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Standards, Kompetenzen und fremdsprachliche Bildung

Beispiele für den Englisch- und Französischunterricht

0819
2015
978-3-8233-7937-9
978-3-8233-6937-0
Gunter Narr Verlag 
Inez De Florio-Hansen

Durch die Veröffentlichung einheitlicher Abiturstandards im Jahre 2012 ist die Standard-Bewegung zu einem vorläufigen Abschluss gekommen. Im Rahmen eines praxisbezogenen Überblicks möchte das Buch Fremdsprachenlehrkräften helfen, die Orientierung an Standards und Kompetenzen in ihrem Unterricht so umzusetzen, dass grundlegende Ziele des Fremdsprachenunterrichts gut erreicht werden können, und zwar von möglichst vielen Schülerinnen und Schülern. Darüber hinaus sollen weiterführende Bildungs- und Erziehungsziele angemessen berücksichtigt werden. Kurze Erläuterungen wichtiger Begriffe mit Blick auf das Lehren und Lernen von Fremdsprachen bilden die Grundlage zahlreicher praxisbezogener Beispiele für den Englisch- und Französischunterricht. Das Ziel des Buches besteht darin, Lehrpersonen in die Lage zu versetzen, vorhandene Konzepte - seien es PISA und DESI, die Vorgaben des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens sowie die KMK-Bildungsstandards - kritisch zu reflektieren, um daraus bestmögliche Vorgehensweisen für ihren Fremdsprachenunterricht abzuleiten und die eigene Lehrerpersönlichkeit (wieder) stärker in den Vordergrund treten zu lassen

<?page no="0"?> Standards, Kompetenzen und fremdsprachliche Bildung Inez De Florio-Hansen Beispiele für den Englisch- und Französischunterricht <?page no="3"?> Inez De Florio-Hansen Standards, Kompetenzen und fremdsprachliche Bildung Beispiele für den Englisch- und Französischunterricht <?page no="4"?> Bereits in ihrer Zeit als Fremdsprachenlehrerin ist Dr. Inez De Florio-Hansen durch praxisbezogene Veröffentlichungen für Lehrpersonen bekannt geworden. Nach der Habilitation war sie als Professorin für Fremdsprachenforschung und interkulturelle Kommunikation zunächst an der Universität Erfurt und seit 1996 an der Universität Kassel tätig. Im Rahmen ihrer Publikationen hat sie sich immer wieder mit empirischen, vor allem quantitativen und experimentellen Forschungsmethoden auseinandergesetzt. Ihr besonderer Schwerpunkt liegt auf der Umsetzung empirischer Untersuchungsergebnisse im (Fremdsprachen-)Unterricht. Darüber hinaus ist die Autorin in der Lehrerfortbildung sowie als wissenschaftliche Beraterin am Hessischen Kultusministerium tätig. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. © 2015 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.narr-studienbuecher.de E-Mail: info@narr.de Printed in the EU ISSN 0941-8105 ISBN 978-3-8233-6937-0 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> Inhaltsverzeichnis Vorwort .......................................................................................................... 11 1. PISA - Aufregung über Schieflagen ............................................. 13 1.1 Eine folgenreiche Begegnung ................................................................ 13 1.2 Kritik an PISA ....................................................................................... 14 1.3 Der „Pisa-Schock“ und seine Folgen ..................................................... 15 1.4 Zwei Fremdsprachenlehrerinnen diskutieren über PISA ....................... 18 1.5 Reading literacy und fremdsprachliche Lesekompetenz ......................... 19 1.6 Beispiel: The miser and his gold / L’avare et son lingot d’or ..................... 20 1.7 Folgerungen für den Fremdsprachenunterricht .................................... 27 Anregungen zum Nachdenken, Diskutieren und Gestalten ................... 29 2. DESI - auf dem Weg zur Standardorientierung ........................ 31 2.1 Eine „coole“ Nachricht ......................................................................... 31 2.2 Entstehungsgeschichte und Ziele von DESI ........................................... 32 2.3 Probleme der Sprachdiagnostik ............................................................ 33 2.3.1 Kompetenz vs. Performanz .......................................................................... 33 2.3.2 Produkt vs. Prozess ...................................................................................... 34 2.3.3 Aufgaben vs. Deskriptoren .......................................................................... 35 2.3.4 Weitere Besonderheiten der DESI-Studie .................................................... 36 2.4 Ergebnisse der DESI-Studie ................................................................... 36 2.5 Beispiel: Messung der mündlichen Sprachproduktion .......................... 39 2.5.1 Niveaus und Deskriptoren ........................................................................... 39 2.5.2 Ein kommerzieller Test zur Überprüfung der mündlichen Sprachproduktion 41 2.6 Folgerungen für den Fremdsprachenunterricht .................................... 43 Anregungen zum Nachdenken, Diskutieren und Gestalten ................... 43 3. Standards und Bildung - zwei ungleiche Partner ................... 45 3.1 Ein Interview mit vielen Fragezeichen ................................................. 45 3.2 Erfahrungen mit Erziehungsstandards .................................................. 46 3.3 Möglichkeiten und Grenzen von Standards .......................................... 49 3.4 ‚Exzeptionelle‘ Begriffe ......................................................................... 51 3.5 Bildung und Erziehung ......................................................................... 52 3.6 Wandlungen des Bildungsbegriffs ......................................................... 53 Anregungen zum Nachdenken, Diskutieren und Gestalten ................... 55 <?page no="6"?> 6 Inhaltsverzeichnis 4. Die KMK-Bildungsstandards - alter Wein in neuen Schläuchen? ...................................................................................... 57 4.1 Von den Standards zu den Bildungsstandards der KMK ........................ 57 4.2 Ein Beispiel aus den KMK-Bildungsstandards für den Hauptschulabschluss 59 4.3 Zwei Beispiele aus den KMK-Bildungsstandards für den Mittleren Abschluss .............................................................................................. 61 4.4 Ein angehender Englischlehrer unterhält sich mit seinem Mentor ........ 68 4.5 Folgerungen für den Fremdsprachenunterricht .................................... 70 Anregungen zum Nachdenken, Diskutieren und Gestalten ................... 71 5. Kompetenzorientierung - ein umstrittener Begriff ................. 73 5.1 Kompetenzorientierungs-Kompetenz? .................................................. 73 5.2 Kompetenzbegriffe - Theorie, Rhetorik und Praxis .............................. 74 5.2.1 Theorie ........................................................................................................ 74 5.2.2 Rhetorik ....................................................................................................... 75 5.2.3 Praxis ........................................................................................................... 76 5.3 Learning Progressions - ein Blick über den Zaun .................................... 77 5.4 Lesekompetenz und fremdsprachliche Bildung ..................................... 78 Anregungen zum Nachdenken, Diskutieren und Gestalten ................... 84 6. Bildung durch Fremdsprachen - mehr als erwartet ............... 85 6.1 Motive für das Fremdsprachenlernen ................................................... 85 6.1.1 Sich selbst neue Perspektiven eröffnen ....................................................... 85 6.1.2 Eine fremdsprachliche Identität entwickeln ................................................ 88 6.1.3 Lehren und Lernen fremder Sprachen - ein Beitrag zum Miteinander ........ 89 6.2 Sprache und Kultur - Humboldt revisited and revised ............................. 90 6.2.1 Sprache, Kultur und Volkscharakter ............................................................ 90 6.2.2 „Welt der Sprachen“ - eine Initiative des Humboldt-Forums Berlin ........... 91 6.3 Fremdsprachliche Bildung - was wir im Unterricht erreichen können ... 92 6.3.1 Sprachliche Bildung ..................................................................................... 94 6.3.2 Interkulturelle und transkulturelle Bildung ................................................. 96 6.3.3 Ästhetisch-literarische Bildung .................................................................... 97 Anregungen zum Nachdenken, Diskutieren und Gestalten ................... 99 7. Sprachliche Bildung - Beispiele Englisch und Französisch aus der Praxis ................................................................................. 101 7.1 ‚Unterrichtsrezepte‘ - nicht ohne Reflexion und Kreativität ............... 101 7.2 Ziele, Kompetenzen und Bildung ........................................................ 103 <?page no="7"?> 7 Inhaltsverzeichnis 7.3 Lebensbezug, Authentizität und Neugier - wichtige Merkmale fremdsprachlicher Bildung .................................................................. 104 7.3.1 Lebensbezug .............................................................................................. 104 7.3.2 Authentizität .............................................................................................. 105 7.3.3 Neugier ...................................................................................................... 106 7.4 Beispiel Englisch: Haupt- und Realschule mit Förderstufe (Klasse 5) .... 107 7.4.1 Beispiel Englisch: Singular/ Plural (1. Lernjahr) ........................................ 107 7.4.2 Evaluation ................................................................................................. 111 7.5 Beispiel Französisch: Gymnasium (Klasse 6) ....................................... 111 7.5.1 Beispiel Französisch: Ma famille - Erarbeitung und Einübung der Possessivbegleiter mon, ma, mes (1. Lernjahr) ........................................... 112 7.5.2 Evaluation ................................................................................................. 113 7.6 Beispiel Englisch: Gymnasium (Klasse 8) ............................................ 114 7.6.1 Beispiel Englisch: What would have happened, if …? (1. Hälfte 4. Lernjahr, G8) 115 7.6.2 Evaluation ................................................................................................. 117 Anregungen zum Nachdenken, Diskutieren und Gestalten ................. 118 8. Interkulturelle Bildung - Beispiele Englisch und Französisch aus der Praxis ................................................................................. 121 8.1 Toleranz und Respekt sind nicht alles ................................................ 121 8.2 Beispiel Englisch: Gymnasium (Klasse 8) ............................................ 122 8.2.1 Beispiel Englisch: Einführung in „being an outsider“ und „prom night“ mithilfe des Songs Teenage Dirtbag (Wheatus) (4. Lernjahr) ..................... 123 8.2.2 Evaluation ................................................................................................. 125 8.3 Beispiel Französisch: Integrierte Gesamtschule (Klasse 10) ................ 126 8.3.1 Beispiel Französisch: Diskussion über Dopingmittel im Sport (4. oder 5. Lernjahr) .................................................................................. 127 8.3.2 Evaluation ................................................................................................. 131 Anregungen zum Nachdenken, Diskutieren und Gestalten ................. 133 9. Ästhetisch-literarische Bildung - Beispiele Englisch und Französisch aus der Praxis .......................................................... 135 9.1 Les rats tons et les rats cistes ................................................................. 135 9.2 Kinder- und Jugendliteratur ............................................................... 136 9.3 Beispiel Englisch: Gymnasium E1 (Klasse 10, G8) .............................. 138 9.3.1 Ein Jugendroman? ..................................................................................... 138 9.3.2 Beispiel Englisch: Charakterisierung des Protagonisten (6. Lernjahr) ....... 140 9.3.3 Evaluation ................................................................................................. 143 <?page no="8"?> 8 Inhaltsverzeichnis 9.4 Beispiel Französisch: Gymnasium (Klasse 12, G9) .............................. 144 9.4.1 Beispiel Französisch: Francis Cabrel: Les murs de poussière (6. oder 7. Lernjahr) .................................................................................. 145 9.4.2 Evaluation ................................................................................................. 147 Anregungen zum Nachdenken, Diskutieren und Gestalten ................. 148 10. Aufgaben für den Unterricht - aus Testungen lernen? ........ 149 10.1 Die fragwürdige Trennung in Lern- und Testaufgaben ....................... 149 10.2 Der Beitrag des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) ................................................................................................... 150 10.3 „Also, echt Scheiße! “ .......................................................................... 153 10.4 VERA-8 - zur Aussagekraft der Testaufgaben des IQB ........................ 154 10.4.1 VERA-8: erste Fremdsprache Englisch ....................................................... 155 10.4.2 VERA-8: erste Fremdsprache Französisch ................................................. 158 10.5 Zentrale Abschlussarbeiten am Ende der Hauptschule und der Realschule - neues Spiel, neues Glück? ......................................... 161 10.5.1 Aufgabenbeispiel aus den ZAA Englisch für die Hauptschule ................... 163 10.5.2 Aufgabenbeispiel aus den ZAA Englisch für die Realschule ...................... 164 10.5.3 Aufgabenbeispiel aus den ZAA Französisch für die Realschule ................. 165 10.6 Testungen als Ausgangspunkt für fremdsprachliche Bildung - Was tun mit Aufgaben und Ergebnissen? ............................................ 167 10.6.1 IQB-Vergleichsarbeiten (VERA-8) - Vorbereitung auf Tests ..................... 167 10.6.2 Zentrale Abschlussarbeiten (ZAA) - Weiterführung im Unterricht ........... 168 Anregungen zum Nachdenken, Diskutieren und Gestalten ................. 172 11. Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife (AHR) - in der Republik nichts Neues ..................................................... 173 11.1 AHR-Standards - neue Akzentuierungen ............................................ 174 11.2 „Neuland“ ........................................................................................... 176 11.3 Beispiele für mündliche Abiturprüfungen in Englisch ........................ 177 11.3.1 Beispiel Englisch - Politik & Wirtschaft (bilingual) .................................. 178 11.3.2 Beispiel Englisch - Politik & Wirtschaft (bilingual; Präsentationsprüfung) 180 11.4 „Liebes Tagebuch“ .............................................................................. 182 11.5 Beispiel für die mündliche Abiturprüfung in Französisch ................... 183 11.6 Backwash-Effekte ................................................................................ 185 Anregungen zum Nachdenken, Diskutieren und Gestalten ................. 186 <?page no="9"?> 9 Inhaltsverzeichnis 12. Vom Coach zum Lehrer - Lern- und Bildungsprozesse im Fremdsprachenunterricht ........................................................... 187 12.1 Die Grenzen der ‚Individualisierung‘ .................................................. 187 12.2 Die Grenzen der Verantwortung ......................................................... 188 12.3 Ansprüche an den Fremdsprachenerwerb ........................................... 189 12.3.1 Grundlegende Anforderung an den Fremdsprachenunterricht .................. 189 12.3.2 Akzentuierungen beim Fremdsprachenerwerb .......................................... 191 12.4 Ansprüche an fremdsprachliche Bildung ............................................ 193 12.4.1 Fremdsprachenerwerb und fremdsprachliche Bildung .............................. 193 12.4.2 Zur Integration von verschiedenen Aspekten fremdsprachlicher Bildung . 194 12.4.3 Das multilinguale Selbst ............................................................................ 196 12.5 Zwei Gedichte ..................................................................................... 197 Literaturverzeichnis .................................................................................. 199 <?page no="11"?> Vorwort Liebe Leserinnen, liebe Leser, mit der Veröffentlichung der einheitlichen Abiturstandards im Jahre 2012 ist die Standard-Bewegung des deutschen Bildungssystems, die um die Jahrtausendwende begonnen hat, zu einem vorläufigen Abschluss gekommen. Dies rechtfertigt aus meiner Sicht einen ‚Rückblick nach vorn‘. Mit dem vorliegenden Buch möchte ich Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrern helfen, die Standards und Kompetenzen in ihrem Unterricht so umzusetzen, dass grundlegende Ziele des Fremdsprachenunterrichts gut erreicht werden, und zwar von möglichst vielen Schülerinnen und Schülern. Ich möchte Lehrpersonen Mut machen, mit den bildungspolitischen Vorgaben souveräner umzugehen, d. h. an sie anzuknüpfen, wo sie größere Lernerfolge für die Schülerinnen und Schüler versprechen, und sich ansonsten nicht durch sie einschränken zu lassen. Weiterführende Bildungs- und Erziehungsziele dürfen gemäß dem werteorientierten Auftrag unserer Schulen nämlich nicht auf der Strecke bleiben. Fremdsprachliche Bildung ist nicht nur ein vorrangiges Ziel des Fremdsprachenunterrichts, sondern - seit alle Schülerinnen und Schüler mindestens eine Fremdsprache lernen - ein wichtiges Ziel schulischer Bildung und Erziehung überhaupt. Keine Sorge, es geht nicht um Grundsatzdebatten. Sie wurden und werden mit großer Einseitigkeit geführt. Vielmehr analysiere ich diskussionswürdige Begriffe und Initiativen der Bildungspolitik mit Blick auf das Lehren und Lernen von Fremdsprachen. Diese kurzen Erläuterungen bilden die Grundlage der praxisbezogenen Beispiele für den Englisch- und Französischunterricht, die mit gewissen Anpassungen auf andere schulische Fremdsprachen übertragen werden können. Mein Hauptziel besteht darin, Lehrpersonen in die Lage zu versetzen, vorhandene Konzepte und Vorgaben - seien es PISA und DESI, die Vorgaben des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens oder die KMK-Bildungsstandards - kritisch zu reflektieren, um daraus bestmögliche Vorgehensweisen für den eigenen Fremdsprachenunterricht abzuleiten. Über die Verbesserung des Unterrichts hinaus können wir durch wissensbasierte Reflexion auch einer Entprofessionalisierung des Lehrberufs entgegenwirken und somit die einzelne Lehrerpersönlichkeit stärken. In unserem Fall heißt demokratische Partizipation, das Beste aus wenig zielführenden und teilweise sogar kontraproduktiven Vorgaben zu machen. Freude kann das Fremdsprachenlernen allen Beteiligten nur machen, wenn die Persönlichkeiten von Lehrenden und Lernenden nicht durch unnötige Reglements beschnitten werden. Gefragt ist also nicht standards-based, sondern standards-informed und value-based Lehren und Lernen von Fremdsprachen. Ganz besonders danke ich meinem ehemaligen Studenten Tobias Altmann, Studienrat mit den Fächern Französisch und Politik/ Wirtschaft, sowie den zahlreichen mir unbe- <?page no="12"?> 12 Vorwort kannten Lehrerinnen und Lehrern, die mir ihre Unterrichtsmaterialien zur Verfügung gestellt haben. Auch diesmal gilt mein aufrichtiger Dank Frau Kathrin Heyng, M.A., der zuständigen Lektorin des Narr Verlags, die die Entstehung dieses Buches umsichtig und kenntnisreich begleitet hat. Ich wünsche Ihnen eine anregende und ertragreiche Lektüre! Kassel, im Mai 2015 Inez De Florio-Hansen www.deflorio.de deflorio@t-online.de deflorio@uni-kassel.de <?page no="13"?> 1. PISA - Aufregung über Schieflagen 1.1 Eine folgenreiche Begegnung In den 1980er Jahren besuchte ein Physikstudent an der Universität Hamburg die Lehrveranstaltung eines britischen Professors. Er tat es keineswegs in der Absicht, dieses Seminar zu belegen. Vielmehr setzte er sich von Zeit zu Zeit in die eine oder andere Lehrveranstaltung, um seinen Horizont zu erweitern. In diesem besonderen Fall hat ihn möglicherweise die Tatsache zu der Stippvisite veranlasst, dass der Professor sich als educational scientist bezeichnete. Das war für den Studenten außergewöhnlich, denn sein Vater, Professor für Erziehungswissenschaft, betonte stets, dass sich menschliche Qualitäten, auf die es beim Lehren und Lernen ankomme, nicht messen ließen. Das sah der Professor aus Großbritannien, der seit Jahren in Hamburg lehrte, ganz anders. Seit den 1960er Jahren war er in leitender Position bei der IEA (International Association for the Evaluation of Educational Achievement) und seit 1992 beim IIEP (International Institute for Educational Planning) der UNESCO tätig. Er war seit langem davon überzeugt, dass es unabdingbar sei, den Outcome von Schule und Unterricht durch Tests zu messen, ja mehr noch, er strebte einen internationalen Vergleich von Schülerleistungen an. Diesen Leistungsvergleich sollten gemeinsame, sorgfältig kalibrierte Messinstrumente ermöglichen, die mit den verschiedenen Bildungs- und Erziehungssystemen kompatibel waren. „Postlethwaite was part of a new, obscure group of researchers who were trying to analyze a soft subject in a hard way, much like a physicist might study education if he could“, fasst Amanda Ripley (2013: 13f.) das Forschungsinteresse des Professors zusammen. Obgleich der Student, Andreas Schleicher, nicht in der Absicht in die Lehrveranstaltung von Postlethwaite gekommen war, sich an der Diskussion zu beteiligen, geschah etwas Unvorhergesehenes: Schleicher listened carefully to the debate about statistics and sampling, his pale blue eyes focused and intense. He knew that his father would not approve. But, in his mind, he started imagining what might happen if one really could compare what kids knew around the world, while controlling for the effect of things like race or poverty. He found himself raising his hand and joining the discussion. (Ripley 2013: 14) Nach der Lehrveranstaltung kam es zu einem Gespräch zwischen Thomas Nelville Postlethwaite und Andreas Schleicher, in dem der Professor dem Studenten die Mitarbeit an seinen Forschungsprojekten anbot. Nach kurzem Zögern sagte Schleicher zu. Bald danach arbeiteten die beiden gemeinsam den ersten internationalen Lesetest aus. Fortan fungierte Postlethwaite als Mentor von Schleicher und verhalf ihm zu einem Studienplatz an der Deakin University in Australien. Dort schloss Schleicher 1992 einen Aufbaustudiengang für Mathematik und Statistik mit dem Master of Science ab. Darüber hinaus ermöglichten ihm seine verbesserten Englischkenntnisse die Mitarbeit an der TIMS-Studie (TIMSS: Trends in International Mathematics and Science Study). In den beiden folgenden Jahren war Schleicher am obengenannten IEA in den Niederlanden tätig, um 1994 an das CERI (Centre for Educational Research and Innovation) der OECD nach Paris überzuwechseln. Ab 1995 erarbeitete er dort die PISA-Studien <?page no="14"?> 14 1. PISA - Aufregung über Schieflagen (Programme for International Student Assessment), für die er seit 2002 die Verantwortung trägt. 1.2 Kritik an PISA Von Anfang an musste Schleicher viel Überzeugungsarbeit leisten: bei seinem Team, bei den Regierungsvertretern und in der weiteren Öffentlichkeit. Ich beschränke mich auf zwei Aspekte, die für das Lehren und Lernen von Fremdsprachen wichtig sind. Ohne Zweifel kann man Bildung, also auch fremdsprachliche Bildung, nicht messen. Das bedeutet jedoch nicht, dass Leistungen in bestimmten Teilbereichen eines Unterrichtsfachs, also auch in den Fremdsprachen, nicht messbar und bewertbar wären. Sonst könnten wir auf Tests, Klassenarbeiten und Klausuren verzichten. Es ist eine der zentralen Aufgaben von Lehrpersonen, sich in der einen oder anderen Form Rechenschaft über die Effekte ihres Unterrichts abzulegen. Das Problem liegt in der Interpretation leistungsbezogener Daten, aus denen in der Regel konkrete Handlungsempfehlungen abgeleitet werden sollen. Dazu erläutert Messner: Der spezifische Unterschied zwischen den leistungsdiagnostischen PISA-Daten und dem für Schule und Unterricht benötigten Handlungswissen kann im folgenden Punkt gesehen werden. Vereinfachend als These formuliert: Leistungsergebnisse beschreiben ein Zielverhalten von Lernenden. Schulische und unterrichtliche Handlungsstrukturen und -formen beschreiben hingegen ein komplexes, wissenschaftlich zwar überprüfbares, aus Wissenschaft aber nicht vollständig generierbares Praxis- und Könnensgefüge, das sich auf verschiedenen Ebenen von Schule und Unterricht in der Interaktion der Beteiligten verwirklicht. (Messner 2006: 14; Hervorhebung des Autors) Fazit: Es ist unabdingbar, den messbaren Outcome von Zeit zu Zeit zu ermitteln. Aber selbst wenn (! ) die Messinstrumente gut kalibriert sind und den wissenschaftlichen Gütekriterien weitgehend entsprechen, sollte man die Ergebnisse als das nehmen, was sie sind, nämlich ein Ausschnitt aus einem breitgefächerten Leistungsspektrum. Die PISA-Studien basieren auf dem angelsächsischen literacy-Konzept. Nach einer Definition der UNESCO (United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization) bedeutet literacy: the ability to identify, understand, interpret, create, communicate and compute, using printed and written materials associated with varying contexts. Literacy involves a continuum of learning in enabling individuals to achieve their goals, to develop their knowledge and potential, and to participate fully in their community and wider society. (UNESCO 2004: 13) Den PISA-Studien liegt zudem - als Folge der ökonomischen Ausrichtung der OECD (Organisation for Economic Co-operation and Development) - eine eingeschränkte Auffassung von literacy zugrunde. Es geht um Kernkompetenzen im Lesen, der Mathematik und den Naturwissenschaften, die unseren Schülerinnen und Schülern eine Teilhabe in einer globalisierten Welt ermöglichen sollen. Im Rahmen dieser Grundbildung zählt nur, was sich auf ein Problem im realen Leben, sei es nun beruflich oder privat, anwenden lässt. Im Mai 2014 wurde ein Offener Brief an Andreas Schleicher <?page no="15"?> 15 1.3 Der „Pisa-Schock” und seine Folgen veröffentlicht. Dieses Schreiben, das Heinz-Dieter Meyer (Professor, State University of New York) und Katie Zahedi (Principal, Linden Avenue Middle School, Red Hook, New York) verfasst haben, wurde weltweit von mehreren hundert Personen unterzeichnet. Darin heißt es u.a.: Als Organisation für wirtschaftliche Entwicklung ist die OECD naturgemäß auf die ökonomische Rolle der öffentlichen Schulen fokussiert. Aber die Vorbereitung auf einträgliche Arbeit kann nicht das einzige, ja nicht einmal das Hauptziel öffentlicher Bildung und Erziehung sein. Unser Schulwesen muss Schülerinnen und Schüler auch auf die Mitwirkung an der demokratischen Selbstbestimmung, auf moralisches Handeln und auf ein Leben in persönlicher Entwicklung, Reifung und Wohlbefinden vorbereiten. (Meyer & Zahedi 2014; autorisierte Fassung von Open Letter to Andreas Schleicher; Übersetzung: Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V.) Fazit: Persönlichkeitsentwicklung ist durch ein teaching to the test, wie PISA es nahelegt, selbstverständlich nicht zu erreichen. Folglich ist ein Konzept, welches nur auf die Lösung konkreter Probleme abzielt, zwar eine gute Grundlage für weiterführende pädagogische Bemühungen, aber keineswegs ausreichend. Bildung fängt also erst nach PISA an (vgl. auch Kap. 3 und Kap. 4). 1.3 Der „Pisa-Schock” und seine Folgen Schleicher berichtet, dass viele Regierungsvertreter, welche die PISA-Erhebungen zunächst vehement abgelehnt haben, es mit dem Hinweis taten, in ihrem Bildungsbzw. Schulsystem sei alles aufs Beste. Und er erinnert sich immer noch an die Bedenken, die ein deutscher Vertreter vorbrachte: „Ich weiß ja noch nicht mal, was in Niedersachsen geschieht. Wieso soll ich mich da für Korea interessieren? “ (Rollin & Hudson 2009: 49f.). Als 2001 die Ergebnisse des ersten PISA-Rankings bekannt wurden, war die Aufregung groß: Unter den einunddreißig Nationen, die an der ersten Studie im Jahre 2000 teilgenommen hatten, belegte Deutschland im Lesen den 21. Platz, in Mathematik und in den Naturwissenschaften jeweils Platz 20; es rangierte also im internationalen Vergleich ziemlich weit unten. Das war nicht länger die von Picht in den 1960er Jahren prognostizierte „Bildungskatastrophe“, das war der sogenannte PISA- Schock. Dass die ersten PISA-Ergebnisse solches Aufsehen erregten, war nicht zuletzt den Medien geschuldet, die den Ranglisten eine übertriebene Bedeutung beimaßen (und immer noch beimessen). Die Resultate der ersten TIMS-Studie im Jahre 1995 hatten hingegen kein vergleichbares Echo in der Öffentlichkeit ausgelöst. Der Begriff ‚Schock‘ trifft die Sache im Kern: Anstatt die Ursachen des schlechten Abschneidens der deutschen Schülerinnen und Schüler in Ruhe zu analysieren, setzte ein Aktionismus ein, mit dem wir noch heute - fünfzehn Jahre nach der ersten PISA- Erhebung - zu kämpfen haben (vgl. vor allem Kap. 4). Naheliegende Gründe für die unzureichenden PISA-Ergebnisse des Jahres 2000 sind meiner Ansicht nach folgende:  Es fehlt(e) in Deutschland eine Test- und Assessment-Kultur.  Unsere Schülerinnen und Schüler waren nicht hinreichend mit standardisierten Tests vertraut: Nicht wenige kreuzten bei Multiple-Choice-Aufgaben mehr als eine Lösung an. <?page no="16"?> 16 1. PISA - Aufregung über Schieflagen  Diskontinuierliche Texte (Übersichten, Diagramme, Schemata) wurden selten für das Leseverstehen herangezogen.  Viele Lernende orientierten sich an dem, was nach den Lehrplänen bereits Gegenstand des Unterrichts gewesen war: Bei einem Lesetext zum Wasserstand des Tschadsees antworteten deutsche Schülerinnen und Schüler, sie hätten den Tschadsee nicht durchgenommen.  Vermutlich waren sie auch mit dem engen Zeitrahmen (über 50 Aufgaben in zwei Stunden) überfordert.  Einige berichteten im Nachhinein, sie hätten sich keine besondere Mühe gegeben, weil die Ergebnisse dieses Tests nicht benotet würden. Inzwischen sind unsere Lernenden mindestens so testwise wie die 15-jährigen Schülerinnen und Schüler in anderen Ländern. Statt einer solchen Analyse nahm die Bildungspolitik, auch unter dem Druck der Öffentlichkeit, sogleich weitreichende Maßnahmen in Angriff. Man war und ist der Überzeugung, die vermeintlichen Defizite der Schülerinnen und Schüler dadurch beheben zu können, dass man den Schwerpunkt vom Input auf den Output verlagert(e). Die Aufmerksamkeit der Lehrpersonen sollte nicht länger auf die Vorgaben in den teils überfrachteten Lehrplänen gerichtet sein, sondern auf die tatsächlich erreichten Leistungen der Lernenden am Ende bestimmter Bildungsabschnitte, z. B. der Pflichtschulzeit (zur Standard-Bewegung vgl. Kap. 3, zu den KMK-Bildungsstandards Kap. 4). Man kann vieles an den PISA-Studien und zum Teil auch an den öffentlichen Äußerungen von Andreas Schleicher kritisieren: Er ist ein entschiedener Gegner des gegliederten Schulwesens und bringt dies bei vielen (unpassenden) Gelegenheiten zum Ausdruck. Was man ihm aus meiner Sicht jedoch nicht anlasten kann, ist die Tatsache, dass die PISA-Resultate teilweise zu anderen Reaktionen geführt haben als von der OECD bzw. von Schleicher intendiert. Unzählige Wissenschaftler, Bildungspolitiker und Journalisten haben sich in Fachzeitschriften und/ oder der Presse zu den PISA-Studien geäußert, oft ohne sich jemals mit den Aufgaben und den zusätzlichen Fragebögen (Schülerfragebogen und Schulfragebogen) beschäftigt zu haben. Das hat selbstverständlich nicht zu einer Versachlichung der Debatte beigetragen. Im Gegenteil hat es viele Lehrpersonen sowie Schülerinnen und Schüler verunsichert. Von verbalen Attacken und Rücktrittsforderungen abgesehen, ist der oben zitierte Offene Brief an Andreas Schleicher vom Mai 2014 die erste ausführlichere direkte Auseinandersetzung mit dem PISA-Chef. Dass Meyer und Zahedi für ihre Intervention mehr als ein Jahrzehnt gebraucht haben, ist verwunderlich. Interessant ist m. E. das Ende des Briefes: Wir zweifeln nicht, dass die PISA-Experten der OECD den aufrichtigen Wunsch haben, Bildung zu verbessern. Aber wir können nicht verstehen, wie die OECD zum globalen Schiedsrichter über Mittel und Ziele von Bildung in der ganzen Welt werden konnte. Die enge Ausrichtung der OECD auf standardisierte Tests droht Lernen in Pedanterie zu verwandeln und Freude am Lernen zu beenden. Durch den von PISA stimulierten Wettlauf um Testergebnisse hat die OECD die Macht erhalten, weltweit Bildungspolitik zu bestimmen, ohne jede Debatte über die Notwendigkeit oder Begrenztheit der OECD- Ziele. Durch das Messen einer großen Vielfalt von Bildungstraditionen und -kulturen mit einem engen und einseitigen Maßstab kann am Ende unseren Schulen und unseren Schülern irreparabler Schaden zugefügt werden. (Meyer & Zahedi 2014; autorisierte <?page no="17"?> 17 1.3 Der „Pisa-Schock” und seine Folgen Fassung von Open Letter to Andreas Schleicher; Übersetzung: Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V.) Die OECD konnte zum „globalen Schiedsrichter“ über zahlreiche Bildungssysteme werden, weil wir es zugelassen haben. Das gilt nicht nur für die Bundesrepublik bzw. den deutschsprachigen Raum. Die amerikanische Journalistin Amanda Ripley (2013) nimmt das Schulsystem bzw. die Systeme der USA äußerst kritisch unter die Lupe und spart auch nicht an Kritik bei ihrer detaillierten Analyse der Bildungssysteme von drei Ländern, die in den PISA-Rankings weit vorn liegen, nämlich Finnland, Polen und Südkorea. An keiner Stelle stellt sie die PISA-Ergebnisse in irgendeiner Form in Frage. Wir haben die Ergebnisse nicht als das genommen, was sie sind: Eine mit den Unzulänglichkeiten einer solchen statistischen Messung behaftete Momentaufnahme. Der OECD kann es gar nicht um „das Messen einer großen Vielfalt von Bildungstraditionen und -kulturen mit einem engen und einseitigen Maßstab“ gehen, wie Meyer und Zahedi schreiben. Diese kann man, wie oben angedeutet, nicht messen, und die OECD nimmt das auch nicht für sich in Anspruch. Vielmehr sind die PISA- Experten bemüht, Verfahren zu finden, die es trotz unterschiedlicher Kultur- und Wertesysteme ermöglichen, Ausschnitte von Schülerleistungen so zu erfassen, dass die Ergebnisse international vergleichbar sind. Dabei versteht sich von selbst, dass Schülerinnen und Schüler aus asiatischen Ländern, in denen schulischen Leistungen und dem Lernen generell viel größere Bedeutung beigemessen wird als bisher bei uns, besser abschneiden als europäische Länder oder beispielsweise die USA (vgl. Ravitch 1995; 2010; Ripley 2014). Das sieht man u. a. auch daran, dass der umfängliche Schülerfragebogen (55 Items, in der deutschen Fassung von 2009 über 40 Seiten, https: / / www.bifie.at/ buch/ 1279/ 5; letzter Zugriff Febr. 2015) im Anschluss an den eigentlichen Test von deutschen oder US-amerikanischen Schülerinnen und Schülern nicht mit der gleichen Sorgfalt ausgefüllt wird wie beispielsweise von asiatischen Lernenden. Einen weiteren Punkt, der die Bildungsdebatte in Deutschland seit Jahrzehnten beherrscht, möchte ich kurz ansprechen. Zahlreiche Experten, Schleicher eingeschlossen, versuchen, negative Resultate bei den PISA-Erhebungen mit dem gegliederten Schulsystem in Verbindung zu bringen. Von Anfang an hat eine starke Fraktion dahingehend argumentiert, dass das gegliederte Schulsystem die Hauptursache für das schlechte Abschneiden der deutschen Schülerschaft sei. Die Forderung, Schülerinnen und Schüler länger oder sogar die gesamte Pflichtschulzeit hindurch gemeinsam zu unterrichten, ist unter gewissen Voraussetzungen sicher sinnvoll. Die PISA-Ergebnisse jedoch dahingehend zu instrumentalisieren, sie legten Gemeinschaftsschulen nahe, ist höchst fragwürdig: Die deutschen Schülerinnen und Schüler haben sich inzwischen, ohne eine grundlegende Änderung unseres Schulsystems, verbessert: Beim letzten Ranking 2013 belegte Deutschland in der Mathematik Rang 16, in den Naturwissenschaften Rang 12 und beim Lesen Rang 20. Schweden hingegen, dessen Gemeinschaftsschulen vielen Experten als Vorbild galten, liegt inzwischen weit hinter Deutschland (Schweden PISA 2013: Mathematik Rang 38, Naturwissenschaften ebenfalls Rang 38 und beim Lesen Rang 36). In einer globalisierten Welt ist es ohne Zweifel sinnvoll, sich Rechenschaft darüber abzulegen, was Schülerinnen und Schüler anderer Länder in bestimmten, begrenzten Aufgabenfeldern leisten. Bei der Interpretation solcher Ergebnisse bzw. daraus abgeleiteten Konsequenzen muss man jedoch sehr vorsichtig sein. Die PISA-Ranglisten haben nichts mit dem Medaillen-Spiegel der Olympischen Spiele zu tun. Bei der Olympiade <?page no="18"?> 18 1. PISA - Aufregung über Schieflagen werden objektiv gemessene Leistungen in eine Rangfolge gebracht. PISA hingegen ist keine an objektiven Maßstäben ausgerichtete Leistungsmessung. Vielmehr werden, ausgehend von einem willkürlich gesetzten Wert von 500 Punkten, die Testergebnisse im Vergleich der teilnehmenden Länder ermittelt. Fazit: PISA - warum nicht? Aber: Gelassenheit und Umsicht sind bei der Auslegung und Umsetzung möglicher ‚Reparaturmaßnahmen‘ angesagt. Zudem ist bei Bildungsreformen zu berücksichtigen, dass die schönsten Intentionen der Experten auf dem langen Weg über die Ministerien und Landesinstitute sowie die Schulverwaltungen und Schulleitungen bei Lehrpersonen und ihren Lernenden häufig ganz andere Effekte auslösen als beabsichtigt. Deshalb müssen Bildungsplaner die „Rekontextualisierung“ (Fend 2008: passim) auf der jeweiligen Ebene des Schulsystems von vornherein mitbedenken. 1.4 Zwei Fremdsprachenlehrerinnen diskutieren über PISA Sabine und Lena sind Lehrerinnen an der gleichen Schule und arbeiten in ihren jeweiligen Fachschaften häufig mit anderen Kolleginnen und Kollegen zusammen. Dass die Kooperation von Sabine und Lena besonders eng ist, liegt u. a. daran, dass sie beide Englisch und Französisch unterrichten. Als Vorbereitung auf das heutige Treffen haben sie bis zum Ende des Abschnitts 1.3 (siehe oben) gelesen. Sabine: Ich habe mir ja schon immer gedacht, dass die PISA-Ergebnisse überbewertet sind. Das passt irgendwie hinten und vorne nicht zusammen. Dafür habe ich jetzt eine Bestätigung. Aber warum sollen wir uns dann überhaupt mit PISA beschäftigen? Was hat das mit unserem Unterricht zu tun? Lena: Ich habe das so verstanden: PISA war der Auslöser für fast alle bildungspolitischen Initiativen der letzten zehn Jahre. Ohne PISA keine Bildungsstandards. Und die betreffen doch auch uns, oder? Sabine: Ach so, Du meinst, die OECD hat uns irgendwie die KMK-Standards für den mittleren Abschluss beschert, obgleich es bei PISA gar nicht um Fremdsprachen geht? Lena: Genau, und deshalb ist es wichtig, die Vorgeschichte ansatzweise zu kennen. Da ist aber noch etwas anderes. Sabine: Jetzt bin ich aber gespannt. Lena: Du hast doch sicher die Definition von literacy gelesen. Wenn man das nun auf reading literacy überträgt … Sabine: Jetzt verstehe ich: reading literacy umfasst nur einen Teil dessen, was wir mit Lesekompetenz im Fremdsprachenunterricht verbinden. Lena: Du sagst es. Für uns hat Lesekompetenz etwas mit fremdsprachlicher Bildung zu tun. Reading literacy ist hingegen viel eingeschränkter. Sabine: Also ist PISA auch irgendwie der Grund dafür, dass ästhetisch-literarisches Lernen nur noch am Rande vorkommt. Lena: So sehe ich das auch. Sabine: Hast du mal bei den PISA-Aufgaben geschaut, welche Lesetexte da überhaupt vorkommen? <?page no="19"?> 19 1.5 Reading literacy und fremdsprachliche Lesekompetenz Lena: Dazu hatte ich noch keine Zeit. Ich vermute aber, dass selbst literarische Texte, sofern sie überhaupt berücksichtigt werden, bei PISA anders angegangen werden als in unserem Deutsch- oder auch dem Fremdsprachenunterricht. Sabine: Dann lass uns einfach mal gucken. Dann wissen wir mehr. Lena: Also doch PISA? ! Sabine: Ist ja gut. 1.5 Reading literacy und fremdsprachliche Lesekompetenz Es ist in der Tat so, wie die beiden Lehrerinnen vermuten. Wir verbinden mit fremdsprachlicher Lesekompetenz weit mehr als die PISA-Experten mit reading literacy, obgleich beide Begriffe oft synonym verwendet werden. Das ist auch berechtigt, sofern man an die Modellierung des Leseprozesses denkt. Lesen ist ein aktiver Konstruktionsprozess, bei dem der Leser aufgrund seines Vorwissens mit dem Text interagiert. Es kommt dabei sowohl zu Prozessen, die vom Text ausgehen, also bottom-up verlaufen, als auch zu solchen, die von vielfältigen Faktoren des Lesers beeinflusst werden (top-down). Der Unterschied zwischen reading literacy à la PISA und fremdsprachlicher Lesekompetenz besteht vor allem in der Zielsetzung: Warum sollen bestimmte Texte gelesen werden? Welche Bedeutung hat das Lesen für die Schülerinnen und Schüler selbst? Dazu heißt es in einem Dokument der OECD: In the PISA study, reading literacy is understood as follows: Reading literacy is understanding, using, and reflecting on written texts, in order to achieve one’s goals, to develop one’s knowledge and potential, and to participate in society. PISA examines to what extent adolescents are able to understand and integrate texts they are confronted with in their everyday lives. (www.pisa.tum.de/ en/ domains/ reading-literacy/ letzter Zugriff Febr. 2015) Nach Höfer handelt es sich bei reading literacy um eine pragmatisch ausgerichtete Konzeption: „Die PISA-Studie erhebt somit nicht den weitreichenden Anspruch, den Horizont einer modernen Allgemeinbildung in komplexer Weise zu vermessen, aufzuzeigen und zu begründen …“ (Höfer 2006: 21). Im Fremdsprachenunterricht ist Lesen, insbesondere das Lesen fremdsprachlicher Literatur in Printform bis hin zu multimodalen Werken, mit der Persönlichkeitsentwicklung des einzelnen lernenden Individuums und seiner Selbstbildung aufs engste verbunden. Lesen setzt daher - über das kognitionstheoretische Modell hinaus - vor allem auch die Beteiligung des Subjekts mit seinen affektiven Komponenten voraus. Lesen in der Fremdsprache, bei dem die Lesefähigkeit in der Muttersprache vorausgesetzt wird, ist ein reflexiver Akt, der die lesenden Schülerinnen und Schüler im günstigsten Fall zu einer Auseinandersetzung mit anderen Lebensumständen und Anschauungen veranlasst. Inter- und transkulturelles Lernen (vgl. De Florio-Hansen 2010a) beruht im schulischen Fremdsprachenunterricht in hohem Maß auf einer sorgfältig initiierten Leseförderung, welche die Bereitschaft zum Lesen nachhaltig verbessern kann. Im nächsten Abschnitt schauen wir uns eine PISA-Aufgabe zur reading literacy, die auf einem literarischen Text basiert, genauer an. <?page no="20"?> 20 1. PISA - Aufregung über Schieflagen 1.6 Beispiel: The miser and his gold / L’avare et son lingot d’or Das ausgewählte Beispiel entstammt den PISA-Aufgaben aus dem Jahr 2009 (OECD 2010: vol. 1). Selbstverständlich erhielten deutsche Schülerinnen und Schüler den Text und die zugehörigen Aufgaben in deutscher Sprache, denn es geht bei PISA um die Überprüfung des Leseverstehens in der Muttersprache. Wir betrachten die beiden Texte und die zugehörigen Aufgaben jedoch in der englischen bzw. der französischen Fassung, weil Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrer so eher ermessen können, welche Konzeption von Lesekompetenz PISA zugrunde liegt. (Für die Hand der Lernenden stehen die beiden Beispiele als Arbeitsblätter unter www.narr-studienbuecher.de/ 9783823369370 zum Download zur Verfügung.) Meines Wissens werden die Aufgaben seit vielen Jahren von mehreren kommerziellen Testagenturen - die bekannteste hat ihren Sitz in Australien - erstellt. Weiter oben (vgl. 1.3) habe ich den von den PISA-Experten festlegten Wert von 500 benannt, an dem die Schülerleistungen der einzelnen Länder gemessen werden. 500 Punkte entsprechen dabei einem (willkürlich gesetzten) Durchschnittswert (dem Regelstandard der KMK-Bildungsstandards; vgl. Kap. 4), der von mindestens 50% der Lernenden erreicht werden soll; er entspricht also einem mittleren Niveau. Die folgende Übersicht (Hessisches Kultusministerium 2006: 24) zeigt, wie die PISA-Kompetenzniveaus festgelegt sind: Kompetenzstufe Von Punkten Bis zu Punkten V (Expertenstufe) über 626 IV (Gymnasialstufe) 553 625 III (PISA-Durchschnitt) 481 552 II (Standard Sek. I) 408 480 I (Elementarstufe) 335 407 unter I unter 335 (Die Elementarstufe wird inzwischen in I a und I b unterteilt.) Bei der reading literacy wird das Anforderungsprofil auf drei Ebenen charakterisiert:  Informationen ermitteln  Textbezogenes Interpretieren  Reflektieren und Bewerten Beispiel Englisch Die folgende Version der Fabel von Aesop ist adaptiert. Bei Interesse können Sie den Text mit einer neueren Übersetzung von Laura Gibbs aus dem Jahre 2002 vergleichen (vgl. http: / / mythfolklore.net/ aesopica/ perry/ 225.htm letzter Zugriff Mai 2015). <?page no="21"?> 21 1.6 Beispiel: The miser and his gold / L’avare et son lingot d’or THE MISER AND HIS GOLD A fable by Aesop A miser sold all that he had and bought a lump of gold, which he buried in a hole in the ground by the side of an old wall. He went to look at it daily. One of his workmen observed the miser’s frequent visits to the spot and decided to watch his movements. The workman soon discovered the secret of the hidden treasure, and digging down, came to the lump of gold, and stole it. The miser, on his next visit, found the hole empty and began to tear his hair and to make loud lamentations. A neighbor, seeing him overcome with grief and learning the cause, said, “Pray do not grieve so; but go and take a stone, and place it in the hole, and fancy that the gold is still lying there. It will do you quite the same service; for when the gold was there, you had it not, as you did not make the slightest use of it.” Use the fable “The Miser and his Gold” to answer the questions that follow. Miser - Question 1 Read the sentences below and number them according to the sequence of events in the text. □ The miser decided to turn all his money into a lump of gold. □ A man stole the miser’s gold. □ The miser dug a hole and hid his treasure in it. □ The miser’s neighbour told him to replace the gold with a stone. Situation: Personal Text format: Continuous Text type: Narration Aspect: Integrate and interpret - Develop an interpretation Question format: Closed constructed response Difficulty: 373 (Level 1a) Scoring Full Credit: all four correct: 1, 3, 2, 4 in that order. Comment Fables are a popular and respected text type in many cultures and they are a favourite text type in reading assessments for similar reasons: they are short, self-contained, morally instructive and have stood the test of time. While perhaps not the most common reading material for young adults in OECD countries they are nevertheless likely to be familiar from childhood, and the pithy, often acerbic observations of a fable can pleasantly surprise even a blasé 15-year-old. MISER is typical of its genre: it captures and satirizes a particular human weakness in a neat economical story, executed in a single paragraph. Since narrations are defined as referring to properties of objects in time, typically answering “When” questions, it is appropriate to include a task based on a narrative <?page no="22"?> 22 1. PISA - Aufregung über Schieflagen text for a series of statements about the story to be put into the correct sequence. With such a short text, and with statements that are closely matched with the terms of the story, this is an easy task, around the middle of level 1a. On the other hand, the language of the text is rather formal and has some old-fashioned locutions. (Translators were asked to reproduce the fable-like style of the source versions.) This characteristic of the text is likely to have added to the difficulty of the question. Miser - Question 7 How did the miser get a lump of gold? Situation: Personal Text format: Continuous Text type: Narration Aspect: Access and retrieve - Retrieve information Question format: Short response Difficulty: 310 (Level 1b) Scoring Full Credit: States that he sold everything he had. May paraphrase or quote directly from the text. He sold all he had. He sold all his stuff. He bought it. (implicit connection to selling everything he had) Comment This is one of the easiest tasks in PISA reading, with a difficulty in the middle of level 1b. The reader is required to access and retrieve a piece of explicitly stated information in the opening sentence of a very short text. To gain full credit, the response can either quote directly from the text - “He sold all he had” - or provide a paraphrase such as “He sold all his stuff”. The formal language of the text, which is likely to have added difficulty in other tasks in the unit, is unlikely to have much impact here because the required information is located at the very beginning of the text. Although this is an extremely easy question in PISA’s frame of reference, it still requires a small degree of inference, beyond the absolutely literal: the reader must infer that there is a causal connection between the first proposition (that the miser sold all he had) and the second (that he bought gold). Miser - Question 5 Here is part of a conversation between two people who read “The Miser and his gold”. Speaker 1: The neighbour was nasty: He could have recommended replacing the gold with something better than a stone. <?page no="23"?> 23 1.6 Beispiel: The miser and his gold / L’avare et son lingot d’or Speaker 2: No, he couldn’t. The stone was important in the story. What could speaker 2 say to support his point of view? …………………………………………………………………………………………….. …………………………………………………………………………………………….. Situation: Personal Text format: Continuous Text type: Narration Aspect: Integrate and interpret - Develop an interpretation Question format: Open constructed response Difficulty: 548 (Level 3) Scoring Full Credit Recognises that the message of the story depends on the gold being replaced by something useless or worthless. It needed to be replaced by something worthless to make the point. The stone is important in the story, because the whole point is he might as well have buried a stone for all the good the gold did him. If you replaced it with something better than a stone, it would miss the point because the thing buried needs to be something really useless. A stone is useless, but for the miser, so was the gold! Something better would be something he could use - he didn’t use the gold, that’s what the guy was pointing out. Because stones can be found anywhere. The gold and the stone are the same to the miser (“can be found anywhere” implies that the stone is of no special value) Comment The task takes the form of setting up a dialogue between two imaginary readers, to represent two conflicting interpretations of the story. In fact, only the second speaker’s position is consistent with the overall implication of the text, so that in providing a supporting explanation readers demonstrate that they have understood the “punch line” - the moral import - of the fable. The relative difficulty of the task, near the top of level 3, is likely to be influenced by the fact that readers need to do a good deal of work to generate a full credit response. First they must make sense of the neighbour’s speech in the story, which is expressed in a formal register. (As noted, translators were asked to reproduce the fable-like style.) Secondly, the relationship between the question stem and the required information is not obvious: there is little or no support in the stem (“What could speaker 2 say to support his point of view? ”) to guide the reader in interpreting the task, though the reference to the stone and the neighbor by the speakers should point the reader to the end of the fable. <?page no="24"?> 24 1. PISA - Aufregung über Schieflagen As shown in examples of responses, to gain full credit, students could express, in a variety of ways, the key idea that wealth has no value unless it is used. Vague gestures at meaning “The stone had a symbolic value”, are not given credit. (OECD 2010: PISA 2009 Results: What students know and can do - Volume 1, 104- 106) Beispiel Französisch Auch die französische PISA-Fassung der Fabel ist vereinfacht. Offensichtlich handelt es sich um eine Übersetzung der englischen Version (siehe oben). Das sieht man vor allem an der Formulierung der Lösungen und der Kommentare. Im Französischen gibt es mehrere Versionen dieser Fabel, unter anderem von Jean de la Fontaine (http: / / fable.wikidot.com/ l-avare-et-son-tresor; letzter Zugriff Febr. 2015). Sie könnten als vorbereitende Lektüre zu Molières L‘Avare dienen. L’AVARE ET SON LINGOT D’OR Une fable d’Ésope Un avare vendit tout ce qu’il possédait et acheta un lingot d’or, qu’il enterra dans un trou tout près d’un vieux mur. Chaque jour, il venait le regarder. Un de ses ouvriers remarqua son manège et décida d’épier ses allées [sic] et venues. L’ouvrier découvrit rapidement le secret du trésor caché, creusa le sol, tomba sur le lingot d’or et le déroba. L’avare, lors de la visite suivante, trouva sa cachette vide, il s’arracha les cheveux et se répandit en lamentations. Un voisin, le voyant terrassé par la douleur et en apprenant la cause, lui dit : « Je vous en prie, ne vous plaignez pas ainsi ; allez plutôt chercher une pierre, placez-la dans le trou et imaginez que l’or est toujours là. Cela vous sera tout aussi utile ; car lorsque l’or était dans le trou, vous ne le possédiez pas puisque vous n’en aviez pas le moindre usage. » Servez-vous de la fable « L’Avare et son lingot d’or » pour répondre aux questions suivantes. L’AVARE ET SON LINGOT D’OR - Question 1 Lisez les phrases ci-dessous et numérotez-les en fonction de la succession des événements dans le texte. □ L’avare décida de convertir tout son argent en un lingot d’or. □ Un home déroba l’or de l’avare. □ L’avare creusa un trou et y cacha son trésor. □ Le voisin de l’avare lui dit de remplacer l’or par une pierre. Situation : personnelle Format du texte : continu Type de texte : narration <?page no="25"?> 25 1.6 Beispiel: The miser and his gold / L’avare et son lingot d’or Aspect : intégrer et interpréter - développer une interprétation Format de l’item : item à réponse construite fermée Degré de difficulté : 373 points (niveau 1a) Consignes de correction Crédit complet : numérote les événements dans l’ordre correct : 1, 3, 2, 4. Commentaire La fable est un genre littéraire apprécié et respecté dans de nombreuses cultures. Les épreuves de compréhension de l’écrit ont souvent recours aux fables : elles sont courtes, indépendantes et moralement instructives, et elles résistent à l’épreuve du temps. Elles ne font peut-être pas partie des lectures les plus courantes des jeunes adultes dans les pays de l’OCDE, mais elles leur sont vraisemblablement familières depuis l’enfance. De plus, leur ton piquant, souvent acerbe, peut agréablement surprendre les adolescents blasés de 15 ans. L’AVARE ET SON LINGOT D’OR est une fable typique, car elle décrit et caricature une faiblesse humaine dans un récit concis d’un seul paragraphe. Comme les narrations sont définies comme des textes qui décrivent les propriétés des objets dans le temps et qui répondent à la question « Quand ? », inclure dans cette tâche qui demande aux élèves de classer une série d’événements dans l’ordre chronologique dans lequel ils se sont déroulés dans le récit est approprié. Il s’agit d’une tâche simple, qui se situe au milieu du niveau 1a : le texte est court et la formulation des événements dans la question est proche de celle du texte. Toutefois, le texte est écrit dans un registre plutôt formel et comprend plusieurs expressions démodées. (Les traducteurs ont été priés de reproduire le style de fable des versions sources.) Cette caractéristique du texte a certainement ajouté à la difficulté de la question. L’AVARE ET SON LINGOT D’OR - Question 7 Comment l’avare a-t-il obtenu un lingot d’or ? Situation : personnelle Format du texte : continu Type de texte : narration Aspect : intégrer et interpréter - développer une interprétation Format de l’item : item à réponse courte Degré de difficulté : 310 points (niveau 1b) Consignes de correction Crédit complet : mentionne que l’avare a vendu tout ce qu’il avait. Peut paraphraser le texte ou citer directement celui-ci. Il vendit tout ce qu’il possédait. Il a tout vendu. Il l’a acheté. (Lien implicite avec le fait d’avoir vendu tout ce qu’il possédait) <?page no="26"?> 26 1. PISA - Aufregung über Schieflagen Commentaire C’est l’une des tâches les plus faciles des épreuves PISA de compréhension de l’écrit, elle se situe au milieu du niveau 1b. Les élèves doivent localiser et extraire un fragment d’information explicitement indiqué dans la première phrase d’un texte très court. Pour répondre correctement à cette question, ils doivent soit citer littéralement le passage du texte - « Un avare vendit tout ce qu’il possédait » -, soit le paraphraser - « il a tout vendu » -, par exemple. Le registre formel du texte, qui a ajouté à la difficulté d’autres tâches de l’unité, n’est susceptible d’avoir qu’un impact limité dans cette question, car le passage pertinent se situe au tout début du texte. C’est une question extrêmement facile au sens du cadre d’évaluation PISA, mais elle passe par une certaine forme d’inférence, au-delà de l’équivalence strictement littérale : les élèves doivent inférer la relation causale entre la première proposition (« Un avare vendit tout ce qu’il possédait ») et la deuxième proposition (« … et acheta un lingot d’or »). L’AVARE ET SON LINGOT D’OR - Question 5 Voici un extrait d’une conversation de deux personnes qui ont lu “L’avare et son lingot d’or”. Interlocuteur 1: Le voisin est méchant. Il aurait pu conseiller de remplacer l’or par quelque chose de mieux qu’une pierre. Interlocuteur 2: Non, justement la pierre a de l’importance dans l’histoire. Que pourrait ajouter l’interlocuteur 2 pour soutenir son point de vue ? ……………………………………………………………………………………………… ……………………………………………………………………………………………… Situation : personnelle Format du texte : continu Type de texte : narration Aspect : intégrer et interpréter - développer une interprétation Format de l’item : item à réponse construite ouverte Degré de difficulté : 548 points (niveau 3) Consignes de correction Crédit complet Identifie le fait que remplacer l’or par quelque chose d’inutile ou sans valeur est l’essentiel au message de l’histoire.  Il faut remplacer l’or par quelque chose sans valeur pour que le message passe.  La pierre a de l’importance dans l’histoire car l’idée principale c’est qu’il aurait tout aussi bien pu enterrer une pierre à la place de l’or, compte tenu de ce que l’or lui a apporté. <?page no="27"?> 27 1.7 Folgerungen für den Fremdsprachenunterricht  Si on remplace l’or par quelque chose mieux qu’une pierre, ça ne signifierait plus la même chose car ce qui est enterré doit être quelque chose de vraiment inutile.  La pierre est inutile, tout comme l’or l’était pour l’avare !  Quelque chose de mieux serait quelque chose qui lui serait utile. L’or ne lui était pas utile et c’est ce que le type voulait faire remarquer.  Parce qu’on peut trouver des pierres n’importe où. L’or et la pierre sont pareils pour l’avare. (« on peut trouver les pierres n’importe où » implique que la pierre n’a pas de valeur particulière.) Commentaire Cette tâche se présente sous la forme d’un dialogue entre deux lecteurs fictifs pour montrer deux interprétations contradictoires de l’histoire. En fait, seul l’interlocuteur 2 tient un discours en adéquation avec l’implication globale du texte, de sorte que les élèves qui fournissent un argument à l’appui de son point de vue montrent qu’ils ont compris la fin - la morale - de la fable. La difficulté relative de cette tâche, qui se classe près de la limite supérieure du niveau 3, s’explique en partie par le fait que les élèves doivent en passer par un processus assez complexe pour obtenir un crédit complet. En premier lieu, ils doivent comprendre le discours du voisin de l’avare qui s’exprime dans un registre formel. (Rappelons que les traducteurs ont été priés de reproduire le style de la fable.) En deuxième lieu, ils doivent établir la relation entre la question et les informations pertinentes, mais cette relation n’apparaît pas d’emblée : la question ne donne que peu d’indices (« Que pourrait ajouter l’interlocuteur 2 pour soutenir son point de vue ? ») pour orienter les élèves dans l’interprétation de la tâche. Toutefois, la référence à la pierre et au voisin les dirige à la fin de la fable. Comme le montrent les exemples de réponses valant un crédit complet, les élèves peuvent exprimer de différentes façons l’idée principale de la fable, à savoir que la richesse n’a de valeur que si on en a usage. Les réponses vagues, comme « La pierre a une valeur symbolique », ne valent pas de crédit. (OECD 2010 : Résultats du PISA 2009 : Savoirs et savoirs-faire des élèves - volume 1, 110-112) Fazit: Wenn eine Gruppe von (fortgeschrittenen) Englischbzw. Französischlernenden sich diese Fabel erarbeiten sollte, würden wir vieles anders machen als im PISA-Beispiel. Das fängt bei der Auswahl der Version an - sie sollte so authentisch wie möglich sein -, setzt sich über die Aufgaben und Aktivitäten der Lernenden fort und betrifft letztlich das (self-)assessment (vgl. dazu die Anregungen zum Nachdenken, Diskutieren und Gestalten am Ende des Kapitels). 1.7 Folgerungen für den Fremdsprachenunterricht Was das Lesen in der Fremdsprache angeht, verfolgen wir viel weiter gesteckte Ziele als die PISA-Studien. Ohne Zweifel ist die funktionale Sicht des literacy-Konzepts auch im schulischen Sprachunterricht von Bedeutung: Einem Text eine gesuchte Information entnehmen zu können, ist eine grundlegende Teilkomponente bei der Aneignung <?page no="28"?> 28 1. PISA - Aufregung über Schieflagen von Lesekompetenz. Im Zusammenhang mit dem Lehren und Lernen von Fremdsprachen verstehen wir Lesen darüber hinaus als kulturelle Praxis (vgl. auch zum Folgenden Hurrelmann 2002: 13ff. sowie Kjellström-Medici 2004). Wie oben bereits angedeutet, ist die Lesemotivation selbst ein Teil von Lesekompetenz. Folglich spielt die emotionale Dimension, d. h. die Verbindung eigener Erfahrungen und Gefühlserlebnisse mit der Lektüre sowie die Fähigkeit zum ästhetischen Wahrnehmen und Genießen, eine herausragende Rolle (vgl. De Florio-Hansen 2012a: 63). Hinzu kommt auch die Teilnahme an Gesprächen über Texte, die im Sprachunterricht gefördert und geübt wird. Sie ermöglicht Leserinnen und Lesern die Einbindung in das kulturelle und gesellschaftliche Leben. Hurrelmann fasst diese Intentionen wie folgt zusammen: … sie [die Didaktik] muss bemüht sein, die Verbesserung kognitiver Textverarbeitungskompetenzen so eng wie möglich mit Lesemotivationen, emotional involvierten Lektüreerfahrungen und auch sozio-kommunikativ befriedigenden Prozessen der Anschlusskommunikation zu verbinden. (Hurrelmann 2002: 14) Wichtiger noch als die Unterschiede hinsichtlich des Verständnisses von Lesekompetenz, die sich durch zusätzliche Unterrichtsaktivitäten ausgleichen lassen, ist die Tatsache, dass eine Vergleichsuntersuchung wie PISA, die in einem engen Rahmen ihre Berechtigung haben mag, zu übereilten Aktivitäten seitens der Forschung und insbesondere der Bildungspolitik geführt hat. Die schulpolitischen Vorgaben dürfen nicht als unumstößliche Norm oder als ausschließliche Ziele des Lehrens und Lernens von (Fremd-) Sprachen an unseren Schulen akzeptiert werden. Dazu bezieht Liessmann wie folgt Stellung: Dass kein einziges europäisches Land den Mut hatte, die Entwicklung der eigenen pädagogischen Kultur ungeachtet der PISA-Ergebnisse für vorrangig zu halten, zeigt, welch normativer Druck von solchen Tests ausgeht, auch wenn diese Normativität nicht intendiert gewesen sein mag. Aber einige Grundkenntnisse angewandter Soziologie hätten genügt, um zu wissen, dass eine empirische Bestandsaufnahme, die sich in Zeiten der Wettbewerbsmanie in einer Rangliste manifestiert, nicht mehr Ausdruck einer Leistungsmessung, sondern Artikulation eines Imperativs sein wird. (Liessmann 2008: 86) Ein weiteres Zitat von Liessmann, Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien, belegt, dass es bei den PISA-Erhebungen nicht nur um die drei überprüften Bereiche geht, sondern um das gesamte Bildungswesen, also auch um den Fremdsprachenunterricht: Anstelle der Bildungsziele der Aufklärung - Autonomie, Selbstbewusstsein und die geistige Durchdringung der Welt -, anstelle der Bildungsziele der Reformpädagogiken - Lebensnähe, soziale Kompetenz und Freude am Lernen, […]ist ein einziges Bildungsziel getreten: PISA bestehen! (Liessmann 2008: 75) Das ist - zugegeben - vereinfacht und polemisch formuliert, aber in einer Streitschrift mit dem Titel Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft gerechtfertigt. Außerdem trifft es die Sache im Kern. Inzwischen spielen auch im Fremdsprachenunterricht Tests und Vergleichsarbeiten häufig eine unproduktive Rolle - unter Vernachlässigung der wichtigen Ziele fremdsprachlicher Bildung (vgl. Kap. 10). <?page no="29"?> 29 Anregungen zum Nachdenken, Diskutieren und Gestalten Anregungen zum Nachdenken, Diskutieren und Gestalten 1. Stimmen Sie der Auffassung von Messner (vgl. 1.2) zu? Warum? Warum nicht? Warum kann man aus den Ergebnissen von Leistungstests nur eingeschränkt Handlungsempfehlungen für die Unterrichtspraxis ableiten? 2. Welche Aspekte von Schule und Unterricht entziehen sich Ihrer Ansicht nach einer exakten Messung, können aber trotzdem beurteilt und bewertet werden? Benennen Sie die drei Punkte, die Ihnen am wichtigsten erscheinen. Dabei können Sie sich auf Faktoren beziehen, die die Schülerinnen und Schüler, die Lehrperson und/ oder das Unterrichtsgeschehen betreffen. Diskutieren Sie Ihre Ergebnisse mit Kolleginnen und Kollegen. 3. Worin unterscheiden sich Ihrer Kenntnis nach Bildungstraditionen und -kulturen im Vereinigten Königreich (den USA und Australien) oder Frankreich von unseren in Deutschland? Tauschen Sie sich fremdsprachenübergreifend mit Kolleginnen und Kollegen aus. 4. Warum muss man nach Fend (vgl. 1.3) die bildungspolitischen Vorgaben „rekontextualisieren“, um sie für die Unterrichtspraxis nutzen zu können? 5. Erarbeiten Sie zusammen mit Fachkolleginnen und -kollegen einen kurzen Unterrichtsvorschlag für fortgeschrittene Lernende zu The miser and his gold bzw. zu L’avare et son lingot d’or. Erproben Sie den Vorschlag bei Gelegenheit im Unterricht. (Dabei können Sie, wenn Sie wollen, die Arbeitsblätter im Download nutzen und umgestalten; www.narr-studienbuecher.de/ 97838233693709) <?page no="31"?> 2. DESI - auf dem Weg zur Standardorientierung 2.1 Eine „coole” Nachricht Während Tom - er besucht die 9. Klasse eines Gymnasiums - sonst nur auf Fragen seiner Mutter oder seines Vaters „aus der Schule plaudert“, sprudelt es heute nur so aus ihm heraus, kaum hat er seinen Rucksack in die übliche Ecke geschleudert: Tom: Du, wir nehmen an DESI teil, das finde ich wirklich cool. Mutter: Wer oder was bitte ist Daisy? Tom: Also, das ist eine ganz große Untersuchung zum Englischlernen, an der meine Klasse teilnehmen darf. Da wird alles getestet, was du dir denken kannst. Und hinterher kommen wir groß raus. Es werden nämlich auch Videoaufnahmen gemacht. Mutter: Mal langsam … was heißt Daisy denn überhaupt? Tom: Also das steht für Deutsch Englisch Schülerleistungen International. Ich habe auch ein Blatt mitbekommen. Das sollst du unterschreiben. Mutter: Ach so, das heißt wohl DESI. Tom: Sag ich doch! Es geht darum, wie gut wir Englisch verstehen und sprechen können, Lesen und Schreiben wird auch geprüft. Da kann ich endlich mal zeigen, was ich so drauf habe. Bei dem Lehmann kann ich ja gar nicht alles anbringen, was ich so kann. Der beschäftigt sich immer mit denen, die hintendran sind. Mutter: Na ja, der Herr Lehmann weiß eben schon, dass du sehr gut bist. Über deine Note kannst du dich wirklich nicht beschweren. Tom: Es geht ja nicht nur um die Note; ich könnte noch mehr lernen, wenn er etwas mehr Zeit für mich hätte. Das hat Annika letztens auch wieder gesagt. Mutter: Na, dann zeig mal das Blatt; vermutlich ist es eine Einverständniserklärung. Tom: Hier, guck mal … wirklich cool. Mutter: Also hier steht, dass Tests eingesetzt werden zum Hörverstehen, dem Leseverstehen, der Textrekonstruktion, dem freien Schreiben, der Sprachbewusstheit und der mündlichen Sprachproduktion. Da ist ja wirklich alles drin. Tom: Außerdem wird auch noch überprüft, inwieweit wir im Ausland, wo Englisch gesprochen wird, mit den Leuten dort klarkommen. Mutter: Bekommt ihr auf die Tests Noten? Tom: Nein, ich habe das so verstanden, dass das nach bestimmten Kriterien von den Machern ausgewertet wird. Richtig verstanden habe ich das nicht, denn irgendjemand hat gesagt, es ginge bei 500 Punkten los. Mutter: Und was sagt Herr Lehmann dazu? Tom: Er ist natürlich mächtig stolz, aber ein bisschen verunsichert ist er schon. Bei den Videoaufnahmen soll nämlich, wie ich das sehe, vor allem der Lehrer unter die Lupe genommen werden. Mutter: Wann soll es denn sein? Tom: In ungefähr zwei Wochen. Mutter: Na, dann kannst du ja noch mal zum Friseur gehen. Tom: OK. Hauptsache Du unterschreibst jetzt erst einmal. Ich muss das Blatt nämlich in der nächsten Englischstunde abgeben. Und die ist morgen! <?page no="32"?> 32 2. DESI - auf dem Weg zur Standardorientierung 2.2 Entstehungsgeschichte und Ziele von DESI Falls Sie nach dem Gespräch von Tom und seiner Mutter glauben, Sie könnten von den Ergebnissen der DESI-Studie für Ihren Englischunterricht direkt profitieren, muss ich Ihre Erwartungen leider dämpfen. Gleichwohl können wir Rückschlüsse für das Lehren und Lernen von Fremdsprachen aus den Intentionen dieser umfangreichen Untersuchung ziehen. Insbesondere können wir Hinweise für die Evaluation von Schülerleistungen im eigenen Unterricht daraus ableiten. Das bezieht sich besonders auf die Überprüfung der mündlichen Sprachproduktion, die im Fremdsprachenunterricht oft zu kurz kommt. Wie kam es zu einer Untersuchung des Deutsch- und Englischunterrichts sowie der sprachlichen Kompetenzen von Lernenden der 9. Jahrgangsstufe an deutschen Schulen? Der PISA-Schock war so nachhaltig, dass die Kultusministerkonferenz bereits 2001 die erste große deutsche Schulleistungsstudie in Auftrag gab. Dazu erläutert Klieme in einer Zusammenfassung zentraler Ergebnisse der DESI-Studie: Unter Federführung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) wurden dafür von einem Konsortium von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern neue Testverfahren entwickelt. Etwa 11.000 Schülerinnen und Schüler der neunten Jahrgangsstufe aller Schularten wurden zu Beginn und am Ende des Schuljahres 2003/ 04 befragt und getestet; hinzu kamen Befragungen von Lehrkräften, Eltern und Schulleitungen sowie Videoaufnahmen im Englischunterricht. Als bundesweit repräsentative Untersuchung und durch ihre breitgefächerte Anlage ermöglicht die Studie differenzierte Aussagen über Lehr-Lern-Prozesse und den Erwerb sprachlicher Kompetenzen, die für Unterrichtspraxis, Lehrerbildung und Bildungspolitik gleichermaßen wichtig sind. (Klieme 2006: 1) Die Ankündigungen von Klieme, dem Leiter des DESI-Konsortiums, stehen im Widerspruch zu den von ihm selbst eingeräumten Einschränkungen, auf die ich im nächsten Abschnitt eingehe (vgl. 2.3). Diese repräsentative Schulleistungsstudie verfolgte - hauptsächlich durch TIMSS und PISA angeregt - zwei zentrale Anliegen: Zum einen die Modellierung und Messung von Kompetenzen, zum anderen die Aufklärung des Zusammenwirkens von unterrichtlichen, schulischen, individuellen und familiären Bedingungsfaktoren beim Kompetenzerwerb (vgl. Beck & Klieme 2007: 1f.; DESI-Konsortium 2008). Beck und Klieme räumen ein, dass die Messung von Lernergebnissen allein noch keine pädagogische Verbesserungsmaßnahme darstellt. Aus ihrer Sicht ist sie aber für eine realistische Einschätzung des Handlungsbedarfs unerlässlich. Daher sollen Modelle des Wissens und Könnens entwickelt, in konkrete Aufgaben umgesetzt, also operationalisiert, und empirisch überprüft werden. Trotz dieser Einschränkung stellen die Autoren folgende Behauptung auf: Nur auf der Basis solcher Modelle lassen sich professionelle Bildungsstandards formulieren, die Zielmarken für die Evaluation im Schulsystem vorgeben und zugleich den Beteiligten (insbesondere den Lehrkräften, aber auch Schülern, Eltern und der interessierten Öffentlichkeit) Orientierung geben. Einem modernen Bildungsverständnis folgend, spricht man in diesem Kontext von „Kompetenzmodellen“, in denen Grunddimensionen von Wissen und Können in zentralen Lernbereichen dargestellt und Kompetenzstufen bzw. -niveaus abgegrenzt werden. (Beck & Klieme 2007: 2) Es stellen sich Fragen: Wieso nur durch solche Modelle? Was verstehen die Experten des DESI-Konsortiums unter „professionellen Bildungsstandards“? (vgl. dazu Kap. 3 <?page no="33"?> 33 2.3 Probleme der Sprachdiagnostik und Kap. 4). Und was geschieht, wenn man dem eingeschränkten „modernen Bildungsverständnis“ mit seiner Fixierung auf „Grunddimensionen von Wissen und Können“ skeptisch gegenübersteht, weil man zusätzlich am humanitären und werteorientierten Auftrag von schulischer Bildung festhält? In einem Beitrag von Schröder, Harsch und Nold (unter Mitarbeit von Klieme und Helmke) (Schröder et al. 2006) wird explizit gesagt, dass DESI als eine Art Vorlaufprojekt für die Einführung von Bildungsstandards geplant war: Parallel zu DESI sollte die nationale Diskussion über Bildungsstandards geführt und eine europäische Erörterung zu Indikatoren des Sprachenlernens initiiert werden - daher wohl „international“ in der Benennung des Projekts. Der DESI-Studie ist es freilich ähnlich ergangen wie der Expertise zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards, die von Klieme und seinen Mitautoren im Auftrag des BMBF (Bundesministerium für Bildung und Forschung) erarbeitet wurde (vgl. Klieme et al. 2003). Beide Studien hatten eine Art Alibi-Funktion, denn ihre Ergebnisse konnten nur zum Teil bei den Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss berücksichtigt werden, die bekanntlich im Jahr 2003 von der KMK verabschiedet wurden. Die an DESI beteiligten Anglisten Schröder, Harsch und Nold, die sich in dem soeben erwähnten längeren Aufsatz ausschließlich mit den zentralen Befunden zu den sprachpraktischen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler im Bereich Englisch befassen, lassen ehrenwerterweise offen, „ob die Standards tatsächlich neue Konzepte für die Förderung wichtiger Kompetenzen in die Praxis bringen und zu mehr Qualität und Vergleichbarkeit über die Schul- und Ländergrenzen hinweg führen“ (Schröder et al. 2006: 2). Fazit: Da die DESI-Studie als Vorlaufprojekt für die Einführung von Bildungsstandards anzusehen ist, weist das Design dieses Projekts ähnliche Einschränkungen auf wie die PISA-Erhebungen selbst. Zahlreiche Reduktionen sind der Messbarkeit geschuldet, lassen aber gerade deshalb deutlich hervortreten, worauf es bei fremdsprachlicher Bildung ankommt (vgl. 2.3). Der Praxisbezug von DESI ist zusätzlich dadurch eingeschränkt, dass die Studie von der KMK in Auftrag gegeben wurde, um der Bildungspolitik passende Argumente zu liefern. Die legitimen Bedürfnisse der Politik sind aber ganz andere als die von Schule und Unterricht. 2.3 Probleme der Sprachdiagnostik In ihrer Einleitung zum 1. Band der DESI-Studie, in dem die Konzepte und deren Messung ausführlich beschrieben werden, gehen die beiden Herausgeber Beck und Klieme in der Einleitung auf Einschränkungen bzw. Vorentscheidungen ein. Unter der Zwischenüberschrift „Kontroverse Grundfragen der Sprachdiagnostik“ (vgl. Beck & Klieme 2007: 4ff.) erläutern sie die Übereinkünfte, die mit dem Forscherteam - ihm gehörten auch die oben genannten Fremdsprachendidaktikerinnen und -didaktiker an - getroffen wurden. 2.3.1 Kompetenz vs. Performanz Die beiden Autoren räumen ein, dass es sich bei dem Begriff der Kompetenz um eine „unscharfe Kategorie“ handelt. Auch in der DESI-Studie zeigt sich die Orientierung <?page no="34"?> 34 2. DESI - auf dem Weg zur Standardorientierung der Bildungspolitik an Theorien und Modellen der Ökonomie und des Managements. In vielen Berufen kann man recht genau definieren, worin sich die Kompetenzen einer bestimmten Berufsgruppe zeigen (sollten). Bei fremdsprachlichen Schülerleistungen ist dies erheblich schwieriger. Aus meiner Sicht ist daher die von Chomsky eingeführte Unterscheidung in Kompetenz und Performanz nach wie vor sinnvoll, wenn auch in modifizierter bzw. erweiterter Form. Performanz bezeichnet die tatsächliche Sprachproduktion und -rezeption; sie ist der Teil des Wissens und Könnens, den Schülerinnen und Schüler in einem Test und vor allem in realen Zusammenhängen der Sprachverwendung zeigen. Kompetenz hingegen ist der „Sprachschatz“, den Lernende aufgrund ihrer Erfahrungen mit der Fremdsprache im Verbund mit anderen Sprachen verinnerlicht bzw. im Gedächtnis verankert haben. Es geht also keineswegs nur um die idealtypische Beschreibung von sprachlichen Strukturen und ihnen zu Grunde liegenden generativen Prozessen, wie die Autoren ausführen (vgl. Beck & Klieme 2007: 4). Ihr eng an Chomsky angelehnter Kompetenzbegriff wurde nämlich mit Blick auf das Lernen und den Gebrauch von Fremdsprachen inzwischen deutlich erweitert. An der Unzulänglichkeit des in PISA, DESI und anderen derartigen Untersuchungen verwendeten Kompetenzbegriffs ändern weder die hilfreichen Umschreibungen von Weinert (1999) etwas, noch die Erläuterungen der beiden Autoren, die auf die Unterschiede zwischen Sprachdidaktik einerseits und Psychologie sowie Pädagogik andererseits hinweisen. Die beiden zuletzt genannten Disziplinen verstehen demnach unter Kompetenz den unterschiedlich ausgeprägten Grad der Beherrschung bestimmter Fertigkeiten und Fähigkeiten. Im Vordergrund steht [sic] hier die Beschreibung und Erklärung interindividueller Unterschiede, etwa unterschiedlicher Lernstände von Schülerinnen und Schüler einer Jahrgangsstufe. Mittels psychometrischer Modelle wird von der „Performanz“ beim Lösen von Testaufgaben auf die individuelle ‚Kompetenz‘ im Sinne eines latenten Fähigkeitskonstrukts geschlossen. Die beiden hier skizzierten Sichtweisen sind nicht immer konsistent. (Beck & Klieme 2007: 4). Der weiter oben angesprochene erweiterte Kompetenzbegriff macht eine Präzisierung der Ausführungen von Beck und Klieme nötig: Bei den DESI-Aufgaben kann allenfalls auf einen Ausschnitt des latenten Fähigkeitskonstrukts und nicht auf die gesamte der Performanz zugrundliegende Kompetenz geschlossen werden. Fazit: Die Unterscheidung zwischen Kompetenz und Performanz ist unter dem Blickwinkel fremdsprachlicher Bildung besonders wichtig, denn in der Performanz kommen beispielsweise Sprachbewusstheit, Inter-/ Transkulturalität sowie die ästhetisch-literarische Komponente nur eingeschränkt zum Tragen. 2.3.2 Produkt vs. Prozess Bei der Beschreibung sprachlicher Kompetenz ist die Fremdsprachendidaktik in erster Linie an Prozessen der Sprachverarbeitung sowie der Sprachverwendung interessiert. Um das Lehren und Lernen von Fremdsprachen zu fördern und zu verbessern, ist unser Blick vor allem auf die Lernprozesse gerichtet - zum einen auf kognitive, neuronal determinierte Vorgänge, zum anderen auf affektive und soziale Prozesse. <?page no="35"?> 35 2.3 Probleme der Sprachdiagnostik Tests selbst erfassen jedoch immer nur Produkte, und zwar: „gesprochene und geschriebene Worte oder Wortteile (Grapheme, Morpheme), Reaktionen auf sprachliche Stimuli in Form von Ankreuzungen in einer multiple choice-Aufgabe und anderer Aufgabenformate“ (Beck & Klieme 2007: 5). Deshalb haben Folgerungen aus den DESI- Ergebnissen im Sinne von Handlungsempfehlungen nur eingeschränkte Gültigkeit für den Fremdsprachenunterricht (vgl. die Ausführungen von Messner, 1.2). Um die Lösungsprozesse bei unterschiedlich gestalteten Aufgaben auch nur annähernd zu erfassen, sind psychologische Experimente sowie in-depth-Studien nötig. Darauf weisen die Autoren ausdrücklich hin (ibid.). Solche Untersuchungen hätten jedoch den Rahmen des DESI-Projekts gesprengt. Zudem ging es dem Konsortium nicht um Grundlagenforschung, sondern darum, Leistungsunterschiede, also Unterschiede in der Performanz, zwischen Schülerinnen und Schülern der 9. Jahrgangsstufe zu ermitteln. Fazit: Um fremdsprachliche Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler besonders zu fördern, müssen Aufgaben, bei denen die Erstellung eines Produkts im Vordergrund steht, die zugrundeliegenden Prozesse auf alle Fälle mitbedenken. 2.3.3 Aufgaben vs. Deskriptoren Eine weitere Einschränkung der DESI-Studie besteht darin, dass die Deskriptoren des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GeR, Europarat 2001) nur am Rande Berücksichtigung fanden. Das ist umso erstaunlicher, weil der GeR den Bezugsrahmen der KMK-Standards für die erste Fremdsprache Englisch/ Französisch für den Mittleren Schulabschluss sowie für den Hauptschulabschluss bildet (KMK 2004, 2005a). Es ist unbestritten, dass die Deskriptoren des GeR kein Messinstrument darstellen. Es werden zwar Niveaus, bekanntlich von A1 bis C2, beschrieben, d. h. die Deskriptoren werden skaliert, aber es werden dazu keine skalierten Testaufgaben angeboten. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn die DESI-Tests sich auf die Deskriptoren des GeR bezogen und entsprechende Aufgaben(formate) erarbeitet hätten. Für den Fremdsprachenunterricht fehlen Prüfungsaufgaben, die an den Deskriptoren des GeR orientiert sind; sie wären eine wichtige Hilfe für das Lehren und Lernen fremder Sprachen in unseren Schulen. Schröder et al. erläutern den Zusammenhang zwischen den Theorien der Fremdsprachendidaktik und dem GeR genauer: Gängige Theorien gehen davon aus, dass sprachliche Kompetenzen sowohl als generalisierte Deskriptoren für sprachliches Handeln zur Verfügung stehen als auch anforderungsspezifisch und aufgabenbezogen zu betrachten sind. So wird in der einschlägigen Literatur von einer allgemeinen sprachlichen Fähigkeit berichtet, die jedoch mit Profilen in den Verhaltensbereichen der gesprochenen und geschriebenen Sprache ausdifferenziert werden kann. Der Referenzrahmen kann auf diesem Hintergrund als ein extrem stark ausdifferenziertes Modell sprachlicher Kompetenzen verstanden werden. Zum einen unterscheidet er verschiedene linguistische, soziolinguistische und pragmatische Kompetenzdimensionen, zum anderen differenziert er ‚kommunikative Aktivitäten und Strategien‘ aus (Schröder et al. 2006; Hervorhebung der Autoren) Beck und Klieme begründen die Tatsache, dass das Konsortium nicht von den Deskriptoren des GeR ausgeht: Die Deskriptoren der DESI-Tests seien von Anfang an auf <?page no="36"?> 36 2. DESI - auf dem Weg zur Standardorientierung das jeweilige Aufgabenmaterial bezogen worden und lieferten folglich keine „allgemeine Struktur- oder gar Prozessbeschreibung sprachlicher Phänomene“ (Beck & Klieme 2007: 5). Es erfolgt also bei den DESI-Aufgaben keine Operationalisierung der Niveaus des GeR - mit einer Ausnahme: Bei der Testung der mündlichen Sprachproduktion bezieht sich DESI (angeblich) auf die Deskriptoren des GeR. Daher werden wir uns weiter unten mit dem Beispiel zur Messung der mündlichen Sprachproduktion beschäftigen (vgl. 2.5). Fazit: Die Anbindung von Prüfungsaufgaben an die Niveaus und Deskriptoren des GeR ist wünschenswert. Anfänge sind gemacht: durch den Europarat selbst (Council of Europe 2003; vgl. Takala 2007) und durch die Aufgaben des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungsbereich (IQB) in Berlin (vgl. Kap. 4) 2.3.4 Weitere Besonderheiten der DESI-Studie Die folgenden beiden Punkte betreffen nicht nur die DESI-Studie. Bei den meisten (summativen und formativen) Assessments, gleichgültig ob es sich um formelle Tests wie Vergleichsarbeiten oder informelle Leistungskontrollen wie Klassenarbeiten und Klausuren handelt, werden nur Teilaspekte überprüft. Eine weitgehende Ausdifferenzierung von Teilkompetenzen in unterschiedlichen Aufgaben zum Zweck exakterer Messung steht dabei der kombinierten Überprüfung von Teilkompetenzen gegenüber. Im Unterricht sollten daher von Zeit zu Zeit auch „ganzheitliche“ Prüfungsaufgaben zum Einsatz kommen. Selbst wenn man sich auf eine Teilkomponente, wie z. B. das Hörverstehen oder das Schreiben, beschränkt, sind weitere Abstriche oft unumgänglich. Es können meist nur Ausschnitte von Aufgabeninhalten berücksichtigt werden. Das wird mit der zur Verfügung stehenden Zeit, die den Lernenden für die Bearbeitung eingeräumt werden kann, begründet, vor allem aber mit der Messgenauigkeit und - im schulischen Kontext - mit der Bewertbarkeit. Nach Beck und Klieme würde die Reliabilität unter einer flexiblen Nutzung leiden. Andererseits macht das DESI-Konsortium begrüßenswerte Zugeständnisse. Obgleich nach Aussagen von Beck und Klieme gegen gebundene Formate wie Multiple-Choice-Tests nichts einzuwenden ist, werden bei DESI auch offene Formate, z. B. die Beantwortung offener Fragen und freie Schreibaufgaben, genutzt. Fazit: Auf stark differenzierende Tests zu jeweils nur einer Teilkompetenz sollten „ganzheitliche“ Aufgaben folgen, die reale Sprachverwendung anstreben, möglichst authentisch sind und einen deutlichen Lebensbezug aufweisen. Diese integrierenden Aufgaben und Aktivitäten nehmen im Fremdsprachenunterricht mit Fortgeschrittenen immer größeren Raum ein. 2.4 Ergebnisse der DESI-Studie Bekanntlich gab es keinen DESI-Schock. Die Schülerleistungen in den untersuchten Bereichen - Hörverstehen, Leseverstehen, Textrekonstruktion (C-Test), freies Schreiben, Sprachbewusstheit (vor allem Grammatikalitätsurteile) und mündliche Sprach- <?page no="37"?> 37 2.4 Ergebnisse der DESI-Studie produktion - werden im 2. Band der DESI-Studie von den Experten im Wesentlichen positiv beurteilt (vgl. DESI Konsortium 2008; Klieme 2006). Das gibt zu denken, weil im Rahmen der von Helmke und seinem Team durchgeführten Videostudie, an der 105 Englischklassen bzw. -kurse teilnahmen, hinreichend bekannte Mängel des Englischunterrichts zutage treten. Aus Datenschutzgründen sind nur wenige dieser Video- Beispiele einsehbar (zu Einzelheiten vgl. Helmke et al. 2007). Die folgenden drei Aspekte haben m. E. besondere Bedeutung für jeden Fremdsprachenunterricht, während andere, z. B. eine effiziente Klassenführung oder die Nutzung von Fehlern als Lerngelegenheit, hinreichend bekannt sein dürften (vgl. De Florio-Hansen 2014a, 2014b). Es geht um die Sprechanteile der Lehrkräfte im Vergleich zu den Lernenden, um die wait-time nach einer Lehrerfrage vor dem Aufrufen einer Schülerin oder eines Schülers und um die Verwendung des Englischen im Unterricht.  Die Ergebnisse der DESI-Videostudie beziffern die Sprechanteile der Lehrpersonen als doppelt so hoch wie diejenigen der Lernenden insgesamt. Hier verweist Klieme darauf, dass die mündliche Beteiligung der Schülerinnen und Schüler im Englischunterricht, in dem man höhere Sprechanteile der Lernenden erwarten könnte, fast ebenso niedrig ist wie im Mathematikunterricht. Hinter diesem Phänomen vermutet er „allgemeinpädagogische Traditionen“ (Klieme 2006: 6). Hier ergibt sich ein Widerspruch: Das DESI-Konsortium betont immer wieder die Wichtigkeit des Hörverstehens, bei dem die sprachlichen Äußerungen der Lehrperson Vorbildcharakter haben. Gleichwohl sind so hohe Sprechanteile von Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrern aus meiner Sicht nicht zu befürworten. Zum einen fehlt vielen Fremdsprachenlernenden, dadurch dass sie so selten zu Wort kommen, die Gelegenheit zur Übung der Aussprache. Zum anderen gibt es im Zeitalter digitaler Medien zahlreiche Modelle von native speakers, die in den Unterricht integriert werden können. Dadurch ließen sich die Sprechanteile von Lehrpersonen deutlich reduzieren.  Zur thinkbzw. wait-time, der Zeit nämlich, die Lehrpersonen ihren Schülerinnen und Schülern lassen, bevor sie eine Antwort erwarten (vgl. www.ericdigests.org/ 1995-1/ think.htm; letzter Zugriff Febr. 2015 sowie Lemov 2010: 111ff.), führt Klieme (2006: 6) aus: „Auf Fragen der Lehrkraft erfolgt in der Hälfte aller Fälle innerhalb von 3 Sekunden die Schülerantwort - wenn nicht, wird nur selten länger gewartet.“ Was geschieht in der anderen Hälfte der Fälle? Wiederholt die Lehrperson die Frage in der gleichen Form oder formuliert sie sie um? Wie häufig erfolgt der sogenannte cold call, d. h. das Aufrufen von Schülerinnen und Schülern, die sich nicht gemeldet haben? Werden mehr oder weniger systematisch alle Schülerinnen und Schüler von der Lehrperson zum Antworten aufgefordert, gleichgültig ob sie aufgezeigt haben oder nicht? Was geschieht, wenn Lernende gar keine oder aber eine falsche Antwort geben? (vgl. Hinweise bei Borich 7 2010: 118ff. und Lemov 2010: 177ff.).  „Erfreulich ist“, schreibt Klieme (ibid.), „dass die Lehreräußerungen zu 84 %, die Schüleräußerungen zu 76% auf Englisch erfolgen.“ Es ist zu befürchten, dass dieses Ergebnis nicht generalisiert werden kann. Das Archiv für pädagogische Kasuistik (ApaeK) der Universität Frankfurt am Main hält neben anderen aussagekräftigen Dokumenten ca. 1000 Transkripte von Unterricht (auf der Grundlage von Video- oder Tonaufnahmen) bereit; ca. 150 davon beziehen sich auf den Englischunterricht <?page no="38"?> 38 2. DESI - auf dem Weg zur Standardorientierung der letzten 15 Jahre an verschiedenen Schulformen und -stufen (www.apaek.unifankfurt.de; letzter Zugriff Mai 2015). Eine Durchsicht zeigt, dass die Zielsprache Englisch in den aufgezeichneten Unterrichtsstunden weit seltener verwendet wird als für die DESI-Video-Dokumente angegeben. Möglicherweise wurden die Lehrpersonen für die DESI-Studie besonders ausgewählt, oder sie haben sich freiwillig für die Teilnahme gemeldet. Übrigens wurden von jeder Lehrperson in derselben Klasse zwei Unterrichtsstunden, eine mit sprachlichen und eine mit interkulturellen Inhalten, in Bild und Ton festgehalten. Auch diese Unterteilung ist aus meiner Sicht fragwürdig. Bei allen verallgemeinernden Angaben, besonders bei numerischen, lohnt es sich, genauer hinzusehen: Der Befund, der sich aus einem Transkript der DESI-Videostudie (vgl. Helmke et al. 2007: 43-45) ergibt, ist eher deprimierend. Es handelt sich um einen Ausschnitt aus einer Englischstunde in der 9. Klasse einer Realschule. Es geht darum, was den Lernenden zu den USA oder the Americans in den Sinn kommt. Wenn die Äußerungen der Lernenden überhaupt verständlich und nicht auf Deutsch sind, beschränken sie sich auf die Nennung von Sehenswürdigkeiten: The Statue of Liberty (Zeile 51), Empire State Building (Z. 68). Die längste Äußerung eines Schülers umfasst 6 Worte: He wanted to become a filmstar (Z.157); die meisten kommen über drei Worte nicht hinaus. Gehen wir, wie oben angegeben, davon aus, dass die Lehrperson doppelt so hohe Sprechanteile hat wie die Schülerinnen und Schüler zusammen, so heißt das, dass die Lernenden in einem Unterrichtsgespräch von 30 Minuten ungefähr 10 Minuten zu Wort kommen. Davon erfolgen im Durchschnitt nach den Angaben von DESI 76 % auf Englisch, d. h. 7,6 Minuten für alle Schülerinnen und Schüler insgesamt. Es sei dahingestellt, ob das erfreulich ist. Mit Blick auf Mehrsprachigkeit ist ein weiteres Ergebnis der gesamten DESI-Studie bedenkenswert, ohne dass wir es nachprüfen können. Es geht darum, ob und wie sich das Aufwachsen mit nicht deutscher Erstsprache auf den Erwerb von Fremdsprachen auswirkt. Schülerinnen und Schülern, die Deutsch als Zweitbzw. als Fremdsprache gelernt haben, fällt laut DESI das Erlernen der Fremdsprache Englisch vergleichsweise leicht. Es ist mit einem Leistungsvorsprung von mindestens einem halben Schuljahr im Vergleich zu einsprachig aufgewachsenen Lernenden verbunden. Ebenfalls positive Lernresultate erzielen Schülerinnen und Schüler, die aus Migrationsfamilien mit ausschließlich nicht deutschem Sprachhintergrund stammen (vgl. Klieme 2006: 5). Entgegen anderer Ankündigungen wurde die DESI-Studie hauptsächlich durchgeführt, um die PISA-Ergebnisse durch eine nationale Untersuchung zu den sprachlichen Leistungen von Schülerinnen und Schülern der 9. Jahrgangsstufe zu ergänzen. Der Praxisbezug, d. h. die Verbesserung des Unterrichts, stand nicht im Vordergrund bzw. war nicht das Ziel des DESI-Konsortiums. <?page no="39"?> 39 2.5 Beispiel: Messung der mündlichen Sprachproduktion Fazit: Idealerweise sollten wissenschaftliche Untersuchungen, insbesondere so aufwendige Studien wie DESI, einen deutlichen Bezug zur Unterrichtspraxis aufweisen. In ihren Ausführungen zu den Verbindungen zwischen Forschern und Lehrpersonen schreiben Shavelson und Towne: In such a field-based work, collaborations with practitioners can bring a form of intellectual capital to the research that cannot be obtained in isolation of practice. Ideally, relationships generate a bidirectional flow to the work, with research informing practice while craft knowledge and practical wisdom enrich the research. (Shavelson & Towne 2002: 95) 2.5 Beispiel: Messung der mündlichen Sprachproduktion Wie oben ausgeführt, wird die mündliche Sprachproduktion in der DESi-Studie durch einen Test gemessen, der sich nach den Aussagen der DESI-Experten auf die Deskriptoren des GeR beziehen lässt. 2.5.1 Niveaus und Deskriptoren Warum beschäftigen wir uns mit etwas, was unsere Unterrichtspraxis auf den ersten Blick nicht voranbringt? Es sei noch einmal daran erinnert: PISA und DESI haben uns Bildungsstandards für den Fremdsprachenunterricht mit einer bestimmten Ausrichtung beschert. Nur wenn wir eine Vorstellung davon haben, was „hinter den Kulissen“ abgelaufen ist, sind wir in der Lage, Nutzen und Nachteile der bildungspolitischen Vorgaben für unseren Unterricht einschätzen zu können. Erst dann kann eine Lehrperson aufgrund ihrer Persönlichkeit entscheiden, wie sie mit Standards und Kompetenzorientierung in ihrem speziellen Lernkontext umgeht. Sie kann für sich bestimmen, welche Unterrichtsmaßnahmen mit Blick auf ihre Schülerinnen und Schüler nötig und wünschenswert sind, damit möglichst alle Lernenden die Ziele des Fremdsprachenunterrichts, also auch fremdsprachliche Bildung, erreichen. Es ist ein gängiges Klischee, dass das Lehren und Lernen von Fremdsprachen in den englischsprachigen Ländern, allen voran in den USA, eine untergeordnete Rolle spielt. Das ist richtig, wenn man den Prozentsatz der Fremdsprachenlernenden in den englischsprachigen Ländern in Übersee betrachtet. Da aber beispielsweise in den USA die Verständigung mit Anderssprachigen nicht im Vordergrund steht, verfolgen viele Amerikanerinnen und Amerikaner Bildungsziele mit dem Erlernen einer Fremdsprache. Auf meine Frage, warum sie denn Deutsch lernten, antworteten mir US-amerikanische Freunde und Bekannte nicht selten: „understanding Kant“ oder „reading the original texts of German literature“. Die Meinung, dass es in den englischsprachigen Ländern, insbesondere den USA, keine einschlägige Forschung zum Lehren und Lernen von Fremdsprachen gibt, gründet sich auf ein Vorurteil. Wer weiß schon, dass die Beschreibungen der Niveaus und Can-Do statements des GeR auf viel älteren US-amerikanischen Deskriptoren fremdsprachlicher Performanz aufbauen? Bereits 1956 entwickelte das FSI (Foreign Service Institute) eine ausgefeilte Kompetenzskala zur Messung der fremdsprachlichen Performanz. Der Europarat beruft sich im Anhang bei der Nennung der Skalen, auf die sich der GeR bei den vier Fertigkeiten stützt, ausdrücklich auf die Vorgaben des FSI (Europarat 2001: 217). Besondere Bedeutung hat in unserem Zusammenhang die <?page no="40"?> 40 2. DESI - auf dem Weg zur Standardorientierung Skala zur Messung der mündlichen Sprachproduktion, das OPI (Oral Proficiency Interview). Seit den 1950er Jahren ist das OPI mehrmals gründlich überarbeitet worden (zuletzt 1999 vor der DESI-Studie), und zwar vom ACTFL, dem American Council on the Teaching of Foreign Languages. In seinen Proficiency Guidelines unterscheidet der ACTFL zehn Niveaustufen (vgl. www.actfl.org; letzter Zugriff Mai 2015), die mit den neun Stufen des GeR (A1, A2, A2+, B1, B1+, B2, B2+, C1 und C2) vergleichbar sind (zu Einzelheiten vgl. Tschirner 2008). Da es in unserem Zusammenhang um die mündliche Sprachkompetenz geht, stelle ich im Folgenden einen Auszug aus beiden Skalen zu diesem Bereich gegenüber, und zwar die Deskriptoren zu A2, B1 und B2 (vgl. CEFR 2001: Common Reference Levels, 37-38). GeR: A2 Uses basic sentence patterns with memorised phrases to communicate limited information in simple everyday situations. Can make him/ herself understood in very short utterances, even though pauses, false starts and reformulation are very evident. Can answer questions and respond to simple statements. ACTFL: IL [Intermediate Low] Able to handle successfully a limited number of uncomplicated communicative tasks by creating with the language in straightforward social situations. Able to express personal meaning by combining and recombining into short sentences what they know. Speech is characterized by frequent pauses, ineffective reformulations and self-corrections. GeR: B1 Has enough language to get by, to express him/ herself with some hesitation and circumlocution on topics such as family, hobbies and interests, work, travel and current events. Can link a series of shorter discrete elements into a connected linear sequence of points. ACTF: IH [Intermediate High] Able to handle successfully many uncomplicated tasks and social situations requiring an exchange of basic information related to work, school, recreation, particular interests and areas of competence. Able to narrate and describe using connected discourse of paragraph length with some consistency. GeR: B2 Able to give clear descriptions and express viewpoints on most general topics using some complex sentence forms to do so. Can use a limited number of cohesive devices to link utterances into clear, coherent discourse. Shows a relatively high degree of grammatical control. Does not make errors that cause misunderstanding. ACTFL: AM [Advanced Mid)] Able to handle with ease and confidence a large number of communicative tasks. Able to narrate and describe in all major time frames by providing a full account, with good control of aspect. Speech is marked by substantial flow with much accuracy, clarity and precision. Intended message is conveyed without misinterpretation. (Tschirner 2008: 206f.) <?page no="41"?> 41 2.5 Beispiel: Messung der mündlichen Sprachproduktion Obgleich die Anforderungen des ACTFL insbesondere bei B2/ AM etwas höher sind als die des GeR, wird deutlich, dass letzterer sich auf die Oral Proficiency Guidelines der US-amerikanischen Organisation stützt. Welchen Gewinn bringt die obige Beschreibung der Deskriptoren für unseren Fremdsprachenunterricht? Bisher wird die mündliche Sprachproduktion viel zu selten überprüft. Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrer haben zwar Bewertungen für das Mündliche im Kopf, die sie in Noten oder Punkte umsetzen. Dabei geht es aber vor allem um die Beteiligung am Unterricht. Nur selten gibt es Gelegenheit, die mündliche Sprachproduktion einzelner Lernender im Zusammenhang zu überprüfen. Solche Testungen sind zeitaufwendig und nicht leicht zu bewerten. Daher spielt die Überprüfung der mündlichen Performanz auch in den meisten Vergleichsarbeiten und offiziellen Testungen eine untergeordnete Rolle. Trotz der Schwierigkeiten sollten Sie in Ihren Lerngruppen von Zeit zu Zeit die mündliche Sprachproduktion überprüfen, z. B. indem Sie zwei Lernende eines vergleichbaren Niveaus einen Dialog über ihre persönlichen Lebensumstände im weitesten Sinn führen lassen und aufzeichnen (vgl. die Überprüfungen des Cambridge Certificate). Zusammen mit der Lerngruppe können Sie dann anhand der obigen Deskriptoren einschätzen, ob der anvisierte proficiency level von den beiden getesteten Schülerinnen und Schülern annähernd erreicht wurde. Fazit: Die Messung der mündlichen Sprachproduktion ist auch deshalb nicht leicht zu bewerkstelligen, weil die Niveaus und Deskriptoren des GeR (sowie auch des ACTFL) einen relativ großen Ermessensspielraum lassen. Dennoch sollte die oral proficiency im Fremdsprachenunterricht in regelmäßigen Abständen gemessen und bewertet werden. 2.5.2 Ein kommerzieller Test zur Überprüfung der mündlichen Sprachproduktion Während das DESI-Konsortium für die Überprüfung verschiedener Aspekte der Performanz in der Fremdsprache Englisch selbsterstellte Tests und Aufgabenformate verwendete, stützten sich die Experten bei der Messung der mündlichen Sprachproduktion auf einen kommerziellen Test, dessen Merkmale Tschirner folgendermaßen beschreibt: Der PhonePass Set-10-Test ist ein kommerzieller Test der Ordinate Corporation in Menlo Park, Kalifornien. Er verwendet Spracherkennungstechnologie und ist vollkommen automatisiert, nicht nur der Test selbst, sondern auch die Bewertung verläuft vollautomatisch. Er wird über das Telefon gegeben und dauert ca. 10 Minuten. Es handelt sich bei diesem Test in erster Linie um einen Aussprachetest, obwohl die Hersteller behaupten, dass er „facility in spoken English“ evaluiert, weil es hochautomatisierter Hör- und Sprechroutinen bedürfe, um gut abzuschneiden. Der PhonePass Set-10 besteht aus fünf Teilen, wovon nur die ersten vier bewertet werden (Ordinate 2007). (Tschirner 2008: 195) Da Teil 5 - die Beantwortung von Fragen - auch bei der DESI-Studie nicht bewertet wurde, fasse ich im Folgenden nur die ersten 4 Teile kurz zusammen. Teil 1 ist in der Tat ein Aussprachetest: Die Testteilnehmer haben zwölf Sätze in drei Vierergruppen vor sich liegen, von denen acht per Zufallsgenerator ausgewählt werden. Die Teilnehmer müssen diese Sätze vorlesen. <?page no="42"?> 42 2. DESI - auf dem Weg zur Standardorientierung In Teil 2 sprechen unterschiedliche US-amerikanische Sprecher sechzehn Äußerungen - sie umfassen von 3 bis 15 Wörtern - vor, welche die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nachsprechen sollen. Diesmal gibt es keine schriftlichen Vorgaben. In Teil 3 soll der rezeptive und der produktive Wortschatz überprüft werden. Die Testteilnehmer müssen kurze, inhaltlich einfache Fragen beantworten. Die 24 Fragen des Tests (z.B. What season comes before summer? ) wurden von den DESI-Experten auf 16 reduziert. Teil 4 besteht aus zehn kürzeren Sätzen, deren ungeordnete Einzelteile in die richtige Reihenfolge zu bringen sind, also scrambled bzw. jumbled sentences. Die ungeordneten Satzteile werden nicht schriftlich vorgegeben, so dass der Überprüfung des Hörverstehens, ebenso wie in Teil 2, mindestens ebenso große Bedeutung zukommt wie dem Sprechen . Bei der Erstellung der Aufgaben ist Ordinate folgendermaßen vorgegangen: Es wurden über 500 Gespräche zwischen amerikanischen native speakers aufgezeichnet. Wortschatz und grammatische Strukturen wurden empirisch untersucht; zudem wurde auf eine ausgewogene Sprecherauswahl geachtet (Gender, Regiolekte etc.). Die Testteile wurden von Briten und Australiern kontrolliert, um Amerikanismen beim Wortschatz zu vermeiden. Einzelheiten zum Test (einschließlich der bei kommerziellen Unternehmen dieser Art üblichen Werbung) finden Sie im Internet in verschiedenen Quellen, wenn Sie den Namen des Tests, nämlich PhonePass Set-10, in eine Suchmaschine eingeben. Die Validierung des Tests wird unter www.7act.net/ 7ACT_files/ set10.pdf (letzter Zugriff März 2015) ausführlich darstellt. Die Auswertung des Tests erfolgt automatisiert nach einem Algorithmus, den Ordinate geheim hält. Der PhonePass Set-10 Test - er ist inzwischen in Versant for English umbenannt worden - sagt recht wenig über die Erreichung der im GeR und dem OPI des ACTFL vorgegebenen Deskriptoren (vgl. 2.3 oben) aus, obgleich DESI-Experten das behaupten. Nicht nur das, sondern vor allem die Ergebnisse, welche die DESI-Experten aus dem Test ableiten, sind unglaubwürdig: Die gemessene mündliche Sprechfähigkeit im Englischen kann unmittelbar auf den Europäischen Referenzrahmen und die Bildungsstandards bezogen werden: Zwei Drittel der Schülerinnen und Schüler in Deutschland erreichen am Ende der neunten Jahrgangsstufe das Niveau A2 des Europäischen Referenzrahmens, das die Kultusminister als Erwartungshorizont für den Hauptschulabschluss benannt haben. Sie können sich in einfachen Wendungen und Sätzen im Alltag verständlich machen. Ein Drittel erreicht schon das Niveau B1, das für den mittleren Schulabschluss am Ende der zehnten Jahrgangsstufe angestrebt wird. (Klieme 2006: 2) Solche Aussagen - die Bildungspolitiker waren sicher mit den Ergebnissen der DESI- Studie zufrieden - wecken falsche Erwartungen und führen zu ungerechtfertigten Gefühlen der Unzulänglichkeit bei Lehrpersonen, besonders bei solchen, die Englisch in Hauptschulklassen unterrichten. Zudem entsteht der Verdacht, dass auch die Feststellung des Leistungsstands in anderen fremdsprachlichen Bereichen nicht der Realität an unseren Schulen entspricht. <?page no="43"?> 43 Anregungen zum Nachdenken, Diskutieren und Gestalten Fazit: Kommerzielle Tests zur Überprüfung der Sprachproduktion, insbesondere der oral proficiency, sollten nur nach sorgfältiger Prüfung der Aufgabenformate eingesetzt werden. Oft sind sie nicht valide, d. h. sie messen nicht, was sie zu messen vorgeben. Da die Algorithmen, nach denen die Leistungen der Testteilnehmerinnen und -teilnehmer ausgewertet werden, zudem der Geheimhaltung unterliegen, bleiben in den meisten Fällen viele Unsicherheiten bezüglich des tatsächlich erreichten Lernstands. 2.6 Folgerungen für den Fremdsprachenunterricht Viele der unter 1.7 angesprochenen Einschränkungen der PISA-Untersuchungen gelten in leicht veränderter Form auch für die DESI-Studie. Beide Erhebungen bieten keine direkten Handlungsempfehlungen für unseren Fremdsprachenunterricht, obgleich dies bei DESI eher zu erwarten gewesen wäre als bei PISA. Beide Erhebungen gestatten aber - Zeit und Geduld vorausgesetzt - Einblicke in die Schwierigkeiten bei der Messung schulischer Leistungen, also auch der Überprüfung fremdsprachlicher Performanz. Diese berechtigte Kritik sollte uns zum Nachdenken darüber veranlassen, inwieweit informelle Tests bzw. Kontrollen des Lernstands aussagekräftiger sind. Was messen unsere Klassenarbeiten und Klausuren tatsächlich? Orientieren wir uns zumindest im Groben an den Deskriptoren des GeR? Welche Folgerungen für die Verbesserung selbsterstellter Lernstandserhebungen können wir aus den Ergebnissen offizieller Untersuchungen wie PISA oder DESI ableiten? Aus meiner Sicht sollte Kritik an den Experten, in diesem Fall den verschiedenen Konsortien, nicht dazu führen, deren Untersuchungen einfach zu ignorieren. Vielmehr müssen wir uns bemühen, unsere eigenen Testungen so zu gestalten, dass unsere Schülerinnen und Schüler von uns (und nicht von einer Testagentur) erfahren, welche Lernfortschritte sie mit Blick auf die möglichst gemeinsam gesteckten Ziele gemacht haben. Dabei können wir offizielle Tests angemessen nutzen (vgl. Kap 10). Und wenn unsere Fremdsprachenlernenden von außen eine zusätzliche Bestätigung erhalten, dass wir alle auf einem guten Weg sind, umso besser! Anregungen zum Nachdenken, Diskutieren und Gestalten 1. Welches der oben kurz skizzierten Probleme der Sprachdiagnostik (vgl. 2.3) erscheint Ihnen am schwerwiegendsten? Welche der genannten Schwierigkeiten kann man eher tolerieren? Begründen Sie Ihre Wahl und besprechen Sie die Ergebnisse Ihrer Überlegungen im Kollegenkreis. 2. In der DESI-Studie wird das Leseverstehen dadurch getestet, dass zu den vorgelegten authentischen und didaktisierten Texten Fragen schriftlich zu beantworten sind. Welche Aufgaben würden Sie selbst wählen, wenn Sie in einer Klassenarbeit in der Jahrgangsstufe 9 Ihrer Schulform das Leseverstehen überprüfen wollten? Wählen Sie - am besten zusammen mit Fachkolleginnen und -kollegen - einen geeigneten (möglichst authentischen) Text aus und gestalten Sie geeignete und motivierende Aufgabenformate. <?page no="44"?> 44 2. DESI - auf dem Weg zur Standardorientierung 3. Die Experten des DESI-Konsortiums haben für die Überprüfung der Sprachbewusstheit Grammatikalitätsurteile gewählt; d. h. die Lernenden sollten grammatikalische Fehler in englischsprachigen Sätzen finden und verbessern. Eine weitere Testaufgabe bestand darin, situativ angemessene sprachliche Reaktionen zu formulieren. Was verstehen Sie selbst unter Sprachbewusstheit? Wie würden Sie sie bei Ihren Schülerinnen und Schülern messen? Diskutieren Sie Ihre Ergebnisse mit Kolleginnen und Kollegen. 4. Was hätte die DESI-Studie mit welchen Methoden testen sollen, damit Sie persönlich die Ergebnisse für Ihren Unterricht hätten nutzen können? <?page no="45"?> 3. Standards und Bildung - zwei ungleiche Partner 3.1 Ein Interview mit vielen Fragezeichen Anton Pohl, der Bundesvorsitzende eines Lehrerverbands, ist bei Journalisten sehr beliebt. Zum einen zeichnet sich er sich durch eine unverstellte Sicht auf bildungspolitische Maßnahmen aus. Zum anderen hat er keinerlei Scheu, seine Meinung unverblümt zu äußern. Für den Nachmittag hat er Silke Ranik, der für Bildungsfragen zuständigen Journalistin einer überregionalen Zeitung, ein Interview zugesagt. Ranik: Nochmals vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen. Vermutlich geht es im Augenblick bei Ihnen hoch her. Pohl: Das können Sie glauben. Seit durchgesickert ist, dass die KMK die Leistungen der Schülerinnen und Schüler bundesweit einheitlich für das Ende der Sek. I festlegen will, kann ich mich vor Anfragen nicht retten. Ranik: Und was für Anfragen sind das? Pohl: Viele wollen wissen, was passiert, wenn ihre Schülerinnen und Schüler die geforderten Standards nicht erreichen. Und vor allem: Von wem und wie überprüft wird, ob die Lernenden es tatsächlich bringen. Ranik: Wissen Sie schon etwas darüber? Pohl: Nicht mehr als in den Presseverlautbarungen steht. Eins ist für mich aber klar: Wenn man festlegt, was erreicht werden soll, muss man die Ergebnisse auch kontrollieren. Sonst würden die meisten weiter so vor sich hin werkeln, und alles bliebe beim Alten. Ranik: Was sollte sich Ihrer Meinung nach denn verändern? Pohl: Es wäre sicher kein Fehler zu schauen, was am Ende herauskommt. Was haben die Schülerinnen und Schüler tatsächlich gelernt? Ranik: Sie meinen den Output? Pohl: Ich würde es lieber Outcome nennen. Output klingt mir zu sehr nach Industrieproduktion: Das gebe ich rein, und das kommt raus. Ranik: Glauben Sie, dass Standards den Outcome, wie Sie es nennen, verbessern können? Pohl: Können schon, aber nicht werden. Solche Vorgaben müssen sorgfältig geplant und überprüft werden, damit sie überhaupt den Weg in die Praxis finden. Reformvorhaben dieser Art dauern im günstigsten Fall ein paar Jahre. Ranik: Gibt es noch andere Bedenken? Pohl: Aber klar doch! Viele Kolleginnen und Kollegen sehen das Abendland in Gefahr, weil solche messbaren Standards zwangsläufig nur einen geringen Teil dessen berücksichtigen können, was wir unter schulischer Bildung verstehen. Ranik: Ist es denn nicht möglich, Bildungsziele über die Standards hinaus weiter zu verfolgen? Pohl: Möglich ist das schon, aber es wird nur in Ausnahmefällen passieren. Die meisten werden sehen, wie sie ihre Lerngruppen auf die Tests vorbereiten. <?page no="46"?> 46 3. Standards und Bildung - zwei ungleiche Partner Und das war’s dann. Alle wollen doch gut dastehen: vor dem Kollegium, der Schulleitung und nicht zuletzt vor den Eltern. Ranik: Sehen Sie irgendeine Lösung? Pohl: Das wäre verfrüht. Solange wir nicht wissen, ob diese sogenannten Bildungsstandards reine Leistungsvorgaben oder ob sie mit verbindlichen Inhalten daherkommen, kann man nur spekulieren. Ich hoffe mal, dass es keine Lehrstandards sind. Ranik: Wieso? Dann wüssten die Lehrkräfte doch, was sie zu tun hätten, statt sich Gedanken machen zu müssen, wie sie die Standards erreichen können. Pohl: Wenn man direkt in den Lehr-Lern-Prozess eingreift, erreicht man das Gegenteil. Das hat man in den USA gesehen. Der Beruf des Lehrers wird entwertet; das sind dann nur noch Marionetten, die nach Vorschrift handeln. Einmal davon abgesehen, dass dann noch weniger junge Menschen den Lehrerberuf ergreifen würden. Also, warten wir’s ab! Ranik: Vielen Dank für das Gespräch. 3.2 Erfahrungen mit Erziehungsstandards Wie hinreichend bekannt (vgl. auch Kap. 1), hat die Bildungspolitik, allen voran die KMK, auf das ungünstige Abschneiden der deutschen Schülerinnen und Schüler beim ersten PISA-Test im Jahr 2000 (vgl. PISA-Konsortium 2001) mit der Einführung von Bildungsstandards reagiert. Genauer gesagt, wurden Maßnahmen zur ‚Unterrichtsentwicklung‘ und ‚Qualitätssicherung‘, die bereits seit 1995 vorlagen, überarbeitet und veröffentlicht (zu Einzelheiten vgl. Kap. 4). Diese uns so geläufigen Begriffe der Unterrichtsentwicklung und Qualitätssicherung stammen aus dem Bereich der Wirtschaft, nur dass dort weniger beschönigend von Produkt-Verbesserung und Qualitätskontrolle die Rede ist. Wenn wir aus Sicht der Bildungspolitiker die Qualität nur zu sichern brauchen, ist die Weiterentwicklung des Unterrichts nicht vordringlich. Ganz offensichtlich geschah die Vorgabe von Standards im guten Glauben, die Festlegung von messbaren Leistungen, die die Schülerinnen und Schüler in den Kernfächern am Ende der Pflichtschulzeit (Hauptschulabschluss) sowie beim Mittleren Schulabschluss im Durchschnitt erbringen sollen, werde zu besseren Lernergebnissen führen. Vermutlich gibt es immer noch Bildungspolitiker, die meinen, die Verbesserung der Leistungen unserer Schülerinnen und Schüler bei den neueren PISA-Erhebungen hinge unmittelbar mit der Einführung der KMK-Standards zusammen. Belastbare Beweise für diese Ansicht stehen freilich aus (vgl. Kap. 4; vgl. auch De Florio- Hansen 2014a: 168ff.; De Florio-Hansen 2014b: 155ff.). Dabei hat u. a. Helmke schon frühzeitig darauf hingewiesen, dass Aussagen über die Güte von Schülerleistungen und die Angemessenheit bestimmter Unterrichtsverfahren nur mit Blick auf spezifische Ziele getroffen werden können (vgl. Helmke 2009: 35). Seiner Überzeugung nach - und sie wird in der Regel von Bildungsforschern geteilt - umfassen Standards keineswegs die Bildungsziele eines Unterrichtsfachs, sondern beziehen sich lediglich auf Kernbereiche fachlicher Kompetenzen. Der Gegenstand von Vergleichsarbeiten schränkt den Radius noch weiter ein, denn hier geht es nur um den schriftlich und ökonomisch testbaren Teil der Bildungsstandards (vgl. ibid: 36). Außerdem hätte ein Blick auf andere Länder gezeigt, dass die Reglementierung des Schul- und Erziehungswesens durch Standards keinen direkt nachweisbaren Ein- <?page no="47"?> 47 3.2 Erfahrungen mit Erziehungsstandards fluss auf das Abschneiden bei den PISA-Erhebungen hat. Trotz Standards mussten Finnland und Schweden ihre bevorzugten Plätze in den PISA-Ranglisten räumen, während Länder ohne Standards wie z. B. Neuseeland in den ersten Rankings vordere Plätze belegten, inzwischen aber hinter Deutschland zurückgefallen sind. Dabei ist gerade Neuseeland ein bedenkenswerter ‚Fall‘: Dort wurden Standards erst ab 2009 eingeführt; seitdem haben die neuseeländischen Schülerinnen und Schüler bei den PISA-Erhebungen zunehmend schlechter abgeschnitten. Aus der Sicht zahlreicher Experten ist es nur höchst eingeschränkt möglich, vom Vorhandensein von Standards auf das Abschneiden bei internationalen Vergleichsstudien zu schließen (vgl. Kap. 4). Das gilt insbesondere für Output-Standards, wie die KMK sie vorgegeben hat. Dass Standards - neben anderen bildungspolitischen Maßnahmen - zu besseren Lernergebnissen der Schülerinnen und Schüler beitragen können, soll damit nicht abgestritten werden. Allein schon durch die Tatsache, dass die Verantwortlichen, insbesondere die Lehrpersonen, daran erinnert werden, stärker auf Ergebnis und Wirkung ihrer Lehrbemühungen zu achten, ist m. E. positiv zu werten. Eine mögliche oder tatsächliche Verbesserung der Leistungen durch Standards hängt vor allem von drei Faktoren ab: Zunächst einmal kommt es auf die Art und die Qualität der Standards selbst an. Auf welchen Bereich bzw. auf welche Bereiche von Schule und Unterricht fokussieren die Standards? Ein weiterer Aspekt ist die notwendige Adaption der jeweiligen Standards an die einzelnen Ebenen des Schul- und Bildungswesens. Wie müssen Standards umformuliert und ‚rekontextualisiert‘ werden, damit sie auch im Unterricht in der Interaktion von Lehrpersonen und Lernenden positive Wirkung entfalten? Am wichtigsten aber sind geeignete Maßnahmen zur Einführung in die Unterrichtspraxis. Welche Ressourcen stellt die Bildungspolitik zur Verfügung, damit Lehrpersonen nicht nur eine erhebliche Mehrbelastung konstatieren? Während es zu den ersten beiden Punkten einigermaßen aussagekräftige Untersuchungen gibt, ist die Implementation bildungspolitischer Vorgaben weitgehend unerforscht und erfolgt nach der Methode von Versuch und Irrtum. Die wechselvolle Geschichte der US-amerikanischen Standardbewegung macht deutlich, dass Standards - so gut sie auch sein mögen - nicht per se bessere Leistungen der Schülerinnen und Schüler bewirken (vgl. Ravitch 1995; 2010; Ripley 2013). Obgleich zahlreiche ausgewiesene Experten, allen voran die verschiedensten von den Bundesstaaten sowie der amerikanischen Regierung ins Leben gerufenen Institutionen und Kommissionen, in den letzten dreißig Jahren immer wieder neue, ausgefeilte Standards für die einzelnen Fächer vorgelegt haben, konnten sich die US-amerikanischen Schülerinnen und Schüler hinsichtlich des PISA-Rankings nicht verbessern. Das hat aber nur wenig mit der Qualität der Standards zu tun, wie wir gleich sehen werden. Vielmehr ist es in erster Linie auf die Einstellung zu Schule und Unterricht in den USA und anderen anglophonen Ländern, wie z. B. Australien, zurückzuführen. Akademische Inhalte spielen in diesen Ländern eine geringere Rolle als beispielsweise im deutschsprachigen Raum. Die sogenannten electives, die in High Schools in großer Zahl angeboten werden (können), haben mit den bei uns üblichen Wahlfächern wenig zu tun. Die Auflistungen von Fächern, die es an den meisten High Schools gibt, unterstreichen die besondere Rolle sportlicher Betätigungen, mit denen eine Schülerin oder ein Schüler mehr für das Ansehen der Schule tun kann als durch gute Leistungen in Mathematik oder den Naturwissenschaften. Hinzu kommt die große Bedeutung des fun factor: Kinder und Jugendliche sollen Spaß haben, d. h. es soll ihren Bedürfnissen und Wünschen so weit wie möglich entsprochen werden. Das kann bedeuten, dass sie <?page no="48"?> 48 3. Standards und Bildung - zwei ungleiche Partner zwar eine Windmühle (nach)gebaut haben, aber nach fünf Lernjahren Deutsch immer noch keinen zusammenhängenden Satz artikulieren können. Hinzu kommen weitere politische bzw. gesellschaftspolitische Gründe. Es ist sehr viel schwieriger einen Konsens von 50 Bundesstaaten herbeizuführen, als die Zustimmung von 16 Bundesländern zu erreichen. Politiker über die Parteigrenzen hinweg verteidigen die Bildungshoheit der Bundesstaaten gegenüber dem federal government viel vehementer als die deutschen Bundesländer. Insbesondere aber unterscheiden sich die Vorstellungen von Bildung und Erziehung bei Republikanern von denen der Anhänger der Demokraten viel stärker als bei Anhängern verschiedener politischer Richtungen im deutschsprachigen Raum: So wird von Republikanern critical thinking als Ziel des Unterrichts in verschiedenen Fächern bisweilen mit dem Hinweis abgelehnt, es untergrabe die elterliche Autorität. Folglich ist es nicht verwunderlich, dass es nur im Fach Mathematik von Anfang an einen breiteren Konsens bezüglich der vom NCTM (National Council of Teachers of Mathematics) seit 2000 vorgelegten und mehrmals überarbeiteten Principles and Standards for School Mathematics gab. Von Ronald Reagan bis Barack Obama gab es immer wieder neue Reforminitiativen (oft unter Bereitstellung erheblicher finanzieller Mittel), durch die insbesondere die Kinder und Jugendlichen aus ärmeren Schichten gefördert werden sollten. Von Anfang an war klar, dass es mit performance standards, also der Festlegung des Outputs im Sinne der KMK-Standards, nicht getan ist. Es wurden in den 1980er und 1990er Jahren content bzw. curriculum standards für fast alle Fächer, also nicht nur für die Kernfächer, erarbeitet. Sie scheiterten am politischen Dissens bzw. daran, dass viele Bundesstaaten, wenn überhaupt, auf der Grundlage der Regierungsvorgaben eigene Standards vorlegten, die mit den weltanschaulichen Richtungen der Bevölkerungsmehrheit im jeweiligen Bundesstaat in Einklang zu bringen waren. Hinzukommen müssen opportunity-to-learn standards, d. h. für die Einführung der Standards sollten die entsprechenden Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Das würde bedeuten, dass Schulen mit Lernenden aus benachteiligten Schichten besser ausgestattet werden müssten. Das aber ist in vielen Bundesstaaten, wo die weiße Bevölkerungsminderheit um ihren Einfluss fürchtet, nicht durchzusetzen. Dennoch ist man in den USA der Standardisierung des Schulwesens näher gekommen: Im Jahre 2009 wurden die sogenannten Common Core Standards eingeführt. Ein Zusammenschluss aus NGA (National Governors Association) und CCSSO (Council of Chief State School Officers) - wenn nicht jeder Vergleich hinken würde, könnte man an die KMK denken - hat die genannten Standards für Mathematics und English Language Arts, den muttersprachlichen Englischunterricht, erarbeitet und veröffentlicht. Das geschah hauptsächlich in der Absicht, das Leistungsniveau am Ende der High School deutlich anzuheben. Bis heute ist der High School-Abschluss für den Zugang zum College bzw. zur Universität ohne besondere Auswirkungen. Die Hochschulen selbst bestimmen durch eigene Tests und sonstige Auswahlverfahren, wer wo studieren darf. Im Jahre 2010 hatten ca. 40 Bundesstaaten die Common Core Standards ganz oder zumindest teilweise übernommen. Auch hier gab es wieder die übliche Kritik, vor allem auch daran, dass viele wichtige Fächer durch die Fixierung auf numeracy and literacy abgewertet werden. Einige Bundesstaaten haben sich inzwischen wieder aus den Common Core Standards verabschiedet. Dennoch ist die Akzeptanz beachtlich. Neben den übergreifenden Common Core Standards gibt es in vielen Bundesstaaten noch state standards, die die Lehrpersonen zusätzlich befolgen müssen. Mit anderen <?page no="49"?> 49 3.3 Möglichkeiten und Grenzen von Standards Worten: Dort sind die Common Core Standards in Common Core State Standards umgestaltet worden. Seit 2013 gibt es außerdem die Next Generation Science Standards (NGSS), eine Fortführung der Common Core Standards. Da die Leistungen der Schülerinnen und Schüler am Ende jedes Schuljahrs getestet werden, sind amerikanische Lehrpersonen in ihrem Entscheidungsspielraum erheblich eingeschränkt. Die Entprofessionalisierung des Lehrerberufs ist relativ weit fortgeschritten. Außerdem trägt die Fülle von Ratgeberliteratur in gedruckter und digitaler Form zusätzlich dazu bei, dass die Lehrerpersönlichkeit eine immer geringere Rolle spielt. Fazit: Die Fixierung auf Standards und andere „Systemsteuerungen“ darf nicht dazu führen, dass Lehrpersonen Bildungsziele aus den Augen verlieren oder aus Zeitmangel nicht weiterverfolgen können. Auf gar keinen Fall aber darf es soweit kommen, dass z. B. Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrer ihre Persönlichkeit soweit hintansetzen, dass ihr Unterricht nicht mehr von ihrer „Passion“ für eine bestimmte Fremdsprache inspiriert wird. 3.3 Möglichkeiten und Grenzen von Standards Aus meiner Sicht entfalten Standards positive Wirkungen vor allem dadurch, dass sie schulische Leistungen und Abschlüsse bis zu einem gewissen Grad vergleichbar machen. Alle Bundesländer sind gehalten, sich an den Vorgaben zu orientieren. Das kann zu einer Verbesserung der Unterrichtsqualität führen, weil regionale Sonderwege in den Hintergrund treten. Außerdem erleichtert es die Mobilität. Man bedenke nur, dass es Beamten bis vor kurzem möglich war, beim beruflich bedingten Umzug von einem Bundesland in ein anderes die Erstattung von Nachhilfeunterricht für die Kinder bei der Beihilfe zu beantragen. Standards können auch die Orientierung an von außen gesetzten Kriterien erleichtern. Welche Leistungen erbringen Schülerinnen und Schüler nicht nur bezogen auf ihre Lerngruppe, sondern mit Blick darauf, was man in einem bestimmten Bereich, z. B. der ersten Fremdsprache, nach einer bestimmten Lernzeit (gemessen in Unterrichtsstunden oder Lernjahren) aufgrund wissenschaftlicher Überprüfungen erwarten darf? Das trägt im Verbund mit den im vorigen Abschnitt genannten positiven Effekten zu mehr Bildungsgerechtigkeit bei. Betrachtet man die Standards in verschiedenen Bereichen, u. a. auch Industriestandards (ISO), so stellt man fest, dass die Normierung im Bereich des Sozialen liegt. Standards bestimmen darüber, was in einem bestimmten Bereich, in unserem Fall der Schule, erwartet werden kann bzw. was als angemessenes Handeln gilt. Eine Institution wie die deutsche Schule, zu deren Standards z. B. Jahrgangsklassen und Übergangsregelungen zwischen den Schulformen gehören, trägt zur Stabilisierung sozialer Interaktionen bei. Der Bildungsforscher Walter Herzog (2013: 14) definiert Standards als konventionalisierte soziale Erwartungen. Inwieweit trifft diese Definition auf Bildungsstandards bzw. educational standards zu? Die genannten positiven Effekte von Standards im Schul- und Bildungswesen sind dem Outcome, also den längerfristigen Wirkungen, zuzurechnen. Wie unterscheidet sich der Outcome vom Output, den die KMK im Slogan „von der Inputzur Output- <?page no="50"?> 50 3. Standards und Bildung - zwei ungleiche Partner Steuerung“ propagiert hat? Ist eine Systemsteuerung eines so komplexen sozialen Gefüges wie des Bildungswesens überhaupt möglich? Den Unterschied zwischen Output und Outcome macht Herzog (2013: 45 ff.) an einem plausiblen Beispiel deutlich. Input und Output sind Begriffe der Kybernetik. Wenn ich eine Kaffeemaschine mit der vorgeschriebenen Menge Wasser und Kaffee fülle, erhalte ich einen klar festgelegten Output, nämlich eine bestimmte Anzahl von Tassen Kaffee. Habe ich durch die Befüllung die Kaffeemaschine gesteuert? Ich habe den Output geregelt, denn die Steuerung nimmt die Maschine selbst nach einem eingebauten Algorithmus vor. Es ist also höchst fraglich, ob man beim Bildungswesen überhaupt von Steuerung sprechen kann. Den weiter gefassten Outcome, z. B. die Wirkung einer Tasse Kaffee auf einen bestimmten Menschen, kann ich weder steuern noch regeln. Dennoch hängt die Leistung der Kaffeemaschine mit der Wirkung des Kaffees irgendwie zusammen, d. h. es gibt eine Verbindung zwischen beiden. Der Outcome kann der Maschine aber nicht direkt zugeordnet werden, denn er bezeichnet - so Herzog (2013: 48f.) - die Wirkung des Outputs in einem anderen System. Die längerfristige Wirkung wird also durch zusätzliche Faktoren bestimmt, über die das System keine direkte Kontrolle hat. Überträgt man diese Vorstellungen auf Schule und Unterricht, so fragt man sich, ob das Lernen der Schülerinnen und Schüler als Output oder Outcome der Schule betrachtet werden kann. Herzog unterstreicht, dass sich das Lernen eines Schülers in keinem Fall als direkte Wirkung des Lehrens einer Lehrperson darstellen lässt, denn beide sind unterschiedlichen „Systemen“ zuzuordnen. Der Output des Systems Unterricht ist nicht das Lernen oder gar die Leistung des Systems Schüler, sondern lediglich ein Anreiz, der die verschiedenen Schülersysteme, die in einer Schulklasse versammelt sind, erst noch erreichen muss. Was der Lehrer durch sein Handeln bewirkt, wird vermittelt durch das Handeln der Schülerinnen und Schüler und kann folglich nicht sein Output, sondern bestenfalls sein Outcome sein. (Herzog 2013: 49) Diese Vorstellung erinnert stark an das Angebot-Nutzungs-Modell von Helmke (vgl. 2009: 71 ff.). Danach stellt Unterricht ein Angebot der Lehrperson dar. Ob die Lernenden davon profitieren, hängt davon ab, ob und vor allem wie sie es nutzen. Der Unterricht - das erfahren wir in der Praxis tagtäglich - hat nicht zwangsläufig die intendierten Wirkungen auf Seiten der Schülerinnen und Schüler. Erst die aktive Nutzung bzw. die Auseinandersetzung mit dem Angebot, durch die sich das lernende Individuum selbst bildet, führt zu mehr oder weniger großen Lernerfolgen. Dabei spielen individuelle Verarbeitungsprozesse eine große Rolle. Hinzu kommen die Rahmenbedingungen und nicht zuletzt die Lernvoraussetzungen der einzelnen Schülerin oder des einzelnen Schülers. Diese wissenschaftlich gut belegten Theorien führen eine Output-Steuerung von vornherein ad absurdum. Fazit: „Die Wirkung von Schule zeigt sich nicht als (direktes) Ergebnis des Lehrens, sondern als Folge des Lernens“ unterstreicht Herzog (2013: 49; Hervorhebungen des Autors). Daher sollten wir uns im Fremdsprachenunterricht auf dessen längerfristige Wirkungen, den Outcome, konzentrieren. Das Angebot, welches wir den Schülerinnen und Schülern machen, muss so gestaltet sein, dass alle, die guten Willens sind - und das sind die meisten - tatsächlich davon profitieren können . <?page no="51"?> 51 3.4 ‚Exzeptionelle’ Begriffe 3.4 ‚Exzeptionelle’ Begriffe Charles Somerset, Duke of Beaufort, ist mit einer Zeitmaschine aus dem England des 19. Jahrhunderts, bei uns gelandet. Als Johannes ihn zum ersten Mal in der Fußgängerzone sah, dachte er an einen der vielen Pantomimen, die sich mit ihren kleinen Darbietungen etwas dazuverdienen. Doch dann bemerkte er die Orientierungslosigkeit des Jungen, der etwa so alt sein musste wie er selbst. Er sprach ihn an, und obwohl er Charles’ Geschichte nicht so recht glauben konnte, freundete er sich mit ihm an. Heute nun will Johannes ihm seine Schule, eine Art Reformschule, zeigen. Charles’ Berichten zufolge war er von den Eltern und einigen wechselnden Hauslehrern erzogen worden. Der Vater war hauptsächlich für Mathematik und Naturwissenschaften zuständig, die Mutter, eine deutsche Adlige, unterrichtete Charles, seinen Bruder und zwei Kusinen in den Sprachen und den künstlerischen Fächern. Johannes ist sich nicht sicher, ob der Besuch in der Schule gutgehen wird. Zwar steckt Charles jetzt in Jeans, aber seine Sprechweise ist ganz anders als die von Johannes und seinen Klassenkameraden. Dennoch ist Johannes neugierig. Er hat keine Ahnung, wie Charles reagieren wird. Johannes: Jetzt sind wir gleich da. Heute ist nur ein Teil meiner Klasse anwesend; die anderen bereiten sich auf eine Vergleichsarbeit vor. Charles: Vergleichsarbeit? Könntest Du mir bitte erklären, was man darunter versteht? Johannes: Also, seit einigen Jahren gibt es bei uns Standards. Und am Ende der Schulzeit wird überprüft, ob alle die Standards erreichen. Charles: And where are these standards located? Outside the building? Johannes: What do you mean by ‘located’? Charles: If there are signs or flags that your classmates should reach, someone must have put them in some place, isn’t it? Johannes: Ach, jetzt verstehe ich, du meinst Standarten. Nein, nein, ein Standard ist keine Standarte, sondern eine Art Norm, die erreicht werden soll. Charles: Wenn ich das recht verstehe, hat irgendjemand festgelegt, was geleistet werden soll, und das wird jetzt kontrolliert. Und wer kontrolliert das? Johannes: Das Kultusministerium. Die Vergleichsarbeiten sind für alle Schülerinnen und Schüler der Region gleich. Charles: Oh, that’s really amazing. What does happen with the pupils that learn faster or slower than others? My parents and other teachers always tried to adjust the levels in the different subjects individually to us. Johannes: Ja, ihr ward ja auch nur zu viert. In meiner Klasse sind normalerweise 26 Schülerinnen und Schüler. Charles: Da wäre es doch am besten, der Lehrer führt die Kontrolle selbst durch. Er kennt doch seine Schüler am besten, und er kann nach und nach mitverfolgen, wie gut oder schlecht jeder vorankommt. Johannes: Eigentlich hast du Recht. Aber wir hatten eben PISA. Charles: Was hat denn nun Pisa, wahrscheinlich der schiefe Turm, mit euren Leistungen in der Schule zu tun? Ich verstehe das alles nicht recht: Pisa, Standards, Vergleichsarbeiten … ihr habt wirklich exzeptionelle Begriffe … <?page no="52"?> 52 3. Standards und Bildung - zwei ungleiche Partner 3.5 Bildung und Erziehung Kommen wir kurz auf das Angebot-Nutzungs-Modell zurück: Es ist letztlich der individuelle Lernende selbst, der sich bildet, indem er das Angebot der Lehrperson sowie die vielfältigen Möglichkeiten, die sich ihm in seinem Umfeld bieten, für sich, d. h. für die Entfaltung der in ihm angelegten Kräfte, nutzt. Bildung wird auch heute noch als Selbstbildung verstanden. Dabei treten die Anforderungen, welche die Gesellschaft an den Menschen richtet, in den Hintergrund. Bildung meint nicht das Wissen und Können, welches auf die Bewältigung praktischer Probleme bzw. beruflicher Anforderungen gerichtet ist, sondern entzieht sich weitgehend jeglicher Funktionalisierung. Schulen dürfen nicht zu reinen Stätten der Ausbildung bzw. des Trainings werden. Bildung orientiert sich nicht am Wettbewerb, sondern am Gegenstand (vgl. Liessmann 2014: 128), der für die Schülerinnen und Schüler von Bedeutung ist, indem er ihre Neugier weckt. Reduziert man Bildung aber auf das Nützliche, lässt man nur noch das gelten, was sich auch anwenden lässt, sieht man alles nur noch unter der Perspektive der Verwertbarkeit, geht jede Chance verloren, jungen Menschen in Schulen und Universitäten die Möglichkeit zu geben, sich einer Sache um ihrer selbst willen zu nähern, sich von einem Gegenstand faszinieren zu lassen, einer Frage neugierig auch dann zu folgen, wenn die Antwort ausbleibt oder keine Bedeutung für die Karriere hat. (Liessmann 2014: 179) Die Bildung eines Menschen kann man zwar im Kontakt bzw. in der Interaktion wahrnehmen, aber man kann sie nicht messen. Nicht nur deshalb bleibt sie bei internationalen Vergleichsstudien sowie der informellen Überprüfung von schulischen Leistungen weitgehend ausgespart. Erkenntnis entsteht durch Nachdenken, also durch vertieftes und vernetztes Lernen, das sich quantitativer Messung ebenso entzieht wie die oben erwähnten Steuerungsmechanismen. Wenn man von Bildung spricht, steht die Person im Mittelpunkt. Es geht um die Bildungsprozesse des einzelnen Menschen, um die Entfaltung seiner Persönlichkeit. Bildung betont die Selbstständigkeit und die Autonomie des Einzelnen. Sie ist niemals abgeschlossen, sondern stellt jeden Menschen vor die lebenslange Aufgabe, die eigene Individualität angemessen auszuformen. Es ist leicht nachvollziehbar, dass der umrissene Bildungsbegriff von der empirisch-analytischen Erziehungswissenschaft abgelehnt wird. Da es um die Selbstbestimmung des Individuums geht, die sich der Planung und Machbarkeit entzieht, ist der skizzierte Bildungsbegriff nicht operationalisierbar. Ob die bewusste und geplante Einflussnahme auf die Entwicklung von Menschen, also Erziehung, leichter messbar ist, hängt nicht zuletzt davon ab, wie man die Wechselwirkung zwischen Bildung und Erziehung einschätzt. Erziehung ist ein Interaktionsprozess, durch den Kinder und Jugendliche mithilfe bestimmter methodischer Verfahren beeinflusst werden (sollen), um ihre Integration in die Gesellschaft zu erreichen. Die Herausforderung besteht darin, die individuelle Entwicklung und die Anforderungen der Gesellschaft in Einklang zu bringen. Erzieher, also Eltern, Lehrerinnen und Lehrer sowie andere Bezugspersonen, stehen vor der Aufgabe, zwischen den ‚Zöglingen‘ und der Welt, in der sie leben, zu vermitteln. Dabei spielen Normen und Werte eine herausragende Rolle. Sinnvoll ist zudem eine gewisse Distanz zum Alltag, die ein Schonraum wie die Schule bieten kann. „Fehler“ haben in der Regel nicht die gleichen Konsequenzen wie im realen Leben, im Gegen- <?page no="53"?> 53 3.6 Wandlungen des Bildungsbegriffs teil: Oft sind sie der Ausgangspunkt für weitere Lernprozesse. Erziehung ist immer nur dann wirksam, wenn sie Bildung nicht verhindert, wenn also das lernende Individuum nicht entgegen besserer Einsicht geformt bzw. verformt wird. Mit Nachdruck sei auf die Grenzen der Erziehbarkeit verwiesen! Die genannten Einschränkungen bezüglich Planbarkeit, Steuerung und Machbarkeit bedeuten keineswegs, dass es auf den Erwerb von Wissen nicht ankommt. Im Gegenteil: Für Bildungsprozesse ist die Vermittlung von Wissen und Können durch die Lehrperson entscheidend, denn ohne grundlegendes Wissen können Schülerinnen und Schüler nur schwer Zusammenhänge herausarbeiten und den angestrebten Transfer leisten. Bisweilen vertreten sowohl Apologeten als auch Kritiker der digitalen Medien die Auffassung, die Lernenden sollten sich nicht mit dem Wissenserwerb aufhalten, sondern ihre Zeit und ihre Kraft darauf verwenden, „ein neues Verhältnis zwischen Wissensgedächtnis und Denken zu etablieren“ (Schirrmacher 2009: 2211). Das nötige Wissen hält bei dieser Vorstellung der Rechner bzw. das Internet bereit: Wir müssen die Computer tun lassen, was sie tun können, damit wir frei werden in dem, was wir können, um sie mit neuen Befehlen zu versorgen. Digitale Informationen verschaffen uns die Möglichkeiten, die Informationen zu überdenken, statt sie zu sammeln. Wir müssen den Weg nicht mehr beschreiben, also können wir über das Ziel nachdenken. (Schirrmacher 2009: 214) Wie können wir über etwas nachdenken, von dem wir keine genaue Kenntnis haben? Nach Schirrmacher brauchen wir nicht mehr zu lernen, was wir wissen müssen, sondern was wir nicht verstanden haben. Wie können wir ohne Wissen sagen, wo unser Mangel an Verständnis beginnt? Was bei solchen pädagogischen Vorstellungen unberücksichtigt bleibt, ist die Tatsache, dass Reflexionsprozesse immer nur auf vorhandenen Daten operieren können. Zudem sind Prozesse der Wissensaneignung höchst prägend. Auch wenn man das, was man erfahren und gelernt hat, wieder vergisst, ist man nach Prozessen des Wissenserwerbs nicht mehr derselbe wie vor der Auseinandersetzung mit den jeweiligen Inhalten. Wer also einmal eine Fremdsprache gelernt hat, ist ein anderer als jemand der nur seine Muttersprache beherrscht. Fazit: Wichtig ist eine realistische Einschätzung der Möglichkeiten von Bildungsprozessen. Gerade in einer Gesellschaft, die angeblich einem raschen Wandel unterworfen ist, brauchen Schulen und andere Bildungseinrichtungen keine übereilten Reformen, sondern eine reflektierte Verbindung von Bildung und Erziehung. 3.6 Wandlungen des Bildungsbegriffs Eine Wissenschaft, ganz gleichgültig, ob wir sie nun als Bildungswissenschaft, Pädagogik oder Erziehungswissenschaft fassen, lebt von Grundbegriffen. Auch wenn Lehren und Lernen bzw. Schule und Unterricht höchst variantenreich und komplex sind, sollen Begriffe wie Bildung oder Erziehung die Phänomene, auf die sie sich beziehen, möglichst genau beschreiben. Nur so können Wissenschaftler einigermaßen sicher sein, dass sie sich auf den gleichen Forschungsgegenstand beziehen. Das bedeutet freilich nicht, dass die Begriffe bzw. die Inhalte, von denen sie abstrahieren, für immer festgelegt sind. Im Gegenteil: Da sie sich auf bestimmte Kontexte, Werte und Normen beziehen, sind auch sie einem Wandel unterworfen. Bildung hatte vor zwei- <?page no="54"?> 54 3. Standards und Bildung - zwei ungleiche Partner hundert Jahren nicht nur einen anderen Stellenwert, sondern auch eine andere Bedeutung als heute. Aus diesem Grund erscheint mir der gleichsam reflexartige Verweis auf den Bildungsbegriff von Wilhelm von Humboldt fragwürdig. Bei entsprechender Umdeutung sind einige Kerngedanken immer noch gültig, aber viele Aspekte von Humboldts Bildungsideal einer ganzheitlichen Ausbildung sind aufgrund des gesellschaftlichen Wandels nicht mehr zeitgemäß. Zunächst ist festzuhalten, dass Humboldt niemals eine öffentliche oder private Schule besucht hat, sondern hauptsächlich von renommierten Hauslehrern unterrichtet wurde. Außerdem war schulische Bildung, um deren Etablierung Humboldt sich große Verdienste erworben hat, nicht so zweckfrei, wie es heute oft darstellt wird. Letztlich ging es darum, durch die humanistischen Gymnasien (und das anschließende Studium) geeignete Repräsentanten für den preußischen Staat heranzubilden. Humboldt bestand auf einer radikalen Trennung von Bildung und Ausbildung. Gleichwohl gab es eine Verbindung; sie war damals jedoch eine ganz andere als heute. Humboldt reformierte nicht nur die Schulbildung, in dem er an den Gymnasien das Abitur einführte. Durch die von ihm etablierte Lehrerausbildung schränkte er den Einfluss der Kirchen ein. Humboldt orientierte sich am Menschenbild der griechischen Antike; durch die Auseinandersetzung mit der antiken Kultur sollten alle Fähigkeiten eines Menschen ausgebildet werden. Dies geschah vor allem durch Selbstbildung, bei der Sprachen, Kunst und Literatur eine besondere Rolle spielten (vgl. Kap. 6). Nach Humboldts Vorstellungen schloss sich an den Besuch des humanistischen Gymnasiums das Universitätsstudium an, dessen Maxime die Einheit von Forschung und Lehre und vor allem die Zweckfreiheit der Wissenschaft waren. Damit wollte er das Studium (wie auch den schulischen Unterricht) nicht nur von religiösen, sondern auch von politischen und wirtschaftlichen Interessen freihalten. Als Humboldt nach kurzer Zeit an die Grenzen der Durchsetzbarkeit seiner Vorstellungen gelangte, gab er sein Amt in der preußischen Kultus- und Unterrichtsverwaltung nach einem Jahr wieder auf. Schon zu Humboldts Zeiten wurde Kritik am fehlenden Praxisbezug seiner Bildungsvorstellungen geübt. Nicht alle preußischen Staatsbürger waren wirtschaftlich so gestellt, dass sie aus einem ungeliebten Amt ausscheiden konnten, um sich ihren (Sprach-)Studien hinzugeben. Die meisten, die ein Studium absolvierten, taten dies, um vom Ertrag einer Tätigkeit für den preußischen Staat leben zu können. Man lernte Fremdsprachen, um in den diplomatischen Dienst einzutreten bzw. preußische Belange im jeweiligen Ausland vertreten zu können. Während die Pädagogik der Aufklärung Bildung zu einem Schlüsselwort im Bereich der Erziehung und des Unterrichts gemacht hatte, verfiel das humanistische Bildungsideal im 19. Und 20. Jahrhundert mehr und mehr. Immer stärker traten Belange der Ausbildung in den Vordergrund. Einen vorläufigen Kulminationspunkt dieser Bewegung bilden Vergleichsuntersuchungen wie TIMSS, PISA und DESI sowie vor allem die sogenannten Bildungsstandards, die ausschließlich auf verwertbares Wissen und Können ausgerichtet sind. Wie wollen wir Bildung im Allgemeinen, und vor allem fremdsprachliche Bildung im Besonderen definieren (vgl. auch Kap. 6)? In modernen Gesellschaften, in denen Ausbildung und Berufstätigkeit einen viel höheren Stellenwert erlangt haben als früher, können Bildung und Ausbildung in Schule und Universität nicht länger getrennt <?page no="55"?> 55 Anregungen zum Nachdenken, Diskutieren und Gestalten voneinander betrachtet werden. Es kann aber nicht sein, dass Ziele der Bildung für alle (! ) Schülerinnen und Schüler der Verwertbarkeit geopfert werden. Es darf nicht ausschließlich um die Reproduktion der gesellschaftlichen Verhältnisse und den wirtschaftlichen Wohlstand gehen. Bildung um ihrer selbst willen muss ein wichtiges Ziel für alle Lernenden bleiben. Sie sollte so mit Belangen der Ausbildung verbunden bzw. verwoben werden, dass die Freiheit zum eigenen Urteil und zur Kritikfähigkeit erhalten bleibt. Es darf in unseren Schulen nicht vorrangig um die Anpassung an bestehende Verhältnisse gehen, auch nicht für Schülerinnen und Schüler aus sogenannten bildungsfernen Schichten. Fazit: In modernen Gesellschaften stehen Bildung und Ausbildung in Wechselwirkung. Sie stellen nicht länger - wie zu Humboldts Zeiten - eine Dichotomie dar, sondern sind aufeinander zu beziehen. Um es überspitzt zu sagen: Das reflektierte Verhältnis zu sich, zu anderen und zur Welt schadet in keinem Beruf - im Gegenteil. Anregungen zum Nachdenken, Diskutieren und Gestalten 1. Was können wir aus der US-amerikanischen Standardbewegung lernen? Diskutieren Sie mit Kolleginnen und Kollegen (auch anderer Fachrichtungen) darüber, warum Leistungsstandards (performance standards) nicht die Lösung für unzureichende schulische Lernergebnisse sein können. 2. Überlegen Sie mit Blick auf eine bereits durchgeführte Unterrichtseinheit, worin Ihrer Ansicht nach der Output bestand und welchen Outcome Sie für Ihre Schülerinnen und Schüler erzielen konnten. 3. Legen Sie für eine zukünftige Unterrichtseinheit den Output und den Outcome fest. Inwieweit unterstützt Sie das Lehrwerk bei der Festlegung des Outcome? 4. Skizzieren Sie kurz das Angebot-Nutzungs-Modell. Diskutieren Sie mit Fachkolleginnen und -kollegen darüber, inwieweit es sich auf den Fremdsprachenunterricht anwenden lässt. 5. Worin unterscheiden sich Bildung und Erziehung? Wo überlappen sich die beiden Begriffe? Sollten Erziehungsaspekte den Vorrang vor Bildungszielen haben? Warum? Warum nicht? 6. Warum ist Wissen eine unerlässliche Grundlage von Bildungsprozessen? 7. Was macht für Sie einen gebildeten Menschen aus? Welche Merkmale halten Sie für unverzichtbar? <?page no="57"?> 4. Die KMK-Bildungsstandards - alter Wein in neuen Schläuchen? 4.1 Von den Standards zu den Bildungsstandards der KMK In den Standards für den Mittleren Schulabschluss in den Fächern Deutsch, Mathematik und erste Fremdsprache von 1995 (Beschluss der KMK vom 12. 5. 1995) heißt es in der Vorbemerkung (S. 11): „Die Inhalte, Ziele und Qualifikationen sind so zusammengestellt, dass sie als Standards das Anspruchsniveau des Mittleren Schulabschlusses verdeutlichen.“ Im Abschnitt ‚Standards‘ werden diese Überlegungen wie folgt fortgeführt: Am Ende der Sekundarstufe I hat der Unterricht in der ersten Fremdsprache (ab Jahrgangsstufe 5) Schülerinnen und Schüler, die einen Mittleren Schulabschluss anstreben, so weit befähigt, dass sie sich mit Hilfe dieser Sprache in konkreten Handlungszusammenhängen des Alltags verständigen und sich zu Themen von allgemeiner Bedeutung äußern können. (ibid.) Da zu diesem Zeitpunkt eine Orientierung am Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GeR; Europarat 2001) noch nicht möglich war, sind die fachlichen Schwerpunkte teils allgemeiner gehalten, teils aber auch mit konkreten Inhalten verbunden. Unter 3.1 Situations- und Themenfelder des Alltags findet man folgende Angaben für Englisch und Französisch (ibid.: 15-16): Englisch family life - making/ having friends - in and around town - travelling, transportation, tourism - leisure time/ hobbies - schools, education - shopping, consumer habits - earning one’s life, being out of work - making use of the media Französisch famille et amis - les roles [sic] - fêtes privées et nationales - vacances et tourisme - échanges scolaires - loisirs - vie scolaire et formation des jeunes - l’habit - courses et achats Will man diese Themen nicht nur antippen, sondern angemessen im Unterricht erarbeiten, stehen Lehrpersonen sowie Schülerinnen und Schüler vor großen Herausforderungen. Mit anderen Worten: Meiner Ansicht nach ist der Anspruch zu hoch. Zudem ist interessant, dass die inhaltlichen Vorgaben sich in den beiden Fremdsprachen zum Teil deutlich unterscheiden. Das mag auf eine mangelnde Absprache zwischen den Experten für Englisch und Französisch zurückzuführen sein. Die Standards - es ist wohlgemerkt noch nicht von Bildungsstandards und Kompetenzen die Rede - umfassen die Sprachfertigkeiten, die sprachlichen Mittel, Landeskunde/ interkulturelles Lernen, den Umgang mit Texten sowie Lern- und Arbeitstechniken (KMK 1995: 12-18). Die Bildungsstandards von 2004/ 2005 sollen im Wesentlichen zwei Funktionen erfüllen (vgl. Klieme et al. 2003. 9f.), gehen also über die Festlegung von verbindlichen Zielen für den Fremdsprachenunterricht hinaus. <?page no="58"?> 58 4. Die KMK-Bildungsstandards - alter Wein in neuen Schläuchen? Ihre erste Funktion besteht in der Orientierung auf verbindliche Ziele, wobei ein großer Freiraum für die innerschulische Lehrplanung eingeräumt wird. Daher sollen die Vorgaben der Länder zu den Bildungsstandards auf die Erstellung von Kerncurricula beschränkt bleiben. Was zunächst nach „pädagogischer Freiheit“ klingt, ist in meinen Augen eher eine Zumutung. Wie bereits mehrfach angedeutet, werden Lehrpersonen durch den genannten Freiraum in die Pflicht genommen für etwas, was die Bildungspolitik nicht leisten konnte oder wollte. Zum einen ist in keiner Weise wissenschaftlich überprüft worden, ob unsere Schülerinnen und Schüler die Bildungsstandards im Durchschnitt überhaupt erreichen. Beim Hauptschulabschluss (KMK 2005a) sind - was die erste Fremdsprache angeht - erhebliche Zweifel angebracht. Zum anderen beruht die Festlegung der Standards nicht auf einer breiten öffentlichen Diskussion, in die auch Lehrpersonen in größerer Zahl einbezogen waren. Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrer sollen ihre Lernenden zu Leistungen befähigen, an deren Festlegung sie nicht beteiligt waren und für deren Umsetzung weder inhaltliche noch arbeitserleichternde Ressourcen in nötigem Umfang zur Verfügung gestellt werden. Im Prinzip würden sich aus den Vorgaben der Bildungspolitik keine Konsequenzen für die unterrichtlichen Aktivitäten von Lehrenden und Lernenden ergeben, und die Standards blieben ebenso unbeachtet und wirkungslos wie viele Reforminitiativen zuvor, wäre da nicht eine zweite Funktion der Bildungsstandards, nämlich die regelmäßige offizielle Messung des Erreichten. Während es in den Standards von 1995 heißt, dass die Beschreibung des Anspruchsniveaus nicht vorrangig unter dem Gesichtspunkt der Leistungsfeststellung erfolgt (KMK 1995: 1), heißt es in der Klieme- Expertise: Eine zweite Funktion der Bildungsstandards besteht darin, dass auf ihrer Grundlage Ergebnisse erfasst und bewertet werden. Mit Bezug auf die Bildungsstandards kann man überprüfen, ob die angestrebten Kompetenzen tatsächlich erworben wurden. So lässt sich feststellen, inwieweit das Bildungssystem seinen Auftrag erfüllt hat (Bildungsmonitoring) und die Schulen erhalten eine Rückmeldung über Ergebnisse ihrer Arbeit (Schulevaluation). Die Standards können auch Hinweise geben für die individuelle Diagnostik und Förderung. Allerdings legt die Expertise Wert darauf, dass Tests, die im Bildungsmonitoring und für die Schulevaluation eingesetzt werden, solche Individualdiagnostik aus methodischen Gründen nicht erlauben. Von einer Verwendung der Standards bzw. standard-bezogener Tests für Notengebung und Zertifizierung wird abgeraten. (Klieme et al. 2003: 10) Wenn von der Nutzung der Standards für informelle Testungen, also Klassenarbeiten und Klausuren, abgeraten wird, stellt sich die Frage, warum wir uns überhaupt daran orientieren sollen. Nicht nur die Expertise enthält zahlreiche Widersprüche; auch die von Oelkers & Reusser (2008) für das BMBF erarbeitete Untersuchung Qualität entwickeln - Standards sichern - mit Differenz umgehen lässt viele Fragen offen. Die im Titel angesprochene Differenz bezieht sich nicht etwa auf die Heterogenität der Schülerpopulation, sondern auf die Unterschiede zwischen den neun dargestellten Ländern. Oelkers und sein Team legen ihrer Expertise einen engen und einen weiten Begriff von Bildungsstandards zugrunde, nämlich Ergebnisstandards im engeren Sinn und eine weitere Fassung, die Strukturen und Prozesse einschließt. Erstere bezeichnen die Forscher als Outputstandards, Letztere als Prozess- oder Inputstandards. Nach ihrer <?page no="59"?> 59 4.2 Ein Beispiel aus den KMK-Bildungsstandards für den Hauptschulabschluss Auffassung sind für den Unterricht nur Inputstandards (in Form von Lehrplänen) sowie Prozessstandards (in Form von Lehr-Lernprozessen) entscheidend. Deutlicher als Helmke (vgl. Abschnitt 3.2) fordern Oelkers & Reusser die Verwirklichung von Bildungszielen über die Standards hinaus: Neben den von den Bildungsstandards über normierte Kerninhalte und Grundkompetenzen angesprochenen Inhalten soll genügend Raum bleiben für Lernprozesse, Stoffe und Kompetenzen, welche sich an einem breiten Begriff fachlicher und überfachlicher Bildung orientieren. Zu beachten ist, dass die als fachliche Standards konzipierten Bildungsstandards mit dem ihnen zugrunde liegenden ‚literacy‘-Konzept nur einen Ausschnitt dessen abbilden, worauf sich Schule und Unterricht ausrichten lassen. (Oelkers & Reusser 2008: 15) Zwar verweisen die Autoren darauf, dass Bildungsziele im weiteren Sinn nicht in bloßer Rhetorik verortet sein dürfen, sie erläutern aber nicht, wie Lehrpersonen über die Füllung der Output-Standards mit Inhalten sowie über die Festlegung wirksamer Lernarrangements hinaus verfahren können. Wie kann es in der Breite gelingen, die Ziele einer zeitgemäßen fremdsprachlichen Bildung festzulegen und so umzusetzen, dass sie tatsächlich Wirkung entfalten? Gerade im Zusammenhang mit fremdsprachlicher Bildung haben Merkmale der Lehrerpersönlichkeit großen Stellenwert. Fazit: Da die Vorgaben der KMK Ziele der Bildung zwar ansprechen, sich bei der Festlegung der Standards aber auf bekannte fertigkeitsorientierte Ziele beschränken, müssen wir überlegen, in welcher Form wir eine zeitgemäße fremdsprachliche Bildung möglichst von Anfang an in den Unterricht integrieren können. 4.2 Ein Beispiel aus den KMK-Bildungsstandards für den Hauptschulabschluss Bereits in den oben erwähnten Standards der KMK von 1995, also lange vor dem offiziellen Erscheinen des GeR, wird unter ‚Sprachfertigkeiten‘ in Abschnitt 1.2.7 Vermitteln in zweisprachigen Situationen gefordert und in drei Unterpunkten erläutert. Der dritte Punkt, nämlich das Verhalten bei Kommunikationsschwierigkeiten zwischen den Gesprächspartnern, die die Sprache und Kultur des anderen nur unzureichend oder gar nicht kennen, ist durchaus mit den Anforderungen des GeR vergleichbar (KMK 1995: 14). Das Vermitteln in zweisprachigen Situationen wird nicht nur in den KMK-Bildungsstandards für den Mittleren Abschluss, sondern auch in denen für den Hauptschulabschluss als ‚Sprachmittlung‘ wieder aufgenommen (KMK 2005a: 13): „Die Schülerinnen und Schüler können mündlich einfache sprachliche Äußerungen von der einen in die andere Sprache sinngemäß übertragen.“ Bei dem folgenden Beispiel (KMK 2005a: 34-35) geht es freilich nicht nur um die mündliche Übertragung: <?page no="60"?> 60 4. Die KMK-Bildungsstandards - alter Wein in neuen Schläuchen? Beispiel Englisch Standardbezug Die Aufgabe erfordert die kommunikative Fertigkeit, einfache sprachliche Äußerungen von der einen in eine andere Sprache sinngemäß zu übertragen (Sprachmittlung) und die Fertigkeit, mit Hilfe eines selbst erstellten Handlungsgeländers einen Brief oder eine E-Mail zu verfassen (A2). Hinweise Die Schülerinnen und Schüler kennen die vorliegenden Aufgabenstellungen und die dazu notwendigen Arbeitstechniken: Technik der Anfertigung eines Handlungsgeländers als Vorbereitung eigener Texte, selbstständiges Durchführen der Phasen des Schreibprozesses (plan it - do it - check it). Das Thema orientiert sich an der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler (Freizeit/ Ferienplanung). Die Nutzung eines zweisprachigen Wörterbuches ist möglich. Die Aufgabe ist auf 45 Minuten angelegt. Lösungserwartungen Die Schülerinnen und Schüler legen ein die Themenstellung widerspiegelndes Handlungsgeländer an und formulieren und schreiben in kurzen und einfachen Sätzen die Wünsche und Fragen auf. Aufgabe Deine Familie plant in den Sommerferien ein Haus in Dänemark zu mieten. Schreibe an das dänische Fremdenverkehrsamt und bitte um Informationen. Deine E-Mail soll mindestens 10 Sätze umfassen. Denke an die notwendige Form (Anrede, Grußformel).  Schreibe, dass ihr für vier Personen ein Haus mieten möchtet.  Sage, dass ihr zwei Wochen im Juli fahren wollt.  Bitte um ein Haus möglichst in der Nähe des Strandes, so dass man zu Fuß gehen kann.  Das Haus sollte ein Wohnzimmer, 2 Schlafzimmer und einen Garten haben.  Ihr möchtet euren Hund mitnehmen. Frage, ob dies möglich ist.  Teile mit, dass ein Ort mit Läden und einem Restaurant in der Nähe sein soll.  Erkundige dich nach dem Preis pro Woche.  Frage, ob es die Möglichkeit gibt, Fahrräder auszuleihen. Bei der Aufgabe handelt es sich nicht um eine echte Sprachmittlungsaufgabe, nämlich um die Vermittlung zwischen Kommunikationspartnern bzw. die selbstständige Unterscheidung zwischen wichtigen und unwichtigen Informationen, sondern um eine freie Übersetzung von vorgegebenen Informationen (vgl. De Florio-Hansen 2013). Dennoch halte ich die vorliegende Aufgabe für anspruchsvoll - insbesondere wenn ich an Hauptschülerinnen und -schüler mit Migrationsgeschichte denke - vor allem <?page no="61"?> 61 4.3 Zwei Beispiele aus den KMK-Bildungsstandards für den Mittleren Abschluss weil von der Muttersprache in die Fremdsprache übertragen werden soll. Zudem wird eine schriftliche Lösung erwartet. Fazit: Sprachmittlung, die diesen Namen verdient, besteht darin, Gesprächspartnern, die sich ohne Mediator nicht oder nur unzureichend verständigen könnten, die Kommunikation untereinander zu erleichtern. Die Herausforderung für die Lernenden besteht darin, aufgrund der spezifischen Situation zu entscheiden, wie sie mit den jeweiligen Inhalten bzw. Informationen zum Nutzen der Kommunikationspartner umgehen. Daher sollten die Schülerinnen und Schüler selbst eine Auswahl treffen, was sie als wichtig oder als unwichtig für den jeweiligen Zusammenhang erachten und an welchen Stellen zusätzliche Einschübe bzw. Erläuterungen nötig sind, um ein besseres Verständnis zwischen Menschen unterschiedlicher Sprache und Kultur zu ermöglichen. 4.3 Zwei Beispiele aus den KMK-Bildungsstandards für den Mittleren Abschluss Im Text der Bildungsstandards selbst sowie in den zahlreichen von der KMK und anderen herausgegebenen Zusatzmaterialien (vgl. KMK 2005b; 2006; 2010) ist immer wieder davon die Rede, dass es im Unterricht der ausgewählten Kernfächer, also auch im Fremdsprachenunterricht, weiterführende Ziele gibt, die über die festgelegten Standards hinausweisen. Betrachtet man jedoch die recht zahlreichen Aufgabenbeispiele, muss man feststellen, dass nicht einmal die aufgelisteten Standards tatsächlich umgesetzt werden. Die Aufgabenformate, die den verschiedenen Beispielen zugrunde liegen, bleiben teilweise hinter den aufgelisteten Anforderungen zurück. Im Zusammenhang mit dem Leseverstehen heißt es in den Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss: Leseverstehen Englisch: Die Schülerinnen und Schüler können weitgehend selbstständig verschiedene Texte aus Themenfeldern ihres Interessen- und Erfahrungsbereichs lesen und verstehen (B1+). Französisch: Die Schülerinnen und Schüler können verschiedene unkomplizierte Texte aus Themenfeldern ihres Interessen- und Erfahrungsbereichs lesen und verstehen (B1). Die Schülerinnen und Schüler können  Korrespondenz lesen, die sich auf das eigene Interessengebiet bezieht und die wesentliche Aussage erfassen (B2),  klar formulierte Anweisungen, unkomplizierte Anleitungen, Hinweise und Vorschriften verstehen (B1/ B2), <?page no="62"?> 62 4. Die KMK-Bildungsstandards - alter Wein in neuen Schläuchen?  längere Texte nach gewünschten Informationen durchsuchen und Informationen aus verschiedenen Texten zusammentragen, um eine bestimmte Aufgabe zu lösen (B1+),  in kürzeren literarischen Texten (z. B. Short Stories) die wesentlichen Aussagen erfassen und diese zusammentragen, um eine bestimmte Aufgabe zu lösen (B1),  die Aussagen einfacher literarischer Texte verstehen,  in klar geschriebenen argumentativen Texten zu vertrauten Themen die wesentlichen Schlussfolgerungen erkennen, z. B. in Zeitungsartikeln (B1/ B1+). (KMK 2004: 12) Beispiel Englisch Das folgende Beispiel ist den Bildungsstandards für den Mittleren Abschluss entnommen (KMK 2004: 28-30); die Aufgabe stammt nach Angaben der KMK aus dem Preliminary English Test (Cambridge University Press, Handbook 2001) Standardbezug Diese Aufgabe illustriert die Fähigkeit, auftragsgemäß Informationen aus verschiedenen Texten zusammenzutragen, um eine bestimmte Aufgabe zu lösen. Hinweise Die Inhalte sind thematisch an der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler orientiert. Die Schülerinnen und Schüler haben mit den vorliegenden Textsorten „Kurzbeschreibung“ und „komprimierte Inhaltsbeschreibung/ Klappentext“ gearbeitet. Das Aufgabenformat „matching“ ist ihnen vertraut. Einfache englischsprachige Arbeitsanweisungen sind erarbeitet und geübt worden. Die Nutzung eines zweisprachigen Wörterbuchs ist möglich. Die folgende Aufgabe ist auf 20-25 Minuten angelegt. Lösungserwartungen Die Schülerinnen und Schüler erfassen im Wesentlichen die Lese-/ Buchwünsche der Personen (1-5). Sie können den Leseangeboten A-H die Informationen entnehmen, die zu einer folgerichtigen Zuordnung der Personen und Buchtitel führen. <?page no="63"?> 63 4.3 Zwei Beispiele aus den KMK-Bildungsstandards für den Mittleren Abschluss Task The people below all want to buy a book. There are also descriptions of eight books. Decide which books (letters A-H) would be most suitable for each person (number 1-5). 1. A young man Robert is planning to travel round the world by train. He would buy a book with pictures and maps to take with him on his long journey. 2. An elderly woman Mrs Jones used to love visiting France, but now she is too old to travel. She wants a book with lots of photographs which will help her to remember everything she enjoyed. 3. A family of four The Harpers are planning to go on holiday round Europe. They intend to drive their car and go for walks, so they need a book with maps and pictures to guide them on their way. 4. A middle-aged man Clive wants to buy a book as a present for his friend Tom. Tom enjoys fishing and driving round England. 5. An adolescent Peter has to write something for his history teacher about world explorers. He wants to know about explorers from the past and their travels to different parts of the world. A. Alan Jowett Jowett’s Railway Centres: Volume I Packed with information about 20 British railway centres, this wonderful book is handwritten and illustrated throughout with clear hand-drawn maps - a true collector’s piece for those who are interested in railways. B. Alan Titchmarsh The English River Alan Titchmarsh explores 18 rivers, telling their interesting story with his appreciation of them. A saying from the past introduces each chapter as his exploration moves across the English countryside. C. Robin Hanbury-Tension The Oxford Book of Exploration This is a collection of the writing of explorers through the centuries. It describes the feelings and experiences of these brave adventurers who changed the world through their search for new lands. <?page no="64"?> 64 4. Die KMK-Bildungsstandards - alter Wein in neuen Schläuchen? D. The Travel Club Train Journey of the World First-hand accounts of 30 of the world’s most beautiful and dramatic railway journeys are found together with specially drawn maps and wonderful photographs that show the people and places on the route. E. Bruce Chatwin Photographs and Notebooks On all his travels, Bruce Chatwin took thousands of photographs and kept daily notebooks. Published here for the first time, the photographs are excellent, the notebooks both scholarly and funny. Will give great pleasure. F. Automobile Association Walks and Tours in France Explore spectacular and pretty France with 61 expertly researched motor tours and 114 walks, complete with route directions, super mapping, and descriptions and pictures of places of interest for the traveler. G. Shirley Pike The Book of French Life This beautiful volume contains forty wonderful photographs that show the very nature of French life - the perfect gift for anyone who finds this country as wonderful as Shirley Pike does. H. Ranulph Flennes Minds over Matter The epic crossing of the Antarctic continent The amazing story of his recent crossing of the Antarctic continent with another explorer, in which both showed great strength and courage. Eine solche Aufgabenstellung ist sicher kein nachahmenswertes Beispiel. Dabei räume ich ein, dass das Thema ‚Reisen‘ im weitesten Sinn einen konkreten Bezug zum Leben von Jugendlichen haben kann. Es wäre sicher besser gewesen, die Aufgabe anders zu gestalten und dabei von den Lernenden selbst auszugehen. Meine Kritik bezieht sich zum einen auf die Verwendung des Englischen: Dabei geht es weniger um Tippfehler bzw. Nachlässigkeiten, die ich im obigen Text verbessert habe (z. B. first-hand statt first hand; forty statt fourty). Die Klappentexte sind adaptiert bzw. didaktisiert. Nach 6 Jahren Englischunterricht könnte man erwarten, dass die Schülerinnen und Schüler authentische Texte dieser Art verstehen. Wie sollen sie sonst gegebenenfalls ein Buch für sich selbst oder zum Verschenken auswählen? Auch das Englisch der Arbeitsanweisungen ist betont einfach gehalten - wie man es von Lehrpersonen offenbar erwartet. Besonders bezeichnend ist die Formulierung: Peter has to write something for his history teacher about world explorers. Wäre es nicht besser zu schreiben: … for an assignment or for a test in his history class? Ein weiterer Kritikpunkt ist das Aufgabenformat selbst: Die Distraktoren sind so gewählt, dass im „matching“ geübte Lernende in der Mehrzahl in der Lage sind, die unpassenden Titel auszusortieren. Dann fällt es nicht schwer, die verbliebenen Bücher <?page no="65"?> 65 4.3 Zwei Beispiele aus den KMK-Bildungsstandards für den Mittleren Abschluss den Personen zuzuordnen. Meiner Ansicht nach können Schülerinnen und Schüler mit Niveau A2 im Durchschnitt die geforderte Zuordnung leisten, wenn sie hinreichend testwise sind. Solche Aufgabenformate - vgl. auch die Hinweise vor der task - leisten einem teaching to the test Vorschub. Beispiel Französisch Schauen wir uns ein Beispiel für den Französischunterricht an, welches nach dem Dafürhalten der KMK-Experten zur Erreichung der Standards führen soll. Der Vergleichbarkeit halber habe ich auch hier einen Text zum Leseverstehen ausgewählt (KMK 2004: 60-62). Es geht um einen Auszug aus dem Roman Rachid, l’enfant de la télé von Tahar Ben Jelloun. Auch dieser Text ist vereinfacht (vgl. Berlin: Cornelsen 1998, 4-6). Standardbezug Die Schülerinnen und Schüler können die Aussage einfacher literarischer Texte verstehen. Hinweise Der Inhalt orientiert sich an der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler. Die Schülerinnen und Schüler haben mit einfachen literarischen Texten gearbeitet. Das Aufgabenformat „multiple choice“ ist ihnen vertraut. Einfache französischsprachige Arbeitsanweisungen sind erarbeitet und geübt worden. Die Nutzung eines zweisprachigen Wörterbuchs ist möglich. Die folgende Aufgabe ist auf 20-25 Minuten angelegt. Lösungserwartungen Die Schülerinnen und Schüler erfassen die wesentlichen Textaussagen und können entsprechend die angemessene Zuordnung in den „multiple choice“-Aufgaben vornehmen. Consigne Lisez le texte et les questions. Marquez la réponse correcte par une croix (X). […] Catastrophe ! La télé tombe en panne ! Malheureux et triste, Rachid tourne en rond 1 dans l’appartement. Il essaye de réparer l’appareil, en vain. Il demande à sa mère s’il peut aller chez les voisins pour regarder la télé, mais les voisins sont absents. Alors il met les écouteurs de son walkman sur les oreilles et ferme les yeux, mais aucune image n’apparaît. Il n’ouvre plus son cartable 2 , ne boit plus son chocolat. Il boude 3 , devient méchant avec sa sœur et, quand son père rentre, il casse une assiette. Puni, Rachid va dans sa chambre sans dîner. […] « Qu’est-ce que je vais devenir sans télé ? se dit-il. Je vais devenir rien, un clochard à la maison, […] ! C’est quoi, cette télé qui ne fonctionne plus ? Ce n’est pas une vraie télé. Je vais écrire dans les journaux et les gens n’achèteront plus cette <?page no="66"?> 66 4. Die KMK-Bildungsstandards - alter Wein in neuen Schläuchen? marque… » Cette nuit-là, il fait un cauchemar : des images de toutes les couleurs envahissent 4 sa chambre, déchirent ses livres et ses cahiers. Elles sortent d’une télévision éteinte 5 et traversent les murs, les fenêtres et même le petit corps de Rachid […]. Il appuie de toutes ses forces sur la télécommande mais rien ne s’arrête […]. Alerté 6 par les cris, son père vient le voir. Rachid est en larmes, […]. Il le serre dans ses bras et promet de lui faire un beau cadeau, un beau voyage au Maroc pour les vacances de Pâques. […] « Les images ne sont que des images, lui dit son père. Que dirais-tu d’aller derrière ses images pour découvrir des paysages merveilleux, des montagnes extraordinaires, des forêts immenses avec des arbres plus hauts que notre immeuble, des plaines infinies, des animaux sauvages, un ciel bleu le jour, plein d’étoiles la nuit … ? Annotations : 1. il tourne en rond - il va et vient ; 2. le cartable - la serviette ; 3. bouder - être de mauvaise humeur ; 4. envahir - entrer dans : 5. une télévision éteinte - qui n’est pas allumée ; 6. alerté - alarmé. 1. Rachid est malheureux parce que …qu’…  A. sa petite copine dont il est amoureux ne lui téléphone pas.  B. la télévision ne fonctionne pas.  C. l’émission qu’il aime le plus va commencer bientôt.  D. il cherche la télécommande. 2. Il veut aller chez les voisins pour …  A. Faire ses devoirs.  B. aller promener leur chien.  C. regarder la télé.  D. leur dire bonjour. 3. Rachid va dans sa chambre sans dîner. Pourquoi ?  A. Il n’a pas faim.  B. Il est trop fatigué.  C. In n’aime pas ce que sa mère a préparé.  D. Il a été méchant. 4. Le garçon décide d’écrire aux journaux. Pourquoi ?  A. Il aime écrire des lettres.  B. Il veut dire aux lecteurs d’acheter une télé d’une autre marque.  C. Il veut connaître le titre d’une émission.  D. Il n’a pas envie de faire ses devoirs. 5. Pendant les vacances de Pâques, son père lui offre un voyage au Maroc. Pourquoi ?  A. Rachid doit connaître sa famille.  B. Rachid a besoin d’un changement de climat pour sa santé.  C. Rachid doit connaître la différence entre les images et la réalité.  D. Rachid doit écrire un article de journal sure les paysages au Maroc. <?page no="67"?> 67 4.3 Zwei Beispiele aus den KMK-Bildungsstandards für den Mittleren Abschluss Ob es sinnvoll ist, einen bereits vereinfachten Text durch zahlreiche Auslassungen noch weiter zu didaktisieren, sei dahingestellt. Auch auf die Tatsache, dass der Romanauszug an der interessantesten Stelle abbricht und den Schülerinnen und Schülern die Reaktion von Rachid vorenthält, möchte ich nur kurz hinweisen. Die Erwähnung eines Lebensbezugs im Vorspann der Aufgabe, wirft die Frage auf, was die KMK-Experten darunter verstehen. Lebensbezug bedeutet in erster Linie Kontakt zur Realität und eine auf die Lebensumstände bezogene Betroffenheit. Allein die Tatsache, dass ein Junge sich darüber ärgert, dass der Fernseher nicht funktioniert, ist für die Schülerinnen und Schüler ohne weiteres nachvollziehbar. Aber inwiefern ist die erzählte Begebenheit dazu angetan, unsere Lernenden betroffen zu machen oder sie auch nur zum Nachdenken anzuregen? Was aber einer Diskussion bedarf, sind die sogenannten multiple choice-Aufgaben. Bei den Aufgabenstellungen in den KMK-Bildungsstandards wird nicht angegeben, ob die vorgestellten Beispiele für den Unterricht oder für Prüfungen gedacht sind. Zu Testzwecken mag man Mehrfachauswahlen durch Ankreuzen konzedieren. Sie lassen sich schneller kontrollieren und leichter bewerten. Generell ist aber zu bedenken, dass die Distraktoren, d. h. die verschiedenen zur Wahl stehenden Möglichkeiten, so gestaltet sein müssen, dass die Ratewahrscheinlichkeit minimiert wird. Das Gestalten solcher Aufgaben ist schwierig und bedarf der Expertise. Ich zitiere aus einer Website der Technischen Universität München: Plausibel und gut formulierte Distraktoren sind neben den interessanten Fragen das A und O guter MC [multiple-choice]-Prüfungen. So können Sie zwar das Problem des Ratens nicht lösen, aber Sie eliminieren die versteckten Hinweise durch inhaltliche oder sprachliche Schwächen. Eine MC-Frage sollte nicht zu knacken sein, weil man das Problem ihrer Konstruktion verstanden hat. (http: / / www.lehren.tum.de/ themen/ pruefungen/ multiple-choice-pruefungen/ letzter Zugriff März 2015) Betrachten wir die Aufgabe 2 genauer: 2. Il veut aller chez les voisins pour …  A. faire ses devoirs.  B. aller promener leur chien.  C. regarder la télé.  D. leur dire bonjour. A. Da er seine Schultasche geschlossen lässt, ist diese Lösung ausgeschlossen. B. Nirgendwo ist von einem Hund die Rede; folglich kommt auch diese Lösung nicht in Frage. C. Im Text heißt es wörtlich „pour regarder la télé“. Worin besteht also die Schwierigkeit? D. Diese Möglichkeit ist höchst unwahrscheinlich, weil Rachid bei seiner schlechten Laune nicht grade daran denken wird, den Nachbarn einen Besuch abzustatten. Mögliche Distraktoren könnten folgende sein: <?page no="68"?> 68 4. Die KMK-Bildungsstandards - alter Wein in neuen Schläuchen? 2. Il veut aller chez les voisins pour  A. ne pas perdre une émission * importante.  B. passer le temps avec les fils des voisins.  C. ne pas passer l’après-midi sans télé.  D. demander si leur téléviseur fonctionne. Voc. : *émission : (Fernseh-)Sendung Es bedarf des genauen Textverständnisses, um sich für C. zu entscheiden. Distraktoren müssen nicht unbedingt kurz sein; in einer Aufgabe sollten sie jedoch ungefähr die gleiche Länge haben. Aber wahrscheinlich haben Sie bessere Einfälle (vgl. Anregungen zum Nachdenken, Diskutieren und Gestalten am Ende des Kapitels). Fazit: Die Aufgabenbeispiele in den KMK-Bildungsstandards für den Mittleren Abschluss (sowie auch für den Hauptschulabschluss) sind aus verschiedenen Gründen unzureichend: Sie lassen einen echten Lebensbezug vermissen und erreichen oft nicht das anvisierte Niveau B1. Es werden keine authentischen Texte verwendet und der Gebrauch des Englischen und Französischen in den Arbeitsanweisungen lässt zu wünschen übrig. Die Aufgabenformate unterstreichen den Fokus der KMK-Bildungsstandards auf messbare Ergebnisse mit dem Ziel des Bildungsmonitoring und der Kontrolle. 4.4 Ein angehender Englischlehrer unterhält sich mit seinem Mentor Zusammen mit zwei anderen Referendarinnen hat Patrick vor wenigen Monaten die 2. Phase seiner Ausbildung an einem Gymnasium begonnen. Sein Mentor ist Erwin Roth, ein älterer Oberstudienrat, während die beiden anderen Referendarinnen einer jungen attraktiven Englischlehrerin zugeteilt wurden. Zunächst war Patrick darüber etwas enttäuscht, aber inzwischen weiß er den Rat und die Umsicht von Mister Roth - die Schülerinnen und Schüler sprechen den Namen englisch aus - sehr zu schätzen. Durch Erwin ist ihm der „Fehler“ vieler Anfänger erspart geblieben: Auf dessen Anraten hat Patrick gleich von Anfang an die Regeln des classroom management festgelegt, damit die Schülerinnen und Schüler wissen, wo es lang geht. Demnächst steht der erste Unterrichtsbesuch an, und Patrick hat Erwin zunächst einmal einen Unterrichtsvorschlag für die 6. Klasse, in der er wegen des Lehrermangels an der Schule bereits eigenverantwortlich unterrichtet, zur Durchsicht mitgegeben. Obgleich Erwin den Vorschlag für sehr gelungen hält, rät er Patrick davon ab, ihn für den Besuch des Fachleiters mit den Kindern zu erarbeiten. Erwin: Inzwischen habe ich mir auch Deinen Unterrichtsvorschlag genau angesehen. Wirklich sehr motivierend! Wie bist du denn auf die Idee gekommen? Patrick: Während meines Austauschjahres in den USA habe ich im Children’s Museum in Brooklyn die Initiative Telling Stories Through Objects kennengelernt. Das ist auch in anderen Zusammenhängen eine gängige Art, um zum kreativen Schreiben anzuregen. Erwin: Das ist ja hoch interessant … <?page no="69"?> 69 4.4 Ein angehender Englischlehrer unterhält sich mit seinem Mentor Patrick: Das finde ich auch. Solche Anregungen gibt es auch für Erwachsene. Zum Beispiel gab es erst vor kurzem wieder eine Initiative der New York Times mit dem Titel What Objects Tell the Story of Your Life? Erwin: Und das Foto hast du sicher aus dem Internet? Patrick: Ja, direkt von der Website des Museums. Dort gibt es eine ganze Sammlung von Gegenständen, zu denen die Kinder Geschichten schreiben können. Aber der Kiwi hat mir schon damals am besten gefallen. Deshalb mein Vorschlag: How the Kiwi Lost Its Wings. Erwin: Das würde bei den Schülerinnen und Schülern sicher gut ankommen. Patrick: Ich verstehe Dich nicht so recht. Wieso „würde ankommen“? Was ist gegen den Plan einzuwenden? Die Kinder erfinden zunächst in ihren Gruppen selbst eine kleine Geschichte. Und später erzähle ich dann die Maori-Sage in vereinfachter Form. Erwin: Nichts. Es ist ein wirklich interessanter Vorschlag, und dein Unterrichtskonzept ist bis auf Kleinigkeiten gut durchdacht. Patrick: Es gab auch allerhand Fantasieobjekte, aber ich hab’ halt gedacht, ein Tier, das es wirklich gibt, macht am meisten Sinn. Erwin: Patrick, du hast vollkommen recht. Und ich rate dir auch unbedingt dazu, deinen Plan im Unterricht umzusetzen, aber nicht für den Unterrichtsbesuch. … Du weißt doch sicher, was ein Erbsenzähler ist. Patrik: Klar, jemand, der alles ganz genau nimmt, ein Pedant eben. Du sprichst doch nicht etwa von …? Erwin: Doch. Wenn du auf mich hörst, gehst du kein Risiko ein. Auf alle Fälle musst du dich an den Bildungsstandards orientieren. Du musst für die Stunde geeignete Formulierungen finden und sie mit der Beschreibung der entsprechenden Kompetenzen aufdröseln. Patrick: Das dürfte doch nicht allzu schwer sein. Die Formulierungen sind doch ohnehin meist recht vage. Erwin. Das ist absolut richtig. Da ist aber noch etwas: Du hast dir doch sicher schon Unterrichtsentwürfe aus dem Internet runtergeladen. Da ist immer angegeben, wieviel Zeit für die jeweilige Unterrichtsphase geplant ist. Nun kann es aber durchaus sein, dass die Kinder, allein schon weil der Inhalt für sie neu und aufregend ist, länger brauchen als vorgesehen. Patrick: Und was ist daran schlimm? Erwin: Du machst mir Spaß! Der Fachleiter beurteilt vor allem, ob du das Ziel der Unterrichtsstunde auch erreichst. Patrick: Jetzt verstehe ich … Annika und Nicole haben schon alles Mögliche mit ihren Schülerinnen und Schülern eingeführt, vermutlich, damit sie ihre recht anspruchsvollen Ziele auch erreichen. Erwin: So machen es die meisten. Damit sage ich nicht, dass ich das gutheiße, aber je nach Fachleiterin oder Fachleiter muss man sich entsprechend anpassen. Deshalb habe ich es immer abgelehnt, Fachleiter zu werden. Patrick: Das ehrt dich. Aber irgendwie deprimierend ist es schon. Da hat man ein Thema, das die Kids vermutlich interessiert und dann passt es nicht. Außerdem heißt es doch immer, dass Lernen Zeit braucht. Erwin: Eine Prüfung ist halt eine Prüfung, da musst du durch. Deinen Kiwi kannst du doch trotzdem unter die Leute bringen. Patrick: Na klar, aber irgendwie hatte ich mir das anders vorgestellt. Da hab’ ich wohl falsch gelegen. <?page no="70"?> 70 4. Die KMK-Bildungsstandards - alter Wein in neuen Schläuchen? 4.5 Folgerungen für den Fremdsprachenunterricht Lehrkräfte, ganz gleich welcher Fachrichtung, sollten sich von den Vorgaben der Bildungspolitik nur dann vereinnahmen lassen, wenn tatsächlich unterrichtsrelevante Ziele - das gilt auch für die Aufgabenformate zu ihrer Testung - in einer für den Unterricht im jeweiligen Fach geeigneten Form vorliegen. Das setzt zum einen voraus, dass die Standards sorgfältig erarbeitet und erprobt wurden. Eine weitere wichtige Voraussetzung ist eine breite öffentliche Diskussion. Das wurde bereits mehrfach betont. Unabdingbar für den Fremdsprachenunterricht sind Inputstandards sowie Vorgaben für die zu erwartenden Lehr-/ Lernprozesse. Sie müssen so angelegt sein, dass sie zum einen gewährleisten, dass die Zielvorgaben auch erreicht werden können. Zum anderen sollten sie aber genügend Spielraum lassen. Lehrpersonen, die aufgrund ihres speziellen Lernkontextes der Überzeugung sind, dass sie die Ziele mit ihren Lernenden auf anderen Wegen genauso gut oder sogar besser erreichen können, dürfen durch die Vorgaben nicht eingeengt werden. Es wäre zum Nachteil aller Fremdsprachenlernenden, wenn der Unterricht allenthalben gleich oder ähnlich gestaltet würde. Lehrpersonen dürfen auf keinen Fall zu Marionetten werden, die detaillierte Standardvorschriften abzuarbeiten haben. Der Freiraum muss aber noch in eine zweite Richtung gehen: Alle Lehrpersonen müssen die Möglichkeit haben, Bildungsziele in ihre Unterrichtsgestaltung einzubeziehen. Mehr noch: So wie kontrolliert wird, ob die Schülerinnen und Schüler die geforderten Leistungen in den Kernbereichen erbringen, sollte auch eine Rechenschaftslegung darüber erfolgen, inwieweit im Unterricht weiterführende Ziele verfolgt werden. Fremdsprachenunterricht liefert nicht nur einen Werkzeugkasten; im günstigsten Fall eröffnet er Horizonte. Die erwähnten Input- und Prozess-Standards können durch Output- oder besser Outcome-Standards ergänzt werden. Letztere sind aber für das Lehren und Lernen eigentlich irrelevant; sie dienen der Orientierung der Leitungs- und der Systemebene der Bildungspolitik, also dem Bildungsmonitoring und zu sonst nichts. Falls bestimmte Schülergruppen die Standards nicht erreichen, muss das nicht unbedingt an der Lehrperson oder der Schule liegen. Vielleicht sind die Input- und Prozess-Standards revisionsbedürftig. Möglicherweise sind die Lehrmaterialien, sprich Lehrwerke, nicht hinreichend auf die Standards (und Kompetenzen) abgestimmt. Oft ist auf dem Einband das Niveau des GeR summarisch angeben; meist halten diese Angaben der genaueren Prüfung aber nicht stand. Außerdem fehlen wahrscheinlich auch Ressourcen, die eine intensivere Zusammenarbeit der Fachkolleginnen und -kollegen an einer Schule ermöglichen würden. Zwar kann man von jeder Lehrperson erwarten, dass sie alle ihre Schülerinnen und Schüler nach Kräften fördert, und mancherorts könnte sicher mehr und vor allem mit mehr Spaß gelernt werden, aber man kann Lehrpersonen nicht für jeden Misserfolg der Lernenden verantwortlich machen. Gerade an Hauptschulen in Ballungsgebieten gibt es eine teils heterogene, teil homogene Schülerschaft aus benachteiligten Schichten, deren Voraussetzungen und deren Umfeld nicht durch Schule, sondern nur - sofern der politische Wille vorhanden ist - durch gesellschaftliche Initiativen verändert werden kann. Auf die Lehrer kommt es an! ? Ja sicher, Lehrpersonen, also auch Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrer, spielen eine wichtige Rolle im Leben von Schülerinnen und Schülern. Aber: Die Schule macht nur knapp 30% des Einflusses auf die Lernenden <?page no="71"?> 71 Anregungen zum Nachdenken, Diskutieren und Gestalten aus (vgl. Berliner & Glass 2014). Ihre Leistungen werden durch ihre Lernvoraussetzungen und ihr Umfeld, vor allem den sozioökonomischen Status des Elternhauses, viel stärker beeinflusst. Zudem spielen bei Jugendlichen und mittlerweile auch schon bei Kindern die Peers, überhaupt soziale Netzwerke, eine größere Rolle als Lehrpersonen. Accountability ist angesagt. Angezeigt ist aus meiner Sicht eine Art Rechenschaftslegung von Lehrpersonen sich selbst gegenüber im Sinne des reflective practitioner. Dabei können geeignete (! ) Testungen von außen Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrer unterstützen. Anregungen zum Nachdenken, Diskutieren und Gestalten 1. Worin besteht Ihrer Ansicht nach der Unterscheid zwischen der Vorgabe von Lernzielen und derjenigen von Standards in Form der KMK-Bildungsstandards? Diskutieren Sie mit anderen Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrern, aber auch mit Kolleginnen und Kollegen anderer Fächer, für die KMK-Standards vorliegen. 2. Warum hat sich die Bildungspolitik, allen voran die KMK, zur verbindlichen Veröffentlichung von Standards entschlossen? Nennen Sie mehrere Gründe. Welche dieser Gründe scheinen Ihnen persönlich besonders wichtig? 3. Sofern Sie an einer Hauptschule unterrichten, erarbeiten Sie einen (kurzen) Unterrichtsvorschlag zur Sprachmittlung. Dabei sollen die Lernenden einer Person, die keinerlei Englisch kann, einen Zusammenhang ihrer Wahl auf Deutsch erklären. 4. Wählen Sie Klappentexte oder sonstige Werbeanzeigen für ca. 10 englischsprachige Bücher, am besten Kinder- und Jugendliteratur, aus, die Ihre Schüler (im 4./ 5.Lernjahr) interessieren könnten. Das setzt voraus, dass Sie die Lesegewohnheiten Ihrer Lernenden kennen. Ist das nicht oder unzureichend der Fall, können Sie vorab eine kurze schriftliche Befragung (auch anonym) durchführen. Gestalten Sie auf dieser Grundlage zusammen mit Fachkolleginnen und -kollegen eine Unterrichtsaktivität, bei der Lesen und Sprechen im Vordergrund stehen. 5. Erarbeiten Sie zusammen mit anderen Französischlehrerinnen und -lehrern mindestens 5 Multiple-Choice-Aufgaben (für das 4./ 5. Lernjahr) zum Romanauszug von Tahar Ben Jelloun, bei denen die Ratewahrscheinlichkeit möglichst eingeschränkt wird. Welche anderen Aufgabenformate, die möglichst mehrere Fertigkeiten und Fähigkeiten verbinden, können Sie sich für den Text vorstellen? <?page no="73"?> 5. Kompetenzorientierung - ein umstrittener Begriff 5.1 Kompetenzorientierungs-Kompetenz? Nur selten beschäftigt sich die Rubrik Fundsachen der Zeitschrift Forschung und Lehre des Deutschen Hochschulverbands mit Fragen, die Schule und Unterricht betreffen. Aber die Bildungsstandards und vor allem die damit verbundene Kompetenzorientierung haben dazu geführt, dass Ende 2014 einige Zitate zur Schulpolitik veröffentlicht wurden. Eignung Das Gymnasium hat die Wurzeln des kalten Lernethos der Nachkriegszeit zu Recht gekappt. Es ist ihm aber nicht gelungen, das Ziel, möglichst viele Bildungschancen zu eröffnen, von einer rein quantitativen Betrachtung frei zu halten. Dass alle Kinder alle Chancen bekommen sollen, muss in einer demokratischen Gesellschaft selbstverständlich sein und legt der Schule zwingend auf, benachteiligte Kinder zu fördern. Wenn die Schule die Förderung aber mit inhaltlicher Verdünnung verwechselt, schadet sie allen Schülern, auch wenn diese das erst nach der Schulzeit zu spüren bekommen. Ein Schulleiter traf den Nagel auf den Kopf: „Aufs Gymnasium gehören die geeigneten Kinder - und die eigenen.“ Den eigenen winkt weitere Entlastung. Die Lehrerbildung arbeitet an der Kompetenzkompetenz. Klaus Ruß, ehemaliger Gymnasiallehrer; zitiert nach Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. November 2014 Während Ruß sich mit dem Niedergang des Gymnasiums auseinandersetzt, sieht ein Journalist der Wirtschaftswoche in der Kompetenzorientierung eine andere Gefahr: Beliebigkeit Dieses Wort „Entrümpeln“, das in bildungspolitischen Diskussionen immer wieder fällt, erinnert nicht umsonst an das Auflösen einer Bibliothek. Es zeigt, dass nach Ansicht der Vertreter der Kompetenzorientierung das meiste, was man bislang glaubte lehren und wissen zu müssen, hinfällig geworden ist. Anstelle des angeblich unnützen Wissens sollen Kompetenzen, also Fähigkeiten erworben werden, die unmittelbar auf die zu lösenden Probleme der künftigen Arbeitsmarktteilnehmer anzuwenden sind. Der Kompetenzbegriff eröffnete den Autoren der Lehr- und Studienpläne ein unendlich weites Feld der Beliebigkeit. Ferdinand Knauß; zitiert nach Wirtschaftswoche vom 20. November 2014 Zwar werden die Meinungen, die Ruß und Knauß vertreten, von zahlreichen Experten und einer breiteren Öffentlichkeit geteilt. Gleichwohl handelt es sich um persönliche Ansichten, die in ihrer Überspitzung nicht unbedingt mit der Realität übereinstimmen müssen (vgl. 5.2). Beim folgenden Zitat handelt es sich jedoch nicht um persönliche Meinungen, sondern um ein Zitat aus einem Bildungsplan: Wahnwelten Die Schülerinnen und Schüler können aufgrund ihres soziokulturellen Orientierungswissens sowie ihres Wissens um zielkulturelle Kommunikationskonventionen in ver- <?page no="74"?> 74 5. Kompetenzorientierung - ein umstrittener Begriff trauten direkten und medial vermittelten Kommunikationssituationen angemessen agieren. Aus der Arbeitsfassung des neuen Bildungsplans für die Hauptschule/ Englisch in Baden-Württemberg; zitiert nach Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. November 2014 Derartige Formulierungen sind kein Einzelfall. In der Schweiz gibt es seit Ende 2014 für die 21 deutsch- und mehrsprachigen Kantone einen einheitlichen Lehrplan für die Volksschule (vom Kindergarten bis einschließlich Klasse 9), den sogenannten Lehrplan 21. Nach Erstellung einer Projekt-Fassung sowie einer öffentlichen Diskussion hat die Deutschschweizer Erziehungsdirektoren-Konferenz (D-EDK) den Entwurf überarbeiten lassen und im November 2014 zur Umsetzung freigegeben (http: / / www.lehrplan.ch; letzter Zugriff Januar 2015). Hauptziel ist nach Angaben der D-EDK eine Harmonisierung der Ziele um der größeren Chancengerechtigkeit willen. Nun liegt es an den einzelnen Kantonen, ob sie den Lehrplan akzeptieren und implementieren. Dieser Lehrplan, der auch die Ziele für die Fremdsprachen Englisch, Französisch und Italienisch umfasst, beschreibt auf 400 Seiten 300 Kernkompetenzen mit mehreren Tausend Abstufungen. Dass es dabei zu vagen Formulierungen und wenig aussagekräftigen Wiederholungen kommt, ist nicht verwunderlich. 5.2 Kompetenzbegriffe - Theorie, Rhetorik und Praxis 5.2.1 Theorie In Kapitel 2 (vgl. 2.3.1) wurde insbesondere im Hinblick auf die Bildungseffekte durch fremdsprachliches Lernen für eine Beibehaltung der Unterscheidung zwischen Kompetenz und Performanz plädiert. Das Lehren und Lernen von Fremdsprachen soll seine Wirksamkeit auch jenseits der messbaren sprachlichen Fertigkeiten und Fähigkeiten entfalten. Da aber im Allgemeinen nur noch von Kompetenzen die Rede ist, wenn es um schulisches Lernen im Gefolge der KMK-Bildungsstandards geht und die mehr oder weniger ausformulierten Kerncurricula der Bundesländer diesen Begriff beibehalten und ‚vervielfältigt‘ haben, müssen wir uns überlegen, von welchem Kompetenzbegriff wir für den Fremdsprachenunterricht ausgehen wollen. Das bedeutet, dass wir aus der Vielzahl von Be- und Umschreibungen von Kompetenz den Terminus auswählen, der unseren Intentionen, über den utilitaristischen Nutzen von Sprachkenntnissen fremdsprachliche Bildung mit den Lernenden zu gestalten, nahe kommt. Nach Rödler (vgl. 2009: 1) steht eine verbindliche Definition von Kompetenz auch deshalb bis heute aus, weil die Mitwirkung verschiedener Wissenschaftsdisziplinen und Fachgebiete die Vereinheitlichung von Erklärungsversuchen kompliziert. In der Regel wird der Kompetenzbegriff auf Heinrich Roth zurückgeführt, aber hauptsächlich mit Klafkis kritisch-konstruktiver Didaktik in Verbindung gebracht. Klafki versteht unter Kompetenz die verantwortungsbewusste Handlungsfähigkeit, in unterschiedlichen Bereichen Probleme zu lösen. Dazu sind Fähigkeiten und Fertigkeiten nötig. Im Kompetenzbegriff von Klafki sind sachliche, methodische und volitionale Elemente miteinander verknüpft. Fähigkeit und Bereitschaft bilden den Kern von Klafkis Kompetenzbegriff. <?page no="75"?> 75 Weinerts bekannte Umschreibung von Kompetenz, auf die sich die OECD stützt, ist ähnlich ausgerichtet. Kompetenzen sind: die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können. (Weinert 2001: 27) Besonders deutlich wird das Zusammenwirken von Wissen, Können und Einstellungen in der Umschreibung von Frey (vgl. auch De Florio-Hansen & Klewitz 2010: 99ff.) : Besitzt eine Person Kompetenz, so kann sie etwas, ist handlungsfähig und übernimmt für sich und andere Verantwortung. Sie besitzt die Kompetenz, so tätig zu werden, dass sie eine Absicht, ein Ziel oder einen Zweck unter Beachtung von Handlungsprinzipien, Werten, Normen und Regeln, mit Bezug auf konkrete, die jeweilige Handlungssituation bestimmende Bedingungen, zu erreichen vermag. Wer Kompetenz besitzt, ist erfolgreich, vernünftig und reflexiv tätig. Somit kann man Kompetenz als ein Bündel von körperlichen und geistigen Fähigkeiten bezeichnen, die jemand benötigt, um anstehende Aufgaben und Probleme zielorientiert und verantwortungsvoll zu lösen, die Lösungen zu reflektieren und zu bewerten und das eigene Repertoire an Handlungsmustern weiterzuentwickeln. (Frey 2006: 31) Die Eigenschaften, die in diesem Zitat beschrieben werden, gelten selbstverständlich auch für den Fremdsprachenunterricht. Sie beinhalten gewisse Merkmale fremdsprachlicher Bildung, weisen aber gleichwohl eine funktionalistische Ausrichtung auf. Zudem sind Kompetenzen in der beschriebenen Art kontextabhängig. Bildung in ihrer Gesamtheit wirkt aber über kontextspezifische Situationen und Probleme hinaus. Folglich ist fremdsprachliche Bildung nicht gänzlich in Kompetenzen zu fassen; sie enthält Anteile, die nicht messbar sind. 5.2.2 Rhetorik Es wäre viel gewonnen, würde der obige Dreiklang von Wissen, Können und Einstellungen in den Bildungsstandards beibehalten. Was wir aber dort vorfinden, ist „Weinert geschrumpft“ (Herzog 2013: 39). In der Expertise zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards erläutern Klieme et al: Sie legen fest, welche Kompetenzen die Kinder oder Jugendlichen bis zu einer bestimmten Jahrgangsstufe mindestens erworben haben sollen. Die Kompetenzen werden so konkret beschrieben, dass sie in Aufgabenstellungen umgesetzt werden können. Die Darstellung von Kompetenzen, die innerhalb eines Lernbereichs oder Faches aufgebaut werden, ihrer Teildimensionen und Niveaustufen, kommt in diesem Konzept ein entscheidender Platz zu. Kompetenzmodelle konkretisieren Inhalte und Stufen der allgemeinen Bildung. (Klieme et al. 2003: 9; Hervorhebungen der Autoren) Obgleich von Bildung die Rede ist, geht es nicht einmal um Kompetenzen im Sinne von Weinert. Einstellungen, d.h. affektive und motivationale Aspekte, können gar nicht in dieser Weise konkretisiert werden. Es bleiben also knowledge und skills (vgl. Popham 2004) übrig, genauer gesagt behavioural objectives. Realitätsnäher ist die Zielsetzung der Bildungspolitik bei Oelkers et al. formuliert (2008: 6): Schulische Inhalte sollen so gelernt werden, „dass daraus am Ende bestimmte Kompetenzen re- Kompetenzbegriffe - Theorie, Rhetorik und Praxis 5.2 <?page no="76"?> 76 5. Kompetenzorientierung - ein umstrittener Begriff sultieren, die sich wiederum nach ihrer Performanz, also den Leistungen und Ergebnissen, unterscheiden“. Anders ließen sich die sogenannten Kompetenzen - es geht ausschließlich um kognitive Dispositionen - nicht messen. Was zudem erstaunt, ist die Diktion. Die Autoren der Klieme-Expertise beschreiben im obigen Zitat, was sie der Bildungspolitik empfehlen und nicht das, was tatsächlich vorliegt. Es geht um die Legitimation eines politischen Steuerungsmodells, welches seine Berechtigung hat, aber nicht mit Bildungszielen von Schule und Unterricht verwechselt werden darf. 5.2.3 Praxis Sich auch beim Lehren und Lernen von Fremdsprachen an Kompetenzen im Sinne von Weinert (2001) zu orientierten, ist sinnvoll, sofern der Unterricht in seiner Gesamtheit nicht darauf beschränkt bleibt. Was wir für die Praxis des Fremdsprachenunterrichts brauchen, sind Kompetenzmodelle. Zwar ist in öffentlichen Verlautbarungen sowie in der wissenschaftlichen Diskussion immer wieder von solchen Modellen die Rede. Bisher liegen aber keine Beschreibungen vor, die den graduellen Erwerb der Kompetenzen durch die Lernenden in systematischer und angemessener Weise unterstützen. Oft werden Klassifikationen von Kompetenzen, wie sie z. B. mit dem GeR vorliegen, als Kompetenzmodelle bezeichnet; es handelt sich dabei aber um Strukturmodelle. Die Modellierungen, die Fremdsprachlehrerinnen und -lehrer über Kompetenzstrukturmodelle hinaus benötigen, sind erprobte Kompetenzentwicklungsmodelle. Wir brauchen solche Entwicklungsmodelle, um den Erwerb der Kompetenzen auch über einen längeren Zeitraum der schulischen Ausbildung planen zu können. Den oben angesprochen Unterschied zwischen den beiden Modelltypen erläutern Criblez und Oelkers wie folgt: Um die Beziehung zwischen Bildungsstandards und Kompetenzen zu konkretisieren, müssen theoretische Kompetenzmodelle entwickelt werden, welche den kumulativen Kompetenzaufbau beschreiben und die Kompetenzen systematisch ordnen […]. Kompetenzmodelle erfüllen im Hinblick auf die Bildungsstandards zwei Zwecke: Einerseits beschreiben sie die Teildimensionen von Domänen oder Schulfächern, in denen die Schülerinnen und Schüler Anforderungen zu bewältigen haben (Komponentenmodell) und andererseits liefern sie Vorstellungen darüber, welche Abstufungen eine Kompetenz annehmen kann und welche Niveaustufen sich bei Schülerinnen und Schülern feststellen lassen (Stufenmodell) […]. (Criblez & Oelkers 2009: 36). Betrachtet man die Konkretisierungen zu den KMK-Standards in den einzelnen Bundesländern, so findet man hauptsächlich das, was die beiden Schweizer Autoren als Komponentenmodelle bezeichnen. (vgl. z. B. das Hessische Kerncurriculum für die Sekundarstufe I). Bisher liegen keine ausgearbeiteten und vor allem empirisch überprüften Kompetenzmodelle vor, die Lehrpersonen die unterrichtliche Umsetzung erleichtern könnten. Auch die mit den Deskriptoren des GeR kalibrierten Testaufgaben, welche das IQB in Berlin inzwischen vorgelegt hat, erfüllen diesen Anspruch nicht. Dass es bisher keine Kompetenzentwicklungsmodelle gibt, hat insbesondere mit der Schwierigkeit ihrer Erstellung zu tun (vgl. auch zum Folgenden Criblez & Oelkers 2009: 37f.) Zunächst einmal müssten die Anforderungen, die mit einzelnen Situationen und Aufgaben verbunden sind, genau analysiert werden. Dabei hängt der Schwierigkeitsgrad nicht nur von der Komplexität des Denkprozesses ab, sondern von den <?page no="77"?> 77 5.3 Learning Progressions - ein Blick über den Zaun Anforderungen der Inhalte sowie denjenigen, die an das Kontextwissen gestellt werden. Außerdem lassen sich Kompetenzniveaus keineswegs immer hierarchisch ordnen. Das gilt für soziale und interkulturelle Kompetenzen, die sich nicht nach ‚niedrig‘ oder ‚hoch‘, sondern eher nach Kompetenzmustern abbilden lassen. Es ist fraglich, ob es für den Bereich des Fremdsprachenlernens in absehbarer Zeit solche gestuften Kompetenzmodelle geben wird. Zwar liegen in der Mathematik sowie den Naturwissenschaften Modelle vor. Es ist aber fraglich, ob und inwieweit sie sich auf andere Fächer, insbesondere die Fremdsprachen, übertragen lassen. Fazit: In Ermangelung einschlägiger Kompetenzentwicklungsmodelle kann die Empfehlung nur lauten, den Aspekt ‚Einstellungen‘ bzw. ‚Haltungen‘ über Wissen und Können hinaus bei möglichst vielen Aufgaben mitzubedenken. Ansonsten: In meinen Augen ist auch (! ) Intuition - Sie können es auch thinking without thinking (vgl. Gladwell 2005) nennen - ein entscheidendes Merkmal der Lehrerpersönlichkeit. 5.3 Learning Progressions - ein Blick über den Zaun Wie handhaben es andere Länder, insbesondere solche, die eine viel längere Erfahrung mit Standards haben als der deutschsprachige Raum? Richtungsweisend für die englischsprachigen Länder sind die USA. Obgleich sich auch dort inzwischen der Begriff competence (im Unterschied zu competencies) im Zuge der adaptive competence der OECD (2010) einzubürgern beginnt, ist in der Regel von learning progressions die Rede. In einem kurzen einführenden Beitrag gibt Nichols (2010) folgende Definition: Learning Progressions describe in words and examples what it means to move over time toward more expert understanding. Learning progressions depict successively more sophisticated ways of thinking about an idea that might reasonably follow one another as students learn. Learning progressions have been referred to by many different names, including progress variables, learning trajectories, progressions of developmental competence, and profile strands. Learning progressions should be developed around the big ideas of a domain. (Nichols 2010: 1) Dabei unterstreicht der Autor die Bedeutung wissenschaftlicher Untersuchungen bei der Festlegung von Verläufen der Kompetenzentwicklung. Nichols schließt nicht aus, dass bestimmte Kompetenzen auf unterschiedlichen Wegen erreicht werden können. Möglicherweise gibt es aber Pfade, die von Kindern und Jugendlichen häufiger beschritten werden als andere. Außerdem räumt er ein, dass learning progressions bisher nur Hypothesen darstellen, weil keine wirklich einschlägigen Langzeitstudien vorliegen. Und selbst wenn diese vorliegen würden, ist zu beachten, dass die Lernverläufe durch den Unterricht unterstützt werden können und dass es keine korrekte Reihenfolge gibt, sondern verschiedene Weg zu einer Kompetenz führen können. Außerdem finden Veränderungen oft gleichzeitig statt, weil die Entwicklung von Kompetenzen sich wechselseitig beeinflusst. <?page no="78"?> 78 5. Kompetenzorientierung - ein umstrittener Begriff Eine umfänglichere Untersuchung mit dem Titel Learning Progressions: Supporting Instruction and Formative Assessment hat Heritage (2008) an der University of California, Los Angeles für eine staatliche Organisation erarbeitet. Dabei bezieht die Forscherin auch Kompetenzentwicklungsmodelle aus anderen englischsprachigen Ländern, z. B. dem U.K, ein. Während bei uns Fertigkeiten und Fähigkeiten häufig getrennt beschrieben werden (vgl. z. B. Hessisches Kultusministerium 2010; 2011), bringt Heritage verschiedene skills miteinander in Verbindung, z. B. Stages of Listening Comprehension and Speaking Skills (Heritage 2008: 8). Zudem weist die Wissenschaftlerin darauf hin, dass Fortschritte beim Lesen (progression in reading) der Vergleichbarkeit halber in ähnlichen Kategorien erfasst sind. Fazit: Wenn wir den Schülerinnen und Schülern im Fremdsprachenunterricht die allmähliche Entwicklung von Kompetenzen beim Lernen erleichtern wollen, müssen wir Bezüge zwischen den Unterrichtsinhalten herstellen und ihnen die Verbindungen erläutern. Das ist insbesondere dann angezeigt, wenn wir ein Lehrwerk benutzen, welches um der vermeintlichen Abwechslung willen aus einer disparaten Ansammlung von Aufgaben und Aktivitäten besteht. 5.4 Lesekompetenz und fremdsprachliche Bildung Das folgende Unterrichtsmodell zum ästhetischen und literarischen Lernen habe ich vor wenigen Jahren im Zusammenhang mit Leseförderung vorgelegt. Bei der Erarbeitung habe ich mich auf die einschlägigen Untersuchungen zum literarischen Lernen aus verschiedenen Didaktiken, auch aus dem Bereich der Muttersprachendidaktik Deutsch, gestützt. Es ist also research-oriented, aber nicht evidence-based. Außerdem ist es teacher-tested, denn es wurde verschiedentlich im Fremdsprachenunterricht erprobt (vgl. De Florio-Hansen 2012a; vgl. auch das Umsetzungsbeispiel von Grevsmühl & Tonak 2012). Übersicht: ästhetisches und literarisches Lernen Legende: Teilkompetenzen a. curriculare Entwicklungsmöglichkeiten b. unterrichtspraktische Hinweise 1. Beim Lesen, Betrachten und Hören Vorstellungen entwickeln a. Imagination, die Fähigkeit, sich selbst ein Bild von etwas zu machen, kann in begrenztem Ausmaß gefördert werden (vgl. auch zum Folgenden Abraham 1999). Es gilt, nach und nach mit den Schülerinnen und Schülern auf eine stärkere Differenzierung und Flexibilisierung ihrer inneren Bilder hinzuarbeiten. Imaginatives Lernen erstreckt sich insbesondere auf  Ausschnitte äußerer und innerer Realität  Sach- oder Problemzusammenhänge  Gedankenwelt und Gefühlslage (Empathiefähigkeit) <?page no="79"?> 79 5.4 Lesekompetenz und fremdsprachliche Bildung Imagination besteht nicht nur darin, sich auf Grund eines Impulses ein Bild machen zu können, sondern beinhaltet letztlich die Fähigkeit, von der konkreten Situation abzusehen bzw. sich vorzustellen, was auch sein könnte. b. Im Rahmen rezeptionsästhetischer Ansätze kann zunächst das große vorstellungslenkende Potential literarischer Texte genutzt werden. Es geht nicht nur darum, Unbestimmtheitsstellen zu füllen, sondern Vorstellungen von einzelnen Figuren, Schauplätzen, wichtigen Motiven und Symbolen zu entwickeln. Die (zusätzliche) Arbeit mit Bildern und Hörtexten unterstützt imaginatives Lernen. Besonders geeignet sind handlungs- und produktionsorientierte Verfahren, z. B. szenische Umsetzungen, Spiele im Sinne von „als ob“, das Zeichnen und Verbalisieren innerer Bilder (im Vergleich mit äußeren Bildern), Textproduktionen, die weitgehend selbstgesteuerte Vorstellungsbildung ermöglichen. Ästhetisch-literarisches Lernen im Gespräch stellt eine zusätzliche Möglichkeit dar, denn es besteht eine dynamische Wechselwirkung zwischen Wahrnehmung, Imagination und Verbalisierung. 2. Sprache und sprachliche Gestaltung aufmerksam wahrnehmen a. Klang und Rhythmus erschließen sich bereits jüngeren Lernenden im Anfangsunterricht. Auch die Wahrnehmung einfacher sprachlicher Gestaltungsmittel, wie z.B. Parallelismus, Reihung, (Wort-) Wiederholung und Opposition, gelingt den Lernenden bei entsprechender Anleitung bereits in den ersten Lernjahren. Nach und nach sollen - über die Grundbedeutung von Wörtern hinaus - auch konnotative Bedeutungen aufgespürt werden, z. B. stilistische, emotionale und affektive Komponenten. Diese assoziativen Elemente stellen nämlich beim ästhetischliterarischen Lernen besondere Anforderungen an Fremdsprachenlernende. Später bieten sich Vergleiche zwischen Alltagssprache und bewusst gestalteter Sprache an. b. Da den Lernenden viele sprachliche Gestaltungsmittel aus Märchen, Kinderliedern und Popsongs bekannt sind, kann man im Unterricht daran anknüpfen. Die Aufmerksamkeit der Lernenden kann auf Wörter mit ästhetischer Wirkung gelenkt werden, indem sie in aufbereiteten Texten entsprechende Lücken füllen oder eigene Texte nach Vorlagen gestalten. Anspruchsvoller sind Vergleiche von (authentischen) Sachtexten mit literarischen Texten zum gleichen Inhalt. Im Rahmen produktionsorientierter Verfahren schreiben die Schülerinnen und Schüler literarische Texte in Sachtexte um. Fortgeschrittene Französischlerner profitieren auch von der (schriftlichen) Ausgestaltung einer Sachtextvorlage zu einem literarischen Text. 3. Subjektive Betroffenheit und genaue Wahrnehmung in Beziehung setzen a. Im Sinne der lebensweltlich bedeutsamen Distanzbildung müssen subjektive Wahrnehmungen mehr und mehr an den Text rückgebunden werden. Im Laufe der Lernjahre wird das Wechselspiel von Subjektivität und Textorientierung durch entsprechende Impulse intensiviert. Persönliche Anteilnahme und zunehmende Aufmerksamkeit für den Text sind Voraussetzung und Ziel ästhetisch-literarischen Lernens. Bei der mitvollziehenden, genauen Lektüre nehmen die Lernenden neue Aspekte wahr, die einen Anreiz zu wiederholter Auseinandersetzung mit dem Text bilden. Der mehrmalige Rückbezug auf den Text kann eine vertiefte Selbsterkenntnis und Selbstreflexion bewirken. <?page no="80"?> 80 5. Kompetenzorientierung - ein umstrittener Begriff b. Trotz mangelnder Messbarkeit zeigt die Lesebiographie-Forschung, dass die Thematisierung des Spannungsverhältnisses von Subjektivität und Textbezug zu nachhaltigen Effekten führt. Im Gegensatz zu Kindern tun sich ältere Schülerinnen und Schüler meist schwer, persönliche, intimere Erfahrungen in der Lerngruppe kundzutun. Hier bietet es sich an, die Kundgabe in Gespräche über Fiktion einzubetten sowie produktiv-kreative Verfahren zu nutzen. 4. Perspektiven literarischer Figuren nachvollziehen a. Eine empirisch ermittelte Progression (vgl. Andringa 2000: 94) sieht folgende curriculare Entwicklung vor :  Jüngere bzw. leseunerfahrene Lernende verstehen den Text aus der Perspektive einer einzigen Figur; sie knüpfen dabei meist ausschließlich an eigene Erfahrungen an.  Durch entsprechende Unterrichtsimpulse lernen sie, Unterschiede zwischen Figuren zu erkennen (Charakter, Gefühle, Ansichten).  Diese unverbundenen Wahrnehmungen werden nach und nach aufeinander bezogen und in Zusammenhang mit der jeweiligen Lebenswelt der Figuren gebracht.  Im Laufe des ästhetisch-literarischen Lernens berücksichtigen die Schülerinnen und Schüler auch die Erzählweise und die Perspektivierung durch den Erzähler.  Schließlich können sie alle bisher genannten Aspekte miteinander in Verbindung bringen.  Fortgeschrittene Lernende können zunehmend besser mit der ambivalenten Verfasstheit von Figuren umgehen. Dabei bewirken Irritationen durch Andersartigkeit sowie Fremdheitserfahrungen eine gesteigerte Selbstreflexion. b. Die Textauswahl, die so weit wie möglich in Absprache mit den Lernenden erfolgt, bestimmt maßgeblich darüber, welche Komponenten dieser Teilkompetenz zum Tragen kommen. Beim Wechselspiel von Identifikation und Abgrenzung versprechen Interaktionen mit Peers besonderen Lernzuwachs. Anhand geeigneter Textbeispiele lernen die Schülerinnen und Schüler, mit Kategorien wie gut/ böse, glücklich/ traurig oder absichtlich/ unabsichtlich zunehmend flexibler umzugehen. Viele (literaturtheoretische) Einzelheiten lassen sich auch an Filmen, Comics und Videoclips erarbeiten. 5. Narrative und dramaturgische Handlungslogik verstehen a. Zunächst geht es um das Herstellen innertextlicher Bezüge, da literarische Texte sich nicht primär auf die außertextliche Realität, sondern auf eine fiktive Welt beziehen. Viele Textstellen versteht man besser, wenn man Verbindungen zu etwas herstellt, was vorher schon im Text dargestellt wurde. Nach und nach lernen die Schülerinnen und Schüler, verschiedene Textpassagen aufeinander zu beziehen und eine Verbindung zum Textzusammenhang herzustellen. Im Laufe der Jahre gilt es, diese Bezüge und Wechselwirkungen in komplexeren Texten zu erkennen, insbesondere solchen, die keine deutliche Kohärenz aufweisen bzw. in denen nicht linear erzählt wird. Fortgeschrittene Fremdsprachenlerner setzen sich darüber hinaus mit der Unterscheidung auseinander: „Was wird erzählt? “ (Ebene der Ge- <?page no="81"?> 81 5.4 Lesekompetenz und fremdsprachliche Bildung schichte/ niveau du récit) und „Wie wird es erzählt? “(Ebene des Diskurses/ niveau du discours). b. Im Unterricht sind bottom-up-Prozesse besonders relevant. Lernarrangements bzw. methodische Verfahren sind so zu wählen bzw. von den Lernenden mitzugestalten, dass der Blick von Einzelheiten auf den Gesamttext gerichtet wird. Die Fähigkeit, solche Bezüge zu erkennen bzw. herzustellen, bewirkt, dass Texte als aussagekräftiger, reicher an Aspekten und damit als interessanter empfunden werden. Unterstützt werden solche Verknüpfungen vor allem durch graphische Darstellungen von Handlungsbezügen, z.B. mind maps oder Diagramme. Vergleiche zwischen literarischen und argumentativen Texten machen den Schülerinnen und Schülern deutlich, dass (logische) Verknüpfungen in (schriftlichen) Argumentationen in aller Regel explizit gemacht werden. In literarischen Texten muss der Rezipient diese Zusammenhänge selbst herstellen. 6. Mit Fiktionalität bewusst umgehen a. Da Fiktionalität ein höchst komplexes Phänomen ist, sollte sich der (Fremdsprachen-) Unterricht auf wichtige Aspekte beschränken. Fiktion, „so tun als ob“, spielt in vielen Lebenszusammenhängen eine bedeutende Rolle. Anhand geeigneter nicht literarischer und literarischer Texte erkennen die Lernenden die grundlegende Bedeutung von Fiktion: Zur Außenwelt tritt eine fiktive Welt hinzu, die der realen Welt mehr oder weniger ähnelt. Das heißt aber nicht, dass faktuale Darstellungen, z. B. Reiseberichte, keinerlei fiktive Elemente enthalten. Umgekehrt greift fiktionale Literatur auf faktuale Darstellungen zurück, vgl. z. B. Tiergeschichten mit Rückgriff auf Expertenwissen. Die Schülerinnen und Schüler legen sich mehr und mehr Rechenschaft darüber ab, dass fiktionale und faktuale Darstellungen sich in ihrer Struktur nicht grundsätzlich unterscheiden. Sie erkennen die Verwobenheit von Fiktion und Realitätsbezug. b. Jüngeren Lernenden kann man die Bedeutung von Fiktion leicht vermitteln; sie können sie sich sogar weitgehend selbst erschließen. Bei Gesprächen über (zunehmend freiere) Rollenspiele stellen sie fest, dass sie so tun als ob, dass die Spielsituation einen wie auch immer gearteten Bezug zur Realität aufweist, dass aber zusätzlich zur fiktiven Welt des Rollenspiels die Außenwelt existiert. Andererseits ist es auch in den ersten Jahren des Fremdsprachenunterrichts nicht schwierig zu zeigen, dass Fabeln nicht zur fiktionalen Literatur gehören. Die Tierfiguren verkörpern menschliche Eigenschaften bzw. Schwächen in einer realen Welt, die es zu verbessern gilt. Fortgeschrittene Fremdsprachenlerner können bei der Lektüre literarischer Texte (und ihrer Umsetzung in andere Medien) die Einsicht gewinnen, dass fiktive Welten oft einen größeren Wahrheitsgehalt aufweisen als faktuale Darstellungen (z. B. Presseberichte) und fiktionale Texte folglich einen besonderen Einfluss auf die Realität haben können. 7. Metaphorische und symbolische Ausdrucksweise verstehen a . Lernprozesse und Lernwege führen hier vom intuitiven Verständnis zum bewussten Erschließen von Metaphorik und Symbolik in nicht literarischen und literarischen Texten. Obgleich sich Metaphern und Symbole im europäischen Sprachraum ähneln, sind nach und nach kulturelle Unterschiede zu erfassen. Dabei sollten das Vergnügen am Entdecken und die Freude am Reiz des Andersartigen durch geeignete Textbeispiele gefördert werden. <?page no="82"?> 82 5. Kompetenzorientierung - ein umstrittener Begriff b. Es bietet sich an, von Metaphern und Symbolen der Fremdsprache und der deutschen Alltagssprache auszugehen. Dabei ist u. a. die Popmusik eine Fundgrube. Aber auch kurze literarische Formen, insbesondere Gedichte, tragen zum Erwerb dieser Teilkompetenz ästhetisch-literarischen Lernens bei. Vor allem literarische Texte sind auf satzübergreifende „Bildzusammenhänge“ hin zu untersuchen. Eigenes Schreiben, in das Metaphern und Symbole - zunächst nach Vorlage - eingebaut werden, schärft die Aufmerksamkeit. 8. Sich auf die Relativität des Sinnbildungsprozesses einlassen a. Besonders jüngere Lernende erwarten klare Ergebnisse; sie wollen wissen, was richtig ist. Ästhetisch-literarisches Lernen muss bei Schülerinnen und Schülern die Einsicht fördern, dass es nicht in allen Bereichen des Unterrichts eindeutige Resultate geben kann. Die Lernenden entwickeln nach und nach Verständnis für die komplexen Sinnzusammenhänge und Ambivalenzen in literarischen Texten. Durch eine kontinuierliche Überprüfung von Deutungen und Sinnbildung am Text haben sie Gelegenheit, selbst festzustellen, dass in vielen Fällen - abhängig vom individuellen Leser - mehrere Deutungen möglich sind, andere Interpretationen aber ausgeschlossen werden können. b. Fremdsprachenlernenden kann zunächst bewusst gemacht werden, dass sie in ihrem alltäglichen Umfeld mit zahlreichen Ambivalenzen leben (z. B. Popmusik, Stars, Outfit). Von der Mehrdeutigkeit literarischer Texte können sich Lernende u.a. durch eine kurze schriftliche Befragung Rechenschaft ablegen: Sie stellen den Mitschülerinnen und -schülern einer Parallelklasse, die die Lektüre eines literarischen Textes vor nicht allzu langer Zeit abgeschlossen hat, einige offene Fragen. Die Auswertung wird zeigen, dass höchst individuelle Sinnbildungen vorkommen (vorausgesetzt, der Unterricht ist rezeptionsästhetisch ausgerichtet). Während bzw. nach der Klassen-Lektüre vergleichen sie in Tandems oder Dreier-Teams eigene Eindrücke und Deutungen mit denen von Peers und diskutieren im Plenum darüber. 9. Mit dem ästhetisch-literarischen Gespräch vertraut werden a. Bei der Ausbildung ästhetisch-literarischer Kompetenz spielt die sogenannte Anschlusskommunikation eine besondere Rolle. Während und nach Lesephasen tauschen sich die Lernenden immer häufiger und intensiver über ihre Texterfahrungen aus. Dabei kommt es nicht nur darauf an, eigene Wahrnehmungen und Deutungen sowie die Erfahrungen mit dem individuellen Leseprozess kundzutun, sondern auch, die Deutungen anderer ernst zu nehmen und sich mit ihnen konstruktiv-kritisch auseinanderzusetzen. Um sich in diese Gespräche innerhalb und außerhalb des Unterrichts angemessen einbringen zu können, müssen die Schülerinnen und Schüler nach und nach entsprechende Ausdrucksformen erlernen und anwenden. b. Die zu erarbeitenden Sprachmittel zum Sachfeld prendre part à des discours sur la littérature beziehen sich im Wesentlichen auf vier Aspekte:  expressive Formen der subjektiven Kundgabe  mit Wahrheitsanspruch geäußerte Behauptungen  erklärende Äußerungen für den Austausch von Argumenten  Sprachmittel zur Erörterung verschiedener Deutungen <?page no="83"?> 83 5.4 Lesekompetenz und fremdsprachliche Bildung 10. Prototypische Vorstellungen von Gattungen/ Genres gewinnen a. Diese Teilkompetenz sollte in besonders enger Abstimmung mit dem Deutschunterricht (weiter-) entwickelt werden. Die Schülerinnen und Schüler lernen nach und nach die wichtigsten französischen Begriffe kennen. b. Durch die Werkauswahl kann die Orientierung hinsichtlich der Vielfalt französischsprachiger Literatur beeinflusst sowie eine (zumindest teilweise) Sensibilisierung für (kulturell) abweichende literarische Formen und Muster erreicht werden. 11. Bewusstsein für intertextuelle und intermediale Bezüge entwickeln a. Entwicklungsmöglichkeiten für diese Teilkompetenz beziehen sich nur in geringem Maß auf literaturgeschichtliche Kategorien, zumal Epochenbegriffe höchst umstritten sind. Den Schülerinnen und Schülern ist im Laufe der Jahre die Einsicht zu vermitteln, dass literarische Texte sich meist in irgendeiner Form auf vorausgegangene Texte beziehen, sei es durch Weiterführung, sei es durch Opposition (zur Intertextualität vgl. Anmerkung 4). Aufgrund der dominanten Rolle der digitalen Medien im Alltag der Lernenden dürfte die Auseinandersetzung mit intermedialen Bezügen sie besonders motivieren (zur Intermedialität vgl. Anmerkung 4). Neben dem gezielten Wechsel zwischen Medien ist ihnen die nachträgliche Umsetzung eines Werks in ein anderes Medium sicher geläufig (z. B. Literaturverfilmungen, Graphic Novels). b. Einsichten in Intertextualität und Intermedialität lassen sich am besten anhand von Beispielen aus jüngster Zeit fördern (zumal Fremdsprachenlerner häufig nicht über das notwendige literaturhistorische Wissen in der Fremdsprache verfügen können). Wie bereits erwähnt, gelten alle in der Übersicht beschriebenen Teilkompetenzen auch für medienästhetisches Lernen. Verbindungen von Text - Bild - Ton entsprechen dem alltagsweltlichen Erfahrungshorizont der Schülerinnen und Schüler. Um eine angemessene audiovisuelle Kompetenz auszubilden, bietet es sich an vielen Stellen an, literarisches und medienästhetisches Lernen zu verbinden. 12. Narrationen und Selbstdarstellungen an Vorbildern bzw. Mustern orientieren a. Anregungen für das eigene Erzählen können zunächst von Wörtern, Satzstrukturen und Redewendungen ausgehen. Mehr und mehr kann bei den eigenen Darstellungen auch eine Orientierung an Sprachbildern sowie an weiteren literarischen und medienästhetischen Gestaltungselementen erfolgen. Empirische Untersuchungen haben gezeigt, dass Lernende sich bei entsprechender Anleitung rasch von den Vorgaben lösen. b. Die Lernenden sind folglich - ausgehend von Lenkung und Imitation - über die Loslösung von Vorbildern zu eigenen Darstellungen und Gestaltungsversuchen anzuregen. Die anschließende Analyse ist ein wichtiger Aspekt beim Erwerb narrativer und medienästhetischer Handlungs- und Produktionskompetenz. 13. Ästhetische Lernprozesse, insbesondere Leseerfahrungen, steuern und evaluieren a. Leseförderung mit dem Ziel der Entwicklung einer alltagtauglichen Haltung, die Lesegenuss verspricht, ist auf die Ausbildung von Lesestrategien gerichtet. Damit sind nicht etwa Strategien des skimming oder scanning gemeint, die im Rahmen des <?page no="84"?> 84 5. Kompetenzorientierung - ein umstrittener Begriff Leseverstehens gefragt sind. Vielmehr handelt sich bei Strategien mit dem Ziel des Leseerlebens um kognitive, emotionale und soziale Handlungen vor, während und nach Phasen der „privaten“ Lektüre. So informieren sich beispielsweise viele Leserinnen und Leser vorab über möglichen „Lesestoff“, sie sehen in ihrer Freizeit bestimmte Zeiten für das Lesen vor und schaffen sich ein Ambiente, in dem sie mit Genuss lesen können. Vor, während und nach der Lektüre tauschen sie sich häufig auch mit anderen Lesern aus, lesen Rezensionen und greifen Anregungen aus den Medien auf. b. Nach und nach, insbesondere nach Lesephasen im Unterricht, sind bestimmte Lesestile behutsam zu thematisieren. Warum identifiziert sich ein Kind oder ein Jugendlicher mit einem bestimmten nicht literarischen oder literarischen Text mehr, weniger oder gar nicht? Empirische Untersuchungen bei Erwachsenen legen eine Unterscheidung in reflektierende, selbstbestimmte und bewältigungsorientierte Lesestile nahe. Mündliche und schriftliche Befragungen von Schülerinnen und Schülern zur Lese- und Erzählhaltung geben Lehrkräften sowie den Lernenden selbst Aufschluss über die jeweiligen Motive. (in Anlehnung an Spinner 2006) Fazit: Bildung, Kompetenzorientierung und Performanz schließen sich nicht aus . Anregungen zum Nachdenken, Diskutieren und Gestalten 1. Warum wird am Kompetenzbegriff der KMK-Bildungsstandards häufig Kritik geübt? Diskutieren Sie gegebenenfalls mit Kolleginnen und Kollegen anderer Fachrichtungen. 2. Was hätte die Bildungspolitik aus Ihrer Sicht bei der Vorgabe und Umsetzung der Kompetenzorientierung anders bzw. besser machen können? Inwieweit könnten Sie in einer festen Arbeitsgruppe mit Fachkolleginnen und -kollegen bestimmte Mängel ausgleichen? 3. Warum haben sich Klieme und andere Experten bei der Beschreibung des Kompetenzbegriffs auf Wissen und Können beschränkt? 4. Was beschreibt ein Kompetenzstrukturmodell (Komponentenmodell)? Was stellt ein Kompetenzentwicklungsmodell (learning progressions) dar? Nennen Sie konkrete Beispiele und vergleichen Sie Ihre Ergebnisse mit denen von Kolleginnen und Kollegen. 5. Wählen Sie für eine ihrer nächsten Unterrichtseinheiten einen (möglichst authentischen) literarischen Text aus (4./ 5. Lernjahr) und erproben Sie an ihm einige der in der Übersicht dargestellten Teilkompetenzen (vgl. 5.4). <?page no="85"?> 6. Bildung durch Fremdsprachen - mehr als erwartet 6.1 Motive für das Fremdsprachenlernen Weiter oben (vgl. 2.3.1) habe ich Sprachbewusstheit, Inter-/ Transkulturalität sowie ästhetisch-literarische Kompetenz als wichtige Komponenten fremdsprachlicher Bildung genannt. Diese gängigen Aspekte möchte ich in diesem Kapitel erweitern und vertiefen. Um herauszufinden, warum jemand eine oder mehrere Fremdsprachen lernt, habe ich Interviews mit Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrern geführt. Dabei habe ich nach den Motiven erwachsener Lernender gefragt, weil viele Erwachsene sich aus eigenem Antrieb für das Erlernen einer ihnen bis dahin unbekannten Sprache entscheiden. Zudem erfolgt die Wahl bei Erwachsenen in der Regel bewusster als bei Kindern und Jugendlichen. Schülerinnen und Schüler sind durch die Vorgaben der Politik und das Angebot ihrer Schule eingeschränkt. Die erste Fremdsprache lernen sie, weil es im Stundenplan so vorgesehen ist und sie keine andere Wahl haben. Damit möchte ich nicht andeuten, dass es vielen Schülerinnen und Schülern keinen Spaß macht, wenn sie sich erst einmal mit der Sprache, dem Unterricht und der Lehrperson „angefreundet“ haben. Auch bei den folgenden Fremdsprachen sind die Wahlmöglichkeiten der Lernenden eigeschränkt. Manche, die gezwungenermaßen eine bestimmte zweite Fremdsprache lernen, lehnen das Fremdsprachenlernen nicht per se ab. Sie hätten aber lieber eine andere Sprache gelernt. Dabei spielen die zu Hause gesprochenen Sprachen ebenso eine Rolle wie der Einfluss von Peers. 6.1.1 Sich selbst neue Perspektiven eröffnen Das folgende Interview habe ich mit einer erfahrenen Lehrerin geführt, die sowohl an allgemeinbildenden Schulen als auch in der Erwachsenenbildung seit Jahren Englisch und Spanisch unterrichtet. Ich gebe das gesamte Gespräch wieder, während ich mich bei den folgenden Interviews auf die Passagen beschränke, die sich auf fremdsprachliche Bildung beziehen, also auf das, was über den konkreten Nutzen hinausweist. (Legende: F = Frage; A = Antwort) F.: Ihrer Erfahrung nach, warum lernen Menschen als Erwachsene Fremdsprachen? A.: Für mich gibt es zumindest im Moment so drei Kategorien. Zum einen weil sie ins Ausland reisen, vor allen Dingen inzwischen ins spanischsprachige Ausland, aber generell weil sie ins Ausland reisen und merken, ohne Englisch komme ich schlecht zurecht, ich brauche also Englisch, oder eben für Spanisch genauso, dass sie außerhalb der Ferienanlage sich doch einmal ein bisschen mehr bewegen möchten und sich dann ganz schnell hilflos fühlen, wenn da keiner Deutsch spricht. Das ist schon eine große Motivation. Die zweite Gruppe hat irgendwie Verwandte im Ausland, mit denen sie kommunizieren möchten, und die dritte Gruppe ist die, die früher viel stärker vertreten war, die einfach gern eine Sprache lernen möchte, weil sie gern eine Sprache lernen möchten. Einfach so … F.: hm, hm <?page no="86"?> 86 6. Bildung durch Fremdsprachen - mehr als erwartet A.: von wegen wie: ich belege jetzt mal einen Malkurs oder einen Mathematikkurs oder einen EDV-Kurs und jetzt mal einen Sprachkurs. F.: Was veranlasst denn ihrer Ansicht nach die Leute zu sagen, keinen Malkurs, sondern einen Sprachkurs? A.: Ja, gut, das, meine ich, liegt wirklich schon ein bisschen in der Person, was man für Neigungen hat, also, ja, wo man mehr Talente hat, und wie anfangs in der Schule auch, ob man sich eher im Kunstunterricht oder im Sprachunterricht wohlfühlt, da würde ich tatsächlich sagen, so ein Talent oder Interesse hat man oder hat man nicht. F.: Welchen Gewinn bringt das Fremdsprachenlernen aus Ihrer Sicht darüber hinaus, z. B. über die beiden ersten Kategorien hinaus, die Sie genannt haben? A.: Also zumindest was die Erwachsenenkurse angeht oder was die Kurse bei mir anbelangt, ist es auch ein sozialer Aspekt. Die Leute kommen auch, um in der Gruppe zu lernen und nicht allein zu Hause zu sitzen, ähm, ich lege auch großen Wert auf die Arbeit in der Gruppe, auf das gemeinsame Lernen, dass nicht jeder nur mit mir spricht, sondern versuche auch schon von der Sitzform her, dass wir uns im Kreis zusammen setzen nach Möglichkeit oder wenigstens in Hufeisenform, damit eben nicht nur das Gespräch zwischen dem Einzelnen und mir stattfindet sondern in der Gruppe. Ich bin der Meinung, es hat was mit Konversation zu tun und (lacht kurz) mit Kommunikation, das heißt also dass die Leute sich auch untereinander zumindest angucken können und auch voneinander lernen auf jeden Fall, also ich bin auch niemand, der gerne so alleine zu Hause vor sich hindümpelt, ich bin schon der Meinung, beim Lernen kann man sich auch austauschen und dass das fruchtbar ist. F.: hm, hm A.: und auch von dem, was andere sagen, lernen und reflektieren, passt mir das so oder passt mir das nicht, jedenfalls, ähm, was hätte ich dazu zu sagen. Ich meine, es ist ein Gruppenprozess, F.: hm, hm A.: und die Leute kommen auch nach einer Weile, weil sie gern auch in der Gruppe sind, weil sie Lernfortschritte sehen, das halte ich schon für eine große Motivation, dass sie sich da geborgen fühlen. Sie suchen da auf jeden Fall noch einen Außenpunkt zu den Sachen zu Hause, wo sie hingehen können, aber auch gleichzeitig was lernen können, Leute kennenlernen, sich austauschen können. Die Erwachsenenbildung, also die Bücher, finde ich eigentlich ganz vorbildlich, da geht es eben immer viel auch eben um einen selbst, ähm, man hat Gelegenheit, überhaupt einmal, oder man wird darauf gebracht, überhaupt mal über sich nachzudenken, was mache ich normalerweise so, oder was werden meine Pläne sein, wie ist mein Leben eigentlich so, und man kann sich eben mit anderen auch darüber austauschen. Und das schafft immer eine ganz gute Stimmung. F.: Sie selbst haben mal gesagt, Fremdsprachen lernt man auch oder lerne ich, um die Welt noch einmal mit anderen Augen zu sehen. Können Sie sich daran erinnern? A.: Ja, kann ich mich daran erinnern, also, ich meine ganz konkret auch an dem Beispiel, dass ich nicht nur/ zum einen weil ich darstellen muss, wie lebe ich eigentlich, oder auch kontrastiv sehe in den Büchern oder bei meinen Mitlernenden, wie leben andere, lernt man durchaus, die Welt mit anderen Augen zu sehen; also man sieht, dass es außer dem eigenen Verhalten auch noch andere Möglichkeiten gibt, ähm, mit der Fremdsprache noch viel extremer als im eigenen Land; aber ich <?page no="87"?> 87 6.1 Motive für das Fremdsprachenlernen würde das immer auch bis ins Kleine herunterbrechen, von der eigenen Person auf meinen Nachbarn, meinen Beisitzer F.: hm, hm A.: aber man sieht es noch deutlicher, wenn es um fremde Sachen geht; ich finde auch gerade Fomulierungen, die ganz anders sind in der Fremdsprache als im eigenen Land, dass es Sachen gibt, die es im eigenen Land gar nicht gibt und umgekehrt, weitet ja auch irgendwo den Blick. F.: Wie könnte man denn Kinder und Jugendliche, ich denke jetzt also an den schulischen Fremdsprachenunterricht, wie könnte man sie denn stärker auf solche Bildungsziele hinweisen? Meistens sagen die Lehrer ja: lern das, lern Englisch, dann kannst du dich verständigen, das brauchst du für deinen Beruf usw. Nun gibt es ja noch etwas anderes: Wie könnte man die Schülerinnen und Schüler darauf einstimmen? A.: Einstimmen ist ein gutes Wort. Also ich bedauere immer, dass im Anfängerunterricht eigentlich so wenig, wie soll ich sagen, so wenig Sorgfalt darauf gelegt wird. Man rennt los und denkt halt, die sollen jetzt eben Englisch lernen oder irgendeine andere Fremdsprache. Und ich bin eben der Meinung, dass die vorgenannten Sachen doch stark zusammenhängen und dass es auch eine fremde Sprache ist. Meiner Meinung gehört einfach dieses Feedback dazu, wie finde ich das überhaupt, dass ich das jetzt lernen soll oder … Auch das Gefühl des Schülers zu dieser Sprache wird eigentlich vollkommen negiert. Ich sage auch manchmal schon zu den Schülern, ähm, das ist ein komisches Wort oder? Ganz schwer auszusprechen zum Beispiel, und wollen wir das noch einmal üben? Oder wir können uns das auch mal auf der Zunge zergehen lassen oder auch noch einmal hören, wie seltsam das klingt, und ich sage gerne auch mal, und jetzt sagen wir es noch dreimal und es klingt noch genauso komisch. Also solche Aspekte werden vollkommen vernachlässigt. So eine Barriere, die die meisten Kinder auch haben, dass es etwas Fremdes für sie ist, das wird überhaupt nicht thematisiert. Das wäre ein Punkt, ja, den ich anführen würde, das sollte man tun. Ich würde mich auch viel länger mit der Aussprache beschäftigen, weil es eben sehr wichtig ist für die Fremdsprache, dass das auch schön klingt; auch da wird eigentlich ziemlich drüber hinweggegangen. Es ist erschreckend, wie schaurig die Aussprache noch nach vielen Jahren ist, wo scheinbar niemand darauf achtet, dass so eine Sprache auch eine Sprachmelodie hat, dass eine Aussprache überhaupt vorhanden sein sollte. Meiner Meinung nach würde das auch den Kindern wesentlich mehr Spaß machen, das eben perfekter auszudrücken, ganz unabhängig vom Inhalt, schon einfach der Klang der ganzen Geschichte. Lesen, noch nicht einmal vom Verständnis gesprochen, sondern einfach die Wörter aussprechen zu können, und eben ja, dieser Lustaspekt, den ich vorhin noch nicht genannt habe, dass einfach für viele Leute das Mündliche ein ziemlich wichtiger Aspekt ist. Das ist überhaupt nicht zu negieren, dass es eben auch schön ist, sich das eine oder andere Wort im Munde zergehen zu lassen oder im Ohr noch einmal klingen zu lassen; oder man könnte, wenn man nach bestimmten Theorien geht, dass man sie es schreiben lässt oder anfassen oder gestalten lässt oder so etwas, das würde meiner Meinung nach im Anfängerunterricht viel helfen und würde viele Mankos im Fortgeschrittenenunterricht gar nicht aufkommen lassen. Das können sie lernen. F.: Vielen Dank. <?page no="88"?> 88 6. Bildung durch Fremdsprachen - mehr als erwartet Es ist nicht so sehr der soziale Zusammenhalt in Kursen der Erwachsenenbildung, der mit Blick auf den schulischen Fremdsprachenunterricht interessiert. Ohne Zweifel ist die Gruppenbildung ein wichtiger Gesichtspunkt; er hat aber nicht direkt etwas mit dem Fremdsprachenlernen zu tun. Das, was viele Erwachsene in Kursen von Volksbildungsstätten finden, nämlich das Gruppenerlebnis, bietet auch ein Mal-, ein Mathematik- oder ein EDV-Kurs. Es sind hauptsächlich zwei Punkte, die aus meiner Sicht für uns relevant sind. Zum einen finde ich den Hinweis meiner Interviewpartnerin bedenkenswert, dass der Unterricht den Lernenden einen Blick auf ihr eigenes Leben eröffnet. Es ist erstaunlich, dass sie deutschsprachigen Kommunikationspartnerinnen und -partnern gegenüber in der Fremdsprache ihre persönlichen Ansichten offenlegen und ihre Vorhaben diskutieren. Ich bezweifele, dass sie ähnliche Gespräche mit „fremden“ Menschen auf Deutsch führen würden. Wie die Lehrerin anmerkt, fördern und stützen die Lehrwerke für die Erwachsenenbildung dieses Vorgehen. Da diese Lehrmaterialien nicht die gesamten curricularen Vorgaben von 16 Bundesländern einarbeiten und auch kein Genehmigungsverfahren durchlaufen müssen wie Schulbücher, sind sie in der inhaltlichen (und methodischen) Ausrichtung sehr viel freier. Außerdem ist es fraglich, ob Kinder und Jugendliche so „mitspielen“ würden wie Erwachsene, steht hier doch stärker im Vordergrund, was die Peers „cool“ finden. Dennoch sollten wir besonderen Wert darauf legen, unseren Schülerinnen und Schülern den geschützten Raum der Fremdsprache für einen Blick auf das Selbst zu eröffnen. Im Fremdsprachenunterricht mit Kindern und insbesondere mit Jugendlichen müssen besondere Anlässe geschaffen werden, um Gespräche über die eigene Person in der Fremdsprache zu ermöglichen. Zum anderen weist meine Interviewpartnerin auf den ästhetischen Genuss beim Erlernen einer fremden Sprache hin. Für viele Menschen geht von einer bestimmten Fremdsprache eine Faszination aus, die meist durch ihren Klang hervorgerufen wird. Daher empfiehlt sie auch, sich fremdsprachige Wörter auf der Zunge zergehen zu lassen und sie wiederholt auszusprechen, um ihnen die Fremdheit zu nehmen. Dieser Aspekt sollte in jedem Fremdsprachenunterricht von Anfang an durch motivierende spielerische Aktivitäten hinreichende Beachtung finden. Dabei ist auch zu bedenken, dass es weniger Normverstöße im lexikalischen und/ oder grammatischen Bereich sind, die native speakers ungeduldig werden lassen. Schon früh sollten Schülerinnen und Schüler in persönlichen Kontakten erfahren, dass das Bemühen um eine verständliche und angemessene Aussprache von native speakers besonders gewürdigt wird, weil diese Anstrengung zeigt, dass man auch in der Fremdsprache die Kommunikation erleichtern möchte. Auch das kann neue Perspektiven eröffnen. 6.1.2 Eine fremdsprachliche Identität entwickeln Eng verbunden mit der im vergangenen Abschnitt angesprochenen Entfaltung der Persönlichkeit ist die Ausformung einer fremdsprachlichen Identität. Mehrere Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrer bringen das unterschiedlich auf den Punkt. Im Wesentlichen geht es um das Gleiche, nämlich um die Erweiterung der eigenen Identität: Fremdsprachlernen entwickelt Persönlichkeit in besonderer Weise, weil allein schon durch die Art und Weise, wie in anderen Sprachen Sachverhalte ausgedrückt werden, ein Perspektivwechsel erfolgt, und der eigene Horizont erweitert wird. Hinzu kommen interkulturelle Erfahrungen (auch ohne Reisen oder echte Begegnungen - beispiels- <?page no="89"?> 89 6.1 Motive für das Fremdsprachenlernen weise durch Literatur), die ebenfalls stark zur Persönlichkeitsbildung und Horizonterweiterung beitragen. Damit ermöglicht Fremdsprachenlernen eine befriedigendere Teilhabe am gesellschaftlichen Diskurs, etwa weil man im Internet zu aktuellen Themen auch in fremdsprachigen Zeitungen, Blogs etc. „stöbern“ kann. Fremdsprachenlernen fördert ‚Fremdverstehen‘ und damit das friedliche Zusammenleben der Menschen. (Lehrerin für Französisch, Italienisch und Latein) Diese Überlegungen werden durch folgende Ausführungen ergänzt: Der Zuwachs an interkultureller Kompetenz und Frustrationstoleranz gegenüber anderen Lebensgewohnheiten, die durch das Anwenden der erlernten Sprache im Land unter Muttersprachlern gewonnen wird, hilft sicher auch weiter im Umgang mit als schwierig empfundenen Muttersprachlern im eigenen Land, steigert also deutlich die allgemeine soziale Kompetenz der Lernenden und gleichzeitig ihr Selbstbewusstsein. (Lehrerin für Englisch) Zur Verdeutlichung dessen, was mit fremdsprachlicher Identität gemeint ist, möchte ich zwei Begebenheiten, eine persönliche und eine zweite aus einem der geführten Interviews kurz wiedergeben. Als ich am Sprachenzentrum der Universität an einen Englischkurs teilnahm, stellte ich nach und nach fest, dass der Dozent - er hatte mehrere Jahre in den Südstaaten der USA gelebt - für die Todesstrafe eintrat, wenn er Englisch sprach, z. B. wenn wir über den Film „Dead Man Walking“ diskutierten. Unterhielt man sich mit ihm auf Deutsch, wies er die Todesstrafe weit von sich. Daraus schloss ich, dass eine Fremdsprache und vor allem das kulturelle Umfeld offensichtlich auch auf Nicht-Muttersprachler großen Einfluss ausüben können. Eine Art Bestätigung entnahm ich der Schilderung eines befreundeten Englischlehrers. Während des Studiums hatte er eine Austauschstudentin aus Norwegen kennengelernt, mit der er mal Deutsch, mal Englisch sprach, bis sie eines Tages zu ihm sagte: „Ich mag dich lieber, wenn du Englisch sprichst.“ Ganz offenbar war er „ein anderer“, wenn er sich auf Englisch mit ihr unterhielt. Er selbst erläuterte mir, dass die identitätserweiternde Kraft nicht ausschließlich auf die fremde Sprache zurückzuführen ist, sondern auch auf die kulturellen Gegebenheiten. Selbst in englischer Sprache existieren unterschiedliche Welten: Er hat selbst erfahren, dass beispielsweise Gefühle in Australien, den USA und dem UK - er hat in diesen Ländern jeweils mehrere Jahre verbracht - unterschiedlich versprachlicht und Geschichten ganz anders erzählt werden. 6.1.3 Lehren und Lernen fremder Sprachen - ein Beitrag zum Miteinander Eine weitere Interviewpartnerin stellte im Zusammenhang mit meiner Frage, warum Menschen als Erwachsene Fremdsprachen lernen, eine berechtigte Forderung auf: In Deutschland selber haben wir doch viele Nationen hier, denen wir helfen sollten sich zurechtzufinden und das heißt auch deren Sprache wir sprechen sollten, um damit entsprechend beraten zu können; und das sehe ich gerade aus beruflicher Sicht, das betrifft die Amtshilfe, die Verwaltung, das betrifft aber auch die Empfehlung für Schulen und Möglichkeiten hier, Sprache, d. h. die Muttersprache von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund, für das Erlernen der deutschen Sprache nutzen zu können. (Lehrerin für Englisch an beruflichen Schulen) <?page no="90"?> 90 6. Bildung durch Fremdsprachen - mehr als erwartet Wahrscheinlich fragen Sie jetzt: Soll ich denn auch noch Türkisch lernen? Es würde Ihnen sicher helfen, eine andere Sicht auf Menschen mit Migrationsgeschichte, nicht nur ihre Schülerinnen und Schüler, zu gewinnen. Fazit: Fremdsprachliche Bildung ist so facettenreich, dass es nicht schwierig sein dürfte, wichtige Einzelheiten in fremdsprachliche Lernarrangements einzubeziehen. Vor allem aber würde man den Schülerinnen und Schülern etwas vorenthalten, liefe der Unterricht auf ein Training von Fertigkeiten und Fähigkeiten hinaus, ohne Einstellungen und Haltungen auszubilden, die für das Zusammenleben in multiethnischen und multikulturellen Gesellschaften unerlässlich sind. 6.2 Sprache und Kultur - Humboldt revisited and revised 6.2.1 Sprache, Kultur und Volkscharakter In Kapitel 3 (vgl. 3.6) habe ich kurz erwähnt, dass Wilhelm von Humboldt sich aus Enttäuschung über die Grenzen, an die er mit seinen Vorstellungen von (schulischer und universitärer) Bildung stieß, aus dem Amt verabschiedete. Von diesem Zeitpunkt an widmete er sich philologischen Studien. Eine seiner Forschungsinteressen galt der Frage, inwieweit sich die mannigfaltigen Erscheinungsformen im Sprachbau auf bestimmte Typen zurückführen lassen. Humboldt gilt zu Recht als der Begründer der vergleichenden Sprachwissenschaft. Zu seinen Verdiensten gehört es auch, die kulturelle Bedeutung von Sprachen erkannt zu haben. Sprache spielt in Humboldts Menschenbild eine Schlüsselrolle. Durch die Erfahrungen, die Sprache dem einzelnen Individuum eröffnet, schreitet es in seinem Prozess der Selbstformung voran. Humboldt unterstreicht die Individualität der auf Sprache beruhenden Bildungsprozesse. Jeder Mensch konstruiert aus seinen Erfahrungen eine eigene Sicht auf die Welt. Da eine andere Sprache eine Horizonterweiterung beinhaltet, sie also einen anderen Blick auf die Welt gestattet, sind das Erlernen und die Beschäftigung mit fremden Sprachen für Humboldt von herausragender Bedeutung. Nach Nünning (2007) lässt sich der hohe Stellenwert von Sprache(n) für die Bildung des Menschen in drei Punkten zusammenfassen: Erstens ist die Sprache […] insofern grundlegende Bedingung für die Bildung des Menschen, als der Mensch nur durch Sprache Zugang zur Welt hat und Denken und Sprechen untrennbar miteinander verknüpft sind. Zweitens sind Sprachen Voraussetzungen für Dialog, Geselligkeit und Fremdverstehen. Humboldt vertritt die Ansicht, dass „das lebendig einander eingreifende, Ideen und Empfindungen wahrhaft austauschende Wechselgespräch […] der Mittelpunkt der Sprache“ […] ist und dass „die gesellige Mitteilung durch Sprache“ dem Menschen Überzeugung und Anregung gewährt. Durch das Lernen von Sprachen erwerben Menschen drittens nicht nur bestimmte Kenntnisse und sprachliche Fertigkeiten, sondern sie lernen zugleich auch neue Weltansichten - heute würden wir vielleicht sagen: ‚Kulturen‘ - kennen. (Nünning 2007: 154) <?page no="91"?> 91 6.2 Sprache und Kultur - Humboldt revisited and revised Diese Gedankengänge, die auf das Erkennen der Relativität der eigenen Weltsicht und die Stärkung der eigenen inneren Kräfte durch die Vielfalt der Ansichten hinauslaufen, sind uns aus den zahlreichen Diskussionen über Inter- und Transkulturalität geläufig (vgl. De Florio-Hansen 2010a; 2011b). Zudem werden sie in der einen oder anderen Form von verschiedenen Lehrpersonen in den oben wiedergegebenen Interviews thematisiert. Humboldts Auffassung, jede Sprache spiegele die „eigenthümliche Weltansicht“ eines Volkes wider und folglich gebe es so etwas wie den Nationalcharakter einer Sprache, halte ich indes für problematisch. Offensichtlich - so auch zahlreiche moderne Linguisten im In- und Ausland - beruht die häufig geäußerte Kritik an den Humboldt’schen Vorstellungen auf einer Fehlinterpretation. Wer sich der Mühe einer vergleichenden Auslegung unterzieht, stellt fest, dass der preußische Gelehrte sehr wohl zwischen Weltansichten persönlicher oder politischer Art und Weltansichten unterscheidet, die implizit in der Sprache als einem konzeptuellen System verankert sind. Demnach besteht zwischen Weltanschauung und Weltsicht ein Unterschied, zumal Humboldt selbst auf individuelle Konstruktionsprozesse durch Sprache hinweist. Im Zusammenhang mit einem innovativen und lernwirksamen Fremdsprachenunterricht möchte ich unterstreichen, dass die Weltsicht keineswegs nur durch Sprache geprägt wird. Wie wäre es sonst zu erklären, dass Millionen Menschen, deren Erst- oder Zweisprache Englisch ist, sich in ihren Anschauungen und kulturellen Gegebenheiten grundlegend unterscheiden? Bei interkulturellen Begegnungen unter Muttersprachlern des Englischen, die verschiedenen Nationen entstammen, beruht ein großer Teil von critical incidents darauf, dass sie die Bedeutung der Äußerungen ihrer Kommunikationspartner fälschlich mit ihrer eigenen Auslegung gleichsetzen. Außerdem ist nicht zu übersehen, dass sich die Erfahrungen und Anschauungen von Kindern und Jugendlichen in einer globalisierten und durch digitale Medien vernetzten Welt beträchtlich angeglichen haben. Diese Entwicklung schreitet rasant voran und stellt uns vor die Aufgabe, mit unseren Schülerinnen und Schülern insbesondere im Fremdsprachenunterricht Lernarrangements zu gestalten, die ihnen die zunehmenden Gemeinsamkeiten mit Peers aus anderen Sprachgemeinschaften erfahrbar machen. Insofern scheint mir das Insistieren auf einer „eigenthümlichen Weltansicht“ nur noch bedingt sinnvoll. Wer könnte heutzutage noch Humboldts Diktum zustimmen: „Im Grunde ist die Sprache … die Nation, und recht eigentlich die Nation“? (Humboldt 1903, Bd. VI) 6.2.2 „Welt der Sprachen” - eine Initiative des Humboldt-Forums Berlin Wie kann man für Menschen, die nur eine Sprache sprechen, die Vielfalt der Sprachen und Kulturen erfahrbar machen? Eine Antwort darauf versucht die „Welt der Sprachen“ des Humboldt-Forums im wiedererrichteten Stadtschloss in Berlin zu geben. Die Initiatoren knüpfen dabei an die Science Center an, die in der einen oder anderen Form für Mathematik und/ oder die Naturwissenschaften bestehen. Sie laden die Besucherinnen und Besucher zum selbstständigen Ausprobieren und Mitmachen ein. „Welt der Sprachen“ knüpft an den Auftrag für das Humboldt-Forum, nämlich „Dialog zwischen den Kulturen der Welt“, direkt an, auch um die sprachliche und kulturelle Vielfalt von Berlin zu unterstreichen. Dieses in Deutschland einmalige geisteswissenschaftliche Science Center verbindet die Funktion einer modernen Bibliothek, die Informationen in allen denkbaren Me- <?page no="92"?> 92 6. Bildung durch Fremdsprachen - mehr als erwartet dien und Materialien bereithält, mit innovativem Edutainment. Durch stimulierende Lernumgebungen sollen die Besucherinnen und Besucher - möglichst in Interaktion untereinander und gestützt auf die neuesten Technologien - Erfahrungen mit sprachlichen Phänomenen und dahinter liegenden kognitiven und emotionalen Prozessen machen. In einer Presseinformation der Zentral- und Landesbibliothek Berlin (ZLB), die hinter dem Projekt steht, heißt es, dass „der Zugang über interaktive Spiele, kurze Filmclips, Animationen und Audiomedien visuell ansprechend und intuitiv verständlich inszeniert“ wird (ZLB Presseinformation 2013: 1). Es geht zum einen darum, an verschiedenen Stationen durch animierende Installationen sprachliche und kulturelle Phänomene wie die unterschiedliche Versprachlichung von Farben oder Redewendungen „begreiflich“ zu machen. Zum anderen sollen - im weitesten Sinne in Anlehnung an Alexander und Wilhelm von Humboldt - eigene Vorurteile, Anschauungen und Meinungen zutage gefördert werden. Die sechste Station in diesem SprachRaum bezieht sich auf die eigene Person: „Was bin ich ohne meine vertraute Sprache? Wie verändert eine neue Sprache mein Bild, das ich von mir selbst habe? Konstituiert Sprache meine Identität? “ (ZLB Vorstudie 2011: 15). Wie bereits angedeutet, spielen die digitalen Medien nicht nur eine konkrete Rolle in den Installationen, sondern es wird auch die Frage thematisiert, wie sich Kommunikation und Sprache durch die Digitalisierung neu organisieren werden (ZLB Vorstudie 2011: 24). „Neben gesprochener Sprache werden auch andere Formen der Kommunikation wie Gesten, Gebärden, Tanz und Schrift thematisiert“ (ZLB Presseinformation 2013: 1). Ganz gleichgültig, ob das Projekt an diesem Ort oder einer anderen Stelle realisiert wird - der neue Regierende Bürgermeister möchte mehr Berlin in der sogenannten Humboldt-Box -, wir können für den Fremdsprachenunterricht wichtige Anregungen daraus entnehmen. Fazit: Fremdsprachliche Bildung wird durch ein Lernen mit möglichst vielen Sinnen gefördert. Der spielerische Umgang mit Sprache kann zudem Einsichten in die eigene Person ermöglichen. Edutainment ist für einen lernwirksamen Unterricht unerlässlich, denn ästhetischer Genuss entsteht nicht durch Vermittlung, sondern durch inspirierende Lernumgebungen, die auf „Selbstbildung“ ausgerichtet sind. Das alles hat mit Humboldt zu tun, aber in aktualisierter Form. 6.3 Fremdsprachliche Bildung - was wir im Unterricht erreichen können Wie bereits mehrfach erläutert, fokussieren die KMK-Bildungsstandards und die zahlreichen Vorschläge zur Umsetzung der Kompetenzorientierung in der Praxis in erster Linie auf die Anwendung des Gelernten. Es ist durchaus nachvollziehbar, dass eine breitere Öffentlichkeit die Vorstellungen der Bildungspolitik begrüßt: Das, was in der Schule gelernt wird, soll auf konkrete Probleme im Leben, dem privaten und vor allem dem beruflichen, angewendet werden können. Weg mit „trägem Wissen“, zumal Informationen ohnehin im Internet zur Verfügung stehen und unsere digital natives nur darauf zuzugreifen brauchen. Solche Vorstellungen greifen eindeutig zu kurz. Bis zu einem gewissen Punkt mag man konzedieren, dass funktionale Kompetenzen das sein sollten, was die Gesell- <?page no="93"?> 93 6.3 Fremdsprachliche Bildung - was wir im Unterricht erreichen können schaft mit Blick auf das spätere berufliche Fortkommen der Lernenden von Schule erwartet. Das kann und darf aber nicht alles sein. Breidbach (2008), der das fragwürdige Subjektmodell kritisiert, das solchen Vorstellungen zugrunde liegt, weist auf den ungeklärten Zusammenhang zwischen funktionalen Kompetenzen und individuellen Bildungsprozessen hin. Diesen sucht Leupold (2010) dadurch zu überspielen, dass er auf das verweist, was die KMK-Bildungsstandards in ihrer Rhetorik vermitteln, nämlich Bildung über die Kernkompetenzen hinaus. Wenn Bildung das Ziel der Bildungsstandards wäre, müsste die bekannte Übersicht diesen Zusammenhang transportieren: Kommunikative Fertigkeiten Verfügung über die sprachlichen Mittel Leseverstehen Wortschatz Hör- und Hör-Seh-Verstehen Grammatik Sprechen Aussprache und Intonation An Gesprächen teilnehmen Orthographie Zusammenhängendes Sprechen Schreiben Sprachmittlung Soziokulturelles Orientierungswissen Verständnisvoller Umgang mit kultureller Differenz Praktische Bewältigung interkultureller Begegnungssituationen Textrezeption (Leseverstehen und Hörverstehen) Interaktion Textproduktion (Sprechen und Schreiben) Lernstrategien Präsentation und Mediennutzung Lernbewusstheit und Lernorganisation KMK 2004: 8; 2005: 8. Nachvollziehbar ist Leupolds Auffassung, dass die KMK-Standards die Diskussion über einen zukunftsfähigen Fremdsprachenunterricht anregen und fremdsprachliche Bildung nicht verhindern: Es geht darum, das Fach in seinem Bildungsanspruch klar zu positionieren und aus diesem Verständnis heraus, die in den Bildungsstandards ausgewiesenen drei Kompetenzbereiche - funktionale kommunikative, interkulturelle und methodische Kompetenzen - zu konkretisieren. (Leupold 2010: 35) Dass Fachdidaktiker das zu leisten imstande sind, bezweifele ich nicht, obgleich mir keine umfassenden unterrichtspraktischen Vorschläge in dieser Richtung bekannt sind Funktionale kommunikative Kompetenzen Interkulturelle Kompetenzen Methodische Kompetenzen <?page no="94"?> 94 6. Bildung durch Fremdsprachen - mehr als erwartet (vgl. Ansätze im Sammelband von Grünewald et al. 2013). Dass man die Füllung der amtlichen Vorgaben mit den Zielen fremdsprachlicher Bildung von Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrern erwarten kann, halte ich allein schon aufgrund der zeitlichen Belastung für illusorisch. In vielen Fällen müssen sie bereits den Input zur Umsetzung der funktionalen Kompetenzen selbst erarbeiten. Deshalb bemühe ich mich, in den folgenden Kapiteln (vgl. Kap 7-9) eigene Beispiele vorzustellen, die wesentliche Ziele fremdsprachlicher Bildung über die „funktionalen Kompetenzen“ hinaus einbeziehen und die leicht adaptiert bzw. abgewandelt werden können. Ohne es an dieser Stelle zu vertiefen, soll nicht unerwähnt bleiben, dass das, was in den KMK-Bildungsstandards im Abschnitt Methodische Kompetenzen aufgelistet wird, nur in der letzten Zeile Lernbewusstheit und Lernorganisation dem üblichen Verständnis des Begriffs Methodenkompetenz entspricht. Darunter versteht man nämlich in Anlehnung an Heinrich Roth sowie vieler anderer Pädagogen und Fachdidaktiker die Fähigkeit, sich Fachwissen zu beschaffen, es auszuwerten und auf Probleme anzuwenden. Mit anderen Worten: Es geht darum, Lernprozesse im weitesten Sinn selbst zu organisieren und die Ergebnisse sinnvoll und verantwortungsbewusst in verschiedenen Lebensbereichen einzubringen. Da die Methodenkompetenz im letzten Jahrzehnt zu Lasten inhaltlicher Aspekte überbetont wurde, wird sie heute nur noch selten als eigener Kompetenzbereich ausgewiesen. Gerade im Hinblick auf lebenslanges Lernen wird sie als integrierter Teil von Fachkompetenz, Selbstkompetenz und sozialer Kompetenz betrachtet (vgl. Deutscher Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen, http: / / www.dqr.de/ ; letzter Zugriff April 2015). 6.3.1 Sprachliche Bildung Das, was die KMK in obiger Übersicht unter Funktionale kommunikative Kompetenzen auflistet, ist höchst fragwürdig und aus verschiedenen Gründen kritisiert worden, z. B. die getrennte Betrachtung der Fertigkeiten, die Vermischung von Fertigkeiten und Fähigkeiten und die unklare Positionierung der Verfügung über die sprachlichen Mittel. Obwohl sie nach landläufiger Rhetorik nur dienende Funktion haben sollen, erscheinen sie hier aber offensichtlich als gleichwertig mit Fertigkeiten und Fähigkeiten.Ich gehe auf diese und zahlreiche weitere Kritikpunkte nicht ein, denn ich argumentiere nicht aus der Position der Bildungspolitik und/ oder derjenigen der Bildungsforschung. Wie bereits mehrmals angedeutet, spricht nichts dagegen, Lernergebnisse des Fremdsprachenunterrichts zu messen, sofern sich aus den Messergebnissen Fortschritte für das Lehren und Lernen von Fremdsprachen ableiten lassen. Bisher habe ich den Eindruck, dass das, was gemessen wurde und vor allem wie es gemessen wurde, positive Rückschlüsse nur eingeschränkt zulässt. Mehr noch: Aus meiner Sicht ist obige Auflistung aus dem Wunsch heraus entstanden, die sogenannten funktionalen kommunikativen Kompetenzen einer (psychometrischen) Messung zugänglich zu machen. Folglich beschränke ich mich auf einige wenige Aspekte, die aus meiner Sicht für den Fremdsprachenunterricht relevant sind und die ich in den folgenden Kapiteln (vgl. Kap. 7-9) mit dem Anspruch fremdsprachlicher Bildung durch Beispiele für den Englisch- und Französischunterricht zu belegen suche. Es geht hauptsächlich um das eingeschränkte Verständnis von kommunikativer Kompetenz bzw. von Diskursfähigkeit in der Fremdsprache, welches einer Bildung durch Sprache bzw. durch Fremdsprachen zuwiderläuft. <?page no="95"?> 95 6.3 Fremdsprachliche Bildung - was wir im Unterricht erreichen können Ganz gleichgültig, wie man die Teilkomponenten von fremdsprachlicher Diskursfähigkeit einander zuordnet oder zusammenfasst: Der obigen Übersicht liegt ein reduktionistischer Sprachbegriff zugrunde. Nach unserem Verständnis weist kommunikative Kompetenz über Wissen (knowledge) und Können (skills) hinaus. Sie hängt entscheidend von kontextuellen und strategischen Gesichtspunkten ab. In Anlehnung an Canale und Swain (1980) sind mindestens folgende Kompetenzbereiche entscheidend: Sprachliche Kompetenzen umfassen sprachliches und soziokulturelles Wissen sowie Diskurswissen. Hinzu kommen - über außersprachliches Wissen hinaus - strategische Kompetenzen: Sie gestatten dem Sprachbenutzer aufgrund von kommunikativen Strategien und metakognitivem Wissen die angemessene und effektive Kommunikation. Dass elementare sprachliche Bezüge in den KMK-Standards fehlen, stellt Zydatiß (2008: 21 ff.) deutlich heraus. In seiner Kritik weist er auf die „offenkundige Abwertung lexikogrammatischer Kompetenzen“ in den Aufgabenbeispielen der KMK-Bildungsstandards hin. Seiner Ansicht nach - und dabei folgt er Widdowson (1990) - besteht eine Verbindung zwischen sprachlichen Mitteln und kontextadäquatem Sprachgebrauch. Lexik und Morphosyntax spielen eine vermittelnde Rolle zum funktionalen Sprachkönnen. Auf das Fehlen eines weiteren wichtigen Ziels fremdsprachlicher Bildung weist Breidbach (2008) hin. Auch wenn Fremdsprachenlernende critical language awareness nicht in gleicher Weise ausbilden werden wie native speakers der jeweiligen Sprache, ist diese Form der Sprachbewusstheit sowohl im Hinblick auf Kommunikation als auch für die Selbstbildung bedeutsam. Es geht um soziale, politische und ideologische Aspekte von Sprache, linguistische Variation - was ist akzeptabel und warum? - und den Diskurs. Die Erziehungswissenschaftlerin Ingrid Gogolin hat schon früh darauf hingewiesen, dass fremdsprachliche Bildung stets auch einen Beitrag zu „Allgemeiner sprachlicher Bildung“ leisten muss: Eine mit der Einführung der Standards verbundene Chance wäre es, sich an die Weiterentwicklung einer empirisch geerdeten Theorie der allgemeinen sprachlichen Bildung zu machen, in der die Beiträge ausdrücklich benannt und begründet sind, die jeder sprachliche Unterricht zur Ausbildung der domänenspezifischen und der allgemeinen grundlegenden Kompetenzen leistet. Erst auf dieser Basis ist ein Lehren denkbar, das zu kumulativem Kompetenzaufbau führt. Das Novum wäre, anstelle der Abgrenzung nach Philologien die Grenzüberschreitung zwischen ihnen zu wagen. (Gogolin 2005: 120) Byram (1997: 57ff) verbindet crititcal language awareness darüber hinaus mit political education und definiert sie im Hinblick auf das Lehren und Lernen von Fremdsprachen folgendermaßen: „an ability to evaluate, critically and on the basis of explicit criteria, perspectives, practices and products in one’s own and other cultures and countries“. Insbesondere im Zusammenhang mit International English spielen Formen der Selbstbehauptung von Nicht-Muttersprachlern - meist handelt es sich um fortgeschrittene Anwender der Fremdsprache - eine Rolle. Mehrmals habe ich - so auch in den Kommentaren zu den Interviews mit Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrern zu Beginn dieses Kapitels - darauf hingewiesen, dass die Faszination, die von einer Sprache auch für Schülerinnen und Schüler ausgehen kann (! ), der „Pflege“ im Unterricht bedarf. Sprache als Spiel im Sinne von Wittgenstein, d. h. die Bedeutung eines konkreten praktischen Kontexts für sprachliche <?page no="96"?> 96 6. Bildung durch Fremdsprachen - mehr als erwartet Äußerungen, und Spielen mit Sprache können Motivation und Freude am Fremdsprachenlernen erhöhen. 6.3.2 Interkulturelle und transkulturelle Bildung Ähnlich wie bei den Fertigkeiten beschränken sich die Angaben der KMK-Bildungsstandards im Zusammenhang mit „interkulturellen Kompetenzen“ auf einige wenige messbare Komponenten von Interkulturalität. Dabei bleibt u. a. unberücksichtigt, dass sich der Kulturbegriff in den verschiedenen Bezugsdisziplinen im Laufe der letzten Jahrzehnte stark gewandelt hat (vgl. z. B. De Florio-Hansen & Hu 2003). Revised concepts of culture are inevitable in times of internationalization and globalization […]. Professional and private mobility, migration flows and worldwide communication show that monolithic cultural concepts - strongly separating one national culture from the other - have become obsolete, mainly for two reasons: They do not correspond to the reality of modern ‘patchwork’ identities; moreover, they impede the integration, or better: the inclusion of individuals with different cultural backgrounds. (De Florio-Hansen 2011b: 8) Als Kultur gilt nunmehr der von Menschen erzeugte Gesamtkomplex von kulturellen Sinnzuschreibungen, Denkformen, Werten und Empfindungsweisen, die sich in verschiedenen Symbolsystemen finden. Kulturelle Identität ist in modernen Gesellschaften ein komplexer Sachverhalt, denn kulturelle Orientierungen sind auf eine Vielfalt kultureller Bezugssysteme gerichtet, insbesondere wenn fremde Sprachen zusätzlich ins Spiel kommen. Im Hinblick auf den Fremdsprachenunterricht ist eine Unterscheidung zwischen kultureller Orientierung und kultureller Identität sinnvoll. Kulturelle Orientierung ist das, worüber ein Mensch verfügt; er kann sie in Selbstaussagen versprachlichen. Folglich lässt sie sich auch in schriftlichen Befragungen verbalisieren. Kulturelle Identität hingegen kann man nur von außen beobachten; sie zeigt sich z. B. in Begegnungssituationen und beruht zum Teil auf Fremdzuschreibung, nämlich u. a. darauf, was die/ der Beobachtende als interkulturelle Verortung der beobachteten Person wahrnimmt. Lehrpersonen können beispielsweise in Situationen des Schüleraustauschs oder aber bei einer sonst stattfindenden Interaktion mit Menschen anderer Kulturen solche Beobachtungen machen, also auch beim Umgang der deutschen Lernenden mit Schülerinnen und Schülern mit Migrationsgeschichte in der Klasse bzw. dem schulischen Umfeld. Im Fremdsprachenunterricht sollte es freilich nicht nur um die Anerkennung von student diversity gehen (vgl. Kramsch 1998). Überlegt man, worin eine ethische kulturbezogene Zielsetzung beim Lehren und Lernen von Fremdsprachen bestehen sollte, kommt zu interkultureller Kompetenz Transkulturalität hinzu. Es geht um zwei unterschiedliche, sich ergänzende Sichtweisen (vgl. auch zum Folgenden De Florio-Hansen 2010a: 68ff.): Die interkulturelle Perspektive besteht in erster Linie in der Toleranz von Verschiedenheit und dem zeitweiligen empathischen Einfühlen in die kulturellen Orientierungen von Menschen aus anderen Kulturen, also z. B. in der Vermeidung bzw. Bewältigung von critical incidents. Die transkulturelle Haltung ist auf eine Weiterentwicklung von Einzelkulturen gerichtet (vgl. Welsch 2010). Bei einer interkulturellen Haltung liegt der Fokus auf der ‚Differenz‘, d. h. dem Verstehen ‚des Fremden‘ bzw. ‚des Anderen‘. Transkulturalität hingegen stellt den Aspekt des Gemeinsamen in <?page no="97"?> 97 6.3 Fremdsprachliche Bildung - was wir im Unterricht erreichen können den Mittelpunkt und versucht im Eigenen Anschlussmöglichkeiten zu finden, um Kooperation zu ermöglichen (De Florio-Hansen 2010a: 68) Die Erweiterung der interkulturellen Perspektive durch transkulturelle Kompetenz wurde dadurch ermöglicht, dass das Kugel-Modell der Kultur, welches auf Herder zurückgeht und über zwei Jahrhunderte gültig war, in den letzten Jahrzehnten zunehmend an Bedeutung verloren hat. Herder begründete die Vorstellung von Kultur als einer Kugel mit dem Ausspruch „… jede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich wie jede Kugel ihren Schwerpunkt! (Herder 1774: 44f.)“. Das Kugel- Modell enthält die innere Aufforderung zur Homogenisierung und die äußere Forderung nach Ausschluss. Als Konsequenz zieht dieses Modell einen Mangel an Kommunikation zwischen den Kugeln und die Unmöglichkeit des wechselseitigen Einflusses nach sich. Transkulturalität hingegen unterstreicht das äußere Netzwerk und die innere Hybridität von Kulturen: Zeitgenössische Kulturen sind extern denkbar stark miteinander verbunden und verflochten. Die Lebensformen enden nicht mehr an den Grenzen der Einzelkulturen von einst (den vorgeblichen Nationalkulturen), sondern überschreiten diese, finden sich ebenso in anderen Kulturen. […] Und intern sind zeitgenössische Kulturen weithin durch Hybridisierung gekennzeichnet. […] Weltweit leben in der Mehrzahl der Länder auch Angehörige aller anderen Länder dieser Erde […] (Welsch 2010: 3) Was bedeutet das alles für den Fremdsprachenunterricht? Zunächst einmal bleibt festzuhalten, dass es in der Schule über interkulturelle kommunikative Kompetenz hinausweisende Bildungsziele gibt, die beim Lehren und Lernen von Fremdsprachen besonders zum Tragen kommen. Der Kontakt mit Fremdsprachen eröffnet zusätzliche Möglichkeiten, die eigene kulturelle Identität zu erweitern. Dass ich dabei auf einem allgemeinerzieherischen Verhaltensziel insistiere, bedeutet keineswegs, dass wir Arbeiten zur interkulturellen Wortschatz- und Grammatikarbeit sowie zur interkulturellen Pragmatik gering schätzen dürfen (vgl. voriger Abschnitt 6.3.1). Sie stellen eine wichtige Grundlage für die Ausbildung von Transkulturalität dar. Eine ähnliche Position hat Byram schon früh vertreten: Obgleich er den hohen Stellenwert von linguistischer und soziolinguistischer Kompetenz sowie denjenigen von Diskursfähigkeit in der Fremdsprache immer wieder betont hat, stellt er sie in seiner bekannten Modellierung zurück (Byram 1997: 48). Sein Modell der „savoirs“ hat nach wie vor Gültigkeit und ist bei der Planung, Durchführung und Evaluation von Unterricht, der auf inter- und transkulturelle Bildung abzielt, eine Hilfe. Besonders die beschriebenen Haltungen - „curiosity and openness, readiness to suspend disbelief about other cultures and belief about one’s own” (Byram 1997: 57f.) - weisen über rein sprachbezogene Aspekte hinaus. 6.3.3 Ästhetisch-literarische Bildung In Kapitel 5 (vgl. 5.4 Lesekompetenz und fremdsprachliche Bildung) habe ich ein gestuftes Modell zum ästhetischen und literarischen Lernen vorgestellt, welches sich ganz oder in Teilen auf die Betrachtung von Kunst und Literatur in verschiedenen Formen anwenden lässt. Bevor ich in den folgenden Kapiteln Unterrichtsbeispiele auf der Grundlage dieser Modellierung vorstelle, möchte ich noch einige Überlegungen hinzufügen. Obgleich das erwähnte Modell den Titel: Ästhetisches und literarisches <?page no="98"?> 98 6. Bildung durch Fremdsprachen - mehr als erwartet Lernen trägt, geht es nicht um die Textanalyse im engeren Sinn, sondern in erster Linie um ästhetische Erfahrungen, d. h. den Lesegenuss. Ästhetik (griechisch aisthesis) bedeutet ursprünglich jede Form von Wahrnehmung. Die innere Aneignung, die eng mit Selbstbildung zusammenhängt, gründet sich auf ein Zusammenspiel von ästhetischen, emotionalen und reflektierenden Formen, an dem verschiedene Hirnareale beteiligt sind (vgl. auch zum Folgenden Brenne 2011). Bei der ästhetischen Bildung geht es also keineswegs nur um die Auseinandersetzung mit Kunst, sondern vielmehr um die Fokussierung der ästhetischen Dimensionen der Welt. Ästhetische Kompetenz - man kann sie bis zu einem gewissen Grad erwerben - beinhaltet erweiterte Spielräume der Wahrnehmung und damit verbunden auch der Gestaltung. Der Fremdsprachenunterricht bietet zahlreiche Gelegenheiten, ästhetische Kompetenz auszubilden; sie wird durch die Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit kulturell anders verorteten Text-, Bild- und Tonwelten zusätzlich gefördert (vgl. auch zum Folgenden De Florio-Hansen 2012a: 64f.). In diesem Zusammenhang ist neben Muße auch der spontane Austausch mit Peers hilfreich, um Neues mit vorhandenen Erfahrungen zu verbinden. Es geht aber nicht nur um Erleben und Genuss. Aufgrund der zunehmenden Ästhetisierung des Lebensumfeldes von Kindern und Jugendlichen darf es nicht bei der rein subjektiven Wahrnehmung bleiben. Ästhetische Bildung umfasst auch die distanzierte Wahrnehmung, welche die Lernenden zum reflektierten Umgang mit der Werbung und den sozialen Netzwerken befähigt. Das gilt nicht nur für die mehr oder weniger passive Nutzung der digitalen Medien, sondern auch für die Gestaltung eigener Beiträge in den verschiedenen Netzwerken. Die distanzierte Wahrnehmung zielt auf einen kritischen Umgang mit den digitalen Medien, aber auch mit Literatur und Kunst ab. Die Ausbildung von Reflexionsfähigkeit lässt sich durch Fragen stärken: Warum übt ein Text (im weitesten Sinne) eine anziehende Wirkung auf mich und meine Freunde aus? Inwieweit lässt sich die Wirkung auf bestimmte Elemente des Textes zurückführen? Was muss ich tun, um eine ähnliche Wirkung zu erzeugen? Durch die Auseinandersetzung mit solchen Fragen kommen textanalytische Aspekte ins Spiel, die das Leseverstehen fördern und die Ausbildung ästhetisch-literarischer (Teil-) Kompetenzen begünstigen können. Subjektive Deutungen eines Textes sind nur dann plausibel, wenn eine wiederholte Rückbindung an den Text erfolgt. Dabei geht es nicht um die Suche nach den Intentionen des Autors wie im traditionellen Literaturunterricht. Entscheidend ist vielmehr die Intention des Textes. […] Interpretationen sind folglich zwar offen für die Subjektivität der Lernenden; sie sind aber nicht beliebig. Letztlich beruht das Leseverstehen auf einer Balance zwischen subjektiven Deutungen und den Intentionen des Textes. (De Florio-Hansen 2012a: 64) Bekanntlich sind seit dem Erscheinen der KMK-Bildungsstandards immer wieder Kompetenzmodelle für den Umgang mit Literatur, auch mit Blick auf ‚Grenzüberschreitungen‘ zwischen Texten und Medien, gefordert worden. Im Laufe der Jahre sind in verschiedenen fachdidaktischen Beiträgen Kompetenzebenen und Teilkompetenzen literarischen Lernens erarbeitet worden, eine umfassende, systematische Modellierung steht aber nach wie vor aus. Mit meinem Modell (vgl. 5.4) möchte ich zu einer Ausbildung ästhetischer und literarischer Kompetenz im Fremdsprachenunterricht beitragen. Dabei habe ich besonders die Sekundarstufe I im Blick, denn ästhetisch-literarische Bildung darf nicht auf den Unterricht mit Fortgeschrittenen vertagt werden, sondern muss so früh wie möglich angebahnt werden. <?page no="99"?> 99 Anregungen zum Nachdenken, Diskutieren und Gestalten Fazit: „Eine lebenswerte Gesellschaft braucht mit anderen Worten mehr Bildungsgerechtigkeit und ein ausgewogenes Bildungsverständnis. Ein verkürzter Bildungsbegriff, der im Fremdsprachenunterricht die belangvollen zielkulturellen Inhalte und die kritische Reflexion sprachlich vermittelter Gegenstände einseitig beschneidet, ist keine zukunftsfähige Leitlinie für nachhaltige pädagogische Reformen“. (Zydatiß 2008: 32). Trotz ihrer Unzulänglichkeiten haben die KMK-Bildungsstandards etwas Gutes: Was sonst hätte uns veranlasst, (wieder einmal) über Bildung im und durch Fremdsprachenunterricht zu reflektieren? Anregungen zum Nachdenken, Diskutieren und Gestalten 1. Worin besteht Ihrer Ansicht und Erfahrung nach der Wert von Fremdsprachen (über den praktischen Nutzen hinaus)? 2. Was hat Sie selbst veranlasst, Englisch und/ oder Französisch zu studieren? Haben sich Ihre Vorlieben im Laufe der Jahre verändert bzw. weiterentwickelt? 3. Warum ist die auf Herder zurückgehende Vorstellung von Nationalkulturen als Kugeln nicht mehr zeitgemäß? Diskutieren Sie mit Kolleginnen und Kollegen über aktuelle Vorstellungen von Kultur bzw. kulturellen Gegebenheiten. 4. Aus welchen Gründen ist Transkulturalität der Vorzug gegenüber interkultureller Kompetenz zu geben? Diskutieren Sie in angemessen vereinfachter Form mit Ihren Schülerinnen und Schülern über diesen Aspekt. 5. Analysieren Sie zwei bis drei Lektionen aus dem an Ihrer Schule verwendeten Lehrwerk daraufhin, inwieweit es Komponenten fremdsprachlicher Bildung einbezieht. Sprechen Sie über Ihre Ergebnisse im Fachkollegium, aber auch mit fortgeschrittenen Lernenden. <?page no="101"?> 7. Sprachliche Bildung - Beispiele Englisch und Französisch aus der Praxis 7.1 ‚Unterrichtsrezepte’ - nicht ohne Reflexion und Kreativität In der englischsprachigen Fachliteratur bezeichnet man als cookbook das, was wir ‚Ratgeberliteratur‘ nennen. Der Ausdruck ‚Kochbuch‘ ist m. E. treffender, weil er erwarten lässt, dass alles genau vorgegeben ist: die Zutaten, die Zubereitung im Einzelnen und die Zeit, die für die Herstellung des fertigen Gerichts gebraucht wird. Ähnlich verhält es sich mit Ratgebern, die vorgefertigte Unterrichtsrezepte bereitstellen. Sofern die Vorgabe eines Unterrichtsbeispiels der (exemplarischen) Darstellung bestimmter Unterrichtsaspekte dient, ist dagegen nichts einzuwenden. Vorschläge dieser Art sind in aller Regel von mehr oder weniger ausführlichen Erläuterungen begleitet. Steht hinter kopierfertigen Arbeitsblättern aber die Vorstellung, die Beispiele könnten unreflektiert in möglichst vielen fremdsprachlichen Klassenzimmern eins zu eins umgesetzt werden, untergräbt ein solches Vorgehen den aus meiner Sicht wichtigsten ‚Faktor‘ im Unterrichtsgeschehen, nämlich die Lehrerpersönlichkeit. Damit keine Missverständnisse entstehen: Schule und Unterricht sind, wie bereits erwähnt und nochmals in Kapitel 12 dargelegt, nicht die Faktoren, die den größten Einfluss auf Kinder und Jugendliche ausüben. Aber das, was unverwechselbar auf das Unterrichtsgeschehen, also auch das Lehren und Lernen von Fremdsprachen, einwirkt, ist die Lehrerpersönlichkeit in ihrer einzigartigen Ausprägung. So wie jede Schülerin und jeder Schüler Anspruch auf die Beachtung der individuellen Persönlichkeit hat, sollte auch die Lehrerpersönlichkeit respektiert werden. Übrigens können recht unterschiedliche Lehrerpersönlichkeiten gleichermaßen erfolgreich sein. In meiner Schulzeit hatte ich das Glück - ich weiß auch nicht wieso -, den Unterricht einer größeren Zahl herausragender Lehrer zu ‚genießen‘. Auch wenn mich das Fach Biologie damals nicht wirklich interessierte, beeindruckte mich die Leidenschaft, mit der meine Biologielehrerin jedem für mich nichtssagenden Pflänzchen etwas abgewinnen konnte. Während sie uns alles Mögliche rund um Flora und Fauna erzählte, überlegte ich mir, wie sie zu ihrem großen Wissen und vor allem zu ihrer Hingabe an die Natur gekommen sein mochte. Durch ihre Persönlichkeit hat sie mein Verhältnis zur Natur nachhaltig beeinflusst. Ganz anders mein Mathematiklehrer, den ich als Pragmatiker bezeichnen würde. Er beherrschte sein Fach so souverän wie unsere Biologielehrerin; von ihrer Passion war bei ihm jedoch nichts zu spüren. Da ich mich für Mathematik schon damals interessierte, verfolgte ich seinen Unterricht höchst aufmerksam. Es gelang ihm immer wieder, die kompliziertesten Sachverhalte verständlich zu erklären. Das, was seine Persönlichkeit in erster Linie ausmachte, war die Fähigkeit etwas so zu erklären, dass es alle irgendwann verstanden; und er hatte ein Gespür dafür, wer es noch nicht „kapiert“ hatte. Auch hier dachte ich darüber nach, wo und wie er das ausgebildet hatte, was er à la Feuerzangenbowle mit: „Da stellen wir uns mal ganz dumm“ einleitete. In den folgenden drei Kapiteln (Kap. 7-9) werden Sie keine ready-made Beispiele finden, also keine Fertiggerichte. Das würde meinem Plädoyer für den Auf- und Ausbau der Lehrerpersönlichkeit zuwiderlaufen. Nun werden Sie sicher enttäuscht sagen, solche Kopiervorlagen sparen aber viel Zeit, und ich setze sie auch mit gutem Erfolg <?page no="102"?> 102 7. Sprachliche Bildung - Beispiele Englisch und Französisch aus der Praxis ein. Diesen Argumenten entspreche ich dadurch, dass ich die folgenden Unterrichtsbeispiele aus der Praxis so ausführlich darstelle, wie es der zur Verfügung stehende Umfang dieser Publikation gestattet. Bei diesen Beispielen handelt es sich um Unterrichtsstunden, die tatsächlich stattgefunden haben. Sie sind, wie Sie sich leicht denken können, mit Blick auf fachliche und fächerübergreifende sowie den kumulativen Aufbau von (Teil-) Kompetenzen mehr oder weniger gelungen. Fremdsprachliche Bildung ist in einigen dieser Unterrichtsbeispiele zwar mitbedacht worden, könnte aber deutlicher verfolgt werden. Das gilt sicher auch für meine eigenen Unterrichtsbeispiele, die Sie am Ende der Kapitel 7 - 9 unter Anregungen zum Nachdenken, Diskutieren und Gestalten finden (vgl. www.narr-studienbuecher.de/ 9783823369370). Die Evaluation der Vorschläge in Kapitel 7-9 dient der Illustration dessen, was wir über fachliche und fächerübergreifende Ziele hinaus mit Blick auf sprachliche, interkulturelle und ästhetisch-literarische Bildung im Englischbzw. im Französischunterricht anstreben sollten. Die Konzepte sind mit Veränderungen auf andere schulische Fremdsprachen übertragbar. Zusätzlich verweise ich darauf, dass Unterricht in einem bestimmten Umfeld und einem speziellen Lernkontext immer höchst komplex und vielfältig ist. Es dürfte meiner Ansicht nach schwierig sein, dass eine Lehrerin oder ein Lehrer dieselben Inhalte in zwei unterschiedlichen Lerngruppen in genau der gleichen Form einführt bzw. erarbeiten lässt. Ein konkretes Beispiel: Um den Teilungsartikel und das sogenannte partitive de zu vertiefen, würde sich in der einen Lerngruppe eher das Nachkochen eines Rezepts - peut-être un peu plus de sel? - und in einer anderen das Mischen von Wasserfarben anbieten, um einen Regenbogen zu malen und zu beschreiben - du rouge et du bleu …. Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrer müssen sich stets fragen: In welcher Lehr- und Lerntradition steht das vorliegende ‚Unterrichtsrezept‘? Passt der Vorschlag überhaupt für meine Lerngruppe? Was muss ich gegebenenfalls weglassen, verändern oder ergänzen? Letztlich ist es immer die Lehrerpersönlichkeit, die über die Ziele und Materialien sowie die Lehr- und Lernstrategien entscheidet - am besten unter zunehmender Beteiligung der Lernenden. In diesem Zusammenhang ist außerdem der Hinweis wichtig, dass Lehrpersonen im Unterricht oft in Sekundenschnelle Entscheidungen treffen müssen. In vielen Fällen steht keine Zeit zum (längeren) Nachdenken oder gar Abwägen zur Verfügung. Neben der berechtigten Forderung nach wissenschaftsbasiertem (research-based) und evidenzorientiertem (evidence-informed) Lehren und Lernen spielt die Intuition der Lehrperson im Unterricht eine große Rolle. Es wäre falsch, den Begriff ‚Intuition‘ als unwissenschaftlich abzutun, obwohl er von vielen Forscherinnen und Forschern vermieden wird. Über die Ergebnisse der Pädagogischen Psychologie und der Erziehungswissenschaft hinaus gewinnen Forschungen aus den Sozialwissenschaften und weiteren Bereichen der Psychologie für den Unterricht zunehmend an Bedeutung. Daran ändert die Tatsache nichts, dass viele Publikationen populärwissenschaftlich ausgerichtet sind. Zwei amerikanische Erziehungswissenschaftler haben sich mit dem Schriftsteller Peter C. Brown zusammengetan, um die Ergebnisse aus einem zehn Jahre währenden Forschungsprojekt zu den Grundlagen des Lernens einer möglichst breiten Leserschaft näher zu bringen (vgl. Brown, Roediger & McDaniel 2014: Make it stick. The Science of Successful Learning). Das bedeutet nicht, dass die Erkenntnisse und Plausibilitätsannahmen von Roediger und McDaniel nicht auf seriösen wissenschaftlichen Untersuchungen basieren würden. Ähnliches gilt für Malcolm Gladwell, der mit seinem vor zehn Jahren erschienenen Buch: Blink. The Power of Thinking without Thinking die Bedeutung von <?page no="103"?> 103 7.2 Ziele, Kompetenzen und Bildung Intuition besonders unterstreicht (vgl. Gladwell 2005). Vor allem erläutert er anhand zahlreicher Beispiele aus den verschiedensten Lebensbereichen, in welchen Situationen Intuition zum Erfolg führt und wann gründlicheres Nachdenken erforderlich ist (vgl. De Florio-Hansen erscheint Ende 2015: Effective Teaching and Successful Learning). Fazit: Neben den fachlichen und fachdidaktischen Grundlagen macht Leidenschaft für den Lehrerberuf, Einfühlungsvermögen, Unvoreingenommenheit und vor allem Authentizität eine erfolgreiche Lehrerpersönlichkeit aus. Selbstverständlich sind Anregungen ‚von außen‘ für die Weiterentwicklung des Unterrichts nicht nur wünschenswert, sondern unerlässlich. Vorgefertigte Unterrichtskonzepte sollten aber nicht unreflektiert im Unterricht eingesetzt werden. 7.2 Ziele, Kompetenzen und Bildung In den folgenden drei Kapiteln (Kap. 7-9) gebe ich in aller Regel die Unterrichtsintentionen der einzelnen Lehrpersonen als Lernziele an. Lernziele sind ebenso wie Kompetenzen auf Ergebnisse von Lernprozessen gerichtet. Dabei benennen Lernziele vorwiegend kurzfristig zu verzeichnende Lernresultate. Ihr Erreichen zeigt sich in einem bestimmten Verhalten und/ oder einem erstellten Produkt. Sie können also am Ende der Unterrichtsstunde oder der Sequenz ohne allzu großen Aufwand überprüft werden. Erläutert werden für jeden der folgenden Unterrichtsvorschläge fachliche und fächerübergreifende Lernziele. Fachliche Ziele beziehen sich auf Lernaktivitäten in der jeweiligen Fremdsprache, z. B. die korrekte Anwendung bestimmter Zeitformen zum Ausdruck der Sprecherperspektive. Fächerübergreifende Lernziele sind in unserem Zusammenhang beispielsweise das Überfliegen eines Textes in der Fremdsprache bzw. die Suche nach einer bestimmten Information im Text. Auch die Arbeit mit Wörterbüchern in Printform oder online gehören zu den Zielen, die für jeden Fremdsprachenunterricht gelten. Kompetenzen im Sinn von Wissen, Können und Einstellungen lassen sich hingegen nur kumulativ und folglich längerfristig aufbauen. Sie für eine Unterrichtsstunde oder eine kürzere Sequenz anzugeben, ist nur höchst eingeschränkt möglich. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Kompetenzen nicht nur auf die Bewältigung von vorhersehbaren Aufgaben ausgerichtet sind, sondern auch auf nicht festgelegte zukünftige Anforderungen abzielen. Auf alle Fälle ist es sinnvoll, entsprechende Teilkompetenzen mit zu bedenken und anzugeben, in welcher Form das Erreichen der fachlichen und vor allem der fächerübergreifenden Lernziele zu ihrem kumulativen Aufbau beiträgt. In welcher Verbindung steht fremdsprachliche Bildung zu fachlichen und fächerübergreifenden Zielen sowie zu (Teil-)Kompetenzen? Ohne Zweifel besteht eine Wechselwirkung bzw. eine Überlappung von fachlichen, fächerübergreifenden und Kompetenzzielen sowie der Ausrichtung auf fremdsprachliche Bildung. Häufig wird bei Lernaktivitäten aus den Lehrwerken und/ oder bei Unterrichtsvorschlägen aus der Ratgeberliteratur auf fremdsprachliche Bildung hingearbeitet. Das geschieht aber häufig implizit, d. h. die entsprechenden Bildungsziele werden nicht deutlich benannt. Es fragt sich, warum die Autoren von ‚Unterrichtsrezepten‘ sie nicht angeben. Vermutlich werden sie unter überfachlichen Zielen subsummiert, die sich häufig als dritte Kategorie bei den Lernzielangaben in älteren Beispielen finden. <?page no="104"?> 104 7. Sprachliche Bildung - Beispiele Englisch und Französisch aus der Praxis Diese überfachlichen Ziele laufen aus meiner Sicht meist auf die angestrebten Kompetenzen hinaus und brauchen deshalb nicht gesondert angegeben zu werden. Abschließend rufe ich noch einmal den Unterschied zwischen Kompetenzen und Bildung ins Gedächtnis zurück: Kompetenzen im Sinne des Dreiklangs von Wissen, Können und Einstellungen dienen der Bewältigung von Anforderungen; sie sollen die Lösung konkreter aktueller und/ oder zukünftiger Probleme ermöglichen, seien sie nun privater oder beruflicher Art. Bildung vermag das auch, es ist aber nicht ihr vorrangiges Ziel. Bildung ist die von utilitaristischen Zwecken freie Beschäftigung mit einem Gegenstand oder einem Sachverhalt aus persönlicher Neigung mit dem Ziel der Selbstbildung, d. h. der Entfaltung und Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit. Fazit: Es ist sinnvoll, bei Unterrichtsvorschlägen - wie bisher - fachliche und fächerübergreifende Lernziele anzugeben. Überfachliche Ziele werden als längerfristig angestrebte (Teil-)Kompetenzen benannt. Ziele fremdsprachlicher Bildung lassen sich oft nicht in ihren Auswirkungen beschreiben, sollten aber dennoch so konkret wie möglich angegeben werden. Ansonsten gilt frei nach Christian Morgenstern: „Wer vom Ziel nichts weiß, wird den Weg nicht finden.“ 7.3 Lebensbezug, Authentizität und Neugier - wichtige Merkmale fremdsprachlicher Bildung 7.3.1 Lebensbezug Immer wieder wird bei Unterrichtsaktivitäten ein Lebensbezug gefordert. Was ist darunter zu verstehen? Wie bei vielen alltagsweltlichen Begriffen, die Eingang in die Fachterminologie gefunden haben, ist es schwer, ein weiteres Verständnis des Begriffs („Und was hat das mit dem wirklichen Leben zu tun? “) von einer wissenschaftsorientierten Definition abzugrenzen. Mit Sicherheit ist ein Lebensbezug im Fremdsprachenunterricht nicht schon dadurch gegeben, dass die Lerninhalte in irgendeiner Form mit dem Leben der Schülerinnen und Schüler zu tun haben. Beispielsweise sind Reisen oder Musik Themen, die im Leben von Kindern und Jugendlichen eine große Rolle spielen. Ob aber eine Sightseeing Tour durch Irland oder ein französisches Chanson die Lernenden tatsächlich tangiert, bedarf des Einfühlungsvermögens und der Reflexion. In vielen Fällen muss der Lebensbezug durch entsprechende Strategien erst hergestellt werden. Es ist keineswegs so, dass wir immer an etwas anknüpfen können, was die Schülerinnen und Schüler schon kennen. Oft müssen wir etwas an die Lernenden herantragen, von dem sie noch nie etwas gehört haben. Entscheidend ist beim Lebensbezug neben dem ‚Was‘ vor allem das ‚Wie‘ und das ‚Warum‘. Ist mit Lebensbezug ‚praktisches Lernen‘ gemeint? In den 1980er Jahren gab es ein Förderprogramm der Robert Bosch Stiftung unter dem Motto „Lebensbezug der Schule/ Praktisches Lernen“. Diese Initiative war gegen die verkopfte Vermittlung von Faktenwissen durch Lehrervorträge gerichtet. Schule sollte sich stärker dem praktischen Leben öffnen, auch unter Betonung handwerklich-technisch-ästhetischen Gestaltens. Es ging um das bekannte Unterrichtskonzept, bei dem Kopf, Herz und Hand eine enge Verbindung eingehen. Selbstverständlich ist ein Lernen mit allen Sinnen immer aktuell und wünschenswert. <?page no="105"?> 105 7.3 Lebensbezug, Authentizität und Neugier - wichtige Merkmale fremdsprachlicher Bildung Schulischer Unterricht kann und darf sich aber nicht ausschließlich an lebenspraktischen Aufgaben orientieren und zwar aus mehreren Gründen. Solche Anforderungen treten dem Individuum im Leben stets in ihrer Komplexität entgegen, während Unterricht die Aufgliederung in Teilaufgaben ermöglicht. Außerdem ist Schule ein geschützter Raum, in dem die Lernenden ‚gefahrlos‘ etwas ausprobieren und aus ihrem Scheitern lernen können. Weiterhin ermöglicht es der Unterricht, dass sich die Lernenden nicht voraussetzungslos das gesamte Wissen und Können, das die Menschheit angehäuft hat und das zum größten Teil noch relevant ist, selbsttätig erarbeiten. Vielmehr haben sie beim handlungs- und projektorientierten Lernen Gelegenheit, ihr Wissen zielgerichtet anzuwenden und ihr Können auf passende Art und Weise unter Beweis zu stellen. Unter Lebensbezug sollten wir mehr verstehen, als die Verbindung zu den praktischen Anforderungen des (späteren) privaten und beruflichen Lebens. Im Zusammenhang mit Bildungszielen ist ‚Lebensbezug‘ ein philosophischer Terminus im Sinne der Frankfurter Schule (Horkheimer, Adorno und Habermas). ‚Lebensbezug‘ beinhaltet den Kontakt zur Realität (contact with reality; reference to life). In Ergänzung kann man auf Dilthey zurückgreifen, der unter Lebensbezug die Bedeutsamkeit für das Ich verstand (life concern). Einfacher ausgedrückt: Wir müssen unsere Schülerinnen und Schüler gut kennen, um einen Lebensbezug herzustellen, der über ein oberflächliches „Das wird sie schon interessieren“ hinausgeht. Der Unterrichtsinhalt muss sie berühren, sie herausfordern und sie aktivieren. 7.3.2 Authentizität Der Begriff ‚Authentizität‘ lässt viele Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrer an authentische Texte denken. Insbesondere literarische Werke sollten im Original und nicht in didaktisierter (oder auch nur gekürzter) Fassung im Unterricht gelesen werden. Darüber hinaus besteht für viele Lehrpersonen das Ziel des Fremdsprachenunterrichts im authentischen Sprachgebrauch. Authentizität beim Lehren und Lernen von Fremdsprachen kann mit folgenden Aspekten in Verbindung gebracht werden: At least eight possible inter-related meanings emerge from literature. Authenticity relates to: (i) the language produced by native speakers for native speakers in a particular language community […]; (ii) the language produced by a real speaker/ writer for a real audience, conveying a real message […]; (iii) the qualities bestowed on a text by the receiver, in that it is not seen as something inherent in a text itself, but is imparted on it by the reader/ listener […]; (iv) the interaction between students and teachers as a ‘personal process of engagement’ […]; (v) the types of tasks chosen […]; (vi) the social situation of the classroom […]; (vii) assessment […]; (viii) culture, and the ability to behave or think like a target language group in order to be recognized and validated by them […]. <?page no="106"?> 106 7. Sprachliche Bildung - Beispiele Englisch und Französisch aus der Praxis From these brief outlines we can see that the concept of authenticity can be situated in either the text itself, in the participants, in the social or cultural purposes of the communicative act, or some combination of these. (Gilmore 2007: 98) In mehreren Beiträgen (vgl. auch zum Folgenden De Florio-Hansen 2010b) habe ich betont, dass man bei Authentizität zwischen einer allgemeinerzieherischen Komponente und der Authentizität des sprachlichen Inputs sowie, eng damit verbunden, den authentischen Verfahren zur Verbesserung der fremdsprachlichen Lernprozesse unterscheiden kann. Es existiert eine enge Wechselwirkung zu Autonomie, die ebenfalls engere fachliche und überfachliche Aspekte aufweist. Darüber hinaus besteht eine Verbindung zu Sprachbewusstheit, die der Hauptgegenstand der folgenden Unterrichtsvorschläge (vgl. 7.4-7.6) ist. Die Entwicklung von Autonomie und Authentizität der einzelnen Schüler- und Lehrerpersönlichkeit ist ein übergeordnetes Bildungs- und Erziehungsziel, das in jedem Unterricht mitverfolgt und darüber hinaus im Schulkonzept verankert sein sollte. Im genannten Zusammenhang werden Autonomie und Authentizität gemäß der Tradition des französischen Existentialismus synonym verwendet, während Bewusstsein bzw. Bewusstheit als Voraussetzung für beide gilt (siehe AAA im Titel von van Lier 1996) [Interaction in the language classroom: Awareness, autonomy, authenticity]. Was für die Entwicklung autonomer, authentischer Individuen gilt, hat seine Entsprechung beim Lehren und Lernen von Fremdsprachen: Sprach- und Sprachlernbewusstheit sind grundlegende Voraussetzungen für Autonomie und Authentizität […]. (De Florio-Hansen 2010b: 265; Ergänzung DF-H) 7.3.3 Neugier Neugier - in der Psychologie spricht man von ‚explorativem Verhalten‘ - ist eine wichtige Voraussetzung für Lernprozesse, also auch für fremdsprachliche Bildung. Neugier geht über Motivation und Interesse hinaus. Motivation hängt im Wesentlichen davon ab, welche Bedeutung ein individueller Lernender einem Ziel beimisst und ob er glaubt, es auch erreichen zu können. Das lässt sich auf die einfache Formel bringen: Motivation = Wert des angestrebten Ziels x Erwartung der Erreichbarkeit (Erläuterungen siehe De Florio-Hansen 2014a: 59). In der pädagogischen und der fremdsprachendidaktischen Literatur wird Motivation im genannten Sinn oft gegen Interesse abgegrenzt. Motiviert sein für etwas beinhaltet die Bereitschaft bzw. den Antrieb etwas zu tun, unter Umständen etwas, was man vorher noch nicht in Angriff genommen hatte. Interesse hingegen besteht in der längerfristig anhaltenden Bereitschaft, sich mit bestimmten Gegenständen, Tätigkeiten und Aufgaben zu beschäftigen, die als subjektiv wichtig empfunden werden. Interesse zeigt sich in der intensiven Auseinandersetzung mit einer Aufgabe. Neugier ist das Verlangen, Neues zu erfahren und hinter die Dinge zu schauen, um etwas Verborgenes zu entdecken. Man kann Neugier als einen Reiz bezeichnen, der oft nicht beherrschbar ist. Andernfalls würden sich Menschen nicht ohne Not in Lebensgefahr begeben, um ihre Neugier zu befriedigen. Das als Neugier bezeichnete Verlangen ist häufig auf Sensationen und/ oder das Privatleben von ‚Stars‘ gerichtet. Würde sonst die yellow press so reißenden Absatz finden? Neugier kann durchaus positiv besetzt sein. Richtet sich das Verlangen darauf, etwas zu erkunden, das einem unbekannt ist, wird es als Wissbegierde bezeichnet. Bei diesem Interesse an Wissen stehen forschungs- und verstandesmäßige Anteile im <?page no="107"?> 107 7.4 Beispiel Englisch: Haupt- und Realschule mit Förderstufe (Klasse 5) Vordergrund. Wissbegierde entsteht bisweilen aus dem Kontakt mit einem bestimmten Gegenstand, der interessant bzw. faszinierend auf ein Kind oder einen Jugendlichen wirkt. Neugier kann aber auch angeregt werden. Deshalb ist es eine wichtige Aufgabe von Lehrpersonen, insbesondere bei der ersten Darbietung eines neuen Lerninhalts durch einen hook (Aufhänger) die Aufmerksamkeit und die Neugier der Lernenden wachzurufen. Das kann auf verschiedene Art geschehen: u. a. durch eine interessante Fragestellung, eine kurze Geschichte oder ein Beispiel, welches zum Widerspruch einlädt. Neben dem angedeuteten Aspekt des Konflikts können auch Neuartigkeit sowie eine angemessene Komplexität des Gegenstands Wissbegierde hervorrufen. Fazit Lebensbezug: „Aus Verbindungen, die nicht bis ins Innerste der Existenz gehen, kann nichts Kluges werden.“ (Johann Wolfgang von Goethe) Authentizität: „Das Ziel des Lebens ist Selbstentfaltung. Seine eigene Natur vollkommen zu verwirklichen, dafür ist jeder von uns da.“ (Oscar Wilde) Neugier: „Wenn die Neugier sich auf ernsthafte Dinge richtet, dann nennt man sie Wissensdrang.“ (Marie von Ebner-Eschenbach) 7.4 Beispiel Englisch: Haupt- und Realschule mit Förderstufe (Klasse 5) Bei den folgenden Beispielen stütze ich mich teilweise auf Unterrichtstranskripte des Archivs für pädagogische Kasuistik (ApaeK) der Universität Frankfurt am Main. Dieses Archiv hält derzeit fast 800 Transkripte vollständiger Unterrichtsstunden bereit, die auf der Grundlage von Videobzw. Tonaufnahmen angefertigt wurden. Sie stammen aus unterschiedlichen Schulformen, Schulstufen, Jahrgangsklassen und Schulfächern; für das Fach Englisch stehen zur Zeit 148, für Französisch 44 Transkripte zur Einsicht und zum freien Download zur Verfügung (www.apaek.uni-frankfurt.de; letzter Zugriff Ende Mai 2015). Die Dokumente des ApaeK sind keineswegs Musterlösungen oder gar Rezepte. Die Sichtung von Fallstudien, d. h. die pädagogische Kasuistik, ist vielmehr eine Möglichkeit der Rekonstruktion, Interpretation und der Analyse von Dokumenten aus der pädagogischen Praxis. Man wird mit mir darin übereinstimmen, dass die Analyse von Unterrichtstranskripten, […], in jedem Fall besser ist als die Betrachtung von fingierten Beispielen und/ oder allgemein gehaltenen Empfehlungen. (De Florio-Hansen 2014b: 102) 7.4.1 Beispiel Englisch: Singular/ Plural (1. Lernjahr) Hinweise: Die Förderstufenklasse besteht aus 14 Schülern und 10 Schülerinnen. Lehrerin: Englisch, Französisch, Arbeitslehre Die abwechslungsreiche Stunde lässt sich in vier Teile gliedern: 1. Zunächst erfolgt singend die Begrüßung und die Wiederholung des in der letzten Unterrichtsstunde eingeführten Plural -s. <?page no="108"?> 108 7. Sprachliche Bildung - Beispiele Englisch und Französisch aus der Praxis 2. Anschließend werden in Form einer spielerischen Aktivität mit Gummibärchen die Strukturen there is …, there are … sowie are there …? eingeführt. 3. Die Hausaufgabe wird vorbereitet, indem die Lernenden Gegenstände benennen und an die Tafel schreiben, die sie in ihren Schultaschen und Rucksäcken haben. (Die Lernenden sollen zu Hause schriftlich benennen, was und welche Anzahl der einzelnen Dinge sie in ihren Schultaschen haben.) 4. Es folgt ein Spiel, bei dem die Lernenden mit geschlossenen Augen auf Englisch zählen sollen. Rekonstruktion von Zielen der Unterrichtsstunde:  fachliche Ziele: Plural -s; Strukturen there is …, there are …, are there …?  fächerübergreifende Ziele: verschiedene Arbeitsformen wie Anschreiben an die Tafel, vor der Klasse agieren, Aufmerksamkeitsfokussierung durch ein Spiel mit geschlossenen Augen;  (Teil-)Kompetenzen: freies Sprechen, Aussprache üben als Vorbereitung auf Sprechkompetenz;  fremdsprachliche Bildung: Freude am Fremdsprachenlernen, Motivation Auszüge aus dem Transkript (Teile 2 und 4): 29 <Lw gibt ein Zeichen, dass sich die Schüler setzen sollen> 30 <Lw nimmt Gummibärchen, die sie mitgebracht hat, vom Pult in die Hand.> 31 Lw: What is in my hand? 32 Sm18: Gummibärchen. 33 Lw: In English please! 34 Sm23: yellybears. 35 <Lw wirft Schülerin ein Stück Kreide zu.> 36 Lw: Sw4 write it on the board please! 37 <Sw4 schreibt Jelly Bears an die Tafel.> 38 <Lw verbessert es zu yelly bears.> 39 <Sw4 setzt sich wieder.> (3 sec) 40 Lw: How many yelly bears are in my hand? 41 Sw1: five. 42 Lw: What five? 2 sec. There are five yelly bears in my hand. 43 <Lw schreibt “There are” an.> 44 <Lw malt ein Gummibärchen an die Tafel und darunter drei Gummibärchen. Sie 45 schreibt bei dem einen “There is” dazu und bei den dreien “There are”.> 46 Lw: Who wants to go in the front and ask how many yellybears are in my hand? 47 <Sw2 meldet sich.> 48 Lw: You want to go and ask the class? 49 Sw2: Yes. 50 <Sw2 geht vor und nimmt sich einige Gummibärchen.> 51 Sw2: How many yelly bears are in my hand? 52 <Sm20: Eight yelly bears? 53 <Sw2 schüttelt den Kopf.> 54 Lw: There are. 55 Sm20: There are eight yelly bears in your hand? 56 Sw2: No, there aren’t. <?page no="109"?> 109 7.4 Beispiel Englisch: Haupt- und Realschule mit Förderstufe (Klasse 5) 57 Sw6: There are six yelly bears in your hand? 58 <Sw2 guckt nochmal in ihre Hand und zählt die Gummibärchen.> 59 Sw2: Yes there are. 60 Lw: There are six yelly bears in my hand. 61 Sw2: There are six yelly bears in my hand. 62 Lw: You can take one yelly bear and sit down. 63 Sw6 go in the front and take yelly bears in your hand and ask the others. 64 <Sw6 nimmt Gummibärchen in ihre Hand und zeigt sie der Klasse.> 65 Sw6: How many yelly bears are in my hand? 66 Sm14: Ten yelly bears? 67 Lw: You ask, are there ten yelly bears in your hand? Come on! 68 Sm14: Are there ten yelly bears in your hand? 69 Sw6: No there aren’t ten yelly bears in my hand. Sw13? 70 Sm13: Are there seven yelly bears in your hand? 71 Sw6: Yes there are seven yelly bears in my hand. 72 Lw: Fine! Take you one yelly bear and sit down. Sw13 go in the front and ask the 73 others. 74 <Sm13 nimmt Gummibärchen in die Hand und fragt.> 75 Lw: Ask, how many from one colour are in your hand! 76 Sm13: How many red yelly bears are in my hand? 77 Sw5: Three? 78 Lw: What? 79 Sw5: yelly bears. 80 Lw: There …… 81 Sm5: There are three yelly bears in your hand? 82 Sm13: No, there aren’t. Sw22? 83 Sw22: Are there five red yelly bears in your hand? 84 Sm13: Yes there are five yelly bears in my hand. 85 Lw: Nice! Take one yelly bear and sit down. Before the lesson will be finished, we start 86 a game, but I will give you some homework. At home you write down, what is in your 87 school bag. You have 3 Minutes now to write on the bord which things you have in 88 your bag. At home you write down how many from what you have. 89 Now, write down! (2sec.) Who wants to begin? 90 <Fast alle Schüler melden sich.> 152 Lw: Now we have only 10 Minutes before the lesson is over, we will play a game. 153 Sm19, Sm20, Sw21, Sw22, Sm23, Sm24 ihr müsst jetzt mal eure Stühle nehmen und euch vor 154 die Klasse setzen dann haben wir einen Kreis und können uns alle sehen. 155 <Lw nimmt die Hände hoch. Es ist ihr zu laut. Schüler heben die Hände auch nacheinander. 156 Es ist ruhiger.> 157 Lw: Ihr müsst jetzt zuhören sonst kann ich euch das Spiel nicht erklären. (2sec.) 158 Lw: We close our eyes. I begin and say one then one of you say two, another one three and so <?page no="110"?> 110 7. Sprachliche Bildung - Beispiele Englisch und Französisch aus der Praxis 159 on. You know what I mean? Verstanden? 160 S: Yes.(2sec) 161 Lw: aber das ist nicht so einfach es gibt nämlich Regeln, die eingehalten werden müssen. Es 162 darf nie der Nachbar weiter machen. Und ganz leise sein, ihr müsst euch konzentrieren. 163 Lw: Close your eyes. (3sec) One! 164 Sm20: Two. 165 Sm7 und Sm14: Three. 166 Lw: Ohhhhh….again. Close your eyes. (2sec) One! (3sec) 167 Sm19: Two. (5sec) 168 Sw4: Three. (3sec) 169 Sm17, Sw4, Sm24: Four. 170 <alle regen sich auf.> 171 Sw4: Los jetzt wir müssen uns konzentrieren. 172 Sm20: Oh man. Nicht so schnell, immer warten. 173 Lw: You are right. You must wait, slowly not so fast again and again. 174 Sw4: Schnell, schnell, schnell macht die Augen zu. (2sec) 175 Lw: One! (2sec) 176 Sm8, Sm12: Two! 177 <Unruhe.> 178 Lw: Los nochmal, wieder die Augen zu. (2sec) One! 179 Sm8: Two! (3 sec) 180 Sm20: Three! (2sec) 181 Sw6: Four! (4sec) 182 Sw15, Sm23, Sm9: Five! 183 Lw: Ok, stop. Merkt ihr wie stark man sich bei dem Spiel konzentrieren muss. 184 Das war schon ganz gut, aber da müssen wir noch viel üben. Wir machen das jetzt öfters, mal 185 sehen ob ihr es dann irgendwann bis 10 schafft. 186 Sw4: Noch einmal, bitte, bitte, bitte. 187 S: Jaaaaaa. Bis sieben. 188 Lw: Ok, strengt euch an. (3sec) One! 189 Sm20: Two! (2sec) 190 Sw5: Three! (4sec) 191 Sm23, Sm12, Sm7: Four! 192 S: Ohhhh! ! ! ! Noch mal, noch mal ... 193 Lw: Nächstes Mal wieder, ok. Stellt eure Stühle wieder zurück und wir sehen uns dann 194 morgen. Good bye boys and girls. 195 S: Good Bye Lw. Keim, Eva: Unterrichtstranskript einer Englischstunde an einer Haupt- und Realschule (5. Klasse, Förderstufe). Stundenthema: „Singular/ Plural“. PDF-Dokument (1 Datei), 6 Seiten, 2006, URL: https: / / archiv.apaek.uni-frankfurt.de/ 330 <?page no="111"?> 111 7.5 Beispiel Französisch: Gymnasium (Klasse 6) 7.4.2 Evaluation Dieses Beispiel habe ich auch deshalb gewählt, weil es zeigt, dass eine Lerngruppe in einem bestimmten Kontext in Verbindung mit einer Lehrerpersönlichkeit auf ganz besondere Strategien und Techniken ‚anspricht‘. Würde man eine Englischlehrerin oder einen -lehrer vor die Aufgabe stellen, eine Unterrichtsstunde zum Thema Singular und Plural zu planen und durchzuführen, würde der Vorschlag sicher ganz anders aussehen, und zwar bei jeder der angesprochenen Lehrpersonen. In dieser Unterrichtsstunde besteht aus meiner Sicht eine enge Verbindung zwischen den sprachlichen Zielen - nämlich der Festigung der Pluralformen - und den eingesetzten spielerischen Methoden. Die Lehrerin hat die oben aufgeführten (rekonstruierten) Lernziele gut erreicht. So einfach ist das, werden Sie fragen. Das sieht nur auf den ersten Blick so aus: Selbstverständlich können wir uns alle vorstellen, bestimmte Strukturen, wie z.B. there is …, there are … und are there …? , ohne Vorgabe von Regeln einzuführen. Es sei aber dahingestellt, ob die Kinder das sofort verstehen und vor allem aufgreifen, wie es in dieser Lerngruppe geschieht. Darüber hinaus sind die Sprechanteile der Schülerinnen und Schüler vergleichsweise hoch, und die Lehrperson schaltet das Deutsche eigentlich nur ein, wenn es um das Klassenmanagement geht. Die Aussprache sowie die Sprechkompetenz werden angebahnt, ähnlich wie es die Lehrerin im oben vollständig wiedergegebenen Interview (vgl. 6.1.1) angeregt hat. Auf Ziele fremdsprachlicher Bildung arbeitet die Lehrerin vor allem dadurch hin, dass sie bei den Schülerinnen und Schülern die Freude an der englischen Sprache fördert. Schülerinnen und Schüler, die über das Ende der Stunde hinaus weitermachen möchten, sind doch recht selten, oder? Wie steht es nun mit dem Lebensbezug, der Authentizität und der Neugier? Den Bezug zum Alltagsleben der Lernenden stellt die Lehrerin dadurch her, dass gesungen wird, dass die Schülerinnen und Schüler nicht still sitzen müssen, sondern vor der Klasse agieren und natürlich durch die Gummibärchen! Soweit man es einer verschrifteten Unterrichtsstunde ohne eigene Anschauung entnehmen kann, verhalten sich die Kinder authentisch: Sie sind bei der Sache und regen sich auf, wenn etwas nicht gelingt. Die Lehrerin verhält sich völlig ungekünstelt und unangestrengt. Und sie versteht es, bis zu einem gewissen Grad die Neugier der Schülerinnen und Schüler wachzuhalten. 7.5 Beispiel Französisch: Gymnasium (Klasse 6) Der folgende Unterrichtsvorschlag liegt nicht in videographierter oder transkribierter Form vor. Vielmehr entnehme ich die Informationen einem Unterrichtsentwurf im Fach Französisch, den eine Lehrerin in der Ausbildung im Rahmen des ersten Hauptsemesters anlässlich eines Unterrichtsbesuchs angefertigt hat. Der Entwurf ist in die üblichen Teile gegliedert: 1. Lernausgangslage, 2. Lerngruppenanalyse, 3. Kompetenz- und Zielorientierung der Stunde, 4. didaktische Analyse, 5. methodische Entscheidungen, 6. Stundenverlaufsskizze. Insbesondere die Abschnitte 3 - 5 sind in unserem Zusammenhang von Interesse. <?page no="112"?> 112 7. Sprachliche Bildung - Beispiele Englisch und Französisch aus der Praxis 7.5.1 Beispiel Französisch: Ma famille - Erarbeitung und Einübung der Possessivbegleiter mon, ma, mes (1. Lernjahr) Hinweise: Der Französischkurs ist aus zwei Klassen zusammengesetzt und besteht aus 14 Schülerinnen und 4 Schülern. Lehrerin: Die Referendarin unterrichtet die Lerngruppe eigenverantwortlich. Der Unterrichtsentwurf weist im Wesentlichen sechs Teile für die Stunde aus: 1. In Form eines Domino-Spiels wiederholen die Lernenden in Partner- und Kleingruppenarbeit die bereits eingeführten Verwandtschaftsbezeichnungen (anhand der Familie der Simpsons). 2. In der folgenden Darbietungsphase führt die Lehrerin die (noch unbekannten) Possessivbegleiter mon, ma, mes kurz ein, indem sie ihre eigene Familie vorstellt. 3. Anschließend versuchen die Schülerinnen und Schüler anhand einer „Zuordnungs- und Sortierungsaufgabe“ selbsttätig zu erarbeiten, welche Regularitäten mit den drei Possessivpronomina verbunden sind (mon: anstelle der Artikelformen le und l’, ma: anstelle von la; mes für den Plural). Dieses von der Referendarin als induktiv bezeichnete Vorgehen, findet zunächst in Einzelarbeit statt. Daran schließt sich eine Partnerarbeit an, bei der die Lernenden die genannten Possessivpronomen systematisierend in eine Tabelle eintragen. 4. Übung 1: Beschriftung von Karteikarten mit Angaben zur eigenen Familie (Possessivbegleiter + Bezeichnung und Vorname) in Einzelarbeit. 5. Übung 2: a. Die Schülerinnen und Schüler stellen den Mitlernenden die eigene Familie vor (Ma mère s’appelle Sabine. Mes frères s’appellent Nico et Lukas. Jennifer, c’est ma cousine.) b. In Form eines Ratespiels (unter Verwendung der zuvor erstellten Karteikarten) müssen die Schülerinnen und Schüler erraten, welches ihrer Familienmitglieder auf der Karte vermerkt ist (C’est ma mère? - Non. C’est ma cousine? - Oui.) Diese Phase ist als ‚Omniumkontakt‘ geplant, bei dem die Schülerinnen und Schüler mit wechselnden Mitlernenden unter ‚Supervision‘ der Referendarin das Gespräch suchen. 6. Ausstieg/ Ausblick: Im Rahmen eines Transfers sollen die Schülerinnen und Schüler Gegenstände in ihrem Zimmer benennen. Ziele der Unterrichtsstunde: Die Referendarin macht dazu in ihrem Unterrichtsentwurf unter Punkt 3 ausführliche Angaben: Kompetenz- und Zielorientierung der Stunde Schwerpunktsetzung Zentrales Ziel ist, dass die SuS am Ende der Unterrichtsstunde Auskunft über ihre eigene Familie geben können. Dabei kommt die grammatische Struktur der Possessivbegleiter (le déterminant possessif) der ersten Person Singular zum Tragen. <?page no="113"?> 113 7.5 Beispiel Französisch: Gymnasium (Klasse 6) Weitere Stundenziele Sprachlich-kommunikative Kompetenzen Die SuS werden darin kompetenter, Mitglieder ihrer Familie zu benennen und die neue Lexik korrekt auszusprechen, indem sie die Verwandtschaftsbezeichnungen im Domino den richtigen Personen zuordnen und verbalisieren. Die SuS erweitern ihre Sprechkompetenz, indem sie im Omniumkontakt Mitglieder ihrer eigenen Familie vorstellen und in einem Ratespiel erfragen, welches Familienmitglied aus fünf Karten gezogen wurde. Inhaltlich-kognitive Kompetenzen Die SuS erweitern ihr Wissen über sprachliche Strukturen im Französischen, indem sie die Angleichung des Possessivbegleiters und des zugehörigen Nomens eigenständig erarbeiten und die Gesetzmäßigkeit tabellarisch darstellen. Sozial-affektive Kompetenzen Die SuS üben das selbstständige und kooperative Arbeiten, indem sie einerseits in der Erarbeitungs-/ Präsentationsphase Ergebnisse erarbeiten, vergleichen und sich helfen sowie andererseits im Omniumkontakt mit wechselnden Gesprächspartnern interagieren. Methodische Kompetenzen Die SuS lernen ihre Erfahrungen zu strukturieren, indem sie Wortgruppen einander zuordnen, sortieren und in einer Tabelle klassifizieren. 7.5.2 Evaluation Inwieweit die geplante Unterrichtsstunde und vor allem die Abfolge der Phasen sowie die Auswahl der Methoden den Überzeugungen der Referendarin entsprechen oder - wie so häufig - den am Studienseminar herrschenden Gepflogenheiten geschuldet sind, wissen wir nicht. Zunächst fällt die beschönigende Redeweise auf: Sagen zu können, wie Vater und Mutter sowie weitere Familienmitglieder heißen, ist ohne Zweifel wichtig. Dies als „Auskunft über die eigene Familie geben zu können“ zu bezeichnen, halte ich für übertrieben. Daher fällt es schwer, die Aussagen der Referendarin über die Lerngruppe einzuordnen. Sie schreibt: „Manchen SuS fällt es jedoch schwer, vollkommen frei zu sprechen und sie begrüßen es, sprachliche Mittel und Anregungen mit an die Hand gegeben zu bekommen, was in der Unterrichtsplanung berücksichtigt werden muss.“ Wohlgemerkt, die Schülerinnen und Schüler lernen im ersten Jahr Französisch. Erwartet die Lehrerin nicht zu viel? Was versteht sie unter „vollkommen frei zu sprechen“? Was die Ziele des Unterrichts angeht, erinnert die Aufteilung in vier Kompetenzbereiche an die älteren Ausführungen von Ziener (vgl. Ziener 2008), obgleich der dargestellte Unterricht im Jahr 2013 stattgefunden hat. Aus meiner Sicht strebt die Referendarin in erster Linie fachliche Ziele an, auch wenn sie sie anders klassifiziert. Fächerübergreifend sind allenfalls die dominanten Methoden: Domino, Ratespiel/ Quiz, Omniumkontakt, vorausgesetzt es besteht zwischen den Lehrpersonen der Schule eine Übereinkunft, diese methodischen Verfahren vorrangig zu nutzen. Zum längerfristigen Kompetenzaufbau tragen die Aktivitäten und Übungen meines Erachtens nicht gezielt bei. Die Einordnung ist fragwürdig: Wird tatsächlich die inhaltlich- <?page no="114"?> 114 7. Sprachliche Bildung - Beispiele Englisch und Französisch aus der Praxis kognitive Kompetenz dadurch angebahnt, dass die Lernenden eigenständig herausfinden, wie die Possessivbegleiter mon, ma, mes mit entsprechenden Verwandtschaftsbezeichnungen zu verbinden sind (zumal eine Parallele zum Deutschen besteht)? Vermutlich ist im Vorbereitungsdienst die Gliederung mit den jeweiligen Unterpunkten vorgegeben worden. Oft bedienen sich Referendarinnen und Referendare auch aus den im Internet vorhandenen Vorlagen für Unterrichtsentwürfe. Auf alle Fälle sind die Angaben zu den „Kompetenz- und Lernzielen“ im Entwurf unzureichend bzw. unpassend. Wie steht es nun mit dem Lebensbezug, der Authentizität und der Neugier? Davon ist im Vergleich zur unter 7.4 dargestellten Englischstunde wenig zu spüren. Bei der Durchsicht von Lehrprobenentwürfen stellt man häufig fest, dass der Ausgangspunkt der Planung nicht etwa die Lernenden sind, sondern die Bildungsstandards und/ oder die Kerncurricula des jeweiligen Bundeslandes. In ihrer didaktischen Analyse konstatiert die Referendarin einen „direkten Lebensweltbezug“: In der Unterrichtsstunde wird die Thematik Ma famille weitergeführt. […] Die Thematik ist im neuen Kerncurriculum für das Bundesland Hessen im Inhaltfeld Persönliche Lebenswelten „Ich und die Anderen“ zu verorten. Da die SuS über ihre eigene Familie sprechen und etwas über die Familien ihrer Mitschüler erfahren, hat das Thema einen direkten Lebensweltbezug. Die eigene Familie spielt eine große Rolle im Leben der SuS und es gehört zu ihrem Alltag, insbesondere beim Knüpfen von neuen Kontakten (z. B. in der Schule), von sich und der eigenen Familie zu erzählen. Wie bei so vielen Themen besteht kein Zweifel, dass die Familie für Kinder und Jugendliche eine große Bedeutung hat. Ob sie aber darüber unbedingt Auskunft geben wollen, sei dahingestellt. Hat die Lehrerin schon einmal an Familien mit Migrationsgeschichte oder auch nur an allein erziehende Mütter und Väter gedacht? Selbst wenn wir die ‚heile Familie‘ vor Augen haben, ist es sicher nicht besonders motivierend, im Französischunterricht in der von der Referendarin geplanten stereotypen Form Auskunft zu geben. Um einen Lebensbezug zu diesem wichtigen Bereich des Alltagslebens herzustellen, bedarf es einer weniger künstlichen Vorgehensweise. Falls die Lehrerin die Stunde in der geplanten Form gehalten hat, dürften die Schülerinnen und Schüler wenig Gelegenheit gehabt haben, sich in ihrer Persönlichkeit mit Blick auf Authentizität weiterzuentwickeln. Ein in dieser Weise formalisierter Unterricht bringt die Kandidatinnen und Kandidaten dem erfolgreichen Ablegen der staatlichen Lehramtsprüfung offensichtlich näher. Es ist aber höchst zweifelhaft, ob Neugier bzw. Wissbegierde, die auf fremdsprachliche Bildung fokussiert, tatsächlich auf diese Art geweckt und dauerhaft aufrechterhalten werden kann. Wie könnte man vorgehen, wenn man Schülerinnen und Schüler im Französischunterricht des ersten Lernjahrs dazu anregen will, lebensnah und authentisch über ihre Familie zu sprechen? (vgl. Anregungen zum Nachdenken, Diskutieren und Gestalten am Ende des Kapitels). 7.6 Beispiel Englisch: Gymnasium (Klasse 8) Auch in dem folgenden Unterrichtsentwurf geht es um die Erarbeitung einer sprachlichen Struktur, nämlich der komplexen if-clause III - What would have happened, if …? Das Unterrichtsbeispiel bietet sich aus mehreren Gründen an: Es zeigt, dass im Vorbereitungsdienst, auch hier für das Lehramt an Gymnasien, Unterrichtsstunden geplant <?page no="115"?> 115 7.6 Beispiel Englisch: Gymnasium (Klasse 8) und gehalten werden, die über die Referendarzeit hinaus Gültigkeit beanspruchen können. Es geht nicht darum, nach dem Vorbereitungsdienst das dort Erlernte abzustreifen und endlich die eigene Lehrerpersönlichkeit in den Vordergrund treten zu lassen. Auch wenn in der im Folgenden beschriebenen Unterrichtstunde eine konsequente und teils enge Planung der einzelnen Unterrichtsphasen festzustellen ist, wird in diesem Beispiel auf fremdsprachliche Bildung hingearbeitet. Richtungsweisend in diesem Entwurf für die Examenslehrprobe ist die Verbindung von sprachlicher, interkultureller und ästhetisch-literarischer Bildung. Die Schülerinnen und Schüler lesen die Ganzschrift Diary of a Wimpy Kid, a novel in cartoons von Jeff Kinney, welche nach großen Erfolgen online im Jahre 2007 in Printform erschienen ist und zahlreiche Fortsetzungen sowie Verfilmungen erfahren hat. In satirischer Form werden die Probleme von Greg in der Middle School beschrieben. Durch das Setting haben die Lernenden Gelegenheit, ihr interkulturelles Wissen zu erweitern. In der Unterrichtsstunde geht es aber (zusätzlich) um die Erweiterung sprachlicher Bildung. Die Referendarin fordert die Lernenden dazu auf zu überlegen, was passiert wäre, wenn Greg, die Hauptfigur, sich an einer bestimmten Stelle anders verhalten und seinen Freund nicht für einen eigenen Fehler verantwortlich gemacht hätte. Bei dieser gelungenen Verbindung von sprachlichem, interkulturellem und ästhetischliterarischem Lernen ist besonders erwähnenswert, dass die Spracharbeit nicht aufgesetzt ist: Das Spekulieren über einen anderen Fortgang der Geschichte bietet sich an, auch weil die Schülerinnen und Schüler an einigen Stellen des Romans bereits von sich aus über eine andere Fortsetzung der Handlung nachgedacht haben, ihre Ideen aber nicht angemessen versprachlichen konnten. Außerdem gilt der Impuls „what, if …“ über schulischen Unterricht hinaus in Anleitungen von Schriftstellern für solche, die es werden wollen, als besonders zielführend (vgl. King 2000). 7.6.1 Beispiel Englisch: What would have happened, if …? (1. Hälfte 4. Lernjahr, G8) Hinweise: Die Klasse besteht aus 14 Schülerinnen und 12 Schülern. Lehrerin: Die Referendarin (Fächer: Englisch und Französisch) unterrichtet die Klasse eigenverantwortlich. Die folgende Übersicht zeigt den geplanten Unterrichtsverlauf: Phase Lehreraktion Schüleraktion Sozialform Medien/ Material Einstieg With a partner: Have a look at the pictures. Put them into the correct order and outline what happened. Let’s quickly summarise the episode. Die SuS bringen die Bilder in die richtige Reihenfolge und besprechen die Handlung mit ihrem Partner. Die SuS fassen die Handlung gemeinsam zusammen. PA/ UG Bilder (Cartoons) Folie (Cartoons) Hinführung That’s the story, and we can’t change it. But let’s speculate: What would have happened if…. L leitet zur Demonstrationsphase über. <?page no="116"?> 116 7. Sprachliche Bildung - Beispiele Englisch und Französisch aus der Praxis Demonstration L präsentiert alternative Handlungsausgänge der gerade zusammengefassten Szene unter Verwendung der neuen Struktur. z.B.: If Greg had not forgotten his raincoat,… Die SuS hören zu, beantworten ggf. kurze (inhaltliche) Fragen. LV/ UG Realia (Regenjacke,…) Verstehen und Reagieren Who could have thought this? L formuliert if-Sätze. Die SuS ordnen die if-Sätze den Personen zu. UG thought bubbles Reproduktion Match the sentence halves, please! Die SuS ordnen die Satzhälften einander zu. EA/ PA AB 1 (matching) Let’s compare your results! Die SuS lesen ihre Ergebnisse vor. Einzelne Schüler tragen die Verbindungen auf der Folie ein. SV Folie (matching) Produktion 1. Work with a partner and do the tandem activity, please! 2. Be creative and speculate further! Die SuS bearbeiten den Tandembogen. Schnellere Schüler bearbeiten AB 3 und stellen eigene Spekulationen an. PA/ EA AB 2 (Tandem) AB 3 (speculating) Sicherung Please present your speculations. L reformuliert ggf. Aussagen der SuS (korrigierendes Lehrerecho). Die SuS lesen ihre alternativen Handlungsvorschläge vor. UG AB 3 (speculating) fakultative Phase: Bewusstmachung L fordert SuS auf, zwei Beispielsätze an der Tafel zu notieren. Die SuS erarbeiten anhand zweier Beispielsätze induktiv die Regel zur Bildung und zum Gebrauch des if-clause III. UG Tafel didaktische Reserve / HA Imagine you had been in the following situations of the book. What would you have done? Choose two situations and draw a cartoon and write at least 2-3 sentences. Die SuS notieren sich die Hausaufgabe bzw. fangen mit der Hausaufgabe an. EA AB 4 (homework) Legende: EA: Einzelarbeit, LV: Lehrervortrag, PA: Partnerarbeit, SV: Schülervortrag, UG: Unterrichtsgespräch Zielsetzung Hauptintention: Indem die Schülerinnen und Schüler den if-clause III im Kontext der Lektüre Diary of a Wimpy Kid kennenlernen und anwenden, erweitern sie ihre Fähigkeit, Bedingungen, Annahmen und Hypothesen über Vergangenes auszudrücken (Sachkompetenz). <?page no="117"?> 117 7.6 Beispiel Englisch: Gymnasium (Klasse 8) 7.6.2 Evaluation Bei diesem Entwurf für die Examenslehrprobe, die Ende 2012 stattgefunden hat, fällt angenehm auf, dass die Referendarin - im Gegensatz zum Beispiel im vorigen Abschnitt (vgl. 7.5) - den Begriff ‚Kompetenz‘ sehr sparsam verwendet. Obgleich sie durch die geschickte Integration der Spracharbeit in die Lektüre, auf sprachliche Bildung und Sprechkompetenz hinarbeitet, schildert und beschreibt sie die Lerngruppe und die einzelnen Unterrichtsschritte in angemessener, pragmatischer Form. Sie selbst macht durch obige Zielsetzung deutlich, wie sie auf sprachliche Bildung in dieser Lerngruppe hinarbeitet. Aber auch in diesem Beispiel treten die Anforderungen des Studienseminars zutage. Diese zeigen sich vor allem in der straffen Planung und den sieben (ansprechend gestalteten) Arbeitsblättern. Es handelt sich um eine ‚Ausnahmestunde‘, denn unter den Bedingungen des schulischen Alltags ist ein solcher Aufwand nicht zu leisten. Das schmälert aber die Leistung der Kandidatin nicht. Die Einführung der Struktur „What would have happened, if …? “ erfolgt in Anlehnung an Ziegésar und Ziegésar (1995). Die Referendarin führt aus, dass sie in dieser Unterrichtsstunde erste Erfahrungen mit den Empfehlungen der beiden Autoren in dieser Lerngruppe machen wird, also zum ersten Mal eine grammatische Struktur mit den Schülerinnen auf diese Weise erarbeitet - nämlich im Wesentlichen in vier bzw. fünf Phasen: Demonstration der Struktur durch die Lehrperson, Verstehen und Reagieren der Lernenden, Reproduktion der Struktur und schließlich deren Produktion durch die Lernenden. Es schließt sich eine Sicherungsphase an (vgl. obige Übersicht zur Verlaufsplanung). Bei den einzelnen Unterrichtsschritten spielt das scaffolding in Form vorstrukturierter Arbeitsblätter eine wichtige Rolle. Obgleich auch diese Referendarin vom Lehrplan (Schleswig-Holstein) ausgeht, begründet sie den Lebensweltbezug des Unterrichts: Der Lehrplan Englisch sieht für die Sekundarstufe I verschiedene Themenbereiche vor. Die lehrwerksunabhängige Einheit Diary of a Wimpy Kid kann zum einen dem Themenbereich I in Verbindung mit family life und friendship, zum anderen auch dem Themenbereich II bzgl. „Schulalltag“ (Routine, Pflichten, Konflikte) zugeordnet werden. Im Themenbereich II sieht der Lehrplan außerdem vor, dass die Schüler sich mit young people’s perspectives auseinandersetzen. Die „Novel in Cartoons“ Diary of a Wimpy Kid ist hierfür besonders geeignet, da die Geschichte in Form eines Tagebuchs aus der Perspektive von Greg geschrieben ist, der seine Sicht der Dinge bzgl. der Bewältigung alltäglicher Probleme schildert, die auch die Schüler dieser Klasse betreffen (z. B. Ärger in der Schule, Streit mit den Geschwistern, Eltern oder Freunden, how to be popular at school,…). Somit ist der Lebensweltbezug hoch. Die Entfaltung einer authentischen Persönlichkeit wird dadurch unterstützt, dass die Lernenden Hypothesen darüber bilden, was gewesen wäre, wenn … Hinzu kommt, dass die Schülerinnen und Schüler von sich aus solche Überlegungen angestellt haben. Authentizität ist im vorliegenden Unterrichtsbeispiel mit Wissbegierde gepaart. Diese richtet sich auf inhaltliche Aspekte, zu deren spekulativer Wiedergabe in diesem Fall bestimmte sprachliche Strukturen benötigt werden. Die Referendarin unterstreicht in ihrem Entwurf zu Recht die dienende Funktion der Grammatik. <?page no="118"?> 118 7. Sprachliche Bildung - Beispiele Englisch und Französisch aus der Praxis Fazit: Ziele für eine Unterrichtsstunde, eine Sequenz oder eine ganze Unterrichtseinheit sollten mit Augenmaß festgelegt werden. Das gilt hinsichtlich des Umfangs, der Vielfalt und der Reichweite der Ziele. Ist ‚Lernerbzw. Schülerorientierung‘ keine leere Phrase, kommen Lebensbezug, Authentizität und Neugier - die wichtigsten Voraussetzungen für den Fremdsprachenerwerb und fremdsprachliche Bildung - gleichsam von selbst ins Spiel. Anregungen zum Nachdenken, Diskutieren und Gestalten 1. Im Download (www.narr-studienbuecher.de/ 9783823369370) finden Sie die vollständigen Fassungen der folgenden Unterrichtsvorschläge die ich im Laufe der letzten Jahre in Fachzeitschriften veröffentlicht habe: Englisch/ Französisch: De Florio-Hansen, Inez (2011): „Faces of Facebook/ Faces de Facebook. Zum Umgang mit sozialen Netzwerken: kritisch, konstruktiv, kreativ.“ In: Praxis Fremdsprachenunterricht 5, 5-8 (+Download). De Florio-Hansen, Inez (2014): „Dos and Dont’s bei interkulturellen Begegnungen. Vorschläge für berufsvorbereitendes Fremdsprachenlernen.“ In: Praxis Fremdsprachenunterricht 5, 11-15. Englisch: De Florio-Hansen, Inez (2012): „A never ending story: video games.“ In: Praxis Fremdsprachenunterricht Englisch 4, 9-13. De Florio-Hansen, Inez (2013): „Money, money, money.“ In: Praxis Fremdsprachenunterricht Englisch 5, 4-8 (+ Download). Französisch: De Florio-Hansen, Inez (2006): „Wortschatzlernen: Positivez! Mit Formulierung und Wirkung spielen.“ In: Der fremdsprachliche Unterricht Französisch 83, 44-48. De Florio-Hansen, Inez (2014): „L’argent ne fait pas le bonheur. Lernaktivitäten zum Thema ‘Geld’.“ In Praxis Fremdsprachenunterricht Französisch 2, 4-7 (+ Download). Wählen Sie ein bis zwei Unterrichtsbeispiele aus und prüfen Sie, inwieweit es mir gelungen ist, im Rahmen dieser Beiträge fremdsprachliche Bildung mit zu bedenken und anzubahnen. Diskutieren Sie über Ihre Ergebnisse mit Fachkolleginnen und -kollegen und adaptieren Sie gegebenenfalls meine Beispiele für Ihren Kontext. 2. Sofern Sie Französisch unterrichten, arbeiten Sie - am besten zusammen mit einer Fachkollegin oder einem -kollegen - eine Unterrichtssequenz von 2 bis 3 Stunden zum Thema Ma famille aus. Dabei brauchen Sie sich selbstverständlich nicht auf mon, ma und mes zu beschränken. <?page no="119"?> 119 Anregungen zum Nachdenken, Diskutieren und Gestalten 3. Für Englischlehrerinnen und -lehrer ist es meines Erachtens eine lohnende Aufgabe, eine Unterrichtsstunde bzw. eine kurze Sequenz zu den vielfältigen Bedeutungen des Wortes light zu konzipieren (Stichworte: Arbeit mit dem Wörterbuch; Zugehörigkeit zu Wortklassen; Vergleich mit dem Deutschen und/ oder anderen Fremdsprachen, Beispielsätze, Zeichnungen und vielleicht der Zungenbrecher: No need to light a night light in light night like tonight). <?page no="121"?> 8. Interkulturelle Bildung - Beispiele Englisch und Französisch aus der Praxis 8.1 Toleranz und Respekt sind nicht alles Marion Mollenhauer unterrichtet Englisch und Geographie an einem Gymnasium mit bilingualem Zweig. Die Schülerinnen und Schüler nennen sie ‚Molli‘, aber nicht wegen ihres Körperumfangs, sondern weil man mit jedem kleinen und großen Problem bei ihr Gehör findet. Außerdem gibt sie ganz offensichtlich einen motivierenden Unterricht. Das hat Lukas Gebauer - er ist fast ein Jahr an der Schule und unterrichtet die gleichen Fächer wie Frau Mollenhauer - immer wieder gehört: „Molli hatte aber immer eine spannende Geschichte parat oder mindestens ein Beispiel“. Als es sich ergab, hat er das Gespräch mit ihr gesucht. Ganz offensichtlich hatte Frau Mollenhauer darauf gewartet: Sie wird bald pensioniert, und unter den Kolleginnen und Kollegen gab es wenig echte Gesprächspartner, weil niemand die gleichen Fächer, und noch dazu bilingual, an der Schule unterrichtet. Lukas hat viele gute Tipps von ‚Molli‘ bekommen, aber etwas hat ihn besonders erstaunt: Eher zufällig hat er beobachtet, wie Frau Mollenhauer einem Schüler dabei behilflich war, seinen Tablet PC wieder flott zu bekommen. Als Lukas die Kollegin darauf hin ansprach, hat sie ihm unmissverständlich klargemacht, dass sie die digital native - sie arbeitet mit PCs schon seit 1985 - und er der digital immigrant ist. Marion: Na, Lukas, was macht deine Unterrichtseinheit? Lukas: Ich bin ganz gut weitergekommen; ich werde mit der 11b den Roman von T. C. Boyle lesen, in dem es um Immigrationsprobleme in den USA geht. Marion: Ah, The Tortilla Curtain. Das ist sicher gut, um interkulturelles Lernen voranzubringen. Aber Toleranz und Respekt sind nicht alles. Lukas: Wie meinst du das? Findest du das denn nicht wichtig? Marion: Doch, doch, das sind die Grundlagen einer humanen Einstellung. Aber interkulturelles Lernen bedeutet für mich inzwischen mehr als Landeskunde und die Ausbildung einer vorurteilsfreien Haltung. Lukas: Könntest du mir erklären, was du meinst? Ich habe interkulturelles Lernen eigentlich immer mit Toleranz und Respekt in Verbindung gebracht. Marion: Je länger ich darüber nachdenke, umso mehr sehe ich eine Verbindung von interkulturellem Lernen mit den neuen Technologien. Lukas: Du meinst jetzt sicher Kontakte mit Schülerinnen und Schülern in Großbritannien und den USA oder E-Mail-Projekte über die Grenzen hinweg mit anderen Englischlernern. Marion: Ja, auch, vor allem aber denke ich, dass interkulturelles Lernen auch darin besteht, dass man zu bestimmten Themen recherchiert, aber nicht einfach um sachdienliche Informationen für ein Referat oder ähnliches zu bekommen. Lukas: Sondern? Marion: Meiner Meinung nach gewinnt man gute Einblicke in kulturelle Gegebenheiten, wenn man zum Beispiel die Informationen zu demselben Thema in zwei oder gar drei Sprachen vergleicht. Neulich habe ich meine 10 einmal vergleichen lassen, wie das englische Schulsystem in den USA, in Deutsch- <?page no="122"?> 122 8. Interkulturelle Bildung - Beispiele Englisch und Französisch aus der Praxis land und in Frankreich im Internet dargestellt wird. Welchen Umfang haben die einzelnen Beiträge? Welche Akzente werden gesetzt? Worauf sind die unterschiedlichen Schwerpunkte zurückzuführen? Lukas: Das könnte man auch gut mit geographischen Themen machen. Warum werden bestimmte Regionen der Welt in verschiedenen Sprachen unterschiedlich beschrieben? Marion: Ja, und ich denke auch an aktuelle Themen: Es ist etwas anderes, ob man in Spiegel online oder in der New York Times über einen Flugzeugabsturz oder ein Massaker an Zivilisten liest. Lukas: Wenn ich es recht bedenke, dann hat die Ausbildung von Hörverstehen und vor allem von Hör-/ Seh-Verstehen auch etwas mit interkulturellem Lernen zu tun. Warum gibt es bestimmte Serien nur in den USA? Marion: Du bringst mich auf einen Gedanken. Warum machen wir nicht einmal etwas zusammen zu einer Serie wie House of Cards oder so etwas? Lukas: Das ist eine gute Idee. Wir unterrichten doch beide in der 9. Da könnten wir dann auch sehen, wie vergleichbare Inhalte in zwei verschiedenen Lerngruppen ankommen. Marion: Also nächsten Dienstag bei unserem Treff fangen wir an. Lukas: Ja, abgemacht. 8.2 Beispiel Englisch: Gymnasium (Klasse 8) Die im Folgenden dargestellte Unterrichtsstunde kann man als Beginn eines vorübergehenden Ausstiegs aus dem Lehrwerk (G21 Ausgabe A4) bezeichnen. Ich stütze mich auf den Lehrprobenentwurf einer Referendarin im 1. Hauptsemester. Sie möchte durch die Erarbeitung des Songs Teenage Dirtbag den Schülerinnen und Schülern im Zusammenhang mit der Unit 4 des Lehrwerks (Hermann says „Willkommen“) ein Gefühl dafür vermitteln, was es bedeutet, ein Außenseiter zu sein und was es mit der prom night, dem Abschlussball an der High School, auf sich hat. Die Auseinandersetzung mit dem Song der Band Wheatus, ein One-Hit-Wonder (vgl. www.azlyrics.com; www.songtexte.com sowie auf YouTube), soll die Lernenden auf den folgenden Lehrwerktext „Angus Bethune’s moment“ vorbereiten. Unter einem Dirtbag versteht man in den USA Menschen - meist handelt es sich um Jugendliche -, die Hygiene auf ein Minimum beschränken, keiner geregelten Arbeit nachgehen und gesellschaftliche Konventionen ablehnen. Meist schnorren sie sich ihr Essen zusammen oder machen sich über liegengebliebene Essensreste her. Ihre Lieblingsbeschäftigung ist das Rockclimbing (vgl. Hinweise unter dem Songtext auf www.songtexte.com). Ähnlich wie in Teenage Dirtbag geht es in dem Text über Angus Bethune um einen Außenseiter. Angus fühlt sich wegen seiner Körperfülle als Außenseiter, aber in der prom night kommt er seiner Kindergartenliebe Melissa wider Erwarten näher. Auch in Teenage Dirtbag ist die prom night ein Angelpunkt: Der Protagonist träumt davon, seiner Liebe Noelle (oder Noel) bei diesem für Jugendliche in den USA wichtigen Ereignis näherzukommen. Die Verbindung zum interkulturellen Lernen im Sinne des oben wiedergegebenen Dialogs zwischen den beiden Englischlehrkräften besteht nicht nur darin, dass sich die Kinder der aus Deutschland nach Herrmann, einer kleinen Stadt im Missouri Rhineland, eingewanderten Familie zunächst als Außenseiter fühlen, weil sie mit dem amerikanischen Schulsystem noch nicht vertraut sind. Vielmehr ist es auch die Ver- <?page no="123"?> 123 8.2 Beispiel Englisch: Gymnasium (Klasse 8) bindung der Audiofassung des Songs mit dem Videoclip, bei dem es auf das Hör-Sehverstehen ankommt, die eine besondere Form interkulturellen Verständnisses fördert. 8.2.1 Beispiel Englisch: Einführung in „being an outsider” und „prom night” mithilfe des Songs Teenage Dirtbag (Wheatus) (4. Lernjahr) Hinweise: Diese Klasse besteht aus 19 Mädchen und 9 Jungen. Lehrerin: Die Referendarin (1. Hauptsemester) unterrichtet die Klasse eigenverantwortlich. Die Unterrichtsstunde ist in fünf Teilen geplant: Nach dem Einstieg (1) erfolgen zwei Erarbeitungsphasen (2 und 3) und eine Vertiefungsphase (4), an die sich eine weitere Sicherungsphase (5) anschließt: Phase Unterrichtsinhalt Arbeitsform Medien Einstieg Begrüßung UG Folie, OHP Bildbeschreibung und Thematisierung des Ausdrucks „Teenage Dirtbag“ Auseinandersetzung mit den Gedanken und Gefühlen des auf dem Bild zu sehenden Außenseiters EA, UG AB Erarbeitung und Sicherung I Videoclipanalyse hinsichtlich der typischen Verhaltensweisen eines Außenseiters im Song „Teenage Dirtbag“ EA PA Videclip, Beamer, AB Gemeinsamer Vergleich der Ergebnisse UG Tafel Erarbeitung und Sicherung II Hören des Songs und Bearbeiten der gap activity EA Song (ohne Video), AB Gemeinsamer mündlicher Vergleich der Ergebnisse UG Klären des Begriffes „prom night“ mithilfe der SuS (alternativ durch Lehrkraft) UG MINIMALZIEL Vertiefung I Erfinden einer kurzen Prom Night Geschichte mit acht vorgegebenen Wörtern - SuS fertigen Notizen an gegenseitiges Erzählen der Geschichten UG EA PA AB, Tafel <?page no="124"?> 124 8. Interkulturelle Bildung - Beispiele Englisch und Französisch aus der Praxis NORMALZIEL Sicherung III Gemeinsames Anhören einer Prom Night Geschichte UG Stellen der Hausaufgabe HA auf AB- Rückseite MAXIMALZIEL Didaktische Reserve Gemeinsames Anhören weiterer Geschichten UG Legende: EA: Einzelarbeit, LV: Lehrervortrag, PA: Partnerarbeit, SV: Schülervortrag, UG: Unterrichtsgespräch Ziele der Unterrichtsstunde: Die Referendarin macht dazu, wie am Studienseminar üblich (vgl. Beispiel 7.5.1), unter Punkt 3 des Lehrprobenentwurfs folgende Angaben: Kompetenz- und Zielorientierung der Stunde In dieser Stunde soll die Auseinandersetzung mit dem Song Teenage Dirtbag (sowohl als Song als auch als Videoclip) erfolgen. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf der Förderung des Hör-/ Hör-Sehverstehens und der mündlichen Kommunikation - zwei wichtige Kompetenzbereiche, die in Hessens neuem Kerncurriculum für moderne Fremdsprachen fest verankert sind (2010: 34-35). Die SuS erweitern ihre … Hör-/ Hörsehkompetenz,  indem sie dem Videoclip zu Teenage Dirtbag wichtige Informationen entnehmen,  indem sie einen lückenhaften Songtext vervollständigen und das besondere Ereignis dieses Songs (prom night) unterstreichen, sprachlich-kommunikativen Kompetenzen,  indem einige SuS ihre thought bubbles der Lerngruppe vorstellen,  indem sich die SuS nach der Think-Pair-Share-Methode über typische Verhaltensweisen des Außenseiters im Videoclip austauschen (soziale Kompetenz),  indem sie aus acht vorgegebenen Wörtern eine Prom Night-Geschichte erfinden und diese ihrem Partner erzählen, inhaltlich-kognitiven Kompetenzen,  indem sie vor, während und nach der Auseinandersetzung mit dem Song Teenage Dirtbag ihre Kenntnisse zu den Aspekten „being an outsider“ und „prom night“ vertiefen, sozial-affektive Kompetenzen,  indem sie sich mithilfe von thought bubbles in die Gedanken und Gefühle eines jugendlichen Außenseiters einfühlen. <?page no="125"?> 125 8.2 Beispiel Englisch: Gymnasium (Klasse 8) Arbeitsblatt: Um diese Ziele erreichen zu können, setzt die (angehende) Lehrerin ein Arbeitsblatt ein: Das Arbeitsblatt (2 Seiten) umfasst vier Aufgaben: Die erste Aufgabe besteht darin, die Gedanken eines Außenseiters auf der Grundlage eines adaptierten Cartoons (www.deviantart.com/ morelikethis/ 273976090/ cartoons; letzter Zugriff Mai 2015) in Denkblasen festzuhalten. Bei der zweiten Aufgabe beschreiben die Lernenden anhand eines Fotos aus dem Videoclip, was die dargestellte Person zu einem outsider macht. Im Rahmen der dritten Aufgabe ergänzen die Schülerinnen und Schüler den Songtext während des Abhörens. Schließlich erfinden sie als vierte Aufgabe anhand von Schlüsselwörtern eine Geschichte rund um eine prom night und erzählen sie ihrem Partner. Die (angehende) Lehrerin ist sich der relativ hohen Anforderungen bewusst; der Song Teenage Dirtbag und dessen Analyse in der angestrebten Form stellen auch für eine motivierte und leistungsstarke Klasse 8 (vgl. die Ausführungen der Referendarin bei der Lerngruppen-Analyse) eine Herausforderung dar. Daher hat sie für „lernschwächere“ Schülerinnen und Schüler auf der Rückseite des Arbeitsblatts unter „I need help“ in einer Box die bei der dritten Aufgabe im Songtext zu ergänzenden Wörter zur Auswahl bereitgestellt. 8.2.2 Evaluation Woher auch immer die Idee stammen mag, in diesem Unterrichtszusammenhang auf den Song Teenage Dirtbag von Wheatus zurückzugreifen, die Referendarin setzt sie ideenreich und lernwirksam um. Dabei kommt ihr zustatten, dass es sich um eine lernstarke Klasse handelt, bei der - nach Bekundungen der Lehrerin - auch bei Verständnisfragen das Deutsche nicht eingeschaltet zu werden braucht. Deshalb hat sie sich auf einige wenige Vokabelangaben mit englischer Erläuterung unter dem Songtext auf dem Arbeitsblatt beschränkt. Selbstverständlich fehlt auch der Hinweis nicht, dass es sich teilweise um eine vulgäre Ausdrucksweise handelt, die die Lernenden besser nicht verwenden sollten. Zum besonderen Erfolg der Unterrichtsstunde trägt vermutlich auch bei, dass die Lernenden sich für das amerikanische Schulsystem interessieren, nicht zuletzt weil sechs Schülerinnen und Schüler im darauf folgenden Schuljahr an einem Austausch mit den USA teilnehmen. Ob der Song von Wheatus den Musikgeschmack der Lernenden trifft, vermag ich nicht einzuschätzen. Auf alle Fälle sind Songs und Videoclips in jedem Fall ein willkommener Gesprächsanlass im Englischunterricht. Positiv hervorheben möchte ich zunächst die enge Verbindung zwischen Lehrwerk und Song, aber auch die Gegenüberstellung von Song und Videoclip. Der Clip, auf dem die Handlung des Songs in Bildern dargestellt ist, unterstützt nicht nur das Verständnis, sondern ermöglicht auch interkulturelles Lernen im Kontext der Medienerziehung, speziell eine Erweiterung des Hör-Sehverstehens. Angemessen ist sicher auch das Vorhaben der Referendarin, sich bei der ersten Begegnung der Lernenden mit dem Song, auf die beiden im Zusammenhang mit dem Lehrwerktext Angus Bethune’s moment wichtigen Aspekte being an outsider und prom night zu beschränken. <?page no="126"?> 126 8. Interkulturelle Bildung - Beispiele Englisch und Französisch aus der Praxis Die Analyse des Videoclips und einen vertiefenden Vergleich der beiden Versionen hat die Lehrerin für eine der folgenden Stunden geplant. Das methodische Vorgehen der Referendarin lässt wenig zu wünschen übrig: Sie schaltet Unterrichtsgesprächen im Plenum Einzelarbeitsphasen vor, um den „Stilleren“ in der Klasse Gelegenheit zu geben, sich passende Formulierungen zu überlegen. Für die Darbietung der eigenen Geschichte gibt sie als Hilfe eine grobe Struktur vor: beginning - main part - ending. Vor allem aber hat sie die acht Schlüsselwörter so gewählt, dass die Schülerinnen und Schüler nicht einfach nur den Inhalt des Songs wiedergeben. Die key-words führen die Lernenden weg vom Song zu einer eigenen Geschichte. Als Hausaufgabe sollen die Lernenden einen Außenseiter beschreiben. Die Besprechung dieser Texte in der darauf folgenden Unterrichtsstunde wird als Einstieg in die Thematik ‚Vorurteile‘ bis hin zum Mobbing dienen. Die gesamte Thematik hat einen starken Lebensbezug: Sehr viele Schülerinnen und Schüler haben sich, zumindest zeitweise, schon als Außenseiter gefühlt bzw. haben den Wunsch, von den Peers akzeptiert, wenn nicht gar bewundert zu werden. Hinzukommen Musik in Ton und Bild, ein Alltagsphänomen im Leben der Lernenden. Die vier Lernaktivitäten auf dem Arbeitsblatt ermöglichen es den Schülerinnen und Schülern weitgehend authentisch, als sie selbst, zu agieren, auch wenn Aufgabenformate dieser Art immer eine Inszenierung bzw. eine Simulation darstellen. Ganz offensichtlich braucht die Wissbegierde der Lernenden nicht erst geweckt, sondern nur aufrechterhalten zu werden. Das gelingt der (angehenden) Lehrerin auf unangestrengte Art und Weise. 8.3 Beispiel Französisch: Integrierte Gesamtschule (Klasse 10) Bevor wir uns Ausschnitte aus dem Unterrichtstranskript genauer ansehen, gebe ich zwei Aspekte zu bedenken, die bei jedem Unterricht von herausragender Bedeutung sind, und zwar die Klassengröße (class size) und die Klassenführung (classroom management). Bekanntlich ist John Hattie heftig dafür kritisiert worden, dass er in seiner Studie von 2009 zu dem Ergebnis kommt, die Klassengröße habe nur einen geringen Einfluss auf den Lernerfolg (vgl. Hattie 2009: 85-88). Der neuseeländische Forscher gibt für die Auswirkungen der class size eine Effektstärke von d = 0.21 an. Die wünschenswerten Effekte beginnen seiner Vorstellung nach aber erst bei d = 0.41, andere Forscher setzen sie sogar noch höher an. Daher rangiert ‚Klassengröße‘ lediglich auf Platz 106 von 138 Faktoren, die die kognitiven Leistungen der Lernenden beeinflussen. Zwar räumt Hattie ein, dass die positive Wirkung der Klassengröße im Primarbereich eine größere Rolle spiele als in höheren Klassen, aber generell widersprachen seine Forschungsergebnisse den Erwartungen vieler Lehrkräfte und Eltern sowie denen einer an bildungspolitischen Fragen interessierten Öffentlichkeit. Da Hattie in Untersuchungen, die der Studie von 2009 vorausgegangen waren, die Auswirkungen kleinerer Klassen positiver dargestellt hatte (vgl. Petty 2 2009: 69), vermuteten Kritiker, der Neuseeländer habe die Ergebnisse bewusst verfälscht dargestellt, um sich bei Bildungspolitkern „anzudienen“. Da die Reduktion der Klassenstärken auf ca. 15 Schülerinnen und Schüler pro Lerngruppe sehr kostenintensiv sei, riet Hattie dazu, das Geld lieber für andere Maßnahmen im Bereich von Schule und Unterricht zu investieren. In den darauffolgenden Jahren hat Hattie, ohne dass es so bekannt geworden ist wie die Studie von 2009, seine Position deutlich revidiert. Zusammen mit Eric M. <?page no="127"?> 127 8.3 Beispiel Französisch: Integrierte Gesamtschule (Klasse 10) Anderman von der Ohio State University, USA, hat Hattie einen sehr inhaltsreichen Sammelband mit dem Titel International Guide to Student Achievement herausgegeben (Hattie & Anderman 2013). In dem einzigen von Hattie selbst verfassten Beitrag geht es erneut um den Faktor Klassengröße (Hattie 2013: 131 ff.). Er führt die in seiner Studie von 2009 angegebene geringe effect size für die Stärke von Lerngruppen darauf zurück, dass Lehrkräfte bei geringeren Klassengrößen keine Änderung ihrer Lehrstrategien vornehmen, sondern einfach so weiter unterrichten, wie sie es bisher in Lerngruppen von 25 bis 30 Schülerinnen und Schülern getan haben. Um die tatsächliche Wirkung kleinerer Klassen zu ermitteln, sollten Lehrpersonen zusätzlich für den Unterricht mit einer geringeren Zahl von Lernenden nachqualifiziert werden. Given the enormous costs and high levels of advocacy by teachers and parents for lower class size, it is necessary to rephrase the key question from does class size reduction positively influence student achievement toward how can we optimize teaching in small classes. (Hattie 2013: 132) Wie zutreffend diese ‚neue’ Sicht von Hattie ist, zeigt sich bei der Analyse des ApaeK- Transkripts einer Unterrichtsstunde im Fach Französisch mit großer Deutlichkeit (vgl. 8.3.1). Obgleich die Lerngruppe nur 15 Schülerinnen und Schüler umfasst, sind keineswegs positive Wirkungen der geringen Klassenstärke zu verzeichnen. Ein weiterer in fast allen Untersuchungen zu Merkmalen eines lernwirksamen Unterrichts behandelter Aspekt ist die Klassenführung, im Englischen treffender als classroom management bezeichnet. Sie ist die Grundvoraussetzung für einen lernwirksamen Unterricht. Mit Klassenführung verbinden Lehrpersonen und Lernende (sowie deren Umfeld) in erster Linie die Vorstellung, dass es der Lehrerin oder dem Lehrer ohne großen Zeitverlust gelingt, störendes Verhalten auszuschalten bzw. sich Autorität zu verschaffen. Diese Vorstellung ist eng verbunden mit der Forderung, die Unterrichtszeit nicht mit Nebensächlichkeiten zu vertun. Es geht darum, „Regeln aufzustellen und an deren Einhaltung zu erinnern bzw. sie einzufordern und durch Routinen und Rituale sicherzustellen, dass die Unterrichtszeit effektiv zum Lernen genutzt werden kann (vgl. zu Einzelheiten Helmke 4 2012, Wellenreuther 2004, 2 2010)“ (vgl. De Florio-Hansen 2014b: 85). Wie gut eine Lehrperson eine Klasse zu führen versteht, hängt selbstverständlich nicht nur von ihrem Geschick ab, Störfaktoren zu beseitigen und sich mit den Lernenden auf das Wesentliche zu konzentrieren. Hinzu kommt eine Reihe von Faktoren, z. B. das Schüler-Lehrer-Verhältnis, die positiven Erwartungen der Lehrperson hinsichtlich der Lernfähigkeit aller Schülerinnen und Schüler sowie die Förderung von Neugier und Motivation (zu weiteren Einzelheiten vgl. De Florio-Hansen 2014b: 84-88). Ob und gegebenenfalls wie es der Lehrerin einer 10. Klasse gelingt, ihre Lerngruppe angemessen zu führen, können wir aus dem Unterrichtstranskript entnehmen. 8.3.1 Beispiel Französisch: Diskussion über Dopingmittel im Sport (4. oder 5. Lernjahr) Hinweise: Die Lerngruppe umfasst 8 Schüler (davon 1 Muttersprachler Französisch) und 7 Schülerinnen (davon 2 Muttersprachlerinnen Französisch). Lehrerin: Ihre Muttersprache ist Französisch. Die Unterrichtsstunde lässt sich in vier Teile gliedern: <?page no="128"?> 128 8. Interkulturelle Bildung - Beispiele Englisch und Französisch aus der Praxis 1. Nach einer kurzen Begrüßung versucht die Lehrerin, die Hausaufgabe einzusammeln. 2. Da sie mit den Schülerinnen und Schülern ein Streitgespräch führen will, erarbeitet sie mit ihnen eine Definition des Begriffs débat (im Unterschied zu discussion). 3. Es werden Themen gesammelt und an der Tafel notiert, welche die Lernenden gern erörtern würden. 4. Anschließend gibt die Lehrerin das Thema ‚Dopingmittel im Sport‘ vor und erfragt im Unterrichtsgespräch einige wichtige Aspekte des Themas. Rekonstruktion von Zielen der Unterrichtsstunde:  Fachliche Ziele: Definition lexikalischer Unterschiede der Synonyme débat und discussion; Erarbeitung von Wortschatz zum Thema le dopage,  Inhaltliche/ interkulturelle Ziele: Diskussion über Dopingmittel im Sport Auszüge aus dem Transkript (Teile 2 und 4): 31 Ok. Pour aujourd’hui j’ai un autre thème. Nous avons le thème du sport en ce 32 moment, d’accord? Et je voudrais faire une petite discussion. Ou un autre mot. 33 J’aurais dit le mot (.) un débat. Qu’est-ce que, Qu’est-ce que c’est pour vous un 34 débat? Oui, qu’est-ce que ça veut dire pour vous le mot débat ? Qu’est-ce qui vous 35 faut pour un débat etc.? (.) Qu’est-ce que c’est, un débat? 36 Sm14: Ein Standpunkt. 37 Lw: En français. Alors, qu’est-ce que je fais quand je fais un débat. Oui ? 38 Sm9: Je parle avec l’autre personne. 39 Lw: D’accord. Je parle avec d’autres personnes. Bien. Après. Qu’est-ce que je, euh. 40 Est-ce que (.) bon. Parler, c’est normal, je peux parler du beau temps etc. Quand je 41 te dis discussion ou débat quel est le sens supplémentaire? Oui, Sw4. 42 Sw4: Ähm, ähm, wie sagt man verteidigen? 43 Lw: Verteidigen? (.) Comment je dis verteidigen en français? C’est presque comme en 44 anglais. Presque. Presque. 45 Sm1: Protection? 46 Lw: Protection? Non! Non. 47 Sm15: Non. Protéger. 48 Lw: Ça sera le verbe. 49 Sm14: murmelt etwas Unverständliches 50 Sm14: Défendre. 51 Lw: Bien. D’accord, Je 52 Sw4: Ah, on défend, on défend sa Meinung. 53 Lw: Meinung, en anglais, comment je dis Meinung en anglais? 54 Sw4: Opinion. 55 Lw: Bien. Je défends mon opinion. C’est super. Bien, ça veut dire que, donc, il y a une 56 discussion, des personnes qui défendent leur opinion. Maintenant je (.) oui ? 57 Sm9: On parle fast immer. 58 Lw: Immer? Comment je dis= 59 Sx =Toujours. 60 Lw: Toujours. <?page no="129"?> 129 8.3 Beispiel Französisch: Integrierte Gesamtschule (Klasse 10) 61 Sm9: Pas toujours, mais euh, öfters 62 Lw: Plus souvent. 63 Sm9: Plus souvent de la politique. 64 Lw: Ok. C’est ma question. 65 Sm14: Jeder hat ein festes Thema. 66 Lw: Alors, comment je dis ein festes Thema? 67 Sm? : Un thème. 68 Lw: Un thème. D’accord. Il y a un thème. Ça c’est justement ma question. Alors, vous 69 dites qu’il y a des thèmes. Qu’il y a comment on défend son opinion. J’aimerais 70 savoir quels sont les thèmes que vous aimeriez avoir pour les débats en français. 71 Quels sont les thèmes intéressants pour vous en français? Quels sont les thèmes 72 intéressants pour vous en français? Oui? 195 Lw: […] Bien alors. Pour aujourd’hui, j’ai trouvé un thème par 196 rapport au livre. Euh, le thème ( ). J’ai déjà choisi le thème et donc, on est ( ) 197 on a parlé du sport, alors j’ai trou (x) j’ai trouvé un thème de discussion pour 198 aujourd’hui. C’est le dopage. Le ( ) aujourd’hui c’est notre thème le dopage. 199 Qu’est-ce que c’est, le dopage? 200 Sm14: Doping. 201 Lw: Tu lèves la main et tu ( ) s’il te plaît ? Alors, le dopage, qu’est-ce que c’est? Est- 202 ce que vous pouvez m’expliquer d’abord en français? Qu’est-ce que c’est? Oui? 203 Sm1: Le doping. 204 Lw: Oui, euh. Qu’est-ce que ça veut dire? Qu’est-ce que ça veut dire? 205 Sm1: Le vélo 206 Lw: Le vélo? (irritierte Stimmlage) 207 Sm2: Le tour de France. 208 Lw: Euh. Attention. Je veux une définition! Qu’est-ce que c’est, le dopage? Oui? 209 Sm15: murmelt etwas Unverständliches 210 Sw? Ruft rein 211 Lw: Tu le laisses parler, d’abord. Oui? 212 Sw4: Ich hab gar nichts gemacht. 213 Sm15: Euh, on doit ( ), parce que à la sport. 214 Lw: Alors, oui. C’est dans le sport. Oui. Et qu’est-ce qui se passe? Qu’est-ce que c’est, 215 le doping? Dans le sport et? 216 Sm15: Dans le sport. 217 Lw: Ça c’est juste. Dans le sport on parle du doping. 218 Sm5: La tour de France. 219 Lw: Oui. 220 Sm2: Das hab ich doch schon gesagt. 221 Lw: Oui, scht oui, mais j’aimerais pas seulement des mots. J’aimerais des phrases. 222 J’aimerais un contexte. Je voudrais savoir, (.) D’abord que vous répondiez à la 223 question. Qu’est-ce que le dopage? 224 Après vous pouvez me donner des exemples. Après nous pouvons donner des 225 noms. Mais je veux d’abord : Qu’est-ce que c’est, le dopage? 226 Sw16: Wie? Wo gedopt wird? 227 Mehrere Schüler: Nein, was es ist. 228 Lw: Non, was es ist. 229 Sw16: Ach so. 230 Lw: Qu’est-ce que c’est? Qu’est-ce que c’est, le dopage? Oui, à toi Sm8. <?page no="130"?> 130 8. Interkulturelle Bildung - Beispiele Englisch und Französisch aus der Praxis 231 Sm8: Le dopage, c’est 232 Lw: C’est? Qu’est-ce que c’est? 233 Sm8: Ja, ich kann das, ich kann die Vokabeln auf Französisch dafür nicht. 234 Lw: Mhm? Qui peut expliquer avec des mots simples en français qu’est-ce que c’est? 235 Sw3 ? 236 Sw3: Ähm. Dass man schnell rennen kann. 237 Lw: En français, j’ai dit. 238 Sw3: Le, le, le, le Rad, ja? Oh, keine Ahnung. Le le vélo, vélorange. 239 Sm2: Vélorange? 240 Sw4 lacht. 241 Sw3 zu Sw4: Was denn ? 242 Sw4: Vélo! 243 Sw3: Vélo! 244 Lw: Scht. Encore une fois. Je veux une définition. Je ne veux pas des exemples. Je 245 veux d’abord une définition. Qu’est-ce que c’est, le dopage? A toi, Sm14, tu 246 essayes. 247 Sm14: Euh, le dopage, c’est les drogues. 248 Lw: Oui. 249 Sm14: Qui, äh, ähm, eine bessere Leistung bringen. 250 Sm9: Vite, vite, vite, vite. 251 Lw: Ah, alors. Verbessern? Comment tu dis? Peut-être que très souvent pour le sport 252 on peut penser au vocabulaire en anglais. En anglais c’est presque le même 253 vocabulaire. Alors? 254 Smz: Le condition. 255 Lw: Pardon? 256 Sm2: Le condition. 257 Lw: La condition, ça c’est bon. La condition, c’est juste. Et j’aimerais verbessern. Oui? 258 Sm14: Faire une bonne concentration. 259 Lw: Une bonne concentration? 260 Sm14: Ja. 261 Lw: Faire une bonne concentration? 262 Sm9: Pour la bonne concentration? 263 Sm? : Nein. 264 Sw4: Condition. 265 Lw: Condition. Pour la bonne condition. Ok. Et qu’est-ce que c’est? Scht, Sm9. Tu 266 parles avec nous pas avec ton voisin. Merci. 267 Sm9: Immer ich. 268 Lw: Non. 269 Sm9: Moi, j’explique. 270 Lw: Non. (wendet sich zu Sw4) Oui? 271 Sw4: Quand on fait du sport… 272 Lw: Oui. 273 Sw4: Même si on s’entraîne beaucoup… 274 Lw: Oui. 275 Sw4: Normalement le corps, euh, ne peut plus continuer. Il faut s’arrêter. 276 Lw: Oui. 277 Sw4: Et la doping fait que le corps n’est pas fatigué et qu’on ne doit pas s’arrêter. Et on 278 continue. 279 Lw: Mhm? Oui, Oui. Qu’est-ce que c’est, le dopage. C’est le fait de? De? Tu as dit, <?page no="131"?> 131 8.3 Beispiel Französisch: Integrierte Gesamtschule (Klasse 10) 280 euh, tu as dit= 281 Sw4: =De ne pas être fatigué. 282 Lw: De ne pas être fatigué, oui bien. Et qu’est-ce qu’on fait? Qu’est-ce qu’on fait pour 283 le dopage? 284 Sm14: Tabletten schlucken. 285 Lw : Oui, aber euh, en français. 286 Sm14 : Euh, manger 287 Sm15 : Prendre des 288 Lw : Prendre des ? 289 Sm15 : Des Tablets. 290 Lw : Prendre des ( ). Ça, vous ne connaissez pas. On prend des capsules ou des 291 médicaments. D’accord. Bien. Alors, c’est ( ). Bien. Donc, nous avons la 292 définition. C’est le fait de prendre des substances. Ok. K. A.: Unterrichtstranskript einer Französischstunde an einer Integrierten Gesamtschule (10. Klasse). Stundenthema: „Diskussion über Dopingmittel im Sport“. PDF- Dokument (1 Datei), 19 Seiten, 2009, URL: https: / / archiv.apaek.uni-frankfurt.de/ 1603 8.3.2 Evaluation Vermutlich teilen Sie meine Ansicht, dass es in der in Auszügen präsentierten Stunde - auch wenn wir den Unterricht nicht aus persönlicher Anschauung erleben können - zahlreiche verpasste Gelegenheiten gibt. Zunächst geht es um die Klassengröße, welche die Lehrerin nicht positiv zu nutzen weiß. Sie unterrichtet ex cathedra, indem sie fast in der gesamten Unterrichtsstunde eine Variante des fragend-entwickelnden Verfahrens anwendet. Die „Fragestunde“ wird eigentlich nur dadurch kurz unterbrochen, dass die Schülerinnen und Schüler erarbeitetes Vokabular von der Tafel abschreiben. Stattdessen hätte sich in einer Klasse mit 15 Lernenden eine Form der Interaktion angeboten, die viel stärker auf die einzelnen Schülerinnen und Schüler eingeht. Die Lehrerin hätte einen Gesprächsstil pflegen können, der realen Sprachverwendungszusammenhängen stärker angenähert ist. Außerdem hätte sie durch Rückfragen (assertive questioning) die Schwierigkeiten einzelner Schülerinnen und Schüler erfragen müssen, zumal einige deutlich zu verstehen geben, dass sie die Lehrerin entweder nicht richtig verstehen oder das Vokabular nicht zur Verfügung haben, das für die Beantwortung der Lehrerfragen erforderlich wäre. Es ist auch kein Vorteil für die Lernenden, dass die Lehrerin französische Muttersprachlerin ist. Es ist ohne Zweifel richtig, dass Formulierungen und Aussprache eines native speaker ‚zielsprachenkonformer‘ sind, als bei Lehrpersonen, die die Fremdsprache nicht als Muttersprache sprechen. Diese Vorzüge dürfen aber eine Muttersprachlerin nicht dazu verleiten, auf berechtigte Verständnisfragen der Schülerinnen und Schüler nicht einzugehen, sondern stereotyp dieselben (unverstandenen) Wörter und Ausdrücke immer wieder zu verwenden. Gerade ein Muttersprachler ist meiner Ansicht nach besser als wir in der Lage, einfachere, aber immer noch korrekte Formulierungen in der Zielsprache zu verwenden. Für den Unterrichtsdiskurs stehen ihr oder ihm eine größere Palette passender Varianten zur Verfügung. Die Lehrerin hat bisher offensichtlich keinerlei Maßnahmen ergriffen, um die drei Lernenden, die Französisch als Muttersprache sprechen, besser in den Unterricht ein- <?page no="132"?> 132 8. Interkulturelle Bildung - Beispiele Englisch und Französisch aus der Praxis zubinden. Dabei wären ohne Zweifel Tandems oder Kleingruppen, in denen je eine französische Muttersprachlerin oder ein Muttersprachler mit den deutschen Schülerinnen und Schülern zusammenarbeitet, sehr lernförderlich, möglicherweise für beide Seiten. In der vorliegenden Unterrichtsstunde beschränkt sich die Lehrerin auf die Darbietung von Vokabular, schaltet also keine Phasen des angeleiteten oder selbstständigen Übens ein, in denen gerade die drei muttersprachlichen Lernenden eine besondere Rolle spielen könnten. Die Lehrerin geht auf die Bedürfnisse der Schüler nicht wirklich ein. Pro forma dürfen die Lernenden Themen nennen, über die sie gern sprechen würden, wobei das Thema l’amour die Lehrerin offensichtlich irritiert. Nachdem sie selbst die genannten (Wunsch-)Themen an der Tafel notiert hat - die Lernenden bleiben die gesamte Stunde über auf ihren angestammten Plätzen -, gibt sie das Thema für das Streitgespräch, nämlich le dopage, selbst vor. Auch sonstige wichtige Punkte des Unterrichts werden von der Lehrperson bestimmt. So beharrt sie beispielsweise mehrmals auf einer Definition (vgl. Z. 33-35 sowie Z. 208 und 244: „Je veux une définition“). Sie begründet nicht, warum die Lernenden débat bzw. dopage definieren sollen. Hat sie sich zudem Rechenschaft darüber abgelegt, dass es recht schwierig für die Lernenden ist, Begriffe zu definieren - zumal in der Fremdsprache? Was versteht sie unter einer Definition: die Angabe der übergeordneten Gattung und eines artbildenden Unterschieds? Warum sind Beispiele nicht auch akzeptabel (vgl. Z. 223-225: „Qu’est-ce que le dopage? Après vous pouvez me donner des exemples. Après nous pouvons donner des noms. Mais je veux d’abord : Qu’est-ce que c’est, le dopage? “)? Das Thema ‘Doping’ bietet sich für interkulturelles Lernen bzw. für einen Vergleich zwischen den Gepflogenheiten und Machenschaften in einzelnen Ländern geradezu an. Es werden im zweiten Teil der Unterrichtsstunde nur Länder bzw. Nationen aufgezählt (Z. 467 ff.) Obgleich die Lernenden die Tour de France nennen (vgl. Z. 207 und 218), geht die Lehrerin nicht darauf ein, sondern beharrt weiterhin darauf, an der Definition zu arbeiten, aber auch im restlichen Verlauf der Unterrichtsstunde wird keine Definition erarbeitet. Schließlich kommt heraus, worin Doping besteht: Lw: „On prend des capsules ou des médicaments. […] Bien. Donc, nous avons la définition. C’est le fait de prendre des substances“ (Z. 290-204). Diese ‚Definition‘ ist auch insofern recht unglücklich, weil die Lernenden in der folgenden Diskussion die verschiedensten Drogen ins Gespräch bringen. Die Lehrerin hat es offensichtlich versäumt, von vornherein Verhaltensregeln für Unterrichtsgespräche festzulegen. Zwar erteilt sie zwischendurch immer wieder Ermahnungen; diese bleiben aber weitgehend wirkungslos. Dennoch hat man nicht den Eindruck, dass die Schülerinnen und Schüler der Lehrerin feindselig gegenüberstehen. Vielmehr scheinen sie sie als jemanden zu nehmen, mit dem man sich aufgrund der Sprachbarrieren nur recht und schlecht verständigen kann. Was eine große Chance für die deutschsprachigen Lernenden sein könnte, nämlich eine Lehrperson und drei Mitlernende deren Muttersprache die gelernte Fremdsprache, nämlich Französisch, ist, scheint sich im vorliegenden Fall eher negativ auszuwirken. Lebensbezug, Authentizität, Neugier? Von der Thematik her hätte alles gut erreicht werden können, aber es kommt eben auf die Lehrperson sowie bestimmte Konstellationen im Unterricht an. <?page no="133"?> 133 Anregungen zum Nachdenken, Diskutieren und Gestalten Fazit: Die beiden dargestellten Unterrichtsstunden sind Beispiele für genutzte und für verschenkte Gelegenheiten. Chancen ergeben sich, wenn man sie herbeiführt. Das tut die Referendarin mit dem Song und dem Videoclip Teenage Dirtbag. An diesem Beispiel sieht man, dass interkulturelle Erziehung - oder besser global education - heute auch im Fremdsprachenunterricht vielfältigere Lerngelegenheiten bereit hält als früher, als es die digitalen Medien noch nicht gab. Anregungen zum Nachdenken, Diskutieren und Gestalten 1. Überlegen Sie, wie das obige Unterrichtsbeispiel (being an outsider) fortgeführt werden könnte. Wie könnte eine Unterrichtssequenz zum Thema bullying in school and beyond aussehen? Sammeln Sie Ideen und besprechen Sie sie mit Fachkolleginnen und -kollegen. 2. Gestalten Sie zusammen mit Fachkolleginnen und -kollegen eine Unterrichtseinheit zum Thema le dopage. Achten Sie dabei besonders auf interkulturelle Aspekte. 3. In einem Lexikonbeitrag zum Stichwort Global Education gebe ich folgende Anregung: Als Einstieg bietet sich z. B. das Thema Kleidung an. Es stellt den wichtigen Bezug zwischen der Lebensrealität der Lernenden und den weltweiten Zusammenhängen her. Globalisierte Produkte zeugen nicht nur vom ökologischen Aufwand bei ihrer Herstellung; sie machen auch die Ausbeutung von Menschen in Entwicklungsländern deutlich, vor allem die von Kindern. […] G[lobal] E[ducation] bedeutet aber nicht das Hervorrufen von Mitleid, sondern die Aufforderung zu solidarischem Handeln, welches nur auf der Grundlage von Wertschätzung gedeiht. Deshalb sollten auch Biographien von Kindern und Jugendlichen in Lebensumständen einbezogen werden, die denjenigen der Fremdsprachenlernenden vergleichbar sind. (De Florio-Hansen 2010c: 91) Diskutieren Sie fremdsprachenübergreifend, warum es wichtig ist, dass auch Kinder und Jugendliche gezeigt werden, deren Lebensumstände unseren Vorstellungen zumindest angenähert sind (geregelter Schulbesuch, angemessene Versorgung mit Nahrung und Kleidung, Freizeitaktivitäten etc.). Überlegen Sie, wo sie entsprechende Schilderungen für Englisch und Französisch (sowie gegebenenfalls weitere schulische Fremdsprachen) finden können. <?page no="135"?> 9. Ästhetisch-literarische Bildung - Beispiele Englisch und Französisch aus der Praxis 9.1 Les rats tons et les rats cistes Vor einiger Zeit stieß ich eher zufällig auf einen Aufsatz zum Thema ‚interkulturelles Lernen‘, den ich vor gut 20 Jahren in einer Fachzeitschrift veröffentlicht habe (De Florio-Hansen 1995). Was meine Aufmerksamkeit hervorrief, waren Titel und Untertitel: Interkulturelle Kommunikationsfähigkeit durch Literatur? ! Ein Beispiel für Sprachreflexion im Anfängerunterricht Französisch. Der Herausgeber der Zeitschrift schreibt in einer kurzen Einführung zu meinem Beitrag: „Anhand eines Beispiels aus der französischen Jugendliteratur, in dem es um einen kleinen beur geht, zeigt sie, daß - und wie - die (Fremd-)Sprache selbst Gegenstand interkulturellen Lernens werden kann“ (ibid.: 403). In dem Beitrag geht es um die Geschichte Juliette et Ahmed aus der Sammlung von Hélène Ray rund um ein siebenjähriges Mädchen: Juliette a-t-elle un grand Cui? Mit cui ist der quotient intellectuel gemeint. Nach Aussagen eines Onkels von Juliette ist es mit dem IQ der Kleinen nicht zum Besten bestellt. Der Inhalt der Erzählung ist eher schlicht: In Juliettes Klasse wird ein algerischer Junge eingeschult, der kaum Französisch spricht. Schon bald verdächtigt ihn ein Mitschüler des Diebstahls. Zusammen mit einer Freundin klärt Juliette den Fall auf, und Ahmed wird in die Klassengemeinschaft aufgenommen. Interessant an der Geschichte ist nicht nur, dass sie aus der Perspektive einer herzerfrischenden Siebenjährigen, sondern auch, dass sie in ihrer Sprache erzählt wird. „Über die gängigen ‚Normabweichungen‘ der Kinder- und Jugendsprache hinaus, die sich auch in der langue parlée familière erwachsener Franzosen finden, enthält die Geschichte eine Reihe von Passagen, die zum Nachdenken über Sprache anregen“ (ibid.: 406). Das rechtfertigt die Lektüre und die Erarbeitung der kleinen Geschichte mit älteren Lernenden. Voraussetzung ist nämlich, dass die Schülerinnen und Schüler über den grundlegenden Erwerb des Französischen in Wort und Schrift hinaus sind. Andernfalls würde sie der Auszug aus einem Brief eher verunsichern; Juliette und ihre Freundin schreiben nämlich an den algerischen Jungen: „Ahmed, fot revenir à l’école. On taime bien. On tatand.“ Und sie könnten sich keinen Reim auf das Gespräch machen, in dem Gilles seiner Schwester auf deren Frage „Un raciste, c’est quoi … une espèce de rat ? “ mit folgender Erklärung an der Nase herumführt: - […] Voilà: dans les rats, il y a deux espèces, les rat cistes, et les rats tons [raton abwertend : dreckiger Ausländer] … tu me suis … - Oui. - Eh bien, les rats qui sont cistes, ils détestent les rats qui sont tons, c’est pour ça que les gens qui détestent les najairien [Algériens], ils les appellent des rats tons. - Et ceux qui les appellent des rats tons, ce sont des rats cistes. - Voilà, t’as bien compris. <?page no="136"?> 136 9. Ästhetisch-literarische Bildung - Beispiele Englisch und Französisch aus der Praxis Inwiefern bringt uns die kurze Beschreibung meines früheren Beitrags weiter? Zum einen möchte ich Sie anregen, diese Erzählung gegebenenfalls in ihren Unterricht einzubeziehen, obwohl es sich nicht um eine „klassische“ Lektüre für den Französischunterricht handelt. Außerdem vereint dieses Unterrichtsbeispiel sprachliche, interkulturelle und ästhetisch-literarische Bildung. Diese zwanglose Verbindung ist m. E. in dieser Form selten. Den Titel des skizzierten Beitrags habe ich mit einem Fragezeichen und einem Ausrufezeichen versehen. Damit deute ich an, dass es keineswegs selbstverständlich ist, dass Literatur in der Fremdsprache interkulturelles Lernen fördert, denn ein Kunstprodukt liefert kein getreues Abbild der Wirklichkeit. Es ist vielmehr das Ergebnis einer Interaktion zwischen Künstler und Welt. Fazit: Bildung wird durch das Lesen literarischer Texte in der Fremdsprache vor allem dadurch angebahnt, dass die Wirklichkeitsentwürfe, die der Künstler präsentiert, zur Distanzierung von festgefahrenen Vorstellungen herausfordern. Entscheidend ist der Dialog zwischen Text und Leser. Im Sinne der Rezeptionsästhetik, welche die Literaturdidaktik stark beeinflusst hat, wird ein Kunstprodukt erst durch die Mitwirkung des Rezipienten zum ästhetischen Objekt. Dann kann die Lektüre literarischer Texte dazu beitragen, Einblicke in kulturelle Gegebenheiten der Zielsprache zu gewinnen und diejenigen der eigenen Kultur kritisch zu reflektieren. 9.2 Kinder- und Jugendliteratur Schon seit Jahrzehnten hat über die literarischen Klassiker hinaus die Kinder- und Jugendliteratur Einzug in den Fremdsprachenunterricht gehalten. Da die einschlägigen Fachzeitschriften auf Neuerscheinungen mit Kurzrezensionen aufmerksam machen, können Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrer ohne besonderen Aufwand ein geeignetes Werk für ihre Lerngruppe auswählen. Aber was ist eigentlich Kinder- und Jugendliteratur? Worin unterscheidet sie sich von Erzählungen für Erwachsene? Vermutlich lautet Ihre spontane Antwort: Das sind Geschichten, die für Kinder und Jugendliche geschrieben sind; sie sind in Inhalt und Sprache weniger komplex als Bücher für Erwachsene. Das trifft meist zu, ist aber zu einfach gedacht, wenn man für seine Schülerinnen und Schüler eine passende Lektüre auswählen will. Der Begriff wird ganz unterschiedlich gefasst, wobei sich natürlich Überlappungen ergeben:  Kinder- und Jugendliteratur ist für Kinder und Jugendliche verfasst.  Es handelt sich um die Werke, die als geeignet für junge Leserinnen und Leser angesehen werden.  Als Kinder- und Jugendliteratur kann man aber auch die Werke bezeichnen, die von Kindern und Jugendlichen gelesen werden.  Bisweilen wird auch Literatur für Erwachsene so aufbereitet, dass sie für junge Leserinnen und Leser zugänglich ist. Im In- und Ausland werden in der Regel drei Gattungen unterschieden: das Bilderbuch, das Kinderbuch und das Jugendbuch. Während man sich einig ist, dass Bilder- <?page no="137"?> 137 9.2 Kinder- und Jugendliteratur bücher für Kinder gedacht sind, die noch nicht lesen und schreiben können und Kinderbücher sich an die Altersgruppe bis maximal 12 Jahren richten, ist die Festlegung bei Jugendbüchern schwieriger. Im deutschsprachigen Raum sollen Letztere 12bis 14-jährige ansprechen. In den USA richtet sich die young adult literature hingegen an 14bis 16-jährige. Bei uns ist für diese Sparte inzwischen von Adoleszenzromanen die Rede. Zudem machen die Verlage in den einzelnen Ländern sehr weit gefasste Altersangaben, um sich einen größeren Leserkreis zu erschließen. Was nun macht „gute“ Kinder- und Jugendliteratur aus? In Deutschland und zahlreichen anderen Ländern gelten die Bestimmungen des Jugendschutzgesetzes, das es verbietet, Kindern und Jugendlichen Texte zugänglich zu machen, die als „jugendgefährdend“ eingestuft werden. Was unter dieses Merkmal fällt, müsste eigentlich alle paar Jahre neugefasst werden, da sich Kinder und Jugendliche geistig und emotional in der heutigen von Medien beherrschten Welt viel schneller entwickeln als vor 30 bis 40 Jahren. Im Jahre 2006 hat Marion Gerhard die noch heute gültige Forderung erhoben, dass Kindern und Jugendlichen eine altersgemäße, aber künstlerisch hochwertige Literatur geboten werden müsse, „die ihnen Welterklärung, Poesie und Lesemotivation zugleich sein kann“ (http: / / www.zeit.de/ 2006/ 47/ KJ-Gerhard-Thiele-Dankert/ komplettansicht; letzter Zugriff Mai 2015). Werke dieser Art, die von der Kritik positiv rezensiert und nachdrücklich empfohlen werden, finden aber bei Kindern und Jugendlichen nur eingeschränkt Beachtung. Umso wichtiger ist die sorgfältige Auswahl der passenden Lektüre im schulischen Unterricht; das gilt für Deutsch ebenso wie für den Fremdsprachenunterricht. Es ist nicht einfach, die Auswahl so zu treffen, dass der Unterschied zwischen der spannenden privaten Lektüre und den ‚langweiligen‘ literarischen Texten, die im Unterricht behandelt werden, möglichst gering ist. Die Wahl eines Kinder- oder Jugendbuches für den Unterricht wird häufig damit begründet, dass es in den literarischen Texten um Probleme des Heranwachsens gehe, also ein direkter Lebensbezug hergestellt werden könne. Die Tatsache, dass diese Themen in Romanen oder Erzählungen für Kinder und Jugendliche behandelt werden, bedeutet nicht, dass sich die Schülerinnen und Schüler mit den dargestellten Problemen identifizieren können. Das hängt oft auch mit der Art der Darstellung zusammen. Im Fremdsprachenunterricht ist daher die passende Wahl nicht einfach. Es gibt so gut wie kein Thema, welches nicht auch Gegenstand von Erzählungen und Romanen für junge Leserinnen und Leser ist. Die Palette der Genres reicht von Erzählungen über Krimis und Liebesgeschichten bis hin zur phantastischen Kinder- und Jugendliteratur. Die Tatsache, dass ein Text sich mit Problemen von Kindern und Jugendlichen befasst, z. B. Schwierigkeiten in der Familie, Probleme in der Schule, Außenseitertum, erste Liebe und/ oder Sexualität bedeutet noch nicht, dass sich die Lernenden von dem Text angesprochen fühlen bzw. sich mit den dargestellten Problemen identifizieren können. Growing up in the USA ist ohne Zweifel etwas anderes als Aufwachsen in Europa bzw. im deutschsprachigen Raum. Folgende Aspekte scheinen mir bei der Auswahl von Kinder- und Jugendliteratur für den Fremdsprachenunterricht entscheidend:  Die sprachlichen Hürden dürfen nicht so hoch sein, dass die Lernenden nur eine adaptierte und mit zahlreichen Annotationen versehene Fassung des Originals lesen können. Sofern der Text von einem Schulbuchverlag herausgegeben wird, sollten sich Lehrpersonen rückversichern, ob es sich tatsächlich um den (ungekürzten) Originaltext handelt. Schon allein vom äußeren <?page no="138"?> 138 9. Ästhetisch-literarische Bildung - Beispiele Englisch und Französisch aus der Praxis Erscheinungsbild her ist es für die Wahrnehmung der Schülerinnen und Schüler etwas anderes, ob sie ein Buch in der Form lesen, wie es auch die muttersprachlichen Kinder oder Jugendlichen in den englischsprachigen Ländern oder in Frankreich tun - oder eben eine Schullektüre. Ist es nicht möglich das wegen seiner Inhalte und seiner Form bevorzugte Werk als Ganzschrift im Unterricht zu erarbeiten, sollte man sich gegebenenfalls auf authentische Auszüge beschränken.  Man sollte die Schülerinnen und Schüler an der Auswahl beteiligen: Damit meine ich nicht nur, dass man ihnen in angemessener Weise den Inhalt näherbringt, selbstverständlich ohne die Spannung beim Lesen vorwegzunehmen. Besonders wichtig ist, dass man - besonders wenn es sich um die Lektüre einer umfänglicheren Ganzschrift handelt - den Lernenden kurze Passagen aus dem Text vorstellt. Leistungsstärkere Schülerinnen und Schüler können aber auch selbst zu Auszügen Stellung nehmen bzw. Empfehlungen abgeben (vgl. 12.4.2).  Viele Werke der Kinder- und Jugendliteratur erscheinen heute in multimodaler und multimedialer Form. Bilder, insbesondere Comics und Cartoons, Vertonungen und vor allem Filme und Serien sind für Fremdsprachenlernende nicht nur ein Anreiz, sich mit dem Text auseinanderzusetzen. Sie bieten oft wichtige Hilfestellungen beim Verstehen schwieriger Passagen und dem Verständnis für die oft nicht vergleichbare Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen in den Zielsprachenländern.  Zudem ist es auch nicht unbedingt gesagt, dass die dargestellte und die eigene Lebenswelt ähnlich sein müssen. In erster Linie geht es darum, dass die Schülerinnen und Schüler sich bei einem Werk der Kinder- und Jugendliteratur in der Fremdsprache in die dargestellte Welt hineinversetzen können. Gerade Empathiefähigkeit kann bewirken, dass man die eigenen Probleme - und sie sind ja auch bei uns bei jedem lernenden Individuum verschieden - neu dimensionieren kann. 9.3 Beispiel Englisch: Gymnasium E1 (Klasse 10, G8) 9.3.1 Ein Jugendroman? Bevor ich auf das folgende Unterrichtsbeispiel - es stammt aus dem Unterrichtsentwurf einer Referendarin im 2. Hauptsemester - näher eingehe, skizziere ich den Inhalt und weitere Einzelheiten des Jugendromans den die Lernenden einer E1 (Jahrgangsstufe 10) als Ganzschrift lesen. Es geht um young adult literature, nämlich den 1999 erstmals erschienenen Roman The Perks of Being a Wallflower von Stephen Chbosky. Der Autor (Jahrgang 1970) ist in den USA vor allem als Drehbuchautor und Regisseur hervorgetreten. An dem Roman, der autobiographische Züge trägt, hat er ca. fünf Jahre gearbeitet - unterbrochen von anderen künstlerischen Betätigungen. Zum Inhalt: Fifteen-year-old Charlie is coping with the suicide of his friend Michael. To lessen the fear and anxiety of starting high school alone, Charlie starts writing letters to a <?page no="139"?> 139 9.3 Beispiel Englisch: Gymnasium E1 (Klasse 10, G8) stranger, someone he heard was nice but has never met in person. (Kind of like when we write letters to Paul Rudd before we go to sleep.) [Paul Rudd, Jahrgang 1969, ist ein sehr populärer amerikanischer Schauspieler, der in zahlreichen Filmen, aber auch im Fernsehen zu sehen war. Eine Parallele zu Chbosky besteht darin, dass er auch als Drehbuchautor hervorgetreten ist.] At school, Charlie finds a friend and mentor in his English teacher, Bill. He also overcomes his chronic shyness and approaches a classmate, Patrick, who, along with his step-sister Sam, become two of Charlie’s BFFs. [BFF: Best Friend Forever] During the course of the school year, Charlie has his first date and his first kiss, he deals with bullies, he experiments with drugs and drinking, and he makes friends, loses them, and gains them back. He creates his own soundtrack through a series of mix tapes full of iconic songs, reads a huge stack of classic books, and gets involved in the Rocky Horror Picture Show audience-participation culture. Charlie has a relatively stable home life, though, with supportive, if distant, parents to fall back on. Unfortunately, a disturbing family secret that Charlie has repressed for his entire life surfaces at the end of the school year. Charlie has a severe mental breakdown and ends up hospitalized. Charlie’s final letter closes with feelings of hope: getting released from the hospital, forgiving his aunt Helen for what she did to him, finding new friends during sophomore year, and trying his best not to be a wallflower. Charlie hopes to get out of his head and into the real world, participating in life instead of just watching it fly by. (http: / / www.shmoop.com/ perks-of-being-a-wallflower/ resources.html; Hervorhebungen im Online-Text; letzter Zugriff Mai 2015; oder über eine Suchmaschine: The perks of being a wallflower). Da der Roman auch trotz Kritik in vielen amerikanischen Schulen gelesen wird, hält z.B. die Website www.shmoop.com zahlreiche Unterrichtsmaterialien bereit: Neben dem oben wiedergegeben summary finden Lehrpersonen Hilfen zu: themes, quotes, study questions, characters, analysis (literary-devices.html), facts and quizzes [= kurze Überprüfungen des Lernstands]. Auch auf anderen Websites für Lehrpersonen werden umfängliche Materialien zu The Perks of Being a Wallflower bereitgestellt. Weitere Einzelheiten: Der Roman war gleich nach dem Erscheinen ein Erfolg, wurde aber erst zu einem wirklichen Bestseller ab dem Jahr 2012. In diesem Jahr kam der Film, zu dem Chbosky das Drehbuch geschrieben und bei dem er auch selbst Regie geführt hat, in die Kinos (dtsch. Vielleicht lieber morgen). Obige Inhaltsangabe drückt die Sachverhalte vorsichtig aus: Charlie hat nicht nur den Freund durch Selbstmord verloren. Er ist in seiner frühen Kindheit von einer Tante sexuell missbraucht worden. Sein neuer (älterer) Freund Patrick ist homosexuell und nähert sich ihm. Charlies Schwester lebt in einer von Gewalt geprägten Beziehung zu einem Jungen, von dem sie schwanger wird. Charlie selbst verliebt sich in die ältere Sam, Patricks Stiefschwester, die ihn - unbewusst - an seine Tante erinnert. Kein Wunder, dass er zu den verschiedensten Drogen greift und schließlich in der Psychiatrie landet. Nicht nur aufgrund dieser inhaltlichen Aspekte, sondern auch wegen der expliziten Schilderungen von sexuellen Handlungen ist der Roman als <?page no="140"?> 140 9. Ästhetisch-literarische Bildung - Beispiele Englisch und Französisch aus der Praxis Schullektüre in den USA zum Teil heftig angegriffen worden. Das hat seinen Erfolg unter Jugendlichen (und Erwachsenen) aber eher befeuert. Meine obigen Ausführungen dienen nicht dazu, von der Lektüre des Romans im Englischunterricht abzuraten. Nur: Da er im Original gelesen werden sollte und nicht in einer weichgespülten Fassung, sollten Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrer sorgfältig abwägen, in welchem Lernkontext sie eine Lektüre von The Perks of Being a Wallflower für angemessen halten. Auf die Absprache mit den Schülerinnen und Schülern habe ich bereits hingewiesen. Außerdem müssen die Lernaktivitäten bzw. das Lernarrangement so gestaltet sein, dass einzelne Lernende mit besonderer Vorsicht an heikle Szenen herangeführt werden, aber auch in den ästhetischen Genuss von Chboskys Werk kommen. Zu bedenken ist auch, dass die Assoziationen, die sich bei amerikanischen Leserinnen und Lesern, insbesondere bei Jugendlichen, einstellen, vermutlich ganz andere sind, als bei Schülerinnen und Schülern im Englischunterricht in Deutschland. Das betrifft bereits den Titel: Unter wallflower versteht man im Englischen etwas anderes als unter ‚Mauerblümchen‘ - ein Begriff, der bei uns hauptsächlich für das weibliche Geschlecht gebraucht wird. In einem Blog gilt die folgende Definition unter ca. 30 als die passendste: „a type of loner. seemingly shy folks who no one really knows. often some of the most interesting people if one actually talks to them. cute“ (http: / / www. urbandictionary.com/ define.php? term=wallflower; letzter Zugriff Mai 2015). Das gilt aber z. B. auch für die Anklänge an den 1960 erschienenen Klassiker von Harper Lee To Kill a Mockingbird (dtsch. Wer die Nachtigall stört), der zur Pflichtlektüre in amerikanischen Schulen und denen anderer englischsprachiger Länder zählt. Das alles muss kein Nachteil sein, sondern macht für mich und sicher auch für viele deutsche Jugendliche den Reiz der Lektüre aus. Unter der Voraussetzung, dass die Lernenden bereit sind, mit einer sinnvollen Mischung aus Empathie und Distanz an den Roman heranzugehen, ist die Lektüre ein wichtiger Beitrag zu fremdsprachlicher Bildung. Das ästhetisch-literarische Lernen wird auch dadurch gefördert, dass der Film leicht zugänglich ist und zahlreiche kurze Beiträge zum Autor, dem Buch und der Verfilmung auf YouTube angesehen werden können. 9.3.2 Beispiel Englisch: Charakterisierung des Protagonisten (6. Lernjahr) Hinweise: Die Klasse umfasst 14 Mädchen und 7 Jungen. Lehrerin: Die Referendarin (2. Hauptsemester) unterrichtet die Klasse eigenverantwortlich. Die Unterrichtsstunde besteht aus fünf Teilen: Nach dem Einstieg (1) folgen zwei Erarbeitungsphasen (2-3), die Sicherung/ Auswertung (4) und der Ausstieg (5): <?page no="141"?> 141 9.3 Beispiel Englisch: Gymnasium E1 (Klasse 10, G8) Phase Inhalt Methoden/ Sozialform Material/ Medien DFB-Aspekte Einstieg Think - Pair - Share: Die SuS sollen auf der Grundlage ihres Globalverständnisses des Textes Aussagen über Charlie treffen, wobei die Ideen kurz am ActivBoard gesammelt werden. 1. EA 2. PA 3. Plenum Think - Pair - Share ActivBoard Abbau der Hemmschwelle/ Sprechbarriere für ALLE SuS; Diagnose des Globalverständnisses Erarbeitung I Die SuS sollen in ihren Gruppen aus drei Zitaten eines auswählen anhand dessen sie die Arbeitsaufträge bearbeiten. Gruppenarbeit (3er Gruppen) Arbeitsblätter (Aufgaben + Zitate + Tippkärtchen) SuS können nach Vorlieben Zitate selber auswählen; bei Bedarf liegen Hilfekärtchen bereit; Beobachtung der einzelnen Gruppen Erarbeitung II Schnellere Gruppen können weitere Zitate bearbeiten. Gruppenarbeit (3er Gruppen) Arbeitsblätter (Aufgaben + Zitate) Binnendifferenzierung: Die Gruppen arbeiten an den Aufgaben in ihrem eigenen Tempo Sicherung/ Auswertung (Minimalziel) Die drei Zitate sollen nacheinander besprochen werden. Dabei können die einzelnen Gruppen ihre Ergebnisse vorstellen und sich ggf. gegenseitig ergänzen. Plenum ActivBoard Diagnose des Detailverständnisses; Abbau der Sprechbarriere, da die Ergebnisse zuvor in GA besprochen wurden Ausstieg (Normalziel) Rückbezug zum Einstieg der Stunde: Welche Aspekte über Charlie haben sich bestätigt, welche konnten „widerlegt“ werden? Plenum ActivBoard Transparenz schaffen, indem der Einstieg wieder aufgenommen wird; dadurch wird für die SuS ein „roter Faden“ sichtbar Ausblick (Maximalziel) Gemeinsame Besprechung des weiteren Vorgehens: Welche weiteren Charaktere sollten näher betrachtet werden und auf welche Weise? Plenum Transparenz schaffen, indem die SuS wissen und z.T. mitbestimmen, wie es nach der Stunde weitergeht <?page no="142"?> 142 9. Ästhetisch-literarische Bildung - Beispiele Englisch und Französisch aus der Praxis Ziele der Unterrichtsstunde: Die Referendarin macht unter Punkt 1 des Lehrprobenentwurfs ausführliche Angaben zu den Zielen der Unterrichtseinheit, die ich zusammenfasse: Im Rahmen der Unterrichtseinheit zum Thema Growing up (Verweis auf hessischen Lehrplan 2010) schließt sich an die Erarbeitung von Sachtexten und short stories die Lektüre von The Perks of Being a Wallflower an: „Durch das Lesen der Ganzschrift und kürzeren Texten [sic] vor den Ferien sollen in der laufenden Einheit vor allem die Sprachlernkompetenzen in Bezug auf den Umgang mit Texten weiterentwickelt werden. Außerdem erfolgt eine Schulung in den kommunikativen Fertigkeiten, wobei der Schwerpunkt auf den Teilkompetenzen des Schreibens sowie Sprechens liegt.“ Nachdem die Lernenden das erste Kapitel des Romans (ca. 30 S.) gelesen haben, sollen sie die „Hauptperson Charlie charakterisieren“. „Auf diese Weise möchte ich erreichen, dass die SuS von einem Globalverständnis des Textes durch die Auseinandersetzung mit kleineren Textpassagen in der Stunde ein größeres Detailverständnis entwickeln.“ Unter 3. Kompetenz- und Zielorientierung der Stunde (Beitrag zum Kompetenzerwerb) schreibt sie: a. Schwerpunktsetzung Durch die Auseinandersetzung mit einzelnen kleineren Textpassagen liegt der Schwerpunkt auf der Förderung des Umgangs mit Texten. Hierbei „werden unterschiedliche Techniken der Informationsentnahme (global, selektiv, detailgenau) angewandt“. Dabei geht es um Informationen über den Protagonisten Charlie und eine sich anschließende Charakterisierung. b. Weitere Stundenziele/ Intentionen Sprachlich-kommunikative Kompetenzen Die SuS erweitern ihre Sprechkompetenz, indem sie zuerst in den Gruppen und später im Plenum Aussagen über Charaktereigenschaften der Hauptperson Charlie treffen. Inhaltlich-kognitive Kompetenzen Die SuS vertiefen ihre allgemeinen inhaltlichen Kenntnisse über den Roman, indem sie sich intensiv mit einzelnen Textabschnitten befassen. Arbeitsblätter: Die (angehende) Lehrerin hat zur Erreichung ihrer Zielvorgaben zwei Arbeitsblätter für die leistungshomogene Kleingruppenarbeit vorbereitet: Arbeitsblatt 1 enthält drei auf wenige Zeilen beschränkte Auszüge aus Kapitel 1, die für die Charakterisierung des Protagonisten wahlweise herangezogen werden können. Arbeitsblatt 2 enthält die tasks und ein Raster, in das die Charakterisierungen von Charlie eingetragen werden. <?page no="143"?> 143 9.3 Beispiel Englisch: Gymnasium E1 (Klasse 10, G8) Weiterhin stellt die Referendarin eine Lernhilfe bereit: In einem Umschlag befindet sich eine Liste mit Adjektiven zur Charakterisierung von Personen; die Adjektive sind in englischer Sprache erläutert. Bei Bedarf können die einzelnen Gruppen auf den Umschlag zugreifen. 9.3.3 Evaluation Der Unterrichtsentwurf der Referendarin wirft einige Fragen auf, besonders wenn man ästhetisch-literarisches Lernen und fremdsprachliche Bildung anvisiert. Warum hat die Referendarin diesen Text gewählt? Nach ihrer eigenen Darstellung hat sie zuvor eine schriftliche Befragung der Schülerinnen und Schüler zu deren Leseerfahrungen durchgeführt. Das Ergebnis läuft darauf hinaus, dass die Lernenden nach ihrer Selbsteinschätzung noch sehr ungeübt im Lesen literarischer Texte in englischer Sprache sind. Wäre es da nicht besser gewesen einen weniger anspruchsvollen Text zu wählen, der einen Plot enthält und nicht aus Briefen an einen imaginären Adressaten besteht? Wieso strebt sie bei diesen Voraussetzungen das close reading einer Ganzschrift mit den Lernenden an? Hätte eine Lektüre von Auszügen die Schülerinnen und Schüler nicht sinnvoller an eine Ganzschrift herangeführt? Warum ist die Wahl auf Chboskys The Perks of Being a Wallflower gefallen? Die Lehrperson gibt an, die Lernenden seien an der Auswahl des Textes beteiligt gewesen. Leider führt sie im Unterrichtsentwurf nicht aus, worin diese Beteiligung bestand. Haben die Schülerinnen und Schüler Gelegenheit gehabt, sich über die Sprache und den Inhalt des Romans anhand von Textauszügen Rechenschaft abzulegen? Die Lehrerin ist sich dessen bewusst, dass teilweise heikle Themen in Chboskys Roman angesprochen werden. Sie führt nämlich aus, dass in den folgenden Unterrichtsstunden festgelegt werde, welche Themenaspekte ausführlich und welche weniger extensiv behandelt würden. Das Verständnis und auch der Lesegenuss beruhen aber bei einem Text wie diesem darauf, dass man ihn ganz zur Kenntnis nimmt und einzelne Aspekte bei der Interaktion zwischen Text und Leser in die Gesamtheit des Textes integriert. Eng damit verbunden ist die Frage, ob die von einem Schulbuchverlag herausgegebene Fassung authentisch ist. Die Referendarin unterstreicht unter Berufung auf den Lehrplan selbst, dass der Umgang mit Texten sich auf das „Verstehen und Behandeln von anspruchsvolleren authentischen Texten“ zu beziehen habe. Es ist aber unwahrscheinlich, dass die 180seitige annotierte Fassung des Schulbuchverlags das Original vollständig wiedergibt. Die Paperback-Version der englischen Ausgabe umfasst nämlich ca. 225 Seiten. Zudem ist ein annotierter Text ohnehin nicht authentisch. Die (angehende) Lehrerin begründet die Aufgabenstellung meiner Ansicht nach unzureichend: Warum sollen die Lernenden den Protagonisten charakterisieren? Um an Gesprächen über fiktionale Literatur und Kunst ganz allgemein teilnehmen zu können? Soll die Charakterisierung von Charlie ihnen den Vergleich mit der eigenen Person bzw. mit den eigenen Problemen erleichtern? Warum erfolgt die Charakterisierung bereits nach dem ersten Kapitel? Die Referendarin möchte, wie sie schreibt, die Aufmerksamkeit vom Globalverständnis auf Einzelheiten richten. Das ist ein sinnvolles Ziel, nur: warum an dieser Stelle? Wäre es nicht besser gewesen mit einer Beschreibung von Charakterzügen des Protagonisten zu warten, bis die Lernenden mehr über ihn erfahren haben? Warum <?page no="144"?> 144 9. Ästhetisch-literarische Bildung - Beispiele Englisch und Französisch aus der Praxis erfolgt die Charakterisierung anhand von drei kurzen, im Endeffekt wenig aussagekräftigen Auszügen aus dem Text? Warum sollen die Schülerinnen und Schüler den Protagonisten nicht anhand des gesamten ersten Kapitels beschreiben und selbst die markanten Textstellen benennen? Das Detailverständnis fördert man nicht wirklich, indem man die Details vorgibt. Warum erfolgt die Charakterisierung vornehmlich mit Adjektiven? Auch Substantive und verbale Formulierungen bieten sich an, z. B. Charlie is a great thinker; he dislikes …, because … . Die Auswahl zwischen drei verschiedenen Textstellen findet nur zum Schein statt, denn die Referendarin erwartet, dass die leistungsstärkeren Schülerinnen und Schüler ohnehin alle drei Textstellen bearbeiten. Auch die Sozialform gibt zu denken. Ist es tatsächlich so, dass Lernende in leistungshomogenen Gruppen bei einer solchen Aufgabe eher zum Mitarbeiten und zum Sprechen angeregt werden als beim kooperativen Lernen mit Peers, die zum Teil leistungsstärker sind als sie selbst? Wissenschaftliche Ergebnisse haben gezeigt, dass dabei die Form der Kleingruppenarbeit entscheidend ist. Wenn es nur auf das Produkt ankommt, gibt es leicht „Trittbrettfahrer“. Werden aber Lernprozesse für alle anvisiert und sind alle für die Mitlernenden in ihrem Team verantwortlich, um ein gutes Gesamtergebnis zu erzielen, profitieren lernschwächere und/ oder weniger motivierte Schülerinnen und Schüler am meisten (vgl. De Florio-Hansen 2014a: 130ff.; 2014b: 124 ff.). 9.4 Beispiel Französisch: Gymnasium (Klasse 12, G9) Oft wird die Behandlung von Chansons oder besser von chansons françaises im Französischunterricht als „altmodisch“ abgetan. Sie begeisterten hauptsächlich die Lehrpersonen, besonders Lehrerinnen, die die Chansons nach ihren eigenen Vorlieben auswählten. Das mag bisweilen zutreffen. Gleichwohl sind Chansons auch heute noch untrennbar mit französischer Kultur verbunden. Allein schon die wechselvolle Geschichte des chanson française nach dem Ersten Weltkrieg lohnt eine Beschäftigung mit diesem für Frankreich nach wie vor typischen Musikgenre. Für das französische Chanson ist der Text, d.h. die französische Sprache, ausschlaggebend, auch wenn sich unter anglo-amerikanischen Einflüssen seit dem Aufkommen des Rock and Roll die Musik zeitweise in den Vordergrund gedrängt hat. Vorrang der Sprache bedeutet Orientierung an den großen (und weniger bekannten) französischen Dichtern wie z. B. Baudelaire, Verlaine und Rimbaud. Es ist auch für Schülerinnen und Schüler nach wie vor interessant, anglo-amerikanische Songs mit korrespondierenden französischen Chansons zu vergleichen. Außerdem gab und gibt es neben dem ewigen Thema l’amour auch das chanson engagée, welches sich in poetischer Sprache mit Grundfragen der menschlichen Existenz auseinandersetzt und auch aktuelle gesellschaftspolitische Fragen nicht ausspart. Besonders geeignet für die Behandlung im Französischunterricht sind Chansons wegen des soeben erwähnten Vorrangs der Sprache. Darüber hinaus kann Frankreich mit einer sehr großen Zahl auch zeitgenössischer Chansonsängerinnen und -sänger aufwarten, die zum Teil nicht französischstämmig, sondern vor mehr oder weniger langer Zeit nach Frankreich eingewandert sind. Um die Jahrtausendwende ist die stärker liedorientierte Nouvelle-Chanson-Bewegung entstanden, der auch ZAZ zuzurechnen ist. Zudem gibt es Unterrichtsmaterialien in den Fachzeitschriften und online, z. B. zur Verbindung von fachspezifischen Zielen und Lernzielen aus dem Be- <?page no="145"?> 145 9.4 Beispiel Französisch: Gymnasium (Klasse 12, G9) reich der Medienkompetenz (http: / / www.lehrer-online.de/ internet-chansons.php; letzter Zugriff April 2015). 9.4.1 Beispiel Französisch: Francis Cabrel: Les murs de poussière (6. oder 7. Lernjahr) Hinweise: Die Klasse besteht aus 10 Schülerinnen und 7 Schülern. Lehrerin: Die Referendarin (Fächer: Englisch und Französisch) unterrichtet die Klasse eigenverantwortlich. Die folgende Übersicht zeigt den geplanten Unterrichtsverlauf: Phase Lehreraktion Schüleraktion Sozialform Medien/ Material Einstieg = activité avant l’écoute L präsentiert Bild und anschließend ggf. den ersten Satz des Liedes und fordert SuS auf, ihre Assoziationen zu äußern. SuS äußern sich zu dem Bild und ggf. Zitat aus dem Lied. UG Folie (l’homme inconnu) Erarbeitung I = 1re écoute Ecoutez bien et faites attention au genre/ à la mélodie/ au rythme… de la chanson. SuS hören das Lied ohne den Text vorliegen zu haben und achten auf Genre, Melodie, Rhythmus, etc. EA CD Sicherung I Décrivez la musique. L sammelt Eindrücke der SuS. SuS nennen ihre ersten Eindrücke. UG - Erarbeitung II = 2e écoute Ecoutez bien et trouvez le bon ordre des paroles. SuS bringen die Textabschnitte in die richtige Reihenfolge. PA CD Papierstreifen (paroles) Lösungsfolie Sicherung II L präsentiert Lösungsfolie. Comparez et corrigez si nécessaire! L überprüft das Textverständnis. SuS vergleichen ihre Ergebnisse. SuS äußern sich zum Textverständnis. UG Erarbeitung III = activité après l’écoute Maintenant on va analyser les paroles de la chanson. Vous allez travailler en groupes. L verteilt drei unterschiedliche Arbeitsaufträge. SuS analysieren das Lied arbeitsteilig in Gruppen (Dreierbzw. Vierergruppen) und notieren ihre Ergebnisse auf einer Folie. GA AB I (paroles) AB II (tâches) Folien Präsentation Présentez vos résultats. L stellt ggf. Rückfragen an die Gruppe/ die gesamte Klasse und ergänzt. Einzelne SuS stellen ihre Ergebnisse vor. Die anderen SuS hören zu und notieren sich die wichtigsten Aspekte auf dem AB III. SV/ UG Folien AB III (présentation) Transfer Quelle est la conception du bonheur selon cette chanson de Francis Cabrel ? Commentez cette idée - qu’en pensez-vous ? SuS nennen die zentrale Aussage des Liedes und nehmen dazu Stellung. (dazu ggf. erst Pair-Phase) PA/ UG <?page no="146"?> 146 9. Ästhetisch-literarische Bildung - Beispiele Englisch und Französisch aus der Praxis didakt. Reserve/ HA Imaginez que vous êtes le réalisateur/ la réalisatrice qui est responsable du clip vidéo de cette chanson. Imaginez que vous êtes la personne qui est responsable de créer la pochette du CD. SuS entwerfen Ideen für das Drehbuch des Videoclips. Oder alternativ: SuS entwerfen Ideen für die Gestaltung des CD-Covers. EA Folie (devoirs) AB IV (devoirs) Notez vos idées pour votre clip/ votre pochette. Préparez-vous à présenter vos idées ! Legende: EA: Einzelarbeit, LV: Lehrervortrag, PA: Partnerarbeit, SV: Schülervortrag, UG: Unterrichtsgespräch Thema der Stunde und Zielsetzung: Thema der Unterrichtseinheit: Le sujet du bonheur dans la musique francophone Thema der Unterrichtsstunde: Francis Cabrel : Les murs de poussière Hauptintention: Indem die Schülerinnen und Schüler das Lied Les murs de poussière verstehen, analysieren und interpretieren, erweitern sie ihre Fähigkeit, die sprachlichen und inhaltlichen Besonderheiten eines Chansons zu erfassen und zu deuten (Sachkompetenz). Arbeitsblätter: Die Schülerinnen und Schüler erhalten nach und nach eine größere Zahl von Lernhilfen bzw. Arbeitsblättern, um die angestrebten Ziele durch kooperatives und handlungsorientiertes Lernen erreichen können: Die ersten drei Hilfen beziehen sich auf den Text des Chansons (Les Paroles als Puzzle). Die Strophen sollen beim Anhören in die richtige Reihenfolge gebracht werden. Dabei differenziert die Referendarin in zwei Lernniveaus, die sie wie folgt erläutert: Im Sinne der Binnendifferenzierung gibt es zwei Versionen: Für leistungsstärkere Schüler gibt es zwei Schnipsel MEHR als für leistungsschwächere Schüler. Die Schüler erhalten die Puzzleteile jeweils zu zweit (auf buntem Papier, laminiert). Ein weiteres Blatt enthält den kompletten Liedtext (zur Überprüfung und Vertiefung). Die drei folgenden Arbeitsblätter sind im Wesentlichen gleich gestaltet: Das Arbeitsblatt 1 beschäftigt sich mit den einzelnen Abschnitten (étapes) des Chansons, die analysiert werden. <?page no="147"?> 147 9.4 Beispiel Französisch: Gymnasium (Klasse 12, G9) Bei den beiden folgenden Arbeitsblättern geht es um Les symboles, d. h. die im Chanson verwendeten Symbole und des Weiteren um L’homme, d. h. die Veränderungen des Protagonisten im Verlauf des Lieds. Es folgt ein Raster, in das die Arbeitsergebnisse eingetragen werden. Es ist dreigeteilt in Les étapes, Les symboles und L’homme und fordert die Lernenden außerdem auf, die message central/ la conception du bonheur selon la chanson kurz zusammenzufassen. Nun stellt die Referendarin für die Lernenden eine kreative Verbindung zum Videoclip her. Das folgende Arbeitsblatt bezieht sich auf die Hausaufgabe. 9.4.2 Evaluation Zunächst wiederhole ich den bereits an anderer Stelle gegebenen Hinweis (vgl. 7.6.2): Manchmal ist weniger mehr, ohne jedoch sagen zu können, auf welche der zahlreichen Lernhilfen ich verzichtet hätte. Ich tue es aber, um Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrer in der Überzeugung zu bestärken, dass es nur in Ausnahmefällen möglich ist, eine derart intensive Vorbereitung durchzuführen. Unabhängig von meinen obigen Ausführungen (vgl. 9.4) hat die (angehende) Lehrerin ein Chanson ausgewählt, welches die Schülerinnen und Schüler durchaus motivieren kann, sich weiterhin mit französischen Chansons auseinanderzusetzen. Zum einen ist für Les murs de poussière charakteristisch, dass der Text eine herausragende Rolle spielt. Zum anderen gehört Francis Cabrel zu einer Generation von Chansonsängern, bei denen anglo-amerikanische Vorbilder hörbar ins Spiel kommen. Die Musik von Neil Young, Leonard Cohen, Jimi Hendrix und insbesondere Bob Dylan hat Cabrel nachhaltig beeinflusst. Neben den gängigen Themen wendet sich der Chansonnier in seinen Liedern u.a. gegen Rassismus. Wenn der Unterricht so weitergeführt wird, wie in diesem Beispiel begonnen, ist fremdsprachliche Bildung gewährleistet. Natürlich hängt einiges von der Auswahl der folgenden Chansons und deren Erarbeitung in passenden Lernarrangements ab. Fazit: ‚Glück‘ ist im Fremdsprachenunterricht ein besonders ergiebiges Thema, weil es zu interkulturellen Gegenüberstellungen herausfordert. Was bedeutet ‚Glück‘ für Franzosen im Vergleich zu Deutschen und/ oder Menschen aus verschiedenen englisch- und spanischsprachigen Ländern? Wodurch unterscheiden sich die Glücksvorstellungen von Kindern und Jugendlichen von denen Erwachsener? Die Glücksforschung, die Ergebnisse aus ganz unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen integriert, hält dazu internationale Vergleiche bereit. Ob auch das Gelingen einer Unterrichtstunde vom Glück abhängt? Merkmale von Lehrpersonen, die in Qualifikation bzw. Professionalität zusammenkommen, haben mit Glück nur insofern zu tun, dass Lehrpersonen und oft auch die Lernenden Zufriedenheit empfinden, wenn Lehren und Lernen erfolgreich sind. <?page no="148"?> 148 9. Ästhetisch-literarische Bildung - Beispiele Englisch und Französisch aus der Praxis Anregungen zum Nachdenken, Diskutieren und Gestalten 1. Welche Werke der Kinder- und Jugendliteratur, die Sie bereits im Englisch- oder Französischunterricht behandelt haben, eignen sich besonders zur Förderung von Sprachbewusstheit, interkulturellem Lernen oder ästhetisch-literarischer Bildung? Notieren Sie Stichworte und versuchen Sie, sie bei der nächsten Erarbeitung des betreffenden literarischen Textes bei den Lernaktivitäten bzw. dem Lernarrangement zu berücksichtigen. 2. Suchen Sie je nach unterrichteter Fremdsprache Lieder zum Thema peace/ paix heraus und planen Sie in Zusammenarbeit mit Fachkolleginnen und -kollegen, wie Sie im Unterricht im Groben vorgehen könnten. <?page no="149"?> 10. Aufgaben für den Unterricht - aus Testungen lernen? Aus Testungen lernen - was heißt das? Mit Testungen sind in erster Linie Lernstandskontrollen ‚von außen‘ wie VERA-8 und die Zentralen Abschlussarbeiten (ZAA) am Ende der Hauptschule oder der Realschule gemeint. Bekanntlich werden die Testungen flächendeckend durchgeführt: VERA-8 an allen Schulen und die ZAA an allen Hauptschulen und Realschulen. Daher müssen alle Schülerinnen und Schüler mit den Aufgabenformaten vertraut gemacht werden. Also doch ein teaching to the test? Selbstverständlich nicht, wenn teaching to the test einen Unterricht meint, dessen Hauptziel in der Vorbereitung auf diese Testungen besteht und in dem folglich andere wichtige Ziele keine Berücksichtigung mehr finden. 10.1 Die fragwürdige Trennung in Lern- und Testaufgaben Ausgehend von der alltagssprachlichen Definition von Aufgabe als Pflicht bzw. Anforderung bezeichnet Caspari Aufgaben im Fremdsprachenunterricht als Verarbeitung von Sprache für eine bestimmte Zielsetzung (Caspari 2013a: 5). Sie grenzt Aufgaben von Übungen ab, die beispielsweise der Erarbeitung grammatischer Phänomene dienen. Damit reproduziert sie die uns allen vertraute Unterscheidung in (geschlossene) Übungen - (offene) Aufgaben - (umfänglichere) Aktivitäten wie das Task-based Learning. Dass alle drei Lernformen verschiedene Funktionen haben können, braucht eigentlich nicht erwähnt zu werden, wäre da nicht die (vermutlich auf das IQB zurückgehende) Unterscheidung in Lern- und Testaufgaben. Aufgaben für den Fremdsprachenunterricht sind u. a. dann lernwirksam, wenn sie an realen Sprachverwendungszusammenhängen orientiert sind und die Kommunikation bzw. den Diskurs in der Fremdsprache in den Mittelpunkt stellen. Daraus folgt, dass entsprechende Lernarrangements auf die Verbindung bzw. Integration mehrerer Fertigkeiten und Fähigkeiten abzielen, um einen möglichst hohen Grad an Authentizität zu gewährleisten. Es sollten Inhalte ‚zur Sprache kommen‘, die Interbzw. Transkulturalität fördern und/ oder einen Beitrag zur Persönlichkeitsentfaltung leisten. Weitere Merkmale lernförderlicher Aufgaben im Fremdsprachenunterricht beziehen sich auf soziale und methodische Aspekte wie z. B. kooperatives und handlungsorientiertes Lernen. Jede Aufgabe bzw. Aktivität, die den soeben aufgezählten Kriterien genügt, kann zu Lern- und zu Testzwecken eingesetzt werden. Entscheidend ist dabei vor allem, dass den Lernenden von vornherein deutlich gemacht wird, ob sie sich in einer Erarbeitungsbzw. Lernphase oder aber einer Evaluationsphase befinden. Gerade hinsichtlich der Kontrolle ihres Lernstands haben die Schülerinnen und Schüler einen Anspruch auf Transparenz: Dient die Aufgabe der Diagnose, also der formativen Evaluation? Möchte die Lehrperson sich einen Einblick in die Leistungen einer individuellen Schülerin oder eines individuellen Schülers verschaffen, um sie oder ihn gezielter fördern zu können? Oder kann die oder der Lernende selbst eine Überprüfung von Lernfortschritten vornehmen, um für sich geeignete Maßnahmen für die weitere Arbeit daraus abzuleiten? Ganz anders stellt sich die Situation für die Lernenden bei einer summativen Evaluation dar: Welches Wissen und welche Fähigkeiten in der Fremdsprache möchte die Lehrperson zum Zweck der Bewertung <?page no="150"?> 150 10. Aufgaben für den Unterricht - aus Testungen lernen? überprüfen? Welches Feedback seitens der Lehrerin oder des Lehrers erhalten die Schülerinnen und Schüler bei der Rückgabe der Klassenarbeit oder der Klausur in mündlicher und/ oder schriftlicher Form, damit auch die summative Evaluation weiteres Lernen ermöglicht? Aus meiner Sicht führen offizielle Testungen und informelle Erhebungen des Lernstands zu einem Stillstand oder sogar zu einem Rückschritt beim Lehren und Lernen von Fremdsprachen, wenn sie einen zu engen Ausschnitt aus dem fremdsprachlichen Aufgabenrepertoire wählen und diesen Ausschnitt zudem noch mit Auswahl- oder Kurzantworten ‚abprüfen‘. Selbstverständlich ist es möglich, Teilkompetenzen oder sogar Komponenten von Teilkompetenzen kurz zu überprüfen, sofern sie in umfängliche Lernaktivitäten wie z. B. das Task-based Learning eingebettet sind. Den Schülerinnen und Schülern muss dann freilich klar sein, dass es sich um einen Schritt in Richtung auf ein komplexeres (kommunikatives) Ziel handelt. Den Aufschlag per Rückhand trainieren und beherrschen, macht noch keinen Tennis-Profi aus . Fazit: Alle Aufgabenformate können zu unterschiedlichen Zwecken eingesetzt werden. Entscheidend ist, dass die Lernenden im Fremdsprachenunterricht darüber informiert sind, ob die Bearbeitung bestimmter Aufgaben in erster Linie der Anbahnung von möglichst vielfältigen Lernprozessen oder aber der Überprüfung ihrer Lernfortschritte dient. In jedem Fall ist ein angemessenes Feedback sinnvoll. 10.2 Der Beitrag des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) Um die Bildungsstandards umzusetzen und das gewünschte Bildungsmonitoring zu gewährleisten, wurde im Jahre 2004 das IQB gegründet. Die Aufgaben des Instituts werden auf dessen Website wie folgt beschrieben: Das IQB hat den Auftrag, die länderübergreifenden Bildungsstandards durch geeignete Testaufgaben zu operationalisieren, diese zu normieren und sie regelmäßig im Rahmen von Ländervergleichsstudien einzusetzen, um das Erreichen der Bildungsstandards zu überprüfen. Ferner ist das IQB mit der Entwicklung von Kompetenzstufenmodellen und der Weiterentwicklung der länderübergreifenden Bildungsstandards betraut. (www.iqb. hu-berlin.de/ institut/ about; letzter Zugriff Mai 2015) Außerdem unterstützt das IQB die Bundesländer bei der Umsetzung der Bildungsstandards durch Vergleichsarbeiten sowie seit Beginn des Schuljahrs 2013/ 2014 durch „die Entwicklung eines Pools von Abituraufgaben, die auf den Bildungsstandards der KMK für die Allgemeine Hochschulreife basieren“ (ibid.). Mit VERA-8, den Vergleichsarbeiten im Unterricht der ersten Fremdsprache, die in einigen Bundesländern auch Lernstandserhebungen genannt werden, beschäftigen wir uns im nächsten Abschnitt (vgl. 10.3) genauer. Dabei analysieren wir anhand konkreter Beispiele, was wir aus diesen offiziellen Testungen für den Fremdsprachenunterricht lernen können und ob bzw. wie die Zentralen Abschlussarbeiten, die von den Bundesländern in eigener Regie erstellt werden, auf VERA-8 aufbauen. Allgemein kann man festhalten, dass in der ersten Fremdsprache (Englisch oder Französisch) wahlweise die Domänen Lese- und Hörverstehen überprüft werden. „Den Ländern steht es […] auch bei VERA-8 frei, mehr als ein Fach bzw. einen Kom- <?page no="151"?> 151 10.2 Der Beitrag des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) petenzbereich verpflichtend überprüfen zu lassen“ (www.iqb.hu-berlin.de/ vera; letzter Zugriff Mai 2015). Die vom IQB konzipierten Vergleichsarbeiten sollen einen Beitrag zum „sehr ambitionierten fachdidaktischen und pädagogischen Anspruch“ leisten, vernetztes Wissen zu entwickeln, „das zur Bewältigung vielfältiger Probleme angewendet werden kann“ (ibid.). Wie werden die Aufgaben für VERA erstellt? Auch hierzu gibt das IQB eine, wenn auch unbefriedigende, Auskunft: Unter Federführung des IQB werden dagegen [im Gegensatz zur Durchführung in der Zuständigkeit der Länder] die Testaufgaben länderübergreifend von Lehrkräften erarbeitet, von Fachdidaktikern an Hochschulen überprüft und bewertet sowie von wissenschaftlichen Testspezialisten (IQB) vor dem flächendeckenden Einsatz empirisch mit jeweils mehreren hundert Schülerinnen und Schülern auf Eignung und Schwierigkeit überprüft. (www.iqb.hu-berlin.de/ vera; letzter Zugriff Mai 2015; Ergänzung DF-H) Unbefriedigend sind die Ausführungen des IQB u. a. deshalb, weil die Kooperation zwischen Lehrpersonen, Didaktikern und Statistikexperten nicht näher erklärt wird. Wesentlich ausführlicher sind dagegen die Erläuterungen des IQB hinsichtlich der „pädagogischen Potenziale von VERA für Lehrkräfte und Schulen“ (www.iqb.huberlin.de/ vera/ faq; letzter Zugriff Mai 2015). Laut IQB können sie in folgenden Punkten gesehen werden:  der durchgängigen Kompetenzorientierung der Testaufgaben,  der Feststellung des Lern- und Unterstützungsbedarfs in den überprüften fachlichen Bereichen,  dem „Blick von außen“, d. h. den multiplen Vergleichsmöglichkeiten zum Lernstand der eigenen Klasse bzw. Lerngruppe für eine schulübergreifende Qualitätssicherung,  der Stärkung der diagnostischen Kompetenz von Lehrkräften,  der Unterstützung der Umsetzung der Kernlehrpläne und nationalen Bildungsstandards,  der Nutzung der Ergebnisrückmeldungen für kooperative Unterrichtsentwicklung im Kollegium. Im Zusammenhang mit der Gestaltung eines lernwirksamen Fremdsprachenunterrichts in Zeiten der Bildungsstandards und der Kompetenzorientierung kann es uns nur am Rande interessieren, inwieweit die vom IQB konzipierten Testaufgaben tatsächlich für das Bildungsmonitoring bezüglich der Ergebnisse des Fremdsprachenunterrichts hilfreich sind. Wie wir im nächsten Abschnitt bei der Analyse einiger VERA- Aufgaben sehen werden, sind Zweifel berechtigt. Weit problematischer ist meiner Ansicht nach die mit den Testungen einhergehende Trennung in Lern- und Testaufgaben, die von der Fachdidaktik grosso modo akzeptiert wird. Außerdem belegen neuere Forschungen aus den USA, dass Tests lernförderlich sein können. So schreiben Rohrer und Pashler, gestützt auf zahlreiche experimentelle Untersuchungen: „Recent research shows that testing not only enhances learning but also slows the rate of forgetting“ (Rohrer & Pashler 2010: 406). Wenn man davon ausgeht, dass die Aufgabenformate, die das IQB für Vergleichsuntersuchungen vorlegt, Testaufgaben genannt werden, dann freilich gibt es außerdem noch Lernaufgaben. Dass die IQB-Testaufgaben für eine Verbesserung des <?page no="152"?> 152 10. Aufgaben für den Unterricht - aus Testungen lernen? Fremdsprachenunterrichts trotz obiger Auflistung der positiven Effekte unzureichend sind, haben die dortigen Experten selbst festgestellt. Folglich liegt ein weiteres Tätigkeitsfeld des IQB in der „Publikation von Lernaufgaben, die illustrieren, wie die in den Bildungsstandards beschriebenen Kompetenzen im Unterricht entwickelt werden können“ (www.iqb.hu-berlin.de/ institut/ about; letzter Zugriff Mai 2015). Mit diesen sogenannten Lernaufgaben soll die Kompetenzorientierung im Bildungssystem gestärkt werden. „An die Stelle der Frage, welche Inhalte in einem Fach zu unterrichten sind, soll die Frage treten, welche Kompetenzen Schülerinnen und Schüler in diesem Fach bis zu einem bestimmten Zeitpunkt der Schullaufbahn erreicht haben sollen“ (www.iqb.hu-berlin.de/ vera; letzter Zugriff Mai 2015). Während die Mehrzahl der Fremdsprachendidaktikerinnen und -didaktiker sich der vom IQB getroffenen Unterscheidung in Aufgaben zum Lernen und Aufgaben für Testungen angeschlossen hat, wird seitens der Fachdidaktik auf die unerlässliche Verbindung von Inhalten und Kompetenzen immer wieder hingewiesen (vgl. u.a. Rössler 2008; De Florio-Hansen & Klewitz 2010). Mit anderen Worten: Kompetenzen lassen sich nur in Verbindung mit Inhalten erreichen. Deren sorgfältige Auswahl ist entscheidend, wenn bestimmte Fertigkeiten, Fähigkeiten und Einstellungen nach und nach auf- und ausgebaut werden sollen. Bisher hat das IQB sowohl für Französisch als auch für Englisch (Lern-) Aufgaben für den Unterricht vorgelegt. In der Publikation zu den Bildungsstandards Französisch (Leupold et al. 2008) stellen ausgewiesene Experten die mit Bildungsstandards und Kompetenzorientierung einhergehenden Veränderungen im Französischunterricht dar. Die Aufgaben in dieser Veröffentlichung des IQB, die von ausgewählten Lehrkräften aus verschiedenen Bundesländern erarbeitet wurden, lassen die Koordination zwischen den theoretischen Ausführungen und den Praxisbeispielen vermissen. Auch neuere (Lern-)Aufgaben für Französisch, die man auf der Website des IQB finden kann, machen eine Anbindung an Kompetenzen nur eingeschränkt deutlich. Zwar haben die Statistikexperten des IQB (vgl. Tiffin-Richards et al. 2013) inzwischen Kompetenzstufen für Englisch vorgelegt, die am GeR orientiert sind. Sie gelten auch für Französisch. Diese Kompetenzstufenmodelle ergänzen die linearen, auf Punktwerten beruhenden Standards, indem sie an bestimmten Stellen cut-scores festlegen, d. h. wer einen bestimmten Wert erreicht, wird einer bestimmten Kompetenzstufe zugeordnet. Dieses sogenannte Standard-Setting ermöglicht die Zuordnung der Aufgaben zu bestimmten Kompetenzstufen. Bei den im Internet zu findenden Aufgaben für Französisch wird zwar die Kompetenzstufe benannt, die konkrete Ausprägung - es ist ja immer noch eine gewisse Bandbreit möglich - wird aber nicht erläutert. Immerhin können Französischlehrerinnen und -lehrer durch die Angabe der Kompetenzstufe ermessen, welche Anforderungen ein bestimmtes Aufgabenbeispiel stellt. Ganz anders gehen Andreas Müller-Hartmann und Marita Schocker, die Herausgeber des 2013 erschienenen Buches Lernaufgaben Englisch aus der Praxis vor, welches im Auftrag bzw. in Kooperation zwischen den Pädagogischen Hochschulen der beiden Herausgeber und Hans Anand Pant vom IQB entstanden ist. Müller-Hartmann und Schocker stehen den KMK-Bildungsstandards kritisch gegenüber - im Wesentlichen aus den von mir und anderen genannten Gründen (vgl. oben Kap. 3 und Kap. 4). Auf der Grundlage eines umfassenden Ansatzes zum Task-based Learning, der sehr kompetent, aber für Lehrpersonen bisweilen zu ausführlich dargestellt wird, leiten sie eine Gruppe von 16 ausgewählten Englischlehrerinnen und -lehrern aus verschiedenen Bundesländern bei der Gestaltung von Lernaufgaben Englisch für die Sekundarstufe I an. Die videographierten Unterrichtsbeispiele (auf drei beiliegenden DVDs) <?page no="153"?> 153 10.3 „Also, echt Scheiße! ” dienen als Beispiele, welche (angehende) Fremdsprachenlehrkräfte analysieren, reflektieren und gegebenenfalls für den eigenen Lernkontext adaptieren können. Obgleich Müller-Hartmann und Schocker die auch in den Vorgaben der KMK angesprochene, aber nicht eingelöste (fremdsprachliche) Bildung würdigen, gehen viele Beispiele nicht über die Bewältigung konkreter (kommunikativer) Anforderungen hinaus. Ausführliche Informationen zu diesem Projekt, an dem auch Schülerinnen und Schüler maßgeblich beteiligt waren, findet man auf der Website der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, an der Müller-Hartmann tätig ist (vgl. http: / / www. phheidelberg.de/ index.php? id=9423; letzter Zugriff Mai 2015). Ohne Zweifel wäre schon viel gewonnen, wenn Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrer sich an den beispielhaften Vorgaben bei Müller-Hartmann und Schocker orientieren würden. Fremdsprachliche Bildung, die nicht in erster Linie auf die Lösung eines (kommunikativen) Problems gerichtet ist, sondern der Identitätsentwicklung und Persönlichkeitsentfaltung dient, ist dann in Reichweite. Fazit: Im Zusammenhang mit den KMK-Bildungsstandards gibt das IQB eine fragwürdige Trennung in Lern- und Testaufgaben vor. Was für das Bildungsmonitoring sinnvoll sein mag, hat beim Lehren und Lernen von Fremdsprachen nur eingeschränkt Gültigkeit. 10.3 „Also, echt Scheiße! ” Adnan und Murat, zwei türkische Jugendliche von knapp 14 Jahren, kennen sich seit der Grundschule und besuchen nun die gleiche Hauptschule. Während Murat in die achte Klasse geht, hat Adnan ein Jahr verloren. Seine Eltern hatten ihn in die Türkei zu den Großeltern geschickt. Da seine Großmutter aber bald darauf gestorben ist, kam Adnan nach Deutschland zurück, wurde aber eine Klasse zurückgestuft. Auch wenn sie jetzt nicht mehr in die gleiche Klasse gehen, sind sie nach wie vor sehr eng befreundet. Heute hat Murat einen Test in Englisch geschrieben. Während die Deutschkenntnisse beider Jugendlicher nicht auf dem Stand von einsprachig deutsch aufgewachsenen Jugendlichen sind, haben beide den Englischunterricht genutzt, um von vornherein dranzubleiben, zumal sie Englisch „cool“ bzw. „megageil“ finden. Man kann überall im Internet „mitmischen“ und hat auch bessere Berufsaussichten. Adnan wartet nach dem Unterricht auf Murat und fragt ihn gleich nach dem Test. Adnan: Ey, Digga, erzähl ma, wie war’s mit deiner Vera? Murat: Also, vallah echt Scheiße! Adnan: Wieso denn? Murat: Moruk, wir haben so n krasses Testheft bekommen mit achtundzwanzig Aufgaben für Doppelstunde. Adnan: Achtundzwanzig? Laber kein Scheiß! Murat: Kein Spass, Digga. Manche waren einfach, andere sauschwer. Adnan: Und was soll das? Murat Kein Plan. Hat uns keiner gesagt. Adnan: Habt ihr nicht geübt? <?page no="154"?> 154 10. Aufgaben für den Unterricht - aus Testungen lernen? Murat: Doch, immer so Ankreuzen und so… Frau Lehmann hat auch gesagt, das kommt von außen, wir sollen cool bleiben. Adnan: Was regst du dich auf, Moruk? Ist nicht so wichtig. Chill mal. Murat: Ärgert mich aber, ich find Englisch megageil, aber jetzt … Adnan: Wieviel Aufgaben hast du denn? Murat: Etwa 20, aber ob die richtig sind? Kein Plan. Adnan: Kriegt ihr da Noten drauf oder nur so? Murat: Nee, aber die Lehmann merkt’s sich sicher. Adnan: Englisch ist trotzdem cool. Murat: Ey Digga, du bist nur am Labern. Vok.: Digga: Dicker (geläufige Anrede unter Jugendlichen); vallah (arabisch): ich schwör’s; Moruk: Alter (Anrede unter Jugendlichen, die auch Erwachsene verstehen). 10.4 VERA-8 - zur Aussagekraft der Testaufgaben des IQB Häufig wird darüber geklagt, dass inzwischen eine Art „Testeritis“ ausgebrochen sei, welche die Lehrpersonen und vor allem die Schülerinnen und Schüler zunehmend belaste. Marlis Tepe, die Bundesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, übt vor allem Kritik an VERA. Ihrer Ansicht nach beschränken sich die Vergleichsarbeiten „auf leicht messbare Ausschnitte“ (Tepe 2014: 48), und die Bewertungen nach falsch/ richtig verhindern eine differenzierte Leistungsdiagnose. Außerdem befürchtet Tepe ein teaching to the test, unzulässige Rankings und die Verschwendung von Ressourcen, sowohl von finanziellen Mitteln als auch von Arbeitskraft der Lehrpersonen. Folgender Kritikpunkt ist mit Blick auf das Gespräch von Murat und Adnan (vgl. 10.3) besonders relevant: Die Ausrichtung an ‚Regelstandards‘ ist defizitorientiert, missachtet unterschiedliche Voraussetzungen und ist inklusionsfeindlich. Langsamer lernende Schüler(innen), insbesondere Kinder mit Deutsch als Zweitsprache werden vor Schwierigkeiten gestellt. Die Aufgabenformate entmutigen. (Tepe 2014: 48) Im Contra, welches in der Zeitschrift Pädagogik dem Pro gegenübergestellt wird, legt Ingmar Hosenfeld, der Geschäftsführende Leiter des Zentrums für Empirische Pädagogische Forschung (zepf), dar, warum wir an äußeren Kriterien orientierte Messungen von Schülerleistungen brauchen. Dem kann man nur zustimmen. Ebenso ist Hosenfelds Plädoyer für die Nutzung der VERA-Aufgaben im Unterricht bis zu einem gewissen Maß nachvollziehbar. Nach Hattie ist eine zentrale Bedingung für die Maximierung des Lernens, dass Lehrkräfte die Verantwortung für die Lernfortschritte ihrer Schüler übernehmen. […] In diesem Sinne kann es nicht zu viel Diagnostik gegeben. Allerdings mag es schlecht genutzte diagnostische Instrumente geben, z. B. wenn die Lehrperson die gewonnene Information für sich behält, anstatt die enthaltenen Anforderungen und deren Bewältigung den Schülern transparent zu machen und so aus der diagnostischen Situation eine weitere Lerngelegenheit zu machen. (Hosenfeld 2014: 49) Hosenfeld nimmt in obigem Zitat auf schlecht genutzte diagnostische Instrumente Bezug. Dass es auch unzureichend konzipierte diagnostische Instrumente gibt, er- <?page no="155"?> 155 10.4 VERA-8 - zur Aussagekraft der Testaufgaben des IQB wähnt er nicht. Dies ist in Bezug auf die VERA-Aufgaben zur Überprüfung der Kenntnisse in der ersten Fremdsprache jedoch der Fall. In den folgenden Abschnitten wollen wir sie uns genauer ansehen. 10.4.1 VERA-8: erste Fremdsprache Englisch Das IQB unterstreicht in seinen Erläuterungen zu VERA, dass niemand erwartet, dass Schülerinnen und Schüler dabei alle Aufgaben lösen. „Wichtig ist, dass mit VERA sowohl die Leistungsspitze als auch die Leistungsschwäche der Klasse in ihren Kompetenzen abgebildet werden kann“ (www.iqb.hu-berlin.de/ vera/ faq; letzter Zugriff Mai 2015). Ferner heißt es: In den Testheften finden sich somit sehr schwierige Aufgaben mit einer Lösungshäufigkeit von 10 Prozent, aber auch sehr leichte Aufgaben mit einer Lösungshäufigkeit von 90% oder darüber. Bei der Auswahl der Aufgaben für den Test wird jedoch darauf geachtet, dass die durchschnittliche Lösungshäufigkeit für ein Testheft im Bereich von 50 bis 60 Prozent liegt. (ibid.) So gesehen, hätte Murat, der türkische Jugendliche, mit 20 gelösten Aufgaben (vorausgesetzt seine Lösungen sind richtig) eine für die Hauptschule überdurchschnittliche Leistung in der ersten Fremdsprache Englisch gezeigt. Wie oben erwähnt beziehen sich die Aufgaben für die erste Fremdsprache auf das Hörverstehen und das Leseverstehen. Dass das Sprechen, das Schreiben und insbesondere die Sprachmittlung ausgespart bleiben, widerspricht der eigenen Aussage des IQB, dass Ankreuzaufgaben und kurze Antworten nur bedingt Rückschlüsse auf Lösungswege von Schülerinnen und Schülern zulassen und es deshalb erforderlich sei, „dass Schülerinnen und Schüler auch eigene Texte verfassen“ (www.iqb.hu-berlin.de/ vera/ faq; letzter Zugriff Mai 2015 ). Die Aufgaben, die wir im Folgenden betrachten, stammen aus dem Testheft I (2012). Von den 28 Aufgaben beziehen sich 22 (! ) auf das Hörverstehen und lediglich 6 auf das Leseverstehen. Aus leicht nachvollziehbaren Gründen beschränke ich mich im Folgenden auf zwei Aufgaben zur Überprüfung des Leseverstehens, welche die oben angesprochene Bandbreite an Schwierigkeiten verdeutlichen. In Jail Read the paragraphs (a to e) from a novel. Then put them in the correct order by completing the table below. There is an example at the beginning (0). Start with paragraph a. Excerpt from a novel by Marc Haddon a) It was 1: 12am when Father arrived at the police station. I did not see him until 1: 28am, but I knew he was there because I could hear him. b) I stepped outside. Father was standing in the corridor. He held up his right hand and spread his fingers out in a fan. <?page no="156"?> 156 10. Aufgaben für den Unterricht - aus Testungen lernen? c) I held up my left hand and spread my fingers out in a fan, and we made our fingers and thumbs touch each other. d) A policeman opened the door of the cell and told me there was someone to see me. e) We do this because sometimes Father wants to give me a hug, but I don’t like hugging people, so we do this instead, and it means that he loves me. text: © From The Curious Incident of the Dog in the Night-time by Marc Haddon, published by Jonathan Cape. Reprinted by permission of the Random House Group Ltd. 0 1 2 3 4 a Der Schwierigkeitsgrad dieser Aufgabe wird auf der Website des IQB mit Kompetenzstufe B 2.2 angegeben. Bettina Read the text. Then tick √ the correct answers (a, b, c, or d). There is an example at the beginning (0). More than 20 million travellers [sic] pass through Palma de Mallorca’s airport each year, and at first glance Bettina could be just another tourist waiting for a flight home. But she never checks in. The 48-year-old German has been living at the airport - known as Son Sant [sic] Joan - for 10 years, pushing her three suitcases, a blanket, a pile of books and her white cat, Mumu, around her. Bettina, who refuses to disclose her full name, is from a small town in southern Germany. She arrived in Mallorca more than 10 years ago for a new start after a relationship ended and she lost her office job. She landed odd jobs working as a waitress, then helping in a kitchen, but the dream of living in the sun turned sour. “Suddenly there was no work because they only give jobs to Spaniards,” she told the local Diario de Malllorca newspaper. “I wanted to work in Mallorca, but I got stranded here.” With no job, home or money, she began living in the airport, where she gets by on the kindness of friends and strangers. “One friend brings me something to eat twice a week. Sometimes people give me a bit of money as well, but I don’t ask anyone for anything.” Amid the bustle of the airport, Bettina is often seen quietly reading, dressed smartly in jeans and a sweatshirt. She cleans herself and her clothes in the toilets, <?page no="157"?> 157 10.4 VERA-8 - zur Aussagekraft der Testaufgaben des IQB while departure lounge seats serve as beds. But she has no desire to return to Germany. “No way. Life is better for me here.” The Guardian, Saturday, 9 August 2008 Text: © Guardian News & Media Ltd 2008. Article Graham Keely/ Kate Connolly 0. Bettina  a) lives near Son Sant [sic] Joan Airport.  b) is a flight attendant.  c) lives in Son Sant [sic] Joan Airport.  d) is a plane spotter. 1. In Mallorca,  a) Bettina’s dreams came true.  b) Bettina worked for a newspaper.  c) Bettina fell in love with a Spaniard.  d) Bettina became unemployed. 2. At the airport, Bettina  a) doesn’t ask for money.  b) helps in a café.  c) asks people for food.  d) doesn’t have any friends. 3. Bettina  a) doesn’t keep herself clean.  b) doesn’t have time to read.  c) doesn’t want to go back to Germany.  d) doesn’t sleep in the departure lounge. Der Schwierigkeitsgrad von Teilaufgabe 1 wird auf der Website des IQB mit Kompetenzstufe B 2.2 angegeben, derjenige von Teilaufgabe 2 mit Kompetenzstufe A2.2 und der von Teilaufgabe 3 mit Kompetenzstufe A1.2. Da uns die Texte für die Testaufgaben vom IQB vorgegeben werden, ist es müßig über deren Auswahl zu diskutieren. Was nicht passieren dürfte, sind Druckfehler und die unpassende Überschrift zum Textauszug von Mark Haddon „In Jail“. Eine passende Überschrift wäre: At the Police Station. Haben die Experten den Text des bekannten Jugendschriftstellers gelesen? Die Ausschnitte in die richtige zeitliche Abfolge zu bringen, bietet sich an, weil Christopher, der Erzähler, aufgrund seines Asperger-Syndroms stets alle Einzelheiten wiedergibt. Diskutabel hingegen ist in Text 2 (Bettina) zum Teil die Auswahl der Stellen, auf die sich die Multiple-Choice-Aufgaben beziehen sowie die Formulierung einiger Distraktoren (vgl. oben 4.3). Wie Schülerinnen und Schüler mit diesen Aufgaben im Unterricht umgehen können und <?page no="158"?> 158 10. Aufgaben für den Unterricht - aus Testungen lernen? welchen Nutzen sie für ihren Fremdsprachenerwerb und ihre fremdsprachliche Bildung daraus ziehen können, wird in Abschnitt 10.6 ausführlicher behandelt. Zuvor stelle ich diesen beiden Aufgaben für Englisch zwei Beispiele aus dem IQB-Aufgabenpool für Französisch gegenüber. 10.4.2 VERA-8: erste Fremdsprache Französisch Obgleich die folgenden Beispiele ebenfalls für die Überprüfung der Schülerleistungen in der ersten Fremdsprache konzipiert sind, ist ein Vergleich nur eigeschränkt möglich, weil die am und für das IQB tätigen Teams (für Englisch und Französisch) sich untereinander offensichtlich nicht abgesprochen haben. Um eine gewisse Vergleichbarkeit herzustellen, habe ich für die Überprüfung der Französischkenntnisse zwei Testaufgaben zum Leseverstehen ausgewählt. Sie stammen ebenfalls aus dem Jahr 2012. Avatar Avant-Première « Raz-de-marée » serait un mot plus approprié que « vague » pour décrire le succès d’Avatar, qui a déjà passé quatre semaines en tête du box-office depuis sa sortie. A l’heure où vous lirez ces lignes, le blockbuster de James Cameron aura largement dépassé les 10 millions d’entrées pour devenir le long métrage de 2009 ayant le mieux marché en France (deuxième pays, après les Etats-Unis, où les Navi font le plus d’entrées). Dans son sillage, on retrouve principalement les films pour enfants : si Alvin et les Chipmunks 2 fait mieux que son prédecesseur [sic], le second vol et de la trilogie Arthur et les Minimoys déçoit. …] M1 Première, février 2010 vrai faux pas dans le texte Le film Avatar a bien plu. □ □ □ La plupart des tickets ont été vendu □ □ □ en France. En Europe, le film a d’abord été montré □ □ □ en France. Zu dieser Aufgabe gibt es eine ausführliche didaktische Handreichung des IQB. Die Quelle des Textes wird darin nicht genannt. Die Lösungen der drei Teilaufgaben werden den folgenden Kompetenzstufen zugeordnet: 1: A2; 2: B2; 3: B1. Die Hinweise zur Bearbeitung - „Vor dem Lesen der Textvorlage, beim Lesen der Textvorlage, nach dem (ersten) Lesen: “ - sind zwar sinnvoll, lassen aber den notwendigen Pragmatismus vermissen: Sieht man sich die Zahl der Testaufgaben für eine Bearbeitungszeit von 80 Minuten an, ist es illusorisch, von Schülerinnen und Schülern zu erwarten, dass sie sich in dieser Ausführlichkeit mit dem Text und den Zuordnungsaufgaben <?page no="159"?> 159 10.4 VERA-8 - zur Aussagekraft der Testaufgaben des IQB befassen. Wahrscheinlich hätte es eine Erleichterung für die Lernenden bedeutet, wenn im Auszug aus der Filmkritik die Titel von Filmen (Avatar, Arthur et les Minimoys) und Musikgruppen (Alvin et les Chipmunks) kursiv gedruckt wären. Die Schwierigkeiten des Textes werden treffend benannt, u. a. hohe Informationsdichte, komplexe Strukturen, unbekannter und themenspezifischer Wortschatz sowie die „geringe Überlappung zwischen Aufgabe und Text“. Im Unterschied zu den Testaufgaben für Englisch kommt in den Testungen für die erste Fremdsprache Französisch bei den Multiple-Choice-Aufgaben zusätzlich zur Option richtig/ falsch die Kategorie pas dans le texte vor. Gibt es einschlägige wissenschaftliche Nachweise, dass eine solche Kategorie sinnvoll ist? Wenn man sie benutzen will, sollte sie zumindest auf Leerstellen bzw. auf wünschenswerte, aber fehlende Informationen im Text hinweisen. Da es in diesem Kapitel darum geht, was aus Testaufgaben gelernt werden kann, gebe ich die folgenden Hinweise des IQB wieder: Weiterarbeit und Förderung Die Schülerinnen und Schüler lernen, einem komplexen Lesetext über längere Zeit zu folgen und bei partiellem Nichtverstehen nicht zu resignieren. Sie konzentrieren sich ihrem Leseinteresse (Aufgabenstellung) entsprechend sowohl auf die Kernaussage als auch auf spezifische Einzelinformationen und kombinieren unterschiedliche Lesestile und -techniken miteinander. Eine zusätzliche Schwierigkeit liegt in den unterschiedlichen Formulierungen der Aufgabe und des Textes. Um sich dennoch im Text zurechtzufinden, bietet sich gezielte Wortschatzarbeit zu Synonymen, Ober- und Unterbegriffen und Wörtern des Wortfeldes der Begriffe der Aufgabe an. Ferner lernen die Schülerinnen und Schüler, Einzelinformationen zu kombinieren und Textinhalte zu abstrahieren. (https: / / www.iqb.hu-berlin.de/ vera/ aufgaben/ en1; letzter Zugriff Mai 2015) Empfehlungen wie diese bergen die Gefahr des teaching to the test in sich, die dienende Funktion von Wortschatz und Grammatik wird in Frage gestellt, und das angesprochene Leseinteresse wird sich vermutlich nicht einstellen. Ob die Aufgabe für die Testzwecke des IQB bzw. der KMK geeignet ist, sei dahingestellt. Auf alle Fälle sollten Testungen nicht nur den wissenschaftlichen Gütekriterien Rechnung tragen, sondern so gestaltet werden, dass sie den Schülerinnen und Schülern die Freude am Französischlernen nicht verderben. Besser: Sie müssen motivierend sein und einen konkreten Lebensbezug haben. Natürlich haben die Lernenden von den in der Kritik genannten Filmen gehört. Vermutlich würden sie diese Filmkritik aber schon bei der Lektüre des ersten Satzes zur Seite legen bzw. wegklicken, um sich interessanteren Informationen zum Film Avatar im Internet zuzuwenden (vgl. unten 10.6). Baladeur Les baladeurs cassent les oreilles Les jeunes qui utilisent fréquemment des baladeurs numériques font courir un grand risque à leurs oreilles. C’est pourquoi jeudi 11 mars se déroulera la 13 e journée nationale de l’audition. Les organisateurs de la journée nationale de l’audition aimeraient que le 11 mars soit une journée sans baladeur. <?page no="160"?> 160 10. Aufgaben für den Unterricht - aus Testungen lernen? D’après une enquête réalisée auprès des 12-25 ans, les jeunes passent en moyenne plus d’une heure et demie par jour avec les écouteurs sur les oreilles. De plus, ceux qui écoutent la musique le plus longtemps sont ceux qui l’écoutent le plus fort. En Europe, ce sont 50 à 100 millions de personnes qui utilisent chaque jour un baladeur. D’après les responsables de la journée nationale de l’audition, près de 10 millions de jeunes Européens risquent une perte conséquente de l’audition à force d’écouter de la musique trop fort. Jeudi, dans plus de 850 villes en France, il sera possible de contrôler son audition et de mieux comprendre les risques liés au baladeur. Beaucoup de jeunes ne connaissent ni les risques, ni la réglementation sur le niveau sonore, d’où l’intérêt de cette campagne. Nombre de ces jeunes ont déjà ressenti des bourdonnements ou des sifflements dans les oreilles après une écoute prolongée du baladeur ou après être allés en discothèque. Près de 250 millions de baladeurs et 165 millions de lecteurs MP3 ont été commercialisés ces quatre dernières années dans les pays de l’Union européenne dont 11 millions vendus en France. Un phénomène qui ne cesse de s’accroître d’année en année. Le Journal des Enfants, article publié le 10/ 03/ 2010 www.jde.fr/ article/ les-balladeurs-cassent-les-oreilles---1750 Texte : ©JDE, article paru sur le site internet www.jde.fr Quels sont les résultats de l’enquête auprès des jeunes présentés par les responsables de la journée nationale de l’audition ? vrai faux pas dans le texte Les jeunes écoutent environ une heure □ □ □ de musique par jour sur leur lecteur mp3. Les jeunes sont bien informés sur les □ □ □ dangers d’une écoute trop forte. Presque 10 millions de jeunes en Europe □ □ □ risquent d’avoir des problèmes d’audition. Les campagnes des années précédentes □ □ □ n’ont pas eu de succès. <?page no="161"?> 161 10.5 Zentrale Abschlussarbeiten am Ende der Hauptschule und der Realschule Der Schwierigkeitsgrad dieser Aufgabe wird auf der Website des IQB summarisch mit den Kompetenzstufen A2, B1 und B2 angegeben. Zu dieser Aufgabe gibt es keine didaktischen Hinweise. Generell kann man sagen, dass im Französischen bei der Überprüfung des Leseverstehens keine literarischen Texte oder sonstige Narrationen wie Bettina vorgegeben werden. Jedenfalls sind in dem umfangreichen Aufgabenpool des IQB zu Französisch Sekundarstufe I keine zu finden. Das ist umso verwunderlicher, als gerade die mit dem Französischen beschäftigten Fachdidaktikerinnen und -didaktiker das Fehlen ästhetisch-literarischen und interkulturellen Lernens in den bildungspolitischen Vorgaben kritisieren. Fazit: Die vom IQB vorgelegten Vergleichsarbeiten (VERA-8) für die erste Fremdsprache Englisch oder Französisch sind unzureichend, weil sie die Performanz der Schülerinnen und Schüler der achten Jahrgangsstufe nur höchst eingeschränkt überprüfen. Einstellungen bzw. Haltungen, die zu einer ausgebildeten fremdsprachlichen Kompetenz und Diskursfähigkeit gehören, werden nicht im Ansatz getestet. Auch bei den ausgewählten Teilkomponenten von Fertigkeiten des Lese- und Hörverstehens werden nur Ausschnitte in den Testaufgaben berücksichtigt. 10.5 Zentrale Abschlussarbeiten am Ende der Hauptschule und der Realschule - neues Spiel, neues Glück? Während an den Lernstandserhebungen VERA-8 alle Schülerinnen und Schüler teilnehmen, werden die von den Bundesländern durchgeführten Zentralen Abschlussarbeiten (ZAA) nur an Hauptschulen, Realschulen, Gesamtschulen und Einrichtungen, die entsprechende Abschlüsse erteilen, am Ende der Schulzeit durchgeführt. Die Schülerinnen und Schüler der Gymnasien sind in den meisten Bundesländern ausgenommen. Mit der Erstellung der ZAA sind für gewöhnlich die den Kultusministerien nachgeordneten Landesinstitute betraut. Inwiefern bauen diese Abschlussarbeiten auf den Anforderungen der Vergleichsarbeiten VERA-8 auf, die ein bis zwei Jahre zuvor durchgeführt wurden? Da es den Rahmen des vorliegenden Buches sprengen würde, die ZAA verschiedener Bundesländer miteinander zu vergleichen, beschränke ich mich auf ausgewählte Beispiele aus den Arbeiten für den Hauptschulabschluss sowie den Mittleren Schulabschluss des Landes Hessen, die vom ehemaligen IQ (Institut für Qualitätsentwicklung; inzwischen Landesschulamt und Lehrkräfteakademie) erstellt und zeitgleich für jede Fremdsprache und Schulform durchgeführt werden. Zu den Testheften der ZAA für die Hand der Schülerinnen und Schüler gibt es ausführliche Handreichungen für die korrigierenden Lehrpersonen. Diese Handreichungen enthalten nicht nur die Lösungen der einzelnen Aufgaben, sondern Hinweise zur Durchführung und vor allem zur Bewertung der Aufgaben. Die Arbeiten werden von der Englisch- oder Französischlehrkraft der jeweiligen Lerngruppe korrigiert und bewertet. Die Ergebnisse werden dem hessischen Landesinstitut gemeldet und dort analysiert. Anschließend werden die landesweiten Resultate auf der Website des HKM veröffentlicht. Die Aufgaben für die Hauptschule sind der Kompetenzstufe A2, diejenigen der Realschule B1 zuzuordnen. <?page no="162"?> 162 10. Aufgaben für den Unterricht - aus Testungen lernen? Seit Jahren sind die ZAA in Hessen im Wesentlichen gleich aufgebaut. Es werden alle Teilfertigkeiten außer dem Sprechen getestet. Die Bearbeitungszeit beträgt 135 Minuten (ausschließlich der Vorbesprechung). Die Zentralen Abschlussarbeiten bestehen aus fünf Teilbereichen: 1. Listening Comprehension/ Compréhension de l’oral (max. 25 Punkte): in der Regel drei verschiedene Hörtexte; Aufgabenformate: multiple-choice; Eintragung von Einzelinformationen in tabellarische Übersichten, Zuordnungsaufgaben; 2. Reading Comprehension/ Compréhension des écrits (max. 25 Punkte): zwei Texte (Hauptschule) - drei Texte (Realschule); ein Textbeispiel stammt in aller Regel aus der jeweiligen Kinder- und Jugendliteratur; vielfältige Aufgabenformate, u. a. vorgegebene Überschriften bestimmten Textabschnitten zuordnen, multiple-choice, Beantwortung von Fragen zum Text; Fragen je zwei Kernaussagen aus dem Text zuordnen und in eine Tabelle eintragen; die genaue Bedeutung von englischen Wörtern bzw. Ausdrücken im Text auf Deutsch wiedergeben (Hauptschule); 3. Mediation/ Médiation (max. 10 Punkte): meist eine umfänglichere Teilaufgabe auf der Grundlage von Reiseprospekten, ausgewählte touristische Informationen aufgrund deutscher Vorgaben für Familienmitglieder und/ oder Freunde auf Deutsch wiedergeben; 4. Use of Language/ Pratique de la langue (max. 15 Punkte): zwei kürzere Teilaufgaben; Aufgabenformate: multiple-choice, Lückentext; Dialog nach deutschen Vorgaben, eine Sprecherrolle ergänzen (Hauptschule). 5. Text Production/ Production écrite (max. 25 Punkte): zwei Aufgaben zur Wahl; Aufgabenformat: Schreiben eines zusammenhängenden Textes, Textumfang: 80 Wörter: Hauptschule; 150 Wörter: Realschule. Auch wenn bei den ZAA nur ansatzweise Fertigkeiten integriert geprüft werden (vgl. 10.5.3), so müssen zumindest alle Teilkompetenzen - außer der Sprechfertigkeit - durch die Bearbeitung entsprechender Aufgaben unter Beweis gestellt werden. Mit anderen Worten: Die Lernenden müssen seit der 8. Jahrgangsstufe kumulativ weitere Teilkompetenzen aufgebaut haben, die bei VERA-8 überhaupt nicht getestet, nämlich Schreiben und Sprachmittlung, oder aber nur unzureichend überprüft wurden, nämlich das Leseverstehen. Womit die Schülerinnen und Schüler bei VERA-8 schon Erfahrungen sammeln konnten, ist der Umgang mit Multiple-Choice-Aufgaben und Kurzantworten. Was die hessischen Zentralen Abschlussprüfungen, insbesondere im Vergleich zu VERA-8, angeht, kann man feststellen, dass auch bei Prüfungen Texte und Materialien, z. B. Bilder, eingesetzt werden können, die vielfältig, motivierend und lebensnah sind. Die hessischen „Leistungsaufgaben“ unterscheiden sich von den Lernstandserhebungen (VERA-8) des IQB nicht nur durch die Textvorgaben selbst, sondern vor allem durch die abwechslungsreichen Aufgabenformate: Es gibt neben verschiedenen geschlossenen Formaten auch zahlreiche offene Aufgaben. Besonders unterstreichen möchte ich in diesem Zusammenhang, dass die hessischen „Leistungsaufgaben“ keine Testaufgaben im Sinne des IQB sind. Wie wir noch sehen werden, könnten sie im Unterricht so vorkommen, wie sie in den Testheften zu finden sind, beispielsweise eingebettet in Lernaktivitäten wie das Task-based oder <?page no="163"?> 163 10.5 Zentrale Abschlussarbeiten am Ende der Hauptschule und der Realschule Task-supported Language Learning. Es sind Aufgaben für den Unterricht, durch deren Erarbeitung die Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler gefördert werden. Außerdem ermöglichen sie eine Weiterarbeit ohne besondere Vorkehrungen und sind folglich eine gute Basis für value-based education im Fremdsprachenunterricht (vgl. unten 10.6). 10.5.1 Aufgabenbeispiel aus den ZAA Englisch für die Hauptschule Im Jahr 2014 war im Bereich Reading Comprehension folgende Aufgabe zu bearbeiten: Eating habits around the world Read the following text. China: In China it is considered impolite to eat everything on your plate. Leaving an empty plate is like telling the host that the food served on your plate was too little. Egypt: To thank the host and the cook for the delicious food it is common practice that the guest burps 1 loudly at the end of the meal. Mexico: If you are invited for lunch or dinner in a restaurant, the host will ask you what you want to eat and then order for you. During the whole meal everyone keeps their hands above the dining table. Sweden: When going to a restaurant in Sweden, it is unusual to pay together; everyone pays his or her fair share of the bill. This rule applies even when going on a date! Korea: In Korea, as in many other Asian countries, you should always wait until the older people at the table, especially the host, start eating. It is considered a lack of respect to start eating or drinking before they do. Nepal: In Nepal people normally do not use forks or spoons to eat their meals. They usually eat with their hands. Japan: The Japanese pufferfish contains a deadly poison. Nevertheless, many Japanese like to eat it. Japanese chefs train for a long time to prepare the fish properly in order to take off the poison. Oman: In the Middle East it is important to keep in mind that the left hand is thought to be dirty. Therefore, you should keep your left hand off the table. Do not use it for eating or shaking hands. 1 to burp: rülpsen Adapted by De Florio-Hansen <?page no="164"?> 164 10. Aufgaben für den Unterricht - aus Testungen lernen? a. The following words have more than one meaning. Which of the meanings is the one used in the text? Tick (√) the correct German meaning. There is only one possible answer. like (line 2) keep (line 6) □ mögen □ behalten □ wie □ versorgen □ Geschmack □ führen Write down the German meaning as used in the text. too little (line 3): …………………………………………………………………………… common (line 4): …………………………………………………………………………… share (line 10): .………………………………………………………………………….. chefs (line 18): .………………………………………………………………………… b. In which country should you / should you not do the following? Fill in the correct country. Write down only one country per box. There is one country more than you need. should you always leave some food on your plate? ……………… is one of your hands considered to be unclean? ……………… should you make a certain “noise” after the meal? ……………… WHERE should you not start your meal before the elderly do? ……………… does a cook need a very long period to prepare something? ……………… should you never have both hands under the table? ……………… should you not expect somebody else to pay for the meal? ……………… Wie die oben angeführten Dos and Dont’s im Unterricht behandelt und vertieft werden können, erfahren Sie anhand konkreter Vorschläge in Abschnitt 10.6. 10.5.2 Aufgabenbeispiel aus den ZAA Englisch für die Realschule Für die Text Production können die Lernenden bei den ZAA, wie oben erwähnt, zwischen zwei Vorschlägen wählen. Die beiden Möglichkeiten im Jahre 2012 lauteten: Choose one of the following tasks and write about 150 words. Count your words and write the number at the end of the text. <?page no="165"?> 165 10.5 Zentrale Abschlussarbeiten am Ende der Hauptschule und der Realschule Tell the story behind the picture. Write about the following aspects: the boy’s situation. the letter, his thoughts and feelings, what will happen. Use your imagination. _____________________________________________________________________________________________________________ or _____________________________________________________________________________________________________________ Computer games You have just read an article about computer games. The author thinks that they are addictive and a bad influence on teenagers but millions of kids think they are great fun. What do you think? Write a letter or an e-Mail in response to the article. Write about the following aspects: you and your friends’ experience with computer games (also online games), the joys and dangers of computer games, your parents’ or your family’s opinion about computer games, the importance of computer games in the future. Beide Aufgaben sind lebensnah und - soweit man es in einer Prüfungssituation erwarten kann - motivierend. Im folgenden Abschnitt (vgl. 10.6) beschäftigen wir uns mit verschiedenen Möglichkeiten, diese Texte mit Blick auf Bildverstehen, d. h. visual literacy, sowie im Rahmen von Medienerziehung zu nutzen und zu erweitern. 10.5.3 Aufgabenbeispiel aus den ZAA Französisch für die Realschule Dieser dritten Teilaufgabe zum Leseverstehen gehen zwei Textauszüge zur Überprüfung der Compréhension des écrits voraus, die einschlägigen Zeitschriften, z. B. der französischen Jugendzeitschrift Okapi, entnommen sind. Wenden wir uns nun der dritten Teilaufgabe zum Leseverstehen zu: Es handelt sich um einen längeren Textauszug (ca. 500 Wörter, S. 41-46 der Originalausgabe von Bayard jeunesse, Paris 2002) aus dem ersten Jugendroman von Anna Gavalda 35 kilos d’espoir, der auch auf Deutsch unter dem Titel 35 Kilo Hoffnung erschienen ist. Obgleich mehrere adaptierte und annotierte Fassungen des Romans von deutschen Schulbuchverlagen vorliegen, haben sich die Experten des hessischen Landesinstituts für den Originaltext entschieden, weil es sinnvoll ist, gerade bei Überprüfungen auch authentische Texte einzubeziehen. Zudem büßen literarische Texte bei der Didaktisiehttp: / / www.kinofenster.de/ filmeundthemen/ archivmonatsausgaben/ kf0905/ 10.03.2012 <?page no="166"?> 166 10. Aufgaben für den Unterricht - aus Testungen lernen? rung oft das ein, was ihren Reiz und vor allem ihren Beitrag zu ästhetisch-literarischer Bildung ausmacht. Worum geht es in diesem Textauszug, dem der einführende Satz vorausgeht: „Grégoire est un garçon qui a des problèmes avec l’école et ses parents“. Grégoire hat keinerlei Interesse an der Schule; er arbeitet lieber mit den Händen, repariert oder baut etwas zusammen. Oft bastelt er zusammen mit seinem Großvater, zu dem er ein weit besseres Verhältnis hat als zu den Eltern. Das ändert sich freilich, als kein Collège Grégoire nach den Ferien - der Ausschnitt spielt Ende Juni - aufnehmen will. Der Junge ist nämlich schon zweimal sitzengeblieben, und da ist es schwer, eine Schule zu finden, die ihn aufnimmt. Kein Wunder, dass zu Hause „dicke Luft“ herrscht. Um sich abzulenken, nimmt er sich ein paar Arbeiten im Haushalt vor: Seine Mutter wollte schon immer gern im Sitzen bügeln, also passt Grégoire die Bügelvorrichtung entsprechend an. Für seinen Vater repariert er den schon seit langem defekten Rasenmäher. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Eltern offensichtlich nicht bemerkt, welche handwerklichen Talente in dem Jungen stecken. Obgleich sie sehr angetan sind und ihn entsprechend belohnen, macht ihm sein Vater klar, dass ohne Schulabschluss nichts läuft: Keiner wird ihn einstellen, und bei der Anmeldung eines Patents braucht man umfängliche Sach- und Schreibkompetenzen. Ihr Verständnis der Textpassage stellen die Schülerinnen und Schüler durch 10 Multiple-Choice-Aufgaben mit jeweils vier Distraktoren unter Beweis. Wir schauen kurz auf einige dieser Auswahlantworten, weil sie sich von den entsprechenden Aufgaben des IQB positiv unterscheiden: a. L’histoire commence □ à la rentrée des classes. □ au mois de juin. □ début septembre. □ fin septembre. d. Grégoire aime □ travailler avec ses mains. □ apprendre dans les livres. □ gagner de l’argent. □ jouer à l’ordinateur. f. Pour le récompenser de son aide, □ sa mère lui fait des crêpes. □ son père renonce au programme télévisé. □ ses parents regardent avec lui son film préféré. □ ses parents l’invitent au cinéma. Diese Multiple-Choice-Aufgaben entsprechen den international üblichen Standards: Keine Auswahlantwort darf von vornherein sinnlos sein; d. h. alle Antworten könnten zutreffend. Sie sind so formuliert, wie man es erwarten darf: In etwa gleicher Länge werden vom Satzbau her in jeder Aufgabe ähnliche Antwortmöglichkeiten zur Wahl gestellt. Die Auswahlantworten sind in keinem Fall wörtlich dem Textausschnitt entnommen. <?page no="167"?> 167 10.6 Testungen als Ausgangspunkt für fremdsprachliche Bildung Fazit: Es ist ohne weiteres möglich, die in den ZAA enthalten Aufgaben in der vorliegenden Form im Unterricht zu erarbeiten und sie in weiterführende Lernaktivitäten zu integrieren. 10.6 Testungen als Ausgangspunkt für fremdsprachliche Bildung - Was tun mit Aufgaben und Ergebnissen? 10.6.1 IQB-Vergleichsarbeiten (VERA-8) - Vorbereitung auf Tests Die Testaufgaben des IQB sind meiner Ansicht nach aus mehreren Gründen für eine Erarbeitung bzw. Weiterarbeit im Unterricht nicht geeignet: Sie behandeln nur zum Teil Themen, die Kinder und Jugendliche interessieren. Gibt es keine anderen Themen als eine gescheiterte Mitvierzigerin auf Mallorca? Wie wäre es mit dem Schicksal arbeitsloser Jugendlicher in Spanien? Selbst wenn man sich die Themen ohne weiteres im Unterricht vorstellen könnte, z. B. Filme wie Avatar oder die Nutzung von MP3-Playern, ist die Textauswahl nicht gelungen. Warum wurden keine Texte zu diesen Themen gewählt, welche die Schülerinteressen stärker berücksichtigen? Warum wurden keine Sachtexte gewählt, die eingängige Narrationen enthalten? Warum muss es der erhobene Zeigefinger sein? Aus meiner Sicht eignen sich die Aufgaben des IQB vor allem dazu, die Schülerinnen und Schüler auf derartige Testungen vorzubereiten. Dabei geht es zum einen darum, den Umgang mit entsprechenden Aufgabenformaten zu „trainieren“. Vor allem aber sollen die Lernenden möglichst selbsttätig herausfinden, was es mit solchen Testungen auf sich hat und wo ihre Grenzen liegen. Nachdem sie einen Test absolviert haben, besteht die „Testkompetenz“ hauptsächlich darin anzugeben, ob die Aufgaben angemessen waren, was tatsächlich überprüft wurde und was nicht und wie man die Aufgaben möglicherweise besser gestalten könnte, damit sie zum weiteren Lernen (und Lehren) von Fremdsprachen motivieren. Im Fremdsprachenunterricht bietet sich bei der Vorbereitung auf VERA-8 und die Zentralen Abschlussarbeiten ein mehrstufiges Vorgehen an: Nicht unmittelbar vor den Testungen, sondern über einen längeren Zeitraum arbeiten die Lernenden von Zeit zu Zeit mit den Formaten, die in diesen Testungen immer wieder verwendet werden. Das sind in erster Linie Mulitple-Choice-Aufgaben, die auch außerhalb der Schule eine Rolle spielen. Sie ermöglichen eine rasche und unmittelbare Reaktion, lassen aber meist offen, wo die Grenzen zwischen Raten, Vermuten, Wissen und Bildung verlaufen (vgl. auch zum Folgenden Liessmann 2008: 14). Liessmann - er bezieht sich nicht etwa auf Testungen in Schulen, sondern auf die Quizshow Wer wird Millionär? - sieht einen Hauch von Bildung dann, wenn es dem Kandidaten gelingt, aufgrund seiner Sprachkenntnisse „die Bedeutung von ihm an sich nicht geläufigen Fachausdrücken zu erschließen“ (ibid.). Wer hätte das gedacht! Für unseren Bedarf reicht es, wie soeben angedeutet, jedoch nicht, die Schülerinnen und Schüler darauf vorzubereiten, die Distraktoren rasch den entsprechenden Text- oder Bildteilen zuzuordnen und unsinnige Alternativen von vorherein auszuschließen. Damit sich die Lernenden Rechenschaft darüber ablegen können, was mit Auswahlantworten überhaupt erfasst werden kann, gestalten sie zur Förderung ihrer Methodenkompetenz selbst eigene Auswahlantworten zu einem Textausschnitt und legen sie den Mitlernenden zur Lösung vor. Eine ausführliche Besprechung in den <?page no="168"?> 168 10. Aufgaben für den Unterricht - aus Testungen lernen? Tandems und Kleingruppen sowie insbesondere im Plenum ist unerlässlich. Die Lehrperson kann den Lernenden auch Texte aus offiziellen Testungen ohne die zugehörigen Aufgabenformate vorgeben. Die Lernenden wählen selbständig in Absprache untereinander Textstellen aus, die sich für bestimmte Fragestellungen eigenen und gestalten - nach Angabe der Lehrperson - entsprechende Testformate. Im Anschluss ist der Vergleich mit den offiziell vorgegebenen Aufgabenformaten sinnvoll und erhellend. 10.6.2 Zentrale Abschlussarbeiten (ZAA) - Weiterführung im Unterricht Der Text Eating habits around the world (vgl. 10.5.1) kann je nach Lernstand und Interessen der Schülerinnen und Schüler den Ausgangspunkt für folgende Lernaktivitäten bieten:  Es können weitere Gepflogenheiten verschiedener Kulturen bei der Kontaktaufnahme, der Begrüßung, Verabschiedung sowie bei Einladungen analysiert und besprochen werden. Der Beitrag zur fremdsprachlichen Bildung besteht dabei vor allem auch darin, dass die Schülerinnen und Schüler lernen, andere Verhaltensweisen möglichst unvoreingenommen zu betrachten und stets höflich zu reagieren, auch wenn das Verhalten des (ausländischen) Gesprächspartners ihnen nicht sinnvoll erscheint. Wichtig ist dabei auch die Abgrenzung von den Gepflogenheiten, die man selbst unbewusst oder bewusst praktiziert.  Fortgeschrittene Schülerinnen und Schüler können sich auch mit unterschiedlichen Kommunikationsstilen beschäftigen. Was sagt man am besten, wenn man anderer Meinung ist, einen Vorschlag machen oder etwas in Bezug auf die eigene Kultur richtigstellen möchte? Mit Hauptschülerinnen und Hauptschülern dürfte das nur in Ansätzen möglich sein, ist aber im Sinne eines berufsvorbereitenden Fremdsprachenlernens bedeutsam.  Eine Auseinandersetzung mit den Dos and Dont’s, die in Deutschland gelten, weitet zudem den Blick. Wie werden wir von Anderssprachigen im Ausland wahrgenommen? Wie werden unsere Gepflogenheiten, z. B. Pünktlichkeit und eine gewisse Direktheit, im Ausland betrachtet? Sehen uns US-Amerikaner ähnlich wie Briten? Worin unterscheidet sich das „Bild der Deutschen“ in Frankreich, von dem in Italien? Durch einen unvoreingenommenen Blick auf habits in Germany können Lernende zu Einsichten über deutsche Kulturen (Plural! ) kommen und diese hinterfragen.  Bisweilen ist dann der Schritt von Interkulturalität, nämlich dem toleranten oder besser dem respektvollen Umgang mit Menschen, die sich in anderen Kulturen verorten, zu Transkulturalität, der gemeinsamen Weiterentwicklung gewisser kultureller Gegebenheiten zur besseren Zusammenarbeit, möglich. Interkulturalität ist ein wichtiges Ziel fremdsprachlicher Bildung. Es ist freilich nur die Vorstufe zur Transkulturalität, die das ausmacht, was man früher einen Kosmopoliten nannte (vgl. oben 6.3.2).  Inhaltlich kann die Lernaktivität aber auch anders fortgeführt werden. Nachdem die Gewohnheiten beim Essen in Deutschland betrachtet wurden, beschäftigen sich die Lernenden mit ihren eigenen eating habits. Wie unterscheiden sich die Essgewohnheiten von Schülerinnen und Schülern mit Migrationsgeschichte von denen ihrer deutschen Mitschülerinnen und -schüler? Was essen Jugendliche in den <?page no="169"?> 169 10.6 Testungen als Ausgangspunkt für fremdsprachliche Bildung USA, im UK, in Frankreich oder aber in Japan zu den einzelnen Mahlzeiten? Wie wirken sich Internationalisierung und Globalisierung auf die Essgewohnheiten in ausgewählten Ländern bzw. weltweit aus? Was bedeutet das für die Umwelt? Zu den meisten der angesprochenen Aspekte gibt es ausführliche Hinweise in den einschlägigen Fachzeitschriften (vgl. u. a. De Florio-Hansen 2014c; 2013). Auch die beiden Schreibaufgaben (vgl. 10.5.2) für die erste Fremdsprache Englisch an Realschulen können im herkömmlichen Unterricht ohne weiteres eingesetzt werden. Das Schreiben aufgrund eines Fotos oder eines sonstigen visuellen Stimulus fördert das genaue Hinschauen, welches auch im Alltag der Schülerinnen und Schüler aufgrund der rasanten Zunahme von Bildern und Videos in den verschiedenen Medien besonders bedeutsam ist. Aufgrund der herausragenden Bedeutung visueller und audiovisueller Medien müssen Bilder im Fremdsprachenunterricht - über eine Instrumentalisierung hinaus - als Texte mit kultureller Dimension eingesetzt werden. Dabei geht es um ein vertieftes Verstehen von Bildern, welches zu visual literacy und weiterführend zu audiovisual literacy führt Im Zusammenhang mit der Aufgabe zu Computer Games ist zunächst hervorzuheben, dass die Lernenden bei dieser Schreibaufgabe in den Hessischen ZAA nicht von vornherein in eine bestimmte Richtung gedrängt werden. Sie können frei äußern, was sie von solchen Spielen halten, welche Rolle sie in ihrem Alltag bzw. dem Alltag von Jugendlichen spielen (sollten) und welche möglichen Gefahren sie sehen. Die ZAA- Aufgabe könnte in der Mitte oder am Ende einer Unterrichtseinheit zum Thema Video Games stehen. Medienbildung mit Blick auf Computerspiele kann gefördert werden, indem die Schülerinnen und Schüler u.a.:  Computerspiele in der Zielsprache kurz und verständlich beschreiben;  Vorlieben und Abneigungen bei Computerspielen angeben und begründen;  mit vorgegebenen Fragekatalogen arbeiten;  vorhandene Fragebögen gegebenenfalls verändern bzw. ergänzen;  durch einen Dialog eine vertiefte und distanzierte Einsicht in mögliche Gefahren von Video Games zeigen;  einen Fragebogen zu Computerspielen entwickeln, um eine Befragung in einer anderen Lerngruppe, z.B. einer Parallelklasse oder mit jüngeren Lernenden, durchführen;  sich in einem E-Mail-Projekt mit englischsprachigen Jugendlichen, auch Schülerinnen und Schülern, die Englisch als Lingua franca nutzen, über Video Games austauschen (vgl. De Florio-Hansen 2012b: 9). Eine Ausweitung auf andere Medienaktivitäten von Kindern und Jugendlichen bietet sich an, z. B. die Präsenz in sozialen Netzwerken wie Facebook. (Fremdsprachliche) Bildung ist dann involviert, wenn:  die Lernenden soziale Netzwerke kritisch, konstruktiv und kreativ nutzen;  sie die große Bedeutung sozialer Netzwerke für das öffentliche Leben einschätzen können; <?page no="170"?> 170 10. Aufgaben für den Unterricht - aus Testungen lernen?  sie die Rolle von sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter in ihrem Alltagsleben reflektieren und sich bei der Nutzung entsprechend verhalten;  sie die Bedeutung sozialer Netzwerke als (gesellschafts-)politisches Instrument im Groben kennen (vgl. De Florio-Hansen 2011a: 6; Download unter: http: / / www. lehrer-online.de/ facebook-fsu.php; letzter Zugriff April 2015) Was den Auszug aus dem Jugendroman von Gavalda betrifft (vgl. 10.5.3), verweise ich auf die obige Übersicht zum ästhetischen und literarischen Lernen (vgl. 5.4). Bei einer (ersten oder anfänglichen) Hinführung zu ästhetisch-literarischer Bildung sind folgende Komponenten zu empfehlen. 1. Beim Lesen, Betrachten und Hören Vorstellungen entwickeln a. Imagination, die Fähigkeit, sich selbst ein Bild von etwas zu machen, kann in begrenztem Ausmaß gefördert werden (vgl. auch zum Folgenden Abraham 1999). Es gilt, nach und nach mit den Schülerinnen und Schülern auf eine stärkere Differenzierung und Flexibilisierung ihrer inneren Bilder hinzuarbeiten. Imaginatives Lernen erstreckt sich insbesondere auf  Ausschnitte äußerer und innerer Realität  Sach- oder Problemzusammenhänge  Gedankenwelt und Gefühlslage (Empathiefähigkeit) Imagination besteht nicht nur darin, sich auf Grund eines Impulses ein Bild machen zu können, sondern beinhaltet letztlich die Fähigkeit, von der konkreten Situation abzusehen bzw. sich vorzustellen, was auch sein könnte. b. Im Rahmen rezeptionsästhetischer Ansätze kann zunächst das große vorstellungslenkende Potential literarischer Texte genutzt werden. Es geht nicht nur darum, Unbestimmtheitsstellen zu füllen, sondern Vorstellungen von einzelnen Figuren, Schauplätzen, wichtigen Motiven und Symbolen zu entwickeln. Die (zusätzliche) Arbeit mit Bildern und Hörtexten unterstützt imaginatives Lernen. Besonders geeignet sind handlungs- und produktionsorientierte Verfahren, z. B. szenische Umsetzungen, Spiele im Sinne von „als ob“, das Zeichnen und Verbalisieren innerer Bilder (im Vergleich mit äußeren Bildern), Textproduktionen, die weitgehend selbstgesteuerte Vorstellungsbildung ermöglichen. Ästhetisch-literarisches Lernen im Gespräch stellt eine zusätzliche Möglichkeit dar, denn es besteht eine dynamische Wechselwirkung zwischen Wahrnehmung, Imagination und Verbalisierung. 4. Perspektiven literarischer Figuren nachvollziehen a. Eine empirisch ermittelte Progression (vgl. Andringa 2000: 94) sieht folgende curriculare Entwicklung vor :  Jüngere bzw. leseunerfahrene Lernende verstehen den Text aus der Perspektive einer einzigen Figur; sie knüpfen dabei meist ausschließlich an eigene Erfahrungen an.  Durch entsprechende Unterrichtsimpulse lernen sie, Unterschiede zwischen Figuren zu erkennen (Charakter, Gefühle, Ansichten). <?page no="171"?> 171 10.6 Testungen als Ausgangspunkt für fremdsprachliche Bildung  Diese unverbundenen Wahrnehmungen werden nach und nach aufeinander bezogen und in Zusammenhang mit der jeweiligen Lebenswelt der Figuren gebracht.  Im Laufe des ästhetisch-literarischen Lernens berücksichtigen die Schülerinnen und Schüler auch die Erzählweise und die Perspektivierung durch den Erzähler.  Schließlich können sie alle bisher genannten Aspekte miteinander in Verbindung bringen.  Fortgeschrittene Lernende können zunehmend besser mit der ambivalenten Verfasstheit von Figuren umgehen. Dabei bewirken Irritationen durch Andersartigkeit sowie Fremdheitserfahrungen eine gesteigerte Selbstreflexion. b. Die Textauswahl, die so weit wie möglich in Absprache mit den Lernenden erfolgt, bestimmt maßgeblich darüber, welche Komponenten dieser Teilkompetenz zum Tragen kommen. Beim Wechselspiel von Identifikation und Abgrenzung versprechen Interaktionen mit Peers besonderen Lernzuwachs. Anhand geeigneter Textbeispiele lernen die Schülerinnen und Schüler, mit Kategorien wie gut/ böse, glücklich/ traurig oder absichtlich/ unabsichtlich zunehmend flexibler umzugehen. Viele (literaturtheoretische) Einzelheiten lassen sich auch an Filmen, Comics und Videoclips erarbeiten. 9. Mit dem ästhetisch-literarischen Gespräch vertraut werden a. Bei der Ausbildung ästhetisch-literarischer Kompetenz spielt die sogenannte Anschlusskommunikation eine besondere Rolle. Während und nach Lesephasen tauschen sich die Lernenden immer häufiger und intensiver über ihre Texterfahrungen aus. Dabei kommt es nicht nur darauf an, eigene Wahrnehmungen und Deutungen sowie die Erfahrungen mit dem individuellen Leseprozess kundzutun, sondern auch, die Deutungen anderer ernst zu nehmen und sich mit ihnen konstruktiv-kritisch auseinanderzusetzen. Um sich in diese Gespräche innerhalb und außerhalb des Unterrichts angemessen einbringen zu können, müssen die Schülerinnen und Schüler nach und nach entsprechende Ausdrucksformen erlernen und anwenden. b. Die zu erarbeitenden Sprachmittel zum Sachfeld prendre part à des discours sur la littérature beziehen sich im Wesentlichen auf vier Aspekte:  expressive Formen der subjektiven Kundgabe  mit Wahrheitsanspruch geäußerte Behauptungen  erklärende Äußerungen für den Austausch von Argumenten  Sprachmittel zur Erörterung verschiedener Deutungen Alle für die ZAA-Aufgaben weiterführenden bildungsrelevanten Ziele und Aktivitäten setzen - wie könnte es anders sein - eine sorgfältige Planung, Durchführung und Evaluation des Unterrichts voraus. Fazit: It takes less time to do a thing right, than it does to explain why you did it wrong. (Henry Wadsworth Longfellow) <?page no="172"?> 172 10. Aufgaben für den Unterricht - aus Testungen lernen? Anregungen zum Nachdenken, Diskutieren und Gestalten 1. Halten Sie offizielle Testungen zur Überprüfung der Bildungsstandards insgesamt gesehen für sinnvoll? Warum? Warum nicht? 2. Welche Kriterien muss Ihrer Meinung nach eine sinnvolle „Leistungsaufgabe“ erfüllen? Fertigen Sie eine Liste an und besprechen Sie Ihre Punkte mit Fachkolleginnen und -kollegen. 3. Was unterscheidet offizielle Testungen wie VERA-8 oder die ZAA von einer Klassenarbeit oder Klausur? Benennen Sie bitte mindestens drei Unterschiede. 4. Was ist bei Multiple-Choice-Aufgaben unbedingt zu beachten? 5. Was unterscheidet die Testaufgaben des IQB von den ZAA in Hessen oder in Ihrem Bundesland? Warum kommen die oben vorgestellten ZAA-Aufgaben weiterführenden Bildungszielen näher als die IQB-Tests? Tauschen Sie Argumente mit anderen Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrern aus. <?page no="173"?> 11. Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife (AHR) - in der Republik nichts Neues „Mit der Veröffentlichung der einheitlichen Abiturstandards im Jahre 2012 ist die Standard-Bewegung des deutschen Bildungssystems, die um die Jahrtausendwende begonnen hat, zu einem vorläufigen Abschluss gekommen.“ Bei diesem ersten Satz meines Vorworts liegt die Betonung auf „vorläufig“. Wir haben jetzt zwar Bildungsstandards für die allgemeinbildenden Schulen von der Grundschule bis zum Ende der Sekundarstufe II, wenn auch nur für die sogenannten Kernfächer. Mit ihren Bemühungen, die Bildungsstandards zu konkretisieren, d. h. sie von der Systemebene auf die Ebene des Unterrichts und insbesondere der Interaktion von Lehrenden und Lernenden herunterzubrechen, ist die KMK nicht sehr weit gekommen. Die bisher vorgelegten Beispiel-Aufgaben für das Lehren und Lernen fremder Sprachen erfüllen die Anforderungen, die in der Rhetorik der KMK-Standards selbst zum Ausdruck kommen, nur unzureichend. Bis wir geeignete Vorschläge für Lernaktivitäten haben werden - ich beziehe mich speziell auf die vom IQB weiterhin zu entwickelnden „Lern- und Testaufgaben“ sowie vor allem den Aufgabenpool für die Sekundarstufe II und die Abiturprüfung - kann es noch Jahre dauern. Aufgrund der bisherigen Erfahrungen sollten wir die Entwicklung nicht allein der KMK und den Experten des IQB überlassen in der Hoffnung, die wichtigen Bildungsziele des Fremdsprachenunterrichts, nämlich Sprachbewusstheit, Inter-/ Transkulturalität und ästhetisch-literarisches Lernen, würden aufgrund der Vorgaben der Bildungspolitik schon irgendwie Eingang in den Unterricht finden. Wir selbst sind gefordert an der Entwicklung mitzuwirken, soweit unsere Kräfte und Möglichkeiten dies zulassen. Das kann auch dadurch geschehen, dass wir bestimmte Vorgaben zurückweisen oder besser: auf deren Mängel hinweisen. Verbesserungsvorschläge, insbesondere wenn sie von professionellen Arbeitsgruppen der Fachkolleginnen und -kollegen vorgetragen werden, sind sinnvoll, auch wenn sich mancher Bildungspolitiker oder Schulaufsichtsbeamte mehr Angepasstheit wünschen würde. Es kann aber nicht die Aufgabe von Lehrpersonen sein, die Belange und Interessen der Bildungspolitik zu vertreten. Lehrpersonen sind der Gesellschaft in erster Linie dadurch verpflichtet, dass sie alle Schülerinnen und Schüler gemäß ihrer Anlagen fördern und ihnen gute bis sehr gute Lernmöglichkeiten eröffnen. Mit Bezug auf das Lehren und Lernen von Fremdsprachen heißt das, wir müssen die Lernenden beim Erwerb von Fremdsprachenkenntnissen unterstützen, die realer Sprachverwendung standhalten. Über diese Fähigkeit zur Kommunikation bzw. zum Diskurs in mehreren Sprachen hinaus, müssen die Schülerinnen und Schüler im bzw. durch den Unterricht Erfahrungen machen, die ihnen den Wert von Fremdsprachenkenntnissen über die Lösung von konkreten Problemen hinaus verdeutlichen (vgl. Ende 11.1). Identität und Persönlichkeit von Menschen, die einmal eine oder mehrere Fremdsprachen gelernt haben, sind anders und vielfältiger strukturiert als bei Einsprachigen. In der Überschrift zu diesem Kapitel lehne ich mich an den bekannten Roman Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque an. Mit „In der Republik nichts Neues“ möchte ich ausdrücken, dass die im Oktober 2012 von der KMK vorgelegten Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife (AHR) keine grundlegenden Ver- <?page no="174"?> 174 11. Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife (AHR) änderungen im Vergleich zu den Einheitlichen Prüfungsanforderungen für die Abiturprüfung (EPA) beinhalten. Zwar gibt es neue Akzentuierungen, aber die Orientierung an Standards und Kompetenzen war bereits in den EPA angelegt. Deshalb halten sich - anders als bei den Bildungsstandards für die Grundschule und die Sekundarstufe I - Aufregung und Kritik in Grenzen. Als Hauptgrund für die Überarbeitung der EPA nennt die Bildungspolitik die bessere Vergleichbarkeit der Abiturprüfungen zwischen den einzelnen Bundesländern und folglich eine Erhöhung der Chancengerechtigkeit. Ob und wann es zu vergleichbaren Abiturprüfungen in der gesamten Republik kommen wird, steht einstweilen in den Sternen. Dennoch ist Optimismus immer eine Option, wie z. B. im folgenden Zitat: „Ein bundeseinheitliches Kernabitur als Bestandteil der Abiturprüfung mit einem festgelegten Anteil an der Gesamtnote ist einstweilen vom Tisch - langfristig aber, vorsichtig ausgedrückt, im Bereich des Möglichen“ (Horn et al. 2012: 47). Inzwischen gibt es laut Umfragen eine deutliche Mehrheit von Bürgerinnen und Bürgern sowie von Lehrpersonen, die ein bundesweit einheitliches Abitur befürworten: Noch im März 2011 sprachen sich in einer repräsentativen Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach 78 % der Bundesbürger sowie 72 % der Lehrerinnen und Lehrer für die Einführung einheitlicher Abschlussprüfungen wie etwa eines bundesweiten Zentralabiturs aus. (Vodafone-Stiftung Deutschland GmbH 2011) Mit den vorgelegten Bildungsstandards für die AHR ist die KMK bemüht, den Bildungsföderalismus weitgehend zu erhalten. Dennoch wird der Versuch unternommen, die Anforderungen im Abitur anzunähern und somit vergleichbarer zu machen. Wie zeigt sich diese Gratwanderung in konkreten Punkten der Bildungsstandards für die AHR? 11.1 AHR-Standards - neue Akzentuierungen In den Bildungsstandards für die AHR wird der kumulative Kompetenzaufbau, der bereits in den EPA angelegt war, in der Sekundarstufe II stärker hervorgehoben. Die Abiturstandards fokussieren nicht länger ausschließlich auf Wissenschaftspropädeutik wie die EPA, sondern propagieren eine allgemeine Studierfähigkeit, die auf Wissenschaftspropädeutik einerseits und vor allem auf vertiefter Allgemeinbildung andererseits basiert. Dabei spielen Wissen und Können (knowledge and skills) eine herausragende Rolle. Einen Fortschritt mit Blick auf die Bildungsstandards für die Schulabschlüsse der Sekundarstufe I von 2004 und 2005 ist m. E. auch darin zu sehen, dass es nun konkrete „Könnensbeschreibungen“ gibt, die im Fremdsprachenunterricht am Niveau B2 des GeR orientiert sind (obgleich einige Bundesländer Niveau C1 anstreben). Wie sehen die vorsichtigen Neuerungen für den Fremdsprachenunterricht aus?  Bei der funktionalen kommunikativen Kompetenz liegt ein besonderer Schwerpunkt auf der Mündlichkeit, und zwar im Sinne einer anspruchsvollen diskursiven Sprachpraxis (vgl. Abschnitt 6.3.1). Zu den traditionellen Fertigkeiten tritt als weiterer Bereich die Sprachmittlung hinzu; das Hörverstehen wird um das Hör- Sehverstehen erweitert. <?page no="175"?> 175 11.1 AHR-Standards - neue Akzentuierungen Standen auf der Wissensebene bisher lediglich die sprachlichen Mittel (Grammatik, Wortschatz, Prosodie) im Vordergrund, so erscheinen nun gleichberechtig daneben die kommunikativen Strategien. Damit treten gesprächspragmatische Gesichtspunkte ins Blickfeld, ein Bereich, um den sich die Schule bisher (viel zu) wenig gekümmert hat. (Horn et al. 2012: 45f.)  Die interkulturelle kommunikative Kompetenz erfährt in den Bildungsstandards für die AHR eine deutliche Aufwertung. Sie wird jetzt als gleichwertig mit der sprachlichen Kompetenz im engeren Sinn betrachtet, die durch Sprachsystematik und kommunikative Funktionen bestimmt ist. Horn et al. (2012: 46) führen dies auf die Einsicht zurück, dass „Verstöße gegen Normen und Konventionen in aller Regel schwerwiegend sind, da sie zu affektiven Reaktionen führen, die den zwischenmenschlichen Austausch nachhaltig stören und gefährden“.  Die klassische Textaufgabe hat in den Abitur-Standards einen stärker auf Kommunikation ausgerichteten Charakter. Die Text- und Medienkompetenz umfasst in den Bildungsstandards für die AHR auch die erfolgreiche Arbeit mit diskontinuierlichen Texten (z. B. Diagramme, Tabellen, Graphiken), die bereits bei PISA und DESI eine Rolle spielen. Diskontinuierliche Texte haben sowohl in analogen als auch in digitalen Medien rasant an Bedeutung gewonnen. Darüber hinaus bezieht sich Medienkompetenz auf Medienerziehung im weitesten Sinn (vgl. De Florio-Hansen 2012c).  Völlig neu im Vergleich zu den EPA sind Sprachbewusstheit und Sprachlernkompetenz. Letztere ist aus der Sekundarstufe I hinlänglich bekannt, erfährt aber in Zusammenhang mit Sprachbewusstheit eine besondere Akzentuierung. Es soll eine Sprachen- und Kulturenbewusstheit ausgebildet werden, die einen lebensbegleitenden kommunikativen Umgang mit Sprachen ermöglicht bzw. erleichtert. Diese Bewusstheit ist die Grundlage für das sogenannte lebenslange Fremdsprachenlernen, welches sprachübergreifend - also mit Blick auf Mehrsprachigkeit - anzulegen ist. Dass mit dem kumulativen Aufbau der genannten (Teil-)Kompetenzen bereits in der Sekundarstufe I, am besten von der ersten Unterrichtsstunde in der jeweiligen Fremdsprache an, begonnen werden muss, ist in vorliegendem Buch immer wieder betont worden. So gesehen, sind die Bildungsstandards für die AHR eine gute Basis für fremdsprachliche Bildung insgesamt. Das setzt freilich voraus, dass Bildungsziele, die diesen Namen verdienen, nicht auf das Gymnasium beschränkt bleiben, sondern auch (mit Abstrichen) für den Fremdsprachenunterricht an Hauptschulen und Realschulen gelten. Eine kritische Anmerkung zum Schluss: Es wird verschiedentlich darauf hingewiesen, dass die Bildungsstandards für die AHR die Kompetenzorientierung beibehalten bzw. fortsetzen, welche die Grundlage des Unterrichts im Primarbereich und vor allem in der Sekundarstufe I sein soll. Das sieht man u. a. daran, dass die wissenschaftliche Leitung des IQB, Petra Stanat und Hans Anand Pant, in der offiziellen Präsentation: Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife: Konzeption und Entwicklung im Oktober 2012 (Folie 9) auf folgende Passage in der Einleitung für die Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife hinweisen : Das von der KMK gewählte Konzept der Bildungsstandards legt fest, welche fachbezogenen Kompetenzen Schülerinnen und Schüler bis zu einem bestimmten Abschnitt der Schullaufbahn entwickelt haben sollen. Unter einer Kompetenz wird dabei die Fähig- <?page no="176"?> 176 11. Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife (AHR) keit verstanden, Wissen und Können in den jeweiligen Fächern zur Lösung von Problemen anzuwenden. Die floskelhafte Wiederholung dessen, was wir aus den Bildungsstandards für den Hauptschulabschluss und den Mittleren Schulabschluss kennen, steht im Widerspruch zum Ziel der vertieften Allgemeinbildung, welches in der Präsentation von Stanat und Pant am Beispiel des Faches Deutsch konkretisiert wird. Zudem stellt sich die Frage, was überhaupt unter einem Problem zu verstehen ist. Im alltagsweltlichen Sprachgebrauch bedeutet ‚Problem‘ meist Ärger, Konflikt oder Schwierigkeit, z. B.: „Er hat private Probleme“ oder „Die Probleme wachsen mir über den Kopf.“ Definitionen, z. B. im Duden, bezeichnen ‚Problem‘ als schwierige Frage bzw. komplizierte Fragestellung, die es zu lösen gilt oder auch als schwierige Aufgabe, die bewältigt werden soll. Im Projektmanagement handelt es sich bei einem Problem um eine Aufgabenstellung, für deren Bewältigung noch keine Arbeitsanweisung vorliegt. Folglich muss eine Lösung erarbeitet werden, z. B. bei der Einführung neuer Produkte. Wann liegt bei Lernaktivitäten im Fremdsprachenunterricht ein ‚Problem‘ im soeben definierten Sinn vor? Wenn die Lernenden ein Einkaufsgespräch in einer französischen Bäckerei gestalten sollen? Wenn die Schülerinnen und Schüler bei der Sprachmittlung aus einer E-Mail oder einem Schreiben relevante Nachrichten herausfiltern und in der Fremdsprache wiedergeben? Oder geht es um ein Problem, wenn die Lernenden Lösungsmöglichkeiten für bestimmte Formen der Ausbeutung des afrikanischen Kontinents in der Fremdsprache aufzeigen sollen? Ist die Anwendung der Fremdsprache bereits das Problem, oder handelt es sich bei Problemen um inhaltlich anspruchsvolle Aufgaben? Aus meiner Sicht suggeriert der Begriff ‚Problem‘ von vornherein Schwierigkeiten, anstatt die Freude und den Gewinn beim Lernen von Fremdsprachen zu unterstreichen. Fazit: In Fortführung der Einheitlichen Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung (EPI) bringen die Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife (AHR) eine deutlichere Ausrichtung auf fremdsprachliche Bildung. Die vorsichtige Neuorientierung kann nicht ohne Rückwirkungen auf den Fremdsprachenunterricht in der Sekundarstufe I bleiben. 11.2 „Neuland” Aylin Ölmez und Mark Mattner unterrichten beide die Fächer Englisch und Politik & Wirtschaft an einem Gymnasium. Sie kennen sich seit Jahren, denn sie haben an der gleichen Hochschule studiert. Während der Referendarzeit waren sie zwar unterschiedlichen Schulen zugeteilt, hatten aber durch das Studienseminar Kontakt. Seit einigen Jahren sind beide an einer Schule mit bilingualem Schwerpunkt tätig. Während Mark bereits Abiturprüfungen abgenommen hat - der bilinguale Unterricht Politik & Wirtschaft ist bei den Schülerinnen und Schülern der Oberstufe sehr beliebt - ist Aylin demnächst zum ersten Mal an einer mündlichen Abiturprüfung beteiligt. Sie hat bereits die Aufgabe für einen türkischstämmigen Schüler vorbereitet und möchte mit Mark darüber sprechen. <?page no="177"?> 177 11.3 Beispiele für mündliche Abiturprüfungen in Englisch Aylin: Schau mal, Mark. Das ist der Text. Es geht um Lifestyle Migration. Glaubst du, dass er für einen Grundkurs zu schwer ist? Mark: (liest den Text durch) Nein, das ist zu schaffen. Wo hast du den Text denn her? Ich finde ihn sehr interessant! Aylin: Aus dem Internet, ich bin eher zufällig drauf gestoßen. Nun sieh dir mal kurz die assignments an. Sind die angemessen? Was meinst du? Mark: Passt! Du machst das richtig gut. Aylin: Ich denke auch, dass die Aufgabe den Schüler interessieren könnte. Meine Schwierigkeiten beziehen sich eher auf den formalen Kram. Was gibst du denn bei den erlaubten Hilfsmitteln außer den Wörterbüchern noch an? Mark: Na, auf alle Fälle die Liste der Operatoren. Die sind für die Kandidaten meist eine große Hilfe. Aylin: Könntest du auch mal über den Erwartungshorizont drüber schauen? Mark: Klar! Ach, du hast auch ein Foto dabei. Wo ist das denn? Aylin: Ich habe es leider zu Hause vergessen. Da sieht man im Bau befindliche Apartments für die gehobene Mittelschicht auf Mallorca. Davor ist ein Hinweisschild auf das Verkaufsbüro in drei Sprachen. Mark: Sehr gut! Wenn ich es mir so recht überlege, dann ist die gesamte Aufgabe wohl doch ein bisschen zu anspruchsvoll für einen Grundkurs. Der Text ist ok, aber was du bei den einzelnen Aufgaben erwartest, ist vielleicht doch zu hochgesteckt. Aylin: Na, dann werde ich es noch einmal überarbeiten, denn vermutlich ist die Bewertung zu streng. Thanks! Mark: For nothing! Wenn du nicht klarkommst, kannst du mich ja noch mal fragen. Übrigens, hast du Lust mit mir an einem der nächsten Abende ins Kino zu gehen. Es gibt „Neuland“. Aylin: Davon habe ich noch nie was gehört. Was ist das denn für ein Film? Mark: Es ist ein Dokumentarfilm aus der Schweiz. Es geht um eine Integrationsklasse mit Schülerinnen und Schülern aus Mazedonien, aus Afghanistan, dem Iran und Pakistan an einer Schule in Basel, die von einem engagierten Lehrer zwei Jahre lang unterrichtet werden. Ich habe einen Trailer im Fernsehen gesehen und denke, der Film könnte für uns interessant sein. Aylin: Aha, also der Bildung wegen … Mark: (lacht) Nein, natürlich nicht. Aylin: (denkt: Na, endlich.) Ich komme gern mit. An welchen Abend hast du denn gedacht? 11.3 Beispiele für mündliche Abiturprüfungen in Englisch Im Folgenden stelle ich Ihnen zwei authentische Aufgaben für mündliche Abiturprüfungen aus dem Jahr 2015 vor, bei denen ich aus Datenschutzgründen die Angaben entfernt habe, die Rückschlüsse auf die Schule, die Lehrperson und die Prüfungskandidaten erlauben würden. Die erste Aufgabe ist die, von der Aylin in obigem Dialog spricht. Die zweite Aufgabe - ordnen wir sie einfach Mark zu - entstammt ebenfalls dem bilingualen Unterricht Politik & Wirtschaft. Es handelt sich um eine Präsentationsprüfung im 5. Prüfungsfach. Dass ich beide Aufgabenbeispiele aus dem Bereich von CLIL (Content and Language Integrated Learning) wähle, soll der Bedeutung des bilingualen Sachfachunterrichts besonderen Nachdruck verleihen. Bei beiden Beispie- <?page no="178"?> 178 len finden (Beispiel 1) und die H 978382336 11.3.1 Be Lifestyle Textgrun What is L http: / / ww style-mig Assignm 1. Summ 2. Analy 3. Discus pects Erlaubte eine Liste ein einsp ein zweis A sign in constructi (© pictur Sie alle Ma ) bzw. der Sc Hinweise für 69370). ispiel Englisc Migration dlage: Lifestyle Migr ww.bpb.de/ g gration ents marize the tex yze reasons fo ss the concep and explain a Hilfsmittel: e der fachspez rachiges Wör sprachiges Wö n Spanish, En ion of apartm re-alliance/ Z 11. Bildu aterialien, die chülerin (Beis die Bewertu ch - Politik & ration? gesellschaft/ m xt and refer to or global migr pt of “brain a case in poin zifischen Ope rterbuch örterbuch nglish and Ge ent buildings ZB) ungsstandards e über die A spiel 2) hinau ung, im Dow & Wirtschaft ( migration/ kur o the photo a ration and its drain” and i nt. eratoren für d erman advert in Mallorca, für die Allgem Aufgaben für usgehen, z. B. nload (www (bilingual) rzdossiers/ 19 dditionally. s consequence its rewarding das Fach PoW tises the Spain. meine Hochsch die Hand d den Erwartu .narr-studienb 8255/ what-is es. g and/ or dam Wi (bili) ulreife (AHR) des Schülers ungshorizont buecher.de/ s-lifemaging as- <?page no="179"?> 179 11.3 Beispiele für mündliche Abiturprüfungen in Englisch What is Lifestyle Migration? Lifestyle migration is the movement of relatively affluent individuals to places that offer, either in the imagination or materially, the possibility for self-realization and the pursuit of a better quality of life. Being relatively affluent, the distinguishing factor is that they are able to put quality of life reasons ahead of other considerations such as work or safety. Lifestyle migration is voluntary, driven by consumption, and shaped by cultural imaginaries. Lifestyle migrants are attracted to places that have specific amenities such as the weather, the physical environment, health and social services. They are also drawn by social and cultural dimensions (a strong sense of community, a tranquil life) that imply certain ways of living that they can relate to as offering fulfillment. Furthermore, lifestyle migration is often enabled by visas and permits that other migrants find more difficult to obtain. In more recent years, lifestyle migrations have spread farther afield than previously, and they now incorporate many destinations shaped by prior colonial relations and global inequalities. Lifestyle migration is thus marked by power and privilege. Lifestyle migrants are not people driven to move by poverty or hardship; they are not aiming to benefit from the better economic position of the country they move to, but often from the fact it is a poorer economy. They are not moving within the context of paid work, as corporate expatriates (although they may need to work to fund the lifestyle they seek); they are not seeking asylum or refuge. Lifestyle migrants are often retired, self-employed or flexible workers, and usually creative individuals shaping new lives for themselves. Lifestyle migration is thus a form of migration that runs counter to those migrations with which researchers, governments, and policy makers are more familiar. The majority of migrations around the world are of people driven by poverty, political upheaval, environmental risk, and poor work opportunities. Most move from poorer to richer economies in search of security and a better standard of living. Of course, there are other types of migration including forced migrants, corporate expatriates, students, travelling artists and journalists, and entrepreneurs. In fact, migration at the global level has become increasingly complex, fluid forms of mobility are becoming more "normal", and there are many flows that run counter to the more dominant and familiar flows. Lifestyle migration is one such counter flow. Here I will discuss its roots, what lifestyle migrants share in common and its diversity, the wider factors that shape it, and some of its longer-term impacts. (418 words) Karen O’Reilly 19. 12. 2014 Text und Aufgabenstellung werden fremdsprachlicher Bildung in verschiedener Hinsicht gerecht. Das Thema hat einen deutlichen Lebensbezug. Viele Jugendliche und junge Erwachsene träumen davon, später einmal im Ausland zu leben und/ oder zu arbeiten. Der Text von O’Reilly gibt ihnen Gelegenheit, über Sinn und Konsequenzen von Lifestyle Migration nachzudenken. Dies wird durch die Aufgabenstellung verstärkt, welche die negativen Folgen anspricht. Würden sich Schülerinnen und Schüler mit <?page no="180"?> 180 11. Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife (AHR) dem Text und den assignments im Unterricht auseinandersetzen, wären Effekte der Selbstbildung ohne weiteres möglich. 11.3.2 Beispiel Englisch - Politik & Wirtschaft (bilingual; Präsentationsprüfung) 5. Prüfungsfach: PoWi (bili) Abiturprüfung 2015 Präsentation Theme: The Food Crisis - a Global Challenge? Assignment: Discuss reasons for the current food crisis and its impact on nearly one-sixth of the world’s population. Include relevant backgrounds and likely solutions of this issue in your scenario. Literature: http: / / unohrlls.org/ UserFiles/ File/ Commitment_Spring09.pdf http: / / www.globalissues.org/ issue/ 749/ food-and-agriculture-issues Die Wahl der Medien für die Präsentation steht den Prüflingen frei. An der Schule gibt es seit Kurzem eine umfangreiche Handreichung zur Präsentationsprüfung für Schülerinnen und Schüler (vorläufige Fassung 10.02.2015). Darin wird u. a. grundlegend erläutert, dass es sich bei der Präsentationsprüfung um einen mediengestützten Vortrag handelt. Die eingesetzten Medien dienen lediglich der Unterstützung des Vortrags. Am Ende der Handreichung finden die Lernenden folgende Checkliste zum Medieneinsatz: Foliengestaltung (Overhead und Power-Point)  Wählen Sie einen Standardaufbau, der sich einheitlich durch alle Folien zieht.  Verwenden Sie gut lesbare Schriften (z. B. Arial, Calibri):  in hinreichender Größe (mindestens 20 pt für Text, größer für Überschriften - max. 40 pt.),  mit ausreichendem Zeilenabstand (mindestens 1,5),  bei maximal zwei Schriftgrößen pro Seite.  Erstellen Sie eine Titelfolie mit Ihrem Namen und dem Thema des Vortrags.  Formulieren Sie die Folientitel aussagekräftig, prägnant, interessant.  Vereinheitlichen Sie den Sprachstil (z. B. Folientitel nur als Fragewörter oder ausformulierte Fragen, Substantive mit/ ohne Artikel).  Verwenden Sie Stichwörter (keine ausformulierten Sätze) sowie gliedernde und verbindende Elemente (Spiegelstriche, Pfeile, Schattierungen). Vermeiden Sie so Überladungen mit Text.  Heben Sie zentrale Begriffe und Kernaspekte hervor.  Beschränken Sie sich auf:  wenige Folien (Faustregel: je Folie drei Minuten Vortragszeit),  maximal 5 Kernaussagen pro Folie. Sparen Sie weder mit Freiflächen noch mit Rändern. Ca. ein Drittel der Folie sollte leer bleiben, <?page no="181"?> 181 11.3 Beispiele für mündliche Abiturprüfungen in Englisch  höchstens 6 -8 Wörter pro Zeile.  Veranschaulichen Sie Inhalte durch Diagramme, Schaubilder, Bilder, Fotos.  Gestalten Sie gleiche Sachverhalte gleich, d.h. gleiche Schriften, Symbole, Rahmen und Schattierungen für ähnliche Inhalte; auch über die Wahl der gleichen Farbe lässt sich eine thematische Gliederung und erhöhte Übersichtlichkeit erreichen. Nur Power-Point  Nehmen Sie das Querformat (Landscape Modus) - leichtere Positionierung.  Gestalten Sie die Effekte mit wenig Bewegung, damit die Präsentation interessant, aber auch ruhig wirkt. Wenden Sie keine Animationen an, die nur der „Dekoration“ dienen und nichts zur Erhöhung der Behaltens- oder Verstehensleistung beitragen.  Blenden Sie alle Folien gleich mit Überschrift ein. Eine Animation der Folientitel führt zu lästigen Verzögerungen beim Einblenden der Folie.  Halten Sie eine Sicherungskopie bereit.  Prüfen Sie, ob auf dem Rechner alle erforderlichen Programme installiert sind bzw. Ihr Laptop mit dem Beamer der Schule kompatibel ist.  Prüfen Sie, ob Beamer- und Monitorauflösung übereinstimmen.  Achten Sie auf die technische Ausstattung (Vollständigkeit der Verbindungs- und Stromkabel, ggf. Batterien für die Fernbedienung).  Halten Sie ein Ersatzgerät (Overheadprojektor, Folien) bereit. Nur Overhead  Erstellen Sie großflächige, farbige Folien mit einem Tintenstrahldrucker, insbesondere, wenn sie ansprechende Grafiken enthalten.  Stellen Sie den richtigen Projektionsabstand und die Schärfe ein.  Testen Sie alle Geräte und prüfen Sie die Helligkeit des Raumlichts.  Halten Sie ein Ersatzgerät bereit.  Überzeugen Sie sich während der Präsentation mit kurzen Blicken davon, ob die Folie korrekt aufliegt. Diese Hinweise sind für Schülerinnen und Schüler insgesamt nützlich, denn sie unterstreichen die Notwendigkeit einer sorgfältigen Vorbereitung der Präsentation. Viele mediengestützte Vorträge - auch die von Lehrpersonen - scheitern an technischen Details, d. h. daran, dass die Bedienung der technischen Geräte nicht angemessen beherrscht wird. Da Präsentationen im Unterricht und in der Abiturprüfung eine große Rolle spielen, möchte ich die Frage aufwerfen, ob die obigen Hinweise zur Gestaltung der Folien oder slides (noch) zeitgemäß sind. Längst hat man erkannt, dass Power Point Präsentationen nicht besonders effektiv sind: Der Vortragende tritt in den Hintergrund; häufig erläutert er lediglich die slides, anstatt einen zusammenhängenden Vortrag zu halten, einmal ganz davon abgesehen, dass er sich häufig vom Publikum abwendet. Folien sind oft so vollgepackt mit Informationen, dass die Zuhörerinnen und Zuhörer überhaupt nicht die Zeit haben, die Informationen zu lesen. Diesen Unzulänglichkeiten hält Garr Reynolds ( 2 2012), ein Experte für Präsentationen und Präsentationsdesign, folgende grundlegenden Ratschläge entgegen, die auch in obiger Checkliste der Schule angedeutet werden: Slides sollen die Rede des <?page no="182"?> 182 11. Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife (AHR) Vortragenden verstärken, nicht wiederholen. Soll das Publikum die Informationen auf den Folien lesen, muss der Redner tatsächlich Gelegenheit dazu geben, indem er nicht spricht. Reynolds geht aber noch viel weiter.  The dull text-filled slide approach is common and normal, but it is not effective. The problem is not one of tools or technique - it is a problem of bad habits. While some tools are better than others, it is possible to present effectively with the aid of multimedia tools.  In the Conceptual Age, solid presentation skills are more important than ever before. Presenting well is a “whole-mind” skill. Good presenters target people’s left brain and right brain sensibilities.  Live talks enhanced by multimedia are about storytelling and have more in common with the art of documentary film than the reading of a paper document. Live talks today must tell a story enhanced by imagery and other forms of appropriate multimedia. (Reynolds 2 2012: 25) Reynolds gibt eine Fülle von Anregungen, wie man eine Präsentation möglichst interessant gestalten kann. Dazu gehört auch, dass man die Inhalte einfach und klar darstellt und dem Bildmaterial einen höheren Stellenwert als dem Text einräumt. In vielen Punkten orientiert sich der Autor, der lange in Japan gelebt hat, an den philosophischen Grundlagen des Zen-Buddhismus. Daher folgt er der häufig vorgetragenen Regel 1 - 7 - 7 (ein Gedanke pro Folie, maximal sieben Unterpunkte mit maximal je sieben Wörtern) nicht uneingeschränkt. Seiner Ansicht nach wäre weniger mehr: Vor allem bullet points („Aufzählpunkte“/ Spiegelstriche) verleiten zur Überfrachtung der Folien. Gerade auch bei schulischen Präsentationen sollten die Lernenden üben, sich auf den bzw. die Hauptinformationen zu konzentrieren und überflüssiges Beiwerk wegzulassen (vgl. www.presentationzen.com; http: / / www.garrreynolds.com/ presotips/ ; letzter Zugriff April 2015). 11.4 „Liebes Tagebuch” Katharina ist gerade von der UNIS-UN Conference zurückgekommen. Dank eines engagierten Englischlehrers haben mindestens jedes zweite Jahr einige Schülerinnen und Schüler von Katharinas Schule die Möglichkeit, bei der UN in New York vor einem großen internationalen Publikum ihre Ansichten zu einem festgelegten Thema - diesmal war es Sustainability - vorzutragen. Die Schülerinnen und Schüler aus aller Welt waren bei Familien der United Nations International School zu Gast und hatten Gelegenheit - neben den eigenen Präsentationen - wichtige Politiker und Experten in Vorträgen im Saal der UN-Vollversammlung zu erleben. Außerdem gab es Stadtbesichtigungen in New York. Katharina hatte sich besonders angestrengt und gut vorbereitet, um mitfahren zu dürfen. Dabei ging es ihr weniger um die Reise nach New York und die touristischen Aktivitäten. Sie war vorher bereits zweimal in New York gewesen. Vielmehr wollte Katharina unbedingt erleben, wie Politiker und vor allem Journalisten ihre Vorträge bzw. Präsentationen gestalten. Sie hat vor, Kommunikationswissenschaften zu studieren und ist der Meinung, dass Printmedien in Zukunft nicht mehr die Rolle spielen werden, die sie einmal gespielt haben. Ihrer Ansicht nach wird es insbesondere im <?page no="183"?> 183 11.5 Beispiel für die mündliche Abiturprüfung in Französisch Business vor allem darauf ankommen, wie man sich in Vorträgen präsentiert. Ihre Eindrücke hält sie in ihrem Tagebuch fest. Dienstag, 19. Mai 2015 Es war einfach die Wucht. Das hatte ich nicht erwartet. Onkel David hatte mir vorher mal einen Link geschickt, da konnte ich mir einige Präsentationen von Steve Jobs ansehen. Ich fand das sehr beeindruckend, alles aufs Minimum beschränkt, dann ist die Wirkung des Vortrags selbst größer. Die Politiker bei der UN hat man ja zum Teil schon im Fernsehen gesehen. Es war interessant, sie live, d. h. leibhaftig, zu erleben. Aber das Beste waren zwei Experten, die zu Sustainability gesprochen haben. Der eine war ein Statistik-Experte aus Schweden. Da habe ich festgestellt, dass ich mein Englisch verbessern muss. Vor allem aber habe ich gesehen, dass man die ödesten Statistiken regelrecht zum Leben erwecken kann. Seine Erläuterungen zu den Slides waren glasklar formuliert, gleichzeitig mit Humor. Ich hätte ihm noch länger zuhören können: Statistiken als Thriller! Der zweite Speaker, den ich beeindruckend fand, war ein Journalist aus den USA. Er ist dort als Redner anscheinend sehr gefragt. Seine Slides bestanden nur aus Bildern. Ich konnte es kaum glauben: Überhaupt keine Schrift. Die Bilder haben seinen Vortrag sehr gut illustriert. Wie der Apple-Mann stand er im Mittelpunkt, und es gab auch einfach Slides mit Leerflächen. Also ganz anders als bei uns in der Schule, wo alle sich abmühen, ihre Folien so vollzupacken, dass man mit dem Lesen keine Chance hat. Anschließend habe ich noch mit einem Jugendlichen aus China gesprochen über den Vortrag. Der hat mir gesagt, wenn ich presentations googlele, finde ich auch Ratgeber zum Thema. Das muss ich unbedingt in den nächsten Tagen machen. 11.5 Beispiel für die mündliche Abiturprüfung in Französisch Auch bei dem folgenden Vorschlag handelt es sich um ein authentisches Beispiel, also nicht um eine Erarbeitung, wie man sie in der Ratgeber-Literatur finden kann. Wie bei den Beispielen für Englisch finden Sie auch hier Hinweise zum Erwartungshorizont sowie weitere Materialien im Download ( www.narr-studienbuecher.de/ 9783823369370). Ich habe dieses Beispiel aus folgenden Gründen gewählt: Es geht um das sogenannte AbiBac, den gleichzeitigen Erwerb des Abiturs und des französischen Bacca- <?page no="184"?> 184 11. Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife (AHR) lauréat. Dem wird u. a. dadurch Rechnung getragen, dass ein Beispiel aus der „klassischen“ französischen Literatur, nämlich ein Gedicht von Paul Verlaine, ausgewählt wurde. Zudem ist die Aufgabenstellung so konzipiert, dass die angesprochenen Inhalte aufs engste mit dem Französischunterricht verbunden sind. Mit anderen Worten: Anders als z. B. bei PISA (vgl. Abschnitt 1.6) kann das Gedicht in dieser Form nur im Französischunterricht vorkommen. Interessant ist auch das Thema des Gedichts, nämlich le bonheur. Vorstellungen von Glück wurden bereits weiter oben in einem Unterrichtsbeispiel thematisiert, und zwar im Chanson von Francis Cabrel Les murs de poussière (vgl. 9.4.1-9.42). Paul Verlaine L’Auberge Murs blancs, toit rouge, c’est l’Auberge fraîche au bord Du grand chemin poudreux où le pied brûle et saigne, L’Auberge gaie avec le Bonheur pour l’enseigne. Vin bleu, pain tendre, et pas besoin de passe-port. Ici l’on fume. Ici l’on chante, ici l’on dort. L’hôte est un vieux soldat, et l’hôtesse qui peigne Et lave dix marmots roses et pleins de teigne, Parle d’amour, de joie et d’aise, et n’a pas tort ! La salle au noir plafond de poutres, aux images Violentes, Maleck Adel et les Rois Mages, Vous accueille d’un bon parfum de soupe aux choux. Entendez-vous ? C’est la marmite qu’accompagne L’horloge du tic-tac allègre de son pouls. Et la fenêtre s’ouvre au loin sur la campagne. (Poème publié dans le recueil Jadis et Naguère en 1884 : C’est dans Jadis et Naguère que Verlaine développe son art poétique qui réclame « de la musique avant toute chose ». La plupart des pièces rassemblées dans ce recueil font alterner l’ironie, l’émotion et le retour nostalgique aux paysages aimés.) (175 mots) Annotations 3 une enseigne : panneau portant un emblème ou une inscription qu’un commerçant met à son établissement pour se signaler au public ; 7 les marmots : (fam.) les enfants ; 7 la teigne : ici une maladie de la peau (Grind) ; 9 un plafond de poutres : (Balkendecke) ; 10 Maleck Adel et les Rois Mages : Maleck Adel : sultan légendaire de Damas ; les Rois Mages = personnages tirés de la Bible - qui ont porté des cadeaux pour fêter la naissance du petit Jésus ; ces deux images représentent une décoration typique de l’époque ; 12 la marmite : un récipient dont lequel on fait cuire des aliments, un pot ; 13 allègre : joyeux, plein d’entrain ; 13 le pouls : Prononciation : [pu] <?page no="185"?> 185 11.6 Backwash-Effekte Sujets d’étude 1. Décrivez la composition du poème et résumez son contenu ! 2. Analysez le poème ! Dites ce que le poète exprime dans chaque strophe et expliquez comment il le fait (forme et langage poétique) ! 3. Comparez l’idée du bonheur que Verlaine exprime dans cette poésie à d’autres conceptions du bonheur rencontrées lors de nos lectures en classe ! 11.6 Backwash-Effekte Der Begriff ‚Backwash-Effekt‘ wird im Zusammenhang mit Schule und Unterricht nicht einheitlich gebraucht. Unterschiedliche Deutungen kommen häufig vor, wenn Fachwörter von einer Disziplin auf eine andere übertragen werden. Backwash-Effekt ist ein Begriff der Wirtschaft bzw. der Wirtschaftsgeographie und bezeichnet einen Vorgang, bei dem Ressourcen aus Randlagen und ländlichen Gebieten den Zentren zugeführt werden. Dadurch kann ein Entzugseffekt in den Regionen entstehen, die Ressourcen abgeben. In jüngster Zeit wird in Schule und Unterricht von Backwash-Effekten gesprochen, wenn bestimmte Themenbereiche für das Abitur, die häufig zwei Jahre zuvor von den Ministerien festgelegt werden, im Unterricht dominieren. Anderen wichtigen Inhalten werden dann Ressourcen zugunsten der Schwerpunktthemen entzogen. Mit anderen Worten: Es kann auch hier zu einem teaching to the test kommen. Der Backwash-Effekt besteht also in einer negativen Rückwirkung auf den Gesamtzusammenhang des Unterrichts. Es kann aber auch positive Rückwirkungen geben. Einen solchen Backwash-Effekt sehe ich in der Tatsache, dass fremdsprachliche Bildung in den AHR-Standards eine größere Rolle spielt als noch in den EPA. Da Bildungsziele in der Sekundarstufe II aber nicht zu erreichen sind, wenn der Fremdsprachenunterricht nicht schon zuvor fremdsprachliche Bildung anstrebt, können die Auswirkungen der AHR-Standards auf die Sekundarstufe I bedeutsam sein. Das setzt voraus, dass wir möglichst alle Schülerinnen und Schüler einbeziehen. Fazit: Positive Rückwirkungen der Bildungsstandards für die AHR auf den gesamten Fremdsprachenunterricht sind möglich. In der Sekundarstufe II darf es keine Reduktion hinsichtlich des Fremdsprachenerwerbs (Stichwort: Diskursfähigkeit) und einer integrierten fremdsprachlichen Bildung zugunsten der Abiturthemen geben. Voraussetzung für eine zukunftsweisende mehrsprachige Bildung ist ein Fremdsprachenunterricht, der von Beginn der Sekundarstufe I an über funktionale kommunikative Kompetenz(en) entscheidend hinausgeht. <?page no="186"?> 186 11. Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife (AHR) Anregungen zum Nachdenken, Diskutieren und Gestalten Drucken Sie für die folgenden Aufgaben die Seiten 19-22 aus dem Dokument der KMK zu den Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife, Bildungsstandards für die fortgeführte Fremdsprache aus (vgl. www.narr-studienbuecher.de/ 9783823369370). Bearbeiten Sie bitte zwei der folgenden Aufgaben: 1. Lesen Sie die Ausführungen zu Abschnitt 2.2 Interkulturelle kommunikative Kompetenz (S. 19-20) durch und überlegen Sie, was Sie von den Zielvorgaben bereits in der Sekundarstufe I berücksichtigen und was Sie zusätzlich in den Unterricht integrieren können. Diskutieren Sie mit Fachkolleginnen und Fachkollegen. 2. Lesen Sie die Ausführungen zu Abschnitt 2.3 Text- und Medienkompetenz (S. 20-21) durch und überlegen Sie, was Sie von den Zielvorgaben bereits in der Sekundarstufe I berücksichtigen und was Sie zusätzlich in den Unterricht integrieren können. Diskutieren Sie mit Fachkolleginnen und Fachkollegen. 3. Lesen Sie die Ausführungen zu Abschnitt 2.4 Sprachbewusstheit (S. 21) durch und überlegen Sie, was Sie von den Zielvorgaben bereits in der Sekundarstufe I berücksichtigen und was Sie zusätzlich in den Unterricht integrieren können. Diskutieren Sie mit Fachkolleginnen und Fachkollegen. 4. Lesen Sie die Ausführungen zu Abschnitt 2.5 Sprachlernkompetenz (S. 22) durch und überlegen Sie, was Sie von den Zielvorgaben bereits in der Sekundarstufe I berücksichtigen und was Sie zusätzlich in den Unterricht integrieren können. Diskutieren Sie mit Fachkolleginnen und Fachkollegen. <?page no="187"?> 12. Vom Coach zum Lehrer - Lern- und Bildungsprozesse im Fremdsprachenunterricht Ende der 1990er Jahre haben Struck und Würtl ein Buch mit dem Titel Vom Pauker zum Coach vorgelegt, welches 2007 erneut - als komplett aktualisierte Weiterentwicklung vom Verlag angekündigt - als Lehrer der Zukunft. Vom Pauker zum Coach ( 2 2010) erschienen ist. Das Buch war und ist aufgrund seiner Gemeinplätze, Einseitigkeiten und zahlreicher Ungereimtheiten als Leitfaden für Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrer wenig hilfreich. Ich erwähne es an dieser Stelle, weil es eine allgemeine Tendenz der letzten Jahrzehnte widerspiegelt, die in einer Flut von wissenschaftlichen Publikationen und Ratgebern ihren Niederschlag gefunden hat, nämlich ein undifferenziertes Plädoyer für die Individualisierung des Unterrichts. Solche Forderungen gehen offensichtlich von einem Zerrbild des lehrergesteuerten Unterrichts aus, der gern abschreckend mit ‚Frontalunterricht‘ (didactic teaching) gleichgesetzt wird. Es ist nicht zu leugnen, dass der Lehrervortrag immer noch hier und da in seiner krassen Form existiert, aber daraus abzuleiten, der Lehrer solle als Coach agieren, ist schlichtweg populistisch. Zwei wesentliche Gründe stehen der Forderung nach Individualisierung von Lernprozessen in der in dieser und ähnlichen Publikationen propagierten Form entgegen:  Zum einen ist Lernen, wenn es tatsächlich stattfindet, immer ein individueller Prozess, bei dem die einzelne Schülerin oder der einzelne Schüler aufgrund zahlreicher Faktoren den dargebotenen Lernstoff in höchst individueller Weise verarbeitet. Diese Konstruktionsprozesse, durch die der neue Inhalt mit vorhandenen Wissensbeständen und (Lern-) Erfahrungen vernetzt wird, sind je nach lernendem Individuum höchst unterschiedlich. Was haben wir gewonnen, wenn aus dem Lehrer ein Coach wird?  Zum anderen bleibt bei solchen wohlklingenden Forderungen meist offen, was die Experten unter Individualisierung verstehen. Soll es darum gehen, dass den Schülerinnen und Schülern gewisse Freiheiten hinsichtlich des methodischen Vorgehens gelassen werden? Sollen sie die Medien für die Erarbeitung des Lernstoffs selbst auswählen? Oder treffen sie sich in einem Lernbüro, wo sie über Inhalte, Methoden, Medien und soziale Parameter des Lernens selbst entscheiden? 12.1 Die Grenzen der ‚Individualisierung’ Die im letzten Abschnitt angedeuteten Möglichkeiten lassen sich gerade im Fremdsprachenunterricht nur eingeschränkt umsetzen, selbst wenn man es wollte. Mehr als beispielsweise im naturwissenschaftlichen Unterricht oder im Fach Geschichte, ist die Lehrerin bzw. der Lehrer beim Erlernen einer Fremdsprache das sprachliche Vorbild; sie oder er ermöglicht den Zugang zur Fremdsprache. Selbstverständlich kann und sollte man dieses sprachliche Vorbild durch weitere zielsprachige Modelle ergänzen. Die digitalen Medien bieten sich dafür geradezu an. Wäre die Lehrperson im Fremdsprachenunterricht aber überwiegend oder ganz als Coach tätig, gingen ihre wichtigsten Funktionen beim Lehren und Lernen von Fremd- <?page no="188"?> 188 12. Vom Coach zum Lehrer - Lern- und Bildungsprozesse im Fremdsprachenunterricht sprachen verloren. Außerdem ist zu bedenken, dass die grundsätzliche Rücknahme der Lehrperson in jedem Fall eine Einschränkung für die Lernenden bedeutet. Der Lernstoff muss dann nämlich so aufbereitet werden, dass grobe Missverständnisse und mögliche Irrwege beim Lernen von vornherein ausgeschlossen werden können. Sie durch Rückfragen aufzufangen, ist eher möglich, wenn die Lehrperson sich nicht aus dem Geschehen zurückzieht. Die sogenannte ‚withitness‘, nämlich eine unauffällige Allgegenwart der Lehrperson, befördert das Lernen (vgl. Marzano: www.marzanocenter.com / Link: withitness; letzter Zugriff April 2015). Das bedeutet nicht, dass in bestimmten Phasen des Unterrichts selbsttätiges Lernen nicht effektiv sein kann, im Gegenteil (vgl. De Florio-Hansen 2014a; 2014b). Eine Lehrperson wird aber noch nicht dadurch zum Coach, dass sie beim angeleiteten und selbstständigen Üben sowie beim kooperativen und handlungsorientierten Lernen in anderen Funktionen zurücktritt. Was selten bedacht wird: Coaches oder Lernberater tragen letztlich keine Verantwortung für den Erfolg. Ist das Coaching, das häufig im Management stattfindet, nicht erfolgreich, wird der Coach ausgetauscht. Dessen Antrieb ist in erster Linie der Profit. Fazit: Selbsttätiges und selbstbestimmtes Lernen sind im Fremdsprachenunterricht da angezeigt, wo sie den Lernerfolg nicht behindern oder verzögern. Solche Unterrichtsphasen müssen - möglichst in Absprache mit den Schülerinnen und Schülern - sorgfältig geplant werden. Mit einem Lernberater ist es beim Lehren und Lernen von Fremdsprachen im schulischen Unterricht nicht getan. 12.2 Die Grenzen der Verantwortung In Kapitel 4 (vgl. Abschnitt 4.5) wurde dargelegt, dass der Einfluss von Lehrpersonen auf den Lernerfolg von Schülerinnen und Schülern höchstens mit 30% zu beziffern ist. Der sozioökonomische Status der Lernenden bzw. der ihrer Eltern, das lebensweltliche Umfeld sowie die individuellen Dispositionen spielen eine weitaus größere Rolle als Schule und Unterricht. Indem Lehrpersonen für jeden ausbleibenden Erfolg verantwortlich gemacht werden, bürdet die Politik ihnen in unzulässiger Weise Verantwortung auf. Es sollte vielmehr Aufgabe der Politik sein, negative Faktoren zu reduzieren, wenn sie sich schon nicht beseitigen lassen. Auch die häufig verbreitete Vorstellung, dass alle Schülerinnen und Schüler letztlich gute bis sehr gute Lernerfolge erzielen können bzw. dass Schulen und Unterricht alle Lernenden zur mastery des jeweiligen Lernstoffs führen können, ist schlichtweg falsch. Dabei lassen wir einmal beiseite, was unter mastery tatsächlich zu verstehen ist. Jede Fremdsprachenlehrkraft weiß um die Schwierigkeiten, den tatsächlichen Lernerfolg festzulegen. Außerdem wird bei solchen Forderungen die Rate des Vergessens außer Acht gelassen. Es ist richtig, dass die meisten Schülerinnen und Schüler lernen wollen. Das unterstreichen Helmke und zahlreiche andere Experten mit dem oben vorgestellten Angebot-Nutzungs-Modell (vgl. Abschnitt 3.3). Ob Lernende das Unterrichtsangebot tatsächlich nutzen, hängt - ein motivierendes und angemessenes Angebot vorausgesetzt - nur zu einem geringen Teil von der Lehrperson ab. Jeder der schon einmal in einer Hauptschulklasse mit einer höchst heterogenen Schülerpopulation Englisch unterrichtet hat, weiß, dass der Lernerfolg auch nicht immer von den Lernenden selbst ab- <?page no="189"?> 189 12.3 Ansprüche an den Fremdsprachenerwerb hängt. In gewissen Konstellationen sind den Lernmöglichkeiten Grenzen gesetzt, für die Lehrpersonen nicht getadelt werden dürfen. Die Verantwortung einer Fremdsprachenlehrerin oder eines -lehrers besteht darin, alle Lernenden nach bestem Wissen und Gewissen zu fördern. Fazit: Das Meiste von dem, was Palmer in Bezug auf die USA sagt, gilt für Lehrpersonen weltweit: Teachers make an easy target, for they are such a common species and so powerless to strike back. We blame teachers for being unable to cure social ills that no one knows how to treat; we insist that they instantly adopt whatever “solution” has most recently been concocted by our national panacea machine; and in the process, we demoralize, even paralyze, the very teachers who could help us find our way. (Palmer 2 2007: 3f.) 12.3 Ansprüche an den Fremdsprachenerwerb 12.3.1 Grundlegende Anforderung an den Fremdsprachenunterricht Die Überlegungen in den beiden vorangegangenen Abschnitten (vgl. 12.1 und 12.2) bedeuten keineswegs, dass wir nicht einen hohen Anspruch an uns richten sollten. Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrer stehen vor der Herausforderung, möglichst alle Lernenden und nicht nur die ‚Sprachbegabten‘ beim Erwerb der Fremdsprache nach Kräften zu unterstützen. Das setzt neben sprachlichen, inhaltlichen und didaktischen Fähigkeiten vor allem Unvoreingenommenheit, Respekt und Distanz voraus. Wird denn nicht immer Leidenschaft für das eigene Fach, in diesem Fall die Fremdsprache(n), gefordert? Ist die Tätigkeit als Lehrer nicht eher Berufung als Broterwerb? Sollen wir uns denn nicht möglichst für jede einzelne Schülerin und jeden einzelnen Schüler engagieren? Mit Distanz ist an dieser Stelle vor allem die Möglichkeit gemeint, mit unterrichtlichen Misserfolgen angemessen umzugehen - seien sie nun durch die Schülerinnen und Schüler und/ oder die Lehrperson selbst verursacht. Selbstachtung und Selbstkontrolle sind wichtige Voraussetzungen für den Lehrerberuf.Neben der notwendigen Distanz fehlt es oft an Natürlichkeit. Zwischen dem ‚Auftritt‘ der Lehrperson vor der Klasse und einem Gespräch mit Schülerinnen und Schülern außerhalb des Unterrichts besteht nicht selten eine große Diskrepanz. Gerade der Fremdsprachenunterricht wird häufig als ‚Inszenierung‘ bezeichnet. Damit beziehe ich mich nicht auf Theaterspielen, Dramapädagogik oder ähnliche Ansätze, die beim Lehren und Lernen von Fremdsprachen lernwirksam eingesetzt werden. Damit ist auch nicht die Tatsache angesprochen, dass Fremdsprachenunterricht eine Simulation, ein ‚so-tun-als-ob‘, darstellt, besonders wenn Schüler und Lehrer die gleiche Muttersprache sprechen und sich oft leichter auf Deutsch verständigen könnten. Mit Inszenierung beziehe ich mich auf eine Künstlichkeit, die ich bei der Lektüre von Lehrprobenentwürfen und der Durchsicht von Unterrichtstranskriptionen (vgl. www.apaek.uni-frankfurt.de; letzter Zugriff Mai 2015) sowie bei Unterrichtsbesuchen feststelle. Es werden Unterrichtsverfahren im weitesten Sinne zur Anwendung ge- <?page no="190"?> 190 12. Vom Coach zum Lehrer - Lern- und Bildungsprozesse im Fremdsprachenunterricht bracht, die den natürlichen Umgang mit Kindern und Jugendlichen vermissen lassen. Selbstverständlich muss Unterricht gut vorbereitet und geplant sein; das bedeutet aber nicht, dass die unterrichtliche Interaktion mit Schülerinnen und Schülern die Natürlichkeit, mit der man Kindern und Jugendlichen außerhalb des Klassenzimmers begegnen würde, gänzlich außer Acht lassen sollte. Die angedeutete Künstlichkeit hängt bis zu einem gewissen Grad mit dem Verständnis und dem Einsatz von Methoden bzw. von Unterrichtstechniken zusammen. Hilbert Meyer (2002: 109) definiert Unterrichtsmethoden als Formen und Verfahren, mit denen sich die Lehrerinnen, Lehrer, Schülerinnen und Schüler die sie umgebende natürliche und gesellschaftliche Wirklichkeit unter Beachtung der institutionellen Rahmenbedingungen der Schule aneignen. Das ist unbestritten. Methoden und Techniken dürfen aber nicht Vorrang vor inhaltlichen Aspekten haben. „Also, dann machen wir Placemat“ oder „Warum nicht wieder einmal Fishbowl? “ Solche Äußerungen sind dem Wunsch nach Abwechslung geschuldet. Eine Wiederholung der Darbietung unter Einsatz weiterer Verfahren ist nur dann angesagt, wenn sich herausstellt, dass einzelne Lernende mehrere Anläufe brauchen, um einen neuen Unterrichtsinhalt zu verstehen und mit ihrem Vorwissen und ihren Lernerfahrungen zu verbinden. Nach neueren Erkenntnissen wirkt sich die Überbetonung von methodischen Verfahren eher negativ aus. Auch deshalb wird, wie oben erwähnt, Methodenkompetenz in andere Kompetenzbereiche integriert (vgl. 6.3). Zudem sind von Inhalten losgelöste Methodentrainings nach dem Motto: „Das Lernen lernen“ von Anfang an den Nachweis ihrer Wirksamkeit schuldig geblieben (Felten & Stern 2012: 44ff.). Bei der Planung und Darbietung des neuen Lernstoffs sollte die Lehrperson das Verfahren wählen, das ihrer Kenntnis nach in einer spezifischen Lerngruppe und bei einem bestimmten Inhalt am besten geeignet ist, um möglichst vielen Schülerinnen und Schülern die Aufnahme des neuen Lerninhalts zu ermöglichen. Die Darbietung des Lernstoffs wird von Strategien - sie sind Techniken in der Regel übergeordnet - wie modeling (Modellieren), advance organizers oder worked examples (ausgearbeitete Beispiele) - besser unterstützt als durch einen wie auch immer gearteten „Methodenkoffer“. Die Vorstellung von bestimmten Lernertypen ist inzwischen weitgehend überholt (vgl. auch zum Folgenden De Florio-Hansen 2014a: 57f.). Umfangreiche Forschungsarbeiten haben gezeigt, dass der kognitive (Lern-)Stil einer Person weder angeboren noch unveränderlich ist und sich dem Kontext anpasst (vgl. De Florio-Hansen 2014b: 50). Je nach Aufgabe wird bei derselben Person die linke oder rechte Hirnhälfte stärker aktiviert; in der Regel wirken aber beide Hirnhälften zusammen. Daher sollen die Lernenden angehalten werden, unterschiedliche Lernstile zu nutzen. Auch wenn Lehrwerke in den ersten Lernjahren nach wie vor unerlässlich sind, um eine gewisse Übersichtlichkeit für die Lernenden und eine Zeitersparnis für Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrer zu gewährleisten, darf das Lehrwerk nicht das Unterrichtsgeschehen dominieren. Also nicht: das Lehrwerk als Lehrer und der Lehrer als Coach! Die Inhalte eines Lehrwerks führen schon deshalb nicht auf direktem Weg zum Lernerfolg, weil die vermittelnde Instanz fehlt. Die integrierende Aufgabe der Lehrperson besteht darin, die Inhalte und die Unterrichtsverfahren mit Blick auf eine Lerngruppe in einem speziellen Kontext auszuwählen und den Lernstoff entsprechend darzubieten. Was spricht gegen lehrergesteuerten Unterricht - damit ist nicht der bornierte Frontalunterricht gemeint -, wenn sich dadurch möglichst viele Lernende <?page no="191"?> 191 12.3 Ansprüche an den Fremdsprachenerwerb eine oder mehrere Fremdsprachen im schulischen Unterricht am besten aneignen? (vgl. De Florio-Hansen 2014a: 61ff.; 2014b: 68ff.). 12.3.2 Akzentuierungen beim Fremdsprachenerwerb Im Rahmen der Darstellung von Ergebnissen aus der DESI-Studie (vgl. 2.4) wurde gezeigt, dass Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrer (und nicht nur sie) zu häufig zu hohe Sprechanteile für sich beanspruchen. Zwar ist das Hören der korrekten Aussprache fremdsprachlicher Wörter, Sätze und Texte die unabdingbare Voraussetzung für das eigene Sprechen, aber die Lernenden müssen auch von Anfang an genügend Gelegenheit zum eigenen Sprechen haben. Die bessere Option ist folgende: Um den Schülerinnen und Schülern die Scheu zu nehmen, sich überhaupt in der Fremdsprache zu artikulieren, sollten sie von Anfang an auch Aussprache„fehler“ machen dürfen, ohne dass dies negativ kommentiert oder gar sanktioniert wird. Am Anfang ist jeder Versuch, die Fremdsprache zu sprechen, positiv. Verfährt man aus Sorge, Aussprachefehler könnten sich „einschleifen“, so, dass man nur die Schülerinnen und Schüler aufruft, die sich gemeldet haben - abgesehen davon, dass auch deren Aussprache Mängel aufweisen kann - schränkt man für eine große Zahl von Lernenden den Zugang zur Fremdsprache erheblich ein. Generell ist daher der sogenannte cold call zu empfehlen. Alle Schülerinnen und Schüler sollten aufgerufen werden, gleichgültig, ob sie sich gemeldet haben oder nicht. Dieses Verfahren sollte von Beginn an als Unterrichtsroutine eingeführt und mit den Lernenden besprochen werden. Das setzt zum einen voraus, dass Fehler als Lerngelegenheit betrachtet werden. Zum anderen muss man, je nach Schülerin oder Schüler, den man zum Sprechen bzw. zur Beantwortung einer Frage auffordern will, eine längere Wartezeit einplanen. Auf alle Fälle sollte die Systematik, mit der die einzelnen Lernenden herangezogen werden, für die Schülerinnen und Schüler nicht nachvollziehbar sein, damit sie sich nicht entsprechend darauf einstellen können. Was macht man, wenn eine Schülerin oder ein Schüler keine Antwort parat hat oder aus Angst, Fehler zu machen, schweigt? Dann ruft die Lehrperson am besten ein bis zwei andere Lernende auf, von denen sie annimmt, dass sie die Antwort kennen und angemessen versprachlichen können. Die Lernenden, die es „kalt erwischt“ hat, wiederholen die korrekte Antwort. Möglicherweise ist es sinnvoll, dass die Lehrperson die korrekte Antwort von Zeit zu Zeit auch selbst in verbesserter Form noch einmal sagt. Das sollte aber auf keinen Fall die Regel sein, damit die Lernenden nicht auf das Lehrerecho warten und einander auch tatsächlich zuhören. Führt man dieses Verfahren sofort ein, wenn man eine Klasse übernimmt, gewöhnen sich die Lernenden recht rasch daran. Im Übrigen gehört zu dieser Art der Aktivierung aller Lernenden auch, dass die Lehrperson sich immer frei im Klassenraum bewegt, also nicht nur, wenn sie im Rahmen von Teamarbeit einzelne Tischgruppen aufsucht. Auch das Umhergehen der Lehrerperson sollte für die Lernenden nicht vorhersehbar sein. Das alles setzt voraus, dass, wie oben bereits angedeutet, „Fehler“ nicht sanktioniert, sondern als Möglichkeit zum Weiterlernen für die gesamte Lerngruppe verstanden werden. Jede erfahrene Lehrperson weiß, dass sich bereits nach zwei bis drei Monaten Unterricht die Schere zwischen dem oberen und dem unteren Drittel im Leistungsgefälle immer weiter auftut. Umso wichtiger ist der verständnisvolle Umgang der Lehrperson und der Mitlernenden mit den Schülerinnen und Schülern, die, obwohl sie sich bemühen, mit dem Lernen von Fremdsprachen bzw. mit dem Lernen überhaupt die eine oder andere Schwierigkeit haben. Wer das Angebot der Lehrper- <?page no="192"?> 192 12. Vom Coach zum Lehrer - Lern- und Bildungsprozesse im Fremdsprachenunterricht son zu nutzen versucht, sollte die Gewissheit haben, dass er angemessen unterstützt wird. Was für die Aussprache bzw. das (zusammenhängende) Sprechen gilt, sollte in abgewandelter Form auch beim Lesen und Schreiben zur Anwendung kommen. Lernende mit unzureichenden Deutschkenntnissen - ich denke vor allem an Schülerinnen und Schüler mit Migrationsgeschichte - brauchen Zeit und zahlreiche motivierende Übungsgelegenheiten. Noch immer werden unbekannte Lesetexte durch entsprechende Vokabelerklärungen entlastet, in der Annahme, dass unzureichendes Leseverstehen auf einen Mangel an Sprachwissen zurückzuführen ist. Probleme mit dem Lesen in der Fremdsprache beruhen aber nicht nur auf dem Dekodieren der Bedeutung. Was […] meist unberücksichtigt bleibt, ist die Tatsache, dass dem Dekodieren beim (stillen) Lesen das Rekodieren vorausgeht. Dabei wandeln die Lesenden Schriftsymbole auf Buchstaben- und Wortebene in phonologische Informationen um, ohne dass zunächst das Verstehen impliziert ist. Die Dekodierung, d. h. das Erfassen der (Wort-) Bedeutung, schließt sich an die Rekodierung an. […] Erfolgreiches Lesen setzt also immer ein gut ausgebildetes Hörverstehen voraus. (De Florio-Hansen 2012a: 63) Die Lesefähigkeit im angesprochenen Sinn können Lehrpersonen dadurch schulen, dass sie selbst von Zeit zu Zeit laut vorlesen oder entsprechende Texte, z. B. Ausschnitte aus Hörbüchern oder sonstige Tonaufnahmen, mit den Lernenden anhören. Dazu ein paar Grundregeln: Im Anfangsunterricht lesen die Lernenden den Text mit, um das oben angesprochene Rekodieren zu üben. Außerdem sollten leseschwächere Schülerinnen und Schüler ihnen unbekannte Texte niemals laut vorlesen. Erst wenn sie sich mit dem Text vertraut gemacht haben, ist es sinnvoll, sie ihn laut darbieten zu lassen. Im Fortgeschrittenenunterricht macht das Re- und Dekodieren den Schülerinnen und Schülern meist keine Schwierigkeiten mehr. Geübte Leserinnen und Leser können Texte in der Muttersprache und auch in der Fremdsprache flüssig vorlesen, selbst wenn bei einzelnen Wörtern Buchstaben vertauscht sind, vorausgesetzt, der erste und der letzte Buchstabe eines Wortes bleiben unverändert. Wie oben angedeutet, ist das Hörverstehen mit dem Leseverstehen eng verbunden. Das gilt nicht nur für auditiv dargebotene fremdsprachliche Texte. Bekanntlich spielt beim Menschen das Bildgedächtnis eine herausragende Rolle. Die Ausbildung von audiovisual literacy, das Hör-Sehverstehen, gewinnt zunehmend an Bedeutung, weil in den digitalen Medien, mit deren Nutzung die Lernenden einen beachtlichen Teil ihrer Freizeit verbringen, die meisten Inhalte zusätzlich zur oder auch ohne Schrift über kombinierte Bild-Tondokumente dargeboten werden. Es ist eine wichtige Aufgabe des Fremdsprachenunterrichts, die Schülerinnen und Schüler im Rahmen von Medienerziehung mit der (aktiven) Nutzung der häufigsten Medienangebote in der Fremdsprache vertraut zu machen (vgl. De Florio-Hansen 2012b). Darüber hinaus fördert auch die Lektüre multimodaler fiktionaler Texte nicht nur den Fremdsprachenerwerb, sondern auch audio und audiovisual literacy. Auch beim Schreiben sollte, besonders bei Schülerinnen und Schülern, die den Hauptschulabschluss oder den Mittleren Schulabschluss anstreben, nicht nur die angemessene Selbstdarstellung in den digitalen Medien geübt werden. Ein zusätzlicher Akzent liegt auf dem berufsorientierten Schreiben. Im späteren Berufsleben ist es auch für Hauptschülerinnen und Hauptschüler wichtig, E-Mails, Memos und andere kurze Texte auf Englisch verfassen zu können. Klassenarbeiten (und Tests) <?page no="193"?> 193 12.4 Ansprüche an fremdsprachliche Bildung berücksichtigen die zukünftigen beruflichen Anforderungen in den Fremdsprachen noch viel zu wenig (vgl. De Florio-Hansen 2014c). Immer wieder habe ich darauf hingewiesen, dass ich die häufig vorgenommene Einteilung in Lern- und Testaufgaben nicht teile (vgl. Kap. 10) und für den in der Mathematik üblichen Begriff ‚Aufgaben für den Unterricht‘ plädiere. Sinnvolle Aufgaben, die im Unterricht bearbeitet werden, enthalten immer Elemente der Selbst- und Fremdevaluation. Darüber hinaus ist es sicher kein Schaden, wenn bei Klassenarbeiten und formellen Tests auch etwas gelernt wird. Präsentationen spielen bereits jetzt im Fremdsprachenunterricht eine große Rolle. Außerhalb sowie nach der Schule wird ihre Bedeutung in den nächsten Jahren noch zunehmen. Aus diesem Grund ist im Unterricht darauf zu achten, dass die Schülerinnen und Schüler lernen, sich bei derartigen Darstellungen eines erarbeiteten Themas oder Lernstoffs auf das Wesentliche zu beschränken. Der motivierende eigene Vortrag ist die Grundlage einer gelungenen Präsentation, nicht etwa vollgepackte slides oder Ähnliches. Graphiken, Bilder, kurze Texte sind stets nur eine Ergänzung zur eigenen Darstellung, vor allem wenn mehrere Schülerinnen und Schüler daran beteiligt sind. Am besten ist es, wenn die Lehrperson implizit bei der Darbietung neuer Lerninhalte motivierende Beispiele für Präsentationen gibt. Zusätzlich sollten auch Grundregeln für das Präsentieren explizit mit den Lernenden erarbeitet und geübt werden. Fazit: „Einfachheit ist die höchste Stufe der Vollendung.“ Dieser Ausspruch von Leonardo da Vinci gilt nicht nur für Präsentationen, sondern für den gesamten Fremdsprachenerwerb. Wohlgemerkt: ‚Einfach‘ bedeutet nicht etwa ‚einfältig‘ oder ‚simpel‘. 12.4 Ansprüche an fremdsprachliche Bildung Von Beginn an, z. B. am Ende von Abschnitt 2.3.1, habe ich als wesentliche Bildungselemente des Fremdsprachenunterrichts drei Aspekte bzw. Komponenten genannt, nämlich Sprachbewusstheit, Interbzw. Transkulturalität sowie ästhetischliterarische Bildung. Das sind wesentliche Anreize, sich mit Fremdsprachen auch über den reinen Nutzen für die berufliche und private Verständigung zu beschäftigen. Sie machen aber nicht die Gesamtheit fremdsprachlicher Bildung aus. Das hängt zum einen damit zusammen, dass das Ganze in der Regel mehr ist als seine Teile. Zum anderen gibt es weitere Aspekte, die sich nicht ohne weiteres in Unterrichtsbeispielen fassen lassen (vgl. 12.4.3 ) 12.4.1 Fremdsprachenerwerb und fremdsprachliche Bildung Im Rahmen der Beispiele in den Kapiteln 7 bis 9 zeigt sich eine Selbstverständlichkeit: Fremdsprachenerwerb und fremdsprachliche Bildung gehen Hand in Hand. Bis zum Erscheinen der KMK-Bildungsstandards galten Unterrichtsvorhaben, die Bildungsaspekte auf die Zeit des Unterrichts mit Fortgeschrittenen zurückstellten, als überholt. Aussagen wie: „Na, zunächst sollen sie erst einmal Wortschatz und Grammatik lernen, bevor wir uns mit Landeskunde und Literatur beschäftigen“ gehören erfreulicherweise der Vergangenheit an. Seit vielen Jahren werden in Ratgebern und <?page no="194"?> 194 12. Vom Coach zum Lehrer - Lern- und Bildungsprozesse im Fremdsprachenunterricht Fachzeitschriften Vorschläge für den Fremdsprachenunterricht gemacht, die versuchen, über ein Fertigkeitstraining hinauszugehen und weiterführende Ziele einzubeziehen. Die Vorgaben der KMK-Bildungsstandards für den Hauptschulabschluss und für den Mittleren Schulabschluss drohen Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrer deutlich einzuschränken. Das gilt insbesondere für die Schulformen, an deren Ende Zentrale Abschlussarbeiten stehen, während das Gymnasium davon ausgenommen ist. Da hilft auch die Rhetorik in den offiziellen Papieren nicht weiter. Die Beispiele aus den zentralen Abschlussarbeiten verschiedener Schulformen (vgl. Kap. 10) zeigen, dass Ziele fremdsprachlicher Bildung, wenn überhaupt, nur am Rande berücksichtigt werden. Oft werden sogar die funktionalen kommunikativen Kompetenzen nur unzureichend überprüft, weil die Korrektur und Bewertung andernfalls zu zeitaufwendig wäre und zudem einen zu großen Ermessensspielraum ließe. Es bleibt zu hoffen, dass zukünftige Lehrwerkgenerationen über die grundlegenden Deskriptoren hinausgehen und nicht nur die entsprechenden Niveaus des GeR auf dem Einband angeben. 12.4.2 Zur Integration von verschiedenen Aspekten fremdsprachlicher Bildung Die drei Zielbereiche Sprachbewusstheit, Interbzw. Transkulturalität sowie ästhetisch-literarische Kompetenzen sind nicht nur mit dem elementaren Fremdsprachenerwerb verbunden. Sie lassen sich am besten integriert verfolgen. Interkulturelles und literarisches Lernen sind ohne Sprachbewusstheit nicht denkbar. In den obigen Beispielen (vgl. Kap. 7-9) wird der Klarheit und Einfachheit wegen eine der drei Komponenten besonders herausgestellt. An dieser Stelle darf aber der Hinweis nicht fehlen, dass Sprachbewusstheit, Interbzw. Transkulturalität sowie ästhetisch-literarisches Lernen miteinander verknüpft sind. Das kommt indirekt im Überblicksartikel von Caspari (2013b) zum Ausdruck, in dem sie die Hinweise zur Literatur in verschiedenen offiziellen Vorgaben für die Sekundarstufen I und II gegenüberstellt. Die Beschäftigung mit literarischen Werken beinhaltet in aller Regel die Auseinandersetzung mit fremden und eigenen kulturellen Gegebenheiten. Es ist die Aufgabe der Fremdsprachenlehrerin oder des -lehrers für eine Lerngruppe die literarischen Werke zur Lektüre anzubieten, die einen Zugewinn an Inter-/ Transkulturalität versprechen. Am besten geschieht dies in Absprache mit den Lernenden. Dazu ein Beispiel aus meinem eigenen Italienischunterricht: An einem Gymnasium mit einem Mittel- und Oberschicht-Hintergrund lernten Schülerinnen und Schüler mit großem Engagement als vierte Fremdsprache (neben bzw. nach Englisch, Französisch und Latein) Italienisch. Wieder einmal ging es um die Auswahl der nächsten Lektüre. Es war ohne weiteres möglich, einzelnen Lernenden einen Roman zur Durchsicht mit nach Hause zu geben mit dem Ziel, sie sollten ihn kurz vorstellen und sich mit den Mitlernenden besprechen, ob man ihn in der gesamten Lerngruppe als Ganzschrift lesen wolle. Da die Schülerinnen und Schüler im besten Sinne des Wortes die typischen Verhaltensweisen der Oberschicht kultivierten, hielt ich es für angezeigt, ihnen ein Kontrastprogramm anzubieten. Dafür hatte ich von Gavino Ledda Padre padrone ausgewählt. Es handelt sich um die autobiographische Erzählung des Sohnes eines sardischen Hirten, den der Vater für das Hüten der Schafe einspannt und dadurch am Schulbesuch hindert. Der Protagonist lernt erst während des Militärdienstes schreiben und schildert sein Schicksal auf einfache, aber beindruckende Art und Weise. Mein zweiter Vorschlag war der umfangreiche Roman von Giorgio Bassani Il giardino dei <?page no="195"?> 195 12.4 Ansprüche an fremdsprachliche Bildung Finzi-Contini. Er erzählt das Schicksal einer reichen jüdischen Arztfamilie im Ferrara der 1940er Jahre bis zu deren Deportation in ein Konzentrationslager. Ich war mir eigentlich sicher, dass die Schülerinnen und Schüler sich für das „Kontrastprogramm“ entscheiden würden, zumal der Roman von Ledda sehr kurz und sehr einfach geschrieben ist. Ich hatte mich aber getäuscht. Die Diskussion unter den Lernenden war kurz und aussagekräftig: Sie entschieden sich für Bassani. Auf meine Frage nach den Gründen, antwortete mir eine sehr engagierte Schülerin, die jugendliche Heldin bei Bassani spiele Tennis wie sie auch und entstamme in etwa der gleichen Schicht wie sie selbst und die Mitlernenden. Was mir zunächst nach einer oberflächlichen Beurteilung klang, stellte sich aber im weiteren Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern als durchdacht heraus. Sie könnten von der Lektüre des Romans von Bassani mehr profitieren, weil sie sich eher in das Schicksal der Heldin hineindenken könnten, als in die Leiden eines Hirtenjungen auf Sardinien. Sie wären eher imstande nachzuvollziehen, was jüdisches Leben, seine Bedrohung und Vernichtung ausmache. Und überhaupt: Von der Lektüre des Romans von Bassani würden sie auch sprachlich weit mehr profitieren als von der simplen Darstellung eines Ledda. Da sie mein Anliegen, sie mit einem Protagonisten zu konfrontieren, dessen Lebensumstände Lichtjahre von ihren eigenen entfernt waren, durchaus verstanden, versprachen sie mir, sich den Film Padre padrone der Brüder Taviani anzusehen und mir dann zu berichten. Diese Begebenheit belegt außerdem, dass Literatur - über inter- und transkulturelles Lernen hinaus - zum Auf- und Ausbau von Sprachbewusstheit beitragen kann. Literarische Werke zeichnen sich durch authentische Sprache aus. Damit Schülerinnen und Schüler beim Lehren und Lernen davon profitieren können, müssen zahlreiche Bedingungen erfüllt sein. Meines Wissens hat Dirk Siepmann in seinem Beitrag Über Vorbilder und Zerrbilder: Literarische Texte als Grundlage von Spracharbeit erstmals genauer herausgearbeitet, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit die Lernenden sprachlich von literarischen Texten profitieren können. Ob ein sprechnaher Stil wie z. B. bei Nick Hornby förderlich ist, kann man diskutieren. Dem Fazit von Siepmann wird man aber uneingeschränkt zustimmen: Wenn man abschließend nach dem Beitrag literarischer Prosatexte zur Ausbildung der Diskurskompetenz fragt, so muss die Antwort ähnlich wie bei den sprachlichen Mitteln ausfallen. Es liegt in der Natur der Sache, dass Erzähltexte vor allem Vorlagen für den erzählenden Diskurs liefern, nicht für den argumentativ-logischen. Sie können also lediglich als Sprechanlass für argumentative Diskurse dienen, deren sprachlich-kognitive Unterfütterung sich wiederum aus anderen Quellen speisen muss. Daraus ergibt sich ein unabdingbares aber gleichzeitig sehr fruchtbares Wechselspiel zwischen Sach- und literarischen Texten im Fremdsprachenunterricht. (Siepmann 2015: 113) In einem älteren Beitrag habe ich selbst Literatur als Glücksfall für den Fremdsprachenunterricht bezeichnet. Dabei bin ich von einem Ausspruch des Schweizer Schriftstellers Adolf Muschg ausgegangen, der Literatur als Fremdsprache bezeichnet. Damit will er sagen, dass literarische Werke auch für Muttersprachler meist eine fremde, vom alltagsweltlichen Sprachgebrauch abweichende Ausdrucksweise darstellen. Demnach ist fremdsprachliche Literatur für Muschg eine doppelte Fremdsprache. Das ändert aber nichts daran, dass sie umfassende Bildungseffekte auslösen kann. <?page no="196"?> 196 12. Vom Coach zum Lehrer - Lern- und Bildungsprozesse im Fremdsprachenunterricht 12.4.3 Das multilinguale Selbst Dieses abschließende Kapitel würde einen wichtigen Aspekt fremdsprachlicher Bildung außer Acht lassen, würden wir nicht auch negative Auswirkungen von Mehrsprachigkeit bzw. mögliche Schwierigkeiten mit dem multilingualen Selbst kurz betrachten. In einem Aufsatz mit dem Titel Multilingualism of the other zeigt Claire Kramsch (2011) am Beispiel von Franz Kafka, dass die Kenntnis mehrerer Sprachen als Ziel kosmopolitischer Eliten betrachtet wurde, lange bevor die EU Mehrsprachigkeit als Kennzeichen von ‚Europeanness‘ auf ihre Fahnen geschrieben hat. Kafkas biographische Erzählung Ein Bericht für eine Akademie (1917) zeigt, dass Mehrsprachigkeit nicht immer nur positive Erfahrungen für das Selbst-Konzept beinhaltet. Ropeter, the protagonist of Kafka’s language memoir, transformed through will power from an ape into a human being. He covers the stages of multilingual development - from ape language to human language to German - at lightning speed. The ape becomes human but he is alienated in the human language even though he is able to write a report in highly educated standard German. Ropeter’s as well as Kafka’s dilemma is that of the non-native speaker, who, as an author, exercises ownership of a foreign language without being a legitimate owner of the language. (De Florio-Hansen 2011b: 11) Kramsch (2009) hat diese Auswirkungen auf das Selbst in ihrer Untersuchung The Multilingual Self - What Foreign Language Learners Say about their Experience and Why it matters weiter vertieft. Vielleicht sagen Sie jetzt, das hat eigentlich mit unseren Schülerinnen und Schülern nichts zu tun. Wenn sie an Lernende denken, die in frühester Kindheit einsprachig mit Deutsch aufgewachsen sind, haben Sie sicher Recht. Es gibt aber in Ihrem Fremdsprachenunterricht eine zunehmend wachsende Zahl von Schülerinnen und Schülern, die - aus welchen Gründen auch immer - mehrsprachig sind, z. B. Lernende mit Migrationsgeschichte, Kinder, deren Eltern im Ausland tätig waren, Schülerinnen und Schüler aus sogenannten gemischtnationalen Ehen. Mehrsprachige haben oft damit zu kämpfen, dass sie sich verschiedenen Sprachgemeinschaften zugehörig fühlen, die alle ihr Selbst-Konzept in irgendeiner Form prägen . Fazit: „Wir sind, was wir denken. Alles, was wir sind, entsteht mit unseren Gedanken. Mit unseren Gedanken machen wir die Welt“. Diese Buddha zugeschriebene Weisheit könnte auch von einem Neurowissenschaftler stammen. Im Zusammenhang mit dem Lehren und Lernen von Fremdsprachen erinnert sie uns u.a. daran, dass wir im Unterricht zahlreiche Facetten sprachlicher und kultureller Identität beachten müssen, wenn wir möglichst allen Schülerinnen und Schülern gerecht werden wollen. <?page no="197"?> 197 12.5 Zwei Gedichte 12.5 Zwei Gedichte Ans Ende stelle ich zunächst den zweiten Teil eines französischen Gedichts von Mamiedamour, die unter diesem Pseudonym ihre Gedichte ins Internet stellt (http: / / www.lespoetes.net/ poeme-PROFESSEUR-1899.html; letzter Zugriff April 2015). Seine Stärke liegt weniger in der Form, als vielmehr im Inhalt: La meilleure prof […] Pas simplement une prof, mais aussi une femme au grand cœur, Qui n’hésitait pas à affronter les autres professeurs, Sur la discipline, établissement scolaire ou établissement pénitencier ? Nous sommes ici pour enseigner et non pour blâmer. L’enseignement est un art, que nous devons transmettre Et pour parfaire l’année scolaire, inutile d'user de ton austère. Encore moins de mesures disciplinaires, Disait-elle, très souvent à ses collègues d’un ton fâché Propos qui lui ont coûté quelques difficultés, Surmontées, grâce à ses élèves reconnaissantes, Ecrivant à son attention une lettre réconfortante. J’ai eu l’aubaine pendant deux ans, d’avoir cette femme à mes côtés, Et ainsi susciter un engouement pour les études pendant bien des années. Le rôle d’un professeur est certes la pédagogie, Néanmoins, il peut enseigner avec beaucoup de psychologie. Es folgt ein Auszug aus einem Gedicht von Taylor Mali, einem New Yorker, der aus der Slam Poetry-Bewegung hervorgegangen ist. Auf seiner Website (http: / / www. taylormali.com/ poems-online; letzter Zugriff April 2015) finden Sie dieses und weitere Gedichte aus seiner Sammlung What teachers make, und Sie können ihm beim Vortragen zuschauen. What Teachers Make He says the problem with teachers is What’s a kid going to learn from someone who decided his best option in life was to become a teacher? He reminds the other dinner guests that it’s true what they say about teachers: Those who can, do; those who can’t, teach […] You want to know what I make? I make kids wonder. I make them question. I make them criticize. I make them apologize and mean it. I make them write. <?page no="198"?> 198 12. Vom Coach zum Lehrer - Lern- und Bildungsprozesse im Fremdsprachenunterricht I make them read, read, read. I make them spell definitely beautiful, definitely beautiful, definitely beautiful over and over and over again until they will never misspell either one of those words again. I make them show all their work in math and hide it on their final drafts in English. I make them understand that if you’ve got this, then you follow this, and if someone ever tries to judge you by what you make, you give them this. Here, let me break it down for you, so you know what I say is true: Teachers make a goddamn difference! Now what about you? <?page no="199"?> Literaturverzeichnis Abraham, U. (1999): „Vorstellungs-Bildung und Deutschunterricht.“ In: Praxis Deutsch 26/ 154, 14-22. Andringa, E. (2000): „The Dialogic Imagination. Literarische Komplexität und Lesekompetenz.“ In: Witte, H. et al. (Hrsg.): Deutschunterricht zwischen Kompetenzerwerb und Persönlichkeitsentwicklung. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, 85-97. Beck, B. & Klieme, E. (Hrsg.) (2007): Sprachliche Kompetenzen. Konzepte und Messung. DESI- Studie (Deutsch Englisch Schülerleistungen International). Weinheim & Basel: Beltz. Ben Jelloun, Tahar (1998): Rachid, l’enfant de la télé. Berlin: Cornelsen. Berliner, D. C. & Glass, G. V. (2014): 50 Myths & Lies that Threaten America’s Public Schools. The Real Crisis in Education. New York & London: Teacher College, Columbia University. Borich, G. D. ( 7 2010): Effective Teaching Methods. 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KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de JETZT BES TELLEN! JETZT BES TELLEN! Michaela Sambanis Fremdsprachenunterricht und Neurowissenschaften narr studienbücher 2013, 160 Seiten €[D] 19,99/ SFr 28,00 ISBN 978-3-8233-6800-7 Fremdsprachenunterricht und Neurowissenschaften betrachtet das Thema Lernen im Licht neurowissenschaftlicher Erkenntnisse und zugleich aus dem Blickwinkel der Fremdsprachendidaktik. Zusammenhänge werden erklärt, Einblicke in praxisrelevante Forschung gegeben und Studien referiert. Das Buch stellt viele anwendbare Vorschläge für die Praxis von der Grundschule bis zur gymnasialen Oberstufe vor, darunter Impulse aus der Dramapädagogik, die im Englisch- und Französischunterricht sowie bei anderen Fremdsprachen eingesetzt werden können. Fremdsprachenunterricht und Neurowissenschaften richtet sich an Lehramtsstudierende, Referendare, Lehrkräfte sowie Aus- und Fortbildende. <?page no="207"?> Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de JETZT BES TELLEN! JETZT BES TELLEN! Jörg Roche Fremdsprachenerwerb - Fremdsprachendidaktik UTB basics 3., vollständig überarbeitete Auflage 2013 336 Seiten €[D] 19,99/ SFr 28,00 ISBN 978-3-8252-4038-7 Der Band führt in die Grundlagen der Fremdsprachenerwerbsforschung und -didaktik ein. Mit der Behandlung linguistischer, psycholinguistischer, kognitions- und lernpsychologischer, interkultureller und sprachdidaktischer Aspekte gibt er einen Überblick über die Parameter, die beim Erwerb fremder Sprachen eine Rolle spielen. Die theoretischen Grundlagen nehmen stets auf die Lern- und Lehrpraxis Bezug, zahlreiche Beispiele und Illustrationen erleichtern den Zugang zu einem Thema, das im Zeitalter von Migration, Mobilität und Kommunikation alle betrifft. Die dritte, völlig überarbeitete Auflage bewertet nicht nur bekannte Positionen aus heutiger Sicht neu, sondern beleuchtet darüber hinaus aktuelle Aspekte der Kognitions-, Mehrsprachigkeits- und Interkulturalitätsforschung mit Blick auf das Entwicklungspotenzial der Fremdsprachendidaktik in der Zukunft. <?page no="208"?> Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de JETZT BES TELLEN! JETZT BES TELLEN! Inez De Florio-Hansen Fremdsprachenunterricht lernwirksam gestalten Mit Beispielen für Englisch, Französisch und Spanisch narr studienbücher 2014, X, 182 Seiten, €[D] 24,99 / Sfr 34,70 ISBN 978-3-8233-6870-0 Die Ergebnisse der empirischen Unterrichtsforschung, z. B. die Studien von Hattie (2009, 2012), Marzano (1998) und Wellenreuther (2004, Neubearb. 2013), zeigen, dass alle Schülerinnen und Schüler größere Lernerfolge erzielen können, wenn der Unterricht stärker von der Lehrperson gesteuert wird. Anhand von Beispielen für Englisch, Französisch und Spanisch wird gezeigt, wie sich neuere Forschungserkenntnisse auf fremdsprachliches Lehren und Lernen übertragen lassen. Dabei wird praxisnah beschrieben, wie im lernwirksamen Fremdsprachenunterricht lehrer- und lernergesteuerte didaktische Ansätze in Einklang gebracht werden können. <?page no="209"?> ! " # $ %" & ' ( ) * " + % , ) % #. / 0 1 2 3" ) 4 " 0 5 , ) % - 0 ! " ! 6 6- & 6 " / 6 7 6 % 2 & 3 7 # 2 % / 8 8 ! 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