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Handbuch der deutschen Sprachminderheiten in Übersee

0305
2018
978-3-8233-7928-7
978-3-8233-6928-8
Gunter Narr Verlag 
Albrecht Plewnia
Claudia Maria Riehl

Mit dem "Handbuch der deutschen Sprachminderheiten in Übersee" liegt nun ein komplementärer Band zum "Handbuch der deutschen Sprachminderheiten in Mittel- und Osteuropa" vor. Es bietet eine konzentrierte Zusammenschau der Situation der deutschsprachigen Minderheiten außerhalb Europas. Acht Überblicksartikel (USA, Texas, Südamerika, die Mennoniten, Namibia, Südafrika, Australien, ehemalige Kolonialgebiete in der Südsee) liefern ausführliche Informationen über die historischen Entwicklungen der jeweiligen Sprachinseln, über die politische und rechtliche Lage der Minderheiten und ihre demographische Situation. Dabei wird für jedes Land eine Dokumentation der Kompetenz- und Sprachgebrauchssituation, eine Beschreibung und Analyse der soziolinguistischen Situation mit ihren je spezifischen Standard-Substandard-Verteilungen und eine Untersuchung der Spracheinstellungen der Sprecher geboten. Mit Beiträgen von Hans C. Boas, Katharina Dück, Stefan Engelberg, Anne-Katharina Harr, William D. Keel, Claudia Maria Riehl, Peter Rosenberg, Heinrich Siemens und Adam Tomas.

<?page no="0"?> Handbuch der deutschen Sprachminderheiten in Übersee Albrecht Plewnia & Claudia Maria Riehl (Hrsg.) <?page no="1"?> Handbuch der deutschen Sprachminderheiten in Übersee <?page no="2"?> Dr. Albrecht Plewnia ist Leiter des Programmbereichs Sprache im öffentlichen Raum am Institut für Deutsche Sprache Mannheim. Prof. Dr. Claudia Maria Riehl ist Inhaberin des Lehrstuhls für Germanistische Linguistik mit Schwerpunkt Deutsch als Fremdsprache und Leiterin des Instituts für Deutsch als Fremdsprache an der LMU München. <?page no="3"?> Albrecht Plewnia & Claudia Maria Riehl (Hrsg.) Handbuch der deutschen Sprachminderheiten in Übersee <?page no="4"?> Umschlagabbildung: www.shutterstock.de, © Max Broszat Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Einbandgestaltung: Bernd Rudek Design GmbH, www.rudek.de Printed in Germany ISBN 978-3-8233-6928-8 <?page no="5"?> Inhalt Albrecht Plewnia und Claudia Maria Riehl Vorwort................................................................................................................................................... 7 1. Claudia Maria Riehl Australien................................................................................................................................................ 9 2. Stefan Engelberg Ozeanien............................................................................................................................................... 33 3. Anne-Katharina Harr Südafrika ............................................................................................................................................... 81 4. Katharina Dück Namibia...............................................................................................................................................109 5. William D. Keel USA .....................................................................................................................................................131 6. Adam Tomas Pennsylvanischdeutsch.....................................................................................................................153 7. Hans C. Boas Texas....................................................................................................................................................171 8. Peter Rosenberg Lateinamerika.....................................................................................................................................193 9. Heinrich Siemens Mennoniten in Übersee....................................................................................................................265 <?page no="7"?> Vorwort Minderheitengruppen, die die deutschen Dialekte oder regionale Varietäten des Deutschen sprechen, sind ein weltweites Phänomen. Tatsächlich finden sich sogenannte „Sprachinseln“, d.h. Minderheiten, die in Isolation vom geschlossenen deutschen Sprachraum leben, auf allen Kontinenten. Sie unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht voneinander, u.a. durch ihre Siedlungsgeschichte, ihr Alter, die Kontaktsituation, zugrundeliegende Varietäten und Typus der Kontaktsprachen. In diesem Sinne ist ihre Erforschung und Dokumentation sowie der Vergleich unterschiedlicher Konstellationen und unterschiedlicher Stadien des Kontakts ein zentrales Thema der Kontaktlinguistik, der Soziolinguistik, der Dialektologie und vieler weiterer Disziplinen. Mit den Beiträgen im „Handbuch der mitteleuropäischen Sprachminderheiten“ (Hinderling/ Eichinger 1996) und dem „Handbuch der deutschen Sprachminderheiten in Mittel- und Osteuropa“ (Eichinger/ Plewnia/ Riehl 2008) wurden bereits die Gebiete deutschsprachiger Minderheiten in Zentral- und Osteuropa bis in den asiatischen Raum reichend dargestellt. Ein Überblick über die Situation der deutschsprachigen Minderheiten auf den übrigen Kontinenten steht noch aus. Das vorliegende Handbuch, das sich komplementär zu den bisherigen Bänden versteht, soll nun diese Lücke schließen. Im Gegensatz zu den deutschen Sprachinseln beispielsweise in Oberitalien und in einigen Gebieten von Mittel- und Südosteuropa (Slowakei, Westungarn, Siebenbürgen), die bereits auf Besiedlungen des Mittelalters zurückgehen, sind die deutschen Siedlungen in den überseeischen Gebieten relativ jung. Mit wenigen Ausnahmen (etwa Pennsylvania) entstanden sie erst Mitte des 19. Jahrhunderts. Das hat zum einen Auswirkungen auf die Entstehung einer einheitlichen Koiné, zum anderen auch auf die Vitalität der Sprachinseln, die in vielen Regionen in Auflösung begriffen sind. Während man im mitteleuropäischen Raum viele Grenzminderheiten findet, die an den geschlossenen deutschen Sprachraum schließen, und im osteuropäischen und überseeischen Raum die Sprachinseln überwiegen, kommt in den Gebieten in Übersee noch eine dritte Gruppe von Minderheiten hinzu, nämlich solche, die auf die ehemalige Kolonialisierung zurückgehen (Namibia und ehemalige Kolonialgebiete in der Südsee). Diese sind deshalb von besonderem Interesse, weil sich hier noch einmal ganz andere Sprachkonstellationen finden. Weiter hervorzuheben ist auch eine besondere Gruppe, die in verschiedenen Ländern und in Kontakt mit verschiedenen Sprachen zu finden ist, nämlich die Gruppe der Mennoniten. Aufgrund ihrer besonderen Situation hat diese religiöse Minderheit mehrere Wanderbewegungen mitgemacht und dadurch auch mehrere Kontaktszenarien durchlaufen. Daher wird ihr in diesem Band auch ein gesonderter Artikel gewidmet. Während sowohl in Nordamerika als auch in Südamerika eine Vielzahl verschiedener deutscher Siedlungen zu finden ist, ist ihre Zahl in Afrika und Austronesien eher be <?page no="8"?> Vorwort 8 schränkt. Darüber hinaus sind auch noch nicht alle Gebiete detailliert erforscht. Die Zusammenstellung der einzelnen Artikel des Handbuchs ist daher nicht nur an geographischen Kriterien orientiert, sondern auch am Ausmaß ihrer Erforschung (z.B. Deutsch in Texas) sowie ihrer Sonderstellung (Deutsch in Ozeanien, Mennoniten). Dass ein ganzer Subkontinent wie Südamerika in einem Artikel besprochen wird, hängt zum einen damit zusammen, dass sich die Forschung in diesem Kontinent mit wenigen Ausnahmen auf Brasilien konzentriert, zum anderen, dass in den meisten Gebieten Südamerikas die deutschen Sprachinseln bereits zum Sprachwechsel übergegangen sind - mit Ausnahme der Mennoniten, die, wie gesagt, in einem eigenen Beitrag behandelt werden. Die neun Artikel des Handbuchs (Australien, Ozeanien, Südafrika, Namibia, USA, Pennsylvania, Texas, Südamerika, die Mennoniten) versuchen daher die Situation der deutschen Sprache in Übersee exemplarisch abzubilden. Sie liefern ausführliche Informationen über die historischen Entwicklungen, über die politische und rechtliche Lage der Minderheiten und ihre demographische Situation. Dabei wird für jedes Land bzw. jede Region neben der Einwanderungsgeschichte und der Darstellung der jeweiligen aktuellen demographischen und rechtlichen Situation eine Dokumentation der Kompetenz- und Sprachgebrauchssituation, eine Beschreibung und Analyse der soziolinguistischen Situation mit ihren je spezifischen Standard-Substandard-Verteilungen und eine Untersuchung der Spracheinstellungen der Sprecher geboten, wobei die Gliederung im einzelnen je nach den Erfordernissen der behandelten Regionen modifiziert wird. Werden von einem Artikel mehrere Länder oder Regionen abgedeckt, so beschränkt sich die Darstellung der Sprachgebrauchs- und soziolinguistischen Situation in der Regel auf ein ausgewähltes charakteristisches Gebiet. Das Handbuch schließt sich damit in seiner Struktur an die Gliederung der Artikel im „Handbuch der deutschen Sprachminderheiten in Mittel- und Osteuropa“ an und kann daher komplementär dazu verwendet werden. Die endgültige Fertigstellung dieses Bandes mit vielen Beiträgern an unterschiedlichen Orten hat einige Zeit gebraucht; die Herausgeber sind allen Beiträgern für ihre Geduld und Kooperation zu großem Dank verpflichtet. Dass wir das Projekt zu einem guten Ende führen konnten, verdanken wir auch einer Reihe von eifrigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die mit ihrem Einsatz bei Erstellung, Satz und Korrektur der Manuskripte großartige Arbeit geleistet haben, insbesondere Julia Pötzl (LMU) und Heike Kalitowski-Ahrens (IDS). Dem Gunter Narr Verlag danken wir für die Aufnahme des Buches in sein Verlagsprogramm und Herrn Tillmann Bub für die umsichtige und geduldige Betreuung des Bandes. Mannheim und München im Februar 2018 Albrecht Plewnia Claudia Maria Riehl <?page no="9"?> Australien 1 Claudia Maria Riehl Im Gedenken an meinen Mentor und Freund, Michael G. Clyne <?page no="10"?> Inhalt 1 Geographische Lage.........................................................................................................................11 2 Statistik und Demographie .............................................................................................................11 3 Geschichte .........................................................................................................................................12 3.1 Ansiedlungen im 19. Jahrhundert..........................................................................................12 3.1.1 Ansiedlungen in den verschiedenen Regionen Australiens ....................................12 3.1.2 Die Rolle der lutherischen Kirche...............................................................................14 3.1.3 Schulen.............................................................................................................................14 3.1.4 Zeitschriften und Literatur: Deutsche Schriftlichkeit..............................................14 3.2 Die deutsche Sprache während und nach dem Zweiten Weltkrieg.................................15 4 Wirtschaft, Politik, Kultur, rechtliche Stellung............................................................................16 4.1 Wirtschaftliche Situation .........................................................................................................16 4.2 Rechtliche Stellung des Deutschen: Schulsystem, Sprachregelungen...........................17 4.3 Kulturelle Institutionen, Verbände, Medien........................................................................17 5 Sprachen und Varietäten im Kontaktgebiet.................................................................................18 5.1 Kontaktsprachen ......................................................................................................................18 5.2 Die einzelnen Sprachformen des Deutschen ......................................................................18 5.2.1 Regionaler Standard (Schriftsprache) .........................................................................18 5.2.2 Umgangssprache und Dialekte ....................................................................................19 5.3 Sprachkontakterscheinungen..................................................................................................21 5.3.1 Lexikalischer und semantischer Transfer...................................................................21 5.3.2 Morphologische Vereinfachungstendenzen am Beispiel des Barossadeutschen.......23 5.4 Code-Switching, Sprachmischung .........................................................................................25 6 Sprachgebrauch und -kompetenz am Beispiel des Barossadeutschen....................................26 6.1 Allgemeines................................................................................................................................26 6.2 Einschätzung der Sprachkompetenz in den verschiedenen Sprachen/ Varietäten .......27 6.3 Sprachgebrauch: Domänen, Sprecherkonstellationen, Sprechertypen ...........................28 7 Spracheinstellungen..........................................................................................................................29 7.1 Affektive Bewertung ................................................................................................................29 7.2 Kosten-Nutzen-Kalkulation ...................................................................................................29 7.3 Einstellung gegenüber Dialekt und Hochsprache ..............................................................30 7.4 Deutsch als Identitätsmerkmal...............................................................................................30 8 Faktorenspezifik ...............................................................................................................................30 9 Literatur..............................................................................................................................................31 9.1 Primärquellen ............................................................................................................................31 9.2 Sekundärliteratur.......................................................................................................................31 <?page no="11"?> 1 Geographische Lage Bei der Beschreibung der deutschen Sprachinseln in Australien muss man sich vergegenwärtigen, dass in vielen der ehemals deutsch besiedelten Gebiete die ursprüngliche Sprachinselvarietät nicht mehr präsent ist. Bereits in seinen Untersuchungen zum australischen Deutsch Ende der 1960er Jahre stellte Michael Clyne fest, dass nur noch die älteste Generation das Deutsche in der alltäglichen Kommunikation verwendete (vgl. Clyne 1968). Dies legte die Prognose nahe, dass die in den Sprachinselgemeinschaften gesprochenen Varietäten mit dieser Generation aussterben. Während Kipp im Western District von Victoria im Jahr 1998 noch die letzten Sprecher, die bereits in den 70er Jahren aufgenommen worden waren, vorfand (vgl. Kipp 2002), konnten im Barossa-Valley (Südaustralien) in den Jahren 2009 bis 2014 noch Gewährspersonen gefunden werden, die das sog. Barossadeutsche noch beherrschten (vgl. Riehl 2012, 2015). Die übrigen Siedlungen waren weniger kompakt, und die deutsche Sprache ist dort schon früher verschwunden. Die ältesten Siedlungen von Deutschen in Australien befinden sich in den südaustralischen Ortschaften Hahndorf (21 km von Adelaide) und Lobethal (24 km von Adelaide) sowie im Barossa-Tal (70 km von Adelaide). Die übrigen ehemals deutschen Siedlungen sind im Bundestaat Victoria, im südlichen Teil von New South Wales und in Südqueensland zu verorten. Die Niederlassungen in Victoria fanden sich unweit von Melbourne und Geelong und im Westen des Bundesstaats, in der Gegend von Hamilton (Hochkirch/ Tarrington und Gnadenthal). Ein ebenfalls wichtiges Siedlungsgebiet der Deutschen war die Wimmera, ein bedeutendes Weizenanbaugebiet in West-Victoria. Weitere Enklaven befanden sich im Lockyer Valley und der Riverina (vgl. Jupp 1995). In New South Wales entstanden die ersten Siedlungen in der Nähe von Albury entlang des Murray River und von dort weiter nach Norden (z.B. Alma Park, Edgehill u.a.). In Queensland befanden sich deutsche Enklaven in der Gegend um Brisbane (in der Moreton Bay und der Gegend um Rosewood) und nördlich an der Küste um Maryborough, Bundaberg und Makay (s. Lodewyckx 1932, S. 58ff.). 2 Statistik und Demographie Eine Statistik der deutschsprachigen Siedlungen in Australien existiert nicht. Nach Lodewyckx (1932, S. 246) ist die Zahl der Deutschsprachigen in Australien vor dem Ersten Weltkrieg auf etwa 100.000 zu schätzen. Die Angaben aus dem Zensus beziehen sich auf Deutschsprachige an sich und berücksichtigen v.a. Einwanderer nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese wanderten meist in die Städte, zu einem gewissen Teil auch in Gebiete der deutschen Sprachinseln, v.a. Hahndorf und Tanunda, und in geringerem Maße in den Westen Victorias (s. Clyne 1981, S. 16). Die Sprachinseln in Australien sind nicht nur sehr jung (s. 3.), sondern man muss auch mit einer permanenten Neuzuwanderung aus dem Heimatland rechnen. Dies betrifft v.a. die Pastoren in den lutherischen Gemeinden und Abb. 1: Deutsche Siedlungen in Ostaustralien (aus: Clyne 1981: 14) <?page no="12"?> Claudia Maria Riehl 12 teilweise auch die Lehrer (Kipp 2002), aber auch die Einwanderungswellen nach den beiden Weltkriegen: So zogen besonders viele Siedler aus den deutschsprachigen Ländern in den 20er und 30er Jahren in den Western District von Victoria (Kipp ebd.) und in den 50er und frühen 60er Jahre nach Südaustralien (Riehl 2012, 2016). 3 Geschichte 3.1 Ansiedlungen im 19. Jahrhundert Sprecher des Deutschen waren von Anfang an der Besiedlung Australiens durch Europäer beteiligt. Sie dienten in den Truppen, die die First Fleet begleiteten; Deutsche waren auch unter den ersten Häftlingen, die nach New South Wales transportiert wurden (Harmstorf/ Cigler 1988, S. 10ff.). Während die Mehrheit dieser ersten Siedler aus Südwest- und Südost-Deutschland stammte, kamen die Siedler im 19. Jahrhundert zum Großteil aus dem Norden und Nordosten, v.a. aus Schlesien und Nordpreußen (vgl. Meyer 1982, S. 19). Meyer ist der Ansicht, dass dies darauf zurückzuführen ist, dass die Leute von zwei bestimmten Agenten angeheuert wurden, nämlich Westgarth und Delius. Eine weitere Erklärung könnte aber auch der Erfolg der Lutherischen Migration unter Pastor Kavel sein, der aus Klemzig in Brandenburg stammte (ebd.). Die ersten deutschen Siedler, die in einer organisierten Gruppe nach Australien kamen, landeten 1838. Bei dieser Gruppe handelt es sich um insgesamt 486 Personen, die alle aus Klemzig oder benachbarten Orten stammten. Sie bestanden aus Altlutheranern, die sich nicht der unierten Preußischen Landeskirche anschließen wollten, als diese einen einheitlichen Ritus und eine neue Bibelübersetzung vorschrieb (s. Harmstorf/ Cigler 1988, S. 12). Die Siedler ließen sich in Südaustralien, nordöstlich von Adelaide, nieder. So wurden im Jahre 1839 Klemzig (heute Vorort von Adelaide) und Hahndorf gegründet, darauf folgte Lobethal 1841. Weitere Siedler aus Brandenburg und Schlesien folgten. In das Barossa- Valley (ca. 60 km nördlich von Adelaide) kamen die ersten Siedler 1942 und gründeten dort den ältesten Ort, Bethanien/ Bethany. Etwa die Hälfte der Einwanderer bis 1851 kam aus religiösen Gründen. Ein weiterer wichtiger Faktor für die Einwanderung ab 1850 war das Scheitern der Revolution von 1848 in Mitteleuropa. Im Zuge dessen wanderten viele Akademiker und Intellektuelle, meistens Deutsche, nach Australien aus. Einige von ihnen arbeiteten in südaustralischen Landgemeinden als Ärzte o.ä., aber die meisten von ihnen ließen sich in Adelaide oder anderen Großstädten nieder. Dadurch unterscheidet sich diese Einwanderungswelle grundlegend von der der Altlutheraner, die sich hauptsächlich in ländlichen Gegenden ansiedelten (vgl. Kipp 2002, S. 70). Weitere Faktoren für die Auswanderung nach Australien waren die Wirtschaftskrisen sowie spektakuläre Goldfunde in New South Wales und Victoria (vgl. Clyne 1981, S. 1). 3.1.1 Ansiedlungen in den verschiedenen Regionen Australiens Die meisten der frühen Siedlungen befanden sich in Südaustralien, allerdings etablierten sich auch bereits um 1850 einige deutsche Siedlungen in Victoria. Die ersten Deutschen, die sich in der Gegend von Geelong niederließen, kamen vorwiegend aus Mähren (Kipp 2002, S. 74). Weitere Siedlungen an verschiedenen Punkten um Melbourne wurden ebenfalls in den frühen 1850er Jahren gegründet. Diese Siedler kamen meist aus dem Norden und Nordosten von Deutschland (v.a. Mecklenburg und Schlesien) und waren überwiegend Handwerker und Bauern. Sie waren bereits alphabetisiert und stammten aus Kleinstädten und Dörfern. Viele heirateten nur untereinander (Meyer 1982). Daneben entstanden einige bedeutende Siedlungen im sog. Western District von Victoria. Die ersten Siedler in dieser Region haben sich aus Südaustralien angesiedelt, sie gründeten dort 1953 den Ort Hochkirch (heute Tarrington) im Gebiet Hamilton, später kamen weitere aus Deutschland nach. Der größte Zuwachs fand in den 1860er und frühen 1870er Jahren statt. In den 1870er Jahren zogen viele Familien ins <?page no="13"?> 1. Australien 13 Gebiet der Wimmera (Kipp 2002, S. 77ff.). Im Umkreis von Hochkirch wurden zwischen 1859 und 1989 kleinere Ortschaften wie Gnadenthal, Tabor, Lake Liligrow und Warrayure gegründet (ebd.). Auch Queensland bildete einen Ansiedlungspunkt für deutsche Auswanderer. Die ersten kamen bereits 1838 hierher, um eine Missionsstation für Aboriginees zu gründen (allerdings nicht in einer organisierten Gruppe). Später erwarben sie Land, und weitere Siedler zogen zu. Ab 1855 wurden sogar systematisch Siedler für Queensland angeworben und bildeten dort bereits 1870 eine 11.000 Personen umfassende Gemeinde. Allerdings hatte die Anwerbung von Arbeitskräften in den Zuckerrohrplantagen nur geringen Erfolg, und da auch von Seiten der Behörden in Hamburg eingegriffen wurde, ebbte der Zuzug von Deutschen ab und wurde von Skandinaviern und Italienern ersetzt. Im Zensus von 1891 machten die Lutheraner in Queensland 24.000 aus (darunter 15.000 Deutschstämmige, der Rest Skandinavier) (vgl. Lodewyckx 1932, S. 63). In New South Wales entstanden die größten und erfolgreichsten Ansiedlungen im Süden, entlang des Murray Rivers - auch hier zum Großteil besiedelt von Aussiedlern aus dem Barossa-Valley in den 1860er und 1870er Jahren. Diese gründeten sehr schnell Kirchen und Schulen wie ihre Eltern aus dem Barossa- Tal (ebd.). Im Zuge der Goldfunde in Victoria kam es zu einer erneuten Zuwanderung aus Deutschland in die bereits etablierten Siedlungen. Unter den Neusiedlern aus Europa bildeten die Deutschen die größte und auch die erfolgreichste Gruppe in den Goldminen von Victoria (vgl. Harmstorf/ Cigler 1988, S. 41ff.). Neben den zahlreichen lutherischen Gemeinden entstanden nun auch katholische (ebd.). Im Jahre 1861 gab es 10.418 Deutschstämmige in Victoria, davon etwa 6.000 in den Goldminen, allerdings nahm die Zahl in den nächsten zwanzig Jahren wieder ab (1881: 8.571, vgl. Meyer 1982). Obwohl die Deutschen in Victoria einige kompakte Siedlungen bildeten, entwickelten sich dort nicht in gleichem Maße Sprachinseln wie in Südaustralien (ebd.). Meyer erklärt dies v.a. mit dem wesentlich geringeren Anteil an Frauen, was zwangsläufig zu einer viel höheren Zahl an Mischehen führte und damit häufig zu Sprachwechsel (s. auch Kipp 2002, S. 75). Neben den Deutschen kamen Mitte des 19. Jhds. auch zwischen 400 und 500 sorbische Familien sowohl nach Südaustralien als auch nach Victoria (Harmstorf/ Cigler 1988, S. 94f., Meyer 1988). Obwohl sie in einigen Gründungen die Mehrheit bildeten (in Hochkirch/ Tarrington, Tabor, Gnadenthal und Byaduk; s. Kipp 2002, S. 75), wurden sie sehr schnell von den deutschsprachigen Gemeinschaften absorbiert. Gründe dafür waren die Zugehörigkeit zur lutherischen Gemeinde und die Tatsache, dass alle Sorben bereits zweisprachig sorbisch-deutsch waren. Aufgrund ihrer insgesamt geringen Zahl waren sie nicht in der Lage, eigene Pastoren aus Deutschland zu rekrutieren. Da Sorbisch nicht als Kirchensprache benutzt wurde, wurde es auf die Familie beschränkt, und so kam es nach dem Tod der Großeltern in der Regel zum Sprachwechsel hin zum Deutschen. Der Sprachwechsel wurde teilweise auch in Mischehen von Sorben aus der Ober- und Niederlausitz vollzogen, da diese verschiedene Dialekte sprachen (Burger 1976, Kipp 2002, S. 77). Um die Jahrhundertwende zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert machte sich allmählich eine gewisse Deutschenfeindlichkeit breit, die dann im Zuge des Ersten Weltkrieges (zwischen 1919 und 1925) zu einem Einwanderungsverbot für Deutsche führte. Die antideutsche Haltung brachte eine Vielzahl von Restriktionen bis zur Internierung von Deutschstämmigen mit sich. Deutsche Ortsnamen wurden in englische umgewandelt: Der Kaiserstuhl im Barossa-Valley wurde zum Mount Kitchener, der Ort Hochkirch zu Tarrington etc. (vgl. Clyne 1981, S. 1). Dies gilt auch für Personennamen (Schmidt zu Smith, Schubert zu Stuart u.ä.; vgl. Harmsdorf/ Cigler 1985, S. 128). Den Pastoren wurde untersagt, die Messe weiterhin auf Deutsch zu halten, und die lutherischen Schulen wurden geschlossen. Das hatte zur Folge, dass Deutsch als Schulsprache abgeschafft wurde. Lediglich der Konfirmationsunterricht in den lutherischen <?page no="14"?> Claudia Maria Riehl 14 Gemeinden konnte nach dem Krieg noch auf Deutsch abgehalten werden, wurde aber dann mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ebenfalls verboten. 1 Insgesamt kann man aber feststellen, dass die lutherische Kirche eine wichtige Funktion für den Spracherhalt innehatte, die bis heute noch nachwirkt. 3.1.2 Die Rolle der lutherischen Kirche Die lutherische Kirche spielt für die deutschen Sprachinseln in Australien eine entscheidende Rolle: Ihr Beginn setzt an mit der Ankunft von Pastor Kavel und seinen Gemeindemitgliedern aus Klemzig. Er führte die Gemeinden von Klemzig, Hahndorf und Glen Osmond zunächst alleine an, 1941 kam Pastor Fritsche als zweiter Pastor nach. Schon bald kam es zu Unstimmigkeiten in Bezug auf verschiedene Auslegungen, und so gründete Kavel eine eigene Synode in Langmeil. Fritsche hingegen blieb in Bethany und formierte die sog. Evangelical Lutheran Church in Australia (ELCA). Dieser schlossen sich im Laufe der Zeit weitere Synoden an. Eine Zweigstelle davon wurde 1853 in Victoria gegründet. Bis zum Ersten Weltkrieg gab es in Australien sechs Synoden, davon zwei in Queensland. Es gab zahlreiche Bemühungen, sich zu vereinen, und so wurde 1921 die United Evangelical Church of Australia (UELCA) gegründet. 1926 gab es daher zwei große Synoden: die ELCA und die UELCA. Die ELCA war stärker als die UELCA und unterhielt auch 1930 noch eigene Schulen (Lodewyckx 1932, S. 88ff.). 3.1.3 Schulen In allen Synoden der Lutherischen Kirche in Australien war Bildung ein vorherrschender Faktor. In den meisten Fällen folgte dem Bau der Kirche unmittelbar auch der Bau einer Schule. Auch vor den Education Acts 1870 und 1880 war es bereits möglich, staatliche 1 Im Kirchenboten findet sich am 19. Juli 1917 ein Beitrag zu „Unsere Gemeindeschulen in Südaustralien“. Es sei oft betont worden, dass die lutherischen Schulen keine deutschen Schulen seien und dass seit Jahrzehnten die englische Sprache dort vorwiegend gebraucht werde. Wenn zusätzlich noch Deutsch ge- Unterstützung für Konfessionsschulen zu bekommen, und da Konfessionsschulen in ländlichen Gegenden sehr erfolgreich waren, gab es keine Veranlassung, dort staatliche Schulen zu gründen (Clyne 1988). Die deutschen Lutherischen Schulen arbeiteten lange mit einem bilingualen Modell: Deutsch wurde am Vormittag verwendet (v.a. Religion und Deutsch - inklusive deutsche Geschichte und Übersetzung) und Englisch am Nachmittag (Rechnen und Englisch Lesen und Schreiben). Allerdings war der Unterricht in den frühen Jahren ganz auf Deutsch, in einigen Gemeinden sogar bis in die 90er Jahre des 19. Jhds. (z.B. Tarrington; s. Kipp 2002, S. 87). In den ersten Jahren wurden deutsche Schullehrer angestellt, oder der Pastor übernahm den Unterricht selbst. Mit der Zunahme der lutherischen Schulen wurde es notwendig, eigene Lehrer auszubilden: So entstand 1891 das Murtoa College in Victoria, das 1904 nach Adelaide verlegt wurde (Meyer 1996, S. 111ff.). In Victoria gab es staatliche Schulen seit Mitte der 1870er Jahre, und zwar in Tarrington und Warrayure (in Verbund mit Croxton East), später auch in anderen Gemeinden. Diese wurden hauptsächlich von Kindern der englischsprachigen Siedler in der Gegend und von einigen Kindern aus deutschen Familien, die mit dem Unterricht in der Lutherischen Schule unzufrieden waren, frequentiert (s. Kipp 2002, S. 86ff.). 3.1.4 Zeitschriften und Literatur: Deutsche Schriftlichkeit Die Lutherische Kirche veröffentlichte im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert eine große Anzahl von Printmedien auf Deutsch, sowohl innerhalb als auch außerhalb Australiens, u.a. Der Kirchenbote (produziert 1878 bis 1882 in Adelaide, dann in Hochkirch), der ab 1884 zwei Beilagen beinhaltete: Aus Welt und braucht werde, dann „weil wir unseren Kindern diese herrlichen Schätze der Reformation, die Gott unserer Kirche in der deutschen Sprache gegeben hat, erhalten wollen, und weil wir überzeugt sind, daß ein Kind, das zwei Sprachen beherrscht, einen großen Vorteil hat vor einem solchen, das nur einer Sprache mächtig ist.“ <?page no="15"?> 1. Australien 15 Zeit und Schulbote. 1913 gab es 1300 Abonnenten für das Blatt. Weiter veröffentlichte O. Mueller eine Liturgie für die evangelische Kirche in Australien (Kirchenbote für die evangelischlutherische Gemeinde in Australien, zusammengestellt aus alten rechtsgläubigen Kirchen-Agenden und herausgegeben von den Pastoren der evangelisch-lutherischen Synoden in Australien). Ab 1910 stieg der Bedarf für englischsprachige Kirchenliteratur, und es wurden Singzettel auf Englisch publiziert. Seit 1912 wurde eine englischsprachige Liturgieordnung diskutiert. Die Allgemeine Synode in Adelaide beschloss, einen Versuch zu starten. Begründung dafür war, dass es in der Synode bereits eine ganze Anzahl Gemeinden (z.B. in Queensland und Westaustralien) gäbe, in welchen vorwiegend in der englischen Sprache gearbeitet werden müsse, da die Gemeindemitglieder das Deutsche gar nicht oder nur mangelhaft verstünden. Ein weiteres Argument war, dass die Inhalte auch der Jugend vermittelt werden sollten (vgl. Kirchenbote, 26. Juli 1913). Es waren auch Kirchenblätter der lutherischen Synode in Missouri (USA) bei den Mitgliedern der ELCA in Australien verbreitet, z.B. Die Abendschule, eine Familienzeitschrift mit Geschichten, Rezepten, Rätseln etc. Weiter wurden Die Gartenlaube aus Leipzig und einige Gemeindeblätter aus Bautzen vertrieben. Aus Missouri kamen Lesebücher, Gesangbücher, Bibeln, Katechismen, Familienzeitschriften, Kindergeschichten, Schulbücher, Jahrbücher, Kalender und Kochbücher. Viele Bücher wurden in Hochkirch gedruckt. Es gab auch Frauenzeitschriften (Fürs Haus: Zeitschrift für deutsche Frauen), Kinder- und Jugendzeitschriften (Lutherisches Kinder- und Jugendblatt; Der evangelisch-lutherische Jugendfreund in Australien) und ein Unterhaltungsblatt (vgl. Kipp 2002, S. 94ff.). Im Zuge des Ersten Weltkriegs wurden 1917 alle Publikationen auf Deutsch verboten. Aufgrund von Einfuhrsperren aus Deutschland, die auch nach dem Kriege noch andauerten, kam es zu einem großen Mangel an deutschsprachigen Bibeln und Gesangbüchern. Auch wenn das Verbot 1921 teilweise und 1924 ganz aufgehoben wurde, erreichte die lutherisch-deutschsprachige Presse ihre Vitalität vor dem Krieg nie wieder. Das ist natürlich auch damit verbunden, dass das Verbot der deutschen Sprache während der Kriegs- und Nachkriegszeit den Sprachwechsel mit beschleunigt hat. Einige deutsche Monatszeitschriften hielten sich allerdings bis in die 1930er Jahre: So erschien etwa der Kirchenbote wieder ab 1925 und bis 1940. 1927 startete die UELCA den Evangelisch-Lutherische[n] Kalender für das Christliche Haus, der auch von ELCA-Mitgliedern abonniert wurde, da diese Synode nach dem Krieg keinen Almanach mehr herausgab. Diese Blätter trugen sich aber längst nicht mehr selbst, sondern mussten subventioniert werden, hauptsächlich von ihren englischsprachigen Pendants (Graetz 1988, S. 147, Kipp 2002, S. 96). Ende der 20er und Anfang der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts gab es im Barossa-Valley einige Versuche einer barossadeutschen Mundartliteratur. So veröffentlichte J.F.W. Schulz unter dem Pseudonym August von der Flatt Geschichten und Berichte in barossadeutscher Mundart und J. G. C. Doehlers unter dem Namen Fritz von Schkrupp Kurzgeschichten vom Leben des Farmers draußen im „Schkrupp“. Beide Werke sind in der Lautung schlesischer Mundart, die aber heute so nicht mehr gesprochen wird. Ähnliches gilt für G.A. Kellers ‚A poar Reesebilder‘ (1937) (Paul 1965, S. 44). Die ‚Klene Kierchenyeschichte‘ von Heinys von der Vogelweide ist dagegen in einer Lautung abgefasst, die dem Nord- und Mittelmärkischen entstammt (ebd., S. 46). Kennzeichnend für die Texte ist vor allem die Stilisierung von lexikalischen Übernahmen aus dem Englischen, die so in der Regel in der gesprochenen Sprache nicht vorkommen, aber hier auch in satirischer Manier überzeichnet sind (eigene Beobachtung). 3.2 Die deutsche Sprache während und nach dem Zweiten Weltkrieg Die deutsche Sprache und Kultur hat sich in einigen Enklaven durch die sehr starke Bindung der Sprecher an den lutherischen Glauben und die damit verbundene Funktion des Deutschen als Sprache der Religion sowie durch die sehr isolierte Lage des Sprachgebiets <?page no="16"?> Claudia Maria Riehl 16 noch relativ lange gehalten. Im Gegensatz zu anderen deutschen Siedlungen in Australien konnte die deutsche Sprache dort auch nach 1918 noch weiter aufrecht erhalten werden, zum einen durch den Kontakt der australischen lutherischen Kirche mit der evangelischen Kirche in Deutschland, 2 zum anderen, weil noch regelmäßige Gottesdienste in deutscher Sprache abgehalten wurden und auch die Möglichkeit des Besuchs einer Sonnabendschule bestand (Clyne 1981, S. 16). Erst mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges fanden auch alle kirchlichen Treffen und Veranstaltungen nur noch auf Englisch statt. Allerdings sind auch im ersten Jahr des Zweiten Weltkriegs im Barossa-Valley noch einige öffentliche Veranstaltungen auf Deutsch abgehalten worden, wie verschiedene Kirchenprotokolle bestätigen. So sind etwa die Protokolle der St. Petri-Kirche in Nuriootpa, die ich einsehen konnte, bis einschließlich Mai 1940 auf Deutsch verfasst, beginnend mit dem Protokoll vom 12. Juni 1940 dann auf Englisch. Den Grund hierfür finden wir im Protokoll selbst, nämlich die Bemerkung, dass der Pastor „was notified, to tell his Congregation, that speaking German over the telephone is now forbidden, everything must be in English“ (Petri Ladies Guild 12-06-40). Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einer massiven Zuwanderung von Deutschsprachigen nach Australien. Diese stammten nicht nur aus den deutschsprachigen Ländern wie Deutschland und Österreich, sondern auch aus ehemals deutschen Siedlungen in Osteuropa. Diese sog. „Volksdeutschen“ beliefen sich sogar auf 10,7 Prozent (vgl. Jupp 1995, S. 66). Die neuen deutschsprachigen Zuwanderer fanden sich zwar meistens in den größeren Städten, aber einige ließen sich auch in den Gebieten der deutschen Sprachinseln nieder, v.a. im Barossa-Valley, wo Arbeitskräfte im Weinbau gesucht wurden, und im Western District von Victoria. Diese Neuzuwanderung hatte auch Auswirkungen auf den Erhalt der deutschen Sprache in diesen Gebieten. Denn laut Informantenaussagen (s.u. 6.1) sprachen 2 Hier wurden auch Pfarrer von Deutschland nach Australien geschickt oder die Pfarrer mit australischen die altangestammten deutschen Siedler mit den Neuankömmlingen in den ersten Jahren v.a. Deutsch. Erst allmählich wurde das wieder zugunsten der englischen Sprache aufgegeben. 4 Wirtschaft, Politik, Kultur, rechtliche Stellung 4.1 Wirtschaftliche Situation Die deutschen Siedler in Australien waren ursprünglich in der Landwirtschaft tätig. Wie Lodewyckx (1932, S. 67) darstellt, spielte die deutsche Bevölkerung von Anfang an eine wichtige Rolle in der landwirtschaftlichen Entwicklung Südaustraliens. Eine große Bedeutung hatten auch die Deutschen in der Wimmera (Victoria), die als reichste Getreidegegend Australiens galt. Die Deutschen in Queensland betrieben neben dem Getreideanbau und der Milchwirtschaft auch noch den Anbau von Südfrüchten (Bananen, Ananas), Mais und Zuckerrohr. Auch trugen sie wesentlich zur Wollindustrie bei. Einen noch entscheidenderen Beitrag leisteten die Deutschen für die Entstehung und den Ausbau des Weinbaus. Das Barossa-Valley gilt mittlerweile als das bedeutendsten Weinbaugebiet in Australien. Viele der angesehensten Weingüter tragen deutsche Namen (Wolf, Lehmann, Seppelt). Eine weitere bedeutende Rolle spielten die deutschen Siedler auch im Bergbau, allerdings weit weniger als im Bereich von Wein- und Landwirtschaft. Tatsächlich berichtet Lodewyckx für den Stand von 1932, dass damals etwa 80 Prozent entweder Landwirte oder Grundbesitzer waren bzw. der Landwirtschaft nahestanden. Handel und Gewerbe spielten bei den Deutschen zu dieser Zeit eine untergeordnete Rolle, und wenn, dann war das häufig in Gewerbezweigen, die mit der Landwirtschaft in Verbindung standen, wie Obstverarbeitung, Gerberei, Lederfabrikation, Bierbrauerei, Brotbäckerei etc. Wurzeln wurden in Deutschland ausgebildet (s. Clyne 1981, S. 46). <?page no="17"?> 1. Australien 17 4.2 Rechtliche Stellung des Deutschen: Schulsystem, Sprachregelungen Wie bereits in 3.1.1 dargestellt, verlor das Deutsche während des Ersten Weltkriegs seine Stellung als Schul- und Verkehrssprache in den deutschen Siedlungen. Bis zum Zweiten Weltkrieg hatte es noch eine Vorrangstellung in der Lutherischen Kirche, die aber dann ebenfalls zu Gunsten des Englischen aufgegeben wurde. Obwohl nicht rechtlich verankert, so wurden doch auch nach dem Zweiten Weltkrieg immer noch kontinuierlich Messen auf Deutsch abgehalten. Laut Aussage von Pastor Proeve (persönliche Mitteilung) bis in die 1970er Jahre. Das Deutsche hat heute keinerlei Sonderstellung in den Schulen, allerdings wird es in den Schulen lutherischer Prägung als Fremdsprache angeboten (häufig neben Japanisch). Zumindest für das Barossa-Valley kann allerdings festgestellt werden, dass es hier kein festes Konzept gibt. Deutsch wird teilweise in der Primarschule, allerdings nur etwa eine Stunde pro Woche unterrichtet, im College ist die Fremdsprache nur zwei Jahre obligatorisch, und die Nachfrage in den oberen Klassen ist eher gering, da Deutsch immer noch den Nimbus einer „schweren“ Sprache genießt. Eine gezielte Verbindung mit dem historischen Erbe wird, soweit ich sehen konnte, in den Schulen bisher nicht vermittelt. 4.3 Kulturelle Institutionen, Verbände, Medien Als kulturelle Institutionen, die noch das deutsche Erbe pflegen, sind etwa die Museumsvereine zu nennen. Allerdings wird, wie Jupp (1995, S. 64) zu Recht bemerkt, das historische Erbe etwa in einem touristischen Attraktionspunkt wie Hahndorf mit einem „schmaltz-Bavarian veneer“ versehen. Das gilt auch für die verschiedenen traditionellen Veranstaltungen wie Schützenfeste (am bekanntesten das Schützenfest in Hahndorf, vgl. Harmstorf/ Cigler 1988, S. 148). Die meist in den großen Städten (Sydney, Melbourne, Brisbane) stattfindenden Oktoberfeste sind dagegen Veranstaltungen der German Clubs, die von Nachkriegseinwanderern gegründet wurden. Einen wichtigen Beitrag zur Erhaltung der deutschen Traditionen leisten allerdings immer noch die sog. ‚Liedertafeln‘, Männerchöre, die vor allem deutschsprachige Volkslieder in ihrem Repertoire haben. Die älteste Liedertafel wurde bereits 1861 in Tanunda (Barossa-Valley) gegründet und besteht - mit einer kurzen Unterbrechung während des Zweiten Weltkriegs - heute noch. Der Chor hat zirka fünfzig Mitglieder und trifft sich einmal pro Woche zu Proben. Einmal im Jahr findet ein Treffen aller Liedertafeln Australiens an unterschiedlichen Orten statt. Spezielle Medien für die deutschen Enklaven bestehen nicht, allerdings gibt es deutschsprachiges Radio des Senders SBS des Australischen Rundfunks. Der Sender strahlt auch im Fernsehen Nachrichten (täglich) und verschiedene Sendungen auf Deutsch aus, die in ganz Australien zu empfangen sind. Nur sehr wenige der Informanten gaben an, diese gelegentlich anzuschauen, obgleich die Sendungen sogar englische Untertitel haben. Es existiert eine deutschsprachige Wochenzeitung „Die neue Woche in Australien (DNW)“ (bis 2013 „Die Woche in Australien“, DWA), die in Sydney produziert wird. Die Zeitung informiert Deutschsprachige in Australien und Neuseeland mit Nachrichten und Berichten aus Europa (vor allem aus Deutschland, Österreich und der Schweiz), enthält darüber hinaus aber auch Lokalnachrichten. Einen besonderen Schwerpunkt legt die Zeitung auf das deutschsprachige Leben in Australien, indem sie über die verschiedenen Aktivitäten und Veranstaltungen deutscher Vereine, Klubs und Kirchengemeinden sowie deutscher Institute und Wirtschaftsverbände berichtet (vgl. http: / / www.neuewocheaustra lien.com/ ). Deutsche Clubs wurden bereits im 19. Jahrhundert in den großen Städten gegründet (z.B. der German Club Tivoli in Melbourne 1860, der German Club Brisbane und der Concordia Club in Sydney 1883 und der Südaustralische Allgemeine Deutsche Verein 1886, vgl. http: / / www. german australia.com/ ). Ziel der Clubs war es, deutsche Traditionen am Leben zu erhalten und <?page no="18"?> Claudia Maria Riehl 18 eine gastfreundliche Atmosphäre für Deutsche, die nach Australien kamen, zu schaffen. Viele Clubs mussten während der beiden Weltkriege schließen und wurden nach dem Zweiten Weltkrieg wieder eröffnet. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden auch in einigen der ehemals deutsch besiedelten Enklaven mehr oder weniger erfolgreich deutsche Clubs gegründet, die aber im Wesentlichen von den Neueinwanderern nach dem Zweiten Weltkrieg besucht wurden (z.B. der Deutsche Club in Nuriootpa). Eine 2014 gestartete Initiative von Peter Mickan (University of Adelaide) hat nun ein vierwöchiges Treffen „Kaffee und Kuchen“ im Hauptort des Barossa-Tals, Tanunda, gestartet. Im Zuge dessen haben sich Deutschsprachige (überwiegend Nachkriegseinwanderer) und am Deutschen interessierte Personen formiert und die Barossa German Language Association gegründet. Neben verschiedenen Veranstaltungen engagiert sich der Verein auch für den Deutschunterricht und bietet Kurse für Kinder und Erwachsene an. 5 Sprachen und Varietäten im Kontaktgebiet 5.1 Kontaktsprachen Die zentrale Kontaktsprache bildet das Australische Englisch. Die sorbische Sprache, die ebenfalls von einigen Einwanderern gesprochen wurde, hat dagegen keinen Einfluss auf das Deutsche in den entsprechenden Sprachinseln gehabt. Vermutlich war der Kontakt von zu kurzer Dauer, da die Sprecher des Sorbischen sehr schnell zum Sprachwechsel übergingen (s.o., Kap. 3.1.1). Wie bereits erwähnt, kam es nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Zuwanderung von Einwanderern aus den deutschsprachigen Ländern, v.a. Deutschland und Österreich, sowie von zahlreichen sog. „Volksdeutschen“ aus Polen, dem damaligen Jugoslawien, der damaligen Tschechoslowakei und dem Baltikum. Diese waren bereits mit anderen Kontaktsprachen konfrontiert gewesen (z.B. Lettisch, Polnisch, Tschechisch), gaben diese aber in der Regel auf oder verwendeten sie höchstens als „Geheimsprache“ (vgl. Clyne 1981, S. 27). Durch die Zuwanderung der sog. ‚New Australians‘ in einigen Siedlungen des Barossa-Tals und des Western Districts kamen die Siedler mit modernen deutschen technischen Begriffen wie Flugzeug, PKW und Kurbelwelle in Kontakt (ebd., S. 20). 5.2 Die einzelnen Sprachformen des Deutschen 5.2.1 Regionaler Standard (Schriftsprache) Bis zum Ersten Weltkrieg wurde in den Schulen und bis zum Zweiten Weltkrieg in den Kirchen die deutsche Standardsprache als Schriftsprache verwendet. Protokolle aus den Kirchengemeinden, die von mir in den Lutheran Archives in Adelaide eingesehen werden konnten, belegen, dass die Schriftsprache bis in die späten 20er Jahre des 19. Jahrhunderts dem damaligen reichsdeutschen Standard folgte. So fällt etwa im Record Book of St. John’s Frauenverein Tanunda vom 10. Juni 1909 bis 15. November 1912 das sehr ausgefeilte Deutsch auf, es finden sich keine englischen Wörter, die Groß- und Kleinschreibung ist korrekt, häufig findet sich auch der Gebrauch des Konjunktivs und des Passivs. In Protokollen ab den 30er Jahren (z.B. St. Petri Ladies Guild Nuriootpa) lassen sich schon einige lexikalische Übernahmen verzeichnen. Diese beziehen sich v.a. auf institutionelle Begriffe und Veranstaltungen wie Vice President, Comitee Meeting, General Meeting, Social Programme, Parochie; Afternoon Tea, Sale of Gifts, Christmas Cheers sowie Mengenangaben (dozen), Finanzbegriffe (interest). In zunehmendem Maße kann man allerdings bereits Übernahmen im Bereich von Nahrungsmitteln und Gebrauchsgegenständen verzeichnen. Diese werden häufig durch Großschreibung in den deutschen Text integriert: Pies, Pastries, Posy, Lorry, Stainless Knives, Floor. Interessant ist auch die hybride Bildung mit Adjektiv: preserved Frucht. Internationale Wörter werden in der englischen Schreibweise bzw. Form wiedergegeben: Protocol, Concert, Collecte, Price, Medicine, discussion. Insgesamt sind Schwächen in der Rechtschreibung wie Kleinschreibung von <?page no="19"?> 1. Australien 19 Substantiven und Getrenntschreibung von Komposita (z.B. Weihnachts Geschenke) zu bemerken. Es finden sich außerdem Abweichungen im Satzbau, z.B. Ausklammerung (das wir nächstes mahl ein American Tea haben für unsern Sale of Gifts) oder Auslassung des Relativpronomens (Unser Verein dankt Schwester Cartwright für die Mühe und arbeit sie gehabt habe, 12. Juli 1933). Zunehmend macht sich der Sprachkontakteinfluss in den späten 30er und 40er Jahren bemerkbar. So wird etwa in den Kongregationsprotokollen der Gemeinde von St. Kitt’s, die noch bis 1954 auf Deutsch verfasst sind, ab 1939 die lateinische Schrift und nicht mehr wie bisher üblich die Kurrentschrift verwendet. Es gibt auch erheblich mehr Abweichungen im Bereich der Orthographie und Grammatik, v.a. häufig Kleinschreibung: (1) Durch aufstehen bezeugte die gemeinde ihren Dank Bei den Komposita findet man häufig Getrenntschreibung: ersatz mann, Sontag schul Lehrerin, Sontag Schul bücher, Kirchen Kasse. Auch der Einfluss englischer Konstruktionen macht sich bemerkbar: (2) Innerhalb das Jahr 1938 schenkten die Brüder Reinhold und Ewald Noack der Gemeinde zwei Lampen. (engl. within the year 1938) (3) das das gehalt erhöht werde zu L 1 yahrlich per communicant als von ersten July 1946. (engl. as of the first of July) Ein weiteres Indiz für fehlende schriftsprachliche Unterweisung in der Schule sind zahlreiche sprechsprachliche Formulierungen: (4) Br. Alf Doecke stellte den Antrag ob es möglich wäre, eine einrichtung zu treffen die Lampen rauf und runter zu regulieren… Vorgeschlagen, das es Br Alwin Doecke überlassen werde, sich da wegen zu erkundigen. Ein weiteres Merkmal, das auch in der gesprochenen Sprache sehr deutlich zu Tage tritt (s.u. 5.3.2), ist die fehlende Kasusmarkierung: (5) Durch aufstehen bezeugte die Gemeinde ihren herzlichen dank für die geleistete dienste Vor allem in den letzten Protokollen der Kongregationsversammlung im Jahr 1954 finden sich sehr stark von lexikalischen Übernahmen geprägte Äußerungen wie: (6) Bei eine besprechung am 5 July wurde beschlossen das das geld was gezeichnet war auf die subscription liste fur alter und pulpit fund eingesammelt wird und auf die bank getant wird um interest zu bringen. 5.2.2 Umgangssprache und Dialekte Wie bereits erwähnt, kamen die meisten Siedler aus dem Norden oder Nordosten Deutschlands, v.a. die Altlutheraner. Die Bewohner des Barossa-Tals stammten hauptsächlich aus Schlesien und der Region um Brandenburg. Dabei war die Mehrheit aus Nordschlesien (55,7 Prozent, besonders aus den Gegenden rund um Liegnitz, Krossen, Züllichau-Schwiebus), gefolgt von Siedlern aus der Lausitzer Region (13,4 Prozent, einschließlich sorbischer Sprecher) und Posen (10,3 Prozent). Kleinere Gruppen stammten aus Mittelschlesien (3,6 Prozent), der Magdeburger Region (1,8 Prozent) und Mecklenburg (5,8 Prozent) sowie aus eher heterogenen Teilen Deutschlands (9,4 Prozent) (vgl. dazu Paul 1965). Da die Mehrheit der Siedler aus Nordschlesien sowie der Lausitz und der Region um Posen stammt, können zwei wesentliche Kerndialekte unterschieden werden: die Nordschlesischen Dialekte und die Lausitzer Dialekte, die beide der ostmitteldeutschen Dialektgruppe angehören. Niederdeutsche Dialekte (z.B. der ‚Mecklenburger Dialekt‘) wurden bis in die 1920er Jahre in kleinen Gemeinden gesprochen, haben jedoch keinen großen Einfluss auf die dominanten Dialekte gehabt (Paul 1965, S. 9f.). Paul (ebd., S. 127) listet noch einige Besonderheiten im Wortschatz des Barossadeutschen auf, die sich auf ostmitteldeutsches bzw. slawisches Substrat zurückführen lassen, wie Burk ‚kastrierter Eber‘, Plautze ‚Lunge, Innereien‘, Luže ‚Pfütze‘. Auch einige Einflüsse des Niederdeutschen lassen sich nachweisen: Enkel ‚Fußknöchel‘, ledig ‚leer‘, leuchtet ‚blitzt‘. Weiter beobachtet Paul die Tendenz des <?page no="20"?> Claudia Maria Riehl 20 Schlesischen, durch Anhängen von -e neue Feminina zu bilden, z.B. die Salaate statt ‚der Salat‘, die Baache statt ‚der Bach‘ (ebd., S. 105). Leider liegen keine vergleichbaren Daten zum Deutschen in Victoria vor, Kipp (2002) listet lediglich die Übernahmen aus dem Englischen auf. Dennoch kann allgemein für Australien angenommen werden, was Boas (2009) auch für das Texasdeutsche herausgearbeitet hat, nämlich dass sich dort kein eigenständiger Dialekt herausbilden konnte. Nach Boas (2009, S. 293) konnte die dritte Stufe bei der Herausbildung einer neuen Varietät (nach Trudgill 1984) im Texasdeutschen nicht erreicht werden, da in dieser Zeit die kompakten Siedlungen schon in Auflösung begriffen waren. Das Texasdeutsche blieb daher auf Stufe zwei stehen und weist eine sehr starke Variation auf - und zwar nicht nur zwischen den Sprechern, sondern auch bei ein und demselben Sprecher. Ähnliches gilt auch für die deutschen Varietäten in Australien: Das hat damit zu tun, dass die Zeit bis zum ersten Verbot der deutschen Sprache im Ersten Weltkrieg zu kurz war, um eine eigene Koine zu formen. Für das Australiendeutsche lässt sich zudem annehmen, dass der Übergang zu einer ausgewogen bilingualen Gemeinschaft die Reduktion eines triglossischen Systems (Deutscher Dialekt, Standarddeutsch, Englisch) zu einem diglossischen (Standarddeutsch, Englisch) nach sich zog (vgl. Riehl 2015). Daher konnte Paul bereits in den 60er Jahren feststellen, dass zumindest im Barossa-Tal keine Dialekte mehr gesprochen wurden, sondern eine auf dem Standarddeutschen basierende Regionalvarietät: Die hier zu untersuchende barossadeutsche Mundart stimmt in ihrer gegenwärtigen Erscheinungsform weitgehend mit der Umgangssprache des ostmitteldeutschen Sprachgebietes überein. Es handelt sich um eine Sprechart, die kaum übergroße Unterschiede vom Neuhochdeutschen, wie es in den Städten Ostdeutschlands gesprochen wird, zeigt (Paul 1965, S. 15). Paul (ebd., S. 12) erklärt dies mit dem starken Einfluss des lutherischen Schulsystems und dem Sprachgebrauch im religiösen Umfeld. Er betont auch das Vorbild einflussreicher Personen wie Pastoren und Lehrer, die Standarddeutsch sprachen. Grundsätzlich verweist Paul (1962, S. 12) darauf, dass sich eher familienspezifische Idiolekte auf einzelnen Farmen herausgebildet haben und nicht übergreifende Dialekte. Auch die Aufnahmen aus den 60er Jahren aus verschiedenen südaustralischen Sprachinseln und Enklaven in Victoria zeigen, dass hier eine gemeinsame dialektale Basis fehlt. In den von Clyne 1967 aufgenommenen Gesprächen gibt es allerdings Sprecher, die zumindest eine passive Kenntnis des schlesischen Dialekts haben, vgl.: (7) HK [auf die Frage, woher seine Vorfahren kommen]: Von Schlesien. Und die haben natürlich ((…)) Ich kann den schlesischen Dialekt, den kann ich eben auch noch, glaub ich. MC: Oh ja? ! Wie, können Sie etwas auf Schlesisch sagen? Können Sie vielleicht dieses Bild auf Schlesisch beschreiben? HK: Oh no, nein, das kann ich nicht. Aber von Gedichte in die Kalender zum Beispiel. ((rezitiert ein Gedicht)) Wenn einer so sprechen würde, das würde hier gar nicht ganz verstehn, ganz und gar. (HK, *1902, DGD- Datenbank, MGSAM1) Clyne (1981, S. 19) vermerkt für das Barossa- Valley und den Westen Victorias noch Einflüsse auf phonologischer Ebene, die die ostmitteldeutschen Basisdialekte mit dem australischen Englisch gemeinsam haben, wie etwa die Entrundung / ε/ für / œ/ [mεçt ə ] ‚möchte‘, / i/ für / y/ [i: b ə rał] ‚überall‘, / ı/ für / y/ [mıs ə n] ‚müssen‘, die Diphthongierung von ɛ u/ für / o/ in [g ɹɛ us] ‚groß‘ sowie Senkung von / ai/ zu / aı / [k ɑ ın] ‚kein‘. Ähnliches vermerkt Wilson (1966: 48f.) auch für das Lockyer Valley German in Queensland. Allerdings konnte eine jüngst durchgeführte experimentelle phonetische Analyse der Diphthonge in den neueren Aufnahmen des Barossadeutschen signifikante Unterschiede zwischen den australiendeutschen Sprechern und den ostmitteldeutschen Sprechern aufzeigen (vgl. Beinrucker demn.). <?page no="21"?> 1. Australien 21 Clyne (1972) stellte beim Vergleich der Phonetik von fünf bilingualen Familien aus dem Barossa-Tal, dem Western District und der Wimmera fünf verschiedene phonologische Transformationsregeln fest, die bereits zwischen den beiden Generationen durchlaufen werden: Bilabialisierung, Diphthongisierung, De-Affrikatisierung, Entrundung, Palatalisierung. Clyne findet die Hauptmerkmale des Tarringtoner Deutsch auch in anderen deutsch-australischen Siedlungen wieder (vgl. Clyne 1981, S. 19), verweist aber darauf, dass die Niederlassungen in Südaustralien oft größer und weniger homogen waren und die Bevölkerung weniger ortsfest, so dass die sprachlichen Erscheinungen weniger einheitlich sind. Der Wortschatz des Australiendeutschen enthält einige Archaismen, die auf das Deutsch der Lutherbibel zurückgehen, wie gewohnet, Sommerzeit, wahrlich sowie Luftschiff für Flugzeug (ebd., S. 20). In allen Siedlungen ist auch die Wortbildungsregel, Verben mit -ieren aus Substantiven abzuleiten, verbreitet. Interessanterweise wird das Suffix nicht nur bei Ableitungen von englisch-basierten Substantiven verwendet, sondern auch bei heimischen: vgl. farmerieren, gärtnerieren, schneiderieren (ebd.). In den neuesten Aufnahmen (2009 bis 2014) ist lediglich farmerieren belegt, dies aber gegenüber der sonstigen Tendenz des Deutschen, Verben mit englischer Basis durch Hinzufügen des heimischen Suffixes -en zu generieren (vgl. Riehl 2014, S. 101f.). Im Barossa-Tal gab es auch einen Einfluss der sog. ‚Tempelgesellschaft‘. Dabei handelt es sich um eine christlich-reformatorische Religionsgemeinschaft, die um 1861 in Württemberg gegründet wurde. Um die Nähe zu den heiligen Stätten herzustellen, siedelten die Templer ab 1868 auch in Palästina. Von dort wurden sie 1941 nach Australien transferiert und ließen sich überwiegend in Melbourne nieder, einige kamen auch nach Südaustralien (vgl. Christa 1995, Mork 2013) und gründeten dort eine Gemeinde in Tanunda (Barossa-Valley). Sie sprechen einen schwäbischen Dia- 3 Im Gegensatz zu Clyne präsentiert Paul (1965) die Daten in einer „eingedeutschten“ Schreibung. lekt, den Clyne (1981, S. 25) dem sog. ‚Honoratiorenschwäbisch‘ zuordnet, also einen Regionaldialekt aus dem Stuttgarter Raum, mit einigen lexikalischen Transferenzen aus dem Arabischen. Die Templer kamen teils bei barossadeutschen Familien unter, sprachen mit diesen zunächst nur Deutsch und bewirkten einige idiosynkratische Einflüsse, v.a. im Bereich des Wortschatzes (s.u. Abschnitt 6.1). 5.3 Sprachkontakterscheinungen 5.3.1 Lexikalischer und semantischer Transfer Die Varietäten des Australiendeutschen sind sehr stark von Sprachkontakt geprägt. Dies konnte bereits bei den Aufnahmen von Clyne aus dem Jahre 1967 nachgewiesen werden. Auch Paul (1962, 1965) beschreibt für das Barossadeutsche viele Übernahmen aus dem Englischen: Wie in allen Sprachkontaktgebieten finden sich besonders viele Transfererscheinungen im Bereich des Wortschatzes. Dieser hatte sich bereits in den 60er Jahren stabilisiert (vgl. Clyne 1981, S. 17). Die entlehnten Lexeme stammen überwiegend aus den drei wichtigsten Bereichen Farm, Obstanbau und Weinbau: vgl. die Roode ‘road’, die Kricke ‘creek’, der Rai ‘rye’, der/ die Fenz ‘fence’, die Päddock ‘paddock’ die Leine ‘railway line’ die Raasberi ‘raspberry’, das Taunschipp ‘township’ (vgl. Paul 1965, S. 102f). 3 Clyne (1981, S. 20) führt für Hochkirch/ Tarrington außerdem noch die Buggie und Gumbaum an. Clyne bemerkt aber hier, dass die meisten südaustralischen Informanten das Wort Gummibaum für Eukalyptusbaum oder ein Kompositum wie Blaugummi verwenden, während die Probanden aus Victoria die Hybridform Gumbaum [gumbaum] gebrauchen. In der Wimmera-Gegend ist dagegen das Simplex gum [gʌm] üblich. Paul (1962, S. 71) listet noch eine ganze Reihe weiterer Entlehnungen auf: So sind Namen für Beeren bis auf Stachelbeere aus dem Englischen übernommen: neben der bereits <?page no="22"?> Claudia Maria Riehl 22 erwähnten Raasberi (‚Himbeere‘) auch Blackberry (‚Brombeere‘) oder direkt übersetzt (schwarze Beere oder Schwarzbeere). Auch die andersartigen Lebens- und Wirtschaftsverhältnisse spiegeln sich in der Lexik wieder. Die Sprecher verwenden Farmer statt Bauer und Farm statt Bauernhof, weil diese sich von den in Deutschland üblichen bäuerlichen Lebensformen unterscheiden. An technischen Neuerungen werden u.a. die Car, die Train, die Leine (Bahnlinie), uffringen (antelefonieren, engl. ‚to ring up‘) genannt (ebd., S. 77). Weitere Beispiele für direkte Übernahmen aus dem Englischen: First cousin (‚Cousin‘), Floor (‚Fußboden‘), Keeks, Keekse (‚Kuchen‘), Mark/ Skaar (‚Narbe‘), Geem (‚Spiel‘), Stove (‚Herd‘), Groceries (‚Gemüse‘), Pin (‚Nadel‘). Neben den lexikalischen Übernahmen gibt es auch semantischen Transfer in Form von Lehnübersetzungen: fehlen (‚durchfallen bei der Prüfung‘, engl. ‚to fail‘); Tee oder Teei (statt: Abendbrot), uffgebracht (‚aufgezogen‘, engl. ‚brought up‘) (ebd., S. 78). Auch Kipp (2002, S. 219) findet in ihrem Korpus des Deutschen im Western District (VIC) die meisten Übernahmen in den Bereichen Flora/ Fauna (20,5 Prozent), gefolgt von landwirtschaftlichen Bezeichnungen (12,8 Prozent) und öffentlichem Leben (12,8 Prozent). Weitere Domänen mit einem hohen Anteil an Entlehnungen sind Transportwesen (10,3 Prozent) und technische Neuerungen (9,6 Prozent). Die häusliche Sphäre und das Familienleben sowie Unterhaltung und Freizeit belegen jeweils 9 Prozent. Neben einer Reihe von Wörtern, die auch im Barossadeutschen häufig vorkommen, finden sich bei Kipp u.a. folgende Wörter, die bei mehreren Informanten belegt sind: aus dem landwirtschaftlichen Bereich homestead und machinery, aus dem öffentlichen Leben post office und hospital, aus dem Transportwesen car, motor car, aeroplane (letztere sind auch in unseren neueren Daten zum Barossadeutschen belegt), aus dem technischen Bereich oil heater und deep freezer sowie aus dem Bereich Unterhaltung/ Freizeit das Wort holiday (auch das ist im Barossadeutschen belegt). Interessant sind hier Schwankungen im Genus: So führt etwa Paul (1965, S. 104ff.) für das Barossadeutsche die folgenden Wortpaare an: der/ die Griepsch, der/ die Koor, der Pool/ die Pole, der Mott/ die Motte, der Schnarr/ die Schnarre (Narbe), der Anwand, die Anwende, der Matsch/ die Matsche, der Kriik/ die Kricke, der/ die Fenz. Die Tendenz, feminines Genus zu bevorzugen, die Clyne (1968) feststellte, konnte Kipp (2002, S. 230) anhand ihrer Daten für den Western District von Victoria nicht belegen. Sie bemerkt stattdessen eine sehr interessante Tendenz, nämlich die Vermeidung der Genusmarkierung durch Nullartikel oder Pluralgebrauch (44,7 Prozent der Daten). Auch zahlreiche semantische Übernahmen kommen vor: Frucht (‚fruit‘, Frucht, Obst), Platz (‚place‘, Platz, Ort), Hochschule (‚high school‘, für die Sekundarschulform), Ferien (‚holiday‘, Feiertag), Kosten (‚cost‘, Preis). Neben den Substantiven finden sich in diesem Bereich eine ganze Reihe von Verben: aufbringen (‚bring up‘, aufziehen), erholen (‚recover‘‚ retten), meinen (‚to mean‘‚ bedeuten), rennen (‚to run‘‚ laufen), studieren (‚to study‘‚ lernen), wachsen (‚to grow‘‚ züchten) (vgl. Fingerhuth 2011). Semantischer Transfer findet darüber hinaus auch bei Konjunktionen statt: weil übernimmt die Bedeutung von engl. while (‚während‘) und wenn die Bedeutung von engl. ‚when‘ (‚als‘, ‚wann‘) (ebd.). Wie auch in anderen Sprachkontaktkonstellationen (vgl. Riehl 2014, S. 98) finden sich im Australiendeutschen eine ganze Reihe von Diskursmarkern, die aus der Kontaktsprache übernommen wurden. Matras (1998, S. 310) spricht hierbei von der Entlehnung eines sprachlichen Subsystems, nämlich der „oral communication patterns“. Er stellt fest, dass Partikeln, die als Gesprächswörter dienen, umso eher entlehnt werden, je weniger durchsichtig ihre lexikalische Bedeutung ist und je mehr gestenhaften Charakter sie haben, d.h. ihre Funktion der von entsprechenden Gesten gleichkommt. Bei Sprachgemeinschaften, die einen intensiven Kontakt zur Zweitsprache haben, wie das bei fast allen Sprachinseln der Fall ist, durchziehen entlehnte Diskursmarker den ganzen Text, vgl. folgende Beispiele: (8) Ja, well wir warn kleine Kinder d-[lacht] (DH, Barossa) <?page no="23"?> 1. Australien 23 (9) Die Leute in Tarrington haben sehr viele W/ englische Worte gleich hereingemischt, you know, es nicht rein Deutsch mehr, das war (--) Englisch-Deutsch (Kipp 2002, S. 127, Transkription adaptiert) (10) sehr wenig (--) außer man sagt n dummer Zeug oder so (--) but (--) es (--) beinahe gar kein Deutsch mehr gesprochen (ebd., S. 135). Ebenfalls in den Bereich Pragmatik fallen gegenüber dem Standarddeutschen veraltete Anredeformen, wie die höfliche Anrede mit Ihr. Häufig führt die Verwendung der standarddeutschen Höflichkeitsform sogar zu Missverständnissen oder Unverständnis. 5.3.2 Morphologische Vereinfachungstendenzen am Beispiel des Barossadeutschen Typische Phänomene bei Sprachen und Varietäten, die in Auflösung befindlich sind, sind Restrukturierungen, die nicht direkt auf den Sprachkontakt zurückzuführen sind, sondern v.a. mit den Tendenzen der Sprachvereinfachung im Rahmen von Sprachwechselprozessen zu tun haben. Hier spielen kognitive Prozesse wie die Reduktion von Varianten bei der Sprachspeicherung (Riehl 2014, S. 119) eine Rolle. Ein prominentes Beispiel ist hier die Kasusreduktion, die bereits auch in vielen anderen Sprachinseln des Deutschen festgestellt wurde (u.a. Born 2003, Keel 2003, Kaufmann 2004, Boas 2009, Rosenberg 2003, 2005, 2016) und die anhand eines Subsamples des Barossadeutschen mit 20 Sprechern von mir untersucht wurde (Riehl 2015, 2016.). Es fällt auf, dass in den Interviewdaten zum Barossadeutschen nur in etwa 30 Prozent der Fälle, die im Standarddeutschen einen Dativ aufweisen, eine reguläre Dativ-Markierung realisiert wird, knapp 68 Prozent der Fälle im Barossadeutschen zeigen keine oder eine unvollständige Dativ-Markierung bzw. Akkusativ-Markierungen anstelle von Dativ-Markierungen (6,8 Prozent). Dabei fällt besonders auf, dass in der Nominalphrase bis auf eine Ausnahme (dem Weihnachtsmann) keine Dativ- Markierung auftritt, die vom Verb zugewiesen wird. Alle Vorkommnisse sind Fälle, in denen Personalpronomina verwendet werden. Die meisten der von Präpositionen zugewiesenen Dativ-Markierungen sind solche, bei denen eine Verschmelzung einer Präposition mit dem Suffix des definiten Artikels vorliegt, z.B. zur (= zu der), zum (= zu dem), beim (= bei dem), aufm (= auf dem). Allein 44,9 Prozent der Vorkommnisse von durch Präpositionen zugewiesenen Dativ-Markierungen sind von diesem Typ, darunter 35,7 Prozent aller verschmolzenen Formen entweder in der Konstruktion zur Kirche oder zur Schule (dazu detailliert Riehl 2016). Die Ergebnisse aus den freien Interviews werden durch die Daten der Übersetzungsaufgabe untermauert: In dieser finden sich 18 Sätze mit Präpositionalphrasen, die im Standarddeutschen den Dativ verlangen: von den insgesamt 216 Vorkommnissen hatten nur 25 (= 11,5 Prozent) den Dativ korrekt markiert. Die meisten Sprecher haben nur eine einzige Form (aufm Boden bzw. aufm floor) mit Dativ- Markierung realisiert. Die Ausnahme bildet eine Informantin (MH), die die Hälfte der Markierungen normkonform verwendet, z.B. auf dem Stuhl, neben dem Baum, unter dem Holzhaufen. Wenn man diese Daten mit historischen Daten vergleicht, zeigt sich, dass tatsächlich ein weiterer Kasusabbau in der letzten Generation stattgefunden hat (vgl. Tabelle 1): So treten bei von Präpositionalphrasen zugewiesenen Dativen in den gesprochenen Aufnahmen von Clyne (1967) noch 44,8 Prozent reguläre Dativ-Markierungen auf gegenüber 13,8 Prozent in den neuen Aufnahmen und in den Übersetzungsaufgaben von Paul 49,4 Prozent reguläre Markierungen gegenüber 11,5 Prozent in den Übersetzungsaufgaben von 2014 (vgl. dazu auch Riehl 2015). regulär irregulär regulär irregulär Interviews 44,8 % 55,2 % 13,8 % 86,2 % Übersetzungsaufgabe 49,4 % 50,6 % 11,5 % 88,5 % Tab. 1: Dativ-Markierungen <?page no="24"?> Claudia Maria Riehl 24 Der Dativabbau wird ähnlich dokumentiert in Studien zu anderen deutschen Siedlungen (vgl. Wilson 1966, Bleakley 1968). Unsere Ergebnisse bestätigen einerseits, dass es bereits in der vorhergehenden Generation eine hohe Varianz verschiedener Formen gab, und andererseits, dass die Tendenz des Dativabbaus sich in der heutigen Generation weiter fortgesetzt hat. Der Abbau der Kasusmarkierung lässt sich auch in den schriftlichen Dokumenten belegen. Wie die Analyse der Protokollbücher (von 1918 bis 1954) in den Lutheran Archives in Adelaide ergeben hat (s.o. 5.2.1), begann der allmähliche Verlust der Dativ-Markierung 1938, als das Deutsche nicht mehr länger als schriftliche Varietät gebraucht wurde. In den Protokollen der Gemeinde St. Kitt’s aus den Jahren 1948 bis 1953 finden sich auch viele Ersetzungen der Dativdurch Akkusativ-Formen (vgl. o. 5.2.1): von die Parish conference, mit eine gleich mässige steuer, bei den vorleser u.v.m. Aber auch hier sind individuelle Variationen zu verzeichnen: So finden sich bei den Einträgen im Jahr 1950 die Varianten aus der kasse, aus die kasse und aus the kasse! (gleiche Hand! ). Wie bei anderen Sprachinsel-Varietäten zeigen die Sprecher des Barossadeutschen eine Rest-Markierung des Dativs innerhalb des Pronominalsystems. Bei genauerer Analyse stellt man aber fest, dass sich hier eine deutliche Entwicklung hin zum Ersatz der alten Dativ- und Akkusativ-Distinktion im Bereich der Personalpronomina durch einen obliquen Kasus abzeichnet, der sich je nach Person aus den alten Formen des Akkusativs oder Dativs rekrutiert. Dabei markieren die ursprünglichen Dativformen die 1. und 2. Pers. Sg. (Dat./ Akk.) und die ursprünglichen Akkusativformen 3. Pers. Sg. und Pl. (Dat./ Akk.) (1. und 2. Pers. Pl. haben ja auch im Standarddeutschen nur eine Form für Dativ und Akkusativ). In bereits 86,5% der Fälle ist das Akkusativpronomen durch das Dativpronomen ersetzt, mich und dich kommen nur noch in den Wendungen für mich, für dich, in Bibelzitaten und in hochfrequenten Reflexivkonstruktionen vor. Dass es sich bei dieser Entwicklung um einen eigenständigen Reduktionsprozess und nicht um einen Einfluss des Niederdeutschen (für das ja auch die Reduzierung der Dativ-Akkusativ-Unterscheidung typisch ist) handelt, ist durch zwei Argumente zu belegen. Zum einen trat dieser Synkretismus in den von der Mehrheit der Siedler mitgebrachten schlesischen und Lausitzer Dialekten nicht auf (vgl. dazu Weinhold 1853), zum zweiten wird im niederdeutschen Pronominalsystem die oblique Form innerhalb des ganzen Paradigmas (und nicht nur in der 1. und 2. Pers. Sg.) mit dem Dativpronomen markiert (vgl. 3. Pers. Sg. em/ ehr, 3. Pers. Pl. jem) (vgl. auch Riehl 2016). Eine weitere Erscheinung, die bereits Clyne (1968) und Wilson (1966) anführen, ist die vermehrte Verwendung der tun-Periphrase. Clyne (1981, S. 21) führt dies auf die ostmitteldeutsche Umgangssprache zurück. In unserem Korpus findet sich allerdings die Tendenz, die Periphrase vorwiegend in der Vergangenheit zu verwenden. Sie ersetzt hier häufig die Präteritumformen, besonders bei unregelmäßigen Verben wie in den folgenden Beispielen; in der Regel wird dabei eine gewohnheitsmäßige Handlung beschrieben, die im Englischen etwa mit der Periphrase would + Infinitiv wiedergegeben wird: (11) a. Sie tate vorlesen weil ich stricken tate. (AVH) b. Und immer wenn die Kinder was nicht sollten verstehen, dann taten wir Deutsch sprechen. (AVH) Es ist sehr auffällig, dass die tun-Periphrase grundsätzlich beim Verb sprechen im Präteritum verwendet wird. Analog dazu tritt sie auch sehr häufig bei schreiben, sagen oder verwandten Verben wie beten auf. Bei einigen Sprechern bemerkt man, dass sie die Periphrase im Präteritum sehr häufig gebrauchen, auch dann, wenn keine gewohnheitsmäßige, sondern eine einmalige Handlung beschrieben wird: (12) a. (über die Beschlagnahmung der Gewehre während des Zweiten Weltkriegs) Und es war n police-Mann. Der tat alle die Flinten… einnehm (DH) b. (über einen Abend, an dem sie deutsche Einwanderer trafen) Nun sind wir da hin gegang und denn äh mein Mann <?page no="25"?> 1. Australien 25 is bei die Männer gegangen, die taten Canaster spielen (GG) Der Gebrauch der tun-Periphrase lässt sich zwar bei allen Sprechern feststellen, aber durchgängig nur beim Verb sprechen (das aber natürlich aufgrund der Thematik auch sehr häufig verwendet wird). Der Gebrauch insgesamt und auch die Verwendung in Kontexten, die keine gewohnheitsmäßigen Handlungen zulassen, schwankt sehr zwischen den einzelnen Sprechern: Im aktuellen Korpus von drei Prozent aller Präteritumsformen bis zu fünfzig Prozent. In den historischen Daten findet sich ausschließlich der Gebrauch zur Markierung von gewohnheitsmäßigen Handlungen (Clyne 1968). Insgesamt ist der Gebrauch der tun-Periphrase in den aktuellen Daten drei Mal so hoch wie in den historischen Daten. Bei der Untersuchung des Gebrauchs der tun-Periphrase im Zusammenhang mit dem Verb sprechen kann ein Zuwachs von 7,3 Prozent in den historischen Daten auf 53,3 Prozent in den aktuellen Daten festgestellt werden. Hier kann man einen typischen Restrukturierungsprozess im Rahmen des Sprachabbaus feststellen: Die Periphrase, die ursprünglich die Funktion einer gewohnheitsmäßigen Umschreibung hat, wird genutzt, um Präteritum im Allgemeinen auszudrücken. Damit handelt es sich um eine Form der Vereinfachung, da somit das Vollverb im Infinitiv gebraucht werden kann und die Sprecher keine starken Verbformen verwenden müssen, die einzeln im Lexikon gespeichert sind und nur noch schwer abrufbar sind (dazu auch Riehl 2014, S. 92). Weitere Tendenzen, die sich auch in anderen Sprachinselvarietäten des Deutschen finden, sind der Abbau der Verbklammer und der Abbau der Verbendstellung im Nebensatz (vgl. Riehl 2010a, b, 2014). Im Bereich der Verbstellung im Nebensatz finden sich ähnliche Tendenzen, die sich auch in anderen Varietäten im Kontakt mit dem Englischen nachweisen lassen, wie etwa das Sprinbok-German in Südafrika (vgl. Harr in diesem Band) und das Mountridge Schweizer German (Hopp/ Putnam 2015). Obwohl sich grundsätzlich in allen Typen von Nebensätzen V2- Stellung findet, kommt der überwiegende Teil in weil- und dass-Sätzen vor, vgl.: (13) ich weiß, dass wir haben müssen da unten Deutsch sprechen. (DH) (14) Und dann musste ich zu Hause bleiben weil ich war der Jüngste (DEH) Diese Tendenz bestätigt sich auch in anderen Kontaktvarietäten des Deutschen (zu einer möglichen Erklärung vgl. Hopp/ Putnam 2015). 5.4 Code-Switching, Sprachmischung Da, wie bereits ausgeführt, die deutsche Sprache nicht mehr aktiv als Kommunikationsmedium verwendet wird, kann man diese auch nicht mehr im Gebrauch der Sprecher untereinander beobachten. Die Sprache wird fast nur noch mit Sprechern aus Deutschland verwendet. Dabei kommt es zu vielen Fällen von funktionalem Code-Switching (s. Riehl 2014, S. 25ff.), da die Sprecher Wortfindungsschwierigkeiten haben: (15) und die Schullehrin, die äh tat, sie war […] she was Scotch but now die wohnte äh äh weiter wie wir waren. Denn sie kam, wenn sie laufen kam äh lang, long the road, dann kalief ich mit se (DT) Die Sprecherin hat in beiden Fällen das Problem, dass ihr die adäquate Formulierung auf Deutsch nicht einfällt. Daher weicht sie in die dominante Sprache Englisch aus. In anderen Fällen werden Kommentare, etwa die eigenen Gedanken, auf Englisch geäußert. Auf die Frage, wie sie mit den Brüdern gesprochen habe, antwortet DH: (16) Ich denke da taten wir meistens Englisch sprechen. What I think, yeah. (DH) Da die innere Sprache, die Sprache des Denkens, Englisch ist, werden diese Kommentare oft auf Englisch gegeben. Das betrifft auch andere Arten von Kommentaren zum Thema, etwas in Form von Routineformeln: (17) Und… manchmal kam Polly denn da rein und… fing an was zu sprechen und die konnt ih nich verstehn. Ja. It’s a little bit different… (DEH) <?page no="26"?> Claudia Maria Riehl 26 Typische Formen für eine Sprachgemeinschaft, die in Auflösung befindlich ist, sind Formen des Code-Mixings, bei dem ständig zwischen den Sprachen gewechselt wird: (18) and I slept in a […] mit so ne alten … Wollbett to the other place you know (DEH) (19) Oh, die taten frischtigessen da, wir hatten ne große dairy vault, das war alles baukmilk, you know, wir hatten großen tank wo’s… rührten tat drin, und denn hatten sie sich so ein cappy gemacht, you know, where they can make coffee and have breakfast. (AVH) Ein weiteres Phänomen, das mit mangelndem Gebrauch der Sprache in Verbindung zu bringen ist, ist dass die Sprecher häufig auf semantisch verwandte Begriffe ausweichen, neue Lexeme nach bekannten Mustern kreieren oder auch existente Lexeme in falschen oder unüblichen Verwendungskontexten einsetzen. Dieses Phänomen bezeichnete Clyne (1981, S. 38) als „sprachliche Entfremdung“. Darunter ist etwa die Verwendung von semantisch ähnlichen Begriffen zu zählen, die Clyne (ebd.) als ‚Neosememe‘ bezeichnet (hier Beispiele der Sprecherin DT): (20) a. wir ham keine Ursache zu deutsches Sprechen (statt: ‚Gelegenheit, Anlass‘) b. Das war früher Mode - der älteste Sohn musste die Farm übernehmen (statt: ‚Brauch‘) c. Da hab ich mir das Deutsche wieder erholt (statt: ‚geholt‘) Darüber hinaus werden auch neue Wörter gebildet: iberflächlich (=‚überflächlich‘ statt ‚oberflächlich‘), verdolmetscht (statt ‚gedolmetscht‘) übersagen (statt: ‚vorsagen, wiederholen‘), Verrücktigkeiten (statt ‚Verrücktheiten‘). Clyne (1968, S. 39) bezeichnete dies als „idiolectal neologisms“, die sich aber - wie die hier aufgeführten Erscheinungen - durchaus der deutschen Wortbildungsmuster bedienen. 6 Sprachgebrauch und -kompetenz am Beispiel des Barossadeutschen 6.1 Allgemeines Die Tatsache, dass die deutsche Sprache seit 1939 überhaupt nicht mehr im öffentlichen Kontext verwendet werden konnte und sogar der private Gebrauch eingeschränkt wurde, führte dazu, dass die Verwendungskontexte immer mehr abnahmen und sich ganz auf die Familie und Gespräche mit der älteren Generation beschränkten. Wie bereits erwähnt, fand Michael Clyne, als er Ende der 1960er Jahre Aufnahmen in den verschiedenen Sprachinseln in Südaustralien und Victoria machte, bereits viele Informanten vor, die die deutsche Sprache nicht mehr aktiv verwendeten. Kipp (2002, S. 159f.) berichtet für den Western District von Victoria, dass Deutsch dort in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts v.a. in Witzen und in Grußformeln noch einen nischenhaften Gebrauch hatte, teilweise noch bis in die 90er Jahre. Allerdings scheint ein Faktor den völligen Verlust der deutschen Sprache aufgehalten zu haben, und das ist die Zuwanderung von Deutschen aus der Bundesrepublik in den 50er und 60er Jahren (vgl. auch Clyne 1981, S. 16): Einige Informanten aus dem Barossa-Tal (Aufnahmen 2009 bis 2014) berichteten, dass sie Kontakte zu den Neueinwanderern hatten und am Anfang mit ihnen Deutsch sprachen. Es gab wohl auch eine Reihe von Eheschließungen von sog. New Australians mit Sprechern der Sprachinselvarietät. Allerdings wurde in diesen Beziehungen offensichtlich nur am Anfang Deutsch verwendet, später war auch hier die allgemeine Verständigungssprache das Englische. Einige Sprecher kamen näher mit Angehörigen der Templergesellschaft (s.o. 5.2) in Kontakt, etwa indem sie sie in ihr Haus aufnahmen. Diese übernahmen dann auch einige schwäbische Ausdrücke, z.B. bissel ‚ein bisschen‘ (AVH). Ein weiterer Faktor für Spracherhalt war die Isolation, einige der Informanten wuchsen auf abgelegenen Farmen auf und hatten hauptsächlich Kontakt zu Geschwistern oder <?page no="27"?> 1. Australien 27 Cousinen und Cousins, mit denen sie in ihrer Kindheit nur Deutsch sprachen. Die Schule spielt nur insofern eine Rolle, als die ältesten Informanten (um 1925 geboren) noch die deutsche Samstagsschule und den deutschsprachigen Konfirmationsunterricht besuchen konnten. Nur wenige hatten auf der Highschool DaF-Unterricht, der aber laut Sprecheraussagen nicht sehr effektiv gewesen sein soll. Der wichtigste Faktor für den Spracherhalt ist zweifelsohne die Zugehörigkeit zur lutherischen Gemeinde. Der Einfluss der Kirche spiegelte sich nicht nur darin wieder, dass die Liturgie bis 1940 auf Deutsch abgehalten wurde und man deutschsprachige Gebetbücher und Katechismen verwendete, sondern auch darin, dass die Pastoren eine sehr große Autorität im Dorf besaßen und sehr für den Erhalt des Deutschtums und der deutschen Tugenden eintraten. So berichtet etwa einer unserer Informanten aus dem Barossavalley: (21) weil die deutsche Sprache hier is so lange geblieben is durch die Pastor. Tanunda hat drei Pastorn, äh… Hillt, Heibert und Rehrs. Und- und die wa-waren alle echt deutsch. Und die alle sprache zu die Deutsche zu dessen Sprache (DEH) In einigen Gegenden war es sogar verpönt, in englischsprachige Gebiete zu gehen, weil dort angeblich die Sitten verdorben waren. So berichtet ein jüngerer Sprecher, der selbst kein Deutsch mehr spricht, dass folgender Spruch grundsätzlich galt: don’t go over the hill, because it’s dangerous there, it’s there where the English live (MC). Ähnliches belegt auch Kipp (2002, S. 115) über den Western District von Victoria. Es ist festzustellen, dass alle unsere Informanten einen sehr starken Bezug zur Religion hatten, regelmäßig den Gottesdienst besuchten und teilweise auch eine emotionale Bindung zu deutschen Kirchenliedern und Gebeten haben. Im Gegensatz zu anderen Sprachinseln, in denen wir noch drei Generationen beobachten können, die die Sprachinselvarietät sprechen, ist die aktive Sprachkompetenz im Deutschen in Australien auf die älteste Generation beschränkt. Aufgrund der fehlenden Kommunikationsmöglichkeiten haben wir es allerdings mit Fällen von Spracherosion (language attrition) zu tun. So handelt es sich beim Barossadeutschen um eine sterbende Varietät, und die letzten Sprecher zeigen sehr viele Muster, die in der Regel bei Sprachgemeinschaften zu finden sind, die zum Sprachwechsel übergehen; auch die Registerkompetenz ist sehr eingeschränkt, d.h. die Sprecher beherrschen nur eine Varietät der Sprache (vgl. Thomason 2001). Daher kann man im Falle des Australiendeutschen von einer sog. Reliktvarietät sprechen, die sich durch die folgenden Kriterien bestimmen lässt (vgl. Riehl 2012): - Die Minderheitensprache wird nur von einer kleinen Anzahl von Sprechern der ältesten Generation verwendet. - Die Sprecher erwarben ein unvollständiges System einer bereits vereinfachten Varietät. - Die Sprecher erhielten variablen Input. - Die Sprecher erwarben kein Schriftsystem der L1-Varietät (mit Ausnahme liturgischer Texte). - Die Sprecher leben isoliert von anderen Sprechern der gleichen L1. Die Sprecher der Reliktvarietät sahen sich bereits bei ihrem Spracherwerb mit einem variablen Input konfrontiert, der nicht nur innerhalb der Sprachgemeinschaft, sondern auch bei jedem einzelnen Sprecher variierte (wie etwa die historischen Daten zum Barossadeutschen von Clyne 1967 und Paul 1965 zeigen). 6.2 Einschätzung der Sprachkompetenz in den verschiedenen Sprachen/ Varietäten In der Regel geben die Sprecher an, das Deutsche nur im Mündlichen zu beherrschen. Eine Sprecherin, die sehr flüssig Deutsch spricht (MH), gibt auch an, Deutsch gut schreiben zu können: (22) Es nimmt mir vielleicht ei-ein bisschen länger, aber ich-ich kann sehr-ich kann sie sehr leicht schreiben (MH) Die meisten glauben, noch ganz gut Deutsch zu sprechen (z.B. LB), und einige können es <?page no="28"?> Claudia Maria Riehl 28 auch lesen (ebd., er entzifferte sogar die Sütterlinschrift). Die Sprecher geben an, dass sie als Kind fast ausschließlich Deutsch gesprochen hätten, später aber meist nur noch mit den Eltern. Nach deren Tod wurde im Prinzip kaum mehr Deutsch gesprochen, und den Sprechern ist auch bewusst, dass sie damit die Kompetenz immer mehr verlieren: (23) Das hat ich auch alles als Kind gelernt in Deutsch. Aber wenn mans nicht tut gebrauchen, da tut man das verliern. (RL) Einige wenige Sprecher (3) sind in Deutschland gewesen und berichten, dass sie sich dort auch haben verständigen können, bemerken aber auch den Unterschied zu ihrer eigenen Varietät, v.a. im Bereich des Wortschatzes, der im Australiendeutschen schon sehr stark vom Englischen geprägt ist: (24) Ja. Diewir verstanden sie. […] Aber ah… hier in Australien, die Alten, well unsre Eltern… die toten sogen ‚A Strom Wasser‘. Und ich hot des gesagt do und er sagt ‚A Strom, Strom is electrizity‘. (LB) 6.3 Sprachgebrauch: Domänen, Sprecherkonstellationen, Sprechertypen Die 51 von mir und meinen Mitarbeitern (Beate Schmitz und Jens Schieck) in den Jahren 2009 bis 2014 aufgenommenen Sprecher zeigen sehr unterschiedliche Kompetenzen. Davon haben aber vierzehn Sprecher nur noch eine passive Kompetenz des Deutschen, und die Interviews mit ihnen wurden entsprechend auf Englisch geführt. 4 Von den verbleibenden 37 Sprechern wurde der jüngste Sprecher 1938 geboren, die ältesten beiden Sprecher im Jahr 1917. Zum Aufnahmezeitpunkt waren die Sprecher zwischen 73 und 96 Jahre alt (Durchschnittsalter = 85). Alle Sprecher verbrachten ihr gesamtes Leben im Barossa- Tal. Keiner der Probanden hatte Deutsch als Unterrichtssprache, aber zwölf Sprecher hatten Konfirmationsunterricht auf Deutsch, drei 4 Die Interviews, die auf Englisch geführt wurden, beinhalten allerdings wichtige Daten zur Sprachbiographie, die wiederum für die Analyse von Sprachwechsel lernten zwei Jahre auf der Samstagsschule, und vier hatten - wie bereits erwähnt - zwei Jahre Deutsch als Fremdsprache-Unterricht auf der Highschool. Alle Sprecher sind Mitglieder der Altlutherischen Kirche und besuchen regelmäßig den Gottesdienst. Obwohl viele dem gleichen sozialen Netzwerk angehören, geben sie an, untereinander nie die deutsche Sprache zu gebrauchen. Ausnahme bilden einzelne Ausdrücke oder Phrasen (z.B. wie geht’s? ). Einige verwenden auch zum Spaß deutsche Schimpfwörter wie Schafskopf, Dummkopf, verdrehter Bengel, Schweinigel (Informantenangaben). Viele geben auch an, nicht mit den Ehepartner Deutsch gesprochen zu haben, auch nicht, wenn diese ebenfalls Australiendeutsche waren, „bloß wenns verrücktichkeiten war“ (MT). Nur drei unserer Informanten haben gelegentlich Schriftverkehr mit Deutschland oder lesen noch Deutsch. Dabei fällt ganz besonders eine Informantin (MH) ins Auge, die auch ein sehr emotionales Verhältnis zum Deutschen hat und auch eine hohe Sprachaufmerksamkeit zeigt. Sie berichtet, dass sie über 17 Jahre eine deutschsprachige Zeitschrift abonniert und aufmerksam gelesen hat. Außerdem ist sie seit einigen Jahren mit einigen Bekannten in Deutschland in Kontakt und schreibt ihnen auch Briefe auf Deutsch. Während sie in freien Gesprächen eine hohe Variation zeigt, gebraucht sie zumindest in der Übersetzungsaufgabe noch die Hälfte der Dativ-Markierungen normkonform. Allerdings hat die Konfrontation mit dem modernen Standarddeutschen durchaus Auswirkungen auf den Wortschatz: So kann man beobachten, dass Barossadeutsch-Sprecher, die in Berührung mit der deutschen Standardsprache kommen, sehr schnell Bezeichnungen wie Fernseher (statt Barossadeutsch TV) oder Kühlschrank (statt Barossadeutsch Eisschrank) übernehmen (vgl. hier die Probanden MH, DR und MK). oder Spracherhalt in der barossadeutschen Sprachgemeinschaft herangezogen werden können. <?page no="29"?> 1. Australien 29 Eine weitaus größere Zahl von Sprechern hat eine passive Kompetenz im Deutschen. Diese besteht teilweise auch noch in der jüngeren Generation. Einige unserer Informanten berichten, dass sie immer Deutsch gesprochen haben, wenn die Kinder es nicht verstehen sollten. Das hatte bisweilen zur Konsequenz, dass die Kinder eine gute rezeptive Kompetenz entwickelten, wie die Informantin AH berichtet: (25) unser Tochter ging äh tat nursen in Tanunda, und wenn jemand nicht konnte Deutsch durchkriegen zu die anderen denn konnt se […] verstehen was sie wollten (AH) 7 Spracheinstellungen 7.1 Affektive Bewertung Einige Sprecher verbinden diese positive Einstellung mit der Tatsache, dass die deutsche Sprache die Sprache ihres Glaubens ist. Gebete und auch Kirchenlieder werden mit der deutschen Sprache verbunden: (26) Welche von die äh deutsche like Stille Nacht […] das is so feierlich. Viel mehr als die Lied in desin die englische Sprache […] (MA) Einige Sprecher haben eine positive Einstellung zur Sprache, die v.a. durch die Religion bedingt ist. Sie zitieren Gebete auf Deutsch: (27) Müde bin ich, geh zur Ruh, - schließe meine Augen zu, - Vater, lass die Augen dein, - neben meinem Bette sein. Und des-des tat wa jeden abend. Und wir hatten so viel, aber das is das einzige, das ich noch kann in Din Deutsch. (RL) Die Schwester der Sprecherin, die zwei Jahre älter ist, bringt auch zum Ausdruck, dass für sie die Sprache mit Gott das Deutsche sei. Sie bete zwar nicht mehr auf Deutsch, doch einige Formeln lässt sie einfließen. Hier zeigt sich also die starke affektive Bewertung der Sprache durch die Verbindung mit dem Glauben. Eine weitere Sprecherin, die unter den Probanden diejenige ist, die auch die deutsche Sprache noch am flüssigsten spricht (MH), drückt ihre positive Einstellung wie folgt aus: (28) MH: Ich glaube, es-es war diese liebe Bücher, die es mir-ah wie sagt man… CR: Möglich gemacht haben. MH: Möglich. Und ich-ich habe gern zu hörn gutes Deutsch. Die positive Einstellung macht sie auch in den beiden folgenden Zitaten deutlich: (29) a. Aber ich-ich kann sehr-ich kann sie sehr leicht schreiben, weil ich viel […] habe ich deutsche Sachen, Leute-habe ich sie sehr lieb. Vielleicht ist das, weil-weil wir-weil als ich ganz klein war, habe ich schon von das gelernt. b. Ich glaube und ich sage immer, man kannman kann Sachen auf Deutsch sagen, die man nicht auf Englisch sagen kann. […] Ich glaube, Sachen sind schöner, mehr lieblich, mehr im was-im Ganzen was man sagen möchte. 7.2 Kosten-Nutzen-Kalkulation Von einigen Sprechern wird es als positiv betrachtet, dass man die Enkel, die Deutsch in der Schule lernen, entsprechend unterstützen kann: (30) Aber dann wie mein kleiner äh-äh Enkelsohn in die Schule ging like them-m-emmusste dann Deutsch lernen in die Schule und die denn konnt ich ihm helfen mit das. […] (MA) Andere Gewährspersonen thematisieren die Tatsache, dass sie in Folge des Krieges zum Englischen übergehen mussten: (31) Jeda taten wir Englisch sprechen, you know like wie der Krieg kam war… (MA) (32) […] wir haben uns guzäh ganz amüsiert mit Deutsch, bis der zweite Krieg kam. Und ähm dann mussten wer alle Englisch lernen. (DEH) Der gleiche Sprecher gibt auch an, dass es während des Krieges sogar gefährlich war, die deutsche Sprache zu gebrauchen und man ihm beibrachte, nur nicht Deutsch zu sprechen: (33) I’m not afraid to speek German, früher whatyou knowwo-wo de Krieg war, uuh, da/ da [lernt] man nich Deutsch sprechen. (DEH) <?page no="30"?> Claudia Maria Riehl 30 7.3 Einstellung gegenüber Dialekt und Hochsprache Den Sprechern ist bewusst, dass sie Barossadeutsch sprechen und dass sich dieses vom Deutschen in Deutschland unterscheidet. Hier werden auch immer wieder Merksätze klischeehaft zitiert, die v.a. die Sprachmischung karikieren: (34) Der rabbit is über die fence gejumpt und hat die carrots abgenibbelt. (DR) Auch Kipp (2002) führt aus dem Western District von Victoria Beispiele an, wo die Sprecher die Sprachmischung als typisches Charakteristikum ihrer Varietät ansehen: (35) die Leute in Tarrington haben sehr viele W-, englische Worte gleich reingemischt, you know, es war nicht rein Deutsch mehr, das war … Englisch-Deutsch (Kipp 2002, S. 127) (36) viele von der Deutschen, die sprachen halb Englisch un halb Deutsch (ebd., S. 128) Allerdings wird die Meinung, dass es so etwas wie eine eigene Sprache der deutschen Siedler gäbe, nicht von allen Sprechern unterstützt: (37) Barossadeutsch hat mir noch nie interessiert. Äh, wa-weil ich denke, wi-wi-wir sind von die alte Zeiten von Deutschland gekomm. Und- und die deutsche Sprache is hier geblieben… (DEH) 7.4 Deutsch als Identitätsmerkmal Interessant ist dagegen, dass offensichtlich keinerlei Verbindung zum Mutterland besteht, die meisten Informanten waren nie in Deutschland, viele haben Australien nie verlassen und kamen maximal bis Kangaroo Island (vor Adelaide gelegen). Sie bezeichnen sich demnach auch als Australians: (38) FT: Never ever given it any thought to be anything else but Australian. (FT) Einige Sprecher bringen die Sympathie mit Deutschland zum Ausdruck: (39) No, but ich hab sehrsehr viel … ähm … what do you call itsympathy. Über Deutschland (DT) Ein Sprecher stellt die Verbindung zu einer barossadeutschen Identität her, ohne sich aber selbst dazu zu bekennen: (40) Well, wir-wir-wir sind wahrscheinlich Barossadeutsch. (DEH) Nur ein einziger Informant ist etwas stärker dem Deutschtum verhaftet und identifiziert sich als Barossa-German (EN), eine weitere Identifikation findet lediglich mit dem Barossa-Tal statt, hier wird aber nicht explizit auf das Deutschtum verwiesen (I’m a Barossa, WS). Hier zeichnet sich offenbar ein starker Unterschied zu anderen Sprachinseln ab, die sich über die ethnische Zugehörigkeit definieren und sich etwa als Ungarndeutsche, Russlanddeutsche, Texas Germans usw. bezeichnen (s. Riehl 2010a, S. 334). 8 Faktorenspezifik Die Tatsache, dass die deutschen Sprachinselvarietäten in Australien mit den letzten Sprechern dieser Varietäten verloren gehen, bedeutet nun nicht, dass die deutsche Sprache an sich nicht mehr in den verschiedenen ehemals deutschen Gebieten präsent ist. Wie bereits erwähnt, sind nach dem Zweiten Weltkrieg eine Reihe von Menschen aus dem deutschen Sprachraum nach Südaustralien oder auch in den Western District von Victoria gekommen, die im Allgemeinen als New Australians bezeichnet werden. In Familien, in denen beide Elternteile deutschsprachig sind, wird teilweise noch das Deutsche zuhause verwendet - wie in klassischen Migrationssituationen. Wir haben auch Sprecher der jüngeren Generation getroffen, die zuhause noch Deutsch sprechen - aber dann ein kontaktinduziertes Standarddeutsch im Sinne von echten Herkunftssprachensprechern der zweiten Generation. Es leben im Barossa-Tal auch noch einige Familien der Templer, die zu Hause den typischen schwäbischen Dialekt der Templer sprechen, auch hier gibt es Sprecher der zweiten Generation, die eine typische Kontaktvarietät verwenden (vgl. Mork 2013). Hinzukommen die deutschsprachigen Pastoren und ihre Familien. Weiter gibt es Sprecher des Deutschen als Fremdsprache, die etwa als <?page no="31"?> 1. Australien 31 Deutschlehrer in verschiedenen Schulen tätig sind oder in anderen Kontexten das Deutsche als Fremdsprache erworben haben. Zu den Treffen und Veranstaltungen, die die Barossa German Language Association organisiert erscheinen, wie bereits erwähnt, außer Sprechern des Barossadeutschen besonders die New Australians, die sich freuen, auf diese Weise wieder ihre deutsche Sprache pflegen zu können. Dazu reisen einige auch von Gebieten außerhalb des Barossa-Valleys an. Auch Sprecher der zweiten Generation und Sprecher des Deutschen als Fremdsprache nehmen daran teil. Wir konnten beobachten, dass diese Treffen auf alle Fälle Auswirkungen auf die Flüssigkeit im Sprechen bei einigen Informanten haben. Außerdem werden die Sprecher des Barossadeutschen bei diesen Treffen mit dem Standarddeutschen konfrontiert. Es wäre zu sehen, inwiefern das Auswirkungen auf die Sprachentwicklung hat und ob auch verloren gegangene grammatische Konstruktionen bei den Sprechern zurückkommen werden. Allerdings ist zu vermuten, dass es bei der hohen Variation im Sprachgebrauch bleiben wird, besonders weil die Sprecher an den bilingualen Sprachmodus gewöhnt sind und die Treffen vermutlich in zu großen Abständen stattfinden. Das wäre ein interessanter Aspekt für zukünftige Forschung. 9 Literatur 9.1 Primärquellen Minute Books of St Petri Ladies Guild Nuriootpa [St. Petri-Kirche Nuriootpa (SA)] St Kitts (St Petri) congregation (SA) minutes & register (1903-1986). Lutheran Archives: Adelaide. Schulz, J.F.W. (August von der Flatt): Insere Reese noach Hermannsburg. Tanunda: Aurichts Druckerei 1935. 9.2 Sekundärliteratur Beinrucker, Susanne (demn.): Sprachkontakt am Beispiel des Barossa-Deutschen: Phonetische Untersuchungen zum alveolaren Approximanten und den Diphthongen. In: Tagungsband der 13. 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Jhd. bis zum Ersten Weltkrieg) ..42 2.5 Deutschsprachige im Südpazifik - Phase IV (seit dem Ersten Weltkrieg) ....................44 3 Statistik und Demographie .............................................................................................................45 4 Wirtschaft, Politik, Kultur, rechtliche Stellung............................................................................52 4.1 Wirtschaftliche Situation .........................................................................................................52 4.2 Rechtliche Stellung des Deutschen: Schulsystem, Sprachregelungen .............................52 4.3 Kulturelle Institutionen, Kirchen, Verbände, Medien .......................................................55 5 Sprachen und Varietäten im Kontaktgebiet.................................................................................57 5.1 Kontaktsprachen ......................................................................................................................57 5.1.1 Sprachenverhältnisse und Lingua Franca ..................................................................57 5.1.2 Unserdeutsch ..................................................................................................................58 5.1.3 Ali-Deutsch .....................................................................................................................60 5.1.4 Deutsche Relexifizierungen bestehender Pidgins A: Tok Pisin.............................61 5.1.5 Deutsche Relexifizierungen bestehender Pidgins B: Pidgin Hawaiian .................62 5.2 Sprachlagengefüge: Regionaler Standard, Umgangssprache, Dialekte............................63 5.3 Sprachkontakterscheinungen..................................................................................................64 5.4 Code-Switching, Sprachmischung .........................................................................................65 6 Sprachgebrauch und -kompetenz ..................................................................................................67 6.1 Allgemeines................................................................................................................................67 6.2 Sprachkompetenz in den verschiedenen Sprachen und Varietäten.................................67 6.3 Sprachgebrauch: Domänen, Sprecherkonstellationen, Sprechertypen ...........................70 7 Spracheinstellungen..........................................................................................................................71 8 Zusammenfassung............................................................................................................................72 9 Literatur/ Archivalien.......................................................................................................................73 <?page no="35"?> 1 Geographische Lage Die als Ozeanien bezeichnete Inselwelt des Südpazifiks umfasst in etwa einen Rhombus mit den Eckpunkten der Palau-Inseln im Westen, der Midway-Inseln im Norden, Rapa Nui (Osterinsel) im Osten und den neuseeländischen Inseln im Süden. Zurückgehend auf den französischen Admiral Jules Dumont d’Urville wird es aus europäischer Perspektive in drei große Inselgebiete eingeteilt, Polynesien, Melanesien und Mikronesien (s. Abb. 1 1 ). Polynesien ist ein ursprünglich kulturell und sprachlich recht einheitliches Gebiet, das sich von den Hawai’i-Inseln im Norden bis Neuseeland (Aotearoa) im Süden und Rapa Nui im Osten erstreckt (das „polynesische Dreieck“) und unter anderem zudem Samoa, die Cook- Inseln, Tonga, die Marquesas und die Gesellschaftsinseln mit Tahiti umfasst. Es besteht teils aus Atollen, die aufgrund ihrer kargen natürlichen Ausstattung und neuerdings auch durch die zunehmende klimawandelbedingte Zerstörung oft nur eingeschränkte Lebensmöglichkeiten bieten, und den meist deutlich größeren sogenannten hohen Inseln. Melanesien umfasst die Inselgruppen, die sich von Neuguinea bis nach Fidschi und Neukaledonien erstrecken und zu denen unter anderem auch die Salomonen und die Neuen Hebriden (die Hauptinselgruppe des Staates Vanuatu) gehören. Das Gebiet wird durch zum Teil sehr große Inseln dominiert und ist kulturell heterogener als Polynesien, da es von verschiedenen papuanischen und austronesischen Gruppen besiedelt wurde. Mikronesien schließlich umfasst die durch Atolle geprägten Inselgruppen der Palau-Inseln, der Marianen, der Karolinen und der Marshall-Inseln sowie die Gilbert-Inseln als Teil von Kiribati. Politisch gliedert sich Ozeanien heute in 13 selbständige Staaten und 15 abhängige (bewohnte) Gebiete, die durch verschiedene 1 Die Karte basiert auf: „Oceania full blank map“, Wikimedia Commons: http: / / commons.wikimedia. org/ wiki/ File: Oceania_full_blank_map.svg (zul. bes. 30.1.2018). 2 „Oceania political map“, Free World Maps: http: / / www.freeworldmaps.net/ oceania/ oceania-map-politi cal.jpg (zul. bes. 30.1.2018) Kombinationen von Teilautonomie, kolonialer Abhängigkeit und vollständiger Integration in den kolonisierenden Staat gekennzeichnet sind (s. Abb. 2 2 ). Unabhängige Staaten sind Fidschi, Kiribati, die Marshall-Inseln, die Föderierten Staaten von Mikronesien, Nauru, Neuseeland, Palau, Papua-Neuguinea, die Salomonen, Samoa, Tonga, Tuvalu und Vanuatu. Abhängig sind von Australien die Norfolk-Insel und die Torres-Strait-Inseln, von Chile Rapa Nui (Osterinsel), von Frankreich Französisch-Polynesien, Neukaledonien sowie Wallis und Futuna, von Großbritannien die Pitcairn-Inseln, von Indonesien Westpapua (bestehend aus den Provinzen Papua und Papua Barat), von Neuseeland die Cook-Inseln, Niue, Tokelau und die Chatham-Inseln, sowie von den USA Guam, Hawai’i und die Nördlichen Marianen. 3 Dazu kommen einige unbewohnte oder nur von wissenschaftlichen oder militärischem Personal bewohnte Inseln wie die Inseln im Korallenmeer (Australien), isolierte Inseln im nördlichen Ozeanien (USA, Japan) und einige südlich von Neuseeland liegende Inselgruppen sowie die Kermadec-Inseln (Neuseeland). Der Beitrag skizziert die sprachliche Situation Deutsch sprechender Minderheiten in Ozeanien in den Jahrzehnten um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, mit Rückblicken auf die vorausgegangene Entwicklung und Anmerkungen zur Rolle des Deutschen nach den beiden Weltkriegen. 3 Die Cook-Inseln und Niue haben einen völkerrechtlichen Sonderstatus als unabhängiger Staat in freier Assoziation mit Neuseeland; das von Indonesien besetzte Westpapua und die Torres-Strait-Islands werden nicht immer zu Ozeanien gerechnet, sind hier aber aufgrund ihrer kulturellen Verbundenheit mit Ozeanien dazu gezählt. <?page no="36"?> Stefan Engelberg 36 Abb. 1: Inselgruppen und die natur- und kulturräumliche Gliederung Ozeaniens Abb. 2: Politische Gliederung des zentralen Südpazifiks <?page no="37"?> 2. Ozeanien 37 2 Geschichte 2.1 Geschichte der frühen Erschließung und Besiedlung Die Besiedlung Ozeaniens begann, als Neuguinea und Australien noch die zusammenhängende Landmasse Sahul bildeten und vor mindestens 50.000 Jahren Menschen wohl aus dem südasiatischen Raum nach Sahul einwanderten. Sie verbreiteten sich auf Neuguinea und vorgelagerten Inseln und stellen die Vorfahren der heterogenen Gruppe nicht-austronesischer Populationen dar, die unter dem Namen Papua zusammengefasst werden. Vor über 30.000 Jahren begann von hier aus auch die Besiedelung des Bismarck-Archipels und der Nördlichen Salomonen. Vor etwa 3.500 Jahren erreichte, von Taiwan ausgehend, die mit der Lapita-Kultur assoziierte Migrationswelle austronesischer Gruppen Melanesien, die sich über Westmikronesien und den Bismarck-Archipel bis in den Südwesten der Salomonen ausbreitete und in der Folgezeit zur Besiedlung des südwestlichen Melanesiens, Ostmikronesiens und Zentralozeaniens (Samoa, Tonga, Futuna) führte. Zentralozeanien, wo sich die polynesische Kultur entwickelte, wurde kurz vor der Zeitenwende zum Ausgangspunkt für die Besiedlung Polynesiens. Die Eckpunkte Rapa Nui und Hawai’i wurden etwa um 300 bzw. 400 n. Chr. erreicht. Schließlich gelangten in den frühen Jahrhunderten des letzten Jahrtausends polynesische Siedler nach Neuseeland, von wo aus gegen 1500 die Chatham-Inseln erreicht wurden (Voigt 2011, S. 41ff., Kirch 2000, S. 63ff.). 4 Damit ist die pazifische Inselwelt zu wieten Teilen entdeckt und besiedelt. Die europäische Erschließung des Südpazifiks beginnt nur wenig später mit Vasco Núñez de Balboa, der, über den panamaischen Isthmus kommend, 1513 den Pazifik erreicht, und mit Ferdinand Magellan, der den Pazifik 1520/ 21 im Rahmen seiner Weltumseglung durchquert. Magellan war auch der erste, der koloniale Besitzrechte 4 Zeiten und Routen der Besiedlung Ozeaniens sind nicht in allen Fällen völlig geklärt. Entsprechend finden sich je nach Quelle Abweichungen von den hier gemachten Angaben. über eine ozeanische Insel (Guam in den Marianen) reklamierte. Wenige Jahrzehnte später etablierten die Spanier bereits eine feste Handelsroute über den Pazifik, die die spanischen Kolonien Iberoamerikas und Asiens (Philippinen) miteinander verband. Diese Route streifte aber nur den Norden der südpazifischen Inselwelt, deren größte Teile erst durch die v.a. niederländischen, britischen und französischen Expeditionen und Weltumseglungen im 17. und 18. Jahrhundert ins europäische Bewusstsein drangen. Hier beginnt auch die Geschichte der Präsenz deutschsprachiger Europäer im Südpazifik, die sich in vier Phasen einteilen lässt. 2.2 Deutschsprachige im Südpazifik - Phase I (17. bis frühes 19. Jhd.) Die wirtschaftliche und wissenschaftliche Erschließung des Pazifiks wurde zwar vorrangig von Spaniern, Niederländern, Franzosen und Briten betrieben, Deutschsprachige waren aber in verschiedener Weise an diesen Unternehmungen beteiligt, zum einen als Seeleute etwa auf Handelsschiffen oder Walfängern, zum anderen als Teilnehmer wissenschaftlicher Expeditionen. Zu letzteren gehörten einfache Seeleute wie Bartholomäus Lohmann aus Kassel, Jan Arno de Beecker aus Bremen und Heinrich Zimmermann aus Speyer, die mit James Cooks dritter Südsee-Fahrt Hawai’i erreichten (Schweizer 1982, S. 56), aber auch so prominente Personen wie der Aufklärer Georg Forster, der James Cook auf seiner zweiten Südsee-Expedition begleitete, oder der Schriftsteller und Naturwissenschaftler Adelbert von Chamisso, der mit einer russischen Expedition unter Leitung von Otto von Kotzebue den Südpazifik bereiste. Zu den wichtigen Expeditionen des 19. Jahrhunderts zählt auch die österreichische Forschungsreise der Novara unter dem Kommando von Bernhard von Wüllerstorf-Urbair, die auf ihrer Weltumseglung Teile des der Mittelpunkt Pazifiks erforschte. 5 Alle diese Unternehmungen 5 Deutsche Forschungsreisen in Ozeanien begannen im Wesentlichen erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; zu einer Übersicht vgl. Schindlbeck (2001). <?page no="38"?> Stefan Engelberg 38 führten aber zunächst nicht zu einer nennenswerten Ansiedlung deutschsprachiger Europäer im Südpazifik (Engelberg 2006a, S. 2f.). 2.3 Deutschsprachige im Südpazifik - Phase II (frühes bis spätes 19. Jhd.) Die Reisebeschreibungen insbesondere des 18. Jahrhunderts, die Stereotypen paradiesischer Südseeinseln und der aufklärerische Topos des edlen Wilden haben Ozeanien in die bürgerliche Gesellschaft Europas getragen. Im 19. Jahrhundert wurde dann - auch im deutschsprachigen Raum - die kulturgeschichtlich-philosophisch motivierte Hinwendung zur Südsee durch ein wirtschaftliches Interesse am Südpazifik überlagert. Insbesondere Kopra, das getrocknete Fleisch der Kokosnuss, wurde zur Gewinnung von Kokosöl in Europa vermarktet. Ergänzt wurde die Produktpalette durch Baumwolle, Kaffee, Kakao, Perlmutt, Sandelholz, Trepang (Bêche-demer) 6 , Zuckerrohr und andere Produkte. Insbesondere das Handelshaus Johan Cesar Godeffroy & Sohn engagierte sich mit Handelsstationen und eigenen Plantagen. Mit dem 1857 errichteten Hauptsitz in Samoa erstreckte sich das Netz von Handelsstationen und Plantagen über weite Teile des Pazifiks zwischen den Marianen im Westen und Tahiti im Osten (Fidschi, Tonga, Wallis und Futuna, Marshall- Inseln, Karolinen, Palau, Bismarck-Archipel etc.). Neben dem Handelshaus Godeffroy gehörten zu den frühen deutschen Unternehmern im Südpazifik die Brüder Hennings mit Unternehmenssitz in Fidschi (Handel, Kokosnuss- und Baumwollplantagen) (Hennings 1948, Scarr 1972) und Franz und Eduard Hernsheim, deren Aktivitäten in Palau begannen und sich dann bis in den Bismarck-Archipel und das östliche Mikronesien erstreckten (vgl. Firth 1973a, S. 11ff., 1973b, S. 7ff.). In den 1860er und 1870er Jahren waren es deutsche Firmen, die den Handel im Pazifik dominierten. Dann fielen die Koprapreise. Godeffroy & Sohn wurde 1879 zahlungsunfähig, 6 Trepang basiert auf Seegurken und wurde vor allem nach Asien gehandelt. und die Südseegeschäfte der Firma wurden von der Deutschen Handels- und Plantagengesellschaft übernommen. Mit der Einrichtung von Handelsstationen nahm auch die Präsenz von Deutschen im Südpazifik zu. Neben den größeren Handelshäusern mit ihren Angestellten gab es insbesondere in Samoa und Mikronesien ab den 1870ern auch unabhängige Händler und Siedler, die oft Familien mit einheimischen Frauen gründeten (Hiery 2001a, S. 1f.). Samoa Bevor West-Samoa im Jahre 1900 zur deutschen Kolonie erklärt wurde, lebte es im Spannungsfeld der kolonialen Ambitionen von Großbritannien, den USA und Deutschland. Mit seiner zentralen Position im Südpazifik war es ab den 1850er Jahren der Mittelpunkt der deutschen Aktivitäten in Zentralozeanien. Samoa wurde ab den 1860er Jahren auch zunehmend zu einem der wichtigsten Ziele für die innerozeanische Arbeitsmigration. Die Plantagenwirtschaft im Südpazifik konnte ihren Arbeitskräftebedarf meist nicht lokal decken. Zunächst waren es die Plantagen in Queensland, die eine große Anzahl Arbeiter vor allem aus dem melanesischen Raum beschäftigten. Dabei wurden die Arbeiter in frühen Zeiten eher auf die Plantagen verschleppt als angeworben (das sogenannten „Blackbirding“), bevor sie dann unter in gewissem Maße gesetzlich geregelten Bedingungen unter Vertrag genommen wurden. Auf die v.a. in deutschem Besitz befindlichen Plantagen in Samoa kamen Arbeiter zunächst von den Gilbert-Inseln, den Karolinen, den Neuen Hebriden (heute Vanuatu) und den Salomonen, nach der deutschen Machergreifung in Neuguinea 1884 dann fast ausschließlich Arbeiter, die in Neuguinea und dem Bismarck-Archipel angeworben wurden. Manche waren zuvor bereits in Queensland beschäftigt. Insgesamt erreichten so zwischen 1867 und 1912 über 10.000 Arbeitsmigranten Samoa, die jeweils für mehrere Jahre auf den Plantagen arbeiteten (vgl. Mühlhäusler 1978, S. 78f. zu den <?page no="39"?> 2. Ozeanien 39 Zahlen und Firth 1973b). Die Plantagen spielten dann eine wichtige Rolle für die Entwicklung der englischbasierten Pidgins in Ozeanien, die samoanischen Plantagen insbesondere für die Entwicklung des Tok Pisin (s. Abschnitt 5.1.4). Tonga Neben Samoa hatte vor allem Tonga in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutsche Siedler und Unternehmen angezogen. In den 1860er Jahren sind erste wirtschaftliche Aktivitäten deutscher Händler (Godeffroy & Sohn) in Tonga belegt (Suchan 1940, S. 71f.), und im Jahre 1876 wurde der Schutz deutscher Siedler und ihres Eigentums in einem Freundschaftsvertrag zwischen dem Deutschen Reich und Tonga vereinbart (Voigt 2001, S. 717ff.). Anfang der 1880er Jahre produzierte Tonga mehr Kopra für die große Deutsche Handels- und Plantagengesellschaft als Samoa und ganz Mikronesien zusammen (Rutherford 1977, S. 160). Erst Ende der 1880er Jahre löste Großbritannien Deutschland als wichtigste Handelsnation in Tonga ab. Mit dem 1899 unter den Kolonialmächten abgeschlossenen Samoa-Vertrag wurde Tonga dann der Einflusssphäre Großbritanniens zugeschlagen, dessen Schutz es sich 1900 unterstellte, während West-Samoa deutsche Kolonie und das östliche Samoa US-amerikanische Kolonie wurden (Rutherford 1977, S. 180f.). Deutsche Siedler und ihre Nachkommen hatten aber auch in der Folgezeit einen merkbaren Einfluss in Tonga. Niederlassungsschwerpunkte der deutschen Siedler in Tonga waren neben der Hauptinsel Tongatapu die Ha’apai- Gruppe mit dem Hafen Pangai (auf Lifuka) und die Vava’u-Gruppe mit dem Hafen Neiafu (auf Vava’u) (Voigt 2001, S. 722f., Bade 2014, S. 6ff., British Consul 1916/ 2005; s. Abb. 3 7 ). In Neiafu bestand die europäische Bevölkerung fast nur aus Deutschen (Bade 2014, S. 2). 7 Die Karte basiert auf der Reliefkarte von www.mapsfor-free.com: http: / / www.maps-for-free.com/ (zul. bes. 30.1.2018). Hawai’i Eine vom zentralen und westlichen Südpazifik weitgehend unabhängige Entwicklung nahmen deutsche Aktivitäten in Hawai’i. Einzelne deutsche Siedler erreichten das bis Ende des 19. Jahrhunderts unabhängige Königreich Hawai’i bereits in den späten 1830er Jahren (Schweizer 1982, S. 134). Befördert durch die offene Politik Kamehamehas III. wurden in der Folgezeit verschiedene deutsche Unternehmen in Hawai’i tätig, die vor allem in Honolulu einen prägenden Einfluss hatten (Schweizer 2001, S. 729f.). Davon zeugt unter anderem ein kleines deutsches Geschäftsviertel in Honolulu. Insbesondere das 1849 von Heinrich Hackfeldt gegründete Unternehmen (Handel und Zuckerrohrplantagen) hatte einen Umfang, der mit dem der Godeffroy- Abb. 3: Tonga (ohne die nördliche Niua- Gruppe) mit den beiden Orten (Neiafu, Lifuka), wo abgesehen von der Hauptinsel Tongatapu der größte Teil der deutschen Siedler und Händler lebten <?page no="40"?> Stefan Engelberg 40 schen Firma vergleichbar war (Schweizer 1982, S. 139). Auf Initiative des Hackfeldtschen Unternehmens wurden deutsche Arbeiter für die Zuckerrohrplantagen angeworben, so dass die letzten beiden Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts in Hawai’i durch eine kleine deutsche Siedlungswelle gekennzeichnet waren; zwischen 1881 und 1897 wanderten knapp 1.400 Deutsche ein, v.a. aus Nordwestdeutschland auf die Insel Kaua’i (Hörmann 1931/ 1989, S. 26ff., 44, Wagner-Seavey 1980, S. 110f., Schweizer 1982, S. 165f.). Unter dem Einfluss der deutschen Unternehmer im Zuckerrohrgeschäft entwickelte sich dabei in den 1880er Jahren der Ort Lihu’e auf Kaua’i zu einer Kleinstadt, die durch deutsche Sprache und Kultur geprägt war (Schweizer 1982, S. 159ff.). Neuseeland Die Einwanderung Deutscher nach Neuseeland stand unter anderen Vorzeichen als die deutschen Aktivitäten im Rest Ozeaniens. Sie geht zurück auf die Initiative der New Zealand Company, deren Ziel die kolonisatorische Erschließung Neuseelands war und die 1839 begann, auch deutsche Siedler anzuwerben. 1843 trafen die ersten deutschen Migranten in Neuseeland ein (Allan 1965, S. 309ff., Burnley 1973: 46f). Vor allem aufgrund von drei Immigrationswellen, 1843 bis 1845, 1861 bis 1867 und 1872 bis 1886, entwickelten sich die Deutschen bis zum Ersten Weltkrieg zur größten Immigrantengruppe aus Kontinentaleuropa (Minson 1993, S. 40, Burnley 1973: 46). Schwerpunktmäßig kamen die Siedler aus Norddeutschland (Mecklenburg, Hamburg, Bremen, Hannover, Holstein, Westpreußen); dazu kamen Böhmen, Rheinländer und Bayern, (teils zweisprachige) Polen aus dem Deutschen Reich sowie kleinere Gruppen aus der deutschsprachigen Schweiz und aus 8 Basiert auf der Karte: „New_Zealand_location _map.svg: NordNordWest“, bearbeitet von Viktor B., Wikimedia Commons: http: / / commons.wikimedia. org/ wiki/ File: New_Zea land_relief_map.jpg (zul. bes. 30.1.2018). Die Informationen auf der Karte entstammen vor allem Minson (1993) und zudem Allan (1965), Anonym (2002), Bade (1993b; 1993d), Bonar & Österreich (Minson 1993, S. 40). Manche Deutsche assimilierten sich schnell an die englischsprachige Bevölkerung Neuseelands. Es gab aber auch über zwanzig deutsche Siedlungen, die in der Folgezeit noch lange von deutscher Sprache und Kultur geprägt blieben (s. Abb. 4 8 ). Zu den bekanntesten gehören Puhoi (nördlich von Auckland) und Sarau (heute Upper Moutere, bei Nelson). Auch hatten einige der größeren Städte wie Christchurch und Dunedin deutsche Viertel (Bade 1993a, 2002, Minson 1993). 9 In den deutschen Siedlungen bestand die Arbeit der Immigranten zunächst vor allem aus Rodungen und der Urbarmachung des Landes, dem Anlegen kleiner Farmen und dem Schaffen von Verkehrsinfrastruktur (Straßen, Eisenbahnstrecken) (Burnley 1973: 56ff). In der Folgezeit markierten insbesondere die Einführung des Weinbaus und die Hopfenproduktion einen spezifischen Beitrag der deutschen Siedler zur Agrarökonomie Neuseelands. An der Westküste der Südinsel versuchten sich zudem viele Deutsche auf den dortigen Goldfeldern (Burnley 1973: 49). In den urbanen Zentren Neuseelands fanden sich Deutsche natürlich auch in den verschiedensten anderen Professionen, etwa als Handwerker oder Unternehmer. Dazu kommt eine kleine Anzahl deutscher Missionare, die für die Hermannsburger Mission, die Gossner Mission, die Norddeutsche Mission und einige nicht-deutsche Missionen unter den Maori in Neuseeland und auf den Chatham-Inseln missionierten (Oettli 1993). Macfarlane (1877), Burnley (1973), Heller (2005), Morris (1993) und Panny (1993). 9 Der Plan einer deutschen Kolonisationsgesellschaft, im Zuge steigender Zahlen an Auswanderern nach Neuseeland die südöstlich von Neuseeland gelegenen Chatham-Inseln zu einer deutschen Kolonie zu machen, scheiterte letztlich am britischen Einspruch (Richards 1993). <?page no="41"?> 2. Ozeanien 41 Abb. 4: Deutschsprachige Siedlungen in Neuseeland im 19./ 20. Jahrhundert <?page no="42"?> Stefan Engelberg 42 2.4 Deutschsprachige im Südpazifik - Phase III (spätes 19. Jhd. bis zum Ersten Weltkrieg) Den Aktivitäten deutscher Händler, Pflanzer und auch - in Neuguinea - Missionare folgte ab 1884 sukzessive die Inbesitznahme ozeanischer Gebiete durch das Deutsche Reich wie in Abb. 5 10 ersichtlich ist. Die Kolonien wurden zum Teil zunächst im Auftrage des Deutschen Reichs durch dort tätige Wirtschaftsunternehmen verwaltet, Neuguinea durch die Neuguinea-Compagnie (bis 1898) und die Marschallinseln unter Beteiligung der Jaluit-Gesellschaft (bis 1906). Erst in der Folgezeit erfolgte eine staatliche Verwaltung der in zwei Gouvernements, Deutsch- Neuguinea und Samoa, organisierten Kolonien. Deutsche Beamte administrierten die Inseln von kleinen Verwaltungszentren aus. Der Sitz der samoanischen Verwaltung war Apia; Verwaltungshauptsitz von Deutsch-Neuguinea war unter der Verwaltung der Neuguinea- 10 Die Karte basiert auf „Blank Oceania map“, Free World Maps: http: / / free worldmaps.net/ oceania/ blank-map-oceania.gif (zul. bes. 30.1.2018). Kompagnie zunächst Stephansort (1884- 1892), dann Friedrich-Wilhelmshafen (1892- 1899) (beide Neuguinea); nach Übernahme der Verwaltung durch das Reich zog die Verwaltung zunächst nach Herbertshöhe (1899- 1909), dann nach Rabaul (1909-1914) (beide Neupommern/ New Britain). Bezirksämter befanden sich gegen Ende der deutschen Kolonialzeit zudem in Friedrich-Wilhelmshafen, Jap, Kävieng, Ponape und Rabaul. Dazu kamen 13 kleinere Regierungsstationen (Krauß 1920) (s. Abb. 6 11 ). Mit der Etablierung der deutschen Herrschaft nahmen auch die wirtschaftlichen Aktivitäten deutscher Unternehmer auf den Inseln zu, und ein moderater Zuzug von deutschen Händlern und Pflanzern setzte ein. Neben den wirtschaftlichen prägten dazu missionarische Unternehmungen die beiden deutschen Kolonien. Deutsche Missionare waren zwar auch schon vorher in kleinem Umfang in Ozeanien tätig, etwa in Neuseeland und Neuguinea, mit der deutschen Machtergreifung nahmen die 11 Die Karte basiert auf „Blank Oceania map“, Free World Maps: http: / / free worldmaps.net/ oceania/ blank-map-oceania.gif (zul. bes. 30.1.2018). Abb. 5: Inseln und Inselgruppen in Ozeanien mit dem Jahr ihrer Inbesitznahme durch das Deutsche Reich <?page no="43"?> 2. Ozeanien 43 Aktivitäten deutscher Missionen in den beiden Gouvernements allerdings stark zu. Die Rheinisch-westfälischen Kapuziner lösten im Gebiet der Karolinen, Marianen und Palauinseln die spanischen Kapuziner ab; auf den Karolinen arbeiteten zudem die protestantischen Liebenzeller Missionare, die auch auf den Admiralitätsinseln (Bismarck-Archipel) tätig waren; auf den Marshallinseln wirkten die Hiltruper Missionare vom Heiligsten Herzen Jesu, und auf Neuguinea engagierten sich protestantische Missionen (Neuendettelsauer Mission, Rheinische Mission) ebenso wie die katholische Steyler Mission, und im Bismarck- Archipel arbeitete die Mission vom Heiligsten Herzen Jesu; in Samoa und auf den Nördlichen Salomonen waren die Missionare der Gesellschaft Marias (Maristen) aktiv. Dazu kamen nicht-deutsche Missionsgesellschaften, namentlich die London Missionary Society (in Samoa), die Wesleyan Methodist Missionary Society of Australasia (im Bismarck-Archipel und Samoa), französische Maristen (zu Beginn der deutschen Herrschaft in Samoa), der American Board of Commissioners for Foreign Missions („Boston Mission“, in Mikronesien), die mormonische Samoan Mission of the Church of Jesus Christ und der Mission Board of the Seventh Day Adventists (beide in Samoa), wobei die ausländischen Missionen zum Teil in kleinem Umfang ebenfalls deutsche Missionare beschäftigten (Krauß 1920, Gründer 2001, Pech 2001, Steffen 2001). Mit der Inbesitznahme der beiden Kolonien durch das Deutsche Reich entstanden natürlich Bedingungen für die Entwicklung sprachlicher Verhältnisse, die sich grundlegend von denen etwa in Neuseeland, Hawai’i und Tonga unterschieden, insofern als Deutsch-Neuguinea und Samoa nun deutscher Bildungs-, Kultur- und Sprachenpolitik unterlagen. Das Schulsystem aus wenigen staatlichen und Hunderten von Missionsschulen begann, Deutsch als Unterrichtsfach oder auch Unterrichtssprache zu berücksichtigen (s. Abschnitt 4.2), und es konnten Verordnungen bezüglich der Verwendung des Deutschen und der einheimischen Sprachen erlassen werden. Abb. 6: Verwaltungssitze in Deutsch-Neuguinea 1914 <?page no="44"?> Stefan Engelberg 44 2.5 Deutschsprachige im Südpazifik - Phase IV (seit dem Ersten Weltkrieg) Der Beginn des Ersten Weltkriegs bedeutete einen tiefen Einschnitt für die Deutschen in Ozeanien. Die beiden deutschen Kolonien fielen nach nur geringen Kampfhandlungen 1914 an Neuseeland (Samoa), Australien (Kaiser-Wilhelmsland, Bismarck-Archipel, Nördliche Salomonen, Nauru) und Japan (Palau, Marianen, Karolinen, Marshallinseln). 1919 war aufgrund des Versailler Vertrags die Herrschaft Deutschlands über seine Kolonien auch formell beendet. Die Kolonien im Südpazifik wurden alle zu sogenannten C-Mandaten des Völkerbunds, die von Australien, Neuseeland und Japan jeweils mit weitreichenden Befugnissen verwaltet wurden. Kaiser-Wilhelmsland, Bismarck-Archipel, Nördliche Salomonen Abgesehen von wenigen Deutschen, die in Kriegsgefangenschaft gerieten, konnten die Deutschen nach der Übernahme durch Australien zunächst in Neuguinea bleiben, und auch ihr Eigentum blieb unangetastet, um bestehende wirtschaftliche Strukturen nicht zu zerschlagen. Nach dem Krieg allerdings wurden fast alle Deutschen ausgewiesen. Lediglich die mit einer vorläufigen Aufenthaltsbewilligung versehenen deutschen Missionare konnten nach dem Beitritt Deutschlands zum Völkerbund aus rechtlichen Gründen nicht mehr ausgewiesen werden. Bis heute sind deutsche Missionare der Neuendettelsauer, der Steyler und der Herz-Jesu-Mission in Neuguinea tätig (Hiery 2001b, S. 826, 852f.). Im Übrigen war - von Einzelfällen abgesehen - die Zeit deutscher Siedler in Neuguinea mit dem Ende des ersten Weltkriegs beendet. Nordostneuguinea, der Bismarck-Archipel, die nördlichen Salomonen und das britische Südostneuguinea (Territorium Papua) blieben bis 1975 unter australischer Verwaltung und wurden dann als Papua-Neuguinea unabhängig. 12 Vgl. dazu den Bericht des General-Managers der Deutschen Handels- und Plantagengesellschaft, Karl Hanssen (1916/ 2016). Mikronesien Bis auf Nauru wurde Deutsch-Mikronesien 1914 von Japan besetzt. Die Japaner deportierten zunächst die Deutschen auf der durch den Phosphatabbau geprägten palauischen Insel Angaur nach Japan. Im Herbst 1914 verließen dann fast alle deutschen Beamte Mikronesien. Die deutschen Siedler wurden in der Folgezeit ausgewiesen, mit Ausnahme derjenigen, die mit einer einheimischen Frau verheiratet waren. Auch die katholischen Kapuziner-Missionare mussten die Inseln verlassen, während die protestantische Liebenzeller Mission weiter auf den Karolinen arbeiten durfte und bis heute dort tätig ist (Hiery 2001b, S. 831ff., 853f.). Die mikronesischen Gebiete blieben bis zum Zweiten Weltkrieg japanische Kolonien, und insbesondere die westlichen Teile erlebten einen großen Zustrom japanischer Siedler. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahmen die USA - nach Spanien, Deutschland und Japan als vierte Kolonialmacht innerhalb von fünfzig Jahren - die Inseln als UN- Treuhandgebiet. Die Marshallinseln wurden 1986, die Karolinen als Föderierte Staaten von Mikronesien 1991 und die Palauinseln 1994 unabhängig. Die Nördlichen Marianen verbleiben bis heute ein Außengebiet der USA. Nach der Besetzung Naurus durch australische Truppen wurden alle deutschen Zivilisten 1914 nach Australien deportiert; die deutschen Missionare wurden 1915 ausgewiesen (Hiery 2001b, S. 830f.). Nauru blieb bis zu seiner Unabhängigkeit 1968 australisch, zunächst als Völkerbund-Mandat, dann als UN- Treuhandgebiet. Samoa Nach der Besetzung Deutsch-Samoas durch Neuseeland wurden die deutschen Beamten und zunehmend auch deutsche Siedler in Kriegsgefangenenlager in Neuseeland 12 und später auch in Samoa selbst verbracht. Nach dem Krieg wurden die Deutschen ausgewiesen bis auf die deutschen Maristen-Missionare und diejenigen Deutschen, die in deutsch- <?page no="45"?> 2. Ozeanien 45 samoanischen Ehen lebten (Hiery 2001b, S. 833ff., 853). 13 Eine kleine Anzahl Deutscher verblieb in Samoa, einige wenige kehrten später zurück, ansonsten spielten in der Folgezeit deutsche Siedler und deutsche Sprache keine besondere Rolle mehr in Samoa. West- Samoa verblieb zunächst als Völkerbund- Mandat, dann als UN-Treuhandgebiet unter neuseeländischer Verwaltung und wurde 1962 unabhängig. Neuseeland In Neuseeland gerieten im Ersten Weltkrieg die Bewohner der meisten deutschen Sprachinseln 14 aufgrund anti-deutscher Ressentiments unter einen starken Assimilationsdruck (vgl. z. B. Heller 2005: 20). Deutsche Messen und deutscher Schulunterricht wurden selten; Straßen mit deutschen Namen wurden umbenannt und deutsche Siedler anglisierten ihre Namen. King (1998) führt als Beispiel den Fall zweier deutschstämmiger Schwestern in Taihape an: „Their name was Behrendt, which they changed to Brent, although no official record was made. The family had spoken German at home, but at the start of World War I they had made a decision never to speak German again. The grandchildren were expressly forbidden to mention their German ancestry to anyone.“ (King 1998, S. 22) Mit dem Krieg brach auch die Einwanderung aus Deutschland nach Neuseeland ab. In den 1930er Jahren erreichten Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Deutschland und Österreich Neuseeland, aber erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stieg die Immigration aus Deutschland wieder deutlich an, vor allem ab den 1990er Jahren (Lochore 1951, S. 59ff.). Auch wenn die alten deutschen Sprachinseln mittlerweile verschwunden sind, haben einige Regionen wie etwa die Provinz Nelson in den letzten Jahrzehnten wieder einen so starken Zuzug von deutschen Einwanderern 13 Vgl. dazu auch die Tagebucheinträge von Scheurmann (1935). 14 Der Terminus „Sprachinsel“ wird in diesem Aufsatz sehr großzügig verwendet (vgl. zur Diskussion etwa Riehl 2013, Wildfeuer 2017). Eine weitgehende erlebt, dass es zu einer Besiedlungsdichte kommt, die Auswirkungen auf den öffentlichen Sprachgebrauch hat. Bönisch-Brednich (2002, S. 149f.) berichtet auf Grundlage von Interviews mit deutschen Immigranten, dass in der Nelson-Region in den 1990er Jahren in privaten Kreisen und zum Teil auch in beruflichen Kontexten viel auf Deutsch kommuniziert wurde, so dass insbesondere Deutsche, die in höherem Alter immigriert waren, oft nur eingeschränkt Englisch sprachen. Dies gilt aber vor allem für die erste Generation. Der Erwerb des Deutschen in zweiter Generation, vor allem in sprachlich gemischten Beziehungen, gelingt eher selten: „The result is that genuinely bilingual families are a rarity. Often the children can still understand German but they fail to learn the grammar and can usually only write it quite badly.“ (Bönisch-Brednich 2002, S. 175f.) Hawai’i Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs waren die Deutschen in Hawai’i erheblichen Restriktionen ausgesetzt (Kuykendall/ Gill 1928, S. 415ff.). In den Jahren nach dem Krieg verließen viele Deutsche Hawai’i oder assimilierten sich an die englischsprachige Mehrheit (Wagner-Seavey 1980, S. 134). Hawai’i war zu der Zeit - als Folge seiner völkerrechtswidrigen Annexion durch die USA 1898 - eine USamerikanische Kolonie und wurde 1959 dann ein Bundesstaat der USA. Die Migration aus Deutschland nahm erst nach den beiden Weltkriegen wieder deutlich zu, allerdings ohne dass sich die Einwanderer an bestimmten Orten konzentrierten. Wie auch in Neuseeland stand die neue Einwanderung aus dem deutschsprachigen Europa in keiner Beziehung zu den alten Einwanderungswellen. 3 Statistik und Demographie Die Bevölkerung Ozeaniens besteht in dem hier behandelten Zeitraum der letzten zwei Abgeschlossenheit gegenüber den sprachlichen Einflüssen aus der Umgebung kann für die deutschen Siedlungen in Hawai’i und Neuseeland bestenfalls für eine sehr kurze Zeit konstatiert werden. <?page no="46"?> Stefan Engelberg 46 Jahrhunderte zum einen aus papuanischen Gruppen sowie aus melanesischen, mikronesischen und polynesischen Ethnien, die austronesische Sprachen sprechen, zum anderen aus kleineren Gruppen europäischstämmiger Einwanderer (Briten, Franzosen, Australier, US-Amerikaner, Deutsche etc.) und zeitweise größeren Gruppen von Migranten aus Asien (je nach Region vor allem Chinesen, Japaner, Malayen, Filipinos und Inder). Dazu kommt eine zunehmend größere Anzahl von Menschen mit einem interethnischen Hintergrund. Historische Bevölkerungszahlen für das gesamte Ozeanien in dem oben geschilderten Umfang sind schwer zu ermitteln; die gegenwärtige Bevölkerung liegt bei über 21 Millionen. Erwähnenswerte Gruppen deutscher Einwanderer fanden sich seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Neuseeland, seit dem späteren 19. Jahrhundert dann auch in Hawai’i, Nordost-Neuguinea und dem Bismarck- Archipel, Samoa, Mikronesien und Tonga. Die folgenden Zahlen basieren zum größten Teil auf zeitgenössischen Zählungen, die Kategorien wie „Weiße“ und „Mischlinge“ verwenden, und in denen auch nicht immer klar ist, worauf mit „Deutsche“ referiert wird. In bestimmten historischen Kontexten wurden einheimische Frauen deutscher Siedler deutsche Staatsbürgerinnen, ohne dass immer deutlich ist, ob sie auch als solche gezählt wurden. Auch der Status der Kinder aus interethnischen Beziehungen variiert je nach Situation, und deutschsprachige Vorfahren sind aus der Einordnung als „Mischling“ auch in den ehemaligen deutschen Kolonien ohnehin nicht eindeutig zu erschließen. Wenn im Folgenden von (ethnischen) Deutschen die Rede ist, so sind damit Angehörige deutscher Nationalität mit europäischen Vorfahren gemeint. Nachkommen aus einheimisch-deutschen interethnischen Beziehungen identifizieren sich in sehr unterschiedlichem Maße als Deutsche, und sie sind je nach Lebenssituation Sprecher des Deutschen oder auch nicht. Insofern als solche Differenzierungen aus den zeitgenössischen Daten nicht immer zu rekonstruieren 15 Heller (2005: 6f) problematisiert die Angabe von Zahlen ethnischer Zugehörigkeit. sind, müssen die folgenden Zahlen auch mit entsprechender Vorsicht gelesen werden. Als Deutschsprachige werden hier die Personen bezeichnet, die Deutsch im ungesteuerten Erwerb als Kinder, meist im familiären Kontext gelernt haben und die Deutsch mit einiger Kompetenz sprechen, nicht dagegen die vielen Personen, die etwa im deutsch-kolonialen Schulsystem oder kolonial bedingten Arbeitskontexten Kenntnisse des Deutschen als Zweitsprache erworben haben. Neuseeland Neuseeland hat von allen Gebieten Ozeaniens die mit Abstand größte Zuwanderung aus Deutschland erfahren. Lochore (1951, S. 59) schätzt die Anzahl von Migranten deutscher Herkunft bis zum Zweiten Weltkrieg auf über 10.000, andere nehmen bis zu 20000 an (vgl. Bönisch-Brednich 2002: 14). 15 Der neuseeländische Zensus von 1858 zählt 463 in Deutschland geborene Bürger (Bade 2012), der von 1886 dann bereits 5.007. Die Zensusdaten zeigen um 1880 den höchsten Anteil der in Deutschland Geborenen an der Bevölkerung Neuseelands. Bedingt durch die abnehmende Migration aus Deutschland verringert sich dieser Anteil kontinuierlich bis zum Ersten Weltkrieg (s. Tab. 1). Berücksichtigt man die in anderen deutschsprachigen Ländern Mitteleuropas geborenen Zuwanderer, insbesondere aus Österreich- Ungarn und der Schweiz (Stoffel 1993a, Stoffel 1993b), so liegt die Gesamtzahl der in Mitteleuropa geborenen Deutschsprachigen in Neuseeland etwa um 20 Prozent über der Anzahl der in Deutschland geborenen. Es ist nicht leicht, aus den obigen Zahlen die Anzahl der Deutschsprachigen in Neuseeland an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zu rekonstruieren. Die obigen Zensuszahlen erfassen ja lediglich die in Deutschland Geborenen. In den deutschsprachigen ländlichen Siedlungen wurde Deutsch dagegen vielfach noch bis in die dritte Migrantengeneration gesprochen. In Sarau (Upper Moutere) etwa ist Deutsch bis in die 1960er Jahre belegt <?page no="47"?> 2. Ozeanien 47 (Bade 1993b, S. 58), ebenso in den Siedlungen im Süden der Südinsel (Morris 1993, S. 77); in Puhoi gibt es noch bis ins 21. Jahrhundert einige wenige Sprecher. Außerhalb der deutschsprachigen Siedlungen - so Bades (1996, S. 201) Einschätzung - haben viele deutsche Migranten die deutsche Sprache aber schon in zweiter Generation aufgegeben. Anfang der 1880er Jahre kann man aufgrund der Zensusdaten von etwa 6.000 im deutschsprachigen Mitteleuropa geborenen Migranten in Neuseeland ausgehen. Da die erste deutsche Einwanderungswelle bereits in die 1840er Jahre datiert und der Geburtenüberschuss der europäischstämmigen Bevölkerung Neuseelands im 19. Jahrhundert hoch ist, ist der Anteil der Deutschsprecher in zweiter und dritter Generation in den 1880er sicherlich höher anzusetzen als die Anzahl der in Mitteleuropa geborenen Deutschsprachigen. Da unter den deutschen Migranten der 16 Die Zahl ergibt sich als Schätzung aus den Geburtsländern der neuseeländischen Wohnbevölkerung gemäß dem Zensus von 2013, insbesondere Deutschland 12.945, Schweiz 3.066, Österreich 1.290 1880er Jahre allerdings deutlich mehr Männer (etwa zwei Drittel) als Frauen waren, hat wohl nur ein begrenzter Teil der Kinder der zweiten Generation zwei deutsche Elternteile gehabt; andere sind in interethnischen Familien aufgewachsen. Lochore (1951, S. 12) nimmt an, dass für jede Gruppe im Ausland geborener Immigranten „there is an outer circle three or four times as numerous of people with one foot in Europe and one in New Zealand“. Das könnte fast der Gruppe entsprechen, die noch über recht gute Deutschkenntnisse verfügt. Im heutigen Neuseeland - mit deutlich geringerem Geburtenüberschuss als im 19. Jahrhundert und daher weniger Sprechern in der zweiten Generation - übersteigt die Anzahl der Deutschsprachigen diejenige der im Ausland geborenen Deutschsprecher dagegen nur um den Faktor 2,2 (Statistics New Zealand - Tatauranga Aotearoa 2015). Berücksichtigt man solche Zahlenverhältnisse, so kann man in einer ersten Näherung davon ausgehen, dass es in Neuseeland Anfang des 20. Jahrhunderts vielleicht an die 20.000 Deutschsprachige gegeben hat; das waren über 2% der neuseeländischen Bevölkerung. Ab dem Ersten Weltkrieg brach die deutsche Einwanderung nach Neuseeland fast völlig ab. Zur Zeit des deutschen Faschismus fanden dann etwa 900 meist jüdische Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich den Weg nach Neuseeland (Lochore 1951, S. 74, Beaglehole 1998, S. 25). Ab den 1950er Jahren und insbesondere seit 1990 ist wieder ein Anstieg der Immigration aus Deutschland zu verzeichnen (Bade 2012). Der neuseeländische Zensus weist für 2013 eine Zahl von 36.645 Deutschsprechern aus (Statistics New Zealand - Tatauranga Aotearoa 2015). Das entspricht 0,86 Prozent der Bevölkerung. 2013 waren knapp 17.000 Bewohner Neuseelands in den deutschsprachigen Gebieten Mitteleuropas geboren (circa 0,40 Prozent der Gesamtbevölkerung), davon 12.945 in Deutschland (0,31 Prozent der Gesamtbevölkerung). 16 (Statistics New Zealand - Tatauranga Aotearoa 2015). Die Selbsteinstufung bezüglich der ethnischen Zugehörigkeit gleicht diesen Zahlen: deutsch 12.810, schweizerisch 2.391, österreichisch 1.029. Diese Jahr Bev. NZ in D geb. anteilig 1871 294.933 2.416 0,82% 1874 344.784 2.819 0,82% 1878 459.882 4.649 1,01% 1881 534.020 4.819 0,90% 1886 620.451 5.007 0,81% 1891 668.651 4.663 0,70% 1896 743.214 4.595 0,62% 1901 815.862 4.217 0,52% 1906 948.649 4.174 0,44% 1911 1.070.910 4.015 0,37% 1916 1.162.022 2.999 0,26% Tab. 1: In Deutschland geborene Migranten in Neuseeland von 1871 bis 1916 (Statistics New Zealand - Tatauranga Aotearoa 2013). Die Zahlen für die Gesamtbevölkerung Neuseelands (Spalte „Bev. NZ“) enthalten auch die im Zensus gesondert ausgewiesenen Bevölkerungszahlen der Maori. <?page no="48"?> Stefan Engelberg 48 Hawai’i Die Bevölkerung Hawai’is wuchs von 1880 bis 1914 von circa 60.000 auf über 220.000; im Jahre 1900 zählte Hawai’i gut 150.000 Einwohner (Schmitt 1977, S. 8ff.). Vor dem Kontakt mit den Europäern hatte Hawai’i je nach Schätzung zwischen 100.000 und 400.000 Bewohner; die Anzahl der Hawai’ianer sank dann bis um 1880 auf 40.000 und stieg danach wieder deutlich an (Schweizer 2001, S. 726, Schmitt 1977, S. 7). Knapp 250 Deutsche haben vor 1880 in Hawai’i gelebt (Hörmann 1931/ 1989, S. 92), bevor eine Immigrationswelle vor allem in den 1880er Jahren knapp 1.400 deutsche Einwanderer nach Hawai’i brachte (Hörmann 1931/ 1989, S. 35, Schweizer 1982, S. 165f.; vgl. auch Beechert 1985, S. 86ff.) (s. Tab. 2). Selbsteinstufungen sind allerdings starken Schwankungen unterworfen (Heller 2005: 7). Jahr Bev. HW in D. geb. anteilig 1872 57.900 224 0,39% 1878 55.800 272 0,47% 1884 78.500 1.600 2,05% 1890 87.300 1.434 1,64% 1896 103.700 912 0,88% 1900 154.193 1.034 0,67% 1920 260.726 634 0,24% Tab. 2: In Deutschland geborene Migranten in Hawai’i von 1872 bis 1920 und ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung von Hawai’i (Bev. HW) (nach Hörmann 1931/ 1989, S. 95 und Schmitt 1977, S. 9ff.). Die meisten Deutschen siedelten auf Kaua’i, kleinere Einwanderergruppen fanden den Weg nach O’ahu, nach Maui und auf andere Inseln. Mit gut 500 Deutschen (Hörmann Abb. 7: Siedlungen mit deutschsprachigen Siedlern auf den Hawai’i-Inseln im späten 19. Jahrhundert. Die Bevölkerungszahlen sind zum Teil geschätzt; zudem hat Ende des 19. Jahrhunderts eine innerhawaiianische Migration deutscher Siedler eingesetzt, vor allem von Kaua’i nach O’ahu (Hörmann 1931/ 1989, S. 92). <?page no="49"?> 2. Ozeanien 49 1982, S. 79), die sich aus der älteren Siedlergemeinschaft in Honolulu und den neuen Einwanderern zusammensetzte, war O’ahu nach Kaua’i der zweite deutsche Siedlungsschwerpunkt (s. Abb. 7 17 ). Dazu gab es in Hawai’i einige Hundert Personen von gemischt deutschhawaiianischer Herkunft; der Zensus von 1896 zählt 327 Halb-Hawaiianer mit deutschen Vätern (Adams 1937, S. 78). Noch lange nach dieser Zeit zeugen davon eine größere Anzahl von Hawaiianern mit einem deutschen und einem hawaiianischen Vorbzw. Nachnamen (Schweizer 1982, S. 182f.). Die Schätzung der Deutschsprachigen in Hawai’i zu Beginn des 20. Jahrhunderts kann von einem ähnlichen Geburtenüberschuss ausgehen wie in Neuseeland (Hörmann 1931/ 1989, S. 69), muss aber berücksichtigen, dass die Einwanderungswelle erst in den 1880er Jahren einsetzte, also viel später als in Neuseeland. Für 1914 kann man vielleicht von gut 4.000 ethnischen Deutschen ausgehen, die fast alle der ersten und zweiten Einwanderergeneration angehören. Nimmt man an, dass ein Großteil der zweiten Generation deutschdeutschen Beziehungen entstammt und die Kinder der zweiten Generation aus interethnischen Beziehungen ebenfalls meist etwas Deutsch gelernt haben, so ist die Annahme von knapp 4.000 Deutschsprachigen in Hawai’i vor dem Ersten Weltkrieg vielleicht eine plausible Annäherung. 18 Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs nimmt die Anzahl der Deutschen in Hawai’i ab und die sprachliche Assimilation der verbliebenen Deutschen an die englischsprachige Mehrheit zu. Für 1920 schätzt Hörmann (1931/ 1989, S. 76) die Anzahl ethnischer Deutscher noch auf 3.000, von denen 2.000 ihre Ursprünge in der Arbeitsmigration der 1880er Jahre hatten. Es dauerte lange, bis nach dem Exodus vieler Deutscher nach dem 17 Die Karte beruht v.a. auf Angaben aus Hörmann (1982, 1931/ 1989) und Schweizer (1982) und basiert auf der Reliefkarte in www.maps-for-free.com. 18 Die Einwanderung aus anderen deutschsprachigen Gebieten Mitteleuropas scheint gering gewesen zu sein. Zahlen dazu liegen mir nicht vor. In Schweizer (1982) wird vereinzelt über Migranten aus Österreich und der Schweiz berichtet. Ersten Weltkrieg die deutschsprachige Bevölkerung Hawai’is wieder anstieg. 1930 gaben von den nicht in Hawai’i geborenen Bewohnern Hawai’is 815 an, Deutsch als Muttersprache zu sprechen, 1960 waren es 1.161 und 1970 1.658. Unter den in Hawai’i Geborenen gab es 1970 4.434 Personen, bei denen Deutsch eine der Sprachen war, die während ihrer Kindheit in ihrer Herkunftsfamilie gesprochen wurde (Schmitt 1977, S. 30). Aus den Erhebungen in READ (2011, S. 3f.) ergibt sich, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts etwa 4.000 Bewohner Hawai’is zuhause Deutsch sprechen. Nordost-Neuguinea, Bismarck-Archipel und Nördliche Salomonen Für das Jahr 1912 setzt man für Nordost-Neuguinea, den Bismarck-Archipel und die Nördlichen Salomonen eine Bevölkerung von etwa 430.000 an. 19 Bis zum Beginn der deutschen Kolonialzeit waren nur wenige deutsche Händler und Missionare in Neuguinea und im Bismarck-Archipel präsent. Dann stieg die deutschsprachige Bevölkerung kontinuierlich. 1903 leben im Bismarck-Archipel 182 Deutsche, in Kaiser-Wilhelmsland 102. Im gesamten Gouvernement werden 1913 1.427 sogenannte „Weiße“ gezählt, nach Staatsangehörigkeit aufgeteilt 1.005 Deutsche, 172 Japaner, 112 Engländer, 23 Holländer, 19 Österreicher, 15 Nordamerikaner, 14 Spanier, 11 Schweden, 9 Schweizer, 6 Russen, 4 Luxemburger, 3 Belgier, 1 Däne, 1 Norweger und 21 sonstige Staatsangehörige oder Staatenlose. Außerdem werden 281 sogenannte „Mischlinge“ angeführt (Krauß 1920). Dazu kommen Arbeitsmigranten aus Asien, vor allem Chinesen und Malayen. Geht man gegen Ende der deutschen Kolonialzeit von einer Anzahl von gut 800 ethnischen Deutschen im Gebiet von Kaiser-Wilhelmsland, dem Bismarck-Archipel 19 Die Zahl ergibt sich aus der Volkszählung von 1912 (478.843 Einheimische; Gründer 2004, S. 170) minus die knapp 50.000 Einwohner Mikronesiens. Da insbesondere das dicht besiedelte Hochland Neuguineas den Deutschen weitgehend unbekannt war, dürfte die tatsächliche Einwohnerzahl des von den Deutschen beanspruchten Gebiets allerdings deutlich höher gelegen haben. <?page no="50"?> Stefan Engelberg 50 und den Nördlichen Salomonen aus, sowie einer kleinen Anzahl von Deutschsprechern aus interethnischen Beziehungen 20 , kann man vielleicht eine Zahl von 1.200 Deutschsprechern in dem Gebiet ansetzen. Da insbesondere die deutschen Missionen nach der deutschen Kolonialzeit und zum Teil bis heute aktiv geblieben sind, ist auch nach den Kriegen immer eine substantielle Zahl an Deutschsprechern in der Region zu konstatieren. So weist eine Statistik der Nationalität der römisch-katholischen Missionare im Gebiet Neuguineas und der Gilbert-Inseln im Jahr 1939 Folgendes aus (Anonym 1943, S. 16): Deutsch sind 2 von 5 Bischöfen, 113 von 191 Priestern, 141 von 163 Laienbrüdern und 111 von 212 Nonnen. Samoa 1913 leben etwa 34.500 Samoaner in West-Samoa (Krämer/ Krauß 1920). Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gibt es eine kleine Gruppe Deutscher in Samoa; 1876 werden 40 deutsche Männer gezählt (Suchan 1940, S. 30). 1903 befinden sich 381 Europäer und Nordamerikaner in Samoa, davon laut Paetel (1904, S. 38) 192 Deutsche, 89 Engländer, 39 Amerikaner, 35 Franzosen, 10 Schweden, 8 Schweizer, 7 Dänen und 1 Österreicher. 1913 wurden 329 Deutsche unter 557 europäischen und nordamerikanischen Bewohnern gezählt und 1.025 sogenannte „Mischlinge“, ein Großteil davon vermutlich Kinder von samoanischen oder deutsch-samoanischen Müttern und deutschen Vätern. Dazu kamen etwa 3.800 Arbeitsmigranten aus China, Melanesien und Mikronesien (Krämer/ Krauß 1920). Hiery (2001a, S. 18) schätzt, dass sich zwischen 1884 und 1918 etwa 600 bis 800 Deutsche über längere Zeit in Samoa aufgehalten haben, maximal 350 zu einem gegebenen Zeitpunkt. Siedlungsschwerpunkt der deutschen Bevölkerung war der Hauptort Apia auf der Insel Upolu. Die Deutschen lebten vom Handel, waren Gewerbetreibende oder betrieben Pflanzungen; dazu kamen Missionare und Beamte; etwa 40 Beamte verwalteten Samoa zum Ende 20 Hier sind die Sprecher des Unserdeutschen miteinbezogen (s. Abschnitt 5.1.2). der deutschen Kolonialzeit (Holtsch 1934, S. 8). Es wird berichtet, dass Kinder aus interethnischen Beziehungen oft kein Deutsch sprachen (Zieschank 1918, S. 57). Die Anzahl der Deutschsprachigen auf Samoa darf also nicht zu hoch veranschlagt werden und dürfte 1914 vielleicht nicht über 500 betragen haben. Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg wies Samoa immer noch eine recht große Anzahl deutschsprachiger Mitteleuropäer auf; 339 Personen in Samoa waren deutscher, 32 schweizerischer und 4 österreichischer Herkunft (Great Britain - Foreign Office - Historical Section 1920). Die meisten Deutschen wurden nach dem Krieg ausgewiesen. Zwischen den Weltkriegen nahm das Interesse an einer Auswanderung bzw. Rückkehr nach Samoa wieder zu. Die Auswandererberatungsstellen unter der Leitung des Reichswanderungsamtes (bzw., seit 1924, der Reichsstelle für das Auswanderungswesen) vermelden für die Geschäftsjahre 1919/ 20 bis 1935/ 36 insgesamt immerhin 566 Beratungsanfragen für Samoa (Flemke 1937, S. 57). Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten trotzdem nur wenige Deutsche aber etliche Samoaner mit deutschen Vorfahren in Westsamoa. Der samoanische Zensus weist für 1936 37 deutsche Staatsbürger aus und 499 „Euronesians who claimed German decent“ (Anonym 1939, S. 65). Am 1. Mai 1937 lebten 39 Reichsdeutsche in Samoa, darunter neun Frauen (davon vier Nonnen) (Hiery 2001b, S. 853). Mikronesien Die Gesamtbevölkerung Deutsch-Mikronesiens betrug 1900 54.500, mit abnehmender Tendenz, davon 69 Prozent auf den Karolinen und Palauinseln, 28 Prozent auf den Marshallinseln einschließlich Nauru und 3 Prozent auf den Marianen (Hardach 2001, S. 514, 531). Neben den Mikronesiern und wenigen Japanern und Europäern waren auf Nauru vor dem Ersten Weltkrieg zudem über 500 Chinesen im Phosphatbergbau tätig (Hardach 2001, S. 524). Deutsche haben sich in Mikronesien <?page no="51"?> 2. Ozeanien 51 nur sehr spärlich über das große Inselgebiet verteilt. 1901 zählte man 128 Deutsche in Deutsch-Mikronesien, 1912 waren es 232 (Hardach 2001, S. 514, 530). Die meisten Deutschen lebten auf den Inseln Jaluit (Marshallinseln), Ponape und Jap (beide Karolinen), Saipan (Marianen), Angaur (Palau-Inseln) und Nauru. Insgesamt, so schätzt Hiery (2001a, S. 18), dürften sich zwischen 1884 und 1918 nicht mehr als 400 Deutsche über längere Zeit in Mikronesien aufgehalten haben. Paetel (1904, S. 31f.) führt für das Jahr 1902 in den Marshallinseln in Ostmikronesien 51 Deutsche von insgesamt 77 „Deutschen und Fremden“ an, v. a. Kaufleute, Händler, Seeleute und Missionare. Auf den Karolinen waren für die Kapuziner 1913 47 Deutsche im Missionsbereich tätig (Kilian 1913, S. 28). Die Zahl der deutschen Beamten nahm im Laufe der Kolonialzeit langsam zu. 1899 verwalteten 8 deutsche Beamte die Karolinen, Palau und die Marianen, 1912 waren es in ganz Deutsch- Mikronesien 25 (Hardach 2001, S. 513, 516). Zum Ende der deutschen Kolonialzeit kann man unter Einbeziehung einiger weniger Sprecher aus interethnischen Beziehungen von maximal 300 Deutschsprachigen in Deutsch- Mikronesien ausgehen. Die Gesamtzahl der Deutschen, die sich zwischen 1884 und 1914 für längere Zeit in den beiden Südpazifikkolonien aufgehalten haben, dürfte laut Hiery (2001a, S. 24) bei 5.000 gelegen haben. Tonga Auf den meisten der südpazifischen Inselgruppen hat eine kleinere Anzahl ethnischer Deutscher mit ihren Familien gelebt, etwa in Fidschi, den Gesellschaftsinseln, Vanuatu (Neue Hebriden), den Gilbert-Inseln, Ost- 21 Die Liste führt zudem auch die Namen der tonganischen Ehefrauen deutscher Siedler auf, wie auch die Namen von Einheimischen aus Deutsch-Samoa und Deutsch-Neuguinea. Inwieweit es sich bei den nichtethnischen Deutschen auch um Deutschsprachige gehandelt hat, lässt sich den Listen natürlich nicht entnehmen. 22 In Auckland lebten Mitte der 1880er Jahre 220 Deutsche (bei einer Gesamtbevölkerung von 33.161), in Dunedin ebenfalls 220 (Gesamtbevölkerung 23.243), Samoa oder Tonga. In Tonga finden sich um 1875 25 Deutsche (Suchan 1940, S. 74), und zu Beginn des 20. Jahrhunderts machten die 120 Deutschen knapp die Hälfte der in Tonga ansässigen Europäer aus (Voigt 2001, S. 723, s. auch Bade 2014, S. 2). Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs erschwerten sich auch in Tonga die Bedingungen für die deutschen Bewohner. Für 1916 lässt sich die deutsche Bevölkerung in Tonga recht genau aus einer namentlichen Liste der „Enemy aliens in Tonga“ des britischen Konsuls in Tonga rekonstruieren. Bei einer einheimischen Bevölkerung von gut 20.000 (Bakker 1979, S. 8) dürften demnach zu der Zeit etwa 50 ethnische Deutsche dort gelebt haben und circa 100 Nachkommen aus interethnischen deutsch-tonganischen Ehen (British Consul 1916/ 2005). 21 Die in Tonga verbleibenden Deutschen wurden nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs nach Neuseeland deportiert (Porteous 2004). Deutschsprachige Siedlungen Die lokale Wirtschaftsweise bedingte es, dass die meisten Deutschen auf Plantagen, Farmen oder weit verstreuten Handelsstationen lebten. Urbane Zentren, mit einer zumindest dreistelligen Zahl deutscher Bewohner, gab es außerhalb Hawai’is (Honolulu) und Neuseelands (Wellington, Auckland, Dunedin, Christchurch u.a.) Anfang des 20. Jahrhunderts nicht. 22 Eine Handvoll derjenigen ozeanischen Kleinstädte und Siedlungen, die über mehrere Generationen von deutscher Sprache und Kultur geprägt waren, dürften vor dem Ersten Weltkrieg eine dreistellige Zahl ethnischer Deutscher aufwiesen haben. Die größte war Lihu’e, deren deutsche Bevölkerung (Immigranten und deren Nachfahren) um 1900 zwischen 500 und 1.000 betragen haben dürfte in Wellington 160 (Gesamtbevölkerung 25.945) und auch in Christchurch 160 (Gesamtbevölkerung 15.265) (Minson 1993, S. 43; Statistics New Zealand - Tatauranga Aotearoa 2013); Honolulu, mit einem kleinen deutschen Viertel hatte 1890 22.907 Einwohner mit wohl über 300 Deutschen, 1900 39.306 Einwohner mit geschätzt 500 Deutschen (Encyclopedia Britannica 1910, S. 659, vgl. die Bevölkerungszahlen für O’ahu in Hörmann 1931/ 1989, S. 92). <?page no="52"?> Stefan Engelberg 52 (vgl. die Zahlen in Hörmann 1931/ 1989, S. 44). Andere Orte mit einer deutschen Bevölkerung im niedrigen dreistelligen Bereich waren Apia (Samoa) und einige der deutschen Siedlungen in Neuseeland, etwa Puhoi, Sarau (Upper Moutere), Midhurst, Germantown und vielleicht einige wenige andere. Die Hauptorte in Deutsch-Neuguinea wie Herbertshöhe (heute Kokopo), Friedrich-Wilhelmshafen (heute Madang), Rabaul, Stephansort oder Jaluit (Marshall-Inseln) dürften kaum mehr als einige Dutzend Deutschsprecher beherbergt haben. Herbertshöhe bildet hier insofern eine Ausnahme, als es im Umfeld von Herbertshöhe und dem Missionszentrum Vunapope auch eine größere Anzahl (vielleicht 100 bis 200) Sprecher der deutschbasierten Kreolsprache Unserdeutsch gegeben hat, die fast alle Nachkommen interethnischer Beziehungen einheimischer Frauen mit europäischen oder asiatischen Vätern waren. Bis heute gibt es eine kleine Anzahl Sprecher des Unserdeutschen in dieser Region. Insgesamt erlauben die angeführten Zahlen die Schätzung, dass die Zahl der Deutschsprecher in Ozeanien zu Beginn des Ersten Weltkriegs vielleicht etwas über 25.000 betragen hat, eine Zahl, die angesichts der schwierigen Schätzungsgrundlage allerdings mit Unwägbarkeit behaftet ist. Anteilig entfallen davon etwa 75 Prozent auf Neuseeland, 15 Prozent auf Hawai’i, 5 Prozent auf Neuguinea und den Bismarck-Archipel und 5 Prozent auf den Rest von Ozeanien. 4 Wirtschaft, Politik, Kultur, rechtliche Stellung 4.1 Wirtschaftliche Situation Im Zentrum des wirtschaftlichen Interesses der Deutschen in Ozeanien standen Agrarprodukte: vor allem Kopra und Zuckerrohr, in geringerem Umfang auch Kaffee, Kakao und Baumwolle, sowie in dem gemäßigten Klima Neuseelands Wein, Hopfen, Obst und Gemüse. Industrierohstoffe spielten eine geringere Rolle; hervorzuheben sind aber die Phosphatminen auf Nauru und der palauischen Insel Angaur, sowie der auch von deutschen Migranten betriebene Goldabbau an der Westküste der neuseeländischen Südinsel. Deutsche treten in Ozeanien zum Teil als Unternehmer von erheblicher regionaler Bedeutung auf, wie etwa Carl Cesar Godeffroy mit seiner von Samoa aus operierenden Handels- und Plantagengesellschaft, Heinrich Hackfeld und seine Unternehmen in Honolulu oder Louis Ehrenfried (vgl. Bade 1993c), der von Auckland aus ein Getränke- und Gastgewerbeunternehmen mit der größten Brauerei Neuseelands betrieb. Der größere Teil der ozeanischen Deutschen waren allerdings Farmer, kleine Händler, Handwerker, Plantagenarbeiter, oder sie waren - wie in Neuseeland - zum Teil als Arbeiter im Straßen- und Eisenbahnbau tätig. Dazu kommt insbesondere in den deutschen Kolonien eine größere Anzahl an Beamten und Missionaren. Folgt man den Zahlen in Krauß (1920) und Krämer/ Krauß (1920), waren zum Ende der deutschen Kolonialzeit etwa 250 Deutsche in den beiden Kolonien in der Mission tätig; das ist etwa ein Achtel der deutschen Bevölkerung in den beiden deutschen Kolonien. Der ökonomische Status der Deutschen ist regional sehr unterschiedlich. In Zentral- und Westozeanien treten die Deutsche als Plantagenbesitzer auf, während die Arbeit auf den Plantagen von Migranten aus anderen Teilen Ozeaniens und Asien geleistet wird. In Hawai’i sind zwar ebenfalls Plantagen im Besitz von deutschen Unternehmern, die meisten Deutschen allerdings müssen sich selbst als Plantagenarbeiter verdingen. In Neuseeland wiederum sind im Agrarbereich die Deutschen oft Eigentümer kleiner Farmen oder lohnabhängige Farmarbeiter. 4.2 Rechtliche Stellung des Deutschen: Schulsystem, Sprachregelungen Samoa und Deutsch-Neuguinea Die Rolle des Deutschen als mögliche Verkehrssprache in den südpazifischen Kolonien war Gegenstand äußerst kontroverser Diskussionen in kolonialen Kreisen sowohl in der Metropole wie auch in den Kolonien. Die <?page no="53"?> 2. Ozeanien 53 prodeutsche Fraktion führte vor allem kulturelle, machtpolitische und ökonomische Gründe ins Feld. Das Deutsche sollte zur - wie es hieß - kulturellen „Hebung“ der Einheimischen beitragen; seine Verbreitung sollte den deutschen Händlern im Südpazifik Vorteile bringen; im imperialistischen Konkurrenzkampf sollte das Deutsche deutsches Territorium markieren; zudem wurde befürchtet, eine Verbreitung des Englischen zuungunsten des Deutschen in Deutsch-Neuguinea könnte einer militärischen Übernahme des Territoriums durch Australien Vorschub leisten. Doch auch gegen das Deutsche wurde argumentiert, und zwar vor allem von Seiten der deutschen Kolonisten, die der einheimischen Bevölkerung Deutschkenntnisse verwehren wollten, um eine soziale Grenze zwischen Deutschen und Ozeaniern aufrechtzuerhalten; man wollte auch gegenüber den eigenen Angestellten eine Sprache für sich haben. Befürchtet wurde auch von vielen, die Verbreitung des Deutschen im vielsprachigen Neuguinea könnte den Einheimischen ein gemeinsames Verständigungsmittel an die Hand geben, das ihnen die Organisation antikolonialer Bewegungen ermöglichen würde. Auch die Vorstellung, die Einheimischen könnten über die Lektüre deutschsprachiger Zeitungen und Bücher einen Einblick in deutsche Kolonialpolitik bekommen, behagte vielen nicht (vgl. dazu Engelberg 2008, 2014). Letztlich wurde von Seiten des Auswärtigen Amtes und später des Reichskolonialamtes aber entschieden, die Verbreitung des Deutschen zumindest moderat zu fördern. Bescheidene Subventionen wurden an die Missionen gezahlt, damit diese in den kolonialen Schulen Deutsch in den Lehrplan aufnahmen. Ein „Fonds zur Verbreitung der deutschen Sprache“ sollte besondere Leistungen bezüglich der Förderung des Deutschen honorieren. Vor allem aber wurde aufgrund der Empfehlung des Kolonialrats, der als Sachverständigenbeirat der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amts und später dann des Reichskolonialamtes fungierte, am 27. Februar 1897 folgender Runderlass veröffentlicht (Deutsche Kolonialgesetzgebung, Bd. 6, S. 141): „Der Kolonialrat empfiehlt der Regierung, unter Berücksichtigung der in Betracht kommenden Verhältnisse, darauf hinzuwirken, dass, wenn in den Schulen [sc. innerhalb der deutschen Kolonien] neben der Sprache der Eingeborenen noch eine andere gelehrt wird, die deutsche in den Lehrplan aufgenommen werde. Berlin, den 27. Februar 1897. Auswärtiges Amt. Kolonial-Abteilung. Frhr. v. Richthofen“ Damit war Deutsch als erste Fremdsprache an den kolonialen Schulen etabliert. Weitere lokale Regelungen ergänzten diese Bestimmung. So ordnete der Gouverneur von Samoa, Wilhelm Solf, an, dass in samoanischen Elementarschulen nur Deutsch als Fremdsprache unterrichtet werden dürfe (Samoanische Zeitung 1901-1915, 15. Mai 1901): „Nachdem den Missionen zur Anpassung an die veraenderten Verhaeltnisse ein Jahr Frist gewaehrt worden ist, bestimme ich nunmehr, dass vom 1. Juli dieses Jahres ab die Unterrichtssprache in den Schulen für die Eingeborenen die Samoanische ist und dass im Uebrigen ausser der Deutschen eine andere europaeische Sprache in den Lehrplan dieser Schulen nicht aufgenommen werden darf.“ Im Jahre 1911 wurde eine umfangreiche Erhebung zum Schulwesen in den deutschen Kolonien durchgeführt (Schlunk 1914). Obwohl der Rücklauf der Fragebögen wohl leidlich gut war, geben die folgenden Zahlen sicherlich nicht den vollständigen Bestand an schulischen Einrichtungen wieder (s. die Kritik in Adick 1995). Für Deutsch-Neuguinea wurden 402 Elementarschulen, 19 gehobene Schulen und 11 praktische Lehranstalten gemeldet, für Samoa 300 Elementarschulen, 26 gehobene Schulen und 3 praktische Lehranstalten. Nur 5 dieser insgesamt 761 Schulen waren Regierungsschulen; die anderen wurden von Missionen betrieben. Legt man die der Erhebung entnommenen Zahlen von gut 29.000 Schülerinnen und Schülern in den beiden Kolonien zugrunde, so haben 98,1 Prozent davon eine Missionsschule und 1,9 Prozent eine Regierungsschule besucht, wobei letztere stärker auf den Erwerb des Deutschen fokussierten. Hinsichtlich der Frage der Verbreitung des <?page no="54"?> Stefan Engelberg 54 Deutschen ist dabei zu berücksichtigen, dass nur etwa 35 Prozent der Schulen von deutschen Missionen betrieben wurden und auch hier nur etwa 40 Prozent des Lehrpersonals deutschsprachig war. Damit kann man schätzen, dass insgesamt höchstens 15 Prozent des Lehrpersonals deutsche Muttersprachler waren (vgl. Engelberg 2008, S. 322). Berücksichtigt man weiterhin, dass nicht an allen Schulen Deutsch unterrichtet wurde, so dürften nach der Schätzung von Stolberg (2012, S. 147) um 1911 etwa 5.000 Schüler und Schülerinnen in den beiden pazifischen Kolonien Deutsch gelernt haben. Das entspricht knapp einem Prozent der damaligen Gesamtbevölkerung. Die durchschnittliche Schulbesuchsdauer einheimischer Schüler und Schülerinnen ist schwer zu schätzen. Geht man von vier Jahren aus, so verteilt sich die oben angeführte Zahl auf vier Kohorten. Bei insgesamt bis zu 30 Kohorten in den südpazifischen Kolonien, die allerdings bis weit in die 1890er Jahre nur wenig mit Deutschunterricht behelligt wurden, kann man für die gesamte deutsche Kolonialzeit vielleicht eine Schätzung von über 20.000 Deutschlernenden in beiden Kolonien zusammen wagen. Der Erfolg des Deutschunterrichts war dabei je nach lokaler Konstellation sehr unterschiedlich und hing von verschiedenen Faktoren ab, der Verwendung des Deutschen als Unterrichtsprache, den Deutschkenntnissen nichtmuttersprachlicher Lehrer und Lehrerinnen, den Spracheinstellungen der Schüler und Schülerinnen und der Haltung der jeweiligen Missionsgesellschaft zum Deutschunterricht (vgl. zu Fallstudien Engelberg 2006b, Stolberg 2017 und allgemein Stolberg 2012). An den wenigen Orten, wo Deutsch sowohl als Unterrichtssprache eingesetzt als auch intensiver unterrichtet wurde, ist das Deutsche im Umfeld als Zweitsprache funktional geworden. Auf der marianischen Insel Saipan etwa, dem 23 Zur Rolle des Deutschen in Neuguinea nach dem Ersten Weltkrieg vgl. Volker (2017). 24 Keine der sechs Universitäten in Papua-Neuguinea hatte im Jahre 2016 Deutsch im Programm, auch nicht die National University of Samoa, das College of the Northern Marianas, das American Samoa Community College, das Guam Community College, die Pacific Sitz einer deutschen Regierungsschule, waren Deutschkenntnisse weiter verbreitet, so dass der Bezirksamtmann der Nördlichen Marianen, Georg Fritz, am 19. Juli 1906 per Bekanntmachung Deutsch als Geschäftssprache im Dienstverkehr mit der einheimischen Bevölkerung einführte (Hiery 2001c, S. 219). Neben den Schulen für Einheimische wurde eine geringe Anzahl von Lehranstalten für Kinder von Europäern betrieben. Faktisch nahmen etwa die Schule für Europäerkinder in Namanula (bei Herbertshöhe, Neubritannien) und die Deutsche Schule in Apia (Samoa) aber auch Kinder asiatischer Eltern bzw. Kinder aus interethnischen Beziehungen auf. Deutsch spielte eine Rolle im Unterrichtsprogramm dieser Schulen, war aber nicht durchgehend Unterrichtssprache (Hiery 2001c, S. 230ff., Solf 1907, S. 65). Neben den üblichen schulischen Deutschangeboten gab es vereinzelt Deutschkurse für Polizeisoldaten in Mikronesien (Anonym 1907, S. 19f.; Hezel 1984, S. 102) und für die Arbeiter der deutschen Neuguinea-Compagnie (Anonym 1904, S. 146). Nach dem Ersten Weltkrieg ist Deutsch aus dem Bildungssystem der vormals deutschkolonialen Gebiete mit Ausnahme einiger weniger Missionsschulen relativ schnell verschwunden 23 . Eine Sichtung der Webseiten der Hochschulen in Ozeanien ergibt, dass Deutsch im Jahre 2016 außerhalb von Hawai’i und Neuseeland an keiner ozeanischen Hochschule angeboten wurde. 24 Hawai’i 1882 wurde in Lihu’e auf Kaua’i eine deutsche Schule für die Kinder der deutschen Immigranten gegründet, die dort auf den Zuckerrohrplantagen arbeiteten. In der Schule wurden zeitweise fast 100 deutsche Kinder unterrichtet (Hörmann 1931/ 1989, S. 95). Unterrichtssprache war Deutsch. Erst ab 1912 Islands University (Guam), die University of Guam, die University of Fiji, die University of the South Pacific, die Fiji National University, das College of Micronesia, das Palau Community College, die Université de la Polynésie française und die Université de la Nouvelle-Calédonie. <?page no="55"?> 2. Ozeanien 55 wurde Englisch als zweite, ab 1917 dann als einzige Unterrichtssprache verwendet; 1918 wurde die Schule geschlossen (Kuykendall/ Gill 1928, S. 438; Schweizer 1982, S. 168f.). In Honolulu betrieb die deutsche protestantische Gemeinde eine deutsche Sprachschule, in der viermal in der Woche nach dem regulären Schulbesuch Deutschunterricht erteilt wurde (Hörmann 1982, S. 79f., Reinecke 1935/ 1969, S. 140; Wagner-Seavey 1980, S. 112f.). An hawaiianischen High Schools wurde bereits vor dem Ersten Weltkrieg teilweise Deutschunterricht angeboten, der 1918 dann in ganz Hawai’i eingestellt wurde (Kuykendall/ Gill 1928, S. 438) und erst später in kleinem Umfang wieder aufgenommen wurde (Hörmann 1982, S. 81). Die University of Hawai’i bot bereits vor dem Ersten Weltkrieg Deutschkurse an. Nach einer kriegsbedingten Suspendierung des Deutsch-Programms (Kuykendall/ Gill 1928, S. 435ff.) wurde 1927 wieder eine Assistenzprofessur für Deutsch besetzt (Schweizer 1982, S. 170f.). Im Jahr 2018 ist das Fach Deutsch an der University of Hawai’i mit drei Professuren im Department „Languages & Literature of Europe & the Americas“ vertreten. Neuseeland Die deutschsprachigen Siedlungen in Neuseeland waren zu verstreut, um den Aufbau eines deutschsprachigen Schulsystems zu ermöglichen. Dennoch haben einige der Siedlungen, wie etwa Midhurst, Neudorf, Puhau und Sarau (Upper Moutere) zum Teil über Jahrzehnte eigene deutschsprachige Schulen betrieben (Allan 1965, S. 309ff., Bade 1993b, Panny 1993, Williams 1993). In weiterführenden Schulen in Neuseeland wurde Deutsch als Fach seit den 1940er Jahren angeboten, zunächst in sehr kleinem, ab den 1970er Jahren aber deutlich steigendem Umfang. Um 1990 lag dann die Anzahl der Schüler und Schülerinnen, die Deutsch als Schulfach hatten, in Grundschulen bei 5.000 und in weiterführenden Schulen bei knapp 9.000 (Oettli 1998, S. 267). Darüber hinaus ist in Wellington das Goethe-Institut präsent. An neuseeländischen Universitäten wurde Deutsch in geringem Ausmaß bereits im 19. Jahrhundert unterrichtet: in Dunedin (University of Otago) seit 1873, in Christchurch (University of Canterbury) seit 1897, in Auckland (University of Auckland) seit 1883 und in Wellington (Victoria University) seit 1899. Erst zwischen 1947 und 1953 richtete man dort auch jeweils ein Vollzeit-Lektorat für Deutsch ein; in den 1960er Jahren wurden dann an den vier Universitätsstandorten Germanistik-Professuren begründet; auch die beiden neuen Universitäten in Palmerston North (Massey University) und Hamilton (University of Waikato; mit Professur) boten ein Deutsch- Programm an (Oettli 1998, S. 264ff.). Ende des 20. Jahrhunderts wurde die Anzahl an Germanistikprofessuren wieder reduziert. Im Jahr 2015 wurde Deutsch an den Universitäten in Auckland, Dunedin und Wellington auf allen Stufen von Anfängern bis zur Promotion angeboten, in Christchurch kann es als BA- Hauptfach studiert werden und in Hamilton auf Anfängerniveau. Eine Professur für Deutsch gab es im Jahr 2017 in Neuseeland allerdings nicht mehr. 4.3 Kulturelle Institutionen, Kirchen, Verbände, Medien Deutsch-Neuguinea und Samoa Die Missionen in den deutschen Kolonialgebieten etablierten ihre jeweiligen Systeme religiöser Praxis zunächst primär auf der Basis der jeweiligen einheimischen Sprachen. Auch diejenigen v.a. katholischen Missionen, die während der deutschen Kolonialzeit verstärkt Deutsch oder auch auf Deutsch in den Missionsschulen unterrichteten, hielten den Religionsunterricht üblicherweise in den lokalen Sprachen ab, und auch die Messen in den vielen Missionskirchen fanden gewöhnlich nicht auf Deutsch statt. Messen auf Deutsch für die deutschsprachige Bevölkerung blieben die Ausnahme, vor allem in dem von Deutschen nur sehr verstreut besiedelten Deutsch-Neuguinea. In Deutsch-Neuguinea haben sich wohl auch kaum kulturelle Organisationen herausgebildet, die mit der deutschen Sprache verknüpft waren. In Apia (Samoa) ist demgegenüber ein stärker institutionalisiertes Gesell- <?page no="56"?> Stefan Engelberg 56 schaftsleben entstanden, zu dem unter anderem auch ein Sportverein, eine Pferderennbahn, der Verein „Deutsches Kasino“, Kegelbahnen und verschiedene Gaststätten beitrugen. Auch über eine Versorgung des samoanischen Hauptortes mit deutschsprachigen Medien ist Einiges bekannt: Mit der „Samoanischen Zeitung“ (1901-1915) verfügte Samoa über das einzige private - wöchentlich erscheinende - deutschsprachige Periodikum im Südpazifik. Apia beherbergte in der Deutschen Schule auch eine intern benutzbare Bibliothek (Solf 1907, S. 65); ein kleiner deutschsprachiger Buchbestand fand sich zudem in der Apia Public Library (Spennemann 2004, S. 209). Ein Hotel in Apia verfügte außerdem über einen öffentlichen Lesesaal mit einem ansehnlichen, zum Teil über den „Fonds zur Verbreitung der deutschen Sprache“ finanzierten Bestand an u.a. auch deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften, von der „Deutschen Kolonialzeitung“ über die „Südwestafrikanische Zeitung“, die „Kiautschou-Post“, die „Times“ und die „Fiji Times“ bis hin zur „Woche“, der „Sport im Bild“, dem „Tropenpflanzer“ und den „Lustigen Blättern“ (Samoanische Zeitung 1901-1915, 5. Juni 1909; Stolberg 2015, S. 329). Aus Mikronesien ist bekannt, dass einige kleinere private deutschsprachige Bibliotheken existierten, so etwa bei der Jaluit-Gesellschaft auf den Marshall-Inseln und der Pacific Phosphate Company auf Nauru. Auch kleinere Bibliotheken von Verwaltungsbeamten und Missionaren hat es gegeben (Spennemann 2004, S. 212, 218). Hawai’i Ab 1882 hielt man in der deutschsprachigen Kleinstadt Lihu’e deutschsprachigen Gottesdienst ab; eine Lutherische Kirche wurde 1884 gebaut. Noch bis 1946 wurde hier gelegentlich der Gottesdienst auf Deutsch zelebriert (Schweizer 1982, S. 169f.). Auch in Honolulu etablierte sich eine deutsche lutherische Gemeinde mit eigener Kirche (Wagner-Seavey 1980, S. 112f.). 25 Die Information habe ich dankenswerterweise von Club-Mitglied Alexander Meimer erhalten. Bereits 1854 hatte es für kurze Zeit in Honolulu einen „Deutschen Verein“ gegeben; 1858 wurde dann der Deutsche Unterstützungsverein (German Benevolent Society of Honolulu) gegründet, dem 1889 von König Kaläkaua offiziell eine Inkorporationsurkunde verliehen wurde; der Verein ist heute noch in den Bereichen Wohlfahrt und Kultur aktiv (Schweizer 2001, S. 734f.). 1873 wurde zudem der „Deutsche Club“ gegründet (Schweizer 1982, S. 177). Der „Deutsche Club“ ist als informelle Gruppierung nach wie vor aktiv; seine Facebook-Gruppe zählt 2016 800 Zugehörige. 25 Daneben gab es Organisationen wie „Hermanns Söhne“, die sich für den Erhalt deutscher Sprache und Kultur in Hawai’i einsetzten, die German-American Alliance und den Deutschen Frauen-Verein von Hawaii. (Wagner-Seavey 1980, S. 126f., Kuykendall/ Gill 1928, S. 235, 440). Die frühen deutschen Siedler in Lihu’e hatten auch Zugang zu deutschen Printmedien. Viele abonnierten Zeitungen und Zeitschriften wie das „Hannoversche Sonntagsblatt“, „Die Harke“, „Die Woche“, „Daheim“ oder „Die Gartenlaube“ (Takakai 1983, S. 109f.). Neuseeland Die deutschen Gemeinden in Neuseeland errichteten oft eigene Kirchen, in denen die Messe noch bis ins frühe 20. Jahrhundert auf Deutsch gelesen wurde. Deutsche, meist protestantische Kirchen gab es etwa in den Städten Wellington und Christchurch und in vielen der deutschen Siedlungen wie Allanton, Inglewood, Marton, Midhurst, Puhoi, Ranzau, Sarau, St. Paulidorf und Waihola (Bade 1993b, Heller 2005, Minson 1993, Morris 1993). Dort, wo die individuelle Migration der Nachkriegszeit keine kompakten deutschen Siedlungen mehr hervorbrachte, organisierten die Deutschen auch ein eigenes Vereinsleben. So sind etwa nach dem Zweiten Weltkrieg in Zusammenhang mit der Etablierung von Germanistik-Professuren in Neuseeland und auch im Zuge der wieder zunehmenden Einwanderung aus Deutschland verschiedene deutsche <?page no="57"?> 2. Ozeanien 57 Vereine gegründet worden. Eine Goethe-Gesellschaft zur Förderung deutscher Sprache und Kultur entstand 1948 in Auckland; 26 bis Ende der 1960er Jahre wurden Goethe-Gesellschaften in Dunedin, Wellington, Christchurch, Hamilton und Palmerston North ins Leben gerufen. Daneben wurden deutsche Vereine wie der „Deutsche Klub Wellington“ (1989) oder die „German Society of New Zealand“ (1970) gegründet, letztere Anfang dieses Jahrhunderts mit immerhin 400 Mitgliedern (Bönisch-Brednich 2002, S. 62, 81f., Oettli 1998, S. 268). 27 5 Sprachen und Varietäten im Kontaktgebiet 5.1 Kontaktsprachen 5.1.1 Sprachenverhältnisse und Lingua Franca Ozeanien hat gemessen an seiner Bevölkerung die höchste Sprachendichte aller Kontinente. Basierend auf Ethnologue (Lewis, Simons & Fennig 2015) errechnet sich eine Anzahl von über 1.400 einheimischen Sprachen in Ozeanien, davon fast 60% in Papua-Neuguinea, über 20% in Westpapua und knapp 8 Prozent in Vanuatu. Die Sprachen gehören der austronesischen Sprachfamilie und den verschiedenen papuanischen Sprachfamilien an, zu deren umfangreichsten das Transneuguinea-Phylum, die Sepik-Ramu-Familie, die Toricelligruppe, die Geelvink-Bay-Familie und die Westpapua-Familie zählen. Neben den einheimischen Sprachen spielen natürlich die Sprachen der Kolonialmächte eine wichtige Rolle, vor allem Englisch und Französisch, zudem Indonesisch (Westpapua) und Spanisch (Rapa Nui), früher auch Deutsch und Japanisch. Das Bild wird ergänzt durch eine Anzahl von Pidgin- und Kreolsprachen wie die primär englisch-basierten Tok Pisin (Papua Neuguinea), Solomon Pijin (Salomonen), Bislama (Vanuatu), Chinese Pidgin 26 S. auch http: / / www.aucklandgoethesociety.org/ . 27 Uwe Kratz, Mitglied der German Society of New Zealand, teilte auf Anfrage freundlicherweise mit, dass English (Nauru) und Hawaiian Pidgin English, das französisch-basierte Taio (Neukaledonien), das deutsch-basierte Unserdeutsch (s. Abschnitt 5.1.2), das hawaiianisch-basierte Pidgin Hawaiian und das fidschianisch-basierte Pidgin Fijian (beide nicht mehr in Gebrauch). Auch verschiedene Varietäten von Sprachen, die durch kolonialismusbedingte Migration in den Pazifik gelangten, wie das Fijian Hindustani der indischstämmigen Bevökerung Fidschis sind zu konstatieren. Die Gebiete mit ehemals deutscher Besiedlung unterscheiden sich erheblich hinsichtlich ihrer Sprachenvielfalt. In Hawai’i, Samoa und Neuseeland wurde neben den Sprachen der Kolonialmächten und einzelnen Kontaktsprachen jeweils nur eine einheimische Sprache mit ihren regionalen Varietäten gesprochen: Hawaiianisch, Samoanisch und Maori. In Deutsch-Neuguinea dagegen hat die Zahl einheimischer Sprachen wohl bei über 800 gelegen. Manche der einheimischen Sprachen haben im Kontext mit der deutschen Besiedlung eine besondere Rolle als Lingua Franca gespielt. Das Hawaiianische war Grundlage eines Pidgins, das auch von den deutschen Plantagenarbeitern in Hawai’i verwendet wurde (Roberts 1995, s. Abschnitt 5.1.5). In Neuguinea wurden von deutschen Missionaren einheimische Sprachen zu Missions- und Verkehrssprachen ausgebaut, insbesondere Kâte, Yabem, Gedaged, Amele und Boiken an der Nordostküste Neuguineas und Kuanua und Ramoaaina im Bismarck-Archipel (vgl. die Karte in Ross 1996). Die für die deutschsprachige Bevölkerung wichtigste Lingua Franca in Ozeanien war allerdings das englisch-basierte Tok Pisin, das zur Zeit der deutschen Herrschaft in Neuguinea und im Bismarck- Archipel eine erhebliche Ausbreitung erfuhr und in dieser Zeit auch Ansätze zu einer deutschen (Re-)Lexifizierung zeigte (s. Abschnitt 5.1.4). die Gesellschaft 2016 im Raum Auckland etwa 170 Mitglieder hat; weitere deutsche Vereine existieren in Wellington und Christchurch (pers. Mitteilung). <?page no="58"?> Stefan Engelberg 58 5.1.2 Unserdeutsch Während die meisten bekannten Pidgin- und Kreolsprachen im Südpazifik (South Pacific Jargon, Bislama, Tok Pisin, Solomon Pijin, Hawaiian Pidgin, Hawaii Pidgin English, Taio etc.) ihren Ursprung in maritimen und vor allem Plantagenkontexten haben, sind die beiden in Deutsch-Neuguinea dokumentierten deutsch-basierten Kontaktsprachen, Unserdeutsch und Ali Pidgin, im missionarischen Umfeld entstanden (s. Abb. 8). In Handel und Plantagenwirtschaft hatte das englisch-basierte Tok Pisin in Deutsch-Neuguinea schon weite Verbreitung gefunden, so dass neue Kontaktsprachen auf andere Kontexte beschränkt waren. Die Mission in Deutsch-Neuguinea zeichnete sich diesbezüglich durch zweierlei aus. Zum einen waren Missionare die deutsche Berufsgruppe, zu denen die einheimische Bevölkerung den intensivsten Kontakt hatte. Zum anderen waren selbst kleinräumige Missionsgebiete in Neuguinea und im Bismarck-Archipel meist durch eine sehr große Sprachenvielfalt gekennzeichnet. Die Kreolsprache Unserdeutsch hat ihren Ursprung in Aktivitäten der katholischen Missionare vom Heiligsten Herzen Jesu und ihrer einheimischen Schüler und Schülerinnen. 1882 fangen französische Herz-Jesu-Missionare im Bismarck-Archipel an zu missionieren; ab 1890 arbeiten auch Missionare des in Hiltrup bei Münster beheimateten deutschen Zweigs der Herz-Jesu-Mission im Bismarck- Archipel. 1891 beginnen diese mit der Errichtung der Hauptstation der Mission in Vunapope auf der Gazelle-Halbinsel Neupommerns/ New Britains, nur wenige Kilometer östlich des späteren Gouvernementssitzes Herbertshöhe. Es wird zunächst ein Internat für einheimische Jungen, zwei Jahre später auch eines für einheimische Mädchen eingerichtet. 1897 kommt ein Internat für sogenannte „Mischlingskinder“ dazu, Kinder aus interethnischen Beziehungen, bei denen die Mutter eine Einheimische ist (Tolai und andere Ethnien der Region) und der Vater aus Europa (v.a. Deutsche, aber auch Schweden, Briten etc.), Asien (Chinesen, Filipinos) oder Mikronesien stammt (Janssen 1932, Volker 1991). Je nach dem Alter, in dem die Kinder in das Internat gebracht werden, haben sie mehr oder weniger gute Kenntnisse der Sprachen ihrer Mütter und Väter; viele werden bereits als Kleinkinder mit unvollständigem Spracherwerb in das Internat aufgenommen. Da die Mission zunehmend versucht, die Heimfahrten der Kinder zu reduzieren, bleibt der Kontakt zu den Sprachen der Mütter und Väter meist gering. Von Bedeutung für die Entstehung des Unserdeutschen ist, dass in vielen der interethnischen Herkunftsfamilien und zum Teil im Umfeld der Mission das englischbasierte Tok Pisin gesprochen wird; einige der Kinder gehören wahrscheinlich zu den ersten Tok-Pisin-Muttersprachlern. Abb. 8: Ali Island und Vunapope, die Entstehungsorte des Ali Deutsch bzw. des Unserdeutsch <?page no="59"?> 2. Ozeanien 59 Üblicherweise wird eine Vorschule bis zum Alter von 6 bis 7 Jahren besucht. Dem schließt sich ein 8bis 9jähriger Grundschulbesuch an, gegebenenfalls gefolgt von drei bis vier Jahren Handwerkerschule für Jungen oder zwei bis drei Jahren Hauswirtschaftsschule für Mädchen (Janssen 1932). In der Schule selbst wird auf Deutsch unterrichtet, und viele der Schüler und Schülerinnen erwerben gute Kenntnisse des Standarddeutschen (das von ihnen so genannte „Normaldeutsch“). Außerhalb des Unterrichts allerdings entwickelt sich in der Kommunikation der Kinder untereinander eine Pidgin-Variante des Deutschen, zunächst wohl in weiten Teilen in spielerischer Weise als eine deutsche Relexifizierung des Tok Pisin mit einigen durch das Standarddeutsche bestimmten syntaktischen Besonderheiten (Volker 1982, S. 10). Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs werden die Väter der Kinder mit deutschem Hintergrund repatriiert. Das Internat allerdings bleibt bestehen; die jetzt australische Verwaltung forciert sogar die Unterbringung von Kindern interethnischer Beziehungen im Internat, die nach wie vor vor allem von deutschem Personal unterrichtet werden. Englisch wird zwar offiziell Unterrichtssprache, aber Deutsch wird weiterhin als Fach unterrichtet und faktisch auch im Unterricht manchmal verwendet. Die Schule wird zu dieser Zeit von 100 bis 200 Schülern und Schülerinnen besucht, die mit dem Missionspersonal Deutsch, mit Personen außerhalb der Mission Tok Pisin, untereinander aber nach wie vor Unserdeutsch sprechen. Zu dieser Zeit kommt es auch vielfach zu Ehen zwischen ehemaligen Schülern und Schülerinnen, die zu einem großen Teil noch im näheren Umfeld der Mission leben. Die aus diesen Beziehungen hervorgegangenen Kinder nun wachsen mit Unserdeutsch auf und tragen so zur Kreolisierung der Varietät bei (Janssen 1932, Volker 1991, Maitz 2016). 28 Auch in den 1980er Jahren hat das in der Schule erworbene „Normaldeutsch“ noch einen hohen Status bei den Unserdeutschsprechern, und die Bereitschaft, Unserdeutsch vor Fremden zu sprechen, ist unter- Nach dem Zweiten Weltkrieg wird Deutsch als Unterrichtsfach 1948 verboten, und das deutsche Missionspersonal wird zunehmend durch amerikanisches und australisches ersetzt. Die erhöhte Mobilität der Sprecher und zunehmende Heiraten außerhalb der Gruppe lösen die Geschlossenheit der Sprechergruppe zunehmend auf. Nach den geänderten australischen Immigrationsgesetzen in den 1960er Jahren werden viele Sprecher australische Staatsbürger, und mit der Unabhängigkeit Papua-Neuguineas 1975 ziehen die meisten Sprecher nach Australien, insbesondere nach Queensland (Volker 1991). Volker (1982, S. 12) schätzt, dass allein in der Gegend um Brisbane um 1980 etwa 1.000 Vunapope- Schüler einschließlich deren Nachfahren leben. Es herrscht eine hohe Identifikation mit dem deutschen Erbe und deutschen Werten. Heute gehen Maitz/ Volker (2017, S. 384ff.) von gut 100 L1-Sprechern des Unserdeutschen aus, die vor allem in Südost-Queensland, im Raum Sydney und im Bismarck-Archipel leben (Maitz 2016, S.227). Die heute verfügbaren Sprachdaten basieren auf einer 1979/ 80 von Craig Volker im Rahmen seiner Masterarbeit (Volker 1982) durchgeführten Erhebung. Eine neue Erhebung fand zudem 2016 statt und ist in Maitz/ König/ Volker (2016) skizziert. Die Audiodaten beider Erhebungen werden im Institut für Deutsche Sprache archiviert. Strukturell ist Unserdeutsch durch die für Kontaktsprachen übliche stark reduzierte Flexion gekennzeichnet. 28 Syntaktisch zeigt sich in vielen Bereichen der Einfluss des Tok Pisin auf das Unserdeutsche. So werden Fragepronomen (außer in Kopulasätzen) nicht aus ihrer Grundposition heraus an den Satzanfang bewegt: schiedlich ausgeprägt. In den von Volker (1982) erhobenen Daten ist immer auch mit mesolektalen Ausdrücken auf dem Kontinuum Unserdeutsch - Normaldeutsch zu rechnen. <?page no="60"?> Stefan Engelberg 60 5.1.3 Ali-Deutsch 1896 beginnt die Steyler Mission auf Neuguinea zu missionieren; die Hauptstation wird zunächst im Berlinhafen-Gebiet nicht weit von der Grenze zum damals niederländischen West-Neuguinea auf der Insel Tumleo angelegt. Eine der Außenstationen der Mission wurde 1901 auf der Nachbarinsel Ali gegründet, wo in den 1970er Jahren Aufnahmen deutscher Varietäten von Peter Mühlhäusler gemacht wurden, die heute im Institut für Deutsche Sprache archiviert sind. Die Steyler Mission missioniert zu Beginn noch in fünf einheimischen Sprachen, ent- (1) du geht wo ? 2 SG gehen wo(hin) ‚Wo gehst Du hin? ‘ (Volker 1989, S. 173) Yu go we? (Tok Pisin) Als VP-finale Direktionalausdrücke fungieren komm (‚her‘) und geht (‚hin‘); die Formen korrespondieren mit den verbalen Prädikaten i kam und i go im Tok Pisin. (2) du holen diese eimer komm 2 SG holen DEM Eimer her ‚Hol diesen Eimer her! ‘ (Volker 1989, S. 172) Yu kisim dispela baket i kam (Tok Pisin) Im pronominalen Bereich wird zwischen inklusivem Plural (Unserdeutsch uns, Tok Pisin yumi) und exklusivem Plural (Unserdeutsch wir, Tok Pisin mipela) unterschieden. Typisch für das Unserdeutsch und das Tok Pisin ist zudem die häufige Verwendung resumptiver Pronomen: (3) alle klein-e mensch die holen diese buch DEF . PL klein- ATTR Mensch 3 PL holen DEM Buch ‚Die Kinder holen das Buch.‘ (Volker 1982, S. 33) Teils am Deutschen, teils am Tok Pisin orientiert sich die Verbstellung. Die Satzklammer tritt manchmal, aber nicht immer auf. Während sie in manchen Fällen optional zu sein scheint (4), wird sie in anderen durch bestimmte Elemente (zum Beispiel selbst) erzwungen (5). (4) du has fi das gefragen; i wird geben du nachher 2. SG PAST für das fragen. PART 1 SG . SBJFUT geben 2. SG nachher ‚Du hast mich danach gefragt; ich werde es Dir nachher geben.‘ (Volker 1989a, S. 181) (5) i hat selbst gemach 1 SG . SBJ PAST selbst machen. PART ‚Ich hab das selbst gemacht.‘ (Volker 1989a, S. 178) An regionalen Varietäten des Deutschen orientiert ist die Bildung des Progressivs: Auxiliar „sein“ + am (+ direktes Objekt) + Verb. (6) i bin am lesen de buch 1 SG . SBJ 1 SG . PRES PROG lesen DEF . SG Buch ‚Ich bin dabei, das Buch zu lesen. (Ich bin das Buch am Lesen.)‘ (Volker 1989a, S. 167) Bezüge zu deutschen regionalen Varietäten (wo) ebenso wie zum Tok Pisin (we), zeigt die Art der Relativsatzeinleiter im Unserdeutschen: (7) de mensch wo is am bauen de haus … DEF . SG Mensch REL 3 SG . PRES PROG bauen DEF . SG Haus ‚der Mensch, der dabei ist, das Haus zu bauen, …‘ (Volker 1982, S. 35) <?page no="61"?> 2. Ozeanien 61 scheidet sich angesichts der Sprachenvielfalt im Missionsgebiet 1901 dann für Deutsch als Missionssprache; lediglich der Religionsunterricht wird in einheimischen Sprachen gegeben. Entsprechend der Sprachenpolitik der Mission und unterstützt durch Subventionen der deutschen Regierung wird Deutsch in den Schulen des Missionsgebiets unterrichtet, zeitweise an über 700 Schüler und Schülerinnen (Mühlhäusler 2012). Nur wenige davon dürften zu fortgeschrittenen Lernern geworden sein. Dafür bildete sich im Arbeitsumfeld der Mission eine reduziertes Deutsch aus, das aufgrund der langen Präsenz deutscher Missionare im Berlinhafengebiet noch lange nach der deutschen Kolonialzeit gesprochen wurde (Mühlhäusler 1977, 1979a, 2012). Die Aufnahmen, auf denen die folgenden Beispiele basieren, wurden von Peter Mühlhäusler und Pater John Z’graggen in den 1970er Jahren gemacht. Zu der Zeit hatte das Ali-Deutsch seine alltagssprachliche Kommunikationsfunktion allerdings bereits verloren (Mühlhäusler 2012). Dass diese Reduktionsvariante ausschließlich für die Kommunikation zwischen Deutschen und Einheimischen verwendet wurde, nicht aber unter Einheimischen verschiedener Muttersprachen, ist nach Mühlhäusler (1977, S. 62, 2012) der Grund dafür, dass die Variante kaum über einen Jargon hinausgekommen ist und damit auch keine stabilen Normen herausgebildet hat. Da Tok Pisin im sprachlichen Umfeld eine wichtige Rolle spielte, hat es einen gewissen Einfluss auf das Ali-Deutsche gehabt. Es entstand so ein Kontinuum an Sprechweisen, an dessen einem Ende ein Tok Pisin mit einzelnen deutschen Relexifizierungen steht (hier: kursiv): (8) bipo mi stap long schneider long schneiderjunge | mi stap long Siaman long Sek long Alexishafen | orait mi wok long schneider wantaim wantok ya | mi schule long Alexishafen long tri jahr ‚Früher war ich beim Schneider, als Schneiderjunge [Lehrling? ]. | Ich war bei den Deutschen in Sek bei Alexishafen. | Gut, ich arbeitete als Schneider mit dem Freund hier. | Ich ging zur Schule in Alexishafen drei Jahre lang.‘ [Sprecher: Heinrich] (Mühlhäusler 1977, S 63) Lexikalische und auch strukturelle Einflüsse des Tok Pisin wie das Fehlen der Kopula oder die häufige Verwendung von bleiben analog zu Tok Pisin i stap lassen sich in den jargonhaften Varianten des Ali-Deutsch häufig beobachten: (9) Siapan [‚Japaner‘] nicht gute mann | wir gehen verstecken | wir alle bleiben Paup | aber nicht gute platz wir bleiben | pulap long moskito [‚voller Moskitos‘] | keine kaikai [‚Essen‘] kein essen [Sprecher: Fritz] (Mühlhäusler 1977, S. 63) Am anderen Ende des Spektrums finden sich schließlich auch fortgeschrittenere Lernervarietäten des Deutschen: (10) drei Ali leute | drei Ali männer | alte männer die schon lange gestorben | sie sind nach Tumleo gegangen und die haben dort in Tumleo die missionare gesehen [Sprecherin: Emma] (Mühlhäusler 1977, S. 64f.) 5.1.4 Deutsche Relexifizierungen bestehender Pidgins A: Tok Pisin Die Entstehung, Entwicklung und Verbreitung des englisch-basierten Tok Pisin ist eng mit deutsch-kolonialen ökonomischen Aktivitäten verknüpft. Die Ursprünge der melanesischen Pidgin-Varietäten liegen in einem englischbasierten Jargon, der sich seit dem frühen 19. Jahrhundert im Südpazifik im Zusammenhang mit dem Walfang und dem Trepang- und Sandelholzhandel vor allem entlang der von Sydney ausgehenden Schiffsrouten verbreitete. Mit der Entstehung großer Plantagen in Queensland wurden dann seit 1863 in großer Zahl Arbeitskräfte von den pazifischen Inseln, v.a. den Neuen Hebriden und den Salomonen nach Queensland verbracht. Dort stabilisierte sich der pazifische Jargon zu einer Frühform des Melanesian Pidgin, dem sogenannten Queensland Canefields English. In Samoa wurde der Arbeitskräftebedarf auf den von <?page no="62"?> Stefan Engelberg 62 Deutschen betriebenen samoanischen Plantagen, v.a. denen der Deutschen Handels- & Plantagengesellschaft, in den 1860er Jahren noch durch kleinere Gruppen von Arbeitern aus den Gilbert-Inseln und den Karolinen gedeckt. Gegen Ende der 1870er Jahre stieg der Bedarf stark an, und Kontraktarbeiter kamen im Rahmen des Arbeiterhandels nun (mehr oder weniger freiwillig) vor allem aus den Neuen Hebriden, den Salomonen und dann auch aus dem Bismarck-Archipel nach Samoa (Mühlhäusler 1978, S. 78f.). Viele der Arbeiter hatten zuvor in Queensland gearbeitet und brachten das Queensland Pidgin mit auf die deutschen Plantagen. Mit der Inbesitznahme Kaiser-Wilhelmslands, des Bismarck-Archipels und der Nördlichen Salomonen durch das Deutsche Reich rekrutierten die deutschen Plantagen auf Samoa dann fast ausschließlich aus dem Bismarck-Archipel und den Nördlichen Salomonen. Unter diesen Bedingungen entwickelte sich auf Samoa das Samoan Plantation Pidgin, eine vom Queenslander Pidgin leicht verschiedene Varietät. Der Einfluss des Deutschen auf dieses Pidgin dürfte noch gering gewesen sein. Eine Handvoll deutscher Lehnwörter im Samoan Plantation Pidgin ist bekannt (Mühlhäusler 1980, S. 176): (11) buter ‚Butter‘, kirke ‚Kirche‘, raus ‚entfernen, wegwerfen‘, tabak ‚Tabak‘ Mit dem Auslaufen ihrer Verträge kehrten die Arbeiter in den Bismarck-Archipel zurück und etablierten dort das Samoan Plantation Pidgin, das sich nun unter dem Einfluss des Deutschen und lokaler Sprachen wie dem Kuanua oder Patpatar zu dem entwickelte, was heute als Tok Pisin bekannt ist und das sich im Rahmen der Arbeitsmigration innerhalb Deutsch- Neuguineas über den Bismarck-Archipel, Kaiser-Wilhelmsland und die Nördlichen Salomonen verbreitete (vgl. Mühlhäusler 1976, 1978, Engelberg/ Stolberg erscheint). 29 Schon 29 Während andere Forscher (Mosel/ Mühlhäusler 1982, Wurm 1988, Siegel 2010, Smith/ Siegel 2013) ebenfalls die Rolle eines Samoan Plantation Pidgin in der Entwicklung des Tok Pisin hervorheben, ist Mühlhäusler von anderen widersprochen worden. Insbesondere Keesing (1988) schätzt die Bedeutung Samoas für die Entwicklung des Tok Pisin gering ein und zu deutscher Kolonialzeit wurde das Tok Pisin zur wichtigsten Verkehrssprache in der südlichen Hälfte des Gouvernements Deutsch- Neuguinea. Der Einfluss des Deutschen auf das Tok Pisin ist vor allem auf lexikalischer Ebene sichtbar, wo deutsche Wörter und Phrasen in Form von Erweiterungen und Relexifizierungen zum Wortschatz des Tok Pisin beigetragen haben. Dies ist in Arbeiten von Peter Mühlhäusler (1979b, 1980, 2001) dargelegt worden, und ist Gegenstand eines im Entstehen begriffenen Internetwörterbuchs am Institut für Deutsche Sprache (Engelberg/ Möhrs/ Stolberg 2017; vgl. auch Engelberg/ Möhrs 2016, Engelberg/ Stolberg erscheint). Einige Beispiele für Wörter deutscher Herkunft sind in (12) mit Angabe ihrer Bedeutung im Tok Pisin aufgeführt; einige davon werden auch im gegenwärtigen Tok Pisin noch verwendet: (12) ananas ‚Ananas‘, balaistip ‚Bleistift‘, bang ‚Sitzbank‘, beten ‚beten‘, binen ‚Biene‘, bros/ brus ‚Brust‘, dumkop ‚Dummkopf‘, esik ‚Essig‘, gever ‚Gewehr‘, gumi ‚Gummi‘, haiden/ haiten ‚Heiden‘, hebsen ‚Erbsen‘, kail ‚Keil‘, kakalak ‚Kakerlake‘, maisel ‚Meißel‘, papelu ‚verflucht‘, popai ‚vorbei‘, rausim ‚entfernen, loswerden, wegjagen‘, sarang ‚Schrank‘, strafe ‚Strafe‘, surik ‚zurück‘, tais ‚Teich‘, tepik ‚Teppich‘ 5.1.5 Deutsche Relexifizierungen bestehender Pidgins B: Pidgin Hawaiian Ein weiteres Beispiel soll zeigen, dass eine partielle Relexifizierung von bestehenden Pidgins durch das Deutsche vermutlich kein Einzelfall war: Auf Hawai’i entwickelten sich sowohl eine englischals auch eine hawaiianisch-basierte Kontaktsprache. Im späten 18. Jahrhundert beginnen pazifische Kontaktvarietäten wie der South Seas Jargon und das Chinese betont die Rolle eines austronesischen Substrats für ein nach seiner Einschätzung in der Mitte des 19. Jahrhunderts relativ einheitliches pazifisches Pidgin. Baker (1993) wiederum fokussiert auf die Rolle von Pidgins, die zwischen australischen Aborginees und europäischen Siedlern in Nordostaustralien gesprochen wurden, für die Entstehung der melanesischen Pidgins. <?page no="63"?> 2. Ozeanien 63 Pidgin English eine Rolle in Hawai’i zu spielen, die mit der Funktion insbesondere Honolulus als Zwischenstopp für Handelsschiffe und Walfänger zusammenhängt. Aus diesen frühen Kontaktsprachen entwickelt sich im 19. Jahrhundert das Hawai’i Pidgin English, das um 1900 zu kreolisieren beginnt (Hawai’i Creole) (Siegel 2010, S. 815, 824f.). Auch die Ursprünge des hawaiianischen Pidgins lassen sich auf maritime Kontexte im späten 18. Jahrhundert zurückführen (Roberts 1995, S. 9ff.). Das Hawaiian Maritime Pidgin (auch: Jargon/ Pidgin Hawaiian) fungiert zunächst in Kontexten des Sandelholzhandels, der Missionierung und des Walfangs (Roberts 1995, S. 16ff.). Ab etwa 1830 etabliert es sich dann auf den Zuckerrohrplantagen, die zunächst noch einen hohen Anteil hawaiianischer Arbeiter aufweisen. Ab den 1850er Jahren werden dann zunehmend Arbeiter zunächst aus China und Mikronesien, dann aus Portugal und anderen europäischen Ländern angeworben. Das Pidgin Hawaiian stabilisiert sich auf den Plantagen in den 1870er Jahren, als es zunehmend zum Kommunikationsmittel zwischen nicht-hawaiianischen Bevölkerungsgruppen wird (Roberts 1995, S. 22ff.). Ab den 1880er Jahren unterliegt es langsam einem stärkeren Einfluss durch das Englische bzw. durch das Hawai’i Pidgin English, teils in Form englischer Relexifizierung, teils in Form von Code-mixing (Roberts 1995, S. 40). Ab dem frühen 20. Jahrhundert wird es dann zunehmend durch das englisch-basierte Pidgin ersetzt (Roberts 1995, Siegel 2010, S. 818). Auf Kaua’i, insbesondere im Umfeld der durch deutsche Siedler geprägten Stadt Lihu’e, wurde Pidgin Hawaiian auch von den deutschen Immigranten auf den Zuckerrohrfeldern verwendet (Roberts 1995, S. 37). Die deutschen Siedler auf Kaua’i hielten im Übrigen bis ins 20. Jahrhundert stark am Deutschen fest. Es wird aber berichtet, dass sie mit anderen ethnischen Gruppen „in einer Art von deutsch-hawaiisch-englischem Pidgin“ sprachen (Schweizer 1982, S. 172). 30 Man 30 Das dürfte vor allem für die Deutschen gelten, die außerhalb der sehr geschlossenen deutschen Siedlung in Lihu’e lebten. kann dies vermutlich als einen lexikalischen Einfluss des Deutschen auf die lokale Varietät des Pidgin Hawaiian deuten. 31 Dies wäre auch insofern nicht unplausibel, als - so Schweizer (1982, S. 159ff.) und Hörmann (1931/ 1989, S. 51) - die Deutschen auf Kaua’i ab den späten 1880er Jahren in zunehmendem Maße als Aufseher auf den Plantagen eingesetzt wurden und damit eine wichtige kommunikative Mittlerrolle zwischen den Arbeitern und den Plantagenbesitzern einnahmen. Portugiesen fungierten ebenfalls oft als Aufseher auf den Plantagen (Roberts 1995, S. 37), und Roberts (1995, S. 44) verweist darauf, dass ein entsprechender Einfluss des Portugiesischen auf das Pidgin Hawaiian attestiert ist. 5.2 Sprachlagengefüge: Regionaler Standard, Umgangssprache, Dialekte Die hinsichtlich der deutschen Einwanderung nach Ozeanien heterogene historische und geographische Situation spiegelt sich in einem ebenso heterogenen Sprachlagengefüge wider. In keiner der kleinen deutschen Sprachinseln im Südpazifik hat sich ein spezifischer regionaler Standard herausgebildet. Sehr wohl gibt es aber eine Reihe umgangssprachlicher und dialektaler Besonderheiten zu konstatieren. In den meisten Siedlungsgebieten der deutschsprachigen Bevölkerung fand ein intensiver Sprachkontakt mit dem Englischen statt. Das führte zu Erscheinungen, die zum Teil im Bereich von Sprachattrition zu verorten sind (s. Abschnitt 6.2), zum Teil aber auch auf eine beginnende Herausbildung von siedlerdeutschen Varietäten hindeutet (s. Abschnitt 5.3). Die Einwanderung aus Deutschland brachte Migranten aus den verschiedensten deutschen Dialektgebieten nach Ozeanien. Während dort, wo Siedler aus verschiedenen deutschsprachigen Regionen zusammentrafen, wohl von dem zu erwartenden Dialektausgleich auszugehen ist, blieben in anderen Orten die Dialekte und regionaldeutsche Sprachvarietäten präsent. So wurde in Nelson 31 Eine objektsprachliche Evidenz für diesen Einfluss scheint allerdings nicht dokumentiert zu sein. <?page no="64"?> Stefan Engelberg 64 auf der neuseeländischen Südinsel Hochdeutsch zwar im Schulunterricht und in der Kirche verwendet, im Alltag herrschte jedoch Niederdeutsch vor (Bade 1996, S. 201). Ganz ähnlich gestaltete sich das Sprachgefüge in Lihu’e (Hawai’i), das vor allem von Siedlern aus dem nordwestdeutschen Sprachraum bewohnt wurde (Hörmann 1982, S. 78). In Puhoi, im neuseeländischen Norden, das vom damals österreichisch-ungarischen Egerland aus in den 1860er/ 70er Jahren besiedelt wurde (Williams 1993), findet sich das von den Migranten mitgebrachte egerländische Nordbairisch vereinzelt noch im frühen 21. Jh. (Droescher 1974, S. 201, Bade 1996, S. 201, Heller 2005, S. 32, Wildfeuer 2017, S. 29). In Allenton in der neuseeländischen Provinz Otago wiederum lebten viele polnischstämmige Deutsche, die Deutsch und Polnisch im Alltag und im kirchlichen Umfeld verwendeten (Morris 1993, S. 74); ähnlich war die Situation auch im Jackson’s Bay Settlement an der Westküste der Südinsel (Bade 1993d, S. 85). In den deutsch-ozeanischen Kolonien waren dialektale Gewichtungen in den Missionen zu beobachten. Abhängig auch von der Situierung des Missionshauptsitzes in Deutschland konzentrierten sich Sprecher bestimmter Dialekte oder regionaler Varietäten in den ozeanischen Missionsgebieten. Dies hatte durchaus einen Einfluss auf die von den Missionaren vorgenommenen phonologischen Beschreibungen der lokalen Sprachen und auf die Entwicklung orthographischer Systeme für diese Sprachen. Das ist verschiedentlich beobachtet (zum Beispiel Dempwolff 1905, S. 193), aber nicht systematisch untersucht worden. 5.3 Sprachkontakterscheinungen In den verschiedenen historischen Kontexten der Migration von Deutschsprachigen nach Ozeanien ist es zu einer Vielzahl von Sprachkontakterscheinungen gekommen: 32 Zugrundeliegende Karte: F. A. Brockhaus’ Geogr.artist. Anstalt (1894-1896): Kaiser-Wilhelmsland, Bismarck-Archipel, Salomon- und Marshall-Inseln. In Autorenkollektiv (Hrg.), Brockhaus’ Konversationslexikon (14. Aufl.). Leipzig, Berlin, Wien: F. A. Brockhaus. 1. Es sind vereinzelt deutschbasierte Pidgin- und Kreolsprachen entstanden, und Pidgin- und Kreolsprachen auf anderer lexikalischer Basis sind partiell Deutsch relexifiziert worden (s. Abschnitt 5.1). 2. In Ansätzen ist es vermutlich zur Herausbildung deutscher Siedlervarietäten gekommen (s. Abschnitt 5.4), ein Phänomen, das über die verfügbaren historischen Quellen nicht immer klar von Vorgängen der Sprachattrition unterschieden werden kann (s. Abschnitt 6.2). 3. In viele Sprachen Ozeaniens sind - vor allem während der deutschen Kolonialzeit - in moderatem Umfang deutsche Wörter entlehnt worden. Dort wo der Sprachkontakt mit dem Deutschen intensiver war, sind in einzelnen Sprachen bis zu 100 Lehnwörter aus dem Deutschen festzustellen; in vielen anderen Sprachen sind es dagegen nur eine Handvoll (vgl. dazu Engelberg 2006a, 2006b, Stolberg 2012, 2015). Abb. 9 32 und 10 geben einen Eindruck vom Spektrum der Entlehnungen. Außerhalb der einstmals deutsch-kolonialen Gebiete tauchen eher vereinzelt und mit meist geringer Stabilität deutsche Lehnwörter in den Sprachen Ozeaniens auf, etwa haneseatika (‚hanseatisch‘) im Hawaiianischen oder aihanapana (‚Eisenbahn‘) in einem maorischen Text (Engelberg 2006a, S. 5). 4. Auch die lokalen deutschen Varietäten haben aus den einheimischen Sprachen entlehnt. Das ist allerdings nur schlecht dokumentiert. Im Deutschen auf Samoa finden sich neben vielen anderen folgende samoanische Lehnwörter: 33 (13) Aiga (‚Familie‘), Alii Silii (‚oberster (samoanischer) Herrscher‘), Faamasino (‚Dorfrichter‘), faa Samoa (‚nach samoanischer Art‘), Fale tele/ Fale tali malo (‚Empfangshaus‘), Fautasi (‚langes Kanu für Rennen‘), Feilaitusi (‚Dorfschreiber‘), 33 Die Lehnwörter entstammen der Samoanischen Zeitung (1901-1915), Buchpublikationen wie Hanssen (1916/ 2016) oder Radlauer (1910) und verschiedenen Archivalien; vgl. auch Stolberg (2013, S. 339). <?page no="65"?> 2. Ozeanien 65 Fitafita (‚Polizeitruppe, Polizeisoldat‘), Fono (‚Versammlung, Empfang‘), Komisi (‚Kommissar, Beauftragter‘), Leoleo (‚Polizist‘), Malaga (‚Reise‘), Malo (‚oberster Rat/ beratendes Gremium‘), Matai (‚Familienoberhaupt‘), Pule (‚Autorität, Macht‘), Pulenu’u (‚Bürgermeister, Dorfschulze‘), Savali (‚Botschafter‘), Siapo (‚Stoff/ Matte aus Rindenbast‘), Siva (ein ritueller Tanz), Taitai-Fitafita (‚Polizeichef‘), Talaiga (‚Ankündigung, Verlautbarung‘), Taupou (‚zeremonielle, junge Gastgeberin‘, „Dorfjungfrau“), Tofiga (‚Ernennung, Erbe‘), Tuaifaiva (‚Feldwebel in der Polizeitruppe‘), Tusi (‚Register, Buch, Brief‘), Vaega (‚Sektion, Bezirk‘). Der Schwerpunkt des lexikalischen Lehnguts liegt dabei auf Wörtern zur Bezeichnung von Spezifika der samoanischen Kultur. Auch das Deutsch der deutschsprachigen Migranten in Hawai’i in den Jahrzehnten um 1900 enthielt Lehnwörter aus der polynesischen Kontaktsprache, dem Hawaiianischen, zum Beispiel: (14) Kanaka (‚einheimischer Hawaiianer‘), Kilipaka oder Lewalewa (‚Bewohner anderer südpazifischer Inseln‘), Una (‚Aufseher‘), Ukapau (‚Arbeitsauftrag, Vertrag‘) (Hörmann 1931/ 1989, S. 50f.). 5. Eine deutlich sichtbare sprachliche Konsequenz des Kolonialismus ist die toponymische Gestaltung des kolonial beanspruchten Raumes. Über verschiedene Arten der symbolischen Manipulation von Raum, insbesondere über Benennungen, werden Orte von Kolonialmächten geschaffen und vereinnahmt (vgl. zum sogenannten „place-making“ Warnke 2013, Engelberg/ Stolz 2016). Dies kam auch in den deutschen Kolonialgebieten im Südpazifik zum Ausdruck. Stolz & Warnke (2015) haben den Deutschen Kolonialatlas nach Benennungen mit mindestens einem deutschen Bestandteil durchforstet und listen im Anhang ihrer Publikation 692 deutschbasierte Toponyme in den beiden deutschen Kolonien im Südpazifik auf, zum Beispiel: (15) Angriffshafen, Elisabeth-Bucht, Gazelle- Halbinsel, Kaiserin Augusta-Fluss, Neu- Lauenburg, Nord-Tochter, Sisi-Inseln, Steinerne Säge Natürlich sind die Benennungsvorgänge in ihrer politischen Dimension nur die eine Seite der Betrachtung toponymischer Prozesse, auf der anderen Seiten gilt es festzustellen, inwieweit Deutsche und Ozeanier diese Namen überhaupt gebraucht haben; hier sind oft Diskrepanzen festzustellen (s. dazu Engelberg 2016). Erwartungsgemäß sind zudem viele der von den Deutschen gesetzten Toponyme nach dem Ersten Weltkrieg von den folgenden Kolonialmächten durch andere Ortsnamen ersetzt worden (s. die Beispiele in Volker 2017, S. 187f.). Letzteres gilt zum Teil auch für die deutschen Ortsnamen in Neuseeland (s.o. Abb. 4). 5.4 Code-Switching, Sprachmischung Dass Sprachen miteinander gemischt würden, insbesondere Deutsch mit Englisch oder Pidgin-Englisch, ist bezüglich der deutschstämmigen Sprecher in Ozeanien häufig bemerkt und meist bemängelt worden. In einem Reisebericht heißt es zu einem deutschen Händler, der auf Nukumanu lebte, einem abgelegenen Atoll am Rande der nordöstlichen Salomonen: „Wir ruderten an Land. Der Händler Weiß kam uns entgegen; aber zunächst verstanden wir uns nicht recht. Er sprach etwas sehr Merkwürdiges. Es war Deutsch und Pidgin und ganz Fremdes durcheinander, und erst allmählich gewann das Deutsche wieder die Oberhand und das weiche Badisch klang durch den Waterkantton durch. […] Ein kleiner Bub lief uns hinterher. Ein Mischlingskind. Das war das Streitobjekt zwischen dem Verwalter auf den Mortlocksinseln und dem Händler Weiß. Wir sagten ihm: Der auf den Mortlocks will seinen Jungen wieder haben. Aber Weiß tat so, als hörte er’s nicht. Er antwortete: „Jo, er isch ä feins fellow piccanini! “ und sprach gleich davon, daß er uns Kokosnüsse holen wollte.“ (Jacques 1922, S. 158f.) Bezüglich der lange in Neuseeland ansässigen deutschen Migranten des 20. Jahrhunderts bemerkt Bönisch-Brednich (2002, S. 175): <?page no="66"?> Stefan Engelberg 66 „Germans who have lived in New Zealand a long time often develop a slight accent in their German and also tend to mix the languages.” Insbesondere in Bezug auf das deutsch-koloniale Samoa wird oft von dem starken Einfluss des Englischen auf das Deutsche berichtet: „Daß aber die englische Sprache vorherrschend blieb und auch unser Deutsch hier stark mit englischen Brocken vermengt wird, ist fast die ausschließliche Schuld der alten Ansiedler selbst, die sich über den Mangel an deutscher Art beklagen.“ (Zieschank 1918, S. 57) Da die berichteten Sprachmischungen meist Kennzeichen mündlichen Sprachgebrauchs sind, sind objektsprachliche Daten schwer zu erhalten. Bezüglich der im Folgenden wiedergegebenen Sprachkontaktdaten ist dabei nicht leicht zu sagen, inwiefern die Kontaktphänomene lediglich das Resultat individueller Sprachbiographien oder Sprachattrition waren oder ob sie an bestimmten Orten bereits sich stabilisierende Kennzeichen lokaler Sprechergemeinschaften wurden. In Ozeanien ist es vor allem das deutsch-koloniale Samoa, das Indizien für die Entwicklung zu einem Samoanischen Siedlerdeutsch bietet. 34 Die wenigen schriftsprachlichen Dokumente deuten auf einen starken lexikalischen Einfluss aus dem Englischen und einen etwas geringeren aus dem Samoanischen (vgl. Engelberg 2012, S. 23f., Stolberg 2013). Aber auch strukturelle Einflüsse aus dem Englischen sind zu beobachten, wie der folgende Leserbrief in der Samoanischen Zeitung (1901-1915, 25. Mai 1901) zeigt: „Werthester Herr Redakteur! […] In meiner Meinung eine Minimum Quantitaet von Rohmaterialien fuer Handwerker sowie Kartoffeln, Mehl, Zwiebeln, Zucker, etc. von sage ¼ Tonne oder eben mehr sollte frei eingefuehrt werden duerfen, dafuer aber eine Bycicle-Steuer, Luxuswagen oder Rad- Steuer und Luxus-Pferde-Steuer oder Lizens erhoben […]. Ferner bin ich der Meinung, dass die Einwohner der Perle der Suedsee 34 Zu den Grundlagen der Entstehung eines Siedlerdeutsch auf Samoa vgl. auch Mühlhäusler (1979a, S. 76ff). nicht nothwendig haben „unter die Linden“ um Zuschuss betteln zu gehen, sondern wenn die Regierung fuer Samoa etwas thun will, dann soll eine Anleihe ausgeschrieben werden […], wofuer dann die Colonisten und wenn nothwendig die ganzen Actives der Interessen regelmaessig zu bezahlen, und die hiesigen Einwohner oder deren Vertreter koennen bestimmen wie das Geld verbraucht, und die Interessen aufgebraucht werden. […]“ Der Präpositionsgebrauch (in meiner Meinung analog zu in my opinion), idiomatische Ausdrücke (sage analog zu let’s say), die Verbstellung (Abweichung von V2) und andere Phänomene lassen englische Strukturen durchscheinen. Dazu kommen Lehnwörter und Lehnbedeutungen, in dem Leserbrief etwa Quantität (analog zu quantity anstatt deutsch Menge), Bycicle, Actives, Interessen (analog zu engl. interests) etc. Englische Entlehnungen lassen sich zahlreich auch in syntaktisch ansonsten unauffälligen Texten deutscher Siedler finden, zum Beispiel (entnommen aus verschiedenen Archivalien; vgl. auch Stolberg 2013, S. 337f.): (16) Nativehaeuser, Accidente (Pl.), Chewinggoom, Natives, die Beach, geboycottet, pullst du, plenty Regen, hat am meisten Credit, Schweinefenz Indikatoren für den starken englischen Einfluss auf das Samoa-Deutsche sind auch eine Reihe den Sprachgebrauch der Deutschen persiflierende Leserbriefe in der Samoanischen Zeitung: „Geehrter Mister Editor! Weil Sie mir sagten, Sie waeren motsch obleitscht, wenn ich Ihnen meine Opinion gaebe von wegen was ich ueber Samoa denke, so kann ich auch nicht umhin es Ihnen zu vertellen. Na, Sie werden ja schon einiges gehoert haben, wie’s mer ergangen ist; aber das muss ich sagen, das Land leike ich. Nun hoeren Sie, wie ich da an Schor komme, wen miet ich da als meinen old Frend Schnattge. […]“ (Samoanische Zeitung 1901-1915, 18. Januar 1902) Schließlich hat auch das Samoanische einen sichtbaren lexikalischen Einfluss im samoani- <?page no="67"?> 2. Ozeanien 67 schen Deutsch hinterlassen, wie in Abschnitt 5.3 schon gezeigt wurde und wie es auch in dem folgenden Brief eines Pflanzers an den Gouverneur von Samoa ersichtlich wird: „Obwohl Ulutogia nur klein ist (etwas 10 matais), koennte vielleicht die Belohnung in Gestalt einer tofiga für Ulutogia gewaehrt werden. Sagapolu (Fiamē) strebt schon lange nach einer solchen. Wenn er pulenuu wuerde in Ulutogia, waere man ihn in Lotofaga, wo er faamasino werden wollte, los. Uebrigens hat er in Ulutogia gezeigt, dass er guten Willen & pule hat.“ [Anonym 1905] Vor allem mit Kulturspezifika Samoas verbundene samoanischen Lehnwörter finden sich hier (zu deren Bedeutung s. 5.3). Ähnlich in dem folgenden Artikel aus der Samoanischen Zeitung (1901-1915, 12. Oktober 1901), in dem sich der Schreiber beklagt, dass mit Deutschen verheiratete samoanische Frauen ‚auf samoanische Art die Autorität in Familienangelegenheiten‘ beanspruchen: „[…] Wie verlautet wird der Gouverneur eine Verordnung erlassen, die einigen streitsuechtigen Samoanerinnen, welche legitime Ehefrauen von Fremden sind, das Handwerk legen soll. Der Zustand, dass jemand die rechtsstellung einer weissen Frau hat und daneben dann noch faa Samoa die Pule in Aiga-Sachen behaelt, ist unseres Erachtens eine Zwittererscheinung. Entweder Eingeborener oder Fremder. […]“ 6 Sprachgebrauch und -kompetenz 6.1 Allgemeines Systematische Untersuchungen zum Sprachgebrauch und zur Sprachkompetenz von Deutschsprachigen in Ozeanien zwischen der Mitte des 19. und des 20. Jahrhunderts hat es nicht gegeben. Zu berücksichtigen ist auch, dass deutschsprachige Migranten in sehr unterschiedlichen sozialen Situationen lebten. Da waren (1.) deutsche Händler, die zum Teil über Jahrzehnte auf isolierten Inseln mit wenig Kontakt zu anderen Europäern wohnten, (2.) Deutschsprachige, die sich in eine englischsprachige oder vielsprachige Gesellschaft eingliederten, etwa in den Großstädten Neuseelands oder den kleinen europäischen Gemeinschaften der südpazifischen Inseln, (3.) Deutsche, die eine eigene Sprachgemeinschaft in einer Gesellschaft bildeten, die regen Austausch mit Sprechern anderer Sprachen bedingte, wie die deutsche Gemeinschaft in Apia (Samoa), und (4.) Deutschsprachige, die eine Zeit lang relativ geschlossene Gemeinschaften bildeten, wie zum Beispiel die Egerländer in Puhoi (Neuseeland). Dazu kommt natürlich der Aspekt der Aufenthaltsdauer: In manchen Gebieten, wie etwa in Deutsch-Neuguinea, waren die meisten Deutschsprachigen Migranten der ersten Generation, während in anderen Gebieten (Hawai’i, Neuseeland) auch Sprecher in dritter und vierter Generation zu berücksichtigen sind. Angesichts dieser komplexen Situation kann im Folgenden also nur auf einzelne Aspekte der Sprachkompetenz und des Sprachgebrauchs eingegangen werden 6.2 Sprachkompetenz in den verschiedenen Sprachen und Varietäten Hinsichtlich der Beurteilung der Sprachkompetenz im Deutschen, sollen hier drei Aspekte kurz angesprochen werden, (1.) die Etablierung des Deutschen über die erste Einwanderer-Generation hinaus, (2.) Interferenzen und Fälle zunehmender Sprachattrition und (3.) die Kenntnisse des Deutschen als Zweitbzw. Fremdsprache. 1. Generationenübergreifende Etablierung des Deutschen: Soweit die historischen Quellen eine Einschätzung ermöglichen, scheint es, dass das Sprachverhalten und die Sprachkenntnisse in den kleinen deutschsprachigen Gemeinschaften dem bekannten Drei-Generationen-Muster in Migrationskontexten (s. zum Beispiel Riehl 2014, S. 72) folgten, wie hier am Beispiel von Lihu’e (Hawai’i) gezeigt werden soll, wo die Migranten der ersten Generation oft nur ein rudimentäres Englisch sprachen: „Those men and women who have lived in Lihue since their arrival in Hawaii have learned neither English nor Hawaiian. Of course, it was not necessary for them to learn, but <?page no="68"?> Stefan Engelberg 68 neither were they interested. The English spoken by a few of the old men, even if they worked themselves up to higher positions, can be described as nothing better than the simplest pidgin English.“ (Hörmann 1931/ 1989, S. 72f.) Aber selbst hier, in der größten deutschsprachigen Siedlung Ozeaniens, war die zweite Einwanderergeneration bereits vollständig zweisprachig: „The children of the German, Scandinavian, and French settlers speak just as good English as do the children of the Americans and British. […] The Russians and the Germans are the only groups that were able to retain their linguistic individuality for any length of time.“ (Reinicke 1969, S. 140) Die Deutschkenntnisse der Sprecher der zweiten Generation sind noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts in Hawai’i belegt: „There are still graduates of Lihu’e school who, though born on Kaua’i, speak an irreproachable German, lacking the pronunciation so prevalent among German-Americans.“ (Hörmann 1982, S. 79) Von der dritten Generation wird Deutsch noch gut verstanden, die aktiven Fähigkeiten sind allerdings schon stark eingeschränkt: „Nearly all the members of the second generation who lived on Kauai still speak an excellent German. Many of the members of the third generation can understand the German which their parents speak, but only a handful can speak the language themselves.“ (Hörmann 1931/ 1989, S. 79) In einigen wenigen deutschen Sprachinseln wurde das Deutsche zum Teil auch noch in die vierte und fünfte Generation getragen, zum Beispiel in Puhoi in Neuseeland (Bade 1996, S. 201); Heller (2005: 32) zählt hier 2003 noch 11 Sprecher des Egerländer Dialekts; auch 2018 gibt es noch einzelne betagte Sprecher. Im Allgemeinen waren aber die Sprachgemeinschaften zu klein und in zu starker Interaktion mit dem englischsprachigen Umfeld, als dass sich dauerhaft deutsche Sprachinseln 35 Attrition sei hier nicht in einem strengen Sinne als völliger Verlust von Teilen muttersprachlicher Sprachkompetenz verstanden (vgl. dazu die Diskussion in hätten etablieren können. Zu berücksichtigen ist dabei auch, dass der Erste Weltkrieg für die Deutschsprachigen in allen Teilen Ozeanien eine Zäsur darstellte, entweder indem Deutsche ausgewiesen wurden oder die deutsche Sprache aus öffentlichen Kontexten verbannt wurde. 2. Interferenzen und Sprachattrition: Neben Deutschsprechern, die in ständigem Kontakt mit anderen Deutschsprechern standen oder in deutschsprachigen Gemeinschaften lebten, gab es natürlich auch solche, bei denen das nicht der Fall war. Viele davon hatten sich in den verschiedenen Arealen des Südpazifiks in ein englischsprachiges Umfeld integriert und zeigten im Laufe der Zeit die üblichen Zeichen von Sprachattrition 35 , zum Beispiel idiomatische Interferenzen wie er ist wieder besser (< he is better again) statt es geht ihm wieder besser, Präpositionswahlfehler wie im Anfang (< in the beginning) statt am Anfang, Lehnbedeutungen wie in am Kopf geschlagen (< hit his head) statt am Kopf getroffen/ an den Kopf getreten oder Wortstellungsfehler wie ich möchte gerne das wissen. Die Beispiele entstammen einem Tagebuch und einem Brief deutschsprachiger Migranten in Neuseeland aus den Jahren 1875 (17) bzw. 1976 (18): (17) Ich hätte eigentlich gleich im Anfang schreiben sollen […]. / Zuweilen thue ich auch das Kochen. / Nach der Kirche ritt ich noch nach Tante Wilkens, um zu sehen, was ihr kleiner Junge machte, der ist noch wieder besser, ja heute soll er schlimmer sein. / Ich mußte sogar die Fence heil machen wo die Schweine durch gebrochen waren. / Ernst Jürgens wurde Sonnabend vor 8 Tagen von einem Pferd geschlagen am Kopf, es war sehr gefährlich, er ist aber jetzt ziemlich besser. (Dierks 1856-1932) (18) Hello Stephe! Just gobbled up a magnifique Lima beans with speck and Nudeln und viel Paprika und Chili und […] Nudeln in verschiedenen Farben. Meine süüsse Gisela hat es zubereited und verwöhnt mich als ob wir schon seit Jahrzehnten Schmid 2011), sondern lediglich als starke und stabile Tendenz zu bestimmten grammatischen und lexikalischen Interferenzen aus der Zweitsprache. <?page no="69"?> 2. Ozeanien 69 ein treu deutsches Ehepaar sind, nein ist ja garnicht so, sie ist eine sehr freie “liberated” Zeitgenössin […] Kommst Du eigentlich noch nach hier, ich möchte gerne das wissen, denn ich will wissen ob ich das Zelt abbreche sonst verfault es nämlich, ich muss es auch mit Kupfer Naphtalene bespritzen, kosted bestimmt 10 Dollars und macht viel Arbeit. […] (Anonym 1976) Auch in den deutschen Sprachinseln sind - wie in Abschnitt 5.4 schon angesprochen - Interferenzen vor allem aus der Kontaktsprache Englisch zu beobachten. Der nordbairische Dialekt der Egerländer im neuseeländischen Puhoi zeigt in der zweiten Hälfte des 20. Jhs. bei einiger interindividueller Varianz neben lexikalischen Entlehnungen wie in (18) auch moderate morphologische und syntaktische Einflüsse aus dem Englischen (Droescher 1974, S. 204f, Wildfeuer 2017, S.140ff). (19) middle in da nocht / und äitza wolln sie wieda a wharf baun / du kuast huam gäih sooner wäi die andern (‚du kannst früher als die anderen heim gehen‘) / plenty reng (‚genug Regen‘) / der is oba later, später herkumma. (Wildfeuer 2017, S. 153, 195) Gegenüber der ursprünglichen Staaber Ortsmundart des Egerländischen weist dessen Puhoier Variante auch deutliche lautliche Interferenzen aus dem Englischen auf: unter anderem treten stimmhafte Plosive auf, insbesondere auch im Auslaut, das / r/ wird retroflex realisiert und Monophthonge zeigen analog zu englischen Vokalen Diphthongierungstendenzen (Droescher 1974, S. 210f.). 36 3. Deutschkenntnisse als Folge lokalen Deutschunterrichts: In Abschnitt 4.2 wurde bezüglich des Schulsystems in den ozeanischen Kolonien des Kaiserreichs angemerkt, dass nur ein kleiner Teil der Schüler und Schülerinnen Deutschunterricht über längere Zeit auf hinlänglich hohem Niveau erhalten hat. Eine systematische Evaluation von Unterrichtserfolgen hat nicht stattgefunden, aber gelegentliche Inspektionsreisen deutscher 36 Kurze Sprachproben sind auf http: / / puhoidia lect.net.nz/ index.html verfügbar. Ein Archiv von Beamter zu einzelnen Schulen des Kolonialgebiets waren durchaus üblich. So zitiert Linckens (1911, S. 30) ein Schreiben des Bezirksamtmanns Berghausen anlässlich eines Besuchs der Schule auf Jaluit (Marshall-Inseln): „Kaiserliches Bezirksamt. J a l u i t , den 14. Februar 1910. I.-Nr. 136/ 10. Euer Hochwürden möchte ich hiermit nochmals meine vollste Anerkennung der ausgezeichneten Kenntnisse Ihrer Missionsschüler aussprechen, von der ich Samstag vormittag im Unterricht persönlich mich zu überzeugen Gelegenheit hatte. Die Schüler beherrschen in erfreulicher Weise die deutsche Sprache. [...] Ihr sehr ergebener B e r g h a u s e n Kaiserlicher Bezirksamtmann.“ Neben solchen kurzen Inspektionsberichten sind viele Selbsteinschätzungen der Missionare bezüglich der Erfolge ihres Unterrichts erhalten. Im Rahmen einer großen 1911 zum Schulwesen in den Kolonien durchgeführten Erhebung berichten die Missionen zum Teil selbst über Erfolge des Deutschunterrichts. Die Schulkinder, so die Liebenzeller Mission auf Ponape (Karolinen), „verstehen Deutsch“. Die Hiltruper Mission im Bismarck-Archipel vermeldet, die Schüler und Schülerinnen „können den Inhalt der von der Regierung an die Eingeborenen gerichteten Schreiben verstehen und den übrigen mitteilen, können selbst Schreiben an die Regierung richten und unterhalten Briefwechsel.“ Von Arno (Marshallinseln) heißt es, die meisten entlassenen Schüler seien „schon wegen der guten Kenntnisse der deutschen Sprache auf den hier in der Marshall-Gruppe verkehrenden Kauffarteischiffen gern gesehene Matrosen“, und die Regierungsschule auf Saipan (Marianen) rühmt sich: „Die Schüler können sich in deutscher Sprache verständigen, beherrschen die Schreib- und Druckschrift […]“ (Schlunk 1914, S. 268ff.). Ähnliche Darstellungen finden sich vielfach auch in den regelmäßig Audioaufnahmen des Puhoi-Deutschen ist am Institut für Deutsche Sprache im Aufbau begriffen. <?page no="70"?> Stefan Engelberg 70 publizierten Berichten der einzelnen Missionen. Als eigenwilliger, zeittypischer Indikator für erfolgreichen Deutschunterricht wurde in unzähligen zeitgenössischen Publikationen das Rezitieren deutscher Gedichte wie Uhlands „Ich hatt einen Kameraden“ (Koror, Palauinseln, Olkiewicz 1912, S. 77) oder Schillers „Graf von Habsburg“ (Jaluit, Marshall-Inseln, Linckens 1911, S. 30) angeführt und vor allem das Vorsingen deutscher Lieder wie die „Wacht am Rhein“ (Neubritannien, Bismarck- Archipel, Wilda 1903, S. 198) oder „Ihr Hirten erwachet“ (Yap, Karolinen, Theresia 1910, S. 39). Wie solche Indikatoren auch zu verstehen sein könnten, wird in einigen kritischen Kommentaren deutlich, etwa in Riedel (1938, S. 47), der in Bezug auf Samoa schreibt: Es „kam praktisch bei diesem Unterricht nicht viel heraus“, aber im „Auswendiglernen von Sprüchen wurde Erstaunliches erreicht.“ Ähnlich bemerkt Sarfert (1920, S. 421) zum Deutschunterricht auf Kosrae (Karolinen): „Den deutschen Besucher überrascht der Vortrag von vaterländischen Liedern aus den gesanglich gut veranlagten Eingeborenenkehlen, wenn ihr Inhalt den Sängern wohl auch wenig verständlich bleibt.“ Insgesamt dürften die Deutschkenntnisse bei denjenigen, die nicht über die Schulzeit hinaus regelmäßigen Kontakt mit Deutschsprachigen gehabt haben, rudimentär geblieben sein. Dort, wo ein solcher Kontakt gegeben war, haben sich Deutschkenntnisse allerdings oft lange gehalten. So zeigen Berichte aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, dass es in vielen Gebieten der ehemaligen deutschen Kolonien noch eine Anzahl älterer Menschen gab, die Deutsch sprachen, etwa auf Yap (westliche Karolinen) (Anonym 1946), Nukuoro (südliche Karolinen) (Carroll 1965) und anderen Inseln Mikronesiens (Trifonovitch 1971, Christmann 1986). 6.3 Sprachgebrauch: Domänen, Sprecherkonstellationen, Sprechertypen Die Frage nach den gesellschaftlichen Bereichen, in denen Deutsch verwendet wurde, muss berücksichtigen, dass Deutsch in Ozeanien grundsätzlich in mehrsprachigen Umgebungen auftrat. Ihre Beantwortung setzt daher sinnvollerweise eine funktionale Rekonstruktion des jeweiligen Sprachengefüges voraus. Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass Deutsch überall in Ozeanien Minoritätensprache war, deren Status aber zumindest hinsichtlich zweier Parameter zu differenzieren ist. Zum einen war es in manchen Gebieten die Sprache der herrschenden Minorität (Deutsch- Neuguinea, Samoa), während es das in an anderen Gebieten nicht war (Neuseeland, Tonga, Hawai’i). Zum anderen ist es zum Teil die Sprache deutscher (bzw. schweizerischer oder österreichischer) Migranten, zum Teil die Zweitsprache oder die pidginisierte oder kreolisierte Varietät einheimischer Ozeanier. Angesichts dieser Komplexitäten sollen hier nur kurz drei exemplarische Rekonstruktionen versucht werden. 1. Upolu (Samoa)/ Sprachen: Deutsch, Englisch, Siedlerdeutsch, Samoanisch, Samoan Plantation Pidgin. Ein Angestellter der Deutschen Handels- und Plantagengesellschaft im deutsch-kolonialen Samoa des frühen 20. Jahrhunderts wird in Kontakten mit anderen europäischen Deutschsprechern eine vom Englischen beeinflusste deutsche Siedlervarietät gesprochen haben, in formaleren oder schriftsprachlichen Kontext eher zum Standarddeutschen geneigt haben, mit anderen Europäern und Amerikanern Englisch gesprochen haben, mit Plantagenarbeitern Plantation Pidgin und mit Samoanern je nach persönlichen Fähigkeiten und Präferenzen der Gesprächspartner ein Lernersamoanisch, (Siedler-)Deutsch, Englisch oder pidginisierte Formen des Englischen. 2. Vunapope (Bismarck-Archipel)/ Sprachen: Deutsch, Tok Pisin, Unserdeutsch, Kuanua, Englisch. Eine einheimische Absolventin der Herz-Jesu-Schule für „Halbweiße“ wird Ende der 1920er Jahre mit anderen Absolventen und eventuell innerhalb ihrer Familie Unserdeutsch gesprochen haben, mit den verbliebenen deutschen Missionaren eine fortgeschrittene Lernervarietät des Standarddeutschen, mit einheimischen Ozeaniern Tok Pisin oder <?page no="71"?> 2. Ozeanien 71 in Einzelfällen auch Kuanua oder eine andere lokale Sprache, mit Europäern in wirtschaftlichen Kontexten Tok Pisin und zum Teil Englisch und mit dem australischen Schulpersonal Englisch. 3. Lihu’e (Hawai’i)/ Sprachen: Deutsch, Englisch, Hawaiian Pidgin English, Pidgin Hawaiian. Ein junger deutschsprachiger Plantagenarbeiter in Lihu’e in den 1890ern wird im häuslichen Umfeld und in weiten Teilen des kleinstädtischen Lebens Deutsch gesprochen haben, in Kontakten mit Europäern außerhalb dieses Umfelds ein (vielleicht recht rudimentäres) Lernerenglisch und auf den Plantagen Pidgin Hawaiian, Hawaiian Pidgin English oder Übergangsformen zwischen beiden. Gegen Ende des 20. Jahrhundert sind alle der hier geschilderten Sprachinseln verschwunden. Die verbliebenen Unserdeutsch-Sprecher leben fast alle in Australien; in Hawai’i und Neuseeland führt die Einwanderung von Deutschsprechern in jüngerer Zeit nur in geringem Maße zu Siedlungsschwerpunkten, in denen Deutsch eine wesentliche Rolle spielt. Die historischen Sprachinseln aus dem 19./ 20. Jahrhundert haben vereinzelt eine folkloristisch geprägte Heritage-Kultur hinterlassen, in der das Deutsche nur noch in Form einzelner Lehnwörter im Englischen aufscheint, wie der folgenden Bericht über ein Fest in Puhoi (Neuseeland) nahelegt: „Come to Puhoi on that special June Sunday and you will find the streets full of people in European peasant dress. The women wear white blouses with immense puff sleeves […]. Men wear the black knickerbockers and short brown jackets of their ancestors. Hand-knitted socks cover the skin from shoe to knee. The smells of kochen (cheese cake) and arbrentz (gravy) waft from country kitchens, while from the hall come the strains of what sounds like Bavarian oompah-music, though if you listen carefully the cadences and the rhythms are different. So are the instruments: here the Bohemian dudelsack bagpipes and the button accordion blend with the fiddle.“ (Haworth & Gasteiger 1994, S. 76) 37 Zu Definitionen von „language attitude“ vgl. Garrett (2010). Auch unter den Nachkommen der Vunapope- Schüler und -Schülerinnen überdauern Bekenntnisse zu deutscher Kultur und kulturelle Praktiken die Kenntnis der deutschen und der unserdeutschen Sprache: „Even though many, perhaps even a majority of, Vunapope Germans are of Melanesian and Chinese, Scandinavian, Malayian or Guamanian and not actual German descent, ‘German-ness’ (Deutschtum) plays an important part of the culture of the group. […] [The] group felt that it was separate from both Australians and the indigenous people. […] Many older Vunapope Germans still think and speak of Germany as the Vaterland, even though they have never been there. […] Traditional German virtues of hard work, cleanliness and order are espoused by the group and many housewives still cook Sauerbraten and Schnitzel.“ (Volker 1982, S. 12) Ein erster Einblick in die neueren Erhebungen zum Unserdeutschen (vgl. Maitz/ König/ Volker 2016) deutet darauf hin, dass solche Einstellungen auch bis in jüngste Zeit Bestand haben. 7 Spracheinstellungen Unter Spracheinstellungen sei hier die Disposition verstanden, positiv oder negativ auf bestimmte sprachliche Gegebenheiten zu reagieren. 37 Als kognitive Größe sind Spracheinstellungen nicht direkt beobachtbar. Sie werden reflektiert im Verhalten bezüglich sprachlicher Gegebenheiten (zum Beispiel Sprachwahl, Spracherwerbsbereitschaft), im Verhalten und Einstellungen gegenüber Sprechern bestimmter Sprachen (Zuschreibung von Eigenschaften zu Personen, Ethnien, Minoritäten) und in Sprachbewertungen in Form expliziter Bekundungen (in freiem Sprechen, in Interviews, in Publikationen). Systematische Erhebungen zu den Spracheinstellungen der Deutschsprachigen in Ozeanien hat es nicht gegeben. Man ist also im Wesentlichen auf Anekdotisches angewiesen, das v.a. in Form von expliziten Sprachbewertungen in nicht wenigen Publikationen und <?page no="72"?> Stefan Engelberg 72 Archivalien erhalten ist. Basierend auf Engelberg (2014) soll hier kurz auf die Sprachbewertungen von Deutschsprechern in kolonialen Kontexten in Ozeanien eingegangen werden. Die Vorstellungen bezüglich der meisten Sprachen in Übersee waren im 19. Jahrhundert von Ideologien geprägt, die eine Polarisierung zwischen Kultursprachen und Natursprachen, primitiven und entwickelten Sprachen sowie komplexen und einfachen Sprachen propagierten, wobei das Deutsche jeweils ersteren und die Sprachen in den Kolonien letzteren zugeordnet wurden (Engelberg 2014, S. 315ff.). Diese Einstellungen wurden im Zuge der Präsenz sprachforschender Missionare, Anthropologen und Linguisten in den Kolonien deutlich differenzierter. Auch wenn die autochthonen Sprachen im Südpazifik selten aus dem Kontext des Naturhaften und Primitiven gelöst wurden, musste man ihnen in ihrem grammatischen Bau doch eine Komplexität zubilligen, die den vorherrschenden Vorstellungen in Deutschland widersprach. So äußert sich Schreiber (1904, S. 114) zur „Sprachenfrage in den Kolonien“: „Das sorgfältige Erforschen dieser Sprachen ergibt vielmehr die überraschende Tatsache, daß manche dieser Naturvölker ganz hervorragend feine, grammatikalisch hoch entwickelte Idiome besitzen.“ Verglichen damit waren die Einstellungen sowohl gegenüber englischen Pidginvarietäten in Ozeanien als auch bezüglich des Deutschen wenig ambivalent. Englisch-basiertes Pidgin wurde als eine „schreckliche Sprache“ (Schafroth 1916, S. 19) mit einer „kannibalischen Primitivität des Ausdrucks“ (Jacques 1922, S. 96) bezeichnet, als eine Sprache, die der Deutsche „in schauderhaftem Zustand von seinen eigenen farbigen Arbeitern lernt“ (Anonym 1903, S. 456). Es sei „ein verdorbenes, mit vielen Brocken anderer Sprachen vermengtes Englisch“ (Baessler 1895, S. 28), ein „Kauderwelsch“ und eine „Sprachseuche“ (Anonym 1903, S. 455), und die einheimischen Sprecher „drehen und modeln die Worte in blumenreicher Zusammenstellung zu den wenigen Begriffen, die ihr beschränkter Geist gebraucht.“ (Spiegel von und zu Peckelsheim 1912, S. 47). Dass Pidgin-English trotz der vermeintlichen „Erbärmlichkeit dieser sogenannten Sprache“ (Schreiber 1904, S. 121) die - auch von Deutschen verwendete - wichtigste Lingua Franca des Südpazifiks wurde, ist in Abschnitt 5.1.4 schon erwähnt worden. Ebenso unzweideutig war die Position zum Deutschen, die sich hinsichtlich nationaler Überhebung von den Bewertungen deutscher Kultur und Sprache in der Metropole nicht sehr unterschieden haben dürfte. Und welche Sprache könnte auch geeigneter sein, die imperiale Durchdringung der Welt zu befördern, als eine, die Germanen auf Bananen reimt? Noch ist die Welt nicht ganz verteilt, Noch manche Flur auf Erden Harrt gleich der Braut. Die Hochzeit eilt; Des Starken will sie werden. Noch manches Eiland lockt und lauscht Aus Palmen und Bananen; Der Sturmwind braust, die Woge rauscht. Auf, freudige Germanen! […] Und daß wir in der neuen Welt Dem alten Reiche leben, Des soll, unscheidbar uns gesellt, Ein Banner Zeugnis geben. Pflanzt auf dies rauschende Panier In jedes Neulands Brache: Wohin wir wandern, tragen wir Mit uns die deutsche Sprache. (Dahn 1911, S. 8f.) 8 Zusammenfassung Deutsche Sprachinseln in Ozeanien sind auf zwei Ursachen zurückzuführen, zum einen auf die im 18./ 19. Jahrhundert zunehmende Überseeauswanderung deutschsprachiger Europäer (Neuseeland, Hawai’i), zum anderen auf die Migration deutscher Händler, Missionare und Beamte im Zuge der imperialistischen Überseekolonialisierung des Südpazifiks im späten 19. Jahrhundert (Neuguinea, Bismarck-Archipel, Mikronesien, Samoa, Tonga). Die Migration nach Neuseeland und Hawai’i hat zur Gründung deutschsprachiger Siedlungen mit eigener kultureller Infrastruktur (Schulen, Kirchen) geführt. In diesen <?page no="73"?> 2. Ozeanien 73 Siedlungen hat das Deutsche meist über zwei bis drei Generationen eine wichtige Rolle gespielt - bis die dritte Generation den Wechsel vom Deutschen zum Englischen vollzog. Die Präsenz kleinerer deutschsprachiger Gruppen in Zentral- und Westozeanien war zunächst durch deutsche Handelsaktivitäten motiviert, die die Grundlage für die spätere deutsche Inbesitznahme größerer Areale Ozeaniens legten, die in Form zweier Gouvernements, Deutsch-Neuguinea und Samoa, dem deutschen Kolonialreich einverleibt wurden. Aufgrund der durch die Deutschen dort ausgeübten Hoheit in Kultur- und Bildungsangelegenheiten fand das Deutsche seinen Platz als Unterrichtsfach und zum Teil als Unterrichtssprache in den Schulen der beiden Kolonien. Trotz verschiedener, aber doch eher halbherziger sprachenpolitischer Bemühungen des Deutschen Reichs blieb die Funktionalität des Deutschen als Verkehrssprache auf wenige bevölkerungsarme Ortspunkte beschränkt. Dort bildeten sich auch in kleinem Umfang deutschbasierte Pidginvarietäten, von denen eine, das Unserdeutsch, kreolisierte. Während mit dem Ende der deutschen Kolonialherrschaft nach dem Ersten Weltkrieg das Deutsche schnell aus Zentral- und Westozeanien verschwand, wird das Unserdeutsch bis heute von einer kleinen Anzahl, mittlerweile größtenteils nach Australien ausgewanderter Menschen gesprochen. 9 Literatur/ Archivalien Adams, Romanzo Colfax (1937): Interracial marriage in Hawaii. A study of the mutually conditioned processes of acculturation and amalgamation. New York: Macmillan. Adick, Christel (1995): Bildungsstatistiken zum deutschen kolonialen Schulwesen und ihre Interpretation. 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Leipzig: Haberland. <?page no="81"?> Südafrika 3 Anne-Katharina Harr <?page no="82"?> Inhalt 1 Geographische Lage.........................................................................................................................83 2 Statistik und Demographie .............................................................................................................83 3 Geschichte .........................................................................................................................................85 4 Wirtschaft, Politik, Kultur, rechtliche Stellung............................................................................86 4.1 Wirtschaftliche Situation .........................................................................................................86 4.2 Rechtliche Stellung des Deutschen: Schulsystem, Sprachregelungen .............................87 4.3 Kulturelle Institutionen, Verbände, Gemeinden und Medien..........................................89 4.3.1 Institutionen und Verbände .........................................................................................89 4.3.2 Gemeinden......................................................................................................................89 4.3.3 Medien..............................................................................................................................90 5 Sprachen und Varietäten im Kontaktgebiet.................................................................................91 5.1 Kontaktsprachen ......................................................................................................................91 5.2 Sprachlagengefüge (Regionaler Standard, Umgangssprache, Dialekte) ..........................92 5.3 Sprachkontakterscheinungen..................................................................................................93 5.3.1 Phonetik...........................................................................................................................93 5.3.2 Lexikon ............................................................................................................................93 5.3.3 Morphologie und Morphosyntax ................................................................................94 5.3.4 Syntax ...............................................................................................................................96 5.4 Code-Switching, Sprachmischung .........................................................................................99 6 Sprachgebrauch und -kompetenz ................................................................................................100 6.1 Allgemeines..............................................................................................................................100 6.2 Einschätzung der Sprachkompetenz in den verschiedenen Varietäten ........................100 6.3 Sprachgebrauch: Domänen, Sprecherkonstellationen, Sprechertypen .........................100 7 Spracheinstellungen........................................................................................................................101 7.1 Affektive Bewertung ..............................................................................................................101 7.2 Kosten-Nutzen-Kalkulation .................................................................................................102 7.3 Einstellung gegenüber Dialekt und Hochsprache ............................................................102 7.4 Deutsch als Identitätsmerkmal.............................................................................................103 8 Faktorenspezifik .............................................................................................................................105 9 Literatur............................................................................................................................................106 <?page no="83"?> 1 Geographische Lage Südafrika liegt, wie der Name sagt, im südlichen Afrika. Im Norden grenzt es an die Staaten Namibia, Botswana und Simbabwe und im Osten an Mosambik und Swasiland. Der Staat Lesotho wird von Südafrika vollständig umschlossen. Die westliche Grenze des Landes bildet der Atlantische Ozean. Im Süden und Südosten liegt der Indische Ozean. Südafrika hat eine Staatsfläche von 1.219.090 km 2 und ist damit fast dreieinhalb Mal größer als Deutschland. 1 Den größten Teil des Landes nimmt das Zentralplateau ein, das auch Highveld genannt wird. Zur Küste hin fällt das Land sehr steil ab (Beck 2014, S. 1). Dieses abfallende Land wird als Randstufe bezeichnet. Im Nordosten Südafrikas befinden sich die Drakensberge, die sich bis nach Lesotho hinein erstrecken. Der höchste Berg Südafrikas (3.450 m) ist Teil der Zentralregion dieses Gebirges, nennt sich Mafadi und gehört seit 2000 zu den geschützten Naturdenkmälern der Weltkulturerbe-Liste der UNO. 2 In den Drakensbergen entspringen die meisten Flüsse Südafrikas, die in den Indischen Ozean fließen. Mit 1.600 km ist der Oranje der längste Fluss Südafrikas (Beck 2014, S. 3). Er bildet an seinem Unterlauf die Grenze zwischen Namibia und Südafrika und mündet am Ende in den Atlantischen Ozean. Im Großraum Johannesburg wird durch den Oranje die Trinkwasserversorgung gewährleistet und auch für die Bewässerung der Landwirtschaft (v.a. Weinbau) und die Fischerei ist der Fluss von großer Bedeutung. 3 Nordwestlich der Stadt Bloemfontein beginnt die Kalahari, eine Dornstrauchsavanne, die sich bis nach Botswana und Namibia erstreckt. Nur etwa ein Prozent der Fläche Südafrikas ist bewaldet (v.a. die feuchten Küstenregionen). In den übrigen Gebieten, so auch dem Highveld, ist die vorherrschende Vegetation das Grasland (Beck 2014, S. 7). Die Fauna des 1 http: / / www.gov.za/ about-sa/ south-africa-glance 2 http: / / www.britannica.com/ place/ South-Africa#toc44023 3 http: / / www.britannica.com/ place/ Orange-River Landes ist durch zahlreiche Tierarten (Säugetiere, Vogelarten, Reptilien, Vögel) geprägt, wobei die Großtierarten wie beispielsweise Löwe, Leopard, Elefant etc. für Südafrika am charakteristischsten sind. Die meisten von ihnen leben in einem der 14 Nationalparks des Landes. 4 2 Statistik und Demographie Im heutigen Südafrika leben 52,9 Millionen Menschen, wobei die Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten stetig steigt. 5 Die Mehrheit der Bewohner des Landes lebt nahe der großen Städte, wo die meisten Arbeitsplätze zu finden sind. Die Bewohner Südafrikas gehören verschiedenen Ethnien, Sprachgruppen und Religionen an, was aus Südafrika ein Land mit einer großen Diversität macht, die sich in allen Bereichen widerspiegelt. Laut dem Zensus von 2011 sind 79,2 Prozent der Bevölkerung Schwarze; Farbige (Coloured) und Weiße machen jeweils 8,9 Prozent aus, und der Anteil der asiatischen Bevölkerungsgruppe beläuft sich auf 2,5 Prozent. So verbleiben noch 0,5 Prozent für alle übrigen Ethnien. Die schwarze, afrikanische Bevölkerung setzt sich aus vier verschiedenen Eingeborenengruppen zusammen, den Nguni (diese umfassen Angehörige der Zulu, Xhosa, Ndebele und Swazi), den Sotho-Tswana, den Tsonga und den Venda (Beck 2014, S. 4). Die weißen Südafrikaner sind ebenfalls eine sehr heterogene Gruppe; sie bestehen aus 1) Nachfahren von Deutschen, Niederländern und französischen Hugenotten, 2) Nachfahren von Siedlern der britischen Inseln und schließlich 3) Immigranten und Nachfahren von Einwanderern anderer europäischer Staaten (zum Beispiel Portugal, osteuropäische Juden, Ungarn und Deutsche). Die farbigen Südafrikaner sind Nachfahren von Sklaven, die aus Ost- oder Zentralafrika nach Südafrika gebracht wurden und sich mit Weißen mischten. Diese Sklaven umfassten zwei Gruppen von Eingeborenen, 4 http: / / www.britannica.com/ place/ South-Africa/ Soils #toc44027 5 http: / / www.gov.za/ about-sa/ south-africa-glance <?page no="84"?> Anne-Katharina Harr 84 die Gruppe der Khoi und die der San. Sie arbeiteten als Hirtennomaden oder Jäger und Sammler (Beck 2014, S. 5). Die Mehrheit der asiatischen Bevölkerung sind Nachfahren von Arbeitern, die im 19. Jahrhundert aus Indien kamen, um in Natal auf Zuckerplantagen zu arbeiten. In Südafrika besteht eine große sprachliche Vielfalt, wobei geschätzt 25 verschiedene Sprachen gesprochen werden, von denen 11 offiziell Sprachen des Landes sind. 6 Aufgrund dieser außergewöhnlichen Mehrsprachigkeitssituation ist in Südafrika kaum ein Sprecher einsprachig. Viele Sprecher sprechen zwei oder mehr Sprachen und nutzen diese in ihrem Alltag. Laut dem Zensus von 2011 ist Zulu die 6 http: / / www.gov.za/ about-sa/ south-africa-glance 7 http: / / www.southafrica.info/ about/ people/ language.htm #.VcHTKPk4o6U häufigste Muttersprache, die von knapp 23 Prozent der Bevölkerung gesprochen wird. Sie wird, neben Englisch und Afrikaans, auch als eine der drei Linguae francae in Südafrika bezeichnet. 7 Obwohl das Englische als Muttersprache nur von 9,6 Prozent der Bevölkerung erworben wird (vgl. Statistics South Africa, Statis Online, Census 2011 8 ), ist es doch die dominante Sprache des Landes. Seit der Volkszählung von 1996 kann die südafrikanische Bevölkerung Deutsch nicht mehr als Muttersprache angeben. Aus diesem Grund ist es sehr schwer, Angaben zur aktuellen Anzahl der Deutschsprecher in Südafrika zu machen. Die Botschaft in Pretoria geht von zirka einer Million aus (Franke 2008, S. 76). 8 http: / / www.statssa.gov.za/ census/ census_2011/ census_ products/ Census_2011_Census_in_brief.pdf Abb. 1: Deutschsprachige Gemeinschaften in Südafrika (aus: Kadt 2002, S. 149) <?page no="85"?> 3. Südafrika 85 Diese Zahlen erscheinen jedoch fragwürdig, betrachtet man die Anzahl der Deutschsprecher vor 1996: So wurden 1970 zirka 48.000 Sprecher des Deutschen erfasst; bis 1980 hatte diese Zahl um zirka 15 Prozent abgenommen (40.000) (de Kadt 1998, S. 2). 1991 wurden vom Zensus 48.271 Deutschsprecher erfasst (29.738 lernten Deutsch als Erst-, 18.533 als Zweitsprache). Es muss jedoch berücksichtigt werden, dass hierbei auch immer Sprecher mit österreichischer und Schweizer Staatsangehörigkeit einberechnet werden, die teilweise nur kurzzeitig in Südafrika lebten. De Kadt (2002, S. 148) nennt für die Erhebung von 1980 andere Zahlen: Sie gibt die Anzahl der Deutschen/ Österreicher mit 28.000 an, sodass für die Deutschsprecher der zweiten oder älterer Generationen 13.057 bleiben. „Kirche und Schule kam und kommt für den Erhalt der deutschen Muttersprache eine entscheidende Rolle zu“ (Böhm 2003, S. 612; vgl. auch de Kadt 2000, S. 75). So ist es auch nicht erstaunlich, dass die Ansammlung deutscher Muttersprachler mit der deutscher Kirchengemeinden korreliert, auch wenn deren Mitgliederzahlen seit Jahren kontinuierlich sinken (Böhm 2003, S. 614). In KwaZulu-Natal gab es jedoch 1998 noch 15 deutschsprachige Gemeinden (de Kadt 1998, S. 6). „Da viele Gemeinden jedoch nur noch wenige Mitglieder haben und die Zahl der gemischten Ehen zugenommen hat, wird der Gottesdienst immer öfter auch auf Afrikaans oder Englisch abgehalten“ (Böhm 2003, S. 615). So ist in den abgelegenen Regionen Deutsch als Muttersprache teilweise immer noch erhalten, doch seine Bedeutung hat extrem abgenommen. Aktuell lebt die Mehrheit der Deutschen in den Großstädten (v.a. in Johannesburg, Pretoria und Kapstadt). In den Provinzen KwaZulu-Natal, aber auch in Kroondal/ Transvaal, hat sich die Zahl der deutschen Muttersprachler rapide verkleinert und ist laut de Kadt schon vor über zehn Jahren „relativ bedeutungslos“ (de Kadt 2002, S. 149). Die ehemaligen deutschen Siedlungen am Ostkap und im südlichen Transvaal sind hingegen nur noch in den Ortsnamen wie Hamburg, Braunschweig u.a. erkennbar. 3 Geschichte Die ersten Deutschen kamen zu Beginn des 17. Jahrhunderts im Rahmen der niederländischen Kolonisierung nach Südafrika (Bodenstein 1995). 1652 richteten die VOC (Vereenigde Oostindische Compagnie) an der Stelle, an der später Kapstadt entstehen sollte, eine Verpflegungsstation für die Handelsschiffe ein, die auf dem Weg ins heutige Indonesien waren, da viele Seefahrer aufgrund von Vitaminmangel (Skorbut) auf der Überfahrt starben (Marx 2012, S. 72). Dieser Ort verwandelte sich innerhalb kurzer Zeit von einem zunächst nur für Soldaten, VOC-Personal und deren Familien reservierten Sektor zu einem weitläufigen Gebiet, an dem sich auch andere europäische Siedler niederließen. Die vorwiegend männlichen Zuwanderer, die entweder aus den Niederlanden stammten, aus Gebieten, in denen Niederdeutsch und Hochdeutsch gesprochen wurde, oder aber französischsprachige Hugenotten waren, arbeiteten als Soldaten in der Garnison der VOC oder als Privatlehrer bei VOC-Beamten und deren Familien. Bis 1789 zählte die VOC 10.000 Angestellte mit deutschem Hintergrund, von denen sich später 4.000 frei am Kap niederließen (Marx 2012, S. 42). Zusätzlich zu den VOC-Beamten waren bereits zirka 15.000 Deutsche vor 1789 am Kap angekommen. Hierbei handelte es sich vor allem um Analphabeten der Arbeiterklasse, einige gehörten jedoch auch der Mittelklasse und einige sogar dem Adel an (Ponelis 1993, S. 19). Die meisten von ihnen waren aufgrund des Dreißigjährigen Krieges in die Niederlande geflohen und emigrierten von dort aus nach Südafrika, wo sie als Handwerker und Bauern arbeiteten. Dies führte dazu, dass gegen Ende des 18. Jahrhunderts mehr als die Hälfte der weißen Bevölkerung deutsche Vorfahren hatte (de Kadt 1995, S. 107). Weil es am Kap nur wenige deutsche Frauen gab, heirateten viele der emigrierten Männer Frauen anderer Nationen (Französinnen, Niederländerinnen, Frauen aus der autochthonen Bevölkerung etc.) und assimilierten sich so sehr schnell. Daher konnte sich kein deutsches Familienleben etablieren, <?page no="86"?> Anne-Katharina Harr 86 durch das Sprache und Kultur aufrechterhalten worden wäre (Davenport 2000, S. 22). Abgesehen von den oben erwähnten Auswanderern ließen sich ab dem frühen 18. Jahrhundert Missionare verschiedener Missionsgesellschaften nieder. Die Herrnhuter Brüdergemeine war die erste, die im späteren Gnadendal eine Missionsstation errichtete, um die Eingeborenen zu bekehren (Ross 1999, S. 66) und zu alphabetisieren. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts intensivierten sich die Aktivitäten der Missionsgesellschaften. So waren beispielsweise die Hermannsburger Missionsgesellschaft und in geringerem Ausmaß die Berliner Missionsgesellschaft in Natal aktiv. Die Hermannsburger Missionsgesellschaft sandte meist Missionare zusammen mit Siedlern aus, die deutschsprachige Siedlungen gründeten, die sich oft um eine Kirche und eine Schule anordneten. Keine der Gesellschaften hatte jedoch explizit das Ziel, die deutsche Sprache und Kultur zu erhalten. 9 Dennoch gelang es diesen Immigranten, trotz ihres Minderheitenstatus, ihre Sprache und Kultur über eine Reihe von Generationen zu erhalten (Grünewald 1992, S. 69). Am westlichen und östlichen Kap sowie in Natal wanderten weitere Deutsche zu, wobei es sich nun nicht mehr nur um Bauern, Händler und Handwerker, sondern auch um Ärzte, Ingenieure und Architekten handelte (Hellberg 1954, S. 19-21). Einige von ihnen gründeten an bestimmten Orten auch Lutherische Gemeinden wie zum Beispiel in den weitläufigen Regionen um Kapstadt, den sogenannten Cape Flats. Als man die Diamantenfelder bei Kimberley entdeckte, zogen viele Deutsche in diese Region, in der Hoffnung, dort reich zu werden. Auch bot im 19. Jahrhundert die Britische Regierung immer wieder Europäern eine kostenlose Überfahrt und billig zu bewirtschaftendes Land an. Daraufhin kamen Scharen von Deutschen: zum einen Weinbauern, die sich in der westlichen Kapregion niederließen, zum anderen Siedler aus Pommern und 9 Zum Teil lernten sie sogar die Eingeborenensprachen, um die Südafrikaner zu missionieren (Grünewald 1992, S. 68). 10 In diesem Zusammenhang wurde immer wieder der der Uckermark, die sich in der östlichen Kapregion (East London, Port Elizabeth) ansiedelten und dort oft gegen die Armut ankämpften. Über deutsche Auswanderer nach dem Zweiten Weltkrieg ist bisher sehr wenig bekannt. Anders als bei den Auswandererströmen des 18. und 19. Jahrhunderts sind die Immigranten des 20. und 21. Jahrhunderts vorwiegend Einzelpersonen oder Familien, die sich aus wirtschaftlichen Gründen insbesondere im städtischen Raum ansiedeln (zum Beispiel Kapstadt, Johannesburg, Pretoria) und meist in internationalen Unternehmen arbeiten (de Kadt 2002, S. 50). Obwohl es in allen großen Städten weiterhin deutsche Schulen, Kirchen und Vereine gibt, sind die Deutschen doch über die verschiedenen Stadtviertel verteilt und stellen keine homogene Gruppe dar. Eine Ausnahme sind die Nachfahren der ehemaligen Missionarsfamilien (Scheffer 1991, S. 16). 4 Wirtschaft, Politik, Kultur, rechtliche Stellung 4.1 Wirtschaftliche Situation Geographisch bedingt ist Südafrika stark abhängig von den Schwankungen des Wetters und den daraus folgenden Konsequenzen für die Landwirtschaft, die lange Grundlage eines Großteils der Bevölkerung war (Hesse 2010, S. 23). Als im Rahmen der VOC europäische Siedler ans Kap kamen, brachten diese ihre jeweilige landwirtschaftliche Nutzung mit: die französischen Hugenotten den Weinbau, die Niederländer die Viehzucht und die Deutschen den Obst- und Gemüseanbau. 10 Wichtig war zudem die Zuckerrohrproduktion in Natal und den Küstengebieten, die eine weltweite Angebotslücke in der Rohrzuckerproduktion füllen konnte, welche durch den Niedergang ehemals wichtiger Karibik-Inseln wie Jamaika entstanden war (Marx 2012, S. 126). Beitrag deutscher Werte wie Fleiß, Gewissenhaftigkeit, Pflichtbewusstsein oder Ehrlichkeit genannt, die einen entscheidenden Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung Südafrikas leisteten (de Kadt 2000, S. 76). <?page no="87"?> 3. Südafrika 87 Von großer Bedeutung für Südafrika sind noch heute seine Bodenschätze. 1869 wurden in Kimberley, einer Siedlung in der Nähe des Oranje, die ersten Diamanten gefunden, zwei Jahre später wurde in Transvaal, nahe Johannesburg, das erste Gold entdeckt. Dazu kommen seit Beginn des 20. Jahrhunderts der Abbau von Platin, Kohle und Erdgas. 11 Diese Funde machten für die europäischen Siedler und die Afrikaner selbst das Landesinnere interessant (Hesse 2010, S. 27). Die Wirtschaftspolitik von Mandela und Mbeki (1994-2008) war durch eine Priorität der Finanzstabilität und durch eine ausgewogene und vorausschauende Finanz- und Wirtschaftspolitik geprägt (Hesse 2010, S. 33). Die südafrikanische Fiskal- und Geldpolitik sind im Vergleich zu anderen Schwellenländern vorbildlich, und die hoch differenzierte Banken- und Versicherungslandschaft entspricht westlichen Standards. Dies und die gute und unabhängige Rechtsprechung führten zu einem starken Zufluss von Investitionskapital und einer Steigerung des Wirtschaftswachstums in den letzten Jahrzehnten. So hat Südafrika, obwohl es nur 4 Prozent der Fläche Afrikas einnimmt, das größte Bruttoinlandsprodukt des Kontinents (2013: 353,9 Milliarden Dollar). Mehr als ein Drittel des BIP wird in der kleinsten Provinz Gauteng erwirtschaftet, in der Johannesburg und Pretoria liegen. Dennoch zeigt Südafrika viele negative Anzeichen eines sich rasch entwickelnden Wirtschaftsstaates wie beispielsweise die ungleiche Verteilung des Reichtums, eine Abhängigkeit vom Rohstoffexport und die Abwanderung der Bevölkerung in die Städte, wo es nicht genügend Arbeit für alle gibt (Beck 2014, S. 8). Das Land wird als eines mit mittlerem bis hohem Einkommen eingestuft, bei dem das BIP pro Kopf 3.000 $ beträgt. Hierbei ist jedoch der beträchtliche Einkommensunterschied zwischen Weißen und Schwarzen zu berücksichtigen, der zwar seit dem Ende der Apartheit abgenommen hat, jedoch immer noch besteht. 11 Weitere Informationen zum Abbau der Rohstoffe und der Rolle der Deutschen dabei findet sich bei Sieper (2010). Rund ein Viertel der Südafrikaner ist arbeitslos, womit das Land aufgrund der mangelhaften Bildung und dem oft schlechten Zugang zu Bildungsinstitutionen eine der höchsten Arbeitslosenquoten der Welt hat. Größtes Problem: In dünn besiedelten Gebieten ist es schwierig und teuer, eine flächendeckende schulische Grundausbildung zu gewährleisten. So hatten und haben die Weißen die Möglichkeit, ihre Kinder in Internate zu geben, doch den anderen Bevölkerungsteilen war und ist dies aus Kostengründen nicht möglich (Hesse 2010, S. 39). Darüber hinaus erfolgt der Unterricht der Grundschulen in Afrikaans oder Englisch, wodurch insbesondere Kinder mit indigenen Muttersprachen große Probleme haben, die Anforderungen der Schule zu bewältigen. Dennoch muss angemerkt werden, dass sich die Investitionen in die Bildung in Südafrika seit Ende der Apartheid verdreifacht haben (Hesse 2010, S. 39). So ist auch nicht verwunderlich, dass es ein „erklärtes Ziel der südafrikanischen Politik ist“, sich „von einer rohstoffbasierten hin zu einer wissensbasierten Wirtschaft“ zu wandeln. 12 Allerdings leben heute noch 36 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze (Beck 2014, S. 9). Vielen Menschen ist bis heute der Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen wie Elektrizität, Wasser oder Krankenversorgung verwehrt. 4.2 Rechtliche Stellung des Deutschen: Schulsystem, Sprachregelungen Wie oben schon erwähnt, gibt es in Südafrika seit 1996 elf gleichberechtigte Amtssprachen (mit abnehmender Sprecherzahl: Zulu, Xhosa, Afrikaans, Nord-Sotho/ Pedi, Englisch, Tswana, Sesotho, Tsonga, Swazi, Venda und Ndebele). „Etwa 70 Prozent der Südafrikaner sprechen afrikanische Muttersprachen, während Englisch und Afrikaans zusammen die Muttersprache von etwa 25 Prozent der Bevölkerung sind“ (Böhm 2003, S. 599). Afrikaans verlor seit dem Ende der Apartheid als 12 https: / / www.auswaertiges-amt.de/ de/ aussenpolitik/ laender/ suedafrika-node/ -/ 208446 <?page no="88"?> Anne-Katharina Harr 88 Zweitsprache und als Lingua Franca stark an Bedeutung, wohingegen sich das Englische immer weiter ausbreitet und sich hier auch verschiedene Varietäten (eine der Weißen, der Inder und der Schwarzen) herausbildeten (Böhm 2003, S. 599). Neben diesen Sprachen kommen in Südafrika als Muttersprachen noch indische Sprachen (Hindi, Tamil etc.) und europäische Sprachen wie Deutsch oder Italienisch vor. Die Sprachenfrage war und ist in Südafrika ein Politikum und birgt ein großes Konfliktpotential, was dadurch bedingt ist, dass die Sprachpolitik ein Instrument zur Durchsetzung der Apartheid war. In der Verfassung von 1996 verpflichtet sich der Staat, die Mehrsprachigkeit zu fördern (vgl. The Constitution of the Republic of Southafrica 1996 und Webb 2002, S. 60). Mit dem Pan South Africa Language Board (PANSALB) wurde 1996, wie in der Verfassung gefordert, eine unabhängige Institution gegründet, die die Leitlinien des mehrsprachigen Südafrika entwickeln und umsetzen sollte. So heißt es in Kapitel 1, Absatz 6, § 5b: „A Pan South African Language Board established by national legislation must - promote and ensure respect for - all languages commonly used by communities in South Africa, including German, Greek, Gujarati, Hindi, Portuguese, Tamil, Telegu and Urdu“. Es muss jedoch angemerkt werden, dass sich immer mehr Stimmen erheben, die die Hegemonie des Englischen kritisieren und behaupten, dass andere Sprachen sogar mehr an den Rand gedrängt werden, als dies in der Vergangenheit der Fall war (Maartens 1998, S. 16-17). Die Bundesrepublik bemühte sich beständig um die Förderung der deutschen Sprache in Südafrikas Schulsystem, was jedoch v.a. zu Zeiten der Apartheid problematisch war. 1963 trat zum ersten Mal ein Kulturabkommen in Kraft, wobei hier die tatsächlichen Bevölkerungsanteile Südafrikas ignoriert wurden und Schwarze von allen Aktivitäten/ Stipendien ausgeschlossen waren, sodass nur die Kulturkontakte mit der weißen Minderheit im Fokus 13 Zur kritischen Reflexion dieser Maßnahmen vgl. Verheugen 1986, S. 191-201. standen (Verheugen 1986, S. 191). Erst 1986 wurde das Kulturabkommen zwischen den beiden Staaten als Instrument zur Überwindung der Apartheid genutzt. 13 Die Bundesrepublik unterstützte dabei den Deutschunterricht weiter, jedoch unter der Bedingung, dass an deutschen Schulen der sogenannte Begegnungscharakter zu gelten habe, demzufolge auch nicht-weiße Kinder die Schulen besuchen durften. Deutsch wird in Südafrika seit 1830 unterrichtet. Zu Beginn wandte sich der Unterricht an den von den Missionsgesellschaften gegründeten Schulen v.a. an Muttersprachler (Böhm 2003, S. 616). In Südafrika gibt es heute vier von der Bundesrepublik finanziell und personell geförderte deutsche Schulen: die Deutsche Schule Hermannsburg (gegründet 1856), die Deutsche Schule Johannesburg (1890), die Deutsche Schule Pretoria (1899) und die Deutsche Schule Kapstadt (1904). Heute sind zirka 20 Prozent aller Schüler der Deutschen Schule Fremdsprachenschüler, in Hermannsburg sind es sogar deutlich mehr (Böhm 2003, S. 619). Darüber hinaus gibt es noch fünf private Primarschulen in den ländlichen Regionen, in denen Deutsche über lange Zeit siedelten, welche Deutsch als Muttersprache anbieten. Vier der Schulen befinden sich in der Provinz KwaZulu-Natal: die Deutsche Schule New Hanover (gegründet 1958), die Gerdauer Gemeindeschule Coligny (1946), die Michaelis-Schule Vryheid (1964) und die Deutsche Schule Durban (1971). Die fünfte Schule (die Deutsche Schule Kroondal, gegründet 1904) liegt in der Provinz Transvaal. Diese Schulen haben sich auch anderen Volksgruppen geöffnet, wobei ihr Bestand dennoch gefährdet ist (de Kadt 2002, S. 151). So kommen immer mehr Kinder mit geringen und schlechten Deutschkenntnissen in die Schulen, und von Jahr zu Jahr werden mehr Kinder anderer Sprachen aufgenommen. Daher stellt sich die Frage, wie lange sich der deutsche Charakter der Schulen noch halten kann. Neben diesen privaten Primarschulen gibt es noch staatliche Primarschulen mit <?page no="89"?> 3. Südafrika 89 deutscher Sprachkonzession, an denen in bestimmten Zweigen auf Deutsch unterrichtet wird (Böhm 2003, S. 620). In den ersten vier Jahren wird Deutsch als Unterrichtssprache benutzt, danach wird es weiterhin als Unterrichtsfach angeboten. Aus den bisherigen Ausführungen wurde ersichtlich, dass Deutsch als Muttersprache an Bedeutung abnimmt; jedoch gewann im Laufe der Zeit Deutsch als Fremdsprache zunehmend an Bedeutung. Seit 2002 ist es möglich, in der Sekundarschule als weitere Sprache (Second Additional Language) auch bestimmte Nicht- Amtssprachen zu lernen, zu denen u.a. auch das Deutsche zählt. Als Wahlfach wird in der Sekundarschule (Klasse 7 bis 12) ebenfalls Deutsch angeboten (Böhm 2003, S. 609). 14 2010 wurde an 64 Schulen in Südafrika Deutsch als Fremdsprache angeboten, und 7.523 Schüler wählten das Fach. Im Vergleich zum Jahr 2005 waren dies 4.377 Schüler weniger. Dies zeigt, dass immer weniger Schüler sich für das Deutsche entscheiden und sich auch die Anzahl der Deutschlehrer seit 1995 bis 2010 auf 70 halbiert hat (Peter 2010). Die gleiche Tendenz ist bei den Hochschulen zu beobachten. An 13 Hochschulen studierten 2010 in Südafrika 1.000 junge Menschen DaF. Im Vergleich zu 2005 sind dies 357 Studierende weniger (Peter 2010). 1998 hatte Elisabeth de Kadt diese Situation noch deutlich positiver gesehen, als sie davon ausging, dass das Deutsche zum einen mit Hilfe der guten Infrastruktur, bei dem sich der Deutsche Pädagogische Verein, der Südafrikanische Germanistenverein und die Südafrikanisch-Deutsche Kulturvereinigung (SADK) „erfolgreich“ für die deutsche Sprache einsetzen (de Kadt 1998, S. 11), zumindest den Status Quo halten kann. Darüber hinaus bestünden zum anderen bedeutende wirtschaftliche Beziehungen zwischen Südafrika und Deutschland, und man sei sich dessen bewusst, dass Sprachkenntnisse eine Voraussetzung für den Exporthandel sind (ebd.). 14 Privatschulen unterliegen beim Fremdsprachenangebot keiner staatlichen Reglementierung. 4.3 Kulturelle Institutionen, Verbände, Gemeinden und Medien 4.3.1 Institutionen und Verbände Die bekannteste kulturelle Institution ist vermutlich die 1932 gegründete Südafrikanisch- Deutsche Kulturvereinigung (SADK), die sich um den Jugendaustausch zwischen Südafrika und Deutschland bemüht und kulturelle Veranstaltungen organisiert (Böhm 2003, S. 633). Sie gab lange Zeit die Zeitschriften Lantern und Echo heraus. Auf ihrer aktuellen Homepage ist jedoch außer den Proben und Aufführungen eines Jugendchores wenig von aktuellen Aktivitäten die Rede (http: / / www.sadk.co.za/ ). Neben der SADK, die ebenfalls regionale Vereine hat, gibt es noch zahlreiche, weitere kulturelle Organisationen, die über das Land verteilt sind. So zum Beispiel den Deutschen Kulturverein Wartburg und Umgebung oder die Deutsche Kulturgemeinschaft Lüneburg. Über das Internet lässt sich kaum ermitteln, wie lebendig die Vereine sind und wie viele Mitglieder sie haben. Einzig der Deutsche Kulturrat (DKR) KwaZulu-Natal berichtet über verschiedene Projekte (http: / / www.deutschekontakte.co.za/ wer_wir_sind.html) und bekennt auf einer Seite, dass die Pflege der deutschen Sprache ihm wichtig sei. Andere Arten von Verbänden sind zum Beispiel der Deutsche Verein Kapstadt (http: / / www.deutschervereinkapstadt.co.za/ ), der zwar nur 100 Mitglieder zählt, die sich v.a. zum gemeinsamen Fußball Schauen treffen und dort die deutschen Traditionen pflegen. Solche Vereine scheinen jedoch nicht zahlreich zu sein. 4.3.2 Gemeinden Die meisten der deutschsprachigen Kirchengemeinden entstanden im Rahmen der Lutherischen Mission in KwaZulu-Natal (de Kadt 2002, S. 152). Diese Gemeinden haben sich in den letzten Jahrhunderten ausdifferenziert, und so gibt es heute lutherische Gemeinden für Schwarze, die kein Deutsch verwenden, <?page no="90"?> Anne-Katharina Harr 90 und solche für Weiße, die noch Deutsch benutzen. Laut de Kadt gibt es in den folgenden Städten/ Dörfern noch deutschsprachige Gemeinden: Izotsha, Durban (drei Gemeinden), Pietermaritzburg, Wartburg, Harburg, New Hanover, Hermannsburg, Moorleigh, Winterton, Elandskraal, Dundee, Veryheid und Braunschweig. All diese Gemeinden sind sehr klein, und bedingt durch zahlreiche Mischehen gibt es überall mindestens ein Mal im Monat auch einen Gottesdienst auf Englisch. In den anderen Provinzen des Landes ist die Anzahl der deutschsprachigen Gemeinden verschwindend gering, und die liturgische Sprache bei Gottesdiensten ist meist Englisch (de Kadt 2002, S. 152f.). Wie weiter unten noch ausgeführt wird, bedeutet Gemeindemitglied sein für die deutschsprachigen Südafrikaner weit mehr als sonntags den Gottesdienst zu besuchen (de Kadt 2000, S. 76). Das Gemeindeleben der deutschsprachigen Kirchen ist in vielen Städten noch sehr lebendig und umfasst verschiedene Chöre, Posaunenchöre, Bibel- und Gebetskreise etc. In einigen Städten werden immer noch verschiedene Aktivitäten organisiert, um Jugendliche und junge Erwachsene unterschiedlicher deutscher Gemeinden zusammenzubringen und möglicherweise zukünftige Partner kennenzulernen. Dies stellt einen zentralen Aspekt dar, um den Fortbestand der deutschen Sprache und Kultur zu sichern (Franke 2008, S. 166). 4.3.3 Medien Die Anzahl der deutschsprachigen Printmedien hat in den letzten Jahrzenten rapide abgenommen. Am bekanntesten war lange Zeit wohl der Afrika Kurier, der 1990 mit dem Titel „Wie geht’s? “ ins Leben gerufen wurde. Das Magazin erscheint alle zwei Monate und berichtet über Land und Leute, die Aktivitäten der Vereine, sowie die südafrikanische Wirtschaft und Industrie. Bis Anfang des 21. Jahrhunderts hatte es noch die Zeitung Der Südafrika-Deutsche gegeben, die extrem rechte Positionen vertrat und daher sehr umstritten war. 2003 hatte sie noch zwischen 1.000 und 2.000 15 http: / / www.taz.de/ 1/ archiv/ ? dig=2003/ 12/ 22/ a0197 Leser. 15 Heute ist der Kap Express, die sich „erste unabhängige Wochenzeitung und Online-Newsplattform Südafrikas in deutscher Sprache“ nennt, wohl das bekannteste deutschsprachige Medium. 16 Nach Angaben des Chefredakteurs (persönliche Mitteilung J.-H. Meyer, 13.8.2015) gibt es die Zeitung jedoch noch nicht in Papierform. Das Portal besuchen allerdings pro Monat 10.000 Personen. Abgesehen von diesen Printmedien werden selbstverständlich (fast) alle auch in Deutschland/ Österreich erscheinenden Zeitungen und Zeitschriften nach Südafrika importiert, wo sie mit zirka einer Woche Verspätung auf den Markt kommen und dort zahlreiche Leser finden. Wichtig sind darüber hinaus insbesondere für die deutschsprachige Bevölkerung auf dem Land noch die zirka 12 regelmäßig erscheinenden Gemeindeblätter der deutschsprachigen Kirchengemeinden mit Namen wie „Der Bote“, „Heimat in der Gemeinde“ oder „Ruf in die Gemeinde“, die von den Gemeindemitgliedern redigiert und rezipiert werden. Im Zuge der Digitalisierung ist die Bedeutung der Printmedien auch in Südafrika zurückgegangen, und immer mehr Menschen - auch ältere - bedienen sich des Internets. Da davon ausgegangen werden kann, dass die meisten deutschsprachigen Personen in Südafrika einen Internetzugang besitzen, stehen ihnen hier neben Seiten in Englisch und Afrikaans ebenfalls deutschsprachige Seiten zur Verfügung. Das Gleiche gilt für Fernseh- und Radiosender. Durch Internet bzw. Satellitenfernsehen stehen deutsche Radio- und Fernsehprogramme zur Verfügung; die Resonanz dieser Medien unter den Deutschsprechern scheint jedoch gering zu sein (Franke 2008, S. 176). Ältere Deutschsprecher geben eher an, dass das englischsprachige Fernsehen negative Konsequenzen für die Deutschkompetenzen der jüngeren Generation hat, wie aus Beleg (1) deutlich wird. (1) [W 48 J.; Natal Midlands] Elmarie: äh leider hat TV da eine ganz große Rolle gespielt. Also Fernseher, denk ich, hat (.) viel zu beige- 16 http: / / www.kapexpress.com/ impressum <?page no="91"?> 3. Südafrika 91 tragen, dass die Mütter heutzutage ihrn Kindern nich mehr Bücher vorlesen. (.) In diesem Fall nun spezifisch deutsche Bücher. (.) Ähm, sie hörn nich mehr Kassetten oder CDs zu oder viel weniger. Sie guckn lieber Fernseh oder Videos. … (Franke 2008, S. 177) 5 Sprachen und Varietäten im Kontaktgebiet 5.1 Kontaktsprachen Wie bereits deutlich geworden ist, sind die Kontaktsprachen des Deutschen in Südafrika insbesondere das Englische und Afrikaans. Diese beiden Sprachen hatten während der letzten Jahrhunderte den größten Einfluss auf das Deutsche, abhängig von der Region, in der die deutschsprachigen Siedler leb(t)en. Das Englische ist klar die Sprache, die in der Vergangenheit und auch noch heute den größten Einfluss auf das Deutsche in Südafrika ausübt. Dies hängt v.a. mit dem Gebrauch des Englischen in nahezu allen öffentlichen Bereichen zusammen. In den Natal Midlands spielt Englisch eine wichtigere Rolle als die in Südafrika zweitwichtigste Kontaktsprache Afrikaans, die in den nördlichen Natalregionen dominant ist. Afrikaans hat im Vergleich zu den niederländischen Dialekten, aus denen es Ende des 17. Jahrhunderts entstand, jedoch beispielsweise im Bereich der Morphosyntax eine deutlich vereinfachte Flexion (vgl. Bussmann 2002, S. 54). Darüber hinaus kam und kommt Deutsch natürlich auch mit vielen der autochthonen Sprachen (v.a. Zulu) sowie anderen in Südafrika gesprochenen Sprache wie zum Beispiel dem Holländischen oder Portugiesischen in Kontakt. Mit welcher Sprache Deutsch in Kontakt kommt und welche Folgen dies für das südafrikanische Deutsch hat, hängt hauptsächlich davon ab, welche regionale Varietät des Deutschen man betrachtet. Es kann in jedem Fall davon ausgegangen werden, dass alle südafrikanischen Deutschsprecher mindestens drei- (Deutsch, Englisch, Afrikaans), wenn nicht viersprachig (Zulu) sind (de Kadt 2001; 2002; Franke 2008). Zitat (2) gibt ein Beispiel für diese dynamische Mehrsprachigkeit. (2) [M 69 J.; Natal Midlands] Hermann: Ich kann Deutsch sprechen, das is meine Muttersprache. (.) Und wie ich der Milchmann von Neu Hannover war, hab ich mit meine schwarzen Arbeiter Zulu gesprochen. (.) Und mit meine Kunden Afrikaans und Eng- Englisch. Ich sprech vier Sprachen jeden Tag! (Franke 2008, S. 128) In den letzten Jahren wurde jedoch beobachtet (vgl. Zitat 3), dass immer weniger Deutschsprecher Zulu beherrschen, da es die Sprache ist, die nur in bestimmten Bereichen, zum Beispiel der Interaktion mit Angestellten (Farmarbeiter, Hausangestellte) oder Servicepersonal (Tankstellen, Geschäfte etc.) gesprochen wird. Meist wurde es jedoch von denjenigen erworben, die auf einer Farm aufwuchsen, was allerdings immer seltener ist. Die Sprachkompetenz in Zulu ist bei den Deutschsprechern sehr heterogen, wobei auch die Kenntnisse von kompetenten Sprechern domänenspezifisch sind (zum Beispiel landwirtschaftsbezogene Themen). (3) [W 23 J.; Natal Midlands] Franke: Sprichst du eigentlich Zulu? Susanna: Ah nee. (.) Ich kann n paar Wörter, aber… ich kann nich viel ((laughs)) (.) Ja, ich kann mich nich verständigen in [Zulu]. (.) Also ich kann hallo und tschüß sagen… (Franke 2008, S. 134) Darüber hinaus sind auch außersprachliche Faktoren zu berücksichtigen, die in jeder Situation anders sind und es daher schwierig machen, das Resultat des Sprachkontaktes vorauszusagen (Franke 2008, S. 52). Die unterschiedliche Intensität des Sprachkontaktes führt folglich zu verschiedenen Formen der Zwei- oder Mehrsprachigkeit oder aber - wie in vielen Fällen in Südafrika - zur Aufgabe des Deutschen. Eine entscheidende Rolle spielen hierbei die Zugehörigkeit zu einer deutschsprachigen Kirchengemeinde und der Besuch einer Deutschen Schule. In diesen Fällen kann es vorkommen, dass sich das Deutsche über sechs bis sieben Generationen hält (Franke 2008, S. 121), wie aus dem Zitat (4) deutlich <?page no="92"?> Anne-Katharina Harr 92 wird. Die Aussagen der Sprecherin zeigen unverkennbar ein starkes ethnolinguistisches Bewusstsein, das einen entscheidenden Einfluss auf den Spracherhalt ausübt. (4) [W 48 J.; Natal Midlands] Elmarie: Äh, unsere Vorfahren, (.) die sind so etwa in achtzehnhundertachtzig (.) ähm ausgewandert… Die Vorfahren von Carl [her husband] seiner Seite, das waren Missionare. (.) Aber von meiner Seite nicht, da waren keine Missionare dabei. Die sind dann als Handwerker mitgekommen (.) und kamen ürsprünglich aus der Lüneburg Heide, (.) also Norddeutschland. (0.2) Ähm, wenn ich jetzt an die Großkinder von meiner Schwester denk, die sind jetzt schon die sechste Generation (.) hier in Südafrika. (0.2) Und wir reden noch (.) nur Deutsch. (Franke 2008, S. 158) 5.2 Sprachlagengefüge (Regionaler Standard, Umgangssprache, Dialekte) Die Tatsache, dass in Südafrika die Deutschsprecher geographisch von der Gebersprache abgeschnitten sind und das Deutsche dort mit anderen Sprachen in Kontakt kommt, führte zur Entwicklung einer spezifischen Varietät, die gemeinhin als „Springbokdeutsch“ bezeichnet wird (de Kadt 1995, S. 111). Diese Varietät des Deutschen hat einige charakteristische Merkmale, auf die im Folgenden (Abschnitt 5.3) näher eingegangen wird, teilt jedoch aufgrund des starken Einflusses des Englischen auch eine Reihe von Besonderheiten mit deutschen Reliktvarietäten in den USA, Kanada, Namibia und Australien (de Kadt 1995, S. 112, vgl. ebenso die entsprechenden Länderartikel in diesem Band). Abgesehen vom Springbokdeutschen gibt es in Südafrika auch Sprecher von niederdeutschen Dialekten, von standarddeutschen Varietäten und von anderen deutschen Dialekten (zum Beispiel Berlinerisch) (Franke 2008, S. 138ff.). Letztgenannte Varietäten sind auf einzelne Sprecher oder Familien beschränkt, die entweder in der ersten Generation in Südafrika sind, nur vorübergehend in Südafrika leben oder sich längere Zeit in Deutschland aufhielten. Einige Sprecher v.a. in der Region um Wartburg und New Hanover verwenden immer noch das Niederdeutsche (umgangssprachlich auch als Plattdeutsch bezeichnet), das sie als Osnabrücker Platt oder einfach Osnabrück bezeichnen. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts ging das Niederdeutsche jedoch stark zurück und wird heutzutage nur noch von einigen wenigen Familien und/ oder älteren Sprechern verwendet, wie aus Beispiel (5) ersichtlich wird. (5) [M 36; Natal Midlands] Philip: mein Vater spricht Plattdeutsch. Ich weiß aber nicht, was für’n Dialekt… Franke: Ja, Hast du nie gelernt? Philip: Ähm. (.) Nein, nich, nich als solches obviously. (.) Er spricht aber noch öfter mit verschiedene Leute hier in der Gegend, die die Plattdeutsch könn. Er spricht immer Plattdeutsch mit sie… Ich hab nie mein Opa gekannt. Er is zwei Jahre bevor ich geborn war, is er gestorben. … Mein, mein Opa, ich denk, hatte hauptsächlich Plattdeutsch gesprochen. (0.2) Und ähm (.) mein Vater hat es dadurch gelernt. (.) Nein und er redet noch mit, ach, da sind verschiedene Leute in der Gegend, die es noch redenn, ja. Franke: Sind es vorrangig Ältere oder auch Jüngere? Philip: Hauptsächlich Ältere. (Franke 2008, S. 139f.) Niederdeutsch stiftet in bestimmten Situationen auch ein Gefühl von Zusammengehörigkeit, und die Sprecher sind stolz, es zu sprechen (vgl. Franke 2008, S. 140). Für alle in Südafrika gesprochenen Varietäten wurde festgestellt, dass die Aussprache des Deutschen dem umgangssprachlichen Hochdeutschen ähnelt, obwohl die meisten Einwanderer ursprünglich niederdeutsche Dialekte sprachen (de Kadt 1995, S. 112). Stielau (1980, S. 237) vermutet, dass dies durch „die bewusste Anstrengung gefördert [wurde], die hochdeutsche Schriftsprache statt des niederdeutschen Dialekts ein- und durchzuführen“, wodurch die Unterschiede der verschiedenen Ursprungsvarietäten schnell verloren gingen. Eine bedeutende Rolle bei der Nivellierung der verschiedenen Varietäten spielte darüber hinaus der Einfluss der deutschen Pfarrer und Schulen (de Kadt 1995, S. 112). <?page no="93"?> 3. Südafrika 93 Im folgenden Kapitel wird deutlich, dass es sich beim Springbokdeutschen eher um eine Situation der Spracherosion handelt, bei der die Sprecher in vielen Fällen unsicher sind, welche Konstruktionen sie verwenden sollen, als um ein sich neu entwickelndes sprachliches System (de Kadt 1985, S. 114). Dies ist insbesondere durch den übermächtigen Einfluss des Englischen und Afrikaans zu erklären, der je nach Region unterschiedlich ist. Durch die verschiedenen (regionalen) Varietäten des Springbokdeutschen ist es eher als ein Kontinuum zu sehen, nicht als eine einheitliche Varietät. In Bezug auf das Voranschreiten der Spracherosion (insbesondere der Kasusreduktion) wurde festgestellt, dass dieser in der nördlichen Natal-Region weiter fortgeschritten ist, was zum einen mit einer kulturellen und historischen Verbundenheit der Deutschsprecher dort mit Afrikaanssprechern zusammenhängt, zum anderen jedoch auch durch einem engeren Kontakt beider Sprachgruppen bedingt ist (Franke 2008, S. 277). 5.3 Sprachkontakterscheinungen Am deutlichsten grenzt sich das Springbokdeutsche im Bereich des Lexikons vom Standarddeutschen ab, auch wenn andere Ebenen wie die Morphosyntax ebenfalls betroffen sind. Der Entlehnungs-Skala von Thomason und Kaufman (1988, S. 65ff.) zufolge ist die Sprachkontaktsituation beim Springbokdeutschen lediglich auf der zweiten von fünf Intensitätsstufen anzusiedeln, da der Kontakt zwischen Englisch und Afrikaans auf der einen Seite und Deutsch auf der anderen Seite gemäßigt ist (Franke 2008, S. 257). Im Folgenden werden die wichtigsten Charakteristika der südafrikanischen Varietät im Bereich der Phonetik, des Lexikons, der Morphosyntax und Syntax näher ausgeführt. 5.3.1 Phonetik Ein Merkmal des Niederdeutschen ist im Bereich der Aussprache immer noch häufig zu beobachten, trotz des Übergangs in anderen Bereichen zum Hochdeutschen. Es handelt sich hierbei um die Realisierung der Frikativ- Plosivverbindungen wie st- und spals [st-] bzw. [sp-] und nicht wie in der deutschen Standardsprache als [ʃt] oder als [ʃp]. Der Erhalt dieser Aussprachevarianten kann durch den Einfluss des Englischen und Afrikaans erklärt werden, in denen solche Konsonantenverbindungen mit einem alevolaren Frikativ realisiert werden (de Kadt 1985, S. 112). Auch in Bezug auf die Prosodie wurde beobachtet, dass in der nördlichen Natal-Region ein Einfluss der afrikaansen Prosodie auf das Deutsche stattgefunden hat, während dies in der mittleren Natal-Region nicht der Fall ist (Franke 2008, S. 258). 5.3.2 Lexikon Die Einwanderer entlehnten Wörter der Umgebungssprachen dort, wo ihr eigener Wortschatz nicht genügte (Stielau 1980, S. 237). In diesem Bereich ist folglich der Einfluss der Kontaktsprachen am größten. Die Entlehnungen aus den Kontaktsprachen betreffen abgesehen von Inhaltsjedoch auch zunehmend Funktionswörter. Während eine große Anzahl der aus dem Englischen entlehnten Nomen nicht assimiliert wurde (zum Beispiel cool drink, jam), gab es auch eine Reihe von Formen, die (in erster Linie orthographisch) integriert wurden (zum Beispiel fence als Fenz, hooter als Huter) (de Kadt 1985, S. 112). In geringerem Ausmaß wurden auch Adjektive aus dem Englischen und Afrikaans entlehnt (zum Beispiel Ich bin busy Engl. ‚beschäftigt‘; Du bist mal Afr. ‚verrückt‘). Darüber hinaus wurden neue Wörter auf Basis der Wortbildungsmuster des Englischen und Afrikaans gebildet (zum Beispiel Grosskinder ‚Enkel‘, zu Engl. ‚grandchildren‘, Seekuh ‚Nilpferd‘ zu Afr. ‚seekoei‘). Abgesehen von diesen Wortneuschöpfungen gibt es auch Fälle, bei denen sich die Bedeutung eines bereits existierenden deutschen Wortes durch den Einfluss der Kontaktsprachen entweder verschob oder erweiterte. So wird Hochschule im Springbokdeutschen nicht mehr mit der Bedeutung ‚Universität‘ verwendet, sondern ist mit dem englischen high school gleichzusetzen. Das Wort Garage wurde durch die Bedeutung des englischen garage (‚Autowerkstatt‘) erweitert. Bedeutungsverschiebungen kommen <?page no="94"?> Anne-Katharina Harr 94 auch im Bereich der Verben vor, so bedeutet ringen in Südafrika ‚klingeln‘, was durch die Entlehnung des homonymen Verbs to ring zu erklären ist. Die Entlehnungen aus dem Zulu sind allesamt solche, die ebenfalls ins südafrikanische Englisch übernommen wurden (zum Beispiel muti ‚afrikanische Medizin‘, donga ‚trockener, ausgehöhlter Wasserlauf‘). Daher ist nicht klar, ob diese Wörter direkt aus dem Zulu entlehnt wurden oder über das Englische ins Springbokdeutsche kamen. Entlehnte Verben wurden in der Regel morphologisch integriert, was nicht nur durch die Verwendung der deutschen Flexion, sondern auch durch das Anfügen von Partikeln ersichtlich ist (zum Beispiel abswitchen Engl. to switch ‚ausmachen‘; kloppen Afr. ‚schlagen, besser sein‘). Im Bereich der Funktionswörter werden v.a. Konjunktionen und Präpositionen entlehnt bzw. die afrikaanse oder englische Bedeutung übertragen. So findet sich beispielsweise die Verbindung vor dass als Lehnübersetzung aus dem Afrikaans (voordat) mit der Bedeutung des deutschen bevor (Vor dass wir zur Wahl schreiten…, noch vor dass er kam… Stielau 1980, S. 59). Durch das Englische lässt sich die Verwendung der Subjunktion wenn mit der Bedeutung von als erklären. Diese Bedeutungsübertragung wird sicher durch die lautliche Ähnlichkeit von when und wenn verstärkt (Sie heiraten, wenn sie schon ziemlich alt waren. ebd.). Die vom Standarddeutschen abweichenden Präpositionen betreffen Adverbialen, Präpositionalattribute und Präpositionalobjekte, bei denen ebenfalls die entsprechenden Präpositionen des Englischen oder Afrikaans eingesetzt werden. So wird zum Beispiel die Wendung in the country bei der Äußerung Er hatte ein Gut im Lande eins zu eins übertragen (Stielau 1980, S. 69). Eine Übertragung aus dem Afrikaans ist in der Phrase Die Geschichte handelt über (statt von) … zu erkennen, wo die afrikaanse Konstruktion handeln oor zu erkennen ist (Stielau 1980, S. 70). 5.3.3 Morphologie und Morphosyntax Im Gegensatz zu früheren Studien, die von einem fortgeschrittenen Verfall des Kasussystems durch den Einfluss des Englischen und des Afrikaans berichteten (de Kadt 1995; Stielau 1980), zeigte Franke in ihrer Arbeit, dass mehrheitlich von einem intakten System ausgegangen werden kann, auch wenn Dativ und Akkusativ zunehmend verschmelzen. Hierbei ist der Kasusverlust in den nördlichen Natal-Regionen ausgeprägter als in anderen Gebieten (Franke 2008, S. 277). Dies hängt mit dem engen und intensiven Kontakt der Bewohner der nördlichen Natal-Region mit der afrikaanssprechenden Gemeinschaft dort zusammen, der dazu führt, dass sich die Deutschsprecher dort rasch mit den afrikaansen Werten identifizieren und deren Traditionen übernehmen, was auch eine Übernahme von deren Sprache zur Folge hat. Darüber hinaus sind Deutsch und Afrikaans typologisch enger verwandt, als dies bei Englisch der Fall ist, sodass der Druck des Kasusverlustes dadurch vermutlich erhöht wird (Franke 2008, S. 277). Artikel und Pronomen werden in Dativkontexten zu 75 Prozent wie im Standard flektiert, Adjektive jedoch nur zu 50 Prozent (Franke 2008, S. 269). Beispiel (6) zeigte einen nicht-standardsprachlichen Gebrauch eines Personalpronomens im Akkusativ. (6) Komm ich helf dich! Auch bei der Rektion von Präpositionen sind Unsicherheiten zu beobachten. So werden nach Präpositionen, die den Akkusativ fordern, fast alle Nominalphrasen wie im Standard markiert, jedoch stellte Franke nach Dativ regierenden Präpositionen 22 Prozent Nominalphrasen im Akkusativ fest (Franke 2008, S. 270). Am häufigsten sind Abweichungen vom Standard bei den Präpositionen nach, mit und von zu finden (s. Beispiel 7), weniger häufig bei zu, bei oder aus. (7) Und viele von die Schwarzen können auch Afrikaans. <?page no="95"?> 3. Südafrika 95 Bei Verben, die ein Dativobjekt fordern, werden in 35 Prozent der Fälle Akkusativobjekte produziert, wobei bestimmte Verben häufiger mit nicht-standardsprachlichem, andere häufiger mit standardsprachlichem Objekt verwendet werden (Franke 2008, S. 271). Helfen und geben werden sehr häufig - anders als in der Standardsprache - mit einem Akkusativobjekt verbunden (s. Beispiel 6 und 8), sagen und bringen hingegen eher selten. (8) Aber ich denke, wenn die Gemeinschaft sie eine Chance gegeben hätte… Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sowohl Dativ als auch Akkusativ noch verwendet werden, der Dativ jedoch in bestimmten Kontexten verschwindet. Grund dafür scheint eine Unsicherheit und Unklarheit seitens der Sprecher zu sein, die bei jüngeren Sprechern ausgeprägter ist (Franke 2008, S. 274). Darüber hinaus scheint es den Sprechern schwerer zu fallen, die standardsprachliche Kasusform von Nominalphrasen nach Verben zu verwenden als nach Präpositionen, wo der Kasus lexikalisch zugewiesen wird (vgl. dazu Riehl 2015 und Riehl in diesem Band). Die beschriebene Tendenz der Kasusreduktion lässt sich sowohl durch sprachinterne Faktoren als auch durch die Kontaktsituation erklären. So wurde auch in deutschen Dialekten und Varietäten ein Verlust des Dativs zu Gunsten des Akkusativs, insbesondere „bei nominalflektierenden Einheiten“, beobachtet (Schlobinski 1988, S. 224), ebenso wie in der Sprache anderer deutscher Sprachinseln (Clyne 1981; Fuller/ Gilbert 2003). Der zweite Faktor, die Kontaktsituation, hat den Kasusverlust beschleunigt bzw. wird ihn in Zukunft beschleunigen. Grund dafür ist die Tatsache, dass im Englischen und Afrikaans die Personalpronomen und Artikel im Genitiv, Dativ und Akkusativ die gleiche Form haben und keine der Sprachen Adjektive und Nomen in Bezug auf den Kasus flektiert. 17 Für weitere Details zu den Possessivkonstruktionen im Deutschen vgl. DUDEN-Grammatik (2016: 840) und Hentschel/ Weydt (1990). Als weiteres Beispiel für sich verändernde Strukturen im Bereich der Morphosyntax sollen Possessivkonstruktionen dienen, bei denen im Standarddeutschen zwischen den synthetischen prä- und postnominalen Konstruktionen (des Verkäufers Kasse vs. die Kasse des Verkäufers) sowie der analytischen postnominalen Struktur (das Haus von der Nachbarin) unterschieden wird. Dazu kommt in der Umgangssprache und in fast allen deutschen Dialekten noch eine periphrastische Possessivkonstruktion (dem Otto seine Sachen) vor, die auf die 3. Person (Singular/ Plural) beschränkt ist und häufig mit Eigennamen auftritt. 17 Anders als in verschiedenen deutschen Sprachinseln, wo die periphrastischen Konstruktionen die synthetischen und analytischen Strukturen immer mehr verdrängen (Huffines 1991), weist das Springbokdeutsche nur wenige dieser Konstruktionen auf (12 Prozent in Frankes Korpus, Franke 2008, S. 284). Die südafrikanischen Sprecher verwenden hingegen eine große Anzahl von synthetischen Genitivkonstruktionen (51 Prozent) und analytische Strukturen (37 Prozent). Im Gegensatz zum Standarddeutschen und dem Deutsch anderer Sprachenklaven werden die synthetischen Genitivkonstruktionen nicht nur mit Eigennamen jedoch ausschließlich mit belebten Entitäten gebildet und kommen sowohl im schriftlichen als auch mündlichen Sprachgebrauch vor. Die Verteilung der verschiedenen Possessivkonstruktionen scheint in allen Regionen ähnlich zu sein (Franke 2008, S. 285). In Bezug auf ihre Stellung beobachtete Franke, dass mehrheitlich pränominale Konstruktionen produziert wurden (97 Prozent), wobei die Possessor-NP meist aus Artikel + Nomen (Beispiel 9) oder einem Eigennamen (Beispiel 10) besteht (Franke 2008, S. 287f.). (9) Martins Frau (10) Vogts war ein Stationsvorstehers Sohn (11) meine Mutters Modeblatt (12) mein Vaters Schwesters Sohn <?page no="96"?> Anne-Katharina Harr 96 In Beispiel (10) fällt weiterhin auf, dass am Artikel kein Genitiv markiert wird, was wie auch in Beispiel (11) durch eine Interferenz des Englischen erklärt werden kann (Franke 2008, S. 292). 18 Aus diesem Grund ist das -s am Ende der Possessor-NP im Springbokdeutschen eher als invarianter Possessivmarker zu analysieren als als Genitivsuffix. In (12) handelt es sich um einen doppelten Sächsischen Genitiv, der im Standarddeutschen und auch im Deutsch anderer Sprachinseln als ungrammatisch eingestuft würde. Solche Konstruktionen waren im Mittelhochdeutschen weit verbreitet (zum Beispiel des Königs Kämmerers Braut aus Rückert 10, 21), doch nahm ihre Häufigkeit danach stark ab (Behagel 1923, S. 526f.). Das s-Suffix ist folglich kein aus dem Englischen entlehntes Morphem, sondern geht auf frühere Stufen des Deutschen zurück. Der Gebrauch des Sächsischen Genitivs lässt sich hingegen durch den Druck des Englischen erklären, da sich beide Possessivkonstruktionen in ihrer Oberflächenstruktur stark ähneln (Franke 2008, S. 293). Während der Genitiv in deutschen Varietäten immer mehr verschwindet, ist er im Springbokdeutschen noch relativ gut erhalten, wobei der Trend der Kasusreduktion auch hier, zum Beispiel bei der fehlenden Genitivmarkierung am Artikel in synthetischen Konstruktionen, zu beobachten ist (Franke 2008, S. 294). Analytische Konstruktionen, die in etwas mehr als ein Drittel der Fälle auftreten, werden, wie Beispiele (13) und (14) zeigen, mit belebten und unbelebten Entitäten verbunden. Dies entspricht dem Gebrauch im Standarddeutschen und anderen Varietäten des Deutschen (Franke 2008, S. 296). (13) die Schwester von mei’m Vater (14) der Name vom Buch Entgegen früherer Studien (Stielau 1980) zeigen neuere Untersuchungen, dass periphrastische Konstruktionen lediglich 12 Prozent aller Possessivstrukturen ausmachen (Franke 2008, 18 Im Afrikaans gib es keine synthetische Genitivkonstruktion, sondern nur periphrastische Strukturen (Donaldson 2002, S. 500). S. 296). Diese Art von Konstruktionen beschränkt sich auf belebte Entitäten und hierbei insbesondere auf Eigennamen (s. Beispiel 15). (15) Emil sein cell phone Stielaus Erklärung (1980, S. 216), dass solcherlei Konstruktionen durch das Afrikaans, wo es eine ähnliche Struktur gibt, verstärkt werden, ist laut Franke nicht haltbar, da es einen fundamentalen strukturellen Unterschied zwischen den Konstruktionen in den beiden Sprachen gibt (für weitere Details s. Franke 2008, S. 298). 5.3.4 Syntax Im Bereich der Syntax soll der Schwerpunkt in diesem Beitrag auf Infinitivergänzungen und der Wortreihenfolge liegen. Am Ende des Abschnittes werden der Vollständigkeit halber noch zwei weitere Phänomene kurz erwähnt (Futurkonstruktionen und das Hilfsverb tun). Im Standarddeutschen gibt es drei verschiedene Infinitivergänzungen: a) Infinitive ohne zu nach bestimmten Verben wie Modalverben, Verben der Wahrnehmung etc. (Ich höre sie kommen), b) Infinitivergänzungen mit zu in der Funktion eines Objektes (Er vergaß, ihm zu schreiben.) und c) adverbiale Infinitivkonstruktionen mit um… zu, die sich in einem mit der Subjunktion um eingeleiteten Nebensatz befinden (…, um nicht zu spät zu kommen.). Im Springbokdeutschen - wie auch in anderen deutschen Sprachenklaven (zum Beispiel Riehl 2014, S. 107) - wird die adverbiale Konstruktion um…zu auf Kontexte ausgeweitet, in denen im Standarddeutschen zu-Infinitive stehen würden, auch wenn solche Konstruktionen nicht sehr häufig sind (Franke 2008, S. 304; Stielau 1980, S. 213f.). Beispiel (16) illustriert eine solche Äußerung: (16) Er probiert um dem Vater zu helfen. (Stielau 1980, S. 213) Darüber hinaus treten, v.a. mit dem Verb brauchen, Infinitivkonstruktionen auf, in denen der Infinitivmarker zu nicht realisiert wird. Eine <?page no="97"?> 3. Südafrika 97 solche Konstruktion findet sich in (17). Es ist zu vermuten, dass in solchen Sätzen brauchen im Springbokdeutschen als Modalverb interpretiert wird. Dieses Phänomen, das bereits Ende des 19. Jahrhunderts in verschiedenen deutschen Varietäten auftrat (vgl. Elspaß 2005, S. 85), kann daher als die Weiterführung einer bereits aus Deutschland „importierten“ Entwicklung angesehen werden. (17) … dann brauch ich nicht ‘ne Brille rauftun. Es ist zu erwarten, dass das Ersetzen von zudurch um…zu-Konstruktionen in Zukunft verstärkt auftritt, da einerseits im Afrikaans ebenfalls die niederländische om…te-Konstruktion durch te-Konstruktionen ersetzt wird (Deumert 2004, S. 204f.) und andererseits auch im namibischen Deutsch und in der deutschen Umgangssprache ähnliche Tendenzen zu beobachten sind (Franke 2008, S. 305). Ein weiteres interessantes Phänomen im Springbokdeutschen ist die Wortstellung, die sich in einer Reihe von Fällen von der des Standarddeutschen unterscheidet. Dies betrifft zum einen die Tatsache, dass es eine Tendenz gibt, verbale Elemente in Kontaktstellung zu bringen, wodurch andere Konstituenten an den rechten Satzrand ausgeklammert werden. Zum anderen wird in Nebensätzen häufig das Verb an der zweiten statt an der letzten Stelle realisiert. In Bezug auf die Ausklammerung muss gesagt werden, dass es auch im aktuellen Standarddeutsch die Tendenz gibt, Konstituenten auszuklammern und diese in das Nachfeld zu stellen (Braun 1998, S. 125f.). 19 Werden Präpositionalphrasen oder Adverbien in der Funktion von Adverbialen ausgeklammert, bleiben die Sätze grammatisch. Dies ist jedoch nicht der Fall, wenn Nominalphrasen in der Funktion eines Objektes in das Nachfeld verschoben werden. Ein Beispiel für eine solche Struktur im Springbokdeutschen findet sich in Beispiel (18). Diese Art von Ausklammerung 19 Der Begriff Ausklammerung wird im Folgenden auf Konstituenten wie Adverbien, Präpositionalphrasen etc. in der Funktion von Adverbialen angewandt und nicht auf Nebensätze, Infinitivkonstruktionen oder tritt jedoch nur in 6 Prozent der Fälle auf (Franke 2008, S. 311). (18) Ich bin gewohnt ein Farmleben. Weitaus häufiger (88 Prozent) sind hingegen im Springbokdeutschen Konstruktionen, in denen Adverbien (v.a. temporal und lokal) und Präpositionalphrasen ausgeklammert werden (s. Beispiel 19 und 20). (19) Dann könn wir bei’n Basar Tee kaufen morgen. (20) Ich hab’n Busch Rosen von ihn gekriegt für mein Geburtstag. Schon Stielau (1980, S. 223f.) beobachtete dieses Phänomen und erklärte die Ausklammerung von Präpositionalphrasen dadurch, dass der Sprecher am Ende der Äußerung noch Informationen hinzufügte, die zu Beginn seines Satzbauplanes noch nicht vorgesehen waren (vgl. dazu auch Clyne 1967, S. 65). Abgesehen von diesen Typen der Ausklammerung werden in 6 Prozent der Fälle auch Modalpartikeln ins Nachfeld geschoben (s. Beispiel 21). (21) Kannst nächstes Mal bezahlen ruhig. Die Kontaktstellung der beiden verbalen Elemente ist ein typisches Phänomen deutscher Sprachinseln (Burridge 1998, S. 79; Riehl 2014, S. 107), das sowohl durch sprachinterne als auch -externe Faktoren erklärt werden kann. Als sprachinterner Faktor wird die Entwicklung in anderen germanischen Sprachen hin zu einer Kontaktstellung der verbalen Elemente betrachtet. Diese liegt bereits im Jiddischen und Niederländischen vor. Darüber hinaus finden sich diese Strukturen ebenfalls in älteren Sprachstufen des Deutschen, zum Beispiel im Mittelhochdeutschen und auch noch in der Sprache Luthers (Hawkins 1986, S. 149). In deutschen Varietäten, die sich in einer Sprachkontaktsituation mit dem Englischen befinden, beschleunigt die englische SVO-Stellung wahrscheinlich die Entwicklung Relativsätze, bei denen das Verb mehr als ein Argument hat. In diesen Fällen spricht man gemeinhin von Extraposition (Dalmas 1993). <?page no="98"?> Anne-Katharina Harr 98 hin zu SVO (Burridge 2007, S. 182f.). Afrikaans kann in diesem Fall nicht ausschlaggebend sein, da es wie das Standarddeutsche eine SOV-Stellung mit Verbzweitstellung im Hauptsatz hat (Donaldson 1993, S. 364). Das Englische übt daher in allen südafrikanischen Regionen einen Druck hin zu SVO aus, der vermutlich durch seine starke Präsenz insbesondere in den Medien erklärt werden kann (Franke 2008, S. 314). Die Verbklammer wird folglich im Springbokdeutschen, wie in anderen deutschen Varietäten, immer mehr aufgeweicht, indem Adverbien und Präpositionalphrasen ausgeklammert werden. Auch wenn Objekte nur selten ins Nachfeld geschoben werden, zeigt dies eine Tendenz hin zu einer SVO-Stellung, die nicht mehr durch Nachträge oder Ähnliches erklärt werden kann, sondern als ein syntaktischer Wandel betrachtet werden muss (Franke 2008, S. 316). In Bezug auf die Wortreihenfolge in Nebensätzen wird in vielen deutschen Varietäten eine Tendenz hin zur Verb-Zweitstellung (V2) beobachtet. Dies betrifft v.a. Sätze, die durch weil eingeleitet werden, aber auch solche, in denen sich die Subjunktionen obwohl, während und zu einem geringeren Maße auch wobei finden (Glück/ Sauer 1997, S. 39ff.; Günthner 2005). Es gibt verschiedene Erklärungen für diese Entwicklung. Hierbei wird argumentiert, dass die Nebensätze mit V2 eine andere diskurspragmatische Funktion haben (vgl. Schlobinski 1992, S. 334ff.; Gaumann 1983; Günthner 1996, 2005; Hawkins 1986) und dass diese Wortstellung auf das Althochdeutsche zurückgeht. Sogar im Mittelhochdeutschen wurde noch nicht durchgehend VL im Nebensatz genutzt (Wells 1985, S. 256). Die Daten von Franke (2008) zeigen, dass im Springbokdeutschen V2 am häufigsten in Nebensätzen mit weil produziert wird (53 Prozent - Beispiel 22), weniger häufig bei obwohl (26 Prozent - Beispiel 23) und kaum bei dass (5 Prozent - Beispiel 24). Darüber hinaus gibt es einige Fälle, bei denen dass ausgelassen wird, 20 In beiden Sprachen liegt nach der äquivalenten Subjunktion (because und wand) eine SVO-Reihenfolge vor. was zu ungrammatischen Sätzen führt (s. Beispiel 25), die wahrscheinlich eine Kontakterscheinung darstellen. Einerseits sind im Standarddeutschen solche Auslassungen kaum zu finden (bzw. treten dort nur bei indirekter Rede etc. auf), andererseits ist die Auslassung der Subjunktion im Englischen und Afrikaans häufig (Donaldson 1993, S. 315). (22) Dann muss ich es [Handy] bei mir haben, weil er hat mich jeden Tag angerufen. (23) Hier nach Südafrika für die Ausländer ‘ne Kanone reinzubringen fängt auch an schwieriger zu werden, obwohl es hat sich jetzt so ‘n bisschen normalisiert. (24) Wir werden es einfach nur machen, dass die lern zu sprechen. (25) … weil sie wissen, ich kenn sie auch schon lange. V2-Nebensätze sind in den Afrikaans dominierten nördlichen Natal-Regionen häufiger als in den übrigen Natal-Regionen, in denen Englisch vorherrschend ist. 20 Dies lässt sich insbesondere bei weil durch den intensiveren Kontakt zwischen Afrikaans- und Deutschsprechern im Norden erklären (Franke 2008, S. 325). Bei obwohl scheint es darüber hinaus einen pragmatischen Unterschied zwischen den Verbstellungstypen zu geben, indem bei „V2 der Dissonanzaspekt und Erwartungsbruch auf die Ebene kommunikativer Äußerungen übertragen“ wird, d.h. neue, überraschende Information im Nebensatz auftritt, bei VL jedoch eine generelle Dissonanz zwischen zwei Sachverhalten ausgedrückt wird (Günther 2005, S. 52). Den gleichen informationsstrukturellen Unterschied der beiden Verbstellungstypen gibt es auch bei weil, jedoch scheint er in diesem Kontext eine untergeordnete Rolle zu spielen Franke 2008, S. 330). Die Entwicklung hin zu V2 in Nebensätzen wurde auch in anderen Sprachinseln beobachtet (zum Beispiel Riehl 2014 für Russlanddeutsch und das Deutsch in Namibia). An dieser Stelle sollen noch zwei weitere Tendenzen kurz erwähnt werden. <?page no="99"?> 3. Südafrika 99 Erstens scheint es wie auch in anderen Sprachinseln (Pennsylvaniadeutsch, im Prozess auch im Namibiadeutschen, vgl. Burridge 1992, S. 206; Shah 2007, S. 33) eine Entwicklung hin zu einer Futur-Konstruktion mit gehen zu geben. 21 Im Springbokdeutschen treten ebenfalls solche Konstruktionen auf, die einen deutlich temporalen Aspekt haben und sich auf die unmittelbare Zukunft (Beispiel 26) oder auf hypothetische Ereignisse (Beispiel 27) beziehen. (26) Warum sagst du denn nicht, ich muss n Vortrag gehen ausarbeiten? (27) Oh sorry, ich geh nich sagen Doktor So-und-So! Diese Entwicklung, die bisher noch nicht sehr ausgeprägt ist, wird sicher in Zukunft durch ähnliche Strukturen im Englischen und Afrikaans vorangetrieben (Donaldson 1993, S. 363). Anzumerken ist an dieser Stelle auch, dass die Stellung des Hilfsverbs gehen links vom infiniten Hauptverb ebenfalls auf die äquivalente Struktur im Afrikaans zurückzuführen ist (ebd.). Zweitens wird eine Verwendung des Hilfsverbs tun äquivalent zum Englischen/ Afrikaans beobachtet. Franke beobachtete dieses Phänomen nur bei Sprechern der nördlichen Natal-Regionen und auch hier selten. Die Bedeutung der Konstruktion tun + Infinitiv dient im Springbokdeutschen dazu, Gewohnheiten auszudrücken (s. Beispiel 28, vgl. hierzu auch Riehl 2012). (28) Aber wie tut man nu weder teiln? Häufig wird tun als Vollverb an Stelle von machen verwendet, welches den gleichen Bedeutungsumfang und die gleiche Verwendungsweise wie Englisch do und Afrikaans doen hat. Darüber hinaus wird tun auch in der Funktion des englischen dummy-Verbs do verwendet, wie in (29), eine Antwort auf die Frage, ob der Sprecher noch Niederdeutsch spreche. (29) Nee, ich tu nich mehr. 21 Im Standarddeutschen ist solch eine Konstruktion nur im Zusammenhang mit Bewegung möglich (ich gehe einkaufen). 22 Nur die zahlreichen Entlehnungen aus dem Englischen, Afrikaans und auch Zulu, die bereits erwähnt 5.4 Code-Switching, Sprachmischung Zu Code-Switching bei südafrikanischen Deutschsprechern gibt es bislang keine Untersuchungen, und auch die Studien, die zum Springbokdeutschen vorgelegt wurden, haben diesem Sprachkontaktphänomen keine Beachtung geschenkt. 22 Nur am Rande erwähnen verschiedene Autoren, dass es insbesondere bei technischen Themen und wenn es um die Berufswelt geht, häufig zum Sprachwechsel zwischen Deutsch und Englisch oder Afrikaans kommt (Franke 2008, S. 155). Ähnlich wie in Australien (vgl. Riehl in diesem Band), handelt es sich in diesen Situationen folglich um funktionales Code-Switching in Konversationen, in denen beide Gesprächspartner das Deutsche und das Englisch/ Afrikaans beherrschen. Darüber hinaus tritt jedoch auch nichtfunktionales Code-Switching auf, wenn Sprecher bestimmte Wörter oder Phrasen leichter auf Englisch/ Afrikaans abrufen können als auf Deutsch bzw. diese im Deutschen evtl. gar nicht erworben haben. Dies zeigt sich am folgenden Beispiel (30), bei dem die Sprecherin die englische Wendung „ring a bell“ mit der Bedeutung von ‚Assoziationen hervorrufen‘ in einem deutschen Satz verwendet, vermutlich, weil ihr das deutsche Übersetzungsäquivalent fehlt oder der englische Ausdruck leichter aktiviert werden kann. (30) [W Alter unbekannt; Johannesburg] Manche Wörter hier, ähm, they ring a bell so wie Pott anstatt Topf. (AFS41NPW) Was die Häufigkeit des Code-Switchings innerhalb der Familie anbelangt, so halten manche Eltern ihre Kinder dazu an, Deutsch ohne Sprachmischungen zu sprechen, andere tolerieren das Switchen ihrer Kinder und produzieren selbst Code-Switching (Franke 2008, S. 159). Der Normalfall in Gesprächen zwischen südafrikanischen Deutschsprechern ist wurden, werden in den bisherigen Studien thematisiert (vgl. hierzu auch Nöckler 1963). Diese sind aber laut Riehl (2014, S. 22) nicht als Code-Switching einzustufen. <?page no="100"?> Anne-Katharina Harr 100 jedoch ein häufiges Switchen zwischen den beteiligten Sprachen. 6 Sprachgebrauch und -kompetenz 6.1 Allgemeines In Bezug auf Sprachgebrauch und Sprachkompetenz gibt es eine extreme Heterogenität innerhalb der Sprechergemeinschaft. Wie oben schon erwähnt, verwenden insbesondere kürzlich eingewanderte Sprecher, die v.a. in den großen Städten leben, eine Varietät, die dem umgangssprachlichen Standarddeutsch sehr nahe kommt. Gleiches gilt für diejenigen Sprecher, die länger in Deutschland gelebt haben (zum Beispiel, um dort zu studieren). Hierbei handelt es sich in vielen Fällen um (Deutsch-)Lehrer und Pfarrer der deutschsprachigen Gemeinden, die auch nach ihrer Ansiedelung in Südafrika den Kontakt zu Deutschland halten. Bei den übrigen Sprechern ist es meist so, dass die älteren Generationen das Deutsche besser beherrschen als die jüngeren. Aufgrund mangelnder Studien zu diesem Bereich werden im folgenden Kapitel v.a. Ergebnisse dreier Studien dargestellt, die die Sprachkompetenzen der Springbokdeutschsprecher untersuchten (de Kadt 1998, 2001; Franke 2008). 6.2 Einschätzung der Sprachkompetenz in den verschiedenen Varietäten De Kadt (2001) und Franke (2008) untersuchten die Einschätzung von 24 Schülern bzw. 17 Studenten bzgl. ihrer Sprachkompetenzen. Daten zu älteren Sprecher können nur einzelnen Interviews entnommen werden, wurden bisher jedoch nicht systematisch analysiert. Die Mehrheit der befragten Schüler und Studenten schätzt ihr Sprachverständnis von gesprochenem Deutsch als sehr gut ein (de Kadt 2001, S. 66; Franke 2008, S. 142). In Bezug auf die Sprachproduktion schätzen sich die meisten Sprecher etwas schlechter ein („gut“), wobei alle angaben, sie könnten all das ausdrücken, was sie wollten. Jedoch sind diese Angaben wenig zuverlässig, da jeder Sprecher etwas anderes unter dem Prädikat gut oder mäßig versteht. So bezogen sich einige Schüler auf das Hochdeutsche, wie es ihnen im Unterricht vermittelt wird, und schätzen ihre Fähigkeiten als gering ein, obwohl sie das umgangssprachliche Springbokdeutsche, bei dem Code-Switching zur Regel gehört, sehr gut beherrschen (Franke 2008, S. 143). 6.3 Sprachgebrauch: Domänen, Sprecherkonstellationen, Sprechertypen Wie bereits aus den vorherigen Kapiteln deutlich geworden ist, wird Deutsch in Südafrika v.a. in den Deutschen Schulen, den Lutherischen Gemeinden und in Familien verwendet, die diesen Gemeinden nahestehen. Gemeinhin wird davon ausgegangen, dass das Deutsche auch nur in religiösen Gemeinschaften erhalten bleibt, die sich durch das Praktizieren ihres Glaubens in deutscher Sprache identifizieren (vgl. de Kadt 2001, S. 62). Sobald die Sprecher sich in anderen Kontexten befinden, wechseln sie ins Englische. Diesen Wechsel kommentieren die Sprecher oft mit dem Satz „Man passt sich an.“ (de Kadt 2000, S. 79). Die Schüler in de Kadts Untersuchung gaben an, zwar mit ihren Eltern mehrheitlich Deutsch zu sprechen, wobei, sobald Verwandte und Freunde dazukommen, auch Englisch und/ oder Afrikaans gesprochen wird (de Kadt 2001, S. 66). In Bezug auf Freundschaften gaben sieben der 24 Jugendlichen an, nur deutschsprachige Freunde zu haben, fünf hatten nur englischsprachige Freunde und die restlichen sprachen sowohl Deutsch als auch Englisch mit ihren Freunden. Einige Kinder werden noch durch das Deutsche alphabetisiert, auch wenn ab der 5. Klasse nun in den meisten (ehemals deutschen) Schulen Englisch die Unterrichtssprache und Deutsch nur noch Schulfach ist. Dies führt dazu, dass die Schüler im Unterricht zwar in der Lage sind, das hochdeutsche Kasussystem korrekt anzuwenden, sie jedoch außerhalb des Unterrichts ins Spingbokdeutsche fallen - mit all den oben dargestellten grammatischen Besonderheiten (de Kadt 2001, <?page no="101"?> 3. Südafrika 101 S. 65). Auch die außerschulische Lektüre von Zeitschriften und Büchern ist bei den befragten Schülern minimal, sodass das Deutsche in Wartburg in erster Linie eine gesprochene Sprache ist. Der schriftliche Sprachgebrauch beschränkt sich auf das Bibelstudium, das Gesangbuch und den Katechismus, wobei sogar der Konfirmandenunterricht heutzutage meist auf Englisch abläuft, sodass die Jugendlichen oft nicht mehr in der Lage sind, die Lutherbibel oder den Kleinen Katechismus zu verstehen (Franke 2008, S. 163). Während die Erwachsenen vereinzelt Briefe an Verwandte und Freunde schreiben (de Kadt 2001, S. 66), werden schriftliche Texte bei den Schülern lediglich in der Schule produziert. Viele Eltern sind sich daher der tragenden Rolle der Schule beim Erhalt des Deutschen bewusst und unterstützen private deutsche Schulen sowohl materiell als auch finanziell in besonderem Maße (de Kadt 2000, S. 81). Lange Zeit war die Theologie-Abteilung der University of Natal in Petermatritzburg, die auf das lutherische Priesteramt vorbereitet und wo die Studenten gemeinsam in einem kleinen Studentenwohnheim untergebracht waren, ein deutschsprachiger Bereich. Durch die Politik der Öffnung werden seit den 1990er Jahren nun aber auch farbige Studenten aufgenommen, sodass die Abteilung nun ausschließlich englischsprachig ist (de Kadt 1998, S. 7). Aus diesen Ausführungen wurde deutlich, dass das südafrikanische Deutsch von Beginn an auf den häuslichen und kirchlichen Bereich beschränkt war und daher die Auswahl an Registern eingeschränkt war, was wiederum Einfluss auf den Spracherwerb der Kinder und Jugendlichen innerhalb dieser Gemeinschaft hat (de Kadt 2001, S. 73). Die Schule stellt daher die einzige Möglichkeit dar, den umgangssprachlichen Sprachstil auszuweiten und sich auch konzeptionell schriftliche Sprachkompetenzen anzueignen. Ein Hinweis darauf ist, dass viele der deutschsprachigen Studenten auch mit ihnen unbekannten Personen in formalen Situationen als Anrede die 2. Person Singular verwenden und nicht das formelle Sie (de Kadt 2001, S. 74). 7 Spracheinstellungen 7.1 Affektive Bewertung Wie in Kapitel 7.4. noch näher ausgeführt wird, sind die südafrikanischen Sprecher stolz auf das Deutsche und legen Wert darauf, die Sprache ihrer Vorfahren zu pflegen. Sie empfinden eine große Dankbarkeit, dass die Sprechergemeinschaft des Springbokdeutschen und damit das Deutschtum und der Lutherische Glaube sich lange Zeit so wenig mit den Kulturen anderer weißer Südafrikaner vermischt hat (Franke 2008, S. 216). In den Aussagen der beiden Sprecherinnen (Zitat 31 und 32) wird diese Einstellung besonders deutlich. Diese Entwicklung wird jedoch vermutlich durch die zunehmenden Mischehen nicht mehr lange andauern. (31) [W 72 J.; Northern Natal] Klara: ach, wir haben wirklich ein Schatz hier (.) an unsrer (.) Gottesdienst und den Unterricht, den unsre Kinder haben könn und alles. (0.2) Dass wir das alles noch haben dürfen, is ja wirklich nur ein Geschenk. (Franke 2008, S. 216) (32) [W 48 J.; Natal Midlands] Elmarie: und wir haben uns dadurch auch gegenseitig wieder Mut gemacht, dass wir bewusst sein sollen von und auch wirklich dafür danken, dass es nicht einfach nur, so hier nichts dir nichts is. Es ist wirklich für uns ein besondres Geschenk. … (Franke 2008, S. 216) Die Ergebnisse von de Kadts Fragebogen (2001, S. 66) zeigen, dass die Eltern der in der Region um Wartburg befragten Schüler Wert auf den Erhalt des Deutschen legen und mit ihren Kindern in erster Linie Deutsch sprechen. Dahingegen sind neun der 24 Kinder dem Deutschen gegenüber gleichgültig, auch wenn sie sich dessen bewusst sind, dass das Deutsche in Südafrika verloren geht (de Kadt 2001, S. 67). Alle befragten Deutschsprecher bezeichnen sich als Südafrikaner und berichten stolz, wie lange ihre Familien bereits in diesem Land leben und dass sie froh sind, die Sprache ihrer Vorfahren zu sprechen. Sie sind sich dessen bewusst, dass sie kein Hochdeutsch, sondern eben Springbokdeutsch sprechen, was ihre <?page no="102"?> Anne-Katharina Harr 102 ethnische Identität ausmacht (de Kadt 2001, S. 68). Diese Einstellung wird auch aus dem nachstehenden Zitat 33 deutlich. (33) [W 70 J.; Northern Natal] Rhea: Es is ja eigentlich hier besonders, (0.2) dass Deutsch noch viel länger gesprochen wurde. (.) Wenn auch südafrikanisches Deutsch. (.) Meine Großeltern, (.) meines Mannes Großeltern sind schon von Deutschland gekomm. (.) Bei mir is nur meine Eltern gekomm. Aber (.) (die) (.) über die Generationen hat es sich doch ziemlich gehalten. (.) Wenn auch, (.) … wir nenn es Springbokdeutsch. (.) So ‘n bisschen (.) fehlerhaft und wir haben die schönsten Ausdrücke oder die schrecklichsten manchmal. ((laughs)) (Franke 2008, S. 215) 7.2 Kosten-Nutzen-Kalkulation Da sich nur noch die älteren Generationen durch die deutsche Sprache identifizieren, ist es nicht verwunderlich, dass für die Jugendlichen und jungen Erwachsenen das Englische die wichtigste Sprache ist, die ihnen den Zugang zur Gesellschaft ermöglicht (Schaberg/ Barkhuizen 1998). Diese Tendenz wird sich in Zukunft noch verstärken, da für alle Arbeitsplätze die Beherrschung des Englischen Voraussetzung ist. Dennoch betrachten viele Sprecher das Deutsche als Sprache, die ihnen bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt verschafft, v.a. in Sektoren wie dem Tourismus und Handel (vgl. hierzu Zitat 34). (34) [M 28 J.; Natal Midlands] Philip: und (.) ich würde definitiv es tun wolln [maintaining German] und sogar probiern. Aber um ehrlich zu sein, denk ich, würde es schon sehr schwer sein. (.) Ich denk, das ‘n großen Wert, (.) dass man (.) eine extra Sprache hat. Macht nichts aus was es is. (.) Ähm. (.) Natürlich, (.) ich hab jetzt Deutsch als ‘ne extra Sprache, was ‘n großes Vorteil is (.) ähm in Südafrika und überall in der Welt. (Franke 2008, S. 221) Finanzierten bisher die Deutschsprecher einen Großteil der Kosten, die in den deutschen Schulen nicht vom Staat übernommen wurden, so scheint auch diese Gepflogenheit immer mehr zurückzugehen (de Kadt 2001, S. 67). 7.3 Einstellung gegenüber Dialekt und Hochsprache In den Interviews von Franke (2008, S. 143) gibt eine Schülerin zum Beispiel an, dass sie das umgangssprachliche Springbokdeutsch mit ihren Eltern und Freunden zwar gerne spreche, jedoch nicht das Hochdeutsche mit ihren Großeltern und dem Deutschlehrer, die sie korrigieren würden (s. Beispiel 35). Sie nimmt folglich wahr, dass sie zwei verschiedene Varietäten des Deutschen verwendet und ist sich auch ihrer „Fehler“ im „casual Deutsch“ bewusst. (35) [W 16J., Natal Midlands] Franke: Und Deutsch sprichst du nich gerne? Inga: Ja, ich weiß nicht, es ist irgendwie. (.) Wenn es so ‘n casual Deutsch ist, dann is’ es fine, aber wenn es so was wie mit Herrn K. [Deutschlehrer aus Deutschland] (.) wo man so ganz aufpassn muss, was man sagt und so, dann… Franke: Ok. (0.3) Also denkst du, dass das Deutsch, was du zu Hause oder mit Freunden oder wem auch immer redest, sich sehr unterscheidet von dem Deutsch, was du in der Schule reden musst? Inga: Also. (.) Also wenn ich mit mein Großeltern spreche, die sind Hochdeutsch. (.) Die, ja (.) und also mit den(en) muss man auch so ungefähr aufpassen, was man sagt und so. Die korrigieren auch. (.) Aber mit mein Eltern und mit mein Freunden is mehr so ‘n casual (.) Und denn in der Klasse muss man auch aufpassen, was man sagt oder so. … ( Franke 2008, S. 143) Der Gebrauch des Hochdeutschen im Klassenzimmer bleibt daher künstlich (de Kadt 2001, S. 68). Dennoch legen viele Eltern immer noch darauf Wert, dass ihre Kinder diese Varietät erlernen, v.a. wenn sie selbst in der Lage sind, Standarddeutsch zu sprechen (Franke 2008, S. 159; Schaberg/ Barkhuizen 1998, S. 7). So kommt es immer noch vor, dass Eltern oder Großeltern Grammatik- oder Ausdrucksfehler ihrer Kinder bzw. Enkel korrigieren wie dies in Zitat 36 beschrieben wird. <?page no="103"?> 3. Südafrika 103 (36) [W 38 J.; Northern Natal] Ich denke meine Eltern, (.) überhaupt meine Mutter, juch! (.) Sie war sehr streng mit uns. (.) Wenn wir gesagt haben ‘mit mich’, (.) dann haben wir’s gut zu hören gekriegt. … (Franke 2008, S. 159) 7.4 Deutsch als Identitätsmerkmal Die deutsche Sprache zusammen mit dem deutschen Protestantismus sind die zentralen Kennzeichen, durch die sich die südafrikanischen Deutschsprecher identifizieren und die sie zu einer ethnischen Gruppe machen (de Kadt 2000, S. 75). Die Identifizierung mit Deutschland wird durch das Beibehalten von kulturellen Traditionen, wie den deutschen Weihnachts- und Osterbräuchen, den Posaunenchören oder die Art bestimmte deutsche Gerichte zuzubereiten, noch verstärkt (de Kadt 2000, S. 76; 2001, S. 62). Dies passiert oft auch noch dann, wenn die deutsche Sprache schon verlorenen gegangen ist, wie die Aussage einer jungen Frau zeigt, die in einer deutschsprachigen Familie aufgewachsen ist (Zitat 37). (37) [W Alter und Ort unbekannt] Kirsten: Although the language is missing, I definitely keep up the culture side. (Schaberg/ Barkhuizen 1998, S. 6) Obwohl sich die südafrikanischen Deutschsprecher als Südafrikaner bezeichnen, sind sie auf ihr „Deutschtum“ und ihr „Anders-Sein“ stolz. Dies ist für viele eine Möglichkeit, das zu erhalten, was sie sind (zum Beispiel Sprecher des Springbokdeutschen), und sich daran zu erinnern, woher sie kommen (zum Beispiel Nachfahren von Missionaren und Siedlern aus Norddeutschland). Folgende Aussage einer Sprecherin (Zitat 38) verdeutlicht, dass es für sie, wie für viele andere immer noch wichtig ist, sich in Südafrika seiner deutschen Wurzeln bewusst zu sein und diese Einstellung auch an die nächste Generation weiterzugeben. (38) [W 48 J.; Natal Midlands] Elmarie: da sind trotzdem noch genug Deutsche, dass da auch noch Deutsch geredet wird. Die deutschen Sitten und Traditionen, die man auch pflegen will, zu Weihnachten mit Advent und (.) ähm. Dadas is alles für mich Teil von der ganzen Sache… Und ähm an der Stelle könnt ich vielleicht auch sagen, (.) ähm find ich, is es auch sehr gut, wenn man [mit] den Kindern (.) über (.) äh das Thema redet (.) ‘Wo komm wir eigentlich her? ’ (.) ‘Warum bist du eigentlich in Südafrika? ’ (.) ‘Wer warn deine Vorfahrn? Wo kam sie her aus Deutschland? ’ (.) Dass sie wissen ‘Ich bin ein Teil von ein großen Puzzel. Ich bin nich einfach nur durch Zufall hier. Da is’n Grund weswegen ich hier bin.’ oder so. Und ich finde das is so gut, wenn sie drauf aufmerksam gemacht werdn. (.) Ähm, (.) das legt auch irgendwie wieder Wert auf (.) dieses ich, ich bin deutsche Südafrikaner. … (Franke 2008, S. 215) Dieses Deutschtum ist insbesondere durch Werte geprägt, die auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückgehen, wo sich die Deutschen des Klassenunterschiedes zwischen ihnen und den englischen Siedlern bewusst wurden. Schon zu diesem Zeitpunkt war die Sprache ein sehr wichtiges identitätsstiftendes Merkmal, das „entpolitisiert, mythologisiert und mit Werten wie Rechtschaffenheit, Fleiß, Gewissenhaftigkeit, Ehrlichkeit, Erdgebundenheit und Gläubigkeit assoziiert wurde“ (de Kadt 1998, S. 10). Die deutschsprachigen Südafrikaner werden noch heute als solche Leute angesehen, die diese Werte verkörpern (de Kadt 2000, S. 76). Darüber hinaus sind die Menschen immer noch stolz auf diese Werte, die für sie einen Teil ihrer Kultur ausmachen, mit dem sie sich von anderen ethnischen Gruppen abgrenzt. Dies wird in der folgenden Aussage einer Deutschsprecherin (39) deutlich. (39) [W Alter unbekannt; Johannesburg] Michelle: […] sowie als auch die Sprache is da auch sind da auch ähm Arten und Weisen wie man mit anderen Leuten umgeht und wie man zu seiner Ehre hält und wie gut man nun organisiert ist ja und alle solche Sachen. Dass die Identität doch da liegt, wo die Werte liegen und die Werte werden von der Kultur auch geprägt. (AFS41NPW) Der Grund, warum die deutsche Kultur so lange erhalten blieb, besteht darin, dass diese isoliert auf dem Land nur von der Kultur der <?page no="104"?> Anne-Katharina Harr 104 Zulu herausgefordert wurde, die jedoch viel zu wenig dominant war, um die deutsche Kultur beeinflussen zu können. Unter den Deutschsprechern gibt es einen engen Zusammenhalt, der seine Wurzeln vermutlich in den Kirchengemeinden hat, der aber auch darüber hinaus zu beobachten ist. Dieser „Gemeinschaftssinn“ setzt Verbindlichkeit voraus, wie er in vielerlei Hinsicht noch heute zu beobachten ist (de Kadt 2000, S. 82). Aber nicht nur die Beherrschung der deutschen Sprache, das Ausüben der Kultur und der Religion spielen eine Rolle, sondern für manche ist es schon allein die Tatsache, von deutschen Einwanderern abzustammen, die dazu beiträgt, dass sie sich als Gruppe von den Südafrikanern abgrenzen (de Kadt 2000, S. 78). Diese „Deutschstämmigkeit“ wird von den betreffenden Personen selbst als eine Art genetische Abstammung betrachtet (de Kadt 2000, S. 78). Die Auswanderungsgeschichte wird von Generation zu Generation weitergegeben, und auch in der sechsten oder siebten Generation weiß man noch, woher die Vorfahren stammten (de Kadt 2000, S. 83). Dennoch grenzen sich die Sprecher deutlich von den Deutschen in Deutschland ab, indem sie betonen, dass sie im Gegensatz zu diesen freundlich und entspannt sind (Franke 2008, S. 217). Darüber hinaus sind sie sich dessen bewusst, dass die Werte im Deutschland des 21. Jahrhunderts andere sind als diejenigen, die ihre Vorfahren mit nach Südafrika brachten und die sie immer noch hochhalten. Dies wird besonders durch die Aussage eines 36jährigen Sprechers deutlich (s. Beispiel 40): (40) [M 36 J.; Natal Midlands] Ludwig: Also (.) also, das, das, das Bild was man als Südafrikaner (.) in meiner Erfahrung hat von Deutsche aus Deutschland sind Leute, die hart arbeiten, die sehr genau arbeiten. … Und was man jetzt (.) so erfährt oder was ich jetzt erfahren hab, ist dass (.) in Deutschland is’es man eigentlich so wie irgendein andres Land. (.) Ähm (.) pride in their work (.) is nich mehr so da. … Aber (.) diesdie Einstellung (auf) (.) pride in the country, pride in being german (.) ähm (.) work ethic und so weiter. (.) Ähm (.) das hab ich mir immer vorgestellt. (.) Und das hab ich von meine Eltern und sie von ihre Eltern gekriegt. (.) Weil (.) zu der Zeit wie ihre Familien von Deutschland kam, war das so. … Franke: Also ist dir das Deutschland von heute in dem Sinne fremd? Ludwig: Ja! Ich denke so. … Also wenn man nun hier sagt, (.) seh ich mich an als deutschstämmig [an]? (.) In a sense, ja. (.) Aber vielleicht mehr (.) durch jetzt diese Erfahrungen (.) als jemand der deutsch spricht, der in Südafrika wohnt. Aber (.) aber das Deutschland, das ich dachte das existiert, (.) existiert nicht mehr. (.) War vielleicht nie da. … (Franke 2008, S. 219) Die folgenden Zitate zeigen, dass die deutschstämmigen Südafrikaner unterschiedliche Aussagen bezüglich ihrer Identität treffen und es sich dabei meist um eine instabile Identität handelt (Franke 2008, S. 216). Einigen scheint es wichtig zu sein, beide Nationalitäten gleichberechtigt aneinanderzureihen (Zitat 41) bzw. die deutsche Sprache als spezifisches Merkmal hinzuzunehmen (Zitat 42), um sich von anderen Südafrikanern abzugrenzen. (41) [W Alter unbekannt; Johannesburg] Interviewer: Wie würdest du dich denn bezeichnen? Michelle: Ich würde wirklich sagen, ich als [/ ] als ein Wort südafrikanisch deutsch. (AFS41NPW) (42) [W Alter unbekannt; Kapstadt) Sonja: I would call myself South African, Germanspeaking South African even. (Schaberg/ Barkhuizen 1998, S. 7) Eine deutschstämmige junge Frau, deren Mutter wieder zurück nach Deutschland ging, die jedoch mit einem Südafrikaner in Südafrika verheiratet ist, bezeichnet sich sogar als Deutsche, auch wenn die Antwort ihr nicht leichtfällt und der letzte Satz des folgenden Zitates doch zeigt, dass ihr Herz für Südafrika schlägt (Zitat 43). (43) [W Alter und Ort unbekannt] Antje: If you ask me if I regard myself a German or a South African, I would still say German in a way… Ever since my family has moved back to Germany, my affiliation to Germany has become stronger again. But if Germany has to play against South Africa in a sport, I would <?page no="105"?> 3. Südafrika 105 choose South Africa. (Schaberg/ Barkhuizen 1998, S. 8f.) Anderen scheint die Nationalität nicht wichtig zu sein, sie fühlen sich in Südafrika als eine „international person“ (vgl. Zitat 44). (44) [W Alter und Ort unbekannt] Kirsten: ,I’m a different person… then [in Deutschland, AKH] I am German… But here [in Südafrika, AKH] I am not a German. Here I am an international person. (Schaberg/ Barkhuizen 1998, S. 6) Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Deutschen in Südafrika sich mehrheitlich als Südafrikaner deutscher Herkunft verstehen. Hierbei spielen je nach Individuum verschiedene Aspekte (die Sprache, die als typisch deutsch angesehenen Werte, die deutsche Kultur, der deutsche Protestantismus) eine unterschiedlich wichtige Rolle (Schaberg/ Barkhuizen 1998, S. 11; de Kadt 2000, S. 74). 8 Faktorenspezifik Das Deutsche hat sich in Südafrika länger gehalten, als dies bei vielen anderen Sprachinseln der Fall ist. Der Grund hierfür ist zum einen die Bedeutung der deutschen Sprache für die Identität derjenigen, die von deutschen Siedlern abstammen und die in den meisten Fällen stolz auf ihre Abstammung sind (de Kadt 2000, S. 86). Zum anderen ist das Deutsche eng mit dem protestantischen Glauben verbunden, der in den deutschsprachigen lutherischen Gemeinden praktiziert wird, zu denen die Mehrheit der Sprecher gehört. Durch die vielen Gemeindeaktivitäten, die reges Interesse finden, die immer noch vorhandenen (wenn auch weniger gewordenen) deutschen Schulen und die Tendenz der Deutschsprecher, untereinander zu heiraten, ist das Deutsche bis heute oft noch in der siebten Generation erhalten geblieben. Verschiedene Faktoren führen jedoch dazu, dass sich diese Entwicklung in den letzten Jahren bzw. Jahrzehnten veränderte und die Anzahl der Sprecher immer weiter abnimmt. Ein Grund sind die Mischehen zwischen einem Deutschsprecher und einem Englischbzw. Afrikaanssprecher, die dazu führen, dass die Kinder aus diesen Ehen in der Regel nur noch mit Englisch/ Afrikaans aufwachsen, auch wenn manche Eltern eine bilinguale Erziehung anstreben (de Kadt 2000, S. 80). Ein weiterer Faktor sind die seit der Mitte des 20. Jahrhunderts stattfindenden gesellschaftlichen Veränderungen, wie beispielsweise die Tatsache, dass die Familien innerhalb der deutschen Sprechergemeinschaft immer weniger Kinder haben und die wenigen Kinder später oft zum Studieren oder Arbeiten in die großen Städte gehen, wo sie hauptsächlich Englisch bzw. Afrikaans sprechen. Darüber hinaus wenden sich immer mehr Leute von den deutschsprachigen Kirchengemeinden ab, entweder weil sie sich einer englischsprachigen Gemeinde anschließen, in der die Gottesdienste lebendiger sind, oder weil sie den Ansprüchen der anderen Gemeindemitglieder (Verpflichtung zum Zusammenhalt, Engagement etc.) nicht gerecht werden können oder wollen. Sobald die Sprecher folglich weniger mit der Gemeinde zu tun haben, tendieren sie dazu, zum Afrikaans oder Englisch zu wechseln (Franke 2008, S. 230). Die deutsche Sprache wird in Südafrika sicher weiter gesprochen - auch als Muttersprache. Es ist jedoch zu vermuten, dass es sich mittelfristig v.a. um Deutschsprecher handeln wird, die aus beruflichen Gründen in Südafrika (v.a. in den großen Städten) leben und dort ihre Kinder deutsch bzw. bilingual erziehen. Sie werden jedoch sicher darauf achten, dass sie das Deutsche beherrschen, weil sie nur vorübergehend in Südafrika leben, eine Rückkehr nach Deutschland also geplant ist. Wie sich das Deutsche in den ländlichen Regionen entwickeln wird, kann nur schwerlich prognostiziert werden. Sicher ist, dass der Verlauf „mit den Schulen stehen und fallen“ wird (de Kadt 1998, S. 12). Das bedeutet, dass die Deutschsprecher „ihre“ Schulen finanziell unterstützen müssen, was sie sicher nur machen werden, wenn ihnen viel am Erhalt der deutschen Sprache liegt. Abschließend ist festzustellen, dass es aktuell kaum Forschung zum Deutschen in Südaf- <?page no="106"?> Anne-Katharina Harr 106 rika gibt und daher in diesem letzten Teil größtenteils nur Vermutungen und Plausibilitätsüberlegungen angestellt werden konnten. 9 Literatur Beck, Roger B. (2014): The history of South Africa. Santa Barbara, CA u.a.: Greenwood. Behagel, Otto (1923): Deutsche Syntax 1: Die Wortklassen und Wortformen: Nomen, Pronomen. Eine geschichtliche Darstellung. Heidelberg: Winter. Böhm, Michael A. (2003): Deutsch in Afrika: Die Stellung der deutschen Sprache in Afrika vor dem Hintergrund der bildungs- und sprachpolitischen Gegebenheiten sowie der deutschen Auswärtigen Kulturpolitik. Frankfurt am Main u.a.: Lang. Braun, Peter (1998): Tendenzen in der deutschen Gegenwartssprache: Sprachvarietäten. 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Oxford: Clarendon Press. <?page no="109"?> Namibia 4 Katharina Dück <?page no="110"?> Inhalt 1 Geographische Lage.......................................................................................................................111 2 Statistik und Demographie ...........................................................................................................112 3 Geschichte .......................................................................................................................................113 4 Wirtschaft, Politik, Kultur, rechtliche Stellung..........................................................................114 4.1 Wirtschaftliche Situation .......................................................................................................114 4.2 Rechtliche Stellung des Deutschen: Schulsystem, Sprachregelungen ...........................115 4.3 Kulturelle Institutionen, Verbände, Medien......................................................................117 5 Sprachen und Varietäten im Kontaktgebiet...............................................................................119 5.1 Kontaktsprachen ....................................................................................................................119 5.2 Sprachlagengefüge: Regionaler Standard, Umgangssprache, Dialekte..........................120 5.2.1 Namdeutsch deutschstämmiger Siedler ...................................................................120 5.2.2 Namslang .......................................................................................................................121 5.2.3 Küchendeutsch.............................................................................................................121 5.3 Sprachkontakterscheinungen im Namdeutschen..............................................................122 5.3.1 Lexikalische Transfererscheinungen.........................................................................122 5.3.2 Semantische Transfererscheinungen ........................................................................124 5.3.3 Transfererscheinungen im Bereich der Syntax und der Morphologie................124 5.4 Code-Switching, Sprachmischung .......................................................................................125 6 Sprachgebrauch und -kompetenz ................................................................................................125 7 Spracheinstellungen........................................................................................................................126 8 Faktorenspezifik .............................................................................................................................127 9 Literatur............................................................................................................................................128 <?page no="111"?> 1 Geographische Lage Die Republik Namibia liegt zwischen 17,5° und 29° südlicher Breite sowie 12° und 25° östlicher Länge im Südwesten Afrikas. Im Norden grenzt sie mit dem Kunene-Fluss an Angola (1376 km), im Osten an Botswana (1360 km), im Süden mit dem Oranje-Fluss an Südafrika (855 km) und im Westen an den Südatlantik (1572 km Küstenlänge). Im Nordosten gibt es einen rund 500 km langen und bis zu 100 km breiten Landstreifen, den sogenannten Caprivizipfel, der nördlich an Angola und Sambia (233 km) und südlich an Botswana grenzt. Gegliedert ist Namibia im Wesentlichen durch drei Naturräume: einen Küstenstreifen, der sich durch die Namibsowie Skelettwüste auszeichnet, die Große Randstufe und das Binnenhochland, welches im Osten in das Kalahari-Becken übergeht. Insgesamt umfasst das Staatsgebiet Namibias 824.292 km 2 , ist landschaftlich allerdings stark durch die beiden Wüsten - im Westen eben durch die Namib-Wüste und die Skelettwüste und im Osten durch die Kalahari-Wüste - geprägt, sodass die Republik nur auf eine Landnutzung und einen Flächenverbrauch von 3,5 Prozent kommt. Das heutige Siedlungsgebiet der Deutschnamibier/ innen erstreckt sich über das gesamte bewohnte Land, wobei neben Swakopmund die Hauptstadt Windhoek das größte Ballungsgebiet darstellt. Abb. 1: Topographische Karte Namibia (Quelle: Kelisi. In: Wikimedia Commons, https: / / commons. wikimedia.org/ wiki/ File: Namibiamap.png) <?page no="112"?> Katharina Dück 112 2 Statistik und Demographie Auf einer Fläche von 824.292 km 2 bevölkern 2.3 Millionen (Stand 2017) Menschen bei einer Wachstumsrate von 1,9% das Staatsgebiet Namibias, sodass auf jeden Quadratkilometer Landesfläche statistisch 2,8 Einwohner kommen (zum Vergleich: in Deutschland sind es 231 Einwohner/ km 2 ). Damit nimmt Namibia nach der Mongolei den zweiten Platz der am dünnsten besiedelten unabhängigen Staaten der Welt ein. Die Bevölkerung verteilt sich ungleichmäßig: Rund zwei Drittel aller Bewohner konzentrieren sich auf den fruchtbaren Norden des Landes und die wenigen Städte, rund ein Drittel lebt in Zentralnamibia, im Süden leben 7 Prozent. Der Westen sowie die Namib-Wüste sind, wenn man von den Hafenstädten absieht, nahezu unbewohnt. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt in ländlichen Gebieten. Namibia ist ein Vielvölkerstaat; er wird bewohnt von den ethnischen Gruppen der San (diese gelten als Ureinwohner Namibias), Damara (Ureinwohner Südwestafrikas mit 7 bis 8 Prozent der Gesamtbevölkerung), Ovambo (mit 49,8 Prozent das größte Volk Namibias, das im 16. und 17. Jhd. in Namibia einwanderte), Kavango (Zuwanderer wohl aus Ostafrika), Herero (Zuwanderer aus Ostafrika seit dem 16. Jahrhundert, heute leben 100.000 in Namibia), Himba (afrikanisches Hirtenvolk), Nama (Zuwanderer aus der Kapregion im 18. und 19. Jahrhundert), Caprivianer (rund 90.000 im Nordosten Namibias lebend), Rehobother Baster (rund 30.000, Nachkommen von holländischen Siedlern der Kapregion und einheimischen Nama-Frauen) sowie rund 5 Prozent Eingewanderten mit europäischer Abstammung. Von letzteren sind 90.000 Afrikaaner bzw. Buren, 22.000 deutschstämmige Abb. 2: Demographische Karte von Namibia (Quelle: Sascha Picard. In: Wikimedia Commons, https: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Namibia#/ media/ File: Namibia_Population_Density_(2011).jpg) <?page no="113"?> 4. Namibia 113 Siedler, die sowohl Nachkommen der Siedler aus der Kolonialzeit als auch erst kürzlich eingewanderte Deutsche umfassen (letztere werden von den Deutschnamibiern ,Deutschländer‘ genannt), und rund 5.000 Portugiesen. In Windhoek (300.000 Einwohner) machen die Deutschnamibier/ innen zahlenmäßig lediglich etwas weniger als ein Prozent der Bevölkerung aus, doch ist ihr wirtschaftlicher Einfluss nicht unbedeutend. Das Deutsche ist in der Sprachlandschaft der Hauptstadt recht präsent. Auch sonst gibt es zahlreiche deutsche Ortsnamen auf der Landkarte, beispielsweise Maltahöhe, Mariental, Seeheim u.a.). 3 Geschichte Die besondere Stellung des Deutschen in Namibia ist auf die Kolonie Deutsch-Südwestafrika in den Jahren 1884 bis 1915/ 20 zurückzuführen. Doch ist die deutsche Sprache bereits 1842 mit der Missionierung durch die Rheinische Missionsgesellschaft erstmals ins südliche Afrika gelangt: zunächst nach Südafrika, später in die nördlich des Oranje-Flusses gelegenen Gebiete der Herero und Nama. Dort haben die Missionare auch die ersten Schulen für die einheimische Bevölkerung errichtet (Bedi 2006, S. 207; Böhm 2003, S. 526); an diesen Schulen wurde der Unterricht für die Einheimischen im Allgemeinen in den jeweiligen afrikanischen Sprachen abgehalten, zusätzlich wurde Deutsch als Fremdsprache unterrichtet. 1884 wurde das heutige Namibia unter dem Namen „Deutsch-Südwestafrika“ durch Bismarck zunächst zum „Schutzgebiet“ erklärt und bald darauf zur Kolonie des deutschen Kaiserreichs, nachdem ein umstrittener Kaufvertrag zwischen Heinrich Vogelsang und Kaptein Josef Frederik über die Bucht Angra Pequena (heute Lüderitz) und das umliegende Land abgeschlossen worden war. 1890 errichtete Gouverneur von Francois in Klein Winterhoek eine Feste, wonach sich zusammen mit der Schutztruppe rund 12.000 deutsche Siedler (vgl. Böhm 2003, S. 536) im zentralen und südlichen Teil des Landes, der sogenannten Polizeizone, niederließen (Zappen-Thomson 2014a, S. 53). 1892 verlangte von Francois, dass alle ,weißen‘ Kinder, ungeachtet ihrer Muttersprache, deutsche Schulen zu besuchen hätten. Helene Nitze wurde die erste Lehrerin der 1894 eröffneten Schule in Windhoek (Zappen-Thomson 2014a, S. 54). Für Afrikaans-Sprecher wurden erst nach 1906 Schulen eröffnet. 1909 wurde schließlich die Kaiserliche Realschule in Windhoek gegründet, damit deutschsprachige Kinder zur Weiterbildung nicht nach Deutschland reisen mussten. Ein besonders tragisches Kapitel in der deutsch-namibischen Geschichte ist der von 1904 bis 1908 andauernde „Herero-Nama- Krieg“. Schon seit 1889 kam es wiederholt zu Aufständen der Nama und Herero gegen die deutsche Kolonialmacht. 1904 wurden die Herero in der Waterbergerschlacht niedergeschlagen und in die fast wasserlose Omaheke- Wüste gedrängt, wo viele von ihnen umkamen. Ende desselben Jahres begannen Aufstände durch die Nama, die erst 1908 nach vielen Verlusten durch sogenannte „Unterwerfungsverträge“ beendet wurden. Nach den Kampfhandlungen wurden die Herero und Nama in Konzentrationslagern interniert, in denen etwa jeder zweite starb. Der Krieg in Deutsch-Südwestafrika hatte 40.000 bis 60.000 Herero sowie etwa 10.000 Nama das Leben gekostet. 2015 wurden die Ereignisse vom deutschen Auswärtigen Amt erstmals als Völkermord bezeichnet. Bis heute ist dieses historisches Kapitel fester Bestandteil der Sektion Deutsch des Department of Language and Literature Studies in der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Namibia (Zappen- Thomson 2014b, S. 48). Mit der Besatzung südafrikanischer Truppen im Jahre 1915 endete die rund 30-jährige Kolonialzeit. Im Februar 1915 übernahm der südafrikanische Premierminister General Louis Botha den Oberbefehl über die Unionstruppen; im Juli 1915 kapitulierte Gouverneur Theodor Seitz bei Khorab. Mit Artikel 119 des Versailler Vertrags trat das Deutsche Reich zum Ende des Ersten Weltkrieges seine Kolonien ab, so dass Namibia 1920 zunächst unter südwestafrikanisches Protektorat gestellt und schließlich zum C-Mandatsgebiet des Völker- <?page no="114"?> Katharina Dück 114 bundes erklärt wurde. Ab 1921 ging die Verwaltung Südwestafrikas an Südafrika über, was zu Folge hatte, dass Englisch und Niederländisch als Amtssprachen von der Südafrikanischen Union übernommen wurden. Gleichzeitig änderten sich damit die Mehrheitsverhältnisse der einzelnen Gruppen (Deutsche, Buren und Engländer; Pütz 1991, S. 457ff.). Im Mittelpunkt südafrikanischer Bildungspolitik stand die Ausbildung europäischstämmiger Kinder, für die eine allgemeine Schulpflicht galt; für einheimische Kinder war weder Schulpflicht noch eine höhere Bildung vorgesehen (Böhm 2003, S. 519). Ab 1925 wurde in Südafrika und folglich auch in Südwestafrika Niederländisch als Amtssprache durch Afrikaans ersetzt (Pütz 1991, S. 526). Seit 1915 bereits erfolgten Schließungen deutscher Schulen und ein Verbot, Deutsch als Unterrichtssprache zu gebrauchen (dieses Verbot galt bis nach dem Zweiten Weltkrieg). Nachdem 1948 die National Party an die Macht kam, wurde auch die Apartheid nicht nur in Südafrika, sondern auch in dem von Südafrika verwalteten Namibia eingeführt. Im Schulwesen wurde ein nach Herkunft getrennter Unterricht eingeführt. Erst 1977 nahmen die ersten Privatschulen in Windhoek Kinder aller Hautfarbe auf und lehnten damit auch die finanzielle Unterstützung des Staates ab. Seit 1978 wird an allen staatlichen Schulen nach dem gleichen Lehrplan unterrichtet. Viele Jahre bemühte sich die deutschsprachige Minderheit um die Verbesserung der Stellung der deutschen Sprache sowie um die Anerkennung des Deutschen als Amtssprache in Namibia. Ein Teilerfolg gelang 1984 als Deutsch zur „semi-offiziellen Amtssprache“ für die Ebene der „weißen Verwaltung“ (Böhm 2003, S. 538) erklärt wurde und damit eine regionale Amtssprache mit Beschränkung auf das für ,Weiße‘ vorbehaltene Gebiet erhielt (Ammon 1991, S. 76f.). Seit der Unabhängigkeit Namibias im November 1989 wurden die Strukturen aus der Zeit der Apartheit nach und nach abgebaut, 1 Auswärtiges Amt online: https: / / www.auswaerti ges-amt.de/ de/ aussenpolitik/ laender/ namibia-node/ -/ 208316 die Bereiche Bildung und Erziehung rückten ins Zentrum des politischen Interesses für eine nachhaltige eigenständige Entwicklung im Land. Es galt, gleiche Bildungschancen für alle Einwohner Namibias zu schaffen. Seit 1989 ist Englisch einzige offizielle Amtssprache. Parallel dazu wurden elf sogenannte Nationalsprachen (u.a. Afrikaans und autochthone Sprachen sowie Deutsch) festgelegt. Diese Nationalsprachen besitzen bestimmte Privilegien wie die Zusage der Regierung, dass diese Sprachen in den ersten drei Schuljahren als Unterrichtssprache verwendet werden dürfen (Kellermeier-Rehbein 2012, S. 298f.). Derzeit wird Deutsch an 47 Schulen entweder als Mutterund/ oder als Fremdsprache unterrichtet (Zappen-Thomson 2014, S. 55). 4 Wirtschaft, Politik, Kultur, rechtliche Stellung 4.1 Wirtschaftliche Situation Namibias Wirtschaft ist zum großen Teil marktwirtschaftlich orientiert; Namibia zählt gemäß der Weltbank-Klassifizierung zur Gruppe der „Länder mit oberem mittlerem Einkommen“ 1 und gehört damit zu den reicheren Staaten Afrikas. Für das Jahr 2017 wird ein Wirtschaftswachstum von 2,5 Prozent und für 2018 eines von 3,7 Prozent prognostiziert. Trotz einer wachsenden Mittelschicht ist das Volkseinkommen ungleich verteilt: Rund die Hälfte der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. Die Arbeitslosenquote beträgt 34 Prozent. Namibia ist reich an Bodenschätzen wie Diamanten, Uran, Kupfer und Zink und verfügt über hohe Fisch- und Viehbestände sowie eine attraktive Landschaft, so dass Namibias Hauptwirtschaftszweige der Bergbau, die Fischerei, die Landwirtschaft sowie der Tourismus sind. Dabei spielt die Landwirtschaft eine traditionell große Rolle und ist neben dem Staat der größte Arbeitgeber des Landes. Außenwirtschaftlich ist Namibia gut vernetzt, die Exportquote liegt bei 52 Prozent. <?page no="115"?> 4. Namibia 115 Allein die genannten Bodenschätze machen rund 40 Prozent des Exportvolumens aus. Agrarprodukte wie Fisch, Fleisch und tierische Produkte sowie Trauben werden in großen Mengen exportiert. Etwa die Hälfte dieser Güterexporte gehen nach Europa, rund ein Viertel in die Länder der ,Southern African Customs Union‘ (SACU), deren Mitglied Namibia neben Lesotho, Swasiland, Südafrika und Botswana ist, mit denen es eine Zoll- und Währungsunion bildet. Importgüter sind Kraftstoffe, Erdöl und Erdölerzeugnisse, Strom, Kraftfahrzeuge, Maschinen und Nahrungsmittel zu rund 70 Prozent aus Südafrika. Die enge Verflechtung der Volkswirtschaft mit dem Nachbarland zeigt sich auch in der starken Präsenz südafrikanischer Dienstleister im Handel, den Banken und Versicherungen. Bildungs- und Gesundheitswesen sind weniger gut entwickelt, während Namibias Stärken in stabilitätsorientierter Geld- und Fiskalpolitik, gut entwickelten Finanzmärkten, einem hohen Maß politischer Stabilität und Rechtssicherheit sowie einer gut entwickelten Infrastruktur (in den Bereichen Verkehr, Seeanbindung und Telekommunikation) liegen. Im Global Competitiveness Index (GCI) des World Economic Forums belegt Namibia Rang 89 von insgesamt 137 Ländern. Die deutschsprachige Gemeinschaft Namibias, die Deutschland bis heute kulturell sehr verbunden ist und die eine wichtige Rolle in der namibischen Wirtschaft spielt, wird nicht nur von der Regierung Namibias als integraler Bestandteil der namibischen Gesellschaft anerkannt und geachtet, sondern auch von nichtdeutschsprachigen Bevölkerungsgruppen Namibias geschätzt. Zwar ist das Englische in der Geschäftswelt die dominierende Sprache, doch folgt nach Afrikaans bereits auf dem dritten Platz das Deutsche - weit vor den einheimischen Sprachen (Böhm 2003, S. 562). Vornehmlich in den Städten Windhoek und Swakopmund sowie einigen kleineren Städten Namibias gibt es zahlreiche von Deutschen eröffnete und geführte Geschäfte und mittelständische Unternehmen. Dazu gehören Supermärkte, Einzelhandelsgeschäfte, Handwerksbetriebe, Gastronomie sowie Tourismusunternehmen wie Reisebüros, Reiseveranstalter, Lodge-Betreiber und Ähnliches. Im Tourismus stellen mit über 80.000 Ankünften pro Jahr Deutsche die bei weitem größte Gruppe der Touristen aus Übersee; viele dieser Betriebe haben daher einen Bedarf an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit Deutschkenntnissen, der allein aus der deutschsprachigen Bevölkerung nicht gedeckt werden kann, sodass das Erlernen der deutschen Sprache von Menschen aus anderen Bevölkerungsgruppen durchaus soziale Aufstiegschancen eröffnen kann (Böhm 2003, S. 563). 4.2 Rechtliche Stellung des Deutschen: Schulsystem, Sprachregelungen Die Republik Namibia ist ein Vielvölkerstaat mit einer reichen Sprachenvielfalt. Knapp einem Duzend Volksgruppen wurde durch die namibische Verfassung kulturelle Eigenständigkeit zugesichert: dazu gehören Ovambo, Herero, Nama, Damara, San, Buster, Caprivi, Coloured, Kavango, Tswana sowie Europäischstämmige. Diese lassen sich in drei größere Sprachgruppen einteilen: die Bantu-Sprachen (der Herero, Ovambo, Kavango, Caprivi und Tswana), die Khoisan-Sprachen (der Nama, Damara und San) und die europäischen Sprachen, denen die Coloured, Baster Sprache Ovambo/ Kwanyama Nama/ Damara Afrikaans Herero Kavango Englisch Deutsch Sprecher 1.035.373 238.769 219.753 150.000- 200.000 210.000 71.842 19.500 Haushalte 227.103 52.450 48.238 40.000 39.566 15.912 4.359 Anteil 48,9% 11,3% 10,4% 8,6% 8,5% 3,4% 0,9% Tab. 1: Hauptsprachen in Namibia - Aufteilung nach Haushalten (Quelle: Namibia Statistics Agency 2011, S. 69) <?page no="116"?> Katharina Dück 116 sowie die ,Weißen‘ mit den Sprachen Afrikaans, Englisch und Deutsch zuzuordnen sind (Pütz 1991, S. 456f.). Tabelle 1 zeigt die quantitativ wichtigsten Hauptsprachen, die in Namibia gesprochen werden. Die Bantu-Sprachen sind mit 71 Prozent die vom größten Teil der namibischen Bevölkerung verwendeten Sprachen, gefolgt von rund 12 Prozent von Sprechern der Khoisan- Sprachen. Die am häufigsten gesprochene europäische Muttersprache ist das Afrikaans, gefolgt von Deutsch und schließlich Englisch (vgl. Böhm 2003, S. 525), das seit der Unabhängigkeit Namibias alleinige offizielle Amtssprache ist. Daneben sind Afrikaans, Deutsch, Herero, Khoekhoegowab (Nama und Damara), Kwanyama (Ovambosprachen), Lozi, Kwangali, Mbukushu, Manyo, Ndonga und Tswana offiziell als Nationalsprachen anerkannt und genießen damit rechtlichen Schutz. Die Nationalsprachen dürfen in privaten Schulen - und mit Genehmigung auch in staatlichen Schulen - anstelle der Amtssprache Englisch als Unterrichtssprache gebraucht werden. Außerdem dürfen Nationalsprachen in Namibias Regionen in den Bereichen der Verwaltung, der Legislative und der Judikative verwendet werden, vorausgesetzt, die Sprache wird in der jeweiligen Region „von einem nennenswerten Anteil der Bevölkerung“ benutzt. Das Deutsche gehört vornehmlich wegen der Kolonialisierung zu den Nationalsprachen Namibias. Während dieser Zeit war die deutsche Sprache sogar Amtssprache (Gretschel 1995, S. 300 ff.). Und obwohl nach dem Ende der 30-jährigen Kolonialzeit zahlreiche Deutsche aus Südwestafrika vertrieben wurden, ist Namibia seitdem Einwanderungsland für Deutsche geblieben. Den Status einer Verkehrssprache hat das Deutsche jedoch nie erreicht, obwohl die deutsche Sprache bis heute lebendig gehalten wird (Kellermeier-Rehbein 2012, S. 298). Die deutschsprachige Gemeinschaft umfasst heute rund 22.000 Personen; sie hat ein aktives Kulturleben und verfügt über ein dichtes Netzwerk von Institutionen. Dabei wird das Deutsche fast ausschließlich in urbanen Zentren wie Windhoek und Swakopmund gesprochen (Pütz 1991, S. 457; Bedi 2006, S. 210), weshalb die deutsche Sprachgemeinschaft in Namibia heute den Status einer Minderheit hat (Riehl 2014, S. 12). Darüber hinaus gibt es sogenannte ,Home Languages‘, zu denen Afrikaans, Deutsch, Englisch, Herero, Khoekhoegowab (Nama und Damara), Kwanyama (Ovambosprachen), Ndonga, Mbogedu (Rugciriku), Kwangali, Lozi, Mbukushu, Ju’hoan (Khoisan) und Tswana gehören. Diese können an den staatlichen Schulen als Unterrichtssprache bis zur dritten Klasse der Grundschule (,Lower Primary‘, Klasse 1 bis 3) gewählt werden, während Englisch neben Mathematik, Umweltwissenschaft, Kunst, Sport und Religion als Pflichtfächer besucht werden muss. In der vierten Klasse (,Upper Primary‘, Klasse 4 bis 7) wird ein Übergang zu Englisch als Unterrichtssprache geschaffen, ab der fünften Klasse an ist Englisch Unterrichtssprache, wobei die jeweilige Muttersprache zusätzlich unterstützend eingesetzt werden darf. Ansonsten ist die Muttersprache ein Pflichtfach neben Englisch, Mathematik, Naturwissenschaft, Gesundheitswissenschaft und Sozialwissenschaft. Von der ,Junior Secondary‘ (Klasse 8 und 9) bis einschließlich zur ,Senior Secondary‘ (Klasse 10 bis 12, seit 2015 fakultativ auch 13) ist Englisch schließlich die einzige Unterrichtssprache, während die Nationalsprachen reguläre Unterrichtsfächer sind. Von diesen Regelungen ausgenommen sind Privatschulen. In diesen ist die Unterrichtssprache in den Klassenstufen 1 bis 7 freigestellt, wobei mindestens eine namibische Nationalsprache sowie Englisch und Sozialkunde unterrichtet werden müssen. Schließlich wird ab der achten Klasse auch an den Privatschulen Englisch als Unterrichtssprache gebraucht. Die einzige Ausnahme bildet die Deutsche Höhere Privatschule (DHPS) in Windhoek. Hier kann Deutsch auch in der Sekundarstufe als Unterrichtssprache beibehalten werden (Bedi 2006, S. 206; Böhm 2003, S. 522ff.). Insgesamt gibt es fünf Partnerschulen (PASCH) in Namibia. Ende 2016 lernten an 53 vornehmlich staatlichen Schulen rund 9.000 Schülerinnen und Schüler Deutsch als Mutter- und Fremdsprache. <?page no="117"?> 4. Namibia 117 Die namibische Regierung verfolgt das Ziel, allen Kindern bis zum 16. Lebensjahr eine Schulbildung zu ermöglichen. 2012 wurde landesweit der kostenlose Besuch der Grundschule eingeführt. Die kostenlose Sekundarschulbildung ist die nächste Etappe der Bildungspolitik (Auswärtiges Amt online: Kultur- und Bildungspolitik Namibias). Dafür werden jährlich rund 22 Prozent des Staatshaushalts (Stand 2014) zur Verfügung gestellt. Über die Hälfte der Schülerinnen und Schüler erreicht den ersten nationalen Schulabschluss der 10. Klasse. Nach der 12. Klasse kann eine Hochschulzugangsberechtigung erworben werden. Neben der University of Namibia (UNAM) hat sich das Namibian University of Science and Technology (NUST), der demnächst der Status einer vollwertigen Universität zuerkannt werden soll, als zweite Hochschule des Landes etabliert. Außerdem gibt es eine staatlich anerkannte, private International University of Management (IMU). 4.3 Kulturelle Institutionen, Verbände, Medien Im Allgemeinen gibt es eine Vielzahl an kulturellen Einrichtungen in Namibia, zu denen Museen, Galerien im gesamten Land sowie das Nationaltheater und das Nationalarchiv in Windhoek gehören. Auch existiert ein Rat für Denkmalschutz, der sich um den Erhalt historischer Bausubstanz kümmert. So gehört zu den deutschen kulturellen Einflüssen vornehmlich das Erbe der Kolonialarchitektur, das von der namibischen Regierung und der Gesellschaft als Teil der eigenen Geschichte wahrgenommen und geschätzt wird. Im Rahmen eines Kulturerhalt-Programms des Auswärtigen Amts trägt Deutschland zur Restaurierung solcher Bauwerke (wie dem Estorffhaus Windhoek oder dem Offiziershaus Warmbad) bei. Kritik regt sich dagegen vermehrt an Standbildern aus der Kolonialzeit und an der Weiterverwendung von deutschen Straßen-, Orts- oder Flurnamen. Einige Orte und etliche Straßen, vor allem in Windhoek, wurden bereits umbenannt. Da Namibia seit der Kolonialzeit für viele Deutsche ein attraktives Einwanderungsland ist, hat die deutschsprachige Gemeinschaft auch ein aktives Kulturleben und verfügt über ein dichtes Netzwerk von Institutionen wie beispielsweise die 1977 gegründete gemeinnützige Deutsch-Namibische Gesellschaft (DNG) mit inzwischen über 1.500 Mitgliedern, die sich mit Stipendienprogrammen, einem Jugendwettbewerb, der Unterstützung von Farmerschulen und deutscher Schülerheime und vielen weiteren Aktionen und Kooperationen um die Förderung des Deutschen als Fremdsprache bemüht. Daneben gibt es ein Goethe-Zentrum in Windhoek, das von der Namibisch-Deutschen Stiftung für kulturelle Zusammenarbeit (NaDS) betreut wird. Die NaDS wurde 1988 von der Interessengemeinschaft Deutschsprachiger Südwester (IG) (1977 bis 1992) gegründet, um den kulturellen Austausch zwischen Namibia und Deutschland und die deutsche Sprache und Kultur in Namibia zu fördern. Die NaDS übt eine kulturpolitische Mittlerfunktion zwischen Deutschland und Namibia sowie zwischen den deutschsprachigen und anderssprachigen Bevölkerungsgruppen Namibias aus. Viele Namibia-Deutsche gehören der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Namibia (ELKIN) an, deren Vorläufer die Deutsche Evangelisch-Lutherische Kirche (DELK; 1960 bis 1989) war. Aufgrund ihrer Haltung gegenüber der Apartheitspolitik wurde die DELK 1986 von der Vollversammlung des Lutherischen Weltenbundes suspendiert. Nach der Unabhängigkeit Namibias 1989 kam es zu einem Richtungswechsel, der sich bereits in der Namensänderung zeigt. Die ELKIN ist demnach zwar eine deutschsprachige Kirche, definiert sich aber nicht mehr als deutsche Kirche, so dass 1994 die Suspendierung aufgehoben wurde. Das Hauptgemeindehaus, die Christuskirche in Windhoek, ist nicht nur die zentrale Kirche der ELKIN, sondern auch eines der Wahrzeichen Namibias. Der Gottesdienst in den rund fünfzehn evangelischen Gemeinden wird in deutscher Sprache abgehalten. Einige Namibia-Deutsche haben sich allerdings auch kleineren Gemeinden wie der Christengemeinde und der Stadtmission angeschlossen (Böhm 2003, S. 554f.). Die römischkatholische Kirche spielt für die Namibia- <?page no="118"?> Katharina Dück 118 Deutschen eine etwas geringere Rolle als die evangelische (wobei ein allgemeiner Rückgang von Kirchenmitgliedern in den letzten Jahren in beiden Kirchen zu verzeichnen ist): Während die evangelische Kirche noch rund 5.000 (Stand: 2010) deutschsprachige Mitglieder hat (von insgesamt 700.000 Mitgliedern in Namibia), sind es in der römisch-katholischen Kirche etwa 2.000 deutschsprachige Katholiken (von insgesamt 375.000 Mitgliedern in Namibia) in den drei Gemeinden mit Deutsch als Gottesdienstsprache. Beide Kirchen betreiben diverse karitative Einrichtungen wie beispielsweise Schulen, Heime und Hospitäler. Die Multilingualität Namibias spiegelt sich auch in einer Vielzahl an Sprachen zahlreicher Zeitungen wieder. Dabei ist die größte Tageszeitung des Landes die englischsprachige The Namibian, die auch Texte auf Oshivambo beinhaltet. Und auch die zweitgrößte Zeitung - Namibian Sun - ist englischsprachig. An dritter Stelle folgt der Republikein in Afrikaans. Darüber hinaus gibt es die staatlich getragene New Era, die ebenfalls in englischer Sprache erscheint. Die älteste Zeitung des Landes ist die 2 https: / / www.reporter-ohne-grenzen.de/ filead min/ Redaktion/ Presse/ Downloads/ Ranglisten/ Rangliste_ auf Deutsch erscheinende Allgemeine Zeitung. Die Republikein, die Allgemeine Zeitung sowie die Namibian Sun gehören zur Namibia Media Holdings (NMH). Die öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt mit drei Fernsehprogrammen (Stand: Juli 2014) und zahlreichen Rundfunkprogrammen in neun Sprachen ist die Namibian Broadcasting Corporation (NBC). Außerdem gibt es diverse private Hörfunksender und mit One Africa Television, TBN Namibia THISTV und EDU TV vier private Fernsehsender. Unter den deutschsprachigen Medien gibt es noch ein deutsches Programm des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, ein privates Hitradio sowie Satellitenfernsehen. Beim Pressefreiheitsindex von ,Reporter ohne Grenzen‘ belegt Namibia 2017 den 24. Platz, liegt damit auf Platz eins aller afrikanischer Staaten und nur acht Plätze hinter Deutschland. 2 Kulturelle und sportliche Aktivitäten wurden in Namibia viele Jahre lang größtenteils ethnisch getrennt betrieben, und auch seit der Unabhängigkeit verhält es sich so, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen auch bestimmte 2017/ Rangliste_der_Pressefreiheit_2017_-_Reporter _ohne_Grenzen.pdf Abb. 3: Beispiele deutscher Beschilderungen im namibischen Alltag (Quelle: BlueMars. In: Wikimedia Commons, https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Deutschnamibier#/ media/ File: NamibiaDeutscheSprache.jpg) <?page no="119"?> 4. Namibia 119 Vereine und Institutionen bevorzugen, auch wenn inzwischen alle Vereine allen Bevölkerungsgruppen offenstehen. Die Namibia- Deutschen sind in einer Vielzahl von Institutionen organisiert und auch nicht nur dort, wo auch andere Deutschsprachige sind. Doch besonders zahlreich vertreten sind sie im Sportklub Windhoek (mit insgesamt rund 2.000 Mitgliedern) und im Deutschen Sportverein Windhoek. Seit 1953 wird im Sportklub Windhoek auch der Windhoeker Karneval (WIKA) - nach dem Vorbild des rheinischen Karnevals - abgehalten, der, inklusive eines Karnevalsumzugs auf der Independence Avenue in Windhoek, fast ausnahmslos von Deutschsprachigen begangen wird. Der WIKA ist auch Mitglied des Bundes Deutscher Karneval (BDK). Darüber hinaus gibt es die Namibia Wissenschaftliche Gesellschaft, in der von Anfang an (1925) viele Deutschsprachige arbeiteten, die sich für den Erhalt und den Ausbau von Wissenschaft und Forschung in Namibia einsetzt. Die Gesellschaft umfasst eine wissenschaftliche Bibliothek, eine astronomische und eine botanische Arbeitsgruppe und einen Vogelklub und gibt zahlreiche Publikationen heraus. Auch gibt es einen Deutschen Pfadfinderbund von Südwestafrika sowie diverse deutschsprachige Jugendorganisationen. Zahlreiche Vereine und Institutionen haben sich im Deutschen Kulturrat zusammengeschlossen (Böhm 2003, S. 557). Schließlich existieren in Windhoek, Swapokmund und Otjiwarongo diverse deutsche Chöre, Gesangs- und Musikvereine mit großer Tradition: So wurde der erste Männer-Gesangs-Verein bereits 1905 in Swapokmund gegründet. 5 Sprachen und Varietäten im Kontaktgebiet 5.1 Kontaktsprachen Aus der Topographie, der Geschichte sowie dem wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Leben Namibias ergibt sich eine gesellschaftliche Mehrsprachigkeit (Riehl 2014, S. 63), die zum Alltag der Namibier gehört. Die rund 30 Einzelsprachen (Kellermeier-Rehbein 2016, S. 217) lassen sich drei größeren Sprachgruppen zuordnen, nämlich den Bantu-Sprachen, den die Khoisan-Sprachen und den europäischen Sprachen (vgl. oben Abschnitt 4.2). Die wichtigsten Hauptsprachen sind Ovambo/ Kwanyama, Nama/ Damara, Afrikaans, Herero, Kavango, Englisch und Deutsch, womit die Bantu-Sprachen mit 71 Prozent die am häufigsten gebrauchten Sprachen in Namibia sind. Die am meisten gesprochene europäische Muttersprache ist das Afrikaans als Lingua franca, gefolgt von Deutsch und Englisch als einziger offizieller Amtssprache. Daneben genießen elf offizielle Nationalsprachen, nämlich Afrikaans, Deutsch, Herero, Khoekhoegowab (Nama und Damara), Kwanyama (Ovambosprachen), Lozi, Kwangali, Mbukushu, Manyo, Ndonga und Tswana rechtlichen Schutz und dürfen in Namibias Regionen in den Bereichen der Verwaltung, Legislative und Judikative benutzt werden. Es gibt demnach zahlreiche unterschiedliche Sprechergruppen, die viele (unvermeidbare) Berührungspunkte haben, sodass fast alle Lebensräume sich auch durch gemischtsprachige Gruppen auszeichnen: Je nach Situation gebrauchen Sprecher eine andere Sprache ihres eigenen Repertoires. Damit ist die gesellschaftliche Mehrsprachigkeit Namibias dem Untertyp individuelle Mehrsprachigkeit in einem mehrsprachigen Staat zuzuordnen (Riehl 2014, S. 64ff.). Dabei fungiert die Sprache der eigenen Ethnie als Hauptsprache und wird vornehmlich innerhalb der eigenen ethnischen Gruppe gesprochen. Gleichzeitig wird diese von mehreren Nationalsprachen überdacht. Das Namibia-Deutsche ist demnach eine von vielen (Minderheiten-)Sprachen in Namibia. Es befindet sich vornehmlich im Sprachkontakt mit dem Englischen und dem Afrikaans. So haben schließlich auch vor allem diese beiden Sprachen Einfluss auf das deutsche Sprachsystem in Namibia genommen. <?page no="120"?> Katharina Dück 120 5.2 Sprachlagengefüge: Regionaler Standard, Umgangssprache, Dialekte 5.2.1 Namdeutsch deutschstämmiger Siedler Lange Zeit war für das Deutsche der Deutschnamibier - auch in der Fachliteratur - der Begriff ,Südwesterdeutsch‘ üblich (vgl. dazu den Exkurs zu ,Südwesterdeutsch‘ bei Böhm 2003, S. 563). Kellermeier-Rehbein (2016, S. 223) zufolge wurden unter dieser Bezeichnung häufig auch alle deutsch-namibischen Varietäten subsummiert. Nicht selten benutzen auch Deutschnamibier untereinander noch heute diesen Begriff (Böhm 2003, S. 563), auch wenn viele diesem Ausdruck inzwischen distanziert gegenüber stehen. In Anbetracht der historischen Vorbelastung scheint er heute weder angebracht noch zutreffend zu sein, denn das Land ist seit fast hundert Jahren keine deutsche Kolonie mehr und seit 1968 durch die UNO offiziell als Namibia benannt (Pütz/ Dirven 2013, S. 338). In der Literatur finden sich die Begriffe ,Namibisches Deutsch‘, ,Namibia-Deutsch‘ oder ,Namdeutsch‘, wobei sich bisher keiner dieser Termini durchsetzen konnte (Kellermeier-Rehbein 2016, S. 223). In Anlehnung an ein jüngst begonnenes Forschungsprojekt zum Deutschen in Namibia 3 wird auch hier dem Begriff ,Namdeutsch‘ der Vorzug gegeben. Das Namdeutsche ist eine von vielen (Minderheiten-)Sprachen in Namibia. Es geht auf die Nachfahren deutschstämmiger Siedler zurück, die Deutsch als Muttersprache auf einem hohen Sprachniveau sprechen. Da viele deutsche Einwanderer seinerzeit aus dem norddeutschen Raum kamen (Shah 2007, S. 23), kann die Lautung zuweilen Merkmale der norddeutschen Umgangsvarietät enthalten. Allerdings kamen die deutschsprachigen Emigranten - anders als andere Emigrantengruppen wie die niederdeutschen Mennoniten oder die Donauschwaben - nicht aus einem 3 Es handelt sich um das Projekt Namdeutsch: Die Dynamik des Deutschen im mehrsprachigen Kontext Namibias an der Freien Universität Berlin in Kooperation mit der Universität Potsdam sowie der University of Namibia, bestimmten Dialektgebiet, sondern eben aus dem Großraum Norddeutschland, sodass die deutschen Einwanderer keinen einheitlichen Dialekt in das neue Siedlungsgebiet ,Südwestafrika‘ mitbrachten (Böhm 2003, S. 565). So setzte sich auch bei dialektkompetenten Einwanderern schnell eine standardnahe Alltagsvarietät durch. Aktuell wird das Namdeutsche von rund 22.000 Sprechern, also etwa einem Viertel der Bevölkerung Namibias mit europäischem Hintergrund, gesprochen und generationsübergreifend gepflegt. Es ist eine völlig ausgebaute Varietät des Deutschen, wobei das Deutschlanddeutsche als Prestigevarietät fungiert. Daneben beherrschen die meisten Sprecherinnen und Sprecher des Namdeutschen außerdem noch Afrikaans sowie Englisch und nicht selten weitere afrikanisch-namibische Sprachen (vgl. dazu Kap. 5.1) auf unterschiedlich hohem Niveau, wobei der Einfluss der autochthonen Sprachen Namibias auf das Namdeutsche bei weitem nicht in dem Maße spürbar ist wie der des Afrikaans oder des Englischen (Riehl 2002, S. 2; Shah 2007, S. 20). Demnach gibt es sowohl einzelne nichtstandardsprachliche Besonderheiten, die vor allem auf den Sprachkontakt mit dem Afrikaans und dem Englischen zurückzuführen sind (siehe Kap. 5.3 und 5.4; vgl. dazu Böhm 2003, S. 565), sowie standardsprachliche Besonderheiten - vornehmlich im Bereich des Wortschatzes (Ammon/ Bickel/ Lenz 2016, S. LXII; vgl. auch Pütz 2001; Nöckler 1963). Letztere finden sich vor allem in Sachtexten wie beispielsweise in der regelmäßig erscheinenden Allgemeinen Zeitung in Namibia. Diese Besonderheiten sind von Normautoritäten als korrekt anerkannt, so auch von den Lehrkräften der namibischen Schulen und Universitäten. Schließlich haben die häufigsten dieser Wortschatzbesonderheiten des namibischen Standarddeutschs in das Variantenwörterbuch des Deutschen (Ammon/ Bickel/ Lenz 2016) Eingang gefunden. Windhoek (Heike Wiese/ Horst J. Simon/ Marianne Zappen-Thomson u.a.); Projektbeschreibung unter http: / / www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/ v/ nam deutsch/ index.html <?page no="121"?> 4. Namibia 121 Auch von der Sprechergemeinschaft selbst werden sowohl die standardsprachlichen als auch die nicht-standardsprachlichen, für das Namdeutsche spezifischen Formen positiv bewertet und scheinen eine identitätsstiftende Wirkung zu haben. Somit wird Namdeutsch sowohl in informellen als auch formellen Kontexten gesprochen und ist nicht allein auf eine alltägliche Familienkommunikation beschränkt. Im öffentlichen Raum und im formellen Register deutscher Schulen, Kindergärten, Kirchengemeinden und Medien wird Namdeutsch gesprochen. Und auch in den Bereichen der Wirtschaft und des Tourismus wird Namdeutsch auch als Berufssprache gebraucht, genießt Prestige und eine gewisse öffentliche Präsenz. So ist die deutsche Sprechergemeinschaft in Namibia vital und aktiv - im Gegensatz zu vielen anderen deutschen Sprachinseln, die zum Teil vom Aussterben bedroht sind. 5.2.2 Namslang Der Namslang ist neben der Standardvarietät eine namdeutsche, durch Sprachkontakt entstandene Umgangsvarietät namibisch-deutscher Jugendlicher mit Deutsch als Muttersprache (vgl. Kellermeier-Rehbein 2015). Sie zeichnet sich bei vornehmlich mündlicher Realisierung durch einen sehr hohen Anteil von Entlehnungen, sprachlichen Einheiten und Strukturen aus dem Englischen sowie dem Afrikaans aus, außerdem durch zahlreiche Kennzeichen gesprochener Sprache wie Ellipsen, Kontraktionen, syntaktische Diskontinuitäten, Anakoluthe u.ä. (Kellermeier-Rehbein 2016, S. 228), worin sich einmal mehr die multilinguale Realität Namibias mit ihren vielfachen Sprachkontaktsituationen des Deutschen mit den genannten Sprachen wiederspiegelt. Der wahrscheinlich prominenteste Vertreter des Namslang ist der deutschnamibische Musiker und Musikproduzent Erik „Ees“ Sell (Sell 2009; 2014) mit eigenem Youtube-Kanal, auf dem man einen schnellen Einblick in den Namslang erhält. Schriftlich wird diese Varietät nur selten realisiert, etwa in Glossen der bereits erwähnten Allgemeinen Zeitung. Der fremdsprachliche Einfluss beim Namslang ist deutlich stärker ausgeprägt als bei dem am Standarddeutsch orientierten Namdeutsch. Die Varietät fällt vor allem durch gehäuftes Code-Switching auf, bei dem sowohl Sprachals auch Varietätenmischungen entstehen, ohne dass die jeweiligen Sprachsysteme verändert werden. Beteiligt sind dabei vor allem das Deutsche und die mit ihm strukturell eng verwandten Sprachen Englisch und Afrikaans; außerdem einige wenige autochthone Sprachen wie Oshiwambo, Herero oder Nama, wobei Entlehnungen aus letzteren aufgrund meist fehlender Kompetenzen in diesen Sprachen und artikulatorischer Probleme bei Khoisan-Sprachen selten sind (Kellermeier- Rehbein 2015, S. 47). Je höher die Intensität und Nachhaltigkeit des Sprachkontakts dieser Sprachen, desto mehr kann es zu Transferenzen kommen, so dass Merkmale vor allem des Englischen oder Afrikaans auf den Namslang übertragen werden. Es kann beim Namslang mit einer Erweiterung des Wortschatzes durch lexikalische sowie semantische Entlehnungen und auch Konvergenzen grammatischer Strukturen beobachtet werden (siehe dazu beispielsweise EesTV 2014 „Schlange reliehsen“ - besonders eindrücklich insofern, als hier ein Sprecher in der Varietät des Namslang sich mit einem Sprecher eines standardnahen Namdeutsch unterhält). So wurden beispielsweise aus dem Englischen alright, easy, enjoy und backyard, aus dem Afrikaans Oukie (afr. ou ‚alt‘, ‚Alter‘), lecker (‚schön, angenehm, herrlich, nett‘), gou (‚schnell‘), bikkie (‚bisschen‘), gooi (‚werfen‘) und braai (‚grillen‘) und aus dem Herero hakahana (‚schnell‘) entlehnt (Beispiele aus Kellermeier-Rehbein 2016, S. 229). 5.2.3 Küchendeutsch Das Küchendeutsch oder ,Namibia Black German‘ ist eine restringierte deutschbasierte Kontaktvarietät für eine rudimentäre Kommunikation zwischen Angehörigen unterschiedlicher Sprechergemeinschaften. Es entstand während der Zeit des deutschen Kolonialismus in Namibia und wurde vornehmlich am Arbeitsplatz von Personen mit asymmetrischem Sozialstatus erworben, zum Beispiel im Haushalt deutscher Kolonialherren und Sied- <?page no="122"?> Katharina Dück 122 ler sowie deren Nachfahren in einer interethnischen Kommunikation zwischen den deutschsprachigen Kolonisatoren und kolonisierter Einheimischer (Kellermeier-Rehbein 2016, S. 231). Die deutsche Sprache wurde in den meisten Fällen hier in den Küchen (bzw. Haushalten) deutscher Familien erworben, weswegen die Bezeichnung ,Küchendeutsch‘ entstand. Das Küchendeutsch ist demnach keine Muttersprache und zeichnet sich durch reduzierte Lexik, vereinfachte Morphosyntax und hochgradig variable sprachliche Strukturen aus. Als Kontaktsprachen kommen einheimische Sprachen (Wambo, Herero und Khoekhoegowab) bzw. das Afrikaans in Frage (vgl. Deumert 2003; 2009). Dabei ist die Sprechergruppe, die 2009 noch rund 15.000 Personen verschiedener ethnischer Gruppen mit unterschiedlichen Muttersprachen umfasste (Kellermeier-Rehbein 2016, S. 231), alles andere als homogen: So gibt es Sprecher, die tatsächlich Angestellte oder Kinder bzw. Nachfahren von Angestellten der Kolonisatoren waren. Andere Sprecher haben als (uneheliche) Kinder deutscher Emigranten mit Einheimischen die deutsche Sprache ungesteuert und aufgrund mangelnden Unterrichts rudimentär erworben. Die jüngsten Sprecher dieser Varietät wurden Deumert (2000, S. 353) zufolge in den 1950er Jahren geboren. Diejenigen, die danach geboren wurden, erwerben die Kontaktvarietät des Küchendeutschen nicht mehr. Inzwischen wird als interethnische Kommunikation Afrikaans (Lingua franca) oder Englisch (Amtssprache) gebraucht, so dass damit zu rechnen ist, dass das Küchendeutsch langsam ausstirbt (Kellermeier-Rehbein 2016, S. 231). Im Jahr 2000 führt Deumert für das Küchendeutsch noch zwei Typen von pidginisierten Varietäten in Namibia auf: Zum einen gebe es eine Mischvarietät (‚Pidgin‘-German I), bei der Deutsch und Afrikaans aufeinandertreffen. Aufgrund der etymologisch bedingten Ähnlichkeit zwischen den beiden Sprachen können Wörter aus dem Afrikaans in die deutsche Sprache leicht eingefügt werden. Diese Varietät zeigt einige eindeutige Pidginzüge wie die fehlende Präposition (Schule gehen). Allerdings gibt es auch durchaus flektierte Formen (is, hab gearbeit), bei der Artikel meist benutzt werden. Die Problematik, die sich hier auftut, dürfte sein, dass Afrikaans und Deutsch nahe verwandt sind. Das Afrikaans bildet - wie das Deutsche - Vergangenheitsformen und Partizipien mit ge-. Folglich entstehen hier eher Koineisierungsmuster (Muster einer gemeinsamen Varietät). Zum anderen gebe es eine weiter entwickelte Varietät (‚Pidgin‘-German II), die sich durch eine in Ansätzen vorhandene Flexion von Adjektiven (junges, großes, viele), Kasusunterscheidung (der Frau Anna Maletzki sein Vater), starke Verbformen (gegang, gekomm), die als markierte Einheiten ebenfalls nicht in Pidginsprachen vorkommen sollten (vgl. Ferguson 1971), verschiedene Präpositionen (in, mit, nach Deutschland) und ähnliche Tendenzen wie beim ,Gastarbeiterdeutsch‘ zeigen. Hier könnte von einem Lernersprachenkontinuum gesprochen werden (vgl. dazu die Diskussion in Riehl 2014, S. 139f.) 2009 schreibt Deumert dem Küchendeutschen wenig Prestige, strukturelle Vereinfachung und hochgradige Variabilität zu (Deumert 2009, S. 393). Zur strukturellen Vereinfachung gehören häufiger Artikelausfall und morphologische Vereinfachung durch fehlende und/ oder abweichende Genus- und Kasusmarkierung. Außerdem gibt es Abweichungen bei der Numerusmarkierung, Possessivkonstruktion, Subjekt-Prädikat-Objekt-Kongruenz, Perferktbildung u.a. (vgl. ausführlich Deumert 2009, S. 393-403). Gleichzeitig beobachtet Deumert eine breitangelegte Normstabilisierung: Es gibt eine größere Anzahl an zulässigen und in der Gemeinschaft gebräuchlichen Formen. 5.3 Sprachkontakterscheinungen im Namdeutschen 5.3.1 Lexikalische Transfererscheinungen Das auffälligste Phänomen im Namdeutschen ist die vom Standarddeutschen abweichende Lexik, die auf Entlehnungen aus dem Afrikaansen und Englischen zurückzuführen ist. Dies betrifft vor allem Bezeichnungen für Dinge der andersartigen Umwelt. Hierher gehören Begriffe wie Pad (afr. ‚plattgewalzte <?page no="123"?> 4. Namibia 123 Sandpiste‘) oder Vlej (afr. ‚Trockental‘). Einige Entlehnungen stammen auch aus einheimischen Sprachen wie das aus dem Herero entlehnte Wort Munoko (‚lehmiger Schlamm, der nach dem Regen entsteht‘). Weitere Entlehnungen betreffen Nahrungsmittel (Papp afr. ‚Brei von Maismehl‘, Jam engl. ‚Marmelade‘, Beef engl. ‚Rindfleisch‘), Gebrauchsgegenstände (Kummetje afr. ‚Becher‘), den Institutions- oder Verwaltungsbereich (afr. Platteland ‚Bezirk‘) und andere Lebensbereiche (Riehl 2014, S. 97; Nöckler 1963, S. 47ff.; Shah 2007, S. 35ff.). Daneben treten Entlehnungen in Form von Komposita aus Wörtern der Gebersowie Nehmersprache auf: Biltongschneider (afr. biltong ‚Trockenfleisch‘), Brai-Fleisch (afr. brai ‚Grill, Barbecue‘). Neben Substantiven werden auch Adjektive (afr. mooi ‚schön, hübsch‘, lelik ‚häßlich‘) oder Verben (morschen < afr. om te mors ‚pantschen, vergeuden‘‚ worrien < engl. to worry ‚sich sorgen‘) entlehnt. Sehr häufig verwendet werden auch das Indefinitum bietje bzw. bikkie (afr. bietje ‚ein bisschen‘), und zwar auch in einer zusätzlichen Funktion als Höflichkeitspartikel 4 , sowie Verstärkungspartikeln wie bleedy (engl. bloody) und fokken (afr. für engl. fucking) (vgl. Wecker 2017, S. 84ff.). Einen festen Bestandteil des Namdeutschen bilden auch aus dem Afrikaans und dem Englischen entlehnte Diskursmarker. Neben orreit (< engl. alright ‚in Ordnung‘), das auch in prädikativer Funktion verwendet werden kann (Ja das ist ein Samstag, das ist orreit; Wecker 2017, S. 48), treten auch die Modalpartikeln wrachtach (afr. wrachtig ‚wirklich‘), mos (afr. mos ‚doch‘) und net (afr. net ‚nur‘) sehr häufig in Erscheinung: (1) a. Ich will jetzt wrachtach nicht zur Lokasi fahren. (Riehl 2014, S. 99) b. Und dann spuckt die mos Feuer. (Wecker 2017, S. 47) c. Geh net der braune brak tut dia fockol! (‚Geh nur, der braune Köter tut dir 4 Wiese et al. 2014, S. 292, bezeichnen das Indefinitum bisschen „grammatikalisierten Downgrader“. Dieser nichts‘; vgl. Wiese et al. 2014, S. 294) Die aus dem Afrikaans oder dem Englischen entlehnten Wörter werden in der Regel nicht nur phonetisch-phonologisch an das deutsche Lautsystem angepasst, sondern auch morphologisch in das System integriert. Substantive aus den Gebersprachen werden ohne umfangreichere Umformungen unter Verwendung eines Artikels in das deutsche Sprachsystem eingegliedert. Da sowohl das Englische als auch das Afrikaans keine Genusmarkierung besitzen, wird häufig das Genus von einem deutschen Wort mit ähnlicher Bedeutung übernommen (Riehl 2014, S. 100; zur Genuszuweisung von Anglizismen im Deutschen siehe auch Eisenberg 2012, S. 229ff.): So erhält etwa das aus dem Englischen entlehnte Wort Pen das maskuline Genus des deutschen Worts ‚Federhalter‘ (vgl. „Gib mit den pen.“; Riehl 2014, S. 99). Die Pluralbildung erfolgt in der Regel durch den s-Plural, der sowohl im Deutschen als auch im Englischen und Afrikaansen existiert, vgl.: (2) Ich muss diese aukies [afr. für ‚Typ, Kerl‘] checken. (Riehl 2014, S. 100) Die Integration von Verben im deutsch-afrikaansen oder deutsch-englischen Sprachkontakt geschieht durch das einfache Anfügen der deutschen Verbalsuffixe an den Verbstamm bzw. den suffixlosen Infinitiv des Afrikaans oder des Englischen. Die Infinitive erhalten dabei das deutsche Suffix -en, vgl.: (3) a. Die morschen meine Zeit. [afr. om te mors ‚pantschen, vergeuden‘] (Riehl 2014, S. 101) b. Du worriest nicht? [engl. to worry ‚sich Sorgen machen‘] (ebd.) c. Du hast aus gemacht, du kannst relaxen. [engl. to relax ‚entspannen‘] (Wecker 2017, S. 56) Adjektive werden ebenfalls durch das Hinzufügen der deutschen Endungen in das Sprachsystem integriert: grammatikalisierte Downgrader übernimmt im Namdeutschen die Funktion einer Höflichkeitspartikel. <?page no="124"?> Katharina Dück 124 (4) a. Sonntag war mooies Wetter. [afr. mooi ‚schön, hübsch‘] (Riehl 2014, S. 101) b. Das ist ein lelikes Fluchwort. [afr. lelik ‚häßlich‘] (ebd.) 5.3.2 Semantische Transfererscheinungen Nicht selten werden Bedeutungen von Inhaltssowie Funktionswörtern aus dem Afrikaansen oder Englischen auf das Namdeutsche übertragen. Besonders häufig geschieht dieser semantische Transfer bei etymologisch miteinander verwandten Wörtern (cognates) (vgl. Riehl 2014, S. 102). So gibt es im Namdeutschen eine Vielzahl an Bedeutungsübernahmen oder -erweiterungen vor allem aus dem Afrikaans. Verwunderlich ist dieses Phänomen insofern nicht, als das Deutsche und das Afrikaans aufgrund ihrer nahen Verwandtschaft einen hohen Prozentsatz an gemeinsamem Erbwortschatz haben, vgl. die folgenden Beispiele: (5) a. Jetzt muss der Hund zum Arzt. Um halb drei hat sie ne Absprache gekriegt. [afr. afspraak ‚Termin, Verabredung‘] (Riehl 2014, S. 103). b. Hier ist noch ein Happie, dann bist du klar. [afr. klaar ‚fertig, bereit‘] (ebd.) c. Aber hier auf der Farm ist noch nie einer totgegangen […] (afr. doodgaan ‚sterben‘) (Wecker 2017, S. 58) Weiter gibt es auch eine Reihe sogenannter 1: 1-Übersetzungen von idiomatischen Prägungen oder Kollokationen, wie dies in Sprachkontaktsituationen nicht ungewöhnlich ist. Dies betrifft vor allem Kollokationen mit Passe-partout-Verben, die semantisch entleert sind, wie ein Foto nehmen, die Gelegenheit nehmen, ein Interview nehmen [engl. to take a photo/ the opportunity/ an interview] (Riehl 2014, S. 105). 5.3.3 Transfererscheinungen im Bereich der Syntax und der Morphologie Während die meisten der in 5.3.1 und 5.3.2 erwähnten Phänomene in der deutschsprachigen Gemeinschaft Namibias sehr weit verbreitet sind, finden sich Transfererscheinungen in Syntax und Morphologie weitaus sporadischer und sind sprecherbzw. situationsabhängig. Was die Syntax des Namdeutschen betrifft, so verliert das Prädikat zunehmend seine Endstellung in Nebensätzen und rückt stattdessen an die zweite Stelle vor (Shah 2007, S. 30). Im Gegensatz zu anderen Sprachkontaktkonstellationen (vgl. Riehl 2014, S. 108) ist im Namdeutschen der Abbau der Verbendstellung lediglich bei indirekten Fragesätzen häufiger belegt: (6) a. Hast du gehört, was sagt Claudia. (Riehl 2014, S. 105). b. Weißt du, was ist M. neulich passiert. (Wecker 2017, S. 62) Ein weiteres syntaktisches Phänomen, das durch den Sprachkontakt mit dem Afrikaansen und Englischen ausgelöst ist, ist die Stellung der Negationspartikel. Diese steht im Namdeutschen öfter analog zum Afrikaans und zum Englischen nach dem finiten Verb. Allerdings wird hier die für das Afrikaans charakteristische doppelte Verneinung (Donaldson 1993, S. 401ff.) im Namdeutschen nicht imitiert, vgl.: (7) a. Du musst nicht das jetzt machen. [afr. Moenie dit nou doen nie; engl. You need not do that now.] b. Der hat nicht seine Frau ermordet. [afr. afr. Hy het nie sy vrou vermoor nie, engl. He has not murdered his wife.] (Riehl 2014, S. 57) Eine weitere Auffälligkeit des Namdeutschen im Bereich der Morphosyntax stellt die Verwendung der Infinitiverweiterung mit um…zu dar, die weder einen Finalnoch einen Konsekutivsatz markiert, sondern an Stelle des mit zu gebildeten Infinitivs verwendet wird. Dieser Gebrauch der um…zu-Konstruktion ist auf eine Analogiebildung zum Afrikaansen zurückzuführen, das Infinitive stets mit der om…te-Konstruktion bildet (vgl. Donaldson 1993, S. 272ff.): <?page no="125"?> 4. Namibia 125 (8) a. Ich habe keine Lust, um nass zu werden. [afr. Ek hat nie lus om nat te word nie.] (Riehl 2014, S. 108) b. Wir zwingen immer die Schwarzen, um eine sogenannte weiße Sprache zu sprechen. [afr. Ons dwing altyd die wart mense, om een wit taal te praat.] (Wecker 2017, S. 61) Im Bereich der Morphologie zeichnet sich ein Abbau der Kasusmarkierung im Singular bei ehemals schwachen Nomina auf -e ab: Sie geben es dem Löwe[ ]. (Riehl 2014, S. 109). Diese Erscheinung ist allerdings nicht direkt auf Sprachkontakt zurückzuführen, sondern eher Reflex eines Simplifizierungsprozesses (vgl. dazu auch den Beitrag von Riehl in diesem Band). Ein durch den Sprachkontakt ausgelöstes Phänomen ist dagegen der Ersatz der Dativ- oder Akkusativmarkierung durch Präpositionalkasus analog zum Afrikaans und zum Englischen wie in folgendem Beispiel: (9) a. Gib das für Dieter! (statt (dem) Dieter) [afr. om te gee vir] (Riehl 2014, S. 110) b. Ich habe für ihn gesucht (statt ihn) [engl. to look for] (Shah 2007, S. 25) In einigen Fällen kommt es auch zu sog. „Überblendungen“, d.h. hybriden Konstruktionen. Dabei werden grammatische Funktionen mit Morphemen sowohl aus dem Afrikaans und dem Englischen als auch aus dem Deutschen markiert, so wie bei der folgenden Possessivkonstruktion im Namdeutschen: meiner Omas Vater. Hier werden die afrikaanse Possessivkonstruktion my ouma se pa und die englische my grandma’s father miteinander verschmolzen (vgl. Riehl 2014, S. 113). 5.4 Code-Switching, Sprachmischung Code-Switching kann - wie in Kap. 5.2.2 beschrieben - vornehmlich bei der Nonstandardvarietät des Namslang beobachtet werden. Die fremdsprachlichen Einflüsse kommen in erster Linie aus dem Englischen und Afrikaans. Es gibt aber auch vereinzelt Sprach- und Varietätenmischungen, die auf den Sprachkontakt mit autochthonen Sprachen wie das Oshiwambo, Herero oder Nama zurückzuführen sind. Die jeweiligen Sprachsysteme werden dabei nicht verändert. Folgende Beispiele geben eine eindrückliche Vorstellung einer Code-Switching-Passage im Namslang (nach Kellermeier Rehbein 2016, S. 228): (10) S1: Oukie, alles alright bei die? S2: Ey, lecker, Mann, ich freu mich mooi hier zu sein. (11) S1: Ah, du hast schon ein Feuer gerade eben gestartet. Äh, kannst du uns gou bikkie erzählen, was wir heute […] machen? S2: Ja, wir backen heute ein Brot, was ganz gou geht. Das machst du net so im Pott und gooist das net aufs Rost, es geht gouer wie als wenn du ʼn Brot net so im Pott backen musst, weißt du? S1: Ja. S2: … und das ist höchst easy, das kannste lecker … kannst das zum Braaien gebrauchen, so zum Soße drauftunken… Aus dem Englischen kommen. alright, easy; aus dem Afrikaans Oukie (afr. ou ‚alt‘, ‚Alter‘), lecker (‚schön, angenehm, herrlich, nett‘), mooi (‚schön, angenehm, hübsch‘), gou (‚schnell‘), bikkie (‚bisschen‘), net (‚nur‘), gooi (‚werfen‘) und braai (‚grillen‘) (Bsp. Aus Kellermeier- Rehbein 2016, S. 228f.). 6 Sprachgebrauch und -kompetenz Die Sprechergruppe, bei der die Deutsche Sprache in Namibia in Gebrauch ist, ist alles andere als homogen. Das Deutsche wird sowohl im informellen Kontexten im Familienverband von Muttersprachlern verwendet als auch in formellen Kontexten von Kindergarten, Schule, Universität, Beruf und Wirtschaft sowie Medien. Zu den Sprechern gehören deutschstämmige Namibier, die Deutsch als Muttersprache erlernen, pflegen und auf einem hohen Niveau sprechen. In der Regel sind es Nachfahren der Siedler aus der Kolonialzeit. Daneben gibt es die Sprecher des ,Küchendeutsch‘ bzw. ,Namibia Black German‘, <?page no="126"?> Katharina Dück 126 einer restringierten deutschbasierten Hilfsvarietät für eine interethnische rudimentäre Kommunikation asymmetrischer Form, nämlich der zwischen deutschen Kolonialherren und Haushaltsangestellten. Die Sprachkompetenzen dieser Sprecher befinden sich auf einem niedrigen Niveau. Darüber hinaus gibt es auch sogenannte Kontraktdeutsche, deutsche Staatsangehörige, die aus beruflichen Gründen vorübergehend in Namibia leben. Und es gibt zahlreiche DaF- Lerner, die etwa in der Tourismusbranche oder der Wirtschaft arbeiten und das Deutsche beispielsweise an der Universität oder dem Goethe-Zentrum erlernen und sprechen. Mit Ausnahme der ,swarze duitse‘ - so bezeichnen sich zuweilen die Sprecher des Küchendeutschen, was den Einfluss auf die postkoloniale Identität offenlegt (Deumert 2009, S. 386) - wird das Deutsche in Namibia im Allgemeinen auf einem hohen Niveau gesprochen, nicht zuletzt deswegen, weil die meisten Sprecher das Deutsche als Muttersprache erworben haben. Neben den genannten Sprechertypen gibt es noch die sogenannten ehemaligen „DDR- Kinder“, zu denen rund 420 Personen in Namibia zu zählen sind. Es handelt sich dabei um namibische Kinder schwarzer Hautfarbe, die zunächst in Flüchtlingslagern der Befreiungsbewegung ,SWAPO‘ (South-West African People’s Organization) lebten, weil ihre Eltern als Widerstandskämpfer sich gegen die Apartheidpolitik Südafrikas zur Wehr setzten. Zwischen 1979 und 1990 wurden diese Kinder von der DDR aufgenommen, wo sie in Kinderheimen in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt lebten. Hier wurden sie auf Deutsch unterrichtet und erzogen. Mit dem Fall der Berliner Mauer und der fast gleichzeitigen Unabhängigkeit Namibias 1990 wurden die bis dahin zu Jugendlichen Herangewachsenen nach Namibia zurückgeschickt. Weil die Kinder allerdings fast ausschließlich Deutsch sprachen, hatten sie mit Reintegrationsschwierigkeiten zu kämpfen (vgl. Böhm 2003, S. 536f.). Das Sprachniveau dieser Sprecher ist sehr hoch. Bisher gibt es keine umfangreiche Untersuchung dieser Sprechergruppe. 7 Spracheinstellungen Die letzten umfassenden Erhebungen zu Spracheinstellungen von Sprechern in Namibia zur Deutschen Sprache wurden 1977/ 78 (Kleinz 1984, S. 204-269) unternommen und damit rund zehn Jahre vor der Unabhängigkeit Namibias und dem Ende der Apartheid. Es ist anzunehmen, dass sich danach gerade in den letzten dreißig Jahren die Spracheinstellungen wesentlich verändert haben. Damals standen die Afrikaanssprachigen der deutschen Sprache zurückhaltend gegenüber, was Kleinz auf eine geringe sprachliche Vertrautheit mit dem Deutschen zurückführt (Kleinz 1984, S. 261). Die Englischsprachigen beurteilten das Deutsche „günstiger“ als die Afrikaanssprachigen und auch als das Afrikaans selbst. Als Hauptmangel der deutschen Sprache wurde ihre „Schwierigkeit“ hervorgehoben, während ihr vorzüglichstes Charakteristikum die weite Verbreitung im Ausland sei. Für die deutsche Sprachgemeinschaft selbst standen vornehmlich innersprachliche positive Werte im Vordergrund (Kleinz 1984, S. 261) und der Wunsch, das Gastland Namibia durch den Spracherhalt des Deutschen kulturell zu bereichern (Kleinz 1984, S. 210). Sprecher autochthoner Sprachen wurden von Kleinz seinerzeit nicht befragt. Seit seinen Befragungen wurden keine umfangreichen Erhebungen zu Spracheinstellungen mehr unternommen. Für die Gegenwart scheinen aber im Allgemeinen positiv orientierte Spracheinstellungen zu überwiegen. Dies zeigen gerade die sprachpolitische und die soziale Pflege des Standarddeutschen, sowie des Namdeutschen, welches spürbare identitätsstiftende Merkmale aufweist. Im Korpus von Riehl 1999 und Wecker 2017 zum Namibiadeutschen (vgl. dazu Wecker 2017, Anhang Transkriptionen) finden sich durchaus positive Bewertungen des Namdeutschen bzw. Südwesterdeutschen bei jüngeren Sprechern: (12) C: Im Allgemeinen, es macht mir Spaß, die Südwestersprache auch zu sprechen. CR: Und warum? C: Mh, es ist einfach. Und es macht einfach Spaß. Es drückt sich schön au/ oder es … zum Beispiel ne pad, da kannst du <?page no="127"?> 4. Namibia 127 nicht ne Straße zu sagen, das ist ne pad, das ist ne Sandstraße. Oder oder lekker, ist ein schöner Ausdruck, den wir eigentlich für alles gebrauchen, oder .. ist einfacher. Das wirkt bequemer. (Aufnahme Riehl 1999, Sprecherin 27 J., vgl. Wecker, Transkriptionen S. 73, Transkript angepasst) Diese Einstellung wird auch von jüngeren Sprechern im Korpus von Wecker (2017) bestätigt. In diesem Zusammenhang erwähnt ein Sprecher auch die „Coolness“ des Slangs, auch in Abgrenzung zum sich immer mehr ausweitenden Englischen: (13) Was bisschen schade ist, dass ähm meine Generation, ähm, ja die reden immer mehr Englisch miteinander so. Da sind zwei Deutsch- Namibianer, aber dann reden die Englisch miteinander. Ich so, was ist euer Pro/ ja, ja ist cooler. Englisch ist cooler. Und ich so, ne. Diesen Slang, den wir sprechen, der ist eigentlich sehr cool. Also der ist auch besonders, so. (Aufnahme Wecker 2017, Sprecher 34 J., vgl. Wecker, Transkriptionen S. 414, Transkript angepasst) Einstellungen gegenüber Dialekt und Hochsprache Den Sprechern ist bewusst, dass das Deutsch, das sie sprechen, eine regionale bzw. kontaktinduzierte Umgangssprache darstellt, das sich vom Deutschen in Deutschland unterscheidet. So äußert sich etwa ein 69jähriger Sprecher, der in der Tourismusbranche arbeitet: (14) Ich denke, dass wir heute durch den Tourismus ein saubereres Deutsch sprechen, weil sonst die Leute uns nicht verstehen. Und wir uns Mühe gegeben haben, dann wirklich Hochdeutsch zu sprechen, ne. Aber untereinander, wenn wir untereinander sind und so, dann reden wir schon immer noch dieses Südwesterdeutsch. (Aufnahme Wecker 2017, Sprecher 69 J., vgl. Wecker, Transkriptionen S. 270) Allerdings ist den Sprechern ebenfalls bewusst, dass es sich bei den Glossen, Karikaturen oder anderen Stilisierungen des Namdeutschen bzw. Namslangs (vgl. etwa den Rapper Ees) um Stilisierungen handelt: (15) Dieses was der, was der/ manche übertreiben das natürlich, das Südwesterdeutsch - dieser Rapper da, dieser ähm... Ja der Ees, ne. Der übertreibt. So schlimm reden wir nicht. (ebd., S. 272f.) Der Sprecher macht in seinen Äußerungen deutlich, was im Bewusstsein vieler Deutsch- Namibianer verankert ist, nämlich dass das von ihnen gesprochene Deutsch in mangelhafter Weise vom Standarddeutschen abweicht, was sich in Formulierungen wie „ein saubereres Deutsch“ (Beleg 14) oder „so schlimm reden wir nicht“ (Beleg 15) zum Ausdruck kommt. Auch in einer Reihe weiterer Interviews mit Sprechern der älteren Generation wird diese Einstellung deutlich. Deutsch als Identitätsmerkmal Die Deutschnamibianer haben durchaus ihre eigene Identität als Namibianer und Südwester ausgebildet, wie das folgende Beispiel zeigt: (16) CR: Als was würdest du dich selber bezeichnen? C: Als Namibianer. Ehemaliger Südwester und Namibianer. Ich streit mich immer mit meinem Mann darüber (lacht). Ich seh mich wirklich nicht als Deutscher, also. .. Das ist mir schon zu lange her und ich bin so/ ich bin teilweise auch afrikaans und englisch groß geworden. Ich hatte englische Freunde und afrikaanse Freunde. Ich kann mich unmöglich als Deutscher aus Deutschland sehen. … Als Namibianer sehe ich mich. Südwester. (Aufnahme Riehl 1999, Sprecherin 27 J., vgl. Wecker, Transkriptionen S. 73) Dennoch wird diese Identität in der älteren Generation nicht zwangsläufig mit der Ausbildung einer eigenen Sprache in Verbindung gesetzt, wie die obigen Äußerungen des Sprechers in Beleg (14) demonstrieren. 8 Faktorenspezifik Die Missionstätigkeit der Rheinischen Mission (Glocke 1997; Panzergrau 1998) und der deutsche Kolonialismus brachten die deutsche Sprache nach Namibia, wo sie bis heute nicht <?page no="128"?> Katharina Dück 128 nur vital, sondern auch aufgrund einer allgegenwärtigen die Sprache umgebenden Multilingualität sehr dynamisch ist. Diese Dynamik spiegelt sich vornehmlich im Bereich der Lexik in Form zahlreicher Entlehnungen aus dem Englischen und dem Afrikaans und auch - jedoch durchaus weniger - den autochthonen Sprachen wieder; auch im Bereich der Grammatik zeigen sich erste Effekte durch gehäufte kontaktsprachliche Interaktionen. Von der einst einzigen Amtssprache in der Siedlungskolonie ,Deutsch-Südwestafrika‘ gehört das Deutsche heute zu einer von elf Nationalsprachen Namibias - vergleichbar dem Status einer geschützten Minderheitensprache - und wird von rund 22.000 Sprechern aktiv in formellen sowie informellen Kontexten gebraucht. Ein Großteil dieser Sprecher sind deutschstämmige Namibier, die eine standardbasierte Varietät des ,Namdeutschen‘ gebrauchen. Das Deutschlanddeutsche ist dagegen nicht nur in formellen Kontexten in Bildungseinrichtungen eine Prestigevarietät. Auch in den Bereichen Wirtschaft, Tourismus und Medien spielt das Deutsche eine wichtige Rolle. Daneben gibt es eine Nonstandardvarietät den sogenannten ,Namslang‘, der vornehmlich im Umgang unter jungen Deutschnamibiern eine Rolle spielt. Gerade für diese Gruppe scheinen nicht-kanonische sprachliche Strukturen, die vor allem aus dem Sprachkontakt mit Englisch und Afrikaans herrühren, identitätsstiftend zu sein. Darüber hinaus existiert noch eine deutschbasierte Hilfsvarietät das sogenannte ,Küchendeutsch‘, das in der interethnischen Kommunikation von Einheimischen und deutschsprachigen Kolonisatoren verwendet wurde. Sprachliche Charakteristika, die vom beständigen Sprachenkontakt in einem multikulturellen Land herrühren und sich in sogenannten Namibismen (Kellermeier- Rehbein 2016, S. 234) äußern, füllen nicht lediglich lexikalische Lücken, sondern fördern und erfüllen im Bereich der Kommunikation eine Funktion bei der Konstruktion einer post-kolonialen deutschnamibischen Sprecheridentität. 9 Literatur Ammon, Ulrich (1991): Die internationale Stellung der deutschen Sprache. 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Jahrhunderts..............133 2 Geographische Lage.......................................................................................................................136 3 Statistik und Demographie ...........................................................................................................137 4 Geschichte: Deutsche Sprachinseln in den USA......................................................................139 4.1 Deutschsprachige in der Kolonialzeit.................................................................................139 4.2 Einwanderung von Deutschsprachigen in die USA nach 1820 .....................................140 4.3 Deutschsprachige Einwanderung nach der Kolonialzeit bis Mitte des 19. Jhds.........140 4.4 Einige der deutschsprachigen Siedlungsgebiete ................................................................140 4.5 Deutschsprachige Siedlungen bis zum Ende des 19. Jhds. .............................................142 4.6 Einwanderung von Mennoniten Ende des 20./ Anfang des 21. Jhds. ..........................142 5 Wirtschaft, Politik, Kultur, rechtliche Stellung..........................................................................143 5.1 Wirtschaftliche Situation .......................................................................................................143 5.2 Rechtliche Stellung des Deutschen: Schulsystem, Sprachregelungen ...........................143 5.3 Kulturelle Institutionen, Verbände, Medien......................................................................144 6 Sprachen und Varietäten im Kontaktgebiet...............................................................................145 6.1 Kontaktsprachen ....................................................................................................................145 6.2 Die einzelnen Sprachformen des Deutschen: Sprachlagengefüge.................................145 6.3 Sprachkontakterscheinungen................................................................................................147 6.4 Code-Switching, Sprachmischung .......................................................................................147 7 Sprachgebrauch und -kompetenz ................................................................................................147 7.1 Einschätzung der Sprachkompetenz in den verschiedenen Sprachen/ Varietäten .....147 7.2 Sprachgebrauch: Domänen, Sprecherkonstellationen, Sprechertypen .........................148 8 Spracheinstellungen: Dialekt vs. Hochsprache, deutsche Identität in den USA.................149 9 Literatur............................................................................................................................................149 <?page no="133"?> 1 Einführender Überblick: Deutsch in den USA am Anfang des 21. Jahrhunderts Den Ausgangspunkt dieses Beitrags bildet die Frage, wo und von wem Varietäten des Deutschen in den Vereinigten Staaten von Amerika im 21. Jahrhundert gesprochen werden (zum Pennsylvaniadeutschen vgl. den Beitrag von Tomas in diesem Band, zur Situation im Bundesstaat Texas vgl. den Beitrag von Boas in diesem Band). Aufgrund von Zensus-Daten und linguistischen Studien bekommen wir ein ungefähres Bild von der heutigen Situation. Aber ohne eingehende Studien vor Ort tappen wir oft im Dunklen. Die Vereinigten Staaten haben eine der größten Konzentrationen von Deutschsprachigen bzw. Sprechern von Varietäten des Deutschen außerhalb Europas. Deutsch ist in den USA die fünfte am meisten zu Hause gesprochene Sprache (zirka 1,4 Millionen) nach Englisch, Spanisch, Chinesisch und Französisch laut der US-Volkszählung 2000. Die Bundesstaaten North Dakota und South Dakota aber sind die einzigen Staaten, in denen Deutsch die häufigste zu Hause gesprochene Sprache nach Englisch ist. Die Karte „Prevalent Language Spoken at Home, 2000, Excluding English“ verdeutlicht diese Situation (US Zensus 2000) (Abbildung 1). Außer den Staaten Nord- und Süddakota auf den Great Plains sieht man auch größere Flächen mit Deutschsprachigen im Bundesstaat Montana. Sonst findet man einzelne Landkreise in den Bundesstaaten Pennsylvania, Ohio, West Virginia, Kentucky, Tennessee, Michigan, Indiana, Illinois, Wisconsin, Missouri, Iowa, Minnesota, Kansas und Nebraska. In vielen von diesen Landkreisen findet man Siedlungen von religiösen Minderheiten wie zum Beispiel Hutterische Brüder in Montana oder Amische der Alten Ordnung in vielen Staaten. In Kansas und den Dakotas findet man auch Restsprachinseln von der großen Auswanderung der Russlanddeutschen im 19. Jahrhundert. Ein anderes Bild liefert die Zensus-Karte „Prevalent Language Spoken at Home, 2000, Excluding English and Spanish“ (US-Zensus 2000) (vgl. Abbildung 2). Auf den ersten Blick möchte man meinen, Deutsch oder eine Varietät des Deutschen wird in vielen Landkreisen gesprochen - auch wenn Englisch und Spanisch von den meisten als Alltagssprache gesprochen werden. Aber Abb. 1: Zu Hause am meisten gesprochene Sprachen (außer Englisch) (Karte nach https: / / www.census.gov/ population/ www/ cen2000/ censusatlas/ pdf/ 8_Language.pdf) <?page no="134"?> William D. Keel 134 diese „Deutschsprachigen“ sind oft eine winzig kleine Zahl in vielen Landkreisen. Oft sind es ältere Menschen, die die letzte Generation von relativ kompetenten Sprechern oder Halbsprechern sind. Man muss aber auch differenzieren zwischen Deutschsprachigen, die relativ spät eingewandert sind - im Laufe des 20. Jahrhunderts - und eher in städtischen Gebieten wohnen, und denjenigen Deutschsprechern, die Nachkommen der früheren Einwanderungswellen sind und eher in ländlichen Siedlungen wohnen. Einerseits gibt es Tausende von Einwanderern aus dem deutschsprachigen Europa, die in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA gekommen sind. Sie und ihre Nachkommen wohnen eher in städtischen Gebieten (zum Beispiel die vielen „Donauschwaben“ in Chicago, St. Louis, Cincinnati usw.) und haben oft versucht die deutsche Muttersprache beizubehalten. Ihre Kinder sind aber eher mit Englisch aufgewachsen, und es ist einfach eine Frage der Zeit, wann diese Gruppen dann aufhören, Deutsch oder eine Varietät des Deutschen zu benutzen. Zu dieser Gruppe gehören auch noch lebende Mitglieder der älteren Einwanderung aus dem deutschsprachigen Europa im frühen 20. Jahrhundert, die mehr oder weniger in den Städten ihre standarddeutsche oder standardnahe Muttersprache beibehalten haben. Andererseits leben auch noch Tausende von Nachkommen der Einwanderung von Deutschsprachigen von der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg in den ganzen USA. Hier muss man auch differenzieren. War die Einwanderung in der Kolonialzeit - vor dem Unabhängigkeitskrieg 1776-1781? War die Einwanderung in der Zeit von 1830 bis zum Bürgerkrieg? Oder in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges? Diese frühere Einwanderung führten die Menschen entweder in die schnell wachsenden Städte - oft mit einem deutschsprachigen Stadtteil - oder aufs Land als Farmer, oft in einer großflächigen ländlichen Siedlung mit einer Kirchengemeinde als Zentrum. In den Städten war eher eine gemischte sprachliche Situation, was deutsche Dialekte und die deutsche Schriftsprache/ Hochsprache anging. Oft benutzte man eine Art gesprochene Schriftsprache oder einfach Englisch. Abb. 2: Zu Hause am meisten gesprochene Sprachen (außer Englisch und Spanisch) (Karte nach https: / / www.census.gov/ population/ www/ cen2000/ censusatlas/ pdf/ 8_Language.pdf) <?page no="135"?> 5. USA 135 In den ländlichen Siedlungen besonders im Mittelwesten und auf den Great Plains entstand oft durch die weitere Einwanderung von Menschen aus dem gleichen Dorf bzw. der gleichen Region (Verwandtschaft, Freunde) eine Art Sprachinsel mit mehr oder weniger einheitlichem Dialekt. Oder, um das Beispiel von Pennsylvaniadeutsch zu benutzen, es entstand ein neuer Dialekt in der Kolonialzeit auf der Grundlange von mehreren nahverwandten Varietäten des Deutschen aus der Pfalz, Baden, dem Elsass, der Schweiz usw. (siehe Beitrag von Tomas zum Pennsylvaniadeutschen in diesem Band). Bei diesen ländlichen Sprachinseln muss man unterscheiden zwischen denjenigen, wo eine Varietät des Deutschen noch heute von den Kindern erworben wird: Amische der Alten Ordnung, Hutterische Brüder, Mennoniten der Alten Kolonie - besonders diejenigen, die in den letzten Jahrzehnten aus Chiahuahua/ Mexiko nach Texas und Kansas gekommen sind - und denjenigen, wo heute nur die älteste Generation noch eine deutsche Varietät als Muttersprache gelernt hat und noch sprechen kann - oft nur teilweise. Hier ein Beispiel aus Frohna im Landkreis Perry im Südosten von Missouri. Frohna ist eine der sieben ursprünglichen Ortschaften (mit Altenburg, Wittenberg, Seelitz, Dresden, Johannesberg und Paitzdorf), die 1839 von den Altlutheranern aus Sachsen gegründet wurden. In diesen Siedlungen ist die Missouri- Synode der lutherischen Kirche entstanden. Heute bestehen nur noch Frohna, Altenburg und Paitzdorf (jetzt Uniontown) - und die stolzen Dorfkirchen sowie ein Saxon Lutheran Memorial in Frohna und ein kleines Museum über die Missouri-Synode in Altenburg. Die Alltagssprache ist heute das amerikanische Englisch. Aber wenn man danach fragt, sprechen noch viele Menschen in diesen entlegenen Ortschaften in den bewaldeten Ausläufern des östlichen Ozarkgebirges den obersächsischen Dialekt ihrer Vorfahren. Es sind in der Regel die über 75-Jährigen, die noch relativ fließend sprechen können und zum Beispiel auf die Frage, was „squirrel“ (Eichhörnchen) im Dialekt heißt, sofort mit Eichhase antworten - oder „chimney“ (Schornstein) mit Feieresse und „rooster“ (Hahn) mit Gickerhahn. Westlich von diesen „sächsischen“ Lutheranern im Landkreis Perry - auf der westlichen Seite von der US-Bundesstraße 61 - finden wir einen ganz anderen deutschen Dialekt. Hier in der Gemeinde Apple Creek siedelten sich ab 1830 badische Katholiken an. Zusammen mit badischen Katholiken im benachbarten Landkreis Sainte Genevieve (Ortschaften Zell, Weingarten und New Offenburg) bilden sie ein alemannisches Gegenstück zu den Obersachsen - obwohl bei den Badenern hier ein „squirrel“ auch Eichhase heißt. Aber sie babbele Dietsch, statt Deitsch zu sprechen. Im Laufe des 20. Jahrhunderts haben viele der Nachkommen der Einwanderer aus dem 18. und 19. Jahrhundert aufgehört, zu Hause Deutsch zu sprechen und ihren Kindern eine deutsche Varietät weiterzugeben. Die Gründe dafür sind eher in der wachsenden Mobilität der Bevölkerung und der Verstädterung zu suchen, auch die anti-deutsche Gesinnung in der Zeit um den Ersten Weltkrieg hat eine Rolle gespielt. Das Auto und bessere Straßen seit 1920 aber haben die Deutschsprachigen in den USA aus ihren geschlossenen ländlichen Sprachgemeinschaften heraus gebracht und in die englischsprechende Gesellschaft geführt. Die großen Ausnahmen sind heute die Amischen mit Gaul und Buggy, die noch in ihren geschlossenen ländlichen Districts wohnen (vgl. den Beitrag von Tomas in diesem Band), und die isolierten Bruderhöfe der Hutterer. In vielen dieser Siedlungen war auch die Unterrichtssprache in den Schulen von Anfang an Englisch - Ausnahmen gab es selbstverständlich. Aber Deutsch als Unterrichtssprache konkurrierte schon am Ende des 19. Jahrhunderts in vielen Siedlungen mit Englisch. Diese Diglossie mit einer deutschen Varietät zu Hause und mit Englisch in der Schule hatte dann Einfluss auf die Frage der Kirchensprache. Schon vor dem Ersten Weltkrieg mussten viele Gemeinden entscheiden, Englisch als Kirchensprache zu wählen - oft mit einer Übergangsperiode von mehreren Jahren -, um die jüngeren Menschen in der Gemeinde zu behalten. <?page no="136"?> William D. Keel 136 Eine dritte Karte auf der Basis der Zensus- Daten 2000 - „German Speakers, 2000“ verdeutlicht, wo es in einem Landkreis einen größeren Prozentsatz von Deutschsprachigen gibt (Abbildung 3). Auf der einen Seite wird bestätigt, dass es einzelne Landkreise im Mittelwesten mit relativ vielen Deutschsprachigen gibt: zum Beispiel Holmes County, Ohio (Amische mit Pennsylvaniadeutsch); Perry County, Missouri (Obersächsisch, Badisch); Ellis County, Kansas (wolgadeutsche Dialekte); Grenzgebiet zwischen Nord- und Süddakota (schwarzmeerdeutsche Dialekte). Von besonderem Interesse sind Landkreise wie Gray County im Südwesten von Kansas, wo es relativ viele Deutschsprachige gibt in einem Landkreis, wo Spanisch nach Englisch die am häufigsten gesprochene Sprache ist. Hier haben wir mit der neuesten Einwanderung von Deutschsprachigen zu tun: Mennoniten aus Chihuahua in Mexiko, die zu Hause in ihren Familien noch Plautdietsch sprechen (vgl. dazu den Beitrag von Siemens in diesem Band). Im Folgenden werden wir die geschichtliche Entwicklung der deutschsprachigen Einwanderung und die Bildung von ländlichen Siedlungen (Sprachinseln) verfolgen. 2 Geographische Lage Der Begriff „Vereinigte Staaten“, im geographischen Sinne verwendet, beinhaltet die kontinentalen angrenzenden 48 Staaten sowie die Staaten Alaska und Hawaii als auch die Territorien Puerto Rico, Guam und die US Virgin Islands. Die Vereinigten Staaten teilen Landesgrenzen mit Kanada und Mexiko und maritime (Wasser) Grenzen zu Russland, Kuba und den Bahamas. Von den 50 US-Bundesstaaten liegen alle außer Hawaii auf dem nordamerikanischen Kontinent. Außer Alaska und Hawaii liegen die restlichen 48 Staaten und das Distrikt of Columbia zusammen innerhalb einer gemeinsamen Grenze und bilden das Kernland der Vereinigten Staaten. Die kontinentalen USA decken fast den gesamten Mittelmeerraum ab, und zwar sowohl Abb. 3: Sprecher des Deutschen (US-Zensus 2000) (Karte nach https: / / www.census.gov/ topics/ population/ language-use/ about.html) <?page no="137"?> 5. USA 137 nach der geographischen Breitenlage als auch nach der räumlichen Ausdehnung. Alaska und Hawaii sowie die politisch an die Vereinigten Staaten angeschlossenen Außengebiete (beispielsweise Puerto Rico und Guam) liegen außerhalb dieses Kernlandes. Die USA sind das dritt- (oder viert-) größte Land der Erde - nach Russland und Kanada (und vielleicht nach China) - der Fläche nach. Aufgrund ihrer Größe weisen die USA eine sehr große Diversität von Lebensräumen, Pflanzen und Tieren auf. Von Nord nach Süd beträgt die Ausdehnung der USA (ohne Alaska und Hawaii) 2.500 km, von West nach Ost sind es 4.500 km. Die Länge der Küstenabschnitte am Pazifischen Ozean im Westen und am Atlantischen Ozean im Osten (sowie dem Golf von Mexiko im Süden) beträgt fast 20.000 km. Das Landschaftsbild ist sehr vielfältig: zum Beispiel Waldgebiete und Mittelgebirge (zum Beispiel die Appalachen) an der Ostküste, Mangrovenwälder und Sumpfgebiete (Everglades) im subtropischen Florida, die großen Flusssysteme von Mississippi River, Ohio River und Missouri River, die weiten Ebenen (Great Plains) im Zentrum des Landes, der große Gebirgszug der Rocky Mountains, die trockenen Wüsten im Südwesten, die gemäßigten Regenwälder im Nordwesten und die Küstengebirge an der Westküste (Sierra Nevada). Politisch werden in 48 der 50 Staaten die einzelnen Bundesstaaten der USA in Counties (Landkreise) eingeteilt - Louisiana wird stattdessen in Parishes (Pfarreien) und Alaska in Boroughs eingeteilt. Laut der US-Zensus- Behörde gibt es in den Vereinigten Staaten 3.007 Landkreise, 64 Pfarreien, 19 organisierte Boroughs, 11 Volkszählungsbezirke, 41 kreisfreie Städte und den District of Columbia, d.h. insgesamt 3.143 Landkreise und landkreisähnliche Einheiten. Die durchschnittliche Zahl der Landkreise pro Bundesstaat ist 62 (die wenigsten in Delaware mit 3 und die meisten in Texas mit 254). Die Größe der Counties variiert zwischen den einzelnen Staaten, wobei Counties im Westen der USA deutlich größer sind als im Osten. So ist etwa ein County in Ohio 1.138 km² und in Georgia 888 km² groß, während sie in westlichen Staaten wie Kalifornien (3.977 km²) und Utah (6.286 km²) deutlich größer sind. 3 Statistik und Demographie Mit einer Gesamtbevölkerung von 320.065.285 Einwohnern (Ende 2014 laut US-Zensus- Behörde) sind die USA das drittbevölkerungsreichste Land der Welt. Mit 81 Prozent der Bevölkerung mit einem Wohnsitz in Städten und Vororten ist das Land stark urbanisiert. Kalifornien (38.332.521) und Texas (26.448.193) sind die bevölkerungsreichsten Staaten. New York City (8.405.837) ist die bevölkerungsreichste Stadt in den Vereinigten Staaten. Die Abbildung 4 verdeutlicht, dass die USA eine Vielfalt von ethnischen Gruppen aufweisen. Laut der US-Zensus-Behörde (2000) gab es folgende Bevölkerungszahlen und Prozente in den USA für die zehn größten Gruppen, wobei die deutsche Gruppe auf dem ersten Platz steht (s. Tabelle 1): Herkunft Anzahl in Mio. Anteil in Prozent Deutsche 42,8 15,2 Irische 30,5 10,8 Afroamerikanische 24,9 8,8 Englische 24,5 8,5 „Amerikanische“ 20,2 7,2 Mexikanische 18,4 6,5 Italienische 15,6 5,6 Polnische 9,0 3,2 Französische 8,3 3,0 Indianische 7,9 2,8 Tab. 1: Die 10 größten ethnischen Gruppen in den USA Wie aus der Karte (Abbildung 4) ersichtlich, konzentriert sich die deutsche ethnische Gruppe in einem breiten Band von Bundesstaaten von Pennsylvania und dem westlichen New York an der Ostküste über den gesamten Mittelwesten bis zu den Staaten auf den Great Plains, wo es nur ab und zu einen Landkreis gibt, wo die deutsche Herkunft nicht überwiegt. <?page no="138"?> William D. Keel 138 Tabelle 2 zeigt diejenigen zehn Sprachen, die laut der American Community Survey (2011) in den USA von Personen ab 5 Jahren zu Hause am meisten gesprochen werden, wobei Varietäten einer Sprachgruppe nicht berücksichtigt sind: Sprachen Sprecheranzahl Amerikanisches Englisch 230.947.071 Spanisch 37.579.787 Chinesisch 2.882.497 Tagalog 1.594.413 Vietnamesisch 1.419.539 Koreanisch 1.141.277 Französisch 1.301.443 Deutsch 1.083.637 Arabisch 951.699 Russisch 905.843 Tab. 2: Sprachen, die in den USA von Personen ab 5 Jahren zu Hause gesprochen werden Der deutsche Anteil (auf dem achten Platz) ist in den letzten dreißig Jahren (1980 bis 2010) um 32,7 Prozent gesunken. 1980 sprachen noch 1.586.593 Amerikaner eine deutsche Varietät; 1990 (1.547.987); 2000 (1.383.442). 2010 waren es knapp eine Million mit deutscher Muttersprache. Nach den Angaben der US-Zensus 2000 hatten folgende acht Staaten die meisten Deutschsprachigen (s. Tabelle 3). US-Staat Anzahl der Deutschsprachigen California 141.671 New York 92.709 Florida 89.656 Texas 82.117 Ohio 72.647 Pennsylvania 68.672 Illinois 63.366 Michigan 52.366 Tab. 3: Die acht US-Staaten mit den meisten Deutschsprachigen (US-Zensus 2000) Diese Angaben beziehen sich auf die Werte sind für „German“; für „Pennsylvania German“ gibt es separate Statistiken. Im Falle von Abb. 4: Abstammungen gemäß dem US-Zensus 2000 (Karte nach https: / / www.census.gov/ population/ www/ cen2000/ censusatlas/ pdf/ 9_Ancestry.pdf) <?page no="139"?> 5. USA 139 Ohio kommen 16.350 Sprecher von „Pennsylvania German“ hinzu, im Falle von Pennsylvania 39.605. Die Tendenz ist aber deutlich: Es gibt immer mehr Menschen in den USA, die außer Englisch eher Spanisch oder eine asiatische Sprache als Muttersprache sprechen, und immer weniger die eine nicht-englische europäische Sprache sprechen. 4 Geschichte: Deutsche Sprachinseln in den USA 4.1 Deutschsprachige in der Kolonialzeit 65.000 bis 100.000 deutschsprachige Menschen fanden den Weg in die amerikanischen Kolonien in Nordamerika während der Kolonialzeit (vor 1776). Einer der ersten Siedlungsorte war Germantown in der britischen Kolonie Pennsylvania. Im Jahre 1683 gründeten dreizehn Familien aus Krefeld am Niederrhein diese erste Gruppensiedlung von Deutschen in der Neuen Welt. Germantown war erst der Anfang der großen Siedlung im südöstlichen Pennsylvania von Deutschsprachigen. Diese deutschsprachigen Siedler in Pennsylvania wurden später als „Pennsylvania Dutch“ bekannt. Viele der Pennsylvania Dutch kamen aus dem Gebiet des Rheinlands vor allem aus der Pfalz. Zur Zeit der amerikanischen Revolution (1775-1783) war ein Drittel der Bevölkerung von Pennsylvania deutscher Herkunft. Pennsylvania wurde auch ein Ausgangspunkt für die Weiterwanderung von Deutschsprachigen in andere Kolonien, zum Beispiel nach Maryland und in die westlichen Regionen von Virginia, North und South Carolina (Reed/ Seifert 1954). Es gab deutsche Siedlungen in allen der dreizehn Kolonien. Zum Beispiel transportierten 1710 die Engländer etwa 3.000 Pfälzer in zehn Schiffen nach New York. Viele von ihnen wurden zunächst im Hudson Valley angesiedelt. 1723 siedelten sich 100 Familien in dem heutigen Herkimer County an, am Mohawk River. Andere erwarben Land im Schoharie-Tal. Deutsche Protestanten aus Salzburg wurden 1731 vertrieben und fanden Zuflucht in der neuen Kolonie Georgia. Rund 300 Salzburger folgten Pfarrer Johann Martin Bolzius nach Savannah und gründeten die Stadt Ebenezer im heutigen Effingham County. Sogar in der französischen Kolonie Louisiana gab es im 18. Jahrhundert deutsche Siedlungen am Mississippi oberhalb von New Orleans: In den heutigen Parishes von St. John the Baptist und St. Charles gibt es die „Deutsche Küste“ („Côte des Allemands“/ „German Coast“), wo Deutschsprachige ab 1721 angesiedelt wurden. Am Ende der amerikanischen Revolution sind auch etwa 5.000 von den 30.000 sogenannten „Hessians“, deutschen Soldaten, die dem englischen König im Krieg gegen die amerikanischen Kolonisten dienten, in der Neuen Welt geblieben. Bei der ersten US-Volkszählung 1790 schätzte man, dass etwa 8,6 Prozent der amerikanischen Bevölkerung deutschsprachiger Herkunft war. Von einer damaligen Bevölkerung von 3.929.214 Personen wären etwa Jahrzehnt Einwanderung ges. Deutsche Anteil in Prozent 1820-29 128.502 5.753 4,5 1830-39 538.381 124.726 23,2 1840-49 1.427.337 385.434 27,0 1850-59 2.814.554 976.072 34,7 1860-69 2.081.261 723.734 34,8 1870-79 2.742.137 751.769 27,4 1880-89 5.248.568 1.445.181 27,5 1890-99 3.694.294 579.072 15,7 1900-09 8.202.388 328.722 4,0 1910-19 6.347.380 174.227 2,7 1920-29 4.295.510 386.634 9,0 1930-39 699.375 119.107 17,0 1940-49 856.608 117.506 14,0 1950-59 2.499.268 576.905 23,1 1960-69 3.213.749 209.616 6,5 1971-80 4.493.000 66.000 1,5 1981-88 4.711.000 55.800 1,2 Gesamt 49.753.412 7.028.258 14,1 Tab. 4: Deutsche Einwanderung seit 1820 (Quelle: U.S. Bureau of the Census, Historical Statistics of the United States: Colonial Times to 1970, Washington D.C., 1975, 15; U.S. Bureau of Census, Statistical Abstract of the United States: 1990, Washington D.C., 10.) <?page no="140"?> William D. Keel 140 340.000 „Deutsche“ gewesen. Leider gibt es keine Angaben zu der Muttersprache von diesen Personen. 4.2 Einwanderung von Deutschsprachigen in die USA nach 1820 Wie man den Tabelle 4 (auf der vorigen Seite) entnehmen kann, sind seit 1820 etwas mehr als 7 Millionen „Deutsche“ als Einwanderer in die USA registriert worden. Nicht berücksichtigt sind die vielen Deutschsprachigen aus anderen Ländern (der Schweiz, Österreich-Ungarn, Russland, Luxemburg, Liechtenstein usw.). Man muss auch mit Rückwanderern rechnen. Hier gibt es nur Schätzungen, aber Anfang des 20. Jahrhunderts geht man von einer Rückwanderungsrate von zirka 20 Prozent aus. Immerhin sind es besonders in den 1850ern und 1880ern enorme Zahlen von deutschen Immigranten, die eine neue Heimat in den USA suchten. Einige sind in den Städten an der Ostküste oder in den Hafenstädten geblieben, andere suchten Land in den Territorien und Staaten, wo das relativ leicht zu bekommen war: an der Siedlungsgrenze. 4.3 Deutschsprachige Einwanderung nach der Kolonialzeit bis Mitte des 19. Jhds. Nach dem Ende der Revolution und der Gründung der neuen US-Regierung (Regierungszeit von dem ersten Kongress ab 1789) begann schnell die Erschließung der Territorien westlich der Siedlungsgrenze der dreizehn Kolonien. Zum Teil kamen neue Einwanderer aus Europa nach Amerika, aber am Anfang waren es in der Regel Siedler aus den bestehenden Kolonien, jetzt Bundesstaaten, die weiter nach Westen zogen. So entstanden die neuen Staaten Kentucky und Tennessee schon vor 1800 und Ohio im Jahre 1803. Mit dem Kauf von Louisiana im Jahre 1803 wurde das Gebiet der USA verdoppelt. 1812 wurde der Staat Louisiana in den Staatenbund aufgenommen. Unter den ersten Siedlern in diesen neuen Staaten waren auch viele „Deutsche“ oder „Pennsylvaniadeutsche“ aus den alten Kolonien, besonders in Kentucky, Tennessee und Ohio. In den Städten Cincinnati (Ohio), Louisville (Kentucky) und der Hafenstadt New Orleans gab es bald deutsche Viertel. 4.4 Einige der deutschsprachigen Siedlungsgebiete Ohio Besonders in den Bundestaat Ohio kamen viele Deutsche und Pennsylvaniadeutsche. Pennsylvaniadeutsche (Mennoniten und Amische) besiedelten zum Beispiel den Landkreis Holmes (ab 1809) und die umliegenden Landkreise (Keiser 2001). Seit den 1830ern und 1840ern entstanden zum Beispiel deutschsprachige Siedlungen in den westlichen und nordwestlichen Landkreisen Henry, Putnam, Auglaize und Mercer mit Einwanderern aus Nord- und Süddeutschland sowie der Schweiz. Besonders um New Bremen und Minster entwickelte sich eine größere niederdeutsche Sprachsiedlung (Fleischhauer 1960). Indiana Der Süden von Indiana (Bundesstaat seit 1816) erlebte eine bunte Mischung von deutschen Siedlungen: Schweizer in Tell City, Katholiken aus Österreich mit Schwerpunkt im Landkreis Dubois, und im Südosten Katholiken aus Nordwestdeutschland in Oldenburg und Bayern in St. Peter (Nützel 2009; Freeouf 1989). Es gibt auch pennsylvaniadeutsche Siedlungen im Norden von Indiana mit Amischen und Mennoniten der Alten Ordnung in den Landkreisen Elkhart und LaGrange. Amische mit Schweizerdeutsch gibt es zum Beispiel in Berne im Nordosten des Staates (Wenger 1969). Illinois Von der Stadt St. Louis am Mississippi-Fluss als Ausgangspunkt zogen deutschsprachige Siedler in die Landkreise von Südwest-Illinois (Bundesstaat seit 1818). Besonders die Landkreise Monroe, St. Clair, Madison und Randolph wurden zu einem Gebiet mit deutschem Charakter. Die Kreisstadt Belleville war hier der Mittelpunkt der deutschen Siedlung. Auch von Chicago aus nach Westen siedelten sich Deutsche an. <?page no="141"?> 5. USA 141 Missouri Außer der Konzentration von deutschen Siedlern in der Stadt St. Louis gab es zahlreiche deutsche Siedlungen im Bundesstaat Missouri (Bundesstaat seit 1821). Um einige zu erwähnen: die Siedlung der Altlutheraner im Landkreis Perry (ab 1839), die Stadt Hermann im Landkreis Gasconade (1839), das ganze Missouri-Tal von St. Charles bis Boonville seit den 1830ern, und die lutherischen Siedlungen (ab 1840) von Concordia und Cole Camp im Westen des Staates mit niederdeutscher Muttersprache (Grindstaff 1978; Ballew 1998; Albers 1999). Später kamen auch Pennsylvaniadeutsche (Amische und Mennoniten) nach Missouri und anderen Bundesstaaten im Mittelwesten. Michigan Württemberger siedelten sich ab den 1830ern in Washtenaw County in Michigan (Bundesstaat seit 1837) an (Gumperz 1954). Ab 1845 gründeten lutherische Missionare aus Franken vier Siedlungen in Saginaw County in der Mitte des Staates, um die dortigen Indianer zum Christentum zu bekehren. Noch heute bietet sich Frankenmuth als Restsprachinsel des Oberfränkischen an (Born 1994). Etwas weiter im Westen von Michigan im Landkreis Ionia gab es schon Mitte des 19. Jahrhunderts eine Siedlung von deutschen Katholiken mit einem Mittelpunkt in der Ortschaft Westphalia. Iowa Im Staat Iowa (Bundesstaat seit 1846) sind besonders erwähnenswert die Amana-Kolonien der „Gemeinde der wahren Inspiration“ im Landkreis Iowa. Von 1855 bis 1862 gründete diese kommunistische Gemeinschaft sieben Dörfer im Tal des Iowa River. 1932 wurde das Vermögen privatisiert. Kolonie-Deutsch wird aber heute noch von den einigen der ältesten Mitgliedern der Gemeinde gesprochen: Gut bekannt ist hier das Wort Peistengel ‚Rhabarber‘ zusammengesetzt aus dem englischen „pie“ (Obstkuchen) und dem deutschen „Stengel“ (wahrscheinlich in Anlehnung an das alte englische Wort „pieplant“ für Rhabarber (Johnson 1935). Iowa war auch das Ziel von vielen Einwanderern aus Schleswig-Holstein (es gibt auch zwei Ortschaften mit diesen Namen in Iowa) besonders nach 1850. Davenport am Mississippi ist der Hauptsitz der Schleswig- Holstein Heritage Society (Kehlenbeck 1934; Jakob 2002). In St. Donatus nahe Dubuque gab es noch Ende des 20. Jahrhunderts Sprecher des Letzebergischen. Amische und Mennoniten gründeten besonders in Südost-Iowa ihre Siedlungen um die Ortschaft Kalona. Wisconsin Der Staat Wisconsin (Bundesstaat seit 1848) gilt als Siedlungsgebiet von Deutschsprachigen aus dem ganzen Mitteleuropa (Deutschland, der Schweiz, Luxemburg, Norddeutschland, dem Rheinland usw.), die in den Jahren nach 1840 eingewandert sind. Besonders hervorzuheben sind die Siedlungsgebiete der Pommern mit einem Zentrum im Landkreis Marathon, der Schweizer (New Glarus), Rheinländer (Kölsch) im Landkreis Dane, und aus Holstein (New Holstein und Kiel) (McGraw 1973, Lewis 1968). Eine Sprachkarte des Max Kade Insitutes in Madison der deutschen Siedlungsgebiete in Wisconsin um 1890 ist abrufbar unter http: / / csumc.wisc. edu/ AmericanLanguages/ german/ states/ wis consin/ german_wi.htm. Minnesota In Minnesota (Bundesstaat seit 1858) gründeten Deutschsprachige konzentrierte Siedlungen seit den 1850ern besonders in der Gegend von New Ulm (Brown County) mit einer großen Anzahl von Einwanderern aus Nordböhmen und in Stearns County am oberen Lauf des Mississippi, wo Deutschkatholiken die Oberhand hatten. Im Jahre 1873 gründeten plautdietschsprachige Mennoniten aus Russland auch in Minnesota eine Siedlung in der Nähe von Mountain Lake im Südwesten des Staates. Kansas Deutschsprachige Siedlungen gab es in Kansas (Bundesstaat seit 1861) schon in der Territorialzeit (1854-1861), aber erst mit dem Bau der transkontinentalen Eisenbahnstrecken in den 1870ern erlebte Kansas die Einwanderung von Tausenden von Deutschsprachigen, <?page no="142"?> William D. Keel 142 besonders aus den deutschen Kolonien in Russland und im Osten von Österreich-Ungarn: Entlang der Santa-Fe-Eisenbahn in Zentral-Kansas fanden Mennoniten aus Südrussland (Ukraine) ihre neue Heimat (Baerg 1960; Schmidt 1977). 1 An der Trasse der Kansas-Pacific gründeten Wolgadeutsche und Bukowinadeutsche ihre Dörfer in West-Kansas (Johnson 1994; Kaul 1996; Khramova 2011; Lunte 1998). Bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg lernten Kinder in diesen Siedlungen deutsche Varietäten: Plautdietsch bei den Mennoniten, Bairisch und Pfälzisch bei den Bukowinadeutschen und Südhessisch und Pfälzisch bei den Wolgadeutschen. Deutschsprachige aus Ungarn und Bessarabien gründeten Siedlungen im äußersten Nordwesten von Kansas. An der Grenze mit Nebraska entstand eine großflächige niederdeutsche Siedlung aus der Gegend nördlich von Hannover (Seeger 2006). Die Weiterwanderung von Deutschsprachigen aus den Oststaaten (zum Beispiel Amische) dauert heute noch an (Meindl 2009). Die gefärbten Gebiete auf dieser Karte (Abbildung 7) des US-Zensus 1870 zeigen, wo es zu dieser Zeit konzentrierte Siedlungsgebiete mit deutscher Bevölkerung gab. 4.5 Deutschsprachige Siedlungen bis zum Ende des 19. Jhds. Auch in Nebraska (Bundesstaat seit 1867) siedelten Deutschsprachige aus Russland an - Wolgadeutsche in der Nähe von Lincoln und Mennoniten im Landkreis Henderson (Buchheit 1978). Im Süden an der Grenze mit Kansas entstand ein größeres Gebiet mit Niederdeutsch (Bender 1970). Die Entstehung von riesigen Feldern für den Anbau von Zuckerrüben zog Tausende von Russlanddeutschen aus Kansas, Nebraska und den Dakotas nach dem Nordosten von Colorado (Bundesstaat seit 1876) am Ende des 19. Jahrhunderts. Neue Einwanderer aus deutschen Kolonien in Russland kamen auch 1 Eine auf den Daren des US-Zensus von 1870 beruhende Karte bedeutender deutscher Siedlungsgebiete bietet der Linguistic Atlas of Kansas German Dialects, direkt nach Colorado oder gingen in die neueren Territorien von South und North Dakota (Bundesstaaten seit 1889). An der Grenze zwischen den beiden Staaten findet man eine großflächige konzentrierte Siedlung von Deutschsprachigen (Fischer Arends 1989). In South Dakota und zum Teil in North Dakota, Minnesota und Montana (Bundesstaat seit 1889) gibt es heute viele Bruderhöfe der Hutterischen Brüder mit südbairischem/ kärntnerischem Dialekt. Sekundäre Migrationen von russlanddeutschen Mennoniten aus Kansas führten seit 1889 zu einigen Siedlungen in dem westlichen Oklahoma (Bundesstaat seit 1907). Ähnliche Migrationen zogen Wolgadeutsche nach Oregon (Bundesstaat seit 1859) und Washington (Bundesstaat seit 1889) am Ende des 19. Jahrhunderts. Das gilt auch zum Teil für Kalifornien (Bundesstaat seit 1850). In Kalifornien gab es auch „deutsche“ Siedlungen (Neu-Helvetia (1841) von Johann Sutter und Anaheim (1857) in der Nähe von Los Angeles), aber hier spielte der Gebrauch von Varietäten des Deutschen keine nennenswerte Rolle. 4.6 Einwanderung von Mennoniten Ende des 20./ Anfang des 21. Jhds. Andererseits gibt es seit ein paar Jahrzehnten eine neue Welle von deutschsprachigen Einwanderern besonders auf den westlichen Great Plains. Aus den in den 1920ern gegründeten Mennonitenkolonien in Chihuahua/ Mexiko strömen seit Jahren Familien mit Plautdietsch als Muttersprache nach West- Texas (Seminole) und Südwest Kansas (zum Beispiel Dodge City und Garden City). Man redet von Tausenden. Es sind Familien mit Kindern, wo die Alltagssprache zu Hause eine Varietät von Plautdietsch ist. In Kansas besuchen die Kinder englischsprachige Schulen. Das Kansas Statewide Farmworkers Health Program versucht mit drei Sprachen den Menschen zu helfen: Englisch, Spanisch und Plautdietsch. Man kann nur spekulieren, wie stabil abrufbar unter http: / / www2.ku.edu/ ~germanic/ LA KGD/ Atlas_Intro.shtml. <?page no="143"?> 5. USA 143 diese neu entstandenen „Sprachinseln“ bleiben werden. 5 Wirtschaft, Politik, Kultur, rechtliche Stellung 5.1 Wirtschaftliche Situation In den noch zusammenhängenden Sprachinseln - zum Beispiel bei den Amischen der Alten Ordnung und bei den Hutterern - muss man die Landwirtschaft betonen, die seit ein paar Jahrhunderten das Leben dieser Gemeinschaften prägt. Bei den Amischen, die heute noch das Auto und Strom von der Außenwelt ablehnen, bleibt das landwirtschaftliche Leben, wie es am Ende des 19. Jahrhunderts war. Einige Amische finden auch Arbeit in der Umgebung, zum Beispiel in Sägemühlen und im Hausbau (siehe Seymour/ Bundesstaat Missouri). Die Hutterer dagegen haben in ihrem wirtschaftlichen Leben die moderne Technologie akzeptiert und betreiben eine hochtechnologisierte Landwirtschaft mit Computern und landwirtschaftlichen Maschinen. Weil weniger Personen in den hutterischen Brüderhöfen beim Ackerbau benötigt werden, haben die Hutterer die Möglichkeit, andere Wirtschaftszweige zu betreiben. Hutterische Kolonien in Nordamerika stellen nun eine Vielzahl von Produkten her, von Möbeln bis Metallverkleidungen für Gebäude. Die vor kurzem in den Südwesten von Kansas eingewanderten Mennoniten aus Mexiko finden auch in der Landwirtschaft Arbeit, aber viele sind in den riesigen Maststätten und Schlachthöfen der Rinder- und Schweineproduktion tätig. Sonst sind die Nachkommen der deutschsprachigen Einwanderer voll in dem modernen amerikanischen Wirtschaftssystem integriert. Interessant in dieser Hinsicht sind auch die vielen Biographien von deutsch-amerikanischen Unternehmern, die in dem kollaborativen Forschungsprojekt des German Historical Institute (Washington/ DC) zusammengestellt werden (http: / / www.immigrantentre preneurship.org/ ). 5.2 Rechtliche Stellung des Deutschen: Schulsystem, Sprachregelungen Als „Muhlenberg-Legende“ wird das Gerücht bezeichnet, nach dem es zur Zeit der Gründung der USA eine Gesetzesvorlage gegeben haben soll, Deutsch als offizielle Landessprache einzuführen. Es hat in den USA oder auch in einzelnen Bundesstaaten niemals eine Abstimmung über eine offizielle Sprache stattgefunden. Jedoch richteten Deutschamerikaner im Bundesstaat Virginia 1794 eine Bittschrift an den Kongress mit der Forderung, bestimmte oder alle Gesetzestexte künftig auch in deutscher Sprache zu veröffentlichen. Der Antrag wurde direkt abgelehnt. Frederick Muhlenberg, der Sprecher des Repräsentantenhauses, gab die entscheidende 42. Stimme ab. Die Vereinigten Staaten haben bis heute keine Amtssprache eingeführt und sind weltweit eines der wenigen Länder ohne De-jure- Amtssprache (wobei als De-facto-Amtssprache Englisch fungiert). Besonders in jüngerer Zeit haben allerdings etliche Bundesstaaten Englisch als Amtssprache definiert (http: / / www.us-english.org/ view/ 13). Im Großen und Ganzen wird Deutsch nur als Fremdsprache in den Schulen und Hochschulen der USA gelehrt. Selbst bei den Sektierern (Amische, Mennoniten, Hutterer wird der normale Unterricht in englischer Sprache gehalten. Viele Bundesstaaten verabschiedeten schon im 19. Jahrhundert Gesetze, die Englisch als Unterrichtssprache in allen Schulen für alle Fächer festlegten. Dagegen hat es in der Vergangenheit Privatschulen bzw. kirchliche Schulen mit Deutsch als Unterrichtssprache in vielen Fächern gegeben, zum Beispiel Religion, Geschichte und Geographie. Als Nachwirkung des Ersten Weltkriegs kam es aber zu einem Prozess gegen einen Lehrer in einer lutherischen Schule im Bundesstaat Nebraska. Er wurde verurteilt, weil er in der lutherischen Schule Unterricht im Bibellesen auf Deutsch erteilt hatte. 1923 entschied der US-Supreme-Court, dass eine Regelung, die Schulunterricht in einer modernen, aber nichtenglischen Sprache verbietet, gegen den 14. Verfassungszusatz der Verfassung der <?page no="144"?> William D. Keel 144 USA verstößt. Aber es dauerte lange, bevor Deutsch in der Schule sich auch einigermaßen von diesem Schlag erholt hatte. Vor 1950 besuchten die meisten amischen Kinder ländliche öffentliche Schulen. Nach einem Protest amischer Eltern über die Zusammenlegung von kleinen ländlichen Schulen entschied der US-Supreme-Court 1972 (Wisconsin v. Yoder), dass amische Kinder die Schulbildung mit 14 Jahren beenden können. Heute besuchen einige amische Kinder in einigen Staaten noch ländliche öffentliche Schulen, aber die überwiegende Mehrheit besucht Ein- oder Zweizimmerschulen, die von Amischen betrieben werden. Etwa 40.000 amische Jugendliche besuchen rund 1.500 Privatschulen, die mit der achten Klasse aufhören. Der Unterricht ist in der Regel in englischer Sprache. Die Lehrer sind in der Regel amische Frauen, die keine High School besucht haben, aber selbst Absolventen der amischen Schulen sind. Bei den Hutterern besuchen immer mehr Kinder die Oberschule und einige studieren sogar an Fachhochschulen. 5.3 Kulturelle Institutionen, Verbände, Medien Obwohl es nie möglich sein wird, eine genaue Zahl festzulegen, schätzen Wissenschaftler, dass es etwa 5.000 deutsche Zeitungen und Zeitschriften in den mehr als 300 Jahren der deutschsprachigen Einwanderung in die Vereinigten Staaten gegeben hat. Vor dem Ersten Weltkrieg hatten alle amerikanischen Großstädte und viele kleinere Städte mit einer hohen Konzentration deutscher Einwanderer mindestens eine deutschsprachige Zeitung. Deutschsprachige, die zum Beispiel in und um Baltimore, Chicago, Cincinnati, Milwaukee, New York, St. Louis und in Bundesstaaten wie Nebraska, Pennsylvania, Texas und Wisconsin lebten, hatten oft die Wahl zwischen mehreren deutschen Zeitungen. Heute gibt es nur noch etwa zwölf deutsche Zeitungen im Vergleich zu den über 800 deutschen Zeitungen und Wochenschriften zu der Zeit des Ersten Weltkrieges. Mit dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg begann eine schwierige Zeit der Zensur der deutschsprachigen Presse, die für die meisten Zeitungen, die eine eher begrenzte Reichweite hatten, das Ende bedeutete. Seit dem Beginn der deutschen Einwanderung in die englischen Kolonien in Nordamerika im 18. Jahrhundert gründeten diese Deutschamerikaner Vereine und Organisationen, um ihre Kultur und Gebräuche zu feiern und zu erhalten. Es gab Unterstützungsvereine, um neuen Einwanderern zu helfen, Gesangvereine, um das musikalische Erbe der Deutschen aufrechtzuerhalten, Theatervereine, Schulvereine, Turnvereine und dergleichen mehr. Heute sind viele dieser Vereine immer noch da, obwohl die Sprache langsam von Deutsch zu Englisch übergegangen ist. Zum Beispiel heißt der Nordamerikanische Turnerbund heute schlicht und einfach „American Turners.“ Da die Assimilation der Deutschsprachigen ans amerikanische Englisch in ihr Endstadion kommt, gibt es überall den Versuch, die letzten Spuren der deutschen Sprache und Kultur irgendwie aufrechtzuerhalten. Man findet nun viele „Heritage Societies“ und ähnliche Institutionen wie zum Beispiel the American Historical Society of Germans from Russia (Nebraska), the American Schleswig-Holstein Heritage Society (Iowa), den Pommerschen Verein Central Wisconsin, Amana Heritage Society (Iowa), the Center for Pennsylvania- German Studies usw. Die Sprache und Kultur der deutschsprachigen Siedler wird dargestellt und gefeiert in Gottesdiensten im Dialekt - die undenkbar gewesen wären zu der Zeit, als die Sprache noch lebendig war und strikt zwischen Alltagssprache/ Dialekt und Hochsprache in der Kirche unterschieden wurde - und in Sketchen im Dialekt auf der Bühne (Low German Theater in Concordia, Missouri oder Plautdietsch-Sketche beim Fall Festival an Bethel College in North Newton, Kansas). Deutschsprachige Kirchengemeindeen gab es vor hundert Jahren in Hülle und Fülle. Die Katholiken hatten seit 1788 „national parishes“ (Nationalpfarreien) für ihre deutschsprachigen Gemeinden in den USA, zum Beispiel gab es in St. Louis, Missouri mindestens sechs katholische Kirchen mit dieser Bezeichnung. Auf dem Lande, wo in einer Siedlung die Be- <?page no="145"?> 5. USA 145 völkerung eher katholisch und deutschsprachig war, brauchte man die Kirche nicht als „German national parish“ zu benennen. Lutheraner und Reformierte waren auch seit der Kolonialzeit mit Hauptzentren in Pennsylvania reichlich vertreten. In den 1830ern kamen zwei wichtige Zweige des Protestantismus von Deutschland nach Amerika und zwar beide zunächst nach Missouri: die Unierte Kirche in Preußen und die Altlutheraner in Sachsen. Die Unierte Kirche gründete den Deutsch-Evangelischen Kirchenverein des Westens im Jahre 1840 in St. Louis; 1847 gründeten die Altlutheraner in Chicago die Deutsche Evangelisch-Lutherische Synode von Missouri, Ohio und anderen Staaten. Andere eher englischsprachige Kirchengemeindeen wie die Methodisten, Congregationalisten, Presbyterianer hatten auch ihre deutschen Synoden. Deutsche Täufer sind in vielen verschiedenen Kirchengruppen vertreten: Schon in der Kolonialzeit gab es deutschsprachige Mennoniten, Amische, Tunker (Brüdergemeinden) und viele andere. Später kamen zum Beispiel die Gemeinde der wahren Inspiration (Amaniten, 1843), die Hutterer (1873) und die Apostolische Christengemeinde (1847) nach Amerika und gründeten deutschsprachige Kirchengemeinden. In vielen dieser Kirchen wurde Deutsch als Sprache des Gebets, des Gesangs, der Predigt bis in das 20. Jahrhundert beibehalten. Einige behielten Deutsch bis in die 1950er Jahre bei. Die Hutterer und Amische sowie einige Mennoniten halten ihre Gottesdienste immer noch auf Deutsch - auch wenn das nicht so ganz wie die moderne deutsche Hochsprache klingt. In den Amana-Kolonien in Iowa gibt es noch einen deutschsprachigen Gottesdienst, aber die Teilnehmer werden immer weniger. 6 Sprachen und Varietäten im Kontaktgebiet 6.1 Kontaktsprachen Aus der geschichtlichen Perspektive standen die Varietäten des Deutschen in den USA in Kontakt mit einer Reihe von Sprachen. Selbstverständlich waren überall die regionalen Varietäten des amerikanischen Englisch vertreten. Aber Kontakt mit anderen Einwanderersprachen war gang und gäbe. Auf den Great Plains kamen die Deutschsprachigen zum Beispiel in Kontakt mit Tschechisch, Schwedisch, Norwegisch, Holländisch, Französisch, Italienisch und vielen mehr. Der kleine Landkreis Rawlins in der nordwestlichen Ecke von Kansas war ein Musterbeispiel für das Nebeneinander von verschiedenen Immigranten und Siedlern am Ende des 19. Jahrhunderts: Im Nordosten lebten die Ungarndeutschen mit ihrem burgenländischen Dialekt; weiter westlich lebten Lutheraner aus Norddeutschland mit ihrem Plattdüütsch; nach Süden hin war eine schwedische Siedlung; und nordwestlich der Ungarndeutschen lebten die Böhmen mit ihrem Tschechisch. Und überall verstreut waren die Anglo-Amerikaner. Neuerdings gibt es aber immer mehr Mexikanisch-Spanischsprechende in den Gebieten, wo früher nur Einwanderer mit Varietäten aus Europa vorhanden waren. Im 21. Jahrhundert finden wir aber neue Entwicklungen, wie zum Beispiel in Südwestkansas, wo eine deutsche Varietät, Plautdietsch, in Kontakt mit Spanisch, Vietnamesisch, Somali und Englisch ist (s. Kansas Statewide Farmworker Health Program.) 6.2 Die einzelnen Sprachformen des Deutschen: Sprachlagengefüge Wie unten in Kapitel 6.2 in dem Assimilationsmodell von Mary Schmidt dargestellt ist, gab es am Ende des 19. Jahrhunderts in den meisten ländlichen Siedlungen der Deutschsprachigen in den USA eine Art Diglossie, was die Varietäten des Deutschen betraf. Wenn wir auch den Gebrauch von Englisch hinzurechnen, war es sogar eine Triglossie. Zu Hause in der Familie, mit der Verwandtschaft und dem Freundeskreis - und mit dem Vieh - sprach man den deutschen Dialekt. In der Schule und in der Kirche wurde das „Hochdeutsch“ verwendet - auf jeden Fall vom Pfarrer und vom Schulmeister. Gedrucktes Deutsch war fast immer „Hochdeutsch“ in den Zeitungen, Zeitschriften und Büchern. Geschrieben <?page no="146"?> William D. Keel 146 wurde oft eine Art Mischsprache mit Schuldeutsch, Dialekt und Englisch, wie folgendes Beispiel 2 aus dem Jahr 1867 in Kansas illustriert: Liebe Schwester Da ich wieder gesund bin muß ich dier ein par zeilen schreiben. Ich habe nach dem andern Fieber das kalte Fieber gekricht da ich es die letzte Woche wieder gehabt habe neme ich immer Medizin. Wier haben schönes Wetter hier. Wier haben die letzte Woche unsere letzten Kartoffeln aufgemacht und die Rüben. Liebe Schwester da ich wohl lust hette diesen Winter euch zu besuchen, wünschten wiehr lieber das einer von euch kehm der August hat wohl zeit der könte kommen und die Marie mit brechte die reise kost ihr nichts auf der Relroth [Railroad] du brauchst sie nicht an zu geben wen du komst 25 Dular [Dollar] kanst du von die Hundert Dolar nemen die schenk ich der zu der Reise. Wen du kommen soltest wünschte ich das du mich samen aller arten von die Ernestine mitbrechtest meinenen haben die Grashopper all gefreßen. Wen einer von euch kömt der kan mier von eurem gewebten mit bringen da ihr euch wieder weben könt. Wier hoffen nach Neujahr die Farm frei zu machen. Da wier 1600 Dular von Deutschland erhalten vom Vater. Wenn unsere Ernte gut ausfällt kommen wier alle nechstn Herbst nach Wiskansinn. Viele grüße an euch allen Emilie Arndt Die gesprochenen deutschen Varietäten (Dialekte) boten eine breite Palette. Norddeutsche gründeten Siedlungen mit Pommersch (Wisconsin), Holsteinisch (Iowa), Hannoversch (Missouri und Kansas), Ostfriesisch (Iowa), Westfälisch (Missouri), und Mennoniten aus Russland gründeten Siedlungen mit Plautdietsch (Kansas und Nebraska). Als Mitteldeutsch kann man die meisten wolgadeutschen Dialekte zusammen mit dem Pennsylvaniadeutschen einstufen - hessisch-pfälzische Varietäten; die Sprache der Altlutheraner in Perry County, Missouri, sowie die der Amana-Kolonie in Iowa kann als Ostmitteldeutsch eingestuft werden. Oberdeutsche Dialekte sind 2 Brief von Emilie Arndt, Schwiegertochter von Ernst Moritz Arndt, an ihre Schwester in Wisconsin, Max zum Beispiel bei den Lutheranern aus Mittelfranken in Michigan (Frankenmuth), den Deutschböhmen aus der Bukowina in Kansas oder den Schweizern in New Glarus, Wisconsin zu finden. Es gab auch Siedlungen, wo eine Art deutsche Umgangssprache als Kommunikationsmittel fungierte, besonders wo es verschiedene dialektale Gruppen in der Gemeinschaft gab. In der Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg begannen viele deutschsprachige Kirchengemeinden die Sprache in der Kirche (Gottesdienst, Sonntagsschule, Konfirmationsunterricht, usw.) teils schnell, teils langsam von Deutsch zu Englisch zu wechseln. Die Gründe hierfür sind komplex. In vielen Kirchen hatte man Angst, die Jugend an englischsprechende Gemeinden zu verlieren - die Kinder lernten in den Schulen und auf der Straße schnell Englisch und wollten Deutsch in der Kirche nicht mehr hören. Andererseits gab es einen enormen Druck in der Gesellschaft - besonders in den Jahren des Ersten Weltkrieges - alles, was Deutsch war, zu eliminieren. In den Städten, wo Deutschsprachige mit Englischsprechenden zusammenlebten, war die Situation anders als auf dem Land, wo die deutsche Kirchengemeinde eher isoliert war. Hinzu kam auch die Einführung des Volksautos - des T-Modells von Ford - und der moderne Straßenbau mit gepflasterten Landstraßen und Bundesstraßen. Mit der fortschreitenden Mobilität der Bevölkerung begann die Literatursprache aus der Kirche und dem Alltagsleben zu verschwinden. Eine Generation später - um die Mitte des 20. Jahrhunderts - war es auch soweit mit den dialektalen Varietäten in der Familie. Fast keiner gebrauchte mehr die deutsche Varietät. Heute rechnen wir mit der letzten Generation - die Menschen, die etwa vor 1940 geboren sind und die Immigrantensprache noch erlernt haben - von relativ kompetenten Sprechern in den meisten Siedlungen. Die großen Ausnahmen bilden die Amischen, Hutterer und einige Mennoniten, die in der Familie, in der Gemeinschaft noch einen Kade Center for German-American Studies, Lawrence, Kansas <?page no="147"?> 5. USA 147 Dialekt sprechen und im Gottesdienst noch eine Art deutsche Kirchensprache verwenden, zum Beispiel Amisch-Hochdeutsch. Auch in diesen Gruppen müsste man von einer Tri- glossie reden: Dialekt im Familienkreis, Hochdeutsch bei der Andacht (Kirchenlieder, Gebete, Predigt) und Englisch mit der Außenwelt (siehe Meindl 2009). 6.3 Sprachkontakterscheinungen Entlehnungen aus dem Englischen sind in allen Varietäten des Deutschen in den USA sind sehr häufig. Weit verbreitet zum Beispiel ist der Gebrauch des deutschen Verbs gleichen mit der Bedeutung des englischen Verbs „to like“ in Ausdrücken wie Der hot enn Mädche vun enn annres Dorf geglich/ gegleicht (Victoria, Kansas/ Wolgadeutsch) „Er hat ein Mädchen von einem anderen Dorf gemocht.“ Das findet man im Pennsylvaniadeutschen, im Wolgadeutschen auf den Great Plains, in Plattdeutsch, Schweizerdeutsch, überall, wo man hinschaut. Interessant ist auch Der hot sich gut behoove/ beheeft (Pennsylvanisch-Deutsch und Wolgadeutsch in Kansas) „Er hat sich gut benommen“ vom Englisch „to behave.“ Die morphologische Umgestaltung des Verbs kann sowohl schwach also auch stark ausfallen. Doppelte Entlehnungen kann man zum Beispiel in Steppfens bei den Russlanddeutschen auf den Great Plains finden. Der erste Teil kommt aus dem russischen степь (Steppe) und der zweite Bestandteil aus dem englischen fence (Zaun) und hat die Bedeutung von einem Stacheldrahtzaun auf der Prärie, oft mit Pfosten aus Kalkstein. Ein leckeres Essen ist auch in vielen Ortschaften in Kansas ein Bieroch/ Bierock (eine mit Fleisch und Kraut gefüllte Teigtasche), entlehnt aus dem russischen пирóг (Pirog). Ein englischer Einfluss auf die Aussprache von den Liquiden / l/ und / r/ in den deutschen Varietäten in den USA wird auch oft erwähnt (Keiser, 2012). Das gilt besonders für die Aussprache von den Amischen, die noch in Pennsylvania wohnen, während sich diese Aussprache in der Mid-Western-Variante des Pennsylvaniadeutschen noch nicht durchgesetzt hat. Der Zusammenfall von Kasusmorphologie beim Substantiv in den deutschamerikanischen Varietäten ist komplizierter. Manche sehen eine Weiterentwicklung des Kasusabbaus in allen deutschen Dialekten, andere nehmen einen Einfluss des amerikanischen Englisch an (s. Keel, 1994). Andere sehen besonders in den Varietäten des Pennsylvania-German eine Art Konvergenz in einigen syntaktischen Aspekten mit dem amerikanischen Englisch. (Zu dieser Diskussion s. ausführlich Boas, in diesem Band). 6.4 Code-Switching, Sprachmischung Besonders bei den Amischen wird oft von Code-Switching berichtet. Untereinander reden sie Däätsch oder Deitsch, aber mit einem nicht-amischen Sprecher wechseln sie sofort ins Englische. Heutzutage kann man nur bei den Sektierern eigentlich von Code-Switching reden. Die Hutterischen Brüder sowie die Amischen der Alten Ordnung leben in einer dreisprachigen Welt. In ihren Gemeinschaften im Alltag sprechen sie den Dialekt; im Gottesdienst - im Gebet und im Gesang - wird eine Art deutsche Hochsprache - Kirchensprache - benutzt. Mit Menschen von außerhalb der Gemeinschaft wird Englisch gesprochen. 7 Sprachgebrauch und -kompetenz 7.1 Einschätzung der Sprachkompetenz in den verschiedenen Sprachen/ Varietäten Nach dem Modell von Mary Schmidt (siehe unten, Kapitel 6.2) kann man die meisten deutschsprachigen Enklaven in den USA als in den Endstufen der Assimilation einordnen. Einige Menschen in der allerletzten Generation von Sprechern sind relativ kompetent - sie sind die Ausnahmen; die überwiegende Mehrheit muss aber eher als Semi-Sprecher beschrieben werden oder als nur noch fähig, einige Vokabeln über die Lippen zu bringen. Viele bedauern es sehr, dass sie die Sprache der Elterngeneration nicht besser beherrschen. Aber es ist zu spät. <?page no="148"?> William D. Keel 148 Bei den Sektierern wie den Amischen und Hutterern dagegen sieht alles anders aus. Man rechnet am Anfang des 21. Jahrhunderts mit etwa 250.000 Amischen in den USA und Kanada und einer Verdoppelung der amischen Bevölkerung alle zwanzig Jahre (Keiser 2012 und Tomas, in diesem Band). Solange diese Gruppen sich von der Außenwelt abgrenzen und ihre Sprache als Merkmal der Gruppenzugehörigkeit beibehalten, kann man nicht mit einer Assimilation dieser Varietäten in das Englische rechnen. 7.2 Sprachgebrauch: Domänen, Sprecherkonstellationen, Sprechertypen Seeger hat 2006 in seiner Dissertation ausführlich dargestellt, wie komplex das System von Domänen und Sprecherkonstellationen in einer ländlichen deutschsprachigen Siedlung auf den Great Plains war und wie dieses System durch die Jahre und Generationen sich allmählich änderte. Von dem Anfang der Siedlung (in den 1870ern) an hatten in seiner Studie Sprecher in den Landkreisen Marshall und Washington in Kansas mit drei Varietäten zu tun: Plattdüütsch (Nord-Hannoversch), Kirchendeutsch und Englisch. Seeger hat gezeigt, dass man auch innerhalb der engsten Familie (Eltern, Geschwister, Großeltern) in verschiedenen Situationen verschiedene Varietäten benutzte. Eindeutig war es aber mit dem Vieh auf dem Bauernhof: Hier haben alle Platt gesprochen. In der Kirche mit dem Pfarrer sprachen sie eine Art Hochdeutsch. In der Stadt beim Einkaufen war es eher Englisch. Schon in der zweiten Generation begannen die Kinder, miteinander Englisch zu reden, mit den Eltern und besonders mit den Großeltern eine deutsche Varietät. Der englische Einfluss von der Schule wurde von Generation zu Generation immer größer. So begannen die Eltern der zweiten Generation, mit ihren Kindern eher Englisch zu sprechen. Diese Entwicklung beeinflusste auch langsam die Sprache in der Kirche. Nach der Mitte des 20. Jahrhunderts mussten sogar die Schweine und Hühner Englisch verstehen. Mit Ausnahme der religiösen Gemeinschaften der Amischen und einigen Mennoniten mit ihrem Pennsylvania German (siehe Beitrag von Tomas, in diesem Band), der Hutterischen Brüder mit ihrem Kärntnerisch und der russlanddeutschen Mennoniten mit ihrem Plautdietsch (vgl. dazu den Beitrag von Siemens, in diesem Band) gibt es kaum noch Siedlungen, wo eine deutsche Varietät noch eine kommunikative Funktion im Alltag erfüllt. Das Assimilationsmodell von Mary Schmidt (1977) kann man für viele dieser deutschsprachigen Siedlungen in den USA anwenden. Schmidts Darstellung gilt besonders für die mennonitische Gemeinde Hoffnungsau in Südkansas: Vor 1915 Geborene Diese Personen sind in einem fast ausschließlich deutschen Umfeld aufgewachsen. Ein deutscher Dialekt wurde zu Hause verwendet, während Schriftdeutsch in der Schule gelernt und in der Kirche benutzt wurde. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts sprach diese Gruppe noch den deutschen Dialekt bei Familienversammlungen und mit engen Freunden. 1915-30 Geborene Diese Personen sind in einem überwiegend deutschen Umfeld mit gelegentlichem Gebrauch von Englisch aufgewachsen. Sie hatten noch etwas formale Ausbildung in Schriftdeutsch. Deutsch wurde noch für einige religiöse Zwecke verwendet, bis sie das Erwachsenenalter erreichten. Ein entscheidender Unterschied in dieser Gruppe ist, dass sie begonnen hat, mit ihren Kindern Englisch zu sprechen. 1930-45 Geborene Diese Personen sind mit etwas Deutsch zu Hause aufgewachsen, aber Englisch hatte begonnen zu überwiegen. Sie hatten typischerweise keine formale Ausbildung in Schriftdeutsch und können sich nur erinnern, als Kinder Deutsch in der Kirche gehört zu haben. Sie haben oft passive Kenntnisse eines deutschen Dialekts, können aber in der Regel nur kurze Sätze und einzelne Wörter sprechen. <?page no="149"?> 5. USA 149 1945-60 Geborene Diese Personen haben kein Deutsch mehr zu Hause gehört. Es fehlt ihnen das passive Verständnis der vorhergehenden Gruppen. Diese Gruppe hat in der Regel keine Erfahrung in der Schule oder in der Kirche mit Schriftdeutsch gemacht. Einige haben vielleicht später Deutsch als Fremdsprache in der Schule oder in der Universität gelernt. 1960 und später Geborene Diese Personen haben praktisch keine Erfahrung mit Schriftdeutsch oder einem deutschen Dialekt gehabt. Trotzdem haben sie oft ein ausgeprägtes Bewusstsein für das sprachliche und kulturelle Erbe ihrer Gemeinschaft. Am Anfang des 21. Jahrhunderts sehen wir eher die Gründung von Heritage Societies statt den Erhalt der deutschen Varietät der ersten Siedler. 8 Spracheinstellungen: Dialekt vs. Hochsprache, deutsche Identität in den USA Für viele Deutschsprachige war die „Muttersprache“ oder der Dialekt im Familien- und Freundeskreis als minderwertig eingestuft. In der Schule und besonders in der Kirche hörte man die korrekte Version des Deutschen. Was man zu Hause sprach, wurde oft mit „Slopbucket German“ charakterisiert - Nachttopf- Deutsch. Wer nach der Schrift sprach, hatte es besser - war auch besser. Mit dem Bewusstsein, dass eine ganze Kultur mit dem Verlust der Siedlungssprache verloren geht, begannen - etwa ab den 1970ern - viele Menschen, ihre alte deutsche Varietät zu schätzen bzw. die Varietät, die sie von ihren Eltern leider nicht mehr gelernt hatten. Das hängt auch mit der Gründung von „Heritage Societies“ (s.o.) und auch Sprachunterricht in den Dialekten vor etwa vierzig Jahren zusammen. Ähnliches gilt auch für Deutsch als Identitätsmerkmal. Bis zum Eintritt der USA 1917 in den Ersten Weltkrieg konnten Deutschsprachige in Amerika stolz auf ihr Deutschtum, deutsche Sprache, deutsche Kultur sein - und zwar in der Öffentlichkeit. Mit einem Schlag war dann „Deutsch“ aus der Öffentlichkeit verschwunden. In einigen Bundesstaaten (zum Beispiel Iowa) wurde die deutsche Sprache verboten. Deutsche Städtenamen verschwanden von der Landkarte. Es war eine schlimme Zeit für alles, was deutsch war. Verschwunden war die deutsche Sprache nicht, aber die Menschen, die ab 1917 Deutsch oder eine Varietät des Deutschen in den USA sprachen, taten es hinter verschlossenen Türen. Erst mit der Entdeckung der eigenen Geschichte in Zusammenhang mit der Zweihundertjahrfeier der amerikanischen Revolution 1976 und der Entdeckung der eigenen Herkunft - nach der erfolgreichen Fernsehserie „Roots“ (1977) - und mit dem zunehmenden Interesse an ethnischen Studien an den amerikanischen Universitäten nach der Bürgerrechtsbewegung Ende der 1960er, begannen auch die restlichen Deutschsprachigen in den USA, auch ihre Kultur und ihre Sprache hervorzuheben. Jetzt konnte man stolz auf seine Herkunft sein. Der amerikanische Schmelztiegel hatte nicht alle Menschen in eine monotone Masse zusammengeschmolzen - jetzt konnte man Farbe bekennen - schwarz, braun, gelb, rot und auch „Deutsch.“ Auf einmal sah man Schilder wie „Mer schwetze Letzebergisch“ (St. Donatus, Iowa) oder „Mir sin Pennsylvania-Deitsche un sin stolz“ oder „Kiss Me, I’m German.“ 9 Literatur Albrecht, Erich A. (1979): Deutsche Sprache in Kansas. In: Auburger/ Kloss/ Rupp (1979): S. 161-170. Algin, Barbara/ Clausing, Gerhard (1985): Zur Situation der deutschen Sprache in Kalifornien. In: Kloss (1985), S. 99-108. Arends, Shirley Fischer (1989): The Central Dakota Germans. Their History, Language, and Culture. Washington, DC: Georgetown University Press. Auburger, Leopold/ Kloss, Heinz/ Rupp, Heinz (Hrg.) (1979): Deutsch als Muttersprache in den Vereinigten Staaten. Teil I. Der Mittelwesten. Wiesbaden: Franz Steiner Verlag (Deutsche Sprache in Europa und Übersee, Berichte und Forschungen, Bd. 4). Bender, Jan E. 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Oft wird es auch als Überbegriff für die in mehreren nordamerikanischen Bundesstaaten gesprochenen Siedlungsmundarten bezeichnet, die mit den Varietäten der Vorderpfalz, Süddeutschlands und der Nordschweiz verschmolzen sind. 1 Bei dem Begriff PeD denkt man primär an den Bundesstaat Pennsylvanien in den USA, was sicherlich eine richtige Assoziation darstellt, zumal sich dort die ersten deutschstämmigen Aussiedler aus Europa um das Jahr 1680 niedergelassen haben. Nachdem die ersten Siedlungen in Pennsylvanien gegründet wurden, folgten weitere in anderen Bundestaaten. Die Einwanderung der deutschstämmigen Siedler ist in mehreren Etappen verlaufen, die sich von etwa 1680 bis zum Unabhängigkeitskrieg 1776 erstrecken (Kraybill 1998, S. 4; Nolt 2003, S. 73.). Nach 1800 sind auch unterschiedliche Einwanderungsbewegungen zu beobachten, diese erreichten jedoch nie die Intensität aus dem vorigen Jahrhundert, zumal die Siedler aus unterschiedlichen Teilen des deutschsprachigen Europas kamen (Schulze 1998, S. 133). In den USA angekommen, haben sich diese oft nicht homogenen Sprechergruppen gemischt und über das Territorium der USA verteilt, sodass viele deutschsprachige Tochtersiedlungen entstanden sind. Diesbezüglich kann man für die ursprünglich besiedelten Bundestaaten im Osten der USA sicherlich von einem Ausgleichsprozess mehrerer Mundarten bei der endgültigen Sprachformung sprechen. Bis heute sprechen die 1 Die Grundlage dieses Artikels sowie die angeführten Sprachbeispiele sind während meiner empirischen Feldforschung bei den Amischen in Pennsylvanien 2014 entstanden. Bei allen Sätzen im PeD in dieser Arbeit handelt es sich um Sätze, die nach dem Prinzip der deutschen Orthographie transkribiert wurden. Alle transkribierten PeD-Sätze erscheinen nummeriert in Kursiv-Schrift und sind aus meinem Korpus (Tomas, Pennsylvanischdeutschen diesen, von zahlreichen Anglizismen durchzogenen Mischdialekt, der insbesondere der pfälzischen Mundart, der Sprache der wohl größten Aussiedlergruppe, immer noch sehr ähnelt. Die Amischen und Mennoniten halten auch nach über 300 Jahren an ihrer traditionellen, vom heutigen Hochdeutschen abweichenden, aber immerhin gut erkennbaren pennsylvanischdeutschen Sprache fest (siehe dazu Kapitel 6 in diesem Beitrag). Nach dem letzten Zensus 2016 sind die Gemeinden der deutschsprachigen Amischen in manchen Bundestaaten rapide gestiegen (vgl. den Beitrag von W. Keel in diesem Band), und somit gibt es die meisten amischen Gemeinden (church districst) in den Staaten Ohio, Pennsylvanien, Indiana, Wisconsin, Michigan und auch New York (vgl. Tabelle 1): Bundesstaat Gemeinden Geschätzte Sprecherzahl Ohio 537 72.495 Pennsylvanien 479 70.890 Indiana 369 51.660 New York 136 18.360 Wisconsin 141 18.050 Michigan 109 14.495 Missouri 98 11.465 Tab. 1: Anordnung der Siedlungen nach Bundesstaaten in den USA 2 2 Geschichte der Amischen in Streiflichtern Zum Namen Pennsylvanischdeutsch (oder Pennsylvaniadeutsch, Pennsylvania-Deutsch oder Deitsch, sogar Pennsylfaanisch) gibt es einige Erklärungen: Meister-Ferré (1994, S. 1) meint, dass der Name ‚Dutch‘ ein Versuch sein sollte, das für die Engländer etwa wie voraussichtlich 2018). Fremdbelege aus dem PeD werden immer explizit mit Quelle oder Autor genannt. 2 Quelle: „Amish Population by State/ Province, 2016“, Young Center for Anabaptist and Pietist Studies, Elizabethtown College. http: / / groups.etown.edu/ amish studies/ statistics/ population-by-state/ (letzter Zugriff: 30.1.2018). <?page no="156"?> Adam Tomas 156 / daidʃ/ klingende „Deutsch“ zu verschriftlichen und dass dabei Dutch hervorkam. Louden (2016) sieht in dem Namen ‚Deitsch‘ die eigentliche Bezeichnung, mit der sich die Sprechergruppe selbst bezeichnet. Tatsächlich nennt sich die große Mehrheit der PeD-Sprecher auf Englisch selber ‚Dutch‘, die Sprache und Kultur aber ‚German‘, daher die zwei oft missverstandenen Termini (Pennsylvania Dutch und Pennsylvania German), welche im Grunde ein und dieselbe kulturelle Entität bezeichnen. Die Namensgebung für das Pennsylvanischdeutsche geht zurück auf die religiöse Gemeinschaft der Amischen und Mennoniten in Europa und ihre Umsiedlung in die USA. Die Ursprünge der Gemeinschaft der Amischen und der Mennoniten liegen weit im 16. Jahrhundert zurück, in einer religiösen frühneuzeitlichen Täuferbewegung (die Dunker; vgl. dt. (ein)tunken der Erwachsenen als Taufritual im Gegensatz zu der Kindertaufe) in West- und Süddeutschland und in der Schweiz. Die ‚Amischen‘ ist als Kollektivbegriff für eine überwiegend deutschstämmige und mehrheitlich deutschsprachige religiöse Gemeinschaft zu verstehen, die sich im 17. Jahrhundert von ihrer Muttergemeinschaft in der heutigen Pfalz, Süddeutschland und der Nordschweiz durch Auswanderung in die religiös toleranten USA gelöst hatte und von dem Zeitpunkt an so gut wie keine Kontakte zum 3 Zur Geschichte der Amischen siehe insbesondere Kraybill (1998) und Louden (2016). Mutterland unterhielt. 3 Die Mennoniten berufen sich auf Menno Simons (1496-1561), einen Prediger aus der frühen Täuferbewegung aus den Niederlanden. Die Amischen benennen sich nach Jakob Amann (1644-1730), ein aus der Schweiz stammender Gemeindeältester. Die Wege der Amischen und der Mennoniten sind sowohl in Europa wie auch in den USA oft eng verflochten. Der Wunsch nach Freiheit führte kurz vor 1.700 etliche Gläubige in die USA, da die religiöse Intoleranz in weiten Teilen Europas sehr hoch war. Es siedelten nach und nach viele Familien auf die Einladung des Gouverneurs Sir William Penn (1644-1718) in den von ihm neu gegründeten Bundestaat Pennsylvanien aus, wo sich die große Mehrheit der Amischen niederließ (zum Beispiel Germantown bzw. Deitschschteddel; gegründet 1683). Im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts haben sich die Gemeinden der Amischen in Deutschland völlig aufgelöst. Insgesamt gibt es heute in den USA und Kanada über 300.000 Angehörige, mit einer stark steigenden Tendenz (Louden 2016, S. 64). Die religiöse Vielfalt unter den Amischen ist sehr differenziert und in unterschiedlichen Auslegungen der Heiligen Schrift begründet. Diese Gemeinschaft entwickelte sich zu einer stabilen und funktionierenden sprachlichen Entität mit soziologischen, kulturellen und linguistischen Besonderheiten. Der in der Bibel (2. Kor. 6.17) fundierten Abgeschiedenheit blieben die Amischen und Mennoniten bis zum heutigen Tage treu, und eben dieser ist es wohl zu verdanken, dass ihre gesamte Kultur und Sprache dem Kampf gegen die Zeit trotzen konnten. Trotz der unterschiedlichen regionalen Herkunft aus Deutschland und Teilen der Schweiz sprachen bald fast alle Amischen und Mennoniten in Nordamerika den typischen deutsch-englischen Siedler-Dialekt von Pennsylvanien, das heute so bekannte und so genannte Pennsylvanisch-Deitsch. Abb. 1: Die Gemeinden der Amischen in den USA 2010 (http: / / amishamerica.com/ amishstate-guide/ , letzter Zugriff: 30.1.2018) <?page no="157"?> 6. Pennsylvanischdeutsch 157 3 Statistik und Demographie Die Aufbereitung von statistischen Daten über die deutschsprachigen Siedlungen der pennsylvanischdeutschen Sprecher in den USA gestaltet sich schwer. Dafür gibt es hauptsächlich zwei Gründe. Einerseits beruhen diese Daten wegen der sozialen Abgeschiedenheit mancher Sprecher auf nicht verifizierbaren Schätzungen. Andererseits müsste zuerst der Status ‚pennsylvanischdeutscher Sprecher‘ definiert werden. Grundsätzlich unterscheidet man bei den Sprechern des PeD zwischen zwei Gruppen. Einerseits sind die meisten muttersprachlichen Sprecher zugleich Angehörige einer der vielen streng-religiösen Gemeinschaften. Diese Gruppen benennen sich teilweise unterschiedlich, teilen aber oft die gleichen christlichen Werte. Die bekanntesten Gemeinden (die Gmee), die ihre religiöse Zugehörigkeit durch bestimmte biblische Regeln (die Ordnung) definieren, sind beispielweise die ‚Old- Order-Amisch‘ (OOA) und ‚Old-Order-Mennoniten‘ (OOM) oder die ‚New-Order-Mennoniten‘ (NOM). 4 Innerhalb dieser Gruppen gibt es viele und recht unübersichtliche Differenzen, was eine gradlinige Trennung für Au- 4 Näher und ausführlicher dazu in Kraybill (2001) und Nolt (2003, S. 157). ßenstehende sehr schwer macht. Die Schätzungen der Sprecherzahl innerhalb dieser Gruppen gehen mit Angaben von 180.000 bis 308.000 sehr weit auseinander. Die zweite Sprechergruppe stammt von der größten Gruppe der US-Emigranten in den USA ab, nämlich von den sogenannten ‚German Americans‘. Diese Sprecher des PeD, deren Vorfahren aus deutschsprachigen Gebieten Europas kamen (überwiegend aus der Pfalz, aus Südwestdeutschland, aus der Schweiz, dem Elsass und aus Österreich), die in der amerikanischen Gesellschaft relativ schnell nach ihrer Einwanderung integriert wurden und deren Nachfahren bis heute ihre deutsche Abstammung bewusst hervorheben, bezeichnen sich oft selbst als ‚Deitschstämmige‘, oder vereinfacht als ‚Deitsche‘. Sie zeichnen sich nicht durch einen besonderen Lebens- oder Kleidungsstil aus, sind deswegen aber auch nicht weniger religiös, gehen ebenfalls regelmäßig in eine der meist lutherischprotestantischen kirchlichen Gemeinden (daher oft auch ‚Kirchenleute‘ bzw. Karrichaleit genannt) und leben ein in den USA als ‚normal‘ angesehenes, gesellschaftlich interaktives Leben, sodass sie von der übrigen, nicht deutschstämmigen Gesellschaft nicht zu unterscheiden sind. Ancestry group Total (1,000) Percent distribution by region Northeast Midwest South West Iranian 470 12 6 25 57 Irish 36,915 25 24 32 18 Israeli 139 43 9 23 25 Italian 18,085 44 17 22 17 Latvian 96 27 23 21 29 Lithuanian 727 38 28 19 15 Northern European 222 12 20 23 45 Norwegian 4,643 6 49 12 33 Pennsylvania German 344 55 27 11 7 Polish 10,091 33 37 18 12 Portuguese 1,477 47 4 12 37 Romanian 519 24 28 22 27 Russian 3,163 36 17 21 25 Tab. 2: Abstammungen nach USA-Zensus von 2009, S. 50 (Quelle: http: / / www2.census.gov/ library/ publications/ 2011/ compendia/ statab/ 131ed/ tables/ pop.pdf, letzter Zugriff: 30.1.2018) <?page no="158"?> Adam Tomas 158 Etwa 50 Millionen der heute in den USA lebenden Bürger geben immer noch ihre deutschstämmige Herkunft an, was auch aus dem Zensus von 2009 hervorgeht. 5 Diese Einwanderergruppe hat aber im Laufe ihrer Übersiedlung von Europa in die USA wohl die meisten Veränderungen und Umschichtungen erlebt. Es waren eben diese Siedler, die seit dem Ende des 17. Jahrhunderts die überwiegende Mehrheit der deutschstämmigen Emigranten stellte (über 90 Prozent). Die schon in Europa sehr religiös und abgeschieden lebenden Amischen und Mennoniten hingegen stellten auf dem amerikanischen Boden eine klare Minderheit der europäischen Emigranten dar (>10 Prozent). Paradoxerweise ist jene große Gruppe von deutschstämmigen Emigranten in den letzten zwei Jahrhunderten rapide gesunken. Sie bilden auch zugleich diejenige Gruppe, die am wenigsten die Sprache ihrer aus dem deutschsprachigen Europa stammenden Vorfahren benutzt. Schätzungen zufolge gibt es heute nur zirka 40.000 deutschstämmige Amerikaner, die auch heute noch Pennsylvanischdeutsch oder einen deutschen Aussiedlerdialekt sprechen. Die überwiegende Mehrheit der US-Amerikaner, die deutscher Abstammung sind, sprechen leider immer weniger Deutsch oder eine der möglichen Varietäten des Deutschen, was auch der letzte Zensus in den USA zeigte (s. Tabelle 2; vgl. auch den Beitrag von Keel in diesem Band, Kapitel 6). Die ‚Deitschen‘ sprechen immer weniger PeD im Alltag und auch kaum mit ihren Angehörigen und geben es auch nicht zwingend an ihre Kinder weiter. Dies erklärt auch, warum die Zahl der Deutschstämmigen, die noch PeD sprechen, im Laufe der letzten Jahrzehnte rapide abgenommen hat. Auf die Frage, warum sie ihre Kinder nicht in dieser Sprache unterrichten oder es an die nächste Generation weitergeben, folgte oft die kurze 5 Zensus 2009: http: / / www.census.gov/ compendia/ statab/ 2012/ tables/ 12s0052.pdf (letzter Zugriff: 30.1.2018). Antwort: „Ich wees net! “. Schuld daran dürfte vor allem der allgemeine prestigereiche Einfluss des Englischen sein und die Lebensweise, die sich an den amerikanischen Mainstream anpasst. Umstände wie Umzug aus den ruralen in überwiegend urbane Gebiete, höhere Schulbildung und gemischte Partnerschaften, in denen nicht mehr Dialekt gesprochen wird, sind für die Förderung von Minderheitensprachen wie PeD nicht profitabel (Louden 2006, S. 94). Bei den Sprechern aus religiösen Gemeinschaften ist jedoch zu beobachten, dass sie eine bessere grammatische und lexikalische Kompetenz aufweisen können. Dies ist zumindest bei Sprechern zu beobachten, deren erst-erworbene Sprache (L1) PeD war und bei denen diese auch aktiv benutzt wurde. Auch einige Sprecher aus nicht religiösen Gemeinschaften, deren Erstspracherwerb in PeD stattgefunden hatte, sind Untersuchungen zufolge in Grammatik und Lexik sehr versiert. Lediglich die Gruppe der Sprecher, deren Zweitspracherwerb (L2) in PeD stattfand und eventuell durch zeitlich begrenzte Kontakte geprägt wurde, macht sich mit etwas deutlicheren grammatischen Auffälligkeiten bemerkbar. Hingegen ist die lexikalische Kompetenz dieser Sprecher manchmal besser, als die von den Sprechern aus der religiösen Gemeinschaft. Die PeD-L2-Sprecher haben sich oft Wörter oder Phrasen durch aktives Lernen oder aus Nachschlagewerken angeeignet, um ihre Kompetenz zu steigern oder zu erhalten. Hingegen haben die Sprecher der konservativen Sprechergemeinde manche lexikalischen Begriffe oder Ausdrücke verlernt oder aus dem Englischen ins ‚Deitsche‘ transferiert (siehe Kapitel 5.2.3 in diesem Beitrag und Dorian 1978, S. 415; Huffines 1994, S. 58; Louden 2003, S. 132). <?page no="159"?> 6. Pennsylvanischdeutsch 159 4 Gesellschaftliches Profil der Pennsylvanischdeutschen 4.1 Soziale Stellung und wirtschaftliche Situation Die deutschstämmigen Siedler in den USA haben einen hohen Grad an Integration und Anpassung bewiesen und genießen dadurch auch ein sehr hohes Ansehen, was auch durch die gesamte Einwanderungsgeschichte belegt ist. Unzählige Siedlungen, die von Deutschstämmigen über viele Bundesstaaten gegründet wurden (Kraybill 1989; Schulze 1998, S. 133) wurden nach deutschen Vorbildern in der Heimat benannt (Manheim PA; Hamburg (ehemals Kaerchertown) PA, Schaumburg IL; Hoffman IL; Frankfort IL; Heidelberg OH; Hanover PA; Kiel WI; New Ulm MN). Die Ausweitung der deutschsprachigen Siedlungen ist sicherlich den landwirtschaftlichen Interessen der Siedler geschuldet, die sich - in der neuen Welt angekommen - schnell nach neuen Anbauflächen umgesehen haben und somit die Ansiedlung neuer Gebiete vorangetrieben haben. Diese landschaftliche und landwirtschaftliche Verbundenheit dieser Gründungsväter ist in den USA auch heute noch zu sehen, zumal die meisten deutschstämmigen Städte im ruralen und ländlichen Gebiet der USA liegen. Auch die Mehrheit der Pennsylvanischdeutschen sind diesem traditionellen ruralen Lebensstil treu geblieben, sodass die wirtschaftliche Kaufkraft der Amischen und Mennoniten wie auch ihre Bedeutung für die regionale Wirtschaft über den Anteil landwirtschaftlich bebauter Flächen zu ermessen ist. Mehrheitlich sind sie im Ackeranbau, der Viehzucht und der Fleischproduktion tätig. Durch den Anstieg der Grundpreise sind aber viele Bewohner dieser traditionell ruralen Gegenden auf Häuserbau, Möbelherstellung und das Handwerk (dutch crafters) umgestiegen, wofür sie bei der lokalen und überregionalen Bevölkerung hoch geschätzt sind. Die Angehörigen der religiösen Gemeinden sind daher in der Gesellschaft sehr präsent und prägen die soziale Vielfalt. Sie nehmen - wenn auch zurückhaltender - durch Handel und Dienstleistungen auch am gesellschaftlichen Leben teil, zahlen Steuern und Abgaben und sind somit in allen Schichten der Gesellschaft anzutreffen. Nur in manchen politischen oder finanziellen Fragen sind die religiösen Gemeinschaften nicht beteiligt (zum Beispiel Krankenversicherung), praktizieren dafür aber eine mehr als vorbildliche und jahrzehntelang funktionierende und vom Staat anerkannte eigene Versicherung für ihre Glaubensgeschwister. 4.2 Das Schulwesen Ihre Einstellung zur Schule und zum Schulwesen ist grundsätzlich positiv. In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts gab es jedoch größere Auseinandersetzungen mit den zuständigen Behörden (Kraybill 1998, S. 98; Kap. Education oder Fisher/ Stahl 1997). Aus mehreren Gerichtsurteilen sind Sonderregelungen über eigens betriebene Gesamtschulen (sog. oneroom-schools) hervorgekommen, in denen die religiösen Gemeinschaften eigene, meist weibliche, selbst ausgebildete Lehrerinnen einsetzen und die Lehrinhalte ihrem Lebensstil anpassen können. Die große Mehrheit der pennsylvanischdeutschen Kinder besuchen heute daher eigene, vom Staat anerkannte Schulen und nehmen selten am in den USA erlaubten individuellen Heimunterricht (homeschooling) teil. Die Unterschiede zu den staatlichen Schulen beziehen sich meistens auf die Dauer der Ausbildung oder bestehen darin, wie der Lehrplan und wie die zu unterrichtenden Fertigkeiten gewichtet werden. Heutzutage wird der achtjährige (8 th grade) Schulunterricht in der verpflichtenden englischen Sprache abgehalten, jeweilige Schwerpunkte dürfen aber frei gewählt werden und auch in der Muttersprache unterrichtet werden, wie auch Hochdeutsch bzw. der Bibelunterricht. Der Schulunterricht ist aber von Bundesstaat zu Bundesstaat unterschiedlich, was auch mit der Schulautonomie der lokalen Gemeinde zu tun hat. <?page no="160"?> Adam Tomas 160 4.3 Zeitungen und Medien Das Sprachbewusstsein der Pennsylvanischdeutschen hat sich in den letzten 50 Jahren gesteigert, sodass sich sowohl die religiösen Gruppen wie auch die ‚Deitschstämmigen‘ mehr für ihre Kultur, Abstammung und Geschichte interessieren (van Pottelberge 2004, S. 235). Mit über 300.000 Sprechern sind aber gerade die religiösen Gruppen die eigentliche Mehrheit, um deren Sprache es sich handelt. Dieser Tatsache sind sich die religiösen Gemeinschaften auch bewusst geworden, sodass es in den letzten Jahrzehnten eine spürbar tollerentere Haltung zu Sprachforschern und kulturellen Ereignissen gibt. Hier wird also deutlich, dass beide Sprechergemeinden des PeD auf ihre Weise zum Erhalt und zur Verbreitung der Sprache als Kulturgut beitragen. Dies ist auch durch unterschiedliche Pressezeugnisse und Zeitungen ersichtlich, die wöchentlich oder monatlich rund um das Thema pennsylvanischdeutsche Kultur und das Leben der Deutschstämmigen in den USA berichten. Überwiegend beschreiben diese Presseerzeugnisse die lokalen Nachrichten zu den jeweiligen Landkreisen oder geben auch Hinweise zu unterschiedlichen Themenbereichen (Gartenarbeit, Rezepte, Erntehinweise etc.). Allerdings handelt es sich bei diesen Zeitungen wie Die Botschaft, The Budget, Blackboard Bulletin, Plain Communities Business Exchange, Ladies’ Journal oder Family Life um englischsprachige Nachrichten mit einigen Einschüben oder kleinen Bekanntmachungen auf Pennsylvanischdeutsch. Hingegen ist die in Deutschland initiierte und nun in pennsylvanischen Kutztown (Kutzschteddl) vom Cultural Heritage Center gedruckte Zeitung Hiwwe wie Driwwe die einzige Zeitung, welche seit über zwanzig Jahren quartalsmäßig vollständig in PeD erscheint. 4.4 Literatur auf PeD Besonders nennenswert sind natürlich die unzähligen Quellen der deutschstämmigen Emigranten, die ihre ‚Deitscherei‘ bereits seit 6 Dazu mehr in Elspaß (2005, S. 269) oder Costello (1989, S. 4) der ersten Einwanderungswelle dokumentierten. 6 E.C. Haag (1982 und 1988) hat hierzu in seiner Pennsylvania German Anthology eine lobenswerte und vielschichtige Zusammenstellung von Gedichten und Prosawerken zusammengetragen, welche eine breite Bevölkerungsschicht der Deutschstämmigen in den USA umfasst. Auch die neueste Zusammenstellung von Louden (2016) stellt eine sehr detaillierte Auflistung der bedeutendsten Schriftsteller (Schreiwer), welche über die Kultur und das Leben der Pennsylvanischdeutschen geschrieben haben. So ist beispielsweise das Gedicht Ich bin en Pennsilfaanier von Ludwig August Wollenweber (1807-1888) nur eines der viel zitierten Werke der Deutschen in der Neuen Welt. Unter vielen anderen wären zu nennen die Gedichte und prosaischen Werke von Henry Harbaugh (1817-1867; Der Piewie); Henry L. Fischer (1822-1909; Elbedritsch Fange); David B. Brunner (1835-1903; Die Mary Hot En Läm- Abb. 2: Linguistic Landscaping in Pennsylvanien <?page no="161"?> 6. Pennsylvanischdeutsch 161 mel g´hat); Charles C. Ziegler (1855-1930; Samschddag Owe); Ezra L. Grumbine (1845-1904; Der Prahl-Hans und Die Inschurens Bissness). Wohlbekannt sind die die Werke von John Birmelin (1873-1950; Karyose Wadde oder America). Auch am Beispiel der zweisprachigen Straßenschilder und Überschriften in vielen Countys (s. Abb. 2) ist zu erkennen, wie die Deitscherei als linguistic landscaping von der deitschsprachigen Bevölkerung gepflegt wird (dazu Haag 1988; Donmoyer 2012 und 2013). 5 Sprachformen: Sprachen und Varietäten im Kontaktgebiet 5.1 Das Problem der Verschriftlichung Grundsätzlich muss gesagt werden, dass es auch in der Verschriftlichung und der literarischen Schöpfung im PeD eine Trennung zwischen den zwei großen Sprechergruppen gibt, nämlich der religiösen Gemeinschaft der Amischen und Mennoniten und der anderen deutschstämmigen Sprecher des PeD. Zur Verschriftlichung des PeD gab es auch unterschiedliche Ansätze, welche unterschiedliche Erfolge hervorgebracht haben. Einerseits muss gesagt werden, dass es sich bei dem von den meisten Amischen und Mennoniten gesprochenen Deitsch um eine sprechsprachliche Entität handelt, welche in oraler Tradition von Generation zu Generation weitergereicht wurde. Gerade die konservativen Gruppen (auch sectarians genannt, wobei das Wort sect im Englischen dem dt. ‚kirchliche Gemeinde‘ entspricht und nicht mit dt. ‚Sekte‘ zu verwechseln ist) haben lange nicht den Sinn und Zweck der Verschriftlichung ihrer eigenen Sprache eingesehen. Aus religiöser Überzeugung würden sie Literatur auf PeD nicht uneingeschränkt lesen, weil sie traditionsgemäß religiöse Schriftwerke lieber auf ‚Hochdeitsch‘ lesen. 7 7 Unter „Hochdeutsch“ verstehen die Amischen das „Deutsch als Schriftsprache des 18. Jahrhunderts“, wie es in ihren Bibeln oder Liederbüchern gedruckt ist. Die anderen Gruppierungen hingegen, die oft non-sectarians oder non-plains bezeichnet wurden, haben dem Spracherhalt immer große Bedeutung geschenkt und früh um den Erhalt der Sprache gekämpft, beispielsweise indem sie Gedichte (es Schtick) und Geschichten (Schtorys) erzählt oder Briefe (e Brief) niedergeschrieben haben (vgl. dazu Haag 1982 und 1988). Da aber das Pennsylvanischdeutsche als eine Verschmelzung unterschiedlicher deutscher und schweizerischer Dialekte anzusehen ist, waren bei der Verschriftlichung unzählige Hindernisse zu überwinden, wie dialektaler Einfluss, Rechtschreibung oder englische Vokabeln. So haben sich anfangs lokale oder regionale Regeln des Schreibens etabliert, welche keinem allgemein anerkannten Rechtschreibsystem folgten und daher oft nur begrenzt lesbar waren (Hans-Bianchi 2014, S. 119). Es haben sich im Laufe der Zeit zwei Systeme entwickelt. Einmal diente zur Verschriftlichung des PeD das Hochdeutsche mit seinen im 19. Jahrhundert geltenden Regeln als Vorlage. Viele der in den USA lebenden Deutschstämmigen waren noch an die deutsche phonemische Orthografie gewohnt, in der einem Phonem idealerweise ein Graphem entspricht. Der sich bereits in Amerika heimisch fühlenden Gruppe von Emigranten erschien dagegen das morpho-phonemisch geprägte Englisch als besser geeignet, um die Deitscherei zu verschriftlichen. Daraus entstand das heute bekannte Buffington-Barba-Spelling-System (BBS) und das Hershberger-Wycliffe-Modell (HWM). Die Buffington/ Barba Grammatik (1953, Revision 1965) ist sicherlich eines der Standardwerke im PeD; sie orientierte sich schon damals an dem einfachen phonemischen Prinzip, dass ein Laut nach Möglichkeit eine schriftliche Entsprechung zugeteilt bekommt. Auch die deutsche Schreibweise wurde übernommen wie zum Beispiel die Großschreibung der Nomina (vgl. Louden 2016, S. 327). Das Wycliffe-Modell ist an der englischen Den linguistischen Begriff „Standarddeutsch“ benutzen sie nicht. <?page no="162"?> Adam Tomas 162 Schriftsprache orientiert und ist den Amischen bereits von dem obligatorischen Schulunterricht bekannt. Das BBS fand erst sehr langsam den Anklang in der Gesellschaft, teils auch deswegen, weil eine bestimmte Zweckmäßigkeit zum Schreiben fehlte, zumal viele religiöse Sprecher des PeD kein Interesse an literarischen Werken außerhalb der sakralen Schriften hatten. Hier eine kurze Gegenüberstellung der Schriftbilder aus dem Matthäus- Evangelium, Kap. 5: 1: BBS: Wie er all die Leit sehnt, geht er der Barrik nuff un setzt sich hie, un sei Yinger sin em nohgange. [Wie (als) er alle diese Leute sieht, geht er den Berg hinauf und setzt sich hin, und seine Jünger sind ihm nachgegangen.] HWM: Vo Jesus dee feel leit ksenna hott, is eah nuff uf en hivvel ganga un hott sich annah kokt. [Wo (als) Jesus die vielen Leute gesehen hat, ist er hinauf auf einen Hügel gegangen und hat sich hingesetzt.] Sei yingah sinn zu eem kumma. [Seine Jünger sind zu ihm gekommen.] (Beispiele und Übersetzung von Hans-Bianchi 2014, S. 121) In den letzten Jahrzehnten ist zu beobachten, dass sich das BBS durchgesetzt hat und eine breitere Bevölkerungsgruppe erreicht hat. Dies kann mit dem einfachen Ansatz zusammenhängen, dass ein effektives Schriftbild nur dann effektiv ist, wenn sich damit viele Menschen identifizieren können und eine Verbindung zu ihrer eigenen Ethnie herstellen können. 5.2 Sprachkontakterscheinungen Da das PeD als eine deutsche Sprachinsel in einer englischsprachigen Umgebung angesehen werden kann und da die große Mehrheit der Sprecher bilingual ist, ergeben sich daraus gewisse Elemente bzw. Auswirkungen von Sprachkontakt. So wird darunter verstanden, dass Sprachkontakt dann besteht, wenn zwei oder mehrere Sprachen von ein und demselben Individuum (oder derselben Gruppe) abwechselnd gebraucht werden (Riehl 2014, S. 11). Es besteht auch die Möglichkeit, dass nicht alle Mitglieder einer Sprachgruppe zum Beispiel beide Sprachen gleich gut beherrschen und gleich oft benutzen. Dennoch gibt es die alltäglichen Überlagerungen von zwei Sprachen im täglichen Leben, was beidseitige Auswirkungen auf die Sprachen hat, die sich oft unterschiedlich manifestieren. Die wohl häufigsten Formen des Sprachkontakts zwischen PeD und dem Englischen sind Diglossie bzw. Triglossie, Code-Switching und Transferenz. 5.2.1 Diglossie oder Triglossie? Bei einigen Autoren zum PeD (vgl. dazu Enninger 1989, S. 61) gibt es die Tendenz, von Triglossie zu sprechen. Dies wird damit begründet, dass es in fast allen religiösen Gemeinden der PeD-Sprecher doch eine klar nachweisbare Präsenz von drei Sprachen gibt. Zum einen bildet das PeD überwiegend die Muttersprache (d Muddaschprooch), gefolgt vom bilingualen Gebrauch des Englischen (zum Beispiel Schulsprache, Umgangssprache mit den nicht amischen Mitbürgern). Die dritte Sprache der Triade bildet das Hochdeutsche (es Hochdeitsch). Im Falle einer ‚Arbeitsaufteilung‘ würde man definitionsgemäß tatsächlich von Triglossie sprechen können. Das dominante PeD wird mehrheitlich für den alltäglichen Gebrauch im familiären Umkreis und bei der Arbeit verwendet, wenn die Amischen unter sich sind. Mit den English-people und allen anderen Mitbürgern sprechen sie Englisch, wie auch beim täglichen An- und Verkauf von Waren außerhalb ihrer Wirkungsstätten. Das Hochdeutsche bleibt für den täglichen Gebrauch wie Andacht, Gebet und das Lesen der Bibel sowie den Gottesdienst vorbehalten. Somit sind drei getrennte Domänen der Sprachanwendung von diesen drei Sprachen tatsächlich nachweisbar. Kritisch ist aber das aktive Erlernen des Hochdeutschen als Sakralsprache zu bewerten, zumal dies nur bei wenigen Einzelpersonen als tatsächlich vollzogen gilt. Meistens handelt es sich hierbei um Bischöfe und Laienprediger, die zwecks der Gottesdienste ihre Predigten tatsächlich auf Hochdeutsch abhalten und sich hierfür oft auch vorbereiten bzw. <?page no="163"?> 6. Pennsylvanischdeutsch 163 aus hochdeutschen Wörterbüchern bestimmte, für die Predigt passende, Begriffe ergänzen. 8 Zum anderen ist das Niveau der aktiven Sprachkompetenz des Hochdeutschen bei den jeweiligen Sprechern nicht leicht ermittelbar. Der Wortschatz und der Gebrauch des Hochdeutschen orientieren sich zunehmend am religiösen Inventar und dem Nutzen für religiöse Zwecke. Ein kommunikativer Einsatz des Hochdeutschen über diese sakralen Zwecke hinaus ist nach meiner persönlichen Erfahrung nur begrenzt möglich. Dies bekräftigt meine Annahme, dass das Hochdeutsche bei den Amischen zwar als Sprache durchaus präsent ist, jedoch als sehr stark eingeschränkt nutzbare Sprache zum Einsatz kommt, zumal der wechselseitige und gleichwertige Gebrauch von allen drei Sprechen nicht möglich ist. Daher empfiehlt es sich im Bereich des PeD von Diglossie zu sprechen. 5.2.2 Code-Switching Eine weitere Art von Sprachkontakt zwischen dem PeD und dem Englischen ist sicherlich in dem sogenannten Code-Switching zu erkennen. Darunter versteht man die Alternation zwischen zwei Sprachen innerhalb ein und derselben sprachlichen Interaktion. Dies würde bedeuten, dass der Sprecher beide Sprachen beherrscht und sie während eines interaktiven Kommunikationsaktes bzw. während einer Äußerung alternierend einsetzt. Grundsätzlich wird hier allerdings zwischen zwei Typen des Code-Switchings unterschieden. So kommt es zu einem Sprachwechsel oft aufgrund von äußeren Faktoren, die einen Wechsel einleiten. Oft dient Code-Switching auch als Diskursmittel und Strategiemittel in der Kommunikation, etwa bei der Einleitung zu einem neuen Thema oder wenn ein neuer Kommunikationspartner die Szene betritt. 9 Eine andere Form des Code-Switchings ist in dem nicht intentionalen, spontanen Übergang zu einer anderen Sprache zu sehen: (1) Wenn ich sog now, start to pull… 8 Das kam aus persönlichen Gesprächen mit einigen Predigern hervor. Näheres bei Louden (2016, S. 298). (2) Was hascht ghobbt fir breakfast? I had eggs und sausages ghabbt. Eine weitere Erklärung für das Code-Switching könnte sein, dass die zum Sprachwechsel initiierenden Elemente eigentlich syntaktische Trigger sind, weil man in der Anfangssprache die Struktur eventuell nicht zweifelsfrei und fehlerfrei zu Ende bringen kann, daher switcht man in die komfortablere und kompatiblere Sprache: (3) Bloss net zu hatt, der Ballon can…it will burst. (fehlendes lexikalisches Element „platzen“) (4) Fiel Haisa sind being built recently! (fehlende grammatische Struktur für Passiv- Progressiv) 5.2.3 Transferenz im PeD Die wohl häufigste Reflexion von Sprachkontakt ist die spontane Übernahme von Lexik oder grammatischen Strukturen aus einer Sprache in die andere, bzw. die jeweils aktive Sprache wird in bestimmten Äußerungen nach dem Muster der anderen verändert (Clyne 1991, S. 160). Es wird grundsätzlich unterschieden, aus welcher Richtung der Einfluss kommt, da es sich deutlich beobachten lässt, dass es unterschiedliche strukturelle Auswirkungen gibt, je nachdem von welcher Sprache die Dominanz ausgeht. So beeinflusst die L1 beispielweise die L2 mehr im Bereich der Phonetik und Syntax. Viele Pennsylvanischdeutsche sprechen aus der Sicht der englischen Muttersprachler einen nur für die Amischen typischen Akzent, da angenommen wird, dass das PeD auf das Englische abfärbt. Hingegen beginnt der Einflussbereich der L2 auf die L1 zunächst aber bei der Lexik, insbesondere werden die kommunikativ relevanten Inhaltswörter wie Substantive, Verben oder Adjektive aus dem Englischen transferiert. Einige Überlagerungsbereiche aus der Lexik zeigen diese Beispiele: (5) I bin in d Schtor [engl. store] ganga und hob ebbas gkauft fir breakfast. [engl. breakfast] 9 Vgl. dazu Clyne (2003, S. 172). <?page no="164"?> Adam Tomas 164 (6) Bloos net so hatt, d Ballon werd verpoppa. [engl. to pop = dt. platzen] Die Ebene der Morphologie und der Syntax sind ebenso häufig betroffen, was man in Gesprächen oder der vorhanden Literatur sehr schnell feststellen kann. Am häufigsten werden englische Wörter in das deutsche Flexionssystem integriert, oder es entsteht ein morpho-syntaktischer Transfer: (7) Was isch gehappend? [deutsche PII- Endung zum engl. Verb to happen] (8) Mir hen di Sichl gejuzd fir ´s Groos schneida. [deutsche PII-Endung zum engl.Verb to use] (9) Sarah is ihre Arweit am duhna, kumm zrick späta fir schpiela. [vgl. engl. for playing] (10) Ich bin am gucka fir di Kinna. [vgl. engl. I am looking for the children.] Bei Sprachkontaktsituationen kommt es oft zu einem sog. ‚pivot-matching‘, das heißt zu einer Konstruktion, bei der grammatische Strukturen aus einer Sprache in die andere Sprache repliziert bzw. übertragen werden (dazu Matras 2009, S. 29 und Riehl 2014, S. 105). (11) Wie bischt du heit? [vgl. engl.: How are you today? ] (12) Was bischt am duhn? [vgl. engl.: What are you doing? ] 6 Morpho-syntaktische Besonderheiten des PeD Im Folgenden werden zwei morpho-syntaktische Merkmale des PeD skizziert, um einen groben Umriss darzustellen, welche sprachlichen Neuerungen aus dem Bereich des grammatischen Sprachwandels im PeD auftreten. Einerseits soll durch den weit fortgeschritten Kasus-Synkretismus aufgezeigt werden, über welches morpho-syntaktische Inventar diese Sprache verfügt. Andererseits wird auch anhand von unterschiedlichen empirischen Beispielen auf die wichtigste morpho-syntaktische Neuerung im PeD hingewiesen, nämlich auf die Entstehung einer neuen aspektaffinen Verbalkategorie der am-Progressiv-Konstruktion (sein Finitum +am+ V Inf ). 6.1 Kasus-Synkretismus Das PeD verfügt über ein Kasussystem, die Differenzierungen innerhalb dieses Systems haben sich aber vom Ursprungsmodell oder den basisdialektalen Formen, nämlich dem System der mittelhochdeutschen Dialekte, um einiges entfernt. Der Wegfall von morphologischen Unterscheidungsmerkmalen im Nominalbereich (Kasus-Synkretismus) ist bei den Artikelwörtern oder Determinantien am leichtesten feststellbar. Grundsätzlich wird im PeD auch von vier existenten Kasus gesprochen, zumal ihre komplette Distribution überwiegend im gesprochenen, aber auch im geschriebenen Ausdruck belegbar ist (Nom: Dr Doody schlooft; Akk: Ich hab den Dschan gesehna; Dat: Die Grandmam is in dr Kich; Gen: Es is Dschans Hut). Ein ausgewiesener und diversifizierter Akkusativ im PeD ist sowohl im Singular wie auch im Plural und auch nominal wie pronominal möglich, seine Distribution zeigt sich jedoch sehr eingeschränkt. So markiert beispielsweise d(ie) im PeD als bestimmter Artikel oder Demonstrativpronomen formbedingt normalerweise Nominativ im Sg. für Feminina, Akkusativ im Pl., wird aber auch für Dativ im Pl. benutzt, obwohl die Dativ Pluralform (d)en noch existiert, wie die folgenden Beispiele zeigen: (13) Ich bin di Kinna [Akk ß Dat Pl.] dihre Hoar am schneida. [Ich bin den Kindern ihre Haare am schneiden.] (14) Ich bin an den Kinna [Dat Pl] en Hoorcut gevva. [Ich bin am den Kindern einen Haarschnitt geben.] Ähnlich ist der Gebrauch von Dativ Sg. für den bestimmten Artikel bei Feminina d(e)r nicht unmöglich, wird aber im PeD allmählich durch den Akkusativ d(i) ersetzt: (15) Die Emily is dr [Dat Sg.Fem.] Grandmam am helfa. [Die Emily ist der Großmutter am helfen.] (16) Ich hab di [Akk ß Dat Sg.fem.] Auntie gholfa. [Ich habe die/ der Tante geholfen.] (17) All is recht mit mich [Akk ß Dat Sg.] [Alles ist ok mit mich/ mir.] [vgl. engl. everything is all right with me.] <?page no="165"?> 6. Pennsylvanischdeutsch 165 Bei klitisierten Artikeln oder Possessivpronomina im Dativ für Feminina, wie meinr/ dr [Dat Sg. Fem] oder (ih)r [Dat Sg. Fem] ist die Markierung allerdings meistens noch deutlich zu erkennen: (18) Ich bin meinr [Dat Sg. Fem.] Aunt am helfa in unsra [Dat Sg. Fem.] Kich. [Ich bin meiner Tante am helfen in unserer Küche.] (19) Ich bin´r [Dat Sg. Fem.] am helfa. [Ich bin ihr am helfen.] Durch den Synkretismus ist die wohl am häufigsten benutzte Form des bestimmten Artikels „d“ eigentlich ambig in seiner Form, da es sich gleichzeitig auf mehrere Morpheme beziehen kann, wie zum Beispiel (a) der [Nom Sg. Mask.] oder (b) den [Akk. Sg. mask.] (20a) D Peter is im Feld am schaffa. [Der Peter ist im Feld am schaffen.] (20b) Ich hab d Dschan geschtern gsehna. [Ich habe den John gestern gesehen.] Auch Riehl (siehe Beitrag in diesem Band) sieht ähnliche Entwicklungen in ihren Beobachtungen über die morpho-syntaktischen Neuerungen in den in Australien gesprochenen Varietäten des Deutschen. Der Dativverlust ist sicherlich die zu allererst beobachtete und am häufigsten beschriebene Veränderung in Kasusstudien über das PeD, zumal das in der Geschichte von anderen deutschen Dialekten auch der Fall ist (Salmons 2003, S. 111; van Ness 2003, S. 188; Louden 2005, S. 265). Im Gegensatz zum plurizentrischen Standarddeutschen (StD) kann man im PeD den Dativ auch als Ausdruck von possessiven Relationen einsetzen, welche somit den fehlenden Genitiv ersetzen: (21) Sell is em Dschon sei Hut. [Dies ist dem John sein Hut.] (22) Sella Hut gheat zu(m) d Dschon. [Dieser Hut gehört zu(m) John.] Mit dem so realisierten Dativ wird immer der Besitzer (possessor) denotiert, dann folgt gewöhnlich ein nachgestelltes Possessivpronomen mit dem Nominativ des eigentlichen Gegenstandes bzw. des Besitztums (possessum). Diese Konstruktion ist in vielen deutschen Dialekten geläufig (zum Beispiel bair. Em Huber sei Bua san dohoam.) Beispiele für einen direkten Genitiv sind zwar vorhanden, meistens werden sie jedoch bei Eigennamen oder Verwandtschaftsbezeichnungen eingesetzt, wie Sell is Dschans Hut oder in mei Aunties Kich oder Grandpaps Backboaht (dt. Backenbart). Der Genitiv gilt aber als untypischer Kasus und wird selten gebraucht. Bei diesen Beispielen sieht man auch eine gewisse Hierarchie der Kasusmarkierungen. Die fehlenden possessiven Genitiv-Ausdrücke werden nämlich konsequent mit Dativ-Ausdrücken paraphrasiert (nicht nur im PeD! ) und nicht umgekehrt, was auf eine gewisse Reihenfolge oder auf einen internen Wichtigkeitsgrad in der Kasusstruktur hindeutet: (23) Großdoodys Boaht > Großdoody sei Boaht [Großvaters Bart ] > [dem Großvater sein Bart] (24) Dschons Hut > em Dschon sei Hut [Johns Hut] > [dem John sein Hut] (25) Aunties Kich > dr Auntie ihr Kich [Tantes Küche] > [der Tante ihre/ seine Küche] In dieser Hinsicht nähert sich das PeD dem Englischen insofern an, als man im Englischen die differenten Kasusmarkierungen nicht mehr morphologisch anzeigen kann (außer bei Personalpronomina he-him/ she-her etc.). Hier werden vielleicht neben der Beeinflussung der Lexik auch die größten Einflüsse aus dem Englischen auf das PeD sichtbar, nicht allein wegen der Kasusverschiebung, zumal diese ja auch in anderen deutschen Dialekten ohne den Einfluss aus dem Englischen geschieht, sondern in der Dynamik dieser Prozesse. Das Englische kann hier sicherlich als Katalysator dieses Paradigmawechsels verstanden werden, da das Englische nur über eine minimale Kasusdistribution verfügt. Schließlich lässt sich die Bestandsaufnahme des Kasussystems im PeD folgendermaßen zusammenfassen: Generell kann man von einem Drei-Kasus-System sprechen, zumindest die PeD-Pronomina können alle drei Kasus differenzieren (ich-mir-mich etc.) Bei der Deklination von Nomina ist die Tendenz zu einem <?page no="166"?> Adam Tomas 166 Dual-Kasus-System sichtbar geworden, es kann nämlich zwischen einem Hauptkasus (common case) unterschieden werden (welcher überwiegend die Funktionen von Nominativ und Akkusativ umfasst) und einem Nicht-Nominativ bzw. Rest-Dativ-Kasus, welcher die üblichen Funktionen von Dativ realisiert. Nicht nur für das PeD sondern auch im Hinblick auf andere deutsch-amerikanische Dialekte (zum Beispiel Texasdeutsch) bestätigt Keel (1994, S. 98) einen rapiden Abfall gewisser Kasus- Marker und stellt eine tendenzielle Reduktion der vorhandenen Basisformen fest. Die Realisierung der im PeD befindlichen Kasusmarker kann über folgende Tendenzen dargestellt werden (s. Tabelle 3). 6.2 Der am-Progressiv als Verbalparadigma Eines der größten Neuerungen im PeD ist zweifelsohne die Ausweitung des am-Progressivs auf die Verbalkategorien. Die sog. Verlaufsform (Ich bin das Buch am lesen), die auch in manchen deutschen Dialekten und Varietäten verwendet wird, ermöglichen die eindeutige imperfektive Perspektivierung einer Verbalsituation und eröffnet somit dem PeD den Bereich der verbalen Aspektualität, bzw. kann mit der Verlaufsform eine als im Verlauf befindliche Verbalisituation präziser fokussiert werden. 6.2.1 Das Tempusparadigma Es ist im PeD problemlos möglich, den am- Progressiv nahezu durch das ganze Tempusparadigma darzustellen: Präsens: (26) D Anne is am Äppl schäla. [Die Anne ist am Äpfel schälen.] Präteritum: (27) Ich hab die Anne gshena und sie woah Äppl am schäla. [Ich habe die Anne gesehen und sie war Äpfel am schälen.] Perfekt: (28) Die Anne is am Äppl schäla gwesn . [Die Anne ist am Äpfel schälen gewesen.] Plusquamperfekt: (29) Die letschde Zeit, wann ich dich gsehna hab, woahr, wann dei Haus am baua gwesn woahr. [Das letzte Mal, als ich dich gesehen habe, war, als dein Haus am bauen gewesen war.] Dies lässt den Schluss zu, dass der am-Progressiv im PeD wie auch partiell im standarddeutschen Spektrum ein weitgehend vollfunktionsfähiges Tempusparadigma gebildet hat. Sogar eine Erweiterung durch Modalverben im Präsens ist unproblematisch und oft zu belegen, wie auch der epistemische oder inferentielle Gebrauch von Modalverben im Präteritum (aus Burridge 1992, S. 214): (30) Dihr sollat am schaffa sei, wonn d Dady heem kummt! [Ihr sollt am schaffen sein, wenn der Vater heim/ nach Hause komm! ] (31) Sie misste am Quilts mache sei! [Sie müsste am Quilts (Stickerei) machen sein! ] So kann festgestellt werden, dass der eigentliche Unterschied in der Distribution des kompletten Tempusparadigmas nur darin besteht, dass der Gebrauch im StD (noch) nicht als normkonform eingestuft wurde. Es bestehen keine morpho-syntaktischen Hindernisse, welche eine solche Einstufung rechtfertigen würden, und aus meiner Sicht auch kaum kommunikativ-pragmatische Hindernisse, Kasusmarkierung im StD Kasusmarkierung und Tendenzen im PeD Mask. Fem. Neut. Mask. Fem. Neut. Plural Nom der die das der > da> d die> d das > es> s d(i) Akk den die das den > en> n > d die> d das > es > s d(i) Dat dem der dem em > m > d der> dr> r > d em > m/ s en > d Gen des der des s > - der> dr> r - - Tab. 3: Kasusmarkierung im PeD-Nominalsystem <?page no="167"?> 6. Pennsylvanischdeutsch 167 welche das Verständnis beeinträchtigen würden (dazu mehr in Tomas 2017). Es ist durch diese oben dargestellten Beispiele deutlich geworden, dass sich im PeD der Restriktionsradius der am-Progressive verringert hat und es möglich ist, eine Verbalsituation im Verlauf darzustellen, was in keiner anderen kontinental-deutschen Varietät in diesem Umfang möglich ist. 6.2.2 Die Verbalkategorie Modus und der am-Progressiv Im PeD ist die Korrelation von am-Progressiven mit dem Modus Konjunktiv I und II möglich und nachweisbar. Wie die folgenden Beispiele meiner 2014 vorgenommen Studie zeigen, lässt sich im PeD in bestimmten Situationen ein progressivbarer Imperativ (Konjunktiv I) oder Optativ (Konjunktiv II) konstruieren: (32) Sei d Fenze am ohschtreicha, wenn d Dad heem kummt! [Sei den Zaun am streichen, bis/ wenn der Vater zurückkommt! ] (33) Däädscht gern s Fenschta zumacha, ich bin am kald werra! [Tätest/ Würdest (du) bitte das Fenster zumachen, ich bin am frieren/ mir ist kalt! ] Durch die Kombination beider Formen, des Konjunktivs und des Progressivs, ist es möglich, eine Verstärkung oder Re-Fokussierung der Intention vorzunehmen, und der Sachverhalt des Satzes wird zusätzlich betont. Hierdurch ist sicherlich deutlich geworden, dass der Restriktionsradius im PeD deutlich geringer ist und die von mir ausgewerteten Sätze belegen, dass in der Verbalkategorie Modus das PeD im Vergleich zum StD doch signifikante Vorteile in der Grammatikalisierung erlangt hat. 6.2.3 Passivfähigkeit der am-Progressive Aus all den Auswertungen über die morphosyntaktische Beschaffenheit des PeD sind die Ergebnisse aus dem Bereich Genus verbi sicherlich am auffälligsten. Die Passivfähigkeit von am-Progressiven galt als weitgehend unrealisierbar. Die Ergebnisse meiner empirischen Studie sollten das Gegenteil beweisen und somit zweierlei Neuigkeiten hervorbringen. Einerseits würde dies bedeuten, dass die am-Progressiv-Konstruktionen um ein Paradigma reicher geworden sind. Andererseits würde das PeD mit diesem neuartigen grammatischen Phänomen der passivfähigen Progressive im Vergleich zu standardnahen deutschen Dialekten einen fast uneinholbaren Vorsprung in einem imaginären Grammatikalisierungsrennen erlangen. Neben dem Standardinventar einer Progressivkonstruktion sein Finitum +am+V Inf wird noch ein Partizip Perfekt (PII) benötigt, um eine vollwertige Passiv-Konstruktion zu erschließen (sein Finitum +am+PII+werden Inf ). Im StD (und fast allen von mir bislang untersuchten deutschen Dialekten) wäre der Satz Viele Häuser sind am gebaut werden eher als ein singuläres Beispiel aus dem Idiolekt eines Einzelnen einzustufen. Im PeD dagegen sind Sätze mit passivfähigen am-Progressiven bei beiden Sprechergruppen (L1 und L2) nachweisbar, und folgende Sätze wurden sowohl von den Angehörigen religiöser Gemeinschaften wie auch von anderen Deitsch-Sprechern konstruiert: (34) Fiel Haisa sind am ufgeduhn warra do in d letscht Zeet. [Viele Häuser sind am aufgebaut werden hier in der letzten Zeit/ werden gebaut in der letzten Zeit.] (35) Hello, dei Pois sind alleweil am gwickeld werra, hock dich doch hi fir an Minud. [Hallo, deine Kuchen sind am eingewickelt werden/ werden gerade eingewickelt, hock dich hin für eine Minute.] (36) Ich kann dich unse naya Pony wehsa, derweel ass die Kieh am gmolka werra sin. [Ich kann dich/ dir unser neues Pony zeigen, solange die Kühe am gemolken werden sind/ gemolken werden.] In den passivfähigen Progressivsätzen wird syntaktisch kodierte Gleichzeitigkeit und eine vollwertige Passivstruktur realisiert, was von den Teilnehmern auch als besonders schwer empfunden wurde. Das könnte auch die Ursache dafür sein, dass manche der befragten Sprecher keine passivfähigen Progressivsätze gebildet haben, sondern vermehrt Mischformen benutzt haben: <?page no="168"?> Adam Tomas 168 (37) …dei Heemet was being ufgeduhn. […dein Haus war gebaut / aufgebaut worden] (38) Hallo, dei Pois sind being gewicklt, aber nemm en Sitz fir en Minud. [Hallo, deine Kuchen sind/ werden eingewickelt, aber setz´ dich hin für eine Minute.] (39) Ich ways dich our naya Pony, while di Kieh sind am being gmelkt sei. [Ich weise/ zeige dich/ dir unser neues Pony, während die Kühe sind am gmelkt sein.] Dass Passivsätze mit Progressiven (sein Finitum + am+PII+werden Inf ) in deutschen Dialekten als schwer realisierbar gelten, haben viele Studien gezeigt (Reimann 1996; Krause 2002; Rödel 2003; van Pottelberge 2004; Louden 2005). Dagegen sind am-Progressive im PeD durchaus passivfähig, was durch die oben stehenden Beispiele in diesem Beitrag deutlich gezeigt werden konnte. Die von mir 2014 in Pennsylvanien und Ohio erhobenen Daten (Tomas 2017, in Vorbereitung) erlauben zweierlei Rückschlüsse: Einerseits ist das Spektrum der passivfähigen Progressiv-Sätze im PeD sehr breit und andererseits wird es von Muttersprachlern (L1) verhältnismäßig oft angewendet. Diese sich etablierenden, passivfähigen Progressiv-Konstruktionen sind ein einmaliger Nachweis einer paradigmatisierten grammatischen Einheit, welche es in keiner westgermanischen Sprache in dieser Form gibt, außer im Englischen. 7 Schlussbemerkungen In den letzten Jahrzehnten ist in der Linguistik inzwischen ein Konsens erzielt worden, dass es sich bei dem PeD nicht um einen an das Deutsche angelehnten Dialekt mit englischen lexikalischen Einschüben handelt, sondern um eine eigenständige und vollfunktionsfähige Sprache. Hierfür sprechen mehrere Gründe. Im Laufe der letzten drei Jahrhunderte hat sich das PeD von den zur Zeit der Auswanderung gesprochenen deutschen Varietäten erheblich distanziert, was teils durch die geographische Distanz und teils durch die ideologische Abgeschiedenheit mancher Sprechergruppen zu erklären ist. So hat sich ein eigenständiges Diasystem des PeD etabliert, was auf seinen diatopischen und diaphasischen Ausprägungen basiert (vgl. van Pottelberge 2004, S. 295 und Hans-Bianchi 2013, S. 114). Hinzu kommt auch eine sehr spezielle, dem StD fremde Lexik, die teils durch Sprachkontakt mit dem Englischen (Die Kuh is ivver die Fenz gedschumpt oder Ich bin sunndaags mei Guckbox am watscha), teils auch mit dem Lebensstil der Sprecher selbst zu begründen ist. Dies erschwert eine Kommunikation vom Standpunkt eines StD-Sprechers erheblich oder lässt diese erst gar nicht mehr zu Stande kommen. Das wohl wichtigste Merkmal einer eigenständigen Sprache ist sicherlich ihre eigenständig funktionierende Paradigmatisierung von authentischen morpho-syntaktischen Merkmalen (Pluralformen, Flexion), wozu auch die am-Progressiv-Konstruktion und ihre Extension zu zählen wären. Daher lässt sich abschließend feststellen, dass das PeD aus unterschiedlichen Ausgleichsvarianten besteht, welche sich gegenseitig nicht ausschließen sondern lexikalisch und morpho-syntaktisch ergänzen und somit ein eigenes, sehr stabiles und dem Kontinentaldeutschen fremdes Diasystem entwickelt haben. 8 Literatur Androutsopoulos, Jannis (Hrg.) (2003): Soziolinguistische Perspektiven auf Sprachgeschichte, Sprachkontakt und Sprachvariation. Festgabe zum 60. Geburtstag von Klaus J. Mattheier. Berend, Nina/ Mattheier, Klaus (Hrg.): Sprachinselforschung. Eine Gedenkschrift für Hugo Jedig. Burridge, Kate (1992): Creating Grammar Examples from Pennsylvania German, Ontario. In: Burridge, Kate (1992): S. 199-241. 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Boas <?page no="172"?> Inhalt 1 Geographische Lage.......................................................................................................................173 2 Statistik und Demographie ...........................................................................................................173 3 Geschichte .......................................................................................................................................174 3.1 Geschichte vor 1918 ..............................................................................................................174 3.2 Geschichte vor 1945 ..............................................................................................................176 3.3 Geschichte ab 1950 ................................................................................................................177 4 Wirtschaft, Politik, Kultur, rechtliche Stellung..........................................................................177 4.1 Wirtschaftliche Situation .......................................................................................................177 4.2 Rechtliche Stellung des Deutschen: Schulsystem, Sprachregelungen ...........................178 4.3 Kulturelle Institutionen, Verbände, Medien......................................................................178 5 Soziolinguistische Situation ..........................................................................................................179 5.1 Kontaktsprachen ....................................................................................................................179 5.2 Die einzelnen Sprachformen des Deutschen: Sprachlagengefüge.................................179 5.3 Sprachliche Charakteristika des Texasdeutschen..............................................................180 5.3.1 Lexikon ..........................................................................................................................180 5.3.2 Phonologie ....................................................................................................................183 5.3.3 Morphosyntax...............................................................................................................185 5.4 Sprachenwahl: Code-Switching, Sprachmischung ............................................................187 6 Sprachgebrauch und -kompetenz ................................................................................................188 6.1 Allgemeines..............................................................................................................................188 6.2 Einschätzung der Sprachkompetenz in den verschiedenen Varietäten ........................188 6.3 Sprachgebrauch: Domänen, Sprecherkonstellationen, Sprechertypen .........................188 7 Spracheinstellungen........................................................................................................................190 8 Literatur............................................................................................................................................191 <?page no="173"?> 1 Geographische Lage 1 Texas ist der zweitgrößte Bundesstaat der Vereinigten Staaten von Amerika und ist mit einer Fläche von 695.621 km 2 fast doppelt so groß wie die Bundesrepublik Deutschland. Texas liegt im mittleren Süden der Vereinigten Staaten und grenzt im Süden an Mexiko, im Westen an Neu Mexiko, im Norden an Oklahoma und im Osten an Louisiana und Arkansas. Texas ist geographisch gesehen, mit Ausnahme des nordwestlichen Teils des Staatsgebiets, welches aus Berg- und Hochland besteht, vergleichsweise flach. Im Süden erstrecken sich entlang der Küste des Golfs von Mexiko Lagunenlandschaften, die in Richtung Norden in flache von Flüssen durchzogene Gebiete übergehen, die sich 50 bis 100 km landeinwärts erstrecken. Diese küstennahen Gebiete eignen sich für den Anbau von Baumwolle, Zuckerrohr und Reis, welche jedoch wegen der immer trockener werdenden klimatischen Bedingungen heutzutage seltener angebaut werden als noch vor fünfzig Jahren. Nördlich dieses relativ flachen Gebietes erstreckt sich über die weiteren 300 km recht hügeliges Land, welches in weiten Teilen von Prärien bedeckt ist, sich aber auch zum Teil für den Anbau von Mais und Getreide eignet. Das fruchtbarste Gebiet von Texas liegt ganz im Norden, im sog. Texas Panhandle, wo nicht nur Ackerbau betrieben wird, sondern auch Viehzucht. Der westlichste Teil des Staates ist überwiegend dürres und trockenes Steppengebiet, welches nur sehr dünn besiedelt ist. Die größten Flüsse sind der Rio Grande River, der Pecos River und der Nueces River im Westen, der Colorado und Brazos River in der Mitte, und der Pecos River, Red River, Trinity River und Neches River im Norden bzw. Osten des Staates. Texas ist in insgesamt 254 Countys (Landkreise) unterteilt. Die größten Städte in Texas sind Houston (im Südosten), Dallas/ Fort Worth (im Norden), San Antonio und Austin (beide in Zentraltexas), El Paso (ganz im Westen) und Corpus Christi im Süden an der Golf- 1 Ich bedanke mich bei James Kearney und Marc Pierce für hilfreiche Kommentare. küste. Texas ist reich an verschiedenen Bodenschätzen, insbesondere Erdöl und Erdgas. Wegen der südlichen Lage und der vielen Sonnentage wird Solarstrom in Texas immer populärer. In den Steppen im Westen des Staates werden auch immer mehr Windparks errichtet. 2 Statistik und Demographie Texas ist ein multiethnischer Staat, dessen Bevölkerung wegen der boomenden Wirtschaft rasant wächst. Von den geschätzten 24 Millionen Einwohnern 2010 waren knapp 70 Prozent Weiße, 11 Prozent Afroamerikaner und 4 Prozent Asiaten. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung sind Hispanics, d.h. sie sind Einwohner mit hispanoamerikanischer Herkunft. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind knapp 12 Prozent der Texaner deutscher Abstammung - Anfang des 20. Jahrhunderts waren es mit mehr als 20 Prozent noch deutlich mehr. Sie leben vorwiegend in Zentraltexas, welches im Westen im Texas Hill Country westlich der Autobahn zwischen San Antonio und Austin anfängt, und sich bis nach Houston im Osten von Texas erstreckt. Auch im Gebiet nördlich von Dallas/ Fort Worth und im Gebiet um San Angelo in Westtexas finden sich Nachfahren deutschsprechender Einwanderer (Gilbert 1972). Einige Orte wie New Braunfels und Fredericksburg im Texas Hill Country weisen den höchsten prozentualen Anteil an Texanern deutscher Abstammung auf (bis zu 75 Prozent). Der prozentuale Anteil lag bis in die 1950er Jahre sogar bei bis zu 90 Prozent (Biesele 1930). In anderen Ortschaften in Zentraltexas liegt der Anteil an Texanern deutscher Abstammung bei durchschnittlich 5 bis 30 Prozent. Einige Orte wie zum Beispiel La Grange verfügen über ungefähr gleiche Anteile an Texanern deutschsprachiger, tschechischsprachiger und englischsprachiger Abstammung. Die Zahl an deutschsprachigen Texanern ist von ehemals 140.000 am Anfang des 20. Jahrhunderts auf nur noch zirka 8.000 <?page no="174"?> Hans C. Boas 174 bis 10.000 Anfang des 21. Jahrhunderts geschrumpft. Nur einige ältere Leute über 60 haben ihre Muttersprache nicht vergessen. Sie haben allerdings auch relativ wenige Möglichkeiten, auf Deutsch zu kommunizieren. Die jüngeren Generationen sprechen kein Deutsch mehr oder nur das im Fremdsprachenunterricht in der Schule gelernte Standarddeutsch. 3 Geschichte 3.1 Geschichte vor 1918 Die ersten deutschen Einwanderer in Texas lassen sich auf die späten 1820er Jahre datieren, als Texas noch zu Mexiko gehörte, welches selbst noch bis 1821 zu Spanien gehörte (Campbell 2003). Nachdem Johann Friedrich Ernst mit seiner Familie 1829 in das südliche Zentraltexas gezogen war, schrieb er 1832 einen Brief an seine Verwandten in Oldenburg, in denen er in den höchsten Tönen über Texas sprach. Dieser Brief wurde nicht nur in der Lokalzeitung veröffentlicht, sondern er wurde auch mit großem Interesse in ganz Deutschland gelesen, was wiederum zu einer großen Begeisterung für Texas führte und immer mehr Deutsche dazu veranlasste, nach Texas auszuwandern (Struve 1996). Nachdem Texas 1836 von Mexiko unabhängig wurde, benötigte die junge Republik Einwanderer, um die Infrastruktur aufzubauen, die Landwirtschaft weiter auszubauen, und um Texas gegen Mexiko, welches die Unabhängigkeit nicht anerkannt hatte, verteidigen zu können. Die texanische Regierung unter Präsident Sam Houston kreierte ein System von sogenannten „Land Grants“, welches Einzelpersonen und Organisationen freies Land (und texanische Staatsbürgerschaft) versprach, wenn diese eine bestimmte Zahl von europäischen Einwanderern nach Texas bringen würden. Auf diesem Wege kam der 1842 gegründete sog. Mainzer Adelsverein dazu, deutsche Auswanderer bei der Auswanderung nach Texas zu unterstützen (Biesele 1930, Kearney 2010). Der später als Der Verein zum Schutze deutscher Einwanderer in Texas bekannt gewordene Verein ermöglichte zwischen 1844 und 1847 mehr als 7.000 deutschen Auswanderern die Reise nach Texas und gründete unter anderem die Städte New Braunfels und Fredericksburg im sogenannten Hill Country von Zentraltexas. Die meisten der Auswanderer gingen aus ökonomischen Gründen nach Texas: Die Ernten in Europa waren schlecht, die Steuern waren hoch, und es gab Überbevölkerung sowie die damit verbundenen sozialen und wirtschaftlichen Probleme. Außerdem hinderte die Erbteilung viele Familien am wirtschaftlichen Aufstieg. Es gab aber auch politische Auswanderung, insbesondere durch Leute, die an der demokratischen Revolution von 1848 beteiligt waren und für die die Flucht nach Texas eine der wenigen Alternativen zum Gefängnis oder zur Todesstrafe darstellte (Biesele 1930). Der größte Teil der Auswanderer kam aus Nassau, den südlichen Bereichen des Königreichs Hannover, Braunschweig, Nordhessen, Ostthüringen, Oldenburg, Holstein und Westfalen. Einige Einwanderer entschieden sich, sich in bereits existierenden Städten wie Galveston, Houston oder San Antonio niederzulassen, die Mehrzahl der Einwanderer beschloss jedoch, sich in den vom Mainzer Adelsverein neu gegründeten Siedlungen im Texas Hill Country niederzulassen. Eine Besonderheit ist die elsässische Enklave in Medina County westlich von San Antonio. Henri Castro rekrutierte 1844 mehr als 2.000 Elsässer aus dem oberen Rheintal, welche sich in Castroville ansiedelten (Jordan 2010, Roesch 2012). Eine weitere Besonderheit ist die von Sorben (Wenden) aus der Oberlausitz in Lee County gegründete Kolonie, die in den 1850er Jahren auf bis zu 600 Sorben anwuchs. Die ersten Jahre waren besonders schwierig für die deutschen Einwanderer, da es noch keine ausgebaute Infrastruktur gab, der Ackerbau und die Viehzucht in der neuen Welt ohne Kenntnisse der neuen Flora und Fauna schwierig war und weil der Adelsverein wegen Fehlplanungen viele seiner Versprechungen (organisatorischer und finanzieller Art) nicht einhalten konnte. Hinzu kamen schwierige gesundheitliche Verhältnisse - so kamen zirka 400 Einwanderer auf dem Weg von den Landeplätzen in Galveston oder Carlshafen (heute <?page no="175"?> 7. Texas 175 Indianola) an der Küste zu den Siedlungsgebieten in Zentraltexas durch Epidemien um - sowie der Krieg mit Mexiko, der ab 1845 dazu führte, dass viele der wichtigen Pferde und Ochsenwagen für die texanische bzw. US- Armee beschlagnahmt wurden und daher für den Transport nicht zur Verfügung standen (Biesele 1930, Jordan 1977). Um 1850 endete die von Henri Castro und dem Mainzer Adelsverein systematisch organisierte Auswanderung nach Texas, aber auf Grund von zahlreichen Auswandererbriefen (Kettenmigration) und der anhaltenden attraktiven wirtschaftlichen und politischen Möglichkeiten in der neuen Welt wanderten bis zum amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865) weiterhin zahlreiche Deutsche nach Texas aus. Während der 1850er Jahre verdoppelte sich die deutschstämmige Bevölkerung in Texas auf mehr als 20.000, und in dem als German belt bekannten Gebiet in Zentraltexas gab es zahlreiche Orte mit deutschsprachigen Zeitungen, Schulen und Kirchen. Der deutschsprachige Bevölkerungsanteil war im texanischen Hill Country sowie in Teilen von Austin County und Colorado County mit 90 bis 99 Prozent am größten, in anderen Gebieten gab es Orte, die zwischen 10 bis 50 Prozent deutschsprachig waren (neben Englisch, Tschechisch und Spanisch). Der Einfluss der deutschen Einwanderer war so stark, dass die texanische Regierung sogar Gesetzestexte auf Deutsch veröffentlichte. Es wurde auch die deutschsprachige Hermanns-Universität gegründet, wurde dann aber u.a. wegen des Kriegs mit Mexiko nicht weiter ausgebaut und nach ein paar Jahren geschlossen (Biesele 1930). Nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkriegs 1865 nahm die deutsche Einwanderung wieder drastisch zu, so dass die deutschsprachige Bevölkerung um 1890 mehr als 40.000 betrug. Die meisten Nachkriegseinwanderer siedelten nicht im Texas Hill Country, im Westen von Zentraltexas, sondern hauptsächlich im östlichen Teil von Zentraltexas zwischen Austin, San Antonio, Houston und Dallas. Immer mehr deutschsprachige Texaner zogen auch in die Städte, so dass zum Beispiel um 1880 ein Drittel der Einwohner San Antonios deutschsprachig war (Jordan 1969). Viele der deutschsprachigen Gemeinden in Zentraltexas waren bis zum Ende des Ersten Weltkriegs in ihren deutschsprachigen Institutionen engagiert. Neben deutschsprachigen Zeitungen, Schulen und Kirchen gab es deutsche Schützenvereine, Gesangsvereine und Turnvereine, die häufig auch Texaner ohne deutschen Migrationshintergrund aufnahmen, was wiederum zur Integration unterschiedlicher Volksgruppen beitrug (Nicolini 2004). Schätzungen zufolge gab es vor dem Ersten Weltkrieg mehr als 100.000 Deutschsprecher in Texas (Eichhoff 1986). Der Status des Deutschen in Texas änderte sich drastisch im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. Als 1917 die USA in den Ersten Weltkrieg gegen Deutschland eintraten, wurden im ganzen Land Gesetze erlassen, die das Englische zur alleinigen Unterrichtssprache erklärten. Andere Sprachen durften nicht mehr in der Schule verwendet werden. Dies führte dazu, dass monolinguale deutschsprachige Kinder auf einmal Englisch lernen mussten und, wenn sie in der Schule Deutsch sprachen, bestraft wurden (Heinen 1983, Blanton 2004, Boas 2005). In den USA herrschte während dieser Zeit eine ausgesprochene Deutschfeindlichkeit. Wer in der Öffentlichkeit Deutsch sprach, musste damit rechnen, bedroht zu werden. Deutsch-Amerikaner änderten ihre deutschsprachigen Nachnamen zu englischen Nachnamen (Fuchs zu Fox; Müller zu Miller etc.), um nicht mit dem Stigma des Deutschtums in Verbindung gebracht zu werden. Deutschsprachige Zeitungen durften erst erscheinen, nachdem Postbehörden eine englischsprachige Übersetzung vorlag, die dahingehend geprüft werden musste, ob nicht anti-amerikanische Propaganda verbreitet wurde. Bis die Zeitungen erschienen, waren die Nachrichten nicht mehr aktuell. Von den mehr als 100 deutschsprachigen Publikationen, die vor dem Ersten Weltkrieg in Texas erschienen, mussten zirka zwei Drittel ihren Betrieb während oder kurz nach dem Ersten Weltkrieg einstellen (Salmons/ Lucht 2006, Boas 2009). Deutsche Schützen-, Gesangs- und Turnvereine stellten ihren Betrieb vorübergehend komplett ein oder wech- <?page no="176"?> Hans C. Boas 176 selten zum Englischen. Viele deutschsprachige Kirchen boten keine deutschsprachigen Gottesdienste mehr an oder wechselten während der 1920er und 1930er Jahre allmählich zum Englischen (Nicolini 2004). Diese allgemein verbreitete Deutschfeindlichkeit war einer der Hauptgründe, weshalb das Deutsche ab dem Ende des Ersten Weltkriegs aus dem öffentlichen Raum so gut wie verschwand. Was übrig blieb, waren einzelne Überbleibsel deutschsprachiger Zeitungen und Kirchen, aber ansonsten wurde Deutsch nur noch im privaten Bereich gesprochen, wodurch eine Diglossie entstand, in der das Englische die Prestigesprache im öffentlichen Bereich wurde und das Deutsche als Nichtprestigesprache nur noch im privaten Bereich gesprochen wurde (Freunde, Familie, Nachbarn etc.). 3.2 Geschichte vor 1945 Die Zeit zwischen den Weltkriegen zeichnet sich durch die Fortsetzung der am Ende des Ersten Weltkriegs etablierten Diglossie aus. Während das Deutsche aus dem öffentlichen Bereich weitestgehend verschwand, wurde es im privaten Bereich weiter gesprochen. Aber auch hier zeigten die Sprach- und Sprechereinstellungen im öffentlichen Bereich erste Auswirkungen auf den privaten Bereich. Einige deutschsprachige Eltern entschieden sich bewusst, ihre Kinder nicht auf Deutsch, sondern auf Englisch zu erziehen, weil sie nicht wollten, dass ihre Kinder auf Grund ihrer Deutschkenntnisse oder ihrer vom Deutschen beeinflussten englischen Aussprache diskriminiert wurden. In vielen Fällen lernten die Kinder dann aber doch eine (zum Teil erheblich) reduzierte Form des Deutschen, weil die Großeltern oder andere Familienmitglieder kein Englisch konnten. Während der 1920er und 1930er Jahre setzte sich auch das Englische in immer mehr deutschsprachigen Kirchen durch. Dabei vollzogen die Gemeinden in größeren Städten diesen Wechsel schneller als ländliche Gemeinden, katholische Gemeinden wechselten schneller zum Englischen als evangelische Gemeinden, um so auch andere Katholiken erreichen zu können. Einige Gemeinden vollzogen diesen Wechsel zum Englischen abrupt, während andere erst einen englischsprachigen Gottesdienst pro Monat einführten, und so über die Jahre hinweg mehr und mehr englischsprachige Gottesdienste angeboten wurden, bis es keine deutschsprachigen Gottesdienste mehr gab (Nicolini 2004, Boas 2005). Zwischen den Weltkriegen schritt auch der Niedergang der deutschen Zeitungen fort, da auf Grund sinkender Leserschaft immer weniger deutschsprachige Zeitungen rentabel waren. Obwohl sich der Gebrauch des Deutschen in Texas im Privatbereich zwischen den Weltkriegen wieder einigermaßen stabilisieren konnte, gab es weitere nichtlinguistische Faktoren, die zur fortschreitenden Erosion des Deutschen in Texas beitrugen. Erstens gab es seit dem Ersten Weltkrieg keine signifikanten Zahlen neuer deutschsprachiger Einwanderer nach Texas. Zweitens wurde vor dem Zweiten Weltkrieg ein weitreichendes Netz von asphaltierten Landstraßen gebaut, die es nun auch Bewohnern von ländlichen Gebieten erlaubte, innerhalb kurzer Zeit mit Autos größere Städte zu erreichen. Reisen, die vorher einen ganzen Tag per Pferd brauchten, dauerten nur noch ein paar Stunden. Diese erhöhte Mobilität führte zu intensiverem Kontakt zwischen Texasdeutschen und Texanern mit anglo-amerikanischem (sprich: englischsprachigem) Hintergrund: Texasdeutsche fuhren häufiger in größere Städte, anglo-amerikanische Texaner besuchten häufiger traditionell deutschsprachige Gebiete, einige zogen sogar dorthin. Drittens führte dieser intensivere Kontakt zu Heirat bzw. Familiengründungen zwischen Mitgliedern unterschiedlicher ethno-linguistischer Gruppen, in denen ein Partner kein Deutsch sprach. In diesen Familien war somit Englisch die im Normalfall gebrauchte Sprache, mit der auch die Kinder aufwuchsen. Viertens verlagerten sich zwischen den Weltkriegen viele Arbeitsstellen aus den ländlichen Gebieten in die Städte, in denen fast ausschließlich Englisch gesprochen wurde. Texasdeutsche, die bessere wirtschaftliche Aufstiegschancen verfolgten, zogen deshalb in die (englischsprachigen) Städte, auch um dort <?page no="177"?> 7. Texas 177 einen Universitätsabschluss zu erlangen. Fünftens führte der Zweite Weltkrieg zu einem weiteren Prestigeverlust der deutschen Sprache und Kultur, befanden sich die USA ja zum zweiten Mal im Krieg gegen Deutschland. Die allgemeine Wehrpflicht führte auch dazu, dass viele deutsch-texanische Männer für längere Zeit überhaupt keine Möglichkeit mehr hatten, Deutsch zu sprechen (Boas 2009). Schätzungen zufolge gab es 1940 noch immer 159.000 Sprecher des Texasdeutschen (Kloss 1977). 3.3 Geschichte ab 1950 Die Entwicklung des Deutschen als Gebrauchssprache in Texas nahm ab den 1950er Jahren dramatische Züge an. Die letzte noch verbliebene deutschsprachige Zeitung in Texas, die New Braunfelser Zeitung, druckte ab 1953 nur noch auf Englisch. Deutschsprachige Gottesdienste gab es in den meisten Gemeinden nur noch einmal pro Monat, wenn überhaupt noch solche stattfanden. In der Schule wurde Deutsch zwar wieder als Fremdsprache unterrichtet, aber als Unterrichtssprache kam es nicht mehr zur Geltung. Gerade wegen des drastischen Prestigeverlustes des Deutschen belegten viele deutsch-texanische Kinder nicht Deutsch in der Schule, sondern eher Französisch oder Spanisch, welches als weit verbreitete Minderheitssprache immer mehr an Bedeutung gewann. Auch fassten viele Texasdeutsche spätestens in den 1940er Jahren den Entschluss, ihre Kinder nur noch auf Englisch und nicht mehr auf Deutsch groß zu ziehen. Dies erklärt u.a., warum die letzten noch Texasdeutsch sprechenden Texaner zu Beginn des 21. Jahrhunderts 60 Jahre und älter sind (s.u.) (Nicolini 2004, Boas 2009). In den 1960er Jahren starb die letzte Generation der monolingual aufgewachsenen Texasdeutschen aus, und es gab noch zirka 70.000 Sprecher des Texasdeutschen. Die jüngeren Generationen waren ab diesem Zeitpunkt somit alle zweisprachig (oder monolingual Englisch), so dass sich kein unbedingter Kommunikationsvorteil durch das Beherrschen der deutschen Sprache in Texas mehr ergab. Der Abbau des Deutschen in Texas schritt in den 1970er und 1980er Jahren schnell voran. So wechselten auch die letzten noch verblieben Schützen-, Gesangs- und Turnvereine zum Englischen, deutschsprachige Gottesdienste gab es höchstens noch zu Ostern oder zu Weihnachten. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts gibt es noch schätzungsweise 8.000 bis 10.000 Sprecher des Texasdeutschen. Diese sind jedoch älter als 60 Jahre, sie sprechen nur noch sehr selten Texasdeutsch und nur über bestimmte Themenbereiche. Die Sprachkompetenz ist bei vielen Sprechern stark eingeschränkt (siehe Boas 2003, Boas 2009). Somit hat das Texasdeutsche stark an Vitalität verloren. Es wird aller Wahrscheinlichkeit nach bis 2030 ausgestorben sein. 4 Wirtschaft, Politik, Kultur, rechtliche Stellung 4.1 Wirtschaftliche Situation Texas ist traditionell ein sehr stark landwirtschaftlich geprägter Staat, der sich vor allem durch Ackerbau (Mais, Weizen und Baumwolle) sowie Viehzucht hervorgetan hat. So fanden auch die meisten deutschen Einwanderer ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ihre Arbeit in der Landwirtschaft, welche bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts so produktiv war, dass sie Agrarprodukte in den Rest der USA und ins Ausland exportierte (Jordan 1966). Im frühen 20. Jahrhundert wurde in Texas Öl entdeckt, was zu einem regelrechten Ölboom und einem rasanten wirtschaftlichen Aufschwung führte. Die große Wirtschaftskrise in den 1930er Jahren führte auch in Texas zu massiven wirtschaftlichen und sozialen Problemen. In den 1930er und 1940er Jahren eröffnete das Militär mehrere Einrichtungen der Armee und Luftwaffe in Texas, welche ebenfalls viele Arbeitsplätze schufen. In den 1960er Jahren investierte die Regierung viel Geld in die Raum- und Luftfahrttechnologie, welche einen ihrer Schwerpunkte in Texas hatte. Außerdem siedelten sich in den <?page no="178"?> Hans C. Boas 178 1960er und 1970er Jahre mehrere Hochtechnologiefirmen in Texas an, die Mikrochips und andere für die moderne Unterhaltungsindustrie relevanten Produkte herstellen (Campbell 2003). Seit Anfang des 21. Jahrhunderts existiert in Texas auch eine boomende alternative Energiebranche, die jedes Jahr den Anteil alternativer Energien (Wind und Sonne) steigern kann. Texas pflegt intensive Wirtschaftsbeziehungen mit Staaten in Lateinamerika (insbesondere Mexiko), Europa und Asien. In den USA ist Texas einer der wichtigsten Partner der deutschen Industrie, was u.a. durch den Sitz einer deutsch-amerikanischen Handelskammer sowie des deutschen Generalkonsulats in Houston zum Ausdruck gebracht wird. Im Jahr 2014 hat Texas zirka 26 Millionen Einwohner (davon sind laut der letzten Volkszählung 11,3 Prozent deutscher Abstammung), die Einwohnerzahl soll in den nächsten Jahren stark wachsen. 4.2 Rechtliche Stellung des Deutschen: Schulsystem, Sprachregelungen Die deutsche Sprache genießt keine besondere rechtliche Stellung in Texas. In den Vereinigten Staaten gibt es kein Bundesgesetz, welches eine offizielle Amtssprache festlegt; dies ist den einzelnen Bundesstaaten überlassen. Während einige Bundesstaaten wie Kalifornien und Arizona Englisch de facto zur Amtssprache erklärt haben, indem sie staatliche Leistungen wie Führerscheinprüfungen und Polizeidienst an die Benutzung der englischen Sprache koppeln, gibt es in Texas keine staatlich reglementierte Sprachgesetzgebung. Im Gegensatz zu vielen anderen Bundesstaaten wird in Texas Spanisch sehr häufig im öffentlichen Bereich benutzt, so zum Beispiel bei Ansagen in öffentlichen Bussen, auf Schildern in öffentlichen Ämtern und in Flughäfen sowie in Briefen von vielen Stadtverwaltungen. Andere Sprachen wie Chinesisch, Hindi und Vietnamesisch werden ebenfalls je nach Bedarf im öffentlichen Dienst größerer Städte wie Houston oder San Antonio verwendet. Der Unterricht in öffentlichen Schulen in Texas findet generell auf Englisch statt, außer für Kinder mit Migrationshintergrund, welche speziellen Förderunterricht erhalten können. Deutsch wird in Texas in öffentlichen Schulen nicht als Unterrichtssprache verwendet, aber einige Schulen bieten es noch als Fremdsprache an. Es gibt in mehreren Städten wie Houston oder Austin privat organisierte deutsche sog. Samstagsschulen, die Deutschunterricht für Kinder im Kindergartenalter bis hin zur Sekundarstufe anbieten. Theoretisch wären in Texas auch ganztägige deutsche Privatschulen denkbar, wie es sie zum Beispiel in mehreren Großstädten auf Spanisch, Französisch oder Chinesisch gibt. 4.3 Kulturelle Institutionen, Verbände, Medien Für die kulturelle Tätigkeit der deutschsprachigen Texaner gibt es im 21. Jahrhundert noch zahlreiche Organisationen, deren Geschichte teilweise bis in die 1850er Jahre zurückreicht. Viele Städte im German belt von Zentraltexas haben noch immer Schützenvereine, Tanzvereine, Skatvereine, Turnvereine und Gesangsvereine. Obwohl in diesen Vereinen deutsche Kulturtraditionen weitergelebt werden, zum Beispiel durch das Singen deutscher Lieder, das Tanzen bestimmter Tänze oder das Skatspiel, spielt im 21. Jahrhundert die deutsche Sprache generell keine tragende Rolle mehr, da die Aktivitäten dieser Vereine auf Englisch stattfinden. Gelegentlich finden sich noch Texaner deutscher Abstammung oder neu eingewanderte Deutschsprecher aus Europa, die miteinander auf Deutsch reden; dies ist jedoch die Ausnahme. Neben der German-Texan Heritage Society und der Texas German Society, die sich der Erhaltung der deutschen Tradition in Texas verpflichtet fühlen und dies durch regelmäßige Aktivitäten und das Feiern von Festen unterstützen, gibt es in ganz Zentraltexas noch immer Tanzhallen, in denen deutsche Volksmusik gespielt wird (zu der getanzt wird). Sehr beliebt sind auch die unterschiedlichen Mai- und Oktoberfeste, die auch bei der <?page no="179"?> 7. Texas 179 nicht deutschstämmigen texanischen Bevölkerung auf großes Interesse stoßen. Das womöglich bekannteste deutsche Volksfest in Texas ist das sog. Wurstfest in New Braunfels, welches jedes Jahr in der ersten Novemberwoche stattfindet. Von den ehemals mehr als hundert deutschen Zeitungen Anfang des 20. Jahrhunderts existiert heute keine mehr. Auch die letzte deutsche Radiosendung in New Braunfels wurde Ende der 1990er Jahre eingestellt. Es gibt jedoch noch eine wöchentliche Radiosendung aus New Braunfels, welche sich im Internet anhören lässt. Außer dieser Sendung kann man mittlerweile auch auf viele deutschsprachige Fernsehsender und Zeitungen aus Deutschland über das Internet zugreifen. 5 Soziolinguistische Situation 5.1 Kontaktsprachen Das heute noch von wenigen Leuten gesprochene Texasdeutsch stand in den letzten 170 Jahren mit unterschiedlichen Sprachen in Kontakt. Die am meisten gesprochene Sprache in Texas ist das amerikanische Englisch, genauer gesagt das texanische Englisch, welches eine Unterkategorie des sog. Southern English ist. Das Englische hat das Texasdeutsche am meisten beeinflusst, insbesondere durch Entlehnungen (s.u. Kapitel 5.3.1) Außerdem stand bzw. steht das Texasdeutsche in Kontakt mit dem Spanischen und dem Tschechischen; allerdings lassen sich im Texasdeutschen keine Einflüsse aus diesen Sprachen feststellen. Alle heute lebenden Sprecher des Texasdeutschen sind zweisprachig (Deutsch und Englisch), wobei Englisch typischerweise die dominantere Sprache ist. Einige Sprecher des Texasdeutschen sprechen außerdem Spanisch, einige wenige haben auch ein passives Verständnis des Tschechischen. 5.2 Die einzelnen Sprachformen des Deutschen: Sprachlagengefüge Die heute als Texasdeutsch bekannte Sprachform ist aus unterschiedlichen Gründen keine einheitliche Sprachform. Der Begriff „Texasdeutsch“ ist daher in gewisser Weise irreführend. Tatsächlich handelt es sich dabei um eine große Menge regional spezifischer texanisch-deutscher Mundarten, die zwar viele Merkmale teilen, aber doch zum Teil sehr unterschiedlich sind. Dafür gibt es mehrere Gründe. Die ab 1830 von den Auswanderern nach Texas gebrachten deutschen Mundarten waren recht unterschiedlicher Natur, da sie aus zum Teil sehr diversen geographischen Regionen kamen (Gilbert 1978). Obwohl sich einige Ausgleichserscheinungen, insbesondere in der Phonologie und der Morphosyntax, beobachten lassen, setzt sich diese Diversität in den nachfolgenden Generationen weitgehend fort, wie die variationslinguistische Dokumentation im Linguistic Atlas of Texas German (Gilbert 1972) belegt. Die auf mehr als 140 Dialektkarten dokumentierte lexikalische, phonologische und morpho-syntaktische Variation beruht auf Sprachaufnahmen, die Gilbert in den 1960er Jahren mit Texasdeutsch-Sprechern gemacht hat. Ähnliche Untersuchungen von Clardy (1954) und Eikel (1954) bestätigen diese große Variation. Auch die in jüngster Zeit vom Texas German Dialect Project (vgl. http: / / www.tgdp.org; Boas et al. 2010) aufgenommenen und archivierten Interviews mit knapp 450 Sprechern des Texasdeutschen zeugen von einer großen Sprachvariation auf lexikalischer, morphosyntaktischer und phonologischer Ebene. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs war das Sprachgefüge in Texas noch sehr unterschiedlich, da die meisten Kinder deutschsprachiger Immigranten in öffentlichen Grund- und kirchlichen Privatschulen auf Deutsch unterrichtet wurden. Dabei unterschied sich der Sprachgebrauch in der Schule (sowie in den Kirchen und Zeitungen) vom Sprachgebrauch zu Hause dadurch, dass in der Schule auf Hochdeutsch unterrichtet wurde, zu Hause aber Dialekt gesprochen wurde. Somit waren die meisten Schulkinder im German belt einer Diglossie ausgesetzt, in der Hochdeutsch die prestigereichere Varietät war und die unterschiedlichen Dialekte die nicht pres- <?page no="180"?> Hans C. Boas 180 tigereichen Varietäten waren. Je nach geographischer Situation spielte das Englische auch noch eine Rolle, so zum Beispiel in nicht überwiegend deutschsprachigen Gemeinden, in denen auch auf Englisch unterrichtet wurde. Durch den Wegfall des Deutschen als Unterrichtssprache fiel auch die Überdachungsfunktion des Hochdeutschen als prestigereiche Varietät weg (siehe auch Salmons/ Lucht 2006). Ab den 1920er Jahren war somit Englisch die prestigereiche Varietät (Nicolini 2004). Texasdeutsch ist eine ausschließlich gesprochene Varietät des Deutschen. Die wenigen Sprecher des Texasdeutschen, die (Standard-)Deutsch lesen und schreiben können, haben dies an der Universität gelernt. Das deutsche Sprachgefüge in Texas unterscheidet sich von dem anderer deutscher Varietäten in Nordamerika wie folgt: (1) Die Auswanderung nach Texas fand im Vergleich zu anderen Gebieten wie Pennsylvania vergleichsweise spät statt. Während die ersten deutschsprachigen Auswanderer bereits im 17. Jahrhundert an die Ostküste auswanderten, setzte der Auswandererstrom nach Texas erst in den 1840er Jahren ein. (2) Auf Grund der vielen Herkunftsregionen gab es in Texas eine größere Bandbreite an Mundarten, die im Laufe der Jahrzehnte miteinander in Kontakt standen. Die meisten deutschsprachigen Auswanderer nach Pennsylvania im 17. Jahrhundert kamen im Gegensatz dazu aus nur ein oder zwei Regionen, womit die sprachliche Variation erheblich geringer war. (3) Wegen der relativ späten Auswanderung vergingen in Texas nur zirka achtzig Jahre zwischen der Ankunft größerer Mengen deutschsprachiger Auswanderer, die unterschiedliche Mundarten sprachen, und dem Anfang des langsamen Niedergangs der deutschen Sprache in Texas (ab zirka 1917). Wegen dieser relativ kurzen Zeit kam es nicht zu einem systematischen Ausgleichsprozess, der nach Trudgill (2004) über drei bis vier Generationen verteilt zur Entstehung einer neuen einheitlichen Mundart des Texasdeutschen hätte führen können. (4) Im Gegensatz zu anderen deutschsprachigen Gemeinschaften in Nordamerika, in denen das Deutsche noch heute eine wichtige religiöse Funktion übernimmt, wie zum Beispiel bei vielen Mennoniten oder Amischen, spielt die Erhaltung des Deutschen in Texas für kirchliche Zwecke keine Rolle mehr (vgl. Siemens in diesem Band). 5.3 Sprachliche Charakteristika des Texasdeutschen Da sich die meisten Nachfahren deutscher Einwanderer in Texas linguistisch und kulturell assimiliert haben, wird Texasdeutsch heute generell nur noch von Leuten gesprochen, die vor 1950 geboren sind. Dieser Abschnitt gibt einen genaueren Überblick über drei spezielle Systemebenen des Texasdeutschen, nämlich das Lexikon, die Phonologie und die Morphosyntax. Auf Grund der großen Variation im Texasdeutschen besprechen die folgenden Abschnitte in Anlehnung an Boas (2009) nur die Mundart von New Braunfels, welches auf halbem Weg zwischen San Antonio und Austin liegt. Für einen umfangreicheren Überblick der Bandbreite an sprachlicher Variation siehe Gilbert (1972). 5.3.1 Lexikon Der auffälligste Bereich, in dem sich das Texasdeutsche von anderen deutschen Mundarten unterscheidet, ist das Lexikon, welches sich durch viele Entlehnungen aus dem Englischen auszeichnet. Schon Gilbert (1965) beschreibt den Einfluss des Englischen auf das in Fredericksburg gesprochene Texasdeutsch und beziffert den Anteil englischer Wörter im Texasdeutschen auf ungefähr fünf Prozent. Anhand von Briefen und Tagebucheinträgen aus den 1840er Jahren zeigt Gilbert, dass sich der Einfluss des Englischen schon in den ersten zehn Jahren nach Gründung erster deutscher Siedlungen in Texas bemerkbar machte. Die ersten von Gilbert (1965) dokumentierten Entlehnungen sind hauptsächlich Bezeichnungen für Pflanzen und Tiere sowie einige spezielle Aktivitäten wie zum Beispiel campen. Im Texasdeutschen des 20. Jahrhunderts identifizieren Gilbert (1965), Meister (1969), Jordan (1977) und Wilson (1977) spezielle semantische Domänen, aus denen Wörter vom Englischen ins Texasdeutsche entlehnt worden sind. Diese umfassen Flora und Fauna (der <?page no="181"?> 7. Texas 181 Prickley Pear (‚der Feigenkaktus‘), der Pecanbaum (‚der Pecannussbaum‘)), das Schulwesen (der Principal (‚der Schuldirektor‘), die Grade (‚die Klasse‘), der Teacher (‚ der Lehrer‘), der Schulyard (‚der Schulhof‘)), technische Ausdrücke (der Carburator, der Truck), landwirtschaftliche Ausdrücke (die Fence, die Pasture) und politische Terminologie (der County Commissioner, to naturalize). Neben Verben, Substantiven und Adjektiven finden sich im Texasdeutschen auch entlehnte Konjunktionen wie but und because und eine Reihe von Diskursmarkern wie well, you know und of course, wie die folgenden Beispielen zeigen (siehe auch Boas/ Weilbacher 2007, Boas/ Weilbacher 2009, Boas 2010, Weilbacher 2011). (1) Well da sind Leute, gewehnlich was gutes Geld gemacht haben durch die Jahre. (1-1-1-26) 2 2 Die Zahlenangaben sind Identifikationsnummern, mit denen sich die dazugehörigen Transkripte mit Tonaufnahmen im Texas German Dialect Archive unter http: / / www.tgdp.org finden lassen (siehe Boas (2) Oh der war raus und hat tires gechanged, you know. (1-114-1-8) (3) Un denn abends of course die Kieh z’melken ... (1-1-1-7) Interessanterweise gibt es im Texasdeutschen auch eine nicht unbedeutende lexikalische Variation, welche schon von Gilbert (1972) für den gesamten zentral-texanischen Raum dokumentiert worden ist. Hier soll beispielhaft ein Vergleich von Gilberts lexikalischen Daten aus New Braunfels (Comal County), welche er in den 1960er Jahren dokumentiert hat, mit neueren Daten zeigen, inwieweit sich die lexikalische Variation in den letzten fünfzig Jahren verändert hat bzw. gleich geblieben ist. Gilberts (1972) Dialektkarten beruhen auf einer Liste von 148 Wörtern, Phrasen und Sätzen, die er seinen Gewährsleuten auf Englisch vorgelesen hat. Die englischen Daten wurden 2006). Die erste Zahl identifiziert den Interviewer, die zweite Zahl die Gewährsperson, die dritte Zahl die Nummer des Interviews mit der Gewährsperson und die vierte Zahl den Ausschnitt aus dem Interview. Beerdigung Begräbnis Beerdigung + Begräbnis funeral None Gilbert (1972) 4 (27%) 9 (60%) 2 (13%) TGDP Informants 24, 25, 29, 30, 32, 34, 35, 71, 72, 76, 79, 80, 84, 88, 107, 123, 124, 125, 129, 139, 159, 165, 167 27, 28, 33, 77, 78, 82, 83, 128, 138, 153, 160, 164, 170, 171, 173 96 75 26, 60, 62, 85, 108, 110, 155, 161, 168, 169, 172, 174 Total- TGDP 23 (59%) 15 (38%) 1 (3%) 12 Tab. 1: eine Beerdigung ‚a funeral‘ (Gilbert 1972, Karte 114) (Boas/ Pierce 2011, S. 141) Fußboden Boden Fuß floor None Gilbert (1972) 1 (7%) 14 (93%) TGDP Informants 24, 26, 27, 30, 32, 33, 35, 72, 75, 76, 79, 80, 85, 88, 123, 125, 129, 139, 153, 160, 161, 165, 171, 172, 174 25, 28, 29, 34, 62, 71, 77, 78, 82, 83, 84, 96, 107, 108, 110, 124, 128, 138, 155, 159, 167, 168, 169, 170, 173 60 164 Total- TGDP 25 (48%) 25 (48%) 1 (2%) 1 (2%) Tab. 2: Fußboden ‚floor‘ (Gilbert 1972, Karte 122) (Boas/ Pierce 2011, S. 141) <?page no="182"?> Hans C. Boas 182 dann von den Gewährsleuten ins Texasdeutsche übersetzt. Die folgenden Tabellen aus Boas/ Pierce (2011) vergleichen Gilberts (1972) Daten aus New Braunfels mit parallelen Daten, die Mitarbeiter des Texas German Dialect Projects zwischen 2001 und 2006 mit 52 Texasdeutsch-Sprechern in New Braunfels auf der Basis von Gilberts ursprünglichen Fragebögen aufgenommen haben. Die ersten beiden Tabellen zeigen für Beerdigung und Fußboden relativ wenig lexikalische Variation, sowohl in Gilberts (1972) Daten als auch in den neueren vom Texas German Dialect Project aufgenommenen Daten (s.o. Tabelle 1). Trotz der relativ geringen lexikalischen Variation lassen sich dennoch zwei interessante Beobachtungen machen. Erstens: Eine Gewährsperson benutzt sowohl in Tabelle 1 als auch in Tabelle 2 englische Wörter statt deutscher Wörter. Zweitens: Zwölf Gewährspersonen konnten sich nicht an das Wort Beerdigung erinnern, was möglicherweise ein Zeichen dafür ist, dass dieser Bereich des Lexikons mit dem Wegfall des Deutschen als Verkehrssprache in der Kirche in Vergessenheit geraten ist (Boas/ Pierce 2011). Tabellen 3 und 4 vergleichen die lexikalische Variation im Texasdeutschen in einer Pecanbaum Nussbaum Nussbaum + Pecanbaum Baum None Gilbert (1972) 10 (67%) 1 (6%) 4 (27%) TGDP Informants 25, 26, 28, 29, 30, 33, 75, 88, 110, 125, 128 32, 35 138 24, 27, 34, 60, 62, 71, 72, 76, 77, 78, 79, 80, 82, 83, 84, 85, 96, 107, 108, 123, 124, 129, 139, 153, 155, 159, 160, 161, 164, 165, 167, 168, 169, 170, 171, 172, 173, 174 Total- TGDP 11 (79%) 2 (14%) 1 (7%) 38 Tab. 3: Pecan(nuss)baum ‚pecan tree‘ (Gilbert 1972, Karte 140) (Boas/ Pierce 2011, S. 142) Gartenrechen Gartenreche Rechen Gartenrake Harken Other None Gilbert (1972) 14 (93%) 1 (7%) TGDP Informants 24, 25, 29, 32, 76, 79, 82, 83, 123, 138, 160, 171 72, 96, 125, 129 26, 27, 80, 88, 110, 124, 139, 155, 159 30, 35, 84, 153, 165, 167, 172, 174 164, 173 71, 75, 128, 170 28, 33, 34, 60, 62, 77, 78, 85, 107, 108, 161, 168, 169 Total- TGDP 12 (31%) 4 (10%) 9 (23%) 8 (21%) 2 (5%) 4 (10%) 13 Tab. 4: Gartenrechen ‚garden rake‘ (Gilbert 1972, Karte 108) (Boas/ Pierce 2011, S. 142) Krik Krike Creek Fluss Bach Other Gilbert (1972) 13 (87%) 2 (13%) TGDP Informants 24, 25, 29, 30,33, 35, 71, 72, 76, 79, 80, 82, 83, 84, 85, 88, 96, 108, 110, 123, 124, 125, 129, 138, 139, 153, 155, 159, 160, 171, 172, 173, 174 26, 27, 77, 161, 164 34, 60, 75, 107, 128, 169, 170 28 32, 62, 78, 165, 167, 168 Total- TGDP 33 (72%) 5 (11%) 7 (15%) 1 6 Tab. 5: Bach ‚creek‘ (Gilbert 1972, Karte 136) (Boas/ Pierce 2011, S. 143 <?page no="183"?> 7. Texas 183 anderen semantischen Domäne, nämlich der des Gartens bzw. der Pflanzen. Laut Boas/ Pierce (2011, S. 142) zeigen die Daten in den Tabellen 3 und 4 zwei wichtige Punkte. Erstens, dass relativ viele Texasdeutsch-Sprecher sich nicht mehr an bestimmte Wörter wie Pecan(nuss)baum oder Gartenrechen erinnern können. Zweitens, dass die lexikalische Variation bei bestimmten Wörtern wie Gartenrechen sich in den letzten 50 Jahren deutlich erhöht hat. 3 Dieser letzte Punkt lässt sich auch bei Wörtern erkennen, die bereits vor 50 Jahren aus dem Englischen ins Texasdeutsche entlehnt worden sind, wie zum Beispiel das Wort creek (‚Bach‘) in Tabelle 5. Während Gilberts (1972) Daten zwei (eingedeutschte) Aussprachevarianten Krik und Krike belegen, zeigen die neueren Daten eine größere Bandbreite an lexikalischer Variation. Ein Vergleich der Aussprachevarianten in Tabellen 5 und 6 zeigt, dass das englische Wort creek ins Texasdeutsche phonologisch integriert worden ist, währen das Wort candy noch immer wie im texanischen Englisch ausgesprochen wird (siehe Boas/ Pierce 2011). Andere Entlehnungen lassen sich auch im Bereich der Verben beobachten, wo englische Verben in die deutsche Morphosyntax integriert worden sind und die Aussprache sich am System des Deutschen orientiert. Exemplarisch seien hier die folgenden Beispiele genannt: ge-graduate-[t] (1-21-1-7), ge-farm-[t] (1- 25-1-5), ge-like-[t] (1-36-1-2), ge-phone-[t] (1-44- 1-1), ge-move-[t] (1-55-1-1) und ge-milk-[t] (1-64- 1-5). 3 Die Kategorie „Other“ (andere) besteht aus Gartenharge, Gartenreke, Gartenrech und Gartenrache. 5.3.2 Phonologie Die im Bereich des Lexikons beobachtete Variation findet sich auch in der Phonologie des Texasdeutschen wieder. In diesem Abschnitt gehe ich exemplarisch auf einige von Eikel (1954), Gilbert (1972) und Boas (2009) besprochenen phonologischen Merkmale des Texasdeutschen in New Braunfels (Comal County) ein, da dies eine der am intensivsten untersuchten Varietäten des Texasdeutschen ist. Die wahrscheinlich auffälligsten phonologischen Merkmale sind die Entrundungen der Vorderzungenvokale [y] und [ø], wie die folgenden Daten von 52 Gewährspersonen aus New Braunfels zeigen. Wie Tabelle 7 zeigt, ist der im Standarddeutschen gerundete Vorderzungenvokal [y] im Texasdeutschen fast nicht attestiert. Von 52 Gewährspersonen konnten sich zwei nicht an das Wort für Tür erinnern, von den übrigen 50 Gewährspersonen realisieren 98 Prozent den Vorderzungenvokal in seiner entrundeten Variante, während 2 Prozent die gerundete Variante realisieren. In Tabelle 8 lässt sich eine etwas größere Variationsbandbreite in der Realisierung des gerundeten Vorderzungenvokals [ø] erkennen. Hier benutzen nur 4 Prozent den gerundeten Vorderzungenvokal [ø], während 8 Prozent [o] verwenden und 88 Prozent die entrundete Variante [e]. Andere interessante Vokalrealisierungen lassen sich bei Diphthongen beobachten (zum Beispiel [au]/ [u: ]) sowie bei entlehnten englischen Wörtern wie pasture (‚Weide‘), in denen manche Sprecher noch die englische Aussprache [æ] beibehalten, wohingegen andere Sprecher candy Zucker None Gilbert (1972) 15 (100%) TGDP- Informants 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 32, 33, 34, 35, 60, 71, 72, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 82, 83, 84, 85, 88, 96, 107, 108, 110, 123, 124, 125, 128, 138, 139, 153, 155, 159, 160, 161, 164, 168, 169, 171, 172, 173, 174 170 62, 129, 165, 167 Total- TGDP 47 (98%) 1 (2%) 4 Tab. 6: Bonbons ‚candy‘ (Gilbert 1972, Karte 139) (Boas/ Pierce 2011, S. 143) <?page no="184"?> Hans C. Boas 184 eine eher deutsche Aussprache mit [a] bevorzugen. Im Bereich der Konsonanten gibt es auch erheblich Variation, so zum Beispiel bei Affrikaten wie [pf], welche wahlweise als [pf], [p] oder auch [b] realisiert werden, wie Tabelle 9 zeigt. Die Distribution von [pf] und [p] ist jedoch nicht immer gleichmäßig, d.h. je nach Wort und je nach Position des Lauts lassen sich unterschiedliche prozentuale Verteilungen finden. So realisieren zum Beispiel in Kopf 61 Prozent der Gewährsleute ein [pf] und 39 Prozent ein [p]. Bei Köpfe sieht die Verteilung bereits anders aus: 27 Prozent realisieren [pf], 69 Prozent [p] und 4 Prozent [f]. Am Anfang des Wortes in Pferd realisieren nur 8 Prozent ein [pf] während 92 Prozent ein [f] realisieren (Boas 2009, S. 140-141). Zu näheren Einzelheiten dieser zum Teil recht unterschiedlichen Verteilung (sowie ihrer möglichen Ursachen), s. Boas (2009, S. 140-142). Außerdem lassen sich unterschiedliche Varianten bzw. Verteilungen der Affrikate [ts] (Varianten: [ts]/ [s]/ [z]), des unbehauchten [t] (Varianten: [t], [d]), des unbehauchten [k] (Varianten: [k], [g]), des Reibelauts [s] (Varianten: [s], [ʃ]) sowie des Liquids [r] (Varianten: [r]/ [R]/ [a: ]/ [ɹ]) beobachten, die ebenfalls je nach Position im Wort unterschiedlich realisiert werden (Boas 2009, S. 143-159). Für die Entwicklung bzw. die Verteilung der unterschiedlichen Varianten lässt sich leider keine einheitliche Erklärung finden. So schlägt Boas (2009, S. 165-170) auf der Basis der Daten in Clardy (1954), Eikel (1954), Gilbert (1972) und dem Texas German Dialect Archive (http: / / www.tgdp.org) vor, dass mehrere Faktoren wie (1) die unterschiedlichen Ursprungsdialekte, die im 19. Jahrhundert nach Texas gebracht wurden, (2) Dialektkontakt verbunden mit unvollendetem Dialektausgleich und (3) externe Faktoren wie Informants Total [i] 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 32, 33, 34, 35, 60, 62, 71, 72, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 82, 83, 84, 85, 88, 96, 108, 110, 124, 125, 128, 129, 138, 139, 153, 155, 159, 160, 161, 164, 165, 167, 168, 169, 170, 171, 172, 173, 174 49 [i] [y] 107 1 [y] None 72, 123 2 None Tab. 7: Verteilung von [y] und [i] in die Tür ‚the door‘ (Boas 2009, S. 117) Informants Total [ø] 60, 165 2 [ø] [e] 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 32, 33, 34, 62, 71, 72, 75, 76, 77, 79, 80, 82, 83, 84, 85, 88, 96, 107, 108, 110, 123, 124, 125, 128, 129, 138, 153, 155, 159, 160, 164, 167, 169, 170, 171, 172, 173, 174 45 [e] [o] 35, 78, 139, 168 4 [o] None 161 1 None Tab. 8: Verteilung von [ø], [e] und [o] in zwei Köpfe ‚two heads‘ (Boas 2009, S. 124) Informants Total [pf] 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 33, 34, 35, 60, 62, 75, 76, 77, 79, 80, 82, 83, 85, 88, 107, 108, 110, 123, 124, 125, 128, 129, 138, 139, 153, 155, 160, 161, 165, 167, 168, 169, 170, 171, 172, 173, 174 44 [pf] [p] 32, 71, 78, 159, 164 5 [p] [b] 96 1 [b] None 72, 84 2 None Tab. 9: Verteilung von [pf], [p] und [b] in ein Apfel ‚two apples‘ (Boas 2009, S. 139) <?page no="185"?> 7. Texas 185 zum Beispiel der Einfluss des Englischen zu den Verteilungen der Varianten beigetragen haben. 5.3.3 Morphosyntax Die bereits im Lexikon und der Phonologie festgestellte Variation findet sich auch im Bereich der Morphosyntax wieder. Am auffälligsten ist der Kasussynkretismus. Schon Eikel (1954) stellt fest, dass der Genitiv mit der Ausnahme von ein paar idiomatischen Redewendungen nicht mehr im Texasdeutschen verwendet wird. Seine Funktion wird vom Dativ bzw. vom Akkusativ übernommen. Aber auch der Dativ zeigt bereits in der Mitte des 20. Jahrhunderts eine geringere Frequenz. Stattdessen übernimmt der Akkusativ viele der Funktionen des Dativs. Um die Entwicklung des Kasussynkretismus genauer zu untersuchen, vergleicht Boas (2009) die von Gilbert in den 1960er Jahren erhobenen Datensätze, welche in Gilbert (1972) und Fuller/ Gilbert (2003) genauer analysiert werden, mit denselben Datensätzen, die fünfzig Jahre später vom Texas German Dialect Project aufgenommen worden sind. Bezüglich der Wechselpräpositionen lässt sich ein genereller Trend zu Ungunsten des Dativs und hin zum Akkusativ erkennen. Tabelle 10 zeigt beispielhaft die Verteilung von Akkusativ und Dativ in der von der Präposition über regierten Nominalphrase dem Bett, in der im Standarddeutschen ein Dativ erwartet wird. Die erste Spalte zeigt die Verteilung in Gilbert (1972), in der 87 Prozent der Gewährsleute den Akkusativ verwenden und 13 Prozent den Dativ. Ähnliche Verhältnisse herrschen in den von Fuller/ Gilbert (2003) analysierten Daten aus den 1960er Jahren (in der zweiten Spalte), in denen sie feststellen, dass 85 Prozent der Gewährsleute den Akkusativ verwenden, während nur 9 Prozent den Dativ verwenden. In der dritten Spalte findet sich die Liste der Identifikationsnummern der 52 Gewährspersonen des Texas German Dialect Projects, und in der vierten Spalte findet sich die prozentuale Auswertung der Verteilung von Akkusativ vs. Dativ. Sie zeigt eine hundertprozentige Verwendung des Akkusativs bei den zwischen 2001 und 2007 befragten Gewährspersonen. Ähnliche Verteilungen von Dativ und Akkusativ lassen sich bei unter, neben und im finden (Boas 2009, S. 198-200). Interessanterweise gibt es aber auch Kontexte, in denen der Gilbert Fuller/ Gilbert TGDP Informants TGDP Total Acc 13 (87%) (85%) 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 32, 33, 34, 35, 60, 71, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 82, 83, 84, 85, 96, 107, 108, 110, 123, 124, 125, 128, 129, 138, 139, 153, 155, 159, 160, 161, 164, 165, 167, 168, 169, 170, 171, 172, 173, 174 49 (100%) Dat 2 (13%) 9% 0 None 62, 72, 88 3 Other 0 Tab. 10: Kasusmarkierung nach über in Das Bild hängt über dem Bett (Boas 2009, S. 198) Gilbert Fuller/ Gilbert TGDP Informants TGDP Total Acc 4 (27%) 69% 24, 25, 26, 28, 29, 30, 32, 33, 62, 71, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 82, 83, 88, 96, 107, 108, 124, 125, 128, 129, 138, 139, 153, 160, 164, 167, 171, 172, 173, 174 36 (84%) Dat 11 (73%) 25% 27, 84, 110, 123, 161, 169, 170 7 (16%) None 35, 60, 72, 155, 159, 165, 168 7 Tab. 11: Kasusmarkierung nach auf in Tu es auf den Boden! (Boas 2009, S. 200) <?page no="186"?> Hans C. Boas 186 eigentlich erwartete Akkusativ durch eine Dativmarkierung ersetzt wird. So zeigt zum Beispiel Tabelle 11, dass die im Standarddeutschen wegen der Präposition auf mit Akkusativ markierte Nominalphrase den Boden bereits bei Gilbert von 73 Prozent der Gewährsleute mit Dativ markiert wurde, während noch immerhin 16 Prozent der vom TGDP aufgenommenen Gewährsleute den Dativ verwenden. Recht unterschiedliche Verteilungen von Kasusmarkierungen gibt es mit anderen Wechselpräpositionen: über (100 Prozent Akkusativ, 0 Prozent Dativ), unter (96 Prozent Akkusativ, 4 Prozent Dativ) und neben (87 Prozent Akkusativ, 13 Prozent Dativ) (siehe Boas 2009, S. 201-202). Auch fällt die Verteilung von Dativ- und Akkusativmarkierungen mit Präpositionen, die im Standarddeutschen nur den Dativ markieren, recht unterschiedlich aus, wie Tabelle 12 zeigt, die auf einer Auswertung der transkribierten Interviews beruht (zirka 310.000 Wörter). So verwenden die Gewährsleute in 88 Prozent aller Vorkommnisse der Präposition aus den Akkusativ, um eine Nominalphrase zu markieren, in keinem Fall wird ein Pronomen mit Akkusativ markiert, in 10 Prozent der Fälle wird der Dativ verwendet, um eine Nominalphrase zu markieren, und in nur 2 Prozent der Fälle wird der Dativ verwendet, um ein Pronomen zu markieren. Wie Tabelle 13 zeigt, ist die Kasusmarkierung bei Adjektiven ebenfalls stark reduziert. In der Subjektsposition würde man im Standarddeutschen eine Nominalphrase mit Nominativmarkierung erwarten (die kleinen Kinder), diese wird aber nur noch von 2 Prozent der Gewährsleute realisiert. Ähnliche Entwicklungen lassen sich bei Kasusmarkierung von Adjektiven in Objektsnominalphrasen beobachten (Boas 2009, S. 213-214). Bezüglich der Wortstellung lassen sich ebenfalls recht unterschiedliche Verteilungen erkennen. So ist das finite Verb in Nebensätzen, die mit weil eingeleitet werden fast immer in V2-Stellung (... weil mein Vater hat gern Hersch geschossen. (1-25-1-24)), während es in Nebensätzen, die mit bis eingeleitet werden, fast immer in V-letzt-Stellung vorkommt (... bis ich neun Jahr alt war. (1-29-1-3)). In Nebensätzen, die mit dass eingeleitet werden, gibt es wiederum keine klare Tendenz, es herrscht eine in etwa gleichteilige Distribution von V2- und Vletzt-Stellung vor (... dass sie ist geschimpft worn in die Schule (1-25-1-11) / ... dass ich nach College gehe (1-34-1-17)). Wie in vielen anderen Dialekten des Deutschen gibt es auch im Texasdeutschen einen Schwund des Präteritums. Dieser wurde bereits von Eikel (1954) und Gilbert (1972) dokumentiert und hat sich bis ins 21. Jahrhundert weiter ausgebreitet, wie die Vergleichsdaten in Boas (2009, S. 225) zeigen. Einen frequenzbasierten Vergleich liefern Boas und Schuchardt (2012, S. 4-6), wie in Tabelle 14 Preposition Acc. NP Acc. Pronoun Dat. NP Dat. Pronoun aus 36 (88%) 0 (0%) 4 (10%) 1 (2%) zu 44 (60%) 18 (25%) 10 (14%) 1 (1%) bei 91 (81%) 9 (8%) 7 (8%) 5 (5%) mit 263 (83%) 26 (8%) 16 (8%) 11 (4%) Tab. 12: Kasusmarkierung mit Präpositionen, die den Dativ markieren (Boas 2009, S. 204) Gilbert TGDP Informants TGDP Total die -e 6 (40%) 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 33, 34, 35, 60, 76, 78, 79, 83, 84, 85, 88, 96, 107, 108, 110, 123, 124, 128, 129, 138, 153, 155, 159, 160, 165, 167, 169, 172 35 (73%) die -en 5 (33%) 168 1 (2%) klein Ø 4 (27%) 32, 62, 71, 75, 77, 80, 125, 164, 170, 171, 173, 174 12 (25%) None 72, 82, 139, 161 4 Tab. 13: Reduzierte Kasusmarkierung in Subjektsstellung Die kleinen Kinder sehen sie. (Boas 2009, S. 212) <?page no="187"?> 7. Texas 187 dargestellt. Die Daten basieren auf der Frequenzliste der am häufigsten vorkommenden Verben im Standarddeutschen (Leipzig/ BYU- Korpus). Der Vergleich der Formen basiert auf absoluten Zahlen im Volltextkorpus des TGDP, d.h. der zwischen 2001 und 2007 aufgenommen Daten. Rang Verb Präteritum Perfekt 1 sagen 14 441 2 machen 3 419 3 geben 16 85 4 kommen 781 148 5 gehen 113 348 6 wissen 75 11 7 sehen 25 76 8 lassen 0 16 9 stehen 2 27 10 finden 0 73 Tab. 14: Verteilung von Präteritums- und Perfektformen im TGDP-Textkorpus Die Pluralmarkierung im Texasdeutschen unterscheidet sich ebenfalls von der des Standarddeutschen, welches über insgesamt acht unterschiedliche Pluralmorpheme verfügt (-e, -(e)n, -er, -s, -Ø, Umlaut + -er, Umlaut + -e, Umlaut; (s. Köpcke 1988, S. 307). Frühere Studien von Gilbert (1972), Salmons (1983) und Guion (1996) haben bereits eine Reduzierung der Pluralmorphologie belegt. Die neueren Daten des TGDP, die in Boas (2009) untersucht werden, zeigen, dass die Pluralmorpheme -e, -en und -er fast nicht mehr benutzt werden. Stattdessen werden häufig das Nullmorphem sowie -s verwendet. Diese morphologische Reduzierung wird u.a. dadurch erklärt, dass (1) die reduzierten Formen bereits durch die Ursprungsdialekte nach Texas gebracht worden sind, (2) das Texasdeutsche nur noch sehr selten gesprochen wird, und zwar ausschließlich von älteren Leuten über 60 (d.h. die Gewährsleute können sich nicht mehr genau erinnern) und (3) der Einfluss des Englischen, welches eine deutlich einfachere Pluralmorphologie hat, eine Rolle spielt. 5.4 Sprachenwahl: Code-Switching, Sprachmischung Wie schon oben in Abschnitt 5.3.1 erwähnt, gibt es im Texasdeutschen zahlreiche Entlehnungen aus dem Englischen, die bereits seit mehreren Generationen verwendet werden (siehe Gilbert 1965, Wilson 1977, Jordan 1977). Die zahlreichen in Abschnitt 5.3.1 besprochenen Entlehnungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie phonologisch bzw. morpho-syntaktisch voll ins Texasdeutsche integriert sind (siehe Boas und Pierce 2011 und Weilbacher 2011). Darüber hinaus gibt es aber auch zahlreiche andere Vorkommnisse von Sprachmischung, insbesondere Code-Switching, bei denen die Gewährsleute spontan mehrere Wörter, Phrasen oder auch ganze Sätze auf Englisch verwenden. Dies sei hier exemplarisch an ein paar sog. „topic-related code switches“ (Myers- Scotton/ Jake 2000) gezeigt, in denen Gewährsleute bei bestimmten Themenbereichen in einem Satz vom Texasdeutschen (der sog. „Matrix Language“) zum Englischen (der sog. „Embedded Language“) wechseln. Diese Code-Switches finden wegen der sog. Sprachdomänen statt, für die sich die Sprechergemeinschaft auf eine bestimmte Sprachvarietät geeinigt hat (Tsunoda 2006). Wie die folgenden Beispiele zeigen, ist diese Embedded Language für die meisten Texasdeutschen in den Bereichen Technik, Militär und Schule das Englische. (4) And … weil ich mehr Schule hab, I went to A&M, to fireman’s training school … UH so the guys that do that, the ones that get the chief job and s- … The with the most training. […] And uh … It’s a four-year term. […] I will not be chief after January first anymore. Someone else will be. […] NO, no, no, no. Mir ham n telephone system. […] Ich, ich arbeit uhn uhn … either contact me by telephone or by pager. When [sic] we have a fire. Then, we go up there and take care of business. Wir hamm nicht viel Feuern. (1-54-1-7) (5) I was manager of Hill Country Community Press, we printed newspapers … […] Well off set printing … Angefangen hat they konnten alle die kleine newspapers … Wir konnten <?page no="188"?> Hans C. Boas 188 nich uhh … They couldn’t buy an off set press. So hammen die they formed a corporation. And uhh. That. We printed all the newspapers in the area. For einunddreißig Jahr hab ich das gedan. (1-55-1-16) (6) Un fer sechs Monat in Annavitak, wo se die Bomben geschossen ham. Un ich wusst - ich hab vergessen, ich war nur da … sechs Monat danach. Hoffentlich hat das mich nich affected (laugh). I didn’t realize it. […] They’d roll the damn thing up there, that Bikini Atoll. […] And Annavitak was the little island right next to it. […] But anyway that went good. I got a great suntan and got outta there in six months. (1-45-1-3) 6 Sprachgebrauch und -kompetenz 6.1 Allgemeines In den meisten Regionen von Texas, wo es noch Nachfahren deutscher Einwanderer gibt, sind diese größtenteils geographisch verstreut und haben sich an die einheimische englischsprachige Bevölkerung assimiliert und sprechen sowohl zu Hause als auch bei der Arbeit, mit Freunden, Bekannten, Nachbarn, im Geschäft usw. Englisch. Nur die älteste Generation in einigen sehr ländlichen Gebieten spricht teilweise zu Hause bzw. mit Freunden ihres Alters (wenn es noch solche in der Umgebung gibt) noch Texasdeutsch. Mitglieder der nächstjüngeren Generation haben häufig noch ein passives Verständnis des Texasdeutschen, können aber außer ein paar Wörtern oder Phrasen kein fließendes Texasdeutsch mehr sprechen. Ein weiteres Problem ist, dass viele der Texasdeutschen noch immer unter der Stigmatisierung des Deutschtums auf Grund der zwei Weltkriege leiden. Sie sind der Meinung, dass man seine deutsche Herkunft am besten verbergen oder doch zumindest nicht offen zur Schau stellen sollte. Diese negative Einstellung gegenüber ihrer Herkunft und ihrer Sprachvarietät hat ebenfalls zum Abstieg des Texasdeutschen beigetragen (Guion 1996, Boas 2005). 6.2 Einschätzung der Sprachkompetenz in den verschiedenen Varietäten Bis in die 1960er Jahre gab es noch einige Sprecher des Texasdeutschen, die einsprachig waren und kein oder nur ein paar Wörter Englisch sprachen. Die heute noch verbliebenen Sprecher des Texasdeutschen sind alle zweisprachig Deutsch-Englisch, einige wenige beherrschen außerdem Spanisch. Das Texasdeutsche ist ausschließlich eine gesprochene Varietät des Deutschen; wenn Texasdeutsche heute auch schreiben oder lesen können, dann findet dies auf Standarddeutsch statt, welches sie in der Schule bzw. der Universität gelernt haben. Die Datenerhebungen des TGDP zeigen, dass der Anteil der Texasdeutschen, die auch Standarddeutsch lesen und schreiben können, bei weniger als zehn Prozent liegt. Viele dieser Texasdeutschen sind sich auch der Unterschiede zwischen dem Standarddeutschen und dem Texasdeutschen bewusst, und sie können häufig auch zwischen den beiden Varietäten problemlos wechseln. 6.3 Sprachgebrauch: Domänen, Sprecherkonstellationen, Sprechertypen Bis in die frühen 1950er Jahre gab es noch Gottesdienste und Zeitungen auf Deutsch, auch stellten Geschäfte in einigen Gegenden von Zentraltexas bewusst Sprecher des Texasdeutschen als Verkäufer ein, um so die deutschsprachige Kundschaft zu bedienen. Heute hat das Texasdeutsche in der Öffentlichkeit keine Bedeutung mehr, es wird höchstens noch bei speziellen kulturellen Veranstaltungen, wie den Maifesten oder Oktoberfesten von einigen wenigen (älteren) Texasdeutschen gebraucht. In einigen Orten wie New Braunfels oder Fredericksburg wird das Deutsche zu kommerziellen Zwecken verwendet, so gibt es Straßenschilder, Geschäftsnamen und Werbetafeln mit deutschen Wörtern. Die Benutzung deutscher Wörter hat jedoch ausschließlich symbolischen Charakter, welche die Touristen von dem deutschen Einfluss in den Ortschaften überzeugen soll. Wenn man <?page no="189"?> 7. Texas 189 in die entsprechenden Geschäfte und Restaurants geht, merkt man schnell, dass niemand dort wirklich mehr Deutsch spricht. Die noch aktiven Domänen des Texasdeutschen lassen sich hauptsächlich im Privatleben der Texasdeutschen finden, wenn auch nur sehr eingeschränkt. So berichtet Boas (2009, S. 253), dass noch knapp ein Drittel der Texasdeutschen zu Anfang des 21. Jahrhunderts mit ihren Eltern immer auf Deutsch redeten. Der Anteil der Texasdeutschen, die heutzutage noch mit ihren Geschwistern bzw. ihren Ehepartnern immer auf Deutsch reden beträgt nur 3 Prozent. 20 Prozent der Befragten sprechen oft bzw. regelmäßig Deutsch mit ihren Geschwistern und Ehepartnern (Boas 2009, S. 256-257). Der Anteil der Sprecher, die heutzutage noch mit ihren Kindern immer Deutsch sprechen, liegt bei nur 3 Prozent (5 Prozent: oft; 3 Prozent: regelmäßig). Es gibt mehrere Gründe für die sehr eingeschränkte Benutzung des Texasdeutschen. Erstens haben viele Texasdeutsche nur noch sehr selten Gelegenheit, sich auf Deutsch zu unterhalten. Viele ihrer Deutsch sprechenden Familienmitglieder, Freunde und Nachbarn sind bereits verstorben. In den Kirchen und Vereinen gibt es nur noch sehr wenige Deutsch-Sprecher, und sobald Leute sich an einer Unterhaltung beteiligen wollen, die nicht Deutsch sprechen, wechselt die Unterhaltung zum Englischen. Zweitens haben viele Texasdeutsche noch immer eine negative Meinung bzgl. des Texasdeutschen. Sie denken noch immer, sie seien als deutschsprachige Texaner auf Grund der zwei Weltkriege und deren Auswirkungen diskriminiert. Außerdem glauben viele Texasdeutsche, dass ihre Varietät kein gutes Deutsch sei und dass man es deshalb nicht sprechen solle. Leider lassen sich keine verlässlichen Statistiken über die Sprechertypen aufstellen. Die vom TGDP aufgenommenen Sprecher sind eine in gewissem Maß selbst selegierte Gruppe, die sich bereit erklärt, sich auf Texasdeutsch zu unterhalten, damit diese Daten aufgenommen und archiviert werden können. Von den knapp 450 Sprechern, die bisher von 2001 bis 2014 aufgenommen worden sind, können zirka zwei Drittel noch fließend Texasdeutsch sprechen, ein Sechstel nur eingeschränkt und ein weiteres Sechstel fast gar nicht (diese Sprecher haben aber noch ein sehr gutes passives Verständnis des Texasdeutschen). In der Gruppe der Texasdeutschen, die noch fließend sprechen können, gibt es aber auch große Unterschiede. Einige der Sprecher haben zum Beispiel Schwierigkeiten, Wörter aus dem Englischen ins Texasdeutsche zu übersetzen. Andere Sprecher können sich nur über bestimmte Themen auf Texasdeutsch unterhalten. So hat zum Beispiel ein Sprecher viele Jahre lang als Bauingenieur gearbeitet. Als er davon berichtete, wie er in den 1960er Jahren dabei half, mehrere Autobahnen in Texas zu bauen, kamen alle Substantive und Verben aus dem Englischen, die Artikel, Adjektive und Adverbien kamen fast ausschließlich aus dem Deutschen (Satzbau und Aussprache waren auch deutsch). In einem anderen Fall versuchte ich, einen Texasdeutschen aufzunehmen, aber mehrere Versuche, ins Gespräch zu kommen schlugen fehl. Beim Einpacken meiner Aufnahmegeräte fragte ich dann nach seinen Plänen für das Wochenende, und er begann plötzlich auf Texasdeutsch von seinen Plänen für die Jagd mit seinem Bruder und Vater zu erzählen. Das anschließende Gespräch über das Thema Jagd ging über unterschiedliche Beschaffenheiten des Terrains, das Wetter, verschiedene Tier- und Munitionsarten sowie die Herstellung von Wurst aus den erlegten Hirschen. Dieser Sprecher ist seit seiner Kindheit mit seinem Bruder und Vater jeden Herbst auf Jagd gegangen, und während der Jagd haben die drei seit jeher ausschließlich Texasdeutsch gesprochen. Aber sonst hat der Sprecher in keinem anderen Bereich in seinem Leben regelmäßig Texasdeutsch gesprochen, was die domänenspezifische Beherrschung des Texasdeutschen erklärt. Ein weiterer Faktor für die zum Teil sehr eingeschränkte Beherrschung des Texasdeutschen ist der begrenzte Spracherwerb im Kindesalter. Einige der vom TGDP aufgenommenen Sprecher wuchsen in gemischten Ehen auf, in denen ein Elternteil Englisch und ein anderes Elternteil Deutsch sprach. Einige texasdeutschsprechende Eltern entschieden <?page no="190"?> Hans C. Boas 190 sich bewusst, ihre Kinder nur auf Englisch groß zu ziehen, um so eine mögliche Diskriminierung ihrer Kinder zu vermeiden. Andere Eltern wiederum zogen mit ihren Kindern aus den traditionell deutschsprachigen Gebieten in den Einzugsbereich von Großstädten, um dort Arbeit zu finden. Während man vorher noch von anderen deutschsprechenden Nachbarn umgeben war, mit denen man Texasdeutsch sprechen konnte, gab es in den neuen Wohngegenden keine anderen Leute mehr, mit denen man Texasdeutsch sprechen konnte, wie der folgende Interviewausschnitt belegt. (7) My unser erste Sohn, der konnt‚ bisschen sprechen, aber mir ham ses nicht gelernt weil mir haben in Buda gewohnt. Und da waren keine deutsche Kinder da, und wo wir jung waren, da hammir gar nicht daran gedacht. Das war. Mir ham nichts ... We might, wie ma sagt das war nicht so important. Jetzt bin ich mehr mir hätten ... Und die Kinder sagen immer, warum habt ihr uns nicht Deutsch gelernt? Wir waren jung, wir hammen uns jung verheiraten, hammen jung Kinder hatte. (1-34-1-22) 7 Spracheinstellungen Fast alle 450 Sprecher des Texasdeutschen, die bisher im Rahmen des TGDP interviewt worden sind, haben eine extrem positive Einstellungen gegenüber ihrer deutschen Herkunft und der deutschen Traditionen ihrer Vorfahren. Wenn es jedoch um die Spracheinstellung gegenüber dem Texasdeutschen geht, dann lässt sich eine eher gemischte Lage erkennen. So berichtet Boas (2009, S. 266-267), dass auf die Frage „Ich bin stolz darauf, ein Sprecher des Texasdeutschen zu sein“ 63 Prozent mit „ich stimme auf jeden Fall zu“ antworteten, 33 Prozent mit „ich stimme zu“ und 4 Prozent mit „ich weiß nicht“. Auf die Frage „Was trifft auf Sie zu? “ antworteten 65 Prozent mit „Texasdeutsch ist ein wichtiger Teil meiner Identität“, 33 Prozent mit „Texasdeutsch ist ein Teil meiner Identität“ und 1 Prozent mit „Texasdeutsch ist für meine Identität nicht wichtig“ (Boas 2009, S. 268). Diese Spracheinstellungen zeigen, dass die Mehrheit der Texasdeutschen eine überwiegend positive bis sehr positive Einstellung gegenüber ihrer Kultur und ihrer Varietät hat. Dies zeigt sich auch darin, dass die befragten Sprecher es gerne sähen, wenn ihre Kinder bzw. Enkelkinder auch Texasdeutsch sprechen würden. Auf die Frage „Wünschen Sie, dass Ihre Kinder Texasdeutsch sprechen könnten? “ antworteten 72 Prozent mit „ja“, 14 Prozent mit „nein“ und 14 Prozent mit „ich weiß nicht.“ Auf die Frage „Wünschen Sie, dass Ihre Enkelkinder Texasdeutsch sprechen könnten? “ antworteten 64 Prozent mit „ja“, 22 Prozent mit „nein“ und 14 Prozent mit „ich weiß nicht“. Die überwiegend positive Einstellung gegenüber dem Texasdeutschen spiegelt sich auch in der Antwort auf die Frage „Denken Sie, dass das Texasdeutsche erhalten werden sollte? “ wider. So antworteten 83 Prozent der Sprecher mit „ja“, 3 Prozent mit „nein“ und 14 Prozent mit „ich weiß nicht“ (Boas 2009, S. 271). Dieser durchweg positiven Einstellung steht jedoch das Bewusstsein gegenüber, dass es um die Zukunft des Texasdeutschen nicht gut bestellt ist. So antworteten auf die Frage „Denken Sie, dass das Texasdeutsche erhalten bleiben wird? “ nur 9 Prozent mit „ja“, während 32 Prozent mit „ich weiß nicht“ und 59 Prozent mit „nein“ antworteten (Boas 2009, S. 276). Diese Einstellung spiegelt sich auch in den Antworten auf Fragen zur Erhaltung des Texasdeutschen wider. Während andere bedrohte Sprachen oder Dialekte wie zum Beispiel das Walisische, das Katalanische oder das Friesische durch unterstützende Maßnahmen stabilisiert bzw. revitalisiert worden sind, scheinen parallele Maßnahmen zur Unterstützung des Texasdeutschen nicht von Interesse zu sein. So antworteten auf die Frage „Sollte Texasdeutsch in der Grundschule als Schulfach unterrichtet werden? “ nur 34 Prozent mit „ja“, 5 Prozent mit „ich weiß nicht“ und 61 Prozent mit „nein“. Ähnlich verhält es sich bei der Unterstützung des Texasdeutschen in der Öffentlichkeit. Auf die Frage „Sollte es ein reguläres Fernsehprogramm auf Texasdeutsch geben? “ antworteten 44 Prozent mit „ja“, 55 Prozent mit „ich weiß nicht“ und 21 Prozent mit „nein“. Auf die Frage „Sollten Straßen- <?page no="191"?> 7. Texas 191 schilder auch Informationen auf Texasdeutsch enthalten? “ antworteten 55 Prozent mit „nein“, 19 Prozent mit „ich weiß nicht“ und nur 26 Prozent mit „ja“ (Boas 2009, S. 276-277). Diese Daten zeigen, dass die Mehrzahl an Sprechern trotz positiver Einstellungen gegenüber dem Texasdeutschen Maßnahmen zur Unterstützung bzw. Erhaltung desselben nicht komplett unterstützt. Als mögliche Ursachen für diese Diskrepanz lassen sich hier die bereits oben erwähnte Stigmatisierung des Deutschtums in Texas nennen sowie die Tatsache, dass viele der Texasdeutschen es nicht mehr als realistisch betrachten, dass das Texasdeutsche wieder eine vitale Funktion im kulturellen Leben von Texas innehaben könnte. Dies rührt nicht nur von der seit den 1940er Jahren stetig schrumpfenden Zahl der Sprecher des Texasdeutschen her. Ein weiterer sehr wichtiger Faktor ist, dass die Anzahl der Spanisch-Sprecher in Texas seit der Mitte des 20. Jahrhunderts drastisch angestiegen ist. 8 Literatur Biesele, Rudolph (1930): The History of the German Settlements in Texas, 1831-1861. Austin: Von Boeckmann-Jones. Blanton, Carlos K. (2004): The strange career of bilingual education in Texas, 1836-1981. 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In: Rice University Studies 63, S. 47-58. <?page no="193"?> Lateinamerika 8 Peter Rosenberg <?page no="194"?> Inhalt 1 Deutschsprachige und deutschstämmige Bevölkerung in Lateinamerika: ein Überblick......195 1.1 Zur Geschichte der Auswanderung von Deutschsprachigen nach Lateinamerika.....195 1.2 Deutsch in den lateinamerikanischen Ländern heute ......................................................198 2 Historische Entwicklung und aktuelle Sprachsituation ...........................................................200 2.1 Argentinien ..............................................................................................................................201 2.1.1 Geschichtlicher Abriss ................................................................................................202 2.1.2 Sprachen und Varietäten, Sprachgebrauch und Sprachkompetenz ....................204 2.1.3 Rahmenbedingungen: Schulen, Verbände, Medien ...............................................205 2.2 Chile ..........................................................................................................................................206 2.2.1 Geschichtlicher Abriss ................................................................................................206 2.2.2 Sprachen und Varietäten, Sprachgebrauch und Sprachkompetenz ....................210 2.2.3 Rahmenbedingungen: Schulen, Verbände, Medien ...............................................211 2.3 Paraguay ...................................................................................................................................212 2.3.1 Geschichtlicher Abriss ................................................................................................212 2.3.2 Sprachen und Varietäten, Sprachgebrauch und Sprachkompetenz ....................214 2.3.3 Rahmenbedingungen: Schulen, Verbände, Medien ...............................................216 3 Deutschsprachige im multi-ethnischen Brasilien......................................................................217 3.1 Einwanderungsgeschichte: von der Sprachinsel zum Spracharchipel zum Sprachatoll? ..217 3.2 Sprachen und Varietäten, Sprachgebrauch und Sprachkompetenz...............................224 3.3 Rahmenbedingungen: Schulen, Verbände, Medien..........................................................234 3.4 Die Pomeranos im Bundesstaat Espírito Santo ................................................................235 3.4.1 Die Kooffizialisierung von Minderheitensprachen in Brasilien...........................235 3.4.2 Die pommerische Einwanderung im Bundesstaat Espírito Santo ......................236 3.4.3 Sprachrevitalisierung und Kooffizialisierung in Espírito Santo...........................237 3.4.4 Das Pomerano in Espírito Santo ...............................................................................239 4 Deutsche Sprachinseln in Lateinamerika im 21. Jhd.? .............................................................242 5 Literatur............................................................................................................................................244 6 Anhang .............................................................................................................................................252 6.1 Übersicht: Deutsch als Fremdsprache in den Ländern Lateinamerikas .......................252 6.2 Übersicht: Deutsch in den Ländern Lateinamerikas ........................................................254 6.3 Ortsnetzkarte ALMA-H........................................................................................................264 <?page no="195"?> 1 Deutschsprachige und deutschstämmige Bevölkerung in Lateinamerika: ein Überblick Etwa 1,8 Million Deutschsprachige leben nach verschiedenen Angaben in Lateinamerika (vgl. hierzu Abbildung 1 auf der folgenden Seite sowie die Tabelle 4 im Anhang, S. 253). Bevölkerungsgruppen deutscher Herkunft leben in fast allen Ländern Lateinamerikas, konkret in nahezu allen südamerikanischen und einigen mittelamerikanischen Staaten: in Argentinien, Belize, Bolivien, Brasilien, Chile, Ecuador, Kolumbien, Mexiko, Paraguay, Peru, Uruguay, Venezuela. Sie sind weitestgehend bilingual oder sprachlich assimiliert, das heißt monolingual in der jeweiligen Landessprache. In vielen Ländern wird Deutsch vornehmlich als Zweit- oder Fremdsprache institutionell erworben. Die Daten über die meisten deutschsprachigen oder deutschstämmigen Bevölkerungsgruppen sind allerdings schwer zugänglich, zum Teil veraltet 1 , so dass ein Überblick notwendig lückenhaft ausfällt. Die genannten Bevölkerungsgruppen weisen in ihren sprachlichen und ethnisch-kulturellen Charakteristika eine außerordentlich große Heterogenität auf: Unterschiede betreffen die Demographie dieser Gruppen, ihren Status in der Mehrheitsgesellschaft, ihre institutionelle Unterstützung, die tragenden Faktoren ihrer ethnischen Distinktivität - und nicht zuletzt die Frage, ob sie sich überhaupt als deutschsprachige oder eher als deutschstämmige Bevölkerungsgruppen oder als Bevölkerungen mit familiärem deutschen Hintergrund betrachten. Die deutsche Sprache kann dabei die Funktion der Alltagssprache (mitunter mit „kooffiziellem“ institutionellem Status), einer 1 Vgl. Born/ Dickgießer (1989), Rosenberg (1998/ 2002). 2 Deutschsprachige waren bereits zu Beginn der europäischen Kolonisation beteiligt. Berühmt ist Hans Stadens 1557 in Marburg erschienener Bericht Die wahrhaftige Historie der wilden, nackten, grimmigen Menschenfresser-Leute - 1548-1555 (Staden 1557/ 1984). Staden war im Kampf gegen aufständische „Indianer“ gefangengenommen worden, lebte längere Zeit unter angeblichen „Kannibalen“, die zur Tupi sprechenden Ethnie Identifikationssprache oder einer sogenannten heritage language einnehmen. Im Folgenden wird ein Überblick vor allem über deutschsprachige Bevölkerungsgruppen in Lateinamerika gegeben, der die Entwicklung und die gegenwärtige Situation dieser Gruppen skizzieren, den Forschungsstand - soweit zugänglich - sichten sowie eine Orientierung für weitere Forschungen geben soll: Zunächst wird die Verbreitung der Bevölkerung deutscher Herkunft bzw. deutschsprachiger Gruppen skizziert, anschließend soll näher auf die Sprachentwicklung, den Sprachgebrauch und seine soziolinguistischen Bedingungen in ausgewählten Ländern eingegangen werden, um schließlich deutschsprachige Gemeinschaften in Brasilien exemplarisch zu thematisieren. 1.1 Zur Geschichte der Auswanderung von Deutschsprachigen nach Lateinamerika Nachdem es in den vergangenen Jahrhunderten nur einzelne oder kleine Gruppen von deutschen Auswanderern nach Lateinamerika zog 2 , setzt im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts eine stärkere Auswanderungsbewegung ein. Die deutsche Amerika-Auswanderung (inklusive Nordamerika) schätzt man für das gesamte 18. Jahrhundert auf etwa 200.000 Menschen. Soviel emigrierten auf dem Auswanderungshöhepunkt der 1880er Jahre in einem Jahr. Das „Handbuch des Deutschtums im Ausland“ geht 1906 von zirka elf Millionen Menschen in Nord- und Südamerika aus, die noch über deutsche Sprachkenntnisse verfügten, davon etwa neun Millionen in den USA. Wenn auch über das ganze 19. Jahrhundert die USA das Hauptziel deutscher Emigranten der Tupinambá gehörten, deren Sprache als lingua geral der Verständigung mit vielen indigenen Völkern diente. Heute werden in Brasilien erstmals Anstrengungen unternommen, diese Sprachen, u.a. Nheengatu, im Rahmen einer Kooffizialisierung in ihrem Status zu heben (vgl. Moore/ Facundes/ Pires 1994, Noll 2014, Mader 2004, http: / / www.lateinamerika-studien. at/ content/ kultur/ ethnologie/ ethnologie-titel.html, Kap.: „Chronisten und Missionare“). <?page no="196"?> Peter Rosenberg 196 bleiben, gewinnt die Südamerika-Auswanderung jedoch zunehmend an Bedeutung, aus sehr verschiedenen - wirtschaftlichen und politischen - Motiven. Deutschsprachige Auswanderer sind in den südamerikanischen Einwanderungsländern geschätzt, die eine aktive Bevölkerungspolitik zum Aufbau des Landes nach der frisch errungenen Unabhängigkeit betreiben: Die meisten lateinamerikanischen Länder erlangten in den ersten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ihre staatliche Unabhängigkeit (Chile 1810, Paraguay 1811, Argentinien 1816, Brasilien 1822). Der Landesaufbau stützte sich in Argentinien und Brasilien auch auf eine aktive staatliche Werbungs- und Ansiedlungspolitik: „gobernar es poblar“, so der argentinische Politiker Juan B. Alberdi. Ähnlich wie Brasilien bot auch Argentinien den Einwanderern die Möglichkeit einer geschlossenen Ansiedlung. Damit wurden insbesondere solche Gruppen angezogen, die ein Motiv ihrer Einwanderung in der Bewahrung der deutschen Kultur und Sprache sahen. Hierin liegt ein bedeutender Unterschied etwa zur USA-Einwanderung, deren „Einschmelzung“ wesentlich rascher vonstattenging. 90 Prozent der deutschen Lateinamerika- Immigranten des 19. Jahrhunderts gehen in den „Cono Sur“, in die fünf Staaten Brasilien Abb. 1: Deutschsprachige Minderheiten in Lateinamerika: Anzahl von Deutschsprechern (Stand 1989) <?page no="197"?> 8. Lateinamerika 197 (Südbrasilien), Argentinien (Nordostargentinien), Paraguay, Uruguay und Chile (Südchile). Brasilien hat zunächst eine Vorreiterrolle. Im letzten Drittel des Jahrhunderts, nachdem von Seiten der preußischen Regierung mit dem „Heydtschen Reskript“ (1859) die Brasilien- Auswanderung erschwert wurde, tritt auch Argentinien verstärkt hinzu. In den 1880er und 1890er Jahren wächst die deutsche Emigration nach Lateinamerika und beträgt in einzelnen Jahren bis zu 30 Prozent der gesamten deutschen Auswanderung. Umgekehrt proportional zur Entwicklung der Nordamerika-Auswanderung, die seit 1893 mit dem Ende der freien Landnahme etwas zurückgeht und während des Ersten Weltkriegs starken Restriktionen unterliegt, erreicht die deutsche Lateinamerika-Emigration ihren Höhepunkt in der Zeit der Weimarer Republik. Zugleich lässt sich eine Diversifizierung der Auswanderungsziele feststellen. Während des Nationalsozialismus gelangen - bis zum Auswanderungsverbot 1941 3 - etwa 100.000 Juden aus Mitteleuropa nach Lateinamerika, unter ihnen ein großer Teil Deutschsprachiger, die sich zu 90 Prozent im „Cono Sur“ ansiedeln. Während noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts zirka 80 Prozent der jüdischen Bevölkerung in Europa lebt, hatte bis 1946 - nach Angaben des „Hilfsvereins deutschsprechender Juden“ (später „Asociación Filantrópica Israelita“) in Buenos Aires - deren Zahl auf etwa 25 Prozent abgenommen, der Anteil Nord- und Südamerikas war im gleichen Zeitraum auf über 50 Prozent gestiegen. Da andererseits einige südamerikanische Länder, vor allem Argentinien und Chile, nach dem Zweiten Weltkrieg führenden Nationalsozialisten Unterschlupf gewährten, kam es in der Nachkriegszeit zu Konfrontationen dieser beiden Gruppen innerhalb der deutschsprechenden Einwanderer. Die soziale Zusammensetzung der deutschen Einwanderer verschob sich im Laufe der Zeit: Die ursprünglich stark vertretene 3 Auswanderungsverbot vom 23.10.1941: „Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei hat angeordnet, daß die Auswanderung von Juden mit sofortiger „Elitenwanderung“ in die Städte, darunter nicht zuletzt die sogenannten „1848er“, geht in die „Siedlungswanderung“ und schließlich in die „Arbeitswanderung“ über (vgl. Bernecker/ Fischer 1992, S. 207ff.). Hier sind jedoch regionale Unterschiede festzustellen: In Brasilien dominiert frühzeitig die Siedlungswanderung, Argentinien wird stärker als andere Staaten von der Arbeitswanderung erfasst. Die Elitenwanderung spielte eine große Rolle in Chile, in Argentinien umfasst sie auch die Auswanderung jüdischer Flüchtlinge und politisch Verfolgter während der NS-Diktatur. Die meisten bisher deutschsprachigen Bevölkerungsgruppen Lateinamerikas verzeichnen - wie nahezu überall auf der Welt - einen Rückgang der deutschen Sprache. Ursache dieses Rückgangs ist meist die Integration der - ehemals oft abgeschieden lebenden - Gruppen in die Mehrheitsgesellschaft, eine der Modernisierung des Landes folgende Assimilation, mit der sich alle Einwanderergruppen konfrontiert sahen. Spezifische Gründe für den Sprachwechsel der Deutschen zur Mehrheitssprache lagen bei den meisten Gruppen im Statusverlust des Deutschen in der Folge des Zweiten Weltkrieges. Dies vereint die deutschstämmigen Bevölkerungsgruppen in Lateinamerika mit anderen deutschstämmigen Bevölkerungsgruppen, insbesondere in Ost- und Ostmitteleuropa: Die meisten Staaten, in denen Deutsche leben, sind Kriegsgegner Deutschlands gewesen - oder zumindest kurz vor Kriegsende noch geworden. Damit verbunden wurden die deutschen Minderheitenangehörigen von einer oft statushohen und prestigereichen Gruppe zu einer - zumindest phasenweise - subalternen Bevölkerungsgruppe. Für viele deutsche Minderheiten stellte dies die entscheidende Zäsur ihrer Entwicklung dar. In einigen südamerikanischen Ländern war überdies die Kriegs- und Nachkriegszeit eine Zeit der „Nationalisierung“ (etwa unter Getúlio Vargas in Brasilien). Dies führte oft zu einem beträchtlichen Assimilationsdruck auf alle Wirkung zu verhindern ist.“ (Reichssicherheitshauptamt 1941 nach: Rürup (Hrg.) (1989). <?page no="198"?> Peter Rosenberg 198 Einwanderergruppen. In anderen Ländern - wie in Chile - setzte während der Kriegszeit ein „Boom“ deutscher Vereine und Organisationen ein, der das Zugehörigkeitsbewusstsein zur deutschen Sprachgemeinschaft erhöhte und den Sprachwechsel vorübergehend noch einmal hinausschob. Die „Abrechnung“ mit dem Kriegsgegner Deutschland in der Nachkriegszeit, mit dem die Auslandsdeutschen berechtigt oder unberechtigt identifiziert wurden und die auch gelegentliche „Sprachverbote“ nach sich zog, leitete einen Niedergang deutscher Sprache und Kultur ein. Ein Rückgang der deutschen Sprache nach dem Zweiten Weltkrieg ist bei den Deutschen in Chile, in Argentinien, zum Teil auch in Brasilien dokumentiert. Hiervon ausgenommen blieben zunächst lediglich die abgeschieden siedelnden Gruppen in Brasilien, die noch für eine längere Zeit fast homogen unter sich lebten. Weitgehend „resistent“ gegen den äußeren sprachlichen Einfluss der Mehrheitssprache(n) blieben auch die Mennonitenkolonien vor allem in Paraguay, in Mexiko und Belize. Die Grundlage ihrer Gruppenidentität war stets weniger die ethnische Zugehörigkeit als die religiös und kulturell bedingte Eigenständigkeit, die sich in lokaler Selbstverwaltung, eigenen Kirchengemeinden, eigenen Schulen zeigte. So wenig diese Glaubensgemeinschaften „von dieser Welt“ sind, so wenig berührte sie die Statuspolitik des Staats. Mittlerweile ist allerdings auch in diesen Siedlungen eine gewisse Anpassung zu beobachten (vgl. Klassen 2000 und den Beitrrag von Siemens in diesem Band). 4 Ein Kennzeichen der Lage deutschstämmiger Gruppen in Lateinamerika ist - im deutli- 4 „Der Prozentsatz der Koloniebewohner, die auch im Erwachsenenalter zu keiner Gemeinde gehören, (wird) immer größer. In Fernheim (Paraguay, PR) sind es heute 21 %, in Witmarsum (Paraná, Brasilien) 25 %, in Colônia Nova (Bagé, Rio Grande do Sul, Brasilien) 26 %, in Curitiba (Hauptstadt von Paraná, Brasilien, PR) nahe an 50 %“ (Klassen 2000). Klassen unterteilt in Konservatives Mennonitentum am Beispiel Mexikos und Boliviens (und partiell auch in Belize), in Mennonitentum zwischen Isolation und Integration am Beispiel Paraguays und in chen Gegensatz zu den meisten Bevölkerungsgruppen in Osteuropa - die ständig aufrechterhaltene wirtschaftliche und sonstige Verbindung nach Deutschland. Diese beinhaltet eine stetige Konfrontation mit bundesdeutschen Arbeitsmigranten und Institutionenvertretern und führt auch umgekehrt Deutsche aus Brasilien, Chile oder Argentinien für einige Jahre zur Ausbildung nach Deutschland. Wenn dabei auch unterschiedliche „Deutschlandbilder“ sichtbar werden und miteinander in Konflikt geraten, so gehört dies dennoch zu einem „natürlichen“ Kontakt zwischen deutschstämmigen Bevölkerungsgruppen und der ehemaligen „Heimat“ - mit der Folge, dass die meisten Menschen deutscher Herkunfts- oder Gebrauchssprache sich als „deutsch“, aber nicht bundesdeutsch (bzw. früher reichsdeutsch) empfinden. 1.2 Deutsch in den lateinamerikanischen Ländern heute Eine statistische Übersicht über deutschsprachige und deutschstämmige Bevölkerung in den Ländern Lateinamerikas sieht sich dem Problem gegenübergestellt, dass die Anzahl Deutschsprachiger nahezu ausschließlich auf Schätzungen beruht, und wenn Zahlen vorliegen, diese auf älteren Zensusangaben beruhen (die oft genug selbst unsichere Quellen sind). Den verlässlichsten - jedoch veralteten - Stand gibt immer noch das 1989 vom Institut für deutsche Sprache im Auftrag des Auswärtigen Amtes herausgegebene Überblickswerk von Joachim Born und Sylvia Dickgießer: Deutschsprachige Minderheiten. Ein Überblick über den Stand der Forschung für 27 Länder. Neuere Daten sind wenig zuverlässig. 5 Zuverlässigere Integriertes Mennonitentum am Beispiel Brasiliens. Zu Belize vgl. Steffen (2006), Kaufmann (2009). 5 Dies gilt etwa für Ammon (2015), der für die Zahlenangaben in einer Übersichtstabelle den Durchschnitt aus Born/ Dickgießer 1989, Ethnologue und Wikipedia bildet (vgl. Ammon 2015, S. 172, Tab. C.1-2). Dies ist angesichts der schwierigen Datenlage nicht ernsthaft zu kritisieren, die Angaben werden jedoch auch bei Konzilianz nicht zuverlässiger, zumal Ethnologue- <?page no="199"?> 8. Lateinamerika 199 neuere Angaben beziehen sich zumeist auf Deutschlerner, die im institutionellen Rahmen deutscher Auslandsschulen oder der sogenannten PASCH-Schulen sowie in Erwachsenenbildungseinrichtungen Deutsch als Zweit- oder Fremdsprache lernen. Dieser Umstand spiegelt bis zu einem gewissen Grade die Entwicklung des Deutschen von der Minderheitenzur Zweit- oder Fremdsprache wider, die außerhalb der „Kernzonen“ deutschsprachiger Minderheiten (wie der Hunsrücker in Rio Grande do Sul, Brasilien, oder der Mennonitenkolonien im Chaco Paraguays) stattgefunden hat. Wenn wir im Folgenden ebenfalls auf solche neueren Quellen zurückgreifen, ist dies nicht nur der statistischen Not geschuldet, sondern reflektiert auch die diffundierende Abgrenzung zwischen deutschen Sprachinseln und DaF-Lernern - in einer Zeit, in der in den meisten Gebieten deutscher Einwanderung der Anteil der Lerner des Deutschen als Zweit- oder Fremdsprache gegenüber dem der Muttersprachler überwiegt. Oft ist dies nur eine Frage der Generation. In der Übersichtstabelle 3 (im Anhang, S. 251) sind die ermittelten Daten zusammengestellt. Diese beruhen auf Born/ Dickgießer (1989), auf Angaben des Auswärtigen Amtes, der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen (ZfA), des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) sowie Rosenberg (1998/ 2002), mit Bezug auf Deutsch als Fremdsprache auf einer Datenerhebung 2015 des Auswärtigen Amtes (in Kooperation mit dem Goethe-Institut, der ZfA und dem DAAD). Daten häufig eher dem Wunsch nach Minderheitenschutz als realistischen Einschätzungen entsprechen: Für Belize zum Beispiel nimmt Ammon (2015, S. 172) „36.000 Mutter- und Zweitsprachler“ an, was sich aus dem Durchschnitt aus Born/ Dickgießer 1989: 3.000 und Ethnologue: 69.000 errechnet. Das Auswärtige Amt zählt für die Mennonitensiedlungen in Belize angesichts der Zuwanderung aus Kanada und Mexiko „ursprünglich 3.500, jetzt rund 10.000 Personen“ (Auswärtiges Amt, 12.4.2016: Länderinfos Belize). Ammon (2015, S. 173) schätzt die eigenen Angaben selbst als „wahrscheinlich zu hoch, gelegentlich viel- In den meisten Ländern hat die Zahl der Deutschsprecher im Laufe der vergangenen 20 Jahre im Zuge der sprachlichen Assimilation, der Mobilität (oft vom Land in die Städte) und der Landesmodernisierung abgenommen. Die Länder Südamerikas, in denen sich Deutschsprachige in größerer Zahl konzentrieren, sind Brasilien, Argentinien, Paraguay und Chile. Die Publikation des Auswärtigen Amtes Deutsch als Fremdsprache weltweit. Datenerhebung 2015 gibt für die CELAC-Staaten (Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten) 350.000 DaF-Lerner an (Auswärtiges Amt 2015, S. 6). Auf seiner Webseite stellt das Auswärtige Amt (Stand 30.1.2018) fest: „Auch wenn Englisch unangefochten erste Fremdsprache in Lateinamerika ist, besteht doch - auch aufgrund vieler Deutschstämmiger - eine hohe Bereitschaft, kulturelle Angebote aus dem europäischen Raum anzunehmen. Dadurch erklärt sich auch eine vergleichsweise gute Position für die deutsche Sprache.“ 6 2008 wurde vom Auswärtigen Amt die Initiative Schulen: Partner der Zukunft (PASCH) ins Leben gerufen: „Mit dieser außenkulturpolitischen Initiative soll bei jungen Menschen nachhaltiges Interesse und Begeisterung für das moderne Deutschland und die deutsche Sprache geweckt werden.“ Das Partnerschulnetz umfasst in Lateinamerika nach PASCH-Angaben (2018) 165 Schulen, darunter 28 Deutsche Auslandsschulen (DAS, von der ZfA betreut), 82 Sprachdiplomschulen (nationale DSD-Schulen, von der ZfA beleicht sogar viel zu hoch“ ein. Die Mennonitische Weltkonferenz gibt 2003 für ganz Lateinamerika 133.000 Mennoniten an (von Nord nach Süd: Mexiko 19.688, Belize 3.575, Guatemala 6.673, Honduras 20.716, El Salvador 535, Nicaragua 9.275, Costa Rica 2.719, Panama 750, Venezuela 704, Kolumbien 2.910, Ecuador 810, Peru 515, Brasilien 8.262, Bolivien 13.275, Paraguay 27.693, Uruguay 1.220, Argentinien 4.448). 6 Auswärtiges Amt: https: / / www.auswaertiges-amt. de/ de/ aussenpolitik/ regionaleschwerpunkte/ lateiname rika/ bildung/ 201474 (29.1.2018). <?page no="200"?> Peter Rosenberg 200 treut) und 55 Schulen, an denen Deutschunterricht auf- oder ausgebaut wird (nationale FIT-Schulen, vom Goethe-Institut betreut). 7 Zur Beteiligung deutschstämmiger Schüler führt das Auswärtige Amt aus: „Aufgrund der deutschstämmigen Bevölkerungsstruktur ist Deutsch im Schulsystem lediglich im südlichen Lateinamerika (Argentinien, Chile, Paraguay, Südbrasilien) zahlenmäßig relevant vertreten.“ 8 Über die Deutschen Auslandsschulen heißt es, dass sie - ursprünglich von deutschen Auswanderern gegründet - heute zu „großen Begegnungsschulen“ 9 mit einer Schülerschaft weitgehend ohne deutschen Familienhintergrund geworden. Diese Schulen gelten als Schulen mit hoher Reputation und erfreuen sich ihrer Beliebtheit bei Bildungsinteressierten unabhängig von einer deutschen familiären Herkunft. In Lateinamerika sind 15 Goethe-Institute tätig, die Sprachunterricht und Fortbildungsmaßnahmen für Deutschlehrer anbieten, sowie 5 Goethe-Zentren. Zur Sprachförderung ist darüber hinaus die Tätigkeit der 36 DAAD- Lektorate (2014/ 15) zu zählen, unterstützt durch 45 Ortslektoren. Der DAAD unterhält Außenstellen in Rio de Janeiro und Mexico- City, Informationszentren in San José, Bogotá, Lima, Santiago de Chile, S-o Paulo und Buenos Aires. Es gibt in Lateinamerika rund 345 Hochschulen, die Deutsch als Fremdsprache und/ oder Germanistik als Studienfach anbieten. Diese Hochschulen verzeichnen insgesamt rund 2.500 Studierende der Germanistik und rund 41.000 Studenten, die Deutsch studienbegleitend lernen. Außerdem bestehen einige Institutspartnerschaften deutscher Universitäten mit Universitäten in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern. Über die Lernerzahlen des Deutschen als Fremdsprache sowie ihre Entwicklung (seit 7 Angaben nach http: / / www.pasch-net.de, http: / / weltkarte.pasch-net.de/ (31.1.2018). Das ZfA-Auslandsschulverzeichnis listet 36 Deusche Auslandschulen (Stand 1/ 2018; http: / / www.bva.bund.de/ DE/ Organisation/ Abteilungen/ Abteilung_ZfA/ Auslands schularbeit/ Schulen_im_Ausland/ Deutsche_Auslands schulen/ Auslandsschulverzeichnis/ Schulverzeichnis/ Auslandsschulverzeichnis.pdf, 31.1.2018). 8 Ebd. 2010) gibt die Tabelle 3 im Anhang (S. 251). Die Deutsche Welle bestätigt den Befund: „Lateinamerika ist eine der Kernregionen der DW“ (DW 2013, S. 247). Die Erfolge (zum Beispiel zwischen 2 und 7 Prozent Reichweite in der Zielgruppe der Informationssuchenden sowie online zwischen 0,7 und 1,7 Millionen Aufrufen pro Monat) verdanken sich allerdings einer thematischen „Regionalisierung“ und der Umstellung auf die spanische bzw. portugiesische (und englische) Sprache: Für das spanischsprachige Lateinamerika wird 20 Stunden TV-Programm auf Spanisch und in den verbleibenden 4 Nachtstunden auf Deutsch gesendet (DW 2013, S. 236, 238). Im Ergebnis zeigen die Deutschsprecherzahlen - unterschieden nach Muttersprachlern und Fremd- oder Zweitsprachlern gegenläufige Tendenzen: Während die Anzahl der Muttersprachler des Deutschen in den Einwanderer-Sprachinseln zurückgeht, bleibt die Zahl der DaF-Lerner weitgehend stabil. In einigen Fällen lässt sich aufgrund der Aktivitäten des Auswärtigen Amts, der ZfA, des DAAD und des Goethe-Instituts eine gewisse Steigerung der Deutschlernerzahlen feststellen, allerdings ist dies ein Zuwachs auf niedrigem Niveau angesichts der langen Fremdsprachenabstinenz in den Schulen der beteiligten Länder - und er liegt weit und zunehmend weiter hinter dem der Englischlerner. 2 Historische Entwicklung und aktuelle Sprachsituation Die Hauptansiedlungsländer deutschsprachiger Bevölkerungsgruppen sind Argentinien, Brasilien, Chile und Paraguay. Diese Länder zeigen einige deutliche demographische Unterschiede, die auch die Minderheitensituation 10 der Deutschsprachigen nicht unberührt 9 Ebd. 10 Minderheiten sind die deutschen Einwanderer in einigen Ländern nicht mehr durchweg, weshalb mit dem Begriff vorsichtig umgegangen werden soll: Nach der international üblichen Definition von Francesco Capotorti (1979) erfüllt eine Minderheit die folgenden <?page no="201"?> 8. Lateinamerika 201 lassen: Brasilien und Argentinien sind große Flächenstaaten, die der Besiedlung der Immigranten weite Flächen boten. Die Bevölkerungsdichte ist in allen genannten Ländern zwar landesweit ähnlich gering (Brasilien mit 23 Einwohnern/ km², Chile mit 22, Argentinien mit 16 und Paraguay mit 17, Angaben von 2014), aber die regionalen Werte der deutschen Siedlungsgebiete unterscheiden sich stark: Die von Wolgadeutschen besiedelte Provinz Buenos Aires zum Beispiel ist weitaus dichter besiedelt als etwa der Chaco im Norden Paraguays (mit unter 10 Einwohnern/ km²). Hinsichtlich der Bevölkerungsstruktur versteht sich Argentinien im hegemonialen Diskurs als ein „weißes Land“ (mit einer „europäischen“ Bevölkerung von 85 Prozent, darunter ein hoher Anteil Italiener). Brasilien ist ein multiethnisches Land und sieht sich auch als solches. Es zählt nach der neuesten Katalogisierung für das „Nationale Inventar der brasilianischen Sprachenvielfalt (INDL)“ zirka 230 Sprachen. 11 Mit einem Bevölkerungsanteil der „Weißen“ und der Bevölkerung, die von europäischen Einwanderern und indigenen Bevölkerungsgruppen abstammt („Mestizen“), von zusammen nur 65 Prozent unterscheidet es sich fundamental von den anderen hier behandelten Staaten, Merkmale: (1) numerische Unterlegenheit im Vergleich zur Gesamtbevölkerung; (2) nicht-dominante Stellung im Staat; (3) ethnische, religiöse oder sprachliche Gemeinsamkeiten (auch in der Binnensicht); (4) Staatsangehörigkeit des Aufenthaltsstaates. Offensichtlich erweist sich das dritte Merkmal als das entscheidende, das auch der Kennzeichnung der Vitalität von Sprachminderheiten bei Giles et al. (1977) als distinctiveness entspricht. Barth (1969) weist auf die entscheidende Konstruktion des boundary marking hin, die er in Barth (1994) als erfahrungsbasiert und kulturell evaluiert präzisiert. Pfaff-Czarnecka (2011) sieht - statt durch ethnische “Identität“ - Minderheitengruppen besser durch ihre multiplen Zugehörigkeiten (belongings) gekennzeichnet, die durch commonality (Gemeinsamkeit der Mitglieder), mutuality (Wechselseitigkeit der Beziehungen) und attachment (Zugangsberechtigung und emotionale Bindung) entstünden. In der in vielen lateinamerikanischen Ländern gegebenen Situation, in der die Gruppengrenzen - u.a. durch sprachliche Assimilation - diffus werden, fällt eine zentrale Ressource des ethnischen boundary markings aus, Zugewenngleich sich dies weniger auf den brasilianischen Süden bezieht. In Chile und Paraguay beträgt der Anteil von „Mestizen“ 92 bzw. 91 Prozent, jedoch ist landesweit das indigene Element in Paraguay sehr viel bedeutender, was sich auch im Status des Guaraní als zweiter Landessprache ausdrückt, während sich in Chile die indigene Bevölkerung (zum Beispiel der Mapuche) vor allem im Süden konzentrierte, der lange aufgrund der gewaltigen Nord-Süd-Erstreckung des Landes vom Norden abgeschnitten war und dessen „Aufsiedelung“ (mit anschließender Marginalisierung der indigenen Bevölkerung) auch eine Folge der europäischen Immigration war. In Folgenden wird auf Argentinien, Chile und Paraguay mit Blick auf die Geschichte und Gegenwart im Einzelnen eingegangen. Daten - soweit verfügbar - zu den anderen Ländern Lateinamerikas finden sich in Tabelle 4 im Anhang (S. 253). Der vitalsten und komplexesten Sprachsituation in Brasilien wird ein eigenes Kapitel (Kap. 3) gewidmet. 2.1 Argentinien In Argentinien leben nach Schätzungen etwa 200.000 Deutschsprachige unter etwa einer Million Deutschstämmiger 12 , davon 50.000 deutsche Staatsangehörige, darunter 30.000 hörigkeiten verlieren ihr ethnisches Framing, die ehemalige Minderheitengruppe büßt ihre Distinktivität ein und hört u.a. auf, eine eigenständige „Minderheit“ zu sein (vgl. Brubaker 2007), zumindest was die sprachliche Fundierung betrifft. Im Unterschied dazu stehen die ethnische Kernregionen deutscher Einwanderung - wie etwa die Hunsrücker-Gemeinschaften in Rio Grande do Sul oder der Pommern in Espirito Santo im Süden von Brasilien oder auch die Wolgadeutschen in Coronel Suárez in der Provincia de Buenos Aires - und natürlich die Mennonitenkolonien in Paraguay, Mexiko, Belize. 11 Differenzen zu Baranows (1988, S. 1266) Schätzung von 120 Sprachen haben zum Teil mit der unterschiedlichen Zählung von Varietäten als Sprachen zu tun, wenn etwa Pomerano, Hunsrückisch, Deutsch („Alem-o“) als drei (kooffizialisierte) Sprachen aufgenommen werden. Ähnlich verfährt bekanntlich auch Ethnologue. 12 Die Argentinische Botschaft in der Bundesrepublik spricht von 2,8 Millionen „germanischer“ Herkunft (also einschließlich österreichischer und Schweizer Herkunft). <?page no="202"?> Peter Rosenberg 202 Doppelstaater (Auswärtiges Amt Mai 2016). Damit ist Argentinien eines der Länder mit der größten Anzahl von Deutschsprachigen, in Lateinamerika an zweiter Stelle hinter Brasilien. Regionale Siedlungsschwerpunkte sind die Provinzen Entre Ríos und Buenos Aires (mit jeweils etwa 50.000 bis 60.000 Deutschsprachigen) sowie Misiones und in geringerer Anzahl der Chaco und die Pampa. In der Stadt Buenos Aires (mit vor dem Krieg noch zirka 45.000 Deutschsprachigen) haben sich die Deutschen inzwischen sprachlich weitgehend assimiliert, auch die ehemaligen Sprecher des „Belgrano-Deutschen“, einer städtischen deutschsprachigen Varietät (im Stadtteil Belgrano in Buenos Aires, in dem Angehörige der oberen Mittelschicht mit deutschem Hintergrund lebten) mit starken spanischen Interferenzen. Die Zuwanderung von etwa 35.000 bis 45.000 deutschsprachigen Juden führte diese ebenfalls zum großen Teil nach Buenos Aires. 2.1.1 Geschichtlicher Abriss Russlanddeutsche aus dem Wolga- und Schwarzmeergebiet wanderten seit 1877/ 78 ein, in einer Zeit, in der in Russland die ehemals autarke Stellung der ausländischen Kolonisten eingeschränkt wird. Die Aufrechterhaltung ihrer kulturellen (und sprachlichen) Eigenständigkeit gehört zu den Motiven ihrer Auswanderung nach Südamerika. Die Sprachvarietäten, die sie - abgesehen von gewissen Russischkenntnissen - in die neue Heimat mitnehmen, sind wolgadeutsche Varietäten, die zum Großteil westmitteldeutsche (rheinfränkische und zentralhessische) dialektale Merkmale tragen, sowie schwarzmeerdeutsche Varietäten, unter denen süd- und rheinfränkische Merkmale dominieren. Kennzeichen der Sprachentwicklung in Russland ist aber zu diesem Zeitpunkt noch eine außerordentliche Vielfalt dialektaler Varietäten. Die hochdeutsche Standardsprache war nur bei den höheren sozialen Schichten verbreitet. Arnd Schmidt (1997) beschreibt die ersten wolgadeutschen Einwanderer, die zu einem Teil direkt aus Russland nach Argentinien kamen, zu einem anderen Teil jedoch ursprünglich nach Brasilien zu übersiedeln gedachten. Sie stellen eine überwiegend ländliche Bevölkerung dar, die - zu dieser Zeit noch abgeschiedene - Kolonien anlegt. Anfangs ist reichlich Land vorhanden, erst später müssen sich wolgadeutsche Einwanderer als Arbeitskräfte bei anderen Deutschen verdingen, wodurch soziale Kontraste entstehen, die sich noch heute im Straßenbild der Kolonien bei Coronel Suárez widerspiegeln: In der „Vordergasse“ stehen teilweise prächtige Häuser, im „Mandschurei-Gässchen“ strohgedeckte Lehmsteinhäuser. Unter den Deutschen in Argentinien war allerdings - gegenüber den noch stärker landwirtschaftlich geprägten deutschen Kolonien in Brasilien etwa - ein höherer Anteil von Einwanderern mit kaufmännischen und gewerblichen Berufen festzustellen, die sich in Buenos Aires und in Landstädten der Provinz niederließen. Die spätere sprachliche Assimilierung erfasste zunächst eben diese Mittelschicht, die an dem steilen wirtschaftlichen Aufstieg Argentiniens in der Zwischenkriegszeit partizipierte. Die in den eigenständigen kompakten Kolonien gesprochenen deutschen dialektalen Varietäten bleiben davon jedoch weitgehend unberührt. Der Zustrom weiterer Einwanderer ließ auch in der Folge des Ersten Weltkriegs nicht nach. Im Gegensatz zu Brasilien, das Deutschland 1917 den Krieg erklärte, und zu Ecuador, Peru, Bolivien und Uruguay, die die diplomatischen Beziehungen zu Deutschland abbrachen, wuchs die Zahl deutscher Immigranten kontinuierlich weiter. Ein Einbruch in der Bewertung des Sprachprestiges des Deutschen, der für die USA wie auch für Brasilien festzustellen ist, ist in Argentinien zunächst nicht zu beobachten. Das Deutsche bleibt eine prestigereiche, statushohe Einwanderersprache. In den 1930er Jahren ändern sich die Bedingungen: Bereits vor der Machtergreifung Hitlers war es zur Gründung von NS-Gruppen in mehreren lateinamerikanischen Ländern gekommen, so u.a. 1929 in Paraguay, 1931 in Brasilien, Chile, Mexiko und Argentinien. Ihre unverhohlene Propaganda für die <?page no="203"?> 8. Lateinamerika 203 Ziele des Nationalsozialismus führte innerhalb der deutschsprachigen Bevölkerung Argentiniens zu einer tiefgehenden Spaltung. Das Argentinische Tageblatt bezog für die Weimarer Republik Stellung, während sich Konservative und Monarchisten um die Deutsche La-Plata-Zeitung sammelten, die - wie die meisten deutschen Vereine - im Rahmen der NS- Gleichschaltungspolitik von der NSDAP- Auslandsorganisation vereinnahmt wurde. Nach Boykottaufforderungen von Seiten der deutschen Gesandtschaft Buenos Aires wurde das Argentinische Tageblatt 1933 von der NS- Reichsregierung für Deutschland verboten. Mit Unterstützung der Verlegerfamilie Alemann wurde 1934 die Pestalozzi-Schule als Gegenpol zu der zunehmend unter NS- Einfluss geratenen Goethe-Schule gegründet. Die Aktivitäten der NS-Auslandsorganisation stießen auf heftige Kritik seitens der argentinischen Regierung und führten 1939 zu einem Dekret, demzufolge es allen ausländischen Vereinigungen untersagt war, sich politisch zu betätigen. Dies rief selbst beim deutschen Auswärtigen Amt Beunruhigung hervor, legte man doch großen Wert darauf, dass Argentinien „dem Druck Nordamerikas und Englands nicht nachgeben, also im Ernstfall nicht auf der Seite unserer Gegner stehen“ dürfe (aus einer Rede Ribbentropps 1939; vgl. Bergmann 1994, S. 52). Dies war umso bedeutender, als Brasilien im Verlauf der Politik des „Estado Novo“ unter Getúlio Vargas bereits in Gegensatz zur NS-Politik gerückt war. Ein Aufruf zur Mäßigung an die NS-Landesgruppe in Argentinien und eine Umstrukturierung der Auslandsorganisation waren die 13 Unter den Mennoniten in Paraguay führten die Aktivitäten des nationalsozialistisch gleichgeschalteten „Deutschen Volksbundes für Paraguay“ (DVP) zu einer tiefen Spaltung, die in dem Beitritt des 1937 gegründeten „Bundes Deutscher Mennoniten in Paraguay“ (BDMP) zum DVP ihren Ausdruck fand. Die Nationalsozialisten nutzten die wirtschaftlichen Schwierigkeiten in einigen mennonitischen Kolonien, die zum Beispiel zur Abwanderung eines Drittels der Einwohner von Fernheim in die Tochterkolonie Friesland führten, sowie die Unzufriedenheit der Jugend für Folge. Der Anteil von NSDAP-Parteimitgliedern an der Zahl deutscher Staatsbürger betrug 1939 nicht mehr als 2,4 Prozent in Argentinien, 3,3 Prozent in Brasilien, in Chile allerdings 11,1 Prozent. 13 In der Zeit des Nationalsozialismus sind zwischen 35.000 und 45.000 deutschsprachige Juden und andere (politische) Flüchtlinge nach Argentinien emigriert, bis - ähnlich wie in Brasilien - 1938 zunehmende Restriktionen die Einwanderung erschwerten (und schließlich von Deutschland unmöglich gemacht wurden). Bis heute existieren große jüdische Gemeinden in Argentinien und Brasilien (sowie kleinere in Uruguay, Chile und Paraguay), die zunächst sehr viel stärker am Deutschen festhielten als etwa die jüdischen Immigranten in den USA. 14 Es gab jüdische Tanzgruppen, vier jüdische Theater, eine jüdische Schule, die noch lange deutschen Sprachunterricht erteilte. 500.000 jüdische Immigranten lebten auf dem Höhepunkt in Argentinien, davon 350.000 in Buenos Aires, knapp 100.000 von ihnen im Stadtteil Once. Heute schätzt man ihre Zahl (nach einer größeren Ausreisewelle im Anschluss an die Bombenanschläge von 1992/ 1994) auf 150.000. Im Laufe der Zeit aber gingen die jüdischen Immigranten großenteils zum Spanischen (bzw. in Brasilien zum Portugiesischen) über. Heute lässt sich in Buenos Aires eine Spaltung zwischen „orthodoxen“ Gemeinden (mit etwa 30.000 Mitgliedern) und anderen Gemeinden, in denen nur Spanisch gesprochen wird, beobachten. In der Nachkriegszeit bot Argentinien führenden Nationalsozialisten Unterschlupf, unter ihnen Eichmann, Mengele, Schwammberger. Argentinien, ähnlich wie auch Chile, ihre Ziele aus. Überlegungen von einigen, die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen, lösten aufgrund des hiermit verbundenen Wehrdienstes heftigen Streit aus, der 1944 in offene (handgreifliche) Auseinandersetzungen mündete und mit dem Verweis der beiden führenden NS-Organisatoren aus den Kolonien endete (Bergmann 1994, S. 89ff.). 14 Auch im Süden Brasiliens, etwa in Porto Alegre, Rio Grande do Sul, wurde unter der jüdischen Bevölkerung bis in die 1960er Jahre noch Deutsch und Jiddisch gesprochen. <?page no="204"?> Peter Rosenberg 204 wurde in der Nachkriegszeit Schauplatz einer gespenstischen Konfrontation zwischen Opfern und Tätern, innerhalb der gleichen deutschsprachigen „Gemeinschaft“, an den gleichen Orten, zum Teil in den gleichen Institutionen. Um das Argentinische Tageblatt auf der einen Seite und die Deutsche La-Plata-Zeitung auf der anderen scharten sich die jeweiligen Lager. Die Deutsche La Plata Zeitung wurde 1944 verboten, aber bereits 1945 als Freie Presse neugegründet (bis 1977). Argentinien hatte noch im März 1945 - auf Druck der USA - Deutschland den Krieg erklärt, Paraguay im Februar 1945, Brasilien bereits 1942 (Chile hatte 1943 die Beziehungen zu Deutschland abgebrochen). Damit verbunden war die Konfiszierung deutschen Eigentums, einschließlich des Vermögens der deutschen Vereine. So blieben in Argentinien von ehemals 22 Schulen mit deutscher Unterrichtssprache bzw. Sprachunterricht nur drei bestehen. Während seiner ersten Amtszeit verfolgte Juan Perón (1946-55) eine deutliche Politik der „Nationalisierung“, die auch eine sprachliche „Hispanisierung“ dieser Bevölkerungsgruppen nach sich zog. Erst ab den 1950er Jahren beginnt der Wiederaufbau von Bildungseinrichtungen und Kulturvereinigungen. 2.1.2 Sprachen und Varietäten, Sprachgebrauch und Sprachkompetenz Die Deutschsprachigen sind heute zu fast 100 Prozent bilingual. Während die Assimilation in den Städten weitgehend vollzogen ist, wird auf dem Lande jedoch häufig noch eine deutsche dialektale (zum Beispiel wolgadeutsche) Varietät gesprochen, insbesondere in den nicht-öffentlichen Sprachdomänen. Deutschkenntnisse sind jedoch heute auch in den ländlichen Kolonien bei der jüngeren Generation rapide zurückgegangen. Da andererseits die hochdeutsche Standardsprache primärsprachlich nicht vorhanden ist, richten sich in einigen Kolonien Bemühungen darauf, den Wiedererwerb des Deutschen auf die wolgadeutsche Varietät zu stützen. Diese hat sich im Laufe der einhundertjährigen Geschichte der Sprachinseln in Argentinien zu einer spezifischen argentiniendeutschen Varietät entwickelt, die zahlreiche spanische (und alte russische) Entlehnungen umfasst. Sie ist zumindest bei der mittleren und älteren Generation Trägerin einer einzigartigen ethnisch-kulturellen Identität der Siedler und Ausdruck ihrer „doppelten Emigration vom Rhein zur Wolga und von der Wolga zum Río de la Plata“ (Schmidt 1996, S. 5f.). Wie die Sprache ist auch die Kultur dieser Gruppe deutsch-argentinisch-russisch, wie sich in Formen des Hausbaus, in Speisen und Liedern und vielem anderen zeigt. In den drei Kolonien Pueblo Santa Trinidad, Pueblo San José und Pueblo Santa María bei Coronel Suárez (Provinz Buenos Aires), die 1887 von wolgadeutschen Einwanderern gegründet worden sind, wurde 1994 ein hochinteressantes Modellprojekt „Deutscher Schulunterricht im Dialekt“ von Arnd Schmidt initiiert: Da die deutsche Sprache fast ausschließlich durch die wolgadeutsche Varietät vertreten wird, diese aber primärsprachlich bei der jüngsten Generation zurückgeht, wurde in fünf Grundschulen vom letzten Kindergartenjahr bis zum 9. Schuljahr ein- oder zweimal in der Woche durch vier wolgadeutsche Lehrerinnen dialektaler Deutschunterricht erteilt. Ab dem 6. Schuljahr wurde zusätzlich die hochdeutsche Standardsprache unterrichtet. Hierfür wurden eigens Unterrichtsmaterialien erstellt. Die Initiative wird finanziell und organisatorisch getragen von einer privaten Stiftung „Fundación Konie 2000“ („Stiftung Kolonie 2000“). Honoratioren der Kolonie gehören zum Trägerkreis. Die Stiftung ist darüber hinaus auch damit befasst, über die Geschichte, Architektur, Musik und die kulturellen Gebräuche zu arbeiten, Dokumentationen zu publizieren und die Präsenz der wolgadeutschen Kultur in der Region zu fördern. Dabei kommt ihr der Umstand zugute, dass die Deutschsprachigen in der Region ein hohes Prestige haben und zum Teil in leitenden Stellungen in der Industrie tätig sind. Die wolgadeutsche Varietät wurde verschriftet, um den Kindern eine visuelle Stütze zu geben und der unterrichteten Sprache das <?page no="205"?> 8. Lateinamerika 205 „gleiche Prestige“ wie dem Spanischen zu verleihen (Schmidt 1996, S. 5). Dabei wurde die Varietät im Wesentlichen als mündliche Sprachbasis erhalten und keine aktive Schriftlichkeit im Dialekt angestrebt, auch um Konfusion mit der Standardsprache zu vermeiden. Die Verschriftung wurde - konsequent - nach spanischen Orthographienormen vorgenommen: „Trink, trink, priderlain trink. Lass doj di Sorguen tzú Haus.“ Angesichts des fragilen Zustands der Sprachinsel schien dies eine sinnvolle Überlegung zu sein, die einzig vorhandene Varietät des Deutschen zu nutzen, „um der Gefahr einer folgerichtigen Entwicklung von aktueller Zweisprachigkeit und Bi-Kultur zu erneuter, dann aber spanischer Einsprachigkeit, dem Verlust der wolgadeutschen Mundart und der damit verbundenen Auflösung der Sprachinsel entgegenzuwirken“ (Schmidt 1996, S. 4f.). Bereits in den drei Kolonien, die als „Erst-, Zweit- und Drittkolonie“ bezeichnet werden und in einem Abstand von 3,6 bis 15 km vom Zentrum Coronel Suárez entfernt hintereinander liegen, macht sich die sprachliche Fragilität deutlich: Die am weitesten von der Stadt entfernte „Drittkolonie“ scheint am wenigsten von sprachlicher Assimilation geprägt zu sein, die „Erstkolonie“ am stärksten (hinzu kommt offenbar ein soziales Gefälle zwischen den Kolonien). Nach Hipperdinger (1994, 2008) kann jedoch auch der Schulunterricht in (dialektaler) deutscher Sprache den Sprachwechsel der jungen Generation nicht aufhalten. Roberto Bein (2001) sieht drei Gruppen unter den (ehemals) Deutschsprachigen: „Die Nachkommen der ersten Einwanderer auf dem Land behalten ihr Deutschtum meist als Kirchengemeinschaft und in ihren Sitten und Gebräuchen bei, seltener aber die Sprache; die städtischen Nachkommen, die vor allem im Norden und Süden der Umgebung von Buenos Aires leben, sprechen auch heute noch, obschon in abnehmendem Maße, Deutsch oder schicken ihre Kinder auf deutsche Schulen. Dagegen sind die neueren Einwanderer in 15 Neben einigen katholischen deutschsprachigen Gemeinden vereint die deutsche „Evangelische Kirche einem Assimilationsprozess begriffen; einige pflegen noch die Sprache, aber oft neben Englisch; die Bindung an ihre Ursprungsländer spielt sich eher auf kulturellem Gebiete ab. Sie haben ihre ethnischen Besonderheiten abgelegt, und wenngleich sie ihre Kinder auf deutsche Schulen schicken, besteht ihr deutsches Gemeinschaftsleben nur aus der Angehörigkeit an deutschsprachige Religionsgemeinden, Wohltätigkeits- und Sportvereine“ (Bein 2001, S. 1450). 15 Knapp zehn Jahre später lautet das Resümee: „Quantitativ erleiden die Deutschkenntnisse in Argentinien seit einem halben Jahrhundert einen ständigen Rückgang. Nach dem 2. Weltkrieg war Deutsch die Haussprache von rund 300.000 Menschen […], heute dürfte diese Zahl auf unter 200.000 gesunken sein […]. Deutsch ist auch an den deutschen Schulen fast ausschließlich zur Fremdsprache geworden“ (Bein 2010, S. 1610). 2.1.3 Rahmenbedingungen: Schulen, Verbände, Medien Heute bestehen in Argentinien 31 PASCH- Schulen („Schulen: Partner der Zukunft“), darunter 4 Deutsche Auslandsschulen (DAS), 16 Schulen, die zum Deutschen Sprachdiplom I oder II führen (DSD) sowie 11 Schulen mit erweitertem Deutschangebot (FIT). Deutsch als Fremdsprache nimmt an diesen Schulen einen hohen Stellenwert ein, es wird ein Schüleraustausch mit Deutschland gepflegt (von zumeist drei Monaten). „Die deutschen Auslandsschulen gehören zu den angesehensten Privatschulen im Land und werden auch von Eltern ohne Deutschlandbezug geschätzt.“ (Auswärtiges Amt Mai 2016). Dazu trägt die Sprachorientierung (oft zusätzlich zum Englischunterricht) sowie mitunter auch eine technische Spezialisierung bei, zum Teil auch mit dualer Ausbildung nach deutschem Vorbild in überwiegend deutschen Unternehmen und Prüfung vor der Deutsch-Argentinischen Industrie- und Handelskammer (AHK) nach deutschen IHK-Vorschriften, am Rio de la Plata“ 70 Gemeindezentren in Argentinien, Uruguay und Paraguay. <?page no="206"?> Peter Rosenberg 206 deren Abschlüsse in der gesamten EU anerkannt sind. Von den vier deutschen Auslandsschulen (im Großraum Buenos Aires gelegen) führt eine zum deutschen Abitur (Goethe-Schule Buenos Aires), drei schließen mit dem optionalen Abschluss „Internationales Baccalauréat“ ab, davon eine mit integriertem Berufsbildungszentrum und dem optionalen Abschluss der deutschen Fachhochschulreife. 16 Daneben existieren Lehrerverbände, Leh- rerbildungseinrichtungen und ein Berufsbildungszentrum sowie eine Anzahl von kirchlichen Schulen mit Deutschunterricht. Die Schülerzahl an diesen Schulen beträgt 2016 an den geförderten Schulen 20.992 Schüler (1987: 15.680, vgl. Born/ Dickgießer 1989, S. 22), darunter aber nur wenige deutsche Muttersprachler. Die Gesamtzahl der DaF- Lernenden an Schulen wird von der ZfA mit 25.000 angegeben. 47 Schulen in Argentinien (von 59.000 Schulen mit Fremdsprachenunterricht) bieten Deutsch als Fremdsprache an. An 42 Hochschulen kann Deutsch studiert werden (3.300 Studierende). In 20 Einrichtungen der Erwachsenenbildung lernen etwa 3.000 Menschen Deutsch, hinzu kommen 3.500 DaF-Lerner an Goethe-Instituten (Goethe-Institute in Buenos Aires und Córdoba, Goethe-Zentren in Mendoza und San Juan). Seit einer Schulreform 1993 ist mehr Fremdsprachenunterricht in den Schulen möglich (auch zusätzlich zu Englisch). Die Bilanz der Studie Deutsch als Fremdsprache weltweit des Auswärtigen Amts (gemeinsam mit dem DAAD, der ZfA und dem Goethe-Institut) zeigt für den Zeitraum 2010 bis 2015 einen Zuwachs der DaF-Lerner an Schulen. Die intensiven Austauschbeziehungen sind ein Spezifikum Lateinamerikas, in dem sich die Situation deutschsprachiger Bevölkerungsgruppen stark von der anderer Regionen unterscheidet. So erhalten etwa die Schulen eine stetige Unterstützung des deutschsprachigen Elements durch die Kinder bundesdeutscher Arbeitsmigranten, die sich in größerer Zahl 16 Die Schulen und eine Weltkarte der PASCH- Schulen finden sich auf: http: / / weltkarte.paschnet.de/ . zeitweise in Argentinien aufhalten. Es besteht neben wirtschaftlichem Austausch auch eine enge Zusammenarbeit im akademischen Bereich: Ein Deutsch-Argentinisches Hochschulzentrum (DAHZ) wurde 2010 eingerichtet (mit Schwerpunkten im medizinischen, ingenieurs- und wirtschaftswissenschaftlichen Bereich), die Max-Planck-Gesellschaft und die Fraunhofer-Gesellschaft sind in Argentinien engagiert, die Helmholtz-Gemeinschaft betreibt eine Großforschungseinrichtung. Der DAAD hat allein 2014 350 deutsche und 550 argentinische Studierende gefördert; dies macht 10 Prozent der DAAD-Aktivitäten in Lateinamerika aus. Unter den deutschsprachigen Presseerzeugnissen ist das Argentinische Tageblatt - auch wenn sie als Wochenzeitung 2015 nur noch eine Auflage von 5.000 Exemplaren hat, das wichtigste Blatt. Daneben bestehen in den wolgadeutschen Kolonien von Coronel Suarez die Monatszeitung Unsere Kolonien sowie Unsere Zeitung in José León Suárez (Provincia de Buenos Aires), die Zeitschrift Heimat (Buenos Aires), die von der Auslandshandelskammer herausgegebenen Blätter Cadicaa (zweimonatlich) und Panorama Mercosur (Buenos Aires), das VDI-Mitteilungsblatt und die kirchlichen Zeitschriften Evangelisches Gemeindeblatt am Rio de la Plata und Gemeindebrief Sankt Bonifatius (beide in Buenos Aires). 2.2 Chile In Chile (mit einer Bevölkerung von 2016 18 Millionen) leben nach Schätzungen etwa 20.000 Deutschsprachige (unter zirka 150.000 bis 200.000 Nachfahren deutscher Einwanderer 17 ). 2.2.1 Geschichtlicher Abriss Deutsche Einwanderer waren in größerer Zahl seit 1846 aus verschiedenen Regionen Deutschlands nach Chile gekommen, zunächst aus Hessen und Brandenburg, dann aus Württemberg und der Oberlausitz, später aus 17 Andere Schätzungen sprechen von zirka 500.000 Deutschstämmigen in Chile (Karla Berndt von der Cámara Chileno-Alemana de Comercio im Jahr 2011). <?page no="207"?> 8. Lateinamerika 207 Schlesien, Westfalen und schließlich aus Böhmen. Deutsche Kolonien wurden in der ersten Einwanderungszeit (zwischen 1846 und 1875) vor allem in der „Frontera“-Region, im südlichen Grenzgebiet, angelegt, in der Region um die Orte Valdívia und Osorno und seit 1853 am Llanquihue-See. In einer zweiten Immigration wanderten zwischen 1882 und 1914 Industrie- und Landarbeiter, vor allem aus Ostdeutschland, ein; die dritte Einwanderung nach 1918 führte zumeist in die Städte. Unter den ersten deutschen Siedlern sind sämtliche Berufsgruppen vertreten, einschließlich Gebildeter, unter ihnen eine größere Zahl von sogenannten „1848ern“: Chile war zu dieser Zeit das einzige lateinamerikanische Land, das die von ihnen geforderten Freiheitsrechte garantierte. Die Einwanderer in den bäuerlichen Kolonien am Llanquihue-See sprachen in der Anfangszeit in erster Linie ober- und mitteldeutsche Varietäten, die in Städten siedelnden Deutschen bedienten sich offenbar bald einer hochdeutschnahen Varietät (vgl. Born/ Dickgießer 1989, S. 68). Der frühzeitige Aufbau von Schulen, der vergleichsweise höhere Anteil von „Gebildeten“ und die relativ bald erreichte wirtschaftlich wohlhabende Stellung der Deutschsprachigen mögen dazu beigetragen haben. Unter den Immigranten sollen kaum Analphabeten gewesen sein (vgl. Burdach/ Vega 1994, S. 15). Die Einwanderung wurde von Beginn an durch die chilenische Regierung unter den Präsidenten Bulnes und Montt staatlich gefördert. Unter den ersten Beauftragten ist Bernhard Eunom Philippi, der als Beauftragter des Kgl. Museums in Berlin den Süden Chiles erforscht und später zum Kolonisationsagenten für die Anwerbung deutscher Auswanderer ernannt wird. Philippi und später Vicente Pérez Rosales betreiben die Kolonistenwerbung mit dem erklärten Auftrag, (katholische) Handwerker, Bauern und Gewerbetreibende für die Besiedlung und Sicherung der „Frontera“, der südlichen Grenzregion Chiles, gegenüber der indigenen Bevölkerung zu gewinnen. Das wirtschaftlich äußerst rückständige Land hat zu diesem Zeitpunkt 1,8 Millionen Einwohner, Santiago zählt etwa 100.000 Bewohner, Concepción im Süden nicht mehr als 10.000. Im gleichen Zeitraum, in dem sich zwischen 1846 und 1876 4.532 Deutsche in Chile ansiedeln (vgl. Jünemann Gazmuri 1994, S. 12), steigt die Verstädterung in Chile von 20 Prozent auf 30 Prozent (und bis 1891 auf 45 Prozent). Parallel zur „Landerschließung“ wird die Eisenbahn weiter nach Süden ausgebaut, erreicht aber erst 1890 Temuco. Die chilenische Regierung hatte ursprünglich ausschließlich katholische Einwanderer zulassen wollen, zeigte sich aber bald kompromissbereit. Die sogenannten „1848er“, die die Verwirklichung ihrer freiheitlichen politischen Vorstellungen in der neuen Heimat anstrebten, forderten für die deutschen Einwanderer unter anderem Religionsfreiheit und Landeigentumstitel. Einer dieser Auswanderer, der preußische Landtagsabgeordnete Karl Anwandter, der 1850 in Valdívia ankam, führte die Verhandlungen. Im Gegenzug sicherte er unbedingte Loyalität zu, „unser Aufnahmeland gegen jede ausländische Aggression zu verteidigen, mit der Entschiedenheit und Beharrlichkeit des Mannes, der sein Vaterland, seine Familie und seine Rechte verteidigt“ - ein Zitat, das sich heute auf dem Gedenkstein für die deutsche Einwanderung in Valdívia wiederfindet und einen Bestandteil der deutsch-chilenischen Identität ausmacht: „Seremos chilenos honrados y laboriosos como el que más lo fuere. Unidos a las filas de nuestros compatriotas, defenderemos nuestro país adoptivo contra toda agresión extranjera, con la dicisión y firmeza del hombre que defiende su patria, su familia y sus intereses“ (Anwandter, nach Jünemann Gazmuri 1994, S. 20). 1852 begann die Besiedlung am Llanquihue- See, eines bis dahin dicht bewaldeten und unwegsamen, völlig unerschlossenen Gebiets am Fuße des Vulkans Osorno. Den Siedlern wurden von der Regierung eine Reihe von „Zusicherungen“ gegeben, die jedoch nur zum Teil eingehalten wurden: Land, Steuer- und Abgabenfreiheit für 15 Jahre, eine Kuh, Saatgut, Geld für den Unterhalt während des ersten Jahres (als Darlehen), medizinische Versorgung, Hausbaumaterialien und die chilenische Staatsbürgerschaft für die, die sie beantragten <?page no="208"?> Peter Rosenberg 208 (Jünemann Gazmuri 1994, S. 26). In den folgenden Jahren setzte sich die Besiedlung der Llanquihue-Region mit der Gründung weiterer Kolonien (Puerto Varas, Frutillar usw.) in großem Stile fort und hielt bis 1880 an. Neue Ansiedlungen wurden meist von geschlossenen Gruppen aus einem bestimmten Herkunftsgebiet gegründet, zum Beispiel Hessen, Sachsen, Schwaben, später auch Schlesiern und Böhmen. Anfang der 1860er Jahre wurden in der sogenannten „Colonia“, dem „Territorio de Colonización de Llanquihue“, 1.491 Deutsche gezählt, von denen 551 in Chile geboren waren (vgl. Reiter 1992, S. 59). 1863 kamen katholische Auswanderer, hauptsächlich Westfalen, nach 1875 bildeten Österreicher die Hauptmasse der Siedler. Ursprünglich waren die einzelnen Ansiedlungen durch Waldgebiete getrennt und besaßen auch kein Siedlungszentrum, sondern hatten die Struktur von weit auseinander liegenden „Seehufen“ (von etwa 75 bis 100 ha Größe), die vom Seeufer aus in den Wald gingen. „Durch diese Streusiedlung mit großen Entfernungen zwischen den Höfen übertrug sich die Isolation der ganzen Region auch auf die einzelnen Familien“ (Reiter 1992, S. 62). So blieben für einige Zeit landsmannschaftliche Siedlungen erhalten (zum Beispiel schwäbische, hessische, böhmische Kolonien), die anfangs auch über dialektale Varietäten verfügten. Jedoch wurde im Laufe der Zeit das gesamte Seeufer besiedelt; entlang von Wegen wurden neue Siedlungen („Líneas“) eingerichtet. Aufgrund von Beschränkungen des Zukaufs von Landflächen wurde Kapital eher in verbesserte Anbaumethoden, Saatgut, Maschinen investiert, und es entstand eine für Chile völlig neue mittelbäuerliche Besitzstruktur. Dennoch waren bis 1917 38,5 Prozent und bis 1961 mehr als 50 Prozent der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche dieses Gebiets in Händen von Deutschchilenen (vgl. Reiter 1992, S. 63). Puerto Varas und Frutillar entwickelten sich im Laufe der Zeit zu Mittelpunktorten, in denen sich der Handel konzentrierte. In Frutillar bestand das erste Handelshaus der Colonia, es bildete sich ein deutscher Verein, eine deutsche Schule und eine protestantische Pfarre, die bis heute für das Seengebiet zuständig ist. Puerto Montt wuchs bis 1920 auf fast 10.000 Einwohner, die Verwaltung lag in ibero-chilenischen, Handel und Gewerbe in deutschen Händen, die Bevölkerungsmehrheit waren indigene „Chiloten“ (von der Insel Chiloé), die selbst wenig Spanisch sprachen. Heute ist Puerto Montt (mit 2016 zirka 240.000 Einwohnern) Verwaltungszentrum der „Región de los Lagos“. Jünemann Gazmuri (1994, S. 30f.) stellt für die deutsche Einwanderung rückblickend fest, dass aufgrund fehlender staatlicher Unterstützung, nicht eingehaltener Versprechungen, administrativer Fehlplanung, Bodenspekulation, klimatischer und geographischer Extrembedingungen und erheblicher Kommunikationsprobleme die Kolonisierung in der Anfangszeit ein Fehlschlag war. Auch quantitativ war die deutsche Einwanderung wesentlich weniger bedeutsam als etwa in Brasilien, das seinen Süden mit Immigranten besiedelte, und Argentinien, das im gleichen Zeitraum seine Bevölkerung verdoppelte. Dennoch gelang es mit Verspätung auch in der Colonia Llanquihue, die Siedlungsgebiete wirtschaftlich und naturräumlich „substantiell umzugestalten“: Es wurden weite Landstriche gerodet, trockengelegt und bebaut, es wurden Häfen (am Llanquihue-See) angelegt, eine regelmäßige Schiffsverbindung eingerichtet, Straßen gebaut, Betriebe gegründet, die Valdívia in eine Industrieregion verwandelten: 1882 waren 56 Prozent der Deutschen in Valdívia Gewerbetreibende gegenüber 2 Prozent der übrigen Bevölkerung. Bereits 1864 wird berichtet, dass die Deutschen eine relativ hochdeutschnahe Varietät verwendet hätten (vgl. Blancpain 1986, S. 191). Dies dürfte sich vor allem auf die städtischen Siedler beziehen und verdankt sich sicherlich auch dem frühzeitig entwickelten deutschen Schulwesen, das in ganz Chile als vorbildlich galt. Während sich in und um Valdívia und Osorno vorwiegend Handwerker und Kaufleute niederließen, fand am Llanquihue-See vor allem eine bäuerliche Besiedlung im Sinne einer Neulandkolonisation statt. Die Colonia Llanquihue verblieb lange in abgeschiedener Lage. Eine engere Anbindung <?page no="209"?> 8. Lateinamerika 209 der Colonia, zum Beispiel durch die Einrichtung von Zweigstellen staatlicher Einrichtungen, wurde von Seiten der chilenischen Regierung abgelehnt (Reiter 1992, S. 66). Auch die Verwaltungsumstrukturierung, die 1861 mit der Erhebung der Region zur provincia verbunden war, die aus drei departamentos (mit jeweils drei distritos) bestand, sollte nicht zu einer Integration der Deutschen führen: Sie übten weiterhin sämtliche administrativen Aufgaben aus und behielten die Selbstverwaltung. Die „Autarkie“ der Siedlungen am Llanquihue und damit die Notwendigkeit, sämtliche wirtschaftlichen, sozialen, administrativen und schulischen Einrichtungen selbst zu schaffen, stellte die Voraussetzung für die künftige Entwicklung dieser deutschen „Musterkolonien“ dar. Über die Notwendigkeit, Spanisch zu sprechen, gehen die Auffassungen auseinander: Reiter (1992, S. 110f.) geht von kaum vorhandenen Sprachkontakten aus, Blancpain (1986, S. 94) und Burdach/ Vega (1993, S. 17) betonen die frühe Zweisprachigkeit: Die Deutschen seien von Beginn der Besiedlung an von einem kontinuierlichen Strom chilenischer Binnenwanderer begleitet worden und hätten nie mehr als 5,5 Prozent der Bevölkerung ausgemacht. Die kulturellen, sozialen und konfessionellen Unterschiede hätten aber einen asymmetrischen Sprachkontakt bewirkt: den Kontakt zwischen Herren und Arbeitern, „de patrones a obreros“ (ebd.). Dies änderte sich erst zur Jahrhundertwende mit dem Anschluss der Region durch den Eisenbahnbau, vor allem durch das aufblühende Wirtschaftsleben und die massive Zuwanderung spanischsprechender Bevölkerung. In den Städten entsteht eine breite chilenische Mittelschicht. Damit wird der Sprachkontakt unabdingbar. Mit der Anbindung der Region wächst der Zuzug von Iberochilenen auch nach Llanquihue. Jedoch erreicht die Sprachbeherrschung des Spanischen in den ländlichen Kolonien lange Zeit nicht das Niveau der deutschen Stadtbewohner. Die deutschen Schulen, die (evangelischen) Kirchen und die deutschen Vereine stützten nach wie vor die deutsche Sprache. Wachsender Wohlstand und eine zunehmende Mobilität prägen die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. 1896 immatrikulierten sich die ersten deutschen Studenten an der Universität in Santiago, im gleichen Jahr wird die deutsche Burschenschaft gegründet. Wachsende Mobilität kennzeichnet die Deutschen, aber auch die Iberochilenen. Mit dem Schwinden der sozialen Kontraste fallen auch die ethnisch-kulturellen Unterschiede immer weniger ins Gewicht. Ebenso verlieren die konfessionellen Schranken in einer Zeit allgemeiner Säkularisierung an Bedeutung. Die Öffnung der deutschen Kolonien und eine zunehmende Anzahl von Mischehen führen schließlich zu einem spanisch dominierten Bilingualismus. Die sprachliche Assimilation setzte bereits vor dem Zweiten Weltkrieg ein. In der NS- Zeit führt die „völkische“ Propaganda auch in Chile zu einer Rückbesinnung auf die Zugehörigkeit zur deutschen Minderheit, vermittelt durch eine große Zahl von Vereinen. Die NS- Auslandsorganisationen versuchten, diese Vereine - ähnlich wie in Argentinien und Paraguay - gleichzuschalten und als ideologischen Vorposten zu instrumentalisieren. Das Aufleben deutscher Traditionen, deutscher Kultur und deutschen Vereinslebens in dieser Zeit ist allerdings nicht gleichzusetzen mit einer NS-Anhängerschaft oder gar einer Heimins-Reich-Mentalität der Deutschchilenen insgesamt. Schätzungen seitens des „Rassenpolitischen Amtes der NSDAP“ hatten bereits 1939 den Rückwanderungswillen der Deutschen in Brasilien, Argentinien und Chile als gering eingeschätzt (im Unterschied zu Uruguay und Paraguay; vgl. Bergmann 1994, S. 64). Dorothee Schlüter (2016) zeigt in ihrer Arbeit über den Westküsten-Beobachter. Deutsche (Nationalsozialistische) Wochenzeitschrift für die Westküste Südamerikas, wie das Blatt die reichsdeutsche Propaganda nach Südamerika trug: „ein vom Reich aus dirigiertes, kontrolliertes, materiell ausgestattetes, inhaltlich und sprachlich diktiertes Propagandainstrument, um den Auslandsdeutschen und deutschstämmigen Bewohnern Chiles vom ‚neuen Deutschland’ <?page no="210"?> Peter Rosenberg 210 zu berichten, sie im Sinne der Partei ‚aufzuklären’, ideologisch zu fixieren und nach deutschen Interessen auszurichten“ (Schlüter 2016, S. 243). Anders als die Forschungsliteratur bislang annahm, seien die ausländischen Presseerzeugnisse des Nationalsozialismus keinesfalls unbesehen als eigenständige Äußerungen der jeweiligen auslandsdeutschen Gruppen zu verstehen. Gegen die bis heute kanonische Meinung, der Nationalsozialismus sei unter den Deutschen Chiles auf rückhaltlose Gefolgschaft gestoßen, zeigt die Studie, dass für die Bewertung der Propagandaerfolge der NSDAP das „Deutschtum“ in Chile intern in generationelle Gruppen zu differenzieren ist. Die rigorose Gleichschaltung der deutschen Institutionen war in Chile zunächst sehr erfolgreich, stieß allerdings auf Ablehnung, sobald sie die gewachsenen Sozial- und Machtstrukturen der Altkolonisten zu untergraben begann, sodass schließlich eine Restituierung vormaliger institutioneller Strukturen durch die NSDAP selbst betrieben wurde. Sprachlich gesehen hat diese Periode die Assimilation, die bereits begonnen hatte, noch einmal verzögert. Nach dem Kriege setzte sie sich fort: Spätestens in den 1960er Jahren war das Potential der Renaissance der deutsch-chilenischen Kultur aufgezehrt. In einer von Grandjot und Schmidt 1960 veröffentlichten Studie unter mehr als 6.500 Befragten bezeichnen sich noch rund 70 Prozent als ausgewogen zweisprachig, jedoch geht diese Zahl in den folgenden Jahren rapide zurück, besonders unter den Jüngeren. In Chile bestätigt sich, wie in anderen Ländern, überdies die stärkere Assimilation der katholischen Deutschchilenen. 2.2.2 Sprachen und Varietäten, Sprachgebrauch und Sprachkompetenz Am Llanquihue hatte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts eine von spanischen Lexemen interferierte Ausgleichsvarietät entwickelt, das sogenannte „Launa-Deutsch“ (Lagunen-Deutsch, span. laguna ,See‘). Bieregel/ Müschen (1983, S. 26) und Reiter (1992, S. 125) nennen zahlreiche Hispanismen (die vacken geletschert ,die Kühe gemolken‘, span. „lechar las vacas“) sowie „falsche Freunde“ (Examen für ,ärztliche Untersuchung‘). Soweit heute noch deutsche Sprachkompetenz vorhanden ist, ist sie eher standardnah und häufig als Zweit- oder Fremdsprache erworben. Wenn auch das Deutsche sich in permanentem Rückgang befindet, genießt es in Chile doch nach wie vor ein hohes Prestige. In der Llanquihue-Region ist „deutsch“ ein touristisches Markenzeichen geworden: Schilderaufschriften wie „Kuchen“, „Bierstube“, „Café Oma“ usw. werden schlicht als Gütezeichen verwendet und haben keinen aktuellen deutschsprachigen Hintergrund mehr. Der Rückgang des Deutschen wurde in einer Befragung von Ana María Burdach und Olly Vega (1994) unter 39 Deutschchilenen dreier Generationen in der Llanquihue-Region deutlich: Das Deutsche wird von den Informanten immer weniger verwendet, insbesondere herrscht bei den Jüngeren eine deutliche Tendenz des Sprachwechsels vor. Alle drei Generationen geben zwar noch an, beide Sprachen zu verwenden, die jüngeren noch zur Hälfte, die mittlere und ältere Generation zu drei Vierteln. Die Sprachwahl hängt jedoch vom Gesprächspartner und der Gesprächssituation ab: Die Großelterngeneration spricht untereinander und mit der Elterngeneration Deutsch, die Elterngeneration mit der Großelterngeneration Deutsch, aber untereinander beide Sprachen oder Spanisch, die Kindergeneration spricht außer mit den Großeltern mit allen Spanisch. Es gibt keine einzige Sprachdomäne, in der das Deutsche noch dominieren würde. In informellen Situationen verwenden Großeltern- und Elterngeneration beide Sprachen oder Spanisch, die Kindergeneration überwiegend Spanisch. In formellen und öffentlichen Situationen wird fast ausschließlich Spanisch gesprochen. Die Sprache in der (evangelischen) Kirche, in der Schule und im Kulturleben ist am ehesten noch deutsch, bei den jüngeren Informanten zweisprachig. Die katholischen Probanden dagegen haben das Deutsche in allen drei Generationen fast völlig aufgegeben. Die Studie erhärtet den Eindruck, dass das Deutsche heute nur noch institutionell gestützt wird, während in alle anderen Bereiche das Spanische rasch eindringt (vgl. Burdach/ Vega 1994, S. 36ff.). <?page no="211"?> 8. Lateinamerika 211 Ulrike Ziebur (1998) hat in einer Fragebogenerhebung mit 270 Informanten in der Llanquihue-Region, besonders an der deutschen Schule Puerto Varas, sowie in 36 Interviews die Sprachverwendung des Deutschen und Spanischen untersucht. 75 Prozent der Befragten geben an, zu Hause mit ihrer Familie nur noch Spanisch zu sprechen. Die Ergebnisse zeigen, dass die Verwendung des Deutschen - neben der Sprachkompetenz, die meist nicht mehr primärsprachlich erworben wurde - vom Alter, der Konfession und der Mitgliedschaft in deutschen Institutionen beeinflusst wird. Interessanterweise definieren sich jeweils 40 Prozent als „Chilene deutscher Abstammung“ bzw. als „Chilene“ und nur 7 Prozent als „Deutschchilene“. 2.2.3 Rahmenbedingungen: Schulen, Verbände, Medien Heute bestehen in Chile 27 PASCH-Schulen, darunter 5 Deutsche Auslandsschulen (DAS), 16 Schulen, die zum Deutschen Sprachdiplom I oder II führen (DSD) sowie 6 Schulen mit erweitertem Deutschangebot (FIT). Sie verteilen sich über das ganze Land, zeigen aber drei Schwerpunktgebiete: Santiago, das Gebiet am Llanquihue-See und die Region um Concepción. Von den fünf deutschen Auslandsschulen (Deutsche Schule „Carlos Anwandter“ in Valdivia, Deutsche Schulen in Valparaíso und Santiago, Deutsche Schule Concepción, Thomas Morus Schule in Santiago) ist die Deutsche Schule Santiago die einzige mit durchgängig deutschsprachigem Bildungsgang (sie führt seit 2012 zur Deutschen Internationalen Abiturprüfung - DiAP). Die anderen vier führen zum "Gemischtsprachigen Internationalen Baccalaureat" und bieten u.a. Biologie und Geschichte in deutscher Sprache an. Die „aus Deutschland geförderten Schulen genießen in Chile einen exzellenten Ruf“ (Auswärtiges Amt Mai 2016). Die Schülerzahl an diesen Schulen beträgt an den geförderten Schulen 2016 20.000 Schüler (1987: 12.327, vgl. Born/ Dickgießer 1989, S. 22), darunter aber nur wenige deutsche Muttersprachler. Die Gesamtzahl der DaF- Lernenden an Schulen wird von der ZfA mit 24.000 angegeben. 29 Schulen in Chile (von 12.500 Schulen mit Fremdsprachenunterricht) bieten Deutsch als Fremdsprache an. An fünf Hochschulen kann Deutsch studiert werden (1.750 Studierende). In zwölf Einrichtungen der Erwachsenenbildung lernen etwa 400 Menschen Deutsch, hinzu kommen 2.000 DaF-Lerner am Goethe-Institut (Goethe- Institut in Santiago de Chile, Goethe-Zentrum in Concepción), das 2012 sein 60-jähriges Bestehen feierte und im Rahmen der EU eine Reihe von kulturellen Initiativen unterstützt (EU-Filmfestival 2015, EU-Jazzfestival, EU- Dramaturgiefestival). Die Deutschen Schulen haben gemeinsam mit dem Deutsch-Chilenischen Bund (DCB) und dem Verband deutschsprachiger Lehrer in Chile (VdLiCh) 1988 die Pädagogische Hochschule Deutsches Lehrerbildungsinstitut (LBI) Wilhelm von Humboldt gegründet, an der zweisprachige Erzieherinnen und Grundschullehrkräfte für die Deutschen Schulen Chiles ausgebildet werden. Seit 1995 ist das LBI auch regionales Fort- und Weiterbildungszentrum der Deutschen Schulen Chiles. Es besteht - mit 260 Hochschul-Kooperationen und 900 chilenischen Studierenden an deutschen Hochschulen 2015 - eine durchaus entwickelte Zusammenarbeit im akademischen Bereich. Das Heidelberg Center Lateinamerika (HCLA), ein Postgraduierten- und Weiterbildungszentrum der Universität Heidelberg arbeitet in Kooperation mit der Universidad de Chile und der Pontifícia Universidad Católica (beide in Santiago). Der DAAD hat 2014 467 chilenische und 388 deutsche Stipendiaten gefördert und unterstützt zwei Promotionskollegs sowie ein Jungingenieursprogramm (mit maximal 60 Stipendiaten pro Jahr). Es besteht nach wie vor eine große Anzahl von Vereinen und Einrichtungen (Sportvereine, Chöre, Frauenvereine, sogar Burschenschaften). 1981 wurden 39 Organisationen mit 8.000 bis 9.000 Mitgliedern gezählt (vgl. Born/ Dickgießer 1989, S. 72). Die „Liga Chileno-Alemana“ versteht sich als Dachorganisation der Deutschchilenen, das „Emil-Held- Archiv“ in Santiago betreibt historische Forschungen zur Geschichte der Deutschen. <?page no="212"?> Peter Rosenberg 212 Diese sind jedoch oft spanischsprachig. Evangelische Gottesdienste wurden in den späten 1990er Jahren noch in sieben Kirchen der „Seengemeinde“ am Llanquihue mehrere Male im Monat auf Deutsch abgehalten, jedoch stießen diese zunehmend auf Sprachprobleme unter der Jugend. An Medien existieren die Zeitung Cóndor - Deutsch-Chilenische Wochenzeitung. Periódico Chileno-Alemán (herausgegeben von der Sociedad Ediciones Chileno-Alemanas, Santiago de Chile), Andina - Deutsche Andenzeitschrift (herausgegeben vom Club Alemán Andino, Santiago de Chile), die Burschenschaftszeitschriften Rest Weg - Zeitschrift für unsere Verbindung (Centro Estudiantil Universitario Ripuaria, Viña del Mar), Vita Nostra (Bund Chilenischer Burschenschaften, Valdivia), die Schulzeitungen Wie geht's? (Deutsche Schule Santiago, Vitacura/ Santiago de Chile) und Copihue (Deutsche Schule Las Condes, Santiago de Chile) sowie die Wirtschaftsblätter Wirtschaftsnachrichten aus Chile (Deutsch-chilenische Handelskammer, Santiago de Chile) und Chile Wirtschaft (Deutsch-chilenische Auslandshandelskammer, Santiago de Chile). Deutschsprachige Radiosendungen sind zu empfangen - in der Regel eine Stunde pro Woche am Wochenende - Alemania en Vivo (über Radio „Universidad de Chile“), Portal Alemán (bei Radio „Sago“), Die deutsche Stunde/ La hora alemana aus Puerto Varas, Llanquihue (über Radio „Gratissima“, zweisprachig), La hora alemana aus Concepción (über Radio „Feminina“, 3h/ Woche). 2.3 Paraguay In Paraguay leben mindestens 70.000 bis 80.000 Deutschsprachige, darunter 28.000 deutschsprachige Mennoniten (nach Angaben der Mennonitischen Weltkonferenz, 2003). Insgesamt wird von zirka 125.000 Deutschstämmigen gesprochen, die nur etwa 1,8 Prozent der 7 Millionen (2016) zählenden Bevölkerung Paraguays ausmachen. Wahrscheinlich muss jedoch eine deutlich höhere Zahl angenommen werden, da seit einigen Jahren ein starker Zuzug in das paraguayisch-brasilianische Grenzgebiet eingesetzt hat, darunter auch viele Hunsrückisch sprechende Deutschbrasilianer. 2.3.1 Geschichtlicher Abriss Paraguay war lange Zeit nach der Unabhängigkeit 1811 unter dem Diktator Francia völlig von der Außenwelt abgeschnitten, erlebte dann unter dem Präsidenten C. A. López eine bedeutende Modernisierung und erlangte einen beträchtlichen Wohlstand. Sein Sohn F. S. López trieb das Land in den ungemein verlustreichen „Tripelallianzkrieg“ mit Argentinien, Uruguay und Brasilien 1865 bis 1870. Von 1,3 Millionen Einwohnern überlebten nur 200.000, davon 90 Prozent Frauen und Kinder. Erst nach dieser Katastrophe konnte das Land wieder aufgebaut werden. 1870 wurde eine neue demokratische Verfassung verabschiedet, eine vorsichtige Öffnung setzte ein, die sich schließlich auch in der Zuwanderung von Immigranten niederschlug (vgl. Klassen 1991, S. 79ff.). Unter den Einwanderern nahmen die deutschsprachigen Siedler einen hohen Anteil ein. Bereits 1871 begannen erste Siedlungsversuche, die jedoch aufgrund wirtschaftlicher und klimatischer Schwierigkeiten zumeist fehlschlugen und wieder aufgegeben werden mussten. Seit 1881 (San Bernardino) wurden bis zur Jahrhundertwende vier Siedlungen gegründet, zumeist von Siedlern, die direkt aus Deutschland einwanderten. Nahezu alle Siedlungen der ersten Kolonisierungszeit befanden sich in der Nähe von Asunción, etliche Immigranten ließen sich auch in der Hauptstadt selbst nieder (vgl. Ratzlaff 1990, S. 114ff.). Bis 1893 lebten aber erst 300 Deutsche in Paraguay. Zur Gruppe der von Siedlern aus Deutschland, Österreich und der Schweiz angelegten Kolonien gehören auch die später gegründeten Orte Independencia (1920, schwäbische und badische Varietäten) Carlos Pfannl (1931, bairisch-österreichische) und Sudetia (1933). 1900 wurde mit Hohenau die erste Kolonie von Deutschbrasilianern im südöstlichen Grenzgebiet zu Argentinien gebildet (Itapuá). Ihnen war Steuerfreiheit (auf 15 Jahre), lokale Selbstverwaltung, freie Wahl der Richter und <?page no="213"?> 8. Lateinamerika 213 das Recht auf deutschsprachigen Schulunterricht (außer in Geschichte, Geographie und Spanisch) gesetzlich zugesichert worden. Zu dieser Gruppe gehören noch zwei weitere Siedlungen. Der Zustrom von Deutschbrasilianern setzte aber in großem Umfange erst nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Er hält ungebrochen an und führt auch deutschsprachige Siedler nach Itapuá und - seit dem Bau des Staudamms Itaipú in den 1970er Jahren - besonders ins östliche Grenzgebiet zu Brasilien (Alto Paraná). Unter ihnen dominiert das Hunsrückische. Von Alto Paraná aus ziehen sie oft weiter in andere Gebiete Paraguays (vgl. Bergmann 1994, S. 178). Die Zahl der Deutschsprechenden wurde bisher auf rund 40.000 geschätzt (vgl. Born/ Dickgießer 1989, S. 151). Bergmann (1994, S. 183) spricht von 112.500 bis 150.000 deutschstämmigen Brasilianern angesichts einer Einwanderung aus Brasilien von 450.000 bis 500.000 Immigranten, die vor allem aus dem Süden kommen. 1921 hatte die paraguayische Regierung das Gesetz Nr. 514 erlassen, das Einwanderern Religions- und Schwurfreiheit, Befreiung vom Militärdienst, das Recht auf eigene Schulen sowie ein freies Erbrecht zusicherte. Dies war die Grundlage für die große Zuwanderung von Mennoniten aus Kanada und der (späteren) Sowjetunion (s. dazu auch den Beitrag von Siemens in diesem Band): Die erste Gruppe kam aus Kanada und gründete zunächst 1927 die Kolonie Menno in der Wildnis des Chaco. 18 In der Hauptsache handelte es sich um sogenannte „Bergthaler“, die ursprünglich aus der Chortitza-Gemeinde Bergthal im Schwarzmeergebiet stammten und von dort ab 1874 nach Kanada emigriert 18 Kanada hatte nach dem Ende des Ersten Weltkrieges ein Gesetz beschlossen, das die englische Sprache als alleinige Unterrichtssprache vorsah, womit die Schul- und Sakralsprache der Mennoniten, das Hochdeutsche, verdrängt worden wäre. Mit der Schließung der mennonitischen Privatschulen war auch ein eigenständiger Religionsunterricht nicht mehr möglich. Darauf entschlossen sich zirka 1.700 Mennoniten aus Westkanada zur Auswanderung nach Paraguay (und 6.000 nach Mexiko). 19 Die russische Regierung hatte 1871 beschlossen, den waren. 19 Kurze Zeit nach der ersten Gruppe wanderten zwischen 1930 und 1932 2.000 „Russlandmennoniten“ aus der Ukraine, von der Krim und aus Sibirien ein und gründeten die Kolonie Fernheim. 20 Die Zuwanderung setzt sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg fort: Mennoniten aus der Westukraine, die mit den deutschen Truppen über den sogenannten „Warthegau“ nach Deutschland gezogen waren und in die Sowjetunion repatriiert werden sollten, wanderten nach Südamerika aus und gründeten 1947 die Kolonien Neuland im Chaco und Volendam nördlich von Asunción. 1967 bis 1969 kamen sehr konservative Mennoniten (und Amische) aus den USA hinzu und gründeten drei Kolonien in Ostparaguay. Es handelt sich bei ihnen um zu Beginn des 18. Jahrhunderts aus der Schweiz und dem Elsass in die USA ausgewanderte Englischsprachige (vgl. Ratzlaff 1989, S. 13). Bis in die 1980er Jahre sind weitere Gruppen von Mennoniten aus den USA, aus Mexiko und Belize und einzelne aus Brasilien eingewandert. Auch in der Hauptstadt haben sich zahlreiche Mennoniten niedergelassen. Siedlungsschwerpunkte sind jedoch vor allem der Chaco, in dem etwa die Hälfte der Mennoniten in 118 Dörfern leben, sowie Ostparaguay, wo sich die andere Hälfte der Mennoniten ansiedelte. Die Mennoniten haben die Kolonien nach Anfangsschwierigkeiten, besonders im Chaco, zu einer erstaunlichen wirtschaftlichen und kulturellen Prosperität geführt. Die Mehrzahl der Mennoniten Paraguays gehört zu den sogenannten „fortschrittlichen“ Mennoniten. obligatorischen Russischunterricht in den Schulen und den Wehrdienst (oder einen Ersatzdienst) einzuführen. 20 Sie waren angesichts der zunehmenden religiösen Verfolgungen und der Landenteignung im Rahmen der „Entkulakisierung“ während der Stalin-Zeit emigriert und teils direkt aus der Ukraine, teils über Ostsibirien und Charbin, China, geflohen. Mit Unterstützung durch den Reichspräsidenten Hindenburg erhielten sie schließlich die Genehmigung zur Abreise nach Paraguay. <?page no="214"?> Peter Rosenberg 214 Sie verfügen über ein ausgebautes Bildungswesen, das Primar- und Sekundarschulen und ein zweisprachiges Lehrerbildungsseminar, eine Landwirtschaftsschule sowie eine Behindertenwerkstätte und Kindergärten einschließt. Die Kolonien besitzen Krankenhäuser, Altenheime, Sozialstationen, Gästehäuser und Supermärkte. Die Kooperativen sind wirtschaftlich sehr erfolgreich und durch ein Vermarktungsnetz mit Filialbetrieben in Asunción verbunden: 50 Prozent aller Milchprodukte Paraguays werden von den Molkereien der Kolonien produziert (vgl. Ratzlaff 1996, S. 2ff.). In den Kolonien existiert ein Wegenetz von 2.500 km Sandpisten. Bereits 1935 begannen die Mennoniten mit der Missionierung der Indianer. In der Umgebung leben zahlreiche indigene Gruppen, die neben Guaraní verschiedene Indianersprachen sprechen, darunter am häufigsten Lengua, Chulupí (Nivaclé) und Ayoreo. Guaraní ist heute zweite Landessprache in Paraguay und wird auch in der Schule unterrichtet. Die Mennoniten haben die indigene Bevölkerung in ihren Kooperativen angestellt; damit war zugleich ein Sesshaftwerdungsprozess verbunden. Nachdem die Lager der Arbeiter sich in den 1970er Jahren zu regelrechten Slums entwickelt hatten, wurde beschlossen, Land für die Indianer anzukaufen: 1995 lebten etwa 10.000 Indianer in zwölf Siedlungen auf etwa 150.000 ha Land mit rund 1.400 eigenen Höfen (vgl. auch Klassen 1991, S. 187 u. 190). In den späten 1990ern wurde von 7.000 indigenen und 4.000 „latein-paraguayischen“ Mennoniten berichtet. Unter den Indigenen, die bei Mennoniten gearbeitet oder gelebt haben, gibt es mitunter Plautdietsch-Sprecher. Der nahezu siedlungsleere Chaco (mit knapp zwei Dritteln der Landesfläche, aber nur zwei Prozent der Einwohner) bot den 21 Zur Akkulturation von mennonitischen Gruppen in der Stadt gibt es wenige Studien. Clemens Scharf (1996) hatte für die Mennoniten in Uruguay die Auswirkungen des Lebens in der Hauptstadt (Montevideo), in einer Kleinstadt (Colonia del Sacramento) und in den Kolonien (Gartental, El Ombú, Delta) in einer interessanten Studie zur sprachlichen Akkulturation untersucht. Dabei flossen neben dem Raum weitere Basisfaktoren (Alter, Geschlecht) sowie eine Reihe Mennoniten ideale Bedingungen eines abgeschiedenen Lebens. Auch die Stationierung von Soldaten während des Chaco-Krieges 1932 bis 1935 tangierte die Autarkie der Kolonien nur vorübergehend. Allerdings brachte die Fertigstellung der Ruta Trans Chaco in den 1960er Jahren bzw. ihre Asphaltierung 1987 den Anschluss des Chaco an die Landesentwicklung. Die Öffnung der Kolonien gegenüber der paraguayischen Gesellschaft führte zu weitgehender Zweisprachigkeit, aber keineswegs zur Assimilierung. Spanisch wird von den meisten Siedlern gesprochen, hinzu kommt Portugiesisch bei den aus Brasilien Eingewanderten. Allerdings bleibt das Deutsche in den Chaco-Kolonien nach wie vor die dominante Sprache, die sämtliche Bereiche des Kolonielebens prägt, während in Itapuá das Spanische vordringt. In der Deutschen Schule „Concordia“ in Asunción wird die eine Hälfte der Fächer auf Deutsch, die andere (Mathematik, Musik, Kunst, Sport) auf Spanisch unterrichtet. Ende der 1990er wurden von der Schulleitung unter 356 Schülern 65 Prozent mennonitische Deutschparaguayer, 10 Prozent andere Deutschparaguayer und 25 Prozent „Spanischsprachige“ gezählt. Die Bedingungen in der Hauptstadt führen selbstverständlich zu einem sehr viel stärkeren Kontakt mit dem Spanischen als im Chaco. 21 2.3.2 Sprachen und Varietäten, Sprachgebrauch und Sprachkompetenz In den Chaco-Kolonien Paraguays ist die Alltagssprache in der Regel die ostniederdeutsche Varietät. Bei den aus Kanada eingewanderten Mennoniten überwiegt die „Chortitza-Varietät“ der sogenannten Altkolonien im Schwarzmeergebiet, bei den aus der Sowjetunion zugewanderten die „Molotschna-Varietät“, eine etvon weiteren Einflussfaktoren (Bildung, Mobilität, berufsbedingte Sprachkontakte, Exogamie usw.) ein. Gegenstand waren deutsche Merkmale in der spanischen Rede der Probanden auf lexikalischem, grammatischem und phonetisch-phonologischem Gebiet. Im Ergebnis zeigte sich, dass die Akkulturation hierarchisch von den Basisfaktoren Raum, Alter und Geschlecht abhängig war, jedoch von einigen Kofaktoren (zum Beispiel Bildung, Mobilität) modifiziert wurde. <?page no="215"?> 8. Lateinamerika 215 was jüngere, jedoch prestigereichere Dialektvarietät, die sich auch bei den Kanada-Auswanderern ausbreitet. Allerdings liegen beide Varietäten nicht in völlig getrennter Form vor, sondern zeigen verschiedene Ausgleichserscheinungen. Das Hochdeutsche wird heute immer häufiger auch im familiären Kontext verwendet. Kenntnisse einer standardnahen Varietät sind aufgrund des Schulunterrichts und der Verwendung als Sprache des Gottesdiensts in der Regel vorhanden, in Asunción sogar offenbar stärker als die des Plautdietschen. Der Vorschule wird die Aufgabe zugewiesen, die Kinder vom Plautdietschen zum Hochdeutschen zu führen. Dazu wird in den ersten drei Primarschulklassen heute das Plautdietsche toleriert. Das Plautdietsche hat jedoch in förmlichen Kontexten den Stempel des „Unernsthaften“. Es war früher in den Schulen untersagt, Plautdietsch auch nur auf dem Pausenhof zu sprechen. In einem Schulbuch „,Wie sag ich’s richtig? ‘ Kleiner plattdeutsch-hochdeutscher Sprachkurs“ wurde als Problembefund festgestellt: „Die meisten Fehler rühren von der Direktübersetzung des plattdeutschen Dialekts und der Übertragung seiner grammatischen Strukturen auf das Hochdeutsche her“ (Schnitzspahn/ Rudolph 1995, S. 81). Außerdem wird auf englische und spanische Interferenzen hingewiesen, wie etwa der Permiso - ‚die Erlaubnis‘ bzw. phonen - ‚telephonieren‘ (ebd., S. 51). 22 Ähnliche Erscheinungen hat Kelly Hedges (1996) bei Old Colony Mennoniten in Chihuahua, Mexiko, untersucht. Hier begann die „Sprachideologie“ der Gemeinschaft ins Schwanken zu geraten, da sich die Verwendungsbereiche des Hochdeutschen und des Plautdietschen aus beiden Richtungen gegeneinander verschieben: Kommentare von Predigern im Gottesdienst wurden zunehmend auch auf Plautdietsch formuliert. Umgekehrt diente hochdeutscher Schriftgebrauch immer mehr auch profanen Alltagszwecken: „A sense of ,sacredness‘ could spill into the everyday (…), and the boundaries between the ,sacred‘ and ,everyday‘ realms could become blurred“ (Hedges 1996, S. 327). Ähnliches trifft auch auf die Mennoniten in Paraguay zu. Auch Frank Albers (1997) beschäftigte sich in einer Vergleichsstudie zwischen einer traditionellen und einer „liberalen“ Gemeinde unter den Mennoniten in Belize mit den Verwendungsbereichen der Von den deutschsprachigen Einwanderern aus Brasilien wird zumeist Hunsrückisch gesprochen. Sie sind mittlerweile in großer Zahl als Arbeitskräfte in den Chaco-Kolonien tätig. Es wird interessant sein zu beobachten, wie sich dieser intensive Varietätenkontakt auswirkt. Eine Verständigung ist jederzeit möglich, wenn Mennoniten Hochdeutsch und Deutschbrasilianer Hunsrückisch sprechen. Das Hochdeutsche bekommt allerdings damit eine weiter „säkularisierte“ Funktion, die es früher nicht zu erfüllen hatte. Dies scheint das klar strukturierte Sprachgebrauchssystem der Kolonien zu destabilisieren. 22 Die Rolle des Spanischen (und Portugiesischen) ist in den Chaco-Kolonien Paraguays nach wie vor klar begrenzt, was auf verschiedene Faktoren zurückzuführen ist: die periphere geographische Lage, die geringe Urbanisierung und Industrialisierung, eine deutschsprachige Mehrheit in den ländlichen Siedlungen, ein fest etabliertes mennonitisches Netzwerk, in das sich die deutsch-brasilianischen Zuwanderer - vorerst noch - einpassen und auf dessen gesicherter Basis auch die Öffnung gegenüber der Mehrheitsgesellschaft und -sprache stattfinden kann. Göz Kaufmann, der sicher beste Kenner der Mennonitenkolonien und der Entwicklung des Plautdietschen in Lateinamerika, berichtet 2015 davon, dass der wirtschaftliche Erfolg der Mennonitenkolonien mittlerweile so groß ist, „dass in den beiden Hauptorten vorhandenen Varietäten: Auch hier breiteten sich die Funktionsbereiche der verwendeten Varietäten aus. In der konservativen Gemeinde Upper Barton Creek diente das Hochdeutsche bald als Verkehrsvarietät. Es dominierte in allen Sprachverwendungsbereichen und wurde durchaus nicht nur im Gottesdienst oder in der Schule gebraucht. Dies hing mit dem Zuzug von Amischen aus den USA zusammen. Obwohl den Einheimischen wie den Zugezogenen das Englische als Kontaktvarietät zur Verfügung stand und viele auch Pennsylvaniadeutsch verstanden, wurde hierfür doch die (ehemalige) Sakralsprache gewählt. Umgekehrt breitete sich in der „liberalen“ Gemeinde Spanish Lookout das Plautdietsch auch in den Sakralbereich aus, zum Beispiel als „Gebetssprache“ (vgl. Albers 1997, S. 80). Dies deutete auf eine Wandlung des sprachlichen Variationssystems hin, die von symbolischem oder gar rituellem Wert ist. <?page no="216"?> Peter Rosenberg 216 Loma Plata und Filadelfia weniger Mennoniten als Paraguayer leben (sowohl indigene Gruppen als auch sogenannte Lateinparaguayer)“ (Kaufmann 2015, S. 202). Als Zeichen einer durchaus pragmatischen Orientierung weist er auf die DSD-Schulen und den Einsatz von Bundesprogrammlehrkräften aus Deutschland hin, die in den Mennonitenkolonien unterrichten, sowie auf die selbst finanzierten Studienstipendien für mennonitische Studierende in Deutschland. Kaufmann (2010) untersucht die treibenden Kräfte, die die sprachliche Konvergenz der Plautdietschsprecher in Paraguay in Richtung des Spanischen hemmen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass diese zwar auf lexikalischem Gebiet zu beobachten ist, aber wenig Auswirkungen auf struktureller Ebene zeige. Strukturell findet eine Konvergenz eher zum Standarddeutschen statt: „in Paraguay, the influence of the linguistically distant majority language Spanish is restricted to lexical borrowing, while the strong presence of less distant Standard German has a significant effect on many structural levels, among them the ordering of verbal elements in clause-final clusters.“ (Kaufmann 2010, S. 487). Der Systemkontrast sei gegenüber dem Spanischen deutlich größer als gegenüber dem Standarddeutschen. Als ein Beispiel zieht er das - dem Standarddeutschen entsprechende - verbfinale Satzbaumuster dat hei imma sine Mame helpe mut heran, das im Plautdietschen lauten müsste: dat hei imma sine Mame mut helpe (,dass er seiner Mutter immer helfen musste‘). In den Chaco- Kolonien Menno und Fernheim erreichte diese standardkonvergente Satzstellung mit 92 bis 94 Prozent höchste Werte (während dies bei den zum Vergleich herangezogenen Mennonitensiedlungen in Texas ohne Hochdeutsch-Kontakt mit nur 30 Prozent erheblich seltener war). Besonders junge Frauen in Fernheim (zumindest bei nur zwei und nicht mehr Verbalelementen) zeigten maximale Frequenzen, was Kaufmann als Anzeichen eines „change from above“ deutet (Kaufmann 2010, S. 491). Konvergenz oder Divergenz werde entscheidend von sprachbzw. sprachpaarspezifischen Faktoren unter soziolinguistischen Kontextbedingungen gesteuert (vgl. Kaufmann 2010, S. 486). 2.3.3 Rahmenbedingungen: Schulen, Verbände, Medien Heute bestehen in Paraguay 18 PASCH- Schulen, darunter eine Deutsche Auslandsschule (DAS), 16 Schulen, die zum Deutschen Sprachdiplom I oder II führen (DSD) sowie 1 Schule mit erweitertem Deutschangebot (FIT). Während die Deutsche Auslandsschule in der Hauptstadt liegt, verteilen sich die DSD-Schulen zu je einem Drittel auf Asunción, auf die Mennonitenkolonien Loma Plata (Menno), Filadelfia (Fernheim) sowie Neuland und auf die Hunsrücker-Siedlungen im Grenzgebiet zu Brasilien. Die Schülerzahl betrug an den geförderten Schulen 2016 5.000 Schüler (1987: 12.327, vgl. Born/ Dickgießer 1989, S. 22), darunter aber nur wenige deutsche Muttersprachler. Die Gesamtzahl der DaF-Lernenden an Schulen wird von der ZfA mit 5.500 angegeben. 23 Schulen in Paraguay bieten Deutsch als Fremdsprache an. An 2 Hochschulen kann Deutsch studiert werden (71 Studierende). In 5 Einrichtungen der Erwachsenenbildung lernen etwa 416 Menschen Deutsch. Die „Allg. Schulbehörde“ mit Sitz in Filadelfia (Kol. Fernheim) unterhält ein mennonitisches Lehrerseminar. Es existieren verschiedene Presseerzeugnisse (teils) in deutscher Sprache, darunter vor allem die mennonitischen Zeitungen Friesland - Informationsblatt der Mennonitenkolonie Friesland (Asuncion), Mennoblatt - Zeitschrift der Kolonie Fernheim (Informationen über die Arbeit der Mennonitenkolonie Fernheim, Colonia Fernheim/ Asunción), Menno Informiert (Informationen über die Arbeit der Mennonitenkolonie Neuland, vormals „Menno aktuell“, Informationen über die Arbeit der Mennonitenkolonie Menno), Neuland - informiert und diskutiert (Colonia Neuland/ Asunción), dazu Das Wochenblatt (Acahay, Yeguarizo), Der Paraguay Bote - Das deutschsprachige Informations- und Anzeigenblatt (Encarnación), Farmland (Informationen zur Agrarwirtschaft in Lateinamerika, Barrio Santo Domingo/ Asunción), sowie der Gemeindebrief der Deutschen Evangelischen Gemeinde <?page no="217"?> 8. Lateinamerika 217 (Deutsche Evangelische Gemeinde, Hogar Excolar/ Asunción), und das Wirtschaftsblatt PanoramaMercosur - Zeitschrift der Deutsch-Paraguayischen Handelskammer (zweisprachige deutsch-spanische Zeitung, monatlich, Hrsg. Dt. Auslandshandelskammern in Paraguay, Argentinien und Uruguay; Wirtschaftsinformationen, Beilage „Panorama Paraguay“, Asunción) Deutschsprachige Radiosendungen sind zu empfangen über den Radiosender Sender „La Voz del Chaco Paraguayo“, der in Filadelfia (Fernheim) betrieben wird und in mehreren Sprachen sendet (22 Prozent der wöchentlichen Sendezeit auf Deutsch, 65 Prozent auf Spanisch, 13 Prozent in mehreren Indianersprachen sowie auf Englisch). Außerdem gibt es einen professionellen Internetauftritts. 3 Deutschsprachige im multiethnischen Brasilien Erhebungen aus dem Jahr 1990 (vgl. Altenhofen 1996, S. 56; Raso/ Mello/ Altenhofen 2011, S. 41) gehen von 1,4 Millionen Sprechern einer deutschen Varietät in Brasilien aus, das heute zirka 210 Millionen Einwohner hat (2016). Es wird von 3,6 Millionen Deutschstämmigen gesprochen, die allerdings zum großen Teil das Deutsche aufgegeben haben. Regionale Siedlungsschwerpunkte der deutschen Bevölkerung in Brasilien liegen in 23 Mauch/ Vascocelos (Org.) (1994) nennen folgende Einwandererzahlen für die deutsche Immigration: 1824-1847: 8.176, 1848-1872: 19.523, 1872-1879: 14.825, 1880-1889: 18.901, 1890-1899: 17.084, 1900- 1909: 13.848, 1910-1919: 25.902, 1920-1929: 75.801, 1930-1939: 27.497, 1940-1949: 6.807, 1950-1959: 16.643, 1960-1969: 5.659. 24 Altenhofen (2013b, S. 106) nennt folgende deutschsprachige Gruppen in Brasilien (jeweils mit Besiedlungszeitraum und -orten, inkl. Selbstbezeichnungen, häufigste Bezeichnung unterstrichen): 1. Pommerisch/ Pomerano/ Platt (1858 S-o Lourenço do Sul, RS; 1859 Santa Leopoldina, heute Santa Maria de Jetibá, ES); 2. Plautdietsch/ Mennoniten-Deutsch/ Plautdietsch menonita/ Platt menonita (1930 Colônias no Rio Krauel, Alto Vale do Itajaí, SC); 3. Kaschübisch/ Kaschiebisch/ Kaschube-Deutsch/ Deitsch-Russisch? / Alem-o-russo/ Wolgadeutsch/ Alem-o do Wolga/ russo-alem-o (Linha Machado); 4. Westfälisch/ Vestfaliano/ Plattdütsch/ Sapato-de-pau (1858 Vale do den südlichen Bundesstaaten, in Rio Grande do Sul, Santa Catarina, Paraná sowie weiter nördlich in Espírito Santo. Seit den 1970er Jahren (zum Teil bereits früher wie in Porto dos Gaúchos, MT, vgl. Tavares de Barros 2014) erfolgte Binnenmigrationen aus Rio Grande do Sul in den Norden nach Mato Grosso, in den Süden von Maranh-o und Pará bis hin nach Rondônia. 3.1 Einwanderungsgeschichte: von der Sprachinsel zum Spracharchipel zum Sprachatoll? Die deutsche Einwanderung beginnt in Brasilien im Jahre 1818 mit der Gründung der Kolonie Leopoldina, die von Deutschen und Schweizern südlich von Bahía angelegt und nach der Kaiserin Leopoldine aus dem Hause Habsburg benannt wurde. 23 1819 wird Nova Friburgo (im Staat Rio de Janeiro) von Schweizern u.a. aus den Kantonen Freiburg/ Fribourg und Bern gegründet. 1824 setzt die erste große Einwanderungswelle in Rio Grande do Sul ein (S-o Leopoldo), 1828/ 29 in Santa Catarina (S-o Pedro de Alcântara). Siedler kommen aus zahlreichen Regionen Deutschlands, vor allem aus dem Hunsrück, aus Pommern und Westfalen, aber auch aus dem übrigen niederdeutschen Raum, dem alemannisch-schwäbischen, dem bairisch-österreichischen und weiteren Gebieten. 24 Taquari/ Colônia Teutonia, RS; 1860 Vale do Capivari); 5. Kaffeeflickersch/ Lingua de catador de café (1860? S-o Pedro de Alcântara, SC); 6. Hunsrückisch/ Hunsrick/ Hunsbucklisch/ Hunsrücker Platt/ Deitsch/ Plattdeitsch/ Hunsriqueano (1824 S-o Leopoldo, RS; 1829 S-o Pedro de Alcântara, SC; 1829 Rio Negro, PR; 1847 Colônia de Santa Isabel, ES); 7. Hochdeutsch/ Alem-o (im Itajaí- Tal gilt es als „normale Varietät“; anderenorts teils als Dachsprache neben der Dialektvarietät, zunehmend durch das Portugiesische ersetzt (vgl. Altenhofen 2016); 8. Böhmisch/ Bimsch? / Boêmio (1858 Nova Petrópolis, RS; 1876 Alto Sampaio [Munizip Venâncio Aires], RS); 9. Bukowinisch/ Bucovino (1887 Rio Negro/ Mafra, PR); 10. Bairisch/ Bavaro (1873 S-o Bento do Sul, SC); 11. Österreichisch/ Austríaco (1859 Tirol, ES; 1893 Ijuí, RS; 1933 Treze Tílias, SC); 12. Schwäbisch/ Suábio (1898 Neu Württemberg, heute Panambí, RS; 1951 Entre Rios [Munizip Guarapuava], PR); 13. Schweizer <?page no="218"?> Peter Rosenberg 218 Der Süden Brasiliens ist zu dieser Zeit außerordentlich schwach besiedelt. Motive der Ansiedlung von Immigranten sind anfangs die Urbarmachung und wirtschaftliche Erschließung des Südens 25 und die militärische Sicherung des südlichen Grenzgebiets sowie die Aufstellung von Fremdenregimentern, die die Unabhängigkeit Brasiliens (1822) vor den portugiesischen Machtansprüchen schützen sollten. Später tritt als ein weiteres Ziel hinzu, Brasilien, das zu dieser Zeit zu zwei Dritteln aus farbiger Bevölkerung bestand und wegen seiner Sklaverei vor allem nach der englischen „Bill Aberdeen“ (1845) unter internationalem Druck stand, mit „Weißen“ zu bevölkern („branqueamento da ‚raça brasileira‘“, Gregory 2007, S. 147). Ländliche Siedlungen werden in den Folgejahren in großer Zahl angelegt, vor allem in Rio Grande do Sul und Santa Catarina. 26 Die deutschen Siedler erhalten sogenannte „Schneisen“, einige Kilometer Land, die ausgehend von einem Weg oder einem Fluss in den Wald führen und gerodet werden müssen. Diese „Schneisen“ oder „Pikadensiedlungen“ (port. „picada“ ‚Stichweg, Schneise‘) ziehen sich mit einzelnen Gehöften im Abstand von Deutsch/ Alem-o suíço (1819/ 1820 Nova Friburgo, RJ; 1857 Colônia Imperial de Santa Leopoldina, ES; 1888 Colônia Helvetia [Munizip Indaiatuba], SP). Fausel (1962, S. 214) fügte noch hinzu: 14. Wolhyniendeutsch (Uruguay-Gebiet, Rio Grande do Sul); 15. Donauschwaben (in den 1950ern). 25 Die nordwestliche Hochebene und ihre Hänge in Rio Grande do Sul waren mit schwer zu besiedelnden Urwäldern bedeckt (vgl. die Karten zu den naturräumlichen Voraussetzungen der Besiedlung in Alt- und Tochterkolonien bei Roche 1966, S. 47, 51, 61). Sie wurden durch Kolonisten urbar gemacht und in Kornkammern verwandelt. Die Erzeugung von Lebensmitteln war zunächst die Domäne der Kolonisten, die Lederwarenherstellung kam hinzu und später die Textil- und Metallverarbeitung. Auf der Grundlage wirtschaftlicher Prosperität wuchsen einige der vormaligen Kolonien zu städtischen Wirtschaftszentren heran. Hieran waren deutsche Unternehmer beteiligt: Bei einem Bevölkerungsanteil von knapp 22 Prozent in Rio Grande do Sul waren 1950 34 Prozent der Industrieunternehmen im Besitz von Deutschstämmigen: in der chemischen Produktion 25 Prozent, der Metallwarenherstellung 31 Prozent, der Produktion von Stoffen 41 Prozent und der Bekleidungsindustrie 60 Prozent (Roche 1969, S. 527, nach Koch 1971, S. 87). Im Handel etwa 200 bis 800 Metern entlang einer Rodungslinie in den Urwald. Sie bilden keine geschlossene Ortschaft im mitteleuropäischen Sinne, sondern bestehen aus Gehöften („Kolonien“) von Großfamilien. Die Siedlungen bleiben aufgrund ihrer Abgeschiedenheit über lange Zeit weitgehend autark. Wegen der kaum vorhandenen Infrastruktur mussten sich die Siedlungen in vielen Bereichen selbst versorgen und richteten eine vollständige Selbstversorgung ein, die vom Lebensmittelhandel bis zur Ziegelei viele notwendige Produkte selbst herstellte. Ihr wirtschaftlicher Erfolg unterstützte diese Autarkie erheblich und machte den Kontakt zur anderssprachigen Bevölkerung oft unnötig. Sie blieben viele Jahrzehnte lang relativ geschlossen und bewahrten die deutsche Sprache und Kultur. 27 Die Kolonien der Deutschen in Brasilien sind überwiegend Streusiedlungen: Diese „Familiendörfer“ stellen die Grundlage von „Familiolekten“ („familetos“) dar, die nach Cléo Altenhofen (1996, S. 345) der Ort des sprachlichen Ausgleichs sind. Eine Statistik weist anhand der Eintragungen in den Kirchenbüchern zwischen 1824 und 1937 Eintrug noch 1971 ein gutes Drittel der Mitglieder der Handelskammer von Porto Alegre deutsche Familiennamen. Koch (1971, S. 88) spricht zusammenfassend von der „Entstehung eines kräftigen Mittelstandes“ im Süden Brasiliens. 26 Die Ansiedlungsregion hing von den Agenten in Deutschland und den „Empfängern“ in Brasilien ab. Die Landung und Verteilung fand anfangs (1822- 1831) in Praia da Amarç-o (Santa Catarina) und Niteroi (Rio de Janeiro), später in Santos (S-o Paulo), Itajaí (Santa Catarina), Rio Grande (Rio Grande do Sul) statt (vgl. Gregory 2007, S. 145). 27 Kontakt zur portugiesischsprachigen Bevölkerung bestand in den Pikadensiedlungen im Grunde fast nicht: „Os colonos que vivem nas ,picadas‘ quase n-o têm contato com ela (a populaç-o lusa, PR)” (Koch 1964, S. 210). Sprachlich beschränkte dies die Aufnahme von portugiesischen Entlehnungen in der Anfangszeit selbst dann, wenn die zu bezeichnenden Gegenstände der „Neuen Welt“ entstammten: Koch (1970, S. 54) weist darauf hin, dass - obwohl vieles von den Lusobrasilianern übernommen wurde (Zuckerrohr, Schwarze Bohnen, Maniok, Mais, Süßkartoffeln) - die Lexik (fast) komplett deutsch war: „toda a terminologia a ela referente é germânica“. <?page no="219"?> 8. Lateinamerika 219 wanderer in S-o Leopoldo, dem ersten Besiedlungsraum in Rio Grande do Sul, aus 1.090 Orten nach (vgl. Altenhofen 1996, S. 57). Die Übersiedlung verlief meist über staatliche Beauftragte und später über Kolonisationsgesellschaften wie den „Colonisations- Verein von 1849 in Hamburg“, der u.a. für die Gründung von Blumenau und Joinville (Santa Catarina) 1850/ 1851 verantwortlich war (vgl. da Cunha 1995). In Deutschland wurde die Kolonisation auch durch die „Gesellschaft zum Schutze der deutschen Einwanderer in Südbrasilien“ (seit 1846) beobachtet, von der Dr. Blumenau entsandt worden war. Unter den ersten Siedlern in Rio Grande do Sul waren zunächst viele Norddeutsche. Auch die Einwanderung ab der Jahrhundertmitte nach Blumenau und Joinville zählte anfangs viele Siedler aus Preußen, Holstein, später aus Pommern, was sich in zahlreichen Orts- und Familiennamen dokumentiert (zum Beispiel „Pomerode“). Jedoch dominiert in Rio Grande do Sul bald die Einwanderung aus dem westmitteldeutschen Raum, darunter vor allem Siedler aus dem Hunsrück. Der Hunsrück und angrenzende Gebiete stellten etwa 50 Prozent der Einwanderer in S-o Leopoldo in Rio Grande do Sul (ab 1824) und auch einen großen Teil der Kolonisten, die ab 1829 von S-o Pedro de Alcântara (Santa Catarina), ab 1829 28 Sprache, Kirche und Schule nennt Gregory (2007, S. 157) als die für die deutsche Immigration bedeutendsten Differenzmarker, die für eine lange Zeit für ungebrochene Vitalität sorgten: „a lingua (…), a escola e a religi-o revelam forte resistencia e marca da diferença“. Die Bedeutung von Schule und Kirche zeigt sich auch darin, dass eigenständige deutsche (kirchliche) Lehrerseminare aufgebaut wurden: 1910 das evangelische Lehrerseminar, 1930 das katholische. Koch (1971, S. 104ff.) beziffert die Anzahl deutschsprachiger Gottesdienste seit der Immigrationszeit wie folgt: 1824/ 1825/ 1828; erste deutsche Pfarrer; 1923: 270 Gemeinden (120.000 Seelen); 1945: 461 (233.000); 1966: 705 (367.000); 1971: 121 (IECLB): 13 auf Deutsch, 75 überwiegend Deutsch, 25 überwiegend Portugiesisch. - Dies scheint nur eine Auswahl der Gemeinden darzustellen: In Koch (2003, S. 206) wird der Sprachgebrauch in Gottesdienst und Versammvon Rio Negro (Paraná) aus ins Innere vordrangen (vgl. u.a. Klug 1994, S. 34). Allerdings war keine Einwanderungsregion homogen (vgl. Gregory 2007, S. 145). Die Besiedlung Rio Grande do Suls mit deutschsprachigen Immigranten war langfristig außerordentlich erfolgreich und verhalf dem südlichsten Staat Brasiliens zu einem überdurchschnittlichen Wohlstand: Ein Grund dafür liegt in der gesellschaftlichen Modernisierung, die auf der Einführung neuer Arbeitsmethoden basierte, ohne Sklaveneinsatz, aber mit staatlicher Unterstützung, und in der Herausbildung einer kleinbäuerlichen sozialen Mittelschicht bestand, die auf guten Böden Überschüsse erzielte, vermarktete sowie in Infrastrukturmaßnahmen investierte. Bereits vier Jahre nachdem die Einwanderungswelle einsetzte, wurde die erste (evangelische) Schule 1828 in Campo Bom gebaut (vgl. Müller 1996, S. 40). 28 Der „Abstand“ dieser Kolonisten zur Aufnahmegesellschaft war entsprechend groß: Kulturelle, wirtschaftliche, soziale, konfessionelle und sogar politische Unterschiede begrenzten eine Vermischung von vornherein. 29 Eine Öffnung gegenüber der Kontaktsprache und -kultur soll zunächst auch stärker bei den Deutschen katholischer Konfession erfolgt sein, während die Angehörigen der evangelischen Konfession (zirka 60 Prozent) sich demgegenüber resistenter zeigten. 30 Eine lungen (IECLB) für 1970 mit 58,3 Prozent überwiegend Portugiesisch und 29,2 Prozent nur Portugiesisch angegeben. 29 Bilh-o (2005, S. 111) weist zum Beispiel darauf hin, dass auch in den Organisationen der frühen Arbeiterbewegung Ende des 19./ Anfang des 20. Jahrhunderts deutschsprachige Gewerkschafter, Sozialisten, Anarchisten führend waren (zum Beispiel im Allgemeinen Arbeiter-Verein von 1892 in Porto Alegre oder in den beiden nach deutschem Vorbild 1897 und 1905 gegründeten sozialdemokratischen Arbeiterparteien), die immer „uma ‚coloraç-o germânica‘“ getragen hätten (Bilh-o 2005, S. 113). 30 Gregory (2007, S. 150) verweist auf die bis heute andauernde regionale Konzentration der Parochien der evangelischen Kirche (Igreja de Confiss-o Luterana do Brasil, ICLB, und Igreja Evangelica de Confiss-o Luterana no Brasil, IECLB) im Süden des Landes: Die <?page no="220"?> Peter Rosenberg 220 wichtige Rolle spielten hierbei die in „Bethäusern“ untergebrachten eigenständigen Schulen, über die sich die hochdeutsche Standardsprache stärker verbreitete, die die Kolonisten aus ihren deutschen Herkunftsregionen immerhin kannten, wenngleich deren schulische Verbreitung dort noch große regionale Unterschiede aufwies (besonders in Preußen, vgl. François 1992). 31 Kreutz (2000) vergleicht Gemeindeschulen der verschiedenen Immigrantengruppen. Bis auf die italienischen Einwanderergruppen, die stärker die staatlichen Schulen nutzten, war bei den Immigranten das Schulwesen überdurchschnittlich entwickelt, insbesondere bei den deutschen Immigranten (vor allem evangelischer Konfession). Es wird von 1.579 Schulen in deutschen Gemeinden (1937) berichtet, von 167 (bzw. 396 nach anderen Angaben) italienischen, 349 polnischen und 178 japanischen (bzw. 486 nach anderen Angaben). Auf die Anzahl der Einwanderungsbevölkerung (nach Kreutz 2000, S. 160 für die1940er Jahre) bezogen, errechnet sich ein Quotient von einer Schule auf 161 Minderheitenangehörige in der deutschen Bevölkerung, eine auf 9.061 (bzw. 3.821) in der italienischen, eine auf 143 in der polnischen und eine auf 1.060 (bzw. 388) Personen in der japanischen Bevölkerung. Wenn auch sowohl die Zählungen der Schulen als auch die Schätzungen der Einwandererbevölkerung unsicher sind, so deuten sie dennoch eine grob zutreffende Relation an. Nach Kreutz (2000, S. 161) liegt verschiedenen Studien folgend auch die Alphabetisierung in der deutschen Einwandererbevölkerung über dem Durchschnitt: mit 87,2 bis 375 Parochien der ICLB waren zu 63 Prozent in der Regi-o Sul (Rio Grande do Sul: 237 Parchoialgemeinden), zu 17 Prozent in der Regi-o Sudeste (Espirito Santo: 64), die restlichen 20 Prozent verteilen sich auf die Regi-o Norte (29), Centro-Oeste (26), Nordeste (18). 31 Bossmann (1953, S. 97f.) betont, dass die deutsche Standardsprache in der Frühzeit kaum eine Rolle spielte: „Die ersten Kolonisten, meistens Bauern, Handwerker, sprachen nur ihren Heimatdialekt. […] Die Schriftsprache hatte keine vorherrschende Stellung, die Mundarten waren zu vielfältig. Daher fehlte für die Bildung einer deutschen Verkehrssprache, im Sinne einer Umgangssprache von Kolonie zu Kolonie, 91,1 Prozent zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegenüber 72,9 bis 89,9 Prozent in der japanischen, 28,4 bis 46,3 Prozent in der spanischen Bevölkerung; 63 bis 71,3 Prozent in der italienischen, 51,7 Prozent in der portugiesischen. (Der brasilianische Landesdurchschnitt 1890 wies 80 Prozent Analphabeten aus.) Noch 1991 war die Alphabetisierung in den deutschen Immigrantenregionen Rio Grande do Suls überdurchschnittlich hoch: Von den 50 Munizipien mit der höchsten Alphabetisierung in Brasilien lagen 33 in Rio Grande do Sul, davon 29 in den deutsch besiedelten Kernregionen (Val de Rio Caí, Val de Rio Taquarí, Serra Gaúcha). Gegen Ende des 19. Jahrhunderts beginnt eine verstärkte Binnenwanderung: Überwog bis dahin die Binnenkolonisation - oft entlang von Flüssen - ins Landesinnere (in Rio Grande do Sul von S-o Leopoldo aus, in Santa Catarina von Blumenau bzw. Joinville und Florianópolis aus ins Hinterland), kommt nun eine Migration hinzu, die von den „Alten Kolonien“ um S-o Leopoldo aus in den Nordwesten Rio Grande do Suls sowie nach Santa Catarina geht und die auch dialektal unterschiedliche Kolonien in Kontakt bringt. Das in sich selbst keineswegs einheitliche Hunsrückisch, wie es sich im Zuge des Sprachausgleichsprozesses in den „Alten Kolonien“ herausgebildet hat, trifft in den „Neuen Kolonien“ auf pommerische, westfälische, schwäbische und wolgadeutsche Varietäten. Der sprachliche Ausgleich ist in diesen Siedlungen zum Teil bis heute nicht abgeschlossen. 32 Die erneute dialektale Mischung in den „Tochtervon Stadt zu Land, schon jede Voraussetzung.“ (Vgl. auch Fausel 1962, S. 212). Jedoch entfalteten im Laufe der Zeit Schule und Kirche „segensreiche Tätigkeit“ in der Vermittlung des Standarddeutschen. 32 Gregory (2007, S. 149f.) spricht für den Zeitraum ab 1920 von einem „Ausschwärmen“ (enxamagem) der deutschen Besiedlung: Rio Grande do Sul erlebt eine Abwanderung, Espirito Santo Zu- und Abwanderung, Paraná eine starke Zuwanderung. Später kommen Mato Grosso, Rondônia (und in den 1960ern und 1970ern Paraguay, Argentinien und Bolivien) hinzu. Ab 1970 überwiegt die Land-Stadt-Wanderung gegenüber der Regionalwanderung. <?page no="221"?> 8. Lateinamerika 221 kolonien“ findet überdies unter den Bedingungen einer Entwicklung zum deutsch-portugiesischen Bilingualismus statt. Darüber hinaus hat die Binnenmigration auch zu einer näheren oder weiteren Nachbarschaft mit italienischen und polnischen Einwanderersiedlungen geführt. Andere Immigrantensprachen (wie Arabisch, Japanisch, Jiddisch, Niederländisch, Spanisch, Roma) und in Reservaten auch Tupí-Guaraní tragen zur sprachlichen Vielfalt der Region bei (vgl. Altenhofen 1996, S. 52). Im Unterschied zu den anderen südamerikanischen Ländern löst der Erste Weltkrieg in Brasilien bereits politische Restriktionen gegenüber den Deutschbrasilianern aus. 1917 erklärte Brasilien Deutschland den Krieg. Bis zum Ende des Krieges wurden deutschsprachige Publikationen, Vereine und schulischer Deutschunterricht verboten. Auch wenn nach Kriegsende Vereine und Organisationen der Deutschen nach und nach wieder die Arbeit aufnahmen, löste diese Veränderung des öffentlichen Ansehens des Deutschen eine erste Krise aus. Die wirtschaftliche Modernisierung und die Immigration weiterer europäischer Siedler 33 , etwa der Italiener (ab 1874) und Polen (ab 1891), bewirkten zudem eine stärkere Verwendung des Portugiesischen, die sich vor allem in den Städten auswirkte: Für Blumenau gibt Willems (1940, S. 146) einen Rückgang der Angaben zum Deutschen als Muttersprache zwischen 1882 und 1927 von 71 Prozent auf 40 Prozent an. In der Stadt leben nun neben den 75 Prozent Deutschen, Russlanddeutschen und Österreichern auch zahlreiche Italiener, Ungarn, Polen, Belgier und andere Immigranten. Auch orientierte sich die staatliche Ansiedlungspolitik nach 1890 auf gemischte Siedlungen statt der ethnisch stärker homogenen der Frühzeit. Wesentlich weiter reichende politische Restriktionen setzen unter der Diktatur Getúlio Vargas’ ein, der 1930 bis 1954 an der 33 Lúcio Kreutz (1985, S. 62) nennt für den Immigrationszeitraum bis 1929 folgende Einwandererzahlen: 1.485.000 Italiener, 1.321.000 Portugiesen, 583.000 Spanier, 223.000 Deutsche/ Österreicher/ Schweizer (Deutschsprachige), 86.000 Japaner. Macht ist. 1937 proklamiert er die Politik des „Estado Novo“: Im Zuge einer radikalen Nationalisierungspolitik wird ein Verbot aller politischen Parteien, „ausländischer“ Publikationen und jeglicher politischer Betätigung von Immigranten verfügt. 1938 werden alle „ausländischen“ Schulen verboten und das Portugiesische zur alleinigen Schulsprache erhoben, das bis dahin vielerorts nur fakultativ unterrichtet worden war: „A instruç-o primária será ministrada exclusivamente em portugues“ (nach Rohde 1996, S. 201). 1939 wird ein Kanzelverbot für „Fremdsprachen“ ausgesprochen, 1940 der Unterricht sämtlicher „Fremdsprachen“ untersagt. 1942, mit der Kriegserklärung Brasiliens an Deutschland, wird der mündliche wie schriftliche Gebrauch der deutschen Sprache bei Gefängnisstrafe verboten: 34 „Überall, in Mühlen, Geschäften, Ämtern, gab es Plakate, wo man las: ,Proibido falar Alem-o‘ (Verboten, Deutsch zu sprechen), ,Proibido falar Italiano‘ (Verboten, Italienisch zu sprechen)“ (Beitrag zur Geschichte von Nova Petrópolis 1988, S. 282). Die drei Kriegsgegner sind in Brasilien mit den drei größten Immigrantengruppen, den Deutschen, Italienern und Japanern, vertreten. Die Volkszählung von 1940 (vgl. Born 1995, S. 136) gibt als am häufigsten vertretene nicht-portugiesische „Haussprache“ Deutsch an (etwa 650.000 Sprecher), danach Italienisch (gut 450.000) und an dritter Stelle Japanisch (knapp 200.000). Die italienische Bevölkerung war - auch aufgrund der größeren sprachlichen und konfessionellen Nähe - frühzeitig zweisprachig (meist mit Portugiesisch und einer dialektalen italienischen - oft venetischen - Ausgleichsvarietät) oder assimiliert. Sie konnte sich leichter arrangieren und wurde in der Umsetzung der Verbote nicht mit gleicher Härte getroffen. Die japanische Bevölkerung, seit 1908 immigriert, lebt überwiegend in der Stadt oder stadtnahen Siedlungen im Staat S-o Paulo und bildet dort 34 „Deutsch zu sprechen wurde unter Strafe gestellt, was vor allem die deutsch-stämmigen Brasilianer des Südens ihrer kulturellen Identität beraubte.“ (Geissler 1981, S. 56) <?page no="222"?> Peter Rosenberg 222 einen beträchtlichen Teil der städtischen Mittelschicht. Sie ist durchgehend zweisprachig (vgl. Born 1995, S. 138). Vergleichende Untersuchungen zur Sprachenpolitik und Soziolinguistik dieser drei Gruppen stehen noch aus. 1940 waren noch 77 von 88 Munizipien in Rio Grande do Sul nach dem Zensus deutsch besiedelt, 1980 noch 101 von 332. Deutsche machten 1940 einen Anteil an der Stadtbevölkerung von Porto Alegre, der Hauptstadt von Rio Grande do Sul, von 28 Prozent aus (Otero Schäffer 2004, S. 172ff.). Nach dem Zensus von 1940 sprachen in Rio Grande do Sul 393.934 Deutsch zuhause, 1950 344.450 35 (vgl. Koch 1971, S. 89); danach gibt es keine Zensusdaten zum häuslichen Sprachgebrauch. Für die deutschbrasilianische Bevölkerung stellen die Restriktionen unter Getúlio Vargas einen tiefen Einschnitt dar. Sie wird als „5. Kolonne“ verdächtigt (vgl. Rohde 1996, S. 210ff.). Denunziationen, Verfolgungen und Verhaftungen - vor allem von Lehrern und Pfarrern - treffen die bis dahin auf dem Lande dominant deutschsprachige Bevölkerung in einer Weise, die bis heute zu spüren ist: Bücher, 35 Die Angaben dürften auch für 1940 und 1950 wenig zuverlässig sein angesichts der Repressionen gegenüber „fremdsprachigen“ Brasilianern unter Vargas. (Getúlio Vargas war Präsident Brasiliens von 1930 bis 1945 und von 1950 bis 1954.) Der Rückgang des Gebrauchs der Immigrantensprache ist bei den Italienern noch stärker gewesen: 1940 gaben noch 295.995 an, Italienisch in der Familie zu sprechen, 1950 noch 190.376 (vgl. Koch 1971, S. 89). 36 Bossmann (1953, S. 103) resümiert bereits für die beginnenden 1950er Jahre: „In den letzten Jahren gewann das Portugiesische als Nationalsprache immer mehr Boden in der Umgangssprache der Teutobrasilianer. Die Menge der portugiesischen Wörter, der täglichen Redewendungen, in hier gedruckten Büchern, Schriften und in der Presse veranschaulichen, wie weit der sprachliche Assimilierungsprozess schon fortgeschritten ist.“ 37 Grützmann (2004) wie auch viele andere erwähnt die reiche deutschsprachige Kalenderliteratur, die vielfältige Funktionen für die deutschen Gemeinden besaß: Sie leitete durch das Jahr, gab Informationen, bot belletristische Leselektüre, gab Normen der Lebensführung und war auf diese Weise identitätsstiftend. Grützmann (2004, S. 90) sieht ihre Rolle in der Verbreitung eines Deutschtums (Germanismo), das über allen sozia- Gemeindechroniken, deutsches Schrifttum jeder Art hatten zu „verschwinden“, wurden verbrannt oder vergraben. 36 Die Ausschaltung von Deutschbrasilianern aus dem öffentlichen Leben hatte ebenfalls erhebliche Konsequenzen. Bis dahin hatten viele Deutsche, ähnlich wie auch in Chile, bedeutende politische Stellungen erlangt, wie etwa Lauro Müller, der um die Jahrhundertwende dreimal zum Präsidenten des Bundesstaats Santa Catarina gewählt und 1912 sogar brasilianischer Außenminister geworden war. Folgenreiche Restriktionen trafen vor allem das deutschsprachige Bildungswesen: Das Verbot der besonders in den 1920ern gegründeten 2.000 deutschen Vereine und die Beschlagnahme ihres Vermögens, das Verbot der 70 deutschen Zeitungen und anderer Schrifterzeugnisse 37 , der Ausfall der 1.300 Privatschulen als Stätten der Vermittlung deutscher Sprachkenntnisse stellten einen gravierenden Einschnitt dar. 38 Die Folge ist, dass die deutsche Sprache nur noch mündlich und in dialektaler Form weitergegeben werden konnte. 39 len und kulturellen Wandel hinweg einheitliche Orientierung bot. (Vgl. zur Bedeutung des deutschsprachigen Schrifttums auch Gregory 2007, S. 154) 38 Mauch (1994, S. 157) zählt für 1931 1.326 deutsche Schulen mit 56.596 Schülern, darunter 705 evangelische Schulen (25.227 Schüler) und 451 katholische (23.337 Schüler); nur 170 Schulen waren konfessionell gemischt. Die meisten Schulen bestanden mit 952 in Rio Grande do Sul (37.078 Schüler) und mit 278 Santa Catarina (12.846 Schüler). Seyferth (1992, S. 92, nach Gregory 2007, S. 154) weist darauf hin, dass die Schulgründungen oft nicht aus ethnischen Motiven erfolgten, sondern dem Umstand geschuldet waren, dass die Regierungen selbst keine Initiative zeigten. 39 „Solange der Deutschunterricht eine gewisse Selbstverständlichkeit war, d.h. bis zum Unterrichtsverbot von 1938 an oder auch bis zum totalen Deutschverbot zwischen 1941 und 1947, konnten alle, die in eine der etwa 1500 deutschbrasilianischen Schulen gegangen waren, immerhin fast jeden, einfach geschriebenen deutschgeschriebenen oder -gedruckten Text verstehen oder wiedergeben. […] Seit dem Schul- und Sprachverbot des zweiten Weltkriegs ist die Kenntnis der Schriftsprache wie des Hochdeutschen bei einem großen Teil der heranwachsenden Generation ungeheuer zurückgegangen“ (Fausel 1962, S. 210f.) <?page no="223"?> 8. Lateinamerika 223 Vor allem aber leiteten diese Maßnahmen einen Prestigeverlust des Deutschen ein, ließen sie doch die bis dahin weitgehend konfliktfreie Verbindung einer deutsch-brasilianischen Identität unvereinbar erscheinen. Sie bedeuteten eine entscheidende Zäsur in der sprachlichen und kulturellen Entwicklung der deutschsprachigen Bevölkerung. In der Folgezeit sahen sich die Angehörigen der deutschstämmigen Bevölkerungsgruppen einem starken Assimilationsdruck ausgesetzt, insbesondere in der Stadt. 40 Altenhofen (1996, S. 58) geht für die Frühzeit der Besiedlung (1824-1850) von einsprachig deutschen Verhältnissen aus (Einwanderer- und erste in Brasilien geborene Generation), sieht in der Zeit bis zum Ersten Weltkrieg eine Differenzierung zwischen einsprachig deutschen Landbewohnern und zweisprachigen Stadtbewohnern (zweite und dritte Generation), die - nach einer Übergangsphase bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs (vierte Generation) - auf dem Lande zu bilingualen, in der Stadt zu monolingual portugiesischen sprachlichen Verhältnissen führt (fünfte und sechste Generation). Koch stellte in ähnlicher Weise bereits 1971 fest: „Der Gebrauch der deutschen Sprache im alltäglichen Umgang befindet sich ganz offensichtlich in rückläufiger Entwicklung“ (Koch 1971, S. 94). Er differenziert die sprachliche Situation der Deutschstämmigen Brasiliens ebenfalls nach ländlichen und städtischen Gebieten (sowie nach Mehrheits- oder Minderheitslage): Ländliche Gebiete mit deutschsprachiger Mehrheit: - Vor 1930 Geborene sprechen den Dialekt aktiv, evtl. auch etwas standardnahes Deutsch, können einfache Texte auf Deutsch lesen und beherrschen Portugiesisch eher passiv. - Nach 1930 Geborene sprechen den Dialekt aktiv, nur schwach standardnahes Deutsch, können Texte weder auf Deutsch noch auf 40 Deutsch zu sein, wurde von nun an zu einem Stigma; es erhielt eine Konnotation niedrigen Prestiges, der Verleugnung und der Exklusion: „ser alem-o assumia Portugiesisch lesen und beherrschen Portugiesisch eher aktiv, aber nicht fließend. - Die damals jüngste Generation (ab 1950 geboren) ist im Portugiesischen stärker, spricht Deutsch mit portugiesischen Entlehnungen. Ländliche Gebiete mit deutschsprachiger Minderheit: - Vor 1930 Geborene sprechen den Dialekt aktiv, evtl. auch etwas standardnahes Deutsch, können einfache Texte auf Deutsch lesen und beherrschen Portugiesisch eher passiv. - Nach 1930 Geborene sprechen den Dialekt aktiv, nur schwach standardnahes Deutsch, können Texte weder auf Deutsch noch auf Portugiesisch lesen und beherrschen Portugiesisch mündlich aktiv und flüssig. - Die damals jüngste Generation (ab 1950 geboren) spricht Portugiesisch mit leichtem Akzent, Dialekt mit syntaktischen Schwierigkeiten und Wortschatzlücken. Städtische Gebiete: - Vor 1930 Geborene beherrschen Deutsch in Wort und Schrift, wenn sie Schulbesuch auf Deutsch hatten, und sprechen fließend Portugiesisch, evtl. mit leichtem Akzent. - Nach 1930 Geborene sprechen noch Deutsch, wenngleich limitiert, beherrschen Portugiesisch in Wort und Schrift. - Die damals jüngste Generation (ab 1950 geboren) spricht Portugiesisch fließend, Deutsch nur in besonderen Fällen (Koch 1971, S. 92f.). Erst nach der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Brasilien und Deutschland Mitte der 1950er Jahre und dem Abschluss eines Abkommens über die Rückgabe des deutschen Vermögens konnte an einen Wiederaufbau von Vereinen und Schulen gegangen werden. Erst 1961 wurde das Deutsche wieder - als Fremdsprache - in den Schulen zugelassen. Die südlichen Bundesstaaten Brasiliens kehrten damit schrittweise wieder uma conotaç-o inferior, de negaçao, de exclus-o“ (Gregory 2007, S. 157). <?page no="224"?> Peter Rosenberg 224 zu dem zurück, was die aus zahlreichen Einwandererkulturen geformte „Gaúcho“-Kultur des Südens ausgemacht hatte: Nach einer in den späten 1980er Jahren durchgeführten Erhebung des von Walter Koch geleiteten Projekts „Bilingüismo no Rio Grande do Sul (B IRS )“ gaben 19,1 Prozent der 28.686 (ausschließlich männlichen) Befragten im Alter von 18 Jahren an, bilingual zu sein, davon 57 Prozent mit einer Varietät des Deutschen, 34 Prozent mit Italienisch. In der Elterngeneration der Befragten waren dies noch 30,85 Prozent von 47.268 gewesen; der Rückgang innerhalb von 18 Jahren wird mit 11,75 Prozent berechnet. 41 Er sei allerdings bei den Italobrasilianern noch deutlich stärker (vgl. Altenhofen 1996, S. 56). Heute ist die deutsche Sprache in dialektaler Form im Wesentlichen auf dem Lande in den informellen sprachlichen Domänen, vor allem der Familie, erhalten geblieben. Unter dem Druck der „Brasilianisierung“ waren Schulen mit deutscher Unterrichtssprache in großer Zahl geschlossen worden, ohne dass staatliche Schulen mit portugiesischer Unterrichtssprache eröffnet worden wären. Entsprechend machten sich in der Folgezeit ein Fehlen hochsprachlicher Kenntnisse und ein generelles Bildungsdefizit bemerkbar. Die lange Zeit des Ausschlusses von hochsprachlicher Bildung hat nach Altenhofen (1996, S. 69) zu einem „Ausweichen in den Dialekt“ geführt. 3.2 Sprachen und Varietäten, Sprachgebrauch und Sprachkompetenz Die Hauptvarietät im Süden, das Riograndenser Hunsrückisch hat sich durch 170jährigen dialektalen Ausgleich, durch Varietätenkontakt mit anderen deutschen Varietäten sowie 41 Vgl. Raso/ Mello/ Altenhofen (2011, S. 41). 42 Koch (1971, S. 96f.) beschreibt die Hunsrückische Ausgleichsvarietät: „In fast allen diesen Inseln befindet sich die deutschbrasilianische Koiné im Vordringen. […] Diese Koiné ist eine Abart des Rheinfränkischen und benachbarter Mundarten“. Fausel (1962, S. 213) bemerkt zu ihrer Expansion: „Die rheinfränkische Vidurch den Sprachkontakt mit dem Portugiesischen und anderen Einwanderersprachen zu einer neuen, eigenständigen Varietät entwickelt, deren „Diffusion“ über die Kolonien von Rio Grande do Sul und darüber hinaus von Cléo Altenhofen beschrieben wird. Das Hunsrückische hat im Zuge dieser „Diffusion“ andere Varietäten verdrängt oder gelegentlich sogar überdacht, nicht ohne selbst Merkmale dieser Varietäten aufgenommen zu haben. 42 Altenhofen versteht das Hunsrückische als ein dialektales Kontinuum mosel- und rheinfränkischer Merkmale, das dem Dialekt- und Sprachkontakt innerhalb eines Varietätennetzwerks ausgesetzt ist. Anhand von Erhebungen in zehn Belegorten beschreibt Altenhofen (1996) die dialektale Variation des Hunsrückischen als „intralinguale“ Variation zwischen Merkmalen des in sich keineswegs einheitlichen Hunsrückischen, der hochdeutschen Standardsprache, verschiedener Familiolekte und der anderen dialektalen Varietäten (Pommerisch, Westfälisch usw.) sowie als „interlinguale“ Variation zwischen portugiesischen Entlehnungen, italienischen Einflüssen (und französischen Altentlehnungen). Die Siedlungs- und Familiengeschichte, soziale und altersmäßige Faktoren beeinflussen diese Variation. Steffen und Altenhofen (2014) verwenden für die Hunsrückisch-Gemeinschaften (wie auch für die Mennonitenkolonien) den Begriff des „Spracharchipels“, um darauf hinzuweisen, dass es sich um ein weit verzweigtes Hunsrücker Netzwerk handelt, das über Migration, über geschäftliche Verbindungen, Heiratsmarkt, verwandtschaftliche Kontakte und natürlich vor allem durch die sprachliche Expansion dieser Hauptvarietät des Deutschen in Brasilien einen „Teuto-Riograndenser Kulturraum“ geknüpft hat, der mittlerweile sogar über die Landesgrenzen talität, die heute die entscheidende Triebkraft der von Süden nach Norden und Nordwesten verlaufenden Binnenwanderung und einer neuen Urwaldkolonisation ist, saugt im Neuland von West- und Nordparaná, im südwestlichen S-o Paulo und in Mato Grosso meist alle anderen Mundarten auf.“ (Fausel 1962, S. 213) <?page no="225"?> 8. Lateinamerika 225 hinausgeht und zum Beispiel bis in den Südosten Paraguays reicht. 43 In den großen von Altenhofen mitverantworteten oder geleiteten Atlas-Projekten ALERS (Atlas Lingüístico-Etnográfico da Regi-o Sul do Brasil) 44 und ALMA-H (Atlas Linguístico-Contatual das Minorías Alem-s na Bacia do Prata: Hunsrückisch) 45 , der wesentlich auf dem Konzept der pluridimensionalen Dialektologie nach Harald Thun basiert, wird die Sprachkontaktsituation unter Einschluss der deutschbrasilianischen Varietäten seit einer Reihe von Jahren gründlich erforscht. Zu diesem reichen Forschungsschatz tragen auch mehrere Dissertationen bei, die bei Altenhofen angefertigt wurden. Anzeichen der sprachlichen Assimilierung sind in den meisten Sprechergemeinschaften deutschbrasilianischer Varietäten heute zu beobachten: 43 „Die sogenannten Sprachinseln der deutschsprachigen Minderheiten in Amerika bilden in Wirklichkeit wahre Archipele, die durch identische Strukturen und Bräuche sowie eine gemeinsame Sprache zusammengehalten werden. Die Kommunikation innerhalb des Archipels übetrifft an Bedeutung bei weitem die Verbindung mit dem sprachlichen Herkunftsland Deutschland. […] Dabei besteht ein wichtiger Faktor, der zum Erhalt und zur Kohäsion des Archipels beiträgt, in der schriftlichen Kommunikation zwischen den zugehörigen Inseln.“ (Steffen/ Altenhofen 2014, S. 56). 44 Der ALERS ist ein Atlas, der die ethnolinguistische Vielfalt im Süden Brasiliens dokumentiert. Er ist zwischen 2002 und 2011 in drei Bänden erschienen (1. Einleitung, 2. Phonetik und Morphosyntax, 3. Semantik und Lexik) und wurde von den drei staatlichen Universitäten der drei südbrasilianischen Bundesstaaten getragen. Koordinatoren des Projekts waren Walter Koch und Cléo Altenhofen. Die Datenbasis stellen Sprachaufnahmen und Befragungen in Rio Grande do Sul (95 Ortspunkte), Santa Catarina (80 Ortspunkte) und Paraná (100 Ortspunkte) dar. Gegenstand sind Variation und Wandel des brasilianischen Portugiesisch im Sprachkontakt u.a. mit den europäischen Einwanderersprachen. 45 Das Atlasprojekt ALMA-H legt ein Datenkorpus an, das aus Sprachaufnahmen und Befragungen in 41 Ortspunkten in den drei Ländern der Plata-/ Prata-Region besteht, darunter 34 in Brasilien (23 in Rio Grande do Sul, 6 in Santa Catarina, 3 in Paraná, 2 in Mato Grosso), 3 in Argentinien (Misiones) und 4 in Paraguay. Es beschreibt die Verwendung des Hunsrückischen im Sprachkontakt mit dem Portugiesischen „Das Portugiesische wurde zum Symbol der Stadt, der höheren Schicht, des Wissens, der Schule, der Nationalität und der jüngeren Generation. Das Hunsrückische wird im Gegensatz dazu wachsend mit der Sprache der ländlichen Gegenden, der Herkunft, der Familie, der Gruppensolidarität und der älteren Generation assoziiert.“ (Altenhofen 1996, S. 73) Während die frühere gewaltsame „Brasilianisierungspolitik“ zu keiner völligen Assimilation geführt hatte, ist es heute die Modernisierung des Landes, die durch wachsende Verstädterung, Infrastrukturausbau und Industrialisierung, durch die damit verbundene Herausbildung sozialer Schichten auch unter den Deutschbrasilianern sowie durch eine gestiegene Mobilität und eine wachsende Zahl von Partnerschaften unterschiedlicher familiärer Herkunft, das Portugiesische eindringen lässt. 46 bzw. Spanischen (in regionaler Variation und in Abhängigkeit vor allem von den Dimensionen Generation und Bildungsschicht/ Schulbesuch) sowie die Sprachkompetenz (mündlich wie schriftlich) des Deutschen und der Kontaktsprachen, sprachliche Präferenzen, Codewechsel und pragmatisch-funktionale Aspekte. Es wird gemeinsam von der Universidad Federal de Rio Grande do Sul in Porto Alegre (UFRGS, Cléo Altenhofen) und Christian-Albrechts-Universität Kiel (CAU, Harald Thun) durchgeführt. Die bereits begonnene Auswertung der erhobenen Daten (um die 800 Stunden Sprachaufnahmen) wird Auskunft geben können über die Verbreitung, Variation und Wandel des Hunsrückischen allgemein, sowie auch dessen Migration und Kontakt mit dem Portugiesischen und Spanischen (vgl. Altenhofen 2016; die Ortsnetzkarte des ALMA-H findet sich im Anhang auf S. 264; vgl. http: / / www.ufrgs.br/ proj alma/ ). 46 Das brasilianische Portugiesisch unterliegt selbst einer erheblichen Variation, wie dies durch Paulino Vandresen und andere im Rahmen des Projekts „Variaç-o Lingüistica Urbana no Sul do País (Varsul)“ in südbrasilianischen Städten mit soziolinguistischen Methoden untersucht wurde. Dabei haben die Immigrantensprachen im Portugiesischen ihre Spuren hinterlassen. Helga Guttenkunst Prade (1996) beschreibt etwa die vielfältigen Interferenzen im Portugiesischen, die zum Teil aus dem im Untersuchungsort gesprochenen Hunsrückischen resultieren: stimmlose Konsonanten (bzw. Fortes) anstelle von stimmhaften (zum Beispiel vertate statt verdade ,Wahrheit‘), fehlende Vokalisierung des „l“ (zum Beispiel in papel ,Papier, Rolle‘), fehlende Nasalierung der Vokale (zum Beispiel in Alemanha), <?page no="226"?> Peter Rosenberg 226 Schon Bossmann (1953, S. 97) benannte als spracherhaltenden Umstand in Brasilien „die Isolierung des betreffenden Sprachgebietes von der Umwelt […]. Ist einmal für so ein Gebiet der Anschluss an das Verkehrsnetz vollzogen, beginnt die sprachliche Unterwanderung und damit das langsame Absterben der Mundart“. 47 Der Forschungsstand zu den brasiliendeutschen Varietäten ist mittlerweile durchaus entwickelt, weshalb er hier eingehender dargestellt werden soll. 48 Zunächst zu den Studien der späten 1980er und der 1990er Jahre, die ein wiederbeginnendes breiteres Interesse an der brasilianischdeutschen Sprachsituation dokumentieren: Elke Cybulla (1993) hatte die Ethnographie des Sprachverhaltens in drei Generationen in Alto Bella Vista (Santa Catarina) untersucht. Sie kommt zu dem Ergebnis eines in der jüngeren Generation beschleunigten Sprachwechsels, der in einem weitgehenden Übergang zum Portugiesischen in den öffentlichen Sprachdomänen besteht. In der Familie wird überwiegend zweisprachig oder portugiesisch gesprochen, nur mit den Großeltern spricht noch ein Fünftel ausschließlich deutsch. In öffentlichen Sprachdomänen dominiert das Portugiesische, aber immerhin ein Viertel der Informanten gebraucht teilweise Deutsch. Lourdes Claudete Schwade Sufredini (1993) hatte die Zweisprachigkeit in Lageado Antunes, einer ländlichen Gemeinde im westlichen Santa Catarina, untersucht. In einer Befragung von 24 Schülern der 5. bis 8. Klasse bestätigt sich der Rückzug der deutschen Varietäten in die familiären Sprachdomänen. Mit Eltern und Großeltern wird von drei Vierteln doppelte Verneinung, Verschiebungen des Wortakzents und zahlreiche weitere. Gewehr-Borella (2014) zeigt hingegen, dass phonetischer Transfer (auf dem Gebiet der Stimmhaftigkeit) aus dem Deutschen im Portugiesischen vor allem mit den (jüngeren) Generationen geringer wird, aber auch mit dem (höheren) Bildungsgrad der Informanten. 47 Tatsächlich hat etwa der Bau einer Asphaltstraße (der sogenannten „Fasche“) in den Kolonien um Pelotas in den 1970er Jahren den Anschluss der Region an die Stadt und damit eine sprunghafte Erhöhung der Mobilität der Bewohner bewirkt, die u.a. die Jugend der Befragten „fast immer“ („quase sempre“: 50-66 Prozent) oder „gelegentlich“ („às vezes“: 8-25 Prozent) Deutsch gesprochen. In öffentlichen Kommunikationskontexten (zum Beispiel im Geschäft oder in der Kirche) wird nur „gelegentlich“ von einem Drittel bis zur Hälfte der Befragten Deutsch verwendet. Interessant ist jedoch, dass auch in der jugendlichen Peergroup die deutsche Varietät durchaus noch präsent ist, wenngleich mit portugiesischen Entlehnungen und Interferenzen in großer Zahl. Eine Netzwerkanalyse ergibt schließlich, dass die Kommunikation in der Familie und der engen Nachbarschaft weitgehend auf Deutsch vonstattengeht, während außerhalb der Gemeinde (beim Arzt, in Geschäften, mit dem Pfarrer) in allen Generationen nahezu ausschließlich portugiesisch gesprochen wird (Schwade Sufredini 1993, S. 106ff.). Maria Elaine Estivalét Steiner (1988) führte eine ähnliche Untersuchung in Jaraguá do Sul bei Joinville (Santa Catarina) durch: Der Ort liegt in einer städtisch geprägten, dicht besiedelten und industriell entwickelten Region. Die Befragung unter 292 Schülern kommt zu dem Ergebnis, dass in der überwiegenden Anzahl der Familien nur noch „gelegentlich“ Deutsch gesprochen wird, wie auch in der Peergroup und in der Nachbarschaft. Beim Einkauf und in der Kirche wird zu fast 90 Prozent ausschließlich Portugiesisch gesprochen. Die Verwendung des Deutschen ist gegenüber älteren Gesprächspartnern und Bekannten häufiger und auch von der Konfession abhängig: Protestanten sprechen innerhalb und außerhalb der Familie mehr Deutsch als Katholiken (Estivalét Steiner 1988, S. 83ff.). der Kolonien zur Ausbildung in die Stadt - das heißt in eine portugiesischsprachige Umgebung - brachte. 48 Die meisten Studien wurden etwa seit 2000 unter der wissenschaftlichen Betreuung von Cléo Altenhofen (UFRGS Porto Alegre) unternommen. Die Verdienste der frühen Fragebogenstudie von Elke Potthast- Huboldt (1982) Zum Mundartgebrauch in Siedlungen pommerscher Auswanderer des 19. Jahrhunderts in Espírito Santo (Brasilien) sowie der Arbeit von Jürgen Heye (1978) Bilingualism and Language Maintenance among German Speaking Immigrants in Brazil seien damit keineswegs geschmälert. <?page no="227"?> 8. Lateinamerika 227 Ute Bärnert-Fürst (1994) untersuchte Sprachbewahrung und Sprachwechsel in einer Studie des Sprachverhaltens in drei Generationen in Panambí (Neu-Württemberg), einer schwäbischen Kolonie im Nordwesten von Rio Grande do Sul. Auch hier zeigt sich, dass in der Folge der Stigmatisierung des Deutschen es die mittlere Generation war, die den Sprachwechsel innerhalb der Familie einleitete. Während in der Gründungszeit die Verwendung des Portugiesischen auf die äußeren Kontakte des wirtschaftlichen und institutionellen Verkehrs beschränkt blieb, dringt die Kontaktsprache seit den späten 1930er Jahren über die Schule und Kirche ein, während die Arbeitssphäre auf dem Lande noch deutsch bleibt, in der Stadt jedoch partiell zum Portugiesischen übergeht. In den 1980er Jahren wurde die deutsche Varietät auf dem Lande partiell auch wieder in der Kirche und bei der Arbeit verwendet, während jedoch die familiäre Kommunikation bilingual geworden ist: in der Stadt mit Dominanz des Portugiesischen, auf dem Lande mit Dominanz des Deutschen. Ute Bärnert-Fürst deutete dies als Stadien eines langfristigen Prozesses, der mit einer Verschiebung der Sprachdomänen begann und zu einem generationenspezifischen Sprachgebrauch, insbesondere zu Veränderungen in der sprachlichen Sozialisation der Kinder, führt. Negative Spracheinstellungen gegenüber der Minderheit und ihrer Sprache waren hingegen kaum zu beobachten. Ingrid Margareta Tornquist (1997) stellte nach qualitativen Interviews unter 15 Informantinnen (zwischen 21 und 95 Jahren) widersprüchliche Spracheinstellungen fest: Zwar sei eine „deutliche Loyalität gegenüber der heimatlichen Sprache zu verzeichnen“, die auf dem „Zusammengehörigkeitsgefühl der ethnischen Gruppe“ basiere. Jedoch schämten sich viele ihrer deutschen dialektalen Varietät, zumal sie im Deutschen überdies meist Analphabeten seien: „das wor werklich eeklich, was mer gesproch hon, iwereeklich, ich sprech jetz noch eeklich, porque [weil] ich kann keen Hochdeitsch“ (Tornquist 1997, S. 85 u. 79). Seit den 2000ern wurden eine Reihe von Forschungsarbeiten, häufig Dissertationen, ausgeführt, die vor allen anderen von Cleó Altenhofen inspiriert wurden und sich überwiegend an dem Konzept der „pluridimensionalen Dialektologie“ (Harald Thun) orientieren. Nicht zufällig werden dabei oft Sprachkompetenz, Sprachgebrauch und Spracheinstellungen der jüngeren Generationen thematisiert. Die folgenden Ausführungen behandeln zuerst das Hunsrückische, anschließend die niederdeutschen Varietäten des Pomerano, des Vestfaliano und des Plautdietschen der Mennoniten: Carmen Grellmann Breunig (2005) untersucht das Unterrichtsgeschehen in einer Elementarschule in Boa Vista do Herval, Rio Grande do Sul, in der noch manche Kinder ohne Portugiesischkenntnisse in die Schule kommen: Das Code-Switching-Verhalten der Lehrerin wird gezielt zur Aktivierung der Schüler eingesetzt und übernimmt eine Brückenfunktion. Es hilft insbesondere in der informellen Kommunikation (im Stuhlkreis) als eine „estratégia culturalmente sensível“ (Grellmann Breunig 2005, S. 171). In stärker institutionellem Kontext erhöht sich die Portugiesisch-Verwendung. Die Lehrerin baut das Code-Switching im Laufe des Schuljahres ab und kritisiert die Verwendung des Deutschen (Grellmann Breunig 2005, S. 177f.). Ingrid Kuchenbecker Broch (2014, S. 20) kritisiert generell das Fehlen eines pluralen sprachenpolitischen Konzepts in der Schule, es erfolge zu wenig Anerkennung der Minderheitensprachen. Die Studie selbst versucht zu ermitteln, welche Strategien einer größeren Vielfalt an schulischem Sprachenlernen dienen könnten. In der untersuchten Schule in Porto Alegre sprechen alle 454 Schüler und 73 Lehrer Portugiesisch, Deutsch wird zu zirka zwei Prozent zu Hause gesprochen (Kuchenbecker Broch 2014, S. 140). Immerhin haben zirka ein Viertel der Schüler und der Lehrer auf die eine oder andere Art und Weise Kontakt zum Deutschen (Kuchenbecker Broch 2014, S. 145), hauptsächlich über familiäre Kontakte (die Lehrer vor allem auf Reisen nach Europa). Fünf Prozent der Schüler haben Deutschunterricht außerhalb der Schule (Kuchenbecker Broch 2014, S. 156), neun Prozent halten Deutsch für eine Sprache, die <?page no="228"?> Peter Rosenberg 228 für ihre Zukunft wichtig ist (gegenüber 79 Prozent Englisch und 73 Prozent Spanisch) (Kuchenbecker Broch 2014, S. 152). Größere schulische Wahlmöglichkeiten (jenseits von Englisch und Spanisch) werden von einem erheblichen Anteil von Schülern genutzt. Das Interesse der Schüler sieht Broch vor allem integrativ motiviert; es steigt gegen Ende der Elementarschulzeit, u.a. in Vorbereitung auf den regelmäßigen dreiwöchigen Deutschland- Austausch in dieser PASCH-Schule. Clarice Marlene Hilgemann (2004) führte eine Lehrer- und Schülerbefragung zur Mehrsprachigkeit (deutsch-italienisch-portugiesisch) in der Ortschaft Daltro Filho (Ortsteile Daltro Filho: venetischer Dialekt, Imigrante: Hunsrückisch), die 150 km von Porto Alegre entfernt an der Grenze zweier deutsch und italienisch besiedelter Regionen liegt, sowie in der Kleinstadt Estrela durch. Es wurden je sechs Lehrerinterviews und ein Gruppengespräch mit zehn Schülern (8. Jahrgangsstufe) über Spracheinstellungen sowie Unterrichtsbeobachtungen durchgeführt. Hilgemann (2004, S. 141ff.) kommt zu dem Ergebnis, dass sich der „Mythos“ vom einsprachig portugiesischsprachigen Land Brasilien bei den Lehrern noch deutlich findet. Die schulische Sprachenpolitik folge nach wie vor dem „sprachlichen Markt“, indem sie vor allem Portugiesisch und Englisch lehre. Die Lehrer in der Siedlung seien allerdings einem engeren Kontakt mit zweisprachigen Schülern ausgesetzt als die Lehrer der Kleinstadt und seien toleranter gegenüber sprachlichen Interferenzen. Allerdings werde (in Imigrante) Hunsrückisch eher als Hindernis beim Portugiesischlernen und als „hässliche Sprache“ („mais feia“) angesehen 49 Martina Steffen (2013) betrachtet die Variation des r (r-forte) bei Hunsrückisch-Sprechern im Portugiesischen in Rio Grande do Sul. Es zeigt sich, dass die Interferenzen aus dem Hunsrückischen eher mit der Schulbildung als mit dem Alter kovariieren. 50 Biegelmeier Le-o (2007) kommt zu einem ähnlichen Ergebnis in einer Untersuchung der intergenerationalen Übertragung des Deutschen im Kontakt mit dem Portugiesischen in Vale Real, Rio Grande do Sul: als Hochdeutsch (Hilgemann 2004, S. 143). In der Kleinstadt seien Schüler wie Lehrer der Meinung, die Minderheitensprachen besser aufzugeben, um Schwierigkeiten beim Portugiesischlernen zu vermeiden. Die Immigrantensprachen würden nicht in den Unterricht einbezogen, obwohl phonetische Interferenzen klar wahrnehmbar seien. 49 Die Schule verfolge eine institutionelle Diskriminierung, indem die Minderheitensprachen vor allem als Fehlerquelle gegenüber der korrekten (portugiesischen) Sprache angesehen würden: „A escola age como instituc-o que contribui a manutenç-o e difus-o de preconceitos na medida em que concebe a variedade como ,erro‘ e insiste no ensino de uma variedade considerada como ‚correta‘“ (Hilgemann 2004, S. 144). 50 Marcelo Jacó Krug (2004) thematisierte die Rolle der Sprache für den Identitätsausdruck - ebenfalls in Daltro Filho - bei deutsch- und italienischstämmigen Bewohnern. In einer qualitativen Inhaltsanalyse von 24 Interviews (2 Ortsteile mit je 12 Befragten, je zur Hälfte männlich und weiblich, nach Alter und Bildungsstand ausgewählt) stellt er im Ergebnis verschiedene Konstellationen einer multiplen Identität im Kontext der Mehrsprachigkeit fest: Deutsch spielt als Identitätsmarker eine größere Rolle als Italienisch (vgl. Krug 2004, S. 105). Die Älteren sprechen mehr und beherrschen die Minderheitensprache besser, ihre Identifikation sei stärker „verwurzelt“ (arraigada); die Identifikation der Jüngeren richtet sich stärker auf die Sprache im familiären Gebrauch mit der älteren Generation. An diesem Generationenunterschied hätten die Schulen einen starken Anteil: Sie seien eine Quelle der Stigmatisierung und der Prestigeminderung Nachdem in einer Fragebogenerhebung (195 Fragebögen in Grund- und Oberschule) eine hohe Zahl von Befragten bilingualen Sprachgebrauch angegeben hatten, ergaben die anschließenden - allerdings nur sechs - qualitativen Schüler- und Eltern-Interviews doch eine deutliche Abnahme des Deutschgebrauchs unter den Schülern, die mit niedrigem Prestige und angeblichen Problemen beim Portugiesischlernen begründet wurden (vgl. Biegelmeier Le-o 2007). <?page no="229"?> 8. Lateinamerika 229 gegenüber den Minderheitensprachen (vgl. Krug 2004, S. 105). 51 Neiva Maria Jung (2003) sieht einen Gendereffekt in der sprachlichen Markierung ethnischer Identität: Sie führt eine ethnografische Studie über „eventos de letramento“ (schriftsprachliche Ereignisse) mit Schülern und ihren Eltern (Interviews und teilnehmende Beobachtung von Interaktionen in Schule, Kirche, Familie, Agrargenossenschaft) in Missal, Paraná, durch, einem Ort, der in den 1960ern von Hunsrückern aus Rio Grande do Sul gegründet wurde. Ethnische und sprachliche (deutsche) Identität werde stärker von den männlichen Sprechern markiert, die sich deutlicher vom italienischen Stadtteil des Ortes abgrenzen. Die Sprecherinnen dagegen würden stärker Urbanität, Schriftorientierung und brasilianische Identität zum Ausdruck bringen: „German ethnic and linguistic identities in Missal […] are being downplayed by local women and reinforced by local men“ (Jung 2003: vii). Auch Dorotea Frank Kersch (2008) sieht Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Befragten: Sie nimmt eine Einstellungsuntersuchung mit je fünf männlichen und weiblichen Hochschulangehörigen (alle bis auf eine Person Hochschullehrer) im Alter zwischen 46 und über 60 Jahren vor, die vom Lande nach Porto Alegre zugezogen sind. Auch hier sind es die männlichen Sprecher, die ein größeres Interesse an der Bewahrung des Hunsrückischen kundtun (Frank Kersch 2008, S. 389). An die Kinder habe allerdings niemand die Sprache weitergegeben. Das Hunsrückische habe seinen Platz im Leben der Informanten, allerdings nur noch bei wenigen außerordentlichen Gelegenheiten, wie gegenüber den alten Eltern und Sprechern vom Lande. Es gelte als eine Sprache des Landes und der ländlichen Sprecher - fehlerhaft und mit dem Portugiesischen vermischt: „um jeito errado de falar, um jeito misturado“ (Frank Kersch 2008, S. 392). Das Portugiesische dagegen werde gestützt durch 51 „a escola como uma das principais fontes geradoras de estigmatizaç-o, preconceito, e falta de prestígio atri- Urbanität, Medien, Mobilität sowie interethnischen Kontakt und sei Ausdruck des Respekts gegenüber Anderssprachigen (vgl. Kersch 2008, S. 394). Arne Ziegler (1996) beschäftigt sich in einer Fragebogenstudie unter 187 deutschstämmigen DaF-Lernern verschiedener Schulen in Rio Grande do Sul mit der Verwendung des Hunsrückischen bzw. den portugiesisch interferierten „hybriden Bildungen“, die Ziegler (1996, S. 81) als „Misturado“ bezeichnet. Gegenstand sind vor allem die Sprachkompetenz, der Sprachgebrauch in verschiedenen Domänen. Die Schüler sind überwiegend zwischen 15 und 17 Jahre alt, zu 70 Prozent evangelisch, je ein Drittel vom Lande, aus der Kleinstadt und aus der Großstadt (vgl. Ziegler 1996, S. 129ff.). Ein Sechstel der Informanten spricht nur Portugiesisch, die Hälfte Hunsrückisch und Portugiesisch gleichermaßen. Drei Viertel der Befragten haben einen bilingualen Erstspracherwerb durchlaufen und Hunsrückisch vor dem 5. Lebensjahr erworben, bei 80 Prozent gilt dies auch für das Portugiesische, allerdings überwiegend institutionell. Hochdeutsch wurde von der Hälfte institutionell gelernt. 96 Prozent der Schüler geben an, Portugiesisch am besten zu beherrschen, Hunsrückisch wird am zweitbesten beherrscht (von 70 Prozent). Es zeigt sich, dass die „portugiesische Sprache im Verständnis und im Gebrauch so eindeutig den Domänen der Öffentlichkeit zugeordnet wird“ (mit Übergeordneten bei der Arbeit, mit dem Pfarrer, beim Einkauf, beim Arzt, auf dem Amt, vgl. Ziegler 1996, S. 144, 150). Im Privaten dominieren Mischformen: „Generell ist das Misturado in der Domäne des Privaten und Familiären die hauptsächlich verwendete Varietät“ (vgl. Ziegler 1996, S. 152). Ziegler (1996, S. 151f.) resümiert, „daß der Dialekt, trotz einer partiellen Muttersprachenfunktion, in der Sprachverwendung rückläufig ist“. Hierbei stehe der “Sprachgebrauch für den Lebensraum ‚Stadt‘ im Gegensatz zum Lebensraum ‚Land‘“. Das Hochdeutsche habe buídos a uma variedade minoritária“ (Krug 2004, S. 105) <?page no="230"?> Peter Rosenberg 230 in der Sprachverwendung „keine oder nur eine marginale Bedeutung“. Ciro Damke (1997) führte eine Studie in der Tochterkolonie Povoado Ipê, einer kleinen bäuerlichen Ortschaft in Rio Grande do Sul, durch. Die Studie besteht u.a. in einer Fragebogenerhebung unter 150 Befragten dreier Altersgruppen, die Hunsrückisch und/ oder Hochdeutsch als Erstsprache aufweisen und überwiegend ortsfest sind, sowie Interviews und Aufnahmen freier Gespräche. Die Informanten der beiden jüngeren Altersgruppen sprechen und verstehen alle Hunsrückisch sowie Portugiesisch (bei den Älteren sind dies nur 54 bis 71 Prozent), Hochdeutsch ist eher passiv und bei Älteren vorhanden (Damke 1997, S. 164). Der Spracherwerb des Hunsrückischen ist familiär, der des Portugiesischen (und auch der der passiven Hochdeutschkenntnisse) schulisch erfolgt. Der Sprachgebrauch folgt dem bekannten Muster: je öffentlicher, desto mehr Portugiesisch. Im privaten Sprachgebrauch dominiert (mit zirka 90 Prozent, besonders gegenüber den Eltern) das Hunsrückische, allerdings ist auch das Portugiesische mit 35 Prozent in der Familie präsent (Damke 1997, S. 189). Eine gewisse Abhängigkeit von der Berufstätigkeit, der Bildung und der Ortsungebundenheit zeigt sich für das Portugiesische (das bei nichtbäuerlichen Berufen, höherer Bildung und geringerer Ortsbindung besser beherrscht und stärker gesprochen wird); eine Bildungsabhängigkeit weist das Hunsrückische auf (das bei weniger Gebildeten stärker verwendet wird) (Damke 1997, S. 203ff.). Die Spracheinstellungen sind unabhängig vom Alter durchgängig positiv, was auch mit dem Gebrauch des Hunsrückischen und des Portugiesischen in Übereinstimmung steht. Für das Hochdeutsche tritt eine Inkonsistenz auf: Es wird von 68 Prozent geschätzt, eine 52 Damke (1997, S. 272f.) nennt folgende Interferenzen des Hunsrückischen im Portugiesischen, die sich im Brasildeutschen zeigen: [b] > [p] copriire statt cobrar ‚einkassieren‘ (272); [d] > [t] tos statt doce ‚Kekse‘ (273); [g] > [k] kuióove statt guiaba ‚Guavenbirne‘ (273); [ʒ] > gewisse Kompetenz geben 50 Prozent an, der angegebene Gebrauch folgt dem jedoch mit 3 Prozent keineswegs (Damke 1997, S. 201). Entlehnungen, Interferenzen 52 und Code- Switching - die Damke (1996, S. 275) als „Sprachmischung“ und als „eigenständige Varietät“ Brasildeutsch bezeichnet - beobachtet er besonders „im privaten und geselligen Lebensraum und dies mit derselben Natürlichkeit, wie ein monolingualer Sprecher seine Sprache benutzt“ (Damke 1997, S. 240). Gelegentlich bemerkten die Sprecher nicht, „daß sie ständig von einer zur anderen Sprache wechseln“ (ebd.). Ana Paula Seiffert (2009) behandelt die aktuelle Verwendung der Einwanderersprachen in S-o Bento do Sul, einer Stadt von 75.000 Einwohnern im Norden von Santa Catarina, 70 km von Joinville entfernt. Mittels Fragebögen und Interviews mit Schülern und anderen Sprechern (sowie der Aufnahme der linguistic landscape) werden Bairisch, Hochdeutsch, Italienisch, Polnisch und Ukrainisch untersucht. In den in die Untersuchung einbezogenen neun Schulen werde nur Englisch überall als Fremdsprache unterrichtet, Spanisch sei ebenfalls vorhanden, Deutsch nur an zwei Schulen optional. Nach den von 224 Schülern ausgefüllten soziolinguistischen Fragebögen sind die Schüler ohne Kompetenz in einer der beiden deutschen Varietäten in der Mehrheit (die Werte liegen an den einzelnen Schulen - mit einer Ausnahme - zwischen 50 und 100 Prozent), während diejenigen, die eine der beiden deutschen Varietäten gebrauchen - mit einer Ausnahme - maximal ein Viertel ausmachen (vgl. Seiffert 2009, S. 100f.). In den 15 Interviews wird deutlich, dass nur etwa 20 Prozent überhaupt zu Hause eine zweite Sprache neben dem Portugiesischen verwenden (davon 78 Prozent Deutsch, 11 Prozent Polnisch, 6 Prozent Ukrainisch und 4 Prozent Italienisch (vgl. Seiffert 2009, S. 153). [ʃ] cheito statt jeito ‚Benehmen‘ (273); [gem. r] > [r] chimaron statt chimarr-o ‚Matetee‘ (273); [-ω] > [oŋ] mon [moŋ] statt m-o ‚Hand‘ (273); [-] > [aŋ] manhan statt manh- ‚Morgen‘ (273) (vgl. auch Sulzbach (2004, S. 259). <?page no="231"?> 8. Lateinamerika 231 Seiffert betrachtet die Sprachsituation in S-o Bento do Sul als diglossisch bzw. triglossisch mit Portugiesisch als H-Varietät und Bairisch und Hochdeutsch (bzw. Ukrainisch, Polnisch, Italienisch) als L-Varietäten (Seiffert 2009, S. 59). Während das Hochdeutsche noch eine gewisse Vitalität zeigt, wird das Bairische kaum noch verwendet; es gebe nur noch Sprecher über 50 Jahren, die gelegentlich Bairisch im informellen Gebrauch verwendeten. Bairisch wird von Seiffert folglich als „bedrohte Sprache“ (língua em perigo, Seiffert 2009, S. 190) angesehen. Fernando Hélio Tavares de Barros (2014) führte zum Sprachkontakt zwischen deutschen Varietäten und portugiesischen Regionalvarietäten eine perzeptionsdialektologische Untersuchung (mit Interviews, Mental Maps, Fragebogen und einer Linguistic-Landscape-Studie) in Porto dos Gaúchos, Mato Grosso, mit 18 Gewährspersonen durch (zur Hälfte aus Paraná und Rio Grande do Sul zugewandert, 9 davon mit deutschsprachigem familiärem Hintergrund). Tavares de Barros (2014, S. 6) stellt eine „fortschreitende linguistische Substitution in Richtung des Portugiesischen“ fest. Das Portugiesische hat sich in den öffentlichen Sprachdomänen des 6.000-Einwohner- Ortes weitgehend durchgesetzt. Die allochthonen Sprachen sind lediglich in Anthroponymen präsent. In der Wahrnehmung von ethnisch basierten „Spracharealen“ („terriorialidade“) spielen Generation und Bildungsgrad der Befragten eine geringere Rolle als die Zuwanderungsperiode (Altzuwanderer aus Rio Grande do Sul versus später Zugewanderte aus Paraná). Luciana Sulzbach (2004) untersucht Sprachkompetenz und Sprachgebrauch des Hunsrückischen und des Vestfaliano, einer niederdeutschen Varietät, in der Gemeinde Schmidt (Munizip Westfália bei Teutonia) in Rio Grande do Sul mittels Fragebogen und Sprachaufnahmen. Es werden 180 Informanten befragt (je zur Hälfte Vestfaliano- und Hunsrückisch-Sprecher dreier Altersgruppen). Die Sprachkompetenz erweist sich in allen Altersgruppen als erstaunlich hoch (mit über 80 Prozent). Hochdeutsch und sogar Portugiesisch werden als schwächer beherrscht angegeben. Die dialektalen Varietäten sind familiär erworben. Die Sprachverwendung weist hohe Gebrauchsfrequenzen auf: In der Familie wird Hunsrückisch in allen Altersgruppen von 60 bis 70 Prozent der Befragten, Vestfaliano von über 90 Prozent gesprochen (außer unter den Geschwistern). Die Sprache der „Geselligkeit“ mit Nachbarn und im örtlichen Vereinsleben zeigt ebenfalls für die Hunsrückisch-Sprecher hohe Werte (mit 45 bis 70 Prozent), die Vestfaliano-Sprecher verwenden nur mit Nachbarn ihren Dialekt häufig (mit 70 Prozent), ansonsten wird er eher partiell durch Hunsrückisch ersetzt (von 40 bis 70 Prozent), was eine Dominanz des Hunsrückischen am Ort anzeigt (Sulzbach 2004, S. 216). In der Öffentlichkeit wird immerhin noch zu über 40 Prozent Hunsrückisch verwendet, das Portugiesische dringt jedoch stärker vor, was bei Vestfaliano-Sprechern noch stärker ist, die überwiegend nur Portugiesisch oder Vestfaliano mit partieller Ersetzung durch das Portugiesische oder das Hunsrückische sprechen (Sulzbach 2004, S. 219). Aline Horst (2014) untersucht Sprachvariation und -kontakt des Vestfaliano in mehreren Orten des Vale do Taquarí in Rio Grande do Sul. Es werden 31 Interviews nach der pluridimensionalen Methode des Projekts ALMA-H durchgeführt, indem die Ergebnisse nach Alter und Bildungsschicht differenziert werden. Im Ergebnis zeigt sich eine „leichte Reduktion der Verwendung und Kenntnis des Westfälischen“ (Horst 2014, S. V) bei der jüngeren Generation, insbesondere in Teutônia (Jüngere mit geringer Schulbildung) und Colinas (alle Jüngeren). Hierbei spiele allerdings weniger die Schulbildung eine entscheidende Rolle als die (externen) Kontakte der Befragten und die Mobilität der Informanten. Die Rolle der Familie als primäre Quelle des Erwerbs des Westfälischen sei in beiden Generationen ausschlaggebend. Da sie diese Rolle oft nicht mehr erfülle, sei bei den Jüngeren ein allmählicher Ersatz des Westfälischen durch die portugiesische Sprache zu beobachten, der sich vor allem durch den Schulbesuch verstärke. <?page no="232"?> Peter Rosenberg 232 Bei den Älteren sei noch eine stärkere Präsenz von Standard und hochdeutschnaher Varietät gegeben, zumal sie Religionsunterricht auf Deutsch besucht haben oder Kontakt mit standarddeutschen Texten hatten (alle sind Angehörige der IECLB). Paulino Vandresen und Luís Roberto Volz de Oliveira (2008) untersuchen die Verwendung des Pomerano in Arroio do Padre, einem ländlichen Ort, und Tres Vendas, einer Stadt mit 60.000 Einwohnern, beide in der Nähe von Pelotas, Rio Grande do Sul. Die Untersuchung basiert auf 210 Fragebögen (150 in Arroio do Padre, 60 in Tres Vendas) sowie Interviews mit Elementarschullehrern und Vertretern der örtlichen Behörden. Arroio do Padre zeigt eine deutlich stärkere Verwendung des Pomerano als Tres Vendas, dort wird es von den Jüngeren aufgegeben. In dem kleinen, etwas abgelegenen Ort zeigt sich der Sprachgebrauch in der Familie stabil: Mit den Eltern wird sogar von den unter 25-Jährigen zu 84 Prozent „fast immer“ Pomerano gesprochen, von den anderen beiden Altersgruppen (25-50, > 50 Jahre) zu 96 bis 98 Prozent. Selbst unter Geschwistern sinkt dieser Anteil kaum (mit 72 bzw. 80 bis 86 Prozent). Ähnliches gilt für das Sprechen mit Partnern und Kindern. Erst beim außerfamiliären Sprachgebrauch (mit Freunden, Nachbarn, beim Einkaufen) überwiegen bei den Jüngeren die Angaben „gelegentlich“ (44 Prozent) bzw. „nie“ (8 Prozent), während die beiden anderen Altersgruppen immer noch zu 70 bis 80 Prozent „fast immer“ Pomerano verwenden. In Tres Vendas liegt die Häufigkeit des Pomerano-Gebrauchs erheblich niedriger: Während die älteren beiden Kohorten für das Sprechen mit den Eltern ähnliche Werte wie in dem kleinen Ort zeigen (75 bis 95 Prozent), sinkt dieser Wert bei den unter 25-Jährigen auf 20 Prozent, mit den Geschwistern sogar auf nur 10 Prozent, und mit Freunden, Nachbarn und beim Einkaufen geben 70 Prozent an, es 53 Im Lexiktest zum Beispiel waren im Ergebnis aller vier Kolonien zwei Drittel der Befragten zu einer spontanen Plautdietsch-Produktion in der Lage, ein Sechstel kannte die Wörter, einem Siebtel waren sie unbekannt (Dück 2011, S. 210). Hierbei traten jedoch große Unterschiede auf: Gegenüber 70 bis 80 Prozent „nie“ zu verwenden. Bei den Ältesten hingegen halbieren sich die Werte für den konstanten Pomerano-Gebrauch als Familiensprache (mit Partnern und Kindern) auf zirka 50 Prozent, bei der mittleren Altersgruppe wird mit den Kindern zu 60 Prozent „nie“ Pomerano gesprochen, in allen nicht-familiären Domänen hat Pomerano allenfalls „gelegentlich“ seinen Platz. Es scheint also im familiären Gebrauch eine Beschleunigung des Dialektrückgangs um zumindest eine Generation zwischen Stadt und ruraler Gemeinde aufzutreten; in der nicht-familiären Sphäre ist das Pomerano in der Stadt kaum noch präsent (vgl. Vandresen/ Volz de Oliveira 2008, S. 909f.). Die per Interview ermittelten Einstellungen zur Zukunft des Pomerano entsprechen den Fragebogen-Ergebnissen: In Arroio do Padre wird dem Pomerano noch eine längere Existenz zugebilligt, in Tres Vendas mehrheitlich nicht. Elvine Siemens Dück (2011) stellt eine Untersuchung in vier Mennonitengemeinden an: in Curitiba, Hauptstadt von Paraná; in Witmarsum, Paraná; in Colônia Nova, Rio Grande do Sul; und in Rio Verde, Goiás (mit 500 Angehörigen, die 1968 aus den USA und Kanada zugewandert sind und Englisch als Dachsprache hatten). Es wurden 32 Interviews (mit jeweils acht Interviewpartnern) durchgeführt, deren Bestandteile eine Fragebogen-Befragung, ein Vorlesetest, ein Lexiktest und eine freie Erzählung waren. Die Mennoniten sind in den 1930ern nach Santa Catarina gezogen und von dort aus nach Paraná und Rio Grande do Sul weitergewandert. Plautdietsch-Kompetenz ist bei den Älteren mündlich vorhanden (in Witmarsum auch bei Jüngeren), Hochdeutsch-Kompetenz im Schriftlichen (Siemens Dück 2011, S. 286). 53 Für den Sprachgebrauch zeigt sich, dass das Portugiesische vordringt. Das Plautdietsche besitzt zwar auch nach 80 Jahren in Brasilien noch eine gewisse Vitalität. Allerdings ist spontaner Plautdietsch-Antworten in den anderen drei Kolonien waren in Rio Verde nur 28 Prozent dazu in der Lage (unter den Jüngeren waren 95 Prozent der Wörter unbekannt). Alter und Bildung spielten im Allgemeinen hierbei eine geringere Rolle. <?page no="233"?> 8. Lateinamerika 233 ein Rückgang des Plautdietschen unverkennbar, besonders bei den Jüngeren, die nur noch in der Minderheit Plautdietsch sprechen (Dück 2011, S. 281): Es zeige sich ein Rückgang in den Plautdietschkenntnissen („um declinio crescente do conhecimento de formas do Plautdietsch“, Siemens Dück 2011, S. 283). Ältere, rurale Bewohner und Angehörige der unteren Sozialschichten halten stärker am Plautdietschen fest. Zudem gilt es als Differenzkennzeichen im Sinne eines „herança cultural“, als kulturelles Erbe des „menonita protótipo“ (Siemens Dück 2011, S. 282). Selbst im familiären Kontext (Siemens Dück 2011, S. 285) lässt sich intergenerationell eine Ersetzung des Plautdietschen durch das Hochdeutsche (in Witmarsum), durch das Englische (in Rio Verde) oder das Portugiesische (Curitiba, Colônia Nova) beobachten. Dies gilt in besonderem Maße für Familien mit gemischten Ehen. Im religiösen Bereich halten die Älteren am Hochdeutschen bzw. in Rio Verde am Englischen) fest, die jüngeren gehen zum Portugiesischen über. Der Schulunterricht findet in Curitiba und Witmarsum auf Hochdeutsch statt, in Rio Verde und Colonia Nova auf Portugiesisch. Das Arbeitsleben gestaltet sich mit der Mehrheit der Angestellten auf Portugiesisch (Siemens Dück 2011, S. 285), nur in Curitiba spielt in internationalen Firmen auch Hochdeutsch und Englisch eine Rolle. Die Kommunikation mit Freunden sieht bei den Älteren noch die stärkste Verwendung des Plautdietschen, bei den Jüngeren (wie auch den höheren städtischen Schichten) des Portugiesischen, in Rio Verde des Englischen (Siemens Dück 2011, S. 286). Die generelle Präferenz der Älteren liegt beim Plautdietschen, der Jüngeren beim Portugiesischen (Siemens Dück 2011, S. 286). Die Erhaltung des Plautdietschen ist in Rio Verde am schwächsten, in Witmarsum und im 54 Siemens Dück (2011, S. 287) „perda linguistica do Plautdietsch, principalmente na GI (Jüngere, PR) e nos grupos Ca (höhere Bildungsschicht, PR) de todas comunidades menonitas do RS e PR, e sua substitui-o gradual pelo Hochdeutsch nas comunidades do PR. A transmiss-o geracional do Plautdietsch praticamente (städtischen) Curitiba stärker, wo es gegenüber dem Hochdeutschen zurückweicht, mittelmäßig im (ländlichen) Colônia Nova, RS, wo das Portugiesische sich durchsetzt. Siemens Dück (2011, S. 287) resümiert einen Sprachverlust des Plautdietschen, vor allem in der jüngeren Generation und den Gruppen höherer Bildung in allen Mennonitengemeinden in Rio Grande do Sul und Paraná und seine graduelle Ersetzung durch Hochdeutsch in den Gemeinden von Paraná. Die intergenerationelle Übertragung des Plautdietschen hat praktisch aufgehört in der urbanen Gemeinde (Curitiba) und befindet sich in starkem Rückgang in den ländlichen Gemeinden (Colônia Nova und Colônia Witmarsum), zum Teil unter wachsendem Einfluss des Portugiesischen, auch aufgrund einer größeren Anwesenheit von Menschen nichtdeutscher ethnischer Zugehörigkeit (Arbeitskräfte, Exogamie). 54 Dies stimmt weitgehend mit dem bisherigen Forschungsstand überein: Siemens (1984) hatte bereits einen weitgehenden Verlust von Plautdietsch und Hochdeutsch in Curitiba festgestellt. Thun (1999) spricht für Colônia Nova von „Lusitanisierung“. Kaufmann (2003, S. 44) kam für den gleichen Ort zu dem Befund: Plautdietsch sei in informellen intra-ethnischen Sprechsituationen üblich, Hochdeutsch in intra-ethnischen formellen, Portugiesisch dagegen in allen inter-ethnischen Situationen. Allerdings genossen Portugiesisch und Hochdeutsch - trotz der Sprachloyalität zum Plautdietschen - deutlich höheres Prestige. Kaufmann (2003, S. 71f.) prognostizierte, dass in Colônia Nova die deutschen Varietäten verloren gehen würden angesichts dessen, dass - im Unterschied zur Chaco-Kolonie Fernheim (Paraguay) - die Identifikation bei den meisten der 47 Befragten als Brasilianer im Vordergrund stand, dann als Deutsche bzw. Deutsch-Brasilianer, Mennonit wurde nur von 3 Befragten gewählt. está estagnada na comunidade urbane (Curitiba) e em grande declínio nas comunidades rurais (Colonia Nova e Colonia Witmarsum), em parte pela influência crescente do português em virtude também de uma maior presen- des pessoas de fora da etnia alem- (empregados, casamentos exogâmicos usw.)“ <?page no="234"?> Peter Rosenberg 234 Auch Siemens Dück (2005) hatte für Witmarsum festgestellt: Je formeller die Sprechsituation, desto mehr würde Hochdeutsch verwendet (insbesondere im Gottesdienst), je informeller, desto mehr Portugiesisch oder Plautdietsch. Intergenerationell werde noch das Plautdietsche oder Hochdeutsche verwendet, intragenerationell überwiege das Portugiesische und breite sich aus. Sahr/ Löwen Sahr (2000) verfolgten in einer Familienstudie die Binnenmigration und den folgenden sozialen Wandel von Mennoniten in Brasilien, die in den 1950ern teils aufgrund religiöser Differenzen, teils aus sozioökonomischen Motiven in die Umgegend von Curitiba, Paraná, gezogen sind. Die Siedlung wurde im Laufe der Urbanisierung in die städtische Agglomeration einbezogen. Die beruflichen Tätigkeiten haben sich von ursprünglich rein agrarischen zu stärker städtischen Berufen gewandelt. In der Folge hat sich auf ökonomischem Gebiet statt des früheren “cooperativismo” eine stärkere „Individualisierung“ („individualizaç-o“, Sahr/ Löwen Sahr 2000, S. 79) eingestellt. Ein Teil der Familienmitglieder hat mittlerweile Anschluss bei lutherischen Glaubensgemeinschaften gefunden. Das Plautdietsche ist in der Familie und mit Freunden und das Hochdeutsche in der Kirche, aber auch im Arbeitsleben bei deutschen Firmen bei allen präsent, auch bei der dritten Generation (den 32 Enkeln, die in die Untersuchung einbezogen wurden). Allerdings ist eine Ausbreitung des Portugiesischen deutlich festzustellen, das den öffentlichen Bereich weitgehend einnimmt. Der soziale und sprachliche Wandel der Familienstrukturen reflektiere den Konflikt zwischen der notwendigen strukturellen („nationalen“) und der sozialen („ethnischen“) Integration: „o conflito entre a cultura nacional - como sistêmica - e a cultura etnica - como social“ (Sahr/ Löwen Sahr 2000, S. 81). 3.3 Rahmenbedingungen: Schulen, Verbände, Medien Aktuell gibt in Brasilien 51 PASCH-Schulen, darunter 4 Deutsche Auslandsschulen (DAS) (Deutsche Schule Rio de Janeiro, Humboldt- Schule S-o Paulo, Porto Seguro I S-o Paulo - mit 10.000 Schülern die größte deutsche Auslandsschule weltweit, Porto Seguro II Valinhos), 25 Schulen, die zum Deutschen Sprachdiplom I und II führen (DSD) und 22 Schulen mit erweitertem Deutschunterricht (FIT). Nicht zu unterschätzen ist auch der Schüleraustausch mit Deutschland, der mit 750 Austauschprogrammen pro Jahr einen bedeutenden Umfang angenommen hat. Die Gesamtzahl der DaF-Lernenden an Schulen wird von der ZfA mit 79.514 Schülern angegeben. 343 Schulen in Brasilien (von 76.000 Schulen mit Fremdsprachenunterricht) bieten Deutsch als Fremdsprache an. Dies ist zweifellos ein Fortschritt, der sich in einem Zuwachs der DaF-Schüleranzahl um gut 20 Prozent ausdrückt. Kaufmann (2003, S. 32f.) weist allerdings zu Recht darauf hin, dass mit den reformierten Schulgesetzen in Brasilien der Fremdsprachenunterricht mittlerweile zwar einen größeren Spielraum hat, dass in der Praxis jedoch deutliche Einschränkungen gemacht werden müssen: Im Schulgesetz von Rio Grande do Sul (Art. 26 § 5) etwa ist ab der 5. Klasse der Grundschule (Ensino Fundamental: Klassen 1-8) eine obligatorische Fremdsprache vorgesehen. Die Wahl erfolgt hingegen nach den Möglichkeiten der Schule. Und diese bestünden oftmals lediglich im Englischen. Nach Art. 36 Abschnitt III sei für die Oberschule (Ensino Medio: Klassen 9-11) die Wahl einer zweiten Fremdsprache möglich, das Angebot jedoch wiederum an die Ressourcen der jeweiligen Schule gebunden. Das Deutsche sei selten wählbar und trete - seitdem eine engere Zusammenarbeit mit den spanischsprachigen Nachbarländern im Rahmen des Mercosul/ Mercosur angestrebt werde - nun auch noch mit dem Spanischen in Konkurrenz. In den deutschen Einwanderungsregionen des Südens werde in der Folge häufig Deutsch von der 5. bis zur 8. Klasse gegeben, um ab der 9. Klasse zum Englischen zu wechseln. Überdies bestehe im brasilianischen Schulsystem Fremdsprachenunterricht oft nur aus ein bis drei Stunden pro Woche. Deutsch als Fremdsprache sei daher meist nur an teuren Privatschulen zugänglich; bilinguale Schulen <?page no="235"?> 8. Lateinamerika 235 gebe es nur in Rio de Janeiro und S-o Paulo. Die Initiative der PASCH-Schulen könnte hier für zusätzliche Angebote sorgen. An 48 Hochschulen kann Deutsch studiert werden (12.910 Studierende). In 20 Einrichtungen der Erwachsenenbildung lernen etwa 33.000 Menschen Deutsch, hinzu kommen 9.000 DaF-Lerner an Goethe-Instituten (5 Goethe-Institute in S-o Paulo, Rio de Janeiro, Salvador, Porto Alegre, Curitiba, ein Goethe- Zentrum in Brasília). Die Gesamtzahl der DaF-Lerner von 134.588 zeugt von einem erheblichen Interesse am Deutschen als Fremdsprache. Es besteht eine enge Zusammenarbeit mit brasilianischen Hochschulen im akademischen Bereich: Der DAAD arbeitet mit 7 Lektoraten an brasilianischen Universitäten (Belém, Belo Horizonte, Fortaleza, Porto Alegre, Rio de Janeiro, S-o Paulo [2]); 10 bis 20 DAAD-Lehrassistenten pro Jahr sind darüber hinaus an brasilianischen Hochschulen tätig. Der DAAD hat seit 2005 bis 2014 21.905 brasilianische und deutsche Stipendiaten gefördert. Im Rahmen des brasilianischen Mobilitätsprogramm „Wissenschaft ohne Grenzen“ konnten seit 2011 90.000 brasilianische Studenten, Doktoranden und Nachwuchswissenschaftler Studien- oder Forschungsaufenthalte im Ausland verbringen, darunter 6.595 brasilianische Studierende an deutschen Universitäten und Forschungseinrichtungen. Brasilien war 2013 erstmals unter den Top 20 der Herkunftsländer von ausländischen Studenten in Deutschland. Wissenschaftsförderung wird u.a. auch über die Kooperationsprogramme P ROBRAL und U NIBRAL betrieben (Auswärtiges Amt Mai 2016). In den deutschen Einwanderungsgebieten (Blumenau, Joinville, S-o Bento do Sul) existieren deutsch-brasilianische Kulturgesellschaften in großer Zahl. An deutschsprachigen Medien gibt es das Pommerblad, die Brasil Post (Wochenzeitung, S-o Paulo, Aufl. 2003: 21.850), Deutsche Zeitung (Wochenzeitung, S-o Paulo), Deutsche Zeitung (S-o Paulo), die konfessionsgebundenen Medien Bibel und Pflug (Konferenz der Mennonitengemeinden in Brasilien, Curitiba, Paraná), Informationsblatt (Monatszeitschrift, Associaç-o das Igrejas Irm-os Menonitas do Brasil, Curitiba, Paraná), Jornal Evangélico (Porto Alegre, Rio Grande do Sul), Skt. Bonifatiuspfarrei der deutschsprachigen Katholiken (Deutsche Katholische Gemeinde, Rio de Janeiro), Sankt Paulus Blatt (Nova Petrópolis, Rio Grande do Sul), die Wirtschaftszeitschriften Brasil-Alemanha (Mitgliederzeitschrift der Deutsch-Brasilianischen Handelskammer, S-o Paulo), Wochenbericht - Volkswirtschaft - Außenwirtschaft - Politik - Recht - Statistik (Deutsch-Brasilianische AHK, S-o Paulo). Deutschsprachige in Brasilien betreiben einen Blog (mit 12.000 Aufrufen im Monat). Ähnlich wie für Argentinien lässt sich resümieren, dass das Interesse am Deutschen als Fremdsprache zugenommen hat. Aus der Sicht des Auswärtigen Amtes heißt es: „Die Bedeutung des Deutschen als Einwanderersprache geht eher zurück“ (Auswärtiges Amt 2015, S. 27). Die sprachenpolitischen Bemühungen, die sich unter anderem in den großen Projekten des Inventário des Hunsrückischen und des Inventário des Pommerischen sowie in den Forschungsprojekten zum Hunsrückischen (hier vor allem in dem Atlasprojekt ALMA-H) niederschlagen, wirken dem entgegen und sorgen für eine stärkere Sichtbarkeit der Einwanderersprachen. 3.4 Die Pomeranos im Bundesstaat Espírito Santo 3.4.1 Die Kooffizialisierung von Minderheitensprachen in Brasilien Brasilien ist ein zwar dominant portugiesischsprachiges, aber immer noch mehrsprachiges Land, in dem 274 indigene Sprachen von 305 verschiedenen Ethnien gesprochen werden (Zensus des IBGE 2010 nach IPHAN 2014, S. 20) und etwa 56 sogenannte Einwanderersprachen und -varietäten von 10 verschiedenen Gruppen: Deutsch, Italienisch, slawische Sprachen, Chinesisch, Japanisch, Jiddisch/ Hebräisch, Romanes, dazu Spanisch, die Sprache der Nachbarländer, Kreolsprachen und andere (vgl. Altenhofen 2013a, 2013b, S. 106, 2014, S. 74-76). Darüber hinaus existieren die brasilianische Gebärdensprache und verschie- <?page no="236"?> Peter Rosenberg 236 dene Sprachvarianten in den verbliebenen Gemeinschaften der Quilombos (Gemeinschaften von während der Sklavenzeit des brasilianischen Kaiserreichs entflohenen Sklaven). Stellten die europäischen Einwanderergruppen in den ersten 50 bis 80 Jahren nach der Einwanderung zunächst und absichtsvoll einen weitgehend desintegrierten sozioökonomischen, kulturellen, sprachlichen „Fremdkörper“ dar, so ist - unter den Vorzeichen der ökonomischen Entwicklung zum „Schwellenland“ und der infrastrukturellen Modernisierung des Landes seit den 1970ern - die Zeit der soziokulturellen und sozioökonomischen Isolation dieser Gruppen definitiv vorbei. Dies setzt eine neue Dynamik in Gang, im Rahmen derer Mehrsprachigkeit und Transkulturalität die kennzeichnenden Merkmale eines Prozesses der sozialen Restrukturierung der brasilianischen Gesellschaft werden. Die rezente Politik der Anerkennung ethnischer Diversität trägt diesem Umstand Rechnung: „Fremdsprachen“ finden vermehrt Eingang ins staatliche Bildungssystem, „Minderheitensprachen“ - Einwanderersprachen und indigene Sprachen - werden als Unterrichtsfach zugelassen und lokal sogar als kooffizielle Sprachen etabliert. Die sprachliche und kulturelle Vielfalt Brasiliens spiegelt sich heute erstmals in einer bundesweiten, amtlichen brasilianischen Sprachenpolitik wider: Der Bundesbeschluss Nr. 7.387 vom 9. Dezember 2010 legt die Erhebung eines „Nationalen Inventars der brasilianischen Sprachenvielfalt (INDL)“ fest. 55 Zur Beschreibung der Sprachen Brasiliens wurden mittlerweile zirka 230 Sprachen katalogisiert und kategorisiert: Dazu gehören Sprachen, die von ihren (ehemaligen) Sprechern nicht mehr als Identifikationssprachen angesehen werden, es gibt mündlich tradierte Sprachen von geringer sozialer Reichweite, 55 Vgl. Morello, Rosangela (Org.) (2015): Leis e Línguas no Brasil. O processo de cooficializacao e suas potencialidades. Florianópolis: IPOL. Von Seiten des IPHAN (Instituto de Patrimônio Histórico e Artístico Nacional), eines mit dem braslianischen Kultusministerium verbundenen Instituts, wird auf die Bedrohung der Sprachenvielfalt als Begründung zur Anlegung des Spradenen aber eine wichtige Rolle bei der Herausbildung von ethnischer Identität zugeschrieben wird, sowie indigene Sprachen (oder Sprachgruppen), die durch Sprachenpolitik und Sprachforschung institutionell gefördert werden und besonderes Prestige genießen - und es gibt Sprachen, die einen besonderen rechtlichen Status besitzen, da sie national, regional oder lokal als kooffizielle Amtssprachen gelten: die Gebärdensprache, fünf indigene Sprachen und vier Einwanderersprachen. Aktuell sind elf Vertreter von Minderheitensprachen als kooffizielle Sprache Brasiliens anerkannt: sieben autochthone Sprachen und vier allochthone Sprachen (vgl. Tabelle 1 auf der folgenden Seite). 3.4.2 Die pommerische Einwanderung im Bundesstaat Espírito Santo Die Situation des Pommerischen in Espírito Santo ist in zweifacher Hinsicht außergewöhnlich: Zum einen wurde in dieser Region erstmals in der Geschichte Brasiliens ein Sprachrevitalisierungsprojekt eines allochthonen Dialekts entwickelt und implementiert (was für das Pommerische auch in der Welt einzigartig ist). In den übrigen Kolonien mit deutschem Hintergrund wurde, wenn überhaupt, Standarddeutsch im schulischen Curriculum integriert, unabhängig davon, welcher deutsche Dialekt in der jeweiligen Sprachgemeinschaft vorherrscht. Zum Zweiten wurde im Jahr 2008 dem Pommerischen in einigen Regionen Espírito Santos - als erster allochthoner Sprache in Brasilien - ein kooffizieller Status neben der Landessprache zugewiesen. 56 Die meisten der pommerschen Siedler stammen aus Hinterpommern, d.h. rechts der Oder, das heute zu Polen gehört. Im Jahre 1859 kamen die ersten Pommern aus dem ehemals zu Preußen gehörenden Gebiet in cheninventars verwiesen: 1.078 Sprachen habe es bei Ankunft der Portugiesen auf brasilianischem Gebiet gegeben. Heute seien es weniger als 30 Prozent. Die Hälfte der Sprachgemeinschaften zählt weniger als 100 Sprecher, gut ein Drittel nur bis 500, weniger als 10 Prozent bis 2.000 (IPHAN 2014/ 1, S. 24) 56 Vgl. dazu ausführlich Höhmann (2011). <?page no="237"?> 8. Lateinamerika 237 den brasilianischen Bundesstaat Espírito Santo, die Mehrzahl wanderte aber in den Jahren 1872 und 1873 ein. Ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts besiedelten die Kolonisten schon einen Großteil der Terras Frias (zentrales Bergland Espírito Santos) und die Terras Quentes (südliche Ebene) bis hinein in den Bundesstaat Minas Gerais. Die Mehrheit der pommerischstämmigen Bevölkerung Espírito Santos ist in den Landkreisen von Santa Maria de Jetibá, Domingos Martins, Laranja da Terra, Vila Pav-o und Santa Leopoldina angesiedelt. Tressmann (nach Höhmann 2011, S. 29) spricht von zirka 120.000 pommerischstämmigen Nachfahren in Espírito Santo. Bis dato liegen jedoch keine präzisen demographischen Daten vor. Laut IBGE machen die Abkömmlinge der pommerischen Einwanderer einen Anteil von 16 Prozent der Bevölkerung von Espírito Santo aus. Höhmann gibt an: „Im Rahmen einer Erhebung des Gesundheitssekretariats in Haushalten des Landkreises von Santa Maria de Jetibá im Jahr 2005 wurde u.a. nach der innerfamiliären Sprachverwendung gefragt. Die Auswertung ergab, dass in 5.970 Familien Pommerisch im häuslichen Umfeld verwendet wird. 15.182 der befragten Informanten sagten aus, Pommerisch zu benutzen“ (Höhmann 2011, S. 48). 3.4.3 Sprachrevitalisierung und Kooffizialisierung in Espírito Santo P ROEPO , das Sprachrevitalisierungsprojekt für die regionale Kooffizialisierung der pommerischen Sprache, steht als Akronym für Programa de Educaç-o Escolar Pomerana. Es hat die Implementierung des Pommerischen im staatlichen Grund- und Vorschulunterricht in den pommerischen Municipios von Espírito Santo zum Gegenstand. P ROEPO ist ein Projekt der regionalen Regierungen und wird von der Secretaria de Educaç-o finanziert. Die fünf Landkreise mit der größten Anzahl an Einwohnern pommerischer Abstammung wurden hierfür ausgewählt: Pancas (Kooffizialisierung 2007), Laranja da Terra (2008), Santa Maria de Jetibá (2009), Vila Pav-o (2009) und Domingos Martins (2011). Ziele des Projekts sind: - die Wertschätzung und Bewahrung der pommerischen Kultur zu fördern, - den Schuleinstieg für Kinder mit der L1 Pommerisch zu erleichtern, Kooffizialisierte Sprache Gemeinde Jahr Autochthone Sprachen Tukamo S-o Gabriel da Cacheira, Alto Rio Negro - Amazonas 2002/ 2006 Nhengatu 2002/ 2006 Baniwa 2002/ 2006 Guaraní Tacuru und Paranhos - Mato Grosso do Sul 2010 Akwê Xerente Tocantínia - Tocantins 2011 Macuxi und Wapichana Bonfi, und Cantá-Roraima 2011 Allochthone Sprachen Pomerano Vila Pav-o - Espírito Santo 2009 Pancas - Espírito Santo 2009 Laranja da Terra - Espírito Santo 2009 Domingos Maritins - Espírito Santo 2009 Canguçu - Rio Grande do Sul 2011 Talian Serafina Corrêa, Flores da Cunha, Paraí und Nova Roma do Sul - Rio Grande do Sul 2009 Hunsrückisch Antônio Carlos - Santa Catarina 2010 Santa Maria do Herval - Rio Grande do Sul 2012 Deutsch Poerode - Santa Catarina 2011 Tab. 1: Kooffizialisierte Sprachen in Brasilien <?page no="238"?> Peter Rosenberg 238 - die Spracheinstellungen gegenüber dem Pomerano innerhalb und außerhalb der Gruppe zu verbessern, - den Spracherhalt innerhalb der jungen Generationen zu unterstützen, - die administrativen Voraussetzungen für die Verwendung des Pommerischen in Schule und Kindergarten zu schaffen. P ROEPO hat zunächst begonnen, die pommerische Sprache in die Schulen der Region zu integrieren .57 Das P ROEPO -Programm wurde 2005 ins Leben gerufen und feierte 2015 sein zehnjähriges Bestehen. Aktuell (2016) sind 22 zweisprachige Lehrkräfte direkt in die Arbeit eingebunden. 2013 wurde eine Stelle für eine mobile Lehrkraft eingerichtet, die das P ROEPO - Programm an Schulen und Kindergärten bringt. Das Programm erreicht die „Kleinen“ ab 6 Monaten in den Kindergärten mit spielerischen und kommunikativen Aktivitäten. Ab dem ersten Jahr im „Ensino Fundamental“ kommt der schriftliche Ausdruck hinzu. Das Programm läuft bis zur 9. Klasse, wo es sich an Schüler von 14 oder mehr Jahren richtet. Insgesamt zählen die Schulen des Verwaltungsbezirks 3.344 Schüler und 549 Lehrer. Ab 2013 erreichte P ROEPO in Santa Maria de Jetibá, der „pommerischsten“ Stadt Brasiliens, 100 Prozent der Schulen. Das heißt, in 48 Schulen gibt es mündliche und schriftliche Aktivitäten auf Pommerisch und über die pommerische Kultur, allerdings mit (zu) geringer Stundenzahl, zumeist nur eine Stunde in 57 Im Zuge der Standardisierungsmaßnahmen wurde von Ismael Tressmann, der der Hauptverantwortliche des Revitalisierungsprojekts ist und die Grundschullehrer der regionalen Schulen in speziellen P ROEPO - Seminaren ausbildet, eine Schreibung für das Pommerische entwickelt. Die Verschriftung war die Voraussetzung für die Erstellung eines pommerisch-portugiesischen enzyklopädischen Wörterbuches. Das „Pomerisch-Portugijsisch Wöirbauk“ - „Dicionário Enciclopédico Pomerano-Português“ (Tressmann 2006a) hat 16.000 Stichwörter und Redewendungen auf 560 Seiten. Eine Rückübersetzung ist geplant. Tressmann hat im Jahr 1999 den Entwurf einer Orthografie für das Pommerische initiiert. Diese setzte eine Vereinder Woche. 58 Die Lehrmaterialien sind - abgesehen von dem Portugiesisch-Pommerschen Wörterbuch (Tressmann 2006a) und einem Erzählband Upm Land (Tressmann 2006b) - mit großem Aufwand überwiegend durch die Lehrkräfte selbst erstellt. Schwierigkeiten bereitet die Lehreraus- und -weiterbildung. Bausen Küster (2015) untersucht die Sprachrevitalisierung mittels Interviews (mit Lehrern, Eltern und Schülern) und teilnehmender Beobachtung in einer Elementarschule in Santa Maria de Jetibá. 95 Prozent der Elementarschüler seien Nachfahren aus pommerschen Familien, 90 Prozent davon bilingual. In der Kommunikation unter älteren Familienmitgliedern habe das Pommersche seinen Platz, unter jüngeren portugiesisch-pommersche Zweisprachigkeit. In allen Domänen außerhalb der Familie herrscht das Portugiesische vor (Schule, Kirche, Einkaufen, Freizeit). Trotz einer breiten Unterstützung der P ROEPO -Ziele zeigten die Befragten Sorge um die Weitergabe der Sprache an zukünftige Generationen („preocupaç-o quanto ao repasse da língua ao para as futuras gerações“, Bausen Küster 2015, S. 182). Konzeptionell bedenkenswert scheint eine zweisprachige Alphabetisierung (mit Portugiesisch) von der ersten Klasse an. Im Rahmen des „intercomprehensive learning“ könnte die Brückenfunktion des Pomerano genutzt werden, um ab der dritten Klasse Standarddeutsch zu unterrichten und ab der fünften Klasse mit dem Englischen eine (morphologisch einfachere) weitere germanische Sprache zu berücksichtigen. heitlichung der Varianten, die innerhalb der Sprachgemeinschaft von Espírito Santo bestehen, voraus. Um diejenigen mit der größten Verbreitung bestimmen zu können, führte Tressmann stichprobenartige Umfragen durch. Die Enzyklopädie wurde durch die Regierung des Bundesstaates über das Bildungssekretariat herausgegeben. Sie soll auch als Instrument zur Alphabetisierung dienen und die bilinguale Kompetenz unterstützen. Laut Anna Maria Marreco Machado vom Bildungssekretariat wird an 75 staatlichen (Grund-) Schulen in Domingos Martins, Santa Maria de Jetibá, Vila Pav-o, Pancas und Laranja da Terra bereits Pommerisch unterrichtet. 58 Vgl. Bausen Küster (2015, S. 180), Bausen Küster/ Fiorotti Daleprane/ Tressmann (2008). <?page no="239"?> 8. Lateinamerika 239 Im Vergleich zu Santa Maria de Jetibá ist die Bevölkerung in Domingos Martins heterogener zusammengesetzt: Neben zirka 50 Prozent Pomeranos gibt es auch zahlreiche Einwanderer hunsrückischer und italienischer Herkunft. Die 49 von der Gemeinde geführten Schulen bieten nicht nur Unterricht in Pommerisch an, sondern auch in Englisch, Italienisch und Deutsch. Auch im Pommerisch-Unterricht werden hier Portugiesisch und Deutsch als Referenzsprachen verwendet. Die Studie von Beate Höhmann (2011) zielte unmittelbar auf „Sprachplanung und Spracherhalt“ der pommerschen Sprachgemeinschaft von Santa Maria de Jetibá und untersucht die Voraussetzungen für sprachenpolitische Maßnahmen: Sie konstatiert in der Studie (263 Informanten), dass alle drei Altersgruppen mehrheitlich lieber Pommerisch als Portugiesisch sprechen (am meisten die ältesten mit 72 Prozent). Dabei spielt die Verwendung in der Familie die größte Rolle, aber auch in der Kirche wird noch von 38 Prozent eine häufige Verwendung des Pomerano angegeben (nicht jedoch mit dem Pfarrer). Auch in Santa Maria de Jetibá ist es - wie in den oben berichteten Studien - in der Öffentlichkeit eher üblich, Portugiesisch zu sprechen (beim Einkaufen, beim Arzt, mit Vorgesetzten und Lehrkräften), während mit Nachbarn und Geschwistern das Pommerische überwiegt (Höhmann 2011, S. 89). Portugiesisch wird von 80 Prozent der Befragten gut beherrscht; es ist in der jüngsten Altersgruppe vorschulisch erworben worden, was bei der ältesten Gruppe nur zu einem Drittel der Fall war, auf die sich folglich auch die „guten“ Portugiesischkenntnisse beschränken (Höhmann 2011, S. 96, 99). 59 Schon Fausel (1962, S. 217) hatte - für das Hunsrückische - Überlegungen angestellt, ob der Dialekt als „Mutterboden fürs Hochdeutsche oder Brücke zu ihm hin“ taugen könnte, hatte aber zugleich den Einwand mitgeliefert: „Bedauerlicherweise halten viele Hunsrücker ihre Mundart nicht für eine Brücke zum Hochdeutschen“ (Fausel 1962, S. 213). Dieser Einwand gilt für die Pomeranos heute sicher nicht weniger. 60 Das Forschungsprojekt Regularität und Irregularität in der Kasusmorphologie deutscher Sprachinselvarietäten in Russland und Brasilien (I RR M ORPH ) verfügt über eine um- Das Konzept von P ROEPO , das Pomerano in die Schulen zu bringen, scheint also durch die empirischen Daten als sinnvoll bestätigt. Nun kann darüber diskutiert werden, ob der Unterricht im pommerischen Dialekt - statt der hochdeutschen Standardsprache - sinnvoll ist, bzw. ob er langfristig eher eine Brückensprachen-Funktion erfüllt, die Kinder im lokalen Dialekt aufzunehmen und zum Standarddeutschen zu führen. Andererseits ist angesichts der mangelnden schulischen Förderung der Minderheitensprachen in Brasilien der Zustand dieser Sprachen fragil, und ein schulischer Elementarunterricht im Standarddeutschen könnte sich als Überforderung erweisen. 59 3.4.4 Das Pomerano in Espírito Santo Das Pommersche ist eine ostniederdeutsche Varietät, die allerdings in sich keineswegs einheitlich ist, sondern wie nahezu alle Sprachinselvarietäten aus Mischvarietäten besteht. 60 Das Pomerano weist in Espírito Santo in der Region, auf die sich das P ROEPO -Projekt richtet, die größte Stabilität auf. Daneben ist es in weiteren Regionen Brasiliens präsent, wenngleich meist nicht in gleicher Vitalität. In Rio Grande do Sul wird es in der Region von Pelotas um Canguçu noch stärker verwendet. Untersuchungen in dieser Region kommen jedoch zu dem Ergebnis eines beschleunigten Abbaus, der besonders in den jüngeren Generationen zu hybriden Bildungen und sprachlicher Unsicherheit führt. Das brasilianische Pomerano ist erst in Ansätzen beschrieben, am ausführlichsten in Tressmanns (2006a) Pomerisch-Portugijsisch Wöirbauk. Hier sei nur auf einige zentrale Merkmale des Pomerano eingegangen: 61 fangreiche korpuslinguistische Datenbank, die die vielfältigen Varianten auf allen Gebieten des Pomerano dokumentiert (vgl. Rosenberg 2016). 61 Beispiele und deren Notation aus Tressmann (2006a, S. VIf.). Das Wörterbuch enthält Angaben zum Lautsystem („Pronúncia Pomerana“, VI-VIII) sowie morphologische Informationen (u.a. Pluralbildung, Verbrektion, grammatische Klasse), zum Teil auch zur arealen Variation. Natürlich sind die Möglichkeiten, auf die Uneinheitlichkeit dieser Mischvarietät einzugehen, in einem Wörterbuch beschränkt. <?page no="240"?> Peter Rosenberg 240 Vokalsystem: Das Pomerano weist die allgemein niederdeutschen Merkmale auf, wie etwa die nd. Monophthonge / i: / ijs ,Eis‘, / u: / huus ,Haus‘ und (diphthongiert) / ou/ loupe ,laufen‘, rouke ,rauchen‘ (aber klain, allain, arbeid). Hinzu treten spezifisch ostniederdeutsche Merkmale: Hierzu zählen vor allem die zahlreichen Diphthonge (mit „Aufwärtsbewegung“, das heißt upglides), zum Beispiel / au/ in kau ,Kuh‘. „Brechung“ tritt auch bei den Kurzvokalen auf, die zumeist eine „Abwärtsbewegung“ (downglides) zeigen: i-e / j ɛ / , u-o / w ɔ / , ü-ö / y œ/ (s.u.). Zu nennen sind auch die Vokalhebung (uld ,alt‘) in bestimmten Fällen, Vokalsenkung in anderen (reere [r ɛ : r ɐ ]) ,reden‘, eesel [ ɛ : z ə l] ,Esel‘), Rundung mit Senkung (flöcht [flœçt] ,Flechte/ Zopf‘), Velarisierung (Verdumpfung) von a zu å [ ɔ ] (wåter ,Wasser‘) und die aus dem Pommerschen bekannte Hiattilgung, in diesem Falle mit g-Einfügung, oft spirantisiert (höiger [hø ɪʝɐ ] ,höher‘, reigen ,rein‘). Das System der Kurz- und Langvokale entspricht weitgehend dem niederdeutschen Lautstand. Postma (ersch. demn.: 16) weist auf den konservativen Vokalismus des Pomerano hin, der das Pomerano mit dem Groningen- Dialekt und Teilen des Westfälischen verbindet, aber von allen anderen westgermanischen Varietäten absetzt: Die westgermanischen Diphthonge / uo/ , / ie/ bleiben als (gesenkte) Diphthonge erhalten (gaud ,gut‘, braiw ,Brief‘). Der Erhalt von westgermanisch / u: / und / i: / (huus ,Haus‘, wiid ,weit‘) vereint das Pomerano überdies mit dem Friesischen. Ostniederdeutsche Besonderheiten werden hier folglich nur für die Diphthongierung im Detail genannt, die vor allem bei Langvokalen auftritt. Allerdings sind mit individueller Variation mitunter auch kurze betonte Vokale betroffen: melk [m ɛ ə ɫ k], auch [m j ɛɫ k] ,Milch‘, foss [f ʊ ɔ s] ,Fuchs‘ sün [sy ə n], auch [s j yn] ,Sonne‘ (vgl. Postma ersch. demn., S. 29). Diphthonge: / a ɪ / sai ,sie‘, dai ,die‘, schnai ,Schnee‘, fair ,vier‘ / ɛɪ / seip ,Seife‘, peird ,Pferd‘ / ø ɪ / köich ,Kühe‘, schöin ,schön‘ / a ʊ / kau ,Kuh‘, gaud ,gut‘, schau ,Schuh‘, bauk ,Buch‘ / ʊɪ / gruin ,grün‘, kuil ,kühl‘ / ou/ hous ,Hose‘, knoup ,Knopf‘ / w ɔɪ / koiken ,Küche‘ Konsonantensystem: Wie generell im Niederdeutschen sind die stimmlosen Plosive unverschoben (loupe ,laufen‘, seip ,Seife‘, schåp ,Schaf‘, peird ,Pferd‘, apel ,Apfel‘, knoup ,Knopf‘; eeten ,essen‘, dat ,das‘, tau ,zu‘, fortele ,erzählen‘, weit ,Weizen‘; måke ,machen‘, waik ,weich‘). Hinzu treten weitere Merkmale: - der Rhotazismus, der auch im Festlandspommerschen verbreitet ist: reere ,reden‘, löire ,löten‘, weir ,Weide‘, borem ,Boden‘, braurer ,Bruder‘ - das velare l [ ɫ ] (stil ,still‘, huld ,Holz‘, kuld ,kalt‘), das ebenfalls im Ostniederdeutschen zur Auswanderungszeit weite Verbreitung zeigte („Ostsee-l“) - partiell finden wir spirantische Realisierung des / g/ als j (oder / g/ ) in geel, gild, gemåkt ,gelb, Geld, gemacht‘, das sich besonders im Nordosten und Südwesten des niederdeutschen Gebiets findet. Postma (ersch. demn., S. 97) findet dagegen jenur in adjektivischem Gebrauch, niemals als Partizip II im verbalen Gebrauch. - / r/ kann final und medial vor Konsonant vokalisiert werden oder bei Vokaldehnung oder Diphthongierung ausfallen (rour [rou ɐ ] ,Rohr‘, korw [k ɔ : v] ,Korb‘) - Initiales s kann stimmhaft oder stimmlos sein (sand ,Sand‘, seip ,Seife‘) - s in sp, st, sw, sl kann alveolar oder (meist) palatal realisiert werden in speel [spe: l] ,Spiel‘, staul [ ʃ ta ʊ l], swema [ ʃ v ɛ ma], slang [ ʃ laŋ] ,Schlange‘ - Nasalausfall tritt auf in meisch ,Mensch‘ oder ais ,eins, einmal‘, hest ,Hengst‘ (vgl. Postma ersch. demn., S. 3-5) Morphologie: Im Pomerano finden wir in der Verbmorphologie den üblichen ostniederdeutschen verba- <?page no="241"?> 8. Lateinamerika 241 len Einheitsplural, hier allerdings teils auf Tiefschwa, der durch Vokalsenkung von -e (aus -en bei n-Apokope) entsteht. Generell herrscht eine Tendenz zur Reduktion: einen - aina, eine - ain, ein - ai. Die Bildung des Partizips II variiert mitunter: måkt neben gemåkt ,gemacht‘ (adj., Tressmann 2006a, S. 160), geeta (zu eeta ‚essen‘, Tressmann 2006a, S. 103, eventuell phonetisch motiviert). Die Pluralbildung der Nomina zeigt das bekannt komplexe Bild des Niederdeutschen, in dem zusätzlich zu den im Standard üblichen Pluralmorphemen der s-Plural verbreitet ist und durch e-Apokope und folgende Vokaldehnung (mit Stimmhaftigkeit des Auslautkonsonanten) zusätzliche Formen entstehen. Hinzu kommt die erwähnte Vokalsenkung, die - u.U. nach n-Apokopierung - teils zu [ ɐ ] führt: -e (teils als Tiefschwa [ ɐ ]): börst-e/ börst-a (Sg. börst ,Bürste‘), peir-e/ peir-e (Sg. peird ,Pferd‘), guis-e/ guis-a (Sg. guis/ gääs ,Gans‘) -n/ -en: wolk-en (Sg. wolk ,Wolke‘), oss-en (Sg. osse ,Ochse‘) -s: eesel-s (Sg. eesel ,Esel‘), fågel-s (oder foigel, Sg. fågel ,Vogel‘), fruug-es (Sg. fruug [-x] ,Frau‘), hån-s (und hån-en, Sg. hån ,Hahn‘) -r/ -er: kleirer (Sg. kleid ,Kleid‘), kin-er (Sg. kind ,Kind‘), kåtern (Sg. kater ,Kater‘), höir (und huir, Sg. haud ,Hut‘, Rhotazismus und e- Apokope), hin-er (und huin-er, höin-er, Sg. hin ,Huhn‘) -Æ: häin (und hin, Sg. hand ,Hand‘, e-Apokope), twai man (Sg. man ,Mann‘; üblicher: Sg.: meisch - Pl.: lüür, Sg.: keirl - Pl.: keirls), seegel (Sg. seegel ,Segel‘) Umlaut/ Vokalwechsel: äpel (Sg. Apel ,Apfel‘), bärg/ bärga (Sg. barg ,Berg‘), böim (Sg. boum ,Baum‘), fuit (Sg. faut ,Fuß‘), bruirer (oder bruirer-s, Sg. braurer ,Bruder‘), Vokaldehnung: huun (Sg. hund ,Hund‘), früün (Sg. fründ ,Freund‘, e-Apokope) Interessant ist das Femininum-Suffix -sch: schaulleirer-sch ,Schullehrerin‘, koik-sch ,Köchin‘. Postma weist auf das morphologische Prinzip der Katalexis hin (vgl. Kiparski 1991): der morphologisch funktionalen Latenz von Endungsmorphemen, die sich etwa in den genannten „stummen“ Pluralmorphemen, aber auch in intervokalischem Rhotazismus ohne Intervokalität zeigt: Der Rhotazismus in gaur (ain gaur fruug ,eine gute Frau‘) lässt sich nur erklären, wenn man eine Entwicklung aus gaud(e) annimmt, worauf auch prädikatives gaud (Alles gaud) mit Auslautverhärtung hindeutet (Postma ersch. demn., S. vi). Die Kasusmorphologie zeigt im Bereich der regulären Nominalflexion nach den Ergebnissen des Projekts „Reguläre und irreguläre Kasusmorphologie in deutschen Sprachinseln in Russland und Brasilien“ (vgl. Rosenberg 2016) weitgehenden Ausgleich in Richtung des Akkusativs (Maskulinum, zum Teil Neutrum mit maskulinen Akkusativformen als Defaults) oder Nominativ/ Akkusativ-Formen (Femininum, Plural). Dies gilt zumindest für die stärker im Abbau befindlichen Sprachinseln in Rio Grande do Sul. Die unregelmäßige Pronominalflexion weist im Bereich der Personalpronomina eine komplexere Kasusdistinktion auf und bewahrt auch in der 3. Pers. Sg. Dativformen in hoher Frequenz. Allerdings findet im Sprachgebrauch häufig ein Wortartwechsel von Personalpronomen zu (regulären) Demonstrativpronomen statt mit der Folge radikaler Vereinfachung des Kasussystems zu Common-Case-Formen (de/ dai). In allen regulär flektierten Wortarten setzt sich eine Tendenz zum schwachen Flexionsparadigma, mit -(e)n bei Obliquenkasus, -e bei Common Case) durch vgl. Postma ersch. demn., S. 54). Der Genitiv ist weitestgehend abwesend, auch im Possessiv, wo präpositionale Bildungen mit von sowie Cross-Referencing-Bildungen mit dem/ der/ de Frau … sein/ ihr oder die Wortstellung statt Morphologie die syntaktische Zuordnung erlaubt. Für die Personalpronomina wird dies auch von Postma (ersch. demn., S. 40) bestätigt. Für Possessivpronomina, Artikel, Nomina und Adjektive sowie Präpositionalfügungen sieht Postma (ersch. demn., S. 42, 43, 108f., 120) jedoch Kasusdistinktion (Dativ-Akkusativ), was möglicherweise auf den (im Vergleich zu Rio Grande do Sul) stärkeren Spracherhalt in Espírito Santo, eventuell auch auf die schriftlichen Quellen hinweist. Eine Kasusneutralisierung (Nomina- <?page no="242"?> Peter Rosenberg 242 tiv-Akkusativ) wird für kainer/ ainer unter möglichem Einfluss des Hunsrückischen angegeben (Postma ersch. demn., S. 46). Die Verbalmorphologie zeigt hinsichtlich der Tempusbildung deutliche Anzeichen der Verwendung des Perfekts statt des Präteritums. Syntax: Die Syntax des Pomerano weist wenige Spezifika gegenüber anderen niederdeutschen Varietäten auf. Es zeigt sich eine weitgehende Abwesenheit von Hypotaxe. Kontaktstellung des finiten und infiniten Prädikatsteils ist verbreitet. V2 findet sich etwa in: Dan hat küüt hai dat daue ‚Dann hat gekonnt er das tun‘. Postma (ersch. demn., S. 86) weist auf die Verwendung des Gerundiums mit taum hin, teils mit ACI-Konstruktion: Wij arbeira upm laand taum da arme lüür helpen. Als multifunktionales Adverbial, Konjunktion, Relativpronomen wird wou verwendet, das lokale (,wo‘) und modale (,wie‘) Bedeutung vereint (vgl. Tressmann 2006a, S. 551, Postma ersch. demn. 113). Wat tritt als generalisiertes Relativpronomen auf, auch für belebte Referenten. Lexik: Das Pomerano zeigt zahlreiche portugiesische Entlehnungen ebenso wie eine erhebliche Anzahl von - aus dem Portugiesischen übernommenen - Entlehnungen aus indigenen Sprachen. An portugiesischen Entlehnungen seien hier nur exemplarisch genannt: - bijsch (mask.) ,(Klein-)Tier‘ (port. bicho) - bolo (mask.) ,Kuchen‘ (port. bolo) - milje (mask.) ,Mais‘ (port. milho) - prim (mask./ fem.) ,Cousin, Cousine‘ (port. primo/ a, vgl. Postma 134 zur Catalexis) - schacke (fem.) ,Gebäude in der (Pfirsich-) Plantage‘ (port. chácara ,Gehöft, Landhaus‘) - vend/ vende (fem.) ,Laden‘ (port. venda) Entlehnter indigener Wortschatz, insbesondere im Bereich der Agrikultur, der Botanik und Zoologie (sowie der Toponymik) findet sich etwa in: - abacaxi (fem.) ,Ananas‘ (brasil. port. abacaxi, aus der língua geral während der frühen port. Kolonialzeit, dem Tupinambá) - abakat (mask.) ,Avocado‘ (port. abacate, ursprünglich aus dem Nahuatl) - bataad (fem.) ,(Süß-)Kartoffel‘ (port. batata, ursprünglich Taíno, vermittelt über andere indigene Sprachen) Postma weist hinsichtlich der dialektalen Lexik darauf hin, dass - im Unterschied zur Phonologie und Morphologie, wo sich zahlreiche Parallelen zum Niederländischen und Friesischen finden - die Lexik überwiegend kontinentalgermanisch ist. „Whenever North Sea Germanic lexis is in opposition to the continental Germanic lexis, Pomeranian is on a par with continental lexis, not with Dutch/ Frisian/ English.“ (Postma ersch. demn.: 132) Als Beispiel gibt Postma (ersch. demn., S. 132) an (vgl. Tabelle 2). Schließlich lassen sich Archaismen aus der (späten) Kolonisationszeit wie luftschiff ,Flugzeug‘ oder die zum Teil noch verbreitete Höflichkeitsform der 3. Person Singular (Hai ‚er‘, Sai ‚sie‘) in der pronominalen Anrede finden: Geit Hai uk mit? ,Gehen Sie auch mit? ‘, Wou uld is Sai? ,Wie alt sind Sie (fem.)? ‘, Tressmann 2006a, S. 182, 400). 4 Deutsche Sprachinseln in Lateinamerika im 21. Jhd.? Die deutschstämmigen Bevölkerungsgruppen in den vier südamerikanischen Ländern Argentinien, Brasilien, Chile und Paraguay könnten unterschiedlicher nicht sein. Sie sind bis zu Friesisch Niederländisch Englisch Pomerano Standarddeutsch saterdy (+sneon) zaterdag Saturday sonåwend Sonnabend fier ver far wijd weit tsjel weil wheel rad Rad Tab. 2: Germanische Lexik <?page no="243"?> 8. Lateinamerika 243 einem gewissen Grade ebenso verschieden wie ihre Mehrheitsgesellschaften: Brasilien hat den Deutschen lange Zeit Rückzugsmöglichkeiten geboten, die Eigenheiten ihrer Sprachinseln zu bewahren. Die lange Dauer des Assimilationsprozesses von immerhin sechs Generationen, die deutliche Differenzierung zwischen Land- und Stadtbewohnern, die spracherhaltende Funktion der geschlossenen ländlich-abgeschiedenen Siedlerkolonien, die Dominanz und Binnenmischung dialektaler Ortsvarietäten und die Stigmatisierung infolge der Zäsur des Zweiten Weltkriegs haben die Vitalität der meisten Gemeinschaften jedoch - zumindest in den jüngeren Generationen - deutlich geschmälert. Die jüngste sprachenpolitische Anerkennung der Minderheiten im Rahmen der Kooffizialisierung kommt spät, vielleicht nicht zu spät. Das starke Überwiegen der aus dem Hunsrück stammenden Einwanderer, und ihre Expansion zu einem „Spracharchipel“, das andere Varietäten verdrängt oder zum Teil sogar überdacht, stellt eine hochinteressante Entwicklung dar. Die sprachlichen Ausgleichsmechanismen, die diesem Prozess zugrunde liegen, sind in den „Neuen Kolonien“ ein ergiebiger Untersuchungsgegenstand. Was die deutschbrasilianischen Sprachinseln überdies spannend macht, ist die Tatsache, dass die Verbreitung des Hunsrückischen nach wie vor anhält, zum Beispiel im brasilianisch-paraguayischen Grenzgebiet. Die Ausgleichsvorgänge laufen unter unseren Augen ab. Nach welchen Regularitäten vollziehen sie sich? Es wird von besonderem Interesse sein zu verfolgen, welche Mischungsprozesse, aber auch welche koexistierenden Formen aus dem Zusammentreffen kompakter Sprechergemeinschaften resultieren: Dabei treten Prozesse der dialektalen Variation, des dialektalen Ausgleichs, des Dialektwandels und der sprachlichen Interferenz (mit dem Portugiesischen) auf, die analytisch voneinander zu unterscheiden sind. Alle diese Prozesse werden aber überlagert vom Rückgang des Sprachgebrauchs, der Sprachkompetenz - und der Sprachloyalität - bei den jüngeren Generationen. Dies gilt sogar für die noch vitalsten Sprachgemeinschaften der Hunsrücker und Pommern. Sind diese Prozesse irreversibel, dann werden auch die Sprachrevitalisierungsmaßnahmen der letzten Jahre nichts mehr aufhalten: Aus dem Spracharchipel könnte ein Sprachatoll aus stehengebliebenen und untergegangenen Inselresten werden, ein Great Barrier Reef, das der Auswaschung und Erosion unvermeidlich ausgesetzt ist - die Fische, die es bewohnen, leben indes fröhlich im umgebenden Ozean weiter. Argentinien hat seine Immigrantensprachen stärker assimiliert, vor allem im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs seit der Zwischenkriegszeit. Die Verstädterung des Landes ist früher vorangeschritten als in allen anderen hier behandelten Staaten. Dies gilt besonders für das Gebiet am Rio de la Plata. Die erhaltenen wolgadeutschen Kolonien stellen ein besonders interessantes Untersuchungsfeld dar. Der nie abgerissene Sprachkontakt zum binnendeutschen Sprachraum, vermittelt über deutsche Unternehmen (und ihre Expats) lässt neben den Einflüssen des Spanischen (und früher des Russischen) auch das bundesdeutsche Standarddeutsch in gewissem Umfang zur Geltung kommen. Chile hat den Süden des Landes lange Zeit sich selbst überlassen. Die Anbindung des ehemaligen „wilden Südens“ hat die Bedingungen der deutschen Sprachinseln fundamental gewandelt: Migration und Mobilität brachten die Sprachgruppen in intensiven Kontakt, Modernisierung und soziale Entwicklung ließen die ethnisch-kulturellen Schranken unbedeutend werden. Die „Chilenen deutscher Abstammung“ sind noch keine „Folklore“-Minderheit. Dazu ist ihre soziale und ökonomische Stellung zu hoch und das Prestige des Deutschen zu ausgeprägt. Die Frage der Aufrechterhaltung einer ethnischkulturellen Identität angesichts eines zunehmenden Sprachwechsels stellt ein interessantes Untersuchungsfeld dar. Die Mennoniten in Paraguay sind wie in Russland die stabilste deutschsprachige Gruppe. Auf der Grundlage ihrer religiösen und ethnisch-kulturellen „Exterritorialität“ haben sie die Herausforderung annehmen können, die die Öffnung des Chaco gestellt <?page no="244"?> Peter Rosenberg 244 hat. Wirtschaftskontakte zur Mehrheitsgesellschaft, Zweisprachigkeit, Mobilität werden in den Dienst gestellt, nicht erlitten. Gleichwohl verändert sich das soziale und kulturelle Gefüge in den Kolonien: Die massive Zuwanderung Hunsrückisch (oder Portugiesisch) sprechender Deutschbrasilianer hat die Kolonien bereits zu verändern begonnen. Die Trennung von Sakralbereich und „Welt“, die auch sprachlich symbolisiert ist, beginnt durchlässig zu werden. Es wird sich zeigen, ob die Sprachvarietäten des Plautdietschen und des hochdeutschen Standards ihre Verwendungsbereiche langfristig beibehalten können oder neue - soziale - Funktionen erhalten. Keine dieser Gruppen lässt sich - wie dies in Zeiten früherer Abgeschiedenheit häufig galt - als deutsch im Gegensatz zu brasilianisch, argentinisch, chilenisch usw. beschreiben: Eine solche Dichotomie hat sich aufgelöst im Zuge der Landesmodernisierung und der „Nationalisierung“ in allen lateinamerikanischen Ländern, aber auch des Statusverlusts des Deutschen, spätestens mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Ebenso hat sich nahezu überall die sprachliche Diglossie aufgelöst, in der die deutschen Varietäten ehemals in der lokalen Kommunikation und die Kontaktsprache im äußeren Verkehr, später das Deutsche in den informellen und die Landessprache in den formellen Domänen, verwendet wurden. Die Kontaktsprache drang in immer mehr Domänen ein, beginnend in Schule, dann Kirche, schließlich örtlichem Arbeitsleben und letztlich Familie, vor allem vonseiten der Kindergeneration. Die „Complémentarité fonctionelle“ (Lüdi 1989, S. 244) - Herzstück jeder Diglossie - schwindet. Damit verbunden werden die Gruppengrenzen diffus, das (ethnic) „boundary marking“ (Barth 1969) - soweit es auf sprachlicher Abgrenzung beruht - verblasst, mit dem Überwiegen von Zweit- oder Fremdsprachlern des Deutschen schon in der Elterngeneration verschwimmt die sprachliche Distinktivität - das „Binnen“ und „Buten“. Das heißt nicht, dass es keine Sonderheit deutschstämmiger Bevölkerungsgruppen mehr gäbe. Was wir beobachten, ist eine „Transkulturalisierung“ dieser Gruppen: Innerhalb einer „multiplen Identität“ (Keupp et al. 2002) verbindet sich eine deutsche Herkunft mit einer eindeutigen Identifikation als Brasilianer, Argentinier, Chilene usw., und mehrfache „Zugehörigkeiten“ (Pfaff-Czarnecka 2011) sind heute vereinbar: lokale als Nachfahre einer deutschstämmigen Familie, nationale etwa als Argentinier, transnationale zum Beispiel als deutsch-, spanisch-, englischsprechender Mitarbeiter bei Adidas in Coronel Suárez (Provincia de Buenos Aires), der zur Ausbildung in Deutschland war und regelmäßig durch Europa reist. 5 Literatur Albers, Frank (1997): Die soziolinguistische Situation der Mennoniten in Belize. (Ms., Diplomarbeit, Europa-Universität Frankfurt/ Oder). Frankfurt/ Oder. Altenhofen, Cléo Vilson (1996): Hunsrückisch in Rio Grande do Sul. Ein Beitrag zur Beschreibung einer deutschbrasilianischen Dialektvarietät im Kontakt mit dem Portugiesischen. 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Auswärtiges Amt (30.1.2018). https: / / www.auswaertiges-amt.de/ de/ aussenpolitik/ regionaleschwerpunkte/ lateinamerika/ bildung/ 201474 (30.1.2018). http: / / weltkarte.pasch-net.de/ (30.1.2018). http: / / www.bva.bund.de/ DE/ Organisation/ Ab teilungen/ Abteilung_ZfA/ Auslandsschularbeit/ Schulen_im_Ausland/ Deutsche_Auslandsschu len/ Auslandsschulverzeichnis/ Schulverzeichnis/ schulverzeichnis-inhalt.html (30.1.2018 ). <?page no="252"?> Peter Rosenberg 252 6 Anhang 6.1 Übersicht: Deutsch als Fremdsprache in den Ländern Lateinamerikas Tabelle 3: Deutsch als Fremdsprache in Schulen, an Hochschulen und in Erwachsenenbildungseinrichtungen in den Ländern Lateinamerikas (Quellen: Auswärtiges Amt 2015: Deutsch als Fremdsprache weltweit. Datenerhebung 2015. Berlin: Auswärtiges Amt, S. 9; http: / / weltkarte. pasch-net.de/ (6.7.2006). Schülergesamtzahlen, Schulen mit Fremdsprachen-Unterricht: gerundet. EWB: Erwachsenenbildung; k.A.: keine Angabe; PASCH: Schulen: „Partner der Zukunft“, darunter: DAS: Deutsche Auslandsschule; DSD: Schule mit Deutschem Sprachdiplom; FIT: Schule mit Goethe-Zertifikat „Fit in Deutsch“) Argentinien Belize Bolivien Brasilien Chile Costa Rica Deutschsprecher Σ (1989) 200.000 (2010) 10.000 (2016) 11.000 1.400.000 (1990) 20.000 k.A. DaF-Lerner Σ 34.700 k.A. 11.764 134.588 24.116 3.192 Schüler Σ (in Mill.) 11 k.A. k.A. 50 3,5 1 Schulen m. Fremdsprachunterricht 59.000 k.A. k.A. 76.000 12.500 9.300 Schulen mit DaF 47 k.A. 8 343 29 5 DaFler Schule 2015 25.000 k.A. 8.157 79.514 20.000 1.149 +/ - seit 2010 +8.170 k.A. -150 +14.111 +1.079 +15 Hochsch. mit Dt. 42 k.A. 2 48 5 2 DaF- Studierende 3.300 k.A. 191 12.910 1.750 450 +/ - seit 2010 -1 k.A. +9 +3.340 +518 k.A. DaF-Einr. EWB 20 k.A. 2 20 12 3 DaFler EWB 2.954 k.A. 1.958 33.014 400 1.593 DaFler Goethe-Inst. 3.446 k.A. 1.458 9.123 1.966 k.A. DAS 4 k.A. 2 4 5 1 DSD 16 k.A. 3 25 16 1 FIT 11 k.A. 2 22 6 3 Dom. Rep. Ecuador El Salvador Guatemala Honduras Jamaika Deutschsprecher Σ (1989) k.A. 3.000- 4.000 k.A. k.A. k.A. k.A. DaF-Lerner Σ 2.000 6.100 1.299 5.957 737 32 Schüler Σ (in Mill.) 2,7 k.A. 1,6 4,3 1,9 0,5 Schulen m. Fremdsprachunterricht k.A. k.A. 1.208 38.000 k.A. 221 Schulen mit DaF 0 5 1 15 1 0 DaFler Schule 2015 0 4.700 944 3.761 250 0 +/ - seit 2010 k.A. +200 k.A. k.A. +250 k.A. Hochsch. mit Dt. k.A. 5 0 3 2 0 DaF- Studierende k.A. 500 0 1.496 203 0 +/ - seit 2010 k.A. -200 k.A. k.A. +193 k.A. DaF-Einr. EWB 8 10 1 8 3 3 DaFler EWB 2.000 900 355 700 284 32 DaFler Goethe-Inst. k.A. k.A. k.A. k.A. k.A. k.A. DAS k.A. 3 1 1 k.A. k.A. DSD k.A. 0 0 1 k.A. k.A. FIT k.A. 2 0 1 k.A. k.A. <?page no="253"?> 8. Lateinamerika 253 Kolumbien Kuba Mexiko Nicaragua Panama Paraguay Deutschsprecher Σ (1989) 10.000- 12.000 k.A. 50.000- 60.000 k.A. k.A. 60.000 DaF-Lerner Σ 16.729 1.730 75.176 2.184 580 5.487 Schüler Σ (in Mill.) 11 2,2 32 1,6 0,8 1,6 Schulen m. Fremdsprachunterricht 12.000 8.871 k.A. 40 k.A. k.A. Schulen mit DaF 12 0 240 5 2 23 DaFler Schule 2015 7.388 0 27.000 937 500 5.000 +/ - seit 2010 +738 k.A. k.A. k.A. +325 -1.149 Hochsch. mit Dt. 40 7 173 2 1 2 DaF- Studierende 5.000 530 18.000 798 35 71 +/ - seit 2010 +2.142 +80 +4.000 k.A. -15 +21 DaF-Einr. EWB 14 30 250 4 1 5 DaFler EWB 1.531 1.200 25.000 449 45 416 DaFler Goethe-Inst. 2.860 k.A. 5.176 k.A. k.A. k.A. DAS 4 k.A. 5 1 0 1 DSD 2 k.A. 2 0 0 16 FIT 4 k.A. 5 1 1 1 Peru Trinidad u. Tobago Uruguay Venezuela Summe Deutschsprecher Σ (1989) 4.500 k.A. 8.000- 9.000 25.000 993.500- 2.415.500 DaF-Lerner Σ 17.363 70 3.310 4.842 351.956 Schüler Σ (in Mill.) k.A. 0,2 0,8 8 134,7 Schulen m. Fremdsprachunterricht k.A. k.A. k.A. 5.906 223.046 Schulen mit DaF 18 0 7 4 760 DaFler Schule 2015 9.250 0 1.621 2.785 197.906 +/ - seit 2010 +750 k.A. +121 +762 +25.222 Hochsch. mit Dt. 1 1 3 4 343 DaF- Studierende 135 70 150 267 45.856 +/ - seit 2010 -525 -36 +150 -36 +9.640 DaF-Einr. EWB 6 0 8 k.A. 408 DaFler EWB 3.935 0 269 k.A. 77.035 DaFler Goethe-Inst. 4.043 k.A. 1.270 1.790 31.132 DAS 3 k.A. 1 1 37 DSD 6 k.A. 0 0 97 FIT 5 k.A. 2 3 78 <?page no="254"?> Peter Rosenberg 254 6.2 Übersicht: Deutsch in den Ländern Lateinamerikas Tabelle 4: Deutsch in den Ländern Lateinamerikas (Stand - wenn nicht anders angegeben - Born/ Dickgießer 1989, Aktualisierungen: Rosenberg 1998, Altenhofen 1996, Auswärtiges Amt 2015, 2016 (online), Mennonitische Weltkonferenz 2003; Ländereinwohnerzahlen: 2016) Argentinien (44 Millionen Einwohner) Anzahl Deutschsprachiger 200.000 Dt.-spr. (1989 = 1 Prozent); 1 Mill. Deutschstämmige (AA 2016); Deutsche Staatsangehörige mit Pass ca. 50.000 (Doppelstaater 30.000) (Mennoniten 2003: 4.448) Zeit der Einwanderung 19 Jhd. (dt.-ev. Gem. seit 1843) 1933-45: 45.000 Juden (bis 1938); 1945: NS-Angehörige; 1945-: ständ. Verbind. zu Dtl. Herkunft der Einwanderer 300.000-350.000: Wolgadt. (Prov. Buenos Aires), Schwarzmeerdt. (Entre Ríos), Schweizer, dt. Juden Varietäten Wolgadt. Variet., Schwarzmeerdt., Belgranodeutsch, Schwyzertütsch Regionalschwerpunkte deutscher Siedlungen Prov. Buenos Aires: 58.000, Stadt Buenos Aires: 45.000, Prov. Entre Ríos (N): 65.000, Prov. Misiones (N): 21.000, Chaco: 11.000, Pampa: 10.000 (1989) Sprachgebrauch (Domänen/ Mehrsprachigkeit) Land: Dial./ Stadt: Assim. ~100% biling. (Span.)/ nicht-öff. Domänen: D Kath.: stärkere Assim. als Evang. Institutionelle Unterstützung (Schule, Kirche, Medien) 31 PASCH-Schulen: 4 DAS (Dt. Schule Temperley, Dt. Schule Villa Ballester, Goethe-Schule Buenos Aires, Pestalozzi-Schule Buenos Aires, davon 1 mit Abitur, 3 mit „Int. Baccalaureate“, u.a. mit dualem Bildungsgang + dt. Fachabitur); 16 DSD, 11 FIT. Wolgadt.: Dialektunterricht in Coronel Suárez 34.700 DaF-Lerner (davon 25.000 Schüler an 47 Schulen) (1989: 15.680 Schüler, davon 15% Erstspr. Dt.) Duale Ausb. über Dt.-Arg. IHK DAAD-Lekt. Buenos Aires, Córdoba, Tucumán Engagement Max-Planck-Gesellschaft, Helmholtz-Gemeinschaft, Fraunhofer- Gesellschaft, Dt.-Arg. Hochschulzentrum: binationale Studiengänge, Austauschprogramm I-DEAR (Ing.-wiss.). Goethe-Inst. Buenos Aires, Córdoba; Goethe-Zentr. Mendoza, San Juan 9 geförderte Kulturgesellschaften Argentinisches Tageblatt (Wochenztg., 2015: Aufl. 5.000), Unsere Kolonien (Monatsztg., Coronel Suarez, Prov. B.A.), Heimat (B.A.), Unsere Zeitung (José León Suárez, Prov. B.A.), CADICAA (zweimonatl., AHK, B.A.), Semanario Israelita, (1969-1999 B.A.), Evang. Gemeindeblatt am Rio de la Plata, Gemeindebrief Sankt Bonifatius (B.A.), VDI-Mitteilungsblatt, Panorama Mercosur (AHK) Ev. Kirche am Rio de la Plata (1989: 70 Gemeinden: Arg./ Urug./ Parag.) Dt. kath. Gemeinden Festival des dt. Films (B.A.) <?page no="255"?> 8. Lateinamerika 255 Belize (350.000 Einwohner) Anzahl Deutschsprachiger 1989: 3.300; 2016: 10.000 (AA 4/ 2016) (Mennoniten 2003: 3.575) Zeit der Einwanderung seit 1957 Herkunft der Einwanderer Mexiko: dt.-spr. Mennoniten (aus Kanada u. USA: 1922-48 nach Mexiko) Varietäten menn. Plautdietsch Regionalschwerpunkte dt. Siedlungen Grenzgebiet zu Guatemala/ Mexiko (Chiapas): Altkolon. (Blue Creek/ Shipyard); Nähe Belmopán: Kleine Gemeinde (Span. Lookout) Sprachgebrauch (Domänen/ Mehrsprachigkeit) Altkolonisten: konserv.; Dt. in allen Dom. Kl. Gemeinde: offener, Engl./ (zunehmend) Span. Institutionelle Unterstützung (Schule, Kirche, Medien) menn. Schulen, menn. Netzwerke „Spracharchipel“ (Steffen/ Altenhofen 2014) kaum Partizipation (AA 4/ 2016) Bolivien (11 Millionen Einwohner) Anzahl Deutschsprachiger 1914: 500; 1932: 1.350; 1950: 3.207; 2016: 14.000 (Mennoniten 2003: 13.275) Zeit der Einwanderung seit ca. 1850 Herkunft der Einwanderer Dtl. (Kaufleute); Mennoniten aus Kanada, Mexiko, Paraguay, Belize ab 1933: dt.-spr. Juden; 1945: NS-Angehörige Mennoniten aus Belize Regionalschwerpunkte deutscher Siedlungen Region Santa Cruz (ostbolivianische Tiefebene) Städte: Mittel-/ Oberschicht Institutionelle Unterstützung (Schule, Kirche, Medien) 7 PASCH-Schulen: 2 DAS (Dt. Schule La Paz, Dt. Schule Santa Cruz de Bolivia), 3 DSD, 2 FIT 11.764 DaF-Lerner (dav. 8.157 Schüler an 8 Schulen) Goethe-Inst. La Paz (AA 3/ 2016); DAAD-Lekt. La Paz Dt. Evang. Gemeinde La Paz <?page no="256"?> Peter Rosenberg 256 Brasilien (210 Millionen Einwohner) Anzahl Deutschsprachiger 1990: 1.400.000; 3,6 Mill. Deutschstämmige 1940: Dt. in 77 v. 88 Municipios in Rio Grande do Sul; 1980: Dt. in 101 v. 332 Municipios in RS. 1940: 28 % Dt.-Anteil: in Porto Alegre; 1980: 38% in POA (Otero Schäffer 2004, S. 172ff.) (Mennoniten 2003: 8.262, Quelle: IBGE) Zeit der Einwanderung seit 1812 (Espírito Santo) (Bahia 1818; Nova Friburgo, bei Rio: 1819; Rio Grande do Sul: Hunsrücker seit 1824, Pommern seit 1858) Herkunft der Einwanderer versch. dt.-spr. Regionen (Hunsrück, Pommern, Sachsen, Schwaben, Baden, Bayern, Österreich u.a.) Kleinbauern (außerdem Handwerker, Ärzte, Pfarrer, Lehrer) Varietäten insges. 13 Varietäten nach Altenhofen (2013, S. 106): Hochdeutsch, Hunsrückisch, Pommerisch, Westfälisch, Plautdietsch („Mennonitendt.“), Bairisch, Böhmisch, Bukowinisch, Schwäbisch, Schweizerisch („alem-o-suíço“), Österreichisch, Deutsch-Russisch („Dt. der Deutsch-Russen“), Kaffeeflickersch Regionalschwerpunkte dt. Siedlungen Rio Grande do Sul (ab 1824), Santa Catarina (ab 1829), Espírito Santo (ab 1812), Paraná (ab 1829), seit 1970ern: Binnenmigration in den Norden (Mato Grosso, Maranh-o, Pará, Rondônia) Sprachgebrauch (Domänen/ Mehrsprachigkeit) lange Zeit wenig Assim.: geschlossene/ homogene Siedl. (Dial.) Hochspr.: zunächst nur ev. Kirche, später dt. Schulen; Stadt: Assim. Evang. (60%): Gottesdienst (RGdS 1970) in 13 Pfarrbezirken (von 121) nur Dt., in 75 überw. Dt. Zensus 1940: 393.934 Dt. zuhause, 1950: 551.951 (Otero Schäffer 2004, S. 172) Institutionelle Unterstützung (Schule, Kirche, Medien) 51 PASCH-Schulen: 4 DAS (Dt. Schule Rio de Janeiro, Humboldt-Schule S-o Paulo, Porto Seguro I S-o Paulo, Porto Seguro II Valinhos), 25 DSD, 22 FIT 134.588 DaF-Lerner (dav. 79.514 Schüler an 343 Schulen) 1922: Rio Grande do Sul: 698 Schulen (dt. Unterrichtsspr.); 1938: Schulspr. Portugiesisch; 1938: ausl. Schulen verboten; 1939: Kanzelverbot Fremdspr.; 1940: Unterr. Fremdspr. verboten; 1942: Kriegseintritt Brasiliens, Dt. verboten (Gefängnis) 1989: >100 Schulen DaF-Wahlpfl. (SC, PA, RS) seit 2011: 6.595 bras. Stud. an dt. Univ./ Forschungseinrichtungen 7 DAAD-Lektoren (Belém, Fortaleza, Rio de Janeiro, S-o Paulo (2), Porto Alegre und Belo Horizonte); 10-20 DAAD-Lehrass. pro Jahr an bras. HS 2005-2014: 21.905 bras. u. dt. Stud./ Wiss. mit DAAD-Stipendien Koop.-Progr. Probral, Unibral 5 Goethe-Inst. (S-o Paulo, Rio de Janeiro, Salvador, Porto Alegre, Curitiba); Goethe-Zentr. Brasília Dt.-bras. Kulturges. in dt. Einwanderungsgebieten (u.a. in Blumenau, Joinville, S-o Bento do Sul, Nova Petrópolis, Panambi, Porto Alegre, S-o Leopoldo, Ivoti) Dt.spr. Medien in Bras.: Blog (12.000/ Monat), Pommernblatt, Brasil Post (Wochenztg., S-o Paulo, SP, 2003: 21.850); Deutsche Zeitung (Wochenztg., S-o Paulo, SP); Jornal Evangélico (Porto Alegre, RS); Skt. Bonifatiuspfarrei (Dt.-spr. Kath. Gemeinde, Rio de Janeiro, RJ); Sankt Paulus Blatt (Nova Petrópolis, RS); Informationsblatt (Mennonitas do Brasil, Curitiba, PR); Bibel und Pflug (Mennonitengemeinden, Curitiba, PR); Brasil-Alemanha (Dt.-Bras. Handelskammer, S-o Paulo, SP); Wochenbericht (Dt.-Bras. AHK, S-o Paulo, SP) <?page no="257"?> 8. Lateinamerika 257 Chile (18 Millionen Einwohner) Anzahl Deutschsprachiger 1989: 20.000 Dt.-spr.; 100.000-200.000 Nachf. dt. Einwanderer; 16.000 dt. Staatsangeh. Zeit der Einwanderung seit 1820 (bes. seit 1850: „1848er“: polit. Exilanten) Herkunft der Einwanderer versch. Regionen Deutschlands (Hessen, Schlesien, Württemberg, Böhmen, Brandenburg, Sachsen, Westfalen); Gebildete u. untere Mittelschicht; dt. Juden Varietäten oberu. mitteldt. Dial.; Mischdialekte „Lagunendeutsch“ (Llanquihue-See) Regionalschwerpunkte deutscher Siedlungen Südl. Provinzen: Valdivia, Osorno, Llanquihue, Region Los Lagos [2%], Städte etwas höherer dt. Anteil 1950 Land z.T. 30-40% Dt.-Anteil Santiago, Concepción-, Temuco-Umgebung Sprachgebrauch (Domänen/ Mehrsprachigkeit) Streusiedlungen; bald überreg. Ugs./ Standarddt. mehrheitl. Biling., Assim. (Erstspr. Spanisch) 1960: 71,6% „ausgewogen zweispr.“, 1989: Städte, jüng. Gen. Dt.-Komp. nachlassend, heute: obere Mittelschicht Dt. Schule Santiago 1987: 48% teilw. Dt. in Fam., 17% regelm. Dt. in Fam. Evang.: resistenter Institutionelle Unterstützung (Schule, Kirche, Medien) 27 PASCH Schulen: 5 DAS (Dt. Schule Concepción, Dt. Schule Thomas Morus Santiago, Dt. Schule Santiago, Dt. Schule Valdívia, Dt. Schule Valparaiso), 16 DSD, 6 FIT 2 Kindergärten (Santiago); Verein dt. Lehrer in Chile 2016: 20.000 DaF-Schüler Dt. mit Prestige! Dt.-Chil. Bund/ Liga Chil.-Alem.: dt.(-spr.) Vereine: 8.000-9.000 Mitgl., Stud.verbindungen Radioprogramme (dt.+span.); Condor (Wochenztg., Aufl. 6.000) dt. evang. Gottesdienste (Valdívia, Osorno) Rockfestival der Dt. Schulen in Valdívia Costa Rica (4,9 Millionen Einwohner) Anzahl Deutschsprachiger 1.000-2.000 (1931) Nachfahren der Erstbesiedlung (Mennoniten 2003: 2.719) Zeit der Einwanderung 1826-1832; 1846 Herkunft der Einwanderer versch. Regionen Deutschlands 1846: ostpreußische Auswanderer (Carlstadt); wohlhabende Kaffeepflanzer (Export nach Europa) Regionalschwerpunkte deutscher Siedlungen Kaffeeanbaugebiete Institutionelle Unterstützung (Schule, Kirche, Medien) 5 PASCH-Schulen: 1 DAS: San José, 1 DSD, 3 FIT (AA 4/ 2016) 3.192 DaF-Lerner (davon 1.149 DaF-Schüler an 5 Schulen) Colegio Humboldt (1912) DAAD- Informationszentrum in San José Universidad de Costa Rica: Humboldt-Lehrstuhl Goethe-Zentr. San José Dominikanische Republik (2,7 Millionen Einwohner) Institutionelle Unterstützung (Schule, Kirche, Medien) 2.000 DaF-Lerner (Erwachsenenbildung) Kulturzentrum „Centro Dominico-Alemán“ Santo Domingo 7 von 32 HS: Kooperationen mit dt. HS (AA 3/ 2016) <?page no="258"?> Peter Rosenberg 258 Ecuador (16 Millionen Einwohner) Anzahl Deutschsprachiger 1939: 3.000-4.000 Dt.-spr. (z.T. weitergezogen) (NS-Verfolgte) 1.500 dt. Staatsangeh. (Mennoniten 2003: 810) Zeit der Einwanderung 1930er Herkunft der Einwanderer Deutschland; dt. Juden Regionalschwerpunkte deutscher Siedlungen Quito, Guayaquil Sprachgebrauch (Domänen/ Mehrsprachigkeit) 1989: 20% der Schüler von dt. Schulen: Erstspr. Dt. Institutionelle Unterstützung (Schule, Kirche, Medien) 5 PASCH-Schulen: 3 DAS (Dt. Humboldt Schule Guayaquil, Dt. Schule Cuenca, Dt. Schule Quito), 2 FIT (AA 3/ 2016) DaF-Lerner 6.100 (davon 4.700 Schüler an 5 Schulen) DFG-Projekt (mit 3 ecuad. u. 8 dt. HS) Goethe-Zentr. Quito ,Deutscher Kulturverbund („Red Cultural Alemana“) DAAD-Lektorat Quito (PUCE) dt. evang. Gem. , dt. kath. Gem. Dt.-Ecuad. Kulturvereinigung Quito: Dt.-Span. Meetup El Salvador (6,3 Millionen Einwohner) Anzahl Deutschsprachiger 1998: 700 (Mennoniten 2003: 535) Zeit der Einwanderung 1852: 8, 1939: 200 Herkunft der Einwanderer versch. dt. Regionen Kaffeekultivierer; Privilegien für dt. Bauern Bis 1890 beherrschende Position in Kaffeeproduktion Regionalschwerpunkte deutscher Siedlungen landesweit, ursprünglich Kaffeeanbaugebiete Institutionelle Unterstützung (Schule, Kirche, Medien) 1 PASCH-Schule: 1 DAS (Dt. Schule San Salvador: Gemischtsprachiges „Int. Baccalaureate“) DaF-Lerner 1.299 (davon 944 Schüler an 1 Schule) Trägerverein Deutsche Schule (v. Goethe-Inst. gefördert) Deutsch-salvadorianisches Kulturforum (AA 4/ 2016) Guatemala (15,5 Millionen Einwohner) Anzahl Deutschsprachiger über 4.000 dt. Staatsangeh.; 2.000 Deutschstämmige (Mennoniten 2003: 6.673) Zeit der Einwanderung 1873-1885: staatl. geförderte Ansiedelung dt. Bauern (Kaffee) Regionalschwerpunkte deutscher Siedlungen Kaffeekultivierer; Privilegien für dt. Bauern Bis 1890 beherrschende Position in Kaffeeproduktion Institutionelle Unterstützung (Schule, Kirche, Medien) 3 PASCH-Schulen: 1 DAS (Dt. Schule Guatemala), 1 DSD, 1 FIT (AA 12/ 2015) DaF-Lerner: 5.957 (davon 3.761 Schüler an 15 Schulen) Gemeindeblatt der deutschsprachigen evangelischen Gemeinde (Ev.-Luth. Epiphaniasgemeinde, Deutscher Service, Ciudad de Guatemala) Asociación Alejandro von Humboldt (Schulträger, Sprachinstitut, Kulturinstitut, „Club Alemán“) Zweiter Weltkrieg: Enteignung u. Internierung dt. Männer in den USA <?page no="259"?> 8. Lateinamerika 259 Honduras (8,1 Millionen Einwohner) Anzahl Deutschsprachiger (Mennoniten 2003: 20.716) Regionalschwerpunkte deutscher Siedlungen 1900 größte Firmen in deutscher Hand (22 % des Gesamthandels), große Kaffeeplantagen Institutionelle Unterstützung (Schule, Kirche, Medien) DaF-Lerner: 737 (davon 250 Schüler an 1 Schule) (AA 2015) Jamaika (2,7 Millionen Einwohner) Anzahl Deutschsprachiger 160 Nachfahren deutscher Siedler („German Town“) Zeit der Einwanderung 1834: 570 („Bremen Valley“); 1835: 532 Herkunft der Einwanderer versch. dt. Regionen Kaffeepflanzer Regionalschwerpunkte deutscher Siedlungen Kaffeeanbaugebiete Institutionelle Unterstützung (Schule, Kirche, Medien) 32 DaF-Lerner (Erwachsenenbildung) (AA 2015) Kolumbien (49 Millionen Einwohner) Anzahl Deutschsprachiger 10.000 (dt. Staatsangehörige, Deutschstämmige, Deutschsprachige) (Mennoniten 2003: 2.910) Zeit der Einwanderung 1933-45: dt. Juden; nach 1945: dt. Arbeitsmigr. Herkunft der Einwanderer Deutschland dt. Juden Regionalschwerpunkte deutscher Siedlungen Bogotá und Umgebung: 7.000-8.000 Sprachgebrauch (Domänen/ Mehrsprachigkeit) Assimilationsbereitschaft der Deutschstämmigen Institutionelle Unterstützung (Schule, Kirche, Medien) 10 PASCH-Schulen: 4 DAS (Dt. Schule Colegio Andino Bogotá, Dt. Schule Colegio Alemán Cali, Dt. Schule Barranquilla, Dt. Schule Medellín), 2 DSD, 4 FIT DaF-Lerner: 16.729 (davon 7.338 Schüler an 12 Schulen) (1988: 3.800 Schüler, dav. 450 dt. Erstspr.) (AA 2/ 2016) DAAD-Informationszentr. Bogotá, Lektorate Cali, Barranquilla, Medellín; 10 Sprachass.; 2.600 kolumb. Stud. an dt. HS InformAndino (Colegio Andino, Dt. Schule Bogotá); Kirchenzeitung der Katholiken deutscher Sprache (Deutsche Kath. St Michaels-Pfarrei, Santafé de Bogotá); Mitteilungen der Evangelischen Gemeinden deutscher Sprache (Santafé de Bogotá) 1989: dt.-spr. kath. Gem. (Bogotá, Cali): 1.000 Mitgl., ev. Gem.: 400 Mitgl. Dt.-spr. Stammtisch Bogotá (450 Mitgl.) Kuba (11 Millionen Einwohner) Institutionelle Unterstützung (Schule, Kirche, Medien) DaF-Lerner: 1.730 (davon 530 Stud. an 7 HS) (AA 5/ 2016) DAAD-Repräs. Ludwig-Stiftung (künstl. Austausch); Alexander-von-Humboldt-Stiftung <?page no="260"?> Peter Rosenberg 260 Mexiko (129 Millionen Einwohner) Anzahl Deutschsprachiger 50.000; 16.000-18.000 dt. Staatsangeh. (überw. Doppelstaater) (Mennoniten 2003: 19.688; Rest: NS-Verfolgte u.a.) Zeit der Einwanderung 1922, 1924: Mennoniten aus Kanada; 1933-45 Herk. d. Einwanderer Russlandmennoniten über Kanada (Manitoba, Saskatchewan) nach Mexiko Varietäten menn. Plautdietsch Regionalschwerpunkte deutscher Siedlungen Mutterkol. in Bundesstaaten: Chihuahua (um Cuauhtémoc): 25.000-30.000; Durango: 6.000; Tochterkol. in Bundesstaaten: Tamaulipas, Zacatecas: 6.000 Mennoniten: „Altkol.“ (Chortitza, Fürstenländer)/ „Sommerfelder“/ „Kleine Gem.“. 120 geschloss. ländl. Siedl.: lokale Verwaltung Sprachgebrauch (Domänen/ Mehrsprachigkeit) Plautdietsch im Alltag (stabile Domänen); Standarddt.: Schriftspr./ Gottesd. Kontaktspr.: Span., z.T. Englisch (Kanada-Kont.) Altkol.: wenig Kontakt, Kontaktspr. eher Männer Kl. Gem.: mehr Kontakt, besser Span., besser Standarddt. Nicht-Menn.: Dt. in Fam. u. Vereinen Institutionelle Unterstützung (Schule, Kirche, Medien) 12 PASCH-Schulen: 5 DAS (Dt. Schule Guadalajara, Dt. Schule Mexiko-Stadt (La Herradura), Dt. Schule Mexiko-Stadt (Lomas Verdes), Dt. Schule Mexiko- Stadt (Xochimilco), Dt. Schule Puebla: International Baccalaureate), 2 DSD, 5 FIT (AA 5/ 2016) 50 Siedlerschulen; menn. dt. Oberschule in Cuauhtémoc (120 Schüler) Goethe-Inst. Mexiko DAAD-Lektorat, 2.400 mex. Stud. in D, 348 HS-Koop. Colegio de México (Lehrst. Wilhelm und Alexander von Humboldt) Deutsche Kulturgesellschaften (Monterrey, San Luis Potosí), „Kulturstiftung der Deutschen Wirtschaft“ Mexico-City: dt. kath. u. ev. Gem. Asociación de Ayuda Social de la Colonia Alemana,; dt.-mex. Frauenverein Ceri-Gua (wöchentl., dt.-spr. Informationsdienst, Mexico, D.F.) Nicaragua (6,1 Millionen Einwohner) Anzahl Deutschsprachiger (Mennoniten 2003: 9.275) Zeit der Einwanderung 1844: planm. Ansiedlung dt. Kaffeeplanzer Regionalschwerpunkte dt. Siedlungen versch. dt. Regionen Kaffeekultivierer; frühe Assimilation Regionalschwerpunkte dt. Siedlungen Kaffeeanbaugebiete Institutionelle Unterstützung (Schule, Kirche, Medien) 2 PASCH-Schulen: 1 DAS (Dt. Schule Managua - Colegio Alemán Nicaragüense: Bachillerato Internacional), 1 FIT (AA 2/ 2016) DAAD-Lektorat Managua Deutsch-Nicaraguanische Kulturinitiative ICAN Zweiter Weltkrieg: Enteignung u. Internierung dt. Männer in den USA; nach 1945: Rückgabe Panama (3,9 Millionen Einwohner) Anzahl Deutschsprachiger 1998: 250 Dt., 400 Deutschstämmige (Mennoniten 2003: 750) Zeit der Einwanderung 1860 Siedlungsversuch Regionalschwerpunkte dt. Siedlungen Bananenplantagen (1870er); frühe Assimilation Institutionelle Unterstützung (Schule, Kirche, Medien) 1 PASCH-Schule: 1 FIT (AA 12/ 2015) DaF-Lerner: 580 (davon 500 Schüler an 2 Schulen) DAAD-Kooperation mit 5 HS „Centro Cultural Alemán“ <?page no="261"?> 8. Lateinamerika 261 Paraguay (7 Millionen Einwohner) Anzahl Deutschsprachiger 40.000 Dt.-spr. aus Brasilien; 125.000 Deutschstämmige (Mennoniten 2003: 27.693; 1987: 22.710) Zeit der Einwanderung seit 1927: Mennoniten: Menno (*1928, Kanada), Fernheim (*1930, UdSSR: Krim, Sibirien, Ukraine), Friesland (*1937, UdSSR), Neuland/ Volendam (*1947/ 48, „Warthegau“) nach 1945: Mennoniten aus Mexiko/ USA seit 1970/ 80ern: starke Zuwanderung Dt.-spr. aus Brasilien Herkunft der Einwanderer Mennoniten. aus Kanada, Sowjetunion, USA, Mexiko, Brasilien seit 1975: 40.000 Dt.-Spr. aus Brasilien Varietäten menn. Plautdietsch (Chortitza: über Kanada/ Mexiko; Molotschna: UdSSR); Hunsrückisch (aus Brasilien); Schwäb./ Badisch (Independencia); Österreichisch (Carlos Pfannl); Sudetisch (Sudetia) Regionalschwerpunkte deutscher Siedlungen 1987: 11.220 (~50% der Menn.) im Chaco (118 Dörfer): Siedl.: Menno: 6.650, Fernheim: 3.240, Neuland: 1.330; 11.490 (~50% der Menn.) in Ostparaguay: Siedl.: Friesland: 720, Volendam: 690, Bergthal: 1.490, Sommerfeld: 1.860, Rio Verde: 2.490, N. Durango: 2.050; 3.500 in Asunción (750 Menn): Provinz Guaira: Independencia, Sudetia, Carlos Pfannl; 25.000 Dt.-Spr. in Provinz Itapuá: Siedl. (> 1.000 Dt.-Spr.): Hohenau: 2.850, Obligado: 2.000, Bella Vista: 1.200 Sprachgebrauch (Domänen/ Mehrsprachigkeit) wenig Assimilierung; Kontaktsprachen: Span., Guaraní (Landesspr.), z.T. Portug. (bei Brasilien-Immigranten) Sprachbewahrungsfaktoren: abgeleg. geogr. Lage (Chaco, Alto Paraná); dt.spr. Mehrheit in Siedlungen; wenig Urbanisierung, Industrialis., Modernis.; geringe Bev.-dichte (< 10); Privilegien unter Stroessner Mennoniten: dt. Varietäten in allen Domänen, Port./ Span., Hunsr./ Standarddt.-Einfluss durch Zuwanderung aus Bras. Institutionelle Unterstützung (Schule, Kirche, Medien) 18 PASCH-Schulen: 1 DAS (Dt. Schule Asunción: Gemischtsprachiges „Int. Baccalaureate“), 16 DSD, 1 FIT) (AA 1/ 2016) DaF-Lerner: 5.487 (davon 5.000 an 23 Schulen) Mennoniten: Religionsfreiheit, Befreiung v. Militärdienst und Eid, Recht auf eigene Schulen (5.000 Schüler, 230 Lehrer) größte (geförd.) Schule: Colegio Goethe (Asunción, 1.300 Sch., dav. 300 Dt.spr.); Schulverbände Independencia u. Itapuá Schulverwaltungen versch. menn. Kol.: „Allg. Schulbehörde“, Sitz Filadelfia (Kol. Fernheim), menn. Lehrerseminar Dt.-Lehrerausb. auch Univers. Asunción (50 Stud. Germ.) Kirchensprache: meist Dt. Mennoblatt - Zeitschrift der Kolonie Fernheim (Colonia Fernheim/ Asunción, Aufl. 3.000, 14täg., für Parag., Kan., Arg., Bras., Urug.); Menno Informiert (Neuland); Neuland - informiert und diskutiert (Colonia Neuland/ Asunción); Friesland-Informationsblatt (Asunción); Neues für alle (Asunción): Aufl. 11.000, 14täg.; Das Wochenblatt (Acahay, Yeguarizo); Der Paraguay Bote (Encarnación); Farmland (Barrio Santo Domingo/ Asunción); Gemeindebrief der Deutschen Evangelischen Gemeinde (Hogar Excolar/ Asunción); PanoramaMercosur - Zeitschrift der Dt.-Paraguay. Handelskammer (zweispr., monatl., Dt. AHK Paraguay, Arg., Uruguay; Wirtschaftsinformationen, Beilage Panorama Paraguay, Asunción) Rundfunksender La Voz del Chaco Paraguayo (1998: 26% dt.-spr.) Dt. ev. Gem. in 13 Städten (Asunción, Prov. Itapuá, Alto Paraná, S.Pedro, Caaguazú); 2 dt.-spr. kath. Gemeinden (Asunción, Alto Paraná) jüd. „Unión Israelita“ (2.000 Mitgl., zum gr. Teil m. Erstspr. Dt.) „Dt. Turnverein“, „Hilfsverein Frauenhilfe“ Dt.-par. Kulturzentr. in Asunción (400-600 Dt.-Unterr.) u. Encarnación <?page no="262"?> Peter Rosenberg 262 Peru (32 Millionen Einwohner) Anzahl Deutschsprachiger 1989: ~ 4.500 (Schätzung); 1932: 3.000; 6.000 dt. Staatsangeh. (Mennoniten 2003: 515) Zeit der Einwanderung 1859/ 1868 Pozuzo, Departamento Pasco (im Landesinneren) Herkunft der Einwanderer Tiroler, Rheinländer, Vorarlberger Varietäten „Tirolés“ Regionalschwerpunkte deutscher Siedlungen Konzentr. Lima u. Vororte urspr. Ansiedlung in Pozuzo (Dep. Pasco, Landesinneres) Tochterkol.: Oxapampa (heute assim.), Villa Rica Sprachgebrauch (Domänen/ Mehrsprachigkeit) mehrheitl. assimiliert; Oxapampa: weitg. assim. Schulen: Dt. als Zweitsprache/ Verbindung nach Dtl.: Pozuzo, Villa Rica Sprachwechsel bei Jüngeren; seit 2005: oblig. Deutschunterr. Pozuzo: inst. Zweispr.; tourist. Vermarktung; Ortsschilder: „la única colonia Austro-Alemana del mundo - die einzige österreichisch-deutsche Kolonie der Welt“ Institutionelle Unterstützung (Schule, Kirche, Medien) 14 PASCH-Schulen: 3 DAS (Colegio Peruano-Alemán „Beata Imelda“, Lima, Dt. Schule Alexander von Humboldt Lima [1989: 1.300 Sch.: 541 erstspr. Dt., dav. 413 dt. Staatsangeh.], Dt. Schule Max Uhle Arequipa), 6 DSD, 5 FIT DaF-Lerner: 17.363 (davon 9.250 Schüler an 18 Schulen) Goethe-Inst. Lima DAAD-Lektorat Lima: 184 Peruan. Stip. in Dtl. 211 dt. Stip. in Peru (2014), bis zu 100 Exzellenzstip. für peruan. Postdocs „Gemeinde der Evangelischen in Peru“ (320 Mitgl., meist dt.-spr.) Gem. dt.-spr. Katholiken (ca. 150 Mitgl.) Lima-Kurier; Union Austria-Nachrichten (sporad.); Memoria (Wirtschaftsnachr., Dt.-peruan. AHK, Lima), Monatsspiegel - Revista peruana bilingüe/ castellano (Lima), Peru Spiegel (Inform. dt.-spr. Gruppen in Peru, Lima); Dt.-spr. Rundfunksendg. Lima Uruguay (3,5 Millionen Einwohner) Anzahl Deutschsprachiger 8.000-9.000; 40.000 Dt.-stämmige (AA 3/ 2016); 1963: 4.200 dt. Staatsangeh. (Mennoniten 2003: 1.220) Zeit der Einwanderung seit ca. 1850: Dep. Paysandú u. Rio Negro, Norduruguay, Montevideo ab 1933: dt. Juden Herkunft der Einwanderer 19.Jh.: Bauern, Handw. aus Dtl., später auch aus Bras., Arg. 1933-45: NS-Verfolgte nach 1945: v.a. Russlanddeutsche und Mennoniten Varietäten menn. Plautdietsch; div. Dialekte Regionalschwerpunkte deutscher Siedlungen Montevideo; Grenzgebiet zu Brasilien (400 Fam. in Montevideo; 4 dt.-spr. mennonit. Gem. (El Ombú u. Gartental/ Dep. Río Negro, Delta/ S.José, Montevideo) Institutionelle Unterstützung (Schule, Kirche, Medien) 3 PASCH-Schulen: 1 DAS (Deutsche Schule Montevideo: 1989: 1.200 Sch., dav. 209 dt. Staatsangeh.), 2 FIT DaF-Lerner: 3.310 (davon 1.621 Schüler an 7 Schulen) 3 dt.-spr. Mennonitenschulen Goethe-Inst. Montevideo DAAD-Lekt. Montevideo Dt.-spr. ev. Gem. Montevideo, dt.-evang. Gem. Paysandú, dt. kath. Gem. Montevideo, dt.-jüd. Gem. „Nueva Congregación Israelita“ (2.500 Mitgl., span., dt.-spr. Kulturzirkel); dt. Vereine PanoramaMercosur (Dt. AHK Paraguay, Arg., Uruguay, Montevideo); Mo-Fr dt. Rundfunkprogramm, Stimme des Tages (1 Std.) <?page no="263"?> 8. Lateinamerika 263 Venezuela (32 Millionen Einwohner) Anzahl Deutschsprachiger 25.000 (1985: 19.739 dt. Staatsangeh., 4.478 Schweizer, 3.159 Österr.) (Mennoniten 2003: 704) Zeit der Einwanderung seit ca. 1850: Col. Tovar; 1843: Baden (1526-1542 Welser-Kolonie (Bartolomé de las Casas 1542: „viehische Tyrannen “) Regionalschwerpunkte deutscher Siedlungen Caracas, Maracaibo; La Guaira, Puerto Caballo; Colonia Tovar (Aragua) Sprachgebrauch (Domänen/ Mehrsprachigkeit) weitgehend assimiliert, aber tourist. Vermarktung: Fachwerkbauten, Fasnet (Karneval) Col. Tovar Institutionelle Unterstützung (Schule, Kirche, Medien) 4 PASCH-Schulen: 1 DAS (Colegio Humboldt Caracas), 3 FIT DaF-Lerner: 4.842 (davon 2.785 Schüler an 4 Schulen) dt.-spr. ev. u. kath. Gemeinden Club Venezolano-Alemán/ Centro Suizo/ Centro Austríaco; Asociación Cultural Humboldt (Boletín: Aufl. 4.000); „Colonia Tovar“: Verbind. nach Dtl., Tourismus Unser Weg (Dt. Kath. Gem. „St. Christopherus“, Caracas), Willkommen/ Welcome (Caracas); Radio: 1h/ Tag <?page no="264"?> Peter Rosenberg 264 6.3 Ortsnetzkarte ALMA-H Abb. 2: Ortsnetzkarte des Atlas Linguístico-Contatual das Minorías Alem-s na Bacia do Prata: Hunsrückisch - ALMA-H [GI = jüngere Generation (18-36 Jahre alt), GII = ältere Generation I (> 55 Jahre alt); Ca = höhere Bildungsschicht (Hochschulbildung), Cb = niedrigere Bildungsschicht (Schulbildung bis „ensino medio“)] <?page no="265"?> Mennoniten in Übersee 9 Heinrich Siemens <?page no="266"?> Inhalt 1 Geographische Lage.......................................................................................................................267 2 Statistik .............................................................................................................................................268 3 Geschichte .......................................................................................................................................269 3.1 Von der Täuferbewegung bis nach Russland ....................................................................269 3.2 Mennoniten in Übersee .........................................................................................................271 3.3 Klassifikation der Mennonitenkolonien in Übersee.........................................................273 4 Wirtschaft, Kultur und Politik......................................................................................................275 4.1 Wirtschaft.................................................................................................................................275 4.2 Kultur und Politik...................................................................................................................278 4.3 Schulen .....................................................................................................................................282 4.4 Zeitschriften ............................................................................................................................283 4.5 Rundfunk .................................................................................................................................283 4.6 Internet.....................................................................................................................................284 5 Sprachformen und Varietäten ......................................................................................................284 5.1 Hochdeutsche Varietäten......................................................................................................284 5.2 Plautdietsche Varietäten ........................................................................................................285 6 Spracheinstellungen........................................................................................................................287 7 Zukunft der Mennoniten ..............................................................................................................289 8 Literatur............................................................................................................................................290 <?page no="267"?> 1 Geographische Lage Wenn wir von Mennoniten in Übersee sprechen, so meinen wir Nord- und Lateinamerika; in anderen Überseestaaten gibt es keine deutschsprachigen Mennoniten. In diesem Artikel soll es um das Ostmennonitentum gehen, um die Nachfahren der Mennoniten, die noch im Verlauf der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts von Friesland und Flandern nach Westpreußen, später nach Südrussland, in die heutige Ukraine, und von da aus zum Teil nach Übersee auswanderten. Die süddeutschen Mennoniten wanderten zwar auch nach Amerika aus, doch wird hier nur am Rande auf sie eingegangen. Den Schwerpunkt dieses Artikels bilden die Ostmennoniten. Auch die Amischen und die Hutterer, die wie die Mennoniten aus der Täuferbewegung hervorgingen, jedoch hochdeutsche Varietäten sprechen, werden nur erwähnt, soweit sie in Statistiken mitgezählt sind. Die Mennoniten als ethnische Gruppe nennen sich selbst auf Plautdietsch eher Mennisten, eine Selbstbezeichnung, die wie das hochdeutsche Wort Mennoniten auf Menno Simons (1496-1561) zurückgeht, jedoch weniger als dieses mit der Konfession assoziiert ist, so dass streng genommen gilt: Mennist wird man durch die Geburt, Mennonit durch die (Erwachsenen-)Taufe. Dieser Sprachgebrauch weicht von dem in den Niederlanden ab, wo die Mennoniten nie ein ethnisches Bewusstsein entwickelten und wo Mennisten eine volkstümliche Bezeichnung mit der gleichen Bedeutung wie Mennoniten oder Doopsgezinden ist. Die Mehrheitsgesellschaften in Übersee sprechen jedoch im ethnischen Sinne von Mennonites bzw. Menonitas und assoziieren mit ihnen häufig vor allem eine spezifische Kleidung und die Ablehnung von elektrischem Strom und von Autos zugunsten von Pferdewagen. „Oft wird von Bolivianern die Frage nach der Religion der Mennoniten gestellt. Ganz erstaunt sind sie, wenn sie zur Antwort bekommen, daß es Christen sind, die dieselbe Bibel haben wie die sonstigen christlichen Kirchen in der Welt.“ (Schartner/ Schartner 2009, S. 25) Dieser Sprachgebrauch stellt nun wiederum die Mitglieder der durch Mission entstandenen Mennonitengemeinden vor Identitätsprobleme: Sie bekennen sich zwar zur mennonitischen Konfession, sehen sich aber nicht als Mennoniten: „Ein lateinparaguayischer Student, Glied einer mennonitischen Gemeinde, sagt auf die Frage, ob er Mennonit sei: Ich bin nicht Mennonit, aber ich habe den mennonitischen Glauben angenommen.“ (Ratzlaff 2009, S. 288) Wenn wir nun also die Außenperspektive einnehmen wollen, so soll mit Mennoniten in diesem Artikel stets die sprachlich-ethnische Gruppe gemeint sein, die auch (ungetaufte) Kinder und säkularisierte Erwachsene, nicht jedoch die Missionsmennoniten umfasst. Wenn Auswanderergruppen emigrieren, wohnen deren Nachfahren in der Regel über Generationen am Auswanderungsziel. Dieser Normalfall ist bei den Mennoniten eher selten, sie sind immer unterwegs. Ältere Mennoniten in Übersee haben in der Regel im Verlauf ihres Lebens in mehreren Staaten gewohnt. In einer typischen Familie beispielsweise einer Kolonie wie Nueva Esperanza in Bolivien sind die jüngeren Bewohner in Bolivien geboren, ihre Eltern gründeten die Kolonie zum Teil von Belize aus, wohin deren Eltern wiederum in den 1950er Jahren aus Mexiko gezogen waren. Und die ältesten Bewohner der Kolonie haben in vier Staaten gelebt und können sich noch an ihre Kindheit in Kanada erinnern, von wo aus die Mennoniten in den 1920er Jahren nach Mexiko zogen. Da in der Regel nicht eine ganze Kolonie weiterzieht, sondern stets Teile der Familien zurückbleiben, kommt es, dass die Mennoniten in Übersee engste Verwandte (eigene Geschwister oder die der Eltern oder Großeltern) in vier bis fünf anderen amerikanischen Staaten haben und mit diesen auch noch in Verbindung stehen. So eng die Kontakte der Mennoniten in Übersee untereinander sind, so schwach sind in den konservativen Kolonien die Verbindungen zu Deutschland ausgeprägt. Damit widerlegen sie die Einschätzung Wiesingers (1980, S. 495), der permanente Bezug zur neuhochdeutschen Schrift- und Standardsprache <?page no="268"?> Heinrich Siemens 268 sei für das Überleben von Sprachinseldialekten essenziell. Dieser Beitrag stellt die in verschiedenen Ländern Nord- und Lateinamerikas wohnenden Mennoniten im Zusammenhang dar. Für die Situation vor Ort finden sich dann weitere und detailliertere Informationen in den einzelnen Länderartikeln. Daher weicht dieser Artikel ein wenig von der Gliederung der Länderartikel ab. Einige Fragen werden in diesem Artikel höchstens gestreift, da die Situation in den einzelnen Ländern zu unterschiedlich ist, um in diese Gesamtschau einzugehen. Wenn im Folgenden keine Quellen genannt werden, beruhen die Angaben auf eigenen Beobachtungen während der Feldforschungsarbeiten in Kanada (2005, 2014), Paraguay (2003, 2015) und Belize (2009, 2013). 2 Statistik Nach den Unterlagen der Mennonite World Conference (MWC 2012) gab es 2012 etwa 715.000 Mennoniten in Übersee. Gezählt wurden allerdings nur getaufte Mennoniten und damit insbesondere keine Kinder und Jugendlichen bis zum Alter von zirka 18 Jahren. Wie viele der genannten 715.000 Mennoniten Hochdeutsch und/ oder Plautdietsch sprechen, hängt wesentlich von den Bedingungen der einzelnen Länder ab: In Nordamerika lebten 2012 zirka 529.000 taufgesinnte Gemeindemitglieder. In dieser Zahl sind etwa 114.000 Amische und etwa 20.000 Hutterer enthalten, die von der MWC stets mitgezählt werden. Nimmt man die (ungetauften) Kinder hinzu, so liegen die Zahlen weitaus höher. Die Amish Studies geben 2016 die Zahl der Amischen mit 308.000 an (groups.etown.edu/ amishstudies/ statistics/ population-by-state/ ). Die nach Jakob Ammann benannte Untergruppe, die Autos und elektrischen Strom ablehnen, spricht größtenteils Pennsylfaanisch Deitsch, das auf dem Rheinfränkischen beruht. Ihre Sprache „entspricht eher dem Nordost-Pfälzischen (mit unverschobenem p in ‚Pfeife‘, š vor Dental in [fešd] oder Senkung ir/ ur > er/ or).“ (Rein 1994, S. 195, vgl. auch S. 199). Die nach Jakob Hutter benannten Hutterer lehnen Privateigentum ab und praktizieren auf ihren Höfen seit 500 Jahren urchristlichen Kommunismus nach der Devise: Ein jeder gibt, was er kann, und ein jeder bekommt, was er benötigt. Im Gegensatz zu den Amischen sind sie jedoch technisch auf dem neuesten Stand. Das Hutterische basiert auf bairisch-österreichischen Varietäten und hat seinen Ursprung wohl vor allem in Kärnten. Daneben verwenden die Amischen und die Hutterer im Gottesdienst und teilweise in der Schule ein veraltetes Hochdeutsch und im Umgang mit der Mehrheitsgesellschaft sowie in der Schule Englisch (vgl. Rein 1994, S. 200 und Rein 1977). Unter den nordamerikanischen Mennoniten im engeren Sinne sind Deutsch- und Plautdietsch-Kenntnisse fast nur noch unter den vor dem Zweiten Weltkrieg geborenen Rentnern sowie unter den Remigranten aus Mexiko verbreitet, die aus wirtschaftlichen Gründen in den letzten Jahrzehnten nach Texas oder Manitoba zogen. Die etwa 186.000 getauften Mennoniten Lateinamerikas des Jahres 2012 verteilen sich vor allem auf die folgenden Länder: Paraguay (33.000), Mexiko (32.000), Bolivien (25.000), Honduras (18.000), Guatemala (15.000), Brasilien (13.000) und Nicaragua (10.000). Sofern diese Mennoniten nicht durch Missionstätigkeit hinzugewonnen wurden (dies gilt vor allem für Honduras, Guatemala und Nicaragua), sprechen sie fast alle Plautdietsch. Wie gut sie auch Hochdeutsch sprechen, hängt von der Qualität des Deutsch-Unterrichts in den Schulen ab. Die bisher genannten Zahlen der MWC bezogen sich auf getaufte Gemeindemitglieder. Da vor allem die konservativen Mennoniten sehr kinderreiche Familien haben, müssen diese Zahlen mindestens verdoppelt werden, wenn man die Sprecherzahlen ermitteln will. In Mexiko und Bolivien liegt dieser Faktor, mit dem man die Zahl der Gemeindemitglieder multiplizieren muss, um auf die Gesamtzahl der Mennoniten zu kommen, mit 2,5 sogar deutlich höher, so dass man etwa in Mexiko von zirka 80.000 Mennoniten ausgeht. Schartner/ Schartner (2009, S. 48f.) zählen in <?page no="269"?> 9. Mennoniten in Übersee 269 Bolivien nicht die getauften Mennoniten, sondern die „Seelen“. Danach stieg die Zahl der Mennoniten in Bolivien innerhalb von genau zehn Jahren von 33.000 (Januar 1997) auf 50.000 (Januar 2007), also um 51 Prozent; das macht jährlich einen Zuwachs von 4,2 Prozent. In Bolivien gibt es kaum Missionsmennoniten und während dieses Zeitraums wanderten nur wenige Mennoniten aus dem Ausland zu, so dass dieses Bevölkerungswachstum allein durch zahlreiche Kinder bedingt ist. Extrapoliert man dieses Wachstum um fünf weitere Jahre, so gab es Anfang 2012 in Bolivien zirka 62.000 Mennoniten, von denen aber, wie wir gesehen haben, nur 25.000, also 40 Prozent, von der MWC als Gemeindemitglieder gezählt wurden. 60 Prozent der bolivianischen Mennoniten waren demnach jünger als 20 Jahre und noch ungetauft. Extrapoliert man dieses Wachstum noch weiter, so verdoppelt sich die mennonitische Bevölkerung Boliviens innerhalb von 17 Jahren. Zum Vergleich: In Russland hatte sich die mennonitische Bevölkerung alle 25 Jahre verdoppelt (vgl. Penner 1955, S. 128). In mennonitischen Todesanzeigen wird als besondere Lebensleistung gerne die Anzahl der Nachkommen genannt. Es gilt als besondere Ehre, wenn es möglichst viele sind. So berichten Schartner/ Schartner (2009, S. 221) von einer bolivianischen Mennonitin, die bei ihrem Tod im Alter von über 90 Jahren 612 Nachkommen hatte. Abgesehen von den konservativsten Mennonitengemeinden, in denen die Taufe die Voraussetzung für Heirat und Familie darstellt und in denen daher nahezu alle erwachsenen Mitglieder einer Siedlung auch getauft sind, müssten wir in den meisten anderen Siedlungen zusätzlich zu den Kindern auch noch die wachsende Zahl säkularisierter erwachsener Mennoniten berücksichtigen, die zwar sprachlich-ethnisch-kulturell dazugehören, aber als Ungetaufte in den Zahlen der MWC ebenfalls nicht erfasst sind. 3 Geschichte Die Mennoniten in Übersee und ihre Vorfahren werden seit knapp 500 Jahren unter häufig wechselnden Bedingungen in ihren jeweiligen Ländern als Fremde wahrgenommen. Von der ersten Hälfte des 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts waren sie in Westpreußen die Holländer, dann zogen sie nach Russland und später nach Übersee weiter. Als Folge dieser Geschichte und von Endogamie sehen sie sich als eine eigene Ethnie und werden auch von den jeweiligen Mehrheitsgesellschaften so gesehen. Um die Hintergründe zu verstehen, beginnt dieser geschichtliche Rückblick daher lange vor der Zeit der Emigration nach Übersee und es wird vor allem die Zeit in Russland ausführlich thematisiert, da die Mennoniten in Übersee von Russlandmennoniten abstammen und da sich in Russland der Übergang von einer Kultzu einer Kulturgemeinschaft vollzog. 3.1 Von der Täuferbewegung bis nach Russland Die Mennoniten sind die älteste Freikirche, die aus der Täuferbewegung der Reformationszeit hervorging. Diese entstand in der Schweiz und breitete sich im Verlauf der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts nach Nordwesteuropa und weiter nach Westpreußen aus. (Zur Frühgeschichte der Täuferbewegung vgl. Bender/ Oyer 1989 mit weiterer Literatur.) Das wichtigste Buch, das die frühe Zeit der Verfolgung durch Staat und Kirchen dokumentiert und das im Selbstverständnis der Amischen, Hutterer und Mennoniten eine zentrale Rolle spielt, ist der Märtyrerspiegel (Braght 1660). Neben der Bekenntnistaufe Erwachsener, die der Bewegung den Namen gab, war es vor allem der auf die Bergpredigt zurückgeführte Pazifismus, der sich auf die Sprachgeschichte der Mennoniten auswirkte, da er immer wieder Anlass zu Konflikten mit den Machthabern gab und in deren Folge zu weltweiten Wanderungen führte. Die Mennoniten in Übersee wohnen häufig in den unwirtlichsten Gebieten dieser Erde, wie etwa im Norden Mexikos oder im Chaco Paraguays. Um die Pionierleistungen bei der Erschließung dieser Gegenden zu verstehen, muss man die Geschichte der Mennoniten in <?page no="270"?> Heinrich Siemens 270 Westpreußen kennen, wohin sie zogen, um den Verfolgungen in Nordwesteuropa zu entgehen. Der Preis, den sie zu zahlen bereit waren, war hoch: Die Siedlungsgebiete der Mennoniten auf den Werdern des Weichsel-Nogat-Deltas deckten sich mit den Gebieten, die unterhalb des Meeresspiegels lagen und ständig überflutet wurden (vgl. die Karten in Penner 1963, S. 64 oder Penner 1978a, S. 502). Um dieses Land bewohnbar zu machen, war hohe Ingenieurskunst gefordert. Es ist kein Zufall, dass Adam Wiebe, ein in Harlingen in Westfriesland geborener westpreußischer Mennonit, die Seilbahn erfand, als er beauftragt wurde, den Bischofsberg bei Danzig über den Fluss zu versetzen (vgl. Penner 1978a, S. 205). Es mussten nun also Deiche, Gräben und Entwässerungswindmühlen gebaut und instand gehalten werden. Dazu war neben der Ingenieurskunst eine starke Gemeinschaft gefordert, in der jeder anpacken musste (vgl. Penner 1978a, S. 120ff.). So entwickelten die Mennoniten ein ausgeprägtes Zusammengehörigkeitsgefühl bei gleichzeitiger Abschottung gegen die als feindlich empfundene Welt, was umso erstaunlicher ist, wenn man sich den Missionseifer der frühen Täuferbewegung im Süden des deutschsprachigen Raumes und in Nordwesteuropa vor Augen hält. Die Mennoniten in Westpreußen sprachen die hier übliche östliche Varietät des Niederdeutschen als Alltagssprache, das Plautdietsche, das aufgrund seiner geographischen Lage in einem Sprachbund mit baltischen und slavischen Nachbarsprachen im Vergleich zum westlicheren Niederdeutsch einige Besonderheiten aufweist, auf die weiter unten (Kap. 5.2) eingegangen wird. Als Kultsprache pflegten die westpreußischen Mennoniten jedoch bis zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts („in Danzig noch 1790“, Friesen 1911, S. 39) das Niederländische, so dass die Mennoniten in Westpreußen schlicht die Holländer hießen. Der Wechsel zum Deutschen als Gottesdienstsprache verlief synchron zu großen politischen Ereignissen: Preußen, Russland und Österreich teilten Polen unter sich auf. Zuerst wurde das ländliche Westpreußen und ab 1793 auch die Stadt Danzig an Preußen angeschlossen. Die bis dahin sehr engen wirtschaftlichen und religiösen Beziehungen der westpreußischen Mennoniten zu Amsterdam flauten allmählich ab. Die pazifistischen Mennoniten fühlten sich im militaristischen Preußen immer unwohler: Sie durften kein Land von Nichtmennoniten erwerben, und da die Familien groß waren, wurde die Lage immer aussichtsloser. Wenn man schon keine Soldaten stellte, so musste man zumindest die Ausbildung nichtmennonitischer Soldaten finanzieren, etwa die Kadettenanstalt in Kulm mit 5.000 Talern jährlich unterstützen (vgl. Penner 1978a, S. 165). Man erinnerte sich daran, dass 250 Jahre früher die Auswanderung die einzige Möglichkeit gewesen war, seinen Glauben zu bewahren. Wie so häufig in der Geschichte der Mennoniten, führte diese Situation zu einer Aufspaltung. Ein Teil blieb und assimilierte sich. Der andere Teil, und zu diesem gehörten auch die Vorfahren der Mennoniten in Übersee, suchte nach einer neuen Heimat, in der man seinen Glaubensprinzipien treu bleiben konnte. Als die russische Zarin Katharina II. in den russisch-türkischen Kriegen die nördliche Schwarzmeerregion eroberte und nun Bauern suchte, um diese zu besiedeln, war sie wegen der Leibeigenschaft der russischen Bauern auf ausländische Siedler angewiesen. Als Deutschstämmige suchte sie gezielt nach deutschen Einwanderern und lud diese in ihrem Manifest von 1763 unter Zusicherung zahlreicher Privilegien nach Russland ein. Aus Sicht der Mennoniten war insbesondere die zugesicherte Befreiung vom Militärdienst auf ewige Zeiten von Interesse. Als die westpreußischen Mennoniten von diesem Manifest hörten, sahen sie darin eine Fügung Gottes und es setzte ein Massen-Exodus nach Südrussland ein. Als Kirchen- und Unterrichtssprache in der Schule behielt man das gerade erst eingeführte Hochdeutsche bei, das Niederländische ist nur noch als Substrat im Plautdietschen nachweisbar (vgl. Siemens 2012). Die ans Schwarze Meer emigrierten Mennoniten betrieben zum größten Teil Landwirtschaft, auch wenn sie in Westpreußen andere <?page no="271"?> 9. Mennoniten in Übersee 271 Berufe ausgeübt hatten. Seit dieser Zeit gilt zumindest für die Anfangsjahre jeder neuen Siedlung, dass die Mennoniten sich von den Städten (und insgesamt von der als gefährlich empfundenen Welt) fernhalten und bevorzugt in ihren abgelegenen Siedlungen Landwirtschaft betreiben, was für den Erhalt der hochdeutschen Schriftsprache wie auch der plautdietschen Alltagssprache eine gute Voraussetzung darstellt. Eine Urbanisierung wie in Nordamerika und zum Teil in Brasilien nach dem Zweiten Weltkrieg oder auch unter den in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus der (ehemaligen) Sowjetunion nach Deutschland emigrierten Mennoniten bedeutet in der Regel eine beschleunigte sprachliche Assimilation an die Mehrheitsgesellschaft. 3.2 Mennoniten in Übersee Als der Norddeutsche Bund 1867 die Befreiung der Mennoniten von der Wehrpflicht aufhob, wanderten 1683 die ersten Mennoniten von Krefeld nach Amerika aus. Auch wenn man ihnen anbot, statt des Dienstes an der Waffe als Krankenpfleger, Schreiber, Fahrer, etc. zu arbeiten, und sie statt durch eine Vereidigung mit Handschlag verpflichten wollte, schien ihnen ein Dienst bei der Armee unvereinbar mit ihrem Glauben (vgl. Penner 1955, S. 83). Sie sind jedoch nicht die Vorfahren der heutigen deutschsprachigen Mennoniten in Übersee. Diese kamen aus Russland. Die russischen Zaren hatten versprochen, den mennonitischen Pazifismus auf ewige Zeiten zu respektieren, doch ab den 1870er Jahren wurden die zugesicherten Privilegien im Rahmen der Modernisierung Russlands Zug um Zug abgebaut; eine weitere Bevorzugung der mennonitischen Parallelgesellschaft war innenpolitisch nicht mehr durchsetzbar. Die deutsche Sprache wurde zunächst als Amtssprache in den Kolonien, kurz darauf auch als Schulsprache durch das Russische ersetzt. Die Mennoniten hatten stärker als andere deutsche Siedler in Russland vor allem ein Problem mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Nun sollten also auch die mennonitischen Jugendlichen in Russland zum Militär eingezogen werden, was zu einer neuen Migrationswelle führte: Etwa 7.000 der russlanddeutschen Mennoniten besiedelten Manitoba, das gerade erst seit 1869 zu Kanada gehörte, und wo auf der doppelten Fläche Deutschlands bis dahin nur 12.000 Menschen gelebt hatten, davon 1.600 Weiße (vgl. Hildebrand 1949, S. 97). Weitere 10.000 Mennoniten aus Russland zogen nach Kansas und Nebraska in den USA. Damit beginnt die Geschichte der Ostmennoniten in Übersee. (Zu diesen wie den folgenden Zahlen vgl. die einzelnen Länderartikel in www.gameo.org.) Die Auswanderung nach Nordamerika dauerte an, bis Zar Alexander II. einlenkte und sich mit den verbliebenen Mennoniten darauf einigte, einen zivilen Ersatzdienst einzuführen. Der Zar schlug einige Optionen vor wie etwa den Dienst als Sanitäter. Die Mennoniten entschieden sich für den Forsteidienst, weil er die größtmögliche Isolation garantierte. Ein Sanitätsdienst beispielsweise hätte ja zur Folge gehabt, dass die mennonitischen jungen Männer zwar nicht hätten schießen müssen, doch täglich Umgang mit russischen Soldaten gehabt hätten. Diesem als schädlich eingestuften Kontakt wollten die Gemeindeleiter die mennonitischen Rekruten nicht aussetzen. Für viele Mennoniten war jedoch auch der vom Zaren angebotene zivile Ersatzdienst bereits ein zu großes Zugeständnis gegenüber dem Staat. Bei dieser Auswanderung der 1870er Jahre wie auch bei späteren gilt eine allgemeine Regel, die das heutige irritierend breite Spektrum mennonitischer Glaubens- und Lebensweisen zumindest ansatzweise erklärt: „Die weiterreisenden konservativen Mennoniten werden konservativer, die bleibenden weniger konservativen Mennoniten progressiver.“ (Kaufmann 2015) Die mennonitischen Kriegsdienstverweigerer in Russland waren nun vier Jahre lang in der sogenannten Forstei unter sich und sprachen während dieser Zeit ausschließlich Plautdietsch. Auch die Söhne von Lehrern oder Fabrikanten, die in der Familie bereits zum prestigereicheren Hochdeutsch übergegangen waren, mussten wieder Plautdietsch lernen: Hochdeutsch oder gar Russisch waren in der Forstei verpönt. Während die ausgewanderten <?page no="272"?> Heinrich Siemens 272 konservativen Mennoniten in Übersee zunächst relativ isoliert wohnten und an ihrer alten Lebensweise festhielten, öffneten sich die in Russland zurückgebliebenen Mennoniten neuen Einflüssen, reformierten ihr Bildungssystem, bauten Krankenhäuser und landwirtschaftliche Maschinen, so dass im Industriezeitalter die Gefahr der Assimilation an die Mehrheitsgesellschaft immer größer wurde. In dieser Situation waren die knapp vierzig Jahre Forsteidienst besonders wichtig für die sprachlich-konfessionell-ethnische Identität der in Russland zurückgebliebenen Ostmennoniten und ihre positiven Attitüden gegenüber dem Plautdietschen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Akkulturationsdruck auch in Kanada immer stärker, die konfessionellen Privatschulen sollten geschlossen und Englisch als Unterrichtssprache eingeführt werden. Dies führte erneut zur Auswanderung und ab 1922 wurden von etwa 7.000 Mennoniten die ersten Kolonien in Mittelamerika gegründet: im Nordwesten Mexikos. 1927 erfolgte ebenfalls von Kanada aus die Gründung der ersten Mennonitenkolonie (namens Menno) in Südamerika: 1.750 Mennoniten zogen in den paraguayischen Chaco Boreal; im Jahre 2014 lebten in Menno 9.500 Mennoniten. (Die Zahlen von 2014, auch im Folgenden, stammen von Uwe Friesen, persönliche Mitteilung.) Doch nicht alle Mennoniten in Übersee sind Nachfahren der 1870er Auswanderer. Die politischen Ereignisse in Europa lösten weitere Migrationswellen aus. Nach der Oktoberrevolution wurde im Zuge der frühen sowjetischen Nationalitätenpolitik die deutsche Amts- und Schulsprache in den deutschen Siedlungen wieder eingeführt, und sie blieb es bis zum Zweiten Weltkrieg. Das größte Siedlungsgebiet der Russlanddeutschen an der Wolga wurde sogar zu einer Autonomen Republik aufgewertet. Andererseits wurde jedoch die Religionsausübung stark eingeschränkt und der Besitz der reichen Fabrikanten und Bauern, die man als Kulaken diffamierte, wurde zugunsten von kollektiver Wirtschaft verstaatlicht. Als Stalin seine Macht durch Terror festigte, wanderten zwischen 1923 und 1930 etwa 22.000 Mennoniten von Russland nach Kanada aus. Vielen weiteren wurde die Einreise verweigert, zum Teil aus medizinischen Gründen. Da sie auch in Deutschland nicht bleiben durften, wichen sie in den Süden Brasiliens (1.300 von ihnen 1930ach Santa Catarina, von wo aus später einige nach Paraná oder Rio Grande do Sul weiterzogen) und erneut nach Paraguay (Fernheim 1930: 2.000 Siedler; 2014: 4.500 Mennoniten) aus. Sieben Jahre später gaben einige der Siedler Fernheims den Versuch auf, den Chaco bewohnbar zu machen, und gründeten die erste Mennonitenkolonie im Osten Paraguays (Friesland 1937: 750 Siedler; 2014: nur noch 650). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Kolonien in der Ukraine aufgelöst. Etwa 23.000 der 35.000 mennonitischen Flüchtlinge, die aus der Sowjetunion in den Westen geflohen waren, wurden in Güterwaggons nach Sibirien transportiert (vgl. Epp 1989). Auch die Westalliierten beteiligten sich an dieser Deportation (vgl. Gerlach 1992, S. 102). Nur einem kleinen Teil der Flüchtlinge gelang die Emigration nach Kanada (zirka 7.000) oder erneut nach Paraguay, wo sie im Chaco die dritte Kolonie (Neuland 1947: 2.500 Siedler; 2014: nur noch 1.750) gründeten. Ein Jahr später kamen weitere Mennoniten aus Kanada, die nun jedoch im deutlich fruchtbareren Osten Paraguays siedelten (Sommerfeld und Bergthal 1948: 1.500 Siedler; 2014: 7.000 Mennoniten). 1948 bis 1951 emigrierten 1.200 vor allem westpreußische Mennoniten nach Uruguay und gründeten die Kolonien El Ombú, Gartental und Delta (in der Nähe von Montevideo), nur 100 von ihnen kamen aus Russland und sprachen Plautdietsch (vgl. Penner 1955, S. 204). Dass sich die Kolonien so unterschiedlich entwickeln, hat verschiedene Gründe: Die Bewohner Neulands kamen aus Russland, besitzen jedoch wegen eines kurzen Aufenthaltes im Nachkriegsdeutschland deutsche Pässe und können jederzeit nach Deutschland zurückkehren. Viele taten dies im Verlauf der letzten Jahrzehnte auch, insbesondere Ende der 1950er Jahre und in den 1960ern. Daher <?page no="273"?> 9. Mennoniten in Übersee 273 ist die Bewohnerzahl Neulands seit der Gründung rückläufig, steigt seit einigen Jahren aber wieder an. In den nur ein Jahr später von Kanada aus gegründeten deutlich konservativeren Kolonien Ostparaguays ist die Kinderzahl höher und die Abwanderung geringer, so dass diese Kolonien stark gewachsen sind. Möglicherweise sind auch die deutlich unterschiedlichen klimatischen Verhältnisse dafür ausschlaggebend, dass aus dem trockenen Chaco mehr Mennoniten wieder wegzogen. Dagegen spricht allerdings, dass die gleichzeitig mit Neuland von den gleichen Weltkriegsflüchtlingen gegründete Kolonie Volendam (1947: 1.800 Siedler, 2014: nur noch 680) in Ostparaguay deutlich bessere klimatische Bedingungen bietet und trotzdem einen noch größeren Bevölkerungsschwund zu verzeichnen hatte als Neuland. 1954 bis 1958 wurden vom paraguayischen Chaco aus in der Nähe von Santa Cruz de la Sierra die ersten Mennonitenkolonien in Bolivien gegründet, doch die meisten bolivianischen Mennoniten kamen ab 1966 aus Mexiko. Die Mennoniten in Bolivien zählen zu den konservativsten weltweit. Die meisten zogen nach Bolivien, um Neuerungen in den Mennonitengemeinden ihrer Ursprungsländer zu entgehen. 1959 zogen von Mexiko aus zirka 1.500 Siedler (die Hälfte von ihnen Kinder unter 14) nach British Honduras, das sich seit der Unabhängigkeit Belize nennt, und gründeten die ersten drei Kolonien. Heute leben etwa 10.000 Mennoniten in Belize. Seit 1969 zogen einige Tausend mexikanischer Mennoniten nach Ostparaguay (Rio Verde, Santa Clara, Nueva Durango, Manitoba); 2014 leben dort insgesamt 6.800 Mennoniten. 3.3 Klassifikation der Mennonitenkolonien in Übersee Die Mennoniten zeigen ein breites Spektrum an Lebensentwürfen. Zunächst wurden sie nach den Migrationswellen benannt: Die Auswanderer der 1870er Jahre und ihre Nachkommen (einschließlich der Bewohner der Kolonie Menno in Paraguay) hießen spätestens ab den 1920er Jahren die Kanadier, von diesen wurden die fortschrittlicheren und bildungsfreundlicheren Russländer unterschieden, die in den 1920er Jahren nach Übersee kamen (einschließlich der Bewohner der Kolonie Fernheim in Paraguay). Wen es nach dem Zweiten Weltkrieg nach Übersee verschlug, hieß in Nordamerika displaced person (kurz DP) oder auf Deutsch Flüchtling; in Lateinamerika sprach man von Immigranten. Diese Klassifikation verlor mit der Zeit an Bedeutung und man kann die Mennoniten in Übersee heute nach anderen Kriterien in Klassen einteilen. Da sich die ersten drei der folgenden aufgeführten Typen in Bezug auf Gemeindepraxis und Bildungssystem kaum unterscheiden, erscheinen sie hier als Unterklassen einer Gesamtheit. Typ I: Konservative Mennoniten Die spezifische Differenz vor allem der konservativeren Mennoniten mutet manchmal bizarr an. Man orientiert sich ganz offensichtlich nicht an der Bibel, sondern an überkommenen Traditionen, und verzichtet bewusst darauf, diese den veränderten Bedingungen der sich wandelnden Mehrheitsgesellschaften anzupassen. Als August F. von Haxthausen in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Mennonitenkolonien in Südrussland besuchte, beschrieb er dieses Paradoxon: Wenn das Wesen des Katholizismus im Verharren auf Traditionen besteht, so finden wir genau die gleiche Theologie bei seinen schärfsten Kritikern aus der Täuferbewegung: „Was die Mennoniten einmal als unbiblisch verworfen hätten, praktizierten sie nun als biblisch weiter.“ (zitiert nach Ratzlaff 2013, S. 158). Typ Ia: Altkolonier Die Bezeichnung Altkolonier ist mehrdeutig. Alle Mennoniten, deren Vorfahren in der 1789 in der Ukraine gegründeten so genannten Alten Kolonie lebten und deren gesprochene Varietät, das Chortitza-Plautdietsche, sich bis heute von der der anderen Mennoniten unterscheidet, sehen sich als Altkolonier. <?page no="274"?> Heinrich Siemens 274 In einem engeren Sinne werden in der Literatur diejenigen Mennoniten als Altkolonier bezeichnet, die weitgehend wie im 19. Jahrhundert leben. Die Siedler dieser konservativsten Mennonitenkolonien lehnen Autos, elektrischen Strom und damit auch elektrische Küchengeräte, Geschirrspül- und Waschmaschinen etc. ab. Dies hindert sie aber keineswegs daran, vereinzelt etwa Zahnarztpraxen oder Sägewerke zu betreiben. Als Energiequelle dienen Pferde, die im Kreis laufen und dadurch Motoren antreiben. Die Häuser werden mit Kerosinlampen beleuchtet, zur Fortbewegung dienen Pferdekutschen. Die Männer tragen dunkle Latzhosen und lange Bärte, die Frauen langärmelige dunkle Kleider und Kopftücher oder Hauben. Familienplanung ist verpönt: Die Familien haben nicht selten mehr als zehn Kinder. Die Schulen und Lehrpläne orientieren sich an denjenigen, die es bereits in den Mennonitenkolonien Russlands im 19. Jahrhundert gab und die ihrerseits die preußischen Schulen des 18. Jahrhunderts fortführten. Musikinstrumente und mehrstimmiger Gesang werden abgelehnt, beim einstimmigen Gesang wird die langgezogene alte Weise bevorzugt. Dass die gesungenen Texte Hochdeutsch sind, ist kaum zu erkennen. Film-/ Fotokameras und Tonbandgeräte sind nicht nur bei den Mennoniten selbst verpönt, sondern werden auch bei ihren Besuchern nicht geduldet, so dass etwa Linguisten oder andere Wissenschaftler bei ihrer Feldforschung auf Notizblock und Bleistift angewiesen sind. Typ Ib: Konservative Mennoniten mit Traktoren ohne Gummireifen In Bezug auf Schulen, Kirchen, Bärte und Familienplanung gibt es kaum Unterschiede zum Typ Ia. Die Mädchen und Frauen tragen allerdings Strohhüte statt Kopftücher. Die Stoffe, aus denen Kleider genäht werden, sind farbenfroher und auch die Bereitschaft, sich fotografieren zu lassen, ist ausgeprägter. Der Hauptunterschied zum Typ Ia besteht darin, dass in der Landwirtschaft (jedoch nicht in den Wohnhäusern) durch Generatoren erzeugter Strom sowie Traktoren zum Einsatz kommen; diese dürfen allerdings keine Gummireifen haben. Selbstverständlich beharrt keiner darauf, dass dieses Gebot bereits in der Bibel verankert sei, doch Autos oder gummibereifte Traktoren würden den Jugendlichen die Möglichkeit geben, in die Städte zu fahren und sich damit den Versuchungen des weltlichen Lebens auszusetzen. Die bizarr anmutende spezifische Differenz des Typs Ib dient also der Effektivitätssteigerung der Landwirtschaft bei gleichzeitig weiter fortbestehender Abschottung. Typ Ic: Bergthaler, Sommerfelder, Reinländer 1836 wurde Bergthal als erste Tochterkolonie der Alten Kolonie in Russland gegründet und die meisten ihrer Bewohner gehörten zu den ersten, die im 19. Jahrhundert nach Kanada emigrierten. Dort spalteten sich von den Bergthalern zunächst die Sommerfelder, später von diesen wiederum die Reinländer ab. Diese drei Gemeinderichtungen sind nach ihren ursprünglichen Siedlungen in Kanada benannt und in verschiedenen lateinamerikanischen Staaten unter diesen Namen vertreten. In Bezug auf das Schulwesen und die Gemeindepraxis gibt es kaum Unterschiede zu den anderen konservativen Mennoniten, doch lassen sie alle Traktoren und landwirtschaftliche Maschinen mit Gummibereifung zu. Die meisten lehnen Autos weiterhin ab, jedoch gibt es unter den Sommerfeldern inzwischen Gemeinden, die auch Privatautos zulassen. Typ II: Kleine Gemeinde (EMC), Brüdergemeinde und Holdeman-Mennoniten (CGC) Die Kleine Gemeinde wurde seit ihrer Abspaltung vom größeren Teil der Mennoniten der Molotschna-Kolonie im Jahre 1814 so genannt, also bereits zehn Jahre nach der Gründung dieser Kolonie. Die Brüdergemeinde entstand 1860 unter dem Einfluss pietistischer Missionare aus Deutschland. Beide Reformbewegungen warfen der Mehrheit der Mennoniten Verweltlichung und Verrat an den Werten der Täuferbewegung vor. Sie legten größeren Wert auf Schlichtheit und Frömmigkeit. Während die Männer keine Bärte tragen und auch die Kleidung der Männer sich kaum von derjenigen der Nicht-Mennoniten unterscheidet, tragen Mädchen und Frauen keine Hosen, <?page no="275"?> 9. Mennoniten in Übersee 275 sondern nur Kleider, und ab der Heirat ein Kopftuch. In der Brüdergemeinde werden die Täuflinge untergetaucht. Der Kirchengesang ist von mehrstimmigen Erweckungsliedern geprägt. Die Schulen streben Mehrsprachigkeit auf hohem Niveau an. Hochdeutsch mit modernen Lehrmaterialien und die Landessprache kommen in etwa gleichwertig als Unterrichtssprachen vor. Wo dies noch nicht geschehen ist, wird ein Ausbau der Schulen bis hin zur Hochschulreife angestrebt. In Bezug auf Technik, also Autos und elektrischen Strom, gibt es keine Vorbehalte, von manchen werden Fernsehen und Internet jedoch kritisch gesehen. Etwa gleichzeitig mit der Brüdergemeinde, also noch vor der Auswanderung der Russlandmennoniten nach Übersee, entstand 1859 in den USA die Church of God in Christ, Mennonite (CGC), deren Mitglieder manchmal nach ihrem Gründer John Holdeman (1832-1900) die Holdeman-Mennoniten genannt werden. Nach fünfzehn Jahren kamen die ersten Mennoniten aus Russland und viele aus der Kleinen Gemeinde schlossen sich dieser ihnen theologisch nahestehenden Erweckungsbewegung an. Sie ist bis heute nahezu ausschließlich auf Nordamerika beschränkt: 2010 lebten fast 90 Prozent der 23.000 Gemeindemitglieder in Kanada oder in den USA. Wie bei den anderen nordamerikanischen Mennoniten hat das Englische das Deutsche bereits weitgehend verdrängt. Typ III: Moderne Mennoniten Die modernen Mennoniten machen ihren Mitgliedern keinerlei Vorschriften in Bezug auf Rasur/ Frisur, Kleidung oder Technik. Die Anzahl der Kinder ist deutlich niedriger als bei den konservativeren Mennoniten. Die Schulen und insbesondere der Deutsch-Unterricht orientieren sich an moderner Pädagogik; es werden Lehrmittel aus Deutschland eingesetzt. Der Impuls für ein modernes Bildungssystem kam vor allem durch die immer wieder unmittelbar aus Russland eingewanderten bildungsfreundlichen Mennoniten. Zum Teil wurden die konservativeren Mennoniten jedoch auch von ihren Glaubensgeschwistern aus Kanada, die der moderneren Evangelical Mennonite Mission Conference (EMMC) angehörten, missioniert, so dass es vielfach zu innermennonitischen Konversionen kam. Mit dieser Orientierung an Kanada geht allerdings häufig ein Verlust des Hochdeutschen einher. In Belize (mit Englisch als Amtssprache) beispielsweise wird an den EMMC-Schulen nur noch Englisch, kein Deutsch mehr unterrichtet. Das Hochdeutsche ist somit an beiden Rändern des Spektrums gefährdet: Die konservativsten Mennoniten weigern sich, ihre eigene Varietät des Hüachdietschen zugunsten des Standarddeutschen aufzugeben, die modernsten neigen dazu, das Deutsche durch die Landessprache zu ersetzen, vor allem, wenn diese das Englische ist. Moderne Mennoniten haben eine sehr positive Einstellung zur Bildung. Es erreichen nicht nur viele die Hochschulreife und studieren, in Nordamerika haben sie sogar eigene Universitäten gegründet: die Canadian Mennonite University (CMU) in Winnipeg und in den USA die Eastern Mennonite University (EMU) in Harrisonburg, Virginia, mit einer Zweigstelle in Lancaster, Pennsylvania. 4 Wirtschaft, Kultur und Politik 4.1 Wirtschaft Die Mennoniten in Übersee stellen einen wichtigen Wirtschaftsfaktor ihrer jeweiligen Länder dar. Ihre Schwerpunkte liegen im Holzhandel, in der Geflügelzucht, der Fleischproduktion und vor allem in der Milchwirtschaft: Der mennonitische Käse ist in Mexiko, Belize und Paraguay berühmt. Hühner und Eier kommen in Belize stets von mennonitischen Höfen. Man ist versucht, den wirtschaftlichen Erfolg im Sinne Max Webers durch die ausgesprochen protestantische Ethik der Mennoniten zu erklären. Fragt man die Mehrheitsbevölkerung nach den Eigenschaften der Mennoniten, so kommt meistens als erste Antwort: „They are very hardworking people.“ Die mennonitische Wirtschaft ist so erfolgreich, weil die mennonitischen Landwirte in vielen Ländern als Kooperativen organisiert <?page no="276"?> Heinrich Siemens 276 sind und die Solidarität unter den Mennoniten als Fortführung der ursprünglich westpreußischen Deichgemeinschaften recht gut funktioniert, so dass die Ablehnung staatlicher Sozialversicherungen durch ein eigenes soziales Netz sehr effektiv kompensiert wird. Brennt eine Scheune ab oder vernichtet ein Tornado einen Mennonitenhof oder gar eine ganze Mennonitenkolonie (etwa in Belize), so helfen die Nachbarn beim Wiederaufbau. In solchen Notfällen wird selbst über theologische Differenzen hinweggesehen. Der starke Zusammenhalt der Mennoniten funktioniert vor allem in Zeiten äußerer Not sehr gut. Doch diese Solidarität ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Aus dem 19. Jahrhundert werden recht widersprüchliche Entwicklungen berichtet. Haxthausen (1847) ist noch überrascht, dass auch die Söhne reicher Bauern einige Zeit als Knechte bei anderen Mennoniten arbeiten und der Lohn so hoch ist, dass man nach einigen Jahren als Knecht nicht nur alles gelernt hat, was man als Landwirt können muss, sondern mit dem angesparten Lohn sogar eine eigene Wirtschaft aufbauen kann. Nur einige Jahre später, in den 1860er Jahren, kommt es in derselben Molotschna-Kolonie zum Landlosenstreit, vor dessen Hintergrund die oben dargestellte Entstehung der Brüdergemeinde nicht allein als theologisches Schisma erscheint, sondern als soziale Revolution. Die ersten Siedler in Russland betrachteten das Reserveland, das für spätere Einwanderer gedacht war, als ihr Eigentum und machten daraus ein lukratives Geschäft: Sie zahlten für die Desjatine (1,1 Hektar) zwei Kopeken Pacht und verlangten von ihren Glaubensgeschwistern für dieselbe Desjatine drei bis vier Rubel, also das bis zu 200fache. Ferner ließen sie die Landlosen gegen einen Hungerlohn für sich arbeiten. Ein Stimmrecht besaßen nur die Großgrundbesitzer, während zwei Drittel der Siedler in der Molotschna-Kolonie weder Land noch Rechte besaßen (2.356 von 3.740 Familien). 490 Familien hatten die Kolonie bereits verlassen und wohnten in russischen Dörfern oder Städten (vgl. Hildebrand 1949, S. 12, und Ratzlaff 2013, S. 181, mit weiterer Literatur). Die kolonieinterne Steuer wurde jedoch nicht nach dem Einkommen, sondern als Kopfpauschale berechnet, so dass eine landlose kinderreiche Familie mehr Abgaben entrichten musste als der schwerreiche Großgrundbesitzer. Der russischen Obrigkeit wurden gefälschte Zahlen vorgelegt und als ein Mennonit namens Abraham Thiessen das ganze Ausmaß an Bilanzfälschungen, Korruption und Wucher öffentlich anprangerte, wurde er unter einem Vorwand (Unterstützung der russischen Bibelgesellschaft) aus der Gemeinde ausgeschlossen. Die russischen Behörden wurden bestochen, damit sie ihn ohne Anklage oder Gerichtsverfahren nach Kaluga verbannten (vgl. Ratzlaff 2013, S. 185f.). Der russische Zar Alexander II. hatte 1861 die Leibeigenschaft der russischen Bauern abgeschafft und nun wandten sich die ausgebeuteten landlosen Mennoniten an ihn, damit er auch die, wie sie treffend beschrieben, sehr ähnlichen Verhältnisse in den Mennonitenkolonien reformiere, weil die Profiteure alle Macht an sich gerissen hätten und die Mennoniten das Problem nicht aus eigener Kraft zu lösen vermöchten. Erst durch Einschreiten der russischen Behörden bekamen auch die Landlosen ein Wahlrecht, das Reserveland wurde neu verteilt und man begann mit der Gründung immer neuer Tochterkolonien, da das Land wegen der großen Familien auch nach der Landreform weiterhin knapp blieb (vgl. Hildebrand 1949, S. 16). Das Außergewöhnliche an diesem mennonitischen Klassenkampf war, dass der gesellschaftliche Riss mitten durch die Familien ging. Erbte der eine Sohn den Hof, so waren seine Geschwister damit Landlose, weil die Möglichkeit, einen Hof zu teilen, zunächst nicht bestand und erst im Zuge der Lösung des Problems durch die Behörden geschaffen wurde. Es waren also (biologische) Geschwister und in der Kirchenbank nebeneinandersitzende Glaubensgeschwister, die sich gegenseitig ausbeuteten und die sich daher so zerstritten hatten, dass die russischen Behörden zwischen ihnen schlichten mussten. <?page no="277"?> 9. Mennoniten in Übersee 277 Etwa ab 1880 waren der Landlosenstreit gelöst, die korrupte Oligarchie entmachtet, der Forsteidienst als ziviler Ersatzdienst eingeführt und es begann die Blütezeit der Mennoniten in Russland, das Mennonite Commonwealth (vgl. Klassen 1988, Ratzlaff 2013 mit weiterer Literatur). Die konservativsten Mennoniten waren zu diesem Zeitpunkt bereits nach Übersee ausgewandert, doch die immer wieder zu ihnen stoßenden Russländer, wie sie von den Übersee-Mennoniten des 19. Jahrhunderts genannt wurden, brachten die neuen Ideen aus Russland auch in die bereits bestehenden Mennonitenkolonien in Nord- und Lateinamerika mit: ein fortschrittliches Bildungssystem (einschließlich Zentralschulen - auch für Mädchen -, Lehrerausbildung, Taubstummenschulen), Waisenheime, eigene Krankenhäuser, Nervenheilanstalten, Landwirtschaftsindustrie, Zeitschriften, Geschichtsschreibung, Wohltätigkeitsorganisationen etc. Mennonitische Unternehmer in Übersee zahlen Sozialversicherungsbeiträge in der Regel nur für nichtmennonitische Beschäftigte. Innerhalb der Gruppe, und nur auf diese beschränkt, gilt das Solidarprinzip und dieses hat inzwischen einen ähnlichen Status wie der Pazifismus: Als die Mennoniten in Mexiko in den 1950er Jahren in die staatliche Solidargemeinschaft eingegliedert werden sollten, wanderten einige Tausend Mennoniten nach Belize aus. Mennonitische Versicherungen beruhen auf dem genossenschaftlichen Prinzip, wie etwa die noch aus Westpreußen über Russland nach Übersee mitgebrachte Feuerversicherung: Solange nichts passiert, muss auch keiner zahlen. Wenn es brennt, helfen alle im Verhältnis des jeweils versicherten eigenen Besitzes mit Arbeitskraft und Geld beim Wiederaufbau. Zu den Anfängen der mennonitischen Feuerversicherung ab 1622 vgl. Penner (1978a, S. 112). Da weder Dividenden an Aktionäre noch Provisionen an Versicherungsagenten zu zahlen sind, ist das Umlageverfahren deutlich günstiger als ein privatwirtschaftlich organisiertes, gewinnorientiertes Versicherungsunternehmen. Die Hutterer lehnen Privateigentum ab und leben in Gütergemeinschaft. Dies taten die Mennoniten nie, doch müssen immer wieder Arbeiten gemeinschaftlich erbracht werden. Die Mennoniten erfüllen öffentliche Aufgaben wie den Bau von Kirchen, Schulen oder Straßen durch das bereits in Westpreußen erfolgreich praktizierte Scharwerk. Dieses konnte, zumindest in den Anfangsjahren einer Übersee-Kolonie, bis zu 114 unentgeltliche Arbeitstage im Jahr ausmachen. Diese gemeinsame Anstrengung ist das eigentliche Erfolgsgeheimnis der mennonitischen Selbstverwaltung. In Mennonitenkolonien kursiert wenig Bargeld. Die Werte von Waren, geleisteter Arbeit oder Zeitaufwand werden nach festen Sätzen gegeneinander verrechnet. So wurde etwa in Fernheim bei der Gründung 1930 festgelegt: „Ein Tagelohn physischer Arbeit sind 30 Zechen, ein Tagelohn geistiger Arbeit 40 Zechen. Einem Fußgänger, der für seinen Auftrag 30 km zurücklegt, wird ein Tag physischer Arbeit angerechnet. Ein Fuhrwerk verdient 0,01 Zeche für die Beförderung von 1 kg Fracht pro km“ etc. (Klassen 2009, S. 255 f.) Da die Kolonieverwaltung genau Buch führte, war stets klar, wer am Ende die Zeche zu zahlen hatte. Mit wachsendem Wohlstand der Kolonien entfällt die Notwendigkeit der unentgeltlichen Arbeit für die Gemeinschaft. Neuland beispielsweise stellte 1958 Scharwerk und Zechen ein, nachdem in den Jahren zuvor die wichtigsten Infrastruktur-Projekte, wie der Bau von Schulen, Kirchengebäuden und Straßen, abgeschlossen worden waren. In Bezug auf internationale Hilfe wurde das Mennonite Central Committee (MCC) zur wichtigsten Institution. Dieses Hilfswerk wurde 1920 in Nordamerika gegründet, um den Mennoniten während der großen Hungersnot in der Ukraine nach der Revolution und dem anschließenden Bürgerkrieg mit Lebensmitteln zu helfen. Danach vergab das MCC immer wieder Kredite zu günstigen Konditionen und finanzierte damit die wichtigsten mennonitischen Auswanderungen und die für die Siedlungen erforderlichen Landkäufe des 20. Jahrhunderts. Damit die Kredite zurückgezahlt werden konnten, war das MCC am wirtschaftlichen Erfolg der Mennonitenkolonien interessiert und unterstützte auch Infrastrukturmaßnahmen wie etwa 1957 bis <?page no="278"?> Heinrich Siemens 278 1961 den Bau der 500 km langen Ruta Transchaco, durch die der Chaco mit der paraguayischen Hauptstadt Asunción verbunden wurde und ohne die der Fortbestand der Chaco-Kolonien stark gefährdet gewesen wäre. Doch nicht nur die Mennoniten profitieren von der Entwicklungshilfe des MCC. Auch beispielsweise das Lepra-Krankenhaus Km 81 in Paraguay oder die Indianersiedlungen wurden vom MCC getragen. 4.2 Kultur und Politik Die Selbstwahrnehmung der Mennoniten als die Stillen im Lande gerät seit einigen Jahren ins Wanken, so dass Urry (2006) sein zusammenfassendes Schlusskapitel The Loud in the Land nennt. In Bolivien sitzen Mennoniten als Vergewaltiger, in Paraguay als Mörder und in Mexiko als Drogenkuriere hinter Gittern. Mennoniten sind genauso anfällig für Verbrechen wie die Mehrheitsbevölkerung. In Paraguay gibt es mit Steinkrug eine recht erfolgreiche Heavy-Metal-Band, Tommy Friesen ist als Polizist in Neuland selbstverständlich bewaffnet und Larissa Niebuhr läuft als Model leichtbekleidet über den Catwalk. Man findet Mennoniten inzwischen an vielen Stellen, die noch vor kurzem als Hort der Sünde gemieden wurden. Vor allem in Nordamerika sind seit einigen Jahren mennonitische Schriftsteller sehr erfolgreich. Zunächst schrieben Mennoniten nur für Mennoniten, bevorzugt auf Plautdietsch. Zu den ersten und bedeutendsten Autoren gehörte Arnold Dyck (1889-1970), der noch in der Ukraine geboren wurde, die längste Zeit seines Lebens in Kanada verbrachte und in Deutschland starb. In Kanada schrieb er unter anderem seine Koop-en-Bua-Reisegeschichten sowie einige Theaterstücke. Eine Generation jünger sind Reuben Epp (1920-2009) und Jack Thiessen (*1931). Zu den ersten, die Englisch schrieben, gehört Rudy Wiebe (*1934), der 1962 mit seinem Roman Peace Shall Destroy Many Aufsehen erregte. Die Mennoniten warfen ihm vor allem vor, dass sein sehr kritischer Blick auf ihre kanadische Gemeinschaft auf Englisch erschien und damit auch Nichtmennoniten zugänglich war. Inzwischen hat Rudy Wiebe zahlreiche Literaturpreise gewonnen, unter anderem zweimal den wichtigsten Literaturpreis Kanadas, den Governor General’s Award, er ist als Schriftsteller auch unter den Mennoniten anerkannt und jedes Kind liest ihn in der Schule. Einen eigenwilligen Stil mit plautdietschen Versatzstücken hat der ebenfalls preisgekrönte kanadische Autor Armin Wiebe entwickelt. Eine weitere Generation jünger sind die Kanadierin Miriam Toews, die wie Rudy Wiebe den Governor General’s Award sowie einige andere Literaturpreise gewann, und die US-Amerikanerin Rhoda Janzen, die sich 33 Wochen lang in der Bestsellerliste der New York Times hielt und diese Liste zum Teil sogar anführte. Die genannten Englisch schreibenden Autor/ inn/ en sind vor allem mit ihren stark autobiographisch gefärbten Romanen erfolgreich und stoßen auf ein großes Interesse der Mehrheitsgesellschaft an mennonitischer Literatur und dem darin geschilderten mennonitischen Leben. Ein ähnlich großes Interesse rief der vom mexikanischen Regisseur Carlos Reygadas komplett auf Plautdietsch gedrehte und in einer mexikanischen Mennonitenkolonie spielende Film Stellet Licht hervor, der insgesamt 29 internationale Filmpreise gewann, unter anderem 2007 den Preis der Jury in Cannes. 2015 drehten Alexandra Kulak und Ruslan Fedotow in der Mennonitenkolonie Salamanca im Süden Mexikos den künstlerisch ambitionierten Dokumentarfilm Salamanca auf Plautdietsch, in Schwarzweiß und ohne Filmmusik. Ihre Begründung: „Mennoniten sehen die Welt in Schwarzweiß und haben keine Musik.“ Schon Tacitus behauptete ja: „Frisia non cantat.“ In Argentinien drehte Nora Fingscheidt 2017 den Dokumentarfilm Ohne diese Welt. Im Vergleich zur politischen Emanzipation der letzten Jahre, auf die weiter unten eingegangen wird, und einer immer stärkeren Eingliederung der Mennoniten in die jeweiligen Mehrheitsgesellschaften fällt ihre starke Zurückhaltung in bestimmten kulturellen Bereichen auf: Es gibt zwar eine wachsende men- <?page no="279"?> 9. Mennoniten in Übersee 279 nonitische Literatur, doch keine mennonitischen Theater mit Berufsschauspielern oder Orchester mit Berufsmusikern, keine Komponisten, keine bildenden Künstler, keine Regisseure (die eben erwähnten Filmemacher Reygadas aus Mexiko, Kulak und Fedotow aus Russland sowie Fingscheidt aus Deutschland haben selbst keinen mennonitischen Hintergrund). Diese Skepsis gegenüber der Kultur ist auch theologisch bedingt: Der Glaube soll sich im Alltag durch Frömmigkeit ausdrücken. Kultur und Kunst, die ja nicht nur nützen, sondern auch dem Vergnügen dienen wollen, haben im demütigen Leben traditionell keinen Platz. Die Abkehr von der katholischen Kirche in der Reformationszeit war nicht nur eine Ablehnung der auf Traditionen statt auf der Bibel beruhenden katholischen Theologie, sondern auch des Prunks der Kirchenbauten und der Inszenierung der Messe. Dem setzte man bewusst Schlichtheit entgegen. Wenn man beim Bau mennonitischer Bethäuser seit jeher auf Kirchtürme, Glocken, bleiverglaste bunte Fenster, Gemälde, Skulpturen, Kirchenorgeln, kurz: auf alles, was eine (vor allem katholische) Kirche charakterisiert, aus Demut verzichtet, kann sich keine nennenswerte sakrale Architektur entwickeln. Auch andere öffentliche Bauten und Privathäuser zeichnen sich durch schlichte Funktionalität aus. In Russland zeigten Kirchen, Schulgebäude oder Fabrikantenvillen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts durchaus eine Orientierung an den gerade vorherrschenden architektonischen Strömungen, bei den Mennoniten in Übersee setzt eine vergleichbare Entwicklung gerade erst ein. „Wer geschäftlich erfolgreich ist, wird anerkannt, künstlerische Fähigkeiten werden jedoch nicht hoch eingeschätzt. Künstlerische Gestaltung und künstlerischer Genuss sind Tugenden, die noch zu fördern sind.“ (Warkentin 2009, S. 254) Die größten Änderungen fallen jedoch im Bereich der Politik ins Auge: Im Schleitheimer Bekenntnis von 1527 wurde noch unmissverständlich gefordert, dass man als Christ kein obrigkeitliches Amt bekleiden dürfe. Nun war die Selbstverwaltung in den Mennonitenkolonien immer schon von diesem Verbot ausgenommen. Während andere Siedler in Russland größere Probleme damit hatten, funktionierte die mennonitische Verwaltung als Staat im Staate vorbildlich, und das gleiche gilt auch für die Mennonitensiedlungen in Übersee. Doch öffentliche Ämter mit Machtbefugnissen über Nichtmennoniten wurden stets mit Argwohn beäugt. Nun hat es die Weltgeschichte den Mennoniten auch nicht gerade einfach gemacht, sich politisch zu positionieren. So versuchten die Mennoniten beispielsweise in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre dem Terror Stalins zu entkommen. Dass Deutschland - speziell Hindenburg - einigen Tausend Mennoniten bei der Ausreise nach Übersee eine entscheidende Hilfe war, blieb im Gedächtnis: Die wichtigste Straße der von diesen Emigranten gegründeten Kolonie Fernheim im Chaco trägt bis heute den Namen Hindenburgs. Wer es nicht ins Ausland schaffte, hatte besonders unter Stalins Großem Terror der Jahre 1936 bis 1938 zu leiden. In den meisten Mennonitenfamilien gab es Opfer zu beklagen: „On the average we can say that 50 percent of Mennonite families lost their provider during these years“, das heißt bis 1938 (Epp 1989). Daher löste der Einmarsch der deutschen Wehrmacht in die Sowjetunion bei den meisten Mennoniten Erleichterung aus. In Kanada geriet die Weltpolitik aus Sicht der Mennoniten nun aber vollkommen aus den Fugen: Sie waren Stalins Terror entflohen, hatten die Hilfe Deutschlands erfahren, begriffen sich kulturell und sprachlich als Deutsche, und nun verbündete sich ihre neue Heimat ausgerechnet mit Stalin gegen die Deutschen, die als Verkörperung alles Bösen verteufelt wurden. Doch trotz aller Bedenken gab es immer wieder Mennoniten in der Politik. Der erste mennonitische Politiker in Deutschland war der Krefelder Bankier Hermann von Beckerath, Reichsfinanzminister 1848/ 49, der sich für die Gleichberechtigung aller Religionen stark machte, allerdings im Zusammenhang damit auch dafür, dass die Mennoniten ihren Bürgerpflichten durch den Dienst in der Armee nachkommen sollten (vgl. FRIND 27/ 2013, S. 14). <?page no="280"?> Heinrich Siemens 280 Der erste mennonitische Politiker in Russland, der sich über die Kolonie hinaus politisch betätigte, war der noch in Westpreußen geborene Hermann Bergmann, der sich 1907 als Abgeordneter in die russische Duma wählen ließ, in der er die Interessen der in Russland lebenden Mennoniten vertrat. Er war Gutsbesitzer, einer der reichsten Mennoniten Russlands und Mitglied einer Partei, die sich für die Privilegien der Adeligen und Wohlhabenden und gegen die Reformbemühungen der Arbeiter und Bauern einsetzte. In der nächsten Legislaturperiode ab 1912 kam Peter Schröder als zweiter mennonitischer Abgeordneter hinzu. Dieser war zwar auch Gutsbesitzer, doch Mitglied einer reformorientierten Partei. Daraus können wir allerdings nicht notwendig schließen, dass es unter den Mennoniten viele gab, die sich um das Wohl der russischen Arbeiter und Bauern Gedanken machten. Die Mennoniten waren vermutlich der Meinung, dass man sich nicht einseitig auf eine Partei festlegen dürfe. In Kanada gab es bereits vor dem Ersten Weltkrieg eine rege politische Betätigung der Mennoniten, doch mit dem Dominion Elections Act von 1916 und dem Wartime Elections Act von 1917 wurde ihnen wegen ihres Pazifismus und der deutschen Sprache das aktive wie passive Wahlrecht entzogen (vgl. Urry 2006, S. 181). Die kanadischen Mennoniten wurden durch diese politische Entmündigung für mindestens zehn Jahre, bis zur Ankunft der Russländer, der Immigranten der späten 1920er Jahre, wieder zu den Stillen im Lande, wobei viele von ihnen Kanada den Rücken kehrten und ihr Heil in Mexiko oder Paraguay suchten. Zu den ersten Politikern in Kanada zählte auch ein Kommunist: Jacob Penner hatte an der Revolution von 1905 in Russland teilgenommen und war nach deren Scheitern nach Winnipeg geflohen, beteiligte sich auch hier am Generalstreik von 1919 und war von 1934 bis 1960 nahezu ununterbrochen im Stadtrat vertreten (vgl. Urry 2006, S. 229). Er war kein Gemeindemitglied und wurde von den Mennoniten auch nicht mehr als einer der ihren betrachtet. Penner war seiner Zeit voraus. Erst die folgenden Generationen kanadisch-mennonitischer Intellektueller vertraten mit Verweis auf die Vision der frühen Täufer ähnlich linke Positionen, wie etwa Al Reimer oder Harold S. Bender (1944). Der Zweite Weltkrieg bedeutete, wie bereits angedeutet, einen weiteren Rückschlag, so dass es noch einige Jahrzehnte dauerte, bis die kanadischen Mennoniten auch nur an Wahlen teilnahmen. Die Nachkriegsgeneration jedoch sprach nur noch Englisch und war damit sprachlich und kulturell weitgehend assimiliert. „By the 1970s the old Mennonite ,no voting‘ tradition belonged to a passing generation and political participation was widely accepted.“ (Urry 2006, S. 218). Seitdem gab und gibt es mennonitische Abgeordnete in den Provinzparlamenten und mit Vic Toews (geboren übrigens im paraguayischen Filadelfia) auch einen Minister in der Zentralregierung. Sein Ressort scheint nur schlecht zur mennonitischen Wehrlosigkeit zu passen: Er ist für öffentliche Sicherheit zuständig. In Lateinamerika halten sich die Mennoniten im Allgemeinen noch zurück, in Belize aber gibt es passenderweise einen mennonitischen Einwanderungsminister namens Elvin Penner. Doch am auffälligsten ist die Entwicklung der letzten zwanzig Jahre in Paraguay, und dazu gibt es mit Ratzlaff (2013) auch schon eine erste Untersuchung, der wir die folgenden Informationen entnehmen können. Was früher die Ausnahme war, wird immer selbstverständlicher. Es begann mit dem ersten mennonitischen Gouverneur von Boquerón (mit der Hauptstadt Filadelfia, dem Zentrum der Mennonitenkolonie Fernheim im Chaco) Cornelius Sawatzky, der jahrelang Oberschulze der Kolonie Menno gewesen war, 1993 bis 1998 den Posten des Gouverneurs bekleidete und anschließend in die nationale Politik einstieg und Abgeordneter in Asunción wurde. Er wurde auch 2013 als Abgeordneter wieder ins Parlament gewählt. Gleichzeitig ließ sich 1993 bis 1998 Heinrich Ratzlaff als Parteiloser zum Parlamentarier wählen. Als Psychologe trug er viel dazu bei, dass die Mennoniten die Wichtigkeit psychologischer Beratung erkannten und dieser <?page no="281"?> 9. Mennoniten in Übersee 281 Disziplin nicht mehr mit ganz so vielen Vorurteilen begegnen wie das traditionell der Fall ist. Als Politiker betonte er immer wieder, dass er seine Aufgabe nicht darin sehe, die Interessen der Mennoniten zu vertreten, sondern vor allem die der Indianer und Entrechteten. Es zeigt sich, dass die Mennoniten in Paraguay zunehmend ihre Verantwortung für die Gesamtgesellschaft erkennen und ihr politisches Engagement nicht mehr nur als Mittel zur Durchsetzung oder Aufrechterhaltung ihrer Partikularinteressen sehen. Die Mennoniten waren immer wieder und in verschiedenen Ländern darum bemüht, den Kriegsdienst verweigern zu dürfen und junge Männer beispielsweise auf Gewissensprüfungen vorzubereiten. Ein Novum war, dass die Mennoniten in Paraguay 1992 die anderen Kirchen einluden, sich gemeinsam dafür einzusetzen, die Möglichkeit der Kriegsdienstverweigerung in der Verfassung zu verankern. Da sich auch die katholische Kirche, der die meisten Paraguayer angehören, dieser Initiative anschloss, konnte man sich gegen den Widerstand der in Paraguay mächtigen Militärs durchsetzen. Es ist hervorzuheben, dass Mennoniten diese Privilegien nicht nur für sich, sondern für die gesamte Bevölkerung forderten und damit Erfolg hatten (vgl. Ratzlaff 2013, S. 207f.). In einem Punkt dachten die Mennoniten aber dann doch wohl eher an sich selbst und an das auf die Bergpredigt zurückgeführte Schwur-Verbot, das bereits im Schleitheimer Bekenntnis von 1527 verankert wurde: Die paraguayische Verfassung von 1992 ist vermutlich die einzige weltweit, in der Politikern das Recht eingeräumt wird, ihre Vereidigung aus Gewissensgründen zu verweigern. Dies scheint die entscheidende Hürde gewesen zu sein, denn nur ein Jahr nach Inkrafttreten der neuen Verfassung traten mit Sawatzky und Ratzlaff die ersten beiden mennonitischen Politiker in Paraguay auf den Plan. 2003, also nach nur zehn Jahren, waren Mennoniten in der paraguayischen Politik bereits eine Selbstverständlichkeit: „Ein Gouverneur, ein Senator und ein Volksabgeordneter (Diputado). Präsident Nicanor Duarte Frutos ernannte einen Mennoniten zum Minister, einen weiteren zum Wirtschaftsberater mit Rang eines Ministers und einen zum Vizeminister im Finanzministerium.“ (Ratzlaff 2013, S. 335). Mennonitische Politiker sind seit von Beckerath 1848 und nun auch in Paraguay in der Regel für Wirtschaft und Finanzen zuständig. Zum einen wird auf diesem Gebiet die Kernkompetenz der als sparsam und fleißig bekannten Mennoniten gesehen, zum anderen sind gerade diese Bereiche besonders anfällig für Bestechung und mennonitische Politiker haben es bisher geschafft, in keine größeren Korruptionsaffären verwickelt zu werden, so dass sie in Finanzangelegenheiten ein besonderes Vertrauen genießen, zumal in Paraguay, das als einer der korruptesten Staaten weltweit gilt. Selbst der damalige Bundespräsident (und ehemalige IWF-Direktor) Horst Köhler ließ sich während seines Staatsbesuchs in Paraguay vom mennonitischen Minister Ernst Bergen die Grundzüge erfolgreicher Wirtschafts- und Finanzpolitik erklären. Es fällt auf, dass sowohl der Schriftsteller Rudy Wiebe wie auch fast alle Politiker Mitglieder der Brüdergemeinde sind, also einer theologisch eher konservativen und besonders pietistischen Richtung unter den Mennoniten. Dieser Zusammenhang überrascht, und soweit mir bekannt, gibt es bisher keine überzeugende Erklärung dafür. Möglicherweise liegt es zumindest zum Teil daran, dass die Brüdergemeinde als soziale Protestpartei der 1860er Jahre entstand und daher Neuerungen auf politischem oder sozialem Gebiet generell etwas aufgeschlossener begegnet. Andererseits sind aber gerade in der Brüdergemeinde auch die Vorbehalte gegenüber der politischen Karriere ihrer Glaubensgeschwister zum Teil besonders stark ausgeprägt. Was lag näher, als nach zwanzig Jahren nun auch den letzten Schritt in die politische Verantwortung zu gehen? Im März 2011 erklärte der Medien-Tycoon Arnoldo Wiens, der mit seinem Fernsehprogramm Siglo a Siglo jedem Paraguayer ein Begriff ist, Präsident Paraguays werden zu wollen (vgl. FRIND 27/ 2013, S. 12f.). Einige Mennoniten sahen die Chance, dass ein mennonitischer Präsident doch am <?page no="282"?> Heinrich Siemens 282 besten die mennonitischen Glaubensgrundsätze, wie etwa die Wehrlosigkeit, zu schützen imstande sei. Andere sahen genau diese mennonitischen Grundwerte, für die sich ein Präsident einsetzen könnte, durch diesen Schritt als längst verraten an und stellten die berechtigte Frage, wie sich ein Mennonit glaubwürdig für die Wehrlosigkeit einsetzen könne, wenn er als paraguayischer Präsident ja gleichzeitig Oberbefehlshaber der Armee sei. Als Arnoldo Wiens seine Präsidentschaftskandidatur schließlich zugunsten von Horacio Cartes, einem der reichsten Männer Paraguays, dessen Name immer wieder im Zusammenhang mit Drogenhandel und Korruption genannt wird, aufgab und sich mit seinem innerparteilichen Konkurrenten verbündete, war die Frage nach der Legitimität politischer Verantwortung der Mennoniten schwieriger als je zuvor zu beantworten. Die Täufer begannen als „linker Flügel der Reformation“ (Fast 1962), die Mennoniten wählen heute jedoch so zahlreich rechte Parteien, dass gelegentlich respektlos vom Stimmvieh konservativer Parteien die Rede ist. In Europa und in Nordamerika gibt es seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einige mennonitische Intellektuelle, die eine Rückkehr zur Vision der frühen Täufer beschwören, die sich in der Friedensbewegung engagieren und die dezidiert linke Positionen vertreten. Doch sind Künstler und Intellektuelle unter den Mennoniten eine kleine Minderheit. Sehr viel mehr Mennoniten in Übersee sind erfolgreiche Unternehmer und als solche keine Sympathisanten von Gewerkschaften oder Arbeiterparteien. Hinzu kommt, dass nach den traumatischen Erfahrungen des Stalinismus sozialdemokratische oder gar sozialistische Parteien von vielen mit der ehemaligen Sowjetunion assoziiert werden. Diese Geschichte ist vielen näher als die Sympathie der frühen Täufer mit den aufständischen Bauern des 16. Jahrhunderts, so dass die auf der Bergpredigt gründende Vision der Täuferbewegung heute nur wenigen Mennoniten als politische Richtschnur dient. 4.3 Schulen Das Spektrum mennonitischer Schulen in Übersee ist ähnlich vielfältig wie das der Lebensentwürfe. As Beispiel der konservativsten mennonitischen Schulen, wie sie seit Jahrhunderten von Westpreußen über Russland bis nach Übersee tradiert werden, greifen wir Bolivien heraus. In diesem Land gehen 94 Prozent, also fast alle mennonitischen Kinder, in solche Schulen. (Zu den Schulen Boliviens vgl. Schartner/ Schartner 2009.) In Bolivien gab es 2007 rund 270 mennonitische Schulen mit 11.200 Schulkindern. Die Mädchen gehen im Alter von sechs bis zwölf, die Jungen im Alter von sechs bis dreizehn oder vierzehn Jahren zur Schule, jedoch geht man nur 100 Tage oder umgerechnet zirka fünf Monate im Jahr zur Schule. Die Schulen unterstehen dem Gemeindevorstand und werden von diesem kontrolliert. Die Schulsprache ist ausschließlich Hüachdietsch, also die von den Mennoniten in der Isolation tradierte Varietät des Hochdeutschen. Vermittelt werden Kenntnisse im Lesen und Schreiben (anhand einer jahrhundertealten Fibel), Bibelkenntnisse (vor allem durch Auswendiglernen), Katechismus und sehr viel angewandte Mathematik („Landrechnung, Zinsrechnung, Holzrechnung, Zeitrechnung, Regeldetrie [sic], Dreisatzrechnung, Inhaltsberechnung und die gemeine Farmerrechnung“, Schartner/ Schartner 2009, S. 256). Alle Altersstufen sitzen in einem Klassenraum, auf der einen Seite die Mädchen, auf der anderen die Jungen. Der Gesang in der Schule wie in der Kirche wird nach der alten Weise praktiziert. Im Anschluss an die Jahre in der Schule beginnt der viel wichtigere Unterricht in der Familie, bei dem die grundlegenden Fähigkeiten erlernt werden, die man für das Leben in einer Mennonitenkolonie benötigt: Die Mädchen lernen bei den Müttern den Haushalt zu führen und die Kinder zu erziehen, die Jungen lernen von den Vätern erfolgreiche Landwirtschaft, Handwerk oder Handel. Der Schullehrer hat keine berufliche Ausbildung, er ist selbst nur maximal sieben Jahre in eine mennonitische Schule gegangen und genießt, obwohl er für die Schüler eine Respektperson sein sollte, keinerlei Ansehen in der mennonitischen Gesellschaft, <?page no="283"?> 9. Mennoniten in Übersee 283 denn oftmals werden Versager, die es als Landwirte zu nichts bringen, Lehrer. Die Schulen erfüllen nicht die Minimalanforderungen der Landesschulen, so dass die Mennoniten ohne Schulabschluss dastehen und keine weiterführenden Schulen oder gar Hochschulen des Landes besuchen können. Dies wird freilich von den Gemeindeleitern auch gar nicht gewünscht (vgl. Schartner 2002). Das andere Ende des Spektrums bilden Schulen, die sich im Lehrplan nicht oder kaum von den Landesschulen unterscheiden, etwa die mennonitischen Schulen im paraguayischen Chaco, an denen die Schüler die Hochschulreife erlangen können und an denen Kenntnisse in Standarddeutsch und Spanisch auf hohem Niveau vermittelt werden. Daneben ist in den Kolonien Plautdietsch allgegenwärtig, doch traditionell in Kirche und Schule tabu. 4.4 Zeitschriften Es gibt einige Hundert mennonitischer Periodika. Zählt man auch diejenigen mit geringer Auflage hinzu, so sind es einige Tausende, jedoch erscheinen nicht alle auf Deutsch. Im Folgenden sollen daher nur die wichtigsten aufgezählt werden. (Zu weiteren Details vgl. www.gameo.org. Einen hervorragenden Überblick über die deutschsprachigen Zeitschriften im Ausland, nicht nur der Mennoniten und nicht nur in Übersee, bietet Akstinat 2012). Das am längsten ununterbrochen erscheinende Periodikum der Mennoniten in Übersee ist der seit 1836 jährlich erscheinende Kalender für die Versammlungen der Mennoniten-Gemeinden in Ontario. Seit 1880 erschien das deutschsprachige Wochenblatt Die Mennonitische Rundschau, seit 1945 stand sie der Mennoniten-Brüdergemeinde nahe, 1957 erreichte sie eine Auflagenhöhe von 7.400, doch 2007 wurde sie wegen Leserschwunds eingestellt. Von den kirchlichen Mennoniten wurde die seit 1924 erscheinende deutschsprachige kanadische Wochenzeitschrift Der Bote bevorzugt. 1950 betrug die Auflagenhöhe 4.500, doch 2008 wurde auch diese Zeitschrift wegen Leserschwunds eingestellt. Die wichtigste mennonitische Zeitschrift der plautdietschen Mennoniten, die keiner der beiden Konfessionen zuzuordnen ist, war die seit 1913 in Kanada erscheinende Wochenzeitschrift Steinbach Post. Die seit 1977 ebenfalls in Steinbach (Manitoba) erscheinende Mennonitische Post, die auch von vielen Mennoniten in Lateinamerika gelesen wird, sehen die Leser/ innen als deren Nachfolger. Seit 1990 erscheint als Ergänzung Das Blatt für Kinder und Jugend. Die wichtigsten deutschsprachigen mennonitischen Zeitschriften Lateinamerikas: Im paraguayischen Chaco erscheint seit dem Gründungsjahr der Kolonie Fernheim 1930 (und bis heute) die Zeitschrift Menno-Blatt. Seit 1954 wird in Brasilien zweimal monatlich die Zeitschrift Bibel und Pflug herausgegeben (1932 bis 1938 war in Brasilien bereits Die Brücke erschienen). In Bolivien erscheint monatlich der Menno-Bote (Auflage: 2.200), in Mexiko die Deutsch-mexikanische Rundschau mit ihrem digitalen Ableger infomenonitas.mx. Die Zukunft der ebenfalls in Mexiko erscheinenden Kurzen Nachrichten ist zurzeit ungewiss. 4.5 Rundfunk Werden die mennonitischen Zeitungen ausschließlich in Hochdeutsch verfasst, so werden im mennonitischen Rundfunk in viel stärkerem Ausmaß auch plautdietsche Programme gesendet. Da zumindest ein wesentlicher Zweck der Radioarbeit in der Mission gesehen wird, werden jedoch auch andere in den Mennonitenkolonien gesprochene Sprachen berücksichtigt. Zu den ältesten lateinamerikanischen Radiosendern zählt Radio HCJB - die Stimme der Anden. Er sendet aus Quito in Ecuador, wird jedoch auch in anderen Ländern, wie etwa Paraguay, gehört. Seit dem Gründungsjahr 1953 gibt es eine von Mennoniten betreute deutsche Abteilung. Seit 1954 sendet der mehrfach umbenannte Radiosender der kanadischen Mennoniten- Brüdergemeinde Programme auf Englisch, Hochdeutsch, Plautdietsch und Russisch; <?page no="284"?> Heinrich Siemens 284 1957 wurde in Manitoba/ Kanada der mennonitische Rundfunksender CFAM gegründet, der Programme auf Englisch, Hochdeutsch und Plautdietsch produziert. Seit 1968 sendet Radio Transmundial (als lateinamerikanischer Ableger von Trans World Radio) aus Argentinien, später kamen Zweigstellen in Uruguay, Paraguay und Bolivien hinzu. Auch hier arbeiten viele Mennoniten in den deutschen Abteilungen mit. Der im Vergleich zu den beiden genannten internationalen Missionssendern stärker plautdietsch-mennonitisch geprägte, 1975 gegründete paraguayische Chaco-Sender ZP-30 sendet heute in acht Sprachen, die inzwischen im Chaco gesprochen werden: neben Plautdietsch und Hochdeutsch sowie den Amtssprachen Spanisch und Guaraní auch in einigen anderen Indianersprachen und Portugiesisch. Seit 1987 sendet das stark von der Brüdergemeinde geprägte Radio OBEDIRA (Obra Evangélica de Diffusión Radial), seit 2004 auch Fernsehprogramme (Red Guaraní). Seit 1999 sendet Radio Mensajero auf Spanisch, Guaraní, Hochdeutsch, Plautdietsch und Portugiesisch. Daneben gibt es in Paraguay noch einige Lokalsender mit relativ geringem Einzugsgebiet, wie etwa Radio Neuland, das auf Spanisch, Nivaclé, Hochdeutsch und Plautdietsch sendet, ferner Radio Friesland und Radio Loma Plata in der Kolonie Menno. Seit 2003 gibt es in Ontario/ Kanada für die rund 20.000 plautdietschen Remigranten, vor allem aus Mexiko, den plautdietschen Radiosender De Brigj (,Die Brücke‘). Und dann ist noch auf die plautdietschen abendlichen Sendungen von Abram Siemens im lokalen mexikanischen Radiosender XEPL hinzuweisen. Siemens, der Herausgeber der bereits erwähnten Deutsch-mexikanischen Rundschau, kommt ursprünglich aus Fernheim und thematisiert in seiner Radio-Show auch die sozialen Probleme der Mennoniten in Mexiko wie Alkoholismus oder die Verwicklung in den Drogenschmuggel, was ihm bereits Todesdrohungen eingebracht hat. 2013 fand in Ost-Paraguay die erste internationale Plautdietsch-Medienkonferenz statt, an der vor allem Rundfunk-Vertreter teilnahmen. Ziel der künftigen Zusammenarbeit ist es, plautdietsche Programme untereinander auszutauschen und damit das Angebot zu erweitern und zu internationalisieren. Neben den mennonitischen Sendern in Übersee beteiligt sich auch der plautdietsche Sender SW- Radio aus Deutschland an diesem Netzwerk. Die zweite internationale Plautdietsch-Medienkonferenz fand 2015 in Neuland im Chaco statt, die nächste ist für 2017 in Mexiko geplant. 4.6 Internet Für die weltweit verstreuten, aber gut untereinander vernetzten Mennoniten hat sich das Internet zum wichtigsten Kommunikationsmedium entwickelt. Durch elektronischen Briefverkehr und in sozialen Netzwerken sind sogar viele Jugendliche aus den konservativsten stromlosen Mennonitenkolonien mit Hilfe von eigenproduziertem Solarstrom oder Batterien online. Mit rund zwanzig Jahren müssen sie sich aber häufig entscheiden, ob sie weiterhin in der Welt unterwegs sein wollen oder ob sie zugunsten von Taufe und Familiengründung auf ihr Smartphone verzichten. 5 Sprachformen und Varietäten Man muss die Frage nach den Deutschkenntnissen der Mennoniten doppelt stellen: in Bezug auf das Hochdeutsche wie auf das Plautdietsche. Die Sache wird noch dadurch kompliziert, dass die Mennoniten in Übersee sowohl verschiedene hochdeutsche wie unterschiedliche niederdeutsche Varietäten sprechen. 5.1 Hochdeutsche Varietäten In den recht modernen Schulen im Chaco beispielsweise, aber auch an einigen Schulen in Mexiko, wird ein standardnahes Deutsch gelehrt. (Dies gilt übrigens auch für viele der Huttererschulen in Nordamerika.) Einige Lehrkräfte sind sogar Deutsche, andere haben zumindest in Deutschland studiert. Die Lehrmaterialien werden aus Deutschland bezogen und man kann an diesen Schulen das Deutsche Sprachdiplom erwerben. In der Kolonie Menno haben wir sogar die für Sprachinseln <?page no="285"?> 9. Mennoniten in Übersee 285 ungewöhnliche Situation, dass die jüngeren Mennoniten weitaus besser Hochdeutsch sprechen als ihre Eltern und Großeltern, da sich der Deutschunterricht seit den 1950er Jahren an den fortschrittlicheren Schulen der Siedler aus Russland in den Nachbarkolonien, vor allem in Fernheim, orientiert (vgl. Kaufmann 2007, S. 152). So ist die Allgemeine Schulbehörde für eine gemeinsame interkoloniale Zusammenarbeit in Schule und Bildung verantwortlich (Uwe Friesen, Menno, persönliche Mitteilung). Die konservativeren Mennoniten, die Autos und elektrischen Strom als Gefahr für ihren überlieferten Glauben betrachten und daher auf diese technischen Errungenschaften verzichten, unterrichten nach der noch aus Preußen über Russland nach Übersee mitgebrachten Alten Schule, die, wie Kaufmann (2015) sich zugespitzt ausdrückt, „nicht einmal geringsten intellektuellen Ansprüchen genüg[t].“ Sie lehnen eine Orientierung am modernen Hochdeutsch ebenso wie eine Orientierung an der modernen Lebensweise ab und tradieren in Kirche und Schule eine eigene Varietät, die für Sprecher/ innen des Standarddeutschen manchmal nur schwer verständlich ist, das Hüachdietsche, das sich neben einer stark vom Plautdietschen beeinflussten und von der Luther-Bibel geprägten Syntax vor allem im Vokalismus vom Standarddeutschen unterscheidet: Wie im Plautdietschen werden die Umlaute entrundet und die langen Vokale / e: , o: / diphthongiert, das / o: / wird also als [ou] ausgesprochen, das lange / e: / wird jedoch nicht nur, wie stets im Plautdietschen, diphthongiert, sondern, und dies ist eine Eigenart des Plautdietschen der Alten Kolonie in der Ukraine, zusätzlich gerundet und tendenziell als [øi] ausgesprochen. Das kurze / a/ wird, ebenfalls wie im Plautdietschen, zu / au/ diphthongiert. Die Kinder lernen das hochdeutsche Alphabet in der Schule also als: Au, Bøi, Zøi, Døi, Øi, etc., die Aussprache etwa von Seele, Rüben, stand nähert sich stark derjenigen von Säule, rieben, staunt an. 5.2 Plautdietsche Varietäten In Westpreußen, in der nordöstlichen Peripherie des westgermanischen Sprachraums, entwickelte das Plautdietsche im Sprachkontakt mit baltischen und slavischen Varietäten einige gemeinsame sprachliche Erscheinungen, deren Isolinien die Sprachgrenzen queren, so dass man von einer Sprachbund-Situation sprechen kann (vgl. Siemens 2012). Daher unterscheidet sich das Plautdietsche von den anderen niederdeutschen Varietäten etwa dadurch, dass die Umlaute entrundet werden oder dass / g, k/ in der Umgebung palataler Vokale palatalisiert werden: Dietsch ,Deutsch‘, Bridj ,Brücke‘, Tjeatj ,Küche‘. Für Güter, die auf dem Markt gehandelt wurden, also etwa Vieh, aber auch darüber hinaus entwickelte sich im Baltikum in den benachbarten Sprachen eine gemeinsame Lexik, zu der alle beteiligten Sprachen ihren Beitrag leisteten. Da die ursprünglichen Bezeichnungen in Vergessenheit gerieten, nahmen die Plautdietschen diese baltischen und slavischen Lehnwörter mit nach Russland und über Kanada weiter in die lateinamerikanischen Kolonien und bewahren die Spuren der verschiedenen Stationen der mennonitischen Wanderungen in ihrer Sprache. In Siemens (2012, S. 204-219) sind diese Lehnwörter der in den letzten Jahren nach Deutschland emigrierten russlanddeutschen Mennoniten aufgelistet. Diese Listen (ohne die Bedeutungen) legte ich einigen Mennoniten in Übersee vor und bat sie, die Lehnwörter - falls bekannt - zu definieren. Zweien der Informanten (männl., 78, weibl., 76, beide in der Ukraine geboren, er in der Molotschna-Kolonie, sie in der Chortitza-Kolonie, beide 1947 nach Paraguay, später von da aus nach Kanada ausgewandert) waren nahezu alle Lehnwörter bekannt, auch die aus dem Russischen, obwohl sie im Gegensatz zu den in den letzten Jahren nach Deutschland emigrierten Mennoniten kein Russisch sprechen. Eine weitere Gewährsperson (männl., 69, in Kanada geboren, lebte ununterbrochen in Manitoba, seine Mutter kam aus Kronsthal/ Osterwick in der Chortitza-Kolonie, sein Vater aus Michaelsburg in deren Tochterkolonie) kannte noch folgende Lehnwörter: <?page no="286"?> Heinrich Siemens 286 Aus dem Baltischen: Kujjel (,Eber‘), Kunta (,Wallach‘), klunje (,schwer auftreten‘), Mejall (,Mädchen‘). Das ursprünglich ostseefinnische Wort Laups (,Bengel‘) ist vermutlich über eine baltische Sprache entlehnt. Aus dem Westslavischen: bille-wea (,ein beliebiger‘), Blott (,Schlamm‘),Tschesnitj (,Knoblauch‘), Gloms (,Quark‘), Kodda (,Lappen‘), Lusch (,Tüte‘), prost (,einfach‘), Schaubel (,Bohne‘), Wruck (,Kohlrübe‘), Kobbel (,Stute‘), Kos (,Ziege‘). Es wurden auch hybride Komposita gebildet, wie etwa das im Kaschubischen wie im Plautdietschen gebräuchliche Wort Kosebock (,Ziegenbock‘). Manchmal ist es schwer zu entscheiden, ob slavische Lehnwörter noch aus der westpreußischen Zeit stammen oder ab zirka 1800 aus dem Ostslavischen übernommen wurden. Zur letzten Kategorie zählen mit hoher Wahrscheinlichkeit: Arbus/ Herbus (,Wassermelone‘), Keledetz (,Sülze‘), Lauwtje (,Kaufladen‘), Pastje (,Ostergebäck‘), Perieschtje (,Gebäck mit Füllung‘), Ssaula (,Speck‘), Trubb (,Rohr‘), Wrenitje (,Teigtaschen‘). Einige französische Wörter wurden über das Russische entlehnt: Kenvart (,Briefumschlag‘), Kestroll (,Kochtopf‘), Teberettje (,Hocker‘). Neben den Sprachen der westpreußischen Umgebung zeugen einige niederländische Lehnwörter, die bis heute gebräuchlich sind, davon, dass die Mennoniten bis zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in ihren Gottesdiensten das Niederländische tradierten: Komm (,Schüssel‘), litjne (,ähneln‘), mak (,zahm‘), maklich (,bequem‘), Mau/ Meiw (,Ärmel‘), Tjressbea (,Stachelbeere‘), Ohlbassem (,Johannesbeere‘), Lint (,Hosenbund‘), Schafott (,Treppenabsatz vor der Haustür‘), Spal (,Spange‘), Stoot (,Weile‘), Tjniepa (,Käfer‘), Tjwiel (,Spucke‘), Trubbel (,Scherereien‘), vandoag (,heute‘), voaken (,häufig‘), etc. Ein weiterer Informant (männl., 48) aus Menno steht für die Kanadier, deren Vorfahren in den 1870er Jahren Russland verließen (s. o. Kap. 3.3). Er kannte die meisten der eben aufgeführten Lehnwörter, mit folgenden Einschränkungen: Die niederländischen, baltischen und die von mir dem Westslavischen zugeordneten Lehnwörter kannte er alle, mit Ausnahme von Wruck, Tjressbea, Ohlbassem (,Kohlrübe, Stachelbeere, Johannesbeere‘), vermutlich, weil diese im Chaco nicht wachsen. Von den ostslavischen Lehnwörtern kannte er nur sieben von elf: Herbus, Lauwtje, Perieschtje, Trubb, Wrenitje, Kenvart, Kestroll (,Wassermelone, Kaufladen, Gebäck mit Füllung, Rohr, Teigtaschen, Briefumschlag, Kochtopf‘). In den stabileren Bereichen der Grammatik, die sich viel langsamer ändern als die Lexik, wie etwa in der Syntax, finden sich im Plautdietschen der Mennoniten in Übersee auch Strukturen, die denen im Flämischen und Niederländischen ähneln, beispielsweise bei den Verbalkomplexen (vgl. Kaufmann 2007). So heißt es etwa im Standarddeutschen: …, weil er ein Haus hat bauen müssen. Die „niederländische“ Wortfolge lautet hingegen in deutscher Glossierung: …, weil er ein Haus hat müssen bauen. Im Plautdietschen überwiegt die „flämische“ Wortfolge mit dem Objekt innerhalb des Verbalkomplexes (vgl. Kaufmann 2007): wiels hee haft musst een Hus bue (,weil er hat müssen ein Haus bauen.‘) Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass es sich um Spuren der flämischen und niederländischen Vergangenheit der Mennoniten in Übersee handelt. Da jedoch im Plautdietschen alle drei Varianten als grammatisch empfunden werden, ist auch denkbar, dass es sich um Relikte einer westgermanischen Vielfalt handelt, die es früher in allen diesen Sprachen gab, bevor in jeder Sprache eine spezifische Variante die anderen immer mehr verdrängte. In Standardsprachen mit ihrer langen Tradition normativer Grammatiken (also Niederländisch und Standarddeutsch) wird daher häufig nur noch eine der ursprünglichen Alternativen als grammatisch akzeptiert, im Plautdietschen blieb dieser Erklärung zufolge die ursprüngliche westgermanische Vielfalt erhalten (vgl. Siemens 2014, S. 125). Im letzten Beispiel erkennt man einige weitere Eigenschaften des Plautdietschen: Im Gegensatz zum Standarddeutschen und -niederländischen wird das Partizip nie durch den Infinitiv ersetzt (musst vs. müssen). Während das Partizip in der Regel mit dem Präfix jegebildet wird (wie im Deutschen und Niederländi- <?page no="287"?> 9. Mennoniten in Übersee 287 schen, jedoch im Gegensatz zum Niederdeutschen), fällt dieses Präfix bei den Modalverben weg (jebut ,gebaut‘, aber musst ,gemusst‘). Das Plautdietsche wurde schon in Westpreußen in verschiedenen Varietäten gesprochen. Da die Siedler in Südrussland sich in etwa nach den Herkunftsgebieten zusammenfanden, wurde auch hier unterschiedliches Plautdietsch gesprochen: Die Siedler der 1789 gegründeten ersten, der so genannten Alten Kolonie am Dnepr, sprachen das Nehrungsplatt, das nun nach dem neuen Verwaltungszentrum das Chortitza-Plautdietsche genannt wurde. Die Siedler der weitaus größeren und prestigereicheren Neuen Kolonie (gegründet 1804) am Flüsschen Molotschnaja nannten ihre Varietät, die auf dem im westpreußischen Werder gesprochenen Platt beruhte, entsprechend Molotschna-Plautdietsch (vgl. Siemens 2012, Siemens 2013). Viele kleinere Sprecher/ innen-Gemeinschaften gingen im Verlauf der Jahrhunderte in diesen auf, doch diese beiden Hauptvarietäten haben sich als sehr stabil erwiesen, so dass man die in den einzelnen Mennonitenkolonien in Übersee gesprochenen Niederdeutsch-Varietäten immer noch recht zuverlässig ihren Ursprungsgebieten in Westpreußen zuordnen kann, in denen seit 1945 kein Nieder- oder Hochdeutsch mehr gesprochen wird: Tabelle 1 stellt die Auswanderungen stark vereinfacht dar. Die Siedler von 1930 etwa kamen keineswegs nur aus der Molotschna-Kolonie, sondern zum Teil auch aus Tochtersiedlungen innerhalb der Sowjetunion, etwa aus Orenburg. Diese Tabelle soll lediglich verdeutlichen, dass in den entsprechenden um 1930 gegründeten Kolonien mehrheitlich Molotschna-Plautdietsch gesprochen wird. Ferner sind die zahlreichen Kolonien Ostparaguays hier nicht aufgeführt. Die Tabelle soll also nur eine erste Orientierung bieten. Auch hier findet man weitere Informationen in den einzelnen Länderartikeln. 6 Spracheinstellungen Die Einstellungen gegenüber dem Hochdeutschen als Prestigesprache sind bei allen Mennoniten durchgehend positiv, unabhängig davon, wie gut die Sprache noch beherrscht wird. Das Plautdietsche ist in den Mennonitenkolonien Lateinamerikas die selbstverständliche Sprache in den Familien, auf der Straße, bei Bürgerversammlungen etc. Es hat jedoch lange nicht das Prestige der hochdeutschen Schriftsprache. Seit einiger Zeit gibt es die Bibel und weitere Literatur auch auf Plautdietsch, doch im Vergleich zur jahrhundertelangen Geschichte der hochdeutschen Vorherrschaft in Kirche und Schule hat diese kurze Zeit der Schriftsprache Plautdietsch noch keinen tiefgreifenden Imagewandel hervorgerufen. Die meisten Sprecher/ innen sehen Plautdietsch als minderwertig, häufig nicht als eigene Sprache, sondern als Dialekt an. Andererseits wird es mit einer solchen Selbstverständlichkeit von allen Mennoniten der spanischsprachigen amerikanischen Länder gesprochen, dass es als Sprache nicht gefährdet ist. Ursprung Flandern, Holland, Friesland, Nordwestdeutschland ab 1530 Nehrung, Westpreußen Werder, Westpreußen ab 1789 Chortitza, Ukraine ab 1804 Molotschna, Ukraine ab 1873 Manitoba, Kanada ab 1922 Chihuahua, Mexiko Menno, Paraguay ab 1930 Fernheim, Paraguay Manitoba, Kanada Santa Catarina, Brasilien nach 1945 Belize Texas, USA Santa Cruz, Bolivien Neuland, Paraguay Rio Grande do Sul, Brasilien Tab. 1: Die wichtigsten Migrationsbewegungen der Ostmennoniten nach Übersee (adaptiert von Kaufmann 2007, S. 150) <?page no="288"?> Heinrich Siemens 288 Die Attitüden gegenüber den Sprachen der Mehrheitsgesellschaft spiegeln die Attitüden gegenüber deren Sprecher/ innen wider. Englisch hat beispielsweise ein hohes Prestige, daher sind die Mennoniten in Kanada und den USA längst zum Englischen übergegangen. In der noch jungen Kolonie in Texas kann man diesen Prozess heute beobachten und erhält so gewissermaßen einen Einblick in die Sprachgeschichte der anderen nordamerikanischen mennonitischen Kolonien. Es fällt auf, dass die positiven Attitüden gegenüber dem American Way of Life nicht etwa das Ergebnis des Kontakts zu Amerikanern sind, sondern bereits vor der Einwanderung bestanden (vgl. Kaufmann 1997, S. 218) und bei der Auswahl des Bestimmungsortes wohl mitentscheidend waren. Dies ist vermutlich vor allem darauf zurückzuführen, dass zumindest die weißen Amerikaner durch die Hautfarbe und den gemeinsamen religiösen Ursprung in der europäischen Reformation viel mehr Gemeinsamkeiten mit den Mennoniten aufweisen als die katholischen und durch die dunklere Haut deutlicher unterschiedenen Lateinamerikaner. Auf die spanisch- oder portugiesischsprachige Bevölkerung blicken viele Mennoniten herab, die konservativeren reduzieren den Umgang mit ihr auf das Notwendige - häufig sind es nur die mennonitischen Männer, die mit ihr geschäftliche Beziehungen pflegen -, und deren Sprachen genießen kein sehr hohes Ansehen. Die Attitüden gegenüber der Bevölkerung wirken sich unmittelbar auf das Sprachverhalten aus: In Lateinamerika hält sich das Hochdeutsche als Schriftsprache deutlich stabiler als in Kanada oder den USA, vor allem, wenn an den Schulen qualifizierter Deutschunterricht angeboten wird. Dies ist allerdings, wie bereits ausgeführt, in den konservativsten Schulen vielfach nicht der Fall. Die paraguayische Amtssprache Guaraní (neben der Amtssprache Spanisch) sprechen die Mennoniten vor allem in Ostparaguay, wenn sie mit der autochthonen Bevölkerung Kontakte pflegen. Doch auch im Chaco ist Guaraní seit einigen Jahren im Bildungsplan der Mennonitenschulen vorgesehen. Die Kenntnis anderer, nur lokal verbreiteter Indianersprachen ist wohl auf die Missionare beschränkt, die diese Sprachen aus Missionsgründen erlernen, die Bibel in diese Sprachen übersetzen etc. Früher lernten die Indianer, vor allem im paraguayischen Chaco, Plautdietsch, weil die Kenntnis dieser Sprache ihre Chancen auf dem mennonitischen Arbeitsmarkt erhöhte, weil Plautdietsch als lingua franca die Verständigung verschiedener Stämme untereinander erleichterte, oder etwa wenn ausgesetzte Indianerkinder von Mennoniten adoptiert wurden. Mit wachsenden Spanischkenntnissen der Mennoniten wie der Indianer etabliert sich jedoch immer mehr das Spanische als lingua franca (Uwe Friesen, persönliche Mitteilung). Einen Sonderfall bildet Brasiliens Sprachpolitik als Folge der Verfassung von 1934. Ab 1938 wurden alle deutschen Schulen geschlossen, ohne dass man anfangs Ersatz schaffen konnte, da es an brasilianischsprachigen Lehrkräften mangelte. Ab 1939 durfte auch nicht mehr deutsch gepredigt werden und ab 1940 durfte Deutsch nicht einmal mehr als Fremdsprache gelehrt werden. Als Brasilien 1942 auf Druck der USA Deutschland den Krieg erklärte, wurde die Situation noch einmal verschärft, so dass man in den Protokollen der bürgerlichen Sitzungen und zum Teil auch im Gottesdienst auf das Plautdietsche auswich, das als einzige Zuwanderersprache einen Sonderstatus erhielt. Erst nach 1948 entspannte sich die Situation ein wenig, doch erreichte das deutschsprachige Schulsystem nie wieder die frühere Bedeutung (zu den Mennoniten in Brasilien vgl. Klassen 1995). Daher sprechen in Brasilien die jungen Mennoniten deutlich besser Portugiesisch als Hochdeutsch, und inzwischen sogar besser als Plautdietsch. Im Falle des Englischen und des Portugiesischen liegt also verschieden motivierte subtraktive Mehrsprachigkeit vor: Die Sprache der Mehrheitsgesellschaft ersetzt das Deutsche. Das Spanische jedoch wird - wenn überhaupt - hinzugelernt, ohne dass Hochdeutsch oder Plautdietsch nennenswert darunter leiden: Es liegt additive Mehrsprachigkeit vor (Tabelle 2; vgl. Kaufmann 2007, S. 151). <?page no="289"?> 9. Mennoniten in Übersee 289 7 Zukunft der Mennoniten Das Spektrum der mennonitischen Lebensentwürfe in Übersee reicht vom scheinbaren Museum des 19. Jahrhunderts bis hin zu Präsidentschaftskandidaten. Kaum eine andere ethnische oder religiöse Gruppe bietet eine solche Vielfalt an theologischen Überzeugungen, aber auch an Sprachkonstellationen. Ein Blick in die Migrationsgeschichte vermag einige der auf den ersten Blick verwunderlichen Details verständlicher zu machen. Exemplarisch sei hier zum Schluss die Migrationsgeschichte eines Mennoniten skizziert, in der viele Entwicklungen des 20. Jahrhunderts zu einem Einzelschicksal kondensieren: Peter P. Klassen (1997, S. 273ff.) hat die Biographie Wilhelm Quirings aufgezeichnet: Geboren 1893 in einer Mennonitenkolonie am Kuban in Russland, half er als 15-Jähriger beim Aufbau einer neuen Kolonie in der Kulunda-Steppe in der Nähe von Slavgorod, zwanzig Jahre später ging es 3.000 km weiter nach Osten und Quiring war dabei, als am Amur drei mennonitische Siedlungen entstanden. Als klar wurde, dass man sich auch im wildesten Osten Stalins Einfluss nicht entziehen konnte, und als man davon hörte, dass Ende der 1920er Jahre viele Mennoniten über Moskau nach Kanada oder Paraguay emigrierten, beschloss 1930 eine ganze Siedlung die illegale Ausreise aus der Sowjetunion. Bei Nacht und Nebel überquerte man den zugefrorenen Amur und war morgens in der Mandschurei. Zwei Jahre dauerte es, bis diese so genannte Harbiner Gruppe im paraguayischen Chaco ankam und in Fernheim eigene Dörfer gründete. 1937 waren die klimatischen Verhältnisse im Chaco besonders ungünstig, so dass ein Drittel der Fernheimer nach Ostparaguay zog und die Kolonie Friesland gründete; Quiring war wieder mit dabei und blieb diesmal 25 Jahre an diesem Ort, so lange wie an keinem anderen. 1963, Quiring war inzwischen 70 Jahre alt, beendete er seine Tätigkeit als Landwirt und zog nach Curitiba in Brasilien, wo er in der Werkstatt seines Sohnes und auf dem Bau arbeitete. 1969 beendete er seine Karriere als Mennonit in Übersee, zog nach Deutschland und war nun für die letzten zwanzig Jahre seines Lebens, wie ihn Klassen zitiert, „in der Heimat“ angekommen. Hier traf er auch alte Bekannte wieder, die als Russlanddeutsche unmittelbar aus der Kulunda- Steppe, die Quiring vierzig Jahre zuvor verlassen hatte, nach Deutschland kamen. 1989 starb Quiring mit 96 Jahren. Wie viele Nachkommen er hatte, in welchen Kolonien und auf welchen Kontinenten diese leben, ist nicht überliefert. Der englischsprachige Raum scheint die Mennoniten in seinem Schmelztiegel zu assimilieren. Die USA beteiligten sich ab 1941 am Krieg gegen Deutschland und Japan, „thereby raising fears in the Mennonite community that they might be treated like the Japanese, who were forced to leave their homes and were Texas, USA Chihuahua, Mexiko Rio Grande do Sul, Brasilien Menno, Paraguay Fernheim, Paraguay Plautdietsch jünger gut sehr gut gut sehr gut sehr gut älter sehr gut sehr gut sehr gut sehr gut sehr gut Standarddeutsch jünger schlecht OK OK gut sehr gut älter OK OK gut OK sehr gut Sprache der Mehrheitsbevölkerung Englisch Spanisch Portugiesisch Spanisch Spanisch jünger gut OK sehr gut OK OK älter OK OK OK OK OK Tab. 2: Vergleich der Sprachkompetenz jüngerer und älterer Mennoniten in drei Kontaktsprachen in fünf Mennonitenkolonien (Auszug aus Kaufmann 2007, S. 151) <?page no="290"?> Heinrich Siemens 290 hoarded into concentration camps“ (Moelleken 1994, S. 305). Um dieser Gefahr zu entgehen, wechselten sie zum Englischen und sprachen mit den nach 1941 geborenen Kindern weder Plautdietsch noch Hochdeutsch. Unterstützt wurde dieser Prozess durch das Inferioritätsgefühl der Mennoniten gegenüber der nordamerikanischen Kultur und der wachsenden spirituellen Offenheit gegenüber Nichtdeutschen. In einigen Jahren werden die nordamerikanischen Mennoniten für ein Buch mit dem Titel Deutsch in Übersee kein Material mehr zu liefern vermögen. Anders sieht es in Lateinamerika aus. Die additive Mehrsprachigkeit im spanischsprachigen Raum scheint der Assimilation bisher erfolgreich zu widerstehen. Eines der drängendsten Probleme der nahen Zukunft ist eine Schulreform in den konservativsten Mennonitenkolonien. In Mexiko und Bolivien beispielsweise, den Ländern mit den meisten Mennoniten und den stärksten Zuwachsraten, hat kaum ein mennonitisches Kind die Möglichkeit, einen Schulabschluss oder gar die Hochschulreife zu erlangen. Landwirtschaft, Handwerk und Hauswirtschaft lernt man by doing, für eine berufliche Ausbildung oder ein Studium fehlen die Voraussetzungen. In den eigenen Reihen gibt es niemanden mit Berufsausbildung, weder Krankenschwestern noch Ärzte oder Agrarexperten; einige kommen im Auftrag des MCC aus dem Ausland, aber die meisten dieser Dienstleistungen werden von der spanischsprachigen Mehrheitsgesellschaft erbracht. Lehrkräfte und Prediger haben selbst nur einige Jahre lang eine mennonitische Schule besucht und sind damit ohne anerkannten Schulabschluss, ganz zu schweigen von einer darüber hinausgehenden Qualifikation. Die Unzufriedenheit vieler Eltern mit diesem Schulsystem wächst, doch bestimmen bisher diejenigen Gemeindeleiter die Schulpolitik, die auch dafür verantwortlich waren, vor allen sich abzeichnenden Neuerungen an früheren Aufenthaltsorten in diese isolierten Kolonien zu fliehen. Dass eine Schulreform ohne Aufgabe der mennonitischen Identität möglich ist, zeigt die Kolonie Menno in Paraguay, die den gleichen Kanadier-Hintergrund und dieselbe Vergangenheit mit den bolivianischen und mexikanischen Mennoniten teilt, das Bildungssystem jedoch seit einem halben Jahrhundert grundlegend reformiert, modernisiert und demjenigen der bildungsfreundlicheren mennonitischen Nachbarkolonie Fernheim angeglichen hat. Menno könnte als Vorbild für eine Bildungsreform in Bolivien und Mexiko dienen. Wie lange solche plautdietsch-hochdeutschen Sprachinseln als auf hohem Niveau drei- und mehrsprachige Gesellschaften - wie beispielsweise in Paraguay - Bestand haben werden, ist ein spannendes linguistisches und soziologisches Forschungsfeld. 8 Literatur Akstinat, Björn (2012): Handbuch der deutschsprachigen Presse im Ausland. Berlin: IMH. Bender, Harold S. (1944): Anabaptist Vision. In: Church History 13. Bender, Harold S./ Oyer, John S. (1989): Historiography. Anabaptist. In: GAMEO. 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Dabei wird für jedes Land eine Dokumentation der Kompetenz- und Sprachgebrauchssituation, eine Beschreibung und Analyse der soziolinguistischen Situation mit ihren je spezifischen Standard- Substandard-Verteilungen und eine Untersuchung der Spracheinstellungen der Sprecher geboten. www.narr.de