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Historische Graphematik des Deutschen

Eine Einführung

1112
2018
978-3-8233-7927-0
978-3-8233-6927-1
Gunter Narr Verlag 
Michael Elmentaler

Dieses Studienbuch bietet erstmals einen breiten Überblick über aktuelle Themen, Begriffe, Methoden und Ergebnisse der historischen Graphematik. Auf die einleitenden Kapitel zum Gegenstandsbereich, den Besonderheiten schriftsprachlicher Kommunikation und den Rahmenbedingungen des Schreibens in der Vormoderne folgt ein diachroner Abriss des graphematischen Wandels im Deutschen von den Anfängen bis zur Neuzeit. Anschließend werden praktische Verfahren zur graphematischen Analyse historischer Texte vorgestellt. Die Schlusskapitel diskutieren Forschungsergebnisse zu ausgewählten Feldern graphematischer Variation (Konsonantismus, Vokalismus, Interpunktion, Großschreibung) und thematisieren übergreifende Fragestellungen und Forschungsdesiderate. Die Einführung eignet sich sehr gut als Grundlage für Bachelorkurse im dritten Studienjahr und für Masterseminare. Abgesetzte Definitionen, Beispiele und Infoboxen erleichtern das Verständnis. Abschnitte zur Forschungslage und Methodik sowie ein Anhang auf der Verlagshomepage (http://narr-studienbuecher.de/) mit Hilfsmitteln für graphematische Analysen bieten fortgeschrittenen LeserInnen eine gute Grundlage für die eigene wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema.

<?page no="0"?> Dieses Studienbuch bietet erstmals einen breiten Überblick über aktuelle Themen, Begriffe, Methoden und Ergebnisse der historischen Graphematik. Auf die einleitenden Kapitel zum Gegenstandsbereich, den Besonderheiten schriftsprachlicher Kommunikation und den Rahmenbedingungen des Schreibens in der Vormoderne folgt ein diachroner Abriss des graphematischen Wandels im Deutschen von den Anfängen bis zur Neuzeit. Anschließend werden praktische Verfahren zur graphematischen Analyse historischer Texte vorgestellt. Die Schlusskapitel diskutieren Forschungsergebnisse zu ausgewählten Feldern graphematischer Variation (Konsonantismus, Vokalismus, Interpunktion, Großschreibung) und thematisieren übergreifende Fragestellungen und Forschungsdesiderate. Die Einführung eignet sich sehr gut als Grundlage für Bachelorkurse im dritten Studienjahr und für Masterseminare. Abgesetzte Definitionen, Beispiele und Infoboxen erleichtern das Verständnis. Abschnitte zur Forschungslage und Methodik sowie ein Anhang auf der Verlagshomepage (http: / / narr-studienbuecher.de/ ) mit Hilfsmitteln für graphematische Analysen bieten fortgeschrittenen LeserInnen eine gute Grundlage für die eigene wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema. ISBN 978-3-8233-6927-1 Elmentaler Historische Graphematik des Deutschen Historische Graphematik des Deutschen Michael Elmentaler Eine Einführung <?page no="3"?> Michael Elmentaler Historische Graphematik des Deutschen <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr-studienbuecher.de E-Mail: info@narr.de Satz: pagina GmbH, Tübingen Printed in Germany ISSN 0941-8105 ISBN 978-3-8233-7927-0 <?page no="5"?> 5 Inhalt Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2. Historische Graphematik: Zielsetzungen und Abgrenzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2.1. Historische Graphematik vs. Schriftgeschichte und Paläographie . . . . . . . . . . 23 2.2. Historische Graphematik vs. Graphetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2.3. Historische Graphematik vs. Orthographiegeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2.4. Historische Graphematik vs. Schreibsprachgeschichte des Deutschen . . . . . . 27 2.5. Historische Graphematik vs. Graphologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2.6. Historische Graphematik vs. Historische Phonologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2.7. Historische Graphematik vs. rezente Graphematik und Orthographieforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 3. Eigenschaften schriftsprachlicher Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 3.1. Generationenübergreifende Tradierung von Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 3.2. Entgrenzung des Raums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 3.3. Konzeptionelle Schriftlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 3.4. Relevanz für die Historische Graphematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 4. Geschichte der Schriftzeichen und Schriftsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 4.1. Die Erfindung der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 4.2. Die Entwicklung der Alphabetschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 4.3. Die Entwicklung von Buchstabenformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 4.4. Die Entwicklung von Zeicheninventaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 4.5. Die Entwicklung der Modalitäten des Schreibens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 5. Der individuelle Schreiber als zentrale Figur der Historischen Graphematik . . . . . . . . 79 5.1. Schreiberausbildung und Kanzleiwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 5.2. Die Kanzlei als Kristallisationspunkt für Schreibtraditionen . . . . . . . . . . . . . . 86 5.3. Die „idioskriptale Lizenz“ des historischen Schreibers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 5.4. Methodische Konsequenz: Schreiberseparierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 6. Funktionen schreibsprachlicher Variation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 6.1. Graphematische Variation als Grundprinzip historischer Schreibsprachen . . 93 6.2. Schreibvariation in Abhängigkeit von externen Einflussfaktoren . . . . . . . . . . 98 6.3. Textinterne Variation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 6.4. Fazit: Vormodernes Schreiben als komplexer, individuell gefilterter Prozess 144 <?page no="6"?> 6 Inhalt 7. Schrift und Mündlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 7.1. Schriftsprache vs. Lautsprache-- das zentrale Problem der Historischen Graphematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 7.2. Bezugnahme auf lautliche Einheiten und Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 7.3. Orientierung an tradierten Wortbildern und Graphien . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 7.4. Sprechen nach der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 7.5. Schreibung und Lautung im diachronen Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 7.6. Methoden zur Rekonstruktion gesprochener Sprache aus der Schriftlichkeit 168 7.7. Vorschläge zur Orthographiereform seit dem 17. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . 172 8. Graphematischer Wandel von den Anfängen bis in die Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . 179 8.1. Älteste Schriftlichkeit: Regionale Schreibsprachen im 8. und 9. Jahrhundert 179 8.2. Entwicklung regionaler Schreibtraditionen in mittel- und frühneuhochdeutscher Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 8.3. Schreibsprachausgleich: Die Diskussion um die Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 8.4. Die Standardisierung der neuhochdeutschen Orthographie . . . . . . . . . . . . . 201 9. Grundeinheiten der Graphematik und Verschriftungsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . 213 9.1. Grundeinheiten der Graphematik: Graphe, Graphien, Grapheme . . . . . . . . 213 9.2. Verschriftungsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 10. Methodische Grundlagen der Historischen Graphematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 10.1. Beschreibungsansätze der Historischen Graphematik . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 10.2. Verfahrensschritte zur Analyse graphematischer Variation . . . . . . . . . . . . . 234 10.3. Das Verfahren der Graphematischen Distanzanalyse-- am Beispiel der Silbendifferenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 10.4. Beschreibung von graphematischem Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 11. Graphematische Variation und graphematischer Wandel im Bereich des Konsonantismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 11.1. Zur Interpretation von Doppelkonsonantengraphien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 11.2. Morphembezogene Variation und die Durchsetzung des morphematischen Prinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 12. Graphematische Variation und graphematischer Wandel im Bereich des Vokalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 12.1. Umlautkennzeichnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 12.2. Kennzeichnung von Vokalveränderungen vor bestimmten Konsonantenverbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 13. Die Entwicklung der satzinternen Großschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 13.1. Satzinterner Majuskelgebrauch im 8. bis 15. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . 303 13.2. Die Entwicklung der Substantivgroßschreibung im 16. und 17. Jahrhundert 308 <?page no="7"?> 7 Inhalt 13.3. Temporäre und nachhaltige Innovationen in der Großschreibung . . . . . . . 313 13.4. Fazit: Von der Auszeichnungsfunktion zum orthographischen „Regelzwang“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 14. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 14.1. Graphienräume: areale Reichweiten von Graphien und Graphemen . . . . . . 320 14.2. Graphematische Variablenanalyse als Methode zur Lokalisierung und Datierung historischer Handschriften . . . . . . . . . . . . . . 328 14.3. Historische Graphematik im europäischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 Rechtsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Sach- und Personenindex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Ein Anhang mit Hilfsmitteln für graphematische Analysen befindet sich auf der Verlagshomepage unter http: / / www.narr-studienbuecher.de/  <?page no="9"?> 9 Vorwort Vorwort Die Historische Graphematik ist von zentraler Bedeutung für die Sprachgeschichtsforschung und kann mittlerweile auf eine etwa 60jährige Forschungsgeschichte zurückblicken. Dennoch findet diese sprachwissenschaftliche Teildisziplin mit ihren spezifischen Methoden und Erkenntnissen in linguistischen Handbüchern und auch in neueren Arbeitsbüchern zur Schriftlinguistik wenig Berücksichtigung. Dies führt dazu, dass historische Aspekte des Schreibens auch im akademischen Lehrbetrieb derzeit kaum eine Rolle spielen. Das ist insofern bedauerlich, als eine Beschäftigung mit den vormodernen Schreibsprachen in ihrer regionalen, sozialen und situativen Differenziertheit, ihrer Variabilität und diachronen Dynamik grundlegend dazu beitragen könnte, das Verständnis dessen, was Schriftlichkeit eigentlich ausmacht, zu vertiefen. Denn die Auseinandersetzung mit den nicht-normierten Schreibsprachen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit kann Studierenden die wichtige Erkenntnis vermitteln, dass die Eigenschaften moderner Orthographien (Invariabilität, strenge Kodifikation, geringe Flexibilität) keineswegs allgemeine Gültigkeit besitzen. Im historischen Vergleich lässt sich erkennen, dass die breite Variabilität der Schreibung, wie sie heute für einige Bereiche der computergestützten Kommunikation konstatiert wird, kein neues Phänomen darstellt. Sie ist auch nicht als Indiz für das völlige Fehlen von Normen und einen fortschreitenden Sprachverfall zu interpretieren. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit kann hier als Korrektiv dienen für die oft dogmatischen Vorstellungen, die man heute mit der Orthographie verbindet. Hierzu versucht auch das vorliegende Arbeitsbuch zur Historischen Graphematik-- das erste zu diesem Thema-- seinen Beitrag zu leisten. Mit dem Schreiben dieses Buches war ich seit 2014 befasst, die Beschäftigung mit der Historischen Graphematik reicht jedoch bis in die 1990er Jahre zurück, in meine Zeit als Mitarbeiter in den Duisburger DFG -Projekten „Niederrheinische Sprachgeschichte“ (1994-1999) und „Die Entstehung der deutsch-niederländischen Sprachgrenze im Rheinmaasraum“ (1999-2002). Der Leiter dieser Projekte, Prof. Dr. Arend Mihm, hat bei mir das Interesse für historische Schriftlichkeit geweckt und meine graphematischen Forschungen damals wie heute in vielfacher Weise angeregt und inspiriert-- in zahlreichen Gesprächen wie auch durch seine eigenen, grundlegenden Publikationen zu den Schreibsprachen der westlichen Germania vom Rheinmaasland bis in den alemannischen Sprachraum. Ohne diese gemeinsamen Jahre des freundschaftlich-wissenschaftlichen Austauschs würde es das vorliegende Buch sicher nicht geben. Eine stete Inspirationsquelle waren mir über viele Jahre auch die Treffen des Arbeitskreises „Historische Stadtsprachenforschung“, auf denen intensiv über methodische Fragen und Ergebnisse der historischen Schreibsprachforschung diskutiert wurde. Hier bestand die Möglichkeit, in einer ungezwungenen und konstruktiven Gesprächsatmosphäre auch vorläufige Ideen und Konzepte, die aus der Arbeit in den graphematischen Projekten hervorgingen, einem kundigen Fachpublikum vorzustellen. Viele Mitglieder des Arbeitskreises haben Substanzielles zur Historischen Graphematik beigetragen, was in diesem Band hoffentlich angemessene Berücksichtigung findet. Das Buch ist am Ende umfangreicher geraten, als es ursprünglich geplant war, und auch dicker als die meisten anderen Bände der Reihe „narr studienbücher“. Vielleicht erscheint <?page no="10"?> 10 Vorwort eine gewisse Ausführlichkeit der Darstellung aber dadurch gerechtfertigt, dass es sich um das erste Arbeitsbuch zu diesem Bereich handelt. Vor diesem Hintergrund erschien es mir angemessen, mich nicht auf die Erläuterung zentraler Begriffe, Untersuchungsverfahren und Forschungsergebnisse zu beschränken, sondern weitere Themen mit einzubeziehen, die nach meiner Einschätzung für das Verständnis des Funktionierens historischer Schreibsprachen grundlegend sind. Daher enthält die Darstellung z. B. auch Ausführungen zur Abgrenzung der Historischen Graphematik von benachbarten Disziplinen (Kap. 2), zu den grundlegenden Merkmalen schriftlicher und mündlicher Kommunikation (Kap. 3), zur Schriftgeschichte (Kap. 4) und zu den Kanzleien und ihren Stadtsekretären als den maßgeblichen Akteuren im Bereich der schriftlichen Textproduktion, denen die Gestaltung und stetige Weiterentwicklung der Schreibsysteme oblag (Kap. 5). Hierbei wird bewusst auch ältere Forschungsliteratur mit einbezogen, denn obwohl die Historische Graphematik als Disziplin erst in den 1960er Jahren entstanden ist, gab es doch schon seit dem 19. Jahrhundert bedeutende Untersuchungen zu den historischen Schreibsprachen im deutschsprachigen Raum, deren Relektüre sich lohnt. Es wäre ein willkommener Effekt, wenn das vorliegende Buch seine Leserinnen und Leser dazu anregen könnte. Es richtet sich vor allem an fortgeschrittene Studierende im Masterstudium, aber auch an alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich, vielleicht von benachbarten Disziplinen ausgehend (synchrone Schriftlinguistik, Geschichtswissenschaft, Paläographie, Variationslinguistik, Dialektologie, Sprachwandelforschung) über die spezifischen Methoden und Erkenntnisse der Historischen Graphematik informieren möchten. Um den Band trotz seines Umfangs benutzerfreundlich zu gestalten, wurden drei Maßnahmen getroffen, die am Schluss der Einleitung (Kap. 1) noch genauer erläutert werden: 1. Wichtige Begriffe des jeweiligen Absatzes werden zur Orientierung durch Fettdruck hervorgehoben. 2. Neben dem Fließtext werden verschiedene Arten von Textkästen verwendet, die Definitionen, Beispiele, vertiefende Informationen zum jeweiligen Thema, Forschungsüberblicke oder methodische Reflexionen enthalten und entsprechend ausgewiesen sind. 3. Ein ausführlicher Sach- und Personenindex im Anhang ermöglicht einen schnellen Zugriff auf alle relevanten Inhalte. Bei der Herstellung dieses Bandes, insbesondere bei der Beschaffung der Forschungsliteratur und der Bearbeitung der Abbildungen, haben mich meine wissenschaftlichen Hilfskräfte Marc-Hendrik Lassen und Martin Wolf engagiert und zuverlässig unterstützt, wofür ich mich herzlich bedanke. Mein Dank gilt außerdem meinem zuständigen Lektor beim Narr-Verlag, Herrn Tillmann Bub, der die Entstehung des Buches mit großer Geduld und konstruktiven Hinweisen begleitet hat. Kiel, im September 2018 Michael Elmentaler <?page no="11"?> 11 1. Einleitung Im Jahre 1877 erfindet Thomas Alva Edison den Phonographen, 1887 meldet Emil Berliner das Grammophon zum Patent an. Damit sind zum ersten Mal die technischen Voraussetzungen zur Aufzeichnung der menschlichen Stimme gegeben. Schon bald wurden diese Möglichkeiten im deutschsprachigen Raum genutzt, um Proben gesprochener Sprache dauerhaft zu archivieren. Bekannt sind z. B. die frühen Aufnahmen einer Rede Otto von Bismarcks von 1889 und der sogenannten „Hunnenrede“ Kaiser Wilhelms II . von ca. 1904; in der Folgezeit wurden vor allem Sammlungen mit Aufnahmen deutscher Dialekte angelegt. Hierbei entstanden umfangreiche, für die Regionalsprachforschung bedeutsame Tonarchive, deren Bestände allerdings nur die letzten 140 Jahre der deutschen Sprachgeschichte abdecken. Somit sind mehr als 90 Prozent der sprachgeschichtlichen Entwicklung des Deutschen, deren Beginn etwa im 8. Jahrhundert n. Chr. anzusetzen ist, nur indirekt über schriftliche Quellen zugänglich, so dass „alle Sprachgeschichte zuerst einmal Orthographiegeschichte ist“ (de Boor / Haacke 1957, XXI ). Um aus diesen stummen Zeugen der Vergangenheit sichere Rückschlüsse auf die gesprochene Sprache vergangener Epochen ziehen zu können, müssen wir etwas darüber wissen, wie sich Schriftlichkeit und Mündlichkeit zueinander verhalten und wie sich dieses Verhältnis im Laufe der Jahrhunderte verändert hat. Die wissenschaftliche Bearbeitung dieser Frage ist eine der wichtigsten Aufgaben der Historischen Graphematik, einer Teildisziplin der historischen Sprachwissenschaft, die sich vor etwa sechs Jahrzehnten im Kontext des linguistischen Strukturalismus entwickelt hat. Historische Schriftzeugnisse, insbesondere solche aus frühen Stadien des Schreibens (8.-11. Jahrhundert), spiegeln nur einen sehr schmalen Ausschnitt der damaligen kommunikativen Wirklichkeit wider. Denn zum einen konnten zu dieser Zeit die wenigsten Menschen schreiben, zum anderen erfolgte die schriftliche Kommunikation größtenteils in lateinischer Sprache, während das Schreiben in der Volkssprache noch auf wenige Domänen und Anlässe beschränkt war. Hierdurch sind die Erkenntnismöglichkeiten schon im Bereich der historischen Grammatikforschung grundsätzlich begrenzt, und zwar nicht nur in quantitativer Hinsicht (wegen der vergleichsweise geringen Anzahl an frühen Texten), sondern auch wegen der eingeschränkten Repräsentativität der überlieferten Texte. Zwar lassen sich die meisten syntaktischen oder morphologischen Konstruktionen in der Regel auch im Medium der Schrift problemlos abbilden, doch werden die dort gefundenen Muster für die gesprochenen Varietäten der jeweiligen Zeit wohl nicht unbedingt Geltung besessen haben. So dürfte der Satzbau in dem altsächsischen Bibelepos „Heliand“ wohl kaum die Sprechweise des durchschnittlichen Norddeutschen im 8. Jahrhundert widerspiegeln. Aber auch in nicht-literarischen, eher anwendungsorientierten Bereichen des Schreibens, etwa in frühneuzeitlichen Urkunden oder Rechtstexten, dürfte es eine erhebliche Distanz zur gesprochenen Sprache gegeben haben. So reflektiert die komplexe Syntax vieler frühneuhochdeutscher Texte sicherlich nicht die im damals gesprochenen Alltagsdeutsch üblichen Muster, und auch im Bereich der Flexion haben wir Hinweise darauf, dass die in historischen Texten einer Region gebrauchten Formen von den mundartlichen Formen abweichen konnten. Von Beginn der Schriftlichkeit an gab <?page no="12"?> 12 1. Einleitung es eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Divergenz zwischen konzeptionell gesprochener und geschriebener Sprache, und viele Besonderheiten der gesprochenen Dialekte und Regionalvarietäten sind aus der Schrift allenfalls indirekt zu erschließen. Auf der lautlichen Ebene kommt ein weiteres Problem hinzu, nämlich die begrenzte Eignung des lateinischen Alphabets für die Abbildung komplexer volkssprachlicher Lautsysteme. Die dialektalen und regionalsprachlichen Varietäten des Deutschen weisen und wiesen mit ihren Umlauten, Diphthongen und Affrikaten, Längen und Kürzen zahlreiche Phone auf, für die es im lateinischen Buchstabeninventar keine direkte Bezeichnungsmöglichkeit gab. Die mittelalterlichen Schreiber, die vor der Aufgabe standen, deutsche Dialekte mit den dafür unzureichenden Mitteln des lateinischen Alphabets zu verschriftlichen, fanden hierbei kreative Lösungen, indem sie etwa vorhandene Zeichen kombinierten (<sch>, <pf>, <ae>, <ey>) oder sogenannte „diakritische“ Zeichen über dem eigentlichen Buchstabensymbol hinzusetzten (<u ͤ >, <ů>). Sie entwarfen zahlreiche Schreibsysteme, die auf die gesprochenen Varietäten ihrer Zeit und Region mehr oder weniger differenziert Bezug nahmen. Die historischen Lautlehren des Deutschen, wie sie etwa in den klassischen Sprachstufengrammatiken enthalten sind („Althochdeutsche Grammatik“, 15. Aufl. 2004; „Altsächsische Grammatik“, 3. Aufl. 1993; „Mittelhochdeutsche Grammatik“, 25. Aufl. 2007; „Mittelniederdeutsche Grammatik“, 1914; „Frühneuhochdeutsche Grammatik“, 1993), basieren letztlich im Wesentlichen auf Interpretationen dieser Schreibsysteme-- allerdings, wie die jüngere Forschung gezeigt hat, lange Zeit auf stark vereinfachenden und homogenisierenden Deutungen, die der Vielfalt der historischen Sprachvariation nur unzureichend Rechnung trugen. Angesichts dieser wissenschaftlich unbefriedigenden Forschungslage konstituierte sich etwa ab den 1960er Jahren die Historische Graphematik als eigene Disziplin. Eines ihrer Ziele besteht darin, zur Rekonstruktion historischer Lautverhältnisse beizutragen und deutlich zu machen, in welchen Bereichen und mit welchen Methoden gesicherte Erkenntnisse über die Mündlichkeit vergangener Zeitstufen zu erlangen sind. Die Historische Graphematik ist jedoch keine Hilfswissenschaft der Historischen Phonologie; ihre Aufgaben reichen weit darüber hinaus. Das hängt vor allem damit zusammen, dass sich keine der uns bekannten Schreibsprachen-- seien es moderne Orthographien oder vormoderne Schreibsysteme-- auf die Funktion der Lautabbildung reduzieren lässt. Sie sind dafür auch nicht optimal eingerichtet. Nur wissenschaftliche Transkriptionssysteme wie das IPA (Internationales Phonetisches Alphabet) wurden eigens für den Zweck konstruiert, Laute und Lautunterschiede, phonetische Auffälligkeiten und sogar intonatorische oder prosodische Feinheiten präzise und eindeutig wiederzugeben, was ihre Lesbarkeit erheblich einschränkt-- eine nach den IPA -Regeln geschriebene Zeitung wäre gerade wegen der Präzision der Lautwiedergabe kaum alltagstauglich. Deshalb stehen bei natürlich gewachsenen Schreibsystemen, die für den alltäglichen Gebrauch bestimmt sind und die sich auch in der Alltagspraxis (lange Zeit ungesteuert) herausgebildet haben, neben der Lautabbildung noch ganz andere Funktionen im Mittelpunkt. Es geht nicht nur darum, das Gesprochene wiederzugeben, sondern auch um die Vereinfachung des Lesevorgangs, die z. B. darin bestehen kann, dass dasselbe Wort in allen Kontexten gleich geschrieben wird. In einem Schreibsystem, das auf eine möglichst genaue Wiedergabe des Gesprochenen ausgerichtet wäre, würde man z. B. statt <?page no="13"?> 13 1. Einleitung der Wald-- die Wälder wohl eher der Walt-- die Welder schreiben, denn am Ende des Wortes Wald wird ein [t] gesprochen, das üblicherweise durch die Graphie <t> wiedergegeben wird (bunt, täte), und der in der Pluralform Wälder gesprochene Laut [ɛ] wird häufig durch <e> repräsentiert (wie in Held, Geld). Die konventionelle Schreibweise Wald und Wälder verschleiert dagegen gewissermaßen den Lautwert, da sie das Zeichen <d> für zwei verschiedene Laute gebraucht ( [t] vs. [d] ) und überdies eine stärkere phonetische Nähe der durch <a> und <ä> bezeichneten Laute suggeriert, als sie tatsächlich vorhanden ist ( [a] vs. [ɛ] ). Die Schreibung hat jedoch einen anderen Vorteil: Wir erkennen sofort, dass es sich um dasselbe Wort und damit um dieselbe Bedeutung handelt. Die Standardschreibung folgt hier dem Prinzip der Konstanz des Wortbildes, das in diesem Fall dem Prinzip der eindeutigen und einheitlichen Lautabbildung zuwiderläuft. Dieses Beispiel zeigt, dass ein Schreibsystem ganz andere Aufgaben haben kann als eine möglichst präzise Wiedergabe des Gesprochenen. Dies lässt sich für das gewählte Beispiel noch an weiteren Besonderheiten aufzeigen. So wird das Wort Wald mit dem initialen Großbuchstaben W geschrieben. Auch das hat nichts mit der Funktion der Lautreferenz zu tun, denn der Kleinbuchstabe w bezeichnet im Deutschen genau denselben Laut wie W, so dass eine Großschreibung unter diesem Aspekt überflüssig wäre. Die Funktion der Großschreibung besteht vielmehr in der Kennzeichnung von Satzanfängen sowie darin, dass durch die Markierung von Substantiven im heutigen Standarddeutschen (anders als in allen anderen europäischen Sprachen) nominale Gruppen visuell hervorgehoben werden. Beides erleichtert die Erfassung syntaktischer Strukturen beim Lesen. Ein anderes Beispiel für eine nicht lautbezogene orthographische Konvention ist die Regel, dass wir im Falle eines Zeilenumbruchs nicht nach dem Muster W-älder, Wä-lder, Wäld-er oder Wälde-r trennen dürfen, sondern nur in der Form Wäl-der, und dass dieses Wort im Singular gar nicht getrennt werden kann. Auch das hängt nicht mit der Aussprache der einzelnen Laute zusammen, sondern mit der Silbenstruktur des Deutschen, die heute beim orthographisch korrekten Schreiben beachtet werden muss. Für die moderne Standardorthographie sind diese Regeln ausführlich beschrieben, etwa in dem Handbuch „Deutsche Orthographie“ (hrsg. von Dieter Nerius, 4. Aufl. 2007). Für ältere Sprachstufen muss dagegen anhand von Analysen historischer Quellen überprüft werden, inwieweit solche Regeln oder Prinzipien überhaupt schon galten. Dabei können die Regeln nur aus den Texten selbst erschlossen werden. Hierin besteht die wesentliche Aufgabe der Historischen Graphematik, deren Aufgabengebiet somit weit über die Rekonstruktion historischer Lautverhältnisse hinausgeht. Ziel ist es, die Struktur und den Wandel historischer Schreibsysteme zu beschreiben und die Funktionsweise dieser Systeme nachzuvollziehen. Die in den letzten Jahrzehnten zusammengetragenen Befunde der graphematischen Forschung haben deutlich gemacht, dass sich das Funktionieren historischer Schreibsysteme in vielen Punkten von der Funktionsweise moderner Orthographien unterscheidet. Schon ein flüchtiger Blick auf eine spätmittelalterliche Handschrift, etwa eine Ausgabe des um 1200 entstandenen mittelhochdeutschen Nibelungenliedes, lehrt, dass hier offensichtlich in der Textgestaltung und Schreibung noch ganz andere Regeln herrschten als heute (Abb. 1). <?page no="14"?> 14 1. Einleitung Handschriftennahes Transkript: Auenture von den Nibelungen. U N S · I S T · · In alten mæren. wnd ˀ s vil geſeit. von heleden lobebæren. vō grozer arebeit. von frevde vn ̄ hochgeciten von weinen vn ̄ klagen. von kvner rec ken ſtriten. mvget ir nv wnd ˀ horen ſa gen. Ez whs in Bvregonden. ein vil edel magedin. daz in allen landen. niht ſchon ˀ s mohte ſin. Chriemhilt geheizen. div wart ein ſchone wip. dar vmbe mvſin degene: vil v ˀ lieſen den lip. Ir pflagen dri kuni ge. edel un ̄ rich. Gunther un ̄ Gernot. die [...] Edition von Ursula Schulze (2005): AVENTIURE VON DEN NIBELUNGEN. Uns ist in alten mæren wunders vil geseit: von heleden lobebæren, von grozer arebeit, von freude und hochgeciten, von weinen unde klagen, von küener recken striten muget ir nu wunder hoeren sagen. Ez wuohs in Buregonden ein vil edel magedin, daz in allen landen niht schoeners mohte sin, Chriemhilt geheizen. diu wart ein schoene wip; darumbe muosin degene vil verliesen den lip. Ir pflagen dri kunige edel unde rich: Gunther unde Gernot, die [...] Abb. 1: Der Anfang des Nibelungenliedes. Oben: Auszug aus dem Faksimile der Handschrift C aus dem 13. Jahrhundert (Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 63). Links unten: Transkript. Rechts unten: Edierte Textfassung nach Schulze (2005, 8). Das Manuskript und das handschriftennahe Transkript weisen (neben dem ungewohnten Schrifttyp) eine Reihe von schreibsprachlichen Merkmalen auf, die wir aus modernen Texten <?page no="15"?> 15 1. Einleitung nicht kennen und die in Texteditionen wie der von Ursula Schulze (2005) zu einem Großteil ‚bereinigt‘ wurden. Der erste Buchstabe des Textabschnittes ist als übergroße (im Original farbige) und mit reichen Verzierungen geschmückte Initiale gestaltet, und die Buchstaben der ersten beiden Textwörter nach der Überschrift sind ganz in Majuskeln geschrieben, wobei die Wörter durch Hochpunkte voneinander abgegrenzt sind (U N S · I S T · ·; dagegen in der Edition: Uns ist). Überhaupt weicht die Zeichensetzung des Textes von dem heute Erwartbaren ab, denn Punkte stehen nicht nur am Satzende (wie z. B. hinter ſagen), sondern auch nach Nebensätzen, wo man heute ein Komma erwarten würde (ein vil edel magedin. daz in allen landen-… 'ein hochadliges Mädchen, so dass in allen Ländern-…'), und sogar nach kleineren Satzabschnitten, die heute nicht durch Komma abgetrennt werden dürfen (Ez whs in Bvregonden. ein vil edel magedin 'Es wuchs in Burgund ein hochadliges Mädchen heran'). Einmal steht ein Doppelpunkt zwischen dem Nomen und seinem nachgestellten, in die nächste Zeile gerückten Attribut (degene: vil 'viele Kämpfer'). In der Edition wurde dagegen eine an modernen Prinzipien orientierte Zeichensetzung eingeführt. Die Worttrennung am Zeilenende wird in der Handschrift nicht durch einen Trennungsstrich markiert (rec ken, ſa gen, kuni ge). Die Großschreibung von Wörtern ist, abgesehen von den Majuskeln bei den ersten beiden Textwörtern, auf Namen (Nibelungen, Bvregonden, Chriemhilt, Gunther, Gernot) sowie auf den Anfang von Überschriften (Auenture von-…) und Sätze (Ez whs in Bvregonden-… Ir pflagen dri kunige-…) beschränkt. Es gibt also noch keine generelle Substantivgroßschreibung (z. B. heleden 'Helden', arebeit 'Mühsal', frevde 'Freude', hochgeciten 'Feste'). Bei den Kleinbuchstaben fällt auf, dass dem heutigen s bzw. ß hier je nach Kontext und Etymologie verschiedene Zeichen entsprechen (ſagen 'sagen', whs 'wuchs', grozer 'großer'), wobei das Zeichen ſ in der Edition durch s ersetzt wurde. Das Zeichen v steht häufig für einen Vokal (nv 'nun', frevde 'Freude'; Edition: nu, freude), für das lange ä gibt es ein eigenes Zeichen (mæren 'Mären, Sagen'; Edition: ae). In einigen Fällen werden Kürzel verwendet (wnd ˀ s-= wunders 'Wunderbares', vō-= von, vn ̄ = vnde 'und'), die in der Edition aufgelöst wurden. Vokallängen werden in der Regel nicht bezeichnet (wip 'Weib, Frau', lip 'Leib'), ebensowenig Umlaute (kvner 'kühner', ſchone 'schönes'; dagegen in der Edition: küener, schoene). Schließlich fällt auf, dass hier manchmal ein und dasselbe Wort unterschiedlich geschrieben wird. In der angegebenen Textpassage steht vn ̄ neben un ̄ 'und', im späteren Text variieren die Schreibweisen recken und rechen 'Recke, Held', kvne und chvne 'kühn', heleden und helden 'Helden' usw. Hier zeigt sich ein wesentlicher Unterschied zwischen vormodernen Schreibsystemen und der heutigen Rechtschreibung. Das Funktionieren vormoderner Schreibsysteme hängt von der Bereitschaft der Leser ab, graphematische Variation zu akzeptieren und zu interpretieren. Moderne Orthographien basieren dagegen auf dem Prinzip der Invarianz. Wer einmal die Schreibweise der Wörter der deutschen, französischen oder englischen Sprache gelernt hat, kann aufgrund dieses Wissens alle in diesen Systemen geschriebenen Texte lesen, ohne auf der graphematischen Ebene noch eine Interpretationsleistung erbringen zu müssen. Für die Schreibenden bedeutet dies allerdings eine Einschränkung, denn wer nicht gegen die akzeptierten Normen der Rechtschreibung verstoßen möchte, ist gezwungen, die orthographisch vorgeschriebene Schreibweise eines Wortes getreu einzuhalten. Das aber schließt die Möglichkeit aus, beim Schreiben z. B. regionale Aussprachebesonderheiten <?page no="16"?> 16 1. Einleitung wiederzugeben (Guden Tach! ) oder durch gezielte Graphienvariation eine im spezifischen Kontext gewünschte Aussprache zu suggerieren (Waaaas? Isnichwahr! ). Wer diese Optionen nutzt, etwa in der Smartphone-Kommunikation, in der Werbung oder in literarischen Kontexten, bewegt sich heute außerhalb der Standardnorm. In vormoderner Zeit dagegen lag die Entscheidung über die Wahl graphematischer Varianten letztlich beim individuellen Schreiber. Die Rekonstruktion seiner Motive dafür, sich für die Schreibung kvne oder chvne, heleden oder helden zu entscheiden oder gar mehrere Schreibvarianten nebeneinander zu gebrauchen, ist eine der Herausforderungen der Historischen Graphematik. In historischen Schreibsprachen finden wir ein Ausmaß an individueller Gestaltungsfreiheit, wie es sie heute nur noch in der gesprochenen Sprache gibt, wo wir je nach Situation zwischen Varianten wie [roːzə] und [ʁoːzə] 'Rose', [ɪst] und [ɪs] 'ist' oder [ˈkɛːzə] und [ˈkeːzə] 'Käse' wählen können. Wenn somit einerseits von der Variation als dem „natürlichen Aggregatzustand“ (Mihm 2000, 367) historischer Schreibsprachen gesprochen werden kann, so sind auf der anderen Seite aber durchaus auch Tendenzen zur Normierung des Schreibens zu beobachten. Schon zu Beginn des Einsetzens deutschsprachiger Schriftlichkeit finden wir, bei aller individuellen Vielfalt im Detail, regionale Schreibtraditionen vor, die uns eine grobe Zuordnung handschriftlicher Texte zu bestimmten Sprachregionen erlauben. Alemannische, bairische oder rheinfränkische Texte lassen sich anhand markanter Kennformen voneinander differenzieren. Diese regionale Prägung des Geschriebenen war bis ins 16. Jahrhundert charakteristisch für alle Texte in deutscher Sprache, und noch im späten 18. Jahrhundert spielte die Frage, an welchem regionalen Usus man sich beim Schreiben orientieren sollte, eine wichtige Rolle. Historische Graphematik bedeutet dementsprechend auch immer Beschäftigung mit regional geprägten Schreibtraditionen und deren Eigenarten. Das ist nicht so selbstverständlich, wie es klingt, denn die Sprachgeschichtsschreibung des Deutschen war lange Zeit fast ausschließlich auf die Frage fokussiert, wie sich die neuhochdeutsche Schriftsprache herausgebildet habe. Dieser Prozess verdient zwar zweifellos unser Interesse (in Kap. 8.4 wird auf die Forschungsergebnisse aus diesem Bereich genauer eingegangen), doch kann das nur ein Teilaspekt dessen sein, was die Sprachgeschichtsforschung leisten sollte. Denn wenn in teleologischer Ausrichtung nur darauf geachtet wird, welche Schreibvarianten sich letztlich durchsetzen, tritt die Eigendynamik der Entwicklung regionaler Schreibsysteme in den Hintergrund (zur Kritik an teleologischen Ansätzen vgl. z. B. Mattheier 1995, 3-5; Schiegg 2015, 29-41). Eine rein teleologisch geprägte Sprachgeschichtsschreibung würde etwa die Entwicklung der mittelniederdeutschen Schreibsprachen im Norden, der ripuarischen Schreibsprache im Westen oder der alemannischen Schreibsprache im Süden weitgehend unberücksichtigt lassen, da diese Traditionen nicht wesentlich an der Entwicklung der späteren neuhochdeutschen Schriftsprache beteiligt waren. Die Sprachgeschichtsschreibung hat jedoch aus heutiger Sicht einen weitaus umfassenderen Anspruch: „Nicht nur dasjenige ist sprachhistorisch interessant, was als Vorläufer heutiger Strukturen relevant ist, sondern das gesamte Spektrum von Sprachformen, Sprachvarietäten, Sprachverwendungsregeln und Sprachbewertungsnormen“ (Mattheier 1984, 777). Seit den 1990er Jahren konnte sich in der Germanistik eine explizit regional ausgerichtete Sprachgeschichtsforschung etablieren, die diesen Grundsätzen Rechnung trägt, so dass man sich heute in verschiedenen Handbüchern über die sprach- <?page no="17"?> 17 1. Einleitung geschichtliche Entwicklung in den verschiedenen Regionen des deutschsprachigen Raumes informieren kann (vgl. Besch / Solms 1998, Macha / Neuß / Peters 2000, Berthele et al. 2003 sowie die Regionenporträts im dritten Teilband des Handbuchs Sprachgeschichte, Besch et al. 1998-2004). Vormoderne Schreibsprachen sind somit immer regional geprägt, und die Historische Graphematik hat zu klären, wie sich die Zugehörigkeit zur Region jeweils manifestiert. Hierbei kann das Spektrum vom gelegentlichen Gebrauch regionaler Graphien bis zur Herausbildung komplexer und stabiler Schreibtraditionen reichen. Aufgrund der weitreichenden Freiheiten der individuellen Schreiber kann es manchmal jedoch auch dazu kommen, dass bewusst fremde Graphien in Texte eingestreut werden, die gerade nicht zum Schreibusus ihrer Region passen. So berichtet Robert Möller (1998, 196 f.) von einem Kölner Ratsschreiber, der im Jahre 1424 aus Höflichkeit gegenüber seinem Straßburger Adressaten solche Schreibweisen wie Maister, waz, haben verwendet, statt der lokal üblichen Formen Meister, wat, haen. Adressatenorientierung ist also ein Motiv, vom regional erwartbaren Graphiengebrauch abzuweichen. Neben den Regionen wurden auch einzelne Kanzleien oder Druckereien („Offizinen“) als mögliche Kristallisationspunkte graphematischer Traditionen betrachtet, wobei der Einfluss einzelner Schreiber oder Drucker offenbar je nach Lage der Dinge unterschiedlich einzuschätzen ist. Auch konfessionelle Unterschiede konnten sich im Schriftbild widerspiegeln, so dass sich katholische und protestantische Texte im 16. Jahrhundert schon aufgrund ihrer jeweils typischen Graphien auseinanderhalten ließen. Schließlich hängen schreibsprachliche Differenzen auch mit der Spezifik einzelner Textsorten zusammen. So wurden etwa Güterverzeichnisse (sogenannte Urbare) oder Gerichtsprotokolle z. T. spontan und in direkter Bezugnahme auf das Gesprochene verfasst und weisen deshalb-- anders als etwa Rechtstexte, Urkunden oder Chroniken- - häufiger Schreibungen auf, die Merkmale der Mündlichkeit reflektieren. Anders als heute erschlossen sich dem kundigen Leser im 14. oder 15. Jahrhundert aus wenigen Zeilen Text somit bereits vielfältige Informationen. Das vorliegende Buch befasst sich mit den theoretischen Kontexten, Methoden und Anwendungsbereichen der Historischen Graphematik. Dabei kann allerdings nicht das gesamte Spektrum von Schriftlichkeit berücksichtigt werden, das in der allgemeinen Schriftlichkeitsforschung und in den Arbeiten zur internationalen Schriftgeschichte abgedeckt wird. Der Fokus des Buches liegt vielmehr auf einem bestimmten Ausschnitt der schreibsprachlichen Entwicklung, der sich wie folgt charakterisieren lässt: ▶ Es geht um die Art von Schrift, die einen Bezug zur Lautsprache aufweist, also um „lexigraphisches“ Schreiben, im Unterschied zur lautunabhängigen, „semasiographischen“ Schrift. Piktogramme und andere bildbasierte Vorläufer oder Begleiter der Schrift werden daher nur am Rande thematisiert (Kap. 4.1). ▶ Innerhalb der Gruppe der lexigraphischen Schrifttypen geht es primär um Alphabetschriften, nicht um Silbenschriften oder logographische (wort- oder morphembezogene) Schriften. Für eine historisch-graphematische Untersuchung von Schriftsystemen wie dem japanischen Katakana (silbenbasiert) oder der chinesischen Han-Schrift (morphembasiert) wären andere Kategorien, Begriffe und Methoden notwendig als für die <?page no="18"?> 18 1. Einleitung Analyse alphabetschriftlicher Systeme (und nicht zuletzt auch fundierte japanologische bzw. sinologische Kompetenzen seitens des Analysierenden). ▶ Berücksichtigt werden Alphabetschriften im deutschsprachigen Raum unter Einschluss Norddeutschlands. Gegenstand der Betrachtung sind also die historischen Schreibsprachen, die nach sprachtypologischen und dialektologischen Kriterien dem Hochdeutschen bzw. Niederdeutschen zugeordnet werden, während die vordeutschen Schriftsysteme der germanischen Zeit („Ulfilas-Bibel“, Runentexte) ausgeklammert werden. ▶ Im Zentrum steht der Zeitraum vom Einsetzen der althochdeutschen bzw. altsächsischen Überlieferung im 8. Jahrhundert bis zur Durchsetzung einer relativ festen Schreibnorm im 17. Jahrhundert. Es geht also um das Schreiben in der Vormoderne. In einzelnen Gegenstandsbereichen kann der Untersuchungszeitraum allerdings auch darüber hinausreichen, da manche Prozesse, wie etwa die Durchsetzung der Großschreibung nach modernen Prinzipien oder die Etablierung der Morphemkonstantschreibung, erst im 18. oder 19. Jahrhundert ihren Abschluss finden. ▶ Die graphematische Analyse historischer Schreibsprachen ist im Prinzip davon unabhängig, auf welchem Schriftträger ein Text überliefert ist. Da die Rekonstruktion von Schreibsystemen aber einen gewissen Textumfang voraussetzt, steht die Untersuchung handschriftlicher Quellen (auf Pergament oder Papier) bzw. ab dem 15. Jahrhundert auch gedruckter Texte im Mittelpunkt. Inschriftliche Texte, also „Beschriftungen verschiedener Materialien-- in Stein, Holz, Metall, Leder, Stoff, Email, Glas, Mosaik usw.--, die von Kräften und mit Methoden hergestellt sind, die nicht dem Schreibschul- und Kanzleibetrieb angehören“ (Kloos 1992, 2), sind für systematische Analysen häufig zu kurz. Sie können jedoch für bestimmte Fragestellungen, die sich auf das Vorkommen graphematischer Kennformen beziehen, durchaus von Interesse sein und werden in diesem Zusammenhang mitberücksichtigt (z. B. in Kap. 6.2.5 über Schreibvariation und Konfessionalität). Zur Struktur des Buches: Der Band ist in 14 Kapitel gegliedert. Nach der Einleitung (Kap. 1) geht es zunächst darum, die speziellen Zielsetzungen der Historischen Graphematik zu verdeutlichen. Hierzu wird diese Disziplin von einigen Nachbarwissenschaften wie der Schriftgeschichte und Paläographie, der Graphetik, Orthographiegeschichte, Schreibsprachgeschichte des Deutschen, Graphologie und Historischen Phonologie sowie der rezenten Graphematik und Orthographieforschung abgegrenzt (Kap. 2), bevor dann grundlegende Eigenschaften schriftsprachlicher (vs. mündlicher) Kommunikation erörtert werden (Kap. 3). In Kap. 4 wird ein knapper Abriss zur Geschichte der Schriftzeichen und zur Entwicklung und Typologie von Schriftsystemen gegeben. In den darauffolgenden Kapiteln werden dann drei grundlegende Problemkomplexe der Historischen Graphematik genauer unter die Lupe genommen: die Rahmenbedingungen des Schreibens in vormoderner Zeit mit dem individuellen Schreiber als zentraler Figur (Kap. 5), die Rolle der Variation (Kap. 6) und das Verhältnis von Schrift und Mündlichkeit (Kap. 7). Anschließend wird ein kurzer Überblick über die wichtigsten Etappen der Schreibsprachgeschichte des Deutschen von den Anfängen im 8. Jahrhundert bis zur Neuzeit gegeben (Kap. 8). Hierbei wird der Schwerpunkt auf die <?page no="19"?> 19 1. Einleitung Entstehung regionaler Schreibtraditionen und die Herausbildung einer überregionalen (neuhochdeutschen) Schriftsprache gelegt, bevor ein kurzer Blick auf den Prozess der orthographischen Standardisierung seit dem 18. Jahrhundert und auf aktuelle Tendenzen einer Destandardisierung des Schreibens geworfen wird. Die Kapitel 9 und 10 geben eine Einführung in die wichtigsten Grundlagen in Bezug auf die Terminologie und Methodik der Historischen Graphematik. In Kap. 9 werden Grundbegriffe wie Graph, Graphie und Graphem, Schreibsprache und Orthographie usw. eingeführt und Prinzipien der orthographischen und graphematischen Verschriftlichung diskutiert. In Kap. 10 wird, nach einer kurzen Gegenüberstellung verschiedener Beschreibungsansätze der Historischen Graphematik, ein Verfahren zur graphematischen Analyse vormoderner Texte vorgestellt, wobei die Schwerpunkte in der präzisen Rekonstruktuion graphematischer Variation und der Erfassung diachroner Wandelprozesse liegen. In den letzten vier Kapiteln wird schließlich versucht, die Funktionsweise historischer Schreibsprachen im Spannungsfeld zwischen Variation und Norm auf der Grundlage der Ergebnisse graphematischer Forschung zu charakterisieren. Dabei wird ein doppelter Zugriff gewählt. In einer sprachsystembezogenen Perspektive werden jeweils zwei ausgewählte Phänomene der graphematischen Variation und des schreibsprachlichen Wandels aus dem Bereich des Konsonantismus und des Vokalismus diskutiert. Hierbei werden einerseits der Gebrauch historischer Doppelkonsonantengraphien und die Durchsetzung des Prinzips der Morphemkonstanz (Kap. 11), andererseits die Umlautkennzeichnung und die Hervorhebung von kontextbedingten Vokalveränderungen in den Blick genommen (Kap. 12). Neben diesen Strukturen und Prozessen im Kernbereich der alphabetischen Schreibsysteme wird die Entwicklung der Großschreibung innerhalb des Satzes thematisiert (Kap. 13). In einem Ausblick werden abschließend noch einmal drei übergreifende Fragestellungen der historisch-graphematischen Forschung thematisiert, die sich auf die Beschreibung der arealen Reichweiten von Graphien und Graphemen, die Möglichkeiten zur Lokalisierung und Datierung historischer Handschriften und die Entwicklung einer europäischen, komparatistisch angelegten Graphematik beziehen (Kap. 14). Bei der Diskussion graphematischer Ansätze, Methoden und Ergebnisse wurde Wert darauf gelegt, die neueren Arbeiten zum Schreibsprachwandel im deutschsprachigen Raum möglichst breit zu rezipieren, um einen Einblick in den aktuellen Forschungsstand zu vermitteln. Da es aus dem Bereich der Historischen Graphematik allerdings vergleichsweise wenige aktuelle Forschungsbeiträge gibt-- die meisten jüngeren Arbeiten zur „Schriftlinguistik“ befassen sich nicht oder nur am Rande mit diachronen Entwicklungsprozessen (Kap. 2.7)--, war es vielfach unumgänglich, auch ältere Untersuchungen mit einzubeziehen. Hierzu zählen z. B. die grundlegenden und bis heute relevanten Studien von Heinrich Bach, Bruno Boesch und Ludwig Erich Schmitt aus den 30er und 40er Jahren, von Wolfgang Fleischer und Gerhard Kettmann aus den 60er und 70er oder von Elvira Glaser und Hans Moser aus den 70er und 80er Jahren. Für bestimmte Regionen oder Fragestellungen ist man zum Teil auf noch ältere Arbeiten angewiesen, so dass auch auf Monographien aus dem 19. oder frühen 20. Jahrhundert zurückgegriffen wird. Den Leserinnen und Lesern wird hier somit bewusst etwas mehr an Forschungsgeschichte geboten, als man vielleicht in einem Studienbuch erwarten würde-- in der Hoffnung, dass sich aus der Reflexion des schon einmal Durchdachten und <?page no="20"?> 20 1. Einleitung Formulierten und der Wahrnehmung noch bestehender Defizite frische Impulse für künftige Forschungen ergeben mögen. Zur Erleichterung der Lektüre sind die jeweils für einen Abschnitt zentralen Begriffe und Thesen durch Fettdruck hervorgehoben. Außerdem wird der Fließtext an vielen Stellen durch Textkästen durchbrochen, die unterschiedliche Funktionen haben (ohne dass diese sich immer scharf voneinander abgrenzen ließen): ▶ Es werden Definitionen zu wichtigen Begriffen gegeben, etwa zu den Fachtermini „Ingwäonismus“ (Kap. 8.1) und „Geminate“ (Kap. 11.1), und Klassifikationen vorgestellt, z. B. zu den drei Grundtypen lexigraphischer Schriften (Kap. 4.1) und zur Einteilung der germanischen Volksgruppen (Kap. 8.1). ▶ Inhalte des jeweiligen Kapitels werden anhand von Beispielen veranschaulicht, z. B. wird die spezifische Fragestellung der Historischen Graphematik am Beispiel der Frühneuhochdeutschen Diphthongierung deutlich gemacht (Kap. 2.6), und die unterschiedliche Interpretierbarkeit von Schreibungen wird anhand der Graphie <oe> verdeutlicht (Kap. 3.4). ▶ Es werden vertiefende Informationen zum jeweiligen Thema gegeben, z. B. weiterführende Informationen zum modernen Gebrauch der Runenschrift (Kap. 4.2), zum Status von Schreibmaschinentexten (Kap. 4.5), zum Thema „Lesen und Schreiben im Mittelalter“ (Kap. 5) oder zum Schreibgebrauch in frühmittelalterlichen Glossen (Kap. 6.2.2). ▶ In einem Forschungsüberblick werden Forschungsrichtungen gegenübergestellt (z. B. Kap. 2.6 zur autonomistischen Graphematik und lautrekonstruierenden Phonologie), Einblicke in die Geschichte der Schreibsprachforschung gegeben (z. B. Kap. 5.4 zur Schreiberseparierung in historisch-graphematischen Arbeiten) oder Forschungsthesen kritisch reflektiert (z. B. Kap. 8.3 zur These der kolonialen Ausgleichssprache im ostmitteldeutschen Raum). ▶ Es werden Forschungsmethoden beschrieben und bewertet, z. B. die Verfahren für historisch-graphematische Analysen mit der Software NG ramViewer und der Datenbank „Deutsches Textarchiv“ (Kap. 8.4). Als weitere Lektürehilfe ist dem Band ein ausführliches Register beigegeben. Es enthält ▶ sprachwissenschaftliche oder sonstige Sachbegriffe (Assimilation, Trema, Unziale-…), ▶ Bezeichnungen historischer Sprachstufen (Westgermanisch, Altsächsisch, Mittelhochdeutsch-…), ▶ Bezeichnungen von behandelten Dialekten (Alemannisch, Bairisch, Ripuarisch-…) und Sprachen (Englisch, Französisch, Latein-…), ▶ Namen zentraler Schreib- oder Druckorte (Augsburg, Köln, Lübeck-…), ▶ Namen von Sprachforschern oder wichtigen historischen Akteuren (der Stadtsekretär Nikolaus von Wyle, der Grammatiker Johann Christoph Adelung, der Reformator Martin Luther-…), ▶ die Titel der im Buch (für graphematische Analysen) herangezogenen Texte (Adriatische Rosemund, Duisburger Stadtrecht, Teweschen Hochtiet-…). <?page no="21"?> 21 1. Einleitung Unter dem Stichwort „Graphe“ findet man aussagekräftige Verweise auf die Behandlung einzelner Buchstaben, z. B. ß (Entstehung) und ß (Abschaffung), oder Buchstabenpaare, z. B. s vs. S (Minuskel vs. Majuskel). Unter dem Stichwort „Graphien“ sind die Belegstellen für Graphien angeführt, die aus (historisch-)graphematischer Sicht von besonderem Interesse sind, wiederum jeweils mit einer kurzen Charakterisierung der dort zu findenden Inhalte. So wird z. B. die Graphie <ai> an verschiedenen Stellen des Buches als englische Lehngraphie (Trainer), als bairisch-katholische Signalgraphie (für mhd. ei, wie in aigentlich), als Mittel zur Homophonendifferenzierung (Saite vs. Seite) oder als typische Graphie der ripuarischen Schreibsprache (für den Langvokal ā, wie in Rait 'Rat') besprochen. Schließlich noch ein Wort zu der in diesem Buch angewandten Orthographie. Grundsätzlich orientiert sich die Schreibweise an den 1996 beschlossenen und zuletzt 2010 überarbeiteten Rechtschreibregeln. Hierbei wurden auch im Bereich der Fremdwörter im Allgemeinen die empfohlenen Neuschreibungen verwendet (Fotokopie, Potenzial, potenziell usw.). Ausnahmen bilden allerdings die Wörter mit den Lehnmorphemen -graph- und -phon-. Wörter mit dem Morphem -graphkommen in dem vorliegenden Band mehr als 2500 Mal vor. Hier sind die orthographischen Regelungen gegenwärtig recht heterogen: ▶ Das Duden-Online-Wörterbuch empfiehlt für das Wort Graph ('Schriftzeichen als kleinste Einheit in Texten') die Schreibweise mit <ph>-- wohl um es von Graf ('Adelstitel zwischen Fürst und Freiherr') abzugrenzen--, für die Wörter Allograf, Digraf, Homograf und Paragraf werden dagegen die Varianten mit <f> empfohlen. ▶ Für die Wörter Grafie, Grafik, grafisch, Grafologie und die mit -grafie oder -grafisch gebildeten Ableitungen und Komposita (Bio-, Geo-, Ideo-, Lexi-, Kalli-, Litho-, Logo-, Mono-, Pikto-, Steno-, Typo-, Xerografie bzw. -grafisch) wird die Schreibweise mit <f> empfohlen, für Phonograph und phonographisch aber die Variante mit <ph>. ▶ Für die Wörter Graphem, Graphematik und graphematisch werden die Varianten mit <ph> empfohlen; die Schreibungen mit <f> sind als Alternativen zugelassen. Eine Orientierung an den hier empfohlenen Schreibungen hätte also zur Folge, dass Schreibweisen mit <ph> und <f> häufig miteinander wechseln würden, so dass innerhalb eines Absatzes von Graphen und Homografen, von phonographischen und lexigrafischen Schreibsystemen oder von Grafien und Graphemen die Rede wäre. Wenn andererseits unabhängig von diesen Empfehlungen konsequent die „progressiveren“ <f>-Schreibungen gewählt würden, entstände ein Kontrast zu den Schreibungen in der zitierten Sekundärliteratur, denn hier werden noch fast ausschließlich die traditionellen Varianten mit <ph> gebraucht, vielfach sogar in den Fällen, in denen die <f>-Schreibung mittlerweile empfohlen wird (Orthographie, Typographie, Lexikographie). Aus diesem Grund wurde hier auf die dritte Möglichkeit zurückgegriffen und im Sinne eines einheitlichen Schriftbildes für das Morphem -graphdurchgehend die <ph>-Schreibung verwendet. Analog wurde bei Wörtern mit dem Morphem -phonvorgegangen. Auch hier wurde, um ein uneinheitliches Schriftbild zu vermeiden, konsequent auf die Varianten mit <ph> zurückgegriffen, auch in den (wenigen) Fällen, in denen das Duden-Wörterbuch die Schreibweise <?page no="22"?> 22 1. Einleitung mit <f> empfiehlt. Es werden also auch die Wortschreibungen Grammophon, Homophon, homophonisch gebraucht statt der empfohlenen Schreibungen Grammofon, Homofon, homofonisch. Lediglich für das Wort Telefon wird die <f>-Schreibung verwendet, da die Schreibung mit <ph> hier nicht mehr als zulässig gilt. <?page no="23"?> 23 2. Historische Graphematik: Zielsetzungen und Abgrenzungen Die Schrift ist eine der ältesten und bedeutendsten Kulturtechniken der Menschheitsgeschichte. Auch wenn sich die Formen und Träger der Schriftlichkeit verändert haben, von den altägyptischen Hieroglyphen über die mittelhochdeutschen Pergamenthandschriften und die Druckerzeugnisse des Gutenbergzeitalters bis hin zu den digitalen Schreibpraktiken der Moderne-- die mit dem Medium der Schrift gegebene Möglichkeit, semantische Inhalte visuell zu vermitteln, ist bis heute grundlegend für die meisten Kulturen in der Welt. Dementsprechend haben sich diverse wissenschaftliche Disziplinen mit dem Phänomen der Schrift auseinandergesetzt, und es stellt sich die Frage, welche besondere Perspektive die linguistische Disziplin der Historischen Graphematik der Schrift gegenüber einnimmt. Aus diesem Grund wird die Historische Graphematik im Folgenden von der Schriftgeschichte und Paläographie, der Graphetik, der Orthographiegeschichte, der Schreibsprachgeschichte des Deutschen und der Graphologie abgegrenzt. Schließlich erscheint auch noch ein Vergleich mit der Forschungsrichtung der Historischen Phonologie sinnvoll, die zwar nicht die schriftliche Überlieferung zum Ausgangspunkt nimmt, in ihrer Zielsetzung aber Parallelen zur Historischen Graphematik aufweist. 2.1. Historische Graphematik vs. Schriftgeschichte und Paläographie Die Graphematik beschäftigt sich nicht in erster Linie mit Schrift im materiellen Sinne eines „Inventar[s] graphischer Elemente zur Fixierung sprachlicher Einheiten auf festem Material“ (Nerius 2007, 29), sondern mit der Frage, wie solche Einheiten für die Referenz auf die Lautsprache und die Übermittlung von Bedeutungen funktionalisiert werden. Ihr Gegenstand sind nicht die Buchstabenformen, sondern die Schreibsysteme und deren Graphien und Grapheme. Darin grenzt sich die Historische Graphematik von der Nachbardisziplin der Schriftgeschichte und Paläographie ab. Die Paläographie ist eine Hilfsdisziplin der Geschichtswissenschaft und der lateinischen, aber auch der volkssprachlichen Philologien. Unter paläographischen Gesichtspunkten würde ein in einer mittelalterlichen Handschrift vorkommender Buchstabe daraufhin analysiert werden, welchem Schrifttyp er entspricht (z. B. karolingische Minuskel, Textura, Bastarda usw.) und welche Formeigenschaften seinen Realisierungen im Text zukommen (Farbe, Schriftgröße, relative Breite und Höhe, Neigungswinkel der Schäfte, Form der Bögen, An- und Abstriche, Brechungen, Ligaturen usw.), etwa mit dem Ziel einer genaueren Datierung und / oder Lokalisierung des Textes, einer Unterscheidung verschiedener Schreiberhände oder einer Bestimmung des Formenrepertoires eines Schreibers (vgl. Schneider 2014, 100-102). Die Graphematik ist hingegen eine strukturalistisch geprägte Teildisziplin der Linguistik, bei der es weniger um die substanziellen Eigenschaften des geschriebenen Sprachzeichens geht als vielmehr um deren Funktionalisierung im Rahmen eines schreibsprachlichen Systems. Dass etwa die Minuskel d in den Handschriften des Mittelalters in verschiedenen Ausprägungen vorkommt (Abb. 2), ist aus Sicht der Historischen Graphematik irrelevant, sofern diesen verschiedenen Formen keine <?page no="24"?> 24 2. Historische Graphematik: Zielsetzungen und Abgrenzungen besondere Funktion zugeschrieben werden kann, z. B. als Reflex einer lautlichen Differenzierung oder als kontextbedingte graphische Differenzierung. Abb. 2: Grundtypen für die Minuskel d in Handschriften des 13. bis 14. Jahrhunderts aus dem alemannischen Raum (aus: Ludwig 1989, 47) Sofern es in keinem der uns bekannten Schreibsysteme Indizien für eine solche Funktionalisierung gibt, werden die betreffenden Schreibvarianten als Ausprägungen ein und derselben Graphie betrachtet. Dies scheint für die genannten Varianten des Buchstaben d zuzutreffen. Dagegen ist z. B. die Unterscheidung der Kleinbuchstaben (Minuskeln) von den ihnen entsprechenden Großbuchstaben (Majuskeln bzw. Versalien) graphematisch relevant, da der Gebrauch der Majuskel zur Kennzeichnung von Satz-, Vers- oder Abschnittsanfängen und von Orts- und Personennamen, später auch zur Hervorhebung von kontextuell bedeutsamen Inhaltswörtern und schließlich zur Markierung der Wortart Substantiv (inklusive substantivierter Verben) funktionalisiert wurde (Kap. 13). 2.2. Historische Graphematik vs. Graphetik Eng mit der Disziplin der Paläographie verbunden ist die von einigen Forschern als Nachbar- oder sogar Teildisziplin der Graphematik beschriebene Graphetik (für einen ausführlichen Forschungsüberblick vgl. Meletis 2015). Gegenstand der Graphetik sind nach Hans Peter Althaus (1980, 138) „die Bedingungen und materiellen Elemente, die visuelle Sprachkommunikation konstituieren“. Von der klassischen Paläographie unterscheidet sich die Graphetik darin, dass sie auch auf moderne Schriftsysteme bezogen wird und dass sie-- wie die Graphematik-- einer strukturalistischen Beschreibungsmethodik verpflichtet ist. Ziel ist es, den Aufbau von Buchstaben aus kleineren Segmenten systematisch zu erfassen, also entsprechend der strukturalistischen Herangehensweise kleinste Einheiten-- ähnlich den distinktiven Merkmalen in der Phonologie-- zu beschreiben, deren Vorhandensein oder Fehlen den Unterschied zwischen den größeren Einheiten-- den Buchstaben oder Graphien-- markiert. Einen entsprechenden Versuch unternahm Althaus (1980, 140), indem er für Druckschriften im deutschsprachigen Raum ein Basisystem aus zwölf zentralen, „graphisch distinktiven Merkmalen“ postulierte. Dazu zählen Graphsegmente wie senkrechte, waagerechte oder schräge Linien, Kreise, Halbkreise und Punkte, durch die die verschiedenen Graphe unterschieden werden, wie z. B. die Graphe F vs. E durch den unteren waagrechten Strich (Abb. 3). Abb. 3. Zentrale, graphisch distinkte Merkmale alphabetischer Graphe (nach Althaus 1980, 140, Tab. 1) <?page no="25"?> 25 2.2. Historische Graphematik vs. Graphetik Darüber hinaus gibt es nach Althaus auch periphere graphische Merkmale, die „der graphischen, oft künstlerischen Gestaltung der Graphinventare“ dienen (Althaus 1980, 140). Durch die Variation peripherer Merkmale werden keine Graphe differenziert, sondern lediglich Varianten desselben Graphs erzeugt ( usw.). Hierzu zählen, wie Burckhard Garbe (2000, 1769) ausführt, „Auf- und Abstriche, Haarstriche, Häkchen, Serifen, Schaftbrechung, -gabelung, -dopplung, Schnörkel, Schaftdicke u. a. m.“. Garbe entwickelt auf der Grundlage von Althaus’ Ansatz ein formales Beschreibungssystem, anhand dessen die im Deutschen gängigen alphabetischen Graphe (Buchstaben) durch eine Verortung auf sechs „Schreiblinien“ (die Notenlinien ähneln) graphetisch charakterisiert werden können (Abb. 4). Abb. 4. Schreiblinien-System mit Eintragung der Graphe C, q und T (nach Garbe 2000, 1769, Abb. 125.4) Mit Bezug auf dieses Schema erhält das Graph C die Kennzeichnung 6 ae, wobei die Ziffer 6 für das Basismerkmal 'nach rechts offener Halbkreis' (Nr. 6) aus Althaus’ Klassifikation steht, während ae den vertikalen Raum im Schreiblinien-System angibt, über die sich das Zeichen erstreckt (von Linie a bis Linie e). Der Kleinbuchstabe q ist aus zwei nebeneinander angeordneten Basiskomponenten zusammengesetzt. Dementsprechend werden ihm zwei Siglen zugeordnet, die durch das Zeichen + verknüpft sind: 6 ce + 1 cf (d. h. Merkmal Nr. 6 'Halbkreis' auf den Linien c-e und Merkmal Nr. 1 'senkrechter Strich' auf den Linien c-f). Im dritten Beispiel (T) sind zwei Basiskomponenten (Nr. 4 'waagerechter Strich' und Nr. 1 'senkrechter Strich') übereinander angeordnet, was bei Garbe (2000) durch eine Art Bruchstrich-Schreibweise veranschaulicht wird: 4 a —— 1 a-e In der neueren graphematischen Literatur werden die graphischen Merkmale gelegentlich als „Buchstabensegmente“ bezeichnet, den zwei Klassen „Kopf “ und „Koda“ zugeordnet und in einem durch vier Linien definierten „Buchstabenraum“ positioniert (vgl. z. B. Fuhrhop / Peters 2013, 191-200), hierauf muss an dieser Stelle nicht genauer eingegangen werden. Für die sprachhistorische Forschung ist der graphetische Ansatz nur von bedingtem Nutzen. Das hängt zum einen damit zusammen, dass sich dieses einfache Schema nur schwer auf die komplexeren Schriftypen vergangener Jahrhunderte, seien es handschriftliche oder druckschriftliche Zeichenformen, anwenden lässt. Denn wie Garbe (2000, 1771) feststellt, erfasst es „nur approximativ die idealisierten Graphformen, erreicht keine Feinanpassung der einzelnen Graphsegmente“ und lässt Merkmale wie den Neigungswinkel der schräg verlaufenden <?page no="26"?> 26 2. Historische Graphematik: Zielsetzungen und Abgrenzungen Linien, die Länge der horizontalen Linien oder die Bauchung der Halbkreise unbestimmt. Auch Nanna Fuhrhop bezieht sich bei ihrem Versuch einer graphetischen Beschreibung der inneren Struktur der Buchstaben auf die „kleinen Druckbuchstaben“ (Fuhrhop / Peters 2013, 192). Zum anderen handelt es sich eher um ein mögliches Hilfsmittel im Zusammenhang mit typographischen Beschreibungen als um ein linguistisches Arbeitsinstrument, da nur die äußere Form der Buchstaben Gegenstand der Betrachtung ist, nicht aber deren Zeichenfunktion. Zudem war die Kombination (oder Weglassung) bestimmter graphischer Grundelemente wie Linien, Bögen, Kreisen oder Punkten zur Konstruktion von Graphen in der Tradition des griechisch-lateinischen Alphabets weitgehend vorgegeben und stand nicht im Belieben des mittelalterlichen Schreibers. Die Möglichkeit einer individuellen Wahl ergab sich erst auf der Ebene der Graphien. Graphien konnten selegiert, kombiniert und funktionalisiert werden und dadurch als Indikatoren für bestimmte Regionen, Stile, Kanzleien, Druckorte, Konfessionen oder Zeitstufen dienen; sie haben damit eine graphematische Relevanz. Die distinktiven graphischen Komponenten hingegen konnten in der Regel nicht weggelassen oder neu kombiniert werden, ohne dass das Zeichen selbst zerstört und damit unlesbar geworden wäre-- ein b ohne den „Bauch“ oder ein Majuskel-A ohne den Querstrich ist nicht mehr als solches zu identifizieren. In der vorliegenden Darstellung werden daher die Graphien und nicht die Graphe oder deren Merkmale als Basiseinheiten der Graphematik betrachtet. 2.3. Historische Graphematik vs. Orthographiegeschichte Ab den 20er Jahren des 16. Jahrhunderts entwickelt sich in Deutschland eine Tradition der Rechtschreiblehren, in denen vermittelt werden soll, wie man „Lernt / recht buchſta ͤ big deutſch [zu] ſchreiben“ (so Frangk 1531). Diese Anleitungen zum rechten Schreiben (lat. orthographia) verraten viel über die in einer Sprachstufe und Region gebräuchlichen Graphien und deren Bewertung. Die wichtigsten orthographischen Handbücher wurden daher mittlerweile größtenteils neu ediert (vgl. z. B. Müller 1882 und die Bände der Reihe „Documenta orthographica. Quellen zur Geschichte der deutschen Orthographie vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart“ im Olms-Verlag), und die Entwicklung des Orthographiediskurses wurde in der großen grammatikhistorischen Darstellung von Max Hermann Jellinek (1913-14) sowie in diversen neueren historiographischen Untersuchungen aufgearbeitet (vgl. z. B. Ewald 1990, Götz 1992, Müller 1990, Nerius / Scharnhorst 1992, Krohn 2001, Schielein 2002, Güthert 2005, Herpel 2015). Während diese orthographiehistorischen Studien den Versuch unternehmen, die zeitgebundenen Vorstellungen über schreibsprachliche Korrektheit und die mit bestimmten Graphien verknüpften Symbolwerte aus den metasprachlichen Beschreibungen zu rekonstruieren, beschäftigt sich die Historische Graphematik primär mit dem faktischen Graphiengebrauch und der Herausbildung, dem Funktionieren und dem Wandel von Schreibsystemen in der Praxis. Dass die orthographische Theorie keineswegs immer mit der Schreibpraxis in Deckung gebracht werden kann, hat sich bei einigen neueren Studien gezeigt, in denen für ein bestimmtes Phänomen die Veränderungen in den orthographischen Normierungen mit denen im Schreibusus verglichen wurden, z. B. für den Bereich der Großschreibung Bergmann / Nerius (1998) (Kap. 13). Insgesamt belegen diese Studien, dass der Einfluss der <?page no="27"?> 27 2.4. Historische Graphematik vs. Schreibsprachgeschichte des Deutschen Grammatiker und Orthographietheoretiker auf die Entwicklung des Schreibens begrenzt war und dass sie oftmals bestimmte Schreibweisen erst dann propagierten, wenn diese sich in der Praxis schon seit längerer Zeit durchgesetzt hatten. Schon diese Beobachtung macht deutlich, dass eine Beschreibung des Orthographiediskurses kein Ersatz für-- in der Regel wesentlich zeitaufwändigere- - historisch-graphematische Analysen sein kann. Ein weiterer Aspekt kommt noch hinzu. Wer ein Handbuch zur deutschen Orthographie schreibt, kann, selbst wenn er einen primär deskriptiven Ansatz vertritt (was in den Orthographielehren des 16. bis 18. Jahrhunderts nicht der Fall war), nur das beschreiben, was er als Regelhaftigkeit wahrnimmt. Die neueren Untersuchungen der Historischen Graphematik haben aber gezeigt, dass viele schreibsprachliche Variationsmuster erst zutage treten, wenn sie mithilfe von komplexen Distributionsanalysen sichtbar gemacht werden. Ein zeitgenössischer Beobachter konnte somit immer nur einen selektiven und subjektiv gefärbten Eindruck von den tatsächlichen Schreibgebräuchen seiner Zeit erlangen. Aus der Perspektive der Historischen Graphematik hat die Beschäftigung mit den metasprachlichen Beschreibungen zur Orthographie ihren Wert vor allem dort, wo es darum geht, Erklärungen für die auffällige Präferenz bestimmter Graphien oder für das Auftreten bestimmter Variationsmuster zu finden, die sich in der historischen Schriftlichkeit nachweisen lassen. Hier kann eine Vorbildwirkung zeitgenössischer Schreiblehren nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden. 2.4. Historische Graphematik vs. Schreibsprachgeschichte des Deutschen Ein Studienbuch zur Historischen Graphematik kann keine Gesamtdarstellung der Veränderungen in den Graphieninventaren und Schreibsystemen des deutschsprachigen Raumes bieten. Das wäre schon aufgrund der Vielfalt der regionalen Schreibsysteme im vorliegenden Rahmen gar nicht möglich. Detailinformationen zu einzelnen Sprachlandschaften und Epochen lassen sich den Monographien zu einzelnen Schreibdialekten und den großen Sprachstufengrammatiken des Deutschen entnehmen. Die vorrangige Aufgabe des Studienbuchs besteht dagegen in der problematisierenden Beschäftigung mit historischen Schreibsystemen und deren Funktionalität anhand ausgewählter Beispiele sowie in der exemplarischen Präsentation von Untersuchungsgegenständen und -verfahren. Gleichwohl richtet sich der Fokus der Beschreibung auf die „deutsche“ Sprache, unter Einschluss des Niederdeutschen, also auf die graphematischen Entwicklungen der im deutschsprachigen Raum seit dem 8. Jahrhundert in lateinischen Buchstaben überlieferten volkssprachlichen Texte. Quellen aus germanischer Zeit wie die Runentexte oder die gotische Ulfilas-Bibel werden nur am Rande behandelt. Eine komparatistische Graphematik, nach der die Schreibtraditionen des deutschsprachigen Raumes in einen europäischen Kontext eingeordnet werden könnten, ist derzeit noch kaum entwickelt (Kap. 14.3). <?page no="28"?> 28 2. Historische Graphematik: Zielsetzungen und Abgrenzungen 2.5. Historische Graphematik vs. Graphologie Während die Bezeichnungen Phonologie und Morphologie linguistische Teildisziplinen benennen, handelt es sich bei der Graphologie um eine „nichtlinguistische Disziplin, die Zusammenhänge zwischen dem Schreibstil-[…] und den Charaktereigenschaften des Schreibers aufzuzeigen versucht“ (Dürscheid 2016, 297). Nach den Angaben im Grimmschen Wörterbuch (Bd. 8, Sp. 1891) wurde der Ausdruck „Graphologie“ im 19. Jahrhundert nach französischem Vorbild (graphologie, 1868) geprägt, mit der Bedeutung „deutung eines charakters aus der handschrift“. Da sich diese Wortbedeutung bereits durchgesetzt hatte, stand der Ausdruck nicht mehr zur Verfügung, als es im 20. Jahrhundert darum ging, einen Namen für die neu entstehende linguistische Disziplin zu finden, die heute als „Graphematik“ bezeichnet wird. Die Begriffe „Graphologie“ und „Graphematik“ stehen in gewisser Weise in einem ähnlichen Verhältnis zueinander wie die Begriffe Astrologie ('Sterndeutekunst') und Astronomie ('wissenschaftliche Stern- und Himmelskunde'). Die Graphologie weist Bezüge zur Paläographie auf, indem sie ihr Interesse ebenfalls vor allem auf die materielle Seite der Schrift richtet (Neigungswinkel der Buchstaben, Schriftweite, Druckstärke, allgemeiner „Rhythmus“ des Schriftduktus usw.). Graphologie und Paläographie unterscheiden sich jedoch darin, dass die Paläographie diese Schrifteigenschaften als typische Merkmale des Schreibens in einer bestimmten Zeitstufe oder Region interpretiert, die Graphologie hingegen als Indikator für individuelle Persönlichkeitseigenschaften. Der wissenschaftliche Status der Graphologie wird kontrovers diskutiert. Für den vorliegenden Kontext ist die Graphologie irrelevant, da sie nicht an der Erforschung linguistischer Sachverhalte interessiert ist. 2.6. Historische Graphematik vs. Historische Phonologie Die Historische Graphematik und die Historische Phonologie sind zwei wissenschaftliche Disziplinen, die jeweils als eigenständige Forschungsgebiete aufgefasst werden, aber auch einige Berührungspunkte aufweisen, da auch im Rahmen der historisch-graphematischen Forschung die Beziehung der Schreibsysteme zu den ihnen korrespondierenden Lautsystemen eine wichtige Rolle spielt. Das wird auch daran deutlich, dass Vertreter der Historischen Phonologie wie Peter Wiesinger in der germanistischen oder Jan Goossens in der nederlandistischen Dialektologie auch immer wieder mit schreibsprachhistorischen Arbeiten hervorgetreten sind, und dass ein einschlägiges Standardwerk wie das „Oxford Handbook of Historical Phonology“ (Honeybone / Salmons 2015) drei Beiträge enthält (von Donka Minkova, J. Marshall Unger und Roger Lass), die sich ausführlich mit den Möglichkeiten der Interpretation historischer Schrifttexte im Rahmen lauthistorischer Fragestellungen befassen. Umgekehrt enthalten Fachartikel zu schreibsprachhistorischen Themen oftmals auch Überlegungen zur Struktur historischer Lautsysteme oder zum Vorkommen lautlicher Interferenzen und Lautwandelerscheinungen. <?page no="29"?> 29 2.6. Historische Graphematik vs. Historische Phonologie Forschungsüberblick: In einigen Bereichen tritt die Eigenständigkeit der beiden Disziplinen Historische Phonologie und Historische Graphematik besonders hervor. Ein Zweig der Historischen Graphematik, der sich von phonologischen Fragestellungen klar abgrenzt, ist z. B. die sogenannte „autonomistische“ Graphematik, die sich allein auf die vorgefundenen schreibsprachlichen Daten stützt und versucht, Einheiten und Strukturen historischer Schreibsprachen ohne Bezugnahme auf lautliche Referenzsysteme zu analysieren (Kap. 10.1). Ein Zweig der Historischen Phonologie wiederum, der kaum methodische Berührungspunkte mit der Graphematik aufweist, ist die lautrekonstruierende Phonologie, der es darum geht, auf der Basis allgemeiner Erkenntnisse über mögliche und wahrscheinliche Lautwandelprozesse frühere Zustände von regionalen Lautsystemen zu rekonstruieren, ohne auf die historische Schriftüberlieferung Bezug zu nehmen. Solche Prozesse können im Bereich des Vokalismus etwa Vokalhebungen oder -senkungen, Diphthongierungen und Monophthongierungen, Dehnungen und Kürzungen sein. Sie werden im Rahmen der Historischen Phonologie nicht isoliert, jeweils für ein Wort oder einen Laut, betrachtet, sondern mit Blick auf das gesamte phonologische System. Der systematische Zugriff ermöglicht die Beschreibung von Lautsystemwandel, der anhand schriftlicher Quellen vielleicht nicht direkt beobachtbar wäre (weil z. B. bestimmte Lautpositionen gar nicht graphematisch markiert werden, etwa die Umlaute), und die Methode ist auch anwendbar auf Sprachen oder Sprachstufen, für die es überhaupt keine schriftliche Überlieferung gibt. In der Historischen Phonologie gibt es auch Verfahrensweisen, die sich auf schriftliche Überlieferung stützen. Dies wird in dem Handbuch von Honeybone / Salmons (2015, 5 f.) bereits zu Beginn der Einleitung deutlich, wenn die Herausgeber unter dem Titel „Key questions for Historical Phonology“ danach fragen, woher man wissen könne, dass es einen phonologischen Wandel gegeben hat, und dabei als erstes auf den Erkenntniswert schriftlicher Quellen hinweisen. So können z. B. Wörterbücher oder auch Autobiographien und Tagebücher metasprachliche Informationen über das Vorhandensein markanter phonetischer Besonderheiten oder über Neuerungen in der Aussprache liefern; bekannt geworden sind z. B. die Notizen des Kölner Ratsherren Hermann Weinsberg über das Vordringen hochdeutscher Sprachformen im ripuarischen Köln, die er als „groisse verenderonge in der schrift“, aber auch im lautlichen Bereich wahrnimmt (vgl. Hoffmann 1983 / 84). Darüber hinaus können schreibsprachliche Zeugnisse mit verschiedenen Methoden (Reimanalyse, Analyse von „Direktanzeigen“, graphematische Systemanalyse) in Hinblick auf deren Aussagekraft für historische Lautgegebenheiten untersucht werden. Dieser Frage nach den schreibsprachlichen Indikatoren für Lautwandelprozesse in der Vergangenheit wird im vorliegenden Studienbuch mehrfach nachgegangen, zunächst in Form grundsätzlicher Überlegungen zum Verhältnis von Schrift und Mündlichkeit (Kap. 7), dann unter methodischen Aspekten (Kap. 10) und schließlich mit dem Fokus auf bestimmte rekonstruierte Wandelprozesse im Bereich des Konsonantismus und Vokalismus (Kap. 11-12). Anders als in einem Handbuch zur Historischen Phonologie steht dabei aber der schreibsprachliche Wandel im Vordergrund, während der Wandel von Lauten oder Lautsystemen nur als mögliche Ursache für graphematische Veränderungen in Betracht gezogen wird. <?page no="30"?> 30 2. Historische Graphematik: Zielsetzungen und Abgrenzungen Eine historisch-phonologische Studie, die sich mit der frühneuhochdeutschen Diphthongierung beschäftigt, fragt danach, was den Wandel der alten Monophthonge [iː], [uː], [yː] zu den frühneuhochdeutschen Diphthongen [aɪ] , [aʊ] und [ɔʏ] motiviert und ausgelöst hat, warum er überhaupt möglich war, ob er auf die Existenz von Lautgesetzen schließen lässt und welche Rolle der kindliche Spracherwerb dabei spielte. Ziel einer graphematisch ausgerichteten Untersuchung wäre es hingegen, ▶ die Ausbreitung der Schreibungen <ei, ey>, <au> und <eu, aͤu> in ihrem raumzeitlichen Verlauf zu rekonstruieren, ▶ das Nebeneinander von alten, monographischen Schreibungen und neuen, digraphischen Schreibungen unter sozialen, situativen oder textsortenspezifischen Aspekten zu analysieren und zu interpretieren, ▶ lexemspezifischen „Sonderwegen“ nachzugehen, die auf eine möglicherweise nur partielle, wortbezogene Übernahme der neuen Lautungen hinweisen, ▶ zu untersuchen, ob es sich nur um eine schriftsprachliche Anreicherung von Texten mit prestigeträchtigen allochthonen Schreibungen handelt, ▶ und überhaupt die zentrale Frage zu klären, wie sich das Verhältnis von Schreibsprachen und historischen Lautsystemen in diesem Bereich des Vokalismus in verschiedenen Regionen des deutschsprachigen Raumes gestaltet hat. Historisch-graphematische Untersuchungen können somit zwar dazu beitragen, die Rekonstruktionen der Historischen Phonologie zu stützen, zeitlich genauer zu verorten, teils auch zu differenzieren oder zu korrigieren. Die eigentliche Aufgabe der Historischen Graphematik liegt jedoch nicht in der Rekonstruktion der historischen Lautzustände selbst, sondern vielmehr darin, zu untersuchen, mit welchen graphematischen Mitteln (in einer bestimmten Region, Zeitstufe, Kanzlei, Druckerei oder Textsorte) ein lautliches Phänomen oder eine phonematische Opposition in der Schrift zum Ausdruck gebracht wird oder eben nicht, inwiefern und aus welchen Gründen hierbei Variation auftritt, welche Typen von Schreibsystemen es gibt und in welcher Weise sie lautliche Differenzierungen reflektieren oder inwiefern schreibsprachlicher Wandel als Nachvollzug von lautlichem Wandel zu deuten ist. Darüber hinaus erschöpft sich die Zielsetzung der Historischen Graphematik auch nicht in dem Versuch, die Beziehung der Schrift zur Lautebene zu beschreiben. Historische Graphematik bedeutet vielmehr in einem weiteren Sinne Beschäftigung mit der Funktionalität historischer Schreibsysteme. Die grundlegende Aufgabe alphabetischer Schreibsysteme, lautliche Strukturen abzubilden, ist dabei nur eine Funktion unter mehreren. Gegenstand historisch-graphematischer Forschungen sind daher auch schreibsprachliche Phänomene, die nichts mit der Referenz auf das Gesprochene zu tun haben. Dazu zählt etwa der Gebrauch von Graphien zur Kennzeichnung semantischer Zusammenhänge (z. B. Morphemkonstantschreibung) oder syntaktischer und textueller Strukturen (z. B. satzinitiale Großschreibung und Interpunktion). Zu berücksichtigen sind auch areale Differenzen im Schreibusus und kanzlei- oder druckerspezifische Konventionen, die nur teilweise mit Unterschieden in den <?page no="31"?> 31 2.7. Historische Graphematik vs. rezente Graphematik und Orthographieforschung Lautsystemen zusammenhängen, sowie textsortenspezifischer Graphiengebrauch, sozialsymbolischer Graphiengebrauch (etwa zur Markierung der konfessionellen Zugehörigkeit), adressatenbezogener Gebrauch von Lehngraphien, ästhetisch-stilistisch motivierte Graphienvariation, Graphienvariation, die aus den technischen Gegebenheiten des Buchdrucks resultiert, und vieles mehr. Der Schwerpunkt der Historischen Graphematik (und damit der Darstellung in diesem Buch) liegt also generell auf der Beschreibung und Erklärung rekonstruierbarer schreibsprachlicher Strukturmuster-- ob sie nun lautinduziert sind oder nicht. 2.7. Historische Graphematik vs. rezente Graphematik und Orthographieforschung Schließlich sei noch die Frage gestellt, wie sich die Historische Graphematik als Disziplin der historischen Sprachwissenschaft zu der gegenwartsbezogenen Graphematik, Schriftlinguistik und Orthographieforschung verhält, die in den letzten 15 Jahren einen beachtlichen Boom erlebt hat. Allein in deutscher Sprache sind gegenwärtig eine Reihe von einführenden Darstellungen und Handbüchern auf dem Markt, so etwa eine stark theoretisch ausgerichtete Arbeit zur „Graphematik des Deutschen“ (Neef 2005), eine bereits in fünfter Auflage erschienene „Einführung in die Schriftlinguistik“ (Dürscheid 2016) und mehrere Handbücher zur Orthographie (Fuhrhop 2015, Karg 2015, Ossner 2010, Nerius 2007), darüber hinaus mehrere Arbeitsbücher für den akademischen Unterricht, die die Bereiche Phonologie / Phonetik und Graphematik miteinander kombinieren (Fuhrhop / Peters 2013, Altmann / Ziegenhain 2010, Staffeldt 2010, Dahmen / Weth 2018). Hinzu kommen eine Reihe von Studien zu einzelnen Bereichen der Orthographie wie der Groß- und Kleinschreibung (Müller 2016), der Zusammen-/ Getrenntschreibung (Fuhrhop 2007), der Interpunktion (Bredel 2008) oder der graphischen Wortrennung (Geilfuß-Wolfgang 2007) sowie Arbeiten zur Orthographiedidaktik (z. B. Augst / Dehn 2013, Lindauer / Schmellentin 2008). Flankiert werden diese wissenschaftlichen Publikationen durch zahlreiche praktische Ratgeber- und Regelbücher zur Orthographie, Streitschriften für und wider die Orthographiereform und diverse Sammelbände zu unterschiedlichen Aspekten des Schreibens. Bemerkenswert ist, dass die sprachhistorischen Aspekte in den meisten dieser Arbeiten kaum eine Rolle spielen. Forschungsüberblick: Die grundlegende Darstellung von Martin Neef (2005) weist keinerlei historische Bezüge auf, obwohl doch die vormodernen Schreibsprachen auch in theoretischer Hinsicht eine reizvolle Herausforderung für die graphematische Forschung darstellen. Die für das Verständnis des Funktionierens schreibsprachlicher Systeme grundlegenden Arbeiten von Wolfgang Fleischer, Gerhard Kettmann, Hans Moser, Elvira Glaser, Arend Mihm oder Anja Voeste bleiben hier wie auch in den Studienbüchern von Altmann / Ziegenhain (2010), Ossner (2010), Staffeldt (2010), Fuhrhop / Peters (2013), Fuhrhop (2015), Karg (2015), Dürscheid (2016) und Dahmen / Weth (2018) unberücksichtigt - die Historische Graphematik als etablierte Teildisziplin der Sprachgeschichtsforschung wird von der synchron-gegenwartssprachlich ausgerichteten Graphematik- und Orthographieforschung vollständig ausgeblendet. Die historischen Bezüge beschränken sich somit auf ein Minimum. Altmann / Ziegenhain (2010, 130-134) befassen sich in sehr komprimierter Form mit der „Entwicklung der deutschen Schreibkonventionen“, etwa der <?page no="32"?> 32 3. Eigenschaften schriftsprachlicher Kommunikation Übernahme des lateinischen Alphabets, dem Fehlen einer „einheitliche[n] Schreibform“ und der Schreibvarianz im Mittelhochdeutschen, der Herausbildung der Umlautkennzeichnung und dem Konservativismus der Schreibung (wie z. B. bei dem Graphem <ie>). In Dürscheids Handbuch zur „Schriftlinguistik“ findet sich nur ein Kapitel zur Schriftgeschichte (Dürscheid 2016, 99-126), während der graphematische Wandel von Schreibsystemen unberücksichtigt bleibt. Im Kapitel zur Orthographie gibt es nur einen sehr kurzen und allgemeinen Abschnitt über die Einführung der Majuskelschreibung und die Probleme bei der Adaption des lateinischen Buchstabeninventars (ebd., 168), mit dem knappen Hinweis: „Verbindliche Anweisungen zum Umgang mit diesen Problemen gab es nicht, die Auswahl aus dem Inventar an Schriftzeichen war weitgehend dem Schreiber überlassen“ (ebd.). Bei Fuhrhop (2015, 4) wird die „Erforschung der Schreibung“ in der historischen Sprachwissenschaft in nur neun Zeilen abgehandelt, bei Karg (2015, 123) bezieht sich eine halbe Seite (von 140 Seiten) auf historische Aspekte (die Übernahme des lateinischen Alphabets zur Verschriftung der Vulgärsprachen), bei Ossner (2010, 24) gibt es einen kurzen Abschnitt zur Entstehung der Umlautkennzeichnung im 15. bis 17. Jahrhundert, während sein Kapitel „Kurze Geschichte der deutschen Orthographie und ihrer Reformen“ (ebd., 46-54) erst mit den Entwicklungen im 19. Jahrhundert einsetzt. Fuhrhop / Peters (2013, 189) bieten nur einen kurzen Abschnitt über die Frakturschrift, aber keine Ausführungen zur Schreibsprachgeschichte. Auch die Arbeitsbücher von Staffeldt (2010) und Dahmen / Weth (2018) weisen keine schreibsprachhistorischen Bezüge auf. Eine Ausnahme bildet unter den neueren Darstellungen lediglich das von Dieter Nerius herausgegebene Handbuch zur deutschen Orthographie, in dem sich ein ausführlicher „orthographiegeschichtlicher Abriss“ findet (Nerius 2007, 287-350), wobei sich 44 Seiten (Kap. 7.1 bis 7.2) auf den Zeitraum vom 9. bis 18. Jahrhundert beziehen (ebd., 287-331). Unter den Studienbüchern zur Graphematik und Orthographie des Deutschen findet sich hier also die bei weitem gründlichste und fundierteste Darstellung. Dies erklärt sich allerdings dadurch, dass die relevanten Kapitel von Sprachhistorikern verfasst wurden, die selbst an der Durchführung historisch-graphematischer Projekte beteiligt waren (Kap. 7.1: Rolf Bergmann, Kap. 7.2: Claudine Moulin). Somit ändert letztlich auch dieser Band nichts an dem Gesamteindruck, dass die historisch ausgerichtete Graphematik von der synchron arbeitenden Schriftlinguistik und Orthographieforschung kaum rezipiert und in den Studienbüchern für den akademischen Unterricht weitgehend ausgeklammert wird. <?page no="33"?> 33 3. Eigenschaften schriftsprachlicher Kommunikation Die Erfindung der Schrift ist zweifellos eine der wichtigsten Errungenschaften der menschlichen Zivilisation. Das gesprochene Wort ist flüchtig und erlaubt nur in begrenztem Maße die Weitergabe und längerfristige Bewahrung von Wissen. Zwar wurden seit jeher auch in rein oralen Kulturen Mythen, Märchen, Legenden oder epische Erzählstoffe ebenso wie alltägliche Wissensinhalte von Generation zu Generation weitergereicht. Mit dem Medium der Schrift wurde jedoch eine neue Art der Tradierung von Wissen etabliert, die eine weitgehende Entkopplung von zeitlichen und räumlichen Beschränkungen beinhaltete und damit ganz neue Formen der Weltwahrnehmung und Erkenntnis möglich machte. Mit der Schrift wurde eine neue, im Vergleich zum mündlichen Gespräch weniger direkte, zugleich aber explizitere Form der Kommunikation begründet, die mit dem Begriff der „konzeptionellen Schriftlichkeit“ bezeichnet wird. In diesem Kapitel sollen diese Neuerungen auf Grundlage der Erkenntnisse der Schriftlichkeitsforschung zusammengefasst und in ihrer Relevanz für die Historische Graphematik diskutiert werden. 3.1. Generationenübergreifende Tradierung von Wissen Mündliche Überlieferung setzt eine ununterbrochene Kette der intergenerationellen Weitergabe voraus, da jede Unterbrechung sofort einen Verlust des überkommenen Wissens bedeuten würde. Dagegen ermöglicht die Schrift eine Rezeption von Wissensinhalten auch über lange Zeiträume hinweg, ohne dass eine kontinuierliche Weitergabe notwendig wäre. Die Bedeutung der Überlieferungskontinuität in der Mündlichkeit lässt sich anhand der Tradierung von Geschichten im eigenen Verwandtenkreis veranschaulichen. Von den Geschehnissen, die von den Eltern, Onkeln und Tanten oder Großeltern bei Familienfeiern erzählt werden, wird nur ein kleiner Teil aktiv rezipiert und memoriert, und nur ein Bruchteil dessen wird wiederum an die eigenen Kinder oder Enkel weitergegeben. Daher ist es in der Regel so, dass wir sehr viel mehr über Geschehnisse aus dem Leben der eigenen Eltern wissen als über das der Groß- oder Urgroßeltern und dass über die davorliegenden Generationen häufig gar keine Erzählungen mehr existieren. Die innerfamiliären „Stoffe“ gehen somit im Zuge der mündlichen Weitergabe allmählich verloren. Diese Art der intergenerationellen Überlieferung verläuft linear; präsent sind jeweils nur die Geschehnisse aus den zwei oder vielleicht drei unmittelbar vorangehenden Generationen. Informationen über weiter zurückliegende Generationen erhalten wir, wenn überhaupt, nur aus zweiter oder dritter Hand, da sie nur indirekt über Erzählungen von Angehörigen späterer Generationen vermittelt werden-- die ursprünglichen Erzählungen werden dabei in vielfacher Weise modifiziert. All dies ändert sich, sobald Inhalte schriftlich festgehalten werden. Schriftliche Aufzeichnungen überdauern die Zeit und können dementsprechend generationenübergreifend rezipiert werden. Schriftlichkeit macht somit sprachliche Äußerungen aus verschiedenen Entwicklungsstadien gleichzeitig verfügbar-- der Brief eines Vorfahren, der in den napoleonischen Kriegen gekämpft hat, kann auch dann noch gelesen werden, wenn sich mehrere dazwi- <?page no="34"?> 34 3. Eigenschaften schriftsprachlicher Kommunikation schenliegende Generationen von Verwandten nicht dafür interessiert haben, vorausgesetzt, der Datenträger wurde nicht physisch zerstört und die damalige Sprache und Schrift kann noch verstanden werden. Schrifttexte des 13., 17. und 21. Jahrhunderts können also parallel rezipiert werden. An die Stelle der linearen Abfolge (im Falle der mündlichen Überlieferung) tritt eine Synchronizität von Inhalten und Formen aus unterschiedlichen Zeitstufen, die wie in einem Tableau vor uns liegen und zueinander ins Verhältnis gesetzt werden können. Es findet, wie Wilhelm Köller (1988, 157) es ausdrückt, eine „Transponierung der Sprache von der Ebene der Zeit auf die Ebene des Raumes“ statt. Hierdurch wird es möglich, die Sprache „immer wieder neu wahrzunehmen, weil sie nun nicht mehr spurlos verhallt“ (ebd.). Die Verräumlichung und Versinnlichung der Sprache versetzt uns in die Lage, z. B. mehrere Fassungen des Vaterunsers aus unterschiedlichen Epochen miteinander zu vergleichen, wodurch erst sichtbar und analysierbar wird, was ansonsten verborgen bleibt, nämlich der diachrone Wandel. Die zunächst nur auf die rein materielle Dimension bezogene Beobachtung, dass wir den Wandel der deutschen Sprache vom 8. bis zum späten 19. Jahrhundert aus schriftlichen Quellen rekonstruieren müssen, weil es vor 1877 keine Möglichkeiten der Tonaufzeichnung gab, lässt sich damit um einen entscheidenden Punkt ergänzen: Aus der Tatsache, dass wir Texte aus verschiedenen Epochen buchstäblich nebeneinanderlegen und miteinander vergleichen können, ergeben sich für die Sprachgeschichtsforschung ganz neue Einsichten. Erst hierdurch wird es möglich, zu beobachten, in welchem Maße sich die Sprache verändert, dass sich dieser Wandel unaufhörlich fortsetzt und dass es niemals eine Epoche gab, in der eine „ursprüngliche“ Sprachform existierte. Die Schrift war somit eine kulturelle Neuerung, die die Wahrnehmung der Welt und damit auch des Objekts Sprache nachhaltig beeinflusste und eine neue Sicht auf deren historischen Wandel ermöglichte. Nur im Medium der Schrift lassen sich sprachliche Veränderungen in ihrem Verlauf präzise erfassen und interpretieren. 3.2. Entgrenzung des Raums Die Erfindung der Schrift hatte darüber hinaus aber auch Auswirkungen auf unsere Raumwahrnehmung. Mündliche Kommunikation hat-- wenn wir von den technisch vermittelten Kommunikationsformen der Gegenwart (Skype, WhatsApp-Sprachnachricht, YouTube usw.) und jüngeren Vergangenheit (Telefon, Radio) einmal absehen-- eine äußerst begrenzte Reichweite. Die menschliche Stimme trägt ohne technische Verstärkung nur über 100 bis maximal 200 Meter (vgl. die detaillierten Berechnungen von Aschoff 1984, 16-18). Ein Redner kann somit auf direktem Wege nur eine geringe Anzahl von Menschen erreichen. Dementsprechend fand Kommunikation über Jahrhunderte hinweg im engsten Umfeld statt, und aufgrund ihrer geringen Mobilität kamen breite Bevölkerungsschichten kaum mit der Sprechweise von Menschen anderer Regionen in Berührung. Die Schrift ist auch in dieser Hinsicht ein wichtiges Transportmittel, nicht nur über Zeiträume, sondern auch über geographische Räume hinweg, denn sie ermöglicht einen Austausch zwischen räumlich distanten Kulturen. Die Entstehung einer komplexen Wissenskultur ist ohne Schrift nicht denkbar. Die Schriftlichkeit führt „zu einer übersichtlicheren begrifflichen Strukturierung und Präzisierung des Wissens“ (Köller 2012, 382) und zur Schaffung einer „zweite[n] Erfahrungswelt des Menschen neben <?page no="35"?> 35 3.3. Konzeptionelle Schriftlichkeit dem Wissen, das aus der ersten, sinnlich fassbaren Erfahrungswelt stammt“ (ebd., 381). Solche weitgehend schriftlich konstituierten, von räumlichen und zeitlichen Beschränkungen losgelösten „Textwelten“ (ebd.) finden wir z. B. im Bereich der Wissenschaften. So basiert unser heutiges Verständnis von Wissenschaft auf dem Postulat einer im Prinzip uneingeschränkten Zugänglichkeit von Wissensinhalten aller Epochen und Räume. Wer etwa einen Fachaufsatz über Aminosäuren schreibt, darf einen für das Thema wichtigen Fachtext nicht mit der Begründung übergehen, man habe diesen aufgrund seines Alters oder der Entlegenheit des Druckortes nicht benutzen können. Über das Medium der Schrift werden globale (und historische) Wissensbestände vernetzt, die in oralen Kulturen nicht miteinander in Berührung gekommen wären. Schriftkultur ermöglicht so den Aufbau komplexer Wissensnetze. 3.3. Konzeptionelle Schriftlichkeit Dieser höhere Grad an kognitiver Komplexität geht wiederum mit einer größeren Komplexität auch auf der Seite der sprachlichen Repräsentation, der Ausdrucksseite einher. Wie die Schriftlichkeitsforschung der letzten Jahrzehnte herausgearbeitet hat, weisen schriftliche Texte im Vergleich zu mündlichen eine komplexere Syntax und einen reicheren Wortschatz auf. Dies hängt zum einen mit der Unabhängigkeit der Schrift von zeitlichen und räumlichen Beschränkungen zusammen, zum anderen mit den Bedingungen, unter denen schriftliche Texte im Vergleich zu mündlichen Äußerungen produziert und rezipiert werden. Schrift kann zeitliche und räumliche Distanzen überwinden. Dies kann aber nur dann funktionieren, wenn in den Texten selbst all diejenigen Informationen enkodiert werden, die sich in einer Face-to-face-Kommunikation bereits aus dem situativen Kontext ergeben und dort nicht versprachlicht werden müssen. Aufgrund der Situationsentbindung müssen schriftliche Texte also in Hinblick auf die kontextuelle Verankerung des Geschehens grundsätzlich expliziter sein als mündliche; es ergeben sich „höhere Anforderungen an die semantische Klarheit, die situationsabstrakte Vollständigkeit und die intersubjektive Verständlichkeit sprachlicher Sinneinheiten“ (Köller 1988, 155). Wenn jemand ein Gespräch mit den Worten einleitet: „Gestern ist mir gleich hier um die Ecke, nur zwei Straßen weiter, etwas Erstaunliches passiert …“, dann verfügt der Zuhörer schon aufgrund des situativen Kontextes, in dem sich beide Gesprächspartner befinden, über einige grundlegende Informationen zu der erzählten Geschichte: Da er den Erzähler sieht, weiß er, wer mit „ich“ gemeint ist; aus dem Zeitpunkt, an dem ihm die Geschichte erzählt wird, kann er ableiten, auf welchen Tag sich das deiktische Adverb „gestern“ bezieht; da er sich mit dem Erzähler im selben Raum befindet, weiß er auch, wie der Verweis „hier um die Ecke … zwei Straßen weiter“ zu verstehen ist. Würde dieselbe Geschichte in einem Brief mitgeteilt, müssten alle diese Informationen explizit versprachlicht werden, etwa durch die namentliche Nennung des Briefeschreibers auf dem Couvert, durch Angabe eines Datums und durch Angabe des Ortes, an dem sich der Erzähler zum Zeitpunkt des Geschehens befand. <?page no="36"?> 36 3. Eigenschaften schriftsprachlicher Kommunikation Für die Unterschiede in der Gestalt schriftlicher und mündlicher Kommunikationsformen sind darüber hinaus auch die kognitiven Rahmenbedingungen des Sprechens und Schreibens bzw. Hörens und Lesens von Bedeutung. Sprechen besteht typischerweise in der spontanen, situationseingebetteten Produktion von Äußerungen, die an ein anwesendes Gegenüber gerichtet sind. Hierbei sind sowohl der Sprachproduktion als auch der Rezeption des Gehörten durch die beschränkte Kapazität des menschlichen Gedächtnisses enge Grenzen gesetzt. Eine Lautkette kann nur bis zu einer Länge von ca. zwei Sekunden gespeichert werden, dementsprechend sind mündliche Äußerungseinheiten etwa zwei bis drei Sekunden lang (vgl. Schwitalla 2006, 27-29). Dies hat unmittelbare Konsequenzen etwa für den Bereich der Syntax. Schachtelsätze, wie sie in juristischen Texten vorkommen, oder komplexe, sich über eine halbe Buchseite erstreckende Satzgefüge, wie wir sie aus Thomas Manns Romanen kennen, sind in der gesprochenen Sprache kaum denkbar. Im Medium der Schrift gibt es solche Begrenzungen nicht, denn beim Schreiben kann der Prozess des Formulierens, also die Suche nach den richtigen Wörtern, die Konstruktion komplexer Satzeinheiten und deren Verknüpfung im Sinne des Gedankengangs, in Ruhe und mit sorgfältiger Überlegung erfolgen. Bereits Geschriebenes kann zudem wieder ausgestrichen und korrigiert oder reformuliert werden. Die Leserin oder der Leser wiederum kann einen komplexen Schrifttext unabhängig von zeitlichen oder gedächtniskapazitären Begrenzungen mehrfach studieren und analysieren, bis er verstanden wurde. Diesen Besonderheiten gesprochener und geschriebener Sprache, die sich aus den situativen Gegebenheiten und den psychologisch-kognitiven Rahmenbedingungen der Kommunikation ergeben, wird in der Forschung mit der Unterscheidung von „konzeptioneller Schriftlichkeit“ vs. „konzeptioneller Mündlichkeit“ Rechnung getragen (vgl. Schwitalla 2006, 20-23, nach Söll 1985, 17-30). Diese Unterscheidung stimmt nicht überein mit der zwischen medial schriftlicher (=-über visuelle Reize vermittelter) und medial mündlicher (=-über auditive Kanäle, also Schallwellen vermittelter) Kommunikation. Konzeptionell schriftliche Texte können auch im Medium der Mündlichkeit auftreten. So weisen z. B. wissenschaftliche Vorträge, die mündlich gehalten werden, häufig Merkmale konzeptioneller Schriftlichkeit auf (hypotaktischer Satzbau, strenge und explizite Gliederung nach Abschnitten, Fachlexik, Vermeidung regionaler oder alltagssprachlicher Lautmerkmale usw.). Zu beachten ist allerdings, dass in den meisten derartigen Fällen letztlich eine auch medial schriftliche Vorlage zugrundeliegt (Redemanuskript als Grundlage eines Vortrags, schriftliche Ausarbeitung als Grundlage eines mündlich vorgetragenen Gerichtsurteils, Roman als Vorlage bei der Dichterlesung). Dagegen tendieren Vorträge, die foliengestützt gehalten werden und auf ein Redemanuskript verzichten, dementsprechend in der Regel stärker zum Pol der konzeptionellen Mündlichkeit, mit kürzeren und flacheren Satzkonstruktionen, sprachlichen Redundanzen und Versprechern, mehr deiktischen und adressatenorientierten Elementen („Wie Sie hier sehen können-…“), mehr alltagssprachlicher Lexik und stärkeren regionalsprachlichen Anteilen. <?page no="37"?> 37 3.4. Relevanz für die Historische Graphematik 3.4. Relevanz für die Historische Graphematik Da die Graphematik nicht an der Beschreibung von Gesprächsstrukturen, Diskursen oder Wissenssystemen interessiert ist, sondern an der Analyse von schreibsprachlichen Mustern auf der Mikroebene, sind die genannten Eigenschaften der geschriebenen Sprache hier in ganz spezifischer Weise relevant. Die Eigenschaft der Schrift, große zeitliche Distanzen überbrücken zu können, führt dazu, dass die Graphematik mit historischen Schrifttexten konfrontiert wird, die eine Reihe von Fragen aufwerfen. Zwar ist es trotz der zeitlichen Distanz in der Regel möglich, die hand- oder druckschriftlichen Zeichen von Texten aus dem westeuropäischen Raum als Buchstaben zu identifizieren und durch Transkription in eine moderne, besser lesbare Form zu überführen ( - = a), und auch die Rekonstruktion der Lautbzw. Wortkontexte (a vor Nasalverbindung, a in offener Silbe usw.) und die lauthistorische Zuordnung der Graphien (<a> als Repräsentant für wgerm. a, für wgerm. ā, für wgerm. o usw.) bieten in der Regel keine größeren Probleme. Doch schon die phonische Interpretation der Graphien ist eine große Herausforderung, wissen wir doch schon aus der modernen deutschen Rechtschreibung, dass dieselbe Graphie für ganz unterschiedliche Lautwerte stehen kann, etwa <a> für langes [aː] (Sprache), für kurzes [a] (Sache), für [ɛ] (Camping), für [ɛɪ] oder [eː] (Baby), für [ɑ̃ ː] (Chance) usw. Somit ist auch bei der Interpretation von Graphien in historischen Texten mit einer Polyvalenz der Schreibungen in Hinblick auf die lautliche Realisierung zu rechnen. Dabei gilt es die eigenen Vorannahmen zu bedenken, die aus der früh erworbenen Kenntnis der deutschen Rechtschreibregeln und der meist unreflektierten Anwendung dieser Regeln in der täglichen Lektürepraxis resultieren. Jeder Leser älterer Texte neigt zunächst dazu, die ihm geläufigen Graphie-Laut-Korrespondenzen auf die historischen Schreibungen zu übertragen. Die historische Graphie <oe> würde von einem modernen deutschen Interpreten spontan vielleicht als Repräsentant von [øː] gedeutet werden, also als Ersatz für die Graphie <ö>, bekannt als Schreibweise im Kreuzworträtsel oder aus Namen wie Goethe oder Moers. Ein Niederländer oder Flame würde sie dagegen eher [uː] oder [uˑ] aussprechen, da dies nach den niederländischen Rechtschreibregeln die häufigste lautliche Entsprechung von <oe> darstellt, wie in nl. boer 'Bauer' oder boek 'Buch'. Von einem Briten wiederum würde <oe> eher als Diphthong [ou] gelesen werden, wie in toe 'Zeh' oder Joe. Die Interpretation historischer Graphien ist somit nicht unabhängig von den Deutungsschemata, die die heutigen Rezipienten mitbringen. Sich von den modernen Lesegewohnheiten, also den Graphie-Laut-Korrespondenzen der vertrauten Orthographie zu distanzieren, ist daher nicht nur ein entscheidender Schritt beim Erwerb einer modernen Fremdsprache, sondern auch beim Erlernen älterer Sprachformen. Wer die Fremdsprache Mittelhochdeutsch lernt, wird z. B. schnell darauf hingewiesen, dass das <a> in sagen kurz, das <ei> in leide geschlossen (als [ei] ) und das <h> in trahten als velarer Reibelaut [x] gesprochen werden muss. <?page no="38"?> 38 3. Eigenschaften schriftsprachlicher Kommunikation Ein weiteres methodisches Problem der Historischen Graphematik, das aus der zeitlichen Distanz zwischen der Textproduktion und der modernen Textrezeption resultiert, besteht darin, dass wir über die Entstehungskontexte und Motive des Schreibens oft nur wenig wissen. Wenn etwa ein frühneuzeitlicher Schreiber eine dialektale Form verwendet, deren Gebrauch ansonsten in seiner Kanzlei nicht üblich ist, stellt sich die Frage nach seinen Gründen oder Motiven: ▶ Ist dieser Schreiber toleranter gegenüber landschaftlichen Formen als seine Kollegen und bildet sie deshalb in der Schrift ab? ▶ Hat er ein besonders feines Gehör und nimmt im Unterschied zu den anderen solche Lautbesonderheiten besser wahr? ▶ Möchte er durch den Gebrauch solcher Formen seine Verbundenheit mit der Region zum Ausdruck bringen? ▶ Ist die betreffende Dialektform überhaupt typisch für den Schreibort, oder hat der Schreiber sie vielleicht aus der Region mitgebracht, in der er aufgewachsen ist oder vorher tätig war? ▶ Gebraucht er diese Form, weil ihm in seiner Ausbildung ein bestimmtes Graphieninventar und Schreibsystem vermittelt wurde? ▶ Hat die Schreibung einen über die dialektale Bindung hinausgehenden Symbolwert, etwa als Kennzeichen einer bestimmten Konfession? ▶ Oder handelt es sich schlicht um einen Schreibfehler? Oftmals können diese Fragen nicht eindeutig beantwortet werden, da es nur wenig Erkenntnisse über die in den Kanzleien tätigen Schreiber und ihren Werdegang, über die Lehrinhalte von Schreibschulen und über die zeitgenössische Wahrnehmung und Bewertung von Graphien gibt. In einigen Fällen liegen jedoch Informationen vor, so dass zumindest plausible Erklärungshypothesen zum Graphiengebrauch entwickelt werden können. So konnten anhand metasprachlicher Äußerungen für bestimmte Graphien konfessionelle Symbolwerte nachgewiesen werden (Kap. 6.2.5). In Hinblick auf das Verhalten von Kanzleischreibern konnte Friedrich Hefele (1955) zeigen, dass einige Stadtsekretäre der Freiburger Kanzlei typische Merkmale ihrer Heimatregion in die Schreibsprache ihrer neuen Kanzlei importierten; in anderen Fällen ließ sich nachweisen, dass sich Schreiber am Schreibusus ihrer Amtsvorgänger orientieren (Kap. 5.3), ein Beispiel für die konservierende Tendenz des Mediums Schrift, die auch hier eine generationenübergreifende Kontinuität ermöglicht. Die räumliche Entgrenzung wird auf graphematischer Ebene vor allem daran sichtbar, dass wir bei der Analyse historischer Schreibsprachen permanent mit dem Nebeneinander regional gebundener Graphien konfrontiert sind. Grundsätzlich kann man seit dem Beginn der volkssprachlichen Überlieferung im 8. Jahrhundert mehrere parallele Schreibtraditionen ausmachen, die aufgrund ihrer regionalen Verankerung und des Auftretens typischer Dialektmerkmale auch als „Schreibdialekte“ bezeichnet werden. Der althochdeutsche Katechismus des späten 8. Jahrhunderts aus dem Kloster St. Gallen weist Schreibformen auf, die dem Alemannischen zugeordnet werden können, da man sie als Reflexe von Aussprachebesonderheiten deuten kann, wie sie auch für die Mundarten des heutigen alemannischen Dialek- <?page no="39"?> 39 3.4. Relevanz für die Historische Graphematik traumes charakteristisch sind. Diese Schreibdialekte waren aber nicht streng voneinander isoliert, sondern standen offenbar schon früh in Kontakt zueinander, wie man daran ablesen kann, dass in manchen Texten Graphien auftreten, die in deren Entstehungsgebiet eigentlich nicht erwartbar wären. Ein bekannter Fall einer parallelen Verwendung von Graphien unterschiedlicher regionaler Provenienz sind die sogenannten „fränkischen“ Graphien, die in dem in altniederdeutscher (altsächsischer) Sprache verfassten Bibelepos „Heliand“ vorkommen. Üblicherweise weisen die altsächsischen Handschriften für die historischen Bezugslaute wgerm. ō und ē die für das Niederdeutsche typischen Graphien <o> bzw. <e> auf (wie in bok 'Buch', bref 'Brief'). In einigen Heliand-Handschriften treten jedoch Graphien wie <uo> oder <ie> auf, die eigentlich für den hochdeutschen Sprachraum charakteristisch sind (buok, brief, vgl. Gallée 1993, 64 f., 66-68). Hier hat es offensichtlich einen Kontakt zu südlichen Schreibtraditionen gegeben. Den umgekehrten Fall finden wir in dem meist als „althochdeutsch“ eingestuften „Hildebrandslied“, das schon zu Beginn des ersten Verses („Ik gihorta dat seggen …“) einen deutlichen Einfluss norddeutscher Schreibtraditionen erkennen lässt, denn bei ik, dat und seggen handelt es sich um typisch altsächsische Sprachmerkmale (vgl. Düwel / Ruge 2013, 177 f.). Auch bei der räumlichen Ausbreitung schreibsprachlicher Neuerungen wie den frühneuhochdeutschen Diphthongschreibungen für historische Langvokale (hūs > haus, zīt > zeit) handelt es sich um ein Beispiel für die Ausbreitung ursprünglich regional begrenzter Graphien (vgl. Hartweg / Wegera 2005, 134-136; Besch / Wolf 2009, 310-314). Die Beispiele zeugen von frühen und bis ins 16. Jahrhundert hinein stattfindenden „Graphienwanderungen“ über Dialektgrenzen hinweg. An der Peripherie des deutschsprachigen Raumes lassen sich sogar sprachgrenzenüberschreitende Graphienentlehnungen beobachten. Dazu zählen z. B. die aus dem skandinavischen Raum stammenden Schreibungen <ø> und <y> für die Umlaute von o und u (søne 'Söhne', stycke 'Stücke') in frühen mittelniederdeutschen Texten aus Kiel, Hamburg und Wismar (vgl. Crull 1877; Lasch 1914, 41 f.). Auch die im ripuarischen Raum gebräuchlichen Graphien mit <-i> oder <-y> als Zweitkomponente (boik 'Buch', rayt 'Rat') lassen sich mit einiger Wahrscheinlichkeit als Importschreibungen interpretieren, die in diesem Falle aus den benachbarten französischen Schreibsprachen entlehnt sein dürften (vgl. Mihm 1999c, 164-177). In den Schreibsprachen des Niederrheins wiederum treten im 17. und 18. Jahrhundert vokalische Graphienverdopplungen wie <oo> (boom 'Baum'), h-anlautende Pronomen (het 'es', haer 'ihr') und auf l-Vokalisierung hindeutende Graphien (houden 'halten', hout 'Holz') auf, die aus einer niederländischen Schreibtradition stammen (Elmentaler/ Mihm 2006, 60-64). Wenn hier die Metapher der „Graphienwanderung“ gebraucht wird, soll damit natürlich nicht zum Ausdruck gebracht werden, dass die für die Ausbreitung dieser Schreibweisen notwendige Aktivität bei den Graphien selbst läge. Sprachliche Einheiten können nicht „wandern“, genauso wie etwa Anglizismen nicht von sich aus in den deutschen Wortschatz „hineinströmen“ können, wie es die metaphorische Redeweise vom „Einfluss“ des Englischen oder von der „Anglizismenflut“ suggeriert. Vielmehr <?page no="40"?> 40 3. Eigenschaften schriftsprachlicher Kommunikation sind es die Mitglieder einer regionalen Sprechergemeinschaft bzw.- - im Falle der historischen Schreibsprachen-- die schreibkundigen Personen, die aus bestimmten Motiven heraus Graphien anderer Regionen übernehmen. Diese Motive dürften vielfältiger Natur sein und lassen sich nur in Form mehr oder weniger plausibler Hypothesen rekonstruieren. So wurde das Vorkommen hochdeutscher Graphien im altsächsischen „Heliand“ von der Forschung teils als Versuch gedeutet, den Text durch Import prestigeträchtiger Fremdschreibungen aufzuwerten, teils aber auch als Indiz dafür, dass sich im Norden auch eine als vornehmer geltende süddeutsche Aussprache eingebürgert habe (vgl. Sanders 1982, 109-112). Die niederdeutschen Graphien im „Hildebrandslied“ wiederum wurden als Phänomen einer sprachlichen Überschichtung „infolge einer Wanderung des Texts von Süden- […] nach Norden, ins ndt. Missionsgebiet Fuldas“ gedeutet, wobei der Text auf diesem Wege möglicherweise „dialektale Merkmale der verschiedenen Durchzugsgebiete aufgenommen“ habe (Schlosser 2004, 193). In Kölner Ratsbriefen des 15. Jahrhunderts werden allochthone Graphien verwendet, um den Adressaten ein sprachliches Entgegenkommen zu signalisieren (vgl. Möller 1998). Letztlich handelt es sich bei diesen kontaktbedingten Sprachmischungen um ähnliche Vorgänge, wie wir sie heute vor allem im Wortschatz kennen, z. B. von der Ausbreitung der süddeutschen Partikel halt (vs. norddeutsch eben) und der Substantive Orange und Samstag (vs. norddeutsch Apfelsine, Sonnabend) in den norddeutschen Umgangssprachen (vgl. die entsprechenden Karten im „Atlas zur deutschen Alltagssprache“, Elspaß/ Möller 2003 ff.) oder der Übernahme bundesdeutschen Wortschatzes in Österreich (vgl. Wiesinger 2014, 197-218). Auch im lautlichen Bereich gibt es regionenübergreifende Kontaktphänomene, wie etwa die Verbreitung der norddeutschen Variante nich 'nicht' im deutschen Südwesten statt des dort traditionellen ned / et / it (vgl. Spiekermann 2008, 75-77, 81 f.). Auf der Ebene der Schreibung können solche überregionalen Ausgleichsprozesse wegen der Standardisierung der Orthographie heute nur noch in Ausnahmefällen stattfinden. Dagegen war es in der vormodernen Zeit, in der es noch keine verbindlichen Rechtschreibregeln gab, der einzelne Schreiber (bzw. ab dem 15. Jahrhundert auch der Drucker, Setzer oder Korrektor), der die Entscheidung traf, bei der schriftlichen Repräsentation eines Wortes auf eine eingeführte Form zurückzugreifen und damit die Tradition des Schreibdialekts fortzusetzen oder aber der regionalen Entwicklung durch die Übernahme allochthoner Graphien neue Impulse zu geben. Die Emanzipation der Schrift von zeitlichen und räumlichen Beschränkungen ist somit auch auf der Mikroebene der Graphematik wirksam. Zugleich wird auch der Erkenntniszuwachs sichtbar, der sich aus der Möglichkeit des synchronen Vergleichs von älteren und jüngeren Schriftzeugnissen oder des Vergleichs von Texten unterschiedlicher regionaler Provenienz ergibt. Schon aus den Äußerungen der frühen Grammatiker wird ersichtlich, dass diese sich der Verantwortung bewusst waren, sich gegenüber graphematischen Traditionen und Schreibkonventionen anderer Sprachlandschaften zu positionieren. Man kann annehmen, dass ein solches Problembewusstsein der Schreiber auch schon im 14. und 15. Jahrhundert vorhanden war, auch wenn von ihnen keine Stellungnahmen zu ihrer Einschätzung historischer oder allochthoner Graphien überliefert sind. Dass zumindest professionelle Schreiber eine sehr genaue Kenntnis alternativer Schreibkonventionen und Graphien gehabt haben müssen, ist aufgrund mehrerer Indizien als sicher anzunehmen. Zum einen gehörte <?page no="41"?> 41 3.4. Relevanz für die Historische Graphematik eine mindestens passive Kompetenz regionaler Schreibsprachen zum Anforderungsprofil damaliger Berufsschreiber, zum anderen wissen wir, dass Schreiber damals häufiger ihren Wirkungsort gewechselt haben (Kap. 5.1). Schon aufgrund dieser Mobilität muss davon ausgegangen werden, dass sie mit dem Schreibusus mehrerer Regionen vertraut waren. Schließlich zeugt auch das Nebeneinander von Graphien unterschiedlicher Provenienz innerhalb derselben Kanzlei davon, dass professionelle Schreiber mit mehreren regionalen Schreibtraditionen vertraut waren. Wenn aber eine so breite Kenntnis verschiedener schreibsprachlicher Traditionen vorhanden war, dann bedeutete die Entscheidung für eine bestimmte Graphie zugleich auch eine Entscheidung gegen eine andere. Wenn z. B. einige kursächsische Kanzleischreiber ab dem zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts vermehrt oberdeutsche Schreibformen gebrauchten, wie etwa <kh> statt <k>, <gk> statt <g> oder nun statt nu (vgl. Kettmann 1967, 303), so dürften diese Abweichungen vom traditionellen ostmitteldeutschen Schreibusus von den Zeitgenossen sicherlich als progressives Verhalten bewertet worden sein. Vor diesem Hintergrund war das Schreiben wohl niemals ein naiver oder unreflektierter Vorgang- - Graphien sind in nicht-normierten Schreibsystemen immer potenziell mit „Bedeutung“ aufgeladen. Wie nun kommen die kognitiven und situativen Rahmenbedingungen des Schreibens, die auf der Ebene der Syntax komplexere Strukturen begünstigen, in der Graphematik zum Tragen? Was bedeutet „konzeptionelle Schriftlichkeit“ auf der Ebene der Graphien? Ein Vergleich von zwei frühneuniederdeutschen Texten aus dem 17. Jahrhundert mag veranschaulichen, dass die für die Schriftsyntax konstatierte Tendenz zur größeren Explizitheit auch im graphematischen Bereich beobachtet werden kann. Bei dem ersten Text, „Van Kunst der Leeue“ (1610), einer niederdeutschen Bearbeitung von Ovids „Ars amatoria“ (Abb. 5), handelt es sich um ein Beispiel für konzeptionelle Schriftlichkeit, mit recht komplexem Satzbau, Substantivierungen von Verben (dat vorlangen, dat Begeren, dat redent), komplexen Ableitungen auf -nis, -heit und -keit (Vorlo ͤ ffnu ͤ sse, Gelegenheit, Geschickligkeit) und einem von der Alltagssprache abweichenden Wortschatz und Stil (begehr, desu ͤ luige, gnade erlangen). Aber auch auf der graphematischen Ebene ist das Fehlen typischer Merkmale gesprochener Sprache zu konstatieren. Es gibt keine Wiedergaben von Kontraktionen oder Assimilationen, Synkopen oder Apokopen, wie sie für die Mündlichkeit charakteristisch sind; die Vollformen der Lexeme sind vielmehr explizit erhalten (wor se, mo ͤ tet se, dat ydt ohne Kontraktion; funden ohne Assimilation von -nd-; schniden, gnade, redent ohne Tilgung des -d-; hebbet, folget ohne Schwa-Synkope; Leeue, Lehre ohne Schwa-Apokope). <?page no="42"?> 42 3. Eigenschaften schriftsprachlicher Kommunikation Van Kunst der Leeue (Hamburg 1610) Wo men sick holden schal, na dem men ein Leeff gewunnen hefft, vnd mit er vp ener Hochtydt, Vorlo ͤ ffnu ͤ sse edder Gasterey is, vnde wo men er syne Leeue vpdecken schal. Cap. VI . NA dem gy (O junge gesellen) eine Junckfruw funden hebbet, na yuwes Herten begehr vnde Sinne, so folget myner Lehre, vnd Cupido dat Fu ͤ er in yuw ansticket, also dat gy groth vorlangen vnde begehren hebt, desu ͤ luige enmahl anthospreken, so nemet flitich war, wor se wanhafftich ys, ghat offtmals darsu ͤ luest vorauer, so werdet gy se genoechsam na yuwen Begeren anschowen. Auerst wo gy vp ener Hochtydt edder Maltydt thosamen kamet, dar hebbe gy alse denn gude Gelegenheit na yuwen begeren se anthospreken: Must den flitich syn in allen tho denen vnd vorthoschniden, settet yuw ock glick neuen se, edder jegen se auer. Darmit gy dorch yuwe Geschickligkeit vnnde Beleuetheit gnade mo ͤ get erlangen, mo ͤ tet se ock bewylen na dingen fragen, welcke yuw wol bekant syn, Wordorch gy den mit er int redent kamet, mo ͤ thet ock alltydt Lauen dat jennige wat er angenem ys, wo ferne yuw du ͤ ncket dat ydt rathsam sy. Von der Kunst der Liebe Wie man sich verhalten soll, nachdem man eine Liebste auserwählt („gewonnen“) hat und mit ihr auf einer Hochzeit, Verlobung oder einem Gastmahl ist, und wie man ihr seine Liebe offenbaren („aufdecken“) soll. Kap. 6. Nachdem ihr (O junge Burschen) eine Jungfrau gefunden habt, nach eures Herzens Wunsch und Neigung, dann folgt meiner Lehre, und wenn Cupido das Feuer in euch angesteckt hat, so dass ihr großes Verlangen und das Bedürfnis habt, sie („dieselbe“) einmal anzusprechen, dann achtet gut darauf („nehmt fleißig wahr“), wo sie wohnt, geht oft dort („daselbst“) vorüber, dann werdet ihr sie zur Genüge nach eurem Wunsch anschauen können. Aber falls ihr auf einer Hochzeit oder bei einem Festmahl zusammenkommt, da habt ihr dann („alsdann“) gute Gelegenheit, sie nach eurem Wunsch anzusprechen: Ihr müsst euch dann bemühen („fleißig sein“), ihr in allem zu dienen und [die Speisen] vorzuschneiden; setzt euch auch gleich neben sie oder ihr gegenüber. Damit ihr durch eure Geschicklichkeit und Beliebtheit Gnade erlangen mögt, müsst ihr sie auch bisweilen nach Dingen fragen, die euch wohlbekannt sind, wodurch ihr dann mit ihr ins Reden kommt; musst auch immer dasjenige loben, was ihr gefällt, sofern es euch ratsam erscheint. Abb. 5: Niederdeutscher Ratgebertext für Liebende (nach Meier / Möhn 2008, 324) Ganz anders in dem zweiten Textbeispiel, einem Auszug aus der seinerzeit recht populären Bauernkomödie „Teweschen Hochtiet“ (1640) in nordniederdeutscher Sprache (Abb. 6). In dem ausgewählten Textauszug hält der aus dem dörflichen Umfeld Hamburgs stammende Bauernsohn Tewes eine Minnerede auf die Nachbarstochter Wummel. Insbesondere die letzte Passage dürfte als Persiflage der petrarkistischen Dichtung zu lesen sein. Der ungebildete Tewes beschreibt die Vorzüge seiner Angebeteten nicht, wie in der Barocklyrik üblich, durch <?page no="43"?> 43 3.4. Relevanz für die Historische Graphematik Vergleiche mit Gold, Korallen oder Rubinen, sondern greift hierfür auf Motive aus der bäuerlichen Lebenswelt zurück (Haar wie Haut auf der Grütze, Nase schmal wie ein Gänseschnabel, Leib weich wie ein fettes Huhn, Augen wie Lichter der Stallleuchte usw.). Dazu passend wird auch die Sprache des Protagonisten von dem unbekannten Verfasser des Schauspiels gekonnt als gesprochener Alltagsdialekt stilisiert. Das macht sich z. B. im Wortschatz in der Wahl alltagssprachlicher bis derber Ausdrücke (hinterstelle, Paege), Redewendungen (mynes Buecks weergainge, stickt meck en de Ogen, all myn liuesche Leuedage, vnbegrepen assen Stavendo ͤ hr), Flüche (Wum ̅ en sapsdreck) und Kosenamen (suckerpopke, schnoterlotcken) bemerkbar. Auf der graphematischen Ebene ist der Gebrauch von Schreibungen festzustellen, die eine stark markierte dialektale Mündlichkeit symbolisieren. Hierzu zählen Kennzeichnungen von Dentaltilgungen (weergainge statt wedder gadinge 'Gegenstück', roen statt roden 'roten'), Assimilationen (Hanne statt Hande 'Hände', balle statt balde 'bald'), Pronominal-Enklisen (khebr statt ik heb dor 'ich habe da', wenck statt wenn ick 'wenn ich', kmot statt ick mot 'ich muss', khaet statt ick ha et 'ich hatte es') und Artikel-Enklisen (son 'so ein', inr 'in der', mitm 'mit dem', vanr 'von der', vmmet 'um das'). Der Text weist somit auch auf der Mikroebene des Schreibens zahlreiche Merkmale konzeptioneller Mündlichkeit auf. Es ist kein Zufall, dass eine so starke Verdichtung von schreibsprachlichen Formen, die Mündlichkeit konnotieren, hier in einem Schauspiel auftritt, in dem es darum geht, die Unbildung der bäuerlichen Bevölkerung zu demonstrieren. Der Autor arbeitet hier mit einem zweifachen Kontrast, einerseits zum Hochdeutschen (das von einer im Stück ebenfalls auftretenden Schreiberfigur leidlich beherrscht wird), andererseits zum klassischen Mittelniederdeutschen, das eine relativ große Distanz zur dialektalen Mündlichkeit aufwies. Tatsächlich ist der Großteil der überlieferten Texte des 8. bis 17. Jahrhunderts dem Bereich der konzeptionellen Schriftlichkeit zuzuordnen, seien es literarische Texte wie die mittelhochdeutschen Epen und der mittelniederdeutsche „Reynke de Vos“ oder pragmatische Texte wie Urkunden, Rechtssatzungen oder Chroniken. Das ist für die Historische Graphematik insofern relevant, als sich die aus den Texten rekonstruierbaren Schreibsysteme nur indirekt und mit einer gewissen Distanz auf die damaligen Lautsysteme beziehen. Auch für die vormoderne Zeit ist somit festzuhalten, dass das Schreiben eine relativ autonome Kulturtechnik war, die nicht in erster Linie darauf abzielte, das Gesprochene zu reflektieren, sondern vor allem das Textverstehen sicherstellen sollte. <?page no="44"?> 44 3. Eigenschaften schriftsprachlicher Kommunikation Teweschen Hochtiet (Hamburg 1640) Tewes: Binneck doch all 27. Jahr olt wenn de Valentiet wer kumpt / khebr ree so lange na to ͤ efet / uses Nabers Drewes syne Dochter Wummel were recht mynes Buecks weergainge / dat ys son suverck suckerpopke / de stickt meck en de Ogen / wenck inr Karrecken bin allerdeegest / vn seh se so schmuck herin gan mitm roen Rocke / so wippet meck [10] dat Harte im Lyue assen Lammerstert / kan nichts vanr preeken ho ͤ ren / kmot se man alle stees ansehen / hey wo kan se dat Munneken tehn / alle Jungens im gantzen Kaspel / sehn se so an / aß went Harsigen eer Keysers Dochter wer / Wum ̅ en sapsdreck khaet all myn liuesche Leuedage nich lo ͤ uet / dat se son starck hinterstelle ha / asse hett / assen Paege / wen gy dat segen / se het Flaschen im bussē / de weten ock wat / se su ͤ nt noch vnbegrepen / dat wetck wol / assen Stavendo ͤ hr / Gottseegens / eer haer blenckē van vern aß huet up[r] gru ͤ tte / er Hanne vn Angesicht ys so glatt assen Lemmervell / de Nese ys so schlicht asse Goeseschnabbe / vmmet Lieff ys se weeck assen vett Hoen / datm balle affstecken will / de Ogen lu ͤ chtener asse twe Liecht in vser Koh lu ͤ chten / de Munt isser roet assen tayelsteen / ey dat schnoterlotcken / dat Mu ͤ scken faltenck intm harten wol. Tewes’chens Hochzeit Tewes: Ich bin doch schon 27 Jahre alt, wenn die Fohlenzeit wiederkommt. Ich habe schon so lange darauf gewartet. Die Tochter von unserem Nachbarn Drewes, Wummel, wäre mein genaues Gegenstück. Das ist so eine schöne Zuckerpuppe, die sticht mir ins Auge. Vor allem, wenn ich in der Kirche bin und sie hereingehen sehe mit dem roten Rock, dann flattert mir [10] das Herz im Leibe wie ein Lämmerschwanz. Ich kann nichts von der Predigt hören, ich muss sie die ganze Zeit nur ansehen. Ei, wie kann sie das Mündchen verziehen! Alle Jungs im ganzen Kirchspiel sehen sie so an, als wenn sie die Tochter eines Herzogs oder Kaisers wäre. Heilige Scheiße! Ich hätte nie geglaubt, dass sie so ein starkes Hintergestell hat-- wie ein Gaul. Wenn Ihr das sehen könntet: Sie hat Kürbisse im Busen, die sind nicht von schlechten Eltern! Sie sind noch unberührt, das weiß ich wohl, wie die Tür zur Badstube. Gott segne sie! Ihr Haar glänzt von weitem wie Haut auf der Grütze, ihre Hände und ihr Gesicht sind so glatt wie ein Lämmerfell, die Nase ist so schmal wie ein Gänseschnabel, um den Leib ist sie so weich wie ein fettes Huhn, das man bald abstechen will, ihre Augen glänzen wie zwei Lichter in unserer Stallleuchte, ihr Mund ist rot wie ein Ziegelstein-- ei, das Schnodderlottchen, das Mäuschen gefällt mir von ganzem Herzen! Abb. 6. Liebeserklärung aus einem niederdeutschen Bauerndrama (nach Elmentaler et al. 2018, 48-51) <?page no="45"?> 45 4. Geschichte der Schriftzeichen und Schriftsysteme Die Typologie und Entwicklung der Schriftzeichen ist der zentrale Gegenstand der Paläographie und Schriftgeschichte, die Entwicklung der Druckschriften gehört zum Gegenstandsbereich einer diachron ausgerichteten Typographie. Mit dem Wandel des Schreibens als Kulturtechnik, von den Jahrhunderten des Pergaments über das Gutenberg-Zeitalter bis zu den modernen, digitalen Formen der Schriftlichkeit, beschäftigen sich vor allem die Medienwissenschaften. Dennoch ist es notwendig, auch in einer Einführung in die Historische Graphematik zumindest in Grundzügen auf diese Entwicklungen einzugehen. Denn Veränderungen in den formalen Eigenschaften der Schrift und in den technischen Bedingungen der Textproduktion können durchaus auch einen Einfluss darauf haben, welche Graphien ein Schreiber oder Drucker präferiert und wie Schrifttexte wahrgenommen werden. So hängt die Entscheidung, welche Schreibweise man wählt, zu einem Teil auch davon ab, auf welchem Beschreibungsträger der Text festgehalten wird, ob er eingeritzt oder graviert, mit dem Federkiel, mit der Schreibmaschine oder mit dem Computer geschrieben wird und in welchem Umfeld er rezipiert wird. In diesem Kapitel wird auf solche materiellen und medialen Aspekte des Schreibens eingegangen, wobei zunächst kurz die Erfindung und Entwicklung der Schrift beleuchtet wird (Kap. 4.1), um anschließend etwas detaillierter die Entwicklung alphabetischer Schriften nachzuvollziehen (Kap. 4.2). In Kap. 4.3 richtet sich der Fokus dann auf die formalen Veränderungen, denen die Buchstabenzeichen im Verlauf der Schriftgeschichte seit dem Mittelalter unterworfen waren. In Kap. 4.4 wird exemplarisch behandelt, wie sich im deutschsprachigen Raum die Zeicheninventare verändert haben, welche Schriftzeichen weggefallen oder hinzugekommen sind und worin diese Prozesse begründet liegen. In Kap. 4.5 wird dem Wandel der materiellen Gegebenheiten des Schreibens nachgegangen, bis hin zu den jüngsten Veränderungen im Zuge des Übergangs zum Schreiben und Lesen in einer digitalisierten Welt. Im Mittelpunkt steht jeweils die Frage, wie sich die beschriebenen Entwicklungen auf den Gebrauch, die Funktionalisierung und Bewertung von Graphien in den verschiedenen Epochen der deutschen Sprachgeschichte ausgewirkt haben. 4.1. Die Erfindung der Schrift Die Frage, seit wann es Schrift gibt, ist nicht leicht zu beantworten. Die Schwierigkeit wird schon daran deutlich, dass die meisten Darstellungen zur Geschichte der Schrift weit zurückblicken in die Anfänge menschlicher Kulturproduktion und es für notwendig halten, sich auch mit den steinzeitlichen Höhlenmalereien zu beschäftigen, die in die Zeit bis ca. 40 000 v. Chr. zurückreichen-- meist mit dem Ergebnis, dass es sich hierbei noch nicht um das handelt, was wir als „Schrift“ bezeichnen. Neben den bekannten Tierdarstellungen etwa aus den Höhlen von El Castillo und Altamira in Spanien oder Chauvet und Lascaux in Frankreich, die man aufgrund der Detailliertheit und erkennbar naturalistischen Darstellung klar als Bilder (und nicht als Schriftzeichen) einordnet, gibt es auch prähistorische Steinritzungen oder -zeichnungen, die in ihrer äußeren Form an Schriftzeichen erinnern. Barry B. Powell <?page no="46"?> 46 4. Geschichte der Schriftzeichen und Schriftsysteme (2009, 22) verweist in seiner Schriftgeschichte z. B. auf eine stark abstrahierte Darstellung, die über der Zeichnung eines Pferdes in der Höhle von Lascaux platziert ist und einer Heugabel ähnelt (Abb. 7). Abb. 7. Abbildung eines Pferdes mit einem abstrahierten Symbol („Heugabel“) aus der Höhle von Lascaux (ca. 20 000 v. Chr.) (nach Powell 2009, 22) Nach Powell ähnelt das heugabelartige „Symbol“ wegen seines hohen Abstraktionsgrades zwar durchaus manchen Schriftzeichen, etwa dem kyrillischen Buchstaben Scha (Ш) oder dem Silbenzeichen für / ju/ der mykenischen Linear B-Schrift. Doch wir sind nicht in der Lage, es zu lesen, da wir es nicht als Teil eines konventionellen Systems identifizieren und wir seine Bedeutung und damit seinen Informationswert oder kommunikativen Nutzen nicht erschließen können. Damit sind zwei wichtige Kriterien angesprochen, die Powell und andere Schrifttheoretiker als grundlegend für eine (weite) Definition von Schrift erachten: Schrift ist ein System von Zeichen („markings“) mit einer konventionell festgelegten Referenz, die Informationen übermitteln (nach Powell 2009, 13). Nach dieser Definition ist die prähistorische „Heugabel“-Darstellung nicht als Schriftzeichen zu deuten, da wir nicht nachweisen können, dass sie Teil eines konventionell festgelegten Systems zur Übermittlung bestimmter Informationen bzw. zur Referenz auf bestimmte Gegenstände oder Sachverhalte war. Dieser Nachweis lässt sich insbesondere deshalb nicht führen, weil die Darstellung isoliert (bzw. nur in Kombination mit einem Bild) und nicht in einer Reihung mit anderen Darstellungen von vergleichbarem Abstraktionsgrad auftritt. Es fehlt somit auch die Linearität, die als ein weiteres konstitutives Kriterium für Schrift anzusetzen ist. Peter Stein (2006, 32) ordnet solche abstrakten bildhaften Formen dementsprechend einem „nicht-linearen Graphismus“ zu, den er noch nicht als „Ursprung“ oder „Vorform“ der Schrift einstuft. In Einzelfällen kann es jedoch durchaus unterschiedliche Auffassungen darüber geben, ob überlieferte Zeichnungen oder Ritzungen als Belege für „nicht-linearen Graphismus“ oder als Belege für Schriftverwendung interpretiert werden können. <?page no="47"?> 47 4.1. Die Erfindung der Schrift Forschungsüberblick: Kontrovers diskutiert wird seit einiger Zeit die Deutung von abstrakten graphischen Zeichen, die auf Objekten der Vin č a-Kultur im Balkanraum (ca. 5300-3500 v. Chr.) eingeritzt sind. Traditionell werden diese Ritzungen als Besitzzeichen (Töpfermarken) angesehen, teils auch als Hierogramme, also als religiöse Bildzeichen, die zur Markierung sakraler Objekte dienten. Dagegen vertritt der Indogermanist Harald Haarmann, anknüpfend an die Forschungen der litauischen Archäologin und Anthropologin Marija Gimbutas, die Auffassung, dass es sich bereits um Schriftzeichen handle, da hier „der Sachverhalt des Schreibens und die Intention, Texte zu fixieren, eindeutig gegeben“ sei (Haarmann 1991, 77). Auf die Details dieser Kontroverse und die Plausibilität der von Gimbutas und Haarmann vorgebrachten Argumente kann hier nicht weiter eingegangen werden (vgl. ebd., 70-81; 2010; 2011, 191-224; kritisch dazu Mäder 2015, Forschungsüberblick bei Salomon 2013). Geht man wie sie von der Existenz einer „altbalkanischen“ Schriftsprache aus, dann wäre der Beginn der Schriftgeschichte jedenfalls bereits auf das sechste vorchristliche Jahrtausend zu datieren. Die meisten Schrifthistoriker gehen davon aus, dass sich im 4. Jahrtausend v. Chr. (etwa 3500 v. Chr.) das erste System herausgebildet hat, von dem sicher angenommen werden kann, dass es sich um „Schrift“ handelt. Hiernach lag die Wiege der europäischen Schrifttradition im südlichen Mesopotamien (heute Süd-Irak), wobei die antike Stadt Uruk (heute Warka, ca. 280 km südöstlich von Bagdad) als Fundort der ältesten Schriftzeugnisse gilt. Nach den Ergebnissen der Archäologin Denise Schmandt-Besserat, die sie seit Ende der 1970er Jahre in verschiedenen Publikationen präsentiert hat, hat sich in diesem Raum etwa ab 8000 v. Chr. ein Buchhaltungssystem auf der Basis von Tonmarken (token) entwickelt; kleinen, steinartigen Tongebilden unterschiedlicher Form, die verschiedene Arten von Gütern und Waren symbolisierten. Diese Tonmarken wurden in späterer Zeit in Tonbehältern aufbewahrt, und um erkennen zu können, welche Marken sich in welchen Kugeln befanden, wurden die Marken dort noch einmal auf der Außenfläche „als Beleg für den Inhalt abgedrückt“ (Stein 2006, 36). Hierbei entwickelte sich allmählich ein abstraktes Aufzeichnungssystem, ein Prozess, den Stein wie folgt beschreibt: „Aus dem dinglichen, dreidimensionalen ‚Dokument‘ (Tonhülle + token) entstand ein zweidimensionaler ‚Text‘ mit graphischen Zeichen, indem die token zu Zahl- und Schriftzeichen und die Hülle zur Tafel als Schriftträger wurden. Dieser Prozess war zwischen 3300 und 3100 v. Chr. abgeschlossen.“ (Stein 2006, 36) Diese archaische Schrift, die zunächst vor allem wirtschaftlichen und verwaltungstechnischen Zwecken diente, bildete den Ausgangspunkt für eine Entwicklung, die zur Herausbildung weiter entwickelter Schriftsysteme führte, wie der sumerischen Keilschrift (ab ca. 2700 v. Chr.) oder der ägyptischen Hieroglyphenschrift (ab ca. 3000 v. Chr.). Ein entscheidender Entwicklungsschritt war hierbei der Prozess der „Phonetisierung“ der Schrift. Das mesopotamische Aufzeichnungssystem war ursprünglich eines, das noch nicht in Beziehung zu der damals verwendeten Sprechsprache stand. Nach der Klassifikation von Powell (2009), in Anlehnung an die klassische Schriftgeschichte von Gelb (1952), kann man hier von einem „semasiographischen“ System sprechen, bei dem Schriftzeichen verwendet werden, die sich nicht auf <?page no="48"?> 48 4. Geschichte der Schriftzeichen und Schriftsysteme Einheiten der gesprochenen Sprache beziehen. Solche sprachunabhängigen Schriftsysteme gibt es bis heute, etwa in Form der musikalischen Notationssysteme (bezogen auf Töne und Rhythmen), der Formelsysteme aus der Mathematik (bezogen auf Zahlen und deren Relationen) oder der Systeme zur Notation menschlicher Bewegungen im Raum (z. B. bezogen auf Tanzschritte) (vgl. Powell 2009, 32-35). Als prototypische Ausprägungen von Schrift gelten heute jedoch solche Systeme, die sich auf eine gesprochene Sprache beziehen, was von Powell (2009, 3) als „Lexigraphie“ bezeichnet wird („writing attached to speech“), von anderen als „Glottographie“ (vgl. z. B. Dürscheid 2016, 101). Im Laufe der Schriftgeschichte bildete sich aus zunächst semasiographischen Schriften allmählich ein spezieller Typ der lexigraphischen Schriften heraus, nämlich die Alphabetschrift, bei der den graphischen Zeichen einzelne Lautwerte zugeordnet wurden-- die Schrift wurde „phonetisiert“. Es lassen sich drei Grundtypen lexigraphischer Schriften unterscheiden. In der logographischen Schrift repräsentiert ein Symbol ein ganzes Wort (bzw. ein Morphem) der korrespondierenden Lautsprache, etwa wie das Zeichen < ♥ > in dem Satz „I ♥ New York“ für das Verb love steht (vgl. Powell 2009, 53). Bekannte logographische Schriftsysteme sind die chinesische Schrift, die daraus abgeleitete japanische Kanji-Schrift sowie viele der ägyptischen Hieroglyphen und der Keilschriftzeichen. Im deutschen Schriftgebrauch kommen logographische Symbole (Logogramme) nur in besonderen Kontexten vor, z. B. bei Währungsangaben ($ für 'Dollar'), in Firmennamen (& für 'und' z. B. in C&A) oder bei Wörtern, die in bestimmten Textsorten regelmäßig verwendet werden (§ für 'Paragraph' in Gesetzestexten, % für 'Prozent' in Wirtschaftstexten). In syllabographischen Schriftsystemen bezeichnet das einzelne Symbol eine Silbe; so wird in der Silbenschrift der amerikanischen Cherokee das Wort ga-le-ni 'Ohr' notiert als ᎦᎴᏂ , wobei jedes Zeichen eine Silbe repräsentiert (vgl. https: / / www.cherokee.org/ About-The- Nation/ Cherokee-Language/ Dikaneisdi-Word-List). Weitere Beispiele für Silbenschriften sind die Schriftsysteme anderer nordamerikanischer Stämme (z. B. der Cree), die historische kretische Schrift Linear B und verschiedene Systeme zur Notation afrikanischer Sprachen (vgl. Haarmann 1991, 243-266) sowie die japanischen Silbenschriften Katakana und Hiragana (vgl. ebd., 394-404). Der dritte Typus lexigraphischer Schriften ist die Alphabetschrift, bei der ein Zeichen (manchmal auch eine Zeichenkombination) für einen einzelnen Laut steht. Auf der Grundlage der phönizischen Konsonantenschrift, die vom 11. bis 5. Jahrhundert v. Chr. im Gebiet des heutigen Libanon, Palästina und Syrien verwendet wurde, entwickelten sich in Europa und im Nahen Osten zahlreiche Alphabetschriften, wie z. B. die griechische, lateinische, hebräische, kyrillische und arabische Schrift, auch die äthiopische Schrift, die Runen-Alphabete und die indische Devanâgarî-Schrift. Einen interessanten Sonderfall stellt die von dieser Traditionslinie unabhängige koreanische Alphabetschrift (Hangul) dar, die 1446 eingeführt wurde und die bis dahin gebräuchliche chinesische (also logographische) Schrift weitgehend verdrängte. Eine ausführliche Darstellung dieser Schriftsysteme bietet z. B. die bereits mehrfach zitierte „Universalgeschichte der Schrift“ von Harald Haarmann (1991). <?page no="49"?> 49 4.2. Die Entwicklung der Alphabetschriften 4.2. Die Entwicklung der Alphabetschriften Der Schritt von den semasiographischen Schriften zu den Alphabetschriften wird oft als „schrifthistorische Revolution“ (Haarmann 1991, 267) bezeichnet. Damit soll vor allem der große lernökonomische Vorteil hervorgehoben werden, den Alphabetschriften gegenüber logographischen Schriftsystemen haben. Eine Schrift, deren Zeichen sich auf die Phoneme einer Sprache beziehen, benötigt idealtypisch zwischen 11 Einheiten (soviele Phoneme besitzen die Sprachen Rotokas in Papua Neu Guinea und Mura in Brasilien) und 141 Einheiten (Phoneminventar der Sprache ! Xũ in Namibia und Botswana, alle Angaben nach Crystal 1995, 165). Die meisten Sprachen weisen zwischen 20 und 40 Phoneme auf, zu deren schriftlicher Repräsentation aber in der Regel eine geringere Anzahl an Zeichen ausreicht; so werden z. B. für die Wiedergabe der 40 Phoneme des Deutschen nur 30 Buchstaben (bestehend aus dem lateinischen Alphabet zuzüglich der Umlautzeichen ä, ö, ü sowie dem ß) benötigt, die ggf. miteinander kombiniert werden (<sch>, <ch>, <ah>, <ee> usw.). Eine logographische Schrift, bei der sich ein Zeichen auf ein Morphem oder Wort bezieht, benötigt dagegen ein Vielfaches an Zeichen und ist dementprechend weitaus schwieriger zu erlernen und zu handhaben. Um etwa chinesische Alltagstexte lesen zu können, muss man nach Angaben von Crystal (1995, 200) ca. 2000 Zeichen beherrschen, für die vollständige Lektüre einer Tageszeitung oder eines wissenschaftlichen Textes ist die Kenntnis von ca. 3000-4000 Schriftzeichen erforderlich, für das Verständnis historischer Texte muss dagegen auf Wörterbücher zurückgegriffen werden, die bis zu 50 000 Zeichen enthalten. Der Übergang von den logographischen Schriften zu den Alphabetschriften stellte unter dem Aspekt des erforderlichen Lernaufwandes somit in der Tat eine „revolutionäre“ Vereinfachung dar. Allerdings könnte es in anderer Hinsicht missverständlich sein, von einer Revolution zu sprechen, da dieser Begriff oft für Umwälzungen verwendet wird, die in relativ kurzer Zeit erfolgen, im Unterschied zu evolutionären Prozessen. Bei der Entwicklung zur Alphabetschrift handelt es sich jedoch, wie Stein (2006) betont, um einen Prozess, der sich über mehrere Jahrhunderte vollzog, und es lässt sich feststellen, dass über einen langen Zeitraum semasiographische und lexigraphische Prinzipien koexistierten: „Das Prinzip dieser Schrift bildete sich in einem Zeitraum von über 1000 Jahren heraus, indem das von den frühen Anfängen der Schrift bekannte Prinzip der Lautrepräsentation immer konsequenter hervortrat.-[…] Insgesamt ist also die Alphabetschrift-[…] die Frucht eines langen kollektiven Lernvorganges, der in Ägypten bzw. im Vorderen Orient begann.“ (Stein 2006, 57 f.) Tendenzen zu einer Bezugnahme der Schrift auf die Lautsegmente der gesprochenen Sprache gab es bereits in den frühen Schriftsystemen, die wegen der bildhaften Qualität ihrer Zeichensegmente auf den ersten Blick wie rein logographische Schriften aussehen. Ein prominentes Beispiel sind die ägyptischen Hieroglyphen. Sie enthalten einerseits rein logographische Zeichen wie das Kreissymbol für 'Sonne' oder die laufenden Beine für 'Bewegung' (Tab. 1). Viele andere Zeichen hatten ebenfalls eine Wortbedeutung, konnten darüber hinaus aber auch noch als Repräsentanten bestimmter Konsonanten oder Konsonantenfolgen gelesen werden, wie es z. B. bei den Symbolen für 'Bein' und 'Wasser' der Fall ist, die auch für die <?page no="50"?> 50 4. Geschichte der Schriftzeichen und Schriftsysteme Laute [b] und [n] stehen, bzw. für 'Haus' und 'Korb', die die Konsonantenfolgen [pr] und [nb] repräsentieren (Tab. 1). 'Sonne' 'Bewegung' 'Bein' 'Wasser' 'Haus' 'Korb' - - [b] [n] [pr] [nb] Tab. 1. Logographische und logographisch-phonographische Zeichen in der ägyptischen Hieroglyphenschrift Die Zuordnungen der Laute bzw. Lautkombinationen zu den graphischen Zeichen waren ursprünglich lexikalisch motiviert. So steht das Symbol für 'Haus' deshalb für die Konsonantenverbindung [pr] , weil das Wort Haus in der altägyptischen Sprache pr lautete. Als diese Verbindung jedoch einmal hergestellt war, konnte eine Übertragung auf gleich oder ähnlich klingende Wörter (Homophone) stattfinden, so dass z. B. auch das Wort hinausgehen (ägypt. prj) mit dem Haussymbol geschrieben wurde. Ebenso stand das Korbsymbol ursprünglich für das ägyptische Wort nb 'Korb', wurde dann aber auch für die gleichlautenden Wörter nb 'Herr' und nb 'jeder' gebraucht. Durch diese Übertragungen entwickelten sich die ursprünglich logographischen Zeichen, die über das Prinzip der Ähnlichkeit von Bild und dargestelltem Gegenstand funktionierten, zu phonographischen Zeichen, bei denen das Hausbzw. Korbsymbol nur noch eine bestimmte Lautverbindung repräsentiert. Obwohl sich somit bereits innerhalb der Hieroglyphenschrift phonographische Tendenzen zeigen, hat sich jedoch in dieser Tradition niemals eine eigene Gruppe rein phonographischer Zeichen oder eine klare Unterscheidung zwischen Einlautzeichen und Zweilautzeichen herausgebildet. Die von der Forschung rekonstruierten 25 Einlautzeichen (vgl. z. B. die Liste bei Haarmann 1991, 215) bilden somit noch kein „Alphabet“ im eigentlichen Sinne, vielmehr sind sie integriert in ein gemischtes System, das noch wesentlich logographische Züge besitzt (vgl. Powell 2009, 114). Dass es sich noch nicht um eine echte Konsonantenschrift handelt, zeigt sich auch daran, dass die Zwei- oder Mehrkonsonantenzeichen in keiner Beziehung zu den Einkonsonantenzeichen stehen-- wie Tab. 1 zeigt, ist das Zeichen für [nb] (Korbsymbol) keine Kombination der Einzelzeichen für [n] (Wassersymbol) und [b] (Beinsymbol). Der Ausbau zu einer rein phonographischen Schrift wurde also im altägyptischen System noch nicht vollzogen, was Stein (2006) vor allem mit der religiösen Einbettung des Schreibens bei den Ägyptern begründet: „Schon in den frühen Hochkulturen hatte sich die Sprachbindung der Schrift immer stärker ausgebildet. Phonetische Zeichen, die Silben und Konsonanten wiedergaben, ergänzten in den einzelnen Schriftsystemen in unterschiedlichem Umfang die piktographisch-ideographischen Zeichen, ohne damit das Geschriebene bereits zur Kopie der Rede zu machen. Dieser Schritt wäre durchaus möglich gewesen-[…] Er war aber offensichtlich nicht gewollt. Grund für diese Verweigerung war möglicherweise der Wunsch, mit der Schrift ein universelles Medium haben zu wollen, das sich nicht im alltagspraktischen Nutzen erschöpfte-- ohne dass dieser ausgeschlossen war. Das Universelle an <?page no="51"?> 51 4.2. Die Entwicklung der Alphabetschriften der Schrift galt als das Göttliche in Gestalt des Ewig-Dauernden und war deswegen mit Religion, Gottkönigtum und Herrschaft verbunden. Die Anbindung der Schrift an die sich wandelnde Sprechsprache war dagegen eine Konzession an das vergängliche Menschliche und daher von nachgeordnetem Interesse.“ (Stein 2006, 55 f.) Da es schon in den älteren Schriftsystemen (Hieroglyphen, Keilschriften) Symbole gab, die sich auf die Lautung bezogen, bestand der entscheidende Entwicklungsschritt hin zur Alphabetschrift nicht in der Erfindung der phonographischen Zeichen, sondern in der Tilgung der nicht-phonographischen Symbole. Erst durch den „Verzicht der Buchstabenschriften auf die bis dahin allgemein verbreitete ideographische Zusatzkomponente“ (Haarmann 1991, 280) kam es zu einer starken Verringerung des Zeichenvorrats mit den damit verbundenen Vorteilen der leichteren Erlernbarkeit und praktischen Handhabung der Schrift. Erste Beispiele einer relativ konsequenten Buchstabenschrift, die allerdings (wie die Einlautzeichen der Hieroglyphen) zunächst nur den konsonantischen Bereich umfasste, sind etwa ab dem 2. Jahrtausend v. Chr. „im (ägyptisch-)palästinensisch-syrischen Raum“ (Stein 2006, 57) festzustellen. Bis etwa 1800 v. Chr. breiteten sich die konsonantischen Buchstabenschriften im Mittelmeerraum weiter aus (vgl. ebd.). Eine Schlüsselrolle spielte dabei das Phönizische, also die Sprache der Bewohner eines historischen Reiches, das sich entlang der östlichen Mittelmeerküste erstreckte (im Westen der heutigen Staaten Israel, Libanon und Syrien). Die ältesten Schriftzeugnisse der phönizischen Sprache, „die eindeutig in einer Buchstabenschrift abgefaßt sind“, werden nach Haarmann (1991, 269) auf das 17. oder 16. Jahrhundert v. Chr. datiert. Aus weiteren Quellen, die bis in das 3. Jahrhundert reichen, lässt sich ein phönizisches Konsonantenalphabet rekonstruieren, das aus 22 Zeichen besteht (Abbildung bei Haarmann 1991, 273). Die Genese dieser Buchstabenschrift ist bis heute nicht ganz geklärt. In der Forschung wurden aufgrund offensichtlicher Übereinstimmungen in der Zeichengestalt Abhängigkeiten von der assyrischen Keilschrift, der ägyptischen Hieroglyphenschrift, den antiken kretischen Schriften oder der sogenannten Sinai-Schrift angenommen. Haarmann (1991, 274-282) gibt hierzu einen konzisen Überblick, wobei er eine „multilaterale Beeinflussung“ (ebd., 274) für wahrscheinlich hält: „Besonders der syrisch-palästinensische Bereich war ein Kontaktgebiet, in dem kulturelle Einflüsse von vielen Seiten her einwirkten. In diesem interkulturellen ‚Schmelztiegel‘ werden verschiedene Anleihen an auswärtige Kulturmuster gemacht. Es ist daher nicht verwunderlich, daß es eine Reihe von Parallelen in den Zeichenformen der Buchstabenschriften und anderer Systeme gibt- […].“ (Haarmann 1991, 278) Das phönizische Schriftsystem strahlte ab dem 11. Jahrhundert v. Chr. nach Osten und Westen aus. Im Osten entstand auf dieser Grundlage die aramäische Konsonantenschrift, die die bis dahin verbreitete Keilschrift verdrängte und die Herausbildung weiterer Alphabetschriften bewirkte, so z. B. der Brâhmî-Schrift (ab dem 3. Jahrhundert v. Chr.) und der Devanâgarî-Schrift (ab dem 11. Jahrhundert n. Chr.) in Indien oder der althebräischen, syrischen und arabischen Alphabetschriften im Nahen Osten (vgl. Stein 2006, 61; Haarmann 1991, 299-327). In der westlichen Traditionslinie, auf die sich der vorliegende Band konzentriert, wurde das phönizische Alphabet vermutlich im 11. oder 10. Jahrhundert v. Chr. in Griechenland adaptiert. Die ältesten <?page no="52"?> 52 4. Geschichte der Schriftzeichen und Schriftsysteme Schriftdokumente stammen aus Kreta, die frühesten Schriftzeugnisse vom griechischen Festland sind aus dem 8. bis 5. Jahrhundert v. Chr. überliefert (vgl. Haarmann 1991, 283-286). Mit der Adaption des phönizischen Alphabetes war zugleich ein typologisch bedingter Umbau des Schriftsystems verbunden, denn das phönizische Alphabet war für eine semitische Sprache entwickelt worden, während das Griechische eine indoeuropäische Sprache ist, in der die Vokale eine größere Rolle spielen. Daher wurden einigen phönizischen Buchstaben, die sich auf (im Altgriechischen nicht vorhandene) Halbkonsonanten bezogen, im griechischen Alphabet neue, vokalische Lautwerte zugewiesen (vgl. Haarmann 1991, 287 f. und Tab. 2). Phönizisches Zeichen Name (phönizisch) Aleph He Jodh Ajin Lautwert (phönizisch) [ʔ] [h] [j] [ʕ] Lautwert (altgriechisch) [a], [aː] [e] [i] [o] Name (altgriechisch) Alpha Epsilon Iōta Omikron Griechisches Zeichen A E I O Tab. 2. Beispiele für die Umkodierung phönizischer Konsonantenzeichen zu griechischen Vokalzeichen ([ ʔ ] bezeichnet den auch aus dem Deutschen bekannten Glottisschlag, [ ʕ ] einen im Rachen gebildeten Reibelaut, den es im deutschen Lautsystem nicht gibt) Mit der Einführung der Vokalzeichen war der Schritt zum ersten Vollalphabet der Schriftgeschichte getan. Damit gingen zwei weitere Änderungen einher (vgl. Stein 2006, 63 f.). Zum einen wurde die Schreibrichtung (im Phönizischen: von rechts nach links, teils auch wechselnd rechts- und linksläufig nach dem Bustrophedon-Prinzip) auf die uns heute vertraute Rechtsläufigkeit geändert. Zweitens wurde eine Schreibung ohne Worttrennung durch Leerräume (Spatien) zwischen den Zeichen eingeführt, die sog. Scriptio continua, ein Usus, der noch im Lateinischen üblich war. In den althochdeutschen Texten setzt sich erst im 12. Jahrhundert eine relativ konsequente Wortsegmentierung durch (Kap. 4.3). Das griechische Alphabet wurde spätestens in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts v. Chr. von den Etruskern übernommen, einem im heutigen nördlichen Mittelitalien ansässigen Volksstamm, dessen Herkunft (autochthon oder allochthon) ebenso umstritten ist wie die typologische Einordnung der nur spärlich überlieferten etruskischen Sprache (indoeuropäisch oder nichtindoeuropäisch). Das etruskische Alphabet wurde dann wiederum etwa im 7. Jahrhundert v. Chr. von den Römern adaptiert, die es wiederum an ihre Sprache anpassen mussten. Es entstand ein archaisches lateinisches Alphabet mit zunächst 21 Buchstaben, das später durch den Import der griechischen Zeichen Y und Z ergänzt wurde. Das klassische lateinische Alphabet umfasste demnach 23 Buchstaben; der Buchstabe W kam im Mittelalter hinzu, die Buchstaben J und U erst in nachmittelalterlicher Zeit. <?page no="53"?> 53 4.2. Die Entwicklung der Alphabetschriften Die lateinische Alphabetschrift bildete die Grundlage für zahlreiche Schriftsysteme in Europa und so auch für die historischen Schreibsprachen des deutschsprachigen Raumes. Die Vorläufersprachen des Deutschen, die westgermanischen Dialekte, wurden allerdings noch nicht mit den Buchstaben des lateinischen Alphabets verschriftet, sondern mit einem anderen Schriftsystem, nämlich dem der Runen. Bei der Runenschrift handelt es sich um eine Alphabetschrift, also eine phonographische Schrift, die in den ersten Jahrhunderten n. Chr. im südlichen Skandinavien entstand und sich von dort bis hinunter in den Balkan ausbreitete. Runentexte sind vorwiegend epigraphisch, d. h. in Form von Gravuren oder Einritzungen auf Artefakten wie Speeren, Steinen, Fibeln usw. überliefert; insgesamt sind etwa 6500 Inschriften bekannt. Die ältesten Texte stammen aus der Zeit um 200 n. Chr. aus dem Gebiet des heutigen Dänemark bzw. Schleswig-Holsteins, im 13. Jahrhundert endet die Runentradition im Wesentlichen. Obwohl die Texte überwiegend sehr kurz sind und dementsprechend viel Raum für sprachliche Interpretationen lassen (zahlreiche Beispiele bietet die kommentierte Datenbank des „Runenprojekts Kiel“, http: / / www.runenprojekt.uni-kiel.de/ ), bieten sie eine gute Möglichkeit, die allmähliche Entwicklung der germanischen Sprachen aus dem gesamtindoeuropäischen Kontext nachzuvollziehen. Wie Florian Busch (2015, 45-49) gezeigt hat, wurden die Runen schon im Mittelalter mythologisch überhöht und im 19. und frühen 20. Jahrhundert im Rahmen nationalistischer und völkischer Ideologien als Ausdruck von Germanentum interpretiert. Heute werden sie in esoterischen Kreisen als Symbole mit einer besonderen magischen Kraft angesehen (ebd., 50 f.), was mit ihrer formalen Fremdheit (verglichen mit den uns vertrauten lateinischen Schriftzeichen) und ihrer Anbindung an die nordische Mythologie zu tun haben mag. Vielleicht spielte hierbei auch die (vermeintliche) Etymologie des Wortes Rune eine Rolle, das traditionell aus dem altnordischen Wort rún 'Geheimnis' (altengl. rūn, altsächs. rūna, verwandt mit dt. raunen) abgeleitet wurde, wenngleich das „Etymologische Wörterbuch“ von Kluge (25. Aufl.) heute eine Ableitung aus der indoeuropäischen Wurzel *reue- 'graben' (wie in altkirchenslawisch ryti 'graben', litauisch ruōbti 'einritzen') für „sicher richtiger“ hält (Kluge 2011, 778). Neuerdings finden Runen auch in einigen Bereichen der populären Musikkultur (Black-Metal-Szene) Verwendung, teils in enger Verbindung mit dem Runengebrauch in rechtsextremistischen Kontexten (vgl. Busch 2015 passim). Die Runenschrift unterscheidet sich in ihrem Gebrauch und Status deutlich von der lateinischen Schrift. Sie war offenbar von Beginn an keine Gebrauchsschrift für alltägliche Zwecke, sondern eher „ein esoterisches Mittel mystisch orientierter Kommunikation“ (Haarmann 1991, 462): „Das Lesen von Runen war wohl nicht im modernen Sinn des Ausdrucks als Assoziation von Lautzeichen und Bedeutungsinhalten zu verstehen, sondern es ging um ein echtes ‚Entziffern‘, um ein Ausdeuten und vielschichtiges Interpretieren von Texten.“ (Haarmann 1991, 462) <?page no="54"?> 54 4. Geschichte der Schriftzeichen und Schriftsysteme Der fehlende Gebrauch der Runenschrift in pragmatischen oder wirtschaftlichen Kontexten ist wohl ein Grund dafür, dass man bei der Verschriftlichung der Volkssprachen auch in den nördlichen Regionen des deutschsprachigen Raumes nicht an diese Tradition anknüpfte. Die etwa 30 Runeninschriften des 6. bis 7. Jahrhunderts aus dem südgermanischen Raum sind noch als voralthochdeutsch einzustufen, da sie noch nicht den hochdeutschen Lautstand, also keine lautverschobenen Konsonanten aufweisen (vgl. Schwerdt 2000, 200-238; ein als unsicher einzustufender Einzelbeleg für die Verschiebung von g zu k wird dort auf S. 229 f. diskutiert). Althochdeutsch in Runenschrift erscheint erst ab dem 8. Jahrhundert gelegentlich in Handschriften (vgl. Nievergelt 2009). Durchgesetzt hat sich dagegen ein auf die althochdeutschen und altsächsischen Dialekte zugeschnittenes lateinisches Schriftsystem. Die eigentliche, d. h. auf handschriftlichen Quellentexten begründete deutsche Sprach- und Schriftgeschichte beginnt in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts. In dieser Zeit treten in verschiedenen Sammelhandschriften (Codices) vor allem aus dem alemannischen Sprachraum die ersten Schriftzeugnisse in althochdeutscher Sprache und lateinischer Schrift in Erscheinung. Hierzu zählen z. B. zwei Wörterbücher (der „Abrogans“ und der „Vocabularius Sancti Galli“), ein Vaterunser und ein Glaubensbekenntnis (St. Galler Paternoster und Credo), eine Rezeptsammlung („Basler Rezepte“) und eine Übersetzung lateinischer Texte des Isidor von Sevilla („Althochdeutscher Isidor“), wobei es sich um auf Pergament geschriebene Klosterhandschriften handelt. Wenn ab dem 8. Jahrhundert von der „hochdeutschen“ Sprache die Rede ist, bedeutet dies allerdings nicht, dass es bereits eine einheitliche Sprachform gegeben hätte, die von ihrem Status und ihrer Verbreitung her auch nur annähernd mit dem vergleichbar gewesen wäre, was wir heute unter Hochdeutsch verstehen. Vielmehr ist dieser Ausdruck damals noch als Oberbegriff für eine Vielzahl von regionalen Varietäten zu verstehen, die sich-- trotz großer sprachlicher Unterschiede-- über ein dialektologisches Kriterium einem gemeinsamen Sprachtyp zuordnen lassen. So weisen althochdeutsche Texte aus dem alemannischen, bairischen, ostfränkischen oder rheinfränkischen Raum jeweils spezifische Kennmerkmale auf, die in dieser Form ausschließlich oder vorwiegend in der betreffenden Region auftreten (Kap. 8.1), doch lässt sich andererseits eine Gemeinsamkeit aller Texte feststellen, nämlich die Realisierung der historischen Konsonanten p, t, k als <pf> bzw. <f>, <t> bzw. <z> und <ch>. Lautlich verweisen diese Schreibungen auf die Weiterentwicklung der germanischen Plosive zu den Affrikaten [pf ] und [ ts] bzw. den Frikativen (Reibelauten) [f, s, ç, x] , wie wir sie heute noch aus der hochdeutschen Standardsprache kennen. Dieser Lautwandel, der sich im Wesentlichen in der Zeit zwischen dem 6. und 8. Jahrhundert vollzogen haben muss, wurde von Jacob Grimm im ersten Band seiner „Deutschen Grammatik“ (1822, 584) erstmals als Teil einer „folgenreiche[n] zweifache[n] lautverschiebung“ beschrieben. Der Wandelprozess, der die hochdeutschen Varietäten von denen aller anderen germanischen Sprachen (inklusive des Niederdeutschen) differenzierte, wurde von Grimm als „Hochdeutsche Lautverschiebung“ (Grimm 1822, 151) bezeichnet, heute wird meist von der „Zweiten Lautverschiebung“ gesprochen (vgl. Schwerdt 2000, 168 f., 177; Venema 1997, 1-3). Alle Dialekte, die diese Lautverschiebungsmerkmale (zumindest partiell) aufweisen, werden als „hochdeutsche“ Dialekte klassifiziert, wobei die Anzahl der lautverschobenen Formen im Süden am größten ist (im Hochalemannischen wird sogar das anlautende k zu [x] verschoben, <?page no="55"?> 55 4.2. Die Entwicklung der Alphabetschriften wie in [ˈxʊxiˌxæʃtli] Küchenkästli 'Küchenschränkchen') und nach Norden hin abnimmt. Im Altsächsischen, der ältesten Stufe des Niederdeutschen, ist der ursprüngliche germanische Lautstand der Plosive noch erhalten. So lauten die hochdeutschen Wörter pflegen, Zeit und sicher im „Heliand“ plegan, tid und sikur / sikor, und auch die modernen niederdeutschen Dialekte haben hier keine lautverschobenen Formen (nd. plegen, Tiet, seker). Im 8. und 9. Jahrhundert war das Lateinische noch die dominierende Schriftsprache in den Klöstern. Dementsprechend griffen die Mönche auf das lateinische Schriftsystem zurück, als es darum ging, die „Volkssprache“, also die hoch- und niederdeutschen Dialekte zu verschriften. Der Versuch, das damals gesprochene Deutsch mit den Mitteln des lateinischen Alphabets wiederzugeben, war jedoch mit einigen Schwierigkeiten verbunden. Denn das lateinische Buchstabeninventar war für die Verschriftung des Lateinischen eingerichtet, nun aber sollte es genutzt werden, um lautlich ganz anders beschaffene Dialekte wiederzugeben, die zudem nicht einmal der romanischen Sprachfamilie angehörten, sondern der germanischen. Das lateinische Alphabet, das sich ja durch Adaptation des griechischen Alphabets unter Vermittlung des etruskischen Schriftsystems herausgebildet hatte, war schon in Bezug auf das Lautsystem des Lateinischen in einigen Bereichen „unterdifferenziert“ (vgl. Maas 2011, 15). Die Unterdifferenzierung des lateinischen Alphabets manifestiert sich zum einen darin, dass Kurz- und Langvokale nicht systematisch unterschieden werden. So werden lat. populus 'Volk' (mit kurzem o) und populus 'Pappel' (mit langem o) in der Schrift meist nicht differenziert, ebenso levis 'leicht' (mit kurzem e) und levis 'glatt, jugendlich' (mit langem e), plaga 'Fläche, Gegend' (mit kurzem a) und plaga 'Schlag, Wunde' (mit langem a) (Beispiele nach Kramer 2011, 121). Die in modernen Grammatiken und Lehrbüchern des Lateinischen verwendeten Diakritika zur Kennzeichnung der Vokallänge (pōpulus 'Pappel', lēvis 'glatt', plāga 'Schlag, Wunde') finden sich in den antiken und mittelalterlichen Texten in der Regel nicht. Bei der Adaption des lateinischen Alphabets zur Wiedergabe volkssprachiger (althochdeutscher) Varietäten kamen einige weitere Schwierigkeiten hinzu (vgl. Maas 2011, 15-17 sowie ausführlich Seiler 2014). Bis heute nicht durchgeführt ist z. B. die graphematische Unterscheidung von Öffnungsgraden bei den Vokalen; so steht z. B. die Graphie <o> auch in der modernen Orthographie zugleich für geschlossenes [o] (vor) wie auch für offenes [ɔ] (fort). Lange Zeit ungelöst blieb das Problem der gerundeten Vordervokale, also der sogenannten Umlaute, die in alt- und mittelhochdeutschen Texten noch nicht von den unumgelauteten Pendants unterschieden wurden (mhd. losen 'zuhören, horchen' = losen 'lösen, erlösen', rosten 'rosten' = rosten 'rösten'), und ebensowenig auch in altsächsischen oder mittelniederdeutschen Texten. Erst ab der frühneuhochdeutschen bzw. spätmittelniederdeutschen Zeit bildete sich hierfür ein Kennzeichnungssystem heraus, zunächst mit einem diakritischen e (loͤsen, roͤsten), später mit dem doppelten Akut (lősen, rősten) oder dem Trema (lösen, rösten). Im Konsonantismus fehlten Zeichen für den velaren Frikativ [x] und den velaren Nasal [ŋ] . Wie die Beispielwörter Wache und Wange zeigen, wurde dieses Problem jeweils durch die Kombination zweier Buchstaben gelöst. Problematisch war auch die mangelnde Unterscheidung der Zeichen U und V, die im lateinischen System lediglich graphische Varianten waren, ebenso wie I und J. Sie waren lange Zeit auch in den volkssprachigen Texten <?page no="56"?> 56 4. Geschichte der Schriftzeichen und Schriftsysteme Dass sich auch schon die Zeitgenossen der Schwierigkeiten bei der Adaption des lateinischen Buchstabeninventars bewusst waren, wird aus einer frühen Quelle deutlich, die in der Literatur oft zitiert wird. Der Mönch, Theologe und Dichter Otfrid von Weißenburg (geb. zwischen 800 und 830, gest. nach 863) stellt um 865 seine „Evangelienharmonie“ fertig, eine vereinheitlichende Darstellung der Lebensgeschichte Jesu durch Zusammenführung und „Harmonisierung“ aller vier Evangelien, die als eine der bedeutendsten Dichtungen in althochdeutscher Sprache gilt. In seiner lateinischen Vorrede, einem Brief an den Erzbischof Liutbert von Mainz, weist er auf einige Fälle hin, bei denen sich eine Diskrepanz zwischen lateinischem Schriftsystem und althochdeutschem (rheinfränkischem) Lautsystem ergibt (vgl. dazu auch Günther 1985 und Mattheier 1990): „Wie nun allerdings diese unkultivierte Sprache [gemeint ist das Deutsche] insgesamt bäurisch ist und ungebildet, nicht gewohnt, sich dem lenkenden Zügel der Grammatik zu fügen, so ist auch bei vielen Wörtern die Schreibung schwierig, sei es wegen der Häufung von Buchstaben, sei es wegen ihrer ungewöhnlichen Lautung. Denn bisweilen fordert sie, wie mir scheint, drei u - die ersten zwei meines Erachtens konsonantisch lautend, während das dritte u den Vokalklang beibehält-[…]. Diese Sprache verwendet, abweichend vom Lateinischen, häufig k und z, Buchstaben, von denen die Grammatiker sagen, sie seien überflüssig. Zum Ausdruck des bisweilen vorkommenden dentalen Zischlautes wird, wie ich meine, in dieser Sprache das z verwendet, das k aber zum Ausdruck des Rachenlauts.“ (Übersetzung aus dem Lateinischen nach Vollmann-Profe 2010, 21) Otfrid, den Hugo Moser (1969, 111) aufgrund seiner präzisen Beobachtungsgabe einmal als den „Phonetiker unter den althochdeutschen Schriftstellern“ bezeichnete, verweist hier auf das bereits oben erwähnte Problem der Polyfunktionalität des lateinischen U (=V), das in Wortschreibungen wie ahd. uuunder 'Wunder' offensichtlich ist. Der Hinweis auf die Verwendung der Buchstaben k und z bezieht sich wohl darauf, dass im Althochdeutschen die damit verbundenen Laute [k] und [ts] Phonemstatus haben, also semantisch distinktiv (bedeutungsdifferenzierend) sind (z. B. kan 'Kahn' vs. zan 'Zahn', kella 'Kelle' vs. zella 'Zelle'), während es sich im Lateinischen um komplementär verteilte Allophone handelt, die gleichermaßen durch den Buchstaben c wiedergegeben werden können (callere 'kennen, wissen' mit gesprochenem [k] , cella 'Kammer, Zelle' mit [ts] ). Die Bemerkung, dass „die Grammatiker“ von den Buchstaben k und z sagten, „sie seien überflüssig“, bezieht sich demnach auf die lateinischen zunächst doppelt belegt, als Zeichen sowohl für die Vokale [i] und [u] (in / jn, vnd) als auch für die Konsonanten [j] und [f] bzw. [v] (ieder, von, Vase). Die Graphie <v> wurde darüber hinaus auch, allein oder dupliziert, als Zeichen für den Konsonanten [w] (wie im englischen wait) gebraucht, z. B. in ahd. scouōn 'schauen' oder uuara 'Wahrheit'. Diese Unterdifferenzierung wurde erst ab dem 15. Jahrhundert durch die allmähliche Differenzierung der Grapheme <i> und <j> bzw. <v> und <u> sowie durch die Einführung des neuen Konsonantenzeichens <w> beseitigt. Das Zeichen <w> wurde dann auch beibehalten, als sich der bilabiale Konsonant [w] zu dem heute gesprochenen Frikativ [v] weiterentwickelt hatte. <?page no="57"?> 57 4.3. Die Entwicklung von Buchstabenformen Grammatiker (für „das Deutsche“ existierten zu dieser Zeit noch keine Grammatiken), denn in der Volkssprache ist diese graphematische Differenzierung gerade nicht überflüssig. Auch unabhängig von der mangelnden Passgenauigkeit des lateinischen Schriftsystems für die volkssprachlichen Lautsysteme gab es grundsätzlich immer mehrere Möglichkeiten, mit den Zeichen des lateinischen Alphabets Laute des gesprochenen Deutsch wiederzugeben. Da die Wahl dieser Möglichkeiten nicht durch eine übergeordnete Instanz überregional verbindlich vorgeschrieben werden konnte, haben sich in den folgenden Jahrhunderten zahlreiche regionale Schreibtraditionen entwickelt. Deren Rekonstruktion und funktionale Interpretation ist die Hauptaufgabe der Historischen Graphematik. Auf die hierfür entwickelten Methoden wird in Kap. 10 eingegangen, auf einige wesentliche Forschungsergebnisse in den Kapiteln 11 bis 15. Im Folgenden soll der Blick jedoch zunächst noch einmal auf die materiellen Aspekte des alphabetischen Schreibens im deutschsprachigen Raum gerichtet werden. 4.3. Die Entwicklung von Buchstabenformen Deutschsprachige Handschriften des 8. bis 16. Jahrhunderts sind für moderne Leser oft schwer zu entziffern. Abb. 8 zeigt einige Buchstabenexemplare aus dem Duisburger Stadtrecht von 1518 (Abb. 48 für ein Faksimile des betreffenden Textabschnitts). Für einen geübten Leser frühneuzeitlicher Handschriften dürfte die Entschlüsselung dieser Zeichen kein Problem darstellen. Wer aber von den modernen, uns geläufigen Buchstabenformen ausgeht, wird möglicherweise auf falsche Fährten gelenkt und könnte den ersten Buchstaben für ein kleines a, den zweiten für ein doppeltes l oder e, den dritten für ein c, den vierten für ein nach links gekipptes b, den fünften für ein schwungvolles x, den sechsten für ein v, den siebten für ein n, den achten für ein großes G, den neunten für ein f, den zehnten für ein E und den elften und zwölften für die Ziffer 8 halten. Abb. 8. Beispiele für Buchstabenformen aus einer Handschrift des 16. Jahrhunderts (Duisburger Stadtrecht von 1518, Stadtarchiv Duisburg, Sign. 10A / 102) Tatsächlich handelt es sich aber um die Buchstaben i, w, e, v, p, r, u, h, s, t, S und d. Nur wenn wir die Gestalt der historischen Schriftzeichen kennen, können wir sie auch in anderen Texten als wiederkehrendes Muster identifizieren. Ihre Gestalt zu kennen, bedeutet aber, in der Buchstabenform das Wesentliche vom Unwesentlichen unterscheiden zu können. Das lässt sich an einem einfachen Beispiel, bezogen auf moderne Druckschriften, demonstrieren. Wir wissen, dass es bei den verschiedenen Realisierungsformen des Großbuchstaben A vier prototypische Elemente gibt (nach Althaus 1980: „graphisch distinktive Merkmale“, vgl. oben Kap. 2.2): <?page no="58"?> 58 4. Geschichte der Schriftzeichen und Schriftsysteme a) Das Zeichen enthält eine schräg von links unten nach rechts oben verlaufende Linie. b) Daneben gibt es eine zweite, von rechts unten nach links oben verlaufende Linie mit gleichem Neigungswinkel und gleicher Länge. c) Beide Linien berühren sich am oberen Ende. d) Die Linien werden ungefähr auf halber Höhe durch einen waagerechten Strich miteinander verbunden. Diese Beschreibung entspricht ungefähr der Gestalt des Buchstaben A, wie wir sie in einer serifenlosen Schrift wie „Arial“ oder „Helvetica“ finden (Abb. 9, Beispiel Nr. 1). Abb. 9. Beispiele für Gestaltungen des Großbuchstabens A in verschiedenen Schriftarten für das Textverarbeitungsprogramms Word (1: Arial, 2: Digifit, 3: AR BERKLEY , 4: Ethnocentric, 5: AR HERMANN , 6: Baby Kruffy, 7: Bobcat, 8: Chinyen) Wir rechnen jedoch auch damit, dass es weniger prototypische Realisierungen geben kann, bei denen die Linien nicht schräg, sondern parallel verlaufen (wie in Nr. 2) oder in denen eine der Linien länger ist als die andere (Nr. 3). Selbst ungewöhnliche Realisierungen wie in Nr. 4-8 können wir noch als Exemplare des Buchstaben A identifizieren, da wir dessen Kernmerkmale trotz der Verschiebungen und Modifikationen wiedererkennen, während andere materielle Eigenschaften der einzelnen Buchstabenvarianten wie ihre Höhe und Breite, ihr Neigungswinkel, die Liniendicke, das Vorhandensein von Serifen oder Verzierungen usw. als variable, nicht-distinktive Elemente erkannt und als unwesentlich für die Zeichenklassifikation erachtet werden. Diese Fähigkeit, wesentliche von unwesentlichen Formeigenschaften zu unterscheiden, unterscheidet den menschlichen Leser von einer Maschine. Hierauf beruht z. B. der im Internet übliche „Captcha“-Sicherheitstest, bei dem man sich als Mensch zu erkennen gibt, indem man eine graphisch verfremdete Zeichenfolge interpretieren muss (Abb. 10). Abb. 10. Ein „Captcha“ (Zeichenfolge smwm) (Quelle: https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Captcha) Für die Identifikation des Großbuchstaben A wird heute wohl die Verbindung zweier Linien an ihrem oberen Ende (ggf. durch eine weitere Querlinie) als obligatorisch angesehen, ebenso wie eine-- meist mittige-- waagerechte Verbindung der beiden Linien. Fehlt diese Verbindung oder eine der beiden Linien, würden wir das Gebilde nicht mehr als ein A erkennen bzw. akzeptieren-- eine Form wie / würde vielleicht als ein „halbes“ A wahrgenommen, die Form Λ eher als ein umgedrehtes V. Übertragen wir diese Überlegungen zur Gestalt von Buch- <?page no="59"?> 59 4.3. Die Entwicklung von Buchstabenformen stabentypen nun auf die historischen Verhältnisse, so ist es eine wesentliche Aufgabe einer historischen Graphetik, die obligatorischen Bestandteile oder Eigenschaften eines Buchstabenzeichens von den fakultativen und variablen Teilen zu differenzieren. Die Paläographie nutzt dieses Wissen, um anhand der Buchstabenformen Handschriften zu datieren und zu lokalisieren oder um „bestimmte regionale Stilarten, gegebenenfalls Zugehörigkeit zu einem Skriptorium herauszuarbeiten“ (Schneider 2014, 13). Bei den Entwicklungen, die man unter dem Oberbegriff der „Schriftgeschichte“ zusammenfasst, handelt es sich vor allem um Veränderungen in diesem fakultativen Bereich, die sehr vielfältig sein können und häufig nicht nur einzelne Buchstaben, sondern auch gleich die Gestaltung des gesamten Buchstabeninventars betreffen. In Westeuropa lassen sich hierbei zwischen dem 6. und 16. Jahrhundert mehrere grundlegende Veränderungen beobachten. Ein erster markanter Schritt war der Übergang von den Majuskelschriften zur Minuskelschrift. Spätantike und frühmittelalterliche Texte in lateinischer Sprache wurden in einer Schrift geschrieben (bzw. eingraviert, geritzt oder eingemeißelt), die nur Großbuchstaben enthielt. Hierbei werden zwei Grundtypen unterschieden, zum einen die Schrift „Capitalis“ mit verschiedenen Varianten (Abb. 12; das Wort ist heute noch in dem englischen Ausdruck capital letters 'Großbuchstaben' oder in dem typographischen Fachbegriff Kapitälchen 'Großbuchstaben in der Höhe von Kleinbuchstaben' gegenwärtig), zum anderen die „Unziale“ mit gerundeten Buchstabenformen (von lat. uncia '1 Zoll', wegen der relativ geringen Buchstabengröße). Die ersten volkssprachigen Texte aus dem 8. Jahrhundert sind hingegen in der karolingischen Minuskel aufgezeichnet, also einer Schrift, die in erster Linie Kleinbuchstaben enthält, mit nur selten und unregelmäßig verwendeten Großbuchstaben. Die karolingische Minuskel hat diesen Namen erhalten, weil sie während der Regierungszeit Karls des Großen (768-814) erfunden wurde und „in direktem Zusammenhang mit den damaligen Reformen im lateinisch-kirchlichen Kulturbereich“ stand (Schneider 2014, 19). Der Beispieltext in Abb. 11 bietet nur wenige Belege für Großbuchstaben (an Satzanfängen: Mit, zweimal Dara nah 'danach'; bei Namen: Petri, Stephani, Laurentii). Abb. 11. Althochdeutscher Text in karolingischer Minuskelschrift: „Otlohs Gebet“ (München, Staatsbibliothek, Clm 14490, Blatt 162r. Regensburg, nach 1067; entspricht Abb. 2 in Schneider 2014, 25) <?page no="60"?> 60 4. Geschichte der Schriftzeichen und Schriftsysteme Eine zweite schrifthistorische Innovation bestand im Übergang von einer durchgehenden Schrift zu einer Schrift mit graphischer Wortsegmentierung, eine Neuerung, die nach einer (allerdings umstrittenen) These des amerikanischen Paläographen Paul Saenger (1997) die Etablierung des stummen Lesens (Kap. 7.2) entscheidend befördert hat. Sowohl bei den römischen Majuskelschriften als auch bei den karolingischen Minuskelschriften waren die Buchstaben unverbunden, so wie wir es heute aus Druckschriften kennen (eine Ausnahme bilden nur die sogenannten Ligaturen, also konventionell zusammengeschriebene Buchstabengruppen). Die einzelnen Zeichen sind also durch einen kleinen Leerraum (Spatium) voneinander getrennt. In den Texten der römischen Zeit galt jedoch noch nicht das für uns selbstverständliche Prinzip, nach dem die einzelnen Wörter durch einen größeren Abstand stärker voneinander abgesetzt sind. Man schrieb in Scriptio continua (auch: Scriptura continua), also ohne zusätzliche Abstände zwischen den einzelnen Wörtern (vgl. Coulmas 1996, 455 f.). Abb. 12 zeigt ein berühmtes Beispiel für einen Text ohne graphische Wortsegmentierung, einen Auszug aus dem „Codex Vergilius Augusteus“ aus dem 4. Jahrhundert, der ein Fragment von Vergils „Georgica“ ('Landwirtschaft') enthält. Die Zeichen der Schrift „Capitalis quadrata“ sind hier gleichmäßig nebeneinandergesetzt, ohne einen erkennbar größeren Abstand zwischen den Wörtern, was die Sinnerfassung erheblich erschwert. 2r ) In einem satirischen Gedicht mit dem Titel „Aufgabe für den Zensor“ von 1852 werden diese Schwierigkeiten der Lektüre eines in Scriptio continua verfassten Textes auf amüsante Weise thematisiert: „MirSolleinerkoMmenundsagenDaßichnichtauchdiesmAldem literarischenkaBinetteeinennichtswürdiGenärgerbereitEthätte duRchdenunsiNndieserwortzusaMmenstellunGdurchwelchesich diesewohllÖblichebehördedochnotWendigerweisedurCharbeiten mußdasiEdiestrengeverpflichtUnghaTalleerscheinunGenderber LinerpresSeeinerebensogenAuenalsgewisSenhaftenduRchsicht zuwidMenunDjetztdochamendesIcheinigeRmaßenkrÄnkenmUß indiesemsatzsogarnichtsbEdeNklichesgeFundenzuhaBenund DiehunDstageglüCklichvorüBersind.“ (aus: Dencker 2012, 61) Durch den Verzicht auf worttrennende Spatien und eine zusätzliche Irreführung durch willkürliche Majuskelsetzung im Wortinneren (koMmen, bEdeNkliches) wird die „wohllöbliche“ Zensurbehörde geärgert, die in dieser Zeit verpflichtet ist, „alle Erscheinungen der Berliner Presse einer ebenso genauen als gewissenhaften Durchsicht zu widmen“. Um die Lesehürden, die mit der Scriptio continua verbunden sind, zu vermeiden, wird in den Editionen lateinischer Texte wie der „Georgica“ meist nachträglich eine Wortsegmentierung eingeführt, und statt der Majuskeln werden Kleinbuchstaben verwendet, so dass die Großschreibung zur Kennzeichnung von Eigennamen (Ceres, Dodona usw.) eingesetzt werden kann (vgl. die edierte Version des Vergil-Textes in Abb. 12). In der schrifthistorischen Entwicklung <?page no="61"?> 61 4.3. Die Entwicklung von Buchstabenformen Edierter Text atque alius latum funda iam uerberat amnem alta petens, pelagoque alius trahit umida lina. tum ferri rigor atque argutae lammina serrae (nam primi cuneis scindebant fissile lignum), tum uariae uenere artes. labor omnia uicit improbus et duris urgens in rebus egestas. prima Ceres ferro mortalis uertere terram instituit, cum iam glandes atque arbuta sacrae deficerent siluae et uictum Dodona negaret. Text aus: J. B. Greenough: Bucolics, Aeneid, and Georgics of Vergil. Boston 1900. (http: / / www. thelatinlibrary.com/ vergil/ geo1.shtml) Übersetzung Dort nun fuhr in die Tiefe des breiten Stromes das Wurfnetz Rauschend hinab, dort schwebt in dem Meer das triefende Zuggarn. Jetzo starrte das Eisen, es klang die gezogene Säge; Denn sonst pflegte der Keil den klüftigen Stamm zu zerspalten. Jetzo kamen die Künst' und Erfindungen. Alles besieget Unablässiger Fleiß, und die Not des drückenden Mangels. Ceres zuerst hat mit Eisen das Land zu kehren die Völker Angeführt, da bereits Hagäpfel und nährende Eicheln Fehlten im heiligen Wald, und Kost Dodona versagte. Vergil: Landbau. Übersetzt von Johann Heinrich Voß. Bearbeitet und mit Anmerkungen versehen von Otto Güthling. Leipzig 1927. (http: / / gutenberg.spiegel.de/ buch/ -2622/ 1) Abb. 12. Lateinischer Text in Majuskelschrift (Capitalis quadrata): „Georgica“ von Vergil (V. 141-160) (Bibliotheca Apostolica Vaticanae, Codex Vaticanus Latinus 3256, etwa 2. Hälfte des 4. Jahrhunderts, f. 2r) ist festzustellen, dass es mehrere Jahrhunderte dauerte, bis sich die graphische Wortsegmentierung in den volkssprachlichen Texten endgültig durchsetzen konnte. Die noch nicht konsequent durchgeführte Abtrennung der Wörter ist besonders typisch für die frühkarolingischen Minuskelschriften aus der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts (Schneider 2014, 24 bietet hierfür ein Beispiel). Aber auch noch in der Handschrift der „Merseburger Zaubersprüche“ aus dem 10. Jahrhundert sind einige Wörter zusammengeschrieben, die in den Editionen üblicherweise getrennt werden. In den seit Steinmeyer (1916) verbreiteten Leseausgaben des Textes ist meist die graphische Trennung der Einzelwörter (ebenso wie die Großschreibung der Namen und die Interpunktion) nach modernen Konventionen eingeführt worden, um die Textlektüre zu vereinfachen (Abb. 13; zur Deutung des Spruches vgl. Meineke 2016): <?page no="62"?> 62 4. Geschichte der Schriftzeichen und Schriftsysteme Zweiter Merseburger Zauberspruch Edition Steinmeyer (1916, 365f.) Phol ende Uuodan uuorun zi holza. du uuart demo Balderes uolon sin uuoz birenkit. thu biguolen Sinthgunt, Sunna era suister, thu biguolen Friia, Uolla era suister, thu biguolen Uuodan, so he uuola conda: sose benrenki, sose bluotrenki, sose lidirenki, ben zi bena, bluot zi bluoda, lid zi geliden, sose gelimida sin! Übersetzung von Horst Dieter Schlosser (2004, 133) Phol und Wodan ritten in den Wald. Da verrenkte sich Balders Fohlen einen Fuß. Da besprach ihn Sindgund (und) Sunna, ihre Schwester, da besprach ihn Frija (und) Volla, ihre Schwester, da besprach ihn Wodan, so gut wie (nur) er es konnte: wie die Verrenkung des Knochens, so die des Blutes, so die des ganzen Gliedes! Knochen an Knochen, Blut zu Blut, Glied an Glied, als ob sie zusammengeleimt wären! Abb. 13. Der Zweite Merseburger Zauberspruch in edierter Form (mit konsequenter Wortsegmentierung) Erst bei Betrachtung des Textfaksimiles bzw. eines handschriftennahen Transkripts werden die Fälle von Wortzusammenschreibungen sichtbar (Abb. 14): P h ol endeuuodan uuorun ziholza duuuart demobalderes uolon sinuuoz birenkict thubiguolen sinhtgunt · sunnaerasuister thubiguolen friia uolla erasuister thu biguolen uuodan sohe uuola conda sosebenrenki sose bluotrenki soselidi renki ben zibena bluot zibluoda lid zigeliden sosegelimida sin. Abb. 14. Der Zweite Merseburger Zauberspruch im Original (Merseburg, Domstiftsbibl., Cod. 136) und in einer handschriftennahen Transkription (mit nur partieller Wortsegmentierung) Es finden sich Beispiele für Wortzusammenschreibungen unterschiedlichster Art, etwa Konjunktion + Name (endeuuodan 'und Wotan'), Präposition + Substantiv (ziholza 'zum Holz'), Adverb + Verb (duuuart 'da wurde'), Artikel + Name (demobalderes 'dem Balder(s)'), Possessivum + Substantiv (sinuuoz 'sein Fuß') usw., manchmal sogar Kombinationen aus drei Einheiten wie Adverb + Verb + Personalpronomen (thubiguolen 'da besprachen ihn') oder Name + Possessivum + Substantiv (sunnaerasuister 'Sunna, ihre Schwester'). Nach den Ergebnissen von Labs-Ehlert (1993), die ein umfangreiches Korpus von 70 althochdeutschen und altsächsischen Texten auswertete, weisen nur 41 der Handschriften, also knapp 60 %, eine (weitgehend) vollständige Wortdifferenzierung auf. In den übrigen 29 Handschriften wird nach ihrer Einschät- <?page no="63"?> 63 4.3. Die Entwicklung von Buchstabenformen zung nur „teilweise“, „unvollständig“, „in Ansätzen“, „unvollkommen“ usw. differenziert. Wenn man das Textkorpus nach chronologischen Gesichtspunkten in drei Teilkorpora gliedert, dann zeigt sich, dass der Anteil der Texte mit (weitgehend) konsequenter graphischer Worttrennung erst im letzten Untersuchungszeitraum ab dem 10. Jahrhundert merklich steigt (Tab. 3): Zeitraum A ca. 750-850 (24 Texte) Zeitraum B ca. 850-900 (23 Texte) Zeitraum C ca. 900-1100 (23 Texte) 54 % 39 % 83 % Tab. 3. Relativer Anteil der Handschriften mit weitgehend konsequenter graphischer Worttrennung (Grundlage: Korpusbeschreibungen in Labs-Ehlert 1993) Eine differenzierte, methodisch ausgefeilte Korpusanalyse der Zusammen- und Getrenntschreibung in althochdeutschen und altsächsischen Texten des 8. bis 10. Jahrhunderts haben Busch/ Fleischer (2015) vorgelegt. Sie kommen in Bezug auf ihr Gesamtkorpus zu dem Ergebnis, dass bei etwa 57 % der untersuchten Belege „ein deutlich sichtbares Spatium“ auftritt, also die Wortdifferenzierung klar durchgeführt ist, während in 16 % der Fälle eine eindeutige Zusammenschreibung vorliegt (bei den restlichen 27 % der Fälle liegt ein „minimales Spatium“ vor, das keine eindeutige Interpretation erlaubt, vgl. ebd., 573 f.). Allerdings zeigen sich in zweierlei Hinsicht markante Differenzen im Anteil der Zusammenschreibungen: ▶ Funktionswörter wie Präpositionen, Negationspartikeln, Pronomen und Artikel sind im Durchschnitt mehr als doppelt so häufig von Zusammenschreibung betroffen wie die übrigen Wortarten (ca. 27 % gegenüber 11 %). Präpositionen werden zu 42 % mit einem darauffolgenden Wort zusammengeschrieben, Negationspartikeln sogar zu 58 % (vgl. Busch / Fleischer 2015, 574-586). ▶ Es gibt große Differenzen im Usus der einzelnen Schreiber. So verhalten sich z. B. die vier Schreiber des St. Gallener „Tatian“-Codex 56 sehr unterschiedlich: Die Textpassagen der Schreiber γ und α weisen nur zu 3 % bzw. 4 % eindeutige Zusammenschreibungen auf, die des Schreibers ζ dagegen zu 8 % und die des Schreibers ε sogar zu 15 %. Ähnlich verhält es sich mit den Schreibern der verschiedenen Handschriften des „Heliand“ (z. B. Prag-Leipziger Handschrift: 4 % vs. Straubinger Handschrift: 28 %) und von Otfrids Evangelienharmonie (z. B. in der Heidelberger Handschrift Cpl 52: Schreiber P1: 16 % vs. Schreiber P2: 42 %). Busch/ Fleischer (2015, 596) resümieren, dass in Bezug auf die Zusammen- und Getrenntschreibung „dem individuellen Schreiber eine große Freiheit gegeben ist“. Nach Labs-Ehlert (1993, 30) kann die Durchsetzung der graphischen Worttrennung in deutschsprachigen Handschriften ab dem 12. Jahrhundert als weitgehend abgeschlossen gelten. Allerdings gibt es auch in späterer Zeit noch ein gewisses Maß an Variation im Bereich der Zusammen- oder Getrenntschreibung von Wörtern, wie z. B. Doris Tophinke (2000) in einer Fallstudie an westfälischen Texten des 14. und 15. Jahrhunderts zeigen konnte. Hier finden sich einerseits wortinterne Trennungen wie ghe rychte 'Gericht' und wyn vayt 'Weinfass', andererseits Zusammenschreibungen mehrerer Wörter wie demesoldemen 'dem sollte man' und insime 'in seinem'. Ähnliches gilt auch noch für die frühen Ausgaben der Lutherbibel im <?page no="64"?> 64 4. Geschichte der Schriftzeichen und Schriftsysteme 16. Jahrhundert, wo z. B. Kombinationen von Verb und enklitischem Pronomen regelmäßig vorkommen (vgl. Maas 2011, 19: Wo bistu? Hastu nicht gessen-… Seistu verflucht-…). Die karolingische Minuskel war „eine außerordentlich langlebige Schriftart, die über vier Jahrhunderte als einzige Buchschrift in Gebrauch blieb“ (Schneider 2014, 22). Ab dem späten 11. Jahrhundert kam dann jedoch im englischen, nordfranzösischen und heutigen belgischen Raum eine neue Schreibweise in Mode, die später als gotische Schrift bezeichnet wurde. Diese Bezeichnung ist angelehnt an den in dieser Zeit einsetzenden Kunststil der Gotik (nicht zu verwechseln mit dem speziellen Schrifttyp, der für die gotische Ulfilas-Bibel im 4. Jahrhundert verwendet wurde). Die gotische Schrift ist gekennzeichnet durch eine besondere Betonung der senkrecht gestellten, starken Buchstabenschäfte und durch die „Brechung“ der Buchstaben: „Bögen und Halbbögen werden nicht mehr rund in einem einzigen Zug geschrieben, sondern aus Einzelstrichen winklig zusammengesetzt“ (Schneider 2014, 29), hinzu kommen weitere Brechungen auch bei den Schäften. Im deutschsprachigen Raum konnte sich die gotische Schrift erst allmählich etablieren (vgl. Schneider 2014, 28-37). Nach einer ersten Entwicklungsperiode mit karolingisch-gotischen Übergangsschriften und frühgotischen Minuskelschriften (ca. 1175 bis 1250) setzte sich die klassische gotische Buchschrift, die sogenannte „Textualis“ (auch: „Textura“) mit verschiedenen Ausprägungen, ab Mitte des 13. Jahrhunderts durch (ebd., 38-56) (Abb. 15). Abb. 15. Mittelhochdeutscher Text in gotischer Textualis: „Der Renner“ von Hugo von Trimberg (Erlangen, Universitätsbibl., Ms. B 4, Blatt 160r. Raum Nürnberg, 1347; Auszug aus Abbildung 9 in Schneider 2014, 49) Die Textualis blieb bis ins 15. Jahrhundert im Gebrauch. Doch bereits seit Mitte des 13. Jahrhunderts entwickelte sich im Bereich des Geschäftswesens ein neuer Schrifttypus, den man zwar noch zu den gotischen Schriften zählt, aber als Kursivschrift oder Kursive bezeichnet. Schneider (2014) erläutert diesen Schrifttyp wie folgt: „Kursives Schreiben ist zusammenhängendes, fortlaufendes, fließendes Schreiben. Anstatt die Feder zur Bildung eines einzelnen Buchstaben immer wieder neu anzusetzen, bleibt sie möglichst am Beschreibstoff; die Unterschiede zwischen breiten und feinen Federzügen entfallen.“ (Schneider 2014, 56) <?page no="65"?> 65 4.3. Die Entwicklung von Buchstabenformen Mit „Kursive“ ist somit nicht allein das gemeint, was man heute als „Kursivsetzung“ bezeichnet, also die diagonale Neigung der Zeichen, sondern vor allem das Schreiben der Buchstaben in einem Zug (ohne mehrfaches Ab- und Ansetzen) und die Verbindung der Buchstaben eines Wortes durch Schleifen und Linien, also das „Mitschreiben der Luftlinie“ (Schneider 2014, 57). Dies sind die Merkmale, die wir heute mit dem Begriff „Schreibschrift“ verbinden, denn unsere Schreibschriften haben sich aus dem Schrifttyp der Kursive herausgebildet. Der neue Schrifttypus hatte in der Alltagspraxis große Vorteile gegenüber der Textualis: „Es liegt auf der Hand, daß solches Schreiben ein schnelleres Schreibtempo ermöglicht, das erforderlich wird in einer Zeit gesteigerter Schriftlichkeit in allen Bereichen, der Verwaltung ebenso wie der wissenschaftlichen und literarischen Produktion. Die bisher gebräuchlichen Buchschriften konnten diesen gesteigerten Anforderungen nicht mehr genügen, eine schnellere und billigere Methode zur Aufzeichnung und Vervielfältigung von Texten aller Art war mit den kursiven Buchschriften gefunden.“ (Schneider 2014, 57) Auch der Wechsel von der Textualis zur Kursive verlief nicht abrupt, vielmehr gab es zunächst „halbkursive Übergangsschriften“ (Schneider 2014, 58), die Elemente beider Schrifttypen kombinieren, bevor sich dann im 14. und 15. Jahrhundert die eigentlichen Kursivschriften durchsetzen. In der Paläographie werden hierbei wiederum verschiedene zeitlich gestaffelte Typen unterschieden (ältere und jüngere gotische Kursive, Bastarda). Abb. 16 bietet ein Beispiel für eine Bastarda, wie sie im Kanzleiwesen des späten 15. Jahrhunderts üblich war (hier allerdings als Buchschrift). Abb. 16. Frühneuhochdeutscher Text in Kanzleibastarda: „Die sieben weisen Meister“ (Prosafassung b, Frankfurt / M., Stadtbibl., Ms. Praed. 91, Blatt 70r. Rheinfränkisch, zwischen 1477 und 1498; Auszug aus Abbildung 18 in Schneider 2014, 78) In der Zeit des Frühdrucks, also im 15. und frühen 16. Jahrhundert, haben sich auch in den Handschriften weitere Schriften herausgebildet, z. B. die Fraktur (in Anlehnung an die Bastarda), die Rotunda (nach italienischen Vorbildern) und die Kurrentschrift (abgeleitet aus der Kanzleibastarda). Einen Überblick mit weiteren Literaturhinweisen bietet Schneider (2014, 80-86). Mit dem Buchdruck, vor allem mit der Erfindung des Drucks mit beweglichen Lettern um 1450 (Kap. 4.5), etablierte sich dann eine neue Art von Schriftlichkeit, die eigene <?page no="66"?> 66 4. Geschichte der Schriftzeichen und Schriftsysteme Formen hervorbrachte. Auch hier lassen sich anhand diverser Kriterien verschiedene Schrifttypen unterscheiden, die wir auch heute noch aus den Schriftarten (Fonts) der modernen Computerprogramme kennen: Schriftarten mit eher „senkrechten“ Buchstabenformen vs. Kursivschriften, Schriften mit Serifen (wie Times New Roman oder Garamond) vs. serifenlose Schriften (wie Arial oder Calibri), Proportionalschriften mit variierender Zeichenbreite (wie alle bisher genannten Schriften) vs. nichtproportionale, „dicktengleiche“ Schriften (wie Courier New) und diverse Zier- und Sonderschriften. Gesondert zu erwähnen ist die Entstehung der humanistischen Schriften um 1400 in Italien (Florenz), die wieder an die ältere Tradition der karolingischen Minuskel anknüpfen und sich damit stark von den gotischen Schriften absetzen. Die „humanistische Minuskel“ (Abb. 17) enthält, im Unterschied zu den gebrochenen gotischen Schriften, runde Bögen und gerade Schäfte. Im Druck entsprechen ihr die „Antiqua“-Schriften. Abb. 17. Lateinischer Text in humanistischer Minuskel: Auszug aus Ciceros vierter Rede gegen Catilina. Schreiber: Poggio Bracciolini (1380-1459) (Handschrift von 1425, fol. 121r. Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, Plut. 48,22) Bis in die 1940er Jahre waren in Deutschland, anders als im restlichen Westeuropa, immer noch gebrochene (gotische bzw. „deutsche“) Schriften im Gebrauch, im Druck die Fraktur, als Schreibschriften die deutsche Kurrentschrift bzw. ab 1911 die sogenannte Sütterlinschrift. Erst als die Nationalsozialisten 1941 / 42 die gebrochenen Schriften in Druck und Handschrift verboten, um z. B. die Lesbarkeit politischer Erlasse auch im europäischen Ausland zu gewährleisten (vgl. Hartmann 1999, 245-302), setzte sich auch in Deutschland die Lateinschrift in humanistischer Tradition durch, an der auch nach dem Krieg weitgehend festgehalten wurde. In der Frühen Neuzeit werden humanistische Schriften nur selten für deutsche Texte verwendet, sondern fast ausschließlich in lateinischen Kontexten. In volkssprachigen Handschriften erscheinen sie dennoch gelegentlich, z. B. wenn lateinische Wörter oder Zitate in einen deutschsprachigen Text eingestreut werden. Die verschiedenen Schriftarten erfüllen hier also keinen nur dekorativen Zweck, sondern dienen der Hervorhebung bestimmter Textteile. In manchen Regionen Europas wurden die Schrifttypen Antiqua und Fraktur seit dem 16. Jahrhundert auch konfessionell interpretiert (Kap 6.2.5). <?page no="67"?> 67 4.3. Die Entwicklung von Buchstabenformen Die Vielfalt der Schriften und ihrer Funktionen ist Gegenstand der Paläographie bzw. Typographie und muss hier nicht weiter thematisiert werden; hierzu gibt es eine Fülle an einschlägigen Darstellungen. Im vorliegenden Kontext sind allerdings die Bereiche von Interesse, in denen die Veränderungen der Zeichenformen eine Relevanz für die Schreibsysteme besaßen, deren Regularitäten die Historische Graphematik erschließen möchte. Als Beispiel kann der oben angeführte Übergang von der Textura zur Kursivschrift genannt werden. Wie beschrieben, ist neben der Neigung der Schriftzeichen (Kursivierung) vor allem die Tendenz zur Verbindung der zum selben Wort gehörenden Buchstaben ein entscheidendes Kriterium für diesen Übergang. Während es in der Textura-Buchschrift zwischen allen Buchstaben einen mehr oder weniger großen Leerraum (Spatium) gab, erhalten diese Spatien nun die spezifische Funktion, zwei Worteinheiten voneinander zu trennen. Damit wird die Zusammen- oder Getrenntschreibung von komplexen Substantiven oder Verben in stärkerem Maße zum Gegenstand einer bewussten Entscheidung des Schreibers als vorher, als die Entscheidung über die Breite des Leerraumes zwischen zwei Buchstaben eher von dem zur Verfügung stehenden Platz abhing. Die Zusammenschreibung mehrerer Morphemeinheiten kann nun genutzt werden, um einen grammatischen Zusammenhang auszudrücken und ein Wort als Kompositum oder als zusammengesetztes Verb zu markieren. Damit ist ein Regelsystem betroffen, das in den Bereich der Graphematik fällt und nicht mehr in den der Schriftgeschichte. Graphematische Relevanz kommt auch der Frage zu, wie man Großbuchstaben in Handschriften identifizieren kann. Bereits in mittelhochdeutschen Texten werden neben den üblichen Kleinbuchstaben (Minuskeln) auch Großbuchstaben (Majuskeln oder Versalien) verwendet. Ihr Gebrauch ist zunächst auf Kapitel- oder Satzanfänge beschränkt (Kap. 6.3.1), wird dann im 16. Jahrhundert auf Namen und einige primär semantisch definierte Klassen von Substantiven (z. B. Nomina sacra wie GO tt oder Herr) und Adjektiven ausgedehnt, bis sich schließlich ab dem 17. und 18. Jahrhundert die moderne Konvention der Großschreibung am Satzanfang, bei Namen und Substantiven sowie beim Pronomen Sie durchsetzt (Kap. 13). In historischen Handschriften sind Groß- und Kleinbuchstaben allerdings nicht immer so leicht zu unterscheiden, wie man es aufgrund der modernen Schreibkonventionen annehmen würde. Bemerkungen dazu findet man regelmäßig in den Einleitungen zu den Editionen handschriftlicher Texte, so z. B. in der Edition altfranzösischer Urkunden aus Luxemburg von Holtus/ Overbeck/ Völker (2003, 9). Die Autoren weisen darauf hin, dass die Unterscheidung zwischen Minuskel und Majuskel ein „sujet épineux“ (wörtl.: „ein dorniges Thema“) sei, so dass viele Herausgeber auf eine Berücksichtigung dieser Differenzierung generell verzichteten. Holtus und seine Koeditoren unterscheiden im Prinzip zwei Gruppen von Buchstaben. Bei der ersten Gruppe lassen sich Minuskeln und Majuskeln meist gut unterscheiden, weil sie jeweils unterschiedliche Buchstabenformen aufweisen. Dazu zählen im Luxemburger Korpus die Buchstaben b, d, e, g, m, n, p, q, r, t, für die es „echte“ Majuskeln mit einer eigenen graphischen Gestalt gibt. Dagegen ergeben sich bei den Buchstaben a / A, f / F, h / H, j / J, l / L, s / S, v / V und w / W teilweise Unterscheidungsschwierigkeiten, da die „Majuskeln in der gotischen Urkundenschrift nicht selten auf ursprüngliche Kleinbuchstaben zurückgehen“ (ebd., 10). Die <?page no="68"?> 68 4. Geschichte der Schriftzeichen und Schriftsysteme Großbuchstaben sind in diesen Fällen also keine formal eigenständigen Majuskeln, sondern lediglich vergrößerte Minuskeln. Auch in dem Duisburger Stadtrechtstext von 1518 (Kap. 10.2, Abb. 48) lassen sich einige Majuskeln formal klar von den Minuskeln unterscheiden (Abb. 18, Nr. 1-4), während die Unterscheidung bei anderen (Nr. 5-7) schwerfällt und letztlich unsicher bleibt. Abb. 18. Beispiele für Minuskeln und Majuskeln aus dem Duisburger Stadtrecht von 1518 (Stadtarchiv Duisburg, Sign. 10A / 102) Die Schwierigkeit der Unterscheidung von Majuskeln und Minuskeln stellt für die Erforschung der Entwicklung der Großschreibung im Deutschen eine besondere Herausforderung dar. Je nachdem, ob man die „unechten“, formal nicht recht eigenständigen Majuskeln zu den Groß- oder Kleinbuchstaben rechnet, gelangt man hinsichtlich der Verbreitung der Großschreibung zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen. 4.4. Die Entwicklung von Zeicheninventaren Im Laufe der deutschen Schriftgeschichte haben sich nicht nur die Schriftformen verändert, sondern auch die Alphabete selbst. Mit der Adaption des lateinischen Alphabets wurde ein Set von Zeichen übernommen, das vier Buchstaben zur Wiedergabe von Vokalen (a, e, o, y) und 17 Buchstaben zur Wiedergabe von Konsonanten enthielt (b, c, d, f, g, h, k, l, m, n, p, q, r, s, t, x, z) sowie zwei Buchstaben, die je nach Kontext vokalische oder konsonantische Bedeutung haben konnten (i, v). Später kam der Buchstabe w hinzu sowie die Buchstaben j und u, so dass sich jetzt zusammen mit den vormals funktional ambivalenten Buchstaben i und v auch in diesem Bereich eine klare Opposition von konsonantisch und vokalisch belegten Zeichen herstellen ließ (j vs. i, v vs. u). Wie bereits in Kap. 4.2 ausgeführt wurde, reichte jedoch auch dieses Buchstabeninventar keineswegs aus, um die in den deutschen Dialekten vorhandenen Laute adäquat wiederzugeben. In vielen Fällen wurden neue Lautzeichen durch Kombination von zwei oder drei lateinischen Buchstaben geschaffen, wie im Falle von <au>, <ei>, <ch> oder <sch>. Der neue Buchstabe w ist auf diese Weise durch die Verdopplung des Buchstaben u entstanden (im Englischen heute noch als double u bezeichnet). <?page no="69"?> 69 4.4. Die Entwicklung von Zeicheninventaren Sehr viel später hat sich aus der Zeichenkombination ſʒ der Buchstabe ß entwickelt, der nach den offiziellen deutschen Orthographieregeln lange Zeit nur als Minuskel zugelassen war und erst seit Juni 2017 auch als Großbuchstabe ẞ (optional) verwendet werden darf (vgl. Rat für deutsche Rechtschreibung 2017). In der Frühzeit der volkssprachlichen Schriftlichkeit wurden noch weitere Zeichen entwickelt, um das lateinische Buchstabeninventar zu erweitern, die sich langfristig allerdings nicht durchsetzen konnten. Hierzu zählen die in frühen Texten wie dem altsächsischen „Heliand“ enthaltenen Buchstaben Þ und ð, die auf die Existenz dentaler Frikative im damaligen Niederdeutschen hinweisen, wie wir sie heute noch aus dem Englischen kennen (der sogenannte „th-Laut“, wie in thing oder that). In späterer Zeit wurden diese Buchstaben nicht mehr benötigt, da sich die betreffenden Frikativlaute zu Dentalen weiterentwickelt hatten, für deren Repräsentation der Buchstabe d ausreichte. In anderen Fällen wurden die lateinischen Buchstaben mit diakritischen Zeichen versehen, wie im Falle der Bezeichnungen für die deutschen Umlaute. Bereits in althochdeutscher Zeit lässt sich in einigen Texten ein recht systematischer Gebrauch diakritischer Zeichen nachweisen, etwa zur Unterscheidung von Lang- und Kurzvokalen (vgl. dazu z. B. die Analyse der Akzentuierungspraxis von Notker Labeo in Grotans 2006, 249-284). Im Frühneuhochdeutschen haben sich die Schreiber des Mittels der Schaffung neuer Graphien durch lineare Buchstabenkombinationen oder Diakritika sehr extensiv bedient, wie die langen Beispielreihen in der „Frühneuhochdeutschen Grammatik“ zeigen, die z. B. allein für den Kurzvokal [ʏ] 19 verschiedene graphische Repräsentanten anführen (Reichmann / Wegera 1993, 48): <u ͤ , ü, u, ů, u ͥ , ű, ú, u ͨ , û, u ͗ , ŭ, v, v ́ , v ̂ , v ̈ , ÿ, y, ue, üe>. Die meisten dieser Graphien sind im Zuge der Normierung der neuhochdeutschen Orthographie und des damit einhergehenden Variantenabbaus später wieder aufgegeben worden. Auch die bereits angeführte Etablierung der Großschreibung ist unter dem Aspekt der Entwicklung von Zeicheninventaren als wichtiger Schritt anzusehen, führt er doch zu einer annähernden Verdopplung des Zeicheninventars durch Schaffung von Majuskelvarianten zu den in der karolingischen Minuskelschrift gegebenen Kleinbuchstaben. Wie die Beispiele zeigen, kann bei der Entwicklung von Zeicheninventaren im Prinzip zwischen zwei Grundtypen unterschieden werden: der (ggf. auch spontan erfolgenden) Modifikation bereits vorhandener Zeichen und der Erfindung bzw. dem Import neuer Zeichen. Diese beiden Typen lassen sich in der Praxis allerdings nicht immer unterscheiden. Die Übernahme des Y aus dem griechischen ins lateinische Alphabet ist ein Beispiel für die Übernahme eines ganz neuen Buchstaben ins Graphieninventar (Typ b). Ein Beispiel für den Typ a wäre die Anreicherung eines lateinischen Buchstaben mit einem Diakritikum wie bei den o. g. Graphien <u ͤ , ü, ů, u ͥ , ű, ú-…>. <?page no="70"?> 70 4. Geschichte der Schriftzeichen und Schriftsysteme Nicht immer ist klar zu entscheiden, in welchen Fällen tatsächlich von einer Erweiterung des Buchstabeninventars gesprochen werden kann. Denn manchmal ist der Gebrauch von Diakritika offenbar nur auf das Bemühen der Schreiber zurückzuführen, zwei ähnlich aussehende Buchstaben graphisch zu unterscheiden (graphische Differenzierung), z. B. indem ein u vor einem n mit einem Akut versehen wird (ú). So verfahren z. B. der Schreiber Ciprian von Serntein aus der Innsbrucker Kanzlei Maximilians I. (Kap. 6.2.2) oder Sabina Welserin aus Augsburg in ihrem Kochbuch (Kap 6.2.3). Auch heute machen manche beim Schreiben von dieser Differenzierungsmöglichkeit Gebrauch, ohne dass deshalb ein eigener Buchstabe ú oder ŭ als Element des deutschen Alphabetes definiert würde. Von den in frühneuzeitlichen Handschriften belegten Zeichen mit Diakritika haben sich langfristig nur die Umlautzeichen ä, ö, ü als feste Bestandteile des deutschen Alphabets etabliert. Neben der Ergänzung eines Zeichens durch diakritische Zusätze stellt die Kombination mehrerer Buchstaben das wohl am intensivsten genutzte Mittel zur Bildung neuer Graphien dar. In zwei Fällen, bei den Buchstaben w und ß, ist es jeweils zur Verschmelzung zweier Buchstaben zu einem neuen Zeichen gekommen. In Bezug auf den Buchstaben w, der im lateinischen Alphabet nicht enthalten war, ist ein genauer Entstehungszeitpunkt kaum zu bestimmen, da es sich um einen fließenden Übergang von zwei hintereinander geschriebenen u u (bzw. v v) über eine Ligatur uu (vv) bis zum Buchstaben w mit einer eigenen Gestalt handelt. Nach Schneider (2014, 22) wird der Laut, der etymologisch unserem w entspricht, in der frühkarolingischen Minuskel (Anfang 9. Jahrhundert) noch durch „zwei unverbundene u“ bezeichnet, im 10. bis 11. Jahrhundert wird das w dann „zunehmend aus 2 v zusammengestellt“ (ebd., 26), und im „schrägovalen Stil“ des 11. bis 12. Jahrhunderts hat es „eine bereits ziemlich zusammengeschobene Form“ (ebd., 26). Es dürfte schwierig sein, zu entscheiden, ab wann die „zusammengeschobenen“ u- oder v-Zeichen einen eigenständigen neuen Buchstaben bilden. Eindeutig als neuer Buchstabe zu identifizieren ist allerdings das w mit zwei Schleifen, das in der gotischen Kursivschrift verwendet wird (vgl. Schneider 2014, 63 und 76, als Beispiel vgl. Kap. 4.3, Abb. 8, Buchstabe Nr. 2). Dasselbe gilt für die Zeichenfolge ſʒ und ihren Übergang zu dem neuen Buchstaben ß. In der Regel geht aus der Kombination zweier Buchstabenzeichen allerdings kein neuer Buchstabe hervor, sondern es kommt zur Entstehung von Mehrfachgraphien, deren Einzelkomponenten sich nach wie vor identifizieren lassen. Die heutige deutsche Standardorthographie enthält, abhängig davon, ob man die Graphien in Lehnwörtern mit dazu rechnet oder nicht, zwischen 11 und 85 Mehrfachgraphien, meist Digraphien (aus zwei Buchstaben zusammengesetzt), z. T. aber auch Trigraphien (wie <sch>: schön, <ieh>: sieh, <cch>: Zucchini) und sogar eine Tetragraphie (<dsch>: Dschungel) (Kap. 9.1.2). Die Anzahl der Digraphien in vormodernen Schreibsystemen ist noch deutlich höher. Reichmann / Wegera führen in den Graphienlisten ihrer „Frühneuhochdeutschen Grammatik“ (1993) nicht weniger als 139 Digraphien, 53 Trigraphien, elf Tetragraphien und zwei Pentagraphien an (Abb. 19), und das ist gewiss keine vollständige Zusammenstellung. <?page no="71"?> 71 4.4. Die Entwicklung von Zeicheninventaren Digraphien aa ae ah äh ai a ͤ i æi äi au a ů aû au ͗ au ͤ aü æu a ͤ u äu av av ͦ aw aw ̌ äw æw ay aÿ a ͤ y äy bb bf bp cc ch cg ck cz dd dh dt ee eh ei ej eu eú eü eu ͤ e ů ev ew e ẃ eẅ ey eÿ ff fh gg gh gk hl hn hr ie ih ij jh kg kh kk lh ll mb mh mm mp nc nd ng nh nk nn nt oe oë o ͤ e öe oh öh oi o ͤ i oo ou o ͤ u öu ou ͤ ov ow o ͤ w oy pf ph pp rh rr sc sh sq ss sſ sz ſſ ſ s ſ z ſ ß ß ſ tc td th ts tt tz ue úe üe ů e uh ů h üh uo uy vh wh ye ÿe y ͤ e yh zc zh zt zz Trigraphien aih bff bpf cch cck ccz chg chh chk chs chß ckk ctz czc czh czt czz dth dtt eih fpf fph gch ggh htc ieh kch kkh nck ngh ngk nng nnn pff pfh phf ppf pph rrh sch scz ssz ssß tcz tht tth ttz tzc tzt tzz zch zcz ztc zts Tetragraphien chch chss czcz ngck pfpf ppff ppfh ssch tsch tztz zsch Pentagraphien czsch tzsch Abb. 19. Mehrfachgraphien im Frühneuhochdeutschen anhand der Variantenlisten im Kopf der Paragraphen L18-L30 und L44-L65 der „Frühneuhochdeutschen Grammatik“ (Reichmann / Wegera 1993, 49-63, 84-151) (Ligaturen und Graphien mit Diakritikum wie ö oder á sind jeweils als eine Graphie gezählt) Im Zuge der orthographischen Normierungs- und Standardisierungsprozesse des 17. bis 20. Jahrhunderts sind die meisten dieser Graphienvarianten wieder verschwunden; lediglich die Doppelvokal- und Doppelkonsonantengraphien (<aa>, <bb>, <dd> usw.), die Vokalgraphien mit Dehnungs-h (<ah>, <eh>, oh> usw.) sowie einige weitere Graphien (<ei>, <au>, <äu>, <ch>, <ck>, <ng>, <sch> usw.) sind bis heute in Gebrauch geblieben. Darüber hinaus haben sich einige Digraphien in Toponymen relikthaft erhalten (Soest, Coesfeld, Duisburg, Juist). Für das Funktionieren der vormodernen Schreibsprachen waren die Mehrfachgraphien jedoch von fundamentaler Bedeutung, da sie den Schreibern vielfältige Möglichkeiten eröffneten, das Gehörte differenziert wiederzugeben, und darüber hinaus als Mittel einer stilistisch-ästhetischen Überformung des Textes eingesetzt werden konnten (zur Funktionalisierung von Doppelkonsonantengraphien Kap. 11.1, zur Markierung von Vokalquantitäten Rieke 1998 und Maas 1997, zur Auseinandersetzung über die Funktionen historischer Vokaldigraphien Elmentaler 2003, 19-21, 46-49 und Mihm 2001a, 587-602). Aus paläographischer Sicht umfasst das Thema der Entwicklung von Zeicheninventaren auch die Herausbildung neuer Formen der bereits etablierten Buchstaben. Bei Schneider (2014) werden diese Veränderungen der Buchstabenformen recht genau beschrieben. So werden z. B. für den Buchstaben a acht verschiedene Formen unterschieden, die im diachronen Verlauf einander abwechselten oder teils auch parallel Verwendung fanden: ein a, das aus zwei hintereinandergestellten c-Zeichen besteht (das frühkarolingische „cc-a“), ein a-Zeichen mit schrägem Schaft, eines mit aufrechtem Schaft, ein zweistöckiges, ein überhöhtes, ein kastenförmiges und ein einbogiges a sowie eines mit Schleife (ebd., 220, Registereintrag Buchstabenformen a). Solche formalen Veränderungen sind für graphematische Fragestellungen in der Regel irrelevant, da sie nicht mit funktionalen Veränderungen des Zeichens (etwa Unterschieden in der Lautreferenz oder der distinktiven Funktion der Zeichen) verbunden sind. <?page no="72"?> 72 4. Geschichte der Schriftzeichen und Schriftsysteme Einen eigenen Bereich der historischen Zeicheninventare bilden die nicht-alphabetischen Zeichen, die als integraler Bestandteil der Graphemsysteme zu betrachten sind. Hier sind etwa die in der historischen Schriftlichkeit stark ausgebauten Kürzel (Abbreviaturen) zu nennen, die von den professionellen Schreibern gerne verwendet wurden, um schnell und platzsparend zu schreiben (vgl. Schneider 2014, 86-91). Diese Kürzel ähneln häufig den Symbolen, die wir aus modernen Stenographiesystemen kennen. Ihre Bedeutung lässt sich in Kürzelverzeichnissen wie dem von Grun (1966) oder Dülfer / Korn (2000) nachschlagen. Gängige Kürzel sind der Nasalstrich, der noch bis weit ins 20. Jahrhundert bekannt war und z. B. noch bei Produktnamen gebraucht wurde (z. B. für die ehemalige Margarinemarke Botteram ̅ 'Butterbrot', teils auch Botteramm geschrieben, Abb. 20), ein hochgestellter Haken für auslautendes -er oder -(e)n oder die Kürzel für verschiedene lateinische Vor- oder Nachsilben wie per-, pro-, -ur, -us. Manchmal wird aber auch mehr als eine Silbe abgekürzt, im Mittelniederdeutschen z. B. in dem verbreiteten vurſ ʒˀ (vurschreuen) bzw. vurg ˀ (vurgenannt) 'vorher beschrieben / genannt'. Auch gab es Kürzel für bestimmte Einzelwörter aus dem religiösen Bereich (Ihs 'Jesus', Xps 'Christus', dns 'dominus'), für Mengenangaben (xxvm '25 tausend'), Währungen ( δ 'denarius-= Pfennig', fl 'florin-= Gulden', ß 'Schilling') usw. Aus graphematischer Sicht sind die Kürzel dementsprechend teils als graphische Varianten zu einzelnen Buchstaben (also als Allographe) oder zu graphischen Silben zu interpretieren, teils als logographische Zeichen, die eine ganze Wortbedeutung zum Ausdruck bringen. Abb. 20. Beispiel für den Nasalstrich bei einem Produktnamen, zu lesen als „Botteramm“ (Film still aus einem Werbespot der frühen 1960er Jahre, Quelle: https: / / www.youtube.com/ watch? v=X2k0khn2dE8) Das nur knapp 200 Wörter umfassende Beispielkapitel aus dem Duisburger Stadtrecht von 1518 (abgedruckt in Kap. 10.2, Abb. 48) enthält nicht weniger als 37 Belege für diverse Kürzel (Abb. 21). <?page no="73"?> 73 4.4. Die Entwicklung von Zeicheninventaren Abb. 21. Beispiele für Abbreviaturen im Duisburger Stadtrecht von 1518 (Stadtarchiv Duisburg, Sign. 10A / 102) Formal lassen sich hierbei neun Typen unterscheiden, von denen einige offensichtlich je nach Wortkontext eine unterschiedliche Bedeutung tragen (1a und 1b, 2a und 2b, 3a und 3b). Umgekehrt werden manchmal dieselben Silben kontextspezifisch unterschiedlich abgekürzt (1a und 2a sowie 2b, 3a und 4). Im Falle der en-Endung lässt sich feststellen, dass das Kürzel 2b nur nach dem Konsonantenzeichen <d> auftritt (holden, tenden, vrunden), während nach anderen Konsonantengraphien das Kürzel 4 verwendet wird (brocken, buyten, mytten, setten, vernuegen, wecken, wegen). Das n-Kürzel 3a tritt teils nach finalem <e> auf (bynnen, geuen, koemen), teils aber auch nach einem bereits geschriebenen <n>, so dass in diesen Fällen eine Doppelung der Graphie <n> anzusetzen ist (baeuenn, betaelenn, bynnenn, blyeuenn, geuenn, salmenn, tegenn). In dem Beleg unter 3b würde eine Deutung als n-Kürzel auf die Wortform ? hebnn hinauslaufen (ebenso in ? hernn); hier erscheint wegen des Fehlens eines Vokalzeichens die Lesart als e-Kürzel plausibler (heben, heren). Die Beispiele belegen die Kontextabhängigkeit und den Interpretationsspielraum bei der Entschlüsselung der Abbreviaturen (vgl. Czajkowski i. Dr.). Mehr oder weniger ausführliche Analysen zum Kürzelgebrauch in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Handschriften finden sich in einigen historischgraphematischen Arbeiten. Eine recht ausführliche Distributionsanalyse der Kürzel in einer Augsburger Handschrift von 1553 bietet z. B. die Arbeit von Freund (1991, 34-39). Nach den Untersuchungen von Nikolaus Ruge (2004) lag die Hochzeit der Kürzel vor dem 16. Jahrhundert. Ab 1500 konnte er für die von ihm untersuchten Abbreviaturen einen schnellen <?page no="74"?> 74 4. Geschichte der Schriftzeichen und Schriftsysteme Rückgang nachweisen; so war die Kürzelhäufigkeit schon um 1590 auf ein Zehntel und um 1710 auf ein Hundertstel des um 1500 gemessenen Wertes gesunken (Kap. 6.2.3, Abschnitt c, Abb. 23). Neben den Kürzelsystemen gehören auch die Interpunktionszeichen zum Bestand der historischen Schreibsprachen. Bei einem Vergleich mit historischen Handschriften oder Drucken fällt sofort ins Auge, dass die Zeichensetzung stark von der uns vertrauten Interpunktion abweicht. Das betrifft zum einen die Art der Zeichen, die jeweils verwendet bzw. präferiert werden. In mittelalterlichen Handschriften finden wir als gliedernde Zeichen z. B. Punkte auf mittlerer Höhe (<·>) oder Virgeln (</ >), die heute nicht mehr zum Kernbestand der deutschen Orthographie gehören. Auf der anderen Seite haben einige heute noch bekannte Zeichen auch ihre Bedeutung verändert. So wurde das Gleichheitszeichen <=> noch bis ins 20. Jahrhundert u. a. als Symbol für die Silbentrennung verwendet, bis es durch den einfachen Viertelgeviertstrich (<->) ersetzt wurde. In jüngster Zeit sind im Zusammenhang mit den neuen Medien wiederum neue Zeichen hinzugekommen, wie der Unterstrich (<_>), der Backslash (<\>) und das At-Zeichen (oder „Klammeraffe“) sowie diverse „Emoticons“ (vgl. Siebenhaar 2018). Die beschriebenen Veränderungen fallen, insoweit es um die formalen Aspekte geht, zunächst in den Bereich der Schriftgeschichte, sind aber z. T. auch für die graphematische Entwicklung relevant. So zeigt der Abbau der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kürzelsysteme einen Wandel hin zur Verschriftung mit expliziten Wortformen an. Dieser Wandel dürfte mit der allgemeinen Durchsetzung des Prinzips der Morphemkonstantschreibung zusammenhängen, das sich im 17. und 18. Jahrhundert weitgehend durchsetzt und bis heute ein zentrales Prinzip der deutschen Orthographie darstellt (Kap. 11.2). Während in einer mittelalterlichen Handschrift oder einem frühneuzeitlichen Druck das Nebeneinander von Schreibungen wie mutter, muoter, můter und mutt ˀ durchaus akzeptabel war und die Fähigkeit zur Dekodierung dieser Formen vom Leser erwartet wurde, wird in moderneren Orthographien (seit ca. 1700) eine einheitliche und verbindliche Schreibweise angestrebt (Mutter), die eine schnellere Rezeption der Lexeme als „graphische Wortbilder“ erlaubt. Das zunächst rein formbezogene Phänomen des Abbaus von Kürzelsystemen ist somit zugleich ein Indiz für einen tiefgreifenden Wandel in der Funktionalität der Schreibsysteme, der mit der Durchsetzung eines neuen orthographischen Prinzips einhergeht. Von größter Wichtigkeit für die Historische Graphematik sind jedoch vor allem die genannten Veränderungen im Umfang der alphabetischen Zeicheninventare, denn sie sagen etwas darüber aus, wie differenziert lautliche Gegebenheiten der Bezugsvarietät (also der gesprochenen Sprache) schriftsprachlich reflektiert werden. Wenn z. B. ein Schreiber im Bereich des Vokalismus ausschließlich die lateinischen Basisgraphien <a, e, i, o, u> verwendet, ist klar, dass sich sein Schreibsystem nur sehr grob auf das volkssprachliche Lautsystem beziehen kann, da dieses in jedem Falle deutlich mehr als fünf Vokale enthalten haben muss. Wenn hingegen das Zeichensystem eines Schreibers zahlreiche Digraphien wie <ae, oi, uy, ie> usw. enthält, kann davon ausgegangen werden, dass hiermit zumindest teilweise Lautunterschiede wiedergegeben wurden. Ein Graphienvorrat von einem gewissen Umfang ist somit die Voraussetzung für eine präzisere Wiedergabe der lautlichen Differenzierungen <?page no="75"?> 75 4.5. Die Entwicklung der Modalitäten des Schreibens in der Bezugsvarietät. In welcher Weise die zusätzlichen Graphien tatsächlich für die Kennzeichnung lautlicher Besonderheiten (und nicht zu anderen Zwecken) verwendet wurden, muss dann die graphematische Detailanalyse der jeweiligen Schreibsysteme erweisen. 4.5. Die Entwicklung der Modalitäten des Schreibens Schreiben ist ein physischer Vorgang, dessen konkrete Ausführung im Laufe der Geschichte starken Veränderungen unterworfen war und der auch heute noch sehr unterschiedlich gestaltet sein kann. In frühen Phasen der Schriftlichkeit bestand die Tätigkeit des Schreibens z. B. darin, Tonplatten einzukerben, etwas mit einem Griffel in mit Wachs überzogene Holztafeln zu ritzen oder mit einem Schreibrohr Tusche aufzutragen. Selbst wenn wir uns auf die historischen Alphabetschriften Westeuropas beschränken, ist die Vielfalt der Beschreibstoffe wie der Schreibinstrumente beachtlich. Als Beschreibstoff diente zunächst das Pergament, als Nachfolger des bis in die ersten nachchristlichen Jahrhunderte noch üblichen Papyrus. Auf Pergament wurden die meisten althochdeutschen Texte niedergeschrieben, wobei mittels eines Federkiels Tusche oder Tinte aufgetragen wurde. Seit dem 14. Jahrhundert wurde das Pergament durch das wesentlich kostengünstigere Papier abgelöst, was die Menge des Geschriebenen in starkem Maße erhöhte (vgl. Meyer/ Schultz/ Schneidmüller 2015). Aus graphematischer Sicht hat sich dieser Wechsel der Beschreibstoffe eher indirekt ausgewirkt, da das Schreiben jetzt auch in alltägliche Lebensbereiche eindrang und dementsprechend auch andere sprachliche Register Eingang in die Schriftlichkeit fanden. Zugleich wurde durch die Vervielfachung der schriftlichen Kommunikation auch der Austausch zwischen den Schreibtraditionen unterschiedlicher Regionen intensiviert, was zu graphematischen Ausgleichsprozessen führen konnte. Durch den Buchdruck wurden diese Prozesse ab Mitte des 15. Jahrhunderts noch verstärkt. Nach diversen Vorläufern, vor allem den sogenannten „Blockbüchern“ bzw. „Holzschnittbüchern“, bei denen ein Text spiegelbildlich in eine Holzplatte geschnitzt wurde (vgl. Mertens/ Purpus/ Schneider 1991), leitete vor allem der durch Gutenberg um 1450 begründete Buchdruck mit beweglichen Lettern eine Medienrevolution ein. Mit dem neuen Medium wurde eine neue Art der Textproduktion etabliert, die sich von der hergebrachten Weise markant unterschied. Das maschinelle Bedrucken von Papier mit hintereinandergeschalteten Lettern erzeugt ein relativ gleichbleibendes Druckbild, das, anders als eine Handschrift, keine individuellen Züge und deutlich weniger graphische Varianz der einzelnen Buchstaben aufweist. Die Buchstaben in Druckerzeugnissen sind deutlich durch kleine Zwischenräume getrennt, was für Handschriften oftmals nicht gilt. Seit dem 15. Jahrhundert gibt es somit eine Opposition von individuell geprägtem Handschreiben und entindividualisiertem Druck, die im Prinzip bis heute noch besteht. Die typischen Eigenschaften der Druckschriften haben sich trotz des technischen Wandels (Blockdruck > Mobilletterndruck > Lithographie > Offsetdruck > Digitaldruck) im Prinzip kaum verändert. Zu einem erneuten Umbruch kam es im 19. Jahrhundert mit der Erfindung der modernen Schreibmaschine, deren Vorgeschichte bis auf die Zeit um 1714 zurückreicht (vgl. Bliven 1954, von Eye 1958). Hiermit wurde eine Art des Schreibens etabliert, die dem Drucken zwar in einigen Zügen ähnelt (Mechanisierung des Schreibvorgangs, dadurch identische Zeichentypen <?page no="76"?> 76 4. Geschichte der Schriftzeichen und Schriftsysteme und Entindividualisierung), sich aber zugleich in wichtigen Punkten davon unterscheidet. Einerseits liefert ein maschinenschriftlicher Text dem Schreibenden bereits einen Eindruck davon, wie er gedruckt aussehen könnte, während die gedruckte Version eines Buches dem Autor erst mit beträchtlicher Verzögerung vor Augen kommt. Andererseits aber ist das Zeichenrepertoire-- vor allem bei den klassischen Typenhebelschreibmaschinen-- wesentlich eingeschränkter als die Repertoires, die die Setzkästen der Druckereien bereithalten, so dass einige Zeichen, vor allem aber die meisten Schrifttypen (z. B. alle Proportionalschriften) oder Schrifteigenschaften wie Kursiv- oder Fettdruck nicht erzeugt werden können. In ihrer Reichweite ist die maschinenschriftliche Textproduktion wiederum eher mit dem Handschreiben verwandt, denn bei einem Typoskript handelt es sich (wie bei einer mittelalterlichen Handschrift) um ein Unikat, allenfalls mit zwei oder drei „Durchschlägen“, das erst seit Erfindung der Fotokopie (Xerographie) 1937 / 38 und ihrer Durchsetzung in den 1960er Jahren wiederum sekundär vervielfältigt werden kann. Aufgrund der Unikalität von Schreibmaschinentexten werden Typoskripte von Schriftstellern wie „Originale“ behandelt und können auf Auktionen ähnlich hohe Preise erzielen wie handschriftliche Texte. Für die Autoren selbst hat das Typoskript einen besonderen Status, der weder dem handschriftlichen noch dem später gedruckten Textexemplar entspricht (vgl. Viollet 2005). Das Maschineschreiben ermöglicht ein höheres Schreibtempo als das handschriftliche Schreiben, was bereits im 19. Jahrhundert von Friedrich Nietzsche geschätzt wurde (vgl. Disser 2006) und im 20. Jahrhundert vor allem von Journalisten, die darauf angewiesen waren, in kurzer Frist Texte zu produzieren. Aber auch bei vielen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts gehörte das Maschineschreiben zum Selbstverständnis, wobei die typographischen Möglichkeiten der Schreibmaschine auch für literarische Experimente genutzt wurden, sei es in der Konkreten Poesie von Eugen Gomringer oder in den späten Typoskripten von Arno Schmidt. Seit der allgemeinen Durchsetzung der digitalen Medien im 21. Jahrhundert sind der Schreibmaschine als Instrument einer modernen, aber allmählich verschwindenden Schreibkultur, ihren prominenten Benutzern und Bewunderern (Mark Twain, Kafka, Norman Mailer, William Burroughs, Jack Kerouac usw.) und ihrer Inszenierung in der Kunst auffällig viele Betrachtungen gewidmet worden, oftmals mit einer nostalgisch-sentimentalen Note (vgl. Auster / Messer 2005, Giuriato / Stingelin / Zanetti 2005, Wershler-Henry 2007, Tullett 2014 und Lyons 2017 mit vielen weiteren Literaturhinweisen). Der bisher letzte große Schritt bei der Entwicklung technisch gestützter Schreibprozesse vollzog sich seit den 1980er Jahren mit der allgemeinen Verbreitung von Computern im Alltag. Das Schreiben mit einem Textverarbeitungssystem ähnelt in vielen Punkten dem klassischen Maschineschreiben (Verwendung einer Tastatur, identische Zeichenformen, hohes Schreibtempo), brachte jedoch auch einige Neuerungen mit sich. Korrekturen sind nun viel einfacher möglich als zuvor, die formalen Gestaltungsmöglichkeiten sind wesentlich größer (Fettdruck, Kursivdruck, Sperrdruck, variable Schriftarten und Schriftgrößen), die Texte können auch ohne Ausdrucken langfristig gespeichert, reproduziert oder versendet werden. Insbesonde- <?page no="77"?> 77 4.5. Die Entwicklung der Modalitäten des Schreibens re das höhere Tempo digitaler Schriftkommunikation über Computer oder Smartphones (Email, Chat, WhatsApp, WeChat, Snapchat, Twitter) hat zu einer starken Veränderung der Schreibgewohnheiten geführt, die mittelfristig auch Einfluss auf das graphematische System des Deutschen haben könnten. Hier sind Tendenzen wie der Verzicht auf die Substantivgroßschreibung, der eher pragmatisch als syntaktisch motivierte Gebrauch von Satzzeichen und eine generell weniger strenge Einhaltung der orthographischen Normen zu nennen, wie sie von Sprachkritikern häufig angeprangert und von Linguisten tendenziell eher wohlwollendinteressiert beschrieben werden (vgl. z. B. für einen internationalen Vergleich der Sprache in „Twitter“ und ähnlichen Microblogs die Arbeit von Siever / Schlobinski 2013). Hierzu zählt auch die Erweiterung des Zeicheninventars um eine Vielzahl neuer Zeichentypen (Smileys, Emoticons bzw. Emojis), die- - manchmal aus Interpunktionszeichen entstanden (wie in „: -)“)-- die Grenzen zwischen Buchstabe und Bildzeichen zunehmend verwischen. Inwiefern diese Veränderungen des Schreibens und der Schriftsysteme im Zuge der Digitalisierung sich auch auf die traditionellen Bereiche der Textproduktion auswirken werden, lässt sich derzeit schwer prognostizieren. Gegenüber der Technisierung des Schreibvorgangs durch Schreibmaschine und Computer konnte schließlich die Entscheidung, mit der Hand zu schreiben, als „Entschleunigung“ der Textproduktion neu konzeptualisiert werden. Eine besondere Beziehung zum Schreibgerät des Bleistifts pflegt der österreichische Schriftsteller Peter Handke (geb. 1942): „Was entspricht mir als Werkzeug? Nicht die Kamera, auch nicht der Pinsel oder die Schreibmaschine. Aber was entspricht mir als Werkzeug? -- der Bleistift. Ich sah, im Gerede gefangen, den Bleistift auf dem Tisch als das Raumschiff, das mich wegtragen würde. Der Bleistift war ein aus den Wolken ragender Berggipfel. Ich stand am offenen Fenster und mischte die Spiralen aus dem Bleistiftspitzer den draußen vorbeiwehenden Herbstblättern bei, als meine Herbstblätter. Der Bleistift wurde zum Haselstock. Letzte Geräusche des Tages: um Mitternacht das Hinfallen eines Bleistifts auf den Tisch, liebliche Kadenz. Bleistift, Brücke nach Hause! “ (Notizbuch von Peter Handke, August bis Dezember 1983, zit. n. Srienc 2011, 71) Handke fertigt seit den 1990er Jahren seine Manuskripte mit dem Bleistift an. Mit der Bedeutung des Bleistifts für Handke hat sich vor einigen Jahren sogar eine Diplomarbeit beschäftigt (Srienc 2011). <?page no="79"?> 79 5. Der individuelle Schreiber als zentrale Figur der Historischen Graphematik Sieht man von maschinell generierten Texten ab, dann steht hinter jedem geschriebenen Text eine Person, die ihn geschaffen hat: der „Schreiber“. Dieser heute sehr allgemein verwendete Begriff („der Schreiber dieser Zeilen“ usw.) hat kultur- und sozialhistorisch eine spezifischere Bedeutung, die in dem Artikel „Schreiber“ im „Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache“ ( DWDS ) umschrieben wird als „veraltet jmd., der beruflich Schreibarbeiten ausführt“. In den Jahrhunderten vor 1600 lag die Produktion schriftlicher Texte überwiegend in den Händen professioneller Kräfte, denn nur eine Minderheit der Bevölkerung im Reich (also dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation) konnte lesen und schreiben. Alfred Wendehorst setzt in seinem aufschlussreichen Artikel „Wer konnte im Mittelalter lesen und schreiben? “ (1986) für die Zeit um 1520 einen durchschnittlichen Anteil von ca. 10-30 % lese- und schreibkundigen Menschen an. Im Mittelalter dürfte der Anteil noch sehr viel geringer gewesen sein. Wie Wendehorst zeigt, waren die berühmten mittelhochdeutschen Dichter der Zeit um 1200 des Schreibens wohl nicht mächtig, denn Lesen und Schreiben waren „in der Wertskala des Rittertums, das Turnieren, Reiten, Jagen und Tanzen für ihm angemessene Beschäftigungen hielt, […] eher verachtete Tätigkeiten, die man delegierte“ (ebd., 27). Auch verfügten die Könige und Kaiser des Reiches lange Zeit nicht über eine nennenswerte Schreibkompetenz. „Erst seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts läßt sich bei den Herrschern in rasch zunehmendem Maße die Beherrschung der Schrift beobachten“ (ebd., 18), so etwa bei Karl IV . (1316-1378), Friedrich III . (1415-1493) und Maximilian I. (1459-1519). Auch im Klerus begann sich erst in dieser Zeit eine weitergehende Schreibfähigkeit zu entwickeln, und ebenso im Bereich von Handel und Verwaltung, denn „die Kaufmannschaft und die Territorialverwaltung des späten Mittelalters kamen mit dem Komplizierterwerden der Geschäfte und der Differenzierung der Administration nicht mehr ohne geschriebene Wörter und Zahlen aus“ (ebd., 33). Dennoch war das Schreiben für lange Zeit noch eine Kompetenz, die nur relativ wenige Menschen erwarben. Für die Historische Graphematik ist der Berufsschreiber somit eine zentrale Figur, denn er-- und nicht der Autor-- war in der Regel derjenige, der die graphematische Gestaltung eines Textes bestimmte. Daher ist aus graphematischer Sicht z. B. der Schreiber des „Ambraser Heldenbuchs“ (1504-1516 / 17), Hans Ried, von größerer Relevanz als die prominenten Autoren der darin enthaltenen Texte (Hartmann von Aue, der Stricker, Wolfram von Eschenbach, Ulrich von Liechtenstein u. a.), denn er hat den dort gesammelten Texten bei der Zusammenstellung seinen eigenen sprachlichen Stempel aufgedrückt. In Bezug auf den Einfluss dieser vormodernen Berufsschreiber auf die graphematische Gestaltung der Texte sind einige Aspekte besonders hervorzuheben: <?page no="80"?> 80 5. Der individuelle Schreiber als zentrale Figur der Historischen Graphematik ▶ In den Jahrhunderten zwischen 800 und 1800 gab es noch keine Orthographie im Sinne einer überregional einheitlichen und verbindlichen Norm, an der man sich hätte orientieren können. Berufsschreiber genossen allerdings eine spezifische Ausbildung, in der sie landschaftlich geprägte Konventionen des Schreibens und dabei auch Regeln zum korrekten Schreiben, also zur „orthographia“, vermittelt bekamen. Somit ist damit zu rechnen, dass Personen, die unterschiedliche Schulungen durchlaufen haben, sich in ihrem graphematischen Profil voneinander unterscheiden. ▶ Berufsschreiber wechselten oft ihren Arbeitsplatz (die Kanzlei einer Stadt oder eines Hofes) und waren demnach auch in Regionen tätig, in denen sie nicht sprachlich sozialisiert wurden. Diese hohe Mobilität konnte dazu führen, dass ein von außen in eine Kanzlei wechselnder Schreiber dort neue Schreibweisen einführte, die ihm aus der Kanzleiausbildung in seiner Herkunftsregion geläufig waren. Ob eine solche Assimilation stattfand oder ob Schreiber sich vielmehr den örtlichen Traditionen anpassten, wird in der sprachhistorischen Forschung kontrovers diskutiert. ▶ Unter sozialen Gesichtspunkten ist zu berücksichtigen, dass es in Mittelalter und Früher Neuzeit (ähnlich wie heute) Schreiber mit unterschiedlich stark ausgeprägter Schreibkompetenz gab. Von dem hoch angesehenen, klassisch gebildeten Stadtsekretär als Chef einer städtischen Kanzlei bis zum angestellten Hilfsschreiber im niederen Dienst oder dem privaten Gelegenheitsschreiber gab es ein breites Spektrum an Schreibern mit sehr unterschiedlichem Bildungsstand und Erfahrungshorizont. Dies konnte sich auf die graphematische Gestalt der Texte auswirken, etwa in Form einer besonders ausgeprägten Kunstfertigkeit im Graphiengebrauch oder einer unterschiedlichen Durchlässigkeit der Schreibsprache für Merkmale des gesprochenen Dialekts. ▶ Schließlich ist neben dem Einfluss des regionalen, situativen oder sozialen Kontexts auch davon auszugehen, dass dem einzelnen Schreiber ein recht großer Spielraum zur individuellen Variation zur Verfügung stand. Die Frage, welche graphischen Zeichen man präferierte und wie man sie im Rahmen einer Schreibsprache funktionalisierte, ob man eher einen strengen, reduzierten Schreibstil pflegte oder durch überbordenden Variantengebrauch ein ästhetisches Schreibfeuerwerk abbrannte, war somit bis zu einem gewissen Grade auch von Temperament und Persönlichkeit des Schreibers abhängig. Im Folgenden werden auf Grundlage der historischen und schreibsprachhistorischen Forschungsliteratur zunächst die soziale Stellung, die Aufgaben und Ausbildungsprofile der Schreiber in vormoderner Zeit mit Blick auf deren möglichen Einfluss auf die Gestaltung historischer Schreibsprachen knapp skizziert (Kap. 5.1). Anschließend wird darauf eingegangen, inwieweit sich in Kanzleien Schreibtraditionen herausbilden konnten und wie sich eine solche „Tradition“ oder „lokale Schreibnorm“ sprachlich charakterisieren lässt (Kap. 5.2). Im darauffolgenden Kapitel 5.3 wird aus der entgegengesetzten Perspektive danach gefragt, wie und in welchem Maße die individuellen Schreiber den ihnen zur Verfügung stehenden Gestaltungsspielraum nutzen konnten und nutzten, um Schreibsysteme mit einem eigenem Gepräge zu entwickeln. Abschließend wird in Kap. 5.4 diskutiert, welche methodischen Konsequenzen sich daraus für die Historische Graphematik ergeben. <?page no="81"?> 81 5.1. Schreiberausbildung und Kanzleiwesen 5.1. Schreiberausbildung und Kanzleiwesen In seiner „Einführung in die deutsche Sprachgeschichte“ bezeichnet Hans Ulrich Schmid die frühneuzeitlichen Kanzleien von Kaisern, Königen, Fürsten oder Städten als „‚Kompetenzzentren‘ in Sachen Schreiben“ (Schmid 2017, 45). Diese Bezeichnung bezieht sich in erster Linie auf die Professionalisierung des Schreibens mit der Ausbreitung des Berufsschreibertums, die sich im Laufe des 14. Jahrhunderts vollzog. Natürlich hatte es auch im frühen und hohen Mittelalter schon kompetente Schreiber (meist Kleriker) gegeben, wie die erhaltenen althochdeutschen und altsächsischen Texte belegen. Deren Ausbildung war jedoch noch nicht in der Weise institutionalisiert, dass sich regionale Schreibkonventionen hätten herausbilden können. Erst durch den Umstand, dass sich die schriftsprachliche Kommunikation ab dem 14. Jahrhundert auf immer mehr Lebensbereiche ausdehnte und die Nachfrage nach professionellen Schreibern wuchs, wurde die Gründung von Ausbildungsstätten (Schreiberschulen) und Kanzleien notwendig. Hier konnten sich allmählich anspruchsvollere orthographische Konventionen herausbilden. Auch in den städtischen Kanzleien waren in älterer Zeit zunächst überwiegend Geistliche als Schreiber tätig, da nur diese die erforderlichen Qualifikationen aufwiesen. Dies änderte sich jedoch ab dem 14./ 15. Jahrhundert, da breitere Bevölkerungskreise höhere Bildung erwarben; in späterer Zeit waren die Stadtschreiber überwiegend bürgerlicher Herkunft (vgl. Stein 1895, Wriedt 1978). Wie wir aus zahlreichen Quellen wissen und wie auch zeitgenössische Bilddarstellungen demonstrieren (Abb. 22), waren die professionellen Stadtschreiber gebildete und angesehene Persönlichkeiten in der bürgerlichen Gesellschaft. Ferdinand Elsener beschreibt dies in seiner materialreichen Studie über die „Notare und Stadtschreiber“ in der Schweiz wie folgt: „Diese Notare gehörten fast durchweg zur sozial gehobenen Schicht: Sie waren versippt mit dem Patriziat der südwestdeutschen Städte, sie bildeten mitunter ganze Dynastien von Stadtschreibern und Notaren-[…]. Sie waren meist Leute von ausgesprochenem Reichtum, in der Regel mit höherem Einkommen als die Kirchherren der Städte-[…]. Ganz allgemein gab die Kenntnis der lateinischen Sprache den Stadtschreibern in der kleinen Welt der spätmittelalterlichen Stadtgemeinde den Nimbus des Gelehrten; sie waren die eigentlich intellektuellen Köpfe der kleinen Polis. Wir finden da manchen schon zu Ende des 15. Jahrhunderts, der der griechischen Sprache mächtig war-[…]. Die Stadtschreiber und die Notare der ländlichen Territorialherren-[…] waren durchwegs Wegbereiter des Humanismus-[…].“ (Elsener 1960, 23; mit vielen Hinweisen auf die ältere Forschungsliteratur) Eine Reihe von Arbeiten haben diese Beobachtungen auch für andere Städte und Regionen des deutschsprachigen Raumes bestätigt, etwa für den deutschen Südwesten (Burger 1960), für Lüneburg (Uhde 1977), Göttingen (Hoheisel 1998) und Zwickau (Metzler 2008). Hierbei gab es neben den festangestellten Schreibern auch solche, die freiberuflich tätig waren und einzelne Auftragsarbeiten übernahmen (z. B. das Kopieren von Handschriften). Und neben dem hochangesehenen und hochbezahlten Stadtsekretär (dem notarius publicus und Kanzleivorsteher) gab es auch Schreiber auf der mittleren Hierarchiestufe (Protonotare) und Hilfsschreiber oder Kopisten, die niedere Dienste ausführten und keine akademische Ausbildung besaßen (vgl. Döhring 1990). Wie Karin Schneider (1995) am Beispiel des spät- <?page no="82"?> 82 5. Der individuelle Schreiber als zentrale Figur der Historischen Graphematik Abb. 22. Bildnis des Nördlinger Stadtschreibers Ulrich Tengler (1447-1511) (Abbildung aus Burger 1960, Tafel 2) <?page no="83"?> 83 5.1. Schreiberausbildung und Kanzleiwesen mittelalterlichen Augsburg ausführt, waren in den Städten neben den Berufsschreibern auch zahlreiche „Amateurschreiber“ tätig, die nebenberuflich Schreibarbeiten übernahmen. In Augsburg gab es z. B. mehrere Zöllner, Kaufleute, Ärzte und wohlhabende Büchersammler, die als Abschreiber von Chroniken, Erbauungsbüchern, medizinischen Fachbüchern, Rezeptsammlungen oder Fastnachtsspielen hervortraten. Für die Historische Graphematik sind die sozialen Rahmenbedingungen des Schreiberwesens unmittelbar relevant. Denn individuelle Faktoren wie die regionale Herkunft, die Sprachkenntnisse, die allgemeine und spezifische Vorbildung und die Gegebenheiten am Arbeitsplatz (also in der Kanzlei) konnten sich darauf auswirken, welchen individuellen Schreibstil ein Schreiber entwickelte. So war es naheliegend, dass ein Schreiber, der aufgrund seiner Herkunft bereits mit Besonderheiten des regionalen Schreibusus vertraut war, diese auch in seine eigene Schreibpraxis übernahm. Jeder im ripuarischen Raum aufgewachsene Schreiber kannte z. B. die dort verbreitete Konvention, Vokallängen durch ein nachgestelltes -i zu bezeichnen (broit 'Brot', eirsam 'ehrsam'). Ein damit vertrauter Schreiber behielt diese Schreibung möglicherweise noch bei, wenn er in eine Kanzlei außerhalb des Rheinlandes wechselte. Hinzu kam die Vertrautheit mit dialektalen Formen. Ein Schreiber, der die typischen rheinischen Tonakzente kannte, versuchte diese vielleicht auch im Schriftbild wiederzugeben. Möglicherweise versuchte aber auch ein Schreiber bestimmte Dialektmerkmale besonders zu vermeiden, wenn er sie aus seiner eigenen Sprachkompetenz heraus als „unfein“ oder „bäuerlich“ einschätzte-- in jedem Falle ist die regionale Herkunft eines Schreibers als potenzieller Einflussfaktor auf dessen Schreibgebrauch nicht zu vernachlässigen. Neben der regionalen Herkunft kann auch der Bildungshintergrund der Schreiber aus graphematischer Perspektive eine Rolle spielen. So ist zu erwarten, dass weniger gebildete Schreiber nicht nur mehr Fehler produzieren, sondern auch häufiger Dialektismen oder Merkmale der gesprochenen Sprache graphematisch abbilden. Schon in ihrer schulischen Ausbildung wurden die angehenden Schreiber mit Regeln zur Gestaltung schriftlicher Texte konfrontiert. Auch wenn wir aufgrund der spärlichen Überlieferung nur wenig Konkretes über die dort vermittelten Inhalte wissen und die zitierten historischen Arbeiten auf diesen Aspekt meist nur am Rande und ohne Bezug auf die graphematische Ebene eingehen, wird den Schreiberschulen generell eine wichtige Rolle für die Entstehung regionaler Schreibtraditionen zugeschrieben. <?page no="84"?> 84 5. Der individuelle Schreiber als zentrale Figur der Historischen Graphematik Nach Klaus Wriedt wurde bereits in den städtischen Schulen die „Ars dictandi“ gelehrt, wobei „auch die sprachlichen und formalen Grundlagen der schriftlichen Geschäftsführung, besonders die Stilisierung von Briefen“ vermittelt worden seien (Wriedt 1983, 164 f.). Als Beleg hierfür verweist er auf erhaltene Wachstafeln aus der Zeit von ca. 1370 aus einer Lübecker Schule. Kintzinger (1990, 375) geht davon aus, dass die Stadtschulen „Bildungs- und Ausbildungsförderung“ miteinander verbanden, indem sie nicht nur einen allgemeinen Unterricht vermittelten, sondern zugleich die Beamtenausbildung übernahmen. Hierbei wurden z. B. Formelbücher und Briefsteller als Ausbildungsunterlagen verwendet. Die Ausbildung „umfaßte sowohl theoretische Unterweisung in Rhetorik und den städtischen Satzungen als auch praktische Lehre durch Schreib- und Stilübungen“ (ebd., 431). Einige dieser Schreiberschulen sind der Forschung bekannt, in Süddeutschland etwa die Stadtschreiber-Schulen von Eßlingen und Ulm. In Eßlingen unterhielt z. B. der bekannte Humanist und Orthographietheoretiker Nikolaus (Niklas) von Wyle eine Privatschule mit Internat (vgl. Herzog 1910, 140). Der Beitrag der Schreiberschulen wird von manchen Forschern für bedeutender gehalten als der spätere Einfluss des Kanzleiumfelds. Nach Auffassung von Tennant (1985, 119) lernten die angehenden Stadtsekretäre und Notare bereits in diesem Ausbildungsschritt „how to write cancelleysch“. Letztlich sei daher vor allem die schulische Schreiberausbildung verantwortlich für bestimmte Normierungstendenzen in den Kanzleien (ebd., 126). Ähnliches vermutete auch bereits der Sprachhistoriker Ludwig Erich Schmitt: „Der Schreiber, der in der Kanzlei seinen Geschäften nachging, besaß eine Schreiberschulung, die nur in gewissen Grenzen beweglich blieb. Das Geschehen in den Kanzleien ist sehr oft bereits Folge, nicht Ursache.“ (Schmitt 1936, 16) Hiernach sind weniger die Kanzleien als vielmehr die Institutionen der Schreiberausbildung für die Tendenzen zur Normierung der Schreibsprachen verantwortlich. Über die Vermittlung von Regeln zur graphematischen Textgestaltung ist wenig bekannt, da die überlieferten Stadtschreiberordnungen keine präzisen Hinweise darauf geben. Manche Funde, wie etwa ein erhaltenes (Eigen-)Werbeplakat des Schreibmeisters Johannes Brune aus Erfurt von 1493 (zit. bei Tennant 1985, 281), deuten jedoch darauf hin, dass der Unterricht in den Schreibschulen wohl auch handfeste orthographische Anweisungen enthielt. Indirekt lassen sich auch aus den frühen Orthographielehren Hinweise darauf gewinnen, dass der Unterricht in den Schreiberschulen auch einen Überblick über die in den verschiedenen Regionen üblichen Schreibsprachen beinhaltet haben muss. Denn dort wird von einem Kanzleischreiber eine solide Lesekompetenz, wenn nicht sogar aktive Kompetenz in mehreren regionalen Schreibtraditionen erwartet. Sehr deutlich wird dies in einem berühmten Zitat aus dem „Schryfftspiegel“, einer 1527 in Köln erschienenen, anonymen Orthographielehre in ripuarischer Sprache: „Eyn schriuer wilcher land art der in duytzscher nacioin geboren is / sal sich zo vur vyß flyssigen / dat he ouch ander duitsch / dan als men in synk land synget / schriuen lesen vnd vurnemen moeg. Als is <?page no="85"?> 85 5.1. Schreiberausbildung und Kanzleiwesen he eynn Franck / Swob / Beyer / Rynlender [etc.] sall ouch sassenscher / merckysscher spraiche eyns deyls verstandt hauen Des gelichen wederūb / is eyner eyn Saß / Merker [etc.] he sal sich des hochduytzschen myt flissigē. dan eynem bero ͤ mden schriuer kumpt mencherleye volck zo hant / vnd wan als dan eynn ytlicher wulde ader sülde syngen als ym der snauel gewassen were / so bedo ͤ rfft men wail tussen eynem Beyeren vnd Sassen eyn tolmetsch.“ („Schryfftspiegel“ Bl. A1v, zit. n. Götz 1992, 212) Ein Schreiber, in welchem Landesteil der deutschen Nation er auch geboren wurde, soll sich vor allem darum bemühen, dass er auch ein anderes Deutsch als das, was man in seinem Land singt, schreiben, lesen und verstehen kann. Wenn er z. B. ein Franke, Schwabe, Bayer, Rheinländer usw. ist, dann soll er auch von der niederdeutschen („sächsischen“) und brandenburgischen („märkischen“) Sprache ein wenig verstehen können. Ebenso soll sich wiederum ein Niederdeutscher, Brandenburger usw. auch mit dem Hochdeutschen beschäftigen. Denn einem berühmten Schreiber wird mancherlei Volk begegnen, und wenn dann jeder so singen wollte, wie ihm der Schnabel gewachsen wäre, dann bräuchte man wohl zwischen einem Bayern und einem Niederdeutschen einen Dolmetscher. Jeder Schreiber soll sich also mit dem Sprachgebrauch anderer Regionen beschäftigen, um auch die dort produzierten Texte verstehen zu können. Dabei wurden die Texte anderer Regionen aber nicht einfach abgeschrieben, sondern in vielfältiger Weise sprachlich und auch graphematisch angepasst und für die Bedürfnisse der Zielregion eingerichtet. Einige Aspekte dieser „sprachliche[n] Umsetzungstechniken beim binnensprachlichen Texttransfer“ werden in den Beiträgen des Sonderhefts der Zeitschrift für deutsche Philologie „Der Schreiber als Dolmetsch“ beleuchtet (vgl. Besch/ Klein 2008). Damit der wechselseitige Austausch und Transfer trotz der großen interregionalen Sprachdifferenzen (vor allem zwischen den niederdeutschen und den hochdeutschen Dialekten) gelingen konnte, sollte allerdings jeder darauf achten, dass er nicht einfach „singt, wie ihm der Schnabel gewachsen ist“. Ursula Götz (1992, 213) interpretiert diese Aussage dahingehend, dass man kleinräumige Dialektmerkmale ablegen und eine verständlichere Sprechweise verwenden solle. Dieses Sprechen war aber zweifellos immer noch stark regional gefärbt. Grundlage für die Verständigung zwischen Menschen aus verschiedenen Dialektgebieten bildet also grundsätzlich die zumindest partielle und passive Kompetenz anderer Varietäten, gepaart mit der Bereitschaft, selbst auf Dialektismen zu verzichten, die für Außenstehende schwer verständlich sein könnten. Die grundsätzliche Berechtigung und der Eigenwert regionaler Schreibsprachen wird somit nicht in Frage gestellt; von der modernen Idee einer verbindenden überregionalen Standardsprache ist hier noch keine Rede. Dass die im „Schryfftspiegel“ eingeforderte Varietätenkompetenz bei vielen Schreibern tatsächlich vorhanden war, legen nicht nur die recht detaillierten Beschreibungen zeitgenössischer Regionalsprachen in den Grammatiken des 16. Jahrhunderts nahe (Kap. 8.3), sondern auch Schriftstücke, in denen Schreiber gezielt markante Schreibformen aus anderen Regionen in ihre Texte integrierten, etwa bairische Schreibungen in Kölner Briefen (vgl. Möller 1998). In den Schreibstuben, gerade in größeren Kanzleien, trafen zudem häufig Schreiber aus verschiedenen deutschsprachigen Regionen aufeinander. Wriedt (1978, 26) geht davon aus, „daß Spitzenkräfte von Stadt zu Stadt wechselten und auch abgeworben wurden“. Aus der Tatsache, dass Schreiber häufig von auswärts rekrutiert wurden, ergibt sich ein relevantes Problem für die Historische <?page no="86"?> 86 5. Der individuelle Schreiber als zentrale Figur der Historischen Graphematik Graphematik: Konnten unter diesen Umständen überhaupt homogene Schreibtraditionen entstehen? Haben sich neu hinzugekommene Schreiber eher angepasst oder haben sie umgekehrt ihrem neuen Arbeitsplatz ihre Stempel aufgedrückt? Auf diese kontrovers diskutierte Frage soll in Kap. 5.4 genauer eingegangen werden. Neben der Anwerbung externer Fachkräfte gab es auch die Praxis, das eigene Personal intern auszubilden. Nach Meissburger (1965, 61, 80) haben sich nicht selten die Söhne der Schreiber von ihren Vätern als Stadtschreiber ausbilden lassen (am Beispiel von St. Gallen). Dies hat allerdings, wie eine Untersuchung zu einer entsprechenden Konstellation in der Duisburger Stadtkanzlei ergeben hat (vgl. Elmentaler 2000), nicht immer eine Sicherung schreibsprachlicher Kontinuität zur Folge. Denn in dem Duisburger Fall weicht die Schreibweise des Sohnes (Stadtschreiber Ludger der Jüngere) in einigen Punkten markant von der des Vaters (Stadtschreiber Ludger der Ältere) ab-- vielleicht ein Beispiel für einen auf dem Feld der Schreibung ausgetragenen Generationenkonflikt. 5.2. Die Kanzlei als Kristallisationspunkt für Schreibtraditionen Die historischen Schreibsprachen der Vormoderne sind in hohem Maße durch „Variabilität“ gekennzeichnet (Kap. 6). Variabilität ist ein relationaler Begriff, der als Basis immer eine bestimmte Bezugsgröße voraussetzt, der wiederum eine stabile Identität zugeschrieben wird (vgl. Mattheier 1984, 770). Dies kann das gedachte Diasystem der gesamten deutschen Sprache sein; in sprachgeschichtlicher Perspektive wäre das die Menge aller in einer bestimmten Epoche gegebenen schriftlichen Repräsentationen dessen, was (den Zeitgenossen oder dem heutigen Forscher) als „deutsch“ gilt. Die Bezugsgröße kann aber auch die Schreibsprache einer Region, eines einzigen Ortes oder einer bestimmten Textsorte sein, und im Extremfall sogar das Schreibsystem eines individuellen Textes bzw. einer Schreiberhand. Auf jeder dieser Ebenen muss geklärt werden, welcher Status dem jeweiligen Bezugssystem zukommt und welche Einheiten in Relation dazu als „Varianten“ aufgefasst werden (Kap. 6.1). Mit Blick auf die schreibsprachlichen Verhältnisse im 13. bis 17. Jahrhundert ist in diesem Zusammenhang danach zu fragen, inwiefern fürstliche oder städtische Kanzleien tatsächlich geeignete Bezugsgrößen darstellen, auf deren Grundlage man graphematische Variation definieren kann. Denn nur wenn man grundsätzlich von der Existenz einer längerfristigen Schreibtradition ausgeht, kann überhaupt sinnvoll von dem in ihr gegebenen Variationspotenzial gesprochen werden. Somit stellt sich die Frage: Lässt sich unter der variablen Oberfläche im schriftlichen „Output“ einer Kanzlei eine diachronisch stabile Basis identifizieren, die es rechtfertigt, überhaupt von einer kanzleispezifischen Schreibtradition zu sprechen? Wie der häufige Gebrauch von Begriffen wie „Kanzleisprache“, „Kanzleinorm“, „kanzleispezifischer Schreibusus“ usw. zeigt, wird in der Forschungsliteratur davon ausgegangen, dass es solche Traditionen gibt. Diese Annahme impliziert, dass sich die einzelnen Schreiber in einem begrenzten Spielraum bewegen, den die jeweilige Tradition erlaubt, wobei sie in Einzelfällen natürlich auch damit brechen können. Doch was hat man sich unter einer solchen „Schreibtradition“ überhaupt vorzustellen? <?page no="87"?> 87 5.2. Die Kanzlei als Kristallisationspunkt für Schreibtraditionen Gerhard Kettmann (1968, 354) spricht in Bezug auf die Schreibtradition der Kanzlei im kursächsischen Wittenberg von einem „nicht gruppengebundene[n] invariable[n] Bestand“ an Graphien, vor dem sich die individuellen oder gruppenspezifischen Differenzen der Schreibvarietäten abheben. Metaphorisch bezeichnet er die dort herrschende Schreibtradition als einen „Schreibrahmen“, in den sich die einzelnen Schreiber einfügten. Dieser „invariable Kern“ werde diachronisch durch weiteren Variantenabbau gestärkt. Damit benennt Kettmann einige allgemeine Aspekte, die oft als kennzeichnend für vormoderne Schreibtraditionen angesehen werden: ▶ Sie sind intern begründet in individuen- und gruppenübergreifenden Gemeinsamkeiten im Schreiben. ▶ Sie definieren sich nach außen hin durch den Kontrast zu den Schreibtraditionen anderer Kanzleien bzw. Regionen. ▶ „Schreibrahmen“, die zunächst noch ein höheres Maß an Variation zulassen, können durch Variantenabbau an Festigkeit und Einheitlichkeit gewinnen. Die genauere Bestimmung einer solchen Schreibtradition kann nur auf empirischem Wege erfolgen. Zu klären ist hierbei, ab wann eigentlich davon ausgegangen werden kann, dass man es mit einer stabilen und festen Norm zu tun hat und nicht einfach mit einem Neben- oder Nacheinander von individuellen Schreibsystemen. Hans Moser, der in seiner Monographie die ostoberdeutsche, bairisch-österreichische Schreibsprache der Innsbrucker Kanzlei Kaiser Maximilians I. untersucht, beschreibt den dortigen Schreibgebrauch als „gelockerte Norm“ im Sinne eines „festen, aber elastischen Usus“ (Moser 1977, 145), der zahlreiche Variationsmöglichkeiten zulässt. Diese „gelockerte Norm“ der vormodernen Schreibsprachen ist noch nicht durch die Merkmale der Kodifizierung, Invariabilität, Verbindlichkeit und Stabilität gekennzeichnet, die nach Nerius (2007, 34-40) die moderne orthographische Norm charakterisieren. Forschungsüberblick: Manche Autoren vermeiden gänzlich den Gebrauch des Normbegriffs in Bezug auf historische Schreibsprachen und sprechen stattdessen von „Schreibregeln“ (Schmitt 1936, 62), „Regionalkonventionen“ (Besch 1972, 464), einer „tendenziellen Regelung“ (Kaempfert 1980, 77) oder einem „dynamische[n] System, das sich später weiter gefestigt hat“ (Maas 1991, 35). Nach Hans Moser (1977, 235) sichert hierbei der „Rahmen eines festen Graphemsystems“ die Kommunikation, so dass in bestimmten Bereichen Variation möglich sei, ohne dass das Verständnis gefährdet würde, etwa indem bestimmte Graphemoppositionen punktuell aufgehoben würden (ebd., 235). „Zeicheninventar und Zahl / Art der Varianten bleiben im wesentlichen unverändert“ (ebd.). In ähnlicher Weise unternimmt auch Gerhard Kettmann (1967, 270-297) für die kursächsische Kanzleisprache den Versuch, auf der Grundlage seiner graphematischen Detailanalysen einen „usuellen Zeichenbestand“ zu bestimmen und von den „orthographische[n] Schwankungen in der Kanzlei“ zu unterscheiden. Wenn wir im Anschluss an die Arbeiten von Moser, Kettmann und anderen Autoren davon ausgehen, dass die Annahme einer (flexiblen) Kanzleitradition berechtigt ist, dann stellt <?page no="88"?> 88 5. Der individuelle Schreiber als zentrale Figur der Historischen Graphematik sich die Frage nach den inner- und außersprachlichen Faktoren, die die Kontinuität einer solchen Tradition sichern. Aus einer sprachstrukturellen Perspektive heraus argumentiert Wolfgang Fleischer (1970), dass die Stabilität einer Schreibsprache über die durchgehende Bezugnahme auf die regionale Sprechsprache gewährleistet werde. Die phonologische Struktur des gesprochenen Bezugssystems sei ein „immanenter Kristallisationsfaktor“ für das Schreiben (ebd., 457). Als außersprachliche Erklärung führt z. B. Moser (1977) die soziale Hierarchie innerhalb einer Kanzlei an. Die Konstanz des Schreibusus einer Kanzlei werde dadurch gesichert, dass sich die Mitarbeiter der Kanzlei am Vorbild der höheren Beamten orientierten. Daher sei mit personellen Veränderungen in der Kanzlei häufig ein Wechsel der Schreibweise verbunden. Beide Faktoren zusammen garantieren eine gewisse Konstanz innerhalb einer lokalen Schreibtradition. In einer Reihe von Untersuchungen konnte wiederum gezeigt werden, dass sich eine Schreibtradition auch dadurch stabilisieren kann, dass sich die neu in eine Kanzlei eintretenden Schreiber an den bereits gegebenen Schreibusus anpassen. Eine besonders einflussreiche Studie war in diesem Zusammenhang die frühe Arbeit von Bruno Boesch (1946) zur alemannischen Urkundensprache des 13. Jahrhunderts. Boesch stellt für sein Gebiet fest, dass sich Schreiber, die in eine Kanzlei eintreten, in der Regel dem dortigen Schreibgebrauch anpassen. Auch in späteren Arbeiten geht er für den alemannischen Raum von einer weitgehenden Anpassung externer Schreiber an den lokalen Schreibusus aus, was „schon um der Verständlichkeit willen“ notwendig gewesen sei (Boesch 1968, 12). Boesch setzt demnach für die Untersuchung mittelalterlicher Schreibsprachen drei Komponenten an, die man berücksichtigen müsse: erstens den Schreibort und „dessen allenfalls schon bestehende Tradition, wie sie vom Meister auf den Schüler übertragen wird“, zweitens die „Sprachschicht“ und erst an dritter Stelle den Schreiber (ebd., 11 f.). Auch andere Autoren haben, oft im Anschluss an Boesch, die Bedeutsamkeit von lokalen Schreibtraditionen am Beispiel der jeweils untersuchten Kanzleien hervorgehoben, so etwa Ernst Erhard Müller (1953) mit Bezug auf die Basler Schreibsprache des 15. bis 17. Jahrhunderts. Müller zufolge verwenden manchmal sogar gerade auswärtige Schreiber oft lokaltypische Schreibungen (die auf Lautbesonderheiten der Basler Mundart verweisen), die ein einheimischer Schreiber eher vermeidet. Dies erklärt er damit, dass sich gerade die hinzukommenden Schreiber stärker an dem Gehörten orientieren mussten, wenn sie die lokale Mundart noch nicht sicher beherrschten. Für die Hofkanzlei Maximilians I. (ostoberdeutscher Raum) konstatiert auch Moser (1977) einen geringen Einfluss der Schreiberherkunft auf deren Schreibsprache. Und Ähnliches berichten auch Schmitt (1966) und Pfeffer (1972) für die Erfurter Kanzleien (ostmitteldeutscher Raum). Darüber hinaus können individuelle Schreiber zur Stablisierung einer Kanzleitradition beitragen, indem sie Variantenabbau betreiben, also die im lokalen Schreibusus gegebenen Variationsmöglichkeiten einschränken. Müller (1953, 10) berichtet von dem Schreiber Johannes Baumann, tätig in Basel (1515-1542), der bewusst gegen die damals verbreitete Mode der „Buchstabenhäufung“ Widerstand leistet, und Kettmann (1968, 356) identifiziert innerhalb der Wittenberger Stadtkanzlei einen Stadtsekretär namens Andreas Meynhardt (tätig 1508-1524), der Varianten abbaut und damit die Tradition nachhaltig festigt, insoweit als sich auch nachfolgende <?page no="89"?> 89 5.3. Die „idioskriptale Lizenz“ des historischen Schreibers Schreiber daran orientieren. Eine starke Anpassung auswärtiger Schreiber an den lokalen Usus stellt Kettmann für das 16. Jahrhundert auch im Bereich der Universität fest (ebd., 360). Beispiele aus anderen Sprachlandschaften ließen sich leicht ergänzen. In manchen Fällen gelingt die Anpassung an den lokalen Usus allerdings nur langsam. Kettmann (1967, 305) spricht von „subjektive[n] Einschreibschwierigkeiten“ einzelner Schreiber, die sich erst langsam an die ortsüblicher Schreibtradition anzupassen vermögen. Auch der oben genannte Schreiber Meynhardt hat erst nach und nach die lokalen Schreibgewohnheiten übernommen (vgl. Kettmann 1968, 356 f.). Für die Innsbrucker Kanzlei verweist Moser (1977, 220, 222) auf die nur allmähliche Anpassung an den ortsüblichen Schreibgebrauch durch den Schreiber Johann Storch. Trotz der zahlreichen Belege für die Existenz lokaler Schreibtraditionen und deren integrative und normierende Wirkung auf spätere Schreibergenerationen ist für vormoderne Sprachstufen allerdings immer auch damit zu rechnen, dass einzelne Schreiber ihre Gestaltungsspielräume nutzen konnten. Wir haben es somit niemals mit einer fixen und invariablen Norm zu tun, wie sie in einer modernen Orthographie vorliegt, sondern vielmehr, um noch einmal Kettmann zu zitieren, mit einer Norm im Sinne eines „begrenzt subjektiv variablen orthographischen Systems, das in seiner Ganzheit im Fluß ist“ (Kettmann 1967, 309). 5.3. Die „idioskriptale Lizenz“ des historischen Schreibers Während in Kap. 5.2 die Entwicklung lokaler bzw. kanzleispezifischer Schreibtraditionen in den Vordergrund gestellt wurde, soll es in diesem Abschnitt um den entgegengesetzten Aspekt gehen: den Gestaltungsspielraum, den die einzelnen Schreiber trotz des jeweils gegebenen „Schreibrahmens“ besaßen. Die Freiheit des Schreibers, innerhalb gewisser Grenzen eigene Schreibkonventionen zu entwickeln, wird im Folgenden mit dem Begriff der idioskriptalen Lizenz bezeichnet (vgl. Elmentaler 2001, 308). Aus moderner Sicht ist diese Freiheit zur individuellen Auswahl und Verwendung von Schriftzeichen ebenso überraschend wie irritierend und ist daher in schreibsprachhistorischen Arbeiten immer wieder thematisiert worden (vgl. Schmitt 1966, 137; Kettmann 1967, 280, 301). Forschungsüberblick: Hans Moser (1977) versucht für die Innsbrucker Hofkanzlei den Spielraum der Einzelschreiber gegenüber der Kanzleinorm auf der Basis verschiedener Teilkorpora genauer zu bestimmen. Er stellt hierbei u. a. „eine gewisse Wahlfreiheit in der Setzung von Varianten“ fest, aber auch strukturrelevante Variation, z. B. die „Lizenz, ausnahmsweise und in Einzelfällen auch sonst feste Oppositionen [zwischen Graphemen] aufzuheben“ (ebd., 161). Den jeweiligen Einzelschreiber-Usus versucht er in Form einer Liste differenzierender Schreibmerkmale vom kollektiven Usus abzugrenzen (ebd., 228, 237). Hierbei findet er die stärksten Abweichungen in Texten von Schreibern, die den Usus anfangs noch nicht richtig beherrschen und sich erst allmählich an den allgemeinen Schreibgebrauch anpassen (Schreiber Storch) oder die an traditionellen, bereits veraltenden Schreibungen festhalten (Schreiber Ölhafen) (ebd., 229; vgl. weitere Analysen zu den Schreibern Treytzsaurwein, Ried und Ziegler bei Tennant 1985, 156-180). Eine weitere Studie, die den Fokus auf die individuellen Freiheiten von Kanzleischreibern richtet, ist die Untersuchung von Amand Berteloot (1995) zu drei Schreibern in der Kanzlei von Brügge (Belgien). Berteloot <?page no="90"?> 90 5. Der individuelle Schreiber als zentrale Figur der Historischen Graphematik Die Frage, wie stark sich Schreiber in einer Kanzlei an den dortigen Schreibusus anpassen oder die Möglichkeiten ihrer „idioskriptalen Lizenz“ ausschöpfen, ist in der schreibsprachhistorischen Forschung ein Dauerthema gewesen. Schon in den 1950er Jahren entstand eine intensive Debatte über die Relevanz der Schreiberherkunft in Relation zum Einfluss der Kanzleitraditionen. So wird Boeschs oben zitiertes Diktum von der Schreibgewohnheit einer Kanzlei als einer „Macht, der sich Schreiberindividualisten weitgehend unterordnen“, scharf kritisiert, etwa von Friedrich Hefele (1955), der (mit Bezug auf die Freiburger Kanzlei) die Gegenthese vertritt, dass die Herkunft des Schreibers für seine Schreibgewohnheiten entscheidend sei. Diese Kontroverse zwischen Boesch und Hefele war forschungsgeschichtlich insofern bedeutsam, als sie das Spannungsfeld zwischen Usus und Abweichung, Kanzleitradition und individueller Gestaltungsfreiheit, Konvention und Variation zum Gegenstand der Diskussion machte. In späteren Arbeiten wurden die Positionen mehrfach reflektiert, wobei teils eher der These von Boesch zugestimmt wurde (vgl. Cordes 1959, Skála 1967, Schützeichel 1974), teils eher der von Hefele (vgl. Haacke 1955, Besch 1972). Weiterführend waren in dieser Debatte allerdings die differenzierenden Hinweise von Diether Haacke (1964), der das Beispiel eines Schreibers namens Konrad diskutiert, der im 13. Jahrhundert nacheinander in zwei unterschiedlichen Kanzleien tätig ist und dort unterschiedlich großen Einfluss auf seine Amtsnachfolger ausübt. Stadtsekretär Konrad ist von ca. 1275 bis 1282 in Augsburg beschäftigt und entwickelt in dieser Zeit „ein für Augsburg verbindliches deutsches [Urkunden-]Formular“ (ebd., 112), das von den nachfolgenden Schreibern übernommen wird. Dann wechselt er in die Kanzlei von Nürnberg, wo er sich nur unwesentlich an den dortigen Usus anpasst. Sein Einfluss auf die nachfolgenden Nürnberger Kanzleischreiber ist gering, sowohl auf der Ebene des Urkundenformulars, als auch im eigentlich schreibsprachlichen Bereich. Haacke vermutet, „daß man seine Schreibsprache als fremd empfunden hat und ablehnte“ (ebd., 138). Haacke kommt zu dem Schluss, dass je nach Schreiber und örtlichen Gegebenheiten lokale Schreibtraditionen begründet werden, aber auch Brüche in der Entwicklung stattfinden können. Zu einem ähnlich differenzierten Urteil gelangt auch Gerhard Meissburger (1965) auf der Grundlage einer Metaanalyse mehrerer schreibsprachhistorischer Studien. Er vergleicht hierbei das Verhalten von 22 namentlich bekannten Schreibern aus Freiburg, Konstanz, St. Gallen und Basel und stellt resümierend fest: „Der Auswärtige scheint also seine eigene Schreibgewohnheit dort zu ändern, wo es nötig ist, und dort zu bewahren, wo es möglich ist“ (ebd., 67). Einige markante Merkmale müssen beibehalten werden, in anderen Bereichen hat der individuelle Schreiber Spielräume zur eigenen Gestaltung. konstatiert, dass es zwar schreibsprachliche Regelmäßigkeiten gebe, die sich wohl auf die Schreiberausbildung zurückführen ließen, dass sich aber die Schreiber trotzdem individuelle Freiheiten im Umgang mit dem Gelernten erlaubt hätten (vgl. ebd., 108). Bei zwei wahrscheinlich einheimischen Schreibern ergeben sich graphematische Unterschiede durch die unterschiedliche Bezugnahme auf lokale Aussprachevarianten im Brüggener Dialekt (vgl. ebd., 118). In einem anderen Fall behält ein vermutlich auswärtiger Schreiber einige Merkmale seiner Heimatregion bei, die er zusammen mit lokalen Schreibmerkmalen verwendet, wie sie auch seine Kollegen gebrauchen (vgl. ebd., 114-116). <?page no="91"?> 91 5.4. Methodische Konsequenz: Schreiberseparierung 5.4. Methodische Konsequenz: Schreiberseparierung In den vorangehenden Kapiteln wurde ausgeführt, dass einerseits die Existenz von Schreibtraditionen im Sinne eines „Schreibrahmens“ bzw. einer „flexiblen Norm“ angenommen werden kann (Kap. 5.2), dass die einzelnen Schreiber aber andererseits eine „idoskriptale“ Lizenz zur Abweichung von den gegebenen Traditionen besitzen (Kap. 5.3). Diese Möglichkeiten nutzen einheimische Schreiber, indem sie z. B. individuelle Graphienpräferenzen entwickeln, die Lautmerkmale der gesprochenen Bezugsvarietät unterschiedlich wiedergeben oder morphologisch gesteuerte Schreibungen entwickeln. Darüber hinaus können Schreiber, die aus einer anderen Region stammen, beim Eintritt in die Kanzlei eigene Schreibgewohnheiten mit einbringen. Vor diesem Hintergrund ist zu überlegen, welchen methodischen Prinzipien eine Untersuchung vormoderner Schreibsprachen zu folgen hat. In der älteren Literatur wurde die tendenzielle Anpassung der Schreiber an lokale Schreibtraditionen manchmal als Begründung dafür verwendet, dass die historischen Quellen einer Kanzlei oder Sprachlandschaft als Gesamtkorpus untersucht werden, ohne die einzelnen Schreiberhände zu differenzieren, etwa bei Boesch (1946). Auch spätere Arbeiten haben auf eine Schreiberdifferenzierung verzichtet. Hierbei wird auf den hohen Zeitaufwand und die generellen Schwierigkeiten verwiesen, Schreiberhände paläographisch zu identifizieren und Schreiberbiographien zu rekonstruieren. Schmitt (1966, 162) bezeichnet die Schreiberidentifikation als „eine der schwierigsten Aufgaben der Sprachforschung im 14. [und] 15. Jahrhundert“. Er zitiert Lippert (1903), der einige praktische Schwierigkeiten bei der paläographischen Unterscheidung von Schreiberhänden benennt: „Schon im 14. Jahrhundert hat, wie noch heute, fast jeder Schreibkundige für fast jeden Buchstaben mehrere Abarten zur Verfügung, von denen ihm beliebig, unabsichtlich und unwissentlich bald die eine, bald die andere Form in die Feder kommt.-[…] Körperliche Disposition, Unbequemlichkeit der Schreibgelegenheit, Flüssigkeitsgrad der Tinte, Zustand der Feder und des Schreibstoffes bedingen nicht selten so wesentliche Unterschiede, daß es schwer fällt, an Identität der Hände zu glauben, selbst wo sie sichergestellt ist. Umgekehrt finden sich auch bei verschiedenen Händen oft genug so viel Übereinstimmungspunkte, daß man sie einem Schreiber zuweisen möchte.“ (Lippert 1903, 26, Anm. 80). Selbst bei einer erfolgreichen Unterscheidung verschiedener Hände ist die Zuordnung zu konkreten Personen des Kanzleibetriebs oft nicht möglich. In den Fällen, in denen eine solche Zuordnung nicht gelingt, muss der Sprachhistoriker auf die Möglichkeit verzichten, Korrelationen zwischen dem graphematischen Befund und den außersprachlichen Bedingungsfaktoren (regionale Herkunft, Bildungsgrad und sozialer Stand des Schreibers) herzustellen. Trotz dieser Schwierigkeiten ist ein grundsätzlicher Verzicht auf Schreiberseparierung als problematisch einzustufen- - zu groß ist die Gefahr, durch Vermischung verschiedener Schreibsysteme die für deren Verständnis grundlegenden Strukturen zu verdecken. Eine undifferenzierte Untersuchung der schreibsprachlichen Überlieferung einer Kanzlei mag zwar dazu taugen, regionale Kennmerkmale zu erfassen, sie bietet jedoch keine geeignete Grundlage für die Erschließung der Struktur, Funktionsweise und des Wandels historischer Schreibsysteme. Aus diesen Gründen haben sich einige Autoren schon früh dezidiert für eine Schreiberseparierung eingesetzt und versucht, individuelle Schreibsysteme zu rekonstruieren. <?page no="92"?> 92 5. Der individuelle Schreiber als zentrale Figur der Historischen Graphematik Forschungsüberblick: Eine in Hinblick auf die Schreiberseparierung methodisch vorbildliche Studie ist die von Axel C. Højberg Christensen (1918) zur Schreibsprache der Stadtkanzlei von Lübeck (1300-1470). Er identifiziert in seinem Korpus nicht weniger als 72 verschiedene Hände, von denen er 19 namentlich bekannten Kanzleischreibern zuordnen kann. Für jede Hand stellt er besonders typische Merkmale heraus und veranschaulicht in einem 51seitigen Anhang das jeweilige Schriftbild durch Faksimiledrucke aus den Handschriften. Im Hauptteil der Arbeit werden dann für mehr als 60 ausgewählte Phänomene die jeweiligen individuellen Schreibungen herausgearbeitet. Seit der Arbeit von Højberg Christensen hat es etwa ein Dutzend weiterer Untersuchungen gegeben, in denen Analysen individueller Schreibsysteme durchgeführt oder zumindest individuelle Differenzen im Schreibusus herausgearbeitet wurden (z. B. Behrens 1924, Kettmann 1967, Fleischer 1970, Otto 1970, Pfeffer 1972, Moser 1977, Ernst 1994, Wiesinger 1996, Elmentaler 2003, Mihm 2005, Ravida 2012, Mihm 2016). Dies ist angesichts der Fülle der schreibsprachlichen Überlieferung aus mehreren Jahrhunderten eine recht bescheidene Ausbeute - wie sich bestimmte Schreibstile, Graphieninventare oder graphematische Strukturmuster areal ausbreiten und diachronisch verändern, ist angesichts der noch bestehenden Forschungsdefizite bislang kaum einzuschätzen. <?page no="93"?> 93 6. Funktionen schreibsprachlicher Variation Sprachliche Variation ist in der Schrift heute weitgehend auf die Ebenen der Lexik und Grammatik beschränkt. Die regionale Herkunft eines Autors verrät sich heute vielleicht über die Präferenz bestimmter Wörter oder grammatischer Formen-- die Schreibung ist dagegen durch die deutsche Standardorthographie überregional normiert. In früheren Jahrhunderten war jedoch regionale Variation auch auf der graphematischen Ebene zulässig, und diese Möglichkeit wurde so intensiv genutzt, dass Texte aus der Zeit vor 1600 meist einer bestimmten Sprachlandschaft zugeordnet werden können. Doch nicht nur die Entstehungsregion eines Textes konnte für dessen schreibsprachliches Gepräge von Bedeutung sein, sondern auch andere Faktoren, wie etwa der Bildungsgrad des Autors bzw. Schreibers, die Textsorte oder der Adressat des Schreibens. Aufgrund dieser Vielzahl von Einflussfaktoren sind Texte aus der Zeit bis etwa 1600 (und teils auch noch darüber hinaus) durch ein hohes Maß an graphematischer Variation gekennzeichnet. In diesem Kapitel wird dieser schreibsprachlichen Variation und ihren Funktionen in einem ersten Zugriff nachgegangen. Hierbei wird zunächst ein Blick in die Forschungsgeschichte geworfen, in der sich erst allmählich Ansätze zu einem systematischen Umgang mit Variation entwickelt haben (Kap. 6.1). Dabei werden zwei verschiedene Arten graphematischer Variation unterschieden, die anschließend anhand von Beispielen besprochen werden: die Schreibvariation in Abhängigkeit von externen Einflussfaktoren (Kap. 6.2) und die textinterne Variation (Kap. 6.3). 6.1. Graphematische Variation als Grundprinzip historischer Schreibsprachen Das folgende Textbeispiel enthält einen kurzen Auszug aus einer literarischen Erzählung, die erstmals 1907 im Druck erschien: 5 10 15 Am Sonntag ist das Waldfest von der Liedertafel gewesen. Der Seitz und der Knilling sind herumgelaufen und haben die Einladungen gemacht. Bei uns sind sie auch gewesen. Meine Mutter hat sie in das schöne Zimmer gelassen, und Ännchen und Cora sind hinein, und ich bin auch hinein. Der Seitz und der Knilling sind auf das Kanapee gesessen und haben die Zylinder auf ihre Kniee gestellt.-[…] Am Sonntag ist es losgegangen. Nach dem Essen hat sich die Liedertafel auf dem Platz aufgestellt. Zuerst ist der Kaufmann Heinrich gekommen, mit der Fahne, und neben ihm ist der Seitz und auf der andern Seite ist der Knilling gegangen.-[…] Wie wir gekommen sind, ist der Seitz zu uns her und hat gesagt, daß meine Mutter fahren darf, und die jungen Damen haben einen schönen Platz bald hinter der Musik, aber er kann leider nicht bei ihnen sein, bis man aus der Stadt ist, weil er neben der Fahne gehen muß. Ich war zuerst bei ihnen, aber wie der Reiser Franz gekommen ist, bin ich zu ihm. Ich habe gesagt, wir wollen mit Ännchen und Cora marschieren, aber er hat nicht mögen, weil es so weit vorn war. <?page no="94"?> 94 6. Funktionen schreibsprachlicher Variation 20 25 Da haben wir uns hinten aufgestellt, und ich habe meine Mutter gesehen. Sie ist im Wagen gesessen neben der Frau Notar, und sie hat gelacht.-[…] Sie ist aufgestanden und hat hingeschaut und hat ihnen mit dem Sonnenschirm gewunken, und die Cora hat es gesehen und hat gerufen hurra! und hat mit dem Sacktuch gewunken.-[…] Wir sind wieder auf unsern Platz, und der Franz hat zu mir gesagt, daß meine Mutter eine gescheite Frau ist, und sie glaubt nicht, daß bloß die Studierten etwas sind.-[…] Vor uns ist die Tante Theres mit der Rosa gestanden. Jedesmal, wenn der Seitz vorbeigelaufen ist, haben sie ihm gerufen, aber er hat es nicht gehört, weil es ihm pressiert hat.-[…] Es ist schon viertel über zwei gewesen, und es hat aber geheißen, daß es Punkt zwei Uhr los geht. Aus der Sprache eines solchen Textes können wir durchaus etwas über die Herkunft des Autors oder die Region erfahren, in der die Handlung spielt. Einige grammatische Merkmale, die eine grobe regionale Verortung des Textes ermöglichen, dürften zumindest einem nord- oder mitteldeutschen Leser ins Auge stechen. Anders als in Erzähltexten erwartbar, dominiert das Perfekt (z. B. Z. 1: ist-… gewesen statt war; Z. 14: er hat nicht mögen statt er mochte nicht usw.; insgesamt 39 Belege für Perfekt, dagegen nur ein Beleg in Z. 13 für Präteritum: war). Diese Vorliebe für das Perfekt gilt als typisch für den Süden des deutschen Sprachgebietes, in dem das Präteritum weitgehend aufgegeben wurde („oberdeutscher Präteritumschwund“, vgl. Fleischer 2011, 129-133). Als süddeutsch gilt auch der Gebrauch des Perfekts von „sitzen“ und „stehen“ mit dem Auxiliarverb „sein“ statt mit „haben“ (Z. 5: sind-… gesessen statt haben-… gesessen; Z. 21-22: ist- … gestanden statt hat- … gestanden). Bei den Personennamen fällt zweierlei auf: die Vertauschung der üblichen Reihenfolge von Vor- und Nachname (Z. 10: der Kaufmann Heinrich, die Person heißt Heinrich Kaufmann), was als eine typisch bairische Konstruktion gilt, sowie der Gebrauch des bestimmten Artikels im Zusammenhang mit Nachnamen (Z. 5: Der Seitz und der Knilling), aber auch mit Vornamen (Z. 19: die Cora, Z. 20: der Franz, Z. 22: die Tante Theres mit der Rosa); vor allem Letzteres ist in Norddeutschland ungebräuchlich. Schließlich weisen auch ein paar Wörter und Wendungen auf eine süddeutsche Textherkunft hin (Z. 19: Sacktuch statt Taschentuch; Z. 23: weil es ihm pressiert hat statt weil er in Eile war; Z. 24: viertel über zwei statt viertel nach zwei). Wir können also durchaus an einigen Sprachmerkmalen erkennen, dass es sich um eine Geschichte aus dem Südosten des deutschen Sprachgebietes handelt- - der Verfasser ist der bayrische Autor Ludwig Thoma (geb. 1867 in Oberammergau; † 1921 in Tegernsee), der Textausschnitt stammt aus seiner Erzählung „Das Waldfest“ (vgl. Thoma 1907). Bei aller regionalen Färbung ist jedoch die Schreibung völlig neutral: Auf graphematischer Ebene lässt sich dieser Text nicht regional verorten. Die bairische Sprachprägung tritt nur dann hervor, wenn der Text laut vorgelesen wird, etwa in der von Christian Tramitz 2008 eingesprochenen Hörbuchfassung. Der aus München stammende Tramitz gibt dem Text auch auf der phonetischen Ebene eine eindeutig oberdeutsche Prägung, mit einem durchweg stimmlos gesprochenen [s] am Wortanfang (z. B. in Sonntag, Seitz), einer mehrfachen Realisierung der Vorsilbe geohne Schwa-Laut (gsagt, gsehn, gscheit, gstandn), der süddeutschen Kontraktionsform für 'haben wir' (hamir) und <?page no="95"?> 95 6.1. Graphematische Variation als Grundprinzip historischer Schreibsprachen einer teilweise lenisierten Aussprache von p (Blatz 'Platz'). In der Orthographie sind diese bairischen Aussprachebesonderheiten nicht repräsentiert. Anders verhält es sich jedoch mit Texten, die vor der Durchsetzung einer überregionalen Orthographie entstanden. Rudolf E. Keller führt in seiner Sprachgeschichte ein Beispiel für einen bairischen Text aus dem Jahre 1517 an, der auch auf graphematischer Ebene zahlreiche Indikatoren für die Entstehung im ostoberdeutschen Sprachraum enthält (Keller 1995, 378 f.): 5 10 Eins mals der Kung an seim pet lag Gedacht nun ist khomen der tag Das Jch sol ordenen mein sach Dann Jch bin worden alt vnd schwach Das empfindt Jch an mir ganntz wol Doch hoff Jch nicht ersterben sol Auff federen in einem pet Dann wenig wurd als dann geredt Von meinem todt in künfftig zeit Jch ways ein scho ͤ ngarten nit weit Von hynn . der ist lustig umbfangen Mit eim graben-[…] Einst lag der König in seinem Bett und dachte: ‚Nun ist der Tag gekommen, dass ich meine Sachen regeln soll, denn ich bin alt und schwach geworden. Das fühle ich an mir sehr wohl. Doch hoffe ich, dass ich nicht sterben werde auf Federn in einem Bett. Denn dann würde in Zukunft wenig von meinem Tod gesprochen. Ich weiß einen schönen Garten, nicht weit entfernt, der ist anmutig umgeben von einem Graben-[…].‘ Während der Wortschatz in diesem Textabschnitt eher unauffällig ist, steht die Schreibung in einer klar bairischen Schreibtradition. Als typisch hierfür gilt z. B. die Verwendung von <p> statt <b> im Wortanlaut (Z. 1 und 7: pet 'Bett'), von <kh> statt <k> (Z. 2: khomen 'gekommen'), von <ay> statt <ei, ey> für mhd. ei (Z. 10: Jch ways 'ich weiß') oder der Gebrauch von Konsonantenclustern wie <dt> (Z. 9: todt). Hinzu kommen morphologische Besonderheiten, die für die Region als typisch gelten, wie die häufige Apokopierung bzw. Synkopierung des -e (Z. 3: mein sach 'meine Sache', Z. 8: wurd-… geredt 'würde-… geredet'). Mit diesem schreibsprachlichen Profil lässt sich der Text landschaftlich einordnen und von Texten anderer Sprachregionen abgrenzen. Um das Phänomen der Schreibvariation in vormodernen Texten angemessen beschreiben und verstehen zu können, ist eine Klärung des Begriffs der Variation erforderlich. Insbesondere sollten zwei Arten von Variation unterschieden werden, die in der Forschung nicht immer klar auseinandergehalten wurden. Dabei ist, wie in Kap. 5.2 bereits ausgeführt wurde, jeweils zu beachten, worauf sich die Beschreibung der Variation bezieht. Wenn von graphematischer Variation gesprochen wird, dann wird damit zugleich ein bestimmtes Referenzobjekt vorausgesetzt, dem eine stabile Identität zugeschrieben wird. Je nachdem, wie weit man dieses Referenzobjekt fasst, kommt man bezüglich der Variationsbreite zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Die beschriebene regionale Variation gehört zu einem ersten Variationstyp, der sich nach Mattheier (1984, 772) auf eine „Kategorisierung der sprachlichen Variabilität nach der sozio-kommunikativen Funktion der Sprache“ bezieht. Mit „Variation“ ist hierbei in einem soziolinguistischen Verständnis eine Alternanz von Schreibungen gemeint, die mit externen <?page no="96"?> 96 6. Funktionen schreibsprachlicher Variation Bedingungsfaktoren in Zusammenhang steht. Die Referenzgröße, vor deren Hintergrund die Variation beschrieben wird, ist dabei in der Regel sehr weit gefasst. Wenn wir z. B. aufgrund des Vergleichs von Handschriften aus mehreren Regionen zu dem Schluss kommen, dass es im Frühneuhochdeutschen verschiedene regionale Schreibvarianten (und ggf. damit verbundene Aussprachevarianten) für dasselbe Wort gab, dann ist die Referenzgröße das Konstrukt einer gedachten Schreibsprache für den damaligen deutschsprachigen Gesamtraum. Nur in Bezug auf diese abstrakte Größe lassen sich Formen wie pet-- bett-- bedde 'Bett' oder ways-- weis-- weet 'weiß' als Varianten auffassen, denn innerhalb einer Region kommen sie kaum nebeneinander vor. Einem Großteil der Bevölkerung im damaligen deutschsprachigen Raum dürften viele der regionalen Varianten weitgehend unbekannt gewesen sein, denn die meisten Bauern oder Handwerker kamen aufgrund ihres eingeschränkten Bewegungsradius nur selten mit den sprachlichen Formen anderer Regionen in Berührung. Dies ist in etwa vergleichbar mit unserer ähnlich eingeschränkten Kenntnis der lexikalischen Variation im Deutschen. Zwar wurden viele Süddeutsche schon über die Medien mit norddeutschen Wörtern wie Buddel, schnacken, Trecker oder der Begrüßungsformel Moin Moin konfrontiert und haben erfahren, dass der Experte für Herstellung und Verkauf von Fleisch- und Wurstwaren im Norden Schlachter heißt (und nicht Metzger oder Fleischer). Was aber Wörter wie Schapp, krüsch, muksch, figeliensch, zwischenfahren oder die Wendung Is ja Sünde! bedeuten, wissen wohl nur diejenigen, die schon einmal im Norden waren oder in direktem Kontakt zu Sprechern aus der Region stehen. Für das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit lässt sich entsprechend annehmen, dass vor allem Kaufleute, Diplomaten oder andere Personen, die viel im Lande umherreisten, ein Bewusstsein für die sprachlichen Unterschiede zwischen den Regionen besaßen. Es ist gewiss vorauszusetzen, dass dies auch für die professionellen Kanzleischreiber galt (Kap. 5.1). Neben der regionalen Provenienz eines Textes sind mit Blick auf die historische Schriftlichkeit auch der Sozialstatus des Schreibers, die Schreibsituation, die Textsorte oder der Adressatenkreis als mögliche Einflussfaktoren anzusetzen. Man spricht hier von diastratischer (gruppenspezifischer), diasituativer, textsortenbezogener und adressatenbezogener Variation. Bestimmte Schreibweisen treten z. B. häufiger in spontan geschriebenen Protokollen ungeübter Schreiber auf als in offiziellen, von Berufsschreibern ausgefertigten Urkunden. Die Referenzgröße für die Beschreibung der Variation ist hier enger gefasst als im Falle der regionalen Variation. Manchmal wird so etwas wie eine „Stadtsprache“ als Hintergrund angenommen, vor dem das Nebeneinander von Schreibgebräuchen verschiedener Institutionen herausgearbeitet wird (Schreibusus der Stadtkanzlei, der Universität, der Kirche, der Schule usw.). Hiermit befasst sich u. a. der Forschungszweig der „Historischen Stadtsprachenforschung“ (vgl. Kolbeck / Krapp / Rössler 2013 und Karin / Ulivi / Wich-Reif 2015). Manchmal ist auch nur eine einzelne Kanzlei die Bezugsgröße (Kap. 5.2). In einer noch engeren Fokussierung kann aber auch das Oeuvre eines einzelnen Schreibers das Referenzobjekt darstellen, an dem z. B. die graphematische Variation zwischen verschiedenen Textsorten (z. B. Protokoll vs. Stadt- <?page no="97"?> 97 6.1. Graphematische Variation als Grundprinzip historischer Schreibsprachen rechnung), zwischen internem und externem Kanzleischrifttum (Protokoll vs. Brief) oder zwischen verschiedenen Versionen eines Textes (Entwurf vs. Reinschrift) herausgearbeitet wird. In einem zweiten Sinne bezeichnet Variation das Auftreten mehrerer alternativer Schreibungen für eine Variable innerhalb eines Textes. Die textinterne Variation wird hier als zweiter Variationstyp dem ersten Typ gegenübergestellt, da die Variation hier nicht durch externe Faktoren gesteuert wird, sondern durch innersprachliche Kontextbedingungen. Dazu gehören etwa die Stellung eines Lautes bzw. einer Graphie im Wort (initial, medial oder final, im wortinternen Morphemauslaut oder im Wortauslaut, vor bestimmten Vokalen oder Konsonanten usw.) oder ihrer Position im Satz (z. B. satzinitiale Großschreibung). Hierbei kann von „gebundenen“ bzw. „kombinatorischen“ Varianten gesprochen werden. Auch mögliche Zusammenhänge der Graphienwahl mit der Wortartenzugehörigkeit oder der Wortsemantik sind in Betracht zu ziehen (z. B. Homophonendifferenzierung, Großschreibung bestimmter Klassen von Substantiven oder Adjektiven). Darüber hinaus kann Variation auch kontextunabhängig auftreten, als „freie“ oder „fakultative“, scheinbar unmotivierte Schreibvariation. Gerhard Kettmann (1967, 299) beobachtet, dass in der kursächsischen Kanzleisprache sogar „die Schreibweise eines Schreibers innerhalb mehrerer Schreiben vom gleichen Tag“ differieren kann. So verwendet der Kanzleisekretär Hans Feyel in einem Schreiben vom Tag der heiligen Barbara (4. Dezember) 1521 auslautend ausschließlich <g> (tag, mag, gnug), in einem zweiten Schreiben vom selben Tag aber auch die Variante <gk> (tagk, magk, gnugk). Beide Arten der Schreibvariation, besonders aber die textinterne Variation, wurden in der deutschen Sprachgeschichtsschreibung lange Zeit negativ bewertet. Entsprechende Urteile finden sich bereits in frühen Grammatiken wie der Orthographielehre des Niklas von Wyle oder im „Schryfftspiegel“. Die Graphienvariation wird abgelehnt, weil sie überflüssig sei und das Textverständnis behindere. Fabian Frangk kritisiert in seiner „Orthographia“ (1531) die störende Häufung von Konsonantengraphien wie in Meinenn ̄ freundthlichenn dinſth zuvorann / Erſſamenn ̄ vndt weiſſenn ̄ gunſtigenn ̄ liebenn ̄ herrnn ̄ (nach Götz 1992, 164). Auch die Forschung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts diagnostizierte für mittelalterliche und frühneuzeitliche Texte eine zunehmende „Verwilderung“ (Socin 1888, 349), „Verwahrlosung“ (V. Moser 1929, 4) oder „heillose Unordnung und Regellosigkeit“ (Schirokauer 1952, 1013). Die starke Variation in den Texten wird dabei mit dem geringen Bildungsgrad mancher Schreiber oder einem übersteigerten Drang zur Selbstdarstellung in Verbindung gebracht, aber auch mit allgemeinen gesellschaftlichen Wandelprozessen und Rahmenbedingungen wie dem Verfall des Rittertums und dem Fehlen normsetzender Instanzen wie z. B. Schulen. Während die ältere Forschung unerwartete Graphien in historischen Texten häufig vorschnell als Schreibfehler deutete, ist es aus Sicht der Graphematik ratsam, grundsätzlich erst einmal von Varianten zu sprechen und dabei von der Hypothese auszugehen, dass sich die beobachtete Variation bei genauerer Analyse als regelhaft erweisen könnte. Natürlich kommen auch wirkliche Schreibfehler vor, was jedoch insgesamt eher selten der Fall ist. Dies ist angesichts der professionellen Ausbildung der meisten Schreiber auch nicht verwunderlich. Die Stadtsekretäre waren oftmals gelehrte, mit den klassischen Schriftprachen Latein und Griechisch vertraute und in ihrem Beruf bestens ausgebildete Personen. Die Annahme, <?page no="98"?> 98 6. Funktionen schreibsprachlicher Variation sie hätten aus Mangel an Professionalität in ihren volkssprachlichen Texten laufend Fehler gemacht, ist daher grundsätzlich als unwahrscheinlich einzustufen. Dies gilt nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass diese Schreiber in ihren lateinischsprachigen Texten oft streng der Tradition folgten und somit durchaus in der Lage waren, eine weitgehend variantenfreie Schreibweise durchzuhalten. So verwendet z. B. der Duisburger Stadtsekretär Everhardus in seinen lateinischen Texten nur etwa ein Drittel der Vokalgraphien, die er in seinen volkssprachlichen Texten gebraucht (vgl. Elmentaler 2003, 92-94). Individuelle Defizite der Schreiber können also kaum als Erklärung für die in vormodernen Texten durchgängig vorhandene Variabilität der Schreibsprachen herangezogen werden. Und auch der Verweis auf allgemeine gesellschaftliche Entwicklungen führt hier nicht weiter, da diese Erklärungsmodelle nur darauf abzielen, zu erklären, warum keine bzw. so wenig Normierung stattfand, anstatt danach zu fragen, in welchen Bereichen Variation auftritt und welche Faktoren als mögliche Auslöser für graphematische Variation in Frage kommen. Einige dieser Faktoren sollen im Folgenden erörtert werden. 6.2. Schreibvariation in Abhängigkeit von externen Einflussfaktoren 6.2.1. Diatopische Variation Von der Beantwortung der Frage nach den Gründen für die schreibsprachliche Variation verspricht sich die neuere Forschung Aufschlüsse über die Funktionsweise der vormodernen Schreibsprachen insgesamt. So konstatiert der Sprachhistoriker Herbert Penzl in seiner Einführung in die Dialekte des Mittelhochdeutschen: „Die sprachlich ungeregelte Wildnis mancher Handschriften bringt uns dem Verständnis der Sprachrealität der Periode näher als die sauber normalisierten und von Herausgebern textkritisch behandelten Literaturtexte.“ (Penzl 1989, 27) Mit dem Verweis auf die „sauber normalisierten“ Texte spielt Penzl auf die Leseausgaben mittelhochdeutscher Texte an, die nach den Editonskriterien von Karl Lachmann (1793-1851) graphematisch vereinheitlicht werden, wodurch vieles von dem, was der Sprachgeschichtsforschung als Ansatzpunkt für ein tieferes Verständnis dieser Systeme dienen könnte, unsichtbar gemacht wird. Um einen möglichst gut lesbaren Text zu schaffen, werden graphematische Varianten systematisch vereinheitlicht und alle Spuren regionaler Sprachfärbungen beseitigt, die die Originalhandschriften aufweisen. Als Beispiel dafür sei ein kurzer Auszug aus dem „Iwein“ (um 1200) des Hartmann von Aue angeführt. Der Text ist in 33 Handschriften (16 vollständigen und 17 fragmentarischen) überliefert, die heute über Bibliotheken und Archive in ganz Europa verstreut sind (Berlin, Budapest, Florenz u. v. a., vgl. den Eintrag im Handschriftencensus: http: / / www.handschriftencensus.de/ werke/ 150). In der klassischen, graphematisch vereinheitlichten Leseausgabe von Benecke / Lachmann (1827, 9 f.) lauten die berühmten Verse 21-30 des Epos wie folgt (mit der Übersetzung von Rüdiger Krohn 2011): <?page no="99"?> 99 6.2. Schreibvariation in Abhängigkeit von externen Einflussfaktoren 25 30 Ein rîter, der gelêret was Undez an den buochen las, Swenner sîne stunde Niht baz bewenden kunde, Daz er ouch tihtennes pflac-- Daz man gerne hœren mac, Dâ kêrter sînen vlîz an: Er was genant Hartman Unt was ein Ouwære: -- Der tihte diz mære. Ein Ritter war schriftgelehrt und las in Büchern; wenn er mit seiner Zeit nichts Besseres anzufangen wusste, dichtete er auch noch. Was man zu hören Lust hat, darum bemühte er sich; er hieß Hartmann und war aus Aue; der dichtete diese Geschichte. Die hier abgedruckte Textfassung weist die typischen, von Lachmann für die Einrichtung mittelhochdeutscher Texte eingeführten Vereinheitlichungen auf. Alle historischen Langvokale werden durch die Hinzufügung von Akzentzeichen (z. B. rîter, gelêret, dâ) bzw. durch den Gebrauch der Digraphien <uo>, <ou>, <œ> und <æ> (buochen, ouch, hœren, mære) gekennzeichnet und damit von den alten Kurzvokalen (wie in der, las, tihtenes) abgegrenzt. Der Umlaut wird dabei durch Einsetzung von <œ> und <æ> konsequent markiert (hœren, mære). Eine Handschrift, die diesen Schreibkonventionen in allen Aspekten folgt, existiert in der ganzen mittelhochdeutschen Überlieferung nicht; vielmehr weichen alle historischen Handschriften (teilweise recht weitgehend) von dieser Idealnorm ab. In diesem Sinne hat schon Friedrich Wilhelm, der Herausgeber des großen „Corpus der altdeutschen Originalurkunden bis zum Jahre 1300“ (1932-2004), das Mittelhochdeutsch der kritischen Ausgaben als „ein im wesentlichen von den älteren Germanisten geschaffenes Esperanto“, also als eine erfundene Kunstsprache bezeichnet (Wilhelm 1932, VIII ). Ein Abgleich mit einer Handschrift aus dem zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts ( UB Gießen Hs. 97, bezeichnet als „Iwein B“) zeigt, dass in den Quellentexten tatsächlich jeweils nur ein Teil der Lachmann’schen Schreibweisen bezeugt ist: 25 30 Ausgabe Benecke / Lachmann (1827): Ein rîter, der gelêret was Undez an den buochen las, Swenner sîne stunde Niht baz bewenden kunde, Daz er ouch tihtennes pflac-- Daz man gerne hœren mac, Dâ kêrter sînen vlîz an: Er was genant Hartman Unt was ein Ouwære: -- Der tihte diz mære. Handschrift Iwein B: Ein riter der gelert was. vn ̄ ez an den bůchen las. Swenner sine stvnde. niht baz bewenden chvnde. daz er ovch tihtens pflac. daz man gerne ho ͤ ren mac. da chert er sinen fliz an. er was genant Hartman. vn ̄ was ein ŏwære. der tihte diz mære. <?page no="100"?> 100 6. Funktionen schreibsprachlicher Variation Von den 46 Wortformen, die der kurze Textauszug enthält, entsprechen sich in Handschrift und Edition nur 30, was einer Übereinstimmungsquote von ca. 65 % entspricht (ohne Berücksichtigung der eingeführten Großschreibung an den Versanfängen; die Wörter ez und er in den Formen Undez / vn ̄ ez, kêrter / chert er wurden als Übereinstimmungen gezählt). Bei den Übereinstimmungen handelt es sich vielfach um kurze Wörter wie Artikel (ein, der, den), Pronomen (was, ez, man), Präpositionen (an), Subjunktionen (swenner, daz), die Negationspartikel niht und das Auxiliarverb was 'war'; alles Formen, bei denen der graphematische Variationsspielraum ohnehin recht begrenzt ist. Im Bereich der Verben und Substantive sind dagegen stärkere Abweichungen zu konstatieren. Einige davon gehen auf die oben beschriebene Einführung der Graphien zur einheitlichen Bezeichnung der Vokallängen zurück (z. B. <i> zu <î> in vlîz; <e> zu <ê> in kêrt; <a> zu <â> in dâ; <ů> zu <uo> in buochen; <o ͤ > zu <œ> in hœren; <ŏ> zu <ou> in Ouwære), andere auf die Vereinheitlichung der Graphien <u> und <v> (stvnde > stunde, ovch > ouch) oder auf die Auflösung von Kürzeln (vn ̄ > unt, vn ̄ ez > undez). In zwei Fällen wird darüber hinaus aber auch eine regionalspezifische (ostoberdeutsche) Schreibvariante getilgt, indem das <ch> in chvnde 'konnte' und chert 'kehrt' durch <k> ersetzt wird (kunde, kêrt[er]). Solche regionalen Färbungen treten in jüngeren Handschriften manchmal noch deutlicher hervor, so dass die Diskrepanz zur edierten Textversion noch größer ist. In der ebenfalls im ostoberdeutschen Raum entstandenen Handschrift „Iwein J“ aus dem ersten Viertel des 14. Jahrhunderts (mittelbairisch; Wiener Nationalbibliothek Cod. 2779) sind z. B. die regionaltypischen Formen <p> statt <b> (pvchen 'Büchern'), <ph> statt <pf> (phlach 'pflegte'), <ch> statt <k> (chvnde 'konnte'), <ai> statt <ei> (ain 'ein') und <au> statt <ou, o> (auch 'auch') belegt. Morphologisch auffällig ist die mehrfache Tilgung (Apokope) des -e (sein 'seine', ticht 'dichtete', mær 'Märe, Geschichte'). Hinzu kommen zeitbedingte Neuerungen wie die Digraphie <ei> für mhd. î (sein, seinen). Zwischen dieser Handschrift und dem von Benecke / Lachmann edierten Text beträgt die Übereinstimmungsquote bei den Wortschreibungen nur ca. 38 %. 25 30 Handschrift Iwein J: Ein ritter so geleret was. Daz er an den pvchen las. Swen er sein stvnde. Nicht paz bewenden chvnde. Wan daz er auch tichtens phlach Daz man vil gerne horen mach. Da chert er seinen fleiz an. Er ist genant hartman. Vnd ist ain auwer. Der ticht vns daz mær Wie stark die jeweiligen regionalen Schreibtraditionen die graphematische Gestalt der Handschriften prägen, lässt sich in einem Vergleich der Wortschreibungen in sechs „Iwein“- <?page no="101"?> 101 6.2. Schreibvariation in Abhängigkeit von externen Einflussfaktoren Handschriften aus dem 13. bis 16. Jahrhundert veranschaulichen (Tab. 4; die mit der Schreibweise der Edition übereinstimmenden Formen sind durch Fettdruck markiert): Iwein B ca. 1225-1250 Ostoberdeutsch Iwein J ca. 1300-1325 Mittelbairisch Iwein b um 1450 Südrheinfränkisch Iwein c 1477 Nordbairisch Iwein r um 1477 Schwäbisch Iwein d 1504-1516 / 17 Südbairisch 'Büchern' bůchen pvchen buchen buchen bůchen půche (Sg.) 'besser' baz paz baß baß bas 'Dichtens' 'dichtete' tihtens tihte tichtens ticht diechtens diecht dichtens tichte - (bracht) tichtens tichtet 'konnte' chvnde chvnde kunde konde kunde 'kehrt' chert chert kert kerte kerett 'pflegte' pflac phlach pflage pflach phlag 'mag' mac mach mag mach mag 'seine' 'seinen' sine sinen sein seinen sin sinen sein seinen - seine seinen 'Fleiß' fliz fleiz fliße fleis vleiss 'ein' ein ain eine ein ain - 'auch' ovch auch auch auch auch '(von) Aue' oˇ wære auwer ouware awere awere auch wåre 'hören' ho ͤ ren horen horn horen horen 'da' da Da do Da da 'Märe' mære mær mere mere mere måre Tab. 4. Vergleich der graphematischen Realisierung von 17 Wortformen in sechs „Iwein“-Handschriften (ca. 1230-1520) Für die hier ausgewählten Lexeme stimmen nur bei 9 von insgesamt 88 Belegen die Schreibungen der Handschriften mit denen der normalisierten Ausgabe überein. Von den 17 untersuchten Wortformen wird keine einzige in allen Handschriften identisch realisiert; im Schnitt treten für jede Wortform (unter Absehung von morphologischer Varianz wie bei ticht / tichte / tichtet) etwa 3,2 Schreibvarianten auf, bei drei Wortformen sind es sogar jeweils 5 Varianten (pflac, phlach, pflage, pflach, phlag; fliz, fleiz, fliße, fleis, vleiss; ŏwære, auwer, ouware, awere, auch wåre). Im Konsonantismus variieren die Handschriften häufig zwischen <b> und <p>, <t> und <d>, <k> und <ch>, <pf> und <ph>. Bei den Vokalgraphien variieren <i> und <ei> (für mhd. î), <ei> und <ai> (für mhd. ei), <ou> und <au> (für mhd. ou), <o ͤ > und <o> (für mhd. œ), <a> und <o> (für mhd. â), <æ>, <å> und <e> (für mhd. æ). Die als Charakteristikum des Mittelhochdeutschen geltende Kennzeichnung der Auslautverhärtung <?page no="102"?> 102 6. Funktionen schreibsprachlicher Variation ist in den Wortformen pflegte und mag nur in der ältesten Handschrift realisiert (pflac, mac gegenüber phlach, pflach, pflag / pflage; mach, mag). Die hier am Beispiel des „Iwein“ getroffenen Beobachtungen lassen sich für andere Texte mit vergleichbarer Überlieferungsbreite bestätigen und lassen eine Bestandsaufnahme der großregionalen Schreibdialekte im deutschsprachigen Raum wünschenswert erscheinen. Für die mittelhochdeutsche Sprachstufe ist dieser Aufgabe allerdings lange Zeit wenig Aufmerksamkeit gewidmet worden. Dies dürfte mit dem lange tradierten Bild vom Mittelhochdeutschen als einer relativ einheitlichen Sprache zusammenhängen; ein Topos, der durch die homogenisierenden Textausgaben immer wieder verstärkt wurde. Erst in jüngerer Zeit hat die offensichtliche Tatsache, dass auch das Mittelhochdeutsche in starkem Maße regional aufgefächert ist, zu einer methodologischen Neuausrichtung geführt. Noch 1980 orientiert sich Hugo Moser, der Bearbeiter der „Kleinen mittelhochdeutschen Grammatik“, ausdrücklich an der „hochmittelalterlichen höfischen Dichtersprache, und zwar in überkommener Weise mit ihrer normalisierten Gestalt“, während nur gelegentlich auf landschaftliche Besonderheiten Bezug genommen wird (Weinhold 1980, 6). Dieses Vorgehen wird in der bislang letzten, 25. Ausgabe von Hermann Pauls „Mittelhochdeutscher Grammatik“ kritisch beurteilt. Das normalisierte Mittelhochdeutsch wird als „realitätsfernes Konstrukt, als ‚Luftgebilde‘“ kritisiert (Paul 2007, 15). Dementsprechend wird eine Ausrichtung der Sprachgeschichtsschreibung und Grammatikographie auf die ganze landschaftliche und soziologische Vielfalt der Schreibsprachen gefordert (vgl. ebd., 18). Dementsprechend wird den regionalen Traditionen in der grammatischen Beschreibung deutlich mehr Raum gegeben als in älteren Auflagen. Eine weitergehende Umsetzung dieses Programms ist mit der neuen, auf mehrere Bände angelegten „Mittelhochdeutschen Grammatik“ (Klein / Solms / Wegera 2009 ff., erschienen sind bisher Bd. 2 zur Flexionsmorphologie und Bd. 3 zur Wortbildung) geplant. Hier soll die lautliche, grammatische und auch graphematische Variation in mittelhochdeutscher Zeit erstmals auf der Grundlage eines repräsentativen Textkorpus beschrieben werden. Die mittelhochdeutsche Grammatikschreibung holt hier gewissermaßen nach, was die Forschung zum Frühneuhochdeutschen schon einige Jahrzehnte zuvor vollzogen hat. Die graphematische Variation von Texten aus der Zeit zwischen 1350 und 1600 kann als recht gut erforscht gelten, was wohl nicht zufällig mit einer anderen editorischen Praxis zusammengeht, denn in den Ausgaben frühneuhochdeutscher Texte wird in der Regel keine graphematische Homogenisierung vorgenommen. Insofern spiegeln die Editionen die Vielfalt der damaligen Regionaldialekte recht unmittelbar wider, und auch die Grammatiken, etwa die „Frühneuhochdeutsche Grammatik“ von Virgil Moser (Bd. I / 1: 1929, Bd. I / 3: 1951), rücken die regionale Variation in den Mittelpunkt. Seit den 1960er Jahren sind diese Forschungen dann noch einmal intensiviert worden. <?page no="103"?> 103 6.2. Schreibvariation in Abhängigkeit von externen Einflussfaktoren Forschungsüberblick: Der Bonner Sprachhistoriker Werner Besch ging dem Phänomen der arealen Schreibvariation in seiner einflussreichen Studie „Sprachlandschaften und Sprachausgleich im 15. Jahrhundert“ (1967) am Beispiel des Textes „Die vierundzwanzig Alten“ des Otto von Passau nach, der in 68 Handschriften überliefert ist. Auf dieser Grundlage konnte er 100 historisch-dialektologische Karten erstellen, auf der sich die regionalen Schreibtraditionen in der Zeit vor den Normierungsprozessen des 16. und 17. Jahrhunderts abzeichnen. In ähnlicher Weise verglich Norbert Richard Wolf (1975) sieben aus dem späten 15. Jahrhundert stammende Übersetzungen der Kapuzinerregel aus dem bairischen, schwäbischen, ostmitteldeutschen und niederländischen Raum. Hans Ulrich Schmid (1998) untersuchte, auf der Grundlage der Editionen der Reihe „Deutsche Inschriften“, die sprachliche Varianz bei auf Grabsteinen verwendeten Zitaten aus der Lutherbibel für den Zeitraum 1500-1650. Anja Voeste (2008) analysierte 30 gedruckte Chroniken des 16. Jahrhunderts in Hinblick auf die graphematische Wortsegmentierung. Neben diesen diatopischvergleichenden Arbeiten wurden die Schreibtraditionen einzelner Regionen in zahlreichen Monographien aufgearbeitet. Eine bereits früh untersuchte Region ist der alemannische Dialektraum in der heutigen Schweiz, für den mit den Arbeiten von Renward Brandstetter (1890, 1891, 1892) zur Luzerner Schreibsprache und Bruno Boeschs „Untersuchungen zur alemannischen Urkundensprache des 13. Jahrhunderts“ (1946), mit Ernst E. Müllers Studie zur Basler Schreibsprache des ausgehenden Mittelalters (1953) und Andreas W. Ludwigs Untersuchung zur Urkundensprache Churs im 13. und 14. Jahrhundert (1989) einige grundlegende Arbeiten vorliegen. Im Zusammenhang mit der Frage nach der Entstehung der späteren neuhochdeutschen Schriftsprache rückten bald auch die Entwicklungen des 15. bis 16. Jahrhunderts im ostmitteldeutschen (thüringisch-obersächsischen) Raum ins Zentrum der Aufmerksamkeit, etwa in den frühen Arbeiten von Heinrich Bach (1937, 1943) und Käthe Gleißner (1935), in der umfangreichen Studie von Ludwig Erich Schmitt (1966) über die „Sprachgeschichte des Thüringisch-Obersächsischen im Spätmittelalter“ und in den Monographien von Gerhard Kettmann (1967) zur kursächsischen Kanzleisprache, Wolfgang Fleischer (1966, 1970) zur Geschäftssprache in Dresden, Rudolf Bentzinger (1973) zur Sprache der Erfurter Historienbibel oder Peter Suchsland (1968) zur Sprache der Jenaer Ratsurkunden. Neuere Forschungsergebnisse bietet der Sammelband von Czajkowski / Hoffmann / Schmid (2007) und die Monographie von Czajkowski (i. V.). Nach und nach wurden dann auch frühneuhochdeutsche Schreibtraditionen aus anderen Regionen unter die Lupe genommen, etwa zum Bairischen (z. B. Bürgisser 1988, Tauber 1993, Ernst 1994, Wiesinger 1996, Meurders 2001 und 2008, Näßl 2004, Rössler 2005, Kolbeck 2017), Ostfränkischen (z. B. Straßner 1977 zu Nürnberger Chroniktexten, Koller 1989 zum Schreibusus des Nürnbergers Albrecht Dürer) oder Westmitteldeutschen (z. B. Schwitzgebel 1958 und Steffens 1988 zum Rheinfränkischen, Weimann 2012 und Ravida 2012 zum Moselfränkischen, Möller 1998 zur Kölner Schreibtradition) sowie zur nördlich anschließenden rheinmaasländischen Schreibsprache (z. B. Elmentaler 2003, Weber 2003, Mihm 2007, Stichlmair 2008). In der Zusammenschau lassen die Arbeiten jeweils regionale Schreibtraditionen erkennen. <?page no="104"?> 104 6. Funktionen schreibsprachlicher Variation 6.2.2. Textsortenbezogene Variation Im Zusammenhang mit der Entwicklung einer sozio- und pragmalinguistisch geprägten Historischen Stadtsprachenforschung seit den 1980er Jahren wurde der Relevanz von Textsorten, Varietäten und situativen wie sozialen Bedingungen des Sprachgebrauchs vermehrte Aufmerksamkeit geschenkt. So weist das Handbuch „Sprachgeschichte“ (1. Aufl. 1984-85, 2. Aufl. 1998-2004) mehrere Artikel auf, die sich mit der Relevanz von Textsorten und Kommunikationsbereichen für die Sprachgeschichte generell (Steger 1998) und für einzelne Sprachstufen (z. B. die Artikel von Schwarz, Sanders, Kästner / Schirok, Meier / Möhn, Kästner / Schütz / Schwitalla im zweiten Halbband von 2000) beschäftigen. Darüber hinaus finden sich dort verschiedene Beiträge zur Verflechtung der Sprachgeschichte mit der Geschichte von Alltag und Gesellschaft, mit der Entwicklung von Technik und Naturwissenschaften, mit der Rechts- und Wirtschaftsgeschichte usw. Im Mittelpunkt steht hier meist die Frage nach der Herausbildung, der Struktur, Funktion und den grammatischen und stilistischen Merkmalen historischer Textsorten. Hierzu gehören z. B. die Formelhaftigkeit von Urkunden, die syntaktische Komplexität des „Kanzleistils“ oder Formen rhetorischer Stilisierung in Predigten oder Streitschriften. Auch einige neuere Monographien haben den Zusammenhang zwischen historischen Textsorten und sprachlichen Makrostrukturen (Textmuster, Nähe- oder Distanzsprache, Dialogstrukturen, Formen der Redewiedergabe usw.) herausgearbeitet, etwa für Briefe des 15. (Grolimund 1995) und 16. Jahrhunderts (Meier 2004) oder für Verhörprotokolle des 17. Jahrhunderts (Topalović 2003). Hierbei wurde bisher kaum auf die Frage eingegangen, wie sich die Textsorten in graphematischer Hinsicht unterscheiden. Einzelbeobachtungen deuten allerdings darauf hin, dass in verschiedenen Regionen und Kontexten durchaus auch textsortenabhängige Schreibgebräuche existierten. So weist Gerhard Kettmann (1967, 92 f.) in seiner Studie über Wittenberger Texte aus der Lutherzeit darauf hin, dass sich in einem Gerichtsprotokoll von 1520 (aus der Hand des Schreibers Meynhardt) „sonst kaum noch auftretende Abweichungen häufen“, wie etwa die ansonsten unübliche Schreibung <ow> für mhd. ou (glowbe), <aw> für mhd. û (hawße) oder <o> in den Pronomen 'ihm, ihn' (om, on). Kettmann interpretiert das als Indiz dafür, dass Meynhardt in dem Protokoll einen weniger strengen Maßstab an seine Orthographie angelegt habe als in seinen anderen Schreiben. Ernst Pfeffer führt in seiner Untersuchung zur Erfurter Rechtssprache (1972) einen kurzen Vergleich mit dem Schreibusus der lokalen Urkunden durch und konstatiert, dass die Rechtsbücher gegenüber den Urkunden eine geringere graphematische Variation und weniger dialektale Einflüsse aufweisen. Da sein Interesse aber den individuellen Schreibsystemen und den diachronen Veränderungen in der städtischen Kanzleisprache gilt, wird diesen textsortenbedingten Unterschieden nicht genauer nachgegangen. Zdeněk Masařík geht in seiner Arbeit über „Die frühneuhochdeutsche Geschäftssprache in Mähren“ (1985) modellhaft von mehreren Sprachschichten aus, wobei auf der obersten Ebene die Urkunden größerer Kanzleien anzusetzen seien und auf mittlerer Ebene z. B. die Stadtbücher, also über einen langen Zeitraum angelegte Sammelschriften mit Einträgen, die diverse Textsorten repräsentieren, z. B. Statuten, Kaufverträge, Rats- und Gerichtsprotokolle, Diensteide, Abschriften von Urkunden und Briefen, Neubürgerverzeichnisse. Auf der untersten Ebene setzt <?page no="105"?> 105 6.2. Schreibvariation in Abhängigkeit von externen Einflussfaktoren er z. B. Gerichtsprotokolle niederer Gerichte an. Da in Masaříks Arbeit jedoch kein expliziter Textsortenvergleich durchgeführt wird, bleibt letztlich unklar, worin sich die beschriebenen Abstufungen auf der graphematischen Ebene manifestieren. In einer Hinsicht wurden textsortenbedingte Unterschiede im Schreibusus allerdings schon etwas genauer beleuchtet, nämlich mit Blick auf das Vorkommen dialektaler, sprechsprachlich beeinflusster Schreibungen. So wurde mehrfach festgestellt, dass bestimmte Textsorten besonders viele Rückschlüsse auf die damals gesprochenen Ortsmundarten zulassen. So schreibt Werner Besch bereits 1961 über die Möglichkeit einer „Lautwertbestimmung an deutschen Handschriften des späten Mittelalters“: „Es gilt also, für unsere Zwecke die unterste Schicht einer Schreibprovinz aufzuspüren, die Kontaktstelle von mundartlichem Laut und mehr oder weniger grober schriftlicher Fixierung, möglichst bei einem ganz in der örtlichen Mundart stehenden Schreiber. Im späten 15. und 16. Jh. kann man in Zeugenprotokollen, Haushaltbüchern, Tagebüchern und Briefen- - also in der privaten Sphäre des zunehmend schreibkundigen Bürger- und Handwerkerstandes-- gelegentlich auf diese Schicht stoßen, im 14. und 15. Jh. sind es die ersten zuweilen ungelenken Verwaltungsnotizen kleiner geistlicher Kongregationen in Form von Rodeln, Urbarien oder Rechnungsbüchern-[…], die diese Schicht repräsentieren. Auch Urkunden geringer und lokaler Bedeutung können dazu gerechnet werden-…“ (Besch 1961, 288) In einem weiteren Beitrag arbeitet Besch anhand eines über 200 Jahre, von 1379 bis zur zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, geführten Urbars aus Villingen (heute im Südwesten Baden-Württembergs gelegen) schreibsprachliche Hinweise auf Merkmale des örtlichen Dialektes heraus (vgl. Besch 1965). Bei einem Urbar (abgeleitet von ahd. urberan 'hervorbringen, einen Ertrag bringen') handelt es sich um ein Güter- und Abgabenverzeichnis, das einen lokalen Wortschatz beinhaltet, der mit einer ebenso lokalen Lautung verbunden ist. Darüber hinaus sind die Verfasser der Urbare oftmals keine professionell ausgebildeten Schreiber. Sie verwenden daher Schreibweisen, die wohl charakteristische Merkmale des damaligen Dialekts wiedergeben, z. B. Entrundungen (daz strisli 'das Sträußchen', alemannisch Strüßli), Nasalschwund (fûf 'fünf ', ziß 'Zins') oder Lenisierungen (zedel 'Zettel'). Spätere Studien haben für unterschiedliche Textsorten weitere Beispiele für solche dialektalen Schreibweisen aus verschiedenen Sprachstufen und Sprachlandschaften gesammelt. Einen Überblick über solche „Direktanzeigen“ geben z. B. die Artikel zu den „Reflexen gesprochener Sprache“ im Althochdeutschen (Sonderegger 2000), Altsächsischen (Sanders 2000), Mittelhochdeutschen (Grosse 2000) und Mittelniederdeutschen (Bischoff / Peters 2000) im zweiten Teilband des „Handbuchs Sprachgeschichte“ (Besch et al. 1998-2004). Im Zusammenhang mit dem Freiburger Projekt zur Analyse südwestdeutscher Güter- und Abgabenverzeichnisse verweist der damalige Projektleiter Wolfgang Kleiber noch auf einen weiteren Aspekt, der sich auf den Grad der Sorgfalt und die Nachhaltigkeit bezieht, mit dem Texte verschriftet wurden (vgl. Kleiber 1965). Er führt ein Beispiel an, das auf graphematische Differenzen zwischen flüchtig niedergeschriebenen Textkonzepten (sogenannten „Rödeln“, abgeleitet von lat. rotulus 'Rolle') und den daraus sorgfältig erstellten Reinschriften (den Urbaren) hindeutet. Anhand der Überlieferung des Klosters St. Blasien im Schwarzwald ver- <?page no="106"?> 106 6. Funktionen schreibsprachlicher Variation gleicht er ein durch Befragung vor Ort erstelltes Konzeptrodel mit dem inhaltlich identischen Eintrag im Urbar, also der nachträglich angefertigten Zusammenstellung der gesammelten Rödel (vgl. ebd., 196 f.). Dabei stellt er einen Unterschied in der Wiedergabe der Vokale in den Nebensilben fest: Während die Endungen in dem ursprünglichen Rodel auf einen abgeschwächten Vokal verweisen, wie wir ihn auch aus dem heutigen Deutsch kennen (Hesse, ze den Tannen, Hinder der Winterhalden), sind die Graphien <o> und <u> in den Urbaren als Wiedergaben voller Nebensilbenvokale zu interpretieren (Hesso, zů der Tannun, ze der Winterhaldun). Kleiber deutet diese Schreibungen entsprechend dem Konzept der Direktanzeigen als Reflexe der „rudimentären Erhaltung“ der Vollvokale „in den konservativen Mundarten“. Dabei stellt sich jedoch die Frage, warum sie dann gerade in dem spontan niedergeschriebenen Konzeptrodel nicht vorkommen. Kleiber erklärt dies damit, dass Rodel und Urbar von unterschiedlichen Schreibern verfasst wurden. Das Rodel stammt von dem Schreiber Werner von Rinegg, der ansonsten hauptsächlich für die Abfassung von Urkunden zuständig war und es deshalb gewohnt war, dialektnahe Schreibungen zu vermeiden. Das Beispiel lässt ein methodisches Problem bezüglich der Gegenüberstellung von Konzepten und Reinschriften erkennen: Ein solcher Vergleich ist nur dann sinnvoll, wenn beide Texte von demselben Schreiber stammen, denn andernfalls kann der jeweilige individuelle Schreibusus Unterschiede hervorrufen, die womöglich nichts mit den Entstehungsbedingungen der Texte zu tun haben. Dieses Problem ergibt sich auch im Bereich der Urkunden, denn auch bei dieser Textsorte ist oft davon auszugehen, „dass Konzipist und Reinschreiber zwei verschiedene Personen sind“ (Posse 1887, 86). Der Konzipist war für die selbständige Erarbeitung des Textes zuständig, während die Reinschrift ein eher mechanischer Vorgang war. Dementsprechend ist auch hier mit individuellen Unterschieden in der graphematischen Textgestaltung zu rechnen. Aussagekräftig sind allerdings solche Fälle, bei denen Konzept und Reinschrift von derselben Hand stammen. Hans Moser (1977, 209 f.) untersucht den Schreibusus des Kanzleisekretärs Ciprian von Serntein, der von 1490 bis 1519 in der Kanzlei Maximilians I. tätig war. Hierbei vergleicht er das graphematische System der Briefkonzepte mit dem der Brief-Reinschriften und stellt u. a. einen auffälligen Unterschied bezüglich der Umlautmarkierung fest. Während Ciprian in den Reinschriften sehr regelmäßig einen Akut über den Buchstaben u setzt, um den Umlaut zu markieren (z. B. grúntlichen, erzúrnen), im Unterschied zum einfachem <u> in nicht-umgelauteter Stellung (thun, gut), führt er in der Konzeptschrift keine systematische Differenzierung durch- - hier steht <ú> wahllos neben <u>/ <v> (ohne Umlaut: darúmb, gefúnden neben gesucht, genug; in Umlautposition: erzúrnt, stúcken neben vber). Nach Moser dient der Akut in der weniger sorgfältigen Schnellschrift zur Buchstabendifferenzierung, während dies in der Reinschrift nicht notwendig war. Dies scheint jedoch eine Ausnahme darzustellen, denn im Gesamtvergleich der Konzepte und Reinschriften aus seinem Korpus kommt Moser zu einem klaren Befund: Abgesehen von einer etwas größeren Häufigkeit von Dopplungen des Buchstaben n in den Reinschriften (möglicherweise als Stilmittel) und einer stärkeren Tendenz zum Gebrauch von Kürzeln in den Konzepten gibt es keine größeren Unterschiede im Schreibusus. <?page no="107"?> 107 6.2. Schreibvariation in Abhängigkeit von externen Einflussfaktoren Auf eine sehr spezielle Art des textsortenspezifischen Schreibgebrauchs hat jüngst Markus Schiegg (2015) in seiner Studie zur Funktionalität frühmittelalterlicher Glossen hingewiesen. In der althochdeutschen Glossenüberlieferung finden sich gelegentlich Formen der Verschlüsselung durch „Verschiebung bzw. Ersatz einzelner lateinischer Buchstaben oder durch die Verwendung eines fremden Alphabets“ (Schiegg 2015, 74). Solche geheimschriftlichen Einträge finden sich nach Schiegg in ca. 10 % der Handschriften, die ahd. Glossen beinhalten. Anders als die gängige Bezeichnung nahelegt, besteht deren primäre Funktion aber wohl nicht in der Geheimhaltung von Inhalten. Das lässt sich schon daran erkennen, dass es sich meist um verbreitete Verschlüsselungssysteme handelt und teilweise der Auflösungsschlüssel sogar gleich mitnotiert wird. Schiegg geht vielmehr in Anlehnung an Nievergelt (2007) davon aus, dass der Gebrauch der abweichenden Schriftsysteme oder Schrifttypen zur „optischen Abgrenzung“ eingesetzt worden sei. Hier handelt es sich um einen Schreibusus, der unmittelbar mit dem spezifischen Charakter der Textsorte Glosse zusammenhängt. Denn Glossen sind Texteinträge, die in bereits vorhandene Texte hineingeschrieben werden, so dass der Gebrauch einer abweichenden Schreibweise als Versuch betrachtet werden kann, die Unterscheidung dieser „sekundären“ Textteile vom Primärtext zu unterstützen. Auf diese Weise können z. B. Interlinearglossen mit ihrer spezifischen metatextuellen Funktion (etwa der Angabe althochdeutscher Übersetzungen zu einem lateinischen Text) formal von bloßen Textkorrekturen differenziert werden, die ebenfalls über den Textzeilen notiert werden. Im Extremfall geschieht dies durch Gebrauch eines ganz anderen Zeichensystems, etwa bei der von Schiegg genauer untersuchten Neumengeheimschrift, die größtenteils Zeichen beinhaltet, die ursprünglich für die Notation von Tonhöhenverläufen im gregorianischen Gesang entwickelt wurden. Wie die Beispiele zeigen, haben sich in einigen Fällen durchaus textsortenbezogene Unterschiede im Schreibgebrauch nachweisen lassen. Nicht immer sind diese Befunde jedoch konsistent zu interpretieren. Solche Interpretationsprobleme seien abschließend an einem Beispiel aus der Studie von Paul Rössler (2005) zur Variation in bairischen Drucken des 16. bis 18. Jahrhunderts erörtert. Rössler (2005, 310 f.) macht an einigen Predigttexten die Beobachtung, dass sie häufig nicht-synkopierte et-Flexive aufweisen (3. Ps. Sg. Präs.: erwecket, außruffet), die mutmaßlich in Kontrast stehen zu den alltagssprachlichen Formen mit synkopiertem Schwa-Laut (erweckt, ausruft). In ähnlicher Weise treten nicht-synkopierte Formen auch beim Partizip II auf (er hat gezeiget). Rössler interpretiert diese Formen als Beispiele für textsortenspezifischen Schreibgebrauch, da es sich bei der Predigt um eine Textsorte handelt, deren Inhalt als „erhaben“ gelte und bei der somit ein gehobener Stil angestrebt werde. Rössler spricht hier von einem „Stilpostulat der Homiletik“ (ebd., 296), das im 18. Jahrhundert die Vermeidung synkopierter Varianten nahegelegt habe. Gestützt wird diese Interpretation durch metasprachliche Urteile bei zeitgenössischen Grammatikern, z. B. bei Adelung (1781, 281 f.): „Die Sprache des gesellschaftlichen Umganges ziehet gern zusammen, wenn es ohne Härte geschehen kann, die feyerliche Sprache nicht so gern“. Auch den Erhalt des -e beim Imperativ Sg. (schaffe, gedencke statt schaff, gedenck) in Predigttexten deutet Rössler als „Marker für den ‚erhabenen‘ Stil“ (Rössler 2005, 336). Diese Interpretationen erscheinen für <?page no="108"?> 108 6. Funktionen schreibsprachlicher Variation sich genommen nachvollziehbar, stoßen jedoch dann an ihre Grenzen, wenn andere Exemplare derselben Textsorte (Predigt) genau die gegenteiligen Varianten aufweisen. In derselben Arbeit bespricht Rössler einige Predigten des 18. Jahrhunderts, die sich gerade durch eine besondere Präferenz der e-Apokope bei der Substantivflexion auszeichnen. Rössler begründet diesen Schreibgebrauch damit, dass der Gebrauch solcher sprechsprachlichen Formen dem Prediger ermöglichen würde, das Publikum „nicht nur intellektuell, sondern auch emotionell zu erreichen“ (ebd., 247). Auch diese Erklärung, dass der Gebrauch apokopierter Formen eine Konzession an das dialektsprechende Publikum darstellte, erscheint durchaus plausibel. Sie steht jedoch in einem Spannungsverhältnis zu der für die anderen Beispiele angeführten Erklärung, nach der man sprechsprachliche Formen in Predigten vermieden habe, weil diese einer gehobenen Stilschicht angehörten. Der Predigt als Textsorte werden hier also zwei sehr unterschiedliche Stileigenschaften zugeschrieben, einerseits konzeptionelle Schriftlichkeit und gehobener Stil, andererseits konzeptionelle Mündlichkeit und Nähe zum gesprochenen Dialekt. Beide Zuschreibungen ergeben sich aus ad-hoc-Interpretationen der jeweils dominierenden Schreibvarianten (volle vs. synkopierte / apokopierte Flexionsendungen). Daran wird ein grundsätzliches Problem erkennbar, das auftritt, wenn man textsortenspezifische Schreibvarianz nachzuweisen versucht: Textsorten sind in der Regel polyfunktional, d. h. sie erfüllen mehrere Funktionen, die von dem individuellen Sprecher oder Schreiber jeweils mehr oder weniger akzentuiert werden können. Ein Pfarrer, der den transzendenten Charakter der Predigtinhalte hervorheben möchte, kann Sprachmerkmale verwenden, die eine entsprechende Markierung („erhaben“, „gehoben“) besitzen, im vorliegenden Falle also nicht-synkopierte bzw. nicht-apokopierte Formen. Ein anderer, der seine Predigt adressatenorientiert und volksnah gestalten möchte, wird hingegen eher die Varianten mit dialektaler Synkope oder Apokope verwenden. Eine generalisierende Zuschreibung sprachlicher Merkmale zu der Textsorte Predigt erscheint vor diesem Hintergrund problematisch, es sei denn, dass man Untertextsorten definiert („gehobene Predigt“ vs. „volksnahe Predigt“), denen jeweils unterschiedliche stilistische und sprachliche Merkmale zukommen. Letztlich würde man damit aber weniger auf Textsortenunterschiede Bezug nehmen, sondern auf stilistische Unterschiede, die in ähnlicher Weise auch in ganz anderen Textgattungen auftreten könnten (z. B. im Bereich der Dichtung: feierliche Ode vs. Volkslied). In dem von Rössler angeführten Fall der apokopierenden Predigttexte kommt noch ein anderes Problem hinzu, durch das die Lage noch etwas unübersichtlicher wird: Die Apokopen könnten nicht nur als Konzession an den Dialekt der Adressaten angesehen werden, sondern zugleich auch als konfessioneller Sprachmarker. Die im katholischen Bayern gängigen Apokopierungen könnten „benützt worden sein, um eine erkennbare sprachliche Distanz zum Omd. [Ostmitteldeutschen] und damit als aufgeklärt-protestantisch identifizierten Schrifttum zu signalisieren“ (Rössler 2005, 247). In diesem Falle wird die potenzielle Textsortenspezifik (Predigt als konzeptionell mündliche Textsorte) also überlagert durch einen ganz anderen Faktor (katholischer vs. protestantischer Schreibusus), der sich wiederum auch in anderen Textsorten manifestieren kann (Kap. 6.2.5). Das Beispiel macht die Herausforderungen deutlich, mit denen eine Untersuchung zu den möglichen Bezügen zwischen Schreibvarianz und Textsorten konfrontiert ist. Zum einen sind Textsorten meist polyfunk- <?page no="109"?> 109 6.2. Schreibvariation in Abhängigkeit von externen Einflussfaktoren tional, so dass ihr sprachliches Gepräge je nach Akzentuierung der einen oder anderen Funktion ganz unterschiedlich ausfallen kann. Zum anderen ist stets mit der Einwirkung anderer Einflussfaktoren zu rechnen, die in einer größer angelegten Untersuchung kontrolliert oder ausgeschlossen werden müssten. 6.2.3. Druckersprachen Die Erfindung des Buchdrucks war von herausragender Bedeutung für die Sprach- und Kulturgeschichte des Deutschen. Mit der Etablierung dieses neuen Mediums, insbesondere des Buchdrucks mit beweglichen Metall-Lettern, hat sich die Art und Weise, wie Texte produziert, verbreitet und gelesen wurden, in vielerlei Hinsicht verändert. Dazu gehören nach Hartweg/ Wegera (2005, 92) z. B. die Modernisierungen im Herstellungsprozess (technische Reproduktion statt individueller Produktion von Unikaten), die Erhöhung des Wirkungsradius von Texten und die damit verbundene Schaffung einer breiteren „Öffentlichkeit“, die Veränderung des Status von Büchern, die sich nun als Produkte auf einem größeren Markt behaupten mussten, und damit verbunden auch diverse Verschiebungen im Textsortenspektrum (mehr Kleinschrifttum für breitere Bevölkerungsschichten statt teurer Folianten). In der sprachhistorischen Forschung stand zunächst vor allem die Frage im Vordergrund, welchen Anteil der Buchdruck am Ausgleich der landschaftlichen Schreibtraditionen und damit an der Herausbildung eines überregionalen Schreibusus hatte. Peter von Polenz fasst in seiner „Deutschen Sprachgeschichte“ den Forschungsstand zu diesem Thema wie folgt zusammen: „Nach der traditionellen Auffassung der Sprachgeschichtsschreibung seien die Buchdrucker entscheidend an der deutschen Sprachvereinheitlichung beteiligt gewesen, da sie geschäftlich an überregionalem Absatz interessiert waren. Dies wird in der neueren Forschung relativiert-[…]. Im 15. Jh. hatten die Drucker zu wenig Kapital für überregionalen Export, waren noch stark von lokalen und regionalen Käufern abhängig, die nicht durch fremdartige Sprache verärgert werden durften. Die Auflagen waren noch klein, Nachdrucke wurden- […] vielfach für spezifische Abnehmerkreise regionalsprachlich umgeschrieben. Den Bücherlesern konnte damals ein hohes Maß an Kenntnis fremdregionaler Varianten zugemutet werden; die Schwelle der Variantentoleranz lag wesentlich höher als seit der Sprachkultivierung der Aufklärungszeit. Noch zu Anfang des 16. Jh. sind den Schreiblandschaften vergleichbare regionale ‚Druckersprachen‘ zu unterscheiden-[…].“ (von Polenz 2000, 171 f.) Hartweg (2000, 1695-1697) unterscheidet allein für den hochdeutschen Raum nicht weniger als sieben regionale Drucktraditionen (südostdeutscher, schwäbischer, oberrheinisch-alemannischer, innerschweizerischer, westmitteldeutscher, ostfränkischer und ostmitteldeutscher Typ). Auch druckschriftliche Texte des 16. und 17. Jahrhunderts sind somit noch in einem hohen Maße durch das Vorkommen regionaler Varianten charakterisiert, ähnlich wie es in Kap. 6.2 an den Handschriften des „Iwein“ veranschaulicht wurde. Diese sprachliche Variation wurde in Fallstudien für einige wichtige Druckzentren wie Augsburg, Frankfurt / M., Straßburg, Wittenberg und zu Städten im bayrisch-österreichischen Raum exemplarisch aufgearbeitet (vgl. Kettmann 1987, Rössler 2005, Fujii 2007, Behr 2014). <?page no="110"?> 110 6. Funktionen schreibsprachlicher Variation Darüber hinaus vergleicht Kettmann (1992) die landschaftliche Prägung von 28 Drucken des Zeitraums 1570-1630 und 29 Drucken von 1670-1730 aus allen deutschen Sprachlandschaften. In den genannten Arbeiten hat sich gezeigt, dass eine stärkere graphematische Vereinheitlichung durch Orientierung am Ostmitteldeutschen erst im späteren 16. und im 17. Jahrhundert stattfindet und sich der Südosten sogar erst Mitte des 18. Jahrhunderts dem ostmitteldeutsch geprägten Variationstyp anschließt. Im Folgenden sollen aus einer graphematischen Perspektive drei Fragen erörtert werden, die sich aus den spezifischen Abläufen innerhalb der Druckereien und den Rahmenbedingungen des Druckprozesses ergeben: a) Lassen sich auf graphematischer Ebene systematische Unterschiede zwischen handschriftlichen und druckschriftlichen Texten nachweisen? b) Inwieweit lässt sich der jeweilige Einfluss der am Druckprozess beteiligten Personen (Drucker, Setzer, Korrektoren) auf die graphematische Gestaltung der Texte ermitteln? c) Welche Auswirkungen haben die technischen Innovationen im Zusammenhang mit der Professionalisierung des Druckvorgangs auf die graphematische Textgestaltung? (a) Wenn man untersuchen möchte, inwiefern sich handschriftliche und druckschriftliche Texte auf der graphematischen Ebene systematisch unterscheiden, ist es notwendig, andere potenzielle Einflussfaktoren (Herkunftsregion und Entstehungszeit der Texte, Textsorte usw.) möglichst konstant zu halten. Hugo Stopp versucht diesen methodischen Anforderungen in seiner kleinen Fallstudie über „Schreibsysteme in Handschrift und Druck“ (1980) gerecht zu werden, indem er zwei Texte miteinander vergleicht, die hinsichtlich der Textsorte, Entstehungszeit und regionalen Provenienz eine weitgehende Vergleichbarkeit aufweisen: ein handschriftlich verfasstes Kochbuch der Sabina Welserin aus Augsburg (ab 1553 niedergeschrieben) und ein 1544 ebenfalls in Augsburg hergestellter Druck eines Kochbuchs von Balthasar Staindl. Stopp untersucht die graphematische Variation im Bereich des Vokalismus und stellt eine Reihe von Unterschieden fest, von denen sich manche plausibel mit dem medialen Unterschied zwischen Handschrift und Druck in Verbindung bringen lassen. So tritt die damals noch recht junge Schreibvariante des nachgestellten <-h> als Längenzeichen nur im Drucktext, aber nicht in der konservativeren Handschrift auf. Andererseits wird nur in der Handschrift ein Akut als diakritisches Zeichen verwendet, um das geschriebene u von dem ähnlich aussehenden Buchstaben n zu differenzieren (úmb 'um', dú 'du'), während dies im Druck wegen der eindeutigen Unterscheidbarkeit der Lettern für n und u nicht notwendig war. Wie eine Anschlussuntersuchung zu denselben Texten (Freund/ Schmitt/ Stopp 1980) zeigte, weist die Handschrift zudem deutlich mehr dialektale Varianten (Regionalismen) auf als der Druck, der mutmaßlich auf einen größeren Verbreitungsradius abzielte. Die Autoren schließen daraus, dass die Setzer und Korrektoren eher in der Lage waren, „eine variantenärmere-[…] Sprache zu fixieren“, als Privatpersonen (ebd., 274). Weitere Aufschlüsse über das Verhältnis von handschriftlichem und druckschriftlichem Sprachgebrauch vermittelt eine größer angelegte Studie, die Gerhard Kettmann 1987 für die Stadt Wittenberg durchführte. Auf der Grundlage von 48 Wittenberger Drucken aus der Zeit von 1509-1547 von Autoren mit vergleichbarem Bildungsstand, die aus dem ostmitteldeutschen und oberdeutschen <?page no="111"?> 111 6.2. Schreibvariation in Abhängigkeit von externen Einflussfaktoren Raum stammten, untersuchte Kettmann den „Graphemgebrauch in der Wittenberger Druckersprache“. Dabei führte er auch einen Vergleich der Drucktexte mit der zeitgleichen handschriftlichen Überlieferung in Wittenberg durch. Hierbei stellte er fest, dass die graphematische Variation in den Drucken weniger ausgeprägt ist als in den Handschriften der Stadtkanzlei, was die These eines tendenziellen Sprachausgleichs in den Drucken bestätigt (ebd., 46 f.). Andererseits weist jedoch die Schreibsprache der landesherrlichen, kursächsischen Kanzlei einen noch höheren Standardisierungsgrad und einen höheren Anteil an allochthonen (hier: ostoberdeutschen) Varianten auf als die Druckersprache. Hier hat sich offenbar aufgrund der überregionalen Ausrichtung der Institution ein Schreibusus etabliert, der einen gewissen überregionalen Ausgleich erkennen lässt. Handschriftliche Texte sind somit nicht zwangsläufig konservativer und stärker regional gebunden als Drucktexte; vielmehr spielt neben dem Faktor der Medialität auch die eher lokale (Stadtkanzlei) oder eher überregionale (Fürstenkanzlei) Ausrichtung eine wichtige Rolle bei der Graphienwahl. Auf einen weiteren interessanten Aspekt der medialen Differenzierung weist Anja Voeste (2010) in einem kleinen Beitrag hin, in dem sie einen handschriftlichen und einen druckschriftlichen Text des Barockdichters und Poetologen Martin Opitz miteinander vergleicht. Die Texte (eine gedruckte Widmung in einem Buch und ein eigenhändiger Brief), die beide im November 1637 verfasst wurden, unterscheiden sich markant im Gebrauch der konsonantischen Digraphien <dt> und <tt>, die im Brief häufig vorkommen, im Druck dagegen nur jeweils einmal. Aus der Tatsache, dass „es sich bei beiden Texten um denselben Autor, dieselbe Abfassungszeit und um Adressaten aus dem Hochadel handelt“, schließt Voeste, dass es sich um medial bedingte Unterschiede handle. Da die Digraphien <dt> und <tt> zur Entstehungszeit des Textes bereits veraltete und selten vorkommende Varianten darstellten, verlangt ihr Gebrauch in Opitz’ handschriftlichem Brief nach einer Erklärung. Voeste nimmt an, dass Opitz sich hier bewusst an einer alternativen Schreibnorm für informelle Kontexte orientiert habe, etwa um den persönlichen Charakter des Schreibens zu unterstreichen. Wenn diese Interpretation zutrifft, würde das bedeuten, dass graphematische Variation im 17. Jahrhundert im handschriftlichen Bereich noch soziopragmatisch funktionalisiert werden konnte (etwa zum Ausdruck von sozialer Nähe oder als Höflichkeitsmarker), während die Druckschriftlichkeit dies schon nicht mehr zuließ. (b) Zu Beginn des Kapitels wurde betont, dass die druckschriftliche Überlieferung der Frühen Neuzeit eine starke regionale Differenzierung aufweist-- Drucke aus Augsburg, Leipzig, Nürnberg, Frankfurt oder Basel lassen ihre regionale Prägung auch in graphematischer Hinsicht klar erkennen; dementsprechend ist von „Druckersprachen“ (im Plural) die Rede. Doch auch dieser Begriff stellt bereits eine starke Vereinfachung dar, denn der Druckprozess ist so komplex, dass auf verschiedenen Ebenen die Möglichkeit einer Einflussnahme auf die Textgestalt bestand. Somit ist auch innerhalb einer einzelnen Druckerei (Offizin) noch mit einem gewissen Maß an graphematischer Variation zu rechnen. Wenn heute ein Schriftsteller an seinem Computer eine Kurzgeschichte schreibt, erfüllt er gleichzeitig mehrere Rollen: Er ist der kreative Urheber der Textes (Autor), er ist derjenige, der den Text in eine materiell sicht- <?page no="112"?> 112 6. Funktionen schreibsprachlicher Variation bare Gestalt überführt (Schreiber), und er nimmt dabei selbst Korrekturen vor (Korrektor). Sobald das Typokript nun gedruckt und veröffentlicht werden soll, werden diese Rollen aber auf mehrere Personen verteilt. Ein Verlagslektor macht dem Autor stilistische Verbesserungsvorschläge und wird dabei in der Regel auch Verstöße gegen die geltende Rechtschreibung korrigieren (es sei denn, der Autor setzt graphematische Variation als literarisches Stilmittel ein, wie etwa Arno Schmidt, Matthias Koeppel oder Zé do Rock). In der Druckerei wird der Text dann gesetzt und gedruckt, wobei weitere Korrekturen erfolgen. Diese Arbeitsteilung zwischen Autor, Korrektor, Setzer und Drucker ist auch schon für die Offizinen des 16. Jahrhunderts anzusetzen, bereits ab 1540 ist in den Quellen der Beruf des Korrektors in größeren Druckereien erwähnt (vgl. Meiß 1994, 41). Da den am Druckprozess beteiligten Personen aber noch keine überregional verbindlich geregelte Orthographie als Richtschnur zur Verfügung stand, nahmen sie mit ihren individuellen Entscheidungen bewusst oder unbewusst Einfluss auf die graphematische Gestaltung der Texte. Als Beispiel für einen Korrektor, der das Schriftbild der von ihm betreuten Texte stark beeinflusst hat, wird häufig Christoph Walther angeführt, der zwischen 1535 und 1574 in der Druckerei von Hans Lufft in Wittenberg maßgeblich für die Bearbeitung der Lutherbibeln verantwortlich war, zunächst als Unterkorrektor, ab 1551 als Hauptkorrektor (vgl. Voigt 1877; Wolf 1984). In enger Zusammenarbeit führen Luther und Walther, in Anlehnung an den bereits bestehenden Schreibgebrauch der sächsischen Kanzleien, eine Reihe von graphematischen Reformen durch: Sie reduzieren Konsonantenhäufungen, ersetzen die Graphie <y> durch <i> oder <j>, vereinheitlichen die Varianten <cz, tz, z> zu <z>, führen Umlautsbezeichnungen und mehr feste Wortschreibungen ein, unterscheiden Homophone (Weise vs. Waise, Rad vs. Rat), vermeiden kleinräumig-dialektale Varianten, etablieren eine regelmäßige Großschreibung am Satzanfang und systematisieren die Zeichensetzung (vgl. Wolf 1980). Luther und seine Korrektoren trugen damit nicht nur zum überregionalen Sprachausgleich bei, sondern auch zu einer systeminternen Variantenreduktion und Vereinheitlichung. Damit ist ein wichtiger Schritt gemacht auf dem Weg vom alten Modell der auf Variation basierenden, flexiblen und individuell geprägten Schreibsysteme hin zum neuen Modell der überregional einheitlichen, variantenarmen und maximal normierten Orthographie. In vier Schriften von 1563 bis 1571 (Teilabdruck in Volz 1954, 142-148) berichtet Christoph Walther selbst von den Anweisungen Luthers und ihrer Umsetzung im Druckprozess. Klaus Meiß (1994, 67-102) unterzieht diese Texte einer kritischen Betrachtung und führt außerdem eine graphematische Analyse von elf Bibeldrucken aus Frankfurt (1560-1572) und sechs Wittenberger Bibeldrucken (1545-1567) durch. Die von Luther und Walther vorgenommenen Neuerungen wurden von den Zeitgenossen durchaus wahrgenommen, was sich u. a. daran ablesen lässt, dass schon der Grammatiker Fabian Frangk in seiner „Orthographia“ (1531) die Schreibsprache der Lutherdrucke zur Orientierung empfiehlt. Nicht zuletzt konnten die graphematischen Normierungen Luthers und seiner Mitstreiter auch aufgrund der hohen Auflagen seiner Schriften eine starke Wirkung entfalten. Nach Angaben von Wolf (1980, 152) sind für die Lutherbibel (inklusive der Bibel-Teildrucke) schon bis zum Tode Luthers im Jahr 1546 „mehr als 460 Ausgaben-[…] nachgewiesen, für die über eine halbe Million Einzelexemplare angenommen werden“, die im gesamten deutschsprachigen Raum vertrieben wurden und in allen sozialen Schichten ihre Leser fanden. <?page no="113"?> 113 6.2. Schreibvariation in Abhängigkeit von externen Einflussfaktoren Neben den Korrektoren konnten auch die Setzer (Schriftsetzer), also die Personen, die Manuskripte mithilfe von Bleilettern in eine Druckform umwandelten, Einfluss auf die graphematische Gestaltung der Texte nehmen. In jüngerer Zeit hat Akihiko Fujii (2007) in seiner Studie zur Augsburger Druckersprache des 15. Jahrhunderts den Versuch unternommen, über eine genaue Analyse der Zusammensetzung der historischen Drucke dem individuellen Einfluss der Setzer auf die Spur zu kommen. Der Innenteil eines gedruckten Buches (der „Buchblock“) besteht immer aus mehreren Druckbögen, den sogenannten „Lagen“, worunter mehrere ineinandergesteckte Doppelblätter verstanden werden. Wenn ein Papierbogen, der einmal gefalzt (d. h. maschinell gefaltet) wurde, vier Buchseiten umfasste, musste er in der Frühzeit des Buchdrucks, als noch jede Seite einzeln gedruckt werden musste, viermal unter die Druckerpresse gegeben werden. Wie Behr (2014, 77 f.) erläutert, wäre dieses Verfahren sehr zeitraubend gewesen, wenn alle Druckseiten nur durch einen einzigen Setzer eingerichtet worden wären. Daher wurden mehrere Setzer beschäftigt, die parallel den Satz der einzelnen Seiten übernahmen. Durch diese Arbeitsteilung konnte der Druckprozess erheblich beschleunigt werden. Fujii (2007) nimmt an, dass bei den von ihm untersuchten 18 deutschsprachigen Drucken der Augsburger Offizin von Günther Zainer in mehreren Fällen von einer solchen Arbeitsteilung auszugehen ist. Er geht von der grundsätzlichen Arbeitshypothese aus, dass die Setzerarbeit lagenweise verteilt war. Darüber hinaus wird die Möglichkeit eines lageninternen Setzerwechsels durch den Vergleich mehrerer Seiten derselben Lage überprüft. Die Hypothese eines lagenweisen oder lageninternen Setzerwechsels wird in den Fällen als bestätigt angenommen, in denen sich deutliche sprachliche Unterschiede nachweisen lassen. Hierin liegt eine gewisse Zirkularität, da die sprachlichen Differenzen als Kriterium für die Differenzierung verschiedener Setzerpersönlichkeiten verwendet werden, für die dann anschließend die Hypothese der setzerspezifischen Sprachgebrauchs überprüft wird. Die unabhängige Variable (Setzer A, B, C usw.) wird somit durch die abhängige Variable (Schreibsystem A, B, C usw.) begründet. Methodisch sauberer wäre ein sprachunabhängiger Nachweis des Setzerwechsels anhand formaler Kriterien. Dies scheint jedoch nur in Ausnahmefällen möglich zu sein, etwa dort, wo der Lagenwechsel mit einem erkennbaren Wechsel der Drucktypen einhergeht (vgl. ebd., 16, Fn. 65). Trotz dieser methodischen Schwäche erscheint die These, dass die Differenzen im Schreibusus tatsächlich mit der Arbeitsteilung im Druckprozess zusammenhängen und damit auf individuelle Sprachgebräuche von Setzern schließen lassen, plausibler als die Annahme, dass ein und derselbe Setzer innerhalb einer Lage in seinem Schreibgebrauch variiert habe. Die graphematischen Unterschiede werden in der Untersuchung von Fujii anhand von zehn ausgewählten Variablen beschrieben. Als Beispiel kann seine Analyse eines „Plenariums“ von 1474 angeführt werden, bei dem offenbar zwei Setzer in Schichtarbeit am Werk waren (vgl. ebd., 53-58). Der Buchblock besteht hier aus 35 Lagen, die sich entsprechend ihrem graphematischen Variantenprofil auf zwei Gruppen aufteilen lassen. Lagengruppe A (mutmaßlich erstellt von Setzer A) enthält 17 Lagen (hier bezeichnet durch die Kürzel a, b, c, f, g, k, l, o, p, t, v, x, C, E, H, I, M), Lagengruppe B (von Setzer B) enthält 18 Lagen (d, e, h, i, m, n, q, r, s, y, z, A, B, D, F, G, K, L). Einige von Fujii (2007) herausgearbeitete Differenzen im Graphiengebrauch veranschaulicht Tab. 5: <?page no="114"?> 114 6. Funktionen schreibsprachlicher Variation Variable Lagengruppe A (≈ Setzer A) Lagengruppe B (≈ Setzer B) Realisierung von mhd. î und ei vorwiegend <ei>: zeit, heil keine Verwendung von <ai, ay> vorwiegend <ey>: zeyt, heyl mhd. ei auch durch <ai> (12 Belege) und durch <ay> (21 B.) realisiert (kain, ayn) Vokalgraphien bei den Verben gehen und stehen gon (13 Belege), daneben gan (4 B.), gen (6 B.) ston (3 Belege), daneben stan (2 B.), sten (2 B.) gan (17 Belege), daneben gen (6 B.) (keine Verwendung von gon) stan (4 Belege), daneben ston (1 B.), sten (1 B.) Realisierung der Suffixverbindung -igkeit -igkeit (34 Belege), daneben -ikeit (3 B.), z. B. gerechtigkeit -ikeit (32 Belege), daneben -igkeit (6 B.), z. B. gerechtikeit Kontrahierte Formen von haben nur hon (24 Belege) nur han (25 Belege) Graphische Reflexe des schwäbischen Diphthongs für mhd. â: <au, ou> nicht belegt 4 Belege Variation von <ck> und <k> in medialer und finaler Position neben <ck> auch häufiger <k> (15 Belege) neben <ck> nur selten <k> (3 Belege) Tab. 5. Differenzen im Graphiengebrauch zweier Setzer eines Augsburger Plenariums von 1474 (Augsburg SuStB 2° Ink 337) Wie die Analyse zeigt, sind für fast alle untersuchten Variablen markante Unterschiede festzustellen, die die Annahme eines setzerspezifischen Variantengebrauchs nahelegen. Einen Schritt weiter geht Arend Mihm (2013) in seiner Untersuchung eines ebenfalls 1474 in Augsburg erschienenen „Melusine“-Drucks (Bayer. Staatsbibliothek Sign. 2 Inc.c.a. 295; vgl. Behr 2014, 135-139), indem er versucht, über die vollständige Rekonstruktion der individuellen Graphemsysteme Rückschlüsse auf die gesprochenen Varietäten zu ziehen, an denen sich die Setzer bei ihrer Arbeit jeweils ausrichteten. Der ausgewählte Druck ist nach Einschätzung Mihms besonders geeignet für eine graphematische Analyse, „weil an ihm zwei Setzer gearbeitet haben, die sich in ihren Schreibsystemen deutlich unterscheiden“ (Mihm 2013, 171). Von den zwölf Lagen des Buches wurden fünf durch den Setzer A gesetzt, sechs durch den Setzer B, und an der Bearbeitung der letzten Lage waren beide Setzer beteiligt. Im Rahmen einer vergleichenden Analyse arbeitet Mihm zahlreiche Unterschiede in den „orthographischen Stilen“ der beiden Setzer heraus. Einige davon beziehen sich lediglich auf Differenzen auf der graphischen Ebene, z. B. einen unterschiedlichen Gebrauch von r-Varianten und von Kürzeln und Nasalstrichen. Andere Unterschiede bestehen in der Graphienwahl und Graphienauslastung; so werden z. B. zehn Vokalgraphien jeweils nur von einem der beiden Setzer verwendet, und Setzer A gebraucht die Graphie <ai> 28mal so oft wie Setzer B, während Setzer B viermal so häufig die Graphie <dt> verwendet wie Setzer A. Vor allem aber lassen sich große Unterschiede in der Graphie-Laut-Zuordnung und in der kontextspezifischen Verwendung von Vokalgraphien nachweisen. Mihm schließt daraus, „dass der Druckherr Johann Bämler kein nachdrückliches Interesse an einer vereinheitlichten Sprachform gehabt hat. Vielmehr hat er seinen Setzern bei der Überformung des Vorlagentextes freie Hand gelassen, sodass sie sich an einer Vorbildvarietät eigener Wahl orientieren konnten, und offensicht- <?page no="115"?> 115 6.2. Schreibvariation in Abhängigkeit von externen Einflussfaktoren lich hat nachher kein Korrektor einen Versuch zu einer Vereinheitlichung unternommen. Auch die Setzer haben sich untereinander nicht auf eine einheitliche Sprachform geeinigt, vielmehr hat jeder seine Aufgabe, die Vorlage den aktuellen Erfordernissen anzupassen, in der Weise gelöst, dass er die Merkmale einer für ihn vorbildlichen Prestigevarietät in den Druck aufnahm.“ (Mihm 2013, 192) Auch der Vergleich mehrerer Auflagen desselben Textes, die im 15. und 16. Jahrhundert jeweils neu gesetzt werden mussten, kann ein probates Mittel sein, um setzerspezifische Sprachverwendungen nachweisen. Dies zeigt die von Mihm (2015) durchgeführte graphematische Untersuchung zu einem Kölner und einem Erfurter Text, von denen jeweils zwei kurz hintereinander erschienene Auflagen überliefert sind (Köln 1514 und 1517, Erfurt 1512 und 1515), die von unterschiedlichen Setzern eingerichtet wurden. Mihm stellt fest, dass die Setzer der Neuauflagen jeweils beträchtliche graphematische Änderungen vornahmen. So führte der Setzer des Kölner Drucks von 1517 insgesamt 2940 Änderungen gegenüber der Textfassung von 1514 durch, was einem Durchschnitt von 64 Änderungen pro Seite entspricht. Auch hier lässt sich ein Teil der Modifikationen auf eine Orientierung an lautlichen Gegebenheiten zurückführen, was Mihm als „auditorisches Monitoring“ bezeichnet (ebd., 95). Zum Beispiel wird die im Text von 1514 häufig verwendete Graphie <ai> (wie in maich 'mag', spraich 'sprach', maich 'Verwandter', aichen 'Aachen') in der Neuauflage von 1517 teilweise durch <a> ersetzt, aber nur dann, wenn es sich um einen historischen Kurzvokal handelt (maich 'mag' > mach, spraich > sprach, dagegen weiterhin bei historischer Länge: maich 'Verwandter', aichen 'Aachen'). Die Graphie <u> wird nur dort durch regionales <o> ersetzt, wo kein Umlaut vorliegt (hunt > hont 'Hund', aber weiterhin stunde 'stünde', sunder 'Sünder'). Mihm schließt daraus, dass der Setzer „keineswegs mechanisch oder nur schriftgeleitet vorging, sondern dass er zunächst die Bedeutung eines Wortes identifizierte, danach die entsprechende phonologische Wortform vor seinem inneren Ohr realisierte und zur Grundlage seiner Typenauswahl machte“ (ebd., 100). Anders als man vielleicht erwarten würde, können also in der Frühen Neuzeit nicht nur handschriftliche Texte, sondern auch Drucke in hohem Maße durch individuelle Entscheidungen der an der Textproduktion beteiligten Personen geprägt sein, die darauf hinauslaufen, Besonderheiten der Aussprache wiederzugeben oder zu ignorieren. (c) Wenn die graphematische Gestalt druckschriftlicher Texte somit einerseits durch den ‚menschlichen Faktor‘ beeinflusst wird, so stehen andererseits auch die technischen Aspekte des Druckvorgangs im Verdacht, den Gebrauch bestimmter Graphienvarianten zu begünstigen. Wie Fujii (2007) bemerkt, waren die Tätigkeiten eines Schreibers und eines Setzers „grundverschieden“: „Beim Schreiben ergibt die eigene Handbewegung direkt Schriftlinien. Von dieser unmittelbaren Körperlichkeit ist der Akt des Typen-Setzens eben so entfernt wie etwa das Drücken auf die gleichförmigen Tasten des Keyboards, die durch einen Mechanismus bei der Schreibmaschine auf dem Papier, beim Computer auf dem Bildschirm unterschiedliche Buchstaben erscheinen lassen.“ (Fujii 2007, 216) Ein banaler Effekt der Mechanik des Druckvorgangs besteht darin, dass Drucke manchmal Fehler aufweisen, die in Handschriften nicht auftreten, etwa mit falschen Wortsegmentierun- <?page no="116"?> 116 6. Funktionen schreibsprachlicher Variation gen wie in von dent empe l (eigentlich: von den tempel) (Fujii 2007, 216). Ein anderes Beispiel sind Buchstaben, die auf dem Kopf stehen, weil der Setzer diese versehentlich falsch herum in den Winkelhaken eingesetzt hat. Interessanter sind allerdings Neuerungen in der Graphienwahl, die auf Veränderungen in der Druckpraxis zurückgehen. In jüngerer Zeit hat sich vor allem Anja Voeste intensiver mit solchen graphematischen Veränderungen beschäftigt, die sich aus der Professionalisierung des Setzerhandwerks im 16. Jahrhunderts ergeben haben. Durch diverse technische Neuerungen wurde der Druckvorgang in dieser Zeit erheblich vereinfacht und beschleunigt. Dies bedeutete für die Setzer einen wachsenden Zeitdruck, was sich auch an zeitgenössischen Berichten über Auseinandersetzungen zwischen Druckern und Setzern ablesen lässt (vgl. Voeste 2013, 143). In Reaktion auf die gestiegenen Anforderungen versuchten die Setzer Zeit zu sparen, was sich in bestimmten Bereichen unmittelbar auf die graphematische Variation auswirkte. Während etwa beim handschriftlichen Schreiben der Gebrauch von Abkürzungen (Abbreviaturen) eine Vereinfachung darstellte und daher weit verbreitet war, ist im Druck das Gegenteil der Fall, da für jedes Kürzelzeichen eine zusätzliche Bleiletter hergestellt werden musste. Daher wurden die Abbreviatur-Lettern, die in Frühdrucken (in Anlehnung an die handschriftliche Tradition) zunächst noch verwendet worden waren, nach und nach „als zeitraubende Sondertypen aus dem Setzkasten entfernt“ (ebd.). Nikolaus Ruge konnte in einem Korpus von 145 Drucktexten den raschen Rückgang von Kürzeln für die Buchstabenfolge -er, von Nasalstrichen sowie von Kürzungen des Artikels der und der Konjunktion unde 'und' nachweisen. Bereits zwischen 1500 und 1590 geht die Anzahl der Abbreviaturen kontinuierlich von etwa 374 Belegen auf ca. 36 Belege pro Text zurück, bis 1710 sinkt die Kürzelhäufigkeit auf 3,7 Belege, und um 1770 sind praktisch keine Kürzel mehr nachweisbar (Abb. 23). Abb. 23. Abbau von Abbreviaturen in deutschsprachigen Drucken zwischen 1500 und 1770 (durchschnittliche Beleganzahl pro Textprobe, nach Ruge 2004, 223) <?page no="117"?> 117 6.2. Schreibvariation in Abhängigkeit von externen Einflussfaktoren Mit dem Verzicht auf Abbreviaturen wird der Druckprozess vereinfacht, da nicht mehr so viele Drucktypen benötigt werden. Dafür tritt jedoch ein anderes Problem auf, das sich wiederum auf die graphematische Gestalt der Drucktexte auswirken konnte. Denn Abbreviaturen konnten in den Drucken ebenso wie zuvor in den Handschriften auch zur Zeilenregulierung verwendet werden, d. h. um die Herstellung eines gleichmäßigen rechten Rands (Blocksatz) zu gewährleisten. Wenn z. B. eine Textzeile in Vergleich zu den darüber befindlichen zu lang zu werden drohte, konnten Wortkürzungen gezielt eingesetzt werden, um einen exakten, optisch ansprechenden rechten Zeilenfall zu erreichen (vgl. Voeste 2008, 83 f.). Mit dem druckökonomisch bedingten Wegfall der Abbreviaturen mussten die Setzer nach neuen Lösungen für dieses Problem suchen. Voeste (2008) stellt die These auf, dass die Variation von einfachen Konsonantenzeichen und Graphienclustern (vnd / vnndt, auf / auff, weg / wegk) im 16. Jahrhundert in diesem Sinne als Mittel zur Ausbalancierung der Zeilenlänge eingesetzt wurde: „Um den Zeilenausgleich zu erleichtern, wird am segmentalen Aufbau der Wörter ‚gebastelt‘, und die Wortbreite wird durch das Einfügen zusätzlicher Lettern gestreckt.-[…] Das ‚Auffüllen‘ der Zeilen durch Konsonantenverdopplung oder durch die Ergänzung von <d> zu <t> ist charakteristisch für das 16. Jahrhundert-[…].“ (Voeste 2008, 84 f.) Die Hypothese des Zusammenhangs zwischen dem intendierten Zeilenausgleich und dem Gebrauch von Abbreviaturen oder von wortverlängernden Graphien erscheint grundsätzlich plausibel, ließ sich allerdings bisher noch nicht an einem größeren Textkorpus nachweisen. Wenn z. B. Abbreviaturen vor allem zur Zeilenregulierung eingesetzt worden wären, wäre zu erwarten, dass sie in schmalen Spalten signifikant häufiger auftreten als in breiten, über die ganze Seite sich erstreckenden Textblöcken, da der Zeilenausgleich umso schwieriger herzustellen ist, je geringer die Spaltenbreite ausfällt. Um die These zu bestätigen, dass Abbreviaturen zum Zeilenausgleich eingesetzt worden seien, müsste sich somit ein Zusammenhang zwischen der Häufigkeit von Abkürzungen in einem Text und der Spaltenbreite nachweisen lassen. Ruge (2004, 226-230), der für 32 Texte aus seinem Korpus von Drucktexten des 16. bis 18. Jahrhunderts das Verhältnis von Zeilenbreite und Kürzungsfrequenz untersuchte, konnte jedoch keine entsprechende Korrrelation nachweisen. Ruge führt dies vor allem darauf zurück, dass es zur Sicherstellung eines einheitlichen rechten Zeilenrands neben der Kürzung noch weitere Möglichkeiten gegeben habe, unter anderem die Variation des Wortabstands oder die Worttrennung am Zeilenende - beide Mittel kommen auch heute noch in jedem Textverarbeitungsprogramm zum Einsatz, wenn man eine Proportionalschrift verwendet und die Einstellungen „Blocksatz“ und „automatische Silbentrennung“ wählt. Da die verschiedenen Techniken zur Zeilenregulierung miteinander kombiniert werden können, dürfte es schwierig sein, einen gezielten Gebrauch von Konsonantenclustern zur Erhöhung der Zeilenlänge schlüssig nachzuweisen. <?page no="118"?> 118 6. Funktionen schreibsprachlicher Variation 6.2.4. Soziale Aspekte Viele Arbeiten im Bereich der Historischen Graphematik klammern soziale Aspekte der schreibsprachlichen Variation weitgehend aus. Teilweise geschieht dies aus der Überlegung heraus, dass sich Unterschiede im Schreibgebrauch von Vertretern verschiedener gesellschaftlicher Gruppen oder Schichten generell nur schwer nachweisen lassen, da wir oftmals den Schreiber eines Textes gar nicht kennen oder keine Informationen über seine soziale Zugehörigkeit besitzen. In anderen Fällen wird unreflektiert davon ausgegangen, dass sich die historischen Schreibsprachen generell auf die zeitgenössischen „Dialekte“ bezögen, ohne dabei mit der Möglichkeit sozial bedingter Abstufungen zu rechnen. Dennoch wurden schon in einigen frühen Arbeiten verschiedenartige Differenzierungen in der gesprochenen Sprache angenommen, die sich auch in unterschiedlichen Schreibgebräuchen niederschlagen könnten. So weist bereits Renward Brandstetter (1890, 209-215) darauf hin, dass die Sprache auch in Spätmittelalter und Früher Neuzeit eine vielfache Differenzierung nach Bildungsstand (Gebildete vs. Ungebildete), Stilebenen (gewöhnliche vs. „poetische“ Wörter), Alter (z. B. Kindersprache) und sozialen Gruppen (z. B. Rotwelsch) aufgewiesen habe; heute würde man hier von Varietäten oder sprachlichen Registern sprechen. Einige Jahrzehnte später geht Heinrich Matthias Heinrichs (1961) modellhaft von einer dreifachen Schichtung historischer Dialekte und Schreibsprachen aus (Grundschicht-- Mittelschicht-- Hochschicht) und vermutet, dass eine solche Abstufung vielleicht schon für das Gemeingermanische anzunehmen sei. Wolfgang Fleischer (1970) nimmt für Dresden im 16. Jahrhundert eine zweifache sprachsoziologische Schichtung an, wobei wiederum „jede Schicht-[…] in sich abgestuft“ sei (Fleischer 1970, 466). Er legt daher bei der Analyse Wert auf eine schichtenspezifische Differenzierung des Untersuchungskorpus. Neben der gehobenen Sprachschicht, die er durch die Schreibtradition der Stadtsekretäre und Überlieferungsformen wie Urkunden, Rechtstexte oder Stadtrechnungen repräsentiert sieht, kommt in anderen Textsorten wie Handwerkerrechnungen, Privatbriefen usw. eine dialektnähere Schicht zum Vorschein, die stark von der offiziellen Kanzleischriftlichkeit abweicht. Texte aus diesem Bereich halten länger an veralteten Schreibungen fest, unterliegen häufiger Einflüssen aus anderen regionalen Schreibsprachen, sie zeigen mehr Mundartreflexe und weisen insgesamt eine größere Nähe zur gesprochenen Sprache auf. Aus dem Nebeneinander dieser Schreiblagen schließt Fleischer, „daß alle diese Lautungen im Dresden des 16. Jh. nebeneinander erklungen sind“ (ebd.). Im Folgenden sollen zunächst die beiden Pole des schreibsprachlichen Spektrums, die „oberschichtige“ und die „grundschichtige“ Überlieferung, etwas genauer beleuchtet werden: Welche Quellen stehen für die Untersuchung dieser Sprachschichten zur Verfügung, worauf ist bei der Erforschung dieser Quellen methodisch zu achten und welche Erkentnnisse hat man über den jeweiligen Schreibgebrauch gewinnen können? Anschließend wird auf das Phänomen eingegangen, dass Graphien im Laufe der Zeit auch mit sozialer Bedeutung aufgeladen werden können und eine positive Konnotation bzw. ein besonderes Prestige erhalten, was dazu führen kann, dass man sie häufiger gebraucht oder aus anderen Varietäten entlehnt. Umgekehrt können Graphien (und die damit verbundenen Lautungen) auch eine soziale Stigmatisierung erfahren, was zu ihrer Vermeidung und in bestimmten Kontexten zu einer <?page no="119"?> 119 6.2. Schreibvariation in Abhängigkeit von externen Einflussfaktoren sozialsymbolischen Funktionalisierung in Hinblick auf die Charakterisierung bestimmter Personentypen führen kann. Die Forschung ist sich heute weitgehend einig darin, dass sich die weit überwiegende Zahl der überlieferten volkssprachlichen Quellentexte sprachlich nicht auf die damals gesprochenen Basisdialekte bezieht, sondern auf eine oberschichtige Sprechlage, die mit Begriffen wie „Herrensprache“ (Pfalz 1925, Wiesinger 1980), „höhere lokale Umgangssprache“ (Henzen 1954) oder „Akrolekt“ (Mihm 2003) umschrieben worden ist. Diese Sprechvarietäten der gehobenen Schichten, also des Adels, der städtischen Patrizier, der gut ausgebildeten städtischen Amtsträger (Stadtsekretäre) oder des Klerus, dürften einen gewissen Abstand gegenüber der Sprache der Landbevölkerung (Bauerndialekt), des städtischen Mittelstandes (Handwerker) oder der einfachen Tagelöhner aufgewiesen haben. In der gehobenen Sprechsprache wurden bestimmte Erscheinungsformen der Mündlichkeit wie Assimilationen, Kontraktionen, Synkopen und Apokopen wohl seltener gebraucht. Ebenso dürften besonders stark dialektal gefärbte und als „unfein“ geltende Aussprachebesonderheiten vermieden worden sein, wie z. B. lokaltypische Vokalrundungen oder Entrundungen, Diphthongierungen, Dehnungen oder entsprechende Auffälligkeiten im Konsonantismus (Lenisierungen, Spirantisierungen, Sonorisierungen, Desonorisierungen usw.). Entsprechend finden sich solche Merkmale auch in den oberschichtigen Schreibsprachlagen nur in Ausnahmefällen. Ein bekanntes Beispiel für die Vermeidung dialektaler Formen in historischen Schreibsprachen ist die sogenannte „Rheinische Velarisierung“. Dieser Begriff bezeichnet eine im ripuarischen Raum und am Niederrhein verbreitete Lauterscheinung, deren Entwicklung von dem Sprachhistoriker Heinrich Matthias Heinrichs (1952, 1955) anhand zahlreicher Quellentexte untersucht wurde. Darunter wird die Veränderung des Dentals [d] zu einem velaren (gutturalen) Verschlusslaut [g] verstanden, wie er heute noch im Kölner Dialekt vorkommt (Kenger 'Kinder'). In den meisten Quellen treten keine Schreibungen auf, die auf eine solche Aussprache hindeuten. Dass es dieses Lautphänomen dennoch schon im frühen 14. Jahrhundert gegeben haben muss, lässt sich anhand von Schriftstücken belegen, die eine weniger hohe Stilschicht repräsentieren und eine geringere kommunikative Reichweite hatten (Weistümer, Urkunden kleinerer Gerichte, private Notizen etc.). In solchen Texten finden sich Schreibungen wie angen 'an den', hinger 'hinter' oder tavelr ů nge 'Tafelrunde'. Heinrichs interpretiert das Fehlen derartiger Schreibungen in der gehobenen Schriftlichkeit als Indiz dafür, dass die Velarisierung „zu einer Unterschicht der Sprache gehörte, die zwar vom gemeinen Mann benutzt wurde, aber nicht literaturfähig war“ (Heinrichs 1955, 238 f.). Auch Entlehnungen von Graphien sind in der gehobenen Schriftlichkeit vieler Regionen bezeugt. So verweist Heinrichs (1967) auf das Vorkommen von Doppelformeln wie suikende eff suchent (eff = ‚oder‘) in ripuarischen Texten, bei denen einer volkstümlichen Variante (suikende mit unverschobenem k) eine aus dem Süden entlehnte, prestigeträchtigere Variante (die lautverschobene Form suchent) hinzugefügt wird. Die oberschichtigen Schreibsprachen sind somit nicht nur durch die Vermeidung sprechsprachlicher Formen des lokalen Basis- <?page no="120"?> 120 6. Funktionen schreibsprachlicher Variation dialekts gekennzeichnet, sondern auch durch den Import von Merkmalen aus anderen Regionen, die als „vornehmer“ galten. Die Doppelformen belegen, dass dieses Nebeneinander von Varianten mit unterschiedlichem Prestigewert auch den damaligen Schreibern bewusst war. Für die Schreibsprachen im Rheinmaasgebiet wurden verschiedenartige Entlehnungsvorgänge im 15. bis 18. Jahrhundert im Rahmen des Duisburger Projekts „Die Entstehung der deutsch-niederländischen Sprachgrenze“ untersucht (vgl. Elmentaler/ Mihm 2006, Stichlmair 2008). Herangezogen wurden mehr als 250 Stichproben aus innerstädtischen Verwaltungstexten (v. a. Gerichtsprotokollen, Ratsprotokollen und Stadtrechnungen) aus 12 Orten, von denen heute sechs am deutschen Niederrhein (Ratingen, Neuss, Heinsberg, Wesel, Geldern, Emmerich) liegen, vier im Gebiet der heutigen Niederlande (Maastricht, Roermond, Venlo, Nimwegen) und zwei in Belgien (Hasselt, Tongeren). In den heute zum deutschen Niederrhein gehörigen Städten lässt sich ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ein Import oberdeutscher Prestigeschreibungen beobachten, der einen Sprachwechsel bewirkt: Die autochthone (rheinmaasländische) Varietät wird durch eine allochthone (frühneuhochdeutsche) Schreibsprache ersetzt. Da die niederrheinischen Basisdialekte heute noch den ursprünglichen Lautstand bewahrt haben, muss es sich hierbei um ein Phänomen der gehobenen Sprachschichten gehandelt haben, das für die Sprache der einfachen Leute nicht relevant war. Auch in den Städten, die später Teil der Niederlande bzw. Belgiens wurden, gab es zwischen 1550 und 1650 eine Phase, in der verstärkt hochdeutsche Sprachmerkmale wie vnde 'und' (statt ende) oder -liche '-lich' (statt -like) auftreten. Es spricht vieles dafür, dass diese schriftlich dokumentierten Lehnschreibungen ein Pendant in der Mündlichkeit der norddeutschen Oberschichten hatten. Dies bestätigen u. a. auch zeitgenössische Äußerungen, etwa von dem Hamburger Theologen Albertus Krantz (1505), dem Dortmunder Schriftsteller und Geistlichen Jacob Schöpper (1550) oder dem Magdeburger Pastor und Geschichtsschreiber Georg Torquatus (um 1570), die den Gebrauch des Hochdeutschen durch Personen aus dem städtischen Bürgertum thematisieren (vgl. Mihm 1999a, 73 f.; 2001b, 343). Am anderen Ende des historischen Sprachlagenspektrums stehen Varietäten, die in besonderem Maße durch Merkmale gesprochener Sprache und durch einen hohen Grad an Dialektalität gekennzeichnet sind. Zur Rekonstruktion dieser „unterschichtigen“ Sprachlagen stehen diverse Quellentypen zur Verfügung. Heinrichs (1955) verweist für das Rheinland u. a. auf Weistümer (primär mündlich tradierte, kurze Rechtssätze, die meist dialektnah verschriftlicht wurden) und Urkunden mit lokalem Bezug und aus kleineren Kanzleien. Kleiber/ Kunze/ Löffler (1979) erstellten ihren „Historischen Südwestdeutschen Sprachatlas“ auf der Basis von Urbaren, also lokalen Güterverzeichnissen (vgl. oben Kap. 6.2.2). Helmut Graser (2011) führt in seinem Beitrag über „Quellen vom unteren Rand der Schriftlichkeit“ eine Reihe ganz unterschiedlicher Texte aus Augsburg an, die ein Bild von der sprachlichen Situation in den unteren Gesellschaftsschichten des 16. und frühen 17. Jahrhunderts geben können. Zu den Textsorten, die von der Forschung bislang wenig beachtet wurden, zählen Schmäh- und Spottlieder (Pasquille), Erpresserbriefe, eigenhändige Briefe von Personen aus dem Kleinbürgertum, Erlaubnisscheine zum Besuch umliegender Dörfer (sogenannte „Zechzettel“) und Judengeleitzettel. Die Texte sind häufig emotionaler und unmittelbarer formuliert als Texte professioneller Schreiber, und insbesondere die Pasquille enthalten <?page no="121"?> 121 6.2. Schreibvariation in Abhängigkeit von externen Einflussfaktoren typischerweise eine drastisch-derbe Lexik und stehen in einem scharfen sprachlichen Kontrast zur Kanzleischriftlichkeit. Auf graphematischer Ebene zeigen die Texte die typischen Eigenschaften umgangssprachlich-dialektaler Mündlichkeit. In einem Erpresserbrief von 1591 findet Graser z. B. dialektal bedingte Schreibungen, die auf Entrundungen (bese 'böse') hinweisen, Kontraktionsformen (gendt statt gebent 'gebt'), Partizipialformen ohne ge- (det 'getötet') usw. Graser sieht in solchen Quellen eine Möglichkeit, „die Stimme der einfachen Leute vernehmbar oder besser: ihre Schreibkompetenz sichtbar zu machen“ (ebd., 45). Auch für das späte 18. Jahrhundert sind noch Texte überliefert, die eine individuelle und stark an der Mündlichkeit orientierte Schreibpraxis bezeugen. Ein markantes Beispiel sind die Briefe von Christiane Vulpius (1765-1816) an Goethe, mit dem sie seit 1788 liiert und ab 1806 verheiratet war. Vulpius stammte väterlicherseits aus einer Weimarer Akademikerfamilie und lernte Lesen und Schreiben, erfuhr jedoch aufgrund finanzieller Engpässe keine solide Schulausbildung. Dies schlägt sich auch in der graphematischen Gestaltung ihrer Briefe nieder, die zahlreiche sprechsprachliche und dialektale Varianten enthalten und stark von der damals gebräuchlichen Schreibnorm abweichen. Dies belegt eine detaillierte Analyse eines Briefes von 1797 (Abb. 24), die Anja Voeste (2016, 252-257) in einem Beitrag über die Beziehung zwischen Schrift und Mündlichkeit in der Frühen Neuzeit durchgeführt hat. 1 2 3 4 5 6 8 9 10 11 12 13 Diens dages abenſt den 21 [Februar 1797] ich und dein liebes bübchen ſind glücklich und wohl wieder zu Hauße an gelangt die Ernesdiene und Werners kam ̄ usns bis umferſtät [Umpferstedt] Endgegen. Heude den ganzen dag habe ich mich [mit] Der Reinlich keit deiner zimer beſchäftdig und bin in der Comedie geweßen. Morgen werden vom ganzen Hauße die fohrhänge gewaßen ud den Donners dag gebügelt und über Haubt Habe ich mir dieße Woche mir vor genom Daß Haus F von boden bis ruder in Ordung zu brüfen den Sondag mich mit dem Rohten Gel*t <Kleid> zu buzen und küftdüge Woche die auf ſäzgen in ordnung zu brigen und als den daß übrge wird ſich finden. Stel Dir vor wie lieb dich deine bey den Haßen Haben wie du in Käutſchau [Kötschau] von uns wehe wahrſt gin mir raus und ſagn auf dem Berg deine Kuße fahren da fingen mir alebey eisns an zu heulen und ſahten bey de es währ unds ſo wuderlich. der klin läſt dich grüßen er iſt heude by Gakala geweßen Abb. 24. Auszug aus einem Brief von Christiane Vulpius an Johann Wolfgang Goethe vom 21. Februar 1797 (nach Voeste 2016, 253) Christiane Vulpius’ Brief lässt eine mangelnde Vertrautheit mit den orthographischen Konventionen ihrer Zeit erkennen, so etwa bei der Getrennt-/ Zusammenschreibung komplexer Wörter (Diens dages, an gelangt, über Haubt) oder der Groß- und Kleinschreibung (kleingeschriebene Substantive: z. B. bübchen, zimer; großgeschriebene Nicht-Substantive: Endgegen, Rohten). Mehrfach wird die Graphie <n> ausgelassen (u[n]d, kü[n]ftdüge). Ihr Gebrauch des Dehnungs-h ist auch für die damalige Zeit unkonventionell (Rohten, währ 'wäre'), ebenso die Verwendung von <f> statt <v> in fohrhänge. Einige Schreibungen verweisen auf Lautmerkmale des thüringischen Dialekts, etwa der Gebrauch von <d> statt <t> (dag, Heude), <b> statt <p> (brüfen, buzen), <h> statt <g> (ſahten 'sagten', mit g-Spirantisierung), andere deuten auf sprech- <?page no="122"?> 122 6. Funktionen schreibsprachlicher Variation sprachliche Reduktionen (kam ̄ 'kamen', gin 'gingen') und Assimilationen (Kuße 'Kutsche') hin. Voeste vermutet, dass sich Vulpius’ fehlende orthographische Kenntnisse auch auf ihre Aussprache im Bereich des bildungssprachlichen Wortschatzes auswirkten, da sie nicht die Möglichkeit hatte, diese anhand des Schriftbildes zu justieren. Dies könnte zu ihrer mangelnden Akzeptanz in der bürgerlichen Gesellschaft (selbst nach der Eheschließung mit Goethe) beigetragen haben. Während eine solch ungeregelte Schreibweise vor dem Hintergrund einer um 1800 bereits weitgehend gefestigten Orthographie unweigerlich als Zeichen mangelnder Bildung wahrgenommen wurde, ist in früheren Sprachstufen aus dem Auftreten „nähesprachlicher“ Sprach- und Schreibmerkmale nicht zwingend auf eine mangelnde Kompetenz der Textproduzenten zu schließen. Darauf hat neuerdings Arend Mihm (2017) in einer Studie zum Schreibgebrauch in Augsburg und Köln hingewiesen. Für die Erschließung der tieferen Sprachlagen zieht er unter anderem Tagebuchnotizen eines Vertreters der Kölner Oberschicht (Hilbrant Sudermann) aus dem späten 15. Jahrhundert heran, in der Sprachformen reflektiert sind, die man auch aus den modernen Dialekten der Region kennt. Dazu zählen z. B. Graphien, die auf eine Hebung des Langvokals wgerm. ô verweisen (gruß 'groß'), o-Schreibungen für langes â, die auf eine Velarisierung hindeuten (affloyß 'Ablass'), oder Graphien, die als Ausdruck von Diphthongierungen (weympell 'Wimpel') und Monophthongierungen (stynne 'Steine') zu verstehen sind-- in der offiziellen Kölner Kanzleischriftlichkeit wären hier die Schreibungen grois, aflaiß, wimpel und steine zu erwarten. Mihm interpretiert die von Sudermann verwendeten Schreibweisen als Marker für „Ungezwungenheit, Vertrautheit oder Informalität“ (ebd., 289). Damit verweist er auf einen Aspekt, der bei der Diskussion „tieferer Sprachlagen“ zu beachten ist, nämlich die mögliche Intentionalität des Gebrauchs dialektnaher oder sprechsprachlicher Merkmale. Im vorliegenden Fall ist, anders als in einigen der von Graser diskutierten Beispiele, die Annahme naheliegend, dass der Schreiber in seinen privaten Notizen bewusst eine Differenz zur offiziellen Kölner Schreibsprache herstellen wollte. Denn Sudermann war ein gebildeter Mann, so dass kaum anzunehmen ist, er sei nicht in der Lage gewesen, ein dialektferneres Schreibsystem zu verwenden. Ähnliches lässt sich nach Mihm auch für den Schreibusus in privaten Aufzeichnungen der Kölner Ratsherren Johann Brackerfelder und Hermann Weinsberg aus dem 16. Jahrhundert annehmen. Auffällig ist dabei, dass alle drei Schreiber neben den „nähesprachlichen“ Merkmalen auch die damals hochmodernen Lehngraphien und Lehnwörter aus dem oberdeutschen Raum gebrauchen, die sicher nicht die Sprache der einfachen Leute charakterisierten, wie etwa lautverschobene Formen (scharff und tzuschen ‚zwischen‘ statt lokalem scharp, tuschen), Diphthongierungsgraphien (eyß ‚Eis‘ und reyden ‚reiten‘ statt ijs, ryden) oder hochdeutsche Pronomen wie er (statt ripuarischem he / hey). Mihm schließt aus diesem Nebeneinander von Varianten aus unterschiedlichen, ja geradezu konträren Sprachlagen, dass die Verfasser über ein Spektrum an lokalen Varietäten verfügten, aus denen sie gezielt Graphien zu unterschiedlichen Zwecken auswählen konnten, zum Ausdruck von Ungezwungenheit, aber auch zur gesellschaftlichen Repräsentation und Selbstinszenierung. In ähnlicher Weise interpretiert Robert Möller (2005, 270) das Nebeneinander von traditionellen Formen und Lehngraphien in der privaten Schreibsprache des Hermann Weinsberg als Akt einer sozialsymbolischen Variantenfunktionalisierung, indem er darauf verweist, dass „diese gemischte Sprache ihn insgesamt gleichzeitig modern und gebildet und traditionsver- <?page no="123"?> 123 6.2. Schreibvariation in Abhängigkeit von externen Einflussfaktoren haftet erscheinen ließ“. Nach dieser Interpretation haben wir es hier nicht mit einer deterministischen Korrelation zwischen sozialer Schichtzugehörigkeit und Sprachgebrauch zu tun („Weil die Person X der Unter-/ Oberschicht angehört, verwendet sie das Sprachmerkmal Y“), wie sie in der klassischen, korrelativen Soziolinguistik angenommen wird, sondern mit einer Nutzung sozialsymbolischer Potenziale sprachlicher Formen („Um als ortsverbunden / modern / vornehm zu gelten, verwendet Person X das Sprachmerkmal Y“). Dies entspricht dem, was die pragmatisch geprägte, interaktionale Soziolinguistik zu erfassen versucht (vgl. zu dieser Opposition von „korrelativ-globalen“ und „konversationell-lokalen“ Verfahren Gilles 2003). Brackerfelder und Weinsberg nutzen somit das ihnen und ihren Zeitgenossen vertraute symbolische Potenzial von autochthonen Graphien (mit Konnotationen wie „traditionell“, „volksnah“, „authentisch“ usw.), aber gleichzeitig auch das Potenzial allochthoner Lehnschreibungen, die für „Modernität“, „Weltläufigkeit“, „Vornehmheit“ usw. stehen könnten. Jürgen Macha (1998, 56 f.) spricht in diesem Zusammenhang von „programmatischen Graphien“, die gezielt eingesetzt wurden, um die „Zugehörigkeit bzw. Affinität zu bestimmten soziokulturellen Milieus“ zu signalisieren. Im vorliegenden Fall ist dies die Zugehörigkeit zur lokal verwurzelten Bürgerschaft und zugleich zu einer überregional vernetzten städtischen Führungselite. Macha geht davon aus, dass insbesondere professionelle Schreiber den Signalwert bestimmter Graphien genau einschätzen konnten. Die Arbeiten von Möller und Mihm belegen aber, dass ein solches Bewusstsein nicht nur bei Kanzleischreibern, sondern auch bei Privatpersonen aus der gebildeten städtischen Oberschicht vorhanden war. Eine gezielte Ausschöpfung der sozialsymbolischen Potenziale von Schreibvarianten wird später wieder in den Bauerndramen und Zwischenspielen der Barockzeit deutlich, in der die Figuren der Unterschicht (Bauern, Tagelöhner, einfache Soldaten usw.) schon an der graphematischen Form, in die ihr Sprechen gegossen wird, als bildungsferne Personen erkennbar werden. Typische Beispiele für die gezielte Ausnutzung der sozialsymbolischen Funktion graphematischer Varianten bietet das niederdeutsche Schauspiel „Teweschen Hochtiet“ (1640). Hier wird die Sprache der Hauptfiguren aus dem bäuerlichen Milieu durch den übertriebenen Gebrauch von Schreibungen charakterisiert, die auf dialektale Assimilationen (balle 'bald', hanne 'Hand') und Kontraktionen (wencket 'wenn ich es', aschet 'wie ich es'), auf intervokalischen Dentalschwund (weer statt wedder 'wieder', See statt Sede 'Sitte') oder auf die sprechsprachliche Einfügung von Svarabhakhti-Vokalen (Hamborreger Berecken 'Hamburger Bierchen') verweisen (vgl. Elmentaler et al. 2018; Weber 2008). Die Bildungsferne der Hauptfigur, des Bauernsohns Tewes, wird auch an seiner Verballhornung lateinischer Lehnwörter (schnupkiel 'subtil', bunter Kater 'Procurator') demonstriert. Eine andere Figur im Drama, ein lateinkundiger, aber offenbar noch niederdeutsch aufgewachsener Schreiber namens Blasius, wird vor allem durch ihre gescheiterten Versuche gekennzeichnet, korrekte hochdeutsche Formen zu bilden. Zwar kennt Blasius offenbar einige Regeln, nach denen man ein niederdeutsches Wort in seine hochdeutsche Entsprechung überführen kann (z. B. nd. p, t, k wird zu hd. pf / f, ts / s, ch), doch bildet er aufgrund seiner mangelnden Vertrautheit mit dem Hochdeutschen pseudohochdeutsche, „hyperkorrekte“ Wortformen wie watz, datz, fleitz (für nd. wat, dat, fliet, hd. was, das, <?page no="124"?> 124 6. Funktionen schreibsprachlicher Variation Heute können wir das symbolische Potenzial von Graphien aufgrund der orthographischen Normierung nur noch in sehr begrenztem Rahmen nutzen, etwa durch das bewusste Festhalten an einer konservativen Schreibung von Lehnwörtern (Delphin, Portemonnaie statt Delfin, Portmonee) oder einer etymologisch ausgerichteten, bildungssprachlichen Worttrennung (Heliko-pter statt Helikop-ter wegen griech. hélix 'Schraube, Spirale' und pterón 'Flügel'; Chir-urg statt Chi-rurg wegen griech. cheír 'Hand' und érgon 'Tätigkeit'), oder umgekehrt durch den Gebrauch von „progressiven“, eingedeutschen Wortvarianten (fantastisch, Spagetti, Majonäse, Tunfisch). Wenn man bereit ist, das Terrain der orthographischen Norm ein wenig zu verlassen, lassen sich die Konnotationen bestimmter Wortschreibungen allerdings noch weiter ausschöpfen. So wird bekanntlich in der Werbung vieler Schokoladehersteller regelwidrig die veraltete Schreibung Chocolade verwendet, um die Hochwertigkeit des Produkts gewissermaßen graphisch zu symbolisieren. Die Wiener Firma „Manner“ thematisiert diese traditionsbewusste Graphienwahl auf ihrer Webseite sogar explizit: „Haben auch Sie sich schon einmal gefragt, warum die Kochschokolade ‚Chocolade‘ heißt? Diese Schreibeweise ist heutzutage schon sehr ungewöhnlich und zur Seltenheit geworden. Dabei handelt es sich nicht um einen kreativen Produktnamen, sondern um die ursprüngliche und traditionelle Schreibweise von ‚Schokolade‘. Diese stammte aus der Zeit um das 16. Jahrhundert. Erst einige Jahrhunderte später, setzte sich dann die heute bekannte Schreibweise von ‚Schokolade‘ durch. Dem Unternehmen Manner sind traditionelle Werte sehr wichtig, denn immerhin besteht dieses schon seit dem Jahr 1890. Daher hat man sich vor einigen Jahren dazu entschieden, die Manner Haushaltsschokolade nicht mehr ‚Schokolade‘ sondern, wie vor vielen Jahren schon, ‚Chocolade‘ zu nennen.“ (http: / / www.manner.com/ de/ wussten-sie-schon-die-schreibweise-chocolade, abgerufen am 26. Mai 2017, Tippfehler und Kommafehler wurden nicht korrigiert) Der kurze Überblick zeigt, dass es mittlerweile eine Reihe von Einzelstudien gibt, die die graphematischen Merkmale von Texten am „oberen“ oder „unteren“ Ende des Sprachlagenspektrums beschreiben und eine schon seit dem 15. Jahrhundert nachweisbare sozialsymbolische Funktionalisierung graphematischer Varianten herausarbeiten. Von einer ausgebauten historischen „Soziographematik“, wie sie Kleiber/ Kunze/ Löffler (1979, 34)- - auch dort in Anführungszeichen-- als Möglichkeit aufscheinen lassen, ist die Forschung allerdings auch heute noch weit entfernt. Fleiß) oder hochzeutsch und Leutze (für nd. hochdüütsch, Lüde, hd. hochteutsch [17. Jh.], Leute). Ein derartiger sozialsymbolischer Gebrauch sprachlicher Varianten ist auch in anderen Texten des 17. Jahrhunderts belegt, so etwa in den Zwischenspielen des Dramatikers Johann Rist (vgl. Schröder 2015). <?page no="125"?> 125 6.2. Schreibvariation in Abhängigkeit von externen Einflussfaktoren 6.2.5. Konfessionalität Die Reformation und die dadurch ausgelösten gesellschaftlichen Entwicklungen sind für die deutsche Sprachgeschichte von grundlegender Bedeutung. Luthers Bibelübersetzungen haben aufgrund ihrer sprachlichen Qualität und Verbreitung zweifellos als eine Art Katalysator zur Herausbildung überregionaler Schreibnormen beigetragen. Zugleich hat die im 16. Jahrhundert vollzogene Spaltung in zwei Hauptkonfessionen, den Katholizismus und den Protestantismus, aber auch in mancherlei Hinsicht zur Entstehung unterschiedlicher Sprachgebrauchsweisen geführt, denn religiöse und konfessionelle Unterschiede wurden bis weit ins 18. Jahrhundert oftmals auch sprachlich zum Ausdruck gebracht. Aus der Untersuchung solcher konfessionell bedingter Sprachdifferenzen hat sich in neuerer Zeit ein eigener germanistischer Forschungsbereich herausgebildet, an dessen Entwicklung, nach einigen Einzelstudien in den 1970er bis 1990er Jahren, der Münsteraner Sprachwissenschaftler Jürgen Macha maßgeblich beteiligt war. Der Kongressband „Konfession und Sprache in der Frühen Neuzeit“ (Macha / Balbach / Horstkamp 2012) sowie Machas Monographie „Der konfessionelle Faktor in der deutschen Sprachgeschichte der Frühen Neuzeit“ (2014) geben einen aktuellen Einblick in den Stand der Forschung und in verschiedene Aspekte der damit verbundenen, überaus komplexen Entwicklungen in den verschiedenen deutschsprachigen Regionen. Macha (2014) identifiziert in seinem Textkorpus auf verschiedenen Ebenen sprachliche „Konfessionalismen“, z. B. in der Morphologie, im Wortschatz, im Gebrauch sprachlicher Formeln oder in der Textstruktur. So ist im morphologischen Bereich auffällig, dass Texte des 17. Jahrhunderts aus dem katholischen Lager häufig ein bestimmtes Ablautschema der starken Verben enthalten (finden- - ich fund- - wir fanden- - gefunden bzw. finden- - ich fund-- wir funden-- gefunden), während diese Verben in protestantischen Texten vorwiegend nach dem Schema finden-- ich fand-- wir fanden-- gefunden konjugiert werden, das sich im 18. Jahrhundert allgemein durchsetzte. Im Bereich des Wortschatzes lässt sich nachweisen, dass Begriffe wie Abendmahl oder Nachtmahl schon früh als „Fahnenwörter“ der Lutheraner und Reformierten galten, während die Katholiken typischerweise Begriffe wie Sakrament, Tisch des Herrn und Kommunion gebrauchten. Die lexikalischen Differenzen sind teilweise sehr subtil, etwa wenn in katholischen Texten vom Heiligen Kreuz und vom Glauben in Gott die Rede ist, in protestantischen dagegen vom Kreuz (ohne den Zusatz heilig) und vom Glauben an Gott, oder wenn (wie Grimmelshausens „Simplizissimus“ von 1668 belegt) Protestanten das Paternoster mit den Worten Unser Vater begannen, die Katholiken dagegen mit Vater unser. Auf pragmatischer Ebene kommen konfessionelle Differenzen z. B. im Grußverhalten zum Ausdruck (katholisch: Gelobt sei Jesus Christus! bzw. heute: Grüß Gott! , dagegen protestantisch: Guten Tag! ). Beispiele für Konfessionalismen auf textstruktureller Ebene bietet die Dissertation von Anna-Maria Balbach (2014), die im Rahmen des von Macha geleiteten Projekts „Konfession und Sprache in der Frühen Neuzeit“ entstand. Balbach untersuchte die Sprache von etwa 1400 frühneuzeitlichen Totengedächtnisinschriften (auf Grabplatten, Grabsteinen und Epitaphien) aus Bayerisch-Schwaben und konnte zeigen, dass es in Bezug auf die Textstruktur deutliche konfessionelle Differenzen gibt. Protestantische Inschriften enthalten z. B. zahlreiche Bibel- <?page no="126"?> 126 6. Funktionen schreibsprachlicher Variation zitate und relativ wenige Fürbitten, bei den katholischen Inschriften ist es umgekehrt, und Unterschiede finden sich z. B. auch im Gebrauch von Sterbeformeln, insofern als in katholischen Inschriften das Sterben meist explizit benannt wird, während in protestantischen Inschriften häufiger Euphemismen wie entschlafen oder verscheiden verwendet werden. Im vorliegenden Zusammenhang ist nun von besonderem Interesse, dass es in früheren Jahrhunderten offenbar auch auf der graphischen und graphematischen Ebene systematische Beziehungen zwischen Sprachgebrauch und Konfession gab. Hierbei konnte schon die Wahl des Schriftsystems konfessionell bedingt sein. So weist Helmut Glück (1987, 115) darauf hin, dass in Mittel- und Nordeuropa die deutsche Kurrentschrift bzw. die Frakturschrift seit dem 16. Jahrhundert gelegentlich als „protestantisch“ interpretiert wurde, im Kontrast zur lateinischen bzw. kyrillischen Schrift - die konkurrierenden Schriftsysteme hatten hier also einen Signalwert als typographische Konfessionalismen erhalten. Im vorrevolutionären Russland sei etwa die Literatur der orthodoxen Finnen in kyrillischer Schrift gedruckt worden, dagegen „die protestantische finnische und estnische Literatur vorwiegend in Fraktur“ (ebd.). Matthias Mieses (1919, 215 f.) führt einige Beispiele für eine solche konfessionell begründete Opposition von Schrifttypen in Polen, Litauen, Bulgarien und Tschechien an. Auch in Deutschland wurden humanistische Veröffentlichungen anfänglich in Antiqua („Lateinschrift“) gesetzt, während die Lutheraner die Frakturschrift favorisierten. Deutschland schlug später allerdings insofern einen Sonderweg ein, als die Fraktur allmählich grundsätzlich als „deutsche“ Schrift interpretiert und von beiden konfessionellen Lagern verwendet wurde (ebd., 216-220). Dennoch lassen sich auch in Deutschland ab dem 16. Jahrhundert konfessionell bedingte Unterschiede im Schreiben feststellen. Diese beziehen sich jedoch nicht auf den Alphabetbzw. Schrifttyp, sondern auf die Orthographie. Nach Glück (1987, 116) wurde die Orthographie in Deutschland „als konfessionelles Unterscheidungs- und Kampfinstrument“ eingesetzt: „In Österreich, Bayern und anderen katholischen Ländern Süddeutschlands war die ‚protestantische‘ Orthographie des Nordens bis weit ins 18. Jh. hinein verpönt“. Als materielle Grundlage dieser konfessionellen Graphienkodierung dienten die im 16. und 17. Jahrhundert noch sehr ausgeprägten Unterschiede zwischen den regionalen Schreibsprachen. Im ostmitteldeutschen Raum, also ungefähr auf dem Gebiet der heutigen Bundesländer Thüringen und Sachsen, hatte sich eine Schreibsprache herausgebildet, die unter dem Label „Meißnisches Deutsch“ bis Ende des 18. Jahrhunderts als vorbildhaft galt. Dazu trug nicht zuletzt die Tatsache bei, dass die Bibelübersetzung Martin Luthers wie auch viele andere protestantische Schriften in einer Orthographie geschrieben wurden, die wesentliche Merkmale dieser ostmitteldeutschen Schreibsprache beinhalteten. Aus heutiger Sicht wirkt das Schriftbild dieser Texte vergleichsweise modern, da sich deren Graphien und morphologische Formen später vielfach durchsetzen konnten und somit die Grundlage für die heutige Standardschriftsprache bildeten. Deutlich konservativer wirkt demgegenüber die für vom katholischen Lager favorisierte Orthographie, das „Gemeine Deutsch“, das im Wesentlichen im Gebiet des heutigen Bayern und Österreichs verwendet wurde. Beispiele für die graphematischen Unterschiede zwischen diesen beiden Varietäten finden sich z. B. bei Schmid (2017, 94-99) für das 15. Jahrhundert sowie bei Macha (2006, 123-125) und Macha (2014, 43) für das 17. Jahrhundert (vgl. unten Kap. 8.2). Es handelt sich also ursprünglich um regionalsprachliche Differenzen. Da <?page no="127"?> 127 6.2. Schreibvariation in Abhängigkeit von externen Einflussfaktoren sich die regionale Verbreitung dieser Schreibtraditionen aber in etwa mit den Gebieten deckte, in denen die beiden Konfessionen Geltung besaßen, konnten die regionaltypischen Schreibgebräuche in einem zweiten Schritt mit der jeweiligen Konfession identifiziert werden: „Sprachregionale Unterschiede wurden zu konfessionellen stilisiert“ (Schmid 2017, 110). Nach einem bekannten soziolinguistischen Modell von William Labov (1972) könnte man davon sprechen, dass sich die regionalen Indikatoren („indicators“) zu konfessionellen Markierungen („markers“) entwickelten. Einige Graphien und morphologische Formen gelten nun als katholische Schreibweisen, andere werden als Signalschreibungen für den Protestantismus aufgefasst (Tab. 6). Katholische Schreibungen Protestantische Schreibungen <ai> für mhd. ei (Thail) vs. <ei> für mhd. ī (Zeit) Graphematischer Zusammenfall von mhd. ei und ī (Theil = Zeit) <ue> für mhd. uo (thuen 'tun') <u> für mhd. uo (thuen 'tun') <ie> für mhd. ie (ziehen) vs. <i> für gedehntes i (Fride) Graphematischer Zusammenfall von mhd. ie und gedehntem i (ziehen = Friede) <au> für mhd. ou (glauben) Umlaut bei mhd. ou vor Labialen (gleuben 'glauben') <p> für <b> (Puechstabe) <b> (Buchstabe) <kh> statt <k> (Khuͤnig 'König') <k> (Koͤnig) Apokopiertes Schwa bei Substantivableitungen oder im Nominalplural (Zung 'Zunge', Fluͤß 'Flüsse') Keine Schwa-Apokope (Zunge, Flüsse) Synkopen bei der Partizipialvorsilbe ge- (gwest 'gewesen') Keine ge-Synkope (gehoͤrt) vorwiegend -nus (z. B. Gedaͤchtnus) vorwiegend -nis (z. B. Gedaͤchtnis) nit 'nicht' nicht Apokope des t in Predig 'Predigt' Predigt Tab. 6. Ausgewählte Beispiele für konfessionelle Signalschreibungen im 16. und 17. Jahrhundert (nach Schmid 2017, 93 f., 96 f. und Macha 2014, 135-139) In einem weiteren Entwicklungsschritt konnten sich solche Markierungssignale dann zu Stereotypen („stereotypes“) weiterentwickeln, auf die man gezielt zurückgreifen konnte, um einen Text katholisch oder protestantisch wirken zu lassen-- Graphien werden zu „Indikatoren konfessioneller Positionierung“ (Macha 2006). Im ostoberdeutschen (bairischen) Raum haben sich die Schreiber und Drucker im Lauf der Zeit in unterschiedlichem Maße an den beiden konkurrierenden Schreibtraditionen orientiert. Bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts wurde recht konsequent das „Gemeine Deutsch“ als Schreibsprache gebraucht, das zahlreiche regionale Kennmerkmale aufwies und eine gewisse Nähe zu den regionalen Dialekten erkennen ließ. Für die Folgezeit werden in der Forschungsliteratur häufig drei Entwicklungsphasen angenommen: <?page no="128"?> 128 6. Funktionen schreibsprachlicher Variation 1. die Phase einer überregionalen Orientierung (Ausgleich mit ostmitteldeutschen Schreibtraditionen) im 16. Jahrhundert, 2. die erneute Hinwendung zu regionalen, oberdeutschen Schreibtraditionen im 17. Jahrhundert, 3. die endgültige Übernahme mittlerweile überregional etablierter Schreibweisen im 18. Jahrhundert. (vgl. Brooks 2006, 103 f.) Bei detaillierter Betrachtung der empirischen Studien muss allerdings konstatiert werden, dass es in dem Verlauf dieser Prozesse erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Druckorten oder Texten aus dem ostoberdeutschen Raum gegeben hat. Eine umfangreiche, korpusbasierte Untersuchung zum schreibsprachlichen Wandel in österreichischen und bayerischen Drucken hat Paul Rössler (2005) vorgelegt. Rössler untersucht die sprachlichen Veränderungen auf der Grundlage eines Korpus von 87 Texten aus acht Städten (Wien, Graz, Klagenfurt, Salzburg, Linz, Innsbruck, München, Passau). Hierzu überprüft er zwölf graphematische und neun morphologische Variablen hinsichtlich der Wahl der jeweiligen oberdeutschen oder ostmitteldeutschen (omd.) Variante. Tab. 7 stellt die Entwicklung für einige ausgewählte Variablen dar. Variable 1530 1565 1600 1630 1660 1690 1720 1765 Schwa-Apokope bei Substantiven im Plural, z. B. die Flu ͤ ß (vs. omd. nicht-apokopierte Formen) (Rössler 2005, 263; aus den Angaben in Tab. 63 errechnete Prozentwerte) 96 95 93 86 81 94 74 26 Schwa-Apokope bei Substantiven im Singular, z. B. die Kirch (vs. omd. nicht-apokopierte Formen) (Rössler 2005, 244) 92 84 88 88 78 78 68 37 <i, y> für gedehntes i, z. B. geschriben (vs. omd. <ie, ye>) (Rössler 2005, 129) 85 79 86 75 81 71 73 10 Schwa-Synkope beim Partizip II , z. B. gezeigt (vs. omd. nicht-synkopierte Formen, z. B. gezeiget) (Rössler 2005, 297) 91 83 66 62 51 62 31 21 nit (vs. omd. nicht) (Rössler 2005, 200; aus den Angaben in Tab. 47 gemittelte Prozentwerte) 86 83 78 33 52 43 31 0 <ai> für mhd. ei, z. B. ain (vs. omd. <ei>) (Rössler 2005, 59) 77 53 26 31 20 10 11 3 <ue, ů > für mhd. uo, z. B. Buech (vs. omd. <u>) und <u ͤ e, üe> für mhd. üe, z. B. B u ͤ echer (vs. omd. <u ͤ , ü>) (Rössler 2005, 100) 70 45 22 32 14 4 2 0 <p> für b im Anlaut, z. B. pleiben (vs. omd. <b>) (Rössler 2005, 153; aus den Angaben in Tab. 34 gemittelte Prozentwerte) 17 5 2 0,3 0,5 0,1 0,3 0 <kh> für k im Anlaut, z. B. khommen (vs. omd. <k>) (Rössler 2005, 140-143; aus den Angaben im Text gemittelte Prozentwerte) 13 3 16 0,6 0,5 0 0 0 Tab. 7. Gebrauch „katholischer“ Signalmerkmale in ostoberdeutschen Texten zwischen 1530 und 1765 (Mittelwerte für alle acht untersuchten Druckorte, nach Rössler 2005) <?page no="129"?> 129 6.2. Schreibvariation in Abhängigkeit von externen Einflussfaktoren Rösslers Ergebnisse belegen, dass bei einigen Variablen bereits im 16. Jahrhundert ein Abbau ostoberdeutscher, als katholisch geltender Graphien einsetzt. Dies bestätigt die These einer überregionalen Orientierung in der ersten Entwicklungsphase. Allerdings lässt sich die angenommene Rückkehr zu regionalen Schreibtraditionen (im Kontext einer Rekatholisierung) im 17. Jahrhundert nicht so deutlich erkennen wie erwartet. So sind die Schreibungen <kh> und <p> statt <b> in Rösslers Korpus schon um 1530 nur noch Minderheitenvarianten (13-17 %) und gehen dann noch weiter zurück; um 1630 sind beide Varianten fast nicht mehr belegt und werden auch im 17. Jahrhundert nicht wieder eingeführt. Bei den wohl als Diphthongschreibungen zu interpretierenden Graphien für mhd. uo und üe und der Graphie <ai> für mhd. ei, die zu Beginn des Untersuchungszeitraums noch stark vertreten sind (70-77 %), ist in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ein deutlicher Rückgang auf etwa 20-30 % festzustellen, der sich im 17. Jahrhundert fortsetzt; gegen 1690 haben sie nur noch einen Anteil von 4-10 %. Etwas länger stabil bleibt die ostoberdeutsche Negationspartikel nit 'nicht', die bis 1600 hohe Werte aufweist (78-86 %), im 17. Jahrhundert noch auf einem mittleren Niveau verwendet wird (31-52 %) und erst in den Korpustexten um 1765 vollständig durch die ostmitteldeutsche Form nicht ersetzt wird. Am längsten können sich zwei Merkmale halten, die auf regionale Apokopierungs- und Synkopierungstendenzen verweisen (Schwa-Apokope bei Substantiven und Schwa-Synkope beim Partizip II ), sowie die monographische Schreibung für das gedehnte i, d. h. der Verzicht auf die Schreibung <ie>, die in dieser Region offenbar noch für den alten Diphthong ie (wie in Liebe, Brief) reserviert ist und daher nicht zur Kennzeichnung des monophthongischen Langvokals zur Verfügung steht. Hier gehen die Anteile der ostoberdeutschen Varianten erst im 18. Jahrhundert markant zurück, und noch um 1765 sind Formen wie die Kirch (Sg.), die Flu ͤ ß (Pl.) oder geschriben (Part. II ) als Minderheitenvarianten in Gebrauch. Die in der Forschung vertretene These einer Zunahme als katholisch geltender Schreibungen im 17. Jahrhundert lässt sich an Rösslers Textkorpus somit nicht pauschal bestätigen. Vielmehr geht die Auftretenshäufigkeit der ostoberdeutschen Varianten bei mehreren Variablen in dieser Zeit bereits spürbar zurück, während bei anderen (z. B. den apokopierten und synkopierten Formen) die Werte auch schon im 16. Jahrhundert sehr hoch waren, so dass nicht von einer „Renaissance obd. Graphien“ (Rössler 2005, 365) gesprochen werden kann, sondern allenfalls von deren Beibehaltung. Rösslers Untersuchungsergebnisse legen nahe, dass die Entwicklung offenbar recht heterogen verlief und einer differenzierten Betrachtung bedarf. Dies wird deutlich, wenn man seine Befunde noch genauer in den Blick nimmt. So zeigen sich in seinem Textmaterial teilweise sehr große Unterschiede zwischen den untersuchten Städten und manchmal auch zwischen mehreren Drucken derselben Stadt. Während etwa die Negationspartikel nit in den Münchner Drucken noch bis 1720 die Mehrheitsvariante bildet, sinkt ihr Anteil in den Texten aus Wien schon im 17. Jahrhundert auf unter 20 %, und ab 1690 ist dort nur noch die ostmitteldeutsche Form nicht belegt. Und während in dem Wiener Druck „Ein nutzliche ordnung vnd regiment wider die Pestilentz“ von Hans Saltzmann (1521) die <p>-Graphien für anlautendes b einen Anteil von 48 % ausmachen, weist die in demselben Jahrzehnt und in derselben Wiener Offizin gedruckte Predigtsammlung von Johan Faber (1528) nur 2 % <p>- Graphien auf. Nicht jeder Autor oder Drucker bzw. Setzer im katholischen Hoheitsgebiet greift also in gleichem Maße auf die „passenden“ bairischen Signalschreibungen zurück. <?page no="130"?> 130 6. Funktionen schreibsprachlicher Variation Dass der Gebrauch als katholisch bzw. protestantisch geltender Graphien je nach den konfessionellen Verhältnissen vor Ort sehr unterschiedlich ausfallen kann, zeigt auch die bereits zitierte Arbeit von Anna-Maria Balbach (2014), in der neben den textstrukturellen und lexikalischen Aspekten auch die graphematische Gestaltung der Inschriften anhand von sieben Variablen (<ai>, <mb> wie in umb 'um', <kh>, Konsonantenverdopplung wie in lauffen, „katholische Apokope“, Abstraktsuffix -nus, Negationspartikel nit) untersucht wurde. Balbach stellt fest, dass „die Werte für die katholischen und evangelischen Inschriften in der bikonfessionellen Reichsstadt Augsburg meist sehr nah aneinander liegen“ (ebd., 241). Dort lassen sich z. B. im Gebrauch der Schreibung <ai> für mhd. ei, der Graphien <mb> und <kh>, in der Verwendung des Suffixes -nus (vs. -nis) und in der Verwendung von Apokopen keine aussagekräftigen Unterschiede zwischen katholischen und protestantischen Texten nachweisen. Anders verhält es sich jedoch bei den Inschriften aus den anderen untersuchten Städten, die eine überwiegend evangelische (Nördlingen, Memmingen, bis 1607 Donauwörth) bzw. überwiegend katholische (Dillingen, Günzburg, ab 1607 Donauwörth) Bevölkerung aufweisen. Hier gibt es zumindest bei drei Varianten (<ai>, <kh>, nit) konfessionell bedingte Schreibdifferenzen, wobei deren Entwicklung aber nicht ganz parallel verläuft. So sind die konfessionellen Unterschiede bei der Negationspartikel nit / nicht bereits ab dem 16. Jahrhundert spürbar, da protestantische Inschriften schon ab dieser Zeit deutlich seltener nit verwenden als katholische. Bei der <ai>-Schreibung werden die konfessionellen Unterschiede dagegen erst im 17. Jahrhundert deutlicher, um dann im 18. Jahrhundert wieder weitgehend nivelliert zu werden. Die Graphie <kh> schließlich erhält erst „im 18. Jahrhundert konfessionelle Relevanz - weil keine der protestantischen Städte sie mehr verwendet“ (ebd., 242), die katholischen Städte hingegen noch zu 8 bis 25 %. Bei den übrigen Graphien haben sich für das Inschriftenkorpus zumeist überhaupt keine konfessionellen Unterschiede im Gebrauch nachweisen lassen, so etwa für die Doppelkonsonantengraphien (schlaffen 'schlafen'), die Schwa-Apokope bei Substantiven (Kirch) oder das Suffix -nus/ -nuß. Auch in dem von Macha untersuchten Korpus von 1802 süddeutschen Glockeninschriften lassen sich konfessionelle Präferenzen primär bei den Graphien <kh> (vs. <k>) und <ai> (vs. <ei>) nachweisen, die somit vielleicht in besonderem Maße als saliente „katholische“ Schreibungen galten (vgl. Macha 2014, 106 f.). Trotz dieser Differenzierungen und Relativierungen bieten die angeführten Untersuchungen genügend Anhaltspunkte dafür, dass es im 16. bis 18. Jahrhundert auffällige Zusammenhänge zwischen der konfessionellen Ausrichtung von Texten und dem Gebrauch schreibsprachlicher Varianten gab. Dabei stellt sich jedoch die Frage, ob es sich um graphematische Stereotypen handelte, die den damaligen Sprachbenutzern tatsächlich bewusst waren. Wurde gezielt auf solche sprachlichen „Konfessionalismen“ mit Signalwert zurückgegriffen, oder hielten die Schreiber, Drucker oder Setzer aus den jeweiligen Regionen einfach weiterhin an ihren traditionellen Schreibdialekten, dem „Gemeinen Deutsch“ oder dem ostmitteldeutschen Schreibusus, fest, ohne diesen eine Funktion als Konfessionsmarker zuzuschreiben? Rössler (2005, 366) äußert sich in dieser Frage zurückhaltend, wenn er schreibt, es sei „nicht anzunehmen-[…], dass sich der einzelne Setzer bei der Auswahl der jeweiligen Letter bewusst <?page no="131"?> 131 6.2. Schreibvariation in Abhängigkeit von externen Einflussfaktoren überlegt hat, ob er ‚katholisch‘ oder ‚unkatholisch‘ handle“. Er geht davon aus, dass der „individuelle Setz-Akt“ von „(halbbewussten) Handlungsmustern wie etwa der Nachahmung schon bekannter Schreibungen im direkten Arbeits- und Lebensumfeld des jeweiligen Setzers oder Druckers geprägt“ gewesen sei (ebd.). Solche Handlungsroutinen mögen beim Druckprozess durchaus eine Rolle gespielt haben, doch gibt es andererseits genügend Hinweise darauf, dass die Setzer und Drucker durchaus von der Existenz konfessionell kodierter Graphien Kenntnis haben und dann auch bewusst auf konfessionell kodierte Graphien zurückgreifen konnten. Vor allem zwei Argumente sprechen dafür, dass die oben angeführten Graphienvarianten aus den betreffenden Regionen tatsächlich auch von zeitgenössischen Sprachbenutzern als konfessionelle Signalschreibungen angesehen wurden und es sich nicht nur um eine retrospektive Interpretation von Sprachhistorikern handelt. Zum einen lässt sich beobachten, dass die „katholische“ Schreibtradition auch auf Sprachlandschaften weit außerhalb der ostoberdeutschen Regionen ausstrahlte, etwa auf das westmitteldeutsche Rheinland. Klaus J. Mattheier machte bereits in den 1980er Jahren darauf aufmerksam, dass Köln im Verlauf des 16. Jahrhunderts eine ostoberdeutsche Schreibsprache übernommen habe (vgl. Mattheier 1981, Hoffmann/ Mattheier 1985). In diesem Falle kann das Auftreten der bairischen Graphien nicht als Festhalten an einer bereits vorhandenen Tradition gedeutet werden, da ja die eigene ripuarische Schreibsprache bewusst durch eine andere, importierte Varietät ersetzt wurde. Dass die Wahl in Köln hierbei auf eine ostoberdeutsch geprägte Schreibsprache fiel, ist wohl kein Zufall-- die Stadt Köln war in dieser Zeit stark katholisch ausgerichtet, reformatorische Bewegungen wurden im 16. Jahrhundert massiv unterdrückt, und zwischen 1583 und 1761 besetzten die katholischen Wittelsbacher das Amt des Kurfürsten und Erzbischofs. Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, dass Übernahmen aus der ostoberdeutschen Schreibtradition vor allem dort stattfanden, wo ein Kontakt zur Kultur der Wittelsbacher bestand (vgl. Macha 2014, 56-58). Eine ähnliche Orientierung an bairischen Schreibtraditionen lässt sich auch für einige Kanzleien im norddeutschen Raum belegen, vor allem in den Bischofsstädten Münster und Osnabrück (vgl. Peters 2003a). In all diesen Fällen lässt das graphematische Profil der Texte darauf schließen, dass die Schreiber nicht einfach irgendein „Hochdeutsch“ übernehmen wollten, denn dafür wäre auch das Frühneuhochdeutsch ostmitteldeutscher Prägung oder eine schwäbisch-alemannische Schreibsprache in Frage gekommen. Vielmehr ging es ihnen darum, eine mit dem Katholizismus identifizierte Schreibweise zu etablieren. Das zweite Argument, das für einen intendierten Gebrauch oberdeutscher bzw. ostmitteldeutscher Graphien als „Konfessionalismen“ spricht, speist sich daraus, dass es eine recht große Zahl an metasprachlichen Zeugnissen gibt, die eine Identifikation bestimmter Graphien mit dem Katholizismus bzw. Protestantismus explizit belegen. Sie zeigen auch, dass es teilweise einen hohen sozialen Druck gab, sich für den jeweils konfessionell „angemessenen“ Schreibusus zu entscheiden. So wird berichtet, im Jahre 1779 sei „ein angesehener Schulmann- […] auf Betreiben der Jesuiten vom Regensburger Bischof zur Rechenschaft gezogen [worden], weil er-- Schulbücher in lutherischer Orthographie herausgab“ (Greyerz 1921, 154). Sarah Rütter bietet in ihrer Arbeit über den Sprachgebrauch und -wandel in Konversionsschriften des 16. bis frühen 18. Jahrhunderts weitere Beispiele, etwa die Ablehnung <?page no="132"?> 132 6. Funktionen schreibsprachlicher Variation eines Kirchenbuchs als „lutherisch“, die sich an dessen Layout und sprachlicher Gestaltung festmachte (Rütter 2014, 57). Als protestantische Schreibungen kritisiert wurden insbesondere die nicht-apokopierten Varianten im Bereich der Substantive (Kirche, Flüsse statt Kirch, Flüss). Mechthild Habermann (1997) hat die entsprechenden Beschreibungen und Bewertungen in ihrem Aufsatz über das sogenannte „lutherische e“ detailliert nachgezeichnet. Auch Balbach (2014, 219) geht auf diese Diskussion ein und zitiert u. a. den Benediktinermönch Augustinus Dornblüth, der noch 1755 Kritik an dem „ungereimbten und unnutzlichen Zusatz des é in fine“ (d. h. am Wortende) übt und diese Schreibgewohnheit der „Sachsen“ als Zeichen für Affektiertheit deutet. Mehrere Grammatiker des 18. Jahrhunderts, etwa Heinrich Braun (1765), Jakob Hemmer (1769) und Johann Christoph Adelung (1782), thematisieren diese Abneigung gegenüber der „protestantischen“ Schreibweise, allerdings mit professioneller Distanz und oftmals mit einer gewissen Verwunderung. An der Verbreitung der konfessionell markierten Schreibnormen hatte der schulische Unterricht einen erheblichen Anteil. Wie Macha (2014, 98-104) zeigt, schrieben die Schulordnungen die Auswahl von konfessionell gebundenen Lehrbüchern vor, die die jeweilige konfessionelle Ausrichtung auch sprachlich repräsentierten. So wird in einer in bairischkatholischer Schreibweise verfassten Donauwörther Schulordnung von 1612 (also nach der Katholisierung der Stadt) gefordert, „daß die Schuelmaister khainem khindt gestatten, Einige Ergerliche schendliche oder sonnsten vnzuelässige Büecher vnnd Fabel schrifften in Irem Lernen zubrauchen sonnder daran sein damit sie in Christlichen Cathollischen Büechern lehrnen.“ (zit. n. Macha 2014, 98) Die Schulbücher weisen in ihrer Orthographie eine entsprechende bairisch-oberdeutsche Prägung auf, so dass der regionale Schreibusus und der Katholizismus für den lernenden Schüler schon früh eine scheinbar natürliche Verbindung eingehen. Parallel dazu ist in den protestantischen Bildungsinstitutionen die Lehre Martin Luthers untrennbar mit der ostmitteldeutschen Schreibtradition verknüpft. Um die Vermittlung einer konfessionell angemessenen Orthographie sicherzustellen, rät z. B. eine Anweisung in der Schulordnung von 1642 aus Gotha explizit dazu, dass sich die Lehrer in orthographischen Zweifelsfällen an den Pfarrer wenden oder direkt am Schreibgebrauch der Lutherbibel orientieren sollten (ebd., 104). Angesichts der generationenübergreifenden schulischen Vermittlung solcher konfessionell orientierter Schreibroutinen überrascht es nicht, dass sich, wie Macha (ebd., 207) resümierend feststellt, „der Faktor Konfession gut zwei Jahrhunderte lang, beginnend mit der ersten Generation nach der Reformation und bis über die Generationen der Aufklärung hinaus[,] nachhaltig in den kollektiven Sprachhaushalt deutschsprachiger Menschen ‚eingeschrieben‘ hat“. 6.3. Textinterne Variation Graphematische Variation ist nicht immer an sprachexterne Faktoren wie die Region, die Textsorte oder gesellschaftliche Rahmenbedingungen wie die Konfessionalität gebunden. Das wird daran deutlich, dass in vormoderner Zeit auch innerhalb eines Textes schreibsprachliche Variation auftreten kann. Hierbei bestehen teils offensichtliche Abhängigkeiten von inner- <?page no="133"?> 133 6.3. Textinterne Variation sprachlichen Kontexten, teils lassen sich solche Bezüge nur durch aufwändigere linguistische Analysen nachweisen. Im Folgenden sollen einige dieser Kontextfaktoren anhand von Beispielen aus historischen Schreibsprachen veranschaulicht und hinsichtlich ihrer Relevanz für die Struktur und Funktionalität vormoderner Schreibsysteme diskutiert werden. Dabei wird zunächst auf Variationsphänomene eingegangen, die mit funktionalen Anforderungen auf der Ebene der Syntax, Morphologie und Lexik / Semantik zusammenhängen (Kap. 6.3.1), anschließend auf solche, die sich aus den Gegebenheiten der lautlichen Umgebung erklären lassen (Kap. 6.3.2). Im dritten Schritt wird die nicht unbeträchtliche „Restvariation“ genauer betrachtet, die sich durch keinen der genannten Faktoren plausibel erklären lässt (Kap. 6.3.3). 6.3.1. Syntaktisch, morphologisch und lexikalisch-semantisch bedingte Variation Graphematische Variation erfüllt in historischen Schreibsprachen ebenso wie in modernen Orthographien verschiedenartige Funktionen, die über die grundlegende Aufgabe alphabetischer Systeme, das Gesprochene mittels symbolischer Zeichen wiederzugeben, weit hinausreichen. Einige der Faktoren, die hierbei eine Rolle spielen, werden im Folgenden anhand von kurzen Textausschnitten aus dem „Bonner Frühneuhochdeutsch-Korpus“ veranschaulicht, einer nach Zeitstufen und Regionen gestuften Sammlung von 40 Texten des 14. bis 17. Jahrhunderts (https: / / korpora.zim.uni-duisburg-essen.de/ Fnhd/ ; originale Zeilenumbrüche sowie die Seiten- und Zeilenangaben wurden nicht übernommen): (1) „Nu ͤ merkcht, in derselben zeit, was nu ͤ verschinen ist, die kunginn fraw Elyzabeth was swanger worden-…“ 'Nun beachtet, in derselben Zeit, die nun vergangen ist, war die Königin, Frau Elisabeth, schwanger geworden-…' (Text 113: Helene Kottanerin, „Denkwürdigkeiten“, Wien 1445-1452) Beispiel (1) veranschaulicht die Regel der satzinitialen Großschreibung, die uns aus der heutigen Rechtschreibung bekannt ist. Ein graphematischer Wechsel zwischen Majuskel und Minuskel wie in dem Wort Nu ͤ / nu ͤ ist somit syntaktisch gesteuert und ohne Relevanz für die Aussprache. In der Geschichte des Deutschen hat sich die satzinitiale Großschreibung erst allmählich zu einem festen Prinzip entwickelt. Nach den Ergebnissen der bereits oben (Kap. 4.3) zitierten Untersuchung von Labs-Ehlert (1993) hat sich die Großschreibung zunächst als Gliederungsmittel zur Kennzeichnung von Text- und Seitenanfängen entwickelt. Der Gebrauch von Großbuchstaben (auch als Schmuckinitialen) fällt in dieser Funktion eher in den Bereich des Textlayouts als in den der Rechtschreibung. Eine ähnlich gliedernde Funktion hat der Gebrauch von Großbuchstaben am Anfang von Sätzen: „Großschreibung der Satzanfänge verleihen dem geschriebenen Text in Verbindung mit der Zeichensetzung eine Struktur, die ihn leichter erfaßbar macht. Er wird in Sinneinheiten eingeteilt, deren Anfänge durch die Hervorhebung jeweils eine Signalwirkung bekommen.“ (Meisenburg 1990, 289) Eine Kennzeichnung von Satzanfängen erfolgt in der althochdeutschen Zeit, also zwischen dem 8. und 11. Jahrhundert, noch recht unregelmäßig. In dem von Labs-Ehlert ausgewerteten <?page no="134"?> 134 6. Funktionen schreibsprachlicher Variation Korpus (70 Texte) lässt sich im ersten Zeitraum (ca. 750-850) nur für ca. 30 % der untersuchten Handschriften eine einigermaßen regelmäßige Kennzeichnung von Satzanfängen durch Majuskelgebrauch nachweisen, im zweiten Zeitraum (ca. 850-900) für ca. 35 % der Texte und im dritten Zeitraum (ca. 900-1100) für ca. 65 %. Großschreibung an Satzanfängen kommt also auch in der Frühzeit der volkssprachigen Schriftlichkeit durchaus schon vor, ist jedoch noch nicht obligatorisch und hat in einer Zeit, in der nicht die stille Textlektüre, sondern das laute Lesen den Normalfall darstellte, vor allem die Funktion, den mündlichen Vortrag zu unterstützen. Nach den Angaben in den Grammatiken des Frühneuhochdeutschen (V. Moser 1929, 11 f.; Reichmann / Wegera 1993, 26) wird die satzinitiale Großschreibung in deutschen Drucken im zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts fest. Dies bestätigen auch vorliegende Spezialstudien. Eine Untersuchung zum Majuskelgebrauch in 43 deutschsprachigen Bibeldrucken des Zeitraums 1522-1550 ergab eine nahezu vollständige Verwendung von Majuskeln am Satzanfang (vgl. Risse 1980, 133-138). Zum gleichen Ergebnis gelangte auch eine Untersuchung zu Luthers handschriftlichen Briefen (Zeitraum 1517-1546), in denen 1158 von 1179 untersuchten Ganzsätzen (98,2 %) initiale Großschreibung aufweisen (vgl. Moulin 1990, 106). Den satzinternen Majuskelgebrauch verdeutlichen die unter (2a) und (2b) angeführten Belege aus zwei frühneuhochdeutschen Texten aus Straßburg: (2a) „In gottes namen amen. Es beschach vffe eine zit, daz ein mensche groser krancheit an sin selbes nature befant, vnd was daz an einer morgen stvnden gar fru ͤ ge, also er sin erneschlich gebet pflag zů tv ͦ nde-…“ 'In Gottes Namen Amen. Es geschah eines Tages, dass ein Mensch sich einer großen Krankheit an seiner eigenen Gestalt (seinem eigenen Wesen) bewusst wurde, und das war in einer sehr frühen Morgenstunde, als er sein ernsthaftes Gebet zu tun pflegte-…' (Text 231: Rulmann Merswin, „Des Gottesfreundes im Oberland Buch von den zwei Mannen“, Straßburg 1352) (2b) „Jch lase die Historien der Welt; Aber ich sahe es doch anderst, alß geschrieben stunde. Jch hörete die Leüte in ihrem Wesen; aber ich sahe es doch anderst, alß sie redeten. Jch sahe die Leute an; aber ich sahe sie doch anderst, alß sie außsahen. Jedem ding gab man zwar seine gestalt; aber es war eine blosse gestalt; dann das inerliche war anderst. Von aussen war alles herrlich; sobald man darnach grieffe, ward es ein schatten vnd verlohre sich vnder den händen.“ (Text 237: Hans Michael Moscherosch, „Gesichte Philanders von Sittewald“, Straßburg 1650) Der Auszug aus dem Druck von 1352 macht deutlich, dass im 14. Jahrhundert eine Substantivgroßschreibung innerhalb des Satzes, wie wir sie aus der heutigen Orthographie des Deutschen kennen, noch keine Rolle spielte. Alle acht enthaltenen Substantive, sogar das Wort Gott, werden mit kleinem Anfangsbuchstaben geschrieben. Dagegen lässt der Text von 1650 erkennen, dass in den dreihundert Jahren dazwischen eine Entwicklung stattgefunden hat, denn hier werden bereits fünf Substantivbelege großgeschrieben (Historien, Welt, Leüte / Leute, Wesen). Allerdings lässt sich an der Kleinschreibung der Substantive ding, gestalt (2mal), das inerliche, schatten, händen in den letzten beiden Sätzen ablesen, dass sich die Substantivgroßschreibung noch nicht als generelles Prinzip durchgesetzt hat. <?page no="135"?> 135 6.3. Textinterne Variation (2c) „Vnd als ich mich dessen auch nicht annehmen noch gehör geben wollen: Hörestu du nicht? sprach er ferner, du Hebraischer Moyseskopff │ Weil mir nun die stimme auf den fersen war, vnd ich mich zu verhütung grösseren geschreys umbkehrete, sihe da war es ein Erbarer Alter Mann, der mir mit des orts gewohnlicher Ehrerbietung zu sprache. Anzusehen war Er unbärtig alß ein alter Mönch, mit einer Beltzkappe vff dem Haupt, Einen Beltzin Rock umb sich, Ein Paretlin in der Hand, Einen Degen an der seite als ein Alter Rathherr; sein Wesen betreffend, so war er eines Ehrlichen vnd Ernsthafften Thuns.“ (Text 237: Hans Michael Moscherosch, „Gesichte Philanders von Sittewald“, Straßburg 1650) Auch an der zweiten, unter (2c) angegebenen Passage des Textes von Moscherosch gibt es einen Wechsel von Majuskeln und Minuskeln im Bereich der Substantive (z. B. gehör, stimme, geschrey vs. Mann, Ehrerbietung, Mönch). Darüber hinaus wird aber noch etwas anderes deutlich: Neben den Substantiven können zu dieser Zeit auch Adjektive großgeschrieben werden (Hebraischer, Erbarer, Alter, Beltzin 'pelzigen', Ehrlichen, Ernsthafften), wobei auch dies jedoch nicht durchgängig praktiziert wird (grösseren, gewohnlicher, unbärtig, alter). Die satzinterne Großschreibung erfolgt hier also nicht wortartenbezogen, sondern dient offensichtlich noch der Hervorhebung. Sie ist somit nicht grammatisch motiviert (Großschreibung aller Vertreter einer Wortart), sondern semantisch bzw. pragmatisch gesteuert. Wie und wann sich die satzinterne Großschreibung zu einer grammatischen Konvention einer generellen Markierung von Substantiven herausgebildet hat, wird in Kap. 13 genauer beschrieben. (3) „Im leisen und im lauten Spiel Ertöne süss mein Lautenspiel, Und muss ich um was Liebes leiden, Verkläre du mein Liebesleiden Und lass dein holdes Saitenklingen Wie Gold nach allen Seiten klingen, Dass niemand ahnt beim Liederklang, Wie nur aus Schmerz mein Lied erklang.“ (Heinrich Seidel, „An meine Laute“ [1897], zit. n. Dencker 2012, 72) Eine weitere Art der graphematischen Variation, die ebenfalls nicht durch grammatische, sondern durch semantische Faktoren gesteuert wird, lässt sich an dem unter (3) angeführten Gedicht veranschaulichen. Hier trägt die schreibsprachliche Variation nicht zur Hervorhebung einzelner Begriffe bei, sondern zur Vereindeutigung des Gemeinten. Die zentrale Frage ist hier: Wie kann gewährleistet werden, dass unterschiedliche Wörter, die gleich ausgesprochen werden, sogenannte Homophone (allgemeiner auch Homonyme genannt), in geschriebenen Texten unterschieden werden können? Seidels Gedicht spielt mit den graphematischen Möglichkeiten der Differenzierung von homophonen Wörtern oder Wortgruppen. Hierzu zählt die Groß- und Kleinschreibung (lauten vs. Lauten-), die Getrennt- oder Zusammenschreibung (Adjektiv + Nomen: lauten Spiel vs. Kompositum: Lautenspiel; Nomen + Verb: Liebes leiden vs. Kompositum: Liebesleiden) und die Wahl qualitativ unterschiedlicher Graphien (Saiten vs. Seiten). Insbesondere die Funktionalisierung unterschiedlicher Graphien <?page no="136"?> 136 6. Funktionen schreibsprachlicher Variation wird häufig als zentrales Mittel zur Homophonendifferenzierung beschrieben. So ist bereits am Schriftbild erkennbar, ob z. B. das phonetisch als [liːt] realisierte Wort die 'Hautfalte zum Bedecken des Augapfels' bezeichnet oder ein 'zum Singen bestimmtes vertontes Gedicht' (Bedeutungsangaben nach dem dtv-Wörterbuch 1990). In der schreibsprachhistorischen Forschung wurde gelegentlich konstatiert, dass auch in älteren Texten mutmaßlich lautidentische Lexeme manchmal unterschiedlich geschrieben werden. Emil Öhmann (1934, 4, Anm. 2) hält schon für die althochdeutsche Zeit gelegentliche Homophonendifferenzierungen für möglich, mit Verweis auf die Unterscheidung von tôd (Substantiv) und dôt (Adjektiv) in der Evangelienharmonie Otfrids von Weißenburg aus dem 9. Jahrhundert. Hier stellt sich angesichts der Variation von <t> und <d> allerdings die Frage, ob diese beiden Wörter damals tatsächlich homophon waren. In stärkerem Maße lässt sich die graphematische Differenzierung gleichlautender Wörter ab dem 16. Jahrhundert beobachten. So verweist Klaus Meiß (1994, 71 f., 151) auf eine Schrift von Luthers Korrektor Christoph Walther („Von vnterscheid der Deudschen Biblien vnd anderer Büchern-…“, 1563), in dem dieser eine auf Luther zurückgehende Anweisung formuliert, alle Wörter „mit jren eigenen vnd gebu ͤ rlichen Buchstaben“ zu schreiben. In diesem Zusammenhang führt Walther einige Beispiele homophoner Wörter an, die man differenzieren sollte (Stad 'Stadt' vs. Stat 'Statt / Stätte', Rad vs. Rat, Meer vs. Mehr). Meiß (1994, 152) verdeutlicht an sechs ausgewählten Bibeldrucken, dass diese Differenzierungen bei manchen Wörtern recht konsequent umgesetzt wurden (z. B. radt vs. rath bzw. Rad vs. Raht / Rath / Rat), bei anderen aber nur selten (stat 'Statt' vs. Stad 'Stadt' nur in einem Druck, sonst immer statt). Wolfgang Fleischer (1970), der aus seinem Dresdner Textkorpus aus der Mitte des 16. Jahrhunderts ebenfalls das Beispiel rat vs. rath belegt (strassenrat 'Straßenrad' vs. rath 'Stadtrat', ebd., 46), aber auch die Unterscheidung vorn 'vor den' vs. forn 'vorn' (ebd., 16), vermutet vorsichtig, dass es sich „teilweise um Ansätze graphischer Scheidung von Homonymen handeln“ könne (ebd., 64). Gleichzeitig weist er jedoch darauf hin, dass die heute bekannten Unterscheidungen damals noch nicht existierten (vgl. ebd., 98). Einige Beispiele für eine Homophonendifferenzierung in frühneuhochdeutschen Drucken führt Martin Behr (2014, 211-217) an. Behr untersucht exemplarisch die Homophonendifferenzierung bei den Lexemen nhd. mehr-Meer-Mär, man-Mann, dass-das, sein-sein (Verb vs. Possessivpronomen) und in-ihn und vergleicht dabei Drucke aus drei Untersuchungszeiträumen. Während im ersten Zeitraum (1473-1516) eine graphematische Differenzierung der angeführten Wörter nur in einzelnen Drucken ansatzweise erkennbar ist (und bei den drei letztgenannten Wortpaaren noch gar nicht), werden gegen Ende des dritten Untersuchungszeitraums (1649-1693) Homonyme häufiger unterschieden (Behr 2014, 217). Für alle fünf geprüften Lexeme scheint dies allerdings nur in einem Nürnberger Text von 1672 zu gelten, der sogar zwischen seyn für das Verb und sein für das Pronomen unterscheidet. Problematisch erscheint bei manchen der untersuchten Lexempaare bzw. -gruppen die Unterstellung, dass sie jeweils gleich ausgesprochen worden seien. Denn angesichts der Tatsache, dass die Vokale der Wörter mehr, Meer und Mär historisch auf drei unterschiedliche Laute zurückgehen (mehr: wgerm. ai vor r, Meer: wgerm. a vor Umlautfaktor, Mär: wgerm. ā vor Umlautfaktor), ist durchaus damit zu rechnen, dass diese in den gesprochenen Bezugsvarietäten nicht vollständig zusammengefallen sind. In diesem Falle aber sind die z. B. in einem Druck von Schönsperger (1488) <?page no="137"?> 137 6.3. Textinterne Variation festgestellten Differenzen in der Schreibung (mer 'mehr', mo ͤ r 'Meer', ma ͤ r 'Mär') wohl eher als Reflexe regional noch erhaltener Lautunterschiede zu deuten und nicht, wie der Autor meint (ebd., 212), als Indizien für eine „vollständige Homonymendifferenzierung“. Wie auch immer man diese und andere Beispiele beurteilen mag, so ist doch insgesamt festzustellen, dass eine Homophonendifferenzierung in den vormodernen Handschriften und Drucken sehr viel seltener ist als die Nichtdifferenzierung. Durchaus typisch erscheint hier z. B. Satzbeispiel Nr. (4) aus einer Chronik des 15. Jahrhunderts (aus dem Bonner Frühneuhochdeutsch-Korpus): (4) „Das allergroste wunderwergk, das noch got yn getedt, das was, das her hymmel unde erden geschuff unde von nichte machte-…“ 'Das allergrößte Wunderwerk, das Gott ihnen noch tat, das war, dass er Himmel und Erde erschuf und aus Nichts machte-…' (Text 253: Johannes Rothe, „Düringische Chronik“, Eisenach, 2. Hälfte 15. Jahrhundert) Bei den vier Vorkommensweisen von das findet keine Unterscheidung statt zwischen dem Artikel (das-… wunderwergk), dem Relativpronomen (das-… got-… getedt), dem Demonstrativpronomen (das was) und der Subjunktion (das her hymmel unde erden geschuff). Sogar in der heutigen Orthographie werden noch drei dieser vier Wörter gleich geschrieben und nur die Subjunktion dass wird graphematisch differenziert. Homophonendifferenzierung ist also damals wie heute eine Ausnahme. Der Hauptgrund dafür dürfte darin liegen, dass die graphematische Differenzierung von Homophonen nur in den seltensten Fällen kommunikativ erforderlich ist, da der syntagmatische, semantische und textuelle Kontext nahezu immer deutlich macht, um welches Wort es sich handelt. Die Bedeutung wird also durch den Kontext vereindeutigt (disambiguiert). Das erklärt auch, warum sich für Wörter wie Seite und Saite, wider und wieder, das und dass in der gesprochenen Sprache bis heute kein Ausspracheunterschied herausgebildet hat: Eine phonische Unterscheidung war nicht notwendig, da normalerweise keine Verwechslungsgefahr besteht. Die Disambiguierung von Wortbedeutungen durch den Kontext kann mit einem einfachen Experiment demonstriert werden. Unter den folgenden Satzbeispielen sind jeweils fünf, die im Original das Wort Saite enthalten, sowie fünf mit dem Wort Seite. Die Sätze werden hier in zufälliger Reihenfolge präsentiert, wobei jeweils die vollständige orthographische Repräsentation des Lexems Saite bzw. Seite durch das einheitliche Kürzel „S.“ ersetzt wurde: 1. Die letzte angeschlagene S. klang lange nach. (Ernst Wiechert, „Das einfache Leben“, 1946) 2. Die »unreine Form« zeigt sich schließlich von ihrer schlechtesten S., und ein hypertropher Essayismus wuchert überall dort, wo Klarheit nottäte. (Franz Schuh, „Schreibkräfte“, 2000) 3. Auf der anderen S. der Brücke liegt das Dorf Brzezinka. (Judith Kuckart, „Lenas Liebe“, 2002) 4. Ihr Echo wirkte in ihm nach, als schlüge tief in seinem Innern eine S. an, die andere ahnen ließ. (Erik Neutsch, „Spur der Steine“, 1964) 5. Sallinger wechselte auf die rechte S. und würdigte Pardell dabei keines Blicks. (Steffen Kopetzky, „Grand Tour“, 2002) <?page no="138"?> 138 6. Funktionen schreibsprachlicher Variation Da das Prinzip der semantischen Disambiguierung im Äußerungskontext auch für die vormoderne Kommunikation Geltung besaß, dürfte eine intendierte Homophonendifferenzierung wohl nur selten als Erklärung für das Auftreten graphematischer Variation in Frage kommen. In den wenigen von der philologischen Forschung benannten Einzelfällen könnten zudem auch andere Schreibermotive eine Rolle spielen, die mit der Bedeutung der konkreten Einzellexeme zusammenhängen. So hat die von Fleischer (1970, 46) bei dem Dresdner Schreiber Michael Weiße beobachtete Präferenz von <th> in rath 'Rat' gegenüber sonst üblichem <t> wie in rat 'Rad' wohl vor allem eine honorative Funktion, die sich aus der besonderen Relevanz des Stadtrates für das Gemeinwesen und für den Stadtsekretär selbst erklären ließe. Insbesondere in Bezug auf das Wort „Rat“ sind aus den Handschriften und Drucken auch noch andere Auffälligkeiten belegt, die auf eine honorative Funktion hindeuten. Dazu gehört z. B. ein besonders hoher Grad an graphematischer Variation. So verweist Mihm (2000, 383) auf elf Schreibvarianten für den „Ehrsamen Rat“ der Stadt Duisburg in einem Stadtrecht von ca. 1600 (vgl. unten Kap. 6.3.3). Das Wort „Rat“ wird auch oftmals durch Großschreibung hervorgehoben in Texten, die ansonsten überwiegend Kleinschreibung aufweisen. Nach Kaempfert (1980, 80) werden im „Teuerdank“ von 1517 die Räte der Stadt ebenso wie König, Königin, Held und Ritter durch Großschreibung gewürdigt, während sonst Substantivkleinschreibung verwendet wird. Die geringe Durchsetzung homophonendifferenzierender Schreibungen in der Praxis steht in einem deutlichen Kontrast zu der Beharrlichkeit, mit der die Grammatiker und Ortho- 6. Sie sah zu Armand hinüber, aber der zupfte immer an derselben S., als suchte er einen Ton. (Beate Dölling, „Hör auf zu trommeln, Herz“, 2003) 7. Oft ist es die Schnur, die dem hin- und hergehenden Kampf auf die Dauer nicht standhält und am Ende, bis zur Sprödigkeit überspannt, wie die S. eines Musikinstruments zerspringt. (John von Düffel, „Vom Wasser“, 2006) 8. Irmi verlor geradezu gern; sie häufte die Pfennige auf meine S. und sagte: … (Elke Schmitter, „Frau Sartoris“, 2000) 9. Und dann stieß er noch mal mit mir an, verlagerte sein Gewicht auf die mir zugewandte S. … (Frank Goosen, „Liegen lernen“, 2000) 10. Wie immer klirrte die hohe schneidende S. (Martin Walser, „Ehen in Philippsburg“, 1957) In den meisten der zehn Sätze dürfte auch ohne eine graphematische Differenzierung eindeutig sein, um welches der beiden Lexeme es sich handelt, denn die Bedeutung wird durch die jeweilige Umgebung im Satz vereindeutigt (disambiguiert). So wird das Wort Saite mit Verben wie nachklingen (Nr. 1), anschlagen (Nr. 4), zupfen (Nr. 6), zerspringen (Nr. 7) und klirren (Nr. 10) verbunden, und in der Nähe stehen Substantive, die Musikinstrumente (Nr. 7) oder akustische Phänomene (Nr. 4: Echo, Nr. 6: Ton) bezeichnen. Das Wort Seite dagegen erkennt man an festen Wendungen wie von ihrer schlechtesten Seite (Nr. 2) oder an den in der Umgebung vorkommenden Raumangaben (Nr. 3: auf der anderen S. der Brücke, Nr. 5: auf die rechte S., Nr. 8: auf meine S., Nr. 9: die mir zugewandte S.). <?page no="139"?> 139 6.3. Textinterne Variation graphietheoretiker schon seit dem 16. Jahrhundert auf eine graphematische Differenzierung homophoner Wörter hinarbeiteten; einen knappen Forschungsüberblick vom 16. bis frühen 20. Jahrhundert gibt Öhmann (1934, 3-16). Bereits der „Schryfftspiegel“ von 1527 enthält ein ausführliches Kapitel zur graphematischen Homophonendifferenzierung (vgl. Götz 1992, 259-268), in dem interessanterweise auch eine Differenzierung verschiedener Wörter vorgeschlagen wird, die wohl [raːt] oder [rat] ausgesprochen wurden: „Das Radt / had der Rath wail machen laissen / das ghein Ratt / dair in komen kann“ 'Das Rad hat der Rat wohl machen lassen, damit keine Ratte hineinkommen kann.' („Schryfftspiegel“ 1527, Bl. F 2a, zit. n. Müller 1882, 384) Heinz Josef Weber (1996, 9 f.) führt in seinem Homographen-Wörterbuch nicht weniger als 15 Spezialwörterbücher bzw. -wortlisten zwischen 1532 (Fabritius’ „Eyn nutzlich buchlein ettlicher gleich stymender worther Aber ungleichs verstandes“) und 1984 auf, die sich dem Problem der Homophonendifferenzierung im Deutschen widmen, und einige sind seither noch hinzugekommen. Neben der Homophonendifferenzierung, also der Unterscheidung gleichlautender Wörter, ist oftmals auch die Unterscheidung von „Paronymen“, d. h. ähnlich klingenden Wörtern, ein Thema in Grammatiken und Orthographielehren. Günter Bellmann (1990) verweist darauf, dass solche Listen lautähnlicher Wörter noch einen anderen Zweck hatten als den, Missverständnisse zu vermeiden. Wenn etwa Wortpaare wie verheeren / verhören, Meise / Mäuse, Draht / trat, Dorf / Torf, Teich / Teig usw. angeführt werden, dann ist das primäre Anliegen nicht die graphematische Differenzierung der jeweiligen Wörter, sondern der Hinweis auf dialektal bedingte Lautkollisionen und die Forderung einer phonetischen Lexemdifferenzierung. Wer also Teich nicht unterscheidet von Teig, weil er das in Nord- und Mitteldeutschland verbreitete spirantisierte g verwendet (Aussprache [taɪç] ), produziert eine Abweichung von der in der idealisierten Hochsprache verlangten Aussprache, die sich dann sekundär in der Schrift niederschlagen kann (Teich / Teich). Ähnliches gilt für die lautliche Kollision von Meise und Mäuse in der Form [ˈmaɪzə] , die durch die in manchen Dialekten verbreitete Entrundung von [oʏ] zu [aɪ] bedingt ist. Da solche regionalen Ausspracheweisen ab dem 17. und 18. Jahrhundert zunehmend als unangemessen gelten, hat die Anführung von „Differentialia-Paaren“ hier eine „sprachsoziale Zusatzfunktion: Den Lernenden wird das vordergründig nur-orthographische Problem auch als sprachsoziales Problem bewußt“ (Bellmann 1990, 294). Wer dialektale Formen gebraucht, gerät mit wachsender Normierung der Aussprache in den Verdacht, kein richtiges Hochdeutsch zu sprechen, und wer sie auch noch graphematisch realisiert, vollzieht diesen „Fehler“ gleich noch einmal in der Schrift. Eine solche Betrachtungsweise konnte in den Sprachsystemen des 8. bis 16. Jahrhunderts, die durch und durch regional geprägt waren, noch keine Geltung besitzen. Die Idee, dass es notwendig sei, bedeutungsdifferente, aber gleich oder ähnlich klingende Wörter systematisch zu differenzieren, konnte ohnehin erst aufkommen, als sich die Konstantschreibung von Wörtern einigermaßen durchgesetzt hatte-- solange es mehrere verschiedene Schreibweisen eines Wortes wie „Rat“ gibt, ist der Gedanke wenig sinnvoll, eine klare Differenzierung von dem graphematisch vielleicht ebenso variablen Wort „Rad“ zu fordern. <?page no="140"?> 140 6. Funktionen schreibsprachlicher Variation 6.3.2. Lautlich bedingte Variation Eine Grundfunktion alphabetischer Schreibsysteme besteht darin, sich auf die Lauteinheiten und Lautstrukturen der gesprochenen Referenzvarietät zu beziehen. Dies gilt auch für die orthographischen Systeme der modernen Standardsprachen, wenngleich hier die Funktion der Lautreferenz durch verschiedene andere Prinzipien überlagert wird, die z. B. auf die Beibehaltung konstanter Wortbilder (morphematisches Prinzip) oder die Markierung von Satzgrenzen, Wortarten und nominalen Satzkonstituenten (Großschreibung) abzielen (Kap. 9.2). Dagegen kommt die lautreferenzielle Funktion in den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Schreibsprachen unmittelbarer zum Ausdruck, da es noch keine feste Wortschreibung gibt und die Schreiber das Gehörte flexibel mit den Mitteln ihres Zeicheninventars verschriftlichen. Ausgehend von den Lautwerten der lateinischen Buchstaben werden auf diese Weise nicht nur phonologische Differenzen zum Ausdruck gebracht, sondern es können auch subtilere phonetische Aussprachebesonderheiten graphematisch markiert werden, sofern diesen in der Wahrnehmung des Schreibers eine besondere Salienz zukommt. Einige Beispiele für solche lautreferenziellen Markierungen in dialektal verschrifteten Sprichwörtern und Redensarten sind unter (1) bis (5) angeführt: (1) Kinner un junge Hunne denket lange. 'Kinder und junge Hunde denken lange nach.' (westfälisches Sprichwort aus Paderborn, in: Wander 1870, 1299, Stichwort „Kind“ Nr. 635) (2) Gienge ein hunt tûsent stunt ze kirchen, er waer doch ein hunt. 'Ginge ein Hund tausend Stunden zur Kirche, er wäre doch ein Hund.' (mhd. Sprichwort, in: Wander 1870, 846, Stichwort „Hund“ Nr. 673) (3) Komm nur hin, du wirst an raichten Scheller kriegen. 'Komm nur hin, du wirst einen rechten Stoß / Schlag kriegen.' (schlesische Redewendung, in: Wander 1870, 668, Stichwort „Hinkommen“ Nr. * 11). (4) Alle Katten lüstet auk Mealke. 'Alte Katzen gelüstet es auch nach Milch.' (westfälisches Sprichwort aus Büren, in: Wander 1870, 1168, Stichwort „Katze“ Nr. 3). (5) D’ Hoa senn ma dapai ge Pea gstign. 'Die Haare sind mir dabei zu Berge (gen Berg) gestiegen.' (bairische Redewendung aus der Steiermark, in: Wander 1870, 224, Stichwort „Haar“ Nr. * 147). Die in den Satzbeispielen enthaltenen Schreibweisen, die man in ähnlicher Form auch in historischen Handschriften nachweisen kann, lassen auf verschiedenartige phonetische Prozesse schließen, die sich in den jeweiligen Referenzdialekten vollzogen haben. Die Wortformen Kinner und Hunne in (1) verweisen, als lautnähere Schreibvarianten von Kinder und Hunde, auf die im Niederdeutschen verbreitete Assimilation von inlautendem [nd] zu [n] . In den Schreibungen hunt, tûsent und stunt (Beispiel 2) wird die für das Deutsche typische Auslautverhärtung graphematisch zum Ausdruck gebracht, durch die z. B. ein [d] in finaler Stellung als [t] gesprochen wird. Die Wiedergabe der Auslautverhärtung gilt als typisch für die mittelhochdeutsche Schreibtradition, wobei in den historischen Handschriften aber durchaus auch Varianten mit finalem <d> vorkommen (hund, tusend, stund) (Kap. 6.2.1 und 11.2). Die Schreibung raichten in (3) ist ein Beispiel für Vokalveränderungen, wie sie vor bestimmten Konsonantenverbindungen auftreten können, in diesem Falle eine Diphthongierung im Kontext vor <cht> (gesprochen [çt] ) (Kap. 12.3). Beispielsatz (4) beinhaltet einerseits wiederum eine Variante, die auf eine dialektale Assimilation verweist ( [ld] zu [l] in alle 'alte'), andererseits <?page no="141"?> 141 6.3. Textinterne Variation zwei Schreibungen, die typisch westfälische Diphthongaussprachen reflektieren (auk 'auch', Mealke 'Milch' gegenüber sonst im Niederdeutschen üblichem ok, Melk). Der im bairischen Dialekt der Steiermark verschriftete Satz D’ Hoa senn ma dapai ge Pea gstign (Beispiel Nr. 5) schließlich enthält gleich mehrere Hinweise auf dialektal-sprechsprachliche Besonderheiten, wie eine Artikelreduktion (D’), eine Velarisierung und Diphthongierung des langen a-Lautes vor r (Hoa), je zwei Fälle von Vokalsenkung (senn, ma) und von Desonorisierung im Silben- und Wortanlaut (stimmloses p statt b in dapai und Pea), eine Kontraktion (gen aus gegen), eine Apokope auslautender Konsonanten (Pea) und die für das Bairische typischen Synkopen in Nebensilben (gstign). Ähnliche Schreibungen, die solche dialektalen Aussprachen indizieren, lassen sich auch in historischen Schreibsprachen des bairischen Raumes nachweisen (vgl. die Beispiele in Kap. 6.1, 6.21 und 7.5 a), zwar nicht unbedingt als quantitativ dominante Formen, aber doch als fakultative Varianten, auf die die Schreiber optional zurückgreifen konnten. Darin kommt die Flexibilität der vormodernen Schreibsprachen zum Ausdruck, wie sie Bruno Boesch mit Bezug auf das Mittelhochdeutsche einmal so beschrieb: „Für den mhd. Schreiber gab es noch nicht für einen jeden Einzelfall nur die eine mögliche Schreibung-[…]: die mhd. Orthographie ist-[…] noch nicht das starre Sieb von heute, das Zeichenfeld ist noch mannigfacher.-[…] Ein gewisser Vorzug der ‚ungeregelteren‘ mhd. Orthographie liegt darin, dass sie sich gerade deshalb der lebendigen Wirklichkeit der Lautqualitäten oft besser anzupassen vermag als die ‚klassisch-geregelte‘ oder die moderne.“ (Boesch 1946, 52) Für eine genauere Betrachtung des Verhältnisses von Schrift und Mündlichkeit und der Möglichkeiten der lautorientierten Graphienvariation kann auf die Ausführungen in Kapitel 7 verwiesen werden. 6.3.3. Stilistisch bedingte (ästhetische) Variation Der Sprachwissenschaftler Helmut Glück verweist in seinem 1987 erschienenen Buch „Schrift und Schriftlichkeit“ darauf, dass der Name Shakespeare in Schriftstücken von Verwandten des Dichters in nicht weniger als 33 unterschiedlichen Schreibweisen auftritt (Abb. 25; die heutige Schreibung „Shakespeare“ ist interessanterweise nicht darunter): Chacsper Shackspeare Shakispere Shaxkspere Saxpere Shackspere Shakspeare Shakyspere Saxspere Shackspire Shakspere Shakysper Schackspere Shagspere Shaksper Shaxper Schakespeare Shakesepere Shakspeyr Shaxpere Schakespeire Shakespeere Shakuspeare Shaxsper Schakespere Shakespere Shaxeper Shaxpeare Schakspere Shakespeyre Shaxkespere Shakspare Shakespear Abb. 25. Schreibweisen des Namens Shakespeare in zeitgenössischen Schriftquellen (Glück 1987, 105 f., nach Pitman / St. John 1969, 65) <?page no="142"?> 142 6. Funktionen schreibsprachlicher Variation Dies ist durchaus kein Einzelfall. Nach den Angaben in der „Allgemeinen Deutschen Biographie“ (Franck 1881) erscheint der Nachname des deutschen Grammatikers Valentin Ickelsamer (ca. 1500-1541) in den Varianten Ickelshainer, Ekkelshayner, Ikkershamer, Ickelschamer, Zagsthamer und Becklersheimer. Und Mihm (2000) führt, unter Verweis auf eine ältere Studie (Franke 1913), das bekannte Beispiel der 16 Schreibweisen des Ortsnamens Wittenberg in den ostmitteldeutschen Schriften von Martin Luther (Wittemberg, Vvittemberg, Vuittembergk, Wittemperg, Wittenberg usw.) an sowie einige ähnliche Beispiele aus Kölner Texten des 13. Jahrhunderts (die Dativform des Ortsnamens Jülich erscheint in elf Schreibweisen: Gulechge, Gulicge, Gulegge, Guleke, Gůlechge usw.) und aus einem niederrheinischen Text des 17. Jahrhunderts (elf Schreibweisen für das Wort Rat: Raidt, Raith, Rait, Raedt, Raeth, Rhath usw.). Auch wenn eine solch extreme Bandbreite an Varianten nur bei wenigen Wörtern anzutreffen ist, ist die wortbzw. morphembezogene Variation doch eine charakteristische Eigenschaft historischer Schreibsprachen. Wie eine Studie zu zwei Duisburger Stadtschreibern ergab (Elmentaler 2003, 161-166), erwiesen sich schon allein in Bezug auf die Schreibung der Tonsilbenvokale zwischen 50 und 58 % der Morpheme als variabel (wie in gingen / gyngen / gengen / geynck 'gingen, ging'), und dieser Wert läge noch wesentlich höher, wenn die Variation im Bereich des Konsonantismus mit einbezogen würde (duysborch / duysborgh / duysborg 'Duisburg'). Ähnliches konnte Ravida (2010) für die Schreibsprache der Luxemburger Rechnungsbücher feststellen. Wenn man eine genügend umfangreiche Textprobe zugrunde legt, dürfte sich wohl für zwei Drittel aller Wörter mehr als eine Schreibweise nachweisen lassen (Kap. 11.2). Dieser Befund erscheint aus der Perspektive eines modernen Lesers, der an den Umgang mit modernen Orthographien gewöhnt ist, recht irritierend. In älteren philologischen Arbeiten finden sich dementsprechend negative Beurteilungen solcher Variationsphänomene („Verwilderung“, „Verwahrlosung“), die darauf schließen lassen, dass man sie als Indiz für eine noch nicht hinreichend entwickelte Schreibsprache deutete, die noch Mängel aufwies und potenziell Verständnisschwierigkeiten verursacht haben müsse (vgl. Mihm 2000, 367 f.). Diese Sichtweise wurde in der Historischen Graphematik jedoch in Frage gestellt. Denn wenn ein auf dem Prinzip der Variation beruhendes Schreibsystem dysfunktional gewesen wäre, ist kaum zu erklären, warum es offensichtlich über mehrere Jahrhunderte Bestand haben konnte. Und wenn die damaligen Schreiber die Varianten völlig willkürlich und unsystematisch verwendet hätten, wären wir heute nicht in der Lage, ihre Texte zu lesen-- es muss also eine gewisse Regelhaftigkeit des Systems angenommen werden, die es zu entschlüsseln gilt (vgl. Milroy 1992, 194). In der Historischen Graphematik wird dementsprechend schon seit den 1960er Jahren betont, dass die kommunikativen Anforderungen eines Schreibsystems ein gewisses Maß an Systematik forderten (vgl. Fleischer 1969: 229). In den vormodernen Systemen ist auf Seiten der Schreiber von einer großen Gestaltungsfreiheit auszugehen, auf Seiten der Leser von einem gewissen Maß an Toleranz gegenüber unerwarteten Schreibungen und einer generellen Aufgeschlossenheit gegenüber Variation. Es ist allerdings nicht so leicht, eine funktionale Erklärung für die am Beispiel der Schreibungen für Shakespeare, Ickelsamer, Jülich und Rat demonstrierte Variantenvielfalt zu finden. Da es sich um wortbezogene Variation handelt, kommen morphologische oder lautliche Einfluss- <?page no="143"?> 143 6.3. Textinterne Variation faktoren, wie sie in Kap. 6.3.1 und 6.3.2 erörtert wurden, als Erklärung nicht in Frage. Auch die unter 6.2 diskutierten externen Einflussfaktoren sind in diesen Fällen irrelevant, da die Varianten an einem bestimmten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt, ggf. sogar innerhalb ein und desselben Textes nebeneinander vorkommen. Angesichts des hohen Bildungsgrades der Schreiber kommen auch orthographische Unsicherheiten in vielen Fällen nicht als Erklärung in Betracht, wie auch Ernst Otto bemerkt, der die innersystematische Variation ausführlich dokumentiert und analysiert: „Dem steht entgegen, daß sich 1. die Varianten häufig in ein und derselben Zeile unmittelbar nebeneinander finden; daß sie 2. auch in Abschriften erscheinen und hier offensichtlich geschrieben sind in bewußtem Gegensatz zum Original-[…]; daß sie sich 3. auch in der Wiedergabe lateinischer Stücke zeigen.“ (Otto 1970, 287, Fn. 11) Das mit dem hohen Maß an scheinbar dysfunktionaler graphematischer Variation verbundene Interpretationsproblem formulierte schon der Historiker Friedrich Keutgen in seiner Einleitung zu einer Urkundenedition Anfang des 20. Jahrhunderts sehr klar: „Man steht der Erscheinung zunächst wie einem Rätsel gegenüber. Dieselben Leute schrieben Latein, kannten also eine wohlgeregelte Orthographie und hielten sich daran gebunden. Warum nicht an die im ganzen gute, vernünftige Schreibweise des älteren Deutsch? [Gemeint ist hier das vermeintlich homogene Mittelhochdeutsch; M. E.] Dass sie die Besonderheiten ihrer heimischen Dialekte so zum Ausdruck bringen wollten, ist bei der grossen Mehrzahl der hierher gehörigen Erscheinungen ausgeschlossen: in allen Teilen des Landes wiederholen sich fast dieselben Willkürlichkeiten, ganz wie der einzelne Schreiber ohne System verfährt. Angesichts der guten älteren Muster kann man Unwissenheit und Unsicherheit auch nicht als ausreichende Erklärung gelten lassen, und so bleibt nur übrig der Zug der Zeit, die Vorliebe für alles Masslose, Verschnörkelte, Phantastische, der sich ja auch in der Kleidung und Baukunst kundgiebt: eine deutsche Neigung, die uns zugleich erklären würde, warum wir gerade in Deutschland jene Verirrung der Schreibweise finden. Wir haben es also mit einer Erscheinung zu thun, die in das Gebiet des Aesthetischen[,] nicht in das des Sprachlichen, des Philologischen fiele.“ (Keutgen 1901, XIII f.) Auch wenn die Aussage, dass es sich bei der schreibsprachlichen Variation um ein typisch deutsches Phänomen handle, so nicht zu halten ist, ist Keutgens These, die Variation sei von den Schreibern intendiert verwendet worden, wohl zuzustimmen. Diese Annahme wird auch von anderen Philologen und Sprachhistorikern vertreten, wobei sie lange Zeit mit tendenziell negativen Attributen wie „Verschnörkelung“, „graphischer Luxus“, „Masslosigkeit“, „Völlerei“, „Willkür“ oder „Umständlichkeit“ verknüpft wurde (vgl. Elmentaler 2003, 25; 2012b, 158). Dagegen verbinden andere Forscher diese „Schreibmode“ eher mit positiv bewerteten Funktionen wie „Schmuck der Schrift“, „Freude am Wechsel“, „ästhetischer Freude an der Abwechslung“, „Freude am Ausmalen“, „individueller Schriftgebung“, „Streben nach Buntheit und Mannigfaltigkeit“ usw. (vgl. ebd.). Sie vergleichen die graphematische Variation mit Kalligraphie, bildhafter Ornamentik oder Kleidermoden (vgl. Otto 1970, 287). Manche sehen darin auch einen bestimmten Zeitstil, der mit dem Barock in Verbindung gebracht wird (vgl. Müller 1953, 13), obwohl das Phänomen der graphematischen Variation, etwa durch <?page no="144"?> 144 6. Funktionen schreibsprachlicher Variation Konsonantenhäufungen, bereits lange vor dem 17. Jahrhundert auftritt. Bei anderen Autoren spielen die Erklärungsversuche dagegen eher ins Psychologische hinein, etwa bei Ludwig Erich Schmitt (1936, 60), der die graphematische Variation als Zeitvertreib des Berufsschreibers im eintönigen Alltag der Kanzleitätigkeit interpretiert. In der jüngeren historisch-graphematischen Forschung wurde die Auffassung bekräftigt, dass die graphematische Variation als ein intentional eingesetztes Stilmittel aufzufassen sei. So geht Anja Voeste (2008, 32) von einer stilistisch motivierten Schreibvarianz aus und vergleicht diese mit der lexikalischen Alternanz, die bis heute in Grammatiken als Merkmal eines guten Stils gefordert wird. Dieses Gebot der Abwechslung in der Wortwahl wurde auch Ende des 16. Jahrhunderts schon berücksichtigt, wie Voeste an einer Aufzählung aus einem Text von 1596 veranschaulicht: „Darauff 18. Junckern-… Ferner zwo silberne Kasselpaucken / Hernach 6. mit Silbern Trommeten-… Darnegst des Ko ͤ niges beide Bru ͤ der-… Darnach die-…“). Analog dazu formuliert Voeste ein ästhetisch motiviertes graphematisches Alternanzgebot, das das Schreiben in vormoderner Zeit geprägt habe: „Die rasch aufeinanderfolgende Wiederholung derselben Wortgraphie gilt als stilistisch unschön und sollte von guten Schreibern und Druckern vermieden werden“ (Voeste 2008, 34). Neben der ästhetischen Aufwertung von Texten könnte in besonders ausgeprägten Fällen graphematischer Varianz auch die Hervorhebung semantisch bedeutsamer Einheiten als Motiv angenommen werden. So nimmt Arend Mihm (2016, 300) an, dass die wort- und morphembezogene Schreibvariation ein Mittel zur Hervorhebung besonders wichtiger Begriffe gewesen sein könne, was erklären würde, warum Namen (vgl. die oben genannten Beispiele Shakespeare, Jülich, Wittenberg, Duisburg) oder namenähnliche Institutionenbezeichnungen (der Rat der Stadt) ein besonders breites Variantenprofil aufweisen. 6.4. Fazit: Vormodernes Schreiben als komplexer, individuell gefilterter Prozess Die graphematische Variation in vormodernen Handschriften und Drucken ist keineswegs willkürlich und regellos, sondern wird vielmehr durch zahlreiche sprachexterne und -interne Faktoren gesteuert. Hierbei laufen die Prozesse der Selektion und kontextuellen Distribution der regionaltypischen oder importierten Graphien über die Person des Schreibers (bzw. Setzers oder Korrektors). Dieser entscheidet auch darüber, welche salienten Phänomene oder phonologischen Differenzen des korrespondierenden Lautsystems graphematisch berücksichtigt werden (individuelle Relevanzsetzungen), ob ein eher lautdifferenzierendes oder lautabstrahierendes Graphemsystem entwickelt wird, inwiefern morphologische, syntaktische oder lexikalische Aspekte in der Schreibung mit beachtet werden und in welchem Maße von der Möglichkeit Gebrauch gemacht wird, den geschriebenen Text durch Nutzung des graphematischen „Varianzgebotes“ ästhetisch aufzuwerten. Die graphematische Variation wird in den Texten zudem in hohem Maße durch externe Faktoren gesteuert. In den verschiedenen Sprachlandschaften des deutschsprachigen Raums werden unterschiedliche Schreibtraditionen gepflegt, darüber hinaus kann die Graphienwahl aber auch von der Textsorte, dem Medium (Handschrift vs. Druck), dem sozialen Status des Textproduzenten und -rezipienten oder der konfessionellen Ausrichtung (protestantisch vs. katholisch) abhängen. <?page no="145"?> 145 6.4. Fazit: Vormodernes Schreiben als komplexer, individuell gefilterter Prozess Es sind Jahrhunderte der Dynamik und der schreibsprachlichen Experimente, bei denen die Schreiber und Drucker diverse Wege, Umwege und auch Sackgassen beschreiten. Erst allmählich und weitgehend ungesteuert, also wie von unsichtbarer Hand, setzt sich der Gedanke einer überregional einheitlichen Schreibsprache durch, eine Entwicklung, die letztlich zur Herausbildung unserer hochdeutschen Standardsprache führen wird. <?page no="147"?> 147 7. Schrift und Mündlichkeit Der Unterschied zwischen geschriebener und gesprochener Sprache lässt sich nach Söll (1985, 17-30) auf zweierlei Weise verstehen (vgl. oben Kap. 3.3). Zum einen handelt es sich um einen konzeptionellen Unterschied, d. h. Schrifttexte sind in textstruktureller, stilistischer und syntaktischer Hinsicht anders gestaltet als gesprochene Kommunikationsformen wie etwa ein Gespräch. Vergleichende Untersuchungen zur konzeptionellen Mündlichkeit / Schriftlichkeit beziehen sich somit in erster Linie auf die komplexeren Sprachebenen; in historischer Perspektive wären hier Arbeiten zu Dialogstrukturen in früheren Epochen des Deutschen oder zu Sprechhandlungen und deren Wandel zu nennen. Auf einer zweiten Ebene kann sich die Differenzierung gesprochen / geschrieben aber auch auf den medialen Transportweg beziehen, über den die Nachrichten übermittelt werden. Mündlichkeit in diesem medialen Sinne beinhaltet Kommunikationsakte, die über Schallwellen transportiert werden. Physikalisch handelt es sich um lautliche Kontinua, die nach phonetischen oder phonologischen Kriterien als Folge von Einzellauten analysiert werden. Schriftlichkeit beinhaltet hingegen den Gebrauch von in der Regel bereits segmentierten graphischen Einheiten (Buchstaben, Graphien o. Ä.), die auf einem festen Untergrund (Papier, Pergament, Tafel, heute auch in einem abstrakteren Sinne die Bildschirme von Computern oder Smartphones) notiert und über den visuellen Kanal rezipiert werden. Um beide Arten von Schriftlichkeit und Mündlicheit soll es im vorliegenden Kapitel gehen. Hierbei wird zunächst auf die generelle Frage eingegangen, wie das Verhältnis von Schrift und Mündlichkeit in der sprachhistorischen Forschung modelliert wird (Kap. 7.1). Anschließend werden zwei konträre Ansätze skizziert, einerseits solche, die die Bezugnahme auf lautliche Einheiten und Strukturen ins Zentrum der Betrachtung rücken (Kap. 7.2), andererseits Modelle, die von der Priorität einer Orientierung an tradierten Wortbildern und Graphien ausgehen (Kap. 7.3). Als spezieller Fall wird das Phänomen des „Sprechens nach der Schrift“, also der Gestaltung der Aussprache unter dem Einfluss graphematischer Einheiten und Differenzierungen, diskutiert (Kap. 7.4). In Kap. 7.5 wird danach gefragt, welche Erkenntnisse es über mögliche Veränderungen im Verhältnis zwischen Schrift- und Lautsprache vom Einsetzen der Überlieferung im 8. Jahrhundert bis zur frühen Neuzeit gibt. Kap. 7.6 befasst sich mit den drei wichtigsten Verfahren zur Rekonstruktion sprechsprachlicher Phänomene und Strukturen aus der schriftlichen Überlieferung. Schließlich wird in Kap. 7.7 auf einige Versuche eingegangen, das Verhältnis von Schreibsprache und gesprochener Sprache durch orthographische Reformen zu optimieren. 7.1. Schriftsprache vs. Lautsprache - das zentrale Problem der Historischen Graphematik Das Verhältnis von geschriebener und gesprochener Sprache ist in den Schriftsystemen der Welt sehr unterschiedlich organisiert. Als Grundtypen stehen sich Morphemschriften wie das chinesische System und Lautschriften wie das lateinische System gegenüber. Die wesentlichen Differenzen lassen sich anhand der graphischen Entsprechungen für das Wort „Ohr“ im <?page no="148"?> 148 7. Schrift und Mündlichkeit Chinesischen und in der Lateinschrift (anhand dreier europäischer Sprachen) verdeutlichen (Tab. 8). Chinesische Schrift Lateinische Schrift Chinesisch ('Ohr') Mandarin (Peking): [ěr ] Wu (Shanghai): [ ɲěǐ ] Yue (Guangzhou): [jí ː ] Kejia (Meixian): [ ŋǐ ] Min (Xiamen): [nì] Xiang (Changsha): [ ə̆ ] Gan (Nanchang): [ě] Ohr Deutsch ('Ohr') [oːɐ̯ ] vesh Albanisch ('Ohr') [veːʃ] korva Finnisch ('Ohr') [korva] Tab. 8. Schriftzeichen und Lautung in Morphemschriften und Alphabetschriften Im chinesischen Beispiel steht das komplexe Kanji-Schriftzeichen für die Bedeutung 'paariges Gehör- und Gleichgewichtsorgan am Kopf des Menschen'. Es handelt sich somit um ein logographisches Zeichen, das sich unmittelbar auf eine Bedeutung bezieht, ohne den Umweg über die Lautabbildung zu gehen. Weder das Gesamtzeichen noch seine einzelnen Komponenten (die sechs Linien) reflektieren das Gesprochene. Dass es sich um kein phonographisches Zeichen handelt, wird auch daran deutlich, dass das dadurch repräsentierte Wort in verschiedenen Regionen Chinas jeweils unterschiedlich phonetisch realisiert wird (vgl. die linke Spalte in Tab. 8). Glück (1987, 106) bezeichnet daher die chinesische Schrift als „graphisches Esperanto“, also als ein Schreibsystem, dessen Zeichen von allen lesekompetenten Personen in China verstanden werden können. Im Falle der alphabetischen Schriften (hier als Beispiel die Lateinschrift) ist demgegenüber eine mehr oder weniger enge Beziehung zwischen den Schriftzeichen und den gesprochenen Lauten gegeben. So ist in der finnischen Orthographie zwischen der Zeichenfolge <k>-<o>- <r>-<v>-<a> und der Lautfolge [k] - [o] - [r] - [v] - [a] eine durchgängige strukturelle Äquivalenz erkennbar, und zwischen den einzelnen Buchstaben und den Lauten besteht eine festgelegte Referenzrelation. Etwas komplizierter ist diese Relation im Falle des albanischen vesh, da dort die Vokallänge unbezeichnet bleibt (<e> entspricht einem langen [eː] ) und ein einzelner Laut durch eine Buchstabenkombination wiedergegeben wird (<sh> steht für [ʃ] ). Im Falle des deutschen Ohr wird wiederum der Langvokal [oː] konventionell durch die Zeichenkombination <oh> repräsentiert, während das auslautende r in der bundesdeutschen Standardaussprache zu einem Tiefschwa [ ɐ̯ ] vokalisiert wird, so dass <r> in diesem Wort nicht das konsonantische [r] oder [ʁ] bezeichnet. Die Beziehungen zwischen den Schriftzeichen und den Lauten können also in alphabetischen Schriftsystemen durchaus komplex gestaltet sein, doch sind solche Beziehungen, anders als in logographischen Schriften, grundsätzlich eben <?page no="149"?> 149 7.1. Schriftsprache vs. Lautsprache - das zentrale Problem der Historischen Graphematik immer vorhanden, und es gibt einen Katalog von Regeln, die festlegen, welche Graphie-Laut- Korrespondenzen möglich sind und welche nicht. Deshalb wird das jeweilige Wort für 'Ohr' in den einzelnen europäischen Sprachen nicht nur unterschiedlich ausgesprochen, sondern auch unterschiedlich geschrieben. Die am Beispiel des Deutschen, Finnischen und Albanischen veranschaulichte phonographische Relation in Alphabetschriftsystemen gilt auch für die vormodernen Schreibsprachen, deren Buchstabeninventare sich aus dem lateinischen Zeichenbestand entwickelt haben. Allerdings ist uns mit einem historischen Schreibsystem nur die eine Hälfte des phonographischen Gesamtsystems bekannt, während die gesprochene Sprache längst verklungen ist und uns das Phonemsystem und das Phoninventar somit nicht mehr zugänglich sind. Die lautlichen Entsprechungen der Buchstaben oder Buchstabenkombinationen müssen daher rekonstruiert werden. Hierbei kann als plausibel angenommen werden, dass bei der Adaption des lateinischen Schriftsystems zunächst auch die Lautwerte der lateinischen Buchstaben mit übernommen wurden (vgl. Elmentaler 2003, 19 f.). Somit kann grundsätzlich von der Hypothese ausgegangen werden, dass z. B. ein <a> für ein gesprochenes [a(ː)] steht und nicht etwa für ein [u] oder [i] . Aufgrund der Unterschiede zwischen der deutschen und der lateinischen Sprache kam es jedoch schon bald zu Inkongruenzen (vgl. oben Kap. 4.2). Da die lateinische Schrift keine Zeichen für die Umlaute besaß, wurden die Graphien <o> und <u> nicht nur für die Laute [o, ɔ] und [u, ʊ] gebraucht, sondern auch für die davon abgeleiteten Umlautphone [y, ʏ] und [ø, œ] ; da die landschaftlichen Ausprägungen des Deutschen Diphthonge aufwiesen, die es in der lateinischen Sprache nicht gab, mussten durch Graphienkombinationen neue Kennzeichnungslösungen gefunden werden (<ei>, <ou> usw.), und in ähnlicher Weise galt dies für die Bezeichnung der Vokallänge, wie in dem Beispiel Ohr. Abgesehen von diesen (und anderen) spezifischen Schwierigkeiten, die aus der nur begrenzten Eignung des lateinischen Alphabets für die Wiedergabe deutscher Regionalsprachen resultierten, ist auch ganz prinzipiell festzustellen, dass eine völlig eindeutige Interpretation historischer Graphien unmöglich ist. Denn die Einheiten alphabetischer Schreibsysteme nehmen zwar auf Lauteinheiten Bezug, dies geschieht aber notwendigerweise immer unter Ausklammerung bestimmter Aussprachedimensionen. Schon in einer Lautschrift wie dem Internationalen Phonetischen Alphabet ( IPA ) werden viele akustische Phänomene außer acht gelassen, die hör- und messbar sind, aber aus phonetischer Sicht als irrelevant für die Klassifikation von Phonen erachtet werden. Bereits bei dem nur aus zwei phonetischen Segmenten bestehenden Wort Ohr können in der Praxis diverse Realisierungsmöglichkeiten vorkommen (Tab. 9): <?page no="150"?> 150 7. Schrift und Mündlichkeit Spektrum lautlicher Realisierungen (Beispiele) Phonetische Umschrift ( IPA ) Orthographische Wiedergabe I. Aussprachevarianten in verschiedenen Varietäten oder Sprechlagen, z. B.: bundesdeutsche vs. schweizerische Standardaussprache offenere Vokalrealisierung (z. B. im Ruhrdeutschen) - Realisierung eines Vollvokals statt Schwa im Auslaut (z. B. im Berlinischen) Berücksichtigung der unter I. genannten Varianten, z. B.: bundesdt. [oːɐ̯ ] vs. schweiz. Hdt. [oːr] - Ruhrdeutsch: [ɔːɐ̯ ] - Berlinisch: [oːa] - Hamburgisch: [oːɛ] Standardisierte Wiedergabe: Ohr Keine Berücksichtigung der unter I und II genannten Varianten II . Weitere lautliche Variationsmöglichkeiten, z. B.: - Sprechtempo: langsam oder schnell - Lautstärke: leise oder laut - Stimmlage: hoch oder tief - Stimmqualität: kräftig, rau, weich, sonor usw. alters- oder krankheitsbedingte Besonderheiten: zittrige oder heisere Stimme, Nuscheln, verzögerter Redefluss - Besonderheiten wegen temporärer Befindlichkeiten des Sprechers: nasale Vokalqualität (bei Erkältung), schleppende Sprechweise (bei Müdigkeit), undeutliches Sprechen (bei Trunkenheit) In der Regel Ausklammerung der unter II genannten Phänomene Tab. 9. Variationsphänomene auf der Lautebene, Abstraktionen in der phonetischen Umschrift und orthographische Standardisierung am Beispiel des Wortes Ohr In modernen deutschen Schrifttexten werden die unter I und II verzeichneten Phänomene normalerweise nicht sichtbar, da die deutsche Standardorthographie eine einheitliche Schreibung vorsieht, bei der die regionale, stilistische, soziale oder situative Variation auf der Lautebene unberücksichtigt bleibt. Nur aus Medien, die nicht streng an orthographische Konventionen gebunden sind, kennen wir Versuche, einige dieser Lautphänomene mit typographischen oder graphematischen Mitteln zu kennzeichnen. So werden in der belletristischen Literatur in manchen Fällen Schreibungen gebraucht, die regionalsprachliche Besonderheiten abbilden (Typ I), nicht nur in eigentlichen Dialektgedichten, sondern auch in Dialogen mancher Romane, die den typischen Charakter umgangssprachlichen Sprechens illustrieren sollen: „Und waß-… waß wah daß jeddß fürn seldtsahma Fohrschlach? fragte Meier und versuchte, flach zu atmen. Jorr höar zu, rekelte sich Störtzer.- […] Als Gegenleistung wollte Hansjürgen den Ferrarischaden selbst und darüber hinaus ein Honorar von-- un nu päß äouf-- von 1825 Mark zahlen. Tausendachthunnerdfümmundzwanzich, sagte Meier verdutzt. Jorr. Genäou tausendächdhunnärdfümmunzwanzich. Ich sorch: Gehd klorr, sorch ich und dächde, der hädd doch ain annär Wäffl. Und är sorchd: Suhbär, sorchd är. Liebär geleudärde Kommpliedßn alß komplizierde Leudeh.“ (Norddeutsche Dialogpassage aus dem Roman „Morbus fonticuli oder Die Sehnsucht des Laien“ von Frank Schulz, vgl. Schulz 2001, 609) Auch internetbasierte Kommunikation ist oft durch Schreibungen geprägt, die eine regional- oder alltagssprachliche Sprachprägung indizieren: <?page no="151"?> 151 7.1. Schriftsprache vs. Lautsprache - das zentrale Problem der Historischen Graphematik McBuzzzy : Hallo Krümel. Du musch Kuggis agdiwiere unna Indanedobzione 'Hallo Krümel. Du musst Cookies aktivieren unter Internetoptionen.' (Beispiel aus einem regionalen Chat aus dem pfälzischen Raum, nach Kilian 2011, 162) Gelegentlich werden in literarischen Texten auch lautliche Varianten verschriftlicht, die mit den unter II genannten Parametern und Einflussfaktoren zusammenhängen. In dem zitierten Roman von Frank Schulz gibt es eine Figur, die einen Schlag ins Gesicht bekommen hat und deshalb nuschelt („Wo, mir reift’s“). Auch andere paraverbale Merkmale des Sprechens werden in belletristischen Texten gelegentlich gekennzeichnet. So wird in dem in Abb. 26 zitierten Romanausschnitt die verwaschene Aussprache der angetrunkenen Maxi durch spezielle Schreibungen nachgeahmt. „Maxi! Hast Du einen Schwips? Du redest so verschwommenes Zeug.“ „Kann sein. Bene war heutamd 1,2 bei mir. Und wir ham 1,2 Schlammpanjer 13 geschlürft-- aber nur ein kleines Gläschen. Ehrlich! “ „War wohl eher ein Eimer-… Feiert Ihr schon ein bisschen voraus? “ „So ungefähr. Wir ham 1,2 ein 3 Termin für unsere neuerlige 6 Vereliung 1,5 fessgesetzz 4,4 .“ „Für Eure-- was? “ „Für unsere Ver-ehe-li-chung“, japste Maxi silbenweise. „Bisschen schwieriges Wort nach einem Eimer Champagner,“ grinste Stella und hörte Maxi kichern. „Willssu 4,1,2 das Dadum 9 wissn 3 ? “ „Nuschel doch bitte nicht so! Klar, will ich das Datum wissen.“ „Bald schon. Mondach 9,10 , den Dreissehndn 7,9,3 Novemba 12 .“ „Wieso Montag? Wieso 13.? Wieso November? “ „Du kannssja 4 Fragn 3 fragn 3 ! “ „Ach, Maxi, mit Dir rede ich erst wieder, wenn Du nüchtern bist.“ „Nagutt 11 “, machte Maxi friedfertig. „Dann bis-- hicks 14 -- schbäder 9 . Gutt 11 Nacht, Schdellalein 8,9 ! “ „Gute Nacht, Maxilein.“ 1 Kontraktion 2 Assimilation 3 Endsilbenreduktion 4 t-Apokope 5 Ausfall von [ç] 6 Vertauschung von [ç] und [g] 7 Vereinfachung der Affrikate [ts] 8 Ersetzung von [s] durch [ʃ] 9 Lenisierung von [t] oder [p] 10 g-Spirantisierung 11 Vokalkürzung 12 Vollvokal [a] statt Tief-Schwa im Auslaut 13 Kontamination (Schlamm und Champagner) 14 Lexikalischer Trunkenheitsmarker (hicks) Abb. 26. Graphematische Inszenierung von Trunkenheit in einem modernen Roman (aus: Hauptvogel 2016, 167 f.) Es stellt sich die Frage, ob auch in historischen Schreibsprachen vergleichbare Variationsphänomene in der Schrift abgebildet werden. Ein mittelalterlicher Schreiber wird in der Regel <?page no="152"?> 152 7. Schrift und Mündlichkeit normalerweise kaum versuchen, Merkmale des Typs II wiederzugeben. Auf der anderen Seite gab es aber noch nicht die Möglichkeit eines Rückgriffs auf eine standardisierte Orthographie. Vormoderne Schreibsysteme waren daher bis zu einem gewissen Grade durchlässig für Lautmerkmale des Typs I, also z. B. regionale oder stilistische Varianten; in den vorhergehenden Kapiteln wurden einige dieser Bereiche bereits exemplarisch behandelt. Ein zentrales Problem der Historischen Graphematik besteht nun darin, für die einzelnen Schreibsysteme herauszuarbeiten, bis zu welchem Grad lautliche Variationsphänomene graphematisch zum Ausdruck gebracht werden. In der sprachhistorischen Forschung lassen sich in Hinblick darauf zwei Grundpositionen identifizieren, die einander zwar nicht ausschließen, den Akzent aber doch auf unterschiedliche Bezüge zwischen schriftlichen und mündlichen Spracheinheiten legen. Nach der ersten Position wird davon ausgegangen, dass die Alphabetschrift in erster Linie Gesprochenes reflektiert, die andere Position hebt dagegen hervor, dass alles Schreiben sich auf bereits vorhandene Schrifttraditionen beziehe und somit nicht mehr unmittelbar auf Strukturen der Mündlichkeit Bezug nehmen müsse. Einige der mit diesen Positionen verbundenen Argumentationen und empirischen Befunde werden in den folgenden beiden Kapiteln beleuchtet. 7.2. Bezugnahme auf lautliche Einheiten und Strukturen Die Vertreter der These „Schrift bezieht sich auf Lautung“ argumentieren vor allem mit der historischen und entwicklungsmäßigen Priorität der Mündlichkeit. Gesprochene Sprache ist historisch älter als geschriebene (in allen Kulturen geht das Sprechen dem Schreiben weit voraus) und wird auch ontogenetisch, also in der kindlichen Entwicklung, als erstes erworben, denn Sprechen lernt man schon seit dem ersten Lebensjahr, Schreiben dagegen (in unserem Kulturkreis) erst mit etwa sechs Jahren. Auch alltagspraktisch ist das Sprechen nach wie vor die spontan gebrauchte, unmarkierte Form. In einer Situation, in der beide Gesprächspartner im selben Raum anwesend sind, würde niemand eine schriftliche Nachricht verfassen, um mit dem anderen zu kommunizieren, es sei denn, es liegen spezielle Umstände vor (z. B. dass man schweigen muss, um andere nicht zu stören; dass man eine Nachricht übermitteln will, die Dritte nicht mitbekommen sollen o. Ä.). Trotz der enormen Zunahme schriftlicher Kommunikation in den modernen Messaging-Diensten und sozialen Netzwerken ist die gesprochene Sprache somit immer noch funktional prioritär. Es spricht also einiges dafür, modellhaft davon auszugehen, dass Schreibsysteme unter Bezugnahme auf bereits vorhandene Einheiten und Strukturen der Lautebene konstruiert wurden. Dass dies allerdings nicht im Sinne einer unmittelbaren Widerspiegelung des Gesprochenen verstanden werden kann, wurde bereits ausgeführt. In keinem praxistauglichen Schreibsystem gibt es eine 1: 1-Beziehung zwischen graphischen Zeichen und gesprochenen Lauten, wie wir sie aus phonetischen Transkriptionssystemen wie dem IPA kennen. Eine solche Kongruenz gibt es nur als theoretisches Konstrukt. Die meisten Schreibsysteme weichen sogar ganz erheblich von den Lautsystemen ab, sowohl was die Anzahl der jeweiligen Basiseinheiten angeht, als auch in struktureller Hinsicht. Die Vorstellung einer Widerspiegelung sprechsprachlicher Strukturen durch die Schrift sollte also durch ein angemesseneres Modell ersetzt werden. <?page no="153"?> 153 7.2. Bezugnahme auf lautliche Einheiten und Strukturen In der Regel wird daher von „Korrespondenzen“ zwischen Lautsystem und Schreibsystem gesprochen, die mehr oder weniger stark ausgeprägt sein können. Schon Schmitt (1936, 15) nimmt „mehrfache Stufen der Nähe oder Ferne zur gesprochenen Sprache“ an, also unterschiedliche Distanzen, die Schreibsysteme zur Mündlichkeit aufweisen können. Mihm (2001a) unterscheidet in diesem Zusammenhang „lautabstrahierende“ Schreibsysteme, in denen auf die lautlichen Strukturen nur sehr grob Bezug genommen wird und die daher eine große Distanz zum Gesprochenen aufweisen, von „lautdifferenzierenden“ Systemen, in denen eine genauere Wiedergabe der lautlichen Strukturen und phonetischen Besonderheiten intendiert wird. Lautabstrahierende Systeme lassen nur wenig Rückschlüsse auf die historischen Lautverhältnisse zu, während lautdifferenzierende Schreibsysteme unter diesem Aspekt von besonderem Interesse sind. Generell stellt sich dabei die Frage, welche Merkmale der Lautung in historischen Schreibsprachen überhaupt zum Ausdruck gebracht werden konnten, und welche von den Schreibern zwar wiedergegeben werden konnten, aber dennoch vernachlässigt wurden. In Bezug auf Tab. 9 lässt sich zunächst davon ausgehen, dass Typ I-Phänomene wie Sprechtempo, Lautstärke, Stimmlage, Stimmqualität, alters- oder krankheitsbedingte Besonderheiten der Sprechstimme bzw. Besonderheiten wegen temporärer Befindlichkeiten des Sprechers wohl nur in „markierten“ Kontexten mit graphematischen Mitteln zum Ausdruck gebracht werden. Dazu können z. B. Schauspiele gehören, in denen es darum geht, eine Figur in einer Szene als zögerlich, betrunken, müde, aggressiv usw. zu charakterisieren. Meist werden die damit verbundenen Besonderheiten der Sprechweise allerdings nur umschreibend in metasprachlichen Bühnenanweisungen vermerkt, wie sie sich etwa als Zusätze in Klammern vor den Redebeiträgen der Figuren in Schillers „Die Räuber“ finden („begierig“, „auffahrend“, „zärtlich“, „schnell“, „stutzig“, „ärgerlich“, „zerstreut“, „hitziger“ usw.). Auch in anderen Textsorten, bei denen Sprechen und Artikulation eine zentrale Rolle spielen, finden sich solche Umschreibungen, etwa in liturgischen Texten („Der Priester spricht mit lauter Stimme“ usw.). Gelegentlich gibt es solche Anweisungen zur prosodischen Gestaltung auch in althochdeutschen Texten, so etwa in den Schriften des Leiters der Klosterschule in St. Gallen, Notker Labeo (ca. 950-1022), in die „Anweisungen wie ‚suspensio uocis‘ oder ‚depositio uocis‘“ (also: ‚mit gehaltener Stimme‘ bzw. ‚mit gesenkter Stimme‘) eingefügt sind (Grotans 2006, 228 f.). In der graphematischen Gestaltung der vormodernen Schreibsprachen finden solche Phänomene aber kaum Niederschlag. Dennoch erscheint es zu weitreichend, wenn Reichmann / Wegera (1993: 18) pauschal „schreibunabhängige Lautungsbereiche“ identifizieren und dazu „die gesamte Prosodie und weiteste Teile sprechsprachlicher Artikulationsvarianz“ zählen. Denn es gibt durchaus Schreibsysteme, die auch prosodische Phänomene graphematisch zum Ausdruck bringen. Ein Beispiel sind die in rheinischen Mundarten vorkommenden „Tonakzente“, die in ripuarischen und niederrheinischen Handschriften durch einen systematischen Wechsel unterschiedlicher Digraphientypen gekennzeichnet werden (Kap. 10.3). Mihm folgert daraus, auch mit Blick auf andere, vergleichbare Phänomene aus anderen Sprachen und Zeitstufen (z. B. Kennzeichnung von Sandhi, Svarabhakti, Sprechpausen, Satzintonation usw.): <?page no="154"?> 154 7. Schrift und Mündlichkeit „Die alphabetischen Schreibsysteme der Vergangenheit haben sich durchaus nicht darauf beschränkt, segmentale Einheiten der Lautebene wiederzugeben, sondern enthalten häufig auch eine Fülle von koartikulativen und prosodischen Informationen.“ (Mihm 2002, 235) Auch die Interpunktion dient in historischen Schreibsprachen noch nicht primär der Kennzeichnung und Abgrenzung syntaktischer Einheiten (Satz, Teilsatz, Apposition), sondern wird vor allem dazu verwendet, suprasegmentale Eigenschaften des Sprechens wie Phrasierungen oder Pausen zu kennzeichnen. Bereits Bruno Boesch, der recht eingehende Analysen zur Interpunktion alemannischer Urkundentexte durchführt, kommt zu dem Ergebnis, dass die Interpunktion in erster Linie Hinweise zur Phrasierung beim Vorlesen des Geschriebenen, insbesondere zur Markierung von Sprechpausen gebe, so dass es ratsam sei, solche Texte laut zu lesen (vgl. Boesch 1946, 47). Boesch analysiert einen Zunftbrief in alemannischer Sprache als Beispiel „einer Sprechgliederung mit Virgeln und mit dem Punkt als Satz- und Sinnesgrenze“ (ebd., Abb. 27). In anderen Texten werden z. B. Namen durch Punkte eingerahmt, weil sie „natürlich beim Vorlesen besonderes Gehör erheischten“ (ebd.). / irlŏben dien Gartnern / dien Obzern / vnd dien Menkellern ein zvnft / Vnde ſtetegen die mit gůten trúwen / alſe hie nach geſchriben ist. Vnde ſol man daz wîſſen / Daz wir inen / vnde ſi v ́ ns / Vnd v ́ nſerme gotzhus geſworn hant zi helfenne zi v ̂ nſern no ͤ ten / vnde wir inen zirn no ͤ ten gegen menlichem. '… erlauben den Gartnern, Obzern und Menkellern eine Zunft, und bestätigen diese in guter Gesinnung [wörtl.: mit guter Treu], wie es hiernach beschrieben ist. Und man soll wissen, dass wir ihnen und sie uns und unserem Gotteshaus geschworen haben zu helfen im Notfall [wörtl.: zu unseren Nöten] und wir ihnen im Notfall [wörtl.: zu ihren Nöten] gegenüber jedem.' Abb. 27. Gebrauch von Virgeln und Punkten in einer Basler Urkunde von 1264 (Corpus Wilhelm Nr. 80, zit. n. Boesch 1946, 47) [Gartner 'Gärtner': Verkäufer von Gemüse und Samen, Obzer (obezære): Obsthändler, Menkeller (Mänggeler): Kleinhändler, vgl. Wanner 1976, 134-141] Neuere Studien haben Boeschs Beobachtungen an anderen mittelalterlichen Texten bestätigt (vgl. Parkes 1992). So versah der genannte Notker Labeo seine Texte nicht nur mit Anweisungen zum Vortrag, sondern auch mit Interpunktionszeichen, die den Schülern und Lehrern zur Unterstützung beim Vorlesen klösterlicher Texte dienen sollten (vgl. Grotans 2006, 224-226, 246-248). Diese ursprünglich rhetorische bzw. performative Funktion der Interpunktion spielte noch bis ins 17. Jahrhundert hinein eine wichtige Rolle, wie entsprechende Beschreibungen in Grammatiken des 15. bis 17. Jahrhunderts bestätigen (vgl. Rinas 2017, kritisch zu dieser These: Kirchhoff 2017). Hintergrund der Funktionalisierung von Interpunktionszeichen als „performance cues and markers“ (Grotans 2006, 226) ist wohl das laute Lesen, das für die mittelalterliche Textrezeption in den Klöstern charakteristisch war und nach verbreiteter Auffassung erst in der Neuzeit durch das uns geläufige leise Lesen abgelöst wurde (eine andere These vertritt hier Saenger 1997, der die Durchsetzung des leisen Lesens mit der Etablierung der graphischen Wortsegmentierung in Verbindung bringt, Kap. 4.3). <?page no="155"?> 155 7.2. Bezugnahme auf lautliche Einheiten und Strukturen Die Praktik des lauten Lesens der murmelnden Mönche in mittelalterlichen Klöstern hat der Philosoph und Theologe Ivan Illich einmal recht anschaulich beschrieben: „Der moderne Leser nimmt die Seite als Platte wahr, die seinen Verstand mit Zeichen versieht, und er erlebt seinen Verstand als Bildschirm, auf den die Seite projiziert wird und von dem sie mit einem Knopfdruck wieder ausgeblendet werden kann. Für den monastischen Leser-[…] ist das Lesen keine derartige phantasmagorische, sondern eine eher leibliche Tätigkeit. Er nimmt die Zeilen auf, indem er sich nach ihrem Takt bewegt, und er erinnert sich an sie, indem er ihren Rhythmus erneut heraufbeschwört. So ist es nicht verwunderlich, daß uns die voruniversitären Klöster als Aufenthaltsorte für Murmler beschrieben werden.“ (Illich 1991, 57 f.) Neben den suprasegmentalen Merkmalen des Sprechens (Rhythmus, Pausen, Phrasierung) wird manchmal auch die sprechsprachliche Artikulationsvarianz in lautdifferenzierenden Systemen graphematisch zum Ausdruck gebracht. Wenn z. B. ein Duisburger Schreiber des 14. Jahrhunderts den lautlichen Kontinuanten von wgerm. eo in dem Morphem {-dien-} durch nicht weniger als sechs verschiedene Graphien wiedergibt (dienst / dinst / dynst 'Dienst', ghedyent 'gedient', verdenden 'verdienten', deynre 'Diener'), dann liegt es nahe, dieses breite graphematische Spektrum als Reflex der bei diesem Vokal gegebenen allophonischen Variationsspielräume zu deuten (vgl. Elmentaler 2003, 162 und 166-168). Schon an diesen Beispielen wird deutlich, dass in historischen Schreibsystemen auch allophonische Lautbesonderheiten Berücksichtigung finden konnten, und dass sie keineswegs, wie gelegentlich behauptet wurde, nur Phonemunterschiede zum Ausdruck bringen (Kap. 12.3). Es fällt auf, dass oftmals sogar semantisch relevante Strukturdifferenzen, also phonematische Oppositionen, deren genaue Wiedergabe in der Schrift man eigentlich als besonders wichtig erachten würde, in den Schreibsprachen nivelliert werden. Viele historische Schreibsysteme sind in Bezug auf phonematisch relevante Lautdifferenzen unterdifferenziert. Dies zeigt sich z. B. darin, dass Lang- und Kurzvokale, Monophthonge und Diphthonge, umgelautete und nicht-umgelautete Vokale graphematisch nicht unterschieden werden. Dabei werden manche Phänomene möglicherweise nicht berücksichtigt, weil sie einer tieferen Sprachlage angehören, die bei der Niederschrift eines amtlichen Textes nicht angezielt wird (Kap. 6.2.4 und 7.2). Nach einer Berechnung von Skála (1967, 21) machen mundartliche Formen in den vom ihm untersuchten Verwaltungstexten aus dem böhmischen Eger (heute Cheb im Westen Tschechiens) „entschieden weniger als ein Prozent“ der Schreibungen aus, und Ähnliches stellt auch auch Suchsland (1968, 246) für die ostmitteldeutschen Urkunden aus Jena fest. Phonemoppositionen, an denen solche als „grobmundartlich“ betrachteten Lautungen beteiligt waren, werden somit graphematisch nicht wiedergegeben. So kann es z. B. dazu kommen, dass die für die westfälischen Dialekte charakteristische Phonemopposition von Kürzendiphthongen (abgeleitet aus historischen Kurzvokalen), erhaltenenen Langvokalen und diphthongierten Langvokalen in der schriftlichen Repräsentation nicht mehr erkennbar ist, so dass dialektal unterschiedene Formen wie [liət] 'Glied', [leːt] 'Leid' und [laɪt] 'Lied' in der Schreibung leed zusammenfallen (ähnlich im velaren Bereich moder [muədɐ] 'Moder' und [moːdɐ] 'Mutter', roek [ryək] 'Geruch' und [roːk] 'Rauch' usw.; vgl. Woeste 1930). In anderen Fällen wissen wir nicht genau, warum auf eine graphematische Differenzierung verzichtet wird, obwohl die betreffenden Lautunterschiede Phonem- <?page no="156"?> 156 7. Schrift und Mündlichkeit status haben, also für die Unterscheidung von Wortbedeutungen relevant sind. Hierzu zählt z. B. die lange fehlende Umlautmarkierung, aufgrund derer z. B. Wörter wie schön (Adjektiv) und schon (Adverb) oder Flexionsformen wie könnte (Konjunktiv II ) und konnte (Indikativ Präteritum) in den Handschriften graphematisch zusammenfallen (mhd. schone, kunde). Die damit potenziell verbundene Verwechslungsgefahr scheint kommunikativ keine größeren Probleme verursacht zu haben, da der Kontext die jeweilige Bedeutung in der Regel vereindeutigt, ähnlich wie es auch bei Homographen der Fall ist (Kap. 6.3.1). 7.3. Orientierung an tradierten Wortbildern und Graphien Die volkssprachlichen Schreibsprachen des Mittelalters, die im 6. Jahrhundert einsetzen (im deutschsprachigen Raum um 830), konnten bereits an die Schrifttradition der griechischen und lateinischen Antike anknüpfen. Dementsprechend ging es zwar grundsätzlich darum, die im eigenen Sprechen wahrgenommenen Laute und Lautunterschiede schriftlich zu kennzeichnen, doch mussten die dafür benötigten Schriftzeichen und Buchstaben-Laut-Korrespondenzen nicht vollständig neu ersonnen werden. Dieses Prinzip, auf der Schriftebene an Bestehendes anzuknüpfen, dabei aber zugleich auch auf etwas aktuell Gehörtes Bezug zu nehmen, ist auch in den folgenden Jahrhunderten für das Schreiben konstitutiv. Hierbei bildete z. B. für einen Schreiber im 15. Jahrhundert neben der gesprochenen Regionalsprache einerseits immer noch das lateinische Schriftsystem einen Bezugsrahmen, dessen Regeln er sehr genau kannte, andererseits diente aber auch die Gesamtheit der volkssprachlichen Textproduktion, die er innerhalb oder außerhalb seiner Kanzlei vorfand, als Orientierungsgröße. Ein mittelalterlicher oder frühneuzeitlicher Berufsschreiber war umgeben von Schriftlichkeit. Er lernte bereits in seiner Ausbildung einen oder mehrere Stile des Schreibens kennen, hatte laufend mit Kanzleidokumenten zu tun, die den Schreibusus seiner Vorgänger reflektierten, und war auch vertraut mit den Schreibgewohnheiten anderer Regionen (Kap. 5). Schreiben in der Volkssprache ist also vom 9. bis zum 17. Jahrhundert nicht einfach ein Prozess der Überführung des Gehörten in Ketten von Schriftzeichen, sondern immer auch ein Sich-Verhalten zu bereits vorgefundenen Schreibtraditionen, denen man sich anschließen oder von denen man abweichen kann. Heinrich Bach (1937) nimmt an, dass sich dieser Aneignungsprozess vor allem auf der Ebene des graphischen Wortes vollzieht: „Sofort wenn sich eine schriftliche überlieferung ausbildet, bekommt die aufzeichnung der gesprochenen laute einen gewissen stereotypen charakter. Der schreibende setzt nicht mehr unmittelbar bestimmte schriftzeichen für entsprechende lautvorstellungen, sondern steht unter fortwährendem einfluß der schriftlichen wortbilder, die sich seinem gehirn eingeprägt haben. Deshalb hat die schriftliche überlieferung schon von den ältesten zeiten an keineswegs den charakter einer gröberen phonetischen dialektaufzeichnung.“ (Bach 1937, 27) Friedrich Wilhelm (1932, LV ) spricht in ähnlicher Weise von „visuellen Erinnerungsbildern“, denen der Schreiber folge. In der modernen Leseforschung sind die kognitiven Prozesse bei der Wortverarbeitung mittlerweile recht eingehend untersucht und getestet worden (einen Überblick bieten Radach/ Hofmann 2016), wobei festgestellt wurde, dass geschriebene Wörter <?page no="157"?> 157 7.3. Orientierung an tradierten Wortbildern und Graphien auch dann noch erkannt werden können, wenn die Buchstaben innerhalb des Wortes vertauscht sind. Radach / Hofmann (2016, 466) verweisen auf eine bekannte Studie der Universität Cambridge, nach der es für das Leseverständnis egal sei, „in wlehcer Rehenifloge die Bcuhstbaen in Woeretrn vokrmomen“ (! ), solange der erste und letzte Buchstabe korrekt gesetzt sind (das englische Originalbeispiel ist zitiert bei Powell 2009, 244: „ AOCCDRNIG TO RSCHEEARCH AT CMABRIDGE UINERVTISY , IT DEOSN ’T MTTAER IN WAHT OREDR THE LTTEERS IN A WROD ARE -…“). Wenn auch solche Texte verstanden werden können, so hängt das damit zusammen, dass ein geübter Leser ein Wort nicht Buchstabe für Buchstabe entziffert, sondern ganze Wortbilder identifiziert. Hierfür reicht jedoch offenbar eine ungefähre Übereinstimmung mit dem erwarteten Wortbild aus. So weisen Kinoshita/ Norris (2013) in einer Studie darauf hin, dass „die Identifikation von Buchstaben und deren Position ein verrauschter Prozess ist und wir nicht jeden Buchstaben korrekt wiedererkennen müssen. Da das Wiedererkennen einzelner Wörter also immer nur auf relativen Wahrscheinlichkeiten basiert, dass spezifische Wörter präsentiert wurden, können wir trotz Auslassungen, Ersetzungen und Vertauschungen die Wörter immer noch korrekt aus den jeweils möglichen Kandidaten auswählen.-[…] Im Rahmen des oben beschriebenen Modells der Worterkennung-[…] sollten erwartete Wörter stets voraktiviert werden. Hierdurch wäre davon auszugehen, dass selbst bei nur mäßiger orthographischer Überlappung zwischen dem erwarteten und präsentierten Wort eine korrekte Identifikation ausgelöst wird.“ (Radach / Hofmann 2016, 467) Für die historische Graphematik sind diese Überlegungen insofern relevant, als wir es auch hier in der Regel nicht mit festen Wortbildern zu tun haben (wie bei modernen, orthographisch normierten Texten), sondern mit einer Vielfalt graphematischer Wortvarianten. Wenn etwa ein norddeutscher Leser im 15. Jahrhundert aufgrund des Kontextes ein „erwartetes Wort“ wie schepe 'Schöffe' bereits „voraktiviert“ hat (z. B. beim Lesen einer Urkunde, deren stereotypes Muster er kennt), wird er dieses Wort auch dann als ganzheitliche graphische Einheit rezipieren können, wenn es ihm in der Variante scheepe oder scheipe entgegentritt. Dementsprechend ist anzunehmen, dass die vormodernen Leser bei der Lektüre nicht nur ein „visuelles Erinnerungsbild“ pro Wort abspeichern, sondern mehrere Wortbilder, die sich innerhalb eines regional definierten Variationsrahmens bewegen. Beim Abruf des Gelernten findet dann wiederum eine Selektion statt, indem der Schreiber aus den von ihm abgespeicherten Wortbildern ein einzelnes auswählt. Damit aber ist zugleich klar, dass auch dann, wenn man von einer Tradierung graphischer Wortbilder in dem geschilderten Sinne ausgeht, niemals eine vollständige Übernahme des vorgefundenen Schreibusus stattfinden kann. Selbst wenn es zutrifft, was Niklas von Wyle in seinen „Translationes“ (1478) behauptet, dass die Schreiber einander nachahmen „wie die Affen“ (zit. n. Müller 1882, 16), ist hierbei doch die Ausbildung eines Systems fester Wortschreibungen ausgeschlossen. Das bestätigen auch alle historisch-graphematischen Untersuchungen, die sich korpusbasiert mit der diachronen Entwicklung von Kanzleisprachen beschäftigen. Erst mit dem bewussten Streben nach einer einheitlichen und variantenfreien Schreibweise im Zuge der Sprachkultivierungsprozesse des 17. und 18. Jahrhunderts konnte sich eine konstante Wortschreibung weitgehend durchsetzen (Kap. 11.2). <?page no="158"?> 158 7. Schrift und Mündlichkeit 7.4. Sprechen nach der Schrift Neben den beiden geschilderten Grundtypen der Relation von Schriftlichkeit und Mündlichkeit-- die Lautung kommt in der Schrift zum Ausdruck (L>S) und die Schrifttradition dient als Orientierungspunkt für das weitere Schreiben (S>S)-- gibt es noch eine dritte Möglichkeit, die sich in einigen Fällen tatsächlich historisch belegen lässt: Schriftliche Muster können sich darauf auswirken, wie wir sprechen (S>L). Ein solcher Einfluss der Schrift auf die Lautung ist in einer gewissen Weise immer gegeben. Auch wenn die historische, ontogenetische und alltagspraktische Priorität der Lautsprache nicht zu bezweifeln ist, wäre es doch irreführend, anzunehmen, die Einheiten der Schrift (Buchstaben) seien nur ein bloßes Abbild bereits vorhandener Einheiten der gesprochenen Sprache (Laute). Denn tatsächlich besteht das Gesprochene für einen „naiven“, noch nicht schriftkundigen Benutzer keineswegs aus klar abgegrenzten Einheiten. Mündliche Äußerungen bilden vielmehr einen kontinuierlichen Lautstrom und weisen keine eigenständigen Einheiten auf, die etwa durch kurze Sprechpausen in ähnlicher Weise voneinander abgegrenzt wären wie die Buchstaben eines gedruckten Textes durch Leerzeichen (Spatien). Wer mit der Alphabetschrift nicht vertraut ist, wird daher in der Wahrnehmung seines eigenen Sprechens zwar möglicherweise die einzelnen Wörter als Einheiten betrachten (da sie jeweils eine eigene Bedeutung aufweisen) und vielleicht auch noch die Silben als natürliche rhythmische Elemente identifizieren. Die segmentale Einheit des „Phons“ ergibt sich dagegen erst sekundär aus einem Analyseprozess, der sich am Modell der schriftsprachlichen Differenzierung von distinkten Zeichen orientiert. Die Vorstellung, dass ein Wort wie Bundeskanzlerin nicht nur aus fünf Silben, sondern aus 15 einzelnen Lauten besteht, die nacheinander artikuliert werden, rührt letztlich aus der Beobachtung her, dass das geschriebene Wort <Bundeskanzlerin> 15 voneinander isolierte Buchstabenzeichen enthält (auch wenn in anderen Fällen nicht immer ein Buchstabe genau einem Laut entspricht). Schon auf dieser Ebene ist somit eine Modellierung der Lautung nach dem Vorbild der Schrift erkennbar (vgl. Günther 1995). Über diese grundsätzliche Orientierung an Mustern der Schrift hinaus gibt es jedoch auch Fälle, in denen die Schrift für die Herausbildung ganz bestimmter Laute Pate gestanden hat. Ein bekanntes Beispiel ist die Entstehung des Phonems / ε ː / im Deutschen (vgl. Hinderling 1978, 29-61). Im Frühneuhochdeutschen setzte sich die Konvention durch, bei Wörtern mit altlangem oder tonlangem ā den Umlaut durch Graphien wie <a ͤ > oder <a ͤ h> (später <ä, äh>) zu kennzeichnen, um die Identität eines Wortes in verschiedenen grammatischen Formen (Vater / Va ͤ ter, kam / ka ͤ me) oder die morphologische Verwandtschaft mit abgeleiteten Wörtern (Tat / Ta ͤ ter, Fahne / Fa ͤ hnchen) hervorzuheben (Kap. 11.2). Mit dieser neuen Graphie <a ͤ > wurde zunächst ein Laut bezeichnet, der mit dem durch <e> bezeichneten Langvokal zusammenfiel, wie er in Wörtern wie zetern, sehnen, Lehm, Leben usw. vorkommt. Aufgrund der schriftsprachlichen Unterscheidung von Wörtern mit <a ͤ > und mit <e> bildete sich jedoch allmählich auch auf der Lautebene eine analoge Differenzierung heraus ( [ ' ɛːʁə] 'Ähre' vs. [ ' eːʁə] 'Ehre', [gə ' vɛːɐ] 'Gewähr' vs. [gə ' veːɐ] 'Gewehr'). Ein ähnliches Beispiel für eine an der Schrift orientierte, „buchstäbische Aussprache“ führt Hans Moser (1987, 386 f.) in seinem Beitrag über „Geredete Graphie“ in der Frühen Neuzeit <?page no="159"?> 159 7.4. Sprechen nach der Schrift an. Er verweist auf eine Stelle in der Grammatik des Justus Georg Schottelius von 1663, in dem dieser als lautliche Entsprechung zu dem eigentlich stummen sogenannten Dehnungs-h einen „Mittelhauchlaut“ annimmt. Für die aus Vokalzeichen und nachgestelltem <h> bestehenden Graphienkombinationen nimmt Schottelius somit grundsätzlich eine andere Lautqualität an („eine gleichsam etwas hauchende La ͤ nge“) als für Doppelgraphien wie <aa>, <ee> und <oo>, so dass der Vokal in dem Wort Lehr’ ('Lehre') nach seiner Auffassung anders ausgesprochen werde als der in dem Adjektiv leer. Diese Interpretation hat sich nicht durchgesetzt, so dass die beiden genannten Wörter heute identisch ausgesprochen werden. Doch lassen sich in der Praxis immer noch Belege für schriftinduzierte (nicht-normgerechte) Aussprachen finden. Eine Orientierung der Aussprache an der Orthographie kann angenommen werden, wenn norddeutsche Sprecher das Suffix -ig nach dem Vorbild der plosivisch interpretierten Graphie <g> als [ɪk] sprechen (z. B. [ˈeːvik] 'ewig' statt [ˈeːviç] ) und das auslautende <ng> als [ŋk] (z. B. [laŋk] 'lang' statt [laŋ] ). Ähnliches gilt für Rheinländer, wenn sie das geschriebene <r> auch dort als velares [x] realisieren, wo es nach der bundesdeutschen Aussprachenorm vokalisiert wird (z. B. [pfɛxt] 'Pferd' statt [pfeːɐ̯ t] , [ɛxˈtsɛːlən] 'erzählen' statt [ɛɐ̯ ˈtsɛːlən] ). Auf weitere Belege für eine Angleichung der Aussprache nach der Schrift weist bereits Wilhelm Braune (1905, 15-17) in seinem Vortrag „Über die Einigung der Deutschen Aussprache“ hin. So setzte sich z. B. in der Standardaussprache eine identische Aussprache der aus wgerm. ī- ū -ü¯ / iu und wgerm. ei-ou-öü abgeleiteten Vokalreihen durch (z. B. [aɪ] in Wein und klein, [aʊ] in Haus und laufen, [oʏ] in Leute und träumen), obwohl diese Reihen in vielen deutschen Dialekten bis heute lautlich auseinandergehalten werden (z. B. niederdeutsch: Wien vs. kleen, Huus vs. lopen, Lüde vs. drömen; moselfränkisch: Wein [veɪn] vs. klään / klaan, Hous vs. laafe, Läit / Löit vs. drämme / dräme; alemannisch: Wien vs. chlein, Huus vs. laufen, Lüüt vs. traumen). Umgekehrt haben die meisten Sprecher des Obersächsischen, die in ihrem Dialekt und regionalen Hochdeutsch wegen der Entrundung der Vokale ö¯ , ü¯ und äu ursprünglich nicht zwischen wenig und Kenig 'König', schießen und grießen 'grüßen', Weiser und Haiser 'Häuser' unterschieden hatten (Beispiele nach Braune 1905, 16), im Laufe des 20. Jahrhunderts die standarddeutsche Lautopposition von ungerundeten und gerundeten Vokalen übernommen. Das Vorbild Schriftsprache spielt auch in dem Diskurs über das „beste Hochdeutsch“ im 18. Jahrhundert eine zentrale Rolle. In der Diskussion über die Prinzipien, an denen man sich bei der Schaffung einer hochdeutschen Standardsprache orientieren sollte, wird neben der Einhaltung der Regel „Schreib, wie du sprichst! “ auch eine Orientierung an Luthers Schriften oder den Werken der „besten Schriftsteller“ empfohlen (vgl. Josten 1976). In diesem Zusammenhang ist auch die im späten 18. Jahrhundert aufkommende Auffassung zu sehen, dass die norddeutsche Aussprache des Schriftdeutschen Vorbildcharakter habe (mit Hannover als imaginiertem Zentrum des „besten“ Hochdeutsch, vgl. Elmentaler 2012). Untermauert wird diese These mit dem Argument, dass das Hochdeutsche (im dialektologischen Sinne, also das Mittel- und Oberdeutsche) in Norddeutschland nicht heimisch sei, sondern erst im 16. Jahrhundert als eine Art Fremdsprache gelernt werden musste. Dabei hätten die nordeutschen <?page no="160"?> 160 7. Schrift und Mündlichkeit Hochdeutschlerner beim lauten Lesen hochdeutscher Texte nicht einfach die Lautung ihres eigenen Dialekts beibehalten können, wie es bairische oder obersächsische Sprecher hätten tun können. Die große sprachstrukturelle Distanz zwischen dem Hoch- und Niederdeutschen sei im Norden nicht zu überwinden gewesen, so dass man zu dem Mittel des Sprechens nach der Schrift greifen musste. Man findet diese Argumentation noch in jüngerer Zeit in sprachhistorischen Darstellungen (vgl. z. B. Krischke 2009, 123; Spiekermann 2008, 20 f.), sie erscheint allerdings nicht ganz schlüssig. Denn es ist durchaus fraglich, ob die niederdeutschen Dialekte tatsächlich eine so viel größere Distanz zum Schrift-Hochdeutschen aufweisen als z. B. ein bairischer oder alemannischer Dialekt. Eine Äußerung wie „I hob dir des jo glei gsogt“ ist von dem schriftdeutschen „Ich habe dir das ja gleich gesagt“ vergleichbar weit entfernt wie das niederdeutsche „Ik heff di dat jo glieks seggt“- - in beiden Fällen ist die Anwendung komplexer Graphie-Laut-Korrespondenzregeln notwendig, um vom Dialekt zum Hochdeutschen zu gelangen. Wie auch immer dies zu beurteilen ist, historisch ist festzustellen, dass sich die Vorstellung von der besonders schriftgetreuen Aussprache des Hochdeutschen in Norddeutschland ab dem späten 18. Jahrhundert fest im Kanon der Sprachstereotype etabliert. Katja Faulstich (2008, 175) zitiert eine Reihe von Grammatikern und Sprachtheoretikern, die in den 1780er und 1790er Jahren diese These einer schriftnahen Aussprache des Hochdeutschen durch die oberen sozialen Schichten Norddeutschlands vertreten, so u. a. Johann Gottfried Richter, Johann Friedrich Zöllner, Friedrich Gedike, Joachim Heinrich Campe sowie der anonyme Verfasser eines Artikels in der Zeitschrift „Deutsches Museum“ (1782), der für das in Norddeutschland gesprochene Hochdeutsch den Begriff „Niederhochdeutsch“ vorschlägt. Hans Moser (1987) deutet diese Auffassung als Teil einer bis ins 16. Jahrhundert zurückreichenden Entwicklung, bei der eine Optimierung des Verhältnisses von Schrift und gesprochener Sprache nicht durch eine akkuratere Wiedergabe der Laute durch Schriftzeichen erreicht werden sollte, sondern umgekehrt durch eine Ausrichtung des Gesprochenen am geschriebenen Wort („Sprich, wie du schreibst! “). Statt einer „Phonologisierung der Graphie“ hätten die Grammatiker zunehmend auf eine „Grammatikalisierung der Aussprache“ hingewirkt (ebd., 385). Moser meint Forderungen wie die von Valentin Ickelsamer (1537), man solle „die buchstaben-[…] in seine oren neme[n]“ und anhand der Schreibung der Wörter entscheiden, ob ein Konsonant „hart oder waich“ klinge (vgl. Moser 1987, 386). Darüber hinaus soll man sich nach Ickelsamer beim Sprechen an den morphologisch korrekten Schreibformen (den Vollformen) orientieren und nicht an sprechsprachlich veränderten Formen. So kritisiert er z. B., dass manche das Wort Haarband wie harwant oder harwer aussprächen. Dies sei abzulehnen, weil dadurch die Bedeutung ('Band für das Haar') verschleiert würde. Auf diese Weise werden Tendenzen konzeptioneller Schriftlichkeit wie die Bewahrung des etymologisch korrekten Wortkörpers auf die eingeforderte nicht-dialektale Mündlichkeit übertragen. Die Forderung eines buchstabengetreuen und die vollständigen Wortformen konservierenden Sprechens findet sich mehr oder weniger explizit auch in Schulordnungen des 16. und 17. Jahrhunderts formuliert, die eine „deutliche“ und „verständliche“ Aussprache fordern, bei der auch die Endsilben vollständig artikuliert werden. Die Entwicklung hin zu einer expliziteren, etymologisch und morphologisch ausgerichteten Schreibung, die darauf <?page no="161"?> 161 7.5. Schreibung und Lautung im diachronen Wandel ausgerichtet ist, die Integrität des Wortkörpers zu bewahren, wirkt sich so langfristig auch auf die Mündlichkeit aus. Sie führt letztlich im 19. Jahrhundert zur Schaffung überregionaler, aber auch etwas künstlicher Aussprachekonventionen, die aufgrund ihrer Distanz zu den gewachsenen Dialekten und Regiolekten noch heute eine nur eingeschränkte Akzeptanz besitzen-- Braune (1905, 12) spricht von einer „Sprache nach dem Papier“, die „einfach die Wortbilder der historisch gewordenen Orthographie in der gesprochenen Sprache nachzubilden“ sucht. 7.5. Schreibung und Lautung im diachronen Wandel Die Frage, ob es in Bezug auf das Verhältnis von Schriftsprache und Lautung zwischen dem 9. und 17. Jahrhundert einen Wandel gegeben habe, wurde in dem vorangehenden Kapitel bereits mit Blick auf den Bereich der metasprachlichen Beschreibungen des Deutschen thematisiert. Die Grammatiker des 16. und 17. Jahrhunderts fordern eine Schreib- und Sprechweise, die stärker auf die Bewahrung der vollständigen Wortgestalt ausgerichtet ist und sich an morphologischen und etymologischen Kriterien orientiert. Auf der objektsprachlichen Ebene, also in der Struktur der Schreibsysteme selbst, sind jedoch grundsätzlich beide Prinzipien gleichermaßen wirksam (Kap. 7.2 und 7.3), einerseits die Bezugnahme auf lautliche oder silbische Einheiten und Strukturen, andererseits eine Ausrichtung an tradierten Wortbildern, die sich ggf. auch von der sich wandelnden Sprechsprache entfernen können. Allerdings geht ein Teil der schreibsprachhistorischen Literatur davon aus, dass es im Laufe der Zeit eine Schwerpunktverschiebung von einer eher lautnahen zu einer distanzierteren und abstrakteren Schreibweise gegeben habe. Während die älteren Schreibsprachen als eher lautorientiert gelten, wird für die späteren Epochen, vor allem für das 16. und 17. Jahrhundert, eine stärkere Distanzierung von der Mündlichkeit behauptet, was mit der von den Grammatikern geforderten Entwicklung korrespondieren würde. Im Folgenden soll die Forschungsliteratur kritisch daraufhin geprüft werden, ob sich eine solche Tendenz tatsächlich bestätigen lässt. Hierbei soll der mögliche Wandel anhand dreier Leitfragen thematisiert werden: a) Gibt es eine Vergrößerung der Distanz von Schrift und Mündlichkeit durch Rückgang von Schreibungen, die regionale Lautphänomene reflektieren? b) Gibt es einen strukturell-graphematischen Wandel, der auf eine gröbere (abstraktere) schreibsprachliche Rasterung des Lautsystems hinausläuft? c) Wird durch Import allochthoner Graphien ein überregionaler Sprachausgleich geschaffen und damit ein größerer Abstand von den regionalen Sprachgegebenheiten hergestellt? a) Den Rückgang von dialektbezogenen Schreibungen dokumentiert z. B. Emil Skála (1995) für den böhmischen Schreibort Eger. Skála stellt fest, dass vor 1500 noch zahlreiche Dialektschreibungen in seinen Texten vorkommen. Dazu gehören z. B. Formen, die auf Velarisierungen (<o> statt <a> in protfisch 'Bratfisch'), Hebungen (<i> statt <e> in hirczog 'Herzog'), Rundungen (<o> statt <e> in zwolf 'zwölf ', mhd. zwelf), Diphthongierungen (deyner 'Diener') oder Vollvokale in Nebensilben (<i> oder <a> statt <e> brudir 'Bruder', cleinan 'kleinen') hindeuten. Neben solchen Schreibungen, die oft als dialektale „Direktanzeigen“ bezeichnet <?page no="162"?> 162 7. Schrift und Mündlichkeit werden, gibt es in diesen Texten auch Reflexe gesprochener Sprache auf suprasegmentaler Ebene, wie wortinterne (mhd. meit < maget 'Magd') und wortgrenzenüberschreitende Kontraktionen (mhd. meinstūz < meinst du ez), Artikel- und Pronominal-Enklisen (mnd. vter < vt der 'aus der', uik < wi ik 'wie ich'), Assimilationen (mnd. orkunne < orkunde 'Urkunde'), Dentaltilgungen (mnd. verlick < vederlick 'väterlich') und -einschübe (mnd. honder < honer 'Hühner') oder Hiattilgungen (nygge < nye 'neue'). Formen dieser Art sind aus vielen Regionen des deutschsprachigen Raumes belegt. Sie bleiben allerdings in den graphematischen Untersuchungen einzelner Kanzleien, die sich vorwiegend auf die Beschreibung der segmentalen Einheiten (Phone / Phoneme und Grapheme) und deren Systematik beziehen, oftmals unberücksichtigt. Exemplarische Zusamenstellungen findet man jedoch in den einschlägigen Artikeln aus dem zweiten Teilband des Handbuchs „Sprachgeschichte“ (Besch et al. 1998-2004; Kap. 6.2.2). Für das Mittelniederdeutsche bietet zudem die Studie von Karl Bischoff (1981) reichhaltiges Material. In späterer Zeit treten solche Belege im Allgemeinen seltener auf, und es setzen sich stattdessen neutralere Schreibungen durch, die entweder als Versuch zu deuten sind, dialektal gegebene, aber kommunikativ irrelevante Lautdifferenzen auf der schreibsprachlichen Ebene unbezeichnet zu lassen, oder sich auf eine gehobene Sprechvarietät beziehen, in der konzeptionell mündliche Formen bereits vermieden wurden. Dennoch gibt es immer wieder einzelne Schreiber, die sich in stärkerem Maße solcher Graphien bedienen, die die dialektale Mündlichkeit reflektieren. So führt Walter Tauber (1993) auch für das 16. und 17. Jahrhundert eine Reihe von Schreibungen an, die dialektale Synkopen (gnueg, bfunden, Beutl), Artikel-Enklisen (aufm land, awsm mund), Apokopen (Seel, Sonn), Epenthesen (ich sahe, er befahle), Sprossvokale (Millich 'Milch'), Konsonantenvorsatze (Nast 'ein Ast') oder Assimilationen (heiling 'heiligen') indizieren. Letztlich war es in vor- und frühmoderner Zeit immer der individuelle Schreiber (bzw. Drucker oder Setzer), der über den Grad der Distanz zwischen seinem Schreibsystem und der gesprochenen Bezugsvarietät entschied. b) Ein struktureller Wandel einer Schreibsprache im Sinne einer Vergrößerung der Distanz zur Mündlichkeit könnte darin bestehen, dass lautdifferenzierende Schreibsysteme, die die phonischen Differenzen der gesprochenen Bezugsvarietät in relativ feiner Granularität wiedergeben, durch lautabstrahierende Systeme ersetzt werden, die eine eher grobe Rasterung des Lautsystems bieten. Ein solcher Prozess müsste in einer Reduktion der Anzahl graphematischer Systemeinheiten zum Ausdruck kommen. Um hier zu aussagekräftigen Ergebnissen zu gelangen, ist es notwendig, graphematische Studien auszuwerten, die einem dezidiert systembezogenen Analyseansatz verpflichtet sind und mit vergleichbaren Untersuchungsverfahren arbeiten. Hier bietet es sich an, auf die Arbeiten aus dem Duisburger Graphematikprojekt zurückzugreifen, innerhalb dessen unterschiedliche regionale Schreibtraditionen nach einheitlichen Kriterien analysiert wurden (zum Projekt und seiner Methodik vgl. ausführlich Kap. 10), darunter verschiedene graphematische Systeme aus dem Rheinmaasland (Mihm 2001b, Elmentaler 2003), aus dem ripuarischen Raum (Mihm 2005) und aus dem alemannischen Straßburg (Mihm 2016). Darüber hinaus kann die Arbeit von Fausto Ravida (2012) zur moselfränkischen Schreibsprache der Luxemburger Rechnungsbücher vergleichend herangezogen werden, die mit dem gleichen Auswertungsverfahren arbeitet. <?page no="163"?> 163 7.5. Schreibung und Lautung im diachronen Wandel Abb. 28. Rheinmaasländische Schreibsysteme (1): Literarische Texte des 10. bis 13. Jahrhunderts. Anzahl der Graphemklassen im Vokalismus (nach Mihm 2001b, 573, 576, 599, 603) Wie das Diagramm in Abb. 28 zeigt, sind die frühen Schreibsysteme im Rheinmaasgebiet keineswegs durchweg durch eine stark lautdifferenzierende Tendenz gekennzeichnet. Zwar ist die Schreibsprache des sogenannten „Limburgischen Aiol“ (ca. 1220 / 40) im Bereich des Vokalismus stark ausdifferenziert, was vor allem damit zusammenhängt, dass die Vokale in offener und geschlossener Silbe graphematisch unterschieden werden (z. B. cleider vs. cleet). Auch die frühen „Niederfränkischen Psalmen“ (um 950) weisen mit 13 Graphemklassen eine vergleichsweise feine Differenzierung auf. Die drei anderen Systeme sind jedoch mit jeweils nur sieben Graphemklassen eher als lautabstrahierend einzustufen, obwohl sie nur wenige Jahrzehnte vor bzw. nach dem „Aiol“-Text entstanden sind. Die These einer generellen Lautnähe im Sinne einer differenzierten Rasterung des Gesprochenen mit graphematischen Mitteln lässt sich somit im Vergleich dieser frühen rheinmaasländischen Texte nicht bestätigen. Auch lässt sich innerhalb des Zeitraums zwischen 950 und 1270 keine lineare, kontinuierliche Entwicklung erkennen. Allerdings ist, da die hier verglichenen literarischen Texte nur grob lokalisierbar sind, nicht eindeutig zu entscheiden, ob die festgestellten Unterschiede auf die Existenz unterschiedlicher Schreibtraditionen in verschiedenen Teilregionen des Rheinmaaslandes hindeuten oder ob es sich um individuelle Schreiberpräferenzen handelt. Um das Vorhandensein schreiberspezifischer Stilpräferenzen zu prüfen, besteht jedoch für den Zeitraum ab etwa 1350 die Möglichkeit, den Schreibgebrauch mehrerer aufeinander folgender Stadtsekretäre derselben Kanzlei miteinander zu vergleichen. Ein solcher Vergleich wurde für die Stadtkanzlei im niederrheinischen Duisburg durchgeführt. In Abb. 29 ist die Anzahl der Vokalgraphemklassen in zehn individuellen Schreibsystemen Duisburger Stadtschreiber visualisiert. <?page no="164"?> 164 7. Schrift und Mündlichkeit Abb. 29. Rheinmaasländische Schreibsysteme (2): Duisburger Stadtschreiber des 14. bis 17. Jahrhunderts. Anzahl der Graphemklassen im Vokalismus (nach Elmentaler 2003, 215) Die Ergebnisse bestätigen den für die frühe Überlieferung gewonnenen Eindruck. Auch innerhalb der Duisburger Kanzlei gibt es erhebliche Unterschiede in der Granularität der Schreibsysteme, wobei eher lautdifferenzierende Systeme mit 11-12 vokalischen Graphemklassen und eher lautabstrahierende Systeme mit 7-9 Klassen ohne erkennbare diachrone Tendenz einander ablösen. Insbesondere ist auch hier keine Entwicklung hin zu abstrakteren Systemen festzustellen. Dies gilt in ähnlicher Weise auch für die südlich angrenzenden, mittelfränkischen Regionen, etwa für die moselfränkische Schreibsprache der Luxemburger Rechnungsbücher, deren Entwicklung Fausto Ravida (2012) anhand seiner Analysen zehn individueller Schreibsysteme rekonstruiert hat (Abb. 30). Abb. 30. Moselfränkische Schreibsysteme: Luxemburger Schreiber des 14. bis 15. Jahrhunderts. Anzahl der Graphemklassen im Vokalismus (nach Ravida 2012, 361) <?page no="165"?> 165 7.5. Schreibung und Lautung im diachronen Wandel Der Befund bestätigt die für das Rheinmaasland gewonnenen Erkenntnisse. Auch in der moselfränkischen Kanzleisprache Luxemburgs gibt es in kurzen Zeitabständen erhebliche Schwankungen in der Anzahl der Graphemklassen, die deutlich zeigen, dass „mehrere Möglichkeiten der Strukturierung der lautlichen Ebene nebeneinander“ (Ravida 2012, 361) bestehen konnten. Auch hier ist kein kontinuierlicher Wandel hin zu lautabstrahierenden Systemen festzustellen. Und auch in den alemannischen Schreibsprachen zeigt sich nach Mihm (2016) eine vergleichbare Parallelität von Schreibstilen, wobei die Systeme zwischen acht und 18 Vokalgraphemklassen aufweisen können. In Straßburg sind z. B. aus demselben Jahr (1436) zwei individuelle Schreibsysteme belegt, von denen das eine 13, das andere dagegen nur acht Vokalgraphemklassen enthält (vgl. ebd., 290 f.). Vor dem Hintergrund der dargestellten Befunde ist wohl davon auszugehen, „dass es sich um unterschiedliche Orthographiestile handelt, mit denen die damaligen Schreibschulen und Schreibmeister den durch den lateinischen Leseschlüssel gestalteten Gestaltungsspielraum kreativ ausformten“ (Mihm 2016, 293). c) Eine Distanzierung einer Schreibsprache von der regionalen Mündlichkeit könnte schließlich auch darin zum Ausdruck kommen, dass Schreibgebräuche aus anderen Regionen übernommen werden. Solche Graphienentlehnungen sind z. B. im westmitteldeutschen Raum seit dem 15. Jahrhundert zunehmend zu beobachten. So konstatiert Rudolf Steffens (1988) in den Mainzer Urbaren eine Übernahme oberdeutsch geprägter Schreibungen schon ab dem 15. Jahrhundert. Zu den übernommenen, in der Mainzer Tradition vorher nicht gebräuchlichen Schreibvarianten gehören z. B. die Schreibung <e> statt dialektnahem <i> in Nebensilben (gelegen 'gelegen' statt gelegin), die neuen Diphthongschreibungen <ei>, <au>, <eu> statt dialektnahem <i, y> bzw. <u, v, ü> (wein 'Wein', auß 'aus' statt wyn, vß), die Lautverschiebungsgraphien <pf> statt <p> und <t> statt <d> (Pfadt 'Pfad', tag 'Tag' statt pad, dag) und die Graphie <sch> statt <s> vor <l, m, n, w> (Schlussel 'Schlüssel', schmyt 'Schmied' statt Slußel, smyt). Wie gezeigt wurde, ist in der Geschichte der Schreibsprachen im deutschsprachigen Raum keine lineare Entwicklung von lautnahen zu abstrahierenden, morphologisch orientierten Schreibsystemen nachweisbar. Vielmehr gibt es zahlreiche Schwankungen und Abweichungen, da die einzelnen Schreiber während des gesamten Zeitraums die Lizenz besaßen, sich an unterschiedlichen graphematischen Stilidealen auszurichten. Daneben kann aber auch ein Wandel im Status einer Sprache für die Präferenz unterschiedlicher Schreibstile eine Rolle spielen. Dies lässt sich am Beispiel des Niederdeutschen veranschaulichen, das in dem Zeitraum, in dem der Ausbau des Hochdeutschen zur normierten Standardsprache stattfand, als Schreibsprache weitgehend aufgegeben wurde und dadurch einen massiven Statuswandel erfuhr. Noch bis etwa 1550 verlief die schreibsprachliche Entwicklung des Mittelniederdeutschen ähnlich wie die des Frühneuhochdeutschen in Richtung auf einen einheitlicheren Schreibusus („Hansesprache“) mit regionalen oder überregionalen Ausgleichstendenzen (vgl. Peters 2000, 110). Dieser Normierungsprozess hätte in Norddeutschland langfristig zur Herausbildung einer Einheitssprache führen können, wie sie sich im Westen mit dem Standardniederländischen und im Süden mit dem Standarddeutschen entwickelt hat. Die Hinwendung der norddeutschen Kanzleischreiber und Drucker zur frühneuhoch- <?page no="166"?> 166 7. Schrift und Mündlichkeit deutschen Sprache bereitete dieser Entwicklung jedoch ein schnelles Ende. Bereits ab dem 15. Jahrhundert werden in die mittelniederdeutschen Schreibsprachen einzelne Merkmale aus südlichen Schreibsprachen aufgenommen, wobei es sich in Westfalen und am Niederrhein zunächst um Graphien aus dem westmitteldeutschen (ripuarischen) Raum handelt, später dann um oberdeutsche und ostmitteldeutsche Schreibungen. Eingehende Analysen zu diesen schreibsprachlichen Entlehnungsprozessen bieten z. B. für Westfalen die Fallstudie von Fischer (1998) zu Soest und der Überblick von Peters (2003a) mit Beobachtungen zu Münster, Osnabrück und Braunschweig, sowie für den Niederrhein und das Rheinmaasland die Arbeit von Stichlmair (2008) und der Artikel von Elmentaler/ Mihm (2006). Im Verlauf des 16. und 17. Jahrhunderts wird das Niederdeutsche dann in den meisten norddeutschen Kanzleien vollständig zugunsten einer frühneuhochdeutschen Schreibsprache aufgegeben. Die Sprache Niederdeutsch verändert hierdurch ihren Status. Die bereits in mancherlei Hinsicht vereinheitlichte und normierte, für alle Domänen und Inhalte funktionstüchtige mittelniederdeutsche Schriftsprache wird aufgegeben. Im Medium der Schrift wird Niederdeutsch künftig nur noch noch in wenigen Nischenbereichen verwendet, vor allem in belletristischen Texten mit unterhaltender Funktion und eher geringem literarischen Anspruch (Bauernkomödien, Zwischenspiele in Barockdramen, Gelegenheitsgedichte). Graphematisch geht damit eine Abkehr von den bereits entwickelten mittelniederdeutschen Schreibstandards und eine neue Öffnung gegenüber den Merkmalen der gesprochenen Dialekte einher, wobei sich das Bemühen um eine „realistische“ Wiedergabe charakteristischer Dialektformen mit Tendenzen einer übertreibenden Inszenierung einer besonders derben Bauernsprache mischt (vgl. Lasch 1979a und 1979b; Schröder 2015; Elmentaler et al. 2018). Die Schreibsprachen dieser frühneuniederdeutschen Texte weisen daher eine deutlich geringere Distanz zur dialektalen Mündlichkeit auf als die der klassisch-mittelniederdeutschen Periode. In ihrem graphematischen Profil ähneln sie, wenn auch unter anderen Vorzeichen, wieder eher den Schreibsprachen der frühmittelniederdeutschen Entwicklungsphase. Besonderheiten der gesprochenen Dialekte, die in der mittelniederdeutschen Schriftlichkeit der Verwaltungen und Gerichte bis 1600 nur sehr selten repräsentiert waren, treten in den Texten des 17. und 18. Jahrhunderts wieder vermehrt in Erscheinung. Nach Jellinghaus (1877, 22) wird z. B. die für das Westfälische sehr charakteristische „Brechung“ der Kurzvokale in offener Silbe (wie in biäke 'Bach', üäwer 'über' statt normalmnd. beke, över) erst zu dem Zeitpunkt graphematisch sichtbar, als das Mittelniederdeutsche in offiziellen Kontexten nicht mehr im Gebrauch war. Ähnliches gilt für sprechsprachliche Kontraktions-, Assimilations-, Synkope- oder Apokopeformen, die in der neu entstehenden niederdeutschen Literaturtradition zur Charakterisierung bäuerlicher Figuren intensiv eingesetzt werden. <?page no="167"?> 167 7.5. Schreibung und Lautung im diachronen Wandel Et was noch fröh am Dag, dat Dohr erst upgeschlaten Als ick naar Stadt tho wuld, üm mie ock sehn tho laten Up dissen Hochtydtschmues, da qvam een Buer tho mie Hört, sed he, stat doch still, de Saack is altho niey D’eck ju vertellen skal, vergevt mick äverst Heere Dat ick so groff, so plump, un ju darmeck beschwere Ick kant vergeten nich, dgeit mich herüm im Kopp Als Platy Rivens Beer, dat starck van Post und Hopp. Alssk gistern Avend wuld mie ens recht lustig maken Un na een Keller fragd, dar Wien un anjer Saken Vör Geld man krigen kan, wurd mick de Jordan nömt. Keerl, sed ick, bist du dull, efft het dickt nu gedrömt Eft meenstu, dat nu wilt mick hier eens recht bedregen Un binnen up de Mau een Puss dat doch nu Lögen? Dat dick dat Goed bestah, ick bin glick nich so dumm, Ofk wol een Buerman bin un van de Arbeit krumm: Ick hebb wol ehr darvan den Karckheern hören schnacken […] Wo kant den möglick syn, dat hier de Jordan sye. Iss die dat gliecke veel, sed he, du dumm Hund, wedder Een Water un een Hues, dar kan man sitten nedder Un daven dar wat weg.-[…] Es war noch früh am Tag, das Tor war gerade erst aufgeschlossen, als ich in die Stadt wollte, um mich auch sehen zu lassen auf diesem Hochzeitsschmaus. Da kam ein Bauer zu mir, „Hört“, sagte er, „wartet doch mal [wörtl.: steht doch still], die Sache ist ganz [wörtl.: allzu] neu, die ich euch erzählen werde [wörtl.: soll]. Vergebt mir aber, Herr, Dass ich so grob, so plump bin und euch damit beschwere. Ich kann es nicht vergessen, es geht mir im Kopf herum wie das Bier von Platy Rivens, das stark ist von Porsch (Porst) und Hopfen. Als ich es mir gestern Abend einmal recht lustig machen wollte und nach einem Keller fragte, wo man Wein und andere Sachen für Geld kriegen kann, wurde mir der Jordan genannt. ‚Kerl‘, sagte ich, ‚bist du verrückt, oder träumst du [wörtl.: hat es dich nun geträumt], oder meinst du, dass du mich hier einmal richtig betrügen willst und mir einen Scherz auf den Ärmel binden kannst, der doch nun mal aus Lügen besteht? Dass du dir das gut überlegst, ich bin auch nicht so dumm, obwohl ich ein Bauer bin und von der Arbeit krumm: Ich hab wohl früher schon davon den Pfarrer reden hören […] Wie kann es denn möglich sein, dass hier der Jordan sei? ‘ ‚Ist das für dich dasselbe‘ [wörtl.: Ist dir das gleichviel], sagte er, ‚du dummer Hund, ob ein Wasser oder ein Haus, wo man sich hinsetzen und sich dort einen hinter die Binde kippen kann? ‘-[…] Abb. 31. Auszug aus einem niederdeutschen Gedicht zur Hochzeit von Johann Friedrich Ackermann und Lucia Faust, Kiel 1666, anonymer Verfasser (nach Bülck / Witt 1927, 98; Übersetzung M. Elmentaler) <?page no="168"?> 168 7. Schrift und Mündlichkeit An dem Textbeispiel in Abb. 31, einem nordniederdeutschen Hochzeitsgedicht von 1666 aus Kiel, lassen sich diese Tendenzen veranschaulichen. Die intellektuelle Beschränktheit des Bauern, der in dem Gedicht als Figur auftritt, kommt nicht nur darin zum Ausdruck, dass er den Gasthausnamen „Jordan“ ernsthaft mit dem biblischen Fluss verwechselt, den er aus der Predigt des Pfarrers kennt, sondern auch in seinem Sprachgebrauch. So verwendet der Bauer einen alltäglichen Wortschatz (schnacken 'sprechen, reden', Keerl als Anrede), Beschimpfungen (bist du dull) und dialektale Redewendungen wie up der mouwe binden 'auf den Ärmel binden' (hier: 'Lügen aufbinden'). Vor allem aber wird der Figur in der wörtlichen Rede ein mit stereotypen Merkmalen für Dialektalität und konzeptionelle Mündlichkeit ausgestatteter Basisdialekt in den Mund gelegt, der graphematisch durchaus gekonnt inszeniert ist. Hierbei wird auf regionale Aussprachebesonderheiten wie [sk] statt [ʃ] (skal 'soll') oder intervokalisches [j] statt [d] (anjer 'anderen') und auf sprechsprachliche Phänomene wie Kontraktionen (d'eck 'die ich', kant 'kann es', dgeit 'es geht') und Assimilationen (binnen 'binden') verwiesen. Zusätzlich wird das Variantenrepertoire noch angereichert durch den Gebrauch der ostfälischen Pronominalformen mick / meck 'mich' und dick 'dich' (statt der in Kiel erwartbaren nordniederdeutschen Formen mi / di), die damals wohl als besonders stark dialektal markiert galten. Dies steht im scharfem Gegensatz zu den eher konzeptionell schriftsprachlichen Vollformen (Et was 'es war' statt twas, Als ick statt alssk) und dem unmarkierten Pronomen mie in den einleitenden Versen des Erzählers. In der Rede des Bauern wird das Niederdeutsche mit graphematischen Mitteln als gesprochener Basisdialekt inszeniert, der eine maximale Distanz sowohl zu dem in dieser Zeit bereits in Norddeutschland verbreiteten geschriebenen Hochdeutsch als auch zu dem klassischen Mittelniederdeutsch des 15. Jahrhunderts aufweist. 7.6. Methoden zur Rekonstruktion gesprochener Sprache aus der Schriftlichkeit Historische Graphematik ist nicht ausschließlich darauf ausgerichtet, Einheiten und Strukturen der Mündlichkeit zu rekonstruieren. „Die Sprachgeschichte hat es allererst mit Schriftzeichen zu tun, nicht mit gesprochenen Lauten“ (Schmitt 1936, 24), und diese beiden Bereiche gilt es methodisch sorgfältig auseinanderzuhalten. Dennoch bildet die Rekonstruktion gesprochener Sprache aus historischen Textquellen schon seit Beginn der schreibsprachhistorischen Forschung eines ihrer zentralen Ziele, wobei vor allem drei Verfahren zur Anwendung gelangten: a) die Reimanalyse, b) die Analyse von Direktanzeigen und Hyperkorrektismen, c) die graphematische Strukturanalyse. a) Die Idee der Reimanalyse findet sich in den Grundzügen bereits in den 1820er Jahren bei Karl Lachmann formuliert, und im frühen 20. Jahrhundert wurde das Verfahren dann in mehreren größeren Untersuchungen für die schreibsprachliche Untersuchung mittel- und frühneuhochdeutscher Texte eingesetzt (z. B. Schirokauer 1923). Es ist bis heute immer wieder genutzt worden, um Aufschluss über die lautlichen Strukturen der Bezugsvarietäten historischer Texte zu gewinnen. Für das Frühneuhochdeutsche ist z. B. die Arbeit von Peter <?page no="169"?> 169 7.6. Methoden zur Rekonstruktion gesprochener Sprache aus der Schriftlichkeit Wiesinger (1996) über die oberdeutsche Schreibsprache des steirischen Zisterziensermönches Andreas Kurzmann (um 1400) zu nennen, für das Mittelniederdeutsche die Untersuchung von R. Steinar Nybøle (1997) über den Lübecker Druck des „Reynke de Vos“ von 1498. Methodische Überlegungen zu den Möglichkeiten der Rekonstruktion historischer Lautbzw. Phonemsysteme durch Reimanalyse bieten z. B. Marwedel (1973, Bd. 1, 65-77) und Wiesinger (1991). Die Reimanalyse bezieht sich in der Regel nicht auf die sogenannten Stabreime (Alliterationen) der älteren, germanischen Literaturtradition, bei denen der Anfangslaut der Stammsilbe mehrerer benachbarter Wörter übereinstimmt, wie etwa im „Hildebrandslied“: Hiltibrant enti Hadubrant untar heriun tuem-[…] garutun sê iro guđhamun, gurtun sih iro suert ana ('Hildebrand und Hadubrand, (allein) zwischen ihren beiden Heeren-[…] strafften ihre Panzerhemden und gürteten ihre Schwerter'; Text und Übersetzung nach Schlosser 2004, 68 f.). Gegenstand der Analysen sind vielmehr Texte mit Endreim, bei dem zwei Wörter in ihrer letzten betonten Silbe (sowie ggf. noch folgenden, unbetonten Silben) übereinstimmen, während der erste Konsonant divergiert. Gleichlautend ist hier also der betonte Vokal in Kombination mit dem bzw. den nachfolgenden Konsonanten und ggf. der nachfolgenden Nebensilbe. Wiesinger (1996, 48) bietet hierfür ein Beispiel aus Kurzmanns „Speculum humanae salvationis“ (‚Spiegel des menschlichen Heils‘, überliefert in einer Handschrift aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts): …-wer das puech ansiecht, der get in einem rechten liecht vnd auch sein leben chan gepraüchen, das er an nichte ẅ kan gestra ẅ chen noch vallen in de ẅ missetat, so er den spiegel vor im hat. …-wer das Buch ansieht, der geht in einem rechten Licht und auch sein Leben wird davon profitieren, dass er niemals straucheln oder sich zu einer Missetat hinreißen lassen wird, wenn er den „Spiegel“ vor sich hat. (Übersetzung M. Elmentaler) Die Reimwörter enthalten hier jeweils dieselbe Kombination aus Vokal + Konsonant (<ie>+<cht>) bzw. Vokal + Konsonant + -en (<aü>+<ch>+<en> bzw. <a ẅ >+<ch>+<en>). An dem letzten Beispiel wird bereits eine Herausforderung sichtbar, vor der die historische Reimanalyse steht: Gleichlautende Silben werden in dieser Zeit nicht unbedingt auch gleich geschrieben. Nur unter der Voraussetzung, dass die Graphien <aü> und <a ẅ > denselben Lautwert haben, kann gepraüchen: gestra ẅ chen als ein echter Reim betrachtet werden, und dasselbe gilt für Reimpaare wie synnen: gewinnen, zeÿten: leyten, waz: has, waz: lazz (vgl. ebd., 221 f.). Im vorliegenden Fall können die divergierenden Graphien (<y>: <i>, <eÿ>: <ey>, <z>: <s>, <z>: <zz>) wohl als graphematische Varianten betrachtet werden, die im Kontext jeweils denselben Bezugslaut repräsentieren. In anderen Fällen erscheint dies auf den ersten Blick aber weniger einleuchtend. So scheinen in den Beispielen tuet: müet und totten: nötten umlautlose und umgelautete Vokale miteinander zu reimen. Schon die Übersetzung (tut: Mut, töten: nöten 'nötigen') deutet aber darauf hin, dass der Fall hier anders liegt. Die lautetymologische Analyse bestätigt, dass tut und Mut beide denselben Vokal beinhalten (entsprechend mhd. uo) und ebenso auch die Wörter töten und nöten (entsprechend mhd. ō aus wgerm. <?page no="170"?> 170 7. Schrift und Mündlichkeit au vor Umlautfaktor). Marwedel (1973, Bd. 1, 65) spricht in solchen Fällen, wenn die Vokale zweier Reimwörter auf denselben historischen Bezugslaut zurückgehen, von „neutralen Reimen“, Wiesinger (1991, 64) und andere von „etymologisch reinen Reimen“. Die Graphien sind in dem vorliegenden Schreibsystem also irreführend, denn das Trema kann hier offenbar sowohl in Umlautposition als auch bei nicht-umgelauteten Vokalen erscheinen, so dass <ue>: <üe> bzw. <o>: <ö> in diesen Fällen jeweils als graphematische Varianten betrachtet werden können. Um Reimwörter in historischen Texten erkennen zu können, muss also der Gebrauch der Graphien in Bezug auf die historischen Bezugslaute genau beobachtet werden. Darüber hinaus ist für die Interpretation aber auch eine gute Kenntnis der modernen Dialekte hilfreich, etwa wenn Wörter miteinander in Reimposition stehen, die etymologisch unterschiedliche Vokale enthalten (von Marwedel 1973, Bd. 1, 65 als „Mischreime“, von Wiesinger 1991, 65 als „etymologisch unreine Reime“ bezeichnet). In dem Kurzmann-Text reimt z. B. getan auf an oder jaren auf varen, was einer Erklärung bedarf, da der Vokal in getan und jaren auf den historischen Langvokal ā zurückgeht, während in an und varen historische Kürze vorliegt. Bei der Deutung eines solchen Befundes sind grundsätzlich zwei Möglichkeiten in Betracht zu ziehen. Einerseits könnte es sich um „Augenreime“ handeln, also um solche Reime, die nur auf der Schriftebene existieren, während in der Mündlichkeit ein Ausspracheunterschied vorhanden ist (wie heute z. B. in Versager: Manager, Kaiser: Baiser, Tag: Gag). Zum anderen kann es aber auch sein, dass sich in der betreffenden Region ein Lautwandel vollzogen hat, der zu einem Zusammenfall der ehemals unterschiedenen Vokale geführt hat. Dies scheint im vorliegenden Fall zuzutreffen, denn in den bairischen Dialekten der Region wurden die ehemaligen Kurzvokale in den betreffenden Kontexten gedehnt ( [ɔ̃ ː] 'an', [vɔː(ɒ)n] 'fahren') und sind daher mit den alten Längen zusammengefallen ( [dɔ̃ ː] 'getan', [ˈjɔːɒn] 'Jahren'). Geht man wie Wiesinger (1996) davon aus, dass sich dieser Ausgleich zwischen den alten Kürzen und Längen im 15. Jahrhundert bereits vollzogen hatte, sind die genannten Reimpaare zwar als etymologisch unreine, aber lautlich reine Reime einzustufen. Schwer zu deuten bleiben letztlich solche Reimpaare, die weder etymologisch noch nach den angenommenen Dialektverhältnissen als reine Reime einzustufen sind. Hierzu gehören „assonantische Reime“, bei denen kein vollständiger Gleichklang zwischen den Reimsilben besteht, sondern lediglich eine Lautähnlichkeit. Insbesondere in der älteren Überlieferung scheint die Reimtoleranz noch deutlich höher gewesen zu sein, so dass auch Silben reimen, wenn sie mutmaßlich unterschiedliche (wenn auch lautähnliche) Konsonanten oder Vokale enthalten. So reimt etwa im „Ludwigslied“ aus dem 9. Jahrhundert Urankon 'Franken' auf lango 'lange', urlub 'Abschied' auf uf 'auf ', thanc 'Dank' auf sigikamf 'Siegeskampf ' usw. In solchen Fällen wird oftmals unsicher bleiben, ob hier tatsächlich nur Assonanzen (und damit aus moderner Perspektive „unreine Reime“) vorliegen oder ob sich hinter den kontrastierenden Schreibungen historische Lautidentitäten verbergen. Das Verfahren der Reimanalyse ist somit trotz der unbestreitbaren Vorzüge auch mit Ungewissheiten verbunden. Dazu gehört auch der gerade bei literarischen Texten oftmals starke Einfluss von Textvorlagen und der „Zwang der Reimnot“, der dazu führen kann, dass auch gewandte Dichter manchmal ungenaue Reime verwenden (Marwedel 1973, Bd. 1, 67). Ein erheblicher Nachteil dieser Methode liegt schließlich auch darin, dass man sie eben nur bei Texten in gebundener Sprache (z. B. Gedichten, <?page no="171"?> 171 7.6. Methoden zur Rekonstruktion gesprochener Sprache aus der Schriftlichkeit Reimepen, -chroniken oder -bibeln) anwenden kann. Der Großteil der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Texte ist jedoch in Prosa verfasst, so dass die Reimanalyse in der historischen Schreibsprachforschung nur begrenzt einsetzbar ist. b) Das Verfahren der Analyse von Direktanzeigen und Hyperkorrektionen basiert auf der Annahme, dass sich die historischen Schreibsprachen aufgrund ihrer Abkopplung von der Mündlichkeit kaum lauthistorisch interpretieren ließen, da „die Schrift wie ein verhüllender Schleier wirkt, der die Realitätskonturen vielfach undeutlich werden läßt“ (Besch 1983, 966). Geht man von dieser Annahme aus, dann sind nur dort punktuelle Einblicke in die dialektale Mündlichkeit möglich, wo ein Schreiber nicht der Schreibtradition folgte oder folgen konnte. Aus der Logik dieses Ansatzes heraus ergibt sich somit von vornherein eine Einschränkung auf bestimmte Textsorten (z. B. Urbare, private Schriftlichkeit, flüchtig verfasste Protokolle usw.) oder Schreibertypen (wenig gebildete Schreiber), so dass ein Großteil der überlieferten Quellen für eine lautreferenzielle Analyse nicht in Frage käme, da man hier, um in der Metapher zu bleiben, lediglich die Struktur des undurchdringlichen Schleiers der Schrift beschriebe. Unter den von Werner Besch benannten „Dialektannäherungen“ werden Direktanzeigen als unmittelbare und Hyperkorrektionen als mittelbare Reflexe dialektaler Aussprachen verstanden (vgl. Besch 1965, Bischoff 1981, Denkler 2006, 207-211). Direktanzeigen indizieren auffällige dialektale Besonderheiten und sprechsprachliche Phänomene wie Kontraktionen, Enklisen, Assimilationen, Synkopen, Apokopen usw. Dies kann insbesondere dann zu plausiblen Rückschlüssen auf das Gesprochene führen, wenn sich die angenommenen Phänomene auch für die ab dem frühen 20. Jahrhundert dokumentierten Dialekte der Region nachweisen lassen. Das Verfahren weist jedoch auch einige grundsätzliche Probleme auf. Zum einen erscheint die Vorstellung der Schriftlichkeit als einem Schleier, der das wirklich Gesprochene verhülle, nicht sehr wahrscheinlich. Denn es ist anzunehmen, dass der Bezug zum lateinischen Referenzsystem und seinen Buchstabe-Laut-Relationen bis zum 17. Jahrhundert stabil vorhanden war. Vor diesem Hintergrund ist ein Ansatz, der davon ausgeht, dass die geschriebenen Zeichen nur in Ausnahmefällen das Gesprochene reflektierten, während im Regelfall eine von der Mündlichkeit vollkommen abgekoppelte Schreibsprache verwendet werde, wenig überzeugend. Dass in historischen Texten bestimmte Formen, die man für den gesprochenen Dialekt des betreffenden Zeitraums ansetzen würde, nicht graphematisch repräsentiert sind, könnte vielmehr darauf zurückzuführen sein, dass sich die Schreibsprache auf eine andere, gehobenere Sprechlage bezieht, für die der Gebrauch bestimmter basisdialektaler Formen nicht adäquat war (Kap. 6.2.4). Die methodische Hauptschwierigkeit des Ansatzes zur Analyse von „Direktanzeigen“ und „Hyperkorrektionen“ besteht darin, dass er keine Möglichkeit bietet, systemische Strukturen zu rekonstruieren, da nur vereinzelt auftretende, isolierte Formen berücksichtigt werden. Damit sind auch die Möglichkeiten eingeschränkt, solche Formen überhaupt lautlich zu interpretieren. Denn trotz ihres suggestiven Namens sind die „Direktanzeigen“ keineswegs eindeutige und klar definierte Repräsentanten gesprochener Laute, wie es etwa für die Zeichen des Internationalen Phonetischen Alphabets gilt. Vielmehr handelt es sich um graphematische Einheiten, die in Hinblick auf ihre lautreferenzielle Funktion erst interpretiert werden müssen. Aus einer strukturalistischen Perspektive ist aber die funktionale Interpretation <?page no="172"?> 172 7. Schrift und Mündlichkeit isolierter Einheiten grundsätzlich nicht möglich, da sich deren Wert nur aus der Differenz zu den anderen Einheiten des Systems ergibt. So ist die Bedeutung der Schreibung <ei> in einem Wort nur zu entschlüsseln, wenn auch bekannt ist, wie der Schreiber andere e-Graphien wie <e>, <ee>, <ey> verwendet. Für ein Schreibsystem, in dem die Digraphie <ei> ausschließlich als Variante von <ey> auftritt und in einem durchgängigen graphematischen Kontrast zu <e, ee> steht (z. B. seil / seyl 'Seil' vs. sele / seele 'Seele'), lässt sich argumentieren, dass <ei> einen Diphthong repräsentiert. Dagegen wird man in einem System, in dem <ei> regelmäßig mit <ee> und <e> variiert (sele / seele / seile 'Seele'), vielleicht eher auf eine monophthongische Lautqualität schließen, und wenn <ei> im Kontrast zu <ey> steht, kann wiederum vielleicht ein Gegensatz unterschiedlicher Arten von diphthongartigen Lauten angenommen werden. Solche Schlüsse sind nur möglich, wenn statt einzelner Graphien oder Wortschreibungen das ganze System der graphematischen Repräsentationen in dem betreffenden Bereich (hier im Vokalismus) in den Blick genommen wird. c) Ein drittes Verfahren, das für die Rekonstruktion historischer Lautgegebenheiten eingesetzt werden kann, ist die graphematische Systemanalyse, die in ihrer modernen Ausprägung seit den 1960er Jahren entwickelt wurde. Anders als die Reimanalyse ist dieses Verfahren nicht auf Texte in gebundener Sprache beschränkt, sondern lässt sich auch auf Prosatexte anwenden, sofern diese einen gewissen Mindestumfang besitzen, so dass ein Großteil der schreibsprachlichen Überlieferung in den Blick genommen werden kann. Und im Gegensatz zur Analyse der Direktanzeigen und Hyperkorrektismen werden in der graphematischen Systemanalyse systemische Strukturen rekonstruiert, was den Vorteil hat, dass eine besser abgesicherte Interpretation historischer Lautungen und Lautdistinktionen möglich ist. So lassen sich nicht nur lautliche Differenzierungen, die in den rezenten Dialekten vorhanden sind, bereits für ältere Sprachstufen nachweisen, sondern ggf. auch Differenzierungen erschließen, die es heute nicht mehr gibt. Über die graphematische Systemanalyse lässt sich auch genauer feststellen, welche Bereiche des Lautsystems schreibsprachlich differenziert wiedergegeben werden und in welchen Fällen historisch vorhandene Lautoppositionen graphematisch nivelliert werden. Da in Kap. 10 ausführlich auf die Methodik dieses Ansatzes eingegangen wird, kann hier auf weitere Ausführungen verzichtet werden. 7.7. Vorschläge zur Orthographiereform seit dem 17. Jahrhundert Die Diskrepanz zwischen alphabetischen Schriftsystemen und der gesprochenen Sprache wurde schon seit Beginn der volkssprachlichen Überlieferung als Problem wahrgenommen. Aus den Beiträgen zu dieser Debatte lässt sich häufig ein Streben nach einem Schreibsystem erkennen, das die Lautung unmittelbar und möglichst ungefiltert abbildet. Alternative Konventionen des Schreibens wurden immer wieder, teils in reformerischer Absicht, teils in eher spielerischer Weise von Sprachforschern und Literaten erprobt. Bereits im 17. Jahrhundert, als sich verschiedene Sprachgesellschaften um die Bewahrung, Pflege und den Ausbau des Deutschen bemühten, war auch die Diskussion über eine Optimierung der Rechtschreibung in vollem Gange. Eine wichtige Position nahm hierbei der Schriftsteller Philipp von Zesen (1619-1689) ein, dessen Text „Adriatische Rosemund“ (1645) als erster bedeutender Roman <?page no="173"?> 173 7.7. Vorschläge zur Orthographiereform seit dem 17. Jahrhundert der Barockzeit gilt. Zesen verfolgte mit seinen Publikationen nicht nur literarische Ambitionen, sondern leistete zugleich auch einen praktischen Beitrag zur Orthographiedebatte, indem er seine Texte in einer von ihm entworfenen, mit den damaligen Konventionen kaum in Einklang stehenden Schreibung drucken ließ (vgl. ausführlich Schielein 2002). Die Besonderheiten seiner eigenwilligen Orthographie stechen schon in den Anfangszeilen des ersten Buchs seines Romans ins Auge (die Zeilenumbrüche und Worttrennungen des Drucks wurden hier nicht übernommen): „Der Adriatiſchen ROSEMVND Ehrſtes Buhch. HA t man ihmahls di Sonne betrůhbt / und den Nord-ohſt ahtem-lohs geſa ͤ hen / ſo iſt es gewu ͤ slich damahls gewa ͤ ſen / als ſich Markhold von ſeiner Roſem und ſcheiden und zu ſchiffe nahch Frank-reich bega ͤ ben ſolte: Dan di Sonne / welche nuhn ehrſt aus ihrem morgen-zimmer ha ͤ rfu ͤ hr brahch / wan ſi ja diſes traute Zwei noch mit einem blikke beſa ͤ hligen wolte; ſo ta ͤ ht ſi es nuhr dahru ͤ m / daß ſi di tra ͤ hnen diſer Ma ͤ nſch-go ͤ ttin an ſich zühen / und ihr guldnes geſicht aus mit-leiden entfa ͤ rben mo ͤ chte. Der Nord-ohſt wolte zugleich Jhm und Jhr gehorchen: Jhm zu gefallen ha ͤ tt’ er ga ͤ rne ſta ͤ rker gewehet / und Jhr zu libe lihß er ſich a ͤ ndlich durch ihre kla ͤ hgliche ſeufzer / fohr denen er ſein ſauſen verſchweigen muſte / zu ru ͤ kke halten. Markhold aber begahb ſich nichts da ͤ s-zu weniger / nahchdehm er ſeine unvergleichliche Roſemund mit einem kuſſe geſa ͤ gnet hatte / zu ſchiffe / da ͤ ſſen ſa ͤ gel ungefůllet u ͤ m den Maſt ha ͤ rům flatterten; ſo / daß diſe unentfu ͤ ndliche dinge vihl entfu ͤ ndlicher wahrden / und mehr mit-leidens mit den tra ͤ hnen ſeiner Tra ͤ uen hatten / als er ſelbſten.“ (Zesen 1645, 1, vgl. http: / / www.deutschestextarchiv.de/ book/ show/ zesen_rosemund_1645) Neben der zeittypisch häufigen Verwendung des Bindestrichs in Komposita (Nord-ohst, ahtem-lohs, Frank-reich) ist zu erkennen, dass Zesen dem historisch gewachsenen Nebeneinander verschiedener Formen für vokalische Länge mit einer einheitlichen Lösung begegnen möchte. Statt der Variation von nachgestelltem <-h> (ihm, ihr) und <-e> (ließ, viel) sowie einfacher Vokalschreibung (Buch, betrübt) werden die Langvokale in geschlossener (d. h. auf Konsonant endender) Silbe durchgängig mit dem nachgestellten <-h> gekennzeichnet, also auch in Kontexten, in denen es im Deutschen damals wie heute unüblich ist (Ihm, Ihr, lihß, vihl, Buhch, betrůhbt usw.). Da die Vokallänge in geschlossener Silbe hiermit eindeutig gekennzeichnet ist, erübrigt sich in dieser Position eine Bezeichnung der Vokalkürze durch Verdopplung des Konsonantenzeichens im Auslaut, so dass von Zesen statt musste, sollte, wenn die Schreibungen muste, solte, wan ansetzt. In offenen (auf einem Vokal ausgehenden) Silben wird dagegen meist auf eine Längenkennzeichnung verzichtet (di, libe statt die, Liebe; Ausnahmen sind tra ͤ hnen und ahtem-), und die Vokalkürze wird durch Doppelkonsonantengraphien bezeichnet (Sonne, schiffe, blikke). Philipp von Zesen hat hiermit ein einfaches System mit einer klaren Verteilung entworfen, das allerdings in vielen Aspekten von dem uns und auch seinen Zeitgenossen vertrauten Schriftbild abweicht. Dies gilt auch für andere auffällige, aber ebenfalls systematisch begründete Schreibungen wie das häufige Zeichen <a ͤ > für den offenen e-Laut [ɛ] (Ma ͤ nsch, ga ͤ rne), der nun eindeutiger von dem geschlossenen [eː] unterschieden wird, das durch <e> oder <eh> bezeichnet wird (den, ehrst, mehr), wobei in einigen Fällen offene Vokalqualität angesetzt wird, wo wir im heutigen Standarddeutsch einen geschlossenen Vokal haben (gesa ͤ hen, gewa ͤ sen, bega ͤ ben). Ähnliche Besonderheiten finden wir <?page no="174"?> 174 7. Schrift und Mündlichkeit im Gebrauch der Graphie <u ͤ >, die zum Teil eine regionalsprachliche Vokalrundung anzeigt (gewu ͤ slich, zu ͤ hen, entfu ͤ ndlicher). Als „nicht-deutsch“ betrachtete Buchstaben wie c, q oder y sollten nach Zesens Vorstellung ganz abgeschafft werden, eine Forderung, die im zeitgenössischen Diskurs häufiger formuliert wird (vgl. Roth 2012, 121 f.) und in späteren Reformansätzen wiederkehrt. Die Abweichungen von den historisch gewachsenen Konventionen des Schreibens haben dazu geführt, dass Zesens Reformvorschläge vehement abgelehnt wurden, so dass sogar seine Aufnahme in die „Fruchtbringende Gesellschaft“ gefährdet schien (vgl. Hundt 2000, 111-113). So stellt Hans Moser in seinem Handbuch-Artikel über die barocken Sprachgesellschaften fest: „In der Verfolgung seiner sprachlichen Ideale verliert Zesen manchmal das Augenmaß: seine ‚närrische orthographi‘ (Schottel) wurde schon von den Zeitgenossen kritisiert und parodiert; sie belastete, obwohl er sich von ihrer extremen Ausformung als einer ‚Jugendsünde‘ distanzierte [beim Erscheinen der „Adriatischen Rosemund“ war Zesen 26 Jahre alt, M. E.] sein Verhältnis zur FG [Fruchtbringenden Gesellschaft, M. E.], deren Mitglied er ohnehin erst sehr spät (1648) geworden war. Im Versuch, die Orthographie ohne Rücksicht auf bestehende Gewohnheiten umzugestalten, überschätzt er die Möglichkeiten des Einzelnen gegenüber der sozialen Wirklichkeit der Sprache genauso wie in vielen seiner Eindeutschungsvorschläge. Für die Entwicklung der deutschen Orthographie blieb er deshalb abgesehen von unmittelbaren Schülern und Nachahmern (M. J. Bellin: Hochdeutsche Rechtschreibung, 1657) aufs ganze gesehen folgenlos.“ (Moser 1984, 128) In den 1770er Jahren gab es noch einmal einige (gescheiterte) Versuche von Grammatikern wie Abraham Gotthelf Mäzke, Jakob Hemmer, Friedrich Carl Fulda oder Johann Nast, die deutsche Rechtschreibung durch eine stärker phonetisch ausgerichtete Schreibung zu reformieren (vgl. detailliert Jellinek 1913, Bd. 1, 286-293). Der berühmteste Orthographiereformer dieser Zeit aber war der Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803). Seine radikal-phonetischen Vorschläge zur Reform der Rechtschreibung stießen auf weitgehende Ablehnung (vgl. Krischke 2009, 139 f.). Krischke macht zwei Motive geltend, die Klopstock bei seinen reformerischen Bemühungen geleitet haben könnten. Das erste Motiv sieht er in Klopstocks Selbstverständnis als Dichter begründet: „Für ihn, den rezitierenden Lyriker, war Sprache vor allem Klang, dem die Schrift zu dienen hatte“ (ebd., 140). Das zweite Motiv habe in der Absicht bestanden, durch Vereindeutigung der Rechtschreibung „das Ansehen der deutschen Sprache- […] im Ausland“ zu steigern. Krischke weist hierbei auch darauf hin, dass innerhalb der phonetisch orientierten Reformerszene der 1770er Jahre durchaus unterschiedliche Auffassungen darüber herrschten, welche Sprachausprägung als Referenzsystem angesetzt werden sollte. Während Klopstock hierfür die norddeutsche Aussprache des Hochdeutschen festschreiben wollte, schlug Jakob Hemmer ein flexibles Modell vor, das je nach Herkunftsregion des Schreibenden unterschiedliche Lautsysteme zugrundelegt. Dies läuft der Idee einer einheitlichen Schreibweise im gesamten deutschsprachigen Raum zuwider und stellt gewissermaßen den vormodernen Zustand wieder her, der auf dem Grundsatz der wechselseitigen Kompetenz in verschiedenen regionalen Schreibsprachen basierte. Durchsetzen konnten sich letztlich weder Hemmer noch Klopstock. Klopstock gab sein umstrittenes Reformprojekt schon bald auf, so dass nur wenige seiner Werke, etwa „Der Messias“ von 1780, <?page no="175"?> 175 7.7. Vorschläge zur Orthographiereform seit dem 17. Jahrhundert in Reformorthographie erschienen sind. Auch in seinen Briefen gebraucht Klopstock seine individuelle Orthographie nur siebeneinhalb Jahre lang (vgl. Klopstock 1982b, 679). Sein erster Brief in (nicht ganz konsequent durchgehaltener) Reformorthographie, adressiert an den Komponisten Johann Friedrich Reichardt, datiert vom 30. März 1779: „Hamb. den 30ten März-- 79 Es hat mįr fįl Freüde gemacht, l. R. was Si mįr fon dem Fürsten fon Dessau schreiben. Ich wärde Įm selbst darüber schreiben. Ich fürchte nųr, daß ich mįr das Fergnügen den Fürsten zu sęn, wärde fersagen müssen. Nąch Įren Komposizionen aus dem Mess. ferlangt mich ser. Freilich möcht ich si fon Inen zuęrst, u wider, u wider singen hören; aber da dis nųn nicht angęt, so machen Si mįr di Freüde, si mįr zu schikken.-- Sagen Si mįr, mein L. warum Si di Lider, di Si komponįrt herausgäben wollen, scherzhafte nennen? Umarmen Si Ire Frau auf das freündschaftlichste fon mįr. Der Irige Klopstock (Friedrich Gottlieb Klopstock, Brief an Johann Friedrich Reichardt vom 30. März 1779; aus Klopstock 1982a, 118 f.) Der letzte Brief in reformierter Rechtschreibung ist vom 18. Oktober 1786 überliefert (abgedruckt in Klopstock 1994, 88 f.). Interessanterweise ist weder für Philipp von Zesen noch für Klopstock die Abschaffung der Großschreibung am Satzanfang oder bei Substantiven, die ja ganz eindeutig keine lautliche Entsprechung besitzt, ein Thema für ihre Reformagenda. Einige Jahrzehnte nach Klopstock wird im Rahmen der neu aufflammenden Debatten um eine Vereinheitlichung und Vereinfachung der deutschen Orthographie von einigen Protagonisten erneut ein radikal-phonetischer Standpunkt vertreten. Der aus Braunschweig gebürtige und in Göttingen, Mönchengladbach und Wiesbaden als Lehrer tätige Friedrich Wilhelm Fricke (1810-1891), der seinen Nachnamen selbst Frikke schrieb, gründete 1876 den Verein für vereinfachte deutsche Rechtschreibung und dessen Zeitschrift „Reform“ (erschienen 1877-1879). Im Jahre 1876 verfasste er einen Vorschlag zu einer phonetisch ausgerichteten „Zukunftsunt Übergangsortographi“, deren Charakter anhand der folgenden Textprobe deutlich wird: „Es ist fon meren mitglidern des reformfereins di wōlbegrundete anſiht ausgesprohhen, das di unfermittelte anwendung der einfahhen, naturgemasen shreibung leiht zurukshrekken konne; daher ſei es rātlih zunahst eine ubergangsortographi einzufuren, welhe der zukunftsortographi den weg bane. Unter diſer forausſezzung wurde der zutrit zu dem fereine massenhaft erfolgen-…“ (Frikke 1876, 386) Frikke verzichtet, wie Zesen und Klopstock, auf die Kennzeichnung der Vokallänge in offener Tonsilbe (bane, mitglidern), während er in geschlossener Silbe einen Längenstrich verwendet (wōl, rātlih), dem bei Zesen ein Dehnungs-<h> (wohl, rahtlich), bei Klopstock ein untergesetztes Diakritikum (w ̨ ol, rątlich) entsprechen würde. Umlaute werden durch ein durchgestrichenes Vokalzeichen markiert (zurukshrekken, konne). Als Repräsentant des Lautes [ʃ] wird statt des <sch> die Digraphie <sh> gebraucht (shreibung, shrekken), die Frikke als Vorstufe zu dem in der „zukunftsortographi“ zu verwendenden Zeichen <š> versteht. Jedes gesprochene [f] soll in seinem System durch <f> wiedergegeben werden, also auch in Wörtern, <?page no="176"?> 176 7. Schrift und Mündlichkeit in denen traditionell <v> (fon, ferein) verwendet wird. Die damals noch gebräuchlichen Buchstaben s und ſ werden neu verteilt, in der Weise, dass s für den stimmlosen Laut [s] steht (ist, naturgemasen, massenhaft), das Zeichen ſ für den stimmhaften Laut [z] (anſiht, ſei, diſer). Wie Zesen lehnt auch Frikke einige eingeführte Buchstaben des deutschen Alphabets ab, die er als unnütze Varianten bereits vorhandener Zeichen betrachtet. So sollen die Buchstaben v, y und c nach seinem Vorschlag durch w, i und z bzw. k ersetzt werden (wokāl, sistem und konzert statt der damals noch üblichen Schreibweise Concert). Auch Frikkes Konzeption, die auf eine 1: 1-Relation zwischen Lauten und Buchstaben hinausläuft, ist allerdings nicht in allen Punkten konsequent, wie schon an den wenigen Zeilen des Textauszugs deutlich wird. So wird z. B. die Graphie <g> teils für gesprochenes [g] gebraucht (erfolgen), teils aber auch für auslautendes [k] (weg) sowie in der Zeichenkombination <ng> für [ŋ] (anwendung). Vor allem aber ignoriert Frikke, wie alle Vertreter radikal-phonetischer Ansätze vor und nach ihm, die Tatsache, dass die Mitglieder der deutschen Sprachgemeinschaft der historisch gewachsenen Orthographie einen hohen kulturellen Wert zuschreiben, was grundlegende Änderungen als Verletzung der sprachlichen Integrität erscheinen lässt. Zudem unterschätzen sie offenbar die praktischen Schwierigkeiten, die sich, vor allem im Druck, aus dem Gebrauch diakritischer Zeichen wie untergesetzten Häkchen (bei Klopstock) und übergesetzten Linien und Durchstreichungen (bei Frikke) ergeben. Ebenso chancenlos wie die Reformpläne der radikalen Phonetiker waren die orthographischen Vorschläge einer konkurrierenden Richtung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die sich in einer ganz anderen Weise an lautlichen Differenzierungen orientierten. Ein Beispiel hierfür ist der Vorschlag des Lehrers Philipp Wackernagel (1800-1877), der mit seiner 1848 in einem Gymnasialprogramm publizierten Schrift „Über deutsche Orthographie“ als der wichtigste Vertreter einer historisierenden Schreibweise gilt. Ausgehend von einem umfangreichen Abriss zur Geschichte der deutsche Orthographie gelangt Wackernagel zu der kritischen Einschätzung, dass sich die deutsche Orthographie bislang zu wenig an der Grammatik ausgerichtet habe; vielmehr habe man die Wörter bisher „gegen die grammatik“ geschrieben, so dass man eher von einer „heterographie, andersschreibung“ sprechen müsse (Wackernagel 1848, 32 f.). Die orthographische Hauptregel des Hochdeutschen sei aber, so zu schreiben, „wie seine grammatik es fordert“ (ebd., 33), womit Wackernagel vor allem eine adäquate Wiedergabe historischer Lautdifferenzen meint: Etymologisch unterschiedliche Laute sollten auch graphematisch differenziert werden. Auch hier seien exemplarisch die ersten Zeilen seines Textes zitiert: „E ʒ wird vilen gymnaſien nicht übel genommen, wenn ſie ire programme in ainer fremden ſprache ou ʒ geben; ich neme mir die freihait, meinen oufſat ʒ blo ʒ in ainer etwa ʒ fremden orthographie t ʒ u ſchreiben. Denn da orthographie der gegenſtand deſſelben iſt, ſo ſcheint e ʒ villeicht nicht unangeme ʒ en, wenn ainige ſtücke derſelben, die t ʒ ur ſprache kommen ſollen, ſich one weitere ʒ der unmitelbaren anſchauung darbieten.“ (Wackernagel 1848, 1) Wackernagels Entwurf orientiert sich an einem Frühneuhochdeutsch schwäbischer Prägung. Dies betrifft insbesondere die graphematischen Strukturen im Vokalismus, wo sorgfältig zwischen etymologisch unterschiedlichen Lauten differenziert wird. Während z. B. im ge- <?page no="177"?> 177 7.7. Vorschläge zur Orthographiereform seit dem 17. Jahrhundert schriebenen Standarddeutschen kein Unterschied zwischen den auf mhd. ei (ein, -heit) und mhd. î (frei, schreiben) zurückgehenden Diphthongen gemacht wird, die in der Normaussprache auch beide als [aɪ] realisiert werden, handelt es sich historisch um unterschiedliche Laute (Kap. 7.4). Wackernagel möchte dieser historischen Lautunterscheidung graphematisch durch eine Opposition der Graphien <ai> und <ei> gerecht werden (ainer, -hait vs. frei, schreiben). Analog dazu kennzeichnet er auch den Unterschied der velaren Diphthonge, die auf mhd. ou (<au> in anschauung) bzw. mhd. û (<ou> in ou ʒ 'aus', ouf 'auf ') zurückgehen. Im schwäbischen Raum mögen diese schreibsprachlichen Differenzierungen aufgrund der heute noch hörbaren Unterscheidung der betreffenden Laute im regionalen Dialekt, Regiolekt und Regionalstandard möglicherweise noch praktikabel sein (vgl. Spiekermann 2008, 65, 150 für Stuttgart, Tübingen und Ulm). In Regionen mit stärkerem Dialektabbau würde eine solche orthographische Regel jedoch eine profunde Kenntnis historischer Lautverhältnisse erfordern, die nur bei wenigen Nutzern vorausgesetzt werden kann. Wackernagel (1848, 1) bezeichnet seine Orthographie lediglich als „programmatischen“ Vorschlag. Dennoch hat er offenbar versucht, sie an der nächsten Schule, der er als Rektor vorstand, der Real- und der Gewerbeschule in Elberfeld (heute Stadtteil von Wuppertal), tatsächlich durchzusetzen. Dies rief allerdings Elternproteste hervor, wie eine Meldung in der „Allgemeinen Schulzeitung“ aus dem Jahr 1855 bezeugt: „Elberfeld, 7. Decbr. Der Stadtrath von Elberfeld hat sich in jüngster Zeit mit der deutschen Orthographie beschäftigt. Der Dir. der Realschule, Prof. Dr. Philipp Wackernagel, hatte nämlich seine vielfach vom jetzigen Gebrauch abweichende deutsche Schreibung in allen Classen streng durchzuführen begonnen. In Folge dieser Maßregel schrieb nun die Jugend in E. auf einmal ganz anders, als ihre Väter schrieben. Es liefen Beschwerden mancher Eltern ein, und da W. von seinen Neuerungen in Güte nicht abstehen wollte, befahl ihm der Stadtrath, es künftig bei der alten landesüblichen Schreibart zu lassen, wenigstens die Neuerungen nicht zwangsweise einzuführen.“ (Allgemeine Schulzeitung 32 [1855], Nr. 152, Sp. 1300, zit. n. Strunk 2016, 34) Wie die Beispiele zeigen- - und es hätten ohne Weiteres noch einige hinzugefügt werden können (vgl. Güthert 2011)--, konnten extreme Positionen der einen oder anderen Richtung in der mittlerweile mehr als vier Jahrhunderte andauernden Diskussion über die Ausrichtung der deutschen Orthographie keine Akzeptanz finden. Einige weitreichende Reformvorschläge, die auf der Ersten Orthographischen Konferenz von 1876 vorgetragen wurden, etwa der Verzicht auf Längenkennzeichnung bei den Vokalen a, o, u bzw. ä, ö, ü (Har, Folen, Stul, Mäne, Möre, füren), waren wegen des starken öffentlichen Widerstandes nicht durchsetzbar (vgl. Nerius 2007, 343 f.). Auf der Zweiten Orthographischen Konferenz in Berlin, bei der die deutsche Einheitsorthographie 1901 festgelegt wurde, setzten sich dann gemäßigte Ansätze durch, die auf eine behutsame Modernisierung der bestehenden Rechtschreibung hinausliefen. Abgeschafft wurde z. B. das <th> in indigenen Wörtern wie Thier oder Thür, das <ß> wurde in Nebensilben durch <s> ersetzt (Versäumniß > -nis), und einige Fremdwörter wurden an das deutsche Orthographiesystem angepasst (Accent > Akzent, Liqueur > Likör). Vieles blieb aber auch bis heute unangetastet, etwa der Gebrauch der aus dem griechischen Alphabet entlehnten Graphien <th>, <ph> und <rh> (Theater, Philosophie, Rheuma; vgl. auch Kap. 9.2, <?page no="178"?> 178 7. Schrift und Mündlichkeit Tab. 18). Der Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung sowie die Interpunktion blieben vollständig ausgeklammert. Im Laufe des 20. Jahrhunderts gab es dann immer wieder neue Ansätze zur Verbesserung der deutschen Rechtschreibung (u. a. in den Jahren 1921, 1931, 1944, 1946, 1954, 1958, 1973). Dabei ging es lange Zeit vor allem um die Durchsetzung einer gemäßigten Kleinschreibung, aber es wurden auch wieder alte Forderungen wie die Neuregelung der Längenkennzeichnung (Abschaffung des Dehnungs-<h>), die Ersetzung der Buchstaben x, y, ß, ä und z durch ks, i, s / ss, e, ts und der Graphien <ai>, <äu, eu>, <qu>, <ck>, <tz> durch <ei>, <oi>, <kw>, <kk>, <z>, teils auch die Einführung der neuen Symbole ʃ und ŋ (anstelle von sch, ng) und die konsequente graphematische Anpassung von Fremdwörtern vorgebracht (vgl. Nerius 2007, 375-394; Strunk 2016). Keiner dieser Vorschläge hat es in die Neuregelung der Rechtschreibung geschafft, die 1996 beschlossen und als verbindliche Norm eingeführt wurde (mit mehreren Überarbeitungen und Ergänzungen ab 2006). Es ist, gemessen an den Ideen früherer Debatten, eine „bescheidene Reform“ (Nerius 2007, 402) geworden. Ein radikales „Andersschreiben“ (Schuster/ Tophinke 2012) wird heute nur noch in spielerischer Weise von manchen Literaten erprobt, wie etwa in dem humoristischen Reiseroman „fom winde ferfeelt. welt-strolch macht links-shreibreform“ (1997) des brasilianisch-deutschen Schriftstellers Zé do Rock: „wir myssen alle raus aus dem haus, das fremdenzwekt wird. ich und Werner finden eine neue bleibe bei 2 fraun. wir bilden eine wongemeinshaft in eim reienhaus, zimlich modern, auf mereren ebenen. arbeiten tu ich als snapsfara. ich lifa wein und snaps in di kneipen und krig meist kein trinkgeld sondan trink direkt. eine etwas gefärliche arbeit, ma muss oft nein sagen um nich zu besoffen zu faren. dann far ich fyr den Otto-fersand, meist ybaland. da merk ich was echtes bairish bedeutet, nich das mynchna bairish, das stark mit hochdeutsh gemisht is. hir auf dem land sagt ma noch wirklich oa oa fyr ein ei. hir nennt ma den kleinen wald a hoiz. und ich lern was gleichshaltung bedeutet: ich far fon eim haus zum näxten, iedes haus hat radio an: Baian 3, so ferpass ich kaum was fom lid.“ (Zé do Rock 1997, 188) <?page no="179"?> 179 8. Graphematischer Wandel von den Anfängen bis in die Neuzeit Vormoderne Schriftlichkeit ist stets regional geprägt. Auf die konstitutive Rolle des arealen Faktors beim Funktionieren historischer Schreibsysteme wurde bereits in Kap. 6.2.1 hingewiesen, und auch die in Kap. 7 diskutierte Frage, inwieweit die graphematische Variation entsprechende Strukturen auf der Lautebene reflektiert, lässt sich nicht ohne Berücksichtigung der jeweiligen regionalen Gegebenheiten beantworten. Innerhalb der Historischen Graphematik gibt es Ansätze, die sich dezidiert der Frage widmen, worin sich die landschaftlichen Schreibsprachen unterscheiden und welche graphematischen Merkmale als besonders typisch für eine Region gelten können, etwa weil sie dort besonders konstant und frequent auftreten oder weil sie in metasprachlichen Beschreibungen besonders prominent herausgestellt werden. Hierzu gehören Versuche, die diatopische graphematische Variation in Form von historischen Schreibsprachatlanten zu kartieren und somit die geographische Reichweite von Graphien und Graphemen anschaulich zu beschreiben (Kap. 14.1). Variablenanalytische Ansätze wiederum versuchen das Wissen über diese arealen Verteilungsmuster zu nutzen, um bislang undatierte und nicht lokalisierte Handschriften genauer einordnen zu können (Kap. 14.2). In diesem Kapitel werden die wesentlichen graphematischen Kennmerkmale der regionalen Schreibsprachen im deutschsprachigen Raum beschrieben. Ausgangspunkt ist zunächst die regionale Variation in althochdeutscher bzw. altsächsischer Zeit (Kap. 8.1). Anschließend wird die Weiterentwicklung der regionalsprachlichen Schreibtraditionen im Mittel- und Frühneuhochdeutschen sowie im zeitlich etwa parallel anzusetzenden Mittelniederdeutschen skizziert (Kap. 8.2). Ab dem späten 15. Jahrhundert vollzieht sich ein bedeutender Umbruch, indem sich die regionalen Schreibsprachen in einem zunächst ungesteuert ablaufenden Prozess allmählich einander annähern, was in der Forschung als Schreibsprachausgleich bezeichnet wird (Kap. 8.3). Durch diese Entwicklung, die seit dem 16. Jahrhundert durch die Normierungsversuche von Grammatikern begleitet wird, entsteht im ostmitteldeutsch-ostoberdeutschen Raum eine Vorform dessen, was wir heute als überregionales Standarddeutsch bezeichnen. Die Standardisierungsprozesse werden im 18. und 19. Jahrhundert fortgesetzt und finden um 1900 mit der Festlegung der orthographischen Regeln ihren Abschluss (Kap. 8.4). 8.1. Älteste Schriftlichkeit: Regionale Schreibsprachen im 8. und 9. Jahrhundert Gegen Ende der germanischen Zeit ergaben sich aufgrund massenhafter Migrationsbewegungen (Völkerwanderung, ca. 375 / 376 bis 568) starke Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur des mitteleuropäischen Raums. In dieser Zeit werden erstmals die einzelnen Germanenstämme historisch fassbar. Dabei kann angenommen werden, dass auch die germanischen Stammessprachen bereits jeweils eigenständige Profile herausbildeten. Heute unterscheidet man für diese Zeit im Wesentlichen vier germanische Volksgruppen, denen wiederum jeweils einzelne Stämme und Sprachausprägungen zugeordnet werden können (vgl. im Folgenden Schmidt 2013, 49-55). <?page no="180"?> 180 8. Graphematischer Wandel von den Anfängen bis in die Neuzeit Klassifikation der germanischen Volksgruppen 1) Die Ostgermanen mit den Stämmen der Goten, der Burgunder und der Wandalen. Schriftliche Zeugnisse besitzen wir lediglich von den Goten (Ulfilas-Bibel). Diese ostgermanische Sprache ist später ausgestorben und kann nicht als direkter Vorläufer des Deutschen angesehen werden. 2) Die zweite Gruppe bilden die Nordgermanen, die heutigen Skandinavier, denen man die Vorläufer der meisten heutigen nordischen Sprachen zuordnen kann (Schwedisch, Dänisch, Norwegisch, Isländisch, Färöisch). 3) Zu den Nordseegermanen, auch „Ingwäonen“ genannt, zählen vor allem die Stämme der Angeln, Jüten, Friesen und Sachsen. Die Angeln und Teile der Jüten und Sachsen wanderten um 450 ins vormals keltische Britannien aus. Dort entwickelt sich das Altenglische als ingwäonisch geprägte Sprache, überliefert ab dem 8. Jahrhundert. Die Sprache der Friesen, das Altfriesische, tritt dagegen erst im 13. Jahrhundert in schriftlichen Quellen in Erscheinung. Im vorliegenden Kontext sind besonders die auf dem Kontinent verbliebenen Sachsen von Interesse, da ihre Sprache die Grundlage für das Niederdeutsche bildete. 4) In der Gruppe der Südgermanen werden zwei Stammesverbände unterschieden: die Weser-Rhein-Germanen und die Elbgermanen. a) Den Weser-Rhein-Germanen (auch: „Istwäonen“ oder „Istrionen“) werden u. a. die Stämme der Brukterer, Bataver und Tungerer zugerechnet, die man meist unter dem Begriff der Franken zusammenfasst. Die Franken besiedelten vor allem das Gebiet der heutigen Niederlande, Flanderns und Nordfrankreichs sowie im heutigen Deutschland den Niederrheinraum (Niederfränkisch) und den mittelrheinischen Raum mit den Zentren Mainz, Trier und Köln. b) Zu den Elbgermanen (auch: „Erminonen“, „Irminonen“ oder „Herminonen“) gehörten die Sueben, Alamannen, Hermunduren, Langobarden und Baiern. Diese Stämme wurden größtenteils von den Franken unterworfen und mussten z. T. auch ihre ursprünglichen Herkunftsgebiete verlassen. Für die deutsche Sprachgeschichte relevant sind hierbei vor allem die Stämme der Alamannen und der Baiern. Die Einteilung in Ingwäonen, Istwäonen und Erminonen geht auf eine Unterscheidung in dem ethnographischen Abriss „Germania“ des römischen Historikers Tacitus aus der Zeit um 100 n. Chr. zurück (vgl. Neumann 1989 und 2000). Den Nordseegermanen, Weser-Rhein-Germanen und Elbgermanen kommt im Zusammenhang mit der Entwicklung des Deutschen zentrale Bedeutung zu, da sich aus ihren Sprachvarietäten die deutschen Dialekte entwickelt haben. Dies kommt zum Teil noch in den heutigen Sprach- und Dialektbezeichnungen zum Ausdruck. So bedeutet der Name „England“ ursprünglich ‚Land der Angeln‘, und der Name der Sachsen ist in der Bezeichnung für das älteste Niederdeutsch („Altsächsisch“) enthalten. Die niederländischen und niederrheinischen Dialekte werden als „Niederfränkisch“ bezeichnet, im Gebiet zwischen Köln und Trier spricht man „mittelfränkische“ Mundarten, südlich davon (Mainz) „Rheinfränkisch“ <?page no="181"?> 181 8.1. Älteste Schriftlichkeit: Regionale Schreibsprachen im 8. und 9. Jahrhundert und „Südrheinfränkisch“ und im Gebiet um Würzburg und Bamberg „Ostfränkisch“. Die Alamannen gründeten im Südwesten des heutigen deutschen Sprachraums ein Königreich und siedelten sich teilweise in der heutigen Schweiz an, wo man bis heute „alemannische“ Dialekte spricht. Auch die Stammesnamen der Baiern und Sueben werden heute noch durch Dialektbezeichnungen reflektiert („Bairisch“, „Schwäbisch“). An den althochdeutschen Texten lassen sich die alten regionalen Unterschiede deutlich ablesen. Die überlieferten Handschriften in althochdeutscher Sprache stammen größtenteils aus Klöstern, die sich auf die sechs Regionen des Alemannischen und Bairischen sowie des Mittelfränkischen, Rheinfränkischen, Südrheinfränkischen und Ostfränkischen verteilen. Einige der prominentesten althochdeutschen Schreiborte sind auf der Karte in Abb. 32 eingetragen. Abb. 32. Die wichtigsten Schreiborte des Althochdeutschen (aus König 2011, 66; Originalkarte farbig) Die althochdeutschen Schreiblandschaften sind hier nur grob als Flächen in eine ansonsten weiß grundierte Karte eingezeichnet. Hierdurch wird die spärliche Überlieferungslage deutlich gemacht. Nur ein kleiner Teil dessen, was im 8. bis 9. Jahrhundert geschrieben wurde, ist bis heute erhalten geblieben, und so verfügen wir über eine mehr oder weniger zufällige Überlieferung aus einzelnen Klöstern, während viele andere Orte und Teilregionen nicht abgedeckt werden. Aus diesem Grund ist es auch nicht möglich, Dialektgrenzen zu ziehen, wie man sie aus modernen Sprachatlanten kennt, oder noch eine weitere Untergliederung innerhalb der dialektalen Großräume vorzunehmen. Wir können nur punktuelle Einblicke in den Schreibgebrauch einzelner Orte erhalten. Das hat manche Forscher dazu veranlasst, die Ansetzung von Sprachregionen für die althochdeutsche Zeit generell abzulehnen (so z. B. Wolf 2003). Dennoch ist Werner Königs Entscheidung, auf der Karte etwa die sechs Klöster <?page no="182"?> 182 8. Graphematischer Wandel von den Anfängen bis in die Neuzeit Regensburg, Freising, Passau, Tegernsee, Salzburg und Monsee unter dem Begriff „Bairisch“ zu subsumieren, nicht allein geographisch motiviert. Vielmehr lassen sich gemeinsame schreibsprachliche Merkmale ausmachen, die sich zumindest teilweise mit Lautbesonderheiten der heutigen bairischen Dialekte in Verbindung bringen lassen. Die Schreibsprachen des Südostens sind also „bairisch“ gefärbt und unterscheiden sich darin von den alemannisch geprägten Schreibsprachen des Südwestens oder den mittelfränkischen Texten aus dem Gebiet zwischen Köln und Trier. Dass man die Gesamtheit dieser regional und lokal differenzierten Schreibsprachen als „Althochdeutsch“ bezeichnet, hängt wiederum damit zusammen, dass sie alle (in unterschiedlichem Umfang) an der Zweiten Lautverschiebung teilgenommen haben (Kap. 4.2). Hierdurch weisen sie untereinander eine Reihe gemeinsamer Merkmale auf und grenzen sich andererseits von den altsächsischen Mundarten des Nordens ab, die auf der Karte nicht eingezeichnet sind. Kennmerkmale der regionalen Schreibdialekte des Althochdeutschen werden in verschiedenen Einführungen zur deutschen Sprachgeschichte und Handbüchern zum Althochdeutschen dargestellt. Hilfreiche Übersichten bieten z. B. die Sprachgeschichte von Rudolf E. Keller (1995, 139-143), das Studienbuch zur althochdeutschen Sprache und Literatur von Stefan Sonderegger (2003, 78-82) sowie die „Althochdeutsche Grammatik“ (Braune 2004, §§ 2-6). Tab. 10 gibt einen exemplarischen Einblick in die differierenden Schreibweisen einiger Referenzlaute (illustriert am Beispiel ausgewählter Lexeme) in drei althochdeutschen Schreibdialekten: Mittelfränkisch Bairisch Alemannisch bruoder 'Bruder' Wgerm. ō als <uo> schon ab ca. 800. Kein <oa>. proder 'Bruder' Wgerm. ō als <o> im 8. und 9. Jh., ab 850 vermehrt als <uo> proder, pruader 'Bruder' Wgerm. ō nach 760 als <oa> (neben <o, oo>), im 9. Jh. als <ua>, erst im 10. Jh. als <uo> sconi 'schön' Wgerm. au (vor r, h, Dental) als <o> scaoni 'schön' Wgerm. au (vor r, h, Dental) als <ao> im 8. und frühen 9. Jh., danach <o> sconi 'schön' Wgerm. au (vor r, h, Dental) als <o> pad 'Pfad' Erhalt des wgerm. Lautstandes bei p im Anlaut pfad, phad 'Pfad' Realisierung von lautverschobenem p als <pf, ph> fad 'Pfad' Realisierung von lautverschobenem p als <f> helpan 'helfen', werpan 'werfen' Teilweise Erhalt des wgerm. Lautstandes bei p nach l, r helpfan, helphan 'helfen', werpfan, werphan 'werfen' Realisierung von lautverschobenem p als <pf, ph> helfan 'helfen', werfan 'werfen' Realisierung von lautverschobenem p als <f> kind 'Kind', folk / folc 'Volk', trinkan 'trinken' Erhalt des wgerm. Lautstandes bei k im Anlaut und nach l, r, n chind 'Kind', folch 'Volk', trinchan 'trinken' Realisierung von lautverschobenem k als <ch> (gesprochen [kx] ) bruoder 'Bruder' Realisierung von wgerm. ƀ im Anlaut als <b> proder, pruader 'Bruder' Realisierung von wgerm. ƀ im Anlaut als <p> <?page no="183"?> 183 8.1. Älteste Schriftlichkeit: Regionale Schreibsprachen im 8. und 9. Jahrhundert Mittelfränkisch Bairisch Alemannisch dohter 'Tochter', liudi 'Leute', geldan 'gelten' Erhalt von wgerm. d im An- und Inlaut tohter 'Tochter', liuti 'Leute', geltan 'gelten' Realisierung von lautverschobenem d als <t> got 'Gott', gap 'gab', gi- 'ge-' Erhalt von wgerm. g im Anlaut (vermutlich als Frikativ gesprochen) kot / cot 'Gott', kap 'gab', ki- 'ge-' Realisierung von lautverschobenem g im Anlaut als <k, c> leuen 'leben', self- 'selb-' Realisierung von wgerm. ƀ im In- und Auslaut als <u, f> (Erhalt des Frikativs) lepan 'leben', selp- 'selb-' Realisierung von wgerm. ƀ im In- und Auslaut als <p> leben 'leben', selb- 'selb-' Realisierung von wgerm. ƀ im In- und Auslaut als <b> thionon 'dienen', uuerdhan 'werden' Realisierung von wgerm. th (þ) als <th, dh> bis ins 10./ 11. Jh. (Erhalt des Frikativs) dionon 'dienen', uuerdan 'werden' Realisierung von wgerm. th (þ) als <d> im 7. (bair.) bzw. 8. Jh. (alem.) (Wandel zum Plosiv) luht 'Luft', ahter 'danach, später' Spirantentausch: Realisierung von ft als <ht> luft 'Luft', after / aphter 'danach, später' Realisierung von wgerm. ft als <ft>. Spätbair. auch <pht>. wrechan 'verfolgen' Teilweise Erhalt des w vor r rechan 'verfolgen' (vgl. nhd. rächen) Ausfall des w vor r Tab. 10. Ausgewählte Kennmerkmale dreier althochdeutscher Schreibdialekte Deutlich wird an den Beispielen die zweifache Abstufung der Sprachlandschaften. Auf der großregionalen Ebene lässt sich erkennen, dass die alemannischen und bairischen Schreibsprachen in einigen Bereichen Übereinstimmungen aufweisen, die ihre gemeinsame Zuordnung zum Oberdeutschen rechtfertigen, z. B. in der Lautverschiebung bei wgerm. k (chind), ƀ (pruader), d (tohter) und g (kot). Hierdurch sind sie zu den mitteldeutschen Schreibdialekten abgegrenzt, wie dem Mittelfränkischen mit teilweise erhaltenem westgermanischem Konsonantenstand (kind, bruoder, dohter, got). Das Mittelfränkische ist außerdem durch einige weitere Besonderheiten vom Oberdeutschen zu unterscheiden, z. B. durch die Bewahrung frikativisch zu interpretierender Schreibungen für wgerm. ƀ (leuen) und th (þ) (thionon) im Unterschied zu den oberdeutschen Plosivgraphien (leben / lepan, dionon) und durch einige andere konsonantische Merkmale (Spirantentausch: luht, Erhalt des w vor r: wrechan; oberdeutsch: luft, rechan). Intraregional weisen innerhalb des Oberdeutschen die zwei Schreibdialekte des Bairischen und Alemannischen in bestimmten Zeiträumen eigene Formen auf (proder vs. pruader, scaoni vs. sconi, pfad / phad vs. fad, helpfan / helphan vs. helfan, lepan vs. leben). Alle Angaben in der Tabelle spiegeln allerdings lediglich generelle Tendenzen in der temporären Präferenz bestimmter Schreibungen wider. Selbstverständlich gab es zu keiner Zeit und in keiner Region eine Festlegung auf eine einzige Variante. Auch im Norden des deutschsprachigen Raumes setzt die handschriftliche Überlieferung im 8. Jahrhundert ein. Gesprochen und geschrieben wurde hier eine frühe Form des Niederdeutschen, das als Altsächsisch bezeichnet wird (unter Bezug auf den im Norden siedelnden Stamm der Sachsen, nicht auf das weiter südöstlich befindliche, mitteldeutsche Gebiet des <?page no="184"?> 184 8. Graphematischer Wandel von den Anfängen bis in die Neuzeit heutigen Bundeslandes Sachsen). Die Heimat der Sachsen lag ungefähr in der Gegend des heutigen Schleswig-Holstein, wo auch die Stämme der Angeln, Jüten und Friesen siedelten. In den ersten Jahrhunderten nach der Zeitenwende expandierten sie nach Süden und Westen und dehnten ihre Herrschaft über ganz Norddeutschland aus. Nach diversen kriegerischen Auseinandersetzungen bildete sich etwa bis zum 7. Jahrhundert eine recht stabile Grenze zwischen den Sachsen und den Franken heraus, die als Präfiguration der heutigen niederdeutsch-mitteldeutschen Dialektgrenze betrachtet werden kann. Einige Vertreter der Sachsen wanderten im Zuge der „angelsächsischen Landnahme“ zusammen mit einer Gruppe von Angeln und Jüten auf die britische Insel aus, was sich dort noch in Namen englischer Countys wie Wessex, Sussex oder Essex (‚West-, Süd-, Ost-Sachsen‘) ausdrückt. Die als altsächsisch eingestuften Texte sind gegenüber denen des mittel- und oberdeutschen Raumes vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sie keine Formen aufweisen, die auf eine Durchführung der Zweiten Lautverschiebung hindeuten. Das Hauptmerkmal der niederdeutschen Dialekte ist also hier bereits wiederzufinden. Hinzu kommen weitere Merkmale, die das Niederdeutsche teilweise mit dem Westmitteldeutschen gemeinsam hat, wie etwa der oben genannte Erhalt der Frikative für Erhalt wgerm. ƀ und th (þ) und die Bewahrung des w vor r. Manche der differenzierenden Merkmale wurden in späterer Zeit (zum Mittelniederdeutschen hin) wieder abgebaut (as. brothar > mnd. broder 'Bruder', as. wrekan > mnd. reken 'sich rächen', vgl. aber noch heute Wrack, wringen). Der Unterschied zwischen der altsächsischen und der althochdeutschen Schreibtradition lässt sich am Beispiel eines „Wurmsegens“ veranschaulichen, der aufgrund zufälliger Parallelüberlieferung in zwei Versionen erhalten ist (Abb. 33): Contra uermes Pro nessia Gang út, nesso, mid nigun nessiklinon, út fana themo marg ę an that ben, ut fan themo bene an that flesg, ut fan themo flesgke an thia hud, ut fan thera hud an thesa strala! drohtin, uuerthe so! Gang uz, Nesso, mit niun nessinchilinon, uz fonna demo marge in deo adra, uonna den adrun in daz fleisk, fonna demu fleiske in daz fel, fonna demo uelle in diz tulli! Ter Pater noster. Wurm, kriech heraus, (nimm) neun Würmchen mit, aus dem Mark in den Knochen, aus dem Knochen in das Fleisch, aus dem Fleisch in die Haut, aus der Haut in diesen (Huf-)Strahl! Herr, so geschehe es! Wurm, kriech heraus, (nimm) neun Würmchen mit, aus dem Mark in die Adern, aus den Adern in das Fleisch, aus dem Fleisch in die Haut, aus der Haut in diesen (Huf-)Strahl! Dreimal Vaterunser. Abb. 33. Der altsächsische Wurmsegen „Contra uermes“ (9./ 10. Jh.) und der althochdeutsche Wurmsegen „Pro nessia“ (oberdeutsch, 9. Jh.) (Text und Übersetzung nach Schlosser 2004, 134 f.) (nessiklin / nessinchilin ist wohl aufzulösen als ness-i(n)k-lin also Würm-ing-lein, mit zweifachem Diminutiv, im altsächsischen Text mit Verlust des Dentals, vgl. den Artikel *nessinklīn im „Oudnederlands Woordenboek“ und den Artikel -inklîn in Lühr 2014, 94-96) <?page no="185"?> 185 8.1. Älteste Schriftlichkeit: Regionale Schreibsprachen im 8. und 9. Jahrhundert Der altsächsische Segen „Contra uermes“ weist im Kontrast zum althochdeutschen „Pro nessia“ eine Reihe typischer Merkmale des Niederdeutschen auf: ▶ unverschobenen Konsonantenstand bei wgerm. t (út, that, nd. ut, dat) gegenüber ahd. <z> (uz, daz), ▶ die volle Form des Zahlwortes 'neun' (nigun, nd. negen) statt der kontrahierten Form niun im althochdeutschen Text, ▶ die Form fana 'von' mit <a> gegenüber ahd. fonna / uonna, ▶ die Graphie <th>, die den Erhalt des Frikativs bei wgerm. th (þ) anzeigt (themo, that, thia, thera, thesa, uuerthe) gegenüber ahd. <d> (deo, den, daz, demu / demo, diz), ▶ die Monographie <e> für wgerm. ai auch in der Stellung nicht vor r, h, w (ben, flesg, nd. Been, Fleesch) gegenüber ahd. <ei> (fleisk). Beide Texte enthalten außerdem noch die Graphien für die germanischen Langvokale ī und ū (-lin '-lein', út / uz 'aus', hud 'Haut'), die nur im hochdeutschen Raum und erst in spätmittelhochdeutscher Zeit diphthongiert wurden. Auch für das Altsächsische ist von einer starken regionalen Differenzierung der damals gesprochenen Varietäten auszugehen. Für Norddeutschland wird in der Zeit um 800 eine Gliederung in verschiedene „Heerschaften“ (as. heriscepi) angenommen. Nördlich der Elbe waren die „Nordalbingier“ oder Nordleute (as. northliudi) ansässig, zu denen die Stämme der Stormarn (um Hamburg), der Holsten (bis zur Eider) und der Dithmarscher (schleswigholsteinische Westküste) gehörten. Südlich bzw. südwestlich davon siedelten die Westfalen, Engern und Ostfalen. Die Engern bewohnten ein Gebiet beiderseits der Weser, doch ist ihre Sprache nach Einschätzung von Thomas Klein (2000, 1243) „nahezu völlig im Ostwestfälischen, Ostfälischen und Nordniedersächsischen aufgegangen“, also den niederdeutschen Dialektgebieten, die sich bis heute erhalten haben. Aufgrund der schmalen Überlieferung ist die Abgrenzung des Altsächsischen nach außen und die Rekonstruktion regionaler Binnengrenzen schwierig, und so bleibt es unsicher, ob es auch in sprachlicher Hinsicht eine solche Vierteilung gegeben hat, wie sie die Stammesbezeichnungen nahelegen. Eine bekannte Karte des altsächsischen Sprachraums, die auf einen Aufsatz des Kieler Philologen Gerhard Cordes von 1956 zurückgeht und seither mehrfach leicht modifiziert wieder abgedruckt worden ist, verzichtet dementsprechend darauf, die Grenzen zwischen diesen Räumen genauer zu markieren (Abb. 34). <?page no="186"?> 186 8. Graphematischer Wandel von den Anfängen bis in die Neuzeit Abb. 34. Karte des altsächsischen Sprachgebietes (aus Klein 2000, 1245) Die Problematik liegt vor allem darin begründet, dass in altsächsischer Sprache nur vergleichsweise wenige und oft nur kurze bzw. fragmentarisch überlieferte Zeugnisse erhalten geblieben sind, deren Entstehungsort meist nicht bekannt und deren sprachlicher Charakter teils ambivalent ist (vgl. Klein 2000, 1244). Erschwert wird die Beurteilung der auftretenden Schreibungen dadurch, dass in altsächsischen Texten auch hochdeutsche (fränkische) Einflüsse vorhanden sind, so wie auch grundsätzlich dem Althochdeutschen zugeordnete Texte Spuren des Altsächsischen enthalten können (Kap. 3.4). Letztlich konnten angesichts des schwierigen Überlieferungsbefundes für die altsächsische Zeit nur wenige Merkmale der westfälischen und ostfälischen Schreibtradition herausgearbeitet werden. Für das Altostfälische führt Stellmacher (2015, 186) einige besonders charakteristische graphematische Merkmale an. Für den westfälischen Raum verweist William Foerste (1957, 1753) auf einige Graphien im „Freckenhorster Heberegister“, einem Güter- und Abgabenverzeichnis aus dem münsterländischen Kloster Freckenhorst aus der Zeit um 1100 / 1200, die sich als Reflex nordwestfälischer Dialektformen interpretieren lassen (<a> für <o> in tharp 'Dorf ', karn 'Korn', haneg 'Honig'). Willy Sanders (2000, 1289) führt den Beleg chebur 'Nachbar' (eigentlich: gebur) in demselben Text als graphematischen Regionalismus an, der auf eine spirantische Aussprache hindeutet, wie sie in Westfalen üblich ist. Robert Peters (2003b, 2642) verweist darauf, dass das Altwestfälische zudem durch das weitgehende Fehlen ingwäonischer Formen gekennzeichnet sei und sich in dieser Hinsicht z. B. von der Sprache des „Heliand“-Fragments S (aufgefunden 1977 <?page no="187"?> 187 8.1. Älteste Schriftlichkeit: Regionale Schreibsprachen im 8. und 9. Jahrhundert in dem Einband eines Bandes aus einer Straubinger Gymnasialbibliothek) unterscheide, die durch zahlreiche Ingwäonismen gekennzeichnet sei (z. B. <o> für wgerm. a, <a> für wgerm. au, Spirantentausch: <ht> statt <ft>). Hier stellt sich allerdings wieder die Frage, ob sich diese Unterschiede tatsächlich als Indiz für eine regionale Binnendifferenzierung im Altsächsischen deuten lassen. Denn zum einen wird für die „Heliand“-Handschrift S nur aufgrund ihrer sprachlichen Färbung eine nordniederdeutsche Entstehungsregion angenommen, so dass eine gewisse Zirkularität entsteht, wenn dieser Text dann wiederum als Grundlage für die sprachliche Analyse eines im nordniederdeutschen Raum entstandenen Texts herangezogen wird. Zum anderen wird das Nebeneinander von ingwäonischen und nicht-ingwäonischen Formen von manchen Forschern als Indiz für die Existenz mehrerer Sprachschichten im Altsächsischen interpretiert, wobei die Ingwäonismen als „Reflexe grundschichtlicher Sprechsprache“ betrachtet werden, die in der Regel durch fränkischen Einfluss zurückgedrängt worden seien (vgl. Sanders 2000, 1290 f.). In dieser Deutung handelt es sich um ein primär sozial und nicht areal gesteuertes Variationsphänomen. Als Ingwäonismen bezeichnet man einige Gemeinsamkeiten der nordseegermanischen Sprachen Niederdeutsch, Niederländisch, Friesisch und Englisch. Der Ausdruck „Ingwäonismus“ leitet sich zwar aus dem von Tacitus verwendeten Stammesnamen „Ingwäonen“ (lat. ingvaeones) ab, setzt jedoch in seiner heutigen Verwendung nicht die Existenz einer ingwäonischen Volksgruppe voraus. Vielmehr handelt sich um einen recht unscharfen Begriff, der sich auf diverse Spracherscheinungen bezieht, die in den Küstensprachen vorkommen (manchmal aber nur in einigen der vier genannten Sprachen) und meist in Kontrast zum Hochdeutschen stehen. Einige graphematisch relevante „Ingwäonismen“ lassen sich vor allem anhand des Straubinger „Heliand“-Fragments (Handschrift S) veranschaulichen: ▶ Fehlen der Zweiten Lautverschiebung: as. slapan 'schlafen', it 'es', bok 'Buch' (vgl. altnl. slapan, hit, buok; altfries. slepa, hit / et, bok; altengl. slæpan, hit, boc, dagegen ahd. slafan, iz, buoh), ▶ <o> für wgerm. a: as. (Hs. S) monn 'Mann', gongan 'gegangen' (vgl. altfries. monn / mann, gong / gang 'Gang'; altengl. monn / mann, gongan / gangan gegenüber altnl./ ahd. man, gangan), ▶ <a> für wgerm. au: as. (Hs. S) ak 'auch', harian 'hören' (vgl. altnl. ok, horen; altengl. eac, hieran / hyran; altfries. ak, harkia gegenüber ahd. ouh, horian), ▶ Nasalschwund und Ersatzdehnung: as. fif 'fünf', us 'uns' (vgl. altnl. fif, uns; altfries./ altengl. fif, us gegenüber ahd. fimf, uns), ▶ Zetazismus: Übergang des Plosivs [k] vor vorderen Vokalen (Palatalvokalen) in einen Sibilanten (Zischlaut) [kç] : as. (Hs. S) untkiende 'erkannte', kiesur 'Kaiser' (vgl. neuengl. church, cheese, chin gegenüber nhd. Kirche, Käse, Kinn), ▶ Spirantentausch <ht> statt <ft>: as. (Hs. S) craht 'Kraft' (vgl. altnl. kraht gegenüber altengl. cræft; altfries. kreft; ahd. kraft). Eine ausführliche Übersicht von Ingwäonismen bietet Foerste (1957, 1732-1735). <?page no="188"?> 188 8. Graphematischer Wandel von den Anfängen bis in die Neuzeit Aufgrund des meist geringen Umfangs der überlieferten altsächsischen Texte ist eine sichere Rekonstruktion vollständiger Graphemsysteme nur für die Handschriften des „Heliand“ (Handschrift M: 37 559 Wortformen, 2483 unterschiedliche Wörter) und der „Altsächsischen Genesis“ (2875 Wortformen, 598 Wörter) möglich (Häufigkeitsangaben nach Seebold 2008, 20), während Kurztexte oder Textfragmente wie der oben zitierte Wurmsegen (37 Wortformen) allenfalls punktuelle Einblicke erlauben. Für den „Heliand“ bietet die Studie von Kawasaki (2004) einen auf den Bereich der Dentalgraphien bezogenen Vergleich der graphematischen Strukturen in den Handschriften M, C, P, V und S. Eine Analyse zum Konsonantensystem der Handschrift M bietet Odwarka (1973). In Bezug auf das Althochdeutsche ist die Ausgangslage aufgrund der sehr umfangreichen Handschriften von Otfrids Evangelienharmonie (64 391 Wortformen), der Evangelienharmonie des Tatian (46 664 Wortformen), der Isidor-Übersetzung aus dem 8. Jahrhundert (4754 Wortformen) und der umfangreichen Texte des Notker Labeo etwas günstiger (Angaben nach Seebold 2001, 21 und 2008, 20); hier geben die Untersuchungen von Simmler (1981, zum Konsonantismus) und von Zürcher (1978, zu Notker) einen Einblick in graphematische Strukturen. 8.2. Entwicklung regionaler Schreibtraditionen in mittel- und frühneuhochdeutscher Zeit Aufgrund der stetigen Ausbreitung der volkssprachigen Schriftlichkeit im hohen und späten Mittelalter auf verschiedenste Bereiche der öffentlichen Kommunikation (städtische Verwaltung, Rechtswesen, Handel, Geschichtsschreibung, Belletristik, Fachprosa) stehen für die verschiedenen Regionen des deutschsprachigen Raumes zahlreiche Quellen zur Verfügung, die sich eindeutig datieren und lokalisieren lassen. Damit sind die Voraussetzungen gegeben, um differenzierte Analysen zur arealen Verteilung und zum diachronen Wandel schreibsprachlicher Strukturen durchführen zu können. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert sind insbesondere die frühneuhochdeutschen Schreibsprachen des mittel- und süddeutschen Raumes (etwa 1350 bis 1650) in einer Vielzahl von Arbeiten untersucht worden, von denen einige bereits in Kap. 6.2.1 angeführt wurden. Für die Zeit des 12. und 13. Jahrhunderts liegen aufgrund des lange vorherrschenden Stereotyps von der sprachlichen Einheitlichkeit der mittelhochdeutschen Dichtersprache bislang deutlich weniger Studien vor, doch reichen einige Untersuchungen frühneuhochdeutscher Kanzleisprachen noch ins Spätmittelhochdeutsche hinein. Untersuchungen zum nicht-normalisierten Mittelhochdeutsch zwischen 1100 und 1300 sind allerdings nach wie vor selten; hier gibt es im Bereich der Historischen Graphematik immer noch ein großes Forschungsdefizit. Das lässt schon ein Blick in die Literaturangaben zu den verschiedenen „Landschaftssprachen“ in der „Mittelhochdeutschen Grammatik“ erkennen. So stammen von den 40 Untersuchungen, die in den Literaturangaben zum Mittelhochdeutschen im bairischen Raum angeführt werden (Paul 2007, 39), nur vier aus der Zeit nach 1970 (darunter keine Monographie), und graphematische Analysen nach modernen Standards sucht man vergeblich. Ähnlich verhält es sich bei den anderen Sprachregionen. Dementsprechend gibt es kaum Beschreibungen mittelhochdeutscher Graphemsysteme. Allerdings lassen sich auf der Grundlage der vorhandenen Forschungsbeiträge jeweils Kenn- <?page no="189"?> 189 8.2. Entwicklung regionaler Schreibtraditionen in mittel- und frühneuhochdeutscher Zeit merkmale der landschaftlichen Schreibsprachen benennen. Eine kompakte Darstellung der regionaltypischen Sprachmerkmale bietet die „Mittelhochdeutsche Grammatik“ in den Abschnitten §§ E 23 bis E 47 (Paul 2007), und auch die nachfolgende „Lautlehre“ enthält zahlreiche Verweise auf landschaftliche Schreibbesonderheiten, hier allerdings nicht nach Regionen, sondern nach Lautkategorien angeordnet. Wie die Autoren der Grammatik betonen, sind auch für die mittelhochdeutsche Zeit keine präzisen Aussagen zu allen kleinregionalen Verästelungen möglich: „Auch die Hss. reflektieren sprachlich aber keine ‚Quadratmeilendialekte‘- […], sondern ordnen sich wie die Reimsprachen der Versdichtungen zumeist großräumig geltenden regionalen Schreibsprachen zu, die sich allerdings räumlich nur unscharf abgrenzen lassen und durch variable Bündel gemeinsamer schreibsprachlicher und gleichlaufender reimsprachlicher Merkmale zusammengehalten werden.“ (Paul 2007, 15) Dennoch ist nicht zu übersehen, dass die Beschreibungen dieser regionalen Schreibdialekte differenzierter ausfallen als diejenigen für die althochdeutsche Zeitstufe. So findet man nun nicht mehr nur pauschale Angaben zum Alemannischen, sondern bereits eine Differenzierung in einen Ostteil (Schwaben, Bodenseeraum, östliche Schweiz) und einen Westteil (Oberrhein, Westschweiz) mit je eigenen Schreibtraditionen. In ähnlicher Weise wird im westmitteldeutschen Raum zwischen einer rheinfränkischen, einer hessischen und einer mittelfränkischen Schreibsprache unterschieden, und innerhalb dieser Teilregionen werden sogar (wenn auch auf der Grundlage weniger Merkmale) noch weitere Differenzierungen vorgenommen (z. B. Nordvs. Südhessisch). Die für die althochdeutsche Zeit beschriebenen Sprachmerkmale werden oftmals weiter bewahrt, doch kommen neue Merkmale hinzu. Dies sei exemplarisch anhand des bairischen Sprachgebietes demonstriert (Tab. 11). Altbairisch Mittelbairisch guot 'gut' Realisierung von wgerm. ō als <uo> (ab 850) zeit, haus, freund <ei, au, eu> für wgerm. ī, ū, ǖ. Die sogenannte „frühneuhochdeutsche Diphthongierung“ ist im bairischen Raum schon in spätmittelhochdeutscher Zeit belegt. proder 'Bruder', tohter 'Tochter', kot 'Gott' Lautverschiebung der Mediae b, d, g zu p, t, k pforrer 'Pfarrer', wogner 'Wagner' gelegentlich <o> für wgerm. a (Kennzeichnung von Verdumpfung) phad 'Pfad', helphan 'helfen' Realisierung von lautverschobenem p als <pf, ph> gesaget > geseit 'gesagt', maget > meit 'Mädchen', klaget > kleit 'klagt' Kontraktion von <age> zu <ei> chind 'Kind', trinchan 'trinken' Realisierung von lautverschobenem k als <ch> scherigen 'Schergen', porige 'Bürgen', dvrih 'durch' Sproßvokale ab Ende des 13. Jahrhunderts bort 'Wort', zbischen 'zwischen' <b> für wgerm. w seit Ende des 13. Jahrhunderts wibel 'Bibel', wrief 'Brief', awent 'Abend' <w> für wgerm. b swebel / swevel 'Schwefel', zwibel / zwifel 'Zweifel', hobel / hovel 'Hobel' Variation von <b> und <v> vor (e)l und (e)r <?page no="190"?> 190 8. Graphematischer Wandel von den Anfängen bis in die Neuzeit Altbairisch Mittelbairisch gunc 'jung' <g> für <j> in nordbairischen Texten derbarmen 'Erbarmen', dertailen 'erteilen', derslagen 'erschlagen' Voranstellung eines <d> bei der Vorsilbe erseit dem 12. Jahrhundert Tab. 11. Graphematische Merkmale der alt- und mittelbairischen Schreibsprachen (Auswahl nach Paul 2007, §§ E 25-E 27 und Reiffenstein 2003, 2910-2916) Die in Tab. 11 angeführten Merkmale werden auch in den frühneuhochdeutschen Schreibsprachen des bairischen Raumes weiter verwendet, und weitere Formen kommen hinzu, wie etwa die Graphien <ai> für wgerm. ai (Tail, ain, Stain) und <kh> für anlautendes k (khomen, khennen). Mit der Ausbreitung der Schriftlichkeit auf immer neue Domänen der bürgerlichen Kultur und des öffentlichen Lebens stabilisieren sich die Schreibtraditionen der einzelnen Regionen, und mit der zunehmenden Zahl an überlieferten Texten aus verschiedensten Kommunikationsbereichen wachsen auch die Möglichkeiten, die einzelnen Schreibsprachen umfassend zu beschreiben und areale, aber auch soziale und situative Gebrauchskontexte herauszuarbeiten. Befördert wird dies ab dem späten 15. Jahrhundert durch den Buchdruck. Bei den Grammatikern dieser Zeit lässt sich bereits ein klares Bewusstsein regionaler Aussprachedifferenzen feststellen. So unterscheidet der Stadtschreiber und humanistische Schriftsteller Niklas von Wyle 1478 zwischen einer flämischen, rheinischen und schwäbischen Sprachform (vgl. Greule 2016), Fabian Frangk spricht 1531 von fränkischen, bairischen, schlesischen, meißnischen, harzländischen, schwarzwäldischen, vogtländischen und schweizerischen Dialekten (vgl. Götz 1992, 109-126). In der Forschungsliteratur werden für die frühneuhochdeutsche Zeit meist fünf großlandschaftliche Schreibdialekte im hochdeutschen Raum unterschieden: 1. das Ostmitteldeutsche, auch bezeichnet als „Meißnisches Deutsch“, im Gebiet des heutigen Sachsen und Thüringen, 2. das Westmitteldeutsche mit den Schreibsprachen des mittelfränkischen (ripuarischen und moselfränkischen), rheinfränkischen und hessischen Raums, 3. das Alemannische, im Gebiet der heutigen deutschsprachigen Schweiz und des deutschen Südwestens, 4. das Bairische, auch als Ostoberdeutsch oder „Gemeines Deutsch“ (=- allgemeines Deutsch) bezeichnet, im Südosten des deutschsprachigen Raumes (inklusive des heutigen Österreich), 5. das Ostfränkische als Übergangsraum, das als einzige Region an alle vier übrigen Regionen angrenzt, im Norden und Nordosten an das Thüringische und Obersächsische, im Westen an das Hessische und Rheinfränkische, im Süden an das Alemannische (Schwäbisch) und im Südosten an das Bairische. In der Frühneuhochdeutschforschung wird das Ostfränkische manchmal auch mit dem Nordoberdeutschen zu einer als <?page no="191"?> 191 8.2. Entwicklung regionaler Schreibtraditionen in mittel- und frühneuhochdeutscher Zeit „Nordoberdeutsch“ bezeichneten Region zusammengefasst, die durch Schreiborte wie Würzburg und Nürnberg repräsentiert ist (vgl. Hartweg/ Wegera 2005, 30 f.). Eine übersichtliche und zugleich relativ ausführliche Darstellung der jeweiligen regionalen Kennmerkmale der einzelnen hochdeutschen Sprachregionen bietet Schmid (2017, 92-111) in seiner Sprachgeschichte, wo auch Analysen von Textbeispielen aus der Zeit um 1400 / 1500 enthalten sind. Weitere Merkmalslisten finden sich bei Keller (1995, 373-384) und Penzl (1989). Mittlerweile gibt es auch eine seriöse Webseite, auf der landschaftliche Schreibmerkmale in Listenform (kombiniert mit Literaturhinweisen) aufgeführt werden; hierauf wird in Kap. 14.2 genauer eingegangen. Dass es sich bei den räumlichen Merkmalszuweisungen allerdings immer nur um Näherungswerte handelt, betonen Hartweg / Wegera in ihrem Einführungsbuch: „Bei aller Betonung der horizontalen Kammerung, die in der Zeit der Ausbildung des frühmodernen Staats und der Konfessionsräume sehr ausgeprägt ist, darf der aufgrund von Herkunft, Ausbildung, Biographie und Vorbildern der Schreiber und Drucker entstehende Mischcharakter vieler Texte nicht unterschätzt und die scharf ausgebildete Binnengliederung des Frnhd. nicht als absolut gesetzt werden.“ (Hartweg/ Wegera 2005, 32) Aus diesem Grund sind einerseits in den meisten Texten keineswegs alle Merkmale enthalten, die für ihre jeweilige Entstehungsregion als charakteristisch gelten, andererseits können auch Merkmale auftreten, die eigentlich eher für andere Regionen typisch sind. Während die Schreibdialekte des hochdeutschen Raumes in den Sprachgeschichten des Deutschen recht differenziert behandelt werden, ist dies für die niederdeutschen Schreibsprachen meist nicht der Fall. Für den Norden des deutschsprachigen Raumes weisen auch neuere Sprachgeschichten des Deutschen oft nur eine einzige „mittelniederdeutsche“ Schreibsprache oder „Hansesprache“ aus (vgl. z. B. Schmidt 2013, 107-112; Maas 2014, 339-342; Schmid 2017, 51-56). In den Klassifikationen der großlandschaftlichen Schreibsprachen des 14. bis 16. Jahrhunderts wird den verschiedenen hochdeutschen Varietäten (Ostmitteldeutsch, Gemeines Deutsch, Alemannisch, Westmitteldeutsch/ Ripuarisch) somit meist nur „das“ Mittelniederdeutsche pauschal als eine weitere Schreibsprache entgegengestellt (vgl. Stedje 2007, 149 f.). Auch auf der bei Riecke (2016, 252 und Titelblatt) abgedruckten Sprachkarte werden für den hochdeutschen Raum zwölf verschiedene Landschaftssprachen angegeben, während im Norden nur pauschal „Niederdeutsch“ eingetragen ist. Dieses Ungleichgewicht in der Wahrnehmung der damaligen Sprachwirklichkeit dürfte wohl teils mit der regionalen Herkunft und den Forschungsinteressen der Autoren dieser Sprachgeschichten zu tun haben, vor allem aber mit deren spezifischem Interesse an der Herausbildung der hochdeutschen Standardsprache. Bei diesem Prozess gab es zweifellos eine „deutliche Priorität zuerst des Südens, vor allem Südostens zusammen mit dem mittleren Osten“ (von Polenz 2000, 160), woraus sich aus der Perspektive einer immer noch stark teleologisch ausgerichteten Sprachgeschichtsschreibung konsequenterweise eine besondere Fokussierung auf die Entwicklungen im ostmitteldeutschen und ostoberdeutschen (bairischen) Raum ergab, während das Niederdeutsche eine randständige Position einnahm. Diese Schwerpunktsetzung erklärt, dass das <?page no="192"?> 192 8. Graphematischer Wandel von den Anfängen bis in die Neuzeit Mittelniederdeutsche manchmal nur in einem Nachtragskapitel zum Mittelhochdeutschen mitbehandelt wird (wie bei Ernst 2012) oder dass gleich auf seine Berücksichtigung verzichtet wird (wie bei Brundin 2004, Wolff 2009). Aus einer Perspektive, die die zeitgenössische Varietätenvielfalt im deutschsprachigen Raum in den Blick nimmt, stellt sich die Lage allerdings wesentlich differenzierter dar. Auch im Norden bildeten sich seit dem 13. Jahrhundert mehrere landschaftliche Schreibtraditionen heraus, worauf die (aus Norddeutschland stammenden! ) Autoren Kirstin Casemir und Christian Fischer (2013) in ihrer Sprachgeschichte hinweisen, auch wenn sie auf die einzelnen Varietäten im Rahmen ihres knappen Abrisses dann nicht weiter eingehen: „Im mittelniederdeutschen Raum waren die sprachlichen Unterschiede sehr groß. Neuere Forschungen zeigen, dass jede größere Stadt in dieser Zeit eine spezifische Kombination sprachlicher Merkmale aufweist, doch es gibt auch großräumigere Übereinstimmungen und Zusammenhänge in Form regionaler Schreibsprachen, zum Beispiel Ostfälisch (im Raum Braunschweig, Hildesheim, Göttingen, Goslar), Westfälisch (im Raum Soest, Münster, Osnabrück), Nordniederdeutsch (Hamburg, Bremen, Oldenburg, Lübeck) und Südmärkisch (Berlin).“ (Casemir / Fischer 2013, 44) Augustin Speyer (2010), der dem Niederdeutschen in seiner „Deutschen Sprachgeschichte“ ein eigenes Kapitel widmet, verweist auf anzunehmende Dialektdifferenzen bereits in altsächsischer Zeit und führt für das Mittelniederdeutsche regionale Differenzen bei der Dehnung alter Kurzvokale an. Die ungefähre Verbreitung der mittelniederdeutschen Schreibsprachen wird auf der Karte aus der „Mittelhochdeutschen Grammatik“ deutlich (Abb. 35). Dort findet sich auf S. 17 auch erstmals ein um die niederdeutschen Schreibsprachen erweitertes Schema der sprachräumlichen Gliederung des Deutschen (Abb. 36; bei Hartweg/ Wegera 2005, 31 war dieses auf Stopp 1976 zurückgehende Schema noch auf den hochdeutschen Raum beschränkt gewesen). Eine weitere, allerdings handgezeichnete Karte der „Schreibsprachlandschaften im Spätmittelalter“, die auch den niederdeutschen Raum differenziert erfasst, finden sich auf der Webseite „Historische Schreibsprachen- - Internetbibliographie“ von Brigitte Pfeil von der Universität Kassel (http: / / bilder.manuscripta-mediaevalia.de/ gaeste/ Schreibsprachen/ Schreibsprache1.html). Auch diese Bibliographie selbst ist grundsätzlich empfehlenswert, wurde allerdings seit März 2007 nicht mehr aktualisiert. Genaueren Aufschluss über die Geschichte und die Merkmale der west- und ostniederdeutschen Schreibsprachen geben die Artikel Nr. 178-183 im dritten Teilband des Handbuchs „Sprachgeschichte“, mit Beiträgen zum Niederrheinischen, Westfälischen, Nordniederdeutschen („Sassischen“), Ostfälischen, Brandenburgischen („Märkischen“) und dem restlichen Ostniederdeutschen (Mecklenburgisch, Pommersch, Niederpreußisch). Den besten Überblick über die Variantenprofile der mittelniederdeutschen Sprachlandschaften vermittelt der dreibändige „Atlas spätmittelalterlicher Schreibsprachen des niederdeutschen Altlandes und angrenzender Gebiete ( AS nA)“ von Robert Peters (Peters 2017, Kap. 14.1). Systembezogene Graphemanalysen liegen dagegen für die meisten norddeutschen Regionen noch nicht vor. <?page no="193"?> 193 8.2. Entwicklung regionaler Schreibtraditionen in mittel- und frühneuhochdeutscher Zeit Abb. 35. Historische Schreibsprachen und ihre regionale Verbreitung im Deutschen (entspricht Karte 1 aus Paul 2007, 3: „Der mittelhochdeutsche und mittelniederdeutsche Sprachraum“) <?page no="194"?> 194 8. Graphematischer Wandel von den Anfängen bis in die Neuzeit Abb. 36. Schematische Darstellung der sprachräumlichen Gliederung im Deutschen (aus Wegera / Waldenberger 2012, 17) 8.3. Schreibsprachausgleich: Die Diskussion um die Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache Wie konnte sich aus dem Nebeneinander von mindestens zehn landschaftlichen Schreibtraditionen, die überwiegend noch bis in die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts in Gebrauch waren, eine einheitliche neuhochdeutsche Schriftsprache herausbilden? Mit dieser Frage beschäftigen sich die Sprachhistoriker schon seit mehr als 160 Jahren. Erste grundlegende Beiträge zu diesem Thema stammen von dem Erlanger Germanisten Rudolf von Raumer (1854) und dem in Kiel und Berlin tätigen Mediävisten Karl Müllenhoff (1863), die davon ausgingen, dass sich das spätere Neuhochdeutsch seit althochdeutscher Zeit kontinuierlich entwickelt habe-- von einer karolingischen Hofsprache im 9. Jahrhundert über die Schreibsprache am Prager Hof Karls IV . (14. Jahrhundert) und am Hof Maximilians I. in Wien (15. und frühes 16. Jahrhundert) bis zu der Sprache der Drucke Martin Luthers, dem die Rolle des Begründers der deutschen Schriftsprache zugeschrieben wurde. Diese These einer kontinuierlichen, ununterbrochenen schreibsprachlichen Entwicklung gilt heute als widerlegt. Kritisch betrachtet wird auch die von dem Leipziger Sprachwissenschaftler Theodor Frings in den 1950er Jahren vertretene These, das Neuhochdeutsche habe sich auf der Grundlage einer im ostmitteldeutschen Raum (Thüringen, Sachsen) gesprochenen Ausgleichssprache entwickelt, die sich aus den verschiedenen Dialekten der bei der Ostkolonisation dorthin gezogenen Siedler herausgebildet habe. Aufbauend auf umfassenden Analysen der schreibsprachlichen Überlieferung des 15. und 16. Jahrhunderts entwarf Werner Besch (1967) ein alternatives Modell, das zwar ebenfalls auf der Annahme eines Ausgleichsprozesses basiert, <?page no="195"?> 195 8.3. Schreibsprachausgleich: Die Diskussion um die Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache sich jedoch in zweifacher Weise von Frings’ These unterscheidet. Zum einen geht Besch davon aus, dass sich der Sprachausgleich nicht nur innerhalb des ostmitteldeutschen Raumes, sondern auch unter Beteiligung des südlich angrenzenden bairischen Sprachgebietes vollzogen hat. Zum anderen wies er darauf hin, dass es sich in erster Linie um einen Ausgleich auf der schreibsprachlichen Ebene handelt, der keine sprachliche Einheitlichkeit auf der lautlichen Ebene (in Form eines ostmitteldeutschen oder ostmitteldeutsch-oberdeutschen Verkehrsdialekts) voraussetzt. Der Begriff „Ausgleich“ bezeichnet hierbei einen Prozess, bei dem verschiedene landschaftliche Schreibvarietäten einander ähnlicher werden, in ihrem Graphieninventar und ihrem graphematischen Profil, aber und auch in anderen Hinsichten, etwa in der Lexik. Eine solche interregionale Annäherung kann dadurch befördert werden, dass die Schreiber und Drucker damit beginnen, Varianten zu gebrauchen, die ursprünglich aus einer anderen Region stammen (Graphienimport). Darüber hinaus kann es dazu kommen, dass ein Schreiber oder Drucker Varianten mit einer relativ begrenzten arealen Reichweite vermeidet, weil er befürchtet, dass sie von Lesern aus anderen Regionen nicht verstanden oder nicht akzeptiert werden (Variantenabbau). Beides ist in historisch-graphematischen Arbeiten zu einzelnen Kanzleien oder Offizinen vielfach beobachtet worden (vgl. dazu oben Kap. 5.2 und 6.2.3). Forschungsüberblick: Die These von Theodor Frings (1886-1968), die neuhochdeutsche Schriftsprache sei zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert auf der Grundlage eines gesprochenen Ausgleichsdialekts im ostmitteldeutschen Kolonialgebiet entstanden, hat sich aus Sicht der späteren Forschung als schwer belegbar erwiesen. Dennoch ist es aufschlussreich, sich mit Frings’ Argumenten und der Kritik daran (ebenso wie mit den übrigen Erklärungsansätzen in der älteren Forschung) zu beschäftigen, denn an der Diskussion darüber lässt sich ablesen, welche methodischen Anforderungen an sprachhistorische Forschungen zu stellen sind. Theodor Frings ging davon aus, dass nur im traditionslosen östlichen Kolonialgebiet die Voraussetzungen für die Entstehung einer Einheitssprache gegeben waren. Hierbei habe sich aus den oberdeutschen, westmitteldeutschen, thüringischen und niederdeutschen Mundarten, die die Siedler mitbrachten, ein neuer, gesprochener Einheitsdialekt entwickelt. Dieser habe die Grundlage gebildet für die „meißnische“ Schreibsprache, eine spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Verkehrs- und Geschäftssprache, aus der sich später die überregionale Schriftsprache entwickelt habe. Methodologisch ging Frings so vor, dass er aus den modernen Mundarten des ostmitteldeutschen Raumes Rückschlüsse auf historische Ausgleichsprozesse zwischen den Dialekten zog. In der Debatte über Frings’ These von der kolonialen Ausgleichssprache im ostmitteldeutschen Raum wurden Einwände formuliert, die sich auf verschiedene Teilaspekte seiner Argumentation beziehen: ▶ Historische Argumente: Es wurde darauf hingewiesen, dass sich Frings auf Siedlungsbewegungen bezogen habe, die historisch nicht vollständig gesichert seien. Auch sei der ostmitteldeutsche Raum insofern nicht „traditionslos“ gewesen, als die Siedler aus dem westlichen Altland ihr sprachlich-kulturelles Erbe mitbrachten, so dass es auch im ostmitteldeutschen Raum keinen völligen Neuanfang gegeben habe. <?page no="196"?> 196 8. Graphematischer Wandel von den Anfängen bis in die Neuzeit Nach dem Modell von Besch lässt sich der Ausgleich zwischen den Schreibsprachen zweier Regionen anhand von vier Prinzipien beschreiben: a) Von zwei konkurrierenden Formen setzt sich diejenige durch, die bereits weiter verbreitet ist (Prinzip des Geltungsareals einer Variante). b) Es setzen sich eher Formen durch, die in den prestigeträchtigsten Regionen auftreten, also eher Varianten aus dem ostmitteldeutsch-oberdeutschen Raum als aus dem Westen (Ripuarisch, Alemannisch) oder Norden (Niederdeutsch) (Prinzip der Landschaftskombinatorik). c) Es setzen sich eher Varianten durch, denen ein bestimmtes soziales Prestige zukommt, die also einer gehobenen Sprachschicht zugeschrieben werden (Prinzip der Geltungshöhe). d) Faktoren wie die Systemauslastung, die klare Abgrenzung graphematischer Klassen, die etymologische Durchsichtigkeit etc. üben einen Einfluss auf die Variantenselektion aus (Prinzip der strukturellen Disponiertheit). (vgl. Besch 2003a, 2262 f.). Die von Werner Besch, Hugo Stopp, Hans Moser, Klaus J. Mattheier und anderen formulierten „Prinzipien“ des Schreibausgleichs bilden einen Erklärungsversuch in dem Sinne, dass man nach plausiblen Gründen für die beobachtbaren Vereinheitlichungsprozesse sucht. Es handelt sich jedoch nicht um Gesetzmäßigkeiten in einem strikten Sinn und auch nicht um klare Leitlinien, an denen sich die individuellen Schreiber bewusst orientiert hätten. Glaser (2003, 65) zieht, anknüpfend an Überlegungen von Hugo Stopp und Arend Mihm, in Betracht, dass die Schreiber oder Drucker sich möglicherweise jeweils an den ihnen bekannten benach- ▶ Dialektologische Argumente: Wenn es einen großräumigen Sprachausgleich im ostmitteldeutschen Raum gegeben hätte, müsste sich dies in den Dialekten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts niederschlagen; der thüringisch-obersächsische Dialektraum müsste also ein hohes Maß an Homogenität aufweisen. Tatsächlich gibt es hier jedoch eine große dialektale Vielfalt (Meißnisch, Osterländisch, Vogtländisch, Erzgebirgisch, Lausitzisch usw.). Vor diesem Hintergrund erscheint es ausgeschlossen, dass es in früheren Zeiten eine dialektale Ausgleichssprache gegeben hat. ▶ Sprachsystematische Argumente: Frings konzentriert sich bei seiner Argumentation auf einzelne Phänomene aus dem Laut- und Formensystem. Die Selektivität und die Ausblendung der anderen Sprachebenen, etwa des Wortschatzes, führt zu Verzerrungen und lässt keine gesicherte Beurteilung von sprachlicher Einheitlichkeit oder Vielfalt zu. ▶ Sprachsoziologische Argumente: Die neuhochdeutsche Schreibsprache ist mindestens ebenso stark durch die sprachliche Oberschicht (Gebildete) geprägt wie durch die Volkssprachen. Die wichtigsten Originalbeiträge zur Debatte über die Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache enthält die Sammlung von Wegera (2007), ausführliche Auseinandersetzungen damit finden sich in den Monographien von Van der Elst (1987) und Kriegesmann (1990), zusammenfassende Darstellungen bieten einige neuere Sprachgeschichten, z. B. Hartweg/ Wegera (2005, 48-53), Besch/ Wolf (2009, 60-72), während andere die älteren Ansätze bereits unberücksichtigt lassen. <?page no="197"?> 197 8.3. Schreibsprachausgleich: Die Diskussion um die Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache barten Schreibsprachen orientiert und von dort Merkmale übernommen hätten, wodurch es dann sukzessive zu einem überregionalen Ausgleich gekommen sei. Ab wann man den Schreibern oder Druckern das Streben nach einer überregionalen Sprachvereinheitlichung unterstellen darf, ist kaum zu entscheiden. Irgendwann müssen sie jedenfalls damit begonnen haben, nicht mehr auf den eigenen regionalen Schreibtraditionen zu beharren, sondern sich an externen Schreibgebräuchen zu orientieren, die höher bewertet wurden, also als vorbildlich, prestigehaft, vornehm usw. galten. Utz Maas spricht hierbei von einem Übergang von einer „autozentrischen“ zu einer „heterozentrischen“ Orientierung in der Schriftlichkeit (Maas 1987, 99). Im Kontakt der Schreibdialekte zueinander kommt es nach Oskar Reichmann (1988) zu einer „Vertikalisierung“. Im 15. Jahrhundert stehen verschiedene landschaftliche Schreibsprachen „horizontal“ als gleichwertige Varietäten nebeneinander. Im 16. Jahrhundert entwickelt sich jedoch die obersächsische Schreibsprache (mit ostoberdeutschen Einflüssen) zu einer Leitvarietät, an der sich Schreiber und Drucker der übrigen Regionen orientieren. Dadurch werden die Schreibsprachen des alemannischen, ripuarischen oder niederdeutschen Raumes marginalisiert und ab dem 17. Jahrhundert zunehmend in den Bereich der Dialektliteratur verdrängt. Dass sich die obersächsisch-ostoberdeutsch geprägte Schreibsprache in besonderer Weise als Leitvarietät etablieren konnte, hängt zu einem guten Teil damit zusammen, dass die in dieser Schreibsprache geschriebene Lutherbibel in hohen Druckauflagen Verbreitung fand (Kap. 6.2.3). Noch bis weit ins 18. Jahrhundert galt das Obersächsische als Sprachvorbild (vgl. Josten 1976, 20-58). Martin Luther (1483-1546) trägt zum interregionalen Sprachausgleich u. a. dadurch bei, dass er Graphien bzw. Grapheme, die vorwiegend für das Ostmitteldeutsche (omd.) bzw. Ostoberdeutsche (oobd.) typisch sind, zunehmend vermeidet. Einige Beispiele hierfür bietet Schmid (2017, 106-108) in seiner sprachgeschichtlichen Einführung: Orientierung am Ostoberdeutschen (gegen das Ostmitteldeutsche): <u> für u in durst 'Durst' (statt omd. dorst mit Vokalsenkung), <e> in Nebensilben, z. B. Gottes (statt omd. Gottis), welch- und solch- (statt omd. wilch-, sulch-), wider, nider, oder (statt omd. widder, nidder, odder), Vermeidung von omd. Formen mit Schwund eines anlautenden <h->, wie z. B. eraus 'heraus'. Orientierung am Ostmitteldeutschen (gegen das Ostoberdeutsche): <b> für anlautendes b, z. B. bitten (statt oobd. pitten), Erhalt des <e> am Wortende, z. B. Erndte 'Ernte' (statt oobd. erndt), <ei> für mhd. ei, z. B. kein (statt oobd. kain), Negationspartikel nicht (statt oobd. nit). Bei der Diskussion um die Entwicklung der neuhochdeutschen Schriftsprache stellt sich auch die Frage, in welchem Zeitraum und wie sich die frühneuhochdeutschen Schreibvarietäten im westmitteldeutschen Raum und in Norddeutschland ausbreiteten, wann also die dortigen Kanzleien ihre eigenen, ripuarischen oder mittelniederdeutschen Schreibsprachen aufgaben und hochdeutsch geprägte Varietäten übernahmen. Hierbei handelt es sich um einen komplexen Vorgang, sowohl mit Blick auf die raum-zeitliche Ausbreitung der neuen, hoch- <?page no="198"?> 198 8. Graphematischer Wandel von den Anfängen bis in die Neuzeit deutschen Schreibvarietäten als auch in Bezug auf die Art der beteiligten Schreibsprachen und die Modalitäten des Sprachwechsels. Die räumliche und zeitliche Ausbreitung hochdeutscher Schreibsprachen in Norddeutschland hat Artur Gabrielsson (1983) auf einer Karte skizziert (Abb. 37). Abb. 37. Übernahme frühneuhochdeutscher Schreibvarietäten in den Kanzleien Norddeutschlands (aus Gabrielsson 1983, 49) Die Dreiteilung des norddeutschen Raumes (I bis III ) zeigt an, dass die Übernahme hochdeutscher Schreibvarietäten im Südosten (Berlin-Brandenburg) am frühesten erfolgte, im Westen und Norden dagegen oft erst einige Jahrzehnte später. Dies wird zum einen anhand der Jahreszahlen in den Kästchen deutlich, die jeweils angeben, aus welchem Jahr in der betreffenden Kanzlei zum ersten Mal ein hochdeutscher Text bezeugt ist und aus welchem Jahr das letzte niederdeutsche Dokument stammt. In der Berliner Kanzlei etwa ist hiernach bereits 1510 der erste hochdeutsche Text belegt, und schon ab 1530 wird das Niederdeutsche als Schreibsprache aufgegeben. In Flensburg hingegen tritt erst 1580 der erste hochdeutsche Text auf, und der letzte niederdeutsche Text datiert noch aus dem Jahr 1640. Aufschlussreich sind auf Gabrielssons Karte auch die Jahresangaben außerhalb der Kästchen. Sie geben an, wann sich die ersten hochdeutschen Spuren zeigen und wann zuletzt nennenswerte niederdeutsche Einflüsse in den hochdeutschen Texten auftreten. In Berlin gibt es bereits um 1504 hochdeutsche Graphien innerhalb der noch niederdeutschen Schreibsprache, und um 1550 verschwinden die letzten niederdeutschen Merkmale in den hochdeutschen Texten. In Flensburg treten die ersten hochdeutschen Spuren erst 1567 auf, und noch bis ca. 1660 ist das Hochdeutsch der städtischen Kanzlei niederdeutsch durchsetzt. <?page no="199"?> 199 8.3. Schreibsprachausgleich: Die Diskussion um die Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache Grundlage dieser Angaben ist das Modell einer dreiphasigen Entwicklung, das Gabrielsson in demselben Artikel beschreibt. Nach dem Dreiphasenmodell von Artur Gabrielsson (1983) werden in einer ersten Entwicklungsphase hochdeutsche Wörter und Formen entlehnt, ohne dass der niederdeutsche Grundcharakter der Schreibsprache aufgegeben würde. Diese hochdeutschen Entlehnungen sind vor allem Kleinwörter wie Präpositionen (nach, bei, zu, auf, durch statt mnd. na, bi, to, vp, dor) oder Pronomina (ich, mich, er, ihr, wir statt mnd. ick, mi, he, ju, wi) sowie einige prominente Schreib- und Lautmerkmale wie z. B. die Diphthongschreibungen für wgerm. ī, ū, ǖ wie in sein, haus, leude (statt mnd. syn, hues, lude) oder u-Graphien für wgerm. ō wie in thun (statt mnd. doen). In der zweiten Phase werden systematische Regeln zur Transformation niederdeutscher Texte in eine hochdeutsche Form entwickelt. Dies ist nach Gabrielsson an dem vermehrten Auftreten hyperkorrekter Formen abzulesen, bei denen z. B. die Regeln ‚Ersetze nd. p, t, k durch hd. pf, z, ch‘ und ‚Ersetze nd. ī durch hd. ei‘ übergeneralisiert werden, so dass falsche (aber eigentlich regelhaft konstruierte) Formen wie *lapfen (für mnd. lappe 'Lappen'), *zasse (für mnd. tasse 'Tasse') oder *keichen (für mnd. kiken 'gucken') gebildet werden. In der dritten Phase hat sich dann ein Hochdeutsch durchgesetzt, das nur noch einzelne niederdeutsche Formen enthält. Auf Gabrielssons Karte und in seinem dreiphasigen Ablaufschema wird die Etablierung des Hochdeutschen in Norddeutschland modellhaft und somit vereinfachend dargestellt. Manches davon musste nach den Ergebnissen empirischer Studien korrigiert werden. So hat sich etwa herausgestellt, dass die für die Ansetzung der zweiten Entwicklungsphase zentralen Hyperkorrektionen in der Praxis nur selten vorkommen. Auch ist eine sukzessive Zunahme hochdeutscher Formen wohl nicht oder jedenfalls nicht in jedem Fall als ein Lernvorgang zu verstehen, in dem Sinne, dass ein Schreiber sich allmählich die niederdeutsch-hochdeutschen Korrespondenzregeln aneignet, bis er schließlich zu der ausgebauten Hochdeutschkompetenz der Phase 3 gelangt. Vielmehr haben Untersuchungen zu niederrheinischen Kanzleien gezeigt, dass sich Schreiber manchmal auch bewusst mischsprachlicher Schreibvarietäten bedienen, um einerseits die Verbundenheit mit der eigenen kulturellen und sprachlichen Tradition zu signalisieren, andererseits aber auch eine gewisse Offenheit für moderne Formen zum Ausdruck zu bringen. Ein aufschlussreiches Beispiel hierfür diskutiert Tim Stichlmair (2008, 95-101) in seiner Arbeit zur sprachlichen Überschichtung in verschiedenen Städten des Rheinmaaslandes. In der Kanzlei der niederrheinischen Stadt Wesel gibt es einen Schreiber namens Johann van Raesfeld, der über einen Zeitraum von mehreren Jahren (1587-1591) in einer rheinmaasländischen Übergangsvarietät mit hochdeutschen Interferenzen schreibt, um dann im Herbst 1591 innerhalb eines Monats in ein beinahe interferenzfreies Hochdeutsch zu wechseln. Nach Stichlmair spricht dieser abrupte Wechsel klar gegen einen Lernprozess: „Der 1591 in Wesel eintretende plötzliche Wechsel von der Übergangsvarietät mit etwa 20 % hochdeutschen Merkmalen zu einer weitgehend hochdeutsch geprägten Schreibsprache lässt sich als <?page no="200"?> 200 8. Graphematischer Wandel von den Anfängen bis in die Neuzeit klarer Beweis dafür deuten, dass der Stadtsekretär zu dieser Zeit bereits beide Varietäten nebeneinander beherrschte.“ (Stichlmair 2008, 100) Stichlmair (2008, 86) hält es für wahrscheinlich, dass die schreibsprachlichen Strukturen die Mündlichkeit der städtischen Oberschichten reflektieren, denn nur dadurch lassen sich die auffälligen Unterschiede in der Frequenz der einzelnen hochdeutschen Sprachmerkmale in der Übergangsvarietät plausibel erklären. In ähnlicher Weise stellt auch Mihm in mehreren Publikationen die Orientierung niederrheinischer Schreiber an der gesprochenen Sprache der städtischen Oberschichten heraus (Mihm 1999a, 2001b, 2003), und auch in Köln und Augsburg lassen sich solche Tendenzen aufzeigen (Mihm 2017). Die Ergebnisse von Mihm und Stichlmair belegen, dass sich die frühneuzeitlichen Sprachausgleichsprozesse nicht ausschließlich auf der Ebene der Schriftlichkeit vollzogen haben, wie es die Studien von Besch und Stopp nahelegten. Vielmehr konnten den Produzenten schriftlicher Texte auch die gehobenen Sprechvarietäten der gebildeten Schichten als Richtschnur dienen. Vor diesem Hintergrund sind die Prozesse, die letztlich zur Sprachvereinheitlichung führten, offenbar weitaus weniger darauf ausgerichtet, einen überregionalen Schreibstandard zu etablieren, als es die teleologisch ausgerichtete Sprachgeschichtsschreibung früherer Jahrzehnte angenommen hatte. Wenn von dem Sprachwechsel zum „Hochdeutschen“ in den norddeutschen Kanzleien gesprochen wurde, stellt auch dies angesichts der im 16. Jahrhundert noch vorhandenen Vielfalt an Schreibsprachen im mittel- und süddeutschen Raum eine grobe Vereinfachung dar-- die sprachlichen Ausgleichsprozesse waren zu dieser Zeit ja noch in vollem Gange. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, in welchen norddeutschen und nordwestdeutschen Regionen welche Ausprägung des Hochdeutschen übernommen wurde. In den sprachgeschichtlichen Studienbüchern wird gelegentlich pauschal konstatiert, dass es sich um eine ostmitteldeutsch geprägte Schreibsprache gehandelt habe (so noch bei Schmid 2017, 55). Dies ist jedoch nicht überall der Fall. So konnte Mattheier (1981) für das westmitteldeutsche Köln nachweisen, dass die autochthone ripuarische Schreibsprache dort zunächst nicht durch eine ostmitteldeutsche Schreibvarietät ersetzt wurde, sondern durch das im bairischen Sprachraum verbreitete Gemeine Deutsch, was sich etwa im Gebrauch von <p> für anlautendes b (pitten, pleiben) und der oberdeutschen Suffixvariante -nus (statt -nis) manifestiert. Erst später sei ein Übergang zu einer ostmitteldeutsch geprägten Schreibweise erfolgt. Für den niederdeutschen Raum hat Robert Peters (2003a) die Frage der regionalen Provenienz des adaptierten Hochdeutsch anhand einiger Stichproben untersucht. Dabei stellt er auch für die westfälischen Städte Soest, Münster und Osnabrück eine Orientierung an oberdeutschen Schreibtraditionen fest, die allerdings weniger stark ausgeprägt gewesen sei als in Köln. Dagegen sei das östlicher gelegene Braunschweig stärker durch das Ostmitteldeutsche des nahegelegenen Raums Leipzig-Wittenberg beeinflusst gewesen. <?page no="201"?> 201 8.4. Die Standardisierung der neuhochdeutschen Orthographie 8.4. Die Standardisierung der neuhochdeutschen Orthographie Bis ins frühe 16. Jahrhundert verliefen die schreibsprachlichen Ausgleichsprozesse ungesteuert und lokal, d. h. durch letztlich individuelle Veränderungen im Schreibgebrauch, die sich ohne normierende Einflüsse von außen vollzogen. Ab etwa 1530 änderte sich diese Situation, denn mit dem Entstehen der ersten Orthographielehren und Grammatiken des Deutschen setzte ein metasprachlicher Diskurs ein, der seither als potenzieller Einflussfaktor für die weitere Standardisierung des Deutschen betrachtet werden muss. In den vorangehenden Kapiteln wurde bereits mehrfach auf die Bemühungen von Grammatikern hingewiesen, die Entwicklung der volkssprachlichen Schriftsysteme zu beeinflussen, sei es in Bezug auf die Ablehnung graphematischer Variation (Kap. 6.1), die schriftliche Differenzierung von Homophonen (Kap. 6.3.1) oder die Etablierung einer phonetisch orientierten Schreibweise (Kap. 7.7). Darüber hinaus gab es auch Vorschläge von Grammatikern zur Durchsetzung morphembezogener Schreibungen (Kap. 11) und zur Großschreibung von Substantiven (Kap. 13.2). Wir können den zeitgenössischen Diskurs mittlerweile recht gut verfolgen, da die wichtigsten Werke aus der Frühzeit der Orthographietheorie in Editionen vorliegen. Bereits 1882 wurden die ältesten Orthographielehren und Grammatiken von Johannes Müller herausgegeben und besprochen. Darüber hinaus bieten die grammatikographische Darstellung von Jellinek (1913-14) sowie die Monographien von Painter (1989) und Götz (1992) weitere Einblicke in die theoretischen Konzepte der frühen Grammatiker, Orthographen und Lesemeister. Welchen Einfluss ihre Schriften hierbei tatsächlich hatten, ist lange Zeit nicht klar gewesen. Die Grammatiker selbst waren diesbezüglich teilweise durchaus skeptisch. So schreibt Valentin Ickelsamer (*um 1500, † 1547) bezüglich seines Vorschlags, in bestimmten Kontexten einfaches <i> statt <ie> zu gebrauchen, dass sich „die teütschen hierinn nit Reformiern lassen“ (zit. n. Müller 1882, 142). Tatsächlich haben die Untersuchungen der letzten Jahre gezeigt, dass die Grammatikervorschläge meist der Schreibpraxis hinterherliefen; sie haben oft lediglich Regeln für sprachliche Konventionen formuliert, die sich im Schreibgebrauch schon längst durchgesetzt hatten. Dennoch darf die kontinuierliche Begleitung des Usus durch den metasprachlichen Diskurs von Grammatikern und Sprachkritikern, der mittlerweile fast fünf Jahrhunderte währt, nicht unterschätzt werden. Denn erst durch die Formulierung expliziter Regeln für das richtige Schreiben in den grammatischen Handbüchern konnte sich allmählich das Ideal einer überregional homogenen und variantenfreien Orthographie herausbilden, das wir heute kennen. Spätestens ab dem 18. Jahrhundert ist ein deutliches Bemühen um die Schaffung einer überregionalen Schreibnorm erkennbar. Das alte Schreibermodell (der Schreiber als eine Art interregionaler Dolmetscher mit passiven und partiell auch aktiven Kompetenzen in mehreren regionalen Schreibtraditionen) wird durch ein neues Modell ersetzt, das auf der Existenz einer einheitlichen Standardsprache basiert und den Vorgang des „Dolmetschens“ überflüssig macht. Der Begriff „Standardsprache“ wird im „Lexikon der Sprachwissenschaft“ von Hadumod Bußmann (2008) wie folgt definiert: „Standardsprache [Auch: Hochsprache, → Nationalsprache]. Seit den 70er Jahren in Deutschland übliche deskriptive Bezeichnung für die historisch legitimierte, überregionale, mündliche und <?page no="202"?> 202 8. Graphematischer Wandel von den Anfängen bis in die Neuzeit schriftliche Sprachform der sozialen Mittelbzw. Oberschicht-[…]. Entsprechend ihrer Funktion als öffentliches Verständigungsmittel unterliegt sie (besonders in den Bereichen Grammatik, Aussprache und Rechtschreibung) weitgehender Normierung, die über öffentliche Medien und Institutionen, vor allem aber durch das Bildungssystem kontrolliert und vermittelt wird. Die Beherrschung der S. gilt als Ziel aller sprachdidaktischen Bemühungen.“ (Bußmann 2008, 680) Bußmanns Definition der Standardsprachlichkeit bezieht sich auf zwei Aspekte. Auf der Ebene des Sprachsystems ist eine Standardsprache durch die explizite Festlegung von Regeln zum korrekten Sprachgebrauch in Bezug auf Grammatik, Aussprache und Rechtschreibung gekennzeichnet. In Bezug auf den Sprachgebrauch ist im Falle einer abgeschlossenen Standardisierung gewährleistet, dass diese Regeln überregional und in breiten Gesellschaftsschichten bekannt und anerkannt sind (areale und soziale Reichweite) und dass sie nicht nur innerhalb der Familie an die nächste Generation weitergegeben, sondern in öffentlichen Bildungseinrichtungen vermittelt werden. Diese Beschreibung trifft auf die heutige deutsche Standardsprache weitgehend zu. Ihr Sprachsystem ist weitgehend normiert (variantenarm) und kodifiziert, d. h. die Regeln zum korrekten Gebrauch des Deutschen sind in Form von Wörterbüchern und Grammatiken explizit formuliert. Das Standarddeutsche dient zudem der überregionalen Verständigung und wird im schulischen Deutschunterricht vermittelt. Für den Bereich der Mündlichkeit muss man die Äußerungen der Definition allerdings relativieren. Während die Existenz orthographischer Regeln weithin bekannt und akzeptiert ist, gilt dies für die orthophonischen Regeln nur in sehr eingeschränktem Maße. Anders als die Rechtschreibwörterbücher sind die Aussprachewörterbücher des Deutschen vielen nicht bekannt. Zudem herrscht für die gesprochene Sprache eine deutlich höhere Toleranz gegenüber regionaler und stilistischer Variation als im schriftlichen Sprachgebrauch. Dies gilt auch für den Bereich der Grammatik, wo in der Mündlichkeit auch in formelleren Kontexten Varianten akzeptiert werden, die in der Schriftlichkeit noch als Normverletzungen gelten, wie etwa die Verbzweitstellung nach weil, obwohl, wobei und dass. Auch wird selbst in offiziellen Kontexten oftmals der Gebrauch einer informelleren Sprechsprache mit regionalen und umgangssprachlichen Anteilen für angemessener gehalten als eine strikte Orientierung an den schriftorientierten Normen der Standardsprache. Gegenüber diesen Einschränkungen in Bezug auf den mündlichen Sprachgebrauch kann für das geschriebene Deutsch heute zweifellos von der Existenz einer weitgehend normierten und kodifizierten Standardsprache ausgegangen werden, mit leichten Unterschieden auf nationaler Ebene (bundesdeutsches, österreichisches, schweizerisches Standarddeutsch). In historischer Perspektive ist zu fragen, wie diese Sprachstandardisierung verlaufen ist. Der Prozess der Variantenselektion setzte im Deutschen schon vor dem 16. Jahrhundert durch die interregionalen Ausgleichsvorgänge ein. Durch die Kodifikation über Grammatiken und Wörterbücher wird er weiter befördert. Hierbei lässt sich in Bezug auf die Schreibnormen erkennen, dass die Normierungsvorschläge teilweise bereits auf die heutigen orthographischen Konventionen zulaufen, in anderen Fällen jedoch nicht erfolgreich waren bzw. später wieder revidiert wurden. Als ein Beispiel für diese „Wege und Umwege“ (nach Mattheier 1981) zum <?page no="203"?> 203 8.4. Die Standardisierung der neuhochdeutschen Orthographie heutigen Standard-Schriftdeutschen seien die Regeln zum Gebrauch der Buchstaben k und c in der Grammatik von Schottelius (1663) angeführt: „Das C wird zuweilen misbrauchet / als: 1. Wird es ohn Uhrsach an das K gehengt / als kranck / trinck / starck / marck etc. alhier ist die geringste Uhrsache nicht verhanden / wird auch dem Worte gar nichts damit geholffen / daß ein C zwischen n und k / oder r und k / gesetzet wird; Schreibt man derowegen recht also Krank / stark / Mark etc.-[…] 2. Wen ̄ das K. muß zumitten des Wortes gedoppelt werden / alsdan ̄ fndet das c daselbst keinen Platz / also schreibt man recht / schikken / trůkken / und nicht schicken / trůcken etc.-[…] 3. So oft auch ein Mitlautender vor dem / k / hergehet / ist es gar unno ͤ tig / daß man ein c dazwischen setze / also schreibt man recht Wolken / blinken / winken / wirken / etc. und nicht Wolcken / blincken / wincken / wircken / etc. 4. Das C / zu anfang ist zweiffellautig / zumahl C vor / a / o / l / r / lautet als ein k; vor e / und i / aber / als ein z / als: Canzel / Corall / Clavir / Crocodill / Ceder / Citronem / etc.-[…] in uhrspru ͤ nglich Teutschen Wo ͤ rtern / hat man des Buchstaben c in solcher Deutung gar nicht von no ͤ ten / sondern wird gebrauchet das k / und z / als kommen / Kaste / kriegen / klug / zier / zeugen etc.“ (Schottelius 1663, 204 f.; Kursivierungen M. E.) Alle vier Regeln zielen auf eine Einschränkung der graphematischen Variation ab. Im 17. Jahrhundert noch gängige Schreibvarianten wie krank / kranck, schicken / schikken, Wolken / Wolcken, kommen / commen oder zier / c(z)ier sollen nach Schottelius’ Auffassung jeweils durch eine einzige, verbindliche Form ersetzt werden. Im Falle der Regeln Nr. 1 und 3 läuft dies auf die Durchsetzung der heute üblichen Schreibungen hinaus (krank, Wolken). Auch Regel Nr. 4, die den Gebrauch des <c> auf Lehnwörter beschränkt, gilt im Prinzip noch heute (vgl. Schreibungen wie Café, Computer, Creme), auch wenn die von Schottelius angeführten Beispielwörter mittlerweile graphematisch assimiliert wurden (Kanzel, Korall, Klavier, Krokodil, Zeder, Zitrone). Im Falle von Regel Nr. 2 konnte sich die vorgeschlagene Variantenfestlegung (schikken, trůkken) allerdings langfristig nicht gegenüber der Schreibung mit <ck> durchsetzen. Bis heute ist die deutsche Orthographie nicht variantenfrei, was vor allem damit zu tun hat, dass es bei der Durchsetzung graphematischer Neuerungen in der Regel eine Übergangsperiode gibt, in der ältere und neuere Schreibungen nebeneinanderstehen. Davon sind heute vor allem Lehnwörter oder Lehnwortbildungen betroffen, die zunächst mit der in der Ausgangssprache üblichen Schreibweise realisiert wurden und in einem zweiten Schritt graphematisch assimiliert werden. Ein Vergleich von ausgewählten Wörterbüchern der deutschen Sprache (darunter mehrere Auflagen des Rechtschreib-Dudens) macht deutlich, dass diese Anpassung lexemspezifisch und in zeitlicher Staffelung verlief (Tab. 12). <?page no="204"?> 204 8. Graphematischer Wandel von den Anfängen bis in die Neuzeit Liebe 1701 Jablonski 1740 Frisch 1741 Adelung 1811 Heinsius 1828-30 Sanders 1860-65 Zins Cantzel Kantzel Canzel (Kanzel) Kanzel Canzel / Kancel Kanzel Corallen Coralle (Koralle) Koralle Crocodil Crocodill Krokodil(l) Secretär Sekretär Clavier Clavier / Klavier Klavier Ceder Zeder Ceder / Zeder Concert Koncert social Censur Citrone Zitron / Citron Citron(e) Citrone Accent Cigarette / Zigarette bis 1865 nicht belegt. Cirkus Duden 1 1880 Duden 8 1909 Duden 9 1915 Duden 12 1941 Duden 16 1967 Duden 20 1991 Duden 27 2017 Zins Kanzel Koralle Krokodil(l) Sekretär Klavier Ceder / Zeder Zeder Concert / Konzert / Koncert Konzert social / sozial sozial Censur / Zensur Zensur Citrone / Zitrone Zitrone Accent Akzent Cigarette Zigarette Cirkus Zirkus Zirkus (Circus) Tab. 12. Vergleich der Schreibungen von 14 Wörtern mit <c>, <k> oder <z> in verschiedenen Wörterbüchern des Deutschen vom 18. bis 21. Jahrhundert (Nebenformen in Klammern; leeres Feld = Wort nicht im Wörterbuch enthalten) (nach Liebe 1701, Jablonski 1740, Frisch 1741, Adelung 1811, Heinsius 1828-30, Sanders 1860-65, Duden 1880, Duden 1909, Wülfing / Schmidt 1915, Fachschriftleitung des Bibliographischen Instituts 1941, Grebe et al. 1967, Drosdowski et al. 1991, Kunkel-Razum et al. 2017) <?page no="205"?> 205 8.4. Die Standardisierung der neuhochdeutschen Orthographie In den Wörterbüchern des 18. Jahrhunderts wurden die exemplarisch ausgewählten Lexeme (sofern schon belegt) überwiegend mit der Graphie <C> bzw. <c> realisiert. Nach und nach setzte sich dann in allen Fällen die Schreibung mit <K, k> bzw. <Z, z> durch. Hierbei sind die Wörter Koralle, Krokodil(l), Kanzel und Zins bereits im Wörterbuch von Adelung (1811) in der modernen Schreibweise verzeichnet; Sekretär, Klavier und Zeder werden in unserem Auswahlkorpus erst bei Heinsius (1828-30) mit <K, k> bzw. <Z> realisiert (hier noch mit der Nebenform Clavier); Koncert erst bei Sanders (1860, noch mit <c> im Inlaut); sozial, Zensur und Zitrone in dem orthographischen Wörterbuch von Konrad Duden (1880, noch mit den Varianten social, Censur, Citrone); Akzent, Zigarette, Zirkus im Rechtschreib-Duden von 1909. Die Angaben in Klammern beziehen sich auf Schreibvarianten, die in den Wörterbüchern noch als Nebenformen neben der jeweils empfohlenen Hauptform geführt werden. Diese Angaben machen deutlich, welche traditionellen Formen als „veraltend“ anzusehen sind oder welche neuen Schreibvarianten auf dem Weg waren, sich durchzusetzen. Die hier verzeichnete Wortvariation ist somit ein Indikator für den sich zur jeweiligen Zeit vollziehenden schreibsprachlichen Wandel. Das Beispiel des langwierigen Wandels der Fremdwortschreibungen (vgl. Zastrow 2015) macht deutlich, dass der Schreibsprachwandel auch in den Jahrhunderten seit Begründung des metasprachlichen Grammatikdiskurses vielfach nicht auf systematische Planungen zurückgeht, sondern auf lexemspezifische Neuerungen in der Schreibpraxis. Radikalere Vorschläge für eine Normierung der deutschen Orthographie nach einheitlichen Prinzipien gab es seit dem 17. Jahrhundert zwar immer wieder, sie konnten sich jedoch niemals durchsetzen (Kap. 7.7). In einzelnen Fällen wurde das Rad aufgrund der anderslaufenden Entwicklungen in der Praxis sogar wieder zurückgedreht. So wird in den neueren Auflagen des Rechtschreib-Dudens die Schreibvariante Circus als Nebenform zugelassen, die in den Auflagen von 1909, 1915, 1941 und 1967 nicht enthalten war, mutmaßlich in Orientierung an den Selbstbenennungen der Zirkusse-- von 192 in Deutschland tätigen Zirkusunternehmen, die in einer einschlägigen Wikipedia-Liste aufgeführt sind (https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Liste_von_Zirkusunternehmen), verwenden 182 (also etwa 95 %) in ihrem Namen die Schreibvariante Circus, eines die Variante Cirkus und nur neun die im Wörterbuch als Hauptvariante angesetzte Schreibung Zirkus. Auch bei den aus dem Französischen übernommenen Lehnwörtern Creme und Cousine konnten sich Normvorschläge für assimilierte Formen mit <K> langfristig nicht durchsetzen. Kreme wurde von Sanders (1860-65) als Schreibung angesetzt, Krem als Variante neben Creme z. B. in den Ausgaben des Rechtschreib-Duden von 1941, 1967 und 1991. In der neuesten Auflage von 2017 wird die Variante Krem jedoch als „veraltet“ charakterisiert. Ähnliches gilt für die Schreibung Kusine. In früheren Duden-Auflagen (1909, 1915) heißt es, diese Schreibung sei zwar „noch nicht amtlich gestattet, aber schon viel gebraucht“, in den Auflagen von 1941 und 1967 erscheint Kusine als gleichwertige Variante zu Cousine, in der Auflage von 2017 dagegen nur noch als Nebenform. Der tatsächliche Gebrauch der beiden Varianten in gedruckten Texten lässt sich über Datenbankrecherchen auf der Internet-Plattform „Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache“ ( DWDS ) überprüfen, etwa durch eine Suchabfrage zum Vorkommen der Varianten Creme, Kreme und Krem in dem Korpus Deutsches Textarchiv (1800-1899), dem DWDS - <?page no="206"?> 206 8. Graphematischer Wandel von den Anfängen bis in die Neuzeit Kernkorpus (1900-1999) und dem DWDS -Kernkorpus 21 (2000-2010). Während die Variante Creme im gesamten Zeitraum belegt ist, mit insgesamt 295 Belegen aus 95 unterschiedlichen Textquellen, tritt die Schreibweise Kreme insgesamt nur zwei Mal und die Variante Krem nur in fünf Korpustexten (mit 37 Belegen) aus der Zeit zwischen 1937 und 1981 auf (Tab. 13). Deutsches Textarchiv (1800-99) DWDS - Kernkorpus (1900-24) DWDS - Kernkorpus (1925-49) DWDS - Kernkorpus (1950-74) DWDS - Kernkorpus (1975-99) DWDS - Kernkorpus (2000-10) Creme Belege Creme Quellen 136 25 13 13 39 20 59 15 30 8 18 14 Kreme Belege Kreme Quellen - - - - 2 2 - - - - - - Krem Belege Krem Quellen - - - - 14 2 22 2 1 1 - - <K> nach Belegen <K> nach Quellen 0 % 0 % 0 % 0 % 29,1 % 16,7 % 27,2 % 11,8 % 3,2 % 11,1 % 0 % 0 % Tab. 13. Gebrauch der Schreibvarianten Creme, Kreme und Krem in den Textkorpora des DWDS . Gesucht wurde jeweils nach den exakten Wortformen im Singular (Suchabfragen @Creme, @Kreme, @Krem). Pluralformen wurden nicht erfasst. Berücksichtigt wurden nur die Treffer, die auch ausgeworfen wurden; Belege, die aus urheberrechtlichen Gründen fehlen und daher nicht kontrollierbar waren, gingen also nicht in die Zählung ein. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei dem Wort Cousine / Kusine (Tab. 14). Die eingedeutschte Schreibweise Kusine ist zwar während des gesamten Untersuchungszeitraums belegt, ist jedoch nur in den Jahren 1925-1949 quantitativ dominant und kann sich letztlich nicht gegenüber der traditionellen Schreibung Cousine durchsetzen. Deutsches Textarchiv (1800-99) DWDS - Kernkorpus (1900-24) DWDS - Kernkorpus (1925-49) DWDS - Kernkorpus (1950-74) DWDS - Kernkorpus (1975-99) DWDS - Kernkorpus (2000-10) Cousine Belege Cousine Quellen 231 52 113 31 40 13 20 8 34 14 24 6 Kousine Belege Kousine Quellen 24 3 5 1 2 1 - - - - - - Kusine Belege Kusine Quellen 2 1 81 19 33 20 9 7 9 4 8 4 <K> nach Belegen <K> nach Quellen 10,1 % 7,1 % 40,7 % 37,3 % 44,0 % 58,8 % 31,0 % 46,7 % 20,9 % 22,2 % 25,0 % 40,0 % Tab. 14. Gebrauch der Schreibvarianten Cousine, Kousine und Kusine in den Textkorpora des DWDS . Die Variante Cusine ist nicht belegt. Gesucht wurde jeweils nach den exakten Wortformen im Singular (Suchabfragen @Cousine, @Kousine, @Kusine). Pluralformen wurden nicht erfasst. Fehlbelege wurden aussortiert, z. B. sechs Treffer aus dem Korpus Deutsches Textarchiv (1800-99), die aus dem modernen Kommentar einer Jean-Paul- Ausgabe von 1960 stammen (aufgenommen wurden hingegen zwei in dieser Ausgabe zitierte Belege aus einem Originalbrief von 1822). Berücksichtigt wurden nur die Treffer, die auch ausgeworfen wurden; Belege, die aus urheberrechtlichen Gründen fehlen und daher nicht kontrollierbar waren, gingen nicht in die Zählung ein. <?page no="207"?> 207 8.4. Die Standardisierung der neuhochdeutschen Orthographie Die Beispiele zeigen, dass die Graphie <C> zur Bezeichnung des k-Lautes nicht in jedem Fall „auf den Aussterbe-Etat gesetzt“ war, wie Konrad Duden (1880, XII ) noch prognostizierte. Zumindest bei einigen französischen Lehnwörtern scheint der Gebrauch der älteren Schreibung zu überdauern. Gestützt wird dieser Trend in jüngerer Zeit durch die englischen Lehnwörter, die meist in der originalen Schreibweise ins Deutsche übernommen werden (Camping, Clan, Computer). Auch hier lässt sich beobachten, dass bereits durchgeführte graphematische Eindeutschungen teilweise wieder rückgängig gemacht werden. So hatte sich die Schreibung Klub in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gegenüber Club bereits weitgehend durchgesetzt (89 % nach Belegen in dem Zeitraum 1900-24), ihr Beleganteil ging jedoch in den folgenden Jahrzehnten kontinuierlich zurück und fiel in den Texten des 21. Jahrhunderts auf unter 10 % (Tab. 15). Deutsches Textarchiv (1875-99) DWDS - Kernkorpus (1900-24) DWDS - Kernkorpus (1925-49) DWDS - Kernkorpus (1950-74) DWDS - Kernkorpus (1975-99) DWDS - Kernkorpus (2000-10) Club Belege Club Quellen 33 13 25 21 46 29 92 57 178 109 149 32 Klub Belege Klub Quellen 14 7 203 78 150 68 86 38 68 45 14 8 <K> nach Belegen <K> nach Quellen 29,8 % 35,0 % 89,0 % 78,8 % 76,5 % 70,1 % 48,3 % 40,0 % 27,6 % 29,2 % 8,6 % 20,0 % Tab. 15. Gebrauch der Schreibvarianten Club und Klub in den Textkorpora des DWDS . Gesucht wurde jeweils nach den exakten Wortformen im Singular (Suchabfragen @Club, @Klub). Plural- und Genitivformen wurden nicht erfasst. Berücksichtigt wurden nur die Treffer, die auch ausgeworfen wurden; Belege, die aus urheberrechtlichen Gründen fehlen und daher nicht kontrollierbar waren, gingen nicht in die Zählung ein. Abb. 38. Gebrauch der Schreibvarianten Cousine und Kusine in den digitalisierten Texten aus Google Books (Diagramm mittels Ngram Viewer) <?page no="208"?> 208 8. Graphematischer Wandel von den Anfängen bis in die Neuzeit Abb. 39. Gebrauch der Schreibvarianten Club und Klub in den digitalisierten Texten aus Google Books (Diagramm mittels Ngram Viewer) Auswertungen mit Ngram Viewer (Google Books) Die diachrone Entwicklung der <C>- und <K>-Schreibung in Wörtern wie Creme / Krem, Cousine / Kusine oder Club / Klub lässt sich in der Darstellung des Programms Ngram Viewer eindrucksvoll veranschaulichen (Abb. 38-39). Ngram Viewer ist ein Webtool der Firma Google, mit Hilfe dessen berechnet werden kann, mit welcher relativen Häufigkeit ein Wort oder eine Folge von Wörtern in einer großen Menge an digitalisierten Büchern aus etwa fünf Jahrhunderten (ca. 1500-2008) vorkommt. Ngram Viewer führt hierfür eine automatisierte Suche nach wiederkehrenden Zeichenfolgen durch. Als Datengrundlage dient die als Google Books bezeichnete Sammlung eingescannter Bücher. Ihr geschätzter Umfang beträgt ca. 5,2 Millionen digitalisierte Bücher in verschiedenen Sprachen; das Teilkorpus deutschsprachiger Bücher soll nach Willems (2012, 82) etwa 37 Milliarden Wörter umfassen. Das zugrunde liegende Textmaterial ist somit außerordentlich umfangreich und ein nützliches Werkzeug, um auf schnelle Weise viele Belege für ein Wort oder eine bestimmte Wortschreibung zu erhalten. Aus wissenschaftlicher Sicht hat das Korpus jedoch einige Nachteile (vgl. Willems 2012 und Hinze 2012): ▶ Es handelt sich nicht um ein nach klaren Kriterien geschichtetes Textkorpus, sondern um eine zufällige Auswahl von Büchern. Unterschiedliche Bereiche der Schriftlichkeit (Belletristik, wissenschaftliche Texte, Gebrauchstexte) und verschiedene Zeiträume sind nicht gleichmäßig vertreten; der Bereich der wissenschaftlichen Literatur gilt als überrepräsentiert. Damit ist die Validität und Repräsentativität der Ergebnisse eingeschränkt. ▶ Viele der eingescannten Texte sind nicht korrekt datiert oder kategorisiert. Ein Problem sind beispielsweise Neuausgaben älterer literarischer Werke, die unter dem Datum des Erscheinens dieser Ausgabe geführt werden, während für die diachrone Einordnung des Beleges das Datum der Entstehung oder des Erstdrucks des betreffenden Textes relevant wäre. So wird für den Zeitraum 1989-2000 der Beleg Kusine in einer Textstelle aus dem Drama „Thomas <?page no="209"?> 209 8.4. Die Standardisierung der neuhochdeutschen Orthographie Abb. 40. Beispiel für einen fehlerhaft gescannten Text aus Google Books (Originaldruck in Frakturschrift) Chatterton“ von Hans Henny Jahnn ausgeworfen, da das Stück in einer 1993 erschienenen Werkausgabe enthalten ist. Das Drama und damit auch die <K>-Schreibung stammt aber von 1956. ▶ Problematisch erscheint auch die relativ hohe Zahl von Scanfehlern, die insbesondere im Zusammenhang mit älteren, in Frakturschrift gedruckten Büchern auftreten. Ein notorisches Problem ist die Ähnlichkeit des langen s ( ſ) der Frakturschrift mit dem Kleinbuchstaben f. Gibt man bei Ngram Viewer die fehlerhafte Schreibung Coufine ein, so wird eine Kurve ausgeworfen, die etwa bis in die 1930er Jahre reicht. Da der Algorithmus von Ngram Viewer nur Lemmata berücksichtigt, die in mindestens 40 Büchern vorkommen, muss es sich hier um eine große Zahl an Belegen handeln, die aufgrund des fehlerhaften Scanvorgangs bei der regulären Abfrage Cousine nicht erfasst werden. Bei einem Blick in die Textausschnitte aus Google Books wird deutlich, dass hier insgesamt noch viel mehr fehlerhafte Lesungen enthalten sind (Abb. 40). Der Scan des Textbeispiels von 1802 enthält zahlreiche Fehler, die sich nicht nur auf die Verwechslung der Zeichen ſ und f beschränken. Da nach Fehlschreibungen wie Cdufine oder (in anderen Textausschnitten) Couflne, Coufiue oder Coufinc nicht gezielt gesucht werden kann, fallen bei den älteren deutschen Texten zahlreiche Belege durchs Raster, wodurch sich im Vergleich zu den weniger fehleranfälligen Texten in lateinischer Druckschrift eine statistische Verzerrung ergibt (vgl. auch Willems 2012, 97-100). Aus den genannten Gründen sollte der Ngram Viewer in erster Linie als ein heuristisches Instrument verstanden werden, das dazu eingesetzt werden kann, um auf schnelle und unkomplizierte Weise Hinweise auf die ungefähren Zeiträume zu gewinnen, in denen sich ein graphematischer Wandelprozess vollzogen haben könnte. Eine wissenschaftlich gesicherte Analyse muss sich dagegen auf eine zuverlässigere Korpusgrundlage stützen. Auswertungen mit dem DWDS Hierfür bietet sich das Korpus des Projekts Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache ( DWDS ) an, auf das bereits oben zurückgegriffen wurde (vgl. Geyken et al. 2017). Das DWDS - Korpus ist mit seinen ca. 258 Millionen Textwörtern zwar sehr viel kleiner als die Datenbasis der deutschsprachigen Bücher aus Google Books, auf die Ngram Viewer zurückgreift (37 Milliarden Textwörter) - das Verhältnis beträgt ungefähr 1: 143. Das DWDS -Korpus hat jedoch den Vorteil, dass es in mehrfacher Hinsicht wissenschaftliche Ansprüche erfüllt: <?page no="210"?> 210 8. Graphematischer Wandel von den Anfängen bis in die Neuzeit ▶ Ausgewogenheit: Die verschiedenen Domänen der Schriftlichkeit (Belletristik, Gebrauchsliteratur, wissenschaftliche Texte, Zeitungstexte) sind in vergleichbaren Anteilen im Gesamtkorpus vertreten (jeweils etwa zu einem Viertel), und auch in zeitlicher Hinsicht ist eine tendenziell gleichmäßige Verteilung gewährleistet. So sind z. B. im DWDS -Kernkorpus 1900-1999 die einzelnen Dekaden jeweils mit Stichproben im Umfang von ca. 20 000 bis 33 000 Einheiten vertreten (vgl. Geyken 2007). Bei den älteren Zeitstufen gibt es zwar etwas größere Schwankungen (z. B. liegen für den Zeitraum 1721-1730 nur 18 Werke zugrunde, für den Zeitraum 1791-1800 dagegen 142 Texte), doch gibt es kein Jahrzehnt, das nicht abgedeckt wäre. Zudem ist die Korpusauswahl transparent, so dass geringere Belegvorkommen bei genauerer Analyse erklärt und ggf. rechnerisch ausgeglichen werden können. ▶ Zuverlässigkeit: Die Texte sind sorgfältig transkribiert bzw. eingescannt worden, Fehlschreibungen wie Coufine oder Kufine sind im Korpus nicht enthalten. ▶ Annotation: Alle Teilkorpora wurden u. a. nach Wortarten annotiert, so dass mit einer Abfrage auch verschiedene Formen eines Wortes erfasst werden können. Wenn etwa nach dem Wort Cousine gesucht wird, dann wird auch die Pluralform Cousinen mit erfasst. Da es sich hierbei allerdings um eine „schreibweisentolerante Suche“ handelt (was für lexikalische Analysen sehr hilfreich ist), wird dabei auch die Schreibung Kousine mit erfasst. Suchabfragen zu graphematischen Zwecken sollten daher besser die Möglichkeit nutzen, unmittelbar nach konkreten Wortschreibungen zu suchen (durch Voranstellung des At-Zeichens: @Cousine, @Kusine, @Cousinen usw.). ▶ Exaktheit und Transparenz: Ein weiterer Vorteil der Suche im DWDS -Korpus besteht darin, dass man exakte Belegangaben erhält, während Ngram Viewer nur vage Häufigkeitsrelationen darstellt. Als Beispiel kann das obige Diagramm für Cousine / Kusine in Abb. 38 angeführt werden. Die für die Schreibung Cousine gezeichnete Kurve gibt an, dass diese Wortform um das Jahr 2000 einen Anteil von etwa 0.000120 Prozent am gesamten Korpus hat, während der Anteil um 1980 nur etwa 0.000045 Prozent betrug. Wieviele Belege sich hinter diesen abstrakten Zahlenwerten verbergen, lässt sich nur mit großem Aufwand und näherungsweise ermitteln (vgl. Risi o. J.). Trotz der vielen Vorteile des DWDS -Korpus ist im Rahmen einer seriösen wissenschaftlichen Studie auch hier eine genaue Prüfung der Textbelege unumgänglich. Dies lässt sich am Beispiel der Analysen zum Wort Creme / Krem demonstrieren: ▶ Bei der DWDS -Suche wird nur angegeben, wieviele Belege für den gewählten Zeitabschnitt gefunden wurden, aber nicht, aus wievielen Quellen sie stammen. Das kann dann zu Verzerrungen führen, wenn es sehr viele Belege gibt, die aus einem einzigen Buch stammen. So entfallen fast drei Viertel der 136 Belege für Creme aus dem Zeitraum 1800 bis 1899 auf nur zwei Bücher, nämlich Henriette Davidis’ „Praktisches Kochbuch für die gewöhnliche und feinere Küche“ (4. Aufl. Bielefeld 1849) mit 61 Belegen und das „Praktische Kochbuch für die Deutschen in Amerika“ (Milwaukee 1879) mit 39 Belegen. Es ist daher empfehlenswert, neben der Zahl der Belege auch die Zahl der unterschiedlichen Texte, in denen sie vorkommen, händisch mit zu ermitteln (in Tab. 13 ist diese Differenzierung bereits berücksichtigt). <?page no="211"?> 211 8.4. Die Standardisierung der neuhochdeutschen Orthographie Die gesellschaftliche Relevanz der orthographischen Regelungen wuchs mit der Alphabetisierung der Bevölkerung und der Expansion der Schrift in alle gesellschaftlichen Bereiche und sozialen Gruppen im 19. Jahrhundert. Die meisten kommunikativen Handlungen im institutionellen Bereich (z. B. Beschwerden, Anfragen, Gesuche) sind nun schriftbasiert, und auch private Nachrichten werden in zunehmenden Maße im Medium der Schrift verbreitet, etwa in den Kleinanzeigen der Zeitungen (Geburts- und Todesanzeigen, Heiratsanzeigen, Stellengesuche und -angebote, Verkaufsanzeigen, Hinweise auf Vereinsfeiern usw.). Anders als zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als für das Aufsetzen von Schriftstücken nicht selten professionelle Dienstleister in Anspruch genommen wurden, wächst nun der soziale Druck auf den Einzelnen, die deutsche Orthographie sicher zu beherrschen. Im Jahr 1880 erscheint erstmals das „Vollständige Orthographische Wörterbuch der deutschen Sprache“ von Konrad Duden (1829-1911), das sich bald als quasi-amtliche Norminstanz etabliert, ab der 9. Auflage 1915 unter dem neuen Titel „Duden-- Rechtschreibung der deutschen Sprache und der Fremdwörter“. Die seit der Zweiten Orthographischen Konferenz 1901 landesweit als verbindlich definierten orthographischen Normen werden in den Schulen vermittelt, für die Behördenkommunikation vorgeschrieben und dienen auch den Presseorganen zunehmend als Richtschnur (wobei zusätzliche Regelungen über zeitungsspezifische „Hausorthographien“ festgelegt werden). Abweichungen von diesen definierten orthographischen Standards traten bis in die 1990er Jahre allenfalls in klar definierten Nischen der Schriftlichkeit auf, etwa in bestimmten ▶ Gelegentlich sind auch im DWDS -Korpus irrelevante Belege enthalten, die allerdings nicht auf Scanfehler zurückgehen, sondern auf Homonymie. Wenn z. B. nach der Form @Krems gesucht wird, werden nicht nur korrekte Belege für den Plural des Wortes Krem gefunden („Gekochte Milch zu Mehlspeisen, Krems, Eierkuchen verbrauchen“), sondern auch Textausschnitte angezeigt, bei denen Krems einen Ortsnamen („die Hafenanlagen von Wien, Linz und Krems“) oder Flussnamen („Kirchdorf a. d. Krems“) repräsentiert. Diese Belege müssen händisch aussortiert werden. ▶ Ebenso kann es vorkommen, dass Wörter wie Creme in fremdsprachlichen Textpassagen enthalten sind, also solchen, bei denen eine Figur französisch spricht oder französische Namen verwendet werden („Fromage a la Creme“); auch diese Belege müssen nachträglich herausgefiltert werden. ▶ Für eine genauere Analyse des Gebrauchs von <C> und <K> wäre es zudem wichtig, die verschiedenen Wortbedeutungen zu differenzieren. Der Rechtschreib-Duden weist in seiner 20. Auflage von 1991 darauf hin, dass die Schreibweise Krem vor allem mit der Bedeutung 'schaumige Nachspeise' verwendet werde und nur selten mit der Bedeutung 'Salbe' (Hautcreme). Bei der Suche im DWDS-Korpus werden diese semantischen Unterschiede nicht automatisch erfasst. Die Verwendungen der Wortform Creme zur Bezeichnung des Desserts („eine Creme von Süßmandelbutter“), der Salbe („fettende Creme für zu trockene Haut“), der Farbe („Die große Vorliebe der Saison für Weiß und Creme“) oder - in übertragener Bedeutung - zur wertenden Hervorhebung einer sozialen Gruppe („die Creme der Gesellschaft“) lassen sich jedoch anhand der Textausschnitte im Nachhinein ausdifferenzieren, ebenso wie das Auftreten in Produktnamen („Creme 21“). <?page no="212"?> 212 8. Graphematischer Wandel von den Anfängen bis in die Neuzeit Formen der experimentellen Literatur, in der Dialektliteratur, in beschränktem Maße auch in der Werbung (Cigarette, Chocolade, Kap. 6.2.4) oder bei der Benennung gewerblicher oder wissenschaftlicher Einrichtungen (Centrum für- …, Spandau Arcaden). Erst mit der Durchsetzung von Computer und Smartphone haben sich vielfältige neue Formen digitaler Schriftlichkeit entwickelt, die heute von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung genutzt werden (seit 1984 [in Deutschland]: Email; seit 1992: SMS ; seit 2004: Facebook; seit 2006: Twitter; seit 2009: WhatsApp; seit 2010: Instagram usw.). Die heute aufwachsende Generation kommuniziert viel häufiger im Medium der Schrift als jede andere Generation davor. Hierbei wird häufig eine informelle Form des Schreibens gewählt, die sich nicht in allen Punkten an den Normen der Standardorthographie ausrichtet, z. B. mit Verzicht auf satzinitiale oder nominale Großschreibung, reduzierter Interpunktion, neuen Kürzeln für hochfrequente Wörter (u 'und', vlt 'vielleicht', di 'Dienstag') oder Wendungen (asap 'as soon as possible', bb 'bis bald') und einer ikonischen Verwendung von Satzzeichen als Emoticons wie in : -) (vgl. Dürscheid/ Siever 2017). Dass immer mehr Menschen kontinuierlich schreiben, ließe sich grundsätzlich als positive Entwicklung bewerten, da eine alte Kulturtechnik, die manchen Kritikern in den 1980er Jahren schon substanziell bedroht schien, in einem ungeahnten Maße gestärkt wird. Im öffentlichen Diskurs dominiert allerdings eine sprachkritische Perspektive, die sich an den normabweichenden Schreibweisen entzündet. Inwieweit sich die Neuerungen in den Neuen Medien tatsächlich auf die Entwicklung der orthographischen Kompetenz auswirken werden, ist derzeit noch nicht abzusehen (vgl. Dürscheid/ Frick 2016, Storrer 2017). In der Linguistik wird der Einfluss auf klassische Domänen des Schreibens derzeit als eher gering eingeschätzt. So schreibt Angelika Storrer dazu in einem aktuellen Beitrag über „Internetbasierte Komunikation“: „Bislang gibt es keine Anzeichen, dass die neuen Schreibformen im großen Stil das Schreiben in Textsortenbereichen beeinflussen, in denen die Orientierung am Standard und das Einhalten von Normen wichtig ist, beispielsweise in der Wissenschaft oder im Rechtswesen. Auch gibt es bislang keine Hinweise darauf, dass sich schulische Schreibfähigkeiten durch das Schreiben im Netz verschlechtern; empirische Untersuchungen legen im Gegenteil nahe, dass Jugendliche in der Regel durchaus zwischen verschiedenen Sprachstilen und Registern unterscheiden können. Die neuen interaktionsorientierten Schreibformen erweitern also das Spektrum schriftsprachlicher Handlungsmöglichkeiten, das normkonforme textorientierte Schreiben wird dabei nicht ersetzt, sondern ergänzt.“ (Storrer 2017, 278) Aus graphematischer Sicht ist in jedem Fall ein Zuwachs an schreibsprachlicher Vielfalt zu konstatieren. Die neuen Medien tragen in diesem Sinne offensichtlich auch zur Entfaltung neuer Kreativität im Umgang mit Schrift und Orthographie bei. In einer langfristigen Perspektive kann man vielleicht eine wiederauflebende Toleranz für graphematische Variation erwarten-- gewissermaßen als Wiederentdeckung des vormodernen Typus eines Schreibers, der graphematische Ressourcen je nach Anlass, Thema oder Gesprächspartner flexibel nutzt, und eines Lesers, der mühelos in der Lage ist, die indexikalische oder sozialsymbolische Bedeutung graphematischer Varianten zu interpretieren. <?page no="213"?> 213 9. Grundeinheiten der Graphematik und Verschriftungsprinzipien In den vorangehenden Kapiteln wurde dargelegt, dass sich die Graphematik nicht in erster Linie mit den materiellen Aspekten der Schrift oder den formalen Eigenschaften der Buchstabenformen beschäftigt, sondern vielmehr mit der Frage, wie die Basiseinheiten des Schreibens für die Referenz auf die Lautsprache und die Übermittlung von Bedeutungen funktionalisiert werden. Wie in jeder Wissenschaft, so gilt es auch hier zunächst diese Basiseinheiten genauer zu bestimmen, um anschließend Prinzipien für deren Verwendung im Rahmen von Schreibsystemen herauszuarbeiten. Diese graphematischen Grundlagen sollen im Folgenden an Beispielen aus dem Orthographiesystem des Standarddeutschen veranschaulicht werden, jeweils bereits mit Blick auf deren Relevanz für die Analyse historischer Schreibsprachen. Hierbei geht es zunächst um die Bestimmung der Grundeinheiten der graphematischen Beschreibung (Graphe, Graphien, Grapheme; Kap. 9.1). Anschließend wird darauf eingegangen, welche Prinzipien der Verschriftung in der Graphematik angenommen werden und welche Relevanz ihnen im Kontext der Historischen Graphematik zukommt (Kap. 9.2). 9.1. Grundeinheiten der Graphematik: Graphe, Graphien, Grapheme Der erste (Teil-)Satz des vorliegenden Buches lautet: „Im Jahre 1877 erfindet Thomas Alva Edison den Phonographen,“ Bei einer graphematischen Analyse dieses (Mikro-)Textes müssten Einheiten auf mindestens drei Ebenen unterschieden werden: Graphe, Graphien und Grapheme. 9.1.1. Graphe Auf der Ebene der graphischen Oberfläche ist festzustellen, dass der Text aus 51 in sich abgeschlossenen Einheiten besteht, die in den meisten Fällen durch sehr kleine Abstände (z. B. zwischen den Einheiten des Wortes „Im“) und an acht Stellen durch größere Abstände (z. B. zwischen dem letzten Zeichen von „Im“ und dem ersten von „Jahre“) voneinander getrennt sind. Diese noch nicht näher bestimmten, unklassifizierten Zeicheneinheiten werden im Folgenden als Graphe bezeichnet (Singular: das Graph) und durch senkrechte Striche gekennzeichnet. In gedruckten und mit der Schreibmaschine getippten Texten lassen sich solche Graphe anhand der Abstände in der Regel klar als Einheiten abgrenzen (Abb. 41). Graphe treten in konkreten Texten immer in einer spezifischen graphischen Realisierung auf, die man als Graphvarianten bezeichnen kann. Im vorliegenden Fall handelt es sich z. B. um Realisierungsformen, die der Schriftart Minion Pro entsprechen, in der Schriftgröße 9,5 pt, ohne Kursivierung oder Fettdruck. Alternative Realisierungen des Graphs | d | könnten im Druck und in handschriftlichen Texten eine sehr unterschiedliche formale Gestalt aufweisen (Abb. 42-43). <?page no="214"?> 214 9. Grundeinheiten der Graphematik und Verschriftungsprinzipien 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 |I| |m| |J| |a| |h| |r| |e| |1| |8| |7| |7| |e| |r| |f| |i| |n| |d| 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 |e| |t| |T| |h| |o| |m| |a| |s| |A| |l| |v| |a| |E| |d| |i| |s| |o| 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 |n| |d| |e| |n| |P| |h| |o| |n| |o| |g| |r| |a| |p| |h| |e| |n| |,| Abb. 41. Segmentierung der graphischen Einheiten in dem Teilsatz Im Jahre 1877 erfindet Thomas Alva Edison den Phonographen, Abb. 42. Mögliche Realisierungen des Graphs | d | in Druckschriften (Schriftarten: Aharoni, Aller, AR BERKLEY , AR CHRISTY , Iskoola Pota, Impact) Abb. 43. Mögliche Realisierungen des Graphs | d | in Handschriften (nach Ludwig 1989, 47) Die Beschäftigung mit den verschiedenen Realisierungsformen von Graphen fällt in den Gegenstandsbereich der Typographie bzw. Paläographie. Doch auch in einigen historischgraphematischen Arbeiten wird die Zusammenfassung der Graphvarianten zu Graphen ausführlich begründet, etwa in Andreas W. Ludwigs Arbeit über die Churer Urkundensprache (1989, 13-50), in der sogar die mittelhochdeutschen Quellentexte in einer handschriftennahen Transkriptionsweise wiedergegeben werden (Abb. 44-45), ein in der Forschung eher ungewöhnliches Vorgehen: 1 Abb. 44. Beispiel aus einer Handschrift von 1333 aus Chur (alemannischer Sprachraum): Faksimile des Originals (nach Ludwig 1989, 326) 1 Ludwig verwendet allerdings eine andere Terminologie, indem er die „Buchstabenvarianten“ als „Graphe“ und die im vorliegenden Buch als „Graphe“ bezeichneten Einheiten als „Grapheme“ bezeichnet. <?page no="215"?> 215 9.1. Grundeinheiten der Graphematik: Graphe, Graphien, Grapheme Abb. 45. Beispiel aus einer Handschrift von 1333 aus Chur (alemannischer Sprachraum): handschriftennahes Transkript (nach Ludwig 1989, 274) Die Ansetzung eines Graphs ist immer bereits das Ergebnis eines Abstraktionsprozesses, der aufgrund formaler Übereinstimmungen vollzogen wird. Trotz der offensichtlichen Gestalt- und Größenunterschiede wird aber niemand, der mit der lateinischen Schrift vertraut ist, Schwierigkeiten haben, die oben abgebildeten Realisierungen von | d | demselben Graph zuzuordnen. Diese Zuordnung ist offensichtlich möglich, ohne dass wir den Verwendungskontext (etwa die Position im Wort) kennen. Auf dieser Ebene ist auch keine Kenntnis der Sprache notwendig, in der diese Graphe verwendet werden, sondern lediglich die Kenntnis des lateinischen Schriftsystems. Aus der Perspektive der Graphematik bildet das Graph (nicht seine Varianten) den Ausgangspunkt für alle weiteren Analysen. Die 51 Graph-Vorkommen des Beispielsatzes lassen sich nun anhand verschiedener formaler Verfahren weiter untersuchen, um zu einer ersten Klassifikation zu gelangen. Zunächst ist festzustellen, dass einige Graphe mehrfach vorkommen, z. B. das Graph | e | an Position 7, 12, 18, 37 und 49. Rechnet man diese Wiederholungen heraus, lassen sich für den Beispielsatz 26 unterschiedliche Graphe ermitteln, die wir aufgrund unserer traditionellen Kenntnis des Schriftsystems vier Gruppen zuordnen würden: 1. Satzzeichen: das Graph | , | 2. Ziffern: die Graphe | 1 | | 7 | | 8 | 3. Kleinbuchstaben: die Graphe | a | | d | | e | | f | | g | | h | | i | | l | | m | | n | | o | | p | | r | | s | | t | | v | 4. Großbuchstaben: die Graphe | A | | E | | I | | J | | P | | T | Diese traditionelle Zuordnung ließe sich durch Analysen zur Verteilung der Graphe im Text, also durch Distributionsanalysen untermauern. So treten die Einheiten der Kategorie Satzzeichen typischerweise an bestimmten Positionen im Text auf (z. B. das Komma nach Nebensätzen, der Punkt am Satzende, beide niemals am Satzanfang) und Großbuchstaben am Anfang von Sätzen oder Substantiven. Die Bestimmung von Ziffern als eigener Klasse ist aufgrund von Distributionsanalysen schwierig; hier dürfte aber die grundsätzlich andere Funktionsweise und Bedeutung, die Ziffern in unserer Schriftkommunikation zukommt (und die jeder Sprachbenutzer kennt), eine Abgrenzung von den Buchstaben rechtfertigen. Im Zentrum der Graphematik stehen meist die Buchstabengraphe, für den Bereich der Interpunktion sind zudem die Satzzeichen relevant. Ziffern sind, von spezifischen, eher spielerischen Verwendungen abgesehen („8ung“, „come 2 me“), vor allem in ihrer Funktion als Gliederungssignale in Texten graphematisch relevant. <?page no="216"?> 216 9. Grundeinheiten der Graphematik und Verschriftungsprinzipien 9.1.2. Graphien Betrachtet man die einzelnen Graphe im Kontext sprachspezifischer Schreibsysteme, dann wird deutlich, dass sie teilweise als feste Kombinationen auftreten. Entsprechende Formen aus dem Beispielsatz finden sich in den Buchstabenkombinationen | a | + | h | in dem Wort „Jahr“, | P | + | h | bzw. | p | + | h | in dem Wort „Phonograph“ und | T | + | h | in dem Namen „Thomas“. Dass wir diese Graphkombinationen als Einheiten ansehen, liegt nicht primär darin begründet, dass sie in dieser Form häufig miteinander vorkommen, denn dies gilt auch für zahlreiche andere Kombinationen wie | s | + | e | (Hase, Essen, reisen-…) oder | g | + | e | (am Anfang vieler Partizipien). Das entscheidende Kriterium ist hier vielmehr der Bezug des Schreibsystems auf das Lautsystem. Die Graphfolge | a | + | h | repräsentiert im Standarddeutschen einen einzigen Laut, den Langvokal [aː] , die Folge | P | + | h | bzw. | p | + | h | den Konsonanten [f] und die Kombination | T | + | h | den Konsonanten [t] . Schreibsprachliche Einheiten, die in der lautlichen Referenzvarietät einen einzigen Laut repräsentieren, werden im Folgenden als Graphien bezeichnet und in spitzen Klammern notiert: <ah>, <ph>, <th>. Graphien, die aus zwei bzw. drei Graphen bestehen, werden als Digraphien bzw. Trigraphien bezeichnet, Graphien, die nur ein einziges Graph enthalten, als Monographien. Für das Standarddeutsche wird in neueren Arbeiten oft ein Kerninventar von ca. 40 Graphien angesetzt. So geht etwa Martin Neef (2005) von einem System mit 41 Einheiten aus, das zunächst aus einem Set von 30 Graphien (bei Neef als „Buchstaben“ bezeichnet) besteht: Vokalismus: <a>, <e>, <i>, <o>, <u>, <y>, <ä>, <ö>, <ü> Konsonantismus: <b>, <c>, <d>, <f>, <g>, <h>, <j>, <k>, <l>, <m>, <n>, <p>, <q>, <r>, <s>, <ß>, <t>, <v>, <w>, <x>, <z> Großbuchstaben werden als „markierte Varianten“ der jeweiligen Kleinbuchstaben aufgefasst (Neef 2005, 39) und dementsprechend nicht gesondert ausgewiesen. Darüber hinaus setzt Neef einige „feste Buchstabenverbindungen“ an. Dies sind Fälle, in denen sich zwei oder mehr Buchstaben „in ihrem Korrespondenzverhalten gegenseitig determinieren“ (ebd., 41). Der Buchstabenfolge | s |-- | c |-- | h | in dem Wort „Schiff “ entspricht auf der Lautebene nicht die Abfolge der üblicherweise damit verbundenen Lautwerte, etwa [s] -- [k] -- [h] oder [z] -- [ts] -- [h] , sondern die Zeichenkombination insgesamt repräsentiert den einen Laut [ʃ] . Dies funktioniert nur in dieser speziellen Kombination (bzw. bei der Variante | s |-- | h |, die nur in Lehnwörtern wie Shampoo, Show usw. vorkommt), was darauf hinweist, dass die Buchstaben sich „gegenseitig determinieren“. Bei der Kombination | c |-- | h | ergibt sich wiederum ein ganz anderer Lautbezug ( [ç] ). Neef (2005) geht für das Standarddeutsche von 11 festen Buchstabenverbindungen aus (vgl. die „Liste der Korrespondenzregeln“ ebd., 227-230): Vokalismus: <ae>, <äu>, <eu>, <oe>, <ue>, <ui> Konsonantismus: <ch>, <ph>, <sch>, <sh>, <sz> Neef stuft nur diese Buchstabenkombinationen als „fest“ ein, nicht jedoch andere mögliche Kombinationen wie <gh> (Ghetto), <th> (Thron), <wh> (Whisky) oder <ll> (fallen), <mm> <?page no="217"?> 217 9.1. Grundeinheiten der Graphematik: Graphe, Graphien, Grapheme (Hammel), <nn> (Tonne). Dies hängt damit zusammen, dass in diesen Fällen der nachgestellte Buchstabe den Lautwert nicht beeinflusst: Das | h | in Ghetto oder Whisky ist stumm, und im Falle der Buchstabenverdopplung wird kein längerer Konsonant angezeigt, sondern die Kürze bzw. Gespanntheit des vorangehenden Vokals markiert (Hammel vs. Hameln, Nonne vs. None). Anhand allgemeiner Regeln („Nullkorrespondenz“ bei <-h>: S. 74, „Mehrfachbuchstabenbeschränkung“ im Falle doppelter Konsonantengraphien: S. 78) schließt Neef solche Fälle aus. Das hat den Vorteil, dass er z. B. auch die in Comics vorkommenden Schreibungen wie <paffffff> oder <wummmmmm> einfach als Varianten der einfachen Schreibungen <paf> und <wum> interpretieren kann. Das allgemeine Modell kann also auch für die Analyse nicht-standardgerechter Schreibsysteme genutzt werden. Eine Modellierung, wie sie Neef in Bezug auf rezente Schreibungen im Deutschen vorschlägt, ist für historische Schreibsprachen jedoch nur bedingt möglich, denn sie setzt eine genaue Kenntnis der korrespondierenden Lautsysteme voraus. Diese Voraussetzung aber ist bei historischem Material nicht gegeben. Wenn etwa in einer älteren Handschrift die Zeichenfolge <th> auftritt, ist es zwar wahrscheinlich, dass es sich um eine Digraphie handelt, die einem einzigen Laut entspricht, und nicht um eine Folge zweier Monographien mit jeweils eigener lautlicher Realisierung. Es ist jedoch nicht unbedingt sicher zu entscheiden, ob diese Digraphie den Plosiv [t] repräsentiert (wie in standarddeutsch Thron) oder noch den Frikativ [θ] oder [ð] , wie er heute in den englischen Lehnwörtern Thriller und Smoothie vorkommt. Im ersten Fall wäre die Graphie <th> nach Neefs Regel der „Nullkorrespondenz“ als bloße Variante der einfachen Graphie <t> anzusehen, im zweiten Fall dagegen als „feste Buchstabenverbindung“ mit eigenem Lautwert, der sich aus dem Zusammenspiel der beiden Einzelzeichen ergibt. Ähnliches gilt für die Verdopplung von Konsonantenzeichen in historischen Texten. Für mittelalterliche Schreibsysteme kann nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass Doppelkonsonantengraphien wie <ll> oder <nn> dieselben Konsonanten repräsentieren wie die Monographien <l> und <n>, da mit dem Vorkommen von Geminaten bzw. Langkonsonanten gerechnet werden muss, so etwa im Althochdeutschen und teils auch noch im Mittelhochdeutschen (Kap. 11.1). Dementsprechend könnte z. B. die Digraphie <nn> (anders als <n>) den Konsonanten [nː] bezeichnen. Und schließlich ist auch die Graphie <sch> in historischen Texten keineswegs immer eindeutig interpretierbar, die ursprünglich die Konsonantenverbindung [sk] bzw. [sx] repräsentierte, aus der sich dann aber in mittelhochdeutscher Zeit der heutige Laut [ʃ] entwickelte. Insbesondere in frühmittelhochdeutschen Texten ist daher nicht klar zu entscheiden, ob eine Zeichenkombination wie <sk>, <sc> oder <sch> sich noch auf die alte Konsonantenfolge oder bereits auf den neuen Einfachkonsonanten bezieht (Kap. 10.2.1). Aus der Perspektive der Historischen Graphematik ist somit eine methodisch begründete Reduktion auf ein Basisgraphieninventar, wie sie Neef und andere vornehmen, prinzipiell fragwürdig. Für die Analyse vormoderner Schreibsysteme ist es vielmehr sinnvoller, ein offeneres Modell zugrunde zu legen, nach dem das Graphieninventar aus allen (einfachen <?page no="218"?> 218 9. Grundeinheiten der Graphematik und Verschriftungsprinzipien oder kombinierten) Zeichen besteht, denen auf der Lautebene eine Einheit entspricht. Für die Verbindung solcher Einheiten mit dem Bezugslaut verwendet Nerius (2007, 106 f.) den Begriff des Phonographems. Der oben eingeführte Begriff Graphie bezeichnet die Ausdrucksseite eines Phonographems. Nerius führt mit Bezug auf den standarddeutschen Kernwortschatz 65 Graphien an, mithilfe derer 83 Phonographeme gebildet werden (ebd., 120-123). Da weder die Regel der „Mehrfachbuchstabenbeschränkung“ in Anspruch genommen wird noch die der „Nullkorrespondenz“, sind in dem Inventar auch Digraphien wie <aa> (Phonographem <aa / aː/ > wie in Saal) und <ah> (Phonographem <ah / aː/ > wie in kahl) enthalten. Dass Graphien wie <gh> oder <ph> hier nicht mit aufgenommen wurden, hängt damit zusammen, dass „Fremdwörter“ in dieser Übersicht unberücksichtigt bleiben, selbst wenn es sich um längst etablierte Lehnwörter wie Ghetto oder Philosophie handelt. Bei der Analyse historischer Schreibsysteme ist allerdings eine saubere Unterscheidung von autochthonen und allochthonen Graphien oftmals schwierig und auch wenig sinnvoll, da es in vormoderner Zeit noch kein Bewusstsein einer nationalen Standardsprache und Standardorthographie gab. Daher kommen in historischen Texten nicht selten Graphien aus unterschiedlichen regionalen Schreibtraditionen nebeneinander vor, so dass die Festlegung eines Basisgraphieninventars auch aus diesem Grund kaum möglich ist. Bei der Analyse eines historischen Schreibsystems gilt es somit zunächst alle auftretenden Graphien ohne Ansehung ihrer möglichen Herkunft zu inventarisieren. Dies entspricht, wenn man Parallelen in der synchronen Graphematik sucht, in etwa dem Vorgehen in der jüngsten, 7. Auflage des Aussprachewörterbuchs der Duden-Reihe (Kleiner/ Knöbl 2015). Dort werden im Kapitel „Lautungs-Schreibungs-Korrespondenzen“ für das standarddeutsche Schreibsystem insgesamt 109 verschiedene Graphien aufgeführt, aus denen knapp 300 Phonographeme gebildet werden: Im Vokalismus: 54 - 12 Monographien, darunter 6 mit diakritischen Zeichen (<ä>, <ö>, <ü>, außerdem <é>: Café, <è>: Après-Ski, <ê>: Crêpe), - 37 Digraphien (darunter einige nur bei wenigen Wörtern vorkommende wie <aw>: Squaw, <ay>: okay, <em>: Ensemble, <ew>: Crew usw.), - 5 Trigraphien (<eau>: Niveau, <eih>: Geweih, <ein>: Enceinte, <ieh>: Vieh, <oeu>: Horsd’oeuvre). Im Konsonantismus: 55 - 22 Monographien, darunter 2 mit diakritischen Zeichen (<ç>: Façon, <ñ>: Señor), - 27 Digraphien (darunter z. B. <gu>: Guillotine, <sc>: crescendo, <wh>: Whisky, <zz>: Pizza), - 5 Trigraphien (<cch>: Zucchini, <rrh>: Katarrh, <sch>: schön, <tch>: Match, <tth>: Matthias), - 1 Tetragraphie (<dsch>: Dschungel). Diese hohe Zahl an Graphien ist typisch für eine moderne Standardsprache, die zahlreiche Lehnwörter mitsamt der ihnen eigenen Schreibweise in ihren Wortschatz integriert hat. Je nachdem, welche im Deutschen verwendeten Wörter allochthonen Ursprungs man bereits als festen Teil des deutschen Wortschatzes ansieht, kann die genaue Anzahl der anzusetzenden Graphien stark variieren. Nerius (2007, 127) verweist auf ältere Untersuchungen, die unter <?page no="219"?> 219 9.1. Grundeinheiten der Graphematik: Graphe, Graphien, Grapheme Einbeziehung des im Standardddeutschen bereits etablierten Fremdbzw. Lehnwortschatzes auf „nahezu 200 verschiedene fremde Phonographeme“ gekommen waren und unter Berücksichtigung auch entlegenerer Fremdwörter auf „etwa 300“; diese Zahl entspricht ungefähr der Darstellung im Aussprache-Duden. Bei der Bestimmung der Phonographeme kann es in Einzelfällen unterschiedliche Zuordnungen geben. So wird z. B. die Graphfolge | eint | in dem Wort Teint im Aussprache-Duden unter der Trigraphie <ein> subsumiert, während sie nach dem oben genannten Kriterium der Bezugnahme auf einen einzigen Laut als Tetragraphie <eint> anzusehen wäre, da sie den Vokal [ɛ ̃ ː] repräsentiert (das finale <t> ist stumm). Die Graphfolgen | ng | und | rh | wären nach diesem Kriterium als Digraphien einzustufen, wobei <ng> dem Laut [ŋ] entspricht und <rh> einem der r-Laute (im Aussprache-Duden werden diese Zeichenfolgen nicht als eigenständige Digraphien angesetzt). Die Graphie <x> wiederum entspricht strenggenommen nicht diesem Kriterium, da sie keinen einzelnen Laut, sondern die Lautfolge [ks] repräsentiert. Bei aller Graphienvielfalt der standarddeutschen Orthographie muss andererseits jedoch konstatiert werden, dass hier, wie in jedem einzelsprachlichen Schreibsystem, nur ein Bruchteil der gegebenen Möglichkeiten ausgeschöpft wird. Die deutsche Gegenwartsorthographie ist z. B. ein System, das zwar von der Möglichkeit der linearen Graphienkombination Gebrauch macht (Digraphien, Trigraphien), aber nur in sehr eingeschränktem Maße diakritische Zeichen zulässt. Dies wird schon bei der Betrachtung der Zeichensätze gängiger Textverarbeitungsprogramme unmittelbar deutlich. So wird von den mehr als 30 Graphien, die allein mit dem lateinischen Kleinbuchstaben a mithilfe diakritischer Zeichen konstruiert sind, nur eine im Standarddeutschen regelmäßig verwendet (<ä>) und eine weitere in dem französischen Lehnwort à (wie in à la carte). Dagegen finden die Graphien <â>, <å>, <ą>, <->, <ă>, <á> allenfalls bei der Wiedergabe von Personen- oder Ortsnamen aus den betreffenden Sprachen Verwendung, wie z. B. in frz. Blâmont, norw. Bålen, poln. Gąsawa, portug. Lous-, rumän. Măcin, tschech. Tábor (vgl. Duden-Aussprachewörterbuch, Einführung: Kap. G), und Graphien wie <ā>, <ǟ>, <ǡ>, <ǣ>, <ǻ>, <ȁ>, <ȃ>, <ȧ>, <ḁ>, <ẚ>, <ạ>, <ả>, <ấ>, <ầ>, <ẩ>, <ẫ>, <ậ>, <ắ>, <ằ>, <ẳ>, <ẵ>, <ặ> bleiben völlig ungenutzt. Jedes Graphieninventar ist somit immer schon als stark begrenzte Auswahl aus einem gedachten Pool von (Kombinations-)Möglichkeiten anzusehen. Dies gilt auch für historische Schreibsprachen, und eine wichtige Aufgabe der Historischen Graphematik besteht darin, jeweils die spezifischen Grenzen dieser Auswahl zu rekonstruieren. 9.1.3. Grapheme Durch die Bestimmung des Graphieninventars können Schreibsprachen bereits in einer oberflächlichen Weise charakterisiert werden. Die spezifische Struktur eines Schreibsystems erschließt sich jedoch erst dann, wenn die meist komplexen Beziehungen zwischen den Graphien und den lautlichen Einheiten, die sie repräsentieren, herausgearbeitet werden. Die Relevanz dieser Untersuchung wird deutlich, wenn man den Gebrauch derselben Graphien in unterschiedlichen Sprachen miteinander vergleicht. Das standardddeutsche Graphieninventar teilt mit dem englischen z. B. die vokalischen Digraphien <ai>, <au>, <ee>, <eu>, <?page no="220"?> 220 9. Grundeinheiten der Graphematik und Verschriftungsprinzipien <oo>. Deren übliche Lautentsprechungen in den beiden Sprachen sind jedoch höchst unterschiedlich, wie die Beispiele in Tab. 16 zeigen. dt. Hai faul Beere leise Europa Moos [aɪ] [aʊ] [eː] [aɪ] [ɔʏ] [oː] engl. hail 'begrüßen' fault 'Fehler' beer 'Bier' leisure 'Freizeit' Europe 'Europa' moose 'Elch' [ɛɪ] [ɔː] [iː] [ɛ] [ju] [uː] Tab. 16. Phonetische Entsprechungen einiger vokalischer Digraphien im Deutschen und Englischen Ein tiefergehendes Verständnis eines Schreibsystems ist also nur möglich, wenn die Beziehungen zur Lautebene präzise beschrieben werden. Hierbei gibt es auch innerhalb der sprachspezifischen Systeme viel Variation, selbst in den stark normierten modernen Orthographien. Im Englischen steht z. B. die Graphie <ea> oft für [iː] (ear 'Ohr'), in anderen Wörtern aber auch für [əː] (earth 'Erde'), [ɛ] (bear 'Bär'), [e] (head 'Kopf ') oder [aː] (heart 'Herz'). Für das Standarddeutsche belegt schon die oben referierte Relation von 109 Graphien zu ca. 300 Phonographemen (nach dem Duden-Aussprachewörterbuch) die Relevanz der Variation-- jede Graphie bezieht sich im Durchschnitt auf etwa drei unterschiedliche Phone. Mit einer ähnlichen Variationsbreite kann auch für historische Schreibsprachen gerechnet werden. Hier besteht allerdings das grundlegende Problem darin, dass uns das dem Schreibsystem entsprechende Lautsystem nicht bekannt ist. Dementsprechend kann es die Einheit „Phonographem“, wie sie bei Nerius definiert wird und auch anderen Untersuchungen zur rezenten Orthographie zugrunde liegt, in Bezug auf historische Texte nicht geben. Es ist jedoch möglich und sinnvoll, eine vergleichbare Einheit zu definieren, indem anstelle des Phons / Phonems eine historische Bezugsgröße angesetzt wird, die sich aus den durch Sprachvergleiche und sprachhistorische Analysen gewonnenen Erkenntnissen über die Lautetymologie einzelner Wörter ableiten lässt. Wenn etwa in einem mittelhochdeutschen Text das Wort spil 'Spiel' vorkommt, dann wäre es unzulässig, nach den rezenten Graphie-Laut-Korrespondenzregeln ohne Weiteres die Lautfolge [ʃpiːl] als Entsprechung anzusetzen. Vielmehr lässt sich nur die lautetymologische Herkunft der einzelnen Komponenten mit einiger Sicherheit bestimmen, und zwar mit Bezug auf ein vor der mittelhochdeutschen Zeit angesetztes Referenzsystem (hier: das Westgermanische bzw. Althochdeutsche) (Tab. 17). Schreibung Bezugslaut Mhd. Lautrealisierung Nhd. Lautrealisierung <s> wgerm./ ahd. s ? [ʃ] <p> wgerm./ ahd. p ? [p] <i> wgerm./ ahd. i ? [iː] <l> wgerm./ ahd. l ? [l] Tab. 17. Schreibung, historischer Bezugslaut, mittelhochdeutsche und neuhochdeutsche Lautrealisierung am Beispiel des Wortes spil 'Spiel' <?page no="221"?> 221 9.1. Grundeinheiten der Graphematik: Graphe, Graphien, Grapheme Dem neuhochdeutschen Phonographem <s / ʃ/ > entspricht in Bezug auf die mittelhochdeutsche Zeitstufe die Verbindung der Graphie <s> mit dem Kontinuanten (der lautlichen Fortsetzung) von wgerm. s. Eine solche Verbindung soll im Folgenden als Graphem bezeichnet werden. Ein Graphem ist also die Verbindung einer Graphie mit dem ihr zugeordneten historischen Bezugslaut. Über die tatsächliche lautliche Realisierung dieser Einheit in einer historischen Zeitstufe ist damit noch nichts ausgesagt. Bis wann etwa die Graphie <s> in dem Wort spil im Mittelhochdeutschen noch (entsprechend ihrer anzunehmenden Lautqualität im Westgermanischen) als [s] und ab wann sie als [ʃ] gesprochen wurde wie im Neuhochdeutschen, muss durch weitere graphematische Analysen überprüft werden. Da Schreibungen wie *Schpil offenbar nicht belegt sind, kann hier vor allem mit der Entwicklung in vergleichbaren Konsonantenkontexten argumentiert werden. Vor <l>, <m>, <n>, <w> wird ab dem 13. Jahrhundert zunehmend die Graphie <sch> statt <s> verwendet (slange > schlange, swert > schwert), was auf einen Lautwandel von anlautendem [s] zu [ʃ] vor Konsonanten hindeutet. Eine entsprechende Entwicklung könnte auch für die Position vor <p> (und vor <t>) angenommen werden, obwohl sie dort graphematisch nicht sichtbar wird. Auch die Vokalgraphie in mhd. spil muss entsprechend vorsichtig interpretiert werden, denn es handelt sich ursprünglich um einen Kurzvokal, der erst später zu dem aus dem Neuhochdeutschen bekannten Langvokal [iː] (Spiel) gedehnt wurde. Der Prozess der Vokaldehnung dürfte sich über einen längeren Zeitraum hingezogen haben und ist areal gestaffelt verlaufen. Nach Angaben der „Mittelhochdeutschen Grammatik“ beginnt die Dehnung bereits in ahd. Zeit im Niederrheinraum und breitet sich von dort aus im 12. Jahrhundert auf das Westmitteldeutsche, im 13. Jahrhundert auf das gesamte Mitteldeutsche und im 14. Jahrhundert auf das Oberdeutsche (außer das Südalemannische) aus (vgl. Paul 2007, § L 20). Bei der Beurteilung einer mittelhochdeutschen Schreibung wie spil ist dementsprechend zu beachten, wann genau und in welcher Region der betreffende Text niedergeschrieben wurde - bei einem frühmittelhochdeutschen Text aus dem hochalemannischen Basel wäre recht sicher Vokalkürze anzusetzen, bei einem spätmittelhochdeutschen Text aus Köln dagegen wohl schon Länge, wobei eine solche Annahme ggf. durch das Auftreten eindeutigerer Schreibvarianten (spiel) untermauert werden könnte. Das genaue Vorgehen bei der schrittweisen Analyse historischer Schreibsysteme von der Ermittlung der Graphien aus den Graphen über die Bestimmung der Grapheme (d. h. der Korrespondenzen zwischen Graphien und den historischen Bezugseinheiten) bis hin zur Rekonstruktion von graphematischen Klassenstrukturen wird in Kap. 9.4 bis 9.6 anhand von Beispielen beschrieben. Zuvor sollen jedoch noch einige Informationen gegeben werden, die aus Sicht der neueren Graphematik für das Verständnis von Schreibsystemen von grundlegender Bedeutung sind. <?page no="222"?> 222 9. Grundeinheiten der Graphematik und Verschriftungsprinzipien 9.2. Verschriftungsprinzipien Die Rekonstruktion der Grapheme-- als Verbindungen von Graphien mit historischen Bezugslauten-- wurde als eine zentrale Aufgabe der Historischen Graphematik herausgearbeitet. Die Struktur eines Schreibsystems lässt sich nicht adäquat beschreiben, ohne die lautreferenzielle Funktion der Einheiten zu bestimmen, die dessen Graphieninventar ausmachen. Das bedeutet allerdings nicht, dass sich die Funktion der Graphien in der Wiedergabe von Lauten erschöpfen würde. Für die Wahl eines Schriftzeichens ist nicht nur dessen Eignung zur Wiedergabe bestimmter Laute relevant, sondern es sind häufig weitere Faktoren mit im Spiel, die ihre Wirksamkeit auf einer höheren Ebene als der der Einzelgraphie entfalten. Dementsprechend beschränken sich Handbücher zur Graphematik auch nicht auf eine Beschreibung der Graphie- Laut-Korrespondenzen, sondern beschreiben zudem Regularitäten, die durch andere als phonologische Parameter gesteuert werden. Meist wird hierbei von orthographischen Prinzipien gesprochen. In einer der traditions- und einflussreichsten Modellierungen von Nerius (2007) werden diese Prinzipien als oberste, abstrakteste Ebene in einer Hierarchie orthographischer Konventionen betrachtet. Erst auf der darunter liegenden Stufe der orthographischen Regeln werden konkretere Handlungsanweisungen für das Schreiben definiert (vgl. Nerius 2007, 87 f.). Wenn etwa das „phonematische Prinzip“ (s. u.) besagt, dass die alphabetischen Graphien eines Schreibsystems in festgelegter Weise auf Einheiten eines damit korrespondierenden Lautsystems Bezug nehmen, dann wird dieses Prinzip in den Rechtschreibnormen heruntergebrochen auf Regeln, die die im Standarddeutschen möglichen Graphie-Laut-Korrespondenzen definieren. Dazu gehört etwa die Regel, dass der Langvokal [eː] durch die Graphien <e>, <eh> oder <ee> wiedergegeben werden kann (wer, Wehr, Beet), während der Langvokal [uː] zwar durch <uh> und <u> (Uhr, nur) realisiert werden kann, nicht aber durch <uu>. Nerius (2007, 28 f.) geht davon aus, dass jedes alphabetbasierte Schreibsystem einer Aufzeichnungsfunktion (Aufzeichnung gesprochener Sprache durch Schriftzeichen) und einer Erfassungsfunktion (Erfassung des Textinhaltes über die Dekodierung der Schriftzeichen) genügen müsse. Dem entsprechen auf einer allgemeinen Ebene zwei orthographische „Grundprinzipien“ oder „Hauptprinzipien“: das phonologische Grundprinzip, das in Beziehung zur Aufzeichnungsfunktion steht, und das mit der Erfassungsfunktion verbundene semantische Grundprinzip. Wenn etwa die beiden Wörter, die phonetisch als [ˈzaɪtə] realisiert werden, in der Standardorthographie als Saite bzw. Seite realisiert werden, dann hängt dies mit der Erfassungsfunktion zusammen, denn für die bloße Aufzeichnung des Gesprochenen sind beide Schreibvarianten gleichermaßen geeignet. Durch die graphematische Differenzierung von <ai> vs. <ei> wird eine eindeutige Erfassung des jeweiligen Wortinhalts ('längerer, aus Darm, Stahl, Seide u. ä. gedrehter Faden' vs. 'zwei gegenüberliegende Flächen flacher Gegenstände'; Definitionen nach Paul 2002) erreicht. Den beiden Hauptprinzipien werden jeweils mehrere Einzelprinzipien zugeordnet, die spezifischere Beziehungen auf phonologischer oder semantischer Ebene zum Ausdruck bringen. Dem phonologischen Grundprinzip entsprechen drei Einzelprinzipien: das phonematische, das syllabische und das intonatorische Prinzip. Nehmen wir als Beispiel einen Text auf einer Packung mit Gitarrensaiten (Abb. 46). <?page no="223"?> 223 9.2. Verschriftungsprinzipien 5 10 Haben Sie eine Saite nicht korrekt aufgezogen? Dann wickeln Sie sie vorsichtig wieder ab, indem Sie den Wirbel am Gitarrenkopf mit der Hand in die e n t g e g e n g e setzte Richtung drehen. Abb. 46. Textbeispiel für die Wirksamkeit des phonematischen und syllabischen Prinzips Die Wirksamkeit des phonematischen Prinzips manifestiert sich hier z. B. darin, dass sich die Graphien <h>, <a>, <b>, <e> und <n> im ersten Wort nach systematisch zu beschreibenden Regeln auf die Lauteinheiten [h] , [aː] , [b] , [ə] und [n] beziehen. Zu einer Beschreibung des phonematischen Prinzips in der standarddeutschen Orthographie würde dabei auch gehören, z. B. die verschiedenen Verwendungsmöglichkeiten des Buchstaben e exakt zu bestimmen, als eigenständige Graphie <e> zur Kennzeichnung von [ə] (Saite), [ɛ] (korrekt) oder [eː] (drehen), als erste Komponente der Digraphie <ei> (eine) oder als zweite Komponente der Digraphie <ie> (sie) mit der Funktion der Längenkennzeichnung. Das syllabische Prinzip wird jeweils an den Rändern der Zeilen 1-2, 2-3, 4-5, 6-7, 9-10 und 10-11 sichtbar. Hier werden die Wörter Sai-te, auf-gezogen, vor-sichtig, Wir-bel, entgegenge-setzte und dre-hen entsprechend ihrer silbischen Struktur graphisch getrennt, nicht etwa nach ihrer Morphemstruktur (*Sait-e, *dreh-en). Die Silbentrennung richtet sich somit in der standarddeutschen Orthographie in der Regel nach der lautlichen Einheit der Sprechsilbe; lediglich bei Lehnwörtern oder Lehnwortbildungen ist teilweise eine graphische Silbentrennung nach Morphemen zulässig (Heliko-pter, inter-essant, Päd-agogik), alternativ zu der sprechsilbisch orientierten Trennung (Helikop-ter, inte-ressant, Päda-gogik). Eine Besonderheit bilden ambisyllabische Konsonanten („Silbengelenke“), die sowohl der ersten als auch der zweiten Silbe zugerechnet werden könnten. Sie werden, wenn sie auf der graphischen Ebene durch zwei identische aufeinanderfolgende Buchstaben repräsentiert sind, auf die Positionen vor und nach dem Trennstrich verteilt (ren-nen, Hal-le, las-sen); in anderen Fällen werden die entsprechenden Graphien der rechten Schrifteinheit zugeordnet, wie hier in Zeile 3-4 (wi-ckeln). Bei dem intonatorischen Prinzip geht es um die „Abbildung von suprasegmentalen Elementen der phonologischen Ebene, wie Rhythmus, Akzentsetzung, Intonation, Pausen“ (Nerius 2007, 89). In der Standardorthographie spielt dieses Prinzip kaum eine Rolle. Im vorliegenden Beispiel kann allenfalls dem Fragezeichen <? > eine intonatorische Funktion zugeschrieben werden, da es prototypisch als Markierung eines Tonhöhenanstiegs aufgefasst wird. Welche Möglichkeiten es jedoch gäbe, das intonatorische Prinzip in einem Schreib- <?page no="224"?> 224 9. Grundeinheiten der Graphematik und Verschriftungsprinzipien system stärker zu berücksichtigen, wird deutlich, wenn man die potenzielle Lautrealisierung der oben zitierten Textpassage mithilfe eines Systems zur Transkription von Gesprächen wiedergibt (Abb. 47). Abb. 47. Beispiel für ein Transkript gesprochener Sprache (nach GAT ) Solche Transkriptionssysteme (hier als Beispiel das weit verbreitete „Gesprächsanalytische Transkriptionssystem“, GAT ) bieten die Möglichkeit, auch intonatorische Qualitäten wiederzugeben, etwa durch Kennzeichnung des Hauptakzents (Großschreibung der betonten Silbe: „ SA ite“, „ AUF gezogn“ usw.), der Tonhöhenbewegung vor dem Einheitenende („? “ = hoch steigend, „.“ = tief fallend) oder eines markanten Tonhöhensprungs (z. B. „ ↑ “: Wechsel in eine höhere Tonlage), durch Charakterisierung parasprachlicher und außersprachlicher Handlungen oder Vorgänge (z. B. „((hustet))“) sowie durch die Wiedergabe von Pausen (z. B. „(.)“ = Mikropause, „(1.2)“ = Pause von 1,2 Sekunden) und Verzögerungssignalen („äh“). All dies erschwert die Lesbarkeit (Erfassungsfunktion) ebenso wie die Produzierbarkeit (Aufzeichnungsfunktion) von Texten. Daher wird in Orthographien auf eine derart differenzierte Wiedergabe lautlicher Phänomene verzichtet. In historischen Schreibsprachen wurden jedoch auch gelegentlich intonatorische Gegebenheiten gekennzeichnet (Kap. 7.2). Die modernen Schreibsysteme sind allerdings vor allem darauf ausgerichtet, über die Funktion der Lautabbildung hinausgehend eine möglichst reibungslose Erfassung des Textinhaltes, also der Wort- und Satzbedeutungen sicherzustellen. Für die deutsche Standardorthographie definiert Nerius (2007) unter diesem semantischen Grundprinzip vier Einzelprinzipien: das morphematische, das lexikalische, das syntaktische und das textuale Prinzip. Das morphematische Prinzip kommt in unserem Textbeispiel z. B. in der Schreibung des Wortes Hand zum Ausdruck. Würde die deutsche Orthographie strikt dem Prinzip einer eindeutigen Wiedergabe von Lauten folgen, dann müsste dieses Wort mit <t> geschrieben werden, da im Auslaut ein [t] gesprochen wird ( [hant] ), das im Normalfall durch die Graphie <t> realisiert wird. Die Wahl der eigentlich irreführenden Schreibung Hand ist allein dadurch motiviert, dass dieses Wort in seinen flektierten Formen ein gesprochenes [d] aufweist ( [ˈhɛndə] ), dem in der Schrift die Graphie <d> entspricht (Hände). Aus demselben Grund wird der Plural [ˈhɛndə] nicht als Hende realisiert, wie es angesichts von phonetisch ähnlichen Wörtern wie Ende [ˈɛndə] , Pendel [ˈpɛndəl] , Sender [ˈzɛndɐ] zu erwarten wäre, sondern als Hände, denn das Schriftzeichen ä stimmt bis auf das Trema (die übergesetzten Punkte) mit dem in der Singularform Hand enthaltenen Buchstaben a überein. In dem Wortpaar <?page no="225"?> 225 9.2. Verschriftungsprinzipien Hand / Hände werden somit an zwei Stellen identische (<d>) oder sich formal stark ähnelnde (<a>/ <ä>) Graphien gewählt, die schon auf der Formebene deutlich machen, dass es sich trotz divergenter Aussprache um dasselbe Wort handelt. Durch diese Morphemkonstanz wird das Wiedererkennen des Wortes und damit das Verstehen erleichtert (Kap. 11.2). Das lexikalische Prinzip kommt in dem Textbeispiel einerseits in Wortformen wie aufgezogen und Gitarrenkopf zum Ausdruck. In beiden Formen markiert die Zusammenschreibung der Wortkomponenten einen semantisch-morphologischen Zusammenhang. Durch die Schreibweise aufgezogen wird deutlich, dass es sich um das Verb aufziehen (hier mit der Bedeutung 'auf der Gitarre aufspannen') handelt und nicht um eine Folge von zwei isolierten Wörtern. Durch die graphische Verbindung von Gitarre und Kopf (und den Zusatz eines Fugen-n) wird der Charakter eines Kompositums verdeutlicht (dies leisten z. B. die Kompositumschreibungen im englischen Wort guitar head oder im französischen tête de guitare nicht). Neben der Zusammen- oder Getrenntschreibung gehört andererseits auch die Großbzw. Kleinschreibung von Wörtern zu den Konventionen der standarddeutschen Orthographie, die zu einer schnelleren Erfassung von Wortbedeutungen beitragen können. An der Großschreibung des ersten Buchstaben in Saite, Wirbel, Gitarrenkopf, Hand und Richtung lässt sich (satzintern) ablesen, dass es sich um Substantive handelt. Da Substantive häufig den Kern von zusammengehörenden Wortgruppen bilden, denen Satzgliedstatus zukommt, werden durch die Großschreibung zugleich die grundlegenden Struktureinheiten des Satzes graphematisch hervorgehoben (z. B. eine Saite und den Wirbel als Objekte, mit der Hand als adverbiale Bestimmung usw., Kap. 13.2). Durch die Substantivgroßschreibung weicht die deutsche Orthographie von den graphematischen Gepflogenheiten aller anderen europäischen Sprachen ab, in denen meist nur Namen großgeschrieben werden. Im Falle von Sie wird zudem durch initiale Großschreibung das höfliche Anredepronomen der 2. Person Singular (Haben Sie-…, wickeln Sie-…) von dem kleingeschriebenen Personalpronomen (sie = die Saite) differenziert. Die Großschreibung kommt in unserem Textbeispiel in zwei Fällen auch bei Wörtern vor, die in anderen Kontexten kleingeschrieben werden (Haben- … Dann- …). Hierbei handelt es sich um satzinitiale Großschreibung, die Nerius dem syntaktischen Prinzip zuordnet. Sie trägt nicht zum besseren Verständnis von Wortbedeutungen bei, sondern sichert das Verständnis der Satzstruktur, indem z. B. der Anfang von selbständigen Sätzen von dem Anfang von Teilsätzen (mit Kleinschreibung nach dem Komma: indem Sie-…) graphematisch unterschieden wird. Das Hauptmittel zur Kennzeichnung syntaktischer Strukturen ist jedoch die Verwendung von Interpunktionszeichen, mit deren Hilfe Satztypen wie Interrogativsätze (Fragezeichen) oder Aussagesätze (Punkt) bzw. Strukturen innerhalb komplexer Sätze (Komma zur Abgrenzung zweier Teilsätze) gekennzeichnet werden (vgl. Nerius 2007, 236-261). Als eher randständig ist aus orthographietheoretischer Sicht das textuale Prinzip zu werten, das von Nerius ebenfalls dem semantischen Grundprinzip zugeordnet wird. Hierbei handelt es sich um die graphischen Möglichkeiten zur Abgrenzung von Absätzen und Kapiteln (Textanfangs- und Textschlussmarkierungen), zur Gliederung von Aufzählungen in Spiegelstrichen, zur Gestaltung von Inhaltsverzeichnissen usw. Hier überschneidet sich der Gegenstandsbereich der Graphematik / Orthographieforschung mit dem der Typographie (Meso- und Makrotypographie) und des Textdesigns bzw. Layouts (vgl. Spitzmüller in Dürscheid 2016, 216-218). <?page no="226"?> 226 9. Grundeinheiten der Graphematik und Verschriftungsprinzipien Die von Nerius (2007) unterschiedenen Prinzipien werden in ähnlicher Weise auch in diversen anderen Einführungs- und Handbüchern zur Graphematik bzw. Orthographie aufgegriffen. Auf einer sehr allgemeinen Ebene können Schreibsysteme danach charakterisiert werden, wie stark diese Prinzipien, insbesondere die beiden Grundprinzipien, jeweils dominieren. Systeme, die vor allem am phonologischen Grundprinzip ausgerichtet sind, werden als „flache“ Orthographien bezeichnet, da sie die korrespondierenden Lautstrukturen relativ direkt reflektieren, sich also gewissermaßen „flach“ wie eine Decke darüberlegen. Als in diesem Sinne eher „flache“ Systeme gelten z. B. die Orthographien des Spanischen oder Kroatischen, in denen die jeweiligen Lautgegebenheiten recht unmittelbar widergespiegelt werden. Schreibsysteme, die eher am semantischen Grundprinzip (und seinen Unterprinzipien) ausgerichtet sind, werden dagegen als „tiefe“ Orthographien bezeichnet. Hierzu zählen tendenziell z. B. die Rechtschreibsysteme des Englischen oder Französischen. Die Orthographien des Deutschen oder Niederländischen liegen ungefähr zwischen diesen Polen. Der Unterschied zwischen flachen und tiefen Schreibsystemen lässt sich z. B. an der Art und Weise verdeutlichen, wie in den jeweiligen Sprachen die Schreibung griechisch-lateinischer Lehnwörter (bzw. Lehnwortbildungen mit griechischen oder lateinischen Morphemen) geregelt ist. Bei den tiefen Orthographiesystemen ist hier in der Regel eine starke Orientierung an der Schreibung zu konstatieren, die in der Spendersprache gegolten hatte, so dass der etymologische Ursprung der entlehnten Morpheme noch präsent ist. Zugleich wird damit von den üblichen und erwartbaren Graphie-Laut-Korrespondenzen abgewichen, etwa wenn in Thriller die Graphienkombination <th> den Frikativlaut [θ] repräsentiert oder in Gnocchi die Konsonantenverbindung <gn> für die Lautfolge [nj] und die Verbindung <cch> für [k] steht. Bei den flachen Systemen findet hingegen eine stärkere Assimilation statt, die zu direkteren Graphie-Laut-Korrespondenzen führt. Tab. 18 veranschaulicht dies anhand von zwölf ausgewählten Lexemen in sechs europäischen Sprachen. Wie die Beispiele zeigen, finden die orthographischen Prinzipien nicht immer eine konsequente Umsetzung. So wurden die griechisch-lateinischen Lehngraphien <rh> und <th> im Deutschen beibehalten, während im Falle von <ph> bereits einige Anpassungen an die sonst übliche Graphie-Laut-Korrespondenz <f>~[f] vorgenommen wurden; vermutlich, weil hier die Diskrepanz zwischen Schreibung und Aussprache größer ist als im Falle von <rh> und <th>. <?page no="227"?> 227 9.2. Verschriftungsprinzipien Englisch Französisch Deutsch Niederländisch Kroatisch Spanisch <ph> vs. <f> philosophy dolphin photographer telephone philosophie dauphin photographe téléphone Philosophie filosofie dolfijn fotograaf telefoon filozofija delfin fotograph telefon filosofía delfin fotógrapho teléfono Delfin (-ph-) Fotograf (-ph-) Telefon <rh> vs. <r> rhetorical rheumatics rhubarb rhythm rhétorique rhumatisme rhubarbe rhetorisch Rheumatismus Rhabarber Rhythmus retorisch reumatiek rabarber ritme retorički reumatizam rabarbara ritam retórico reumatismo ruibarbo ritmo rythme <th> vs. <t> theatre theme theory throne théâtre thème thèorie Theater Thema Theorie Thron theater thema theorie teatar tema teorija tron teatro tema teoría trono trône troon Tab. 18. Fremdwortschreibung in sechs europäischen Sprachen Auch die anderen Prinzipien weisen bei genauerer Betrachtung Varianten oder zumindest Ausnahmen auf. So wird etwa die am Beispiel von Saite / Seite demonstrierte Homophonendifferenzierung (dem lexikalischen Prinzip zugeordnet) im Deutschen keineswegs konsequent durchgeführt, wie die Beispiele Bauer ('Landwirt' vs. 'Vogelkäfig'), Hahn ('Wasserhahn' vs. 'männliches Huhn'), Reif ('Armreif ' vs. 'gefrorener Tau') oder Strauß ('Blumengebinde' vs. 'großer Laufvogel') zeigen-- potenzielle, d. h. im Graphemsystem durchaus realisierbare Differenzierungsmöglichkeiten wie Hahn / Haan, Reif / Raif, Strauß / Straus bleiben hier ungenutzt. Auch die Getrennt- und Zusammenschreibung weist Ausnahmen auf (eislaufen, aber Schlittschuh laufen; kopfstehen, aber Schlange stehen), und die Regelung der Morphemkonstantschreibung wurde durch die letzte Orthographiereform um einige Inkonsequenzen bereichert (er schießt, aber er schoss). Orthographische Prinzipien und Regeln haben also immer nur eine begrenzte Reichweite, was vor allem damit zusammenhängt, dass sich die Schreibungen historisch entwickelt haben und keinen rein rationalen Erwägungen folgen. Und grundlegende Reformvorschläge, die zur Vereinheitlichung und Vereinfachung des Schreibsystems beitragen könnten, haben im Deutschen kaum eine Chance (Kap. 7.7). Wenn diese Prinzipien schon in der deutschen Gegenwartsorthographie nur eine begrenzte Reichweite haben, so dürfte dies erst recht für die Schreibsprachen des Mittelalters oder der Frühen Neuzeit gelten. Dennoch ist es lohnend, die modernen Beschreibungskategorien probeweise auch einmal auf die historischen Schreibsysteme zu projizieren, um zu prüfen, inwiefern sich deren Funktionsweise dadurch erschließt. Generell ist dabei festzustellen, dass der Status graphematischer Regularitäten in vormoderner Zeit noch ein ganz anderer war als heute. Denn bei der modernen Orthographie des Standarddeutschen handelt es sich um eine Sammlung verbindlicher und (z. B. in Rechtschreibwörterbüchern und Regelsammlungen) kodifizierter Normen mit nationalem Geltungsbereich, die über den Schulunterricht allen vermittelt werden. In vormoderner Zeit gab es jedoch keine solchen überregionalen Normen; vielmehr besaßen Schreibregeln eine allenfalls regionale, manchmal auch nur kanzleibezogene Reichweite, und die spezifische Zusammenstellung der Regeln war letzt- <?page no="228"?> 228 9. Grundeinheiten der Graphematik und Verschriftungsprinzipien lich immer eine individuelle. Tatsächlich muss man wohl davon ausgehen, dass lange Zeit nicht einmal eine Vorstellung davon existierte, dass eine überregionale Norm wünschenswert oder notwendig sei. Dementsprechend erwecken historische Schreibsprachen für einen modernen Betrachter oftmals den Eindruck, als seien sie ungeordnet und regellos. Dies liegt vor allem an ihrem hohen Grad an Variation (Kap. 6). Moderne Orthographien sind dagegen tendenziell variantenfrei. Abgesehen von wenigen Ausnahmen, die teilweise auf einen sich gerade vollziehenden Wandel in den orthographischen Normen zurückgehen (wie bei Portemonnaie / Portmonee, Friseur / Frisör), gibt es für jedes Wort eine feste, nicht veränderbare Schreibweise. Dies gilt nicht für historische Texte. Aufgrund des Fehlens einer überregionalen Normierung und Kodifizierung und der völlig selbstverständlichen Variantenvielfalt können die in der neuhochdeutschen Orthographie wirksamen Prinzipien für historische Schreibsysteme nur bedingt Geltung besitzen. Auf diesen Punkt wird man sofort gestoßen, wenn man z. B. das phonematische Prinzip auf historische Verhältnisse anzuwenden versucht. In der heutigen Orthographie sind die Graphie-Laut-Korrespondenzen wortbezogen geregelt. So ist z. B. festgelegt, dass der Langvokal [eː] in dem Wort Seele mit <ee>, in Kehle mit <eh> und in Stele 'aufrecht gestellte Steinplatte' mit <e> realisiert werden muss. Schreibungen wie *Sehle oder *Sele, *Keele oder *Kele gelten demnach als falsch. Solche festen Wortschreibungen gab es in vormodernen Schreibsystemen in der Regel nicht. Hier treten vielmehr für dasselbe Wort oftmals mehrere Varianten nebeneinander auf, z. B. für 'Seele' Schreibungen wie mhd. sele, sêle, seel, sehle, seile oder sæle. Dennoch sind die Beziehungen zwischen Graphien und Lauten auch damals nicht beliebig und chaotisch. So treten bei den mhd. Wörtern für 'Seele' z. B. keine Vokalgraphien auf, die mit <i->, <o-> oder <u-> beginnen. Für den heute durch <ee> repräsentierten Stammvokal, der auf wgerm. ai (ursprünglich in der Position vor w: wgerm. *saiwalō-) zurückgeht, wählt der mittelalterliche Schreiber eine Variante aus einem begrenzten Graphienpool aus. Es gibt also auch hier Korrespondenzregeln zwischen Schreibung und Lautung, diese beziehen sich jedoch nicht auf ein einzelnes Wort, sondern auf die gesamte Lautkategorie. Wenn in Bezug auf die neuhochdeutsche Orthographie danach gefragt wird: „Was ist die korrekte Schreibung des Wortes Seele? “, so lautet die Frage in Bezug auf das Mittelhochdeutsche oder andere historische Sprachstufen: „Wie schreibt man den Laut X? “ oder, im Sinne der Historischen Graphematik formuliert: „Wie schreibt man die mittelhochdeutsche Entsprechung (den Kontinuanten) des historischen Lautes wgerm. ai? “. Hierbei ist zu erwarten, dass Wörter, die denselben historischen Vokal in vergleichbarem Kontext (hier: in der ursprünglichen Stellung vor r, h, w) enthalten, wie z. B. Ehre, Fehde, lehren, mehr, sehr, ein ähnliches Variantenspektrum aufweisen. Dabei ist damit zu rechnen, dass in manchen Regionen oder Kanzleien oder von manchen Individuen bestimmte Graphien bevorzugt werden. Eine Festlegung auf eine einzige, verbindliche Wortschreibung ist allerdings in den vormodernen Schreibsprachen des Deutschen nicht zu finden. Diese Beobachtungen haben unmittelbare Konsequenzen für das von Nerius (2007) angesetzte zweite Hauptprinzip, das morphematische Prinzip. Wenn es keine wort-, sondern nur lautbezogene Schreibregeln gibt und wenn überdies stets mehrere Varianten zur Verfügung stehen, dann ist klar, dass es in vormodernen Schreibsprachen keine morphematisch orien- <?page no="229"?> 229 9.2. Verschriftungsprinzipien tierten Schreibungen geben kann. Zwar gibt es auch in frühneuhochdeutscher Zeit manchmal Schreiber, die einige Wörter kontextübergreifend gleich schreiben (tag-tages, ball-balles, mann-ma ͤ nnlich statt mhd. tac-tages, bal-balles, man-menlich), doch setzt sich eine konsequente Anwendung dieser Regel nur sehr langsam durch (Kap. 11.2). Ähnliches gilt für die anderen Schreibprinzipien-- in Texten des 9. bis 18. Jahrhunderts darf man bei der Groß- und Kleinschreibung (Bergmann/ Nerius 1998), Getrennt- und Zusammenschreibung (Herpel 2015, Solling 2012) oder Interpunktion (Höchli 1981) keine übergreifende Einheitlichkeit, Konsequenz und Invarianz nach modernen Maßstäben erwarten; vielmehr herrscht Vielfalt, Heterogenität und Variabilität. Die Herausforderung für die Historische Graphematik besteht darin, vor dem Hintergrund einer weitaus größeren Liberalität im Umgang mit Schrift die Rahmenbedingungen, Motive und Faktoren herauszuarbeiten, die den individuellen Schreiber, Korrektor oder Setzer veranlasst haben könnten, sich für oder gegen bestimmte Graphien zu entscheiden und sie in spezifischer Weise zu funktionalisieren. Wenn dem einzelnen Schreiber somit eine weitreichende idioskriptale Lizenz zukommt (Kap. 5.3), dann sind auch Motive für den Gebrauch graphematischer Varianten in Erwägung zu ziehen, die in der Standardorthographie heute nicht mehr systematisch gelten. Hierzu zählt das von manchen Autoren angesetzte „ästhetische“ bzw. „eugraphische“ Prinzip (Gallmann/ Sitta 1996, 46 f.; Altmann/ Ziegenhain 2010, 128), das den Ausschluss bestimmter Buchstabenkombinationen im Standarddeutschen vorsieht (z. B. Verbot der Digraphien <ii>, <uu>, <vv>, <yy>; Verbot der Verdopplung von Di- oder Trigraphien wie <chch> usw.). Für ältere Sprachepochen muss dagegen in ganz anderer Weise mit der Wirksamkeit eines ästhetischen Schreibprinzips gerechnet werden. Möglicherweise war der Gebrauch verschiedener Schreibweisen für dasselbe Wort nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht und wurde als Stilmittel eingesetzt (Kap. 6.3.3). <?page no="231"?> 231 10. Methodische Grundlagen der Historischen Graphematik Nach den grundlegenden Ausführungen zu den Einheiten auf graphematischer Ebene geht es in diesem Kapitel spezifisch um die Methoden zur Untersuchung historischer Schreibsprachen. In Kap. 10.1 werden zunächst zwei konträre methodische Zugänge der historischgraphematischen Forschung diskutiert. In Kap. 10.2 wird dann ein Verfahren vorgestellt, mithilfe dessen sich die Struktur von historischen Schreibsystemen auf mehreren Ebenen beschreiben lässt. In den letzten beiden Kapiteln werden Möglichkeiten zur Erfassung von übergreifenden Tendenzen des historischen Schreibens (Kap. 10.3) und zur Rekonstruktion von graphematischem Wandel (Kap. 10.4) beschrieben. 10.1. Beschreibungsansätze der Historischen Graphematik Bevor ein praxistaugliches Verfahren zur graphematischen Analyse an einem Textbeispiel durchgespielt wird, sollen zunächst zwei grundsätzliche Herangehensweisen im Bereich der Historischen Graphematik skizziert werden, die in der Forschungsgeschichte dieser Disziplin eine große Rolle gespielt haben. In der Entstehungszeit der Graphematik, die in die 50er und 60er Jahre des 20. Jahrhunderts fällt, ging es vor allem darum, ein Gegengewicht zum klassischen Strukturalismus in der Tradition Saussures zu setzen, der die Lautsprache als primäres Objekt der Linguistik definierte und die Schrift nur als sekundäre Realisierungsform, für deren Struktur und Funktionsweise man sich zunächst wenig interessierte. Die Graphematik ging demgegenüber davon aus, dass die Schriftsprache ein Forschungsgegenstand sui generis sei, den man, möglichst ohne Referenz auf die gesprochene Sprache, eigenständig zu analysieren habe. Hierbei griff man trotz der generellen Kritik an Saussures Vernachlässigung der Schrift dennoch methodologisch auf das strukturalistische Begriffsinventar zurück, indem man versuchte, die Einheiten im Bereich der Schriftlichkeit nach dem Muster der phonologischen Analyseverfahren analog zu konstruieren. Ausgehend von der Opposition von Phon und Phonem wurde so eine Opposition von Graph und Graphem konstruiert, und wie das Phonem als Klasse definiert wurde, die beim Sprechen (in der parole) stets in Form konkreter Allophone realisiert wird, so wurde das Graphem als Einheit betrachtet, die sich beim Schreiben in seinen Allographen manifestiert. Auch das Verfahren zur Ermittlung von Graphemen wurde aus der Phonologie entlehnt: die Minimalpaaranalyse. Grapheme sind hiernach durch die Gegenüberstellung von schriftlichen Minimalpaaren (Weise-Waise, Rad-Rat) zu definieren, so wie Phoneme durch die Gegenüberstellung lautlicher Minimalpaare ( [ˈʁaɪzən] - [ˈʁaɪsən] usw.). Die Adaption eingeführter strukturalistischer Konzepte für die noch junge Graphematik war sicherlich ein naheliegendes und auch in vielen Punkten weiterführendes Verfahren. Auch in dem historischen Zweig der Graphematik, der sich bald nach Begründung dieser neuen Disziplin herauszubilden begann, wurde in dieser Weise von einigen Sprachhistorikern versucht, historische Schreibsysteme ohne Rekurs auf das Gesprochene, aber mit Rückgriff auf die etablierten strukturalistischen Analyseverfahren zu untersuchen. <?page no="232"?> 232 10. Methodische Grundlagen der Historischen Graphematik Ein Beispiel für einen solchen autonomistischen Ansatz zur historischen Graphemanalyse ist die Studie von Hendrik Derk Meijering (1974) über „De Willekeuren van de Opstalsboom (1323)“, eine Sammlung von Rechtssatzungen in altfriesischer Sprache. Meijering lehnt den Bezug auf ein phonologisches oder lauthistorisches Referenzsystem strikt ab. Dabei schließt er methodisch an Arbeiten von Spang-Hanssen (1959), Sjölin (1970) und Feitsma (1974) an. Da nach diesem Verständnis kein Bezug zur Lautebene hergestellt werden darf, besteht die erste Herausforderung darin, die Unterscheidung von Vokal- und Konsonantengraphien ohne Rekurs auf die Lautebene zu begründen. Entsprechend wird versucht, die (mutmaßlich) den Vokalen entsprechenden „Autographe“ durch aufwändige Distributionsanalysen von den „Syngraphen“ zu unterscheiden, die sich (mutmaßlich) auf Konsonanten beziehen. Der Unterschied in der Distribution besteht primär darin, dass Autographe alleine, mit anderen Autographen oder mit Syngraphen ein Wort bilden können (Bsp.: ê 'ehe', ey 'Ei', we 'weh'), während Syngraphe nicht alleine oder mit anderen Syngraphen ein Wort bilden können, sondern nur zusammen mit Autographen (vgl. Tab. VI in Meijering 1974, 186). Hierbei treten jedoch schnell praktische Probleme auf. So kommen manche Zeichenkombinationen im Material nicht vor, so dass der Status bestimmter Graphe nur auf anderen Wegen, etwa durch Nachweis direkter Variation innerhalb eines Wortes, nachweisbar ist. Meijering muss daher z. B. bezüglich des selten auftretenden <x> argumentieren, dass es sich um eine fakultative Variante von <s> handle, was aus der direkten Variation der Wortformen tsestich und tsextich ‚sechzig‘ zu schließen sei. Da sich der Status von <s> als Syngraph nachweisen lasse, wird analog dazu dann auch <x> als Syngraph angenommen. In seiner Arbeit über das Schreibsystem der Statuten des Genter Leprosenhauses von 1236 diskutiert Niels-Erik Larsen (2001, 55-79) kritisch einige ältere Studien, die wie Meijering versucht haben, Vokal- und Konsonantengraphe auf der Grundlage autonomistischer schreibsprachlicher Analysen zu differenzieren, etwa von McLaughlin (1963) und Timm (1987). Er kommt zu dem Schluss, dass solche Verfahren stets zu unbefriedigenden Ergebnissen geführt hätten und dass eine Klassifikation auf einer autonomistischen (immanenten) Grundlage nicht (immer) möglich sei. Letztlich ist immer ein Rückgriff auf das lateinische Alphabet und dessen Lautwerte notwendig. Und selbst wenn eine autonomistisch begründete Differenzierung bei längeren Texten ausnahmsweise durchführbar sein sollte, bleibt doch zu fragen, welchen Erkenntniswert diese Analysen haben. Denn sie laufen alle darauf hinaus, lediglich eine schon vorher angenommene Unterscheidung, nämlich die zwischen Vokalen und Konsonanten (bzw. Vokal- und Konsonantengraphien), nachträglich zu bestätigen. Das autonomistische Verfahren generiert auf dieser Ebene keine neuen Erkenntnisse über die spezifische Struktur der untersuchten Graphemsysteme. Es ist letztlich fragwürdig, wenn ein so großer Aufwand betrieben wird, um eine Verteilung nachzuweisen, die man unter Berücksichtigung der traditionellen lateinischen Buchstabenbedeutungen ohne größere Bedenken genau in derselben Weise angesetzt hätte. Im Grunde ist schon der Versuch, das Vorhandensein von Vokal- und Konsonantengraphemen nachzuweisen, aus Sicht einer autonomistisch ausgerichteten Graphematik eigentlich überflüssig, da dies ja schon einen Bezug auf die Lautebene impliziert. <?page no="233"?> 233 10.1. Beschreibungsansätze der Historischen Graphematik Ein weiteres Problem besteht bezüglich der Bestimmung des Graphemstatus der ermittelten Graphe. Meijering (1974, 195-263) versucht Grapheme unter Rückgriff auf das in der Phonematik übliche strukturalistische Verfahren der Minimalpaaranalyse zu bestimmen. So werden Graphe, deren Austausch einen Bedeutungsunterschied hervorruft, unterschiedlichen Graphemen zugeordnet, Graphe hingegen, bei denen das nicht der Fall ist, werden als Allographe desselben Graphems angesehen. Nun können allerdings in vormodernen Texten oft dieselben Graphe in manchen Fällen distinktiv verwendet werden (an 'an' vs. en 'ihn'; ane 'ohne' vs. ene 'ihn'), in anderen hingegen als freie Varianten (ande : ende 'und'; wald : weld 'Wald' usw.). In diesem Fall bleibt der Status der Graphe unsicher. Hinzu kommt das forschungspraktische Problem, dass sich meist nicht für alle Graphe passende Minimalpaare finden lassen, um den Graphemstatus zu belegen. Larsen (2001) setzt sich in seiner Studie ausführlich mit den Problemen der Minimalpaaranalyse im Kontext der Historischen Graphematik auseinander und erprobt dieses Verfahren auch anhand seines eigenen Untersuchungskorpus. Da er sogar in diesem schon recht umfangreichen Text (4215 Wortformen) nicht genügend echte Minimalpaare findet, greift er auf „quasi-minimale“ (ebd., 85) Paare zurück, wie z. B. mand 'Monat' : want 'weil, denn'. Doch selbst wenn man diese methodische Unsauberkeit akzeptiert, ist die Methode kaum als erfolgversprechend zu betrachten. Denn Larsen stellt in seiner Analyse fest, dass von 45 benötigten Minimalpaaren im Bereich der vokalischen Graphien in seinem Text nur 28 enthalten sind (ebd., 119) und von 105 benötigten Minimalpaaren für die Differenzierung der konsonantischen Graphien nur 53 (ebd., 133). Auch die Idee, im Rahmen eines streng „autonomistischen“ Verfahrens Allographe als Varianten von Graphemen zu bestimmen, lässt sich in der Praxis nicht befriedigend umsetzen, denn hierfür ist zumindest ein Bezug auf die Wortsemantik erforderlich. Wenn etwa in einem niederdeutschen Text die Wortformen raet, rait, rat, roet, royt und rot vorkommen, dann könnte die Beobachtung, dass die Graphien <ae>, <ai>, <a>, <oe>, <oy> und <o> im selben Kontext <r__t> vorkommen können, dazu Anlass geben, sie als Varianten („Allographe“) desselben Graphems anzusehen. Wenn man jedoch feststellt, dass es sich bei den ersten drei Formen um Realisierungen des Substantivs 'Rat' handelt, bei den übrigen hingegen um Realisierungen des Adjektivs 'rot', erscheint eine solche Zuordnung irreführend. Denn in diesem Fall würden nur <ae>, <ai> und <a> bzw. <oe>, <oy> und <o> jeweils wortbezogen miteinander variieren, während z. B. <ae> und <oe> keine direkten Varianten sind. Der Bezug auf die Wortformen impliziert aber immer auch den Bezug auf eine damit verbundene (historische) Lautgestalt, da wir aus Sprachvergleichen wissen, dass das Substantiv Rat lautetymologisch auf eine Verbindung der Laute wgerm. r, wgerm. ā und wgerm. d zurückgeht, während der Stammvokal des Adjektivs rot ein Nachfolger des Vokals wgerm. au ist. In der Referenz auf die Wortsemantik ist somit immer schon eine Bezugnahme auf die historische Lautung enthalten. Wer diese Referenz nicht zur Kenntnis nimmt, schöpft die Möglichkeiten zur Erschließung der Struktur von Schreibsystemen nur unvollkommen aus. Die mangelnde Erklärungskraft und die methodischen Probleme der autonomistischen Ansätze haben letztlich dazu geführt, dass sich in der historisch-graphematischen Forschung die lautreferenziellen Ansätze durchgesetzt haben. Ein wichtiger Vertreter dieser Richtung war in den 1960er Jahren der Leipziger Sprachwissenschaftler Wolfgang Fleischer, <?page no="234"?> 234 10. Methodische Grundlagen der Historischen Graphematik der mit seinen Arbeiten zur Dresdner Kanzleisprache des 16. Jahrhunderts der Entwicklung der graphematischen Analysemethoden wichtige Impulse gab. Elvira Glaser (1985) hat die Auswertungsmethodik in ihrer Dissertation über die Schreibsysteme verschiedener Handschriften des Augsburger Stadtbuches weiter verfeinert. Daran anknüpfend wurde in dem Duisburger Forschungsprojekt zur niederrheinischen Sprachgeschichte ein Verfahren zur graphematischen Systemanalyse entwickelt (vgl. Mihm 2004; Elmentaler 2003, 49-80), das mittlerweile auch für die Analyse von Schreibsprachen anderer Orte und Regionen erfolgreich adaptiert wurde (vgl. Ernst 1996 zu Wien; Mihm 1999, 2002, 2004a, 2005, 2015 zu Köln; Weber 2003 zu Venlo und Essen; Ravida 2012 zu Luxemburg; Mihm 2013 zu Augsburg; Mihm 2015 zu Erfurt; Mihm 2016 zu Straßburg). Die Anwendung dieses Verfahrens soll im Folgenden anhand eines Beispiels Schritt für Schritt vorgeführt werden. 10.2. Verfahrensschritte zur Analyse graphematischer Variation Jede graphematische Analyse einer historischen Schreibsprache beginnt mit einer Bestandsaufnahme der darin enthaltenen Graphien (Erstellung von Graphieninventaren). Bereits hier werden alle ermittelten Graphien unter Berücksichtigung ihres Wortbezugs auf ihre Entsprechungen in einem lauthistorischen Referenzsystem projiziert. In einem zweiten Schritt werden die Verbindungen der Graphien zu ihren historischen Bezugslauten dann als Grapheme beschrieben. Durch Distributions- und Frequenzanalysen können im dritten Schritt Klassen von Graphemen gebildet werden, so dass die Grundstruktur des Schreibsystems erkennbar wird (graphematische Klassenanalyse). Schließlich kann noch untersucht werden, in welchen Bereichen und in welcher Intensität graphematische Variation auftritt und wodurch diese ggf. gesteuert wird (graphematische Variationsanalyse). Im Folgenden soll dieses mehrschrittige Verfahren am Beispiel der Analyse eines handschriftlichen Textes von 1518 veranschaulicht werden, der das lokale Recht der niederrheinischen Stadt Duisburg enthält. Das Duisburger Stadtrecht wurde 1990 ediert und mit einer neuhochdeutschen Übersetzung versehen (Mihm/ Elmentaler 1990; http: / / www.rmnet.unitrier.de). Der Stadtrechtstext enthält insgesamt ca. 16 500 Wörter (Token) und mehr als 91 000 Zeichen und ist damit umfangreich genug für eine zuverlässige graphematische Analyse. Die Fassung des Duisburger Stadtrechts von 1518, der einige noch nicht publizierte Sammlungen von städtischen Rechtsverordnungen vorangingen (vgl. Mihm 1999b), stammt aus der Feder des Stadtsekretärs Bernhardus Leising, der von 1510 bis 1520 in der Duisburger Stadtkanzlei tätig war. Über seine Biographie ist leider nichts bekannt. Die Sprache des Textes kann als niederrheinisch oder rheinmaasländisch bezeichnet werden; es handelt sich hierbei um eine Varietät aus dem Übergangsgebiet zwischen den als „niederdeutsch“ (im Osten) und „niederfränkisch“ (im Westen) charakterisierten Sprachlandschaften. Die lokale Schreibsprache Duisburgs weist somit einerseits Gemeinsamkeiten mit dem Westfälischen, andererseits mit dem Limburgischen der heutigen Niederlande und Ostbelgiens auf. Einen Eindruck von der Sprache der Handschrift vermittelt die Textprobe in Abb. 48, die zugleich als Ausgangspunkt für die Analyse des Graphieninventars dienen soll. In diesen zehn Abschnitten geht es um den Umgang mit verschiedenen Formen von Gewalttaten. Als <?page no="235"?> 235 10.2. Verfahrensschritte zur Analyse graphematischer Variation Strafzahlung wird hier jeweils das Abliefern einer festgelegten Menge an Ziegelsteinen für lokale Baumaßnahmen festgesetzt. Da die einzelnen Graphe in der sauber niedergeschriebenen Handschrift deutlich differenziert werden, bot die Erstellung des Transkripts keine größeren Schwierigkeiten (Abb. 49). Graphische Varianten wie | s | und | ſ | oder verschiedene Varianten des | r | sind hier bereits zusammengefasst. Abb. 48. Das Kapitel „Van doitslaige“ aus dem Duisburger Stadtrecht von 1518 (Stadtarchiv Duisburg, Sign. 10A / 102) <?page no="236"?> 236 10. Methodische Grundlagen der Historischen Graphematik [f. 54] Van slachtonge Van slaen mytter fuyst Capitulum i Item Offt yemant den anderen sleyt myt eynre bloeter handt offt myt eynre vuest dye sall gebrockt heben V c steyns Ghyene messe tbloetenn Capitulum ii Item Offt yemant eyn meesser bloet vther scheyden treckt in ernste eynen anderen mede tslaene offt tsteckenn ind nochtant nyemantz en steckt raeckt noch en wondet sall gebrockt heben V c steyns Van slaen mytten messen Capitulum iii Item Offt ymantz den anderen myt eynen messe steckt houwet oder sleyt blae oder bloedych dye sall gebrockt heben Duysent steyne allet totter Stadt Tymmeronge Van werppenn Capitulum iiii Item Offt ymantz den anderen sleyt offt nae hen werpt myt eynre kannenn holte steyne off anders hy rackt offt hy en rackt nyet sall gebrockt heben Duysent steyns Van houwen ind steckenn Capitulum v Item Offt yemantz den anderen houwet steckt offt werpt eyne klaegebere wonde eyns ledes lanck oder dyep sall gebrockt heben Twee Duysent steyns Van stecken houwen ind werpenn ongewontlicher weer Capitulum vi Item Offt yemantz den anderen steckt houwet sleyt oder werpt myt eynen heerhaemer kuysen Spytze Swerde werpbylen offt anderen bylenn offt myt onnyger ongewontlicher weer dair men degelix nyet mede tsteghenn ind Straetenn geyt sall gebrockt heben drye Duysent steyns Van schyeten nae den anderen Capitulum vii Item Offt yemantz nae den anderen schuth myt baegen oder myt bussen offt myt warpbylen oder myt messen werpt hy rackt offt hy rackt nyet sall gebrockt hebenn Thyen Duysent steyns Ghyene gespannen baegen oder gelaedene bussen tdraegen vmb eyn ander tschyeten Capitulum viii Item Offt yemant myt eynen gespannen armborste offt myt eynre gelaedener Bussen nae den anderen gynge omb den toe schyetenn ind nochtant nyet en schoete dye selue sall gebrockt heben x m Tyegelsten Van wege layge leggen Capitulum ix Item Offt ymantz den anderen wegelaggedenn hemellicken alleyne offt myt geselschopenn ind in alsulcher maetenn den anderen sloege houwe worpe myt steynenn stecke offt anders mysdede dye sall gebrockt heben x m steyns Über Gewalttätigkeiten 1. Vom Schlagen mit den Fäusten Wer einen anderen mit der bloßen Hand oder mit der Faust schlägt, dem wird eine Buße von 500 Ziegelsteinen auferlegt. 2. Keine Messer zücken Wer ein offenes Messer aus der Scheide zieht und damit im Ernst droht, jemanden zu schlagen oder zu stechen, der hat als Buße 500 Ziegelsteine zu liefern, auch wenn er niemanden sticht, trifft oder verletzt. 3. Vom Schlagen mit dem Messer Wer einen anderen mit dem Messer sticht, haut oder ihn damit blau und blutig schlägt, der muss als Buße 1000 Ziegelsteine für Baumaßnahmen der Stadt zur Verfügung stellen. 4. Vom Werfen Wer nach einem anderen mit einer Kanne, einem Stück Holz, einem Stein oder einem anderen Gegenstand schlägt oder wirft, der muss, ganz gleich ob er trifft oder nicht, eine Buße von 1000 Ziegelsteinen leisten. 5. Vom Schlagen und Stechen Wer einem anderen durch Hieb, Stich oder Wurf eine gerichtlich belangbare Wunde zufügt, die ein Fingerglied lang oder tief ist, hat als Buße 2000 Ziegelsteine zu liefern. 6. Vom Stechen, Schlagen und Werfen mit ungewöhnlichen Waffen Wer einen anderen mit Streithämmern, Keulen, Spitzen, Schwertern, Wurfbeilen, gewöhnlichen Beilen oder mit anderen ungewöhnlichen Waffen, die man nicht täglich auf Straßen und Stegen mit sich führt, sticht, haut, schlägt oder bewirft, der hat als Buße 3000 Ziegelsteine abzuliefern. 7. Vom Schießen auf einen anderen Wer auf einen anderen mit Bögen oder Büchsen schießt oder mit Wurfbeilen oder Messern wirft, der muss, ganz gleich ob er trifft oder nicht, eine Buße von 10 000 Ziegelsteinen leisten. 8. Keine gespannten Bogen oder geladenen Büchsen tragen, um auf einen anderen zu schießen Wenn sich jemand mit einer gespannten Armbrust oder einer geladenen Büchse einem anderen nähert, um auf ihn zu schießen, so muss er, auch wenn er nicht schießt, eine Buße von 10 000 Ziegelsteinen leisten. 9. Von Überfällen Wer allein oder zusammen mit anderen jemandem heimlich auflauert und ihn unter diesen Umständen dann schlägt, haut, mit Steinen wirft, sticht oder auf andere Weise misshandelt, der hat als Buße 10 000 Ziegelsteine zu liefern. <?page no="237"?> 237 10.2. Verfahrensschritte zur Analyse graphematischer Variation [f. 55] Van doitslaige Capitulum x Item Offt ymant bynnen vnser Stadt offt bynnen vnsen gerychte eynen doetslach doet ind alsoe vther Stadt qweme dye sall nae den doetslaige eyn Jaer ind Seess wecken buyten vnser Stadt ind gerychte blyeuenn woe wall hy versoent ind geslychtz were mytten heren ind mytten vrunden bynnenn der vurschreuen tyt Ind oyck soe en sall hy in dye Stadt nyet koemen yd en sy myt wyllen ind Consente der Burgermeystere ind des Raidz ind dair toe sall dye selue gebrockt heben totter Stadt tymmeronge xxv m steyns ind sall dye steyne vernuegen ind betaelenn eer ind voir der tyt hy in dye Stadt kompt Ind offt ymantz myt wreuell dair en baeuenn dede ind bynnen vnse Stadt offt gerychte qweme dye sall gebrockt heben vyfftich Duysent tychell steyne ind offt hy sych dan dair en baeuenn tegenn dye brocken stelde ind nyet betaelen en konde noch en wolde Soe salmenn den seluen in dat gevencknysse setten ind eyn Jaer ind vi wecken dair inne holden ind geuenn om soe lange water ind broet vanden Stadt wegen ind tenden dat Jaer ind vi wecken sall hy eyne Oervede doen ind dair toe geuen x m steyns 10. Vom Totschlag Wenn jemand innerhalb unserer Stadt oder unseres Gerichtsbezirks einen Totschlag begeht und deshalb aus der Stadt flieht, so muss er sich ein Jahr und sechs Wochen nach der Tat außerhalb unserer Stadt und unseres Gerichtsbezirkes aufhalten, auch wenn er schon innerhalb dieser Zeit Versöhnung und Schlichtung mit dem Landesherren und den Angehörigen erreicht hat. Auch nachher darf er nur mit Willen und Übereinstimmung von Bürgermeister und Rat in die Stadt zurückkehren und hat eine Buße von 25 000 Ziegelsteinen für städtische Bauvorhaben zu leisten. Diese Steine hat er bereitzustellen und zu liefern, bevor er wieder in die Stadt darf. Wenn jemand mutwillig dagegen verstößt und vorher in die Stadt oder den Gerichtsbezirk kommt, so muss er 50 000 Ziegelsteine liefern. Falls er sich darüber hinaus noch gegen diese Strafe auflehnt oder sie nicht bezahlen kann oder will, so soll ihn die Stadt ins Gefängnis werfen und ein Jahr und sechs Wochen bei Wasser und Brot darin festhalten. Nach diesem Jahr und den sechs Wochen muss er einen Verzicht auf Rache schwören und 10 000 Steine als Buße bereitstellen. Abb. 49. Das Kapitel „Van slachtonge“ aus dem Duisburger Stadtrecht von 1518, Edition und neuhochdeutsche Übertragung (aus: Mihm / Elmentaler 1990, 213-216) 10.2.1. Beschreibung des Graphieninventars Der erste Schritt der graphematischen Analyse besteht in der Bestimmung der in einem Schreibsystem enthaltenen Graphien. Um ein ökonomisches Arbeiten zu ermöglichen, empfiehlt es sich, den Untersuchungstext nicht Wort für Wort durchzugehen, sondern mithilfe eines Konkordanzprogrammes zunächst eine alphabetische Wortliste anzulegen, die dann weiter bearbeitet werden kann. Für den hier zugrunde gelegten Textauszug besteht die Liste aus 526 Wordtoken (Wörter im laufenden Text), die sich auf 223 Types (unterschiedliche Wortformen) verteilen. Die folgende Aufstellung zeigt die ersten 44 Einträge dieser Liste, mit allen Wortformen, die mit dem Anfangsbuchstaben A, B, C oder D beginnen (Abb. 50). 1 allet 1 alleyne 1 alsoe 1 alsulcher 1 ander 12 anderen 2 anders 1 armborste 2 baegen 2 baeuenn 1 betaelen 1 betaelenn 1 blae 1 bloedych 1 bloet 1 bloeter 1 blyeuenn 1 brocken 1 broet 1 burgermeystere 3 bussen 1 buyten 1 bylenn 3 bynnen 1 bynnenn 10 capitulum 1 consente 6 dair 1 dan 2 dat 1 dede 1 degelix 13 den 3 der 1 des 1 doen 1 doet 1 doetslach 1 doetslaige 1 doitslaige 1 drye 6 duysent 11 dye 1 dyep Abb. 50. Wortformen mit dem Anfangsbuchstaben A, B, C oder D aus dem Duisburger Stadtrecht von 1518 (mit Angabe der Beleghäufigkeiten) <?page no="238"?> 238 10. Methodische Grundlagen der Historischen Graphematik Bei der Erstellung des Graphieninventars geht es darum, die aus graphematischer Perspektive nicht weiter teilbaren Grundeinheiten des Schreibsystems zu ermitteln. Jedes Graph und jede Graphkombination, dem / der lautetymologisch genau eine Einheit entspricht, wird als Graphie betrachtet. Für die Bestimmung der lauthistorischen Referenzen kann auf einschlägige etymologische Wörterbücher zurückgegriffen werden, etwa das „Etymologische Wörterbuch der deutschen Sprache“ von Friedrich Kluge (2011) oder das „Etymologische Wörterbuch des Deutschen“ von Wolfgang Pfeifer (1993). Wenn die untersuchte Schreibsprache teilweise einen Wortbestand enthält, der im Neuhochdeutschen nicht enthalten ist (wie im obigen Beispiel die niederrheinisch-niederdeutschen Wörter brocken 'Strafe, Bußgeld' oder buyten 'außerhalb'), kann die Heranziehung des „Deutschen Wörterbuchs“ von Jacob und Wihelm Grimm (online verfügbar unter wörterbuchnetz.de), ggf. auch des „Etymologischen Wörterbuchs des Althochdeutschen“ (Lloyd / Lühr / Springer 1988 ff., bisher Bd. 1-6, von A bis pûzza) weiterhelfen. Darüber hinaus kann auf etymologische Wörterbücher nahe verwandter Sprachen, z. B. das „Etymologisch woordenboek van het Nederlands“ (Philippa / Debrabandere / Quak 2004-2009), oder auf Wörterbücher historischer Sprachstufen („Mittelniederdeutsches Handwörterbuch“, vgl. Lasch / Borchling 1928 ff., bisher Bd. 1-3, von A bis tôbate; „Mittelhochdeutsches Wörterbuch“, vgl. Benecke / Müller / Zarncke 1854-1866, bzw. für die Buchstabenstrecke A-êvrouwe das neue „Mittelhochdeutsche Wörterbuch“, vgl. Gärtner / Grubmüller / Stackmann 2006 ff.) zurückgegriffen werden. Als Bezugssystem wird häufig das rekonstruierte Lautsystem des Westgermanischen (wgerm.) verwendet. Da der hier untersuchte Text am Westrand des niederdeutschen Sprachgebietes entstanden ist, werden darüber hinaus auch die Entsprechungen im Altsächsischen (as.) bzw. im Mittelniederdeutschen (mnd.) mit angegeben. Dies hat den Vorteil, dass neben den konstruierten westgermanischen Formen, die durch Sprachvergleiche und sprachhistorische Studien erschlossen wurden und somit immer hypothetischen Charakter haben (dies wird durch einen vorangestellten Asterisk * gekennzeichnet), auch tatsächlich schriftlich überlieferte Formen angegeben werden können. Projiziert man auf diese Weise die Schriftform der Textwörter auf das historische Referenzsystem, so lassen sich in einigen Fällen die Graphe der untersuchten Wörter eins zu eins den lautetymologischen Einheiten zuordnen: ander 'ander-' < germ. *anþara, as. ōðar Graphien: <a> <n> <d> <e> <r> dan 'dann' < germ. *þan, as. than(na) Graphien: <d> <a> <n> dat 'das' < got. þata, as. that Graphien: <d> <a> <t> Im vorliegenden Text tritt allerdings recht häufig der Fall auf, dass eine lauthistorische Einheit nicht durch ein einzelnes Graph, sondern durch eine Graphverbindung realisiert wird: allet 'alles' < von germ. *alla-, as. al(l)- + Endung -et '-es' Graphien: <a> <ll> <e> <t> <?page no="239"?> 239 10.2. Verfahrensschritte zur Analyse graphematischer Variation alsulcher 'all-solcher' < germ. *alla-, as. al(l)- + germ. *swǣ-leika, as. sulik + Endung -er Graphien: <a> <l> <s> <u> <l> <ch> <e> <r> betaelenn 'bezahlen' < von germ. *tala- 'Zahl', as. bitalon Graphien: <b> <e> <t> <ae> <l> <e> <nn> bynnen 'innerhalb' < wgerm. *innanǣ-, mnd. binnen Graphien: <b> <i> <nn> <e> <n> bloet 'bloß' < wgerm. *blauta-, mnd. blōt Graphien: <b> <l> <oe> <t> dair 'da' < wgerm. *þǣr, as. thār Graphien: <d> <ai> <r> dyep 'tief ' < germ. *deupa-, as. diop Graphien: <d> <ye> <p> In den Beispielen sind Digraphien wie <ll> oder <nn> enthalten, die sich auf historische Langkonsonanten beziehen (z. B. wgerm. *ll in allet, wgerm. *nn in bynnen). Teilweise repräsentieren solche Schreibungen in unserem Text jedoch auch historisch einfache Konsonanten (z. B. <nn> in betaelenn). Im Bereich des Vokalismus werden historische Diphthonge (wie wgerm. *au oder *eu), die hier als ein einziger Laut gerechnet werden, sowie historische Langvokale (wie wgerm. *ǣ, as. ā) oder gedehnte Kurzvokale (wie wgerm. a-) durch Digraphien realisiert (bloet, dyep, dair, betaelenn; weitere Beispiele: <ae> in baegen 'Bogen' und baeuenn 'jenseits', <ey> in alleyne 'allein', <oe> in bloedych 'blutig' und broet 'Brot', <ye> in blyeuenn 'bleiben' und drye 'drei', <uy> in duysent 'tausend' usw.). Eine weitere gängige Digraphie ist <ch>, z. B. in dem Wort (al)sulcher '(all)solcher', das hier lautetymologisch auf ein einfaches k zurückgeführt werden kann, in anderen Fällen (z. B. in doch oder noch) auf wgerm. h. Neben den etymologisch eindeutigen Fällen kann es bei manchen Schreibungen auch verschiedene Deutungs- und Zuordnungsoptionen geben. So ein Fall liegt bei der Graphfolge | sch | vor, etwa in dem Wort scholt 'Schuld'. Historisch ist das Lexem auf germ. *skuldi, as. skuld zurückzuführen, das also im Anlaut die Konsonantenkombination s + k enthält. Dementsprechend könnte man die im Text auftretende Graphfolge | sch | als Zusammensetzung aus den Graphien <s> (entsprechend wgerm. s) und <ch> (entsprechend wgerm. k) interpretieren. Nun wissen wir aber aus den modernen Dialekten der Region, dass sich die Konsonantenfolge sk (Frikativ + Plosiv) sprachhistorisch zu einem einzigen Frikativlaut [ʃ] weiterentwickelt hat (vgl. Neuse 1915, § 196). Wenn man davon ausgeht, dass dieser Prozess am Niederrhein bereits im frühen 16. Jahrhundert vollzogen war (was wir nicht genau wissen), müsste man die Graphfolge | sch | bereits als Repräsentant dieses neuen einfachen Frikativs interpretieren und somit eine Trigraphie <sch> ansetzen. Die Tatsache, dass die Schreibung <sk> nicht belegt ist, obwohl <k> eigentlich die reguläre Graphie zur Wiedergabe des Plosivs [k] wäre, könnte auf eine solche Entwicklung hindeuten. Eine weitere Besonderheit liegt im Falle des Lexems bussen 'Büchse, Gewehr' vor, das auf lat. buxa > ahd. buhsa zurückgeht, wobei die Graphfolge | hs | hier ursprünglich für die Lautfolge <?page no="240"?> 240 10. Methodische Grundlagen der Historischen Graphematik Neben den beschriebenen Inkongruenzen zwischen der Schrift- und (historischen) Lautebene ist auch die sprachliche Provenienz der Lexeme als ein relevanter Faktor einzustufen. Damit ist gemeint, dass bei der Übernahme von Lexemen aus anderen Sprachen oft die ursprüngliche Schreibweise beibehalten wird. In der heutigen Orthographie ist das bei Lehnwörtern wie Trainer, charmant oder Pizza der Fall, in denen die Graphien <ai> für [ɛː] , <ch> für [ʃ] und <zz> für [ts] aus dem Englischen, Französischen und Italienischen übernommen wurden und auf eine Anpassung an die im Deutschen üblichen Schreibkonventionen verzichtet wurde (*Träner, *scharmant, *Pitza). In dem historischen Textbeispiel wird z. B. der Kontinuant (lautliche Nachfolger) von wgerm. k im Wort- und Silbenanlaut in der Regel als <k> realisiert (karren 'Karren', knecht 'Knecht'), während die Graphie <c> nur als seltene Variante auftritt (cost 'Kost', cleger 'Kläger'). Die Wörter capitulum und consent werden jedoch immer mit der Graphie <c> realisiert. Dies hängt damit zusammen, dass es sich hierbei um graphisch nicht assimilierte Lehnwörter aus dem Lateinischen handelt. Bei der Analyse empfiehlt es sich somit, die Gruppe der graphisch unangepassten Lehnwörter gesondert im Auge zu behalten, und auch die Namen, die ebenfalls Besonderheiten in der Schreibung aufweisen können. Schließlich ist auch die in der Phonetik übliche Unterscheidung von Haupt- und Nebensilben für die Schreibung von unmittelbarer Relevanz. Als Hauptsilben werden Silben bezeichnet, die den Wortakzent tragen, also durch eine besondere Betonung hervorgehoben werden. Nebensilben sind nicht oder nur schwach betont; im Deutschen besteht der vokalische Kern der Nebensilben häufig aus den reduzierten Vokalen [ə] (dem Schwa-Laut) und [ɐ] (dem Tief-Schwa), manchmal aber auch aus vollen Kurzvokalen (dankbar, entfernt, glücklich). In dem Wort Winter trägt die erste Silbe [vɪn] den Hauptakzent, die zweite [tɐ] ist eine Nebensilbe; in dem Wort entfernt liegt der Hauptakzent auf der zweiten Silbe [fɛʁnt] , während die erste Silbe [ɛnt] den Nebenton trägt. In volkssprachlichen Texten aus der Zeit nach 1200 kommen Digraphien, die typischerweise zur Wiedergabe von Langvokalen oder Diphthongen eingesetzt werden, praktisch nur in Hauptsilben vor. In den Nebensilben steht dagegen häufig, wie im Neuhochdeutschen, die Graphie <e>, da die vormals im Althochdeutschen und Altsächsischen vorhandenen vollen Nebensilbenvokale durch die Nebensilbenabschwächung [xs] oder [ks] stand. Die mittel- und neuniederdeutsche Normalform für dieses Wort lautet dagegen Büsse, enthält also einen einfachen Frikativ [s] . Im Niederdeutschen ist hier also eine Assimilation und Konsonantenvereinfachung von [xs]/ [ks] zu [s] eingetreten, ähnlich wie in anderen vergleichbaren Wörtern (Osse 'Ochse', wassen 'wachsen'). Die Schreibung bussen in unserem Text deutet darauf hin, dass diese Entwicklung damals bereits abgeschlossen war, so dass eine Digraphie <ss> anzusetzen ist, der ein einziger Frikativ entsprach. Einen singulären Fall stellt (auch in der modernen deutschen Orthographie) das Graph | x | dar, der sich nicht (wie es unsere Graphiendefinition eigentlich verlangt) auf einen einzelnen Laut bezieht, sondern auf eine Lautfolge [ks] . Da diese Einzellaute in unserem Beispielwort degelix 'täglich(s)' aber nicht getrennt graphematisch repräsentiert sind (etwa als *degeliks), wird <x> trotzdem als Graphie angesetzt. <?page no="241"?> 241 10.2. Verfahrensschritte zur Analyse graphematischer Variation meist zu Schwa-Lauten reduziert wurden. Dies lässt sich an den oben angeführten 44 Beispielwörtern gut erkennen, die im Folgenden genauer analysiert werden sollen. Von den 44 Wortformen sind 14 einsilbig und enthalten demnach keine Nebensilbe: blae, bloet, broet, dair, dan, dat, den, der, des, doen, doet, drye, dye, dyep. Von den restlichen 30 Wortformen weisen 11 die auch für das heutige Standarddeutsch typische Kombination von betonter Hauptsilbe (mit Vollvokal) und meist einer, manchmal mehreren unbetonten Nebensilben (mit Schwa, repräsentiert durch <e> bzw. <er>) auf (Tab. 19). Betont Unbetont Unbetont al let an der an de ren an ders bloe ter blye uenn broc ken bae gen bae uenn de de duy sent Tab. 19. Silbenstruktur in komplexen Wortformen aus dem Duisburger Stadtrecht von 1518 (a) Bei dem Wort betaelen bzw. betaelenn liegt dieselbe Kernstruktur vor, wobei allerdings vor der Hauptsilbe noch eine weitere Nebensilbe steht (Tab. 20). Unbetont Betont Unbetont be tae len be tae lenn Tab. 20. Silbenstruktur in komplexen Wortformen aus dem Duisburger Stadtrecht von 1518 (b) Abweichende Wortformen ergeben sich bei zusammengesetzten Wörtern, also Komposita (Typ doetslach) oder ehemaligen Komposita, die bereits zu einem Wort verschmolzen sind (Typ alleyne). Hier sind zwei mehr oder weniger stark betonte Silben enthalten, die dann jeweils noch unbetonte Nebensilben aufweisen können (Tab. 21). <?page no="242"?> 242 10. Methodische Grundlagen der Historischen Graphematik Betont Unbetont Betont Unbetont Unbetont all ey ne al soe al sul cher arm bors te bur ger meys te re doet slach doet slai ge doit slai ge Tab. 21. Silbenstruktur in komplexen Wortformen aus dem Duisburger Stadtrecht von 1518 (c) Teilweise können auch Ableitungen noch diese Struktur aufweisen, wenn sich in der Nebensilbe ein voller Vokal erhalten hat (wie in den Derivationssuffixen -ig oder -lich) (Tab. 22). Betont Unbetont Betont bloe dych de ge lix Tab. 22. Silbenstruktur in komplexen Wortformen aus dem Duisburger Stadtrecht von 1518 (d) Bei der graphematischen Analyse ist es ratsam, die Schreibungen in den Haupt- und Nebensilben voneinander zu differenzieren, da es sonst bei der Quantifizierung der Graphien zu extremen Verzerrungen käme. So treten z. B. die Graphien <e>, <n> und <r> wegen der hochfrequenten Endungen -e, -en, -er in den Nebensilben sehr viel häufiger auf als in den Hauptsilben. Wendet man das beschriebene Analyseverfahren auf alle 223 Wortformen des Textauszugs in Abb. 49 an, dann ergibt sich bereits ein relativ umfangreiches Inventar von 52 Graphien: - 17 Vokalgraphien: <a>, <ae>, <ai>, <ay>, <e>, <ee>, <ey>, <i>, <o>, <oe>, <oi>, <ou>, <oy>, <ue>, <uy>, <y>, <ye> - 33 Konsonantengraphien: <b>, <c>, <ch>, <ck>, <d>, <dt>, <f>, <ff>, <g>, <gg>, <gh>, <h>, <j>, <k>, <l>, <ll>, <m>, <mm>, <n>, <nn>, <p>, <pp>, <q>, <r>, <s>, <ss>, <t>, <th>, <tt>, <tz>, <w>, <x>, <z> - 2 Graphien, die teils vokalisch, teils konsonantisch verwendet werden: <u>, <v> Nach Analyse des gesamten Stadtrechtstextes, der mit ca. 16 500 Wortformen (Token) ungefähr 74mal so groß ist wie die Stichprobe, lassen sich gegenüber der Stichprobenanalyse noch zwei weitere vokalische Graphien und eine konsonantische Graphie ergänzen, die in dem Textauszug zufällig nicht repräsentiert waren: - Vokalgraphien: <ei> (vthgescheiden 'ausgenommen'), <ie> (assiese 'Steuer') - Konsonantengraphie: <rr> (karren 'Karren') <?page no="243"?> 243 10.2. Verfahrensschritte zur Analyse graphematischer Variation - Außerdem stellt sich heraus, dass die Graphie <i> gelegentlich auch mit konsonantischer Referenz vorkommt (iaer 'Jahr') und die Graphie <j> mit vokalischer Referenz (jnd 'und'). Das Graphieninventar des Duisburger Stadtrechts von 1518 ist, verglichen mit denen lateinischer Texte, aber auch mit den Graphieninventaren anderer volkssprachiger Texte, recht umfangreich, da es neben den lateinischen Basisgraphien nicht weniger als 29 Digraphien enthält. Die hohe Zahl von Digraphien resultiert daraus, dass im Bereich des Vokalismus gleich mehrere nachgestellte Graphe zum Einsatz kommen (-e, -i, -y, -u) und bei den Konsonanten nachgestelltes -h (in <gh>, <th>) oder -t (in <dt>) verwendet wird. Die bloße Inventarisierung der Graphien sagt nun allerdings noch nichts darüber aus, wie stark die einzelnen Graphientypen das Schriftbild prägen. So wäre es im Prinzip möglich, dass vorwiegend Monographien verwendet werden und die genannten Digraphien nur in wenigen Einzelfällen vorkommen. Um dies zu prüfen und ein genaueres Bild vom Graphiengebrauch des Schreibers zu erhalten, ist eine Quantifizierung der Graphienhäufigkeiten erforderlich. Für das Stadtrecht von 1518 wurde hierfür das gesamte Textdokument im Bereich des Tonsilbenvokalismus (also unter Ausklammerung der unbetonten Nebensilben) ausgezählt. Hierbei zeigt sich, dass in der Tat einige Graphien nur vergleichsweise selten auftreten und als „Nebengraphien“ eingestuft werden können. So kommen die Vokalgraphien <ay> und <ei> sowie vokalisch verwendetes <j> und konsonantisch verwendetes <i> nur in jeweils weniger als 30 Belegen vor. Andererseits finden sich unter den am häufigsten gebrauchten Graphien aber auch viele Digraphien (Abb. 51, angegeben ist jeweils die Anzahl der Belege / Token). <i>: 981 <u>: 965 <ie>: 83 <ue>: 112 <ij>: 0 <ui>: 0 <j>: 4 <uy>: 229 <y>: 1443 <ye>: 1135 <e>: 2724 <o>: 1457 <ee>: 76 <oe>: 1002 <ei>: 3 <oi>: 162 <ey>: 623 <oy>: 78 <eu>: 0 <ou>: 78 <oo>: 0 <a>: 2763 <ae>: 659 <ai>: 325 <ay>: 26 <aa>: 0 <au>: 0 Abb. 51. Inventar der Vokalgraphien (nur Tonsilbenvokalismus, n = 14 926) im Schreibsystem des Duisburger Stadtsekretärs Leising (Stadtrecht 1518) <?page no="244"?> 244 10. Methodische Grundlagen der Historischen Graphematik Die Schreibsprache des Duisburger Stadtsekretärs Leising ist im Bereich des Tonsilbenvokalismus tatsächlich stark durch den Gebrauch komplexer Graphien gekennzeichnet. Von den insgesamt 14 928 Belegen im Bereich der Vokalgraphien entfallen 4591 (=-30,8 %) auf Digraphien. Dass dies für den untersuchten Zeitraum in der Duisburger Kanzlei recht typisch war, zeigt ein Vergleich mit einem von Leisings Nachfolgern im Amt des Duisburger Stadtsekretärs, dem Schreiber Godert van Entbrouck. Ausgezählt wurden die von Godert verfassten Notgerichtsprotokolle (1537-1545) und städtischen Verordnungen (1535-1542) (Abb. 52). <i>: 2427 <u>: 2947 <ie>: 1208 <ue>: 90 <ij>: 2 <ui>: 147 <j>: 0 <uy>: 88 <y>: 1643 <ye>: 42 <e>: 4494 <o>: 2665 <ee>: 42 <oe>: 1037 <ei>: 638 <oi>: 509 <ey>: 121 <oy>: 0 <eu>: 7 <ou>: 56 <oo>: 2 <a>: 5289 <ae>: 621 <ai>: 421 <ay>: 5 <aa>: 1 <au>: 107 Abb. 52. Inventar der Vokalgraphien (nur Tonsilbenvokalismus, n = 24 609) im Schreibsystem des Duisburger Stadtsekretärs Godert (Gerichtsprotokolle und Verordnungen, 1535-1545) Godert verwendet ebenfalls häufig Digraphien, allerdings mit einem deutlich geringeren Anteil als Leising (5144 von 24 609 Belegen-= 20,9 %). Darüber hinaus werden auch in der Wahl der Digraphien individuelle Präferenzen sichtbar. Manche Graphien, die bei Leising gar nicht vorkamen, werden nun von Godert gelegentlich (<ij>: 2, <eu>: 7, <oo>: 2, <aa>: 1) oder sogar häufig (<ui>: 147, <au>: 107) gebraucht. Umgekehrt greift Godert auf manche bei Leising frequent verwendeten Graphien kaum noch zurück. Insbesondere verwendet Godert die Vokalgraphien mit nachgestelltem e deutlich seltener als Leising. Dies wird besonders deutlich, wenn man die absoluten Beleghäufigkeiten zur besseren Vergleichbarkeit jeweils auf eine fiktive Korpusgröße von 20 000 Belegen umrechnet. Hierfür wurden alle Belegzahlen aus dem Korpus von Leising mit dem Faktor 1,34 multipliziert und alle Belegzahlen aus dem Korpus von Godert durch 1,23 dividiert und jeweils gerundet (Tab. 23). <?page no="245"?> 245 10.2. Verfahrensschritte zur Analyse graphematischer Variation Leising Godert absolut gerechnet auf 20 000 Belege absolut gerechnet auf 20 000 Belege <ae> 659 883 621 505 <ee> 76 102 42 34 <oe> 1002 1342 1037 843 <ue> 112 150 90 73 Tab. 23. Absolute und relative Graphienhäufigkeiten in den Schreibsystemen der Duisburger Stadtsekretäre Leising und Godert (a): Graphien mit <-e> als Zweitkomponente Leising verwendet dreimal so oft <ee> und doppelt so oft <ue> wie Godert, und auch die relativen Anteile für <ae> und <oe> liegen deutlich höher. Auf der anderen Seite verwendet Godert die Graphie <i> und Digraphien mit voran- oder nachgestelltem i in fünf von sechs Kategorien sehr viel häufiger als sein Amtsvorgänger, so etwa <oi> etwa doppelt so oft, <ie> neunmal so oft und <ei> 130mal so oft (Tab. 24). Leising Godert absolut gerechnet auf 20 000 Belege absolut gerechnet auf 20 000 Belege <i> 981 1315 2427 1973 <ie> 83 111 1208 982 <ai> 325 436 421 342 <ei> 3 4 638 519 <oi> 162 217 509 414 <ui> 0 0 147 120 Tab. 24. Absolute und relative Graphienhäufigkeiten in den Schreibsystemen der Duisburger Stadtsekretäre Leising und Godert (b): Die Graphien <i>, <ie> und Graphien mit <-i> als Zweitkomponente Die Graphie <y> und Digraphien mit voran- oder nachgestelltem y werden von Godert wiederum in allen Kategorien deutlich seltener gebraucht (Tab. 25). Leising Godert absolut gerechnet auf 20 000 Belege absolut gerechnet auf 20 000 Belege <y> 1443 1934 1643 1336 <ye> 1135 1521 42 34 <ay> 26 35 5 4 <ey> 623 835 121 98 <oy> 78 105 0 0 <uy> 229 307 88 72 Tab. 25. Absolute und relative Graphienhäufigkeiten in den Schreibsystemen der Duisburger Stadtsekretäre Leising und Godert (c): Die Graphien <y>, <ye> und Graphien mit <-y> als Zweitkomponente <?page no="246"?> 246 10. Methodische Grundlagen der Historischen Graphematik Aus dem Vergleich der beiden Graphieninventare lassen sich drei grundsätzliche Folgerungen ziehen, die für die Analyse historischer Schreibsysteme von großer Wichtigkeit sind: 1) Es hat sich bestätigt, wie wichtig es ist, Schreibsysteme auf individueller Ebene zu untersuchen, also verschiedene Schreiberhände sorgfältig zu differenzieren (Kap. 5.4). Eine Untersuchung, die sich darauf beschränkt hätte, den Duisburger Schreibgebrauch in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts aufgrund gemischter Daten zu erheben, hätte ein wesentlich gröberes Ergebnis geliefert, da dann z. B. die Digraphien mit -e, -i und -y als Zweitkomponente als etwa gleich verteilte Varianten betrachtet worden wären. Erst die Schreiberseparierung erlaubt die weitergehende Einsicht, dass der einzelne Schreiber jeweils nur ausschnitthaft und mit jeweils erkennbaren Präferenzen auf das zur Verfügung stehende Graphieninventar zurückgreift. 2) Im Vergleich wird deutlich, dass auch graphische Differenzen, die aus heutiger Perspektive scheinbar funktionslos sind, wie die zwischen den Buchstaben i und y (z. B. als Bestandteil der Graphien <oi> vs. <oy> oder <ui> vs. <uy>), ernstgenommen werden müssen, da sich auch hier schreiberspezifische Präferenzen manifestieren. Mit dem vor allem unter Historikern verbreiteten Usus, in Texteditionen die Graphie <y> durch <i> zu ersetzen (bzw. die mit dem Graph y gebildeten Digraphien durch solche mit i), ist somit aus sprachhistorischer Sicht eine Einschränkung der Erkenntnismöglichkeiten verbunden. Solche editorischen Eingriffe sind problematisch, da hierdurch unterschiedliche Traditionen des Schreibens, die auf individueller Ebene zum Ausdruck kommen, potenziell verdeckt werden. 3) Methodisch wird deutlich, dass eine genaue Bestimmung der Graphienhäufigkeiten notwendig ist, um zu klaren Ergebnissen zu gelangen. Die Auszählung der Graphienfrequenzen ist ein sehr aufwändiges Verfahren, doch lassen sich nur über die Quantifizierung die zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort (von einer individuellen Person) üblichen Tendenzen des Schreibens eindeutig herausarbeiten. Bereits auf der Ebene der Graphieninventare lassen sich somit individuelle Gestaltungsspielräume ausmachen, die von den Schreibern genutzt wurden. Hinter diesen quantitativen Differenzen stehen aber häufig auch strukturelle Differenzen, die mit der unterschiedlichen Zuordnung der Graphien zu ihren lauthistorischen Entsprechungen zusammenhängen. Auf die Möglichkeiten der Rekonstruktion dieser Korrespondenzen wird im folgenden Kapitel eingegangen. 10.2.2. Ermittlung der Grapheme a) Bezug auf unterschiedliche Referenzlaute Bereits bei der Abgrenzung der Graphien als den Grundbausteinen des Schreibsystems war eine Referenz auf das lauthistorische Bezugssystem erforderlich, da nur so eine Bestimmung von Digraphien (wie <ch>, <ck>, <mm> usw.) im Unterschied zur Abfolge zweier Graphien (wie <sk>, <st>, <nd> usw.) möglich ist. Bei diesem Arbeitsschritt war jedoch die Frage, ob es in der Korrespondenz zwischen dem Schreibsystem und dem lautetymologischen Referenzsystem regelhafte Beziehungen gibt, noch nicht relevant. Um diese Frage soll es im Folgenden gehen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich schnell, dass die Beziehungen <?page no="247"?> 247 10.2. Verfahrensschritte zur Analyse graphematischer Variation zwischen Schreibung und (historischer) Lautung komplex gestaltet sind. So steht die Digraphie <oe> im Schreibsystem von Leising in manchen Fällen für (den Kontinuanten von) wgerm. au (z. B. bloet 'bloß', wgerm. *blauta-), in anderen dagegen für wgerm. ō (z. B. doen 'tun', wgerm. *dō-) oder für die historischen Kurzvokale wgerm. u (z. B. geboert 'gebührt', germ. *ga-bur-ija-, ahd. giburien) und wgerm. o (z. B. boeuenn 'jenseits von', as. bi-oƀan 'oben'). Die Graphie <y> repräsentiert teils den historischen Kurzvokal wgerm. i (z. B. wynnen 'gewinnen', got. winnan, as. winnan), teils den Langvokal wgerm. ī (z. B. wyn 'Wein', germ. *wīna, entlehnt aus lat. vīnum), und <ye> kann ebenfalls für wgerm. ī stehen (z. B. blyeuenn 'bleiben', as. (bi)līban), aber auch für den historischen Diphthong wgerm. eo / eu / io (z. B. dyep 'tief ', germ. *deupa-, as. diop). Die Graphien sind allerdings nicht gleichmäßig auf diese historischen Lautentsprechungen verteilt; vielmehr folgen die Korrespondenzen bestimmten Verteilungsmustern. So ist die Graphie <oe> im System von Leising die Mehrheitsvariante für die Repräsentation von wgerm. au (74,6 %) und ō (66,0 %), während sie für die Wiedergabe der Kontinuanten von wgerm. o (39,0 %) und u (6,0 %) deutlich seltener verwendet wird. Bei aller Varianz gibt es also regelhafte Beziehungen zwischen den historischen Lautdistinktionen und der Graphienverteilung in den historischen Schreibsystemen, die sich über Distributionsanalysen erschließen lassen. b) Silbenstruktur Doch nicht nur der Bezug auf unterschiedliche historische Referenzlaute kann für die Graphienwahl relevant sein, sondern auch die Frage, in welchem Kontext eine Graphie bzw. der entsprechende Laut vorkommt. Von großer Bedeutung ist hierbei die Silbenstruktur. Unterschieden werden können zwei grundlegende Silbentypen: ▶ Offene Silben sind Silben, die auf einen Vokal enden. Beispiele: [ˈfaːtɐ] Vater, [byˈʁoː] Büro, [kuː] Kuh, [ʃou] Show. (Entscheidend ist die Aussprache, nicht die Schreibung.) ▶ Geschlossene Silben sind Silben, die auf einen Konsonanten enden. Beispiele: [ʁuːm] Ruhm, [bant] Band, [ʃlɪm] schlimm. Dazu zählt auch die erste Silbe von Wörtern mit ambisyllabischen Konsonanten: [ˈmʊtɐ] Mutter, [ˈhɪməl] Himmel, ['tanə] Tanne. Der Unterschied zwischen offenen und geschlossenen Tonsilben lässt sich am Beispiel des Teilsystems der ursprünglich kurzen Vokale verdeutlichen. Während etwa die alten Kurzvokale in geschlossener Silbe bei Leising weit überwiegend durch Monographien wiedergegeben werden, werden dieselben Kurzvokale in offener Silbe meist digraphisch realisiert (Tab. 26). Wgerm. a Wgerm. o Wgerm. u Geschlossene Tonsilbe Offene Tonsilbe Geschlossene Tonsilbe Offene Tonsilbe Geschlossene Tonsilbe Offene Tonsilbe <a> 97 % <ae> 78 % <a> 17 % <o> 91 % <ae> 50 % <oe> 21 % <o> 73 % <u> 24 % <oe> 62 % <o> 22 % Tab. 26. Graphematische Silbendifferenzierung im Schreibsystem des Duisburger Stadtsekretärs Leising (1518): Kurzvokalismus <?page no="248"?> 248 10. Methodische Grundlagen der Historischen Graphematik Diese silbenspezifische Verteilung erklärt sich dadurch, dass im Mittelniederdeutschen (anders als im Mittelhochdeutschen) alle ehemaligen Kurzvokale in offener Silbe gedehnt wurden. Der Schreiber Leising kennzeichnet die entstandene Vokallänge durch Digraphien und stellt damit einen graphematischen Kontrast zu den in geschlossener Silbe erhaltenen Kürzen her. Dementsprechend werden die alten Langvokale, die in beiden Silbenpositionen ihre Länge bewahrt haben, von diesem Schreiber kontextunabhängig meist digraphisch realisiert (Tab. 27). Wgerm. ā Wgerm. ō Wgerm. ū Geschlossene Tonsilbe Offene Tonsilbe Geschlossene Tonsilbe Offene Tonsilbe Geschlossene Tonsilbe Offene Tonsilbe <ae> 79 % <ai> 19 % <ae> 69 % <a> 15 % <ai> 10 % <oe> 63 % <oi> 25 % <oe> 78 % <ue> 13 % <uy> 86 % <u> 11 % <uy> 78 % <u> 11 % <ue> 11 % Tab. 27. Graphematische Silbendifferenzierung im Schreibsystem des Duisburger Stadtsekretärs Leising (1518): Langvokalismus Viele Schreiber setzen den graphematischen Kontrast zwischen Monographien und Digraphien allerdings in anderer Weise zur Silbendifferenzierung ein; hierauf wird in Kap. 10.3 genauer eingegangen. c) Umlautfaktor Neben der Silbenstruktur kann eine andere, für das Hochwie Niederdeutsche typische Lauterscheinung einen Einfluss auf die Graphienwahl haben, die auf einen historisch vorliegenden, später aber meist verschwundenen Kontextfaktor zurückgeht: der Umlaut (vgl. dazu genauer Kap. 12.1). Dass die Unterscheidung von umgelauteten und nicht umgelauteten Vokalen (lauthistorisch gesprochen: von Vokalen mit oder ohne „Umlautfaktor“) für die Graphienwahl relevant war, lässt sich an der Schreibung der historischen abzw. ā-Laute unmittelbar ablesen. Sie werden im System von Leising, wenn ihnen historisch eine i-/ jhaltige Silbe folgte (z. B. dede < as. dādi 'täte'), regelmäßig durch e-Graphien realisiert, im anderen Fall dagegen durch a-Graphien (Tab. 28). Wgerm. a nicht vor Umlautfaktor Wgerm. a vor Umlautfaktor Beispiele: banck 'Bank', vallen / fallen 'fallen', ontfangen 'empfangen', halff 'halb', landt 'Land', lange 'lang', pande 'Pfand', walt 'Wald' Beispiele: bencke 'Bänke', nederfellich 'baufällig', gevencknysse 'Gefängnisse', helffte 'Hälfte', nederlentzsch 'niederländisch', lengen 'verlängern', penden 'pfänden', gewelde 'Waldung' Geschlossene Silbe: <a> 97 % Offene Silbe: <ae> 78 % Geschlossene Silbe: <e> 84 % Offene Silbe: <e> 91 % <?page no="249"?> 249 10.2. Verfahrensschritte zur Analyse graphematischer Variation Wgerm. ā nicht vor Umlautfaktor Wgerm. ā vor Umlautfaktor Beispiele: gedaen 'getan', gnade 'Gnade', kraem 'Kram', maete 'Maß', nae 'nach', raidt 'Rat', schaep 'Schaf' Beispiele: dede 'täte', gnedyge 'gnädiger', kremer 'Krämer', metygen 'nach Maß festsetzen', neeste 'nächste', verreder 'Verräter', scheper 'Schäfer' Geschlossene Silbe: <ae> 79 % Offene Silbe: <ae> 69 % Geschlossene Silbe: <ee> 43 %, <e> 22 % Offene Silbe: <e> 93 % Tab. 28. Graphematische Umlautdifferenzierung im Schreibsystem des Duisburger Stadtsekretärs Leising (1518) Die Berücksichtigung des Umlautfaktors ist auch für die anderen umlautfähigen Vokale (o, ō, u, ū, au) relevant. Während jedoch in der modernen Standardorthographie die Umlaute systematisch gekennzeichnet werden (schon vs. schön; Haus vs. Häuser), findet im Mittelniederdeutschen (ebenso wie im Mittelhochdeutschen) oftmals keine graphematische Differenzierung statt (mnd. schon 'schon' - schon 'schön'; mnd. huyse '(dem) Haus', Dat. Sg. - huysen '(den) Häusern', Dat. Pl.). Dennoch ist es wichtig, auch bei diesen Vokalen die lauthistorische Unterscheidung zu treffen, da davon ausgegangen werden kann, dass es in den mittelalterlichen Dialekten eine entsprechende lautliche Differenzierung gegeben hat. Dementsprechend muss damit gerechnet werden, dass einzelne Schreiber Wege gesucht haben, dem in der Graphienwahl Rechnung zu tragen. Entsprechende Beispiele werden in Kap. 12.1 behandelt. d) Konsonantischer Folgekontext Außer der Silbenstruktur und dem Umlautfaktor ist bei den historischen Diphthongen wgerm. ai und au eine weitere kontextuelle Differenzierung zu beachten. Im Neuhochdeutschen enthalten z. B. die Wörter Ehre, erst, Fehde, mehr und Seele den Langvokal [eː] (realisiert als <eh>, <e> oder <ee>), die Wörter Eiche, ein, Stein, Teil und Zeichen dagegen den Diphthong [aɪ] (realisiert als <ei>). Schlägt man diese Wörter in einem etymologischen Wörterbuch nach, dann stellt man jedoch fest, dass die neuhochdeutschen Vokale in allen diesen Fällen auf germ. ai zurückgehen (Tab. 29). Nhd. Lexem Lautetymologie Nhd. Lexem Lautetymologie Ehre germ. *aizō Eiche germ. *aikō erst wgerm. *airistaein germ. *aina Fehde wgerm. *faih-iþō Stein germ. *stainamehr germ. *maiz ō n Teil germ. *daili- Seele germ. *saiwal ō Zeichen germ. *taikna- Tab. 29. Graphematische Differenzierung nach dem konsonantischen Folgekontext: Vokale aus wgerm. ai Die lautliche Differenz zwischen den Lexemreihen liegt auch hier in einem historisch unterschiedlichen Folgekontext begründet. Bei den Lexemen in der linken Tabellenhälfte folgt dem Stammvokal im Westgermanischen der Konsonant r (=-germ. z), h oder w. In diesem Kon- <?page no="250"?> 250 10. Methodische Grundlagen der Historischen Graphematik text hat sich aus dem ursprünglichen Diphthong sprachhistorisch ein langer Monophthong entwickelt. Wenn dieser spezifische Folgekontext nicht vorlag, blieb die Diphthongqualität hingegen erhalten. Eine fast analoge Entwicklung lässt sich auch bei dem westgermanischen Diphthong au feststellen, der in der Stellung vor r, h und Dentalen (d, t, s, n) monophthongiert wurde, in anderen Kontexten dagegen erhalten blieb (Tab. 30). Nhd. Lexem Lautetymologie Nhd. Lexem Lautetymologie bloß germ. *blautaauch germ. *auke Brot germ. *brauda- Auge germ. *aug ō n hoch germ. *hauha- Baum wgerm. *bauma- Lohn germ. *launalaufen germ. *hlaupa- Ohr germ. *auz ō n Raub wgerm. *rauba- Tab. 30. Graphematische Differenzierung nach dem konsonantischen Folgekontext: Vokale aus wgerm. au Im Niederdeutschen ist die Entwicklung oftmals anders verlaufen, da die westgermanischen Diphthonge in vielen Regionen unabhängig von den historischen Folgekonsonanten durchgängig monophthongiert wurden. Aus wgerm. ai wurde dann im Mittelniederdeutschen der Langvokal ē (das sogenannte mnd. ē 2 : ere, erst, vede, meer, sele-= eken, een, steen, deel, teken), aus wgerm. au der Langvokal ō (mnd. ō 2 : bloet, broet, hoge, loen, ore = oek, oge, boem, lopen, roef). Da aber in manchen Regionen, vor allem im Übergangsraum zum Mitteldeutschen, damit gerechnet werden muss, dass sich die hochdeutsche Differenzierung auch im Schriftbild niederschlägt, empfiehlt es sich, sie im lautetymologischen Referenzsystem zu berücksichtigen. Mit der Unterscheidung von verschiedenen historischen Ausgangsvokalen, Silbenstrukturen und Folgekontexten (Umlautfaktor, Stellung vor r, h, w bzw. vor r, h, Dental) sind die wichtigsten Faktoren erfasst, denen ein potenzieller Einfluss auf die Graphienwahl zugeschrieben werden kann. Um dem in der Analyse Rechnung zu tragen, wird im Folgenden eine Kurzschreibweise eingeführt: ▶ Um deutlich zu machen, dass auf rekonstruierte lautetymologische Einheiten des westgermanischen Referenzsystems Bezug genommen wird und nicht etwa auf die phonetischen oder phonologischen Einheiten der mittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Lautsysteme, werden die entsprechenden Vokale und Konsonanten in geschweiften Klammern notiert. Sie werden als Lautpositionen bezeichnet. Die Lautposition {ā} bezieht sich also z. B. auf den für die vor-deutsche (germanische) Zeit angesetzten historischen Langvokal ā. Dieser Langvokal hat je nach Zeitstufe und Region unterschiedliche Kontinuanten, also Lautnachfolger, deren konkrete Realisierung in älteren Sprachstufen uns unbekannt ist. Die Kontinuanten von {ā} werden in den historischen Schreibsystemen wiederum durch unterschiedliche Graphien realisiert, die im Rahmen historisch-graphematischer Analysen ermittelt werden. <?page no="251"?> 251 10.2. Verfahrensschritte zur Analyse graphematischer Variation ▶ Historische Langvokale werden durch einen übergeschriebenen Querstrich (Makron) gekennzeichnet, historische Kurzvokale bleiben ohne Diakritikum, z. B. {ā} vs. {a}. ▶ Mit dem Asterisken * werden Referenzvokale in geschlossener Silbe gekennzeichnet, mit dem Bindestrich-Symbol Vokale in offener Silbe, z. B. {a*} vs. {a-}. Wenn eine ursprünglich offene Silbe in dem Untersuchungszeitraum durch Lautwandelprozesse wie Apokopierungen (deme > dem) oder Synkopierungen (maket > maekt) geschlossen wurde, spricht man von einer sekundär geschlossenen Silbe. Sie wird durch die Kombination der beiden Symbole gekennzeichnet, z. B. {a-*}. ▶ Mit dem aus der neuhochdeutschen Orthographie bekannten Trema ¨ wird die (lauthistorische) Position vor Umlautfaktor i / j gekennzeichnet, während die übrigen Positionen unbezeichnet bleiben, z. B. {ä} vs. {a}. ▶ Die (lauthistorische) Stellung vor r, h, w bei wgerm. ai bzw. die Stellung vor r, h und Dental bei wgerm. au wird durch einen Verbindungsbogen markiert, z. B. {a ‿ i}, {a ‿ u} vs. wgerm. {ai}, {au}. Alle Kennzeichnungen können in Kombination miteinander verwendet werden. So ist die Lautposition {a ‿ u-} zu lesen als 'westgermanischer Diphthong au vor r, h oder Dental in offener Silbe, nicht vor Umlautfaktor' (z. B. in oeren 'Ohren', bloete 'bloße'), und die Lautposition {ȫ*} bedeutet 'westgermanischer Langvokal ō in geschlossener Silbe, vor Umlautfaktor' (z. B. voert 'führt', wuest 'wüst'). Im Bereich des Konsonantismus werden neben den aus dem Standarddeutschen bekannten Konsonanten die folgenden germanischen Frikative (Reibelaute) angesetzt (vgl. Braune 2004, §§ 81-82; Gallée 1993, §§ 163, 169, 175-177, 183-186): ▶ der stimmlose Frikativ {þ} wie in germ. *þank-(i)ja- 'denken' (vgl. engl. think), ▶ der stimmlose Frikativ {h} wie germ. *þau-h 'doch' (entspricht in etwa dem Laut [x] ), ▶ der stimmhafte Frikativ {ƀ} wie germ. *loƀon 'loben' (entspricht inlautend etwa dem Laut [v] bzw. einem bilabialen Spiranten, vgl. mnd. loven; im Auslaut etwa [f] , vgl. mnd. lof 'Lob'), ▶ der stimmhafte Frikativ {ǥ} wie germ. *berǥa- 'Berg', *daǥa- 'Tag' (entspricht inlautend etwa einem [j] oder [ɣ] , vgl. heute noch z. T. im regionalem Hochdeutsch: Berje 'Berge', Tare 'Tage'; im Auslaut einem [ç] oder [x] : Berch, Tach, mnd. berch, dach. Der germanische Frikativ đ hat sich im Westgermanischen zum Plosiv d weiterentwickelt und wird daher als {d} notiert, ebenso wird germ. z durch Rhotazismus zu r und daher als {r} notiert. Darüber hinaus haben sich im Westgermanischen in bestimmten Kontexten Langkonsonanten (Geminaten) entwickelt, die hier durch Verdopplung des entsprechenden Konsonantenzeichens wiedergegeben werden, z. B. {dd} in mnd. bidden 'bitten' (germ. bed-ja- > as. biddian), {gg} in mnd. liggen 'liegen' (germ. leg-ja- > as. liggian), {tt} in mnd. sitten 'sitzen' (germ. set-ja- > as. sittian) usw. (vgl. Braune 2004, §§ 91-99). Für das Mittel- und Frühneuhochdeutsche bzw. das Mittelniederdeutsche wird aber davon ausgegangen, dass diese Langkonsonanten in der Regel bereits zu einfachen Konsonanten reduziert worden sind. <?page no="252"?> 252 10. Methodische Grundlagen der Historischen Graphematik 10.2.3. Zur Quantifizierung von Graphienhäufigkeiten: Types vs. Token Die Häufigkeitsangaben in den beiden vorangehenden Kapiteln enthielten unterschiedliche Arten von Zahlenwerten. In Kap. 10.2.1 zur Beschreibung der Graphieninventare wurden absolute Beleghäufigkeiten zugrunde gelegt, in Kap. 10.2.2 dagegen wurden Prozentwerte angegeben. Dies hängt mit den Unterschieden im Erkenntnisinteresse und mit Überlegungen zur Aussagekraft unterschiedlicher Arten von Quantifizierungen zusammen. Einfache Auszählungen von Beleghäufigkeiten (wie in Kap. 10.2.1) können sinnvoll sein, wenn es darum geht, das ‚oberflächliche‘ Gepräge eines individuellen Schreibsystems zu charakterisieren: Greift ein Schreiber z. B. häufig auf Digraphien zurück oder favorisiert er eher ein schlichteres System mit den einfachen lateinischen Buchstaben? Bevorzugt er als nachgestelltes Zeichen eher die Graphie <e>, <i> oder <y>, oder verwendet er grundsätzlich eher übergeschriebene als nachgestellte Modifikatoren? Gebraucht ein Schreiber häufig Kürzel oder macht er davon eher sparsam Gebrauch? Bei der Untersuchung dieser Fragen kann es ausreichen, sich auf eine einfache Auszählung von Beleghäufigkeiten zu beschränken, ohne weiter darauf zu achten, welche Graphien in welchen Wörtern oder Kontexten wie häufig vorkommen. Gegenüber dem in älteren Studien meist praktizierten Verfahren, das Auftreten von Graphien mit ungenauen Angaben wie „häufig“, „selten“ oder „gelegentlich“ zu charakterisieren, ist eine genaue Quantifizierung der Beleghäufigkeiten als wichtiger methodischer Fortschritt zu betrachten. Dennoch können diese einfachen Quantifizierungsverfahren auf der Basis von Belegen (Token) auch zu irreführenden Resultaten führen, wie sich an einem Beispiel leicht veranschaulichen lässt. Fausto Ravida beschreibt in seiner Studie zu den Luxemburger Rechnungsbüchern des 14.-15. Jahrhunderts das vokalische Graphemsystem einer Handschrift von 1445 / 46 („Schreiber 5“, vgl. Ravida 2012, 211-231). Der historische Kurzvokal wgerm. ō (mhd. uo) wird in diesem System durch folgende Graphien repräsentiert: <ů> (182 Belege), <u> (21 Belege), <ou> (19 Belege), <oů> (6 Belege) Bei einer prozentualen Umrechnung dieser Graphienhäufigkeiten ergibt sich folgende Verteilung: <ů> (79,8 %), <u> (9,2 %), <ou> (8,3 %), <oů> (2,6 %) Die Graphie <ů> ist bei der Wiedergabe dieses Bezugslautes mit knapp 80 % der Belege (182 von 228) sehr dominant und wird von Ravida (2012, 222) dementsprechend als Leitgraphie eingestuft (vgl. zu diesem Begriff Glaser 1985, 39), während alle anderen Graphien jeweils in weniger als 10 % der Fälle vorkommen. Ein ganz anderes Bild ergibt sich allerdings, wenn man nicht die Belege (Token), sondern die Types, also die unterschiedlichen Wörter bzw. Morpheme als Bezugsgröße wählt. Die entsprechenden Zahlen werden in einer im Anhang enthaltenen Tabelle angegeben (Ravida 2012, 417): <ů> (4 Types), <u> (5 Types), <ou> (1 Type), <oů> (1 Type) <?page no="253"?> 253 10.2. Verfahrensschritte zur Analyse graphematischer Variation Legt man die Type-Häufigkeiten zugrunde, ergibt sich somit eine ganz andere prozentuale Verteilung: <ů> (36,4 %), <u> (45,5 %), <ou> (9,1 %), <oů> (9,1 %) Hiernach wäre nicht <ů>, sondern <u> als häufigste Graphie einzustufen, da <u> in fünf unterschiedlichen Wörtern bzw. Morphemen vorkommt, <ů> aber nur in vier, wobei sie gelegentlich direkt miteinander variieren (z. B. důn 'tun', drůch : drug(en) 'trug(en)', zů : zu 'zu'). Dass nach dem belegorientierten Auszählungsverfahren die Graphie <ů> als Leitgraphie gilt, dürfte wohl vor allem mit der Häufigkeit des Wortes důn 'tun' zusammenhängen. Für die Verwendung eines tokenbasierten Auszählungsverfahrens spricht, dass das häufige Auftreten einer Graphie in einem Text tatsächlich in starkem Maße den Eindruck prägt, den wir von dem Text gewinnen. Wenn auf jeder Seite mehrfach die Graphie <ů> auftritt, dann kann sie in gewisser Weise als charakteristisch für die Schreibsprache dieses Textes gelten, auch wenn sie nur in wenigen unterschiedlichen Wörtern oder im Extremfall nur in einem einzigen Wort vorkommt. Auf der anderen Seite ist es jedoch irreführend, eine Graphie aufgrund ihrer hohen Tokenfrequenz in einem einzigen Wort oder Morphem als Leitgraphie zu betrachten, wenn in anderen Wortkontexten regelmäßig (aber in geringerer Frequenz) andere Graphien gebraucht werden. Denn das Faktum, dass ein bestimmtes Wort in einem Textkorpus überdurchschnittlich häufig vorkommt, etwa weil es häufig in bestimmten formelhaften Kontexten auftritt, ist für die Beurteilung der Regelhaftigkeit von Graphie-Laut-Zuordnungen in einem Schreibsystem irrelevant. Man würde ja auch aus einem Zeitungsartikel von der Sportseite, in dem ständig von Olympia, den Olympischen Spielen, dem olympischen Komittee und den Olympiasiegern die Rede ist, nicht die Folgerung ableiten, in der deutschen Orthographie werde der Laut [ʏ] regelmäßig durch die Graphie <y> repräsentiert, selbst wenn <y> aufgrund der hohen Frequenz des Morphems olympdie Leitgraphie sein sollte. Da somit für die angemessene Beurteilung eines historischen Schreibsystems beide Aspekte, die Frequenz wie auch das Vorkommen der Graphien in verschiedenen Types, von Bedeutung sind, ist es ratsam, in graphematischen Untersuchungen beide Werte anzugeben, so dass die Leser sich selbst ein Bild von den tatsächlichen Variantenhäufigkeiten machen können. Eine alternative Möglichkeit besteht darin, Type- und Token-Häufigkeiten miteinander zu verrechnen. Ein entsprechendes Verfahren wurde im Duisburger Graphematikprojekt erarbeitet. Hierbei werden jeweils morphembezogen die Anteile berechnet, zu denen bestimmte Schreibungen in einem Textkorpus vorkommen. Nehmen wir folgende Tokenverteilungen für die Vokalgraphie in den Wörtern bzw. Morphemen der Kategorie mhd. uo an (Tab. 31, konstruiertes Beispiel). <?page no="254"?> 254 10. Methodische Grundlagen der Historischen Graphematik Wort / Morphem < ů > <u> 'Bruder' 10 180 'Schuh' 10 10 'suchen' 10 10 'trug(en)' 10 10 'tun' 10 10 'zu' 10 - Gesamt (Tokens) 60 (21,4 %) 220 (78,6 %) Gesamt (Types) 6 (54,5 %) 5 (45,5 %) Tab. 31. Mögliche Tokenverteilungen für die Vokalgraphie von Wörtern bzw. Morphemen der Kategorie mhd. uo Nach der tokenbasierten Auszählung wäre <u> mit 78,6 % der Belege die Leitgraphie, nach der typebasierten Zählung wäre dagegen <ů> als häufigste Graphie anzusehen, weil sie in allen sechs Wörtern vorkommt. Mithilfe des Duisburger Berechnungsverfahrens lässt sich hier ein Wert ermitteln, der beide Aspekte, die absoluten Beleghäufigkeiten wie auch das Vorkommen in unterschiedlichen Kontexten, berücksichtigt. Hierbei erhält eine Graphie, die bei einem Lexem / Morphem exklusiv vorkommt (hier: <ů> bei 'zu') den höchsten Wert 1,0. Wenn ein Lexem / Morphem durch mehrere verschiedene Graphien realisiert wird, werden die jeweiligen Anteile, gemessen am Gesamtwert 1,0, berechnet. Das ergibt z. B. für 'Bruder' bei einem Verhältnis von 10 Belegen für <ů> und 180 Belegen für <u> die Relation 0,1 zu 0,9 (gerundet aus 0,05 zu 0,95) und für 'tun' die Relation 0,5 zu 0,5 (Tab. 32). Wort / Morphem < ů > <u> 'Bruder' 0,1 0,9 'Schuh' 0,5 0,5 'suchen' 0,5 0,5 'trug(en)' 0,5 0,5 'tun' 0,5 0,5 'zu' 1,0 - Gesamt (Type-Token-Relation) 3,1 (51,7 %) 2,9 (48,3 %) Tab. 32. Mögliche Type-Token-Relationen für die Vokalgraphie von Wörtern bzw. Morphemen der Kategorie mhd. uo Die Graphie <u> ist hier, anders als bei der tokenbasierten Berechnung, nicht mehr als Leitgraphie einzustufen (48,3 % statt 78,6 %). Hiermit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass <u> nur bei einem einzigen Lexem hochfrequent belegt ist. Gegenüber dem Durchschnittswert der rein typebasierten Berechnung (45,5 %) liegt der Prozentwert wiederum etwas höher, da die hohe Beleganzahl für 'Bruder' in die Kalkulation mit eingeht. Die in Kap. 9.4.2 angegebenen Prozentzahlen basieren auf diesem Berechnungsverfahren zur Bestimmung der Type-Token-Relation. <?page no="255"?> 255 10.3. Das Verfahren der Graphematischen Distanzanalyse - am Beispiel der Silbendifferenzierung 10.3. Das Verfahren der Graphematischen Distanzanalyse - am Beispiel der Silbendifferenzierung Mithilfe des in Kap. 10.2.2 entwickelten Verfahrens zur Graphemanalyse lässt sich die Struktur historischer Schreibsysteme präzise herausarbeiten. Im Vergleich individueller Schreibsysteme wird dabei deutlich, welche lautlichen Differenzen ein Schreiber für so bedeutsam hielt, dass er sie kennzeichnete. Diese individuellen Relevanzsetzungen beziehen sich teils auf die Abgrenzung der historischen Vokalreihen, teils aber auch auf die Kennzeichnung von Lautunterschieden, die durch die oben beschriebenen Faktoren Silbenstruktur und Umlautfaktor oder durch den Folgekontext bedingt sind. Im Folgenden soll dies an einigen Beispielen aus dem Bereich des Vokalismus demonstriert werden. Hierbei kommt ein einfaches Messverfahren zur Anwendung, das als Graphematische Distanzanalyse bezeichnet wird (vgl. Elmentaler 2003, 114 f.). Es ermöglicht eine genauere Bestimmung des „Abstands“, der in einem Schreibsystem zwischen zwei Lautpositionen besteht. Nehmen wir als Beispiel die graphematische Realisierung von wgerm. a im Schreibsystem von Leising (1518) (Tab. 33). Leising 1518 {a*} {a-} Differenz <a> 97 17 80 <ae> 0 78 78 <ai> - 5 5 <e> 1 - 1 <o> 1 - 1 <u> 1 - 1 ∑: 166 GD : 83 Tab. 33. Silbendifferenzierung im Schreibsystem des Duisburger Stadtsekretärs Leising (1518): Berechnung der graphematischen Distanzen ( GD ) am Beispiel der Kategorie wgerm. a in geschlossener und offener Silbe Leising verwendet für die Lautposition {a*} fünf Graphien, von denen <a> stark dominiert und als Leitgraphie betrachtet werden kann, während die anderen Graphien <ae>, <e>, <o> und <u> nur mit geringen Prozentwerten auftreten (der Wert von „0-%“ ergibt sich hier durch Rundung aus einem Wert von unter 0,5 %). Es handelt sich hier um Sonderfälle wie kaeren 'Karren', vlessche 'Flasche' (Sg.), holden 'halten' und sunte 'Sankt'. In geschlossener Tonsilbe, also bei der Lautposition {a-}, verwendet der Schreiber dagegen ein ganz anderes Graphienspektrum. Häufigste Graphie ist <ae> (wie in daege 'Tage', draegen 'tragen' usw.), während <a> nur in 17 % der Fälle vorkommt. Der Schreiber Leising kennzeichnet also recht systematisch die Vokallänge in offener Silbe durch Gebrauch von Digraphien und differenziert somit klar zwischen den Lautpositionen {a*} und {a-}. Um einen graphematischen Distanzwert zu ermitteln, der auch einen quantitativen Vergleich mit anderen Schreibsystemen erlaubt, wird nun für jede Graphienvariante die mathematische Differenz der Graphienhäufigkeiten bestimmt. So ergibt sich z. B. in Bezug auf den Gebrauch der Graphie <a> eine Differenz zwischen 97 % für {a*} und 17 % für {a-}, also ein Differenzwert <?page no="256"?> 256 10. Methodische Grundlagen der Historischen Graphematik von 80. Alle berechneten Differenzwerte für die verglichenen Lautpositionen werden anschließend addiert (Summe in diesem Beispiel: 166) und durch 2 geteilt, so dass sich in dem Beispiel ein Wert von 83 ergibt. Dieser Wert bezeichnet die graphematische Distanz ( GD ). Die Distanz kann zwischen 0 (=- vollständige graphematische Übereinstimmung zweier Lautpositionen, graphematische Kollision) und 100 (=-vollständige Differenzierung) betragen; in der Regel liegt der GD -Wert aber irgendwo dazwischen. Der hier vorliegende, hohe Wert von 83 bringt zum Ausdruck, dass die beiden Lautpositionen schreibsprachlich klar auseinandergehalten werden. Die Möglichkeiten, die das Verfahren der graphematischen Distanzanalyse für den Vergleich von Graphemsystemen unterschiedlicher Zeitstufen oder Regionen bietet, soll im Folgenden am Beispiel der Differenzierung von geschlossener und offener Silbe demonstriert werden. Im Bereich des historischen Kurzvokalismus hat sich im Mittelniederdeutschen eine regelmäßige Differenzierung der Vokale in geschlossener und offener Silbe herausgebildet. Dies liegt darin begründet, dass in den niederdeutschen Dialekten die alten Kürzen in offener Silbe gedehnt und gleichzeitig gesenkt wurden, vermutlich über eine Zwischenstufe der Diphthongierung (vgl. Lasch 1914, 35-38, die hierfür den Begriff „Zerdehnung“ verwendet). So entwickelte sich z. B. aus wgerm. i in offener Silbe im Mittelniederdeutschen über die Zwischenstufe des Kürzendiphthongs [ie] oder [iɛ] der etwas tiefere Langvokal [eː] , etwa in as. sikor > *si-eker > mnd. seker 'sicher'. Nur die westfälischen Dialekte haben bis heute den Lautstand der Zwischenstufe bewahrt (wfäl. siäker). In geschlossener Silbe hingegen blieb der alte Kurzvokal in der Regel als Kürze bewahrt. Daher ist es naheliegend, dass die Schreiber die doppelt markierte Opposition von erhaltenem Kurzvokal und gedehntem / gesenktem Langvokal graphematisch zum Ausdruck brachten. Die eingangs angeführte Differenzierung von {a*} und {a-} durch den Stadtschreiber Leising lässt sich unschwer als Versuch deuten, den silbenbezogenen Quantitätsunterschied zwischen den beiden Vokalen in der gesprochenen Bezugsvarietät graphematisch abzubilden. Dementsprechend werden die historischen Langvokale, die auch im Mittelniederdeutschen ihre lange Qualität bewahrt haben, von Leising in der Regel nicht graphematisch differenziert. So tendieren z. B. die Lautpositionen {ā*} und {ā-}, wie der geringe GD -Wert von 20 belegt, bei Leising dazu, schreibsprachlich zusammenzufallen (graphematische Kollision) (Tab. 34). Leising 1518 { ā *} { ā -} Differenz <ae> 79 69 10 <ai> 19 10 9 <ay> 0 7 7 <a> 1 15 14 ∑: 40 GD : 20 Tab. 34. Silbendifferenzierung im Schreibsystem des Duisburger Stadtsekretärs Leising (1518): Graphematische Distanzen ( GD ) für wgerm. ā in geschlossener und offener Silbe Doch auch wenn es naheliegend erscheint, lange Vokale durch den häufigen Gebrauch von Digraphien (mehr oder weniger) konsequent von erhaltenen Kürzen zu unterscheiden, folgen <?page no="257"?> 257 10.3. Das Verfahren der Graphematischen Distanzanalyse - am Beispiel der Silbendifferenzierung nicht alle historischen Schreibsysteme dieser Regel. Dies wird deutlich, wenn man z. B. die Realisierung der Lautpositionen {a*} und {a-} durch den Duisburger Stadtsekretär Godert untersucht (Tab. 35). Godert 1535-45 {a*} {a-} Differenz <a> 91 95 4 <ae> 2 1 1 <ai> 5 1 4 <aa> 1 - 1 <e> 2 2 0 <i> 1 - 1 ∑: 11 GD : 5,5 Tab. 35. Silbendifferenzierung im Schreibsystem des Duisburger Stadtsekretärs Godert (1535-45): Graphematische Distanzen ( GD ) für wgerm. a in geschlossener und offener Silbe Dem GD -Wert von 83 bei Leising steht im System von Godert ein äußerst geringer GD - Wert von 5,5 gegenüber. Godert realisiert den historischen Kurzvokal a unabhängig von der Silbenposition in über 90 % der Fälle durch die Graphie <a> und verzichtet somit auf eine graphematische Kennzeichnung der in offener Silbe eingetretenen Vokaldehnung. Die Erklärung hierfür erschließt sich, wenn man die Graphienverteilung für den alten Langvokal â mit heranzieht, der in beiden Silbenkontexten seine Länge bewahrt hat (Tab. 36). Godert 1535-45 { ā *} { ā -} Differenz <ae> 49 23 26 <ai> 30 4 26 <ay> 1 - 1 <a> 20 62 42 <oe> - 11 11 ∑: 106 GD : 53 Tab. 36. Silbendifferenzierung im Schreibsystem des Duisburger Stadtsekretärs Godert (1535-45): Graphematische Distanzen ( GD ) für wgerm. ā in geschlossener und offener Silbe Anders als Leising, der hier in beiden Fällen durch Digraphien die Länge markiert und dementsprechend kaum einen Unterschied zwischen {ā*} und {ā-} macht, differenziert Godert auch hier recht klar zwischen der geschlossenen Silbe (mit den dominanten Digraphien <ae> und <ai>) und der offenen Silbe (vorwiegend <a>). Die Systeme von Leising und Godert verhalten sich in diesem Punkt geradezu spiegelbildlich (Tab. 37). <?page no="258"?> 258 10. Methodische Grundlagen der Historischen Graphematik GD -Werte Leising 1518 Godert 1535-45 {a*} vs. {a-} 83 5,5 {ā*} vs. {ā-} 20 53 Tab. 37. Silbendifferenzierung in den Schreibsystemen der Duisburger Stadtsekretäre Leising (1518) und Godert (1535-45): Vergleich der graphematischen Distanzen ( GD ) für wgerm. a und ā in geschlossener und offener Silbe Leising und Godert stimmen darin überein, dass sie in geschlossener Silbe den alten Kurzvokal {a*} vorwiegend durch die Monographie <a>, den Langvokal vorwiegend durch die Digraphien <ae> und <ai> wiedergeben. Der Unterschied zwischen ihren Schreibsystemen liegt bei der Realisierung der Vokale in der offenen Silbe. Während Leising hier mehrheitlich Digraphien gebraucht, verwendet Godert primär die Monographie <a>. Der Grund für Goderts Entscheidung könnte darin liegen, dass sich die Markierung der Vokallänge in offener Silbe erübrigt, da im Mittelniederdeutschen ohnehin alle Vokale in offener Silbe lang sind. So wie jemand, der die moderne deutsche Standardorthographie internalisiert hat, Fantasiewörter wie *dasen oder *Zebel spontan mit Langvokal aussprechen würde, so wusste auch ein niederrheinischer Leser im frühen 16. Jahrhundert, dass Wörter wie dage 'Tage' und wege 'Wege' mit einem langen Vokal zu sprechen waren. Wenn Godert also in offenen Silben weitgehend auf eine Kennzeichnung der Vokallänge verzichtete, gefährdete er somit keineswegs das Verständnis seiner Texte. Er verwendet damit bereits ein System, das sich später z. B. in der niederländischen Orthographie durchgesetzt hat, wo die Vokallänge nur in geschlossener Silbe durch Gebrauch von Digraphien gekennzeichnet wird (raden 'raten', aber raad 'Rat'; kopen 'kaufen', aber he koopt 'er kauft'). Während Leisings System also weitgehend dem Grundsatz der Differenzierung von Länge und Kürze folgt (dach-daege) und die Vokallänge unabhängig von der Silbenstruktur kennzeichnet (koep-koepen), hat sich Goderts System stärker von der unmittelbaren Wiedergabe des Gesprochenen entfernt und folgt dem Prinzip einer silbenorientierten Schreibung (dach-dage, koep-kopen). Das von dem Stadtsekretär Godert präferierte System der silbendifferierenden Schreibung war in den vormodernen Schreibsprachen weit verbreitet. Lasch (1914, 24) weist für das Mittelniederdeutsche darauf hin, dass dieses Verfahren vor allem in der älteren Zeit zur Anwendung gekommen sei, während später „die neigung für nachgeschriebene vokale jeder art“ auch in offener Silbe zugenommen habe. Vor diesem Hintergrund wäre der Duisburger Stadtsekretär Leising als ein eher „modernerer“ Schreiber einzustufen, der sich der besonders im 16. Jahrhundert verbreiteten Mode des Digraphiengebrauchs anschließt, während Godert einen eher konservativen Schreibstil pflegt. Auch in mittel- und frühneuhochdeutschen Texten konnten die beiden konkurrierenden Schreibkonventionen in verschiedenen Regionen nachgewiesen werden. So kommt das silbendifferenzierende Verfahren in den Luxemburger Rechnungsbüchern von 1388-1500 zumindest im historischen Langvokalismus recht deutlich zur Anwendung (außer bei mhd. û; vgl. die Abbildungen auf S. 137, 161, 181 usw. sowie die Zusammenfassung in Ravida 2012, 387-389). <?page no="259"?> 259 10.4. Beschreibung von graphematischem Wandel Ein alternatives Verfahren zur Silbendifferenzierung, das erst in der jüngeren graphematischen Forschung systematischer in den Blick genommen wurde, ist der systematische Wechsel zwischen Digraphien unterschiedlichen Typs. So konnte Mihm (2004a, 361-365) für ein Kölner Schreibsystem von 1472 eine regelmäßige Verwendung der Graphien <ae> und <oe> bei Vokalen in offener Silbenstellung und der Graphien <ai>/ <ay> und <oi>/ <oy> in der geschlossenen Silbe nachweisen (z. B. raede 'dem Rate' vs. rait 'Rat'; doede 'dem Tode' vs. doyt 'Tod'). Mihm argumentiert, dass diese graphematische Opposition als Versuch zu deuten sei, einen regionaltypischen Ausspracheunterschied zum Ausdruck zu bringen, der in einer unterschiedlichen diphthongischen Qualität bestanden haben könnte (hoch schließender Diphthong in geschlossener, mittelhoch schließender in offener Silbe). Hierbei bestehen auch auffällige Analogien zu dem komplexen System der „mittelfränkischen Tonakzente“ in den heutigen ripuarischen Dialekten, die Mihm in einem anderen Beitrag herausarbeitet (Mihm 2002). Die Analyse des silbenspezifischen Graphienwechsels in vormodernen Schreibsystemen erlaubt somit in Einzelfällen auch Rückschlüsse auf feinphonetische und prosodische Besonderheiten der historischen Bezugsvarietäten. Ähnliche Beobachtungen wurden für zwei individuelle Schreibsysteme des 16. Jahrhunderts im niederrheinischen Duisburg getroffen, die ebenfalls einen geregelten Wechsel von unterschiedlichen Digraphien für die alten Langvokale in geschlossener und offener Silbe aufweisen, wobei auch hier ein Zusammenhang mit den heute noch belegbaren, silbenspezifisch verteilten Tonakzenten naheliegt (Elmentaler 2003, 222-224). Schließlich belegen die Diagramme bei Ravida (2012) auch für die moselfränkische Schreibsprache der Luxemburger Kanzlei eine tendenzielle Präferenz für den Gebrauch von Digraphien auf <-i, -y> in geschlossener Silbe (vgl. die Diagramme auf S. 137, 161, 181 usw. sowie den Verweis auf einen Schreiber, der eine entsprechende Verteilung im Bereich des Kurzvokalismus erkennen lässt: boeden, hoelen, verloeren vs. geboit, koisten, poirte, ebd., 391). Das Verfahren der Graphematischen Distanzanalyse kann auch zur Überprüfung der Stärke schreibsprachlicher Distinktionen in anderen Bereichen des Graphemsystems eingesetzt werden. Für die Frage der Umlautkennzeichnung wird darauf in Kap. 12.1 genauer eingegangen. 10.4. Beschreibung von graphematischem Wandel Mithilfe der beschriebenen Analyseverfahren lassen sich Verschiebungen in der graphematischen Struktur von Schreibsystemen präzise beschreiben. Dies kann auf den verschiedenen Ebenen erfolgen, die in Kapitel 10.2 unterschieden wurden: a) Auf der Ebene der Graphien kann untersucht werden, wie sich das Graphieninventar innerhalb einer Kanzlei in seiner Zusammensetzung und seinem Umfang im diachronen Wechsel der Schreiber verändert (vgl. dazu auch Kap. 4.4). b) Auf der Ebene der Grapheme lässt sich untersuchen, ob bestimmte Graphemoppositionen stabil bleiben und ob es Veränderungen in der graphematischen Klassenstruktur gibt. c) Schließlich kann danach gefragt werden, wie sich der Umgang mit graphematischer Variation verändert, ob sich z. B. die Anzahl der Schreibvarianten für eine Lautposition oder für ein Wort vergrößert oder verkleinert. <?page no="260"?> 260 10. Methodische Grundlagen der Historischen Graphematik a) Auf einen Wandel auf der Ebene des Graphieninventars wurde bereits in Kapitel 10.2.1 eingegangen, mit dem Vergleich der Duisburger Stadtsekretäre Leising (1518) und Godert (1535-45). Hier fiel auf, dass Godert deutlich weniger und auch andere Digraphien verwendet als Leising. Einen Überblick über die Graphieninventare von zehn Schreibern, die in der Duisburger Kanzlei zwischen 1360 und 1650 tätig waren, gibt Abb. 53 (nach Elmentaler 2003, 199). Abb. 53. Umfang der Graphieninventare von zehn Stadtsekretären der Duisburger Kanzlei (gestrichelte Linie: Graphien insgesamt, durchgezogene Linie: Graphien mit einem Anteil von mindestens 5 ‰) Die Graphik belegt, dass der Umfang der vokalischen Graphieninventare starken Schwankungen unterworfen ist. Während etwa die drei Schreiber des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts Ludger der Jüngere (LdJ), Algert (Alg) und Leising (Lei) auf recht wenige Graphien zurückgreifen (20-21 Graphien), haben die nachfolgenden Schreiber ein deutlich breiteres Repertoire (27-32 Graphien). Diese Entwicklung lässt sich teilweise durch die gelegentliche Verwendung frühneuhochdeutscher Lehngraphien bei den beiden letzten Schreibern Weimann (Wei) und Mercator (Mer) erklären, wie den Graphien mit Dehnungs-h (wahr 'Ware', ehr 'Ehre', ohn 'ohne') oder den Graphien <au> und <eu> (brauth, haus, steinheuwer, treulich) (vgl. Elmentaler 2003, 203 f.). Die teils erheblichen Diskrepanzen zwischen den früheren Schreibsystemen, etwa dem von Ludger dem Älteren (LdÄ) mit 30 Graphien und Ludger dem Jüngeren (LdJ) mit 21 Graphien deuten allerdings darauf hin, dass auch vor dem Einfluss externer Schreibsprachen ein beträchtlicher individueller Spielraum bei der Nutzung der Graphien bestand. Ähnliches konnte auch Ravida (2012, 352-359) für die Schreiber der Luxemburger Kanzlei feststellen. In der bisher umfangreichsten vergleichenden Analyse von Graphieninventaren für eine deutschsprachige Region konnte schließlich auch Mihm (2016, 280-283) diese Beobachtung für den alemannischen Raum bestätigen (Abb. 54). <?page no="261"?> 261 10.4. Beschreibung von graphematischem Wandel Abb. 54. Umfang der Graphieninventare von 50 Schreibsystemen aus dem alemannischen Raum (Säulen in dunkler Färbung: Schreibsysteme aus Straßburg) (aus Mihm 2016, 282) Bei den 50 von Mihm ausgewerteten Schreibsystemen variiert der Umfang der vokalischen Graphieninventare „zwischen 12 und 43 Graphien, wobei sich die Bildungsweise der Zusatzgraphien von Schreibsystem zu Schreibsystem unterscheiden konnte, so dass in den 50 Systemen insgesamt über 190 verschiedene Vokalgraphien belegt werden“ (Mihm 2016, 281 f.). Die Differenzen im Umfang der Inventare werden auch im direkten Vergleich von sieben Graphieninventaren aus der Stadtkanzlei von Straßburg deutlich, die zwischen 14 und 29 Vokalgraphien enthalten (ebd., 280 f.). Die Schreiber haben sich offensichtlich also weder in Duisburg, noch in Luxemburg oder Straßburg an ihren jeweiligen Vorgängern orientiert, um den städtischen Texten ein einheitliches Erscheinungsbild zu geben. Solange dies der Fall war, konnte es noch nicht zur Herausbildung fester Wortschreibungen kommen, wie wir sie aus der modernen Orthographie kennen. b) Auch in struktureller Hinsicht konnten beträchtliche Unterschiede zwischen den individuellen Schreibsystemen nachgewiesen werden. Für Duisburg wurden diese Differenzen für verschiedene Teilbereiche des Vokalsystems untersucht (Elmentaler 2003, 212-280). Hierbei zeigte sich, dass einige Schreiber besonders die Lautunterschiede zwischen Vokalen in geschlossener und offener Silbe graphematisch kennzeichneten (z. B. koep 'Kauf ' vs. kopen 'kaufen', Kap. 10.3), anderen dagegen eher die Unterscheidung verschiedener Vokalreihen mit unterschiedlichem Öffnungsgrad wichtig war (z. B. koep 'Kauf ' vs. boik 'Buch'), während eine dritte Gruppe vor allem die Unterscheidung von umgelauteten und nicht-umgelauteten Vokalen zum Ausdruck brachte (z. B. porte 'Pforte' vs. poertener 'Pförtner', Kap. 12.1). Die unterschiedlichen Relevanzsetzungen belegen wiederum eine weitreichende idioskriptale Lizenz der Schreiber. Während in der heutigen Orthographie festgelegt ist, dass Umlaute systematisch durch Verwendung eines anderen Vokalzeichens gekennzeichnet werden (Sohn <?page no="262"?> 262 10. Methodische Grundlagen der Historischen Graphematik vs. Söhne), Unterschiede im Öffnungsgrad oder in der Quantität eng verwandter Laute aber oftmals nicht (<o> in Ton und Tonne, <u> in Mut und Mutter), lag die Entscheidung darüber in vormoderner Zeit im Ermessen des individuellen Schreibers. Dies galt auch für die grundsätzliche Entscheidung, lautliche Unterschiede relativ genau wiederzugeben oder aber eine möglichst abstrakte und dafür einheitlichere Schreibweise zu verwenden. Wie in Kap. 7.5 (Abschnitt b) gezeigt wurde, sind auch die Präferenzen für eher lautdifferenzierende oder eher lautabstrahierende Graphemsysteme sowohl in Duisburg als auch in Luxemburg (und ebenso in Straßburg, wie Mihm 2016, 289-294 belegt) individuell verteilt und lassen in ihrer diachronen Abfolge keine lineare Entwicklung erkennen. c) Entwicklungen in Hinblick auf den Grad der graphematischen Variation lassen sich mit Bezug auf die Einheit Lautposition als auch in Bezug auf die Einheit Wort bzw. Morphem untersuchen. Von lautpositionsbezogener Variation wird gesprochen, wenn derselbe etymologische Laut in vergleichbarem Kontext durch mehrere unterschiedliche Graphien repräsentiert wird (vgl. das Beispiel in Tab. 38: Spalte A). Diese Art der Variation stellt in vormodernen Systemen den Normalfall dar und kommt auch in modernen Orthographien noch vor; so beziehen sich die Graphien <aa>, <a> und <ah> in nhd. Saal, Tal, Zahl alle auf dasselbe Phon und dieselbe etymologische Lautposition (wgerm. a in ursprünglich offener Silbe). Wort- oder morphembezogene Variation kommt dagegen in modernen Systemen praktisch nicht mehr vor, ist aber für historische Schreibsprachen vor dem 17. Jahrhundert konstitutiv (Tab. 38: Spalte B sowie Kap. 6.3.3). A. Wgerm. eo in offener Silbe B. 'niemand' <ie>: dienen 'dienen' <e>: neman <ye>: nyemand 'niemand' <ey>: neyman <ei>: gebeiden 'gebieten' <y>: nyman <ey>: gheneyten 'genießen' <ye>: nyeman <e>: kesen 'kiesen, wählen' Tab. 38. Beispiele für lautpositionsbezogene (A) und morphem-/ wortbezogene (B) Variation im Schreibsystem des Duisburger Stadtsekretärs Everhardus (um 1400) Insbesondere der Variationstyp B ist aus orthographiegeschichtlicher Sicht besonders relevant, da sein Weiterbestehen die Durchsetzung einer festen Morphembzw. Wortschreibung verhindert, wie sie für die modernen Orthographien charakteristisch ist (zur Durchsetzung dieser Morphemkonstantschreibung Kap. 11.2). Die jüngeren diachronischen Analysen zum Schreibgebrauch der Kanzleien aus dem Westen des deutschsprachigen Raums (Niederrhein, moselfränkischer und alemannischer Raum) haben gezeigt, dass sich bis zum 16. Jahrhundert in keiner der drei untersuchten Hinsichten (Graphieninventare, graphematische Struktur, laut- oder morphembezogene Variation) ein linearer Entwicklungsprozess erkennen lässt. Das bestätigt die Beobachtungen früherer Studien zu anderen Regionen, wie etwa von Kettmann (1968, 355), der für das ostmittel- <?page no="263"?> 263 10.4. Beschreibung von graphematischem Wandel deutsche Wittenberg konstatiert, es lasse sich „eine von einem Bezugspunkt ausgehende und diesen folgerichtig ausbauende gradlinige Entwicklung kaum postulieren: Jeder der Schreiber setzt mit einem eigen akzentuierten Mischungssystem orthographisch und lautlich bedingter Varianten innerhalb des durch vorgegebene Faktoren gezogenen Schreibrahmens ein“. Die vielfachen Brüche und Diskontinuitäten im diachronen Verlauf deuten auf eine jeweils individuelle Ausschöpfung der im graphematischen Bereich vorhandenen Stilpotenziale hin. <?page no="265"?> 265 11. Graphematische Variation und graphematischer Wandel im Bereich des Konsonantismus Mithilfe der in Kap. 10 beschriebenen Analyseverfahren lassen sich variative Strukturen in historischen Schreibsprachen und deren diachrone Veränderungen systematisch erfassen. Dies eröffnet die Möglichkeit, traditionelle Hypothesen zur Funktion graphematischer Oppositionen oder Variationsprofile neu zu überprüfen. Aufgrund der Polyfunktionalität graphematischer Systeme kann die konkrete Interpretation dieser Strukturen allerdings vielfach Probleme aufwerfen, da es zu einer Überlagerung verschiedener potenzieller Funktionen (z. B. verschiedene Arten der Lautreferenz, Sicherung der graphischen Morphemkonstanz, Kennzeichnung von Worträndern, „Schreibschmuck“) kommen kann. Diese Chancen und Schwierigkeiten der graphematischen Analyse sollen in den folgenden beiden Kapiteln an jeweils zwei Phänomenen aus dem Bereich des Konsonantismus (Kap. 11) und des Vokalismus (Kap. 12) veranschaulicht werden. Im vorliegenden Kapitel wird zunächst, ausgehend von den Beschreibungen in Grammatiken und ausgewählten Monographien, das Problem der Interpretation von Doppelkonsonantengraphien (wie in hoffen, bischoff aber auch kauffen, helffen, ffünf) diskutiert. Anschließend geht es um die Frage, in welcher Weise und in welchem Zeitraum sich das morphematische Prinzip durchgesetzt hat, das heute neben dem phonologischen Prinzip als eines der Grundprinzipien der standarddeutschen Orthographie gilt, und wie sich dessen Durchsetzung schlüssig nachweisen lässt. 11.1. Zur Interpretation von Doppelkonsonantengraphien Unter der Bezeichnung Doppelkonsonantengraphien sollen in diesem Kapitel in erster Linie Digraphien verstanden werden, die sich auf konsonantische Lautwerte beziehen und bei denen der erste und zweite Buchstabe identisch ist. Dies sind vor allem die Graphien <bb>, <dd>, <ff>, <gg>, <kk>, <ll>, <mm>, <nn>, <pp>, <rr>, <ss> und <tt>. Ergänzt werden kann die Graphie <ck>, bei der zwei in ihrem Lautwert mutmaßlich gleichzusetzende Buchstaben miteinander kombiniert sind; sie wird meist anstelle der recht unüblichen Graphie <kk> gebraucht. Einen Sonderstatus haben Graphien wie <bp>, <dt>, <td>, <gk>, <kg>, <sz> usw., bei denen zwei Buchstaben kombiniert sind, deren lautliche Entsprechungen eine geringe phonetische Differenz aufweisen, die aber, wenn sie als Monographien gebraucht werden, bedeutungsunterscheidend sind (frnhd. leiden vs. leiten, mnd. sage 'Sage' vs. sake 'Sache'). Diese Digraphien treten in seltenen Fällen als Varianten der regulären Doppelkonsonantengraphien oder der monographischen Varianten auf (mnd. vadder, vader; frnd. vadter, vatder, vatter, vater). <?page no="266"?> 266 11. Graphematische Variation und graphematischer Wandel im Bereich des Konsonantismus Nicht zu den Doppelkonsonantengraphien gerechnet werden hier Digraphien mit nachgestelltem -h wie <dh>, <fh>, <gh>, <jh>, <kh>, <th>, <vh>, <wh> usw. Sie variieren meist nicht direkt mit Graphien wie <dd>, <tt>, <gg> usw., sondern eher mit den Monographien <d>, <t>, <g> (dhegen, rindher; thor, parthei; gheduld, moghen). In manchen Kontexten könnte das nachgestellte -h auch die Funktion haben, eine spirantische Lautqualität anzuzeigen, wie Reichmann / Wegera (1993, § L 48) für Schreibungen wie ghen, gheduld, taghe, möghen usw. annehmen, wenn diese in Regionen vorkommen, in denen das g als Frikativ ausgesprochen wird. In anderen Fällen könnte das postkonsonantische -h aber auch die Länge des nachfolgenden Vokals anzeigen, wie z. B. bei Rhat (statt Raht), denn das h war als Längenkennzeichen ursprünglich wohl noch nicht auf die Stellung nach Vokal festgelegt (vgl. Maas 1997, 347 f.; Voeste 2008, 184-197). In der deutschen Standardorthographie ist der Status der Doppelkonsonantengraphien eindeutig geregelt: „§ 2. Folgt im Wortstamm auf einen betonten kurzen Vokal nur ein einzelner Konsonant, so kennzeichnet man die Kürze des Vokals durch Verdopplung des Konsonantenbuchstabens.-[…] § 3. Für k und z gilt eine besondere Regelung: (1) Statt kk schreibt man ck. (2) Statt zz schreibt man tz.“ (Deutsche Rechtschreibung 2011, 18) Diese Regeln der Markierung vokalischer Kürze durch Gebrauch von Doppelkonsonantengraphien gelten grundsätzlich für die Position im Inlaut (immer, Decke, Katze) ebenso wie im Auslaut (schlimm, Scheck, Sitz). Insbesondere für den Wort- oder Morphemauslaut gibt es zwar eine Reihe von Ausnahmen, etwa für einsilbige Wörter vor allem englischer Herkunft (Job, Jet statt *Jobb, *Jett), für einige „Wörter mit unklarem Wortaufbau oder mit Bestandteilen, die nicht selbständig vorkommen“ (Brombeere, Imbiss statt *Brommbeere, *Immbiss), sowie für einige sehr kurze Wörter mit grammatischer Funktion (an, was, drin statt *ann, *wass, *drinn) und Auxiliarverben (bin, hat statt *binn, *hatt). Wenn diese Wörter abgeleitet oder flektiert werden und der betreffende Konsonant dann in den Inlaut tritt, wird allerdings meist wieder entsprechend § 2 die Doppelkonsonantenschreibung verwendet (jobben, jetten, drinnen, hatte). In Inlautposition wird nach Kurzvokal nur in Fremdwörtern eine einfache Konsonantengraphie gebraucht (Ananas, City, Kamera, Limit, Mini statt *Annanass, *Citty, *Kammera, *Limmit, *Minni). Die Regel, dass die Kürze des vorangehenden Vokals durch Verdopplung des Konsonantenbuchstabens gekennzeichnet wird, findet also inlautend recht konsequent Anwendung. Einige Forscher, so auch z. B. Peter Eisenberg in der 9. Auflage der Duden-Grammatik (Wöllstein 2016), verwenden ein etwas anderes Beschreibungsmodell und unterscheiden zwischen gespannten Vokalen (wie in Miete, Ofen, siezen) und ungespannten Vokalen (Mitte, offen, sitzen). In dieser Terminologie wäre der Gebrauch von Doppelkonsonantengraphien dann als Mittel zur Kennzeichnung eines ungespannten Vokals zu interpretieren. Da jedoch Vokalkürze und Ungespanntheit bzw. Vokallänge und Gespanntheit im Deutschen in den hier relevanten Fällen korrelieren, wird im Folgenden der Einfachheit halber nur noch von „Kürzenkennzeichnung“ gesprochen. <?page no="267"?> 267 11.1. Zur Interpretation von Doppelkonsonantengraphien Die Regel, dass Doppelkonsonantengraphien Vokalkürze kennzeichnen, ist uns wegen unserer Orientierung an der standarddeutschen Orthographie so geläufig, dass wir dazu tendieren, historische Wortschreibungen wie radden 'raten', gütter 'Güter', ruffen 'rufen' spontan (aber wohl fälschlicherweise) mit einem kurzen Vokal auszusprechen. Erst bei genauerer Überlegung wird deutlich, dass wir hierbei eine eher ungewöhnliche und ziemlich komplizierte orthographische Regel anwenden, bei der die Quantität eines Lautes (die Kürze des Vokals) nicht an dem für diesen Laut verwendeten Zeichen selbst, sondern an dem Zeichen für einen ganz anderen Laut (den Folgekonsonanten) markiert wird. Dies ist eine sehr indirekte Weise, eine Lauteigenschaft graphematisch zu kennzeichnen, denn normalerweise würde man erwarten, dass die Quantität oder Qualität eines Lautes unmittelbar an dem Zeichen kenntlich gemacht wird, das diesen Laut repräsentiert. In der Standardorthographie ist das in der Regel auch der Fall, wie z. B. bei der Längenkennzeichnung durch Verdopplung des Vokalzeichens (<ee>, <oo>), der Umlautkennzeichnung (<ä>, <ö>, <ü>) oder der Kennzeichnung von Affrikaten im Unterschied zu Plosiven (<tz> vs. <t>, <pf> vs. <p>). Ähnliche Beispiele finden sich in Dialekttexten, etwa wenn die spirantische Qualität von Konsonanten durch Gebrauch des <j> oder <ch> markiert wird (die Jejend, Guten Tach! ), Vokalrundung durch Gebrauch der Umlautgraphien (nd. wi sünd 'wir sind', söven 'sieben') oder eine velare Aussprache des langen a durch die Buchstabenkombination <ao> oder die Graphie <å, Å> (Aobend / Åbend 'Abend'). Wenn also die Konsonantengraphie verdoppelt wird (Ebbe, Matte, Summe), läge es eigentlich eher nahe, dies als Ausdruck einer besonderen Lauteigenschaft des Konsonanten zu deuten. So könnte die graphische Verdopplung entsprechend dem Prinzip des „konstruktionellen Ikonismus“ quasi bildhaft („ikonisch“) für ein „Mehr“ an Substanz stehen, also einen Konsonanten von längerer Dauer oder kräftigerer Artikulation bezeichnen. Forschungsüberblick: Das Prinzip des konstruktionellen Ikonismus wurde im Rahmen der Natürlichkeitstheorie entwickelt (nach Mayerthaler 1981, 23). Es besagt im Wesentlichen, dass eine semantisch markierte Kategorie auch formal durch zusätzliche Mittel hervorgehoben wird. Dies manifestiert sich im Standarddeutschen vor allem im Bereich der Flexion. So wird der Plural der Substantive, der gegenüber dem Singular als markiert gelten kann, meist durch Erweiterung der Grundform um ein Flexiv (Regal-e, Auto-s, Flasche-n) gebildet, ebenso Komparativ und Superlativ von Adjektiven (nett-ere, nett-este). Das Prinzip lässt sich auf die Graphematik übertragen: Für die Kennzeichnung unmarkierter Laute wird der einfache lateinische Buchstabe verwendet, dagegen wird für die aus diesen Grundlauten abgeleiteten Lautrealisierungen (umgelautete, diphthongierte, gedehnte Aussprache) auf der graphematischen Ebene ein höherer Aufwand betrieben, indem die Basisgraphien mit Diakritika versehen werden (Mann, aber Männer) oder durch Anhängung eines zweiten Buchstabens verlängert werden (Regen, aber Reigen; Lamm, aber lahm). Der Gebrauch von Doppelkonsonantengraphien im Althochdeutschen würde diesem Prinzip entsprechen, indem ein „Mehr“ an phonetischer Substanz (längere Dauer) und damit eine markierte Aussprache ikonisch durch ein „Mehr“ an graphischer Substanz zum Ausdruck gebracht wird. Zur Übertragbarkeit der Kategorie des Ikonismus auf die Graphematik vgl. auch Munske (1994). <?page no="268"?> 268 11. Graphematische Variation und graphematischer Wandel im Bereich des Konsonantismus Tatsächlich besteht in der Forschung ein weitgehender Konsens darüber, dass der Gebrauch von Doppelkonsonantengraphien in früheren Sprachstufen des Deutschen noch in diesem Sinne als Ausdruck bestimmter Konsonantenqualitäten zu interpretieren ist. Die Funktion der indirekten Kennzeichnung von Vokalkürzen scheint dagegen ein relativ modernes Phänomen zu sein. Dies belegen noch frühneuhochdeutsche Schreibungen wie die oben genannten, in denen Doppelkonsonantengraphien nach anderen Konsonantengraphien (helffen) oder am Wortanfang (ffügen) auftreten oder auch nach Vokalgraphien, die auf Diphthonge oder Langvokale verweisen (kauffen, rueffen). Zu klären wären also vor allem zwei Fragen: 1. Wann haben die Doppelkonsonantengraphien im Deutschen die Funktion der Kürzenkennzeichnung erhalten? 2. Welche Funktionen kamen ihnen vorher zu? Beide Fragen sind nicht leicht zu klären, und auch empirische Untersuchungen lassen erwarten, dass es keine einfachen Antworten geben wird. Denn es ist damit zu rechnen, dass sich die Funktion der Kürzenkennzeichnung in den verschiedenen Regionen des deutschsprachigen Raumes zu unterschiedlichen Zeiten durchgesetzt hat, da die Doppelkonsonantengraphien möglicherweise in manchen Gegenden noch länger für die Wiedergabe anderer regionaler Lautbesonderheiten verwendet wurden. Darüber hinaus könnte es sein, dass die Prozesse bei den verschiedenen Konsonanten in unterschiedlichem Tempo abgelaufen sind. Vor diesem Hintergrund lassen sich z. B. aus den Ergebnissen einer Studie, die sich mit dem Gebrauch der Doppeldentalgraphien (<dd>, <tt>) in alemannischen Urkundentexten beschäftigt, nicht ohne Weiteres Rückschlüsse auf die Funktion der Doppelgraphien bei anderen Konsonanten oder in anderen Regionen ziehen. In Bezug auf die erste Frage ist generell festzustellen, dass noch bis zum Ende des frühneuhochdeutschen Zeitraums keine systematische Kennzeichnung der Vokalkürze durch Gebrauch von Doppelkonsonantengraphien festgestellt werden kann. Es genügt in diesem Zusammenhang, sich auf die zusammenfassenden Darstellungen in der „Frühneuhochdeutschen Grammatik“ zu beziehen, die sich wiederum auf eine Vielzahl von Einzeluntersuchungen stützen: „Die mhd. Hss. [Handschriften] markieren vokalische Länge nur sporadisch und vokalische Kürze gar nicht. Die Markierung der relativen Kürze eines Vokals durch graphische Konsonantenverdopplung erfolgt erst im Verlauf des Frnhd. und hier erst sehr spät mit einiger Konsequenz-[…].“ (Reichmann / Wegera 1993, § L 35) Für die Klärung der Frage, ab wann sich das moderne Prinzip der Kürzenkennzeichnung letztlich durchsetzte, lässt sich bislang nur auf wenige schreibsprachhistorische Studien zurückgreifen, die das 18. Jahrhundert noch mit in den Blick nehmen. Paul Rössler (2005), der sich mit dem Schreibsprachwandel in bayrisch-österreichischen Drucken des 16. bis 18. Jahrhunderts beschäftigt, untersucht u. a. auch den Gebrauch der Graphien <ff> und <f>. Dabei stellt er fest, dass sich in seinem Untersuchungskorpus erst ab Mitte des 18. Jahrhunderts <?page no="269"?> 269 11.1. Zur Interpretation von Doppelkonsonantengraphien der heutige Usus durchsetzt, Doppelkonsonantengraphien ausschließlich nach Kurzvokal zu gebrauchen (ebd., 160-179). Noch in der Stichprobe von 1720 wird die Präposition auf zu 41 % mit <ff> geschrieben (vgl. ebd., 178, Tab. 39). Zu ähnlichen Ergebnissen gelangt auch Ursula Rieke (1998) in ihrer Untersuchung zur Markierung der Vokalquantitäten in Bibeldrucken des 16. bis 18. Jahrhunderts, deren zweiter Teil (214-374) sich mit der Durchsetzung von Doppelkonsonantengraphien in sieben deutschsprachigen Regionen beschäftigt. Rieke geht davon aus, dass die Funktion der Vokalkürzenmarkierung erst ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts anzusetzen ist. Hierbei berechnet sie jeweils den Anteil der Schreibungen, die von der heutigen Rechtschreibnorm abweichen. Für die Drucke aus der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts variiert der Anteil der Übereinstimmungen mit der heutigen Norm (gerundet) zwischen 48 % (Köln) und 97 % (Straßburg) (Abb. 55). Abb. 55. Vorkommen von Doppelkonsonantenschreibungen in Drucken aus sieben deutschsprachigen Regionen (Angabe des prozentualen Anteils der Schreibungen, die der heutigen Orthographienorm entsprechen) (aus: Rieke 1998, 373, Abb. 1) Für die zweite Jahrhunderthälfte wurden allerdings nur Drucke aus drei Orten untersucht. Bei zwei dieser Orte, für die auch die weitere Entwicklung erfasst wurde, steigen die Werte von 77 % (Ulm 1735) auf 99 % (Ulm 1788) und von 88 % (Halle 1736) auf 99 % (Halle 1797), während sie in Nürnberg (1733 und 1792) auf dem Niveau von 89 % bleiben. Für Städte wie Köln (1734: 48 %), Frankfurt (1718: 68 %) oder Lüneburg (1750: 74 %) wurde die Entwicklung im 18. Jahrhundert dagegen nicht nachverfolgt, so dass hier weitere Untersuchungen wünschenswert wären. Im Rahmen einer solchen Studie wäre es sinnvoll, die Korpusbelege, die bei Rieke (1998) nur konsonantenspezifisch, aber nicht kontextspezifisch ausgezählt wurden, genauer zu differenzieren und die Werte für den Gebrauch der Doppelkonsonantengraphien im Inlaut (schaffen) und Auslaut (schlaff) sowie für die Stellung nach etymologischem Kurzvokal (hoffen), nach Langvokal oder Diphthong (brieff, zweyffel) und nach Konsonant (helffen) jeweils getrennt auszuzählen. Nur auf dieser Grundlage ließe sich klären, ab wann sich die Schreibungen mit Doppelgraphie in inlautender Stellung nach Kurzvokal durchgesetzt haben, ab wann sie in der Stellung nach Langvokal / Diphthong abgebaut wurden und in welchem <?page no="270"?> 270 11. Graphematische Variation und graphematischer Wandel im Bereich des Konsonantismus Zeitraum schließlich die analogische Übertragung auf den Auslaut stattfand (sollen > soll statt sol; kennen > kennt statt kent). Wie komplex, dynamisch und regionalspezifisch sich die Entwicklung der Doppelkonsonantengraphien in den Jahrhunderten davor gestaltet und wie unterschiedlich man sie interpretieren kann, lässt sich am Beispiel der Digraphie <tt> deutlich machen. Um zu verstehen, wie es überhaupt zu deren Gebrauch gekommen ist, muss man sich zunächst die Verhältnisse in althochdeutscher Zeit vergegenwärtigen. Eine Graphie wie <tt> reflektiert hier noch eine Aussprache, die von der eines einfachen t abweicht. Grundlage ist die sogenannte Konsonantengemination (vgl. Braune 2004, 95-102), die teils schon auf Entwicklungen in germanischer Zeit zurückgeht, teils auf die Lautveränderungen im Zusammenhang mit der Zweiten Lautverschiebung. Als Geminaten werden Konsonanten bezeichnet, die gedehnt bzw. lang gesprochen werden (von lat. geminare 'verdoppeln'). Der Unterschied ist vor allem inlautend an den Silbengrenzen hörbar und wird in der „Althochdeutschen Grammatik“ u. a. an dem Beispiel nhd. bitten im Gegensatz zu ahd. bitten verdeutlicht. Das neuhochdeutsche Wort bitten wird [ˈbɪ|tən] ausgesprochen (wobei der lange senkrechte Strich für die Silbengrenze steht). Die Graphie <tt> steht hier für einen einfachen Konsonanten, der die zweite Silbe eröffnet. Die für das ahd. Wort bitten anzusetzende Lautstruktur wäre dagegen ungefähr [ˈbɪt|ten] , d. h., es handelt sich um einen Langkonsonanten, der sich über die Silbengrenze hinweg erstreckt. Man kann, um die Länge anzudeuten, auch [ˈbɪtːen] transkribieren. Der Verschluss des gesprochenen t wird am Ende der ersten Silbe gebildet und erst am Anfang der zweiten Silbe wieder gelöst. Man verharrt beim Sprechen also etwas länger auf dem Dental. In ihrer althochdeutschen Verwendung haben die Doppelkonsonantengraphien somit tatsächlich einen ikonischen Charakter, insofern als die Verdopplung des Graphienvolumens (<tt> statt <t>) eine längere Dauer des Konsonanten symbolisiert. Langkonsonanten (Geminaten) gibt es heute z. B. noch im Italienischen (notte 'Nacht' [ˈnɔtːe] ), im Finnischen (kukka 'Blume' [ˈkukːa] ) und in einigen alemannischen und bairischen Mundarten. Im neuhochdeutschen Lautsystem gibt es sie eigentlich nicht mehr, doch können lange Konsonantenrealisierungen im freien Sprechen vorkommen. Dies ist der Fall, wenn zwei identisch lautende Konsonanten an einer Morphemgrenze aufeinander folgen, man sie aber nicht normgerecht zweimal hintereinander spricht, also mit jeweils einem Verschluss (wie z. B. in [ˈmɪttaɪlən] 'mitteilen'), sondern silbengrenzenübergreifend auf dem t verweilt ( [ˈmɪtːaɪlən] ). Letzteres dürfte heute wohl die gängige Aussprache sein. Geminaten traten im Althochdeutschen am häufigsten nach Kurzvokalen auf, und in den Fällen, in denen Geminaten im frühen Althochdeutschen nach Langvokalen standen, wurden sie später häufig gekürzt, so dass z. B. ahd. lūttar sich zu lūtar entwickelte (vgl. Braune 2004, § 92). Insofern bestand schon in althochdeutscher Zeit ein recht stabiler Zusammenhang zwischen dem Gebrauch der Doppelkonsonantengraphien, die noch die Geminaten bezeichneten, und der Position nach Kurzvokalen. Belege, in denen Doppelkonsonantengraphien für etymologisch einfache Konsonanten stehen, sind selten und werden von den Autoren <?page no="271"?> 271 11.1. Zur Interpretation von Doppelkonsonantengraphien der „Althochdeutschen Grammatik“ als Schreibfehler betrachtet, die „meist in sorglos geschriebenen Texten“ vorkommen (ebd., § 94). Nicht nur nach Langvokalen, sondern auch im Auslaut und vor Konsonanten kam es bereits in althochdeutscher Zeit zu Geminatenkürzung (bitten, aber bat [bat] 'bat'; brennen, aber branta 'brannte'). Im Mittelhochdeutschen trat diese Kürzung dann mutmaßlich auch im Inlaut nach Kurzvokalen ein. Da aber weiter an den alten Doppelschreibungen festgehalten wird, lässt sich letztlich nicht sicher entscheiden, wann genau die Doppelkonsonanten vereinfacht wurden. Für das Frühneuhochdeutsche gelten die Doppelkonsonantengraphien jedenfalls nurmehr als „historische Schreibung“ (Reichmann / Wegera 1993, 20). Wenn das zutrifft, bezeichnen die Doppelkonsonantengraphien also spätestens ab dem 14. Jahrhundert in der Regel nur noch einfache Konsonanten (vielleicht mit Ausnahme von Teilen des alemannisch-bairischen Raumes), treten aber immer noch in denselben Kontexten auf, also vornehmlich nach Kurzvokalen. Auf dieser Grundlage kann nun ein Prozess stattfinden, den die Autoren der „Frühneuhochdeutschen Grammatik“ als „graphiesystematische Umfunktionierung“ bezeichnen (ebd., 21). In der Terminologie der Grammatikalisierungsforschung könnte man auch von einer Reanalyse sprechen, die sich schematisch etwa so darstellen lässt wie in Tab. 39. Phase I Phase II Phase III Phase IV Sprachstufe Frühes Althochdeutsch Spätes Althochdeutsch Mittelhochdt. bis Frühneuhochdt. Neuhochdeutsch Schreibung Doppelgraphie nach Kurz- oder Langvokal, z. B. <tt> in bitten, l ū ttar Doppelgraphie nach Kurzvokal, z. B. <tt> in bitten Doppelgraphie nach Kurzvokal, z. B. <tt> in bitten Doppelgraphie nach Kurzvokal, z. B. <tt> in bitten Lautliche Entsprechung Geminate (Langkonsonant) [ˈbɪtːen], [ˈluːtːar] Geminate (Langkonsonant) [ˈbɪtːen] Lesart 1: Geminate [ˈbɪtːən] Lesart 2: Kennzeichnung der Vokalkürze [ˈbɪtən] Kennzeichnung der Vokalkürze [ˈbɪtən] Tab. 39. Schematischer Ablauf der Reanalyse von Doppelkonsonantengraphien Da sich bei dieser Reanalyse auf der graphematischen Oberfläche zunächst nichts ändert, ist schwer zu entscheiden, bis wann die Leser eine Schreibung wie bitten noch als 'Vokal + Langkonsonant' (Lesart 1) gedeutet haben und ab wann sie zu der neuen Lesart 'Kurzvokal + einfacher Konsonant' übergegangen sind. Sichtbar wird der Reanalyseprozess erst dann, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind. Zum einen sollten Doppelkonsonantengraphien nach Kurzvokal nun immer gebraucht werden können, egal, ob sie einer historischen Geminate entsprechen oder einem einfachen Konsonanten. Zum anderen dürften Doppelkonsonantengraphien nun nicht mehr nach Langvokalen oder Diphthongen verwendet werden. Die Beschreibung in der „Frühneuhochdeutschen Grammatik“ geht zunächst auf den ersten Aspekt ein, indem beschrieben wird, wie der Gebrauch von <tt> in den verschie- <?page no="272"?> 272 11. Graphematische Variation und graphematischer Wandel im Bereich des Konsonantismus denen Regionen allmählich auch auf historisch einfache Konsonanten übertragen wird, am frühesten im niederalemannischen, am spätesten im ostmitteldeutschen Raum (vgl. Reichmann / Wegera 1993, § L 47). Damit wird die alte Verknüpfung zwischen Doppelkonsonantengraphie und Langkonsonanz aufgehoben, denn in Fällen wie bretter oder geschnitten entspricht das <tt> etymologisch einem einfachen Konsonanten (mhd. bret aus wgerm. *breda-; mhd. gesneden vom Infinitiv snīden aus wgerm. *sneiþ-a-). Problematischer ist die Beweisführung allerdings hinsichtlich der zweiten Bedingung, dass Doppelkonsonantengraphien nicht mehr nach Langvokalen oder Diphthongen auftreten dürfen. Zwar wurden wohl schon in althochdeutscher Zeit alte Langkonsonanten in der Stellung nach Langvokalen oder Diphthongen zu einfachen Konsonanten reduziert, worauf ein zunehmender Gebrauch von einfachen Konsonantengraphien in dieser Position hindeutet. Diese Entwicklung wird jedoch gerade in der frühneuhochdeutschen Zeit durch einen gegenläufigen Trend überlagert, indem auch nach Langvokal (gütter), Diphthong (leitten) und Konsonant (richtter), in finaler Stellung (ratt, hartt) und teils auch im Anlaut (ttafel, ttag) Doppelkonsonantengraphien auftreten (vgl. Reichmann / Wegera 1993, § L 47). Diese Beispiele zeigen, dass die moderne Regel, dass Doppelkonsonanten die Kürze des vorangehenden Vokals anzeigen, zu dieser Zeit noch nicht gilt. Wie aber lässt sich dann das Auftreten der Doppelkonsonantengraphien in den genannten Kontexten deuten? In der Forschung sind diesbezüglich eine Reihe von Hypothesen vorgetragen worden, die teils von einer lautreferenziellen Funktion dieser Graphien ausgehen, teils aber auch ganz andere Funktionen geltend machen. Hinweise auf eine lautreferenzielle Funktion der Doppelkonsonantengraphien, die der alten Funktion der Geminatenkennzeichnung vergleichbar ist, geben die Bemerkungen einiger Grammatiker des 16. Jahrhunderts. So empfiehlt Fabian Frangk (1531) in seiner „Orthographia“, man solle sich beim Schreiben an der Aussprache der Konsonanten orientieren: Wenn ein „Buchſtab ſchwach lautet / iſt er einzelich / wo ſtarckt / ſo wird er dupelt getzogen“ (zit. n. Götz 1992, 157). Wenn also die Doppelgraphie die „Stärke“ des Konsonanten kennzeichnet, kann sie auch in anderen Kontexten als im Inlaut nach Kurzvokal auftreten. Dementsprechend führt Frangk auch Beispiele für den Silben- oder Wortauslaut (auffzug, willferig, widderkauff) und für die Stellung vor anderen Konsonanten (schrifftlich, bennder) an. Ob Frangk hier tatsächlich zwei verschiedene Ausspracheweisen annimmt, ist nicht immer eindeutig zu entscheiden (vgl. Götz 1992, 158 f.). In manchen Fällen lässt sich ein Wechsel von konsonantischen Monographien und Digraphien in Frangks Beispielwörtern jedoch als Reflex von historisch bedingten Ausspracheunterschieden interpretieren: „So gehen die Formen mit einfachem f (hofeman, hefen, teufel) auf germanisches f zurück, während bei ff (hoffen, teuffen, helffen) jeweils germanisch p zugrundeliegt.“ (Götz 1992, 159 f.). Demnach ließen sich also Doppelkonsonantengraphien nach Diphthongen (teuffen) oder nach anderen Konsonanten (helffen) im vorliegenden Falle als Ausdruck einer spezifischen Lautqualität deuten, die dem Kontinuanten von wgerm. p zukommt und diesen von der Entsprechung von wgerm. f unterscheidet. Eine solche Lautdifferenzierung gibt es zwar in der heutigen Standardsprache nicht mehr, wo die Graphien <f> und <ff> unabhängig von der Etymologie durchweg als [f] gesprochen werden. Aber in dem schlesischen Dialekt, den der <?page no="273"?> 273 11.1. Zur Interpretation von Doppelkonsonantengraphien aus Bunzlau (heute Bolesławiec in Polen) stammende Fabian Frangk beherrscht haben dürfte, werden diese beiden Konsonanten inlautend unterschieden. So wird nach der Grammatik der schlesischen Mundart von Wolf von Unwerth (1931, § 70) der Kontinuant von wgerm. p als [f] , der Kontinuant von wgerm. f dagegen als [v] gesprochen (z. B. [ˈʃɔːfə] 'Schafe' vs. [ˈseːvə] 'Seife'). In einigen Fällen könnte der Gebrauch der Doppelkonsonantengraphien also auf eine besondere Aussprache der Konsonanten hindeuten. Götz’ Überlegungen sind für graphematische Studien, die sich mit der Distribution von Monographien und Doppelkonsonantengraphien beschäftigen, unmittelbar relevant. In vormoderner Zeit ist nicht von einer Anwendung schreibsprachlicher Regeln auszugehen, wie wir sie aus der modernen Standardorthographie kennen. Vielmehr ist damit zu rechnen, dass ein Schreiber bei einer Konsonantengruppe Doppelgraphien einsetzt, um eine besonders „starke“ oder längere Aussprache zu kennzeichnen, während diese in anderen Fällen keinen spezifischen Lautbezug aufweisen. Aus der Perspektive einer Historischen Graphematik, die grundsätzlich mit der Möglichkeit von Lautrefenzen zu rechnen hat, müsste durch Distributionsanalysen ermittelt werden, in welchen Bereichen etymologisch unterschiedliche Konsonanten regelmäßig durch unterschiedliche Graphien (z. B. <t> vs. <tt> oder <f> vs. <ff>) wiedergegeben werden und ob dem ein Ausspracheunterschied in den rezenten Dialekten entspricht. Wenn dies der Fall ist, wie bei der Differenzierung der beiden dialektalen f-Laute im Schlesischen, stützt dies die These, dass der Gebrauch von Doppelgraphien nicht der Kennzeichnung vokalischer Kürze, sondern der Markierung spezifischer Konsonantenqualitäten dient. In den Kontexten, in denen dem Gebrauch von Doppelkonsonantengraphien weder unter Berücksichtigung der Lautetymologie noch mit Bezug auf die neueren Dialekte eine erkennbare Lautrelevanz zugeschrieben werden kann, wäre wiederum zu prüfen, ob sich auf der rein schreibsprachlichen Ebene eine plausible Erklärung für die beobachteten Graphiendistribitionen finden lässt. Hierfür wurden in der neueren Forschung verschiedene Vorschläge gemacht, die der lange Zeit herrschenden Tendenz entgegentreten, jegliche Form der „Konsonantenhäufung“ vorschnell als funktionslose Ornamentik und willkürliche Schreibermode zu deuten. Eine jüngere Hypothese besagt, dass in Handschriften Doppelkonsonantengraphien am Schluss von Wörtern eingesetzt worden sein könnten, um die Wortgrenzen zu verdeutlichen (vgl. Maas 1991, 33). Um diese These der Wortgrenzenmarkierung schlüssig zu belegen, wäre nachzuweisen, dass Doppelgraphien am Wortende unabhängig von der Art des vorangehenden Vokals verwendet werden, also nicht nur nach Kurzvokalen (matt, Bischoff), sondern auch nach Langvokalen und Diphthongen (Lohnn, Kauff), während sie in Inlautposition vermieden werden. Eine etwas anders akzentuierte Variante dieser These vertritt Anja Voeste (2008). Sie geht davon aus, dass manche Schreiber (bzw. Drucker oder Setzer) versucht haben könnten, einen graphischen Ausgleich zwischen den „Breiten der Anfangs- und Endränder“ herzustellen, indem ein einsilbiges Wort, das vor dem vokalischen Kern wenige Segmente aufweist, am Endrand verlängert wird: <?page no="274"?> 274 11. Graphematische Variation und graphematischer Wandel im Bereich des Konsonantismus „Innerhalb des Einkerners ‚reagiert‘ der Endrand auf Besonderheiten des Anfangsrands. Die Breite des Endrandes wird aufgrund der geringen oder ‚fehlenden‘ graphetischen Breite des Anfangsrandes vergrößert. Das graphische Wort erhält ein oder zwei zusätzliche Segmente im Endrand und somit insgesamt mehr optisches Gewicht. Man könnte für solche Belege die These aufstellen, dass ein Einkerner mit leerem oder schmalem Anfangsrand dann als wohlgeformt angesehen wird, wenn das Wort durch eine Rechtserweiterung vergewichtet wird.“ (Voeste 2008, 65) Voeste (ebd., 67) überprüft ihre These von der Vergewichtung anhand von 2189 einsilbigen Wortbelegen aus ihrem Korpus, die auf Sonorant + <dt> bzw. <d> enden, d. h. auf <-ndt>, <-ldt>, <-rdt> bzw. <-nd>, <-ld>, <-rd>. Verglichen wird der Graphiengebrauch im Wortauslaut in Korrelation zu verschiedenen Typen von Anfangsrändern: a) „Leere“ Anfangsränder: ohne Konsonantenzeichen vor dem Vokalzeichen (Typ end), b) „Schmale“ Anfangsränder: mit der schmalen Graphie <l> vor dem Vokalzeichen (Typ land), c) Einfach besetzte Anfangsränder: mit einem anderen einzelnen Konsonantenzeichen außer <l> vor dem Vokalzeichen (Typ hand), d) Zweifach besetzte Anfangsränder: mit zwei Konsonantengraphien vor dem Vokalzeichen (Typ brand). e) Dreifach besetzte Anfangsränder: mit drei Konsonantengraphien vor dem Vokalzeichen (Typ schand). Voeste stellt fest, dass der Anteil der Digraphie <dt> (in Relation zu monographischem <d>) bei Wörtern mit leerem Anfangsrand (35 %) und bei Wörtern mit schmalem Anfangsrand (29 %) deutlich höher ist als bei Wörtern mit einfach besetztem Anfangsrand (9 %). Sie deutet dies als Beleg für eine Vergewichtung. Gegen diese These spricht allerdings das wiederum höhere Aufkommen an <dt>-Formen bei komplexeren Anfangsrändern des Typs d) (25 %) und e) (29 %), denn hier wäre im Sinne der Vergewichtungsthese eigentlich ein noch geringerer Anteil für <dt> zu erwarten gewesen. Voeste führt dies darauf zurück, dass hier eine andere Motivation zugrunde lag, nämlich die Herstellung eines symmetrischen Wortbildes: „In diesen Fällen wurde <dt> gewählt, um einen symmetrischen Breitenausgleich zwischen Anfangs- und Endrand durchzuführen, vgl. <brandt>, <pferdt>, <grundt>, <ſchuldt>, <ſchildt>, <ſchandt>. Hier wurden zusätzliche Segmente vermutlich nicht deshalb eingefügt, um dem Wort mehr optisches Gewicht zu verleihen, sondern um einen Breitenausgleich zwischen Anfangs- und Endrand herzustellen.“ (Voeste 2008, 67) Vor dem Hintergrund dieses Befundes stellt sich nun allerdings die Frage, ob es berechtigt ist, von einer „Strategie“ bei der Graphienverteilung zu sprechen, wenn zwei so gegensätzliche und einander ausschließende Zielsetzungen wie die Herstellung ausgeglichener Wortlängen (kurzer Anfangsrand + langer Endrand bzw. langer Anfangsrand + kurzer Endrand) und die Herstellung symmetrischer Strukturen (langer Anfangsrand + langer Endrand) gleichzeitig unterstellt werden. Zudem ist es generell fraglich, ob bei einem Anteil von 9 % bis maximal 35 % digraphischen Schreibungen (gegenüber 65 bis 91 % Monographien) überhaupt von <?page no="275"?> 275 11.1. Zur Interpretation von Doppelkonsonantengraphien einer Tendenz zur Markierung von Endrändern gesprochen werden kann. Möglicherweise könnte man hier zu klareren Ergebnissen gelangen, wenn nicht ein heterogenes Korpus von Chroniken aus sechs Regionen des deutschsprachigen Raums zugrunde gelegt würde (wie bei Voeste 2008), sondern einzelne Drucke. Hier gelten dieselben Argumente, die in Kap. 5.4 für eine Schreibseparierung angeführt wurden. Die Erkenntnismöglichkeiten einer solchen Analyse lassen sich am Beispiel einer kleinen Auszählung demonstrieren, die an einem schwäbischen Druck aus dem späten 16. Jahrhundert (Bonner Frühneuhochdeutsch-Korpus, Text 125: Leonhart Rauwolf, Beschreibung der Reise in die Morgenländer, Lauingen 1582) durchgeführt wurde. Analog zum Vorgehen bei Voeste (2008) habe ich die Distribution von einfachen und digraphischen Konsonantenschreibungen im Auslaut von einsilbigen Wörtern ermittelt, deren Kern aus der Verbindung von Vokalzeichen + <n>, <l> oder <r> besteht, allerdings unter Einbeziehung auch anderer Konsonantenverbindungen als <dt> (Tab. 40). Leerer Anfangsrand Schmaler Anfangsrand Einfacher Anfangsrand Mehrfacher Anfangsrand Einfacher Endrand <-g>: eng <-g>: lang <-g>: Berg, fieng, geng, gieng - <-d>: vnd <-d>: land <-d>: bald, fand, Feind, Feld, Gold, sand, seind, ward, werd, Wind, zierd <-d>: freund, schuld, stund, th ů nd <-t>: art, ort - <-t>: fart, fert, fort, Gelt, halt, hart, helt, hielt, Nort, rinnt, sort, Welt, wirt, wolt, zart <-t>: gwalt <-s>: Als, ans, ers, ins, vns - <-s>: Jars, Manns, Moͤrs, seins, wanns, wirs <-s>: kleins, Rheins, thails - - <-b>: halb, selb - Mehrfacher Endrand - - <-dt>: Bundt, kundt, wirdt - - - <-ck>: danck, Marck, Volck, werck <-ck>: starck <-ß>: alß - - - - - <-ff>: darff, fünff, hilff, Wolff - - - <-tz>: gantz, holtz, kurtz, Maͤntz, Müntz, saltz - Tab. 40. Beispiele für Schreibungen von Einsilbern mit Anfangs- und Endrändern unterschiedlicher graphischer Komplexität (Kern bestehend aus Vokalzeichen + <n>, <l> oder <r>) <?page no="276"?> 276 11. Graphematische Variation und graphematischer Wandel im Bereich des Konsonantismus Bei dem Versuch, die Graphienverteilung mit der Komplexität des Anfangsrandes zu korrelieren, zeigt sich zunächst eine methodische Schwierigkeit: Wörter mit leerem oder schmalem Anfangsrand, also mit einem Vokal oder mit l beginnende Wörter, treten insgesamt deutlich seltener auf als solche mit anlautendem Konsonanten. Auch sind Wörter mit mehrfachem Anfangsrand seltener als solche mit einfachem Anfangsrand. Die Verteilung ist also nicht ausgewogen, obwohl der ausgewählte Text mit mehr als 11 700 Wörtern einen recht großen Umfang hat. Von dieser methodischen Problematik abgesehen lassen sich jedoch einige aufschlussreiche Beobachtungen treffen. Dort, wo eine ausreichende Vergleichbarkeit gegeben ist, lässt sich keine Verteilung entsprechend der Hypothese der „Vergewichtung“, aber auch kein genereller „symmetrischer Breitenausgleich“ erkennen. Vielmehr scheint der Drucker bzw. Setzer dieses Textes den Gebrauch von monographischen oder digraphischen Varianten am Wortende konsonantenspezifisch unterschiedlich zu handhaben. Für g kennt er keine digraphischen Varianten, sondern nur <g>; die Graphien <gg> und <gk> kommen also nicht vor. Auch die Dentale werden meistens monographisch realisiert (<d>, <t>), nur dreimal durch <dt> und niemals durch <dd> oder <tt>. Ähnliches gilt für <s> (niemals <ss>, die Graphie <ß> nur bei dem Wort alß) und <b>. Andererseits werden aber die Konsonanten f, k und z ausschließlich durch die Digraphien <ff>, <ck> und <tz> wiedergegeben. Das Beispiel zeigt, dass historische Texte in Hinblick auf den Gebrauch von Doppelkonsonantengraphien (am Wortende) manchmal Regelmäßigkeiten aufweisen, deren Funktion sich nicht unmittelbar erschließt (vgl. auch Freund 1991, 121-133). Um hier zu weitergehenden Erkenntnissen zu gelangen, wäre es lohnend, Distributionsanalysen für eine größere Anzahl von Handschriften und Drucken der frühneuhochdeutschen Zeit bzw. aus der Frühphase des Neuhochdeutschen durchzuführen. Die vorliegenden Erkenntnisse zum Gebrauch von Doppelkonsonantengraphien in vormodernen Schreibsprachen belegen, dass die heutige Funktion der Kennzeichnung vorangehender Vokalkürze lange Zeit nicht als klares Schreibprinzip erkennbar ist. Vielmehr wurden von der Forschung ganz unterschiedliche Interpretationen ins Spiel gebracht: ▶ Kennzeichnung von Langkonsonanten, ▶ Kennnzeichnung der artikulativen „Stärke“ bestimmter Konsonanten, ▶ Kennzeichnung von Wortgrenzen, ▶ Herstellung einer einheitlichen Wortlänge durch „Vergewichtung“, ▶ Herstellung gleich langer Anfangs- und Endränder („symmetrischer Breitenausgleich“). Hinzu kommen möglicherweise weitere Funktionen wie die des Zeilenausgleichs durch Gebrauch wortverlängernder Doppelgraphien (Kap. 6.2.3). Beim gegenwärtigen Forschungsstand lassen sich über die Gültigkeit und Reichweite der einzelnen Hypothesen noch keine differenzierten Aussagen treffen. Es zeichnet sich jedoch ab, dass man den Gebrauch der Doppelgraphien wohl je nach Zeitstufe, Region und Schreiber bzw. Drucker gesondert betrachten muss, um überhaupt zu verwertbaren Ergebnissen zu gelangen, da sie offenbar in ganz unterschiedlicher Weise funktionalisiert werden konnten. <?page no="277"?> 277 11.2. Morphembezogene Variation und die Durchsetzung des morphematischen Prinzips 11.2. Morphembezogene Variation und die Durchsetzung des morphematischen Prinzips Das morphematische Prinzip (auch morphologisches Prinzip, Prinzip der Stammschreibung oder Schemakonstanz genannt) in der Orthographie besteht darin, dass ein Wortstamm (lexikalisches Morphem) möglichst immer gleich geschrieben wird, auch wenn die Aussprache variiert. Beispiele sind der Gebrauch der Graphie <d> in Kind (mit [t] ) und Kinder (mit [d] ) statt *Kint / Kinder oder der Graphien <a>/ <ä> in kalt / kälter (statt kalt / kelter). Die Konstantschreibung der Morpheme beschleunigt die visuelle Erfassung der Wortkörper und erleichtert damit den Lesevorgang. In vormodernen Schreibsprachen besaß dieses Prinzip einer kontextübergreifenden Gleichschreibung von Morphemen bei divergierender Lautung noch keine Gültigkeit. Dies wurde bereits in dem Kapitel zur Diskussion silbenspezifischer Schreibungen (Kap. 10.5.2) deutlich. So führte z. B. der Versuch des Duisburger Schreibers Leising, vokalische Länge und Kürze graphematisch zu unterscheiden, in vielen Fällen dazu, dass dasselbe Lexem in unterschiedlichen Schreibweisen auftritt, etwa wenn der Nominativ / Akkusativ Singular eines Wortes mit Kurzvokal (wie dach 'Tag', got 'Gott') mit einem Genitiv / Dativ Singular oder einer Pluralform kontrastiert, die einen gedehnten Vokal aufweist (daege 'Tage', gaedes 'Gottes'). Auch das alternative Verfahren, bei dem in offener Silbe auf die Längenmarkierung verzichtet wird, führt zu kontextspezifisch unterschiedlichen Wortschreibungen (raet 'Rat', broet 'Brot', huys 'Haus' gegenüber rade, brode, huse). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wann sich das Prinzip der Morphemkonstantschreibung in den Schreibsprachen des deutschsprachigen Raumes durchgesetzt hat. Eine erste Pilotstudie zu regionalen Unterschieden in der kontextübergreifenden Morphemschreibung unternahm Petra Ewald (1997) auf der Grundlage von acht Drucken aus der Zeit um 1500 aus dem mittel- und oberdeutschen Raum. Gegenstand ihrer Betrachtung waren allein die graphematischen Reflexe der Auslautverhärtung (Tab. 41). Standarddeutsch Regionale Varietäten [ˈliːbən] 'lieben' [liːp] 'lieb' nd. [ˈleːvən] 'leben' [leːft] 'lebt' [ˈkɪndɐ] 'Kinder' [kɪnt] 'Kind' berlinisch [ˈʁeːjən] 'Regen' [ˈʁeːçnət] 'regnet' [ˈtaːgə] 'Tage' [taːk] 'Tag' ruhrdt. [ˈfʁaːɣən] 'fragen' [fʁaːxt] 'fragt' Tab. 41. Beispiele für die „Auslautverhärtung“ im Standardddeutschen und in regionalen Varietäten Im Mittelpunkt der Studie stand die Frage nach dem jeweiligen Anteil morphembezogener Schreibungen, bei denen (wie in der heutigen Standardorthographie) in auslautender Position dieselbe Konsonantengraphie gebraucht wird wie im Inlaut (lieben-lieb, Kinder-Kind, Tage-Tag statt wie im idealisierten Mittelhochdeutschen lieben-liep, kinder-kint, tage-tac). Ewald konnte feststellen, dass der durchschnittliche Anteil von Morphemkonstantschreibungen je nach Region zwischen 65-66 % (Leipzig, Erfurt) und 95 % (Straßburg) schwankt. Darüber hinaus erwies sich die Schreibung der Konsonanten b und g als deutlich „progressiver“ als die von d. Während also mutmaßlich aussprachenahe Schreibungen wie wip oder berk in den meisten Regionen nur noch selten vorkamen, traten Formen wie wirt 'wird' oder <?page no="278"?> 278 11. Graphematische Variation und graphematischer Wandel im Bereich des Konsonantismus tugent noch deutlich häufiger auf, und in Leipzig, Erfurt und Frankfurt waren die Graphien <t> oder <tt> sogar die dominierenden Auslautvarianten. Unter Auslautverhärtung versteht man in erster Linie den für das Deutsche als besonders typisch geltenden Prozess, bei dem die auf wgerm. b, d, g zurückgehenden stimmhaften Plosive desonorisiert (entstimmt) und fortisiert werden, wenn sie an den Schluss eines Wortes oder einer Silbe treten. Der „weiche“ und stimmhaft gesprochene Leniskonsonant des Inlautes (z. B. [b] ) wird somit auslautend zu einem „harten“, stimmlos artikulierten Fortiskonsonanten (z. B. [p] ). Im weiteren Sinne wird darunter auch die Desonorisierung von Frikativen verstanden, wie bei [z] und [v] , die im Auslaut als [s] und [f] gesprochen werden (z. B. [ˈhɔʏzɐ] 'Häuser' vs. [haʊs] 'Haus', [ˈbraːvə] 'brave' vs. [braːf] 'brav'). Dies gilt auch für regionalsprachliche Frikativrealisierungen von b und g (Wechsel von inlautendem [v] zu auslautendem [f] , von [j] zu [ç] und von [ɣ] zu [x] , Tab. 41). Auf der Basis eines deutlich umfangreicheren Textkorpus, das in dem Bamberger Projekt zur Entwicklung der Großschreibung im Deutschen zwischen 1500 und 1700 erarbeitet wurde (vgl. Bergmann/ Nerius 1997, dazu unten Kap. 13), hat Nikolaus Ruge 2004 die bislang umfangreichste Untersuchung zur Durchsetzung morphembezogener Schreibungen vorgelegt. Die Studie bezieht sich auf drei Phänomenbereiche, bei denen sich ausspracheorientierte und morphematisch orientierte Schreibungen (im Prinzip) gegenüberstellen lassen: a) die graphematische Realisierung der Auslautverhärtung: Fortisschreibungen <p, t, k> vs. Lenisschreibungen <b, d, g>, b) die Schreibung der Umlaute von a und au: e-Graphien vs. a-Graphien, c) die Verwendung der Konsonantenzeichen <l, n> vs. <ll, nn> im Auslaut der Verbformen von sollen, wollen, können. Hinzu kommt als weiteres Phänomen der Gebrauch von Kürzeln; hierauf wurde in Kap. 4.4 bereits eingegangen. a) Verzicht auf Kennzeichnung der Auslautverhärtung. Bei der Analyse der Schreibungen im Zusammenhang mit der „Auslautverhärtung“ beschränkt sich Ruge (wie schon Ewald 1997) auf die Plosive b, d, g. Eine genauere Untersuchung des Wechsels zwischen [z] und [s] steht bislang noch aus. Hier wäre der Übergang von lautorientierten Schreibungen wie Haͤ u ſ er (mit langem < ſ >) vs. Haus (mit rundem <s>) zu der einheitlichen Schreibweise mit <s> genauer zu untersuchen. Ähnliches gilt für die Unterscheidung der labiodentalen Frikative [v] und [f] , bei der die Aufhebung der graphematischen Opposition zwischen <v>/ <w> (Inlaut) und <f>/ <ff> (Auslaut) zugunsten kontextübergreifend einheitlicher Schreibungen (naiv-naive, doof-doofe, Möwchen-Möwe) untersucht werden könnte. In diesem Falle würde sich vor allem eine Analyse niederdeutscher Schreibsprachen lohnen, da hier auch noch die große Gruppe der auf wgerm. b und g zurückgehenden Frikative mit in Betracht käme (nd. [ˈleːvən] 'leben' vs. [leːft] 'lebt', [ˈdaːɣə] 'Tage' vs. [dax] 'Tag'). <?page no="279"?> 279 11.2. Morphembezogene Variation und die Durchsetzung des morphematischen Prinzips Vor dem Hintergrund, dass die regionalen Schreibsprachen noch bis ins 17. Jahrhundert ein hohes Maß an graphematischer Variation aufweisen, wäre zu erwarten, dass sich Anzeichen für kontextübergreifend einheitliche Wortschreibungen frühestens im späten 17. oder im 18. Jahrhundert finden lassen. Tatsächlich gibt es aber schon in mittelhochdeutscher Zeit zahlreiche Belege für den Gebrauch der Graphien <b, d, g> in finaler Stellung. Die überlieferten Handschriften aus mittelhochdeutscher Zeit zeigen somit keineswegs eine durchgängige Kennzeichnung der Auslautverhärtung (vgl. Paul 2007, 132). Wie ist das Auftreten von wortfinalem <b> und <g> in mittelhochdeutschen Handschriften zu erklären? Eine Interpretation als morphematische Schreibung kommt für diese frühe Zeitstufe nicht in Frage, denn die omnipräsente Variation in den damaligen Schreibsprachen lässt klar erkennen, dass die Schreiber noch nicht die Idee einer kontextübergreifenden Konstantschreibung von Morphemen oder Wörtern verfolgt haben können. Es ist somit mit Ruge (2004) anzunehmen, dass das Auftreten von auslautendem <b>, <g> und (mit Einschränkungen) <d> im Mittelhochdeutschen und älteren Frühneuhochdeutschen auf eine Lenisaussprache der Konsonanten hinweist. In den betreffenden Regionalvarietäten werden die Konsonanten im In- und Auslaut phonetisch nicht differenziert, da keine Auslautverhärtung eintritt. Ruge (2004, 124) geht also für die vor 1500 bezeugten Belege für <b, d, g> im Auslaut davon aus, dass man es mit „graphischen Reflexen regionaler Lautveränderungen“ zu tun hat. Daraus ergibt sich aber die Frage, ab wann sich der Gebrauch von <b, d, g> im Auslaut plausibel als Indikator für die Herausbildung eines morphematischen Schreibprinzips interpretieren lässt. Die Autoren der „Frühneuhochdeutschen Grammatik“ stellen hierzu fest, dass ein solcher Nachweis erst ab dem Zeitpunkt möglich wäre, zu dem man von der „Existenz einer gehobenen, Lenis und Fortis unterscheidenden Aussprache“ ausgehen könne (Reichmann / Wegera 1993, § L 1). In der Einschätzung, ab wann man eine derartige gehobene Aussprache ansetzen könne, in der die auslautenden Konsonanten durch Desonorisierung von den inlautenden Konsonanten differenziert werden, sind sich die Sprachhistoriker allerdings nicht einig (vgl. Paul 2007, § L 72). Interessant ist die Parallele zum Funktionswandel bei den Doppelkonsonantengraphien. In Kap. 11.1 ist argumentiert worden, dass die Doppelgraphien, die nach Kurzvokal standen, eine Reanalyse erfuhren, vom Marker für Langkonsonanz zum Marker für die Kürze des vorangehenden Vokals. In analoger Weise nimmt Ruge (2004, 121) an, dass die „Lenisbuchstaben zunächst als Reflex lautlicher Entwicklungen in die Finalpositionen des graphischen Wortes gerieten, wo sie zu einem späteren Zeitpunkt neu interpretiert werden konnten“, nämlich als morphematisch ausgerichtete Schreibungen, die die Schemakonstanz sichern. Ruge nimmt an, dass sich dieser Wandel bereits im 16. und 17. Jahrhundert vollzogen habe. Dagegen geht Arend Mihm (2004b) von einer deutlich späteren Durchsetzung der Schemakonstanz als Schreibprinzip aus. Auch Mihm interpretiert die Belege für morphembzw. wortfinales <b, d, g> in mittel- und frühneuhochdeutschen Texten als Wiedergaben auslautender Leniskonsonanten. Anders als Ruge geht er allerdings davon aus, dass sich die Lenisaussprache im Auslaut nicht nur in den Basisialekten, sondern auch in den oberschichtigen Sprechvarietäten mancher Regionen noch bis in die Neuzeit erhalten habe. Dafür führt er eine Reihe von unterschiedlichen Indizien an: <?page no="280"?> 280 11. Graphematische Variation und graphematischer Wandel im Bereich des Konsonantismus ▶ Graphematische Befunde: In den Urkunden des ostmitteldeutschen Raumes, der als Ursprungsgebiet für die Entwicklung der deutschen Hochsprache gilt, wird die Opposition von Lenis- und Fortisschreibungen (landes-lant usw.) schon im frühen 14. Jahrhundert aufgegeben. Mihm folgert daraus, „dass die Auslautverhärtung bereits zu jener Zeit in der gehobenen meißnischen Mündlichkeit aufgegeben worden ist“ (Mihm 2004b, 176). ▶ Reimverhältnisse: In obersächsischen Dichtungen, die wohl einen gehobenen Lautstand repräsentieren, kommen Reime vor wie Kleider : weiter oder schaden : waten. Dies deutet nach Mihm (2004b, 176) darauf hin, dass sich der Fortiskonsonant t weitgehend „der stimmlosen Lenis d ̥ angenähert hatte“ und dass auch im Auslaut (Kleid: weit) eine einheitliche Lenisaussprache anzunehmen sei (analog auch bei b / p > [b̥] und g / k > [g̊ ] ). ▶ Metasprachliche Zeugnisse: Gottsched schreibt in seiner Grammatik „Kern der größern Deutschen Sprachkunst“ (1777, 6) die Lenisaussprache von b, d, g im Auslaut verbindlich vor, etwa für das auslautende d: „Wie die Aussprache desselben im Anfange der Wörter und Syllben ist, so soll sie auch am Ende desselben seyn, z. E. David, Bad, Brod, Tod, Freund, Herd, schädlich, Tadler; niemals wie t. Diese Buchstaben müssen in der Aussprache sorgfältig unterschieden werden.“ Entsprechende Aussprachevorschriften erteilt er auch für b und g. Diese Aussprachenorm galt nach Mihm auch noch im 19. Jahrhundert, wie er an Zitaten von Goethe (1802 / 03) und Jacob Grimm (1822) veranschaulicht. Die Ausführungen machen deutlich, dass bei der Interpretation konsonantischer Auslautgraphien in historischen Texten die Lautverhältnisse der jeweils korrespondierenden gesprochenen Regionalvarietäten von entscheidender Bedeutung sind. Wenn, wie im Falle des Obersächsischen, eine identische Aussprache der Plosive b, d, g in in- und auslautender Stellung anzunehmen ist, ist die Bedingung für die Ansetzung einer morphematischen Schreibregel nicht gegeben, da der Gebrauch der Graphie <b>, <d> oder <g> am Wortende plausibler als direkte Wiedergabe einer lenisierten Aussprache gedeutet werden kann. Die Frage, wann der Gebrauch von wortfinalem <b, d, g> als phonisch motiviert und wann er als morphematisch motiviert zu gelten hat, kann somit nicht für den deutschsprachigen Raum insgesamt, sondern nur für einzelne Regionen geklärt werden, wobei jeweils eine eingehende Beschäftigung mit den jeweiligen Lautverhältnissen erforderlich ist. Insofern ist das Phänomen der Auslautverhärtung wenig geeignet, um einen generellen Nachweis der Durchsetzung morphembezogener Schreibungen im Deutschen zu führen. b) Schreibung der Umlaute von a und au. Ein zweiter Phänomenbereich, für den Ruge (2004) die Durchsetzung morphembezogener Schreibungen untersucht, ist die graphematische Realisierung der Umlaute für die kurzen und langen a-Laute bzw. für den durch au repräsentierten Diphthong. Da diese Entwicklung eng mit der Herausbildung morphembezogener Schreibungen im Bereich des Konsonantismus verbunden ist, wird sie hier mitbehandelt, obwohl sie den Vokalismus betrifft (zur Umlautkennzeichnung allgemein Kap. 12.1). Die Graphie <e> und die mit dem Buchstaben e beginnenden Digraphien stehen für eine ausspracheorientierte Schreibung (lenger, Zeune), während a-Graphien (la ͤ nger, Za ͤ une) eine morphematisch orientierte Schreibung repräsentieren, da hier der morphematische Zusammenhang mit den jeweiligen Grundformen (lang, Zaun) durch die graphische <?page no="281"?> 281 11.2. Morphembezogene Variation und die Durchsetzung des morphematischen Prinzips Ähnlichkeit von <a> und <a ͤ > (bzw. später <ä>) visuell verdeutlicht wird. Die heute geltende Regelung lautet: „§ 13. Für kurzes [ɛ] schreibt man ä statt e, wenn es eine Grundform mit a gibt. Dies betrifft flektierte und abgeleitete Wörter wie: Bänder, Bändel (wegen Band); Hälse (wegen Hals)-[…] § 16. Für den Diphthong [ɔʏ] schreibt man äu statt eu, wenn es eine Grundform mit au gibt. Dies betrifft flektierte und abgeleitete Wörter wie: Häuser (wegen Haus), er läuft (wegen laufen), Mäuse, Mäuschen (wegen Maus); Gebäude (wegen Bau)-[…]“ (Deutsche Rechtschreibung 2011, 23 f.) Diese Regeln finden in der standarddeutschen Orthographie relativ konsequent Berücksichtigung. Zu den wenigen Ausnahmen gehören einige Wörter, bei denen <ä> bzw. <äu> gebraucht wird, ohne dass ein Bezugswort mit <a> oder <au> vorliegt (z. B. sägen, Bär, Lärm; räuspern, Säule, sträuben), oder Wörter, bei denen <e> verwendet wird, obwohl es-- diachron betrachtet-- ein Bezugswort gäbe (z. B. Eltern trotz alt, schwenken trotz schwanken). Wie schon bei der Untersuchung der Doppelkonsonantengraphien (Kap. 11.1) und der Realisierung auslautender Plosivschreibungen ist auch bei den Graphien für Umlautpositionen zunächst danach zu fragen, ob die Verwendung der Graphie <a ͤ > oder <ä> phonisch motiviert sein könnte. Tatsächlich wird eine derartige phonische Relevanz für mittelhochdeutsche Schreibsysteme in manchen Fällen angenommen, vor allem für Texte aus dem bairisch-alemannischen Raum. Hier wird der durch Sekundärumlaut entstandene Kurzvokal, von dem wir, ausgehend von den modernen Dialekten, annehmen können, dass er unter den e-Lauten den größten Öffnungsgrad aufwies, regelmäßig durch die Graphie <a ͤ > wiedergegeben und dadurch vom Primärumlaut differenziert, der als <e> realisiert wird (vgl. Ruge 2004, 70 f.). Ab dem späten 15. Jahrhundert tritt <a ͤ > für Kurzvokal jedoch „zunehmend in Schreiblandschaften auf, wo ihm kein phonisches Pendant entspricht“ (ebd., 72). Zudem geht im oberdeutschen Raum der Gebrauch von <a ͤ > in den Fällen zurück, in denen keine Referenzform mit <a> vorhanden ist. Beides spricht dafür, dass die Graphie <a ͤ > in dieser Zeit neu funktionalisiert wurde, vom Zeichen für eine offene Lautqualität zu dem Marker morphematischer Zusammenhänge, wie wir ihn heute kennen. Analog lässt sich in Hinblick auf die Entwicklung beim Langvokal ā und dem Diphthong au argumentieren. Ruge geht daher davon aus, dass eine Orientierung an morphematischen Kategorien spätestens ab etwa 1600 wirksam wird. Die Ergebnisse seiner Studie bestätigen diese Erwartung (Abb. 56). Während die Graphien <a ͤ > und <a ͤ u> um 1500 noch Minderheitenvarianten sind (unter 8 %), hat ihr Anteil um 1590 schon beinahe den der e-Graphien erreicht (ca. 47 %) und ihn um 1620 übertroffen (ca. 76 % für <a ͤ >, 60 % für <a ͤ u>). Für die Stichprobe von 1710 liegen die Werte dann bei über 95 %. Hier lässt sich eine Ausrichtung an morphematischen Strukturen also eindeutiger erkennen als bei der Realisierung der Dentale im Auslaut. <?page no="282"?> 282 11. Graphematische Variation und graphematischer Wandel im Bereich des Konsonantismus Abb. 56. Durchsetzung der Graphien <aͤ, ä> bzw. <aͤu, äu> in frühneuhochdeutschen Drucken (Angabe des prozentualen Anteils von <aͤ, ä> vs. e-Graphien bzw. <aͤu, äu> vs. <eu, ew>) (aus: Ruge 2004, 79, Diagramm 1) c) Verwendung von Doppelkonsonantengraphien im Auslaut der Verbformen von sollen, wollen, können Ein dritter Bereich, anhand dessen Ruge die Durchsetzung morphembezogener Schreibungen untersucht, sind die frequent vorkommenden Modalverben sollen, wollen und können (Ruge 2004, 181-205). Der Gebrauch der Doppelkonsonantengraphien <ll> und <nn> kann in inlautender Stellung durchgängig als Regelschreibung gelten, die in älteren Zeitstufen zunächst artikulative Eigenschaften der betreffenden Konsonanten zum Ausdruck brachte (im Althochdeutschen Langkonsonanz, im Mittel- und Frühneuhochdeutschen möglicherweise eine Fortisaussprache) und im Neuhochdeutschen zur Kennzeichnung der Kürze des vorangehenden Vokals dient (Kap. 11.1). Im Wort- oder Morphemauslaut war der Gebrauch der Doppelgraphien hingegen lange Zeit unüblich, da die Geminaten in dieser Position schon früh zu einfachen Konsonanten reduziert wurden. Dementsprechend werden z. B. die verschiedenen Formen im Verbparadigma für wellen 'wollen' in der „Mittelhochdeutschen Grammatik“ als ich wil(e), du wil(e)/ wilt, ër / si / ë ʒ wil(e) (Präs. Ind. Sg.), ir welt (2. Ps. Ind. Pl.) bzw. wolte / wolde (Prät. Ind./ Konj.) angegeben, also durchgängig mit Einfachgraphie <l> (Paul 2007, 272 f.). Vor diesem Hintergrund kann ein vermehrter Gebrauch von <ll> und <nn> bei den Flexionsformen soll, will, kann (im absoluten Wortauslaut), sollst / sollt, willst / wollt, kannst / könnt (im gedeckten Wortauslaut) und sollte, wollte, konnte / könnte (im Silbenbzw. Morphemauslaut) als Indiz für eine graphematische Orientierung an den Wort- <?page no="283"?> 283 11.2. Morphembezogene Variation und die Durchsetzung des morphematischen Prinzips formen des Infinitivs und als Bemühen um eine kontextübergreifende Konstantschreibung interpretiert werden. Die Ergebnisse Ruges zeigen, dass sich die Doppelgraphien <ll> und <nn> in Auslautposition deutlich später durchsetzen als z. B. die Graphien <a ͤ > und <a ͤ u> anstelle von <e> und <eu> (Abb. 57). Abb. 57. Durchsetzung der Graphien <ll> und <nn> in finaler Stellung in frühneuhochdeutschen Drucken am Beispiel der Modalverben können, sollen, wollen (Angabe des prozentualen Anteils von <ll, nn> vs. <l, n>) (eigenes Diagramm nach den Angaben aus Ruge 2004, 187, Tab. 6) (Oobd. = Ostoberdeutsch, Wobd. = Westoberdeutsch, Nobd. = Nordoberdeutsch, Omd. = Ostmitteldeutsch, Wmd. = Westmitteldeutsch, Nd. = Niederdeutsch) Noch um 1740 liegt der Anteil der digraphischen Schreibungen in Auslautposition in vier der sechs untersuchten Regionen bei maximal 50 %. In den nordoberdeutschen (30,8 %), westmitteldeutschen (43,8 %) und ostmitteldeutschen Drucken (13,3 %) dominieren noch eindeutig die alten, monographischen Schreibungen wie sol, kanst oder wolte. Erst zwischen 1740 und 1770 setzen sich die Doppelkonsonantengraphien fast vollständig durch. Dabei geschieht die Durchsetzung im absoluten Auslaut (soll, will, kann) meist bereits vor 1740, also einige Jahrzehnte früher und schneller als im gedeckten Auslaut (sollst / sollt, willst / wollt, kannst / könnt), da hier noch offenbar die Tendenz entgegenwirkt, allzu komplexe Konsonantencluster zu vermeiden. Die allmähliche Durchsetzung morphembezogener Schreibungen zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert wirft zwei Fragen auf, die eng miteinander zusammenhängen: ▶ In welchem Zusammenhang stehen diese Veränderungen mit den ebenfalls im 16. Jahrhundert einsetzenden Normierungsversuchen der Grammatiker und Orthographen? ▶ Inwieweit bzw. unter welchen Bedingungen lässt sich aus den morphembezogenen Schreibungen auf die Wirksamkeit eines allgemeinen „morphematischen Prinzips“ schließen? In Hinblick auf den potenziellen Einfluss der Grammatiker kann auf die in dem Bamberger Projekt entstandene Untersuchung von Ewald (2004) verwiesen werden, die sich <?page no="284"?> 284 11. Graphematische Variation und graphematischer Wandel im Bereich des Konsonantismus mit der Frage beschäftigt, inwieweit die Grammatiker des 18. Jahrhunderts ihre Regeln zum Graphiengebrauch morphematisch begründen (für das 16. und 17. Jahrhundert vgl. Moulin 2004). Ausgewertet werden Grammatiken von neun Autoren, von Hieronymus Freyer (1722) bis Johann Christoph Adelung (1788). Ewald konstatiert eine vielfache Bezugnahme der Grammatiker auf bereits vollzogene Entwicklungen im Schreibgebrauch. So werden die Umlautgraphien <a ͤ > und <a ͤ u>, die sich im Usus um 1600 mehrheitlich durchgesetzt haben und bereits um 1700 größtenteils nach morphematischen Kriterien verwendet werden, von den Grammatikern des 18. Jahrhunderts als „Abstammungskennzeichnung“ interpretiert (Ewald 2004, 128). Diese etymologische Funktion wird spätestens bei Gottsched auch schon explizit als Mittel zur Kennzeichnung von Wort- oder Morphemidentitäten im Sinne einer besseren Erfassung geschriebener Texte beschrieben. Weniger eindeutig äußern sich die Grammatiken des 18. Jahrhunderts in der Frage der Verwendung von <b, d, g> im Auslaut, also dem Bereich, in dem auch der Usus lange Zeit noch keine Einheitlichkeit zeigt. Hier verzichten die Autoren häufig auf eine explizite Regelformulierung, so dass eine Präferenz von <b, d, g> gegenüber <p, t, k> nur aus den jeweils angeführten Beispielen zu erschließen ist. Erst bei Adelung (1788) finden sich zu allen drei Konsonanten klare Regeln, die, abweichend von dem Prinzip „Schreib, wie du sprichst“, den Gebrauch der Lenisgraphien <b, d, g> im Auslaut vorschreiben, um eine einheitliche Wortschreibung zu gewährleisten (vgl. Ewald 2004, 109). In Bezug auf den Gebrauch von Doppelkonsonantengraphien im Auslaut repräsentiert Freyer (1722) noch den älteren Standpunkt, nach dem die einfache Graphie verwendet werden solle, wenn ein weiterer Konsonant folgt (du kanst, solst; ich habe gekont, gesolt). Die späteren Grammatiken sprechen sich hingegen dafür aus, die Doppelgraphien <ll> und <nn> auch im gedeckten Auslaut beizubehalten, was zu der Beobachtung passt, dass dieser Schreibgebrauch sich nach 1740 weitgehend durchsetzt. Insgesamt ist festzustellen, dass die Grammatiker in Bezug auf die Durchsetzung morphembezogener Schreibungen im Wesentlichen „ususorientiert“ vorgingen (Ewald 2004). Radikalere Ansätze wie die von Friedrich Carl Fulda (1778), Abraham Gotthelf Mäzke (1776) oder Johann Nast (1777 / 78), die eine grundlegende Reform der Rechtschreibung intendierten, konnten sich nicht durchsetzen. Vielmehr haben die Grammatiker solche Schreibkonventionen, die sich in der Schreibpraxis bereits etabliert hatten, systematisiert und durch Regelformulierungen transparent gemacht. Damit trugen sie auch zur Konturierung eines „morphematischen Prinzips“ bei. Wie die gestaffelte Durchsetzung morphematisch interpretierbarer Schreibformen in den drei untersuchten Phänomenbereichen gezeigt hat, handelte es sich um eine Entwicklung, die sich über mehrere Jahrhunderte erstreckte, in den einzelnen Sprachlandschaften mit unterschiedlichem Tempo ablief und auch nicht immer sofort alle Teilbereiche des jeweiligen Phänomens erfasste. Es handelt sich bei der „Morphologisierung“ der deutschen Rechtschreibung also nicht um eine einheitliche und lineare Entwicklung, die stringent auf die Regelung hinführte, die wir heute aus der Rechtschreibung des Standarddeutschen kennen. Von der Existenz eines übergreifenden morphematischen Prinzips in der deutschen Rechtschreibung kann man daher vor dem späten 18. Jahrhundert wohl kaum sprechen. <?page no="285"?> 285 11.2. Morphembezogene Variation und die Durchsetzung des morphematischen Prinzips Hierbei ist schließlich noch ein weiterer Aspekt zu berücksichtigen, dem bislang in der Forschung zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde: die Durchsetzung einer festen Wortschreibung (bzw. festen Morphemschreibung). Die vorliegenden Studien zur Entwicklung morphembezogener Schreibungen im Deutschen beziehen sich alle auf die bekannten Phänomene, für die in der heutigen Standardorthographie entsprechende Schreibregeln formuliert werden. Das ist einerseits naheliegend und legitim, lässt jedoch einen entscheidenden Aspekt außer acht: Selbst wenn ein Schreiber oder Drucker des 16. oder 17. Jahrhunderts z. B. die Graphien <b, d, g> und die Doppelkonsonantengraphien konsequent im In- und Auslaut gebraucht, bedeutet das noch nicht, dass damit eine Morphemkonstanz hergestellt ist. Denn solange in dem restlichen Teil des Morphem- oder Wortkörpers noch graphematische Variation auftritt, kann von einer kontextübergreifenden Gleichschreibung nicht die Rede sein. Ruge (2004, 33 f.) ist sich dieses Problems bewusst und geht in seinem einführenden Kapitel kurz darauf ein. Als Beispiel nennt er die noch sehr variantenreiche Realisierung des Wortes Kind in einem Kölner Text von 1557 (kind, kindt, kynt, kynd, kyndt). Selbst wenn hier eine Konstantschreibung von <d> im Auslaut gewährleistet wäre, könnte angesichts der graphematischen Varianz beim Stammvokal (<i>/ <y>) noch nicht von einer Morphemkonstantschreibung gesprochen werden, zudem bei den Genitivformen dieses Wortes eine weitere Variationsmöglichkeit in der Flexionsendung hinzukommt (kynts, kyntz). Aus arbeitsökonomischen Gründen wurde die Durchsetzung der festen Wortschreibung in dem Bamberger Projekt „nicht systematisch untersucht“ (ebd., 35). Die Klärung der Frage, ab wann sich die deutschsprachigen Schreiber und Drucker an einem solchen Ideal orientiert haben, ist jedoch für das Verständnis der schreibsprachlichen Entwicklung von entscheidender Bedeutung. Vorliegende Untersuchungen zu den Vokalrealisierungen in Texten der Duisburger Stadtkanzlei belegen, dass sich dort bis zum 17. Jahrhundert keine feste Wortbzw. Morphemschreibung durchsetzen konnte (vgl. Elmentaler 2003, 285-291). Allerdings handelt es sich hier um eine Region, in der sich rheinmaasländische, niederländische und hochdeutsche Einflüsse mischen. Möglicherweise weisen die Texte anderer Regionen hier schon einheitlichere Schreibungen auf. Um einen Eindruck davon zu bekommen, wie weit sich die feste Wortschreibung in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bereits durchgesetzt hat, habe ich im Rahmen einer explorativen Studie die jeweils jüngsten Textstichproben aus dem „Bonner Frühneuhochdeutsch-Korpus“ (Zeitraum 1650-1699) auf wortbezogene Variation hin analysiert. Um den Aufwand zu begrenzen, beschränkt sich die Untersuchung auf die mit den Buchstaben A, M, U und V beginnenden Lexeme. Abb. 58 stellt dar, wieviele Wörter in jeweils zwei oder mehr Schreibweisen auftreten. Da der Umfang der Textauszüge zwischen ca. 6.900 und 16 300 Wörtern variiert, wurden die Belegzahlen jeweils auf eine einheitliche Korpusgröße von 15 000 Wörtern hin umgerechnet, um eine Vergleichbarkeit zwischen den Texten herzustellen. Wenn also in einem Text mit einem Umfang von 11 700 Wörtern 12 Belege für lexembezogene Variation vorkamen, wurde diese Zahl mit dem Faktor 1,282 multipliziert (entspricht 15 Belegen), wenn ein Text mit 16 300 Wörtern 27 Variationsbelege enthielt, wurde diese Zahl mit dem Faktor 0,92 multipliziert (ergibt 25 Belege). <?page no="286"?> 286 11. Graphematische Variation und graphematischer Wandel im Bereich des Konsonantismus Abb. 58. Wortbezogene Variation in zehn Texten aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts am Beispiel der mit den Buchstaben A, M, U und V beginnenden Lexeme (Anzahl der Belege mit graphematischer Variation, umgerechnet auf einen Textumfang von 15 000 Wörtern) Insgesamt zeigen diese Texte aus dem späten 17. Jahrhundert schon ein relativ ausgeglichenes graphematisches Profil mit geringer wortbezogener Variation. Dennoch lassen sich noch deutliche regionale Unterschiede ausmachen. Während die Texte aus dem ostmitteldeutschen Sprachraum (Leipzig, Jena) und dem südlich angrenzenden Ostfränkischen (Nürnberg) nur 3 bis 9 variierende Lexemschreibungen aufweisen, sind es im schwäbisch-alemannischen Raum (Ulm, Augsburg, Zürich) und im ripuarischen Raum (Köln) zwischen 22 und 25 Varianten. Es wäre anhand der jeweils vollständigen Stichproben und anhand weiterer Texte zu prüfen, ob sich dieser Befund bestätigt. An dem variationsreichsten Text dieser Untersuchung, einer 1660 gedruckten Chronik der schwäbischen Stadt Memmingen, lassen sich die Bereiche erkennen, in denen in dieser Zeit noch Restvariation auftritt (Tab. 42). Ulm 1660: Konsonantismus Abend / Abendt, anlangend / anlangendt, auf / auff, Albrecht / Allbrecht, muͤsten / muͤßten, vnder / vnter, vierdten / vierten, Mitwoch / Mittwoch, Apoteck / Apothecker, Antoni / Anthoni, Margreten / Margarethen, Vorteil / Vortheil Epenthetisches <b>/ <p> oder <t>: Ambt / Ampt, vm / vmb, Versamlung / Versamblung; anders / anderst Ulm 1660: Vokalismus Voreltern / Voraͤltern, vornemblich / vornehmbste, vermeinet / vermeynen, vil / viel, virtel / viertel, vff / auff, Armbrost / Armbrustschiessen, angezuͤndet / angez ů ndet, uͤbel / vbel, uber / uͤber/ ů ber / vber, uͤbrige / ů brige / vbrige Tab. 42. Beispiele für lexembezogene graphematische Variation anhand der „Memminger Chronick“ von Christoph Schorer, gedruckt in Ulm 1660 (Bonner Frühneuhochdeutsch-Korpus, Text 127) Die wortspezifische Variation in diesem Text bezieht sich überwiegend auf einzelne Phänomene wie den Gebrauch von Doppelkonsonantenschreibungen (vor allem im Wort- und Silbenanlaut), die Kennzeichnung von Umlauten und die Wiedergabe oder Nichtwiedergabe von epenthetischen, also eingeschobenen oder angehängten Konsonanten (z. B. <b> in Ambt, <t> in anderst). Darüber hinaus ist die Schreibweise mancher Namen oder Lehnwörter noch nicht vollständig vereinheitlicht. Selten sind dagegen Varianten, die den Bereich der Längenkennzeichnung betreffen (vornemblich / vornehmbste, vil / viel, virtel / viertel), und solche, die auf ein Nebeneinander von gehobenen und dialektalen Formen schließen lassen (auff / vff). <?page no="287"?> 287 11.2. Morphembezogene Variation und die Durchsetzung des morphematischen Prinzips Um einen Einblick in die Entwicklung vor 1650 zu erhalten, wurden in einem zweiten Schritt nach demselben Auswertungsverfahren die drei älteren Textproben des Bonner Frühneuhochdeutsch-Korpus für den Ortspunkt Nürnberg ausgewertet und mit der Stichprobe von 1668 verglichen (Abb. 59). Abb. 59. Wortbezogene Variation in vier Nürnberger Texten des späten 14. bis 17. Jahrhunderts am Beispiel der mit den Buchstaben A, M, U und V beginnenden Lexeme (Anzahl der Belege mit graphematischer Variation, umgerechnet auf einen Textumfang von 15 000 Wörtern) Der diachrone Vergleich zeigt für die Nürnberger Texte einen massiven Rückgang der wortbezogenen Variation in dem Zeitraum zwischen der Handschrift von 1463 und dem Druck von 1578. Die Zahl der wortbezogenen Varianten, die in den ältesten ausgewerteten Texten bei 56 bzw. 57 Wörtern liegt, geht fast auf ein Zehntel zurück. Die Textprobe von 1463 weist somit noch ein wesentlich breiteres Variationsspektrum auf als die von 1578 (Tab. 43). Nürnberg 1463: Konsonantismus mancher / manger, auffgeseczt / aufgesetzt, vnder / vnter, vnderschaiden / vnterschaidet, vngeduld / vngedult, verstund / verstundt, auf / auff, verczweifeln / verczweiffeln, verczweiflung / verczweifflung, vernunft / vernunfft, manigk / manigualtigen / manichualtiger, ainfaltigkait / ainfaltickait, anfang / anfanck, vestigklich / vestickleichn, artikel / artikkel, al / all, alczuhant / allczuhant, volkumenden / volkummenlichen, myne / mynne 'Minne', vorgenanten / vorgenannt, vernunft / vernuft, vernunftig / vernuftig, anders / anderß, aus / auß, mus / muß, vns / vnß, also / alzo, vnderlass / vnderlaß, mittailt / mittaildt, muter / mutter, vater / vatherlichen, vnuernunftig / vnvernuftig Nürnberg 1463: Vokalismus aigne / aygen, ain / ayn / ein / eyn, verain / veraynen, allain / allein, arbaiten / arbeiten, maint / maynen / meinent, maister / meister, volkomenhait / volkomenheit, abgeschaiden / abgescheydenlich, aus / aws-, abgen / abgeen, mein / meyn, vnterweist / vnterweysung, verczweiflung / verczweyfelung, vestigklich / vestickleichn, verdinen / verdienen, villeicht / vielleicht, volkomenhait / volkumenden, anruffen / anrueffen, ubernaturlichen / vbernaturliche, und / vnd Epenthetisches <e>: ab / abe, anfanck / annefanck, vmb / vmbe, vnd / vnde Nürnberg 1578: Konsonantismus vnd / vnnd, verboten / verbotten Nürnberg 1578: Vokalismus vnterscheid / vnterschied, uͤben / vben Tab. 43. Beispiele für lexembezogene graphematische Variation anhand einer Handschrift zur Mystik aus dem Kloster Pillenreuth (Nürnberg 1463) und eines Druckes von Veit Dietrichs „Summaria vber die gantze Bibel“ (Nürnberg 1578) (Bonner Frühneuhochdeutsch-Korpus, Texte 133 und 135) <?page no="288"?> 288 11. Graphematische Variation und graphematischer Wandel im Bereich des Konsonantismus Die Ergebnisse der kleinen Pilotstudie legen nahe, für Nürnberg insbesondere den Zeitraum vom späten 15. Jahrhundert bis Mitte des 16. Jahrhunderts anhand weiterer Texte zu untersuchen, um die Durchsetzung der festen Wortschreibung genauer zu beschreiben. Für die übrigen Regionen des deutschsprachigen Raums wären wahrscheinlich andere Zeitfenster relevant. Die Untersuchung der Texte aus dem Frühneuhochdeutsch-Korpus kann hier nur erste Anhaltspunkte geben. Dabei wäre bei Ausweitung der Analyse auf den gesamten Wortbestand auch die Möglichkeit gegeben, einige offene Fragen bezüglich des Umfangs und der Art der Variation zu klären, z. B.: ▶ Wieviele der Lexeme (bzw. Morpheme) kommen in wievielen Schreibungen vor? ▶ Welche Wortklassen sind stärker bzw. diachronisch länger von Variation betroffen als andere (Formwörter vs. Inhaltswörter, Substantive vs. Adjektive)? ▶ Welche Rolle spielt die Auftretenshäufigkeit? Sind hochfrequente Wörter weniger stark von graphematischer Variation betroffen als niedrigfrequente Wörter? ▶ Welche Bereiche sind stärker bzw. diachronisch länger von Variation betroffen (Lang-, Kurz-, Nebenvokalismus, Konsonantismus)? Die Beantwortung dieser Fragen könnte dazu beitragen, den vielleicht wichtigsten Umbruch in der Geschichte der deutschen Schreibsprachen präziser zu rekonstruieren: den Übergang vom vormodernen Typus des auf Variation basierenden und noch stark auf die regionalen Lautverhältnisse Bezug nehmenden Schreibsystems hin zum modernen Typus der weitgehend variantenfreien und auf dem Grundsatz der festen Wortschreibung und Morphemkonstanz basierenden Orthographie. <?page no="289"?> 289 12. Graphematische Variation und graphematischer Wandel im Bereich des Vokalismus Auch für den Vokalismus sollen anhand von zwei ausgewählten Phänomenbereichen die Möglichkeiten und Probleme der graphematischen Analyse diskutiert werden. Zunächst geht es um die Frage, ab wann in den Schreibsprachen des deutschsprachigen Raumes die Umlaute von kurzem und langem o und u graphematisch gekennzeichnet werden und mit welchen Mitteln. Hierbei wird sich zeigen, dass Graphien mit einem diakritischen Zeichen wie Akut, Doppelakut oder Trema (<ó>, <ő>, <ö>) in älteren Texten nicht ohne funktionale Analyse als Umlautsymbole gedeutet werden dürfen, und dass andererseits eine Umlautbezeichnung auch ohne Rückgriff auf diakritische Markierungen erfolgen konnte (Kap. 12.1). Im zweiten Themenblock geht es um die graphematische Kennzeichnung von Vokalveränderungen, die vor bestimmten Konsonantenverbindungen eintreten. An Schreibungen aus diesem Bereich lässt sich aufzeigen, dass spätmittelalterliche oder frühneuzeitliche Schreiber durchaus auch Lautbesonderheiten ohne phonematische Relevanz (also ohne bedeutungsunterscheidende Funktion) wiedergegeben haben (Kap. 12.2). 12.1. Umlautkennzeichnung Unter dem Umlaut versteht man einen Lautwandel, der im Sinne einer Ausspracheerleichterung interpretiert werden kann. Dieser Prozess lässt sich an einigen Verben verdeutlichen, die in der germanischen Sprachstufe die Endsilbe -ja(n)/ -ia(n) trugen, wie germ. *sateja-, got. satjan ('setzen'), germ. *lageja-, got. lagjan ('legen'), oder germ. *wandeja-, got. wandjan ('wenden'). Bei diesen Verben gab eine große phonetische Distanz zwischen dem velaren (hinteren) und tiefen Vokal a der Stammsilbe und dem palatalen (vorderen) und hohen j bzw. i der Nebensilbe. Die Überwindung dieser Distanz erforderte einen hohen artikulatorischen Aufwand. Dies führte im Laufe der Zeit dazu, dass die Sprecher den Aufwand (intuitiv) zu verringern versuchten. Erreicht wurde das dadurch, dass der tiefe Velarvokal [a] der Stammsilbe allmählich dem hohen Palatalvokal der Nebensilbe angeglichen wurde- - aus dem [a] entwickelte sich also der etwas weiter vorne und etwas höher artikulierte Laut [ɛ] (geschrieben <e>). Dies lässt sich an der Entwicklung im Niederdeutschen demonstrieren (eine analoge Entwicklung haben auch die hochdeutschen Sprachvarietäten durchlaufen). Die genannten Beispielwörter treten bereits in der ältesten niederdeutschen Sprachstufe, dem Altsächsischen, in den neuen Formen settian, leggian, wendian auf. Es hat somit eine Assimilation, also eine phonetische Angleichung des Vokals der betonten Silbe an das ursprünglich in der Folgesilbe vorhandene i / j stattgefunden; daher wird gelegentlich auch die Bezeichnung i-Umlaut verwendet. In einem weiteren Schritt wurde dann mit dem Abbau der vollen Nebensilbenvokale die Endsilbe -jan zu der Silbe -en mit reduziertem Vokal (Schwa-Laut) vereinfacht. Deshalb ist schon im Mittelniederdeutschen der umlautauslösende Faktor nicht mehr zu erkennen (mnd. setten, leggen, wenden). <?page no="290"?> 290 12. Graphematische Variation und graphematischer Wandel im Bereich des Vokalismus Die durch ein ursprüngliches i / j in der Folgesilbe ausgelösten Assimilationsprozesse fanden nicht nur beim kurzen a statt (Primärumlaut), sondern etwas später auch beim langen ā sowie bei den anderen Vokalen, bei denen wir heute auch im Standarddeutschen Umlaute haben, also o und ō, u und ū sowie au (Sekundärumlaute). Beispiele sind etwa nhd. führen (germ. *fōr-eja-, as. fōrian), schütten (as. skuddian), läuten (wgerm. *hlūd-ija-) oder hören (wgerm. *hauz-ija-, as. hōrian). Als Umlautauslöser wirkten neben dem jan-Suffix der schwachen Verben auch andere i-haltige Nebensilben, wie etwa ▶ die nominale Pluralendung -i: nhd. Gast-Gäste (as. gast-gesti > mnd. gast-geste), ▶ das nominale Ableitungssuffix -i: nhd. Heer (germ. *harja > as. heri > mnd. her), ▶ das nominale Ableitungssuffix -isk: nhd. Mensch (germ. manniska 'menschlich' > as. mennisko 'Mensch' > mnd. mensche), ▶ die adjektivische Endung -ig: nhd. Kraft-kräftig (as. kraft / kracht > mnd. kraft-kreftich), ▶ die Komparationsendung -ir: nhd. lang-länger (as. lang-leng > mnd. lang-lenger), ▶ die Verb-Endung der 3. Ps. Sg. -it/ -id: nhd. fahren-fährt (as. faran-ferid > mnd. varenvert) (vgl. Lasch 1914, 46-50). Später kamen noch andere Nebensilben hinzu, bei denen Umlaute gebildet wurden, wie z. B. -lich (Lob-löblich), -ing (Hof-Höfling), -er (Mord-Mörder), -nis (fangen-Gefängnis), wobei allerdings oft auch Formen ohne Umlaut auftreten (vgl. nhd. fachlich, Maler, Wagnis). Da die skizzierten Lautveränderungen in der Schrift nicht systematisch zum Ausdruck gebracht werden, ist eine eindeutige Datierung nicht immer möglich. Am ehesten sind noch die Umlautungsprozesse bei den a-Lauten zu rekonstruieren, die sich am Gebrauch von e- Graphien ablesen lassen (vgl. Braune 2004, §§ 26-27 und § 51; Gallée 1993, §§ 46-49). Der Primärumlaut beim Kurzvokal a wird bereits in den altsächsischen bzw. althochdeutschen Texten ab Mitte des 8. Jahrhunderts markiert (z. B. ahd. lamb-lembir 'Lamm-Lämmer', faru-feris-ferit 'fahre-fährst-fährt', lang-lengiro 'lang-länger'), wobei e- und a-Graphien allerdings noch längere Zeit nebeneinander verwendet werden. In der normalisierten Schreibung des Mittelhochdeutschen wird dieser Primärumlaut durch die Graphie <e> wiedergegeben. Vor bestimmten Folgekonsonanten (z. B. vor ht: mahtīg 'mächtig', vor hs: wahsit 'wächst') bleibt allerdings der ursprüngliche a-Laut zunächst noch erhalten; hier treten erst im Spätalthochdeutschen oder Mittelhochdeutschen bzw. Mittelniederdeutschen e-Graphien auf, die den Sekundärumlaut bezeichnen. Da es Hinweise darauf gibt, dass dieser Sekundärumlaut eine offenere Qualität hatte als der Primärumlaut (die Handschriften weisen daher manchmal auch die Schreibungen <ae>, <æ> oder <a ͤ > auf), wird er in der normalisierten mittelhochdeutschen Schreibung durch die Graphie <ä> repräsentiert (mhd. mähtec 'mächtig', wähset 'wächst'). Hierbei erweisen sich die oberdeutschen Schreibsprachen als besonders konservativ, da sie noch länger an den alten a-Schreibungen festhalten. Der ebenfalls als Sekundärumlaut bezeichnete Wandel beim Langvokal ā tritt erst ab dem 10. Jahrhundert in Erscheinung, zunächst in mittel- und niederfränkischen Texten (Braune 2004, § 34). Er wird in der normalisierten Schreibweise als <æ> wiedergegeben (mhd. swære 'schwer', genæme 'angenehm'). Die Autoren der „Mittelhochdeutschen Grammatik“ weisen hierbei ausdrücklich darauf hin, dass sich die Unterscheidung eines primären und eines sekundären Umlauts <?page no="291"?> 291 12.1. Umlautkennzeichnung aus der Beobachtung der zeitlichen Diskrepanz im Auftreten der e-Graphien herleitet; „ob auch der eigentliche Lautwandel analog zeitverschoben stattgefunden hat, ist nicht geklärt“ (Paul 2007, § L 16). Generell ist dabei auch mit beträchtlichen regionalen Unterschieden zu rechnen. Auch die Umlautung der u- und o-Laute, um die es hier gehen soll, wird unter dem Begriff des Sekundärumlauts gefasst. Die Datierung ist hier besonders schwierig, da kein lateinischer Buchstabe den Lautwert [ʏ]/ [yː] oder [œ]/ [øː] angemessen repräsentiert, so dass umgelautete und nicht-umgelautete Vokale lange Zeit gleichermaßen durch ubzw. o-Graphien wiedergegeben werden. Sicher ist jedenfalls, dass sich auch die Umlautung von o / ō und u / ū schon vor dem 10./ 11. Jahrhundert vollzogen haben muss, da in dieser Zeit die i- und j-Laute in den Nebensilben zu einem Schwa-Laut abgeschwächt wurden, so dass die phonetischen Bedingungen wegfielen, unter denen es überhaupt zu einer Lautassimilation kommen konnte. Historisch sind sieben Vokale von der Umlautung betroffen (Tab. 44). Kurzvokale Langvokale Diphthonge 1) wgerm./ mhd. u > ü: küssen, lüge, würfel 3) wgerm./ mhd. ū > ǖ: hiute 'Häute', siure 'Säure', ziunen 'umzäunen' 6) wgerm. ō > mhd. uo > üe: blüejen 'blühen', grüene, vüeren 2) wgerm./ mhd. o > ö: dörfer, hölzelīn 'Wäldchen', hövesch 'höfisch' 4) wgerm. iu > mhd. ǖ: liuhten 'leuchten', liute 'Leute', tiure 'teuer' 7) wgerm. au > mhd. ou > öü: öugelīn, tröumen, löugnen 5) wgerm. au > mhd. ō > ȫ: hœher, rœte, tœten Tab. 44. Umlautpositionen bei den mittelhochdeutschen u- und o-Lauten und ihre etymologischen Wurzeln Die in der Tabelle angegebenen normalisierten Schreibungen finden sich in den mittelhochdeutschen Handschriften in der Regel nicht. Dort wird der Umlaut bei diesen Vokalen (von Ausnahmen abgesehen) „erst seit dem 12. Jh.“ markiert, aber noch „bis ins 16. Jh. inkonsequent und uneinheitlich“ (Paul 2007, § L 16). Im Folgenden werden die unter 3), 4) und 7) angeführten Lautpositionen nicht weiter berücksichtigt, da sich hier bereits in frühneuhochdeutscher Zeit Schreibungen mit e- oder a-Graphien durchsetzen (z. B. seure / sa ͤ ure 'Säure', leute 'Leute', tra ͤ umen 'träumen'). Aus diesem Grund wird auch der Umlaut des aus wgerm. ū entstandenen neuen Diphthongs au aus der Betrachtung ausgeschlossen (frnhd. heuser / ha ͤ user, meuse / ma ͤ use, vgl. dazu aber Kap. 11.2). Im Mittelpunkt stehen also die Umlautmarkierungen bei mhd. ü, ö, ȫ (<œ>) und üe. Aufgrund der später eingetretenen Dehnung in offener Tonsilbe entsprechen den mittelhochdeutschen Kurzvokalen schon ab dem Frühneuhochdeutschen teilweise gedehnte Vokale (nhd. Lüge, höfisch), und mhd. üe wird zu dem Langvokal ǖ monophthongiert (nhd. blühen, führen). Aus der Perspektive eines modernen Lesers, der die Regeln der standarddeutschen Rechtschreibung verinnerlicht hat, erscheint es schwer vorstellbar, dass man die gesprochenen Umlaute ö, ü oder äu genauso schreiben könnte wie ihre nicht-umgelauteten Pendants o, u und au. Denn diese Lautdistinktionen markieren häufig grammatisch wichtige Unterschie- <?page no="292"?> 292 12. Graphematische Variation und graphematischer Wandel im Bereich des Vokalismus de, wie z. B. Plurale (Boden / Böden), Konjunktive (wurde / würde) und Steigerungsformen (groß / größer / am größten), oder auch unterschiedliche Wortbedeutungen (tauschen / täuschen, schon / schön). Dementsprechend war es auch für Sprachhistoriker zunächst irritierend, dass die historischen Handschriften häufig keine entsprechende graphematische Distinktion erkennen lassen. So veranlasste das häufige Fehlen von Umlautmarkierungen in niederdeutschen Texten des 14. und 15. Jahrhunderts (mnd. korue 'Körbe', ouer 'über', bome 'Bäume', lude 'Leute') den Philologen August Lübben zu der Vermutung, es habe im Mittelniederdeutschen gar keinen Umlaut von o und u gegeben (vgl. Lübben 1882, 29-32). Johannes Franck wies diese Annahme allerdings schon im selben Jahr in seiner Rezension von Lübbens Grammatik zurück (Franck 1882, 319 f.). Agathe Lasch, die auf diese Diskussion in ihrer „Mittelniederdeutschen Grammatik“ eingeht (Lasch 1914, 39 f.), hebt hervor, dass „das vorhandensein des u-, o-umlauts aus dem mnd. selbst unzweifelhaft zu erweisen“ sei (ebd., 40), denn entgegen dem pauschalen Eindruck ließen sich in vielen Regionen auch Umlautgraphien nachweisen (ebd., 41). In der Tat wurden in niederdeutschen wie hochdeutschen Texten im Laufe der Zeit verschiedene Möglichkeiten genutzt, um Umlaute zu kennzeichnen, bevor sich dann in der Neuzeit die heute gebräuchlichen Graphien mit Trema (<ü>, <ö>) durchsetzten. Da es bislang keine übergreifende Darstellung zur Entwicklung der Umlautkennzeichnung in den Schreibsprachen des deutschsprachigen Raumes gibt, werden in den folgenden Tabellen einige Beispiele für die Umlautrealisierung in verschiedenen Sprachstufen gegeben. Exemplarisch werden hierbei die Realisierungen für den Kurzvokal wgerm./ mhd. u sowie die Langvokale bzw. Diphthonge wgerm. ô (mhd. uo) und wgerm. au vor r, h, Dental (mhd. ō) berücksichtigt. Die Belegbeispiele sind den Sprachstufengrammatiken und verschiedenen Monographien entnommen. In der sprachhistorischen Literatur werden vor allem drei Arten der Umlautkennzeichnung herausgestellt. Zum einen können Umlaute gekennzeichnet werden, indem die lateinischen Buchstaben mit diakritischen Zeichen versehen werden. Zu den über die Buchstaben o und u gesetzten Zeichen gehört vor allem das e (teils auch i), das schon vereinzelt in altsächsischen Texten belegt ist, sich dann aber vor allem ab dem 13. Jahrhundert ausbreitet und teilweise bis zum 17./ 18. Jahrhundert im Gebrauch bleibt (Tab. 45). (A) Umlaut von wgerm. u (mhd. ü) as. Muͥlenhêm 'Mülheim', Muͤlenhûson 'Mühlhausen' · mhd. uͤber 'über' · mnd. stuͤcke/ stuͥcke 'Stücke', scoͤlen 'sollen' · frnhd. buͤrgschaft 'Bürgschaft' (B) Umlaut von wgerm. ō (mhd. uo) as. Kuͥsfelde 'Coesfeld' · mhd. bruͤder 'Brüder', volfoͤren 'vollführen' · mnd. soͤken 'suchen' · frnhd. ruͤmen 'rühmen' (C) Umlaut von wgerm. au (mhd. ō) mhd. hoͤren 'hören' · mnd. groͤter 'größer' · frnhd. noͤten 'nötigen' Tab. 45. Belege für Umlautkennzeichnung durch übergestelltes e oder i Alternativ wird vor allem in frühneuhochdeutschen Texten auch ein übergesetzter kleiner Strich (<ù>, <ò>), manchmal auch ein Häkchen (<ǔ>, <v ̌ >, <ǒ>) und später vermehrt das Trema (<ü>, <ö>) zur Umlautmarkierung eingesetzt (Tab. 46). <?page no="293"?> 293 12.1. Umlautkennzeichnung (A) Umlaut von wgerm. u (mhd. ü) frnhd. chùnde 'könnte', sǔnden 'Sünden', bürgschafft 'Bürgschaft' (B) Umlaut von wgerm. ō (mhd. uo) frnhd. gemǔetes 'Gemüts', pǔezzen 'büßen' (C) Umlaut von wgerm. au (mhd. ō) frnhd. hòrt 'hört', nötten 'nötigen' Tab. 46. Belege für Umlautkennzeichnung durch übergestellte Striche, Haken oder Punkte Eine Besonderheit ist für die frühe mittelniederdeutsche Überlieferung aus dem nordniederdeutschen Raum festzustellen. Hier orientierte man sich am „schwedisch-dänischen Sprachgebrauch“ (Sarauw 1921, 277 f.), indem man die Graphie <ø> für ö verwendete, z. B. im Stadtrecht von Wisby aus dem 14. Jahrhundert (Tab. 47). (A) Umlaut von wgerm. u (mhd. ü) mnd. møghen 'mögen', wørde 'würde' (B) Umlaut von wgerm. ō (mhd. uo) mnd. sønen 'Söhnen', vordøt 'vertut' (C) Umlaut von wgerm. au (mhd. ō) mnd. høren 'hören', køpen 'kaufen' Tab. 47. Belege für Umlautkennzeichnung durch <ø> Neben dem Gebrauch diakritischer Zeichen stellte der Gebrauch von Digraphien wie <oe>, <oi>, <ue>, <ui>, aber auch <io> und <ya> eine zweite Möglichkeit dar, Umlaute zu bezeichnen (Tab. 48). In der Forschungsliteratur wird hierauf insgesamt weniger stark eingegangen, was wohl damit zusammenhängt, dass diese Graphien regelmäßig auch für die nicht-umgelauteten Langvokale bzw. Diphthonge (mhd. uo und mhd. ō) verwendet werden. (A) Umlaut von wgerm. u (mhd. ü) mhd. fluittigir 'flüssiger', muillen 'plagen, zerstoßen' (B) Umlaut von wgerm. ō (mhd. uo) mhd. voigit 'fügt', fueren 'führen', grûene 'grüne', chuile 'kühl', biocherin 'Büchern', vîoge wir 'fügen wir', gimyatu 'Gemüt' · mnd. moeye 'Mühe' · frnhd. gebroeder 'Gebrüder', gruesse 'Grüße' (C) Umlaut von wgerm. au (mhd. ō) as. atuemias 'du befreist' · mhd. hoeret 'hört', troistet 'tröstet' · mnd. doethligen 'tödlichen' Tab. 48. Belege für Umlautkennzeichnung durch Digraphien Eine dritte Möglichkeit zur Markierung von Umlauten, die besonders in den älteren Sprachstufen genutzt wurde, besteht darin, eine Graphie zu verwenden, die ansonsten einen lautähnlichen Vokal im palatalen Bereich bezeichnet. So wird die Graphie <y>, die oft für den Vokal [iː] steht, manchmal auch für den phonetisch nahestehenden Umlautvokal [yː]/ [ʏ] verwendet, und <e> bezeichnet üblicherweise den vorderen Vokal [eː] , gelegentlich aber auch den Umlaut [øː] oder [œ] (Tab. 49). Hierbei ist allerdings zu bedenken, dass die Umlaute in manchen Dialekten entrundet wurden, wie z. B. in Teilen des Bairischen (betriebt 'betrübt', Schlissel 'Schlüssel', kestlich 'köstlich'; nach Tauber 1993). Man wird also nur für die von Entrundung nicht betroffenen Regionen davon ausgehen können, dass auftretende i-, y- oder e-Graphien tatsächlich Umlautvokale bezeichnen. <?page no="294"?> 294 12. Graphematische Variation und graphematischer Wandel im Bereich des Vokalismus (A) Umlaut von wgerm. u (mhd. ü) ahd. ibilo 'übel', scyzelun 'Schüsseln' · as. uuirthi 'würde' · mnd. stycke 'Stücke' (B) Umlaut von wgerm. ō (mhd. uo) as. betian (statt botian) 'büßen' · mnd. gebreder 'Gebrüder', sy ͦne 'Sühne' (C) Umlaut von wgerm. au (mhd. ō) as. heͦred 'hört' · mnd. lesegeldt 'Lösegeld' Tab. 49. Belege für Umlautkennzeichnung durch <i>, <y> oder <e> Die Zusammenstellung zeigt, dass sich in Texten aus allen Sprachperioden Graphien finden lassen, die als Umlautmarkierung interpretierbar sind. Daraus lässt sich jedoch keinesfalls die Schlussfolgerung ziehen, dass es in den Schreibsprachen des deutschsprachigen Raums eine konsequente Umlautkennzeichnung gegeben habe. Denn zum einen gab es große regionale Unterschiede in der Verwendung von Umlautbezeichnungen (vgl. Reichmann / Wegera 1993, § L 8). In oberdeutschen Handschriften treten sie schon im 14. Jahrhundert auf, im mitteldeutschen Raum breiten sie sich dagegen erst Ende des 15. Jahrhunderts (Hessisch) bzw. in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (Mittelfränkisch, Ostmitteldeutsch) aus. Virgil Moser (1929, 26 f.) verweist sogar auf einige (Kölner) Drucke aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, die noch keine vollständige Umlautkennzeichnung aufweisen. Zum anderen handelt es sich bei den angeführten Graphien vielfach um Einzelbelege, aus denen sich gerade keine Systematik der Umlautmarkierung erkennen lässt. Nach Sarauw (1921, 281) sind Umlautgraphien im Mittelniederdeutschen „nur hie und da gesetzt“ und oft „mehrdeutig“. Und Steffens (1988, 223 f.) konstatiert für die frühneuhochdeutschen Texte des 14. bis 16. Jahrhunderts aus Mainz, dass kein einziger Schreiber die Umlautpositionen konsequent von den Nicht-Umlautpositionen unterscheide. Dass die Kennzeichnung der Umlaute entgegen unserern heutigen Erwartungen lange Zeit so zögerlich durchgeführt wurde, könnte verschiedene Ursachen haben. Zum einen sind Umlautmarkierungen nicht zwingend notwendig, um ein reibungsloses Funktionieren der schriftlichen Kommunikation zu garantieren. Ein Text kann auch ohne eine durchgängige Umlautkennzeichnung verständlich sein, da der grammatische Kontext (z. B. Plural, Komparativ, Konjunktiv) oder die morphologische Wortstruktur (z. B. Stellung vor Diminutivendung, vor -lich, vor -ig) meist bereits deutlich macht, an welchen Stellen ein Umlaut zu erwarten ist. Auch in der standarddeutschen Orthographie werden viele Lautunterschiede nicht graphematisch zum Ausdruck gebracht. So können wir jeweils nur aus dem Wortkontext erschließen, dass die Graphie <a> in den Wörtern hat-Tat, <C> in Café-City-Cello-Cäsar, <Ch> in Chirurg-Chor-Charme-Chips, <o> in Rost-Trost, <oo> in Zoo-Zoom und <u> in schlurfen-surfen jeweils unterschiedlich ausgesprochen wird. In ähnlicher Weise war ein Leser im 14. Jahrhundert wahrscheinlich in der Lage, schon anhand des Kontexts die jeweils angemessene Aussprache einer u- oder o-Graphie zu erschließen. Zweitens stand einer konsequenten Umlautmarkierung der Umstand entgegen, dass einige der dafür in Frage kommenden Symbole in den Schreibsystemen bereits mit einer anderen Bedeutung belegt waren. So wurden Digraphien zur Längenkennzeichnung oder zur Kennzeichnung anderer Vokalqualitäten verwendet, wie z. B. <ue> für den bairischen Diphthong (guet 'gut') oder <o ͤ > für einen nicht-umgelauteten Langvokal (bo ͤ te 'der Bote'). Die Graphien <y> und <i> wiederum standen normalerweise für i oder ī. <?page no="295"?> 295 12.1. Umlautkennzeichnung Drittens schließlich dürfte die Unterscheidung der Umlaute von anderen Vokaltypen den zeitgenössischen Schreibern einige Schwierigkeiten bereitet haben. Zumindest ist aus den Beschreibungen der Grammatiker des 16. Jahrhunderts zu schließen, dass ihnen die Abgrenzung von Umlauten und Diphthongen oder Langvokalen weniger deutlich war als uns-- wobei anzunehmen ist, dass wir uns der Existenz von Umlauten nur deswegen so bewusst sind, weil wir eben die auffälligen Schriftzeichen <ä>, <ö> und <ü> stets vor Augen haben. Fabian Frangk (1531) rückt die Umlaute „in die Nähe der Diphthonge“ (Götz 1992, 138), indem er sie als „halb duplirte stimmer“, also als halb verdoppelte Vokale bezeichnet, und ähnliche Beschreibungen finden sich auch bei anderen Grammatikern. Elaine C. Tennant (1981, 89) erklärt die Verwechslung von Umlauten und Diphthongen durch die starke Orientierung der Grammatiker an der lateinischen Tradition, die lediglich den Terminus diphthongus zur Verfügung stellte. Die Grammatiker des 16. Jahrhunderts hätten diesen Begriff dann sowohl für die deutschen Diphthonge als auch für die umgelauteten Vokale gebraucht. Aus den genannten Gründen überrascht es nicht, dass sich eine konsequente Umlautkennzeichnung in den regionalen Schreibsprachen erst spät herausgebildet hat. Gleichzeitig ist aber auch zu berücksichtigen, dass dieses Phänomen bislang nur selten nach den methodischen Standards einer strukturalistisch geschulten Graphematik untersucht worden ist. Es gibt hier also noch ein deutliches Forschungsdefizit. Der Rendsburger Niederdeutschforscher Hans Behrens forderte bereits 1924, dass man sich in speziellen Studien mit dem Graphiengebrauch in Umlautposition beschäftigen müsse. Um die potenziellen Umlautformen „richtig lesen zu können“, brauche man, modern ausgedrückt, schreiberspezifische Distributionsanalysen. Hierbei müssen die Graphien für den in Umlautposition stehenden Vokal mit denen für den nicht-umgelauteten Vokal sorgfältig abgeglichen werden. Denn nur wenn sich im Vergleich der beiden Lautkontexte ein markanter Unterschied zeigt und andere Variationsmotive ausgeschlossen werden können, lässt sich davon ausgehen, dass die in Umlautposition auftretenden Graphien tatsächlich die Funktion haben, den Umlaut zu markieren. Ein frühes Beispiel für einen Schreiber, der umgelautete und nicht-umgelautete Vokale deutlich differenziert, bietet Peter Wiesinger (1996, 24-27). Der steirische Zisterziensermönch Andreas Kurzmann kennzeichnet in einer oberdeutschen Handschrift um 1400 den Umlaut bei mhd. o, u und uo durch ein „übergesetztes, schräg gestelltes, nach rechts oben geöffnetes Häkchen“ (ebd., 25): wgerm. o: gǒtleicher 'göttlicher', mǒrder 'Mörder'; wgerm. u: sǔnden 'Sünden', v ̌ppichait 'Üppigkeit'; wgerm. ō: gemǔetes 'Gemüts', pǔezzen 'büßen'. Dagegen verwendet er für die nicht-umgelauteten Vokale die einfachen lateinischen Buchstaben. Wie bereits in Kap. 6.2.2 ausgeführt wurde, markiert auch der in der Kanzlei Maximilians I. tätige Schreiber Ciprian von Serntein an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert den Umlaut recht systematisch durch Setzung diakritischer Zeichen (vgl. Moser 1977, 209 f.). In den Reinschriften seiner Briefe kennzeichnet er die Umlaute durch einen Akut über dem Buchstaben u, im Kontrast zum einfachem <u> in nicht-umgelauteter Stellung (z. B. grúntlichen, fúrsorg, erzúrnen vs. thun, gut, gnugsamen). Derselbe Schreiber verzichtet jedoch in den Briefkonzepten auf diese Unterscheidung, wo er den Akut stattdessen zur graphischen Differenzierung von <u> und <n> verwendet. <?page no="296"?> 296 12. Graphematische Variation und graphematischer Wandel im Bereich des Vokalismus Wiesinger (1996) und Moser (1977) geben für ihre Beobachtungen zur Umlautmarkierung bei den untersuchten Schreibern keine Belegzahlen an. Hierdurch lässt sich die Stärke der Umlautdifferenzierung nicht genauer bestimmen, was den Vergleich zwischen verschiedenen Schreibern oder Kanzleien erschwert. Wünschenswert wäre hier eine Quantifizierung der Beleghäufigkeiten. Auf dieser Grundlage ließe sich der Differenzierungsgrad mithilfe des in Kap. 10.3 vorgestellten Verfahrens der graphematischen Distanzanalyse bestimmen. Bei guter Beleglage können auch statistische Signifikanztests durchgeführt werden. In einigen Fällen lassen sich durch solche graphematischen Systemanalysen Tendenzen einer schreibsprachlichen Differenzierung aufdecken, die bei oberflächlicher Betrachtung verborgen bleiben. Denn auch wenn keine eigenständigen Graphien zur Umlautkennzeichnung verwendet werden, werden möglicherweise durch die unterschiedliche Verteilung der vorhandenen Graphien umgelautete Vokale von ihren nicht-umgelauteten Entsprechungen unterschieden. Als Beispiel hierfür kann noch einmal das Schreibsystem des Duisburger Stadtsekretärs Godert herangezogen werden, auf das bereits in Kap. 10.2 und 10.3 Bezug genommen wurde. Godert realisiert z. B. den Kurzvokal o in geschlossener Silbe tendenziell anders als den daraus abgeleiteten Umlaut. So unterscheidet er etwa ort 'Ort' von oertken 'Örtchen', porte 'Pforte' von poertener 'Pförtner' oder stock 'Stock' von stoeck 'Stöcke'. Die graphematische Distanz zwischen den Lautpositionen {o*} und {ö*} hat im Schreibsystem von Godert einen sehr hohen Wert von 80 (Tab. 50). Godert 1535-45 {o*} {ö*} Differenz <o> 91 17 74 <oe> 3 76 73 <oi> 2 - 2 <ue> - 7 7 <a> 2 - 2 <ai> 1 - 1 <e> 1 - 1 ∑: 160 GD : 80 Tab. 50. Umlautkennzeichnung im Schreibsystem des Duisburger Stadtsekretärs Godert (1535-45): Graphematische Distanzen ( GD ) für wgerm. o und ö in geschlossener Silbe Dass dies kein Zufall und kein singuläres Muster ist, belegt eine Analyse des Gebrauchs der Digraphie <oe> über alle relevanten Vokalpositionen mit und ohne Umlautfaktor. Wie das Diagramm in Abb. 60 zeigt, ist die Neigung zum Gebrauch von <oe> bei den Umlautpositionen deutlich höher als bei Abwesenheit des Umlauts. <?page no="297"?> 297 12.1. Umlautkennzeichnung Abb. 60. Prozentualer Anteil der Graphie <oe> bei zwölf Vokalpositionen mit Umlautfaktor (dunkles Raster) und zwölf Vokalpositionen ohne Umlautfaktor (helles Raster) im Schreibsystem von Godert (1535-45) (nach Elmentaler 2003, 268). Unberücksichtigt ist hier die Verwendung von <oe> als Nebenvariante für einige andere Lautpositionen. Bei den zwölf Lautpositionen mit höheren Prozentanteilen von <oe> handelt es sich in elf Fällen um Umlautpositionen. Umgekehrt sind von den zwölf Lautpositionen mit geringen Anteilen der Graphie <oe> elf solche ohne Umlautfaktor. Godert verwendet die Graphie <oe> zwar prinzipiell für alle angeführten Lautpositionen, gebraucht sie aber in höherer Frequenz nur dann, wenn es sich um eine Umlautposition handelt. Ähnliche Tendenzen zur Umlautkennzeichnung durch graphematische Variation haben sich auch für den westmitteldeutschen Raum belegen lassen. So verweist Möller (1998, 164) auf den Gebrauch von <oe> für Umlautpositionen in ripuarischen Urkunden, und Mihm (2015, 100) berichtet von Umlautkennzeichnung durch Verwendung von <u> vs. <o> bei Kölner Setzern (sunder 'Sünder' vs. sonder 'sondern'). Auch Ravida (2012, 385) führt in seiner Arbeit über die graphematische Struktur der Luxemburger Rechnungsbücher von 1388-1500 zwei Schreiber an, die den Umlaut „in hohem Maß“ bezeichnen, vor allem durch den Gebrauch der Graphie <ů>. Es wären weitere quantitativ gestützte Einzelstudien erforderlich, um zu ermitteln, ab wann sich in den verschiedenen Regionen des deutschsprachigen Raumes eine einigermaßen konsistente graphematische Umlautdifferenzierung durchgesetzt hat. <?page no="298"?> 298 12. Graphematische Variation und graphematischer Wandel im Bereich des Vokalismus 12.2. Kennzeichnung von Vokalveränderungen vor bestimmten Konsonantenverbindungen Die Inkonsequenz bei der Kennzeichnung von Umlautpositionen hat gezeigt, dass auch Lautunterschiede mit Phonemstatus (mhd. losen 'fröhlich sein' vs. lœsen 'auslösen', brunne 'Brunnen' vs. brünne 'Brustharnisch') in den vormodernen Schreibsystemen nicht notwendigerweise zum Ausdruck gebracht werden. Umso überraschender scheint es, dass andererseits manchmal lautliche Besonderheiten hervorgehoben werden, denen wir aus moderner Perspektive wohl eine nachrangige Bedeutung zuweisen würden. In allen gesprochenen Varietäten gibt es eine Vielzahl kontextspezifischer Aussprachevarianten, die in den entsprechenden Standardorthographien meist nicht widergespiegelt werden. So gibt es heute z. B. bei Sprechern aus dem Südwesten Deutschlands die Tendenz, den i-Laut in den Verbformen ging, hing, fing nicht wie in der Aussprachenorm vorgeschrieben als Kurzvokal [ɪ] , sondern als langes, geschlossenes [iː] zu sprechen (vgl. die entsprechenden Karten im „Atlas zur Aussprache des deutschen Gebrauchsstandards“: http: / / prowiki.idsmannheim.de/ bin/ view/ AADG/ GingQuant). Für die Aussprache des Hochdeutschen in Westfalen gilt es wiederum als typisch, Kurzvokale vor nachfolgendem r + Konsonant in Wörtern wie merken, Berge oder Härte mit einem langen und geschlosseneren Vokal und vokalisiertem r zu realisieren, also etwa [ ' meːɐkən], [ ' beːɐgə], [ ' heːɐtə] statt [ ' mɛʁkən], [ ' bɛʁgə], [ ' hɛʁtə] . Da es sich in all diesen Fällen aber um rein allophonische Varianten handelt, deren Austausch keinen Bedeutungsunterschied hervorruft, wird dieser Typ von Variation in der deutschen Standardorthographie nicht reflektiert. Dasselbe wurde lange Zeit auch für historische Schreibsprachen angenommen (vgl. Kohrt 1987, 149; Elmentaler 2003, 152-154). Forschungsüberblick: Der einflussreiche russische Linguist Nikolai Trubetzkoy postulierte im Jahr 1933, dass Schrift generell „nicht das phonetische, sondern immer nur das phonologische System der Sprache wiedergibt“ (zit. n. Glück 1987, 85). Der amerikanische Germanist William G. Moulton ging 1961 davon aus, dass „Allophone ein und desselben Phonems nie und nimmer schriftlich unterschieden“ würden (zit. n. Kohrt 1987, 157). Wolfgang Fleischer (1966, 72) spricht sogar, in Anlehnung an eine Formulierung des Romanisten Harald Weinrich, von einem „phonologischen Bewußtsein“ in der Sprache, dessen Wirken zu einer bevorzugten Abbildung phonematischer Oppositionen und einem Verzicht auf die Wiedergabe allophonischer Variation geführt habe. Diese Einschätzung findet sich auch noch in Publikationen jüngeren Datums. So nimmt der englische Sprachhistoriker Jeremy J. Smith (1996, 79) an, die Wiedergabe von Allophonen in der Schrift sei unökonomisch und hinderlich für die Kommunikation („communicatively confusing“), so dass sie in der Praxis kaum vorkomme. Diesen Auffassungen stehen aber eine Reihe von Arbeiten entgegen, in denen nachgewiesen wurde, dass Schreiber in vormodernen Sprachstufen auch nicht-phonemrelevante, also allophonische Lautunterschiede wiedergegeben haben. Das vielleicht bekannteste Beispiel aus der germanistischen Sprachgeschichte bietet das sogenannte „Anlautgesetz“ des Notker Labeo von St. Gallen (vgl. Grotans 2006, 288-293). Es handelt sich hierbei um eine graphematische <?page no="299"?> 299 12.2. Kennzeichnung von Vokalveränderungen vor bestimmten Konsonantenverbindungen Alternanz in den Texten Notkers, aus der folgende Regel abgeleitet werden kann (nach Braune 2004, § 103): <b, d, g> wird geschrieben, wenn das vorangehende Wort mit einem stimmhaften Laut endet: ter bruoder 'der Bruder' mit <b> wegen des stimmhaften r (ter), demo gólde 'dem Golde' mit <g> wegen des Vokals o (demo), in dih 'in dich' mit <d> wegen des Nasals n (in). In allen anderen Fällen wird <p, t, k> geschrieben: des prûoder 'des Bruders', tes kóldes 'des Goldes', daz tih 'dass dich'. Dies ist ein klarer Fall von stellungsbedingter Allophonie. Notker hat hier offensichtlich einen Lautunterschied wahrgenommen und graphematisch differenziert. Dies war phonematisch irrelevant und hat den Lesefluss mutmaßlich sogar etwas beeinträchtigt, da Wörter wie Bruder, Gold oder dich durch die Schreibweise mit anlautendem <p, t, k> verfremdet erscheinen. Das Beispiel zeigt, dass in vormoderner Zeit mit einer (manchmal recht systematischen) Wiedergabe auffälliger Lautmerkmale zu rechnen ist, auch wenn dies unserer Vorstellung davon zuwiderlaufen mag, welche Lautdifferenzen als relevant erachtet werden. Ähnliche Wiedergaben allophonischer Variation ließen sich u. a. auch für das Lateinische, Altenglische, Alt- und Mittelniederländische, Ripuarische und Ostmitteldeutsche nachweisen (vgl. Elmentaler 2003, 156 f.). Als Beispiel für die niederrheinische Schreibsprache des späten 14. Jahrhunderts lässt sich der Duisburger Schreiber Everhardus anführen, der um 1400 die mittleren Kurzvokale o bzw. e / ä in der Stellung vor Liquid-Dentalverbindungen (-rd/ -rt/ -rs, -ld/ -lt/ -ls) signifikant häufiger durch Digraphien realisiert als in anderen Kontexten. Hierbei gebraucht er vor r + Dentalen vor allem die Graphien <oe, ee> (poerte 'Pforte', peert 'Pferd'), vor l + Dentalen dagegen die Graphien <oi, ei> bzw. <oy, ey> (hoilt 'Holz', geilt 'Geld'; boylten 'Bolzen', veylt 'Feld) (vgl. Elmentaler 2003, 138-146). Da dies Kontexte sind, in denen die modernen rheinischen Dialekte Vokalveränderungen, vor allem Diphthongierungen aufweisen, liegt die Vermutung nahe, dass der Schreiber hier ebenfalls eine für ihn „saliente“, also gegenüber den übrigen Vokalrealisierungen hervorstechende Lautbesonderheit wiedergeben wollte. Über einen interessanten Fall graphematischer Variation vor Folgekonsonanz in einem Kölner Schreibsystem berichtet Arend Mihm (2004a, 357-361). In einer Handschrift der Stadtchronik „Agrippina“ von 1472 lässt sich im Bereich der Velarvokale ein Graphienwechsel in Abhängigkeit von der Intensität des Folgekonsonanten nachweisen. Vor stimmhaften Leniskonsonanten wie [d, g, v, z] (hier realisiert als <d, g, u, s / ß>) verwendet der Schreiber Digraphien mit der Zweitkomponente -e, wie in den Beispielen moeder 'Mutter', laegen 'lagen', gaeuen 'gaben', boeßer 'böser', oder Monographien, wie in dode 'tote', sugen 'saugen', grouen 'gruben', luse 'Läuse'. Dagegen treten vor stimmlosen Fortiskonsonanten wie [ç, f, s] (realisiert als <ch, ff, ss / ß>) Digraphien mit der Zweitkomponente -i oder -y auf, wie in bruychen 'brauchen', slayffen 'schlafen', groißer 'größer' (vgl. ebd., 357 f.). Eine quantitative Analyse belegt, dass es hier bei den Entsprechungen von mhd. ū, uo, ō und ā sehr ausgeprägte graphematische Oppositionen gibt (Abb. 61). <?page no="300"?> 300 12. Graphematische Variation und graphematischer Wandel im Bereich des Vokalismus Abb. 61. Graphienwechsel vor Lenisbzw. Fortiskonsonanten (aus Mihm 2004a, 359) Nach dem Verfahren der graphematischen Distanzanalyse (Kap. 10.3) ergeben sich hier hohe Distanzwerte von etwa 40,0 (für mhd. ū), 89,0 (für mhd. uo), 97,5 (für mhd. ō) und 77,5 (für mhd. ā). Mihm (2004a, 358) hebt hervor, dass „die Kennzeichnung des folgekonsonanzbedingten Vokalwechsels für die Schreiber wichtiger war als die Umlautkennzeichnung“. Ob es sich bei solchen Kennzeichnungen allophonischer Varianzen um seltene Einzelfälle handelt oder doch um häufiger auftretende Phänomene, lässt sich derzeit kaum beurteilen, da die graphematischen Untersuchungen bisher nur selten individuelle Schreibsysteme in den Blick nahmen. Generell muss auch damit gerechnet werden, dass die Graphienwahl in manchen Fällen nicht der Wiedergabe von Aussprachebesonderheiten dient, sondern der Verbesserung der Lesbarkeit. In der Forschung wird hier von dem Prinzip der graphischen Differenzierung gesprochen. Damit ist gemeint, dass in bestimmten Kontexten solche Graphien präferiert werden, deren äußere Gestalt einen möglichst großen Kontrast zu der benachbarten Graphie aufweist. Hier spielt insbesondere die Einstöckigkeit bzw. Zweistöckigkeit von Graphien eine Rolle sowie die formalen Ähnlichkeiten zwischen <u>, <n> und <i> in den historischen Handschriften. Eine These lautet in diesem Zusammenhang, dass von den Schreibern Folgen mehrerer einstöckiger Graphien vermieden worden seien, da dies die Lesbarkeit beeinträchtige. Insbesondere wird hierbei auf den auffällig häufigen Gebrauch der Graphien <y> oder <j> in Kontexten, in denen man auch die Verwendung von <i> hätte erwarten können, Bezug genommen. Eine solche Annahme lässt sich stützen, wenn sich in einem Schreibsystem ein überproportional häufiger Gebrauch von <y> bzw. <j> vor oder nach einstöckigen Graphien nachweisen lässt, insbesondere vor <n> oder nach <n> bzw. <u> (also häufiger yn / jn, nymant, huys als in, nimant, huis). Utz Maas (1991, 30) interpretiert auch die Graphie <h> in Fällen wie ihar oder nhemen als Mittel zur graphischen Differenzierung. Darüber hinaus können auch Großbuchstaben (Majuskeln) eingesetzt werden, um eine Abfolge von Buchstaben mit ähnlicher Gestalt zu vermeiden. So lässt sich schon in einem Lex-Salica-Fragment aus dem 9. Jahrhundert der mehrfache Gebrauch der Majuskel „I“ im Kontext vor <n> nachweisen (Inti 'und', Ini, Innan 'innen')- - mutmaßlich um die Abfolge der Buchstaben i+n zu vermeiden, die in den Handschriften im Wesentlichen aus drei aufeinander folgenden senkrechten Strichen besteht-- während vor <b>, <z> oder <s> der Klein- <?page no="301"?> 301 12.2. Kennzeichnung von Vokalveränderungen vor bestimmten Konsonantenverbindungen buchstabe verwendet wird (ibu 'ob, wenn', iz 'es', ist 'ist') (vgl. Labs-Ehlert 1993, 82 f.). Wo die Funktion der graphischen Differenzierung ausgeschlossen werden kann, ist bei auftretender graphematischer Variation damit zu rechnen, dass die Kennzeichnung allophonischer Lautbesonderheiten intendiert war. Dies setzt voraus, dass die hierbei verwendeten Digraphien mit nachgestelltem e, i oder y (wie <oe>, <oi>, <oy> usw.) nicht pauschal als Zeichen zum Ausdruck der Vokallänge gedeutet werden, sondern als Schreibungen, die in differenzierter Weise qualitative Aussprachemerkmale reflektieren (vgl. dazu die Argumentation bei Mihm 2001a, 595 f.; 2002, 252; 2004a, 360 f.). <?page no="303"?> 303 13. Die Entwicklung der satzinternen Großschreibung Unter Großschreibung wird in der Orthographie üblicherweise der Gebrauch einer Majuskel als Anfangsbuchstabe eines Wortes verstanden. Der Gebrauch von Großbuchstaben ist unabhängig vom phonematischen Prinzip, da sich Majuskeln stets auf dieselben Lauteinheiten beziehen wie die ihnen entsprechenden Minuskeln. Die Regeln der Großschreibung beziehen sich heute vielmehr auf verschiedene orthographische Prinzipien, die nach Nerius (2007) alle dem semantischen Grundprinzip zuzuordnen sind: Die Großschreibung markiert den Beginn von Texten, Textabschnitten, Überschriften oder Werktiteln (textuales Prinzip) und den Beginn von Ganzsätzen (syntaktisches Prinzip), und sie kennzeichnet heute bestimmte Wortklassen wie Eigennamen, Substantive (inklusive Substantivierungen), feste Wortfügungen (Vereinigte Staaten von Amerika) und das Höflichkeitspronomen „Sie“ (lexikalisches Prinzip). Auf die Entwicklung der Großschreibung zur Kennzeichnung von Textabschnitten und Satzanfängen wurde bereits in Kap. 6.3.1 eingegangen. Im Folgenden geht es um die Herausbildung der wortinitialen, aber satzinternen Großschreibung, die sich im Deutschen in einem mehrere Jahrhunderte währenden Prozess vollzogen hat und dabei im Lauf der Zeit verschiedenartige Funktionen erfüllte. Bereits in der frühesten Phase der schreibsprachlichen Überlieferung in deutscher Sprache, in althochdeutschen und altsächsischen Texten, tritt in geringem Maße satzinterne Großschreibung auf. In der Zeit zwischen dem 11. und 15. Jahrhundert nimmt die Frequenz dieser Verwendungen zu, und die Funktion der „Auszeichnung“ durch Großschreibung tritt als Prinzip deutlich hervor (Kap. 13.1). Im 16. Jahrhundert vollziehen sich dann die entscheidenden Prozesse, die den Übergang von einer pragmatischen Majuskelverwendung hin zu einer syntaktischen Steuerung bei der Substantivgroßschreibung einleiten, wie wir sie heute kennen (Kap. 13.2). Diese Übergangszeit ist dank einiger Einzelstudien und eines großangelegten Forschungsprojektes recht gut erforscht. Neben dem Majuskelgebrauch am Beginn von Substantiven gibt es allerdings noch einige spezielle Bereiche, in denen Großschreibung eine Rolle spielt. Thematisiert wird in diesem Zusammenhang zum einen das Phänomen der sogenannten „Binnenmajuskel“, also der Großschreibung eines oder mehrerer Buchstaben innerhalb eines Wortes, die seit Beginn der Schriftlichkeit immer wieder belegt ist. Zum anderen werden die Sonderfälle der Großschreibung von Adjektiven und Pronomen erörtert (Kap. 13.3). Ein kurzes Fazit (Kap. 13.4) schließt das Kapitel ab. 13.1. Satzinterner Majuskelgebrauch im 8. bis 15. Jahrhundert Bis in die 1980er Jahre hinein wurde in der Forschung noch teilweise davon ausgegangen, dass es vor dem 13. Jahrhundert keinen satzinternen Majuskelgebrauch gegeben habe. Etwas genauer formuliert es jedoch bereits 1929 Virgil Moser, der auch von „frühern Ansätzen“ spricht, Namen durch Großschreibung hervorzuheben (Moser 1929, 12). Tatsächlich haben neuere Untersuchungen bestätigt, dass sich auch in althochdeutschen und altsächsischen Texten durchaus schon einschlägige Belege für satzinterne Großschreibung finden lassen. Hierüber bietet die bereits in Kap. 4.3 und 6.3.1 herangezogene Studie von Brigitte Labs-Ehlert <?page no="304"?> 304 13. Die Entwicklung der satzinternen Großschreibung (1993) recht genaue Informationen. Von den 70 bei ihr untersuchten Handschriften weisen etwa 20 großgeschriebene Wörter innerhalb von Sätzen auf (Übersicht in Labs-Ehlert 1993, 181), wobei es sich allerdings jeweils nur um wenige Fälle, manchmal nur einen einzigen Beleg handelt. Es sind also kaum mehr als drei Dutzend Belege für satzinterne Großschreibung im gesamten Korpus enthalten. Diese verteilen sich im Wesentlichen auf drei Gruppen: a) Nomina propria, d. h. Eigennamen, für (weltliche) Personen, wie z. B. Suonhart (Petruslied, 9. oder frühes 10. Jahrhundert), Aato, Adalberaht, Adalbraht (Erste Würzburger Markbeschreibung, 10. Jahrhundert), Gorio 'Georg' (Georgslied, um 1050), Petri, Stephani (Gebet des Otloh, um 1067). Darüber hinaus kommen gelegentlich Majuskeln als Einzelbuchstaben im Text vor, die sich ebenfalls auf Personennamen beziehen, z. B. N in zwei Priestereiden aus dem 9. Jahrhundert, als Platzhalter für ahd. namo oder für lat. nomen: „Hier mußte der Priester den Namen des Bischofs sprechen, dem er die Treue schwur“ (Labs-Ehlert 1993, 94 f.). b) Nomina sacra, also Wörter, die aus einem religiösen Kontext stammen und deshalb von besonderer Wichtigkeit sind, z. B. Ihm = Kürzel für Jesum (St. Galler Credo, um 790), Got 'Gott' (Wessobrunner Gebet, vor 814; Psalter von Notker, 12. Jahrhundert), Christ (Prager Heliand-Fragmente, um 850), Herro 'Herr' (Dichtung über Christus und die Samariterin, 10. Jahrhundert). c) in seltenen Fällen: Nomina appellativa, also Gattungsnamen, wie z. B. Seuina 'Sebenbaum', Curibiz 'Kürbis', Center 'Griffel', Rôr 'Rohr' (bairische Glossen, 9./ 10. Jahrhundert) und Nesso 'Wurm' (Pro nessia, 9. oder 10. Jahrhundert). Auch wenn in althochdeutscher Zeit noch keine verbindlichen Regeln zur satzinternen Großschreibung von Namen oder Substantiven bestanden haben, werden hier doch schon einige Grundzüge des Majuskelgebrauchs sichtbar, die in den folgenden Jahrhunderten deutlicher hervortreten und letztlich zur Formulierung fester orthographischer Regeln der Großschreibung führen: ▶ Der Majuskelgebrauch ist schon in althochdeutscher Zeit weitgehend auf den ersten Buchstaben eines Wortes festgelegt. Schreibungen mit Binnenmajuskel oder Großbuchstaben am Wortende wie GoRio 'Georg' und DR uhtin 'Herr' (Georgslied), sunduN 'Sünden', intbiNde 'befreie' (Augsburger Gebet, 9./ 10. Jahrhundert) oder lat. incipiebaNt 'sie begannen' (Erste Würzburger Markbeschreibung) sind seltene Ausnahmen (Kap. 13.3.1). ▶ Bereits in den althochdeutschen Texten stellt eine durchgängige Wortgroßschreibung, also der Gebrauch von Majuskeln für alle Buchstaben eines Wortes, eine seltene Ausnahme dar, die nur an besonders exponierten Stellen zur Anwendung kommt. Labs-Ehlert (1993, 128) nennt die Beispiele IN GOT FATER (Vorauer Beichte, Ende 9. Jahrhundert) mit Verwendung durchgängiger Großschreibung in einem Nomen sacrum und SCI GALLI 'Sancti Galli' (Notker, Boethius-Übersetzung, 10./ 11. Jahrhundert) zur Hervorhebung des Namens für das Kloster St. Gallen. Heute ist diese Art der Großschreibung nicht Teil der orthographischen Regelapparates, sondern erfüllt, ähnlich wie im Althochdeutschen, pragmatische Funktionen, etwa die Hervorhebung z. B. von Buchtiteln (z. B. lautet der Titel des Buches von Labs-Ehlert 1993 auf dem Titelblatt: VERSALSCHREIBUNG IN ALT- <?page no="305"?> 305 13.1. Satzinterner Majuskelgebrauch im 8. bis 15. Jahrhundert HOCHDEUTSCHEN SPRACHDENKMÄLERN , mit Hervorhebung durch durchgängigen Majuskelgebrauch und Kursivierung) oder Firmennamen ( REISEBÜRO MÜLLER ). ▶ Bereits in der althochdeutschen Überlieferung werden fast ausschließlich Nomina (im weiteren Sinne) durch Großschreibung des Anfangsbuchstaben hervorgehoben, vor allem Nomina sacra und Eigennamen, seltener Appellativa. Andere Wortklassen werden dagegen satzintern nur selten mit Majuskel geschrieben. Labs-Ehlert (1993, 100) führt eine sechsmalige Großschreibung von Van 'von' in der Essener Heberolle (10. Jahrhundert) an, die wohl vorwiegend textgliedernde Funktion hatte, sowie eine mehrfach vorkommende Majuskel I (Inti 'und', Ini, Innan 'innen') in einem Lex-Salica-Fragment aus dem 9. Jahrhundert, die vermutlich zur Differenzierung gegenüber dem nachfolgenden Buchstaben n dient, denn „alle anderen Wortverbindungen-[…] werden mit Minuskel-i geschrieben“, z. B. ibu 'ob, wenn', iz 'es', ist 'ist' (ebd., 82 f.). Ansonsten ist die Kennzeichnung nicht-nominaler Wortklassen in der Frühzeit ebenso wenig gebräuchlich wie heute. Die weitere Entwicklung zeigt zwar, dass die weitgehende Beschränkung auf nominale Einheiten im 16. Jahrhundert zumindest zwischenzeitlich aufgehoben wurde (Kap. 13.3.2), doch ist die Fokussierung auf Substantive insgesamt sehr deutlich. Insgesamt bleibt trotz der diskutierten Beispiele zu beachten, dass in althochdeutscher Zeit auch die nominale Großschreibung noch eine Ausnahme darstellte. Die meisten überlieferten Texte enthalten keinen einzigen Beleg für satzinterne Großschreibung. Und auch in den Texten, die großgeschriebene Substantive aufweisen, überwiegen meist noch die kleingeschriebenen Varianten. So gibt es z. B. in der Ersten Würzburger Markbeschreibung neben den neun großgeschriebenen Personennamen (s. o.) mehr als 70 Belege für kleingeschriebene Namen, und im Gebet des Otloh treten neben Petri und Stephani auch die Namenschreibungen andree, iacobi, ion ̄ is, mariun, michaelis, pauli auf. Wenn somit in den ersten Jahrhunderten der volkssprachlichen Schriftlichkeit die Kleinschreibung den Regelfall darstellte, mussten alle vorkommenden Majuskeln als auffällige Besonderheit wahrgenommen werden, und die Schreiber müssen ein Motiv gehabt haben, sie zu verwenden. Labs-Ehlert (1993, 13-16) geht davon aus, dass die Großschreibung von Wörtern ein Mittel der „Auszeichnung“ ist, was in etwa dem Begriff der Hervorhebung entspricht, den bereits Virgil Moser in seiner „Frühneuhochdeutschen Grammatik“ (1929, 12) verwendet. Nach Moser (1929, 13) hat sich die Großschreibung bei Personennamen seit dem 14. Jahrhundert durchgesetzt, während sie in Bezug auf andere Substantive noch im 15. Jahrhundert selten vorkommt und sich erst ab dem zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts ausbreitete. Die Entwicklung bis 1500 skizziert er wie folgt: 1. Von den Personennamen ausgehend wurde die Großschreibung zunächst auf allgemeinere Personenbezeichnungen übertragen (Papst, Kaiser), von „Volks- und Einwohnernamen“ ausgehend auf personenbezogene Kollektivbegriffe (Mensch, Apostel, Mönch) und von Ortsnamen ausgehend auf „Sammelorte von Personen“ (Kloster). 2. Das Prinzip der Hervorhebung wurde andererseits so interpretiert, dass man „Personen und Gegenstände besonderer Hochachtung“ durch Großschreibung markierte, was sich vor allem auf den religiösen Bereich bezog (Gott, Christus, Sakrament, Herr). <?page no="306"?> 306 13. Die Entwicklung der satzinternen Großschreibung 3. Daneben geht Moser davon aus, dass Wörter häufig großgeschrieben wurden, die für einen Textabschnitt besonders relevant sind. Über die Geltung dieser drei Tendenzen ist sich auch die neuere Forschung recht einig. So spricht etwa Manfred Kaempfert (1980, 86) von Großschreibung für „Bezeichnungen von Institutionen, und zwar personaler, organisatorischer, dinglicher wie auch ideeller Art“, im Sinne eines „Ehrfurcht-Signals“, was ungefähr die schwer unterscheidbaren Klassen Nr. (1) und (2) bei Moser abdeckt, und von Großschreibung zur „thematische[n] Auszeichnung“ und zur „affektiven Auszeichnung“ (ebd., 81), was etwa dem Typ (3) bei Moser entspricht. Allerdings gibt es bisher kaum belastbare Zahlen darüber, wie sich die allmähliche Durchsetzung der Großschreibung in diesen Bereichen und mit den genannten Funktionen in der Zeit zwischen dem 11. und 15. Jahrhundert genau vollzogen hat, denn fast alle einschlägigen Arbeiten beschränken sich auf die Untersuchung der Entwicklung nach 1500. Zahlreiche Belege für den Majuskelgebrauch (vor allem bei Eigennamen) in Urkunden und anderen Texten des 13. bis 15. Jahrhunderts bietet Weber (1958, 14-25), allerdings ohne eine genauere Quantifizierung des prozentualen Verhältnisses zu den Kleinschreibungen. Dementsprechend stellt die „Frühneuhochdeutsche Grammatik“ fest: „Die Entwicklung wurde bisher nur in ihren Grundzügen skizziert; genauere Ergebnisse stehen noch aus“ (Reichmann / Wegera 1993, § L 3). Auch die graphematischen Arbeiten zur Schreibsprachentwicklung einzelner Kanzleien bieten dazu kaum Informationen. Die Großschreibung wird entweder gar nicht thematisiert, weil der Fokus auf der Rekonstruktion lautrelevanter Strukturen im Schreibsystem liegt, oder die Majuskeln werden als „freie“ oder „stilistische“ Varianten eingestuft, die keiner besonderen Systematik unterliegen und daher nicht weiter untersuchenswert seien (vgl. Bürgisser 1988, 17). Bisweilen werden sie auch nur unter paläographischen Aspekten behandelt (vgl. Steffens 1988, 68). Viele Autoren beseitigen oder vereinheitlichen die Groß- und Kleinschreibung auch schon vor der graphematischen Analyse, bei der Einrichtung der Texte. So vereinfacht Ernst E. Müller (1953, 13) die Schreibung in seinen Korpustexten, indem er alle Wörter außer Namen und Satzanfängen kleinschreibt, wobei er etwas bedauernd bemerkt, dadurch verlören „die Texte teilweise ihr dekoratives Gesicht“. In einigen Studien finden sich allerdings interessante Einzelbeobachtungen zur Großschreibung. Forschungsüberblick: Ludwig Erich Schmitt (1936, 27) konstatiert schon für das frühe 14. Jahrhundert, dass neben Personen- und Ortsnamen „auch einige wichtigere Worte, Erben, Lehen, Gedinge, Lute, Brif, Insigel, Rat, Schepfen, Stat, Saleute, Rihter“ großgeschrieben würden. Nach seiner Einschätzung nimmt der Anteil großgeschriebener Substantive in dieser Zeit zu. Daneben führt Schmitt auch Beispiele für den Majuskelgebrauch bei anderen Wortarten an (z. B. Adjektive, Zahlwörter wie Sehs, Anderhalphundert, Tusent). Für die Erfurter Historienbibel von 1428 liefert Gerhard Kettmann (1973, 23 f.) eine kleine Statistik, nach der z. B. von dem Hauptschreiber A etwa 34 % der Personennamen, 29 % der „Namen von Völkern und Stämmen“, 24 % der geographischen Eigennamen sowie ca. 15 % der vorkommenden Belege für Gott großgeschrieben werden, und auch hier wird auf das gelegentliche Vorkommen von Großschreibung auch in anderen Appellativa (Iumffrauwen) sowie bei anderen Wortarten (Adjektive: Iungsten; Zahlwörter: Nunhundert) verwiesen. Auch Peter Ernst (1996) weist in einem kleinen Korpus von acht Wiener <?page no="307"?> 307 13.1. Satzinterner Majuskelgebrauch im 8. bis 15. Jahrhundert Interessanterweise scheint die Großschreibung im 14. und 15. Jahrhundert nicht immer nur wortbezogen eingesetzt worden zu sein, sondern auch zur Markierung von ganzen Phrasen, d. h. als wortgruppeninitiale Großschreibung. Mehrere Untersuchungen heben dieses Muster hervor, nach dem bei einer Nominalphrase nur der erste Buchstabe des ersten Wortes großgeschrieben wird, wie in Sodoma vnnd gemorra (Kettmann 1973, 24), Siechen frowen 'kranken Frauen' (Schmitt 1936, 27), Ehrliche leute (Weber 1958, 228 ff.) oder Zcu Ross vnnd fuess 'zu Pferd und zu Fuß' (Fleischer 1966, 21). Dieser Schreibgebrauch ist nach Reichmann / Wegera (1993, 27) noch im 16. Jahrhundert sehr verbreitet und geht dann im 17. Jahrhundert „wohl aufgrund der konsequenteren Substantivgroßschreibung“ stark zurück. Bergmann/ Nerius (1998) kennzeichnen in ihrer Studie zur „Entwicklung der Großschreibung im Deutschen von 1500 bis 1700“ den Stand des Majuskelgebrauchs bei Substantiven um 1500 in den sechs Großregionen des deutschsprachigen Raums wie folgt (ausgewählte Kategorien) (Tab. 51). Personennamen Geographische Namen Nomina sacra Sonstige Konkreta (außer Personenbezeichnungen, Sachnamen u. Ä.) Abstrakta Ostoberdeutsch 80,8 69,0 0 0,6 0,7 Westoberdeutsch 41,6 78,6 0 0,2 0,6 Nordoberdeutsch 65,7 83,3 0 6,5 4,3 Ostmitteldeutsch 74,0 37,0 1,8 1,4 0,2 Westmitteldeutsch 68,3 92,3 0,8 20,4 2,6 Niederdeutsch 66,7 90,6 0 2,6 1,9 Tab. 51. Stand der Großschreibung von Substantiven in den deutschen Sprachregionen um 1500 (Anteil der Großschreibungen in Prozent; nach Bergmann / Nerius 1998, 835, 836, 607, 603, 860, 865) Die Tabelle lässt zweierlei erkennen: (1) Der Anteil der nominalen Großschreibung fällt Anfang des 16. Jahrhunderts je nach Wortkategorie unterschiedlich aus. Während die Großschreibung der Personennamen und geographischen Namen schon recht verbreitet ist, werden andere Substantive (Appellative) nur zu geringen Prozentsätzen großgeschrieben. Ratsurkunden (Umfang 3388 Wörter) aus der Zeit von 1291 bis 1428 zahlreiche satzinterne Majuskeln im Bereich der Appellativa nach, z. B. 120 Belege für personenbezogene Substantive (Rat, Herr, Bürgermeister) und 149 Belege für andere Substantivklassen (Haus, Brief, Urkunde) sowie 111 Belege für Großschreibung anderer Wortarten. Für den niederdeutschen Raum belegt Gerhard Cordes (1968, 18) das Vorkommen von Majuskeln bei einigen Appellativa in einem Kopialbuch aus dem frühen 15. Jahrhundert (z. B. Abbet 'Abt', Crüce 'Kreuz', Rad 'Rat', Slote 'Schloss'). <?page no="308"?> 308 13. Die Entwicklung der satzinternen Großschreibung Das betrifft sowohl Konkreta (Fisch, Herde, Wald) als auch Abstrakta (Stunde, Art, Idee). (2) Es gibt noch starke regionale Unterschiede. Die verschiedenen Regionen des deutschsprachigen Raumes verhalten sich hinsichtlich des Majuskelgebrauchs teils eher konservativ, teils etwas progressiver. Während etwa der westoberdeutsche (alemannische) Raum selbst im Bereich der Personennamen noch überwiegend an der Kleinschreibung festhält (nur 41,6 % Großschreibung), bildet die Großschreibung in den übrigen Regionen bereits die Mehrheitsvariante (ca. 65-81 %), und im westmitteldeutschen Raum werden sogar die „sonstigen Konkreta“ schon zu über 20 % großgeschrieben. Neben diesen kategorialen und regionalen Unterschieden können auch textuelle Faktoren zu einem stärker oder schwacher ausgeprägten Gebrauch der Substantivgroßschreibung beitragen. So konnten etwa Woggan/ Neumann (2016, 27) am Beispiel von vier Drucken eines Pflanzenbuchs von 1531-1587 zeigen, dass es bezüglich der Großschreibung „eine hierarchische Beziehung zwischen Titelblatt, Überschrift und Fließtext“ gibt, wobei Titelblätter einen fast doppelt so hohen Anteil an Substantivgroßschreibungen (61,4 %) aufweisen wie Überschriften (34,8 %) und einen dreimal so hohen wie die Fließtexte (20,1 %). Mit der Ausbreitung der Großschreibung in den nächsten zwei Jahrhunderten kommt es dann zu einer weitgehenden Nivellierung der kategorialen, regionalen und kontextbedingten Unterschiede in der Großschreibung. 13.2. Die Entwicklung der Substantivgroßschreibung im 16. und 17. Jahrhundert Das 16. Jahrhundert gilt als die Epoche, in der sich der funktionale Wandel im Majuskelgebrauch von der Auszeichnung besonders hervorhebenswerter Begriffe hin zur generellen Kennzeichnung der Substantive im Wesentlichen vollzieht. Dementsprechend wurden dieses und das darauffolgende 17. Jahrhundert hinsichtlich der Großschreibung am intensivsten erforscht. Die Konzentration auf die Zeit nach 1500 hängt auch damit zusammen, dass Anfang des 16. Jahrhunderts die ersten Sprachlehren erscheinen, die sich mit der Regelung der Großschreibung beschäftigen und Einfluss auf den Schreibusus bzw. den Majuskelgebrauch in Drucken gehabt haben könnten. Denn für den Setzer bedeutete die Wahl einer Majuskel einen „Griff in einen besonderen Kasten“ (Kaempfert 1980, 76), und dabei könnte er sich an Hinweisen von Grammatikern orientiert haben. Der Ausbau der Substantivgroßschreibung im 16. und 17. Jahrhundert betrifft einerseits die weitere Zunahme der Großschreibung bei Substantiven, die sich auf Personen oder Institutionen von besonderer Bedeutung (Typ Kaiser, Kurfürst) oder auf religiöse Inhalte beziehen (Typ Gott, Apostel, Evangelium), andererseits den Ausbau bei den übrigen Appellativen, die über diese Bereiche hinausgehen, also bei ‚normalen‘ Substantiven wie Haus, Wald (Konkreta) oder Liebe, Tag (Abstrakta), die um 1500 noch sehr selten großgeschrieben werden. Dieser Vorgang, der letztlich zu der modernen Konvention einer Großschreibung aller Elemente der Wortklasse Substantiv führte, kann anhand der Ergebnisse von Bergmann/ Nerius (1998) wie folgt zusammengefasst werden (Tab. 52). <?page no="309"?> 309 13.2. Die Entwicklung der Substantivgroßschreibung im 16. und 17. Jahrhundert Personennamen Geographische Namen Nomina sacra Sonstige Konkreta (außer Personenbezeichnungen, Sachnamen u. Ä.) Abstrakta 1500 64,0 80,3 0,4 3,8 1,7 1530 99,3 98,1 67,9 7,7 5,1 1560 99,9 99,5 90,1 39,9 17,5 1590 100 98,3 98,4 83,7 49,5 1620 100 99,9 99,3 90,7 66,3 1650 100 99,4 99,5 93,2 71,6 1680 100 99,7 99,8 98,5 86,6 1710 99,9 99,9 100 93,8 88,2 Tab. 52. Stand der Großschreibung von Substantiven im zeitlichen Wandel zwischen 1500 und 1710 (Anteil der Großschreibungen in Prozent; nach Bergmann / Nerius 1998, 873 und 864 [Abstrakta]) Im diachronen Vergleich ist eine deutliche Abstufung bei der Durchsetzung der Großschreibung zu erkennen. Während die Großschreibung von Namen bereits um 1530 verbreitet ist, dauert es bei den Nomina sacra etwa drei Jahrzehnte länger, und bei den sonstigen Appellativen setzt sich die Großschreibung erst im 17. oder 18. Jahrhundert durch. Die 90 %-Marke wird bei den Konkreta um 1620 erreicht, bei den Abstrakta erst nach 1710. Für das 16. Jahrhundert bestätigen diese Ergebnisse die Erkenntnisse früherer Untersuchungen anhand von Luther-Drucken (Risse 1980; Meiß 1994, Kap. 4.4) und Luther-Handschriften (Moulin 1990). Im Bereich der Abstrakta sind vor allem Ableitungen (Ankunft, fruchtbarkeit) und Konversionen (das Anbinden, mit greulichem bru ͤ llen) auch am Ende des hier untersuchten Zeitraums noch nicht konsequent durch Großschreibung markiert. Hier liegen die Werte um 1710 erst bei ca. 89 % (Ableitungen) bzw. 71,6 % (Konversionen) (nach Bergmann / Nerius 1998, 864). Neben der Opposition von Konkreta und Abstrakta und dem Unterschied zwischen Simplizia bzw. Komposita einerseits und Ableitungen oder Konversionen andererseits scheint auch die Auftretenshäufigkeit (Frequenz) der einzelnen Lexeme für die Frage der Großschreibung eine gewisse Relevanz zu besitzen. Darauf deuten die Ergebnisse einer neueren Studie (Barteld/ Hartmann/ Szczepaniak 2016) hin, die im Rahmen einer multifaktoriellen Analyse anhand eines Korpus frühneuhochdeutscher Hexenprotokolle den Zusammenhang von Wortfrequenz, arealer Provenienz, morphologischer Komplexität und dem Grad der Animiertheit (unbelebt > belebt > menschlich) untersucht (vgl. auch Szczepaniak / Barteld 2016). Auch wenn die Großschreibung der Substantive auch um 1710 noch nicht vollständig und prinzipiell durchgeführt ist, hat sie sich doch spätestens Ende des 16. Jahrhunderts schon so vermehrt, dass die ursprüngliche Auszeichnungs- oder Hervorhebungsfunktion nicht mehr recht funktioniert. Die Übergangsphase charakterisiert der Schweizer Sprachwissenschaftler Rudolf Hotzenköcherle (1955, 32) am Beispiel eines Bibeldrucks von 1545 / 46, in dem es heißt: „Im anfang war das Wort, und das Wort war bey Gott, und Gott war das Wort-… In jm war <?page no="310"?> 310 13. Die Entwicklung der satzinternen Großschreibung das Leben, und das leben war das Liecht der Menschen-…“. Wie er hervorhebt, scheint hier „das ursprüngliche Prinzip noch durchzuschimmern-- etwa im Gegensatz von ‚anfang‘ und ‚Wort‘; oder im Gegenüber des ersten, gewichtig in den Gesichtskreis tretenden ‚Leben‘ und des zweiten, bloß aufnehmenden ‚leben‘“-- das Rhema wird also jeweils durch Großschreibung hervorgehoben, das schon vorausgesetzte Thema erhält Kleinschreibung. Aber in den beiden anderen Sätzen („das Wort war bey Gott, und Gott war das Wort“) werden sowohl die thematischen als auch die rhematischen Elemente großgeschrieben, so dass „der stilistische Effekt der Großschreibung nahezu auf den Nullpunkt sinkt“ (ebd., 33). Offen bleiben im Zusammenhang mit der Substantivgroßschreibung nun noch zwei Fragen: ▶ Warum hat die Entwicklung primär die Substantive erfasst und nicht etwa andere Inhaltswörter wie Verben oder Adjektive? ▶ Warum hat sich die Substantivgroßschreibung im Sinne einer Wortartenmarkierung nur im Deutschen nachhaltig etabliert und nicht in anderen europäischen Sprachen? Wie schon in Kap. 13.1 deutlich wurde, sind von der Großschreibung schon seit Beginn der schreibsprachlichen Überlieferung vor allem die Substantive betroffen. Die Ursachen für diese Konzentration auf Substantive sind nicht ganz klar zu ermitteln. Denn die mit dem Majuskelgebrauch verbundene Funktion der „Auszeichnung“ müsste ja im Prinzip auch für andere Wortarten im Bereich der „Inhaltswörter“, etwa für Verben oder Adjektive, gelten (vgl. Kaempfert 1980, 97). Bei Adjektiven ist Großschreibung aber deutlich seltener und nur zeitweilig belegt (dazu unten Kap. 13.3.2), und bei Verben tritt sie kaum auf. So stellt Risse (1980, 177-180) für die von ihr untersuchten Bibeldrucke des 16. Jahrhunderts fest, dass nur in 7 von 43 Drucken überhaupt Verbgroßschreibung nachzuweisen ist, und der höchste Prozentanteil in einem Druck liegt bei 0,8 %. Für Kaempfert (1980, 98) ist die Bevorzugung des Substantivs bei der Großschreibung „ein Rätsel-[…], das ich nicht ganz lösen konnte“, doch er stellt dazu zwei Vermutungen an. Zum einen konnte sich die Substantivgroßschreibung unmittelbar am Modell der Eigen- und Personennamen orientieren, die schon seit langem großgeschrieben wurden. Zum anderen sieht Kaempfert hierin einen Zusammenhang mit der spezifischen Referenz von Konkreta auf die gegenständliche „Dinge“: „Es ist dasjenige an der Welt, was sich besonders aufdrängt, was am ehesten als substanzhaft zur Erscheinung kommt, und falls man naiverweise unter allen Wörtern eine besondere Klasse auszeichnen sollte, so eben die Bezeichnungen für diese Welt-Dinge. Die spätere Einbeziehung der Abstrakta in die Großschreibregelung ist dann schließlich eine rein grammatische Analogiebildung.“ (Kaempfert 1980, 98) Dies passt gut zu der Beobachtung von Bergmann/ Nerius (1998), dass sich die Substantivgroßschreibung bei den Abstrakta einige Jahrzehnte später durchsetzt als bei Konkreta. Nach Hotzenköcherle (1955, 33 f.) kommt diese Auffassung des Substantivs als einer selbständigen, auf „Substanzen“ bezogenen Einheit bereits in den zeitgenössischen Grammatiken zum Ausdruck: <?page no="311"?> 311 13.2. Die Entwicklung der Substantivgroßschreibung im 16. und 17. Jahrhundert „Hinter der Großschreibung der Substantive steht für die Grammatiker des 17. und 18. Jahrhunderts tatsächlich eine ganz bestimmte philosophische Auffassung von der Hierarchie der geistigen Werte überhaupt: wie an der Spitze dieser Hierarchie die Substanz steht als das in sich Ruhende, Beharrende im Gegensatz zu ihren wechselnden, zufälligen Eigenschaften und Zuständen-[…], so steht an der Spitze der Wortarten das Substantiv (das ‚Haupt-Wort‘! ) im Gegensatz zum Adjektiv, das bloß Eigenschaften ausdrückt, zum Verb, das bloß Veränderungen und Zustände wiedergibt, und zum Adverb, das nur die näheren Umstände fixiert, in denen Dinge, Eigenschaften, Zustände und Veränderungen stehen. Der Großschreibung der Substantive kommt dann die Aufgabe zu, diese von Logik und Metaphysik her bestimmte Spitzenstellung des Substantivs in der so gesehenen Hierarchie der Wortarten zu unterstreichen-…“ (Hotzenköcherle 1955, 33 f.) Hotzenköcherle verweist allerdings zugleich auf eine alternative (und von ihm favorisierte) Erklärungsmöglichkeit für die Fokussierung der Großschreibung auf den Bereich der Substantive, die sich aus Erwägungen bezüglich der visuellen Erfassung syntaktischer Strukturen ableitet. In dem bereits zitierten, immer noch lesenswerten Beitrag, der sich kritisch mit den Reformvorschlägen zur Einführung einer gemäßigten Kleinschreibung (und mit deren Ideologisierung) auseinandersetzt, vergleicht er die Wortreihenfolge in komplexen Nominalphrasen im Französischen und Deutschen (nach Hotzenköcherle 1955, 41): un toit couvert de neige wörtl.: ein Dach / bedeckt von Schnee 'ein von Schnee bedecktes Dach' un enfant enveloppé de plusieurs couvertures très lourdes wörtl.: ein Kind / eingewickelt in mehrere Decken / sehr schwere 'ein in mehrere sehr schwere Decken eingewickeltes Kind' Im Französischen werden die einzelnen Elemente nacheinander angeführt, wobei der zentrale Begriff zuerst genannt wird (un toit, un enfant), dann die darauf bezogenen Attribute (couvert-…, enveloppé-…), denen ggf. nachgeordnete weitere Attributionen folgen (très lourdes als Attribut zu couvertures). Dadurch werden die am engsten zusammengehörigen Einheiten der Gesamtkonstruktion syntaktisch nicht getrennt (Artikel + Nomen: ein Dach, ein Kind; Adjektiv + Präposition + Nomen: bedeckt von Schnee, eingewickelt in mehrere Decken). In der für das Deutsche typischen Klammerstruktur dagegen besteht ein großer Abstand zwischen syntaktisch zusammengehörigen Einheiten (ein-- - - Dach, ein-- - --- - - Kind, in-- - - Decken), und der für das Leseverständnis zentrale Begriff wird erst ganz am Ende der Konstruktion genannt. Der Majuskelgebrauch kann hier nun als eine visuelle Hilfe dienen. Hotzenköcherle kommentiert: „Was der Satzbau verkorkst, macht die Großschreibung, wenigstens zum Teil, auch in diesem Falle gut: sie gliedert fürs Auge, sie fängt und lenkt den Blick, sie gibt in vielen Fällen sogar grammatische Hinweise. Selbst wenn in einer solchen überfüllten Attributgruppe noch weitere Substantive als das die Gruppe führende vorkommen, ist bei Anwendung der heute geltenden Großschreibregel die <?page no="312"?> 312 13. Die Entwicklung der satzinternen Großschreibung Situation für das einen Halt suchende Auge unendlich viel übersichtlicher, als wenn alle Wörter klein geschrieben würden.“ (Hotzenköcherle 1955, 42) Die Großschreibung der Substantive dient nach dieser Auffassung also nicht primär zur Kennzeichnung einer Wortklasse (lexikalisches Prinzip), sondern zur optischen Markierung von Phrasenkernen (syntaktisches Prinzip). In jüngerer Zeit hat Utz Maas diese Betrachtungsweise wieder aufgegriffen, indem er die Substantivgroßschreibung als Mittel definierte, „den Kern der nominalen Konstituenten“ zu kennzeichnen (Maas 2002, 221, vgl. auch Maas 1991, 23 f. und zusammenfassend Müller 2016, 33-36, 179-181). Maas führt dieses Verfahren auf die Druckerpraxis des 16. bis 17. Jahrhunderts zurück und sieht dies in der von Bergmann / Nerius (1998) und anderen beschriebenen Expansion der Substantivgroßschreibung in dieser Zeit bestätigt. Diese Überlegungen zur syntaktischen Funktion der Substantivgroßschreibung können auch zur Beantwortung der anderen Frage beitragen, warum dieses Mittel gerade im Deutschen ausgebaut wurde, während es in anderen europäischen Sprachen heute unüblich ist. Zwar breitete sich im 16. und 17. Jahrhundert auch in der Druckerpraxis anderer europäischer Sprachen die Großschreibung von Substantiven zunächst aus, z. B. in Frankreich, England, den Niederlanden und noch bis in das 19., teils 20. Jahrhundert in den skandinavischen Ländern (vgl. Maas 2002, 221). Maas (2011, 22) spricht hier von einem „erfolgreichen Exportschlager der deutschen Drucker, mit dem diese modellbildend für die schriftkulturelle Praxis in ganz Nord- und Westeuropa wirkten“. In all diesen Sprachen wurde die Substantivgroßschreibung später jedoch wieder zurückgenommen und auf die Funktion der Hervorhebung von Satzanfängen oder Eigennamen eingeschränkt, zuletzt 1948 im Dänischen. Als Erklärung für die deutsche Sonderentwicklung kommt möglicherweise die oben beschriebene syntaktische Funktion der Substantivgroßschreibung zur Markierung von Wortgruppenkernen in Frage. Hotzenköcherle (1955, 46) weist darauf hin, dass weder das Niederländische noch die skandinavischen Sprachen, das Englische, Italienische oder Französische so viele Attributhäufungen und so einen synthetischen Satzbau mit Klammerstrukturen aufwiesen wie das Deutsche. Maas (2002, 222) verweist darüber hinaus auf die feste Wortstellung, die in den anderen europäischen Sprachen „weniger Strukturierungshilfen erforderlich mach(t)en“ (z. B. durch Majuskelsetzungen) als im Deutschen. So kommt es, dass diese Sprachen die Substantivgroßschreibung meist wieder abschafften (Maas 1991, 24). Ob die Substantivgroßschreibung tatsächlich den Leseprozess erleichtert, ist allerdings nach wie vor umstritten. Experimentelle Untersuchungen konnten bisher keine eindeutigen Korrelationen zwischen Großschreibung und Lesegeschwindigkeit belegen (vgl. Müller 2016, 39-52). Zu klären bleibt schließlich noch die Frage nach dem Einfluss der Grammatiker auf die Durchsetzung der Substantivgroßschreibung im Deutschen. Immerhin liegen seit dem frühen 16. Jahrhundert diverse Versuche vor, Regeln für die Großschreibung aufzustellen (vgl. die Textsammlung von Mentrup 1980 sowie seinen grammatikgeschichtlichen Aufsatz von 1984), und es wäre dementsprechend denkbar, dass der Gebrauch etwa der Drucker sich daran orientiert hat. Doch die Forschung ist sich mittlerweile ziemlich einig darüber, dass der Beitrag der Grammatiker und Orthographietheoretiker in diesem Punkt recht gering gewesen <?page no="313"?> 313 13.3. Temporäre und nachhaltige Innovationen in der Großschreibung ist, da die Durchsetzung der Großschreibung insgesamt den entsprechenden Regelungen vorangeht. So stellt bereits Kaempfert (1980, 73) fest, die frühen Grammatiken hielten „mit der Entwicklung nicht Schritt, ignorieren sie zum Teil oder stellen konservative Regeln auf “. Die Großschreibung hat sich also im Wesentlichen ohne Einfluss der Grammatiker über den Schreibgebrauch etabliert. Die umfassende Studie von Bergmann/ Nerius (1998), die neben dem Schreibusus auch die grammatischen Normierungsvorschläge ausführlich behandelt, bestätigt Kaempferts Einschätzung sehr deutlich. Erst im späteren 17. Jahrhundert sind nach Bergmann/ Nerius (1998, 972) „erstmals Forderungen der Grammatiker festzustellen, die über den Gebrauch hinausgehen“. Ob die Grammatiken des ausgehenden 17. und des 18. Jahrhunderts dann die weitere Durchsetzung der Substantivschreibung gefördert haben, müsste anhand weiterer Korpusuntersuchungen geprüft werden. 13.3. Temporäre und nachhaltige Innovationen in der Großschreibung 13.3.1. Spezialfall Binnenmajuskel Bereits in althochdeutscher Zeit fanden in seltenen Fällen auch Großbuchstaben innerhalb eines Wortes Verwendung; einige Beispiele wurden in Kap. 13.1 angeführt (z. B. GoRio 'Georg', DR uhtin 'Herr'). Auch im Korpus von Bergmann/ Nerius (1998) werden für Drucke des 16. und vor allem 17. Jahrhunderts einige Fälle von Binnengroßschreibung dokumentiert, jetzt allerdings (wenn man von durchgängiger Wortgroßschreibung wie in HERREN absieht), fast ausschließlich am Anfang des Grundwortes in Komposita, also im zweiten Kompositumsbestandteil. Hierbei treten zwei Typen auf, einerseits die Binnenmajuskel in Komposita mit Zusammenschreibung (AltarTisch, LagerEngel, KlingeWerck), andererseits in solchen mit Doppelbindestrich-Schreibung (Berg=Chrystall, Beryllen=Farb, Garten=Rosen). Nur die erste dieser Varianten ist aus heutiger Sicht auffallend, da die Großschreibung des Grundwortes in Bindestrich-Komposita in der modernen Orthographie vorgeschrieben ist (die Schreibungen Garten-rosen oder Bindestrich-komposita wären falsch). Nach Bergmann/ Nerius (1998, 904) ist die Binnengroßschreibung in Komposita um 1590 noch selten, nimmt jedoch bis zum frühen 18. Jahrhundert zu. Gegen Ende des Untersuchungszeitraums (um 1710) sei „geradezu ein Boom“ solcher Formen festzustellen (ebd.), wovon jedoch vor allem die mit Doppelbindestrich geschriebenen Komposita betroffen sind. Genauere Angaben zur Häufigkeit des Typs 1 mit Binnenmajuskel, aber ohne Bindestrich, werden leider nicht gemacht, doch ist in den Texten Nr. 128, 129 und 135, die jeweils mehr als 60, teils auch bis zu 100 Belege für Binnengroßschreibung in Komposita enthalten, der Typ 1 insgesamt offenbar nur ein einziges Mal belegt: MelckKnecht (vgl. Bergmann / Nerius 1998, 470, 473, 491). Es scheint sich also eher um einen „Boom“ der Kompositumschreibung mit Doppelbindestrich (Typ 2) zu handeln (bei der die Großschreibung des Grundwortes nach dem Bindestrich nicht überrascht) als um eine Ausbreitung der Binnengroßschreibung mit Zusammenschreibung (Typ 1). Wie die Entwicklung nach 1710 weiterging und in welchen Regionen oder Textsorten die Kompositumschreibungen mit Bindestrich oder Binnengroßschreibung in welchem Umfang zum Einsatz kamen, ist bislang noch nicht genauer erforscht. Paul Rössler (1998) konnte jedoch <?page no="314"?> 314 13. Die Entwicklung der satzinternen Großschreibung in einer Analyse von zehn Wiener Drucken des Zeitraums 1630-1768 feststellen, dass darin die Binnenmajuskel in zusammengeschriebenen Komposita (Typ 1) schon zwischen 1630 und 1660 weitgehend verschwindet und die Bindestrich-Komposita zwischen 1730 und 1760 aus der Mode geraten. Rössler führt dies auf den Einfluss von Johann Christoph Gottsched (1749) zurück, der für eine generelle Zusammenschreibung von Komposita (ohne Binnenmajuskel) eintritt. Damit ist der Stand der heutigen Orthographieregelung erreicht, nach der eine Großschreibung des Grundwortes in zusammengeschriebenen Komposita als inkorrekt gilt. In der Produktnamengebung und verwandten Bereichen treten in jüngerer Zeit wieder vermehrt Fälle von Binnengroßschreibung auf, die sich, ähnlich wie im 17. Jahrhundert, auf den Gebrauch in Zweitgliedern von Komposita beschränken (BahnCard, InterCity, GiroService; vgl. Nussbaumer 1996). Da in diesen Fällen die Funktion der Kennzeichnung einer nominalen Einheit durch Großschreibung ihres ersten Buchstaben gewahrt bleibt, handelt es sich nicht um eine echte Abweichung von der orthographischen Regel zur Substantivgroßschreibung, sondern lediglich um eine Ausdehnung dieser Regel auf einen Kontext, in dem ihre Anwendung traditionell nicht zulässig ist, nämlich auf das Grundwort im zusammengeschriebenen Kompositum. Von Orthographietheoretikern wird diesem Verstoß gegen die Regeln zur Kompositumschreibung eine „graphostilistische Funktion“ zugeschrieben: Die abweichenden Schreibungen werden eingesetzt, um Aufmerksamkeit zu generieren (vgl. Nerius 2007, 280). In diesen Zusammenhang gehört auch das sogenannte „Binnen-I“, das in Konstruktionen wie HörerInnen oder StudentInnen verwendet wird, um statt des „genererischen Maskulinums“ (die Hörer, die Studenten) eine geschlechtsneutrale Bezeichnung zu gebrauchen. Auch hierbei wird die Regel, dass der Majuskelgebrauch auf das erste Zeichen einer bedeutungstragenden Einheit beschränkt ist, nicht verletzt, allerdings handelt es sich hier nicht um ein Wort, sondern um ein Derivationsmorphem ('-in'). Ebenso lassen die in einigen Abkürzungswörtern wie BfA (Bundesversicherungsanstalt für Angestellte) oder BAF öG (Bundesausbildungsförderungsgesetz) gebrauchten Binnenmajuskeln eine Beschränkung auf Substantive erkennen, denn auch hier bekommen nur die nominalen Elemente eine Majuskel, nicht z. B. das Wort für (in BfA) oder der zweite Buchstabe des Substantivs Förderung (in BAF öG). Eine echte Binnengroßschreibung (bzw. Großschreibung am Wortende), wie man sie sich in Schreibungen wie BaHncard, BahNcard oder BahncarD vorstellen könnte und wie sie in den Texten des 8. und 11. Jahrhunderts gelegentlich aufgetreten war, ist heute auch in der Werbung kaum belegt. 13.3.2. Spezialfall Adjektivgroßschreibung Auch wenn sich der Majuskelgebrauch nur für Eigennamen sowie für die Wortklasse der Substantive als obligatorisch durchgesetzt hat, gab es doch immer auch Tendenzen zu einem mehr oder weniger klar geregelten Gebrauch von Großbuchstaben zu Beginn anderer Wörter. Meist handelt es sich hierbei um geringe Frequenzen. Bergmann/ Nerius (1998), die neben der Großschreibung von Substantiven oder Substantivierungen auch die Großschreibung <?page no="315"?> 315 13.3. Temporäre und nachhaltige Innovationen in der Großschreibung anderer Wörter untersuchen, konstatieren für die meisten Wortklassen sehr geringe Durchschnittswerte: bei den Verben etwa 0,1-0,8 %, bei Pronomen 0,2-1,7 % (vgl. aber Kap. 13.3.3), bei Konjunktionen 0,0-0,3 %, bei Adverbien 0,2-0,5 %, bei Präpositionen 0,0-0,2 % und bei Artikeln 0,0-0,2 %. Eine gewisse Ausnahme bilden hierbei allerdings die Adjektive, die deutlich häufiger großgeschrieben werden. Die heutige „Amtliche Regelung“ lässt Adjektivgroßschreibung nur in sehr speziellen Kontexten zu, etwa wenn die Adjektive Teil einer festen Verbindung sind (Schwarzes Brett, Heiliger Vater, Gelbe Karte). Im 16. und 17. Jahrhundert konnten dagegen im Prinzip alle Adjektive großgeschrieben werden, wenn ihnen in einem bestimmten Kontext besondere Bedeutung zukam, am ehesten Adjektive, die auf Orts- oder Personennamen (Meißnisch, Griechisch, Gregorianisch), auf sonstige Personenbezeichnungen (Bu ͤ rgerlich, Kindisch, Ma ͤ nlich) oder auf Nomina sacra (Göttlich, Heilig, Himmlisch) zurückgehen, aber durchaus auch andere Adjektive (Blutig, Eiskalt, Mitternechtig). Im Durchschnitt, d. h. über alle Adjektivklassen gerechnet, steigen die prozentualen Anteile für Großschreibung von 0,7 % (um 1500) über 6,3 % (um 1530) auf stabile Werte zwischen 11,0 und 17,3 % (1560 bis 1710). In manchen Subklassen liegen die Anteile allerdings deutlich höher, etwa bei den adjektivischen Nomina sacra, deren Anteil von 0 % (um 1500) über 19,4 % (um 1530) auf 30,2 % (um 1560) und dann auf 56-67 % (um 1590-1650) ansteigt und sich dann auf etwa 50 % einpendelt (1680-1710). Adjektivgroßschreibung gewinnt also im Laufe des späteren 16. und vor allem 17. Jahrhunderts eine große Popularität. Auch hier ist das Ende der Entwicklung aufgrund der Begrenzung des Korpus von Bergmann/ Nerius (1998) nicht erkennbar, doch deuten die Untersuchungen von Wegera (1996, 390) zu acht Texten des 18. Jahrhunderts darauf hin, dass die Adjektivgroßschreibung schon ab ca. 1740 wieder stark zurückgeht und in der zweiten Jahrhunderthälfte nur noch „spärlich“ verwendet wird; ein Befund, der durch breitere Korpusanalyen überprüft werden müsste. 13.3.3. Großschreibung aus Höflichkeit: Anredepronomen Während die Großschreibung bei Adjektiven und anderen Wörtern aus der Mode gekommen ist, ist sie bei einer Wortart heute noch zulässig, teils sogar vorgeschrieben, nämlich bei den Anredepronomen. Nach dem amtlichen Regelwerk der deutschen Rechtschreibung werden das Anredepronomen Sie und das Possessivpronomen Ihr (sowie deren flektierte Formen) großgeschrieben. Die Großschreibung trägt hier dazu bei, das Textverständnis zu sichern, das aufgrund der Homonymie von Sie / sie (Ich habe Sie / sie bereits informiert! ) und Ihr / ihr (Ist das Ihr Armband? Oder gehört es ihr? ) gefährdet ist. Für die Anredepronomen du und ihr mit ihren Possessivpronomen gilt grundsätzlich Kleinschreibung, da hier keine Verwechslungsgefahr besteht. Doch können sie in Briefen fakultativ auch großgeschrieben werden (Lieber Freund, ich schreibe dir / Dir diesen Brief und schicke dir / Dir eure / Eure Bilder-…). In der Geschichte der deutschen Grammatik wurde der Majuskelgebrauch bei Anredepronomen erst verhältnismäßig spät geregelt. Der erste Hinweis auf einen solchen Gebrauch findet sich 1642 in dem Band „Teutsche Orthographie Oder Rechte Schreibe=Kunst“ von Johann Bellin, also mehr als ein Jahrhundert nach der Regelung der Großschreibung von Städte- und Fürstennamen im „Schryfftspiegel“: <?page no="316"?> 316 13. Die Entwicklung der satzinternen Großschreibung „Also auch / wenn man in Hochzeit= und anderen Getichten eine Person anredet / wird das pronomen mit einem Versal geschrieben / als: Gott gebe Dier vil Glu ͤ ck und Segen! “ (Bellin 1642, zit. n. Bergmann / Nerius 1998, 953) Wolfgang Mentrup stellt in seinem Überblick über die Entwicklung dieser „Großschreibung aus Ehrerbietung“ fest, dass die Grammatiker den höflichen Gebrauch von Großbuchstaben in der Anrede im 18. Jahrhundert oft mit der Einschränkung verbanden, dass es sich bei den Angesprochenen um Personen höheren Standes handle (vgl. Mentrup 1979, 21). Die heutige Regel der Großschreibung des Höflichkeitspronomens Sie und (fakultativ) des Du / Ihr in Briefen ist somit ein Relikt eines Regelsystems zur Großschreibung aus „Ergebenheit“, das sich im Kontext eines komplexen Anredesystems entfaltet hat. Dieses System umfasste ursprünglich neben dem aus der 3. Ps. Pl. abgeleiteten Pronomen Sie und dem Du auch das aus der 3. Ps. Sg. abgeleitete Er / Sie, und ein singularisches Ihr. Für diese veralteten Formen ist noch in der heutigen Rechtschreibregelung explizit Großschreibung vorgeschrieben (Habt Ihr es Euch überlegt, Fürst von Gallenstein? Johann, führe Er die Gäste herein), und ebenso auch für Pronomen in Titeln (Seine Majestät, Eure Exzellenz) (Deutsche Rechtschreibung 2011, 72). Bis ins 19. Jahrhundert wurden auch Pronomen auf -selb (Der-/ Dieselbe möge sich bei mir einfinden) mit den dazugehörigen Kasusformen (Dem-/ Derselben, Denselben / Dieselbe) und die Kurzform Dero (Dero Majestät) durch Großschreibung hervorgehoben (vgl. Mentrup 1979, 22). Gelegentlich wurden auch Pronomen der 1. Person (Ich, Wir bzw. Uns) großgeschrieben. Im Laufe der Zeit wurde die Zahl der Anredepronomen dann auf das heutige, binäre System du vs. Sie reduziert (vgl. Besch 1996, 2003b; Simon 2003, Kap. 4). Das „Ihrzen“ und der Gebrauch von Derselbbzw. Ihro und Dero werden von den Grammatikern allerdings noch bis um 1900 als Möglichkeiten der höflichen Anrede genannt, wobei die letzteren Formen bereits ab den 1820er Jahren zunehmend als „abgeschmackt“ und „veraltet“ eingestuft und abgelehnt werden (vgl. Mentrup 1979, 39). Zugleich wurde die Einschränkung des Höflichkeitspronomens auf „vornehme“ Adressaten aufgehoben, so dass wir heute grundsätzlich alle erwachsenen Personen, mit denen wir nicht näher bekannt sind, erst einmal siezen, unabhängig von ihrem sozialen Stand oder Status, wobei diese Regel in spezifischen Kontexten aufgehoben sein kann, etwa in manchen Sportvereinen oder unter den Studierenden an einer Universität, wo sich ein grundsätzliches Duz-Gebot etabliert hat. Während sich Mentrup mit der Regelung der Großschreibung für Anredepronomen in den Grammatiken beschäftigt, untersuchen Bergmann/ Nerius (1998) deren Verwendung in der Schreibpraxis. Sie stellen fest, dass der Majuskelgebrauch bei Anredepronomen, der schon seit dem 14. Jahrhundert belegt ist, im Untersuchungszeitraum auf recht niedrigem Niveau stark schwankt (zwischen 0 % um 1500, 13,9 % um 1620 und 10,0 % um 1710). Die Großschreibung der Anredepronomen hat sich somit frühestens im 18. Jahrhundert durchgesetzt, was mit der Beobachtung zusammenpasst, dass auch die Grammatiker erst in dieser Zeit verstärkt darauf hinweisen. Über den genaueren Ablauf dieses Prozesses ist allerdings wenig bekannt, da die Entwicklung nach 1700 bisher nur unzureichend untersucht worden ist. Petra Krohn (2001) stellt in ihrer Studie zur Großschreibung in Gebrauchstexten des Zeitraums 1700 bis 1900 fest, dass die Anredepronomen „Du“ (mit Possessivum „Dein“) und „Ihr“ (mit <?page no="317"?> 317 13.4. Fazit: Von der Auszeichnungsfunktion zum orthographischen „Regelzwang“ Possessivum „Euer“) auch im 18. Jahrhundert noch überwiegend kleingeschrieben werden (3,8 % Großschreibung für „Du“/ „Dein“, 0 % für „Ihr“/ „Euer“), während in den Texten des 19. Jahrhunderts die Großschreibung dominiert (100 % für „Du“/ „Dein“, 54 % für „Ihr“/ „Euer“). Allerdings sind diese Prozentwerte wegen der geringen Belegzahlen (nur 18 Belege für „Du“/ „Dein“ und 44 Belege für „Ihr“/ „Euer“ aus dem 19. Jahrhundert) und der Nichtunterscheidung von Singular- und Pluralbelegen bei „Ihr“/ „Euer“ in ihrer Aussagekraft eingeschränkt. Das neue Anredepronomen „Sie“ (mit Possessivum „Ihr“) kommt in den Korpustexten aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch nicht vor, wird ab 1750 aber ausschließlich mit Großschreibung verwendet. 13.4. Fazit: Von der Auszeichnungsfunktion zum orthographischen „Regelzwang“ Wie der Abriss zur Geschichte der satzinternen Großschreibung gezeigt hat, war der Majuskelgebrauch über mehrere Jahrhunderte pragmatisch motiviert und diente dazu, wichtige Textinhalte durch die graphematische „Auszeichnung“ besonders hervorzuheben. Labs- Ehlert (1993, 14) spricht davon, dass die Großschreibung in den älteren Sprachstufen des Deutschen noch einen „sinnlichen Charakter“ besessen habe, der in der jüngeren Zeit „durch den Regelzwang“ zur Substantivgroßschreibung verlorengegangen sei. In der Tat steht uns die Groß- und Kleinschreibung aufgrund der festgelegten Rechtschreibregeln heute nur in sehr eingeschränktem Maße als Mittel zur Hervorhebung zur Verfügung, etwa im Falle der Binnengroßschreibung in Komposita (BahnCard), bei durchlaufender Großschreibung in Titeln ( FOCUS , DER SPIEGEL ) oder auch bei dem konsequenten Verzicht auf Großbuchstaben (taz. die tageszeitung), der insbesondere in den 1960er und 1970er Jahren ideologisch aufgeladen wurde und als „progressiv“ und „modern“ galt. In Comics wird die Majuskelschreibung häufig auch ikonisch eingesetzt, um (oft gekoppelt mit Fett- und Kursivdruck, einem größeren Schriftgrad und einer Multiplikation von Buchstaben) z. B. eine größere Lautstärke zu symbolisieren ( AAAAAH ! NEIIIN ! ). All diese Majuskelverwendungen implizieren eine Abweichung von den üblichen Gepflogenheiten und sind gemessen an der Orthographienorm als „Fehler“ einzustufen. Bis in die 1980er Jahre war aus verschiedenen Gründen (vor allem zur Vereinfachung des Schreibprozesses) eine Abschaffung der satzinternen Großschreibung eine der Hauptforderungen der Orthographiereformer. Auch Wolfgang Mentrup (1984), der seinen Artikel in gemäßigter Kleinschreibung drucken ließ, spricht sich am Ende für die Abschaffung der Substantivgroßschreibung aus, denn es sei „eine total normierte benutzerfeindliche schreibregelung entstanden, deren kompliziertheit eine reform als dringend und notwendig erscheinen läßt“. Ähnlich kritisch äußert sich auch Risse (1980, 222-228) in ihrer „Stellungnahme zur Regel der Substantivgroßschreibung“. Bei der Rechtschreibreform von 1996 wurde die gemäßigte Kleinschreibung aber bekanntlich nicht eingeführt, und so stellen die Regeln zur Groß- und Kleinschreibung auch geübte Schreiber noch immer vor große Herausforderungen (zur Not vs. vonnöten, Ernst machen vs. etwas ernst nehmen, um viertel fünf vs. um Viertel vor fünf usw.). Vor dem Hintergrund der Überlegungen von Hotzenköcherle und Maas zur Nützlichkeit der Großschreibung für das Erkennen von Satzstrukturen steht deren Abschaffung <?page no="318"?> 318 13. Die Entwicklung der satzinternen Großschreibung zur Zeit nicht mehr auf der Agenda der Reformer. Dennoch gibt es Überlegungen, ob man nicht zumindest in den notorisch unklaren Bereichen den strengen und unübersichtlichen Regelapparat lockern sollte, um die Möglichkeit wiederzubeleben, etwas durch Majuskel-/ Versaliengebrauch hervorzuheben. So schreibt Labs-Ehlert (1993) vor der Hintergrund ihrer Untersuchung zum Schreibusus des 8. bis 11. Jahrhunderts: „Die im heute verbindlichen Regelwerk in 76 Regeln geforderte Groß- oder Kleinschreibung verhindert, Versalbuchstaben als ein Auszeichnungsmittel einzusetzen, mit dem der Schreiber ihm Wichtiges hervorheben kann. Es ist also durchaus überlegenswert, die Bestimmungen auf die Grundregeln zurückzuführen, um somit die Möglichkeit zu eröffnen, den Versalbuchstaben am Wortanfang absichtsvoll zur Hervorhebung einzusetzen. Bei einem verantwortungsbewußten Gebrauch der Versalien ergäben sich dann ganz neue Nuancierungsmöglichkeiten, die heute noch als orthographische Fehler-[…] geahndet werden.“ (Labs-Ehlert 1993, XVII ) In dem aktuellen amtlichen Regelwerk von 2006 (mit Nachträgen von 2010) umfasst das Kapitel zur satzinternen Großschreibung immer noch 20 engbedruckte Seiten mit zahlreichen Regeln, aber in manchen Bereichen ist schon die Möglichkeit einer Auswahl zwischen zwei Varianten eingeräumt worden, was auch ausdrücklich als Chance zur „Hervorhebung“ von Wichtigem beschrieben wird (z. B. das Schwarze Brett als Variante zum schwarzen Brett). <?page no="319"?> 319 14. Ausblick In den vorangehenden Kapiteln wurden die Gegenstände, Ziele und Methoden der Historischen Graphematik unter verschiedenen Gesichtspunkten vorgestellt und erörtert. Hierbei hat sich gezeigt, dass die vormoderne Schriftlichkeit in einem hohen Maße durch Variation geprägt ist, die sich auf die Unterschiede in den externen Bedingungen des Schreibens zurückführen lässt- - die Schreibweise wechselt je nach Region, Textsorte, sozialem Status, ggf. auch entsprechend der konfessionellen Ausrichtung oder den Gepflogenheiten einzelner Druckereien. Hinzu kommt die „idioskriptale Lizenz“ der individuellen Schreiber, die sich nicht nur auf die Auswahl bestimmter Graphien beschränkte, sondern auch auf die grundsätzliche Entscheidung darüber, wie unmittelbar sich eine Schreibsprache auf das Lautsystem beziehen sollte und in welchen Bereichen lautunabhängige Schreibmuster gebraucht wurden. Etwa ab dem späten 15. Jahrhundert entwickelte sich der Wunsch nach einem überregionalen sprachlichen Ausgleich, und die zunächst nur durch den praktischen Gebrauch erreichten Ansätze einer schreibsprachlichen Standardisierung wurden vor allem ab dem 17. Jahrhundert durch die Kodifikationsversuche der Grammatiker und Orthographiereformer verstärkt. Als probates Mittel für die wissenschaftliche Erforschung der historischen Schreibsprachen und ihrer Entwicklung hat sich die graphematische Distributionsanalyse mit Bezugnahme auf ein lauthistorisches Referenzsystem bewährt. Die damit erzielten Forschungsergebnisse, aber auch die verbleibenden Unsicherheiten in der Interpretation bestimmter Variationsmuster wurden an ausgewählten graphematischen Themenfeldern (Gebrauch von Doppelkonsonantengraphien, morphembezogene Variation, Umlautkennzeichnung, Kennzeichnung von Vokalwandel vor Konsonantenverbindungen, Großschreibung) diskutiert. Für einige Regionen, Zeitstufen und Phänomenbereiche fehlt es jedoch immer noch an genaueren Analysen, um unser Wissen von der jeweiligen regionalen Sprachentwicklung zu vervollständigen und empirisch abzusichern. Das umfangreiche Quellenmaterial in mittelhochdeutscher, mittelniederdeutscher und frühneuhochdeutscher Sprache bietet hierfür reichlich Ansatzpunkte. Anders als noch vor wenigen Jahren stehen heute zahlreiche Originaltexte in zuverlässigen digitalen Editionen zur Verfügung. Auf einige Themen, für die weitergehende Untersuchungen lohnend erscheinen, wurde in den vorangehenden Kapiteln bereits hingewiesen, z. B.: ▶ Wo haben die auf individueller Ebene festzustellenden graphematischen Stile ihren Ursprung und wie haben sich Graphien oder graphematische Strukturen areal ausgebreitet (Kap. 5)? ▶ Wie stark und in welchen Bereichen ist mit textsortenspezifischer graphematischer Variation zu rechnen (Kap. 6.2.2)? ▶ Wie groß war der Einfluss der Drucker, Korrektoren und Setzer auf die schreibsprachliche Gestaltung der gedruckten Texte (Kap. 6.2.3)? ▶ Wie stark reflektieren die schreibsprachliche Zeugnisse die sozialen Hierarchien ihrer Zeit, und bis zu welchem Grad lassen sich sozial markierte Formen des Sprechens daraus rekonstruieren (Kap. 6.2.4)? <?page no="320"?> 320 14. Ausblick ▶ Bis zu welcher Zeit erschien es professionellen Schreibern geboten, ihre stilistische Virtuosität auch durch Variation auf der graphematischen Ebene zu demonstrieren (Kap. 6.3.3)? ▶ Wie hat sich der Abbau der wortbzw. morphembezogenen Graphienvariation genau vollzogen (Kap. 11.2)? Im abschließenden Ausblick soll nun noch auf drei Aufgabenstellungen hingewiesen werden, die für die künftige historisch-graphematische Forschung in methodischer Hinsicht eine besondere Herausforderung darstellen, weil sie teils die Erstellung neuer Korpora voraussetzen, teils auch die Generierung neuer Auswertungsverfahren und Darstellungsmethoden erforderlich machen: ▶ Graphienräume: areale Reichweiten von Graphien und Graphemen (Kap. 14.1), ▶ Graphematische Variablenanalyse als Methode zur Lokalisierung und Datierung historischer Handschriften (Kap. 14.2). ▶ Historische Graphematik im europäischen Kontext (Kap. 14.3). 14.1. Graphienräume: areale Reichweiten von Graphien und Graphemen Die Beschäftigung mit historischen Schreibsprachen war lange Zeit auf die Analyse lokaler oder regionaler Schreibtraditionen fokussiert. Zwar gab es schon in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Versuche, die areale Reichweite verschiedener Wortschreibungen kartographisch darzustellen. Sie waren jedoch in der Regel darauf ausgerichtet, über die Verbreitung historischer Schreibungen ein Bild von dem Vordringen bedeutsamer Innovationen auf der phonologischen Ebene zu gewinnen. Als ein typisches Beispiel unter vielen kann die Karte Nr. 35 aus der „Grundlegung einer Geschichte der deutschen Sprache“ von Theodor Frings (1948, 83) angeführt werden, auf der die Ausbreitung der neuhochdeutschen Diphthongierung dargestellt ist (Abb. 62). Visualisiert wird hier das Vordringen der diphthongischen Form haus nach Norden zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert, mit der Konsolidierung der Grenze zur norddeutschen Form hūs, die auch in einigen mittel- und süddeutschen Reliktgebieten dauerhaft bewahrt wird. Kartiert werden nicht die historischen Graphien, sondern die daraus erschlossenen und abstrahierten Laute. Auf einer graphematischen Karte müsste hingegen die Verteilung von Schreibvarianten wie haus, haws (im Süden) oder hus, hues, huys (im Norden) dargestellt werden. Ein genuines Interesse an der räumlichen Verbreitung historischer Graphien und Grapheme ist im Zusammenhang mit der These eines schreibsprachlich basierten Sprachausgleichs zu konstatieren, die Werner Besch seit den 1960er vortrug und die eine genauere Erfassung des Vorkommens regionaler Graphien im Raum erforderlich machte. Auch hier bewegt sich die Kartierung jedoch häufig auf einem recht hohen Abstraktionsniveau und stellt eher Graphienklassen als einzelne Graphienvarianten dar. So fasst Beschs Karte zur frühneuhochdeutschen Diphthongierung die vorderen und hinteren Vokalpositionen zusammen („Karte 1: mhd. î, û, iu“) und gibt lediglich an, an welchen Untersuchungsorten die alten Monophthonge erhalten sind und in welchen sie diphthongiert erscheinen, ohne auch die konkreten graphischen Realisierungen (wie <i>, <y> bzw. <ei>, <ey> für mhd. ī oder <u>, <ú>, <ue>, <ui> bzw. <au>, <aw> für mhd. ū) darzustellen. <?page no="321"?> 321 14.1. Graphienräume: areale Reichweiten von Graphien und Graphemen Abb. 62. Die Ausbreitung der neuhochdeutschen Diphthongierung (Karte 35 aus Frings 1948, 83; basierend auf einer Karte aus Wagner 1927, Deckblatt 5) Der erste Schreibsprachatlas im eigentlichen Sinne für den deutschsprachigen Raum wurde in den 1970er Jahren von einem Forscherteam am Lehrstuhl des Freiburger Germanisten Friedrich Maurer erstellt. Der „Historische Südwestdeutsche Sprachatlas“ ( HSS ), erarbeitet von Wolfgang Kleiber, Konrad Kunze und Heinrich Löffler, dokumentiert die graphematischen Realisierungen von 104 vokalischen und 106 konsonantischen Lautpositionen bzw. Lautpositionsklassen an 114 Ortspunkten. Die Textgrundlage bilden spätmittelalterliche Urbare des 13. bis 15. Jahrhunderts (vgl. oben Kap. 6.2.4). Auf zwei HSS -Karten wird die areale Verbreitung verschiedener graphematischer Realisierungen von mhd. ū dokumentiert. Karte 50 zeigt die Verbreitung von Graphien, die auf eine diphthongische Vokalrealisierung hindeuten (z. B. haus, haüs, hau ͤ s). Da es in dem hier berücksichtigten Zeitraum nur wenige dieser Belege gibt, werden die verschiedenen graphematischen Varianten für mhd. û auf dieser Karte in einem Symbol zusammengefasst und nur im begleitenden Kommentar einzeln angeführt (vgl. Kleiber / Kunze / Löffler 1979, Bd. 1, 142 f.). Interessanter ist im vorliegenden Zusammenhang die Karte 53, auf der die Verbreitung von Graphien kartiert ist, die auf eine Palatalisierung des Vokals hinweisen (Abb. 63). <?page no="322"?> 322 14. Ausblick Die Karte lässt die areale Verteilung der Graphien <ú>, <u ͤ >/ <ü> und <ů> auf einen Blick erkennen. Im dazugehörigen Kommentar (vgl. Kleiber / Kunze / Löffler 1979, Bd. 1, 144 f.) werden die zugrunde liegenden Wortformen detailliert aufgeschlüsselt (z. B. hús, hu ͤ s, hüs, hůs, hůis). Darin liegt ein großer Vorteil gegenüber den historischen Sprachstufengrammatiken, bei denen die areale Verteilung der schreibsprachlichen Varianten mühsam aus den einzelnen Paragraphen zu den jeweiligen Bezugslauten extrahiert werden muss. Ein Nachteil des HSS besteht allerdings darin, dass der Zeitraum (ca. 1270 / 80 bis 1430) auf den meisten Karten wie ein synchroner Schnitt behandelt wird. Ob sich innerhalb des ca. 150jährigen <?page no="323"?> 323 14.1. Graphienräume: areale Reichweiten von Graphien und Graphemen Abb. 63. Die Verbreitung von „Palatalisierungsgraphien“ für mhd. ū (Karte 53 aus Kleiber / Kunze / Löffler 1979, Bd. 2) Untersuchungszeitraums Veränderungen im Graphiengebrauch vollzogen haben, ist an den Einzelkarten nicht ablesbar. Diachronische Entwicklungen werden nur bei einzelnen Variablen veranschaulicht, durch Gegenüberstellung von Einzelkarten zu einer älteren und einer jüngeren Zeitstufe, z. B. auf den Karten 130 und 131 zum Gebrauch von <pf> und <ph> vor bzw. nach 1330 (ebd., 232). <?page no="324"?> 324 14. Ausblick Einen deutlichen Fortschritt markieren demgegenüber aus graphematischer Perspektive die Karten in dem neuen „Atlas spätmittelalterlicher Schreibsprachen des niederdeutschen Altlandes und angrenzender Gebiete“ ( AS nA) des Münsteraner Germanisten Robert Peters, der die graphematische Varianz im westniederdeutschen Sprachraum, in Lübeck, im ostniederländischen Raum sowie in Köln anhand von 44 Ortspunkten differenziert dokumentiert. Aufgrund der rasanten Entwicklung der Computertechnologie in den letzten drei Jahrzehnten sind die Möglichkeiten zur Generierung und zum Druck mehrfarbiger Karten heute ungleich vielfältiger als zur Zeit der Erstellung des HSS . Wie der AS nA demonstriert, lassen sich heute mithilfe geeigneter Software Karten von großer Komplexität erzeugen, die hohe Präzision mit Anschaulichkeit verbinden und auf denen diatopische Verteilungen und diachronische Abläufe zugleich dargestellt werden können. Auf der in Abb. 65 abgedruckten Karte zu den Realisierungen des Stammvokals in dem Wort mnd. hūs 'Haus' (in geschlossener Silbe) wird im Unterschied zu den Karten aus Wagner (1927), Frings (1948) oder Besch (1967) erkennbar, dass die Schreibsprachen des Nordens keineswegs eine monographische Realisierung für die historische Lautposition ū aufweisen, sondern dass es dafür vielmehr sieben verbreitete Vokalgraphien gibt (hues, huis, huys, huus, hus, hůs, hüs). Da auf den Kartendiagrammen jeweils nur relative Graphienanteile abzulesen sind, haben die Autoren des Atlasses im zweiten Band ausführliche Tabellen beigegeben, in den die absoluten Auftretenshäufigkeiten der auf jeder Karte verzeichneten Varianten für die 44 Untersuchungsorte verzeichnet sind (vgl. Peters 2017, Bd. 2, 90-93). Bei diesen kartierten Varianten handelt es sich allerdings ihrerseits um Klassen von Graphien, hier als Belegtypen bezeichnet, die aus Gründen der Übersichtlichkeit und Anschaulichkeit jeweils mit demselben Symbol kartiert wurden. So sind z. B. unter dem Belegtyp <hues> alle Schreibvarianten zusammengefasst, bei denen eine u- oder v-Graphie mit einem nachfolgenden <-e> kombiniert ist; auf dieser Ebene gibt es allein sieben verschiedene Vokalrealisierungen (hues, hůes, hües, hu ͤ es, hǔes, hue ͤ s, hves; oft als Bestandteil von Komposita wie bakhues oder hueshere), kombiniert mit diversen Varianten bei der Wiedergabe des Auslautkonsonanten (z. B. hues, huess, huesz, hueß). Wer auch die Auftretenshäufigkeiten dieser Einzelvarianten innerhalb der Belegtyp-Klassen nachvollziehen möchte, findet diese Angaben (mit den absoluten Beleghäufigkeiten) in einem Verzeichnis der Schreibformen im dritten Atlasband (vgl. für die Karte 31: Peters 2017, Bd. 2, 169-179). In der Kombination der Karten mit den jeweils dazugehörigen Belegtypen- und Schreibformen- Listen werden die dem AS nA zugrundeliegenden Basisdaten differenziert und transparent offengelegt. Bei Betrachtung der Karte wird deutlich, dass die verschiedenen Vokalgraphien nicht willkürlich nebeneinanderstehen, sondern eine klare areale Verteilung zeigen. So tritt die Graphie <uu> vor allem in den niederländischen Ortspunkten Groningen, Kampen, Utrecht und Arnheim auf, die Graphie <ui> primär in Zwolle, Kampen und Zutphen, die Graphie <uy> im gesamten Westen bis hinunter nach Köln und östlich bis zur Ems, während im nordniederdeutschen und ostfälischen Raum ebenso wie in Lübeck weitgehend die Graphien <u> und <ů> präferiert werden. Können die Realisierungen dieser Lautposition aber wirklich zu einer Sammelkategorie („ohne Diphthongierung“) zusammengefasst werden, wie es auf der Frings’schen Hūs / Haus-Karte geschieht? Dies ist nicht nur aus graphematischer <?page no="325"?> 325 14.1. Graphienräume: areale Reichweiten von Graphien und Graphemen Sicht problematisch, weil durch die Zusammenfassung der verschiedenen Varianten zu einer abstrakten Referenzform wesentliche Erkenntnisse über die Ausdehnung von Schreibspracharealen verdeckt werden. Vielmehr ist eine solche Vereinheitlichung auch aus der Perspektive der historischen Phonologie bedenklich, da grundsätzlich nicht auszuschließen ist, dass graphematische Unterschiede auch mit Ausspracheunterschieden einhergehen könnten. Ob z. B. eine Realisierung wie hues, huys oder huis im Mittelniederdeutschen als Wiedergabe eines Monophthongs zu werten ist, ist fraglich-- im modernen Niederländischen bezeichnet die Graphie <ui> in huis 'Haus' jedenfalls den Diphthong [əʏ] . Die Karten des AS nA verdeutlichen darüber hinaus auch eine zeitliche Entwicklung, indem keine Punktsymbole verwendet werden, sondern komplexe Diagramme, deren Säulen die graphematischen Realisierungen in unterschiedlichen Zeitstufen wiedergeben (Abb. 64). Abb. 64. Visualisierte Zeitstufen im „Atlas spätmittelalterlicher Schreibsprachen des niederdeutschen Altlandes und angrenzender Gebiete“ ( AS nA) (Detail aus Karte 31 in Peters 2017, Bd. 1, 75) Im diachronen Vergleich ist z. B. zu erkennen, dass die im 14. Jahrhundert im Westen noch weit verbreitete Schreibung hues im 15. Jahrhundert zwar an einigen Orten stabil bleibt (Bocholt, Coesfeld, Oldenzaal; mit Einschränkungen auch in Deventer und Wesel), in anderen jedoch weitgehend durch die Schreibweise huys (Zwolle, Kleve, Duisburg) oder huus (Groningen) ersetzt wird. Eine Karte, die den Stand um 1350 darstellte, würde für die ausgewählte Variable somit andere Areale zeigen als eine Karte für den Zeitschnitt um 1450. Wünschenswert wäre es, die im AS nA angewandte Auswertungs- und Kartierungstechnik auch auf die mittel- und oberdeutschen Regionen auszudehnen. Trotz des hohen zeitlichen und finanziellen Aufwandes eines solchen Unternehmens (am AS nA wurde nach Auskunft <?page no="326"?> 14. Ausblick Abb. 65. Die Verbreitung der Graphien für mnd. ū in Haus (geschlossene Silbe) (Karte 31 aus Peters 2017, <?page no="327"?> 14.1. Graphienräume: areale Reichweiten von Graphien und Graphemen Bd. 1, 75; Karte im Original farbig) <?page no="328"?> 328 14. Ausblick der Verfasser seit Sommer 1994 gearbeitet, bis zum Erscheinen der Kartenbände vergingen 23 Jahre) würde sich die Erstellung eines Schreibsprachatlasses für die hochdeutschen Sprachregionen zweifellos lohnen. Karten dieser Art könnten ein neues Licht auf die räumliche und zeitliche Ausbreitung der Graphien und die Sprachausgleichsprozesse im Zuge der Herausbildung der neuhochdeutschen Schriftsprache werfen. 14.2. Graphematische Variablenanalyse als Methode zur Lokalisierung und Datierung historischer Handschriften Bei der Beschäftigung mit historischen Texten ist die Bestimmung der Entstehungszeit und der regionalen Provenienz häufig ein zentrales Problem. Mit dem in Kap. 14.1 vorgestellten „Atlas spätmittelalterlicher Schreibsprachen des niederdeutschen Altlandes und angrenzender Gebiete“ steht für den niederdeutschen Raum ein differenziertes Instrument zur Verfügung, das eine tendenzielle Zuordnung von bislang undatierten und nicht lokalisierten Texten anhand von Variablen ermöglicht. Für den Südwesten lässt sich auf die Angaben im „Historischen Südwestdeutschen Sprachatlas“ zurückgreifen. Für den mittel- und ostoberdeutschen Raum ist man jedoch nach wie vor auf die Grammatiken der historischen Sprachstufen und die monographischen Darstellungen zu den Schreibsprachen einzelner Regionen angewiesen. Die Konsultation dieser Literatur ist ein zeitraubendes und aufwändiges Unterfangen, denn in den Grammatiken sind die Informationen zur Provenienz und zeitlichen Einordnung bestimmter Graphien auf unterschiedliche Paragraphen verstreut und werden nicht im systematischen Überblick dargeboten, und die jeweils für eine Region einschlägigen Monographien müssen erst mühsam zusammengetragen werden. In Hinblick auf einen schnelleren Umgang mit neuen Textquellen wurde daher mehrfach der Versuch unternommen, graphematische Variablenlisten zu erstellen, anhand derer sich historische Texte möglichst präzise lokalisieren und datieren lassen. Für die mittelhochdeutsche Zeitstufe hat z. B. der Bonner Sprachhistoriker Thomas Klein Entwürfe für verschiedene Merkmalstabellen zum Pronominalsystem vorgelegt, auf deren Grundlage auch statistische Operationen wie Distanzberechnungen oder Clusteranalysen möglich sein sollen (vgl. Klein 2016). Variablenlisten zu einzelnen Schreibsprachlandschaften, z. B. zum ostmitteldeutschen und niederdeutschen Raum, bietet auch die Webseite von Brigitte Pfeil (http: / / bilder.manuscripta-mediaevalia.de/ gaeste/ Schreibsprachen/ Schreibsprache1.html). Ein weiter ausgearbeiteter Vorschlag für eine Merkmalsliste wurde 2006 / 07 in dem studentischen Projekt „Schreibsprachen im Spätmittelalter“ der Universität Bielefeld unter Leitung des Mediävisten Ulrich Seelbach erarbeitet. Auf der Projektwebseite umreißt Seelbach die Aufgabenstellung und das Vorgehen wie folgt: „Eine Handschrift ist in der Regel nicht datiert, nicht signiert, nennt den Auftraggeber (Besteller des Textes) nicht und verschweigt den Ort der Entstehung. Die Frage der Zeit kann mit der Paläographie (unsicher) oder der Bestimmung der Wasserzeichen (ziemlich sicher) beantwortet werden. An welchem Ort sie entstand, lässt sich mithilfe der Schreibsprachenbestimmung nach Sortierung gewisser typischer Merkmale (unsicher) oder mithilfe von Schreibsprachen-Atlanten (ziemlich sicher) klären.-[…] Mitunter könnte es schon hinreichen, die Schreibsprache einer Hand- <?page no="329"?> 329 14.2. GraphematischeVariablenanalyse als Methode zur Lokalisierung und Datierung historischer Handschriften schrift wenigstens pauschal zu bestimmen. Hierzu ist ein Merkmalbündel (aus wenigen Hauptmerkmalen) hilfreich, oder auch ein Alleinstellungsmerkmal wie das ripuarische ‚inde‘ für ‚und‘, oder das Dehnungs-i (hait, rait, doin) für das Westmitteldeutsche. Wir haben in dem Projektseminar ‚Varietäten im Frühneuhochdeutschen‘ versucht, ausgesuchte Urkunden (möglichst aus der Zeit um 1450) auf ihre häufigsten Abweichungen vom Normalmittelhochdeutschen (Lexer-Standard und Paul / Schröbler / Wiehl / Grosse) hin zu befragen. Die Schreibsprachen-Untersuchung dieser Urkunden verzeichnete nicht alle Erscheinungen-[…], sondern nur die auffälligsten Abweichungen von der Norm. In einem weiteren Filterprozess haben wir die Merkmal-Verzeichnisse nochmals eingekürzt. Für jede der untersuchten Schreibsprachen wurden Urkunden einer Stadt gewählt, die möglichst nahe dem Zentrum des Sprachgebietes lagen, für die sie Aussagen erbringen sollten.-[…] Zum Abschluß des Seminars wurden die wichtigsten Kriterien für die Zuordnung von Texten zu den hochdt. Dialektgebieten des 15. Jhs. zusammengetragen und in einem Merkmalkatalog beschrieben.“ (http: / / www.uni-bielefeld.de/ lili/ forschung/ projekte/ brs/ ) Auf der Webseite wird also ein Katalog graphematischer Merkmale angeboten (erstellt von Jörg Wehmeier), der für jede historische Schreibsprachlandschaft typische Graphien im Bereich des Vokalismus und Konsonantismus sowie einige Wortvarianten auflistet. Auch wenn dieser Merkmalskatalog seit etwa zehn Jahren nicht mehr aktualisiert wurde und noch Lücken aufweist (z. B. fehlt noch das Hochalemannische, Oberbairische und Mährische), erscheint die Idee lohnend, ein praktikables Werkzeug für die rasche Einordnung historischer Texte auf der Grundlage festgelegter Merkmale zu entwickeln. Für die praktische Anwendung ist hierbei insbesondere ein reduzierter Katalog mit „Leitformen“ von Interesse, der 26 häufig vorkommende, graphematisch variable Einheiten enthält (auf der Webseite unter dem Stichwort „Leitformen: Anleitung“): ▶ 22 Lexeme bzw. Wortformen: alte-- auch-- auf-- bei-- Brief-- das-- Dienstag-- ein-- er-- geschrieben-- gewesen-- Jahr-- Leute-- oder-- Pfennig-- soll-- sollen-- Tag-- über-- und-- Werk-- zu ▶ 3 Derivationsaffixe: -lein/ -chen-- -nis-- ver- ▶ 1 Graphienfolge: <pf> Das Verfahren der graphematischen Analyse besteht aus vier Schritten. Zunächst wird der zu untersuchende Text mit der reduzierten Variablenliste abgeglichen. Hierfür empfiehlt es sich, die Wörter des zu untersuchenden Textes mithilfe eines Konkordanzprogramms (z. B. AntConc) alphabetisch sortieren zu lassen, um die relevanten Lexeme schneller ermitteln und mit den Variablen der Bielefelder Variablenliste abgleichen zu können. Die Liste enthält z. B. für das Wort Leute elf Schreibvarianten, die jeweils einer oder mehreren Regionen zugeordnet werden (Tab. 53). <?page no="330"?> 330 14. Ausblick lúte lüte ☐ Oberrheinisch WestschwäbischNördlicher Bodensee Südlicher Bodensee Südalemannisch (= Hochalemannisch) Höchstalemannisch Hennebergisch lu+ete ☐ Nordbairisch lute ☐ Nordbairisch Hennebergisch Pfälzisch Südrheinfränkisch luthe ☐ Obersächsisch lude ☐ Nordhessisch Oberhessisch Frankfurterisch Südhessisch Südrheinfränkisch Moselfränkisch Ripuarisch lu+ite ☐ Südl. Niederalemannisch luide ☐ Ripuarisch leute ☐ Augsburgisch Mährisch Nürnbergisch Schlesisch Nordböhmisch leuthe ☐ Schlesisch leüt ☐ Mittelbairisch lewt(e) ☐ Südböhmisch Oberbairisch Südbairisch Tab. 53. Varianten zur Lokalisierung historischer Texte anhand graphematischer Merkmale am Beispiel des Wortes Leute (Detail aus http: / / wwwhomes.uni-bielefeld.de/ useelbach/ cgi/ leitformen.php) 1. Leitform alte/ halten > alte (unspezifisch) 2. auch > och: im Westschwäbischen, Nördlicher Bodensee, Ostschwäbischen, Südl. Niederalemannischen, Südl. Bodensee 3. auf > vf: nicht Hessisch, nicht Bairisch 4. bei > bi: Oberrheinisch, Nördlicher Bodensee, Ostschwäbisch, Südl. Bodensee, Südalemannisch, Höchstalemannisch, Ripuarisch 5. Brief > nicht vorhanden im Text 6. das > daz (unspezifisch) 7. Dienstag > nicht vorhanden 8. ein > ain: Westschwäbisch, Nördl. Bodensee, Ostschwäbisch, Augsburgisch, Südlicher Bodensee, Nordbairisch, Oberbairisch, Südbairisch 9. er > er (unspezifisch) 10. geschrieben > nicht vorhanden 11. gewesen > gesin: Südl. Niederalemannisch, Oberrheinisch? 12. Jahr > jare (unspezifisch) 13. -lein/ -chen > nicht vorhanden 14. Leute < lúte: Oberrheinisch, Westschwäbisch, Nördl. Bodensee, Südl. Bodensee, Höchstalemannisch, Hennebergisch, Thüringisch 15. -nis > núst > nicht belegt in der Tabelle 16. oder > oder (unspezifisch) 17. Pfarre/ Pferd/ Pfund > nicht vorhanden 18. Pfennig > nicht vorhanden 19. soll > sol: nicht Hessisch, nicht Bairisch, nicht Ostmitteldeutsch 20. sollen > nicht vorhanden 21. Tag > tag (unspezifisch) 22. über > v+/ ber: Oberrheinisch, Westschwäbisch, Nördl. Bodensee, Südl. Bodensee, Südalemannisch, Höchstalemannisch, Südböhmisch, Mittelbairisch, Rheinhessisch 23. und > vnd (unspezifisch) 24. ver- > ver-, (vor-) (unspezifisch) 25. Werk > werke: Nördl. Bodensee, Südalemannisch, Südl. Bodensee, Südböhmisch, Mährisch, Moselfränkisch, Ripuarisch, Nordböhmisch 26. zu > zu+o: Oberrheinisch, Westschwäbisch, Nördl. Bodensee, Ostschwäbisch, Südl. Niederalemannisch, Südalemannisch, Südlicher Bodensee, Höchstalemannisch, Nordböhmisch Tab. 54. Leitformenanalyse eines süddeutschen Textes von 1383 (http: / / www.uni-bielefeld.de/ lili/ forschung/ projekte/ brs/ beispiel.html) <?page no="331"?> 331 14.2. GraphematischeVariablenanalyse als Methode zur Lokalisierung und Datierung historischer Handschriften Im zweiten Schritt werden die im Text gefundenen Formen in einem Formular angekreuzt. Da eine automatische Analyse der Formulare noch nicht möglich ist, werden die Zuordnungen im dritten Schritt händisch ausgewertet, um dann in einem vierten Schritt zu einer Gesamtbeurteilung zu kommen. Auf der Webseite des Projekts wird dieses Prozedere am Beispiel eines Beispieltexts von 1383 demonstriert (Text Nr. 33: Otto von Passau, „Die vierundzwanzig Alten“, Landesbibliothek Karlsruhe, Cod. St. Georgen Nr. LXIV , nach Besch 1967, 367-397; Tab. 54). Von den 26 Variablen des Katalogs erweisen sich im vorliegenden Fall acht als unbrauchbar, da sie „unspezifisch“ sind. Das bedeutet, dass der Text eine Form aufweist, die weit verbreitet ist und keine regionale Zuordnung erlaubt. Dies gilt hier z. B. für die Formen alte / halten (Variable 1), daz 'das' (Variable 6) und er (Variable 9). In einem Fall tritt im Beispieltext eine Schreibvariante auf, die im Katalog noch nicht enthalten ist (-núst für -nis). In sieben weiteren Fällen kann die entsprechende Variable nicht ausgewertet werden, da das Wort in dem zu prüfenden Text nicht vorkommt (z. B. bei Variable 5: Brief, Variable 7: Dienstag, Variable 10: geschrieben). Übrig bleiben zehn Variablen, bei denen eine landschaftliche Zuordnung der Textvarianten erfolgen kann. Ordnet man die bei den einzelnen Variablen gefundenen „Treffer“ nach Regionen, ergibt sich am ehesten eine Lokalisierung des Textes im Bodenseeraum (Tab. 55). Dies passt zu Beschs sprachlicher Charakterisierung des Textes als „ostalemannisch“. Tab. 55. Ergebnis der Leitformenanalyse: dominante Regionen bei der Zuordnung der Varianten (http: / / www. uni-bielefeld.de/ lili/ forschung/ projekte/ brs/ beispiel.html) Um zu prüfen, wie gut sich dieses Verfahren in anderen Fällen anwenden lässt und ob es zufriedenstellende Ergebnisse erbringt, habe ich es auf drei Texte aus dem Bonner Frühneuhochdeutsch-Korpus angewendet, die bereits lokalisiert sind. Da der Bielefelder Leitformenkatalog auf die Zeit „um 1450“ ausgerichtet ist, stammen auch die testweise untersuchten Texte aus der Zeit zwischen 1450 und 1499 (Tab. 56). <?page no="332"?> 332 14. Ausblick Text 133 (1445-1452) Text 143 (1498) Text 153 (1499) alte, halten unspezifisch unspezifisch unspezifisch auch unspezifisch unspezifisch unspezifisch auf auf(f) 10 regionale Zuordnungen auff 10 regionale Zuordnungen vp 1 regionale Zuordnung bei bei 4 regionale Zuordnungen bey 5 regionale Zuordnungen bij 5 regionale Zuordnungen Brief unspezifisch nicht belegt nicht belegt das unspezifisch unspezifisch dat 2 regionale Zuordnungen Dienstag nicht belegt nicht belegt nicht belegt ein ain / ayn 9 regionale Zuordnungen unspezifisch unspezifisch er unspezifisch unspezifisch he 2 regionale Zuordnungen geschrieben nicht belegt nicht belegt nicht belegt gewesen unspezifisch gesein 2 regionale Zuordnungen unspezifisch Jahr unspezifisch iar 1 regionale Zuordnung jair 2 regionale Zuordnungen Leute leüt 1 regionale Zuordnung leute 5 regionale Zuordnungen lude 7 regionale Zuordnungen oder unspezifisch ader 9 regionale Zuordnungen off 1 regionale Zuordnung Pfarrer, Pferd, Pfund pherd 1 regionale Zuordnung nicht belegt nicht belegt Pfennig phennig 2 regionale Zuordnungen nicht belegt nicht belegt soll unspezifisch unspezifisch sall 2 regionale Zuordnungen sollen unspezifisch unspezifisch unspezifisch Tag unspezifisch unspezifisch dach 1 regionale Zuordnung über vber 9 regionale Zuordnungen vber 9 regionale Zuordnungen ouer 2 regionale Zuordnungen und vnde 4 regionale Zuordnungen unspezifisch ind 1 regionale Zuordnung Werk werch 2 regionale Zuordnungen werck 8 regionale Zuordnungen werck 8 regionale Zuordnungen zu unspezifisch tzu 2 regionale Zuordnungen zo 1 regionale Zuordnung -lein/ -chen -lein 5 regionale Zuordnungen -lein 5 regionale Zuordnungen nicht belegt <?page no="333"?> 333 14.2. GraphematischeVariablenanalyse als Methode zur Lokalisierung und Datierung historischer Handschriften Text 133 (1445-1452) Text 143 (1498) Text 153 (1499) -nis -nus 5 regionale Zuordnungen -niß 8 regionale Zuordnungen unspezifisch verunspezifisch unspezifisch unspezifisch Tab. 56. Leitformenanalyse dreier Texte aus dem Bonner Frühneuhochdeutsch-Korpus Bei der Analyse zeigt sich, dass jeweils zwei bis sechs Variablen nicht überprüfbar waren, da die entsprechenden Lexeme oder Wortformen nicht in den Texten vorkamen. Jeweils sieben bis 13 Realisierungen erwiesen sich als unspezifisch, waren also landschaftlich nicht genauer zuzuordnen. Hierbei wurde eine Variante dann unter „unspezifisch“ eingeordnet, wenn sie mehr als zehn Regionen zugeordnet wurde. Für die regionale Bestimmung der Texte konnten somit zwischen 11 und 13 Variablen herangezogen werden. Wenn in einem Text mehrere Varianten vorkamen, wurde für die landschaftliche Einordnung nur diejenige ausgewählt, die am häufigsten vorkam. Bei der Auszählung der regionalen Variantenzuordnungen ergeben sich klare Trends (Tab. 57). Text 133 (1445-1452) Text 143 (1498) Text 153 (1499) auf(f) Augsburgisch Nordbairisch Südböhmisch Mittelbairisch Oberbairisch Südbairisch Mährisch Ostfränkisch Nürnbergisch Nordböhmisch auff Augsburgisch Nordbairisch Südböhmisch Mittelbairisch Oberbairisch Südbairisch Mährisch Ostfränkisch Nürnbergisch Nordböhmisch vp Ripuarisch bei Mittelbairisch Südbairisch Schlesisch Nordböhmisch bey Augsburgisch Südböhmisch Mährisch Ostfränkisch Schlesisch bij Frankfurterisch Südhessisch Pfälzisch Südrheinfränkisch Ripuarisch vber Oberrheinisch Westschwäbisch Nördlicher Bodensee Südlicher Bodensee Südalemannisch Höchstalemannisch Südböhmisch Mittelbairisch Rheinhessisch vber Oberrheinisch Westschwäbisch Nördlicher Bodensee Südlicher Bodensee Südalemannisch Höchstalemannisch Südböhmisch Mittelbairisch Rheinhessisch ouer Moselfränkisch Ripuarisch leüt Mittelbairisch leute Augsburgisch Mährisch Nürnbergisch Schlesisch Nordböhmisch lude Nordhessisch Oberhessisch Frankfurterisch Südhessisch Südrheinfränkisch Moselfränkisch Ripuarisch werch Südböhmisch Oberbairisch werck Oberrheinisch Nördlicher Bodensee Ostschwäbisch Augsburgisch Südl. Niederalemannisch Nürnbergisch Südhessisch Ripuarisch werck Oberrheinisch Nördlicher Bodensee Ostschwäbisch Augsburgisch Südl. Niederalemannisch Nürnbergisch Südhessisch Ripuarisch -lein Augsburgisch Oberbairisch Mährisch Ostfränkisch Nürnbergisch -lein Augsburgisch Oberbairisch Mährisch Ostfränkisch Nürnbergisch dat Moselfränkisch Ripuarisch <?page no="334"?> 334 14. Ausblick -nus Oberbairisch Nürnbergisch Nordbairisch Mährisch Nordböhmisch -niß Ostfränkisch Hennebergisch Frankfurterisch Pfälzisch Südrheinfränkisch Moselfränkisch Obersächsisch Schlesisch he Nordhessisch Ripuarisch ain / ayn Westschwäbisch Nördlicher Bodensee Ostschwäbisch Augsburgisch Südlicher Bodensee Nordbairisch Mittelbairisch Oberbairisch Südbairisch ader Nordbairisch Südböhmisch Mährisch Nordhessisch Südhessisch Pfälzisch Moselfränkisch Obersächsisch Schlesisch off Ripuarisch pherd Frankfurterisch iar Obersächsisch jair Moselfränkisch Ripuarisch phennig Höchstalemannisch Oberhessisch tzu Südalemannisch Südbairisch zo Ripuarisch vnde Nordhessisch Moselfränkisch Thüringisch Obersächsisch gesein Augsburgisch Nordbairisch ind Ripuarisch dach Ripuarisch sall Moselfränkisch Ripuarisch Tab. 57. Auswertbare Variablen des Bielefelder Katalogs in Bezug auf die drei ausgewählten Texte (mit Angabe der jeweils typischen Variante und ihren regionalen Zuordnungen) Bei der Analyse von Text 133 wurden der jeweiligen Variante in vier Fällen nur eine oder zwei Regionen zugeordnet. Die Zuordnungen sind allerdings sehr heterogen und lassen keine konsistente sprachliche Verortung erkennen: leüt gilt als Mittelbairisch, pherd als Frankfurterisch, phennig als Höchstalemannisch und Oberbairisch, werch als Südböhmisch und Oberbairisch. Ein klareres Bild ergibt sich erst, wenn auch die Mehrfachzuordnungen mit einbezogen werden. Auch diese erscheinen zwar auf den ersten Blick wenig aussagekräftig, etwa wenn die Formen auf(f), ain / ayn und vber jeweils zehn bzw. neun regionale Zuordnungen aufweisen. Insgesamt ergibt sich aber doch eine recht klare Festlegung auf den mittelbairischen Raum, mit jeweils fünf Kennzeichnungen als „Mittelbairisch“ und „Oberbairisch“ (in der Tabelle durch Fettdruck markiert). Alle anderen Regionen sind weniger häufig genannt. Das Testergebnis bestätigt sich, wenn man die Metadaten für den ausgewählten Text einsieht. Es handelt sich um die „Denkwürdigkeiten der Helene Kottanerin“, einen mittelbairischen Text aus Wien (1445-1452) (https: / / korpora.zim.uni-duisburg-essen.de/ FnhdC/ doc/ 113.html). Ein noch eindeutigerer Befund ergibt sich in Bezug auf Text 153. Schon bei den Ein- und Zweifachzuordnungen ist die Charakterisierung „Ripuarisch“ zehnmal vertreten. Insgesamt ist „Ripuarisch“ mit 13 Nennungen die mit Abstand häufigste Regionenzuordnung. Der Text, die „Cronica van der hilliger Stat van Coellen“ von Johann Koelhoff, gedruckt zu Köln 1499 (https: / / korpora.zim.uni-duisburg-essen.de/ FnhdC/ doc/ 153.html), wurde damit klar der richtigen Region zugeordnet. Der Test hat hier besonders gut funktioniert, weil das Ripuarische unter den Schreibsprachen des hochdeutschen Raums ein sehr eigenständiges Profil aufweist. <?page no="335"?> 335 14.2. GraphematischeVariablenanalyse als Methode zur Lokalisierung und Datierung historischer Handschriften Wären allerdings die norddeutschen Schreibsprachen im Katalog mitberücksichtigt worden, hätten sich zahlreiche Überschneidungen mit dem Ripuarischen ergeben, denn Formen wie vp, dat, he, lude, off, sall, dach und ouer sind ebenso typisch für das Niederdeutsche. In Bezug auf den Text Nr. 143 war der Versuch einer regionalen Einordnung nach dem Bielefelder Katalog wenig erfolgreich. Hier gab es nur eine Einfachzuordnung (iar: Obersächsisch) und zwei Zweifachzuordnungen (gesein: Augsburgisch, Nordbairisch; tzu: Südalemannisch, Südbairisch), die nicht zueinander passen. Bei der Gesamtanalyse hat die Zuordnung „Augsburgisch“ die meisten Nennungen erhalten (6mal), vor dem fünfmal genannten „Mährisch“. Tatsächlich aber handelt es sich um einen Text aus dem obersächsischen Sprachgebiet, den Erbauungstext „Sermon des grosz gelarten, in Gnaden erlauchten Doctoris Johannis Thauleri Predigerr Ordens“, gedruckt zu Leipzig 1498 (https: / / korpora.zim.uni-duisburg-essen.de/ FnhdC/ doc/ 143.html). Dass die Provenienz des Textes in diesem Fall nicht korrekt ermittelt werden konnte, liegt wohl zum einen daran, dass im Obersächsischen, als einem Kolonialdialekt, der sich auf der Grundlage unterschiedlicher Spenderdialekte herausgebildet hat, viele Merkmale auftreten, die auch für andere (auch weiter entfernte) Regionen typisch sind. Zum anderen werden manche als typisch obersächsisch geltenden Merkmale durch die Variantenauswahl des Textverfahrens nicht abgedeckt, etwa die Formen mit angehängtem -e (mennsche 'Mensch', den scheine 'den Schein') oder die Umlautformen vor Labialen (heubt 'Haupt'). Insgesamt zeigt die kleine Testanalyse, dass der Variantenkatalog im Prinzip funktioniert, aber doch in einigen Hinsichten optimiert werden sollte. Eine Verfeinerung des Auswertungsverfahrens ist erforderlich, um eine höhere Sicherheit bei der Textzuordnung zu gewährleisten und eine größere Reichweite zu erzielen. Dabei wäre vor allem an vier Maßnahmen zu denken: 1. Erhöhung der Variablenanzahl: Da jeweils zwei Drittel der Variablen als „nicht vorhanden“ oder „unspezifisch“ auszuscheiden waren, sollte der Katalog vergrößert werden, um eine ausreichende Zahl an auswertbaren Variablen zu erzielen. Zudem wären einige Varianten zu ergänzen, die im Katalog noch nicht enthalten sind. Generell sollte darauf geachtet werden, die einzelnen Regionen ausgewogen zu berücksichtigen und dabei möglichst exklusive Merkmale zu erfassen. 2. Zeitliche Ausdehnung: Da der aktuelle Variablenkatalog nur für Texte aus der Zeit „um 1450“ gilt, wäre über die Entwicklung entsprechender Kataloge für andere Zeitstufen (1200, 1300, 1600 usw.) nachzudenken. 3. Räumliche Ausdehnung: Um auch norddeutsche Texte mit demselben Verfahren einordnen zu können, wäre eine Erweiterung auf die Regionen des niederdeutschen Raums wünschenswert. Hierbei könnte für die Variablen- und Variantenauswahl der AS nA herangezogen werden. 4. Automatisierung: Da das Verfahren letztlich nur aus einem Algorithmus zur regionalen Zuordnung und Sortierung eines begrenzten Sets möglicher Schreibvarianten besteht, wäre die Entwicklung einer Software denkbar, die den Text automatisch durchsucht, dem Benutzer die mutmaßlichen Varianten der einzelnen Variablen zur Beurteilung vorlegt (etwa um irrelevante Homonyme auszuschließen) und schließlich auf der Grundlage <?page no="336"?> 336 14. Ausblick eines automatischen Abgleichs mit den Regionalzuordnungen eine Lokalisierung des eingegebenen Textes auswirft. Das Verfahren sollte anschließend durch Anwendung auf eindeutig lokalisierte und datierte Texte hinsichtlich seiner Zuverlässigkeit systematisch evaluiert werden. Thomas Klein weist in seinem Beitrag zur „Lokalisierung mittelhochdeutscher Quellen“ auf die stets begrenzte Reichweite solcher Analyseinstrumente und die Notwendigkeit einer interpretierenden Nachbearbeitung der Befunde hin: „Ein in jeder Hinsicht optimales tabellarisch-statistisches Verfahren ohne bewertende Nacharbeit ist wohl nicht erreichbar, da es selbst bei Einbezug der Faktoren Zeit, areale Verbreitung und Geltungsgrad immer Fälle geben wird, bei denen sich die sprachgeographische Einordnung nicht einfach errechnen lässt. Dazu zählen vor allem Quellen mit heterogenem Sprachstand, zumal dann, wenn es sich um komplexere Formen der Sprachmischung handelt. Und auch für alle übrigen Fälle wird gelten: So nützlich Maßzahlen für Merkmalsübereinstimmung bzw. Distanz sicher sein können, blindlings verlassen sollte man sich auf sie nicht. Es wird sich vielmehr empfehlen, die zugrunde liegende Merkmalstabelle noch einmal kritisch durchzusehen und zu bewerten und, wo dies nötig erscheint, auffällige Merkmale und Merkmalskombinationen genauer zu analysieren.“ (Klein 2016, 113 f.) 14.3. Historische Graphematik im europäischen Kontext Die deutsche Sprachgeschichte ist von Beginn an durch Sprachkontakte geprägt. Schon in den frühesten Texten treten allochthone Graphien auf, also solche, die für die jeweilige Entstehungsregion des Textes untypisch sind und auf eine Orientierung an den Schreibgebräuchen anderer Sprachen oder Regionalvarietäten hindeuten. Auf einige Beispiele wurde bereits hingewiesen, etwa auf die fränkischen Graphien <ie> und <uo> in einigen Handschriften des altsächsischen „Heliand“ oder die niederdeutschen Schreibungen in dem grundsätzlich als althochdeutsch klassifizierten „Hildebrandslied“ (Kap. 3.4). Das Auftreten allochthoner Schreibungen kann verschiedene Gründe haben: ▶ Ein Kanzleischreiber hält nach seinem Wechsel in eine andere Region an seinem in der Schreiberschule erlernten und ihm geläufigen Schreibusus fest (Kap. 5.1-5.2). ▶ Bei der Übersetzung eines Textes werden einzelne Graphien oder Schreibmuster aus der Vorlage übernommen. So enthält die in Kap. 3.4 zitierte niederdeutsche Bauernkomödie „Teweschen Hochtiet“ in einem frühen Druck von 1634 auch einige Formen mit Lautverschiebung und Diphthongierung, die mutmaßlich auf eine hochdeutsche Textvorlage zurückgehen (vgl. Elmentaler et al. 2018, 20 f.). ▶ Es werden bewusst Graphien anderer Herkunftsregionen in die eigenen Texte eingestreut, denen man ein bestimmtes Prestige zuschreibt (wie etwa im Rheinland und Rheinmaasland, Kap. 6.2.4). ▶ Allochthone Graphien werden in Briefen aus Höflichkeit verwendet, um dem Adressaten auch auf der sprachlichen Ebene ein Entgegenkommen zu signalisieren (Kap. 3.4 und Kap. 6.1). <?page no="337"?> 337 14.3. Historische Graphematik im europäischen Kontext ▶ Mit der Entlehnung von Wörtern aus anderen Sprachen werden auch die damit verbundenen Graphien übernommen, etwa die Graphien <y> aus dem Griechischen (Mythos, Hygiene), <c> aus dem Lateinischen (Curriculum), <eau> aus dem Französischen (Niveau), <ai>, <ow> und <oy> aus dem Englischen (Trainer, Cowboy) usw. (Kap. 9.1.2). ▶ Das Nebeneinander von autochthonen und allochthonen Graphien kann in manchen Fällen wohl auch als Reflex von entsprechenden Kontaktphänomenen in der gesprochenen Sprache (der gehobenen Schichten) interpretiert werden, etwa im Falle der oberdeutschen Formen in der frühneuzeitlichen Stadtsprache Kölns (Kap. 6.2.4). In neueren sprachhistorischen Darstellungen, etwa in der dreibändigen Sprachgeschichte von Peter von Polenz, wird der Rolle des Sprachkontakts für den Ausbau und die Ausdifferenzierung des Deutschen eine größere Aufmerksamkeit geschenkt als in der älteren Tradition, die noch stark darauf ausgerichtet war, die Herausbildung des Deutschen als einer eigenständigen, auf germanische Wurzeln zurückführbaren Nationalsprache zu rekonstruieren. Dennoch sind hier noch viele Fragen offen, und eine konsequent aus kontaktlinguistischer Perspektive verfasste Sprachgeschichte fehlt bis heute. Im Bereich der Historischen Graphematik gibt es allerdings seit einigen Jahren Versuche, den Blick über die Grenzen des deutschsprachigen Raums hinaus auf die Entwicklungen in anderen europäischen Ländern zu richten und so etwas wie eine gesamteuropäische, vergleichende Orthographiegeschichte zu entwickeln. Erste Versuche in dieser Richtung richteten sich auf den Vergleich der graphematischen Systeme von Einzelsprachen innerhalb einer Sprachfamilie, wie etwa Trudel Meisenburgs Arbeit über „Romanische Schriftsysteme im Vergleich“ (1996) (Lateinisch, Romanisch, Französisch, Portugiesisch, Spanisch, Okzitanisch, Katalanisch, Rumänisch) oder Christer Lindqvists Studie über „Skandinavische Schriftsysteme im Vergleich“ (2001) (Dänisch, Schwedisch, Norwegisch, Isländisch, Färöisch). In jüngerer Zeit ist versucht worden, den Blick zu erweitern und sprachfamilienübergreifende Untersuchungen zur Typologie historischer Graphemsysteme durchzuführen. In einem kurzen Beitrag über frühneuzeitliche Orthographien in Europa vergleicht Anja Voeste (2011) die Entwicklungspfade der Schreibsysteme von drei romanischen (Italienisch, Französisch, Spanisch), drei slawischen (Tschechisch, Polnisch, Kroatisch), drei germanischen (Deutsch, Englisch, Schwedisch) und zwei finno-ugrischen Sprachen (Finnisch, Ungarisch). Sie kommt zu dem Ergebnis, dass „die orthographischen Entwicklungen sich nicht an die Grenzen der Sprachfamilien halten“ (Voeste 2011, 193). So entwickeln sich zwei der drei untersuchten romanischen Sprachen (Italienisch und Spanisch) hin zum „flachen“, phonographischen Orthographietyp, die dritte (Französisch) dagegen hält an einer „tiefen“, weitgehend etymologisch orientierten Orthographie fest (zur Unterscheidung von flachen und tiefen Orthographien vgl. oben Kap. 9.2). Auch die Orthographien der Sprachen aus den anderen Sprachfamilien entwickeln sich nicht einheitlich. Die ursprünglich eher phonographisch ausgerichteten Orthographiesysteme des Deutschen, Polnischen und Ungarischen entwickeln sich hin zum morphologisch-etymologischen Schrifttyp, die des Schwedischen, Tschechischen und Finnischen behalten dagegen weitgehend ihre phonographische Orientierung. Voeste schließt daraus, dass die Unterschiede in der Entwicklung der Orthographien nicht in erster Linie mit sprachtypologischen Differenzen zusammenhingen, <?page no="338"?> 338 14. Ausblick sondern an sprachexterne Faktoren geknüpft seien, vor allem mit dem Literalitätsgrad einer Gesellschaft, primär gestiftet durch den Protestantismus: „Denn wenn die Auseinandersetzungen um Glaubensfragen in der Volkssprache geführt werden und die Schriftlichkeit breitere Schichten erreicht, entwickeln die Schreibsysteme leserfreundliche Züge. Abkürzungen werden abgebaut, Nominalgruppenkerne werden großgeschrieben, Interpunktionszeichen werden eingeführt, paradigmatische Schreibungen werden vereinheitlicht, ‚stumme Buchstaben‘ werden als Rezeptionshilfen eingesetzt.“ (Voeste 2011, 193) Wenn sich ein solcher Zusammenhang durch graphematische Vergleiche auf breiterer Grundlage nachweisen ließe, wäre ein Ansatzpunkt gefunden, um schreibsprachliche Veränderungen, wie man sie im Deutschen beobachten kann, möglicherweise plausibler und sicherer zu interpretieren als in einer einzelsprachbezogenen Perspektive. Die von Voeste (2011) herangezogenen Einzelsprachen werden in dem von Baddeley/ Voeste (2012) herausgegebenen Sammelband „Orthographies in Early Modern Europe“ hinsichtlich ihrer graphematischen Entwicklung von Sprachhistorikern der jeweiligen Philologie ausführlicher analysiert. Über die allgemeinen sprachsystematischen Vergleiche hinaus wäre es eine interessante Aufgabe für eine vergleichende Historische Graphematik, zu analysieren, mit welchen Mitteln bestimmte Lautphänomene, die in allen Sprachen vorkommen, graphematisch gekennzeichnet werden: In welchen historischen Schriftkulturen ist etwa für die Kennzeichnung vokalischer Länge der Gebrauch von Doppelvokalgraphien (Typ nl. zee 'die See') üblich, in welchen werden eher Digraphien (Typ engl. sea) oder Diakritika (Typ ungar. tó [toː] 'der See') präferiert? Werden im Falle des Gebrauchs von Digraphien eher konsonantische (Typ nhd. lehren) oder vokalische Zeichen (Typ nhd. lieben) als zweite Komponente verwendet, oder auch Kombinationen daraus (Typ nhd. flieh)? In diesem Zusammenhang könnte z. B. ein germanistisch-romanistisches Kooperationsprojekt die bis heute kontrovers diskutierte Frage genauer klären, inwiefern die im Rheinland gebräuchlichen Graphien mit nachgeschriebenem <-i> (huis, rait) auf ostfranzösische Schreibtraditionen zurückgehen, wie Theodor Frings (1939, 86-98) annahm (vgl. Mihm 1999c, 165 und 169-171; kritisch Klein 1995, 48 f.). Auch für die Deutung der im „Historischen Südwestdeutschen Sprachatlas“ dokumentierten „Palatalisierungsgraphien“ für mhd. û (Kap. 14.1) wäre eine sprachgrenzenüberschreitende Untersuchung notwendig. Ähnliche Studien könnte man sich für den deutsch-skandinavischen oder deutsch-slawischen Kontaktraum vorstellen. Schließlich wäre es unter strukturellen Aspekten interessant, die Verbreitung lautabstrahierender und lautdifferenzierender Graphemsysteme (Kap. 7.2) über verschiedene europäische und außereuropäische Länder hinweg zu untersuchen und mögliche Zusammenhänge mit dem jeweiligen Alphabetschrifttyp (z. B. griechische, lateinische, kyrillische, hebräische Schrift) zu erforschen. <?page no="339"?> 339 Rechtsnachweise Rechtsnachweise Für die folgenden Abbildungen wurde auf Digitalisate zurückgegriffen, die durch die jeweiligen Bibliotheken oder anderen Institutionen zur Verfügung gestellt wurden: Abb. 1 (Badische Landesbibliothek): https: / / digital.blb-karlsruhe.de/ blbhs/ content/ pageview/ 738115 Abb. 11 (Bayerische Staatsbibliothek München, Clm 14 490, fol. 162r): http: / / daten.digitale-sammlungen.de/ ~zend-bsb/ wasserzeichen-projekte.php? seite=- 00325&id=00039032&bibl=bsb&groesser=300&kennziffer=20122016201912122012 Abb. 14 ( TITUS -- Thesaurus Indogermanischer Text- und Sprachmaterialien): http: / / titus.uni-frankfurt.de/ texte/ etcs/ germ/ ahd/ mersebg/ merse.htm Abb. 15 (Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg, Ms.B 4, 160r): http: / / digit a l.bib-bv b.d e/ vie w/ bv bme t s/ vie wer.0. 6 . 1 .j sp ? fold er_id=0&dv s =- 1518081694782~190&pid=6548188&locale=de&usePid1=true&usePid2=true Abb. 16 (Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main, Ms. Praed. 91, fol.70r): http: / / sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/ msma/ image/ view/ 3707341? w=904 Abb. 17 (Wikimedia Commons): https: / / upload.wikimedia.org/ wikipedia/ commons/ 8/ 88/ Cicero%2C_Catiline_Orations%2C_Florence%2C_Plut._48%2C22.jpg Abb. 32 (dtv) Werner König: dtv-Atlas Deutsche Sprache. Mit Grafiken von Hans-Joachim Paul. © 1978, 1994, 2007 dtv Verlagsgesellschaft, München. Abb. 34 (de Gruyter) Werner Besch/ Anne Betten/ Oskar Reichmann/ Stefan Sonderegger (Hrsg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. ©-1998-2004 de Gruyter, Berlin / New York. Abb. 65 (de Gruyter) Peters, Robert: Atlas spätmittelalterlicher Schreibsprachen des niederdeutschen Altlandes und angrenzender Gebiete (ASnA). In Zusammenarbeit mit Christian Fischer und Norbert Nagel. © 2017 de Gruyter, Berlin / Boston. <?page no="341"?> 341 Literaturverzeichnis Literaturverzeichnis Adelung, Johann Christoph (1811): Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. Bd. 1-4. Wien. Althaus, Hans Peter (1980): Graphetik. In: Hans Peter Althaus / Helmut Henne / Herbert Ernst Wiegand (Hrsg.): Lexikon der germanistischen Linguistik. 2., vollst. neu bearb. und erw. 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