É. Trouillot 2007b: 155-56; ferner Ette/ Lahens 2002: 230). 192 Die Begrifflichkeit ist Mignolo entlehnt, der von ‚the knower‘ vs. ‚the known‘ spricht (vgl. Mignolo 2000: 18). Er formuliert diese Gedanken im Kontext des sogenannten ‚border thinking‘ im Sinne eines pluriversalen Denkens (vgl. Mignolo 2012: 205), das Stimmen ans Licht holt, die bisher ungehört blieben, und aus einer Position der ‚epistemologischen Subalternität‘ (vgl. Mignolo 2000: 9) kritisch bestehende Strukturen hinterfragt, ohne hierbei selbst andere Wissensformen für ungültig zu erklären (vgl. Delgado et al. 2000: 11, 15; Mignolo 2012: 29, 68, 191; Mignolo 2000: x, 22, 338). Zu Mignolos Ansatz vgl. bereits Kap. 1.2.3 bzw. für eine Übertragung seiner Konzepte auf den karibischen Kontext Fuchs 2014. 193 Vgl. auch: „The progressive Western intellectual does not want Haitian peers. He forbids Haitians to think, to act, to make their own history“ (L. Trouillot/ Ménard 2009: 132); ferner Voinchet/ L. Trouillot 2012: 78: 15-30. Zum ‚Silencing‘ des ‚Schwarzen‘ Subjekts allgemein und somit seiner Degradierung zum reinen Objekt eines ‚weißen‘ Diskurses vgl. z. B. Kilomba 2008: 16, 21; Mbembe 2001: 1-2. 194 Vgl. die von Spivak (1988: 284) aufgeworfene Kritik an einer ‚diskursiven Bevormundung‘ des ‚Subalternen‘; ferner die Feststellung von B. Bell (2001: 2), dass die die Perspektive der westlichen Moderne prägenden Vorstellungen von den Menschen der sogenannten ‚Dritten Welt‘ nur selten von den Betroffenen selbst stammten. <?page no="87"?> 75 Um sich von einer diskursiven Subalternisierung, wie sie im Falle von Haiti durch von außen an das Land herangetragene Stereotype und Vorurteile stattfindet, zu befreien, gilt es, die Rolle des ‚sprechenden Subjekts‘ (vgl. Kastner/ Waibel 2012: 29) für die haitianische Kultur einzufordern. Grada Kilomba fasst diese Notwendigkeit in ihrer Studie Plantation Memories. Episodes of Everyday Racism (2008) hinsichtlich der eigenen Rolle als sprechendes ‚Schwarzes‘ Subjekt prägnant zusammen: […] I am […] not the object, but the subject, I am the describer of my own history, and not the described. Writing therefore emerges as a political act. […] [A]s I write, I become the narrator, and the writer of my own reality, the author and the authority on my own history. (2008: 12) 195 Reflektiert wird diese Beanspruchung der Subjektrolle durch die Erzähler der Romane, die nicht als Außenstehende der haitianischen Gesellschaft entworfen worden sind, sondern als Betroffene und Vertreter einer Gemeinschaft präsentiert werden, welche durch die kollektiv relevante, traumatische Erfahrung der Gewalt geprägt ist. Die Literatur durchbricht somit die von Trouillot angeprangerte einseitige Kommunikation über Haiti und gebart sich subversiv-widerständig gegenüber einer generellen epistemischen Fremdbestimmung des Landes von außen, indem sie eine Wiederaneignung des Diskurses über Gewalt in der Post-Duvalier-Ära praktiziert und stigmatisierende Verkürzungen durch eine kritische und differenzierte Auseinandersetzung substituiert, ohne der haitianischen Geschichte künstlich übersteigert idealisierte Gegenbilder abzuringen, die den Blick auf die Gewaltproblematik verdecken würden. An dieser Stelle ist zu betonen, dass keine (autobiografisch-)literarische Verarbeitung einer individuellen Erfahrung (eines Autors) im Sinne von Testimonial- oder Zeugenliteratur im klassischen Sinne (vgl. etwa Kuon 2008a: 225) gemeint ist, wenn im vorliegenden Kontext davon die Rede ist, dass die verstörende Konfrontation mit einer violenten Wirklichkeit in der haitianischen Literatur aufgegriffen und reflektiert wird. Die analysierten Romane sind der Differenzierung von Aurélia Kalisky nach weder der Kategorie des direkten Zeugnisses eines Überlebenden noch jener des ‚fiktionalisierten Zeugnisses‘ im Sinne fiktionaler Übertragung tatsächlich gelebter Erfahrung zuzuordnen (vgl. Kalisky 2006). Stattdessen geht es um die abstrakte Fiktionalisierung der traumatischen Gewalterfahrung einer Gesellschaft jenseits historischer Akkuratheit (vgl. Segler-Meßner 2013: 21), die nicht mit einem autobiografischen bzw. autofiktionalen Opferbericht 195 Vgl. die Überlegungen zu postkolonialen Literaturen als ‚Gegendiskursen‘ (‚counterdiscourses‘) in Tiffin 1995: 96; bzw. konkret für den karibischen Kontext Torres- Saillant 1997: 12. Für eine Betrachtung des literarischen Diskurses als Möglichkeit des ‚subalternen‘ Individuums zur aktiven Selbstbestimmung (‚agency‘) vgl. auch Morgan/ Youssef 2006. <?page no="88"?> 76 zu verwechseln ist. 196 Die Rede ist vielmehr von einer komplexen Form literarischen Bezeugens, die über die Schaffung eines Narrativs nicht individuelles Erleben rekonstruiert, sondern Gewalt als kollektiv relevante Erfahrung (losgelöst von der Eigenerfahrung eines Autors) konstruiert, sie so im symbolischen Raum der Fiktion verhandelbar macht und hierdurch danach strebt, sie im kollektiven Gedächtnis (Haitis wie der Weltöffentlichkeit) bereitzuhalten. 197 Prozesse der „narrativen Transformation“ (Kopf 2005: 67) sowie der „Imagination“ (ebd.: 67) rücken bei einer solchen Perspektive auf Fiktion und Zeugenschaft systematisch in den Fokus (vgl. Febel et al. 2007: 24-25). Ein solches Vorliegen fiktionaler Transposition kollektiver Erfahrung in den untersuchten Texten liegt nahe, denn wie schon zuvor am Rande angedeutet zählen sicherlich auch die haitianischen Gegenwartsautoren angesichts ihrer allein aufgrund der Tatsache, dass sie eine bestimmte Bildung genossen haben und des Schreibens mächtig sind, privilegierteren sozialen Stellung (vgl. Hoffmann 1995: 27) nicht zwingend zu jenen marginalisierten, armen Gesellschaftsschichten des Landes, die in überdurchschnittlichem Maße von Gewalt betroffen sind (vgl. Gilles 2008: 38). 198 196 Im Falle eines fiktionalen Zeugnisses, das nicht aus erlebter Erfahrung hervorgeht und dessen Autor nicht gleichzeitig selbst Überlebender ist, spricht Kalisky (2006) von ‚integraler Fiktion‘. Das Konzept fiktionaler Zeugenschaft und seine Verortung im Spannungsfeld von Fiktion, kollektivem Gedächtnis und Historie wird insbesondere im Kontext der Shoah diskutiert (z. B. Elm/ Kößler 2007; Segler-Meßner 2005; Segler-Meßner et al. 2006), aber z. B. auch im Kontext der Gattung des ‚testimonios‘ (z. B. Beverley 1989; Unnold 2002). 197 Wie Assmann feststellt, beinhaltet das Bezeugen als Prozess eine kollektive Dimension, indem es den Täter-Opfer-Dualismus aufbricht und den „nicht betroffenen ‚Dritten‘“ (Assmann 2007: 43) als Repräsentant einer „moralische[n] Gemeinschaft“ (ebd.: 43) einfordert. Es verweist auf das Bewahren einer Erinnerung und die „prospektive[.] Sicherung des Zeugnisses für die Zukunft“ (ebd: 47), das Zeugnis „hebt die Erinnerung in einen […] öffentlichen Raum“ (ebd: 47). Vgl. auch die Ausführungen zur repräsentativen Dimension des kollektiven Traumas in Kap. 1.1.3; ferner das Konzept der ‚mémoire exemplaire‘ bei Todorov (1995), der mahnt, dass Erinnerung nicht zum reinen Selbstzweck werden dürfe, sondern die kulturelle Gemeinschaft das Erinnern vergangener Ereignisse in den Dienst von Gegenwart und Zukunft stellen müsse: „L’usage exemplaire […] permet d’utiliser le passé en vue du présent, de se servir des leçons des injustices subies pour combattre celles qui ont cours aujourd’hui, de quitter le soi pour aller vers l’autre“ (Todorov 1995: 31-32). 198 Zum Zusammenhang von urbaner Armut, Unsicherheit und Gewalt allgemein vgl. Koonings/ Kruijt 2007b: 11-14; ferner Crutchfield/ Wadsworth 2002. L. Trouillot gibt in einem Interview an, dass er der gehobenen Mittelschicht entstamme (vgl. Tegomo/ L. Trouillot 2009a; Spear/ L. Trouillot 2011: 1: 36-3: 00 Min.), und auch Lahens beschreibt, dass ihr Blick auf die Welt der Armen von Port-au-Prince immer ein Blick von außen sei (vgl. Spear/ Lahens 2009: 7: 36-7: 46 Min.). Die Frage nach der eigenen ‚Kompetenz‘, die haitianische Wirklichkeit angemessen zu erfassen, wird insbesondere in der haitianischen Diaspora-Literatur gestellt, u. a. in Laferrières L’énigme du retour oder Olliviers Les urnes scellées, wo eine ambivalente Verortung des diasporischen Subjekts zwischen Zugehörigkeit und Fremdheit deutlich wird (vgl. z. B. Laferrière 2009: 179, 188; Ollivier 1995: 26-27, 104-105, 213, 290). Als besonders interes- <?page no="89"?> 77 Dass nicht nur das reale Opfer ‚bezeugen‘ kann, lässt sich mit den Schlussfolgerungen Basselers erklären, der argumentiert, dass im Falle eines kollektiven Traumas nicht die individuellen (traumatischen) Erfahrungen des Einzelnen im Zentrum stehen würden, sondern das „Kollektivbewusstsein“ (Basseler 2008: 69) der traumatischen Erfahrung, was dazu führe, dass sich „die Mitglieder einer Gruppe […] gemeinschaftlich als Opfer einer Katastrophe, eines Verbrechens oder eines anderen Ereignisses fühlen […]“ (ebd.: 69). Er schlussfolgert deshalb, dass das kollektive Trauma „tiefer [geht], bis auf den Grund der kollektiven Identität […]“ (ebd.: 71). In diesem Sinne ist auch die im haitianischen Gegenwartsroman transportierte traumatische Gewalt als Reflexion einer in einer kollektiven Dimension als prägend angenommenen Erfahrung zu verstehen (vgl. Basseler 2008: 76), die über den literarischen Text eine fiktionalisierte Darstellung erfährt. Die beiden in dieser Studie untersuchten Autoren Lyonel Trouillot und Yanick Lahens betonen diese kollektive Dimension in ihren beiden Romanen ganz gezielt, indem sie, so wird die Analyse zeigen, die Erzählinstanz in mehrere narrative Stimmen aufbrechen, welche die Gewalt aus unterschiedlichen Perspektiven heraus reflektieren, und auf diese Weise die gesellschaftliche Tragweite dieser Erfahrung herausarbeiten. Es gilt an dieser Stelle allerdings daran zu erinnern, dass die haitianische Gesellschaft keineswegs als homogenes Gefüge zu betrachten ist und die Gewalterfahrung der Post-Duvalier-Ära, wie sie in Kapitel 1.2.1 beschrieben wurde, in ihrer Art und Weise sowie Intensität maßgeblich durch die soziale Zugehörigkeit beeinflusst wird, was in den beiden untersuchten Romanen durch die Gegenüberstellung sozial privilegierter und marginalisierter Perspektiven nachdrücklich problematisiert wird. 199 Wenn von einer kollektiven Dimension der Gewalterfahrung die Rede ist, die sich in sant erweist sich hier die Metapher des ‚Archäologen‘ bei Ollivier (vgl. u. a. Ollivier 1995: 31-32), der die verlassene Heimat wie eine fremde Kultur entdecken und ihre kulturellen Deutungsmuster neu verstehen muss, sowie die kritische Bezugnahme bei Laferrière auf Medienformate wie die Dokumentation Ghosts of Cité Soleil (vgl. u. a. Laferrière 2009: 103-06), die trotz zweifelhafter Authentizität das Haiti-Bild des ausländischen Fernsehzuschauers prägen. Vor dem Hintergrund dieser ‚Authentizitätsproblematik‘ ist insbesondere eine weiterführende komparative Studie wünschenswert, die explizit orale Gewalterzählungen (z. B. Radio, Musik, Straßentheater, mündliche Erzähltraditionen etc.) als alternative Zeugnisformen, die die Erfahrungen sozial marginalisierter, potenziell analphabetisierter Gesellschaftsschichten aufgreifen, vor der Folie der Korrelation von Gewaltbetroffenheit und sozialem Status in der haitianischen Realität daraufhin untersucht, ob sich signifikante Unterschiede hinsichtlich der Gewaltdarstellung im Vergleich zu schriftlichen Erzählungen auftun. 199 Vgl. hierzu v. a. die Ausführungen in Kap. 2.1.1, 3.4.1 und 3.6.1. Ob die haitianischen Fiktionen tatsächlich das Schicksal der Opfer bezeugen können oder ob deren Stimmen auch weiterhin ungehört bleiben, wird v. a. von Lahens in La couleur de l’aube kritisch reflektiert, wo mit der ‚restavèk‘ Ti Louze eine Figur präsentiert wird, die für die Unsichtbarkeit all jener steht, die zu den marginalisierten Gesellschaftsschichten zählen (vgl. ausführlicher Kap. 3.6.3). <?page no="90"?> 78 der Post-Duvalier-Ära für die haitianische Gesellschaft als prägend erwiesen hat, ist diese Heterogenität hinsichtlich individueller Betroffenheit und individuellen Empfindens deshalb immer mitzudenken (vgl. Kühner 2008: 95). Über die Begrifflichkeit des Kollektivs soll folglich nicht eine vermeintlich identische Teilhabe aller Mitglieder der Gemeinschaft an der Gewalterfahrung suggeriert werden, 200 sondern auf die zentrale Rolle von Gewalt als geteilter Welterfahrung in der Post-Duvalier-Ära im Kontext der Aushandlung kollektiver Selbstbilder innerhalb der haitianischen Gesellschaft abgehoben werden (vgl. Horatschek 2008b: 306; Kühner 2003: 15). Dass die tatsächliche Betroffenheit sehr wohl an die soziale Stellung des Einzelnen gekoppelt ist, wird im Laufe der Analysen immer wieder Thema werden. Um kollektive Traumata verarbeiten zu können, so erläutert der Psychoanalytiker Werner Bohleber, gilt es, diese grundsätzlich „in ein übergeordnetes Narrativ einzubinden […]“ (Bohleber 2000: 823), da der Einzelne neben „einem empathischen Zuhörer auch eines gesellschaftlichen Diskurses über die historische Wahrheit des traumatischen Geschehens […]“ (ebd.: 823) bedürfe. 201 Ein solches Narrativ, das die Geschichte der traumatischen Gewalterfahrung der haitianischen Post-Duvalier-Ära versprachlicht und somit sowohl eine Projektionsfläche für den Einzelnen hinsichtlich seiner individuellen Erfahrung anbietet als auch durch das symbolische Greifbarmachen gesellschaftlich geteilter Erfahrung eine sinnstiftende Wirkung für das kollektive Gedächtnis entfalten und die Erinnerung an die Gewalt bewahren kann, offerieren Trouillot und Lahens mit Rue des pas-perdus und La couleur de l’aube. 202 Übernimmt in der psychologischen Traumatherapie nach der Auffassung von Dori Laub der Zuhörer die Rolle jener „leere[n] Fläche“ (Laub 2000b: 68), die dem Opfer eine ‚Reexternalisierung‘ des traumatischen Erlebnisses und vor diesem Hintergrund seine Rekonstruktion und Verarbeitung erlaubt (vgl. ebd.: 77- 78), 203 kann im Kontext kollektiver Erinnerungsarbeit auch der literarische 200 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Problematisierung des Begriffs des kollektiven Traumas in Kap. 1.1.3. 201 Vgl. Kühner 2003: 63, 104; außerdem Whitehead (2004: 82), der zufolge insbesondere postkoloniale Fiktionen danach strebten, der homogenisierenden Version der offiziellen Geschichte private Akte der Erinnerung entgegenzusetzen, die marginalisierte oder zum Verstummen gebrachte Geschichten aufdeckten und ins öffentliche Bewusstsein zurückholten. Zur Bedeutung eines empathischen Zuhörers in der psychologischen Traumatherapie vgl. Laub 2000b. 202 Zur Notwendigkeit der Rekonstruktion der Geschichte des Traumas als Voraussetzung für seine Verarbeitung vgl. Laub 2000b: 77; ebenso die Ausführungen von Kopf (2005), die das Erlangen von „Wissen über das Trauma“ (2005: 40) zur Bedingung von dessen Bewältigung erklärt. Vgl. in diesem Kontext auch die Erläuterungen von Suárez (2006: 8-9) zur Notwendigkeit von Erinnerung und einer Aktualisierung des Trauerprozesses über die Fiktion; ferner zur Bedeutung der (stückweisen) Rekonstruktion traumatischer Vergangenheit Kopf 2005: 55; zum Zusammenhang von Trauma und Erinnerung Basseler 2008: 70 sowie Kap. 1.1.3. 203 Laub leitet her, dass die Erzählung des Traumas, die dieses für das Opfer erst Wirklichkeit werden lasse, erst „im Zuhören und Gehörtwerden“ (2000b: 68) als einem <?page no="91"?> 79 Text als Medium fungieren, um (Individuum wie Kollektiv) die unzugängliche traumatische Erfahrung über eine Reexternalisierung innerhalb einer Erzählung, das heißt über ihre Fiktionalisierung, zugänglich zu machen. Ein solches Narrativ des Traumas bietet nicht nur auf einer ersten Ebene dem Einzelnen eine Projektionsfläche an, an die er mit seiner individuellen Erfahrung anknüpfen kann, und bringt sie zugleich auch für den Außenstehenden (z. B. eine ausländische Leserschaft) ans Licht, sondern schafft darüber hinaus auf einer Metaebene einen kulturellen Diskurs, der die Gewalt dem kollektiven Gedächtnis verfügbar macht. Gerade im haitianischen Kontext ist diese Möglichkeit des einzelnen Opfers, im fiktionalen Zeugnis eine Projektionsfläche für das eigene Trauma zu finden, jedoch eher sinnbildlich zu verstehen denn als ‚reale Option‘. Sowohl die geringe Alphabetisierung als auch die weit verbreitete Armut im Land (vgl. Despinas 2008; Shelton 1993: 184) 204 setzen dem tatsächlichen Wirkungsradius des geschriebenen Texts deutliche Grenzen. 205 Trotz der geringen Leserzahl in Haiti selbst betont allerdings Lyonel Trouillot, dass die haitianischen Schriftsteller ungeachtet dessen vorrangig für einen heimischen Markt schrieben (vgl. Djebar/ L. Trouillot 2006: 36), woran sich ablesen lässt, dass in diesem Zusammenhang gerade nicht die reale Leserschaft ausschlaggebend ist, sondern eine abstraktere Vorstellung von dieser Instanz, die möglicherweise gar nicht lesen kann und trotz alledem mitgedacht wird. Ungeachtet dessen gilt es Trouillots Behauptung auch kritisch zu hinterfragen und die Rolle des ausländischen Lesers in dieser Konstellation zu reflektieren, 206 insbesondere, da die Aufarbeitung Prozess, der „das ‚Wissen‘ von dem Erlebnis hervor[bringt]“ (ebd.: 68), entstehe. Deshalb sei der Zuhörer zentral für die Möglichkeit der Aufarbeitung von Trauma (vgl. ebd.: 68). 204 Vgl. ebenso den Eintrag zu Haiti auf der Webseite CIA World Fact Book. 205 Dass dies angesichts der hohen Analphabetenrate nicht nur für französisch-, sondern gleichermaßen für kreyòlsprachige Texte gilt, betont Braziel (2010: 31-32). Vgl. den Kommentar des haitianischen Schriftstellers Métellus, der anführt, dass man, um ein kreyòlsprachiges Publikum zu erreichen, Texte auf Kassette sprechen müsste, sich aber viele Haitianer überhaupt kein Abspielgerät leisten könnten in Métellus 2003: 263. Manche der in Frankreich publizierten Romane haitianischer Autoren erscheinen auch in einer lokalen, mitunter günstigeren Ausgabe in Haiti (so z. B. La couleur de l’aube bei Éd. Presses Nationales d’Haïti und Rue des pas-perdus bei Éd. Mémoire), doch übersteigt auch diese die Kaufkraft vieler Haitianer, wie Angaben zur Armut in Haiti offenlegen (vgl. z. B. Amnesty International 2008: 6). Auch wenn die Leserzahl in Haiti selbst grundsätzlich nicht sehr groß ist (vgl. Marin La Meslée/ G. Victor 2004: 97; Shelton 1993: 184), zeigen Untersuchungen, dass in der heutigen Zeit eine zunehmende Rezeption haitianischer Literatur auch in Haiti selbst festzustellen ist (vgl. Laferrière 2010: 15; Shelton 1993: 185). 206 Zumal L. Trouillot und Lahens in französischen Verlagshäusern publiziert werden und gerade die Werke Letzterer z. T. ein Glossar zu haitianischen Begrifflichkeiten für den nicht-kreyòlsprachigen Leser beinhalten (u. a. Lahens 2013, 2008). Der Literaturwissenschaftler Hoffmann folgert deshalb, dass die haitianischen Autoren sich mit ihren Texten sowohl an eine nationale als auch an eine internationale Leserschaft richteten (vgl. Hoffmann 1995: 37; ferner die Einleitung der Studie). <?page no="92"?> 80 der Gewaltproblematik vor dem Hintergrund der in Kapitel 1.2.1 hergeleiteten kolonialen Ursprünge zahlreicher Strukturen, welche die Ausuferung der Gewalt in der Gegenwart zum Teil doch zumindest begünstigen, nicht nur Haiti, sondern gerade auch das (westliche) Ausland etwas angeht. 207 Anders als Fiktionen, die sich mit historisch weiter zurückliegenden Ereignissen auseinandersetzen, sodass die zeitliche Distanz möglicherweise die Integration eines Traumas in das eigene Selbstbild erleichtert hat (vgl. Basseler 2008: 75), konfrontieren die Romane mit Fokus auf Gewalt in der Post-Duvalier-Ära indes ein Phänomen der unmittelbaren Wirklichkeit und mithin ein Trauma, mit dessen Bewältigung die haitianische Gesellschaft noch zu kämpfen hat. Dem tragen Lyonel Trouillot und Yanick Lahens Rechnung, indem sie diese Erfahrung auf eine Art und Weise narrativ inszenieren, die das Ringen des traumatisierten Subjekts mit dem Erlebten ins Zentrum stellt. Meine zweite These lautet deshalb, dass die beiden Romane zwar Zeugnis von dieser Gewalterfahrung ablegen, dieses Zeugnis jedoch ein zutiefst verstörtes und zugleich verstörendes ist, welches die (physische) Zerstörungsmacht wie auch die (psychische) Verstörungsmacht der Gewalt widerspiegelt. Wie die Analyse der Romane offenlegen wird, manifestiert sich dies zum einen in der Darstellung einer Entgrenzung des Gewaltphänomens, was sich sowohl innerhalb der Geschichte als auch auf der Ebene des erzählerischen Diskurses äußert. Zutage tritt dies darin, dass Gewalt nicht nur in der fiktiven Welt wortwörtlich hinter jeder Ecke, sondern auch in der Erzählung hinter jeder ‚narrativen Biegung‘ lauert. Mit dieser Ästhetik entziehen sich die beiden untersuchten Texte einer Einordnung in gängige Raster, die zwischen einer moralisierenden Gewaltkritik und ‚gewaltverherrlichender‘/ voyeuristischer Darstellung unterscheiden (vgl. z. B. Nieraad 2002: 1281). Sie kritisieren Gewalt nicht, indem sie ihr narrativ ‚Einhalt gebieten‘, sondern gerade indem sie sie ungezügelt und als ein Phänomen, das jegliche Ordnung zerstört, zur Schau stellen (vgl. Borst 2012: 292; Nancy 2007: 35). 208 Gewalt durchdringt entsprechend die Erzählung auf allen Ebenen und erschüttert ihre Struktur (vgl. Borst 2012: 288), 207 Vgl. Chemlas Begründung für das zunehmende Interesse westlicher Leser an haitianischen Texten, deren Lebenswirklichkeit ihnen eigentlich fremd sei: „[C]e texte haïtien dit immédiatement un impensé des cultures occidentales […]. Il ne s’agit pas là seulement de la revendication militante d’un humanisme politique, mais bien de la mise à nu de ce par quoi on en est arrivés là, et pas tout seuls, mais bien avec l’intervention encore une fois symbolique et matérielle des acteurs de cette communauté internationale qui a maintenu Haïti dans ses marges; que précisément deux siècles après avoir établi et proclamé vigoureusement leur humanité souveraine, les acteurs les plus démunis de cette société endurent des existences que les mots parviennent à peine à raconter; que malgré cette défaite sociale, la culture irrigue toujours les mots […]“ (Chemla 2010: 90-91). 208 Auf die Frage, ob das Erzählen in der Lage ist, die dargestellte Gewalt doch symbolisch einzuhegen, wird im Folgenden und im Rahmen der Textanalysen noch zurückzukommen sein. <?page no="93"?> 81 weshalb von einer Zerrüttung des narrativen Gefüges gesprochen werden kann. Zum anderen unterstreicht die Ästhetik das verstörende Moment der Gewalt, indem sie die Schwierigkeit einer vollständigen Erfassung dieser Erfahrung reflektiert, was sich laut Lorna Milne gerade für die Fiktionalisierung von Gewalt im postkolonialen Kontext als symptomatisch erweist (vgl. Milne 2007a: 27). Das Ziel dieser Studie ist, anhand von unterschiedlichen Beispielen aus Rue des pas-perdus und La couleur de l’aube im Rahmen der Textanalysen zu belegen, dass jene nicht allein in der dargestellten Handlung und Motivik zum Tragen kommt, sondern sich auf der Ebene der Textstruktur fortsetzt, sodass Gewalt nicht nur die Körper der Opfer verletzt, sondern auch Spuren der Zerrüttung am Text (als narrativen ‚Körper‘) hinterlässt. Als Träger der (in physischer wie psychischer Hinsicht) violenten Erfahrung bildet dieser Gewalt somit nicht nur inhaltlich ab, sondern wird selbst zu ihrem Schauplatz (vgl. Borst 2012: 288). Einerseits wird der Schrecken der Gewalterfahrung in den beiden Romanen von Trouillot und Lahens somit ungehemmt ausgesprochen (vgl. ebd.: 292-93; Borst 2011: 130); andererseits wird durch die verstörende Wirkung des Dargestellten zugleich eine kritische Auseinandersetzung angeregt, indem der Rezipient über Affekte des Unbehagens damit konfrontiert wird, mit dem Gelesenen umzugehen und dazu Stellung zu beziehen. 209 Darüber hinaus wird durch die Inszenierung violenter Destruktivität im Text auch an die Verletzbarkeit des Opfers erinnert, indem dieses nicht nur als toter oder verletzter Körper zur Schau gestellt, sondern auch als ‚betrauernswertes‘ Subjekt entworfen wird. Der Begriff der ‚Betrauerungswürdigkeit‘ (‚grievability‘) wurde von Judith Butler in Precarious Life. The Powers of Mourning and Violence (2004) geprägt und beschreibt die Tatsache, dass eine den öffentlichen Diskurs bestimmende ‚Hierarchie der Trauer‘ (vgl. Butler 2004: 32) darüber bestimme, „[w]hose lives count as lives” (ebd.: 20) und welche Individuen somit als ‚betrauernswert‘ gelten würden. Butler mahnt an, dass die Existenz derjenigen, deren Leben als nicht beschützenswert betrachtet werde, längst negiert sei, weshalb sie nicht betrauert werden könnten, wenn ihnen Gewalt widerfahre: „[T]hey are always already lost or, rather, never ‚were[‘] […]“ (ebd.: 33). 210 Um Gewalt 209 Vgl. die These von G. Fischer (2000: 15-16) zur (indirekten) Darstellbarkeit von Trauma innerhalb des „imaginativen, symbolischen Raum[s]“ (G. Fischer 2000: 15) des Kunstwerks, welches die verstörende Erfahrung des Traumas durch eine spezifische Ästhetik verdeutliche; ebenso das Konzept der ‚Gewalt-Arbeit‘ von Schäffauer (i. E.; 2013: 92-94) als besondere Form der ‚Erinnerungsarbeit‘ (im Sinne einer aktiven Konstruktion und Reaktualisierung von Erinnerung, vgl. Jelin 2002: 15) bzw. der ‚Trauerarbeit‘ (im Sinne eines bewusst gesteuerten Verarbeitungsprozesses traumatischer (Verlust-)Erfahrung, vgl. Freud 1975c; LaCapra 1992: 144), welche als kollektiver Prozess der kulturellen Einhegung von Gewalt aktiv geleistet werden müsse. 210 Vgl. in diesem Kontext die Feststellung von Laub (2000b: 77), dass eine Nichtanerkennung der Geschichte des traumatisierten Subjekts durch den Zuhörer das Opfer ein weiteres Mal ‚vernichte‘. <?page no="94"?> 82 überwinden zu können, so argumentiert sie, gelte es, die von allen Menschen geteilte Verletzbarkeit wieder anzuerkennen und sie als in ihrer Betrauerungswürdigkeit gleichwertig wahrzunehmen (vgl. ebd.: xviii , 30- 32). 211 Auch wenn Butlers Reflexionen beim US-amerikanischen ‚Krieg gegen den Terror‘ nach dem 11. September 2001 ihren Ausgang nehmen (vgl. ebd.: 34), bietet ihr Ansatz doch gerade vor dem Hintergrund des in Kapitel 1.2.3 erläuterten Konzepts der Kolonialität des Seins von Maldonado-Torres (2010) auch hinsichtlich eines postkolonialen Kontexts wie dem haitianischen vielversprechende Anknüpfungspunkte. Die Betrauerungswürdigkeit der Haitianer wird gleichermaßen häufig in der globalen Wahrnehmung aus den Augen verloren. Zumal der globale Norden Gewalt in der ‚Dritten Welt‘ zwar häufig mit Schaudern und Entsetzen, aber doch auch mit einer gewissen Abgebrühtheit und Indifferenz begegnet, in denen eine Erleichterung darüber mitschwingt, dass solche Gräuel nicht ‚hier bei uns‘, sondern andernorts geschehen, wo Gewalt vermeintlich (noch) zum Alltag gehört (vgl. u. a. Reemtsma 2009: 266). 212 Während in der von Stereotypen geprägten Diskussion über Gewalt in Haiti und ihre vermeintliche ‚Alltäglichkeit‘ somit der Aspekt der Verletzbarkeit des einzelnen Subjekts häufig vernachlässigt wird, machen es sich die haitianischen Texte zur Aufgabe, unermüdlich darauf zu verweisen, dass hinter dem Gewaltakt immer auch der Verlust eines Lebens oder ein traumatisiertes Opfer stehen, wie die Autorin Edwidge Danticat explizit in einem Interview unterstreicht: „[W]hen you come from a place that’s so often politicized like Haiti, people tend to think about you in terms of generalities, and so I feel like I’m always trying to bring people closer to individual experiences“ (Danticat in: Mirabal/ Danticat 2007: 33). Die beiden Romane Rue des pas-perdus und La couleur de l’aube spiegeln jedoch nicht nur die Zerstörungsmacht der Gewalt wider, sondern inszenieren zugleich das „‚namenlose Entsetzen‘“ (G. Fischer 2000: 15) der traumatischen Erfahrung, wie die Textanalysen im Anschluss an dieses Überblickskapitel demonstrieren werden. Da sich das Trauma, wie in Kapitel 1.1.2 erörtert, einer bewussten sprachlichen Aufarbeitung versperrt, kann sich auch der literarische Text jenem immer nur annähern. Elizabeth Jelin umschreibt die Grenzen der Fassbarkeit traumatischer Erfahrung über narrative Praktiken anschaulich mit folgenden Worten: Los acontecimientos traumáticos conllevan grietas en la capacidad narrativa, huecos en la memoria. […] [E]s la imposibilidad de dar sentido al acontecimiento pasado, la imposibilidad de incorporarlo narrativamente, coexistiendo con su presencia persistente y su manifestación en síntomas, lo 211 Vgl. die Äußerungen von Mbembe zur Notwendigkeit der Wiederanerkennung des Anderen „as fundamentally human“ (Mbembe in: Mongin et al. 2008: 3). 212 Reemtsma erläutert, dass die westliche Moderne dazu tendiere, Gewalt durch ihre geografische „Verortung“ (2009: 266) außerhalb der eigenen Erfahrungswelt jenseits der ‚Zivilisation‘ in Sphären der ‚Barbarei‘ zu legitimieren, während Gewalthandeln innerhalb der westlichen Zivilisation als Skandal betrachtet werde (vgl. ebd.: 265-66). <?page no="95"?> 83 que indica la presencia de lo traumático. En este nivel, el olvido no es ausencia o vacío. Es la presencia de esa ausencia, la representación de algo que estaba y ya no está, borrada, silenciada o negada. (2002: 28) Die Erzählungen in den beiden Romanen reflektieren diese Verstörung des traumatisierten Subjekts, indem die traumatische Gewalterfahrung der Post-Duvalier-Ära in bruchstückhafter und zerrütteter Form narrativiert wird. Zutiefst erschütterte Figuren und Erzähler treten auf, die sich verzweifelt abmühen, das Erlebte zu bewältigen. 213 Vermöge des Modus der Darstellung wird dementsprechend die Realität dieses Traumas als Erfahrung reflektiert, die längst noch nicht verarbeitet worden ist und deren Spuren keineswegs verblasst sind (vgl. Kap. 1.1.2 und LaCapra 2001: 144). Die Texte spiegeln hierdurch wider, dass sich das „beschädigte Selbst“ (Assmann 1999a: 258) der eigenen Geschichte nur mehr noch fragmentarisch und unvollständig - wenn überhaupt - ermächtigen kann (vgl. ferner Assmann 1999a: 258; Caruth 2000: 86). Über diese Art und Weise, wie Trouillot und Lahens die Gewalterfahrung erzählen, banalisieren sie das Trauma eben gerade nicht (vgl. Weilnböck 2007: 20), sondern legen es in seiner verstörenden Dimension offen. Die weiter oben beschriebene Selbstermächtigung der Haitianer als Subjekt des literarischen Texts ist an dieser Stelle von signifikanter Bedeutung, da hierdurch eine völlige Viktimisierung der eigenen Kultur verweigert wird. 214 Das Opfer, das Gewalt erleidet, wird laut Schäffauer dadurch zum „passiven ‚Objekt‘“ (Schäffauer 2013: 79), dass der Täter als „aktives ‚Subjekt‘“ (ebd.: 79) an ihm eine Handlung vollzieht und es „in der Folge verstummt“ (ebd.: 79). Diesem Verstummen des individuellen Opfers - sei es durch seinen Tod, sei es aufgrund gravierender Traumatisierung - wird auf kollektiv-kultureller Ebene durch das Bezeugen der Erfahrung im literarischen Text entgegengewirkt. Über diesen Akt des Sprechens wird allerdings nicht nur der traumatischen Erfahrung physischer Gewalt die Stirn geboten, sondern zugleich einem diskriminierenden Diskurs begegnet, der gleichermaßen als Akt der Gewalt auf epistemischer 213 Die Demontage der traditionellen Heldenfigur, die Lucas (2006, 2004) bereits in der Literatur der Duvalier-Ära infrage gestellt sieht, findet sich somit auch in nach 1986 publizierten Texten wieder. Vgl. auch Borst 2013b. 214 Ein Bild von Haiti als untätigem und erduldendem Opfer wird zum Beispiel durch den Topos der vermeintlichen Widerstandsfähigkeit (‚résilience‘) der Haitianer geschaffen, den L. Trouillot als weiteren diskursiven Allgemeinplatz konstatiert, der an Haiti im Kontext des Erdbebens von 2010 herangetragen worden sei (vgl. L. Trouillot 2011b: 12). Trotz zunächst positiver Konnotationen verbirgt sich auch hierhinter lediglich eine Umformulierung des ‚malédiction‘-Gedankens, da es sich doch abermals um eine rein passive Eigenschaft handelt. Die aktiven Gestaltungsmöglichkeiten der Haitianer bezüglich ihrer eigenen Zukunft werden folglich auch in dieser Sichtweise infrage gestellt (vgl. ebd.: 12-13). Sie werden stattdessen zu unermüdlich erduldenden Opfern herabgewürdigt, die die eigenen Probleme buchstäblich ‚aussitzen‘. <?page no="96"?> 84 Ebene bezeichnet werden kann (vgl. Kap. 1.2.3). 215 Dass das traumatisierte haitianische Subjekt über den literarischen Text als sprechendes Subjekt entworfen wird, ist in diesem Zusammenhang wesentlich, da hierdurch die von Schäffauer infrage gestellte Dichotomie von aktivem Täter und passivem Opfer durchkreuzt wird. Eine Überwindung der zugewiesenen Objektrolle liegt somit nicht mehr allein in einer Rollenumkehr, die darin besteht, dass das Opfer selbst zum Täter wird und Gewalt reproduziert. Eine derartige antagonistische Sicht bildet z. B. den Hintergrund der Überlegungen des Kolonialismuskritikers Frantz Fanon, dessen Argumentation nach das ‚Opfer‘ symbolisch gesprochen selbst ‚Täter‘ werden muss. In seiner Studie Les damnés de la terre (1961) leitet er her, dass die Selbstermächtigung und Befreiung des Kolonisierten aus den von Gewalt geprägten Strukturen kolonialer Machtbeziehungen nur erfolgen könne, wenn dieser in einem emanzipatorischen Akt selbst Gewalt ausübe. 216 Meiner dritten These gemäß lässt sich anhand der beiden der Analyse zugrunde liegenden Texte hingegen zeigen, dass das viktimisierte, durch die violente Tat zum Objekt herabgewürdigte Opfer seinen Subjektstatus auch jenseits des Gewalthandelns einfordern kann, indem es sich als sprechendes Subjekt inszeniert. Erzählen wird dadurch zum widerständigen Akt, der sich einer Fortführung der Gewaltspirale verweigert. Es reproduziert den Gewaltakt nicht mittels Sprache, sondern deutet ganz im Gegenteil über eine explizite wie implizite Gewaltkritik kulturelle Aushandlungsprozesse an, die einen möglichen Ausweg aus dem von Laënnec Hurbon formulierten Dilemma, die haitianische Gesellschaft betrachte Gewalt zwar als Übel, glaube aber, ihm nur durch 215 Vgl. die Aussage des haitianischen Diaspora-Autoren Dalembert, der in seinem Werk nicht nur die violente Erfahrung der Duvalier-Diktatur reflektiert (z. B. Le songe d’une photo, L’autre face de la mer), sondern explizit auch ein auf (physischer wie epistemischer) Gewalt basierendes Verhältnis zwischen ‚Erster‘ und ‚Dritter Welt‘ kritisch in Augenschein nimmt (v. a. Noires blessures), in einem Interview: „Bref, je refuse, d’une part, la victimisation; d’autre part, de me définir par rapport à, de me regarder dans le miroir que me tend l’Autre, l’ancien maître“ (Dalembert in: Gyssels et al. 2008: 144). 216 Fanon führt in Les damnés de la terre (1961) aus, dass die Befreiung des kolonialen Subjekts aus einer Situation der Unterdrückung durch die Kolonialherren einzig über Gewalt bewirkt werden könne. Er betrachtet eine gewaltsame Auflehnung gegen die bestehenden Verhältnisse in diesem Sinne als notwendige Reaktion (wenngleich keinesfalls als Selbstzweck) (vgl. Cherki 2000: 262-63), die darauf ziele, ein „auf Gewalt beruhende[s] Herrschaftsverhältnis“ (Zahar 1969: 78) aufzuheben (vgl. Fanon 1961: 41, 64). Gewalt als Akt der Dekolonisierung schreibt er hierbei ein entscheidendes konstruktiv-emanzipatorisches Moment zu, ermögliche sie doch nicht nur einen konsequenten Bruch mit der Kolonialzeit und die Befreiung des kolonisierten Subjekts. Vielmehr bewirke sie zugleich ein Gemeinschaftsgefühl, welches den Minderwertigkeitskomplex des Kolonisierten (vgl. Fanon 1952) beseitigen helfe (vgl. Fanon 1961: 29-30, 70). Vergleichbar äußert sich auch Memmi (1957: 165, 179-80), der ebenfalls eine aktive Auflehnung gegen das koloniale Herrschaftssystem fordert. <?page no="97"?> 85 Gewalt Einhalt gebieten zu können (vgl. Hurbon 2002: 116), 217 konturieren, nämlich ein Innehalten vor dem Hintergrund kritischer Reflexion. In der anschließenden Analyse geht es sonach gleichermaßen darum, aufzudecken, dass Erzählen in Rue des pas-perdus und La couleur de l’aube als Option ausgewiesen wird, um den Teufelskreis der Gewalt zu durchbrechen, was zugleich generell herausstellt, welch signifikante Rolle Literatur als Raum symbolischer Auseinandersetzung im Aufarbeitungsprozess traumatischer Erfahrung spielen kann. Bezog sich meine erste These auf das subversive Potenzial marginalisierter Literaturen, eurozentristische Perspektiven auf postkoloniale Realitäten zu durchkreuzen, will ich hier auf die mögliche Funktion von Fiktion als Raum kultureller Einhegung von Gewalt abheben, welche darin besteht, dass das Sprechen über Gewalt eine kritische Reflexion auslöst und Literatur ein solches Sprechen realisiert. Inwieweit sich die hier formulierten Thesen bestätigen lassen, wie die haitianischen Narrative über die traumatische Gewalterfahrung der Post- Duvalier-Ära im Detail gestaltet sind, welche Ästhetik der Darstellung in den beiden Romanen Rue des pas-perdus und La couleur de l’aube in allen Einzelheiten zugrunde liegt und wo die Texte im diskursiven Spannungsfeld zwischen einer klischeehaften ‚Re-Exotisierung‘ Haitis als Ort der ‚Barbarei‘ und vehementer Ablehnung der Rede von Gewalt als zentralem Bestandteil der haitianischen Lebenswirklichkeit letztlich zu verorten sind, gilt es im Rahmen der anschließenden Analysen konkret zu eruieren. 217 Vgl. den genauen Wortlaut bei Hurbon: „En effet à chaque crise, à chaque carrefour de son histoire, revient en force le fantasme de la violence […]. Ce n’est point là chez les Haïtiens un attachement particulier à la violence ou une habitude d’en faire l’éloge. Celle-ci demeure à leurs yeux un mal, mais un mal qui ne peut être jugulé en retour que par la violence: ‚sé fè ki koupé fè‘, dit-on souvent, (littéralement ‚c’est avec le fer qu’on peut couper le fer‘)“ (2002: 116). <?page no="98"?> 86 2 Lyonel Trouillots Rue des pas-perdus (1996): Gewalt als Exzess und die Zerrüttung der Erzählung „‚Mais, M. Trouillot, comment vous faites d’écrire des telles horreurs? ‘ […] ‚Madame, comment vous faites pour vivre dans des telles horreurs sans les voir? ‘“ (L. Trouillot, persönliches Interview vom 15.05.2009) 218 „J’ai l’habitude de dire que je n’ai pas d’imagination: j’écris à partir du réel. Les laideurs du monde sont suffisantes, il suffit d’en témoigner.“ (L. Trouillot in: Marsaud/ L. Trouillot 2009: o. S.) Die viele Romane Lyonel Trouillots dominierende Gewaltthematik, „qui […] interpelle constamment […] des personnages qui tentent de survivre dans un milieu où l’humain est nié“ (Pessini 2005: 120), ist insbesondere in Rue des pas-perdus omnipräsent. Der Text liest sich wie eine Bestandsaufnahme jener willkürlichen und ausufernden Gewalt, wie sie Koonings und Kruijt als für postdiktatoriale Gesellschaften charakteristisch anführen (vgl. Kap. 1.2.1 und Koonings/ Kruijt 2004: 8-9). Gewalt wird in dem Roman generell als Exzess präsentiert, als Phänomen, das in seiner Zerstörungsmacht uneingehegt Körper, Räume, Erzählung und Textstruktur zerschlägt und traumatisierte Erzählerfiguren zurücklässt, die sich der Gewalterfahrung nur mehr noch über einen verstörten Diskurs annähern können, wie ich im Folgenden im Detail darlegen werde. 2.1 Urbane Räume der Gewalt Schauplatz der Handlung ist die haitianische Hauptstadt Port-au-Prince, was sowohl durch die Nennung eindeutiger Ortsnamen als auch anhand impliziter Andeutungen zu erkennen ist (vgl. N’Zengou-Tayo 2003; Pessini 2005; Chemla 2001; Pautonnier 2003). 219 Dieser Ballungsraum wird in dem 218 In einem unveröffentlichten Interview mit der Autorin dieser Studie in Port-au- Prince gibt Trouillot auf die Frage hin, ob er für seine literarischen Gewaltdarstellungen kritisiert worden sei, die zitierte Gesprächserfahrung mit einer Frau aus der haitianischen Oberschicht wieder. Zur Ignoranz weiter Teile der haitianischen Bevölkerung gegenüber den Lebensumständen vieler Mitbürger vgl. auch Hoffmann 1995: 195. 219 Zur Bedeutung von Port-au-Prince im Werk des Autors vgl. Ménard/ L. Trouillot 2011: 459-60. Hervorzuheben ist insbesondere der erste Roman des Schriftstellers, Les fous de Saint-Antoine. Traversée rythmique, wo anhand des Verfalls eines Viertels der <?page no="99"?> 87 Roman als privilegierter Ort der Gewalt entworfen, an dessen Darstellung sich der ausufernde und zügellose Charakter des Phänomens zeigen lässt, welcher in Lyonel Trouillots Text im Zentrum steht. Das Verhältnis von Raum und Gewalt in Rue des pas-perdus steht deshalb im Zentrum des ersten Unterkapitels, das untersucht, wie sich die Gewalt auf die Ordnung der Stadtlandschaft auswirkt. Es gilt an dieser Stelle zu betonen, dass unter ‚Raum‘ kein leerer ‚Containerraum‘ zu verstehen ist, sondern im Sinne des ‚spatial turn‘ ein durch soziale und kulturelle Praktiken produziertes Konstrukt, das mit Erfahrungen, Zuschreibungen und Diskursen aufgeladen ist (vgl. Borst 2011: 120). 220 Michel de Certeau begreift Raum (‚espace‘) dementsprechend als Resultat von Bewegungen und somit als „lieu pratiqué“ (Certeau 1990: 173), in dem und mit dem das Individuum interagiert (vgl. ebd.: 172-74). 221 Vor diesem Hintergrund wird in den folgenden Unterkapiteln anhand einer Untersuchung der narrativen Repräsentation des fiktionalen Raums beleuchtet, wie Trouillot in Rue des pas-perdus zum einen über die räumliche Verortung der Figuren die Korrelation von sozialem Status und Gewalterfahrung herausarbeitet. Zum anderen wird erörtert, dass Gewalt in ihrer Maßlosigkeit räumliche Ordnungsprinzipien zerstört und selbst zum einzigen Referenzpunkt im fiktiven Raum wird (vgl. Borst 2011: 126). 222 In diesem Zusammenhang wird gezeigt, dass der narrative Diskurs in Rue des pas-perdus einen neuen Raum der Gewalt formt, in dem sich bisherige Strukturen der Stadt auflösen, tote Körper und andere Spuren der Gewalt neue violente Wegmarken setzen und das Individuum sich als orientierungslos und schutzlos ausgeliefert erfährt. 223 Niedergang der haitianischen Gesellschaft vor dem Hintergrund diktatorialer Repression und sozialer Exklusion reflektiert wird. Zur Präsentation der Stadt als Raum des Verfalls im neueren haitianischen Roman vgl. Lucas 2004: 70-71. In manchen Romanen (u. a. Bicentenaire, Yanvalou pour Charlie, La belle amour humaine) stellt L. Trouillot der Stadt ein rurales Umfeld als weit entfernten oder bereits verlassenen Raum außerhalb der urbanen Erfahrungswelt entgegen. Während der Literat die Stadt vorrangig als Raum des Chaos, der Gewalt und des Zerfalls gestaltet, findet sich in La belle amour humaine mit dem Ort Anse-à-Fôleur ein idyllischer Entwurf der dörflichen Gemeinschaft, in der ein Ideal der Solidarität und des Zusammenhalts eingelöst wird, welches L. Trouillot auch in seinen theoretischen Schriften beschwört (vgl. L. Trouillot 2011b; hierzu auch Borst 2013a). 220 Zum ‚spatial turn‘ und der damit einhergehenden Auffassung von Raum vgl. z. B. Bachmann-Medick 2006: 284-317. 221 Als Beispiel für den ‚espace‘ als ‚lieu pratiqué‘ nennt de Certeau die Straße, die erst durch die Fußgänger zum Raum werde. Dem steht der ‚lieu‘ als de Certeaus Auffassung nach Konstellation von Punkten in einem geometrischen System gegenüber (vgl. Certeau 1990: 172-74). 222 Vgl. Rotker 2002: 18; zum urbanen Raum und Gewalt in L. Trouillots Romanen vgl. Pessini 2005: 124-25. 223 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Prophète 2010a: 143. <?page no="100"?> 88 2.1.1 ‚Être dedans sans être dedans‘: Gewalterfahrung, urbaner Raum und sozialer Status „Mais c’est une ville qui a peur. Les riches s’enferment chez eux de peur que les pauvres ne leur demandent des comptes. Les pauvres s’enferment chez eux parce qu’ils n’ont nulle part où aller.“ (L. Trouillot 2009a: 61) Die Stadt in Rue des pas-perdus wird zunächst als Raum der Exklusion und sozialen Marginalisierung entworfen, der in Schauplätze der Gewalt und sichere Rückzugsgebiete unterteilt ist. Trouillot greift hierdurch in seinem Roman eine entlang sozialer Grenzlinien entstandene fragmentierte Stadtstruktur auf, wie Koonings und Kruijt sie als typisch für jene Staaten nennen, deren urbane Gesellschaften sich durch Informalität, soziale Exklusion, Armut, Gewalt und eine massive Schwächung des Rechtsstaats auszeichnen. Die Folge, so argumentieren sie, sei die Entstehung einer zergliederten, ambivalenten Stadtstruktur (vgl. Koonings/ Kruijt 2007b: 7-8). 224 Die Sequenz des Angestellten liefert aufschlussreiche Einblicke in diese räumliche Zersplitterung der ‚Aire Métropolitaine‘ von Port-au-Prince. 225 In der knapp gefassten Verortung „au sommet d’une colline“ (RPP: 79) ruft der Text eine ganze Reihe von Assoziationen zur Raumverteilung auf, die der kundige Leser zu deuten weiß. 226 Auch wenn sich in der haitianischen Hauptstadt mittlerweile etliche Slums finden, die an den Berghängen emporwachsen, 227 so sind sie doch ursprünglich in den unteren Regionen 224 Zur Stadtentwicklung in Port-au-Prince und insbesondere der Fragmentierung des urbanen Raums, dem massiven Bevölkerungswachstum sowie der Herausbildung der Armenviertel (‚bidonvilles‘) in den letzten Jahrzehnten vgl. z. B. Barthélemy/ Girault 1993: 12; Colomé 1998; Corvington 2003; Gillman 2011: 1; Hurbon 2012: 136; INURED 2010; King 2005: 88-98; Labelle 1978: 70; Manigat 1997: 90; M. Smith 2010. Ein literarisches Denkmal setzte Clitandre dem haitianischen ‚bidonville‘ (während der Duvalier-Diktatur) in dem Roman Cathédrale du mois d’août (1979); vgl. außerdem Prophètes Impasse dignité (2012) sowie L. Trouillots Les enfants des héros. 225 Unter dem Ballungsraum (‚Aire Métropolitaine‘) von Port-au-Prince wird der Zusammenschluss der historisch ursprünglich getrennten Gemeinden Port-au-Prince, Carrefour, Delmas und Pétionville verstanden (vgl. King 2005: 93; Vitiello 2011b: 92). 226 Eine bedeutende Rolle spielt die Fragmentierung des urbanen Raums auch in L. Trouillots Roman Les enfants des héros, in dem auf Grundlage dieser Oben-Unten- Symbolik eine komplexe Metaphorik aufgebaut wird (vgl. L. Trouillot 2007a: 121-23). Zur Fragmentierung des städtischen Raums als „deux villes en une“ (L. Trouillot 1989: 60) (‚bidonville‘ vs. wohlhabende Viertel) bei L. Trouillot vgl. außerdem Yanvalou pour Charlie sowie Les fous de Saint-Antoine. Traversée rythmique. Vgl. hierzu Borst 2011; Vitiello 2011b: 104-05. 227 Vgl. Vitiello 2011b: 92. Insbesondere in der Folge des Erdbebens vom 12. Januar 2010 wurden die räumlichen Zuordnungsverhältnisse in Port-au-Prince jedoch durch die auf freien Flächen aus dem Boden schießenden Zeltstädte auf den Kopf gestellt (vgl. Farmer 2011: 77; Vitiello 2011b: 92). <?page no="101"?> 89 und am Meeresufer angesiedelt (z. B. Cité Soleil, Martissant, La Saline). Die wohlhabenden Bewohner hingegen haben sich im Laufe der Zeit immer mehr in die höher gelegenen Gebiete zurückgezogen (z. B. Pétionville, Kenscoff). 228 Auch wenn der Angestellte selbst als Erzähler eher die haitianische Mittelschicht als die gesellschaftliche Elite repräsentiert, so dringt die Tragweite der sozialen Kluft doch über die ihm zur Seite gestellte Frau Laurence, die sich in ihrer behüteten Welt bisher von der gesellschaftlichen Misere abgegrenzt hat, in das fiktive Universum ein. Über ihre Figur übt Trouillot Kritik an der haitianischen Oberschicht, die er als ignorant und blind gegenüber dem gesellschaftspolitischen Konflikt darstellt, wie es z. B. folgende Textstelle offenlegt: [E]lle avait prédit les événements: le peuple dans les rues, l’ordre social détruit, tout en cultivant cet art des aristocraties décadentes d’être libéral sans être démocrate, et le christianisme de courtoisie des bourgeoisies occidentales sous la forme parcimonieuse de dons occasionnels et d’allusions conservatrices aux Saintes Ecritures. […]. Attention, le peuple arrive. Gardez les distances! Fermez les volets! (RPP: 20) 229 Verdichtet wird die über diese Figur verdeutlichte gesellschaftliche Distanz in jenem Ausruf, mit dem Kinder in einem Armenviertel auf Laurence reagieren: „[E]n voilà une! en voilà une! “ (RPP: 79). Doch nicht einmal derartige Anfeindungen schärfen die Empathie der Frau für die soziale Problematik, wie der weitere Bericht zeigt: „Qu’est-ce qu’ils veulent? m’avait-elle demandé en me rapportant l’incident“ (RPP: 79). 230 Über die Figur Laurence wird evident, dass Trouillot die haitianische Oberschicht in seinem Roman als Nachfolger kolonialer Herrschaftsverhältnisse präsentiert, die mit der Marginalisierung der ‚bidonvilles‘ die historische Opposition zwischen ‚Zentrum‘ (Europa) und ‚Peripherie‘ (Kolonie) 231 im postkolonialen Kontext reproduzieren und gleichzeitig eine Asymmetrie der innergesellschaftlichen Machtverhältnisse zementieren, 228 Zur Aufteilung des Raums in Port-au-Prince vgl. Colomé 1998; INURED 2010; King 2005: 93, 95-96; Labelle 1978: 70; Vitiello 2011b: 93. Eine komparative Untersuchung zur Opposition von oben/ unten und reich/ arm anhand der Darstellungen von Portau-Prince in den Texten unterschiedlicher haitianischer Autoren findet sich auch in Vitiello 2011b. 229 Vgl. außerdem RPP: 31, 43, 57; ferner die kritische Bewertung der Figur Dominique „des beaux quartiers“ (L. Trouillot 1989: 71) in Les fous de Saint-Antoine. Traversée rythmique. Für eine äußerst kritische Sicht der haitianischen Oberschicht vgl. außerdem Lahens’ Roman Guillaume et Nathalie (u. a. Lahens 2013: 106-07, 119-20). 230 Zur Unwissenheit über die Realität der ‚bidonville‘ in den gehobenen Schichten der haitianischen Gesellschaft vgl. L. Trouillots eigene Aussage in Marsaud/ L. Trouillot 2009; ferner Dorcely/ L. Trouillot 2007: 167. 231 Zu einer Perpetuierung eines binären Raumverständnisses in der heutigen Zeit vgl. Bachmann-Medick 2006: 293. Zu sozialen Diskrepanzen in Stadtbildern in nichtwestlichen Ländern vgl. Grohmann et al. 1995: 10. <?page no="102"?> 90 die - durch die räumlichen Grenzziehungen symbolisiert - in der haitianischen Gesellschaft bis heute Bestand hat. 232 Dass der urbane Raum in Haiti sozial markiert und somit fragmentiert ist, zeigt sich in Rue des pas-perdus daran, dass die Schauplätze der Handlungsstränge der narrativen Sequenzen der drei Erzähler so gut wie keine Überschneidungen aufweisen. Es finden sich lediglich einzelne Anspielungen darauf, dass es wahrscheinlich der Taxifahrer Ducarmel Désiré ist, der den Angestellten und Laurence zu ihrem Bekannten Gérard fährt, in dessen Haus sie die Nacht verbringen (vgl. RPP: 31-32, 90; N’Zengou- Tayo 2004: 334). Dies verstärkt den Eindruck einer klaren Aufteilung der Stadt und der isolierten Lage der wohlhabenderen Viertel wie jenem von Gérard, „isolé, au sommet d’une colline“ (RPP: 79). In diesem geschützten Raum, so kommentiert Gérard, bestehe für die Anwesenden keinerlei Bedrohung (vgl. RPP: 79): „L’isolement protégeait de la ville“ (RPP: 79). 233 Die scheinbare Privilegiertheit wird erneut unterschwellig in der Leere von Gérards Haus deutlich, denn: „Y a plein de chambres dans la maison“ (RPP: 79), die dem Erzähler und Laurence zur Übernachtung zur Verfügung stehen. Diesem Überfluss an ‚sicherem‘ Raum stellt Trouillot durch Gérards Berichte über die Geschehnisse in der Stadt all jene Menschen gegenüber, die den Übergriffen auf den Straßen ausgeliefert sind und für die es kein Entkommen gibt. 234 Es fällt auf, dass die Art des Gewalterlebens nicht nur an die Position der Figuren im geografischen Raum rückgebunden, sondern auch an die narrativen Sequenzen gekoppelt ist. So scheint der Angestellte (in seinem Rückzugsgebiet) nie in Gefahr und wird nur indirekt Zeuge der Geschehnisse, während der Taxifahrer (mitten auf den Straßen der Stadt) direkt 232 Zur Verfestigung kolonialer Machtverhältnisse in postkolonialen Gesellschaften vgl. Rao/ Pierce 2006: 18; für den haitianischen Kontext im Speziellen Fleischmann 1971: 87; Gilles 2008: 35; Métellus 2003: 242; Shelton 1993: 78; É. Trouillot 2010b. 233 Vgl. hinsichtlich der vermeintlichen Sicherheit in den ‚besseren‘ Vierteln auch die Szene, in der der Taxifahrer dem ‚petit‘ für den Fall eines erneuten Gewaltausbruchs rät, „cache-toi rue des Demi-Lunes et ne reviens que le matin“ (RPP: 91). Als ‚rue des Demi-Lunes‘ bezeichnet der letzte Fahrgast des Abends, der aller Wahrscheinlichkeit nach als der Angestellte zu identifizieren ist, auch jene ‚rue de la Sapotille‘, die er als Fahrziel angibt und in der, so lässt sich angesichts der Romanhandlung vermuten, somit Gérards (sicheres) Haus stehen muss (vgl. RPP: 89). 234 Vgl. folgende Beispiele aus dem Roman: „L’armée a mitraillé les quartiers populaires […], au bas de la ville ils ont noyé les morts dans les canaux, ils ont fermé les deux portails, personne ne peut quitter la ville […]“ (RPP: 55-56); „Les soldats en avaient fermé les entrées. Ils tiraient sur tout“ (RPP: 114). Bezüglich einer höheren Gewaltrate in den ‚bidonvilles‘ - insbesondere auch im Zuge gewaltsamer Übergriffe u. a. auf Angehörige der ‚Lavalas‘-Bewegung in der Post-Duvalier-Ära - vgl. Dupuy 2007: 193; Faedi 2008: 159; Gilles 2012: vi, 4; Hallward 2007: 27, 42; bzw. (explizit bezogen auf Cité Soleil) Colomé 1998; INURED 2010: 6, 11-14. <?page no="103"?> 91 betroffen ist und selbst zum Opfer wird (vgl. Kap. 2.1.2). 235 In der Sequenz von Ersterem erscheint die Gewalt deshalb zunächst weit entfernt: „Rien dans la maison ne confirmait la réalité des meurtres et des exécutions“ (RPP: 77), was bei den Beteiligten zunächst zu einer Abwehrhaltung gegenüber den Ereignissen führt: „Laurence […] refusait de prendre part au drame“ (RPP: 57), „[e]lle voulait vivre loin des conflits. Jusqu’à cette nuit, elle s’était plus ou moins persuadée qu’il n’en existait pas“ (RPP: 105). Mit dem zweiten Teil von Laurences Aussage deutet der Text jedoch bereits an, dass dieses ‚Nicht-wissen-Wollen‘ nicht dauerhaft aufrechterhalten werden kann. Denn auch wenn ihre körperliche Unversehrtheit in keinem Moment bedroht ist, so stellt sich im Verlauf des Romans heraus, dass die Gewalt auf einer symbolischen Ebene über das Wissen um die Geschehnisse auch in die Erfahrungswelt der Figuren dieser Erzählsequenz einbricht (vgl. RPP: 77; Borst 2011: 125). Hierin spiegelt sich die Position des Lesers, der vor dem Hintergrund der sich abwechselnden Erzählstränge die distanzierte Erzählhaltung des Angestellten im Verlauf der Lektüre kontinuierlich verlässt und über die Ich-Perspektive des Taxifahrers immer wieder in den urbanen Raum der Gewalt abtaucht. 236 Mit der Beschreibung der eigenen Situation als „[ê]tre dedans sans être dedans“ (RPP: 79) wird die vermeintliche Isolation in dieser Sequenz jedoch aufgehoben und der Erzähler verortet den eigenen Raum innerhalb der Topografie der Gewalt, die sich in Rue des pas-perdus über Port-au- Prince gelegt hat. Er selbst und auch die anderen Anwesenden kommen nicht mehr umhin, der Akte, die außerhalb der eigenen vier Wände geschehen, gewahr zu werden, da Gérards unheilvolle Berichte über die in der restlichen Stadt tobende Gewalt diese in ihre Mitte holen (vgl. Borst 2012: 287). Der Roman hebt dies durch eine kreisende Bewegung der Erzählung in der Sequenz des Angestellten hervor. Immer wieder lässt Lyonel Trouillot dort die kursiven Einschübe von Gérard einfließen und schafft so innerhalb des geografischen Rückzugsgebiets seiner Figuren einen narrativen Raum für die eskalierende Gewalt, die auf diese Weise bis in den letzten Winkel der Erzählung vordringt. 237 Durch narrative (das Unterbrechen der Geschichte durch diese narrativen Parenthesen) und typografische Techniken (die Kursivsetzung dieser Passagen) wird jedoch eine ‚Distanz‘ zu dem in den Einschüben Erzählten aufrechterhalten, die das Privileg der sozial höher gestellten Schichten in Haiti symbolisiert, sich der Gewalt (räumlich) entziehen zu können. 235 Die Bordellbetreiberin indes nimmt eine Zwischenposition ein, da sie zwar von unzähligen Gewaltakten zu berichten weiß, aber selbst doch zu keinem Moment in Gefahr zu sein scheint. 236 Vgl. bezüglich der Erzählsequenzen auch Kap. 2.5. 237 Zu den kursiven Einschüben sowie ihrer Interpretation als narratives Verfahren, über das sich die traumatische Dimension der Gewalterfahrung im Erzählerdiskurs manifestiert, vgl. Kap. 2.5.2. <?page no="104"?> 92 Der Autor übt durch diesen Erzählmodus, der das Motiv des ‚être dedans sans être dedans‘ narrativ imitiert, indem Gewalt als etwas der Lebenswelt der Figuren Fremdes und doch zugleich unmittelbar Präsentes ausgewiesen wird, Kritik an der Haltung der haitianischen Oberschicht, Gewalt beharrlich als etwas zu betrachten, das nur andere angeht, während sie eigentlich die soziale Gemeinschaft als Ganzes betrifft. 238 Dieser Appell des Texts, hinzusehen, richtet sich jedoch nicht nur an die haitianische Gesellschaft selbst. Er erinnert zugleich daran, dass das Schicksal Haitis nicht konsequent aus der Wahrnehmung der Weltöffentlichkeit ausgeblendet werden sollte, wenngleich diese oft versucht sein mag, das Land in seiner isolierten Insellage als dem ‚Zentrum‘ ferne ‚Peripherie‘ zu vergessen (vgl. L. Trouillot 2011b). 239 Wie sehr die (körperliche) Betroffenheit von Gewalt trotzdem realiter an den eigenen sozialen Status gekoppelt bleibt, wird deutlich, wenn man die Sequenz des Angestellten mit einer Episode aus den von der Bordellwirtin erzählten Kapiteln kontrastiert. Die Rede ist hier von einer Vergewaltigungsszene, welche die Figur Irène im Nachbarhaus beobachtet hat und die sich wie folgt liest: [U]n soldat a mis son fusil contre la tempe du père et lui a dit baise-la, si tu la baises pas j’te tue, et le père a dit à la fille pardon, et les soldats bottaient les fesses du père et le père disait toujours pardon à la fille, mais la fille elle n’entendait plus et le bébé qui n’avait pourtant pas pleuré ils l’ont lancé par la fenêtre et ils criaient où sont les armes, où sont les armes, et y en a un qui a dit, laisse, tu vois bien qu’il n’y a pas d’armes […]. (RPP: 60) 240 Der Unterschied zur vorherigen Szene ist eklatant, verliert hier doch der private Raum tatsächlich sein Potenzial als Rückzugsgebiet. Es ist in diesem Fall nicht nur das verstörende Wissen um die Realität der Gewalt wie im Falle des Angestellten, welches in den privaten Raum eindringt. Stattdessen sind es die Aggressoren selbst, die ihre Zerstörungswut von den Straßen in das Haus hineintragen und somit die Schutzfunktion der eigenen vier Wände zerstören. 241 In Gérards Haus hingegen bricht die 238 Vgl. die weiter oben beschriebene Kritik an Laurence als Repräsentantin dieser Elite sowie RPP: 100. 239 Vgl. Ashcroft et al. (2007: 32-33) zum eurozentristischen Zentrum-Peripherie-Diskurs, der den (post)kolonialen Anderen „at the margin“ (ebd.: 32) verortet; bzw. für den haitianischen Kontext Borst 2013a. 240 Zur Praxis der erzwungenen Vergewaltigung durch Familienmitglieder als Instrument des Terrors im Rahmen des politischen Konflikts in Haiti vgl. Dominique 2008: 13; Faedi 2008: 172; P. Girard 2010: 139. Eine bedrückende Beschreibung verschiedener Zeugnisse über sexuelle Gewalt in der Post-Duvalier-Ära liefert Dominique 2008: 162-68. 241 Über die Vergewaltigungsszene wird auch auf die Möglichkeit vieler ähnlicher Szenen verwiesen, die sich hinter verschlossenen Türen abgespielt haben mögen und die schlicht und einfach niemand mehr bezeugen kann, sei es, weil das ‚univers clos‘ des privaten Raums keinen Einblick bot, sei es, weil keine Überlebenden zurück- <?page no="105"?> 93 Gewalt nur symbolisch ein, während sich die Familie in der Vergewaltigungsszene nie in der privilegierten Position befunden hat, versucht zu sein, die Exzesse der Nacht zu ignorieren. 242 In der Einleitung zu dem Sammelband Citizens of Fear. Urban Violence in Latin America (2002) schreibt Susana Rotker, dass sich Gewalt nicht auf isolierte Areale des städtischen Raums beschränken lasse, „but instead crosses borders and space, […] making all of us experience injustice, insecurity, and inequality“ (2002: 18). Trouillot verdeutlicht in Rue des pasperdus jedoch, dass diese vermeintliche Auslöschung der Grenzen, die alle vor der Gewalt gleich macht, als relativ zu sehen ist, da die Qualität der Gewalterfahrung trotz des symbolischen Eindringens des Phänomens in jeden Raum in den jeweiligen Sequenzen doch unzweifelhaft eine unterschiedliche ist: Der Angestellte, Laurence und Gérard können zwar die Augen nicht vor den Schrecken in der Stadt verschließen, doch sind sie immer noch in der Lage, die eigentliche Gefahr räumlich auszusperren und so ihre soziale Privilegiertheit aufrechtzuerhalten. Dass für andere Figuren die Topografie der Stadt jedoch tatsächlich zu einem Kosmos der Unsicherheit und des Grauens wird, wird im Folgenden anhand des Schicksals von Ducarmel Désiré vertieft, der als Unschuldiger zwischen die Fronten gerät. 2.1.2 Gewalt als neue (Un-)Ordnung im urbanen Raum „[Ç]a tirait partout, dans les égouts, au-dessus des toits, en plein dans le ventre, côté cour, sous les tonnelles, dans les salles d’attentes des cliniques privées, dans la salle des bustes du Palais national, dans les bibliothèques municipales, dans les bordels, ici même, côté jardin, dans les salles de nouvelles des stations radio, dans les ruelles coincées, sur l’eau des rigoles. En plein dans le ventre.“ (RPP: 16) Im Gegensatz zum Angestellten und seinen Freunden, die sich statisch in den privaten Raum zurückgezogen haben, eröffnen die Bewegungen des Taxifahrers Ducarmel Désiré eine komplexe und chaotische Stadtlandschaft (vgl. Borst 2012: 287), in der sich die Gewalt als räumlich unkontrollierbares Phänomen eingenistet hat. Der Kulturphilosoph de Certeau unterstreicht in seinen Reflexionen zum Raum die besondere Rolle des geblieben sind. Zum verlorenen Zeugnis in Rue des pas-perdus vgl. ausführlicher Kap. 2.4.2. 242 Während in Rue des pas-perdus gezeigt wird, wie Gewalt in den privaten Raum eindringt, thematisiert L. Trouillot in anderen Romanen das Phänomen familiärer Gewalt als Spiegel der Zerrüttung der sozialen Strukturen in Haiti, deren Schauplatz explizit der private Raum ist. Beispiele hierfür sind der prügelnde Vater Corazón aus Les enfants des héros oder der gewalttätige Ehemann von Marthe Lamisère aus Les fous de Saint-Antoine. Traversée rythmique. <?page no="106"?> 94 ‚piéton‘ bzw. ‚marcheur‘, der als ‚Benutzer der Stadt‘ (vgl. Certeau 1990: 141) diese durchquert und den urbanen Raum durch seine Bewegungen erst aufspannt (vgl. Certeau 1990: 141). 243 Ducarmel Désirés Irrweg durch Port-au-Prince jedoch verkehrt den ruhigen Schritt dieses de Certeau’schen Fußgängers in die deliriöse Flucht eines desorientierten ‚marcheur‘, der einen durch Gewalt neu strukturierten bzw. de-strukturierten Raum durchquert, in dem das Individuum den exzessiven Auseinandersetzungen ausliefert ist. Eine eingehende Analyse dieses Motivs wird verdeutlichen, dass Trouillots Benutzern der Stadt in einem Kontext der Gewalt die Kenntnis des Raums abhandenkommt, welche de Certeau noch mit dem blinden Verständnis der Körper zweier Liebender verglichen hat (vgl. ebd.: 141). 244 Der ‚marcheur‘ in Rue des pas-perdus hingegen wird zum ‚umherirrenden Opfer‘. Er kommt aus dem Schritt, strauchelt, stürzt und verirrt sich in einem konturlosen Labyrinth der Gewalt. 245 Während haitianische Texte, die um die Mitte des 20. Jahrhunderts publiziert wurden, den öffentlichen Raum laut Marie-José N’Zengou-Tayo häufig noch als „neutral space where all classes converge to conduct their social activities, enjoying themselves side by side […]“ (N’Zengou-Tayo 2003: 380) präsentieren, so findet bei Trouillot eine deutliche Verschiebung statt: 246 Es handelt sich nicht mehr um einen Kosmos des friedlichen Kontakts zwischen unterschiedlichen Gesellschaftsschichten. Stattdessen wird 243 Der urbanen Erfahrung des Fußgängers, der sich durch den städtischen Raum bewegt, setzt de Certeau die strategische Kontrolle des von oben auf die Stadt herabschauenden ‚voyeur‘ entgegen (vgl. Certeau 1990: 140-41). Ruft man sich die Oben- Unten-Opposition, die Port-au-Prince in L. Trouillots Romanen wie auch in der Realität prägt, ins Gedächtnis zurück, so kann mit de Certeau gelesen auch hier der Blick (der Elite) von oben auf die Stadt als eine Position der (politischen wie wirtschaftlichen) Kontrolle gedeutet werden. 244 Wie unzutreffend diese Metapher der Liebenden im Kontext von Rue des pas-perdus ist, zeigt sich bei einer genaueren Betrachtung des Motivs des Liebespaares im Roman, das in einer Welt der Gewalt nicht zueinanderfinden kann. Für eine detaillierte Interpretation vgl. Kap. 2.3. 245 Das Motiv der Flucht und des Umherirrens findet sich bei Trouillot auch in Les enfants des héros, wo der Autor die Geschichte der beiden Geschwister Colin und Mariéla erzählt. Sie flüchten durch Port-au-Prince, nachdem sie ihren gewalttätigen Vater Corazón im Affekt erschlagen haben (vgl. zur Thematik auch L. Trouillots Kurzgeschichte „Mariéla“). Vgl. hierzu Borst 2011. Zum urbanen Raum als Raum der Krise und Verstörung, in dem der ‚urbane Jedermann‘ den klassischen ‚flâneur‘ ablöst, vgl. auch Holmes 2007. 246 N’Zengou-Tayo (2003) verdeutlicht diese einheitsstiftende Funktion des öffentlichen Raums insbesondere am Beispiel der Darstellung des Champ-de-Mars. Für eine Umkehrung des Motivs und einer Darstellung dieses zentralen Platzes der haitianischen Hauptstadt als Ort, wo stattdessen die Kluft zwischen den sozialen Schichten deutlich wird, vgl. den Roman Les enfants des héros und seine Analyse in Borst 2011: 123. <?page no="107"?> 95 der öffentliche Raum in Rue des pas-perdus vollständig mit Gewalt überzogen. 247 Die Sequenz des Taxifahrers zeigt überdeutlich die räumliche Entgrenzung der Gewalt, wie sie in den Szenen in Gérards Haus lediglich anklingt. Pessini weist in ihrer Kurzstudie zu Trouillots Romanwerk ebenfalls auf eine Auflösung der Konturen des öffentlichen Raums hin, wenn sie das mit dem Gewaltausbruch einsetzende ‚Stolpern‘ des Texts beschreibt: Le paysage urbain est décrit sur un rythme calme et lent par des phrases qui imitent la cadence du taxi. Chaque nom de rue qui trace le parcours emprunté est accompagné d’un bref tableau qui en photographie l’image. Le déclenchement des événements casse cette scansion rythmique. (2005: 125) 248 Als Resultat verliert die Stadt in Rue des pas-perdus jegliche Konturen und Referenzpunkte jenseits der Gewalt, sie wird zu einem „espace indistinct“ (ebd.: 126), der sich dem Betrachter nicht mehr erschließt (vgl. ebd.: 125- 26). Stattdessen besetzt eine Topografie der Gewalt den Raum, die anhand von Ducarmel Désirés erratischen Bewegungen nachvollzogen werden kann. 249 Gestaltet der Taxifahrer seine Tour zu Beginn des Romans für den Leser noch transparent, so vernichtet die Gewalt schließlich jegliche Orientierung im fiktiven Raum für die Figur wie auch die Rezipienten (vgl. Borst 2011: 126-27). Zunächst reflektiert der Text die gemächliche Fahrt eines Taxis, dessen Stationen das Erzählen des Protagonisten in regelmäßigem Rhythmus unterbrechen. Die Bewegung durch den Raum strukturiert folglich vor dem Ausbruch der Gewalt die Narration: Rue de l’Arsenal, course simple - tarif régulier, si le client accepte de descendre au coin de la rue, à cette heure on y a déjà empilé des immondices, les clous et les éclats de verre te crèveront les pneus arrière. Rue de la Réunion, course facile, j’aimais bien les têtes de lions à l’entrée du palais de justice, ils donnaient au Palais une certaine dignité. […] [A]vec tous ces chômeurs qui rôdent nuit et jour aux abords du ministère de l’Intérieur tu ramasseras quelques clients. Fais-leur signe. […] Grand quartier général, à vos ordres mon commandant, non, c’est gratuit, mon commandant. N’aie pas peur de donner du mon commandant, du monsieur le professeur, ça les aide à patienter si tu prends du retard sur la route. Rue 247 Vgl. abermals Rotker: „Violence rewrites the text of the city and the rules of the game. It […] crosses borders and space, erasing the boundaries that separate the outside from the inside“ (2002: 18). 248 Zum desorientierten ‚Rhythmus‘ des Texts vgl. die Ausführungen in Kap. 2.5.2. 249 Zur Vergleichbarkeit der Orientierungslosigkeit des Taxifahrers im urbanen Raum der Gewalt und der Orientierungslosigkeit des Lesers in einem fragmenthaften Text der Gewalt vgl. Kap. 2.5. <?page no="108"?> 96 Paultre, non merci, ces rues haut perchées, ça brûle trop d’essence […]. (RPP: 47-48, Herv. J. B.) Bestimmt wird dieser Diskurs bislang noch von den Ratschlägen für den Fahrschüler - den vom Erzähler angesprochenen ‚petit‘ -, dessen Lektion über das Taxi-Fahren im Verlauf des Kapitels jedoch immer mehr in eine Lektion über das Erleben traumatischer Gewalt abdriftet. 250 Gleichwohl finden sich jedoch auch im Bild des aufgehäuften Unrats (‚on y a déjà empilé des immondices‘) die ersten Anzeichen für die bevorstehenden Unruhen. Hier wird eine unheilschwangere Grundstimmung aufgegriffen, die auch in den der zitierten Textstelle vorangestellten Passagen in einer düsteren Topografie angelegt ist, die über die Verwendung metaphorischer Straßennamen wie der ‚rue Morte‘ oder der ‚rue du Ventre-Vide‘ zum Ausdruck kommt (vgl. RPP: 35, 48). Insbesondere die ‚rue Morte‘, von einem seltsamen Fahrgast angefragt, lässt den bevorstehenden Schrecken erahnen: „Selon mes calculs elle [= la rue Morte; Anm. J. B.] doit être située au centre de la ville, au croisement des traits cardinaux. J’y comprenais rien. J’avais pas fait cent mètres qu’il était descendu en me criant: je l’ai trouvée“ (RPP: 35). Die ‚rue Morte‘ als unheilvolle Ankündigung der Gewalt befindet sich somit nicht nur mitten in der Stadt (‚au centre‘), 251 sondern die Stadt ist mit ihren Hauptverkehrsadern zugleich buchstäblich auf diese ausgerichtet (‚au croisement des traits cardinaux‘). Die Tatsache, dass der Fahrgast unverzüglich wieder aussteigt, signalisiert außerdem, dass sie nicht nur überall, sondern eben auch immer in unmittelbarer Nähe verortet werden kann. 252 Die Atmosphäre, die in der oben wiedergegebenen Episode anklingt, wird im weiteren Verlauf der Handlung zunehmend angespannt, was sich darin widerspiegelt, dass zum Zeitpunkt der sich ankündigenden Eskalation (vgl. RPP: 48) an die Stelle der neutralen Straßennamen Fahrtziele treten, die mit stark negativen Assoziationen unterlegt sind: „Chemin des Dalles prolongé, non, la semaine dernière on y a agressé un collègue, pourquoi faut-il que tant de gens habitent ces rues maussades […]“ (RPP: 48, Herv. J. B.). 250 Vgl. hierzu die Ausführungen in Kap. 2.5.2. 251 So klingen im Begriff ‚traits cardinaux‘ gleichzeitig auch die Himmelsrichtungen (‚points cardinaux‘) an, was die ‚rue Morte‘ geradezu zu einem geografischen Nullpunkt der Stadtlandschaft macht. 252 Vergleichbare symbolische Ortsbenennungen finden sich auch in Lahens’ La couleur de l’aube, wo in Namen wie „quartier de qui-se-bat-toutes-griffes-dehors” (CA: 36) oder „quartier de-qui-se-bat-les-dents-dehors-pour-ne-pas-mourir” (ebd.: 57) die prekären Lebensumstände der Bewohner dieser Viertel aufgerufen werden. Vgl. außerdem den sprechenden Namen der fiktiven Stadt Port-aux-Crasse im Werk von Dalembert (u. a. Le crayon du Bon Dieu n’a pas de gomme (1996), Le songe d’une photo d’enfance (1993); vgl. ferner N’Zengou-Tayo 2003: 382), der symbolisch den Niedergang des urbanen Raums evoziert; vgl. hierzu ferner Dalembert 2005: 111-40). <?page no="109"?> 97 Obgleich die im Text nicht näher bestimmte Figur des ‚commandant‘ den Taxifahrer in der Folge noch vor den bevorstehenden Ereignissen warnt (vgl. RPP: 49), bricht die Gewalt doch mehr als plötzlich in die Erzählung ein - ein Eindruck, der durch das Fehlen einer Untergliederung des Texts in Absätze sowie eine sprunghafte Erzählweise verstärkt wird. Während Ducarmel Désiré gerade noch über die Vorzüge seines Toyotas philosophiert, endet die bisherige Fahrt jäh. Der Textauszug, von dem hier die Rede ist, soll in aller Ausführlichkeit zitiert werden, da erst der Zusammenhang einen Einblick in die Veränderung der geografischen und narrativen Bewegung bietet: Mais quand les militaires occupent les rues, sans prévenir, et que le bruit des balles les précède, quand il en débouche une patrouille à chaque coin de rue, les dangers viennent de partout, y a pas de bonne route. Les rues puaient déjà d’une odeur de patrouilles. Rue des Remparts, ils étaient descendus de voiture, s’étaient postés par groupes de quatre. Rue Oswald- Durand, ils avaient investi la place, riaient des colombes qui fuyaient. Rue Cadet-Jérémie j’avais éteint mes phares […]. Un char! […]. Marche arrière, bifurque à droite, je savais qu’on tirait, mais je n’entendais pas de coups de feu, seulement cette voix dans ma tête qui disait à mon pied sur l’accélérateur tu vas mourir, je ne veux pas mourir, tu vas mourir, je ne veux pas mourir. Rue Paul-VI, deux corps en croix, marche arrière, merde, ils sont déjà morts, et la voix qui insistait tu vas mourir, je ne veux pas mourir. Et le plouc des corps sous les roues, rue des… mais qu’est-ce que j’en avais à foutre des noms de rues, j’étais dans les couloirs d’une immense caserne, un labyrinthe de mitrailleuses, ma peur roulait sans destination, faisait pipi, caca, pleurait, se cramponnait aux parois de mon estomac, parlait, chantait, hurlait, je n’ai pas changé, tu vas mourir, communiqué, éclatait de rire. J’étais sûr de connaître la voix qui riait […], la voix du fou me rentrait dans l’oreille, […] c’était moi caché derrière moi, tu l’as enfin trouvée la rue des Pas-Perdus, course simple - tarif régulier, tous les chemins mènent à la mort. (RPP: 49-50) Während zunächst mit den Soldaten nur die Vorzeichen der Gewalt auftreten, zeigt das Zitat gleich zu Anfang, wie sich die bisherige Raumstruktur bereits auflöst und von Gewalt überschrieben wird: „une patrouille à chaque coin de rue, les dangers viennent de partout, y a pas de bonne route“ (RPP: 49, Herv. J. B.). Dienten zu Beginn des Kapitels die Straßennamen noch dazu, die ruhige Fahrt des Taxis durch Port-au-Prince zu beschreiben, verlieren sie hier ihre Funktion als Orientierungspunkte im Raum und organisieren nur noch die Handlungen des Militärs und die herannahende Eskalation der Gewalt. Auch wenn sich Ducarmel Désiré zunächst noch durch ihre Nennung an bekannten Strukturen festklammert, büßen sie schnell ihre Bedeutung ein und Wahrzeichen der Gewalt (‚patrouilles‘, ‚chars‘, ‚coups de feu‘) besetzen zunehmend den Raum. Neue Raumbilder wie das ‚labyrinthe de mitrailleuses‘ und die ‚immense <?page no="110"?> 98 caserne‘ - beide Symbole für ein violentes ‚univers clos‘ - 253 treten an die Stelle der bisherigen Wegmarkierungen. Die Straßennamen als letzter Anhaltspunkt in der Stadtlandschaft gehen endgültig in jenem Moment verloren, als der flüchtende Taxifahrer die beiden toten Körper überfährt: „Et le plouc des corps sous les roues, rue des… mais qu’est-ce que j’en avais à foutre des noms de rues […]“ (RPP: 50, Herv. J. B.). Panzer, Schüsse und tote Körper dirigieren fortan den Weg des Fahrzeugs. Ducarmel Désirés exzellente Kenntnis der Straßen (vgl. RPP: 89; Pessini 2005: 125) hilft ihm in diesem Kontext nicht mehr weiter, da sich die Ordnung des Raums angesichts der Zerstörungswut der Gewalt aufgelöst hat. 254 So wie diese Nancy zufolge grundsätzlich „Sinn [raubt]“ (Nancy 2007: 34), vernichtet sie auch die kohärente Struktur der Stadt. Der literarische Allgemeinplatz des Helden an der Wegkreuzung, der eine Entscheidung trifft (vgl. Daemmrich/ Daemmrich 1987: 207), wird in der Folge von Trouillot in Rue des pas-perdus buchstäblich zerrüttet: Jegliche Entscheidung wird hinfällig, „y a pas de bonne route“ (RPP: 49) und jeder Weg führt ins Verderben. Die zitierte Szene mündet schließlich in der Metaphorik der ‚rue des Pas-Perdus‘. Der Text suggeriert hiermit zunächst ein Wiederaufgreifen der Straßenthematik, was dadurch unterstrichen wird, dass Trouillot den Erzähler erneut die Bepreisung der Fahrt aufgreifen lässt (‚tarif régulier‘). Dadurch wird eine Normalität vorgeschoben, die sogleich durch den Zusatz ‚tous les chemins mènent à la mort‘ als falsch entlarvt wird. Dieser holt den Leser unmittelbar in die Realität der Gewalt zurück. Auch die Angabe ‚course simple‘ verliert in diesem Kontext ihren ursprünglich unschuldigen Inhalt und weist vielmehr darauf hin, dass es für die Figuren keinen Weg zurück, kein Entkommen aus der Gewalt gibt. 255 Erneut aufgegriffen wird das Bild des Umherirrens in der Szene in der ‚ravine des Innocents‘ (vgl. RPP: 66), 256 in die Ducarmel Désiré sich daraufhin flüchtet und deren Name Programm ist, handelt es sich bei dem Prota- 253 Zur hermetischen Abriegelung des Raums vgl. Gérards Bericht: „[I]ls ont fermé les deux portails, personne ne peut quitter la ville […]“ (RPP: 55-56). 254 Zum Abhandenkommen von Ducarmel Désirés Orientierungssinns vgl. auch folgende Textstelle: „J’ignorais dans quelle rue j’avais dû l’[= la Toyota; Anm. J. B.] abandonner“ (RPP: 87). Diese Auflösung der räumlichen Struktur greift außerdem die Bilder der zerstückelten Körper auf, die in Kap. 2.4.1 interpretiert werden, da beide Motive im Text als Symbole der Destruktivität der Gewalt fungieren. 255 Vgl. eine spätere Aussage des Taxifahrers, der überlegt, ob er vielleicht einen anderen Weg genommen hätte, wenn er sein Bein und den Toyota nicht verloren hätte. Dass dies etwas geändert hätte, wird sogleich als Illusion entlarvt: „[P]eut-être aurais-je pris la route […] de la Quatrième Avenue. Les soldats en avaient fermé les entrées. Ils tiraient sur tout. Même les chiens et les rats […]“ (RPP: 114, Herv. J. B.). Gewalt bestimmt auch diesen Teil der Stadt. 256 Mit ‚ravine‘ werden in Haiti i. d. R. Abflussgräben bezeichnet, auf die in der neueren Zeit auch das unkontrollierte Städtewachstum des Ballungsraums Port-au-Prince übergegriffen hat (vgl. King 2005: 96). <?page no="111"?> 99 gonisten doch um ein Opfer, das unschuldig zwischen die Fronten geraten ist. Seine Flucht durch die ‚ravine‘ wird durch eine konturenlose Masse, ein „grande mare d’ordures“ (RPP: 73) voller „masses informes“ (RPP: 67) und „choses indistinctes“ (RPP: 73) bestimmt. Während die in der ‚ravine‘ schwimmenden Gegenstände nicht zu definieren sind, ist es erneut ein Körper, der als Anhaltspunkt im Raum auftaucht: „Quelque chose de solide et de mou en même temps vient se frotter à moi. Une veste, une poitrine, un corps d’homme“ (RPP: 74). Diese Motivik wird auch im weiteren Verlauf des Romans fortgesetzt, sodass fortwährend Wegmarken der Gewalt den umherirrenden Gang Ducarmel Désirés auf der Suche nach seinem Toyota lenken und strukturieren. Den ersten Orientierungspunkt nach dem Entkommen aus der ‚ravine des Innocents‘ bildet die arbiträre Begegnung eines beliebigen Opfers mit beliebigen Tätern im Lichte vorbeihuschender Autoscheinwerfer: mit Macheten und Hacken bewaffnete Jugendliche auf der einen Seite und der Fahrer selbst mit seinem schwer verletzten Bein auf der anderen Seite (vgl. RPP: 76). Dieses Bild wird in der Folge durch Schreie und Schüsse in der Ferne ergänzt (vgl. RPP: 87), welche die von Ducarmel Désiré individuell erfahrene Gewalt verräumlichen und dadurch in Form des nicht sicher gewussten Schicksals von anderen multiplizieren. Fortan wird der Weg durch die Stadt folglich nicht mehr anhand der Straßen erzählt, wie sie vor dem Ausbruch der Gewalt die Sequenz geprägt haben. An ihre Stelle sind Gewaltereignisse und tote Körper getreten, die als neue Topografie den urbanen Raum bestimmen. 257 Nach einem vom Taxifahrer bezeugten Lynchmord an zwei pensionierten Polizisten (vgl. RPP: 88-89) erweckt der Text zwar kurz den Anschein, als würden die Straßennamen wieder aufgenommen werden: 258 „Poussons jusqu’à la rue des Flamboyants en passant par Saint-Louis-Roide-France et la rue de la Découverte, nous en trouverons bien d’autres“ (RPP: 89, Herv. J. B.). Im Kontext gelesen wird jedoch deutlich, dass mit den ‚bien d’autres‘ potenzielle Kandidaten für weitere Akte der Lynchjustiz gemeint 257 So z. B. der Lynchmord durch einen wütenden Mob an zwei Polizeibeamten im Ruhestand, deren Verantwortung für die gegenwärtige Gewalt in Rue des pas-perdus als äußerst fragwürdig präsentiert wird (vgl. RPP: 88-89); plündernde Menschen und in der Ferne brennende Häuser (vgl. RPP: 98-99); die den Raum der Gewalt dominierende Farbe Rot (vgl. RPP: 100); der ‚cadavre marassa‘ (vgl. RPP: 101); sowie ein „cadavre cloué contre une porte, le sexe ballotant, sanguinolent“ (RPP: 141), der das Bild der toten Körper auch ganz am Ende des Romans wieder aufruft. 258 An einer anderen Stelle wird zwischendurch bereits einmal ein Straßenname genannt: „Je crus reconnaître l’odeur rance de la rue Tire-Masse. Ce grand trou, […] ce devait être la ravine des Innocents“ (RPP: 66). Er steht isoliert im Text und bietet für den Protagonisten letztlich nur einen kurzen überbrückenden Anhaltspunkt im Raum, bevor jener in der ‚ravine des Innocents‘ erneut die Orientierung verliert. Seine Erwähnung kann als verzweifelter Versuch des Erzählers gelesen werden, die alte Raumordnung aufrechtzuerhalten, was jedoch angesichts der Gewalt zum Scheitern verurteilt ist. <?page no="112"?> 100 sind, sodass auch das zuvor über den Raum gelegte Straßenraster neu mit Gewaltakten besetzt wird. Letztlich ist es der ‚cadavre marassa‘ als „masse noire, symétrique, au milieu de la rue“ (RPP: 101, Herv. J. B.), über den sich die Gewalt dem Raum als neue (Un-)Ordnung auferlegt (vgl. Nancy 2007: 35). 259 Dass jene mit Nancy gesprochen allerdings nicht nur die Ordnung des Raums, sondern jegliche Ordnung auslöscht (vgl. ebd.: 35), offenbart sich darin, dass auch jede Form moralischer Werte und Normen außer Kraft gesetzt wird, als ein Mann sich an dem noch schwelenden Kadaver eine Zigarette anzündet, während andere Letzteren mit Fußtritten malträtieren. Ihr Verhalten bringt sinnbildlich die im Roman beschriebene Verrohung einer Gesellschaft zum Ausdruck, in der Gewalthandlungen Alltag geworden sind (vgl. RPP: 102). 260 Hat die Flucht in seinem Taxi Ducarmel Désiré zunächst noch in geringem Maße Orientierungspunkte geboten (z. B. durch das weiter oben beschriebene Beibehalten der Straßennamen zu Beginn der Irrfahrt), so zeigt sich, dass der Verlust des Fahrzeugs dazu führt, dass der Protagonist endgültig jeglichen Halt im Raum verliert, was das Bild der undefinierten, zähen Masse in der ‚ravine‘ versinnbildlicht. Trotz seiner gravierenden Verletzung begibt sich der Taxifahrer deshalb auf die Suche nach seinem Toyota, der für ihn den Garant seines Lebensunterhalts und zugleich ein Symbol des Alltags vor der Nacht des Unheils darstellt. Fragt er sich zunächst noch verzweifelt „Mais où courir? “ (RPP: 66), schafft er mit der Suche nach dem Auto einen neuen Sinn für seine Bewegungen im Raum und erlebt sie buchstäblich als verzweifelten Versuch der Rückgewinnung von Normalität. In der schwerwiegenden Traumatisierung des Protagonisten (vgl. hierzu Kap. 2.4.3 und 2.5.2), dem eine Rückkehr in eine Zeit vor dem Gewaltexzess versperrt ist, deutet sich jedoch an, dass der Wunsch, Normalität / das Fahrzeug wiederzufinden, letztlich wahrscheinlich unerfüllt bleibt (vgl. RPP: 114, 140-42). Die tatsächliche Bedeutung des Taxis zeigt sich nicht nur daran, dass der Protagonist in seiner Erinnerung wichtige biografische Daten mit dem Besitz des Autos verknüpft. 261 Die Halt gebende Funktion des Fahrzeugs wird auch in der Erzählung selbst deutlich. Denn während dem urbanen Raum längst jegliche Ordnung verloren gegangen ist, organisiert die 259 Für eine ausführliche Interpretation dieses Motivs vgl. Kap. 2.4.1. 260 Vgl. hierzu den im Roman geäußerten Vorwurf, dass die Menschen der Gewalt gegenüber abgestumpft seien: „Mais personne ne s’arrête pour la beauté ou l’horreur du spectacle. Sauf les touristes“ (RPP: 100). 261 Dass der Toyota etwa beständig für den Lebensunterhalt Ducarmel Désirés und seiner Familie sorgte, wird in Verbindung zu verschiedenen Ereignissen wie der Geburt der Zwillinge und des Todes von Mathilde nacherzählt (vgl. RPP: 47). Zudem bezeichnet der Erzähler das Auto auch als „mon père, ma mère, ma liberté, Tout l’or du monde“ (RPP: 65). Vgl. auch RPP: 66 hinsichtlich der Sorge um den Toyota, als der Taxifahrer ihn zurücklassen muss. <?page no="113"?> 101 permanente Rückkehr des Erzählens zum Toyota - sei es durch Erinnerungen an frühere Ereignisse, sei es über die fortan die Bewegungen des Taxifahrers bestimmende Suche nach dem verlorenen Fahrzeug - den narrativen Diskurs und verleiht ihm damit eine Konstante über die Gewalt hinaus. 262 Wie eng das Netz an Assoziationen zwischen der ruhigen Fahrt des Toyotas und einer Zeit vor dem Gewaltausbruch geknüpft ist, zeigt sich anhand der Bilder, auf die Ducarmel Désiré zurückgreift, um schließlich eine fortschreitende Entspannung der Situation zu beschreiben: „Les taxis avaient recommencé à fonctionner. Timidement. On entendait ça et là des restes de coups de feu […]“ (RPP: 141). Dass eine solche Rückkehr in den Alltag jedoch nur vordergründiger Schein ist, signalisiert nicht zuletzt die Tatsache, dass der Verbleib von Ducarmel Désirés Auto im Roman nicht abschließend geklärt wird, was symbolisch zum Ausdruck bringt, dass der Taxifahrer sein bisheriges Leben nicht einfach wieder aufnehmen kann, 263 zumal er das verletzte Bein auch durch Amputation verliert (vgl. hierzu Kap. 2.4.3). Dass die im Roman geschilderte Gesellschaft der Gewalt auch nach der vorläufigen Beilegung des Konflikts nicht Herr geworden ist, deutet sich überdies darin an, dass die Topografie der Gewalt am Ende des Texts trotz des vorläufigen Endes der Unruhen nicht verschwindet. Vielmehr werden die Räume auch fortan über Gewaltereignisse definiert: Eine Ecke auf der Straße vor dem Bordell wird als „là où les militaires ont forcé le père à violer sa fille […]“ (RPP: 106) und ein Zimmer als Ort, „d’où la Jeanine a vu les soldats jeter le bébé par la fenêtre […]“ (RPP.: 118), umschrieben. Über diese Charakterisierungen wird der urbane Raum, dem in der Nacht der Zerstörung zunächst die Strukturen genommen wurden, regelrecht neu ‚gekerbt‘ 264 - durch traumatische Gewalterinnerungen sowie die bereits 262 Für Beispiele vgl. RPP: 65-66, 87-88, 90, 99, 113, 141. 263 Vgl. auch das Wiederaufgreifen der Musik von Iglesias, diesmal gepfiffen von einem Passanten, die sich jedoch mit dem „chant général“ (RPP: 141), der die Zeit nach der Apokalypse bestimmt, beißt und lediglich zum Schein eine Rückkehr zum vorherigen Zustand suggeriert (vgl. RPP: 141). Zum Auftauchen dieser Musik vor der der Gewalteskalation vgl. RPP: 90. 264 Die Begrifflichkeit der ‚Glättung‘ und ‚Kerbung‘ des Raums, auf die sich die vorliegende Interpretation stützt, stammt von Deleuze und Guattari, die in Mille plateaux (1980) zwischen ‚espace lisse‘ als Raum der Deterritorialisierung und des Nomadentums und ‚espace strié‘ als Raum der Reterritorialisierung und der Sesshaftigkeit unterscheiden, welche zwei Arten im Raum zu sein repräsentieren (vgl. Deleuze/ Guattari 1980: 592-625). Während im ‚gekerbten Raum‘ Punkte die spatiale Wahrnehmung dominieren, bestimmt die Linie als „un vecteur, une direction et non pas une dimension ou une détermination métrique“ (ebd.: 597) den ‚glatten Raum‘. Er steht dementsprechend der Homogenität der gekerbten Struktur im ‚espace strié‘ gegenüber (vgl. ebd.: 609). Als glatter Raum par excellence betrachten Deleuze und Guattari das Meer; den Gegenpol bildet die Stadt (vgl. ebd.: 598-599, 601), die von Straßen, Häusern und anderen Ordnungsstrukturen durchzogen ist. Übertragen auf den vorliegenden Kontext kann dies dahingehend gedeutet werden, dass die Gewalt <?page no="114"?> 102 erwähnten toten Körper, die fortan den ‚Text der Stadt‘ (vgl. Rotker 2002: 7) schreiben. 265 Ebenso wie auf zeitlicher Ebene an zentrale Lebensdaten mit prägenden Gewaltereignissen erinnert wird, wird hier die räumliche Wahrnehmung dauerhaft mit der erlebten Gewalt korreliert. Hinsichtlich der Raumbetrachtung lässt die Figur Ducarmel Désirés des Weiteren eine aufschlussreiche Parallele zum Universum des haitianischen Vodou 266 erkennen, die jedoch anders als im Falle des in Kapitel 2.4.1 besprochenen ‚cadavre marassa‘ von Trouillot nur indirekt eingeführt wird. N’Zengou-Tayo erklärt in ihrem Beitrag zur Figur des Intellektuellen im Werk von Lyonel Trouillot, dass der Taxifahrer aufgrund des Charakteristikums des lahmen Beins an den ‚lwa‘ Legba erinnere (vgl. N’Zengou- Tayo 2004: 334). 267 Dies ist im vorliegenden Kontext deshalb von besonderer Bedeutung, weil Legba als Herr der Wegkreuzungen gilt. Während N’Zengou-Tayos knappe Bemerkung vermuten lassen mag, dass hier eine tatsächliche Parallele aufzuzeigen ist, 268 ergibt eine eingehende Analyse des Motivs jedoch, dass der Roman hier die ursprüngliche Symbolik verdreht und sie in einem Kontext der ausufernden Gewalt uminterpretiert. Denn sie erlaubt es zu belegen, dass Ducarmel Désiré in Rue des pas-perdus eher als Figur präsentiert wird, die jegliche Kontrolle über den Raum verliert, denn als Herr über den Raum im Sinne eines ‚Maître Carrefour‘. Der ‚lwa‘ Legba stellt als Verbindung zwischen dem Universum und seinem Ursprung, der weltlichen und der göttlichen Sphäre, eine der zenden Raum einerseits glättet, indem sie in ihrer Zerstörungswut alle vorherigen Strukturen und Stabilitäten aufhebt und somit einen Raum der Gewalt formt, der sich der bestehenden Ordnung entzieht. Andererseits kerbt sie ihn neu, indem sie sich selbst als scheinbar ‚ordnende‘ Struktur sowohl über den menschlichen Körper (vgl. hierzu Kap. 2.4) als auch das hinterlassene räumliche Chaos legt, in welchem sie, wie in diesem Kapitel meiner Studie beschrieben, als neue Punkte zur Standortbestimmung ihre violenten Spuren hinterlässt. 265 In ihrem Aufsatz „Cities Written by Violence. An Introduction“ (2002) erwähnt Rotker, dass häufig allein die Zahlen der Toten in den Nachrichten den urbanen Text der Angst schrieben, ohne dass diese einer weiteren Erklärung bedürften. Ihr Verweis, dass zugleich aber die individuelle Geschichte neben die Abstraktheit der Unzahl an Körpern treten müsse (vgl. ebd.: 7-8), wie dies in Rue des pas-perdus etwa über die individuellen Schicksale umgesetzt wird, wird in Kap. 2.5.2 erneut aufgegriffen. 266 Ich favorisiere in Anlehnung an Murrell die Schreibweise ‚Vodou‘, da es sich hierbei um die historisch korrekte Religionsbezeichnung handelt. ‚Voodoo‘ hingegen wird meist im Ausland benutzt und impliziert häufig eine Annäherung der Kulthandlungen dieses Glaubens an ‚Hexerei‘ und ‚schwarze Magie‘ (vgl. Murrell 2010: 58-59). 267 Als ‚lwa‘ werden im haitianischen Vodou Gottheiten bzw. spirituelle Wesen bezeichnet, „[who] represent a fusion of African and Creole gods, the spirits of deified ancestors, and syncretized manifestations of Catholic saints“ (Fernández Olmos/ Paravisini-Gebert 2011: 117). Die Gläubigen rufen sie in den Zeremonien an und sie bilden die Verbindung zwischen den Menschen und dem Göttlichen (‚Bondyé‘ als höchster spiritueller Entität) (vgl. ebd.: 120, 254; Deren 1953: 88-95). 268 Auf mögliche Implikationen dieser scheinbaren Analogie für das Verständnis des Romans geht N’Zengou-Tayo (2004) leider nicht ein. <?page no="115"?> 103 tralen Größen im Pantheon des haitianischen Vodou dar (vgl. Deren 1953: 96; Desmangles 1992: 108-09). 269 Er gilt als „Maître Carrefour“ (Métraux 1994: 111) und „Lord of the crossroads“ (Hurston 1990: 128), der die Tore zwischen den Welten öffnet (vgl. ebd.: 128-29) und dadurch zugleich über das Schicksal der Menschen wacht (vgl. Murrell 2010: 78). In Haiti wird er meist als alter, gebrechlicher Mann mit einer Pfeife und einem Sack über der Schulter gezeigt, der sich auf eine Krücke stützt (vgl. Deren 1953: 99; Desmangles 1992: 109; Hurston 1990: 128; Métraux 1994: 417; Waller 2005: 58). 270 Während N’Zengou-Tayo aufgrund der Analogie des in Mitleidenschaft gezogenen Beins 271 und der Tatsache, dass seine Bewegungen in der Stadt den urbanen Raum der Gewalt vor dem Leser aufspannen, Ducarmel Désiré ebenfalls als „master of crossroads“ (N’Zengou-Tayo 2004: 334) bezeichnet, ist zu argumentieren, dass sich der Protagonist einem Raum der Gewalt gegenübersieht, der keinen Ausweg bietet, gleichgültig, für welchen Weg er sich entscheidet. Vor dem Hintergrund der Legba-Symbolik wirft Trouillot somit die Frage auf, auf welchen Weg der ‚lwa‘ als „divinity of the cardinal points“ (Deren 1953: 100) das Individuum in einem Universum, in dem die „traits cardinaux“ (RPP: 35) auf die symbolträchtige ‚rue Morte‘ zulaufen (vgl. weiter oben), „[et où] les dangers viennent de partout […]“ (RPP: 49, Herv. J. B.), noch leiten kann. Ducarmel Désiré wird somit weniger zu einem ‚Herrn der Wegkreuzungen‘, als dass sich über dieses von seiner ursprünglichen Bedeutung abgewandelte Motiv abermals sein Status als ohnmächtiges und umherirrendes Subjekt bestätigt. Denn seine Funktion als Führungsinstanz in der Stadt, die jede Straße kennt, so wurde hergeleitet, hatte er mit dem Losbrechen der Ereignisse bereits endgültig verloren. 272 269 Vgl. konkret Desmangles: „[H]e is a mediating principle in Vodou between the sacred world […] and the secular […], between the center of the universe […] and the outer edges of the cosmos […], between humankind and the lwas, and between one human generation and another“ (1992: 109). Als derjenige, der die Tore zwischen der profanen und der sakralen Welt bewacht und öffnet, wird er deshalb zu Beginn jeder Vodou-Zeremonie angerufen (vgl. Deren 1953: 98; Desmangles 1992: 109; Murrell 2010: 78). 270 Legbas Darstellung als alter Mann wird im Vodou durch seine zweite Funktion als kosmischer Phallus, Quelle des Lebens und Symbol der Virilität ergänzt (vgl. z. B. Deren 1953: 97, 99; Desmangles 1992: 109-10), die in Trouillots Roman jedoch nicht zum Tragen kommt. Zur generellen Dualität des Wesens der ‚lwa’ vgl. Desmangles 1992: 96-97. 271 Aufgrund seines Beins wird Legba im Vodou auch ‚Legba Pie Case‘ (frz. ‚Legba pied cassé‘) genannt (vgl. Desmangles 1992: 113; Métraux 1994: 111). 272 N’Zengou-Tayo vergleicht den Taxifahrer in diesem Kontext nicht nur mit Legba, sondern auch mit der Figur des Charon aus der griechischen Mythologie (vgl. Rose 2012: 85-86). Sie führt dies darauf zurück, dass im Roman alle Wege in den Tod zu führen scheinen (vgl. N’Zengou-Tayo 2004: 334). Ein solcher Vergleich Ducarmel Désirés mit der aktiven Rolle des Fährmanns, der die Toten in die Unterwelt bringt (vgl. Rose 2012: 85), ist allerdings meiner Auffassung nach nicht aufrechtzuerhalten, wird <?page no="116"?> 104 Als Symbol für die Kontinuität zwischen den Generationen wird Legba im Vodou überdies in verschiedenen Lebensstufen vom Kind bis zum Greis imaginiert (vgl. u. a. Desmangles 1992: 109-10), 273 weshalb der Leser versucht sein mag, den Jungen Létoilé, der sich des verletzten Ducarmel Désirés annimmt und ihn auf der Suche nach seinem Auto unterstützt, als neuen ‚Maître Carrefour‘ auszulegen. Doch auch dieser kann die Rolle des Wegweisenden, der dem im Chaos versunkenen Raum wieder eine Struktur verleiht, nicht übernehmen: „[J]e ne suis même pas capable de te retrouver ta Toyota […]“ (RPP: 128), wird er vom Erzähler zitiert. 274 Die Ordnung im Raum kann somit nicht wiederhergestellt werden, sodass die Geschichte einzig im Bild der ‚rue des Pas-Perdus‘ münden kann, deren Symbolik als Metapher für eine beständige Wiederkehr der Gewalt im nächsten Kapitel beleuchtet wird. 2.2 Haitianische Geschichte als ‚nuit sans centre ni fin‘ „Ici la terreur se perpétue, change de camp, de cible, de vitesse.“ (RPP: 105) Geschichte wird in Rue des pas-perdus als permanente Wiederholung von bisher da Gewesenem beschrieben, wie es bereits im Prolog zum Ausdruck kommt: „Toutes nos histoires commencent par des coups de vent […]. Un coup de vent par-ci, un coup de vent par-là […]. Notre histoire est un justaucorps, […] un grand feu qui brûle, un calypso d’apocalypse […]“ (RPP: 11). All dies sind Metaphern der ewigen Wiederkehr der Gewalt, die gleich zu Beginn des Romans die in der Symbolik der ‚rue des Pas-Perdus‘ angelegte zyklische Rückkehr des Endes der Erzählung zum Anfangspunkt ankündigen, was im Folgenden genauer ausgeführt wird. 275 Zunächst wird in diesem Kontext grundsätzlich auf eine zyklische Darstellung der Geschichte im Roman eingegangen, bevor schließlich die Metapher der ‚rue des Pas- Perdus‘ und damit einhergehend die Figur des ‚fou‘ interpretiert werden. Konkrete Verweise auf den realhistorischen Kontext lassen die Romanhandlung in der haitianischen Realität des ausgehenden 20. Jahrhunderts doch der Taxifahrer selbst zum hilflosen Spielball der Gewalt, als er vollständig die Kontrolle über den Raum verliert. 273 Vgl. im Detail Desmangles: „Vodouisants also imagine him as to be the celestial arc, the path traveled by the sun during the day. As such, he has many lives, each corresponding to a different part of the day. In the early morning, he is as frail as a newborn child; at noon he is as fertile as a young man […]; and in the late afternoon he is a venerable and poor ancient […]“ (1992: 110). 274 Zur Rolle von Létoilé vgl. ausführlicher Kap. 2.5.1. 275 Zur Wahrnehmung haitianischer Geschichte als zyklische Wiederkehr der Gewalt vgl. Munro 2007b. <?page no="117"?> 105 und somit in der Post-Duvalier-Ära verorten. 276 Obwohl in dem im Text dargestellten Konflikt konkret die Konfrontation zwischen Anhängern der ‚Lavalas‘-Bewegung und Neo-Duvalieristen im Kontext der ersten Amtszeit Aristides und der Militärdiktatur der Jahre 1991 bis 1994 gelesen werden können, 277 legt die Symbolik der nie enden wollenden Nacht der Gewalt nahe, 278 dass Trouillot vielmehr daran gelegen ist, die Gewaltproblematik und die Verfasstheit der haitianischen Gesellschaft in der Post- Duvalier-Ära generell zu fassen (vgl. auch L. Trouillot in: Touam Bona et al. 2004). So folgert Vitiello in ihrer Untersuchung: Ce livre qui tait le nom d’événements réels est tout entier centré sur la terreur. Deux types de peur co-existent […]: la peur de la violence et la peur qu’au petit matin, il y aura eu un changement de pouvoir sans que rien ne change véritablement. (1998: 111) Der Text betrachtet die Zeit nach 1986 somit nicht isoliert, sondern setzt sie in Relation zur Gewalt der (diktatorialen) Vergangenheit. Im Bild der Nacht wird die historische Erfahrungswirklichkeit Haitis gewissermaßen komprimiert, sodass nicht nur auf die Post-Duvalier-Ära angespielt wird, sondern ein Usus der Gewalt und Unterdrückung mitklingt, unter dem die 276 U. a. die Bezeichnungen ‚Dictateur Décédé Vivant-Eternellement‘ als Anspielung auf den längst verstorbenen F. Duvalier, dessen diktatoriale Herrschaft jedoch die haitianische Politik bis in die Gegenwart prägt, oder ‚Prophète‘ als Anspielung auf Aristide, den Anführer der ‚Lavalas‘-Bewegung, der nicht nur Priester war, sondern sich auch durch ‚prophetische‘ Versprechungen zur Bekämpfung der sozialen Ungerechtigkeit in Haiti auszeichnete (vgl. Dupuy 2007: 75; Fatton 2002: 33; Laraque 2007: x). Zum Rückgriff auf realhistorische Ereignisse und Elemente in Rue des pas-perdus vgl. Coverdale 2003: xxi; N’Zengou-Tayo 2004: 333-34. Die Figur des negativ konnotierten Propheten findet sich durch die Figur des ‚Élu‘ auch in G. Victors Roman À l’angle des rues parallèles, in dem sich hinter dieser Bezeichnung ein Politiker verbirgt, dessen Skrupellosigkeit darin gipfelt, dass er ‚Gott‘ töten lässt. 277 Zur ‚Offenheit‘ der zeitlichen Einordnung des Romans vgl. auch Rochette 1998: 30; Vitiello 1998: 111. Auch Trouillot selbst bezeichnet seinen Roman als „mise en fiction de la situation que nous vivons depuis une décennie“ (L. Trouillot in: Touam Bona et al. 2004: o. S.). N’Zengou-Tayo hingegen interpretiert die erzählte Zeit mit dem Ereignis des Sturzes Aristides 1991 als konkreten Moment der haitianischen Geschichte (vgl. N’Zengou-Tayo 2004: 333-34). Parisot wiederum verortet die Handlung des Romans gar (ohne genauere Begründung) 1986, im Jahr des Sturzes von Jean-Claude Duvalier (vgl. Parisot 2006b: 219), was meiner Auffassung nach durch den Text nicht aufrechtzuerhalten ist. 278 Textbeispiele zur Veranschaulichung sind u. a.: „Depuis cette nuit terrible, tous les actes de violence semblent s’être produits en même temps“ (RPP: 137); „Ici la terreur se perpétue, change de camp, de cible, de vitesse“ (RPP: 105); „Comme si, par une sorte de somnambulisme politique, nous repassions par les mêmes chemins, débouchions sur les mêmes impasses avec le courage indomptable des automates“ (RPP: 111); „l’infinie masturbation des prélats et des bureaucrates discoureurs, héritiers du grand dictateur Décédé Vivant-Eternellement dans la perpétuité de nos rituels les plus morbides“ (RPP: 14). <?page no="118"?> 106 haitianische Bevölkerung (unter unterschiedlichen Akteuren) seit der Kolonialzeit gelitten hat. 279 Die unspezifische zeitliche Verankerung jenseits des konkreten historischen Moments sowie die Einbettung der einzelnen Nacht in eine ‚Tradition‘ der Gewalt lässt der Autor die Bordellwirtin gleich zu Beginn klarstellen: Nous habitons une longue nuit qui ne fait point obligation de voir les choses dans leurs détails, les mots et les actes ne cessant de se métamorphoser en d’insaisissables bruits et couleurs. Notre nuit se prolonge, se déroule dans l’indéfini, vaste hors-champ moqueur et mélancolique de toute contrainte chronologique, chaque fait constituant une particule mobile. Les vieux ont une façon particulière de célébrer l’éternité de la matière, par l’art baroque du bricolage, toute plaie sans cesse refermée, ouverte. (RPP: 16-17, Herv. J. B.) Zeit wird in diesem Zitat als eine amorphe Masse dargestellt, deren Einzelbestandteile nicht mehr in einer chronologischen Abfolge zu erkennen sind. Dies führt dazu, dass alles austauschbar wird, und die immer wieder aufplatzende Wunde wird zum Sinnbild für die haitianische Geschichte. Diese Metapher ist sicherlich nicht zufällig gewählt (vgl. Caruth 1996: 4) und spiegelt die Traumatisierung eines Kollektivs wider, das jener ewigen Nacht (als Symbol für die Gewalt) nicht zu entkommen weiß (vgl. Pessini 2005: 123). Wiederholt taucht in Rue des pas-perdus im Zusammenhang mit der andauernden Gewalt auch das Motiv der Apokalypse auf (vgl. RPP: 11, 27, 126). Die potenzielle religiöse Komponente des Begriffs im Sinne einer ‚Erneuerung‘ nach der Katastrophe wird im Text jedoch ausgeblendet. Der Roman erteilt hiermit möglichen spirituellen Erklärungsansätzen eine Absage und fordert den Leser auf, die dargestellte Gewalt in all ihrer Sinnlosigkeit anzunehmen, ohne der Versuchung zu verfallen, sie in irgendeiner Weise mit Sinn versehen zu wollen. Der Begriff der Apokalypse verweist mithin in Rue des pas-perdus weder auf ein kataklystisches Ende der Welt und eine Finalität der Zerstörung noch auf eine hieraus resultierende Etablierung einer neuen Ordnung (vgl. Daemmrich/ Daemmrich 1987: 35), sondern vielmehr bereits auf den nächsten apokalyptischen und sinnlosen Gewaltausbruch. 280 Gerade einmal eine halbe Seite lang erhält der Prolog des Romans die Illusion aufrecht, dass die Invasoren aus dem Ausland die ins Wanken ge- 279 Vgl. folgendes Zitat: „Elle [= la nuit; Anm. J. B.] nous avait suivis. Peut-être était-elle en nous, depuis toujours“ (RPP: 124); ebenso Coverdale 2003: xi. Zu einer Sicht der postkolonialen haitianischen Geschichte als eine permanente Rückkehr an den immer wieder gleichen Ausgangspunkt, an dem die Einlösung zentraler Ideale der Haitianischen Revolution wie Gerechtigkeit oder Gleichheit immer noch auf sich warten lässt, vgl. Munro/ Walcott-Hackshaw 2005: ix. 280 Vondung bezeichnet Apokalypse entsprechend als „[…] Erfahrung, daß die Welt fremd, ohne Sinn, ja […] absurd geworden ist und in ihrer Absurdität von äußerster Bedrohlichkeit“ (1990: 136). <?page no="119"?> 107 brachte Ordnung wiederherstellen könnten, bevor mit der erneuten Eskalation und der Vorschau auf eine nochmalige Besatzung (vgl. RPP: 13, 142) in der Erzählgegenwart ein neuer Zyklus der Gewalt in Gang gesetzt wird. 281 Gleichsam verbleibt das fiktive Universum in einem Zustand der ewigen Nacht, „[qui] durait depuis toujours et ne faisait que commencer“ (RPP: 57). Im Text substituiert das Motiv der andauernden Nacht als Zeit der existenziellen Bedrohung (vgl. Gilardoni-Büch 2008: 245) eine mögliche Symbolik des anschließenden Sonnenaufgangs, welcher nach der Apokalypse als Sinnbild für eine Erneuerung stehen könnte (vgl. Schneider 2008: 234). Rue des pas-perdus erzählt folglich zwar die Geschehnisse in einem konkreten Moment, evoziert hierdurch jedoch die haitianische Geschichte als violenten Kreislauf und von kontinuierlichen Auseinandersetzungen bestimmt. Dies umschreibt der Autor etwa mit der Metapher der „nuitentonnoir de l’extermination“ (RPP: 27), in der durch das Bild des Trichters die Verdichtung der Historie zum Ausdruck kommt. Der Roman spiegelt mit dieser Darstellung die von Hurbon genannte Problematik wider, dass die haitianische Gesellschaft Gewalt als Handlungsmuster verinnerlicht habe und immer wieder dazu tendiere, auf Gewalt mit Gegengewalt zu antworten (vgl. Hurbon 2002: 116). 282 Dieser von Hurbon beschworene Teufelskreis findet sich auch bei Trouillot in Bildern wie der Beschreibung Haitis als ‚univers clos‘ des Hasses und der Verzweiflung wieder: „Voyez-vous, monsieur, vingt-sept mille kilomètres carrés de haine et de désolation, un peu plus en comptant toutes les îles adjacentes […]“ (RPP: 21). 283 Deshalb entzieht sich jene „nuit sans centre ni fin“ (RPP: 58) auch einer Verkürzung auf einen konkreten zeitlichen Moment und lässt die in Rue des pas-perdus erzählten Geschichten als willkürliche Momentaufnahmen eines immer wieder neu beginnenden Kreislaufs der Gewalt erscheinen. Welche Geschichte letztendlich erzählt wird, scheint irrelevant, bleiben doch die Konstanten gleich, wie es die Worte der Figur der Bordellbetreiberin verdeutlichen: Cette histoire du professeur d’histoire, elle n’est point d’hier, elle date du temps où je travaillais seule dans une chambre de la rue des Remparts. Et je crois que c’était un ingénieur civil. A moins que les mêmes histoires ne se reproduisent avec des acteurs différents. Chacun y va de son talent pour 281 Die Betonung der Effektlosigkeit dieser Interventionen impliziert eine äußest kritische Sicht auf die Einmischung des westlichen Auslands in die haitianische Politik. 282 Vgl. auch Kap. 1.3; ferner Pessini 2005: 115-16. 283 Vgl. Pessini 2005: 141. Ein solches Bild von Haiti als ‚univers clos‘ der Hoffnungslosigkeit ist laut Lucas für eine Zersetzung des urbanen Raums in der neueren haitianischen Literatur kennzeichnend, der durch eine Symbolik der Verzweiflung und des Elends besetzt sei (vgl. Lucas 2004: 67-69), sodass sich häufig nur noch das Meer als Fluchtweg anzubieten scheine (ebd.: 71). Vgl. in diesem Kontext Dalemberts Roman L’autre face de la mer, in dem eine ganze Stadt vor dem Hintergrund der Herrschaft von Jean-Claude Duvalier den Weg über das Wasser sucht. <?page no="120"?> 108 parfaire son personnage. Les seules règles à ne point violer sont la misère et la violence. (RPP: 137, Herv. J. B.) Mit ‚cette histoire du professeur d’histoire‘ bezieht sie sich auf eine Geschichte über einen jungen Mann, welcher seiner Mutter den Schädel eingeschlagen habe, die kurz zuvor erzählt wurde (vgl. RPP: 136). Die Akteure und Geschichten, so signalisiert der zitierte Textauszug, sind austauschbar, lediglich Gewalt und Elend bleiben als unabänderliche Größen bestehen. 284 Wie der Roman betont, stand bereits mehrfach in der Vergangenheit das Versprechen im Raum, dass die Gewalt vorüber sei, „tous chantaient never again […]“ (RPP: 13). Doch genauso wie die Hoffnungen bisher immer wieder enttäuscht worden sind, drohen auch diesmal die „chants d’espérance“ (RPP: 122) ins Leere zu laufen, solange man auf Gewalt mit Gegengewalt reagiert; solange die neuen Hoffnungsträger erneut „enfants de la violence“ (RPP: 122) sind, wie die Erzählerin verlautbart. 285 Ebenso wie Gewalt den Raum neu strukturiert (vgl. Kap. 2.1), werden in der Folge gewöhnliche chronologische Daten als Anhaltspunkte in der eigenen Lebensgeschichte hinfällig, sodass die Figuren ihre Biografie anhand violenter Ereignisse strukturieren: Naître l’année […] de l’exécution d’une vingtaine d’officiers du haut étatmajor. Tomber amoureux pour la première fois l’année de la fermeture des écoles pour combattre la prolifération des doctrines subversives. Mourir l’année des dix-sept invasions ratées, suivies chacune par des vagues de répression. […]. Qui avait jamais eu le temps de devenir un individu! […] Dans ce merdier, quelle serait jamais la part du je? (RPP: 78) Der Text reflektiert hier den Bruch der „Erfahrungskontinuität“ (Assmann 1999b: 115), den Assmann als für das Trauma kennzeichnend beschreibt (vgl. Kap. 1.1.2). Die identitätsstiftende Funktion von Erinnerung im Sinne einer konstruktiven Rekonstruktion von Vergangenheit (vgl. Assmann 2007: 68; Assmann 1999a: 258) 286 wird in diesem Kontext geradezu pervertiert, indem es einzig die traumatische Gewalterfahrung ist, welche noch den Rhythmus der Lebensgeschichte vorgibt (vgl. Pessini 2005: 131). 284 Vgl. auch RPP: 109; überdies Pessini 2005: 123. 285 Der Roman verortet eine mögliche Lösung des Problems hierbei klar in Haiti selbst und rechnet erbarmungslos mit dem Ausland wie auch mit dem politischen System des Landes ab: „Et, à coups sûr et réguliers, de beaux messieurs venus d’ailleurs viennent nous apprendre à faire la paix. Avec leurs armes. Et vive la démocratie, la fatrasie, la bureaucratie, la miséro-cratie, la honto-cratie, la débilo-cratie, la dévorocratie, toutes les crasses et toutes les inepties, tous les noms et toutes les astuces, tout le décorum civilo-militaire pour se repaître de nos illusions et de nos désespoirs“ (RPP: 137). Diese Anklage greift in deutlicher Weise Fattons Diagnose eines ‚predatory state‘ auf (vgl. Kap. 1.2.1 und Fatton 2002: 10, 27), der sich seit jeher im politischen System Haitis festsetzen konnte und sich auf Kosten der Massen bereichert. 286 Zur Bedeutung von Erinnerung bei der Herausbildung individueller und kollektiver Identität vgl. Erll et al. 2003: iii; Jelin 2002: 9-10. <?page no="121"?> 109 Gebündelt wird das Motiv der beständigen Wiederkehr der Gewalt in der fortwährend auftauchenden Metapher der ‚rue des Pas-Perdus‘. 287 Diese ist nicht nur als ein Marker der (drohenden) Gewalt anzusehen, wie in Kapitel 2.1.2 erläutert, sondern weist auch auf eine zyklische Auffassung von Geschichte hin. 288 Sie steht im Zusammenhang mit der Figur des ‚fou‘, 289 der Ducarmel Désiré auf seiner Odyssee durch das Universum der Gewalt ‚begleitet‘ und dessen Status als verschwommene, vage Präsenz (Als Wahnvorstellung? Als tatsächliche Figur? Als Alter Ego? ) für den Rezipienten innerhalb der Erzählung nicht vollständig aufzuklären ist. Dem französischen Begriff gemäß ist dieser Benennung eine Zweideutigkeit eingelagert, da sie zugleich an einen Wahnsinnigen und an die Figur des Narren denken lässt. 290 Der Narr als zentrale Figur des Karnevalstopos kann in Rue des pasperdus mitunter als Metapher für den Zustand der dargestellten Gesellschaft gelesen werden (vgl. Daemmrich/ Daemmrich 1987: 175) und steht in diesem Sinne als Symbol einer pervertierten Welt der Gewalt. 291 Beim traditionellen Motiv des Karnevals, innerhalb dessen der Narr eine zentrale Rolle spielt, bleibt die Zeit der Zügellosigkeit, „die subversiv bestehende Ordnungen von Innen heraus durchbricht“ (Volkmann 2008: 346), jedoch zeitlich beschränkt und mündet schließlich in eine Phase der Läuterung (vgl. Bachtin 1969: 48, 50-51; Sammer 2008: 177). Die verkehrte Welt der Gewalt in Rue des pas-perdus indes deutet einen Dauerzustand an, der lediglich phasenweise abebbt, nur um erneut aufzubranden. In seinem Wissen um die kontinuierliche Wiederkehr der Gewalt mag der ‚fou‘ in Rue des pas-perdus zwar vordergründig eine weitere traditionelle Funktion des Narren als Sinnbild einer kritischen Wahrheit (vgl. Haekel 2008: 248) erfüllen. Letztlich erweist sich diese vermeintliche ‚Weis- 287 Vgl. hierzu ebenso Borst 2011: 127-28. 288 Während die Metapher der ‚rue des Pas-Perdus‘ im vorliegenden Kontext als Symbol für die Wiederkehr der Gewalt gelesen wird, birgt sie angesichts der Zweideutigkeit des Elements ‚pas-perdus‘, das sowohl ‚verlorene Schritte‘ als auch die ‚Nicht-Verlorenen‘ bezeichnen könnte, eine weitere Bedeutungsdimension, die in Kap. 2.6 aufgegriffen wird. 289 Vgl. erneut: „J’étais sûr de connaître la voix qui riait, une connaissance d’une autre monde […], la voix du fou me rentrait dans l’oreille, je ne pouvais rien contre elle, c’était moi caché derrière moi, tu l’as enfin trouvée la rue des Pas-Perdus, course simple - tarif regulier, tous les chemins mènent à la mort“ (RPP: 50). 290 Zum Motiv der (kollektiven) ‚folie‘ als Symptom der Desillusionierung der haitianischen Gesellschaft, die von extremer Gewalt und Chaos bedroht ist, vgl. auch G. Victors Roman À l’angle des rues parallèles oder L. Trouillots Les enfants des héros. Vgl. hierzu John 2010; Vété-Congolo 2011. Bei Victor taucht in diesem Zusammenhang auch ganz konkret der ‚fou‘ als Figur auf, die dem Protagonisten in einem in Gewalt versunkenen Universum den Weg weist, doch führt dieser Weg bei Victor ebenso nur zu weiterer Gewalt. 291 Vgl. auch Haekel 2008: 247-48. Vgl. zur Entfremdung des Motivs des Karnevals in Rue des pas-perdus außerdem Kap. 2.4.2; zu karnevalesken Motiven bei Trouillot allgemein Raffy-Hideux 2013: 571-74. <?page no="122"?> 110 heit‘ jedoch als Trugschluss, kann er doch weder den Taxifahrer retten noch Lösungen anbieten. In seiner Funktion als verwirrter, fabulierender Prophet ist es möglich, ihn an die tragische Gestalt des gescheiterten Intellektuellen Gérard anzunähern, wie N’Zengou-Tayo dies in einem Aufsatz vornimmt (vgl. N’Zengou-Tayo 2004: 334). 292 Beide sind sie Beispiele dafür, dass ein vernünftiges Reflektieren über den gesellschaftspolitischen Konflikt nicht mehr möglich scheint. Der ‚fou‘ erscheint hier weniger als Narr, sondern vielmehr als tatsächlich Wahnsinniger, dem die Zerrüttung der eigenen Lebenswelt den Verstand geraubt hat. Das Element des Irrsinns, welches letztlich innerhalb der Konnotationen des Wortes ‚fou‘ in Trouillots Erzählung deutlich überwiegt, steht im Roman als Zeichen für die Verstörung des Subjekts. Der Autor konstruiert dies über die Entwicklung des Taxifahrers, der selbst kontinuierlich in ein traumatisches Delirium abdriftet und sich dadurch immer mehr der Figur des ‚fou‘ annähert. 293 Die ‚rue des Pas-Perdus‘ als weiteres Sinnbild der in ihren Ausmaßen fast schon ‚karnevalesken‘ Gewaltorgie im Roman markiert (mit dem Auftauchen des ‚fou‘) zunächst den Ausbruch der Gewalt in der Erzählsequenz von Ducarmel Désiré: „[T]u l’as enfin trouvée la rue des Pas- Perdus, […] tous les chemins mènent à la mort“ (RPP: 50), so leitet der Erzähler den Beginn der gewaltsamen Ausschreitungen ein. Darüber hinaus ist sie ein Zeichen für das Trauma des versehrten Subjekts, das von der Erinnerung an die Schrecken der Nacht verfolgt wird, da das Element der Straße mit den verstörenden Erlebnissen des Individuums verflochten wird: „[J]e me demande si le fou n’avait pas raison. La rue des jambes perdues. La rue des pas perdus. La rue des amours perdues [sic]. La rue des voitures perdues. Trois fois merde, mon commandant“ (RPP: 140, Herv. J. B.). Das mehrmalige, nahezu obsessive Wiederholen der Satzstruktur weist den Erzähler an dieser Stelle als von den mit den einzelnen Elementen verbundenen Bildern der Gewalt Heimgesuchten aus. Während das Schlusskapitel zunächst beschreibt, wie Létoilé den Taxifahrer ins Krankenhaus bringt und das Leben in Port-au-Prince nach den Ausschreitungen der Nacht langsam zu seinem normalen Rhythmus zurückfindet, spielt das erneute plötzliche Auftauchen der ‚rue des Pas- Perdus‘ darauf an, dass die Beilegung des Konflikts eine Illusion darstellt. Als Létoilé für einen kurzen Moment Ducarmel Désirés Auto gefunden zu haben glaubt, deutet sich in seinem kindlichen Lachen zunächst ein optimistisches Schlussbild an, welches Trouillot allerdings Schritt für Schritt demontiert: 292 Vgl. z. B. RPP: 44-45, 48-49. Zu Gérard als Figur des gescheiterten Intellektuellen in der Post-Duvalier-Ära, der nicht mehr als kritischer Beobachter der Gesellschaft fungiert, sondern dessen Engagement sich zu einem zweifelhaften Inaktivismus und irrationalem Gefasel gewandelt hat, vgl. N’Zengou-Tayo 2004; ferner Raffy-Hideux 2013: 369-73. Zur Karikierung des Intellektuellen im Roman vgl. v. a. RPP: 43-46. 293 Vgl. hierzu ausführlicher Kap. 2.5.2. <?page no="123"?> 111 Il sautait, il riait. Il avait l’air heureux pour moi. On l’a retrouvée. Et il riait. On l’a retrouvée. Et il riait plus fort. Ses mots, son rire me rappelaient vaguement quelque chose. Puis cela me revint. Les mots, le rire. Qui sortaient de moi. De ma tête. De mon ventre. De ma jambe pourrie. De la ravine dont il n’était pas ressorti. Le fou était là dans moi. […]. M’entraînait avec lui. S’accrochait à ma jambe. Me tirait. Tout mon avenir, tout mon passé. Mensonges. Rien que des mensonges. […]. Je l’ai retrouvée. Tous la cherchent, moi seul l’ai trouvée, viens. […]. En bas, tout au fond, des images de dictateurs, de prophètes, de commandants. Des assassins, des palabreurs. Un chauffeur de camion qui avait travaillé sur la route des Cayes. Quelques millions d’enfants malades. Ça y est, je l’ai retrouvée, la miséreuse, l’ensanglantée, la bonne rue des Pas-Perdus. (RPP: 142-43, Herv. J. B.) Das fröhliche Lachen des Jungen mündet geradezu unbemerkt in das irrsinnige Lachen des ‚fou‘. Der Text lässt offen, ab wann sich das Pronomen ‚il‘ nicht mehr auf Létoilé, sondern den ‚fou‘ bezieht, dessen Präsenz mit der Anspielung auf die ‚ravine des Innocents‘ endgültig wieder in den Text einbricht. Unbewusst liest man deshalb zunächst auch das weibliche Objektpronomen als Platzhalter für das grammatikalisch weibliche Substantiv Toyota. Doch signalisieren der weitere Verlauf sowie die Wiederholung des ‚je l’ai retrouvée‘ am Ende, dass auch hier bereits die Metapher der ‚rue des Pas-Perdus‘ aufscheint und das positive Bild des wiedergefundenen Autos immer nur eine Täuschung war. Im Partizip ‚retrouvée‘ spiegelt sich bedrohlich und unheilvoll das Element ‚trouvée‘, welches innerhalb der Sequenz des Taxifahrers die Gewalteskalation eingeleitet hat (vgl. oben und RPP: 50). Über das Wort ‚retrouvée‘ im letzten Satz des Romans wird zugleich ein Spannungsverhältnis zu dem in Titel und Text zentralen Wort ‚perdu‘ aufgebaut. Während Ersteres die kontinuierliche Wiederkehr der Gewalt ankündigt, unterstreicht Letzteres die Unwiederbringlichkeit all dessen, was jene zerstört hat. 294 Der Eindruck, dass Gewalt als Konstante in der haitianischen Geschichte besteht, wird im obigen Zitat in der Formel ‚Tout mon avenir, tout mon passé‘ sowie einer undefinierbaren Abfolge von Diktatoren, Propheten und Kommandanten verstärkt, deren Rechtschaffenheit durch die Parallelsetzung mit der nächsten Parataxe - ‚Des assassins, des palabreurs‘ - nicht nur in Zweifel gezogen, sondern regelrecht demontiert wird. Zurück bleibt allein das individuelle Opfer - Ducarmel Désiré, der ehemalige ‚chauffeur de camion‘ (vgl. RPP: 33) -, in dessen Geschichte das Schicksal unzähliger anderer verborgen mitschwingt, die im Attribut ‚perdus‘ anklingen. Dieses verweist folglich nicht nur auf das vermisste Auto, das amputierte Bein oder die gescheiterte Liebe des Angestellten und von Laurence (vgl. Kap. 294 Vgl. abermals folgende Textstelle, die die vielfältige Zerstörungsmacht der Gewalt spürbar macht: „La rue des jambes perdues. La rue des pas perdus. La rue des amours perdues [sic]. La rue des voitures perdues“ (RPP: 140, Herv. J. B.). <?page no="124"?> 112 2.3), sondern zugleich auf die verstörte Existenz der Überlebenden wie auch die verstummten Stimmen der unzähligen Opfer. Angesichts der immer wiederkehrenden Gewalt bricht der Roman folglich mit der Linearität der Zeit und präsentiert die Geschichte als eine schier endlose Schleife von violenten Exzessen oder wie Linda Coverdale in einer Anmerkung zur englischen Übersetzung des Romans formuliert, als „recurring nightmare from which there appears to be no awakening“ (2003: xxii). 295 Indem der Roman am Ende letztlich erneut in jenes desolate Bild der ‚rue des Pas-Perdus‘ mündet - „Ça y est, je l’ai retrouvée, la miséreuse, l’ensanglantée, la bonne rue des Pas-Perdus“ (RPP: 143) -, erzeugt er geradezu das Tableau einer „violence quasiment interchangeable“ (Vitiello 1998: 110), was ein ‚palimpsestisches Bild‘ (vgl. ebd.: 111) der Geschichte schafft, „qui ne cesse de se répéter […]“ (ebd.: 111). 296 Sowohl das Verb ‚retrouver‘ als auch der Rückbezug des Romanendes auf den Prolog, der verdeutlicht, dass die Hoffnung auf eine endgültige Beilegung der Gewalt vergebens ist, legen nahe, dass die Zyklushaftigkeit der Gewalt auch im literarischen Text reproduziert wird. Dieser stellt es als unwahrscheinlich dar, dass es diesmal gelingen wird, der Gewalt beizukommen, was sich an der Stellungnahme der Bordellwirtin in dem letzten von ihr erzählten Kapitel ablesen lässt: Allez mes bons messieurs-dames, ne faites pas cette tête-là, y en a toujours eu des histoires de sang, et ça ne sera pas la dernière. Pas plus tard qu’hier, un jeune professeur d’histoire a écrabouillé le crâne de sa mère à grands coups de porte. (RPP: 136) 297 Die Erzählsequenz des Angestellten scheint zunächst jedoch mit der Inaussichtstellung eines Liebespaares das Potenzial zu bieten, um dieser Allgegenwart der Gewalt etwas entgegenzusetzen. So wird der Akt der körperlichen Vereinigung zunächst als Triumph über die Nacht und die Stadt beschrieben (vgl. RPP: 133). Im folgenden Kapitel werde ich allerdings herleiten, dass auch dieses Motiv als untauglich demaskiert wird, wie es sich in der Folge „La rue des jambes perdues. La rue des pas perdus. La rue des 295 Vgl. in diesem Kontext die Ausführungen von Trotha (1997b: 30) und Sofsky (Sofsky 1997) zum „Bruch aller Zeitroutinen“ (Trotha 1997b: 30) in der Gewalterfahrung. 296 Zur Symbolik der ‚rue des Pas-Perdus‘ als Sinnbild für die Ausweglosigkeit der Gewalt vgl. auch eine Anmerkung von L. Trouillot selbst (zitiert von seiner Verlegerin Marie-Catherine Vacher bei Actes Sud im Rahmen einer privaten Korrespondenz vom 11.01.2013 mit der Autorin der vorliegenden Studie), der angesichts der um sich greifenden Gewalt anmerkt, dass die haitianische Gesellschaft sich auf Straßen bewege, auf denen man nicht vorwärts komme, weshalb jeder Schritt ein verlorener sei. Vgl. hierzu die Interpretation von Munro (2008a: 173) zur Hinfälligkeit des Zeitempfindens als Symbol für die zyklisch wiederkehrende Gewalt in Trouillots Roman Bicentenaire. 297 Hier findet sich eine versteckte Anspielung auf den wenige Jahre später erschienenen Roman Les enfants des héros, in dem die Geschwister Mariéla und Colin ihrem gewalttätigen Vater den Schädel zertrümmern (vgl. L. Trouillot 2007a: 37). <?page no="125"?> 113 amours perdues [sic]. La rue des voitures perdues“ (RPP: 140) bereits ankündigt. Die Untersuchung wird zeigen, dass die Gewalt auch hier zu einer Zerrüttung führt, weshalb die vermeintliche Zweisamkeit von Laurence und dem Angestellten ebenfalls an der Gewalt dieser Nacht scheitert. 2.3 ‚Laurence perdait son odeur de jardin‘: Die Demontage des Liebespaares Handelt es sich bei der zwischenmenschlichen Begegnung zwischen dem Angestellten und Laurence tatsächlich um einen „moment[.] de grâce“ (Chemla 2001: 102) im ansonsten bedrückenden fiktiven Universum Lyonel Trouillots, wie es Yves Chemla in einem Kommentar zu Rue des pas-perdus anmerkt (vgl. ebd.: 100)? Eine genauere Betrachtung dieser Begegnung lässt erkennen, dass hier ein Trugschluss vorliegt, da die omnipräsente Gewalt in Trouillots Text dazu führt, dass auch der Topos der Liebe zerrüttet wird. Der Autor von Rue des pas-perdus setzt sich hierdurch deutlich von Jacques Roumains Klassiker Gouverneurs de la rosée (1944) ab, wo in der Tradition des haitianischen Indigenismus mit dem Protagonisten Manuel nicht nur eine idealisierte Heldenfigur auftritt (vgl. Lucas 2004: 58; Sellin 1993: 475), sondern in seiner Beziehung zu Annaïse auch das Bild einer Liebe geschaffen wird, die alle Hindernisse überwindet und am Ende über Hass und Gewalt triumphiert (vgl. R. Dorsinville 1981: 79, 82; Sellin 1993: 475). 298 Während Roumain über die Symbolik des Liebespaares und des wiedergefundenen Gemeinschaftsgefühls auf eine Zukunft verweist, in der Liebe Hass ersetzt (vgl. Gazarian-Gautier 1973: 22), verwirft Trouillots Roman den Triumph der Liebe als weltentrückte Utopie. 298 An dieser Stelle sei zum besseren Verständnis der intertextuellen Bezüge eine kurze Zusammenfassung von Gouverneurs de la rosée geboten: Roumains Protagonist Manuel kehrt nach langer Abwesenheit in sein Heimatdorf Fonds-Rouge zurück, dessen Bewohner nicht nur aufgrund einer Fehde in der Vergangenheit bis aufs Blut verstritten sind, sondern sich angesichts des Mangels an Wasser auch in einer desolaten Lage befinden. Als Manuel nach langer Suche auf eine Quelle stößt, will er die Dorfgemeinschaft versöhnen und wieder zu gemeinsamer Feldarbeit anregen. Annaïse, die einer der verfeindeten Familien angehört, unterstützt ihn und die beiden werden ein Paar. Aus Eifersucht tötet Gervilen Manuel, doch die geplante ‚coumbite‘ (haitianische Praxis der kollektiven Landarbeit, vgl. J. Smith 2001: 83-86) wird hierdurch nicht verhindert, da der Protagonist seine Mutter an seinem Totenbett versprechen lässt, dass sie den anderen gegenüber behaupten wird, er sei einem Fieber anheimgefallen. Die ‚coumbite‘ findet schließlich statt und die Dorfgemeinschaft ist wieder vereint. Zur Abkehr des haitianischen Gegenwartromans von derartigen ‚Heilserzählungen‘ sowie zur Rolle von Gouverneurs de la rosée als wichtiger Intertext der haitianischen Literatur vgl. Borst 2013b: 223; Dash 2008: 33; Dash 2006: 164; Fuchs 2014: 150-52; Jonassaint 2002: 90; Lucas 2004. <?page no="126"?> 114 Das von Anfang an als belastet geschilderte Verhältnis von dem Angestellten und Laurence wird vom Autor nur zum Schein als Kontrapunkt zur alles beherrschenden Gewalt angeboten. 299 Letztendlich lässt der Roman jedoch keinen Zweifel daran, dass das klassische Modell einer idyllischen Liebesszene, die harmonische Zweisamkeit als Gegenentwurf und lebensbejahende Kraft inszeniert, welche die düstere Realität vergessen lässt, angesichts der ausufernden Gewalt nicht mehr gültig sein kann. Trouillot verdeutlich diese Position ebenfalls in einem Interview, wenn er sagt: „There is no ivory tower here. […] [E]ven if one wants to speak of his sexuality the immediate social reality knocks at the bedroom’s door“ (L. Trouillot in: Dorcely/ L. Trouillot 2007: 168, Herv. J. B.). Diese Aussage ist symptomatisch für die Liebesthematik in Rue des pas-perdus, wo die Ausblendung der Außenwelt als unmöglich offengelegt wird. 300 Die Hinfälligkeit eines überzeichneten Liebesidylls wird in Rue des pasperdus bereits durch die Omnipräsenz des Bordells als Symbol käuflicher ‚Liebe‘ signalisiert. Nach und nach demontiert der Roman darüber hinaus aber auch die Hoffnungen, die der Leser in den Angestellten und Laurence 299 Neben der Liebe scheitern in Rue des pas-perdus auch andere Werte, die dem Individuum in einem Universum der Gewalt als Kraftquelle zur Verfügung stehen könnten, wie Familie oder Religion. Vgl. z. B. die Geschichte der Prostituierten Jeanine, die als Kind von ihrer Mutter den Namen ‚Une de Trop‘ erhielt, der sie bereits als aus der familiären Gemeinschaft verstoßen definierte. Stattdessen wird Jeanine von einer Bordellwirtin auf der Straße aufgelesen, die ihr als erste Zugang zu einer Kindheit bietet („son premier bain, sa première chambre, sa première pomme“ (RPP: 81)), und erhält im Freudenhaus durch die erneute Namensgebung erst eine wahre kindliche Identität. Zugleich sind diese zweite Kindheit, die Namensgebung und der Schoß der neuen Familie äußerst fragwürdig: Über den neuen Namen hat eigentlich das Los entschieden, sie wächst in einem Bordell zu einer Prostituierten heran und erhält dort eine schonungslose ‚éducation sentimentale‘, die sie mit der harten Realität des Überlebenskampfes konfrontiert, welche an die Stelle möglicher romantischer Wunschvorstellungen tritt: „[T]u coucheras avec tes semblables empêtrés dans vos fosses communes et vous ferez des enfants mort-nés pour le bureau des statistiques“ (RPP: 82). Als weiteres Beispiel sind die Kindheitserinnerungen der Bordellbetreiberin zu nennen, die von ihrer Mutter zwar „p’tit oiseau du paradis“ (RPP: 38) genannt, aber verstoßen wurde, als der Stiefvater sie als Mädchen vergewaltigen wollte (vgl. RPP: 38). Vgl. schließlich auch die beständigen Zweifel der Bordellwirtin an der Existenz eines Gottes in einer Welt der Gewalt (vgl. RPP: 81, 120-121). Vgl. hierzu die Überlegung in Kap. 2.4.1, dass die Abwandlung des Motivs der ‚marassa‘ aus dem Vodou die Infragestellung der Gültigkeit von Religion in einem Kontext allgegenwärtiger Gewalt ebenfalls bekräftigt. Für Religionskritik bei L. Trouillot vgl. außerdem seine Romane Les fous de Saint-Antoine. Traversée rythmique und La belle amour humaine, wo die verzweifelten Gebete der Gläubigen an die Heiligen als ins Leere laufend präsentiert werden. Vgl. ebenso G. Victors fantastischen Roman À l’angle des rues parallèles, in dem Gott als alter Mann und ohnmächtig gegenüber den Machenschaften der Politik gezeigt wird und zum Leben erweckte Heiligenstatuen vergewaltigend durch die Stadt ziehen; ferner Manuel Étienne 2001: 99-100. 300 Für Textbeispiele aus dem Roman zu den Gewaltereignissen auf den Straßen vgl. die in Kap. 2.1 angeführten Zitate. <?page no="127"?> 115 als mögliche Vertreter ‚wahrer Liebe‘ zu setzen versucht sein mag. Scheint die Nacht bei Gérard zunächst noch die lang ersehnte Möglichkeit der Annäherung zu versprechen, stellt das Loslassen der Hand des anderen, als die Gewalt zu eskalieren beginnt (vgl. RPP: 55, 63), doch den ersten Bruch des Motivs dar. Bevor wahre Intimität aufkommen kann, so zeigt sich, hat die Gewalt bereits jegliche Zwischenmenschlichkeit ausgelöscht: „[L]a ténacité [des horreurs] surpasserait nos joies“ (RPP: 55). Angedeutet wurden die Zweifel an der Beständigkeit des Liebespaars in der Welt von Rue des pas-perdus bereits kurz zuvor in der Sequenz der Bordellwirtin, als dort Zweisamkeit grundsätzlich infrage gestellt wird: „Il y a bien longtemps que plus personne ne vit avec personne, comment vivre avec quelqu’un quand on ne sait même plus ce que c’est que la vie […]“ (RPP: 53). Trouillot inszeniert das Scheitern des Paars insbesondere in Szenen zum Ende des Romans hin, in denen der Erzähler sich zu erinnern versucht, ob er in der Nacht der Gewalt mit Laurence geschlafen hat oder nicht. Der Text hat hier den Pfad einer idyllischen Liebesmotivik verlassen, da er die Beziehung zwischen den beiden Figuren auf ihre Sexualität als Akt der körperlichen Nähe reduziert. Die endgültige Demontage des Motivs der ‚Liebenden‘ ist somit längst vorbereitet. Auf ein Kapitel, das die Realität des Beischlafs bejaht (vgl. RPP: 111-12), und ein Kapitel, das den Akt verneint (vgl. RPP: 123-24), folgt ein weiteres, in welchem der Erzähler seine Zweifel hinsichtlich seiner Erinnerung offen ausspricht (vgl. RPP: 132-35). Die narrative Unsicherheit ist zum einen ein Anzeichen einer ‚Erschütterung der Erinnerung‘ (vgl. Leys 2000: 2) und Traumatisierung des erzählenden Subjekts; zum anderen bietet die Szene interessante Rückschlüsse auf die Hinfälligkeit einer idyllischen Liebesszene in einem Universum der Gewalt: Avons-nous fait l’amour cette nuit-là? [. . .]. Nous avons fait l’amour cette nuit-là. [. . .]. Notre premier acte avait été de faire l’amour. [. . .]. Pour la première fois nous avions triomphé de nos vides, de nos enfers intérieurs, de cette ville qui, au-dehors, brûlait comme un enfer. Nous pouvions désormais l’affronter, cette ville. [. . .]. Les rues puaient le sang, la fumée. […]. Les passants parlaient de viols, d’assassinats, de vengeance. [. . .]. Il y avait pourtant, mêlée à tout cela, plus forte que tout cela, l’odeur de jardin [. . .]. Me souvenir, c’est toujours me mentir. Nous n’avons pas fait l’amour cette nuit-là. [. . .]. Les rues puaient le sang, la fumée. [. . .]. Des milliers de morts, clamaient des voix. Des familles entières. Des quartiers. [. . .]. A côté de moi, à distance respectable, Laurence perdait son odeur de jardin. [. . .]. Mais les souvenirs se brouillent dans ma mémoire, et j’ignore des deux fins laquelle correspond à la réalité. (RPP: 132-35) Der Text setzt der Liebe in diesem Ausschnitt nicht nur die Realität der Gewalt als Kontrast entgegen, sondern stellt sogar ihre Gültigkeit an sich <?page no="128"?> 116 infrage. 301 Die sexuelle Vereinigung wird zunächst als Möglichkeit angeführt, über die Leere im Inneren und die urbanen Räume der Gewalt zu triumphieren. So trifft der Erzähler die Aussage, dass sie, erfüllt durch das individuelle Glück, in der Lage gewesen seien, der fatalen Bilanz der vergangenen Nacht etwas entgegenzusetzen. Die Option der individuellen Revolte im Liebesakt repräsentiert seine Sehnsucht, der Gewalt in irgendeiner Form die Stirn zu bieten und somit eine Gegenwelt - „Sans rumeurs d’assassinats. De disparitions. Vers une vie plus vie“ (RPP: 112) - zu entwerfen. Eine derartige Utopie wird vom Text jedoch sogleich abgelehnt und die Realität der Liebesnacht in Zweifel gezogen. Zum einen wird der Akt selbst im Gegensatz zu Ducarmel Désirés Gewalterfahrung (vgl. Kap. 2.1.2 und 2.4.3) nicht beschrieben. Der Text bietet somit auch kein „souvenir de nos corps bienheureux“ (RPP: 132) an, der das omnipräsente Bild des Gewalt erleidenden „corps terrifié“ (RPP: 124) - wenn auch nur kurzzeitig - überdecken kann. Während damit zum einen der Geschlechtsverkehr als sinnlicher Gegenpol der Brutalität (vgl. Trotha 1997b: 26) aus der Erzählung verschwindet, bleibt zum anderen die Gewalt zurück und schreibt sich in der Wiederholung von ‚Les rues puaient le sang, la fumée‘ innerhalb beider Szenarien fest. Das Liebespaar wird durch diese narrative Konstruktion infrage gestellt, wohingegen die Existenz der Toten als unumstößliche Wirklichkeit bestehen bleibt und die ‚assasinats‘ (der ersten Variante) in der Erwähnung der ‚milliers de morts‘ (der zweiten Variante) ihre Bestätigung finden. Die Vorstellung der kopulierenden Körper als konstruktiver Ausdruck der eigenen Leiblichkeit, deren Beschreibung im Text ausbleibt, wird mithin durch narrative Bilder verstümmelter Körper substituiert, deren Verleiblichung nur noch auf dem erfahrenen Schmerz basiert. 302 Die unumstößliche Realität der Gewalt wird mit der Fragwürdigkeit der sexuellen Vereinigung kontrastiert, die syntaktisch durch die vorgeschaltete Frage ‚Avons-nous fait l’amour cette nuit-là? ‘ geschaffen wurde. In ihr kommt die Verwirrung des Lesers ob der beiden vorangehenden Kapitel dieser narrativen Sequenz zum Ausdruck, die widersprüchliche Inhalte bezüglich des Vollzugs des Beischlafs bekräftigen. 303 Zugleich hebelt die finale Aussage des Erzählers, der eine Festlegung auf eines der beiden Szenarien mit dem Hinweis ‚j’ignore des deux fins laquelle correspond à la réalité‘ verweigert, die zuvor zum Stattfinden bzw. Nichtstattfinden des Aktes geäußerten Aussagen aus, ohne jedoch an der Persis- 301 Zur Beeinträchtigung der Erinnerungsfähigkeit des traumatisierten Subjekts vgl. Rosenberg 2010: 44. 302 Vgl. die Analyse der Körperbilder in Kap. 2.4; zur Körperbezogenheit des Gewalterlebens vgl. Kap. 1.1.1. 303 So beginnt das eine mit den Worten „Nous avons fait l’amour cette nuit-là“ (RPP: 111); das andere hingegen mit der Verneinung dieser Aussage: „Nous n’avons pas fait l’amour cette nuit-là“ (RPP: 123). <?page no="129"?> 117 tenz der Gewalt zu rütteln, denn diese tritt in beiden erzählten Varianten gleichermaßen auf. Die Wiederholung der Gewaltaussagen schreibt somit die Tatsächlichkeit der Ereignisse in den narrativen Diskurs ein. Gerade durch diesen repetitiven Textfluss (u. a. ‚Les rues puaient le sang, la fumée‘) wird nochmals unterstrichen, dass der Liebesakt, sei er nun real oder nicht, an den Tatsachen der Gewalt nichts ändern würde. Der Geruch nach Tod und Blut bleibt unweigerlich zurück, während sich Laurences ‚odeur de jardin‘ als Symbol der Hoffnung und Kontrapunkt als Täuschung erweist. Die Unangemessenheit des Motivs des Gartendufts wird im Text bereits einige Seiten zuvor angedeutet, als der Liebesakt zum ersten Mal als Illusion verworfen wird und lediglich zwei verstörte Subjekte zurückbleiben, „gênés par […] [l’]inutile odeur de jardin [de la chambre]“ (RPP: 124). Gleichzeitig wird hierüber der Topos des sicheren Gartens als Ort des Rückzugs angesichts der allgegenwärtigen Gewalt, die über das Bewusstsein und die Rede der Figuren in diese Erzählsequenz eindringt, als naive Utopie demontiert. 304 Das klassische Motiv des Liebespaares, das sich bei Sonnenaufgang nach einer durchlebten Liebesnacht trennt (vgl. Schneider 2008: 234), wird in Rue des pas-perdus mithin umgeschrieben und an eine Realität der Gewalt angepasst, die keinen Platz mehr für Utopien bietet. Die Gewaltexzesse in der Stadt haben es dem Erzähler dieser Sequenz und Laurence nicht nur unmöglich gemacht, die Gewalt zu ignorieren (vgl. Kap. 2.1.1), sondern ihre Existenz in einer Art und Weise durchdrungen, dass sie ihr nichts mehr entgegenhalten können. Die Romanze zwischen den beiden Figuren stellt somit, anders als Alan Davis behauptet (vgl. Davis 2004: 311), keinen tatsächlichen Lichtschimmer in einer ansonsten düsteren Welt dar. Sicherlich zeigt Trouillot in Rue des pas-perdus, dass das Leben auch nach der Traumatisierung weitergehen muss (vgl. Davis 2004: 311), doch spielt der Autor das Ausmaß der Gewalt explizit nicht durch die Konstruktion einer idyllischen Liebesszene als Gegengewicht zu den violenten Handlungen herunter. Der Text bezieht hierzu auch in einem Metadiskurs Stellung, wenn gleich zu Beginn Laurences Suche nach einem „prince charmant sur mesure pour culture moyenne“ (RPP: 18-19) als minderwertiger Romanstoff abgetan wird (vgl. RPP: 19): Couple à vendre pour lecteur débile, cadre tropical, sexualité conforme aux normes, romantisme mineur, réussite commerciale, pyjama garanti sur fond d’ordre qu’aucun désir ne viendra bousculer, que la mort même ne saurait troubler, chacun devant mourir de son côté du lit d’un excès de sommeil. FIN DU ROMAN SUITE AUX PROCHAINES GÉNÉRATIONS. (RPP: 19) 304 Vgl. auch Kap. 2.1 bzw. zum Topos des Gartens als Symbol für das (verlorene) Paradies Ananieva 2008: 121. <?page no="130"?> 118 Ein solches Idealbild ist im haitianischen Gegenwartsroman indes fehl am Platz. Die Geschichten in Rue des pas-perdus belegen, dass man hier weniger auf seiner Seite des Betts aufgrund eines ‚excès de sommeil‘ stirbt. Stattdessen endet man als geschundener, toter Körper in einem Szenario der Gewalt, welches an die Tür ‚eines jeden Schlafzimmers klopft‘ (vgl. oben und Dorcely/ L. Trouillot 2007: 168). Der Text lässt insofern keinen Zweifel daran, dass eine Liebesidylle nicht als Möglichkeit taugt, um „nos désaccords“ (RPP: 132) zu vergessen, wie Trouillot den Erzähler zwischenzeitlich mutmaßen lässt (vgl. RPP: 132). Mit den ‚désaccords‘ sind zunächst die Differenzen zwischen dem Angestellten und Laurence gemeint. Sie können allerdings auch als Platzhalter für den innergesellschaftlichen Konflikt in Haiti und seine unterschiedlichen Positionen gelesen werden (vgl. z. B. RPP: 57, 63-64). 305 Das Bild des glücklichen Paares kann die Gewalt im Text nicht überspielen, sodass diese als unumstößliche Präsenz in der Erzählung die Liebesmotivik zerrüttet. Als symbolischer Widerstand gegenüber der Gewalt wird äußerstenfalls ein desperater sexueller Akt angeboten. 306 Dieser steht jedoch lediglich als Option im Raum, da der Leser nicht sicher wissen kann, ob er wirklich in dieser Form stattgefunden hat. Doch selbst wenn der Angestellte und Laurence tatsächlich miteinander geschlafen hätten, so bliebe dieser Moment der zwischenmenschlichen Nähe doch Ausdruck der Hilflosigkeit zweier sich eigentlich unvertrauter Individuen, die letztlich mit ihrer Verstörung allein sind. Er findet sein Ende in einer Entfremdung, die in „un soin d’augmenter la distance entre nous“ (RPP: 134) mündet und im Bild der Tür, die sich hinter Laurence schließt, verstetigt wird. Der potenzielle Augenblick der Auflehnung, der sich möglicherweise einzig und allein in der Zelebration ihres eigenen Überlebens im Geschlechtsakt erschöpft, versinkt somit in der Bedeutungslosigkeit, da Nähe in Trouillots Text keinen Bestand hat. Vielmehr bleibt die Gewalt als einzige Wahrheit im Text zurück, wobei die realitätsgetreue Akkuratheit des erinnernden Erzählens irrelevant ist, wie der Angestellte hinsichtlich der Berichte von Gérard anmerkt: 305 An den Kommentaren des Erzählers lässt sich erkennen, dass Laurence einer gesellschaftlichen Elite angehört, die in Haiti seit jeher danach strebt, die eigenen Privilegien zu erhalten. Der Angestellte selbst hingegen sympathisiert mit den Positionen des ‚Prophète‘, der an Aristide und die ‚Lavalas‘-Bewegung angelehnt ist und somit eine politische Ausrichtung repräsentiert, die nach einem Ende der sozialen Ungerechtigkeit in der haitianischen Gesellschaft und einer Ermächtigung der ärmeren Schichten strebt (vgl. u. a. Dupuy 2007: 74-75). Mit diesen unterschiedlichen Positionen symbolisiert das Paar den Konflikt zwischen (Neo-)Duvalieristen und der ‚Lavalas‘-Bewegung, der den gewaltsamen Auseinandersetzungen in Rue des pasperdus Pate gestanden hat. 306 So empfindet der Erzähler, wenn er davon ausgeht, dass sie nicht miteinander geschlafen haben, nur eine verzweifelte Erschöpfung angesichts der Tatsache, dass sie gar nichts getan haben: „Laurence et moi nous sentions épuisés de n’avoir rien fait […]“ (RPP: 134). <?page no="131"?> 119 [C]e qu’il nous rapportait […] devait bien correspondre à la réalité. Avec, forcément, comme dans tous les récits historiques, quelques oublis et exagérations. On apprendrait que tel événement n’avait pas eu lieu sur le parvis de l’église Sainte-Anne mais dans la zone du Perpétuel-Secours, que dans telle maison mise à feu, trois enfants avaient brûlé, et non quatre comme annoncé. (RPP: 77) Übertreibungen, Modifikationen und Details tun hingegen nichts zur Sache: „mis à part des vices de forme […] et des détails de peu d’importance, il fallait tout prendre pour vrai“ (RPP: 77), lässt der Autor einen der Erzähler ergänzen. 307 Assmann spricht in einem solchen Kontext in Anlehnung an Jean-Jacques Rousseau von einer „Wahrheit des Affekts“ (Assmann 1999a: 252), die sie von einer objektiv nachprüfbaren Wahrheit abgrenzt und stattdessen in einer Sphäre der Authentizität verortet (vgl. ebd.: 252-53). Es geht hierbei nicht mehr um das Vergangene, sondern die Verbindung, die das erzählende Subjekt „zu dieser Vergangenheit unterhält“ (J. Starobinski, zit. nach: Assmann 1999a: 253). Diese Wahrheit besteht in Trouillots Text darin, dass Gewalt zerstört, verletzt, tötet und traumatisiert. Sie wird in der Sequenz des Angestellten gleichermaßen mit jener vermeintlichen Wirklichkeit kontrastiert, die definitiv als Trugbild entlarvt wird. Gemeint ist die trügerische Idylle in Gérards Haus als Exempel einer Welt, die Gewalt als Faktor der Realität auszublenden sucht und sich selbst vorlügt, dass das Phänomen von der eigenen Wirklichkeit abgespalten werden könne (vgl. Kap. 2.1.1). Der Angestellte erkennt dementsprechend, „[que l]es étoiles qui passaient par la fenêtre, le petit jardin auquel Gérard consacrait la plus grande partie de ses journées […], l’air frais, l’atmosphère de tranquilité, tout cela était faux“ (RPP: 77, Herv. J. B.). Damit gibt er auch indirekt eine Antwort auf die Frage, ob er in der Nacht der Gewalt mit Laurence geschlafen hat oder nicht (vgl. RPP: 134). Letztendlich, so lassen seine Worte erkennen, ist dies ohnehin nicht von Relevanz, denn die Realität fand draußen auf der Straße in Form einer exzessiven Vernichtungsorgie statt, der sich keine der Figuren entziehen konnte. Die Demontage des Liebespaares in Rue des pas-perdus demonstriert, 308 dass die Erzählung nicht vorgibt, der Gewalt Herr zu werden, indem sie 307 Ebenso wenig geht es Trouillot in seiner Fiktion um eine historisch akkurate Bestandsaufnahme der haitianischen Realität, sondern vielmehr darum, sich der Gewalt in ihrem innersten Wesen anzunähern und ihre zerstörerische und traumatische Essenz zu fassen zu bekommen. 308 Eine derartige Demontage des Liebespaar-Topos ist charakteristisch für zahlreiche haitianische Gegenwartsromane, so u. a. G. Victors À l’angle des rues parallèles, wo das Motiv gleich in mehrfacher Hinsicht umgesetzt wird: Zum einen tötet der Protagonist Éric seine Geliebte, zum anderen findet er eine neue ‚Liebe‘ in einer Prostituierten, die er am Ende des Romans erwürgt, um sie von der um sich greifenden kollektiven ‚folie‘ zu erlösen. Vgl. außerdem Lucien und die ‚Étrangère‘ in L. Trouillots Bicentenaire, wo Nähe als flüchtiger Moment in einer Welt der Gewalt präsentiert wird (vgl. Borst 2013b: 233); vor dem historischen Kontext des Traumas der <?page no="132"?> 120 danach trachtet, jene durch alternative Motive (wie eine gelungene Liebesszene) zu überdecken. 309 Vielmehr, so wurde im Zuge dieses Kapitels offenkundig, spart sie die (lebendigen) Körper zweier Liebender aus und präsentiert stattdessen tote und verletzte Körper, die als Sinnbild violenter Erfahrung inszeniert werden, wie im folgenden Abschnitt erörtert wird. 2.4 Körpersymboliken: Bildhaftes Erzählen der Zerstörungsmacht von Gewalt Sofsky beschreibt Gewalt als eine Kraft, die „verletzt, zerschlägt, entstellt“ (Sofsky 2005: 66). Auch Nancy spielt auf diese sich entladende Wucht an, wenn er festhält, dass Gewalt alles Sinnhafte zerschmettere und lediglich die eigene Wut der Zerstörung bedeute, welche gleichzeitig durch keinen Sinn jenseits der Zerstörung zu bändigen sei (vgl. Nancy 2007: 34-35). Gewalt ist folglich immer ein Zuviel (vgl. Schäffauer i. E.): Sie überschreitet Grenzen und entzieht sich hierbei jeglicher Einhegung und Sinnzuweisung. Lyonel Trouillot reflektiert dies in Rue des pas-perdus in Form von Körperbildern, die sich als Metaphern des destruktiven und traumatischen Potenzials der Gewalt durch Exzesshaftigkeit, Tabubruch und Entgrenzung auszeichnen. 310 Im Kontext ihrer anthropologischen Studie zur ‚Matanza‘ die Figuren Amabelle und Yves in Danticats The Farming of Bones, deren Nähe den traumatischen Verlust der geliebten Menschen nur oberflächlich überspielt; bzw. die einander entfremdeten Protagonisten in Régis’ Le trophée des capitaux. Vgl. außerdem Kap. 2.3. 309 Dass ein solcher Versuch scheitern muss, wird durch die Bordellbetreiberin angekündigt, die idyllische Bilder der Vergangenheit als in einem Universum der Gewalt hinfällig entwirft: „[M]es filles […] ne seront jamais plus ces éternelles premières communiantes qui aimaient encore leurs jésus de province, la pâte de goyave, et portaient le dimanche, pour jouer et par respect pour leur passé, des seaux sur leur tête […]“ (RPP: 59). Zugleich erteilt diese Textstelle exotisierenden Vorstellungen der restlichen Welt von Haiti als Tropenparadies eine Abfuhr. Vgl. auch: „[L]es filles portent encore des seaux sur leur tête. Avec quelle élégance, quelle grâce, quelle majesté, disent les touristes. Cela fait vingt ans que je tiens bordel dans cette maison […], les filles viennent à moi parce qu’elles sont fatiguées de porter des seaux sur leur tête“ (RPP: 16), wodurch die scheinbar unüberwindbare Kluft zwischen Außenbild des Landes und haitianischer Wirklichkeit unterstrichen wird. 310 Vgl. die in Kap. 1.3 diskutierten Reflexionen Nancys zum Verhältnis von Bild und Gewalt, welches dem Philosophen zufolge darin besteht, dass die Gewalt „demonstrativ und monstrativ sein [will]. Sie zeigt sich selbst und ihre Wirkung“ (Nancy 2007: 38). Im Bild bzw. als Bild, das offenbare, „dass und wie das Ding ist“ (ebd.: 39), so beschreibt Nancy, sei die Gewalt nicht mehr nur da, sondern sie werde zum Subjekt und „stellt sich vor [se présente]“ (ebd.: 39, Ergänz. im Orig.). Die dargestellte, exzesshafte Zerstörung der Körper in Rue des pas-perdus spiegelt außerdem die neue Qualität der Gewalt in der Realität der Post-Duvalier-Ära wider, die sich Gilles zufolge gerade durch ihren autotelischen Charakter auszeichnet (vgl. Gilles 2008: 36). Vgl. in diesem Zusammenhang auch das Bild der verstümmelten Leiche der Figur <?page no="133"?> 121 Visualisierung von Gewalt am menschlichen Körper in der kolumbianischen Kultur betont Blair, dass der tote Körper, der nicht auf seine materielle Dimension reduziert werden dürfe, eine „carga simbólica“ (2005: xix) des Exzessiven 311 in sich trage. Diese manifestiere sich, so führt sie weiter aus, nicht nur in der Art und Weise, wie der Körper vernichtet werde, sondern komme gleichzeitig in den symbolischen Formen zum Ausdruck, mit denen der Exzess benannt und erzählt werde (vgl. ebd.: xix). 312 Ihre Überlegungen - übertragen auf das literarische Erzählen und Inszenieren toter Körper im Text - sind aufschlussreich, denn auch in Rue des pas-perdus dienen die Körper als Projektionsfläche der Zerstörungsmacht der Gewalt und sind als „símbolo de inscripción del horror“ (Blair 2005: 41) zu lesen. Sie belegen, dass der Gewaltakt zum einen die körperliche Integrität des Opfers zerstört und das Individuum zum anderen auf den Status eines reinen Körper-Objekts reduziert, dem jegliche menschliche Dimension abhandenkommt. Der Körper wird hierdurch zu einer Metapher der Gewalt, die diese visualisiert und ihr zugleich Raum bietet, um sich in den Text einzuschreiben (vgl. ebd.: 47). Gleichzeitig dienen die Körperbilder in Rue des pas-perdus als Medium, um die schmerzende Erinnerung des haitianischen Kollektivs an die omnipräsente Gewalterfahrung der Post-Duvalier-Ära zur Darstellung zu bringen und über Spuren sichtbar zu machen. 313 Es gilt im Anschluss im Detail herzuleiten, dass Trouillot in Rue des pasperdus den Körper, um die Worte von Blair zu benutzen, als „superficie de inscripción“ (2005: 44) inszeniert, als „emisor, portador y productor de signos“ (ebd.: 44). Ihm gelingt es hierdurch, Gewalt nicht mittels Sprache zu entfremden, sondern sie dort zu visualisieren, wo sie ausgebrochen ist, nämlich in der Materialität des Körpers. In den folgenden Unterkapiteln wird dieses Erzählen der Zerstörungsmacht der Gewalt über den Körper anhand unterschiedlicher Beispiele genauer beleuchtet. 2.4.1 Der ‚cadavre marassa‘ und der zerstückelte Text Eine zentrale Stellung in Rue des pas-perdus nimmt das Bild des ‚cadavre marassa‘ ein, den der Taxifahrer Ducarmel Désiré auf seiner Odyssee durch den urbanen Raum der Gewalt vorfindet: 314 Lucie Despin als Zeugnis der Willkür und Sinnlosigkeit der Gewalt dieser Zeit in Olliviers Les urnes scellées (vgl. Ollivier 1995: 121-22). 311 ‚Exzess‘ im Sinne einer ‚transgressiven Überschreitung‘ (vgl. Blair 2005: 20). 312 Blair beleuchtet in ihrer Untersuchung am Beispiel Kolumbiens den Gewaltakt in einem Spannungsfeld von Aktion und Repräsentation und untersucht hierdurch, wie die Täter den Tod inszenieren und die Gesellschaft ihn anschließend interpretiert und ritualisiert (vgl. Blair 2005: 8, 48). 313 Zur Bedeutung der toten Körper im Werk von Trouillot vgl. auch Pessini 2005: 141. 314 Zur Interpretation des ‚cadavre marassa‘ vgl. Borst 2012. <?page no="134"?> 122 Le corps n’avait ni cou, ni tête, ni bras. On l’avait tranché juste au-dessus du nombril. Mais la coupure n’était pas visible, le bout de torse maigre se perdait dans le ventre d’un gros porc qu’on avait ouvert de toute sa largeur. L’homme et le porc ne faisaient qu‘un […]. Le gros porc aux yeux grands ouverts, sans pattes, sans queue, prêtait sa tête, son regard perdu, son volume à l’homme qui lui prêtait ses jambes, son sexe. Une seule et même chair, une vraie bête humaine, un cadavre marassa. Une charogne en double. (RPP: 101) Zum einen findet sich hier eine Anspielung auf die Praxis des ‚Père Lebrun‘ (vgl. Chemla 2001: 100), die in der Post-Duvalier-Ära Anwendung fand und somit einen deutlichen Hinweis auf den zeitgenössischen Kontext darstellt, vor dem der Roman entstanden ist. Sie bestand darin, dass ein bezingetränkter Reifen (vermeintlichen) Häschern und Anhängern des gestürzten Duvalier-Regimes um den Hals gehängt und angezündet wurde (vgl. Abbott 1991: 333; D’Adesky 1995: 176). 315 Doch das Entscheidende an dieser Episode ist nicht, dass sie auf ein Phänomen der haitianischen Realität referiert. Vielmehr ist zentral, dass hier ein abstraktes Bild der Gewalt entworfen wird, das die Entmenschlichung des Opfers ins Zentrum rückt. Der Mensch wird in dieser Passage auf eine Ebene der Materialität reduziert, da nur Körperteile übrig geblieben sind. Die vermeintliche Schaffung eines neuen Ganzen in der Begegnung mit dem anderen (tierischen) Körper, der ‚bête humaine‘, wird hierbei unmittelbar als trügerisch entlarvt, denn der Text macht unzweifelhaft klar, dass dem Gewaltakt kein konstruktives Potenzial innewohnen kann: Schließlich mündet die Enumeration der Zuschreibungen am Ende des Zitats erneut in Bilder des Todes (‚cadavre‘, ‚charogne‘). 316 Durch die Komposition der beiden Kadaverhälften wird der Eindruck der Entmenschlichung des toten Körpers noch verstärkt, spricht doch die Weigerung des Textes, die menschlichen Überreste an die scheinbar privi- 315 Zur Praxis des ‚Père Lebrun‘ - benannt nach einem lokalen Reifenhändler (vgl. D’Adesky 1995: 176) - vgl. auch Dupuy 2007: 134; Fatton 2002: 101; Pezzullo 2006: 138-39. Nach dem Ende der Diktatur 1986 wurde diese Form der Selbstjustiz häufig im Rahmen der sogenannten ‚dechoukaj‘ ausgeübt, worunter die Vertreibung der Duvalieristen aus Positionen der Macht zu verstehen ist. Der eigentlich allgemeine Begriff der ‚dechoukaj‘ wird hierbei fälschlicherweise häufig mit Lynchjustiz gleichgesetzt (z. B. in Form des ‚Père Lebrun‘) (vgl. Aristide/ Richardson 1995: 183-84; Chamberlain 1995b: 19; Ferguson 1993: 85-86; Hurbon 2001: 15; M.-R. Trouillot 1990a: 222-24). Vgl. auch die Anspielung auf die „colliers flambants“ (RPP: 23) an anderer Stelle in Rue des pas-perdus. Eine eindrückliche Umsetzung findet das Motiv des ‚Père Lebrun‘ in Olliviers Les urnes scellées, wo beschrieben wird, wie eine Menschenmenge blind vor Rachedurst einen Unschuldigen lyncht (vgl. Ollivier 1995: 143-46). Für weitere Beispiele in der Literatur vgl. Dalembert 2005: 120-21; Danticat 2005: 140, 149; Lahens 1999: 13, 94; Manuel Étienne 2001: 79, 110; Ollivier 1995: 24, 62; Régis 2011: 69. 316 Das Bild der todbringenden Chimäre der griechischen Mythologie (vgl. z. B. Schwab 1981: 54) wird hierbei verkehrt zu einem neuen Mischwesen, das allein die Zerstörungsmacht der Gewalt selbst repräsentiert. <?page no="135"?> 123 legierte Position zu setzen - nämlich jene des Kopfes und Gesichts -, bereits für sich und verweist auf die Kreatürlichkeit des Menschen im Gewaltakt. 317 Eine vermeintliche Hierarchie zwischen Mensch und Tier wird hier vom Autor ironisch verdreht. Die Spuren des menschlichen Antlitzes im Tod sind dem Kadaver abhandengekommen; an die Stelle des Anderen, dessen Leben es zu beschützen gegolten hätte, treten die ‚yeux grands ouverts‘ des Tieres. 318 Als interessant erweist sich auch die Verwendung des Begriffs ‚cadavre marassa‘, der mit dem Element ‚marassa‘ auf eine zentrale Kategorie des haitianischen Vodou anspielt. Das Zwillingsprinzip der ‚marassa‘, die eine signifikante Position unter den ‚lwa‘ einnehmen und auch in den Zeremonien eine essenzielle Rolle spielen (vgl. Bellande Robertson 2008; Deren 1953: 38-39) symbolisiert „the notion of segmentation of some original cosmic totality that must regain wholeness“ (Bellande Robertson 2008: 654). Sie verkörpern die Zweiheit der menschlichen Natur, „half matter, half spirit“ (ebd.: 654), und stehen laut Florence Bellande Robertson für Überfluss, Pluralität, Ganzheit, Heilung, Neuerung und Unschuld (vgl. ebd.: 654). 319 Die Begriffsbildung in Rue des pas-perdus führt die eigentliche Symbolik der ‚marassa‘ jedoch ad absurdum: Anstatt etwas zusammenzuführen, das zusammengehört, vereint der Gewaltakt in Trouillots Bild zwei Körperfragmente, die durch die Zerstörung einer vormaligen physischen Ganzheit erst geschaffen wurden. Sie wurden gewaltsam ihrer eigentlichen Körperlichkeit entrissen und zu einer neuen Einheit verschmolzen, die als absurde Komposition des Zufalls die Sinnlosigkeit und Absurdität der Gewalt selbst veranschaulicht. Auch die Bilder des Heilens, des neu Geschaffenen und der Unschuld werden in Trouillots Metapher des ‚cadavre marassa‘ durch Zerfall, Destruktion und die Grausamkeit der Täter überlagert, die in der Hinrichtung der Figur mitschwingt. Diese illustriert, dass Gewalt die physische und psychische Integrität des Menschen - eben „half matter, half spirit“ (Bellande Robertson 2008: 654) - zerstört und nur eine leere körperliche Hülle zurücklässt, deren Präsenz die destruktive Dimension der Gewalt erbarmungslos unterstreicht. Die Metapher des ‚cadavre marassa‘ ist darüber hinaus substanziell für die gesamte Struktur des Romans, denn die Zerstörungsmacht der Gewalt 317 Zur Bedeutung des Kopfes als wichtigster Teil des Körpers im Vodou vgl. Montilus 2006: 2. 318 Zum Antlitz des Anderen, das uns Levinas zufolge in seinem Leid anruft und das Selbst an seine Verantwortung, den Anderen zu schützen, erinnert, vgl. Kearney/ Levinas 1986: 24; Butler 2004: 131-32. Im Detail auf Levinas eingegangen wird in Kap. 3.6.2. 319 Zur Bedeutung des Zwillingsprinzips im Vodou und zur Dualität der ‚lwa‘, die als Manifestierungsformen unterschiedlicher Aspekte eines ganzheitlichen kosmischen Prinzips (‚Bondye‘) zu verstehen sind, vgl. Desmangles 1992: 94-98; Métraux 1994: 88, 166. <?page no="136"?> 124 manifestiert sich nicht allein in den zerstückelten Körpern, die den Text durchziehen, sondern greift auch auf den ‚Text-Körper‘ über. Die destruktive Macht der Gewalt bringt der Autor durch dieses Motiv symbolisch zum Ausdruck, indem auch die Kohärenz der Erzählung erschüttert wird, wie im Folgenden ausgeführt wird (vgl. Borst 2012: 288-89). Sarah Davies Cordova leitet her, dass im Kontext der haitianischen Literatur am Ende des 20. Jahrhunderts eine Textart aufgetreten ist, die sie als ‚récits-romans’ bezeichnet und wozu sie u. a. Rue des pas-perdus zählt. Sie erörtert, dass sich diese aus narrativen ‚Clips‘ zusammensetzten, welche sich durch eine Alternanz der Stimmen sowie den Bruch mit einer linearen Chronologie auszeichneten und auf eine Polysemie der realen und imaginären Welt verwiesen. Eine zentrale Erzählerfigur werde in diesem Kontext verdrängt und die Aufmerksamkeit auf das Unausgesprochene, das ‚non-dit‘, gelenkt. Jene Fragmenthaftigkeit, so macht Cordova klar, überlagere hierbei den narrativen Ablauf, wobei den einzelnen Episoden geradezu die Kohärenz entzogen werde und die Interdependenzen aufgelöst würden (vgl. Cordova 2004: 491-92; ferner Raffy-Hideux 2013: 121). Cordova spricht im Kontext einer solchen (Un-)Organisiertheit der Erzählung von einer ‚écriture palimpsestique‘, welche im Text eine „polyvocalité textuelle qui donne voix aux passés sous silence“ (ebd.: 479) verankere. Während sie darauf abheben will, dass eine solche Ästhetik dem Verschwiegenen eine Stimme verleihe und in den ‚récits-romans‘ an ein Kollektiv von Geschichten erinnert werde (vgl. ebd.: 479, 497), 320 wird diese zersplitterte, fragmenthafte Narration in der vorliegenden Arbeit als Symptom des zerrütteten Erzählens über Gewalt interpretiert, welches ebendiese Auflösung der textuellen Struktur evoziert (vgl. Borst 2012: 288-89). Denn die episodenhaften und bruchstückgleichen Erzählfragmente, die allesamt narrativ um die Gewalt als zentrales Motiv kreisen, scheinen ebenso willkürlich zusammengesetzt und (neu) kombiniert wie jener ‚cadavre marassa‘. Eine eingehende Betrachtung lässt erkennen, dass eine kohärente, geordnete Erzählung in Rue des pas-perdus aufgebrochen und zugunsten einer Komposition narrativer Fragmente aufgegeben wurde. Der mit 143 Seiten in der Ausgabe von 1998 recht kurze Roman ist in einen Prolog und weitere 35 (nicht nummerierte) Kapitel unterteilt, was einer deutlichen narrativen Zersplitterung gleichkommt. Verstärkt wird dieser Eindruck durch von Kapitel zu Kapitel alternierende Ich-Perspektiven verschiedener Erzählerstimmen, die in willkürlicher Ordnung aufeinanderfolgen, was auf das Fehlen linearer Strukturen im Text verweist. 321 320 Auf die Rolle des Unausgesprochenen in Rue des pas-perdus, das in den Lücken und der Vielstimmigkeit zum Ausdruck kommt, wird in Kap. 2.4.2 und 2.5.1 ausführlicher eingegangen. 321 Für eine detaillierte Analyse der Erzählerstimmen vgl. Kap. 2.5; zum Verlust von Referenzpunkten jenseits der Gewalt im fiktiven Raum wie auch im Text vgl. Kap. 2.1. N’Zengou-Tayo hat sich daran versucht, den Wechsel der Erzähler im <?page no="137"?> 125 Das destruktive Potenzial der Gewalt manifestiert sich folglich nicht nur in der Verletzung der Körper, sondern beschädigt überdies quasi die narrative Integrität des Texts und repetiert dadurch die Zerstörung auf struktureller Ebene: Die Zerstückelung der Kadaver setzt sich am Text- Körper fort, an dem sich die Gewalt sinnbildlich gesprochen ‚vergeht‘. Die Clips, von denen Cordova spricht, sind im Falle von Rue des pas-perdus anscheinend wahllos aufgereiht und bilden ein neues Ganzes, welches sich mit dem Bild des ‚cadavre marassa‘ parallel setzen lässt: 322 Ebenso wie die beiden toten Körper durch den Gewaltakt ‚eins‘ wurden, so ist es die Gewalt, welche die Fragmente der Erzählung und die unterschiedlichen Geschichten der drei Erzähler (vgl. Kap. 2.5.1) zusammenhält. Sie fungiert gewissermaßen als ‚narrativer Kleister‘, der Kohärenz im Text simuliert. Was zuvor nicht zusammengehörte, wird zu einer ‚même chair‘, einer Erzählung, die Schicksale zusammenführt, die nichts miteinander zu tun haben. Die Wege mancher Protagonisten, so deutet der Text an, kreuzen sich zwar an einzelnen Punkten des Romans (vgl. N’Zengou-Tayo 2004: 334), doch bleiben diese Begegnungen äußerst flüchtig, wie in Kapitel 2.1.1 demonstriert wurde. Die Erzählstränge verbindet letztendlich nur die Gewalt. Die Zersplitterung der Erzählung als Spur der Gewalt am Text-Körper und die ungeordnete Zusammensetzung der narrativen Fragmente reflektieren folglich das Bild des ‚cadavre marassa‘, dem Ganzheitlichkeit und Integrität abhandengekommen sind und der eine neue von einem gewaltsamen Exzess zeugende ‚Ganzheitlichkeit‘ erhalten hat. In diesem Sinne verschmilzt die Gewalt in Rue des pas-perdus unabhängige Erzählsequenzen zu einem neuen narrativen Ganzen, das einzig die Erfahrung jener „nuit de l’Abomination“ (RPP: 106) eint. Eine tatsächliche narrative Kohärenz bleibt angesichts der zerstörenden Wirkung der Gewalt hingegen immer Illusion. So laufen die drei Sequenzen der Bordellbetreiberin, des Angestellten und des Taxifahrers - abgesehen von den erwähnten flüchtigen Durchkreuzungen - bis zum Ende des Romans autonom nebeneinander her, ohne dass die unterschiedlichen Geschichten zum Abschluss in irgendeiner Weise zusammengeführt werden. Die Erzählerstimmen wechseln sich überdies nicht nur willkürlich ab, sondern werden auch in keiner Weise - wie etwa durch Überschriften möglich - kenntlich gemacht oder namentlich genannt. Die Folge ist eine zeitweilige Irritation des Lesers, der sie meist erst im Lektüreprozess anhand ihrer konkreten Geschichte sowie des ihnen jeweils eigenen Stils (vgl. Raffy-Hideux 2013: 123) identifizieren kann. Dieser Effekt wird zusätzlich durch ein ständiges Springen der Handlung und ein geringes Maß an Roman zu systematisieren (vgl. N’Zengou-Tayo 2004: 333), doch lässt sich meiner Auffassung nach in der Verteilung der Erzählerstimmen letztendlich keine regelmäßige Ordnung erkennen. Vgl. N’Zengou-Tayo 2004: 342-43 für eine systematische Analyse der Verteilung der Erzählerstimmen auf die einzelnen Fragmente. 322 Die wahllose Aufreihung erinnert an die in Kap. 2.4.2 untersuchten Enumerationen. <?page no="138"?> 126 Anhaltspunkten, die helfen würden, die Geschehnisse räumlich aufzuschlüsseln bzw. chronologisch zu ordnen, verstärkt. Durch diese Konfusion in der Struktur wird eine Orientierungslosigkeit des Lesers im Text erzeugt, welche die Verlorenheit des umherirrenden, traumatisierten Subjekts im urbanen Raum der Gewalt (vgl. Kap. 2.1.2) mitschwingen lässt. An diesem Punkt kann festhalten werden, dass sich die Zerstörungsmacht der Gewalt in der Struktur des Textes widerspiegelt und sie gleichzeitig an die Thematik zurückbindet, indem der zerstückelte Körper als Modell für die Romanaufteilung dient. Die Präsenz der Gewalt im Text erschüttert dessen Struktur, sodass die ‚Einheit‘ des Roman-Ganzen, wie Trouillot es dem Leser in Form von Rue des pas-perdus präsentiert, wiederum nur durch die Gemeinsamkeit der Gewalterfahrung gewährleistet ist. In Rue des pas-perdus, so belegt die Analyse der Fragmenthaftigkeit des Texts, wird Gewalt somit zwar erzählt, doch geschieht dies nicht im Rahmen einer kohärenten, homogenen Narration, sondern in Form einer zerrütteten Erzählung, was unterstreicht, dass Gewalt immer nur zerstört und nie konstruktiv erschafft (vgl. Nancy 2007: 34). 323 2.4.2 Der vernichtete Körper, der Schrecken des Ungesagten und das ‚verlorene‘ Zeugnis Der ‚cadavre marassa‘ ist jedoch nicht die einzige Leiche, der der Leser in Rue des pas-perdus begegnet. Im Text tauchen immer wieder tote Körper auf, die die Exzesshaftigkeit der Gewalt belegen. Ihre Präsenz ist hinsichtlich der narrativen Darstellung der Zerstörungsmacht von Gewalt äußerst aufschlussreich, da sie die Vernichtung des Opfers symbolisieren, das in der Erzählung nicht mehr als Subjekt, sondern nur noch als lebloses Objekt präsent ist. 324 In Rue des pas-perdus finden sich zahlreiche Anspielungen darauf, dass Gewalt das Individuum auf seine Körperlichkeit reduziert und seine Menschlichkeit buchstäblich vernichtet (vgl. Borst 2012: 286). So beschreibt die Erzählung in häufig sehr neutral gehaltenem Ton unterschiedliche Grausamkeiten wie Kadaver, die in Stücke gerissen oder wie gewöhnlicher Abfall entsorgt werden. 325 Der nüchterne Ton steht hierbei in krassem Gegensatz zu den erschütternden Inhalten der Passagen. 323 Für eine Ausarbeitung des Gedankens, dass eine Versprachlichung der Gewalterfahrung im literarischen Text dessen Kohärenz und Ordnung sprengt, vgl. Kap. 2.5. 324 Für eine Interpretation der Körperbilder vgl. auch Borst 2012. 325 Vgl. z. B. folgende Textbeispiele: „Ceux que j’ai vus mourir dans cette rue, l’un que les balles de l’armée ont coupé en deux morceaux, puis les soldats ont placé la partie supérieure du corps la tête dans le caniveau et écrasé le crâne à coups de bottes. Un autre auquel les Cohortes du Prophète avaient fait avaler ses testicules“ (RPP: 27); „Mourir ainsi c’est la déportation, être tués, lavés, jetés dans les marécages salins, ils mettent les cadavres au repos du côté des sources puantes, […] ils mettent les cadavres à pourrir […]“ (RPP: 52); „Un homme se baissa, alluma sa cigarette dans le paquet de chair rôtie […]“ (RPP: 102). <?page no="139"?> 127 In der Erzählung zu den Ereignissen der Nacht finden sich so zum einen surreale Abbildungen der Gewalt, die einem violenten Stillleben ähneln, wie anhand folgender Textstelle illustriert werden kann: De la gueule du canon tonnait une horrible musique concrète, des morceaux de chair s’accrochaient aux murs, les corps qu’on empilait dans les camions prenaient des formes nouvelles, une épaule arrachée faisait bretelle avec un crâne, pour la première fois sans doute des étrangers se rencontraient, se serraient passionnément, dis-moi qui tu hantes, amitiés post mortem, agonie partagée comme s’ils avaient vécu ensemble […]. (RPP: 53) Dieses exzesshafte Spektakel reduziert die sterblichen Hüllen der hier beschriebenen Toten auf reine Haufen aus menschlichem Fleisch und toter Materie; sie werden, um den französischen Begriff für ein Stillleben aufzugreifen, zu einer ‚nature morte‘ im wortwörtlichen Sinne. Die metaphorische Komposition ‚spielt‘ beinahe mit den Überresten, sie schafft neue Formen und treibt die Mächtigkeit des Bildes auf die Spitze durch die Symbolik der ‚Post-mortem-Freundschaft‘ zwischen zwei Menschen, die doch zugleich nicht mehr Mensch, sondern nur noch toter Körper sind. Lebendigkeit wird lediglich dem Stillleben der Gewalt selbst verliehen, welches durch das auditive Element und die Erinnerung an herumfliegende Fleischfetzen eine schauerliche Pluridimensionalität erhält (vgl. Borst 2012: 286). 326 Die Entmenschlichung des toten Subjekts wird zum anderen durch fragmenthafte Enumerationen gesteigert, welche jenes in einem Atemzug mit (der Zerstörung von) Objekten nennen: „[E]n quelques minutes ils 326 Als Vergleichsmöglichkeit zu L. Trouillots Ästhetik sei eine äußerst aufschlussreiche Beschreibung eines bizzarren Leichenhaufens in Olliviers Les urnes scellés (1995) genannt: „Vers midi, au périmètre du cimetière, Adrien vit arriver la première charrette: corps ligotés, nuques trouées, poitrines défoncées, dos transpercés, amas de corps disloqués et rigides, aux bouches ouvertes sur un ultime cri, aux yeux exorbités par l’épouvante. […]. Aucun corps qui ne soit plaie verdâtre, aucun visage boucané qui ne soit roidi de stupeur. Un front s’appuie sur un sein; un dos écrase des cuisses; deux mains s’agrippent sur le manche d’une dague dont la pointe est fixée dans la poitrine du voisin; des pieds coincés entre des madriers, des bras sevrés de leur tronc, des corps orphelins de tête; un abdomen déchiqueté. Des hommes, des femmes, jeunes, vieux, pétrifiés, cendreux, confondus, entortillés par la mort“ (Ollivier 1995: 283-84). Die unzähligen Leichen fungieren hier gleichermaßen als Momentaufnahme des Todes und der Zerstörungsmacht der Gewalt. Die konkreten Umstände des Massakers werden gleichzeitig ausgeblendet. Dieses statische Tableau extremer Vernichtung als Beleg für die in Les urnes scellées eher im Hintergrund der Handlung ablaufende Gewaltorgie bricht mithin ohne größere Vorankündigung über den Text wie auch den Leser herein. Bedrückende Wirkungsmacht erhält dieses Bild v. a. durch die Enumeration am Ende, welche daran erinnert, dass die verunstalteten Leichen einmal lebendige Wesen (‚Des hommes, des femmes, jeunes, vieux‘) gewesen sind. Vgl. auch die Beschreibung des „spectacle d’un carambolage de cadavres, de tibias, de clavicules et d’omoplates dans une étrange partie de football sur un terrain recouvert de boue sanglante, de pourriture et de trombes d’eau“ (Manuel Étienne 2001: 59) in Manuel Étiennes Roman Déchirures. <?page no="140"?> 128 avaient tout détruit, les registres, les photos, la vieille porte en bois, les verrous, le trou de la serrure, l’enseigne, les tracts, les placards, le veilleur de nuit, un cousin éloigné du secrétaire général […]“ (RPP: 52, Herv. J. B.). Gleichermaßen kommt diese Technik in folgendem Beispiel zur Anwendung: „La foule a tout brûlé. Le temple, les meubles, les domestiques qui n’avaient pas pu fuir à temps“ (RPP: 120, Herv. J. B.). 327 Ebenso wie der Gewaltakt den Menschen auf die Zerstörbarkeit seines eigenen Körpers zurückwirft, degradiert der narrative Diskurs mithin das Opfer zum reinen Objekt (vgl. Borst 2012: 286). 328 Der Text macht sich hier das egalisierende Moment der Enumeration zunutze, sodass die Asymmetrien zwischen Ding und Mensch in der genannten Auflistung erst auf den zweiten Blick deutlich werden (vgl. Mainberger 2003: 8). 329 Im Zuge der langatmigen Aufzählung insbesondere im ersten Beispiel überliest der Rezipient geradezu das menschliche Opfer. Er muss ggf. seine Lektüre kurz unterbrechen, im Text zurückgehen und wird sich dann seiner eigenen Abgestumpftheit bewusst, über die er im Leseprozess erst stolpern musste. In seinem Traktat über die Gewalt (1996) verweist Sofsky ebenfalls auf die Kreatürlichkeit des Menschen, dem Gewalt angetan wird, wenn der Soziologe schreibt: „Gewalt ist eine verwandelnde Kraft. Sie macht den Menschen zur Kreatur, zu einem schreienden Angstbündel, zu schmerzendem Fleisch“ (2005: 66). Während Sofsky vom noch schreienden Subjekt ausgeht, sind Trouillots Körperbilder radikaler, da das Individuum bereits tot ist. Über die eigentlichen Gewaltexzesse, innerhalb derer die einzelnen Individuen versterben, schweigt sich die Erzählung jedoch vielfach aus. Die Leserschaft wird durch die vernichteten Körper lediglich mit den ‚Resultaten‘ von Gewaltakten konfrontiert, deren Hergang ungeschildert bleibt (vgl. Borst 2009). Vom Schmerz des Opfers wird lediglich eine Spur im Text festgehalten, 330 während das Bild des vernichteten Körpers zum Platzhalter für die eigentliche violente Handlung wird, die sich der Leser nur vorstellen kann, und den Schrecken des Ungesagten beschwört. 331 327 Vgl. auch RPP: 22, 52. In Manuel Étiennes Roman Déchirures kommt dieses Darstellungsverfahren ebenfalls zum Einsatz, so findet sich dort z. B. folgende Aufzählung: „Maisons pillées, saccagées. Femmes violées, humiliées. Fenêtres brisées. Portes défoncées. Tant de fragments comme les pièces d’un puzzle“ (2001: 97, Herv. J. B.). 328 Vgl. auch: „[O]n frappait de grands coups à la porte, plus tard j’ai su qu’ils avaient pris pour massue le cadavre d’un expert-comptable accusé d’avoir été quelque peu tortionnaire […]“ (RPP: 82-83); ferner Pessini 2005: 127. 329 Mainberger leitet her, dass sich das „Gleichmacherische“ (2003: 8) der Enumeration, welches durch die Aneinanderreihung unterschiedlicher Elemente bewirkt werde, auf den zweiten Blick als Trugschluss erweisen könne, da es möglich sei, dass dahinter eigentlich Asymmetrien oder Hierarchisierungen verborgen seien (vgl. ebd.: 7-8). Zur Funktion der Aufzählung vgl. Kap. 2.5. 330 Vgl. in diesem Zusammenhang Blair 2005: 44, 46. 331 Vgl. auch folgende Stelle aus Olliviers Les urnes scellées: „Dès l’angélus du soir, la nuit s’embrasait des fusées éclairantes, résonnait du crépitement des armes mortelles, <?page no="141"?> 129 Wenn der Text vielfach nur derartige Körperbilder anbietet und den Gewaltakt selbst ausblendet, verweigert er jedoch nicht nur eine voyeuristische Darstellung, die den sich (noch) windenden Körper zur Schau stellt, 332 sondern konfrontiert die Leserschaft gleichzeitig mit der Unwiderruflichkeit des Todes, welche in den Beschreibungen der Leichen statisch festgeschrieben ist. Dem Rezipienten, von den eigentlichen Gewaltakten narrativ ausgeschlossen, bleibt es nur, die Überreste der Gewalt in Form zerstörter Objekte und vernichteter Körper zu betrachten und sich dabei jene Schrecken vorzustellen, auf denen der Text zwar nicht insistiert, von denen sich aber doch überall Reste - durch die Überreste der Körper versinnbildlicht - finden lassen. Diese Auslassungen in der Erzählung lassen den Leser hierbei nicht nur im Unklaren darüber, was tatsächlich passiert ist. Sie konfrontieren ihn gleichzeitig mit seinem Schaudern vor der eigenen Vorstellungskraft, welche ihn die narrativen Leerstellen des Nicht- Gesagten mit Inhalt füllen lässt. 333 Ein solches narratives Ausblenden des Akts selbst kann als Symptom des Erzählens verstörender Erfahrung verstanden werden, welches sich dem eigentlichen Gewaltereignis durch die Schilderung des Kadavers als Spur der Violenz nur annähern kann. Dies zeigt die Hilflosigkeit der Erzählung gegenüber der Unfassbarkeit extremer Gewalt, die sich über die Bilder vernichteter Körper in den Text eingebrannt hat, sich in ihrem Ablauf einer Beschreibung durch Worte aber entzieht. Entsprechend konstatieren auch Laub und Podell in ihrer Studie „Art and Trauma“ (1995), dass sich ein Trauma insbesondere durch Absenzen beschreiben lasse und seine eigentliche Tragweite in den „empty spaces, silences and omissions“ (Laub/ Podell 1995: 993) des Kunstwerks verborgen sei. 334 In Rue des pas-perdus finden sich darüber hinaus Passagen, in denen sowohl der Gewaltakt als auch der tote Körper als Überrest desselbigen gezielt ausgeblendet werden. Dies ist beispielsweise in einer Szene der Fall, in der die Betreiberin des Freudenhauses beschreibt, wie sich ihre Mädchen von den Exzessen der Nacht mitreißen lassen und zum Morden auf die Straßen ziehen: bruissait de balles sifflantes. Un enfer de feux roulants. Et, au petit matin, l’asphalte était jonché de décombres, de ruines, de cadavres“ (Ollivier 1995: 124, Herv. J. B.). 332 Zur „verbotenen Faszination“ (Sofsky 2005: 105-06: 105) des Betrachters von Gewalt vgl. Sofsky 2005: 105-06; ferner Sontag 2004: 95-99 zu ‚Voyeurismus‘ und Gewaltdarstellung in der Fotografie. 333 Vgl. Popitz’ Ausführungen zur Uferlosigkeit der Vorstellungskraft des Menschen, die dazu führe, dass wir uns jederzeit „alles ausdenken“ (Popitz 1992: 51) könnten und die wiederum auf das Gewalthandeln selbst zurückwirke: „Wir durchbrechen Schranken des Handelns, die wir als Hemmungen und moralische Restriktionen empfinden, auch deshalb, weil es keine Grenzen gibt, deren Durchbrechung wir uns nicht vorstellen können“ (ebd.: 52). 334 Laub und Podell verstehen deshalb derartige Lücken als „traces that point to the inner experience of trauma“ (1995: 995). <?page no="142"?> 130 [L]a plupart [des filles] sont sorties, y a que la Charlotte qui n’a pas bougé, et Jeanine elle lui a crié salope et elle a distribué aux autres des couteaux de cuisine, ma grosse canne d’acajou, des rasoirs sales. Elles ne sont revenues qu’après le lever du soleil avec une fatigue de dernière nuit des trois jours gras, la Jeanine elle n’avait pas la force de monter dans sa chambre, elle s’est couchée au pied de l’escalier, […] elle riait dans son sommeil, il y avait du sang sur ses mains, sur sa robe, dans son rire, elle s’était soûlée jusqu’à l’aube […]. (RPP: 83, Herv. J. B.) Die Erzählung vollzieht einen narrativen Sprung vom Moment der Aufstachelung hin zur Rückkehr der Frauen und klammert jegliche Informationen über die Geschehnisse in den dazwischen liegenden Stunden aus (vgl. Borst 2012: 289). Die unausgesprochenen Exzesse werden lediglich in dem Euphemismus ‚dernière nuit des trois jours gras‘ verdichtet, welche das verschwiegene Leid der Opfer mit einem blutrünstigen, karnevalesken Vergnügen kontrastieren. 335 Der Ort, „où elle [= Jeanine; Anm. J. B.] a planté son couteau […]“ (RPP: 83) wird hingegen ausgespart, sodass eine klaffende Leere - gleich jenem „trou quelque part dans la nuit“ (RPP: 83), welches Jeanines Messer hinterlassen hat - im Text zurückbleibt. Diese verliert jedoch ihre unschuldige Ambiguität, da sie symbolisch gesprochen gleich den Händen der Prostituierten ‚narrativ mit Blut besudelt‘ ist. Denn unterbewusst füllt der Rezipient diese Lücke in der Narration mit all jenen toten Körpern, die an anderer Stelle im Text vorzufinden sind (vgl. Borst 2012: 289), wobei die bedrückende Atmosphäre der Szene dadurch verstärkt wird, dass die Unklarheit, wie viele Leichen der Blutrausch der Frauen überhaupt zurückgelassen hat, in der Erzählung nicht aufgehoben wird. Die Szene spart die Opfer aus und es bleibt nur eine Identifikation mit einer höchst ambivalenten Täterfigur. 336 In einer anderen Episode wird der Schrecken der Gewalt gleichermaßen in wenigen, nichtssagenden Worten zur Darstellung gebracht. Die Bordellwirtin berichtet dort, wie eines ihrer Mädchen vom Tod seines Bruders erzählt habe. Das traumatische Ereignis wird vom Autor in diesem Zeugnis auf die verkürzte Formel „à ce moment-là qu’il me l’a tué, madame“ (RPP: 40) heruntergebrochen. Das Bild seines Todes, welches die junge Frau fortan vor ihrem inneren Auge verfolgt, 337 bleibt für den Leser zwar vordergründig inhaltslos, kann aber indirekt durch die Schreie der jungen Frau, welche in der Erzählung dokumentiert werden - „[V]oir une jeune 335 Auf den Karneval wird durch die Formulierung ‚trois jours gras‘ angespielt, die an den ‚mardi gras‘ bzw. die ‚sept jours gras‘ erinnert. 336 Zur Darstellung Jeanines als Opfer einer skrupellosen und ungerechten Gesellschaft vgl. die Anmerkungen in Kap. 2.3 zur Hinfälligkeit der Familie; ebenso RPP: 81-82. 337 Vgl.: „[E]lle voyait la scène qu’elle me contait, sans doute elle n’avait vu que ça depuis l’événement […]“ (RPP: 40). <?page no="143"?> 131 femme en chair se tordre ainsi, l’entendre hurler ainsi, c’est une vraie torture […]“ (RPP: 40, Herv. J. B.) -, mit Substanz gefüllt werden. 338 Auch was das Schicksal des Bettlers Arroyo betrifft, ist der Rezipient aufgefordert, die lückenhafte Erzählung zu ergänzen und die an manchen Stellen eingestreuten Berichte über die Gewaltakte auf diese narrative Auslassung zu übertragen. 339 Arroyos Name wird von der Bordellwirtin nur beiläufig und zusammenhangslos erwähnt (vgl. RPP: 108-10). Der Bericht über das Leben dieses Mannes, der regelmäßig das Etablissement der Bordellbetreiberin in der Hauptstadt aufsuchte, endet mit folgenden Worten: „Cette nuit-là, il n’est pas venu. […]. Nul n’a revu Arroyo […]“ (RPP: 109- 10). Diese Aussage scheint auf den ersten Blick harmlos und nichts über sein eigentliches Schicksal auszusagen. Doch liest man sie im Zusammenhang mit der Geschichte des von der Bordellwirtin im gleichen Kontext erwähnten Brunnens, 340 dessen Zerstörung durch die Anhänger des Diktators wie auch die Kohorten des Propheten die Willkürlichkeit der Gewaltanwendung symbolisiert, 341 ist Arroyos Verbleib nicht mehr als unbekannte Variable in der Erzählung zu betrachten: 338 An der Beschreibung der Szene zeigen sich Latenz und Nachträglichkeit der traumatischen Erfahrung, welche die junge Frau wie einen Fremdkörper in ihrer Brust trägt und die sie auch nach Jahren noch beständig heimsucht. So lässt Trouillot die Erzählerin kommentieren: „[R]evivre son malheur ainsi, le cacher vainement sous son sein pendant des nuits, des années pour qu’il finisse par déborder de ses lèvres, de ses yeux […]“ (RPP: 40.). 339 Ein Beispiel für das Erzählen des Gewaltaktes selbst ist diejenige Episode, in der die Soldaten in das Haus eindringen und das Baby aus dem Fenster werfen(vgl. RPP: 60- 61); für das Zitat in voller Länge vgl. Kap. 2.1.1. Der Schrecken besteht in dieser Szene nicht allein im Wissen des Lesers, dass es sich in jenem Fall um unschuldige Opfer handelt („[T]u vois bien qu’il n’y a pas d’armes […]“ (RPP: 60)), sondern zugleich in der Konfrontation mit der moralisch kontroversen Entscheidung des Vaters, die Tochter zu vergewaltigen, sowie dem zynischen Unterton einer geradezu abgestumpften Erzählerin, die betont, dass das Baby aus dem Fenster geworfen wurde, obwohl es doch gar nicht geweint habe („[L]e bébé qui n’avait pourtant pas pleuré ils l’ont lancé par la fenêtre […]“ (RPP: 60)). Zu erwähnen gilt es jedoch, dass auch hier das Zeugnis mehrfach gebrochen wird, da die Bordellwirtin von den Erinnerungen eines ihrer Mädchen berichtet. Für einen ähnlichen indirekten Bericht der Gräueltaten vgl. u. a. RPP: 27. 340 Die Bordellbetreiberin erzählt an dieser Stelle von einem Brunnen, den der Diktator erbauen ließ, der jedoch bald versiegte - passenderweise besteht er nur noch aus einem kleinen rot-braunen Rinnsal, das dem Text nach an Blut und Schlamm erinnert, wodurch auf die Gewalt- und Armutsproblematik angespielt wird (vgl. RPP: 108). Man gab der Bordellwirtin zufolge den Bettlern die Schuld und brachte sie - darunter auch Arroyo - von dem Platz in der Stadt auf die Île de la Petite Gonâve, wo Arroyo zu Wohlstand gelangt ist (vgl. RPP: 108-09). 341 Zur Austauschbarkeit der Akteure in einem sich permanent reproduzierenden Konflikt vgl. folgende Beispiele: „[J]’avais assisté à un meeting du grand dictateur Décédé Vivant-Eternellement, il parlait comme un prophète […]“ (RPP: 71); „De dictateur en dictateur. De Prophète en prophète“ (RPP: 78); „On ne sait même pas s’il [= le grand dictateur Décédé Vivant-Eternellement; Anm. J. B.] est vraiment mort. Il se cache peut-être sous la bienveillante apparence de l’un d’entre vous“ (RPP: 138). Vgl. <?page no="144"?> 132 L’armée du grand dictateur Décédé Vivant-Eternellement a tiré cette nuit-là sur la fontaine sèche, sur les lumières éteintes, sur les passants, qui sait, peut-être sur les étoiles. Puis les Cohortes du Prophète […] ont détruit ce qu’il restait de la place, la même fontaine sèche, les mêmes lumières éteintes […]. (RPP: 109) Der Leser vermutet Arroyo dadurch vielmehr unter jenen unbeteiligten Passanten, die im Zuge der Verwüstung des Brunnens zu Tode gekommen sind (vgl. RPP: 109). Der Roman fordert den Rezipienten an dieser Stelle erneut auf, die toten Körper, die ihm im Textverlauf begegnen, in Relation zu Szenen wie dieser zu lesen, denn all jene unvollständig erzählten Geschichten zehren von den einzelnen Augenblicken explizit erzählter Gewalt (vgl. RPP: 60-61), die ihre beklemmende Wirkung auf den gesamten Text übertragen und vor deren Folie der Leser die Auslassungen selbst imaginieren kann. 342 Die untersuchten Beispiele zeigen, dass die Schrecken der Gewaltexzesse in Rue des pas-perdus in vielerlei Hinsicht im Ungesagten verborgen sind. Der Rezipient wird mit seiner durch die Präsenz der toten Körper angeregten Fantasie allein gelassen, der gerade keine Grenzen durch eine exakte und greifbare Schilderung der Geschehnisse gesetzt werden. Eine solche Erzählweise steht dem Glauben der Sozialwissenschaften, Gewalt durch eine möglichst dichte Beschreibung greifbar machen zu können (vgl. Trotha 1997b: 21, 23-24), entgegen. Vielmehr verdeutlicht sie, wie Alfred Hirsch so treffend in Worte fasst, dass die Ungeheuerlichkeit der Gewalt in den ‚Nischen des Ungesagten‘ liege: [D]ort wo die Übergänge und Trennungslinien zwischen erzählten und unerzählten Geschichten als solche kenntlich werden, steigert die Ahnung des Verschwiegenen und nie zu Gegenwärtigenden den Schrecken des Geschehenen. In den Nischen des Ungesagten - und vielleicht auch Unsagbaren - nisten die Ungeheuer. (2001: 22) Indem Trouillot in Rue des pas-perdus auf die Wirkung des nur angedeuteten Gewaltexzesses setzt, verhindert er nicht nur ein Abdriften in Voyeurismus und Sensationsgier, sondern signalisiert außerdem, dass es als Irrglaube zu betrachten sei, das Zügellose der Gewalt durch eine möglichst detailgetreue Analyse zähmen zu können. hierzu die Ausführungen in Kap. 2.2. Für eine Abrechnung mit den haitianischen Politikern als immer gleiche korrupte, nur am eigenen Vorteil interessierte und machtgierige Opportunisten vgl. das Werk von G. Victor und insbesondere seinen Roman Clair de manbo (1990) mit der moralisch äußerst fragwürdigen Figur Hannibal Sérafin (z. B. G. Victor 2007: 48-51, 72-73, 121, 148). 342 Die hier genannten Szenen sind nicht nur hinsichtlich der verstörenden Wirkung dessen, was eigentlich verschwiegen wird, aufschlussreich, sondern auch im Hinblick auf die Vernichtung des Zeugen der Gewalt, auf die ich im Folgenden noch genauer eingehe. <?page no="145"?> 133 Man mag versucht sein, diese Lücken im Text auf eine Traumatisierung der Erzähler zurückzuführen, schließlich findet sich in der Forschungsliteratur vielfach der Hinweis, dass Sprache bis zu einem gewissen Punkt an der Beschreibung von Schmerz scheitern müsse (vgl. u. a. Hermann 2000: 45). Kühner etwa merkt an, dass das traumatisierte Subjekt erzähle, „ohne richtig zu erzählen“ (2003: 24), was sich damit erklären lässt, dass der Gewaltakt die Sprache vor eine schier unüberwindbare Herausforderung stellt (vgl. Assmann 1999a: 260). 343 Bei genauerer Betrachtung fällt jedoch auf, dass das Nicht-Berichten über den Gewaltakt in den genannten Fällen und das lückenhafte Wissen über das Geschehene schlicht und einfach auch auf die Perspektiven der Erzählerfiguren zurückgeführt werden können. Ducarmel Désiré war schließlich nicht dabei, als Gewalt einen Menschen und ein Tier zum ‚cadavre marassa‘ gemacht hat; und die Bordellbetreiberin ist weder mit ihren Mädchen im Blutrausch auf die Straße gestürmt noch ist sie zu einem späteren Zeitpunkt auf den Leichnam Arroyos gestoßen. Als Figuren des fiktiven Universums und nicht-allwissende Erzähler sind sie in diesen Fällen selbst nur mit den Resultaten konfrontiert oder werden Zeuge von Berichten über die Gewalt, nicht aber der Gewalt selbst. Der Erzähler, der nicht dabei war, kann logischerweise nicht erzählen, was sich konkret zugetragen hat. In dieser Position spiegeln die Protagonisten in Rue des pasperdus auch die Perspektive der Leserschaft, für die das Zeugnis über die Gewalt noch durch eine weitere Instanz - die Erzählerstimmen des Romans - gebrochen wird und die so Informationen vielfach nur über mehrere Vermittlungsschichten erhält. 344 An diesem Punkt stellt sich allerdings die Frage, ob es nicht etwas zu einfach ist, die Lücken in der Erzählung einzig auf ein eingeschränktes Erzählerwissen zurückzuführen. Während Milne davon ausgeht, dass Auslassungen und Ausblen- dungen im Text in postkolonialen Literaturen als Hinweis auf die Unzulänglichkeit der Sprache angesichts der Ungeheuerlichkeit der Gewalt zu betrachten seien (vgl. Milne 2007a: 30), will diese Untersuchung einen Schritt weiter gehen und sie als Symbol für die erbarmungslose Zerstörungsmacht der Gewalt lesen, die im Tod des Subjekts gipfelt. Die narrativen Lücken verweisen dieser Argumentation nach nicht auf die Perspektive eines x-beliebigen nicht-allwissenden Erzählers, sondern Trouillot betont durch diesen Modus der Darstellung, dass nur derjenige, der überlebt hat, überhaupt mittels Sprache ein Zeugnis ablegen und zum erzählenden Subjekt werden kann. Die meisten Opfer der Gewalt jedoch sind im Text für immer verstummt, weshalb sich das Erzählen des (über)le- 343 Vgl. hierzu die Ausführungen in Kap. 1.1. 344 Vgl. beispielsweise die mehrfache Brechung der Erzählung über die Ereignisse in der Stadt in der Sequenz des Angestellten, die ich in Kap. 2.1.2 genauer untersuche. <?page no="146"?> 134 benden Subjekts unvollständig und zerrüttet gestaltet, was sich in den Lücken im Text offenbart. 345 Der italienische Philosoph Giorgio Agamben hat für den Kontext des Holocausts festgestellt, dass das Zeugnis des Überlebenden immer nur fragmentarisch sein könne, da die ‚vollständigen Zeugen‘ […] diejenigen [sind], die kein Zeugnis abgelegt haben und kein Zeugnis hätten ablegen können. Es sind die, die ‚den tiefsten Punkt des Abgrunds berührt haben‘ […]. Wer es übernimmt für sie Zeugnis abzulegen, weiß, daß er Zeugnis ablegen muß von der Unmöglichkeit, Zeugnis abzulegen. (2003: 30) Der Überlebende bezeugt dieser Argumentation zufolge immer auch das Zeugnis, das „fehlt“ (Geulen 2005: 115), sodass „das Unmögliche […] in der Lücke spricht, die in Zeugenaussagen stumm klafft“ (ebd.: 116). 346 Die Unmöglichkeit, ein erschöpfendes, lückenloses Zeugnis abzulegen (vgl. Agamben 2003: 34), wird in Rue des pas-perdus durch die narrativen Leerstellen zum Ausdruck gebracht, die das beschränkte Wissen des einzelnen Erzählers als das Wissen eines Überlebenden ausweisen, der die geschehene Gewalt nie in ihrer Gänze begreifen kann. Das Unbezeugte der Gewalt kann deshalb immer nur in der „Nicht-Sprache“ (ebd.: 34) der Körperbilder und den Lücken im Text aufscheinen. Ähnlich wie die Opfer aus dem Leben gerissen wurden, ist auch ihre Geschichte in Rue des pas-perdus aus der Erzählung verschwunden. Folglich entstehen Brüche in der Narration, „grietas en la capacidad narrativa, huecos en la memoria“ (Jelin 2002: 28), die von den Erzählern nicht (mehr) gefüllt werden können und als Spur der verstummten Stimmen im Text zurückbleiben. 347 Die Erzählung schwankt deshalb beständig zwischen Zeugnis und Lücke, zwischen „witnessing“ (Laub/ Podell 1995: 993) und „emptiness“ (ebd.: 993). Als Überlebender, der von der Gewalt und dem Fehlen der Zeugnisse anderer berichten kann, spielt gerade der Taxifahrer eine gewichtige Rolle in Trouillots Roman, weshalb seiner Figur im nächsten Unterkapitel gesondert Aufmerksamkeit zukommt. 2.4.3 Der überlebende Zeuge und das verkörperte Trauma Ausdruck über ein Körperbild findet der Schrecken der Gewalt auch im Falle des Taxifahrers Ducarmel Désiré, der die Nacht schwer verwundet überlebt und dessen verstümmeltes Bein zum Sinnbild der traumatischen 345 Vgl. die Ausführungen zum Erzählen traumatischer Erfahrung in Kap. 2.5. 346 Entscheidend in Agambens Argumentation ist, dass der Überlebende hierbei allein bezeuge, dass etwas fehle, und nicht das (mit)bezeuge, was fehle (vgl. Agamben 2003: 34; Geulen 2005: 115). Vgl. ebenso die Reflexionen von Childs/ Weber/ Williams (2006: 98) zu Spivak, die ebenfalls betone, dass postkoloniale Kritiker sich nicht darauf versteifen sollten, das Zeugnis des ‚Subalternen‘ offenlegen zu wollen, sondern sich darauf beschränken sollten, auf die bestehende Lücke zu verweisen. 347 Vgl. die Ausführungen in Kap. 2.2 und 2.6 zur Metaphorik der ‚pas-perdus‘. <?page no="147"?> 135 Erfahrung wird. Während die beiden anderen Erzählerfiguren aus sicherer Entfernung zu berichten scheinen, gehört der Taxifahrer zu jenen, die Gewalt am eigenen Leib erfahren und dies überleben. Obschon er im Vergleich zur Bordellwirtin und dem Angestellten am wenigsten Kapitel erzählt, nimmt er doch allein aufgrund der Tatsache, dass er der Einzige ist, der einen Namen trägt, während auf die anderen beiden nur in Form ihrer beruflichen Funktion verwiesen wird, eine besondere Position ein (vgl. N’Zengou-Tayo 2004: 333-34). 348 Da ein Name die Existenz des Individuums bekräftigt (vgl. A. Hirsch 2001: 30), weist sein Vorhandensein den Taxifahrer als (über)lebendes Subjekt gegenüber all jenen anonymen Opfern aus, welche über den fiktionalen Raum verteilt sind. 349 Sie werden nur mit unspezifischen Zuschreibungen wie „le père“ (RPP: 60), „la fille“ (RPP: 60), „l’homme“ (RPP: 101), „des officiers […] de la police municipale“ (RPP: 88) usw. versehen. Diese Namenlosigkeit der meisten Opfer spiegelt zum einen die allgemeine Bruchstückhaftigkeit wider, mit der ihr Schicksal im Text lediglich gestreift wird, sodass ihre konkrete Geschichte dem Leser vorenthalten bleibt. 350 Zum anderen erinnert der Roman hierdurch daran, dass Gewalt auch der Sprache eingelagert sein kann, wenn nämlich das Opfer quasi ein zweites Mal vernichtet wird, indem ihm Name wie auch Identität verweigert werden, wie es in der heutigen Zeit vielfach in medialen Diskursen geschieht, die die Opfer gewaltsamer Konflikte auf eine anonyme Masse reduzieren (vgl. Rotker 2002: 7-8). 351 Ducarmel Désiré repräsentiert den traumatisierten Überlebenden, der Spuren am Körper trägt, welche von der verstörenden Gewalt Zeugnis ablegen. Laut Assmann kann die traumatische Erfahrung, die sich häufig noch einer bewussten Versprachlichung entzieht, buchstäblich verkörpert werden: Der Körper der Gefolterten und Traumatisierten ist der bleibende Schauplatz der verbrecherischen Gewalt und damit zugleich das ‚Gedächtnis‘ 348 N’Zengou-Tayo schreibt dem Taxifaherer wesentliche Bedeutung zu, da in seiner Erzählsequenz zentrale Motive wie der ‚cadavre marassa‘ oder die ‚rue des Pas- Perdus‘ vorkommen (vgl. N’Zengou-Tayo 2004: 334). 349 Zum Konzept des Zeugen (‚superstes‘) jenseits einer rein juristischen Ebene als Überlebender, der ein Ereignis bezeugen kann, vgl. Agamben 2003: 14-15. 350 Zur Namenlosigkeit der Opfer, die als Symbol für deren unwiderbringlichen Verlust gelesen werden kann, vgl. folgende Textstelle aus dem Roman: „Mais la nuit de l’extermination je n’ai pu reconnaître personne. Quelque chose m’empêche de mettre des noms sur des visages“ (RPP: 28). 351 Dem steht eine Fülle an Täternamen in Form jener Liste gegenüber, die die Bordellbetreiberin bei ihren Mädchen findet (vgl. RPP: 37-42; ferner Kap. 2.5.2). Ein weiteres Beispiel für eine mit Namen genannte Täterin ist Madame Alphonse, einer skrupellose Schergin der Machthaber (vgl. RPP: 118-20). Diese Figur, die im Roman als „mystère de la cruauté“ (RPP: 118) bezeichnet wird, erinnert an eine realhistorische Handlangerin François Duvaliers, Madame Max Adolphe (Rosalie Bosquet), die auch in anderen haitianischen Romanen wie Danticats The Dew Breaker oder Agnants Un alligator nommé Rosa aufgegriffen wird (vgl. z. B. Lyngaas 2011: 972). <?page no="148"?> 136 dieser Zeugen, das sich nicht so einfach veräußern lässt wie die Botschaft, die der Bote zu überbringen hat. Der moralische Zeuge ist kein Gefäß für eine Botschaft, das Gefäß ist hier selbst die Botschaft. (2007: 90) 352 Der Körper selbst wird in diesem Sinne zum Medium der Erinnerung. An ihm wird das Traumatische der Gewalt zur permanenten Spur und taucht somit nicht „als Erzählung auf, sondern als Symptom“ (Herman 2003: 9). Anstatt dass es konkret in Worte gefasst wird, wird es vom Autor im Text über die Verletzung am Körper der Figur inszeniert. Im Falle von Ducarmel Désiré realisiert sich die Verkörperung der traumatischen Gewalterfahrung über die Verstümmelung seines Beins. Er zieht sich beim Sprung in die ‚ravine des Innocents‘ eine schwere Verletzung zu, die für mehr steht als nur die Beschädigung eines Körperteils: 353 La douleur à ma jambe gauche était plus forte, mais plus lointaine. Comme si elle avait mal toute seule. Déjà elle n’était plus ma jambe. […]. Ma jambe gauche traînait, refusait de suivre le rythme de mon corps. […]. En grimpant sur des pierres et des marmites j’en étais sorti [= de la ravine; Anm. J. B.], mais je n’en sortirai jamais. Et puis, j’y avais quand même laissé une jambe. […]. Ma jambe était raide comme la mort. […]. Je ne savais plus de quoi ma jambe était faite. Je ne voulais ni la voir ni la toucher. Il ne fallait pas que cette chose reste attachée à moi. […]. Et j’ai voulu arracher ma jambe avec mes mains. J’ai fouillé dans les plaies, je l’ai pincée, frappée, je lui donnais des coups de pied avec mon pied droit. Elle restait collée à moi. Comme une vermine. (RPP: 73-75) Hier tauchen typische Elemente aus der Traumatheorie auf (vgl. Kap. 1.1.2), so wird das Bein als Fremdkörper wahrgenommen (vgl. Assmann 1999a: 260; Eggers 2001: 603), der nicht zum Subjekt gehört, den es aber auch nicht loswerden kann. Das versehrte Glied steht in diesem Sinne für das Paradox des Traumas: Dieses entzieht sich zwar der bewussten Verarbeitung, sucht das Individuum aber trotzdem immer wieder heim; es verbleibt symbolisch gesprochen ‚attachée à moi‘. Das traumatische Ereignis wird Ducarmel Désiré sonach nicht wieder loslassen (‚je n’en sortirai jamais‘), sodass die Verstümmelung des Beins zum Sinnbild einer dauerhaften Traumatisierung wird, die als unauslöschliche Spur der erlebten Gewalt zurückbleibt (vgl. Blair 2005: 50). 354 Sein Körper wird hierdurch zu einer sinnbildhaften ‚Topo-Grafie der Gewalt‘, wobei der in diesem Begriff angedeutete Prozess des ‚Kerbens‘ im 352 Assmann (2007) entlehnt das Konzept des moralischen Zeugen von dem Philosophen Avishai Margalit (2002). 353 Zur ‚ravine des Innocents‘ und Ducarmel Désirés versehrtem Bein als Merkmal, das ihn dem ‚lwa‘ Legba annähert, vgl. Kap. 2.1.2. 354 Zur dauerhaften Körperschrift des Traumas vgl. Assmann 1999a: 247. Vgl. Beise (2007: 12, 17-18) zur Körperschrift als „Sichtbarmachung und -werdung von Inhalten des Unbewussten, nicht Sagbaren, noch nicht Verarbeitbaren bzw. Verarbeiteten“ (ebd.: 18) in Form eines unwiderruflichen Rests, der den Körper zum Gedächtnis werden lässt. <?page no="149"?> 137 Kontext der Gewalt nicht neutral zu verstehen ist, sondern immer auch eine verletzende Dimension mitzudenken erfordert, wie ich durch die Schreibung mit Bindestrich zum Ausdruck bringen will. 355 Ducarmel Désirés Körper wird somit zum Ort (‚topos‘), in den sich Gewalt einschreibt (‚gráphein‘), 356 wobei die körperliche Verletzung zugleich auf die Wunde der Psyche hindeutet. Er ist mithin nicht nur Schauplatz und Inszenierungsort der Gewalt (vgl. Blair 2005: 43), sondern auch Medium, in das sich die traumatische Erfahrung als zu entziffernde Spur jenseits der Sprache einkerbt. Der Körper als Träger unaussprechlicher Erinnerung (vgl. Beise 2007: 18; Weigel 1994: 49) repräsentiert so die „Unvergänglichkeit des Erlebten“ (Segler-Meßner 2013: 21), das in der Folgezeit immer wieder erneut über den Betroffenen hereinbricht (vgl. RPP: 141). 357 Interessanterweise verkehrt sich hiermit die physische Verletzung gleichzeitig in ein Symbol der psychischen Wunde und erinnert so an die in Kap. 1.1 beschriebenen zwei Wirkungsebenen des Gewaltakts. Der Verlust des Beines - als Symbol für die traumatische Gewalterfahrung - prägt fortan Ducarmel Désirés Existenz, denn „[d]as Opfer definiert sich über das, was man ihm geraubt hat, über das, was in ihm zerstört wurde, über seinen Verlust“ (Wieviorka 2006: 103), so Michel Wieviorka. Auch wenn Ducarmel Désirés Bein später noch amputiert wird, lässt sich das Trauma, als Folge der Gewalterfahrung hingegen nicht einfach wegschneiden. Zum Ausdruck kommt dies in einer Metapher am Ende des Romans, wo der Autor den Taxifahrer die Wunde folgendermaßen kommentieren lässt: „Une sauce gommeuse coulait de ma jambe. En me retournant je pouvais suivre ma propre traîne“ (RPP: 141). In diesem Bild klingt die unwiderrufliche Spur der Gewalt an, die sein Leben dauerhaft und untrennbar mit der Gewalt verbindet und ihn als (traumatisierten) Überlebenden markiert. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Körperbilder in Rue des pas-perdus die Destruktivität des Gewaltphänomens und seine traumatische Tragweite, die über Sprache direkt nur schwer zu fassen sind, symbolhaft zum Ausdruck bringen. Dass der traumatischen Gewalterfahrung über Worte grundsätzlich nur schwer beizukommen ist, ist auch ein zentraler Punkt im folgenden Kapitel, in dem sich die Analyse den Erzählerfiguren und ihrem verstörten Zeugnis zuwendet. 355 Ich lehne mich hier an Vittoria Borsòs Vorschlag an, die mit dieser Schreibweise auf die konzeptuelle Tiefe des Begriffs ‚Topo-Grafie‘ abheben will, der die räumliche Komponente einerseits und die Operation des „Schreiben[s], [des] Einkerben[s] des Raums“ (Borsò 2007: 279) andererseits umfasst. Sie verweist in diesem Kontext sowohl auf die Bedeutung des altgriechischen Verbs ‚gráphein‘ wie auch auf den von Deleuze und Guattari geprägten Begriff des ‚espace strié‘ (vgl. Borsò 2007: 297; ferner Stockhammer 2005: 16; zu Deleuze und Guattari Kap. 2.1.2). 356 Somit spiegelt sein Körper jene Darstellung des urbanen Raums im Roman, der ebenfalls als Raum der Gewalt inszeniert wird, wie ich in Kap. 2.1.2 ausgeführt habe. 357 Zum literarischen Motiv der Narbe als Symbol psychischer Verletzung vgl. Gürth 2008: 247. <?page no="150"?> 138 2.5 Die Auflösung des narrativen Diskurses und das Trauma der Erzähler Die verstörende Zerstörungsmacht der Gewalt offenbart sich deutlich anhand der Art und Weise, wie in Rue des pas-perdus erzählt wird. Dass das Erzählen nicht ‚unbeschadet davonkommt‘, drückt der Autor über die Worte der Bordellbetreiberin aus, wenn diese sagt, ihre Mädchen, die dem Spektakel der Gewalt beigewohnt hätten, seien niemals mehr „ces enfants disponibles qui vont en groupe au cinéma voir des beaux films d’amour […]“ (RPP: 59). 358 Sie führt außerdem aus: „[A]près avoir vu de telles horreurs on se sent toujours compromis, […] elles ont perdu leur innocence […]“ (RPP: 59). Gleich den Prostituierten hat auch das Erzählen in Rue des pas-perdus bildlich gesprochen seine Unbeschwertheit verloren. Gewalt wird im Roman mithin nicht mehr in Form eines intakten, kohärenten Diskurses erzählt. Vielmehr gebart sich der narrative Akt als zerrissen und erschüttert. 359 Dies schlägt sich zum einen darin nieder, dass die Erzählung in eine Vielstimmigkeit aufgebrochen wird, wodurch nicht nur ein breites Panorama an Geschichten präsentiert, sondern zugleich betont wird, dass die traumatische Gewalterfahrung mit narrativer Eindimensionalität nicht zu fassen ist. Die Verteilung des Erzählvorgangs auf die Bordellwirtin, den Angestellten und Ducarmel Désiré deutet in ihrer Zufälligkeit gleichzeitig an, dass der literarische Text immer nur eine Auswahl an Geschichten bieten kann, wobei all die verstummten Schicksale zwischen den Zeilen mitgedacht werden müssen. Zum anderen äußert sich die Krise der Narration im Auftreten traumatisierter Erzählerfiguren, die in fragmenthafter, deliriöser Form Zeugnis ablegen. 360 2.5.1 Das zersplitterte Zeugnis: Narrative Vielstimmigkeit In Rue des pas-perdus wird eine lineare Wiedergabe der Ereignisse durch einen einzelnen Erzähler aufgebrochen und durch ein „récit fragmenté, polyphonique“ (Vitiello 1998: 110) ersetzt. 361 Der Roman bedient sich dreier Stimmen, die abwechselnd, ohne eine klar erkennbare Ordnung einzuhalten, als homodiegetische Ich-Erzähler und somit als Figuren der erzählten Welt (vgl. Martínez/ Scheffel 1999: 84) von der Nacht des Schreckens berichten (vgl. Borst 2009; Raffy-Hideux 2013: 123). 362 Hinsichtlich dieser 358 In dieser Hinfälligkeit der Liebesfilme spiegelt sich das Scheitern des Liebespaares, welches in Kap. 2.3 erläutert wurde. 359 So ist es auffällig, dass die Bordellbetreiberin stellvertretend die Geschichten ihrer Mädchen erzählt, während diese im Text keine Stimme erhalten. 360 Zur Erschütterung der Narration vgl. die Überlegungen in Borst 2012, 2009. 361 Bernard spricht auch von einem „acrobatique récit triphasé“ (2003: 165). 362 Die drei Erzählerfiguren sind alle auf der gleichen Ebene der Narration anzuordnen und unterscheiden sich hierarchisch nicht voneinander, d. h. sie berichten alle gleichgestellt nebeneinander, ohne dass ein Erzähler den anderen Stimmen übergeordnet <?page no="151"?> 139 Vielfalt der narrativen Quellen, welche in ihrem Erzählen die Gewalt als zentrales Ereignis umkreisen, erläutert der Autor selbst in einem Interview (vgl. Pessini 2005: 126): [J]e voulais cracher cette violence qui nous étouffe. […]. Ce qui m’importait, c’était de construire des voix et de donner à entendre, à travers ces voix, une réalité haïtienne confuse et complexe, qu’on ne saurait saisir par la seule analyse. Dans mon roman, chaque voix parle depuis un lieu, depuis une individualité singulière. Cela permet de porter au langage une violence sociale et politique dont le territoire déborde celui des simples faits: une violence qui se diffracte sur un ensemble de vies. Pour la mise en fiction de la situation que nous vivons depuis une décennie, il me fallait des voix très différentes […]. (L. Trouillot in: Touam Bona et al. 2004: o. S.) Eine solche Aufsplittung in unterschiedliche Ich-Erzähler, deren Diskurse sich durchkreuzen und die dadurch die Ebene des rein subjektiven Zeugnisses verlassen und die Stimme eines Kollektivs mitklingen lassen, ist Yolaine Parisot zufolge für die zeitgenössische haitianische Literatur kennzeichnend, die hiermit eine „multiplicité des visions sur le monde“ (Parisot 2006b: 205) anbiete (vgl. ebd.: 203). 363 Eine multiperspektivische Vielstimmigkeit, die unterschiedliche Versionen einer Geschichte einbezieht (vgl. ebd.: 205), ermöglicht allerdings nicht nur eine Betrachtung des Sujets aus mehreren Blickwinkeln, sondern zeigt auch die Grenzen des alleinigen Wahrheitsanspruchs offizieller Geschichtsschreibung auf (vgl. Glissant 1991: 274). 364 An die Stelle einer abstrakten Chronik tritt im literarischen Text insofern das Einzelschicksal, das den Geschehnissen eine ethische Tiefe verleiht. Dies wird dadurch verstärkt, dass keine abstrakte Erzählinstanz in der dritten Person Bericht erstattet, sondern der Leser mit den Ich-Perspektiven einen Einblick in die Verstörung des Subjekts erhält, das Gewalt erfahren hat. 365 „Il s’agit avant tout de rectifier le discours de l’Histoire officielle, celle des régimes politiques et des manuels […]“ (Brodziak 2013a: 111), schreibt Sylvie Brodziak bezüglich Trouillots Roman Bicentenaire. Gleichermaßen trifft dieser Kommentar auf Rue des pas-perdus zu. Dies erfolgt im vorliegenden Falle jedoch nicht, wie Brodziak fortfährt, ist (vgl. Margolin o. J.: §38). Vgl. Martínez/ Scheffel 1999: 81 und W. Wolf 2008b: 174 zur Erzählperspektive bzw. Margolin o. J.: §37 zur multiperspektivischen Erzählung. Zur Willkürlichkeit der Abfolge der Erzähler in Rue des pas-perdus vgl. Kap. 2.4.1 und N’Zengou-Tayo 2004: 333, 342-43. 363 Sie ist insbesondere für L. Trouillots Prosa bezeichnend, vgl. neben Rue des pas-perdus z. B. Yanvalou pour Charlie. 364 Vgl. M.-R. Trouillot 1995b. Prägnant zeichnet Danticat in ihrem Roman The Farming of Bones die Grenzen offizieller Aufarbeitung traumatischer Vergangenheit nach, indem sie einer sterilen Archivierung von Wissen um die Gewalt das zerrüttete Zeugnis der Überlebenden und ihrer Körper entgegensetzt (vgl. u. a. Danticat 2000: 62, 208-13, 227, 234). 365 Zur Problematik, den Schmerz des Anderen zu erfassen, und der ‚Einsamkeit‘ des Gewaltopfers vgl. Kap. 1.1.1. <?page no="152"?> 140 „en refusant les blancs et les non-dits“ (ebd.: 111), sondern gerade indem die Erzählung in Rue des pas-perdus, wie in Abschnitt 2.4.2 hergeleitet, auf der Bewahrung der Lücken in der Erzählung als solche besteht. Der Text erreicht eine solche Wirkung insbesondere dadurch, dass die homodiegetischen Erzähler, die zugleich „erzählendes und […] erzähltes bzw. erlebendes Ich“ (Martínez/ Scheffel 1999: 84) sind, einen beständigen Wechsel des Erzählmodus erlauben, der zwischen Mittelbarkeit und Distanzlosigkeit zum Erzählten alterniert. Über das Evozieren des erlebenden Ichs durch das erzählende Ich eröffnet sich der Leserschaft folglich eine Innenperspektive auf die Gewalt. 366 Insbesondere in der Sequenz von Ducarmel Désiré springt der Text fortwährend zwischen diesen beiden Haltungen hin und her. Auf der einen Seite finden sich Szenen, in denen das erzählende Ich als vermittelnde Instanz komplett zu verschwinden scheint, was sich darin äußert, dass reflektierende Kommentare aus der Erzählgegenwart wegfallen. Dies hat den Effekt, dass der Leser mitten in das Universum der Gewalt abtaucht. Auf der anderen Seite geht der Erzähler an anderen Stellen auf Distanz zum in der Vergangenheit liegenden Erzählten, indem dieses retrospektivisch reflektiert und kommentiert wird. 367 Das Erzählen inszeniert durch diese Wechsel die beständige Heimsuchung des Individuums durch die traumatische Erfahrung des Gewalterlebens bzw. -bezeugens, welche den Ich-Erzähler die in manchen Passagen erreichte narrative Distanz zur vergangenen Gewalt immer wieder neu verlieren lässt. 368 Trouillot hat für Rue des pas-perdus drei marginalisierte Figuren gewählt, deren Gewalterfahrungen der Text eine Stimme verleiht (vgl. auch Coverdale 2003: xxiii). Jene sind sehr unterschiedlich, so erlebt der Angestellte die Gewalt an einem Zufluchtsort nur durch den vermittelnden Bericht seines Freundes Gérard, der die Realität der Geschehnisse auf der Straße in den schützenden Raum des Hauses bringt. Die Bordellwirtin hingegen scheint näher am Geschehen zu sein, obgleich auch sie eine Zeugin darstellt, die die Ereignisse eher von außen beobachtet und als Vermittlungsinstanz die Erlebnisse ihrer Mädchen an die Leserschaft weiterträgt. Sie zieht überdies eine bedrückende Bilanz der haitianischen Geschichte, die sie als „épuisante histoire de violence et de pauvreté” (RPP: 139) umschreibt, und formuliert eine harsche Kritik an einer Gesellschaft, „[où il] y en a toujours eu des histoires de sang, et ça ne sera pas la dernière“ (RPP: 136). Unter den Erzählern erfährt lediglich der Taxifahrer Ducarmel Désiré die Gewalt am eigenen Leib, im übertragenen wie auch im wört- 366 Zum Effekt der Erzählperspektive vgl. Martínez/ Scheffel 1999: 47-49; zur Erzählsituation und ihrer Wirkung außerdem W. Wolf 2008c: 175. 367 Zur Distanz des Erzählers zum Erzählten (z. B. ‚showing‘ vs. ‚telling‘ bzw. narrativer vs. dramatischer Modus) und den hierdurch hervorgerufenen Effekten vgl. Martínez/ Scheffel 1999: 48, 50, 55. 368 Auf die Traumatisierung des erzählenden Subjekts wird in Kap. 2.5.2 genauer eingegangen. <?page no="153"?> 141 lichen Sinne: Er irrt als direkter Zeuge durch die urbane Gewalt-Topografie und wird zugleich zu ihrem Opfer, als er zwischen die Fronten gerät und daraufhin gravierende Verletzungen an seinem Bein erleidet (vgl. Kap. 2.4.3). Auch wenn sich die Erfahrungen der Erzähler somit zunächst vordergründig unterscheiden, ist ungeachtet dessen die Gewalt der Motor aller drei Sequenzen. Zugleich ergänzen sich die Berichte der drei Protagonisten gegenseitig, indem etwa die Erlebnisse von Ducarmel Désiré in den Straßen von Port-au-Prince den abstrakten Berichten Gérards erst Leben einhauchen und sie innerhalb der Fiktion Realität werden lassen oder die Betreiberin des Freudenhauses den Momentaufnahmen der Gewalt jener Nacht durch ihre Erinnerungen eine zeitliche Dimension verleiht und sie in die Zirkularität der Historie einordnet. 369 Durch die Heterogenität der drei Stimmen wird zudem aufgegriffen, dass die Figuren in verschiedenen Situationen und auf unterschiedliche Weise mit der Gewalt konfrontiert werden (vgl. Borst 2012: 290). Es ist hierbei von Gewicht, dass es sich bei den Erzählern nicht nur um Randfiguren der Gesellschaft wie eine Bordellbetreiberin und einen mittellosen Taxifahrer handelt. Über den Angestellten und Laurence dringt eine weitere Perspektive ein, die offenlegt, dass die Gewaltproblematik zwar vorrangig die unteren Schichten betrifft, aber ungeachtet dessen die Gesellschaft als Ganzes etwas angehen sollte (vgl. auch Kap. 2.1.1). Die Hinfälligkeit des Versuchs, Gewalt aus dem eigenen Leben auszublenden, wird zusätzlich durch das Schicksal von Ducarmel Désiré unterstrichen, der als Unschuldiger im öffentlichen Raum von der Gewalt überrollt wird, ohne dass er sich in irgendeiner Weise schuldig und damit zum Ziel der Aggressionen gemacht hätte. Zweck der narrativen Polyfonie in Rue des pas-perdus ist es jedoch nicht einzig, ein breites Panorama an Stimmen zu präsentieren, 370 welches über individuelle Akte der Erinnerung einer homogenisierenden Version offizieller Geschichte entgegengesetzt ist, wie Whitehead es als charakteristisch für postkoloniale Fiktionen herausarbeitet (vgl. Whitehead 2004: 82). Jene weist darüber hinaus auf die Spaltung der haitianischen Gesellschaft hin, die in der Aufsplittung der narrativen Instanz symbolisiert wird. Hierin lässt sich eine Umsetzung von Trouillots Aussage aus einem Interview im Jahr 2011 erkennen, in dem er die Spannung zwischen Individuum und Gemeinschaft als zentrales Thema in seinem Werk angibt (vgl. Spear/ L. Trouillot 2011: 8: 09-8: 17 Min.) und feststellt, dass ein haitianisches ‚Wir‘ als solches nicht existiere: Le ‚nous‘ dans une société comme la société haïtienne, qui est déjà un ‚nous‘ impossible, parce que les différences de classes sont telles, qu’il n’y a pas de sphère commune de citoyenneté en Haïti. Il n’y pas un ‚nous‘ haïtien qui 369 Zur Kontinuität der Gewalt und der Zirkularität der Geschichte vgl. Kap. 2.2. 370 Vgl. Lucas 2004: 65; Parisot 2006b: 204-05; Whitehead 2004: 90. <?page no="154"?> 142 réunisse tout le monde, c’est un mensonge. (L. Trouillot in: Spear/ L. Trouillot 2011: 8: 19-8: 33 Min.) Ein einzelner Erzähler, der stellvertretend für die haitianische Gesellschaft von der Gewalt berichtet, hat im Werk des Autors konsequenterweise keinen Platz. Gleichermaßen ist die narrative Vielstimmigkeit aber ein Zeichen dafür, dass die Gewalt in ihrer Eigenschaft als destruktive Kraft auch die Narration in eine multiperspektivische Polyfonie verstörter Individuen aufgebrochen hat (vgl. Borst 2012: 290). Der Text thematisiert Gewalt somit nicht nur auf Ebene der Geschichte, sondern inszeniert sie sogleich auch narrativ innerhalb des Erzählprozesses. Dies geschieht in zweierlei Hinsicht: zum einen durch eine Aufsplittung der jeweiligen Sequenz des einzelnen Erzählers in narrative Bruchstücke; zum anderen durch eine Aufteilung der Erzählung auf drei unterschiedliche Stimmen, sodass die Fragmenthaftigkeit des Diskurses als Symptom einer von Gewalt zerrütteten Narration multipliziert wird. Im Roman werden die Schrecken der Nacht folglich nicht über das lineare Erzählen einer Figur und aus einer einzigen Perspektive erfasst. Stattdessen konstruiert Trouillot bewusst einen Diskurs, innerhalb dessen das einzelne Subjekt immer nur Ausschnitte erzählt, um so dessen Zwiespalt, bezeugen zu wollen und das traumatische Ereignis gleichzeitig nicht wirklich fassen zu können (vgl. Assmann 1999a: 260; Assmann 2007: 94), auf Ebene der narrativen Darstellung nachzubilden. In Rue des pas-perdus obliegt es schließlich dem Rezipienten, aus diesen narrativen Fragmenten ein zusammenhängendes Panorama der Gewalt zusammenzusetzen. 371 Die Bedeutung der Vielstimmigkeit wird auch im Diskurs der Erzähler selbst zum Ausdruck gebracht: „Mais nulle histoire humaine n’est une petite histoire“ (RPP: 135), merkt der Angestellte zum Ende des Romans hin an. Während dieser Kommentar innerhalb der konkreten Episode eher undurchsichtig wirkt, so scheint seine eigentliche Bedeutung vor dem Hintergrund des Roman-Ganzen auf. Der Erzähler signalisiert mit diesen Worten einen Allgemeinplatz der postkolonialen Theorie, indem er betont, dass es um die vielen kleinen Geschichten anstatt um eine offizielle Version der Ereignisse geht. 372 Demnach existiert nicht der eine Erzähler, der als Einziger ein authentisches und umfassendes Zeugnis von der Nacht hätte ablegen können. Vielmehr gibt es eine Vielzahl an Geschichten, von denen 371 Wobei daran zu erinnern ist, dass die Bestandsaufnahme der Gewalt trotzdem unvollständig bleibt, wie in Kapitel 2.4.2 angeklungen ist und in Abschnitt 2.6 im Detail herausgearbeitet wird. 372 Zur Bedeutung versteckter Geschichten im Gegensatz zur offiziellen (westlich geprägten) Geschichtsschreibung v. a. im postkolonialen Kontext vgl. Adichie 2009; Chamoiseau 1994: 14-15; Glissant 1991: 274; Mignolo 2000; Tiffin 1995: 95-96. Vgl. auch eine zentrale Anmerkung aus Régis’ Roman Le trophée des capitaux: „L’histoire récente de la ville-là est une histoire sanglante. Nous ne l’avons pas appris dans nos livres. Mais nos parents nous disent“ (Régis 2011: 62, Herv. J. B.). <?page no="155"?> 143 der literarische Text, folgt man Lyonel Trouillots Ästhetik, immer nur einen Ausschnitt zu fassen in der Lage ist, ohne Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu können. Denn auch hinter den ausgesprochenen Geschichten der drei Erzähler stehen jene verstummten Schicksale, die niemand mehr erzählen kann. Durch das bruchstückhafte Zeugnis des Einzelnen wird somit auch an das „non-dit“ (Cordova 2004: 492) all jener Opfer erinnert, die vom Text nur mehr noch als tote Körper ohne eigene Stimme angeboten werden oder deren Schicksale im Roman in Form all jener Figuren durchschimmern, welche die Wege der Protagonisten nur flüchtig kreuzen und die ebenfalls ihre eigene Version von jener Nacht zu berichten hätten. Die Geschichten der Gewalt in Rue des pas-perdus erzählen somit zwischen den Zeilen kontinuierlich auch die eigenen Leerstellen. Trouillots Roman bietet immer nur ausschnitthafte Einblicke, die zwar für nicht-erzählte Geschichten als Platzhalter, nicht jedoch als gleichwertiger Ersatz dienen können. Innerhalb der Sequenz des Taxifahrers taucht in einem Kapitel zum Ende des Romans hin eine weitere Stimme im Text auf, der man versucht sein mag, den Status eines Erzählers zuzusprechen (vgl. RPP: 128-29). Es handelt sich um den Straßenjungen Létoilé, dem Ducarmel Désiré auf seiner Odyssee durch die Stadt begegnet. Während dieser den Heranwachsenden in den ersten zwei Sätzen des Kapitels noch in der dritten Person einführt, wirkt es so, als ob Létoilé selbst danach in der ersten Person das Erzählen übernimmt. Dieser Wechsel sticht ins Auge, handelt es sich hier doch um die einzige Stelle, an welcher der Roman das Muster des willkürlichen Wechsels von drei Erzählern verlässt. 373 Ihrer eigenen Mutter zufolge hat diese Nebenfigur „le don de la vision“ (RPP: 128). 374 Létoilé erzählt in der Folge, wie die Soldaten des ‚Dictateur 373 N’Zengou-Tayo interpretiert dieses Auftauchen einer vierten Stimme als signifikanten Bruch in einer generell komplexen Erzählstruktur, den sie mit einer Eskalation der Ereignisse und den verzweifelten Versuchen des Taxifahrers, sein eigenes Leben zu retten, erklärt (vgl. N’Zengou-Tayo 2004: 333, 342-343). Betrachtet man jedoch im Detail, wo das Kapitels genau in der Handlung zu verorten ist, erkennt man, dass zu diesem Zeitpunkt der Höhepunkt der Gewalt schon überschritten ist. Zudem liegt an diesem Punkt des Romans auch der narrative Fokus weniger einzig auf der Vergangenheit, sondern greift vermehrt auf die nach der Nacht der Gewalt angesiedelte Erzählgegenwart vor. So hat Ducarmel Désiré in seiner Sequenz bereits in zunehmendem Maße von der Zeit nach der Apokalypse, dem Engagement der Zwillinge im Umfeld des ‚Prophète‘, der Amputation des verletzten Beins und der Einrichtung von Institutionen für die Opfer berichtet (vgl. RPP: 114-15); der Angestellte wiederum hat bereits darüber reflektiert, ob er mit Laurence geschlafen hat (vgl. RPP: 111-12, 123-24); und die Bordellbetreiberin bittet bereits die Gäste für die Parade nach der Nacht des Schreckens herein (vgl. ebd.: 117). 374 Das Adjektiv ‚étoilé‘ bedeutet dem Nouveau Petit Robert zufolge „[s]emé d’étoiles“ (1993: 833) und bezeichnet den- oder dasjenige(n), „[q]ui porte des étoiles […] dessinées“ (ebd.: 833) bzw. „[d]isposé en rayons partant d’un centre comme les rayons d’une étoile figurée“ (ebd.: 833). Zugleich schwingt angesichts der Aussage <?page no="156"?> 144 Décédé Vivant-Eternellement‘ eines Tages in sein Viertel kamen, um nach Anhängern des ‚Prophète‘ zu suchen, und hierbei willkürlich um sich schossen. Die Antwort des Jungen auf ihre Frage nach seinem Namen scheint ihm in dieser Situation das Leben gerettet zu haben: „Je lui ai répondu Létoilé, et j’ai ajouté en faisant la grosse voix: parce que j’ai la vision. J’ai vu la peur dans ses yeux. […]. Suffit de dire que tu as la vision et les gens crèvent de peur“ (RPP: 129). Die Sonderstellung dieser Episode innerhalb des Erzählflusses und die kryptische Aussage des Jungen bezüglich seiner vermeintlichen Fähigkeiten mögen zunächst den Eindruck vermitteln, als handle es sich hier um eine zentrale Episode des Romans, die möglicherweise gar eine wesentliche Leserichtung vorgeben könnte. Letztendlich enttäuscht diese Textstelle jedoch in Bezug auf die Suche des Lesers nach einem Motiv der Hoffnung in einem ansonsten entmutigenden und düsteren Text. Im Grunde genommen wird weder geklärt, worin Létoilés Gabe genau besteht, noch wird eine zufriedenstellende Begründung geliefert, weshalb der Soldat, vor Schreck erstarrt, das Leben des Jungen verschont hat. Zunächst wirkt die Figur Létoilé zwar vielversprechend und deutet einen möglichen Ausweg aus dem sich ewig wiederholenden Konflikt an, wenn der Junge sagt, dass er auf niemandes Seite stehe, „que je m’entendais avec tout le monde“ (RPP: 128-29). Létoilé durchbricht dadurch andeutungsweise die im Roman skizzierte binäre Aufspaltung der haitianischen Gesellschaft in sich unversöhnlich gegenüberstehende Gruppen. Die im Text angelegte Hoffnung auf eine Art Erlöserfigur wird jedoch im Keim erstickt: 375 Auch bei Létoilé handelt es sich letzten Endes nur um ein Kind, das angesichts der omnipräsenten Gewalt abgestumpft ist, was in dem Bild zum Ausdruck kommt, dass vor Ducarmel Désirés geistigem Auge immer wieder die Erinnerung an die „indifférence de Létoilé devant un cadavre cloué contre une porte, le sexe ballottant, sanguinolent“ (RPP: 141) aufsteigt. Eine solche Demontage der Figur des vermeintlich Erleuchteten ist bezeichnend für Trouillots Roman. Bereits die Analyse des Liebespaares hat verdeutlicht, dass der Text keinen Platz für eine über den sich permanent wiederholenden Zyklus der Gewalt hinaus weisende Utopie bietet. Rue de pas-perdus verweigert sich konsequentermaßen auch im vorliegenden Konder Mutter immer auch das Adjektiv ‚illuminé‘ mit, welches u. a. den Erleuchteten bezeichnet. 375 Zur Substitution des Helden in Rue des pas-perdus durch groteske und belanglose Figuren vgl. Parisot 2006b: 220. Zur Degradierung der Heldenfigur in der haitianischen Literatur seit der Duvalier-Diktatur vgl. außerdem Lucas 2006, 2004. Ein weiteres prägnantes Beispiel für dessen Niedergang in der Literatur der Gegenwart ist der Protagonist Dieuswalwé Azémar aus G. Victors Kriminalromanen, der die desolate haitianische Realität und die grassierende Gewalt nur mit Alkohol zu ertragen vermag (u. a. in Les cloches de la Brésilienne (2006), Saison de porcs (2009), Soro (2011)). <?page no="157"?> 145 text sentimentalen Heilsversprechungen und bietet keine Figur eines tatsächlichen ‚Propheten‘ an, der ein Ende der Gewalt zu verkünden, geschweige denn herbeizuführen in der Lage ist. Es ist deshalb folgerichtig, dass Létoilé nach diesem Einschub im Roman nicht mehr zu Wort kommt und der Autor die drei desillusionierten Erzählerstimmen der Bordellwirtin, des Angestellten und des Taxifahrers wieder übernehmen lässt. Der Prototyp des heilsverbürgenden Helden in der Tradition des klassischen haitianischen Romans wird hierdurch von Trouillot als Illusion entlarvt (vgl. Lucas 2004: 58, 62-63, 66; Parisot 2006b: 220). Eine endgültige Erklärung für das Auftauchen der vierten Erzählerstimme bleibt Rue des pasperdus somit schuldig, was dadurch zu erklären ist, dass die Gewalt die Kohärenz der Geschichte erschüttert hat und den Leser mit Fragmenten zurücklässt, die sich nicht immer intuitiv deuten und zusammensetzen lassen. Anstatt in jenen zwei Seiten, auf denen aus Létoilés Ich-Perspektive berichtet wird, liegt die Bedeutung der Figur des Jungen innerhalb der Erzählsequenz des Taxifahrers selbst. Dort wird Létoilé als Kontrapunkt zu jener Entsolidarisierung der haitianischen Gesellschaft präsentiert, die in anderen Szenen zum Ausdruck kommt. 376 Er ist es, der Ducarmel Désiré seine selbstlose Unterstützung anbietet, die hoffnungslose Suche nach dem Toyota fortsetzen will und schließlich dafür sorgt, dass der Taxifahrer seine Geschichte erzählen kann, indem er ihn ins Krankenhaus bringt und so dessen Überleben sichert (vgl. RPP: 141). 377 Durch die Figur Létoilé wird somit jene Einsamkeit der Trouillot’schen Figuren durchbrochen, die die Literaturwissenschaftlerin Stéphanie Bérard in seinem wenige Jahre später erschienenen Roman Bicentenaire herausarbeitet (vgl. Bérard 2008: 108) 378 und die gleichermaßen in Rue des pas-perdus anzutreffen ist, wo die drei Protagonisten die Nacht getrennt erleben und isoliert voneinander ihre Version der Ereignisse darlegen. 379 376 Vgl. zum Beispiel die Szene des ‚cadavre marassa‘ (RPP: 101-02), in der sich ein Passant am schwelenden Leichnam eine Zigarette anzündet. Außerdem kommt sie im Bild einer Gesellschaft zum Ausdruck, „[où l]es gens ont fermé ce qu’il leur restait de portes“ (RPP: 66). Vgl. ferner RPP: 23, 53, 81. Zum Motiv der geschlossenen Türen in einer Gesellschaft, in der sich der eine nicht mehr für das Schicksal des anderen interessiert, vgl. auch die in Kap. 3.6.3 beschriebene Darstellung in Lahens’ Roman La couleur de l’aube bzw. CA: 216. 377 Die Tatsache, dass der Text offen lässt, ob Létoilé den Toyota findet (vgl. RPP: 114, 140-41, 142), weist darauf hin, dass auch Létoilés Solidarität mit dem Taxifahrer nur ein symbolischer Anfang ist und keine Wunder bewirken kann. 378 Vgl. folgende Textstelle aus Bicentenaire: „[L]’étudiant a pensé que l’on pouvait crier ensemble, mais qu’à la fin des fins chaque homme meurt avec son silence“ (L. Trouillot 2006: 94). 379 Bérard spricht im Fall von Bicentenaire von einem „reséau de voix multiples, qui parlent sans se répondre dans un roman qui dit finalement la solitude d’individus séparés les uns des autres, isolés dans leur propre temporalité, dans l’incommunicable, dans le silence“ (2008: 108). Vgl. auch L. Trouillot 2011b. <?page no="158"?> 146 Während in der Anmerkung zu Létoilés Abgestumpftheit gegenüber der bezeugten Gewalt bereits angedeutet wird, dass er die Nacht zwar physisch unverletzt, psychisch aber nur scheinbar unbeschadet überstanden hat, so lässt der Diskurs der eigentlichen drei Erzähler des Romans deutlich die traumatische Dimension der Gewalterfahrung erkennen, wie ich im anschließenden Kapitel ausführen werde. 2.5.2 Das verstörte Zeugnis: Traumatisierte Erzähler Die Kluft zwischen Sprache als intersubjektivem Medium und dem traumatischen Gewalterleben als per se subjektive Erfahrung birgt Assmann zufolge eine beachtliche Herausforderung (vgl. Assmann 1999a: 260), wie bereits in Kapitel 1.1.2 diskutiert. 380 Sprache, so fährt sie in ihren Untersuchungen fort, nehme bei der Aufarbeitung von Trauma deshalb grundsätzlich eine zwiespältige Rolle ein. Denn neben dem „therapeutische[n] Wort“ (ebd.: 260) existiere das „blasse, verallgemeinernde und trivialisierende Wort“ (ebd.: 260). Worte, so erklärt sie, „entbehren der Schärfe, sie ätzen nicht, wie es jene Erinnerung tut, die nicht aufhört, wehzutun“ (ebd.: 260), weshalb sie Gefahr liefen, leer und nichtssagend zu werden (vgl. ebd.: 260). Eine derartige Trivialisierung der violenten Exzesse, wie Assmann sie anspricht, wird in Rue des pas-perdus durch einen deliriösen Erzählerdiskurs verhindert, welcher die Traumatisierung des Gewalt erlebenden bzw. bezeugenden Subjekts ungeschönt zur Sprache bringt. Trouillot schafft nicht die Illusion, dass das Gewalttrauma problemlos zu überwinden sei und sprachlich handhabbar wäre, indem er unerschrockene Erzähler auftreten lässt, die kohärent von den Erfahrungen der Nacht zu berichten in der Lage sind. Stattdessen erzählen in Rue des pas-perdus verstörte Individuen, die der Gewalt hilflos gegenüberstehen und das Erfahrene geradezu zwanghaft wieder und wieder über einen Diskurs zur Sprache bringen, der Spuren dieser Verstörung in sich trägt. 381 Dass diese Art und Weise des Erzählens Symptome des erfahrenen Traumas auf Ebene des narrativen Diskurses inszeniert, gilt es im Folgenden genauer zu eruieren. Am Beispiel von Ducarmel Désiré als Erzähler, der mitten in die gewaltsamen Ausschreitungen gerät, lässt sich zunächst zeigen, dass der Bericht des traumatisierten Gewaltopfers in seiner Struktur unbeständig und zerrüttet ist (vgl. Borst 2012: 290-91; Kühner 2008: 255). Als Zeuge, der die Gewalt selbst unmittelbar erlebt (vgl. N’Zengou-Tayo 2004: 333-34), stellt Ducarmel Désiré die Verbindung zwischen dem Universum der zerstückelten, toten Körper (vgl. Kap. 2.4) und der Ebene des Erzählens dar: Er steht zum einen für das traumatisierte Subjekt, dessen Körper und Psyche von der Gewalterfahrung geprägt sind, was in der Metapher der 380 Zum Gewalterleben als zutiefst subjektiver Erfahrung vgl. Kap. 1.1.1. 381 Zum narrativen Diskurs in Rue des pas-perdus vgl. Gyssels o. J. <?page no="159"?> 147 physischen Verstümmelung zum Ausdruck kommt. Zum anderen repräsentiert er als Kontrapunkt zu den Leichen auf den Straßen von Trouillots Port-au-Prince das (über)lebende Opfer, das daraufhin zum erzählenden Subjekt werden kann und dessen Zeugnis das eigene Trauma offenlegt. Rotker folgert in einem Beitrag zu urbaner Gewalt, dass die reine Zahl toter Körper, wie sie in der Realität etwa in Statistiken zum Ausdruck komme, nur bedingt dazu tauge, das tatsächliche Ausmaß der Gewalt zu fassen: „[N]umbers do nothing but accumulate, […] they quickly become hollow with repetition […]“ (2002: 7-8), weshalb es zusätzlich der Worte des Zeugen bedürfe: „When objective facts fail to tell the whole story, we resort to the most primitive and primal way of knowing, the subjective, the personal: this is what happened to me, this is how I survived“ (ebd.: 8). Haben die toten Körper dem Leser folglich nur eine distanzierte Außenansicht auf die Gewalt geboten, eröffnet der narrative Diskurs des Taxifahrers die bedrückende Perspektive des traumatisierten Opfers. Sein Erzählen spiegelt die paradoxe Situation des Traumas, das im Moment des Erlebens nicht zu deuten ist und sich einer Rückübersetzung in Sprache versperrt (vgl. Caruth 1996: 59; Leys 2000: 2). Die in Abschnitt 1.1.2 erwähnte „Unmöglichkeit der Narration“ (Assmann 1999a: 264) traumatischer Erfahrung manifestiert sich in Rue des pas-perdus grundsätzlich in einer diffusen, unbeständigen und in Fragmente aufgebrochenen Erzählerrede, die durch die unablässige Aneinanderreihung von häufig nur durch Kommata getrennten Sätzen und das Nichtvorhandensein von Absätzen in zahlreichen Einzelkapiteln geprägt ist, was der Erzählung die Gestalt eines atemlosen, deliriösen Flusses verleiht. 382 Besonders eindrücklich gestaltet der Autor dies in der Sequenz des direkten Gewaltzeugen Ducarmel Désiré, dessen Erzählen immer wieder stockt und narrative Brüche aufweist. 383 Die Unfassbarkeit des Gewalterlebens spiegelt sich in der zersetzten Struktur seines Berichts wider, denn die Narration präsentiert sich über weite Strecken als wahnhafte Fabulation, was darauf hinweist, dass auch die Sprache in dieser Hinsicht an der Gewalt scheitert. An die Stelle einer vormals flüssigen Narration in Hypotaxen treten in dieser Sequenz aneinandergereihte Parataxen, wie folgendes Beispiel, welches bereits hinsichtlich der Entgrenzung der Gewalt im Raum angeführt wurde, illustriert: 382 In extremer Form kommt dieses narrative Verfahren in Dalemberts Roman L’autre face de la mer zum Einsatz. Dort wird die Geschichte der beiden Protagonisten Grannie und Jonas immer wieder durch Einschübe ohne Interpunktion und Großschreibung durchbrochen, in denen der Autor aus Perspektive afrikanischer Menschen dem Trauma der ‚Middle Passage‘ eine Stimme zu verleihen sucht. Unter ‚Middle Passage‘ wird der transatlantische Transport versklavter afrikanischer Menschen verstanden (vgl. etwa Burnard 2011; Rawley 1981: 283-306), wobei der Begriff nicht neutral besetzt ist, sondern immer auch die Erfahrung eines kollektiven Traumas mitschwingt (vgl. in diesem Kontext z. B. das Kapitel „La barque ouverte“ in Glissant 1990). 383 Vgl. z. B. viele der in Abschnitt 2.1.2 zitierten Textstellen aus dem Roman. <?page no="160"?> 148 Et le plouc des corps sous les roues, rue des ... mais qu’est-ce que j’en avais à foutre des noms des rues, j’étais dans les couloirs d’une immense caserne, un labyrinthe de mitrailleuses, ma peur roulait sans destination, faisait pipi, caca, pleurait, se cramponnait aux parois de mon estomac, parlait, chantait, hurlait, je n’ai pas changé, tu vas mourir, communiqué, éclatait de rire. (RPP: 50) 384 Pessini arbeitet in ihrem Aufsatz zur Gewalt in Lyonel Trouillots Romanen heraus, dass in diesem Ausschnitt die Sprache geradezu den Fluss der Handlung imitiere, da sich die geordnete Fahrt des Taxis durch die Stadt zu einer kopflosen Flucht wandle, als die Ereignisse losbrechen. Die Folge sei eine Narration, die strauchele, „[d]es phrases courtes, lapidaires, [qui] s’entrechoquent […]“ (Pessini 2005: 125), 385 wie folgendes Zitat aus dem Text veranschaulicht: Rue Cadet-Jérémie, j’avais éteint mes phares, et la nuit s’avançait vers moi, épaisse, métallique. Un char! Ils avaient sorti les chars! Marche arrière, bifurque à droite, je savais qu’on tirait, mais je n’entendais pas de coups de feu, seulement cette voix dans ma tête qui disait à mon pied sur l’accélérateur tu vas mourir, je ne veux pas mourir, tu vas mourir, je ne veux pas mourir. (RPP: 49-50) Die traumatische Erfahrung der losbrechenden Gewalt wird an dieser Stelle nicht rahmend und kommentierend beschrieben, sondern die Darstellungsform verleiht den unmittelbaren Gefühlen des Erzählers Ausdruck, der plötzlich um sein Leben fürchtet: 386 „Viens. Descends. Laisse-toi aller. Non. Sortir. Courir. Résister. […]. Avancer. […]. Se battre. […]. Quelques pas. […]. Ne pas penser“ (RPP: 73-74). Hier wird deutlich, dass die narrative Struktur mit der fortschreitenden Flucht und der anschwellenden Panik progressiv zersetzt wird. Der aus dem Takt gekommene 384 Vgl. zur Veranschaulichung gleichermaßen folgenden Auszug: „Oui mon commandant, merci, mon commandant, MERDE, mon commandant. Et le fou qui disait belle merveille, nous y sommes, se félicitait, ah! Victoire de l’intelligence, mes calculs étaient bons. Tirons-nous de là, macaque! Mais où courir? Les gens avaient fermé ce qu’il leur restait de portes. La saison pluvieuse avait laissé les égouts comblés. Et le fou qui ramassait ses fiches, mes calculs! une ligne courbe en partant du pôle Nord… J’eus quand même le réflexe de refermer la portière. J’aurais même remonté la vitre si les soldats n’arrivaient pas derrière nous. Tirez! mais, tirez, foutre! oui, mon commandant, à vos ordres, mon commandant. RE-MERDE, mon commandant. Je ne sais combien de rues nous avons traversées comme ça en courant. Je crus reconnaître l’odeur rance de la rue Tire-Masse. Ce grand trou, comme une ombre en dessous de l’ombre, ce devait être la ravine des Innocents. Saute, tonnerre, saute! Non, jamais sans mon relevé de quatre centres de la ville. Et les pas des soldats, et les voix des soldats. Tuez ces deux chiens, attention, ils vont sauter dans la ravine des Innocents. Oui, mon commandant. A vos ordres, mon commandant. TRIPLE MERDE, mon commandant“ (RPP: 66). 385 Vgl. auch Manuel Étiennes Déchirures, wo die vielfach sehr kurzen und abgehackten Sätze und der ellipitische Sprachstil einen ähnlichen Effekt erzeugen. 386 Vgl. zur Unmittelbarkeit von Ducarmel Désirés Erzählen Kap. 2.5.1. <?page no="161"?> 149 Rhythmus der Sprache des Erzählers, was sich in kurzen, aneinandergereihten und teilweise zusammenhangslosen Satzfragmenten äußert, repräsentiert ein Symptom der Nichtgreifbarkeit des Erlebten, welches sich einer rationalen Rückholung ins Bewusstsein versperrt, und ist ein weiterer Beleg dafür, dass die traumatische Gewalterfahrung in Rue des pas-perdus nicht nur inhaltlich präsent ist, sondern auch strukturell im Text inszeniert wird. Diese fragmenthafte Satzstruktur, die mit dem Ausbruch der Gewalt einsetzt, wird auch im folgenden Verlauf der Handlung weitergeführt. Auffällig ist insbesondere das Auftreten von Halbsätzen im Infinitiv mit Objekt, denen das Subjekt fehlt. 387 Die Absenz des Satzgegenstands in diesen Konstruktionen symbolisiert die Unfähigkeit des Opfers, das Trauma in eine bewusste Erfahrungskontinuität des Ichs zu integrieren, und bringt die Erschütterung des traumatisierten Individuums zum Ausdruck, dessen Identität im Gewalterleben vernichtet zu werden droht (vgl. Assmann 1999a: 245, 248). Ducarmel Désiré, so zeigt diese Szene, hat folglich nicht nur die Orientierung im Raum (vgl. Kap. 2.1.2), sondern durch ein Gefühl der „absolute[n] Fremdheit“ (Le Breton 2003: 22) im Schmerz auch den Bezug zu sich selbst verloren. Die beständige Wiederholung wirrer, zusammenhangsloser Strukturelemente in seinem Erzählfluss drückt neben der Todesangst des Protagonisten aus, wie ihm der narrative Diskurs zunehmend entgleitet. 388 In diesem Kontext erweist es sich als bezeichnend, dass der Taxifahrer auf listenartige Aufzählungen und im Erzählfluss immer wieder auftauchende Gliederungselemente zurückgreift. Hierbei handelt es sich um die desperaten Strukturierungsversuche eines traumatisierten Erzählers, der sich abmüht, über die eigene Narration in der Sinnlosigkeit der Gewalt Ordnung zu schaffen und das zerrüttete Erzählen durch den Aufbau von neuen Strukturen zu ‚reparieren‘. 389 Wie in Kapitel 2.1.2 zum Teil bereits angeklungen, strebt Ducarmel Désiré durch die beständige Bezugnahme auf die Straßennamen in der Umgebung, ebenso wie durch die Suche nach dem Toyota, danach, die Illusion einer räumlichen Ordnung aufrechtzuerhalten und ein Mindestmaß an Normalität wiederherzustellen. Das schier Unbegreifliche versucht er somit beharrlich in bekannte Strukturen wie die urbane Topografie zu integrieren. Zusätzlich bemüht sich der 387 Vgl. z. B. folgenden Auszug aus dem Roman: „Se battre. Remuer contre le remous. Faire des brasses. […]. Ne pas penser. Surtout ne pas prendre le temps de cracher ce qui te rentre dans la bouche. […]. Avale, digère, mais avance. […]. Trouver au fond quelque chose de solide sur quoi grimper. Refaire surface. Accoler les objets aux murs. […]. Plonger de nouveau“ (RPP: 73-74); sowie die Szene in der ‚ravine des Innocents‘ in ihrer Gesamtheit (vgl. RPP: 73-76). 388 Vgl. z. B. den weiter oben zitierten Auszug aus RPP: 66. 389 Zur Schaffung von Strukturen durch Aufzählung vgl. Mainberger 2003: 7-8. Zum listenartigen Erzählen ausufernder Gewalt als hilflosen Versuch der narrativen Einhegung vgl. auch Déchirures von Manuel Étienne (z. B. Manuel Étienne 2001: 27, 58, 89-91). <?page no="162"?> 150 Taxifahrer, eine zeitliche Routine in einer Situation zu konstruieren, die eigentlich jeglicher alltäglichen Vertrautheit entbehrt: Nachdem er aus der ‚ravine des Innocents‘ entkommen ist, bestimmt er die Morgendämmerung als absehbaren Zeitraum, 390 in dem die Gewalt noch tobt. Der tatsächliche Tagesanbruch indes symbolisiert für ihn die Möglichkeit einer Rückkehr zur Normalität - versinnbildlicht durch das erhoffte Auffinden des Toyotas: „Sitôt que le jour serait vraiment levé, si les choses se calmaient, j’irais récupérer la Toyota et soigner ma jambe […]. Mais il fallait encore attendre“ (RPP: 87). 391 Das auflistende Erzählen als Zeichen der Hilflosigkeit des traumatisierten Subjekts findet sich jedoch nicht nur in der Sequenz des Taxifahrers. Ein ähnlicher Versuch, die exzessive Gewalt listenartig zu versprachlichen, taucht auch in einem Kapitel der Bordellbetreiberin auf. Es handelt sich um jene bereits in Abschnitt 2.4.2 zitierte Episode, in welcher der getötete Mensch Seite an Seite mit zerstörten Objekten aufgezählt wird und die hier erneut zur Veranschaulichung des Arguments herangezogen wird: „[E]n quelques minutes ils avaient tout détruit, les registres, les photos, la vieille porte en bois, les verrous, le trou de la serrure, l’enseigne, les tracts, les placards, le veilleur de nuit, un cousin éloigné du secrétaire général […]“ (RPP: 52). Anstatt jedoch das Chaos der Gewalt durch die ordnende Kraft des Diskurses zu zähmen, bringt Trouillot durch diese absonderliche Auflistung der Erzählerin zum Ausdruck, dass die narrativen Stimmen nicht in der Lage sind, logisch und kohärent zu berichten, sondern angesichts der Exzesse nur noch mechanisch enumerieren können. Die Liste in Rue des pas-perdus suggeriert deshalb keineswegs mehr potenzielle Vollständigkeit (vgl. Mainberger 2003: 5), sondern steht für die Bruchstückhaftigkeit eines zerrütteten Diskurses und zeigt die Traumatisierung des Erzählenden auf. 392 390 Das Kapitel beginnt mit der zeitlichen Einordnung der Handlung als „La nuit entrait dans l’aube“ (RPP: 87), einem Zeitraum, in dem die Gefahr noch nicht überwunden scheint (vgl. RPP: 87). 391 Unterstrichen wird die Behauptung, dass noch etwas Zeit vergehen müsse, durch die Beschreibung neuer Anzeichen der Gewalt: „J’entendais des cris, des bruits de caisse, des coups de feu“(RPP: 87). Auch die Verwendung des Konjunktivs ‚j’irais récuperer‘ in obigem Zitat weist darauf hin, dass eine simple Rückkehr zur Normalität nicht möglich ist. 392 Zur Darstellung „psychischer Ausnahmezustände“ (Mainberger 2003: 321) durch Sprünge in der narrativen Rede vgl. Mainberger 2003: 321. In einem der Kapitel der Bordellbetreiberin findet sich interessanterweise auch eine andere Art der Liste in Kursivdruck, die sich mit dem Diskurs der Erzählerin abwechselt und bereits in Kap. 2.4.2 angesprochen wurde (vgl. RPP: 37-42). Es handelt sich um eine vermutlich von den Unterstützern des ‚Prophète‘ erstellte Auflistung von Anhängern des ‚Dictateur Décédé Vivant-Eternellement‘, deren Verbrechen aufgeführt und denen Strafen zugeordnet werden. Auch hier versucht die Liste den Schrecken vergangener Gewalt zu bündeln. Gleichzeitig stellt sie ein Indiz für die Kontinuität der violenten Ausschreitungen dar und verweist auf das Dilemma zwischen Rachebedürfnis und gesellschaftlicher Versöhnung. <?page no="163"?> 151 Die bisherigen Erkenntnisse zum Erzählen des Taxifahrers sind insbesondere dann aufschlussreich, wenn man bedenkt, dass dieser die Ereignisse retrospektiv gegenüber dem ‚petit‘ wiedergibt - einem narrativen Adressaten, 393 dem er Fahrstunden erteilt, um nach dem Verlust seines Beins seinen Lebensunterhalt zu bestreiten (vgl. RPP: 131). Die Erzählzeit entspricht - wie es notabene auch in den anderen beiden Erzählsequenzen der Fall ist - 394 folglich nicht der erzählten Zeit. Dass Ducarmel Désiré auch rückblickend nicht in der Lage ist, das Erlebte in eine kohärente Narration einzubetten, und lediglich in Fragmenten berichten kann, zeugt von den gravierenden Nachwirkungen der Gewalterfahrung. Dementsprechend steigert sich das Erzählen der eigenen Flucht auch immer mehr ins Delirium, welches schließlich im Verlauf der Erzählstruktur in der Erwähnung des ‚fou‘ und der ‚rue des Pas-Perdus‘ gipfelt (vgl. RPP: 50). 395 Gerade in diesem Moment bricht Ducarmel Désirés erinnernde Rede jedoch abrupt ab: „Rentrons, petit. T’as assez appris pour aujourd’hui. […]. Ce sont des souvenirs qui fatiguent“ (RPP: 50). In diesem Ausweichen zeigt sich die Überforderung des traumatisierten Subjekts, die eigene Erfahrung zu bewältigen, was zur Folge hat, dass der Bericht unvollständig bleibt und von Brüchen durchsetzt ist. Auch wenn Ducarmel Désiré die Ereignisse auf einer Makroebene grundsätzlich chronologisch - von den Stunden vor der Eskalation bis hin zur allmählichen Beruhigung der Situation am nächsten Tag - erzählt, fällt sein Bericht durch die Brüche beim Erzählen der Gewalt immer wieder unvermittelt retrospektivisch oder prospektivisch aus der linearen Abfolge der Ereignisse heraus, wie auch die zum narrativen Adressaten zitierte Textstelle belegt (vgl. RPP: 50). Kontinuierlich lässt der Autor Ducarmel Désirés Narration zwischen Vergangenheit, Zwischenepisoden (z. B. aus dem Alltag eines Taxifahrers), Ausblicken auf die Zeit nach den Ausschreitungen und den eigentlichen Geschehnissen hin und her wechseln (vgl. z. B. RPP: 48-50). In dieser kreisenden Bewegung des Erzählens um die 393 Zum Begriff des narrativen Adressaten (‚narrataire‘), der auf der gleichen diegetischen Ebene wie der Erzähler anzusiedeln und der Erzählsituation zuzuordnen ist, vgl. Genette 2007: 272-73. 394 Alle drei Erzähler nähern sich den Eskalationen der Nacht aus einer erinnernden Perspektive (vgl. Borst 2009), wobei der Taxifahrer und die Bordellbetreiberin ihren Bericht explizit an narrative Adressaten richten und so den Eindruck einer anderen Erzählgegenwart, die der bezeugten Gewalt nachgelagert ist, verstärken. Im Falle des Taxifahrers handelt es sich bei diesem Ansprechpartner um den genannten ‚petit‘; die Betreiberin des Freudenhauses hingegen wendet sich an nicht genauer zu identifizierende Personen, die sie zuerst mit ‚monsieur‘ (vgl. z. B. RPP: 17) und später mit ‚messieurs-dames‘ (vgl. z. B. RPP: 117) anspricht. Möglicherweise handelt es sich bei diesen um Gäste bzw. Kunden des Bordells (vgl. RPP: 117). Die hier skizzenhaft dargestellte Erzählsituation scheint im Roman jedoch nur sporadisch durch eingeflochtene Anreden auf, ohne dass eine weitere narrative Rahmung stattfindet. Einzig in der Sequenz des Angestellten findet kein konkreter Adressat Erwähnung. 395 Zur Symbolik des ‚fou‘ und der ‚Rue des Pas-Perdus‘ vgl. Kap. 2.2. <?page no="164"?> 152 Gewalterfahrung wird die latente Präsenz des Traumas versinnbildlicht, welches immer wieder an die Oberfläche bricht und folglich die Linearität der Erzählung in Rue des pas-perdus in ein bruchstückhaftes Zeugnis der Gewalt transformiert. 396 Es kommt außerdem zu einer beständigen Alternanz zwischen Distanznahme zur Vergangenheit und Distanzlosigkeit zur traumatischen Gewalterfahrung. 397 Während der Taxifahrer durch eine narrative Rahmung (z. B. ein beständiges Ansprechen seines Beifahrers ‚petit‘) zu den Ereignissen der Nacht auf Abstand zu gehen versucht, so bricht die traumatische Gewalterfahrung ungeachtet dessen in ihrer Unmittelbarkeit immer wieder in sein Erzählen ein. Sie lässt es hierdurch zu jenem deliriösen Fabulieren werden, das seine Flucht durch die Stadt kennzeichnet und dem jegliche narrative Distanz fehlt. Der Bericht des Taxifahrers kommt wieder und wieder auf die Nacht der Gewalt zurück, er müht sich in Form eines als monologisch und antwortlos dargestellten Zwiegesprächs mit dem ‚petit‘ zwanghaft an den traumatischen Bildern in seinem Kopf (vgl. RPP: 141) ab, ohne sie schlussendlich verarbeiten zu können. Darüber hinaus drängt sich angesichts der weiter oben zitierten Formulierung „Rentrons, petit. T’as assez appris pour aujourd’hui. […] Ce sont des souvenirs qui fatiguent“ (RPP: 50) die Frage auf, ob der ‚petit‘ wirklich nur das Taxifahren von Ducarmel Désiré lernt. Angesichts des sprunghaften Wechsels in der Narration von einer unmittelbaren Vergegenwärtigung der vergangenen Gewalterfahrung hin zu einer distanznehmenden Erzählgegenwart ist die Rolle dieses narrativen Adressaten vielmehr neu zu deuten. Die Lektion besteht folglich weniger im Fahrunterricht, sondern vielmehr in einer ‚education violente‘, die den ‚petit‘ auf ein Leben in einer rücksichtslosen Welt vorbereitet. Das sinnbildliche Stummbleiben des Angesprochenen im narrativen Diskurs allerdings - der ‚petit‘ wird weder selbst Erzähler, noch lässt Trouillot Ducarmel Désiré mögliche Reaktionen referieren - mahnt an wie prekär die Aussicht auf Bewältigung ist, indem es auf die Ambivalenz des Erzählens traumatischer Erfahrung verweist, das sich zwischen obsessiver und vom Subjekt unkontrollierter Aktualisierung unverarbeiteter Vergangenheit in der Renarration und einer aktiven, auf eine Integration in die eigene Geschichte ausgelegten Bearbeitung des Traumas als gemeinschaftlicher, kooperativer Prozess bewegt, je nachdem, ob dem Bezeugten über die Anerkennung durch den Anderen - als einzelner Gesprächspartner oder (z. B. kulturelle) 396 Zur Nicht-Linearität und Unvollständigkeit des Erzählens traumatischer Erfahrung vgl. Ueckmann 2013; Whitehead 2004: 6, 13, 34. 397 Zur Distanz des Erzählers gegenüber dem Erzählten vgl. allgemein Martínez/ Scheffel 1999: 50, 55 sowie spezifisch zu Rue des pas-perdus die Überlegungen in Kap. 2.5.1. <?page no="165"?> 153 Gemeinschaft - und kollektive Teilhabe der Status des Tatsächlich- Gewesenen zugesprochen wird (vgl. u. a. Laub 2000). 398 Während die traumatische Dimension der Gewalt in der Sequenz des Taxifahrers über eine Zerrüttung des narrativen Diskurses signalisiert wird, wählt Trouillot für jene des Angestellten eine andere Vorgehensweise. In den von ihm erzählten Kapiteln wechseln sich dessen eigene Reflexionen mit kursiv gedruckten Passagen ab, welche von der Gewalt auf den Straßen berichten (vgl. Gyssels o. J.). Sie unterbrechen den eigentlichen Erzählfluss immer wieder und werden direkt mit der behüteten Atmosphäre in Gérards Haus und den Überlegungen des Angestellten zu seinem Verhältnis zu Laurence kontrastiert. Bezeichnenderweise setzen diese narrativen Parenthesen direkt nach der beginnenden Flucht des Taxifahrers ein (vgl. RPP: 55), welche die Eskalation der gewaltsamen Auseinandersetzungen markiert. 399 Der Text suggeriert, dass es sich bei diesen Einschüben um Zusammenfassungen von Informationen zu den Ereignissen von Seiten Gérards handelt, die dieser vermutlich aus Telefongesprächen oder dem Radio bezogen hat (vgl. z. B. RPP: 55, 62, 124). 400 Jedoch werden die kursiven Passagen ansonsten weder durch eine narrative Rahmung ein- oder ausgeleitet, noch sichtbar durch Absatzwechsel oder Leerzeilen vom restlichen Text abgesetzt. Diese Brüche im eigentlichen Erzählfluss des Angestellten durch die kursiven Passagen sind in vielerlei Hinsicht aufschlussreich. Sie belegen zum einen, dass dieser versucht, die Realität der Gewalt auch narrativ von sich wegzuschieben. Zum anderen versinnbildlicht ihre ‚Fremdheit‘ im restlichen Textfluss, dass die dort berichtete Gewalt immer noch ‚anderswo‘ stattfindet: Die durch die veränderte Typografie evozierte Distanz zur eigentlichen Erzählrede reflektiert die räumliche Distanz der Gewalt, die nur symbolisch in diesen privilegierten Raum der gesellschaftlichen Elite vordringt. Außerdem sind sie als Hinweis auf die Unfähigkeit des Erzählers zu lesen, die indirekt bezeugte Gewalt selbst zu versprachlichen und in die eigene Narration einzubinden. 401 Die Ausuferung der Gewalt, die in diesen Einschüben zur Sprache gebracht wird, so zeigt der Autor hierdurch, ist für den Erzähler nicht mehr in eine kohärente Schilderung zu 398 Zur Notwendigkeit des Gegenübers im Prozess des Bezeugens nach Auffassung der Traumatheorie vgl. z. B. Laub 2000b: 69, 78 und Kap. 1.1.2. Vgl. auch die Ausführungen in Kap. 3.5.1 zur prekären Situation sprachlicher Aufarbeitung von Trauma. 399 Zu den kursiven Einschüben und ihrer Interpretation als ‚narrativer Raum der Gewalt‘ innerhalb der Erzählung des Angestellten vgl. Kap. 2.1.1. 400 Ein ähnliches Verfahren wählt L. Trouillot auch in Bicentenaire, wo die Ereignisse um die Gewalteskalation im Rahmen der zentralen Demonstration ebenfalls über Radiosequenzen vermittelt werden (vgl. L. Trouillot 2006: 95-100; hierzu Borst 2013b: 232). Zur Bedeutung des Radios in Haiti - v. a. für die illiteraten und kreyòlsprechenden Bevölkerungsschichten - vgl. B. Bell 2001: 63-64; Dominique 2008: 53. 401 N’Zengou-Tayo belegt mit diesen Passagen außerdem Gérards Scheitern als Intellektueller, der resigniert hat und in Inaktivität versunken ist, sodass er auf Neuigkeiten nur noch reagieren kann (vgl. N’Zengou-Tayo 2004: 335-36). <?page no="166"?> 154 integrieren und muss deshalb den gewohnten Textfluss auch rein formal ‚stören‘. Obgleich der Angestellte eingesteht, dass diese Nacht folglich zum zentralen Bezugspunkt der eigenen Biografie geworden sei (vgl. RPP: 77), die fortan anhand von „semblables horreurs“ (RPP: 78) strukturiert würde, 402 ist er letztendlich doch nicht in der Lage, sie mit der eigenen Geschichte in Einklang zu bringen, wie das von den typografisch abgesetzten Passagen unterbrochene Erzählen illustriert. 403 Dieses präsentiert die Verstörung des Subjekts, das angesichts menschlicher Grausamkeit entsetzt ist und zugleich um die eigene Privilegiertheit (nicht direkt betroffen zu sein) weiß. Die in den kursiv gedruckten Resümees berichteten Ereignisse vollziehen die fortschreitende Eskalation der Situation mit. In nüchterner Sprache reflektieren sie die Exzessivität der Gewalt (vgl. Borst 2009) und es ist von willkürlichen Erschießungen und gewaltsamen Übergriffen die Rede, die vor allem Unschuldige und Unbeteiligte treffen (vgl. RPP: 57, 78). „On ne compte plus les morts“ (RPP: 86) - dieser Satz findet sich am Ende des letzten Einschubs dieser Art. Die Entpersonalisierung der Opfer, die der Roman durch verallgemeinernde Benennungen wie ‚les hommes‘, ‚les femmes‘ oder ‚tous ceux‘ inszeniert, 404 wird in der hier zitierten Textstelle auf die Spitze getrieben, indem das einzelne Opfer nur noch unter eine Unzahl von Toten subsumiert wird. Die Abstraktheit des subjektlosen Ausdrucks ‚On ne compte plus les morts‘ trägt der Individualität des Einzelnen nicht Rechnung und signalisiert zugleich die Hilflosigkeit der Erzählung angesichts des Ausmaßes der Gewalt. Der Angestellte als Ich-Erzähler kommentiert besagte Einschübe folgendermaßen: „Gérard habitait son récit. Lui qui détestait toute forme de violence en était réduit à valider son existence par le biais de ce conte dont l’horreur était réelle et le récit fantasque“ (RPP: 62). Zum einen wird mit diesen Worten auf die räumlich angelegte Kluft zwischen den Geschehnissen auf den Straßen der Stadt und der schützenden Isoliertheit des Aufenthaltsorts der Protagonisten dieser Erzählsequenz (vgl. Kap. 2.1) 402 Vgl. die bereits in Kap. 2.2 zitierte Textstelle (RPP: 78) zur Strukturierung der eigenen Biografie anhand violenter Ereignisse. 403 In weit umfassenderem Maße verwendet auch Manuel Étienne in Déchirures unterschiedliche Typografien. Dort fällt ein ständiger Wechsel zwischen Normal, Kursiv- und Fettdruck auf. Ihr Text erschafft durch seine ständige formelle Durchbrochenheit ein episodenartiges, unzusammenhängendes Gewalterzählen, welches die Traumatisierung des erzählenden Subjekts ebenfalls widerspiegelt. 404 Vgl. folgende Beispiele aus dem Roman: „Les hommes, les femmes, les enfants en bas âge sont interrogés dans des bureaux de police […]“ (RPP: 56); „Les principales victimes sont les curieux, […] toutes petites gens s’étant trouvées là par hasard ou mauvaise fortune“ (RPP: 57); „[L]es soldats ont fait monter les hommes dans les camions. […] [I]ls les ont fait rentrer dans des gros sacs, rembourré les sacs avec des pierres, et les ont jetés dans la mer“ (RPP: 62); „[I]ls ont […] fait feu sur tous ceux qui tentaient de sortir [des maisons mises en feu]“ (RPP: 62). Zur Namenlosigkeit der Opfer vgl. Kap. 2.4.3. <?page no="167"?> 155 angespielt. Zum anderen will die Passage darauf hinweisen, dass eine Übersetzung des ‚horreur réelle‘ in Sprache und ein ‚récit réel‘ angesichts der traumatischen Dimension der Gewalt wahrscheinlich zum Scheitern verurteilt sind. Erzählen von der Gewalt kann sich der Ästhetik des Romans gemäß dem wahrhaftigen Schrecken vielmehr immer nur annähern und ihn umreißen - insbesondere dann, wenn die Erzählinstanz wie der Angestellte und indirekt auch Gérard nur bedingt Teil einer Zerstörung sind, die räumlich entfernt stattfindet und die sie dennoch nicht von sich weisen können. Die Bezugnahme auf die Ereignisse lässt der Autor deshalb auch in einem emotionslosen, sachlichen Ton vollziehen, stellen doch Worte, wie Assmann sagt, ohnehin nur eine „leere Hülse des Schreckens“ (1999a: 260) dar, die die wahre Dimension traumatischer Gewalterfahrung nicht zu fassen vermögen würden. Umso mehr trifft dies zu, da in dieser Sequenz nur vom Hörensagen, „que par ouï-dire […]“ (RPP: 77), berichtet wird, „sans être dedans“ (RPP: 79). Des Weiteren spiegelt das Erzählen in Rue des pas-perdus die ambivalente Situation des traumatisierten Individuums, das beständig von einer Erfahrung heimgesucht wird, die sich eigentlich seinem Bewusstsein entzieht, sodass eine strikte Trennung zwischen vergangenen Ereignissen und der folgenden Zeit zusammenbricht, wie in Kapitel 1.1.2 erörtert. Versinnbildlicht wird dies in Trouillots Roman darüber, dass die Grenzen zwischen (Erzähl-)Gegenwart und traumatischer (erzählter) Vergangenheit verwischen und sich das Trauma ohne Distanznahme im Heute perpetuiert (vgl. LaCapra 2001: 142-43). Das beständige narrative Abschweifen, wie es insbesondere der Taxifahrer in seinem Monolog gegenüber dem ‚petit‘ praktiziert, bringt den Wunsch der Erzähler zum Ausdruck, die Ereignisse der Nacht endlich hinter sich lassen und vergessen zu können. So möchte die Bordellbetreiberin das Erlebte am liebsten aus ihrem Gedächtnis streichen, oublier […] que les soldats avaient empilé des cadavres dans la rue, n’avoir rien vu, rien entendu, remplacer la mort par ma première robe de sortie, […] mon premier bal, mon premier plongeon dans la mer, […] reconstituer le monde sans cette nuit des haines triomphantes, tricher avec l’histoire […]. (RPP: 95) Stattdessen ist ihr Gedächtnis jedoch in jener sich in ihrer Erinnerung immer wieder ereignenden Nacht gefangen (vgl. RPP: 58), die sich seit jeher wiederholt, sodass die Erzählerin nur noch „de vieilles histoires de vies ratées“ (RPP: 95) zu erzählen hat. Gerade an ihrem Beispiel zeigt sich deutlich, dass das Erzählen regelrecht in der Gewalt feststeckt. Das Phänomen wird mit einer Beharrlichkeit thematisiert, dass sich der Dauerzustand dieser „nuit sans centre ni fin“ (RPP: 58) in der narrativen Struktur fortsetzt, indem der Autor die Erzählerin in ihrem Bericht immer wieder auf ausufernde Violenz zurückkommen lässt (vgl. Borst 2012: 291-92). Selbst unterhaltsame Zwischenepisoden wie jene über ihre Tante Célia unter- <?page no="168"?> 156 brechen die Narration über die Gewalt nur zeitweise (vgl. RPP: 95-97). So berichtet die Erzählerin, dass der Tante, die im Haus der wohlhabenden Polynices als Köchin angestellt war, eines Nachts eine Jungfrau mit blauer Schürze erschienen sei. Da man sich die Erscheinung nicht habe erklären können und die Tante außerdem eine hervorragende Köchin geworden sei, habe man gefolgert, dass es sich bei der Jungfrau um „quelque saint gourmand“ (RPP: 96) gehandelt habe. Über ihre eigene Abscheu als Kind gegenüber dem Haus der Polynices und die Anziehungskraft des Küchenmessers gelangt die Betreiberin des Freudenhauses jedoch nach kürzester Zeit zur Gewaltthematik zurück und erinnert daran, „[qu’il] y a toujours une arme quelque part, […] dans une rue, sur une étagère, qui guette tes laisser-aller et qui te dit prends-moi“ (RPP: 97). Vor den Augen des Lesers beschwört Trouillot mit diesen Worten erneut das Bild der Prostituierten Jeanine, die sich mit einem Messer dem wütenden Mob auf der Straße angeschlossen hat und im Blutrausch zurückgekehrt ist (vgl. Kap. 2.4.2 und RPP: 83, 95). 405 Das beständige narrative Insistieren auf dem zentralen Ereignis der Gewalt signalisiert, dass nicht nur die Mädchen der Bordellwirtin, 406 sondern auch die Erzähler des Romans ihre Unschuld verloren haben und die Nacht der Gewalt tatsächlich zum substanziellen Bezugspunkt ihrer Existenz geworden ist. So stellt der Angestellte fest: „N’était réelle que cette horreur à laquelle nous n’avions participé que par ouï-dire, mais qui constituerait désormais la grande référence de nos vies“ (RPP: 77). Die Erzähler bekräftigen immer wieder, dass sie sich von der Bürde des Erlebten in der Folge nicht befreien können (vgl. Borst 2012: 291; Borst 2009), und auch der Taxifahrer betont, dass er die Last der Bilder in seinem Kopf nicht abstreifen kann: „Toutes les nuits je m’endors avec des torrents de balles dans la tête. Avec des images de fusillade. De lynchage“ (RPP: 141). 407 Obwohl sie die traumatische Gewalterfahrung nicht vergessen können, äußern die Erzähler beständig Zweifel an der Zuverlässigkeit ihrer Erinnerung und stellen die eigene narrative Kompetenz immer wieder infrage. Sie schwanken fortwährend zwischen dieser Unschlüssigkeit gegenüber dem Wahrheitsgehalt des eigenen Berichts und einer unumstößlichen Gewissheit, dass die Nacht der Gewalt doch Realität geworden ist. Auch dies spiegelt die Situation des traumatisierten Subjekts: Die Traumaforscherin 405 Vgl. RPP: 108-09 zur emotionalen Episode über den Bettler Arroyo und seinen Stern Vermine, dessen Geschichte am Ende ebenfalls zu der Nacht der Gewalt zurückführt. 406 Vgl. die zu Beginn von Kap. 2.5 zitierte Textstelle in RPP: 59. 407 Bezüglich der Präsenz des Traumas in Form von Bildern vgl. die Herleitung von G. Fischer, der konstatiert, dass die Heimsuchung des traumatisierten Subjekts nicht nur über „fragmentierte[.] Sinnneseindrücke[.]“ (2000: 14) geschehe, sondern insbesondere in Form von Visualisierungen des Erlebten (vgl. ebd.: 14). Vgl. hierzu auch die junge Prostituierte in Rue des pas-perdus, „[qui] voyait la scène [de la mort de son frère] qu’elle me contait, sans doute n’avait-elle vu que ça depuis l’événement […]“ (RPP: 40), bzw. die Figur Irène, die von den Bildern der Vergewaltigung im Nachbarhaus heimgesucht wird (vgl. RPP: 60). <?page no="169"?> 157 Leys spricht von einer „disorder of memory“ (Leys 2000: 2), um zu beschreiben, dass sich das originäre Trauma der bewussten Erinnerung des Betroffenen entziehe (vgl. ebd.: 2). Literarisch umgesetzt wird dies in Rue des pas-perdus über die Zweifel am eigenen Zeugnis, wie sie insbesondere in der Sequenz der Bordellwirtin zu Tage treten (vgl. Borst 2012: 291). 408 Sie bezeichnet sich selbst als ‚radoteuse‘ (vgl. RPP: 118) und „vieille pute qui ne distingue plus le vrai du faux […]“ (RPP: 107), „exilée dans ses trous de mémoire […]“ (RPP: 125). Das Erzählen ihrer „souvenirs qui font mal aux yeux […]“ (RPP: 51) mündet in der Konsequenz in einer unvollständigen Geschichte, die sich angesichts der Exzessivität und Unglaublichkeit des Berichteten ihres eigenen Wahrheitsgehalts nicht mehr sicher sein kann. 409 In Abschnitt 2.3 wurde zudem bereits darauf eingegangen, dass auch der Angestellte vergleichbare Zweifel an seinen Erinnerungen an die Nacht der Gewalt formuliert, wenn er darüber sinniert, ob er mit Laurence geschlafen hat oder nicht (vgl. auch Borst 2012: 291). Zugleich lässt Trouillot seine Erzählerin betonen, dass es Dinge gäbe, „qu’on ne peut pas imaginer, inventer comme ça pour la gloire, pardon, pour l’horreur […]“ (RPP: 51). Auch wenn sie somit selbst an der Authentizität mancher Details zweifelt, wird durch diese Aussage doch unumstößlich dargelegt, dass die geschehene Gewalt trotzdem Wirklichkeit geworden ist. Jedoch fügt die Figur hinzu, dass Worte nicht genügten, „pour décrire l’averse de sang […]“ (RPP: 106), wodurch der Autor darlegt, dass sich ein jeder Bericht der Wahrheit der Nacht - als Metapher für die Konflikte der Post-Duvalier-Ära gelesen - immer nur annähern kann und die restliche Arbeit von der Vorstellungskraft des Rezipienten geleistet werden muss. Diesem obliegt es, jene ‚trous de mémoire‘ der Bordellwirtin mit dem Schrecken zwischen den Zeilen und jenen Bildern der Gewalt zu füllen, die die anderen Erzählsequenzen anbieten oder zum Teil auch nur erahnen lassen. 410 Abschließend lässt sich festhalten, dass eine defizitäre, unvollständige und deliriöse Erzählweise, wie sie in Rue des pas-perdus anzutreffen ist, die Traumatisierung des erzählenden Subjekts widerspiegelt. Eine Überführung des Traumas der Gewalt in bewusste Formen der Erinnerung durch „deutende[.] Bearbeitung“ (Assmann 1999a: 21) und damit seine Integration als Bestandteil der Identität durch Artikulation im Rahmen eines kohärenten Narrativs (vgl. Assmann 2007: 94; Assmann 1999a: 21; 408 Die Inkongruenzen in der Erzählung sind folglich in Rue des pas-perdus nicht Zeichen von ‚unzuverlässigem Erzählen‘ (vgl. Martínez/ Scheffel 1999: 100-04; Nünning 1998; Shen o. J.) im Sinne „eingestandene[r] Unglaubwürdigkeit“ (Nünning 1998: 28), die über bestimmte textuelle Signale wie „Widersprüche, Inkohärenzen oder explizite Thematisierungen von Unzuverlässigkeit von Erinnerungen“ (Allrath/ Surkamp 2004: 154-55) sichtbar wird, zu verstehen, sondern als Folge der Traumatisierung des erzählenden Subjekts. 409 Caruth spricht bezüglich des Traumas auch von einer „crisis of truth“ (1995: 6). 410 Vgl. in diesem Kontext insbesondere die Erläuterungen in Kap. 2.4.2. <?page no="170"?> 158 Saunders/ Aghaie 2005: 20) ist den Erzählern in Rue des pas-perdus nicht möglich. Sie können dem Erlebten keinen Rahmen geben, der der Gewalt Einhalt gebietet. Ihr Erzählen ist vielmehr unmittelbar und verstört. Während der Philologe Ette das Erzählen von Gewalt als „Überlebenstechnik“ (Ette 2010: 319) begreift, „in dem ein stets bedrohtes Leben reflektiert und in Kraft verwandelt wird“ (ebd.: 319), ist das Erzählen in Rue des pas-perdus weniger ein Symbol für Kraft, sondern vielmehr eine Sprachwerdung des verzweifelten Schreis des Gewaltopfers (vgl. Sofsky 2005: 66) und seines Überlebens. Die stilistische Verweigerung einer kohärenten, homogenen Narration durch den Autor überträgt die Erschütterung des erzählenden Subjekts auf den Text, sodass die Gewalterfahrung in die Struktur der Erzählung sickert, den narrativen Diskurs zergliedert und den Zugang des Texts zur traumatischen Gewalterfahrung unvollständig, defektiv und fragmentarisch bleiben lässt. 411 Der Roman lässt die traumatische Erfahrung der Figuren somit ‚unverdaut‘ stehen und widersteht der Versuchung, sie durch Erklärungs- und Zuschreibungsversuche bannen zu wollen. Unbeschönigt treten über die Verstörung des Erzählens stattdessen die Zerstörungsmacht der Gewalt, die Traumatisierung der Überlebenden und die von den Toten hinterlassenen Lücken zutage. „[L]’heure est venue de ne plus faire ‚du joli‘ […]“ (Gyssels o.J: o. S.), so beschreibt Kathleen Gyssels diese „écriture torrentielle“ (ebd.: o. S.) Lyonel Trouillots. Dass der Erzählvorgang - auch wenn er selbst die Gewalt nicht unbeschadet übersteht - dennoch auf eine Dimension jenseits der Gewalt verweisen kann, wird im abschließenden Kapitel der Analyse erörtert. 2.6 ‚Les histoires pas perdues‘: Erzählen und Erinnern Angesichts der in Rue des pas-perdus unermüdlich evozierten Gewaltexzesse, welche die Handlung, Motive und Erzählstruktur des Romans nachhaltig prägen, drängt sich abschließend die Frage auf, inwieweit Trouillot die Gewalt angesichts der Zerrüttung des narrativen Diskurses nicht endgültig über das Erzählen obsiegen lässt. Inwieweit braucht die Literatur grundsätzlich, so ist an dieser Stelle des Weiteren zu fragen, ein Happy End, um die Gewalt über die Ebene des Symbolischen einzuhegen? 411 Zur Traumatisierung des erzählenden Subjekts bei Trouillot vgl. auch den Ich- Erzähler Colin in Les Enfants des héros, der mit seinem rastlosen Bericht - bestehend aus kapitelähnlichen, unnummerierten Sequenzen ohne Absatz - kontinuierlich aus der chronologischen Abfolge der Ereignisse ausbricht und dessen Trauma sich schließlich in einer hysterischen Krise niederschlägt, die von einem Erzählen widergespiegelt wird, das Geschwindigkeit aufnimmt, dessen Sätze immer kürzer werden und das so ebenfalls in aneinandergereihte, parataktische Satzfragmente zerfällt (vgl. u. a. L. Trouillot 2007a: 97-100; hierzu John 2010). <?page no="171"?> 159 Die Antwort auf diese Frage findet sich in Rue des pas-perdus selbst, so ist dort Folgendes zu lesen: „[L]a vieille pute a dit à la jeune pute qui pleurait, dors, mon enfant, et la jeune pute ne s’est pas serrée contre elle en lui disant maman car ce n’était pas un roman“ (RPP: 72). In diesem Bild drückt sich die Weigerung aus, zu behaupten, Fiktion sei in der Lage, ein Phänomen einzuhegen, um dessen Beherrschbarkeit die haitianische Gesellschaft seit langer Zeit ringt (vgl. Hurbon 2002: 116). Als größtmögliches Kompliment für sein Schreiben betrachtet Trouillot deshalb, so kommentiert er in einem Interview, nicht das Lob, „que j’écris beau. Mais que j’écris vrai“ (L. Trouillot in: Marsaud/ L. Trouillot 2009: o. S.). Während in Kapitel 1.2.4 hergeleitet wurde, dass er eine neue Exotisierung Haitis als Ort der Gewalt zwar grundsätzlich ablehnt (vgl. Djebar/ L. Trouillot 2006: 37), so zeigt das hier zitierte Interview doch, dass er sich der Komplexität der Problematik trotz alledem sehr wohl bewusst ist (vgl. Marsaud/ L. Trouillot 2009). Bei der Lektüre des Romans bleibt durch die Verweigerung eines glücklichen Ausgangs jedoch ein gewisses Unbehagen zurück, das mit der Sehnsucht der Leserschaft nach einem Happy End zusammenhängt, welches es leichter machen würde, die Schrecken auszuhalten, von denen der Roman über weite Strecken erzählt. Rue des pas-perdus konfrontiert den Rezipienten explizit mit diesem Unbehagen und doch ist es gerade das Erzählen der Exzessivität der Gewalt, das dafür spricht, dass die Fiktion, wenngleich sie sich über weite Strecken vergeblich an der Gewalt abmüht, doch nicht gänzlich vor ihr in die Knie geht. Dieses zwar verstörte, aber dennoch unverdrossene Erzählen repräsentiert vielmehr dahingehend einen Akt der Auflehnung, „un geste à la fois d’opposition et de résistance nécessaire“ (Vitiello 1998: 111), weil ungeachtet der Gewalt immer noch erzählt wird. Es gilt deshalb, Rue des pas-perdus jenseits der vielen Toten und trotz der Unvorstellbarkeit der Geschehnisse der Nacht auch als eine Geschichte des Überlebens zu lesen. Denn der Text verweist nicht nur auf die vielen Verluste, die in Form toter Körper das fiktionale Universum pflastern, sondern zugleich auf das Überleben der Erzähler. Er oszilliert somit zwischen dem Schweigen der Toten und Traumatisierten, welches sich in Form von Auslassungen und Lücken in den Text eingebrannt hat, und den Worten der Überlebenden, die daran erinnern, dass die Gewalt sie nicht vernichtet hat. Ruft man den Romantitel erneut in Erinnerung, weckt das Bild der verlorenen Schritte als Memoria-Metapher auch die Spuren der Toten im Text. Verstärkt wird dieser Effekt durch den darin mitklingenden Ausdruck des ‚salle des pas perdus‘, an den der Romantitel angelehnt ist und der dem Nouveau Petit Robert (1993: 1599) zufolge eine Wartehalle in öffentlichen Gebäuden wie einem Bahnhof oder einem Amt bezeichnet. Mit dem Bild der weitläufigen Halle, in dem das Echo der Schritte widerhallt, wird die Verlorenheit des Subjekts in Trouillots Roman evoziert. Analog zur tatsächlichen Etymologie des Elements ‚pas perdus‘, das eigentlich die <?page no="172"?> 160 ‚nicht Verlorenen‘ bezeichnet, 412 hält die Erzählung in Rue des pas-perdus das Schicksal der vielen Opfer, die nur als toter Körper in der Erzählung auftauchen, präsent, indem durch das Fehlen ihrer Geschichten symbolisch gerade ihr Verlust bezeugt wird. Sie hinterlassen auf diese Weise eine Spur im Text und sind ‚pas perdus‘. 413 Dem Roman gelingt es durch diese semantische Ambivalenz, die sich erst auf den zweiten Blick offenbart, die Symbolik der ‚rue des Pas-Perdus‘, die in Kapitel 2.2 hergeleitet wurde, auf der Ebene des Erzählens neu zu besetzen. War die ‚rue des Pas-Perdus‘ zunächst Sinnbild der Wiederkehr gewaltsamer Handlungen, der Ausweglosigkeit und folglich des endgültigen Triumphs der Gewalt, so ist sie vor dem Hintergrund des narrativen Akts als Metapher der Bewahrung von Erinnerung umzudeuten. Sie spricht die Gewalt zwar einerseits schonungslos aus; andererseits sorgt sie dafür, dass die Opfer nicht ‚verloren gehen‘. Sie werden nicht vergessen, weil jemand zurückgeblieben ist, um zu bezeugen - und wenn dies auch nur hinsichtlich des Verlusts ihres eigenen Zeugnisses geschieht. Das Überleben des erzählenden Subjekts ist zentral, weil es der Gewalt, die zum beobachtenden Dritten über die am Körper verübten Akte spricht (vgl. Blair 2005: 47; Reemtsma 2009: 467), 414 etwas entgegensetzt und ihre zerstörerische Botschaft mit dem Erzählvorgang als Zeichen des Überlebens zwar nicht auslöscht, aber doch ergänzend überschreibt. Der Text evoziert damit nicht mehr nur den Körper als Ort der Demonstration der (All-)Macht des Täters über das Opfer, sondern lässt zugleich über den narrativen Diskurs die Verstörung des traumatisierten Beobachters zum Ausdruck kommen, auch wenn dessen Zeugnis nur unzureichend an die Erfahrung des eigentlichen Opfers heranreichen kann. Indem das überlebende Subjekt durch sein Erzählen somit bezeugt, wird nicht mehr allein 412 Zur Herkunft des Begriffs ‚salle des pas perdus‘, mit dem im 19. Jahrhundert der Ort im französischen Parlament bezeichnet worden sei, wo diejenigen ‚warteten‘, die wiedergewählt werden konnten und deshalb ‚nicht verloren‘ gewesen seien, vgl. Subiger 2002; Zweidler 2012. Etymologisch gesehen haben die ‚pas perdus‘ im Ausdruck ‚la salle des pas perdus‘ folglich nichts mit ‚verlorenen Schritten‘ zu tun. 413 Eine ähnliche Flüchtigkeit drückt de Certeau durch das Bild der ‚pas perdus‘ in seiner Studie zum Raum aus, wo er vom „parler des pas perdus“ (1990: 147) als Bewegungen spricht, die den Raum gestalten und als Spuren der ursprünglichen Bewegung die Stadtlandschaft entstehen lassen (vgl. ebd.: 147). Der Weg, den sich der Fußgänger bahne, könne zwar auf Karten abgetragen werden, würde aber immer nur auf die Abwesenheit dessen, was passiert sei, verweisen. Der Akt des Vorbeigehens selbst hingegen würde verloren gehen (vgl. ebd.: 147). Auch hier dienen die ‚pas perdus‘ als Metapher für das Nicht-Materielle und die Spur, die sich nicht fassen lässt. Vgl. Brodziak 2013a: 107 zu Trouillots Bestreben, diejenigen Geschichten in seiner Fiktion erlebbar zu machen, die im offiziellen Diskurs verloren zu gehen drohen. 414 Gewalt per se ist laut Nedelmann immer schon „Gewaltinteraktion“ (1997: 67) und stellt einen „Akt der Kommunikation“ (Reemtsma 2009: 467) dar, wie in Kap. 1.1.1 angesichts der Möglichkeit, mit Reemtsma den Zeugen als abstrakte (imaginierte) Entität zu denken, der den Akt der Gewalt nicht sehen, sondern nur um ihn wissen müsse (vgl. ebd.: 107, 470, 472), skizziert wurde. <?page no="173"?> 161 die Gewalt über den Körper thematisiert, sondern über den narrativen Diskurs auch das Überleben. Dieser hegt die Gewalt allein dadurch ein, dass er sie überdauert und ihr einen Rahmen verleiht, innerhalb dessen der Rezipient ihre Zerstörungsmacht im Schutze der Fiktion aushalten kann. Diese Realität jenseits der Gewalt spielt gerade bezüglich der Figur Ducarmel Désiré eine tragende Rolle. Er steht als überlebendes Opfer für all jene, die sich im Gegensatz zu Jeanine und den anderen Prostituierten, welche dem allgemeinen Gewaltrausch verfallen sind, nicht von der Gewalt haben anstecken lassen und sich der grassierenden Entsolidarisierung widersetzen. Während in Rue des pas-perdus das Opferwerden am Beispiel von Ducarmel Désiré als willkürlich beschrieben und hierdurch unterstrichen wird, dass die Gewalt nahezu jeden treffen kann, verhält sich dies bezüglich der Täter anders. Obgleich diese meist eine anonyme, namenlose Masse darstellen (vgl. z. B. RPP: 89), 415 was suggeriert, dass jeder zum Täter werden kann (wie etwa anhand der Prostituierten veranschaulicht wird; vgl. u. a. RPP: 83), so lässt der Roman doch keinen Zweifel daran, dass die Entscheidung, zur Gewalt zu greifen, eine bewusste ist. Dies deutet sich bereits in der Zurückhaltung der Prostituierten Charlotte an, die zögert, sich den anderen anzuschließen, wenn diese, von allen Hemmungen befreit, zum Töten auf die Straße drängen (vgl. RPP: 83). Konkret veranschaulicht wird die Möglichkeit zur bewussten Entscheidung aber, als Ducarmel Désiré sein unterschwelliges Rachebedürfnis besiegt und die Aufforderung von anderen, sich an den Plünderungen und Lynchmorden zu beteiligen, deutlich ablehnt: „Et puis, même si j’avais couru aussi vite que les gosses, j’aurais pas pu“ (RPP: 88). 416 Mit diesen Hemmungen, sich dem Gewalt-Reigen anzuschließen, sticht er aus den Menschenmassen hervor, die sich der Gewalt und ihren persönlichen Rachegelüsten hingeben und dabei die Achtung vor dem Anderen verlieren, wie die entfesselte Grausamkeit zeigt, mit der den Opfern grundsätzlich begegnet wird, oder auch die bereits erwähnte Szene, in der sich ein Mann an dem schwelenden ‚cadavre marassa‘ eine Zigarette anzündet (vgl. RPP: 101). Statt selbst zu morden, begegnet Ducarmel Désiré der Gewalt mit seinem Erzählen. Das utopische Moment, welches wie am Beispiel des Liebespaares gezeigt im Roman scheitert, kann somit nur noch im Erzählprozess selbst liegen: Nur dieser mündet nicht wieder nur in Gewalt, sondern überliefert auch die Erinnerung an das Trauma der Überlebenden und den Verlust der Opfer. 417 Wie bereits eingangs festgestellt, übersteht auch das Erzählen die Gewalt jedoch nicht unbeschadet, sondern geht zerrüttet daraus hervor. Ungeachtet dessen gelingt es der Gewalt jedoch nicht, die Narration voll- 415 Eine Ausnahme bildet die in Kap. 2.4.3 erwähnte Liste. 416 In dieser Hinsicht besteht ein prägnanter Unterschied zu Lahens’ Protagonistin Joyeuse, die mit ihrem Racheverlangen hadert; vgl. hierzu Kap. 3.5.1. 417 Vgl. Trouillots Aussage in Dorcely/ L. Trouillot 2007: 168, dass die Kunst in Haiti dem Streben nach Ideen, Sinn und Utopien noch nicht gänzlich abgeschworen habe. <?page no="174"?> 162 ständig zu vernichten. 418 Dies ist bedeutsam, denn das Erzählen der traumatischen Gewalterfahrung rüttelt wach und macht darauf aufmerksam, dass das Problem nicht weiter ignoriert werden darf, wie es beispielsweise das symblische Eindringen des Wissens um die Gewalt in scheinbar sichere Räume wie den Rückzugsort des Angestellten zeigt. Um auch den (haitianischen wie nicht-haitianischen) Leser ‚aufzuwecken‘, macht sich der Text die verstörende Wirkung der Gewaltbilder zunutze, denn, so formuliert Trouillot einen grundlegenden Gedanken seines Schreibens in Bicentenaire, „[l]es réveils étaient douloureux, violents […]“ (L. Trouillot 2006: 11). Er appelliert mit diesen Worten an das Individuum, sich dem schmerzvollen Prozess des Aufwachens aus einer Situation des Nichtwissens und Verdrängens zu stellen (vgl. Borst 2013b: 236) und dem Anderen wieder zuzuhören, wie er dies auch in seinem programmatischen Text „Écrire pour Haïti. L’invention du prochain“ (2011) einfordert. 419 Dass die Geschichten der Opfer häufig ungehört verhallen und die haitianische Gesellschaft selbst das Zuhören vielfach verweigert, wird deutlich anhand der ablehnenden Haltung der Zwillinge, die die Worte ihres Großvaters Ducarmel Désiré als Geschwätz abtun - „c’est le vieux qui pleure sur sa jambe“ (RPP: 113) -, und mittels der Verweise auf all jene, deren Geschichte ebenfalls kein Gehör findet - „en cherchant la Toyota, […] j’ai entendu des bribes de récits des gens qui parlaient entre eux. Beaucoup ne parlaient à personne. Ils parlaient tout seuls“ (RPP: 113; Herv. J. B.). Die Verweigerung des Zuhörens illustriert, dass der traumatischen Gewalterfahrung im Roman auf gesellschaftlicher Ebene bisher nicht angemessen begegnet wird. Auch der Diskurs der Erzähler richtet sich zwar (im Falle der Bordellbetreiberin und des Taxifahrers) vordergründig an einen Ansprechpartner, erzählt wird jedoch einzig ihr Monolog; eine Antwort des narrativen Adressaten bleibt aus. 420 Dies wirft die Frage auf, ob diese Verantwortung somit bei der Leserschaft liegt, die vom Text auf die Suche nach einer möglichen Antwort ‚geschickt‘ wird. Über die Worte der Bordellwirtin kritisiert Trouillot deutlich die Abgestumpftheit der Menschen, wenn er sie klagen lässt, „[que] personne ne s’arrête pour la beauté ou l’horreur du spectacle“ (RPP: 100). 421 Diese Aus- 418 Anders verhält es sich in G. Victors À l’angle des rues parallèles, wo auch die Erzählung im Chaos versinkt und das narrative Delirium auf den letzten Seiten versinnbildlicht, dass auch Sprache ihren Sinn verloren hat (vgl. G. Victor 2003a: 185-86). Der Roman zeigt somit deutlich den unvermeidbaren Niedergang einer Gesellschaft, der einsetzt, wenn man der Gewalt - wie der Protagonist Éric, der zum Massenmörder wird - endgültig verfällt. An die Stelle des überlebenden Opfers tritt deshalb bei Victor der Täter, der einem Wahn der Violenz erlegen ist, sodass auch der Text - symbolisiert durch den Sinnverlust von Sprache im finalen Delirium - ‚zerstört‘ wird. 419 Zur Bedeutung des Zuhörers bei der Aufarbeitung traumatischer Erfahrungen vgl. Kap. 1.1.2 und 2.5.2 sowie Laub 2000b. 420 Vgl. Kap. 2.5.2 sowie erneut L. Trouillot 2011b. 421 Vgl. Vété-Congolos Interpretation des Motivs der erblindeten Spiegel in G. Victors À l’angle des rues parallèles als Symbol dafür, dass die Menschen nicht mehr (hin)sehen <?page no="175"?> 163 sage muss dem von der im Text ausbrechenden Gewalt verstörten Leser schlechthin absurd erscheinen, macht es doch die Ästhetik des Romans unmöglich, die präsentierten Exzesse zu ignorieren. Der Rezipient wird durch derlei Kommentare beständig mit der Frage konfrontiert, welche Empfindungen er selbst angesichts der extremen Darstellungsformen in Rue des pas-perdus verspüren sollte bzw. tatsächlich verspürt. Er wird dazu aufgefordert, sich gedanklich damit auseinandersetzen, was ein Individuum erlebt haben muss, dass derartige schwer erträgliche Bilder zur ‚Normalität‘ geworden sein könnten. Die das fiktive Universum bevölkernden Figuren scheinen die Aufgewühltheit des Lesers somit längst nicht mehr in der gleichen Weise zu teilen, ist für sie die Gewalt doch bereits zum Alltag geworden, so suggeriert der Text. 422 Er greift damit auf die traurige Tatsache zurück, dass die Unruhen der Post-Duvalier-Ära die Menschen in Haiti mit einer Abfolge von Gewaltausbrüchen konfrontiert haben, sodass sich der haitianische Soziologe Hurbon im Jahr 2002 veranlasst fühlte zu betonen, dass es bereits Normalität geworden sei, einen Toten in den Straßen Haitis zu sehen (vgl. Hurbon 2002: 117). 423 Der Text erinnert somit zum einen die haitianische Gesellschaft daran, dass sie trotz der traumatischen Erfahrungen der letzten Jahre bereit sein muss, sich weiterhin aufrütteln zu lassen, dass sie die Gewalt nicht hinnehmen und resignieren darf. Zum anderen richtet sich die Kritik in Rue des pas-perdus auch an das (westliche) Ausland, dem im Roman nicht nur ein Interesse an der Bestätigung der eigenen voreingenommenen Meinung über Haiti, sondern zudem eine gewisse Schaulust unterstellt wird - „[ils] te demandent de les conduire vers les quartiers les plus pauvres“ (RPP: 100), so ist in Rue des pas-perdus zu lesen. Die unterstellte Erregung mancher Ausländer am Leid der Anderen wird im Text als äußerst geschmacklos abgeurteilt. Im gleichen Atemzug missbilligt der Roman aber auch jene „compatriotes qui reviennent de l’étranger avec un accent et des connaissances“ (RPP: 100), deren vermeintliche ‚connaissances‘ jedoch vor dem Hintergrund der Gewalterfahrung der im Land Verbliebenen verblassen. 424 Vielmehr macht der Autor des Romans klar, dass der Außen- (vgl. Vété-Congolo 2011: 124), und der Rolle der Literatur in diesem Kontext, „[qui] se charge d’imposer un regard […]“ (ebd.: 124). 422 Vgl. auch Kap 2.5.1 zur kritischen Bewertung der Abgestumpftheit von Létoilé. 423 Vgl. folgende Stelle aus Prophètes autobiografischem Text Le reste du temps, in der sie die Situation um den Mord an Jean Dominique im Jahr 2000 beschreibt: „Les trottoirs de notre ville certains matins étaient des lits étranges où se reposaient des corps troués. Yeux exorbités. Bouches ouvertes comme voulant prononcer un dernier mot. De la viande et de sang pour les mouches. Du spectacle pour les chômeurs qui venaient à loisir regarder pendant les longues heures le cadavre resté sur le trottoir. Plus le spectacle était long, plus il était banal. On ne s’étonnait plus, ou si peu, de voir des corps étalés au soleil […]“ (Prophète 2010a: 37); vgl. ferner Prophète 2007: 50-51; Dominique 2008: 65-66. 424 Die verstörte Perspektive des aus der Diaspora Zurückgekehrten angesichts des Elends in Haiti wird auch in Lahens’ Kurzgeschichte „La ville“ aus Tante Résia et les <?page no="176"?> 164 stehende gar nicht um die tatsächlichen Ausmaße der traumatischen Gewalterfahrung wissen könne, insbesondere, da es ihm jederzeit frei stehe, das Universum der Gewalt wieder zu verlassen, während der flehende Wunsch der Figur Irène, „[d’être] fai[te] voyager“ (RPP: 61), ins Leere läuft. Wieder aufgegriffen wird diese Kritik über die Figur des Journalisten „avec la tête de Time Magazine“ (RPP: 61), welche die Perzeption Haitis durch das Ausland unmissverständlich problematisiert. 425 Unverkennbar zeigt sich dies, als Irène ihm davon berichtet, wie sie Soldaten dabei beobachtet habe, die im Nebenhaus ein Baby aus dem Fenster geworfen und einen Vater gezwungen hätten, seine Tochter zu vergewaltigen (vgl. RPP: 60-61 und Kap. 2.1.1): „Quand Irène a raconté cela au journaliste […], il a dit shit, j’aurais voulu faire des photos et lui a offert de l’argent pour qu’elle raconte son histoire dans les détails […]“ (RPP: 61). Er wird in diesem Zusammenhang als Figur entworfen, die das Zeugnis der jungen Frau jenseits der von ihr berichteten skandalösen Inhalte nicht interessiert. Der Autor mahnt auf diese Weise an, dass an das ausländische Presse- Publikum mithin auch nicht die traumatische Dimension des Ereignisses vermittelt werde, sondern lediglich das Sensationspotenzial der Nachricht zähle, womit der Roman kritisch auf das von Stereotypen geprägte, im Ausland dominierende Haiti-Bild verweist. 426 Ironisch spiegelt sich dies auch in einer anderen Äußerung, die der Autor der Bordellwirtin in den Mund legt: Diese fragt sich, ob die Preise, die die Journalisten für Fotos zahlten, wohl variierten „de la fillette qui sourit avec son seau d’eau sur la tête au mur dentelé, délabré, sur lequel un laveur pressé a laissé quelques traces de sang“ (RPP: 54). Damit von der Gewalt im globalen Bewusstsein jedoch mehr als nur Blutspuren an einer Mauer zurückbleiben, die das eigentliche Opfer aus der kollektiven Erinnerung streichen, und Haiti nicht zu einer reinen dieux reflektiert (vgl. z. B. Lahens 1994: 113, 118); vgl. ebenso Laferrière 2009; Ollivier 1995. 425 Zur Kritik eines vorgefertigten Bilds von Haiti als Ort der Gewalt vgl. folgenden Auszug aus dem Roman: „A la vérité, il n’y a ni plus ni moins de vent ici qu’ailleurs, ni plus ni moins d’amour ici qu’ailleurs, ni plus ni moins de crapulerie ici qu’ailleurs, seulement une grande misère qui donne dans la métaphore refroidie, le verbiage à la sauce magique comme qui dirait la chance qui passe […]“ (RPP: 14). Ähnliche Kritik übt Trouillot in seinen anderen Romanen, indem er dort Ausländer als Figuren entwirft, die auf naive Weise die in Haiti herrschende Armut und Gewalt gänzlich ausblenden oder verherrlichen (vgl. z. B. L. Trouillot 2007a: 124; L. Trouillot 2011a: 118). 426 Für eine Kritik am Voyeurismus ausländischer Pressevertreter vgl. prägnante Szenen aus anderen haitianischen Gegenwartsromanen wie folgende: „Un homme se précipite sur le bûcher. Plonge la main au milieu des flammes. En ramène un avant-bras tout fumant. Il se le met entre les dents avant d’offrir un sourire grimaçant aux objectifs des reporters étrangers“ (Dalembert 2005: 122); „Hyènes, chacals et vautours se précipitent à l’intérieur du cirque, flairant l’imminence d’un massacre pour un festin de chair et de sang“ (Manuel Étienne 2001: 81). <?page no="177"?> 165 Pressemeldung degradiert wird, kommt im literarischen Text das überlebende Subjekt zu Wort, dessen Erzählen die Leserschaft an das wahre Ausmaß der Gewalt erinnert. Es spielt hier eine tragende Rolle, denn auch wenn die Bestandsaufnahme in Rue des pas-perdus analog zu Gérards Bericht ein „récit […] fantasque“ (RPP: 62) sein mag, so bleibt doch auf einer abstrakten Ebene immer noch der Schrecken des „horreur […] réelle“ (RPP: 62) bestehen. Auch wenn es sich bei Rue des pas-perdus somit um Fiktion handelt, spricht der Roman doch ungeachtet dessen unbeschönigt das unumstößliche Trauma einer Gesellschaft „au bout de souffle“ (Pessini 2005: 117) aus, die auch nach dem Ende der Diktatur 1986 nicht zur Ruhe gekommen ist. <?page no="178"?> 166 3 Yanick Lahens’ La couleur de l’aube (2008): Erzählen zwischen Trauma, Selbstermächtigung und Trauer „Alors les gens me disent c’est très dur, je dis mais le pays est très dur.“ (Lahens in: Spear/ Lahens 2009: 20: 53-20: 56 Min.) Lahens’ Roman La couleur de l’aube setzt ein, als die Figur Angélique entdeckt, dass ihr Bruder Fignolé in der Nacht zuvor nicht nach Hause gekommen ist. Die von der jungen Frau und ihrer Schwester Joyeuse abwechselnd aus einer Ich-Perspektive erzählten 30 Kapitel thematisieren den folgenden Tag, der von der Sorge um den Bruder geprägt ist und schließlich mit dem Wissen um seinen gewaltsamen Tod endet, der im Anschluss von einem weiteren Erzähler in der dritten Person im ‚Epilog‘ 427 als Retrospektive geschildert wird. Ausgehend von dieser zentralen Absenz (vgl. Carré 2009: 24), eröffnet der Roman der Leserschaft im Verlauf der Erzählung einen Einblick in eine zerrüttete haitianische Gesellschaft, deren Alltag durch eine allgegenwärtige, traumatische Gewalterfahrung geprägt ist, was sich in einem narrativen Diskurs niederschlägt, der von der Unaussprechbarkeit des Traumas wie auch der Notwendigkeit, zu trauern und sich des eigenen Schicksals aktiv und jenseits von Gewalthandeln zu ermächtigen, zeugt, wie in den folgenden Kapiteln anhand einer Analyse unterschiedlicher Motive und Erzählmodi herausgearbeitet wird. 3.1 Gewalt als Konstante in der haitianischen Geschichte Quelqu’un un jour dans cette ville a dû donner le signal du désordre et depuis il n’y a plus eu de pause. […]. L’ordre du temps, de l’espace, a été depuis à jamais retourné. Et aujourd’hui cette ville continue d’avancer dans l’horreur. (CA: 159-60) Fignolés Verschwinden hängt eng mit einem gesellschaftspolitischen Konflikt zusammen, der den Hintergrund der Romanhandlung bildet und von den Erzählerinnen beständig aufgerufen wird. Selbst wenn die Namen realhistorischer Personen nicht genannt werden, lassen die Bezeichnungen der einzelnen Parteien keine Zweifel daran, dass auch Lahens in ihrem 427 Dieses letzte Kapitel ist mit dem Titel ‚En guise d’épilogue‘ überschrieben, weshalb in der folgenden Analyse der Begriff ‚Epilog‘ in Anführungszeichen verwendet wird. <?page no="179"?> 167 Roman den Machtkampf zwischen der ‚Lavalas‘-Bewegung und ihren politischen Gegnern - insbesondere in diktatorialen Strukturen verhaftete Gruppen wie den Neo-Duvalieristen - abbildet. 428 Der Ausdruck ‚Prophète-Président‘ (vgl. z. B. CA: 37) spielt mehr als unverblümt auf den zweimaligen haitianischen Präsidenten Jean-Bertrand Aristide an, während die Figuren des Präsidents „à vie“ (CA: 103) und seines Sohns (vgl. CA: 102) auf die Diktatoren François und Jean-Claude Duvalier Bezug nehmen. Historisch ist die in La couleur de l’aube erzählte Geschichte somit - wie auch Rue des pas-perdus - in der Post-Duvalier-Ära zu verorten. 429 Diese wird von der Autorin als eine Zeit der politischen Wirren präsentiert, die von einer Atmosphäre der Gewalt und einem Klima der Unsicherheit dominiert wird (vgl. Fatton 2007: 212). 430 In seiner Darstellung spiegelt der Roman die realhistorische Situation des Landes wider, das nach einer kurzen Zeit der Euphorie nach dem Ende der Jahrzehnte andauernden diktatorialen Herrschaft der Duvaliers 1986 rasch wieder in gewaltsamen Ausschreitungen versank (vgl. Abbott 1991: 332; Fatton 2007: 196-97). Gewalt wird von Lahens in ihrem Roman als von den jeweiligen Akteuren unabhängige, unveränderte Konstante präsentiert. 431 Dies kommt sowohl in der beinahe identischen Benennung der politischen Agitatoren durch das Begriffspaar „Prophète-Président“ (CA: 37) und „autre Prophète-Président“ (CA: 103) als auch in der grundsätzlichen Vagheit der Bezeichnungen zum Ausdruck. Der Roman erweckt zudem den Eindruck, dass sich an der grassierenden Gewalt trotz des politi- 428 Eine prägnante Zusammenfassung der Wirren dieser Zeit, der beständigen Machtwechsel sowie der damit einhergehenden Gewalt findet sich in Fatton 2007: 196-224. Vgl. außerdem die in Kap. 1.2.1 aufgeführten zeitgeschichtlichen Studien. 429 Die in diesem Zusammenhang zitierte Begrifflichkeit findet sich auch in anderen Texten von Lahens, wie u. a. Guillaume et Nathalie. In La couleur de l’aube wird angegeben, dass Fignolé zum Zeitpunkt seines Verschwindens und somit zu Beginn der Handlung des Romans einundzwanzig Jahre alt sei (vgl. CA: 182). Zum Ende der Regierung des Sohns des anderen ‚Prophète-Président‘ - d. h. ‚Baby Doc‘ - wiederum sei er knapp dreizehn gewesen (vgl. CA: 102-03). Die Erzählgegenwart des Romans wäre somit rechnerisch Mitte der 1990er-Jahre im Anschluss an die Militärdiktatur unter Cédras (1991-1994) anzusiedeln, da die Rede davon ist, dass der ‚chef du parti des Démunis‘ bereits wieder ins Land zurückgekehrt sei (vgl. CA: 52), was auf die Wiedereinsetzung des demokratisch gewählten Präsidenten Aristide mithilfe der US- Amerikaner anspielt, der nach nur wenigen Monaten im Amt gestürzt worden war und das Land hatte verlassen müssen (vgl. z. B. Dupuy 2007). 430 Zu den beständigen politischen Machtwechseln vgl. Fatton 2007: 196-224 und die Auflistung der Gründe für die Regierungswechsel in Ballard 1998: 224. Für eine Darstellung der politischen Unruhen in den Jahren nach dem Sturz der Duvalier-Diktatur in Lahens’ Werk vgl. u. a. „La folie était venue avec la pluie“ und „Lave ta mémoire à grande eau“ (beide in La folie était venue avec la pluie). 431 Eindrücklich kommt eine solche zyklische Sicht der haitianischen Geschichte auch in Dalemberts L’autre face de la mer zum Ausdruck, in dem diese durch die Zeugnisse unterschiedlicher Erzählerfiguren zu den violenten Exzessen im Kontext der ‚Matanza‘ in der Dominikanischen Republik, der Duvalier-Diktatur und ihres Niedergangs als Geschichte der Gewalt entworfen wird. <?page no="180"?> 168 schen Wechsels nichts geändert habe. Die Ära der Diktatur und der ‚Post‘- Diktatur werden als ineinander übergehend gezeigt, durch die Unabänderlichkeit der Ubiquität der Gewalt verbunden, 432 die von Lahens durch eine Fülle an negativen Bildern von Haiti wie „poste avancé du désespoir“ (CA: 115), „descente aux enfers“ (CA: 115), „désordre“ (CA: 159) oder „enfer à ciel ouvert“ (CA: 64) beschworen wird. Versinnbildlicht wird die Kontinuität der Gewalt in der Doppelung des Motivs des Verschwundenen. So spiegelt die Figur Fignolé, deren Verbleib zu Beginn ungeklärt ist, bis sich zum Ende des Romans herausstellt, dass er von bewaffneten Männern nächtens exekutiert wurde, das Verschwinden des Onkels Octave, welches sich noch während der Duvalier-Diktatur zugetragen hat: 433 „Octave fut emmené par ces deux hommes et nous ne l’avons jamais revu“ (CA: 105). Die Geschichte des Onkels wird in La couleur de l’aube lediglich angedeutet in der Charakterisierung jener beiden Männer, die ihn mitnehmen (Merisié und Gwo Louis), als sadistische Folterer und „homme[s] des basses œuvres […] [et] des œuvres encore plus basses […]. Plus basses que les plus basses donc“ (CA: 103-04). 434 Auch wenn die Formulierung ‚ne jamais revu‘ keine klare Auskunft über Octaves Verbleib gibt, lässt sich doch sein Schicksal angesichts des Verweises auf Merisiés Fähigkeit „à infliger des tortures hors du commun“ (CA: 103) erahnen. Zugleich prahlt Merisié bedrohlich mit seiner eigenen Gewalttätigkeit vor dem damals heranwachsenden Fignolé und Octaves Söhnen: Il menaça de les mettre en morceaux. De leur casser les os. De leur trancher la gorge. De leur défoncer la poitrine et d’en extirper le cœur. De leur ouvrir le ventre et d’en sortir les viscères et les intestins. Quant à leur sexe, pénis et testicules compris, il leur promit […] de l’assaisonner de sel et de piment et de le manger avec du riz aux haricots rouges. (CA: 104-05) Die Bilder, die hier aufgerufen werden, füllen unweigerlich die durch das abrupte Ende der Narration über Octaves Schicksal entstandene Lücke in 432 Zur Fortsetzung repressiver Machtstrukturen nach dem Sturz der Duvalier-Diktatur vgl. Lahens in einem Interview: „Mais il n’est pas question pour moi d’avoir une préférence pour une dictature plutôt que pour une autre. De Duvalier à Aristide, il s’agit du même moule de culture politique (avec des variantes contextuelles) qui nous vaut d’être là où nous sommes aujourd’hui“ (Lahens in: Ménard/ Lahens 2011: 194). 433 Zeitlich wird die Episode um Octaves Verschwinden am Ende der Regierung „du fils de l’autre Prophète-Président“ (CA: 102) verortet, wodurch auf Jean-Claude Duvalier angespielt wird, der seinen Vater politisch beerbte. Zur Duvalier-Diktatur vgl. z. B. Abbott 1991; M.-R. Trouillot 1990a. 434 In ihnen ist eine Anspielung auf Duvaliers Miliz der ‚Tonton Macoutes‘ zu erkennen, die Duvalier zum Machterhalt und der Unterdrückung der politischen Gegner gedient hat (vgl. z. B. Abbott 1991: 7; Johnson 2008). <?page no="181"?> 169 der Erzählung. Während Lahens die Erzählinstanz Angélique Octaves Geschichte nach der Formulierung ‚nous ne l’avons jamais revu‘ nicht weiter ausführen und sie stattdessen erneut in die Erzählgegenwart der 1990er- Jahre zurückspringen lässt (vgl. CA: 105), hallen die von Merisié gegenüber den Jungen beschworenen Gewaltszenarien unterschwellig nach. Durch den Zeilenumbruch, der auf die einzelnen beschriebenen Gewalttaten in der zitierten Textstelle folgt, lässt deren Auflistung dem Leser auch rein typografisch ‚Raum‘, um die fehlende Auflösung von Octaves Verbleib mit den vom Text angebotenen Szenarien zu füllen. Das Verschwinden des Onkels und seine mögliche Ermordung wiederholen sich in Fignolés gewaltsamem Tod und die von der Autorin konstruierte Analogie legt nahe, dass der formale Machtwechsel nach dem Sturz der Diktatur für die Menschen und ihren Alltag kaum Veränderung gebracht hat. Die Gewalt setzt sich stattdessen unverändert fort, ganz gleich, welche Akteure gerade die Zügel der Macht in der Hand halten. 435 Die Positionen der Kontrahenten werden entsprechend auch nur äußerst vage beschrieben und Fignolés politisches Engagement lässt sich nur anhand sporadischer Bemerkungen der Erzählerinnen zusammensetzen. Die konkreten Ideale, für die er gestorben ist, bleiben hierbei genauso im Dunkeln wie die Frage, durch wessen Hände genau er letzten Endes zu Tode kam. 436 Lahens ist in ihrem Roman folglich weniger daran gelegen, herauszuarbeiten, dass eine spezifische Gruppierung Schuld trägt, sondern zu zeigen, dass Gewalt solange als Konstante in der Geschichte fortbestehen wird, wie die Akteure immer wieder die offene Konfrontation suchen. Dass ein ewiger Kreislauf der Gewalt besteht, arbeitet der Roman heraus, indem Octaves Verschwinden als Auslöser für Fignolés politisches Engagement genannt wird (vgl. CA: 102), was ihn wiederum an Plünderungen (und möglicherweise gar Gewaltakten, vgl. hierzu Kap. 3.2) teilnehmen lässt und schließlich zu seinem eigenen Tod führt. Wenn Lahens deshalb Angélique über ihren Bruder Fignolé sagen lässt „De cette colère, il ne sortira pas indemne. Je le sens“ (CA: 92), ist dies nicht nur auf ihn als Einzelnen zu beziehen. Vielmehr ist diese Aussage zugleich als Mahnung 435 Vgl. L. Trouillots Roman La belle amour humaine, in dem zwei Figuren - die als Vertreter der alten wirtschaftlich-sozialen Elite der ‚mulâtres‘ und der neuen ‚Schwarzen‘ politischen Machthaber zentrale Gegenspieler in der Duvalier-Ära repräsentieren - trotz all ihrer Unterschiedlichkeit als gleichermaßen skrupellos und menschenverachtend gezeichnet werden (vgl. L. Trouillot 2011a: 86). In ähnlicher Weise wie La couleur de l’aube kritisiert Trouillot in dem Text von 2011 durch diese Kontrastierung, dass sich an den desolaten Umständen für die Bevölkerung wenig geändert hat, obwohl die politischen Akteure an der Macht wiederholt gewechselt haben. 436 Mit Jean-Baptiste wird am Ende des Romans zwar der Name von Fignolés Verräters genannt, doch die wahre Identität und die politische Zugehörigkeit seiner Verfolger lässt sich nur vermuten (vgl. CA: 217). Die Jeans des einen Täters erinnert hierbei ansatzweise an die typische Kleidung der ‚Tonton Macoutes‘, wobei andere wichtige Erkennungszeichen der Duvalier’schen Miliz wie die dunkle Sonnenbrille nicht erwähnt werden (vgl. A. Wilentz, zit. nach: James 2010: 58; Johnson 2008: 890). <?page no="182"?> 170 an eine Gesellschaft zu lesen, die den Weg aus der Gewalt nicht mehr zu finden scheint. Entsprechend ist auch der Topos des Tagesanbruchs im Titel des Romans als hoffnungslos zu deuten, der vor dem Hintergrund der Handlung ins Negative verkehrt wird. 437 Steht er typischerweise für die Ankunft eines Erlösers oder einen Neubeginn (vgl. Schneider 2008: 234-35), wird dieser optimistische Grundton in Lahens’ Text nicht eingelöst. Als Moment, in dem Angélique realisiert, dass Fignolé tatsächlich nicht nach Hause gekommen ist (vgl. CA: 12), und hinsichtlich der Erkenntnis, dass auch die Post-Duvalier-Ära in einem Strudel der Gewalt versinkt (vgl. CA: 214), wird das Morgengrauen in La couleur de l’aube vielmehr zu einem ‚Morgen- Grauen‘, was sich auch an einer Verkehrung der mit dem Begriff assoziierten Farbsymbolik zeigt. Verweist der etymologische Ursprung des französischen Ausdrucks ‚aube‘ (von lat. ‚alba‘; vgl. Picoche 1994: 29) über die Farbe Weiß noch auf eine Metaphorik des Reinen und der Unschuld, tritt bei Lahens an ihre Stelle das Rot des Blutes als Farbe der Gewalt. 438 Idyllische Farbgebungen wie das „bleu intact du ciel […]… Si beau“ (CA: 131), das in einem kurzen Moment der Ablenkung von der tristen Realität im Text aufflackert, stellen sich als flüchtig und vergänglich heraus. Die zum Ende des Romans hereinbrechende Abenddämmerung als Moment der Gewissheit von Fignolés gewaltsamem Tod ist stattdessen vom Qualm und dem beißenden Rot der Feuer geprägt, „[qui] montent des ordures empilées et nous brûlent les yeux“ (CA: 201) - ein Bild, das den Fortgang des Konflikts ankündigt. Wieder aufgegriffen wird die semantisch neu besetzte Morgenröte- Metapher auch am Ende des letzten Kapitels vor dem ‚Epilog‘, das mit den Worten „L’aurore est déjà là“ (CA: 214) schließt. Zwar ist ein neuer Tag angebrochen, doch vor dem Hintergrund der über die Erzählerin Joyeuse kurz zuvor geäußerten Anmerkung „Tout a déjà basculé dans la mort“ (CA: 214) gelesen, ist zu vermuten, dass auch jener von Gewalt geprägt sein wird. Octaves Verschwinden als Schlüsselerlebnis für das eigene Engagement identifiziert Fignolé zudem als Repräsentanten einer Generation voller Zuversicht, dass Gewalt, Repression und Willkür mit dem Ende der Duvalier- Diktatur endlich überwunden seien, deren Hoffnungen in der Folgezeit allerdings zutiefst enttäuscht wurden (vgl. Fatton 2007: 196; Hurbon 2002: 437 Eine derartige konnotative Neubesetzung der Symbolik des Morgengrauens findet sich auch in anderen haitianischen Gegenwartstexten, so z. B. in Rue des pas-perdus (vgl. Kap. 2.3) oder in Danticats The Dew Breaker, wo der Ausdruck auf die Häscher des Duvalier-Regimes anspielt, die der Aussage einer Figur nach meist im Morgengrauen ihre Opfer aufgesucht hätten (vgl. Danticat 2005: 131; ferner Mehta 2009: 68; Fuchs 2014: 152-53). 438 Vgl. hierzu die Interpretation von Lucksons blutbefleckter Hand in Kap. 3.4.2. <?page no="183"?> 171 116). 439 Desillusioniert schließt sich der junge Mann deshalb den realitätsfernen Versprechungen eines charismatischen Anführers an. Zu spät erkennt er, dass er in seinem Einsatz die ursprünglich von ihm bekämpfte Gewalt selbst reproduziert. Zunächst noch ein Idealist, der sich nicht für Dogmen einspannen lässt (vgl. CA: 102), 440 überschreitet er nach und nach die Schwelle zur Radikalität und ersetzt die „belles paroles“ (CA: 41), die er in den Salons der wohlhabenden Viertel gelernt hat, „[où] on fait la Révolution autour des coupes de vin et au son de la trompette […]“ (CA: 42), durch militante Taten, zu denen er sich, angestachelt von der Masse und den politischen Geschehnissen, hinreißen lässt (vgl. u. a. CA: 52-53). „[A]mer puis fou de rage“ (CA: 170) kommt er letzten Endes zu der Erkenntnis, dass sich nichts verändert und er sich möglicherweise vielmehr selbst schuldig gemacht habe (vgl. CA: 92). Geradezu exemplarisch fängt der Roman in dieser Konstellation die Situation der Post-Duvalier-Ära ein, in der die haitianische Gesellschaft trotz großer Hoffnungen immer wieder in neuen Gewaltausbrüchen versunken ist. Der Roman verliert sich letzten Endes nicht in Charakterisierungen der Konfliktparteien und einer Aufzählung ihrer Ideale und Ziele. Diese treten in den Hintergrund. Ausschlaggebend ist, dass sich am Ausmaß der Gewalt nichts ändert, unabhängig davon, welche Kontrahenten sich gegenüberstehen. Dies unterstreicht auch die Beschreibung eines Gemetzels zwischen den unterschiedlichen Anhängerschaften. Während die verfeindeten Akteure nur rudimentär charakterisiert werden - „des bandes armées“ (CA: 64) gehen gegen „les insurgés“ (CA: 64) vor -, werden die Gewalttaten im Vergleich sehr anschaulich geschildert: Les plus chanceux s’en tirent souvent avec le corps troué de balles. Ils coupent la tête au plus malchanceux pour l’exhiber à bout de bras ou au bout d’une pique, les font brûler comme des torches ou les mutilent pour les livrer aux porcs. (CA: 65) Eine solche Beschreibung birgt keinerlei politische Motive mehr, allein die nackte, autotelische Grausamkeit des Gewaltakts wird hier erzählt. 441 Wer Opfer und wer Täter ist, ist nicht mehr zu ersehen. Allein die Tatsache, dass Menschen getötet werden, bleibt als sichere Wahrheit im Text ste- 439 Beispielhaft bringt Dominique diese Enttäuschung in ihrem ‚récit autobiographique‘ Mémoire errante zum Ausdruck; eine prägnante Fiktionalisierung erfährt sie in Olliviers Roman Les urnes scellées durch ironische Kommentare zur allseits herrschenden Euphorie, z. B.: „[L]’immense espérance qui illumine ces visages, couvée de trois décennies: […] reconquête d’un pays qu’on croit redevenu normal par un coup de baguette magique […]“ (Ollivier 1995: 38); vgl. ferner ebd.: 34, 72, 275; ebenso Laferrière 2009: 210. 440 Die Erzählerinnen heben Fignolés Aktivwerden gegenüber dem politischen Desinteresse seiner Freunde zwar positiv hervor (vgl. CA: 105), doch lässt die Erzählung vor dem Hintergrund seiner Entwicklung keinen Zweifel daran, wie schmal der Grat zur Radikalisierung sein kann. Vgl. auch Kap. 3.2. 441 Zu autotelischer Gewalt vgl. Kap. 1.1.1 und Reemtsma 2009: 116-17. <?page no="184"?> 172 hen. 442 Der Fokus des Romans steht hierdurch deutlich der öffentlichen Diskussion zu den politischen Wirren der jüngeren Geschichte Haitis entgegen, die sich vielfach auf eine detaillierte Beschreibung der unterschiedlichen Akteure und Gruppen sowie ihrer jeweiligen Motive konzentriert, 443 während die damit einhergehenden Opfer dort meist in Vergessenheit geraten. Wie die Untersuchung in den folgenden Kapiteln zeigen wird, ist die Literatur hingegen in der Lage, den Blick gezielt auf diesen Aspekt und somit die physischen und psychischen Implikationen der Gewalt für die betroffenen Individuen zu lenken. Der tatsächliche Konflikt, der in La couleur de l’aube ausgefochten wird, bleibt mithin äußerst nebulös und undefiniert. Gewalt wird stattdessen als Phänomen präsentiert, das sich kontinuierlich als roter Faden durch die haitianische Geschichte zieht, sodass die Fronten schon gar nicht mehr zweifelsfrei zu identifizieren sind. Damit geht das Aufbrechen einer starren Dichotomie von ‚Gut‘ und ‚Böse‘einher, weshalb sich auch eindeutig zuzuordnende Täter- und Opferrollen als untauglich erweisen, wie ich im anschließenden Kapitel erörtere. 3.2 Das Verschwimmen von Täter- und Opferrollen Die Darstellung der gewaltsamen Auseinandersetzungen in La couleur de l’aube als Wiederholung gleichbleibender Handlungsmuster unter Beteiligung wechselnder Akteure führt dazu, dass eine binäre Opposition von Tätern und Opfern verschwimmt und die Figuren nicht mehr unzweifelhaft einer Kategorie zuzuordnen sind. 444 Tomas Böhm und Suzanne Kaplan beschreiben entsprechend auch den Wechsel zwischen Täter- und Opferpositionen als zirkulären Prozess „in einer sich ständig drehenden Rachespirale […]“ (2009: 19). 445 Es handelt sich hier um eine Feststellung, die eine grundsätzliche Tendenz des haitianischen Gegenwartsromans widerspiegelt, starre Gegensätze aufzubrechen, um der Vielschichtigkeit des gesell- 442 Vgl. auch Brodziak 2013a: 111. Zum Verschwimmen der Grenzen zwischen Tätern und Opfern vgl. ausführlicher Kap. 3.2. 443 Vgl. z. B. Studien wie Dupuy 2007; Fatton 2007, 2002. 444 Wenn im Folgenden eindeutige Gewalttäter auch als Opfer bezeichnet werden, soll hierdurch keinesfalls ihre Täterschaft relativiert und ihr Schicksal mit dem ‚unschuldiger‘ Gewaltopfer gleichgesetzt (zur Diskussion vgl. etwa Assmann 2007: 95-98), sondern darauf verwiesen werden, wie schwer sich eine strikte Unterscheidung gestaltet. Zur Problematik der eindeutigen Festlegung von Täter- und Opferschaft vgl. Nickel/ Segler-Meßner 2013b; Segler-Meßner 2013. Segler-Meßner (2013) spricht in diesem Zusammenhang von ‚Grauzonen‘ zwischen eindeutigen Täter- und Opferrollen. Nickel und Segler-Meßner geben auch den wichtigen Hinweis, dass sich Täter- und Opferbilder historisch veränderten und von den jeweiligen gesellschaftlichen Diskursen abhängig seien (vgl. Nickel/ Segler-Meßner 2013b: 8). Vgl. ferner Imbusch 2005: 30, 49-50. 445 Vgl. hierzu Nickel/ Segler-Meßner 2013b: 7. <?page no="185"?> 173 schaftlichen Konflikts im Land gerecht zu werden, dessen Akteure nicht nur aus der gleichen Gesellschaft stammen, 446 sondern zudem immer wieder in ‚Neuauflagen‘ eines althergebrachten Zerwürfnisses aufeinandertreffen. 447 In La couleur de l’aube findet in diesem Sinne keine eindeutige binäre Unterscheidung zwischen Opfern und Tätern als Geschädigte bzw. Schädigende statt. Viele Figuren vereinen stattdessen beide Rollen in sich, sodass die Leserschaft „mit moralisch nicht mehr eindeutigen Wertungen [konfrontiert wird] […]“ (Borst 2013b: 233), 448 was in den folgenden Ausführungen insbesondere anhand der äußerst ambivalenten Figuren Fignolé und Une-balle-à-la-tête demonstriert wird. 449 Der Roman verweist durch diese Konstellationen darauf, dass in einer Gesellschaft, in der die Rollen von Tätern und Opfern angesichts der beständigen Machtwechsel stetig neu verteilt werden (vgl. Kap. 3.1), schwarz-weiß-malerische Zuschreibungen überwunden werden müssen, da die wahre Problematik tiefer liegt und mit vorschnellen Schuldzuweisungen nicht zu bewältigen ist. 450 Hierbei maßt sich der Text von Lahens kein finales Urteil hinsichtlich einer möglichen Kausalität des Täter- und Opferstatus an. Die Autorin bezieht weder Stellung noch lässt sie sich zu Kommentaren hinreißen, sondern stellt die Vielschichtigkeit der Problematik unverhohlen dar, indem keine einseitige Viktimisierung vorangetrieben, sondern auch Täterschaft offen angesprochen wird. 446 Zur Problematik, wenn Täter und Opfer aus der gleichen Gemeinschaft stammen, vgl. Kühner 2003: 60, 114; Nickel/ Segler-Meßner 2013b: 8. Für eine Rückbindung der Gewalt in der haitianischen Gegenwart an vergangene Strukturen vgl. Kap. 1.2.1. 447 Vgl. auch die in Borst 2013b analysierten uneindeutigen Täter- und Opferpositionen in Trouillots Bicentenaire. Eine anders gelagerte Perspektive wählt Danticat in ihrem Kurzgeschichtenzyklus The Dew Breaker, in dem durch die Geschichte eines ehemaligen Folterers des Duvalier-Regimes und seiner Opfer deutlichere Oppositionen aufgebaut werden. Dass letztendlich aber auch diese nicht als absolut zu verstehen sind, zeigt Fuchs 2014: 148. Als interessant erweist sich dieser Unterschied insbesondere vor dem Hintergrund der Überlegungen von Koonings/ Kruijt (2004: 6, 9) zur Ausdifferenzierung und Vielfalt der Gewaltakteure in postdiktatorialen Gesellschaften im Gegensatz zu eindeutiger zu identifizierenden Machtpositionen diktatorialer Regime, wie sie anhand der unterschiedlichen Täter- und Opferpositionen der Romane je nach historischem Kontext deutlich wird. 448 Zu binären Täter- und Opferzuschreibungen vgl. z. B. Hermes/ Muhi 2007: 8; Schindler 2001: 1. 449 Vgl. auch die ambivalente Figur der Prostituierten Jeanine in L. Trouillots Rue des pasperdus und die Ausführungen in Kap. 2.4.2. 450 Vgl. Lahens’ eigene Aussage: „Le propre des utopies est de diviser le monde entre les bons et les méchants, le vrai et le faux. Il leur faut cette nette dichotomie pour exister. Or l’univers du roman et de la nouvelle nous apprend que le monde n’est pas en noir et blanc, que la vie est plus compliquée et plus subtile“ (Lahens in: Saint-Éloi/ Lahens 1999: o. S.). Zu einer Diskussion der problematischen Situation, wenn das kollektive Gedächtnis einzig die Opfer einbezieht und in der Folge keine Lehren aus der Vergangenheit zieht, indem auch die eigene Täterschaft kritisch reflektiert wird, vgl. Todorov 2000: 197-98. <?page no="186"?> 174 Fignolé wird auf der einen Seite zunächst klar als Opfer präsentiert. Sein Verschwinden und sein gewaltsamer Tod - vermutlich aufgrund seines politischen Engagements - durch die Hand unbekannter Männer stellen den Ausgangspunkt für den Bericht der Schwestern dar. Sein Schicksal löst nicht nur die Geschichte aus, sondern repräsentiert auch eine Art narrativen Fluchtpunkt, auf den die Erzählung immer wieder zurückkommt. Ungeachtet dessen zeichnen die Erzählerinnen kein einseitiges Bild des Bruders, weshalb seine mögliche Täterschaft auf der anderen Seite fortwährend angedeutet wird. Der erste Hinweis findet sich bereits zu Beginn des Romans in dem von Joyeuse evozierten Bild des hinter einem Möbelstück versteckten Revolvers: ‚Qu’est-ce que Fignolé peut bien faire avec une arme? ‘ Je l’ai sortie avec hâte pour bien la regarder et m’en convaincre. Le canon, la gâchette, la crosse. J’ai fermé les yeux quelques minutes pour supporter sans faillir cette musique violente de mon sang qui menaçait de me suffoquer. Ma main tremblait. (CA: 30) Die vor Joyeuses innerem Auge entlang ziehenden Bilder bleiben dem Leser zwar versperrt, können durch das gedankliche Abschreiten von Lauf (‚canon‘), Abzug (‚gâchette‘) und Kolben (‚crosse‘) als Sinnbilder für die Tötungs- und Verletzungsfunktion der Waffe allerdings vom Leser imaginiert werden. An dieser Stelle wird zum ersten Mal deutlich, dass Fignolé möglicherweise kein moralisch unbescholtener Idealist war, der nur versehentlich zwischen die Fronten geraten ist. Folglich ist die Erzählerin Joyeuse angesichts ihres Wissens um die Existenz der Pistole zutiefst verstört: „L’image du revolver est remontée d’un gouffre profond, terrifiant. Elle est la seule à pouvoir chasser celle de Fignolé. La seule“ (CA: 213). Das Zitat ist bezeichnend, zeigt es doch exemplarisch, wie die eindeutigen Kategorisierungen zunehmend verschwimmen. Das durch den Augenzeugenbericht von Fignolés Freund Vanel evozierte Bild des Bruders als Opfer (vgl. CA: 204-06) alterniert in der Vorstellung der Schwester mit jenem des Täters, versinnbildlicht im Motiv der Waffe. Diese Überlagerung der Bilder hebt klar hervor, dass Täter- und Opferschaft keine antithetischen Pole repräsentieren, sondern sich klare Abgrenzungen aufgelöst haben. Die Ambivalenz von Fignolés Status wird abermals durch einen Hinweis auf seine Teilnahme an Plünderungen in den wohlhabenden Vierteln der Stadt durch einen aufgebrachten Mob zur Sprache gebracht (vgl. CA: 52): Hommes, femmes, enfants, vieillards étaient déchaînés à cause de la colère qui s’était mélangée à la joie et à la faim. […]. Ils emportaient dans un va-etvient effréné tout ce qui leur tombait sous la main, des matelas, des appareils, électroménagers, des tableaux des maîtres comme les trophées d’une grande bataille. On dit que le corps d’un homme gisait à l’entrée de la <?page no="187"?> 175 maison. […]. Fignolé grisé par la foule en délire a-t-il lui aussi lancé une pierre ou enjambé le corps sans même s’en apercevoir? (CA: 53-54) Fignolé wird als Opfer, das vermutlich zugleich Täter war, mithin zum Sinnbild für das im Roman beschworene Problem, dass Frustration, Verzweiflung und Rachegefühle immer wieder dazu führen, dass Gewalt mit Gegengewalt bekämpft wird. Die zitierte Textstelle deutet darüber hinaus aber auch die Gefahr der Abstumpfung des Individuums an, das angesichts der Omnipräsenz der Problematik jegliche Empathie mit dem Opfer verloren haben mag, wie es die Indifferenz der Figuren angesichts des im Weg liegenden Körpers verdeutlicht (‚sans même s’en apercevoir‘). 451 Eine extreme Form des Desinteresses gegenüber seinen Opfern liegt im Falle des Heranwachsenden mit dem Spitznamen Une-balle-à-la-tête vor (vgl. CA: 158). 452 Auf den ersten Blick scheint dieser weit mehr dem Prototyp des Bösewichts zu entsprechen. Er ist einer jener Jugendlichen der Peripherien von Port-au-Prince, „[qui] a déjà expédié deux ou trois chrétiens vivants dans le précipice de l’éternité […]“ (CA: 169), und gehört als Mörder und Vergewaltiger zu jenen, die den Alltag der Figuren mit einer Atmosphäre der Bedrohlichkeit überschatten (vgl. CA: 158). An die Stelle des Kindes als Symbol für das Ursprüngliche und Reine, als Sinnbild für eine verheißungsvolle Zukunft (vgl. Richter 1987: 26-27), 453 tritt in La couleur de l’aube somit das Kind als „Tod bringende[r] Bote[.] der Gewalt“ (Borst 2013b: 231), der seine Umwelt ins Verderben stürzt. 454 Rein quantitativ betrachtet spielt Une-balle-à-la-tête in dem Roman eine marginale Rolle, da er nur auf drei Seiten im Rahmen einer Binnenerzählung in Erscheinung tritt (vgl. CA: 157-59). 455 Ungeachtet dessen verleiht seine Geschichte jenen äußerst knappen Anspielungen Tiefe, die an anderer Stelle im Roman von Kindern und Heranwachsenden erzählen, „[qui ont] trop vu, trop entendu, trop accompli […]“ (CA: 169). Mit der Episode über Une-balle-à-la-tête wird nicht nur die Rolle ebendieser als von 451 Zum Verlust der Empathie mit dem Gewaltopfer in La couleur de l’aube vgl. Kap. 3.6.3; ferner zur Betrauerungswürdigkeit des Subjekts Butler 2004. 452 Für jugendliche Täterfiguren bei Lahens, die willkürlich und gleichgültig töten und Charaktere wie Une-balle-à-la-tête ankündigen, vgl. „Trois morts naturelles“ in La folie était venue avec la pluie und „Le jour fêlé“ in Tante Résia et les dieux. 453 Zum Topos des Kindes als unschuldiges Wesen bzw. Symbol des ‚besseren Menschen‘ und zu seiner Rolle als Hoffnungsträger vgl. Gavin 2012: 3; Richter 1987: 26-27. 454 Für eine ähnliche Lektüre der Figur des Kindes in Trouillots Bicentenaire vgl. Borst 2013b: 230-31. Vgl. ferner die Geschichte der Heranwachsenden Roger, Steve und Patrick in „La petite corruption“ in der gleichnamigen Kurzgeschichtensammlung von Lahens, die geblendet von ihrem Verlangen nach Luxusgütern gewalttätig und kriminell werden. In ihrem Schicksal verwirklicht sich Une-balle-à-la-têtes Angst, denn die Kurzgeschichte endet mit der Beschreibung einer Müllhalde, wo ein Wagen am Tag zuvor die Leichen der drei abgeladen hat (vgl. Lahens 1999: 65). 455 Angélique berichtet indirekt von Une-balle-à-la-tête; sie hat seine Geschichte über ihre Tante Sylvanie erfahren, an die der Heranwachsende sich Hilfe suchend gewandt hat (vgl. CA: 157). <?page no="188"?> 176 der allgegenwärtigen Gewalt und Armut verstörte Figuren (‚trop vu, trop entendu‘), sondern gleichermaßen ihr Status als potenzielle Gewalttäter (‚trop accompli‘) an einem konkreten Beispiel illustriert. Derlei leere Formeln wie das ‚trop accompli‘ können über die Bekenntnisse des konkreten Täters Une-balle-à-la-tête mit Inhalt gefüllt werden. 456 Auf der einen Seite weist der Roman Une-balle-à-la-tête somit als Mörder und Vergewaltiger aus, der völlig skrupellos und jenseits jedweder politischer Loyalitäten handelt. Auf der anderen Seite jedoch legt die Erzählung parallel offen, dass hinter der Maske der Gewalt auch ein verstörter Heranwachsender steckt, der angesichts seiner eigenen Taten keinen Schlaf mehr findet und dem durch die allgegenwärtigen Gewaltexzesse eine Handlungsoption offeriert wurde, die ihn haltlos überfordert: „Tout au long de son récit Une-balle-à-la-tête parlait par saccades et haletait. Sa poitrine montait et descendait comme s’il allait perdre le souffle […] parce que désormais, il avait peur“ (CA: 158). Akzentuiert wird dies zusätzlich dadurch, dass vermeintliche jugendliche ‚Täter‘-Figuren wie er von Lahens als „enfants qui ont déjà la mort au bout de leurs doigts […]“ (CA: 157), „[qui] détruisent pour s’assurer qu’ils existent“ (CA: 157), bezeichnet werden. Sie, die nichts jenseits der Gewalt gelernt haben (vgl. CA: 160), werden somit nicht als akzidentelle Aberrationen einer Gesellschaft dargestellt, sondern als von sozialen Umständen geformt, innerhalb derer Gewalt historisch gewachsen und wiederholt außer Kontrolle geraten ist, und damit als zwangsläufiges ‚Produkt‘ eines zerrütteten und zutiefst ungerechten Milieus, das jegliche ‚kindliche‘ Unschuld längst korrumpiert hat. 457 Figuren wie Une-balle-à-la-tête fordern dazu auf, Einseitigkeiten beim Denken von Täter- und Opferrollen zu überwinden und Bipolaritäten kritisch zu reflektieren. Sein Täter-Sein wird durch die Erzählung zwar in seiner radikalen Skrupellosigkeit in keiner Weise relativiert oder infrage gestellt, aber doch in seiner Vielschichtigkeit und Ambivalenz eruiert. Dies geschieht, indem zum einen - mit Kühner gedacht - von der Erzählerin 456 Lahens arbeitet in La couleur de l’aube häufig mit derlei Anspielungen, die zu anderen Geschichten in Bezug gesetzt werden können. In der gleichen Weise liefert auch Fignolés Schicksal den Hintergrund für die Geschichten nur nebenbei erwähnter Gewaltopfer, über die der Text kaum etwas mitteilt. Des Weiteren erlauben die immer wieder evozierten Gewaltepisoden eine Vorahnung auf Fignolés gewaltsamen Tod, der erst spät im Roman zur Gewissheit wird. 457 Hierzu zählen auch jene Jugendlichen, die das ‚Taptap‘ mit Angélique an Bord überfallen (vgl. CA: 160 bzw. für eine ausführliche Analyse dieser Szene Kap. 3.5.1). Zu Kinder- und Jugendgewalt und -kriminalität in Haiti vgl. z. B. Kovats-Bernats ethnografische Studie zu Straßenkindern in Port-au-Prince und darin v. a. das Kapitel „Zenglendinaj e Arimaj. The Street-Child ‚Problem’ and the Paramilitary Solution“. Er erklärt dort das Phänomen der sogenannten ‚zenglendo‘, worunter heute in Haiti insbesondere jugendliche ‚Auftragsmörder‘ verstanden (vgl. Kovats-Bernat 2006: 89-90) und die in der haitianischen Wahrnehmung v. a. mit Straßenkindern in Verbindung gebracht werden (vgl. ebd.: 95-96). Zum Ursprung des Begriffs ‚zenglendo‘ aus dem militärischen Kontext in den Anfangsjahren der Post-Duvalier-Ära vgl. ebd.: 86-89. <?page no="189"?> 177 eine mögliche Erschütterung des Täters angesichts „begangene[r] Gewalt“ (Kühner 2003: 77) angedeutet wird - wenngleich hervorzuheben ist, dass hier eine „völlig andere Qualität“ (ebd.: 77) verstörender Erfahrung vorliegt als im Falle traumatisierter Opfer (vgl. Kansteiner 2011: 127). 458 Zum anderen wird durch eine Verortung der Figur in den sozialen Randzonen eines von Gewalt geprägten und ungerechten Milieus auf die gesamtgesellschaftliche Verantwortung von derartigen ‚Gewaltkarrieren‘ jugendlicher Täter hingewiesen. Angelegt ist die Ambivalenz der Figur Une-balle-à-la-tête auch bereits in ihrem Namen, der die Frage aufwirft, wessen Kopf eines Tages eine Kugel treffen wird: den eigenen und/ oder den eines anderen? In La couleur de l’aube wird offen gelassen, ob in der Benennung eine Metapher für die Skrupellosigkeit des Jungen und/ oder eine Antizipation seines eigenen Schicksals zu lesen ist. Denn wie Une-balle-à-la-têtes Geschichte tatsächlich weitergeht, verschweigt der Roman. Darüber hinaus klingt in dem Beinamen aber auch der gewaltsame Tod anderer Opfer an - wie eben jener Fignolés, der ebenfalls durch eine Kugel in den Kopf getötet wird (vgl. CA: 218). Der ambivalente Status von Une-balle-à-la-tête wird von Lahens in der Passage auf unmissverständliche Weise erzählerisch konstruiert. So wird sein „surnom[.] d’enfer“ (CA: 157) im gleichen Satz wie der inständige Hilferuf genannt, den er an Tante Sylvanie richtet (vgl. CA: 157). Diese Spannung zwischen Gewissenlosigkeit und Verzweiflung wird über die gesamte Passage hin aufrechterhalten: Auf die Beschreibung seiner zitternden Lippen und seine Aussage, dass er nicht mehr schlafen könne (vgl. CA: 157), folgt die ungeschönte Aufzählung seiner Gewalttaten: „[I]l avait […] tranché les mains et les jambes d’un jeune […] et […] il l’avait balancé vif dans les flammes de sa maison. […] [I]l avait planté son sexe dans le ventre de Marie-Laure […]. Elle avait crié […]“ (CA: 157-58). Diese Wiedergabe des von Une-balle-à-la-tête Berichteten mündet schließlich abermals in eine Thematisierung der profunden und zugleich richtungslosen Furcht der Figur (vgl. CA: 158). 459 458 Vgl. in diesem Zusammenhang die kritische Debatte um den Begriff des vermeintlichen ‚Tätertraumas‘ (u. a. bei Assmann 2007: 96; LaCapra 2001: 79; Kühner 2008: 149-50; Rothberg 2008: 231), der mit einer impliziten theoretischen Annäherung zweier unterschiedlicher Phänomene das tatsächliche traumatische Gewalterleben des Opfers durch einen Vergleich mit einer möglicherweise traumatischen Schuld- oder Schamerfahrung des gewaltausübenden Täters zu relativieren droht (vgl. Kansteiner 2011: 126-29). 459 Der Text schweigt sich darüber aus, worin genau Une-balle-à-la-têtes Angst letztendlich besteht. Zwar wird zunächst die Furcht vor der eigenen Tat und dann jene vor den „autorités“ (CA: 159) bzw. vor dem eigenen Tod als Grund genannt (vgl. CA: 159), doch inszeniert die Erzählung Une-balle-à-la-tête im Grunde genommen eher als verfolgt von seinen eigenen Taten und dem eigenen Wissen darüber, zu was er fähig ist. <?page no="190"?> 178 Die Erzählung schwankt mithin kontinuierlich zwischen dem Bild eines unbarmherzigen Mörders und dem eines in Angst versetzten Heranwachsenden, der in seiner noch sehr kindlichen Perspektive grausame Details mit einer schonungslosen Offenheit auszusprechen wagt. 460 Als eine Form einer kindlich-naiven Erzählperspektive ist Une-balle-à-la-têtes Blick jedoch nicht unschuldig und unverstellt (vgl. Barth 2009: 141). Seine schonungslose Offenheit beruht vielmehr auf der naiven Skrupellosigkeit eines kindlichen Täters, den das Fehlen jeglicher Empathie vom Leiden seiner Opfer entfremdet hat. Mit dieser Darstellung lässt der Roman zwar keine Zweifel an der unbestreitbaren Verwerflichkeit von Une-balle-à-la-têtes Tun, erinnert aber zugleich daran, dass dies nur eine Seite der Medaille ist und das Einzelphänomen in einem größeren Kontext betrachtet werden muss. Es ist deshalb erforderlich, einseitige Sichtweisen von Täterschaft neu zu denken, um hinter der Fassade des skrupellosen Namens den verängstigten Jugendlichen zu erkennen. Umso deutlicher wird dies, wenn man die Täterschaft der Figur nicht isoliert im Rahmen der einzelnen Episode betrachtet, sondern in Bezug auf den Gesamtroman und die desolaten sozialen Umstände liest, die im Text wiederholt beschworen werden (vgl. etwa CA: 64, 115, 142, 159, 169 sowie Kap. 3.1). 461 Dass Täter nicht als einseitige Figuren zu fassen, sondern in einer komplexen Gemengelage von Zuschreibungen zu verorten sind, wird ebenfalls anhand anderer Nebenfiguren deutlich. Auch was die Figur des angeschossenen jungen Manns im Krankenhaus betrifft, geht die Erzählerin Angélique nicht genauer auf den Grund seiner Verletzung ein. Ihn definiert allein seine Agonie als „jeune[.] garçon[.] atteint[.] par balles“ (CA: 101), der bald sterben wird (vgl. CA: 101). Handelt es sich um ein zufälliges Opfer, das zur falschen Zeit am falschen Ort war, oder um einen gewissenlosen Täter, der im Delirium der Gewalt sein Leben verspielt hat? Lahens lässt den Leser hierüber im Unklaren und weist so abermals die Gewalt als einzige feststehende Größe in der Erzählung aus. Ein weiteres Beispiel ist der Mörder eines Studenten, dem sich Joyeuse im Rahmen einer Gewalteskalation auf der Straße gegenübersieht (vgl. CA: 96). Wer er ist und warum er den Studenten getötet hat, wird nicht geklärt. Eine unpräzise Beschreibung als etwa Sechzehnjähriger in alten Kleidern wird lediglich durch seine Benennung als „Celui qui l’a tué […]“ (CA: 96) ergänzt, sodass 460 Zur Perspektive des Kindes als inszenierte Naivität, die eine ungeschönte Sicht der Wirklichkeit erlaubt, vgl. Barth 2009: 28. 461 Derart ambivalente Figuren, die zwischen Täterstatus und kindlicher ‚Unschuld‘ schwanken und deren zunächst scheinbar klare Positionen als Täter aufgebrochen und relativiert werden, sind bezeichnend für den haitianischen Gegenwartsroman. In dieses Muster reihen sich sowohl die Vatermörder Colin und Mariéla aus dem Roman Les enfants des héros bzw. das von Gewalt korrumpierte Gangmitglied Little Joe aus Bicentenaire - beide von L. Trouillot -, als auch der Vatermörder Claude aus Danticats The Dew Breaker ein. Zur Analyse von Letzterem vgl. Fuchs 2014: 129-30. <?page no="191"?> 179 die Täterfigur ein weiteres Mal vage bleibt und allein der Tod des Anderen außer Zweifel steht. 462 Die obige Analyse der Täter- und Opferzuschreibungen hat mithin illustriert, dass vordergründig klare Dichotomien für den Kontext des Romans, der die Post-Duvalier-Ära als Phase beständiger, von Gewalt geprägter Machtwechsel beschreibt, nicht gültig sind und traditionelle Oppositionen fließend gedacht werden müssen. 463 Eine eingehende Analyse der Position Fignolés in der Erzählung wird jedoch zeigen, dass es Lahens nicht vorrangig darum geht, Fignolés mögliche Täterschaft durch unübersehbare Hinweise zu untermauern. Stattdessen richtet sie den Fokus auf sein unzweifelhaftes Opfersein im Moment seines gewaltsamen Todes und die schmerzende Verlusterfahrung der Hinterbliebenen. Diese inszeniert die Autorin über seine Abwesenheit als Protagonist und den Verlust seiner narrativen Stimme, wie ich im Anschluss darlege. 3.3 Leerstellen im Text: Fignolés Abwesenheit als Protagonist und der Verlust seiner Stimme Der Auffassung der literaturwissenschaftlichen Traumaforschung nach können Brüche und Lücken in der Erzählung als Spiegel der Erschütterung des (erzählenden) Individuums in der narrativen Struktur gelesen werden (vgl. u. a. Kopf 2005; Laub/ Podell 1995; Ueckmann 2013; Whitehead 2004). Auch im Zentrum von La couleur de l’aube steht eine Leerstelle, die das Verschwinden Fignolés auf der Ebene des Textes fortschreibt, indem dieser weder als handelnde Figur noch als Erzähler auftritt. In La couleur de l’aube liegt der Fokus in diesem Sinne auf der Absenz des Subjekts, dessen gewaltsamer Tod nicht durch den zerstörten Körper wie in Rue des pasperdus (vgl. Kap. 2.4.1), sondern durch sein ‚Nicht-mehr-(da-)Sein‘ versinnbildlicht wird. Gewalt wird demnach von Lahens als Verlust und über das Motiv der Lücke erzählt, die zugleich auf die traumatische Erfahrung des hinterbliebenen, trauernden Subjekts verweist. Da sein Verschwinden das zentrale Moment der Erzählung bildet, nimmt Fignolé eine signifikante Stellung im Roman ein, auch wenn sich seine Figur als tatsächliche Präsenz nur im ‚Epilog‘ manifestiert. 464 Zuvor 462 Vgl. ausführlicher zu dieser Szene Kap. 3.4.2. 463 Vgl. in diesem Zusammenhang Prophète 2010a: 100-01. Lahens hat auch die Rolle der Schwestern selbst ambivalent gestaltet: Angélique und Joyeuse sind zum einen selbst Opfer sexueller Gewalt (vgl. Kap. 3.4.1) und müssen den traumatischen Verlust des Bruders verkraften. Zum anderen treten sie als (potenzielle) Täterinnen auf, wenn man z. B. die Misshandlung der ‚restavèk‘ Ti Louze oder Joyeuses Vergeltungsbedürfnis in die Überlegungen einbezieht (vgl. Kap. 3.5.1 und 3.6.3). 464 Dort tritt Fignolé als Figur in der Retrospektive eines Erzählers in der dritten Person in Erscheinung; dieses Auftreten jedoch mündet nach nur wenigen Seiten in seinen Tod. Vgl. weiter unten in diesem Kapitel für eine Analyse des Erzählers des ‚Epilogs‘. <?page no="192"?> 180 lässt Lahens Angélique und Joyeuse in kontinuierlichem Wechsel jenen Tag erzählen, der mit der Entdeckung von Fignolés Verschwinden am Morgen beginnt und mit der Ankündigung seines Todes durch einen Augenzeugen und der anschließenden Trauer seiner Familie endet. Als abwesender ‚Protagonist‘ des Romans hat Fignolé in diesen Ich-Erzählungen seiner Schwestern eine Lücke hinterlassen, die den unwiderruflichen Verlust des toten Subjekts symbolisch hervorhebt. 465 Protagonist ist er deshalb immer nur in Anführungszeichen, haftet der Bezeichnung in ihrer etymologischen Bedeutung als ‚Erstem im Wettkampf‘ (vgl. Seebold 2011: 727) doch immer ein aktives, handelndes Element an. Fignolé jedoch agiert nicht, er ist absent und kann nicht mehr gegen die Gewalt ankämpfen. 466 Zu dem Zeitpunkt, zu dem die Erzählung einsetzt, bereits verstorben, verweigert ihm die Autorin ein Auftreten als handelnde Figur in Form von Retrospektiven, die seine Vorgeschichte erzählen könnten. Diese wird allein durch Erinnerungen und Mutmaßungen der Schwestern rekonstruiert. Während die Gewalt in Rue des pas-perdus vielfach über die Bilder zerstückelter Körper evoziert wird, die sich über den ganzen Text verteilt finden (vgl. Kap. 2.4), so lauert die Gewalt in La couleur de l’aube in der Abwesenheit Fignolés. Nicht nur tritt er nicht als handelndes Subjekt auf, auch sein toter Körper ist hier absent und bricht erst mit dem Bericht des ‚Epilog‘-Erzählers am Ende in die Realität der Fiktion ein. Fignolés Abwesenheit als Figur schreibt den Verlust des Bruders folglich auch in den Strukturen der Erzählung fort. La couleur de l’aube kreist somit weniger um Fignolés Sterben als ausgeübte Gewalthandlung denn um den Verlust des Individuums, die symbolische Lücke, die dieses im Text hinterlässt und die damit bereits den Schmerz seiner Familie und Freunde in dem Moment, in dem sie schließlich die Wahrheit über seinen Tod erfahren, vorwegnimmt. Fignolés Fehlen als ‚Protagonist‘ deutet in diesem Sinne die traumatischen Implikationen der Gewalt für die Überlebenden an. Seine Abwesenheit bestimmt geradezu den Rhythmus der Erzählung, kommen doch die Reflexionen der Schwestern fortwährend auf die hinterlassene Lücke zurück, was folgender Textausschnitt exemplarisch zeigt: „[M]algré moi je [= Angélique; Anm. J. B.] suis revenue sur mes pas comme si une force étrange m’attirait vers le lit vide de Fignolé. Et j’ai surpris Joyeuse […] debout devant ce même lit“ (CA: 21). Diese Szene bringt die Bewegung des Erzählens der beiden Schwestern prägnant auf den Punkt. Das leere Bett kann als Metapher für 465 Zum Helden in der haitianischen Literatur als ‚héros mort‘ vgl. Chemla 2010: 90. 466 Das von Fignolé hinterlassene Vakuum muss deshalb durch die beiden Schwestern neu besetzt werden, die der Gewalt über ihr Erzählen begegnen, wie an späterer Stelle in Kap. 3.5.2 und 3.6.2 herausgearbeitet wird. Während die Figur des klassischen Helden laut Lucas in der haitianischen Literatur ab der Duvalier-Zeit zum degradierten Helden oder Antihelden demontiert wird (vgl. Lucas 2006, 2004), ist der vermeintliche ‚Held‘ in Lahens Text eine Absenz, denn er ist bereits tot, bevor die Geschichte überhaupt beginnt. <?page no="193"?> 181 das Verschwinden des Bruders gelesen werden, wird dieses doch als Konstante in der Erzählung gleichsam wie das Bett immer wieder narrativ ‚aufgesucht‘. Die einzelnen Kapitel setzen nicht nur häufig mit seinem ungewissen Verbleib und der hiermit einhergehenden Angst ein. Sie kommen auch im Verlauf immer wieder darauf zurück und schließen zudem vielfach damit, dass sie die Furcht vor dem, was mit Fignolé geschehen sein könnte, in Erinnerung rufen. Die hinterlassene Lücke tritt somit symbolisch über die Absenz der Figur in wiederkehrender Regelmäßigkeit im Text in Erscheinung. Sie antizipiert die Wucht, mit der der Verlust des geliebten Menschen als Trauma immer wieder über die Familie hereinbricht, und verankert die erfahrene Abwesenheit als Leerstelle in der Erzählstruktur. Lediglich in Lauten des Leids kommt die Verlusterfahrung zum Ausdruck; in Worte fassen können die Figuren sie hingegen nicht: Mère ne dit pas un mot mais de sa bouche sort un son indescriptible qui a dû prendre naissance dans son ventre, cheminer dans sa poitrine, l’étouffant à la gorge et giclant dans sa bouche. Puis plus rien. (CA: 203-04, Herv. J. B.) Mère […] a entamé une étrange mélopée qui prend naissance tout au fond de la gorge. Bouche cousue. (CA: 206, Herv. J. B.) Dans ma [= Joyeuse; Anm. J. B.] gorge des éclats de coquillages qui ne laissent rien passer. Ni pleurs, ni colère, ni cris. (CA: 213, Herv. J. B.) Der erfahrene Schmerz und der traumatische Verlust entziehen sich der Sprache (vgl. Scarry 1985: 4-5), werden durch die Leere, die Fignolés Abwesenheit in der Erzählung hinterlassen hat, aber angedeutet und auffindbar gemacht (vgl. Hermann 2000: 45) und auf diese Weise über den Schwund des ‚Protagonisten‘ im Text erzählt. 467 Hinter dem über lange Strecken ungeklärten Verschwinden Fignolés - auch der Leser wird von Lahens nicht vorzeitig durch einen proleptischen Vorgriff informiert - lauert zugleich eine diffuse Vorstellung vom potenziellen Schicksal des jungen Mannes, die durch beständige Anspielungen auf eine Atmosphäre der Gewalt und Unsicherheit genährt wird. Erst gegen Ende des Romans wird der unterschwellig erahnte Gewaltakt tatsächlich über das Zeugnis Vanels und die Worte „La mort de Fignolé n’est plus quelque chose qui doit arriver. Elle a eu lieu“ (CA: 206) unumstößliche Gewissheit. Zuvor dringt die Bedrohlichkeit der Möglichkeit seines gewaltsamen Todes eher über Umwege in die Erzählung ein, indem andere Bilder der Gewalt beschworen werden, 468 die es erlauben, die 467 Auf die Sprachlosigkeit des traumatisierten Individuums bei Lahens wird in Kap. 3.5.1 ausführlicher eingegangen. 468 U. a. Episoden der Gewalt wie der Überfall auf das ‚Taptap‘ (vgl. Kap. 3.5.1), die Symbolik des Revolvers (vgl. Kap. 3.2), das Zeugnis des Mörders und Vergewaltigers Une-balle-à-la-tête (vgl. Kap. 3.2) oder die Allgegenwart der Schüsse (vgl. weiter unten in diesem Kapitel). <?page no="194"?> 182 Fignolé betreffenden Lücken in der Handlung mit potenziellen Inhalten zusammenzuführen. Ins Auge stechen in diesem Zusammenhang vor allem die schwer verletzten Körper der Jugendlichen im Krankenhaus, über die Fignolés Schicksal bereits angedeutet wird: „Tous ces adolescents me font penser à Fignolé“ (CA: 102), lässt Lahens Angélique erklären. Über diese Worte der Erzählerin wird ein Denkprozess beim Leser angestoßen, der analog zu den Schwestern beginnt, Fignolés Absenz mit jenen Bildern der Gewalt zu füllen, die der Text ihm offeriert (vgl. z. B. CA: 101-02, 141-44). So gesteht Joyeuse: „Peut-être que je pense à Fignolé plus que je ne dois. […]. Plus des heures passent, plus j’écarte la possibilité d’une issue heureuse. Des images m’envahissent. Toutes les mêmes. Noires et terribles“ (CA: 145). 469 Bezeichnend für das indirekte Erzählen von Gewalt ist auch das immer wieder evozierte Rattern von Schüssen, welches bereits auf der ersten Seite des Romans erwähnt wird: „Toute la nuit j’ai prêté l’oreille au crépitement de la mitraille au loin. On voudrait toujours l’imaginer loin. Très loin“ (CA: 11). Dieses Gewalt bringende Geräusch ertönt immer wieder im Text (vgl. CA: 64, 95), es scheint in Lahens’ fiktivem Universum längst Alltag geworden zu sein. 470 Dieses Andeuten von Gewaltakten, die nur am Rande in die Erzählung einfließen und doch zugleich eine permanente Präsenz im Hintergrund darstellen, lassen den Leser das Phänomen erst in seiner wahren Ubiquität in der fiktiven Welt des Romans erahnen und betten die Sorge der Schwestern um den verschwundenen Bruder in einen unheilvollen Kontext der beständigen Bedrohung. 471 Gleichzeitig wird durch die Beiläufigkeit 469 Zur Allgegenwart der Gewalt vgl. eine Szene, in der das Blau des Himmels Angélique von ihrem eigenen Schmerz kurz abzulenken scheint (vgl. CA: 131) - „[j]’oublierais d’attendre Fignolé“ (CA: 132) -, sie jedoch von der Wirklichkeit der Gewalt in Form der Agonie des angeschossenen Jugendlichen sogleich wieder eingeholt wird: „Ouvrant mes pensées de force comme on briserait des chaînes, une jeune auxiliaire est arrivée en courant: ‚Le jeune blessé est en train de délirer […]‘“ (CA: 132). 470 Vgl.: „La nuit a été trouée du crépitement des armes“ (CA: 64); „[C]e jour où nous étions tous réveillés comme aujourd’hui sous les feux de la mitraille […]“ (CA: 95). Vgl. CA: 219 für die Schüsse, die Fignolé töten; für eine Interpretation des auditiven Elements der Schüsse auch Kap. 3.6.2. Auch der Titel der Kurzgeschichte „Trois morts naturelles“ in La folie était venue avec la pluie akzentuiert, wie sehr Gewalt in Lahens’ fiktivem Universum bereits Normalität geworden ist, denn er stellt angesichts der Brutalität, mit der die Figuren tatsächlich zu Tode kommen, einen regelrechten Euphemismus dar. Vgl. ferner Laferrière 2009: 187; Milcé 2004: 14. 471 Eine Atmosphäre allgegenwärtiger Gewalt in der Alltagswirklichkeit der Menschen (u. a. in Form von Auftragsmorden, Drogenhandel, Razzien und Terror in den Armenvierteln) und des fortschreitenden gesellschaftlichen Verfalls in der Post- Duvalier-Ära, wie sie La couleur de l’aube bestimmt, wird auch in Lahens’ Kurzgeschichten immer wieder beschworen, so u. a. in „Trois morts naturelles“ und „Lave ta mémoire à grande eau“ (beide in La folie était venue avec la pluie) sowie „La petite corruption“ aus der gleichnamigen Sammlung. <?page no="195"?> 183 des Erzählens so mancher Episoden zum Ausdruck gebracht, dass die Allgegenwart der Gewalt ihre Skandalösität in der fiktiven Welt über weite Strecken verloren und bei den Akteuren zu einer gewissen Resignation geführt hat. 472 Zugleich sorgt die Tatsache, dass Gewalt oft nur ausschnitthaft anhand nebenbei erzählter Episoden aufgerufen wird, dafür, dass der Blick der Leserschaft auf den wesentlichen Aspekt des Romans nicht verstellt wird: die traumatischen Implikationen des Gewaltakts, die sich im schmerzhaft erlebten Verlust des Bruders manifestieren. Die Leerstelle, die Fignolé auf der Ebene der Geschichte hinterlässt, setzt sich in jener Lücke fort, die in dieser Hinsicht im narrativen Diskurs vorliegt. Denn der junge Mann ist nicht nur als handelnde Figur abwesend, sondern tritt auch nicht als Erzähler in Erscheinung, womit Lahens unterstreicht, dass das tote Subjekt verstummt ist und nicht mehr als Zeuge des eigenen Sterbens zur Verfügung steht. So betont auch Ette, dass eine Geschichte „nur erzählen [kann], wer sie auch überlebt“ (2010: 319). Besondere Bedeutung erlangt Fignolés narratives Schweigen vor dem Hintergrund, dass im ‚Epilog‘ eine anonyme Stimme die übliche Erzählung der Schwestern in der ersten Person ersetzt (vgl. CA: 215-19). Dieses letzte Kapitel bezieht sich auf Ereignisse, die der eigentlichen Erzählgegenwart des Romans vorausgehen, und berichtet darüber, wie Fignolé, Ismona und Vanel vor unbekannten, bewaffneten Männern fliehen, wobei es den beiden Freunden des jungen Mannes gelingt, sich zu verstecken. Erzählt wird zudem die Exekution von Fignolé und damit seine Elimination als potenzieller Erzähler. 473 Diese von einer neuen narrativen Instanz in der dritten Person erzählte Schlussszene beendet die trauernden Ich-Perspektiven der Schwestern, ergänzt den lückenhaften Bericht über das tragische Zeugnis der Freunde des Bruders (vgl. weiter unten) und gestaltet letzte Wissenslücken des 472 Als Beispiel für diese Resignation kann das Verhalten der Mutter der Erzählerinnen genannt werden, die sich an keinem Tag die Sieben-Uhr-Nachrichten entgehen lässt, „ces voix qui tous les jours, plusieurs fois par jour, épellent nos malheurs“ (CA: 24), welche sie längst nicht mehr berühren: „Mère dit que pour avoir vécu soixante ans dans cette île, elle est au-delà des ténèbres“ (CA: 24). Deutlich wird die Normalität der Gewalt auch anhand Joyeuses sarkastischer Bemerkung bezüglich der alltäglichen Ausschreitungen: „Les plus chanceux s’en tirent souvent avec le corps troué de balles“ (CA: 65). Des Weiteren zeigt sich die Gewöhnlichkeit der Gewalt in einer Episode, in der die Passagiere eines ‚Taptap‘ einen Hinterhalt befürchten. Trotz kurzzeitiger Beunruhigung kehren alle Mitreisenden unmittelbar zu Alltäglichem zurück: Lolo telefoniert einfach weiter und spielt die Information um die Bedrohung gegenüber ihrem Liebhaber aus; der ‚Taptap‘-Fahrer, „[l]e premier moment d’émotion passé, […] a introduit une cassette de musique“ (CA: 84). 473 Lahens’ Kurzgeschichte „Lave ta mémoire à grande eau“ aus La folie était venue avec la pluie greift das Motiv der skrupellosen Hinrichtung eines jungen Mannes vorweg. Dort wird die Flucht der Figur Vanès vor anonymen Verfolgern beschrieben, die ihn exekutieren. In der Bemerkung „à la place du visage de Vanès il ne restait plus qu’une bouillie informe de sang et de chair“ (Lahens 2006: 67) wird das Bild des toten Fignolé (vgl. CA: 218) antizipiert. <?page no="196"?> 184 Lesers hinsichtlich der tatsächlichen Umstände des Todes des jungen Mannes inhaltlich aus. Indem Lahens einen anonymen dritten Erzähler sprechen lässt und Fignolé nicht als weiteren Ich-Erzähler ‚narrativ wiederbelebt‘, verankert sie die Endgültigkeit seines Ablebens als unabänderliches Ereignis im Text. Wie bereits in Rue des pas-perdus bewahrheitet sich hier, dass das bereits tote Opfer nicht mehr sprechen kann, sodass sein Zeugnis semantisch leer bleiben muss (vgl. Kap. 2.4.2 und Agamben 2003: 29-34). Abermals wird somit durch die Weiterführung von Fignolés Absenz auf der Ebene des narrativen Diskurses und den Rückgriff auf die außerhalb der Handlung stehende Erzählinstanz des ‚Epilogs‘ die Zerstörungsmacht der Gewalt hervorgehoben, die auch die Stimme des Opfers vernichtet. Die Lücke des fehlenden Zeugnisses kann über den ‚Kunstgriff‘ der Literatur geschlossen werden, indem auf einen ‚Ersatz-Erzähler‘ rekurriert wird, der die Szene um Fignolés Tod zusammenfasst, ohne dabei eine bezeugende Ich-Perspektive zu kreieren und vorzugeben, dass diese die Ereignisse um das tragische Sterben authentisch fassen könnte. Zugleich wird der Leser über den Erzählerwechsel von den Schwestern hin zu einer außerhalb der Figurenwelt stehenden Instanz damit konfrontiert, dass er mit dem Wissen um die tatsächlichen Ereignisse allein ist und die Familien von Opfern wie Fignolé diese Sicherheit möglicherweise niemals haben werden. In Kapitel 2.4.2 kam die Sprache auf die Überlegungen von Agamben, der folgert, dass der Überlebende nur in der Lage sei, ein bruchstückhaftes Zeugnis abzulegen, aus dem der „vollständige[.] Zeuge[.]“ (Agamben 2003: 30), der nicht mehr am Leben sei, nur noch über die Lücken ‚sprechen‘ könne (vgl. ebd.: 30). La couleur de l’aube trägt dieser Unmöglichkeit des Zeugnisses im Hinblick auf die in Abschnitt 3.1 analysierte Geschichte des Onkels Octave, dessen Verschwinden den bedrohlichen Hintergrund für Fignolés eigenes Schicksal bildet, noch Rechnung: Sie wird nie zu Ende erzählt und endet mit dem Hinweis, dass er nicht wieder aufgetaucht ist (vgl. CA: 105). Im Fall von Fignolé lässt Lahens diese Lücke jedoch nicht stehen, sondern füllt sie bruchstückhaft mit dem Bericht des dritten, anonymen Erzählers, der das bisher ausgeblendete Ereignis des Mordes ausformuliert. Er spricht aus, was die Ich-Erzählerinnen und auch Fignolés Freunde nicht in Worte fassen können. In einer dem ‚Epilog‘ vorausgehenden Episode lässt die Autorin Angélique zwar noch schildern, was Vanel über Fignolés Flucht bezeugt (vgl. CA: 205). Dieses Resümee endet dann jedoch abrupt, sodass dem Leser der Fortgang von Vanels Bericht vorenthalten wird: „Je n’écoute plus le récit de Vanel“ (CA: 205). Auch das Zeugnis dieser Figur bleibt darüber hinaus letztlich bruchstückhaft und endet folgendermaßen: „‚J’ai vu… J’ai vu…‘ Il pleure à chaudes larmes […] mais les syllabes que nous attendons ne franchissent pas ses lèvres“ (CA: 205). Während der Abbruch seiner Rede zunächst darauf verweist, dass Vanel in seinem Entsetzen über das Erlebte nicht in der Lage ist, den Namen des <?page no="197"?> 185 Verräters preiszugeben, der für Fignolés Tod verantwortlich zu machen ist, reflektiert das plötzliche Ende aber auch die Lückenhaftigkeit des Zeugnisses des aufgrund der Gewalterfahrung verstörten Subjekts. Zugleich spiegelt die in den drei Punkten angelegte Zäsur in der Erzählung die Verweigerung oder auch Unfähigkeit der Erzählerin Angélique wider, das Gehörte selbst durch Sprache wiederzugeben. Trotz dieses narrativen Bruchs wird das Sterben Fignolés durch die hierauf folgende Feststellung „La mort de Fignolé […] a eu lieu“ (CA: 206) ebenso wie Vanels knappe einleitende Worte „‚J’étais là.‘“ (CA: 203), die seinen Augenzeugenstatus akzentuieren, in unerbittlicher Knappheit als Tatsache in der Geschichte verankert. Bezüglich der genauen Geschehnisse wird dieses Wissen jedoch erst durch den ‚Epilog‘ des Romans und die dort auf den Plan tretende heterodiegetische Erzählinstanz ausgestaltet. Diese oszilliert beständig zwischen verschiedenen Fokalisierungen und auch ihre Beziehung zum Geschehen bleibt uneindeutig. Grundsätzlich übernimmt dieser Erzähler die Rolle des „Sprechers der Erzählrede“ (Martínez/ Scheffel 1999: 81) und tritt nicht als Figur der fiktiven Welt auf, 474 wobei er über die Ereignisse um Fignolés Tod auf den ersten Blick aus einer Außenperspektive berichtet. Eine genaue Lektüre lässt allerdings Elemente erkennen, die deutlich anzeigen, dass seine Fokalisierung immer wieder zwischen Fignolé auf der einen Seite und Ismona und Vanel auf der anderen Seite hin- und herwechselt. Das Spiel mit den Perspektivenwechseln ist deshalb von besonderer Relevanz, weil Lahens die Fokalisierung ganz gezielt an entscheidenden Stellen der Szene wechselt. Während der Erzähler zunächst die Mitsicht des fliehenden Fignolés einnimmt (vgl. CA: 215-16) und anschließend durch einen Perspektivenwechsel Ismona und Vanel in ihrem Versteck verortet (vgl. CA: 217-18), wandert die interne Fokalisierung in jenem Moment erneut zu Fignolé, als der tödliche Schuss abgegeben wird. Ausschnittartig blitzt hierdurch in der Erzählung der Schmerz des Gewaltopfers auf: „[L]e coup explose en plein visage de Fignolé, à bout de souffle. Il est propulsé au-delà de la douleur. C’était comme si sa tête s’enfonçait dans de l’éther“ (CA: 218). Genauso schnell wie die Erzählung auf Fignolé fokussiert hat, verschwindet seine Perspektive jedoch wieder aus dem Text, gleich dem Subjekt, das vernichtet wird und dessen Spur nur in Form des „[c]adavre“ (CA: 218) zurückbleibt. Die narrative Fokalisierung lässt wieder von dem jungen Mann ab, denn sein Blickwinkel existiert nicht mehr, sodass in diesem letzten Perspektivenwechsel im retrospektiven ‚Epilog‘ die Leerstelle, die Fignolés Absenz im Gesamtroman hinterlässt, strukturell angelegt ist. Zugleich offenbart sich in der Mitsicht auf den jungen Mann im 474 Ich bezeichne diese Instanz in Anlehnung an narratologische Kategorien als heterodiegetischen Erzähler, der sich dadurch auszeichnet, dass er nicht als Figur bzw. erlebendes Ich auftritt (vgl. Martínez/ Scheffel 1999: 81), um ihn von den beiden homodiegetischen Ich-Erzählerinnen Angélique und Joyeuse konzeptuell abzugrenzen. <?page no="198"?> 186 Moment des Sterbens, die Ismona und Vanel auch narrativ ausschließt - unterstrichen durch den Zusatz „ils ne peuvent pas voir leur ami“ (CA: 219) -, die radikale Einsamkeit des Gewaltopfers (vgl. Kap. 1.1.1). Für Ismona und Vanel wird Fignolés Schmerz nur abstrakte Wirklichkeit in Form der nachhallenden Schüsse, anhand derer sie seinen Tod erleben. 475 Lag im vorliegenden Kapitel der Schwerpunkt auf den politischgesellschaftlichen Auseinandersetzungen und der Brutalität der Hinrichtung Fignolés in diesem Kontext, welche anhand seines Verschwindens als handelnde Figur aus der Erzählung und des Verlust seiner Stimme als narrative Instanz im Text symbolisch zum Ausdruck gebracht wurde, wendet sich die Analyse mit sexueller Gewalt im Folgenden einem weiteren Gewaltphänomen zu, welches die Erfahrungswelt der Figuren in La couleur de l’aube prägt. 3.4 Die violente Begegnung mit dem Anderen: Gewalt und das Ende der Zwischenmenschlichkeit Die Entscheidung der Autorin für Angélique und Joyeuse als narrative Instanzen ist nicht nur der Tatsache geschuldet, dass sie zum Ausdruck bringen will, dass Fignolés Perspektive durch seinen gewaltsamen Tod symbolisch vernichtet wurde. Über die beiden jungen Frauen als Erzählerinnen ist es Lahens möglich, mit dem Phänomen des sexuellen Missbrauchs eine weitere Form der Gewalt jenseits gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen (wie im Falle Fignolés) oder krimineller Motive (anhand der Figur Une-balle-à-la-tête veranschaulicht) ins Spiel zu bringen. Meiner These zufolge ist das Motiv der sexuellen Gewalt für das Verständnis von Lahens’ Roman von grundsätzlicher Bedeutung, weil sich in der violenten sexuellen Begegnung die Verrohung einer von Gewalt zerrütteten Gemeinschaft widerspiegelt, „[qui] continue d’avancer dans l’horreur“ (CA: 160). 476 Während politische Gewalt im globalen Diskurs über Haiti immer wieder Thema ist, 477 handelt es sich bei sexueller Gewalt um eine Spielart, die laut Recherchen der Menschenrechtsorganisation Amnesty Interna- 475 Vgl. im Detail: „[I]ls ne peuvent pas voir leur ami. L’écho de la déflagration a rebondi sur le roc et dans la tête de Vanel et d’Ismona“ (CA: 219). Zur Nichtmitteilbarkeit des Schmerzes vgl. Scarry 1985: 4; Sofsky 2005: 79. 476 Sexuelle Gewalt nimmt innerhalb von Lahens’ Fiktion eine zentrale Stellung ein, so z. B. in den Kurzgeschichten „Corossols, oranges et citronnelles“ aus La folie était venue avec la pluie sowie „Le pays d’eau“ aus La petite corruption; insbesondere jedoch in ihrem Roman Guillaume und Nathalie aus dem Jahr 2013, in dem die Protagonistin mit dem Trauma, in ihrer Jugend vergewaltigt worden zu sein, kämpft. Vgl. ferner zur Thematik in der haitianischen Gegenwartsliteratur RPP: 38, 60; Manuel Étienne 2001: 62; Mars 2008: 86-87; G. Victor 2010. 477 Vgl. Kap. 1.2.2 sowie die in Kap. 1.2.1 genannten zeitgeschichtlichen und politikwissenschaftlichen Studien. <?page no="199"?> 187 tional sowohl innerhalb als auch außerhalb Haitis nur selten zur Sprache kommt (vgl. Amnesty International 2008), sodass die Erfahrung des (weiblichen) Opfers sexueller Gewalt generell innerhalb des Diskurses über Gewalt in Haiti marginalisiert wird. Diese Tatsache überträgt Lahens auch auf die Struktur der Erzählung, denn dort wird dieses Phänomen gleichermaßen nur als randständiges Motiv eingeführt, das en passant gestreift wird. Zumal das Vorliegen eines Gewaltakts auch nicht unbedingt sofort ersichtlich ist, da es sich im Falle von Angélique wie auch Joyeuse eben nicht um eine offenkundige Vergewaltigung im Sinne von unter Gewalt oder Drohung mit Gefahr für Leib und Leben erzwungenem Geschlechtsverkehr handelt, womit der Tatbestand der sexuellen Gewalt fälschlicherweise gleichgesetzt werden könnte. 478 Vielmehr besteht die Gewalthandlung weniger in einer konkreten physischen Verletzung, sondern darin, dass die Frau zu einem Lustobjekt reduziert wird (vgl. Giedelt 2010: 3). Hieraus resultiert, dass sie nicht mehr als Subjekt, sondern nur noch als ‚benutzbarer‘ Körper wahrgenommen wird - eine Erfahrung, die sich in La couleur de l’aube jedoch als nicht minder gravierend herausstellt. 479 Im Folgenden werde ich dies anhand der Erlebnisse von Angélique und Joyeuse herausarbeiten. Interessanterweise findet die im Roman beschriebene sexuelle Gewalt allerdings gerade nicht im Kontext gewaltsamer Auseinandersetzungen (z. B. als Mittel zur Terrorisierung der Zivilbevölkerung in innergesellschaftlichen Konflikten) statt, obwohl dieses Phänomen auch in Haiti aufgetreten ist (vgl. Faedi 2008: 170-73). Lahens nutzt die Thematik mithin explizit nicht, um die Exzessivität des politischen Konflikts auszugestalten, sondern vielmehr um versteckte Formen der Gewalt zur Sprache zu bringen, die nicht einer Ausnahmesituation, sondern gerade eben der gewöhnlichen Erfahrungswelt zuzuordnen sind, und so über den Bericht zweier Erzählerinnen die diskursive Marginalisierung einer spezifisch weiblichen Gewalterfahrung zu durchkreuzen, indem die Alltäglichkeit sexueller Übergriffe sichtbar gemacht wird. Die Analyse wird außerdem beleuchten, dass die asymmetrischen Machtstrukturen, welche über die Bilder sexueller Gewalt zum Ausdruck kommen, die sozialen Hierarchien 478 Zur Heterogenität des Phänomens der sexuellen Gewalt vgl. Bourke 2007: 8-9; Heberle/ Grace 2009: 2; Künzel 2003a: 10. Vgl. in diesem Kontext die juristische Definition sexueller Nötigung, die Vergewaltigung als eine (besonders schwere) Variante ebenjener anführt (vgl. Giedelt 2010: 3-4) und die vom Vorliegen eines Tatbestands ausgeht, wenn grundsätzlich die „Freiheit vor Fremdbestimmung auf sexuellem Gebiet“ (ebd.: 3) verletzt wurde. Grundsätzlich stellt sexuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen in der zeitgenössischen haitianischen Gesellschaft ein weit verbreitetes und dringliches Problem dar. Strafverfolgung bleibt in der Realität meist aus und die Opfer werden vielfach von der Gesellschaft stigmatisiert, wie sich u. a. in einem Bericht von Amnesty International aus dem Jahr 2008 nachlesen lässt (vgl. Amnesty International 2008; Faedi 2008). 479 Zu sexueller Gewalt als traumatischer Erfahrung vgl. Künzel 2003b: 238; L. Brown 1995. <?page no="200"?> 188 innerhalb der haitianischen Gesellschaft widerspiegeln. Erst vor dem Hintergrund dieser Überlegungen eröffnen sich der Leserschaft das tatsächliche Ausmaß und die Vielschichtigkeit der Traumatisierung des Subjekts in La couleur de l’aube. 480 Dass Gewalt die zwischenmenschliche Begegnung mit dem Anderen prägt, werde ich in einem zweiten Schritt auch anhand des Liebespaares Joyeuse und Luckson erörtern. Scheint diese Beziehung zunächst einen Gegenpol in einer Welt darzustellen, in der auch Sexualität von Gewalt und Ausbeutung dominiert wird, verdeutlicht eine eingehende Analyse, dass sich das Liebespaar in einer violenten Welt zunehmend entfremdet. Momente der Intimität werden durch die Omnipräsenz der Gewalt vordergründig zwar nicht komplett verhindert, doch zeigt die folgende Untersuchung, dass die Beziehung der beiden Liebenden nicht mehr von Vertrautheit geprägt ist, sondern das Individuum auch in der Nähe zum Anderen einsam bleibt. 3.4.1 Sexuelle Gewalt und gesellschaftliche Zerrüttung Sieht man von der Liebesbeziehung von Joyeuse und Luckson ab, welche Gegenstand der Analyse in Kapitel 3.4.2 ist, präsentiert sich die Begegnung zwischen Mann und Frau in La couleur de l’aube als von materiellen Interessen geleitet bzw. insbesondere als Akt des aggressiven Begehrens des anderen Körpers. 481 Sexualität verkommt mithin in Lahens’ Text zu einem Akt der Violenz, der die weibliche Erfahrungswirklichkeit prägt. Wie jede andere Form der Gewalt ist sexueller Missbrauch Ausdruck spezifischer Machtbeziehungen und vollzieht sich in bestimmten historischen und sozialen Kontexten, so leiten es Paula Morgan und Valerie Youssef in ihrer Studie Writing Rage. Unmasking Violence through Caribbean Discourse (2006) her (vgl. Morgan/ Youssef 2006: 171). Dies ist im Zusammenhang mit Lahens’ Roman dahingehend von besonderem Interesse, da hier, wie eingangs bereits angerissen, das Motiv der sexuellen Gewalt und das angeprangerte Machtgefälle in der Beziehung zwischen Mann und Frau symbolisch asymmetrische Geschlechter- und Sozialstrukturen der haitianischen Gesellschaft sichtbar werden lassen, die Unterdrückungs- und Diskriminierungsmechanismen der kolonialen Ära in der Gegenwart in abgewandelter Form wiederholen. 482 In der Erzählung springt nicht unbedingt sofort ins Auge, dass beide Erzählerinnen dieser Form der Gewalt zum Opfer gefallen sind. 480 Vgl. zur metaphorischen Verwendung des Motivs der sexuellen Gewalt (v. a. der Vergewaltigung) in postkolonialen Literaturen Milne 2007a: 25. 481 Vgl. Reemtsmas Begriff der ‚raptiven Gewalt‘, die sich seiner Definition nach dadurch auszeichnet, dass sie den anderen Körper benutzen und an ihm „(meist sexuelle) Handlungen […] vollziehen“ (Reemtsma 2009: 106) will (vgl. ebd.: 106, 110). 482 Zur Spaltung der haitianischen Gesellschaft vgl. Kap. 1.2.1; hinsichtlich La couleur de l’aube die Ausführungen in Kap. 3.6.1 und 3.6.3 sowie Sourieau 2012. <?page no="201"?> 189 Angéliques Bürde des ungewollten Kindes wird zwar fortwährend thematisiert, doch die tatsächlichen Umstände werden nur indirekt als Gewaltakt ausgewiesen. Ihre romantisch einsetzenden Erinnerungen an den Tag der Zeugung Gabriels enden abrupt mit dem Bild eines gefühllos hochgezogenen Reißverschlusses und von Spermaspuren auf ihrem Körper (vgl. CA: 128), die sich in der „souillure“ (CA: 128) der Empfängnis des ungewollten Kindes fortschreiben. 483 Obwohl der Geschlechtsakt einvernehmlich begonnen hat, erfährt die junge Frau im Verlauf doch Gewalt. Die Verletzung ist nicht vorrangig körperlicher Art, sondern vollzieht sich auch auf epistemischer Ebene, denn sie besteht gleichermaßen darin, dass der Mann ihren Körper ‚benutzt‘ und die junge Frau hierbei zu einem reinen Objekt der Triebbefriedigung degradiert. 484 Der Kindsvater verschwindet in der Folge zwar vordergründig, „[s]ans laisser la moindre trace“ (CA: 129), doch bleibt die (körperliche wie epistemische) Gewalterfahrung in Form einer traumatischen Spur bestehen: [J]e me lavais et me frottais. Encore et encore. […]. Je m’étonnais de n’y découvrir aucune marque visible […]. Que je sentais gravée en moi au tranchant d’un coutelas. […]. L’odeur de l’homme, la sueur qu’il avait déposée sur ma poitrine […], toute cette humeur animale imprégnait ma peau, et avait contaminé jusqu’à mes viscères. Au-dedans de moi s’épanouissait une pourriture, une charogne. (CA: 191) Für andere unsichtbar, wird das Trauma für Angélique richtiggehend körperlich, da die erlittene Demütigung über die ungeborene Leibesfrucht in ihrem Inneren materielle Gestalt angenommen hat. Spricht die Traumatheorie zunächst metaphorisch von einem Fremdkörper, den das Trauma als Spur zurücklasse (vgl. Eggers 2001: 603), wird er für Angélique durch das ungeborene Kind wortwörtlich Wirklichkeit. In der Folge projiziert sie die empfundene Demütigung und Schande auf ihren Sohn (‚pourriture‘, ‚charogne‘), „j’ai voulu cet enfant hors de moi“ (CA: 129). Auch den im Zitat beschriebenen autoaggressiven Waschzwang leitet sie sinnbildlich auf ihren Sohn Gabriel um, indem sie ihn mit Prügeln züchtigt (vgl. CA: 32). 483 Zur Problematik der sitzengelassenen Mütter und vaterlosen Kinder in Haiti vgl. Faedi 2008: 167; P. Girard 2010: 137. Dieses Phänomen wird im Roman nicht nur durch die Figur Angéliques aufgegriffen, sondern auch anhand des Schicksals der ‚Mère‘, die ihre von verschiedenen Vätern stammenden Kinder mit unterschiedlichen Nachnamen (Méracin, Hermantin) alleine durchs Leben bringen muss und aus diesem Grund ihren Körper verkauft (vgl. CA: 135-37). Zur Absenz des Vaters sowie dem Phänomen der ‚concubinage‘ in Lahens’ Werk vgl. auch die Kurzgeschichte „La folie était venue avec la pluie“ in der gleichnamigen Sammlung bzw. den Roman Guillaume et Nathalie (u. a. Lahens 2013: 48). Vgl. in diesem Zusammenhang auch das negative Vaterbild in L. Trouillots Roman Les enfants des héros (hierzu Lucas 2006: 412). Zur Vater-Thematik in der haitianischen Literatur generell vgl. die Dissertation von Blondi (2008). 484 Zur Unterdrückung der Frau in der haitianischen Gesellschaft als Akt der Gewalt vgl. Gilles 2012: 59. Zur Definition epistemischer Gewalt vgl. Kap. 1.2.3. <?page no="202"?> 190 Ein befreiender Effekt bleibt jedoch aus und der Versuch, die erfahrene Gewalt durch Gegengewalt ‚ungeschehen‘ zu machen, führt ihr vor Augen, dass auch sie in einer „mécanique de haine“ (CA: 52) gefangen ist. 485 Verarbeitet hat Angélique diese Erfahrung sexueller Gewalt bis in die Erzählgegenwart nicht. Sie definiert sich seither über den Status der ‚missbrauchten‘ und ‚gefallenen‘ Frau, den sie über ihre Hinwendung zur christlichen Religion als unauslöschbare Sünde kontinuierlich beschwört. Betrachtet man Angéliques Hingabe an ihren Glauben als Rettungsanker genauer, lässt sich jedoch erkennen, dass sie lediglich Handlungen reproduziert, die den Erwartungen der Gesellschaft entsprechen. Lahens spielt hier auf eine Stigmatisierung des Opfers sexueller Gewalt an, wie sie auch in der haitianischen Realität häufig stattfindet (vgl. Amnesty International 2008: 14), sodass die Betroffene das eigene Trauma zu einer selbst verschuldeten Sünde umdeutet: „mon péché“ (CA: 119). 486 So wie die Konnotation der engelhaften Leichtigkeit, die im Namen der jungen Frau angelegt ist (‚angélique‘), in krassem Gegensatz zur gramerfüllten Ausübung des eigenen Glaubens steht, 487 wird auch die positive Symbolik des biblischen Namensvetters ihres Sohnes dekonstruiert. Der Erzengel Gabriel gilt in der Bibel (vgl. Lukas 1, 26-33) als Verkünder der Geburt Jesu, des Erlösers der Menschen von den Sünden. Das gleichnamige Kind in La couleur de l’aube - „né d’une traîtrise, d’un de ces hommes nombreux, au plaisir sans délai et sans lendemain“ (CA: 127) - symbolisiert hingegen die als Sünde empfundene traumatische Vereinigung mit dem 485 Diese ‚mécanique de haine‘ wird in La couleur de l’aube zum Sinnbild der Hilflosigkeit der haitianischen Gesellschaft gegenüber eingeschliffenen, von Gewalt geprägten Handlungsmustern, wie sie Hurbon (2002) in seinem Beitrag zu Gewalt in Haiti beschreibt (vgl. hierzu Kap. 1.3). 486 Zur Marginalisierung des Opfers sexueller Gewalt vgl. Lahens’ Kurzgeschichte „Et tout ce malaise“ aus La folie était venue avec la pluie (u. a. Lahens 2006: 26). 487 Zur Namenssymbolik vgl. Kap. 3.5.2. Zu Angéliques verbittertem Praktizieren ihres Glaubens und ihrer resignativen Gottesgläubigkeit vgl. folgende Textstellen: „J’ai elévé Gabriel dans la crainte de Dieu. Dans l’horreur du peché“ (CA: 116); „Et moi dans la soumission au monde tel que Dieu l’avait créé“ (CA: 178). Vgl. hierzu Carré 2009. La couleur de l’aube thematisiert generell auf kritische Weise, inwieweit der traumatischen Gewalterfahrung durch den Glauben begegnet werden kann. Während Joyeuse sich gänzlich von der Religion abgewandt hat, vertritt Angélique eine freikirchliche, christliche Richtung (‚pentecôtistes‘); die ‚Mère‘ hingegen ist Vodou- Anhängerin. Lahens lässt beide Erzählerinnen die Möglichkeit der Religion, Trost zu spenden, äußerst kritisch bewerten (vgl. z. B. CA: 64, 119, 146, 207). Auf der einen Seite scheint die Mutter, die grundsätzlich als Bewahrerin traditioneller Bräuche beschrieben wird (vgl. CA: 42), Antworten in ihrer Religion zu finden, wenn sie Joyeuse zufolge die ‚lwa‘ bezeichnet als „ta seule rosée du matin, ta seule rivière d’eau douce, ta seule fenêtre ouverte sur le ciel“ (CA: 146) in einem „vie […] de tourments“ (CA: 146). Auf der anderen Seite lassen ihre Passivität und ihre Resignation (vgl. Kap. 3.5.1 bzw. z. B. CA: 201) Zweifel daran aufkommen, ob die Flucht in den Glauben ihr einen tatsächlichen Ausweg bietet. Zu Religion bei Lahens vgl. auch Sourieau 2012: 57-58. <?page no="203"?> 191 gewissenlosen Mann. Die im Namen angelegte Verkündung einer freudigen Zukunft wird im Roman somit nicht eingelöst. Mit ihrer „soumission au monde“ (CA: 178) und unter die Normen einer patriarchalisch geprägten Gesellschaft bildet Angélique einen deutlichen Gegenentwurf zu ihrer Schwester Joyeuse, die die Konfrontation mit ebendieser Gesellschaft sucht (vgl. z. B. CA: 178). Während Letztere das vorgefertigte Bild der gehorsamen, fremdbestimmten Frau verweigert, scheitert Angélique in dieser Hinsicht. Sie ist sich der eigenen Unterdrückung zwar bewusst und erkennt in sich noch die Frau „[avec] un corps qui peut encore servir. Et je souris et j’ai même envie de rire aux éclats“ (CA: 193); doch lässt sie dieses Bedürfnis, zu lachen, nicht zu: „Un rire qui monterait de mes reins jusqu’à ma bouche“ (CA: 193, Herv. J. B.). Auf das Verb im Konditional folgt lediglich die Leere des beendeten Kapitels. Das Beispiel von Angélique hat veranschaulicht, wie der Roman vor der Folie der Sexualität eine Aussage über ein diskriminierendes Geschlechterverhältnis in einer Gesellschaft trifft, welche durch eine „patriarchal misconception of the female’s body as property“ (Faedi 2008: 168) geprägt ist. 488 Betrachtet man die Erfahrung ihrer Schwester Joyeuse, die ebenfalls nur flüchtig im Text erwähnt wird, eröffnet sich jedoch noch eine weitere Dimension der Machtverhältnisse. Der Aggressor ist in diesem Fall der Mann ihrer Chefin, Monsieur Herbruch: […] Monsieur Herbruch avait voulu me raccompagner jusqu’à la station de tap tap. Malgré l’averse j’entendais ses pensées comme le tic-tac d’une horloge et ne fus guère prise de court quand, en arrêtant la voiture, il a posé une main sur mon sein gauche et l’autre sous ma jupe. (CA: 150-51) Auch in diesem Fall steht die sexuelle Belästigung nicht für sich, sondern ist zugleich als epistemischer Gewaltakt zu lesen. Zum einen liegt hier abermals eine „gewaltsam-sexistische[.] Zuschreibung von Geschlecht (gender)“ (Künzel 2003a: 17-18) vor, wie sie von zahlreichen männlichen Figu- 488 Zur Verfestigung des Bildes männlicher Dominanz und weiblicher Unterwerfung sowie einem massiven Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern in der haitianischen Gesellschaft vgl. Amnesty International 2008: 12; Faedi 2008: 165-66. Eine ähnliche Situation begegnet dem Leser im Falle der ‚Mère‘. Diese wird von Joyeuse zwar als von ihren Männern und Liebhabern unabhängig beschrieben (vgl. CA: 135- 38), doch offenbart eine gründliche Lektüre, dass auch sie aus materieller Not heraus gezwungen war, ihren Körper zu verkaufen. Zum Ausdruck kommt dies in einer Kindheitserinnerung von Joyeuse, welche die Liebhaber/ Freier als dunkle Schatten beschreibt, deren Präsenz in der Nacht bewirkt habe, dass es am Folgetag mehr zu essen gegeben habe (vgl. CA: 137). Von Bedeutung ist, dass die Erzählerin das erste Auftauchen dieses Schattens zeitlich durch die Bemerkung „un jour où nous n’avions pas mangé […]“(CA: 137) verortet, welche dem Leser die Verzweiflung der Mutter offenbart, die Joyeuse in ihrer eher idealisierten Wahrnehmung der ‚Mère‘ selbst gar nicht realisiert. Das Motiv der Frau, die sich zum Wohl der eigenen Familie an einen Mann verkauft, wird in La couleur de l’aube indes nicht nur über die Figur der ‚Mère‘ realisiert, sondern klingt auch in Johns Begierde für Joyeuse und der Tatsache an, dass er die Familie finanziell unterstützt (vgl. CA: 88). <?page no="204"?> 192 ren im Roman praktiziert wird und sich in einer erniedrigenden Wahrnehmung der Frau als Objekt äußert, dessen man sich nach Lust und Laune bedienen kann. 489 Zum anderen klingt in dieser Begegnung noch ein weiteres Machtverhältnis an, das anhand der Hautfarbe festgemacht wird: Herbruch wird als Mann „[d’]un physique nordique dans un pays de nègres“ (CA: 149) beschrieben, sodass seine sexuelle Allmachtsfantasie hier auch für die Omnipotenzvorstellung einer privilegierten Elite von ‚Weißen‘ und ‚Mulatten‘ steht, die in Haiti aus kolonialen Gesellschaftsstrukturen erwachsen ist. Er will sich an der ‚Schwarzen‘ Frau als Objekt der Triebbefriedigung vergreifen und wiederholt in diesem aggressiven Begehren den Habitus vieler ‚weißer‘ Plantagenbesitzer, die in der Kolonialzeit aus einem Gefühl der „racial superiority“ (Morgan/ Youssef 2006: 172) heraus ihre (Haus-)Sklavinnen ganz selbstverständlich missbraucht haben, 490 sodass in dieser Episode des Romans auch eine historische Gewalterfahrung mitklingt. Herbruch reduziert sie so auf einen begehrenswerten, aber zugleich minderwertigen Körper - eine Vorstellung, die grundsätzlich unter den Vertretern der Elite im Roman Widerhall findet: „Pour ces bourgeois, mulâtres à peau claire, je [= Joyeuse; Anm. J. B.] n’étais pas une jeune femme en herbe mais juste la femelle noire d’une espèce avec un simple appareil distinctif: deux seins et un vagin. Une espèce vouée aux cases, aux services ou au lit“ (CA: 123). 491 In ihren Augen ist Joyeuse kein gleichwertiges Subjekt, sondern lediglich über ihren Körper bestimmt, der zu verschiedenen Zwecken - ‚aux cases, aux services ou au lit‘ - eingesetzt werden kann. Durch eine solche verengte Wahrnehmung der ‚Schwarzen‘ Frau im Diskurs der Oberschicht über körperlich-animalische Attribute (vgl. auch CA: 96) wird Joyeuse gleich der ‚Schwarzen‘ Sklavin in der kolo- 489 Eine ähnliche Attitüde findet sich bei den Männer auf der Straße, die Joyeuse und ihrer Freundin Lolo hinterher gaffen und die von der Erzählerin abschätzig als „mâles […] se léchant les babines“ (CA: 60) bezeichnet werden, sowie dem US- Amerikaner John, der Angélique zufolge in Joyeuse nur ein unwiderstehliches „morceau de chair fraîche“ (CA: 89) sieht. 490 Zum kolonialen Usus des Missbrauchs von (Haus-)Sklavinnen vgl. Dubois 2004: 47; Métellus 2003: 241; Peterson 2001: x-xi. Zu ‚weißen‘ Konzeptualisierungen von ‚Blackness‘ durch übersexualisierte Zuschreibungen vgl. Kilomba 2008: 96. Auch an anderer Stelle wird die Erfahrung sexueller Gewalt an die Sklaverei zurückgebunden, wenn nämlich Joyeuse davon spricht, dass das Wissen der haitianischen Frau um die Begierde des ‚maître‘ nach den ‚négresses‘ bis zu den „aïeules […] dans les cales des navires“ (CA: 82) und somit in die Zeit der ‚Middle Passage‘ und des transatlantischen Sklavenhandels zurückreicht (vgl. CA: 82). 491 In dieser Textstelle klingen überdies weitere Topoi rassistisch motivierter sexueller Stereotype an, wie die eifersüchtige ‚weiße‘ Frau, die der ‚Schwarzen‘ Frau als potenziellem Sex-Objekt unterstellt, den ‚weißen‘ Mann verführen zu wollen (vgl. z. B. Fanon 1952; Kilomba 2008: 96; Maldonado-Torres 2010: 109). Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Feststellung von Kilomba (2008: 81), ‚Schwarze‘ Frauen würden einer verengten Wahrnehmung „at the level of the body“ (ebd.: 96) unterliegen und als „desirable sexualized body“ (ebd.: 83) entworfen. <?page no="205"?> 193 nialen Vergangenheit als ‚vergewaltigbarer‘ Körper (vgl. Maldonado- Torres 2010: 109) erschaffen. 492 Die Rollen werden in La couleur de l’aube jedoch neu verteilt, denn an die Stelle des Kolonisators, in dessen Vorstellungswelt die ‚Schwarze‘ Frau das legitime Vergewaltigungsopfer symbolisierte, 493 tritt mit Herbruch ein Angehöriger jener haitianischen Elite, die im 19. Jahrhundert im Zuge der Unabhängigkeit des Landes das von den ehemaligen Kolonisatoren hinterlassene Machtvakuum gefüllt hat. Hierbei hat sie in weiten Teilen grundlegende Strukturen der kolonialen Gesellschaft wie soziale Diskriminierung, Ausbeutung der Bevölkerung und Distanzierung gegenüber einer lokalen, afro-haitianischen Kultur übernommen, was zu einer Zerrüttung des sozialen Gefüges bis in die Gegenwart geführt hat (vgl. Dash 2010: 65; Gilles 2008: 35; Hurbon 2001: 102; M.-R. Trouillot 1995a: 126-30). 494 Dies kommt auch in Lahens’ La couleur de l’aube zum Ausdruck, wo Missbrauch, Erniedrigung und Entsolidarisierung die gesellschaftlichen Beziehungen dominieren. 495 Wenn Port-au-Prince zudem als ein Ort beschrieben wird, „[où i]l y a toute la malfaisante secrète inscrite dans ses murs depuis deux siècles“ (CA: 115), dessen „descente aux enfers“ (CA: 115) vor langer Zeit begonnen habe (vgl. CA: 115), wird diese historische Dimension der Problematik explizit zur Sprache gebracht. Das Aufeinandertreffen der unterschiedlichen Schichten am Beispiel von Joyeuse und ihrem Chef in La couleur de l’aube ist auch unabhängig von der Erwähnung von Herbruchs heller Hautfarbe interessant, ist ‚Blackness‘ der Soziologin Carolle Charles zufolge in Haiti doch kein Attribut mehr, das allein an der Physiognomie festzumachen ist, sondern das in gleicher Weise mit der sozialen Zugehörigkeit zusammenhängt (vgl. Charles 1992: 106-09). 496 Gilt die Vergewaltigung der ‚Schwarzen‘ Sklavin durch den 492 Zur ‚rapeability‘ als Attribut ‚subalterner‘ Existenz vgl. Maldonado-Torres 2010: 109 und die Erläuterungen zu dessen Konzept der Kolonialität des Seins in Kap. 1.2.3. 493 Zu den Stereotypen des ‚Schwarzen‘ Mannes als Vergewaltiger (der ‚weißen‘ Frau) und der ‚Schwarzen‘ Frau als legitimes Vergewaltigungsopfer (des ‚weißen‘ Mannes) in der kolonialen Vorstellungswelt vgl. Maldonado-Torres 2010: 109. 494 Zur Kluft innerhalb der haitianischen Gesellschaft vgl. die Ausführungen (insbesondere zur Vorherrschaft eines ‚predatory state‘ in Haiti) in Kap. 1.2.1. 495 Vgl. in diesem Kontext Maldonado-Torres 2010: 113. 496 Vgl. in diesem Kontext die von Métellus zitierte Wendung „Nèg rich cé milat, milat pauvre, cè nèg“ (2003: 244) (‚Un nègre riche est un mulâtre, un mulâtre pauvre est un nègre‘, Übersetzung von Métellus), weshalb M.-R. Trouillot in Haiti auch von einem Vorliegen ‚sozialer Apartheid‘ spricht (vgl. M.-R. Trouillot 1996: 229; ferner Fatton 2002: 52-53). Zur haitianischen Elite, die ihre Machtposition insbesondere im Zuge der Unabhängigkeit etabliert und sich ihrem Selbstverständnis gemäß über ihre hellere Hautfarbe in Abgrenzung zur restlichen Bevölkerung definiert hat, vgl. Hoffmann 1995: 31. Métellus zufolge wird eine derartige elitäre Abgrenzung vom Gros der Bevölkerung jedoch nicht nur von der Gesellschaftsschicht der wohlhabenden ‚mulâtres‘ praktiziert, sondern auch von dem ‚noirisme‘ verhafteten Intellektuellen (vgl. Métellus 2003: 243-44). Der ‚noirisme‘ in Haiti unter der Duvalier-Diktatur griff die Vorherrschaft einer hellhäutigeren Minderheit an und forderte die Anerkennung <?page no="206"?> 194 ‚weißen‘ Kolonialherrn als Symbol für die Ausbeutung der Neuen Welt durch die Kolonialmächte (vgl. z. B. Ashcroft et al. 2007: 36; Mbembe 2001: 175; Morgan/ Youssef 2006: 168), so verweist die Neubesetzung des Motivs in La couleur de l’aube dementsprechend auf den Fortbestand asymmetrischer Machtbeziehungen innerhalb der haitianischen Gesellschaft in Form der ‚Ausbeutung‘ der Bevölkerung durch die Oberschicht. 497 Bei genauerer Betrachtung zeichnet Lahens Joyeuse jedoch nicht als rein passives Opfer. Die Wortwahl der Erzählerin, wenn sie den aggressiven Annäherungsversuch von Herbruch beschreibt, legt offen, dass sie die ihr zugedachte Rolle der unterwürfigen Frau verweigert, die ‚gebraucht‘ werden kann. Sie ermächtigt sich in einem Akt der Selbstbestimmung wieder ihres eigenen Körpers und entlarvt durch ihr Verhalten Herbruchs aufdringliches Gebaren als Akt der sexuellen Gewalt und des Missbrauchs: Sans doute espérait-il [= Monsieur Herbruch, Anm. J. B.] batifoler dans quelque garçonnière et m’inscrire sur la liste de ses victimes. Je connaissais depuis longtemps l’appétit des hommes. Un autre avant lui, un monsieur respectable, ami d’oncle Antoine, m’avait déjà fait le coup de la voiture. Mes yeux plantés dans ceux de Monsieur Herbruch, j’ai enlevé, impassible, chacune de ses mains avant d’ouvrir la portière et de disparaître sous les trombes d’eau. Depuis, il évite mon regard mais n’ose pas me faire renvoyer. (CA: 151) Zugleich lässt die Erwähnung des ‚monsieur respectable‘ erkennen, dass es sich bei dem Übergriff von Monsieur Herbruch nicht um einen Einzelfall handelt. Hier deutet sich an, dass eine solche Erfahrung sexueller Ausbeutung zur Alltagswelt der weiblichen Figuren gehört. In Lahens’ Roman übersteigt die Kontinuität des Erlebens sexueller Gewalt jedoch den zeitlichen Rahmen der einzelnen Biografie und das Phänomen wird über einer „superiority of black rule“ (M. Smith 2009: 105; vgl. auch Barthélemy 1993: 184; ferner M. Smith 2009. Zur Rolle von ‚Rasse‘ als künstlich konstruierte Kategorie der Machtzuschreibung im (post)kolonialen Kontext sowie zum Zusammenhang von Hautfarbe und sozialem Status generell vgl. Quijano 2010: 25; Quijano 2007a. 497 Diese ‚Ausbeutung‘ manifestiert sich im Roman abgesehen von Joyeuses untergeordneter Position im Haushalt der Herbruchs auch in der Ausbeutung von Kindern als ‚restavèk‘ - eine Praxis, die in Kap. 3.6.3 ausführlicher beleuchtet wird. Auch in ihrem Roman Guillaume und Nathalie (2013) verhandelt Lahens die Frage der Hautfarbe und des sozialen Status sowie den Rassismus innerhalb der haitianischen Gesellschaft vor der Folie des Motivs der Sexualität. Dort findet sich eine ähnliche Szene wie in La couleur de l’aube, in der ein Angehöriger der Oberschicht versucht, sich einer jungen ‚Schwarzen‘ Frau zu ermächtigen, die sich dieser demütigenden Behandlung widersetzt (vgl. Lahens 2013: 84-85). Zur Thematik der sexuellen Ausbeutung bzw. der Vergewaltigung vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Ungleichheit und der Rolle der Hautfarbe als Indikator der sozialen Stellung und Grundlage eines fortdauernden Rassismus vgl. auch das Werk von G. Victor (z. B. Le diable dans un thé à la citronelle (1998), Le sang et la mer (2010)), wo zugleich u. a. die Option der Rache äußerst kritisch diskutiert wird. <?page no="207"?> 195 die Bezugnahme auf den kolonialen Kontext der Sklaverei als transgenerationelle traumatische Erfahrung der haitianischen Frauen inszeniert. Als aufschlussreich im vorliegenden Kontext stellt sich auch die sexuelle Begegnung mit dem US-Amerikaner John heraus, 498 dessen Annäherungsversuche Joyeuse gegenüber sich als ähnlich herabwürdigend wie das Verhalten Herbruchs entpuppen. Dass es sich bei der Vereinigung mit ihm keineswegs um eine Szene der Wollust handelt, wie noch die andere Erzählerin Angélique in einer aus ihrer Perspektive berichteten Episode behauptet, in der sie die Schwester eine sinnliche und manipulative Verführerin nennt (vgl. CA: 89), lässt sich anhand von Joyeuses eigenen Worten erkennen. Sie schlägt als Erzählerin nur wenige Seiten zuvor einen gänzlich anderen Ton an und beschreibt den Sex mit John in geradezu sterilem Vokabular, in dem emotionale Distanziertheit und Desillusionierung zum Ausdruck kommen: „Longtemps après que ses caresses ne m’émouvaient plus, je l’ai autorisé à me toucher […]“ (CA: 83, Herv. J. B.). Joyeuses Aussage verdeutlicht zwar, dass sie Johns aufdringlichem Werben aus freiem Willen nachgegeben hat (‚je l’ai autorisé‘), sodass man versucht sein mag, die violente Dimension dieser sexuellen Begegnung in Abrede zu stellen. Ruft man sich allerdings eine Anmerkung ins Gedächtnis zurück, die darauf hinweist, dass John die von Armut bedrohte Familie finanziell unterstützt (vgl. CA: 88), drängt sich die Frage auf, inwieweit die junge Frau tatsächlich als in ihrer Entscheidung frei zu verstehen ist. Auch wenn Lahens die Erzählerin dergestalt Stellung beziehen lässt, dass der Geschlechtsakt nicht gewaltsam erzwungen worden sei, zeigt eine genauere Betrachtung des Verhältnisses zwischen Joyeuse und John, dass auch hier insbesondere auf einer epistemischen Ebene Gewalt ausgeübt wird, die wie im zuvor erörterten Fall in asymmetrische Machtstrukturen eingebettet ist. John, „qui dans son Amérique blanche n’avait jamais approché une Joyeuse que dans un autobus ou à la caisse d’un magasin“ (CA: 89), stilisiert die junge Haitianerin in seiner „white conceptual world“ (Kilomba 2008: 96) ebenfalls zu einem exotischen, aber doch zugleich inferioren Sexualobjekt. 499 Dass er mit diesem Verhalten koloniale Machtstrukturen reproduziert, wird durch das Verb ‚explorer‘ (vgl. CA: 83) unterstrichen, welches verwendet wird, um die körperliche Annäherung zu umschreiben, und den Kolonialherrn als ‚explorateur‘ der Neuen Welt mitklingen lässt: „je l’ai autorisé à me toucher, à explorer encore et encore ce gouffre noir en moi“ (CA: 83, Herv. J. B.). Das Auskundschaften (‚explorer‘) der Tiefen des weiblichen Geschlechts (‚gouffre‘) repräsentiert hierbei keine Erfahrung 498 Zur Rolle von John als Ausländer, der Haiti gegenüber eine patriarchalische und überhebliche Haltung einnimmt, vgl. die Erörterungen in Kap. 3.6.1. 499 Vgl. zu dieser Thematik Lahens’ Kurzgeschichte „Le désastre banal“ aus La petite corruption (z. B. Lahens 1999: 28). <?page no="208"?> 196 von Alterität, sondern steht für einen Akt der Unterwerfung sowie eine durch wissenschaftlich-sterile Wissensgier geprägte Begutachtung des fremden Subjekts als Studienobjekt. 500 Trotz Joyeuses grundsätzlicher Einwilligung in die sexuelle Annäherung wird die Begegnung durch die Verwendung des Verbs ‚explorer‘ somit unverkennbar als gewaltsam ausgewiesen. 501 Der ‚Liebes‘akt wird in der Begegnung zwischen John und Joyeuse somit buchstäblich zur äußersten Form der Gewalt: der Vernichtung des Subjekts, das nur mehr noch als reines Objekt existiert. Der ‚gouffre noir‘ kann mithin nicht mehr nur als simple Metapher für das weibliche Geschlecht gelesen werden. Er verweist zugleich auf die traumatische Dimension der sexuellen Vereinigung mit John. 502 Ersichtlich wird jene die Beziehung der beiden bestimmende unterschwellige Diskriminierung zudem in dem von John verwendeten ‚Kosenamen‘ „‚Ma petite sorcière aux cheveux de charbon‘“ (CA: 83), welcher nicht nur klischeehafte Vorstellungen über Vodou (‚sorcière‘) widerspiegelt, sondern zugleich auf negative Konnotationen der Unzivilisiertheit und vermeintlichen Unsauberkeit bezüglich von Joyeuses Haar rekurriert (‚charbon‘). 503 Über schablonenhafte Exotismusvorstellungen werden dementsprechend negative Stereotype eines rassistischen Diskurses in auf den ersten Blick positive Zuschreibungen verkehrt, die bei genauerem Hinsehen allerdings einen Akt der Entwürdigung der haitianischen ‚Schwarzen‘ Frau implizieren. 504 Wie schon im Kontext der Belästigung durch Herbruch setzt sich Joyeuse gegen diese diskriminierende Fremdbestimmung zur Wehr. „Je voulais à la fois apprendre les leçons de la chair et comprendre cet homme, son héritage de conquêtes et ma propre force de vaincue“ (CA: 83), führt 500 Vgl. Britton 1999: 19 sowie zu John die Ausführungen in Kap. 3.6.1. Vgl. außerdem Glissants Kritik an westliche Denkschemata prägenden Dualismen in der Poétique de la Relation (1990), die ein Streben nach einem vollständigen Verstehen des Anderen implizierten (vgl. Glissant 1990: 104): „Il y a dans ce verbe comprendre le mouvement des mains qui prennent l’entour et le ramènent à soi. Geste d’enfermement sinon d’appropriation“ (ebd.: 206, Herv. J. B.). Vgl. ferner Mignolo 2000: 18. 501 Lahens ordnet durch die Ergänzung des ‚encore et encore‘ (CA: 83) in dieser Formulierung die Protagonistin mit ihrer Erfahrung implizit in die Reihe der vermeintlich ‚vergewaltigbaren Schwarzen‘ Körper der Vorfahrinnen ein (vgl. weiter oben und CA: 82) und setzt die individuelle so zur kollektiv relevanten historischen Erfahrung in Bezug. 502 Zum ‚gouffre‘ als Trauma-Metapher vgl. Kap. 3.5.2. 503 Zu Vorurteilen gegenüber dem haitianischen Vodou vgl. Farmer 2003: 190-91 bzw. dem Haar von ‚Schwarzen‘ Menschen Kilomba 2008: 71-73. Selbst wenn es nicht Johns Absicht ist, Joyeuse durch seine Wortwahl aktiv zu beleidigen, so belegen die verwendeten Bilder doch, wie stark er von einem Diskurs ‚weißer‘ Superiorität beeinflusst ist. Die Zuschreibung von vermeintlichen Attributen des Vodou verdeutlicht zudem, wie weit Johns Unkenntnis von Joyeuses Wesen im Grunde geht, wenn man bedenkt, wie rigoros sie diese Glaubensrichtung eigentlich ablehnt (vgl. z. B. CA: 18). 504 Zur Diskriminierung der haitianischen Bevölkerung durch ausländische Akteure im Werk von Lahens vgl. Guillaume et Nathalie (z. B. Lahens 2013: 23, 56). <?page no="209"?> 197 sie als Grund an, warum sie sich John schließlich hingibt. Durch eine kritische Reflexion der eigenen Situation verkehrt Joyeuse diese ‚leçons de chair‘ in eine Lektion über die Strukturen der Kolonialität (‚héritage de conquête‘), die der Begegnung mit dem US-Amerikaner zugrunde liegen. Die Fortführung einer von derartigen Hierarchien geprägten Beziehung zu John wird so im Roman als Konsolidierung von seit der Kolonialzeit bestehenden Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen in der Gegenwart entlarvt. In La couleur de l’aube findet sich entsprechend auch eine evidente Kritik an Frauen wie Joyeuses Freundin Lolo, die in einer Beziehung zu einem ‚weißen‘ Mann die Lösung ihrer Probleme zu finden glauben (vgl. z. B. CA: 80-83). 505 Im Roman wird dieses Verhalten in eine historische Tradition gestellt, wenn ein vermeintliches weibliches Wissen thematisiert wird, das über Generationen von Frauen bis zu den „aïeules sur les grabats des cases et dans les cales des navires“ (CA: 82) zurückgeht. Hierdurch wird indirekt ein Bezug zu jenen Sklavinnen hergestellt, die im Zulassen des sexuellen Missbrauchs durch den Sklavenhalter die Möglichkeit einer besseren Behandlung in der Zukunft sahen (vgl. Métellus 2003: 241). Joyeuses Entscheidung gegen John als Repräsentanten der Kolonialität und für den Haitianer Luckson, der ihr nichts zu bieten hat (vgl. CA: 83), wird vor diesem Hintergrund zu einem selbstermächtigenden Akt der Befreiung aus (neo)kolonialen Abhängigkeitsstrukturen. 506 Die Bedeutung dieses Handelns ist nicht zu unterschätzen, denn eine klischeehafte Verteilung der Rollen von Tätern (Männer) und Opfern (Frauen) im Kontext sexueller Gewalt, wie sie in La couleur de l’aube auf den ersten Blick vorgenommen wird, kann Milne zufolge äußerst heikel sein: [I]t may take only a short (albeit misguided) step from seeing a rape victim as essentially innocent to viewing her as essentially passive and excluded from History - and the man who abuses her, however deplorable, as essentially active and historically engaged. (2007a: 26) 507 Die Figur Joyeuse jedoch bricht diese Zuschreibung auf und verweigert sich der ihr zugedachten Rolle des (Sex-)Objekts. 508 Dieser Akt der Selbst- 505 Vgl. in diesem Kontext auch die Figur Anna in Lahens’ Kurzgeschichte „Trois morts naturelles“ in La folie était venue avec la pluie, die Liebesbeziehungen auf rein materielle Überlegungen herunterbricht. 506 Folglich reift die Figur Joyeuse, sodass sie eben gerade nicht zum Typus jener Frauen zu zählen ist, die ihren Körper einsetzen, um einen Pass zu bekommen (vgl. z. B. Lolo), wie es Cazenave (2011: 89) in einer Studie behauptet. Inwieweit die Beziehung von Luckson und Joyeuse fortbesteht und welche Bedeutung sie für den Roman hat, wird in Kap. 3.4.2 aufgegriffen. 507 Gerade postkoloniale Texte greifen Milne zufolge vielfach auf derartige Stereotype wie die Vergewaltigung des schwachen, unschuldigen Opfers (Frau, Kind) durch den starken Täter (Mann) zurück (vgl. Milne 2007a: 26). 508 Für eine Diskussion der Selbstermächtigung des Gewaltopfers durch das Aussprechen des eigenen Traumas sei auf die Ausführungen in Kap. 3.5.2 verwiesen. <?page no="210"?> 198 ermächtigung demonstriert zwar, wie sie sich als Opfer gegenüber der vermeintlichen Allmacht des Täters emanzipiert. Wider Erwarten führt er im Roman aber nicht zu einer Entkopplung von Sexualität und Gewalt. Denn Joyeuse verkehrt in einer finalen Rachefantasie ihr - sie vordergründig auf die Rolle des Opfers festschreibendes - Geschlecht zur Waffe, wenn sie sich vorstellt, wie sie Fignolés Verräter Jean-Baptiste verführt, um ihn anschließend zu töten (vgl. CA: 214). 509 An dieser Stelle lässt sich resümieren, dass die Betrachtung des Motivs der sexuellen Gewalt verdeutlicht hat, dass sich die traumatische Gewalterfahrung in La couleur de l’aube nicht auf den Bereich der politischen Auseinandersetzungen beschränkt. Das Phänomen der Gewalt hat in Lahens’ Roman ganz unterschiedliche Gesichter und die Analyse hat veranschaulicht, dass auch die epistemische Dimension nicht vergessen werden darf, die den zunächst rein körperlichen Akt um einen Angriff auf den Subjektstatus des Individuums ergänzt, das nur noch als ‚benutzbarer‘ Körper wahrgenommen wird, was über das Motiv der sexuellen Gewalt in La couleur de l’aube als spezifisch weibliche Erfahrung ausgewiesen wird. Zugleich hat die Untersuchung ergeben, dass Lahens anhand des Phänomens der sexuellen Gewalt die tiefe Spaltung der haitianischen Gesellschaft sowie das Verhältnis des westlichen Auslands zu Haiti kritisch zur Sprache bringt, indem sie sie als von asymmetrischen, violenten Machtbeziehungen dominiert inszeniert. Dass der in diesen Episoden aufscheinenden Zerrüttung der zwischenmenschlichen Bindungen jedoch auch mit dem Entwurf einer positiv konnotierten Liebesbeziehung zwischen Joyeuse und Luckson innerhalb der Erzählung kein Einhalt geboten wird, gilt es im Folgenden zu erläutern. 3.4.2 ‚Ce fut la toute première image que j’ai gardée de lui, la main et le sang‘: Gewalt und die Entfremdung des Liebespaares Wie gezeigt wurde, bestimmen nunmehr materielle Überlegungen (wie im Falle Lolos) oder die Bestätigung der eigenen Machtposition in der Unterwerfung des weiblichen (‚Schwarzen‘) Körpers (wie im Falle Monsieur Herbruchs oder Johns) die zwischenmenschlichen Beziehungen. Ihre dezidierte Ausgestaltung findet diese Zerrüttung der Zweisamkeit, die durch das Motiv der sexuellen Gewalt als einen Großteil der weiblichen Figuren des Romans vereinende Erfahrung bereits konturiert wurde, jedoch in der Entfremdung des Liebespaares. Diese ist als Symbol für die Hinfälligkeit emotionaler Bindungen in einer von Gewalt geprägten Wirklichkeit zu lesen, innerhalb derer die sozialen Strukturen angesichts der stets im Raum stehenden Bedrohung, Opfer zu werden, vom Zerfall bedroht sind. Das Scheitern des Liebespaares in La couleur de l’aube verdeutlicht, dass die Autorin, ebenso wie Lyonel Trouillot in Rue des pas-perdus (vgl. Kap. 509 Vgl. für eine ausführlichere Interpretation dieser Szene Kap. 3.4.2. <?page no="211"?> 199 2.3), nicht der Versuchung verfällt, auf den stereotypen diskursiven Entwurf von Haiti als Ort der Gewalt mit einem überhöhten Gegenbild zu antworten. Der Gewalt im Roman wird keine harmonische Liebesszene entgegengesetzt und somit auf das Inszenieren einer utopischen Lösung in der Erzählgegenwart verzichtet, welche die kollektiv relevante, traumatische Gewalterfahrung relativieren könnte. 510 Eine gründliche Analyse zeigt vielmehr, dass Gewalt auch die Begegnung mit dem geliebten Anderen bestimmt. In La couleur de l’aube erfolgt innerhalb der Erzählung von Joyeuse eine direkte Bezugnahme auf das idealisierte Liebespaar in Roumains Gouverneurs de la rosée: „[L]es mésaventures d’eau de Manuel et d’Anaïse m’ont avant tout laissé dans la plus grande perplexité“ (CA: 149). 511 Diesem Ideal wird eine klare Absage erteilt, denn die Geschichte von Manuel und Annaïse verwirrt die Erzählerin nicht nur zutiefst. Sie bezeichnet deren Suche nach dem Wasser, welches bei Roumain die Gemeinschaft aus der Krise führt und Solidarität als Motor der zwischenmenschlichen Beziehungen wieder erstarken lässt, außerdem despektierlich als ‚mésaventures d’eau‘. Das utopische Projekt bei Roumain wird durch diese Worte als weltfremd ‚belächelt‘ und als für die Post-Duvalier-Ära unzeitgemäß demaskiert. Obwohl auch Manuel und Annaïse nicht ihr Glück finden, weil der Protagonist gewaltsam zu Tode kommt, ist ihre Beziehung doch klar positiv konnotiert, da sich der Einzelne für das Wohl der Allgemeinheit opfert (vgl. Borst 2013b: 227, 232). Aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu zwei miteinander verfeindeten Familien kündigt ihre Vereinigung als Paar bereits den am Ende des Romans neu gewonnenen Zusammenhalt der Dorfgemeinschaft an und bildet die Basis für eine zuversichtliche Vision der Zukunft. Symbolisiert wird der Aufbruch in die Zukunft in Gouverneurs de la rosée durch Manuels ungeborenes Kind, das Annaïse unter dem Herzen trägt (vgl. Gazarian-Gautier 1973: 19). Dieses Motiv wird bei Lahens mit Gabriel zur Figur des ungewollten Kindes verkehrt, das als lebendes Relikt sexueller Gewalt nicht auf eine positive Zukunft, sondern auf eine traumatische Vergangenheit verweist. 512 Während die Erfahrung sexueller Gewalt der beiden Erzählerinnen aus Lahens’ Roman schon zeigt, dass der Kontakt zwischen den Geschlechtern 510 Auch in Lahens’ Bericht über das Erdbeben Failles (2010) finden sich Versatzstücke einer Liebesgeschichte, die angesichts der traumatischen Erfahrung der Naturkatastrophe jedoch nur als Fragment bestehen bleibt. Die Autorin bricht ab mit den Worten „je ne sais pas encore ce qu’il adviendra de Nathalie et Guillaume“ (Lahens 2010b: 158). Interessanterweise überlebt somit auch diese Liebesgeschichte in Lahens’ testimonialem Text nur in Form von Einschüben; vgl. hierzu Rousseau/ Lahens 2011. ‚Beendet‘ hat sie die Geschichte von Guillaume und Nathalie in dem zwei Jahre später erschienenen gleichnamigen Roman. 511 Für eine Inhaltszusammenfassung und die Bedeutung von Gouverneurs de la rosée als Intertext für die haitianische Literatur vgl. Kap. 2.3. 512 Zur Demontage des Topos des Kindes als Zeichen der Hoffnung bei Lahens vgl. Kap. 3.2. <?page no="212"?> 200 von repressiven Machtbeziehungen geprägt ist, so scheint zumindest Joyeuses Beziehung zu Luckson auf den ersten Blick als Gegenentwurf im Raum zu stehen; zumal sie, wie in Kapitel 3.4.1 erörtert, für die Protagonistin Joyeuse einen Akt der Selbstbestimmung symbolisiert. Eine detaillierte Untersuchung dieses Verhältnisses stellt jedoch heraus, dass in La couleur de l’aube auch vor der Folie des Liebespaares weiterhin die Veralltäglichung der Gewalt und die Zerrüttung der Gesellschaft verhandelt werden. Zweisamkeit als Gegenwelt zu einer violenten Lebenswirklichkeit scheitert bei Lahens. 513 Gerade wenn man die erste Begegnung von Joyeuse und Luckson betrachtet, offenbart sich auf evidente Weise, dass sich auch ihre Liebe der Gewalt nicht entziehen kann. Der Moment des Kennenlernens wird von Lahens in einem von Ausschreitungen bestimmten öffentlichen Raum verortet. 514 Den Hintergrund der Szene bildet ein spontaner Protest auf der Straße, der die Passanten zunächst nur mit resignierender Gewohnheit reagieren lässt und sich schließlich in einen eskalierenden Gewaltausbruch verkehrt (vgl. CA: 95-96). An die Stelle romantischer Bilder des zufälligen Zusammentreffens zweier Liebender tritt mithin eine Szenerie der Gewalt: Vor den Auseinandersetzungen flüchtend stolpert Joyeuse über die Leiche eines Studenten und anstatt in einem ersten Blickkontakt die Liebe des Anderen in dessen Augen zu entdecken, schaut sie zunächst nur in jene „yeux révulsés“ (CA: 96) eines Toten, woraufhin sie sogleich dem kalten Blick seines Mörders begegnet (vgl. CA: 96). Luckson hingegen ist zunächst nur in Form einer Hand und einer Stimme präsent, als er die junge Frau vor jenem Mörder und einem ähnlichen Schicksal rettet (vgl. CA: 97, 107). Mit der blutverschmierten Hand, die Luckson Joyeuse hierfür reicht, gründet der Ursprung der Beziehung in einem Bild der Gewalt: „Ce fut la toute première image que j’ai gardée de lui, la main et le sang“ (CA: 107). 515 513 Vgl. hierzu die Aussage der Autorin in einem Interview: „Même si j’avais écrit une histoire d’amour, je crois qu’il y aura toujours autre chose dont je vais parler“ (Lahens in: Spear/ Lahens 2009: 21: 01-21: 07 Min.); ferner Dorcely/ L. Trouillot 2007: 168. 514 Geprägt ist dieser öffentliche Raum von den in Kap. 3.3 erwähnten, allseits ertönenden Schüssen, die auch im Rahmen der Gewalteskalation auf den Straßen, während der Joyeuse und Luckson sich kennenlernen, als auditive Orientierungspunkte die Stadtlandschaft strukturieren (vgl. CA: 95-96). Die hier am Rande beschriebenen Proteste und ihre Niederschlagung durch staatliche Akteure wie bewaffnete Banden (vgl. CA: 96) werden dezidiert von L. Trouillot in seinem Roman Bicentenaire literarisch ausgestaltet. Dort bildet eine gegen die bestehenden Verhältnisse gerichtete Demonstration den narrativen Fluchtpunkt, in deren Rahmen durch die beiden Brüder Lucien (Demonstrant) und Little Joe (Mitglied einer der von den Machthabern instrumentalisierten, kriminellen Gruppen, welche die Demonstranten angreifen) die sich gegenüberstehenden Akteure aufgerufen werden (vgl. Borst 2013b.) 515 Die blutverschmierte Hand stellt auch Lucksons eigene Rolle im Rahmen der Geschehnisse infrage, bleibt doch unklar, wie das Blut an seine Hand gelangt ist bzw. er sich diese verletzt hat. Er fügt sich durch diese Beschreibung in die Reihe jener in Kap. 3.2 beschriebenen ambivalenten Figuren ein, die wie Fignolé nicht eindeutig als Täter oder Opfer festzulegen sind. <?page no="213"?> 201 Es setzt sich auf olfaktorischer Ebene im strengen Geruch des Blutes fort, der schließlich die erste zärtliche Berührung der beiden einleitet: „L’odeur légèrement âcre du sang quand en me penchant pour arranger les lanières de mes sandales, ma joue droite a frôlé ses doigts. Il s’est accroupi. J’ai relevé la tête et j’ai vu son visage tout près du mien“ (CA: 107-08). 516 Die Ebenen vermischen sich hier und während auf den Straßen die Gewalt weiter tobt, verliebt sich Joyeuse in ihren Retter. Die Idylle einer ersten zärtlichen Berührung zweier Liebender wird in La couleur de l’aube folglich durch das Motiv der blutigen Hand zersetzt, die zu einer makabren Symbolik zwischenmenschlicher Nähe in einem Universum der Gewalt erhoben wird. Neben das Bild der Hand treten als Spur des neuen Verliebtseins die Blutflecken auf Joyeuses T-Shirt (vgl. CA: 112). Diese von Gewalt durchdrungene, ‚entstellte‘ Liebes-Symbolik wird von Lahens an späterer Stelle erneut beschworen, wenn Joyeuse Lucksons (mittlerweile vernarbte) Hand, die in einem Kontext der Gewalt zwischen beiden Individuen eine zwischenmenschliche Brücke aufgespannt hat, voller Faszination betrachtet (vgl. CA: 196). Durch die zurückgebliebene Narbe signalisiert die Autorin, dass sich die Gewalt als Begründungsmoment der Nähe auch auf Dauer in die Beziehung eingeschlichen hat. Wenngleich Luckson für Joyeuse eine Person darstellt, die bis ins Innerste ihrer Seele blicken kann (vgl. CA: 125, 195), scheitern die beiden ungeachtet dessen daran, ihr Trauma auszusprechen. Als Luckson die junge Frau nach ihrem Befinden fragt, verweigert Joyeuse ihm - und auch dem Leser - mit der dreimal wiederholten Formel „Tais-toi“ (CA: 196, 197) die Antwort. An die Stelle des Gesprächs tritt verstörtes Schweigen: „Nous n’échangeons plus un seul mot. Le silence envahit notre histoire“ (CA: 197), was sich schließlich im Liebesakt fortsetzt, der die körperliche Vereinigung als intensivste Form der Intimität in einen Akt der Distanz verkehrt, die trotz des Wechsels in die direkte Anrede (‚tu‘) nicht überbrückbar scheint: Tu n’as pas senti la rétraction de mon corps. Tu n’as pas su voir mes yeux désespérés ouverts sur la nuit. Même quand lentement mon corps s’est réveillé sous la douceur de tes doigts […]. Comme si ces ruées de ton corps allaient atteindre, ouvrir, inonder et guérir mon âme. Je ne voulais pas guérir. Je voulais fuir et ne le pouvais pas. […]. Nous étions si ébahis de douceur, si écrasés de jouissance que nous nous sommes regardés comme deux étrangers arrivés d’une contrée lointaine. (CA: 198, Herv. J. B.) Liest man diese Szene vor dem Hintergrund, dass es den Figuren in La couleur de l’aube grundsätzlich kaum gelingt, Trauma sprachlich aufzuarbeiten, wie im anschließenden Kapitel noch im Detail erörtert wird (vgl. Kap. 3.5.1), erweist sich die zum Scheitern verurteilte Liebesbeziehung, in der wahre Nähe nicht möglich ist, als Modell für die Zerrüttung der ganzen Gesellschaft. Die Formelhaftigkeit des ‚Tu n’as pas senti‘, 516 Vgl. folgenden Auszug aus dem Roman: „Ces odeurs sont celle de sa main tout près de mon visage et celle du sang sur cette main“ (vgl. CA: 95). <?page no="214"?> 202 ‚Tu n’as pas su voir‘ unterstreicht die Einsamkeit der beiden Personen im Moment der größten Vertrautheit, der sich schlussendlich als Moment der Entfremdung (‚deux étrangers‘) entpuppt. Der Text gewährt in diesem Augenblick der Intimität einen kurzen Einblick in das Trauma der Erzählerin Joyeuse, welches in ihrer Körpersprache in der ‚rétraction‘ und ihren ‚yeux désespérés‘ einen Ausdruck findet. Die zitierte Szene zeigt somit, dass Luckson überhaupt nicht in der Lage ist, ihr Innerstes tatsächlich zu erkennen. Seine Bitte um Neuigkeiten von Fignolé, mit der er sein Schweigen nach dem Geschlechtsakt bricht (vgl. CA: 199), gerät so nunmehr zu einer leeren Formel und einem Zeichen der Hilflosigkeit. Während der Geschlechtsverkehr anders als in Rue des pas-perdus (vgl. Kap. 2.3) in La couleur de l’aube zwar mit Gewissheit stattfindet und auch beschrieben wird, stellt er sich am Ende trotzdem als trostlos heraus und bildet so einen schroffen Gegensatz zu jener idyllischen Liebesszene in Gouverneurs de la rosée, auf die der oben zitierte Ausdruck „mésaventures d’eau“ (CA: 149) ebenfalls anspielt. Während Manuel und Annaïse an der entdeckten Quelle zueinander finden und sich in ihrer körperlichen Vereinigung die neue Einheit der Gemeinschaft ankündigt (vgl. Roumain 2000: 120-21), bleiben sich Luckson und Joyeuse im Geschlechtsakt weiterhin fremd. Erfüllung in der Liebe als Gegenentwurf zur Traumatisierung der Gewalt wird folglich in La couleur de l’aube verweigert und Joyeuse gibt ihren Traum vom Glück mit Luckson auf, „après l’avoir tant attendu“ (CA: 214). Da sie längst erkannt hat, „[qu’en] réalité, je ne rêve pas“ (CA: 140), ist ihr die Einsicht möglich, dass die Vereinigung im sexuellen Akt nur eine oberflächliche war und auch der vergebliche Versuch, Liebe zuzulassen, den erlittenen (psychischen) Schmerz nicht lindern kann. Dass Joyeuse Luckson am Ende des Romans verlässt, deutet aber auch ihre Angst vor diesem Verlust des Anderen an, den sie durch Fignolés Verschwinden wie auch die Lücke, die der absente Vater in ihrem Leben hinterlassen hat, bereits durchleben musste. Die Figur wird von Lahens als sich dessen bewusst gezeigt, dass einzig die Liebe sie schwach werden lässt und das (Über-)Leben zu einer traumatischen Erfahrung macht (vgl. CA: 149). Dies führt bei Joyeuse zu einem Misstrauen gegenüber der Liebe - so sagt sie, „de l’amour je me suis toujours méfiée“ (CA: 149) -, die es ihr nicht erlaubt, Trost im Anderen zu finden. Wie in Kapitel 3.4.1 bereits angerissen, entsagt sie am Ende des Romans jedoch nicht nur dieser Beziehung, sondern verschreibt ihre Sexualität gleichzeitig der Gewalt, indem sie ihre Rache an Jean-Baptiste als einen Akt der (tödlichen) Verführung plant: Je pense à l’autre. […]. À la robe moulante que je mettrai ce jour-là. À mes talons aiguilles. Au rouge carmin dont je dessinerai mes lèvres et à cette chose que je dissimulerai dans mon sac. Je pense à ce traître couché sur mon ventre et haletant pour une dernière fois. J’entends déjà la détonation. (CA: 214) <?page no="215"?> 203 Sexualität wird hier selbst zur Waffe, denn der Akt der Verführung mündet in dieser Vorstellung nicht mehr in die körperliche Vereinigung als Ausdruck des Begehrens des anderen Körpers, sondern in dessen potenzielle Zerstörung. Sowohl der Aspekt des sexuellen Missbrauchs als auch die Entfremdung des Liebespaares haben mithin verdeutlicht, dass der zwischenmenschliche Kontakt in La couleur de l’aube zerrüttet ist. Er ist zu einer reinen Aushandlung (sozialer) Machtpositionen verkommen und von Gewalt geprägt. In ihrem Roman präsentiert Lahens dementsprechend ein einsames Subjekt, dem der Andere in einer violenten Welt keinen Halt mehr gibt. Dass, wenn die Ebene der Zwischenmenschlichkeit dem Individuum keinen Rückzug mehr bietet, es dem traumatisierten Kollektiv verwehrt bleibt, die verstörende Gewalterfahrung im gemeinsamen Gespräch aufzuarbeiten, wird im Folgenden dargelegt. 3.5 Das traumatisierte Subjekt zwischen Sprachlosigkeit und Erzählen „Ce roman […] dit à la fois le silence et la nécessité de le percer, les hurlements des voix multiples prises dans l’entrecroisement des désespoirs, et la stupeur muette de ceux qui sont démentifiés.“ (Chemla 2008: o. S.) Repräsentiert Fignolé das Opfer, das die Gewalt aus dem Leben gerissen hat, sehen sich die beiden Erzählerinnen des Romans mit dem eigenen Überleben in einer violenten Alltagswirklichkeit konfrontiert. Lahens weist diese Erfahrung in La couleur de l’aube als äußerst verstörend aus und präsentiert traumatisierte Figuren, die angesichts dieser Bürde um Worte ringen. Über diese Darstellung greift die Autorin auf, wie schwierig es sich für das Individuum gestaltet, die erlebte Gewalt in Worte zu fassen und über Sprache greifbar zu machen, und wie essenziell diese sprachliche Bearbeitung doch ist, um die traumatische Erfahrung bewältigen zu können (vgl. Kap. 1.1.2). In den folgenden beiden Kapiteln wird vor dem Hintergrund des Scheiterns zahlreicher Figuren, jene in Worte zu fassen, erörtert, inwieweit dieses individuelle wie gesellschaftliche Schweigen von den narrativen Instanzen Joyeuse und Angélique durchbrochen, der Erzählvorgang als Akt der Traumabewältigung und Selbstermächtigung des Opfers gestaltet und der literarische Text somit als Raum der Auseinandersetzung mit einer kollektiv relevanten traumatischen Erfahrung ausgewiesen wird, wo bisher Unausgesprochenes zur Sprache gebracht werden kann. <?page no="216"?> 204 3.5.1 Die Bürde des Traumas und das Verstummen der Opfer Das traumatisierte Subjekt in La couleur de l’aube begegnet der verstörenden Alltäglichkeit der Gewalterfahrung meist hilflos. Eine profunde Lektüre des Romans zeigt, dass vornehmlich Sprachlosigkeit das Kommunikationsverhalten der Figuren prägt. 517 Exemplarisch zum Ausdruck kommt das Verstummen der Figuren in der Formulierung „rien vu, rien entendu“ (CA: 216), mit welcher der Erzähler des ‚Epilogs‘ die Reaktionen potenzieller Zeugen des Mords an Fignolé beschreibt. Die Textstelle veranschaulicht, dass die Menschen in der fiktiven Welt dazu tendieren, die Flucht in einer Verdrängung der Gewalt aus ihrer Lebenswirklichkeit zu suchen. Wie die einzelnen Romancharaktere im Schweigen versinken, sobald sie mit Gewalt und deren Implikationen konfrontiert sind, zeigt sich außerdem, wenn Angélique im Krankenhaus ihre Rolle als Pflegerin gegenüber den angeschossenen Jugendlichen erfüllt, indem sie zwar deren Schmerzen lindert, aber nicht in der Lage ist, darüber hinaus Trost spendende Worte zu finden: „Je ne leur dirai rien. […]. J’ai lui ai souri. Comme je pouvais“ (CA: 101-02). Obgleich sie selbst erkennt, dass eine Kontinuität des Schweigens nicht weiterführt, und dies symbolisch in Worte fasst, wenn sie sich von jenem Mann, dem sie nach dem Tod des angeschossenen Jugendlichen begegnet, wünscht „J’aurais voulu qu’il me dise quelque chose, n’importe quoi“ (CA: 143), verharrt sie als Figur letztlich in passiver Sprachlosigkeit. Dass die Figuren der Gewalterfahrung mit Worten nicht mehr beizukommen wissen, lässt sich überdies anhand zweier Szenen in einem ‚Taptap‘ illustrieren, 518 in denen die Passagiere (beinahe) überfallen werden. 519 Im ersten Fall, von Joyeuse berichtet, wird eine sprachliche Aufarbeitung der von den Anwesenden durchgestandenen Ängste vor einem drohenden Hinterhalt durch den Fahrer unterbunden, der eine Musikkassette einlegt: „Question d’éviter tout commentaire des passagers sur l’incident que nous venions de vivre. Question aussi de nous emmener en dansant sur les rives de l’oubli“ (CA: 84). Die ertönende seichte ‚Konpa‘- Musik 520 mit ihren verkürzten „formule[s] du bonheur“ (CA: 85) gaukelt le- 517 Die Analyse beschränkt sich an dieser Stelle zunächst auf die sprachliche Interaktion der Figuren der fiktiven Welt. Dass die Erzählerinnen auf der Ebene des Erzählvorgangs die Sprachlosigkeit überwinden, wird in Kap. 3.5.2 diskutiert. Zur Bedeutung des Aussprechens traumatischer Erfahrung im Werk der Autorin vgl. auch Lahens 2013: 152-57. 518 Mit dem Begriff ‚Taptap‘ werden in Haiti jene meist mit Motiven aus Religion sowie Persönlichkeiten aus Politik, Sport, Film und Musik bemalten Pick-ups und Kleinbusse bezeichnet, die im städtischen Verkehr als öffentliches Transportmittel dienen (vgl. u. a. CA: 93; Curnutte 2011: 63; Manuel et al. 2006: 141). 519 Zum Problem der Überfälle (auf Fahrzeuge etc.) durch kriminelle Banden in Haiti vgl. Kovats-Bernat 2006: 90-91. Diese Thematik wird auch in Lahens’ Kurzgeschichte „Le jour fêlé“ in Tante Résia et les dieux reflektiert. 520 Zur in Haiti sehr populären Musikrichtung ‚Konpa‘ vgl. z. B. Torres 2013. <?page no="217"?> 205 diglich Sorglosigkeit vor. In den Köpfen der Passagiere ist die (Angst vor der) Gewalterfahrung hingegen weiterhin präsent: „Et les choses de ce monde semblent reprendre leur place“ (CA: 84, Herv. J. B.), kommentiert die Erzählerin. Durch das Verb ‚sembler‘ lässt Lahens keinen Zweifel daran, dass es sich bei der vermeintlichen Rückkehr zur Normalität um eine Illusion handelt. 521 Auch im zweiten Fall, aus Angéliques Perspektive geschildert, scheitert Sprache als Möglichkeit der tröstenden zwischenmenschlichen Begegnung nach einem Überfall durch eine bewaffnete Gruppe (vgl. CA: 160-61): „Le silence qui suit est celui de la honte et de la colère. […]. On n’entend que le bruit des moteurs“ (CA: 161). Es verbleiben lediglich zitternde Lippen, die kaum hörbare, zusammenhangslose Worte, „des propos décousus, murmurés à voix basse“ (CA: 161), hervorstoßen (vgl. CA: 161) - Formulierungen, durch die Lahens unterstreicht, dass das Individuum in der Gewalterfahrung einsam ist und kein kollektiver Verarbeitungsprozess des Erlebten eingeleitet wird. Bereits vor dem Überfall bleibt das Sprechen über die prinzipiell bedrohliche Lebenswirklichkeit in Haiti eine „autre conversation, silencieuse“ (CA: 155), die nur in den Köpfen der Figuren stattfindet und hinter einem „grand théâtre“ (vgl. CA: 155) der Belanglosigkeiten zurücktritt, welches die anfängliche Unterhaltung im ‚Taptap‘ bestimmt. 522 Im Text wird das Geplänkel der Passagiere von der Erzählerin als Flucht vor der Auseinandersetzung mit der Realität der Post-Duvalier-Ära kommentiert: „Nous savons“ (CA: 156), sagt sie, und trotz alledem gelingt es den Anwesenden nicht, dieses Wissen in Worte zu fassen: „[N]ous sommes lâches. Plus lâches les uns que les autres. Nous nous indignons, nous étouffons nos cris“ (CA: 157). An Angéliques Anmerkungen zeigt Lahens, dass das Schweigen der Figuren nicht nur durch das traumatische Moment der Gewalterfahrung zu erklären ist. Sie scheinen es auch als einfacher zu empfinden, diese zu verdrängen, wohingegen die aktive Auseinandersetzung mit ihr einen schmerzhaften Prozess bedeutet, der das ursprüngliche traumatische Erlebnis wieder aufruft. 523 Schweigen prägt auch die Beziehung zwischen den Figuren Angélique und Joyeuse, die von Beginn an nicht das Gespräch miteinander finden, 521 Vgl. die ironische Bemerkung der Erzählerin am Ende des Kapitels in ihrer Gesamtheit: „Nous nous laissons emporter par ce compas à la sauce électrique qui dit en cadence pourquoi s’en faire, que l’argent est facile, que la vie est belle et que Djakout Mizik [= eine ‚Konpa‘-Gruppe; Anm. J. B.] a trouvé la formule du bonheur“ (CA: 85). Vgl. ferner CA: 166. 522 Dass diese ‚conversation silencieuse‘ über den narrativen Diskurs hörbar gemacht wird, thematisiere ich in Kap. 3.5.2. 523 Vgl. die Ausführungen zu Latenz und Nachträglichkeit des Traumas in Kap. 1.1.2. Indem die Autorin das Verhalten der Figuren, die erlebte Gewalt aus ihrem Bewusstsein zu verbannen, kritisch hinterfragt, schlägt sie in die gleiche Kerbe wie Danticat mit ihrem Vorwurf, die haitianische Kultur tendiere dazu, negative Ereignisse im Kontext der kollektiven Erinnerungsarbeit auszublenden (vgl. Danticat 2010: 63-64). <?page no="218"?> 206 um ihre Sorge um Fignolé zu teilen: „[N]ous éviterons malgré tout de parler ouvertement de l’absence de Fignolé. Nous aurons trop peur de le faire“ (CA: 25), lässt Lahens Angélique kommentieren. Diese Stille setzt sich die ganze Erzählung über im Verhältnis der beiden Schwestern und ihrer Mutter, „femmes […] grosses de tant de silence“ (CA: 202), fort und wird erst von den Schreien Paulos sinnbildlich unterbrochen, der Fignolés Tod verkündet (vgl. CA: 203). Doch noch bevor Vanel, der Paulo begleitet, seinen Bericht über das Sterben des Freundes beenden kann und den Namen desjenigen, der Fignolé verraten hat, tatsächlich ausspricht, ermächtigt sich das Schweigen, symbolisiert in den drei Auslassungspunkten, erneut der Erzählung: „‚J’ai vu… J’ai vu…‘ Il pleure à chaudes larmes comme un enfant mais les syllabes que nous attendons ne franchissent pas ses lèvres“ (CA: 205). 524 Das Romanende belegt, dass Fignolés Familie innerhalb der Erzählung nicht mehr im Gespräch zusammenfindet: „[N]ous n’avons pas encore eu le temps de chercher à comprendre. D’approfondir. De recoller ensemble les morceaux de l’histoire. Celle de la fin de notre Fignolé. Entre nous trois. Seules. Sans témoin“ (CA: 212). Vom Mikrokosmos der Familie auf die gesellschaftliche Ebene übertragen kann das Zitat zugleich als Hinweis darauf gelesen werden, dass eine solche Aufarbeitung Lahens’ Auffassung zufolge zuerst innerhalb des Kollektivs selbst zu leisten ist, „[e]ntre nous […]. Sans témoin“ (CA: 212). Sie verweist mit diesen Worten darauf, dass (diskursiven) Einflüssen von außen nicht zu viel Platz eingeräumt werden dürfe und die Aufarbeitung der Gewaltproblematik vielmehr zunächst in Haiti selbst stattfinden sollte. 525 Am Ende des Romans findet sich zwar eine Episode, die der Leser auf seiner möglichen Suche nach einem Hoffnungsschimmer vorschnell als Realisierung eines solchen Gesprächs zu lesen versucht sein mag: Sur la galerie, je [= Joyeuse; Anm. J. B.] m’assiérai juste entre Angélique et Mère et je ne dirai rien pendant un long moment ou si peu. Et puis sans vraiment y penser, quelques mots surgiront de nos songes. Dans ce silence et dans ces mots nous nous aimerons très forts. Nous serons bonnes aussi. Presque malgré nous. C’est le seul moment où un répit sera accordé à Ti Louze […]. Elle baignera enfin dans la même humanité que nous. C’est le moment de la journée ou [sic] nous pourrions nous écouter des heures entières. Le moment de la parole nue. (CA: 199-200, Herv. J. B.) Letztlich handelt es sich bei dieser Szene, wie anhand der Futur- und Konditionalendungen deutlich wird, jedoch nur um eine Wunschvorstellung. Der Ausschnitt ist umso aufschlussreicher, als hier nicht allein ein ‚heilendes‘ Gespräch erdacht wird. Vielmehr beinhaltet das Szenario zudem eine zwischenmenschliche Idylle, in der nicht nur die Familienbande gestärkt werden, sondern auch die ‚restavèk‘ Ti Louze als gleichwertiges 524 Für eine Analyse dieser Szene vgl. Kap. 3.3. 525 Vgl. hierzu auch: „Personne ne viendra nous sauver, Joyeuse, personne“ (CA: 81). <?page no="219"?> 207 Mitglied der Gemeinschaft anerkannt wird (‚Elle baignera enfin dans la même humanité que nous‘). 526 In der fiktiven Wirklichkeit wird diese Szene der Empathie jedoch nicht eingelöst und das abendliche Zusammentreffen der Frauen realisiert sich in gänzlich anderer Weise: Joyeuse est arrivée […], perdue dans ses pensées. Je [= Angélique; Anm. J. B.] lui relate en quelques mots ma visite au commissariat. Nous balbutions au milieu des ombres. Nous, femmes de trop de mots, grosses de tant de silence. Dieu que nous sommes silencieuses dans nos gesticulations! (CA: 202, Herv. J. B.) Schmerz und Verlust vereinen die Figuren nicht zum Gespräch. Vielmehr untermauert dieses Zitat die Einsamkeit des traumatisierten Individuums, das mit der Herausforderung der Traumabewältigung und in seiner Trauer für sich bleibt, weshalb die weiter oben wiedergegebene Szene auf der Veranda auch nur in einem nicht eingelösten Futur im Text vorstellbar ist. Eine Folge der Verlassenheit des traumatisierten Individuums ist eine verhängnisvolle Apathie, wie Lahens sie exemplarisch an der Figur der Mutter illustriert: „Mère dit que pour avoir vécu soixante ans dans cette île, elle est au-delà des ténèbres. Au-delà de la noirceur. Que son corps n’exhale pas encore une odeur de cadavre mais qu’elle est déjà morte“ (CA: 24). 527 Dieses Bild drückt aus, wie fatal es wäre, angesichts der bestehenden desolaten Lage einfach aufzugeben, wie es die Mutter dieser Bemerkung zufolge getan hat. Deren Resignationshaltung spiegelt sich auch in der ihr von der Autorin zugeschriebenen Position in der Erzählung wider. Anstatt dass Lahens sie aktiv als dritte Erzählerin auftreten lässt, die gleich ihren Töchtern die Gewalterfahrung in Worte zu fassen versucht (vgl. hierzu Kap. 3.5.2), besteht sie lediglich als in Schweigen versunkene Randfigur. Während, wie in Abschnitt 3.3 hergeleitet wurde, der Verlust von Fignolés Stimme die Vernichtung seines Körpers widerspiegelt, symbolisiert die marginale Stellung der ‚Mère‘, dass sie sich längst mit ihrem Schicksal abgefunden hat. Dass eine in Sprachlosigkeit versunkene Gesellschaft, die sich nicht mit dem eigenen Trauma auseinandersetzt, jederzeit davon bedroht ist, erneut in einen Strudel der Gewalt hineingesogen zu werden, wird am Ende des Romans deutlich. Dort spiegelt sich jene Wut Fignolés, die ihm schließlich zum Verhängnis geworden ist (vgl. CA: 92), in der Reaktion seiner 526 Bei den ‚restavèk‘ handelt es sich um Kinder und Jugendliche (Jungen wie Mädchen), die in Haiti in die ‚Obhut‘ fremder Familien gegeben werden, um dort - teils unter menschenunwürdigen Bedingungen - insbesondere Arbeiten im Haushalt zu verrichten. Vgl. z. B. Amnesty International 2009; Cadet 1998. Eine eingehende Analyse der Figur Ti Louze und ihrer Bedeutung für den Gesamtroman erfolgt in Kap. 3.6.3. 527 Diese Apathie wird im Text sehr kritisch kommentiert, wenn durch die Worte der Erzählerin Angélique der Willen der Gesellschaft nach einem Ausweg aus der Krise infrage gestellt wird: Konstatiert sie erst noch „Nous ne pouvons pas guérir“ (CA: 169), zweifelt sie diesen Fatalismus sogleich an und fragt: „Peut-être ne le voulonsnous pas? “ (CA: 169). <?page no="220"?> 208 Schwester Joyeuse wider, die sich von einem Gefühl des Hasses gegenüber dem Verräter ihres Bruders übermannen lässt, wie es bereits in Abschnitt 3.4 angeklungen ist. Die junge Frau, die der Leser über weite Strecken nicht nur als lebensfroh, sondern auch als kritisch-reflexiv und angesichts der zerrütteten sozialen Strukturen klarsichtig erlebt, wird im letzten Kapitel vor dem ‚Epilog‘ als decouragierte und zugleich zornige Figur gezeigt, die versucht ist, dem eigenen Trauma mit einem weiteren Akt der Gewalt zu begegnen. Sie verfällt in ihrer Sehnsucht nach Vergeltung ebenjener „mécanique de haine“ (CA: 52), die Angélique als Motor dafür nennt, dass sich Fignolés Engagement radikalisiert habe und sie selbst gegenüber Gabriel und Ti Louze handgreiflich geworden sei (vgl. CA: 52). 528 Besagte Szene sei an dieser Stelle zur Veranschaulichung abermals zitiert: Et ce matin je [= Joyeuse; Anm. J. B.] goûte pour la première fois la haine: un sentiment sublime qui me réchauffe le corps comme un alcool. Je mesure la profondeur du mal et l’infinie variété de ses conséquences. La jubilation, l’euphorie et l’indicible sentiment de supériorité qu’il procure quand il est couronné de succès. […]. Je pense à l’autre. Au traître. […] [À] cette chose que je dissimulerai dans mon sac. […]. J’entends déjà la détonation. Je sens la tiédeur du sang sur mes mains. Je vois ses yeux démesurément grands, fixant la mort avec étonnement. (CA: 213-14) 529 Derartige Rachefantasien erklären die Psychologen und Psychoanalytiker Böhm und S. Kaplan mit der vom Traumatisierten empfundenen Hilflosigkeit und dem „[…] Bedürfnis, wieder Kontrolle über sein Dasein zu gewinnen“ (2009: 50). Auch Joyeuse versucht mit Jean-Baptiste einen eindeutigen Täter zu identifizieren, dem sie die Schuld an Fignolés Tod geben kann, um den eigenen Schmerz zu betäuben. Böhm und S. Kaplan weisen auf ebendiese gefährlichen Auswirkungen der Suche nach einem Schuldigen hin (vgl. ebd.: 58), was zur Folge habe, dass „de[r] eigene[.] Zorn nach außen [gerichtet wird], weg von schmerzlichen Gefühlen“ (ebd.: 66). Wenn eine Realisierung des eigenen Rachebedürfnisses jedoch zu einem „Substitut für Trauer“ (ebd.: 66) wird, kann eine tatsächliche Auseinandersetzung mit dem eigenen Überleben nicht stattfinden. 530 528 Zur Last eines permanenten Verlangens nach Wiedergutmachung vgl. auch: „Et nous nous serrons la ceinture pour garder la vengeance à l’intérieur. Elle nous fait un dos rond, un corps qui dodeline, des yeux incandescents. Insoutenables“ (CA: 211). Für eine kritische Infragestellung der vermeintlichen Genugtuung durch ein Ausleben des Rachebedürfnisses vgl. auch eine Bemerkung aus Rue des pas-perdus: „Mais, je vous le demande, mes messieurs-dames, le feu consume-t-il la douleur? “ (RPP: 118); ferner Régis 2011: 69. 529 Vgl. zu dieser Szene auch die Interpretation in Kap. 3.4.2. 530 Zur Notwendigkeit, die traumatische Erfahrung als vergangen anzunehmen und den Blick auf die Zukunft zu richten, vgl. LaCapra 2001: 143-44; Suárez 2006: 5. Eine zentrale Rolle spielt das Streben nach Vergeltung in G. Victors Roman Le diable dans un thé à la citronelle. Anhand der Figur der ‚vieille Mirna‘, die sich Jahrzehnte später <?page no="221"?> 209 Die bereits in Kapitel 3.2 angeführte Szene, in der das Bild des betrauerten Bruders am Ende von Joyeuses Erzählung von jenem der gefundenen Waffe, welches aus einem „gouffre profond, terrifiant“ (CA: 213) emporsteigt, abgelöst wird, gewinnt im vorliegenden Kontext eine neue Bedeutung: Sinnbildlich gesprochen überlagert das Bild der Waffe als Symbol für Gewalt eine Auseinandersetzung mit der eigenen Trauer (symbolisiert im Bild des Bruders). Diese Motivik kündigt die anschließende Rachefantasie sowie die Möglichkeit eines weiteren Mordes an, 531 sodass die Erzählung regelrecht von Akten der Gewalt gerahmt ist. Mithin steht im Raum, dass sich Gewalt in einer unendlichen Schleife stetig reproduziert, was von Lahens am Ende von Joyeuses Erzählsequenz mit einem überaus pessimistischen Schlussbild unterstrichen wird: „Tout est déjà passé. Tout a déjà basculé dans la mort“ (CA: 214). Dies erweckt den Anschein, als habe sich die Gewalt der gesamten Erzählung bemächtigt. Eine solche Sichtweise blendet jedoch aus, dass der narrative Diskurs der Schwestern an dieser Stelle abbricht. Die Verwendung des Präsens (‚j’entends‘, ‚je sens‘, ‚je vois‘) in Joyeuses Beschreibung der imaginierten Tötung von Jean-Baptiste, welche das zuvor verwendete Futur (‚mettrai‘, ‚dessinerai‘ ‚dissimulerai‘) ablöst, legt zwar die Vermutung nahe, dass die Verwirklichung der Vergeltung unmittelbar bevorstehe. Doch wird ihre Realisierung in La couleur de l’aube eben gerade nicht erzählt. Es folgt nur noch der ‚Epilog‘, der stattdessen Fignolés gewaltsames Sterben thematisiert. Inwieweit Angélique und Joyeuse mit dem Erzählen ihrer eigenen und der Geschichte Fignolés in ihrer Rolle als narrative Instanzen das Schweigen des traumatisierten Subjekts durchbrechen und Gewalt sprachlich aufarbeiten, gilt es deshalb im nächsten Unterkapitel genauer zu untersuchen, welches sich mit dem Erzählen als Möglichkeit der Traumabewältigung und der Selbstermächtigung auseinandersetzt. 3.5.2 Traumabewältigung und Selbstermächtigung durch Erzählen „[…] Gewalttaten lassen sich nicht einfach begraben. Dem Wunsch, etwas Schreckliches zu verleugnen, steht die Gewissheit entgegen, daß Verleugnen unmöglich ist.“ (Herman 2003: 9) Die bisherige Analyse hat darauf hingedeutet, dass eine Aufarbeitung der traumatischen Erfahrung von Gewalt innerhalb der fiktiven Welt von La an ihren Vergewaltigern rächt, zeigt der Autor, dass eine Realisierung der Rache die Erfahrung von Leid nicht aufheben kann und stattdessen nur weiteres Leid verursacht. Vgl. ferner auch Agnants Roman Un alligator nommé Rosa und hierzu die Analyse von Lyngaas (2011). 531 Zumal die Waffe als mögliches Instrument zur Realisierung der Rache in Joyeuses Fantasie unterschwellig aufgegriffen wird (‚cette chose […] dans mon sac‘; vgl. weiter oben). <?page no="222"?> 210 couleur de l’aube ausbleibt, wie exemplarisch anhand der Sprachlosigkeit der Figuren nachgewiesen wurde. Doch eine Betrachtung von Angélique und Joyeuse, die als homodiegetische Erzähler nicht nur erlebendes, sondern zugleich erzählendes Ich sind (vgl. Martínez/ Scheffel 1999: 84), demonstriert, dass das traumatisierte Subjekt auf einer Metaebene doch das Wort ergreift und der verstörenden Gewalterfahrung mittels Sprache zu begegnen sucht. Inwieweit Lahens Erzählen in ihrem Roman als Möglichkeit für das Opfer gestaltet, das Trauma der Gewalt zu bewältigen und in der Rolle des Sprechenden den eigenen Subjektstatus, der im Gewaltakt bedroht wurde, zu bekräftigen, ist Gegenstand dieses Kapitels. Die Erzählerinnen Angélique und Joyeuse berichten die Geschehnisse als Figuren der erzählten Welt, wodurch die Autorin deren emotionale Involviertheit als unmittelbare Betroffene verdeutlicht und sie als Stellvertreter des traumatisierten haitianischen Kollektivs ausweist. Der Leser wird durch diese Ich-Perspektive unmittelbar mit der Verstörung des erzählenden Subjekts konfrontiert, das Gewalt erleidet, bezeugt und (möglicherweise) sogar ausübt. 532 Die beiden Schwestern repräsentieren somit die kollektive Gewalterfahrung der im Roman dargestellten Gesellschaft. Sie treten zwar nicht als Akteure innerhalb der politischen Auseinandersetzungen auf, in deren Rahmen, so ist zu vermuten, Fignolé sein Leben lässt. Doch sind auch sie angesichts des alltäglichen Erlebens und Bezeugens von Gewalt in ihren unterschiedlichsten Formen zutiefst verstört. Über die äußerst sprechenden Namen der beiden Frauen leitet die Autorin die Leserschaft mithin zunächst in die Irre, da der Roman letztendlich unzweifelhaft signalisiert, dass die traumatische Gewalterfahrung jeglicher Fröhlichkeit (vgl. frz. ‚joyeuse‘) oder Engelhaftigkeit (vgl. frz. ‚angélique‘) ein Ende bereitet. 533 Angesichts der Omnipräsenz der Gewalt in der fiktiven Realität ist es nur stringent, dass Lahens das erzählende Subjekt als verstört entwirft. Beide Erzählerinnen haben Gewalt nicht nur in Form sexueller Ausbeutung am eigenen Leib erfahren und müssen den schmerzhaften Verlust des 532 Angélique übt zweifelsohne selbst Gewalt aus, wenn sie die ‚restavèk‘ Ti Louze schlägt (vgl. Kap. 3.6.3). Bei Joyeuse ist der Fall weniger eindeutig gelagert, denn Lahens lässt offen, ob sie ihre Rachefantasie vom Ende des Romans auch in die Tat umsetzt. Zur Ambivalenz der Figuren in La couleur de l’aube vgl. bereits Kap. 3.2. 533 Im Hinblick auf Joyeuse bleibt kein Zweifel daran, dass die mit ihrem Namen assoziierte Lebensfreude nur Illusion ist, wenn im Text beschrieben wird, dass sie zu einem Stein (‚pierre‘) geworden sei (vgl. CA: 80). Doch auch Angélique hat jeglichen Liebreiz der ‚Engelhaften‘ verloren und wirkt bitter und verhärmt: „Angélique est morte de cette mort lente que connaissent les réprouvés. […]. Attendre ce que l’on ne peut pas avoir et se rendre compte trop tard que l’on ne l’aura jamais fait une vie coulée dans un étroit moule de tristesse, une vie de vaincue“ (CA: 147), wird ihre Person umschrieben. Selbst der tiefe Glauben, der Angélique als charakteristisch zugeschrieben wird und ebenfalls in ihrem Namen anklingt, stellt sich mehr als Praxis der Selbstgeißelung und Bürde denn als tatsächliche Lebenshilfe heraus, wie in Kap. 3.4.1 herausgestellt wurde. <?page no="223"?> 211 Bruders verkraften, sondern sehen sich zugleich einer Lebenswirklichkeit ausgesetzt, in welcher der Einzelne beständig zum Zeugen ausufernder Violenz wird und sich somit kontinuierlich mit der Möglichkeit auseinandersetzen muss, selbst jederzeit Opfer werden zu können. Caruth spricht demgemäß auch von einer Krise des Überlebens des traumatisierten Subjekts (vgl. Caruth 1996: 60; Caruth 1995: 9), um die paradoxe Situation der Konfrontation mit der Potenzialität der eigenen Zerstörung zu umschreiben. Als Erzählerinnen lässt Lahens Angélique und Joyeuse zwar das Schweigen der übrigen Figuren durchbrechen, doch weist sie die Erschütterung ihres Glaubens an eine gewaltfreie Wirklichkeit als zu tief gehend aus, als dass ihr Erzählen vollständig von den Spuren dieser Erfahrung befreit gestaltet ist. Dass sich traumatische Erfahrung einer stringenten Überführung in Sprache versperrt, wurde in der vorliegenden Arbeit bereits mehrfach betont. 534 Dementsprechend ringen die Erzählerinnen in La couleur de l’aube vielfach um Worte, um das auszudrücken, wofür das Kollektiv (noch) keine Begriffe hat (vgl. Kap. 3.5.1). Beispielhaft lässt sich dies an Angéliques Stellungnahme zur Allgegenwart und Kontinuität der Gewalt in Haiti zeigen, die mitten im Satz abbricht: „[L]’Apocalypse a déjà eu lieu tant de fois […] dans cette île. Et le monde a tant de fois repris sa course, impassible. Que…“ (CA: 142). Die junge Frau reflektiert das Phänomen an dieser Stelle bereits kritisch, ist jedoch nicht in der Lage, seine Dimensionen auszusprechen. Dies signalisiert, dass der Text eine wirkliche Distanznahme der Erzählerinnen von den Ereignissen als nicht möglich ausweist und auch das Sprechen über Gewalt das Trauma nicht gänzlich bannen kann. Wie schwierig es ist, die alltägliche Gewalt zu fassen, kommt im Roman anhand einer Metaphorik zum Ausdruck, die auf die Unzugänglichkeit der traumatischen Erfahrung abhebt. Das Bild des ‚petite pierre grise‘ 535 spielt auf den Prozess der Einkapselung des Erlebten und seine dissoziative Abspaltung von der bewussten Wahrnehmung an (vgl. Assmann 2007: 93-94; Assmann 1999b: 21; Eggers 2001: 603; Laub/ Podell 1995: 1000-01), was dem Individuum erlaubt, die traumatische Realität zu verdrängen (vgl. Kühner 2003: 26). 536 Auch die Symbolik des ‚gouffre‘ (vgl. CA: 83, 213) verweist in 534 Vgl. Kap. 1.1.2, 2.5.2 und 3.5.1. 535 Zur Verwendung der Metapher in der Erzählung vgl. u. a.: „Au lieu du cœur, une matière dure et rude avait pris place à l’intérieur de ma poitrine […]. J’ai reconnu ma petite pierre grise. Et j’ai respiré très fort pour être bien certaine qu’elle tenait encore solidement à sa place. Dans cette […] ville, il faut être une pierre. Je suis une pierre“ (CA: 80). Vgl. außerdem CA: 83, 213. 536 Vor einer unzureichenden Auseinandersetzung und Verdrängung des Traumas warnt der Roman, indem die Metapher des ‚petite pierre grise‘ auch im Kontext von Joyeuses Rachefantasie zum Einsatz kommt. Lahens gestaltet sie in diesem Zusammenhang als von einer negativen und violenten Semantik geprägt - „[M]a petite pierre grise qui devient coupante. Dure. Cassante. Dans la nuit j’ai eu le sentiment qu’elle se durcissait dans une vraie malveillance“ (CA: 213, Herv. J. B.) -, wodurch auf <?page no="224"?> 212 diese Richtung. Sie ruft Assoziationen der Unergründlichkeit und Vagheit auf und erinnert dadurch an Laubs und Podells Trauma-Metapher des „empty circle“ (1995: 992), der „nicht wirklich leer [ist], sondern […] etwas [enthält], das nicht gewußt oder psychisch repräsentiert werden darf […]“ (Laub 2000a: 863; vgl. ferner ebd.: 865-66). Als dem Nouveau Petit Robert zufolge „[t]rou vertical, effrayant par sa profondeur et sa largeur“ (1993: 1031), haftet dem ‚gouffre‘ das Element des „ce qui est insondable“ (ebd.: 1031) an, sodass in der in dieser Metapher enthaltenen räumlichen Infinität die Unbegreiflichkeit der traumatischen Gewalterfahrung anklingt, die das Bewältigungsvermögen des Individuums sprengt und ihm den bewussten Zugang zur traumatischen Erfahrung versperrt (vgl. Fricke 2004: 15; Laub 2000a: 867; Laub/ Podell 1995: 1000). Gleichermaßen unterstreicht die narrative Struktur, dass die Aufarbeitung der Gewalt noch ganz am Anfang steht. Die beiden Schwestern ergreifen zwar das Wort und versuchen durch das Erzählen die Ereignisse zu verarbeiten, doch tut dies jede für sich. Noch nicht in der Lage, die Einsamkeit des Traumatisierten zu durchbrechen, laufen die beiden Stränge der Narration den gesamten Roman über unabhängig nebeneinander her. Die Perspektive changiert einer klaren Ordnung folgend von Kapitel zu Kapitel, sodass die beiden Frauen abwechselnd von den Geschehnissen sprechen, ohne jedoch miteinander zu sprechen (vgl. CA: 25, 199-200, 202), wie bereits in Kapitel 3.5.1 erläutert wurde. 537 Dass die beiden Erzählerinnen einander kein Gehör schenken, wird insbesondere dadurch hervorgehoben, dass sie mitunter unterschiedliche Versionen der gleichen Geschichte erzählen, die sich zum Teil widersprechen. Dies ist beispielsweise hinsichtlich der Bewertung der Situation der ‚Mère‘ der Fall. Joyeuse konstruiert die Mutter in Opposition zu Angélique; letztere bezeichnet sie als „morte“ (CA: 147) und lehnt die Passivität und Ergebenheit der Schwester als Resignation angesichts einer „vie de vaincue“ (CA: 147) ab. Ihre Mutter hingegen beschreibt Joyeuse als „épuisée mais pas vaincue“ (CA: 147). Dem steht die Aussage Angéliques gegenüber, der zufolge sich die Mutter selbst als „déjà morte“ (CA: 24) betrachtet, ebenso wie die Bewertung der Apathie dieser Figur in Abschnitt 3.5.1. Ein weiteres Beispiel dafür, dass die beiden jungen Frauen die Gefühle der jeweils anderen in keiner Weise zu kennen scheinen, bietet die Einschätzung der sexuellen Beziehung zwischen Joyeuse und dem US- Amerikaner John. Während Angélique ihrer Schwester unterstellt, eine sinnliche Verführerin zu sein, „pulpeuse. Si sûre d’elle. Si effrontée et si sexuelle“ (CA: 89), betrachtet diese selbst den Kontakt gänzlich unemotional und gefühllos (vgl. CA: 83). 538 eine drohende Kontinuität violenter Handlungsmuster hingewiesen wird. Zur Dissoziation des traumatischen Ereigsnisses vgl. Rosenberg 2010: 39-40; zu seiner Latenz Kap. 1.1.2. 537 Zur Problematik des fehlenden Zuhörers vgl. auch Kap. 2.5.2. 538 Vgl. hierzu und zur Beziehung von Joyeuse und John Kap. 3.4.1. <?page no="225"?> 213 Trotz alledem erlaubt ihnen der Status als Erzählerinnen eine reflektierte Position gegenüber der fiktiven Welt, über die eine kritische Auseinandersetzung mit der allgegenwärtigen Gewalt stattfinden kann, wie sie für ihre Überwindung und eine konstruktive Bewältigung des Traumas unabdingbar ist. So kann beispielsweise die in Kapitel 3.5.1 erwähnte ‚conversation silencieuse‘ der Passagiere des ‚Taptap‘, die die Gewalterfahrung aus ihren Gesprächen bannen, über den narrativen Diskurs symbolisch hörbar gemacht und über den Exkurs zu Une-balle-à-latête und seinen skrupellosen Taten (vgl. Kap. 3.2), der genau an dieser Stelle im Text eingeschoben wird, mit Inhalt gefüllt werden. In einer anderen Episode reflektiert die Erzählerin Angélique ihren tätlichen Übergriff auf die ‚restavèk‘ Ti Louze und ihren Sohn Gabriel und merkt an, dass jener vor dem Hintergrund der empfundenen Hilflosigkeit angesichts des unsicheren Verbleibs von Fignolé einen „goût de vase et de cendre dans la bouche“ (CA: 36) hinterlassen habe. 539 Der Text verdeutlicht, dass sie den Mechanismus erkannt hat, dem ihr Verhalten geschuldet ist. Sie kann sich jedoch nicht aus eigener Kraft von diesem gelernten Rollenverhalten freimachen, mit dem sie ihren eigenen Schmerz kompensiert (vgl. CA: 52). 540 Ungeachtet dessen wird sie als sehr wohl dazu fähig gezeigt, es zumindest zu reflektieren. Während Angélique zwar ihr Verhalten hinterfragt, aber dennoch unzweifelhaft berichtet, wie sie Gabriel und Ti Louze Gewalt antut, wird Joyeuses Rachefantasie im Text in diesem Sinne bereits nicht mehr realisiert. Erzählen als Distanznahme und kritische Reflexion der eigenen Handlungsweisen und Empfindungen über ihre Versprachlichung birgt somit (möglicherweise) bereits das Potenzial, um einen weiteren Gewaltakt - Joyeuses Rache - zu verhindern. So schließt La couleur de l’aube auch nicht mit einem neuen Mord, sondern mit dem ‚Epilog‘ und dem Erzählen von Fignolés gewaltsamem Sterben. Dies geschieht zunächst zwar nur über einen anonymen, heterodiegetischen Erzähler, wodurch Lahens anzeigt, dass es die Schwestern noch zu sehr schmerzt, sich mit der Wahrheit um die Hinrichtung des Bruders - sofern sie sie überhaupt kennen - auseinanderzusetzen. Trotz alledem wird über den ‚Epilog‘ die Notwendigkeit der Konfrontation mit diesem Schmerz konturiert. Letztlich lässt die Autorin es jedoch offen, ob Joyeuse ihre Rachevorstellung realisiert oder die kritische Beleuchtung des eigenen Handelns es ihr ermöglicht hat, die Gewaltspirale zu durchbrechen. Die Fiktion bietet Spielraum für beide Deutungsvarianten - ein erneutes Versinken in der Gewalt oder ihre Überwindung durch Sprache -, insbesondere da das Präsens als vorherrschendes Erzähltempus in La couleur de l’aube implizit versinnbildlicht, dass das erzählende Subjekt noch nicht in der Lage ist, die 539 Zur Interpretation der Prügelszene vgl. Kap. 3.4.1 und 3.6.3. 540 So wird das Zulassen dieser „méchanceté“(CA: 52) im Text als Genugtuung genannt, „qui ouvre mes prisons, fait sauter mes chaînes“ (CA: 52). <?page no="226"?> 214 Problematik retrospektiv-distanziert zu hinterfragen. Lahens konstruiert hiermit eine Ambivalenz, wodurch aufgezeigt wird, dass auch das Erzählen Gewalt nicht abschließend bannen kann. Eine ‚narrative Flucht‘ in ein idyllisches Schlussbild steht angesichts der Kontinuität der Gewalt und der Zerrüttung der fiktiven Welt, wie sie in der vorliegenden Analyse herausgearbeitet wurde, nicht zur Verfügung. Dass die traumatische Erfahrung, wie LaCapra betont, nicht einfach verheilen könne, ohne - wortwörtlich oder auch symbolisch gesprochen - Narben zu hinterlassen (vgl. LaCapra 2001: 144; Kap. 1.1.2), bekundet Lahens, indem sie keine an den Ereignissen gewachsenen, heroisierten Figuren präsentiert, sondern gebrochene Erzählerstimmen, die noch um Worte ringen, weshalb die Überwindung der Gewalt am Ende des Romans höchst unsicher bleibt. Ungeachtet dessen ist La couleur de l’aube nicht als gänzlich pessimistisch zu bezeichnen. Selbst wenn eine Aufarbeitung der Gewalt im Kollektiv noch aussteht und die Erzählerinnen innerhalb der fiktiven Welt nur einen stummen, für die anderen Figuren nicht wahrnehmbaren Monolog führen, so macht der literarische Text diesen hörbar und leistet somit wesentliche Erinnerungsarbeit. Während es den Figuren in La couleur de l’aube nicht gelingt, „[d]e recoller ensemble les morceaux de l’histoire“ (CA: 212), fügt der Text diese einzelnen Bestandteile der Geschichte, die vor dem traumatisierten Subjekt noch in Scherben liegen, zusammen. Die Metapher der ‚morceaux‘, die in Merisiés Drohung (vgl. Kap. 3.1), „de les mettre en morceaux“ (CA: 104), noch die Vernichtung des Subjekts symbolisiert hat, wird mit dem narrativen Akt so neu besetzt. (Literarisches) Erzählen wird hierbei als konstruktiver Prozess ausgewiesen, der die Möglichkeit bietet, die traumatische Gewalterfahrung zu bezeugen und zugleich als Bestandteil der eigenen Geschichte anzunehmen, sodass aus der Zerstörung (‚morceaux‘) etwas Neues, nämlich die Geschichte dieser Gewalt (‚histoire‘), geformt werden kann (‚recoller ensemble‘), die sich das Kollektiv aktiv aneignen und ihr so einen Platz innerhalb des kollektiven Gedächtnisses zuweisen kann. 541 Lahens hebt hierdurch die Bedeutung der haitianischen Tradition des Geschichtenerzählens (vgl. Birkhofer 2007: 24) 542 als Möglichkeit hervor, um traumatische Erfahrung innerhalb der Gemeinschaft zu bearbeiten. 543 La couleur de l’aube präsentiert Erzählen aber auch als Akt der Selbstermächtigung des traumatisierten Individuums. Indem Letzteres das Wort 541 Zur Bedeutung der Literatur in einem solchen Kontext vgl. auch Lahens’ Aussagen in Ette/ Lahens 2002. 542 Die US-haitianische Autorin Danticat hat dieser in ihrem Kurzgeschichtenzyklus Krik? Krak! (1995) ein Denkmal gesetzt hat. Zur Umsetzung dieser oralen Tradition im geschriebenen Text bei Danticat vgl. Misrahi-Barak 2006; Nge 2003. 543 Das gemeinschaftliche Erzählen als haitianische Tradition steht somit auch als Alternative zur Traumatherapie als Gespräch zwischen Therapeut und traumatisiertem Individuum als Möglichkeit der Traumabewältigung, die Paul (1997: 31) als dezidiert westliches Modell betrachtet. Vgl. hierzu auch Danticats Roman The Farming of Bones. <?page no="227"?> 215 ergreift und somit seinen Subjektstatus einfordert, verweigert es die Objektrolle, die der Gewaltausübende dem Opfer zuschreibt, indem jener es zu einem verletzbaren bzw. missbrauchbaren Körper degradiert (vgl. Schäffauer 2013: 79). Morgan und Youssef kommen in ihrer Studie für den Fall sexueller Gewalt zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Sie erläutern, dass die Herabwürdigung zum ‚Lustobjekt‘ das Opfer einen Verlust der eigenen Subjektivität erfahren lasse (vgl. Morgan/ Youssef 2006: 188), weshalb es für die Verarbeitung dieser Erfahrung essenziell sei, den erlittenen Schmerz zu erzählen, „affirm[ing] the subject position of the teller, the right to tell her own tale and to reconstruct the self not as an object, but as a subject“ (ebd.: 189). Auch in La couleur de l’aube sprechen Angélique und Joyeuse den sexuellen Missbrauch aus und entlarven die rücksichtslosen Annäherungsversuche der jeweiligen Männer als das, was sie tatsächlich sind: Akte der Gewalt. Indem Lahens wohlweislich die Stimmen zweier Frauen als narrative Instanzen gewählt hat, erhalten Opfer das Wort, die in Haiti im öffentlichen Diskurs überhört und verdrängt werden, während gleichzeitig gesellschaftlich marginalisierte bzw. verschwiegene Formen der Gewalt zur Sprache kommen (vgl. Kap. 3.4.1). Durch diese Erzählperspektive verleiht der Roman eben nicht nur der Geschichte Fignolés Ausdruck, sondern zugleich der seiner Schwestern. 544 Gerade Angélique widersetzt sich somit dem gesellschaftlichen Stigma, „[that] rape […] seems better silenced, erased, forgotten, unrepresented“ (vgl. Morgan/ Youssef 2006: 170), welches das Opfer mit dem eigenen Trauma allein lässt. Wirkt sie auf die anderen Figuren noch passiv und verhärmt (vgl. z. B. CA: 147), wird ihrer Wut angesichts der alltäglichen Gewalt in ihrer schonungslos kritischen Erzählung Ausdruck verliehen. Ersichtlich wird dieses Spannungsverhältnis zwischen dem Bild, das sie den anderen Figuren nach außen vermittelt, und ihrem Zorn, den sie nur im narrativen Diskurs zulässt, in folgendem Zitat: „Angélique Méracin continue à servir. À obéir. À sourire. Alors qu’elle est pleine de rage“ (CA: 22). Beide Schwestern werden folglich der ihnen von der Gesellschaft zugeschriebenen Rolle des begehrenswerten ‚Schwarzen‘ Körpers enthoben, indem Lahens sie zum ‚Gefäß‘ für eine Stimme macht, mit deren Hilfe sie sich als Subjekt einer Erzählung entwerfen, das eigene Überleben bekräftigen und in Genderkonstruktionen eingeschriebene verschleierte Gewaltformen in einem Kontext von rassistischen Stereotypen und kolonialen Machtstrukturen sichtbar machen. 545 Treffen Morgan und Youssef die eben resümierten Aussagen noch für den konkreten Fall sexueller Gewalt, zeigt Lahens in La couleur de l’aube, 544 Dass ungeachtet dessen immer noch Geschichten wie jene der ‚restavèk‘ Ti Louze verschleiert werden, wird in Kap. 3.6.3 thematisiert. 545 Vgl. in diesem Kontext Kap. 3.4.1. Zur Bedeutung einer Gender-Perspektive auf (post-)koloniale Erfahrungen vgl. z. B. Castro Varela/ Dhawan 2009: 76-77. <?page no="228"?> 216 dass die Möglichkeit der Selbstermächtigung des traumatisierten Opfers durch das Einfordern der eigenen Subjektposition als Sprechender auch außerhalb dieses spezifischen Kontexts besteht. Der Roman legt dar, dass Gewalt grundsätzlich über das Erzählen begegnet werden kann, da dieses das Potenzial bietet, die übermächtige traumatische Erfahrung und damit auch die vermeintliche Allmacht des Gewalttäters über das Opfer in ihre Schranken zu verweisen. Doch Erzählen wird in La couleur de l’aube nicht nur als Akt der Selbstermächtigung des Opfers gegenüber den Tätern präsentiert. Vielmehr symbolisiert die Tatsache, dass mit Angélique und Joyeuse Angehörige der unteren sozialen Schichten das Wort ergreifen, auch eine Befreiung von diskursiver und epistemischer Fremdbestimmung. Lahens’ Roman fordert für die haitianische Gesellschaft jenseits einer Elite, die sich von der Lebenswirklichkeit des Landes entfremdet hat, die Rolle des sprechenden Subjekts ein und verwirklicht somit Kilombas Postulat, dass das marginalisierte ‚Schwarze‘ Subjekt selbst (wieder) zum Erzähler der eigenen Geschichte werden müsse (vgl. Kilomba 2008: 12). Eingelöst wird diese Forderung, wenn die Erzählung in La couleur de l’aube explizit die Perspektive zweier Haitianerinnen einnimmt und eine Außensicht wie jene des US-Amerikaners John verweigert. Der narrative Diskurs der Schwestern erfüllt allerdings noch eine weitere Funktion. So sorgen Angélique und Joyeuse in ihrer Funktion als Erzählerinnen dafür, dass der tragische Tod von Fignolé nicht gleich dem Schicksal all jener im Roman häufig nur angedeuteten Opfer verschwiegen wird. Obgleich Fignolé als potenzieller Erzähler verstummt ist, fällt seine Geschichte nicht dem Vergessen anheim. Die Lücke, die er im Text hinterlassen hat, wird hierbei nicht nur durch jene rekonstruierende Erzählung im ‚Epilog‘ neu besetzt (vgl. Kap. 3.3), sondern bereits zuvor kontinuierlich über das Erzählen der Schwestern gefüllt, die den Bruder im Gedächtnis bewahren, sich um ihn sorgen und ihn schließlich betrauern, was im Folgenden en détail diskutiert wird. 3.6 Erzählen als Form der Trauer und die (Un-)Sichtbarkeit des Opfers in seiner Verletzbarkeit Durch den Bericht der Schwestern erreicht Lahens, dass Fignolé trotz seines Fehlens als handelnde Figur und Erzählerstimme die ganze Zeit über in der Erzählung präsent gehalten wird. Mit diesem Spiel der Ab/ Anwesenheit durchbricht die Autorin die versimplifizierende eindimensionale Kausalkette ‚Opfer = Tod = Absenz‘ und lässt die Erzählerinnen das durch Gewalt vernichtete Subjekt als Spur im narrativen Diskurs erinnern. Der Roman verdeutlicht auf diese Weise, dass es der Gewalt mithin nicht gelingt, auch die Geschichte des Opfers gänzlich zu ver- <?page no="229"?> 217 nichten. 546 Hat deren Zerstörungsmacht das Individuum zunächst aus seinem Dasein und somit auch dem Text gerissen, verweist der Erzählakt über diesen Moment der absoluten Destruktion hinaus und überlagert die hinterlassene Leerstelle mit einem erinnernden Diskurs der Trauer. In La couleur de l’aube wird dementsprechend nicht nur eine Geschichte der Gewalt erzählt, sondern zugleich eine Geschichte, die das anonyme Gewaltopfer als ‚betrauernswertes‘ Subjekt konstituiert (vgl. Butler 2004). Dieses wird nicht als toter Körper stehen gelassen, wie es in der unpersönlichen Erzählung im ‚Epilog‘ geschieht, sondern als Subjekt erinnert, das eine Identität besitzt. Die absolute Vernichtung des Anderen im Akt der Gewalt wird insofern in La couleur de l’aube über das Erzählen aufgehoben und die destruktive Botschaft der Gewalt durch eine ethische Sicht des Anderen in seiner Verletzbarkeit neu besetzt. Vor der Folie der in den Kapiteln 1.2.3 und 1.3 dargelegten theoretischen Überlegungen zu Butlers Konzept der Betrauerungswürdigkeit und Maldonado-Torres’ Ausführungen zur Kolonialität des Seins wendet sich die Analyse im Folgenden zunächst dem fragwürdigen elitären Diskurs der haitianischen Oberschicht und von Vertretern des Auslands in La couleur de l’aube zu, der das Opfer als verschmerzbaren Verlust - mit Maldonado-Torres (2010) gesprochen als ‚killable‘ - inszeniert und so das haitianische Subjekt der Gewalt preisgibt. Dem, so werde ich daraufhin untersuchen, steht jedoch die Rede der Erzählerinnen gegenüber, die jenem abschätzigen Diskurs entgegenwirkt und anstelle von Denkkategorien der Indifferenz und der Verschmerzbarkeit die Verletzbarkeit des Subjekts und den Schmerz seines Verlusts im Zentrum platziert. Zuletzt wende ich mich in meiner Analyse der Figur der ‚restavèk‘ Ti Louze zu, anhand deren Unsichtbarkeit im Text hergeleitet werden kann, dass Lahens die haitianische Gesellschaft über ihren Roman zugleich zu einer selbstkritischen Sicht auffordert, indem sie daran erinnert, dass die Betrauerungswürdigkeit des Opfers wiederum allzu häufig noch am sozialen Status festgemacht wird. 3.6.1 Die Preisgabe des haitianischen Subjekts: Der diskriminierende Diskurs der Elite und des Auslands In La couleur de l’aube werden verschiedene Diskurse abgebildet, die die Betrauerungswürdigkeit des haitianischen Subjekts infrage stellen. Auf der einen Seite manifestieren sich diese in der Einstellung der Herbruchs, die als Vertreter einer sozialen Elite eine Position widerspiegeln, welche die tiefe Kluft innerhalb der haitianischen Gesellschaft reflektiert (vgl. u. a. Gilles 2008: 35; Hurbon 2001: 22). 547 Auf der anderen Seite zeigt sich ein solcher Diskurs, der die Betrauerungswürdigkeit des haitianischen Sub- 546 Vgl. in diesem Kontext auch die Festellungen zu Rue des pas-perdus in Kap. 2.6. 547 Zur Spaltung der haitianischen Gesellschaft und den historischen Ursprüngen dieser Kluft vgl. Kap. 1.2.1. Zu den Herbruchs als Vertreter einer Elite, die asymmetrische Hierarchien innerhalb der haitianischen Gesellschaft repräsentieren, vgl. Kap. 3.4.1. <?page no="230"?> 218 jekts preisgibt, unter den Akteuren aus dem Ausland, wie es sich anhand des US-Amerikaners John illustrieren lässt. In die gehobene Welt der Privilegierten erhält der Leser über die Figur Joyeuse Einblick, die als Kind eine Schule für Sprösslinge der Mittel- und Oberschicht besucht hat (vgl. CA: 148) und in der Erzählgegenwart bei einer wohlhabenden Familie beschäftigt ist. 548 Ihre Chefin, Madame Herbruch, imaginiert in ihrem elitären Denken die tiefer liegenden Gebiete der Stadt als einen abgeschotteten Raum des Elends, der keine Verbindung zu ihrem eigenen Universum aufweist. 549 An ihrem Beispiel führt Lahens der Leserschaft die Vorurteile der haitianischen Elite gegenüber dem Rest der Bevölkerung vor Augen, welche einem kolonialen Denken verpflichtete Stereotypisierungen reproduzieren. Als die Figur allerdings erkennt, dass ihre Angestellte Bestandteil der von ihr so sehr gefürchteten Welt der Gewalt ist und diese somit längst Eingang in ihr Haus gefunden hat, steht ihr die Angst regelrecht ins Gesicht geschrieben: [E]lle a compris à mon regard que je [= Joyeuse; Anm. J. B.] ne partageais pas son affolement. Que je faisais partie du lot des morts et des blessés qu’elle abandonnerait sur place. […]. Je ne sais pas ce que ma patronne a conclu en me regardant mais elle n’a plus dit un seul mot. Du fond de son gouffre doré elle semblait appeler à l’aide. (CA: 152-53) 550 Sie begegnet hier indirekt jenem ‚Universum der Opfer‘, das sie bislang aus ihrer Realität ausgeblendet hat. 551 Das Zitat bietet darüber hinaus eine weitere Lesart an, welche die Spaltung der Gesellschaft im Roman erst in ihrer vollen Tragweite verdeutlicht. 552 Denn jenes ‚lot des morts et des 548 Joyeuse ist es auch, die den Leser auf die desperate Welt der haitianischen ‚bidonvilles‘ aufmerksam macht (vgl. z. B. CA: 63-64, 68). Als Grenzgängerin zwischen den unterschiedlichen sozialen Mikrokosmen in Port-au-Prince kritisiert sie diese soziale Segregation harsch. Vgl. auch Vitiello 2011b: 101; ferner zum Niedergang des urbanen Raums in der haitianischen Literatur des 20. Jahrhunderts Lucas 2004. Für eine negative Beschreibung der Welt der ‚bidonvilles‘ bei Lahens vgl. die Kurzgeschichte „Et tout ce malaise“ aus La folie était venue avec la pluie. In Laferrières Roman Le goût des jeunes filles findet sich mit der Figur Marie-Michèle eine vergleichbare Grenzgängerin, die als „observatrice“ (Laferrière 2007: 71) die Missstände und Heuchelei der haitianischen Gesellschaft der Duvalier-Ära aufdeckt (vgl. z. B. ebd.: 217). 549 Zum urbanen Raum in Port-au-Prince und seiner ‚Oben‘/ ‚Unten‘-Aufteilung in privilegierte bzw. marginalisierte Gebiete vgl. die Erläuterungen in Kap. 2.1. 550 Für eine ähnliche Szene aus dem Roman Les enfants des héros vgl. L. Trouillot 2007a: 126 und zu ihrer Interpretation Borst 2011: 124-25. 551 Vgl. Janoff-Bulmans Erläuterung, dass sich das einzelne Individuum, das nicht selbst Opfer geworden sei, vom eigentlichen Opfer bedroht fühlen könne, da dieses die Erschütterung der eigenen Vorstellung repräsentiere, dass die Welt grundsätzlich gut sei: „Victims are stigmatized because they violate the expectations established by people’s illusions“ (1992: 148). 552 Die Spaltung der haitianischen Gesellschaft wird gleichermaßen illustriert durch Joyeuses Beschreibung der Privatschule, die sie als Kind besucht hat. Sie setzte sich dort durch ihren Status als „[p]etite bâtarde“ (CA: 148) deutlich von den anderen Schülerinnen „de la moyenne haute et des beaux quartiers“ (CA: 148) ab. Sich selbst <?page no="231"?> 219 blessés‘ stellt für sie ein ganzes Kollektiv potenzieller Täter dar, die ihre Enklave der Sicherheit bedrohen und denen sie mit Joyeuse Tür und Tor geöffnet zu haben glaubt. Die Figur der Madame Herbruch wird in dieser Szene mit der Erkenntnis konfrontiert, dass eine räumliche Verbindung zwischen ihrer eigenen und dieser Welt der Gewalt besteht. Sie erfährt folglich symbolisch die Existenz der (violenten) Seite haitianischer Wirklichkeit, die sich bislang ihrem Erfahrungshorizont entzogen bzw. die sie wissentlich ignoriert hat. Sensationslüsterne Nachrichten, in denen ein Nachrichtensprecher angesichts der Unruhen in der Stadt mit zittriger Stimme ein „empire du mal“ (CA: 152) verkündet, schüren ihre Angst zusätzlich und bewegen Madame Herbruch dazu, in kopfloser Flucht das Land verlassen zu wollen (vgl. CA: 152). Die Ironie einer solchen Panik wird umso deutlicher, wenn man bedenkt, dass es Figuren wie Fignolé, Angélique oder Joyeuse sind, die der Gewalt in ihren unterschiedlichen Manifestationsformen zum Opfer fallen. Der Text entlarvt hiermit die diskursive Praxis der Elite, die zwar das Gespenst der Gewalt in ihren Reden beschwört, jedoch im Grunde genommen im Roman als nicht betroffen geschildert wird. Der subjektive Eindruck der Erzählerinnen selbst, die gesamte Stadt sei von Gewalt durchdrungen (vgl. CA: 180-81), stellt sich bei genauer Betrachtung folglich als Trugschluss heraus. Vielmehr lässt Lahens keinen Zweifel daran, dass innerhalb des urbanen Raums doch zwei Welten bestehen bleiben, von denen eine durch die Gewalterfahrung selbst bestimmt und die andere letztlich nur durch unbändige Angst davor geprägt ist, dass die Gewalt eines Tages in ihren geschützten Bereich eindringen könnte. 553 Dass sich dennoch niemand der gewaltsamen Realität entziehen kann und das Gewaltproblem die haitianische Gesellschaft eigentlich als Ganze angehen sollte, macht Lahens durch die Aussagen der Figur Joyeuse kenntlich: Vordergründig möge es zwar so scheinen, als ob es in Haiti Sieger (‚vainqueurs‘) und Verlierer (‚vaincus‘) gäbe (vgl. CA: 153). Letztendlich, definiert die Figur über ihre Kenntnis von Leben und Tod, von Mangel und Entbehrung, die sie in einer Welt „plein de méfiance, de trahisons et de dangers“ (CA: 148) kennengelernt habe. Interessanterweise wird an dieser Stelle im Text auch darauf hingewiesen, dass ein wichtiger Unterschied darin bestehe, dass ihr Leben trotz dieser Erfahrungen eben nicht durch Angst geprägt sei - „Je n’ai pourtant pas appris la peur“ (CA: 148) -, wodurch indirekt die Rechtmäßigkeit der Furcht der privilegierten Schichten infrage gestellt wird. Die Spaltung der haitianischen Gesellschaft und der ausgeprägte, vorurteilsgeladene Konflikt zwischen Arm und Reich bilden eine wichtige Konstante in Lahens’ Werk, so u. a. in den Kurzgeschichten „La folie était venue avec la pluie“ und „Trois morts naturelles“ (beide in La folie était venue avec la pluie), insbesondere jedoch in dem Roman Guillaume et Nathalie, in dem im Zusammenhang mit der sozialen Kluft fortwährend die Persistenz eines auf kolonialen Hierarchien basierenden Rassismus diskutiert wird. 553 Zur Darstellung des urbanen Raums in Lahens’ Kurzgeschichten und einer Gegenüberstellung von ‚ville haute‘ und ‚ville basse‘ vgl. Vitiello 2004: 185. <?page no="232"?> 220 so betont sie, seien jedoch alle „égaux dans le désespoir“ (CA: 153). 554 Der Roman nimmt mit diesen Worten unmissverständlich Abstand von Fanons Überzeugung, dass einzig eine gewaltsame Auflehnung es dem Kolonisierten ermögliche, sich als gleichwertiges Subjekt zu konstituieren (vgl. Fanon 1961; Fanon 1952: 180-81). In einer Welt der Gewalt, so wird an jener Stelle im Text deutlich, kann es vielmehr nur Verlierer geben, weshalb die haitianische Geschichte von den Erzählerinnen auch als eine Aufeinanderfolge von „guerres sans victoires“ (CA: 38, Herv. J. B.) bezeichnet wird. Der Ausdruck ‚lot des morts et des blessés‘ im obigen Zitat spiegelt zugleich die Verachtung einer privilegierten Elite, die das Schicksal jener anonymen Masse, welche der Gewalt unablässig ausgesetzt ist, gleichgültig lässt. Die von Madame Herbruch geäußerte Angst hinsichtlich der Tatsache, dass sie diesen Individuen, in denen sie nicht nur ‚verschmerzbare‘ Opfer, sondern gleichzeitig potenzielle Täter sieht, mit Joyeuse längst gegenübersteht, zeigt unzweifelhaft, dass für sie der Andere längst zum ‚gefürchteten Anderen‘ geworden ist, mit dem sie keine Solidarität mehr verbindet. 555 Neben dem Diskurs der Elite, in deren Vorstellung Menschen wie Fignolé lediglich eine vermeintlich bedrohliche, amorphe Bevölkerungsmasse darstellen, die in ihr abgeschottetes, privilegiertes Universum drängt, wird jener des Auslands als defizitär entlarvt. Lahens bündelt diese Kritik vornehmlich in der Figur des US-amerikanischen Journalisten John, der Haiti „charming et exotique“ (CA: 87) findet. Er repräsentiert ein von Sensationalismus geprägtes Interesse der ausländischen Medien, die angesichts des berichteten Elends punktuell Entsetzen zeigen, es jedoch sogleich wieder vergessen (vgl. CA: 90-91). 556 Sein repräsentativer Charakter wird durch seinen Namen versinnbildlicht, da dieser einen der gängigsten Namen aus dem englischen Sprachraum darstellt (vgl. Hanks/ Hodges 1991: 179) 557 und angesichts dessen möglicherweise nicht zufällig gewählt wurde. Haiti wird buchstäblich zu Johns persönlichem Labor (vgl. CA: 91, 102), in dem er enttäuschte politische Ideale ausleben kann: „Puisque le rêve était mort là-bas chez lui […] au bout d’une matraque et de quelques nuages de gaz lacrymogène, il veut le ressusciter ici à n’importe quel prix. Même au prix […] de nos vies sacrifiées“ (CA: 74). Diese mit der Figur hart 554 Inwieweit die Gewalt auch für die Elite bedrohlich ist, zeigt Lahens in ihrer Kurzgeschichte „Le jour fêlé“ aus Tante Résia et les dieux, in der die Protagonistin von den Insassen eines Autos aus dem Nichts heraus erschossen wird (vgl. Lahens 1994: 106-07). Vgl. hierzu N’Zengou-Tayo 2010; Vitiello 2011b. 555 Vgl. in diesem Zusammenhang auch G. Victor 2003a: 82. 556 Vgl. folgende Anmerkung der Traumaforscherin Herman: „Das Wissen, daß schreckliche Dinge passieren, dringt zwar periodisch ins allgemeine Bewußtsein, hält sich dort jedoch selten lange. Verleugnung, Verdrängung und Dissoziation wirken auf gesellschaftlicher wie auf individueller Ebene“ (2003: 10). 557 Zur Beliebtheit von Babynamen in den USA vgl. die Aufzeichnungen der Official Website of the U.S. Social Security Administration. <?page no="233"?> 221 ins Gericht gehende Textstelle signalisiert die unüberwindbare Kluft zwischen einer romantisierten Vorstellung vom Kampf für die Armen auf Seiten des US-Amerikaners und der haitianischen Realität, in der Maschinengewehre und Schüsse (vgl. CA: 11, 64, 95) an die Stelle von Schlagstöcken (‚matraques‘) und Tränengas (‚gaz lacrymogène‘) treten. Die Menschen driften in Johns Vorstellung von der haitianischen Wirklichkeit und seinem Hirngespinst der gesellschaftlichen Umwälzung in den Hintergrund ab und werden zu einer reinen Kulisse, innerhalb derer das Individuum in seiner Verletzbarkeit keine Rolle mehr spielt (vgl. CA: 91). In seinem neoimperialistischen Auftreten verharmlost er den gesellschaftspolitischen Konflikt, indem er die verlorenen Menschenleben als ‚Kollateralschäden‘ abstempelt, die hinter vermeintlich hehren Zielen zurücktreten. Dieses Handeln ist Ausdruck einer Haltung, die der US-Amerikaner von außen an Haiti heranträgt und für die er exklusiven Geltungsanspruch erhebt. 558 Unterstrichen wird dieser Eindruck durch Angéliques empörte Äußerung, „que nous étions comme des échantillons d’urine ou de sang que les spécialistes examinent au laboratoire de l’hôpital pour y trouver des microbes, confirmer ou infirmer des infections“ (CA: 91). 559 Die Reduktion der Haitianer auf reine Erkenntnisobjekte ist eine Form epistemischer Gewalt, 560 die sich darin äußert, dass John sein vermeintliches Wissen der haitianischen Realität überstülpt, anstatt irgendeine Form der Bereitschaft zu zeigen, aus der Begegnung mit der Wirklichkeit vor Ort neue Einsichten zu gewinnen. Er versinnbildlicht in dieser Hinsicht exemplarisch jene ‚Taubheit‘ des Westens, die Lyonel Trouillot in Folge des Erdbebens von 2010 so massiv kritisiert hat (vgl. L. Trouillot 2011b). John trachtet einzig danach, im Rahmen seiner - um das von Lahens verwendete Bild aufzugreifen - ‚Experimente‘ vorgefertigte Hypothesen zu bestätigen. So lässt die Autorin die Erzählerin zynisch hinzufügen: „Et pour nous aimer davantage, John nous imagina encore plus pauvres que nous ne l’étions […]. C’était cela le beau film que John et beaucoup de ceux qui lui ressemblent […] se jouent dans leur tête“ (CA: 91) - eine Attitüde, die nur allzu sehr an den von Trouillot im gleichen Beitrag kritisierten Topos der herausragenden ‚résilience‘ der Haitianer erinnert, der sich infolge des Erdbebens 2010 in der globalen Vorstellung von Haiti festgesetzt habe (vgl. L. Trouillot 2011b: 12-13). 561 Die Diskrepanz zwischen der Omnipräsenz der Gewalt im Roman und Beschreibungskategorien wie ‚entzückend‘ und ‚exotisch‘ (vgl. CA: 87) sät nicht nur Zweifel an der 558 Vgl. Mignolos in Kap. 1.2.3 behandelte Kritik an den Universalitätsanspruch postulierenden Wissenskonstruktionen der westlichen Moderne; ebenso Mignolo 2000. 559 Vgl. für ein ähnliches Bild Jean 2012: 12. 560 Zum Begriff der epistemischen Gewalt vgl. Kap. 1.2.3. Zu einer Kritik der Wahrnehmung des ‚subalternen‘ Anderen als reines Erkenntnisobjekt vgl. z. B. Britton 1999: 19; Glissant 1990: 206; Mignolo 2000: 18. 561 Vgl. die Kritik in Régis 2011: 105. Vgl. zu Trouillots Kritik der Taubheit des Westens und des Topos der ‚résilience‘ die Ausführungen in Kap. 1.3. <?page no="234"?> 222 Angemessenheit der westlichen Voreingenommenheit, sondern verweist zugleich auf die Gefahr, hinter dem Erkenntnisobjekt ‚Haiti‘ die Menschen zu vergessen. Dies zeigt sich auf evidente Weise darin, dass John, geblendet von ideologischem Halbwissen und seinem vermeintlichen ‚Gutmenschentum‘ - „j’aime les pauvres“ (CA: 72) -, die „vies sacrifiées“ (CA: 74) der Haitianer vielmehr für ‚sacrifiables‘ denn für betrauernswert (‚grievable‘) erachtet. Die Ausführungen zum gewaltsamen Charakter seiner sexuellen Beziehung zu Joyeuse und der Bedeutung des in diesem Zusammenhang zur Beschreibung der Affäre verwendeten Verbs ‚explorer‘ wurden in Kapitel 3.4.1 bereits als Beleg dafür angeführt, dass sich Johns rassistisch-diskriminierendes Verhalten nicht auf reine Naivität zurückführen lässt, sondern er den Anderen in einem Akt epistemischer Gewalt zum Objekt degradiert, wodurch der US-Amerikaner die repressive Kolonialgeschichte Haitis und der Amerikas in einer neuen Spielart reproduziert. „Le Blanc nous a apporté le malheur d’une main et des promesses de bonheur de l’autre“ (CA: 88), wird im Roman kritisch angemerkt, wodurch ausgesprochen wird, dass John als Repräsentant einer globalen imperialen Macht und des westlichen Auslands mit seinem Verhalten jene Geschichte in der Gegenwart fortschreibt. Lahens unterstreicht mit diesen Worten die Zwiespältigkeit der physischen wie auch epistemologischen Präsenz des Westens in der haitianischen Realität. 562 Insbesondere durch die Ergänzung des Wortes ‚promesses‘ wird die Antithese von Unglück und Glück gesprengt und die Einflussnahme des globalen Nordens als äußerst problematisch bewertet. 563 Die Aufopferung des US-Amerikaners ist dementsprechend nur vordergründig: „Ici de toute façon, John ne risque rien, John ne perd rien. John n’est pas chez lui“ (CA: 75). Er kann die ‚Versuchsanordnung‘ jederzeit verlassen: „John a un avenir. Nous n’en avons pas“ (CA: 106). 564 La couleur de l’aube kritisiert folglich vor dem Hintergrund dieser Figur neue Spiel- 562 Vgl. z. B. zur Diskussion um die Präsenz der UN-Soldaten in Haiti die entsprechende Fußnote in Kap. 1.2.4. 563 Als Beispiel für die Involviertheit westlicher Ausländer vgl. außerdem den Belgier Vater André (vgl. CA: 71). Dennoch vorverurteilt der Roman den Westen nicht pauschal und bietet eine heterogene Sichtweise auf seine Präsenz in Haiti. Dies zeigt sich etwa an der Figur eines amerikanischen Arztes, der Fignolé während eines Krankenhausaufenthalts behandelt. Er wird als (lebens)wichtige Ergänzung eines Gesundheitssystems mit „hopita[ux] qui manque[nt] de tout“ (CA: 70) präsentiert, dessen Präsenz Leben retten kann (vgl. CA: 70-71). Ein negatives Bild findet sich in Lahens’ Kurzgeschichte „Le désastre banal“ (aus La petite corruption), wo ein USamerikanischer Soldat beschrieben wird, der sich als ‚Heilsbringer‘ sieht, dessen Aufgabe es sei, die Haiti zu ‚zivilisieren‘. 564 Vgl. auch den Auszug zum Zerwürfnis zwischen Fignolé und John: „Fignolé n’avait pas hésité à […] lui dire ce qu’il pensait de lui, l’aristocrate des beaux quartiers de Philadelphie venu se réchauffer son âme sous les Tropiques. Venu s’y défaire de son ennui de gosse de riche en semant la pagaille chez les pauvres qu’il admire comme d’étranges animaux debout sur deux pattes“ (CA: 106). <?page no="235"?> 223 arten von Kolonialität und westlicher Dominanz, die sich nicht in Form direkter militärischer Invasion erschöpfen, 565 sondern auch eine Maske der Wohltätigkeit tragen können. Dahinter verbirgt sich jedoch der gleiche anmaßende Diskurs, welcher die Diskriminierung, die ihm zugrunde liegt, ob ihrer Subtilität nachgerade potenziert. Ebenso wie die von ihm heiß begehrte Joyeuse ist auch Fignolé dementsprechend für den US-Amerikaner nur ein weiteres Objekt zur ‚Triebbefriedigung‘ im Sinne seiner revolutionären Ideale, die er in dieser Freundschaft auslebt. Als solches dient Fignolé John als Mittel dazu, zum einen die eigenen Vorstellungen weiterzuverfolgen und sie zum anderen unter dem Deckmantel der Nächstenliebe zu praktizieren. 566 Vordergründig tritt John als ein vermeintlicher ‚Retter der Armen‘ auf. Dies ist sowohl in den Aussagen der ‚Mère‘ angelegt, die ihm eine frappierende Ähnlichkeit mit Jesus attestiert (vgl. CA: 72, 87), als auch in der biblisch-christlichen Konnotation seines Namens (vgl. Hanks/ Hodges 1991: 180), 567 die mit seiner Person eine visionär-heilbringende Assoziation verknüpft. Die Schwestern entlarven jedoch den von außen kommenden ‚Retter‘ als egozentrisches Subjekt, das nur sich selbst sieht und die Betrauerungswürdigkeit der haitianischen Opfer ausblendet. 568 Die zweifelhafte Qualität seiner emotionalen Bindung an Haiti wird anhand eines ironischen Kommentars von Angélique hervorgehoben: „‚J’aime ce pays, j’aime les pauvres.‘ Il [= John; Anm. J. B.] a prononcé cette phrase comme d’autres disent je suis médecin, plombier ou avocat. Avant de rencontrer John je ne savais pas qu’on pouvait gagner sa vie à aimer les pauvres“ (CA: 72). Das Bild des Berufs, das an die Stelle der Berufung tritt, signalisiert, dass der Dienst am Nächsten für John nicht mehr Selbstzweck ist, sondern zu einem substanziellen Bestandteil des eigenen identitären Selbstverständnisses wird. 569 Die Armen, über deren Leid sich das Ich 565 Lahens streicht die Kontinuität zwischen diesen Formen der Einflussnahme von außen anhand der Figur von John explizit heraus, da dieser ebenfalls zunächst als Soldat ins Land gekommen war (vgl. CA: 87). Zur wiederholten Einmischung - insbesondere der USA - in die Angelegenheiten Haitis vgl. z. B. Ballard 1998; Dash 1997; Farmer 2003; Gewecke 2007; McFadyen et al. 1995; Renda 2001; M. Smith 2009. 566 Dies kristallisiert sich umso offensichtlicher heraus, als Fignolé sich vom ‚chef du parti des Démunis‘ abwendet und John die Familie daraufhin fallen lässt (vgl. CA: 105-06). 567 So z. B. ‚John the Baptist‘ (Johannes der Täufer) oder ‚John the Apostle‘ (Johannes der Apostel); vgl. Hanks/ Hodges 1991: 180 zur Herkunft des Namens John. 568 Deutlich wird Johns unterschwelliger Egoismus auch dadurch, dass er sich finanziell von der Familie hat ausbeuten lassen, „pour apaiser sa mauvaise conscience de messager des cieux. D’autant plus que sur terre il voulait de Joyeuse“ (CA: 88). In diesem Versuch, Joyeuses Zuneigung zu erkaufen, zeigt sich abermals, dass John die Haitianer mehr als Objekte der eigenen Begierde denn als Subjekte betrachtet. 569 In krassem Gegensatz hierzu steht Angéliques Position, deren tatsächlicher Beruf es ist, kranke Menschen zu pflegen. Ihre Reaktion zeigt die Absurdität der Affinität mancher Ausländer zur Misere in Haiti aus Sicht der Haitianer: „Moi qui n’était là que parce que je n’avais rien trouvé d’autre à faire et qu’il y avait cinq bouches à <?page no="236"?> 224 indirekt in seinem Selbstbild konstituiert, werden hierbei auf den Status von Objekten verwiesen, an denen man eine Tätigkeit verrichtet. Der Wert einer eigentlich selbstlosen, ethischen Handlung wird folglich nicht mehr am Befinden des Anderen, sondern an der eigenen Person gemessen. 3.6.2 Erzählen als Erinnern des betrauernswerten Subjekts Da Fignolé nicht mehr selbst als erzählendes Subjekt auftreten kann, ist es ihm verwehrt, selbst gegenüber jenem diskriminierenden Diskurs, an dem die Vertreter der Elite und des Auslands im Roman partizipieren, Stellung zu beziehen. Während Angélique und Joyeuse, wie in Abschnitt 3.5.2 ausgeführt, hinsichtlich ihres eigenen Opfer-Seins durch ihr Erzählen selbstermächtigend der Gewalt entgegentreten, kann Fignolé den Status eines zu betrauernden Opfers nicht selbst einfordern. Diese Aufgabe übernehmen seine Schwestern für ihn, über deren Diskurs die Preisgabe des haitianischen Subjekts zwar intradiegetisch referiert, aber nicht unkommentiert stehen gelassen wird. Durch ihre Narration wird stattdessen Fignolé als Individuum eine über Stereotype hinausgehende Dimension verliehen, die ihn als betrauernswertes Subjekt konstituiert, dessen Verlust eine tiefe Wunde im Leben der Zurückgebliebenen hinterlässt. Lahens inszeniert Erzählen somit nicht nur als Möglichkeit der Traumabewältigung, sondern auch als Form der Trauer. Hierdurch unterstreicht sie abermals die Bedeutung der erinnernden Aufarbeitung traumatischer Erfahrung für Individuum und Gemeinschaft. 570 Zentral ist in dieser Hinsicht die Tatsache, dass Fignolé, anders als all jene Opfer, die nur am Rande im Text auftauchen und meist unmittelbar wieder in der Anonymität versinken, auch eine Geschichte erhält. Selbst wenn seine Existenz zu Beginn der Handlung bereits vernichtet ist, so geht er doch als mit Namen und hiernach Identität versehenes Subjekt in den Text ein. 571 Dem stehen etwa jener unbekannte Student, dessen Körper Joyeuse im Rahmen des eskalierenden Protests fast zu Fall bringt und der damit nur als totes Objekt evoziert wird (vgl. CA: 96), ebenso wie der sterbende Jugendliche im Krankenhaus, dessen verlorene Geschichte in seiner Namenlosigkeit zum Ausdruck kommt (vgl. auch Kap. 3.2), gegenüber. Letzterer wird nur als ‚le jeune blessé‘ bezeichnet (vgl. CA: 141, 142) - eine Benennung, die ihn allein auf die Rolle des Gewaltopfers und Sterbenden festschreibt und seine (Lebens-)Geschichte unausgesprochen nourrir à la maison. Moi qui ne rêvais que de me trouver ailleurs, là où lui John avait vu le jour, à des milliers de kilomètres de cet hôpital minable et de cette île maudite“ (CA: 91). 570 Zur zentralen Rolle einer kollektiven Erinnerungskultur und öffentlicher Anerkennung des Verlusts für das Individuum und seine Trauerarbeit vgl. Blair 2005: 192, 203-04. 571 Zum Zusammenhang von Identität und Namen vgl. Zirfas 2010: 249; zur Bedeutung des Namens Kap. 2.4.3. <?page no="237"?> 225 lässt. Über seine Biografie wie auch die Umstände, unter denen er angeschossen wurde, wird der Leser hingegen im Dunkeln gelassen. Von seinem Schicksal bleiben nur „des mots incompréhensibles, déformés par la douleur, [qui] lui sortent de la bouche“ (CA: 142), übrig. Seine jenseits des Schmerzes inhaltslosen Schreie werfen die Frage auf, wer seine Geschichte erzählen soll. Gleichzeitig wird anhand der Episoden um diesen Jugendlichen deutlich, dass das Erzählen als Gegenmittel gegen jene Spritze wirken kann, die ein Arzt dem Sterbenden verabreicht „[p]our prévenir la douleur et les cris“(CA: 142, Herv. J. B.). Denn anstatt das Opfer zum Schweigen zu bringen, so zeigt diese Arbeit, bietet der literarische Text einen Raum, um die traumatische Gewalt zu verhandeln, auch wenn dieses Innehalten unbequem sein mag. Das Handeln des Mediziners lässt sich symbolisch als Kritik an all jenen lesen, die ihre Verantwortung, hinzuhören, verweigern und die Opfer dadurch aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängen. Das Schicksal des angeschossenen Jugendlichen als namenloses Opfer potenziert sich überdies in jenen Gewaltanspielungen, deren Ausmaß sich vielfach nur im Hintergrund der Handlung vermuten lässt und hinter denen zahlreiche weitere Opfer angedeutet werden. 572 Als prägnant erweist sich das omnipräsente Rattern der Maschinengewehre (vgl. CA: 11, 64, 95), in dessen Rhythmus sich zahlreiche weitere Akte der Gewalt verbergen, die im Bericht der Schwestern unerwähnt bleiben, aber hinter der auditiven Spur der Tod bringenden Kugeln zu erahnen sind. 573 Die Erwähnung des Ertönens von Maschinengewehren gleich zu Beginn des Romans antizipiert ferner den ‚Epilog‘, der in das Echo der tödlichen Schüsse auf Fignolé mündet (vgl. CA: 219). Der Mord an Fignolé wird mithin anhand des kontinuierlich beschworenen Ratterns multipliziert und schreibt sich wie eine permanente Präsenz des Todes in den Text ein. So wie die wiederkehrenden Schüsse im Verlauf der Erzählung auf Fignolés Tod im ‚Epilog‘ verweisen, so erinnert auch sein Schicksal daran, dass hinter all jenen zuvor erwähnten Schüssen weitere Individuen wie er oder der sterbende Jugendliche im Krankenhaus stehen mögen, die nur als Spur in diesem Motiv präsent sind, als Opfer im Text - wie in der kollektiven Erinnerung der haitianischen Gesellschaft - jedoch nicht explizit auftauchen. Ohne Zeugen versinken sie im Vergessen, worauf der Roman aufmerksam machen will, indem er den Leser durch das Element der Schüsse an ihre (bereits vernichtete) Existenz erinnert. 572 So etwa in der Formulierung Angéliques „[que] l’Apocalypse a déjà eu lieu tant de fois dans cette salle, tant de fois dans cette ville, dans cette île“ (CA: 142, Herv. J. B.). 573 Dass über diese Motivik eine die Wirklichkeit der Post-Duvalier-Ära prägende kollektive Erfahrung aufgerufen wird, zeigt ein Auszug aus Kovats-Bernat Studie Sleeping Rough in Port-au-Prince: „Violence is ubiquitous in Port-au-Prince. Gunfire barks out in sputters at unpredictable moments, and the air in some sections of town fairly vibrates in anticipation of the next outpouring of brutality“ (2006: 8-9, Herv. J. B.). <?page no="238"?> 226 Es ist allerdings aufschlussreich, dass es letztendlich gar nicht die Detonation der Schüsse ist, welche die Szene um Fignolés Tod bestimmt. Diese auditive Manifestation der Gewalt wird in der Erzählung zunächst überlagert durch den Schrei des Opfers: Fignolé „[h]urlant de douleur […]“ (CA: 218). Während er als Erzähler im Roman absent ist, ertönt seine eigene Stimme doch in jenem Schrei, der als Spur seiner Existenz im Text aufblitzt und schließlich von der Detonation des tödlichen Schusses wieder überdeckt wird, der in den Ohren seiner Freunde Ismona und Vanel nachhallt (vgl. CA: 219). In Fignolés Schrei ertönt jener Schrei des ‚subalternen‘ Subjekts, dessen Menschlichkeit laut Maldonado-Torres im Kontext eines Diskurses der Kolonialität verschleiert wird (vgl. Maldonado-Torres 2010: 111). Jener präsentiere, so führt er in seinem Beitrag weiter aus, entsprechend „a call of attention to one’s own existence“ (ebd.: 110). Maldonado-Torres ergänzt, dass dieser Schrei somit auf eine Verletzung (‚violation‘) der Bedeutung menschlicher Alterität verweise „to the point where the alter-ego becomes sub-alter“ (ebd.: 111, Herv. J. B.), was diesem Anderen seine Menschlichkeit und - mit Butler gesprochen - Betrauerungswürdigkeit verweigert (vgl. Butler 2004: 33; Maldonado-Torres 2010: 111). 574 Durch das Wechselspiel von Schrei und Schuss kündet der Text an dieser Stelle von all jenen Stimmen, die potenziell vom die Geschichte durchziehenden permanenten Waffenlärm überlagert und im Gewaltakt endgültig zum Verstummen gebracht werden. Sind zu Beginn des Romans nur abstrakte, undefinierbare Schüsse zu hören, wird die Vernichtung von Leben durch ebendiese konkret, wenn zunächst mit dem Jugendlichen im Krankenhaus und schließlich mit Fignolé das bisher unsichtbare Opfer in Erscheinung tritt, sodass die todbringende Wirkung der Schüsse den Leser einholt. Im erklingenden Schrei des sterbenden Fignolé wird darüber hinaus bereits spürbar, dass jene Stimmen wieder hörbar gemacht und so als Subjekt konstituiert werden müssen, „[that] is and must be grieved […]“ (Butler 2004: xiv). Während das Menschsein des Einzelnen im Schrei der Agonie allerdings nur anklingt, versieht die Erzählung der Schwestern das tote Subjekt endgültig mit einer menschlichen Hülle, indem sie den Verlust ins Zentrum stellt, den die Zerstörung von Leben im Kreis von Familie und Freunden entstehen lässt. In diesem Zuge bereitet der Text zugleich dem 574 Der Schrei versinnbildlicht laut Maldonado-Torres die Unsichtbarkeit und Dehumanisierung, welche die Existenz des ‚subalternen‘ Subjekts als Kolonialität des Seins kennzeichnen. Diese ist ihm zufolge durch eine „naturalization of the non-ethics of war“ (Maldonado-Torres 2010: 111) geprägt (vgl. ebd.: 110-11). Butlers Entwurf einer gewaltfreien Ethik (‚non-violent ethics‘), „based upon an understanding of how easily human life is annulled“ (2004: xvii) - was auch die Verletzbarkeit der Existenz des ‚Subalternen‘ umfasst -, bietet über die Betonung der Betrauerungswürdigkeit eines jeden Individuums einen Ansatz, um diesen Missstand anzugehen. Vgl. hierzu die Ausführungen zu Butler und Maldonado-Torres in Kap. 1.2.3 sowie 1.3. <?page no="239"?> 227 von Trouillot konstatierten Topos der ‚résilience‘ ein Ende (vgl. L. Trouillot 2011b: 12-13). Mit einer Überakzentuierung einer vermeintlichen Widerstandsfähigkeit der Haitianer angesichts widriger Umstände spielt dieser das traumatische Moment der Gewalterfahrung (auch jenseits der Naturgewalt) herunter, denn die Behauptung einer grenzenlosen Resilienz verkennt die Verletzungsoffenheit eines jeden Menschen (in körperlicher und psychischer Hinsicht). 575 Durch das Erzählen der Schwestern erhält das Opfer jedoch nicht nur einen Namen und somit eine Identität, sondern ihm wird auch symbolisch ein Gesicht verliehen, über das seine Betrauerungswürdigkeit im Text festgeschrieben wird. Butler lehnt sich in ihren Überlegungen in diesem Kontext an Emmanuel Levinas an (vgl. v. a. Butler 2004: 128-51), der das Antlitz als den Ort definiert, der den ethischen Anspruch des Anderen an das Selbst verkörpert. 576 Das Gesicht des Anderen ruft ihm zufolge das Selbst in seiner Verletzbarkeit an und erinnert es an seine ethische Verantwortung, das Leben des Anderen zu beschützen (vgl. Stegmaier 2009: 136). 577 Lahens greift in La couleur de l’aube das Antlitz als konkrete Metapher für die ethische Verantwortung des Selbst angesichts des Todes des An- 575 Zur Diskussion dieses Topos vgl. Kap. 1.3. Zur Verletzungs-Offenheit des Menschen vgl. Popitz 1992: 43-44 sowie Kap. 1.1.1. 576 Levinas zufolge ist der Andere keine konkrete Entität, sondern als ein abstraktes Konzept jenseits der Repräsentation zu denken (vgl. Levinas 1996: 65; ebenso Butler 2004: 144). Sein Antlitz (‚visage‘), das kein Gesicht im gegenständlichen Sinne ist (vgl. Levinas 1992: 226), repräsentiert bei Levinas eine nicht fassbare oder lokalisierbare Figur, die sich unserem Zugriff entzieht und die für den Anderen und sein Leid steht, aus dem heraus er uns in einer „schutzlose[n] Darbietung“ (Levinas 1996: 64) anruft (vgl. ebd.: 64; Levinas 1992: 222-23; Butler 2004: 133). Für Butler symbolisiert das Antlitz deshalb „the precariousness of the Other“ (2004: 134), wodurch die Sphäre der Ethik ins Spiel kommt (vgl. ebd.: 134; Lloyd 2008: 92). 577 In Levinas’ Figur des Antlitzes sind sowohl die Verletzbarkeit des Anderen wie auch das Verbot der Gewalt angelegt (vgl. auch Butler 2004: xviii): „Das Antlitz ist exponiert, bedroht, als würde es uns zu einem Akt der Gewalt einladen. Zugleich ist das Antlitz das, was uns verbietet zu töten“ (Levinas 1996: 65; vgl. auch Levinas 1961: 172-73). Levinas erörtert, dass sich aus der (Wahl-)Freiheit des Menschen (zu töten) die ethische Verantwortung erhebe, den Schutz des Leben des Anderen buchstäblich über den Schutz des eigenen Lebens zu stellen (vgl. Kearney/ Levinas 1986: 24; Levinas 1996: 66; Levinas 1961: 173; Butler 2004: 134-35, 137), als „ein Für-den-Anderen“ (Levinas 1996: 73). Hierbei handle es sich um eine Verantwortung, welche dem Selbst „obliegt“ (ebd.: 73), ohne dass es notwendig sei, diese erst zu übernehmen (vgl. ebd.: 65-66, 73, 75; Levinas 1961: 178, 188): „Cette présentation [de l’Autre] est la nonviolence par excellence, car au lieu de blesser ma liberté, elle l’appelle à la responsabilité et l’instaure“ (Levinas 1961: 177-78). Die Verantwortung des Selbst beschränke sich jedoch nicht nur darauf, den Anderen nicht zu töten, so leitet wiederum Butler her, sondern ihn auch nicht sterben zu lassen. Im Zentrum ihrer Überlegungen steht hierbei das Dilemma der Angst, zum Komplizen des Tod des Anderen zu werden (vgl. Butler 2004: 135, 138, 160-61; Stegmaier 2009: 134). <?page no="240"?> 228 deren auf, der zwar nicht beschützt werden konnte, 578 ungeachtet dessen aber angemessen betrauert werden muss. Von jenem bei der Gewalteskalation ums Leben gekommenen Studenten bleibt nur eine Leiche zurück, deren leblose „yeux révulsés“ (CA: 96) Joyeuse starr fixieren. Als Subjekt „sans passé, sans avenir, sans parenté“ (CA: 96) ist seine Geschichte abhandengekommen. Er bleibt als „une nature à nu, une plaie frottée au sang“ (CA: 96) zurück. Auch Fignolé wird im ‚Epilog‘ als „[c]adavre“ (CA: 218), „[dont le] visage n’est plus qu’une bouillie de sang mêlée à la chose blanchâtre qui suinte de son crâne“ (CA: 218), beschrieben. Somit scheint die Gewalt auf den ersten Blick auch sein Gesicht vernichtet zu haben, 579 was - mit Levinas gelesen - stellvertretend für die Zerstörung des Subjekts steht, dessen Anrufung uns nicht mehr erreicht (vgl. Levinas 1996: 64-65; Levinas 1992: 222-23). Doch die Erzählung seiner Schwestern übersteigt das Bild des toten Körpers aus dem ‚Epilog‘. Auch wenn der Roman mit dieser Szene endet, so stellt sie doch eigentlich den Anfangsmoment der Handlung dar. Als bezeichnend ist folgende Aussage von Joyeuse zu betrachten: „C’est des yeux de Fignolé que je me souviendrai“ (CA: 209). Durch dieses erinnerte Bild der Augen als Symbol für Fignolés Existenz überschreibt Lahens das vernichtete Gesicht des toten Körpers und retabliert den Anderen in seiner ethischen Dimension als betrauernswert. Es ist diese Erinnerung an Fignolé als lebendiges Subjekt, die im Gedächtnis der Figuren und in der Erzählung fortlebt, nicht das zerstörte Antlitz des Kadavers als Abbild der Gewalt. Auch wenn der Text narrativ kontinuierlich auf Fignolés bereits vergangenes Sterben zustrebt, so hat die Analyse gezeigt, dass das Erzählen der Schwestern diesen Gewaltakt einhegt und Fignolé als lebendes und betrauernswertes Subjekt thematisiert. Indem sie ihre Angst und ihre Trauer in der beständigen Sorge zum Ausdruck bringen, machen sie aus ihm wieder ein Opfer, „whose death[.] […] count[s] as death[.]“ (Butler 2004: xxi). Die isoliert erzählte Todesszene im ‚Epilog‘ des Romans wird durch ihre Sorge kontextualisiert und der tote Körper des Schlussbilds zum betrauerten Bruder, Sohn und Freund. Hinter dem Gewaltakt scheint demnach wieder der Andere auf, dessen Verletzbarkeit jeder Mensch teilt (vgl. Reemtsma 2009: 212), ebenso wie dieser als Wesen, das sich über die Bindung zum Anderen erst selbst konstituiert (vgl. Butler 2004: 22), 580 die 578 Vgl. das Joyeuse zugeschriebene Bedürfnis, den Bruder seit jeher zu beschützen: „Très tôt j’ai voulu pour lui affronter l’ombre. Très tôt j’ai voulu être son rempart contre la mort“ (CA: 133). 579 Die Zerstörung seines Gesichts im Gewaltakt anonymisiert zugleich Fignolé als Opfer, so dass sein Schicksal als stellvertretend für all jene Toten gelesen werden kann, deren Geschichten ungehört bleiben. 580 Vgl.: „If I lose you […] then I not only mourn the loss, but I become inscrutable to myself. Who ‚am‘ I, without you? […] On one level, I think I have lost ‚you‘ only to discover that ‚I‘ have gone missing as well“ (2004: 22). Butler betrachtet folglich das <?page no="241"?> 229 Erfahrung des drohenden Verlusts des Anderen kennt (vgl. ebd.: 20). Indem Lahens’ Roman folglich auf die Betrauerungswürdigkeit des Gewaltopfers verweist und auf die verstörende Leerstelle abhebt, die sein Sterben hinterlässt, arbeitet die Autorin heraus, dass Gewalt nie abstrakt, sondern immer in einer ethisch-menschlichen Dimension verhandelt werden muss. La couleur de l’aube als Text über Gewalt zu bezeichnen, würde mithin eine einseitige Perspektive darstellen. Darüber hinaus ist der Roman ein Text über den schmerzhaften Verlust des Subjekts und die ethische Verantwortung der Gemeinschaft, dieses als betrauernswert zu erinnern. Durch diese Fokussierung vollzieht der Roman nicht nur eine „Rekonstruktion der Geschichte des Traumas“ (Herman 2003: 12), sondern trägt zugleich Judith Hermans Forderung der „Wiederherstellung der Verbindung zwischen Opfer und Gemeinschaft“ (ebd.: 12) Rechnung. Als aufschlussreich erweist sich in diesem Kontext ein kurzer Vergleich mit Lahens’ Kurzgeschichte „Lave ta mémoire à grande eau“ aus der Sammlung La folie était venue avec la pluie (2006), die zahlreiche intertextuelle Bezüge zu La couleur de l’aube enthält. Sie erzählt ebenfalls von einer Flucht, die damit endet, dass der Figur Vanès zuerst ins Bein und schließlich ins Gesicht geschossen wird. Auch diese Episode mündet in eine Beschreibung seines zerstörten Gesichts, „à la place du[quel] […] il ne retait [sic] plus qu’une bouillie informe de sang et de chair“ (Lahens 2006: 67). 581 Nur allzu sehr erinnert diese Szenerie an den ‚Epilog‘ von La couleur de l’aube, zumal auch in der Kurzgeschichte ein heterodiegetischer Erzähler mit wechselnder Fokalisierung auf die Figuren vorliegt (vgl. Kap. 3.3). Doch wird dessen emotionslosem Bericht über das Sterben Vanès’ in „Lave ta mémoire à grande eau“ keine Ich-Perspektive an die Seite gestellt. Die dort gleichermaßen erwähnte Familie des Opfers bleibt anders als in La couleur de l’aube stumm und kommt als Erzählerstimme(n) nicht zu Wort. Es verwundert deshalb nicht, dass die Kurzgeschichte noch mit folgenden Worten endet: „Ce fut une nuit sans témoin, une nuit sans mémoire“ (Lahens 2006: 68, Herv. J. B.). In La couleur de l’aube hingegen sorgt die Erzählung der Schwestern dafür, dass Fignolé nicht zu denjenigen gehört, die laut Butler eine Spur hinterlassen, die keine wirkliche Spur ist (vgl. Butler 2004: 36). 582 Anders als zahlreiche andere Opfer im Text bleibt er nicht anonym, was seinen Verlust all jenen wieder vor Augen führt, die die Wirklichkeit der Gewalt von sich Subjekt nicht als autonom, sondern sieht es immer in Beziehung zum Anderen, weshalb der Verlust dieses Anderen immer auch das Subjekt selbst betreffe (vgl. ebd.: 22-24). 581 Das Motiv des zu Materie reduzierten Körpers am Ende der Erzählung taucht auch in anderen Kurzgeschichten der Autorin auf (z. B. Lahens 1994: 59; Lahens 1999: 65). 582 Vgl. Butler im Detail: „Violence against those who are already not quite living, that is, living in a state of suspension between life and death, leaves a mark that is no mark“ (2004: 36). <?page no="242"?> 230 weisen wollen, „[qui] n’ont rien vu, rien entendu“ (CA: 216). Durch die Erzählung wird es unmöglich, um es mit den Joyeuse in den Mund gelegten Worten zu sagen, „de ne pas savoir. Impossible! “ (CA: 64). Während sich die Schwestern an Fignolés Schicksal erinnern und dieses somit vor dem Vergessen bewahrt wird, taucht in La couleur de l’aube mit der ‚restavèk‘ Ti Louze jedoch auch ein Opfer von Gewalt und Diskriminierung auf, dessen Leid und prekärer Status von den Erzählerinnen selbst kaum wahrgenommen werden. Dass Lahens über die narrative Marginalisierung dieser Nebenfigur, die in der Erzählung nur in wenigen Sätzen Erwähnung findet, anmahnt, dass auch im innergesellschaftlichen Diskurs Haitis die Verletzbarkeit der untersten sozialen Schichten häufig übersehen wird, ist Gegenstand des abschließenden Analysekapitels. 3.6.3 Die ‚restavèk‘ Ti Louze: Die nicht-erzählte Geschichte des unsichtbaren Opfers Durch den starken Fokus der Erzählung auf Fignolé und seine Familie übt Lahens versteckt Kritik an der Kurzsichtigkeit der haitianischen Gesellschaft, die selbst Gefahr läuft, die Verletzbarkeit jener Opfer auszublenden, die aufgrund ihres sozialen Status an den Rand gedrängt wurden. Dies lässt sich exemplarisch anhand der Figur Ti Louze aufzeigen, die das vergessene Schicksal der haitianischen ‚restavèk‘ repräsentiert. 583 Deren soziale Marginalisierung innerhalb der haitianischen Gemeinschaft spiegelt sich in der Struktur von Lahens’ Roman dahingehend wider, dass die Figur auch in der Erzählung als nebensächlich behandelt wird und nahezu unsichtbar bleibt. 584 Das kreolische Wort ‚restavèk‘ ist vom französischen Ausdruck ‚rester avec‘ abgeleitet (vgl. Cadet 1998: 4; Suárez 2006: 119) und bezeichnet eine in Haiti auch in der heutigen Zeit noch weit verbreitete repressive Form der Kinderarbeit in den Haushalten von sogenannten ‚Gastfamilien‘. Der häufig in diesem Kontext auftretende (teils schwere) Missbrauch dieser Kinder und Jugendlichen führt dazu, dass sich die Betroffenen meist weniger als Hausangestellte verstehen, so die Philologin Lucía M. Suárez, „but rather identify with the concept of slavery“ (Suárez 2006: 120). 585 So 583 Angesichts der verstreut erwähnten Informationen zu Ti Louzes desolatem Zustand und ihrer Verantwortung für die Hausarbeit (vgl. CA: 22-23, 35-36) erkennt der aufmerksame Leser in ihr unweigerlich eine ‚restavèk‘. Vgl. auch Sourieau 2012: 55. 584 Vgl. zur Frage nach der (Un-)Sichtbarkeit bestimmter Opfergruppen z. B. die Überlegungen in Maldonado-Torres 2010; Sontag 2004: 14. 585 Vgl. Amnesty International 2009; Cadet 1998: 4; Dillmann 2010a; Faedi 2008: 168-70; Kovats-Bernat 2006: 60-61; Quirk 2011: 342; Suárez 2006: 119-23. Auch in der Fiktion wird das Phänomen immer wieder und gleichermaßen am Rande der ‚eigentlichen Geschichte‘ aufgegriffen, so u. a. in Fado (2008) von Mars, La belle amour humaine von L. Trouillot, The Dew Breaker von Danticat oder auch The Brief Wondrous Life of Oscar Wao (2007) des US-dominikanischen Autors Junot Díaz (vgl. Danticat 2005: 142; Díaz 2008: 263; Mars 2008: 46; L. Trouillot 2011a: 47-48). <?page no="243"?> 231 steht auch Ti Louze im Roman auf der untersten Stufe einer sozialen Hierarchie, innerhalb derer die eigene Negativerfahrung stetig ‚nach unten‘ weitergegeben wird. Dies zeigt sich daran, dass Angélique das Mädchen angesichts der Verzweiflung, die sie wegen Fignolés Verschwinden verspürt, mit einer Peitsche prügelt (vgl. CA: 32). Diese Szene ist nicht nur dahingehend aufschlussreich, dass über die Peitsche, die gemäß dem ‚Code Noir‘ als gängiges Bestrafungsmittel gegenüber den Sklaven in den französischen Kolonien verwendet wurde (vgl. Beckles 1997: 200; Dubois 2004: 50), Bilder einer vergangenen Zeit aufgerufen und hierdurch koloniale Unterdrückungs- und Missbrauchsstrukturen mit gegenwärtigen Formen der Diskriminierung und Gewalt in Relation gesetzt werden. 586 Darüber hinaus wiederholt Angélique die Herabwürdigung zu einem minderwertigen ‚Schwarzen‘ Körper, die sie und Joyeuse selbst bei der Begegnung mit dem anderen Geschlecht sowie ihre Schwester im Verhalten der Oberschicht erfahren haben, an der ihr ausgelieferten Schutzbefohlenen. Deren untergeordnete Stellung innerhalb der Gesellschaft wird mit ihrer Hautfarbe erklärt, wodurch abermals eine assoziative Brücke zum Rassismus der kolonialen Ära geschlagen wird. So erläutert die Erzählerin, Ti Louze sei „si noire“ und habe einen „vraie tête d’Africaine qui ne lui laissera aucune issue dans cette île“ (CA: 33), sodass ihr Schicksal bereits unabänderlich vorherbestimmt sei: „Pour Ti Louze tous les jeux sont déjà faits“ (CA: 33). 587 In der Erzählung der Schwestern wird das Mädchen nur am Rande erwähnt, wodurch Lahens die Tatsache kritisiert, dass das Schicksal der ‚restavèk‘ auch in der öffentlichen Wahrnehmung in Haiti weitestgehend verdrängt wird. Durch diese Darstellung akzentuiert sie, dass auch innerhalb der haitianischen Gesellschaft die Betrauerungswürdigkeit des Indivi- 586 Bezeichnend ist, dass Angélique auch eine kolonial-rassistische Argumentation aufgreift, wenn sie ihr Handeln folgendermaßen begründet: „Le fouet n’a jamais fait de mal au petit nègre ou à la petite négresse“ (CA: 35). Vgl. in diesem Kontext Fanons Ausführungen zur Selbstentfremdung des Kolonisierten, der sich die Vorurteile und Fantasien der ‚weißen‘ Kultur gegenüber der ‚Schwarzen‘ Bevölkerung aneigne und sie reproduziere. Die Folge sei die Entstehung eines Minderwertigkeitskomplexes gegenüber der eigenen Kultur (vgl. Fanon 1952: 120, 154-55; außerdem Memmi 1957: 155). Vgl. ebenfalls Depestre 2004: 236. Zur Peitsche als Mittel der Züchtigung im Alltag der ‚restavèk‘ vgl. Cadet 1998: 4. 587 Für die Bedeutung der Hautfarbe in postkolonialen Gesellschaften der Karibik vgl. z. B. Baronov/ Yelvington: „The lasting legacy of colonialism, the plantantion system, and slavery has been the European fixation on race and the notion of whiteness“ (2009: 229). In La couleur de l’aube wird das Überleben eines unterschwelligen im Zusammenhang mit der Hautfarbe stehenden Rassismus ferner auch am Beispiel einer am Rande genannten Nachbarin deutlich, die sich die Haut in ihrem Gesicht aufhellt (vgl. CA: 46). Vgl. ebenfalls Lahens 2013: 90. Zur Praxis der Hautaufhellung (‚skin bleaching‘) und der Bedeutung der Hautfarbe in Haiti vgl. z. B. Fluehr-Lobban 2006: 56, 214-15. Zur Rolle der Hautfarbe als Indikator der sozialen Stellung in Haiti als Thema im haitianischen Gegenwartsroman vgl. ferner Lahens’ Guillaume et Nathalie, L. Trouillots La belle amour humaine oder G. Victors Le sang et la mer. <?page no="244"?> 232 duums somit stark vom sozialen Status abhängt. Den ‚restavèk‘ wird im sozialen Gefüge Haitis eine ebenso minderwertige Rolle zugewiesen (vgl. Amnesty International 2009), wie sie Ti Louze als vermeintlich unwichtige Nebenfigur in der Erzählung eingeräumt wird. Das Mädchen wird sozusagen gesellschaftlich wie auch narrativ marginalisiert, was bereits in ihrem Namen durch das kreolische Attribut ‚ti‘ (frz. ‚petit‘) angedeutet wird. 588 Indem sie somit im Roman absichtlich ‚klein gehalten‘ wird, spielt Lahens mit der Möglichkeit, dass das Mädchen als Opfer von Gewalt auch für den Leser „invisible“ (CA: 33) bleibt. Dieser läuft regelrecht Gefahr, sie zu ‚überlesen‘. Füllt noch das Erzählen der Schwestern die Leerstelle, die Fignolés gewaltsamer Tod im Text hinterlassen hat, so bildet Ti Louzes Geschichte eine tatsächliche Lücke, die durch niemandes Erzählung geschlossen wird, mit der Folge, dass sie verloren zu gehen droht. 589 Lahens hält mit dieser Metakritik der haitianischen Gesellschaft einen Spiegel vor, um ihr die eigene Blindheit gegenüber weniger offensichtlichen Spielarten der Gewaltproblematik in Haiti vor Augen zu führen. Durch die Perspektive der beiden Ich-Erzählerinnen, die nicht nur den Verlust des Bruders, sondern auch die eigene Erfahrung sexueller Gewalt thematisieren, wurde zwar bereits grundsätzlich eine einseitige Sicht auf das Gewaltphänomen aufgebrochen. Die Unsichtbarkeit der ‚restavèk‘ im Text verdeutlicht jedoch, dass der über den Diskurs der Schwestern erlangte, vorgeblich differenzierte Blick trügerisch ist. Hierdurch wird der Leser dazu aufgefordert, die eigene Perspektive beständig zu hinterfragen und seine Wahrnehmung für Phänomene zu schärfen, die unter der Oberfläche ablaufen. Dies betrifft nicht nur körperliche Gewalt gegenüber Opfern wie den ‚restavèk‘, die von der haitianischen Gesellschaft nicht als solche erkannt werden, sondern auch Phänomene epistemischer Gewalt, die über Mechanismen der menschenverachtenden Diskriminierung den Subjektstatus des Opfers prekär werden lassen. 590 Während Angélique und Joyeuse über das Erzählen zum einen eigenhändig die passive Rolle des Gewaltopfers überwinden (vgl. Kap. 3.5.2) und zum anderen für Fignolé den Status eines betrauernswerten Subjekts einfordern (vgl. Kap. 3.6.2), wird Ti Louze gemäß ihrer marginalisierten Stellung in der haitianischen 588 Zwar sind (Bei-)Namen aus einer Kombination mit ‚ti‘ in Haiti nicht unüblich, doch ist bezeichnend, dass Ti Louze als einzige in der Familie einen solchen trägt. In seiner Autobiografie beschreibt der ehemalige ‚restavèk‘ Jean-Robert Cadet zudem, dass die betroffenen Kinder und Jugendlichen nicht nur jeglichen Kontakt mit ihren Familien, sondern meist ihre gesamte Vergangenheit verlieren würden, da ihnen - wie auch im Falle der afrikanischen Sklaven - häufig der Einfachheit halber neue Namen gegeben würden (vgl. Cadet 1998: 4). 589 Vgl. eine Aussage von Lahens in einem Interview (Spear/ Lahens 2009: 20: 28-20: 40 Min.), in dem sie betont, dass sie die Geschichten derer erzählen wolle, die nicht für sich selbst sprechen könnten. 590 Zu Spielarten epistemischer Gewalt in La couleur de l’aube vgl. die Ausführungen zur Diskriminierung der ‚Schwarzen‘ Frau in Kap. 3.4.1 sowie den in Kap. 3.6.1 beleuchteten diskriminierenden Diskurs ausländischer Akteure. <?page no="245"?> 233 Gesellschaft von Lahens im Roman keine Stimme gegeben. Über diese Lücke thematisiert die Literatin gleichzeitig kritisch die Rolle der haitianischen Autoren als ‚Sprachrohr‘ der haitianischen Bevölkerung, indem sie darauf hinweist, dass auch eine differenzierte Perspektive eines Phänomens in mancherlei Hinsicht defizitär bleiben kann. 591 Ungeachtet dessen zeigt La couleur de l’aube aber auch, dass das Betrauern des eigenen Verlusts Joyeuses Sensibilität gegenüber dem Schicksal anderer hat wachsen lassen, was sie in die Lage versetzt, in Ti Louze schließlich doch noch ein Opfer zu erkennen. Dieses Detail wird ebenso beiläufig erzählt, wie der Roman die Figur der ‚restavèk‘ immer nur en passant erwähnt, und findet unmittelbar vor der finalen Rachefantasie Joyeuses Erwähnung. So kommentiert die Erzählerin: „Le dernier acte de mon ancienne vie sera de faire partir Ti Louze à l’insu de tous. Je la confierai à l’orphelinat des Sœurs ou ailleurs. De toute façon loin d’ici. Je le dois à Fignolé“ (CA: 214). Die Ankündigung der Freigabe von Ti Louze scheint in dieser Aussage als ethische Geste auf, durch welche die Verletzbarkeit des Anderen (wieder) respektiert und der Zerrüttung der gesellschaftlichen Strukturen entgegenwirkt wird. 592 Ebenso wenig wie der Leser jedoch erfährt, ob Joyeuse die Vergeltung ausführt (vgl. Kap. 3.5.2), erlangt er Sicherheit bezüglich der Realisierung ihres Versprechens, Ti Louze freizugeben, denn beide Vorhaben werden im Tempus des Futurs geschildert (vgl. CA: 214). Der Roman stellt somit lediglich die Möglichkeit in Aussicht, dass Ti Louze aus ihrer Unsichtbarkeit befreit und in ihrer Verletzbarkeit wahrgenommen wird. Lahens verfällt auch in dieser Hinsicht nicht der Versuchung, ihrem Roman eine plötzliche Wendung zu geben und den Eindruck zu erwecken, die Zerrüttung der Gesellschaft sei urplötzlich zu überwinden (vgl. auch Kap. 3.4.2 und 3.5.2), sondern erkennt an, wie schmal der Grat zwischen Vergeltung und Versöhnung sein kann. Ob sich Ti Louzes Leben durch Joyeuses Handeln tatsächlich verbessern würde, wird von Lahens durch einen intertextuellen Verweis allerdings versteckt infrage gestellt. Im Verlauf des Romans erklärt die Erzählerin, dass der Besuch einer gehobenen Schule sie nicht auf die Wirklichkeit vorbereitet habe (vgl. CA: 148), und erteilt im gleichen Atemzug literarischen Modellen eine Absage, die sie ironisch als für den haitia- 591 Eine solche selbstkritische Sicht ist insbesondere von Bedeutung, wenn man die Diskrepanz zwischen dem privilegierten Status der haitianischen Schriftsteller im Sinne einer Bildungselite und als Stellvertreter jener Stimmen, die auf nationaler und internationaler Ebene Gehör finden, und der Konzentration der Gewalterfahrung vornehmlich auf ärmere und somit häufig auch weniger gebildete Gesellschaftsschichten bedenkt, die in Kap. 1.3 angesprochen wurde. 592 Vgl. in diesem Kontext Glissants Konzept der ‚identité-relation‘, mit dem er beschreibt, dass das Selbst zum Anderen in Beziehung treten müsse, um sich in diesem zu erkennen (vgl. Glissant 1990: 23, 158, 169), „pour me sentir solidaire de lui, pour bâtir avec lui, pour aimer ce qu’il fait“ (ebd.: 207). Vgl. außerdem Butler 2004: xiv, xviii sowie Borst 2013a und die Ausführungen zu Levinas in Kap. 3.6.2. <?page no="246"?> 234 nischen Kontext untauglich erklärt (vgl. CA: 148-49). Mit ihren ablehnenden Kommentaren zu Victor Hugos Les misérables (1862) und dem Märchen „Aschenputtel“ (‚Cendrillon‘) spielt Joyeuse nicht nur darauf an, dass europäische Narrative nur bedingt als Vorbild für die haitianische Realität dienen können. 593 Sie erwähnt mit den beiden weiblichen Protagonistinnen Cosette und Aschenputtel zugleich zwei Varianten der Figur des ausgebeuteten Kindes (vgl. Brüder Grimm 1980: 137; Redaktion Kindlers Literatur- Lexikon 2009: 748), in denen das schwere Los der ‚restavèk‘ Ti Louze bereits anklingt. Während sich das Schicksal von Cosette und Aschenputtel am Ende doch zum Guten wendet (vgl. Redaktion Kindlers Literatur-Lexikon 2009: 748; Brüder Grimm 1980: 144), lässt Lahens in La couleur de l’aube offen, wie Ti Louzes Geschichte weitergeht. Joyeuses Ablehnung der romantisierenden Fügung in den beiden Intertexten deutet allerdings an, dass angesichts der Gewalt in der Post-Duvalier-Ära die bei Hugo und im Märchen angelegte glückliche Wendung im Leben der Protagonistinnen gerade aus haitianischer Perspektive zu hoch gegriffen und somit irrealvisionär erscheint. Über die Figur der ‚restavèk‘ Ti Louze erinnert Lahens das haitianische Kollektiv außerdem daran, dass es nicht nur die traumatische Gewalterfahrung in der Gemeinschaft zu thematisieren und aufzuarbeiten gilt, sondern dass eine Wiedergewinnung innergesellschaftlicher Solidarität unabdingbar ist, um gewaltgeprägte Handlungsmuster zu überwinden. Dass die Beziehung zum Anderen jedoch in der Welt von La couleur de l’aube bisher vielmehr von Misstrauen denn Empathie geprägt ist, belegt neben dem rücksichtslosen Umgang mit der ‚restavèk‘ eine Szene, in der Joyeuse einer alten Bettlerin begegnet: Quand une vieille femme […] a soulevé le visage vers moi pour me dire dans un chuchotement complice: ‚Mademoiselle, les temps sont difficiles. Vous savez, de mon temps…‘, je suis restée de glace. Inouï sans doute, mais je suis restée de glace. Parce que ce visage et cette voix pouvaient me piéger. La compassion est un luxe hors de ma portée. Alors entre la vieille femme et moi, j’ai volontairement élevé un mur surmonté de barbelés, de tessons de bouteilles et d’une inscription en rouge ‚Attention chien méchant‘. (CA: 77) Sie legt mit diesen Worten die soziale Ausgrenzung, die ihr als Repräsentantin der einfachen Bevölkerung in ihren Begegnungen mit der privilegierten Elite zuteilwird (vgl. u. a. CA: 123, 148, 150-151), gegenüber anderen marginalisierten Gesellschaftsgruppen neu auf. Bezeichnend ist insbesondere, dass sie die emotionale Distanznahme gegenüber der Bettlerin gerade über Bilder der räumlichen Abgrenzung imaginiert, wie sie die 593 Ein weiterer Intertext, der in diesem Kontext genannt wird, ist Roumains haitianischer Klassiker Gouverneurs de la rosée. Eine Interpretation zur Ungültigkeit von Roumains Ideal der erfolgreichen Selbstermächtigung durch gemeinschaftliche Solidarität (symbolisiert durch das Liebespaar Manuel und Annaïse) in der Post- Duvalier-Ära findet sich in Kap. 3.4.2. <?page no="247"?> 235 Lebensräume der Oberschicht auszeichnen (‚mur surmonté de barbelés, de tessons de bouteilles‘). Lahens appelliert durch diese Kritik an die haitianische Gesellschaft, die Notwendigkeit wiederzuerkennen, zum Anderen ein Verhältnis der Solidarität aufzubauen, wie es auch Dieulermesson Petit-Frere in seinem Beitrag „Re-construire l’identité haïtienne. Entre individualisme et collectivisme“ formuliert (vgl. Petit-Frere 2009: 354). 594 Über den moralisch ambivalenten Status ihrer Erzählerinnen, die selbst nicht davor gefeit sind, den Anderen auszugrenzen oder Gewalt auszuüben, warnt Lahens davor, dass der Verlust des Mitgefühls mit dem Anderen auf Dauer die eigene Menschlichkeit abhandenkommen lässt: „Nous sommes dévorés par la rage comme des chiens. Bientôt il nous poussera une queue et nous planterons quatre pattes au sol“ (CA: 13), lässt sie Angélique klagen und deutet hiermit die Gefahr an, dass Haiti endgültig in der Gewalt zu versinken droht, wenn die das Verhalten der Menschen prägende „mécanique de haine“ (CA: 52) nicht überwunden wird. 594 Vgl. Borst 2013a. Insbesondere L. Trouillot widmet sich in seinen späteren Romanen der Frage nach dem gemeinschaftlichen Zusammenleben in Solidarität, das er in Yanvalou pour Charlie andeutet und in La belle amour humaine dezidiert ausgestaltet; zur Bedeutung gemeinschaftlichen Handelns vgl. auch die Darstellung der Demonstranten in Bicentenaire (vgl. L. Trouillot 2006: 66) und die Analyse in Borst 2013b: 231-32. Vgl. in diesem Zusammenhang ferner die Überlegungen von Ette (2010) zur Rolle der Literatur als Ort des ‚ZusammenLebensWissens‘ im Rahmen der Debatte um „Literatur(wissenschaft) als Lebenswissenschaft“ (Ette 2010: 19) und die „Beziehung zwischen Ethik und Ästhetik“ (ebd.: 24). <?page no="248"?> 236 Schlussbemerkungen und Ausblick „Il n’est aucune création qui ne soit vocation de sauver le monde. C’est peut-être la différence fondamentale entre l’artiste et l’homme de pouvoir. Celui-ci travaille […] dans le voilement de la réalité, cultivant le secret d’État jusqu’à l’obsession. L’artiste, lui, cherche le dévoilement, l’éclaircissement, la lumière.“ (Ollivier 2001: 85) „L’implication d’aujourd’hui est venue répondre à une demande de la société qui, devant l’impasse du discours politique, s’est tournée vers les intellectuels et artistes afin qu’ils participent à l’élaboration d’une proposition pour vivre ensemble.“ (L. Trouillot in: Marin La Meslée/ L. Trouillot 2004: 99) Ausgangspunkt der vorliegenden Studie war die Frage nach der Fiktionalisierung der traumatischen Gewalterfahrung der Post-Duvalier-Ära, die trotz aller Bemühungen nach 1986 zur Beilegung der innergesellschaftlichen Konflikte weiterhin von gewaltsamen politischen Auseinandersetzungen wie auch einer Veralltäglichung der Gewalt in der unmittelbaren Lebenswelt der Menschen geprägt war. Es ging in diesem Zusammenhang jedoch nicht nur um die Frage, welche Formen der Gewalt in der Literatur thematisiert werden und inwieweit hierdurch von den Autoren Bezug auf die haitianische Realität genommen wird. Das vorrangige Interesse der Untersuchung galt vielmehr der Art und Weise, wie die Gewalt dieser Zeit im fiktionalen Text erzählt wird. Im Zentrum standen mit Lyonel Trouillots Rue des pas-perdus und Yanick Lahens’ La couleur de l’aube zwei haitianische Gegenwartsromane, die diese kollektive Erfahrung in ihrer traumatischen Dimension über eine Ästhetik der Zer/ Verstörung auf repräsentative Weise einfangen. Im Theorie-Teil wurde zunächst ausgehend von Erkenntnissen aus Gewalt- und Traumatheorie ein Gewaltbegriff entwickelt, der es erlaubt das Phänomen sowohl in seiner physischen als auch psychischen Dimension zu denken. So konnte seine zerstörende Kraft auf den Körper in Relation zu seiner verstörenden Wirkung auf die Psyche des Subjekts gesetzt werden. Hiermit wurde nicht nur die aufgrund der Ambivalenz des Konzepts und der Vielzahl an möglichen Definitionen gebotene wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Gewaltbegriff geleistet, sondern auch eine theoretische Grundlage geschaffen, die in den Analysekapiteln für die Interpretation der Darstellung von Gewalt und Trauma in den Romanen herangezogen werden konnte. Eine Diskussion des Stellenwerts der Gewalt in der haitianischen Realität wie auch als zentrales Element in einer <?page no="249"?> 237 stereotypen Vorstellung über das Land, welche die globale Wahrnehmung dominiert, vor dem Hintergrund einer post- und dekolonialen Kritik und den ambivalenten Reaktionen aus Haiti selbst bildete zudem die Basis, um die Darstellung der Problematik in der Literatur innerhalb dieses diskursiven Spektrums zu verorten. Das Ziel war es, grundlegende Elemente einer Ästhetik herauszuarbeiten, die in den Romanen zum Einsatz kommt, um die durch Gewalt hervorgerufene Zerstörung und Verstörung zu fassen, weshalb den eigentlichen Analysekapiteln zentrale Thesen vorangestellt wurden, die an dieser Stelle wieder aufgegriffen und mit den konkreten Ergebnissen der Textuntersuchungen zusammengeführt werden. Es ist ein unbestreitbares Resultat der vorliegenden Untersuchung, dass Gewalt den narrativen Nukleus bildet, um den die analysierten Erzählungen Trouillots und Lahens’ unaufhörlich kreisen. Beide Romane präsentieren Gewalt vor dem Hintergrund der Konflikte der Post-Duvalier-Ära als Konstante der haitianischen Geschichte und beschreiben die dargestellten Exzesse als neusten Höhepunkt einer historischen Kontinuität, was klare Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen lässt und zu wechselnden bis diffusen Täter-Opfer-Konstellationen führt. Als gleichbleibend wird lediglich die Instrumentalisierung der Gewalt durch den politischen Diskurs in Haiti ausgewiesen. Insbesondere Lahens arbeitet in diesem Kontext über das Motiv des Verschwundenen heraus, dass sich auch mit dem Ende der Duvalier-Diktatur 1986 kaum etwas geändert hat und das Individuum immer noch in einer Welt der ständigen Bedrohung lebt. In den Texten wird darüber hinaus nicht nur die stetige Gefahr, willkürlich zum Opfer zu werden, aufgedeckt, sondern gleichzeitig davor gewarnt, wie schmal der Grat ist, selbst zum Täter zu werden und die Gewaltspirale hierdurch zu perpetuieren. Die Romane berufen sich mithin nicht allein auf ein kollektives Opfersein der haitianischen Gesellschaft, sondern setzen sich auch gezielt mit der Frage der Täterschaft auseinander. Die Tatsache, dass beide Romane direkt nach dem Berichten der ‚Katastrophe‘ abbrechen und ein Leben danach im Grunde kaum thematisieren, verdeutlicht, dass Utopien der Überwindung in beiden Texten keinen Platz haben. Vielmehr wird der Gewaltkreislauf als immer wieder von vorn beginnend beschrieben, worüber die nach anfänglicher Euphorie um sich greifende Desillusionierung der Post-Duvalier-Ära sinnbildlich zum Ausdruck kommt. Hinsichtlich der durch eine solche Darstellung vermittelten Hoffnungslosigkeit in Bezug auf eine Beilegung der Gewalt positionieren sich beide Texte mithin nicht antithetisch zu einem Diskurs, der Gewalt als Konstante der haitianischen Geschichte nennt (vgl. Kap. 1.2). Ein wesentlicher Unterschied zu den in Abschnitt 1.2.2 genannten stereotypen Bildern über Gewalt in Haiti besteht allerdings in den Ursächlichkeiten des Gewaltphänomens, die in der Fiktion mit Nachdruck exponiert werden: Die Geschehnisse in der Post-Duvalier-Ära werden dort nicht kulturimmanent <?page no="250"?> 238 über eine besondere Gewaltaffinität bzw. eine grundsätzliche Unfähigkeit der haitianischen Kultur, eine stabile politisch-gesellschaftliche Ordnung zu etablieren, erklärt. Vielmehr werden kausale Zusammenhänge zwischen kolonialen Strukturen, gesellschaftlichen Hierarchien und Gewalt in der Gegenwart offengelegt, die in der haitianischen Politik, Gesellschaft und Kultur eine signifikante Rolle spielen. Trouillot und Lahens präsentieren Gewalt zudem als omnipräsentes Phänomen, was sich im Fall von Rue des pas-perdus in einer räumlichen Entgrenzung der Ausschreitungen und einer Neu-‚Strukturierung‘ der Stadt als Raum allgegenwärtiger Violenz äußert. Auch in La couleur de l’aube wird dieser Aspekt angedeutet, doch liegt der Fokus hier mehr noch darauf, wie sich Gewalt jenseits des offenen Konflikts auf der Straße - etwa in Form von sexuellem Missbrauch - in die Alltagswirklichkeit des Subjekts eingeschlichen hat. Hierbei fällt ins Auge, dass bei Lahens in diesem Zusammenhang insbesondere gesellschaftlich marginalisiertes Gewalterleben ans Licht geholt wird, das vorrangig einer weiblichen Erfahrungswelt zugeordnet wird, während der gesellschaftspolitische Konflikt als vornehmlich von männlichen Akteuren besetzt gezeigt wird. Die räumliche wie thematische Ubiquität der Gewalt in der Erzählung reflektiert nicht nur ihre kontinuierliche Präsenz in der Alltagswirklichkeit der Post-Duvalier-Ära, sondern verweist zugleich auf die traumatische Dimension dieser Erfahrung, indem sie die beständige Heimsuchung des traumatisierten Subjekts über die Allgegenwart des Motivs evoziert. Wird Gewalt in Rue des pas-perdus noch als vorrangig (gesellschafts)politisch gezeigt, lenkt Lahens die Aufmerksamkeit (u. a. durch die Figur Uneballe-à-la-tête) auch auf ihre zunehmende Entpolitisierung und Kriminalisierung seit der historischen Zäsur im Jahr 1986. Beide Autoren beschwören zwar über versehrte Körper als Spuren geschehener Violenz oder konkrete Gewaltereignisse, die erzählt oder nur angedeutet werden, als Orientierungspunkte im urbanen Raum wie auch symbolisch betrachtet im Erzählfluss eine allgegenwärtige Bedrohlichkeit. Doch wird die Betroffenheit der Figuren als stark von ihrem sozialen Status abhängig gezeigt und somit das Phänomen der Gewalt vor der Folie der bis in die Gegenwart fortbestehenden Kluft innerhalb der haitianischen Gesellschaft diskutiert. Gerade in diesem Punkt werden beständig Zusammenhänge zwischen kolonialer Vergangenheit und postkolonialer Gegenwart aufgezeigt. Kritisch beziehen die untersuchten Romane am Beispiel von Laurence (Rue des pas-perdus) bzw. der Familie Herbruch (La couleur de l’aube) Stellung zur Ignoranz der privilegierten sozialen Schichten in Haiti und ihrer gespaltenen Haltung zur Bevölkerungsmehrheit, die von Ersteren weniger in ihrem Status als (vorrangig betroffene) Opfer denn als potenzielle Täter wahrgenommen wird. Lahens verdeutlicht darüber hinaus am Beispiel der ‚restavèk‘, dass der Mangel an Mitgefühl für das hinsichtlich des sozialen Status niedriger gestellte Opfer nicht nur innerhalb der gesellschaftlichen Elite, sondern auch in anderen Milieus vorzufinden ist. <?page no="251"?> 239 Die räumliche Distanz der privilegierten Gesellschaftsschichten - wie auch der ausländischen Akteure - zur Gewalt findet in der Position des Lesers Widerhall, der über den symbolischen Raum der Fiktion ebenfalls Abstand von den Geschehnissen nehmen kann. Die Texte legen es darauf an, dass der Rezipient bei der Lektüre jenes Unbehagen verspürt, welches Trouillot anhand des Angestellten exemplifiziert, ob des eigenen Wissens, in Sicherheit und nicht betroffen zu sein, und des Erinnert-Werdens an (unterschwellig) längst Gewusstes bzw. gar des erstmaligen Bewusstwerdens einer außerhalb der eigenen Erfahrungswirklichkeit existierenden Gewalt, die sprachlos macht. Darüber hinaus lässt sich als Ergebnis festhalten, dass das Gewalt erfahrende Subjekt von Trouillot und Lahens als einsam und traumatisiert präsentiert wird. Die Figuren irren allein durch einen urbanen Raum der Violenz und es gelingt ihnen vielfach nicht, das eigene Trauma auszusprechen und im Gespräch über die kollektiv erfahrene Gewalt Gemeinschaft herzustellen. Diese Einsamkeit wird auch auf der Ebene des narrativen Diskurses über eine Aufspaltung der Erzählinstanz inszeniert, was zugleich davon zeugt, dass, wie Trouillot betont (vgl. Spear/ L. Trouillot 2011: 8: 19-8: 33 Min.), ein kollektives Ich in Haiti vor dem Hintergrund einer gespaltenen und angesichts der Gewalterfahrung verstörten Gesellschaft gegenwärtig nicht möglich sei. Während dies im Falle der Erzähler in Rue des pas-perdus darin zum Ausdruck kommt, dass ihre Geschichten bis zum Ende nicht zusammenfinden und isoliert stehen bleiben, ist auch in La couleur de l’aube die über die beiden Schwestern evozierte familiäre Gemeinschaft nur vordergründig, haben sich doch Angélique und Joyeuse längst voneinander entfremdet. Zugleich scheinen Mitgefühl und Solidarität in den fiktiven Welten beider Romane abhandengekommen zu sein und auch die zwischenmenschlichen Beziehungen werden als von Gewalt geprägt und zerrüttet gezeigt, was jeweils im Scheitern der Liebesmotivik gipfelt, die als Gegenentwurf angesichts allgegenwärtiger Gewalt ihre Gültigkeit verloren hat. Überdies tritt die Traumatisierung des Subjekts anhand des narrativen Diskurses zutage. So wird der Schrecken der Gewalt insbesondere in Rue des pas-perdus, aber auch in La couleur de l’aube nicht direkt und geordnet erzählt, sondern über Brüche, Sprünge, Auslassungen und Andeutungen in einer teils deliriös anmutenden, unvollständigen Erzählrede, die sich beständig selbst unterbricht und um die traumatische Erfahrung kreist. Den Schrecken der Gewalt über die Ästhetik bestehen zu lassen, gelingt den beiden Autoren gerade, indem die Unmöglichkeit der exhaustiven sprachlichen Erfassung traumatischer Erfahrung im narrativen Diskurs reflektiert wird, sodass eine „Trivialisierung“ (Assmann 1999a: 260) ebendieser, wie sie Assmann im Falle einer unbedarften, simplen Versprachlichung des Erlebten befürchtet (vgl. ebd.: 260), ausbleibt. Das Erzählen birgt vielmehr die Spuren einer traumatischen Erfahrung, die sich „kaum in die gewohnten Erzählmuster ein[fügt]“ (Giesen 2004: 19) und deren Geschichte die <?page no="252"?> 240 Betroffenen selbst „nicht gänzlich in Besitz nehmen können“ (Caruth 2000: 86). Wenngleich die Exzesse der Gewalt in beiden Romanen unerbittlich ausgesprochen und - wie etwa durch die Körpersymboliken in Rue des pas-perdus - schonungslose ‚Bilder‘ der Violenz gezeichnet werden, so lauert der Schrecken gleichermaßen im Nicht-Gesagten. Darin kommt nicht nur das Verstummen des traumatisierten Subjekts zum Ausdruck, sondern auch die Vernichtung des Opfers, dessen Zeugnis verloren ist, was sich anhand der zahlreichen unvollständigen Geschichten in beiden Romanen wie auch der beständig im Text präsent gehaltenen Absenz Fignolés in La couleur de l’aube verdeutlichen lässt. Die Ausführungen zum Erzählen traumatischer Erfahrung haben des Weiteren offengelegt, dass das überlebende Subjekt zwar um Worte ringt, dem Erleben der Opfer aber ungeachtet dessen eine Stimme verleiht, die über einen zerrütteten Bericht Zeugnis ablegt. Eine solche Darstellung versinnbildlicht, wie das Trauma in seiner Unfassbarkeit über die Literatur narrativ erfahrbar gemacht werden kann, sodass es in die kollektive Erinnerung der haitianischen Kultur übergehen kann. Die Struktur der Erzählung spiegelt jedoch nicht nur die Verstörung des traumatisierten Subjekts, sondern auch die Zerstörungsmacht der Gewalt wider, indem narrative Kohärenz in Fragmente aufgebrochen oder der unwiederbringliche Verlust des Subjekts über Lücken in Geschichte und narrativer Struktur in den Text eingeschrieben wird. Aus der Analyse resultiert außerdem die Erkenntnis, dass auch die Literatur der Gewalt mittels Sprache nicht einfach Einhalt gebieten kann. Sie steht ihr ebenfalls bis zu einem gewissen Grad hilflos gegenüber, was in der motivischen und strukturellen Exzesshaftigkeit der Zerstörungs- und Verstörungsmacht der Gewalt in der Erzählung zum Tragen kommt. Der literarische Text übt über diese Entgrenzung des Phänomens doch zugleich eine unmissverständliche Gewaltkritik, indem er auf ihre gravierenden Folgen für Individuum und Kollektiv abhebt. Mit dieser Darstellung bieten die beiden Romane nicht nur ein „übergeordnetes Narrativ“ (Bohleber 2000: 823), das identitätsstiftendes Potenzial für die betroffene Gemeinschaft birgt, sondern kreieren ferner einen fiktionalen Raum, innerhalb dessen der Rezipient, dem über den Text Einblick in eine ihm möglicherweise fremde Welt gewährt wird, 595 gezwungen ist, sich mit der Gewalt in Haiti auseinanderzusetzen und ihre Existenz auf der Ebene des Symbolischen auszuhalten. Gerade derjenige Leser, dessen Erfahrungsbereich außerhalb der in den Romanen beschworenen Wirklichkeit liegt, wird durch diese Darstellung dazu angehalten, auf eine andere, kritischere Art und Weise über die The- 595 Hierunter sind der ausländische Leser wie auch jener haitianische Leser zu verstehen, der sich durch seine privilegierte gesellschaftliche Position der Gewalt entziehen kann, wie hinsichtlich der beiden Romane in den Analysen anhand verschiedener Figuren herausgearbeitet wurde. <?page no="253"?> 241 matik zu reflektieren, als dies die ausländischen Akteure in Rue des pasperdus und La couleur de l’aube mitunter tun. Dies geschieht, indem ihm ein narrativer Diskurs vorgesetzt wird, der ihn über die fiktionale Präsentation versehrter Körper und traumatisierter Überlebender unablässig an die Verletzbarkeit des betrauernswerten haitianischen Subjekts erinnert, die in einer abstrakten Diskussion über die Gewaltproblematik in Haiti allzu häufig in den Hintergrund tritt und so in Vergessenheit gerät. In den Texten wohnt der Gewalt keinerlei ‚Exotik‘ inne, wie sie der US-Amerikaner John aus La couleur de l’aube oder der ausländische Journalist aus Rue des pas-perdus in Haiti zu finden hoffen und über die von den Autoren die Haltung des Auslands gegenüber Haiti deutlich kritisiert wird, sondern sie bedeutet - und dies kulturabhängig - Leid und Zerstörung. Anders als der in Abschnitt 1.2.2 skizzierte stereotype Diskurs über Haiti als ‚Ort der Barbarei‘ beschwören Trouillot und Lahens dementsprechend nicht die Gewaltaffinität einer ganzen Gesellschaft. Es wird weniger der gewalttätige Andere ins Zentrum gerückt als vielmehr der Andere, der Gewalt erleidet. Die beiden Schriftsteller heben demnach auf die durch die Gewalt hervorgerufene Traumatisierung des Kollektivs ab. Wird Gewalt in der öffentlichen Wahrnehmung gewöhnlich an einer feststellbaren Zahl toter Körper festgemacht (vgl. Rotker 2002: 7) und das einzelne Subjekt in seiner Verletzbarkeit so ausgeblendet, wird das Gewaltopfer in der Fiktion der beiden Literaten nicht mehr nur als ‚vergewaltigter‘ Körper (vgl. Maldonado-Torres 2010: 109) inszeniert, sondern erhält als überlebender Zeuge das Wort, dessen verstörende Erfahrung die Skandalösität einer resignierenden Haltung vieler Akteure aus dem In- und Ausland gegenüber der Gewalt in Haiti (vgl. Kap. 1.2.2) entlarvt. Eine Perspektive hingegen, die die Verletzbarkeit des Individuums aus dem Auge verliert, so verdeutlicht insbesondere Lahens hinsichtlich der Preisgabe des haitianischen Subjekts durch den diskriminierenden Diskurs der Elite und des Auslandes, wird durch eine diskursive „déshumanisation de l’autre“ (Gilles 2008: 36), die gewaltsame Exzesse zur Normalität und zum Schicksal eines vermeintlichen ‚pays maudit‘ erklärt, stattdessen zum Komplizen der Gewalt, da beide Prozesse die Menschlichkeit des Anderen infrage stellen und prekär werden lassen. Rue des pas-perdus und La couleur de l’aube greifen diese Entmenschlichung des haitianischen Subjekts nicht nur über die narrative Ästhetik auf und prangern sie an. Sie wirken ihr zugleich entgegen und rufen eine der Gewalt entgegengesetzte Sphäre der Ethik (vgl. Des Rosiers 2009: 168) auf, indem sie das Gewaltopfer seiner Abstraktheit entreißen und in seiner Verletzbarkeit präsentieren. Auf diese Weise versehen sie das Phänomen der Gewalt wieder mit dem ‚Affekt des Schreckens‘, der in der medial-öffentlichen Diskussion angesichts ihrer Erklärung zum ‚Normalzustand‘ verloren gegangen ist. 596 Gleichermaßen wird in beiden Romanen betont, dass 596 Und dies gilt sicherlich nicht nur für den haitianischen Kontext, sondern generell. <?page no="254"?> 242 auch die haitianische Kultur - und nicht nur das Ausland - zu mehr Empathie für den Anderen finden muss, indem die Autoren anhand unterschiedlicher Beispiele hervorheben, dass der Verlust von gesellschaftlicher Solidarität zur Folge hat, dass die Gewaltspirale keinen Abbruch findet. Obwohl Trouillot und Lahens Gewalt zum zentralen Thema ihrer beiden Texte machen, bedienen sie folglich nicht den Erwartungshorizont eines möglicherweise voreingenommenen westlichen Lesers, der von einem gängigen, stereotypen Haiti-Bild beeinflusst ist, sondern bieten eine komplexe und vielschichtige Sicht auf das Phänomen. Diese Art des Schreibens über Haiti fasst der Autor von Rue des pas-perdus in einem Interview vor der Folie des Erdbebens im Jahr 2010 treffend zusammen: Si j’ai souhaité témoigner, comme plusieurs écrivains en ont ressenti la nécessité, ça n’était pas tant pour parler du séisme que du pays. En ce qui concerne le séisme, les journalistes se débrouillent plus ou moins bien avec un certain nombre de faits. Mais il faut aussi raconter le pays pour éviter les réductions, les clichés… C’est ce que j’appelle ‚parler du pays‘. Instruire d’une certaine façon sur les multiples aspects du réel, le donner à voir tel que les gens le vivent, le ressentent, le subissent et souhaitent le modifier. (L. Trouillot in: Flamerion/ L. Trouillot 2010: o. S.) Gleichermaßen stellt die Fiktionalisierung der violenten haitianischen Lebenswirklichkeit der Post-Duvalier-Ära in Rue des pas-perdus und La couleur de l’aube das Subjekt ins Zentrum, wobei dessen individueller Erfahrung zugleich eine intersubjektive Dimension verliehen wird, indem das Trauma der Gewalt als auf kollektiver Ebene prägend offengelegt wird. Erzeugt wird dieser Effekt nicht zuletzt durch die Modellierung der narrativen Instanzen in den Romanen, die zum einen aus ihrer Perspektive als Ich-Erzähler, die zum Opfer oder Zeugen der Gewalt wurden, eine Innensicht auf das Trauma bieten und gleichzeitig jene haitianischen Stimmen präsentieren, denen in der öffentlichen Wahrnehmung kein Platz eingeräumt wird. Zum anderen wird die Erfahrung des Einzelnen durch die Strategie des polyfonen Erzählens von den Autoren ausdrücklich als kollektiv relevante Erfahrung einer Gemeinschaft ausgewiesen. Wie die Analyse demonstriert hat, wird darüber hinaus in beiden Romanen das Erzählen als konstruktiver Prozess gekennzeichnet, der, wenngleich der narrative Diskurs zerrüttet ist und Spuren der Zer/ Verstörung trägt, der Destruktivität der Gewalt entgegenwirkt. Gewalt spricht im literarischen Text somit nicht mehr nur für sich selbst und kommuniziert ihre zerstörerische Macht (vgl. Reemtsma 2009: 476), sondern wird durch einen neuen Text ‚überschrieben‘, der zum Rezipienten über die Gewalt spricht. Hierdurch lassen die Romane Gewalt auf der einen Seite unbeschönigt als das stehen, was sie ist: ein sinnloser, in seinem Ausmaß unerklärlicher Exzess (vgl. Borst 2011: 130), 597 dem die Texte keinen Sinn zuschreiben 597 Wenn hier von einem grundlosen, unerklärlichen Exzess die Rede ist, sollen damit nicht politische oder andere Hintergründe verleugnet werden, welche die einzelne <?page no="255"?> 243 wollen, sondern den sie in seiner Sinnlosigkeit exponieren; 598 sie antworten ihr aber auf der anderen Seite mit dem Erzählen, welches sich nicht anmaßt, ihr unbeschadet zu entkommen oder sie bannen zu können. Anders als in Ettes Metapher der Erzählkunst als Möglichkeit des „Aufschubs“ (2010: 309) von Gewalt, die „[…] Leben rette[t]“ (ebd.: 309), wie der Philologe anhand der Erzählung Tausendundeiner Nacht herleitet, 599 kann das Erzählen bei Trouillot und Lahens Gewalt nicht mehr ‚verschieben‘, sondern spricht vielmehr mit den Stimmen der Überlebenden, deren Existenz davon zeugt, dass Gewalt nicht alles zerstört hat, da trotz alledem Text entsteht. Die traumatisierten Figuren aus Rue des pas-perdus und La couleur de l’aube werden somit zwar als nicht mehr zu heroischen Taten, die der Gewalt ein Ende setzen könnten, in der Lage entworfen. Sehr wohl werden sie aber noch als des Erzählens mächtig gezeigt. Als Stimmen der Narration überwinden sie die Machtlosigkeit des Subjekts im Moment des Gewalterlebens und bekräftigen das eigene Überlebt-Haben. Ein etwaiges ‚Ende der Geschichte‘, die in der Gewaltspirale stecken bleibt und keinen Neubeginn mehr ermöglicht, wird in den Romanen mithin konterkariert, indem das Erzählen selbst als widerständiger Akt ausgewiesen wird. Die vermeintliche Allmacht der Gewalt wird so auf der Ebene des Symbolischen in ihre Schranken verwiesen, zumal sowohl Ducarmel Désiré (Rue des pas-perdus) als auch - wenngleich weit weniger eindeutig - Joyeuse (La couleur de l’aube) als Figuren präsentiert werden, die Gewalt über Sprache bezeugen, anstatt sie in Form weiterer violenter Handlungen selbst zu reproduzieren. Auf die Notwendigkeit, dieses Am-Leben-Sein der Haitianer - etwa über die Fiktion - für die Welt zu bezeugen, macht die US-haitianische Schriftstellerin Danticat aufmerksam, wenn sie an das kreyòlische Sprichwort ‚Nou led, Nou la’ (vgl. Danticat 1996b: 289) erinnert: We are part of an endless circle […]. We have stumbled, but have not fallen. We are ill-favored, but we still endure. Every once in a while, we must scream this as far as the wind can carry our voices: We are ugly, but we are here! And here to stay. (ebd.: 291, Herv. J. B.) 600 Gewalttat möglicherweise motivieren, sondern auf das in Kap. 1.1.1 beschriebene autotelische Moment des Gewaltakts im Sinne Reemtsmas Bezug genommen werden. 598 Entsprechend wird in den Texten auch keine optimistische Zukunftsvision - einhergehend mit ‚verkürzenden Lösungsvorschlägen‘ der Problematik, die eine baldige Überwindung in Aussicht stellen - bemüht, um Gewalt einzuhegen. 599 Zu Tausendundeiner Nacht als prototypisches Beispiel, wie Erzählen Gewalt ‚aufschieben‘ und verhindern könne, vgl. Haas 2012: 233; Schäffauer 2013: 92; Schäffauer i. E. Zur Rahmenerzählung in Tausendundeiner Nacht, auf die derartige Überlegungen Bezug nehmen, vgl. Walther 1987: 86-94. 600 Lahens bestätigt in einem Interview, dass sie gerade dieser „force de vie […] époustouflante“ (Lahens in: Spear/ Lahens 2009: 16: 41-16: 44 Min.) vieler Haitianer in La couleur de l’aube ein Denkmal habe setzen wollen. <?page no="256"?> 244 Die Bedeutung des Erzählens als Möglichkeit, der Gewalt mit Sprache zu begegnen, symbolisiert zugleich die tragende Rolle, die der Literatur als Raum innerhalb des Bereichs der Kultur zukommt. 601 Sie ist imstande, das kollektive Trauma der Gewalt in der Post-Duvalier-Ära nicht nur thematisch zu bearbeiten, sondern zugleich stellvertretend für die Gemeinschaft aufzuarbeiten. Der literarische Text hat in dieser Funktion das Potenzial, wie in Kapitel 1.3 erläutert, den Memoria-Diskurs über diese Zeit innerhalb der haitianischen Gesellschaft wie auch auf globaler Ebene zu prägen, mit dem Ziel, die traumatischen Implikationen der Gewalt im Gedächtnis zu behalten, um so künftige Generationen davor zu warnen, die gleichen Fehler zu wiederholen. Zumal Fiktion über ihre spezifische Verwendung von Sprache dazu in der Lage ist, auch gerade das vermeintlich ‚Unsagbare‘ der Zer/ Verstörung über Symbole sichtbar zu machen. Sie wird hierdurch zum ‚Experimentierraum des Unfassbaren und Unerträglichen‘, wo der Schrecken der Gewalt hemmungslos wütet und ‚aus dem Schutze der Fiktion‘ vom Leser bezeugt werden kann. Die Tatsache, dass auch die Fiktion nicht in der Lage ist, diesen Schrecken narrativ zu bändigen, unterstreicht, dass ein Aufgreifen der Gewaltthematik in der Literatur allein nicht ausreicht, um eine Bewältigung traumatischer Erfahrung zu bewirken, sondern vielmehr nur einen gesellschaftlichen Verarbeitungsprozess mit anstoßen kann, der in der Folge als gemeinschaftliche Leistung aufgegriffen werden muss. Das eben beschriebene Sichtbarmachen der Gewalt über die Ästhetik des literarischen Texts spielt vor dem Hintergrund folgender Worte von Danticat eine entscheidende Rolle, da die haitianische Gesellschaft, wie sie in Create Dangerously. The Immigrant Artist at Work (2010) ausführt, vielfach dazu tendiere, die dunklen Seiten der eigenen Geschichte zu verdrängen: In order to shield our shattered collective psyche from a long history of setbacks and disillusionment, our constant roller-coaster ride between saviors and dictators, homespun oppression and foreign tyranny, we cultivate communal and historical amnesia, continually repeating cycles that we never see coming until we are reliving similar horrors. (Danticat 2010: 63-64) Dass es eine solche ‚Amnesie‘ zu überwinden gilt, betont auch der karibische Schriftsteller und Philosoph Glissant, der zu einer ‚prophetischen Sicht‘ der Vergangenheit auffordert, die durch eine Ergründung des Fortdauerns der erlittenen Vergangenheit in der Gegenwart zu leisten ist (vgl. Glissant 1981: 132). Die beiden in dieser Studie diskutierten Romane halten in dieser Hinsicht jedoch nicht nur der haitianischen Gesellschaft einen Spiegel vor, sondern nehmen immer wieder auch Bezug auf Strukturen der Kolonialität und gegenwärtige globale (politische wie epistemische) Machtbeziehungen, sodass auch das Ausland schmerzlich an seine eigene Rolle in der Gemengelage erinnert wird. Bieten die Texte mithin auf haitiani- 601 Vgl. die Überlegungen zu den Möglichkeiten kultureller Zähmung von Gewalt in Erdheim 2000. <?page no="257"?> 245 scher wie internationaler Ebene Anschlussmöglichkeiten für den Diskurs über Gewalt in der haitianischen Wirklichkeit, relativiert sich letztlich auch die eingangs in der Arbeit geäußerte kritische Anmerkung, dass der geschriebene Text in einer über weite Strecken analphabetisierten Gesellschaft nur eine sehr überschaubare Leserschaft finden würde. Die beiden untersuchten Romane wirken dementsprechend einem solchen Vergessen der traumatischen Gewalterfahrung der Post-Duvalier-Ära in der haitianischen und globalen Erinnerungskultur entgegen, indem sie sie zum einen zur Sprache bringen und zum anderen gerade auf die Gefahr einer sich beständig wiederholenden Geschichte hinweisen. Nur durch sein aktives und bewusstes Aussprechen, so unterstreicht auch der haitianische Soziologe Hurbon, könne der Schrecken der Gewalt identifiziert und ihre Wiederkehr in der haitianischen Geschichte verhindert werden (vgl. Hurbon 2001: 123). Insofern betont auch Lyonel Trouillot selbst, dass seine Werke trotz der Omnipräsenz exzessiver Gewalt keineswegs als düster und hoffnungslos zu verstehen seien: „Les bourgeois disent que j’écris des livres qui disent du mal d’Haïti. Ce n’est pas vrai. Mes livres ne sont pas désespérés: le vrai désespoir, je crois, est muet“ (L. Trouillot in: Marsaud/ L. Trouillot 2009: o. S., Herv. J. B.). 602 Die vorliegende Studie leistet somit durch ihren Fokus auf die Fiktionalisierung von Gewalt in der Post-Duvalier-Ära in Texten von Lyonel Trouillot und Yanick Lahens einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der haitianischen Gegenwartsliteratur als bislang wenig behandeltem Forschungsfeld sowie zur Sichtbarmachung einer aus globaler Sicht wenig beachteten kollektiv relevanten, traumatischen Gewalterfahrung im Kontext gesellschaftspolitischer Konflikte, die vor dem Hintergrund des Erdbebens 2010 zwar aus den Augen geraten, aber auch fast 30 Jahre nach dem Sturz des Duvalier-Clans noch nicht überwunden sind. Selbst wenn die Hochphasen exzessiver Gewaltausübung wie im Rahmen der Auseinandersetzungen um die Präsidentschaften Aristides in den 1990er- und 2000er-Jahren oder unter dem diktatorialen Regime 1991 bis 1994 mittlerweile der Vergangenheit angehören, so ist Gewalt in der haitianischen Alltagswirklichkeit auch in der heutigen Zeit noch immer ein aktuelles Thema. Die exemplarische Aufarbeitung der Gewaltthematik in Rue des pasperdus und La couleur de l’aube bereitet die Grundlage für weiterführende komparative Studien. Während ich mich in meiner Argumentation vorrangig auf zwei zentrale Texte der haitianischen Gegenwartsprosa konzentriert habe, um diese einer umfassenden Analyse unterziehen zu können und ihrer Dichte hinsichtlich der ausgewählten Thematik gerecht zu 602 Vgl. Lahens’ Aussagen zum über einen aufbegehrenden Prozess des kreativen Schaffens aufscheinenden Potenzial der haitianischen Geschichte, „to teach and learn new lessons in humanity“ (Lahens 2010d: 10) „by constantly transforming pain into the light of creation […]“ (ebd.: 11). <?page no="258"?> 246 werden, bietet die Untersuchung insbesondere mit ihren grundsätzlichen Schlussfolgerungen zu den Möglichkeiten der Literatur, Trauma und Gewalt ästhetisch zu verhandeln, umfangreiche Anschlussmöglichkeiten an andere Texte, generell und insbesondere innerhalb der haitianischen Kultur. Eine Studie, die vor dem Hintergrund der in dieser Abhandlung erfolgten theoretischen Überlegungen und hergeleiteten Hypothesen aus einer komparativen Perspektive die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Fiktionalisierung von Gewalt in anderen haitianischen Gegenwartsromanen systematisch und im Detail herausarbeitet, ist wünschenswert, allein um diese von der Forschung bislang nur wenig beachteten Texte auf internationaler Ebene einem größeren (akademischen) Publikum zugänglich zu machen. An geeigneten Stellen habe ich in dieser Untersuchung durch Querverweise bereits auf besonders prägnante Vergleichspunkte zu anderen Romanen hingewiesen, die exemplarisch zentrale Analogien des Gewalterzählens im haitianischen Gegenwartsroman belegen - beispielsweise eine auffallend exzessive Versprachlichung von Gewalt, die symbolische Inszenierung traumatischer Erfahrung über Spuren der Zerrüttung und Verstörung in der narrativen Struktur, die Herausstellung von (historischer) Kontinuität, Permanenz und Diversität der Gewalterfahrung, die symbolische Aufwertung marginalisierter/ unterdrückter Perspektiven durch ihre Vergegenwärtigung innerhalb der Literatur als alternativer Diskurs über Gewalt in Haiti, die Bekräftigung der Notwendigkeit kollektiven Erinnerns - und so die Gültigkeit der hinsichtlich Rue des pas-perdus und La couleur de l’aube geäußerten Thesen für zahlreiche weitere Texte offenlegen. Ins Auge sticht in diesem Zusammenhang insbesondere Gary Victors Roman À l’angle des rues parallèles (2000), der schildert, wie der Protagonist Éric auf seinem privaten Rachefeldzug gegen die Heuchelei und Korrumpiertheit der Mächtigen zum skrupellosen Mörder wird. Über eine Ästhetik des Surrealen und Fantastischen beschreibt der Autor in diesem Text den Niedergang einer zerrütteten Gesellschaft „en pleine dérive, en pleine déliquescence“ (G. Victor 2003b: 10), die in Gewalt und Chaos versinkt, was sich im „délire verbale“ (Pageaux 2006: 385) widerspiegelt, in das die Erzählung am Ende mündet. Als vielversprechend stellt sich auch Marie- Andrée Manuel Étiennes Déchirures (2001) dar, aus dem Blickwinkel einer Protagonistin erzählt, die sich angesichts der prekären Lage entschlossen hat, Haiti zu verlassen. Der Text wechselt beständig zwischen (auch typografisch) verschiedenen fragmenthaften Ausschnitten und präsentiert in einem elliptischen Sprachstil unablässig eine Reihe verschiedener Szenen oftmals willkürlicher - und analog eben auch in willkürlicher Abfolge erzählter - Gewalt. Die berichtete überbordende Violenz greift in ihrer Zerstörungsmacht durch diese narrative Ausgestaltung der Thematik auf den Text über und lässt ihn hinsichtlich seiner Handlung, Struktur und Syntax regelrecht ‚zerbrechen‘, wodurch die tiefgreifende Verstörung der Ich- Erzählerin zum Ausdruck kommt. Aber auch andere nach 1986 erschienene Romane und Kurzgeschichten lohnen eine genauere Betrachtung, so u. a. <?page no="259"?> 247 weitere Werke von Lyonel Trouillot, 603 die Kurzgeschichten von Yanick Lahens, Gary Victors La chorale de sang (2001), Émile Olliviers Les urnes scellées (1995), Dany Laferrières L’énigme du retour (2009), Guy Régis’ Le trophée des capitaux (2011), Frankétiennes avantgardistische ‚spirales‘ wie die zwischen 2004 und 2013 bei Vents d’ailleurs neu verlegten Les métamorphoses de l’oiseau schizophone, deren ursprüngliche Fassung aus den 1990er-Jahren stammt, bzw. autobiografisch inspirierte Texte wie Emmelie Prophètes Le reste du temps (2007) und Jan J. Dominiques Mémoire errante (2008). Auch gezielte Vergleiche von Texten aus Haiti selbst und der Diaspora, der Darstellung von Gewalt in der Post-Duvalier-Ära mit jener zu Zeiten der Duvalier-Diktatur (z. B. Kettly Mars’ Saisons sauvages (2010), Louis- Philippe Dalemberts L’autre face de la mer (1998), Marie-Célie Agnants Le silence comme le sang (1997), Edwidge Danticats The Dew Breaker (2004) sowie zahlreiche Romane von Dany Laferrière) oder anderen traumatischen historischen Ereignissen (u. a. Edwidge Danticats The Farming of Bones (1998) oder Évelyne Trouillots Rosalie l’infâme (2003)), bzw. mit älteren Texten von Autoren wie Frankétienne, Marie Vieux-Chauvet, Gérard Étienne, die bereits während der Duvalier-Diktatur publiziert haben, stellen eine Möglichkeit dar, um die Ergebnisse dieser Arbeit für künftige Forschungsvorhaben fruchtbar zu machen und vor der Folie eines breit angelegten Korpus systematisch zu erörtern, inwieweit die haitianische Literatur die Geschichte des Landes als eine Geschichte der Gewalt schreibt und mit welchen (subversiven) narrativen Verfahren dem begegnet wird. 604 Erstrebenswert sind zudem weiterführende Untersuchungen zu epistemischer Gewalt, die im Detail die Fiktionalisierung jener Diskurse nachzeichnen, die die westliche Vorstellung von postkolonialen Kulturen bestimmen - u. a. in literarischen Texten wie Trouillots La belle amour humaine oder Dalemberts Noires blessures - ebenso wie ein Einbezug kreyòlsprachiger Literatur (u. a. von Frankétienne) oder anderer Gattungen (wie Kurzgeschichtensammlungen oder Frankétiennes - aus Text und Bild bestehende - Spiralen wie H’éros-chimères (2002)) - wobei im Hinblick auf die Problematik einer haitianischen Leserschaft insbesondere oral geprägte Formen künstlerischer Darstellung (u. a. innovative Formen des Improvisations- oder ‚Straßen‘-Theaters, wie sie etwa das ‚collectif NOUS théâtre‘ aufführt, aber auch Musik, z. B. Rap) interessant wären - sowie eine Kontrastierung der haitianischen Texte mit der Literatur der Dominikanischen Republik nach der Trujillo-Diktatur (1930-1961), wo das Gewaltproblem im Roman 603 V. a. auch in einer vergleichenden, diachronen Perspektive, widmet sich Trouillot nach einer intensiven Beschäftigung mit der Gewalt der Post-Duvalier-Ära in Rue des pas-perdus, Les enfants des héros, Bicentenaire und Yanvalou pour Charlie doch in seinen neueren Romanen (v. a. La belle amour humaine; teils auch bereits in Yanvalou pour Charlie) verstärkt der Frage nach gemeinschaftlichem Zusammenleben in Solidarität. 604 Vgl. die Überlegungen von Ueckmann (2012) hinsichtlich des haitianischen Spiralismus. <?page no="260"?> 248 der Gegenwart in geringerem Umfang aufgegriffen zu werden scheint und häufig als apolitisches Phänomen im Kontext urbaner Kriminalität erzählt wird (u. a. Jeannette Millers La vida es otra cosa (2006), Luis R. Santos’ Princesa de Capotillo (2010), Pedro A. Valdez’ Palomos (2009)). Auch ein Vergleich fiktionaler Gewaltdarstellung mit faktualen mündlichen Zeugnissen, wie sie beispielsweise Beverly Bell in ihrer Studie Walking on Fire. Haitian Women’s Stories of Survival and Resistance (2001) oder Gilles Danroc in seiner Bestandsaufnahme der Gewalt der Militärdiktatur La répression au quotidien en Haïti (1991-1994) (1995) versammeln, ist vorstellbar. Ein solcher würde nicht nur interessante Rückschlüsse hinsichtlich der spezifischen Möglichkeiten literarisch-fiktionaler Gewaltdarstellung offenlegen, sondern auch den Blick auf unterschiedliche mediale Formen haitianischer Zeugenschaft zu Gewalt weiten und erlauben, diese zueinander in Bezug zu setzen unter Berücksichtigung der Tatsache, dass viele derjenigen, die Gewalt in der Post-Duvalier-Ära selbst erlebt haben, angesichts der hohen Analphabetenrate und der Korrelation von Armut, mangelnder Bildung und Gewalterfahrung nur in mündlicher Form Zeugnis ablegen können. Die Ergebnisse der Untersuchung bieten jedoch nicht nur im Hinblick auf den haitianischen Kulturraum Anschlussmöglichkeiten, sondern insbesondere auch hinsichtlich weiterführender theoretischer Überlegungen am Schnittpunkt von Literatur-, Kultur- und Gesellschaftswissenschaften zu den Möglichkeiten von Kulturen, traumatische Erfahrung auf symbolischer Ebene zu bearbeiten, Gewalt über künstlerische Ausdrucksformen einzuhegen und hierüber auf Diskurse und Erinnerungsprozesse einzuwirken. Über den literarischen Umgang mit Gewalt in Haiti werden somit Impulse für generelle Überlegungen zur Rolle von Literatur bzw. Kunst bei der Bearbeitung kollektiver Traumata auch in anderen Kulturräumen generiert. Zudem gilt es, den Beitrag der vorliegenden Studie zur aktuellen Debatte zur Dekolonialisierung des Denkens (vgl. u. a. Mignolo 2012, 2010a) herauszustellen, der nicht nur darin besteht, dass die Notwendigkeit einer kritischen Bewertung der globalen, von westlichen Wissenssystemen geprägten Diskussion um Gewalt in Haiti aufgezeigt wurde. Die Analyse hat darüber hinaus vor Augen geführt, dass Literatur einer in der Weltöffentlichkeit marginalisierten Kultur die Möglichkeit bietet, selbst zu Wort zu kommen, sich die eigene Geschichte wieder anzueignen (vgl. Glissant 1981: 132-33, 147) und Formen epistemischer Bevormundung, wie sie im Falle der Geschichte Haitis fortwährend aufgetreten ist - zuletzt etwa im Kontext des Wiederaufbaus nach dem Erdbeben 2010 (vgl. Katz 2013) -, subversiv aufzubrechen und zu unterlaufen. Gleichzeitig hat die Untersuchung verdeutlicht, dass literarische Texte als Orte kultureller Verhandlung von Gewalt längst nicht nur für die Literaturwissenschaft von Interesse sind - ein Potenzial der Fiktion, das die US-haitianische Autorin Edwidge Danticat prägnant in Worte fasst: <?page no="261"?> 249 We categorize people so easily, especially if they live in a framework that’s outside of our own experience. […]. Perhaps if we took on all of that we’d be paralyzed, because we would be without balance. So many of these things would overwhelm us, it’s harder to really think about it, and that’s why again going back to literature, going back to art, is a way we can safely do that. We can safely step into someone else’s shoes, and sometimes understand the depth of an experience much more than we could by meeting an actual person. A great work of art can really change the way that you see individual men and women and the experiences that surround them, the experiences that shape them. (Danticat in: Mirabal/ Danticat 2007: 33-34) Romane wie Rue des pas-perdus und La couleur de l’aube können folglich wichtige neue Impulse für gesellschaftliche Aufarbeitungsprozesse sowie eine kritische Debatte der Gewaltthematik in anderen Fachdisziplinen liefern. Indem uns der literarische Diskurs über gesellschaftliche Probleme wie die Gewalt neue Einsichten in vermeintlich bekannte Phänomene bieten kann, kommt ihm eine Bedeutung zu, die oftmals unterschätzt wird. <?page no="263"?> 251 Literaturverzeichnis Verzeichnis der Siglen RPP Trouillot, Lyonel (1998a): Rue des pas-perdus. Arles: Actes Sud [1996]. CA Lahens, Yanick (2008): La couleur de l’aube. Port-au-Prince: Éd. Presses Nationales d’Haïti. Primärliteratur haitianischer Autorinnen und Autoren Agnant, Marie-Célie (1997): Le silence comme le sang. Montréal: Éd. du Remue- Ménage. (2004): Le livre d’Emma. La Roque d’Anthéron: Vents d’ailleurs [2001]. (2011): Un alligator nommé Rosa. La Roque d’Anthéron: Vents d’ailleurs [2007]. 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Écritures transculturelles Kulturelle Differenz und Geschlechterdifferenz im französischsprachigen Gegenwartsroman 2007, II, 237 Seiten €[D] 58,00, 978-3-8233-6337-8 Band 4 Mathis-Moser, Ursula; Mertz-Baumgartner, Birgit (éds.) La littérature ‹française› contemporaine Contact de cultures et créativité 2007, 274 Seiten €[D] 49,00, 978-3-8233-6354-5 Band 5 Boyer-Weinmann, Martine; Estelmann, Frank; Müller, Olaf (Hrsg.) Das Münchener Abkommen und die Intellektuellen Literatur und Exil in Frankreich zwischen Krise und Krieg 2008, 319 Seiten €[D] 39,90, 978-3-8233-6382-8 Band 6 Türschmann, Jörg/ Aichinger, Wolfram (éd.) Das Ricœur-Experiment Mimesis der Zeit in Literatur und Film 2009, 199 Seiten €[D] 54,00, 978-3-8233-6420-7 Band 7 Defrance, Corine; Kißener, Michael; Nordblom, Pia (Hrsg.) Wege der Verständigung zwischen Deutschen und Franzosen nach 1945 Zivilgesellschaftliche Annäherungen 2010, 412 Seiten €[D] 58,00, 978-3-8233-6421-4 Band 8 Stauder, Thomas (éd.) Simone de Beauvoir cent ans après sa naissance Contributions interdisciplinaires de cinq continents 2008, 480 Seiten €[D] 68,00, 978-3-8233-6422-1 Band 9 Kamecke, Gernot; Teschke, Henning (Hrsg.) Ereignis und Institution Anknüpfungen an Alain Badiou 2008, 260 Seiten €[D] 49,00, 978-3-8233-6445-0 Band 10 Struve, Karen Écriture transculturelle beur Die Beur -Literatur als Laboratorium transkultureller Identitätsfiktionen 2008, 336 Seiten €[D] 58,00, 978-3-8233-6461-0 Band 11 von Treskow, Isabella; von Tschilschke, Christian (Hrsg.) 1968/ 2008 Revision einer kulturellen Formation 2008, XXIV, 271 Seiten €[D] 49,00, 978-3-8233-6463-4 <?page no="303"?> Band 12 Böhm, Roswitha; Bung, Stephanie; Grewe, Andrea (Hrsg.) Observatoire de l’extrême contemporain Studien zur französischsprachigen Gegenwartsliteratur 2009, XX, 414 Seiten €[D] 78,00, 978-3-8233-6494-8 Band 13 Estelmann, Frank; Müller, Olaf (Hrsg.) Exildiskurse der Romantik in der europäischen und lateinamerikanischen Literatur 2011, 279 Seiten €[D] 58,00, 978-3-8233-6514-3 Band 14 Müller, Gesine; Stemmler, Susanne (Hrsg.) Raum - Bewegung - Passage Postkoloniale frankophone Literaturen 2009, 243 Seiten €[D] 58,00, 978-3-8233-6515-0 Band 15 Kuhnle, Till R.; Oszi, Carmen; Wiedner, Saskia (éds.) Orient lointain - proche Orient La présence d’Israël dans la littérature francophone 2011, 160 Seiten €[D] 39,00, 978-3-8233-6516-7 Band 16 Haberer, Monika; Vatter, Christoph (éds.) Le cyberespace francophone Perspectives culturelles et médiatiques 2011, 198 Seiten €[D] 49,00, 978-3-8233-6517-4 Band 17 Asholt, Wolfgang; Hoock-Demarle, Marie-Claire; Koiran, Linda; Schubert, Katja (Hrsg.) Littérature(s) sans domicile fixe / Literatur(en) ohne festen Wohnsitz 2010, 184 Seiten €[D] 58,00, 978-3-8233-6541-9 Band 18 Bock, Hans Manfred Topographie deutscher Kulturvertretung im Paris des 20. 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France - Allemagne, regards et objets croisés La littérature allemande vue de France/ La littérature française vue d’Allemagne 2011, XVIII, 277 Seiten €[D] 68,00, 978-3-8233-6660-7 Band 25 Hülk, Walburga; Schuhen, Gregor (Hrsg.) Haussmann und die Folgen Vom Boulevard zur Boulevardisierung 2012, 218 Seiten €[D] 58,00, 978-3-8233-6661-4 <?page no="304"?> Band 26 Bähler, Ursula; Fröhlicher, Peter; Labarthe, Patrick; Vogel, Christina (éds.) Figurations de la ville-palimpseste 2012, 159 Seiten €[D] 49,00, 978-3-8233-6662-1 Band 27 Sick, Franziska (Hrsg.) Stadtraum, Stadtlandschaft, Karte Literarische Räume vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2012, 243 Seiten €[D] 58,00, 978-3-8233-6698-0 Band 28 Nicole Colin, Corine Defrance, Ulrich Pfeil, Joachim Umlauf Lexikon der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945 2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2015, 542 Seiten, €[D] 49,00, 978-3-8233-6882-3 Band 29 Berzel, Barbara Die französische Literatur im Zeichen von Kollaboration und Faschismus Alphonse de Châteaubriant, Robert Brasillach und Jacques Chardonne 2012, 444 Seiten €[D] 68,00, 978-3-8233-6746-8 Band 30 Bock, Hans Manfred Versöhnung oder Subversion? Deutsch-französische Verständigungs- Organisationen und -Netzwerke der Zwischenkriegszeit 2014, 675 Seiten €[D] 78,00, 978-3-8233-6728-4 Band 31 Amos, Thomas; Grünnagel, Christian (Hrsg.) Bruxelles surréaliste Positionen und Perspektiven amimetischer Literatur 2013, 138 Seiten €[D] 49,00, 978-3-8233-6729-1 Band 32 Keilhauer, Annette; Steinbrügge, Lieselotte (éds.) Pour une histoire genrée des littératures romanes 2013, 139 Seiten €[D] 54,00, 978-3-8233-6784-0 Band 33 Costa, Béatrice Elfriede Jelinek und das französische Vaudeville 2014, 248 Seiten €[D] 68,00, 978-3-8233-6872-4 Band 34 Hagemann, Anja Les Interactions entre le texte et l’image dans le ‹‹Livre de dialogue›› allemand et français de 1980 à 2004 2013, VI, 261 Seiten €[D] 68,00, 978-3-8233-6808-3 Band 35 Maierhofer-Lischka, Theresa Gewaltperzeption im französischen Rap Diskursanalytische Untersuchung einer missverständlichen Kommunikation 2013, 438 Seiten €[D] 68,00, 978-3-8233-6835-9 Band 36 Zimmermann, Margarete (éd.) Après le Mur: Berlin dans la littérature francophone 2014, 268 Seiten €[D] 48,00, 978-3-8233-6879-3 Band 37 Lüsebrink, Hans-Jürgen; Mbondobari, Sylvère (éds.) Villes coloniales/ Métropoles postcoloniales Représentations littéraires, images médiatiques et regards croisés 2015, 285 Seiten €[D] 58,00, 978-3-8233-6940-0 Band 38 Böhm, Roswitha; Kovacshazy, Cécile (éds.) Précarité Textes et images de la crise au XXI e siècle 2015, ca. 180 Seiten €[D] 28,00, 978-3-8233-6936-3 Band 39 Borst, Julia Gewalt und Trauma im haitianischen Gegenwartsroman Die Post-Duvalier-Ära in der Literatur 2015, XI, 289 Seiten €[D] 68,00, 978-3-8233-6916-5 <?page no="305"?> edition lendemains 39 Borst Gewalt und Trauma im haitianischen Gegenwartsroman Die Studie setzt sich mit der Fiktionalisierung der anhaltenden Gewalt in Haiti nach dem Sturz der Duvalier- Diktatur im Jahr 1986 auseinander. Vor der Folie einer kritischen Bestandsaufnahme der Diskurse über Gewalt in der Post-Duvalier-Ära erörtert die Autorin, wie Gewalt im haitianischen Gegenwartsroman als kollektiv relevante traumatische Erfahrung aufgearbeitet und so über den symbolischen Raum der Fiktion für die kollektive Erinnerung verfügbar gemacht wird. In diesem Kontext legt die Untersuchung dar, wie der literarische Text kritische Impulse für gesellschaftliche Aufarbeitungsprozesse liefert und aus der Perspektive einer marginalisierten Kultur einseitige Stigmatisierungen subversiv durchkreuzt. Julia Borst Gewalt und Trauma im haitianischen Gegenwartsroman Die Post-Duvalier-Ära in der Literatur