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Wissenschaftssprache Deutsch

international, interdisziplinär, interkulturell

0311
2015
978-3-8233-7944-7
978-3-8233-6944-8
Gunter Narr Verlag 
Michael Szurawitzki
Ines Busch-Lauer
Paul Rössler
Reinhard Krapp

Wie international, interdisziplinär und interkulturell ist Deutsch als Wissenschaftssprache? Der Band beleuchtet diese Frage durch aktuelle Forschungsbeiträge aus verschiedenen Perspektiven. Neben der diachronen und synchronen Entwicklung des Deutschen als Wissenschaftssprache wird ihre heutige Rolle in verschiedenen Fachdisziplinen und Ländern diskutiert. Kontrastive Studien zeigen auf, welche Probleme sich bei der Rezeption und Produktion von deutschen wissenschaftstexten für Muttersprachler und Nichtmuttersprachler ergeben und wie diese durch Text- und Diskursanalysen thematisiert werden können. Der Band beinhaltet ausgewählte Beiträge der Tagung "Wissenschaftssprache Deutsch - international, interdisziplinär, interkulturell", die vom 2.-4. Juli 2014 an der Universität Regensburg stattfand. Er richtet sich insbesondere an Linguisten und Germanisten, aber auch an Entscheider in Bildungsinstitutionen und an Leser, die sich für Sprachentwicklung, Sprachvermittlung und Sprachpolitik interessieren.

<?page no="0"?> Wissenschaftssprache Deutsch international, interdisziplinär, interkulturell Michael Szurawitzki / Ines Busch-Lauer Paul Rössler / Reinhard Krapp (Hrsg.) <?page no="1"?> Wissenschaftssprache Deutsch <?page no="3"?> Michael Szurawitzki / Ines Busch-Lauer Paul Rössler / Reinhard Krapp (Hrsg.) Wissenschaftssprache Deutsch international, interdisziplinär, interkulturell <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISBN 978-3-8233-6944-8 <?page no="5"?> Inhalt Vorwort .................................................................................................................... ix Wissenschaftssprache Deutsch - international Jean-Claude Bationo Quo vadis Deutsch als Wissenschaftssprache im Ausland? Wissenschaftserfahrungen und Analyse wissenschaftlicher Forschungsarbeiten in Deutsch an den Universitäten in Burkina Faso ........................................ 3 Agnese Dubova Zur Dynamik der Rolle des Deutschen in der Sprachwissenschaft in Lettland seit dem 20. Jahrhundert................................................................... 13 Konrad Ehlich Zur Marginalisierung von Wissenschaftssprachen im internationalen Wissenschaftsbetrieb............................................................ 25 Han Guo Deutsch als Wissenschaftssprache und seine aktuelle Stellung für Chinesen ........................................................... 45 Ralph Mocikat Für Mehrsprachigkeit in Forschung und Lehre — Der Arbeitskreis Deutsch als Wissenschaftssprache (ADAWIS) e.V.............. 57 Danuta Olszewska Modellierung der Entwicklung wissenschaftlicher Textkompetenz: ohne oder mit expliziter Präskription? ............................................................... 65 Roswitha Reinbothe Der Rückgang des Deutschen als internationale Wissenschaftssprache........ 81 Thorsten Roelcke Deutsche Wissenschaftssprache und internationale lingua franca in Aufklärung und Gegenwart............................................................................................. 95 <?page no="6"?> Inhalt vi Klaus Wolf Durch den nutz willen seines volkes Die Anfänge einer deutschen Wissenschaftssprache im Spätmittelalter ................................................................................................ 113 Sabine Ylönen Deutsch als Wissenschaftssprache in Finnland: Disziplinen im Vergleich .................................................................................... 123 Wissenschaftssprache Deutsch - interdisziplinär Eva Cieślarová Meteorologiesachbücher für Kinder und Erwachsene - Erste Befunde auf der Buchoberfläche.............................................................. 139 Federico Collaoni Deutsch als Wissenschaftssprache: Terminologieentwicklungen im Bereich ‚Erneuerbare Energie‘ ................... 153 Christopher Hall Aufgaben, Gefahren und Aussichten für die deutsche Wissenschaftssprache im 21. Jahrhundert................................. 163 Karl Gerhard Hempel German as a global player? Deutsch in der Klassischen Archäologie .......................................................... 177 Eva Maria Hrdinová Deutsch als Sprache der Theologie und Liturgie der Ostkirchen ................. 191 Gerhard Katschnig Über die Anfänge des Deutschen als Universitätssprache ............................ 205 Arne Krause Medieneinsatz in Germanistik und Maschinenbau: Exemplarische Analysen von Vorlesungen ..................................................... 217 Karin Luttermann Deutsch als Wissenschaftssprache und als Arbeitssprache in der Europäischen Union .......................................................................................................... 231 <?page no="7"?> Inhalt vii Matthias Meiler Wissenschaftssprache digital - medienlinguistische Herausforderungen ......................................................... 245 Canan Şenöz-Ayata Vergleich literaturwissenschaftlicher Artikel in deutschen und türkischen Germanistikzeitschriften.................................. 259 Wissenschaftssprache Deutsch - interkulturell Rogier Crijns Gütekriterien für Vermittlungstexte in der Eurodebatte? Analyse von Sachverhaltsdarstellungen und argumentativer Begründung von Wirtschaftsexperten in Veröffentlichungen 2010-2014 .............................................................................................. 277 Silvia Demmig Das sprachliche Handlungsfeld Deutsch im Studium im Wandel? Konsequenzen für Tests und Curricula ............................................................ 297 Claus Gnutzmann Wenn deutsche Wissenschaftler englische Texte schreiben (müssen). Eine Interviewanalyse fremdsprachiger Autorenschaft................................. 307 Ernest W.B. Hess-Lüttich Wenn Wissenschaft auf Alltag trifft und Arzt auf Patient. Bausteine zur Rhetorikgeschichte medizinischer Kommunikation .............. 321 Martin Mostýn Formen sprachlichen Handelns in Einleitungen zu linguistischen Fachartikeln aus kontrastiver Sicht ................................................................................. 353 Mikaela Petkova-Kessanlis Thematisieren von Textmustermerkmalen in wissenschaftlichen Texten. Ein didaktisches Konzept zum Erwerb von Textmusterwissen im Studium .................................................................. 367 <?page no="8"?> Inhalt viii Frank Rabe Einstellungen und Sichtweisen zu den Wissenschaftssprachen Englisch und Deutsch. Ein disziplinspezifischer Vergleich ................................................................... 381 Autorenverzeichnis ............................................................................................. 395 <?page no="9"?> Vorwort Die Stellung des Deutschen als Wissenschaftssprache steht im Mittelpunkt des vorliegenden Sammelbandes, der in ausgewählten Beiträgen der internationalen Konferenz Wissenschaftssprache Deutsch - international, interdisziplinär, interkulturell eine Bestandsaufnahme zum Thema vornimmt. Damit reflektiert der Band in Anknüpfung an die 2011 vom DAAD, dem Goethe- Institut und dem Institut für Deutsche Sprache veröffentlichte Schrift Deutsch in den Wissenschaften. Beiträge zu Status und Perspektiven der Wissenschaftssprache Deutsch und in Erweiterung der ebenfalls 2011 von Wieland Eins, Helmut Glück und Sabine Pretscher herausgegebenen Publikation Wissen schaffen - Wissen kommunizieren. Wissenschaftssprachen in Geschichte und Gegenwart den aktuellen Forschungsstand zum Thema aus internationaler Perspektive. An der vom 2.—4. Juli 2014 an der Universität Regensburg durchgeführten Konferenz nahmen knapp 80 Teilnehmer 1 aus aller Welt teil. In insgesamt 30 Vorträgen wurde der Status der deutschen Sprache in den Natur- und Geisteswissenschaften unter den im Titel genannten Attributen diskutiert. Ausgangspunkt jedes Konferenztages waren die thematischen Plenarreferate, die von den namhaften Germanisten und Wissenschaftssprachforschern Konrad Ehlich (Berlin/ Deutschland), Jan Engberg (Århus/ Dänemark) und Ernest W. B. Hess-Lüttich (Bern/ Schweiz; Stellenbosch/ Südafrika) gehalten wurden. Der Tagungsband beinhaltet 27 Beiträge und gliedert sich in 3 Abschnitte: (I) Wissenschaftssprache Deutsch - international; (II) Wissenschaftssprache Deutsch - interdisziplinär und (III) Wissenschaftssprache Deutsch - interkulturell. Innerhalb jedes Themenschwerpunktes sind die Beiträge in alphabetischer Reihenfolge der Autorennamen geordnet. Im Themenbereich Wissenschaftssprache Deutsch international wird die Rolle der deutschen Wissenschaftssprache aus historischer und aktueller Perspektive in verschiedenen Ländern und Einrichtungen in den Blick genommen. Jean-Claude Bationo (Koudougou/ Burkina Faso) stellt die Schlüsselfrage für diesen Themenbereich: „Quo vadis Deutsch als Wissenschafts- 1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Sammelband das generische Maskulinum für Personenbezeichnungen männlichen und weiblichen Geschlechts verwendet. <?page no="10"?> Vorwort x sprache im Ausland? “ Anhand seiner Auswertung zur Sprachwahl in germanistischen Forschungsarbeiten an zwei Universitäten in Burkina Faso stellt er dar, dass Deutsch als Wissenschaftssprache in Burkina Faso durchaus einen großen Stellenwert besitzt. Auch für Lettland konstatiert Agnese Dubova (Ventspils/ Lettland) einen nach wie vor relativ hohen Status des Deutschen als Wissenschaftssprache, obwohl ihr Rang im Vergleich zur ersten Hälfte des 20. Jhs. gesunken ist, indem die Verwendungsdomänen auf sekundäre wissenschaftliche Texte wie etwa Zusammenfassungen bei Dissertationen eingeschränkt wurden. Konrad Ehlich (Berlin/ Deutschland) widmet sich dem Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft und thematisiert verschiedene Praxen der Marginalisierung von Wissenschaftssprachen am Beispiel der deutschen Lage. Han Guo (Shanghai/ China) analysiert die Bedeutung der Wissenschaftssprache Deutsch in China und konstatiert eine zunehmende Rolle des Englischen gegenüber dem Deutschen. Ralph Mocikat (München/ Deutschland) hält in seinem Beitrag ein Plädoyer für die Verwendung der deutschen Sprache in Wissenschaft, Forschung und Lehre. Danuta Olszewska (Gdańsk/ Polen) betrachtet Möglichkeiten, wie polnische Studierende Schreibkonventionen im deutschen wissenschaftlichen Stil besser erfassen und eine wissenschaftliche Schreibkompetenz im Deutschen erwerben können. Roswitha Reinbothe (Duisburg-Essen/ Deutschland) verfolgt aus diachroner Sicht die Gründe für den Rückgang des Deutschen als internationaler Wissenschaftssprache. Sie sieht dies aufgrund ihrer Analyse insbesondere durch die politische Abwertung des Deutschen als Wissenschaftssprache nach den Weltkriegen begründet. Thorsten Roelcke (Berlin/ Deutschland) untersucht die Bedeutung des Deutschen als wissenschaftliche lingua franca in Aufklärung und Gegenwart. Klaus Wolf (Augsburg/ Deutschland) skizziert in seinem Beitrag die Anfänge einer deutschen Wissenschaftssprache im Spätmittelalter anhand der Universitäten Wien, Freiburg i.Br. und Heidelberg. Er ortet ein Desiderat in der bisher kaum erforschten, aber überlieferungsmächtigen Übersetzungsprosa und des selbständigen universitären Schrifttums des 14. bis 16. Jhs. und deren Rolle für die Ausbildung der neuhochdeutschen Schriftsprache. Sabine Ylönen (Jyväskylä/ Finnland) präsentiert Forschungsergebnisse zur gegenwärtigen Stellung des Deutschen als Wissenschaftssprache in Finnland, die über Befragungen an finnischen Universitäten und Hochschulen erhoben wurden. Die dem Thema Wissenschaftssprache Deutsch interdisziplinär zugeordneten Beiträge zeigen, wie die deutsche Sprache in verschiedenen Disziplinen und in Vermittlungskontexten verwendet wird: Eva Cieślarová (Ostrava/ Tschechien) betrachtet Vermittlungsstrategien von Fachwissen in popularisierenden Lehrbüchern für Kinder zum Thema Meteorologie. Federico Colla- <?page no="11"?> Vorwort xi oni (Klagenfurt/ Österreich) wendet sich in seinem Beitrag terminologischen Veränderungen in der Fachsprache von Energie- und Umweltschutz zu. Er analysiert den Begriff „Energiewende“ und zeigt Konnotationen anhand von Textbeispielen in der Presse auf. Christopher Hall (Joensuu/ Finnland) diskutiert die Vor- und Nachteile von Englisch als lingua franca der Wissenschaft. Er thematisiert aktuelle Gefahren für die deutsche Wissenschaftssprache, beschränkt sich aber nicht nur auf die kritische Diagnose des status quo, sondern liefert auch konkrete Vorschläge zur Stärkung des Deutschen als Wissenschaftssprache. Karl Gerhard Hempel (Salerno/ Italien) erschließt die Situation des Deutschen als Sprache der Forschung und Lehre in der Klassischen Archäologie. Eva Maria Hrdinová (Ostrava/ Tschechien) befasst sich mit der Lage des Deutschen als Fach- und Wissenschaftssprache der Theologie und Liturgie der Ostkirchen und zeigt dies am Beispiel der deutschen Übersetzungen der Johannes-Chrysostomos-Liturgie. In einem holistisch-kulturgeschichtlichen Ansatz skizziert Gerhard Katschnig (Klagenfurt/ Österreich) den allmählichen Übergang von den Gelehrtensprachen Latein und Französisch zu Deutsch als Universitäts- und damit Wissenschaftssprache im 17. und 18. Jh. im deutschsprachigen Raum. Dieser Übergang geht mit einem gesellschaftlichen Funktionswandel der Institution ‚Universität‘ und mit einem wissenschaftlichen Denkstilwandel einher. Arne Krause (Hamburg/ Deutschland) untersucht den Medieneinsatz in Vorlesungen der Germanistik und des Maschinenbaus. Karin Luttermann (Eichstätt/ Deutschland) setzt sich mit der Rolle des Deutschen als Wissenschaftssprache und als Arbeitssprache in der Europäischen Union in ihrer epistemischen und kommunikativen Bedeutung auseinander und schlägt ein Referenzsprachenmodell als möglichen Lösungsweg für den Sprachgebrauch in der EU vor. Matthias Meiler (Siegen/ Deutschland) diskutiert anhand digitaler Wissenschaftskommunikation die Herausforderungen sowohl für die Fachsprachenforschung wie auch für die Medienlinguistik. Canan Şenöz-Ayata (Istanbul/ Türkei) präsentiert Ergebnisse ihrer Untersuchung zu literaturwissenschaftlichen Artikeln in deutschen und türkischen Germanistikzeitschriften. Aus dem Bereich Wissenschaftssprache Deutsch interkulturell werden die nachfolgend genannten Beiträge publiziert: Rogier Crijns (Nijmegen/ Niederlande) analysiert Gütekriterien für Vermittlungstexte anhand von Textmaterial zur Eurodebatte und geht dabei insbesondere auf die von Wirtschaftsexperten genutzten argumentativen Vertextungsmuster ein. Silvia Demmig (Leipzig/ Deutschland) geht der Frage nach, wie die Akteure und Forschenden im Handlungsfeld Deutsch im Studium mit den Veränderungen umgehen , die die Internationalisierung der Hochschulen in Deutschland mit sich bringt. Claus Gnutzmann (Braunschweig/ Deutsch- <?page no="12"?> Vorwort xii land) und Frank Rabe (Braunschweig/ Deutschland) stellen in ihren Beiträgen das Projekt ‚Publish in English or Perish in German? Wissenschaftliches Schreiben und Publizieren in der Fremdsprache Englisch‘ vor. Darin geht es insbesondere um die Analyse von Befragungsergebnissen zu wissenschaftlichen Schreibprozessen deutscher Wissenschaftler in Englisch aus Autoren- und Herausgebersicht. Ernest W.B. Hess-Lüttich (Bern/ Schweiz) rekonstruiert die rhetorischen Traditionslinien medizinischer Kommunikation von der Antike bis zur Gegenwart. Mit dem daraus erarbeiteten Analyseinstrumentarium interpretiert er Formen der ‚ästhetischen Problematisierung‘ medizinischer Kommunikation in ausgewählten Beispielen belletristischer Literatur. Martin Mostýn (Ostrava/ Tschechien) stellt Ergebnisse einer kontrastiven Analyse von linguistischen Zeitschriftenartikeln Deutsch- Tschechisch vor. Mikaela Petkova-Kessanlis (Sofia/ Bulgarien) untersucht Textmustermerkmale in wissenschaftlichen Texten mit didaktischer Konzeptualisierungsperspektive. Die Herausgeber danken den Autoren für ihre interessanten Vorträge und ihre Bereitschaft zur Veröffentlichung ihrer Forschungsergebnisse in diesem Sammelband. Zur Sicherung der wissenschaftlichen Qualität wurden alle Beiträge einem Begutachtungsverfahren unterzogen. Daher danken wir an dieser Stelle der Begutachtergruppe für ihre zahlreichen Anregungen. Wir danken außerdem den Förderinstitutionen, die nicht nur die Tagung teils großzügig unterstützt haben, sondern auch die Publikation dieses Sammelbandes. An erster Stelle geht unser Dank an die Universitätsstiftung Hans Vielberth der Universität Regensburg. Dem Goethe-Institut München danken wir für die Aufnahme der Konferenz in die Veranstaltungsreihe Deutsch 3.0 - Debatten über Sprache und ihre Zukunft und die damit verbundene mediale Sichtbarkeit. Wir danken auch dem Arbeitskreis Deutsch als Wissenschaftssprache (ADAWIS) für die Gewährung einer finanziellen Förderung. Dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) und der Österreichischen Forschungsgemeinschaft (ÖFG) gilt unser Dank für die Finanzierung von Referenten. Wir bedanken uns bei den studentischen Hilfskräften des Lehrstuhls für Deutsche Sprachwissenschaft Regensburg, Luciano Melodia, Anna Saller und Manuel Glondys, für ihre Unterstützung bei der Fertigstellung dieses Bandes. Dr. Bernd Villhauer und Daniel Seger vom Gunter Narr Verlag danken wir abschließend für die Begleitung des Publikationsprojektes. Januar 2015 Die Herausgeber <?page no="13"?> Wissenschaftssprache Deutsch — international <?page no="15"?> Jean-Claude Bationo Quo vadis Deutsch als Wissenschaftssprache im Ausland? Wissenschaftserfahrungen und Analyse wissenschaftlicher Forschungsarbeiten in Deutsch an den Universitäten in Burkina Faso Abstract Der Stellenwert des Deutschunterrichts, der Germanistik und die Forschung im Bereich Deutsch als zweite Fremdsprache im burkinischen Schul- und Hochschulsystem rechtfertigen sich durch das Übernehmen des ehemaligen französischen Schulsystems. Da die Forschungsarbeiten in den Germanistikabteilungen in Frankreich meistens in Französisch verfasst sind, sollten diese in Burkina Faso auch im Französischen geschrieben werden. In den letzten Jahrzenten wurden wissenschaftliche Arbeiten jedoch auf Deutsch verfasst. Im vorliegenden Beitrag wird untersucht, inwiefern die Verwendung des Deutschen für wissenschaftliche Forschungsarbeiten an den Universitäten Ouagadougou und Koudougou wichtig ist und worüber geschrieben wird. 1 Einleitung Im heutigen Zeitalter der immer größer werdenden Mobilität der Menschen ist der Fremdsprachenerwerb als Kulturerbe nicht nur ein unschätzbarer Schlüssel, der die Türen der Lebenswelt öffnet, sondern auch ein kostbarer Wert, der Wissen in unterschiedlichen Kulturräumen zu transferieren ermöglicht. „Im Mittelpunkt der Wissensgesellschaft stehen Ideen, Informationen und Innovationen“ (Gorny 2010: 69). Fremdsprachen ermöglichen also eine wissenschaftliche Kommunikation zwischen Forschern aus unterschiedlichen Wissensgesellschaften, um diese Ideen, Informationen und Innovationen auf allen Ebenen der Wissenschaft miteinander fruchtbar zu diskutieren. Daher spielen Fremdsprachen wie Arabisch, Deutsch, Englisch und Französisch als Wissenschaftssprachen eine wichtige Rolle beim Transfer von Forschungsergebnissen im afrikanischen Kulturraum südlich der Sahara. In dem vorliegenden Aufsatz begrenzen wir unsere Überlegungen auf den <?page no="16"?> Jean-Claude Bationo 4 Stellenwert der deutschen Sprache als Wissenschaftssprache in den burkinischen Staatsuniversitäten, der Universität Ouagadougou und der Universität Koudougou. Hier wird in den beiden Deutschabteilungen untersucht, welche Rolle Deutsch als Wissenschaftssprache in den Forschungsarbeiten der burkinischen Germanisten spielt. Analysiert wird auch, worüber, warum und in welchen dominanten europäischen Sprachen die Germanisten ihre Forschungsarbeiten schreiben. Als methodische Vorgehensweise wird zunächst ein geschichtlicher Überblick über das Deutsche als Wissenschaftssprache in Burkina Faso gegeben. Dann werden die Forschungsthemen der Magister- und Abschlussarbeiten vorgestellt und analysiert. 2 Geschichtlicher Überblick über Deutsch als Wissenschaftssprache in Burkina Faso Zehn Jahre nach der Gründung der Universität Ouagadougou im Jahre 1972 wurde die Fachrichtung Germanistik an der Universität Ouagadougou eingerichtet. Das Hauptziel der Fremdsprachenpolitik für die Auslandsgermanistik (die auch für die Germanistik in Ouagadougou gilt) ist die Verbreitung der deutschen Sprache und Kultur. Um dieses Ziel zu erreichen, wurden Studiengänge wie Sprachwissenschaft, Literaturwissenschaft und Geschichtswissenschaft bzw. Civilisation allemande grundständig eingeführt (vgl. Diop 2000: 88; Böhm 2003: 94). Nach Abschluss der Licence (Bachelor) sollen die Studierenden in der Lage sein, die deutsche Sprache mündlich und schriftlich zu beherrschen sowie die Geschichte der deutschen Sprache zu kennen. Sie sollen fähig sein, die deutsche Literatur der Gegenwart und die deutsche klassische Literatur sowie die Geschichte der deutschsprachigen Länder zu meistern. Diese Fähigkeiten erwerben die Studierenden durch eine Fachsprache, ein Fachwissen, eine Wissenschaftssprache. Aus dieser Perspektive definiert Wierlacher (1980: 15) die Germanistik als „lernzugewandte Wissenschaft“. In der Tat werden alle Module in den drei Hauptstudiengängen, weitestgehend, auf Deutsch unterrichtet. Das Wissen über die deutsche Sprache, Literatur, Geschichte und Kultur wird also durch die deutsche Sprache vermittelt. Demnach wird Deutsch an der Universität Ouagadougou seit dem Aufbau der Germanistikabteilung im Jahre 1982 nicht nur als Fremdsprache, sondern auch als Wissenschaftssprache genutzt, obwohl diese Wissenschaftssprache Deutsch seit dem Ersten Weltkrieg ihr internationales Renommee nach und nach verloren hat (vgl. Reinbothe 2006: 11f.; 399f.). Diese Wissenschaftssprache als Vorlesungs-, Seminarbzw. <?page no="17"?> Quo vadis Deutsch als Wissenschaftssprache im Ausland? 5 Lehrersprache wird seit 1996 durch die Eröffnung der Magisterstudiengänge verstärkt. ‚Deutsch als Wissenschaftssprache‘ bzw. als ‚Wissenschaftslehre‘ (DaW) wurde auch an der Pädagogischen Hochschule Koudougou von 1996 bis 2004 und dann seit 2005 an der Universität Koudougou intensiviert. Auch wenn die ersten Abschlussarbeiten von angehenden Deutschinspektoren von 1998 bis 2004 im Französischen geschrieben und mündlich verteidigt wurden, spielte die deutsche Sprache trotzdem eine wichtige Rolle, da die theoretischen Teile in diesen Arbeiten auf der Rezeption deutschsprachiger Bücher beruhten. Um diese Theorien zu verstehen und dann im Französischen schreiben zu können, brauchte man gute Kenntnisse im Deutschen. Hier spielten und spielen immer noch die Germanisten eine Vermittlungsrolle bzw. sie stellen eine Brücke zwischen der deutschen und französischen Kultur dar, da sie das in deutscher Sprache niedergelegtes Wissen in Büchern an die burkinischen französischsprachigen Wissenschaftler vermitteln, indem sie ihre Arbeiten auf Deutsch schreiben. Ferner überschreiten sie die Sprachbarrieren, indem sie einige deutsche Textpassagen ins Französische übersetzen. Diese übersetzten Texte können von nicht deutschsprachigen Wissenschaftlern zitiert werden. Hier kann man von einem „Wissenstransfer durch Deutsch als Fremdsprache“ (vgl. Lewandowska/ Ballod 2013: 1f.) sprechen. Was die Forschungsarbeiten anbelangt, werden diese seit 2010 in Deutsch verfasst und mündlich öffentlich verteidigt. Im Jahr 2013 wurde beschlossen, dass die Masterarbeiten sowie die Dissertationen in Deutsch geschrieben werden. Aber worüber schreiben die burkinischen Germanistikstudierenden? 3 Wissenschaftssprachen an den Universitäten 3.1 Universität Ouagadougou Magisterarbeiten werden überwiegend in Deutsch verfasst; von 23 untersuchten Magisterarbeiten sind nur zwei in Französisch. Alle anderen 21 Studierenden haben sich bemüht, im Deutschen zu forschen und zu schreiben. Die Verteidigungen finden auch auf Deutsch statt. Abbildung 1 zeigt die für Magisterarbeiten im Zeitraum von 1998 bis 2013 verwendeten Sprachen (Deutsch vs. Französisch). <?page no="18"?> Jean-Claude Bationo 6 Abb. 1: Verwendete Sprachen der Magisterarbeiten an der Germanistikabteilung Wichtig ist, dass den Studierenden völlig freie Hand gelassen wird, ihre Magisterarbeiten auf Deutsch oder auf Französisch zu schreiben. Für die beiden Studierenden, die ihre Arbeiten im Französischen geschrieben haben, war diese Sprache vertrauter. Es kann auch sein, dass der Forschungskontext des behandelten Themas sowie die Datenerhebung den Gebrauch des Französischen verlangten. Die Verwendung des Französischen lässt auch vermuten, dass der betroffene Studierende im Deutschen sprachlich schwach sein kann. Der Gebrauch des Französischen scheint in diesem Fall eine Lösung zu sein. Die behandelten Themenbereiche variieren nach dem Studiengang; es finden sich Themen wie Interkulturalität, deutsche Geschichte, kontrastive Analysen von Deutsch und burkinischen Sprachen, vergleichende Analysen von Werken deutscher und afrikanischer Literatur und Themen über das soziale Leben in Deutschland und in Burkina Faso. Es ist beeindruckend, dass im Fachbereich Literaturwissenschaft mehr geschrieben wurde als in den anderen Studiengängen. Der Grund dafür liegt darin, dass die DAAD-Lektoren in dieser Zeitspanne Literaturwissenschaftler waren. Sie erleichterten den Zugang zu Primär- und Sekundärliteratur. Außerdem erhielten die zwei besten Studierenden Kurzforschungsstipendien vom DAAD für einen sechsmonatigen Forschungsaufenthalt in Deutschland. <?page no="19"?> Quo vadis Deutsch als Wissenschaftssprache im Ausland? 7 3.2 Universität Koudougou Die Rolle des Deutschen als Wissenschaftssprache an der Universität Koudougou hat sich im Vergleich zur Universität Ouagadougou anders entwickelt, da die Zielsetzung für das Deutschstudium nicht nur auf dem Erwerb der deutschen Sprache, Literatur und Kultur lag, sondern auf die Wissenschaft des Lehrens und Lernens der deutschen Sprache, der deutschen Literatur und der deutschen Landeskunde ausgerichtet war. Es geht also viel mehr um Sprach-, Literatur- und Landeskundedidaktik (vgl. Bationo 2006; 2007; 2014a; 2014b). Da es unter den burkinischen Dozenten an der Universität Koudougou keinen Fachdidaktiker für die Betreuung gab, sollten die Germanisten ihre Abschlussarbeiten im Französischen schreiben. 1 Deshalb wurden alle Abschlussarbeiten (insgesamt 8) in der Pädagogischen Hochschule von 1998 bis 2009 in Französisch verfast. Abbildung 2 veranschaulicht diese Situation: Abb. 2: Verwendete Sprachen für Forschungsarbeiten in der DaF-Sektion 1 Die drei Gastdozenten aus der Germanistikabteilung der Universität Ouagadougou gehören auch zu den Betreuern der Abschlussarbeiten angehender Inspektoren. Zwei von ihnen haben in Frankreich promoviert. Ein Dozent hat in Deutschland promoviert, dennoch ist seine Dissertation im Französischen geschrieben und veröffentlicht. Außer diesen Beispielen verfassen die burkinischen Germanisten ihre Dissertationen häufig in Deutsch. <?page no="20"?> Jean-Claude Bationo 8 Abb. 2 zeigt, dass die Abschlussarbeiten ab 2010 in Deutsch verfasst wurden. Die Erklärung dafür ist, dass der Dozent bzw. der DaFler, der seit 2007 an der Universität Koudougou tätig ist, fordert, Abschlussarbeiten in Deutsch zu verfassen, weil Deutsch auch Wissenschaftssprache ist (vgl. DAAD 2013) und in Burkina Faso beherrscht wird. Obwohl Französisch als Wissenschaftssprache verwendet wird, spielt auch Deutsch dabei eine zentrale Rolle, wie das Literaturverzeichnis jeder Abschlussarbeit zeigt. Ein Vorteil liegt darin, dass alle angehenden Lehrer, Fachberater, Inspektoren und Studierenden die Möglichkeit haben, deutsche Didaktiker, Pädagogen, Sprachwissenschaftler, Literaturwissenschaftler, Geschichtswissenschaftler, Geographiewissenschaftler, Kulturwissenschaftler, Medienwissenschaftler, Lehrbuchautoren etc. kennenzulernen, weil die für die Forschungsarbeiten verwendete Sprache Französisch allen burkinischen Adressaten zugänglich ist (vgl. Bationo 2012). Auf Deutsch forschen, aber auf Französisch schreiben, ist übrigens die Praxis an den meisten französischen Universitäten. 2 Allerdings findet die mündliche Verteidigung bzw. die Disputation auf Deutsch statt. Wenn wir Guckelsberger (2006: 147f.) zustimmen, dass die mündlichen Referate der Studierenden zu fachlichen Wissenschaftsbeständen gehören, dann schließen wir daraus, dass die im Deutschen gehaltenen Referate der burkinischen Studierenden, angehenden Deutschlehrer, Fachberater und Inspektoren weitere Indikatoren für den Gebrauch des Deutschen als Wissenschaftssprache sind. Seit 2010 begründet sich DaW an der Universität Koudougou vor allem dadurch, dass die angehenden Inspektoren, Masterstudierenden und Doktoranden ihre Schreibkompetenzen in Deutsch durch Schreibtraining verbessern. Ferner sind die schriftlichen Forschungsarbeiten sowie die mündliche Vorstellung vor einer Prüfungskommission weitere Leistungskriterien, um das schriftliche und mündliche Sprach- und Studienniveau der Kandidaten zu überprüfen. Zu den zurzeit häufig von den Germanisten an der Universität Koudougou behandelten Themen gehören: Medien im Unterricht, Lehrwerkanalyse, Sozialformen des Unterrichts, Unterrichtsbeobachtung, Literaturdidaktik, Landeskundedidaktik, Motivation, Schreibfertigkeit, Lesedidaktik, Sprechfertigkeit, Übersetzung, Leistungsmessung, Lernspiele, Migration usw. Die 2 Haas erklärt, das Französische als Wissenschaftssprache in Frankreich werde stärker verwendet als die jeweilige Landessprache in anderen europäischen Ländern (Haas 2011: 72). Diese Erklärung weist darauf hin, dass die Verwendung des Französischen nicht nur die Germanistikabteilungen betrifft, sondern auch alle Forschungsbereiche an den Universitäten und Hochschulen in Frankreich. <?page no="21"?> Quo vadis Deutsch als Wissenschaftssprache im Ausland? 9 Arbeiten umfassen mindestens 80 Seiten, sind aber oft nur befriedigend, weil sie unter großen Problemen erstellt werden. Da den Studierenden fast keine Fachbücher über ihre gewünschten Themen zur Verfügung stehen, ist die Behandlung der o.g. ausgewählten Themen häufig wissenschaftlich oberflächlich. Eine Ausnahme bilden die Arbeiten von DAAD- oder Goethe- Institut-Stipendiaten, die vom DAAD bezahlten Forschungsaufenthalt oder durch eine vom Goethe-Institut finanzierten Dienstreise nach Deutschland profitiert haben, um ihre Abschlussarbeiten zu schreiben bzw. Material über die behandelten Themen auszuwerten. 4 Schlussfolgerung In den beiden burkinischen staatlichen Universitäten, Ouagadougou und Koudougou, wird Deutsch nicht nur als Fremd- und Kultursprache, sondern auch und vor allem als Wissenschaftssprache verwendet. Das Schaffen von neuem Wissen sowie die Überlegung zu und die Vermittlung von Wissen werden unmittelbar auf Deutsch bewerkstelligt und in der deutschen Sprache bearbeitet. Die im Deutschen geschriebenen Magisterarbeiten in der Germanistikabteilung der Universität Ouagadougou und die im Deutschen produzierten Abschluss- und Masterarbeiten sowie Dissertationen in der DaF-Sektion der Universität zu Koudougou bestätigen die Rolle von DaW in Burkina Faso. Anders gesagt, Französisch als Wissenschaftssprache wird seit 2010 in der DaF-Sektion der Universität Koudougou nicht mehr für Abschlussarbeiten benutzt. Dennoch können Französisch und Englisch nie aus dem Forschungsfeld ausgeschlossen werden. So wie Deutsch dienen diese beiden Wissenschaftssprachen zum Transfer vieler wichtiger wissenschaftlicher Informationen, sodass ihre Verwendung für die Qualität der Forschungsergebnisse relevant ist. Hier können sie als ‚Ergänzungswissenschaftssprachen‘ betrachtet werden, da die Studierenden englisch- und französischsprachige Bücher lesen und deren Inhalte lediglich zur Verbesserung der im Deutschen geschriebenen Forschungsarbeiten benutzen. Das ist eine Art von Mehrsprachigkeit in der Wissenschaft, von der Schneider gesprochen hat (Schneider 2012: 245). Deshalb werden einige Aufsätze im Französischen geschrieben, um den frankophonen Adressaten, die Deutsch nicht verstehen, über die Fremdsprachendidaktik, die Didaktik von Deutsch als Fremdsprache, die Didaktik deutscher Literatur, die Übersetzungsdidaktik literarischer Texte usw. zu informieren (vgl. Bationo 2012; 2013a; 2013b; 2014c). Ohne dieses Verfahren, würde deutschsprachige Literatur zur Theorie der Didak- <?page no="22"?> Jean-Claude Bationo 10 tik bzw. der Unterrichtsforschung oder über die theoretischen Grundlagen der Fremdsprachendidaktik nicht rezipiert. Wie die Auslandsgermanistik in Afrika südlich der Sahara im Allgemeinen, bestehen viele Schwierigkeiten in Forschung und Lehre: Es gibt keine geeigneten Bücher über Forschungsthemen und keine staatlichen Stipendien für Forschungsaufenthalte in Deutschland. Darüber hinaus ist das Sprachniveau der Studierenden in Burkina Faso so gering, dass es manchmal schwierig ist, ein Stipendium für einen Forschungsaufenthalt in Deutschland zu erhalten (vgl. Bationo 2014b: 197f.). Dennoch ist DaW an den Staatsuniversitäten in Burkina Faso hoffnungsvoll und erfolgversprechend. Aber diese gute Aussicht kann entfallen, wenn die deutschen Wissenschaftler immer stärker auf ihre Muttersprache, zugunsten des Englischen, verzichten, wie Ehlich und Meyer (2012: 31) dies beschreiben: „Mit Sorge beobachten wir ein Desinteresse an der Rolle des Deutschen in Wissenschaft und Bildung, ja, die demonstrative Distanzierung von der deutschen Sprache, wie sie von nicht wenigen praktiziert wird. Immer stärker ist die generelle Neigung zu beobachten, wann immer etwas als modern, kreativ oder innovativ charakterisiert werden soll, dies in Englisch zu tun. Weiterhin fehlt ein kritisches Gespür für die fortlaufende Statusminderung der deutschen Sprache durch das sprachliche Verhalten von Angehörigen der deutschen Eliten.“ Literatur Bationo, Jean-Claude (2006): Der burkinische Deutschunterricht auf der Suche nach Identität. In: Gouaffo, Albert/ Traoré, Salifou (2006) (Hrsg.): L'allemand au contact de la diversité linguistique en Afrique. Deutsch am Kreuzpunkt der Mehrsprachigkeit in Afrika. In: Mont Cameroun, Nr. 3, S. 49—61. Bationo, Jean-Claude (2007): Literaturvermittlung im Deutschunterricht in Burkina Faso. Stellenwert und Funktion literarischer Texte im Regionallehrwerk IHR und WIR. Teil 1. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang. Bationo, Jean-Claude (2012): Introduction à la didactique de la littérature allemande. Ouagadougou: Presses Universitaires de Ouagadougou. Bationo, Jean-Claude (2013a): Rôle de la littérature dans le développement de la compétence communicationnelle en cours d'allemand au Burkina Faso. In: Revue Multilingual, Nr. 1, S. 69—79. Bationo, Jean-Claude (2013b): Littérature et Interculturel: l'usage de la bande dessinée en classe d'allemand au Burkina Faso. In: Revue Wiire, Nr. 00, S. 15—41. Bationo, Jean-Claude (2014a): Mémoire culturelle et interculturelle. Introduction des Ruines de Loropéni dans l'enseignement des langues étrangères et nationales au Burkina Faso In: Somé, Magloire/ Simporé, Lassina (2014a) (Hrsg.): Lieux de mémoire, patrimoine et histoire en Afrique de l'Ouest. Aux origines des Ruines de Loropéni, Burkina Faso. Paris: Editions des archives contemporaines , S. 185—194. <?page no="23"?> Quo vadis Deutsch als Wissenschaftssprache im Ausland? 11 Bationo, Jean-Claude (2014b): Literaturdidaktik und Didaktikliteratur: Unterrichtskonzepte und Unterrichtsrezepte für Deutsch als Fremdsprache in Burkina Faso. In: Mabe, Jacob Emmanuel (2014b) (Hrsg.): Warum lehrt und lernt man Deutsch in Afrika? Autobiographische Ansichten und didaktische Erfahrungen. Nordhausen: Traugott Bautz, S. 133—146. Bationo, Jean-Claude (2014c, im Druck): Ausbildung der angehenden Deutschlehrer, -fachberater und -inspektoren an der Pädagogischen Hochschule der Universität Koudougou in Burkina Faso: Bestandsaufnahme und Perspektiven. In: DAAD (Hrsg.): Deutsche Sprache und Kultur im afrikanischen Kontext. Beiträge der DAAD- Tagung 2012 mit Partnerländern in der Region Subsahara-Afrika. Göttingen: Wallstein, S. 197—210. Böhm, Michael Anton (2003): Deutsch in Afrika. Die Stellung der deutschen Sprache in Afrika vor dem Hintergrund der bildungs- und sprachpolitischen Gegebenheiten sowie der deutschen Auswärtigen Kulturpolitik. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang. DAAD, Goethe-Institut (2013): Deutsch in den Wissenschaften: Beiträge zu Status und Perspektiven der Wissenschaftssprache Deutsch. München: Klett. Diop, E. H. Ibrahima (2000): Das Selbstverständnis von Germanistikstudium und Deutschunterricht im frankophonen Afrika. Vom kolonialen Unterrichtsfach zu eigenständigen Deutschlandstudien und zum praxisbezogenen Lernen. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang. Ehlich, Konrad/ Meyer, Joachim (2012): Thesen zur künftigen Rolle des Deutschen in der Wissenschaft und zu den Chancen wissenschaftlicher Mehrsprachigkeit. 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Grundlagen und Verfahren der Germanistik als Fremdsprachenphilologie. Band 1. München: Fink, S. 9—27. <?page no="25"?> Agnese Dubova Zur Dynamik der Rolle des Deutschen in der Sprachwissenschaft in Lettland seit dem 20. Jahrhundert Abstract In dem Beitrag werden die Veränderungen bezüglich der Rolle der deutschen Sprache von Anfang des 20. Jahrhunderts bis heute in der lettischen Sprachwissenschaft dargestellt. Deutsch galt als Vorbild für die Wissenschaftssprache in Lettland. Deswegen spielte die deutsche Sprache bei der Herausbildung der lettischen sprachwissenschaftlichen Fachwörter in der ersten Unabhängigkeitszeit (1918—1940) eine entscheidende Rolle. Viele Termini sind noch immer aktuell. In dieser Zeit wurden auch viele sprachwissenschaftliche Beiträge der lettischen Sprachforscher unter dem Einfluss der deutschen Quellen veröffentlicht. Darüber wird ein Überblick gegeben. Nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit (ab 1990) werden auch noch sprachwissenschaftliche Beiträge und Promotionen in Lettland in der deutschen Sprache veröffentlicht, aber mit sinkender Tendenz. Die deutsche Sprache als Wissenschaftssprache wird heutzutage noch in den sekundären wissenschaftlichen Texten verwendet. Vorwiegend werden rekapitulierende Textsorten wie Zusammenfassungen bei Promotionen und bei den auf Lettisch verfassten Beiträgen auf Deutsch veröffentlicht. Die Ergebnisse zur Rolle der deutschen Sprache in der heutigen lettischen Sprachwissenschaft werden zusammengefasst und die Tendenzen zum Gebrauch des Deutschen in der lettischen Sprachwissenschaft aufgezeigt. 1 Einleitung Bis zum 20. Jahrhundert galt die deutsche Sprache bei den sprachwissenschaftlichen bzw. sprachwissenschaftlich orientierten Forschungen und deren Publikationen im heutigen Territorium Lettlands unbestritten als eine der wichtigsten Sprachen. Die ersten Verfasser sprachwissenschaftlich orientierter Abhandlungen über die lettische Sprache waren die örtlichen deutschsprachigen Theologen: Johann Georg Rehehusen (1600—1650), Pastor und Verfasser der ersten lettischen Grammatik (1644), Georgius Mancelius od. Georg Manzel (1593—1654), Autor des ersten lettischen Wör- <?page no="26"?> Agnese Dubova 14 terbuchs (1638), Johann Ernst Glück (1654—1705), Übersetzer der Bibel ins Lettische (1685—1694), und Gotthard Friedrich Stender (1714—1796), Autor der ersten lettischen Enzyklopädie, der lettischen Grammatik, des Lexikons u.a. (Lele-Rozentale 2011: 68). Die Ansätze der Erforschung der lettischen Sprache bzw. Lexikographie und Grammatik durch die deutschen Pastoren haben „Traditionen eingeleitet, die in der Folge meist von den lettischsprachigen Wissenschaftlern übernommen wurden” (Lele-Rozentale 2011: 75). Der bekannte lettische Sprachwissenschaftler J. Endzelīns verfasste die ‚Lettische Grammatik‘ 1922 auf Deutsch, die erst 1951 ins Lettische übersetzt wurde. Das umfangreiche ‚Lettisch-deutsche Wörterbuch‘ (1923—1932) wurde von Kārlis Mühlenbach angefangen, von J. Endzelīns redigiert und ergänzt und später auch fortgesetzt. Die lettische Sprachwissenschaftlerin S. Kļaviņa misst diesem Wörterbuch in ihrem Artikel über die wenig bekannten biograpischen Daten von J. Endzelīns (Kļaviņa 2012: 6) wegen des Quellenreichtums und der komplexen Beschreibung der Stichwörter eine herausragende Bedeutung in der lettischen Lexikographie bei. Die erwähnten Tatsachen und Behauptungen gelten als Anlass zur weiteren Beschäftigung mit der Erforschung der Rolle des Deutschen in den sprachwissenschaftlichen Beiträgen während der ersten staatlichen Unabhängigkeit Lettlands (1918—1940). Nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit (ab 1990) wird auch die oben erwähnte Tradition fortgesetzt, indem die sprachwissenschaftlichen Beiträge in Lettland nach wie vor mitunter auf Deutsch, aber auch in anderen Sprachen wie Lettisch, Englisch oder Russisch verfasst werden. Die deutsche Sprache ist insbesondere in den sekundären bzw. rekapitulierenden wissenschaftlichen Textsorten vertreten. Es ist jedoch zu beobachten, dass die deutsche Sprache im Vergleich zur ersten Periode der staatlichen Unabhängigkeit Lettlands allmählich eine geringere Rolle einnimmt. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, die Tendenzen zum Gebrauch der deutschen Sprache in den lettischen sprachwissenschaftlichen Veröffentlichungen während zweier Unabhängigkeitsperioden Lettlands im 20. Jahrhundert darzustellen und die Veränderungen aufzuzeigen. 2 Sprachwissenschaftliche Veröffentlichungen 1918—1940 Im Zeitraum 1918—1940 konnten die lettischen sprachwissenschaftlichen Veröffentlichungen vorwiegend in drei Sammelbänden publiziert werden. Der Titel des ersten Sammelbandes lautet ‚Latvijas Universitātes raksti‘ (1921—1943) (Deutsch: Schriften der Universität Lettlands), der jährlich erschien. In diesem Sammelband wurden ausschließlich wissenschaftliche <?page no="27"?> Deutsch in der Sprachwissenschaft in Lettland seit dem 20. Jahrhundert 15 Artikel der Mitarbeiter der Universität Lettlands veröffentlicht. Im Sammelband der Universität Lettlands durfte man die wissenschaftlichen Artikel auf Lettisch, Deutsch, Französich, Englisch, Italienisch und Lateinisch publizieren. Dabei wurde empfohlen, den Artikeln in einer Fremdsprache eine Zusammenfassung auf Lettisch anzufügen (Baltiņš 2007: 17). Ab 1929 sollte auch den lettischen Beiträgen eine Zusammenfassung auf Englisch, Französisch oder Deutsch hinzugefügt werden. 1 In den ersten zwanzig Bänden erschienen auf Lettisch und Deutsch verfasste Artikel in gleicher Anzahl, d.h. 40% in der jeweiligen Sprache, dann folgte Französisch. Englisch war nur in 10 Beiträgen vertreten (Baltiņš 2007: 20). Die meisten wissenschaftlichen Beiträge kamen aus der Fakultät für Philologie und Philosophie (darunter sprachwissenschaftliche Beiträge), aber auch aus den Fakultäten für Chemie, für Medizin und für Mathematik und Naturwissenschaften (Baltiņš 2007: 20). Dem bibliographischen Verzeichnis des Sammelbandes ‚Latvijas Universitātes raksti‘ (Treide 2007) kann entnommen werden, dass zwei lettische Sprachwissenschaftler, J. Plāķis und E. Blese, die lettische Sprache für ihre sprachwissenschaftlichen Beiträge bevorzugten. Es ist aber zu vermerken, dass zwei Artikel von diesen lettischen Sprachwissenschaftlern in diesem Sammelband auch auf Deutsch erschienen sind: 1. Plāķis, Juris. Die litauischen und lettischen Zusammensetzungen mit Präpositionen (Praep. + Nomen und Prap.+ Verbum) und das Problem ihrer Intonationen / J. Plahkis / / Latvijas Universitātes Raksti. - Rīga, 1928. - 18. [sēj.], [53.] - 59. lpp. (Treide 2007: 77) 2. Blese, Ernests. Die Kuren und ihre sprachliche Stellung im Kreise der baltischen Volksstämme / E. Blese / / Congressus secundus archaelogorum Balticorum, Rigae, 19. - 23. aug., 1930 = Otrs Baltijas aizvēstures kongress, Rīgā, 19. - 23. aug., 1930. - (Latvijas Universitātes Raksti. Filoloģijas un filozofijas fakultātes sērija; 1.sēj., 1.papild.). - 293. - 312. lpp. (Treide 2007: 90) Außerdem wurde eine deutsche Zusammenfassung nach drei auf Lettisch verfassten Artikeln angefügt, die nach dem Beschluss des Jahres 1929 über die Hinzufügung einer Zusammensfassung in einer Fremdsprache nach einem auf Lettisch verfassten Artikel an der Universität Lettlands herausgebracht wurden: 1. Blese, Ernests. Pārskats par studijām Prūsijas valsts arhīvā Karaļaučos. 1929.g. vasaras komandējuma laikā/ E. Blese. - Kopsav. vācu val.: Königs- 1 Latvijas Universitātes darbības pārskats 1929./ 1930. akadēmiskajā gadā. Rīga: LU izdevums, 1930, S. 206—209; zit. n. Baltiņš 2007: 31. <?page no="28"?> Agnese Dubova 16 berger Arbeitsbericht, 61. - 64. lpp./ / Latvijas Universitātes Raksti. Filoloģijas un filozofijas fakultātes sērija. - 1.sēj., Nr. 2 (1931), [17.] - 64.lpp. (Treide 2007: 90) 2. Plāķis, Juris. Latvijas vietu vārdi un latviešu pavārdi: 1.daļa: Kurzemes vārdi/ J. Plāķis. - Kopsav. vācu val.: Lettlands Ortsnamen und lettische Familiennamen, [305.] lpp./ / Latvijas Universitātes Raksti. Filoloģijas un filozofijas fakultātes sērija. - 4.sēj., Nr.1 (1936), [1.] - 305.lpp. (Treide 2007: 109) 3. Plāķis, Juris. Latvijas vietu vārdi un latviešu pavārdi: II d.: Zemgales vārdi/ J. Plāķis. - Kopsav. vācu val.: Lettlands Ortsnamen und lettische Familiennamen, [216.] lpp./ / Latvijas Universitātes Raksti. Filoloģijas un filozofijas fakultātes sērija. - 5.sēj., Nr.5 (1939), [213.] - 528b. lpp. (Treide 2007: 121) Der zweite behandelte jährliche Sammelband trägt den Titel ‚Filologu biedrības raksti‘ (Deutsch: Schriften der Gesellschaft für Philologen), erschienen von 1921 bis 1941. Die Gesellschaft für Philologen wurde 1920 an der Universität Lettlands gegründet. Deren erster Vorsitzender und Herausgeber des Sammelbandes war der Professor für Sprachwissenschaft an der Universität Lettlands J. Endzelīns. In diesem Sammelband wurden die wissenschaftlichen Beiträge in Themenbereichen wie Sprachwissenschaft, Kunstgeschichte und Archäologie, Geschichte, lettische und klassische Literatur u.a. veröffentlicht. Es wurden Artikel publiziert, die meistens als Vorträge in den Sektionen der Gesellschaft für Philologen gehalten wurden. Außerdem wurden auch Beiträge herausgegeben, die vorher in Sektionen nicht vorgetragen waren (Blese 1930: 484). Die Artikel sind vorwiegend auf Lettisch, aber 13 Aufsätze wurden von den ausländischen Wissenschaftlern in der deutschen Sprache verfasst, von denen acht Beiträge den sprachwisschaftlichen Themen gewidmet wurden, z.B.: 1. Niedermann, Max (1927): Lett. zandarts « Storch. Filologu biedrības raksti. Nr. 7. 1927 (Professor in Basel) 2. Gerullis, Georg (1929): Wie akzentuiert der Litauer ihm aus dem mündlichen Gebrauch unbekannte litauische Wörter. Filologu biedrības raksti. Nr. 9. 1929 (Professor in Leipzig) Darüber hinaus folgte nach einem auf Lettisch verfassten Artikel eine kurze Zusammenfassung auf Deutsch, siehe Anna Ābele (1931): Die sekundären Intonationen der Mundart von Rujen. Nr. 11. 1931. In diesem Sammelband sind auch acht Rezensionen von den lettischen Autoren über die derzeitigen Neuausgaben zu sprachwissenschaftlichen Fragen in der deutschen Sprache zu treffen. Der Autor der meisten Rezensionen ist J. Endzelīns. Beispielhaft <?page no="29"?> Deutsch in der Sprachwissenschaft in Lettland seit dem 20. Jahrhundert 17 verfasst er die Rezension über die Abhandlung zur indogermanistischen Grammatik von H. Hirt (1927). 2 Als dritte Ausgabe wird die Zeitschrift ‚Izglītības Ministrijas Mēnešraksts‘(weiter im Text: IMM) (Deutsch: „Monatsschrift des Bildungsministeriums”), erschienen von 1920 bis 1939, untersucht. In der vorliegenden Monatsschrift wurden wissenschaftliche Beiträge und Vorträge, Rundschauen der wichtigsten Ereignisse in Bildung und Wissenschaft, Buchkritiken, Listen der Neuerscheinungen sowie Gesetze und Beschlüsse des Bildungsministeriums vorwiegend auf Lettisch veröffenlicht. Von den untersuchten Monatsschriften sind 122 Texteinheiten sprachwissenschaftlichen Themen gewidmet. Die vorhandenen Texte zur Sprachwissenschaft spiegeln bezüglich der Textsorten eine große Vielfalt. Es handelt sich dabei um wissenschaftliche Beiträge, Aufsätze, Vorträge, Buchrezensionen, Ehrungsschriften für lettische und ausländische Sprachwissenschaftler, polemische Schriften zu den publizierten Artikeln, Glossare usw. Die wissenschaftlichen Beiträge, Aufsätze und Vorträge thematisieren sprachwissenschaftliche Grundbegriffe, fremde Sprachen (modernes Englisch, Irisch, Baltendeutsch), die Erforschung der lettischen Sprache (alte Sprachdenkmäler, Dialekte, Wortetymologie, Ortsnamen u.a.), Sprachkontakt (Entlehnungen aus dem Deutschen und Russischen) u.a. Die Buchrezensionen analysieren neu erschienene Werke, die meistens auf Lettisch, Deutsch oder Litauisch verfasst sind, so z.B. Wörterbücher, Monographien und Beiträge zu den baltischen Sprachen u.a. Des Weiteren werden bekannte lettische und ausländische Sprachwissenschaftler und deren Verdienste geehrt, z.B. Hermann Paul, Adalbert Bezzenberger, Atis Kronvalds, Krišjānis Barons, Kārlis Mühlenbach u.a. Einige Wissenschaftler führen eine Polemik über sprachwissenschaftliche Fragen in der Monatsschrift. Zum Beispiel entfacht der promovierte Gymnasiallehrer J. Zēvers eine Polemik gegen J. Endzelīns, Professor an der Universität Lettlands, über dessen Beiträge. Die Benutzung der Quellen und der Forschungsliteratur ist unentbehrlich für die sprachwissenschaftlichen Beiträge. Es ist zu beobachten, dass vorwiegend auf Deutsch oder auf Russisch verfasste Literatur in den sprachwissenschaftlichen Artikeln der IMM verwendet wurde. Zum Beispiel enthält die Abhandlung des lettischen Sprachwissenschaftlers E. Blese (1920: 240) über das moderne Englisch im Literaturverzeichnis 4 auf Deutsch und eine auf Russisch abgefasste sekundäre Quelle: 2 Endzelīns, Jānis (1927): Indogermanische Grammatik. Teil I: Einleitung. I. Etymologie. II. Konsonantismus von Hermann Hirt. Heidelberg 1927, S. 174—180. <?page no="30"?> Agnese Dubova 18 1. Geschichte der englischen Sprache von Friedrich Kluge. Mit Beiträgen von D. Behrens und E. Einenkel. (Grundriss der germanischen Philologie, herausg. von Hermann Paul. Erster Band, 11. Auflage, Strassburg, 1901.) 2. Проф. Ә. A. Браунь. Введеьие вь германскуго филолопзо. Лекцш, читанныл вь осеннемь семестрк 1912 г. вь С.-Петербургскомь Университегв. 3. Sigmund Feist. Kultur, Ausbreitung und Herkunft der Indogermanen. Berlin, 1913. 4. Otto Jespersen. Phonetische Grundfragen (sevišķi 111. nodaļa: „Die beste Aussprache). Leipzig v. Berlin, 1904. 5. Richard Loewe. Germanische Sprachwissenschaft. (Sam. Gosch. 238). 11. Auflage. Leipzig, 1911. In den lettischen Aufsätzen, Beiträgen, schriftlich abgefassten Vorträgen, Glossaren bzw. Listen der aus dem Deutschen entlehnten Wörter werden die deutschsprachigen Zitate ohne lettische Erklärung oder Übersetzung angeführt. Die deutschsprachigen Zitate seien im lettischen Text so allgemein gebräuchlich, dass der Rezipient die deutschen Zitate, Wörter und Quellenangaben verstehen solle und eine Übersetzung dazu nicht notwendig sei. So beschreibt J. Zēvers (1927: 10) in seiner Publikation über die lettische Schule aus kulturhistorischer Sicht die Etymologie des Wortes ‚miljons‘ im Lettischen und verwendet dabei unübersetzt deutschsprachige Passagen: „Miljons ir patapinājums no vācu valodas, kurā šis vārds ir aizņemts no itāliešu milione, kas nozīmēja „Grosstausend". Ar pēdējo nosaukumu 13. gadu simtenī apzīmēja 10 mucu zelta, rēķinot katrā mucā 100.000 zelta gabalu naudas. Šinī nozīmē jau ap 15. gadu simteņa vidu tiek lietots vārds miljons, sal. Chroniken der deutschen Stādte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert X, 170, 3 un sek. lpp. (No itāliešu valodas ir ari franči patapinājuši savu million, kas savukārt kā million ir pārgājis angļu valodā). Tagadējā nozīmē Million vācu valodā ir ieviesies tikai jaunaugšvācu laikā 17. gadu simtenī un ir apliecināts 1669. gadā, sal. Birken. Brandenburg. Ulysees 113, 138. Latviešu valodā Stendera vārdnīcā I, 166 sastopam „milliohns, Million, bedeutet im Lettischen blos eine sehr grosse Zahl." (Veligs (VVellig) savā pielikumā pie Hardera piezīmēm pie Stendera vārdnīcas (sal. VVellig, A. (1828. g.) Beiträge zur lettischen Sprachkunde 178) piezīmē, ka viņš (Veligs), neesot šo vārdu no latviešiem nekad dzirdējis ,bet ja latvieši šo vārdu ari lietojot, tad gan tāpat kā zemu kārtu vācieši, kas nezinot, ko vārds miljons īsti nozīmējot.).“ (Hervorhebung: A.D.) In den sprachwissenschaftlichen Texten werden auch linguistische Fachwörter und Termini erklärt und behandelt, die aus der deutschen Sprache meist in Form der Lehnprägung entlehnt sind. Diese Termini kommen in den Texten mit der Angabe der deutschen Entsprechung in Klammern vor. Zum Beispiel erwähnt J. Zēvers (1923: 1115) in seiner Abhandlung über das Geld aus der kulturell-historischen Sicht folgende lettische Fachwörter mit der Angabe der deutschen Entsprechungen: <?page no="31"?> Deutsch in der Sprachwissenschaft in Lettland seit dem 20. Jahrhundert 19 - ģermāņu skaņu pārbīde (germanische Lautverschiebung) - slēdzeņi (Verschlusslaute) - berzeņi (Reibelaute) Auch E. Blese (1920: 343) verfasst den Artikel über Gegenstand, Aufgaben, Methoden und die Rolle der Sprachwissenschaft, indem er zu den lettischen linguistischen Fachwörtern in Klammern die deutschen, russischen und französischen Entsprechungen angibt: - valodiskā domāšana (Sprachliches Denken, языковое мышлеше) - valodas izjūta (языковое чувство, Sprachgefühl) - salīdzināmā gramatika (Vergleichende Grammatik, grammaire comparative) Die Anführung der lettischen Termini mit den deutschen, russischen und französischen Entsprechungen gilt als Indiz für die Übernahme der linguistischen Fachwörter aus den erwähnten Fremdsprachen. Höchstwahrscheinlich spielte das Deutsche wegen der häufigen Benutzung der deutschsprachigen Quellen bei der Übernahme eine relevante Rolle. Meistens sind diese Termini auch in der gegenwärtigen lettischen Sprachwissenschaft immer noch gebräuchlich. Jede Ausgabe der Monatsschrift verfügt über eine Buchkritik, in der die erschienenen wissenschaftlichen, literarischen Werke und Schulbücher rezensiert werden. Bezüglich der Sprachwissenschaft werden die Monographien und Schriften auf Lettisch, Deutsch und Litauisch besprochen. Die rezensierten Werke handeln vorwiegend von lettischen, litauischen oder baltischen Forschungsfragen. So widmeten J. Endzelīns und A. Augstskalns ihre Rezensionen den auf Deutsch erschienenen Veröffentlichungen: 1. J. Endzelīns (1922, S. 1081—1083). Das Asyndenton in den balto-slavischen Sprachen von Georg Siegmund Keller. Heidelberg 1922 Carl Winters Universitätsbuchhandlung. 2. J. Endzelīns (1927, S. 121—122). Litauische Studien. Eine historische Untersuchung schwachbetonter Wörter im Litauischen von Eduard Hermann. Berlin. Weidmannsche Buchhandlung 1926. 3. A. Augstskalns (1931). Altlettische Sprachdenkmäler in Faksimiledrucken, herausgegeben von August Günther. I. Band 21 + 312. II. Band 14 + 518. Heidelberg 1929. Carl Winters Universitätsbuchhandlung. <?page no="32"?> Agnese Dubova 20 3 Zum Gebrauch der deutschen Sprache ab 1990 Nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit ab 1990 bis heute hat sich die sprachliche Situation in Lettland im Vergleich zur ersten Unabhängigkeitsperiode stark verändert. In der Sowjetzeit war Russisch die dominierende Sprache im Alltag und auch in der Wissenschaft. Die Promotionsarbeiten wurden vorwiegend auf Russisch, die wissenschaftlichen Artikel auch auf Lettisch verfasst. Die russische Sprache beherrschen noch viele Linguisten, die in der Sowjetzeit promovierten und ihre wissenschaftliche Karriere fortsetzten. Mit der Zeit jedoch änderte sich die sprachliche Situation allmählich, besonders nach dem Beitritt in die EU wurde und wird die englische Sprache als Wissenschaftssprache bevorzugt. Trotz des starken englischen Einflusses werden auch die Promotionsarbeiten und ihre Zusammenfassungen nicht nur auf Englisch, sondern auch auf Lettisch, Deutsch und Französisch abgefasst. Mehrsprachige Beiträge werden immer noch in den lettischen sprachwissenschaftlichen Fachzeitschriften und Sammelbänden veröffentlicht. Die wissenschaftlichen Beiträge können in Fachzeitschriften und Sammelbänden auf Lettisch, Litauisch, Englisch, Russisch, Deutsch und Französisch abgefasst werden. Darüber hinaus wird die Tradition gepflegt, dass eine Zusammenfassung nach jedem Beitrag in einer anderen Sprache folgt. Meistens werden für die Zusammenfassungen folgende Sprachen bevorzugt: Englisch, Deutsch oder Russisch. Erwähnenswert sind drei sprachwissenschaftliche Ausgaben, die regelmäßig einmal pro Jahr erscheinen. Die Fachzeitschrift ‚Linguistica Lettica‘ wird ab 1997 vom Institut für die lettische Sprache der Universität Lettlands (Lettisch: Latvijas Universitātes aģentūra ‚Latviešu valodas institūts‘) herausgegeben. In der Zeitschrift werden die wissenschaftlichen Beiträge nicht nur der baltischen Sprachwissenschaftler, sondern auch der Forscher zur allgemeinen Sprachwissenschaft zur Publikation angenommen. Die Beiträge werden auf Lettisch, Litauisch, Englisch, Deutsch oder Russisch veröffentlicht, eine Zusammenfassung zum Beitrag soll auf Englisch verfasst werden. Die weiteren behandelten Ausgaben sind Konferenzsammelbände, die jährlich erscheinen. So findet an der Universität Daugavpils jährlich eine internationale linguistische Konferenz statt. Danach werden die wissenschaftlichen Beiträge im Sammelband ‚Valoda dažādu kultūru kontekstā‘ (Dt.: Sprache im Kontext verschiedener Kulturen) in mehreren Sprachen mit einer Zusammenfassung in einer anderen als der Beitragssprache publiziert. Außerdem findet eine weitere internationale linguistische Konferenz ‚Vārds un tā pētīšanas aspekti‘ (Deutsch: Wort. Aspekte der Forschung) an der Universität in Liepāja statt. Anschließend wird der Sammelband seit 1997 jährlich herausgebracht. In diesem Sammelband wird auch die oben <?page no="33"?> Deutsch in der Sprachwissenschaft in Lettland seit dem 20. Jahrhundert 21 erwähnte Praxis der mehrsprachigen Publikationen angewendet, d.h. die Artikel werden auf Lettisch, Litauisch, Englisch, Deutsch und Russisch veröffentlicht. Anhand dieses Sammelbandes werden im vorliegenden Beitrag die deutschsprachigen Texte, d.h. wissenschaftliche Beiträge und sekundäre Texte bzw. Zusammenfassungen, untersucht und nach den thematischen Forschungsbereichen gegliedert. Die deutschsprachigen Beiträge des untersuchten Sammelbandes werden meistens von den lettischen und litauischen Germanisten zu folgenden Forschungsaspekten publiziert: 1. Kontrastive Untersuchungen vorwiegend in den Sprachkombinationen Deutsch-Lettisch und Deutsch-Litauisch: M. Leitāne (2009) befasst sich z.B. mit dem Vergleich der deutschen und lettischen Wissenschaftssprache; der Artikel von V. Jociuviene (2002) ist den Bedeutungsbeschreibungen der Gerichte- und Getränkebezeichnungen in litauischen und deutschen Wörterbüchern gewidmet. 2. Didaktische Themenbereiche bzw. Deutsch als Fremdsprache: L. Bišofa (2010) verfasst etwa einen Beitrag über das autonome Lernen im Fremdsprachenunterricht bzw. Deutschunterricht. 3. Verschiedene Aspekte der Erforschung der litauischen und lettischen Sprache: Von B. Gliwa (2008) stammt beispielsweise der Beitrag über die litauischen Gewässer- und Ortsnamen; A. Urdze (2010) behandelt die ‚Geräuschverben‘ im Lettischen. Ab 1997 enthält fast jede Ausgabe des Sammelbandes einen bis drei deutschsprachige Beiträge. In den letzten drei Jahren (2011—2013) sind keine deutschsprachigen Artikel vorzufinden. Dies gilt als Indiz des allmählich geringer werdenden Stellenwerts der deutschen Sprache in den linguistischen Veröffentlichungen in Lettland. Nach jedem Beitrag erfolgt eine kürzere oder längere Rekapitulation des Originaltextes in einer anderen Sprache. Hinsichtlich der deutschen sekundären Texte bzw. Zusammenfassungen ergibt sich eine unterschiedliche Situation im Vergleich zu den Beiträgen. In jeder Ausgabe des Sammelbandes kommen die deutschen Texteinheiten nach auf Lettisch oder Litauisch abgefassten Artikeln vor. Insgesamt sind es mehr als 105 deutschsprachige Kurztexte. Die Verfasser der deutschen Zusammenfassungen sind nicht nur lettische oder litauische Germanisten, sondern auch lettische und litauische Sprachforscher. Die deutschen Zusammenfassungen folgen nach den wissenschaftlichen Artikeln zu Forschungsbereichen wie: 1. der Erforschung der lettischen und litauischen Sprachgeschichte, z.B. verfasst R. Siliņa-Piņķe (2013: 226) eine Zusammenfassung über Probleme der anthropologischen Terminologie und Geschichte der lettischen Rufnamen <?page no="34"?> Agnese Dubova 22 und A. Kaukienė, J. S. Laučiūtė (2007: 36—37) verfassen den Abstract über die Herkunft und den strukturellen und semantischen Werdegang des baltischen und slawischen *pēr- ‚schlagen, peitschen‘. 2. der lettischen und litauischen Mundartforschung, z.B. folgt eine deutsche Zusammenfassung nach dem Artikel von I. Ozola (2004: 1999) über den Gebrauch von Verbformen in der Mundart von Sventāja. 3. der Erforschung der lettischen und litauischen Gegenwartssprache, z.B. verfasst A. Tīsiņa (1999: 219) eine deutsche Zusammenfassung über einzelne Eigennamen in der gegenwärtigen lettischen Literatursprache. 4. kontrastiven Untersuchungen in den Sprachkombinationen Deutsch- Lettisch und Deutsch-Litauisch, z.B. folgt eine deutsche Zusammenfassung nach dem Artikel von M. Smiltēna (2006: 367) über unikale Komponenten in deutschen und lettischen Phraseologismen. Nach dem Einblick in die auf Deutsch verfassten sekundären wissenschaftlichen Texte lässt sich schlussfolgern, dass die deutsche Sprache in den lettischen sprachwissenschaftlichen Publikationen trotz der Sprachkonkurrenz in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und am Anfang des 21. Jahrhunderts noch verwendet wird. Die deutsche Sprache wird in den Beiträgen von Germanisten und in den Zusammenfassungen von Sprachwissenschaftlern der baltischen Sprachen benutzt, aber nicht in so großem Maße wie am Anfang des 20. Jahrhunderts. 4 Fazit Abschließend lässt sich konstatieren, dass die deutsche Sprache als Wissenschaftssprache besonders am Anfang des 20. Jahrunderts in der lettischen Sprachforschung trotz der mehrsprachigen Konstellation eine relevante, sogar eine dominierende Rolle gespielt hat. Dies ist anhand der zahlreichen Publikationen auf Deutsch oder der deutschen Zusammenfassungen nach den lettischen Artikeln, der Benutzung der deutschsprachigen Quellen und der Anführung der deutschsprachigen Zitate ohne Erläuterung bzw. Übersetzung im lettischen Text sowie der Rezeption der deutschsprachigen Ausgaben in Form der Buchrezensionen festzustellen. Ab Ende des 20. Jahrhunderts ist das Deutsche auch in der mehrsprachigen Situation nur in bestimmten Forschungsbereichen der lettischen Sprachwissenschaft bzw. in der lettischen Sprachgeschichte, Mundartforschung und bei den kontrastiven Untersuchungen als Wissenschaftssprache, wie anhand der Publikationen der Beiträge und der sekundären Texte festgestellt werden konnte. Aufgrund der Globalisierung und der Dominanz des Englischen bewahrt das Deutsche im mehrsprachigen Kontext noch einen <?page no="35"?> Deutsch in der Sprachwissenschaft in Lettland seit dem 20. Jahrhundert 23 gewissen Stellenwert in der lettischen Sprachwissenschaft, obwohl es immer weniger verwendet wird. Quellen Augstkalns, Alvils (1931): Altlettische Sprachdenkmäler in Faksimiledrucken, herausgegeben von August Günther. I. Band 21 + 312. II. Band 14 + 518. Heidelberg 1929. Carl Winters Universitätsbuchhandlung. In: Izglītības Ministrijas Mēnešraksts (= IMM), Nr. 5., S. 612—614. Bišofa, Linda (2010): Autonomes Lernen im Fremdsprachenunterricht. In: Vārds un tā pētīšanas aspekti, Nr. 14(2), S. 25—33. Blese, Ernests (1920): Modernā angļu valoda. Lingvistiski vēsturisks apcerējums. In: Izglītības Ministrijas Mēnešraksts (= IMM), Nr. 3, S. 229—240. Blese, Ernests (1920): Valodniecības priekšmets, viņa uzdevumi, metodes un nozīme. In: Izglītības Ministrijas Mēnešraksts (= IMM), Nr. 6, S. 543—556. Endzelīns, Jānis (1922): Das Asyndenton in den balto-slavischen Sprachen von Georg Siegmund Keller. Heidelberg 1922: Carl Winters Universitätsbuchhandlung. 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Auf diesem Hintergrund werden das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft und die sprachlichen Formen, in denen es sich realisiert, behandelt (Teil 2), um schließlich verschiedene Praxen der Marginalisierung von Wissenschaftssprachen am Beispiel der deutschen Situation aufzuzeigen (Teil 3). 1 Wissenschaft und Sprache 1.1 Wissenschaft 1. Von Wissenschaft zu reden, ist im deutschsprachigen Raum unproblematisch. Wissenschaft hat einen zentralen Stellenwert für die Konstituierung von modernen Gesellschaften, die auch ‚Wissensgesellschaften‘ genannt werden, für ihre Weiterentwicklung und ihre Erhaltung. Die gegenwärtige Redeweise von Wissensgesellschaften fasst ganz gut Strukturmerkmale zusammen, die für die neuzeitlichen Gesellschaften in den jüngeren Phasen ihrer Entwicklung in besonderer Weise charakteristisch sind. Natürlich weisen alle Gesellschaften Wissen als einen integralen Bestandteil ihrer Existenz auf. Dass aber Wissen in einer systematisierten Form von einer solch fundamentalen Bedeutung ist, ist ein - geschichtlich gesehen - relativ neues Faktum in der Entwicklung der Gesellschaftsformationen. 2. Von Wissenschaft zu reden, ist seinerseits zu einer Möglichkeit im Zusammenhang mit der Entwicklung derartiger Wissensgesellschaften geworden. Allerdings verlief und verläuft diese Entwicklung in den verschiedenen Kulturen recht unterschiedlich. Das Konstrukt ‚Wissenschaft‘ als solches ist keineswegs - wie man vielleicht annehmen könnte - in gleicher Weise weltweit verbreitet. Vielmehr zeigt sich gerade hinsichtlich dieses Konstrukts eine Art folgenreiche Dichotomie zwischen der englisch- <?page no="38"?> Konrad Ehlich 26 sprachigen Welt einerseits, den mitteleuropäischen Sprachwelten andererseits. Was unter dem Ausdruck Wissenschaft konzeptionell versammelt wird, unterscheidet sich erheblich. Das englische science ist eben weder extensional noch intensional dasselbe oder auch nur das Gleiche wie das, was der deutsche Ausdruck Wissenschaft besagt. Es zeigt sich vielmehr eine nicht unwesentliche Kulturdifferenz in der Entwicklung der neuzeitlichen Strukturen, eine Kulturdifferenz, die, ausgehend von der scholastischen Theoriebildung, auf unterschiedlichen Wegen entwickelt wurde. Diese Problematik wirkt sich in Bezug auf alles Reden von Wissenschaft - und damit auch in Bezug auf das Reden von gesellschaftlichem Wissen - erheblich aus. Die Konzeptdifferenz als Ausdruck einer Kulturdifferenz ist also eine keineswegs zu vernachlässigende Größe in den Auseinandersetzungen, von denen Wissenschaftsentwicklungen heute geradezu notwendig begleitet werden. 3. Die Differenzierung zwischen science einerseits und Wissenschaft in jenem umfassenderen europäischen Sinn andererseits ist zugleich Ausdruck eines neuen Streits der Fakultäten. War ein solcher in der neuzeitlichen Entwicklung lange in Bezug auf das Verhältnis der theologischen Fakultät zu den anderen geführt worden, so spielt sich der Streit der Fakultäten heute genau entlang der Scheidegrenze zwischen dem ab, was zu science gehört, und dem, was dazu zu gehören keinen Anspruch erheben darf - nach dem Urteil der wissenschaftstheoretischen Anwälte jener science, das sie fällen, propagieren und wissenschaftspolitisch durchzusetzen bemüht sind. Die terminologischen Konzeptualisierungen und Bestimmungen in Bezug auf die Nicht-science-Fakultäten sind sehr unterschiedlich. Allein schon der relativ schnelle Wechsel der Bezeichnungen zeigt, dass sich diese Wissenschaften schwerer tun, zu einer einheitlichen Konzeption zu finden. Geisteswissenschaften, Kulturwissenschaften, Humanwissenschaften, Sozialwissenschaften, Gesellschaftswissenschaften - sehr unterschiedliche Herangehensweisen in Bezug auch schon hinsichtlich der Formulierungen dessen, was in diesem Teil von Wissenschaften sich realisiert, lassen die Intensität erkennen, mit der eine angemessene Erfassung der eigenen Modalitäten der Wissensgegenstände und ihrer methodischen Bearbeitung gesucht wird. Die Fortsetzung der mittelalterlichen Redeweise von den arts in der englischsprachigen Welt wie deren Fortschreibung als humanities ist ihrerseits jener Aufspaltung verpflichtet, die im Ausgang der mittelalterlichen Welt erfolgte. Interessante Übergangsbereiche wie die Angewandten Wissenschaften oder die Ingenieurwissenschaften markieren in ihrer Weise die grundsätzliche Problematik. Der Kampf der Fakultäten ist also Teil der Auseinandersetzungen, mit denen wir es gegenwärtig zu tun haben. Die Marginalisierung von Wissenschaftssprachen ist zugleich auch die Marginalisierung von Teilen <?page no="39"?> Zur Marginalisierung von Wissenschaftssprachen 27 aus der Gesamtheit der Fakultäten - ein wichtiger Aspekt, den es im Auge zu behalten gilt. 1.2 Sprache und Wissenschaft 1. Das Verhältnis von Wissenschaft und Sprache verweist auf die Grundlagen, die diese Auseinandersetzungen kennzeichnen. Die Sprachgebundenheit der Gewinnung von Erkenntnis wird innerhalb der Theorieentwicklung der Neuzeit, aber auch schon in der auslaufenden Phase der vorangehenden Homogenität der Scholastik einerseits praktisch von zunehmender Bedeutung; zugleich war sie und bleibt sie weitgehend als eine Art ‚blinder Fleck‘ außerhalb der wissenschaftlichen Reflexion. Die Sprachgebundenheit von Erkenntnis ist zwar gelegentlich, insbesondere in Konzeptionen wie in denen Wilhelm von Humboldts (s. Trabant 2012), thematisiert worden, doch hat bisher deren wirklich substanzielle Umsetzung nicht stattgefunden. Der ‚blinde Fleck‘ Wissenschaftssprache gilt auch für die Philosophie und dies selbst dort noch, wo sie als Sprachphilosophie etwa im Rahmen der analytischen Philosophie sich entfaltet. Die Dialektik des Verhältnisses von Sprache und Sprachen, radikalisiert in der neuzeitlichen sprachlichen Entfaltung der Wissenschaften, ist in ihrer Tragweite kaum je Thema von Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsmethodologie. 2. Die drei Dimensionen von Sprachlichkeit (s. Ehlich 2007) werden von dieser Sprachblindheit in unterschiedlicher Weise betroffen, also die gnoseologische, die teleologische und die kommunitäre: Die gnoseologische Dimension von Sprache ist natürlich für die Entwicklung von Wissenschaft von einer besonderen und zentralen Bedeutung. Die einzelnen Zweige der Wissenschaft realisieren sich im Wesentlichen im Bereich der Gnoseologie, also im Bereich der Erkenntnisgewinnung und der Fassung dieser Erkenntnisse in Sprache - also in den Sprachen, in denen Erkenntnisse zu vermittelbaren und tradierbaren Konzepten gefasst und so für die weitere Entwicklung vorgehalten werden können. Die teleologische Dimension betrifft alles das, was Wissenschaft in ihren zentralen Aufgabenbestimmungen umzusetzen hat, betrifft die Zwecke, denen sie in ihrer erkenntnisgewinnenden Praxis folgt. Diese Zwecke sind von der gnoseologischen Dimension her bestimmt und entfalten sich nicht zuletzt sprachlich in einem ganzen Bündel geeigneter Textarten und Diskursarten. Die dritte Dimension, die kommunitäre, gemeinschaftsstiftende, wird gerade unter dem Primat der gnoseologischen Dimension leicht zur Seite geschoben, hat aber ihrerseits für die Fragen der Wissenschaftssprachen im internationalen Wissenschaftsbetrieb eine geradezu fundamentale Bedeu- <?page no="40"?> Konrad Ehlich 28 tung. Die Zwecke von Wissenschaft realisieren sich einerseits gnoseologisch, andererseits kommunitär, und sie realisieren sich so, dass kommunitäre Bildungen die konkreten Erscheinungsformen abgeben, in denen Wissenschaft geschieht. Hier ereignet sich die Internationalität des Wissenschaftsbetriebes und die Internationalität der dabei beteiligten Sprachen. 3. Die sprachliche Konsolidierung von Wissen ist innerhalb des wissenschaftlichen Gesamtkonzeptes in Bezug auf die, die daran beteiligt sind, zu charakterisieren als eine „Disziplinierung der Sprache“ (Ickler 1997). Diese Disziplinierung der Sprache schließt viele Möglichkeiten dessen aus, was die alltäglichen Sprachen vorhalten, und dies aus systematischen Gründen. Wissenschaftssprache ist also eine Sprachreduktion. Sie geschieht im Zusammenhang des wissenschaftlichen Geschäftes aus nachvollziehbaren Gründen, hat aber Konsequenzen in Richtung auf eine Reduktion der beteiligten Sprachen, die über diese Gründe hinausgeht. Das wird besonders deutlich, wenn unterschiedliche Sprachkonzepte für das Geschäft der Wissenschaft im Konflikt miteinander liegen. Weit verbreitet ist offenbar die Auffassung, dass Sprache lediglich eine Art von Nomenklatur ist, eine Etikettierung in Bezug auf sprachunabhängig gewonnene Erkenntnisse. Sprache wird dann sozusagen notgedrungen als nicht eliminierbares, aber im Prinzip zu vernachlässigendes Zwischenstück gesehen, dessen sich die Beteiligten zum Zweck der Kommunikation bedienen und das deshalb und nur deshalb ins wissenschaftliche Geschäft aufzunehmen ist. Sie ist etwas, was den sprachunabhängigen Erkenntnissen sozusagen ‚aufgeklebt‘ wird. Diese Nomenklatur gilt als ein eigentlich beliebiger Aspekt. Wenn dem tatsächlich so wäre, wenn also das Verhältnis von Wissen und Sprache in dieser Weise gefasst werden könnte, dann wäre es in der Tat völlig gleichgültig, welche Nomenklatur man den sprachunabhängig gewonnenen Erkenntnissen appliziert. 4. Solchen Auffassungen stehen Auffassungen gegenüber, die die gnoseologische Dimension von Sprache in der Realität der einzelnen Sprachen als den Erkenntnissen substanziell zugehörig ansehen, Auffassungen, die also eine sprachliche Unabdingbarkeit für die Gewinnung wissenschaftlichen Wissens annehmen. Diese beiden Sprachkonzepte in ihrem inneren Gegensatz wirken sich aus der inneren Struktur der Wissenschaft heraus für das Verhältnis der Sprachen aus, die am Geschäft der Wissenschaft beteiligt sind. Offenbar wächst gegenwärtig die Einsicht, dass Wissenschaft nicht sprach- und sprachenunabhängig zu betreiben ist. Die Ausarbeitung dieser <?page no="41"?> Zur Marginalisierung von Wissenschaftssprachen 29 Zusammenhänge bedarf konzeptioneller Weiterentwicklungen dessen, was Sprache, und dessen, was Wissenschaft ist. Dieser Gedanke soll hier aber nicht weiter verfolgt werden. Vielmehr wende ich meinen Blick einem zweiten zentralen Aspekt zu, dem Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft. 2 Wissenschaft und Gesellschaft 2.1 Wissenschaft als gesellschaftliches Partialsystem 1. Wissenschaft ist keineswegs eine von allen anderen gesellschaftlichen Bereichen und Aktivitäten abgehobene Veranstaltung, bei der es um die Gewinnung ‚reiner‘ Erkenntnis geht - auch wenn eine sich selbst radikalisierende wissenschaftsmethodologische Diskussion dies mit nachvollziehbaren, aber nicht wirklich guten Gründen unterstellt. Wissenschaft ist vielmehr zentral abhängig von Bedingungen der sie tragenden Gesellschaft und insbesondere von deren Ökonomie. Diese Bedingungen realisieren sich nicht nur in Bezug auf die Umsetzung der teleologischen Ziele, die die Wissenschaft verfolgt, und auch nicht nur in Bezug auf die gnoseologischen Aspekte der Wissenschaft, sondern sie realisieren sich nicht zuletzt in Bezug auf die kommunitäre Dimension. 2. Die beteiligten ökonomischen Grundkonzepte sind dabei durchaus unterschiedlicher Art. Im europäischen Bereich spielt für die Wissenschaft die Staatlichkeit eine zentrale Rolle. Das gilt in Bezug auf die Hegemonialmacht, die USA, so nicht. Vielmehr ist Wissenschaftsökonomie dort im Schwerpunkt durchaus anders, ja durchaus konträr zu den europäischen Strukturen bestimmt. Hegemonialität drängt auch hier auf komplexe Umwandlungsprozesse, an denen wir teilhaben. Gegenüber der Staatlichkeit und der Determination der staatlichen Bedingungen, die von ihr ausgehen, findet sich dort eine Konzeption, der im Rahmen der Vereinheitlichung einer Weltkonstituierung eine besondere Bedeutung zukommt, nämlich die Konzeption des Marktes - und zwar dies als geradezu die eines Fetischs, der sozusagen gegenüber allen anderen Konzeptionen durchgesetzt werden muss. Diese Durchsetzung erleben wir nicht zuletzt im Zusammenhang der Wissenschaft in Bezug auf die Veränderungsprozesse, mit denen Wissenschaft und die in ihr Tätigen es gegenwärtig zu tun haben. 3. Wissenschaft ist unverkennbar ein bedeutender Produktivitätsfaktor für moderne Wissensgesellschaften; ohne Wissenschaft lassen sie sich nicht realisieren, nicht kontinuieren, nicht weiterentwickeln. Zugleich allerdings ist diese Produktivität keine unmittelbare, keine, wie sie der Markt konkret <?page no="42"?> Konrad Ehlich 30 erfordert. Deswegen steht Wissenschaft immer in der Gefahr, dass sie letztendlich als faux frais behandelt wird, als ‚falsche Kosten‘, die eigentlich zu eliminieren sind. Der Widerspruch zwischen Wissenschaft als Produktivitätsfaktor einerseits, als faux frais andererseits in der gesellschaftlichen Gesamtrechnung bestimmt die konkreten Auseinandersetzungen in Bezug auf das Ausführen, Durchführen, Realisieren von Wissenschaft im tagtäglichen Geschäft. 2.2 Nation, Nationalisierung, Globalisierung 1. Wissenschaft heute ist eine Wissenschaft, die im Kontext von wiederum zwei anderen miteinander konkurrierenden Groß-Konzepten sich abspielt: dem Konzept der Nation und dem Konzept der Globalisierung. Beides sind gesellschaftliche Großprojekte mit unterschiedlichen Gewichtungen und mit unterschiedlichen Durchsetzungsweisen. Es zeigen sich dafür keineswegs einfach synchrone, kontinuierliche Entwicklungen in den verschiedenen Arealen der Erde. Die einzelnen Staaten, die zur Nation konstituierten oder sich konstituierenden Gruppen unterscheiden sich erheblich. Pränationale wie postnationale Strukturen erscheinen gleichzeitig mit nationalen. Nation aber ist keineswegs eine natürliche Größe für die Organisation von Gesellschaften. Nation ist selbst Ausdruck eines Projektes (so Anderson 1983; vgl. Sand 2011) und eine reiche, daran anschließende Debatte. 2. Das Projekt Nation ist auf das engste mit dem Projekt großer Sprachen verbunden - ‚groß‘ im Sinn der Extension und der Wirkungen nach innen und vor allem nach außen. Demgegenüber steht das Konzept der Globalisierung, die die nationalen Grenzen zu überwinden verspricht - und zwar im Medium des Marktes. Die für die gegenwärtige Weltsituation sich immer deutlicher durchsetzende Idee eines Weltmarktes ist freilich nicht identisch mit dem Projekt der Globalisierung, die keineswegs jene übergreifende Konzeption ist, als welche sie sich darstellt und als welche sie wahrgenommen wird. Vielmehr ist sie faktisch eine Form der Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Nationen in der Vielfalt ihrer Erscheinungsweisen. Das heißt, sie ist eine ökonomische und zugleich über das Ökonomische weit hinausgehende Auseinandersetzung in Bezug auf die zukünftige Gestaltung der Welt. Dabei machen sich unterschiedliche Sprachmodelle bemerkbar. Insbesondere ein Sprachkonzept, das einen vermeintlichen Universalismus zu propagieren sucht, scheint der Globalisierung zu entsprechen. Dem stehen Sprachmodelle gegenüber, die auf der Spezifik der Sprachen insistieren und die diese Spezifik ausarbeiten. Dieser Widerspruch betrifft die zukünftige Kommunikationsstruktur der Welt, und sie betrifft <?page no="43"?> Zur Marginalisierung von Wissenschaftssprachen 31 wegen der Bedeutung der Wissenschaft in den durch sie charakterisierten Wissensgesellschaften gerade diese Domäne der gesellschaftlichen Realität. Die Wissenschaft zeigt sich als etwas, das national in der Form und metanational in den Strukturen ist. Die größeren Fragen der zukünftigen Sprachlichkeit der Welt werden gerade in der Wissenschaft unmittelbar relevant und zunehmend auch immer stärker evident. Es ergeben sich als Konsequenz verschiedene grundlegende Leitbilder für die wissenschaftliche Sprachlichkeit. 2.3 Leitbilder wissenschaftlicher Sprachlichkeit 1. Vor allem zwei solche Leitbilder stehen im Kern der Diskussionen: einerseits die Idee einer kommunikativen Unifizierung mit dem Ziel einer einheitlichen Weltsprache; andererseits das Leitbild einer Entfaltung des Reichtums sprachlicher Ressourcen in der Mehrsprachigkeit der Welt als kognitive Ressourcen. In der Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Modellen wird auf Argumente zurückgegriffen, die spezifische Modelle aus der Geschichte aktualisieren. Sie führen zu falschen Vergleichen. Ein solches Modell ist die Scholastik als sprachliches Ideal. Die Scholastik, die immerhin für ein ganzes Jahrtausend die Wissenschaft im west- und mitteleuropäischen Bereich bestimmte, zwischen dem Ausgang aus der Spätantike ca. 500 bis zum Übergang in die Neuzeit ca. 1500, ist einsprachig. In der Scholastik wurde die als selbstverständlich genommene Wissenschaftssprache, das Lateinische, als für alle Wissenschaft hinreichend angesehen - oder noch direkter: einfach praktiziert. Zugrunde liegt eine doppelte wissenschaftssprachliche Auffassung: Wissenschaftliche Erkenntnis geschieht ganz selbstverständlich in einer Sprache - und das natürlich in derjenigen Sprache, in der Wissen insgesamt verhandelt und in der das Wissen gewonnen wie weitergegeben wird. Grundlage für eine solche Auffassung ist eine in sich ruhende und von allem ‚Außen‘ abgegrenzte Welt, eine Ökumene. Zu der west- und mitteleuropäischen, lateinischen Welt findet sich eine interessante Parallelentwicklung im islamischen Raum, in Bezug auf die dortige Ökumene - nur, dass dort die Sprache das Arabische ist. Wissenschaftlich geht diese arabische Entwicklung zum Teil der west- und mitteleuropäischen geradezu und unverkennbar voraus. In beiden Fällen gilt also eine selbstverständliche Bindung von wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung an eine Sprache, weil nur diese eine Sprache Dignität hat und nur ihr die Kraft zugetraut wird, Wissenschaft tatsächlich zu betreiben. <?page no="44"?> Konrad Ehlich 32 2. Demgegenüber erscheint die heraufziehende Mehrsprachigkeit der Wissenschaften ab dem 14. Jahrhundert, zuerst in Oberitalien und sich dann von dort ausbreitend bis in unsere Gegenwart, geradezu als eine Art ‚Geschichtsunfall‘. Die Entwicklung scheint ein ‚Zerfleddern‘ der einheitlichen, scholastisch gebundenen, dogmatisierten, der erfassten und festgehaltenen Wissenswelt zu bedeuten - für die Wissenschaft wie für die Gesellschaft ein Unglück. 3. Eine dritte Konzeption, die argumentativ immer wieder genutzt wird, ist die Konzeption einer lingua franca (vgl. Ehlich 2012; Knapp 2012; Trabant 2012). Nur selten ist dabei das im Blick, was dieser Ausdruck bezeichnet; meist handelt es sich vielmehr um eine Metapher. Sie erfreut sich ebenso sehr einer offenbaren Attraktivität wie Beliebtheit, wie sie - bei Metaphern kein seltener Fall - schief ist. Denn was ist eine lingua franca? Der Ausdruck hat seinen Ursprung und seinen bleibenden Wert in Bezug auf einen besonderen Sprachtyp. Entstanden ist er zur Bezeichnung der ‚Sprache der Franken‘, und die Strukturmerkmale dieses Sprachtyps werden nach diesem Modell linguistisch weiterverwendet. Es handelte sich zunächst um die Sprache jener, die ab dem ausgehenden 11. Jahrhundert die westliche Welt zum Ausgangspunkt für ein anderes Großprojekt nahmen, nämlich die Wiedereroberung von Jerusalem für die Christenheit. Die Sprache der Eroberer des Ostens für ihren Verkehr mit den Eroberten, aber auch mit den Mitgliedern anderer sprachlicher Gruppen, die am Projekt beteiligt waren, war eine minimale Verkehrssprache mit sehr spezifischen Merkmalen, die bereits deren erster linguistischer Beschreiber, Schuchardt (1909), deutlich hervorhob. Diese Sprache hat eingegrenzte teleologische Wirkungsmöglichkeiten. Sie unterscheidet sich deutlich nicht nur vom Latein der damaligen Wissenschaft, jenem Mittellatein, das die Scholastik sprach, sondern auch von den Sprachen, die in derselben Zeit Hochphasen ihrer Entwicklung zu verzeichnen haben wie das Katalanische oder das Toskanische. In der Tat zeigt nun das, was heute als ‚Lingua franca Englisch (ELF)‘ international praktiziert wird, viele Eigenschaften einer lingua franca. Dies wirft die linguistisch wie gesellschaftlich sehr spannende Frage auf, ob Wissenschaft unter ihrem gnoseologischen, unter ihrem teleologischen und unter ihrem kommunitären Aspekt wirklich in Gestalt einer solchen lingua franca und mittels ihrer Nutzung möglich ist. Eine allgemeine Verkehrssprache ist die lingua franca lediglich für relativ kleine kommunikative Zweckbereiche. Ihre gnoseologische Potenz steht hingegen auf dem Prüfstand (Ehlich 2012). 4. Eine große Entwicklungslinie, die jedenfalls für die Wissensentwicklung in Richtung auf eine Einheitssprache hin orientiert ist, lässt sich durch- <?page no="45"?> Zur Marginalisierung von Wissenschaftssprachen 33 aus identifizieren, und auch das wird als Argument für eine solche Einheitssprache heute gern angeführt. Diese Linie hat bei Raimundus Lullus einen Anfangspunkt; über Leibniz und die englischen Philosophen des 17. Jahrhunderts läuft sie weiter in Richtung auf das, was sich im 20. Jahrhundert im Wiener Positivismus niederschlug. Zu den Verheißungen einer solchen Einheitssprache gehört es, dass Missverständnisse und falsche, nur zum Schein so heißende ‚Erkenntnisse‘ quasi automatisch verschwinden, wenn nur eine möglichst eindeutige Einheitssprache existiert, und natürlich sollte die Wissenschaft an diesem Geschäft beteiligt sein. Ein näherer Blick zeigt freilich, dass etwa ein Leibniz neben seiner Beteiligung an einem solchen Unterfangen durchaus die Entfaltung von anderen Sprachen, so der deutschen, als ein gleichfalls zu verfolgendes Ziel vertreten hat. Seine Befassung mit den neuentdeckten Schrift- und Sprachverhältnissen des Chinesischen lässt in gleicher Weise eine Neugier auf eine neue und andere Erkenntnisressource sichtbar werden, die aus bis dato kaum näher bekannten und erforschten Sprachen zu gewinnen seien. 5. Die Verheißungen der Einheitssprache bedeuten faktisch weithin nichts anderes als die Verallgemeinerung eines Kandidaten nationalsprachlicher Provenienz auf Kosten aller anderen. Die Übertragungen dieser Verheißungen auf eine solche, die Last einer Einheitssprache zu tragen habende, real entwickelte und in ihren Möglichkeiten und Grenzen ähnlich charakterisierte Sprache, wie es die anderen entwickelten Wissenschaftssprachen auch sind, erweist sich bei näherem Hinsehen als Teil einer Hegemonialisierungspolitik der besonderen Art (vgl. Phillipson i.V.). 2.3 Kommunikative Verkehrsformen der Wissenschaft 1. Die konkreten Diskussionen über die Struktur von Wissenschaftskommunikation haben es mit den verschiedenen kommunikativen Verkehrsformen zu tun, derer die Wissenschaft sich bedient. Die Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Wissenschaftssprachen sind davon direkt betroffen. Das gilt insbesondere für die Texte. Hier spielt die Auseinandersetzung zwischen der - um es abkürzend in Bezug auf die obigen Ausführungen so zu nennen - science-Welt und der Wissenschafts- Welt jenseits der science-Welt eine besondere Rolle. Es ist eine Auseinandersetzung um die Textarten (vgl. Hornung et. al. 2014), in denen sich Wissenschaftspraxis realisiert. Exemplarisch wird dies sichtbar in Bezug auf das, was als eigentliche wissenschaftliche Leistungen gilt. Eine zentrale Publikationsform der Geisteswissenschaften ist der so genannte Sammelband. Zu einem bestimmten Thema führt er unterschiedliche Beiträge zusammen, in denen jenes Thema von verschiedenen Seiten <?page no="46"?> Konrad Ehlich 34 aus durchaus diskursiv, eristisch und kritisch miteinander beleuchtet wird. Wissenschaft als eristische Struktur (vgl. da Silva 2014) hat in einer solchen Textart ein ebenso nützliches wie polyperspektivisches Medium gefunden. Diese Publikationsform hat in der science-Welt offenbar überhaupt keinen Wert. Die Eristik wird dort in einen anderen Modus, nämlich den Modus des Einzelaufsatzes und des wissenschaftlichen Streits mittels dieser Textart in einigen privilegierten Zeitschriften ausgelagert. Noch stärker gehen die Textartenanforderungen auseinander, wenn man die zweite große Publikationsform der Geisteswissenschaften, die wissenschaftliche Monographie, in die Analyse einbezieht. Sie ist ein Nullum innerhalb der Welt von science. Sie, die wissenschaftliche Monographie, legt einen bestimmten thematischen Komplex systematisch nach seinen verschiedenen Seiten unter beständigem Bezug auf den Entwicklungsstand des Wissens für dieses Gebiet kritisch dar. Derlei hat in den science-bezogenen Disziplinen kaum noch einen Stellenwert, weil dort eine neue postscholastische Fixierung und Dogmatisierung stattgefunden hat, die allenfalls gelegentlich (wie etwa in Einsteins Reflexionen über die Struktur von Zeit) Neuorientierungen größeren Umfanges erfährt. Im Großen und Ganzen aber handelt es sich um einen ziemlich erratischen Block eines Gesamtwissens, das größerer Diskussionen in der Form nicht mehr bedarf, die sich als die Textart wissenschaftliche Monographie realisiert. Noch erheblicher betreffen die Unterschiede die Diskurse. Sie werden in den Geistes- und Sozialwissenschaften durchaus in anderer Weise realisiert, als das in den Naturwissenschaften der Fall ist (vgl. Redder et al. 2014). Bis in die inneren Strukturen der kommunikativen Prozesse hinein erfolgt eine Auseinandersetzung, die in den Praxen der Marginalisierung sich fortsetzt und ihre eigenen Konsequenzen erzeugt. 2. Wichtig für die Wissenschaft ist einerseits ihr Innovationsbezug, andererseits ihr Öffentlichkeitsbezug. In welcher Weise lassen sich die wissenschaftlich gewonnenen Erkenntnisse in das allgemeine, öffentliche Wissen umsetzen, und welchen Beitrag leistet dazu die Veröffentlichung des neu gefundenen Wissens? Gerade in den entwickelten marktbezogenen sciences kann der Innovationsbezug in einen Konflikt zum Öffentlichkeitsbezug geraten. Neuzeitliche Wissenschaft ist ihrem Wesen nach öffentlich - und nicht arkan. Das wissenschaftliche Wissen ist kein Geheimnis, es ist kein Geheimwissen. Dem stehen die Interessen insbesondere der großen multinationalen Firmen entgegen, die das Produktionswissen als ihnen gehöriges ihrer eigenen Nutzung zuführen wollen und eben dadurch auf Arkanität, auf Abgrenzung hin orientiert sind. Dieser Widerspruch wird wenig thematisiert, ist aber von einer fundamentalen Bedeutung. <?page no="47"?> Zur Marginalisierung von Wissenschaftssprachen 35 Die Öffentlichkeit von Wissenschaft betrifft naturgemäß ihre Sprachlichkeit, die Sprachlichkeit, in der diese Wissenschaft betrieben wird. Wissenschaft in demokratischen Wissensgesellschaften bedarf einer Öffentlichkeit, die in Bezug auf die gesellschaftlichen Grunddiskussionen vermittlungsfähig ist. Dafür ist sprachliche Teilhabe unabdingbare Voraussetzung. Als Wissensgesellschaften ist die Gesamtheit dieser Gesellschaften in ihren Entscheidungsprozessen auf eine demokratische Willensbildung angewiesen. Diese ist nicht einfach etwas, was aus der Naturwüchsigkeit des Marktgeschehens erwächst. Vielmehr bedarf dieser Markt der diskursiv entwickelten Entscheidungsbildung in Bezug auf seine Grundlagen. 3 Praxen der Marginalisierung 3.1 Marginalisierungsprozesse, Zentrierungsprozesse 1. Die Verklärung von naturwüchsigen Entwicklungen zu unabänderlichen, nicht beeinflussbaren, also der kollektiven Willens- und Entscheidungsfindung nicht zugänglichen Strukturen ist gerade für die sogenannte ‚Globalisierung‘ charakteristisch. Ihr eignet scheinbar, also zum Schein, eben eine solche Naturwüchsigkeit. Zu ihrer weltweiten Umsetzung scheint es keine Alternativen zu geben. Faktisch aber ist diese Globalisierung in Wahrheit eine moderne Erscheinungsform einer Hegemonisierung. Nicht nur die sogenannte ‚Dritte Welt‘ erfährt dies, sondern auch jene, die sich selbst im Kreis der handelnden Instanzen nationaler und transnationaler Art sehen, erfahren solche faktische Hegemonisierung. Nicht zuletzt in der digitalisierten Welt wird das in einer neuen Weise spürbar als eine Realität, in der sich z.B. Globalisierungsgiganten wie Google oder Amazon mit Hegemonisierungsagenturen wie den über dreißig Geheimdiensten der Vereinigten Staaten von Amerika zusammenschließen. Diese Zentrierungsprozesse verlaufen weithin in eine Richtung. Allzu leicht wird die Benennung und Kritik solcher Entwicklungen unter dem Label ‚Verschwörungstheorie‘ diskreditiert. Das plötzliche Erschrecken angesichts des Umfangs und des tatsächlichen Fortschritts dieser Prozesse, das durch die Snowden-Enthüllungen ausgelöst wurde, verhält sich gegenüber deren Faktizität weitgehend hilflos. 2. In dieser Situation zeigen sich zwei hauptsächliche Handlungsbzw. Nichthandlungsoptionen: einerseits eine Bewusstlosigkeit und andererseits, damit verbunden, der Handlungsverzicht. Das Konzept der Naturwüchsigkeit, die Behauptung, es handele sich hier um natürlich und notwendig ablaufende Prozesse, ist ein besonders deutlicher Ausdruck dieser Bewusstlosigkeit, und der achselzuckende Handlungsverzicht ‚Man kann halt nichts <?page no="48"?> Konrad Ehlich 36 machen‘ geht damit unmittelbar einher. Die Marginalisierung alles dessen, was nicht dem Mainstream zugehört und nicht den Zentrierungsprozessen direkt unterliegt oder sich ihnen zuordnet, ergibt sich als die andere Seite der Globalisierungs-Medaille. Konkret können zwei Tendenzen ausgemacht werden, wie sich die verschiedenen Formen der Marginalisierung realisieren: intrinsische und extrinsische Marginalisierungscluster. Sie betreffen die Wissenschaften und ihre Praxen, und sie betreffen in besonderem Ausmaß deren Sprachen. 3.2 Intrinsische Marginalisierungscluster 1. Die intrinsischen Marginalisierungen sind Entwicklungen, die sich in der Wissenschaft selbst finden. Dies betrifft zunächst die Durchsetzung des Nomenklaturkonzepts von Sprache. Wenn Wissen tatsächlich sprachunabhängig ist, ist es letztendlich gleichgültig, welche Nomenklatur ihm aufgeprägt bzw. aufgeklebt wird. Als Nomenklatur der Wahl gilt dann die britische in ihrer US-amerikanischen Gestalt. Dies hat sehr konkrete historische Gründe und ebenso konkrete Auswirkungen für deren Fortsetzung. Man könnte selbstverständlich auch irgendeine beliebige andere an deren Stelle setzen, die chinesische z.B. oder die japanische oder auch etwa eine arabischbasierte Nomenklatur. Die faktischen Weltentscheidungen haben dies freilich (noch? ) nicht auf der Tagesordnung. 2. Ein sehr starkes Element im intrinsischen Marginalisierungcluster ist eine biografische Kosten-Nutzen-Rechnung der beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Sie fragen sich: Was bringt es mir für meine eigene Biografie, wenn ich mich im Erwerb unterschiedlicher Sprachen betätige und damit wertvolle Lebenszeit für die wissenschaftliche Karriere verspiele? Solche Überlegungen dürften gegenwärtig zu den wichtigsten Faktoren gehören, die das Aufgeben von anderen Wissenschaftssprachen als der gegenwärtig herrschenden motivieren - und eo ipso konkret veranlassen. 3. Als ein weiteres starkes Element, das zur Marginalisierung nicht-hegemonialer Wissenschaftssprachen beiträgt, lässt sich der science bias benennen. Es ist die Suprematie des science-Teils von Wissenschaft gegenüber deren anderen Teilen. Die Ingenieurwissenschaften in ihren praktischen Bezügen nehmen bei diesen Auseinandersetzungen eine Mittelposition ein. 4. Zu den Marginalisierungsprozessen trägt weiter der Faktor der Archivkostenersparnisse bei. Die nicht mehr zähmbaren Bibliotheken drängen offensichtlich zunehmend darauf, für die aktuelle Wissenschaftsentwicklung sich in Richtung einer Abschaffung des Buches zu bewegen. Wahrscheinlich <?page no="49"?> Zur Marginalisierung von Wissenschaftssprachen 37 spielen dabei nicht zuletzt berufsspezifische Interessenlagen des bibliothekarischen Personals eine wichtige Rolle. Die Archivkostenersparnisse sind natürlich auch ein bildungsökonomischer Faktor. Die Produktion wissenschaftlicher Texte ist in den letzten zwei Jahrhunderten exponential gestiegen. Der Bau von Bibliotheksgebäuden, ihre Unterhaltung, ihre Finanzierung und die Finanzierung des bibliothekarischen Personals - dies alles bereitet erhebliche Kosten. Einige der spektakulären Bibliotheksneubauten der jüngeren Zeit wie die Jacob und Wilhelm Grimm Bibliothek an der HU in Berlin, wie die Bibliothèque Nationale in Paris, die Dresdner Universitätsbibliothek, auch die Bibliothek der Philosophischen Fakultät an der FU Berlin - diese zum Teil ausgesprochen gelungenen architektonischen Ereignisse erwecken den Anschein, als sei der Bedarf dieses Archivwesens gesellschaftlich anerkannt. Das alles täuscht faktisch aber eher über das hinweg, was sich tatsächlich abspielt. Die drastische Reduktion der Bibliotheksressourcen ist ein wichtiger Punkt, der auch bei den extrinsischen Faktoren eine Rolle spielt (s. unten Abschn. 3.3). In diesem Zusammenhang ist m.E. auch das aus Teilen der Wissenschaft selbst vorangetriebene Propagieren des open access zu sehen. Es wird mit erheblichen Mitteln gerade von den wissenschaftsfördernden Institutionen wie der DFG subventioniert. Wie verlässlich dieser Typus der Archivierung schließlich dann in der Cloud ist - und sein wird -, dies ist überhaupt noch nicht abzusehen. Bücher und ihre Vorformen weisen immerhin zum Teil eine Altersbeständigkeit von 2000 Jahren auf. Sicher: Probleme wie der Säurefraß in Bezug auf das Papier des 19. Jahrhunderts gefährden die Traditionsprozesse; dennoch: Die Dauerhaftigkeit dieser Wissensspeicherung hat sich bewährt. Die Menge der Bibliotheksbrände (selbst wenn sie so spektakulär sind wie der der Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar) ist im Vergleich zum Absturz von Festplatten zum Glück doch relativ selten. 5. Ein weiterer wichtiger Marginalisierungsfaktor liegt im Verhältnis der Administration von Universität gegenüber der Universität selbst begründet. Dieses Verhältnis entwickelt sich mehr und mehr zu einem unverkennbaren Widerspruch. Das, was die Universitätsadministration mit ihrer ganzen Institutionenmacht plant und umsetzt, verhält sich distant und zum Teil geradezu feindlich zur Universität als Lebensform und zu deren innerem Geschäft. Die aktuellen Erfahrungen mit dem Projekt Bologna illustrieren dies auf ebenso offensichtliche wie erschreckende Weise. 6. Ein besonderer Aspekt unter den intrinsischen Praxen der Marginalisierung bildet die wachsende Rolle des Messens, Zählens und Eliminierens: die sogenannte Bibliometrie. Diese verspricht in einer immer unübersichtlicher werdenden Wissenschaftslandschaft Kriterien und Verfahren für die Einschätzung dessen, was in wissenschaftlicher Wissensproduktion <?page no="50"?> Konrad Ehlich 38 geschieht. Zitierhäufigkeiten werden zur obersten Evaluierungsgröße ausgerufen. Faktisch werden entscheidende Weichenstellungen freilich bereits vorgenommen, bevor das Zähl- und Zahlenwerk überhaupt erst beginnt. Das betrifft die Einbeziehung und eo ipso den Ausschluss der Textarten (s. oben Abschnitt 2.3.1.) ebenso wie die der Sprachen. Das, was in die Bibliometrie überhaupt noch eingeht, wird im Vorfeld bestimmt. Darüber wird die Eliminierung ganzer Wissenschaftsbereiche und ganzer Wissenschaftskulturen betrieben. Die einfache Gleichung ‚Was nicht auf Englisch existiert, existiert nicht‘ ist die leitende Maxime. Italienische Publikationen, französische, deutsche und viele andere tauchen in diesen Systemen einfach nicht mehr auf. Angesichts des Stellenwerts bei den Mittelzuweisungen für die Weiterentwicklung der Wissenschaft hat diese Situation fatale Konsequenzen. Es erfolgt ein Umschlag von Quantität in Qualitätsbeurteilung. Der sogenannte impact factor, die citation indexes, weltweite rankings mögen statistisch ordentlich bearbeitet sein; konzeptionell sind sie es nicht, sondern fußen auf ausgesprochen unordentlichen Grundstrukturen. Eine Scheinobjekivität entsteht, die sozusagen ihrerseits gegen kritische Infragestellungen weitgehend immunisiert ist. 3.3 Extrinsische Marginalisierungscluster 1. Die zweite große Gruppe von Faktoren, über die die Marginalisierung von Wissenschaftssprachen außerhalb des Englischen vorangetrieben wird, lässt sich als extrinsisch beschreiben. Wissenschaft erfordert Finanzierung. In diesem Zusammenhang zeichnet sich eine Umwandlung von Bildungsökonomie in Bildungsökonomisierung ab. Dem Ausdruck ‚Ökonomisierung‘ ist ja in beeindruckender Weise eine Doppelsinnigkeit eigen: einerseits bezeichnet er das, was die Wirtschaft betrifft; andererseits enthält er den Gedanken der Einsparung als seinen semantischen Kern. Letzteres wirkt sich in der Bildungsökonomisierung gegen ersteres aus. Die Bildungsökonomie wird in einem weithin staatlich organisierten System im Wesentlichen von den Finanzministern gemacht. Sie sind die eigentlichen Repräsentanten der Gesellschaft gegenüber ihrem Partialsystem Wissenschaft. Am deutschen Beispiel lässt sich sehen, dass selbst eine strukturelle Unterfinanzierung über ein halbes Jahrhundert hin bei diesem Kreis nicht zu einem grundsätzlicheren Nachdenken geführt hat oder gar über ihn hinaus Anlass zu größeren öffentlichen Debatten war. Die Naivität, mit der die Professorenschaft seinerzeit angesichts der katastrophalen Lehrsituationen der Erhöhung ihres Deputats von sechs auf acht Wochenstunden zugestimmt hat, also eine Erhöhung um 25 %, war für die Haushälter <?page no="51"?> Zur Marginalisierung von Wissenschaftssprachen 39 geradezu ein Signal und eine Einladung, weitere Erhöhungen durchzusetzen - der Prozess läuft. 2. Ein Ansturm von Studierenden mit der Zielmarke, 50 % jedes Jahrgangs akademisch auszubilden - so das Programm, das die Wissenschaftsministerin Bulmahn verkündete -, kann, so sah es aus, ohne größere ökonomische Mittelzuweisung realisiert werden. Solche Fantasien oder Fantastereien kollidieren selbstverständlich irgendwann mit der Wirklichkeit. In ihr muss irgendetwas an die Stelle der ausbleibenden Finanzierung und Etatisierung treten. 3. Es findet sich u.a. in der Umwandlung des Finanzierungssystems in Bezug auf die Forschung. Das, was als Zusatzfinanzierung für einzelne spezifische Forschungsaufgaben gedacht war, schlägt als Drittmittelanteil zu einem relevanten Teil der Grundfinanzierung um. Die Leistung und damit die Attraktivität neu zu berufender Professoren wird zunehmend an der Menge der Drittmittel, die sie bereits eingeworben haben, ‚bemessen‘. In der Tendenz wird es eigentlich kaum noch nötig sein, Berufungskommissionen einzurichten und durch sie das Selbstergänzungsrecht der Professorenschaft zu realisieren; es reicht der Drittmittelabgleich durch die Administration, um Professorenstellen neu zu besetzen. 4. Dies alles hat unmittelbare Konsequenzen für den wissenschaftlichen Nachwuchs. Die Auszehrung der Universität über lange prekäre Biographiephasen ihres wissenschaftlichen Personals einerseits und die strukturelle Unterfinanzierung andererseits werden ohne Zweifel mittel- und langfristig Konsequenzen für die Zusammensetzung dieses Personals haben. Eine Konsequenz ist der brain drain der besten Köpfe hin zu den hegemonialen Zentren und die frühzeitige Orientierung der Lebensplanung auf eine Tätigkeit in ihnen — und natürlich in ihrer Sprache. Die Strukturkrisen der Universitäten in Mitteleuropa, die in der jahrzehntelangen Unterfinanzierung eine ihrer Hauptursachen haben, wirken sich mittlerweile als Fragmentarisierung und Dysfunktionalisierung einer wohl entwickelten und gut funktionierenden Wissenschaftsstruktur aus. 5. Die Abhängigkeit wissenschaftlichen Arbeitens von Drittmittelfinanzierungen erweist sich auf andere Weise ein weiteres Mal als Faktor extrinsischer Marginalisierung von Wissenschaftssprachen. Die Forschungsförderung durch Institutionen wie die DFG, Stiftungen und ähnliche teils staatliche, teils aus der Zivilgesellschaft kommende Institutionen mit ihren Evaluierungs- und Zuweisungsverfahren unterliegen einem inneren Widerspruch in Bezug auf ihre Zielsetzung. Wissenschaft treibt das Wissen über das, was aktuell bekannt ist, hinaus. Zwischen dem, was man bisher weiß, und dem, von dem angenommen wird, dass es zukünftiges Wissen sein wird, besteht notgedrungen ein impliziter innerer Widerspruch. Die peers, <?page no="52"?> Konrad Ehlich 40 auf deren Beurteilungen die Vergabe der Mittel fußt, sind die Repräsentanten des bisher bekannten Wissens; sonst hätten sie selbst den Forschungsantrag gestellt, den sie zu beurteilen haben. Dieser systematische Widerspruch zwischen Peer-Orientierung als Orientierung am bereits bekannten Wissen und den Innovationen, die durch neue Projekte gewonnen werden sollen, ist kontraproduktiv. Er wirkt sich aus, ohne dass dies bisher systematisch erforscht und in seinen Konsequenzen bedacht worden wäre. Demgegenüber stellt die grundgesetzlich als Grundrecht geschützte Forschungs- und Lehrfreiheit die Eröffnung eines Freiheitsraumes dar, der für Innovation unabdingbar ist. Wird er bildungsökonomisch faktisch ausgetrocknet, so verliert Wissenschaft jene Potenziale, für deren Umsetzung sie eigentlich da ist. 6. Die Peer-Netzwerke wirken sich immer häufiger unmittelbar marginalisierend für nichtenglische Wissenschaftssprachen aus. Die Problematik der folgenreichen Einschätzung der Qualität von Forschungsvorhaben, die faktisch auf ein Lizenzierungsverfahren hinauslaufen, wollen aus nachvollziehbaren Gründen auf möglichst anonyme Praktiken zurückgreifen (was freilich wohl nicht nur für kleinere Wissenschaftskulturen faktisch mit hoher Wahrscheinlichkeit ohnehin illusionär ist). In diesem Zusammenhang entwickelt sich ein sprachlicher Imperativ in Richtung auf die hegemoniale Wissenschaftssprache. Die Menge möglicher Gutachter, so wird argumentiert, die eine der nicht hegemonialen Wissenschaftssprachen beherrschen, sei zu gering, so dass bereits das Antragswesen nur noch in der hegemonialen Wissenschaftssprache auszufertigen ist - zum Teil mit geradezu absurden Konsequenzen, denkt man die innere Logik der Argumentation zu Ende, denn wie soll etwa ein germanistisches Forschungsprojekt sinnvoll eingeschätzt werden von jemandem, der dieser Sprache nicht mächtig ist? 7. Die Textarten, die für das System Wissenschaft grundlegend sind - und zwar für das System Wissenschaft als ganzes -, sind auf die Vorhaltung der entsprechenden Ressourcen, sind auf die Existenz der Bibliotheken angewiesen. Auf sie ist noch einmal zurückzukommen (vgl. oben Abschnitt 3.2.4.). Als extern finanzierte Einheiten haben sie der Wissenschaft wie der Wissenschaftspopularisierung in gleicher Weise verantwortlich zur Verfügung zu stehen. Die oben benannten Tendenzen wirken dem entgegen. Wenn die Bibliotheken in ihrer Anschaffungspolitik sich weigern oder sich weigern müssen, die tatsächliche Produktion wissenschaftlicher Texte zu erfassen und vorzuhalten, so werden Teile - und wahrscheinlich zunehmend größere Teile - der wissenschaftlichen Produktion de facto der Zirkulation entzogen. 8. Dies wirkt sich für einen weiteren zentralen Faktor bei den extrinsischen Marginalisierungen von Wissenschaftskulturen aus, nämlich in der <?page no="53"?> Zur Marginalisierung von Wissenschaftssprachen 41 Austrocknung eines funktionierenden Verlagssystems. Die entwickelten großen Wissenschaftssprachen verfügen über solche Systeme, sei es nun im französischen, im italienischen, im russischen oder im deutschen Sprachzusammenhang. Die wissenschaftlichen Verlage in dem Bereich, den ich aus eigener Erfahrung überschaue, sind ganz offensichtlich keine Verlage, deren Eigentümer zu den Groß-Profitmachern gehören. Normale Auflagenzahlen, die bei einem noch funktionierenden Bibliothekssystem zu erzielen sind, können hier nicht kostendeckend sein. Das ist für englischsprachige Publikationen, die durch britische und vor allem durch US-amerikanische Verlage realisiert werden, noch möglich. Sie kommen immerhin auf Auflagen von 600 Exemplaren. Deutschsprachige Publikationen liegen bei Auflagen zwischen 100 und 200 Exemplaren. Es ist deutlich, dass hier weitere Finanzierungsquellen jenseits der durch den Verkauf erbrachten Erlöse unabdingbar sind. Dies wird in der öffentlichen Diskussion unter dem Stichwort der ‚Subventionen‘ verhandelt - ich denke, zu Unrecht. Es ist ein ausgesprochen kurzsichtiges Argument, denn das, was hier geschieht, hat ja zentral mit der Aufgabe der Wissenschaft als einer öffentlichen Sache zu tun, für die - wie auch für andere Bereiche der Kultur - diese Öffentlichkeit ihre Beiträge leistet und auch zu leisten hat. 9. Zu den externen Marginalisierungsfaktoren gehören schließlich diejenigen, die die Politik unmittelbar betreffen. Die deutsche Sprache ist die Grundsprache mehrerer Staaten, die Bundesrepublik Deutschland ist einer von ihnen. Tatsächlich freilich ergibt sich hier ein Dilemma: hinsichtlich der Sprache existiert diese Bundesrepublik eigentlich gar nicht. Vielmehr sind es 16 selbständige Staaten, die für die Fragen der Bildung und für die Fragen der Sprache die politische Verantwortung tragen. Der Eindruck ist nicht von der Hand zu weisen, dass viele in der Politik Tätigen nicht einmal wissen, dass sie hier eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe wahrzunehmen haben. Die Konsequenzen sind massiv und wirken sich von der Politik her auf die Strukturierung des wissenschaftlichen Geschäftes massiv aus. Die faktische Abwesenheit der Bundesrepublik Deutschland in Bezug auf die Fragen des Sprachenregimes in der EU (vgl. Ehlich 2010; 2011) ist eine der Konsequenzen eines Föderalismus, der sich seiner sprach- und bildungsbezogenen Aufgaben nicht wirklich bewusst ist. Die Europäische Union verfügt über kein Sprachenkonzept, und die Bundesrepublik Deutschland als der Repräsentant der zahlenstärksten Sprachgemeinschaft in der EU, der deutschsprachigen, verfügt schon gar nicht über Möglichkeiten, hier zu agieren, weil sie nicht einmal über einen repräsentativen Vergegenwärtiger der sprachlichen Interessen verfügt. Die Konsequenzen für das, was Wissenschaft als sprachliche Unternehmung ist, sind in ihren Einzelheiten ebenso wenig wie in Bezug auf die großen Linien <?page no="54"?> Konrad Ehlich 42 bisher, soweit ich sehe, wirklich durchdacht - nicht in Deutschland und nicht auf der europäischen Ebene. Hier, denke ich, ist in erster Hinsicht anzusetzen, um der Mehrsprachigkeit auch in der Wissenschaft eine reale Chance zu geben. Stattdessen finden wir gerade bei Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zum Teil einen lustvollen Sprachverlust, der sich darin gefällt, das Aufgeben der eigenen Wissenschaftssprache und der sich darin ausdrückenden Wissenschaftskultur als Zeichen besonderer Weltläufigkeit zu zelebrieren. 10. Dies ist eine sicher nicht unwillkommene Komplementärstruktur zur Durchsetzung der hegemonialen wissenschaftlichen Einsprachigkeit. Dabei geht es um die Umsetzung eines neoliberalen Marktkonzeptes, das in immer neuen Schritten seine Reichweite zu erweitern trachtet: von GATT zu GATS und von dort zu TTIP. Ein Kernkonflikt betrifft dabei etwa die Buchpreisbindung und den darauf fußenden spezifisch mitteleuropäischen Distributionsmodus. Im Zangengriff zwischen Amazon und den TTIP-Propagandisten wird gegenwärtig die nächste Phase des Versuchs durchgespielt, um dieses widerständige Teilsystem zu eliminieren. Die Entwicklung des Urheberrechts, die Frage der Strukturierung von Publikationsmöglichkeiten, dies alles betrifft die Strukturmöglichkeiten entscheidend. Bildung als eigener Markt ist eine Zukunftsvision, für deren Umsetzung Einsprachigkeit eine hochrelevante, wenn nicht eine geradezu notwendige Voraussetzung ist. Auf der Basis einer einzelnen hegemonialen Sprache lässt sich hier Marktwirtschaft in ihrer neoliberalen Form in Bildung im Allgemeinen und für Wissenschaft im Besonderen durchsetzen - und wohl nur so. Alle anderen Wissenschaftssprachen stören da. 3.4 Handlungsverzicht - oder? Die Marginalisierungspotenziale, ihre intrinsischen wie ihre extrinsischen Faktoren, wirken in einer doppelten Weise: Einerseits stoßen sie auf weitgehende Gleichgültigkeit innerhalb der Wissenschaft. Andererseits erzeugen sie offensichtlich eine tiefe Resignation, die der Maxime folgt ‚Der Zug ist abgefahren; da kann man nichts mehr machen‘. Allenfalls rettet man sich in eine Nische - und betreibt eben Germanistik so, wie heute etwa Koreanistik in Deutschland betrieben wird. In der Lebenswelt Universität sind solche resignativen Reaktionen zwar verständlich - aber kaum verantwortlich. Sie führen nicht zuletzt zu einem prinzipiellen Analyseverzicht. Er ist dramatisch. Ein Vergleich der Leistungsfähigkeit und Grenzen unterschiedlicher Wissenschaftssprachen, darunter der englischen, findet nur in Ansätzen statt (vgl. exemplarisch Thielmann 2009); eine systematische Wissenschaftssprachkomparatistik fehlt in den Universitäten weithin. Die <?page no="55"?> Zur Marginalisierung von Wissenschaftssprachen 43 gnoseologischen, teleologischen und kommunitären Dimensionen von Wissenschaft und wissenschaftlicher Sprachlichkeit zu untersuchen, wäre dabei eine Aufgabe, deren Bearbeitung ebenso dringlich wie unabdingbar ist. Sprachbewusstheit, Sprachbewusstsein und die Zukunft der wissenschaftlichen Mehrsprachigkeit sind Themen, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zentral betreffen sollten, weil sie sie zentral betreffen. Sprachbewusstheit und Sprachbewusstsein lassen sich entwickeln. Die Zukunft der wissenschaftlichen Mehrsprachigkeit ist von einer fundamentalen Bedeutung für Wissensgesellschaften, insbesondere für demokratische Wissensgesellschaften. Diese Thematik stellt sich in verschiedenen Teilen der internationalen Wissenschaftswelt je anders dar. Große einsprachige Staaten bzw. Staatenbünde wie die USA, das - frühere und in seinen Auswirkungen bis heute sehr aktive - britische Empire einerseits sowie China sind an diesen Fragen offensichtlich wenig oder jedenfalls weniger interessiert. Auf der anderen Seite stehen Kulturen und Wissenschaftskulturen, in denen und für die Mehrsprachigkeit einen anderen Stellenwert hat. Europa ist dafür der geradezu klassische Bereich. Um seine eigenen wissenschaftlichen Ressourcen weiter zu entwickeln und diese in die wissenschaftliche Weltkultur einzubringen, bedarf es jener Sprachbewusstheit, die aus der Analyse erwächst und diese zugleich anleitet. Die Entwicklungen der letzten zwei Jahrzehnte lassen allmählich ein wachsendes Problembewusstsein erkennen. Ob es ‚zu spät‘ ist, dies entscheidet sich nicht zuletzt daran, ob der Resignation widerstanden und ob die analytischen wie bildungspolitischen Aufgaben angenommen und bearbeitet werden. Literatur Anderson (1983): Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London: Verso. Da Silva, Ana (2014): Wissenschaftliche Streitkulturen im Vergleich. Eristische Strukturen in italienischen und deutschen wissenschaftlichen Artikeln. Heidelberg: Synchron. Ehlich, Konrad (2007): Medium Sprache. In: Ehlich, Konrad: Sprache und sprachliches Handeln, Band 1. Berlin; New York: de Gruyter, S. 151—165. Ehlich, Konrad (2010): Die deutsche Sprache in der Sprachenpolitik europäischer Institutionen. In: Krumm, Hans-Jürgen et al. (2010) (Hrsg.): Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Ein internationales Handbuch. Berlin; New York: de Gruyter, S. 124— 132 (=HSK 19,1). Ehlich, Konrad (2011): Europäische Sprachregime - Voraussetzungen und Perspektiven. In: Kreis, Georg (2011) (Hrsg.): Babylon Europa. Zur europäischen Sprachenlandschaft. Basel: Schwabe, S. 55. <?page no="56"?> Konrad Ehlich 44 Ehlich, Konrad (2012): Eine Lingua franca für die Wissenschaft? In: Oberreuter, Heinrich et al. (2012) (Hrsg.): Deutsch in der Wissenschaft. Ein politischer und wissenschaftlicher Diskurs. München: Olzog, S. 81—100. Hornung, Antonie et al (Hrsg.) (2014): Diskursive und textuelle Strukturen in der Hochschuldidaktik. Deutsch und Italienisch im Vergleich. Münster; New York: Waxmann. Ickler, Theodor (1997): Die Disziplinierung der Sprache. Fachsprachen in unserer Zeit. Tübingen: Narr. Knapp, Karlfried (2012): Chancen und Grenzen einer Lingua franca für die Wissenschaften: Statement zur Podiumsdiskussion. In: Oberreuter, Heinrich et al. (2012) (Hrsg.) Deutsch in der Wissenschaft. Ein politischer und wissenschaftlicher Diskurs. München: Olzog, S. 108—113. Phillipson, Robert (in Vorbereitung): English as threat or opportunity in European higher education. In: Dimova, Slobodanka et al. (Hrsg.) English-medium instruction in higher education in Europe. Berlin: de Gruyter. Redder, Angelika et al. (2014) (Hrsg.): Eristische Strukturen in Vorlesungen und Seminaren deutscher und italienischer Universitäten. Heidelberg: Synchron. Sand, Shlomo (2011): Die Erfindung des jüdischen Volkes. Berlin: List. Schuchhardt, Hugo (1909): Die Lingua franca. In: Zeitschrift für romanische Philologie, Nr. 33, S. 441—461. Thielmann, Winfried (2009): Deutsche und englische Wissenschaftssprache im Vergleich. Hinführen - Verknüpfen - Benennen. Heidelberg: Synchron. Trabant, Jürgen (2012a): Weltansichten. Wilhelm von Humboldts Sprachprojekt. München: Beck. Trabant, Jürgen (2012b): Über die Lingua franca der Wissenschaft. In: Oberreuter, Heinrich et al. (Hrsg.) Deutsch in der Wissenschaft. Ein politischer und wissenschaftlicher Diskurs. München: Olzog, S. 101—107. <?page no="57"?> Han Guo Deutsch als Wissenschaftssprache und seine aktuelle Stellung für Chinesen Abstract Die wissenschaftliche Kommunikation sowie der akademische Austausch zwischen Deutschland und China können auf eine jahrhundertelange Geschichte zurückblicken. Aus der insgesamt guten Prognose für das Deutschlernen in China lassen sich noch keine Aussagen über die Bedeutung der deutschen Sprache als Wissenschaftssprache für Chinesen ableiten. Man sollte die Stellung des Deutschen als Wissenschaftssprache für Chinesen im Vergleich zur Stellung der englischen Sprache betrachten, und zwar nicht nur in der Forschung. Die Situation in der Lehre gehört auch zum Thema Deutsch als Wissenschaftssprache. Heutzutage wird niemand bezweifeln, dass Englisch die Wissenschaftskommunikation dominiert. Ziel dieser Arbeit ist es, die aktuelle Stellung des Deutschen als Wissenschaftssprache für Chinesen in Forschung und Lehre darzustellen und Ergebnisse zu folgenden Fragestellungen zu gewinnen: In welchen Bereichen ist Deutsch für Chinesen eine wichtige internationale Wissenschaftssprache? Welche Anforderungen und Herausforderungen sind zu stellen? 1 Lange Tradition — wissenschaftliche Kommunikation zwischen China und Deutschland Trotz der großen geografischen Distanz hat die wissenschaftliche und akademische Kommunikation zwischen China und Deutschland eine lange Tradition, so dass es in den letzten Jahren viele Jubiläen zu feiern gab. Repräsentativ dafür ist das 130-jährige Jubiläum des Akademischen Austauschs zwischen China und Deutschland, welches im Jahr 2006 gefeiert wurde. Heutzutage sind rund 10% aller ausländischen Nachwuchs- und Gastwissenschaftler an den Max-Planck-Instituten chinesischer Herkunft. Abgesehen von der Zusammenarbeit beider Länder in der Spitzenforschung hat auch die Zahl der in Deutschland studierenden Chinesen erheblich zugenommen. Der DAAD-Publikation Wissenschaft weltoffen zufolge hat China seinen Vorsprung als wichtigstes Herkunftsland ausländischer Studienan- <?page no="58"?> Han Guo 46 fänger weiter ausgebaut: Jeder zehnte ausländische Studienanfänger kommt aus China (vgl. URL 1). Die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und China im wissenschaftlichen und akademischen Bereich floriert. Doch wie wirkt sich dies auf den Gebrauch der deutschen Sprache bei den Chinesen aus? Wie hoch ist der Stellenwert der deutschen Sprache, besonders als Wissenschaftssprache, für die Chinesen? Dieser Beitrag versucht, diese Fragen zu beantworten. 2 Deutsch als Wissenschaftssprache im Hinblick auf die Dominanz des Englischen Als eine in der internationalen und nationalen Wissenschaftskommunikation verwendete Sprache wurden Geschichte und Bedeutung des Deutschen als Wissenschaftssprache schon von vielen Forschern untersucht. Die goldene Ära der deutschen Sprache als internationale Wissenschaftssprache gehört wohl unwiederbringlich der Geschichte an. Stattdessen ist die Vormachtstellung des Englischen in der internationalen wissenschaftlichen Kommunikation offensichtlich. Diverse empirische Untersuchungen zeigen jedoch, dass die deutsche Sprache nicht in allen Disziplinen im gleichen Ausmaß durch das Englische verdrängt wird. Es herrscht ein unterschiedlicher Grad der ‚Anglisierung‘ zwischen den Fächern, die nach Skudlik (1990) in drei Gruppen zerfallen: 1. Die anglophonen Wissenschaften, nämlich die theoretischen oder reinen Naturwissenschaften wie z.B. Chemie, Physik oder Mathematik; 2. Die anglophon geprägten Wissenschaften, nämlich die angewandten Naturwissenschaften, die im Vergleich zu den theoretischen Naturwissenschaften noch nicht so stark anglisiert sind; 3. a) Geisteswissenschaften als nationalsprachlich geprägte Wissenschaften, deren Erkenntnisse eng mit den Nationalsprachen verquickt sind; b) In die dritte Gruppe fällt eine gesonderte Klasse, d.h. die geisteswissenschaftlichen Nischenfächer, in denen Deutsch noch einen gewissen Rang als internationale Wissenschaftssprache hat. (Ammon 1998: 170f.) Es soll darauf hingewiesen werden, dass die Grenzen zwischen den einzelnen Kategorien aufgrund der Verzahnung verschiedener Disziplinen fließend sind. Trotzdem ist die klare Trennung zwischen den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften in Bezug auf die Sprache auffällig. Betrachtet man die internationale Stellung der Wissenschaftssprache Deutsch für Chinesen, so sollte diese Aufteilung der Disziplinen berücksichtigt werden. Außerdem muss unterstrichen werden, dass die internationale Stellung der deutschen Sprache als Wissenschaftssprache nicht nur in der <?page no="59"?> Deutsch als Wissenschaftssprache und seine aktuelle Stellung für Chinesen 47 Forschung beachtenswert ist. Auch die deutschsprachige Lehre für Studierende gehört zum Thema Deutsch als Wissenschaftssprache, da wissenschaftliche Erkenntnisse durch Kommunikation zwischen Lehrenden und Lernenden didaktisch weitergegeben werden. Die Untersuchung zur Stellung des Deutschen als Wissenschaftssprache für Chinesen sollte prinzipiell seine Verwendung in allen Disziplinen und Kommunikationsformen beinhalten, was sich jedoch als unmöglich erweist. Aus Gründen der Arbeitskapazität unterliegt diese Arbeit notwendigerweise gewissen Beschränkungen. Die Domäne sowie der Stellenwert der Wissenschaftssprache Deutsch für die Chinesen werden im folgenden Abschnitt in die oben genannten vier Typologien und die beiden Bereiche Forschung und Lehre eingeteilt. 3 Deutsch als Wissenschaftssprache für Chinesen Die allgemeine Situation der deutschen Sprache in China wurde bereits häufig untersucht. Jedoch liegt der Schwerpunkt vorwiegend entweder auf der Entwicklung der chinesischen Germanistik oder auf der allgemeinen Lage der deutschen Sprache als Fremdsprache in China. Doch wie benutzen Chinesen Deutsch in der wissenschaftlichen Kommunikation? Eine systematische und vor allem aktuelle Untersuchung fehlt bislang. In diesem Zusammenhang darf die Rolle des Englischen in China nicht ignoriert werden. Viele Chinesen verbinden Englisch sofort mit Internationalisierung, die Wissenschaftskommunikation stellt keine Ausnahme dar. Wie groß der Einfluss des Englischen auf Deutsch als Wissenschaftssprache für die Chinesen ist, wird im Folgenden weiter diskutiert. 3.1 Deutsch für Chinesen in der Forschung Nach Thomas Harnisch (1999: 95f.) haben seit Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr Chinesen Deutschlanderfahrungen gesammelt und nach ihren Aufenthalten große Beiträge in verschiedenen Forschungsbereichen in China geleistet. Leider gibt es keine spezielle Studie zum Thema Sprachwahl oder Verwendung der deutschen Sprache unter chinesischen Forschenden und Akademikern in der vorhandenen Literatur. Tung-li Yuan (1964: 152f.) hat in seinem Werk A Guide to Doctoral Dissertations by Chinese Students in Continental Europe 1907—1962 Statistiken erstellt. Insgesamt sind in diesem Zeitraum 732 Dissertationen in Deutschland geschrieben worden, nur vier davon tragen englische Titel. Einige alte Dissertationen habe ich überprüft. Zwar habe ich es nicht geschafft, die Sprache aller Dissertationen nachzuvollziehen, <?page no="60"?> Han Guo 48 konnte aber 50 davon aus verschiedenen Fachrichtungen prüfen. Alle 50 Dissertationen haben nicht nur einen deutschen Titel, sondern sind auch auf Deutsch geschrieben worden. Daher kann man mit Bestimmtheit sagen, dass die Dissertationen von Chinesen in diesem Zeitraum hauptsächlich auf Deutsch geschrieben werden mussten, sei es im Bereich der Naturwissenschaften oder der Geistes- und Sozialwissenschaften. Die Stellung der Sprache Deutsch als Wissenschaftssprache bezüglich der Dominanz der englischen Sprache für Chinesen in der Gegenwart ist dagegen durch zahlreiche Beobachtungen vergleichsweise leicht einzuschätzen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat zusammen mit der National Natural Science Foundation of China das Chinesisch-Deutsche Zentrum für Wissenschaftsförderung (CDZ) gegründet. In der Übersicht über die geförderten Kooperationsgruppen und die geförderten Symposien ist nur selten ein Projekt oder eine Veranstaltung mit deutschem Namen zu finden, die meisten Titel sind auf Englisch oder Chinesisch (s. URL 2). Bleibt noch die Frage: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Arbeitssprache Deutsch ist, wenn die gemeinsamen Projekte zwischen deutschen und chinesischen Institutionen schon keinen deutschen Namen tragen? Doch abgesehen von dieser Vermutung gibt es natürlich auch eindeutige Fälle: Im Bereich Biologie wurde im Rahmen eines Teilprojekts des Deutsch-Chinesischen Jahres der Wissenschaft und Bildung von einer deutsch-chinesischen Kooperation eine Schmetterlingsart entdeckt und die Entdeckung auf Englisch veröffentlicht; die deutsche oder chinesische Sprache spielte dabei keine Rolle. Im Bereich Politik haben das Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung und das Institute of Policy and Management der Chinesischen Akademie der Wissenschaften eine Auswahl ihrer Doktoranden in einer Summer School gemeinsam unterrichtet. Schwerpunkt der Summer School war das Thema Internationalization of Science and Technology Policy unter dem Motto Innovation Policy and Sustainable Development. Auch hier mussten Deutsch und Chinesisch der englischen Sprache weichen (s. URL 3). Selbst die in Deutschland arbeitenden und forschenden Chinesen stehen unter dem Einfluss des Englischen. Die Gesellschaft Chinesischer Physiker in Deutschland e.V. veranstaltet jährlich eine Jahrestagung in Deutschland. Auf der Webseite findet sich der folgende Satz: „In Anlehnung an die internationalen Normen sind die Arbeitssprache, Vortragssprache sowie Diskussionssprache auf der Konferenz Englisch, auch der Sammelband wird auf Englisch publiziert.“ (URL 4; Übersetzung: H.G.) Darüber hinaus veröffentlicht die Gesellschaft die Jahreszeitschrift Journal of the Society of Chinese Physicists in Germany — alle Artikel sind auf Englisch geschrieben. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei der Gesellschaft Chinesischer <?page no="61"?> Deutsch als Wissenschaftssprache und seine aktuelle Stellung für Chinesen 49 Chemiker und Chemieingenieure in der Bundesrepublik Deutschland (GCCCD), die Jahrestagungen und Mitgliederversammlungen organisiert. Die Arbeitssprachen der Jahrestagungen sind in allen Fällen Englisch und Chinesisch; Deutsch wurde nur in den Jahren 2008 und 2009 als Arbeitssprache akzeptiert (vgl. URL 5). Anscheinend haben also die chinesischen Forscher und Wissenschaftler in den theoretischen Naturwissenschaften, wie in den Bereichen Physik und Chemie, besonders wenig Bezug zum Deutschen als Wissenschaftssprache, selbst wenn sie lange Zeit in Deutschland tätig sind. Im Vergleich dazu ist die deutsche Sprache in den Angewandten Wissenschaften, zumindest in den Ingenieurwissenschaften, noch relevant. Repräsentativ dafür werden auf der Fachtagung ‚Nachwuchstalente der Automobilindustrie aus China‘ die Vorträge wahlweise auf Deutsch oder auf Chinesisch gehalten. Organisator der Fachtagung ist die Technische Gemeinschaft der Chinesisch-Deutschen Automobilindustrie (TG-CDA e.V.), deren Mitglieder junge Fachkräfte, Postdocs, Doktoranden und Studenten aus der Automobilindustrie sind (s. URL 6). Die Fachberichte der Mitglieder sind immer in chinesischer, deutscher und englischer Sprache zugänglich. Dies lässt sich damit begründen, dass die Disziplinen Automobilbau und Fahrzeugtechnik zur Forschungstradition in Deutschland gehören und deswegen regionale Gebundenheit besitzen. Zur Stellung von Deutsch als Wissenschaftssprache für Chinesen in den Sozial- und Geisteswissenschaften existiert eine empirische Untersuchung von Wei (2007). Auf der Grundlage von Statistiken zu Anzahl und Kategorien deutscher Fachzeitschriften und Bücher an einigen ausgewählten chinesischen Hochschulen behauptet er, dass Deutsch „keine bedeutende Weltsprache der Wissenschaften“ mehr sei, obwohl deutsche Publikationen in Bereichen wie Philosophie, Theologie, Soziologie und Musikwissenschaften noch eine Rolle spielten (Wei, 2007: 233). Die obigen Beobachtungen zur Situation der deutschen Sprache als Wissenschaftssprache für Chinesen in der Forschung stützen die Befunde der Kategorisierung im Kapitel 2, dass Deutsch in den theoretischen Naturwissenschaften für Chinesen besonders wenig Bedeutung hat, in den Ingenieurwissenschaften hingegen noch in geringem Ausmaß genutzt wird. Dagegen ist die deutsche Sprache in den Geisteswissenschaften, vor allem in den geisteswissenschaftlichen Nischenfächern, für Chinesen noch von Wichtigkeit. Nicht zuletzt ist die Zweiteilung zwischen den Natur- und den Geisteswissenschaften bei Chinesen in Bezug auf die Sprache auffällig. Für die chinesischen Nachwuchswissenschaftler hat der DAAD in Peking das Sprachhindernis beseitigt; zur Frage der Deutschkenntnisse für die Promotion in Deutschland gibt es nun die folgende Erklärung: <?page no="62"?> Han Guo 50 „in den letzten Jahren hat sich die Anzahl internationaler Programme an deutschen Hochschulen vervielfacht. Studierende aus dem Bereich Natur- und Ingenieurswissenschaften können während der Promotion in Deutschland an vielen Universitäten vollständig auf Englisch forschen, ihre Doktorarbeit verfassen sowie eine mündliche Abschlussprüfungen [sic! ] ablegen. Im Vergleich dazu müssen jedoch beispielsweise Studierende aus dem Bereich Geisteswissenschaften meistens ausreichend Deutsch-Kenntnisse besitzen. Aber auch für andere Fachbereiche gilt, dass grundlegende Kenntnisse der deutschen Sprache für ein erfolgreiches Studium und die Integration in Deutschland unablässig sind.“ (URL 7; Hervorhebungen: H.G.) Alles in allem ist Deutsch als Wissenschaftssprache für Chinesen in der Forschung der englischen Sprache untergeordnet, was dem gesamten Bild im internationalen Wissenschaftsbetrieb entspricht. Dennoch gibt es noch Hoffnung für Deutsch als Wissenschaftssprache. 3.2 Die Germanistik als Bewahrer der deutschen Sprache in China Deutsch als Hauptstudienfach in China hat nur eine kurze Geschichte von knapp 60 Jahren. Anfang der 1980er Jahre gab es in China etwa 20 Hochschulen mit Deutsch als Hauptfach, im Jahr 2005 gab es schon 50 Deutsch- oder Germanistikabteilungen an chinesischen Hochschulen (vgl. Kong 2007: 124). Die Webseite der DAAD-Außenstelle in Peking verzeichnet gegenwärtig 74 Universitäten bzw. Hochschulen mit Deutschabteilungen in China (s. URL 8). Nach Auskunft von Professor Zhao Jin, Dekanin der Deutsch-Fakultät an der Tongji-Universität, ist die Zahl der Hochschulen mit Germanistik-Abteilungen in China bis 2013 auf mittlerweile 102 angestiegen. Offensichtlich floriert die Germanistik in China. Die Germanistikbzw. Deutschabteilungen verteilen sich auf die größeren und mittelgroßen Städte. Dadurch ist die deutsche Sprache chinaweit langfristig dynamisch. Seit 2010 ist Professor Zhu Jianhua von der Tongji-Universität Präsident der Internationalen Vereinigung für Germanistik (IVG) — erstmals wurde ein Chinese zum Präsidenten ernannt. Somit wird im Sommer 2015 der nächste Kongress der IVG in Shanghai stattfinden, was China temporär zum Zentrum der Weltgermanistik macht. Es soll hier darauf hingewiesen werden, dass die Verhandlungssprache sowie die Kongresssprache der IVG ausschließlich das Deutsche ist. Nach Hess (2001: 1584) ist in China „zu keiner Zeit eine säuberliche Trennung zwischen Deutsch als Fremdsprache und Germanistik vorgenommen worden“. Demzufolge wird die Stellung der deutschen Sprache als Wissenschaftssprache nicht nur in der chinesischen Germanistik, sondern auch im Bereich DaF verteidigt. <?page no="63"?> Deutsch als Wissenschaftssprache und seine aktuelle Stellung für Chinesen 51 3.3 Deutsch für Chinesen in der Lehre Häufiger als in der Forschung wird die deutsche Sprache von Chinesen in der Lehre eingesetzt. Dabei müssen zwei Gruppen unterschieden werden: 3.3.1 Deutsch an chinesischen Hochschulen —für chinesische Studierende In China wird die deutsche Sprache an den Hochschulen in verschiedenen Formen vermittelt. Selbst die Germanistik als Vollstudium in China beschränkt sich nicht nur auf die traditionelle deutsche Literatur- und Sprachwissenschaft, sondern integriert noch andere Wissenschaften, wie z.B. Außenpolitik und internationale Beziehungen oder wirtschaftliche Beziehungen mit dem Ausland und Außenhandel. Als studienbegleitendes Fach, auch Deutsch als Anwendungs-, Zusatz- oder Nebenfach genannt, wird die deutsche Sprache für den Transfer von wissenschaftlichen Erkenntnissen und Technologie mit anderen Hauptfächern eng verknüpft. Vor allem an technischen Hochschulen wird Deutsch als studienbegleitendes Fach angeboten, wie etwa beim CDHK und beim CDHAW an der Tongji-Universität. 1 Im Bereich Rechtswissenschaften hat die Universität Göttingen zusammen mit dem Deutsch-Chinesischen Institut für Rechtswissenschaften an der Nanjing-Universität ein Masterstudium mit Doppelabschluss entwickelt. Die akademische Zusammenarbeit und der Austausch zwischen deutschen und chinesischen Hochschulen sind miteinander verknüpft. Eine enge Verzahnung von Deutschkenntnissen und fachspezifischer Wissensvermittlung liegt für chinesische Studierende auf der Hand. In den jeweiligen Disziplinen kommen viele Gastprofessoren und Lehrende speziell aus Deutschland nach China, um Seminare abzuhalten. Zudem gibt es deutsche Lektoren und Dozenten, die langfristig an chinesischen Hochschulen tätig sind. Im März habe ich drei deutschsprachige Wissenschaftlerinnen aus den Disziplinen Rechtswissenschaften, Psychologie und Geschichte an der Nanjing- Universität nach ihren Meinungen zum Stellenwert von Deutsch als Wissenschaftssprache in ihren jeweiligen Disziplinen in China befragt und folgende Antworten erhalten: 1 Das CDHK ist das Chinesisch-Deutsche Hochschulkolleg, das im Jahr 1998 als Gemeinschaftseinrichtung des DAAD und der Tongji-Universität gegründet wurde. Innerhalb eines Jahres werden die Studierenden in die Lage versetzt, deutschsprachigen Vorlesungen zu folgen. Mit entsprechendem TestDaF-Ergebnis haben die Studierenden die Möglichkeit, in Deutschland ein Firmenpraktikum zu absolvieren oder an Partneruniversitäten an Lehrveranstaltungen teilzunehmen, um einen Doppelmaster-Abschluss zu erwerben. CDHAW heißt Chinesisch-Deutsche Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Bis zu 30% der fachlichen Lehrveranstaltungen werden von Professoren und Lehrbeauftragten in deutscher Sprache abgehalten (Xiufang 2007: 153). <?page no="64"?> Han Guo 52 1. Geschichte „Chinesische Geschichte wird zumeist auf Chinesisch unterrichtet, deswegen ist Deutsch kaum gefragt. Natürlich wurden vor 100 Jahren wichtige Forschungsergebnisse auf Deutsch veröffentlicht, aber heute muss man eigentlich nicht mehr Deutsch schreiben.“ (Antwort von Frau Ines Eben v. Racknitz, Lecturer am Department of History of Nanjing University) 2. Psychologie „In meinem Fach (Psychologie) spielt Deutsch keine Rolle als Wissenschaftssprache in China. Die Studierenden lernen von klein auf Englisch und meistern dies oft nur mit Mühe, daher ist es wenig sinnvoll (wenn sie nicht Germanistik oder mit Deutschland in Verbindung stehende Themen bearbeiten wollen), ihnen noch eine Sprache zuzumuten, die sie sicher nicht in kurzer Zeit so beherrschen können, so dass sie einem Diskurs in der Psychologie folgen könnten. Selbst in Deutschland wird Deutsch als Wissenschaftssprache in der Psychologie immer mehr abgeschafft und selbst deutsche Fachzeitschriften haben Englisch zur Veröffentlichungssprache gemacht. Bei einem solchen innerdeutschen Trend, wieso sollte der Trend in China andersherum sein? “ (Antwort von Frau Annette Hillers-Chen, Associate Professor an der School of Social and Behavioral Sciences Nanjing University) 3. Rechtswissenschaften „Deutsch ist bei der Forschung zu deutschem Recht unabdingbar. Da das chinesische Recht auf dem deutschen Recht begründet ist, sollten zumindest diejenigen, die Recht in China lehren, Deutsch können.“ (Antwort einer anonymen Dozentin aus dem Deutsch-Chinesischen Institut für Rechtswissenschaft) Zwar können diese drei Aussagen die ganze Situation der deutschen Sprache an chinesischen Hochschulen nicht erschöpfend wiedergeben, sie sind aber ein wichtiger Hinweis darauf, dass selbst in einigen geisteswissenschaftlichen Nischenfächern, in denen Deutsch noch den Ruf als internationale Wissenschaftssprache genießt (Ammon 2012), wie z.B. Geschichte und Psychologie, die deutsche Sprache für chinesische Studierende irrelevant ist. Dagegen hat die deutsche Sprache im Bereich der Jurisprudenz an den Hochschulen noch die Schlüsselstellung inne, da „das chinesische Recht auf dem deutschen Recht begründet ist“. 3.3.2 Deutsch für chinesische Schüler und Studierende, die ein Studium in Deutschland planen Auch diese Gruppe von Chinesen hat eine wesentliche Bedeutung für die deutsche Sprache. Für ein Vollstudium in Deutschland sind gute Deutschkenntnisse notwendig. Alle ausländischen Studierenden müssen Sprachprüfungen wie TestDaF oder DSH ablegen, wenn sie ein Studium in Deutsch- <?page no="65"?> Deutsch als Wissenschaftssprache und seine aktuelle Stellung für Chinesen 53 land planen und keinen internationalen Studiengang besuchen wollen. Einer Statistik des TestDaF-Instituts zufolge ist China die am stärksten vertretene Nation unter den 180 am TestDaF teilnehmenden Ländern. 2011 stammten 7165 Teilnehmende (29,8% aller Teilnehmenden) aus der Volksrepublik. 2 Dagegen können chinesische Schüler aus den DSD-Schulen direkt in Deutschland studieren, nachdem sie das DSD Stufe II erworben haben. In diesem Fall brauchen die Schüler keine zusätzliche Sprachprüfung abzulegen. Mit anderen Worten wird Deutsch als Abitursprache für chinesische Schüler eingeführt. Zurzeit gibt es in China insgesamt 47 DSD-Schulen. Angesichts der großen Zahl von Chinesen, die schon in Deutschland studieren, die TestDaFbzw. DSH-Prüfungen abgelegt haben oder eine DSD- Schule besuchen und somit als zukünftige Studierende in Deutschland in Betracht kommen, kann von einer Art „Sprachgemeinschaft“ gesprochen werden, die die deutsche Sprache in der Lehre aktiv benutzt. Dies kann den hohen Stellenwert der deutschen Sprache für Chinesen wahren. 4 Resümee und Herausforderungen für den Rang der deutschen Sprache als Wissenschaftssprache für Chinesen In der wissenschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und China überwiegt die englische Sprache auf der Forschungsebene, was kaum zu ändern sein dürfte. Sogar für diejenigen chinesischen Wissenschaftler, die lange in Deutschland gelebt und geforscht haben, ist die deutsche Sprache für die Wissenschaft kein Muss. Aus diesem Grund ist die Erwartung unrealistisch, die Dominanz der englischen Sprache brechen zu können. In der Lehre hingegen wird die deutsche Sprache von Chinesen im Vergleich viel aktiver genutzt und spielt immer noch eine wichtige Rolle. Selbstverständlich werden die meisten der im Ausland studierenden Chinesen sich nach ihrem Studium nicht mit Wissenschaft und Forschung beschäftigen; es lässt sich aber sagen, dass die späteren chinesischen Wissenschaftler und Forschenden teilweise aus dieser Gruppe stammen werden. In diesem Sinne können die Einstellung der chinesischen Studierenden zur deutschen Sprache und ihre Deutschkompetenz mehr oder weniger Aufschluss über die zukünftige Stellung der deutschen Sprache als Wissenschaftssprache für Chinesen geben. Im diesem Zusammenhang sollten folgende Punkte in Betracht gezogen werden: 1. Selbst wenn die chinesischen Studierenden Sprachprüfungen bestehen und das Studium in Deutschland anfangen, ist die eigentliche Sprach- 2 URL 9. <?page no="66"?> Han Guo 54 kompetenz damit nicht unbedingt sichergestellt. Verbessern chinesische Studierende ihre Sprechfertigkeit im Deutschen während des Fachstudiums in Deutschland? So lautet das Dissertationsthema von Yu Chen, Deutschlehrerin an der Tongji-Universität. Und die Antwort ist leider: nein. Ihre empirische Untersuchung zeigt ein „recht besorgniserregendes Bild“ (Chen 2012: 175). 2. Den chinesischen Studierenden fehlt das Bewusstsein dafür, die deutsche Sprache in der Wissenschaftskommunikation richtig zu benutzen. Das Deutsch-Kolleg an der Tongji-Universität bietet außer Deutschkursen noch den von DAAD-Lektoren gehaltenen Kurs Wissenschaftskommunikation im Studium in Deutschland an. In diesem Kurs wird Wissenschaftskommunikation gelehrt und die Ausdrucksfähigkeit im Uni-Alltag trainiert. Laut der DAAD-Lektorin Dr. Assinja Demjjanow, die zuständig für den Kurs ist, ist die Teilnehmerzahl „sehr niedrig“. Sie bedauert diese Situation, da „diese Vorbereitung für den Studienerfolg sehr wichtig“ sei. (E-Mail vom 21. April 2014) Es ist nötig, so früh wie möglich die Deutsch lernenden chinesischen Studierenden an die Wissenschaftssprache heranzuführen, wenngleich ausländische Wissenschaftler und Studierende allein natürlich den Rang der deutschen Sprache als Wissenschaftssprache nicht zu retten vermögen. Auch die deutschsprachigen Wissenschaftler und Forschenden sollten dafür die Verantwortung übernehmen. Wenn Studierende in China fleißig Deutsch lernen, in Deutschland selbst jedoch nicht auf die Sprache angewiesen sind, werden sie später als Wissenschaftler wohl kaum auf Deutsch als Wissenschaftssprache zurückgreifen (können). Literatur Ammon, Ulrich (1998): Ist Deutsch noch internationale Wissenschaftssprache? Berlin; New York: de Gruyter. Ammon, Ulrich (2012): Nischenfächer für Deutsch als internationale Wissenschaftssprache und die Zukunftsperspektiven. In: QUO VADIS ROMANIA? Zeitschrift für eine aktuelle Romanistik, Nr. 40, S. 39—61. Deming, Kong (2007): Die Hochschulen mit dem Fach Germanistik. In: Ammon, Ulrich/ Reinbothe, Roswitha/ Jianhua Zhu (2007) (Hrsg.): Die deutsche Sprache in China. Geschichte, Gegenwart, Zukunftsperspektiven. München: Iudicium, S. 123— 140. Harnisch, Thomas (1999): Chinesische Studenten in Deutschland. Geschichte und Wirkung ihrer Studienaufenthalte in den Jahren von 1860 bis 1945. Hamburg: Mitteilungen des Instituts für Asienkunde Hamburg, 300. Hess, Hans-Werner (2001): Deutschunterricht und Germanistikstudium in China. In: Helbig et. al. (2001) (Hrsg.): Deutsch als Fremdsprache. Ein internationales Handbuch. 2. Halbband. Berlin; New York: de Gruyter, S. 1579—1586. <?page no="67"?> Deutsch als Wissenschaftssprache und seine aktuelle Stellung für Chinesen 55 Skudlik, Sabine (1990): Sprachen in den Wissenschaften. Deutsch und Englisch in der internationalen Kommunikation. Tübingen: Narr. Tongli, Yuan (1964): A guide to doctoral dissertations by Chinese students in continental Europe, 1907—1962. Washington. Xiufang, Jin (2007): Das Deutsch-Kolleg an der Tongji-Universität: Kurse zur Vorbereitung auf ein Studium in Deutschland. In: Ammon, Ulrich/ Reinbothe, Roswitha/ Jianhua Zhu (2007) (Hrsg.): Die deutsche Sprache in China. Geschichte, Gegenwart, Zukunftsperspektiven. München: Iudicium, S. 153—162. Yu, Chen (2012): Verbessern chinesische Studierende ihre Sprechfertigkeit im Deutschen während des Fachstudiums in Deutschland? Eine empirische Untersuchung unter Berücksichtigung sozialer Aspekte. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang. Yuqing, Wei (2007): Kommunikation zwischen China und den deutschsprachigen Ländern — Auf Chinesisch, Deutsch oder Englisch? In: Ammon, Ulrich/ Reinbothe, Roswitha/ Jianhua Zhu (2007) (Hrsg.): Die deutsche Sprache in China. Geschichte, Gegenwart, Zukunftsperspektiven. München: Iudicium, S. 231—237. Elektronische Literatur URL 1: http: / / www.wissenschaftweltoffen.de/ publikation/ wiwe_2013_verlinkt pdf [30.04.2014]. URL 2: http: / / www.sinogermanscience.org.cn [30.04.2014]. URL 3: http: / / www.dcjwb.net/ ch/ 651.php [30.04.2014]. URL 4: http: / / www.gcpd.de [30.04.2014]. URL 5: http: / / gcccd2006.wordpress.com [30.04.2014]. URL 6: http: / / www.tg-cda.com/ activities/ 2013-09-26/ conference-2 [30.04.2014]. URL 7: http: / / www.daad.org.cn/ stipendienangebote-fur-chinesen/ faqs-zurbewerbung-um-daad-stipendien [30.04.2014]. URL 8: http: / / www.daad.org.cn/ germanistik-und-deutsche-sprache-in-china/ chinesischehochschulgermanistik [20.10.2014]. URL 9: http: / / www.testdaf.de/ fileadmin/ Redakteur/ PDF/ Verwaltung/ Datenkompakt.pdf [05.05.2014]. <?page no="69"?> Ralph Mocikat Für Mehrsprachigkeit in Forschung und Lehre — Der Arbeitskreis Deutsch als Wissenschaftssprache (ADAWIS) e.V. Abstract Insbesondere in den Natur- und Ingenieurwissenschaften sowie der Medizin hat sich ein vereinfachtes Englisch als ausschließliches Medium der internationalen Kommunikation etabliert. In dem Glauben, dass in diesen Disziplinen Sprache und Erkenntnis unabhängig voneinander seien, setzen im deutschsprachigen Raum Hochschulen und Forschungseinrichtungen dieses Idiom auch zunehmend im Forschungs- und Lehralltag kompromisslos durch. Doch nicht nur in den Geistes- und Kulturwissenschaften, sondern auch in den naturwissenschaftlichen Fächern kommt der Sprache neben der kommunikativen auch eine kognitive Funktion zu. In einem theoriegeleiteten Erkenntnisansatz der Naturwissenschaften kommt der Sprache und ihren Metaphern eine besondere Bedeutung zu. Während des Prozesses der Erkenntnisfindung spielt für den Forscher die jeweilige Muttersprache eine besondere Rolle, da es der semantischen Vernetzung sowie des Bewusstseins für die kulturell-historische Aufladung des Wortschatzes bedarf, um das intuitiv oder durch Analogie gefundene Neue sprachlich zu präzisieren und verständlich zu machen. Disziplinspezifische Terminologien speisen sich aus der Alltagssprache. Gerade der gesellschaftliche Diskurs wissenschaftlicher Themen sowie der inter- und transdisziplinäre Dialog benötigen die Anschaulichkeit alltagssprachlicher Bilder. Insbesondere in den anwendungsorientierten Disziplinen wie der Medizin, wo gesellschaftsbezogene, juristische und ethische Aspekte ineinander greifen, führt der ausschließliche Gebrauch einer schmalen Funktionssprache zu Wissensvernichtung. Verschiedene Sprachen fassen die Wirklichkeit in unterschiedlichen Bildern. Die Wissenschaft, die stets ein Ganzes der Erkenntnis anstrebt, darf daher auf das Potenzial unterschiedlicher Sprachen nicht verzichten. Das Streben nach umfassender Erkenntnis, die Internationalität der Wissenschaft und Plurilingualität gehören zusammen. <?page no="70"?> Ralph Mocikat 58 1 Sprache und Erkenntnis In sämtlichen wissenschaftlichen Disziplinen kommt der Sprache nicht nur eine kommunikative, sondern auch eine kognitive Funktion zu. Erklären kann man nur das, was durch die Sprache vorstrukturiert ist. Ziel jeder wissenschaftlichen Tätigkeit ist es daher, das Neue, das intuitiv oder durch Analogie aufgefunden wird, in Form von Theorien zu formulieren. Diese können wegen ihrer Unanschaulichkeit - insbesondere in den Naturwissenschaften - nur durch Metaphern vergegenwärtigt werden. Während fertige Ergebnisse mehr oder weniger problemlos in der wissenschaftlichen lingua franca Englisch mitgeteilt werden können, ist die Generierung einer Theorie ein diskursiver Prozess, während dessen eine semantische Präzisierung stattfindet, welche entscheidend auch von den Konnotationen der verwendeten Bezeichnungen geleitet wird. Dabei stammen alle Fachterminologien immer aus der Alltagssprache. Da die Bilder verschiedener Sprachen verschiedene Blickwinkel auf die Wirklichkeit zulassen, darf die Wissenschaft im Sinne des Erkenntnisfortschritts und der Vielfalt der Erkenntnisansätze unter keinen Umständen auf das Potenzial unterschiedlicher Sprachen verzichten. Das Streben nach umfassender Erkenntnis, die Internationalität der Wissenschaft und die Mehrsprachigkeit sind nicht voneinander zu trennen. Dies ist wahrscheinlich auch einer der Gründe, warum die empirischen Wissenschaften ihren Siegeszug nach dem Ende des Mittelalters erst antraten, nachdem das Lateinische als lingua franca zugunsten der Einzelsprachen aufgegeben worden war. 2 Die sprachliche Situation in den Naturwissenschaften In den Natur- und Ingenieurwissenschaften sowie der Medizin hat sich das Englische in der internationalen wissenschaftlichen Kommunikation, also als Sprache der Publikationen und der internationalen Kongresse, als ausschließliches Medium etabliert. Darüber hinaus ist die englische Sprache im Begriff, selbst im internen Wissenschaftsbetrieb die Landessprachen zu verdrängen. So wird inzwischen selbst in Besprechungen mit ausschließlich deutschen Muttersprachlern oder gar in Verwaltungsgremien auf Englisch verhandelt; Förderanträge bei deutschen Förderinstitutionen müssen in englischer Sprache eingereicht werden; immer mehr Studiengänge werden komplett auf Englisch umgestellt. Ausländische Studenten und Wissenschaftler, deren Anwerbung ein wichtiges Ziel im Zusammenhang mit der Internationalisierung von Forschung und Lehre und mit dem sich abzeichnenden Fachkräftemangel sein muss, verlieren während ihrer Tätigkeit <?page no="71"?> Der Arbeitskreis Deutsch als Wissenschaftssprache (ADAWIS) e.V. 59 Deutschkompetenzen, die sie etwa in ihren Heimatländern bereits erworben hatten, und müssen nach dem Studium das Land verlassen, obwohl sie eine berufliche Laufbahn in Deutschland geplant hatten (Hu 2012; Sykes/ Chaoimh 2012). Sie werden nicht in die Gesellschaft integriert und werden später nicht als die Multiplikatoren auftreten, die die Wirtschaft wahrscheinlich dringend benötigt. Hierzu liegen empirische Untersuchungen vor, die von unseren Hochschulen jedoch bislang ignoriert werden (Petereit/ Spielmanns- Rome 2010; Fandrych/ Sedlaczek 2012). Andere Studien haben auch gezeigt, dass die Qualität der Lehre erheblichen Schaden nimmt, wenn sie sich auf ein vereinfachtes Englisch beschränkt (Airy/ Lindner 2006; Vincke 1995; URL 1; Gulbrandsen et al. 2002). 3 Wissenschaftssprache und kultureller Austausch Wenn die Kommunikation in Forschung und Lehre im Inland nur in einer einzigen (Fremd-)Sprache abläuft, engt sich der Blick möglicherweise auf die Denkweise, die Ideen und die Werte jenes Kulturkreises ein, in dem diese Sprache zuhause ist. Ein zentrales Ziel der Internationalisierung, nämlich das Verständnis für die Vielzahl der Kulturen, wird auf diese Weise konterkariert. Um Internationalisierung und interkulturelles Verständnis zu erreichen, brauchen wir Mehrsprachigkeitskonzepte und nicht die Einengung auf ein Einheitsidiom, welches auch für die Gastakademiker in den allermeisten Fällen eine Fremdsprache darstellt (Fandrych/ Sedlaczek 2012). Auch die Kenntnis weiterer Fremdsprachen neben dem Englischen wäre geboten. Diese wären gerade auf dem internationalen Bildungsmarkt eine wichtige Zusatzqualifikation. 4 Die Gründung des Arbeitskreises Deutsch als Wissenschaftssprache (ADAWIS) e.V. Im Jahre 2005 fand sich eine Gruppe von Wissenschaftlern zusammen, die die Abschaffung der Einzelsprachen in den Wissenschaften nicht mehr unwidersprochen hinnahmen und mit einem Thesenpapier an die Öffentlichkeit traten. Es war kein Zufall, dass diese Kollegen aus den Naturwissenschaften und der Medizin kamen, denn dort ist die Verdrängung der Einzelsprachen am weitesten fortgeschritten. Die Sieben Thesen zur deutschen Sprache in der Wissenschaft wurden von etwa 300 Persönlichkeiten unterzeichnet und fanden erhebliche Beachtung in den Medien und der Politik. Die Autoren und Mitunterzeichner des Papiers stellen die Bedeutung des <?page no="72"?> Ralph Mocikat 60 Englischen als Verständigungsmedium in internationalen Kontexten in keiner Weise in Frage. Sie wenden sich jedoch gegen das Missverständnis, allein der Gebrauch der englischen Sprache bürge für Internationalität (welche natürlich ein wichtiges Ziel der Wissenschaftspolitik bleiben muss). Vielmehr müssen Konzepte einer differenzierten Mehrsprachigkeit entwickelt werden, welche auch die deutsche Sprache weiterhin berücksichtigen müssen, sofern es um die Kommunikation innerhalb unseres inländischen Forschungs- und Lehrbetriebs geht. Auf der Grundlage des Thesenpapiers gründeten einige der Unterzeichner sowie weitere Sympathisanten im Jahre 2007 den Arbeitskreis Deutsch als Wissenschaftssprache (ADAWIS) e.V. Es handelt sich um einen gemeinnützigen Verein, der europaweit Wissenschaftler sämtlicher Disziplinen aus den Natur- und Ingenieurwissenschaften, den Geistes- und Kulturwissenschaften, den Sozialwissenschaften und der Jurisprudenz sowie der Medizin vertritt. Die größten Gruppen bilden die Angehörigen der Naturwissenschaften und der Linguistik. Auch andere Berufsgruppen wie Lehrer, Rechtsanwälte oder Unternehmer sind vertreten, denn Wissenschaftssprache ist nicht nur eine Sache der Universitäten und Forschungseinrichtungen, sondern auch der Schulen, der Medien oder all derer, die wissenschaftliche Erkenntnisse anwenden, sei es in Firmen, Kliniken oder Arztpraxen (URL 2). 5 Notwendige Maßnahmen zur Umsetzung von Mehrsprachigkeitskonzepten für Forschung und Lehre im deutschsprachigen Raum aus der Sicht des ADAWIS Damit auch die deutsche Sprache als Medium der Wissenschaftskommunikation erhalten bleibt und weiterentwickelt wird, schlägt der ADAWIS folgende Maßnahmen vor: - Die universitäre Lehre muss eine kontextbezogene Mehrsprachigkeit pflegen. Grundständige Lehre sollte auf Deutsch stattfinden, aber auch die Rezeption fremdsprachiger Literatur vorsehen. In weiterführenden und Promotionsstudiengängen, die englisch- oder anderssprachige Anteile einschließen, müssen integrierte Sprachkomponenten angeboten werden. Diese müssen ein Akkreditierungskriterium sein. Vor allem muss jeder Gaststudent die jeweilige Landessprache erlernen. Das gilt selbstverständlich auch für deutsche Studenten, die einen Auslandsaufenthalt planen. Ausländische Dozenten, die sich längerfristig in Deutschland aufhalten, müssen die deutsche Sprache erlernen. - Im Falle von Kurzaufenthalten sollte man sich, wenn möglich, der rezeptiven Mehrsprachigkeit bedienen. Daher sollten Hochschulen und andere <?page no="73"?> Der Arbeitskreis Deutsch als Wissenschaftssprache (ADAWIS) e.V. 61 Forschungseinrichtungen auch das Erlernen weiterer Fremdsprachen neben dem Englischen fördern. - Für Abschlussarbeiten und Prüfungen dürfen Fakultäten nicht die englische Sprache verpflichtend machen. Abschlussarbeiten müssen auch in deutscher Sprache angenommen werden, gegebenenfalls mit englischer Zusammenfassung. - Damit die Herausgabe originär deutschsprachiger Lehrwerke und Monographien attraktiv bleibt, müssen die Verlage bei deren Übersetzung vom Deutschen ins Englische unterstützt werden. - Auf nationalen Tagungen in Deutschland ist Deutsch als Vortragssprache zuzulassen, gegebenenfalls mit Simultanübersetzung ins Englische. - Deutsche Wissenschaftsorganisationen müssen Förderanträge, Ergebnisberichte usw. immer auch in deutscher Sprache entgegennehmen. - Die Fachgesellschaften müssen sich mit Fragen der deutschen Terminologie befassen. - Wissenschaftliche Leistung darf nicht nur anhand der Publikationstätigkeit in ausgewählten, englischsprachigen Zeitschriften gemessen werden, sondern auch anhand von Monographien, nicht-englischsprachigen Original- und Übersichtsartikeln (mit mehrsprachiger, d.h. auch englischer Zusammenfassung) sowie von Öffentlichkeitsarbeit. Gerade in gesellschaftlich unmittelbar relevanten und anwendungsbezogenen Gebieten muss es möglich sein, auch Originalpublikationen in deutscher Sprache zu verfassen. Zu diesem Zweck muss eine europäische Publikationsdatenbank geschaffen werden, die von den kommerziellen amerikanischen Zitatdatenbanken unabhängig ist. - Angesichts der massiven muttersprachlichen Defizite der heutigen Schüler und Studenten muss auch im natur- und gesellschaftswissenschaftlichen Unterricht in den Schulen stets die deutsche Sprache gepflegt werden. Weiterhin setzt sich der ADAWIS ein für - den Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, - den interdisziplinären Dialog, - die Auseinandersetzung mit erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen, wissenschaftshistorischen, ethischen sowie gesellschaftlichen Aspekten in den Naturwissenschaften, - die Förderung empirischer Untersuchungen zur Bedeutung von Sprache im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess, in der wissenschaftlichen Kommunikation und in der Lehre. Der ADAWIS kooperiert mit Kulturinstitutionen, Wissenschaftsorganisationen und der Politik sowie mit ausländischen Initiativen, die für ihre Sprachräume ähnliche Ziele verfolgen. So konnte der ADAWIS in den zu- <?page no="74"?> Ralph Mocikat 62 rückliegenden Jahren dazu beitragen, dass das Problem der Öffentlichkeit und der Politik bewusst geworden ist und eine Diskussion über dessen Folgen in Gang kam. Der ADAWIS war an mehreren Bundestagsanhörungen beteiligt, in denen die beteiligten Abgeordneten sich gegenüber dem Thema durchaus sensibilisiert zeigten. Auch das Auswärtige Amt, das Millionenbeträge ausgibt, um der deutschen Sprache und Kultur weltweit zu mehr Ansehen zu verhelfen, initiierte eine Gesprächsrunde zu dem Thema. In zahllosen Podiumsdiskussionen, Presseverlautbarungen, Interviews und Tagungen konnte der ADAWIS seine Position verdeutlichen, z.B. auf mehreren Kongressen in Kooperation mit dem Goethe-Institut und dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD). Im Jahre 2011 war der ADAWIS an der Ausarbeitung des Empfehlungspapiers „Sprachenpolitik an deutschen Hochschulen“ der Hochschulrektorenkonferenz beteiligt, das sich ebenfalls für differenzierte Mehrsprachigkeit und den Erhalt des Deutschen in den Wissenschaften ausspricht (Empfehlungen 2011). Trotz zahlreicher Stellungnahmen, Memoranden und Empfehlungen auch von anderen Institutionen, z.B. vom DAAD, der sich 2010 ebenfalls gegen den Ausschließlichkeitsanspruch des Englischen aussprach (URL 3), ist man von einer konkreten Umsetzung von Mehrsprachigkeitskonzepten vielerorts noch weit entfernt. Es ist erstaunlich, mit welcher Hartnäckigkeit viele Entscheidungsträger in den Hochschulen, Verlagen oder Kultusbehörden sowohl empirische Studien als auch die aus diesen abgeleiteten Empfehlungen bislang ignorieren. Literatur Airy, John/ Lindner, Cedric (2006): Language and the experience of learning university physics in Sweden. In: Eur. J. Phys., Nr. 27, S. 553—560. Chen, Hu (2012): Verbessern chinesische Studierende ihre Sprechfertigkeit im Deutschen während des Fachstudiums in Deutschland? Eine empirische Untersuchung unter Berücksichtigung sozialer Aspekte. Frankfurt a.M. u.a.: Lang. Empfehlungen 2011 = Empfehlung der 11. Mitgliederversammlung der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) am 22.11.2011, Sprachenpolitik an deutschen Hochschulen. Fandrych, Christian/ Sedlaczek, Betina (2012): I need German in my life. Eine empirische Studie zur Sprachsituation in englischsprachigen Studiengängen in Deutschland. Tübingen: Stauffenburg. Gulbrandsen, Pal et al. (2002): Paper or screen, mother tongue or English: What is better? A randomized trial. In: Journal of the American Medical Association, Nr. 287, S. 2851—2853. Petereit, Katja/ Spielmanns-Rome, Elke (2010): Sprecht Deutsch mit uns. Ausländische Studierende in englischsprachigen Studiengängen wollen mehr Deutsch lernen. In: Forschung und Lehre, Nr. 3, S. 172—173. <?page no="75"?> Der Arbeitskreis Deutsch als Wissenschaftssprache (ADAWIS) e.V. 63 Sykes, Brooke/ Chaoimh, Eadaoin N. (2012) (Hrsg.): Mobile Talente? Ein Vergleich der Bleibeabsichten internationaler Studierender in fünf Staaten der Europäischen Union. Studie des Sachverständigenrates Deutscher Stiftungen für Integration und Migration. Berlin: MPG. Vinke, Adriana Anthonia (1995): English as the Medium of Instruction in Dutch Engineering Education. Delft: Delft University Press. Elektronische Literatur URL 1: http: / / www.adawis.de/ index.php? navigation=4 [08.11.2014]. URL 2: www.adawis.de [08.11.2014]. URL 3: http: / / www.daad.de/ de/ download/ broschuere_netzwerk_deutsch/ Memorandum_veroeffentlicht.pdf [08.11.2014]. <?page no="77"?> Danuta Olszewska Modellierung der Entwicklung wissenschaftlicher Textkompetenz: ohne oder mit expliziter Präskription? Abstract Kritische Kommentare der Hochschullehrer erinnern immer wieder daran, dass wissenschaftliches Schreiben stets eine große Herausforderung für Studierende bildet, obwohl es von vielen Hochschulen und Schreibzentren in unterschiedlicher Form unterstützt wird. Der folgende Beitrag verfolgt zwei Ziele: Zunächst wird die Frage gestellt, ob es nicht legitim ist, die Förderung wissenschaftlicher Schreibkompetenz bei deren Modellierung explizit zu berücksichtigen. Zweitens wird an konkreten Textroutinen gezeigt, wie die Studierenden zu einem formalen, entpersönlichten Wissenschaftsstil befähigt werden können. Die distanzierte und objektivierte Kommunikationsmodalität, die eine Grundlage des wissenschaftlichen Habitus im Medium der Schrift bildet, bereitet den Lernern erhebliche Schwierigkeiten. 1 Deutsche Wissenschaftssprache für Muttersprachler und für Nichtmuttersprachler - ähnliche Probleme? Untersuchungen zur deutschen Wissenschaftssprache sind - ähnlich wie diejenigen zu Fachsprachen - nicht nur aus erkenntnistheoretischen, sondern auch aus praktischen Bedürfnissen erwachsen. Ihre Resultate sollten in die Hochschuldidaktik umgesetzt werden, d.h. sie können der Entwicklung von wissenschaftlicher Textkompetenz dienen. Und wenn man einerseits die angewandte Wissenschaftssprachforschung und andererseits die in den letzten Jahren auf ihrer Grundlage entstandene und immer noch entstehende Ratgeberliteratur zum wissenschaftlichen Schreiben verfolgt, so kann man - zumindest aus der Perspektive der Auslandsgermanistik - den Eindruck gewinnen, dass die deutschen Studierenden gut behütet sind. Die Wirklichkeit scheint aber alles andere als befriedigend zu sein. Zahlreiche kritische Kommentare von Hochschullehrern beklagen immer wieder generell mangelnde Schreibkompetenz, darunter auch wissenschaftliche Schreibfähigkeiten der deutschen Studierenden. Die Ursache für unbefriedigende Schreibfertigkeit im wissenschaftlichen Bereich sieht Kruse (2003) in der unzureichenden Ausbildung auf diesem Gebiet. <?page no="78"?> Danuta Olszewska 66 Die wissenschaftssprachlich orientierte Hochschuldidaktik beschreibt der Autor folgendermaßen: „An deutschen Hochschulen sucht man vergebens nach curricularen Vorgaben für die Entwicklung von akademischer Literacy [Hervorhebung i.O.]. Schreiben, Lesen und Sprechen sind zwar allgegenwärtige Formen des akademischen Diskurses und des akademischen Lernens. Aber sie werden einfach vorausgesetzt und nur implizit - als Nebenprodukt des Austauschs von Ideen - trainiert. Sie werden zwar benotet, wie bei Referaten, Hausarbeiten und Klausuren, aber sie werden nicht direkt als Lerngegenstände benannt und unterrichtet. […] Lediglich einige Schreibzentren in Berlin, Bielefeld, Bochum und Essen […] vermitteln Schreibkompetenz in systematischer Weise und unterstützen Lehrende und Fachbereiche darin, die Anleitung von wissenschaftlichen Arbeiten zu optimieren.“ (Kruse 2003: 95) Vor diesem Hintergrund scheint jeder nächste Ratgeber zum wissenschaftlichen Schreiben sinnvoll und nützlich zu sein. Man muss nur signalisieren, dass man sich der Fülle solcher Literatur auf dem heutigen Markt bewusst ist, wie das drei Autorinnen eines der aktuellsten Praxisbücher am Anfang des Vorwortes mit Hilfe der Frage: Wieso noch ein Buch zum wissenschaftlichen Schreiben? tun (Oertner/ St. John/ Thelen 2014). Auslandsgermanisten, genauer gesagt, polnische Germanistikstudierende, die in ihrem Studium zwei (vor)wissenschaftliche Abschlussarbeiten (Bachelor- und Masterarbeit) schreiben müssen, befinden sich auf den ersten Blick in einer ähnlichen Situation. Die germanistischen Studienprogramme bieten ihnen keine systematische Ausbildung zum wissenschaftlichen Schreiben an. Im besten Fall sind ausgewählte wissenschaftssprachliche Konventionen in den praktischen Deutschunterricht mit dem Schwerpunkt Schreiben integriert. In Diplomseminaren gibt es für wissenschaftssprachliche Schreibförderung keine Zeit. Wichtiger ist das wissenschaftliche WAS, also die Inhalte der geplanten Magisterarbeiten und die zu verarbeitende Fachliteratur. Das WIE wissenschaftlicher Texte hat - außer den Verweis- und Zitiertechniken - kaum eine Chance, sich in Form von konkreten Formulierungsangeboten und schreibfördernden Übungen durchzusetzen. Das Resultat sind - wie bei den deutschen Studierenden immer wieder signalisiert - erhebliche Probleme mit der Verfassung einer Abschlussarbeit, also generell die mangelnde Kompetenz, wissenschaftliche Texte zu schreiben. Doch auf den ‚zweiten‘ Blick ist die Situation der polnischen Germanistikstudierenden vor allem mit der Situation der Nichtmuttersprachler an deutschen Hochschulen vergleichbar. Für Nichtmuttersprachler ist die spezifische Sprachlichkeit wissenschaftlicher Texte viel schwieriger als für die <?page no="79"?> Modellierung der Entwicklung wissenschaftlicher Textkompetenz 67 deutschen Muttersprachler. Einen großen Teil der Wissenschaftssprache bildet - dies ist besonders in Texten der Geisteswissenschaften gut sichtbar - die sog. Alltägliche Wissenschaftssprache (AWS) und die mit ihr zusammenhängenden typischen Formulierungsmuster. Der Begriff Alltägliche Wissenschaftssprache, der von Ehlich geprägt wurde, stammt gerade aus dem DaF- Kontext. Zur AWS zählt Ehlich „sprachliche Formen, die einerseits an der alltäglichen Sprache unmittelbar teilhaben, die andererseits einen elementaren Bestand von Ausdrucksmitteln für die Wissenschaftskommunikation zur Verfügung halten, ohne den diese nicht vorstellbar wäre“ (2006: 25). Die AWS gilt demnach als ein Fundament, das den Nichtmuttersprachlern - natürlich in unterschiedlichem Grade, aber generell - fehlen kann. Daher benötigen sie mehr explizites Wissen zum Gebrauch der AWS. Ihr umfangreiches Repertoire sowie ihre Spezifik können ohne Zweifel sowohl den Nichtmuttersprachlern als auch den Muttersprachlern Schwierigkeiten bereiten. Z.B. zeigt sich, dass das Formulierungsmuster im Folgenden als eine ökonomische Alternative für solche Phrasen wie in der folgenden Arbeit, in der vorliegenden Arbeit, in diesem Kapitel oder in diesem Abschnitt, einen Stolperstein auch für muttersprachliche Studierende bilden kann, da es oftmals fehlerhaft verwendet wird. Vermutlich werden sowohl ausländische Germanistikstudierende als auch deutsche Studierende nicht wissen, dass man die wissenschaftstypischen Textroutinen wie Man kann also davon ausgehen, dass p oder Man darf also annehmen, dass p um solche Modalkomponente wie mit einiger Berechtigung erweitern und in einem entsprechenden Kontext in der Form: Man kann/ darf also mit einiger Berechtigung davon ausgehen/ annehmen, dass p anwenden kann. Doch mit der Mehrheit der Mittel aus dem Bereich der AWS haben es die Muttersprachler viel leichter als die Nichtmuttersprachler. Ohne speziellen Lernaufwand gehen die Muttersprachler zweifellos mit solchen Ausdrücken sicherer um, wie z.B. mit dem Temporaladverb nun beim Übergang von einem zu einem anderen Argumentationsschritt, z.B. im Formulierungsmuster: Ich möchte mich nun den… zuwenden oder mit dem Ausdruck allerdings bei der Einführung spezieller, z.B. einschränkender Informationen, wie in der folgenden routinierten Form: Allerdings soll hier angemerkt werden, dass p. Mühelos werden die Muttersprachler den kombinierten Ausdruck zunächst einmal bei der Initiierung einer neuen Argumentationssequenz gebrauchen, nachdem sie ein neues Teilthema angekündigt haben, z.B. als typische Formulierung: Zunächst einmal ist festzustellen, dass p. Es genügt nur, dass sie einen solchen Ausdruck einmal in einem wissenschaftlichen Text gesehen haben, dann imitieren sie ihn fehlerfrei und passen ihn ihrem Text und ihrem Kontext an. Von Nichtmuttersprachlern müssen solche unauffälligen und für einen Muttersprachler offenkundigen Ausdrücke mühsam erlernt <?page no="80"?> Danuta Olszewska 68 werden. Und auch, wenn ein Nichtmuttersprachler schon einige domänentypische Formulierungsmuster, z.B. die mit dem deiktischen Ausdruck an dieser Stelle beherrscht hat und diese als typische Phrasen adäquat benutzt, wie z.B.: An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass p oder An dieser Stelle sei allerdings darauf hingewiesen, dass p, wird er Textroutinen dieser Art höchstwahrscheinlich nicht lexikalisch variieren und zu der Form abwandeln können, z. B.: An dieser Stelle möchte ich auch schon einmal darauf hinweisen, dass p. Dagegen wird ein Muttersprachler solche elementaren Routinen auf Grund seiner optimalen Sprachkenntnisse mühelos individuell und kreativ transformieren und richtig kontextualisieren. Daher kann man nicht davon ausgehen, dass die deutsche Wissenschaftssprache als eine ‚fremde Varietät‘ gegenüber der Allgemeinsprache einem Muttersprachler ebenso fremd ist wie einem Nichtmuttersprachler (vgl. Feilke/ Steinhoff 2003). Die deutsche Wissenschaftssprache ist für einen Nichtmuttersprachler eine doppelte Herausforderung. Zur Wissenschaftssprache als einer fremden Varietät für Muttersprachler und für Nichtmuttersprachler kommen allgemeine DaF-Kenntnisse hinzu, die beim wissenschaftlichen Schreiben unabdingbar sind und die Nichtmuttersprachler durch zusätzlichen Lernaufwand beherrschen müssen. Es handelt sich dabei nicht selten um sog. unauffällige Mittel, die - wie die obigen Beispiele zeigen - im Allgemeinlexikon der Muttersprachler griffbereit aufbewahrt werden, die bei Nichtmuttersprachlern aber entweder defizitär oder fehlerhaft sind. Ähnliche Schwierigkeiten lexikalischer Art mit der deutschen AWS haben auch italienische Germanistikstudenten (vgl. Heller 2010). Abgesehen von den offensichtlichen Unterschieden in der Kenntnis der Alltäglichen Wissenschaftssprache zwischen den Muttersprachlern und Nichtmuttersprachlern gilt eine gezielte Vermittlung der deutschen AWS stets als eine aktuelle und relevante Aufgabe der Hochschuldidaktik. Es handelt sich um eine stärkere und systematische Explizierung der Normen und Konventionen, die für wissenschaftliche Texte charakteristisch sind. Sie können nicht nur im prozeduralen Textmusterwissen und im common-sense der Professoren aufbewahrt werden. Denn: „Viele Normen und Regeln führen eine ,ungeschriebene‘ Existenz. Sie gehören zu den Wissensbeständen, die in der Gemeinschaft eher praktiziert als expliziert werden, und sind deshalb oft nur vermittelt über die praktische Anwendung erschließbar“ (Jakobs 1999: 172). Und erst bei der Konfrontation mit studentischen Arbeiten sehen die Hochschullehrer und Betreuer von Abschlussarbeiten, wie viele für geübte Schreiber offensichtliche Kollokationen und Routinen den sog. Novizen unbekannt sind. Angesichts der weitgehenden Freiheit der Wissenschaftsautoren im Hinblick auf den ich-Gebrauch und der dadurch schwieriger erfassbaren Normen des wissenschaftlichen Stils sowie recht <?page no="81"?> Modellierung der Entwicklung wissenschaftlicher Textkompetenz 69 umfangreicher lexikalisch-grammatischer Inventarien der AWS fällt es häufig nicht leicht, die Schreibkonventionen auf Anhieb und eindeutig zu explizieren. Die früher erwähnten Autorinnen des neu erschienenen Buches „Wissenschaftlich schreiben“ beginnen das Vorwort mit der Schilderung der folgenden kurzen aufschlussreichen Szene: Professor (in der Sprechstunde): „Sehen Sie nicht, dass man das so nicht schreiben kann? “ Studentin: „Nein, eigentlich nicht…“ Professor: „Das sollten Sie aber, sollten Sie aber! “ Der Zugang zu solchen Situationen ist beschränkt, aber man kann annehmen, dass viele Hochschullehrer mit solchen ‚So-schreibt-man-nicht-Situationen‘ konfrontiert wurden oder werden. Wir wissen nicht, was für Fehler die Studentin begangen hat. Man kann nur vermuten, dass es sich um stilistische Unzulänglichkeiten handelte. Wir wissen auch nicht, wie dieses Gespräch zwischen dem Professor und der Studentin fortgeführt und wie es beendet wurde. Aber unabhängig davon, ob die Studentin vom Professor konkrete stilistische Ratschläge erhalten hat oder nur auf entsprechende Quellen verwiesen wurde, macht die Szene deutlich, dass wissenschaftlicher Stil trotz zahlreicher, leicht zugänglicher Ratgeber zum wissenschaftlichen Schreiben immer noch Schwierigkeiten bereitet und deshalb einer gezielten Vermittlung bedarf. Solchen ‚So-schreibt-man-nicht-Situationen‘ (Ist-Zustand) sollten zumindest ‚Man-schreibt-so-Situationen‘ (Soll-Zustand) gegenübergestellt werden. Im optimalen Fall aber sollte den ‚So-schreibt-mannicht-Situationen‘ von der Hochschuldidaktik vorgebeugt werden. 2 Modellierung der Entwicklung wissenschaftlicher Textkompetenz 2.1 Das Modell von Steinhoff Auf der Grundlage von fast 300 studentischen Hausarbeiten (Studententexte-Korpus) und von knapp 100 Zeitschriftenartikeln professioneller Wissenschaftler (Expertentexte-Korpus) hat Steinhoff (2007) ein überindividuell geordnetes Modell zum Erwerb der wissenschaftlichen Textkompetenz erarbeitet. In diesem Modell gilt die Alltägliche Wissenschaftssprache als ein Maßstab, als ein Prüfinstrument, als ein zuverlässiger Indikator für den Beherrschungsgrad der wissenschaftssprachlichen Schreibfertigkeit. Aufbauend auf der Theorie des problemlösenden Handelns und auf der Theorie zur kognitiven Entwicklung von Piaget schlägt der Autor ein dreistufiges Modell vor, in dem der Weg der Lerner/ der Studierenden von einem do- <?page no="82"?> Danuta Olszewska 70 mänen-untypischen zu einem domänentypischen Schreiben im Medium der Schrift abgebildet wird. Das Modell sieht folgendermaßen aus: Abb. 1: Modell zur Entwicklung wissenschaftlicher Textkompetenz (Steinhoff 2007: 138) Am Anfang des Erwerbs manifestieren sich zwei gleichzeitig eingesetzte Verfahren. Das eine Verfahren ist die Transposition, mit der die Lerner versuchen, wissenschaftliche Schreibprobleme mit alltäglichen wissenschaftsuntypischen Mitteln zu lösen. Sie versuchen den alltagssprachlichen Habitus auf die Domäne Wissenschaft zu übertragen. Eine nicht unbedeutende Rolle spielt dabei die Kenntnis der journalistischen Ausdrucksweise (Steinhoff 2007: 140). Das zweite Verfahren bildet die Imitation, bei der die Lerner die Wissenschaftssprache aus anderen Texten nachahmen, ohne ihre Adäquatheit für den eigenen Text und Kontext zu kontrollieren. Auf der zweiten, höheren Stufe, die Transformation heißt, beginnt die Übernahme des wissenschaftlichen Habitus. Mit zunehmender Schreiberfahrung und wachsendem Bewusstsein für die Spezifik der Wissenschaftssprache ersetzen die Studierenden allmählich alltagssprachliche Mittel und Formen durch wissenschaftssprachliche Konstruktionen, was sich im Gebrauch sowohl von Kollokationen als auch von ganzen Formulierungsmustern widerspiegelt. Das Schreiben ist auf dieser Stufe noch nicht fehlerfrei. Es gelingt noch nicht immer, neu erworbene Konstruktionsmuster im eigenen Text angemessen zu verwenden, aber es lässt sich eine signifikante Progression bei der Einhaltung von domänentypischen Standards beobachten. Erst auf der dritten Stufe, die Steinhoff als kontextuelle Passung bezeichnet, werden die Lerner fähig, die deutsche allgemeine Wissenschaftssprache gemäß den Konventio- <?page no="83"?> Modellierung der Entwicklung wissenschaftlicher Textkompetenz 71 nen, kontextadäquat zu gebrauchen und sich damit dem wissenschaftssprachlichen Habitus anzupassen. Das Modell hat einen deskriptiven Charakter und berücksichtigt nicht eine gezielte Vermittlung des wissenschaftlichen Textmusterwissens, die zwar nicht an allen, aber an vielen Hochschulen eine Realität ist. Im Modell wird angenommen, dass die Aneignung der wissenschaftlichen Schreibfähigkeiten vom Lerner selbst ausgeht und betrieben wird, dass sich also die Studierenden die Common-Sense-Kompetenz selbst lesend erwerben. Und es ist pädagogisch-didaktisch völlig einleuchtend, dass man den Studenten nichts aufzwingen möchte, dass man ihnen eine freie Entwicklung ermöglichen will. Eine Schreibpädagogik, die zu stark in einen Schreibprozess eingreift, ist bestimmt mit dem Risiko behaftet, die Schreibkreativität zu blockieren. Restriktionen, Einschränkungen will man also nicht in den Vordergrund stellen (Kruse 2003: 99). Im Falle von nicht wissenschaftlichen Texten, z.B. literarischen oder journalistischen, ist das völlig sinnvoll. Im Falle von begabten, wissenschaftlich motivierten Studenten ist das auch ohne Zweifel ein guter Weg. Aber kommen alle Studierenden ohne eine didaktische Steuerung und Unterstützung, d.h. unter anderem ohne Listen mit domänentypischen Formulierungsmustern und Textroutinen mit der Alltäglichen Wissenschaftssprache zurecht? Und sollte man den Nichtmuttersprachlern bei der Konfrontation mit den ersten wissenschaftlichen Texten auch freie Hand geben und sich darauf verlassen, dass sie für ihre Entwicklung selbst entsprechend sorgen werden? Das Modell, das die Entwicklung von wissenschaftlichen Schreibfähigkeiten illustriert, scheint vorwiegend Muttersprachler zu berücksichtigen, obwohl man ihm Züge der Universalität nicht absprechen darf. Auch viele (ehrgeizige, viel lesende und wissenschaftlich interessierte) Nichtmuttersprachler gehen den Weg: von der Transposition und Imitation über Transformation bis zur kontextuellen Passung, ohne dass ihnen permanent stilistische Anweisungen gegeben werden müssen. Auch bei ihnen lässt sich manchmal beobachten, wie ihr Bewusstsein für die Spezifik der wissenschaftlichen Konventionen mit der Zeit und auf der Grundlage wissenschaftlicher Lektüren wächst, bis ihre Ausdrucksweise mit dem wissenschaftlichen Habitus kompatibel ist. Die Frage aber, die man sich hier stellen möchte, ist rationaler Natur: Wie viel Zeit haben die Studierenden dafür, um sich dem Habitus, den wissenschaftssprachlichen Standards anzunähern? Die deutlichsten Fortschritte kann man eigentlich erst bei Doktoranden beobachten. Während dieser Qualifikationsphase lesen sie wesentlich mehr. Erst jetzt werden sie mit wissenschaftlichen Texten, mit dem komplexen wissenschaftssprachlichen Ausdrucksspektrum regelmäßig konfrontiert, also haben sie die Gelegenheit, zu imitieren und zu transformieren. Sie beginnen, <?page no="84"?> Danuta Olszewska 72 die Adäquatheit der Textroutinen zu kontrollieren und die domänentypischen Formulierungsmuster richtig zu kontextualisieren. Erst auf dieser Stufe lernen sie die strukturelle Ausdifferenzierung der Alltäglichen Wissenschaftssprache kennen und praktizieren diese. Studierende als sog. Novizen, d.h. unerfahrene Schreiber, darunter insbesondere Nichtmuttersprachler, sollten in ihrem Studium aus zwei Gründen Vorgaben erhalten: 1) Aus individuell bedingten Gründen: Die Sprachkenntnisse der Nichtmuttersprachler sind nicht optimal, oder gar ungenügend, also sind auch ihre Kenntnisse im Bereich der Alltäglichen Wissenschaftssprache lückenhaft. Außerdem lesen sie (statistisch gesehen) wenig, was bedeutet, dass sie keinen, oder nur sporadischen Kontakt mit wissenschaftlichen Texten pflegen. Im Resultat beobachten sie die wissenschaftstypischen Konventionen selten. Ihre Imitations- und Transformationsversuche sind also zunächst sehr beschränkt. Es genügt, dass sie nur einmal in einem Text das Personalpronomen ich bei einer textorganisatorischen Handlung gesehen haben und sie glauben sofort, dass der Gebrauch von ich im wissenschaftlichen Bereich - ähnlich wie in der Allgemeinsprache - zum wissenschaftlichen Habitus gehört. Sie verwenden das Pronomen regulär und bemühen sich nicht um eine variierende Ausdrucksweise. Oder sie hören in einem Vortrag eines Professors die Wendung: ein Problem unter die Lupe nehmen und übertragen sie automatisch auf das Medium Schrift. 2) Aus objektiven Gründen: Heute ist es nicht leicht, in der Domäne Wissenschaft eine feste stilistische Norm zu erfassen. Der wissenschaftliche Stil im Medium der Schrift scheint heutzutage ‚weicher‘ geworden zu sein, in dem Sinne, dass die konzeptuelle Schriftlichkeit mit der konzeptuellen Mündlichkeit vermischt ist. Dies manifestiert sich besonders im relativ verbreiteten Gebrauch des Pronomens ich in schriftlichen Texten. Dieser Gebrauch kann bei unerfahrenen Schreibern den Eindruck erwecken, dass das Pronomen ich an jeder beliebigen Textstelle eingesetzt werden kann. Daher fällt es vor allem den ‚Schreibnovizen‘ schwer, mündlichen und schriftlichen Stil voneinander zu trennen. 2.2 Entwicklung wissenschaftlicher Textkompetenz ohne didaktische Steuerung? Insbesondere Nichtmuttersprachler, die ihre Texte (Bachelor-, Masterarbeiten, Dissertationen) in der deutschen Sprache anfertigen, benötigen mehr explizites Textmusterwissen, das dem wissenschaftlichen Schreiben zugrunde liegt und das wissenschaftliches Schreiben ermöglicht und erleichtert. Eine gezielte Vermittlung dieses Metawissens zur Textproduktion ist <?page no="85"?> Modellierung der Entwicklung wissenschaftlicher Textkompetenz 73 eine wichtige und aktuelle Aufgabe der Hochschuldidaktik und sollte bei der Modellierung wissenschaftssprachlicher Fähigkeiten als eine explizite Präskription berücksichtigt werden. Auch wenn nicht alle Hochschulen wissenschaftliche Schreibkompetenz als Lerngegenstand systematisch unterrichten, scheint es legitim zu sein, didaktischen Aufwand in diesem Bereich im Modell zu verdeutlichen. Ohne das von Steinhoff entwickelte Modell in Frage zu stellen, kann man das präskriptive Vorgehen dadurch signalisieren, dass die Stufe Transformation als gesteuerte Transformation aufgefasst wird. Eine gesteuerte Transformation bedeutet: Die Lerner erhalten konkretes Textmusterwissen dazu, wie allgemeinsprachliche Formen, die vor allem die konzeptuelle Mündlichkeit repräsentieren, in die konzeptuelle Schriftlichkeit in der Domäne Wissenschaft übertragen werden können und sollen. Als Komponenten des prozeduralen Textmusterwissens gelten hauptsächlich a) pragmatisches Wissen, d.h. Kenntnisse zum Handlungspotenzial eines wissenschaftlichen Textes, b) stilistisches Wissen, d.h. vor allem die Kenntnis einer formalen, distanzierten Kommunikationsmodalität und c) lexikalisches Wissen, d.h. die Kenntnis einerseits disziplinspezifischer Begriffe, andererseits der Alltäglichen Wissenschaftssprache (mehr dazu Olszewska 2014). Das systematisch vermittelte Textmusterwissen verkürzt den Weg der Lerner zur kontextuellen Passung, also zum kontextadäquaten Sprachgebrauch und erlaubt ihnen, sich dem wissenschaftlichen Habitus schneller anzunähern. Unter Berücksichtigung präskriptiver Tätigkeit der Hochschuldidaktiker, sei es im regulären Unterricht, sei es durch die Vorbereitung von Ratgebern und Praxisbüchern, sei es durch die Erarbeitung von computergestützten Trainingsprogrammen, 1 kann das Modell zur Entwicklung wissenschaftlicher Textkompetenz folgende schematische Form annehmen: 1 Gemeint ist z.B. Computerbasiertes Scaffolding (CBS), das zielgerichtete Übungen zu wissenschaftlichen Text- und Schreibroutinen bietet und damit wissenschaftliches Schreiben fördert. Die Konzeption, Realisierung und empirische Überprüfung dieser Trainingsaufgabe beschreibt Antje Proske (2012). <?page no="86"?> Danuta Olszewska 74 Abb. 2: Modell zur Entwicklung wissenschaftlicher Textkompetenz mit expliziter Präskription Die Klammern, in die der Ausdruck ‚gesteuert‘ gesetzt wurde, signalisieren, dass die Steuerungskomponente (verstanden als systematische wissenschaftsorientierte Schreibdidaktik) einen ergänzend-unterstützenden Charakter hat, so dass es sich weiterhin um ein Modell zur Entwicklung wissenschaftlicher Textkompetenz handelt, in dem der Lerner selbst Hauptverantwortung für seine prozedurale Textkompetenz und die Qualität seiner Texte im Studium trägt. Die Erweiterung des Modells um die präskriptive Komponente spiegelt einerseits die gezielte, an bestimmten Hochschulen praktizierte Vermittlung des prozeduralen Wissens zur Textproduktion wider, andererseits verweist sie auf die Notwendigkeit, dieser Art nützliche, von vielen Hochschuldidaktikern postulierte Tätigkeit vorzunehmen. Das Modell berücksichtigt in erster Linie Studierende als unerfahrene oder wenig erfahrene Schreibende, darunter insbesondere Nichtmuttersprachler, bei denen eine didaktische Steuerung als conditio sine qua non angesehen werden kann. Wiederfinden können sich im Modell aber auch deutsche Studierende, bei denen die Stützung des Erwerbs ihrer wissenschaftlichen Textkompetenz, die Stärkung des prozeduralen Textmusterwissens und zielgerichtetes Üben von wissenschaftlichen Text- und Schreibroutinen alles Andere als vertane Zeit sein können. 2 2 Bei Schreibroutinen handelt es sich um „Komponenten der Schreibhandlung“ und „individuell geprägte Strategien“; dagegen sind Textroutinen „auf die kommunikativfunktionale Strukturierung von Texten und die entsprechenden sprachlichen Ordnungsleistungen bezogen“ (mehr dazu: Feilke 2012). <?page no="87"?> Modellierung der Entwicklung wissenschaftlicher Textkompetenz 75 3 Zum Schluss: Vorschläge und Beispiele für präskriptive Stilistik Zum Abschluss der Reflexionen über implizite und explizite Vermittlung des wissenschaftlichen Textmusterwissens bei der Modellierung der Entwicklung wissenschaftlicher Schreibkompetenz möchte ich im Folgenden konkrete Schritte und Beispiele für eine präskriptive Stilistik präsentieren. Stilistische Kenntnisse können als grundlegende Komponente des Metawissens über die Produktion wissenschaftlicher Texte (gemeint sind: Referat, Fachaufsatz, Monographie) angesehen werden. Sie üben einen unmittelbaren Einfluss auf ihre Qualität aus. Dem wissenschaftlichen Stil haften zahlreiche Merkmale an, wie Sachlichkeit, Prägnanz, Transparenz, Neutralität und Objektivität. Und obwohl insbesondere die Objektivität als eine Idealvorstellung gelten kann, darf das Streben nach einer objektivierten und möglichst neutralen Darstellung von Fakten und neuen Erkenntnissen nicht aufgegeben werden. In der Schreibpraxis werden Neutralität/ Distanz und Objektivität durch einen formalen, entpersönlichten Stil wiedergegeben, d.h. eine Ausdrucksweise, bei der der Autor des Textes in den Hintergrund tritt und keinen expliziten Bezug auf sich selbst nimmt. Als eine der wichtigsten Aufgaben der Hochschuldidaktik gilt daher, den Studierenden einen unpersönlichen Stil, anders gesagt, eine formale, distanzierte Kommunikationsmodalität im Medium der Schrift zu vermitteln, um so mehr, als sie eine starke, aus dem allgemeinsprachlichen Habitus stammende Tendenz verfolgen, in ihren Texten (Semesterarbeiten, Diplomarbeiten) das Pronomen ich zu ‚missbrauchen‘. Die präskriptive Wissenschaftsstilistik, die u.a. auch die Frage der Neutralität und der Unpersönlichkeit berücksichtigen sollte, kann folgende Schritte beachten: Zunächst sollte man den Studierenden ein relativ breites Inventar von entpersönlichten Routineausdrücken bewusst machen und ihre Vorstellung von Unpersönlichkeit (verstanden als Deagentivierung) korrigieren, die sie oft lediglich mit dem Passiv verbinden und dass ihre Texte dadurch von vornherein auf eine Monotonie angewiesen seien. Eine weitgehend grammatische, die Vermeidung der Personaldeixis erlaubende Varianz lässt sich z.B. bei Eröffnungssignalen als Textroutinen beobachten, d.h. beim Ankündigen neuer Inhalte eines Hauptkapitels. Typische deagentivierte Routineformeln reichen vom Passiv (mit und ohne Modalverb) über Existenzausdrücke, darunter auch solche mit Bewertungskomponenten, bis zu den Formeln mit dem sog. Subjektschub. Aus einer Liste mit stilistisch äquivalenten, unpersönlich markierten Routineformeln können die Studierenden solche Prädikatsschemata wählen, wie zum Beispiel: <?page no="88"?> Danuta Olszewska 76 In diesem Kapitel wird/ werden …+ Verb; In diesem Kapitel soll(en)…+ Verbalkomplex; Im Folgenden ist der Frage nachzugehen, …; Im Folgenden ist es wichtig/ notwendig, …; Dieses Kapitel ist … gewidmet; Dieses Kapitel widmet sich …; Gegenstand dieses Kapitels ist/ sind …; Im Mittelpunkt/ Im Vordergrund dieses Kapitels stehen/ steht; Dieses Kapitel bietet + Nomen; Dieses Kapitel dient + Nomen; Dieses Kapitel bemüht sich um + Nomen; Dieses Kapitel behandelt/ diskutiert …; Dieses Kapitel befasst/ beschäftigt sich mit …; Das Ziel/ Die Aufgabe/ Das Anliegen dieses Kapitels ist es…; Das Ziel dieses Kapitels besteht darin, …; Dieses Kapitel setzt sich zum Ziel, …; Dieses Kapitel stellt sich als Ziel, … u.a. Zahlreiche grammatische Variationsmöglichkeiten können auch im Bereich der sog. thematischen Sätze vermittelt werden, die für wissenschaftliche Texte äußerst charakteristisch sind. Es handelt sich um Sätze, die durch einen fokusbildenden Hauptsatz eingeleitet sind und die den Autoren erlauben, eine neue Information in den Text einzuführen. Als Beispiele seien hier fokusbildende Hauptsätze mit dem Verb hinweisen präsentiert, die eine neue Argumentationskette eröffnen lassen. Sie gelten als äquivalente, grammatisch variierte Satzstrukturen, die einen unpersönlichen Stil repräsentieren. Dabei konkurrieren folgende Konstruktionen miteinander: Passiv, Aktiv, sein+zu+Infinitiv, Infinitivkonstruktion und Konjunktiv I: Zunächst muss/ soll darauf hingewiesen werden, dass p Zunächst muss/ soll man darauf hinweisen, dass p Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass p Zunächst ist es wichtig/ notwendig/ …, darauf hinzuweisen, dass p Zunächst lohnt es sich darauf hinzuweisen, dass p Zunächst sei darauf hingewiesen, dass p Sind den Lernern diese vorgeprägten Satzkonstruktionen bekannt, können sie das Temporaladverb zunächst gegen andere textorganisatorische Ausdrücke (z.B. weiterhin, ferner, schließlich, einerseits, andererseits, dabei u.a.) und das Verb hinweisen gegen andere Verben (z.B. feststellen, festhalten, betonen, hervorheben, anmerken, bemerken u.a.) austauschen und - unter Berücksichtigung auch verschiedener Wortfolgekombinationen - eine kaum überschaubare Menge von brauchbaren Textroutinen generieren und dabei dem wissenschaftlichen Habitus gerecht werden. 1) Man sollte den formalen, unpersönlichen Schreibstil (z.B. einer Diplomarbeit, einer Dissertation, eines Artikels) im Kontrast zum weniger formalen und teilweise persönlichen Sprechstil (z.B. eines Referats) zeigen. Die Lerner haben dann das Bewusstsein einer möglichen Auflockerung und Stilvariation. Sie wissen aber, dass die beiden Kommunikationsformen, die <?page no="89"?> Modellierung der Entwicklung wissenschaftlicher Textkompetenz 77 schriftliche und die mündliche, voneinander getrennt werden sollen. Dieses Wissen spielt bei der Kontextualisierung, d.h. bei der Anpassung von Textroutinen an die Kommunikationssituation, eine bedeutende Rolle. Für eine Kontrastierung von stilistischen Formulierungsmustern: mündlich vs. schriftlich, eignet sich z.B. die Vorstrukturierung gut als eine relevante Textroutine, die der Orientierung von Zuhörern/ Lesern im Gesamttext dient. Z.B. können folgende Vorstrukturierungen mit ihren typischen agensorientierten und agenslosen Prädikatsrahmen kontrastiert werden: Referat Diplomarbeit Zunächst gebe ich einen Überblick über die Inhalte meines Referats. Am Anfang bespreche ich … Dabei konzentriere ich mich auf … Weiterhin werde ich auf … eingehen. Anschließend möchte ich … näher betrachten. Am Anfang skizziere ich … und gehe zu … über. Schließlich versuche ich, … Dabei beschränke ich mich lediglich auf … Im letzten Teil fasse ich die Ergebnisse der Analyse zusammen. Bevor …, soll zunächst ein Überblick über die Inhalte gegeben werden. Im ersten Kap. werden … dargestellt. Im Fokus des Interesses stehen hier … Kap. 2 geht auf … ein. Zu untersuchen ist dabei, … Im nächsten Teil geht es darum, … Kap. x ist mit … befasst. Besondere Aufmerksamkeit richtet sich auf … Das letzte Kap. fasst die Ergebnisse der Analyse zusammen. 2) Stilistische Steuerung in Richtung eines sachlich-unpersönlichen Stils bedeutet nicht, dass jede Formulierung, die ein potenzielles Ich enthält, in eine unpersönliche Form transformiert werden soll. Es geht vielmehr darum, den Studierenden Textstellen zu zeigen, an denen - trotz ‚weicher‘, d.h. doppelter Norm, die heute beobachtbar ist - eine unpersönliche Ausdrucksweise eine feste, allgemeingültige Norm bleibt. Damit erhalten die Lerner ein authentisches Bild vom gegenwärtigen Wissenschaftsstil. Zu solchen Textstellen gehört u.a. der absolute Anfang des Textes, den die Autoren nicht selten dazu nutzen, das Ziel oder das Thema des Gesamttextes vorzustellen. Bei einem solchen metatextuellen Anfang treten die Autoren konsequent in den Hintergrund, als wäre diese exponierte Textstelle für eine offizielle Begrüßung reserviert. Die grammatische Varianz an opening sequence des Gesamttextes ist beschränkt und bietet z.B. folgende routinierte Prädikatsrahmen an: Für Thematisierungen: Gegenstand der vorliegenden/ folgenden Arbeit ist/ sind/ bildet/ bilden …; Die vorliegende/ folgende Arbeit ist … gewidmet; Die <?page no="90"?> Danuta Olszewska 78 vorliegende/ folgende Arbeit befasst/ beschäftigt sich mit …; Im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit steht/ stehen …; Zum Gegenstand der vorliegenden Arbeit wurde(n) … gewählt. Für Zielangaben: Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, …; Die Aufgabe/ Das Anliegen der vorliegenden Arbeit ist es, …; Die vorliegende/ folgende Arbeit setzt sich zum Ziel, …; Die vorliegende/ folgende Arbeit stellt sich als Ziel, …; Die vorliegende/ folgende Arbeit stellt sich als Aufgabe, … 3) Nachdem die Lerner die stilistische ‚Disziplin‘, d.h. einen sachlichunpersönlichen Stil und seine Varianz kennengelernt haben, können ihnen Textroutinen gezeigt werden, bei denen eine Transformation ins Unpersönliche nicht nötig ist. Gemeint sind nun Formulierungsmuster, bei denen das Personalpronomen ich als berechtigt gelten kann. Es handelt sich um syntaktische Strukturen, durch die der Autor seine Souveränität und Verantwortung für getroffene methodologische Entscheidungen oder seine Vorsicht beim Formulieren von (Hypo-)Thesen manifestieren will, z.B. in folgenden Routineformeln: Dabei schließe ich mich x an, der feststellt, dass p / Ich möchte mich x anschließen, der …; Dabei beziehe ich mich auf die Definition von x … / Dabei möchte ich mich auf … beziehen …; Dabei stütze ich mich auf x … / Dabei möchte ich mich auf x stützen …; Ich stimme x zu, der behauptet, dass p; Unter dem Begriff x verstehe ich im Anschluss an y …; Mir scheint (aber/ jedoch), dass p Die Kenntnis eines breiten Spektrums von objektivierten, unpersönlich markierten Textroutinen als einer stilistischen Konvention in wissenschaftlichen Texten und zulässigen Abweichungen davon kann als Grundlage für eine präskriptive Vorgehensweise beim Erwerb wissenschaftlicher Schreibkompetenz aufgefasst werden. Literatur Ehlich, Konrad (2006): Mehrsprachigkeit in der Wissenschaftskommunikation - Illusion oder Notwendigkeit? In: Ehlich, Konrad/ Heller, Dorothee (2006) (Hrsg.): Die Wissenschaft und ihre Sprachen. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, S. 17—38. Feilke Helmuth/ Steinhoff Torsten (2003): Zur Modellierung der Entwicklung wissenschaftlicher Schreibfähigkeiten. In: Ehlich, Konrad/ Steets, Angelika (2003) (Hrsg.): Wissenschaftlich schreiben - lehren und lernen. Berlin: de Gruyter, S. 112— 128. Feilke Helmuth (2012): Was sind Textroutinen? Zur Theorie und Methodik des Forschungsfeldes. In: Feilke, Helmuth/ Lehnen, Katrin (2012) (Hrsg.): Schreib- und Textroutinen. Theorie, Erwerb und didaktisch-mediale Modellierung. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, S. 1—31 (=Forum Angewandte Linguistik, Bd. 52). <?page no="91"?> Modellierung der Entwicklung wissenschaftlicher Textkompetenz 79 Heller, Dorothee (2010): Unauffällige Ressourcen von Wissenschaftssprachen: Verweisausdrücke im Sprach- und Übersetzungsvergleich. In: Heller, Dorothee (2010) (Hrsg.): Deutsch, Italienisch und andere Wissenschaftssprachen. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, S. 43—66. Jakobs, Eva-Maria (1999): Textvernetzung in den Wissenschaften: Zitat und Verweis als Ergebnis rezeptiven, reproduktiven und produktiven Handelns. Tübingen: Niemeyer. Kruse, Otto (2003): Schreiben lehren an der Hochschule: Aufgaben, Konzepte, Perspektiven. In: Ehlich, Konrad/ Steets, Angelika (2003) (Hrsg.): Wissenschaftlich schreiben - lehren und lernen. Berlin: de Gruyter, S. 95—111. Olszewska Danuta (2014): Wissenschaftliches Schreiben in der Fremdsprache Deutsch: linguistische Überlegungen und didaktische Vorschläge. In: Lukas, Katarzyna/ Olszewska, Izabela (2014) (Hrsg.): Deutsch im Kontakt und im Kontrast. Festschrift für Prof. Andrzej K ą tny zum 65. Geburtstag. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, S. 395—416 (=Danziger Beiträge zur Germanistik, Bd. 48). Oertner, Monika/ St. John, Ilona/ Thelen, Gabriele (2014): Wissenschaftlich schreiben. Ein Praxisbuch für Schreibtrainer und Studierende. Paderborn: Fink. Proske, Antje (2012): Können computerbasierte Trainingsaufgaben Text- und Schreibroutinen beim wissenschaftlichen Schreiben fördern? In: Feilke, Helmuth/ Lehnen, Katrin (2012) (Hrsg.): Schreib- und Textroutinen. Theorie, Erwerb und didaktischmediale Modellierung. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, S. 83—100 (=Forum Angewandte Linguistik, Bd. 52). Steinhoff, Torsten (2007): Wissenschaftliche Textkompetenz. Sprachgebrauch und Schreibentwicklung in wissenschaftlichen Texten von Studenten und Experten. Tübingen: Niemeyer. <?page no="93"?> Roswitha Reinbothe Der Rückgang des Deutschen als internationale Wissenschaftssprache * Abstract Im 19. und frühen 20. Jahrhundert waren Deutsch, Französisch und Englisch die führenden Wissenschaftssprachen. Vor allem in diesen Sprachen wurden in einzelnen Disziplinen mehrsprachige internationale Kongresse sowie Arbeiten an Begriffen, Terminologien und Bibliographien organisiert. Doch mit dem Ersten Weltkrieg begann der Rückgang des Deutschen als internationale Wissenschaftssprache. Weil nahezu alle deutschen Gelehrten die Kriegsschuld und die Kriegsverbrechen Deutschlands leugneten und den deutschen Militarismus verherrlichten, boykottierten die Wissenschaftler der westlichen Siegermächte die deutschen und österreichischen Wissenschaftler und zugleich auch die deutsche Sprache. Sie gründeten neue internationale Wissenschaftsverbände, in denen nur noch Französisch und Englisch als offizielle Sprachen galten. Nach dem Zweiten Weltkrieg stützten sich die westlichen Alliierten erneut auf die von ihnen 1919/ 20 geschaffenen internationalen Organisationen und Sprachenregelungen und bauten diese systematisch aus. Der Beitrag stellt an einzelnen Beispielen natur- und geisteswissenschaftlicher Disziplinen die internationale Sprachenpolitik dar. Er zeigt, mit welchen Mitteln Deutsch zurückgedrängt wurde und wie US-amerikanische Wissenschaftler ihre führende Rolle ausnutzten, um in den Wissenschaften die weltweite Dominanz des Englischen durchzusetzen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, welche Bedeutung die deutsche Sprache im internationalen Wissenschaftsbetrieb heute noch hat. 1 Mehrsprachigkeit vor dem Ersten Weltkrieg In dem internationalen Wissenschaftsbetrieb, der im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts aufgebaut wurde, galten Französisch, Deutsch und Englisch als die wichtigsten Wissenschaftssprachen. Viele Wissenschaftler beherrsch- * Der Beitrag stützt sich auf meine Habilitationsschrift Deutsch als internationale Wissenschaftssprache und der Boykott nach dem Ersten Weltkrieg (2006) sowie auf Ergebnisse meines Forschungsprojekts Mehrsprachigkeit auf internationalen wissenschaftlichen Kongressen, das von der Volkswagenstiftung im Rahmen ihrer Initiative ‚Deutsch plus - Wissenschaft ist mehrsprachig‘ gefördert wurde. Eine Monographie wird zurzeit vorbereitet. <?page no="94"?> Roswitha Reinbothe 82 ten zumindest eine dieser Sprachen und verstanden die beiden anderen. Manchmal kamen noch weitere Sprachen hinzu, insbesondere Italienisch und Spanisch. Die Notwendigkeit und das Interesse, sich mit den Forschungsleistungen und Begrifflichkeiten in mehreren Sprachen auseinanderzusetzen, führten in internationalen Vereinigungen, auf Kongressen und in Publikationen zu vielfältigen Formen der Mehrsprachigkeit und förderten zugleich die geistige Beweglichkeit der Wissenschaftler, die ständig zwischen den Sprachen vermittelten und Übersetzungen herstellten. In dieses System der Mehrsprachigkeit war die deutsche Sprache eingebunden und stand darin an führender Stelle. Eine zentrale Rolle spielte in der internationalen Zusammenarbeit von Anfang an die Arbeit an Begriffen und Terminologien, weil angesichts der unterschiedlichen Bedeutungen der Begriffe in den verschiedenen Sprachen Verständigungsgrundlagen geschaffen werden mussten. Der erste internationale Chemikerkongress wurde deshalb 1860 nach Karlsruhe einberufen, um sich über die unterschiedlichen chemischen Ausdrücke, Formeln, Definitionen und Nomenklaturen, insbesondere präzise Definitionen der Begriffe Atom, Molekül und Äquivalent, in den Sprachen Französisch, Deutsch und Englisch auszutauschen. Das war zugleich eine gedankliche und sprachliche Arbeit, die verlangte, die in verschiedenen Sprachen verwendeten Begriffe zu vergleichen und abzustimmen und dabei die Begrifflichkeiten in der eigenen Sprache zu überdenken und schärfer zu fassen. Die Teilnehmer hatten fünf prominente sprach- und fachkundige Chemiker aus Frankreich, Deutschland, Belgien, Großbritannien und Russland zu Sekretären des Kongresses gewählt, welche dort die mehrsprachige Verständigung unterstützten und für Übersetzungen sorgten. Doch so schnell konnten sich die Chemiker über die Theorien und Nomenklaturen nicht einigen (vgl. Stock 1933). Erst etwa 30 Jahre später wurde wieder eine Nomenklaturkommission auf dem Internationalen Chemikerkongress 1889 in Paris gebildet, und im Lauf des folgenden Jahrhunderts arbeitete man weiter an der Klärung der chemischen Begriffe und Bedeutungen in den verschiedenen Sprachen. Die Chemiker wurden aufgefordert, Listen mit Begriffen und deren Synonymen in ihren Sprachen aufzustellen und in einfachen Sätzen Beispiele für deren Verwendung zu geben und zu erläutern. In anderen Disziplinen entwickelte man ähnliche mehrsprachige Projekte. Auch in der damals bedeutendsten internationalen Wissenschaftsorganisation, der 1899 in Wiesbaden gegründeten Internationalen Assoziation der Akademien , der im Jahr 1914 insgesamt 24 Akademien der Wissenschaften aus 16 Ländern angehörten, wurden Deutsch, Französisch und Englisch gleichrangig verwendet. Um authentische Übersetzungen zu gewährleisten, <?page no="95"?> Der Rückgang des Deutschen als internationale Wissenschaftssprache 83 bestimmte man für die sprachliche Arbeit ebenfalls besondere Sekretäre (vgl. Reinbothe 2006: 37—41). Ein Beispiel für die Wertschätzung der Mehrsprachigkeit waren die permanenten Internationalen Komitees, die auf vielen Kongressen gebildet wurden, um möglichst alle Interessen, Sprachen und Forschungsrichtungen gleichermaßen zu berücksichtigen. Diesen Komitees gehörten Vertreter mehrerer Länder und Sprachen an, welche die Forschungen in den einzelnen Sprachen überblickten und für die jeweiligen Kongresse, die abwechselnd in verschiedenen Ländern stattfanden, Themen und Referenten vorschlugen. Solche Komitees wurden zum Beispiel auf internationalen Kongressen der Physik, Chirurgie, Zoologie, Psychologie, Philosophie und Geschichtswissenschaften eingerichtet. Französisch, Deutsch und Englisch waren dort in jedem Fall von Bedeutung. In der Zoologie kam noch Italienisch hinzu, in der Chirurgie und in den Geschichtswissenschaften außer Italienisch noch Spanisch. Im permanenten Internationalen Komitee der Philosophenkongresse waren 1908 sogar zehn Sprachgebiete vertreten, nämlich neben Deutsch, Französisch, Englisch, Italienisch und Spanisch noch die skandinavischen und slawischen Sprachen sowie Ungarisch, Dänisch und Holländisch. Doch auf den Philosophenkongressen selbst wurden die Vortrags- und Diskussionssprachen aus praktischen Gründen auf vier Sprachen begrenzt: auf Deutsch, Französisch, Englisch und Italienisch (Bericht über den III. Internationalen Kongress für Philosophie zu Heidelberg 1908). Zur Unterstützung der Forschung setzte man außerdem auf den Kongressen vieler Disziplinen besondere Bibliographiekommissionen ein, die über die in den einzelnen Ländern und Sprachen erschienenen Forschungsarbeiten berichteten und mehrsprachige internationale Bibliographien erstellten, so z.B. in der Chemie, Chirurgie, Psychologie, Philosophie und Geschichtswissenschaft. Ein großartiges Bibliographie-Unternehmen war damals der auf Initiative der Royal Society von 1902 bis 1914 herausgegebene mehrsprachige International Catalogue of Scientific Literature, der über die Literatur in siebzehn naturwissenschaftlichen Disziplinen auf Englisch, Französisch, Deutsch, Italienisch und Latein informierte und sich 1913 auf Regionalbüros in 34 Ländern stützte. Die deutsche Literatur war darin überaus gut vertreten. Doch die deutsche Regierung kündigte zu Beginn des Krieges ihre Mitarbeit auf und bewirkte dadurch das Ende dieser wichtigen Bibliographie (vgl. Reinbothe 2006: 30—36; 111—113). Ohnehin zeigten sich in der internationalen wissenschaftlichen Zusammenarbeit nationale Rivalitäten. Deutsche Wissenschaftler hatten mit staatlicher Unterstützung internationale Organisationen in Deutschland gegründet in London <?page no="96"?> Roswitha Reinbothe 84 und wichtige Forschungsstätten und Zentralbüros dort errichtet. Diese Initiativen begünstigten die Verwendung des Deutschen, verbanden sich aber auch mit hegemonialen Ambitionen. Großen Einfluss erlangte zudem die deutschsprachige Fachliteratur, die weltweit den Buch- und Zeitschriftenmarkt dominierte. Diese Macht der deutschen Wissenschaft und ihrer Sprache ging allerdings Wissenschaftlern in anderen Ländern zu weit (vgl. Reinbothe 2006: 23—95; 165—201). 2 Der Boykott nach dem Ersten Weltkrieg Den ersten gravierenden Einschnitt und Wendepunkt in der internationalen Stellung des Deutschen als Wissenschaftssprache und zugleich der Mehrsprachigkeit bewirkte der Erste Weltkrieg. Besonders empört war man im Ausland darüber, dass nahezu alle deutschen Gelehrten die aggressive Kriegspolitik des Deutschen Kaiserreichs unterstützten, die Kriegsschuld Deutschlands und die in Belgien begangenen Kriegsverbrechen leugneten und den deutschen Militarismus verherrlichten, wie in dem berüchtigten Aufruf ‚An die Kulturwelt! ‘, der 1914 in zehn Sprachen übersetzt und im Ausland verbreitet wurde (vgl. Reinbothe 2006: 96—110). Eine scharfe Reaktion darauf war der Boykott, den nach dem Krieg die alliierten Akademien der Wissenschaften gegen die deutschen Wissenschaftler und die deutsche Sprache betrieben. Unter Führung französischer, britischer und US-amerikanischer Wissenschaftler schufen sie 1919 und 1920 ein Netz internationaler ‚Unionen‘, welche in verschiedenen Disziplinen die alten Verbände ersetzten, und zogen wichtige Zentralbüros aus Deutschland ab. Gleichzeitig errichteten sie zentrale Dachorganisationen, die an die Stelle der 1899 gegründeten Internationalen Assoziation der Akademien traten, so den Internationalen Forschungsrat für die Naturwissenschaften (International Research Council) und die Internationale Akademie-Union für die Geisteswissenschaften (Union académique internationale). Aus diesen Organisationen, ihren Kongressen und Publikationen wurden die deutschen (und mit ihnen die österreichischen und anderen verbündeten) Wissenschaftler und zugleich auch die deutsche Sprache ausgeschlossen (vgl. Reinbothe 2006: 129— 243). Ebenso wie die alliierten Astronomen, Geodäten, Geophysiker, Chemiker, Mathematiker und Mediziner boykottierten auch die alliierten Physiker und Historiker auf ihren ersten Kongressen nach dem Krieg die deutschen Wissenschaftler und ihre Sprache. Doch nicht alle Fachkongresse schlossen sich diesem Boykott an, zum Beispiel nicht die der Zoologen, Soziologen, Psychologen und Philosophen, die auf die Mitarbeit ihrer deutschen und <?page no="97"?> Der Rückgang des Deutschen als internationale Wissenschaftssprache 85 österreichischen Kollegen und auf die deutsche Sprache nicht verzichten wollten. Als offizielle Sprachen der Organisationen, die den Boykott betrieben, galten nunmehr allein Französisch und Englisch - genauso wie in dem von den Alliierten nach dem Krieg errichteten Völkerbund. Außer der Veranstaltung von Kongressen widmeten sich die von den alliierten Wissenschaftlern gegründeten neuen Verbände der Herausgabe internationaler Zeitschriften, Bibliographien und Referatenorgane in englischer und französischer Sprache, also einem Unternehmen, das vorher deutsche Wissenschaftler und die deutsche Sprache dominiert hatten. Es waren in erster Linie US-Wissenschaftler, die hier publizistisch aktiv wurden, um an die Stelle der deutschsprachigen oder mehrsprachigen englischsprachige Publikationen zu setzen (vgl. Reinbothe 2006: 165—201). Zum Beispiel in der Biologie: Das seit 1880 erschienene deutschsprachige Botanische Centralblatt war vor dem Krieg das international führende Referatenorgan der Botaniker gewesen. Ab 1902 wurde es, weiterhin unter deutschem Namen, als Referatenorgan der neugegründeten Association Internationale des Botanistes herausgegeben. Die Redaktion war nun unter einem niederländischen Chefredakteur international zusammengesetzt, und die Referate erschienen auf Deutsch, Französisch oder Englisch. Doch 1917/ 18 gingen US-Botaniker daran, das dreisprachige Botanische Centralblatt durch ein eigenes Referatenorgan in englischer Sprache zu ersetzen, die Botanical Abstracts. Diese Botanical Abstracts wurden dann 1926 zu den Biological Abstracts erweitert, nachdem sich neunzehn biologische Fachverbände der USA zu diesem Zweck zusammengeschlossen hatten. Biologen in aller Welt wurden aufgefordert, Referate zu liefern. Doch als Sprache der Abstracts bestimmte man von Anfang an ausschließlich Englisch. Dieses Vorhaben wurde von der Rockefeller Foundation großzügig finanziert. Auch in anderen Disziplinen gründeten damals US-amerikanische Wissenschaftsorganisationen eigene Referatenzeitschriften in englischer Sprache und bauten so auf Kosten anderssprachiger Zeitschriften ihr Publikationsnetz aus (vgl. Reinbothe 2006: 183f.; 198—201). Nach Protesten und Gegenaktionen (vgl. Reinbothe 2006: 245—343) sowie Deutschlands Beitritt zum Völkerbund musste der Boykott schließlich 1926 abgebrochen werden. Doch die Wiederaufnahme der Zusammenarbeit zog sich noch länger hin - einerseits weil einige französische und belgische Wissenschaftler zur Versöhnung noch nicht bereit waren, andererseits weil die deutschen Wissenschaftler weitreichende Forderungen stellten. Sie verlangten nicht nur, dass dem Deutschen der gleiche offizielle Status wie dem Französischen und Englischen verliehen wurde, sondern darüber hinaus forderten sie eine Entschuldigung für den Boykott, ohne freilich ihr eigenes <?page no="98"?> Roswitha Reinbothe 86 Verhalten selbstkritisch zu reflektieren und sich von dem militaristischen Aufruf ‚An die Kulturwelt! ‘ zu distanzieren. Deshalb dauerte es noch einige Zeit, bis die deutschen Wissenschaftler den neuen Verbänden beitraten und an Kongressen, die sie vorher ausgeschlossen hatten, wieder teilnahmen. So trug auch das Verhalten der deutschen Wissenschaftler zum Rückgang des Deutschen als internationale Wissenschaftssprache bei. Weil die deutsche Sprache auf vielen internationalen Kongressen, in Vereinigungen und Publikationen lange Zeit nicht benutzt wurde, wandten sich anderssprachige Wissenschaftler, die früher Deutsch gesprochen und geschrieben hatten, nun dem Englischen oder Französischen zu. Deutsch verlor in dieser Zeit nicht nur seine führende Rolle, sondern auch seine mit Französisch und Englisch gleichrangige Stellung im internationalen Wissenschaftsbetrieb. Das internationale Ansehen der deutschen Wissenschaft und der deutschen Sprache wurde durch den Krieg und den Boykott nachhaltig beschädigt - nicht aus wissenschaftlichen und sprachlichen Gründen, sondern aus politischen Gründen und Machtinteressen (vgl. Reinbothe 2006: 345—424). 3 Neuorganisation nach dem Zweiten Weltkrieg Ein weiterer gravierender Einschnitt folgte nach dem Zweiten Weltkrieg. Da zahlreiche deutsche Wissenschaftler sich an den nationalsozialistischen Verbrechen beteiligt hatten, sahen sich die Wissenschaftler der alliierten Westmächte nochmals vor die Aufgabe gestellt, den internationalen Wissenschaftsbetrieb umfassend neu auszurichten und zu zentralisieren, um den Einfluss deutscher Wissenschaftler und der deutschen Sprache einzudämmen und zugleich eine effektive Wissenschaftsorganisation zu schaffen. Dabei stützten sie sich auf die 1919/ 20 errichteten Organisationsstrukturen und Sprachenregelungen und bauten diese systematisch aus. In den Naturwissenschaften wurden zusätzlich zu den bereits bestehenden zahlreiche neue ‚Unionen‘ gegründet oder wiederbelebt. Als Dachorganisation der naturwissenschaftlichen Vereinigungen fungierte weiterhin der Internationale Rat der naturwissenschaftlichen Unionen (International Council of Scientific Unions, ICSU), der, 1919 als Internationaler Forschungsrat gegründet und 1931 umbenannt, den Boykott gegen die deutschen Wissenschaftler und die deutsche Sprache nach dem Ersten Weltkrieg maßgeblich betrieben hatte. In der Chemie gehörte dazu die 1919 gegründete Internationale Chemie-Union (International Union of pure and applied Chemistry). In der Mathematik wurde die 1932 aufgelöste Internationale Mathematik-Union (International Mathematical Union) 1951 auf Betreiben US-amerikanischer Mathematiker wiedererrichtet. Die Zoologenkongresse band man an die <?page no="99"?> Der Rückgang des Deutschen als internationale Wissenschaftssprache 87 1919 gegründete und nun wiederbelebte Internationale Union für Biologische Wissenschaften an, die bislang keinerlei Einfluss auf die Zoologenkongresse ausgeübt hatte und nun auf die Verwendung der Sprachen einwirkte. Die Psychologenkongresse wurden mit der 1951 gegründeten Internationalen Union für wissenschaftliche Psychologie verknüpft. Alle diese Unionen waren Mitglied im ICSU. Ähnliche organisatorische Verbindungen stellte man in der Medizin und in den Geisteswissenschaften her. Hier entstand 1949 ein neuer Dachverband der geisteswissenschaftlichen Vereinigungen (International Council for Philosophy and Human Science), dem unter anderem die Internationale Vereinigung der Philosophischen Gesellschaften, das Internationale Komitee der Historiker sowie die Internationale Akademie- Union angehörten. So wurde ein noch viel dichteres Netz internationaler Wissenschaftsorganisationen geschaffen als nach dem Ersten Weltkrieg. Die Bedingungen waren ähnlich, wenngleich ein Boykott nicht mehr verhängt wurde. Widerstand war jedenfalls nicht zu erwarten. Von vorneherein wurden die Regeln bestimmt, die Vorstandsposten besetzt und die Sprachen festgelegt. Als offizielle Sprachen fungierten wieder nur Französisch und Englisch. Diese Sprachenregelung entsprach auch der bevorzugten Praxis der 1945 von den westlichen Alliierten gegründeten und in Paris angesiedelten UNESCO, mit der die internationalen Wissenschaftsorganisationen eng verbunden und von dieser finanziell unterstützt wurden. Zwar konnten auf Kongressen und in Publikationen eine Zeit lang noch andere Sprachen verwendet werden, das waren Deutsch, Italienisch, Spanisch und Russisch. Doch deren Gebrauch ging weiter zurück, weil man Englisch und Französisch zu den offiziellen ‚Arbeitssprachen‘ erklärte und darauf in den Vorstandssitzungen, Generalversammlungen und Publikationen großes Gewicht legte. Die deutschen Wissenschaftler wurden in die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg getroffenen Entscheidungen nicht einbezogen. Zu vielen internationalen Kongressen hatte man sie erst einmal nicht eingeladen, z.B. nicht zu den internationalen Kongressen der Chemiker (1947, 1951), Physiker (1948), Zoologen (1948), Chirurgen (1947, 1949) und Historiker (1950). Das schränkte dort sogleich die Verwendung des Deutschen ein. Dagegen konnten deutsche Wissenschaftler an Kongressen der Mathematiker (1950), Psychologen (1948) und Philosophen (1948) teilnehmen. Oft gingen die Generalsekretäre der internationalen Verbände daran, zusätzlich zu den Kongresspublikationen Zeitschriften auf Englisch und Französisch ins Leben zu rufen, in die sie Teile der Kongress- und Kommissionsberichte auslagerten. Solche Zeitschriften waren zunächst die von den Organisationen gegründeten Bulletins, die Mitteilungen zu den Kongressen sowie Forschungsberichte enthielten, z.B. in der Zoologie 1943/ 1951, Ge- <?page no="100"?> Roswitha Reinbothe 88 schichtswissenschaft 1926/ 1953, Mathematik 1955, Chemie 1956 und Chirurgie 1956. Gleichzeitig bedeuteten die sprachlichen Verfügungen, mit denen die Zweisprachigkeit Englisch/ Französisch in den internationalen Verbänden, ihren Vorständen, Versammlungen und Bulletins, durchgesetzt wurde, eine Geringschätzung der anderen traditionellen internationalen Verbands- und Kongresssprachen, insbesondere des Deutschen. Eine weitere einschneidende Maßnahme bildete die Auflösung oder Umwandlung der permanenten Internationalen Komitees der Kongresse, die ursprünglich die Vielfalt der Forschungsrichtungen berücksichtigt und für Mehrsprachigkeit gesorgt hatten. Dieser Eingriff stärkte ebenfalls die privilegierte Stellung der englischen und französischen Sprache und festigte die Macht der Vorstandsmitglieder der neuen Organisationen, insbesondere der Generalsekretäre, die mit der praktischen Organisationsarbeit betraut waren. Einige Wissenschaftler kritisierten zwar die Auflösung der mehrsprachigen Internationalen Komitees und die verfügte Zweisprachigkeit. So äußerte der polnische Philosoph Adam Schaff auf dem Internationalen Philosophenkongress 1963 in Mexiko den Wunsch, dass wieder wie früher ein Internationales Komitee gebildet werden solle, das alle Schulen und philosophischen Richtungen vertreten und in Zusammenarbeit mit der jeweiligen lokalen Kongressorganisation den Boden für einen tiefgreifenden intellektuellen Austausch und Dialog der Philosophen bereiten könnte. Zwar unterstützten Philosophen aus Deutschland (BRD und DDR), Belgien und Italien diesen Vorschlag. Die gewünschte Umorganisierung erfolgte jedoch nicht (Memorias 1963, Vol. X: 57; 67). Auf demselben Kongress setzte sich der Schweizer Philosoph René Schaerer im Namen der Schweizerischen Philosophischen Gesellschaft für die Zulassung der deutschen Sprache als Arbeitssprache der Internationalen Philosophie-Union ein, weil sie eine wichtige philosophische Tradition repräsentieren würde. Doch unter Hinweis darauf, dass schließlich auch in der UNESCO vorrangig Französisch und Englisch als Arbeitssprachen verwendet würden, blieb man grundsätzlich bei dieser Zweisprachigkeit und stellte nur vage in Aussicht, in den Verwaltungssitzungen möglicherweise auf Deutsch oder Italienisch vorgebrachte Anliegen übersetzen zu lassen (Memorias 1963, Vol. X: 70). <?page no="101"?> Der Rückgang des Deutschen als internationale Wissenschaftssprache 89 4 Vorübergehende Vorteile für Französisch Von dieser Sprachenpolitik profitierte vorübergehend die französische Sprache. Das wurde dadurch begünstigt, dass man den Sitz wichtiger Wissenschaftsorganisationen nach Brüssel oder Paris legte, dort oft Versammlungen abhielt und in Publikationen Französisch gebrauchte. In der in Brüssel angesiedelten Internationalen Akademie-Union, dem Verband für die Geisteswissenschaften, fungierte lange Zeit sogar als einzige Verbandssprache Französisch. Zudem übernahmen französische oder belgische Wissenschaftler in vielen Organisationen einflussreiche Vorstandsposten, die sie dazu nutzten, die französische Sprache zu bevorzugen und die deutsche zurückzudrängen. Zum Beispiel wurden die internationalen Chirurgenkongresse von 1902 bis 1981 von einem belgischen Vorstand der Internationalen Gesellschaft für Chirurgie in Brüssel verwaltet, der als Publikationssprache der Kongressberichte sowie der eigenen Zeitschriften und Mitteilungsblätter Französisch favorisierte. Erst 1981 wurde auf Betreiben US-amerikanischer Chirurgen dieses Monopol der belgischen Chirurgen gebrochen, der Sitz von Brüssel weg in die Schweiz verlegt und nun statt dem Französischen dem Englischen eine Vorrangstellung eingeräumt. Ein anderes Beispiel ist das Generalsekretariat des Internationalen Historikerkomitees, das in Paris von 1926 bis 2000, also 74 Jahre lang, fest in französischen Händen lag und bei jeder Gelegenheit Französisch zu verwenden suchte. So ließ das Generalsekretariat auch bei internationalen Historikerkongressen, die in Deutschland oder Österreich stattfanden, das Titelblatt des Kongressberichts sowie die übergreifenden Themen nur in französischer Sprache drucken. Auf diese Weise setzten die französischen Wissenschaftler den Status der deutschen Sprache herab und verhinderten, dass sie als Titelsprache dieser Berichte in Bibliotheken und Bibliographien zu finden war. 5 Vordringen des Englischen Britische und US-amerikanische Wissenschaftler setzten sich, gestützt auf die Wissenschaftsmacht USA, zielstrebig dafür ein, Englisch zur maßgeblichen Sprache der internationalen Kongresse und Publikationen zu machen, und drängten allmählich Französisch zurück. Vorübergehend konnte ihnen die Anerkennung des Französischen als gleichrangige Sprache nützlich sein, um die Konkurrenz der deutschen Sprache auszuschalten und die französischen Wissenschaftler in die Organisationsarbeit einzuspannen. Die ersten nach dem Zweiten Weltkrieg organisierten internationalen Kongresse der Chemie, Mathematik, Chirurgie und Psychologie fanden <?page no="102"?> Roswitha Reinbothe 90 ohnehin in Großbritannien und den USA vorwiegend auf Englisch statt, unter Beteiligung zahlreicher englischsprachiger Wissenschaftler. Auf vielen Kongressen stellten US-Wissenschaftler, von amerikanischen Stiftungen und Wissenschaftsorganisationen finanziell unterstützt, die meisten Teilnehmer und Referenten. Auf dem Internationalen Psychologenkongress 1960 in Bonn z.B. stellten sie allein 32% der aktiven Teilnehmer und hielten über 45% der Vorträge. Immerhin wurde dort eine Anlage für Simultanübersetzungen installiert, damals vom Bundesinnenministerium und Kultusministerium Nordrhein-Westfalens finanziert. So konnten Ansprachen, Vorträge und Diskussionen in den drei Hauptkongresssprachen Deutsch, Englisch und Französisch mitgeteilt werden (Bericht 1961: XXIX). Als jedoch auf dem Internationalen Zoologenkongress 1963 in Washington mit Hilfe des US-Außenministeriums Simultanübersetzungen arrangiert wurden, übersetzte man einzelne Vorträge nur aus dem Englischen ins Französische, Deutsche, Russische und Spanische, aber offenbar nicht in umgekehrter Richtung. Dieser Umstand und die große Zahl englischsprachiger Teilnehmer und Referenten bewirkten, dass viele anderssprachige Referenten es vorzogen, auf Englisch vorzutragen, wobei allerdings die meisten über ein Pidgin-English nicht hinauskamen (Proceedings 1963). Der Vorstand der Internationalen Psychologie-Union, dem anfangs ein US-amerikanischer, britischer und französischer Psychologe angehörten, bestimmte zunächst als offizielle Kongresssprachen Englisch und Französisch und ließ daneben nur noch die Sprache des jeweiligen Gastlandes zu. Organisatorische Maßnahmen begünstigten allerdings die Vorherrschaft des Englischen. Denn die Internationale Psychologie-Union war im Jahr 1951 auf Betreiben US-amerikanischer Psychologen gegründet und gleichzeitig das permanente Internationale Komitee der Psychologenkongresse, das für Mehrsprachigkeit eintrat, aufgelöst worden. Den Sitz der Union legte man in die USA, wo das wichtige Amt des Generalsekretärs bis 1984 ein US- Psychologe ausübte. Nach erfolgreicher Vorarbeit erklärte schließlich der Vorstand der Union im Jahr 1991 Englisch zur einzigen offiziellen Sprache der internationalen Psychologenkongresse. Nur die Sprache des jeweiligen Gastlandes durfte nach wie vor zusätzlich verwendet werden. Auch die 1966 gegründete, ursprünglich englisch-französische Zeitschrift der Union International Journal of Psychology machte der Vorstand 1999 zum englischsprachigen Journal, immerhin noch mit Abstracts in englischer, französischer und spanischer Sprache. Selbst hier hatte Deutsch keine Geltung mehr (Rosenzweig et al. 2000). Ursprünglich plante die Internationale Psychologie-Union, regelmäßig Übersetzungen wichtiger psychologischer Artikel, die in weniger bekannten Sprachen erschienen waren, herauszugeben. Übersetzungssprache sollte <?page no="103"?> Der Rückgang des Deutschen als internationale Wissenschaftssprache 91 zunächst Englisch sein. Nachdem sich die Mitgliedsgesellschaften bereit erklärt hatten, Literaturberichte, statt an eine spezielle Kommission der Union, gleich an die Psychological Abstracts zu schicken, also an das Referatenorgan, das seit 1927 von der American Psychological Association herausgegeben wurde, traf diese 1993 eine folgenreiche Entscheidung: Sie verfügte, dass die Psychological Abstracts nur noch über Publikationen referieren sollten, deren Originalsprache Englisch war. So sollten Autoren und Verlage anderer Länder gezwungen werden, nur noch auf Englisch zu publizieren, wenn sie daran interessiert waren, in den Psychological Abstracts berücksichtigt zu werden. Gegen eine solche US-amerikanische Vereinnahmung und Missachtung der psychologischen Literatur in anderen Sprachen wandte sich allerdings der damalige österreichische Präsident der Internationalen Psychologie-Union, Kurt Pawlik. Daraufhin waren die Psychological Abstracts bereit, noch Besprechungen anderssprachiger Literatur auf Englisch zuzulassen (Rosenzweig et al. 2000: 210; 217). Doch die Bevorzugung der englischsprachigen Literatur in diesen ebenso wie in anderen Referatendiensten und Fachzeitschriften der USA veranlasste anderssprachige Autoren und Verlage, gleich auf Englisch zu publizieren, um weltweit wahrgenommen zu werden. Dieser Druck der Anglisierung wirkte sich auch auf den deutschen Wissenschaftsbetrieb aus (vgl. Reinbothe 2011: 63—66). Die Monopolstellung des Englischen behinderte zugleich die mehrsprachige Arbeit an Begriffen und Terminologien. So hatten zwar die Mathematiker noch 1952 eine Internationale Kommission beauftragt, die mathematischen Begriffe, Erklärungen, Symbole und Terminologien in den verschiedenen Sprachen aufeinander abzustimmen und ein mehrsprachiges Verzeichnis mathematischer Symbole mit Definitionen in den fünf Sprachen Englisch, Französisch, Deutsch, Italienisch und Russisch herauszugeben. Die Arbeit daran wurde jedoch vom damaligen US-Präsidenten der Internationalen Mathematik-Union, an deren Wiederaufbau er führend beteiligt war, als „nicht dringlich“ abgetan und damit beendet (Lehto 1998: 96). Denn er war offensichtlich daran interessiert, dass Englisch die international maßgebende Sprache der Mathematik wurde, was die mehrsprachige Terminologiearbeit überflüssig zu machen schien. 6 Verteidigung der Mehrsprachigkeit Ein Gegenbeispiel ist die Internationale Nomenklaturkommission der Zoologenkongresse. Die Kommission war 1895 gewählt worden und hatte 1905 die von ihr erarbeitete offizielle Fassung der Nomenklaturregeln auf Französisch, Englisch und Deutsch veröffentlicht. Dieser dreisprachige Text blieb <?page no="104"?> Roswitha Reinbothe 92 über fünfzig Jahre lang gültig. Allerdings verbreitete das Sekretariat des Internationalen Komitees der Nomenklaturkommission, das durchgehend britische und US-amerikanische Zoologen besetzten, ab 1943 ein eigenes Bulletin nur in englischer Sprache. Nachdem dann erstmals 1961 von britischen, US-amerikanischen und französischen Zoologen gemeinsam eine neue Fassung der geänderten Nomenklaturregeln nur noch in englischer und französischer Sprache herausgegeben worden war, wurden allerdings deutsche Zoologen aktiv. Nur wenige Monate später legten die deutschsprachigen Mitglieder der Internationalen Kommission für Zoologische Nomenklatur ihrerseits eine deutsche Übersetzung vor und erreichten schließlich, dass diese offiziell anerkannt wurde. Diese offizielle Anerkennung des deutschen Textes wäre jedoch ohne das Engagement der deutschen Zoologen nicht zustande gekommen. Weitere Übersetzungen in andere Sprachen folgten, so ins Bulgarische, Tschechische, Polnische, Russische, Spanische und Japanische (Melville 1995). Wie anregend für die Erarbeitung präziser Begriffe in der eigenen Sprache die vergleichende Analyse der Begriffe anderer Sprachen ist, machte der Frankfurter Zoologe Otto Kraus deutlich, der den deutschen Text der Nomenklaturregeln verfasste. Er erstellte ihn auf der Grundlage des englischen Textes, verglich diesen aber mit dem französischen Text, dessen hohes Maß an Präzision des Ausdrucks er für die präzise Formulierung des deutschen Textes sehr hilfreich fand. Dennoch ließen sich, so erklärte er, einige Abweichungen des deutschen vom englischen und französischen Text nicht vermeiden (Internationale Kommission für Zoologische Nomenklatur 2000: 13). Auch der US-Zoologe Norman Rudolph Stoll, der den englischen und französischen Text der Nomenklaturregeln herausgab, wies auf die Schwierigkeit hin, gedanklich übereinstimmende Formulierungen der beiden Texte zu finden, weil bei der Übersetzung oft Unterschiede in der Bedeutung und Gewichtung entstanden. Deshalb habe man ständig die beiden Texte aufeinander abstimmen und modifizieren und dabei außerdem die Differenz zwischen dem britischen und dem amerikanischen Englisch beachten müssen (International Code of Zoological Nomenclature 1961: XIV). So führte die mehrsprachige Arbeit an Begriffen und Texten zur Präzisierung der Gedanken und Formulierungen. Für die wissenschaftliche Auseinandersetzung ist es von grundlegender Bedeutung, dass Wissenschaftler ihre Erkenntnisse in der Sprache, die sie beherrschen, sorgfältig formulieren und die in anderen Sprachen mitgeteilten Forschungsergebnisse in ihre Arbeit einbeziehen. Der erweiternde und korrigierende Blick von der einen in die andere Sprache geht allerdings verloren, wenn man sich nur noch auf Englisch beschränkt. Schon aus diesem Grunde sollte Mehrsprachigkeit <?page no="105"?> Der Rückgang des Deutschen als internationale Wissenschaftssprache 93 gefördert und die deutsche Sprache in den Wissenschaften weiterhin verwendet werden. Zum Beispiel könnte auf internationalen Tagungen für diejenigen, die Deutsch nicht verstehen, ein Vortrag in deutscher Sprache von einer Projektion in englischer Übersetzung begleitet werden, wie das bei französischsprachigen Vorträgen auf dem Internationalen Historikerkongress 2010 in Amsterdam organisiert wurde. So kann Englisch zusätzlich als Übersetzungssprache dienen, nicht aber als einzige Wissenschaftssprache. Quellen Bericht über den III. Internationalen Kongress für Philosophie zu Heidelberg, 1. bis 5. September 1908, herausgegeben von Professor Dr. Th. Elsenhans. Heidelberg 1909. Bericht über den Sechzehnten Internationalen Kongress für Psychologie/ Proceedings of the Sixteenth International Congress of Psychology. Bonn 1960. In: Acta Psychologica, Vol. XIX, 1961. International Code of Zoological Nomenclature/ Code International de Nomenclature Zoologique. Adopted by the XV International Congress of Zoology. Ed. Committee: N. R. Stoll et al. Published for the International Commission on Zoological Nomenclature. London: International Trust for Zoological Nomenclature 1961. XVI International Congress of Zoology. Washington 20—27 August 1963. Proceedings Vol. 1—6. Washington D. C. 1963—1965. Internationale Kommission für Zoologische Nomenklatur: Internationale Regeln für die Zoologische Nomenklatur. Angenommen von International Union of Biological Sciences. Offizieller deutscher Text. Ausgearbeitet von Otto Kraus. 4. Aufl. Hamburg 2000 (=Abhandlungen des Naturwissenschaftlichen Vereins in Hamburg, NF 34). Memorias del XIII Congreso Internacional de Filosofía/ Actes …/ Proceedings … México, D. F., 7—14 Septiembre de 1963, Vol. I—X, México 1963—1966. Literatur Greenaway, Frank (1996): Science International. A History of the International Council of Scientific Unions. Cambridge: University Press. Lehto, Olli (1998): Mathematics without borders. A History of the International Mathematical Union. New York: Springer. Melville, Richard V. (1995): Towards Stability in the Names of Animals. A History of the International Commission on Zoological Nomenclature 1895-1995. London: International Trust for Zoological Nomenclature. Reinbothe, Roswitha (2006): Deutsch als internationale Wissenschaftssprache und der Boykott nach dem Ersten Weltkrieg. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang. Reinbothe, Roswitha (2011): Geschichte des Deutschen als Wissenschaftssprache im 20. Jahrhundert. In: Eins, Wieland/ Glück, Helmut/ Pretscher, Sabine (2011) (Hrsg.): Wissen schaffen - Wissen kommunizieren. 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Jh., in der die lateinische lingua franca zunehmend von deutschen Wissenschaftssprachen verdrängt wird. Beide Entwicklungen werden von einer intensiven Diskussion über den Nutzen von nationalen und internationalen Wissenschaftssprachen und die Anforderungen, die an diese jeweils zu stellen sind, begleitet. In dem vorliegenden Beitrag werden zunächst die Konkurrenzsituationen zwischen dem Deutschen und der jeweils entsprechenden lingua franca miteinander verglichen und im Anschluss hieran die zentralen Diskussionsthesen der Zeit einander gegenüber gestellt. Es zeigen sich dabei einige signifikante Gemeinsamkeiten, aber auch interessante Unterschiede, die es sprach- und kulturgeschichtlich zu interpretieren gilt. 1 Nationale versus internationale Wissenschaftssprache Der Sprachenanteil des Englischen nimmt seit dem Ende des Ersten Weltkriegs im 20. und 21. Jahrhundert mehr noch in natur-, aber eben auch in geistes- und sozialwissenschaftlichen Publikationen stetig zu, während derjenige des Deutschen noch nach einem gewissen Anstieg im Kaiserreich erkennbar abnimmt. Diese Tatsache war und ist wiederholt Gegenstand der wissenschaftlichen wie auch der öffentlichen Diskussion im deutschsprachigen Raum (vgl. beispielsweise Ammon 1998; 2001; Debus/ Kollmann/ Pörksen 2000; Eins/ Glück/ Pretscher 2011; Kirchhof 2010; Reinbothe 2006; 2011; Roelcke 3 2010: 192—206; Skudlik 1990). Eine solche Konkurrenz zwischen einer internationalen Wissenschaftssprache einerseits und einer nationalen Wissenschaftssprache andererseits ist im deutschen Sprachraum indessen nicht neu: Sie besteht im Mittelalter und in der frühen Neuzeit zwischen dem Lateinischen als internationaler lingua franca und diversen deutschen Mundarten und Kanzleisprachen und <?page no="108"?> Thorsten Roelcke 96 spitzt sich nach dem Dreißigjährigen Krieg im 17. und 18. Jahrhundert zu (vgl. Greule/ Meier/ Ziegler 2012; Klein 2011; von Polenz/ Moulin 2 2013: 374—395; Roelcke 2002; 3 2010: 180—203; Schiewe 1996). Neben dieser Gemeinsamkeit einer wissenschaftssprachlichen Konkurrenzsituation besteht jedoch im Hinblick auf die Zeit der Gegenwart und die der Aufklärung und des Rationalismus auch ein wesentlicher Unterschied (vgl. Abb. 1): Während im 20. und 21. Jahrhundert die englische Sprache das Deutsche in immer mehr wissenschaftlichen Bereichen unter Druck setzt, ist es im 17. und 18. Jahrhundert genau umgekehrt: Nach dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs ist es hier der Gebrauch der deutschen Sprache, der das Lateinische nicht allein in Angewandten, sondern auch in Theoretischen Wissenschaften nach und nach ersetzt (am meisten konservativ erweisen sich hier Theologie und Mathematik, bei denen dieser Prozess bis in das 19. Jahrhundert hinein andauert. Abb. 1: Nationale und internationale Wissenschaftssprache im deutschsprachigen Raum Eine Gemeinsamkeit zwischen der Situation im 17. und 18. sowie im 20. und 21. Jahrhundert besteht wiederum in der teils engagiert geführten wissenschaftlichen und öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Gebrauch einer internationalen und einer nationalen Wissenschaftssprache und deren zunehmender Konkurrenz. Im Folgenden werden einige Aspekte der Diskussion im deutschen Sprachraum zur Zeit der Aufklärung herausgearbeitet und mit der gegenwärtigen Diskussion verglichen. <?page no="109"?> Deutsche Wissenschaftssprache und internationale lingua franca 97 2 Argumente für wissenschaftliche Mehrsprachigkeit der Gegenwart Auch wenn „the importance of the english language for German-speaking scientists“ (Skudlik 1992) seit einigen Jahrzehnten im Zuge der weltweiten Internationalisierung von Wissenschaft und der politischen wie ökonomischen Globalisierung kaum mehr zu bestreiten ist, werden doch immer wieder gute Gründe für den Gebrauch der deutschen Sprache neben, jedoch nicht: anstelle des Englischen angeführt. Von pragmatischen oder ökonomischen Erwägungen abgesehen (vgl. zuletzt etwa Gnutzmann/ Rabe 2014), können unter anderem vier argumentative Schwerpunkte ausgemacht werden, die für eine wissenschaftliche Mehrsprachigkeit sprechen (vgl. etwa Ammon 1998; Ehlich 2006): 1. Förderung eines fachlichen Pluralismus: Mehrsprachigkeit unterstütze die Bildung von unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven und Positionen. Sie sichere somit die kulturelle, inhaltliche und methodische Vielfalt fachlicher Diskurse - mehr noch: Sie trage maßgeblich zum Reichtum an (wissenschaftlichen wie nicht wissenschaftlichen) Weltbildern bei. 2. Ausdruck eines sprachtheoretischen Nominalismus: Die Sprachtheorie der Gegenwart geht davon aus, dass der Mensch sich sein Bild von der Wirklichkeit durch Interaktion im Allgemeinen und sprachliche Kommunikation im Besonderen selbst erschaffe. Wissenschaftliche Mehrsprachigkeit profiliere diese Abhängigkeit der Weltbilder von Sprache und unterstreiche deren Vielfalt - eine Position, die insbesondere auch von der modernen Terminologielehre (Wüster 3 1970; Arntz/ Picht/ Mayer 6 2009) nicht geteilt wird (Roelcke 2004). 3. Widerspiegelung eines demokratischen Grundverständnisses: Moderne Wissenschaft wird im Allgemeinen finanziell und ideologisch von Gesamtgesellschaften getragen (auch dann, wenn sie von einzelnen Institutionen oder Unternehmen unterstützt wird). Eine gesellschaftliche Rückbindung von Wissenschaften ist dabei insbesondere über deren einzelne Sprachen denkbar. 4. Verhinderung einer „Re-Arkanisierung“ (Ehlich 2006: 28) von Wissen: Durch die gesellschaftliche Rückbindung von Wissenschaften seien wissenschaftliche Erkenntnisse im Rahmen diverser Transferprozesse jeweils weiten Teilen der Bevölkerung zugänglich; die Gefahr der Bildung von Geheimwissen und deren Wissenschaft werde durch Mehrsprachigkeit vielleicht nicht ganz verhindert, aber erheblich gemildert. Angesichts der Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der wissenschaftssprachlichen Konkurrenz zwischen dem Englischen und Lateinischen als internationalen Wissenschaftssprachen einerseits und dem Deutschen als <?page no="110"?> Thorsten Roelcke 98 nationaler Wissenschaftssprache andererseits (die einmal unter Druck steht und einmal selbst Druck ausübt) stellt sich nun die Frage, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der wissenschaftssprachlichen Reflexion der Aufklärung und der Gegenwart bestehen. 3 Reflexion wissenschaftlicher Mehrsprachigkeit zur Zeit der Aufklärung Die Reflexion der wissenschaftssprachlichen Konkurrenz zwischen dem Deutschen und dem Lateinischen vom ausgehenden 17. bis zum beginnenden 19. Jahrhundert lässt sich in zwei Argumentationsbereiche unterteilen - einen pragmatisch-linguistischen (vgl. die einschlägigen Gesamt- und Übersichtsdarstellungen in Gardt 1994; Haßler 1984; Haßler/ Neis 2009; Ricken 1990) und einen politisch-patriotischen Bereich (vgl. zum Beispiel Gardt 1999; Gardt 2000; von Polenz/ Moulin 2 2013; Roelcke 2000; Wehler 1987). Beide werden im Folgenden skizziert und anhand ausgewählter Belege illustriert (eine ausführliche Studie und Dokumentation findet sich in Roelcke 2014: 9—209). 3.1 Pragmatisch-linguistische Argumentation Eine erste und naheliegende Begründung deutscher Sprachdenker des Barock und der Aufklärung für den wissenschaftlichen Gebrauch des Deutschen anstelle des Lateinischen liefert die Verständlichkeit der eigenen Sprache: Sie gilt als besser zu verstehen als die fremden Kultursprachen und erleichtere somit die Vermittlung von Erkenntnissen ganz verschiedener Disziplinen. Diese Argumentation ist bereits vor der Zeit der Aufklärung nicht unüblich. So findet sie sich etwa bereits in dem ‚Kurtzen Bericht von der Didactica‘ von Christoph Helwig und Joachim Jung (1614: 71f.), die hier neben dem Lateinischen auch das Griechische und das Arabische nennen und eine ganze Reihe an Theoretischen und Angewandten Wissenschaften angeben: „Es sei die lautere warheit / dz alle Künste vnd Wissenschafften / als Vernunfftkunst / Sittenvnd Regierkunst / Maß- Wesen- Naturkündigung / Artzeney- Figur- Gewicht- Stern- Baw- Befestkunst / oder wie sie Nahmen haben mögen / vielleichter / bequemer / richtiger vollkömlicher vnd außführlicher in Teutscher Sprache können gelehret vnd fortgepflantzet werden / weder jemals in Griechischer / Lateinischer oder Arabischer Sprach geschehen ist.“ <?page no="111"?> Deutsche Wissenschaftssprache und internationale lingua franca 99 Während Helwig und Jung noch von der wissenschaftlichen Verständlichkeit aller Sprachen und somit insbesondere der deutschen Sprache für deutsche Muttersprachler ausgehen, wird diese Position im Verlauf der Aufklärung durchaus auch hinterfragt. Der oft wegen seiner Nüchternheit kritisierte Aufklärungsphilosoph Georg Friedrich Meier mahnt in seinem Werk zur ‚Natur der gelehrten Sprache‘ (1763: 37f.) eine Prüfung einzelner Sprachen im Hinblick auf deren Eignung zu einem wissenschaftlichen Gebrauch an: „Wer den ganzen Streit, über die Nothwendigkeit der griechischen und lateinischen Sprache zur wahren Gelehrsamkeit vernünftig entscheiden will, der muß einen deutlichen und vollkommenen Begriff von den mannigfaltigen Vollkommenheiten einer gelehrten Sprache haben, und alsdenn untersuchen, ob diese genannten Sprachen nicht nur diese Vollkommenheiten haben, sondern ob auch andere Sprachen mit eben diesen Vollkommenheiten ausgeschmückt sind, oder ob die es nicht sind.“ Als wissenschaftssprachliche Qualitätsmerkmale des Deutschen gegenüber dem Lateinischen gelten dabei insbesondere ein Reichtum an Wörtern und die strukturelle Eignung zur Bildung von Komposita: Beides trage dazu bei, den erheblichen Benennungsbedarf diverser Fächer zu decken, bedürfe aber sprachlicher Pflege, um diese grundsätzliche wissenschaftliche Eignung auch tatsächlich angemessen zu entfalten (vgl. hierzu auch Roelcke 1999). Bereits der Barockdenker und -dichter Justus Georg Schottelius (der Name ist im Übrigen latinisiert) grenzt so in der bekannten ‚Ausführlichen Arbeit von der Teutschen HaubtSprache‘ (1663: 1244) das Deutsche gegenüber dem Lateinischen ab (der Terminus ‚Verdoppelung‘ bezieht sich hier auf die in dieser Zeit noch fast ausschließlich zweigliedrigen Komposita): „Die Lateinische Sprache vermag weder an Menge der Stammwörter / noch an Vermögen der Verdoppelung sich mit der Teutschen Sprache vergleichen / ihre herrliche Ausschmükkung und perfectionirung aber hat sie dem fleisse der vortreflichen vielen Leute / die sich aller Ekken und Orten ihrer also treulichst angenommen / aller ihrer Wörter Kraft und Wirkung untersuchet / und wo es nur seyn können / aus allen Winkelen herausgeschmükket: An welcher rechten Ausarbeitung und gebührender genauer Untersuchung hat es bishero der Teutschen Sprache ermangelt.“ Der Wortreichtum des Deutschen, insbesondere in den Angewandten Wissenschaften und im Bereich der Technik, wird zum Beispiel auch von dem Universalgelehrten Goffried Wilhelm Leibniz, der selbst meist in lateinischer oder französischer Sprache schreibt, in den auf Deutsch verfassten ‚Unvorgreifflichen Gedancken‘ (1697/ 1717: 330) hervorgehoben: <?page no="112"?> Thorsten Roelcke 100 „Ich finde, dass die Teutschen ihre Sprache bereits hoch gebracht in allen dem, so mit den fünff Sinnen zu begreiffen, und auch dem gemeinen Mann fürkommet; absonderlich in leiblichen Dingen, auch Kunst- und Handwercks-Sachen, weil nemlichen die Gelehrten fast allein mit dem Latein beschäftiget gewesen und die Mutter-Sprache dem gemeinen Lauff überlassen, welche nichts desto weniger auch von den so genandten Ungelehrten nach Lehre der Natur gar wohl getrieben worden. Und halt ich dafür, dass keine Sprache in der Welt sey, die (zum Exempel) von Ertz und Bergwercken reicher und nachdrücklicher rede als die Teutsche. Dergleichen kann man von allen andern gemeinen Lebens-Arten und Professionen sagen, als von Jagt- und Wäid-Werck, von der Schiffahrt und dergleichen. Wie dann alle die Europäer so auffm grossen Welt-Meer fahren, die Nahmen der Winde und viel andere Seeworte von den Teutschen, nehmlich von den Sachsen, Normannen, Osterlingen und Niedrländern entlehnet.“ Der weltoffene Jurist Christian Thomasius macht mit dem akademischen Gebrauch der deutschen Sprache existenzielle Erfahrungen, da er (auch) wegen Gebrauchs der deutschen Sprache zunächst der Universität Leipzig verwiesen und später Gründungsmitglied der Juristischen Fakultät der Universität Halle wird. Er findet wiederum eine ganz pragmatische Begründung für die Verwendung des Deutschen und des Französischen als Wissenschaftssprachen seiner Zeit: Bei diesen beiden handele es sich um in der Gesellschaft bereits gebräuchliche, ‚naturalisierte‘ Sprachen, während der Erwerb des Lateinischen als einer toten Sprache einen Verlust an Lebensarbeitszeit darstelle; in diesem Sinne heißt es in Thomasius‘ programmatischer Schrift ‚Von Nachahmung der Franzosen‘ (1687/ 1701: 19f.): „Warum solte es nicht angehen, daß man durch Hülffe der Teutschen und Frantzösischen Sprache, welche letztere fast bey uns naturalisiret worden, Leute, die sonsten einen guten natürlichen Verstand haben, in kurtzer Zeit viel weiter in der Gelehrsamkeit brächte, als daß man sie erst so viel Jahre mit dem Lateinischen placket. Sprachen sind wohl Zierrathen eines Gelehrten, aber an sich selbst machen sie niemand gelehrt.“ Der letzte Satz dieses Belegs führt bereits zu einem weiteren Aspekt der Diskussion um das Lateinische und Deutsche als Wissenschaftssprachen: Die Kompetenz, Latein zu sprechen und zu schreiben, gilt noch in der Frühen Neuzeit als Ausdruck akademischer Gelehrsamkeit als solcher und gilt daher als Bildungsideal per se. Dies ändert sich spätestens im 17. Jahrhundert, indem lateinische Sprachkompetenz mehr und mehr als ein Mittel zum Zweck angesehen wird - als Mittel, sich über andere wissenschaftliche Gegenstände auszutauschen. Dieser Statuswechsel vom Bildungsideal zum Bildungsmittel führe letztlich zu einer Vernachlässigung der Bemühungen <?page no="113"?> Deutsche Wissenschaftssprache und internationale lingua franca 101 um einen umfassenden Erwerb der lateinischen Sprache. Dies wird in der Sprachreflexion der Spätaufklärung besonders deutlich, wenn Schulmeister wie der Merseburger Rektor Thieme dazu aufrufen, das „lateinische Sprachstudium zu befördern“ (1789: 168): „Man hat eingesehn, daß die Sprachkenntniß an sich nicht Gelehrsamkeit, sondern nur Werkzeug zur Erwerbung der Gelehrsamkeit sey. Kurz, es wird ietzo weit weniger Lateinisch geredet und geschrieben, folglich auch gehöret und gelesen, als sonst. - Der Einfluß dieser Veränderung auf den Jugendunterricht ist unausbleiblich. Man weiset nicht nur jetzt der lateinischen Sprache im System der Schulstudien eine ganz andere Stelle an; sondern man kann auch nicht mehr so viel Zeit, Sorgfalt und Mühe auf Erlernung derselben wenden als ehemals.“ Mit den Lateinkenntnissen der Schüler und Studenten scheint es bereits ein halbes Jahrhundert zuvor tatsächlich nicht mehr so weit her gewesen zu sein. Christian Wolff, der als Begründer der deutschen Fachsprache der Philosophie gilt und damit Leibniz‘ Forderungen entspricht, beschreibt die Situation in seinem Vorlesungssaal in der ‚Nachricht von seinen eigenen Schrifften‘ (1735: 25) wie folgt: „Denn es ist nicht zu leugnen, daß heute zu Tage viele auf Universitæten kommen, welche in der lateinischen Sprache es nicht so weit gebracht, daß sie den lateinischen Vortrag verstehen können, und die wenigsten sind darinnen so geübet, daß sie, was lateinisch vorgetragen wird, eben so wohl verstünden, als wenn man es ihnen in ihrer Mutter-Sprache vorgetragen hätte.“ Hiernach folgt also die Wahl des Deutschen als akademischer Lehrsprache und somit dann auch als Wissenschaftssprache im deutschen Sprachraum des 18. Jahrhunderts nicht allein pragmatischen oder linguistischen bzw. sprachtheoretischen Erwägungen, sondern ist letztlich auch der Macht des Faktischen geschuldet, auch wenn diese wiederum durch einen Wandel sprachlicher Bildungsideale bedingt ist. 3.2 Politisch-patriotische Argumentation Die deutschen Sprachdenker des Barock und der Aufklärung stammen überwiegend (wenn auch nicht ausschließlich) aus dem gehobenen Bürgertum und dem niederen Adel. Dies gilt auch für die Mitglieder der diversen Sprachgesellschaften (Gardt 1998; Otto 1972) - allen voran für diejenigen der Fruchtbringenden Gesellschaft, die 1617 (nach dem Vorbild der Accademia della Crusca in Florenz) in Köthen gegründet wird und bis 1680 besteht. Ziel dieser Sozietäten ist die ästhetische, kulturelle und moralische Ausbildung ihrer Mitglieder, die sich auch in Bemühungen um die Entwicklung von so etwas <?page no="114"?> Thorsten Roelcke 102 wie einer deutschen Literatursprache äußert und als patriotische Antwort der beiden gesellschaftlichen Gruppen auf den im Westfälischen Frieden festgeschriebenen und vom hohen Adel goutierten deutschen Partikularismus anzusehen ist. Dieser Sprachpatriotismus wendet sich nun unter anderem auch gegen den Gebrauch der lateinischen Sprache. Einen Beleg hierfür aus der Mitte des 17. Jahrhunderts bietet Philipp von Zesen - bekannt (und teils berüchtigt) aufgrund von zahlreichen puristischen Eindeutschungen und selbst Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft - in seinem „Rosen=mând“ (1651: 241): „Ja es were zu wündschen / daß der fleis und die erschrökliche arbeit / die etliche auf die Lateinische sprache gewendet / auf ihre muttersprache / die es würdiger ist / anwendeten / und so wohl ihr / als ihnen einen unsterblichen nahmen machten.“ Sprachtheoretisch begründet ist eine solche Forderung durch die Auffassung, dass im Prinzip jede Sprache zu gelehrter bzw. wissenschaftlicher Kommunikation geeignet erscheint (selbst wenn es unter den Sprachen wie gesehen graduelle Unterschiede geben mag). Diese Auffassung vertritt in einem sprachpatriotischen Argumentationskontext zum Beispiel auch Carl Gustav von Hille in ‚Der Teutsche Palmbaum‘ (1647: 136f.): „Es ist zwar die Vernunft an keine gewisse Sprache gebunden: alle Zungen können verständige Gedanken ausreden / und were diesen zu nahe gesagt / daß man nur in Latein / Griechisch oder Hebräisch weiß / in Teutsch aber närrisch seyn sollte.“ In dem fiktionalen Text der ‚Deutschen Gelehrtenrepublik‘ (1774: 118) von Friedrich Gottlieb Klopstock tritt diese sprachpatriotische Haltung auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch einmal deutlich zu Tage: „Die jetzigen Scholasten, die jenen nun das hundertmal nachsprechen, sind weiter nichts, als lateinische oder griechische Sprachmeister. Wer verachtet sie deswegen, weil sie nur das sind? Aber sollen sie denn deswegen, weil sie nur das sind, auch fortfahren eine Zunft zu seyn? Und dennoch würde die unüberwindliche deutsche Geduld sie noch beybehalten; wenn sie den Fortgang der Wissenschaften, durch Verwaltung der Nebendinge in Hauptsachen, des Mittels in den Zweck, nicht hinderten; nicht, weil man Anmerkungen über die Alten gar füglich lateinisch schreibt, noch immer bey ihrem Wahne blieben, daß man überhaupt am besten thäte in dieser Sprache zu schreiben; und, welches vollends alles übertrift, was nur ungedacht und lächerlich ist, daß man in keiner neuern, sondern einzig und allein in der römischen Sprache, (thun sie’s etwa? und kann man’s jezo noch? ) schön schreiben könnte; wenn sie uns endlich, vornämlich durch diese Behauptung, nicht ge- <?page no="115"?> Deutsche Wissenschaftssprache und internationale lingua franca 103 rade zu verführen wollten, Hochverräther an unserm Vaterlande, an uns selbst, und an unsern Nachkommen zu werden, und zu glauben, die wahre, ihre, tiefeingeprägte Kraft und Schönheit des deutschen Geistes könne durch unsre Sprache nicht ausgedrückt werden.“ Klopstock ist es aber auch, der in derselben ‚Deutschen Gelehrtenrepublik‘ (1774: 129) die Gefahr solch patriotischer Bemühungen um den Gebrauch der deutschen anstelle der lateinischen Sprache erkennt; dort wird der europäische Sprach- und Kulturraum als eine ‚grosse lateinische Republik‘ charakterisiert: „Die Gelehrtenrepubliken Europa’s machen, wie ihr wisset, eine grosse lateinische Republik aus. Ihr sondert euch und tretet aus diesem vieljährigen Bunde, und wagt es mit eurer Sprache, wie weit sie sich, und mit ihr die darinn vorgetragnen Wissenschaften ausbreiten, oder nicht ausbreiten werden. Wir wissen, antwortete ich, daß wir uns sondern, und was wir wagen. Unsre Sprache hat Kraft und Schönheit; und Inhalt, denk ich, geben wir ihr in unsern Schriften doch auch bisweilen. Was ihre Ausbreitung; anbetrift, so sagen unsre Aldermänner, daß wir keinen grösseren, und beynah keinen andern Stolz haben müssen, als den, für unsre Nation zu arbeiten. Ihr sehet, daß uns diese strengen Leute denjenigen Stolz, der auch nach Beyfalle der Ausländer strebt, fast verbieten. Sind übrigens unsre Schriften nur gut; so wird auch unsre Sprache, wir mögen diesen Stolz haben, oder nicht haben, ihren Weg schon gehen.“ Der Gedanke, dass die europäischen Sprachen und Kulturen in einer gemeinsamen Tradition stehen, die sich letztlich in dem Gebrauch des Lateins als internationaler lingua franca der Wissenschaft und in zahlreichen Entlehnungen in diversen nationalen Einzelsprachen widerspiegelt, ist zum Ende des 18. Jahrhunderts durchaus üblich. So heißt es etwa bei Johann Kinderling trotz oder gerade angesichts der politischen und sozialen Wirren, die Europa in dieser Zeit prägen, hinsichtlich der ‚Reinigkeit der Deutschen Sprache‘ (1795: 46f.): „Wenn wir auch alle übrige Sprachen entbehren könnten, so könnten wir doch die Lateinische und Griechische nicht füglich entbehren, weil alle wissenschaftliche Cultur der übrigen Europäischen Völker, wie der Deutschen, zunächst aus Italien von den Römern hergeleitet werden muss, diese aber die wissenschaftlichen Kenntnisse von den Griechen empfangen haben. Alle dergleichen Wörter, womit wir wissenschaftliche Kenntnisse bezeichnen, die wir Griechen und Römern verdanken, können auch, ohne Verunreinigung unsrer Sprache, mit ihren Ausdrücken bezeichnet werden.“ Neben dieser gesamteuropäischen Sprachtradition konnten einzelne Sprachen Europas nach Auffassung der Sprachdenker des 17. und 18. Jahrhun- <?page no="116"?> Thorsten Roelcke 104 derts indessen ihre Selbständigkeit bis zu einem gewissen Grad bewahren. Diese gelte insbesondere für die deutsche Sprache im Vergleich zum Französischen oder auch Italienischen, da die beiden romanischen Sprachen zum einen ein weitaus größeres lateinisches Substrat und zum anderen eine höhere Affinität gegenüber Entlehnungen aus dem Lateinischen zeigten. Gerade diese relative Unabhängigkeit vom Lateinischen mache die deutsche Sprache besonders geeignet, philosophische Argumentationen in diesen Sprachen (insbesondere aus dem Kontext der Scholastik) auf ihre Stichhaltigkeit hin zu überprüfen. Eine solche Überlegung geht mindestens bereits auf Gottfried Wilhelm Leibniz zurück, der in seiner Schrift über eine ‚Deutschliebende Genossenschaft‘ (1671/ 97: 58) schreibt: „Es hat die deutsche Sprache darin einen trefflichen Vorzug vor der lateinischen und vor denen, die aus der lateinischen entsprossen, daß sie gleichsam ein Probierstein ist rechtschaffener guter Gedanken. Denn den Franzosen, Italienern und Engländern, weil sie die Freiheit haben, lateinische Worte ihres Gefallens einzumischen, ist es leicht, alle Schulgrillen und undienlichen Phantasien der Philosophen in ihrer Sprache zu geben. Hingegen, weil die deutsche Sprache dessen ungewohnt, daher kommt es, daß die Gedanken, die man mit gutem, reinen Deutsch geben kann, auch gründlich sind, was aber sich nicht in gutem Deutsch geben läßt, besteht gemeiniglich in leeren Worten und gehört zu der Scholastik.“ Doch zurück zu den politisch-patriotischen Ansätzen der Argumentation für den Gebrauch der deutschen statt oder neben der lateinischen Sprache im Kontext von Wissenschaft und Gelehrsamkeit. Denn in diesem Zusammenhang darf der Gedanke der Volksaufklärung nicht fehlen. So ist es eine wichtige Forderung aufgeklärter Sprachdenker, wissenschaftliche Erkenntnisse nicht im akademischen Bereich zu belassen, sondern vielmehr auch breiten Schichten der Bevölkerung zugänglich zu machen, die der lateinischen lingua franca nicht mächtig sind. Ein typischer Vertreter dieser Position ist Christian Wolff, der in der bereits zitierten ‚Nachricht von seinen eigenen Schrifften‘ (1735: 25f.) nicht allein auf die mangelhaften Lateinkenntnisse seiner Studenten, sondern auch auf die fehlenden Lateinkenntnisse in der Bevölkerung hinweist: „Am allerwenigsten aber halte ich wohl gethan zu seyn, wenn man einige gar entweder versäumen, oder von der Erlernung der Wissenschaften wegtreiben wollte, weil sie das Unglück gehabt in ihren Schul-Jahren in der Latinität versäumet zu werden. Hierzu kam noch dieses, daß mir bekandt war, wie sich aus deutschen Schrifften auch andere erbauen, welche nicht studiret haben, und es öffters in Wissenschaften andern zuvor thun, die studiret haben.“ <?page no="117"?> Deutsche Wissenschaftssprache und internationale lingua franca 105 Dass die hieraus zu ziehende Konsequenz einer Volksaufklärung mehr patriotisches Ideal geblieben als politische Realität geworden ist, mag nicht zuletzt auch mit der erwähnten gesellschaftlichen Herkunft der deutschen Sprachdenker zusammenhängen. Denn das gehobene Bürgertum und der niedere Adel hatten sicher nur ein geringes Interesse daran, de jure legitimierte oder auch nur de facto konstituierte Privilegien einzubüßen. 4 Fazit Um zunächst kurz zusammenzufassen: Sowohl im 20. und 21. Jahrhundert als auch im 17. und 18. Jahrhundert ist im deutschen Sprachraum eine Konkurrenzsituation zwischen dem Deutschen als nationaler Wissenschaftssprache einerseits und dem Englischen bzw. Lateinischen als internationaler Wissenschaftssprache andererseits zu beobachten. Trotz dieser Gemeinsamkeit besteht hier jedoch ein wesentlicher Unterschied: Während die deutsche Sprache gegenwärtig an Bedeutung gegenüber dem Englischen als globaler Sprache verliert, ist es zur Zeit des Barock und der Aufklärung die internationale lingua franca Latein, die vom Deutschen nach und nach in verschiedenen Disziplinen verdrängt wird. Im deutschen Sprachdenken des 17. und des 18. Jahrhunderts lassen sich dabei eine pragmatisch-linguistische und eine politisch-patriotische Argumentation unterscheiden, die den Gebrauch des Deutschen als nationaler Wissenschaftssprache neben oder statt des Lateinischen als internationaler Wissenschaftssprache befürworten: Die pragmatisch-linguistische Argumentation hebt dabei im Wesentlichen auf die bessere Verständlichkeit des Deutschen angesichts mangelnder oder fehlender Lateinkenntnisse und großer Mühen des Fremdspracherwerbs ab und geht dabei von einer prinzipiellen, wenn auch graduell verschiedenen Eignung sämtlicher Sprachen im wissenschaftlichen Kontext aus. Die politisch-patriotische Argumentation empfiehlt aus diesem Kontext heraus die Entwicklung und Pflege einer deutschen Literatur- und Wissenschaftssprache, selbst wenn hiermit die Gefahr einer internationalen Separierung verbunden sein mag, und weist auf die relative Eigenständigkeit des Deutschen innerhalb der einer gemeinsamen lateinischen Tradition verhafteten europäischen Einzelsprachen hin; darüber hinaus kommt hier auch das patriotische Ideal einer Volksaufklärung zum Tragen, auch wenn diese kaum politische oder soziale Realität wird. Ein Vergleich dieser beiden argumentativen Schwerpunkte mit den Argumenten der modernen Sprachreflexion für eine wissenschaftliche Mehrsprachigkeit erscheint unter pragmatischem, politischem und linguistischem <?page no="118"?> Thorsten Roelcke 106 Aspekt möglich und kommt schließlich zu den folgenden Ergebnissen (vgl. Abb. 2): Aufklärung Gegenwart Pragmatisch Verständlichkeit Lebensarbeitszeit Sprachkenntnisse Verständlichkeit Fremdspracherwerb Kompetenzdefizite Politisch Patriotismus: Muttersprache Volksaufklärung Demokratie: Mitbestimmung De-Arkanisierung Linguistisch Universalismus Realismus Sprachprüfung Pluralismus Nominalismus Sprachprüfung Abb. 2: Argumentationsschwerpunkte in Aufklärung und Gegenwart (Stichworte) 1. Pragmatische Argumente, wie sie zur Zeit der Aufklärung für den Gebrauch des Deutschen und gegen den des Lateinischen erscheinen, sind auch aus Sicht der Gegenwart nicht fremd: Für einen Großteil der deutschen Muttersprachler ist auch heutzutage das Deutsche verständlicher als die Fremdsprache Englisch. Das ändert indessen nichts an der Notwendigkeit, wissenschaftlich adäquate Sprachkompetenzen im Englischen zu erwerben und zu pflegen, um nicht von der internationalen Kommunikation abgekoppelt zu werden; eine Vergeudung von Lebensarbeitszeit ist in diesem Fremdsprachenerwerb sicher nicht zu sehen (zumal es sich beim Englischen - dem Französischen im 17. und 18. Jahrhundert vergleichbar - um eine lebende und nicht um eine tote Sprache handelt, sodass die Anbindung von Wissenschaft an öffentliche Diskurse gewahrt bleibt). 2. Die politisch motivierte Argumentation kommt in beiden Fällen zu einem ähnlichen Ergebnis, auch wenn deren gesellschaftliche Grundlage jeweils eine ganz andere ist: In der Zeit des 17. und 18. Jahrhunderts entwickeln der niedere Adel und das höhere Bürgertum eine nationale patriotische Ideologie, die sich gegen den vom hohen Adel goutierten Partikularismus und die politische wie kulturelle Vorherrschaft Frankreichs richtet und dabei auch eine kulturelle Förderung breiter Kreise der Bevölkerung (zumindest programmatisch) vorsieht. In diesem ideologischen Rahmen werden dann auch die Ausbildung und die Entwicklung einer deutschen Wissenschaftssprache als Gegengewicht zum Lateinischen (wie auch zum Französischen) gefordert und schrittweise verwirklicht. Im 20. und 21. <?page no="119"?> Deutsche Wissenschaftssprache und internationale lingua franca 107 Jahrhundert geht es demgegenüber nicht mehr um die Entwicklung, sondern um die Erhaltung einer nationalen Wissenschaftssprache angesichts des international bereits längst etablierten Englischen. Die Erhaltung und die Pflege einer deutschen Wissenschaftssprache werden nun aus einem demokratischen Kontext heraus gefordert, um eine Rückbindung von Wissenschaft an die Gesamtgesellschaft, von der sie finanziell und ideologisch getragen wird, zu gewährleisten und eine mögliche Arkanisierung von Wissen zu vermeiden. 3. Die linguistische bzw. sprachkonzeptionelle Argumentation unterscheiden sich zur Zeit der Aufklärung und in der Gegenwart schließlich recht deutlich: Die Theorie des Rationalismus ist durch ein realistisches Sprachkonzept geprägt, dem zu Folge verschiedene Sprachen (mehr oder weniger) gleich geeignet erscheinen, die gemeinsame Wirklichkeit zum Ausdruck zu bringen und somit als Wissenschaftssprache zu dienen. Hiernach ist dem Deutschen als nationaler Wissenschaftssprache eine ebenbürtige Stellung neben dem Lateinischen oder Französischen als internationalen Wissenschaftssprachen einzuräumen, nicht zuletzt auch deshalb, da sie alle in einer gemeinsamen, vom Lateinischen geprägten europäischen Tradition stehen. Die Moderne geht demgegenüber von einem nominalistischen (oder zumindest nicht naiv realistischen) Sprachkonzept aus und betrachtet letztlich eine Vielzahl nationaler Wissenschaftssprachen wie des Deutschen neben der internationalen Wissenschaftssprache Englisch als Garantie für einen wissenschaftlichen Pluralismus und Vielfalt unterschiedlicher Erkenntnisse, um nicht zu sagen: Weltbilder. Sie zeigt sich somit einem Prinzip sprachlicher Relativität verpflichtet. Während sich also die pragmatischen Erwägungen trotz der unterschiedlichen Konkurrenzsituation hinsichtlich des Drucks nationaler und internationaler Wissenschaftssprache in der Aufklärung und in der Gegenwart durchaus einander entsprechen und die politischen Überlegungen trotz verschiedenartiger Ausgangspositionen in Aristokratie und Demokratie zu einem vergleichbaren Ergebnis kommen, unterscheiden sich die linguistischen bzw. sprachkonzeptionellen Grundlagen erheblich hinsichtlich ihres realistischen bzw. nominalistischen Ansatzes. Spannend ist hier eine gemeinsame Konsequenz - die Forderung nach einer Prüfung verschiedener Einzelsprachen auf ihre Eignung im Rahmen wissenschaftlicher Kommunikation. Ob lexikalischer Reichtum und Kompositionsfähigkeit im Deutschen letztlich nicht allein in der Aufklärung, sondern darüber hinaus auch in der Gegenwart als wissenschaftssprachliche Güteeigenschaften des Deutschen zählen dürfen und ob eine verhältnismäßig geringe genealogische und strukturelle Verwandtschaft von einzelnen Sprachen einen Beitrag zu einer <?page no="120"?> Thorsten Roelcke 108 wechselseitigen Profilierung wissenschaftlicher Erkenntnisse leisten kann, soll hier dahingestellt bleiben. Quellen Im Folgenden sind allein diejenigen Quellen angeführt, aus denen im vorliegenden Beitrag zitiert wird. Ein umfangreiches Quellenverzeichnis sprachreflexiver Schriften aus der Zeit des Barock und der Aufklärung findet sich in Roelcke 2014, 354—428. Helwig, Christoph/ Jung, Joachim: Kurtzer Bericht | Von der DIDACTICA | Oder | LehrKunst | WOLFGANGI RATI|CHII. | Darinnen er Anlei|tung gibt / wie die Sprachen Kün|ste vnd Wissenschafften leichter / geschwinder / | richtiger / gewisser vnd vollkömmlicher / als | bißhero geschehen / fortzupflan|tzen seynd. | Gestellet vnd ans Liecht gegeben | Durch | CHRISTOPHORVM HEL|vicum SS. Theologiae Doctorem. | Vnd | IOACHIMVM JVNGIVM | Philosophum, | Beyde Professoren zu Giessen. Gießen 1614. In: Ratichianische Schriften I. Mit einer Einleitung herausgegeben von Dr. Paul Stötzner, Gymnasialoberlehrer in Zwickau. Leipzig 1892, S. 59—75. Hille, Carl Gustav von: Der Teutsche Palmbaum: | Das ist / | Lobschrift | Von der Hochlöblichen / Fruchtbringenden Gesellschaft | Anfang / Satzungen / Vorhaben / Namen / Sprüchen / | Gemählen / Schriften und unverwelklichem Tugendruhm. | Allen Liebhabern der Teutschen Sprache zu dienlicher | Nachrichtung verfasset / durch den | Vnverdrossenen | Diener derselben. Nürnberg 1647. Reprographischer Nachdruck München 1970 (=Die Fruchtbringende Gesellschaft. Quellen und Dokumente in vier Bänden hrsg. von Martin Bircher. 2. Band). Klopstock, Friedrich Gottlieb: Die deutsche Gelehrtenrepublik. Zitiert nach: Friedrich Gottlieb Klopstock. Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. […] Abt. Werke, Bd. VII/ 1. Hrsg. v. Rose-Maria Hurlebusch. Berlin; New York 1975. Kinderling, Johann Friedrich August: M. Johann Friedrich August Kinderling, | Zweiter Prediger zu Calbe an der Saale, | über | die Reinigkeit | der | Deutschen Sprache, | und | die Beförderungsmittel derselben, | mit | einer Musterung der fremden Wörter | und andern Wörterverzeichnissen. | Eine Abhandlung, welche von der Königlich-Preußischen | Akademie der Wissenschaften zu Berlin den zweyten Preis erhalten hat. Berlin 1795. Fotomechanischer Nachdruck Leipzig 1977. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Unvorgreiffliche Gedancken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der Teutschen Sprache. (Entstanden um 1697, veröffentlicht 1717). In: Pietsch, Paul (Hrsg.), Leibniz und die deutsche Sprache. In: Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins. Wissenschaftl. Beihefte, 4. Reihe. Heft 30, 1908, S. 313—356. Meier, Georg Friedrich: Georg Friedrich Meiers, | öffentlichen ordentlichen Lehrers der Weltweisheit, | und der Königlichen Akademie der Wissenschaften | in Berlin Mitgliedes, | Betrachtung | über | die Natur | der | gelehrten Sprache. Halle 1763. <?page no="121"?> Deutsche Wissenschaftssprache und internationale lingua franca 109 Schottelius, Justus Georg: Ausführliche Arbeit | Von der | Teutschen | HaubtSprache / | Worin enthalten | Gemelter dieser HaubtSprache Uhrankunft / | Uhraltertuhm / Reinlichkeit / Eigenschaft / Vermögen / Unvergleichlich|keit / Grundrichtigkeit / zumahl die SprachKunst und VersKunst Teutsch und guten | theils Lateinisch völlig mit eingebracht / wie nicht weniger die Verdoppelung / Ableitung / die | Einleitung / Nahmwörter / Authores vom Teutschen Wesen und Teutscher Spra|che / von der verteutschung / Item die Stammwörter der Teutschen | Sprache samt der Erklärung und derogleichen | viel merkwürdige Sachen. | Abgetheilet | In Fünf Bücher. | Ausgefertiget | Von | JUSTO- GEORGIO SCHOTTELIO D. | Fürstl. Braunschweig: Lüneburg. Hof= und Consi|storial-Rahte und Hofgerichts Assessore. | Nicht allein mit Röm: Käyserl. Maj. Privilegio, sondern auch | mit sonderbarer Käyserl. Approbation und genehmhaltung / als einer gemeinnutzigen | und der Teutschen Nation zum besten angesehenen Arbeit / laut des | folgenden Käyserl. Privilegii. Braunschweig 1663. Hrsg. v. Wolfgang Hecht. 2 Teile. Tübingen 1967 (=Deutsche Neudrucke, Reihe Barock 11; 12). Thieme, Karl Traugott: Ueber die Mittel, bei der Jugend das latei= | nische Sprachstudium zu befördern, von | Herrn Rector Thieme in Merseburg. In: Braunschweigisches | Journal | philosophischen, philologischen und | pädagogischen Inhalts, | Herausgegeben | von E. Chr. Trapp, Joh. Stuve, | Conr. Heusinger, und J. Heinr. Campe. | Erster Band 1789. | Sechstes Stück. Junius 1789. O. O., S. 154—218. Thomasius, Christian: Von Nachahmung der Franzosen. Nach den Ausgaben von 1687 und 1701. (= August Sauer (Hrsg.): Deutsche Litteraturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts. Nr. 51. Neue Folge Nr. 1. Stuttgart 1894). 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Dies trifft sowohl für die ältesten Universitäten in Bologna wie Paris als auch für die spätmittelalterlichen Neugründungen zu. Mit den Universitätsgründungen im Heiligen Römischen Reich nördlich der Alpen hielten auch die wissenschaftssprachlichen Standards aus Norditalien und Zentralfrankreich in Prag, Heidelberg und Wien Einzug. Das bedeutet, dass die Studenten an der Artistenfakultät erst mit den Grundlagen des Lateinischen im Trivium vertraut gemacht wurden. Nur die Beherrschung der Wissenschaftssprache Latein ermöglichte ein Weiterstudium auch im Quadrivium und in den höheren Fakultäten der Medizin, der Juristerei und der Theologie. Der Einbruch der Volkssprache an den Universitäten erfolgte europaweit mit dem Ausbruch der Pest um die Mitte des 14. Jahrhunderts, als volkssprachige Pesttraktate für den Pater Familias der weiteren Ausbreitung der Seuche Einhalt gebieten sollten. Seit dieser Zeit lässt sich im deutschsprachigen Raum zunehmend quer durch alle Fakultäten die Tendenz beobachten, wissenschaftliche Ergebnisse der Universitäten auch für Laien in frühneuhochdeutschen Traktaten zu präsentieren. Nicht selten bildeten gerade diese Texte veritable Bestseller in der Inkunabelzeit. Erstaunlicherweise hat man dieses überlieferungsmächtige Textkorpus bislang noch nicht als Quelle für Untersuchungen zur Ausbildung der neuhochdeutschen Schriftsprache genutzt. Dem steht freilich der noch unbefriedigende Erschließungsgrad dieser frühneuhochdeutschen Texte universitärer Provenienz entgegen, sowohl bezüglich Heuristik wie auch bezüglich Überlieferungsgeschichte und editorischer Erschließung. An deren Ende dürfte der Befund stehen, dass das (Frühneuhoch-)Deutsche sich allmählich von seiner Vermittlungsfunktion an wissenschaftliche Laien emanzipiert hat und etwa in der Astronomie schon im 15. Jahrhundert als eigenständige Wissenschaftssprache anzusehen ist. <?page no="126"?> Klaus Wolf 114 1 Die Anfänge einer deutschen Wissenschaftssprache im Spätmittelalter Deutsch als Wissenschaftssprache ist scheinbar erst ein Phänomen der Neuzeit. Denn mit der verstärkten Ablösung des Lateinischen als Wissenschaftssprache konnten die Volkssprachen endgültig in ganz Europa dann an den Universitäten im 19. Jahrhundert ihren Siegeszug antreten. Dabei brauchte das Deutsche im 19. und frühen 20. Jahrhundert als Wissenschaftssprache nicht einmal den Wettbewerb mit dem Englischen oder Französischen zu scheuen. Im Gegenteil: In den Naturwissenschaften, etwa der Chemie, genossen deutsche Lehrbücher wie deutschsprachige Publikationen insgesamt einen so hervorragenden Ruf, dass angehende Chemiker in den USA die Sprache Goethes erlernten, um auf den neuesten Stand ihrer Naturwissenschaft zu gelangen (vgl. Ammon 1998: 38—56). Dieses Phänomen betraf sogar die neutestamentliche Exegese, denn um die bahnbrechenden Kommentare und die an Martin Heidegger orientierten Monographien eines Rudolf Bultmann zu lesen und zu verstehen, musste der angehende Exeget und protestantische Theologe in den USA nicht nur Altgriechisch, sondern auch Neuhochdeutsch zumindest passiv rezipieren können. 1 Hier zeigte sich somit das Neuhochdeutsche auf dem Höhepunkt seiner Funktion sowie seines Renommees als Wissenschaftssprache. Während diese neuhochdeutsche Blüte als Wissenschaftssprache wissenschaftsgeschichtlich durchaus bekannt ist, dürften die mittelalterlichen Anfänge des Deutschen als Wissenschaftssprache selbst in Werken zur Universitätsgeschichte weitaus weniger verbreitet sein, was mit dem unzureichenden Grad ihrer Erforschung zusammenhängt. Gleichwohl legt die Tatsache, dass etwa in Paris schon im Spätmittelalter volkssprachige universitäre Traktate verbreitet waren, wie die Pratique de l’astralabe, nahe, dass dergleichen auch im deutschsprachigen Raum existiert haben musste (vgl. Poulle 1963). Allerdings ist hier anzumerken, dass Universitätsgründungen im Heiligen Römischen Reich nördlich der Alpen zeitlich einem schon hochmittelalterlichen Gründungsboom von Universitäten nicht zuletzt im heutigen Italien durchaus hinterherhinkten. 2 Im wahrsten Sinne des Wortes ‚bolognakonform‘ waren dann wenigstens im 14. Jahrhundert nördlich der Alpen im Heiligen Römischen Reich nur drei Universitäten, die mit den mächtigsten Dynastien ihrer Zeit in Zusammenhang zu bringen sind: Die Prager Univer- 1 Vgl. den exegetischen Kommentar von Bultmann ( 19 1968). Zum theologischen Ansatz: Bultmann ( 9 1984). 2 Einen guten Überblick bietet Weber 2002. <?page no="127"?> Durch den nutz willen seines volkes 115 sität ist hier zuerst zu nennen, welche 1348 durch den selbst polyglotten Luxemburger Karl IV. gegründet wurde; Prag also machte den Anfang, wobei dort die Wissenschaftssprache Latein wenigstens in den ersten Jahren ein einigendes Band zwischen den deutschen und tschechischen Volkssprachen ergab. Die Prager Universitätsgründung wurde wegen dynastischer Konkurrenz rasch abgelöst von der habsburgischen Wiener Universitätsgründung 1365 und der wittelsbachischen Heidelberger Universität 1386, wobei alle drei Universitäten gleiche Verwaltungsstrukturen und Finanzierungsformen ihrer Professuren nutzten wie etwa Kollegiatkapitel (vgl. Wagner 1999). Alle drei Dynastien, also Luxemburger, Habsburger und Wittelsbacher, die im 14. Jahrhundert abwechselnd auch die deutsche Königskrone trugen, erkannten, dass eine Universität an ihren Residenzen für die Belange nicht zuletzt der jeweiligen Landesherrschaft wertvolle Dienste leisten konnte. Allerdings war unbedingt eine Volluniversität mit vier Fakultäten anzustreben, um etwa dem französischen König, an dessen Hof Karl IV. erzogen worden war, auf Augenhöhe zu begegnen. So wiesen Prag, Wien und Heidelberg wie Paris, von wo im Zuge des abendländischen Schismas viele Gelehrte, namentlich Professoren, in einer Art brain drain nach Mitteleuropa gelangten, vier Fakultäten auf: Die Artistische Fakultät garantierte eine grundlegende Ausbildung in den septem artes liberales, wobei im Trivium vielfach erst die Grundlagen für die Beherrschung der Wissenschaftssprache Latein gelegt wurden. Diese Wissenschaftssprache ermöglichte eine europaweite akademische Kommunikation und nicht zuletzt die bekannte Mobilität der fahrenden Scholaren und Professoren. Deshalb hat man auf die essenziellen ‚trivialen‘ Studien für die teilweise erst zwölfjährigen Studenten durch Intensivkurse an den Bursen besonderen Wert gelegt. Im Spätmittelalter also war das Mittellateinische noch derartig dynamisch und der internationale Austausch in dieser Sprache so lebendig, dass ein Universitätswechsel von Oxford nach Paris und von dort nach Wien zumindest sprachlich kein Problem darstellte. Die europaweit verwandten einheitlichen spätmittelalterlichen grammatischen Lehrbücher an den Universitäten unterschieden sich dabei nicht grundsätzlich von den Lehrbüchern der europäischen Lateinschulen, das heißt, dass Pseudo-Cato, ‚Facetus‘, ‚Antigameratus‘ und andere mehr als Lehrbuchtitel an Kloster- und Kathedralschulen ebenso wie in den Crashkursen der Bursen und im regulären Grammatikunterricht an den Artistenfakultäten europaweit Verwendung fanden. Interessanterweise wurde für diesen Lateinunterricht etwa an der Universität Wien die Volkssprache durchaus als Hilfsidiom konzediert, wobei aber Latein als Zielsprache nie zur Diskussion stand. Dies zeigt auch die Tatsache, dass es Geldstrafen für den Gebrauch der Volkssprache im Alltag an den Bursen gab. Die Fächer der Grammatik und Rhetorik aus dem <?page no="128"?> Klaus Wolf 116 Trivium waren somit eindeutig auf die Zielsprache Latein fixiert (vgl. Henkel 1988). Das Quadrivium der Artistenfakultät dagegen entsprach, verglichen mit dem heutigen Wissenschaftskanon, der Mathematik und den Naturwissenschaften. Im Einzelnen gehörten zum universitären Quadrivium Arithmetik, also Algebra, Geometrie, die zunächst im Wesentlichen der Geometrie Euklids entsprach, Astronomie, die neben ihren komputistischen Ursprüngen und einer empirisch orientierten Himmelsbeobachtung durchaus auch astrologisch orientiert war, und die mathematisch betriebene Musikwissenschaft (vgl. Hein 2 2012). Wissenschaftssprache war auch hier im Quadrivium zunächst das Lateinische, wobei jedoch mathematische Ziffern und Zeichen sowie astronomische Symbole und Musiknoten sowie Graphiken und Schaubilder essenzielle Bestandteile der Wissenschaftssprache des jeweiligen Faches bildeten. Auch im Quadrivium wiesen die universitären Lehrbücher eine europaweite Distribution auf, wie beispielsweise die noch heute ungeheuer machtvolle handschriftliche Distribution des Sphaerentraktats des Johannes de Sacrobosco oder John of Holywood zeigt. Der englische Autor schuf einen auf Claudius Ptolemäus fußenden lateinischen Traktat, in welchem die Erde selbstverständlich keine Scheibe, sondern eine Kugel darstellte - ein in der Beschreibung der Klimazonen auch heute brauchbarer Text, welcher vor der kopernikanischen Wende das Rüstzeug für jeden angehenden Astronomen bildete. John of Holywood erlangte wie andere quadrivale Autoren durch die Wissenschaftssprache Latein internationale Verbreitung. 3 Wissenschaftssprachlich war der europäische Kontinent von England also keineswegs im Mittelalter isoliert, ja die immer gleichen lateinischen Lehrbücher in ganz Europa im Quadrivium und im Trivium ermöglichten problemlos einen Universitätswechsel nach dem Abschluss des artistischen Grundstudiums. Ein Abschluss an der Artistischen Fakultät (im Regelfall als Magister Artium) befähigte wiederum zu einem Besuch der höheren Fakultäten, also Medizinische, Juristische und als höchste die Theologische Fakultät. Auch dort bildete zunächst das Lateinische europaweit durchaus die unangefochtene Wissenschaftssprache. Der vergleichsweise frühe Einbruch der Volkssprachen in das lateinische Bildungsmonopol im Bereich der Medizin war dagegen aus der Not geboren. Wiederholt auftretende Pestepidemien seit der Mitte des 14. Jahrhunderts (oder neuesten Forschungen entsprechend allgemein hochinfektiöse Seuchen unterschiedlicher Provenienz), die immer 3 Vgl. die geradezu ‚klassische‘ Monographie von Thorndike (1949). Der lateinische Sphaerentraktat ist mehrfach ins Deutsche übersetzt worden, zum ersten Mal durch den Pariser Magister Konrad von Megenberg. Vgl. Wolf (2011). <?page no="129"?> Durch den nutz willen seines volkes 117 wieder ausbrachen, ließen etwa in Paris, Prag, Padua oder Wien nach Abhilfe durch die akademische Medizin fragen, weshalb auch medizinische Pesttraktate in der Wissenschaftssprache Latein beinahe panisch zwischen den europäischen Universitäten im 14. Jahrhundert fluktuierten. 4 Natürlich konnte man auf pestartige Seuchen auch ganz pragmatisch durch Flucht reagieren, wie dies die bekannte Rahmenhandlung von Giovanni Boccaccios ‚Decamerone‘ nahelegt, die im übrigen Symptome und Verlauf der Seuche medizinisch sachgerecht gerade in der Volkssprache schildert (vgl. Branca 1976). Andererseits mussten die weniger mobilen Untertanen über die hohe Ansteckungsgefahr und seuchenspezifische Gegenmaßnahmen aufgeklärt werden, was durch breit distribuierte handliche volkssprachige Pesttraktate für den Laienarzt und Hausvater gelingen sollte, weil eben die Akademikerärzte auf dem flachen Land kaum zur Verfügung standen. Die frühneuhochdeutschen Pesttraktate, wie jener des Wiener Medizinprofessors Jakob Engelin von Ulm, konnten jedem lesefähigen pater familias und seinem Anhang helfen. Jedenfalls erkennt die heutige medizingeschichtliche Forschung, dass die spätmittelalterlichen Pesttraktate ohne die Kenntnis des Pestbakteriums Yersinia Pestis immerhin die Ansteckungsproblematik bis hin zu Fragen der Immunität sachgerecht beurteilten. Die Adressaten solcher Pesttraktate, welche im Regelfall nur in der Volkssprache lesen und schreiben konnten, werden als illitterati bezeichnet, im Gegensatz zu den lateinkundigen litterati. Dabei sind die medizinischen frühneuhochdeutschen Traktate für die illitterati als wissenschaftliche Laien auch durch Bilder, wie etwa Aderlassmänner, überaus verständlich (vgl. Wolf 2006: 55—89). Andererseits wären diese frühneuhochdeutschen Prosatraktate nach heutiger Terminologie als populärwissenschaftlich einzustufen, während Forschung und Lehre an den spätmittelalterlichen Universitäten im 14. und 15. Jahrhundert weiterhin in der Wissenschaftssprache Latein betrieben wurden. Dies gilt auch für die Theologie, wo beispielsweise der Wiener Theologieprofessor Nikolaus von Dinkelsbühl auf Latein dozierte und publizierte, seine Schüler dann jedoch für die österreichsichen illitterati die Werke des Meisters in die Volkssprache übersetzten. Entsprechend hatte der berühmte Pariser und Wiener Theologieprofessor Heinrich von Langenstein einen auf Guilelmus Peraldus fußenden Traktat über die sieben Todsünden, der auch als Fürstenspiegel wie Sündenspiegel für Laien gelesen werden kann, zunächst in der Wissenschaftssprache Latein verfasst, welcher aber später dann durch Marquard von Randegg verdeutscht wurde. Lateinischer Traktat wie frühneuhochdeutsche Prosa waren adressatenspezifisch propter 4 Vgl. Vasold (1999). Zur europäischen Dimension der universitären Pestbekämpfung vgl. Keil (1992). <?page no="130"?> Klaus Wolf 118 utilitatem populi beziehungsweise ‚durch des nutz willen seines volkes‘ fokussiert. Diese mit rund 80 Handschriften und mehreren Druckauflagen überaus erfolgreiche Übersetzungsprosa der Wiener Schule zeigte eine für Laien verständliche volkssprachige Theologie, inhaltlich jedoch auf höchstem scholastischem Niveau. Dabei war der zunächst nur bairisch-österreichische, dann aber bis ins Mitteldeutsche überlieferte Sündentraktat auch ohne Kenntnis der lateinischen Vorlage absolut verständlich (vgl. Wolf 2009). Diese Allgemeinverständlichkeit frühneuhochdeutscher universitärer, letztlich scholastischer Theologie ist jedoch keineswegs selbstverständlich. Vielmehr wurde in der Frühphase der Wiener Schule hart um die Rechtmäßigkeit des Übersetzens selbst gerungen. 5 Dabei wurde in den Prologen bereits im 14. Jahrhundert eine sprachwissenschaftliche Debatte darüber geführt, ob Deutsch als Sprache mit den heiligen Sprachen Hebräisch, Griechisch und Latein konkurrieren könnte. Implizit ging es in dieser Sprachreflexion über die Volkssprache als Wissenschaftssprache in der Volkssprache auch um die Frage, ob das Deutsche wie das Lateinische nicht zuletzt als Sprache der höchsten Wissenschaft, der Theologie nämlich, würdig wäre. Ferner führten die Prologe der Wiener Schule einen Diskurs zur Übersetzungstechnik, und diesen lange bevor Heinrich Steinhöwel und Niklas von Wyle als Humanisten antiken Vorbildern folgend die Frage der Übersetzungstechnik mit Hilfe der Dichotomie sin ûz sin versus wort ûz wort auf den Punkt brachten oder in deutsche griffige Formeln fassten. Letztlich wird sich in der Wiener Schule nicht die lateinnahe Übersetzungstechnik, sondern eine allgemeinverständliche, freie Übersetzungstechnik durchsetzen. Im Einzelnen lassen sich diese Sachverhalte an folgenden Prologauszügen demonstrieren: Der Übersetzer Simon von Ruckersburg wendet sich gegen die „neidign, dy da hazzn teusche puecher für ungelerte: manigen dunkcht gemleich sein vnd neydet, daz man ungelerten herren dy heilig geschrift aus latein in tewtsche czüng machet. Wes müt denn als plint ist […], der ist nicht cze straffen, wenn es hülff nicht. […] er ways, daz dy drey czüngen ebrisch, chriechisch, lateinisch dy vödristen haupt czüngen sind. er will nicht, daz tewtsch auch ain erberige czüng ist. er wolt gernn nicht wissen, daz sand Gregorius spricht omelia xxx: „Den gelaubigen czuchtlingen gab got am phingsttag verstentichait und red aller czüngen, daz fürbaz dy heilig chirichen mit dem selbigenn geist erfüllet, scholt werden reden aller geslecht czüngen […].“ darumb, wer nür wel, daz man nicht schull heilige geschrift in 5 Die folgenden Ausführungen und Textbeispiele beziehen sich auf Wolf (2006: 257— 368). <?page no="131"?> Durch den nutz willen seines volkes 119 tewtsch machen, der wil damit, daz tewtsche czüng nicht ain czüng sein. […] Vnd doch tewtsch czüng in so vil christenleichen landen gotes lob schallet. Wer des den layen nicht gan, hiet er vör iaren gelebt, er hiet gestrebt wider dy tewtschen Symachum, Aquilam, Theodocion, dy aus kaldeischer, syrischer, persischer czüng chriechisch habent geschriben […].“ Damit gestand Simon von Ruckersburg der deutschen Sprache einen Rang zu, der etwa dem Lateinischen in nichts nachstand. Zumindest betonte er die Notwendigkeit der Übersetzung zum Nutzen der Laien. Ulrich von Pottenstein übersetzte vornehmlich Guilelmus Peraldus, dessen Werke einen Höhepunkt mittelalterlicher Scholastik bildeten. Ohne Abstriche in der Sache mutete Ulrich die komplexe Materie seinen Rezipienten in der Volkssprache zu. Im Prolog problematisierte und reflektierte er seine Übersetzungspraxis und stellte sie in den zeitgenössischen Übersetzungsdiskurs: „Auch ist czu merkchen, daz ich uil der schrifft, die ich in dem puch geseczet hab, vil paz hette mügen czu ainer aygen dewtsch bringen denn die dewtsch ist, die ichgeseczet hab. Nu hab ich den gemainen lauf dewtscher sprach nach des lanndes gewohnhait fur mich genomen, wann daz puch und die lere, die darinnen begriffen sein, schickchen sich gemainchleich, wie man die lere predigen schülle vor dem volkche. Darczu mag sich an allen steten aigne dewtsch nach der latein als die lawtet und nach dem text liget weder geschikchen noch gefügen, wann vmbred bringen an maniger stat in der schrifft mer nuczes vor dem gemainen volkch denn aygnew dewtsch als daz die gelerten wissen, yedoch also das die warhait des sinnes mit vmbred icht verruckt werde.“ Die sich daran anschließende theologische Enzyklopädie stellte ein Pionierwerk in frühneuhochdeutscher Sprache dar, welches ohne Kenntnis der lateinischen Vorlage verständlich war. Diese letztlich erfolgreiche große und unmittelbare Verständlichkeit vieler Texte der Wiener Schule betrifft Morphologie und Syntax gleichermaßen und lässt sich an vielen volkssprachigen Texten nicht nur aus der Theologischen, sondern auch aus der Medizinischen Fakultät zeigen. Zusammen mit der nicht unbeträchtlichen, um nicht zu sagen massenhaften Überlieferung von Texten der Wiener Schule bis in die Inkunabelzeit hinein, aber auch darüber hinaus, wäre grundsätzlich nach dem Beitrag dieser ostoberdeutschen Überlieferungsflut akademischer Provenienz für die Ausbildung des Neuhochdeutschen zu fragen. Generell läge es nahe, das allein schon zahlenmäßig mächtige volkssprachige Schrifttum der Universitäten im Heiligen Römischen Reich nördlich der Alpen insgesamt systematisch als Beitrag zur Ausbildung der Neuhochdeutschen <?page no="132"?> Klaus Wolf 120 Schriftsprache (jenseits der bekannten Sackgassen wie Lutherdeutsch oder Kanzleideutsch Karls IV.) zu untersuchen. Vorläufig scheitert dies jedoch schon am mangelnden bis fehlenden heuristischen Erschließungsgrad. Solange wir nur für Wien und Freiburg im Breisgau (Wolf 2009b) sowie ansatzweise für Heidelberg (Knapp 2004) einen Überblick zum frühneuhochdeutschen Schrifttum universitärer Provenienz haben, aber beispielsweise zur wittelsbachischen Universität Ingolstadt, Bayerns erster Landesuniversität, sogar eine Heuristik der deutschen Texte fehlt, sind weitergehende Aussagen zum Beitrag des universitären Frühneuhochdeutschen zur Ausbildung der neuhochdeutschen Schriftsprache nicht möglich. Allerdings kann jetzt schon gesagt werden, dass der Ingolstädter und Wiener Astronomieprofessor Johannes Engel bei einigen Werken von vorneherein in der Volkssprache publizierte, weil er so auf gewinnbringenden Absatz im Buchdruck hoffen konnte (vgl. Schmitt 2 1980, neuerdings Worstbrock 2008). Der hier im Bereich der Astronomie allmählich sichtbar werdende Durchbruch zur Volkssprache ist in der Tat ein allgemein zu beobachtendes Phänomen. 6 Allmählich gelingt es zumindest auf dem Gebiet der Astronomie, das Deutsche aus einer rezeptiv und popularisierend für illitterati genutzten Wissenschaftssprache zu einer direkt in der wissenschaftlichen Produktion genutzten Wissenschaftssprache zu machen. Dennoch kann abschließend festgehalten werden, dass im Spätmittelalter Deutsch als Wissenschaftssprache vornehmlich auf den Gebieten der Distribution universitären Wissens und der Wissensvermittlung an wissenschaftliche Laien genutzt wurde. 7 Dabei ist weiter festzuhalten, dass zumindest im Inkunabeldruck frühneuhochdeutsche Prosatexte universitärer Provenienz veritable Bestseller darstellten (vgl. Künast 1997). 6 Auch in der Zeit „des absoluten Vorrangs des Lateinischen vor dem Deutschen in den akademischen Wissenschaften (bis ca. 1700)“ könne man von „einer in Teilgebieten allerdings bemerkenswert weit entwickelten mathematischen und naturkundlichen deutschen Sachprosa im nicht-akademischen Bereich, insbesondere in den angewandten Disziplinen und Handwerken“ sprechen (zit. nach Menzel 1996: 2). 7 Hierher gehört der „Zusammenhang zwischen der Gerechtigkeitsdebatte und dem Wissensbegriff“, wobei „sowohl die Generierung von Wissen durch Experten als auch die Vermittlung von Wissen an Laien primär über sprachliche Objektivierungsformen“ verlaufe. „Analysen von Prozessen der Wissensgenerierung und Wissensvermittlung sind damit meist zugleich - nolens volens - Sprachanalysen. Der Sprachwissenschaft kommt hier die Kompetenz zu, die Struktur und die kommunikative Hervorbringung der Sprache als Leitmedium der gesellschaftlichen Existenz von Wissen mit im Fach erarbeiteten Methoden untersuchen und beschreiben zu können. Sie leistet daher im Zusammenspiel mit den Nachbardisziplinen, hier insbesondere den Kognitions- und Sozialwissenschaften, einen wichtigen Beitrag zur Erforschung eines gesellschaftlichen Schlüsselthemas“ (vgl. Felder 2009: 2). <?page no="133"?> Durch den nutz willen seines volkes 121 Literatur Ammon, Ulrich (1998): Ist Deutsch noch internationale Wissenschaftssprache? Englisch auch für die Lehre an den deutschsprachigen Hochschulen. Berlin; New York: de Gruyter. Branca, Vittore (1976) (Hrsg.): Il Decamerone. Firenze: Accademia della Crusca. Bultmann, Rudolf ( 19 1968): Das Evangelium des Johannes. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Bultmann, Rudolf ( 9 1984): Theologie des Neuen Testaments. 9. Auflage. Tübingen: Mohr. 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Ziel vorliegenden Beitrags ist, die Rolle des Deutschen in Finnland in verschiedenen Disziplinen zu untersuchen. Als Untersuchungsmaterial dienten rund 3600 Antworten auf eine 2009 unter dem Personal finnischer Universitäten durchgeführte Umfrage zur Stellung verschiedener Sprachen. Für die Angaben der Informanten zu Deutschkenntnissen und Deutschgebrauch wurden statistisch die prozentualen Häufigkeiten ermittelt und mittels Kreuztabulation zu den angegebenen Arbeitsbereichen ins Verhältnis gesetzt. Außerdem wurden 843 offene Kommentare von Natur- und Geisteswissenschaftlern auf eine Frage nach der Rolle anderer Sprachen als Englisch daraufhin untersucht, ob und in welchem Zusammenhang Deutsch erwähnt wurde. Die Ergebnisse zeigten, dass Deutsch noch immer die zweitwichtigste Fremdsprache hinter Englisch ist. Rund drei Viertel der Informanten gab an, wenigstens irgendwelche Deutschkenntnisse zu haben, aber nur knapp die Hälfte nutzte diese auch im Beruf. Deutsch wurde am meisten von Rechts- und Geisteswissenschaftlern und am wenigsten von Sport- und Medizinwissenschaftlern benutzt. Immerhin rund die Hälfte aller Erziehungs-, Land- und Forst-, Natur-, technischen und Wirtschaftswissenschaftler verwendete Deutsch wenigstens irgendwann im Beruf. In den offenen Kommentaren erwähnten Naturwissenschaftler Deutsch seltener und charakterisierten es eher als zusätzliche Möglichkeit, Geisteswissenschaftler dagegen häufiger und eher als Notwendigkeit für die wissenschaftliche Kommunikation. Insgesamt spielt Deutsch an finnischen Universitäten also noch eine Rolle. Motivationsanlässe zur Nutzung des Deutschen könnten und sollten in Finnland und im deutschsprachigen Ausland aktiver geschaffen werden, um Deutsch als Wissenschaftssprache in allen Disziplinen zu fördern. 1 Einleitung Seine Blütezeit hatte das Deutsche als Wissenschaftssprache in Finnland Anfang des vorigen Jahrhunderts. Damals war es die wichtigste Wissen- <?page no="136"?> Sabine Ylönen 124 schaftssprache (Piri 2001: 105) und noch 1960 wurden die meisten Doktorarbeiten in Deutsch geschrieben (Ylönen 2012: 87). Mit der Schulreform Ende der 1960er/ Anfang der 1970er Jahre sanken die Deutschlernerzahlen jedoch stetig, wohingegen der Englischunterricht forciert wurde (Piri 2001: 114). So überrascht es nicht, dass die Deutschkenntnisse unter finnischem Universitätspersonal insgesamt zurückgingen und jüngere Angestellte weniger Deutsch können und nutzen als ältere, wie eine Umfrage des FinGer-Projekts 1 zeigte (Ylönen/ Kivelä 2011: 48f.). Aus derselben, 2009 durchgeführten Umfrage ging hervor, dass Deutsch zwar immer noch die zweitwichtigste Fremdsprache hinter Englisch ist, aber insgesamt wesentlich weniger verwendet wird als Englisch: Nur 8% des Universitätspersonals nutzte Deutsch täglich oder wöchentlich, wohingegen das für Englisch auf 88% des Personals zutraf (Ylönen 2011: 48). Ein wichtiger Grund für den Rückgang der Bedeutung des Deutschen (und anderer Sprachen als Englisch) als Wissenschaftssprache(n) ist die strategische Internationalisierung der Universitäten, die seit den 1990er Jahren forciert wird. Internationalisierung der Universitäten wird praktisch mit dem Gebrauch des Englischen als Wissenschaftssprache gleichgesetzt. Eine Studie zu den Publikationspraktiken dreier finnischer Universitäten von 1998—2005 ergab beispielsweise, dass 65% der in Finnland und 91% der im Ausland veröffentlichten wissenschaftlichen Publikationen in Englisch geschrieben wurden (Puuska/ Miettinen 2008: 26). Im Blickpunkt ihrer Untersuchung standen aber nicht so sehr die Publikationssprachen, sondern vielmehr Publikationspraktiken, wie z.B. der Status verschiedener Publikationstypen. Begutachtete Artikel in internationalen wissenschaftlichen Zeitschriften genossen in allen Disziplinen die größte Wertschätzung. (Puuska/ Miettinen 2008: Summary). Da Englisch die internationale lingua franca ist, überraschen die o.g. Zahlen für die Publikationssprache Englisch (65% in Finnland und 91% im Ausland) nicht. Die Dominanz des Englischen im Hochschulbereich führte in Finnland zunehmend zu Diskussionen über die damit verbundene Gefährdung der Nationalsprachen Finnisch und Schwedisch als Wissenschaftssprachen (Hakulinen 2009; Hall 2010; Jacobs 2010; Ylönen 2015). Diskussionen zum Stand anderer Fremdsprachen als Englisch im Hochschulbereich gibt es dagegen kaum. Mehrsprachigkeit gilt zwar noch immer als Bildungsideal, was z.B. in den Sprachenstrategien finnischer Universitäten an Formulierungen wie sprachliche Vielfalt, breite/ vielseitige Sprachfertigkeiten, Sprachenrepertoire usw. abzulesen ist, anderen Fremdsprachen als Englisch wird aber i.d.R. keine explizit formulierte strategische Bedeutung beigemessen (Ylönen 2014). 1 Centre for Applied Language Studies (n.d.) <?page no="137"?> Deutsch als Wissenschaftssprache in Finnland 125 Ziel vorliegender Studie ist es, die Rolle des Deutschen als Wissenschaftssprache in verschiedenen Disziplinen zu untersuchen. Die Forschungsfragen lauten: 1) Welche Rolle spielt Deutsch im Vergleich zu anderen Sprachen an finnischen Universitäten? 2) Welche Deutschkenntnisse hatten die Informanten aus unterschiedlichen Disziplinen eigenen Angaben zufolge? 3) Wie häufig verwendeten sie Deutsch im Beruf? 4) Welchen beruflichen Nutzen sahen Natur- und Geisteswissenschaftler in Kenntnissen der deutschen Sprache? Als Untersuchungsmaterial dienen die Antworten auf eine Umfrage unter dem Personal an finnischen Universitäten aus dem Jahre 2009. Im Folgenden werden zuerst Material und Methode der Untersuchung und danach die Ergebnisse der Studie vorgestellt und zusammengefasst. Abschließende Überlegungen zur Frage, ob und wie Deutsch als Wissenschaftssprache in Finnland gefördert werden kann, runden den Beitrag ab. 2 Material und Methoden Um die Rolle des Deutschen als Wissenschaftssprache an finnischen Universitäten zu untersuchen, wurde 2009 eine Umfrage unter dem Universitätspersonal aller Universitäten in Finnland durchgeführt. Diese Umfrage ist Teil des FinGer-Projekts (s. Fußnote 1), in der es um die Untersuchung von Deutsch als akademischer und wirtschaftlicher Verkehrssprache in Finnland geht. Sie richtete sich an das Universitätspersonal aller Fachrichtungen und Berufsgruppen (rund 21000 Adressaten) der damals noch 20 staatlichen Universitäten in Finnland. 2 Es handelte sich um eine Online-Umfrage, die aus zwei Teilen bestand. Der erste Teil enthielt 20 Fragen (zum Hintergrund der Befragten, über jedwede Sprachfertigkeiten, Einstellungen zu Mehrsprachigkeit und Sprachengebrauch im Beruf) und richtete sich an das gesamte Universitätspersonal. Der zweite Teil mit 7 bis 10 Fragen richtete sich nur an diejenigen mit Sprachkenntnissen in Schwedisch und/ oder Deutsch als Mutter- oder Fremdsprachen (s.a. Ylönen/ Kivelä 2011). Auf die Umfrage unter dem Universitätspersonal erhielten wir insgesamt 3598 Antworten, was einen Rücklauf von rund 17,2% ausmacht. Zur Beantwortung der Frage, welche Rolle Deutsch als Wissenschaftssprache insgesamt und in verschiedenen Disziplinen an finnischen Universitäten spielt, werden zwei Fragen aus dem ersten Teil der Online-Umfrage 2 2010 trat eine Universitätsreform in Kraft, in deren Folge die Zahl der Universitäten auf 16 reduziert wurde (s.a. Szurawitzki 2012). 2013 fusionierten drei weitere Universitäten und heute hat Finnland 14 staatliche Universitäten. Daneben gibt es noch die Verteidigungshochschule, die unter Militärverwaltung steht. <?page no="138"?> Sabine Ylönen 126 betrachtet: Frage 5 zu den Sprachkenntnissen und Frage 14 zum Sprachengebrauch. Bei beiden handelte es sich um Multiple-Choice-Fragen, in denen acht in Finnland übliche Sprachen (Finnisch, Schwedisch, Englisch, Deutsch, Russisch, Französisch, Italienisch und Spanisch) sowie drei offene Sprachoptionen (andere 1, andere 2, andere 3) vorgegeben waren. Diese möglichen ‚anderen‘ Sprachen sollten in einem offenen Kommentarfeld spezifiziert werden. In Frage 5 sollten die Befragten ihre Sprachfertigkeiten auf einer achtstelligen Likert-Skala einschätzen, die an den gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen angelehnt war und zusätzlich zu den sechs verbalisierten Niveaus (A1—C2) noch die Optionen keine (0) und Muttersprache (D) enthielt. In Frage 14 sollte die Verwendung verschiedener Sprachen auf einer fünfstelligen Likert-Skala von 0—4 (gar nicht — selten — monatlich — wöchentlich — täglich) eingeschätzt werden. Für die Antworten auf beide Fragen wurden statistisch die prozentualen Häufigkeiten ermittelt. Im Folgenden wird zuerst summarisch auf die Sprachenkenntnisse und den Sprachengebrauch des Universitätspersonals eingegangen (Forschungsfrage 1). Danach werden die Ergebnisse für das Deutsche mittels Kreuztabulation zu den angegebenen Arbeitsbereichen ins Verhältnis gesetzt (Forschungsfragen 2 und 3). Abschließend werden die offenen Kommentare von Natur- und Geisteswissenschaftlern auf Frage 19 daraufhin untersucht, welchen Nutzen Natur- und Geisteswissenschaftler in Deutschkenntnissen sahen (Forschungsfrage 4). Diese Frage 19 lautete: Unter den Fremdsprachen wird Englisch oft als hinreichendes Kommunikationsmittel an finnischen Universitäten erachtet. Können Sie sich Argumente für die Verwendung verschiedener Sprachen vorstellen? Alle in Kapitel 3.4 angeführten Zitate der freien Kommentare wurden von der Autorin aus dem Finnischen ins Deutsche übersetzt. 3 Ergebnisse 3.1 Rolle des Deutschen und anderer Sprachen an finnischen Universitäten Ein Vergleich der Sprachenkenntnisse und des Sprachengebrauchs (Fragen 5 und 14 unserer Umfrage) zeigte, dass Deutsch insgesamt gesehen noch immer die zweitwichtigste Fremdsprache nach Englisch ist (s. Abb. 1). <?page no="139"?> Deutsch als Wissenschaftssprache in Finnland 127 2,2 4,6 11,6 9,2 12,7 11,1 23 48,3 73 99 97,7 3,3 8,5 24,3 17,5 22,3 24 43,8 75,4 92,6 99,1 98,4 0 20 40 60 80 100 Andere 3 Andere 2 Andere 1 Italienisch Russisch Spanisch Französisch Deutsch Schwedisch Englisch Finnisch % Sprachenkenntnisse, irgendwelche: A1-D Sprachengebrauch, irgendwelcher: täglich-selten Abb. 1: Sprachenkenntnisse und Sprachengebrauch im Vergleich (n = 3598) Englisch wurde mit 99% durchschnittlich sogar von mehr Informanten benutzt als Finnisch, das nur 97,7% eigenen Angaben zufolge wenigstens irgendwann benutzten, und deutlich häufiger als die zweite Nationalsprache Finnlands, Schwedisch, das 73% wenigstens irgendwann gebrauchten. Zu erklären ist dies damit, dass zwar fast alle Angestellten irgendwann Englisch benutzen, das sogenannte ‚internationale‘ Personal aber nicht zwingend die Landessprachen Finnisch und Schwedisch anwenden muss. Deutsch kam insgesamt gesehen sowohl in Bezug auf die Kenntnisse als auch auf den Gebrauch auf Platz 4: Drei Viertel der Informanten gab an, irgendwelche Deutschkenntnisse zu haben und die knappe Hälfte benutzte Deutsch zumindest irgendwann in ihrem Beruf. Diese relativ hohen Zahlen lassen sich mit der traditionell großen Bedeutung des Deutschen in Finnland erklären (s. Einleitung). Die Umfrage richtete sich, wie gesagt, an das gesamte Universitätspersonal, nicht nur an das Lehr- und Forschungspersonal. Die Zahlen in Abbildung 1 beziehen also auch Verwaltungs- und Dienstleistungspersonal ein. <?page no="140"?> Sabine Ylönen 128 Eine Übersicht über die Beteiligung nach Disziplinen und Arbeitsbereichen gibt Abbildung 2. 6,8 14,4 11,7 0,9 1,0 1,1 3,0 4,6 6,6 6,9 9,6 12,5 20,8 0 5 10 15 20 25 Dienstleistungen (241) Verwaltung (512) Mehrfachnennungen (418) Land- und Forstwiss. (32) Sportwissenschaften (37) Rechtswissenschaften (38) Wirtschaftswiss. (108) Pädagogik (164) Technische Wiss. (235) Sozialwissenschaften (245) Med/ Vetmed/ Pharmaz (343) Geisteswissenschaften (444) Naturwissenschaften (739) % Abb. 2: Disziplinen und Arbeitsbereiche (n = 3560) Die meisten Antworten kamen aus den Naturwissenschaften (rund ein Fünftel), gefolgt von der Verwaltung (14,4%) und den Geisteswissenschaften (12,5%). Die relativ geringe Beteiligung aus den Disziplinen der Rechts-, Sportsowie Land- und Forstwissenschaften hängt damit zusammen, dass diese Fächer nur an wenigen Universitäten vertreten sind. Eine sportwissenschaftliche Fakultät gibt es z.B. nur an der Universität Jyväskylä, land- und forstwissenschaftliche Fakultäten nur an den Universitäten Helsinki und Ostfinnland (2009 Universität Joensuu) und Jura an nur drei Universitäten (Helsinki, Turku und Lappland). Mehrfachnennungen waren z.B. Natur- und technische Wissenschaften, Naturwissenschaften und Medizin, Geistes- und Sozialwissenschaften oder Geistes- und Rechtswissenschaften. Im Folgenden wird zuerst untersucht, welche Deutschkenntnisse das Personal in verschiedenen Disziplinen und Arbeitsbereichen hatte. Danach wird der Deutschgebrauch nach Disziplinen und Arbeitsbereichen analysiert. <?page no="141"?> Deutsch als Wissenschaftssprache in Finnland 129 3.2 Deutschkenntnisse des Universitätspersonals nach Disziplinen und Arbeitsbereichen In Abbildung 3 zu den Deutschkenntnissen des Personals sind jeweils links die Prozentzahlen für die Option D (= Muttersprache) und rechts für 0 (= keine Deutschkenntnisse) angegeben. 0,4% 0,4% 2,0% 1,9% 0,0% 4,2% 3,0% 1,3% 0,0% 0,6% 3,4% 4,5% 0,0% 20,6% 20,0% 17,9% 28,7% 24,0% 23,5% 21,2% 17,5% 16,8% 14,3% 10,3% 9,9% 2,6% 0 % 20 % 40 % 60 % 80 % 100 % Dienstleistungen (223) Verwaltung (484) Mehrfachnennungen (392) Med/ Vetmed/ Pharm (321) Technische Wiss. (217) Naturwissenschaften (694) Sportwissenschaften (33) Sozialwissenschaften (234) Wirtschaftswiss. (101) Pädagogik (154) Land- und Forstwiss. (29) Geisteswissenschaften (426) Rechtswissenschaften (38) D C2 C1 B2 B1 A2 A1 0 Abb. 3: Deutschkenntnisse nach Disziplin/ Arbeitsbereich (n = 3350) Deutschkenntnisse waren am weitesten verbreitet unter Rechtswissenschaftlern, von denen nur 2,6% angaben, gar nicht Deutsch zu können. Auch Geistessowie Land- und Forstwissenschaftler hatten zu rund 90% und Erziehungs-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler zu über 80% zumindest irgendwelche Kenntnisse des Deutschen. Rund 80% der Sportwissenschaftler sowie des Verwaltungs- und Dienstleistungspersonals und reichlich drei Viertel der Natur- und technischen Wissenschaftler gaben an, irgendwelche Deutschkenntnisse zu haben. Unter Medizinern, Veterinärmedizinern und Pharmazeuten waren Deutschkenntnisse am wenigsten verbreitet, wenngleich auch hier über 70% über irgendwelche verfügten. Deutschkenntnisse auf mindestens B1-Niveau (befriedigende Sprachfertigkeiten/ selbstständige Sprachverwendung, Grundfertigkeiten) gaben am häufigsten Land- und Forstwissenschaftler (55,2%), Rechtswissenschaftler <?page no="142"?> Sabine Ylönen 130 (47,4%), Geisteswissenschaftler (44,6%) und Wirtschaftswissenschaftler (42,6%) an. In den medizinischen, technischen und Naturwissenschaften lagen die entsprechenden Zahlen bei ± 25% und noch etwas niedriger bei Sportwissenschaftlern (21,2%) und Dienstleistungspersonal (22%). B2-Deutschkenntnisse (gute Sprachfertigkeiten/ selbstständige Sprachverwendung, fortgeschrittene Fertigkeiten) hatten die meisten Geisteswissenschaftler (25,8%), gefolgt von den Wirtschaftswissenschaftlern (23,8%). Die meisten Muttersprachler des Deutschen gab es unter Geistes- (4,5%) und Naturwissenschaftlern (4,2%). 3.3 Gebrauch des Deutschen nach Disziplinen und Arbeitsbereichen Der Gebrauch des Deutschen in verschiedenen Disziplinen und Arbeitsbereichen ist in Abbildung 4 dargestellt, wobei die Prozentzahlen für die Optionen täglich (links) und gar nicht (rechts) angegeben sind. Das sprachliche Potenzial im Deutschen wurde in allen Disziplinen und Arbeitsbereichen nicht in vollem Umfang genutzt. Auffällig ist, dass der tägliche Gebrauch des Deutschen sich unter Geistes- und Naturwissenschaftlern stark unterscheidet (10,5% bzw. 2,2%), obwohl es in beiden Gruppen ähnlich viele Muttersprachler gab (4,5% bzw. 4,2%). Dagegen benutzten 2,6% der Rechtswissenschaftler Deutsch täglich, obwohl in dieser Gruppe keine deutschen Muttersprachler vertreten waren. Sportwissenschaftler sowie Land- und Forstwissenschaftler benutzten Deutsch täglich nie, erstere insgesamt gesehen wenigstens irgendwann mit 33,3% ebenfalls am wenigsten, letztere jedoch mit 50% relativ mehr. Land- und Forstwissenschaftler hatten insgesamt gesehen aber auch verbreiteter Deutschkenntnisse, die im Durchschnitt auch besser waren als die der Sportwissenschaftler. Wer Deutsch kann, benutzt es also auch irgendwann im Beruf. Der tägliche und wöchentliche Gebrauch war am verbreitetsten unter Geisteswissenschaftlern (21,8%), gefolgt von Rechtswissenschaftlern (15,8%). Beim wenigstens monatlichen Gebrauch verhielt es sich umgekehrt: 52,6% der Rechtswissenschaftler, 36,5% der Geisteswissenschaftler verwendeten Deutsch hier. <?page no="143"?> Deutsch als Wissenschaftssprache in Finnland 131 2,2% 0,6% 3,1% 0,3% 0,5% 2,2% 0,0% 1,7% 1,0% 3,2% 0,0% 10,5% 2,6% 42,2% 61,6% 51,8% 61,7% 53,0% 51,7% 66,7% 53,6% 54,0% 49,0% 50,0% 28,3% 15,8% 0 % 20 % 40 % 60 % 80 % 100 % Dienstleistungen (223) Verwaltung (482) Mehrfachnennungen (388) Med/ Vetmed/ Pharm (326) Technische Wiss. (219) Naturwissenschaften (690) Sportwissenschaften (33) Sozialwissenschaften (237) Wirtschaftswiss. (100) Pädagogik (155) Land- und Forstwiss. (28) Geisteswissenschaften (427) Rechtswissenschaften (38) täglich wöchentlich monatlich selten gar nicht Abb. 4: Deutschgebrauch nach Disziplin/ Arbeitsbereich (n = 3350) Auch insgesamt gesehen verwendeten die meisten Rechtswissenschaftler (84,2%) Deutsch wenigstens irgendwann. Dass Rechtswissenschaftler relativ gute Deutschkenntnisse haben und Deutsch frequent gebrauchen, hat historische Ursachen: Die finnische Rechtswissenschaft entwickelte sich unter deutschem Einfluss (Meyer 2007: 593; Köbler 2009: 13) und das deutsche Grundgesetz diente beispielsweise als Vorlage für die finnische Verfassung (Köbler 2009: 2). Platz 2 und 3 im Deutschgebrauch belegten die Geisteswissenschaftler (71,7%) und das Dienstleistungspersonal (57,8%). Relativ verbreitet war der Deutschgebrauch insgesamt gesehen auch unter Erziehungswissenschaftlern (51%), Land- und Forstwissenschaftlern (50%), Naturwissenschaftlern (48,3%) technischen Wissenschaftlern (47%) und Wirtschaftswissenschaftlern (46%). Am wenigsten wurde Deutsch von Sport- (33,3%) und Medizinwissenschaftlern (38,3%) sowie vom Verwaltungspersonal (38,4%) benutzt. 3.4 Meinungen von Natur- und Geisteswissenschaftlern zum Nutzen von Deutschkenntnissen Insgesamt erhielten wir 2015 offene Kommentare von Informanten aller Disziplinen und Arbeitsbereiche auf Frage 19 unserer Umfrage (s. Kap. 2). <?page no="144"?> Sabine Ylönen 132 453 von ihnen kamen von Naturwissenschaftlern und 390 von Geisteswissenschaftlern. Das Deutsche wurde in 34 Fällen von Naturwissenschaftlern und in 55 Fällen von Geisteswissenschaftlern namentlich genannt, d.h. 14,1% der Geisteswissenschaftler, aber nur 7,5% der Naturwissenschaftler erwähnten Deutsch, ohne dass danach explizit gefragt wurde. Auffällig war, dass nur unter Naturwissenschaftlern kritische oder eher gleichgültige Stimmen gegenüber dem Deutschen geäußert wurden (s. Beispiele 1 und 2), wohingegen solche in den Kommentaren der Geisteswissenschaftler nicht zu finden waren. (1) Englisch ist international und wird weltweit gesprochen. Andere Sprachen sind in der Minderheit - manche die Mehrheit der Minderheit (z.B. Deutsch in Mitteleuropa). Aber ich sehe keinen Anlass, warum man andere Sprachen fördern sollte, denn Kontakte, wissenschaftliche Publikationen u. ä. nutzen Englisch. Dagegen verringert das Lernen anderer Sprachen Zeit und Möglichkeiten, gute Fertigkeiten im Englischen zu üben. Lieber also gutes und starkes Englisch als viele Sprachen schlecht können (m, 1978, Univ. Helsinki, Naturwissenschaften). (2) Es schadet natürlich nicht, wenn man z.B. mit einem deutschen Forscher deutsch sprechen kann, aber es ist nicht nötig (m, 1980, Univ. Kuopio, Mikrobiologie/ Immunologie). Wenn von Naturwissenschaftlern auf den Vorteil verwiesen wurde, Forschungsliteratur in Deutsch lesen zu können, dann mit dem Verweis darauf, dass dies eine zusätzliche Möglichkeit, nicht aber Notwendigkeit sei oder dass es sich um ältere Literatur oder Lehrbücher (s. Beispiel 3) handle. Geisteswissenschaftler dagegen verwiesen häufiger auf Forschungstraditionen und grundlegende Werke in der Originalsprache Deutsch, wie in Beispielen 4 und 5. (3) Es gibt sehr gute deutsche Lehrbücher; […] (m, 1953, Univ. Helsinki, Informatik). (4) Z.B. in meinem Gebiet heben schon die Traditionen Deutsch und Französisch auf mindestens dasselbe Niveau wie Englisch (m, 1954, Univ. Helsinki, Musikwissenschaften). (5) Es ist angsterregend, […] wenn die jüngeren Philosophen z.B. Kant und Hegel in englischer Übersetzung lesen, weil sie kein Deutsch können (m, 1951, Univ. Helsinki, Sozial- und Geisteswissenschaften). Relativ häufig wurde in beiden Gruppen auf die Vorteile verwiesen, die Deutschkenntnisse für internationale Kooperationen böten. Dabei betonten die Kommentare der Naturwissenschaftler eher die Möglichkeiten für das Knüpfen von Kontakten (s. Beispiel 6), Geisteswissenschaftler dagegen die Notwendigkeit <?page no="145"?> Deutsch als Wissenschaftssprache in Finnland 133 von Deutschkenntnissen zum Agieren in anderen Forschungskulturen (s. Beispiele 7 und 8). (6) Mitteleuropa ist ein starkes Forschungsgebiet und ich fühle, dass Deutschkenntnisse von Vorteil wären beim Knüpfen von Kontakten für eine Zusammenarbeit (w, 1984, Univ. Oulu, Biochemie). (7) […] auf vielen Konferenzen und in anderer Zusammenarbeit werden auch andere Sprachen als Englisch verwendet. Wenn man in diese Netzwerke aufgenommen werden will, sind Sprachfertigkeiten wichtig […] (w, 1967, Univ. Helsinki, Theologie). (8) […] multikulturelle EU-Projekte setzen mehrsprachige Personen voraus (w, 1980, Univ. Tampere, Kunstwissenschaften). Nur Geisteswissenschaftler wiesen darauf hin, dass gute Englischkenntnisse nicht weit genug verbreitet seien (s. Beispiel 9), während Naturwissenschaftler im Gegenteil betonten, dass alle sowieso Englisch können (Beispiel 10) und Deutsch eher aus Spaß und Freude benutzt werden könne. (9) Die Fertigkeiten der deutschen Kollegen im Englischen sind manchmal bescheiden (m, 1961, Univ. Joensuu, Theologie). (10) In spanisch-, portugiesisch-, deutsch und chinesischusw. -sprechenden Ländern ist Englisch die Zweitsprache (w, 1957, Univ. Helsinki, Naturwissenschaften). Interessant war weiterhin, dass nur Naturwissenschaftler darauf hinwiesen, dass Deutschkenntnisse Karrieremöglichkeiten im deutschsprachigen Ausland erhöhen können oder die Schwelle senken, sich im Ausland zu bewerben (s. Beispiel 11). (11) Z.B. würde der Gebrauch von Deutsch- oder Schwedisch die Schwelle senken, sich auf Stellen in diesen Ländern zu bewerben (m, 1970, Univ. Helsinki, Biotechnologie). Geisteswissenschaftler erwähnten auch die Bedeutung des Zusammenhangs von Sprache und Traditionen des Denkens und verwiesen auf Gefahren einer dominierenden Einheitssprache für die Wissenschaft (s. Beispiel 12). (12) Viele wichtige Tradionen des Denkens brechen total ab, wenn man ins Englische als alleinige Sprache wechselt. (w, 1966, Univ. Helsinki, Philosophie) In den hier untersuchten Antworten reflektierten Naturwissenschaftler die Bedeutung der Sprache für das Denken dagegen nicht. <?page no="146"?> Sabine Ylönen 134 4 Zusammenfassung und Ausblick Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Deutsch als Wissenschaftssprache insgesamt gesehen an finnischen Universitäten durchaus noch eine Rolle spielt. Drei Viertel der rund 3600 Informanten hatte zumindest irgendwelche Deutschkenntnisse und die knappe Hälfte benutze Deutsch im Beruf. Damit ist Deutsch noch immer die zweitwichtigste Fremdsprache nach Englisch. Am verbreitetsten waren Deutschkenntnisse unter Rechts- und Geisteswissenschaftlern, am wenigsten verbreitet unter Medizin-, Technik- und Naturwissenschaftlern. Deutsch als Wissenschaftssprache benutzten die meisten Rechts- und Geisteswissenschaftler (rund 85—70%) wenigstens irgendwann und die wenigsten Sport- und Medizinwissenschaftler (rund 33—38%). Immerhin rund die Hälfte aller Informanten aus den Erziehungs-, Land- und Forst-, Natur-, technischen und Wirtschaftswissenschaften benutzte Deutsch im Beruf. Im Vergleich der offenen Kommentare von Natur- und Geisteswissenschaftlern überrascht es nicht, dass Naturwissenschaftler Deutsch insgesamt weniger explizit erwähnten. Sie charakterisierten es generell eher als zusätzliche Möglichkeit zum wissenschaftlichen Agieren, während Geisteswissenschaftler die Notwendigkeit von Deutschkenntnissen für die Arbeit in ihrem Bereich darstellten. Unter Naturwissenschaftlern sind weltweit offensichtlich gute Englischkenntnisse verbreitet, während einige Geisteswissenschaftler hervorhoben, dass nicht alle (deutschen) Kollegen ausreichend Englisch können. Nur von Naturwissenschaftlern wurden Deutschkenntnisse als die Arbeitschancen im Ausland und das Karrierepotenzial fördernd erwähnt. Im Lichte dieser Ergebnisse ist Deutsch als Wissenschaftssprache in Finnland also durchaus (noch) nicht auf verlorenem Posten. Es mag schwierig erscheinen, das Deutsche in Finnland zu fördern, wenn gleichzeitig weltweit ein Druck in Richtung internationaler (sprich: englischsprachiger) Publikations-, Lehr- und Verwaltungspraktiken vorherrscht und auch zunehmend deutsche Muttersprachler ins Englische wechseln. Andererseits sind das Image des Deutschen und die Einstellungen gegenüber akademischer Mehrsprachigkeit in Finnland sehr positiv. Deutschland ist nach wie vor das beliebteste Austauschland finnischer Studierender. An der Universität Jyväskylä werden z.B. seit Jahren Kurse für Geistes- und Sozialwissenschaftler in Kombination der Unterrichtssprachen Finnisch und Deutsch durchgeführt. Intensiviert werden könnte auch die Nutzung muttersprachlicher Ressourcen des Personals und der Studierenden, wie das in Jyväskylä seit kurzem für das Schwedische praktiziert wird. Maßnahmen zur Förderung des Deutschen als Wissenschaftssprache könnten sein, in nicht-deutschsprachigen Ländern Motivationsanlässe bewusstzumachen und zu schaffen, und auch <?page no="147"?> Deutsch als Wissenschaftssprache in Finnland 135 in den deutschsprachigen Ländern die Diskussion um Deutsch als Wissenschaftssprache zu forcieren. Literatur Hall, Christopher (2010): Suomalaiset yliopistot englanninkielisiksi? [Finnische Universitäten englischsprachig? ]. In: Acatiimi, Nr. 6(10), S. 23—24. Köbler, Judith (2009): Die Konzeption der Grundrechte im finnischen Verfassungsrecht in rechtvergleichender Sicht. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang. 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Gegenstand der Analyse ist die Ausdrucksseite der Korpusbücher und die Organisation ihrer inhaltlichen Darstellungsformen (Paratexte, Layout). 1 Ziel des Beitrags Im Mittelpunkt der geplanten Untersuchung steht die Analyse dessen, wie wissenschaftliche Erkenntnisse im Bereich der Meteorologie in Sachbüchern für Kinder und Jugendliche im Kontrast zu Büchern für Erwachsene vermittelt werden. Dieser Beitrag widmet sich zunächst den Merkmalen auf der Textoberfläche. Er geht von der Einsicht aus, dass das Medium Buch ein Superzeichen ist, zu dessen Konstitution unterschiedliche Zeichensysteme kooperieren. Ich gehe also von der grundlegenden Einsicht Genettes (1992: 22—40) aus, dass ein Buch nicht von einem Autor, sondern von einer Reihe kommunikativer Instanzen stammt. Dabei kommt dem „verlegerischen Peritext“ (Genettes 1992: 22), d.i. „die materielle Realisierung des Buches“ (ebd.), eine wichtige Rolle zu. Mein Beitrag berührt sich in vielem mit der ‚Buchkunde‘, die u.a. unter „materiellen Aspekten“ (Hiller/ Füssel 2006: 65) die „Materialität im Leseprozess“ (so im Untertitel von Gross 1994) zu beschreiben versucht. Gegenstand des Beitrags ist der Transferprozess von Fachwissen in die Praxis. Dieser wird exemplarisch an zusammenhängenden populärwissenschaftlichen Texten, die von Fachleuten geschrieben werden, deren Rezipienten aber Laien sind, dargestellt. Mein langfristiges Ziel ist es, zu beschreiben, mit welchen Mitteln unterschiedliche Bereiche des Wissens für <?page no="152"?> Eva Cieślarová 140 Laien verschiedener Altersstufen (vgl. Heiting 2014 und Feibel 2014) aufbereitet werden. Das Korpus dieser Studie besteht aus vier deutschen populärwissenschaftlichen Texten aus dem Bereich der Meteorologie. Dieser Fachbereich wurde zuerst ausgewählt, da er jede Person in ihrem Alltag angeht. Mein Vorhaben ist es, zu analysieren, wie die wissenschaftlichen Ergebnisse altersgerecht verarbeitet werden. Das Augenmerk wird somit darauf gerichtet, wie das Fachwissen in ausgewählten deutschen Sachbüchern für Kinder und Jugendliche und für Erwachsene vermittelt wird, wobei die Bücher für Erwachsene als Vergleichsgröße dienen, um die Merkmale von Kinderbüchern deutlicher beobachten zu können. Wie Herbert Ossowski (1996: 348f.; 2005: 657) wiederholt konstatiert hat, existiert keine einheitliche Definition des Sachbuchs. Jedoch findet die Definition von Klaus Doderer breite Anerkennung. 1 In Anknüpfung an ihn wiesen andere Autoren darauf hin, dass ein Sachbuch nicht nur durch den Inhalt, sondern auch durch die Darstellungsform spezifisch ist. 2 Da sich Wissenschaftssprache 3 nicht nur durch Terminologie auszeichnet, sondern auch an der Gestaltung der Textoberfläche sichtbar wird, gehören zur Untersuchung von Wissenschaftssprache auch die Analyse und der Vergleich von Strategien zur Wissensvermittlung, die die Organisation und verschiedene Darstellungsformen des Inhalts betreffen. In den folgenden Kapiteln wird von den Organisationsprinzipien der Sachbücher ausgegangen und folglich wird die Aufmerksamkeit auch den parasprachlichen Mitteln, wie z.B. dem Layout, gewidmet. Da zum Layout auch die Beziehung zwischen Sprache und Bildern gehört, gehe ich fließend zur Behandlung von nonverbalen Mitteln über. Auch wenn die Studie sich noch im Frühstadium befindet, können bereits erste relevante Ergebnisse präsentiert werden. 4 In der Methodologie und in einigen der theoretischen Ausgangspunkte ließ ich mich von der Dissertation von Beatrice Isgró (2011) 1 Vgl. die Analyse der Definition in Hussong (1984: 65—67). 2 Siehe Zitate von Richard Bamberger und Inge Auböck in Ossowski (1996: 349). 3 Für die Untersuchung wird Wissenschaftssprache in der vorgelegten Studie nach der horizontalen Gliederung der Fachsprachen (Roelcke 2010: 30—34) als eine spezielle Form von Fachsprache verstanden und liegt aus Sicht der vertikalen Schichtung auf Ebene 3, als sog. Vermittlungssprache (Mostýn 2011: 21—23, vgl. auch Roelcke 2014: 45). 4 Andere analysierte Aspekte des Korpus können hier aus Platzgründen nicht dargeboten werden, sie werden jedoch in Sammelbänden zur Tagung des Germanistenverbandes der Tschechischen Republik „Deutsch ohne Grenzen“ (Budweis, 16.—18. September 2014) und zur Tagung „Fachkommunikation im Wandel“ (Ostrau, 6.—8. November 2014) präsentiert, die im Jahr 2015 erscheinen. <?page no="153"?> Meteorologiesachbücher für Kinder und Erwachsene 141 inspirieren. Die theoretischen Grundlagen werden in den einzelnen Unterkapiteln zusammen mit den Ergebnissen präsentiert. 2 Vorstellung des Textkorpus Das Korpus für die Analyse bilden insgesamt vier deutsche Sachbücher aus dem Bereich der Meteorologie. Primär wurden zwei Sachbücher für Kinder und Jugendliche und zur Kontrastierung zwei Sachbücher für Erwachsene ausgewählt. Damit die Bücher für Kinder gut miteinander vergleichbar sind, wurden zwei Titel ausgewählt, die für die Altersstufe ab 8 Jahre bestimmt sind. Zum einen handelt es sich um Band 7 aus der renommierten deutschen Kinder- und Jugendsachbuchreihe ,WAS IST WAS‘: ,Wetter. Sonne, Wind und Wolkenbruch‘ von Karsten Schwanke (weiter abgekürzt mit K: WIW). Die Bände der Reihe ,WAS IST WAS‘, seit 1961 (bzw. 1963 als Hardcover) von Ragnar Tesslof herausgegeben, gelten als die ersten Kinder- und Jugendsachbücher in Deutschland und „Im Laufe der Jahre entwickelt sich ,WAS IST WAS‘ zum Synonym für altersgerechte Wissensvermittlung für Kinder“ (URL 1). Heute existiert nicht nur die klassische Buchreihe für Kinder ab 8 Jahren, sondern auch ,WAS IST WAS Junior‘ für Vorschulkinder und ,WAS IST WAS Mini‘ für Kinder ab 3 Jahren (Mehr dazu unter URL 1). Dadurch stellen die Bücher auch ein passendes Material für den geplanten Vergleich zur Wissensvermittlung für verschiedene Altersstufen dar. Ragnar Tesloff suchte für die einzelnen Bände seiner Buchreihe namhafte und fachkundige Autoren (Vgl. URL 2). Band 7 über das Wetter hat der Meteorologe und Moderator von verschiedenen Wissenssendungen (bei ARD, ZDF 5 ) Karsten Schwanke geschrieben. Auch die Autorin des zweiten Sachbuchs ,Unser Wetter bärenstark erklärt‘ (weiter abgekürzt mit K: WBE) ist eine sehr erfahrene Meteorologin 6 . Michaela Koschak hat u.a. seit 2008 Wetternachrichten für Kinder, das sog. Kinderwetter, im Fernsehen moderiert (Vgl. URL 5 und URL 6). 5 Z.B. Das Wetter im Ersten, Das Wetter im ARD-Morgenmagazin, Chamäleon (Tiersendung für Kinder), Abenteuer Wissen, Goldene Kamera. Mehr dazu s. URL 3 und URL 4. 6 Diplom-Meteorologin Michaela Koschak hat mit Kollegen eine eigene Wetterfirma gegründet, die das Wetter für SAT.1 produzierte. Sie moderierte Wettersendungen hauptsächlich für den MDR, aber auch z.B. für den SWR und NDR. Daneben unterrichtete sie an der Universität Leipzig . Das erwähnte Buch hat Michaela Koschak im Jahre 2013 als ihr erstes Kinderbuch herausgegeben. Ein Jahr später folgte noch das Buch unter dem Titel ,Entdecke das Wetter‘ für Kinder im Grundschulalter. <?page no="154"?> Eva Cieślarová 142 Das Hauptaugenmerk der Analyse ist auf die Kinderbücher gerichtet, zur Kontrastierung wurden jedoch auch zwei Bücher für Erwachsene ausgesucht: 7 (1) Roth, Günter D.: ,Die BLV Wetterkunde. Ein Standardwerk‘ (weiter abgekürzt mit E: BLV); (2) Brandt, Karsten: ,Das Wetter - Beobachten, verstehen, voraussagen‘ (weiter abgekürzt mit E: BVV). Günter D. Roth ist ein deutscher Astronom und Meteorologe, der nicht nur in Fachbüchern, sondern auch in populärwissenschaftlichen Publikationen über seine Forschung berichtete. Er war Mitherausgeber der Monatszeitschrift ,Sterne und Weltraum‘. 8 Karsten Brandt hat im Bereich Klimatologie promoviert, u.a. gründete er „eine der ersten privaten Wetterdienstseiten“ (URL 10). 9 Im beschriebenen Korpus wurden zunächst die formalen Kriterien - Seitenanzahl, Papierqualität und Farbigkeit - analysiert. Die Seitenanzahl der einzelnen Bücher wurde verglichen, obwohl es offensichtlich ist, dass sie wegen unterschiedlicher Formate der Seiten (s. unten) nicht ideal vergleichbar ist. Es wird auch in Betracht gezogen, dass im analysierten Korpus das Seitenformat mit der Schriftgröße zusammenängt. Die Analyse zeigt, dass die Seitenanzahl kein Kriterium zur Unterscheidung zwischen Büchern für Kinder oder Erwachsene ist. Dies belegt der nahezu identische Seitenumfang des Kinderbuchs von Michaela Koschak (136 Seiten) und des Buches für Erwachsene von Karsten Schwanke (144 Seiten). Andererseits ist im Buch aus der Reihe ,WAS IST WAS‘ die Seitenanzahl wesentlich kleiner (48 Seiten 10 ) als in der ,BLV Wetterkunde‘ (320 Seiten). Es existiert keine direkte Proportionalität zwischen dem Format und der Schriftgröße. Im K: WIW und E: BVV ist trotz unterschiedlicher Formate die Schriftgröße identisch. Am größten sind die Buchstaben im K: WBE, am kleinsten im E: BLV. Die Textmenge und die Strategie der Textverteilung in den einzelnen Büchern werden unten näher beschrieben. Alle analysierten Bücher sind mit gestrichenem Papier versehen (s. URL 13). Meistens handelt es sich um halbmatt gestrichenes Papier, das Buch von 7 Entscheidend für die Auswahl war, dass es um deutsche Originalwerke geht, die möglichst neu sind (d.h. aus der Zeitspanne 2011-2014) und hauptsächlich für interessierte Laien geschrieben wurden. Das letzte Kriterium wurde sowohl anhand von Verlagsinformationen, als auch von Rezensionen der Leser (Siehe URL 7 und URL 8) bewertet. 8 Mehr Informationen in Roth, Günter R. (2011: 319) und unter URL 9. 9 Siehe Wetterdienstseite für Deutschland - URL 11 - und eine Webseite mit Unwetterwarnungen weltweit - URL 12. Liste Karsten Brandts Publikationen siehe URL 10. 10 Die Seitenanzahl ist identisch bei allen Bänden der Buchreihe ,WAS IST WAS‘ (siehe ZEIT-ONLINE, S. 1, zugänglich unter URL 2) Sie ist also ein Mittel der corporate identity dieser Buchreihe. <?page no="155"?> Meteorologiesachbücher für Kinder und Erwachsene 143 Michaela Koschak enthält jedoch glänzendes Papier. Das Flächengewicht ähnelt sich bei einzelnen Büchern. Mit bloßem Auge beobachtet ist es jedoch bei E: BLV am größten, obwohl man das eher bei einem Kinderbuch erwarten würde. Alle Bücher sind farbig. Schwarzweiße Fotos bilden in jedem Werk nur die Ausnahme für alte Fotos. Das vorgestellte Korpus wird für die Bedürfnisse weiterer Forschung ausgeweitet, z.B. um Bücher für kleinere Kinder oder Sachbücher aus anderen Bereichen. 3 Inhaltliche und formale Organisation Wissensvermittlung setzt voraus, dass das Wissen vorher organisiert wird. Ein Autor schreibt ‚nur‘ einen Text für ein Buch. 11 Das Buch entsteht jedoch im Zusammenwirken mehrerer kommunikativer Instanzen, die in der Regel bestrebt sind, eine Buchausdrucksseite zu finden, die die Intentionen des Inhalts - in diesem Falle die Wissensvermittlung - unterstützt oder fördert. In den folgenden Unterkapiteln wird sowohl verglichen, wie der Inhalt in Kinderbüchern und Büchern für Erwachsene organisiert ist, als auch welche parasprachlichen Mittel wie verwendet werden. Da die inhaltlichen und die gestaltungstechnischen Darstellungsformen (z.B. Titel, Layout und Verhältnis von Sprache und Bild) im Idealfall im Zusammenspiel sein sollen, wird die Aufmerksamkeit mehr oder weniger auf beide Phänomene gerichtet. 3.1 Organisationsprinzipien des Wissens Die Organisation des Werkes hängt vom Thema und von den Prioritäten des Autors bzw. des Verlags ab. Obwohl alle Sachbücher im Korpus dasselbe Thema haben, lassen sie sich im Hinblick auf die Organisation nur schwer miteinander vergleichen. Die Bücher unterscheiden sich in der Seitenanzahl und dadurch kann sich z.B. ,Die BLV Wetterkunde‘ viel mehr Themen widmen als die anderen Bücher. In diesem Zusammenhang ist es jedoch wichtig zu erwähnen, dass, je größer der Umfang des Werkes ist, desto relevanter ist die Organisation des Inhalts. Dieser Tatsache wird im umfangreichsten der analysierten Bücher Rechnung getragen - Kapitel werden in Unterkapitel und einige Unterkapitel sogar noch weiter untergliedert. Einige Teilthemen wiederholen sich in allen vier Büchern, wenn auch in unterschiedlichem Maße und im Rahmen von unterschiedlichem Text- 11 Selbst an dem Text arbeiten oft die Autoren mit Verlagslektoren/ Korrektoren zusammen. <?page no="156"?> Eva Cieślarová 144 umfang: Wetter, Atmosphäre, Sonne, Wind, Wolken, Niederschläge, Gewitter, Beispiele für extreme Wetterphänomene (z.B. Hurrikan), Wettervorhersage. Bis auf das Kindersachbuch von Michaela Koschak ist allen anderen Büchern noch das Thema Klima gemeinsam. Obwohl es solche Berührungspunkte zwischen den analysierten Werken gibt, lässt sich keine einheitliche Organisation des Inhalts erkennen. Aus diesem Grunde wird nur der Beginn der 4 Bücher näher verglichen und eine Antwort auf die Frage gesucht, ob sich die Einleitung bzw. die ersten Kapitel in den Büchern für Kinder und für Erwachsene unterscheiden. 3.2 Womit beginnen die Bücher für Kinder, womit die für Erwachsene? Bis auf das Buch der Reihe ,WAS IST WAS‘ beginnen alle Bücher mit einer Einleitung, in der kurz der Inhalt des Buches charakterisiert wird. Günter D. Roth hat in die Einleitung noch Danksagungen an verschiedene Institutionen eingefügt. Im Kinderbuch von Michaela Koschak (2013: 5) kommen 2 Einleitungen vor - in der ersten wird die Autorin und ihre Webseite vorgestellt, in der zweiten spricht die Autorin ihre Leser direkt an - das Kapitel hat fast die Form eines Briefes. Michaela Koschak geht von der Definition des Wetters aus, die sie „sehr wissenschaftlich und kompliziert“ (Koschak 2013: 6) findet und denkt über Fragen nach, die die Leser vermutlich interessieren und die sie deswegen in dem Buch zu beantworten versucht. Die Autorin stellt auch den Bären Bruno vor, der die besonders schwierigen Themen erklären wird. Unter anderem wird auch die Funktion der Seitenränder im Buch dargestellt. Das erste Kapitel, das nach der Einleitung (bzw. nach dem Inhalt im Falle von K: WIW) kommt, unterscheidet sich in den einzelnen Büchern. 12 Aus dem weiteren Vergleich der Bücher folgt, dass sich das nächste Kapitel (bzw. die nächsten Kapitel) in allen Büchern der gleichen Thematik widmet, obwohl sie unterschiedlich aufgefasst wird. Es geht um die Beschreibung der Atmosphäre und ihrer einzelnen Schichten. Obwohl die Autoren aller analysierten Bücher die Werke originell eröffnen wollen, wird die Vorstellung der Umwelt aller später erklärten Erscheinungen und Prozesse (d.h. Atmosphäre) als Basis empfunden. Diese Tatsache kann auch durch meteorologische Fachbücher beeinflusst werden - 12 In Kinderbüchern ist es Hurrikan (Schwanke 2013: 4f.) und Wetterhütte bzw. die Messung von verschiedenen Wettererscheinungen (Koschak 2013: 8—17). Günter D. Roth beweist im ersten Kapitel seiner Wetterkunde (Roth 2011: 11—19), dass das Wetter uns alle angeht. Das zweite Buch für Erwachsene fängt mit der knapp gefassten Geschichte der Meteorologie und einer Beschreibung des Treibhauseffektes an (Brandt 2012: 11f.). <?page no="157"?> Meteorologiesachbücher für Kinder und Erwachsene 145 z.B. wird im Standardwerk ,Meteorologie‘ von Hans Häckel (1993: 11—41) direkt im ersten Kapitel Atmosphäre behandelt. 3.3 Parasprachliche und außersprachliche Mittel 3.3.1 Peritext Oben wurde kurz das Vorwort der Korpusbücher skizziert, das zu den peritextlichen Elementen gehört. An dieser Stelle werden andere ausgewählte peritextliche Elemente der analysierten Bücher vorgestellt. Unter Peritext wird der werkinterne verbale und nonverbale Paratext 13 verstanden. Die peritextlichen Elemente werden vom Autor bzw. vom Produzenten festgelegt. Die Kategorien des Peritextes nach Genette (1989) wurden von Müllerová (2009: 65; Übersetzung: E.C.) bearbeitet (teilweise erweitert) und sind in Abb. 1 zusammengefasst: Verbale Elemente des Peritextes Nonverbale Elemente des Peritextes Name des Autors Format Buchtitel und Zwischentitel Edition, Reihe Dedikation (Widmung) Benutztes Material Motto Typographie Vorwort Titelseite und Zubehör Nachwort Satz und Auflage Titel und Untertitel der Kapitel Visuelle Mittel Anmerkung Kommentar Verlagstexte im engeren Sinne 14 Abb. 1: Verbale und nonverbale Elemente des Peritextes Für diese Studie wurden außer dem Vorwort auch das Format und der Buchtitel untersucht, vgl. Abb. 2. 13 „Der Paratext ist […] jenes Beiwerk, durch das ein Text zum Buch wird und als solches […] vor die Öffentlichkeit tritt“ (Genette 1989: 10). 14 Paratexte, die in der Verlagsredaktion entstehen, z.B. Umschlagtexte, Werbetexte, Texte mit technischen und verlegerischen Angaben (Müllerová 2009: 65). Zu diesen Verlagstexten wird auch der sog. Waschzettel (vgl. Genette 1989: 103—114) gezählt. <?page no="158"?> Eva Cieślarová 146 (Breite x Höhe) WAS IST WAS Bd. 007: Wetter. Sonne, Wind und Wolkenbruch. 23 x 27,6 cm Unser Wetter bärenstark erklärt 21,6 x 28,6 cm Die BLV Wetterkunde: Das Standardwerk 16 x 20,4 cm Das Wetter - Beobachten, verstehen, voraussagen 16,2 x 22,4 cm Abb. 2: Formate der Sachbücher im Vergleich Zwei Haupttitel beschränken sich auf den substantivischen Einworttitel ,(Das) Wetter‘, welcher für eine Differenzierung einen Untertitel verlangt. Im Falle des Kinderbuches handelt es sich dabei um die spezifizierenden Substantive ,Sonne, Wind und Wolkenbruch‘ (zusammen mit dem Haupttitel ist hier eine Alliteration zu beobachten), im Titel von Karsten Brandt ist die Form ganz ähnlich, jedoch mit drei Verben im Infinitiv. Der Untertitel drückt also Prozesse und nicht Objekte aus. Der substantivische Titel des dritten Buches wird um ein Attribut erweitert, das auf den BLV 15 -Verlag hinweist. Die Bezeichnung ,Das Standardwerk‘ soll zur Betonung des Prestiges des Buches dienen. Der Titel des Buches ,Unser Wetter bärenstark erklärt‘ hat die Form einer Ellipse. Diese Form ist gerade für popularisierende Texte typisch. Das vorangestellte Attribut im Satz unser verweist darauf, dass die Autorin und die Leser eine Gemeinschaft bilden. Das nachgestellte Attribut bärenstark soll für beide Begleiter durch das Buch - sowohl für die Autorin als auch für den Bären Bruno - die zusammen auf dem Cover erscheinen, gelten. Beim Vergleich bärenstark wird Bedeutungsebenenswitching zur Geltung gebracht. Die im Titel verwendete Metapher soll das Interesse des Kindes wecken, was nach Beatrice Isgró (2011: 62) besonders bei Kinderbüchern für die Altersstufen 8—10 und 10—12 durch die Bildhaftigkeit wirksam ist. 16 3.3.2 Layout Die Kategorien des Peritextes überlappen sich teilweise mit denen des Layouts bzw. mit der Makrotypographie des Buches. Das Layout wird als Entwurf oder Gestaltung des Mediums verstanden und schließt das Format, den Satzspiegel, den Weißraum, die Schrift (ein mikrotypographisches Mittel) und das Verhältnis von Sprache und Bild (s. unten in diesem Kapitel) ein. Ein Layout wird auch für Unterelemente wie Überschrift, Fließtext, 15 BLV - urspr. Bayerischer Landwirtschaftsverlag, vgl. URL 14. 16 Im Gegensatz zu den Ergebnissen der Analyse von Tiersachbüchern von Isgró sind die Kinderbücher über Wetter vom Format her größer als die für Erwachsene. Buchtitel Format <?page no="159"?> Meteorologiesachbücher für Kinder und Erwachsene 147 Linien, Informationskasten usw. festgelegt. Im Rahmen des Layouts wird unter anderem das Farbspektrum aller Elemente im Buch definiert, das ist jedoch kein Untersuchungsgegenstand dieser Studie (vgl. URL 15; vgl. Siemoneit (1989: 33—46)). Anja Krause (2008: 48; 76) unterscheidet vier Layouttypen: reines und partielles Linearlayout, Parallellayout, portioniertes Layout. a) Reines Linearlayout besteht lediglich aus einem Fließtext, der nicht selektiv, sondern nur linear zu lesen ist, um verstanden zu werden. b) Im Falle des partiellen Linearlayouts wird der Lineartext in kleinere Textabschnitte (meistens eine Doppelseite) je nach dem Inhalt aufgeteilt. Der Leseeinstieg ist bei diesem Layout zu Beginn eines jeden Textabschnittes möglich, wodurch auch selektives Lesen ermöglicht wird. c) Parallellayout umfasst neben dem „linearen Fließtext mehrere andere Textblöcke […], die zum Fließtext parallel organisiert sind“ (Krause 2008: 53) und von ihm graphisch deutlich differenziert werden. Sie können den Haupttext inhaltlich ergänzen, aus einer anderen Sicht erläutern usw. Auf jeden Fall sind sie auch ohne Haupttext gut verständlich. d) Beim portionierten Layout kommt im Buch kein oder nur ein sehr kurzer linearer Fließtext vor, über welchen mehrere kleinere Textportionen überwiegen. Dieses Layout ist für selektives Lesen gedacht. Die Kinderbücher im Korpus haben eine (teilweise) parallel geprägte Textstruktur. Im Buch der Reihe ,WAS IST WAS‘ 17 wird der Lineartext durch Texte in Kästen unterschiedlicher Formen ergänzt. Im Falle des Buches von M. Koschak ist der Layouttyp nicht eindeutig parallel, teilweise handelt es sich um das partielle Linearlayout, weil sich in einigen Kapiteln vgl. Koschak (2013: 51—54; 125—133), außer dem Lineartext nur Bilder mit Unterschriften an den Rändern (bzw. nur Unterschriften zu den Bildern im Haupttext, vgl. Koschak 2013: 92f.) befinden. Die parallel geprägte Struktur kommt dadurch zum Vorschein, dass an den Seitenrändern Bär Bruno schwierige Themen erläutert, dass Anweisungen für Experimente gegeben oder Zeichnungen mit Erklärung dargestellt werden. Die Bücher für Erwachsene sind durch Lineartext geprägt. Im Buch von K. Brandt wird der Lineartext nur durch Bilder bzw. Tabellen unterbrochen. Da das Buch in Kapitel mit verschiedenen Themen eingeteilt ist, wird auch 17 Die Bücher der Reihe ,WAS IST WAS‘ wurden im Jahre 2013 gestalterisch neu konzipiert. „Man reagiert damit auf die veränderten Lese- und Sehgewohnheiten der Kinder und setzt erneut Maßstäbe im Kindersachbuch.“ (URL 16). Vgl. Zeit online (URL 2). <?page no="160"?> Eva Cieślarová 148 selektives Lesen möglich. Obwohl es aber Kapitel gibt (z.B. ,Extremes Wetter‘), die thematisch von den anderen teilweise unabhängig und dadurch für den Leseeinstieg geeignet sind, können dem Leser verschiedene Zusammenhänge unklar sein und es ist deswegen empfehlenswert, das Buch doch linear zu lesen. ,Die BLV Wetterkunde‘ lässt sich nicht eindeutig einem Layouttyp zuordnen. Auf den ersten Blick sieht sie wie ein Lineartext aus, der durch Bilder, Karten, Schemata und Tabellen unterbrochen wird. Außer Tabellen und Übersichten (z.B. 106; 135), die eine notwendige Ergänzung des Fließtextes darstellen, kommen im Buch jedoch auch Tabellen, Übersichten, Aufzählungen und ergänzende Informationen vor, die unabhängig vom Fließtext gelesen werden können (z.B. 123; 154f.; 224; 276). In den angegebenen Kapiteln ist die Struktur also durch paralleles Layout geprägt. Solche Ergänzungen des Fließtextes sind nicht häufig, deswegen wird der reine/ partielle (vgl. mit dem Buch von K. Brandt) Lineartext als dominanter Layouttyp bestimmt. Das Parallellayout (hauptsächlich in K: WIW) ist für Kinder besser geeignet als Lineartext, da es das selektive Lesen ermöglicht. Die Kinder können in solchen Büchern kleine Abschnitte in beliebiger Reihenfolge lesen, was die Motivation erhöht. 3.3.2.1 Sprache-Bild-Verhältnis Bei der Wissensvermittlung verwendet man verschiedene Zeichensysteme. Relevant ist das Zusammenspiel von Sprach- und Bildmaterial. In Abb. 3 wird der Anteil an Bildmaterial in den analysierten Büchern quantitativ ausgewertet: <?page no="161"?> Meteorologiesachbücher für Kinder und Erwachsene 149 Buchtitel Bildanteil 18 (%) WAS IST WAS Bd. 007: Wetter. Sonne, Wind und Wolkenbruch. 55% Unser Wetter bärenstark erklärt 39% Die BLV Wetterkunde: Das Standardwerk 42% Das Wetter - Beobachten, verstehen, voraussagen 23% Abb. 3: Übersicht zum Bildanteil im Korpus In den Kinderbüchern lässt sich das Bildmaterial schwieriger als in den Büchern für Erwachsene quantifizieren, da es sich meistens um kleine Bilder an den Seitenrändern bzw. kleine Bilder unterschiedlicher Formen handelt. Zu den Bildern im Buch der Reihe ,WAS IST WAS‘ werden nicht die Bilder im Hintergrund gezählt, trotzdem ist der prozentuale Anteil von Bildern in diesem Buch am größten. Wie in Abb. 3 zu ersehen ist, wird ein (sehr) hoher Anteil des Inhalts in Bildern präsentiert. Es lässt sich allerdings nicht genau sagen, ob die Bilder in den Büchern für Kinder eine größere Rolle spielen als in den Büchern für Erwachsene. Man muss jedoch immer im Hinterkopf behalten, dass die Bilder unterschiedlichen Charakters sind. 19 4 Fazit Die vorgelegte Studie hat auf Grundlage eines Korpus von deutschen Sachbüchern aus dem Bereich der Meteorologie die Ausdrucksseite der Wissensvermittlung für Laien unterschiedlicher Altersstufen vorgestellt. Aus dem Vergleich von Strategien des Transferprozesses von wissenschaftlichen Ergebnissen für Kinder und für Erwachsene folgen in der Gestaltung der Buchoberfläche sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede. Gemeinsam ist beiden Typen von Sachbüchern der hohe Anteil an Bildern, obwohl die Formen von Bildmaterial in den einzelnen Typen von Büchern voneinander teilweise abweichen. Auch wenn 3 von 4 Büchern mit einem Vorwort eröffnet werden, unterscheidet es sich in seiner Form und im Inhalt. Wahrscheinlich durch Fach- 18 Zum verglichenen Bildmaterial werden außer Fotos und Zeichnungen auch Graphen und Schemata sowie Tabellen gezählt. 19 Diese Problematik wird wegen des begrenzten Umfangs dieses Aufsatzes im Rahmen des Artikels im Sammelband zur Tagung „Deutsch ohne Grenzen“ (s. oben) behandelt. <?page no="162"?> Eva Cieślarová 150 literatur zum Thema Meteorologie beeinflusst bieten alle Bücher gleich am Anfang das Thema Atmosphäre an. Es handelt sich jedoch in keinem der Bücher um das erste Kapitel, welches verschieden konzipiert wird. Sonst sind die Bücher thematisch schwer zu vergleichen, gemeinsam sind nur einige Teilthemen (s. oben). Aus der Sicht der Seitenanzahl und Schriftgröße wurden keine Spezifika für Kinderbücher und Bücher für Erwachsene festgestellt. Unterschiede zwischen den Kindersachbüchern und Sachbüchern für Erwachsene lassen sich im Format und Layout beobachten. Die Kinderbücher sind größer und verfügen über (teilweise) parallel geprägte Textstruktur, was für die Kinder zum Lesen motivierend ist. Die Bücher für Erwachsene sind zum linearen Lesen prädestiniert. Alle genannten Unterschiede wären bestimmt markanter, wenn ein Teil des Analysekorpus Bücher für 4-6bzw. 6-8-jährige Kinder bilden würde. Quellen Brandt, Karsten (2012): Das Wetter - Beobachten, verstehen, voraussagen. Köln: Anaconda. Feibel, Thomas (2014): Internet aber richtig! : Sicher im Netz unterwegs. Ravensburg: Ravensburger Buchverlag. Häckel, Hans (1993): Meteorologie. 3. Aufl., Stuttgart: UTB. Heiting, Mareile (2014): Internet für Senioren: E-Mails schreiben, einkaufen, sicher surfen. Bonn: Galileo Press. Koschak, Michaela (2013): Unser Wetter bärenstark erklärt. Haselünne: Machandel Verlag Charlotte Erpenbeck. Koschak, Michaela (2014): Entdecke das Wetter. Münster: Natur- und Tier-Verlag. Roth, Günter D. (2011): Die BLV Wetterkunde. Ein Standardwerk. München: BLV Buchverlag. 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Unter dem Gesichtspunkt der wissenschaftlichen und technologischen Forschung unterliegt dieses Gebiet heutzutage wichtigen Entwicklungen, die sich auch in der Prägung einer neuen Fachterminologie widerspiegeln. Die Sprache der Energiewende, insbesondere die Terminologie der erneuerbaren Energien, leistet einen grundlegenden Beitrag zur gegenwärtigen Innovation des Deutschen als Wissenschaftssprache. Im folgenden Beitrag wird diese Innovation im Verhältnis zur Internationalisierung der wissenschaftlichen Kommunikation beobachtet: Einerseits verbreiten sich dank dieser Kommunikation viele englische Fachwörter; andererseits sind jedoch auch deutsche einheimische Prägungen sehr erfolgreich (ein Beispiel ist das Wort Energiewende selbst, das in englischer Sprache als Fremdwort übernommen worden ist). 1 Einleitung In diesen Tagen hält das deutsche Wort Energiewende Einzug in die englische Sprache, wie vor langer Zeit Angst und Sauerkraut. Selbst die New York Times und der Economist benutzen es mittlerweile, wenn von Deutschlands historischem Plan die Rede ist, auf eine grüne, von erneuerbaren, nicht-nuklearen Energiequellen gespeiste Wirtschaft umzustellen. 1 Die Internationalisierung des Wortes Energiewende ist ein wichtiges linguistisches Signal, was die Rolle betrifft, die Deutschland bei der Entwicklung des wissenschaftlichen Bereiches der erneuerbaren Energien spielt. Gleichzeitig handelt es sich um ein interessantes Sprachkontakt-Phänomen, das für die Zukunft des Deutschen als Wissenschaftssprache im internationalen Kontext von Bedeutung sein könnte: Die Prägung des Wortes Energie- 1 Die Zeit, 15. November 2012, S. 18. <?page no="166"?> Federico Collaoni 154 wende wurde von amerikanischen wissenschaftlichen Forschungen über die erneuerbaren Energien in den 1970er Jahren inspiriert; seitdem fördert der Energiewende-Prozess weitere Studien über neue Technologien in den Bereichen der Windenergie, Solarenergie, Wasserkraft, Biomasse und Geothermie und diese Technologien benötigen neue Bezeichnungen. Im deutschsprachigen Kontext ist deswegen auch die Terminologie der erneuerbaren Energien von Bedeutung, die aufgrund des internationalen Prestiges Deutschlands in diesem Bereich auch in die internationale wissenschaftliche Kommunikation eintreten könnte. Im Folgenden werde ich einerseits den Internationalismus Energiewende analysieren und seine Wichtigkeit für das Deutsche als ‚Sprache der erneuerbaren Energien‘ erklären. Andererseits werde ich Beispiele auch für semantische und morphologische Strategien kurz beschreiben, mit denen die deutsche Sprache in diesem Fachbereich gegenüber dem Englischen als Sprache der wissenschaftlichen Kommunikation reagiert. 2 Zur Internationalisierung des Wortes Energiewende Die Prägung des Begriffes Energiewende sowie auch die Entstehung der Sprache der erneuerbaren Energien ist in den 1970er Jahren zu verorten: Zwei parallele Revolutionen ereigneten sich in dieser Periode in den Bereichen der Naturwissenschaft und der Sprachwissenschaft. Im ersten Fall geht es um eine neue Auffassung der Ökologie als Wissenschaft, die auf dem Begriff Ökosystem basiert. Zum ersten Mal wird dem Einfluss des Menschen auf die Natur und auf die Ökosysteme große Wichtigkeit zugeschrieben. Zudem wird mit der amerikanischen Ölkrise des Jahres 1973 klar, dass eine Wirtschaft in der die fossilen Brennstoffe zentral sind nicht mehr nachhaltig ist. In der Sprachwissenschaft handelt es sich um die »pragmatische Wende«: Viele linguistische Disziplinen, die sich bis zu den 1960er Jahren auf die Sprache als System konzentrierten, entwickeln sich in Richtung von kommunikationsorientierten Disziplinen. Unter diesen sind beispielsweise die Textlinguistik und die Fachsprachenforschung zu nennen. In diesem Kontext werden in den USA nach der Ölkrise die ersten wissenschaftlichen Studien im Bereich der erneuerbaren Energien gefördert, und ein wichtiges Produkt dieser Forschungen ist die Publikation von Amory Lovins, Soft Energy Paths. Towards a Durable Peace, die im Deutschen unter dem Titel Sanfte Energie. Für einen dauerhaften Frieden übersetzt wird. Das wissenschaftliche Interesse an erneuerbaren Energien steigt folglich auch im deutschsprachigen Raum, und im Jahr 1980 erscheint als Bericht des Freiburger Öko-Instituts der Band Energie-Wende. Wachstum und Wohlstand ohne Erd- <?page no="167"?> Terminologieentwicklungen im Bereich ‚Erneuerbare Energie‘ 155 öl und Uran, der von Florentin Krause und den Co-Autoren Hartmut Bossel und Karl-Friedrich Müller-Reißmann verfasst wird. Ihre Idee war es, „Lovins’ theoretische Überlegungen […] zur sanften Energie auf deutsche Verhältnisse zu übertragen“ 2 . Sowohl der Begriff ‚Energiewende‘ als auch die Terminologie der erneuerbaren Energien entstehen also in einem wichtigen Moment für die Naturwissenschaft. Neue ökologische Themen werden zum ersten Mal untersucht, und in der Sprachwissenschaft wird der Kommunikation im Laufe der pragmatischen Wende große Bedeutung zugeschrieben, wie diese Themen behandelt werden − interessante Resultate dieser zwei parallelen Revolutionen sind die Disziplinen Ökolinguistik und ökokritische Diskursanalyse. Was die Entwicklungen des Deutschen als Wissenschaftssprache in dieser Periode betrifft, so bildet die Fachsprache der erneuerbaren Energien eine Entwicklung einer neuen Auffassung der Naturwissenschaft und ihrer Sprache ab, die mit der Entstehung der modernen Ökologie und mit neuen sprachwissenschaftlichen Interessen für diesen Bereich verbunden ist. In den 1980er Jahren unterliegt die Sprachverwendung in Deutschland aufgrund der besonderen sozialpolitischen Situation weiteren Veränderungen: Die Sprache der Politik spielt eine immer wichtigere Rolle, was die Kommunikation von ‚brisanten‘ Themen betrifft. „Mit einer Wende in der Energiepolitik soll nicht nur eine andere Energieversorgung geschaffen werden. Es sollen auch andere Akteure her. Damit identifizieren sich grüne Politiker und der Begriff Energiewende ist ein Synonym für eine andere, alternative Energieversorgung.“ (Maubach 2013: 45) So bekommt dieser Begriff über die politischen Vertreter einer nichtnuklearen Zukunft eine gewisse Konnotation, die dem Begriff die Merkmale eines Schlagwortes bzw. eines programmatischen Wortes verleiht: „Im Lauf der achtziger Jahre wurde der Begriff Energiewende von den Grünen, von verschiedenen Graswurzelbewegungen und von der alternativen Presse […] aufgegriffen. Auch nahm er konkrete Formen an, als grüne Politiker zusammen mit linken Sozialdemokraten detaillierte Pläne ausbreiteten, wie man Kernbrennstoffe und fossile Energieträger ersetzen könnte.“ 3 Im Allgemeinen unterliegen bestimmte Wörter der Wissenschaftssprache in dieser Periode einer Entterminologisierung, und sie treten in den politischen und sozialen Diskurs ein, vor allem sofern sie mit wichtigen Tatsachen verbunden sind: Ein Beispiel aus dem Bereich der Energie ist das Wort Störfall, 2 Die Zeit, 15. November 2012, S. 18. 3 Die Zeit, 15. November 2012, S. 18. <?page no="168"?> Federico Collaoni 156 für dessen Entwicklung die Atomkatastrophe von Tschernobyl (1986) zentral ist: „Der Ausdruck Störfall stammt aus dem technischen Sprachgebrauch, wurde in den 70er und frühen 80er Jahren von dort in juristische Texte (Störfall-Leitlinien, Störfall-Verordnung) übernommen und in bestimmter Weise inhaltlich festgelegt. Da diese Festlegung sich in wichtigen Punkten nicht mit der Verwendung von Störfall im allgemeinen Sprachgebrauch deckt und zum Teil im Widerspruch zum öffentlichen Sprachbewußtsein steht, kann man zwei unterschiedliche Verwendungsweisen von Störfall unterscheiden: (1) im technischen und juristischen Sprachgebrauch, (2) im allgemeinen und öffentlichen Sprachgebrauch.“ (Haß 1989: 525) Die Verbreitung von Fachwörtern in der öffentlichen Kommunikation anlässlich der Katastrophe von Tschernobyl beschreibt auch die deutsche Autorin Christa Wolf in ihrem literarischen Werk Störfall: „Die Art Strahlen, lieber Bruder, von denen ich rede, sind gewiss nicht gefährlich. In einer unbekannten Weise durchqueren sie die verseuchten Luftschichten, ohne sich anzustecken. Das Fachwort ist: kontaminieren. (Während du schläfst, Bruder, lerne ich neue Wörter)“ (Wolf 1987: 10). Im Fall von Energiewende war für die Entwicklung des Wortes der Prozess zur Wiedervereinigung Deutschlands mit dem Ausdruck Wende ausschlaggebend: Auf diese Weise wird dieser Ausdruck zu einem Begriff, der die Geschichte und vor allem die kulturelle Identität Deutschlands prägt. Folglich wird auch Energiewende immer mehr mit einem Prozess assoziiert, für den sich Deutschland im Bereich der erneuerbaren Energien auszeichnet. Die derzeitige Internationalisierung dieses Wortes ist genau mit dieser Einzigartigkeit des Ausdrucks Wende und mit seinen Konnotationen verbunden: Mögliche englische Übersetzungen für Energiewende wären: „energy transition (Energieübergang), energy revolution (Energierevolution), energy transformation (Energiewandel), […] Der ‚Energie‘-Teil des Ausdrucks ist nicht das Problem. Mit der ‚Wende‘ ist es schwieriger. Sie kann als turn (Wendung, Wende), rebound (Rückprall) […] übersetzt werden. Und natürlich wuchs dem Wort ‚Wende‘ im Deutschen in den frühen neunziger Jahren eine neue Bedeutung zu, als es auf den Zusammenbruch der DDR und die Kette von Ereignissen gemünzt wurde, die zur Wiedervereinigung führten.“ 4 Der Ausdruck the Energiewende wird heute oft in englischsprachigen wissenschaftlichen Studien verwendet: „The Energiewende […] might […] become as permanent a part of other languages as Kindergarten, angst or schaden- 4 Die Zeit, 15. November 2012, S. 18. <?page no="169"?> Terminologieentwicklungen im Bereich ‚Erneuerbare Energie‘ 157 freude“ (Buchan 2012: 4). Der Autor verwendet auch den Ausdruck the Atomausstieg, beim ersten Vorkommen mit der Übersetzung nuclear exit in Klammern. 3 Integration von englischen Fachwörtern Das Englische hat jedoch in Bezug auf die wissenschaftliche Terminologie im Bereich der erneuerbaren Energien eine wichtige Funktion in der internationalen Kommunikation. Dies wird am Beispiel des Wortes Recycling deutlich, das nicht als Fachterminus des Bereiches zu verstehen ist, das aber mit den Bereichen Photovoltaik und Biomasse verbunden wird (man spricht von Recycling von Stoffen für die Herstellung von Solarmodulen oder von Recycling des von der Biomasse getrennten Ammoniaks). „Die Versuche, Recycling durch deutsche Begriffe wie „Neu-“ oder „Wiederverwertung“, „Rohstoffkreislauf“ oder „-rückgewinnung“ zu ersetzten, hatten keinen Erfolg. Auch die von dem Substantiv abgeleiteten Verb- und Adjektivformen recyceln und recyclebar sind mittlerweile als Fremdwörter in die deutsche Sprache integriert.“ (Wahrig-Burfeind 2008: 1208) Weitere Anglizismen, die zur Fachsprache des Bereiches Energie gehören, sind Repowering und Fracking: Obwohl auf lexikalischer Ebene verschiedene englische Wörter in solchem Bereich verwendet werden, zeigt der Fall von Recycling, dass das Deutsche gegenüber dem englischen Einfluss auf verschiedene Sprachsystemebenen reagiert − in diesem Fall auf morphologischer Ebene. Im Fall des fachlichen Anglizismus Repowering, der als Fremdwort ins Deutsche entlehnt wird, kann man an eine Integration denken, die auf semantischer Ebene eintritt: Englischsprachige Definitionen (zum Beispiel im Glossar der Energy Information Administration (URL 2): „Refurbishment of a plant by replacement of the combustion technology with a new combustion technology, usually resulting in better performance and greater capacity“) beschreiben das Repowering als ein Verfahren, das Kraftwerke im Allgemeinen betreffen kann. Im Deutschen wird hingegen der Begriff vor allem mit dem Bereich der Windkraft assoziiert (Vgl. beispielsweise die Definition der Webseite des Bundesministeriums für Umwelt Naturschutz und Reaktorsicherheit (URL 3): „Allgemein wird als Repowering das Ersetzen bestehender älterer Windenergieanlagen durch neue leistungsstarke Windenergieanlagen bezeichnet“). An diesem Beispiel zeigt sich der Terminologisierungsprozess in einer spezifischen Branche, die in Deutschland im Vergleich zu englischsprachigen Ländern wichtiger ist. Verschiedene deutschsprachige <?page no="170"?> Federico Collaoni 158 Presseartikel, in denen das Thema der Windenergie in Deutschland behandelt wird, bieten ähnliche Definitionen und Beschreibungen des Terminus Repowering an: „Doch nun nörgelt auch der Norden. Viele Altanlagen werden dort derzeit gegen neue, leistungsstärkere Turbinen ausgetauscht (Stichwort: „Repowering“). Die sind statt 50 nun mehr als 150 Meter hoch, haben Blinklichter, damit keine Flugzeuge reinsausen, und durchwirbeln lärmend die Luft.” 5 „Bedingung ist, dass die alten Anlagen abgerissen werden, ein Verfahren, das in der Branche "Repowering" genannt wird. Die besten Windstandorte sollen mit möglichst effizienten Anlagen besetzt sein, ein vernünftiger Gedanke.” 6 Das Wort Fracking 7 stammt seinerseits aus dem Bereich der Geothermie 8 und es ist eine Abkürzung für das Englische hydraulic fracturing - hydraulische Stimulation in der deutschen Terminologie dieses Bereiches. Nachdem das Fracking-Verfahren in den USA für die Förderung von Erdöl und Erdgas angewandt wurde, ist der Anglizismus als Fremdwort auch in den deutschen Medien sehr erfolgreich: 5 Der Spiegel, 1. Juli 2013, S. 102. 6 Der Spiegel, 8. Oktober 2012, S. 27. 7 „Mit Fracking (Kurzform für: Hydraulic Fracturing) wird eine Fördermethode bezeichnet, mittels der Erdgas (auch Erdöl) aus bisher nicht zugänglichen tiefliegenden Gesteinsschichten […] gefördert werden kann. Zunächst wird eine vertikale Tiefbohrung auf das Niveau der Gesteinsschicht abgeteuft, die das Schiefergas enthält. […] Auf diesem Niveau erfolgen dann diverse Horizontalbohrungen mit einer Länge von 600 m bis zu mehreren km. Bei „konventionellen“ Erdgasvorkommen ist der Untergrund so durchlässig, dass das Gas von sich aus zur Förderbohrung strömt, bei „unkonventionellen“ Vorkommen muss das Gestein erst aufgebrochen werden, damit es durchlässig für den Gasfluss wird. Dazu wird ein Gemisch aus Wasser, Sand und Chemikalien (sog. Frack-Fluid) unter sehr hohem Druck […] in die Bohrrohre gepresst, deren Wände im Bereich der Lagerstätten perforiert sind, damit das Frack-Fluid in das Gestein eindringen und umgekehrt das dadurch freigesetzte Gas in das Bohrsystem einströmen kann“ (URL 1). 8 „Hot Dry Rock (HDR)-Systeme […] sind trockene Gesteinsformationen, die übertägig zugeführtes Wasser nutzen. Das Wasser nimmt die Wärme des Untergrundes über die natürlichen oder zuvor durch Stimulation künstlich geschaffenen Wärmetauscherflächen auf und transportiert es an die Oberfläche. […] Ist die natürliche Durchlässigkeit des Gesteins gering, so dass der Wasserdurchsatz zu niedrig und die Fläche für einen effektiven Wärmeaustausch zu klein ist, werden mit speziellen Stimulationsmethoden künstliche Risse im Gestein erzeugt. Eine Methode ist die hydraulische Stimulation (Hydraulic Fracturing), ein in der Erdöl und Erdgasindustrie gängiges Verfahren. In den 1940er Jahren entwickelt und ständig weiter verbessert, wird es eingesetzt, um die Produktivität von Bohrungen gezielt zu erhöhen“ (Huenges 2012: 64). <?page no="171"?> Terminologieentwicklungen im Bereich ‚Erneuerbare Energie‘ 159 „Allein in den vergangenen fünf Jahren sind Dutzende neuer Tanks dazugekommen. […] Auslöser ist der Energieboom, den die USA gerade erleben, weil sich mithilfe einer neuen Förderungsmethode, des sogenannten Frackings, auch Gas- und Ölfelder erschließen lassen, deren Gesteinsschicht bis von wenigen Jahren als unergiebig galt.“ 9 „Seit die amerikanischen Bohrexperten ein Verfahren nutzen, mit dem sich Öl- und Gasmoleküle aus dichtem Schiefergestein herauspressen lassen, das sogenannte „Fracking“, hat sich die Lage fundamental geändert.“ 10 Dazu ist auch die Nutzung der substantivierten Variante, das Fracken, zu beobachten: „Das Fracken zur Erschließung von Schiefergas bliebe tabu. Andere Bundesländer, darunter NRW, lehnen die Methode ab. Noch vor der Sommerpause will die Bundesregierung eine gesetzliche Regelung gefunden haben.“ 11 „In der stärksten Szene des Films zeigt Fox einen Mann, der mit einem Feuerzeug einen Wasserhahn in Brand steckt; Fox behauptet, das Fracken habe das Grundwasser mit giftigem Gas verseucht.“ 12 Einerseits wird also auf lexikalischer Ebene nicht der einheimische Ausdruck hydraulische Stimulation verwendet, sondern die englische Abkürzung Fracking gewählt. Andererseits reagiert jedoch die deutsche Sprache auf morphologischer Ebene, indem das englische Verb to frack einem für das Deutsche typischen Substantivierungsverfahren unterliegt und in die grammatikalische Struktur dieser Sprache integriert wird: „Beim Wortbildungsverfahren der deverbalen Konversion […] erscheint ein Verb in einer für das Nomen typischen Umgebung als nominalisierter Infinitiv […]. In Verbindung mit Präpositionen können nominalisierte Infinitive auf kompaktere Weise das gleiche ausdrücken wie satzförmige Adjunkte mit Konjunktionen. Insbesondere in den Fach- und Wissenschaftssprachen bedient man sich gerne dieser Raffungs- und Straffungsmöglichkeit: ‚Durch Zugeben von Königswasser [statt „in dem man Königswasser zugibt“] wird das Silber in Form von weiβen Flocken aus der Legierung ausgefällt.‘“ (Weinrich 2005: 981—983) Ein weiterer Ausdruck, der zur deutschen Fachterminologie des Bereiches erneuerbare Energie gehört, ist hinsichtlich des Sprachkontakts zwischen Englischem und Deutschem besonders interessant: Es handelt sich um das 9 Die Zeit, 13. März 2014, S. 28. 10 Der Spiegel, 28. Januar 2013, S. 64. 11 Der Spiegel, 7. Juni 2014, S. 74. 12 Der Spiegel, 28. Februar 2011, S. 66. <?page no="172"?> Federico Collaoni 160 Syntagma intelligentes Verteilernetz, das eine Lehnübersetzung des englischen Modelles Smart (Power)Grid ist. Auf lexikalischer Ebene ist zu bemerken, dass das Adjektiv smart mit dem einheimischen Wort intelligent übersetzt wird, während in vielen anderen Fällen - und insbesondere in der Fachsprache der Medientechnologien - dasselbe Adjektiv unverändert bleibt: Im Deutschen sind englische Namen von Produkten wie Smart Card, Smartphone und auch Smart-TV sehr verbreitet: „Smartcard […] auch: Smart Card […] = Chipkarte [‹engl. smart „intelligent“ + card „Karte“]“ (Wahrig-Burfeind 2008: 1366) „Die Internettechnologie erreicht das Gesundheitswesen. Viele neue Firmen versuchen, mit Software und Smartphones das Leben der Patienten zu erleichtern“ 13 „Er ist in bester Gesellschaft, Forscher finden immer neue Sicherheitslücken bei Smart-TVs diverser Hersteller.“ 14 Es ist deshalb von Bedeutung, dass im Bereich der erneuerbaren Energien eine deutsche Lehnübersetzung für einen Ausdruck geprägt worden ist, der normalerweise nicht übersetzt wird. In einer Ausgabe der Fachzeitschrift ‚Spektrum der Wissenschaft‘, die den erneuerbaren Energien und den entsprechenden Infrastrukturen gewidmet ist, wird das deutsche Syntagma intelligentes Verteilernetz verwendet und das englische Modell folgt in Klammern: „Die Rechnung geht aber nur auf, wenn die Solarstromerzeugung mit dem Verbrauch in Einklang gebracht werden kann: durch den Ausbau von Stromspeichern aus Wasserstoff, Druckluft oder großen Akkumulatoren sowie durch ein intelligentes Verteilernetz (Smart Grid), das elektrische Verbraucher wie Waschmaschinen erst startet, wenn die Sonne scheint.“ 4 Zusammenfassung Beispiele wie Repowering und Fracking zeigen, dass das Englische als Sprache der internationalen wissenschaftlichen Kommunikation eine wichtige Rolle spielt und einen gewissen Einfluss auf das Deutsche hat. Nichtsdestoweniger ist das Fachgebiet der erneuerbaren Energien für das Deutsche als Wissenschaftssprache von besonderer Bedeutung. Auf lexikalischer Ebene signalisieren der Internationalismus Energiewende und der deutsche Fachausdruck intelligentes Verteilernetz, dass auch Deutschland und seine 13 Der Spiegel, 17. Dezember 2012, S. 96. 14 Der Spiegel, 17. Februar 2014, S. 128. <?page no="173"?> Terminologieentwicklungen im Bereich ‚Erneuerbare Energie‘ 161 Sprache wichtige Funktionen haben, was die technologische und sprachliche Entwicklung in diesem Gebiet betrifft. Anzeichen dafür sind auch semantische und morphologische Strategien, mit denen das Deutsche englisches Sprachmaterial in seine Strukturen integriert: Da das wissenschaftliche Thema der erneuerbaren Energien sehr aktuell und für die Zukunft Deutschlands prägend ist, wird folglich auch die Sprache sehr lebendig und vielen Veränderungen unterliegen. In diesem Sinn lassen sich die Energiewende und die erneuerbaren Energien als Bereiche bestimmen, die für die aktuelle und künftige Entwicklung des Deutschen als Wissenschaftssprache im internationalen Kontext sehr vielversprechend zu sein scheinen. Quellen Der Spiegel, 28.02.2011. Der Spiegel, 08.10.2012. Der Spiegel, 17.12.2012. Der Spiegel, 28.01.2013. Der Spiegel, 01.07.2013. Der Spiegel, 17.02.2014. Der Spiegel, 07.06.2014. Die Zeit, 15.11.2012. Die Zeit, 13.03.2014. Elektronische Quellen URL 1: http: / / www.agenda21-treffpunkt.de/ dossier/ Fracking [05.12.2013]. URL 2: http: / / www.eia.gov/ tools/ glossary/ index.cfm [15.06.2014]. URL 3: http/ / www.erneuerbare-energien.de/ erneuerbare_energien/ wind energie/ repowering [08.11.2013]. Literatur Buchan, David (2012): The Energiewende - Germany's Gamble. Oxford: Oxford Institute for Energy Studies. Haß, Ulrike et al. (1989): Brisante Wörter von Agitation bis Zeitgeist. Ein Lexikon zum öffentlichen Sprachgebrauch. 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Jahrhundert Abstract Es ist oft konstatiert worden (z.B. von Ammon 1998), dass das Deutsche seit dem frühen 20. Jahrhundert als internationale Wissenschaftssprache an Bedeutung verloren hat und heute nur noch in einigen Bereichen der Geisteswissenschaften eine wichtige Rolle spielt. In großen Teilen der Wissenschaften (v.a. in den Naturwissenschaften) nimmt die Dominanz des Englischen immer mehr zu. Diese Tatsache ist in vielen Publikationen beklagt und auf vielen Konferenzen diskutiert worden, es ist jedoch nicht gelungen, den Trend zu verlangsamen oder gar aufzuhalten. Aber auch wenn das Deutsche in vielen Fachgebieten nur noch eine bescheidene Rolle in der internationalen wissenschaftlichen Kommunikation spielt, ist die Wissenschaftssprache für die deutsche Sprachgemeinschaft und für die deutschsprachigen Länder immer noch von großer Bedeutung. Dieser Beitrag diskutiert die Vor- und Nachteile des Englischen als lingua franca der Wissenschaft und macht auf aktuelle Gefahren für die deutsche Wissenschaftssprache aufmerksam. Zum Schluss macht er einige konkrete Vorschläge zur Stärkung des Deutschen als Wissenschaftssprache. 1 Einleitung Die wachsende Bedeutung der englischen Sprache in der Wissenschaft und der entsprechende Rückgang des Deutschen sind gut dokumentiert und ausgiebig diskutiert worden. Ulrich Ammon hat sich eingehend in zahlreichen Veröffentlichungen zu den Themen Deutsch als Wissenschaftssprache bzw. die Dominanz des Englischen in der Wissenschaft geäußert. Aufgrund von Analysen bibliographischer Datenbanken verschiedener Disziplinen aus verschiedenen Ländern hat er den wachsenden Anteil des Englischen über einen Zeitraum von 125 Jahren nachgezeichnet und in Zahlen und Diagrammen anschaulich gemacht (s. Abb. 1). <?page no="176"?> Christopher Hall 164 Abb. 1: Sprachanteile an den naturwissenschaftlichen Publikationen weltweit 1880— 2005 in Prozent (Ammon 2010: 319) Am stärksten ist die Dominanz des Englischen in den theoretischen Naturwissenschaften, in den angewandten Naturwissenschaften spielen andere Sprachen, u.a. das Deutsche, eine vergleichsweise größere Rolle. In den Sozialwissenschaften ist die Entwicklung (noch) nicht so weit gegangen. Deutsch lag 2005 bei 7,2% der internationalen Publikationen, etwa gleich stark wie Französisch, während Englisch bei 76% lag. Für die Geisteswissenschaften ist es schwieriger, Zahlen anzugeben, aber in einigen Bereichen hat das Deutsche noch eine bedeutende internationale Rolle. Ammons Zahlen sprechen eine deutliche Sprache, auch wenn sie gelegentlich in Frage gestellt werden, z.B. von dem mexikanischen Forscher Rainer Enrique Hamel (2007). Hamel weist darauf hin, dass die meisten bibliographischen Datenbanken den Anteil von Englisch in Publikationen überbetonen, weil sie hauptsächlich englischsprachige Zeitschriften und Serien enthalten. Er argumentiert, dass französische und spanischsowie portugiesischsprachige Publikationen in Ammons Zahlen unterrepräsentiert sind. Die Frage der Wissenschaftssprache in diesen Ländern verdiente es, weiter untersucht zu werden. Trotz dieser Einschränkungen gibt es aber keinen Zweifel, dass der Anteil des Englischen an der internationalen wis- <?page no="177"?> Aufgaben, Gefahren und Aussichten für die deutsche Wissenschaftssprache 165 senschaftlichen Kommunikation in den letzten Jahrzehnten erheblich zugenommen hat und dass dabei andere Sprachen, zu denen das Deutsche zählt, verdrängt worden sind. 2 Aufgaben und Bedeutung der deutschen Wissenschaftssprache heute Angesichts der eben skizzierten Entwicklung muss man sich fragen: Was sind die Aufgaben und was ist die Bedeutung der deutschen Wissenschaftssprache heute? Ich gehe davon aus, dass auf vielen wissenschaftlichen Gebieten die Hauptaufgabe der deutschen Wissenschaftssprache darin liegt, der eigenen Sprachgemeinschaft zu dienen. Ausnahmen, in denen Deutsch immer noch eine wichtige internationale Rolle hat, gibt es in den Sozialwissenschaften und v.a. in den Geisteswissenschaften. Sonst ist die Stellung des Deutschen als internationale Wissenschaftssprache zweitrangig. Deutsch ist hier in der gleichen Position wie andere Nationalsprachen, die alle die wichtige Aufgabe haben, der eigenen Sprachgemeinschaft zu dienen. Das bedeutet für mich, dass überall, wo die deutsche Sprachgemeinschaft ein Interesse an den Forschungsergebnissen hat, die deutsche Sprache benutzt werden soll. Dies heißt natürlich nicht, dass ausschließlich Deutsch benutzt werden soll, aber es bedeutet, dass auch Deutsch benutzt werden sollte. Es ist also m.E. nicht im Interesse der deutschsprachigen Länder zuzulassen, dass Deutsch von Englisch komplett, oder nahezu komplett, verdrängt wird, was bei den wissenschaftspolitischen Entscheidungen der deutschsprachigen Länder berücksichtigt werden sollte. 3 Vor- und Nachteile von Englisch als lingua franca Es gibt zweifellos Vor- und Nachteile von einer lingua franca der Wissenschaft oder einer dominanten internationalen Wissenschaftssprache. 3.1 Vorteile Drei Vorteile der Anglizierung der Wissenschaft werden immer wieder in der Diskussion genannt: - Die internationale Kommunikation wird erleichtert. Die Kommunikation zwischen Wissenschaftlern aus verschiedenen Ländern ist zweifellos leichter, wenn alle eine gemeinsame Sprache haben, und diese Sprache ist <?page no="178"?> Christopher Hall 166 heute Englisch. Allerdings handelt es sich bei Nicht-Muttersprachlern häufig um ein stark vereinfachtes Englisch, ‚English as a Lingua Franca‘ (ELF), das an ‚Basic English‘ (Ogden 1930) oder ‚Globish‘ (McCrum 2010) erinnert. Diese Sprache reicht vielleicht zu Zwecken der Berichterstattung über Forschungsergebnisse, aber kaum für den Forschungsprozess selbst; - Eine größere Beachtung deutscher Forschungsergebnisse, v.a. in der englischsprachigen Welt (dasselbe gilt natürlich für alle nichtenglischen Forschungsergebnisse); - Zeitersparnis: Wissenschaftler auf der ganzen Welt müssen nur eine Fremdsprache, das Englische, lernen (Schätzungen, wie viel Zeit man braucht, um eine Fremdsprache wirklich gut zu lernen, gehen bis zu 10 000 Stunden, vgl. Eaton 2011). 3.2 Nachteile (aus der Sicht des Deutschen) Der Gebrauch des Englischen bringt aber auch eine Reihe von Nachteilen für deutschsprachige Wissenschaftler (und für Sprecher anderer Sprachen) mit sich. Diese Punkte sind in anderen Werken besprochen worden, z.B. Ammon (1998), Ehlich (2000), Mocikat et al. (2005), Klein (2007) und werden deshalb hier nur kurz aufgezählt. - Die Kommunikation im deutschen Sprachraum wird erschwert. Das betrifft sowohl den wissenschaftlichen Austausch unter Fachleuten wie auch die Rezeption und Anwendung ihrer Ergebnisse. - Die Beziehung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft wird gestört. U.a. werden die demokratische Kontrolle über die Wissenschaft und die Information der Öffentlichkeit über ethische Aspekte der wissenschaftlichen Arbeit erschwert, wenn Ergebnisse nur in einer Fremdsprache vorliegen (vgl. Ehlich 2000: 55f.). - Drohender Ausbaurückstand und Domänenverlust im Deutschen: Wenn eine Sprache in gewissen Fachgebieten nicht verwendet wird, wird die Terminologie nicht weiter entwickelt (=Ausbaurückstand) und es wird unmöglich, über neuere Themen dieser Fachgebiete zu sprechen (=Domänenverlust). Einige der deutschen Informatiker, Biophysiker und Geographen, die ich 2011—2012 im Rahmen einer Befragung interviewt habe, waren der Meinung, dass das auf ihrem Fachgebiet schon jetzt der Fall sei. - Verlust an Kreativität: Es ist erheblich schwieriger, kreativ zu arbeiten in einer Sprache, die man nicht richtig beherrscht, als in der Muttersprache. Wie der niederländische Physiker Hendrik Casimir (1991: 575) es ausdrückte: „Man denkt, was man formulieren kann, und formulieren tut man am besten in der Muttersprache“. Der Verlust an Kreativität kommt <?page no="179"?> Aufgaben, Gefahren und Aussichten für die deutsche Wissenschaftssprache 167 auch in der Terminologie zum Ausdruck, wenn man statt eigene neue Termini zu schaffen sich einfach damit begnügt, englische Termini zu übernehmen. - Abnehmendes Interesse ausländischer Wissenschaftler, Deutsch zu lernen. Früher war es für britische und amerikanische Chemiker selbstverständlich, so viel Deutsch zu können, dass sie Fachartikel auf Deutsch lesen konnten. Das ist schon lange nicht mehr der Fall, im Gegenteil: sogar viele in Deutschland arbeitende ausländische Wissenschaftler haben das Gefühl, dass es nicht nötig ist, Deutsch zu lernen, weil nicht nur die Publikationen, sondern auch die Arbeit im Labor und sogar die Lehre an den Universitäten auf Englisch gemacht werden kann. - Abnehmende Beachtung wissenschaftlicher Arbeiten, die auf Deutsch verfasst sind. Es besteht die Gefahr eines Teufelskreises: je weniger auf Deutsch publiziert wird, desto weniger werden deutschsprachige Publikationen beachtet. - Wenn auf Englisch gelehrt wird, besteht die Gefahr eines Niveauverlusts der Lehre an deutschen Universitäten, weil die sprachlichen Voraussetzungen bei Lehrenden und Studierenden nicht ausreichen. Zwei wichtige neuere Studien zu diesem Thema sind Fandrych/ Sedlaczek (2012a) und (2012b). 4 Aktuelle Gefahren für die deutsche Wissenschaftssprache Neben diesen häufig diskutierten Punkten gibt es m.E. drei Bereiche, die heute für die deutsche Wissenschaftssprache besonders kritisch sind und die hier näher betrachtet werden sollen. Es handelt sich um: - die internationalen Rankinglisten - europäische Organisationen - das Desinteresse von deutschen Wissenschaftlern und deutschen Wissenschaftsorganisationen 4.1 Die internationalen Rankinglisten Heutzutage spielen Rankinglisten, v.a. von Universitäten und wissenschaftlichen Zeitschriften, eine wichtige Rolle in der Bewertung und Finanzierung von Wissenschaft. Der Glaube an die Bedeutung und Richtigkeit der Rankinglisten ist völlig irrational: Die Kriterien sind unklar oder sogar teilweise unsinnig. 1 Trotz der 1 Beispiele dafür sind nicht schwer zu finden. Die Zeit berichtet z.B. Folgendes über die Shanghai-Liste (04.11.2009): „Die Humboldt-Uni und die Freie Universität […] sind seit <?page no="180"?> Christopher Hall 168 scharfen Kritik werden die Listen benutzt, als ob sie eine objektive Bilanz der Situation darstellen würden. Das Gegenteil ist der Fall: englischsprachige Universitäten und Zeitschriften werden bevorzugt, und die wissenschaftlichen Leistungen anderer Länder werden unterschätzt. Eine positive Konsequenz der zunehmenden Benutzung der englischen Sprache ist wie gesagt eine größere Beachtung deutscher Forschungsergebnisse, v.a. in der englischsprachigen Welt. Das hat allerdings nicht etwa zu einem Prestigegewinn für die deutsche Forschung und die deutschen Universitäten geführt. Stattdessen hat die Dominanz der englischen Sprache zu einer Überbewertung der Qualität der Universitäten in den englischsprachigen Ländern geführt, jedenfalls wenn man sich die Rankinglisten ansieht. Nach der viel zitierten, wenn auch häufig kritisierten 2 Shanghai-Liste finden sich unter den besten 20 Universitäten der Welt fast ausschließlich solche in englischsprachigen Ländern (16 in den USA, 3 in Großbritannien und neuerdings auf Platz 19 die ETH Zürich). Die höchstplatzierten deutschen Universitäten sind die Universität Heidelberg und die LMU München (auf dem geteilten Platz 49), und nur vier deutsche Universitäten sind unter den besten hundert zu finden: neben den bereits genannten die TU München und Bonn. Unter den ersten 50 Universitäten in dieser Liste sind 40 aus englischsprachigen Ländern (USA 32, GB 6, Kanada 2). 3 Damit soll keineswegs bestritten werden, dass es sehr gute Universitäten in den englischsprachigen Ländern gibt. Die Rankinglisten unterschätzen aber die Qualität von Universitäten in anderen Ländern, u.a. in den deutschsprachigen Ländern, und stellen so eine echte Gefahr für das Ansehen der deutschen Wissenschaft und Deutsch als Wissenschaftssprache dar. 4.2 Europäische Organisationen Die EU gibt vor, ein mehrsprachiges Europa zu fördern, und das tut sie auch in manchen ihrer Aufgabenbereiche. Aber während die EU prinzipiell die Mehrsprachigkeit fördert, führen ihre praktischen Beschlüsse oft zur Bevorzugung einer einzigen Sprache, des Englischen. längerem disqualifiziert, weil sie sich nicht einigen können, wer die Nobelpreisträger der alten Berliner Universität für sich beanspruchen darf“ (Abrufbar unter: http: / / www.Zeit.de/ wissen/ 2009—2011/ weltweites-hochschulranking). Es wäre aber wichtig zu fragen, welche Bedeutung solche historischen Nobelpreisträger u.ä. für die heutige Qualität der Universitäten haben. 2 Vgl. z.B. Shin et al. (2011). 3 Die aktuelle Liste vom Jahr 2014 findet man unter http: / / www.shanghairanking.com/ ARWU2014.html. <?page no="181"?> Aufgaben, Gefahren und Aussichten für die deutsche Wissenschaftssprache 169 Andere europäische Organisationen haben sich nicht der Mehrsprachigkeit verpflichtet, sondern benutzen als einzige Sprache Englisch. Im Folgenden soll das Beispiel der Europäischen Wissenschaftsstiftung EWS (englische Abkürzung: ESF) näher beleuchtet werden. Die EWS benutzt Englisch für die interne und externe Kommunikation und ihre Internetseiten (http: / / www.esf.org/ home.html) sind einsprachig englisch. Vor einigen Jahren wurden ‚Versionen‘ der Internetseiten in anderen Sprachen angeboten, aber es zeigte sich, dass diese von ‚Google-Übersetzer‘ stammten, und ihre Qualität war sehr schlecht. Ein Projekt der EWS im Bereich der Geisteswissenschaften war ERIH (‚European Reference Index for the Humanities‘). 4 ERIH veröffentlichte 2007 Listen von Zeitschriften in 14 Bereichen der Geisteswissenschaften mit dem erklärten Ziel, die Sichtbarkeit der europäischen Forschung in verschiedenen Sprachen zu erhöhen. Die Zeitschriften wurden in die Kategorien A, B und C eingeteilt, wobei diese Kategorien nach ERIH nicht die Qualität der Zeitschriften, sondern Faktoren wie Verbreitung, Leserschaft und Häufigkeit von Zitierungen beschreiben sollten. Leider hat das Projekt genau das Gegenteil von dem ursprünglichen Ziel erreicht, weil die Definitionen der Kategorien dafür sorgten, dass Publikationen auf Englisch durchweg höher bewertet wurden als die in anderen Sprachen. Nach heftiger Kritik von vielen Seiten 5 wurden 2011 bei einer Überarbeitung der Listen die Kategorien A, B und C in INTERNATIONAL1, INTER- NATIONAL2 und NATIONAL umbenannt und eine Kategorie W für neue Zeitschriften eingeführt. Das Problem der Definitionen der Kategorien blieb aber, z.B. wurde die oberste Kategorie wie folgt definiert: „INT1: internationale Publikationen mit hoher Sichtbarkeit und hohem Einfluss unter Forschern in den unterschiedlichen Forschungsbereichen in verschiedenen Ländern, und die regelmäßig in der ganzen Welt zitiert werden.“ (ERIH 2011; Übersetzung: C.H.) Durch die Betonung der Verbreitung („in der ganzen Welt“) werden Sprachen, die kleiner als Englisch sind, deutlich benachteiligt. Wie sich das auswirkt, wird klar, wenn man sich die Liste für Sprachwissenschaften (‚Linguistics‘) ansieht. Abb. 2 zeigt die Anzahl der Zeitschriften in den verschiedenen Kategorien: 4 S. https: / / dbh.nsd.uib.no/ publiseringskanaler/ erihplus/ about/ index. 5 Z.B. von den Herausgebern von 45 Zeitschriften, die u.a. schrieben: „This initiative is entirely defective in conception and execution“ (s. Journals under threat 2009). <?page no="182"?> Christopher Hall 170 ERIH-Liste Sprachwissenschaften Kategorie 2007 Kategorie 2011 A 97 INT1 81 B 211 INT2 193 C 276 NAT 251 W 16 Insges. 584 Insges. 541 Abb. 2: ERIH-Liste Sprachwissenschaften 2007 und 2011 Wenn man die obersten Kategorien (A bzw. INT1) nimmt und sie nach Sprachen einteilt, ergibt sich folgendes Bild: ERIH: oberste Kategorien nach Sprachen 2007: A (n=97) 2011: INT1 (n=81) Engl. 81 Engl. 78 Franz. 11 Franz. 7 Deutsch 6 Deutsch 1 Russ. 2 Russ. 2 Span. 1 Span. 0 Abb. 3: ERIH: oberste Kategorien nach Sprachen 2007 und 2011 Manche Zeitschriften veröffentlichen Beiträge in mehr als einer Sprache, deshalb ist die zusammengezählte Zahl der Sprachen größer als die Zahl der Zeitschriften. Bei manchen (meist englischsprachigen) Zeitschriften gibt es die theoretische Möglichkeit, in mehreren Sprachen zu publizieren, aber in der Praxis wird diese Möglichkeit nicht wahrgenommen. Diese bloß theoretische Mehrsprachigkeit wurde hier nicht mitgezählt. Die einzige deutsche Zeitschrift in der zweiten Spalte von Abb. 3 ist die Zeitschrift für Ägyptische Sprache und Altertumskunde (Publikationssprachen Deutsch, Englisch und Französisch). Die anderen führenden deutschsprachigen Zeitschriften, sogar in den Bereichen Germanistik und Deutsch als Fremdsprache, werden von ERIH entweder als INT2 oder NAT eingestuft. Um mehr über die Hintergründe der ERIH-Listen zu erfahren, habe ich an die EWS (auf Deutsch) geschrieben. Meine erste E-Mail wurde nicht beantwortet, aber meine zweite E-Mail wurde von einer Mitarbeiterin (Dr. Janina Kancewicz-Hoffman) beantwortet, die offenbar Deutsch verstand, aber selber auf Englisch schrieb. Ihre Antwort enthielt zwei besonders interessante Informationen über positive Entwicklungen: <?page no="183"?> Aufgaben, Gefahren und Aussichten für die deutsche Wissenschaftssprache 171 - Die EWS übergibt 2014 die Verantwortung für ERIH an die Norwegischen Social Science Data Services (NSD). - Die umstrittenen Kategorien (INT1, INT2, NAT) werden abgeschafft und die neue Version, ERIH-PLUS (unter Einschluss der Sozialwissenschaften), soll als bibliographisches Instrument dienen. Auf meine Frage, warum Deutschland keinen ERIH-Vertreter hat, antwortete Dr. Kancewicz-Hoffman, das liege daran, dass die deutsche Mitgliedsorganisation im ständigen Ausschuss für die Geisteswissenschaften der EWS (die DFG) dem ERIH-Projekt ablehnend gegenüber gestanden und sich geweigert habe, einen Vertreter zu ernennen (E-Mail, 05.04.2014). Der Fall ERIH zeigt, dass der Einsatz von größeren Gruppen von Wissenschaftlern und die konsequente Haltung einer Wissenschaftsorganisation (der DFG) durchaus zu Verbesserungen führen können. Es bleibt zu hoffen, dass deutsche Wissenschaftsorganisationen auch in anderen Bereichen ihren Einfluss geltend machen, um Benachteiligungen der deutschen Sprache zu verhindern. 4.3 Das Desinteresse von deutschen Wissenschaftlern und deutschen Wissenschaftsorganisationen 4.3.1 Deutsche Wissenschaftler Viele Wissenschaftler haben kein Interesse daran, ihre Sprache zu verteidigen oder entwickeln zu helfen, sondern sind v. a. an den Kontakten zu anderen Wissenschaftlern interessiert, die ihre Forschung voranbringen und ihre Karriere fördern. Das ist natürlich legitim, und es bedeutet für viele, dass sie Arbeiten auf Englisch veröffentlichen müssen. Die Entwicklung geht aber manchmal zu weit, wie ich in meiner Eigenschaft als Mitherausgeber der Internetzeitschrift German as a Foreign Language beobachten kann. Die Zeitschrift wurde im Jahr 2000 gegründet, um das Fach Deutsch als Fremdsprache im Ausland, v.a. in den englischsprachigen Ländern, zu unterstützen. Wir veröffentlichen in Deutsch und Englisch (jeweils etwa 50%), aber wir beobachten den Trend, dass manche deutschen, in Deutschland tätigen Germanisten und DaF-Forscher Artikel auf Englisch einreichen, obwohl sie Deutsch besser beherrschen und die Leserschaft der Zeitschrift Deutsch versteht. In anderen Fällen ist es notwendig, auf Englisch zu publizieren, aber dann haben Wissenschaftler nach meinem Verständnis die Verpflichtung, auch die eigene Sprachgemeinschaft über ihre Arbeit zu informieren und die eigene Sprache zu entwickeln. <?page no="184"?> Christopher Hall 172 4.3.2 Deutsche Wissenschaftsorganisationen Vier deutsche Wissenschaftsorganisationen werden als Mitgliedsorganisationen der EWS aufgeführt: die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren, die Max-Planck-Gesellschaft und die Union der deutschen Akademien der Wissenschaften. Ich habe an diese Organisationen geschrieben, um zu fragen, ob sich aus der Tatsache, dass die deutsche Sprache in europäischen Organisationen eine so geringe Rolle spielt, Schwierigkeiten für sie ergeben, und ob sie Versuche unternommen haben, die Position der deutschen Sprache auf europäischer Ebene zu stärken. Die Antworten zeigen ein unterschiedliches Bewusstsein über die Frage Mehrsprachigkeit oder lingua franca und die Position des Deutschen als Wissenschaftssprache. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Debatte, die in Linguistenkreisen über dieses Thema geführt wird, bei manchen Naturwissenschaftlern gar nicht wahrgenommen wird. Die Antworten der vier Organisationen werden hier zusammengefasst: - Die Max-Planck-Gesellschaft erläuterte, dass ein hoher Prozentsatz ihrer Wissenschaftler und Stipendiaten Ausländer seien. Auf meine Frage, ob sich Schwierigkeiten für die MPG aus der Tatsache ergeben, dass die deutsche Sprache in europäischen Organisationen eine so geringe Rolle spielt, antwortete sie: „Nach unseren Erfahrungen und Kenntnissen ergeben sich keine Schwierigkeiten. Es ist ein Faktum, dass sich in diesen Organisationen Englisch als Arbeitssprache durchgesetzt hat. Die MPG hat keine Versuche unternommen, die Position der deutschen Sprache auf europäischer Ebene zu stärken“ (Dr. Berthold Neizert, E-Mail, 01.05.2014). - Die Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren schrieb: „Nach Rücksprache mit meinen Kollegen muss ich Ihnen leider mitteilen, dass wir Ihnen hier nicht weiterhelfen können, auch wenn wir Sie gerne dabei unterstützt hätten. Zur Entwicklung und Etablierung der deutschen Sprache als Wissenschaftssprache können wir Ihnen leider nichts sagen. In all unseren Forschungszentren wird in Englisch publiziert. Alle Doktorandenprogramme und Gradschools sind ebenfalls auf Englisch. Viele unserer Wissenschaftler verstehen und sprechen ausschließlich Englisch und kein Deutsch” (Dr. Eva-Jasmin Freyschmidt, E-Mail, 19.05.2014). - Die Union der deutschen Akademien der Wissenschaften beschäftige sich seit vielen Jahren mit dem Thema Deutsch als Wissenschaftssprache, habe hierüber eine Reihe von Veranstaltungen abgehalten und auch eine Publikation veröffentlicht. 6 Der Vertreter schreibt, dass die Union „noch eine 6 Armut und Reichtum der deutschen Sprache (Berlin u.a.: de Gruyter 2013), eine sehr interessante Publikation, in der es allerdings nicht um Deutsch als Wissenschaftssprache geht. <?page no="185"?> Aufgaben, Gefahren und Aussichten für die deutsche Wissenschaftssprache 173 Reihe von Projekten [hat], etwa aus der Altorientalistik, der Patristik, der Hethitologie oder der Theologie, bei denen Deutsch noch eine Welt-Wissenschaftssprache ist”, dass aber sonst in der internationalen Zusammenarbeit die Kommunikationssprache Englisch sei (Dr. Dieter Herrmann, E- Mail, 01.05.2014). - Die Deutsche Forschungsgemeinschaft setzt sich nach eigenen Angaben „angesichts der Dominanz des Englischen […] für eine Kultur der Mehrsprachigkeit ein“ (Finetti 2008: 14). Sie orientiere sich an einem pragmatischen Prinzip: Antragstellung und Begutachtung können und sollen in den Sprachen stattfinden, die in dem jeweiligen Wissenschaftsgebiet akzeptiert sind. Die DFG verfolge nicht die Idee der Etablierung einer Lingua Franca. Für die DFG ergebe sich keine Schwierigkeit daraus, dass Englisch die primäre Gremiensprache ist, da sie fachlich durch entsprechend sprachlich qualifizierte Personen vertreten werde. (Dr. Priya Bondre-Beil, E-Mail, 24.04.2014) In diesen Antworten überwiegt die pragmatische Einstellung (‚Englisch hat sich durchgesetzt‘) auch bei den Organisationen, in denen prinzipiell ein Interesse für die deutsche Sprache besteht. Wie bei einzelnen Wissenschaftlern bedarf es sicher auch bei den Wissenschaftsorganisationen Anreize, damit sie sich stärker für die deutsche Sprache einsetzen. 5 Konkrete Schritte zur Stärkung der Nationalsprachen Man darf natürlich nicht bei einer Aufzählung von Problemen und Hürden stehen bleiben, sondern es ist vonnöten, über konkrete Schritte nachzudenken, wie das Deutsche und andere Nationalsprachen einen angemessenen Platz in der Wissenschaft behalten bzw. wieder einnehmen können. - Terminologische Entwicklungsarbeit ist sehr wichtig, um Ausbaurückstand und Domänenverlust entgegenzuwirken. In manchen anderen Sprachen ist man hier weiter als im Deutschen. In Finnland z.B. gibt es eine Reihe von Initiativen: die Finnische Ärztegesellschaft ‚Duodecim‘ sorgt dafür, dass finnische Termini auf allen Teilgebieten der Medizin vorhanden sind, das Finnische Terminologiezentrum (Sanastokeskus, http: / / www.tsk.fi) leistet terminologische Entwicklungsarbeit und unterhält die terminologische Datenbank TEPA, und die Nationale Datenbank für die wissenschaftliche Terminologie ist ein innovatives kollaboratives Projekt (auf Wikibasis): http: / / tieteentermipankki.fi/ wiki/ . - Finanzielle Anreize: Heute existieren in manchen Ländern finanzielle Anreize, auf Englisch zu publizieren. Es müssten ähnlich Anreize geschaffen werden, auch in anderen Sprachen zu publizieren. Damit wird die Termi- <?page no="186"?> Christopher Hall 174 nologiearbeit unterstützt, und die geschaffene Terminologie kann sich in der Praxis durchsetzen. - Doppelveröffentlichung: In vielen Wissenschaftszweigen ist es heute notwendig, auf Englisch zu publizieren. In solchen Fällen müssten Parallelveröffentlichungen in der Landessprache eine natürliche Ergänzung sein. - Mehrsprachige Zeitschriften, in denen Forschungsergebnisse in mindestens zwei Sprachen veröffentlicht werden können, verdienen Unterstützung. In Deutschland gibt es unterschiedliche Erfahrungen mit zweisprachingen Zeitschriften: Die Annalen der Physik erschienen 1799—1945 in deutscher Sprache, nach 1945 kamen englischsprachige Beiträge dazu, aber ab 1992 werden nur noch englische Beiträge veröffentlicht. Die Angewandte Chemie dagegen erscheint wöchentlich in zwei Varianten - einer internationalen, durchgehend englischsprachigen, und einer deutschen Ausgabe. Das zweite Modell ist natürlich günstiger für die deutsche Wissenschaftssprache, was 2007 durch die Verleihung des Institutionenpreises Deutsche Sprache an die Herausgeber anerkannt wurde. - Übersetzer und Dolmetscher: Wenn verschiedene Sprachen benutzt werden müssen, z.B. bei internationalen Konferenzen, können Dolmetscher eingesetzt werden, um die Mehrsprachigkeit der Wissenschaft zu unterstützen. Dies wird praktiziert, aber noch zu selten. Sehr zu begrüßen ist die Förderinitiative der VW-Stiftung ‚Deutsch plus — Wissenschaft ist mehrsprachig‘, die die Übersetzung deutschsprachiger wissenschaftlicher Arbeiten ermöglicht (http: / / www.Volkswagenstiftung.de/ ? id= 565). - Verantwortung der Politik: Politiker entscheiden über die Verteilung von Geldern und über den gesellschaftlichen Rahmen, innerhalb dessen wissenschaftliche Arbeit stattfindet. Wir müssen dafür sorgen, dass Politiker die Bedeutung der eigenen Landessprache in der Wissenschaft und die Bedeutung der Wissenschaft für die eigene Sprache verstehen. - Internationale Zusammenarbeit: Deutsch ist in einer ähnlichen Position wie viele andere Sprachen, weshalb es gute Möglichkeiten für internationale Zusammenarbeit gibt. Solche Maßnahmen sind notwendig, um die deutsche Wissenschaftssprache zu unterstützen. Sie ist zu wichtig, als dass wir sie durch Nichtstun einfach verkümmern lassen dürften. Literatur Ammon, Ulrich (1998). Ist Deutsch noch internationale Wissenschaftssprache? Englisch auch für die Lehre an den deutschsprachigen Hochschulen. Berlin; New York: de Gruyter. <?page no="187"?> Aufgaben, Gefahren und Aussichten für die deutsche Wissenschaftssprache 175 Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung/ Union der Deutschen Akademien der Wissenschaften (2013) (Hrsg.): Reichtum und Armut der deutschen Sprache: erster Bericht zur Lage der deutschen Sprache. Berlin u.a.: de Gruyter. Fandrych, Christian/ Sedlaczek, Betina (2012a): Englisch und Deutsch in ,internationalen‘ Studiengängen: Kompetenz, Verwendung und Einschätzung bei Studierenden und Lehrenden. In: FLuL, Nr. 41(2), S. 25—41. Fandrych, Christian/ Sedlaczek, Betina (2012b): „I need German in my life“. Eine empirische Studie zur Sprachsituation in englischsprachigen Studiengängen in Deutschland. Tübingen: Stauffenburg. Finetti, Marco (2008): In allen Zungen. In: Forschung. Magazin der DFG, Nr. 2, S. 14— 15. Hamel, Rainer Enrique (2007): The dominance of English in the international scientific periodical literature and the future of language use in science. In: AILA Review, Nr. 20, S. 53—71. McCrum, Robert (2010). Globish: How the English Language Became the World’s Language. New York: Norton. Ogden, Charles Kay (1930): Basic English: A General Introduction with Rules and Grammar. London: Paul Treber. Shin, Jung Cheol/ Toutkoushian, Robert K./ Teichler, Ulrich (2011) (Hrsg.): University Rankings. Theoretical Basis, Methodology and Impacts on Global Higher Education. Dordrecht: Springer. Elektronische Literatur Ammon, Ulrich (2010). Über Deutsch als Wissenschaftssprache. In: Forschung & Lehre, Nr. 6, S. 318—320. Abrufbar unter: http: / / www.forschung-und-lehre.de/ word press/ ? p=4747 [14.04.2014]. Casimir, Hendrik (1991). Deutsch als Wissenschaftssprache. In: Physikalische Blätter, Nr. 575. Abrufbar unter: http: / / www.pro-physik.de/ SpringboardWeb App / userfiles/ prophy/ file/ PhysikJournal/ PB_1991_575.pdf [20.09.2014]. Cook, Hal/ Hardy, Anne et al.: Journals under Threat. A Joint Response from History of Science, Technology and Medicine Editors. In: Medical History , Nr. 53(1), S. 1—4. Abrufbar unter: http: / / www.ncbi.nlm.nih.gov/ pmc/ articles/ PMC2629173 [05.09.2014]. Eaton, Sarah (2011): How Long Does It Take to Learn a Second Language? 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Deutsch in der Klassischen Archäologie Abstract Im deutschsprachigen Raum ist seit Längerem das Bewusstsein dafür verbreitet, dass Wissenschaftskommunikation in Geisteswissenschaften in verschiedenen Sprachen erfolgen sollte und es eine Reihe von geisteswissenschaftlichen Fächern gibt, in denen das Deutsche als Wissenschaftssprache noch eine mehr oder minder starke Stellung hat. Aus neueren Forschungen ergeben sich Hinweise darauf, dass der mehrsprachige Charakter mancher traditionell ausgerichteter ‚Nischenfächer‘ für das Deutsche als Wissenschaftssprache sich in den letzten Jahren nicht nur als widerstandsfähig erwiesen, sondern trotz des äußeren Drucks, der einen Übergang zum Englischen favorisiert, sogar eine gewisse Dynamik entwickelt hat. Bibliografische Untersuchungen und Umfragen bei deutschsprachigen und italienischen Fachexperten haben etwa für die Klassische Archäologie zeigen können, dass dort neben dem Englischen vor allem Deutsch, Italienisch und Französisch (seltener auch Neugriechisch und Spanisch) für Publikationen Verwendung finden und ein Übergang zur Einsprachigkeit von den Forschern selbst nicht gewünscht wird. Gleichzeitig legen viele der Befragten aber auch ein gewisses Unbehagen an den Tag, da sie für die fernere (z.T. auch nähere) Zukunft eine Verschiebung in Richtung auf das Englische hin befürchten und die Rezeptionsmöglichkeiten von nicht englischsprachiger Fachliteratur bereits heute für eingeschränkt halten. Aus einer Umfrage bei US-amerikanischen Klassischen Archäologen lässt sich jedoch entnehmen, dass diese sich des multilingualen Charakters ihrer Wissenschaft bewusst sind und die positive Haltung der europäischen Kollegen gegenüber der Mehrsprachigkeit teilen. Insbesondere bemühen sie sich trotz zurückgehender Sprachkenntnisse bei den Studenten und einer fremdsprachenfeindlichen Anschaffungspolitik vieler Forschungsbibliotheken weiterhin um eine adäquate Berücksichtigung der fremdsprachigen Fachliteratur. 1 Einleitung Im Folgenden wird zunächst kurz der Stand der Debatte zur Stellung des Deutschen in den Geisteswissenschaften skizziert (1.1) und anschließend die Sprachsituation in der Klassischen Archäologie, einer typischen ‚Nischen- <?page no="190"?> Karl Gerhard Hempel 178 wissenschaft‘ mit deutlich mehrsprachigem Charakter, genauer untersucht (1.2). Im Hauptteil werden die Ergebnisse einer Fragebogenerhebung zur Sprachbenutzung sowie zu den Auffassungen zur Wissenschaftskommunikation bei anglophonen Klassischen Archäologen an US-amerikanischen Universitäten dargestellt (2). Am Ende folgt eine Diskussion der Zukunftsaussichten für die Mehrsprachigkeit und insbesondere für das Deutsche als Wissenschaftssprache in der Klassischen Archäologie (3). 1.1 Deutsch in den Geisteswissenschaften: Stand der Debatte Im Rahmen der Diskussion über die Stellung des Deutschen als Wissenschaftssprache, die sich seit einigen Jahrzehnten im deutschsprachigen Raum abspielt, wird schon seit längerer Zeit immer wieder hervorgehoben, dass die Sprachsituation in den Geisteswissenschaften sich prinzipiell anders verhält als in den technischen und naturwissenschaftlichen Fächern. Dabei wird meistens auf die charakteristische Vielfalt an Forschungsparadigmen und deren makrokulturelle Verwurzelung, teils auch auf die große Bedeutung der älteren Fachliteratur verwiesen, welche Mehrsprachigkeit für Geisteswissenschaften geradezu als eine Grundvoraussetzung für eine fruchtbare wissenschaftliche Betätigung erscheinen lassen (so bereits ausführlich Oksaar et al. 1988). Bemerkt worden ist außerdem des Öfteren, dass die Komplexität geisteswissenschaftlicher Fachtexte es angeraten erscheinen lässt, dass Forscher jeweils ihre Muttersprache benutzen (z.B. Schmidt 2002). Ähnliche Argumentationen, die auf ein Interesse an der Benutzung der eigenen Sprache in der Wissenschaftskommunikation und auf ein gestiegenes Bewusstsein für die Problematik eines überwiegend anglophonen Wissenschaftsbetriebs hindeuten, sind in den letzten Jahren auch im spanisch- und italienischsprachigen Bereich entwickelt worden (z.B. Hamel 2005; Calaresu et al. 2006; Hornung 2011; Bernini 2013). Innerhalb der Geisteswissenschaften wird in der deutschsprachigen Forschung eine Gruppe von traditionsgebundenen Fächern unterschieden, in denen das Deutsche auch aus wissenschaftsgeschichtlichen Gründen eine sehr viel stärkere Stellung hat als in anderen Disziplinen. Der Ausdruck ‚Nischenwissenschafen‘ für derartige Fächer, der sich in der Diskussion seit Längerem eingebürgert hat (Skudlik 1990: 210—216), dürfte insofern irreführend sein, als dass er selbst einen untergeordneten und damit rezessiven Charakter dieser Form der Mehrsprachigkeit voraussetzt und daher wohl eher eine Sichtweise widerspiegelt, bei der das Englische im Mittelpunkt steht. Nicht nur die angelsächsische Forschung hat sich in den letzten Jahrzehnten denn auch oft der Frage nach den Gründen für den Aufstieg des Englischen bzw. für den Abstieg etwa des Deutschen in der Wissenschafts- <?page no="191"?> Deutsch in der Klassischen Archäologie 179 landschaft gewidmet (z.B. Ammon 1998; Kaplan 2001; Ammon 2008), außerdem auch den Schwierigkeiten nicht anglophoner Wissenschaftler bei der Benutzung des Englischen (z.B. Saracino 2004; Carli/ Ammon 2007; Ammon 2012). Weniger Aufmerksamkeit ist dagegen der z.T. sehr komplexen Sprachsituation in einzelnen Geisteswissenschaften zuteil geworden. In den letzten Jahren ist hier allerdings insofern eine gewisser Fortschritt zu beobachten, als dass verstärkt versucht wird, Fachvertreter in die Diskussion einzubeziehen bzw. deren Angaben für Studien auszuwerten, um Auskunft über die Sprachverwendung in verschiedenen Fächern zu erhalten, sodass sich innerhalb der Geisteswissenschaften jetzt insgesamt ein etwas differenzierteres Bild ergibt. Galten als ‚Nischen‘ zunächst nur die Klassische Philologie, die Klassische Archäologie, die Theologie, die Musikwissenschaft und die Philosophie (Ammon 2000: 76), so lässt sich etwa aus einer neueren Studie zur internationalen Stellung der deutschen Geisteswissenschaften, in der auch die Sprachsituation kurz behandelt wird (Behrens et al. 2010: 31—46), entnehmen, dass das Deutsche als Wissenschaftssprache auch in der Musikwissenschaft, der Ägyptologie und der Islamwissenschaft von großer Bedeutung ist, außerdem aber - je nach dem thematischen Zusammenhang - auch in breiter angelegten Fächern wie der Geschichte oder der Kunstgeschichte Verwendung findet. Bei einem 2011 im Rahmen einer Tagung mit Fachvertretern veranstalteten Podiumsgespräch zum Thema ‚Deutsch in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften‘ zeigte sich, dass der Druck des Englischen in den letzten Jahrzehnten zwar in allen Bereichen gewachsen ist, Wissenschaftler in traditionell zumindest auch deutschsprachigen Disziplinen (im konkreten Fall etwa der Japanologie) andererseits aber auch nicht mehr bereit sind, gut ausgebaute Positionen einfach kampflos aufzugeben (Oberreuter et al. 2012: 187—213). Im Moment deutet für das Deutsche als Wissenschaftssprache daher insgesamt vieles auf eine Stabilisierung der Stellung auf dem derzeitigen Niveau hin, wenn nicht gar auf eine mögliche Trendwende, die sich in einer zunehmenden Verwendung in einzelnen Bereichen bereits ankündigen könnte (Ammon 2008: 39, Tab. 2). 1.2 Mehrsprachigkeit in der Klassischen Archäologie Ein genaueres Bild der Sprachsituation konnte in den letzten Jahren in einer Reihe von Studien zur Lage in der Klassischen Archäologie entwickelt werden, die auf einer quantitaven Auswertung von Bibliotheksbeständen und Bibliografien sowie auf einer umfangreichen Online-Fragebogenerhebung bei Universitätsprofessoren im deutschsprachigen Raum und in Italien beruhen (Hempel 2006: 257—261; 2011; 2012). Aus diesen Untersuchungen ergibt <?page no="192"?> Karl Gerhard Hempel 180 sich, dass in diesem Fach insbesondere für Publikationen Englisch, Deutsch, Italienisch und (in abnehmendem Maße) Französisch vewendet werden, zu denen einige seltener benutzte Sprachen wie das Neugriechische und das Spanische, neuerdings auch das Türkische hinzutreten. Es konnte nachgewiesen werden, dass im Forschungsbetrieb insgesamt eine multilinguale Praxis gepflegt wird, bei der es selbstverständlich auch fremdsprachige Fachliteratur regelmäßig Berücksichtigung findet; lediglich bei den Anforderungen an Studenten werden, insbesondere von den italienischen Archäologen, an den tatsächlichen Sprachkenntnissen orientierte Kompromisse eingegangen (Hempel 2012: 77—79). Die Vorstellung von einem Übergang zu einer einheitlichen Wissenschaftssprache wird sowohl von den deutschsprachigen als auch von den italienischen Probanden nahezu einhellig abgelehnt (Hempel 2012: 97—100). Zu unterstreichen ist allerdings, dass es sich dabei um eine Mehrsprachigkeit handelt, die von verschiedenen Asymmetrien gekennzeichnet ist. So werden bei den Sprachbenutzern überwiegend passive, meist Lesekenntnisse vorausgesetzt, während Forscher, deren Muttersprache nicht zum Kreis der oft benutzten Wissenschaftssprachen gehört, gezwungen sind, eine von diesen zu benutzen, um sich Gehör zu verschaffen. Auffällig ist außerdem, dass die Bewertung der Zukunftsaussichten für die Mehrsprachigkeit in der Fragebogenerhebung weniger positiv ist und zudem makrokulturell deutliche Differenzen zeigt: So sieht eine Mehrheit der deutschsprachigen Archäologen die Muttersprache im Fach als langfristig gefährdet an (mehr als ein Drittel allerdings auch als „auf absehbare Zeit nicht ernsthaft gefährdet“), während bei den Italienern kaum jemand der eigenen Sprache in der Wissenschaft eine Überlebenschance zugesteht und bei den negativen Stimmen sogar die Auffassung von einer kurzfristigen Gefährdung überwiegt (Hempel 2012: 101—104). Aus der Studie geht außerdem hervor, dass sowohl deutschsprachige als auch italienische Archäologen mit der Rezeption ihrer Publikationen im anderssprachigen Ausland meist unzufrieden sind, wobei die Skepsis bei den Italienern wiederum stärker ausgeprägt ist (Hempel 2012: 84—86). In Zusatzkommentaren, welche die Befragten ihren Antworten beifügten, werden vor allem die insbesondere im anglophonen Ausland zurückgehenden Deutschkenntnisse beklagt: „In den USA können die meisten Dozenten noch Deutsch, und daran wird sich vermutlich auch in der nächsten Generation nicht viel ändern (die Kenntnis des Deutschen ist ein starker Wettbewerbsvorteil); aber die Studierenden natürlich nicht.“ (m, 1959, Deutschland) <?page no="193"?> Deutsch in der Klassischen Archäologie 181 „Es gibt nur wenige anglophone Kollegen, die einigermaßen Deutsch können, und wenn, dann meist nur passiv. Auch Italiener beherrschen nur selten Deutsch. Die früher sehr guten Deutschkenntnisse der türkischen Kollegen gehen zurück.“ (f, 1968, Deutschland) Dass die Rezeption der Veröffentlichungen im Ausland ein wichtiger Faktor ist, geht auch daraus hervor, dass für deutsche bzw. italienische Publikationen zwar stilistische und formale Anpassungen an angelsächsische Schreibgewohnheiten ganz überwiegend abgelehnt werden, die Beigabe englischsprachiger Abstracts aber von nahezu allen Probanden als sinnvolles Mittel angesehen wird, um die Verbreitungsschancen ihrer Veröffentlichungen zu verbessern; gelegentlich wird auch die Publikation von Übersetzungen vorgeschlagen (Hempel 2012: 95f.). Insgesamt lässt sich also sagen, dass die Sprachbenutzer trotz einer mehrsprachigen Wissenschaftspraxis und Grundüberzeugung einen gewissen äußeren Druck in Richtung auf eine stärkere Verwendung des Englischen spüren, wobei auf Dauer mit einer Verstärkung gerechnet wird. Die zukünftige Entwicklung wird dabei von persönlichen und sozialen Faktoren beeinflusst werden wie etwa von der Verbreitung von Englischkenntnissen, vom Prestige des Englischen im Verhältnis zu dem der eigenen Muttersprache, aber auch vom angenommenen Rezeptionsverhalten anderssprachiger Forscher. Von Bedeutung ist also auch das Verhalten der anglophonen Wissenschaftler selbst, die oft eines „Zitierchauvinismus“ (Sobrero 2006: 10f.) und einer einseitigen Literaturauswahl bezichtigt werden, welche zu einem schiefen Bild vom derzeitigen Forschungsstand führen kann (Ammon 2012: 342). Es stellt sich also die Frage, welche Bedeutung nicht englischsprachiger Fachliteratur im anglophonen Raum beigemessen wird, ob diese dasselbe Prestige hat wie englischsprachige, ob sie von den Forschern tatsächlich berücksichtigt wird und wie im englischssprachigen Bereich der mehrsprachige Charakter des Faches wahrgenommen und beurteilt wird. 2 Die Sprachsituation in der Klassischen Archäologie aus US-amerikanischer Sicht Eine Reihe von Ergebnissen zur anglophonen Sicht auf die Mehrsprachigkeit in der Wissenschaftskommunikation resultiert aus einer 2012 bei Klassischen Archäologen, die an US-amerikanischen Universitäten tätig sind, durchgeführten Fragebogenerhebung (vgl. dazu ausführlich Hempel 2013; 2013a). Von den ca. 160 per E-Mail verschickten Formularen kamen 35 ausgefüllt zurück, von denen aber nur die 28 an englische Muttersprachler versandten berücksichtigt wurden, während die Antworten der 8 aus Europa (Deutsch- <?page no="194"?> Karl Gerhard Hempel 182 land, Schweiz, Griechenland, Italien) stammenden Wissenschaftler aussortiert wurden. Von den insgesamt 18 Fragen beziehen sich 11 auf die Sprachbenutzung selbst bzw. deren Wahrnehmung, die restlichen 7 auf die Haltung gegenüber der Mehrsprachigkeit und die Zukunftsaussichten. 2.1 Sprachbenutzung und deren Wahrnehmung Land [=Nationalität der herausgebenden Institution] (Anzahl der Nennungen) Zeitschriften (Anzahl der Nennungen) USA (51) AJA (21), JRA (15), Hesperia (11), sonstige (4) Deutschland(41) AM (12), JdI (11), RM (10), AA (6), sonstige (2) Großbritannien (16) JHS (6), JRS (4), BSA (4), sonstige (2) Frankreich (11) BCH (6), RA (3), MEFRA (2) Italien (7) NSc (3), BollCom (2), sonstige (2) Griechenland (4) ArchDelt (2), sonstige (2) Schweiz (deutschsprachig) (1) AntK (1) Abb. 1: Umfrage bei US-amerikanischen Klassischen Archäologen. Antworten auf die Frage Which are, in your opinion, the most important scientific journals in Classical Archaeology (not more than 5)? 1 Die Ergebnisse dieses Teils der Erhebung lassen sich wie folgt zusammenfassen (Hempel 2013: 280—288; 2013a: 131—138): (1) Unter den nach Auffassung der befragten Archäologen wichtigsten Zeitschriften (Abb. 1) machen die Publikationsorgane, die von nicht englischsprachigen Institutionen herausgegeben werden, etwa die Hälfte aus (67 of 131); darunter sind vor allem solche aus Deutschland, Frankreich, Italien und Griechenland. Trotz einer gewissen Tendenz, eher Titel aus dem englischsprachigen Raum zu nennen, ergibt sich insgesamt ein Bild, das überraschende Ähnlichkeiten zu dem aufweist, das aus der Befragung deutschsprachiger und italienischer Archäologen hervorgeht (Hempel 2012: 73—76); großenteils werden dabei immer wieder dieselben Zeitschriften genannt, was auf eine starke Kohäsion innerhalb des Faches schließen lässt. (2) Der ganz überwiegende Teil der Professoren gibt an, von den Studenten, z.B. beim Abfassen von Arbeiten, regelmäßig die Berücksichtigung fremdsprachiger Literatur zu verlangen. Die vorgesehenen Sprachen entsprechen denen, die auch in Europa vorausgesetzt werden (Hempel 2012: 1 Die Abkürzungen der Zeitschriften folgen den Empfehlungen des Deutschen Archäologischen Instituts, s. URL 1. <?page no="195"?> Deutsch in der Klassischen Archäologie 183 77—79): Deutsch, Französisch, Italienisch, Neugriechisch, Spanisch und Türkisch, abhängig — wie einige der Befragten präzisierten — vom konkreten Forschungsthema bzw. -bereich. Aus Zusatzkommentaren, die einige der Befragten formuliert haben, geht hervor, dass aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse — anders als in den europäischen Ländern — oft ein Unterschied zwischen mehr oder weniger fortgeschrittenen Studenten gemacht wird. (3) Dieselben wie die zuvor genannten Sprachen werden auch als wichtigste Publikationssprachen der Klassischen Archäologie angesehen. Auffällig ist, dass das Deutsche dabei als ebenso wichtig gilt wie das Englische, auch wenn es nach Auffassung der Befragten gegenüber früher an Bedeutung verloren hat; danach folgen Französisch und Italienisch, während das Gewicht einiger anderer Sprachen (wie Spanisch und Türkisch) als steigend angesehen wird — Beobachtungen, die sich wiederum mit denen der europäischen Archäologen decken (Hempel 2012: 80—82). (4) Dem Eindruck der Befragten zufolge halten sich die meisten Archäologen über nicht englische Publikationen auf dem Laufenden und lesen regelmäßig ganze Bücher bzw. Artikel, die nicht auf Englisch verfasst sind. In Zusatzkommentaren wie den beiden folgenden wird die Notwendigkeit einer Berücksichtigung von Fachliteratur in verschiedenen Sprachen deutlich unterstrichen und darauf hingewiesen, dass bei der Anschaffungspolitik der Bibliotheken nicht englische Literatur oft unter den Tisch zu fallen droht: “If you work (conduct fieldwork or contextually based studies) in Greece or Italy […], then it is paramount that you read Greek and Italian (most basic reports are in these languages); and then English, French and German for the basic fieldwork of the foreign schools. The most comprehensive handbooks and compendious, synthetic and descriptive or synoptic studies are written in German (e.g., sculpture) and French (e.g., architecture); most theoretical approaches and culture histories are in English and so on.” “American scholars are at the mercy of the buying policies of their university libraries. Librarians prefer to buy books in English; they don't mind buying books in French too much, because they probably studied French at some point; it is much harder to get them to buy in German and especially Italian. The argument is that the students will not read those books, […]” (5) Die Archäologen nehmen in den letzten 20 Jahren in den USA tendenziell einen Rückgang der forschungsrelevanten Sprachkenntnisse wahr, insbesondere beim Deutschen und Französischen, während sich die Kenntnisse anderer Sprachen wie Italienisch, Neugriechisch, Spanisch und Russisch eher verbessert hätten. <?page no="196"?> Karl Gerhard Hempel 184 2.2 Auffassungen zu Sprachgebrauch und Mehrsprachigkeit Aus den Antworten zu diesem Fragenkomplex (vgl. Hempel 2013: 288—293; 2013a: 138—143) geht eindeutig hervor, dass die befragten Fachvertreter grundsätzlich klar multilinguale Auffassungen vertreten. So erklärt jeweils eine deutliche Mehrheit, dass Wissenschaftskommunikation in Geisteswissenschaften ihrer Ansicht nach ‚anders‘ sei als in den exact sciences und dass die formalen und stilistischen Eigenschaften von geisteswissenschaftlichen Fachtexten eine eigene Bedeutung haben - Auffassungen, die für eine mehrsprachige Orientierung typisch sind. Nahezu alle Befragten halten außerdem Fremdsprachenkenntnisse für notwendig und viele würden es begrüßen, wenn ihre Kollegen mehr nicht englischprachige Bücher läsen. Abb. 2: Umfrage bei US-amerikanischen Klassischen Archäologen. Antworten auf die Frage Do you agree with the following statement? —In the future, English will be the only language used for scientific communication in classical archaeology. Bei den drei Abschlussfragen, die auf die Bewertung der künftigen Entwicklung abzielen, fällt zunächst auf, dass mehr als die Hälfte der Probanden angibt, keine genaue Vorstellung von der künftigen Entwicklung beim Gebrauch des Englischen in der Klassischen Archäologie zu haben (Abb. 2). Eine Mehrheit der restlichen Fachvertreter geht dagegen eher von einer einsprachigen Zukunft aus, in der ausschließlich das Englische benutzt wird. Die beiden letzten Fragen, die eine eventuelle Sprach(en)politik betreffen, zeigen dagegen ein einheitlicheres Bild (Abb. 3—4). Kaum einer der Befragten möchte seine Kollegen dazu zwingen, ausschließlich das Englische zu gebrauchen, und eine Mehrheit lehnt auch die Vorstellung einer besonderen Sprachpolitik zugungsten der Anglophonisierung ab. In den Zusatzkommentaren zu diesen beiden Fragen bzw. den Abschlusskommentaren zum gesamten Fragebogen findet sich eine Reihe wiederkehrender Argumente und Diskursmuster, die wie folgt zusammengefasst werden können: (1) Eine Behelfssprache wäre nützlich, aber (2) poli- <?page no="197"?> Deutsch in der Klassischen Archäologie 185 tisch bzw. ethisch nicht akzeptabel (a form of ‚cultural imperialism‘, wie einer der Befragten schreibt) und würde (3) das Problem der Lektüre älterer Fachliteratur nicht lösen, die in jedem Fall berücksichtigt werden müsste, weil die Klassische Archäologie seit ihren Anfängen mehrsprachig war und sich daher verschiedene Wissenschaftstraditionen ausgebildet haben, die respektiert werden müssen. (4) Nicht anglophone Wissenschaftler haben Schwierigkeiten bei der Abfassung komplexer wissenschaftlicher Fachtexte auf Englisch und laufen Gefahr, ein ‚bad English‘ zu schreiben, sodass man (5) den Gebrauch des Englischen auf Kongresse und sonstig mündliche Kommunikation beschränken sollte. (6) Andererseits könnten junge Wissenschaftler aus Europa, die auf den amerikanischen Arbeitsmarkt drängen, sich gezwungen fühlen, englischsprachige Publikationen zu veröffentlichen. Abb. 3: Umfrage bei US-amerikanischen Klassischen Archäologen. Antworten auf die Frage Do you agree with the following statement? —In the future, English will be the only language used for scientific communication in classical archaeology. Abb. 4: Umfrage bei US-amerikanischen Klassischen Archäologen. Antworten auf die Frage Do you agree with the following statement? —Language policy should adopt measures to encourage the use of English for scientific communication in classical archaeology. <?page no="198"?> Karl Gerhard Hempel 186 3 Die Zukunft der Mehrsprachigkeit und des Deutschen in der Klassischen Archäologie Insgesamt ergibt sich für die Klassische Archäologie also ein Bild, bei dem die multilinguale Wissenschaftspraxis im Europa und Amerika ebenso wie die Haltung europäischer und amerikanischer Klassischer Archäologen gegenüber der Mehrsprachigkeit im Fach deutliche und z.T. wohl überraschende Parallelen zeigt. Die Benutzung älterer wie neuerer fremdsprachiger Fachliteratur wird von vielen Fachvertretern geradezu als Grundvoraussetzung für eine gewinnbringende wissenschaftliche Betätigung angesehen, sei es weil viele Standardwerke nur in bestimmten Sprachen verfügbar sind, sei es weil aktuelle Forschungsdiskussionen in verschiedenen europäischen Ländern entwickelt oder neue Materialien vielfach nur in den Sprachen der Fundländer veröffentlich werden. Trotz der persönlichen Überzeugung von Sinn und Wert eines Multilingualismus in der Wissenschaft sind die Auffassungen zur Zukunft der Mehrsprachigkeit geteilt; insgesamt überwiegt langfristig eher die Skepsis, wobei es aber deutliche makrokulturelle Unterschiede gibt. Dies deutet darauf hin, dass die Bewertung der Zukunftschancen durch die Sprachbenutzer nicht so sehr auf einer nüchternen Analyse der Faktoren beruht, die die Sprachwahl im Wissenschaftsbetrieb beeinflussen, sondern eher vom jeweiligen generellen kulturellen Umfeld abhängig ist. Dabei könnten auch übergeordnete Vorstellungen eine Rolle spielen wie etwa das derzeit gefühlte Prestigefälle zwischen dem Englischen und der eigenen Muttersprache im Allgemeinen bzw. die besonderen Schwierigkeiten, denen sich die akademische Tätigkeit in der jeweiligen Kultur derzeit ausgesetzt sieht - dies würde etwa die wohl eher übertrieben negativen Einschätzungen vonseiten der italienischen Archäologen erklären. Die strukturellen Eigenheiten des Forschungsbetriebs und die deutlich mehrsprachige Grundüberzeugung der Sprachbenutzer deuten m.E. eher darauf hin, dass eine Wissenschaft wie die Klassische Archäologie in absehbarer Zukunft zumindest in ihren Publikationen mehrsprachig bleiben und auch das Deutsche dabei weiterhin eine wichtige Rolle spielen wird. Nicht anglophone Geisteswissenschaftler werden so lange nicht auf das Englische als Publikationssprache umschwenken, wie der Druck, auf Englisch zu publizieren, nicht größer wird als die Mühe, die es kosten würde, geisteswissenschaftliche Fachtexte in einer Fremdsprache zu formulieren. Entscheidend wird es also sein, dass es in den Geisteswissenschaften einen Markt für z.B. deutschsprachige Forscher gibt. Was die Frage nach der Rezeption klassisch-archäologischer Fachliteratur im anglophonen Umfeld betrifft, so hat sich gezeigt, dass Forscher in den <?page no="199"?> Deutsch in der Klassischen Archäologie 187 USA die Kenntnis nicht-englischsprachiger Publikationen für sehr wichtig halten und sich darum bemühen, nicht nur im anglophonen Bereich auf dem neuesten Stand zu bleiben, ja sogar fürchten, anderenfalls einem schleichenden Provinzialismus zu verfallen. Gleichzeitig rechnen sie aber vor allem bei ihren Studenten mit Sprachbarrieren, welche auch bei der Anschaffungspolitik wissenschaftlicher Bibliotheken eine Rolle spielen, sodass die Lektüre durch äußere Umstände erschwert wird. Diese Probleme behindern zwar Lehre und Forschung, scheinen den amerikanischen Wissenschaftlern selbst aber, wie aus der Untersuchung hervorgeht, insgesamt überwindbar zu sein. Es ist allerdings denkbar, dass die abschließende Bewertung der verschiedenen Faktoren, die die Rezeption beeinflussen, kulturbedingt wiederum unterschiedlich ausfallen könnte. Auf einen seit einiger Zeit in den USA tätigen, aus Europa stammenden jüngeren Wissenschaftler etwa wirkt die Situation in der amerikanischen Klassischen Archäologie wie folgt: “Many of my colleagues in the US are indeed fighting hard against the loss of knowledge of foreign languages among students and, generally, against a tendency in the American academia to acknowledge or even establish English as the only academic language. […] And since I am teaching in the US, it became very obvious that there are no explicit attempts to establish English as the global academic language in classical archaeology, but rather, an overall development to privilege English scholarship on reading lists, in bibliographies, in footnotes, in the acquisition policy of libraries, etc., a tendency, which is very obviously not based on an assessment of the international importance or the amount of scholarly contributions in English, [but] resulting from an increasing neglect of consulting international scholarship, as well as from the inability to read any foreign languages.” Ein genaueres Bild von der tatsächlichen Rezeption nicht englischsprachiger Literatur wäre nur durch aufwändige Zitationsanalysen möglich, die in Geisteswissenschaften aber durch die Absenz umfassender Indices bzw. Datenbanken erschwert werden. Eine interessante Studie zum Zitierverhalten in einigen wichtigen US-amerikanischen Zeitschriften aus den Bereichen Philosophie, Sprachwissenschaft, Klassische Philologie und Geschichte (Kellesey/ Knievel 2004) hat allerdings gezeigt, dass die Bezugnahme amerikanischer Geisteswissenschaftler auf fremdsprachige Literatur zumindest in diesen Publikationsorganen in den letzten Jahrzehnten konstant geblieben ist (Die Autorinnen benutzen dies übrigens als Argument für die Anschaffung nicht englischsprachiger Bücher in Universitätsbibliotheken). Einstweilen sollten sich deutschsprachige Geisteswissenschaftler wie etwa Klassische Archäologen vielleicht an den Gedanken gewöhnen, dass ihre <?page no="200"?> Karl Gerhard Hempel 188 Werke, wenn sie denn relevant sind, unter Umständen selbst im englischsprachigen Raum auch dann zur Kenntnis genommen werden könnten, wenn sie nicht auf Englisch verfasst sind, sodass der Druck zum anglophonen Publizieren auch nicht mehr so groß erscheinen muss. In diesem Sinne äußerte sich auch einer der befragten amerikanischen Archäologen: “As an American classical archaeologist who has lived and worked in Germany for a number of years, I am acutely aware of the issue you are investigating. In my view, the Germans are complicit in the demise of German as a scholarly language by being overly eager to give papers and publish in English.” Literatur Ammon, Ulrich (1998): Ist Deutsch noch internationale Wissenschaftssprache? Englisch für die Lehre an den deutschsprachigen Hochschulen. Berlin; New York: de Gruyter. Ammon, Ulrich (2000): Entwicklung der deutschen Wissenschaftssprache im 20. Jahrhundert. In: Debus, Friedhelm et al. (2000) (Hrsg.): Deutsch als Wissenschaftssprache im 20. Jahrhundert. Vorträge des Internationalen Symposions vom 18./ 19. Januar 2000. Stuttgart: Franz Steiner, S. 59—80. Ammon, Ulrich (2008): Deutsch als Wissenschaftssprache. Wie lange noch? In: Gnutzmann, Claus (2008) (Hrsg.): English in Academia. Catalyst or Barrier. 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In diesem Sinne befasst sich der folgende Beitrag mit der Lage des Deutschen als Fach- und Wissenschaftssprache der Theologie und Liturgie der Ostkirchen, gezeigt am Beispiel der deutschen Übersetzungen der Johannes-Chrysostomos-Liturgie. Die Methode des Beitrags ist vorwiegend eine übersetzungswissenschaftlich-heuristische im Sinne einer Bestandsaufnahme der ostkirchlichen theologischen Sprache im Deutschen in Bezug auf das textuelle Material; hermeneutische Ansätze kommen in Bezug auf die jeweiligen Übersetzungen zum Vorschein. Konkret werden die deutschen Übersetzungen der Chrysostomos-Liturgie ins Deutsche analysiert. Es handelt sich dabei um die Übersetzung von Alexij Malcev aus dem Jahr 1880 (Neuausgabe 1975), die Übersetzung der russischen Auslandskirche aus dem Jahr 1989 und die Übersetzung von Anastasios Kallis aus dem Jahr 2000. 1 Die Chrysostomosliturgie im Kontext der Übersetzungstheorie des Fachtextes Deutsch ist zweifelsohne als Sprache der Theologie bekannt. Diese Tatsache gilt vor allem in Bezug auf Deutsch als Sprache des römischen Katholizismus und des Protestantismus. Seit dem neunzehnten Jahrhundert wurden aber auch ostkirchliche liturgische Texte, in unserem Fall die Chrysostomosliturgie, ins Deutsche übersetzt. In diesem Beitrag werden drei bekannte Übersetzungen dieser Art (die Übersetzung von Alexij Malcev aus dem Jahr 1880 (Neuausgabe 1975), die Übersetzung der russischen Auslandskirche <?page no="204"?> Eva Maria Hrdinová 192 aus dem Jahr 1989 und die Übersetzung von Anastasios Kallis aus dem Jahr 2000 1 ) analysiert, vor allem in Bezug auf die Translation der typischen ostkirchlichen theologischen und religiösen (Fach-)Lexik. Als Hypothese dieses Beitrags könnte folgende gelten: Im Laufe der Zeit kommt es zu einer Anpassung der zuvor speziellen theologischen Fachsprache der Ostkirchen an den gemeinchristlichen Fachwortschatz, der in der römisch-katholischen Kirche und in den protestantischen Kirchen verwendet und dem deutschsprachigen Rezipienten auch verständlicher wird. Vor der eigenen Analyse wird kurz auf die Lage der Chrysostomos- Liturgie im deutschen Sprach- und Kulturraum hingewiesen und es werden die theoretischen Grundlagen in Bezug auf die Textsorte ‚Liturgikon‘ / ‚Liturgisches Formular‘ und auf die Translationstheorie des Fachtextes erläutert. 1.1 Die Chrysostomosliturgie im deutschen Sprach- und Kulturraum Die Chrysostomos-Liturgie, 2 welche wohl vom Erzbischof von Konstantinopel, Johannes Chrysostomos (347—407 n. Chr.) niedergeschrieben wurde, ist der Hauptgottesdienst der Ostkirchen. Die Liturgie besteht aus drei Teilen: der Proskomidie (‚Vorbereitung‘), der Liturgie der Katechumenen und der Liturgie der Gläubigen. Es gibt durchaus Parallelen zu der ‚westlichen‘ heiligen Messe im römischen Ritus. So etwa entspricht die Liturgie der Katechumenen, wo biblische Lesungen, Fürbitten (Ektenien) oder Psalmen zu hören sind, dem sog. ‚Wortgottesdienst‘ und die sog. Liturgie der Gläubigen, wo es zu der Transsubstantiation von Brot und Wein und zu der Kommunion usw. kommt, dem sog. ‚Opfergottesdienst‘. Der erste Teil der Chrysostomos-Liturgie, die Proskomidie, d.h. die Vorbereitung der Opfergaben, hat keine Entsprechung im römischen Ritus. 1.2 Die theologische Fach- und Wissenschaftssprache als ein Grenzraum In diesem Beitrag wird zunächst die Sprache der Theologie als eine Fachdisziplin (wissenschaftlichen Disziplin) behandelt. Sie zeichnet sich durch Zugehörigkeit zur wissenschaftlichen Disziplin und dem Fach Theologie aus und hebt sich von einer religiösen Sprache im allgemeineren Sinne ab, die, 1 Der Beitrag geht von meiner Studie (Hrdinová 2014: 5—15) aus, wie auch von meiner 2013 veröffentlichten Monographie zum Thema der Translation von ostkirchlichen liturgischen Texten (vgl. Hrdinová 2013). In Hrdinová 2014: 5— 15 wird ausführlicher auf die krichenslawische Textvorlage eingegangen. 2 Zu linguistischen Merkmalen der Textsorte ‚liturgischer Text‘ vgl. Greule 2003: 293— 306. <?page no="205"?> Deutsch als Sprache der Theologie und Liturgie der Ostkirchen 193 zum Beispiel bei Klaus Beyer als eine sakrale, sich zu religiösen Weltbildern beziehende Sprache, definiert wurde (Beyer 2004: 7). Konkret befasse ich mich mit der Sprache der Liturgik (Liturgiewissenschaft) als einer theologischen Subdisziplin, wie auch speziell mit der Textsorte ‚liturgisches Formular‘. Bei dieser Textsorte handelt es sich um einen normativen und formativen Text im Sinne von Jan Assmann (Assmann 2000), der den Anweisungstexten nahesteht (Hrdinová 2013). In Bezug auf die in dem liturgischen Formular beinhaltete Fachlexik sind Termini verschiedener Art zu finden. Sehr oft kommen Lehnübernahmen vor (Troparion, Orarion, Ikonostase), des Weiteren auch Lehnübersetzungen (Gottesgebärerin, gr. Theotokos, ksl. bogorodica). In Bezug auf die Wortbildung kann man vor allem die Komposition finden (Rüsttisch), weniger die Derivation mit typischen (griechischen) Wortbildungssuffixen (-ion, -ios u.a.). 1.3 Die Übersetzungstheorie des Fachtextes und die Äquivalenztheorie Der Translator muss bei der Übersetzung der Proskomidie mehrere Spezifika in Betracht ziehen, die mit der Übersetzung der Textsorte ‚liturgischer Text‘ verbunden sind, so etwa die Intertextualität (eingelegte biblische Zitate und Texte), 3 den rhythmischen Charakter (die Texte werden eigentlich gesungen), die poetische Sprache, die Anwesenheit bestimmter kulturgebundener Realien (oft äquivalentloser Lexik), nicht zuletzt die theologischer und anderer Fachlexik. Die Hermeneutik wird schon traditionell als die Translationstheorie von religiösen Texten angewendet. Dabei wird vor allem die schon erwähnte Trias in Betracht gezogen: die Beziehung zu der Sprache, die Beziehung zum Original und die Beziehung zu Paralleltexten und Quellen. Weiters können auch andere Theorien herangezogen werden, wie etwa die für die Fachtextübersetzung bestimmte Translationstheorie, die von Milan Hrdlička und Edita Gromová präsentiert wurde (Gromová/ Hrdlička/ Vilímek 2010). Hrdlička und Gromová haben auch andere vorhandene Ansätze tschechischer und slowakischer Theoretikerinnen und Theoretiker zusammengefasst mit der Idee, ein theoretisches Translationskompendium zu entwerfen. Ihre Auffassung ist eine traditionelle im Kontext der Übersetzungstheorie: Fachtexte sollen möglichst genau übersetzt und Termini je nach dem in der Zielsprache vorhandenen terminologischen System substituiert werden. Im Falle des Nicht-Vorhanden-Seins des Terminus soll wortwörtlich übersetzt oder entlehnt werden. 3 Dabei muss sich der Übersetzer für eine kanonisierte Bibelübersetzung entscheiden. <?page no="206"?> Eva Maria Hrdinová 194 2 Charakterisierung des Materials Die Tatsache, dass ostkirchliche liturgische Texte auch mehrmals ins Deutsche übersetzt wurden, scheint zunächst eine contradictio in adjecto zu sein, weil der deutsche Sprachraum schon seit Jahrhunderten mit der westkirchlichen Kultur verbunden ist. Die Übertragung fremder kultureller Realien christlichen Charakters ist für den deutschen Kultur- und Sprachraum bereits im Mittelalter anzunehmen, als sich in der deutschen Sprache die westliche christliche Terminologie etabliert hatte. Weniger bekannt ist dagegen die Tatsache, dass es zu einer ähnlichen Durchdringung fremder christlicher Inhalte im deutschen Sprachraum nochmals zu einem viel späteren Zeitpunkt kam, konkret ab dem Ende des neunzehnten und im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts. Bei jenen fremden Inhalten handelt es sich um christliche Realien der Ostkirchen (orthodox und griechisch-katholisch), deren Übernahme in die deutsche Kultur im Zusammenhang mit der Ankunft des russischen Adels sowie russischer Kaufleute in deutschsprachigen Ländern gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts erfolgte. Dieser Trend setzte sich dann im zwanzigsten Jahrhundert weiter fort, vor allem dank der Gastarbeiter aus den slawischen südost- und osteuropäischen Ländern, aber auch beispielsweise aus Rumänien und Griechenland. Für die Bedürfnisse dieser Personengruppen wurden in größeren Städten Deutschlands orthodoxe Kirchen errichtet. Die orthodoxen und griechisch-katholischen nationalen Gemeinden blieben nicht isoliert und es wurden Kontakte mit der deutschsprachigen Bevölkerung gepflegt. Für die neuen, ursprünglich deutschsprachigen Gläubigen wurden Übersetzungen liturgischer Texte ins Deutsche angefertigt. Bereits bei der anfänglichen Untersuchung der Übersetzung der Chrysostomos-Liturgie ins Deutsche muss man sich folgenden Problemfalls bewusst werden: Die Originalfassungen der zu analysierenden Texte gehören voll und ganz der östlichen, orthodoxen Kultur an. Diese sollte nun auch in den deutschen Übersetzungen präsent sein. Die Übertragung einer fremden, in unserem Falle ostkirchlichen Kultur in die westeuropäische fällt verschieden aus, je nachdem, ob es sich bei dem Zielland um die slawischen böhmischen Länder handelt (eine Art Übergangszone zwischen dem christlichen Osten und Westen) oder aber um den deutschsprachigen Zielraum. Zu den bekanntesten Übersetzungen der Chrysostomos-Liturgie ins Deutsche gehören die Übersetzungen von Alexij Malcev (1880; 1975) und Anasthasios Kallis (2000), die in diesem Beitrag behandelt werden. <?page no="207"?> Deutsch als Sprache der Theologie und Liturgie der Ostkirchen 195 2.1 Malcevs Übersetzung Die Übersetzung Alexij Malcevs stammt aus dem Jahr 1880. Es handelt sich dabei um die älteste deutsche Übersetzung der Chrysostomos-Liturgie überhaupt. Nicht ohne Belang ist die Tatsache, dass Alexij Malcev auch in Böhmen wirkte und dass er vielleicht die erste tschechische orthodoxe Übersetzung der Chrysostomos-Liturgie beeinflusst haben mag. Die Liturgie wurde im Jahr 1975 neu herausgegeben und liegt in dieser Neuausgabe diesem Beitrag zugrunde. In ihrer Entstehungszeit handelte es sich bei der Übersetzung von Malcev um eine neue Übersetzung, die als eine Pionierübersetzung, welche eine fremde Kultur an die deutsche anzunähern versucht, bezeichnet werden kann. Von den Rezipienten wurden wenigstens Grundkenntnisse der ostkirchlichen Realien vorausgesetzt. Die Neuausgabe hat sich in dieser Hinsicht von der Erstausgabe nicht sonderlich unterschieden, obwohl dem Text ein Glossar mit den wichtigsten liturgischen Termini samt Bildern angehängt wurde. 2.2 Übersetzung der Auslandskirche Die Übersetzung der Auslandskirche 4 ist im Jahr 1989 in Deutschland als ein liturgischer Text für die in Deutschland lebende russische Diaspora erschienen. Zur Vorlage wurde ein russisches Gebetsbuch für Gläubige, das neben der Liturgie auch wichtigste Gebete beinhaltet, welches möglichst genau ins Deutsche übersetzt wurde. Der Text der Liturgie wurde ohne die Proskomidie (= die Vorbereitung der Opfergaben) herausgegeben. Dem Text werden einige Gebete und Belehrungen angehängt, so etwa über die heilige Beichte oder das Jesus-Gebet. Die Belehrungen scheinen auch ohne Änderungen und Bezug auf die deutschsprachigen Rezipienten übersetzt worden zu sein, so werden im Unterschied zur Malcevs Übersetzung z.B. spezifische liturgische ostkirchliche konnotierte Lexeme (so etwa Troparion usw.) nirgendwo erklärt. Weiter befinden sich in den Gebetstexten deutliche persuasive Züge und fast „Drohungen“ dem Rezipienten gegenüber, falls er z.B. die Beichte nicht „richtig“ vollbringen würde. Auf Rezipienten ohne Vorkenntnisse über die liturgische Praxis der russischen Orthodoxie wird keineswegs Rücksicht genommen. Es befinden sich weder erklärende Fußnoten noch ein Termini- Glossar hinter dem Text. 4 Hier zitiert als Orthodoxes Gebetbuch in deutscher Sprache (1989). <?page no="208"?> Eva Maria Hrdinová 196 2.3 Kallis’ Übersetzung Die Übersetzung von Anastasios Kallis stammt aus dem Jahr 2000 und erschien als dreisprachige Ausgabe, in welcher der Text neben der deutschen Fassung auch in der griechischen und kirchenslawischen Fassung zu finden ist. Die Intention des Textes scheint somit eine zweifache zu sein: Einerseits soll es sich bei der Übersetzung um einen liturgischen Text handeln, der in der Praxis beim Gottesdienst verwendet werden kann, andererseits um eine kritische Ausgabe der Übersetzung, die eher für Fachleute bestimmt ist. Der Text der Übersetzung von Anastasios Kallis ist (entsprechend der Entstehungszeit) in modernerem Deutsch geschrieben. Es handelt sich um keine neue Konfrontationsübersetzung gegenüber der von Alexej Malcev. Das belegen die sich in beiden Übersetzungen wiederholenden Satzkonstruktionen wie beispielsweise […] vor dem Rüsttisch und sagen: „Gott, sei mir Sünder gnädig und erbarme Dich meiner“ (Θε ὸ ς ἱ λάσθητί μοι τ ῷ ἁ μαρτωλ ῷ κα ὶ ἐ λέησόν με). Die Unterschiede im syntaktischen Bereich sind dabei eher gering, vgl. beispielsweise den Satz: „Heb auf, Vater! “ („Zachovej, Otče! “); Malcev verwendet das Verb schlachten, 5 vgl.: Ἔ παρον, δέσποτα. Die lexikalische Gestalt des Textes sieht folgendermaßen aus: Im Gegensatz zu den älteren Übersetzungen erscheinen lexikalische Varianten wie loskaufen 6 gegenüber erkaufen 7 oder Krieger 8 gegenüber Soldat 9 bei Malcev. In Bezug auf die Übersetzung der Auslandskirche wurden keine bedeutenderen Parallelen festgestellt. Zusammenfassend kann man sagen, dass es sich bei der Malcev-Übersetzung um eine ‚Pionierübersetzung‘ handelt, bei der Übersetzung der Auslandskirche hingegen um eine ‚etablierende‘ Übersetzung (also eine Übersetzung, die schon für eine in Deutschland lebende, etablierte Gruppe von orthodoxen Christen bestimmt wurde). Die Übersetzung von Kallis steht an 5 Vgl. in diesem Zusammenhang die Konnotationen des Verbs im Hinblick auf „die Schlachtung des Lammes“. 6 Vgl. die Bedeutung des deutschen Äquivalents „loskaufen - ‚durch ein Lösegeld freikaufen‘“, siehe URL 1. 7 Vgl. die Bedeutung des deutschen Äquivalents „erkaufen - ‚durch Einsatz und Opfer gewinnen, durch [Bestechungs]geld u.Ä. gewinnen, sich verschaffen‘“, siehe URL 1. 8 Vgl. die Bedeutung des deutschen Äquivalents „Krieger - ‚(veraltet) Soldat, Angehöriger eines Heeres, einer Truppe, (Völkerkunde) zum Kampf ausziehender männlicher Stammesangehöriger‘“, vgl. URL 1. Interessant ist dabei die Tatsache, dass in der neueren Übersetzung absichtlich ein Archaismus gewählt wurde. 9 Vgl. die Bedeutung des deutschen Äquivalents: „Soldat - ‚Angehöriger der Streitkräfte eines Landes, (DDR) unterster Dienstgrad der Land- und Luftstreitkräfte, (bei Ameisen und Termiten) [unfruchtbares] Tier mit besonders großem Kopf und besonders großen Mandibeln, das in der Regel die Funktion hat, die anderen Tiere des Staats zu verteidigen, (landschaftlich) Feuerwanze‘“, vgl. URL 1. <?page no="209"?> Deutsch als Sprache der Theologie und Liturgie der Ostkirchen 197 der Grenze zwischen der kritischen Ausgabe und einem Text, der bei der Liturgie praktisch verwendet werden kann. 3 Analyse Für das analytische Verfahren wurden aus Platzgründen einige ausgewählte lexikalische Beispiele aus den drei Übersetzungen gewählt. Einige davon sind als Termini in theologischen Fachlexika verankert. 3.1 Das Beispiel Gnade In der Chrysostomos-Liturgie tritt das Wort Gnade mehrmals auf, und zwar als Äquivalent des griechischen Ausdruckes charis ‚die nicht erschaffene Gnade Gottes‘. Diese Bedeutung hebt sich übrigens von der Bedeutung im Sinne des lateinischen gratia ab, also ‚Gnade im juristischen Sinne des Wortes‘. Dieses semantische ‚Dilemma‘ wurde im Kirchenslawischen durch zwei Äquivalente für das Wort Gnade gelöst, und zwar wurde das Wort blagodať für und im Sinne von charis verwendet und milosť für gratia. In diesem Sinne unterscheiden die tschechischen orthodoxen Übersetzungen größtenteils auch zwischen blahodať (für charis) und milost (für gratia), vgl. Hrdinová 2013. Wie die Lage im Deutschen ist, zeigen folgende Beispiele: Malcev: bewahre uns, o Gott, durch Deine Gnade (ksl: svojeju blagodatiju, im Gr. charis). Übersetzung der Auslandskirche: bewahre uns, o Gott, durch Deine Gnade. Kallis: und beschütze uns, Gott, durch deine Gnade. Wie schon sichtbar wurde, wird im Deutschen nicht unterschieden zwischen den Äquivalenten für charis und gratia und es wird einheitlich nur das Wort Gnade verwendet. Die unterschiedliche semantische Auffassung der Gnade im Sinne von charis und gratia kommt abhanden und kann als ein semantischer Verlust bei der Translation gelten. 3.2 Das Beispiel Das Lamm mit der Lanze schlachten Als weiteres Beispiel könnte das Lamm mit der Lanze schlachten genannt werden. Ich möchte mich dabei auf die Übersetzung von zwei Lexemen konzentrieren, das Lamm und die Lanze, vgl. die Übersetzung von Malcev: 10 10 Die Übersetzung der Auslandskirche wird in diesem Beispiel nicht analysiert, denn der Textabschnitt befindet sich in ihr nicht. <?page no="210"?> Eva Maria Hrdinová 198 Der Priester nimmt hierauf die erste Prosphorá in seine linke Hand und die heilige Lanze in seine Rechte, macht mit der Lanze dreimal das Zeichen des Kreuzes über das Siegel der Prosphorá und spricht: Der Priester stößt sodann die heilige Lanze seitlich von unten in die rechte Seite der Prosphorá, hebt das Lamm heraus und spricht: Denn sein Leben wird von der Erde hinweggenommen (Jes. 53,8). Er legt alsdann das Lamm mit dem Siegel nach unten auf den heiligen Diskos . Die Beziehung zum griechischen Prius 11 ist beim deutschen Wort Lanze nicht mehr zu erkennen, 12 vgl. griech. lonche, das lateinische lancea und nicht zuletzt auch das deutsche Wort Lanze sowie auch das griechische Verb loncheuein (‚mit der Lanze erstechen/ durchbohren‘), in der liturgischen Bedeutung cutting eucharistic bread (Lampe 1961: 811). Das Wort Lanze (heilige Lanze) stellt ein volles, wortwörtliches Äquivalent dar, auch wenn es sich formal nicht um eine Lehnübersetzung handelt. Ähnlich sieht die Situation beim deutschen Lexem das Lamm aus. Diesem Lexem 13 entspricht im Griechischen das Wort amnos (amnos theou - ‚Lamm Gottes‘, Joh. 1,36), vgl. auch das lateinische agnus und kirchenslawische agnecь). Im Hinblick auf die in der Übersetzung Malcevs beschriebene Vorbereitung der eigentlichen liturgischen Handlung ist ersichtlich, dass die ursprünglichen Bedeutungen der Lexeme die Lanze und das Lamm hier in einer polysemen und voll metaphorischen 14 Wortbedeutung gebraucht werden, und zwar anhand der Ähnlichkeit oder allgemeiner Zusammenhänge: Das Lamm ist ein Teil des Opferbrotes und bei der Lanze (heilige Lanze) handelt es sich um einen messerähnlichen Gegenstand, mit dem das Brot geschnitten wird und welcher an die Lanze durch die äußere Ähnlichkeit erinnert. Ohne den Kontext könnte, wie oben bereits angedeutet, das Lexem Lamm als Tieropfer interpretiert werden oder wäre zumindest unklar. Es ist jedoch sichtbar, dass die neuere Übersetzung von Kallis wenigstens ansatzweise um eine gewisse ‚Entfremdung‘ bemüht ist, indem man die übertragene Bedeutung des Lamm-Schlachtens antizipiert, vgl. in der Übersetzung von Kallis (2000): 11 Im Kirchenslawischen wird das Wort prosfora verwendet, also eine Lehnübernahme aus dem Griechischen. 12 Vgl. die lexikalische Bedeutung des deutschen Äquivalents: „die Lanze - ‚aus einem langen Schaft und einer Spitze (aus Metall oder einem anderen harten Material) bestehende, für Stoß und Wurf bestimmte Waffe‘“, siehe URL 1. 13 Vgl. die lexikalische Bedeutung des deutschen Äquivalents: „das Lamm - ‚junges Schaf im ersten Lebensjahr, (seltener) junge Ziege im ersten Lebensjahr, Lammfell, sanfter, geduldiger Mensch [voller Unschuld]‘“, vgl. URL 1. 14 Zur Übersetzung der Metapher vgl. Schneider (2007), Paschke (2000). <?page no="211"?> Deutsch als Sprache der Theologie und Liturgie der Ostkirchen 199 Der Priester stößt die Lanze in die rechte Seite des abgeschnittenen Teiles und nimmt das Lamm heraus mit den Worten: P: Denn sein Leben wird von der Erde fortgenommen. Die Schlachtung des Lammes symbolisierend legt der Priester das Lamm mit dem Siegel nach unten auf den Diskos. Der Priester schneidet (‚schlachtet‘) das Lamm, den Opfertod Christi am Kreuz symbolisierend 3.3 Das Beispiel Prosphora Das ebenfalls in unserem Ausschnitt der Malcev-Übersetzung erwähnte griechische Wort prosfora, welches in der gleichen Form ins Altkirchenslawische entlehnt wurde und welchem im Deutschen die Lehnübernahme die Prosphora entspricht, bedeutet eigentlich ‚das Bringen‘, ‚das Gebrachte und Abgegebene‘. Das Präfix prosbedeutet ‚etwas, was in einer Richtung zu jemandem ist‘, ‚gegen‘, ‚gegenüber‘ oder ‚angesichts‘; oder auch so viel wie ‚bei‘ oder ‚vor‘, aber meistens zeigt es eine Absicht, ein Ziel oder eine Beziehung an. Fora, die zweite Komponente des Wortes, entstammt dem griechischen ferein (‚tragen‘), vgl. das Verb prosferein (‚hintragen‘, ‚vortragen‘, ‚darbringen‘). In den neutestamentarischen Texten heißt dieses Verb ‚opfern, eine Gabe bringen‘ - siehe hierfür auch Lampe (Lampe 1961: 1184): „1. bringing forward, producing, 2. setting forth (of food), 3. sacrifice (Christ’s sacrifice, christian sacrifice of worship and prayer, of eucharist).“ Ebenso wie beim Beispiel 3.2 versucht die Übersetzung von Kallis gewissermaßen zu modernisieren. Das bei Malcev verwendete Lexem Prosphora wird bei Kallis durch das Wort Opferbrot ersetzt, was eine allgemeinere Bedeutung hat und auch für den nicht „eingeweihten“ Rezipienten verständlich ist. Das Äquivalent Opferbrot für das griechische Wort prosfora, das auch ins Kirchenslawische übernommen wurde, kann für ein Beispiel der „kulturellen Transplantation“ gehalten werden. In der Übersetzung der Auslandskirche von 1989 kommt nur das Wort die Prosphora vor. 3.4 Das Beispiel die Mischung/ die Vereinigung Weitere Aufmerksamkeit wird den Lexemen die Mischung und die Vereinigung/ Einigung für das griechische henosis und kirchenslawische sojedinenije gewidmet, welche in den Übersetzungen von Malcev und Kallis auf eine unterschiedliche Art und Weise übersetzt wurden. <?page no="212"?> Eva Maria Hrdinová 200 3.4.1 Malcev Der Diakon bringt Wein mit etwas Wasser vermischt und sagt: „Segne, Gebieter, die heilige Vereinigung! “ [Die griechische Variante der Aussage des Priesters: ] Ε ὐ λόγησον, δέσποτα τ ὴ ν ἅ γίαν ἕ νωσιν. Nachdem der Priester die Mischung 15 gesegnet hat, gießt sie der Diakon in den heiligen Kelch. Der Priester nimmt sodann die zweite Prosphorá und spricht… (Malcev 1976: 15) Es muss angemerkt werden, dass sich die Bedeutung, in der die Lexeme Mischung und Vereinigung 16 gebraucht wurden, von der üblichen lexikalischen (und terminologischen) Bedeutung unterscheidet, d.h. bei Mischung handelt es sich um eine Mischung im chemischen Sinne und bei Vereinigung um eine Verbindung, aber auch um eine Bewegung oder einen Verein (juristisch gesehen). 17 3.4.2 Kallis Ähnlich verfährt er in anderen Textstellen: Dabei gießt der Diakon Wein und Wasser in den Kelch und bittet einschließend um den Segen: D: „Segne, Vater, die heilige Einigung! “ 18 Dem Lexem Einigung entspricht im Griechischen das Lexem henosis. Das Wort henosis bedeutet sowohl eine Vereinigung im einfachen Sinne (‚Vereinigung des Verschiedenen in Eines‘), als auch im philosophischen Kontext. In der Philosophie weist dann der Terminus auf eine mystische Vereinigung mit „dem Einen“ (hen) hin. Die deutsche Variante Einigung ist ebenfalls möglich und kann für eine Lehnübersetzung gehalten werden. Freier sind dann die Malcev´schen Varianten Vereinigung und Mischung, die bereits oben erwähnt wurden. So unterscheidet sich die Bedeutung des Äquivalents die Vereinigung vom griechischen Prius folgendermaßen: Vereinigung weist viel- 15 Vgl. die lexikalische Bedeutung des deutschen Äquivalents: „die Mischung - ‚das Mischen, Gemischtes, Gemisch‘“, vgl. URL 1. 16 Dem ursprünglichen griechischen Lexem henosis wird sich im Zusammenhang mit der Übersetzung von Anastasios Kallis gewidmet. Im kirchenslawischen Text wird das Lexem sojedinenije verwendet, welches wortwörtlich ‚Einigung‘, ‚Vereinigung‘ bedeutet. 17 Vgl. die Bedeutung des deutschen Äquivalents: „die Vereinigung - ‚das Vereinigen, Sichvereinigen, (Rechtssprache) Zusammenschluss, auch lockere Verbindung von [gleich gesinnten] Personen zur Verfolgung eines gemeinsamen Zwecks; zu bestimmtem Zweck gegründete (rechtlich unverbindliche) Organisation o.Ä.‘“, siehe URL 1. 18 Vgl. die Bedeutung des deutschen Äquivalents: „Die Einigung - ‚das Sicheinigen, Einigwerden, das Einigen‘“, vgl. URL 1. <?page no="213"?> Deutsch als Sprache der Theologie und Liturgie der Ostkirchen 201 leicht mehr auf eine intensivere Vereinigung dieser Verschiedenheiten, auf die Aktivität beider Seiten hin, als es bei Einigung der Fall ist. 19 3.5 Das Beispiel schreckliche Geheimnisse Im sprachlichen Gemeinusus hat das Syntagma schreckliche Geheimnisse eine deutliche negative Konnotation und ist mit bestimmten Präsuppositionen verbunden. Ohne Vorkenntnisse weiß der Rezipient des ostkirchlichen liturgischen Textes nicht, dass die schrecklichen Geheimnisse (= im Griechischen frikta mysteria) eigentlich die heiligen Gaben bezeichnen, also die Sakramente Brot und Wein. Dem griechischen Ausdruck friké entspricht die Bedeutung ‚Gottesfurcht‘, ‚Furcht vor Gott‘; vgl. dabei weitere griechische Ausdrücke wie friktos ‚furchterregend‘, fobos ‚Angst‘. In demselben Kontext wäre auch das lateinische Syntagma timor Dei/ timor servilis zu erwähnen, das im philosophischen Diskurs teminologisiert wurde. Vor allem Aurelius Augustinus befasste sich mit dem Begriff der Angst. Im neunzehnten Jahrhundert wurde dann die Angst/ Furcht vor Gott z. B. von Sören Kierkegaard aufgegriffen in seinem Werk aus dem Jahre 1844, Begriff der Angst. Das Kirchenslawische kannte das Lexem strach (‚Angst‘, aber auch ‚Furcht‘ und ‚Gottesfurcht‘), diesem entsprechen im Tschechischen zwei Äquivalente: strach (‚Angst‘), bázeň (‚Furcht‘), im Deutschen jedoch deutlich mehrere, so etwa: Angst, Furcht, Gottesfurcht. Die Lage der einzelnen Übersetzungen ist folgende: In der Sequenz des Diakons nach der heiligen Kommunion auf S. 90 werden in der Übersetzung von Malcev die Geheimnisse, also Brot und Wein Christi, nicht mit dem Wort furchtbar bezeichnet, sondern mit dem synonymen Ausdruck schrecklich, also wortwörtlich in der ursprünglichen Bedeutung ‚Schrecken erregend‘: Aufrecht stehend, nachdem wir die göttlichen, heiligen, allerreinsten, unsterblichen, himmlischen, lebendigmachenden, schrecklichen Geheimnisse Christi empfangen haben, lasset uns würdig danken dem Herrn. Auch hier hebt sich das Wort schrecklich von seiner lexikalischen Bedeutung deutlich ab und repräsentiert wieder ‚die Erregung eines Schrecks‘. Wie sichtbar wird, bezieht sich diese ‚Erregung des Schrecks‘ auf Gott und auf seine wichtige Gabe an den Menschen, die Kommunion. Die Isotopie weist im semantischen Bereich eine deutliche Abweichung vom gängigen lexikalischen Usus auf und zwar nicht nur in Bezug auf das Wort Furcht selbst, sondern auch auf Adjektive wie furchtbar oder schrecklich. Schreckliche 19 In der Übersetzung der Auslandskirche ist die Passage nicht vorhanden, deshalb wird sie hier nicht behandelt. <?page no="214"?> Eva Maria Hrdinová 202 Geheimnisse sind im Normalgebrauch wohl nicht mit dem allerheiligsten Sakrament im römisch-katholischen Sinne identisch, obwohl sie es im orthodoxen religiösen Gebrauch sind. In der Übersetzung der Auslandskirche kommt dann die Bezeichnung furchtbare Geheimnisse vor, bei Kallis schließlich furchterregende Geheimnisse. Erkennbar wird, dass bei jeder der Übersetzungen ein anderer Aspekt hervorgehoben wird. Dennoch bleiben negative Konnotationen, die für einen Außenstehenden in Bezug auf die Sakramente und die heilige Kommunion eher verwirrend sein können. 4 Fazit Am Beispiel der hier behandelten drei Übersetzungen der Chrysostomos-Liturgie wurde gezeigt, dass Deutsch auch als eine eigenständige Sprache der Liturgie und Theologie der Ostkirchen gelten kann. Dennoch ist die Nähe an die einst vorhandenen Originalsprachen (Griechisch und Kirchenslawisch) sehr deutlich. Es wird viel mit Lehnübernahmen gearbeitet, die bestimmte, in der deutschen Kultur nicht vorhandene Sachverhalte auf diese Weise auszudrücken versuchen. An allen hier analysierten deutschen Übersetzungen kann man die Anwendung der hermeneutischen Methode erkennen, auch im Sinne der Neuinterpretation von bestimmten Sachverhalten (Lanze, Lamm usw.). Aus der Analyse geht darüber hinaus hervor, dass die theoretischen Grundsätze von Hrdlička/ Gromová zur Geltung kamen. Es sei jedoch angemerkt, dass sich dieser Beitrag lediglich auf die Translation auf der lexikalischen Ebene bezogen hat. In Bezug auf die übersetzungsrelevante Theorie die Äquivalenz, wie sie etwa bei Werner Koller (2004: 343—354) präsentiert wird, kann man folgende Typen unterscheiden: 1. volle Äquivalenz: durch Lehnübernahmen (Prosphora) und durch Lehnübersetzung realisiert (Gottesgebärerin), aber auch durch getreue Übersetzung (so etwa beim Äquivalent Einigung); 2. Teiläquivalenz: Diese war in unserem Material am meisten sichtbar, so etwa bei Beispielen Das Lamm und die Lanze; die Gnade; die Gottesfurcht, die Mischung und die Vereinigung; 3. Nulläquivalenz - wurde nicht festgestellt - wird in der Regel durch sogenannte Funktionaläquivalenz ‚gelöst‘, wo ein anderes Lexem verwendet wird, das in der Zielsprache und Zielkultur eine ähnliche Funktion ausübt. Obwohl bei den Übersetzungen, die an sich keine Entwicklungslinie darstellen, im Laufe der Zeit gewisse Bemühungen um Modernisierung sichtbar <?page no="215"?> Deutsch als Sprache der Theologie und Liturgie der Ostkirchen 203 werden, kann man nicht von einer ‚Modernisierung‘ sprechen. Bestimmte typische ostkirchliche Lexik wird beibehalten und nicht durch gemeinchristliche mögliche Funktionaläquivalente ersetzt. Dieser Umstand kann Gründe haben etwa in dem traditionell statischen, historisch geprägten und sich nicht viel ändernden rituellen Charakter der Ostkirchen und im Wert der Tradition in ihnen, aber auch in der Nicht-Existenz von bestimmten Realien im Bereich des westlichen Christentums. Somit hat sich meine eingangs formulierte Hypothese nicht bestätigt. Eine eingehendere Auseinandersetzung mit dem vorliegenden Material auch in Bezug auf eine ausführliche Behandlung der hier nur angedeuteten Translationstheorien 20 war an dieser Stelle aus Platzgründen nicht möglich. Hier bleibt noch Raum für weitere Forschungen. Literatur Adam, Adolf (1988): Grundriß Liturgie. Freiburg u.a.: Herder. Assmann, Jan (2000): Religion und kulturelles Gedächtnis. München: C. H. Beck. Beyer, Klaus (2004): Religiöse Sprache. Thesen zur Einführung. Münster: Lit-Verlag. Bugel, Walerian (2010): Pracovní verze českého pravoslavného překladu CHR z r. 2008. Pokus o charakteristiku. In: Marinčák, Štefan (2010) (Hrsg.): Problematika prekladov do živého jazyka. Súbor štúdií. Košice: Dobrá kniha Trnava, S. 195—212. Die göttliche Liturgie unseres hl. Vaters Johannes Chrysostomos, übersetzt von Alexij Malcev (1976), Leipzig: St. Benno Verlag Fluck, Hans R. (1991): Fachsprachen. Einführung und Bibliographie. Tübingen: Francke. Greule, Albrecht (2003): Liturgische Textsorten und ihr „Sitz im Leben“. In: Deutsche Sprache, Nr. 31, S. 293—306. Gadamer, Hans G. (2009): Pravda a metoda I. Nárys filosofické hermeneutiky. Praha: Triáda. Hoffmann, Lothar (1988): Vom Fachwort zum Fachtext. Tübingen: Narr. Hrdinová, Eva (2013): Překlad liturgického textu v zrcadle teorie skoposu. Na příkladě translace východní Chrysostomovy liturgie do češtiny. Bratislava: Iris. Hrdinová, Eva (2014): Schlachtet der Priester am Sonntag das Lamm? ! Zu ausgewählten deutschen Übersetzungen der ostkirchlichen Chrysostomos-Liturgie. In: Studia Germanistica, Nr. 14, S. 5—15. Hrdlička, Milan/ Gromová, Edita/ Vilímek, Vítězslav (2010) (Hrsg.): Antologie teorie odborného překladu. Nitra; Ostrava: Repronis. Kallis, Anasthasios (2000) (Hrsg.): Die Göttliche Liturgie der Orthodoxen Kirche. Münster: Matthias-Grünewald-Verlag. Koller, Werner (2004): Der Begriff der Äquivalenz in der Übersetzungswissenschaft. In Frank, Armin P. et al. (Hrsg.): Übersetzung - Translation - Traduction. Ein inter- 20 So wird auch die relativ moderne und deutlich absichtsgebundene Skopostheorie manchmal mit der Translation von religiösen Texten in Verbindung gesetzt, vor allem weil sie die Kultur und den Rezipienten als wichtige und für das übersetzte Produkt bestimmte und bestimmende Größen betont. <?page no="216"?> Eva Maria Hrdinová 204 nationales Handbuch zur Übersetzungsforschung. An International Encyclopedia of Translation Studies. Berlin; New York: de Gruyter, S. 343—353. Kautz, Ulrich (2002): Handbuch Didaktik des Übersetzens und Dolmetschens. München: iudicium. Lampe, Geoffrey W. H. (1961): A Patristic Greek Lexicon. Oxford: Clarendon Press. Orthodoxes Gebetbuch in deutscher Sprache (1989) [o. Autor/ Hrsg.]. München; Berlin: Kloster des Hl. Hiob von Počaev. Schneider, Antonia (2007): Übersetzen als kulturelle Praxis. Pragmatik und Meta-Pragmatik des Übersetzens in institutionellen und ethnologischen Kontexten am Beispiel von Quechua und Spanisch in Huancavelica/ Peru. München (unveröffentlichte Dissertation). Slodička, Andrej (2007): Význam učenia svätého Jána Zlatoústeho pre katolícku dogmatickú teológiu. In: Zozuľak, Ján (2007) (Hrsg.): Život a dielo svätého Jána Zlatoústeho. Prešov: PU, S. 197—209. Taft, Robert J. (2008): Život z liturgie. Tradice Východu i Západu. Olomouc: Refugium Elektronische Quellen URL 1: www.duden.de [25. 3. 2014]. Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Projekts CZ.1.07/ 2.3.00/ 20.0222 „Posílení rozvoje Centra výzkumu odborného jazyka angličtiny a němčiny na Filozofické fakultě Ostravské univerzity“. <?page no="217"?> Gerhard Katschnig Über die Anfänge des Deutschen als Universitätssprache Abstract Am Reformationstag von 1687 kündigte Christian Thomasius an der Universität Leipzig ohne Absprache mit der Fakultät eine Vorlesung in deutscher Sprache an. Gemeinhin gilt dies als Startschuss für die Etablierung der deutschen Sprache als Landessprache im universitären Unterricht gegenüber der lateinischen Sprache. Dass Thomasius allerdings einige Vorläufer hatte, die weniger bekannt bis aktenunkundig geblieben sind, wird im Beitrag angesprochen. Von Thomas Murners Vorlesungen in Basel 1518/ 19 bis zu Daniel Georg Morhoffs Unterricht von der ‚teutschen‘ Sprache und Poesie 1682 zeigten sich frühe und intensive Bemühungen, Deutsch als Unterrichtssprache entgegen der lateinischhumanistischen Tradition im universitären Umfeld durchzusetzen. Mit der kulturellen Breitenwirkung Frankreichs ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts trat mit Französisch eine zweite lingua franca in Konkurrenz zum Deutschen. Der Krisencharakter Frankreichs im Antlitz der Zeitumstände gegen Ende des 18. Jahrhunderts bewirkte eine Veränderung des sprachlichen Gefüges im Wissenschaftsbetrieb. 1 Einleitung - Bildung und Universität Der folgende Beitrag steht nicht im Zeichen der frühesten Nachweise der deutschen Sprache an den durch das Lateinische geprägten Universitäten. Dergleichen ist bereits in Arbeiten von Friedrich Paulsen, später von Klaus Weimar sowie Weiteren kompetent belegt und soll im Folgenden auch gebührend zitiert werden. Vielmehr liegt der Schwerpunkt auf einer kulturgeschichtlichen Perspektive, die, allgemein betrachtet, gewissermaßen alles umschließt, was das Handeln, Denken und Wahrnehmen des Menschen in einer jeweiligen Zeitepoche ausmachte, welche Bedeutung er den Grundzügen eines Zeitalters beimaß, welche Faktoren in der Komplexität und Besonderheit des Lebens ihm als konstitutiv erschienen. Der so verstandene, kulturgeschichtliche Hintergrund von Werten, „an denen einzelne Gruppen sich zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten orientierten“ (Burke 2005: 8), soll im Folgenden am Verhältnis von lateinischer, deutscher und französi- <?page no="218"?> Gerhard Katschnig 206 scher Sprache innerhalb der Institution Universität - mit Bezug auf das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Alltagswelt - aufgezeigt werden. In der Weltsicht des europäischen Mittelalters war das Hinterfragen der Natur in einer theologischen Ordnung geborgen, die in sich Schlüssigkeit wie Sicherheit vermittelte. Der Paradigmenwechsel von Theonomie zu Säkularisierung und vernunftgeleiteter Selbstbestimmung erfolgte durch die Organisation von Wissen, das in kritischer Distanz gegenüber den konfessionellen Grenzen von Mensch und Welt stand. Die Verortung dieser sich etablierenden Wissenschaft kann auf kein Zentrum festgelegt werden, noch auf den institutionellen Typus. Neben den Universitäten mittelalterlicher Prägung gab es eine Vielzahl an Hochschulen, die in dieser Darstellung nicht zwingend unterschieden werden müssen. Ob nun klösterliche Hochschulen, Dom-, Stifts- und Kathedralschulen oder städtische Universitäten: sie waren bis in die frühe Neuzeit in erster Linie Lehr- und Standesinstitutionen, in denen es vordergründig um Wissens- und Traditionsbewahrung ging, weniger um die Verbindung von Forschung und Lehre, wie wir dies im 19. Jahrhundert finden (vgl. van Dülmen ³2005: 188). Einflüsse auf eine Neuorganisierung des Wissens kamen zunächst überwiegend aus Frankreich und England, da die Gebiete im heutigen Deutschland und Österreich in ihrer wissenschaftlichen Entwicklung von den sozialen und politischen Folgeerscheinungen des Dreißigjährigen Krieges eingenommen waren. Offizielle Reichssprachen in den deutschsprachigen Ländern waren seit dem Mittelalter infolge des Reichssprachenrechts Deutsch und Latein (vgl. im Folgenden: von Polenz 1994: 51—57). Diese Regelung erstreckte sich ebenso auf den Kaiser und auf die den sprachlichen Trends folgenden Fürstenhöfe in den Gebieten des heutigen Italien, Frankreich und Spanien. Andere Akzente finden wir im universitären Bereich: Wie die Kirche in der Glaubenslehre, so benutzte die Universität in der Wissenschaft als ihren genuin eigenen Bereich die lateinische Sprache als Kennzeichen des Gelehrtentums. Latein spiegelte als Kulturmonopol und vermittelnde Form der scholastischen Tradition einen Geltungsanspruch wider, der die Wissenschaftsauffassung maßgeblich beeinflusste. Das von der römischen Kultur übernommene Bildungskonzept der septem artes liberales kann als prägend für das Bildungswesen der abendländischen Kultur des Mittelalters und der frühen Neuzeit bezeichnet werden. In den vielgestaltigen Hochschulen des Früh- und Hochmittelalters wurde das Konzept über ein Werk des Martianus Capella überliefert, womit zugleich Sitz und Institution gelehrter Bildung benannt sind: die Kirche. Die Sprach- und Bildungsreform Karls des Großen - Karolingische Renaissance - trug ihres dazu bei. In die Spätphase der konzentrierten monastischen Gelehrsamkeit fielen die ersten Universitätsgründungen, die neben dem wissens- <?page no="219"?> Über die Anfänge des Deutschen als Universitätssprache 207 vermittelnden Klerus einen weiteren Kommunikationsraum mit theologischem Fundament eröffneten. Wichtigste Voraussetzung für die Aufnahme an der Universität war die Beherrschung der lateinischen Sprache, die selbst nach der Reformation für Katholiken wie für Protestanten gleichermaßen die einzige Sprache blieb, von der ausgehend weitere Bildung zu erlangen war. Ob allerdings in allen Situationen an der Universität Latein gesprochen wurde, darf bezweifelt werden, zumal ein vielschichtiges Kommunikationsgefüge vorliegt, auf das Jürgen Schiewe hinweist: „von der mündlichen Umgangssprache bis zur veröffentlichten Schriftsprache, von der Verwaltungssprache bis zur Wissenschaftssprache, von der Festrede bis zum Prüfungsgespräch“ (Schiewe 1996: 83). Wenngleich es keine verlässlichen Nachrichten über ein Für und Wider innerhalb des universitären Alltagslebens gibt, wurde bezeichnenderweise erst 1755 die erste Universität außerhalb des lateinischen Europa gegründet - in Moskau (vgl. Asche/ Gerber 2011: Sp. 1012). Die Dominanz der theologischen Fakultät mitsamt ihrer Wissens- und Traditionsbewahrung orthodoxer Lehrmeinungen wurde schließlich gegen Ende des 18. Jahrhunderts von den modernen respektive anderen Entwicklungen in der Natur- und Geschichtswissenschaft eingeholt. Auf der Ebene der Lehre und der Verständigung innerhalb der universitas magistrorum et scolarium war die lateinischsprachige Literalität mit ihren kanonisierten Schriften bis in die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts als klerikaler Bildungsmarker vorherrschend. Aristoteles lernte man durch lateinische Übersetzungen von Boethius kennen, Juristen lernten römisches Recht aus dem lateinischen Original, in der Medizin galten Hippokrates und Galen. Vorreiter einer entscheidenden Veränderung in Richtung Landessprache und freier Form der Selbstorganisation gegenüber Kirche sowie Staat waren konfessionsfreie Reformuniversitäten wie die preußische Landesuniversität Halle - beispielsweise Christian Thomasius‘ Eintreten für die deutsche Sprache entgegen der lateinisch-humanistischen Tradition - und die Universität Göttingen, die 1737 Lehrfreiheit für ihre Professoren garantierte. Damit wurde eine tiefgreifende Modifizierung des Wissensbestandes und des universitären Lehrbetriebes vorweggenommen, die im protestantischen Norden gegenüber den vom Jesuitenorden stark beeinflussten Universitäten auf katholischer Seite rascher erfolgte. 2 Akademien als Zentren verwissenschaftlichter Landessprache Wenngleich die bekanntesten Naturforscher an Universitäten studiert hatten, entwickelten und forcierten sie ihr wissenschaftliches Weltbild nicht <?page no="220"?> Gerhard Katschnig 208 selten außerhalb der und/ oder im Gegensatz zur Alma mater. Das Bild der europäischen Wissenschaft des 17. und 18. Jahrhunderts wurde entscheidend durch Akademien geprägt, die abseits der Universitäten, wo Theologie Königsdisziplin war und zu geistiger Konformität zwang, begannen, mit empirischen Methoden zu arbeiten, um Naturerscheinungen besser zu verstehen. Als eine der frühesten in Italien kann die Accademia degli Umidi von 1540 genannt werden, welche sich Werken nicht der gelehrten Sprache Latein, sondern der Volkssprache Italienisch widmete. Andere Organisationszentren einer erstmals institutionalisierten Forschung wie die Royal Society for Improving Natural Knowledge (1660/ 1662) in London oder die Académie française (1635) in Paris fokussierten ebenfalls den Übergang von Latein zur jeweiligen Volkssprache. Mit der Gründung der Royal Society wurde nicht nur ein Zentrum für naturwissenschaftliche Bestrebungen geschaffen, das sich dem Wissenschaftsprogramm Francis Bacons verpflichtete. Mit dem königlichen Gründungsdekret und ihrer staatlichen Verankerung kann der Anfang der gesellschaftlichen Anerkennung wissenschaftlicher Arbeitsweise unabhängig von religiösen oder politischen Machtsphären bezeichnet werden, wie es für das 16. und selbst das 17. Jahrhundert keineswegs die Norm darstellte. Die unter Ludwig XIII. und seinem Kardinal Richelieu begründete französische Gelehrtengesellschaft Académie française forcierte die Entwicklung der Sprache der Île de France zu einer klassischen und normierten Literatursprache unter anderem durch die Publikation eines Wörterbuchs. Im deutschen Sprachraum finden wir für diesen Zeitraum keine vergleichbaren Einrichtungen, die den Fokus auf das volgare Deutsch gerichtet hätten (vgl. Koch 2008: 74). Fachzeitschriften wie das Journal des sçavans in Frankreich, die Philosophical Transactions in England (beide 1665 begründet) oder das Giornale dei Letterati - gegründet 1668 - in Italien informierten über wissenschaftliche Errungenschaften in der jeweiligen Landessprache. Die für den deutschsprachigen Raum bedeutende Zeitschrift Acta eruditorum erschien seit 1682 bezeichnenderweise in lateinischer Sprache. 3 Frühe Beispiele des Deutschen als Universitätssprache Gleichwohl ist es unter dem Einfluss des deutschen Humanismus bereits zu einer Sprachstandardisierung gekommen, wie wir sie zum einen in den zahlreichen Bibelübersetzungen von Johannes Mentelin 1466 bis zu jener Luthers von 1522 lesen können, zum anderen in den über 800 Ausgaben deutscher Wörterbücher (vgl. Gierl 2012: Sp. 87) aller Art in einem Zeitraum von 1467—1600. Das humanistische Credo - ad fontes - ersetzte die Rezepti- <?page no="221"?> Über die Anfänge des Deutschen als Universitätssprache 209 on antiker griechischer Werke mit Hilfe von Übersetzungen durch den unmittelbaren Zugriff auf das Original. Daraus lässt sich zweierlei schlussfolgern: zum einen erforderte die konkrete Auseinandersetzung mit Aristoteles, Platon, Homer und Weiteren das Studium des Altgriechischen; Übersetzungen ins Lateinische gerieten in den Hintergrund. Zum anderen veränderte die philologische Feinarbeit an den alten Sprachen auch den Umgang mit der eigenen Sprache. Zwar erfolgte der Thesenanschlag Martin Luthers 1517 in lateinischer Sprache, womit der gewünschte Adressat deutlich wird, doch lässt sich für denselben Zeitraum eine Reihe an Beispielen anführen, in denen eine Abkehr von der Norm, in lateinischer Sprache vorzutragen, aktenkundig wurde (vgl. im Folgenden: Weimar 1989: 14—19; Schiewe 1996: 90f.; Koch 2008: 86f.). Tileman Heverlingh trug seinen Studenten an der Universität in Rostock 1501 die Satiren des Juvenal auf Deutsch vor, 1518/ 19 hielt Thomas Murner Vorlesungen in deutscher Sprache über die Digesten und Institutionen von Kaiser Justinian aus der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts - wovon ein Teil, neben einigen anderen Arbeiten, auf Deutsch unter dem Titel Instituten ein warer ursprung unnd fundament des Keyserlichen rechtens veröffentlicht wurde - an der Universität Basel, ebendort folgte ihm 1523 der Theologe und Reformator Johannes Oecolampadius mit Vorlesungen über den alttestamentarischen Propheten Jesaia, die einen deutschsprachigen Anteil enthielten. Paracelsus benutzte in Basel als erster „lehrbeauftragter Wundarzt“ (v. Polenz 2000: 203) ohne Tragen des Amtstalars 1527/ 28 Deutsch als Unterrichtssprache in angewandter Medizin für seine chirurgia vulnerum mit dem Hinweis: „Mein fürnemen ist hie, zu erklären, was ein arzet sein sol, und das auf teutsch, damit das in die gemain gebracht werde“ (zit.n.: Weimar 1989: 15). Zu diesem Zweck adaptierte er Fachbegriffe semantisch wie grammatikalisch in seiner Landessprache, sammelte Synonyme und umschrieb mit ihnen die lateinischen bzw. griechischen Termini (vgl. Gierl 2012: Sp. 86). Neben zahlreichen weiteren Beispielen finden wir diesen speziellen Ansatz, Gelehrtes allgemeinverständlich zu übermitteln, in den Schriften und Wirkbereichen von Wolfgang Ratichius (Ratke) und Balthasar Schupp. Letzterer bekräftigt fakultätenübergreifend: „Warumb solt man nicht eben so wol in der teutschen, als in der lateinischen Sprach lernen können, wie man Gott recht erkennen vnd ehren solle? Warumb solt ich nicht eben so wol in meiner Mutter Sprach sehen was recht oder vnrecht sey? Ich halt, man künne einen Krancken eben so wol auff Teutsch, als auff Griechisch oder Arabisch curiren.“ (Schupp 1640: 27) Paulsen sieht in Schupp einen reformpädagogischen Schriftsteller, der gegenüber der Universitätsgelehrsamkeit eine eher lebenspraktisch ausgerich- <?page no="222"?> Gerhard Katschnig 210 tete Bildung schaffen wollte, aus der man praktischen Nutzen ziehen könne (vgl. Paulsen 1896: 470f.). Schiewe sieht bei Schupp die Forderung nach einem Funktionswandel von Bildung bestätigt, wenn die Ausrichtung des Unterrichts zunehmend auf ökonomisch verwertbare Inhalte ziele (vgl. Schiewe 1996: 37). 4 Die Universität zwischen Gelehrtenlatein, Französisch als lingua franca und deutschsprachiger Resteverwertung Eine zusätzliche Differenzierung der angeführten Beispiele, welche zugleich den Informationsgehalt mit einem Fragezeichen hinterlegt, ergäbe sich in der Trennung von Niederdeutsch und Hochdeutsch, katholischem und protestantischem Gebiet. Somit müssen wir, von vereinzelten, wenngleich zahlreichen Abweichungen abgesehen, doch davon ausgehen, dass die deutsche Sprache im wissenschaftlichen Bereich weiterhin eine Randposition einnahm. Zwar existierten im 17. Jahrhundert zahlreiche Lobschriften auf die große Bedeutung der deutschen Sprache ebenso wie Sprachgesellschaften - etwa die Fruchtbringende Gesellschaft, gegründet 1617, oder der Elbschwanenorden aus dem Jahr 1660 -, die sich der Würdigung und Pflege der deutschen Sprache verschrieben hatten. Doch gab noch 1682 Daniel Georg Morhof, der zwei Jahrzehnte zuvor mit colloquia Germanica an der Universität Kiel begonnen hatte, zu bedenken, dass sich „unter gelehrten Leuten/ und die von Teutſcher Herkunfft ſeyn/ einige finden/ die ihre Mutter-Sprache læſtern“ (Morhofen 1682: 3). Worauf später Paulsen in seiner umfassenden Abhandlung eindringlich verweist - „In der Entwickelung der Sprache spiegelt sich die innere Entwickelung eines Volkes“ (Paulsen 1896: 434) -, hatte bereits Gottfried Wilhelm Leibniz 1679 aufmerksam gemacht, wenn dieser in seiner Schrift Ermahnung an die Teutsche, ihren verstand und Sprache beßer zu üben aufforderte, der deutschen Sprache den Vorzug vor der lateinischen wie der französischen zu geben. Denn, so Leibniz, „[d]as band der sprache, der sitten, auch sogar des gemeinen Nahmens vereiniget die Menschen auf eine sehr kräfftige wiewohl unsichtbare weise, und machet gleichsam eine art der Verwandschafft“ (Leibniz 1679: 798). Während in Italien, England und Frankreich in den jeweiligen Landessprachen gehobene Literatur anzutreffen sei, fehle ein derartiges deutschsprachiges Bestreben. „In Teutschland aber hat man annoch dem Latein und der Kunst zuviel, der Muttersprach aber und der Natur zu wenig zugeschrieben […]“ (Leibniz 1679: 809). Leibniz wollte, nach Vorbildern in der Royal Society und der Académie française, deutsche Sprachpflege sowohl im Alltag als auch in den wissenschaftlichen Abhandlungen forciert <?page no="223"?> Über die Anfänge des Deutschen als Universitätssprache 211 sehen. „[W]eil aber unser reden, unser schreiben[,] unser leben, unser Vernünfftlen in einer Nachäffung bestehet, so ist leicht zu erachten, daß wir die hülse vor den kern bekommen“ (Leibniz 1679: 818) - dies hinderte ihn selbst jedoch nicht daran, weiterhin auf Latein oder Französisch zu veröffentlichen. Paulsen machte für den überwiegenden Gebrauch des Lateinischen den Humanismus verantwortlich, der neben der philologisch-historischen Untersuchung des Altertums die Geringschätzung der Volkssprache bestärkte. Als indirekte Folge konnte das Französische seine kulturelle Vormachtstellung weiter ausbauen und auf die deutschsprachigen Länder ausweiten (vgl. Paulsen 1896: 433—436). Wie stark dieser Einfluss des Französischen auf die deutsche Sprache war, zeigt sich an einer Reihe markanter Beispiele, welche die Annahme bekräftigen, Französisch hätte Latein als lingua franca abgelöst. Am Reformationstag von 1687 kündigte Christian Thomasius am schwarzen Brett der Leipziger Juristenfakultät zwar eine Vorlesung über Moralphilosophie in deutscher Sprache an, die gegen die lateinische Tradition verstieß. Doch setzte er sich in alamodischer Cavaliers-Kleidung an Stelle des traditionellen Talars (vgl. v. Polenz 1994: 55) mit der Frage auseinander, ob Frankreich das Zentrum der Aufklärung sei, da von den Reihen der französischen Aufklärer große Impulse in kultureller und politischer Sicht ausgingen. „Französische Kleider/ Französische Speisen/ Französischer Haußrath/ Französische Sprachen/ Französische Sitten/ Französische Sünden ja sogar Französische Kranckheiten sind durchgehend im Schwange“ (Thomasius 1687: 3), sagte Thomasius und kritisierte die unreflektierte Nachahmung auf Kosten der eigenen Kultur und Lebensweise. Thomasius Kritik hatte ihre Gründe: Französisch repräsentierte die bildende Sprache Westeuropas und, sofern man nicht wie die Habsburger des 17. Jahrhunderts aus politischen Motiven abgeneigt war, zu einem überwiegenden Teil die Sprache der Aufklärung. Es war eine Selbstverständlichkeit in den gebildeten Kreisen und führenden Schichten, sich der französischen Sprache schriftlich und mündlich zu bedienen. Wie die Gründung der Académie française zeigte, gelang die Perfektionierung des kulturellen Exportartikels in allen Bereichen der literarischen Künste, während Mittel- und Nordeuropa durch den Dreißigjährigen Krieg in Mitleidenschaft gezogen wurden. Ein für die Aufklärung bestimmendes und zugleich veraltetes Herrschaftsmodell endete in personam 1715. „Der König von Frankreich ist der mächtigste Fürst Europas“ (Montesquieu 1721: 51), schrieb Montesquieu über Ludwig XIV. und sprach damit die politische und kulturelle Leitbildfunktion Frankreichs an, das wie kein anderer Staat ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts auf die sozialen Ordnungen und Kulturen Europas einwirkte. Nach Ludwigs Tod 1715 lag die Führungsposition Europas bei <?page no="224"?> Gerhard Katschnig 212 Großbritannien. Es ist von manchen Intellektuellen des 18. Jahrhunderts als politisches Gegenmodell zum französischen Absolutismus aufgefasst worden. Allerdings hat Großbritannien, selbst in Anbetracht der Anglophilie durch die Schriften John Lockes oder David Humes, keine kulturelle oder sprachliche Vorbildfunktion auf dem kontinentalen Festland erreicht. Noch 1784, knapp 100 Jahre nach Thomasius, wurde von der Berliner Akademie der Wissenschaften die Preisfrage gestellt, was die französische Sprache zur Universalsprache gemacht und wodurch sie diesen Vorzug verdient habe (vgl. Schlobach 1992: 200). 1787 stellte sich Johann Georg Büsch die Frage: „Ist es in dem jetzigen Zustande der Wissenschaften einem Volke in Absicht auf den Fortgang seiner Aufklärung vortheilhaft, wenn seine Sprache zur Universalsprache wird? “ (Büsch 1787: 13f.). Seine Auseinandersetzung mit einer Thematik, die drei Jahre zuvor als Preisfrage ausgeschrieben und bezeichnenderweise von Antoine de Rivarol gewinnbringend beantwortet worden war, erinnert frappant an Thomasius. Letzterer versuchte darzulegen, dass die Einflüsse aus Frankreich auch dann als bedeutend einzustufen seien, wenn die Tradition und vor allem die Sprache des eigenen Landes nicht in den Hintergrund gestellt werden. In Anknüpfung an Schupp, dessen Reformeifer sich auf die Schule konzentrierte, plädierte Thomasius auf universitärer Ebene für eine Verbindung des Deutschen mit dem Französischen, solange der Praxischarakter das Signum neuer Wissenschaftlichkeit darstelle: „Warum sollte es nicht angehen/ daß man durch Hülffe der Teutschen und Frantzösischen Sprache/ […] Leute/ die sonsten einen guten natürlichen Verstand haben/ in kurtzer Zeit viel weiter in der Gelehrsamkeit brächte/ als daß man sie erst so viele Jahre mit dem Lateinischen placket. […] Man lasse diejenigen/ so Lust darzu haben/ […] Latein und Griechisch genug lernen/ denen andern aber/ so man im gemeinen Leben brauchen wil/ oder die nichts als Frantzösisch und Teutsch gelernt haben/ […] mit dem was sie gelernet haben/ fort.“ (Thomasius 1687: 21f.) Für die Erweiterung der Wissenschaften jedoch, so führte Büsch den Gedanken ein Jahrhundert später weiter, sei es zwingend notwendig, sich einzugestehen, dass „das Licht der Wissenschaften irgendwo ausser Frankreich“ (Büsch 1787: 58) leuchten konnte, da die Entwicklung ansonsten zu einem Stillstand kommen würde. Während Thomasius, in Anlehnung an Schupp, den Praxischarakter von Wissenschaftlichkeit befürwortete, solange das Lateinische hinter das Deutsche und das Französische zurücktritt, sah Büsch das Potenzial von Wissenschaft in der postludovizianischen Zeit differenzierter. Die Konzentration auf eine Sprache übersehe die feinen Nuancen in verwandten Ausdrücken anderer Sprachen. „Hier zeigte sich nun zu viel <?page no="225"?> Über die Anfänge des Deutschen als Universitätssprache 213 Nachahmung, und Originalität hatte selten Statt“ (Büsch 1787: 25). Seine Kritik führt in dieselbe Richtung wie die Gründung der Wiener Sprach- und Literaturgesellschaft unter Paul Josef Riegger - die ab 1761 gegen die Gallomanie des Wiener Hofes auftrat (vgl. Vocelka 2001: 252) - sowie Johann Gottfried Herders Ablehnung der französischen Sprache und Philosophie: „Frankreich: seine Epoche der Literatur ist gemacht: das Jahrhundert Ludwigs vorbei; […] Der Geschmack an Enzyklopädien, an Wörterbüchern, an Auszügen, an Geist der Schriften zeigt den Mangel an Originalwerken“ (Herder 1769: 217f.) Während die kulturelle Vormachtstellung und Ausstrahlung Frankreichs in direktem Zusammenhang mit der Konzentration und dem Missbrauch von Macht in der Person Ludwigs XIV. deutlich hervortritt, wirft der Krisencharakter bei seinem Enkel und Nachfolger Ludwig XVI. in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts seine Schatten bis an die Universitäten Preußens. Die neue Ausrichtung von Wissenschaft mit dem Leitprinzip der Denk- und Lehrfreiheit wurde durch Reformen im Bildungswesen ausdrücklich am Beginn des 19. Jahrhunderts entschieden und bleibt im deutschen Sprachraum vordergründig mit dem Namen Wilhelm von Humboldt und der 1810 gegründeten Universität zu Berlin verbunden. Die Universitäten als Stätten der freien wissenschaftlichen Arbeit kamen in den Dienst des Staates, womit Professoren zu Beamten wurden und das Deutsche endgültig den Rang der Wissenschaftssprache einzunehmen begann (vgl. Schiewe 1996: 38). 5 Resümee Den Übergang von den Gelehrtensprachen Latein und Französisch zu Deutsch als Universitäts- und damit Wissenschaftssprache müssen wir - allen voran in den katholischen Ländern, dann aber deutlich an der Bruchlinie 1773 mit der Aufhebung des Jesuitenordens erkennbar - spät ansetzen. Der prominenteste Anstoß bleibt sicherlich bei Christian Thomasius, der Leipzig zwar unmittelbar danach verlassen musste, aber durch die Neugründung der Universität in Halle 1694 Vorlesungen über Naturrecht auf Deutsch hielt. Wenngleich für die Zeit davor einige Hinweise auf deutschsprachige Vorlesungen oder überlieferte Dokumente, die selbiges bestätigen, erhalten sind, so sagt dies nichts Verlässliches über deren Häufigkeit aus. Die angeführten Beispiele - Schupp, Thomasius, Büsch, Herder - scheinen die These Schiewes zu bestätigen, wonach „der Sprachenwechsel vom Lateinischen [und Französischen, Anm.: G.K.] zum Deutschen mit einem gesellschaftlichen Funktionswandel der Institution ‚Universität‘ und mit einem wissenschaftlichen Denkstilwandel einhergeht“ (Schiewe 1996: 20). <?page no="226"?> Gerhard Katschnig 214 Die Ausbreitung der deutschen Sprache innerhalb des universitären Lehrbetriebes hat sich, ohne zuweilen Latein und Französisch zeitgleich oder als Zusatz zu verwenden, ohne polternde Spuren und eindringliche Dokumente wie bei Thomasius zu hinterlassen, wohl allmählich vollzogen. Die europaweiten Reaktionen auf die Französische Revolution und die Eroberungskriege Napoleons bedingten ein anderes Verständnis von Volk, Nation und Patriotismus, das sich letztendlich auch in der Wahl der Sprache zeigte. Quellen Büsch, Johann Georg (1787): Ueber die Frage: Gewinnt ein Volk in Absicht auf seine Aufklärung dabei, wenn seine Sprache zur Universal-Sprache wird? Berlin: Spener. Herder, Johann Gottfried (1769): Journal meiner Reise im Jahr 1769. In: Sturm und Drang. Dichtungen und theoretische Texte. Ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von Heinz Nicolai. Mit Anmerkungen von Elisabeth Raabe und Uwe Schweikert, Bd. 1. München: Winkler (1971), S. 185—257. Leibniz, Gottfried Wilhelm (1679): Ermahnung an die Teutsche, ihren verstand und Sprache beßer zu üben, samt beygefügten vorschlag einer Teutsch-gesinten gesellschafft. In: Ders.: Sämtliche Schriften und Briefe. Reihe IV: Politische Schriften. Akademie Ausgabe. Berlin: Akademie-Verlag (1986), S. 797—820. Montesquieu, Charles-Louis (1721): Persische Briefe. Übersetzt und herausgegeben von Peter Schunck. Stuttgart: Reclam (2007), S. 51. Morhofen, Daniel Georg (1682): Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie/ deren Uhrsprung/ Fortgang und Lehrsätzen. Wobey auch von der reimenden Poeterey der Ausländer mit mehren gehandelt wird. Kiel: Reumann. Schupp, Johan-Balthasar (1640): Dissertatio praeliminaris: De opinione. Rinteln: Lucius. Thomasius, Christian (1687): Discours: Welcher Gestalt man denen Franzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle? Ein Collegium über des Gratians Grund-Reguln/ Vernünfftig/ klug und artig zu leben. Leipzig: Weidmann. Literatur Asche, Matthias/ Gerber, Stefan (2011): Universität. In: Jaeger, Friedrich (2012) (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 13. Stuttgart; Weimar: Metzler, Sp. 1009— 1035. Burke, Peter (2005): Was ist Kulturgeschichte? Aus dem Englischen von Michael Bischoff. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. van Dülmen, Richard (³2005): Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. 16.—18. Jahrhundert. Bd. 3. München: C. H. Beck. Gierl, Martin (2012): Wissenschaftssprache. In: Jaeger, Friedrich (2012) (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 15. Stuttgart; Weimar: Metzler, Sp. 85—93. Koch, Hans-Albrecht (2008): Die Universität. Geschichte einer europäischen Institution. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Maurer, Michael (2008): Kulturgeschichte. Eine Einführung. Köln; Weimar; Wien: Böhlau. <?page no="227"?> Über die Anfänge des Deutschen als Universitätssprache 215 Paulsen, Friedrich (1896): Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Mit besonderer Rücksicht auf den klassischen Unterricht. Zweite, umgearbeitete und sehr erweiterte Auflage. Erster Band. Leipzig: Veit. von Polenz, Peter (²2000): Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Bd. I: Einführung. Grundbegriffe. 14.—16. Jahrhundert. 2., überarbeitete und ergänzte Auflage. Berlin; New York: de Gruyter. von Polenz, Peter (1994): Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Bd. II: 17. und 18. Jahrhundert. Berlin; New York: de Gruyter. Schiewe, Jürgen (1996): Sprachenwechsel - Funktionswechsel - Austausch der Denkstile. Die Universität Freiburg zwischen Latein und Deutsch. Tübingen: Niemeyer (= Reihe Germanistische Linguistik, Bd. 167). Schlobach, Jochen (1992): Der Universalitätsanspruch der französischen Aufklärung. In: Jüttner, Siegfried/ Schlobach, Jochen (Hrsg.): Europäische Aufklärung(en). Einheit und nationale Vielfalt. Hamburg: Meiner, S. 188—202 (= Studien zum achtzehnten Jahrhundert, Bd. 14). Vocelka, Karl (2001): Glanz und Untergang der höfischen Welt. Repräsentation, Reform und Reaktion im habsburgischen Vielvölkerstaat. Wien: Ueberreuter (= Österreichische Geschichte Bd. 9, 1699—1815, herausgegeben von Wolfram Herwig). Weimar, Klaus (1989): Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. München: Fink. <?page no="229"?> Arne Krause Medieneinsatz in Germanistik und Maschinenbau: Exemplarische Analysen von Vorlesungen Abstract Vorlesungen finden heute in der Regel unter Einbeziehung von unterschiedlichen Medien statt. Häufig scheint dies PowerPoint zu sein, aber auch Kreidetafel und Overhead-Projektor (u.a.) sind nach wie vor nicht aus der universitären Wissensvermittlung wegzudenken. Aufbauend auf Arbeiten zu diesem Bereich von Berkemeier (2006), Brinkschulte (i.Dr.), Lobin (2009) sowie Schnettler/ Knoblauch (2007) ist zu fragen, ob sich der Medieneinsatz in den einzelnen Fachbereichen unter-scheidet, oder ob es abstrakte Zwecke gibt, die fachübergreifend bestimmbar sind. Weiter ist zu fragen, ob sich Zwecke der einzelnen Medienformen zeigen lassen kön-nen. Dazu werden für eine erste Herangehensweise zwei auf den ersten Blick dia-metral entgegengesetzte Fachbereiche ausgewählt und die Verwendung von suppor-tiven Medien darin funktional-pragmatisch (u.a. Redder 2008) analysiert: Eine Germanistik-Vorlesung als Beispiel für eher diskursiv ausgerichtete Wissensver-mittlung und eine Maschinenbau-Vorlesung als Beispiel für eher reproduktiv ausge-richtete Wissensvermittlung. 1 Vorbemerkung Vorlesungen sind trotz immer wieder aufkommender Kritik an dieser Lehrveranstaltungsform 1 nach wie vor nicht aus deutschen Universitäten wegzudenken. Dies gilt für Geistes- und Sozialwissenschaften wie auch für MINT-Fächer. Redder (2014: 35) stellt für universitäre Lehr-Lern-Prozesse in Westeuropa vier Traditionsstränge fest, die in den Lehrveranstaltungen der Fakultäten unterschiedlich realisiert werden - sowohl hinsichtlich der Lehrveranstaltungsformen als auch hinsichtlich der vermittelten Lehrinhalte. Daraus ergeben sich sprachliche Heraus- und Anforderungen für Studierende und Lehrende, die u.a. im euroWiss-Projekt 2 untersucht wurden. Ein weiterer unmittelbar mit universitären Lehr-Lern-Diskursen zusammenhängender Aspekt ist der Medieneinsatz. 3 Mit dieser nicht unproble-ma- 1 Siehe Zemb (1981) sowie aktuell Handke (2014). 2 Siehe Punkt 2. 3 Zum Forschungsstand siehe Punkt 3. <?page no="230"?> Arne Krause 218 tischen Bezeichnung wird meist auf die Nutzung von Power-Point oder anderen vermeintlich neuen Medien Bezug genommen. Davon abgesehen, dass in diesem Zusammenhang der Medienbegriff 4 als solcher zu hinterfragen ist, zeigt sich in der Analyse von Vorlesungen, dass ein Verständnis von Medieneinsatz, das auf PowerPoint oder andere, neuere, Formen wie Interactive Whiteboards begrenzt wird, den Blick darauf verstellt, dass für die Wissensvermittlung an Universitäten viele verschiedene Medientypen eingesetzt werden, wie Handouts, Skripte, Reader, OHP-Folien und Kreidetafeln. Letztere insbesondere, aber nicht ausschließlich in MINT-Fächern, wie exemplarische Analysen von Mathematik-Übungen gezeigt haben (siehe Wagner 2014; Krause i.Dr.). 5 Aus diesen Beobachtungen leitet sich für die Analyse gesprochener Wissensvermittlung an Universitäten ab, dass gesprochene Sprache mit Bezug zu den jeweils eingesetzten Medien zu analysieren ist. Des Weiteren erscheint es sinnvoll, die Analysen nicht nur auf einen Fachbereich zu beschränken, da zwischen den Fachbereichen enorme Unterschiede hinsichtlich der eingesetzten Medien bestehen. 6 Ferner erscheint es sinnvoll, nicht nur eine, sondern mehrere Lehrveranstaltungsformen in den Blick zu nehmen, um hinterfragen zu können, ob es hinsichtlich des Einsatzes von Medien in der Wissensvermittlung neben möglichen fachspezifischen Unterschieden auch Lehrveranstaltungsform-spezifische gibt. Letztere sind unter anderem hinsichtlich des Einsatzes von PowerPoint erwartbar, weil Vorlesungen aus Perspektive der Lehrenden in der Regel aus Sprechhand-lungsverkettungen mit hoher Planbarkeit bestehen, während Seminare zu großen Teilen aus Sprechhandlungssequenzen bestehen, in denen die Inter-aktion zwischen Lehrenden und Studierenden die Planbarkeit einschränkt. Daher ist anzunehmen, dass dort verstärkt Medien wie Tafel und OHP-Foli-en eingesetzt werden, da diese, im Gegensatz zu PowerPoint-Folien, spontan erstellt oder modifiziert werden können. Eine Analyse von mehreren Lehrveranstaltungsformen würde den Rahmen dieses Artikels deutlich sprengen. Aus diesem Grund sollen hier kurze Ausschnitte aus zwei Vorlesungen exemplarisch analysiert und miteinander verglichen werden. Eine Vorlesung stammt aus der Linguistik und eine aus 4 So scheint es Abgrenzungsprobleme zwischen dem alltagssprachlichen Ausdruck und dem wissenschaftlichen Terminus zu geben, der u.a. von der Medienwissenschaft (Mock 2006) sowie von der Linguistik (u.a. Ehlich 1998) diskutiert wurde. Aktuell zur Übersicht über Schnittstellen dieser Bereiche siehe Androutsopoulos (2015). 5 Dieser Forschungsgegenstand bedarf noch weiterer Ausdifferenzierung, die Teil meiner sich in Vorbereitung befindlichen Dissertationsschrift (Krause i.V., b) sein werden. Ich spreche daher im Folgenden von ‚Medieneinsatz i.w.S.‗ 6 Ein erster Versuch in diese Richtung wurde in Krause (i.V., a) unternommen. <?page no="231"?> Medieneinsatz in Germanistik und Maschinenbau 219 dem Maschinenbau. Aus den videographierten und anschließend transkribierten Lehrveranstaltungen habe ich kurze Ausschnitte ausgewählt, die als exemplarisch für die jeweiligen Vorlesungen angesehen werden können. Dies ermöglicht einen Einblick in sehr unterschiedliche Verwendungsweisen der eingesetzten Medien. 2 Datengrundlage: euroWiss - linguistische Profilierung einer europäischen Wissenschaftsbildung Um solche exemplarischen Analysen angehen zu können, ist ein Korpus gesprochener Hochschulkommunikation erforderlich, das sowohl verschiedene Fachbereiche als auch verschiedene Lehrveranstaltungsformen abdeckt. Solche Daten liegen durch das von der VW-Stiftung von 2011 bis 2014 geförderte Forschungsprojekt „euroWiss - linguistische Profilierung einer europäischen Wissenschaftsbildung― vor. Im Rahmen des Forschungsprojektes wurden unter der Leitung von Angelika Redder (Hamburg) in Kooperation mit Winfried Thielmann (Chem-nitz), Dorothee Heller (Bergamo) und Antonie Hornung (Modena) insge-samt knapp 357 Stunden Datenmaterial erhoben. Aufgenommen wurden Lehrveranstaltungen aus den Fachbereichen Germanistik, Soziologie, Wirt-schaftswissenschaften, Politikwissenschaften, Europa Studien, Romanistik, Slavistik sowie Mathematik, Maschinenbau und Physik. Es wurden nicht nur Vorlesungen, sondern auch andere Lehrveranstaltungsformen wie Semi-nare, Übungen, Kolloquien und Laborpraktika aufgenommen. Ergebnisse des Forschungsprojektes liegen u.a. in Redder et al. (2014) und Hornung et al. (2014) 7 vor. 3 Forschungsstand Der Forschungsstand zum Medieneinsatz i.w.S. ist so heterogen wie die damit zusammenhängenden Phänomene. So gibt es insbesondere zu der Verwendung von PowerPoint und dergleichen umfangreiche Ratgeber-Literatur, die aber meist weder empirisch basiert noch wissenschaftlich weiterführend ist. Eine Ausnahme davon ist Lobin (2012), der seine Vorschläge für die Gestaltung von PowerPoint-Folien und deren Einsatz in Vorträgen auf eine breite empirische Basis stellen kann, die in Lobin et al. (2010) sowie in Dynkowska et al. (2012) dargestellt wird. Lobin hat in diesem Zusammenhang das Phänomen Wissenschaftliche Präsentation untersucht und ist dabei 7 Eine umfangreichere Übersicht über die im Rahmen des Projektes publizierten Ergebnisse ist auf der Projekt-Homepage zu finden: www.slm.uni-hamburg.de/ de/ for schung/ forschungsprojekte/ eurowiss.html [22.12.2014]. <?page no="232"?> Arne Krause 220 u.a. zu dem Ergebnis gekommen, dass es sich dabei um „die Kombination der Projektion einer Foliensequenz und einer Rede in einem bühnenartigen Aufführungssetting― (Lobin 2009: 11) handelt. Es wäre allerdings ein Fehlglaube, wenn man aus diesen Ergebnissen Schlüsse auf die Wissensvermittlung von Agent zu Klient an den Universitäten ziehen würde. Zu diesem Aspekt liegen einige wenige linguistische Analysen vor. Hanna (2003) untersucht ingenieurwissenschaftliche Hochschulkommunikation unter dem Gesichtspunkt der Verwendung von Visualisierungen von Wissen in Form von Diagrammen und liefert so wichtige Voranalysen von universitärer Wissensvermittlung. Brinkschulte (i.Dr.) legt eine Analyse von OHP-Folien- und PowerPoint-Einsatz in wirtschaftwissenschaftlichen Vorlesungen vor, die den erstmaligen Versuch dokumentiert, PowerPoint gezielt für die Wissensvermittlung in Vorlesungen einzusetzen. Dabei geht sie unter anderem auf die dabei sehr auffällige Verwendung von lokaldeiktischen Ausdrücken ein. Darüber hinaus gibt es Forschungsliteratur aus vielen anderen Fachbereichen wie Didaktik, Pädagogik, Soziologie, Psychologie, Medienwissenschaft und Theaterwissenschaft, auf die hier aus Platzgründen nicht weiter eingegangen werden kann. 4 Exemplarische Analysen 4.1 Linguistik-Vorlesung In der Linguistik-Vorlesung wird das Thema Syntax aus verschiedenen Perspektiven behandelt. In dem folgenden Ausschnitt geht es um die Funk-tionale Syntax von Hoffmann (2003). PowerPoint nutzt der Dozent in der Vorlesung nicht, dafür Kreidetafel und OHP-Folien. Der Dozent versteht die mündlichen Verbalisierungen als Zentrum seiner Wissensvermittlung und plant seine Vorlesung dementsprechend. Dafür geht er so vor, dass er vor den Sitzungen Synopsen der einzelnen Sitzungen zum Download zur Ver-fügung stellt. Diese Synopsen wiederum nutzt er in leicht veränderter Form als OHP-Folien. Damit bietet sich für die Studierenden prinzipiell die Mög-lichkeit, die Synopsen in die Vorlesung mitzubringen und die Mitschriften 8 entsprechend zu variieren, was von vielen Studierenden wahrgenommen wird. Damit eröffnet sich ein Analysebereich, der hier allerdings nicht wei-terverfolgt werden kann. In der im Folgenden in Teilen analysierten Sitzung, wie auch in den anderen videographierten Sitzungen dieser Vorlesung, nutzt der Dozent die Kreidetafel nur vereinzelt. Dies kann durch folgende digitale Rekon-struktion des Tafelanschriebs der kompletten Sitzung nachvollzogen wer-den: 8 Siehe zu Mitschriften u.a. Breitsprecher (2010). <?page no="233"?> Medieneinsatz in Germanistik und Maschinenbau 221 Abb. 1: Tafelbild Linguistik Auf der linken Seite oben ist eine formale Notation zu sehen, die der Dozent vor Beginn der Sitzung angeschrieben hat, weil auf der Synopse ein Tippfehler ist. Auf der rechten Seite hat der Dozent zwei Übungsaufgaben angeschrieben, die im Zuge der Wiederholung der vorangegangenen Sitzung genutzt wurden. Auf der linken Seite unten ist ein Teil der Wiederholung der Syntax nach Tesnière. Die dependenzgrammatische Syntaxbeschreibung wird in der hier analysierten Vorlesung als Gegensatz zur Funktionalen Syntax nach Hoffmann herangezogen. Der Dozent legt an dieser Stelle, ungefähr zur Hälfte der Vorlesung, erstmals eine Folie auf den OHP: Abb. 2: OHP-Folie Linguistik Das dort abgedruckte Zitat liest der Dozent vor und erläutert es anschließend: 9 9 Auf die automatisch nummerierten Äußerungen des HIAT-Transkriptes beziehe ich mich im Folgenden mit #. <?page no="234"?> [307] / 223/ Dm22 [v] Funktion unterstützt, • ausbaut • oder • ausdifferenziert. ((4s)) Also nicht mehr • • eins [308] Dm22 [v] hängt vom andern ab oder eins hängt vom andern/ wird vom andern regiert, ((1,2s)) ja, [309] Dm22 [v] • • sondern • • wird hier • • das Zusammentreten von sprachlichen Mitteln • • zu einer [310] / 224/ / 225/ Dm22 [v] größeren Einheit • charakterisiert. ((6,3s)) Dazu • eine formale Notation. Nachdem hier [311] Dm22 [v] nicht ganz korrekt ist und auch auf der Synopse nicht ganz korrekt — ich weiß nicht, was [312] Dm22 [v] mir da passiert ist, • das muss n Zeichensatzproblem sein — • • äh hab ich Ihnen das [313] / 226/ Dm22 [v] noch mal an die Tafel geschrieben. ((1,6s)) Wir haben also ((1,2s)) ein sprachliches Mittel [314] Dm22 [v] ay und ein weiteres bx, die zunächst mal nix/ nicht miteinander zusammenhängen. [315] gedehnt / 227/ Dm22 [v] ((2,2s)) Und die werden jetzt • • so ((1,2s)) zu einer/ kommen jetzt durch Integration Arne Krause 222 <?page no="235"?> [316] Dm22 [v] auf die Weise zu einer Einheit, ((1,6s)) dass • • beide sich ein bisschen • • verändern • [317] Dm22 [v] können ((1,5s)) und dass diese Einheit zusammen ((1,8s)) das Merkmal von eine m der [318] / 228/ / 229/ Dm22 [v] beiden Mittel aufweist. ((2s)) Klingt sehr abstrakt, ne? • Sie sehen gleich n konkretes [319] / 230/ Dm22 [v] Beispiel. • • Also noch mal, wir ham zwei • verschiedene sprachliche Mittel ((1,9s)) und [320] Dm22 [v] die treten nun • so • zu einer Einheit zusammen, • dass beide sich n bisschen verändern [321] / 231/ Dm22 [v] können. ((2,2s)) Aber dass die Einheit, die aus diesen beiden dann entsteht, ((1,4s)) [322] Dm22 [v] ausgewiesen ist durch Merkmale eines der beiden sprachlichen Mittel, • das wird dann al s [323] / 232/ Dm22 [v] Kopf • bezeichnet. ((1,1s)) Wir sehen gleich • • ein ((1,1s)) Beispiel, ((1,1s)) äh ((4,5s)) [324] / 233/ Dm22 [v] mit dem man sich das • vorstellen kann. ((12,2s)) Denn • • die • • Determination ((1,3s)) ist Medieneinsatz in Germanistik und Maschinenbau 223 <?page no="236"?> Arne Krause 224 Es wird vom Dozenten ganz offensichtlich davon ausgegangen, dass das Zitat von Hoffmann für die Studierenden erläuterungbedürftig ist, dies zeigt sich in den Äußerungen „Klingt sehr abstrakt, ne? ― (#228) oder „Wir sehen gleich ein Beispiel, mit dem man sich das vorstellen kann.― (#232) Die Erläuterung des Zitats und die Einordnung hinsichtlich der vorher vermittelten Wissensinhalte erfolgt hier rein mündlich, während das relativ komplexe Zitat über den OHP projiziert wird. Der Einsatz der Folie ermöglicht den Studierenden hier also das Mit- und Nachlesen einer komplexen Äußerung, die nicht für die Mündlichkeit konzipiert wurde. Dies gilt gleichermaßen für die formale Darstellung, die nur mit großem Aufwand ohne die schriftliche Darstellung vermittelt werden kann. Die anderen angeschriebenen Äußerungen erfüllen einen ähnlichen Zweck, da auf sie sowohl gestisch als auch sprachlich mehrfach referiert wird. Die mündlichen Erläuterungen des Dozenten stehen im Mittelpunkt der Wissensvermittlung, auch die Bezugnahmen auf zuvor vermitteltes Wissen erfolgen hier ausschließlich mündlich. 4.2 Maschinenbau-Vorlesung In der Maschinenbau-Vorlesung zur Konstruktionslehre wird das Thema Härten behandelt. Dies ist ein Verfahren, mit dem zum Beispiel Metallstäbe bearbeitet werden, um für bestimmte Verwendungsweisen höhere Belastungskräfte aushalten zu können. Der Tafelanschrieb eines ca. 15-minütigen Ausschnitts sieht so aus: Abb. 3: Tafelbild Maschinenbau Der folgende Transkriptausschnitt setzt zeitgleich mit dem Anschreiben des Tafelsegments 1 ein. Ab Äußerung #10 wird zudem eine OHP-Folie hinzugezogen. <?page no="237"?> [9] / 9/ D [v] Maßnahmen. ((6s)) Werkstofftechnische Maßnahmen • äh ((2,6s)) sind D [nv] blättert in seinen Unterlagen [10] D [v] meist Wärmebehandlungen im Härteverfahren, • • ja, die ich dort • einsetze, • • ver • • [11] D [v] Einsatzhärte (zentrieren) • • und damit ((1s)) äh ((2s)) wird mein Werkstoff verfestigt • • und D [nv] legt eine [12] / 10/ D [v] erhält • bezüglich der Gestaltfestigkeit • • höhere • Werte. Wir sehen das mal hier • • an D [nv] OHP-Folie auf [13] / 11/ / 12/ D [v] diesem Bild. ((2,1s)) Ne, ich habe also ((1,5s)) ein • gehärtetes Bauteil. Sie sehen hier die D [nv] zeigt auf die Folie [14] / 13/ D [v] Einsatztie/ also die Härtetiefe, die würde bis hier her gehen, das ist die Härtetiefe. • • Ja und D [nv] [15] D [v] durch das Härten • • ensteht ((1,9s)) für • • di e Zug-Druckbeanspruchung diese • • Form. D [nv] Medieneinsatz in Germanistik und Maschinenbau 225 <?page no="238"?> [16] / 14/ D [v] Das heißt, ich hab im Randschichtbereich • • hab ich höhere Druck• •spannungen • • und • • D [nv] [17] / 15/ D [v] im Mittelbereich hab ich die Zugspannung. • • Ja, also in der Randschicht, wo ich gehärtet D [nv] [18] D [v] habe, hab ich große • Druckspannungen • • und • in der Mitte hab ich dann einen D [nv] [19] / 16/ D [v] Zugspannungsbereich. • Wenn ich auf dieses Bauteil dann • eine Biegebelastung aufbringe/ D [nv] zeigt auf die Folie [20] D [v] • • wenn ich die Biegebelastung aufbringe, • • dann habe ich ja die Biegespannung, • • die D [nv] schreibt auf die Folie [21] / 17/ / 18/ D [v] Sie ja schon kennen. ‿ Also ganz normal die Biegespannung. ((2,9s)) Und wenn ich jetzt D [nv] zeigt auf die Folie Arne Krause 226 <?page no="239"?> Medieneinsatz in Germanistik und Maschinenbau 227 Die von dem Dozenten verwendete Grafik (s. Niemann et al. 2005: 90) sieht, ergänzt durch die Zeigebewegungen des Dozenten, so aus: Abb. 4: OHP-Folie Maschinenbau Der Dozent beginnt damit, die so genannte Härtetiefe zu zeigen, die durch die gestrichelte Linie (1) gekennzeichnet ist. Anschließend fährt er die Linie 2 entlang und hebt bei „im Randschichtbereich • • hab ich höhere Druck • • spannungen― (#14) den mit (2a) und bei „in der Mitte hab ich dann einen Zugspannungsbereich― (#14) den mit (2b) markierter Bereich hervor, indem er die gestrichelten Linien nachfährt. Dann fährt er die Linien (3a) und (3b) nach und abschließend die Linie (4), die in der Grafik auch mit b bezeichnet ist. Danach kehrt er zur Tafel zurück und schreibt dort weiter an. Im Gegensatz zur Linguistik-Vorlesung sind die eingesetzten Medien zentraler Teil der Wissensvermittlung. An der Tafel werden die wichtigsten Aspekte festgehalten, die die Studierenden in der Regel mitschreiben. Die gezeigte Grafik ist darüber hinaus Teil des kanonisierten Wissens der Konstruktionslehre, da von den Studierenden erwartet wird, dass sie diese später erklären können, zum Beispiel in der mündlichen Bachelor-Prüfung. Die Erläuterungen der Grafik erfolgt in enger Beziehung zu der Grafik selber, wie die Zeigebewegungen deutlich machen. Das so über die Grafik vermittelte Wissen wird jedoch nicht an die Tafel angeschrieben, stattdessen folgen in Tafelsegment 2 handlungspraktische Hinweise zu Härtungsverfahren in konkreten Anwendungsbereichen. An dieser Stelle wäre es interessant, diesbezüglich studentische Mitschriften anzusehen. Es ist aber anzunehmen, dass die Studierenden eher einschlägige Lehrbücher oder Reader kon- <?page no="240"?> Arne Krause 228 sultieren, um die Grafik zu verstehen, da die Mitschriften im Maschinenbau sich meist auf den Tafelanschrieb beschränken. Hieraus ließe sich - vorbehaltlich weiterer noch durchzuführender Analysen - möglicherweise ableiten, dass sich Mitschriften eher an den tendenziell flüchtigen Medien, wie Kreidetafeln oder Whiteboards, orientieren als an den tendenziell verdauerten, wie gedruckten OHP-Folien oder Power- Point-Folien. Dies ist noch an Vorlesungen, in denen PowerPoint-Folien genutzt werden, zu untersuchen. 5 Fazit Man kann an diesen beiden kurzen Beispielen feststellen, dass sich der Einsatz von Medien sehr stark unterscheiden kann. Dies spiegelt sich auch in der generellen Auslegung der Vorlesungen wider: Die Linguistik- Vorlesung ist eher diskursiv, die Maschinenbau-Vorlesung eher reproduktiv ausgelegt (vgl. hierzu Redder 2014). Während in der Linguistik-Vorlesung die Tafel und die OHP-Folien nur vereinzelt genutzt werden, hat die Tafel im Maschinenbau einen ganz anderen Stellenwert: Der Tafelanschrieb enthält Äußerungsteile des Dozenten und zielt direkt auf studentische Mitschreibehandlungen ab. Die OHP-Folien werden gezielt eingesetzt, um Grafiken und Tabellen zu zeigen und zu erläutern, die man als kanonisierte Wissensbestände bezeichnen kann. Insgesamt kann man feststellen, dass Tafel und OHP relativ zu den mündlichen Verbalisierungen einen unterstützenden Charakter haben, der aber unterschiedlich ausgeprägt ist. Für die von den Studierenden eingeforderten mentalen Prozesse generell und bezogen auf die Mitschreibehandlungen im Besonderen heißt das, dass in der hier untersuchten Linguistik-Vorlesung die Frage danach, was wichtig ist, also was mitzuschreiben ist, einen ganz anderen Stellenwert hat als in der Maschinenbau-Vorlesung. Die Anforderungen an die Studierenden der jeweiligen Fachbereiche unterscheiden sich also immens, zumal es sich in beiden Fällen um Vorlesungen für Studierende des zweiten Semesters handelt. Vergleicht man die beiden OHP-Folien, fällt auf, dass darauf offenbar in beiden Fällen Gegenstände zu sehen sind, die in mündlichen Verbalisierungen nur sehr schwer verständlich zu machen sind: Das Zitat ist sehr komplex und für die Schriftlichkeit konzipiert; die formale Darstellung ist durch das bloße Vorlesen nur schwer als solche zu verstehen, da sie, wie der Dozent auch deutlich sagt, sehr abstrakt ist; die Grafik im Maschinenbau ist nur mit großem Aufwand selber anzuzeichnen. Zudem wird die Grafik in exakt der gezeigten Form seit ca. 30 Jahren in mehreren Auflagen abge- <?page no="241"?> Medieneinsatz in Germanistik und Maschinenbau 229 druckt (siehe Krause i.V., a sowie Thielmann 2014). Hieraus lassen sich möglicherweise abstrakte Handlungszwecke rekonstruieren, die jedoch noch auf eine breitere Datengrundlage gestellt werden müssen. Die analysierten Ausschnitte aus den Vorlesungen haben deutlich gemacht, dass sowohl die Analyse der Medien in den einzelnen Fachbereichen als auch die transdisziplinäre Analyse in Verbindung mit den konkreten Sprechhandlungen in der Mündlichkeit noch wesentlich detailliertere Forschungstätigkeit erfordern, als es in der hier gebotenen Kürze möglich war. Literatur Androutsopoulos, Jannis (2015): Medienlinguistik. Sprachwissenschaftliche Zugänge zur Medienanalyse. Tübingen: Narr. Breitsprecher, Christoph (2010): Studentische Mitschriften - Exemplarische Analysen, Transformationen ihrer Bedingungen und unterkulturelle Forschungsdesiderate. In: Heller, Dorothee (2010) (Hrsg.): Deutsch, Italienisch und andere Wissenschaftssprachen - Schnittstellen ihrer Analyse. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, S. 201—216. Brinkschulte, Melanie (im Druck): (Multi-)mediale Wissensübermittlung in universitären Vorlesungen. Diskursanalytische Untersuchungen zur Wissensübermittlung am Beispiel der Wirtschaftswissenschaft. Heidelberg: Synchron. Dynkowska, Malgorzata et al. (2012): Erfolgreich Präsentieren in den Wissenschaft? Empirische Untersuchungen zur kommunikativen und kognitiven Wirkung von Präsentationen. In: ZfAL, Nr. 57, S. 33—65. Ehlich, Konrad (1998; Nachdruck: 2007): Medium Sprache. In: Strohner, Hans et al. (2007) (Hrsg.): Medium Sprache. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, S. 9—21. Handke, Jürgen (2014): Patient Hochschullehre: Vorschläge für eine zeitgemäße Lehre im 21. Jahrhundert. Marburg: Tectum Verlag. Hanna, Ortrun (2003): Wissensvermittlung durch Sprache und Bild. Sprachliche Strukturen in der ingenieurswissenschaftlichen Hochschulkommunikation. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang. Hoffmann, Ludger (2003): Funktionale Syntax. Prinzipien und Prozeduren. In: Ders. (2003) (Hrsg.): Funktionale Syntax. Berlin; New York: de Gruyter, S. 18—121. Hornung, Antonie et al. (2014) (Hrsg.): Diskursive und textuelle Strukturen in der Hochschuldidaktik. Deutsch und Italienisch im Vergleich. Münster: Waxmann. Krause, Arne (im Druck): Sprachliche Verfahren zur Vermittlung mathematischen Problemlösungswissens in der Hochschule. Exemplarische Analysen mathematischer Übungen. Erscheint in: Materialien Deutsch als Fremdsprache, Tagungsband der 40. FaDaF- Jahrestagung. Krause, Arne (in Vorbereitung, a): (Scheinbar) Ähnliche Gegenstände - ähnliche sprachliche Verfahren? Sprachliche Ressourcen der Wissensvermittlung in Mathematik, Physik und Maschinenbau. Erscheint in: Materialien Deutsch als Fremdsprache, Tagungsband der 41. FaDaF-Jahrestagung. Krause, Arne (in Vorbereitung, b): Supportive Medien in der wissensvermittelnden Hochschulkommunikation. Transdisziplinäre Analysen. Universität Hamburg: Dissertationsschrift in Vorbereitung. <?page no="242"?> Arne Krause 230 Lobin, Henning (2009): Inszeniertes Reden auf der Medienbühne. Zur Linguistik und Rhetorik der wissenschaftlichen Präsentation. Frankfurt a.M.; New York: Campus. Lobin, Henning et al. (2010): Formen und Muster der Multimodalität in wissenschaftlichen Präsentationen. In: Bucher, Hans-Jürgen et al. (2010) (Hrsg.): Neue Medien - Neue Formate. Ausdifferenzierung und Konvergenz in der Medienkommunikation. Frankfurt a.M.; New York: Campus, S. 357—374. Lobin, Henning (2012): Die wissenschaftliche Präsentation. Konzept - Visualisierung - Durchführung. Paderborn: Ferdinand Schöningh. Mock, Thomas (2006): Was ist ein Medium? Eine Unterscheidung kommunikations- und medienwissenschaftlicher Grundverständnisse eines zentralen Begriffs. In: Publizistik, Nr. 51(2), S. 183—200. Niemann, Gustav et al. (2005): Maschinenelemente. Band I: Konstruktion und Berechnung von Verbindungen, Lagern, Wellen. Vierte Auflage. Berlin/ Heidelberg: Springer Verlag. Redder, Angelika et al. (2014) (Hrsg.): Eristische Strukturen in Vorlesungen und Seminaren deutscher und italienischer Universitäten. Analysen und Transkripte. Heidelberg: Synchron. Thielmann, Winfried (2014): „Marie, das wird nichts― - sprachliche Verfahren der Wissensbearbeitung in einer Vorlesung im Fach Maschinenbau. In: Fandrych, Christian et al. (Hrsg.): Gesprochene Wissenschaftssprache. Korpusmethodische Fragen und empirische Analysen. Heidelberg: Synchron, S. 193-206. Wagner, Jonas (2014): Wissensvermittelnde Verfahren im Fach Mathematik. In: Hornung, Antonie et al. (2014) (Hrsg.): Diskursive und textuelle Strukturen in der Hochschuldidaktik. Deutsch und Italienisch im Vergleich. Münster: Waxmann, S. 69—92. Zemb, Jean-Marie (1981): Ist die Vorlesung noch zu retten? In: Bungarten, Theo (1981) (Hrsg.): Wissenschaftssprache. Beiträge zur Methodologie, theoretischen Fundierung und Deskription. München: Fink, S. 454—466. <?page no="243"?> Karin Luttermann Deutsch als Wissenschaftssprache und als Arbeitssprache in der Europäischen Union „Man kann nicht nur nicht ohne Sprache denken. Man denkt vielmehr in seiner Sprache.“ 1 Abstract Europa ist Vielfalt. Jahrzehntelang wurde sprachliche Vielfalt auch praktiziert, und zwar sowohl in den Wissenschaften als auch in den EU-Organen. Die Wissenschaft ist in unserer Verfassung staatlich geschützt (Artikel 5 Absatz 3 GG). Die Grundrechtecharta gebietet, dass die Union die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen achtet (Artikel 22 GR-Charta). Doch inzwischen gibt es eine deutliche Abkehr von der Plurilingualität in Richtung Monolingualisierung. Englisch gewinnt zunehmend an Macht und Einfluss. In der wissenschaftlichen Diskurs- und Textwirklichkeit spielt Deutsch in der Medizin und in den Naturwissenschaften nur noch eine marginale Rolle. Die Konferenzen und Publikationen sind fast ausschließlich in Englisch. In den Geisteswissenschaften ist Deutsch ebenfalls auf dem Rückzug. Namentlich in der EU-Kommission entstehen mehr als 80% der Texte in Englisch. Die Verdrängung der Hochsprachen geht besonders zu Lasten der deutschen Sprache. Ihr Bedeutungsverlust vollzieht sich als Wissenschaftssprache und auf der Arbeitsebene beim Sprachengebrauch in der Europäischen Union. Diese Verschränkung wird bislang jedoch kaum thematisiert. Der vorliegende Beitrag greift dieses Desiderat auf und vermisst diachron und synchron den Stellenwert der deutschen Sprache hinsichtlich der epistemischen und kommunikativen Bedeutung in ausgewählten EU-Organen. Mit dem Europäischen Referenzsprachenmodell wird ein Lösungsweg aufgezeigt. 1 Einleitung Die deutsche Sprache hat als Wissenschaftssprache und Arbeitssprache in der Europäischen Union nicht mehr den Stellenwert, der angesichts der historischen Bedeutung und ihrer Verbreitung in Europa gemeinhin zu erwarten wäre. In der internationalen Wissenschaft wie auch auf der europäischen Ebene in den EU-Organen wird Deutsch zunehmend durch das Englische 1 Vgl. Oberreuter 2012: 9. <?page no="244"?> Karin Luttermann 232 ersetzt. Es scheint so, als würden einige Sprachwissenschaftler diese Tendenz unterstützen, wenn gefragt wird, ob Deutsch noch internationale Wissenschaftssprache ist, um dann vehement für die Ersetzung von Deutsch zugunsten von Englisch in deutschen Universitäten zu plädieren (Ammon 1998). Die universitäre Lehre hat maßgeblichen Einfluss auf den Gebrauch oder Nichtgebrauch der deutschen Sprache. Der Deutsche Hochschulverband (DHV) gesteht zu, dass wissenschaftliche Tagungen und Vorlesungen vorwiegend und immer mehr in Englisch stattfinden. Der Anteil der wissenschaftlichen Publikationen betrage weltweit über 90%; auf Deutsch werde nur noch 1% veröffentlicht. Zahlreiche Hochschullehrer empfänden daher zu Recht, dass das Deutsche als Sprache der Wissenschaft an Bedeutung verliere und ihre wissenschaftliche Karriere auch vom Gebrauch des Englischen abhänge. Zugleich wird aber betont, dass sich ein Wissenschaftler in seiner Muttersprache grundsätzlich am besten ausdrücken könne und der Nutzen des Englischen als allgemeine Wissenschaftssprache der Verarmung der Sprachen gegenüberstehe, die von Englisch verdrängt würden. Der Verband plädiert für den Erhalt der deutschen Sprache als Wissenschaftssprache (Grigat 2007: 65—69). 2 Nahezu spiegelbildlich zur Stellung von Deutsch und Englisch in den Wissenschaften ist die Entwicklung des Sprachengebrauchs in den Organen der Europäischen Union. Auch hier ist die englische Sprache auf dem Vormarsch. Besonders in der EU-Kommission, die das alleinige Gesetzesinitiativrecht hat, werden die Rechtstexte überwiegend in Englisch produziert. Beim Europäischen Gerichtshof, der für das einheitliche Recht in der Union zuständig ist, herrscht Französisch zwar vor. Doch auch hier scheint die Vormachtstellung zu bröckeln und die englische Sprache an Raum zu gewinnen. Die deutsche Sprache hat es schwer, sich gegen diese Übermacht zu behaupten. Die Union hat kein tragfähiges Sprachenkonzept, was auch für die Wissenschaften nicht folgenlos bleibt. In diesem Beitrag geht es um die Bedeutung von Sprache und Kommunikation für die Wissenschaft und die Europäische Union. Brauchen beide Bereiche eine Einheitssprache? Oder ist in den Handlungsbereichen Mehrsprachigkeit anzustreben? Wie kann der Hinwendung zum Englischen effizient gegengesteuert werden, damit auch das Deutsche im allgemeinen wissenschaftlichen Sprachenkanon und speziell in rechtswissenschaftlicher Dimension im europäischen Kontext weiter verwendet wird? Welche sprachenpolitischen Konsequenzen lassen sich ziehen? Ein Vergleich vom Aufstieg und Fall der deutschen Sprache bietet sich an, weil in den Wissenschaften und in 2 „Für eine ‚bewusst gestaltete Mehrsprachigkeit‘, wobei Deutsch Anfang und Ende der sprachlichen Verständigungsbemühungen sein sollte.“ (Grigat 2007: 69) <?page no="245"?> Deutsch als Wissenschaftssprache und als Arbeitssprache in der EU 233 der Union die Diskussion um die Sprachenwahl hoch aktuell ist und Lösungen gesucht werden. Diese doppelte Sicht ist eine neue Herangehensweise an die Thematik über die Wissenschaftssprache Deutsch. In der Literatur werden die beiden Handlungsbereiche noch grundsätzlich unabhängig voneinander behandelt und bestehende Interdependenzen ausgeblendet. 2 Deutsch als Wissenschaftssprache 2.1 Aufstieg Im Streit um die Pluralität der Wissenschaftssprachen ist immer wieder vom Latein als der einst universellen Gelehrtensprache die Rede. Dabei bleibt aber unberücksichtigt, dass die wissenschaftliche Welt seit dem 5. Jahrhundert in zwei Bereiche zerfallen war, die zugleich verschiedene Sprachwelten repräsentierten. Neben der Einflusssphäre des Lateinischen bestand der byzantinisch dominierte Bereich. Von Vorteil war, dass der lateinische Westen sich vom griechischen Wissen emanzipieren konnte, das bis dahin als das allein gültige Maß aller Dinge galt. Mit dem Islam kam eine weitere arabische Wissenschaftskultur hinzu. Sie entwickelte einen völlig getrennten Wortschatz, der dem Westen erst im 13. Jahrhundert allmählich zugänglich wurde. Der Kulturkontakt der lateinischen mit der arabischen Wissenswelt brachte eine Bereicherung, indem man sich mit den Ideen aus dem Osten auseinandersetzte, sie kritisierte und rezipierte. Man stellte die „Gleichsetzung des eigenen Wissens mit dem möglichen Wissen überhaupt in Frage“ (Ehlich 2000a: 50). Im 15. Jahrhundert begannen sich einzelne Regionen Europas um ihre Nationalsprachen zu bemühen (Schmidt 2013: 127—129). Wissenschaftler, die es wagten, in ihrer Muttersprache zu kommunizieren, bekamen Gegenwind seitens der konservativen Gelehrsamkeit zu spüren. Der Jurist und Philosoph Christian Thomasius, der im Jahre 1687 an der Leipziger Juristenfakultät eine Vorlesung mit einem deutschen Titel ankündigte, erinnerte sich später: „Als ich für ohngefehr dreyszig Jahren ein teutsch Programma in Leipzig an das schwartze Bret schlug, in welchem ich andeutete, daß ich über des Gracians Homme de cour lesen wolte, was ware da nicht für ein entsetzliches lamentiren! Denckt doch! ein teutsch Programma an das lateinische schwartze Bret der löbl Universität.“ (v. Osse/ Thomasius 1717: 252) Die Gesellschaft war damals gespalten in den Klerus, der durch die Lateinkenntnisse das Wissensmonopol ausübte (Klöster waren Horte des Wissens), und in die Gruppe der Laien, die Teilhabe am Weltwissen einzufordern be- <?page no="246"?> Karin Luttermann 234 gannen. Die Trennung hob sich allmählich auf, als immer mehr Wissenschaftler zu ihren Muttersprachen übergingen. Die von Christian Thomasius eingeleiteten Bemühungen um die deutsche Wissenschaftssprache erreichten mit dem überzeugten Aufklärer Christian Wolff ihren Durchbruch. Er gebrauchte die Sprache vor allem für gedankliche Klarheit und um von seinen Studenten verstanden zu werden. Er war davon überzeugt, dass „unsere Sprache zu Wissenschaften sich viel besser schickt, als die lateinische“ (Hattenauer 1987: 32). Zwischen 1780 und 1830 war es selbstverständlich geworden, dass auch auf Deutsch publiziert und gelehrt wurde. In dieser Zeit entstanden bedeutende philosophische und literarische Werke. Im 19. Jahrhundert war das Deutsche neben dem Französischen und Englischen eine der Weltsprachen der Wissenschaft. Diese Entwicklung erreichte zwischen 1850 und 1930 ihren Höhepunkt. Es waren mehrere weit entwickelte, zum Teil im Zeitalter des Imperialismus auch miteinander konkurrierende Wissenschaftskulturen entstanden. Diese Kulturen standen aufgrund der hervorragenden Sprachkenntnisse der Wissenschaftler und ihrer brieflichen Netzwerke im ständigen Dialog. Es wurde viel übersetzt. Die Übersetzungstätigkeit war „weit mehr als eine Art Appendix zum Wissenschaftsgeschehen. In ihr erfolgte vielmehr der systematische Transfer all jenen Wissens, das für die jeweilige nationale Wissenschaftskultur erreicht war“ (Ehlich 2000a: 51). Damit war ein reger Austausch gewährleistet. Mit der Verwendung der Nationalsprachen konnten sich die Nationalwissenschaften entwickeln und prosperieren. Die Wissenschaften standen aber nicht nur untereinander im Gespräch, sondern ihre Erkenntnisse wurden auch in die Gesellschaft transferiert, so dass die Ergebnisse intern wie extern debattiert werden konnten. 2.2 Fall Der Stern des Deutschen als Wissenschaftssprache begann nach dem Ersten Weltkrieg zu sinken und erlosch praktisch mit Einbruch der Nazizeit (Reinbothe 2006). Bedeutende Forscher emigrierten, so dass die deutsche Wissenschaftslandschaft herbe Verluste hinnehmen musste. Erinnert sei etwa an die Sprachwissenschaftler und Sprachtheoretiker Erich Auerbach, Walter Benjamin und Karl Bühler. 3 Zugleich war das Ansehen deutschsprachiger Forschung stark beschädigt. Im Ausland wurden Werke in „Feindsprache“ (URL 2) selten beachtet. Nach 1945 gab es zwei Wissenschaftswelten: die 3 Vgl. Projekt „Verfolgung und Auswanderung deutschsprachiger Sprachforscher 1933—1945“ (vgl. URL 1). <?page no="247"?> Deutsch als Wissenschaftssprache und als Arbeitssprache in der EU 235 westliche Welt, die auf das Englische gerichtet war, und die östliche Welt, die das Russische verwendete. Mehrsprachigkeit, und damit die deutsche Wissenschaftstradition, geriet unter die Räder einer anglo-amerikanischen Wissenschaftswelt. Insbesondere in den Natur-, Ingenieur- und Finanzwissenschaften sowie medizinischen Grundlagenwissenschaften spielt Deutsch keine nennenswerte Rolle mehr (Luttermann/ Luttermann 2007: 435f.; Wiese 2006). Der Bedeutungsverlust der deutschen Sprache zugunsten von Englisch ist im Recht nicht so eklatant wie in den anderen Wissenschaftskulturen. National ist Deutsch die Wissenschaftssprache in den Rechtswissenschaften, denn die Rechtssprache ist im Wesentlichen auf die deutsche Rechtsordnung bezogen und soll die Rechtsadressaten erreichen (Luttermann 2010: 146— 148). Aber inzwischen sind auch hier Aufweichungstendenzen unübersehbar. Es gibt eine Gesetzesinitiative mit dem Ziel, vor deutschen Gerichten, wo Deutsch bislang unangefochten Gerichtssprache ist (§ 184 Satz 1 GVG), in bedeutenden internationalen Handelssachen auch Englisch zuzulassen (URL 3). Hinzu kommt, dass der Deutsche Wissenschaftsrat (URL 4: 71) explizit Rechtswissenschaftler aufruft, verstärkt in nicht-deutschsprachigen Medien zu veröffentlichen, um international wahrgenommen zu werden, da die Bedeutung der deutschen Sprache als Sprache der Rechtswissenschaft im Ausland abgenommen hat. Hans-Jürgen Schroth meint, dass die deutsche Rechtssprache hochstilisiert, überzüchtet, zu dogmatisch und zu unverständlich sei und anderen Rechtssystemen nicht zugänglich gemacht werden könne. Deshalb schlägt er eine völlige Erneuerung der Systematik und Dogmatik der deutschen Rechtskultur vor in Anlehnung an das englische Recht, das weit einfacher und verständlicher formuliert sei (URL 5). Die juristische Wissenschaftsgemeinschaft reagiert zurückhaltend und argumentiert, dass der Gebrauch des Englischen als Weltrechtssprache äußerst spezialisierte Fachleute verlange und in Praxis und akademischem Unterricht mit Risiken verbunden sei. Englisch werde im Recht das Deutsche nicht ersetzen, sondern nur ergänzen können (Hattenhauer 2000: 269). Ausgeblendet wird hier, dass das europäische Recht das nationale deutsche Recht schon längst überlagert. Daher „genügt es nicht mehr, das deutsche Familien-, Gesellschafts- oder Strafrecht im Blick zu haben, weil Rechtsakte aus Brüssel oder Straßburg Anwendung auf die nationale Rechtsordnung finden. Eine EU-Richtlinie bindet nationales Recht, und eine EU-Verordnung hat Vorrang vor einem deutschen Gesetz“ (Kempen 2012: 207). <?page no="248"?> Karin Luttermann 236 3 Deutsch als Arbeitssprache 3.1 Aufstieg Mit der europäischen Vormachtstellung sind Sprachfragen verknüpft, die unmittelbar auf die deutsche Rechtskommunikation und Wissenschaftskultur einwirken und den deutschen Gesetzgeber vor große Aufgaben stellen. Im Kern steht die Frage: Wird EU-Recht monolingual oder multilingual gesetzt? - Die Antwort steht in einem größeren Rahmen: In offizieller Verlautbarung herrscht seit 1958 in der Europäischen Union das egalitäre Prinzip. Gemäß der Sprachenverordnung sind „die Amtssprachen und die Arbeitssprachen der Organe der Europäischen Union“ Bulgarisch, Dänisch, Deutsch, Englisch, Estnisch, Finnisch, Französisch, Griechisch, Irisch, Italienisch, Kroatisch, Lettisch, Litauisch, Maltesisch, Niederländisch, Polnisch, Portugiesisch, Rumänisch, Schwedisch, Slowakisch, Slowenisch, Spanisch, Tschechisch und Ungarisch (Artikel 1 VO 1/ 58). Derzeit gibt es 24 Arbeitssprachen für die Rechtskommunikation, was die Verwendung der nebenordnenden Konjunktion und ausdrückt. Der Begriff ‚Arbeitssprachen‘ bezeichnet die Sprachen, die im internen Arbeitsablauf der EU-Organe gebraucht werden. Das Authentizitätsprinzip, wonach die Arbeitssprachen rechtlich alle den gleichen Stellenwert im Kommunikationsprozess haben, ist seit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Grundsatz unangetastet. Deutschland gehört mit Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg und den Niederlanden zu den Gründerstaaten. Bereits acht Jahre nach Kriegsende hatte die deutsche Sprache offiziell wie Französisch, Italienisch, Luxemburgisch und Niederländisch den Status einer Arbeitssprache erreicht. Organintern hatten sich Französisch und Deutsch zu den wichtigsten Arbeitssprachen entwickelt: „Was die Anteile der Sprachenverwendung anging, wird sie von Beamten, die damals tätig waren, auf etwa zwei Drittel zu einem Drittel zugunsten von Französisch geschätzt.“ (Stark 2002: 51) Die Dominanz von Französisch und Deutsch hing wesentlich damit zusammen, dass Französisch in drei von sechs Gründerstaaten Amtssprache war, die EWG-Organe in frankophonen Sprachgebieten (Brüssel, Straßburg, Luxemburg) ihren Sitz nahmen und Deutschland bei den Montanverhandlungen große Anstrengungen unternommen hatte, den Gebrauch der deutschen Sprache zu forcieren und Französisch als alleinige Amtssprache zu verhindern. Deutschland verlangte hartnäckig und kompromisslos, dass die deutsche Sprache auf gleicher Stufe mit der französischen Sprache stehen müsse (Hemblenne 1992: 112) und konnte sich damit auch durchsetzen. <?page no="249"?> Deutsch als Wissenschaftssprache und als Arbeitssprache in der EU 237 3.2 Fall Am 1. Januar 1973 trat Großbritannien zusammen mit Dänemark und Irland der Europäischen Gemeinschaft bei. Dänisch und Englisch kamen als Arbeitssprachen zur Gemeinschaft. Seit dem britischen Beitritt vor rund 40 Jahren gewinnt die englische Sprache an Einfluss. Mittlerweile hat sie sich zur Hauptarbeitssprache für die Binnenkommunikation in der Europäischen Union entwickelt: Mehrsprachigkeit wird postuliert und Einsprachigkeit praktiziert. Theo van Els bringt die Sprachensituation auf den Punkt, wenn er sagt, dass das Prinzip der Gleichberechtigung aller offiziellen und aller Arbeitssprachen selten oder nie zur Debatte gestellt werde. Aber in der Praxis sei eine Beschränkung der Anzahl der Arbeitssprachen sogar auf eine einzige die selbstverständlichste Sache der Welt (Els 2006: 18). Ohne erkennbare Rechtsgrundlage in der Geschäftsordnung der Kommission setzt sich das Englische gegenüber den anderen Arbeitssprachen durch und übernimmt die tragende Rolle für die EU-Rechtsetzung. 4 Im Jahr 2013 ist Englisch mit 81% Ausgangssprache für Übersetzungen; weit dahinter liegen Französisch (4,5%) und Deutsch (2%). Im Vergleich zu 2008 nimmt die englischsprachige Textproduktion innerhalb von fünf Jahren um 8,5% zu, während die deutsche und französische Sprache immer seltener die Grundlage für die Textentstehung und die Übersetzungen in die Zielsprachen bilden: Französisch ist um 7,3% und Deutsch um 0,7% zurückgegangen (EU-Kommission 2014: 7f.). Die Bedeutung der deutschen Sprache für die EU-Kommission ist verschwindend gering und beschränkt sich hauptsächlich auf das Vorhandensein von Schriftstücken. Im strategisch bedeutenden Pressezentrum der Kommission werden immer weniger Pressemitteilungen mehrsprachig veröffentlicht. Im Jahr 2010 waren 12 der 27 Sprecher der Kommission englische Muttersprachler. Die Privilegierung von Beamten mit englischer Muttersprache stellt „sprachliche Kriterien bei der Auswahl der Sprecher über fachliche Kompetenz oder Kommunikationsfähigkeiten“ (URL 6). Darüber hinaus hat die deutsche Sprache auch am Europäischen Gerichtshof das Nachsehen. Nicht nach Maßgabe der Verfahrensordnung, sondern aus traditionellen Gründen ist Französisch federführend und alleinige Arbeitssprache. Praktisch bedeutet das, dass alle im Verfahren anfallenden Schriftstücke ins Französische übersetzt werden müssen und bestimmte Schriftstücke auch nur in der Beratungssprache des Gerichts verfügbar sind. Das Urteil entsteht immer zuerst in Französisch, bevor es dann zur Verkün- 4 Obwohl die EU-Organe für den internen Betrieb Einzelheiten zum Sprachengebrauch in den jeweiligen Geschäftsordnungen regeln können (Artikel 6 VO 1/ 58). <?page no="250"?> Karin Luttermann 238 dung in die allein rechtsgültige Verfahrenssprache, die in Klageverfahren jeweils der Kläger wählt, übersetzt wird. Der Liste der EuGH-Rechtsprechung ist zu entnehmen, dass in dem Zeitraum vom 6. November 2013 bis 6. November 2014 Französisch von 67 Rechtssachen neun Mal Arbeits- und zugleich Verfahrenssprache war (URL 7). Die französische Sprache hat zwar gegenüber den anderen Arbeitssprachen eine herausragende Stellung. Unumstößlich ist diese Stellung allerdings nicht, weil einige Richter schon über bessere englische als französische Sprachfertigkeiten verfügen und gerichtsintern Überlegungen im Raum stehen, Englisch zusätzlich als Arbeitssprache einzuführen (Levits 2007: 46; Luttermann 2007a: 79). Tendenziell wächst der englische Anteil. Im Jahr 2013 war Englisch am Ende des Verfahrens mit etwa 25% die am häufigsten verwendete Sprache und ausschließlich rechtsverbindlich; von 1178 Rechtssachen wurden 211 durch Urteile und Beschlüsse beendet. 5 Die deutsche Sprache fällt am Europäischen Gerichtshof alleine ins Gewicht, wenn sie als Verfahrenssprache zum Zuge kommt. Im benannten Zeitraum war das 229 Mal, d.h. rund 19%, der Fall (EuGH Jahresbericht 2013). Aber selbst bei dieser für die deutsche Sprache dann guten Ausgangslage ist problematisch, dass nicht auf Deutsch gedacht und gearbeitet wird. Deutsch ist hier nur noch eine Übersetzersprache. Der Erkenntnisgewinn und die konzeptuelle Denkleistung vollziehen sich ausschließlich in der Arbeitssprache. Die vom Kläger bestimmte Verfahrenssprache gibt bei der vorherrschenden kommunikativen Unifizierung ihre gnoseologische Funktion an Französisch ab und spielt keine Rolle für die innere Struktur und Entfaltung des Wissens. 4 Zwischenfazit zum Umgang mit Mehrsprachigkeit Der Mehrsprachigkeitsbegriff unterliegt auf der institutionellen Ebene einem ständigen Wandel. Während man in den Anfängen der Europäischen Union offiziell in vier Sprachen kommunizierte, sind es gegenwärtig 24 Arbeitssprachen (das ist ein Anstieg von 12 auf 552 Sprachkombinationen). Zur Vereinfachung wird aber inoffiziell meist nur noch in einer Sprache gearbeitet. Die interne Kommissions- und Gerichtsarbeit ist monolingual ausgerichtet. Die EU-Kommission erstellt die Rechtstexte überwiegend zuerst in Englisch. Die englischen Ausgangstexte werden anschließend in die Amtssprachen übersetzt. Die Sprachfassungen sind alle authentisch, so dass es den einen Text in mehreren Sprachen gibt. 5 Interne Angabe durch den EuGH auf Anfrage der Autorin. <?page no="251"?> Deutsch als Wissenschaftssprache und als Arbeitssprache in der EU 239 Der Europäische Gerichtshof geht ähnlich vor und operiert mit einem Konzept von Mehrsprachigkeit, wonach zwar jede Amtssprache der Union Verfahrenssprache, aber nicht Arbeitssprache sein kann. Der Gerichtshof bezeichnet sich als ein mehrsprachiges Organ, „[d]a jeder Mitgliedstaat seine eigene Sprache und sein spezifisches Rechtssystem hat“(URL 8). Der französische Urteilsentwurf ist der Ausgangstext für die Übersetzung in die jeweilige Verfahrenssprache, von der aus wiederum in alle Amtssprachen übersetzt werden muss. Die amtssprachlichen Texte haben allerdings den Status einer Übersetzung und sind nicht rechtsverbindlich. Das Übersetzungsprocedere ist ein bloßer Transfervorgang, der noch dazu sehr fehleranfällig für Sprachdivergenzen ist (Luttermann 2007b: 67f.). Im Gegensatz dazu hat die deutsche Sprache in keinem EU-Organ einen derartigen Handlungsspielraum und wird weit weniger in der Rechtskommunikation berücksichtigt, obwohl sie mit Abstand die größte Anzahl an Muttersprachlern innerhalb der Union hat (ca. 81 Millionen), in fünf Mitgliedsländern Amtssprache (Belgien, Deutschland, Italien, Luxemburg, Österreich) und in neun Ländern anerkannte Minderheitensprache (Nordschleswig in Dänemark, Elsass und Teile Lothringens in Frankreich, Kroatien, Oberschlesien in Polen, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn) ist. Darüber hinaus ist Deutsch im nationalen deutschen Recht erwiesenermaßen eine gut funktionierende Wissenschaftssprache, die sich aus dem römischen Recht entwickelt hat. Sie kann auch in europäischer Dimension zweifelsfrei für die Rechtsetzung, Rechtsauslegung und Rechtsharmonisierung ihren Beitrag leisten. Durch den eigenwilligen Umgang mit den Arbeitssprachen entstehen Problemlagen und Ungleichheiten, die nicht einfach hingenommen werden können bei Organen, die EU-Recht prägen und die mit den Unionsbürgern kommunizieren. 6 Es braucht ein Konzept, das „der Vielsprachigkeit der EU gerecht werden“ nicht so versteht, „dass man allen Sprachen unter allen Umständen gerecht werden muss“ (Els 2006: 27) und das von einer „Ethik der Mehrsprachigkeit“ (Lüdi 2007: 147) nachhaltig gesteuert wird. Die Frage ist, wie die institutionelle Mehrsprachigkeit gestaltet werden kann, so dass dialogisch-kulturell und ethisch-moralisch alle Sprachen in der Rechtstextproduktion und Textrezeption eingebunden sind und die EU-Organe trotzdem rechtssicher, verständlich und effizient arbeiten können. 6 Deutsche Bundestagsabgeordnete rügen, dass EU-Dokumente nur auf Englisch vorliegen (vgl. URL 9). <?page no="252"?> Karin Luttermann 240 5 Lösungsvorschlag: Europäisches Referenzsprachenmodell 5.1 Ziel und Ansatz Das Europäische Referenzsprachenmodell tritt an die Stelle eines von Widersprüchen getragenen Sprachenregimes. Es will den Sprachengebrauch in den EU-Organen unter Beachtung der Rechtssicherheit und Praktikabilität regeln. Bislang steht die sprachliche Richtigkeit der Texte für die Rechtsadressaten unter dem Vorbehalt, alle Sprachfassungen miteinander vergleichen zu müssen. Die Organe sind quantitativ und qualitativ überfordert und verwenden nur eine Sprache für die Binnenkommunikation. Das entspricht nicht dem Sinn von Mehrsprachigkeit. Das Referenzsprachenmodell schätzt alle Sprachen wert und integriert sie in ein System von Referenz- und Muttersprachen (Luttermann 2013: 124). Dafür orientiert es sich an dem demokratischen Prinzip der Mehrheit und macht sich zunutze, dass „Demokratie ein Modell in sich enthält, das kommunikationsethisch die Möglichkeit für unterschiedliche Identitäten erlaubt und nicht die Homogenisierung als oberste Leitregel durch- und umsetzt“ (Ehlich 2002b: 53). Die Arbeitssprachen stehen in einem dialogischen Austausch, um Recht auszuhandeln. Der Aushandlungsprozess ist ein Teil des sprachkulturellen Dialogs in der Union. Der andere Teil sind die verschiedenen Rechtskulturen mit ihren Eigenarten. Das Europäische Referenzsprachenmodell ist das bislang einzige Sprachenmodell, das rechtslinguistisch ansetzt, rechtssprachenvergleichend arbeitet und keine Sprachen außen vor lässt. Vorgeschlagen wird ein Sprachen- und Rechtsvergleich zunächst mit zwei Referenzsprachen. Zwei Sprachen brauchen schon von Anfang an die Übersetzung, die methodisch Mittel für die interkulturelle Verständigung über Bedeutungskonzepte in der Europäischen Union ist. Ein Rechtsakt muss in beiden Referenzsprachen interdisziplinär und kooperativ von Übersetzungsdiensten, Sprach- und Rechtswissenschaftlern sowie den Wissenschaftlern der Disziplin, um die es geht (z.B. für die Umwelt Experten der Naturwissenschaften oder für Gesundheit Mediziner), ausgearbeitet werden und in den Referenzsprachen übereinstimmen. 5.2 Referenzsprachen und Muttersprachen Nach dem Mehrheitskriterium sind Deutsch und Englisch die Referenzsprachen, die die EU-Organe verwenden, um Recht zu setzen und auszulegen. Sie weisen den höchsten Anteil aus Mutter- und Fremdsprachlern auf (URL 10; URL 11). So sind 18% der Unionsbürger deutsche und 13% englische Muttersprachler. Fremdsprachenkompetenzen in Englisch haben 38% und in <?page no="253"?> Deutsch als Wissenschaftssprache und als Arbeitssprache in der EU 241 Deutsch 14%. Insgesamt beherrschen also 32% der Bürger die deutsche und 51% die englische Sprache. Der Europäische Gerichtshof hält den Ansatz, die Sprachenwahl „auf die in der Europäischen Gemeinschaft bekanntesten Sprachen“ zu beschränken, für „sachgerecht und angemessen“. 7 Außerdem repräsentieren die beiden Sprachen die kontinental-römische und die angelsächsische Rechtstradition. Die Referenzsprachen können zu Lasten der Effizienz um andere Sprachen erweitert werden (Luttermann/ Luttermann 2004: 1009). Nur von den Referenzsprachen darf in die anderen Muttersprachen (das sind in der Regel die Amtssprachen der Mitgliedsländer) übersetzt werden. Dadurch sind auch alle nicht-referenzsprachlichen Fassungen authentisch. Die Authentizität der Übersetzungen ergibt sich aus der inhaltlichen Übereinstimmung mit den Referenzsprachen. Die Referenzsprachen und die Referenz- und Muttersprachen sollen sich gegenseitig auf Bedeutungsgehalt und Konvergenz prüfen. Die Mitgliedsländer haben die Aufgabe, die Übersetzungen zu erstellen und tragen die Verantwortung für deren Qualität. So sind sämtliche EU-Rechtsakte (wie bisher auch) muttersprachlich für die Bürger in den Mitgliedstaaten verfügbar. Es geht darum, die Referenzsprachen adressatenorientiert und verständlich in eine nationale Rechtssprache zu übertragen und die Interpretationsspielräume argumentativ und diskursiv zu nutzen, damit Rechtskommunikation die Bürger erreicht und die zu einer demokratischen Gesellschaft gehörende Auseinandersetzung über wissenschaftliche Entwicklungen und deren Auswirkungen angemessen geführt werden kann. 6 Schlusswort Hat die deutsche Sprache noch eine Zukunft in den Wissenschaftskulturen und in der europäischen Rechtsarbeit? Ihr Stellenwert hängt davon ab, inwieweit die Verantwortlichen in den Wissenschaften und in den EU-Organen Deutsch verwenden. Die Arbeitssprachen sind „die zukünftigen Regierungssprachen des politisch und wirtschaftlich zusammenwachsenden Europas“ (Ammon 2007: 101). Mit dem Europäischen Referenzsprachenmodell kann Deutsch wieder an Einfluss gewinnen. Zugleich gewinnnen der Gedanke der Mehrsprachigkeit und der Integrationsaspekt in der europäischen Praxis Raum und Qualität. Das Sprachenmodell wird in linguistischen und juristischen Kreisen schon beachtet. Es habe das Potenzial, die praktische Schwierigkeit der Sprachen zu lösen, ohne die Vorteile der Mehrsprachigkeit 7 EuGH, Urteil vom 09.09.2003, Rs. C-361/ 01 P, Rn. 94 - Kik. <?page no="254"?> Karin Luttermann 242 des Rechts bei der Auslegung zu verspielen (Engberg 2009: 190). Das Modell achtet die sprachliche Vielfalt und befestigt zugleich keine Hegemonie einer Sprache und Kultur. Quellen v. Osse, Melchior/ Thomasius, Christian (1717): D. Melchiors von Osse Testament gegen Hertzog Augusto, Churfürsten zu Sachsen […] 1556. Anitzo zum ersten mahl völlig gedruckt. Zu finden in der Rengerischen Buchh, Halle im Magdeburgisch 1717. Abrufbar unter http: / / galenet.galegroup.com/ servlet/ MOME? af=RN&ae=U110 694792&srchtp=a&ste=14 [31.10.2014]. Elektronische Quellen URL 1: www.esf.uni-osnabrueck.de/ biographien-sicherung (=Projekt Verfolgung und Auswanderung deutschsprachiger Sprachforscher 1933—1945) [31.10.2014]. URL 2: http: / / www.faz.net/ aktuell/ feuilleton/ deutsch-als-wissenschaftssprachesprachfreies-denken-gibt-es-nicht-1544592.html (=Glück, Helmut: Deutsch als Wissenschaftssprache. Sprachfreies Denken gibt es nicht. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.04.2008) [31.10.2014]. URL 3: http: / / www.hamburg.de/ justizbehoerde/ pressearchiv2014/ 4262472/ 2014- 02-04-jb-gerichtssprache-englisch/ (=Rechtsstandort stärken. Englisch als Gerichtssprache. 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Holly 2011; Meiler 2013), der einen differenzierten Zugriff auf mediale und soziokulturelle Aspekte der Ermöglichung von Kommunikation bietet. In diesem Kontext stellt sich für die Medienlinguistik andererseits wiederum eine interdisziplinäre Auseinandersetzung mit der rezenten Medienwissenschaft als Möglichkeit dar, die Einbettung von z.B. Wissenschaftskommunikation in ihren domänenspezifischen Alltag systematisch herauszuarbeiten. Damit wird es möglich, aktuelle Veränderungen im Kommunikationsformenhaushalt der Wissenschaft (Zeitschriftenkrise, Open Access, Kommunikationsplattformen) in ihrem Niederschlag auf das (eristische) Sprechhandeln forschend zu begleiten. Für diese Rekonstruktionsarbeit wird hier dafür plädiert, den medienwissenschaftlichen Infrastruktur-Begriff heranzuziehen. Die genannten Herausforderungen werden anhand rezenter digitaler Kommunikationsformen der Wissenschaft auch in methodischer Hinsicht diskutiert. 1 Medienlinguistik und Fachsprachenforschung Der Ausdruck ‚Medienlinguistik‘ ist eigentlich tautologisch, denn jede empirische Linguistik kommt nicht umhin, Sprache als Medium zu begreifen und mindestens ihre je unterschiedlichen materialen Qualitäten zur Kenntnis zu nehmen, wenn es um die Erforschung konkreter Sprechhandlungen geht (vgl. Ehlich 1998; Jäger 2013; zus. Habscheid 2014). Der Ausdruck ‚Medienlinguistik‘ macht also nur emphatisch gebraucht, als forschungspolitischer Begriff Sinn. Zur Anwendung kommt er vor allem im Zusammenhang der Erforschung von Massenmedien (Perrin 2006; Burger/ Luginbühl 4 2014) und dem Internet (Marx/ Weidacher 2014). <?page no="258"?> Matthias Meiler 246 „Einer medialitäts- und mediensensiblen Linguistik“ (Holly 2013: 212) kommt aber darüber hinaus ebenfalls die Aufgabe zu, durch die entsprechenden Domänen (vgl. Jakobs 1997: 10) hindurch Gespräche, Texte und Diskurse (im Foucault´schen Sinne) als Forschungsgegenstände zu verstehen, und sie tut dies in zunehmendem Maße auch. All diese Forschungsbereiche stehen vor der Herausforderung, Semantisierungshandlungen und deren Strukturiertheit durch mehr als nur sprachliche Medialitäten zu rekonstruieren. Augenfällig ist jedoch, dass die rezenten medientechnischen Entwicklungen die größten Herausforderungen an diese Linguistik stellen. Anhand des Forschungsfeldes der digitalen Wissenschaftskommunikation sollen einige Aspekte angesprochen werden, die sich als Herausforderungen darstellen, wenn jene medialen Infrastrukturen wissenschaftlichen Kommunizierens, die bisher nur wenig im Fokus stehen, ernst genommen werden. Die (interne und externe) Wissenschaftskommunikation ist in den letzten Jahren zunehmend in Bewegung. Das Ziel der Reise ist weithin ungewiss. Die Erforschung aktueller Ausprägungen kann aber dabei helfen, Veränderungen nicht als unumgängliches Widerfahrnis zu empfinden, sondern begleitend zu gestalten. In diesem Rahmen kommt es auch der Fachsprachenforschung zu, die hier umrissenen Aspekte vermehrt in ihre Untersuchungen aufzunehmen, um die wissenschaftsgeschichtliche Tendenz zu erweitern, „von einer Idealisierung wissenschaftlicher Erscheinungen immer mehr Abstand [zu nehmen] und den tatsächlichen Gegebenheiten zunehmend Rechnung [zu tragen]“ (Roelcke 1999: 615f.). 2 Methodische Herausforderungen Ein großer Gegenstandsbereich für eine Wissenschaftssprachenlinguistik entsteht und entwickelt sich zunehmend im Internet (vgl. Gloning/ Fritz 2011). Neuere und viele unterschiedliche Internetkommunikationsformen 1 werden in unterschiedlichen Ländern und Disziplinen unterschiedlich schnell und umfangreich genutzt und ausprobiert. Um einige zu nennen: Twitter, Weblogs, Soziale Netzwerke, MOOCs (Massive Open Online Courses), Foren, Chats, Online-Zeitschriften und andere Online-Publikationsfor- 1 Zu Begriff und Forschungsstand der Kategorie Kommunikationsform siehe überblickend Meiler 2013. Grundsätzlich hebt er darauf ab, spezifische soziotechnische Verfestigungen begrifflich zu fassen, die die Möglichkeitsbedingungen für Kommunikation bereitstellen. Von ihm werden unterschieden ein technischer Medienbegriff einerseits und ein Gattungs-/ Textarten-/ Textsortenbegriff andererseits. Kommunikationsformen liegen kategorial gewissermaßen in der Mitte (vgl. Holly 2011). <?page no="259"?> Wissenschaftssprache digital - medienlinguistische Herausforderungen 247 mate, die sich an klassischen Printkommunikationsformen orientieren bzw. diese modifizieren (Sammelbände, Festschriften). Die genannten Kommunikationsformen bringen die Verheißung mit sich, Grundlage für einfach zu erhebende Korpora unterschiedlichen Umfangs zu sein. Die untersuchbaren Kommunikate sind oft öffentlich einsehbar, bereits digital gespeichert und können minimalinvasiv, d.h. praktisch ohne verzerrenden Einfluss auf die Kommunizierenden und ohne viel Aufwand erhoben werden. Wie für korpuslinguistische Erhebungsmethoden ergibt sich auch für qualitative Herangehensweisen die Notwendigkeit, den Untersuchungsgegenstand still zu stellen, um ihn analysierbar zu machen. Sich dabei auf die verdauernde Qualität der unterschiedlichen Kommunikationsformen zu verlassen, wie das bspw. bei Weblogs gegeben ist, kann sich schnell als Problem erweisen, wenn der Blog unerwartet deaktiviert wird. Sicherlich gibt es Möglichkeiten, auf Internet-Archive zurückzugreifen (z.B. die Wayback Machine von archive.org). Dort ist aber weder die Archivierung an sich, noch deren ausreichende Qualität für eine qualitative Sprach- und Kommunikationsanalyse garantiert. Daneben bringt die Erforschung von Wissenschaftskommunikation im Internet mit der Erleichterung aber auch eine Verlockung mit sich. Je einfacher Kommunikate massenhaft und mehr oder weniger automatisch erhoben werden können, desto einfacher scheint ihre Analyse zu werden. Die einschlägigen Arbeiten zum wissenschaftlichen Twittern bezeugen dies eindrücklich: Diese datengetriebenen, kommunikationsbzw. informationswissenschaftlichen, mithin hauptsächlich quantitativen Studien zum Twittern von Wissenschaftlern und im Kontext von Konferenzen stellen illustrative Einblicke in eine komplexe und äußerst flüchtige und sich verflüchtigende Kommunikationspraxis dar (vgl. z.B. Weller/ Puschmann 2011; Puschmann 2014). Wie die genannten Autoren immer wieder betonen, bedürfen diese Studien detaillierter qualitativer Untersuchungen. Dies ist schon allein prinzipiell nötig, um dem „Eskapismus gegenüber der Verstehensproblematik“ zu entkommen (Ehlich 1993b: 206), der die quantitative Forschung weitgehend prägt. Mit qualitativen Untersuchungen muss zudem die Daten-Getriebenheit einer umsichtigen „Rekonstruktion des Konkreten im Begriff“ (Ehlich/ Rehbein 1986: 176) weichen, um diese Kommunikationspraxis analytisch in ihrer gesellschaftlichen Wirklichkeit verankern zu können und zirkelschließende Annahmen zu verhindern. Zudem gilt es zu verhindern, dass sich die Szientometrie in der Gegenstandskonstitution verdinglicht: „Scientific communication is typically perceived as a process of publishing scientific publications and of citing other scientists’ publications“ (Weller/ Puschmann 2011: 1, Herv. durch M.M.). Bei der erwähnten ‚Wahrnehmung‘ bleibt es dann, um Wissenschaftskommunikation auf Twitter be- <?page no="260"?> Matthias Meiler 248 grifflich zu fassen und auf dieser Basis zu analysieren. Qualitative Analysen müssen hier - neben der nötigen Begriffsarbeit - detailliert herausarbeiten, in welchem Wechselverhältnis bspw. ein Konferenzvortrag zu den Twitternden steht, die ihn mithilfe der plattformeigenen „Kommunikationsoperatoren“ (Thimm et al. 2011: 269) in einem Tweet thematisieren. Weiterhin gilt es zu rekonstruieren, welche medialisierenden Voraussetzungen und d.h. also welche organisationalen und institutionellen Bedingtheiten hier bei der Wechselwirkung zwischen wissenschaftlicher Konferenz und der Plattform Twitter ineinander spielen. Dies kann letztlich erst den reflektierten Ausgangspunkt quantitativer Verfahren darstellen, der „methodologisch unabdingbar ist“ (Ehlich 1993b: 217). 2 Die angedeuteten Wechselverhältnisse herauszuarbeiten, hilft in jedem Fall wissenschaftliches Twittern als solches, d.h. als spezifisches Sprechhandeln, verstehbar zu machen. 3 Interdisziplinäre Herausforderungen Es ist nicht erstaunlich, dass innerhalb der Medienlinguistik im engeren Sinne medienwissenschaftliche Ansätze (d.h. Ansätze jenseits der Kommunikationswissenschaften) 3 bisher kaum herangezogen werden, um das, was im Kompositum Medienlinguistik mit ‚Medien-‚ angesprochen wird, zu erhellen. Klassisch ist einerseits der Rekurs auf die großen Medientheoretiker wie etwa Marshall McLuhan, die der rezenten Medienwissenschaft aber kaum noch entsprechen. Andererseits gibt es eine (deutschsprachige) Diskussion um eine vor allem philosophisch orientierte, linguistische Medientheorie (z.B. Jäger 2001), die mit der empirischen Medienlinguistik nur selten Hand in Hand geht (vgl. Holly 2013: 222; Metten 2014: 110). 2 Die produktive Verbindung qualitativer und quantitativer Methoden bei der Erforschung von Twitter-Daten diskutiert Paßmann (2013). Dass dabei mehr als nur hermeneutische Methoden zum Einsatz kommen müssen, entwerfen aus medienlinguistischer Perspektive auch Klemm/ Michel (2014). Methodisch bieten sich dafür ethnografische Ansätze an (vgl. etwa Brown et al. 2013; Licoppe/ Figeac 2013). 3 Zu bedenken ist hier, dass die Scheidung ‚der‘ Medienwissenschaft von ‚der‘ Kommunikationswissenschaft einen deutschen Sonderweg darstellt, der anderenorts so nicht angetroffen wird. Während die Kommunikationswissenschaft wesentlich als soziologische Erforschung der Massenmedien begonnen hat (Publizistik), ist die deutsche Medienwissenschaft später weitgehend aus den Literaturwissenschaften hervorgegangen. Einen medienlinguistischen Ansatz, der mehr an die Kommunikationswissenschaft angelehnt ist, stellen Klemm/ Michel (2014) vor. Stark in Richtung Kontrastive Textologie orientiert, also auf Textsortenanalysen ausgerichtet, sind die Ausführungen zur Medienlinguistik von Stöckl (2012). <?page no="261"?> Wissenschaftssprache digital - medienlinguistische Herausforderungen 249 Dass die Medienlinguistik nicht oder nur kaum mit der Medienwissenschaft spricht, ist darauf zurückzuführen, dass diese empirische Medienwissenschaft weithin an einer Erforschung von Kommunikation nicht interessiert ist. Warum eine interdisziplinäre Auseinandersetzung dennoch als sinnvoll erachtet werden kann, soll kurz skizziert werden. Am sinnvollsten erscheint mir der Anschluss am in der linguistischen Pragmatik zentral gestellten Begriff der ‚Situation‘. Am emphatischsten artikuliert sich diese Zentralität in Bühlers (1982: 23) Forderung, „Grammatik faktisch im Sinne einer entschlossenen S it u a t i o n s t h e o ri e der Sprache“ zu betreiben. Die Medialität der Sprechsituation in Relation zu setzen zur Abzweckung der sprachlichen Mittel auf systematisch unterscheidbare Kommunikationssituationen (wie Zwiegespräch, Telefonat, Brief, E-Mail, Buch, Zeitschrift, Seminar, Vorlesung), kann als zentrale Aufgabe der Medienlinguistik begriffen werden. Dass sich dies nicht in der Dichotomie von Text/ Diskurs (Ehlich 1983) erschöpfen kann, zeigen die Untersuchungen zu unterschiedlichen Kommunikationsformen, online wie offline. Diese sind durch je unterschiedliche Verdauerungs-, mithin Überlieferungsqualitäten gekennzeichnet, die spezifische Abzweckungen sprachlicher Mittel bedingen. Sprecher und Hörer kommunizieren nicht nur, sie stellen auch handlungspraktisch und umfangreich die Bedingungen der Möglichkeit ihres Kommunizierens her (vgl. Meiler 2013: 60—67). Dies ist der systematische Ort der Kommunikationsformen und ihre handlungspraktische Hervorbringung kann mit medienwissenschaftlichen Begriffen gefasst werden. Wann wird eine solche Perspektive aber wirklich analyserelevant für eine Linguistik, die ja immer noch Sprache bzw. Sprechen als primären Gegenstand erforscht? Eine solche Linguistik könnte sich ja damit begnügen, die Bedingungsmatrizen der Kommunikationswissenschaft heranzuziehen, wenn es darum geht, die Frage zu beantworten: „Was macht eigentlich das zur Debatte stehende Medium aus? “ (Holly/ Püschel 2007: 152). 3.1 Domänenspezifische Kommunikationsformenhaushalte Interessant wird das in meinen Augen vor allem dann, wenn es um die Erforschung institutioneller Kommunikation geht; weiter gefasst - und das ist für die Wissenschaftssprachenforschung nötig - geht es um Domänenspezifik. Die Aufgaben, die domänenspezifisch alltäglich zu bearbeiten sind, gehen Hand in Hand mit verfestigten kommunikativen Zwecken, die es zu bewältigen gilt. Hierfür haben sich - je nach Fall natürlich verschieden - in der Regel Bündel von Kommunikationsformen als zuverlässige Mittel und Mittler herausgestellt, um die unterschiedlichen kommunikativen Zwecke zu bearbeiten. Diese Kommunikationsformen bilden dann das Spektrum <?page no="262"?> Matthias Meiler 250 bspw. der wissenschaftlichen Publikationspraxis. Gegenüber den jeweiligen Kommunikationsformen sind die sprachlichen Mittel der jeweiligen Zweckbearbeitungen natürlich nicht indifferent. Die Spezifik der Kommunikationsformen eröffnet gewissermaßen ein kommunikatives Potenzial, das unterschiedlich ausgeschöpft oder in Anspruch genommen werden kann. Wendet man diese Perspektive aber, so könnte man auch sagen, dass die mehr oder weniger rationalen Entscheidungen für die je zeitgemäßen Kommunikationsformen nicht absehbare und nicht intendierbare Folgen für die kommunikativen Zweckbearbeitungen nach sich ziehen können. Diese Folgen können Resultate zeitigen: bspw. in der kommunikationsformenspezifischen Abzweckung sprachlicher Mittel, in der Veränderung rhetorischer Strategien und nicht zuletzt können sie auch die Sprachenwahl beeinflussen. Als Resultate verändern sie wiederum den „kommunikativen Haushalt“ (Luckmann 1988) der jeweiligen Domäne, wirken zurück auf tradierte Formen und können das Erscheinungsbild und die Verfahrensweisen - hier der Wissenschaftskommunikation - nachhaltig prägen. Die kommunikative Wirklichkeit einer Domäne wie der Wissenschaft ist eng verwoben mit der handlungspraktischen Auseinandersetzung mit ihren Kommunikationsmedien. In dieser Auseinandersetzung werden die Infrastrukturen geschaffen und erhalten, die die Domäne braucht, um sich mit sich selbst zu verständigen. Daran sind eine große Bandbreite heterogener Akteure beteiligt: Druckereien, Verlage, der Vertrieb, die Bibliotheken, die Wissenschaftler selbst als Herausgeber, Autoren und Peer Reviewer, die Bundesländer als zweifach-finanzierender ‚Mäzen‘ dieser Infrastruktur und viele andere, unscheinbare Glieder in der Operationskette des Publizierens eines wissenschaftlichen Textes (um nur ein Beispiel herauszugreifen). Die Digitalisierung bringt vor dem Hintergrund der Zeitschriftenkrise diese verfestigte Infrastruktur zunehmend ins Wanken (vgl. Hagenhoff et al. 2007). Neben den breiten Bestrebungen um unterschiedliche Formen des Open Access können Weblogs als eine Kommunikationsform verstanden werden, die den Haushalt der Publikationsformen der Wissenschaft erweitert und zusammen mit anderen, z.T. oben schon erwähnten Kommunikationsformen neu arrangieren; auf welche Weise, wird sich mit der Zeit herausstellen. 3.2 Zur Infrastruktur von Kommunikationsformen Die Stabilisierung neuer Infrastrukturen ist, wie zahlreiche Untersuchungen der Science and Technology Studies (STS) herausgearbeitet haben (vgl. bspw. Star/ Ruhleder 1996), in ihren Folgen alles andere als vorhersehbar und nur äußerst schwer steuerbar (vgl. überblickend Edwards et al. 2007). Die prä- <?page no="263"?> Wissenschaftssprache digital - medienlinguistische Herausforderungen 251 genden Oppositionen „technisch/ sozial, un/ sichtbar, global/ lokal, im/ materiell, statisch/ dynamisch“ (Schabacher 2013: 129), die die Infrastrukturforschung herausgearbeitet hat und mit denen bspw. öffentlich finanzierte Infrastrukturprojekte zu kämpfen haben, machen Infrastrukturen zu einem Phänomen weitgehender Emergenz, ihre Abzweckung auf domänenspezifische Aufgaben zu einer Sache, die sich weitgehend hinter dem Rücken der Akteure einstellt. Allein dies macht es schon sinnvoll, aktuell stattfindende Übergangsphänomene forschend zu begleiten. Dafür einen Blick in die medienwissenschaftliche Diskussion zu werfen, erscheint fruchtbar. Diese interessiert sich zwar nicht so sehr für die ermöglichte Kommunikation in Kommunikationsinfrastrukturen. Aber sie rezipiert die STS-Perspektive auf Infrastrukturen, große technische Systeme oder allgemein soziotechnische 4 Netzwerke und wendet sie auf die medial-materialen und organisationalen Grundlagen von Kommunikation (vgl. Schüttpelz 2013). Anders gesagt wird es im interdisziplinären Dialog mit einer solchen Medienwissenschaft möglich, die Frage der Infrastrukturierung von Kommunikationsformen zu stellen, also die Frage zu stellen, wie handlungspraktisch die Bedingungen der Möglichkeiten von Kommunikation hervorgebracht, aufrechterhalten und funktionalisiert werden. Dies ist für die Untersuchung von Wissenschaftssprache und -kommunikation deswegen interessant, weil die konstellativen Verschiebungen damit erhellt werden können, die durch die Digitalisierung im Publikationsspektrum der Wissenschaft wirksam werden und wie diese der Wissenschaftskommunikation neue Möglichkeiten und Grenzen eröffnen. Fritz/ Gloning (2012) thematisieren diese neuen Ermöglichungsstrukturen der digitalen Wissenschaftskommunikation im Hinblick auf den zentralen Zweckbereich wissenschaftlichen Kommunizierens, nämlich ihrem kontroversen Charakter. Den zugehörigen sprachlichen Mittelbereich hat Ehlich (1993a) als „eristische Strukturen“ beschrieben. Fritz/ Gloning (2012) zeigen nun, wie unterschiedliche Kommunikationsformen wie Mailinglisten, Open Peer Review-Plattformen und Weblogs veränderte Möglichkeiten kontroverser Auseinandersetzungen bereitstellen. Mit Blick auf die Infrastrukturforschung kann bspw. bezüglich der wissenschaftlichen Mailinglisten 4 Hier erscheint es notwendig, darauf hinzuweisen, dass der Begriff der Soziotechnik, wie ihn die medienwissenschaftliche Praxeologie nutzt (vgl. Schüttpelz 2006), nicht auf materiale Techniken beschränkt ist, sondern mit Mauss’ Begriff der Kulturtechnik auf die griechischen ‚téchne‘ zurückgreift. Im Kommunikationsformenzusammenhang ist das deswegen notwendig zu erwähnen, da sich dieser Begriff nicht nur auf im engeren Sinne technisch vermittelte Kommunikation bezieht, sondern das Kontinuum möglicher Kommunikationssituationen auf den Begriff zu bringen vermag, dass sich zwischen der klassischen F2f-Kommunikation und dem prototypischen Text aufspannt. <?page no="264"?> Matthias Meiler 252 weitergehend gefragt werden, wie das soziotechnische Arrangement genau aussieht, das dieser Kommunikationsform zugrunde liegt, welche Reichweite, Beteiligungsstruktur und auch Dauerhaftigkeit dem Kommunizierten damit zukommt, mithin unter welchen medial-technischen und gleichzeitig soziokulturellen Vorzeichen die Kontroversen auf wissenschaftlichen Mailinglisten stehen. Eine solche Perspektive kann also dabei helfen, einzuschätzen, welchen Einfluss oder welche Wirkkraft eine Kontroverse in wissenschaftlichen Mailinglisten für ein Fach (auf Dauer) haben kann. Die Infrastrukturierung der jeweiligen Kommunikationsformen zu beschreiben anstatt nur die „konstellativen Merkmale“ (vgl. Hoffmann 2004: 104) oder Bedingungen zu listen, die mit den Kommunikationsformen einhergehen, macht es nämlich nötig und möglich, die Verwebungen bspw. des Bloggens mit dem übrigen wissenschaftlichen Alltagshandeln zu fokussieren. So wäre zu zeigen, wie sich beispielsweise gegenüber Zeitschriften oder Weblogs bei Mailinglisten die Produktions-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen und die dazugehörigen Praktiken auf den Charakter kontroverser Auseinandersetzungen niederschlagen, die in dieser Kommunikationsform geführt werden. Damit wäre dann einschätzbar, welchen Einfluss Kontroversen in den neuen wissenschaftlichen Kommunikationsformen auf lange Sicht überhaupt nehmen können und damit neue Möglichkeiten und Grenzen des kooperativen Erkenntnisgewinns formen. Blickt man mit dem Infrastrukturbegriff auf Kommunikationshandeln, wird damit ersichtlich, welche „Akteur-Welten“ daran beteiligt sind (Callon 2006: 176), dieses Kommunikationshandeln erst einmal zu ermöglichen, welche Rolle und Wichtigkeit unterschiedlichen Akteuren am Publikations- und Kommunikationsprozess eingeräumt wird und also welche Spezifik die damit konstituierte Sprechsituation eignet. So lässt sich beispielsweise bezüglich des Bloggens eine weitreichende Reduktion beobachten: „Der Autor […] übernimmt mit seiner Publikationstätigkeit die Funktion von Drucker, Verleger, Distributor und Archivar“ (Runkehl/ Siever 2010: 133), aber nicht die Funktion eines Reviewers. Wie dieser soziotechnische Umstand funktionalisiert wird, wenn bspw. auf spezialisierten Plattformen wie hypotheses.org wissenschaftlich gebloggt wird, schlösse sich als Frage an; denn wie Puschmann/ Mahrt (2012: 179) konstatieren: Hypotheses.org „aims to transplant traditional institutionalized scholarship into blogs“. 3.3 Zum Infrastrukturieren von Kommunikationsformen Für die Wissenschaftssprachenlinguistik, mehr noch aber für die Medienlinguistik ist ein Anschluss an medienwissenschaftliche Ansätze fruchtbar, um die Analyse der Ermöglichungsbedingungen des wissenschaftlichen Pu- <?page no="265"?> Wissenschaftssprache digital - medienlinguistische Herausforderungen 253 blikationsprozesses theoretisch und empirisch an Kommunikationsanalysen (i.e.S.) anzuschließen. Sollen die historischen Veränderungen im Kommunikations(formen)haushalt einer Domäne wie der Wissenschaft beschrieben werden, so erscheint es sinnvoll, disziplinäre Grenzen zu überschreiten, um die wechselnden und konkurrierenden Infrastrukturen ihrer kommunikativen Praktiken zu erhellen. Der Infrastrukturbegriff hat gegenüber einem technischen Medienbegriff oder auch einer Liste medialer Parameter, wie sie für Kommunikationsformen in Anschlag gebracht werden (vgl. Klemm/ Michel 2014: 187f.), den Vorteil, dass er auf die Arbeit abhebt, die getan werden muss, um (kommunikative) Vermittlung zu leisten. Mit der Rekonstruktion dieser Arbeit wird es also möglich, die institutionelle und organisationale Wirklichkeit des Publikationsprozesses selbst zu erhellen. Oben wurde diese Arbeit als handlungspraktische Hervorbringung der Sprechsituationen bezeichnet, die sich gesellschaftlich in soziotechnischen „Kombinationen und Koordinationen“ stabilisiert (Holly 2011: 159) und die als Kommunikationsformen unterschieden werden können. Diese prozessuale Wendung wird möglich, wenn nicht nach der Infrastruktur gefragt wird, sondern wenn gefragt wird: „How to Infrastructure? “ (Star/ Bowker 2006), wenn also die Infrastrukturierung als komplexer und vielschichtiger Prozess in den Blick genommen wird. Infrastruktur-Studien leisten dies i.d.R., indem sie den Aufbau von Infrastrukturen ethnografisch begleiten oder historisch ihr Entstehen rekonstruieren. Diese Perspektive hat den Vorteil, dass der andauernde Prozess der Arbeit an der Infrastruktur, ihrem Aufbau und ihrer Unterhaltung sichtbar gemacht werden kann, der bei normalem Betrieb, d.h. ihrer problemlosen Nutzung unsichtbar bzw. transparent bleibt und nur im Falle einer Störung sichtbar wird. Infrastrukturen können aber auch hermeneutisch erschlossen werden (vgl. Grote 1994; Parks 2009). Die verstehende Rekonstruktion kann sich dabei besonders an den Störungen im Infrastrukturierungsprozess orientieren, die von den Akteuren selbst sichbar gemacht und kommunikativ bearbeitet werden. Auf diese Weise wird ein Einblick in die Oberfläche der Merkmalslisten der Kommunikationsformen gewährt und ihr infrastruktureller Unterbau scheint auf. Für meine eigene Forschung zu wissenschaftlichen Weblogs habe ich diesbezüglich zusätzlich auf Interviews und teilnehmende Beobachtung zurückgegriffen (siehe dazu Meiler i.V.). <?page no="266"?> Matthias Meiler 254 4 Ausblick zum wissenschaftlichen Bloggen Entscheidend ist für den medienlinguistischen Zusammenhang vor allem, herauszuarbeiten, welche systematischen Arbeitsschritte oder Operationsketten einer Kommunikationsform zugrunde liegen, welche beteiligten Akteure mobilisiert werden müssen, um die je kommunikationsformenvarianten Möglichkeitsbedingungen für Kommunikation stabil zu halten. Vortechnische Medialität und die jeweiligen Medientechniken (mit ihren Eigenlogiken) können dabei nicht ohne ihr Zusammenspiel mit menschlichen Akteuren betrachtet werden, da sich erst in ihrem organisierten Ineinandergreifen ihre Funktionalität für die Ermöglichung von Kommunikation ergibt. Für Weblogs bspw. gilt es, das Zusammenarbeiten u.a. von Blogger, Provider, Serverarchitektur, Blogsoftware, Programmiersprachen und Datenbanken herauszuarbeiten, um beschreiben zu können, welche sozio-kulturellen Implikationen sich aus dieser Infrastrukturierung ergeben (vgl. Holly 1996: 10). Zu fragen ist dann, wie diese multifunktionale Konfiguration (vgl. Brinker 6 2005: 148) für Zwecke wissenschaftlicher Kommunikation funktionalisiert wird und wie wissenschaftliche Kommunikationskonventionen mit den allgemeineren Weblogimplikationen zusammengehen. Für das wissenschaftliche Bloggen kann diesbezüglich wahrscheinlich von einer Entinstitutionalisierung und Entreglementierung der Kommunikationspraxis ausgegangen werden, was bspw. Qualitätskontrolle, Häufigkeit, Umfang und Thema der Kommunikationszüge, Abgeschlossenheit der kommunizierten Argumentationen und deren diskursive Bearbeitung in den Kommentaren anbelangt. Die massenmediale Sichtbarkeit, die einem Kommunikat durch die WWW-Infrastrukturen zukommt, und die Publikationsgeschwindigkeit, die diese Infrastruktur ermöglicht, machen dabei wohl das Spannungsfeld aus, das wissenschaftliches Bloggen als Form interner Wissenschaftskommunikation im Allgemeinen kennzeichnet und in Bezug dessen die Stabilisierung der kommunikativen Praktiken erst am Anfang steht. Die Infrastrukturierung von Weblogs wird dann interessant, wenn man einzuschätzen versucht, was mit dem in ihnen kommunizierten und entwickelten wissenschaftlichen Wissen geschieht. Es ist empirisch zu prüfen, wie die Beförderung eristischer Handlungsmöglichkeiten - bspw. durch die Kommentierbarkeit von Blogeinträgen und die relativ hürdenfreie Partizipation - an den Anspruch nach systematischer Innovation angeschlossen werden kann. Können sich Praktiken herausbilden, die die prinzipiell unabgeschlossenen Kommentarverläufe kollaborativer Erkenntnisgewinnung überführen können in stringentere Darstellungen, die Eingang finden können in die traditionsbildenden Kanäle der Wissenschaft (vgl. bspw. <?page no="267"?> Wissenschaftssprache digital - medienlinguistische Herausforderungen 255 Fritz/ Bader 2010)? Muss es für eine fruchtbare Ausschöpfung des Potenzials von Weblogs zu einer Verknüpfung von Kommunikationsinfrastrukturen kommen, wie es sie bspw. für Tagungen und Tagungsbände gibt? Und wie würden sich diese organisieren? Oder sind Weblogs gar in der Lage, einen Zweck eigener Art im Kommunikationsspektrum der Wissenschaft zu entfalten? Literatur Brinker, Klaus ( 6 2005): Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden. 6., überarbeitete und erweiterte Auflage. Berlin: Schmidt. Brown, Barry et al. (2013): iPhone in vivo: video analysis of mobile device use. In: Mackay, Wendy et al. 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Im Gegensatz zu den viel untersuchten Fachdisziplinen wie Medizin, Biologie, Chemie, Linguistik, Wirtschaft, Soziologie etc. liegen sehr wenige textlinguistische und kontrastive Analysen über literaturwissenschaftliche Artikel vor. Mein Beitrag hat zum Ziel, den Textaufbau, besonders die Einleitungs- und Schlussteile von literaturwissenschaftlichen Artikeln in deutschen und türkischen Germanistikzeitschriften zu analysieren und miteinander zu vergleichen. Das Analysekorpus besteht aus den Artikeln, die im Zeitraum 2009—2013 in der Zeitschrift für deutsche Philologie und in den türkischen Germanistikzeitschriften (Studien zur deutschen Sprache und Literatur; Ege Forschungen zur deutschen Sprache und Literatur) veröffentlicht wurden. Die Texte werden mit den Kriterien von Swales (1990), Busch-Lauer (2001), Graefen/ Thielmann (2007), Thielmann (2009) und Szurawitzki (2011) analysiert. Auf der Textanalyse beruhend werden die gemeinsamen und unterschiedlichen Merkmale literaturwissenschaftlicher Artikel von deutschen und türkischen Germanisten dargestellt. Aus dieser kontrastiven Studie resultiert, dass die Gestaltung literaturwissenschaftlicher Artikel sowohl von der Fachdisziplin als auch von der jeweiligen Sprach- und Wissenschaftskultur geprägt wird. 1 Einleitung Seit Anfang der 1990er Jahre ist die Anzahl textlinguistischer Analysen und Vergleiche über akademische Textsorten erheblich gestiegen. Im Fokus dieser Studien stehen naturwissenschaftliche Disziplinen wie Medizin, Biologie, Chemie, Physik und sozialwissenschaftliche Disziplinen wie Linguistik, Betriebswirtschaft, Psychologie, Soziologie. Dagegen liegen sehr wenige textlinguistische und kontrastive Analysen über literaturwissenschaftliche Artikel vor. <?page no="272"?> Canan Şenöz-Ayata 260 Aus diesem Grund hat dieser Beitrag zum Ziel, den Textaufbau, besonders Einleitungs- und Schlussteile von literaturwissenschaftlichen Artikeln in deutschen und türkischen Germanistikzeitschriften mit textlinguistischen Kriterien zu analysieren und miteinander zu vergleichen 1 . Diese kontrastive Analyse untersucht, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede die wissenschaftlichen Artikel deutscher und türkischer Germanisten aufweisen. Zugleich wird der Frage nachgegangen, inwieweit die analysierten Texte von der Wissenschaftsdisziplin und von der Sprachkultur des jeweiligen Landes geprägt werden. In dieser Studie vertrete ich These, dass bei der Gestaltung von literaturwissenschaftlichen Artikeln deutscher und türkischer Germanisten sowohl die Wissenschaftsdisziplin als auch die jeweilige Sprach- und Wissenschaftskultur eine Rolle spielen. Zuerst wird ein kurzer Überblick über die interdisziplinären und interkulturellen Studien zur Textsorte ‚wissenschaftlicher Artikel‘ gegeben. Danach werden das Analysekorpus und die Methode der Arbeit sowie die Ergebnisse der kontrastiven Textanalyse dargestellt. Im Schlussteil werden die Analyseergebnisse und Textvergleiche im Hinblick auf die aufgeworfene These bewertet und interpretiert. 2 Interdisziplinäre und interkulturelle Differenzen Zahlreiche kontrastive Studien legen dar, dass Wissenschaftstexte interdisziplinäre und interkulturelle Differenzen aufweisen (Busch-Lauer 2001; Graefen/ Thielmann 2007; Breitkopf/ Vassileva 2007; Dervin/ Suamelo-Salmi 2009; Bondi 2009; Thielmann 2009; Szurawitzki 2011). Die von Swales (1990) für englischsprachige Wissenschaftstexte festgestellte IMRD-Struktur (Introduction-Methods-Results-Discussion) 2 bildet die Basis für viele interdisziplinäre und interkulturelle Studien. Die Ergebnisse interdisziplinärer Untersu- 1 Dieser Beitrag ist in Anlehnung an die kontrastiven Analysen über verschiedene akademische Textsorten, die in meinem Doktorandenseminar an der Universität Istanbul durchgeführt wurden, entstanden. An dieser Stelle möchte ich den Doktorandinnen İrem Atasoy und Erika Verešová meinen Dank aussprechen, weil sie teilweise mit ihren Textanalysen und Textvergleichen sowie mit ihren Fragen zur Entstehung dieses Artikels einen Beitrag geleistet haben. Weiterhin danke ich meinem Kollegen, dem DAAD-Lektor Robert Wegener, für seine kritischen Kommentare zu diesem Beitrag und meiner Kollegin Gülay Heppınar für ihre Hilfe bei der Formatierung dieses Textes. 2 Die IMRD-Sruktur von Swales wurde in einigen Publikationen über Wissenschaftstexte, z.B. in den Studien von Busch-Lauer (2001) und Thielmann (2009), auch als IMRAD- Struktur (Introduction-Methods-Results and Discussion) bezeichnet. <?page no="273"?> Vergleich literaturwissenschaftlicher Artikel in Germanistikzeitschriften 261 chungen zeigen, dass wissenschaftliche Artikel hauptsächlich in den Naturwissenschaften, aber auch zum Teil in den Sozialwissenschaften der IMRD- Struktur folgen (vgl. Trumpp 1998; Busch-Lauer 2001; Breitkopf/ Vassileva 2007; Graefen/ Thielmann 2007; Thielmann 2009; Bondi 2009). Im Folgenden sind einige wichtigen Ergebnisse dieser Studien zu nennen: Aus der kontrastiven Studie von Busch-Lauer (2001) geht hervor, dass wissenschaftliche Artikel in der Medizin und in der Linguistik sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede enthalten. In der Medizin folgen wissenschaftliche Artikel der IMRD-Struktur. Die Teiltexte sind durch Zwischentitel gegliedert. Diese Struktur kommt auch in den Linguistik-Artikeln vor, welche auf empirischen Untersuchungen beruhen. Dagegen bestehen die linguistischen Originalarbeiten, welche den Charakter von erörternden Fachartikeln haben, vorwiegend aus einer Abfolge aus Einleitung, Hauptteil und Schluss (Busch-Lauer 2001: 291). In Parallelität dazu stellt Bondi (2009: 86) in ihrer Analyse über englische und italienische Artikel aus der Betriebswissenschaft sowie der Geschichtswissenschaft fest, dass betriebswissenschaftliche Artikel ebenfalls die IMRD- Struktur enthalten. Hingegen ist in der Geschichtswissenschaft eine andere Struktur, nämlich die oben erwähnte Dreiteilung, vorzufinden. Diese beiden Studien verdeutlichen, dass die Textgestaltung in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen hinsichtlich des Kommunikationsgegenstands und der verwendeten Forschungsmethoden Unterschiede aufzeigt. Aus der interkulturellen Perspektive ergibt die Untersuchung von Breitkopf/ Vassileva (2007), dass Wissenschaftstexte von angelsächsischen und westeuropäischen Akademikern oft eine einheitliche IMRD-Struktur besitzen. Hingegen folgen die meisten Artikel osteuropäischer (russischer, bulgarischer, tschechischer und polnischer) Wissenschaftler nicht dem Gliederungsmuster IMRD. Zudem fehlen in den Einleitungen russischer Artikel oft deutliche Formulierung der Zielsetzung und Ankündigungen des allgemeinen Themas, wie sie in der westlichen Diskurstradition üblich sind. Außerdem enthalten die Texte russischer Autoren nicht immer präzise Schlussfolgerungen und keine markierte Gliederung in Form von Kapitelüberschriften (vgl. Vassileva/ Breitkopf 2007: 215; Tscherniavskaia 2010: 154). Es ist ferner der Umstand zu berücksichtigen, dass dieselbe Textgliederung in verschiedenen Sprachen nicht allein ausschlaggebend ist, da die Wissensbearbeitung in den gleichen Textteilen anders gestaltet werden kann. In dieser Hinsicht legt Thielmann (2009) in seiner Studie über Einleitungen englischer und deutscher Fachzeitschriftenartikel aus den verschiedenen Disziplinen wie Medizin, Biologie, Chemie Physik, Linguistik, Soziologie, Psychologie, Philosophie und Musikwissenschaft dar, dass Wissensbearbeitung in den deutsch- und englischsprachigen Einleitungen anders aus- <?page no="274"?> Canan Şenöz-Ayata 262 geführt wird. Die englische Einleitung besitzt eine lineare Makro- und Mikrostruktur sowie eine starke Kohärenz, da darin kohäsive lesesteuernde Elemente (Advance Organizers) verwendet werden, um das Textverständnis zu erleichtern (Thielmann 2009: 76). Hingegen weist die deutsche Einleitung eine nicht-lineare Makrostruktur auf. 3 Denn sie besteht aus Teiltextsegmenten, die nicht durch sprachliche Mittel, z.B. durch Advance Organizers, explizit miteinander verbunden sind, sondern durch das Handlungsmuster des Begründens miteinander in Beziehung gesetzt werden. Die Begründungsschritte sind an der Absatzstruktur erkennbar. Einleitungsteile geisteswissenschaftlicher Artikel haben im Deutschen oft die folgende drei-schrittige Begründungsstruktur: „Problematik“ - „mit dieser Problematik befasste Forschung, die als defizient dargestellt wird“ - „das eigene Vorhaben“ (vgl. Graefen/ Thielmann 2007: 80; Thielmann 2009: 76). Somit ist das Handlungsmuster des Begründens für deutsche Einleitungen gattungskonstitutiv geworden, da der Leser das Verhältnis der Teiltextsegmente zueinander aufgrund seines Gattungswissens erschließt. Aus diesem Grund sind die englischen Artikel deutscher Akademiker für englische Wissenschaftler schwer verständlich, wenn die deutschen ihre Texte nach dem deutschen Muster verfassen. 3 Analyse und Vergleich Im Folgenden werden die disziplinspezifischen Eigenschaften von literaturwissenschaftlichen Artikeln, welche in deutschen und türkischen Germanistikzeitschriften publiziert wurden, dargestellt. Gleichzeitig wird ein interkultureller Vergleich zwischen den analysierten Artikeln von deutschen und türkischen Germanisten durchgeführt. 3.1 Korpus und Methode Bei der Untersuchung des Textaufbaus, vor allem der Einleitungs- und Schlussteile von literaturwissenschaftlichen Artikeln, wurden die Analysekriterien von Swales (1990), Busch-Lauer (2001), Graefen/ Thielmann (2007), Thielmann (2009), Szurawitzki (2011) angewandt. Das Analysekorpus besteht aus 20 literaturwissenschaftlichen Artikeln, die in den begutachteten deutschen und türkischen Germanistikzeitschriften im Zeitraum 2009—2013 veröffentlicht wurden. Die Texte der deutschen 3 Die Nichtlinearität in der deutschen Einleitung ist mit textuellen Merkmalen deutschen wissenschaftlichen Schreibens verbunden (Thielmann 2009: 78). <?page no="275"?> Vergleich literaturwissenschaftlicher Artikel in Germanistikzeitschriften 263 Germanisten 4 wurden aus der Zeitschrift für deutsche Philologie, die jährlich vier Mal erscheint, entnommen. Im Unterschied dazu sind die Artikel von türkischen Germanisten aus zwei verschiedenen türkischen Germanistikzeitschriften, nämlich aus der Germanistikzeitschrift der Istanbul Universität Studien zur deutschen Sprache und Literatur und aus der Germanistikzeitschrift der Ege Universität, Ege Forschungen zur deutschen Sprache und Literatur, ausgewählt, da die beiden Zeitschriften im Jahr nur zwei Ausgaben haben und der Anteil türkischer Germanisten im untersuchten Zeitraum relativ gering ist. In Bezug auf die Textauswahl ist zu bemerken, dass ausschließlich Artikel von habilitierten oder promovierten Akademikern als Untersuchungsgegenstand in das Korpus übernommen wurden, da solche Texte die geltenden Normen in der jeweiligen Diskursgemeinschaft besser widerspiegeln, denn die Promotion und Habilitation lassen sich als Nachweis einer erfolgreichen Adaption der jeweils herrschenden Diskursnormen auffassen. Die Publikationssprache von türkischen Germanisten ist meistens Deutsch. Am Anfang dieser Untersuchung hatte ich ursprünglich vor, nur die deutschsprachigen Artikel türkischer Germanisten zu analysieren. Aber ich konnte diese Absicht wegen des bereits erwähnten Kriteriums für die Autorenwahl nicht verwirklichen. Da ein Teil der promovierten oder habilitierten Autoren Türkisch als Publikationssprache verwendet, liegen im Analysekorpus 6 von 10 Texten in deutscher und 4 Texte in türkischer Sprache vor. 3.2 Vergleich der Analyseergebnisse Im Folgenden werden die Ergebnisse dieser textlinguistischen Untersuchung dargestellt und verglichen. Somit werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den literaturwissenschaftlichen Artikeln deutscher und türkischer Germanisten aufgezeigt und interpretiert. 3.2.1 Textaufbaupläne Das Aufbauschema von literaturwissenschaftlichen Artikeln weicht von der IMRD-Struktur von Swales ab, welche in den anderen Wissenschaftsdisziplinen wie Medizin, Betriebswirtschaft, Linguistik etc. dominiert. Die Analyse- 4 Im Internet wurde zu den Autoren der deutschen Germanistikzeitschrift recherchiert. Dadurch wurde zu sämtlichen Informationen über ihre akademische Ausbildung und ihren Titel gelangt. Alle Autoren der analysierten Artikel aus der Zeitschrift für deutsche Philologie haben in Deutschland Germanistik studiert. Weiterhin sind die meisten von ihnen an deutschen Universitäten tätig. <?page no="276"?> Canan Şenöz-Ayata 264 ergebnisse über die Makrostruktur literaturwissenschaftlicher Artikel werden unten schematisch veranschaulicht: Textteile deutsche Zeitschrift türkische Zeitschriften Abstract Ziel angegeben Ziel nicht angegeben Ziel angegeben Ziel nicht angegeben 7 Texte 3 Texte 7 Texte 3 Texte Einleitung vorhanden nicht vorhanden vorhanden nicht vorhanden 9 Texte 1 Text 7 Texte 3 Texte Hauptteil 10 Texte 10 Texte mit Zwischentiteln gegliedert 4 Texte 1 Text mit römischen Ziffern gegliedert 3 Texte ___ nicht gegliedert 3 Texte 9 Texte Schlussteil vorhanden nicht vorhanden vorhanden nicht vorhanden 7 Texte 3 Texte 7 Texte 3 Texte Abb. 1: Textaufbaupläne literaturwissensch. Artikel in Germanistikzeitschriften Aus Abb. 1 ist Folgendes zu entnehmen: Die analysierten literaturwissenschaftlichen Artikel besitzen mehrheitlich eine dreiteilige Aufsatzstruktur und bestehen im Allgemeinen aus Einleitung, Hauptteil und Schluss. Einige analysierte Artikel enthalten keine explizit oder implizit feststellbaren Einleitungs- oder Schlussteile 5 . In einem Artikel eines deutschen und in 3 5 In Anlehnung an das Beschreibungsmodell von Szurawitzki (2011) werden als Analysekriterien die Begriffe ‚explizit‘ und ‚implizit‘ verwendet. Szurawitzki hat eine funktional-deskriptive Analyse für die Beschreibung der thematischen Einstiege deutscher und finnischer Artikel aus den linguistischen Zeitschriften durchgeführt und dafür ein Beschreibungsmodell entwickelt. In seinem Beschreibungsmodell hat er mit den Kriterien ‚explizit‘ und ‚implizit‘ untersucht, ob „der thematische Einstieg explizit als solcher gekennzeichnet ist oder ob er nicht eindeutig als solcher kenntlich gemacht wird“ (Szurawitzki 2011: 63). Diese Kriterien wurden von ihm bei der Feststellung der anderen Teiltextsegmente wie ‚Konkretisierung des Themas‘, ‚Angabe des Territoriums‘ und ‚Formulierung des Ziels‘ angewandt, um herauszufinden, ob in den analysierten thematischen Einstiegen diese inhaltlichen Komponenten explizit auftreten oder implizit vorhanden sind (vgl. Szurawitzki 2011: 65). Das Modell von Szurawitzki ermöglicht, „mit einer immanenten Flexibilität unterschiedliche Strukturen thematischer Einstiege <?page no="277"?> Vergleich literaturwissenschaftlicher Artikel in Germanistikzeitschriften 265 deutschsprachigen Artikeln von türkischen Germanisten sind keine Einleitungsteile vorzufinden. Außerdem sind in 3 Texten aus der deutschen Germanistikzeitschrift und in 3 Texten aus den türkischen Germanistikzeitschriften keine Schlussteile vorhanden. Wenn man die Textgliederung der analysierten Artikel näher betrachtet, fällt sofort ein wesentlicher Unterschied auf. Die Artikel von deutschen Germanisten (7 Texte) sind entweder mit römischen Ziffern oder mit Zwischentiteln gegliedert. Dagegen wurden in den türkischen Germanistikzeitschriften nur in einem Artikel Zwischentitel verwendet. Der Grund dieses Unterschieds könnte darin bestehen, dass im türkischen literaturwissenschaftlichen Diskurs die Verwendung von Zwischentiteln selten vorgenommen wird. Das beeinflusst ebenfalls die Gestaltung der deutschsprachigen literaturwissenschaftlichen Artikel von türkischen Germanisten. Es ist anzumerken, dass dagegen in deutsch- und türkischsprachigen Linguistik-Artikeln der hier ausgewählten türkischen Germanistikzeitschriften Zwischentitel häufiger vorkommen. Auf den Aufbau der linguistischen Artikel von türkischen Germanisten übt der angloamerikanische Wissenschaftsstil einen weitgehenden Einfluss aus, was auch für Artikel deutscher Linguisten der Fall ist (Şenöz-Ayata 2009: 144). Im Bereich der Literaturwissenschaft scheint die Gliederung der Texte von türkischen Germanisten nicht unter einem starken Einfluss der deutschen Germanistik zu stehen. Darüber hinaus ergibt die Analyse, dass die Einleitungsteile literaturwissenschaftlicher Artikel aus beiden Kulturen im Unterschied zu anderen Fachdisziplinen nicht explizit als ‚Einleitung‘ benannt werden. Wenn die Artikel gegliedert sind, befindet sich der Einleitungsteil unter der römischen Ziffer ‚I‘ oder unter dem ersten Zwischentitel (z.B. „Kleine Form: Theoretische Prämissen“), der die thematische Progression des Textes verdeutlicht (Öhlschläger 2009: 261). Ein weiteres Ergebnis ist, dass die Schlussteile der analysierten Texte nicht explizit als solche bezeichnet worden sind. Im Analysekorpus befinden sich unter den 20 Texten nur 2, in denen die Autoren den Schlussteil mit den Zwischentiteln ‚Fazit‘ und ‚Schlussbemerkung‘ expliziert haben. Einer dieser Texte stammt von einem deutschen, der andere von einem türkischen Germanisten. Außerdem wurde der Schlussteil in einigen Artikeln nur mit bestimmten sprachlichen Formen gekennzeichnet. Zum Beispiel: zu beschreiben“ (Szurawitzki 2011: 66). Aus diesem Grund wird in diesem Beitrag, welcher die Einleitungs- und Schlussteile literaturwissenschaftlicher Artikel von deutschen und türkischen Germanisten strukturell und inhaltlich analysiert, von seinem Modell Gebrauch gemacht. <?page no="278"?> Canan Şenöz-Ayata 266 „Wir sind damit fast am Ende unseres Durchgangs durch das ‚Positano‘- Gedicht angelangt.“ (Sprengel 2010: 249) In diesem Beispiel bezieht der Autor mit dem Personalpronomen wir die Leser in seinen Textproduktionsprozess ein und veranschaulicht durch die Anwendung des metaphorischen Ausdrucks am Ende unseres Durchgangs durch das ‚Positano‘-Gedicht angelangt, dass er seinen Artikel bald beenden wird. Im Folgenden werde ich auf die Teiltextsegmente, welche in den Einleitungs- und Schlussteilen der analysierten literaturwissenschaftlichen Artikel vorhanden sind, sowie deren Vorkommenshäufigkeit und Anordnung eingehen. 3.2.1.1 Einleitungsteile Zuerst werde ich die Analyseergebnisse über die Einleitungsteile darstellen: Teiltextsegmente deutsche Zeitschrift türkische Zeitschriften Einführung ins Thema 8 5 Erklärungen über das behandelte Werk 5 9 Ziel des Artikels 4 4 Ziel in Form von Fragestellungen angeben 3 2 Aufbau des Artikels 4 1 Bezug auf den Forschungsstand 3 1 Problem nennen 3 ____ These aufwerfen 2 ____ Methode oder Vorgehensweise des Verfassers 2 2 Abb. 2: Analyseergebnisse über die Einleitungsteile Wie in Abb. 2 ersichtlich ist, kommen in den Artikeln von deutschen und türkischen Germanisten ähnliche Teiltextsegmente vor. Allerdings können ihr Vorhandensein und ihre Anordnung in den analysierten Einleitungen variieren. Somit zeigen die Einleitungen literaturwissenschaftlicher Artikel in beiden Wissenschaftskulturen keine standardisierte Form auf. Diese nicht standardisierte Gestaltungsform wird stark durch die jeweilige Fachdisziplin, in diesem Fall durch die Literaturwissenschaft, geprägt. Wie in vielen anderen Wissenschaftsdisziplinen festgestellt wird, kommen in den Einleitungen der analysierten Texte ‚Angaben über das Ziel‘ häufig vor. Die Zielangabe ist nicht immer explizit vorhanden. Aus diesem <?page no="279"?> Vergleich literaturwissenschaftlicher Artikel in Germanistikzeitschriften 267 Grund wird in machen Einleitungsteilen (in 3 Texten von deutschen Germanisten und in 2 Texten von türkischen Germanisten) das Ziel des Artikels nicht direkt angegeben, sondern durch Fragestellungen verdeutlicht. Der Leser orientiert sich im Artikel mit Hilfe der Fragen und erfährt dadurch, was im Artikel behandelt wird. Außerdem spielt das Abstract bei der Rezeption des literaturwissenschaftlichen Artikels eine wichtige Rolle. In den ausgewählten deutschen und türkischen Germanistikzeitschriften wurde das Abstract dem Artikeltext vorangestellt. Das Ziel und die Vorgehensweise des Verfassers werden in manchen Artikeln (in 2 Artikeln aus der deutschen und in 1 Artikel aus der türkischen Germanistikzeitschrift) nur im Abstract angegeben. In diesen Texten wird das Ziel nicht wieder in der Einleitung erwähnt oder verdeutlicht. Auch in Bezug auf die Analyseergebnisse anderer Korpora kann konstatiert werden, dass das Abstract in literaturwissenschaftlichen Artikeln einige Funktionen des Einleitungsteils übernommen hat (Şenöz-Ayata 2014: 208). Aus diesem Grund wäre es für die Rezeption literaturwissenschaftlicher Artikel wichtig, das Abstract zuerst zu lesen und danach mit der Lektüre des Artikels zu beginnen. Andernfalls können dem Leser wichtige rezeptionsleitende Informationen entgehen. Die Teiltextsegmente ‚Bezug auf den Forschungsstand‘ und ‚Informationen über den Aufbau des Artikels‘ kommen in den Einleitungsteilen der analysierten literaturwissenschaftlichen Artikel im Vergleich zu naturwissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Disziplinen weniger vor. In den Einleitungen literaturwissenschaftlicher Artikel wird das behandelte Thema seltener mit dem Forschungsstand in Verbindung gesetzt. Allerdings werden im Hauptteil der Artikel häufig Zitate aus dem behandelten Werk oder andere Literaturverweise verwendet und Vergleiche mit anderen literarischen Werken durchgeführt, um die eigene Analyse und Interpretation abzusichern. Des Weiteren sind interkulturelle Unterschiede festzustellen. Während das Teiltextsegment ‚Einführung ins Thema‘ fast in allen Einleitungsteilen der analysierten Artikel von deutschen Germanisten (in 8 Texten) vorkommt, ist es lediglich in 5 Texten von türkischen Germanisten vorzufinden. Dagegen beginnen die Texte 6 von türkischen Germanisten oft mit den Erklärungen über das behandelte Werk und den Autor. Die deutschen Germanisten wiederum neigen dazu, zuerst einen theoretischen oder inhaltlichen Rahmen zu bilden und danach die Informationen zum Autor und Werk in diesen Rahmen einzuordnen. Im Unterschied dazu befindet sich in 5 Einlei- 6 Im Analysekorpus beginnen 9 Artikel von türkischen Germanisten mit ‚den Erklärungen über das behandelte Werk und den Autor‘. <?page no="280"?> Canan Şenöz-Ayata 268 tungen aus den türkischen Germanistikzeitschriften eine ähnliche Gestaltung des Textinhalts. Darüber hinaus kommen die Teiltextsegmente wie ‚Probleme nennen‘ und ‚Thesen aufwerfen‘ nur in den Texten von deutschen Germanisten (insgesamt in 5 Texten) vor. Diese inhaltlichen Komponenten treten in den analysierten Artikeln aus den türkischen Germanistikzeitschriften nicht auf. Bei der Analyse von Schlussteilen werde ich auf diese Teiltextsegmente ausführlicher eingehen, weil sie mit den inhaltlichen Komponenten in Schlussteilen eng verbunden sind. Auch im Hinblick auf das Teiltextsegment ‚Aufbau des Artikels‘ sind Unterschiede zwischen den deutschen und türkischen Germanistikzeitschriften zu konstatieren. In der deutschen Zeitschrift ist dieses Teiltextsegment häufiger (in 4 Texten) als in den türkischen Zeitschriften (nur in 1 Text) vorhanden. Die deutschen Germanisten geben den Lesern in ihren Artikeln mehr Orientierungshilfen, um ihren Rezeptionsprozess besser steuern zu können. 3.2.1.2 Schlussteile Die unten stehende Tabelle stellt dar, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede die Schlussteile der analysierten literaturwissenschaftlichen Artikel aufzeigen: Teiltextsegmente deutsche Zeitschrift türkische Zeitschriften Interpretation der Analyseergebnisse 7 5 Beantwortung der im Einleitungsteil oder im Titel aufgeworfenen Fragen 3 _____ Bestätigung eigener Ergebnisse oder Interpretation in Bezug auf den Forschungsstand 3 _____ Lösung des in der Einleitung genannten Problems 3 _____ Bewertung des Autors oder des Romans 3 2 Bestätigung der in der Einleitung genannten These 2 _____ wiederholte Erwähnung des Artikelthemas 2 2 wiederholte Erwähnung des Ziels 1 1 mit einem Zitat beendet 1 3 Abb. 3: Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Schlussteile <?page no="281"?> Vergleich literaturwissenschaftlicher Artikel in Germanistikzeitschriften 269 Aus Abb. 3 lässt sich entnehmen, dass das Teiltextsegment ‚Interpretation der Analyseergebnisse‘ in Schlussteilen der analysierten Artikel (in 7 Texten von deutschen und in 5 Texten von türkischen Germanisten) häufig vorkommt. Weiterhin weisen die Vorkommenshäufigkeit und die Anordnung der Teiltextsegmente in Schlussteilen keine feste Struktur auf. Das hängt wiederum von der jeweiligen Fachdisziplin ab. Als eine weitere fachspezifische Gemeinsamkeit ist zu erwähnen, dass sich in einigen literaturwissenschaftlichen Artikeln keine Schlussteile (in 3 Texten aus den türkischen Germanistikzeitschriften und in 1 Text aus der deutschen Zeitschrift) befinden oder anstelle eines Schlussteils ein abschließender Teil (in 2 Texten von deutschen Germanisten) vorhanden ist. In diesem Zusammenhang ist das folgende Beispiel aus der Zeitschrift für deutsche Philologie zu nennen: Öhlschläger (2009: 265) hat im Einleitungsteil ihres Artikels Informationen über den Textaufbau vermittelt. Wie im folgenden Zitat zu sehen ist, informiert die Verfasserin die Leser darüber, dass ihr Artikel keinen Schluss, sondern einen abschlieβenden Teil enthält: Ein kurzer Überblick über die Genese der kleinen Form 1900, wie sie sich im Kontext der Ornamentdebatte und in Folge der Entwicklung des literarischen Feuilletons vollzieht, wird zu der Frage überleiten, auf welche Weise die Modellierung irritierender, Normalität destabilisierender Wahrnehmungserfahrungen in ausgewählten kleinen Prosastücken von Robert Musil und Heiner Müller erfolgt. Ein abschließender Teil über Michael Köhlmeiers Neuerscheinung ‚Idylle mit ertrinkendem Hund‘ (2008) zeigt, dass die kleine Prosaform sich aufgrund ihrer sowohl formalen wie auch qualitativen Unbestimmtheit dazu geeignet, den existenziellen Themen Tod und Trauer eine Darstellungsform zu geben, die zugleich die Schwierigkeit ihrer literarischen Repräsentation reflektiert. (Öhlschläger 2009: 265; Hervorhebung: C.Ş-A.) In dem obigen Zitat wurde erklärt, dass der vorliegende Artikel mit der Analyse und Interpretation des kleinen Prosastücks von Michael Köhlmeier (‚Idylle mit ertrinkendem Hund‘) beendet wird. Wenn man den ganzen Text in Betracht zieht, sind die Analyse und Interpretation dieses Prosastücks sowohl mit der dargestellten theoretischen Grundlage in der Einleitung als auch mit der Erklärung dieser kleinen Form im Hauptteil eng verbunden. Der Artikel hat keinen üblichen Schlussteil, sondern einen langen abschließenden Teil. An diesem Beispiel wird veranschaulicht, dass literaturwissenschaftliche Artikel semantisch und logisch gut aufgebaut werden können, auch wenn sie der IMRD-Struktur von Swales nicht ganz entsprechen. Neben diesen fachspezifischen Gemeinsamkeiten sind folgende kulturell geprägten Unterschiede festzustellen: In der deutschen Germanistikzeitschrift enthalten Schlussteile in Übereinstimmung mit Einleitungsteilen die <?page no="282"?> Canan Şenöz-Ayata 270 Teiltextsegmente wie ‚Beantwortung der im Einleitungsteil oder im Titel aufgeworfenen Fragen‘ (in 3 Texten), ‚Bestätigung eigener Ergebnisse oder Interpretation in Bezug auf den Forschungsstand‘ (in 3 Texten), ‚Lösung des in der Einleitung genannten Problems‘ (in 3 Texten) und ‚Bestätigung der in der Einleitung genannten These‘ (in 2 Texten). In dieser Hinsicht bilden die Einleitungs- und Schlussteile der analysierten Artikel aus der deutschen Germanistikzeitschrift häufig einen Rahmen, was in den analysierten Texten türkischer Germanisten seltener der Fall ist. Im Analysekorpus ist diese Rahmenstruktur nur in 3 Artikeln von türkischen Germanisten vorzufinden. 4 Schlussbemerkungen Diese Studie über literaturwissenschaftliche Artikel in deutschen und türkischen Germanistikzeitschriften hat meine These, dass die Gestaltung literaturwissenschaftlicher Artikel sowohl von der Fachdisziplin als auch von der jeweiligen Sprach- und Wissenschaftskultur geprägt wird, bestätigt. Da das Analysekorpus klein ist, können die erzielten Ergebnisse nicht verallgemeinert werden. Sie können aber als Ausgangspunkt für weitere vertiefende Studien über literwissenschaftliche Artikel dienen. Die Analyseergebnisse haben gezeigt, dass die Textaufbaupläne literaturwissenschaftlicher Artikel von der IMRD-Struktur in Natur- und Sozialwissenschaften abweichen. In Übereinstimmung mit den Forschungsergebnissen von Busch-Lauer (2001) und Bondi (2009) haben das Thema der Untersuchung sowie die verwendete hermeneutische Methode einen starken Einfluss auf die Gestaltung literaturwissenschaftlicher Artikel im Bereich der Germanistik. Die analysierten Texte aus beiden Kulturräumen enthalten gemeinsame fachspezifische Eigenschaften, da sie ähnliche Textaufbaupläne aufweisen. Die Vorkommenshäufigkeit und Anordnung der Teiltextsegmente sind in den Einleitungs- und Schlussteilen der analysierten Texte sehr variabel. Deswegen besitzen sie keine stark standardisierten Formen. Außerdem sind in manchen literaturwissenschaftlichen Artikeln aus beiden Wissenschaftskulturen keine Einleitungs- und Schlussteile vorhanden. Wenn diese Textteile existieren, sind sie im Allgemeinen nicht explizit als ‚Einleitung‘ und ‚Schlussbemerkungen‘ bezeichnet worden. Ferner konnten folgende interkulturelle Differenzen festgestellt werden: Während die Einleitungs- und Schlussteile in der deutschen Germanistikzeitschrift in Verbindung zueinander und zum Hauptteil oft einen Rahmen bilden, kommt diese Rahmenstruktur in den türkischen Germanistikzeitschriften weniger vor. Zudem wird in der deutschen Germanistikzeitschrift die thematische Progression des Artikels sehr häufig in Form von Zwischen- <?page no="283"?> Vergleich literaturwissenschaftlicher Artikel in Germanistikzeitschriften 271 titeln auf der Textoberfläche angezeigt. Dagegen werden in den Artikeln von türkischen Germanisten Zwischentitel selten verwendet. Der Grund dieser Unterschiede kann darin bestehen, dass die Produktion von literaturwissenschaftlichen Artikeln im Bereich der Germanistik eher von der jeweiligen Sprach- und Wissenschaftskultur geprägt wird. In Zusammenhang damit legte die kontrastive Analyse dar, dass türkische Germanisten das Wissen in ihren literaturwissenschaftlichen Artikeln anders als deutsche Germanisten bearbeiten. Die Verwendung der deutschen oder türkischen Sprache hat in den analysierten Texten von türkischen Germanisten zu keinem bemerkenswerten Unterschied geführt, weil sie ihre deutschsprachigen Artikel meist dem türkischen Wissenschaftsdiskurs und den Schreibtraditionen der eigenen Kultur entsprechend produzieren. Abschließend ist zu bemerken, dass die kontrastiven und textlinguistischen Studien zur besseren Kommunikation zwischen den deutschen und türkischen Germanisten dienen können. Die Analyse hat nachgewiesen, dass für die Publikation in deutschen Germanistikzeitschriften allein gute Sprachkenntnisse nicht ausreichend sind. Wenn türkische Germanisten über Kenntnisse zu den kulturell geprägten Differenzen verfügen, können sie ihre literaturwissenschaftlichen Artikel dementsprechend gestalten. In dieser Hinsicht hätten sie bessere Chancen für die Veröffentlichung ihrer Texte in deutschen Zeitschriften. Für deutsche Germanistikzeitschriften lässt sich aus den Analyseergebnissen die Empfehlung ableiten, dass Mitglieder des Herausgeberkomitees und Gutachter die Artikel, welche vom deutschen Germanistikdiskurs abweichen, nicht sofort ablehnen, sondern den ausländischen Germanisten Hinweise darüber geben, wie sie ihre Texte dem deutschen Wissenschaftsdiskurs angemessen verfassen können. Quellen I: Artikel aus der Zeitschrift für deutsche Philologie Beck, Andreas (2012): Schluss mit dem Mord-Komplex! Überlegungen zur geschlossenen Form und zum möglichen Ende des „Woyzeck“. In: Zeitschrift für deutsche Philologie, Nr. 4, S. 537—552. Haas, Claude (2009): Die Zeit der Aufrichtigkeit. Rousseaus „La Nouvelle Hèloïse“ und Goethes „die pilgernde Törin“. In: Zeitschrift für deutsche Philologie, Nr. 4, S. 481—494. Hahn, Marcus (2013): Können Offiziere Fliegen? Die Drogen, das Wissen und die Literatur: Ernst Jüngers „Annäherungen“ (1970). In: Zeitschrift für deutsche Philologie, Nr. 4, S. 577—610. Krings, Marcel (2011): Der Tod ein Traum. Methode und Grenzen der Literatur in Kafkas Erzählung „Ein Traum“. In: Zeitschrift für deutsche Philologie, Nr. 2, S. 197— 216. <?page no="284"?> Canan Şenöz-Ayata 272 Öhlschläger, Claudia (2009): Poetik und Ethik der kleinen Form: Franz Kafka, Robert Musil, Heiner Müller, Michael Köhlmeier. In: Zeitschrift für deutsche Philologie, Nr. 2, S. 261—279. Sprengel, Peter (2010): Exil in Positano. Gerhart Hauptmanns lyrisches Denkmal für Essad Bey. In: Zeitschrift für deutsche Philologie, Nr. 2, S. 239—251. Streim, Gregor (2009): Die „Wollust des Schmerzes“ und die „Qual des Henkers“. Allusionen auf die imitatio Christi in Büchners Revolutionsdrama „Dantons Tod“. In: Zeitschrift für deutsche Philologie, Nr. 4, S. 511—529. Von Arburg, Hans-Georg (2013): Die Lehre der Philomele. Nachdenken über Philologie nach Karl Philipp Moritz. In: Zeitschrift für deutsche Philologie, Nr. 4, S. 499— 520. Tonger-Erk, Lily (2012): „Die Fakten Lügen strafen“. Zur Ambiguität des Autobiographischen in Günter Grass′ „Beim Häuten der Zwiebel“. In: Zeitschrift für deutsche Philologie, Nr. 4, S. 571—590. Wessels, Antje (2012): „Daphnisches Unternehmen“. Über das Verhältnis von Kunst und Politik in den Debatten der 60er Jahre und bei Günter Kunert. In: Zeitschrift für deutsche Philologie, Nr. 2, S. 227—249. Quellen II: Artikel aus den türkischen Germanistikzeitschriften Aksan, Yücel (2009): Macht unterliegt Liebe oder unterliegt Liebe der Macht? Vater- Tochter-Beziehung in Lion Feuchtwangers Roman „Jefta und seine Tochter“. Ege Forschungen zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, Nr. 8, S. 1—16. Aksan, Yücel (2011): Anna Seghers „Das Siebte Kreuz“. Alltag in Deutschland während des nationalsozialistischen Regiemes. Ege Forschungen zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, Nr. 9, S. 1—13. Ayhan-Erdoğan, Canan (2010): Die Dialektik der Aufklärung in Alfred Döblins Roman „Berge, Meere und Giganten“. In: Studien zur deutschen Sprache und Literatur, Nr. 23, S. 17—32. Bağ, Şener (2009): „Der Vorleser“ von Bernhard Schlink als Medium der deutschen Erinnerungskultur. In: Ege Forschungen zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, Nr. 8, S. 17—42. Kızıler, Funda (2012): Christa Wolf’un „Kesinti“ Adlı Yapıtında Nükleer Tehdit Uyarısı. In: Studien zur deutschen Sprache und Literatur, Nr. 27, S. 53—75. Oraliş, Meral (2012): Ingeborg Bachmann'ın „Undine gidiyor“ Öyküsünün Suya Düşen İzleri“. In: Studien zur deutschen Sprache und Literatur, Nr. 27, S. 77—88. Sunar, Şebnem (2009): Babalar ve Oğulları, Oğullar ve Sevgilileri. Franz Kafka ve Babaya Mektup. In: Studien zur deutschen Sprache und Literatur, Nr. 21, S. 31—39. Sunar, Şebnem (2012): Huzursuz Ruhlar Sertifikası: Made in Germany. 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St. Petersburg: Universität für Wirtschaft und Finanzen, S. 144— 159. <?page no="287"?> Wissenschaftssprache Deutsch — interkulturell <?page no="289"?> Rogier Crijns Gütekriterien für Vermittlungstexte in der Eurodebatte? Analyse von Sachverhaltsdarstellungen und argumentativer Begründung von Wirtschaftsexperten in Veröffentlichungen 2010- 2014 Abstract Auffälligkeiten in der Argumentation von Vermittlungstexten in der Eurodebatte waren der Anlass, stilistische Qualitätsaspekte ex negativo zu beschreiben. In Laiendiskursen (z.B. in Sachbüchern und Argumentationskommentaren) werden Metaphern benutzt und Argumentationsmuster aufgebaut. In der Einleitung wird exemplarisch argumentiert, dass Metaphern wegen ihrer Implizitheit und des Mitmeinens zwar zur Charakterisierung gebraucht werden können, jedoch eine sachlich begründete, explizite Argumentation nach Unterpunkten oft nicht ersetzen können. Personalstilistische Eigenheiten entheben Autoren von Vermittlungstexten nicht von der Pflicht, Lageskizzen aus Analysen statt aus verbalen Verdikten abzuleiten. Auch bei einer einseitigen Darstellung sollte die Argumentation in sich stimmen und explizit dargestellt werden. Obwohl für Laiendiskurse die Trennung von Kritik und Sachdarstellung wegen primärer, populistischer Überzeugungsansätze schwierig sein kann, sollten unlautere Argumentationsweisen dort vermieden werden (Braet 1999: 46). Der schreibtechnische Spagat zwischen ‚Sachtext‘ und ‚Kommentar‘ spielt in diese Problematik mit hinein. Dem subjektiven Stil entgegenzusetzen sind im wissensbasierten Stil: die positiv formulierten, allgemeinen Forderungen am Text der Nachvollziehbarkeit (Explizitheit), die Benutzung linguistischer Signale in der Argumentationsstrukturierung (Hyland/ Tse 2004), die Präzision in der Begründung (anderen Positionen gegenüber) und die Forderung nach taktvollen Schlussfolgerungen (Hyland/ Tse 2004: 169). Diese theoretisch begründeten, argumentationstechnischen Konzeptionen (Braet 1999; Hyland/ Tse 2004) werden mit den Beispielen aus Vermittlungstexten (z.B. Flassbeck 2014; Edler 2013; Schmieding 2012) abgeglichen. Daraus lässt sich eine Reihe von allgemeinen, schreibtechnischen Gütekriterien ableiten, deren Weiterentwicklung auf der Basis neuer Textbeispiele möglich bleiben sollte. <?page no="290"?> Rogier Crijns 278 1 Einleitung Innerhalb der Linguistik wurde den Ausformungen von Vermittlungstexten in der Eurodebatte noch kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Unter dem Begriff ‚Vermittlungstext‘ wird hier die Transferleistung von wirtschaftswissenschaftlichen Experten verstanden, ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse in Texten (z.B. in Sachbüchern und Kommentaren) für interessierte Laien fruchtbar zu machen. Teilbereiche dieser Transferleistung, z.B. die Anwendung und Erforschung von brisanten Metaphern in solchen Texten, bilden, was das Forschungsinteresse anbelangt, eine Ausnahme. Innerhalb des Skeptizismus Europa gegenüber erhielt dieses Phänomen viel Aufmerksamkeit. Bereits seit zwei Jahrhunderten wurde die ‚Stigmametapher‘ von dem ‚kranken Mann Europas‘ oft herangezogen und wird bis auf den heutigen Tag verwendet (Schmieding 2012: 12; 15). Dies gilt auch für die ‚Sklerose‘- Metapher, zur Bezeichnung einer „Lähmung, von der diejenigen EU-Länder befallen sind, die an der Währungsunion teilnehmen“ (Musolff 2005: 313). Seit den 1990er Jahren ist der Begriff ‚Eurosklerose‘ europaweit in der Tagespresse zu einem eingebürgerten Begriff gereift (Musolff 2005: 312). Mit ihm ist von einer a priori pejorativen Bestimmung die Rede. Abschätzig verwendete Metaphern werfen die Frage auf, wie wissenschaftliche Autoren im wirtschaftswissenschaftlichen Bereich klarer argumentieren können, ohne an Prägnanz ihres Stils einzubüßen. Dies gilt sowohl für die Darstellungen zu Bestimmungen der EU und deren Währung aus der Perspektive einer Weltwirtschaftslage als auch für die Beschreibung der Folgen für Europa aus der Perspektive eines in sich geschlossenen Spielraums. In Anlehnung an diese Sichtweise verwendet der Wirtschaftsexperte Flassbeck eine Metapher zur Darstellung seiner Position in der Eurodebatte (Flassbeck 2014: 1074). Er versieht die Position seiner fachmännischen Kontrahenten mit der abwertenden Bezeichnung Glasperlenspiel - deren Ursprung im Titel eines Romans von Hermann Hesse liegt. Flassbeck verwendet diese Metapher zur Bestimmung von Ökonomie also als ex-negativo-Argument in der Eurodebatte. Euro und Weltwirtschaft als ein Zusammenwirken geeigneter mikro- und makroökonomischer Bedingungen ohne einen notwendigerweise auftretenden (theoretisch belegbaren) Ausgleichmechanismus, auf dem manche Experten der Wirtschaftslage im Euroraum sich im theoretischen Sinne als Wissenschaftsmodell berufen (Flassbeck 2004: 1074). Zur Kontextualisierung dieser argumentativ eingesetzten Metapher ist hier die Vorprägung als Grundlage zur Darstellung eines wissenschaftlichen Interpretationsrahmens herangezogen. Aus der Argumentation von Flassbeck wird nicht nur die Wahl seiner Metaphorik im Hinblick auf die von ihm begründet attackierte Ricardo-Äquivalenz-Doktrin deutlich. Flassbeck <?page no="291"?> Gütekriterien für Vermittlungstexte in der Eurodebatte? 279 argumentiert mit ‚Glasperlenspiel‘ an zwei Fronten gleichzeitig. Er greift intentionell und indirekt die politisch angeordnete, bundesdeutsche Sparpolitik an und stellt auf ironische Weise den Hintergrund eines nicht-funktionierenden, ökonomischen Äquivalenzmechanismus dar. Indirekt erteilt er mit seiner Metaphernnutzung auf einem Metaniveau der wissenschaftlichen Mainstream-Auffassung zur Lohn- und Sparpolitik eine Absage. Mit der Wahl dieser Bildsprache stellt er außerdem eine Kongruenz zwischen der mit ihr identifizierten Wirtschaftsauffassung und den Vorurteilen der wirtschaftspolitischen Laien her. Kombiniert mit einer vorausgesetzten Laienhaftigkeit in der Eurodebatte wird mit Flassbecks Metaphernnutzung der Niedergang der Wirtschaftswissenschaften ‚bescheinigt‘ und damit zu einem furchtinduzierenden Appell umfunktioniert. Diese argumentativen Implikationen zur eigenen und fremden Positionsbestimmung in einer sachlich zu führenden Eurodebatte werfen die Frage nach allgemeinverständlichen und expliziten Schreibweisen in Experten-Laien-Diskursen in Vermittlungstexten auf. 2 Forschungsfragen zu Stilmerkmalen in Vermittlungstexten Die Fragen, die aus dem obengenannten Präsentations- und Argumentationskontext zum Wissenstransfer entstehen, lauten nun wie folgt: 1. Wie wird eine Metapher in einem wissenschaftlichen Diskurs eingebettet und informativ zum Einsatz gebracht? 2. Sind Metaphern und andere textstrategische Signale der Verständlichkeit im Sinne eines Nachvollziehens argumentativer Verkürzungen zu- oder abträglich? Wann ist von einer Beeinträchtigung des Verstehens die Rede, wann wird schreibtechnisch alles daran gesetzt, dies zu unterbinden? 3. Welche Darstellungsalternativen bieten sich in der Expertenkommunikation an, die sich stärker an einem wissenschaftlichen- oder expliziten Stil anlehnen? 4. Worin überschneiden sich die Anforderungen wissenschaftsdarstellender Diskursformen im Experten-Experten-Transfer vom Experten-Laien-Transfer durch weniger (ab)wertende und mehr argumentative Schreibelemente in Vermittlungstexten? 5. Welche sprachlichen Signale als Ausformungen wertender Darstellungen und argumentativer Schreibschwächen lassen sich in der Eurodebatte unter Experten in Experten-Laien-Diskursen im Vermittlungstexten an welchen Aspekten exemplifizieren? Im Folgenden werden erste Antworten auf diese Fragestellungen gegeben: <?page no="292"?> Rogier Crijns 280 1. Ob im obengenannten Fragerahmen mancherorts von ‚Abweichungslinguistik‘ (Spillner 1974: 32; 33; 115) oder von ‚verdeckten oder öffentlichen Metaphern‘ (Esselborn-Krumbiegel 2010: 14) gesprochen werden muss, erscheint weniger wichtig als die Forderung nach Klarheit mit oder ohne metaphorischem Sprachgebrauch in Vermittlungstexten. Dies gilt im Experten- Expertenals auch im Experten-Laien-Transfer, insbesondere in der Argumentation zu eigenen wissenschaftlichen Positionsdarlegungen. Deswegen wird der Begriff des ‚Vermittlungstextes‘ herangezogen (Wichter 1994; Liebert 1996). Wirtschaftswissenschaftliche Experten informieren interessierte Laien mit folgenden Schreibzielen: a. Transfer von Wissen, d.h. von Fakten, Daten von Belegen und Beweisen, Analysen, Gewichtungen, Interpretationen konstituierten Fakten, Paraphrasierungen, Perspektivik, Meinungen, Darstellungsstrategien u.a. rhetorischer Art; b. Texte für relativ informierte Laien, die eine nachvollziehbare Alltagslogik benutzen (Fragen der Wissenschaftslogik betreffen ein eigenes Forschungsfeld, das hier ausgeklammert wird); c. Die Abgrenzung von Sachverhaltskonstitutionen von nicht-erwartbarer, metareflexiver Zielexplizitierung in ‚Laiendiskurstexten‘ als stilistisches Leistungsproblem. 2. Wissenschaftliche Schreibexperten sprechen sich wegen des Neutralitäts-, Objektivitäts- und Präzisionsanspruchs oft gegen die Verwendung von Metaphern in wissenschaftlichen Abhandlungen aus (Weinrich 1990: 7). Wichtig ist in diesen Fällen der Bezugnahme mittels einer Metapher auf Bildungs-, Vor- und Weltwissen, ein gemeinsames Wissen in der Auswahl semantischer Formulierungen zu nutzen, die nicht zu spezifisch von der Erfahrungswelt des Forschers/ Autors geprägt sein sollte (Weinrich 1990: 8). Dass diesbezüglich eine Bandbreite an kulturellen und disziplintypischen Präferenzen auf der Grundlage von Konventionen existiert (Esselborn-Krumbiegel 2010: 140), spricht für sich. In populärwissenschaftlich positionsgeprägten Beiträgen (z.B. Kommentaren) kommen andere stilistische Forderungen zum Zuge als in einer selbstständigen empirischen Forschung. Dies sollte die Aufmerksamkeit von Wissenschaftlern auch auf stilistische Variationen in den Subtextsorten wissenschaftlichen Schreibens lenken 3. Die Verwendung von Metaphern in Vermittlungstexten muss der Eindeutigkeit der Interpretationsleistung beim interessierten Laien nicht immer abträglich sein. Voraussetzung für die Verwendung und optimale Transferleistung von Wissen ist jedoch, dass die Metapher eine vorab kalkulierbare Exaktheit in der Vorstellungswelt der Rezipienten bewirken kann. Es betrifft hier generell die Qualität der sprachlichen (und somit inhaltlichen) Verständlichkeit und Rezeptionsfreundlichkeit in Kombination mit der Explizitheit, Detaillierung und Widerspruchsfreiheit in der Ausarbeitung eines argumentativen Textes (Reinmuth 2009: 135). Von der Vagheit als ‚Kontrahent‘ der wissenschaftlich expliziten Darlegung aus können in diesem Kontext nicht nur Elemente aus der Alltagssprache (Elemente wie Modalpartikel, Bekanntheits- <?page no="293"?> Gütekriterien für Vermittlungstexte in der Eurodebatte? 281 grad der Metapher) herangezogen werden, sondern auch Alternativformulierungen zum metaphorischen Sprachgebrauch im Hinblick auf den wissenschaftlich beabsichtigten Wissenstransfer: Klare Positionsbeschreibungen sollten nicht durch pejorative und unklare Sprachverwendung wissenschaftlicher Experten in Sachdarstellungen beeinträchtigt werden. 4. In der Kriterienfrage, nach welchen schreibtechnischen Prinzipien im Argumentationsaufbau in Vermittlungstexten gearbeitet werden sollte, sind die Positionsbestimmung und die intratextuelle Relevanz, Selektion, Reihenfolge und Frequenz sowie Kohärenz der Metaphernnutzung ausschlaggebend. Es geht dabei um die strukturelle und relationelle Einbindung von Metaphern (als prägnante, wissenschaftlich vertretbare verkürzte Darstellungsstrategie) in einer vollständigen Argumentationsaufbaustruktur, wodurch Rückschlüsse auf die gesamte wissenschaftliche Textstruktur möglich bleiben (Esselborn-Krumbiegel 2010: 13). Darin lassen sich - neben den strukturellen Vorbedingungen (360-Grad-Perspektive, Kohärenz und Widerspruchsfreiheit in der Argumentationsdarlegung) von wissenschaftlich begründeten Texten drei pragma-dialektische Klassen der Argumentation unterscheiden: 1. die Nennung von Symptomen, 2. das Vergleichen, 3. die Beweisführung mittels Kausalität (Braet 2004: 144). In welchem Maße welche Aspekte in Kombination miteinander auftreten, um als optimal wissenschaftlich begründete Argumentationsleistung Anerkennung zu finden, hängt von vorab bestimmten und erfahrungsgeleiteten Spielregeln in Experten-(Laien-)Kommentaren ab. Dies gilt noch in ausgeprägterem Maße für noch stärker verkürzte oder exemplifizierte, angewandte ursprünglich wissenschaftliche Vermittlungstexte. 5. An die Stelle von Definitionen in wissenschaftlichen Diskursen tritt im Experten-Laien-Diskurs oft die Paraphrase. Die Explikation, eine klare Darlegung von Zielsetzungen, gilt für beide Bereiche Wissenschaft und Laienkontext. Beiden Kontexten ist die (unterschiedliche) Gattungszuordnung gemeinsam, vorausgesetzt, dass eine Kennzeichnung oder ein Erscheinungskontext dazu verpflichtet. Steht in den wissenschaftlichen Diskursformen die Belegfunktion im Mittelpunkt, so geht es in den Vermittlungstexten als Laiendiskursformen um Kürze und Kompaktheit, jedoch auch hier ohne Kohärenzabstriche machen zu müssen. Was in beiden Schreibbereichen bleibt, sind die Auflagen der Nachvollziehbarkeit. Beiden Diskursbereichen sind die Herstellung schreibtechnisch innertextueller Satzbezüge gemeinsam. Die größten Unterschiede entstehen somit nicht in den innertextuellen Argumentationsweisen (Präzision vs. reduzierter roter Faden), sondern in ungenauen Pauschalaussagen, überzogenen Positionsbestimmungen und Abwertungen. Darstellungen zeigen ihre Argumentationsschwächen in (Experten-)Diskursformen für Laien, in denen weniger die argumentative Darlegung von Einflussfaktoren der eigenen Sicht gegenüber, sondern verstärkt das Üben von Kritik an Gegenpositionen im Mittelpunkt steht. Im Laienkontext - aufgefasst <?page no="294"?> Rogier Crijns 282 als Freibrief für ein Gemisch aus Argumentationskommentar und Kritik - wird die Feinstruktur wissenschaftlicher Auflagen zugunsten einer Grobstruktur von Pauschalaussagen verlassen. Jedoch können und sollen Teile von Wissenschaftlichkeitsauflagen (Explizitheit, Belegbarkeit, Klarheit, Methodenzugehörigkeit) in journalistischen Kommentar- und Kritikformen von Vermittlungstexten, zum Beispiel in Argumentations- und Entweder-oder- Kommentaren, beibehalten werden. Was als klärungsbedürftige Positionsbestimmung bleibt, ist die Frage nach der Rolle schreibtechnisch eingesetzter Ersatzargumentation in Form ‚passender‘ Metaphorik. Welche Vergleiche sind als klare Beweisführung mittels Analogien aus innertextuellen Gründen, Ursache-Folge-Argumentationen, Effektargumentationen anzuerkennen und aus welchen Gründen der eingeschränkten Argumentationslastigkeit anderen Darstellungsmitteln vorzuziehen? 6. Für die Analyse der Mikroebene von Vermittlungstexten bedeutet dies, dass man sich fragen sollte, welche Textelemente die Feinargumentation in laienbezogenen Diskursformen prägen bzw. prägen sollten. Diesbezüglich könnte über eine Inventur nicht-offenlegender, negativer Schreibweisen im Sinne der Verkehrung gesprochen werden. Dies könnte z.B. heißen, nach argumentativen Trugschlüssen, wie von Braet aufgelistet, Ausschau zu halten. Er nennt die folgenden negativen Schreibstrategien: a. eine unsachgemäße Berufung auf Kausalität; b. das Ziehen von falschen Schlüssen; c. der Einsatz von Autoritätsargumenten ohne weitere Erklärungen; d. voreilige Übergeneralisierungen; e. Zirkelschlüsse; f. persönliche Attacken; g. das Umgehen der Beweisführung; h. die Verunstaltung eines Standpunkts (absichtliche Verschachtelung anderer Standpunkte); i. das Betreiben von Meinungsbeeinflussung durch. Das Schüren von Vorurteilen beim Publikum (Braet 1999: 46). Daneben treten auch andere nicht-rationale Aspekte im Personalstil bei Wissenschaftsvermittlern in Emotionsäußerungen, z.B. in Blog-Kommentaren und in Podiumsdiskussionen in Erscheinung. Dabei sei zu bedenken, dass nach den zwingenden Auflagen des Presserechts niemand beleidigt, verleumdet oder beschimpft werden sollte. Die Verwendung typischer Stilmittel in Positionsattacken, über wertende Substantive und Adjektive sind in manchen Vermittlungstexten, z.B. in Argumentationskommentaren, (ausdrücklich) erlaubt. Mit dem oben skizzierten Beurteilungsrahmen für Argumentationstypen in Vermittlungstexten gilt es nun spezifische Sonderformen schreibtechnischer Wertungen und andere argumentative Schwächen zu selektieren und zu beschreiben, indem man diese Argumentationspraxis aus dem beschränkten Korpus von Vermittlungstexten in der Eurodebatte heranzieht. Kulturalität wird dabei als gruppenspezifischer Stil im Argumentationsaufbau mit oder ohne (Über-)Einsatz von rhetorischen Mitteln definiert. Diese Ergebnisse werden in Kombination erwartbarer Mikrostrukturelemente im <?page no="295"?> Gütekriterien für Vermittlungstexte in der Eurodebatte? 283 optimalen Vermittlungstext aus Beiträgen in Sachbüchern und Kommentaren bestehen. Die mikrotextuellen Elemente lassen sich wie folgt beschreiben. Sie bestehen aus: a. Strukturvermittlern (zunächst, zusammenfassend); b. linguistischen Signalen der Meinungsdifferenzierung (ergänzend, kontrastiv) (und, auch, jedoch) als ein Indiz für eine wissenschaftliche Grundlage; c. Benutzung von Quellen mit Autoritätsevidenz (über ein Zitat oder Verwendung von Präpositionen, wie z.B. laut, wie, nach); d. Paraphrasierung als Argumentationserweiterung durch die Verwendung von nämlich, mit anderen Worten, zum Beispiel (Hyland/ Tse 2004: 169). Damit kann eine Mikroanalyse auf der Wortebene mit Hilfe von Konnektoren, Partikeln und subjektiven Adjektiven eine Differenzierung zwischen argumentierenden Diskursmerkmalen, die eher einem wissenschaftlichen Darstellungsstil zuzuordnen wären, und solchen, die Rückschlüsse auf gröbere Schreibparameter zulassen, voneinander unterschieden werden. Für die weniger ausgeprägten Laiendiskursformen, die nicht die wissenschaftlichen Schreibauflagen zum Ausgangspunkt wählen, gelten nachfolgende Merkmalsbeschreibungen: Darstellung einer Position ohne Interpretations- und Argumentationsaufbau mit Signalen eines autoritären Stils (mit Stilsignalen wie nimmer, nie) oder Verwendung eines „vagen‘“ Stils (mit Hilfe von entweder - oder, eventuell). In Abgrenzung von Merkmalen eines solchen subjektiven und unvollständigen Darstellungsstils gilt ein Interpretations- und Argumentationsaufbau mit begründetem Urteil und dargestellten Abwägungen möglichst aller Einflussfaktoren. An dieser Stelle vermischen sich Schreibkriterien und damit inhaltliche Kriterium der Umfassendheit der Darstellung. Gemeint ist damit nicht die absolute Klarheit - indem alle erwähnenswerten Aspekte aufgeführt werden - sondern die argumentative Klarheit (wegen des Wissensaufbaus), d.h. Signale, die sich auf einen wissenschaftlichen Ursprung zurückführen lassen. Hinweise in diese Richtung lassen sich wie folgt konkretisieren: Selbstzitate und Selbstkommentare mit Kontextualisierungsangaben; Distanz (Konjunktiv des Zweifels, bestimmte Partikel vielleicht, ungefähr, in etwa) kann die Darstellungsintention gesicherter Aussagen beeinträchtigen; Signale subjektiver Involvenz und Vehemenz (Fakt ist, bestimmt, klar ist) jedoch mit expliziter Beweisführung; Signale der positiven oder negativen Evaluation (leider, Zustimmung, wichtig) (Hyland/ Tse 2004: 169). Ziel der Untersuchung ist, auf der Grundlage oben genannter linguistischer Merkmale, diese in den Vermittlungstexten in der Eurodebatte aufzudecken und sie für die Erstellung von Qualitätsaspekten (Gütekriterien) in Vermitt- <?page no="296"?> Rogier Crijns 284 lungstexten (zur Eurodebatte) schreibtechnisch zu einer Qualitätsverbesserung in argumentativem Sinne einzusetzen. 3 Skizze der Grundlagen in der Eurodebatte Der anfängliche Optimismus, dass der Euro eine ökonomische Vitalisierung und einen Zuwachs an Beschäftigung bringen würde, ist wegen Außeneinwirkungen rasch abgeklungen (Bischoff/ Deppe/ Detje 2011: 7). Die innereuropäische Entwicklung in der Eurodebatte hat sich mittlerweile oft zu der verkürzten Frage entwickelt, „wer künftig noch Mitglied im Euro-Club bleiben kann“. Daneben bekommt die Eurokrise von manchen Wirtschaftsexperten die Bezeichnung [wirtschaftliche] Jahrhundertkrise (Deppe 2011: 9). Inhaltlich werden sowohl das Aufeinanderstoßen von privatstaatlichen Interessen europäischer Länder als auch das fehlende Gemeinschaftliche zu einem Signal des Widerstands gegen die Machtbegrenzung von Nationalstaaten in der EU herangezogen (Deppe 2011: 15). Es sei von einem „zunehmende[n] Legitimationsverlust des europäischen Projekts“ die Rede. Der Fokus der Europäischen Zentralbank auf die Kontrolle interner Inflation schließt keine Kontrolle der internationalen Finanzmärkte ein (Deppe 2011: 22). Die gegenseitigen Abhängigkeiten von Euroraum und Weltwirtschaftslage sollte eigentlich zu Positionsbestimmung auf globaler Ebene Anlass gegeben haben. Die Nichtbeachtung dieses Aspekts in der (praxisorientierten) Eurodebatte zeugt von einer falschen Beschränkung auf die Innenperspektive (im Sinne des vorgeworfenen Glasperlenspiels). Damit wird der Werdegang in der Entwicklung der Eurokrise, die aus einer globalen Schuldenkrise im Finanzsektor entstanden ist und die eine nachlassende Weltkonjunktur mit sich gebracht hat, nicht aus der vollen Perspektive betrachtet. Dies hat die Eurodebatte nachhaltig geprägt, obwohl sie auch durch „länderbzw. regionalspezifische Faktoren“ geprägt worden ist (Deppe 2011: 24). Daneben führte die Deutung der Eurokrise als eine Verschuldungskrise zwangsläufig zu austeritätspolitischen Maßnahmen, die den Abbau der öffentlichen Verschuldung im Visier hatten. In diesem Sinne bekräftigte der Euro-Plus-Pakt vom 25.3.2011 Maßnahmen des internen Fokusses der Selbstverpflichtung der Mitgliedstaaten zur verbesserten Wettbewerbsfähigkeit durch Lohnbildungsregeln und Finanzierbarkeit von Renten, Gesundheitsfürsorge und Sozialleistungen (Urban 2011: 37). Lohn- und Preissteigerungsraten bremsten das binnenwirtschaftliche Wachstum in Deutschland und könnten das Gesamtexportvolumen, das für 75% binneneuropäisch orientiert ist, gefährden (Bischoff/ Detje 2011: 89). Stabilitätspakt und Austerität in der Rückzahlung bei Finanzhilfen an schwächelnde EU-Mitglieder sollten <?page no="297"?> Gütekriterien für Vermittlungstexte in der Eurodebatte? 285 somit die Experten-Experten- und Experten-Laien-Diskurse der Eurodebatte bestimmen. Inhaltlich sollten in Vermittlungstexten zur Eurodebatte Positionsbestimmungen herausgearbeitet werden, die die Unterschiede zwischen begründeten Keynesianismus-Anhängern unter den Wirtschaftsexperten mit ihrem Fokus auf aktive Arbeitsmarktpolitik, Nachfragepolitik und Informationsbeschaffung einerseits und Monetarismus-Anhängern mit dem Fokus auf Preisstabilität, Produktionsbedingungen und staatlicher Informationsauflagen andererseits mehr Aufmerksamkeit schenken würden. Beabsichtigt ist hier nicht die Herausarbeitung einer Mitschuld von Experten- und Fachleuten an der Eurokrise, sondern schreibtechnische Kritik an verkürzten Popularisierungen von wissenschaftlichen Ergebnissen in der Darstellungspraxis, die den Wissenstransfer behindern (Dürmeier 2011: 21; 25). Dabei soll nicht so sehr die Richtigkeit der Informationsperspektive im Vordergrund stehen, vielmehr der berechtigte Einsatz und die Unzulänglichkeit der Informationsvermittlung in begründeten Interpretations- und Darstellungsentscheidungen. Im Darstellungsstil sollte jedoch nicht „fachliches Kauderwelsch und politisch überzeichnete Darstellung“ eingesetzt werden (Edler 2013: 11). In diesem Fall wären „Talkshow-Argumente“ und plumpes Agitieren, die als Störgeräusche in Sachdebatten eine wissenschaftliche Beweisführung überlagern können, unerwünscht (Edler 2013: 12; 152). 4 Eurodebatte als Frameanalyse In der Eurodebatte ist von einer Reihung medial-diskursiver Ereignisse die Rede, die in den jeweiligen Euroländern unterschiedliche Reaktionen ausgelöst haben. Die Interpretationsmuster haben in diesen Fällen unterschiedliche Frames (Denk- und Interpretationsrahmen). Dies betrifft Interpretationen der ‚Eurokrise‘ und einen ihr zugrunde liegenden Deutungsrahmen für die Phasenbeschreibungen innerhalb der Eurokrise (2010—2014). In den Frame-Analysen entstehen lexikalisch-semantische und syntaktische Strukturen der Situationsbeschreibung. Analogien, Metaphern, Leitbegriffe und Argumentationsstrukturen sind in einer solchen diskursanalytischen Beschreibungsweise als Indikatoren für die Schreibkultur zu bewerten, in der Experten und rezipierende Laien unterschiedliche Ansprüche auf eine Detaillierung in der argumentativen Klarheit erheben. <?page no="298"?> Rogier Crijns 286 5 Darstellungsgrundlagen für Experten In der Eurodebatte stoßen Positionen und Darstellungserwartungen aufeinander, die in Abhängigkeit von den aktuellen Schwerpunkten in der Debatte gruppenspezifisch unterschiedlich belegt werden. Dies bedeutet, dass neben dem Expertenwissen eine Meinungs- und Anspruchsvielfalt vorhanden ist, die die Hauptfaktoren und deren Benennung nur von der Gewichtung als Einflussfaktoren anders beurteilen oder selektiv darstellen. Ein unterstellter Konsens in den von allen Wissenschaftlern wahrgenommenen Eurokrise-Faktoren bildet nach Urteil eines Experten die Grundlage für den Meinungsaustausch. „Seriöse Ökonomen kommen schnell zu einer gemeinsamen Meinung bezüglich der Korrektheit von Argumenten für oder gegen eine wirtschaftspolitische Entscheidung. Sie unterscheiden sich aber bei der Gewichtung dieser Argumente, denn dabei kommt es auf subjektive Einschätzungen an, die aufgrund unterschiedlicher Lebenserfahrung und unterschiedlicher fachlicher Expertise stark variieren.“ (Hans-Werner Sinn, Wirtschaftswoche, 19.08. 2013; URL 10) Aus diesem Zitat geht eine Auffassung der Einheitlichkeit in den vertretenen Ansichten zwischen den Wirtschaftsexperten in der Eurodebatte hervor. Als Erklärungsgrund für Differenzen, die im Zitat als Unterschied in den Gewichtungsfaktoren definiert worden sind, werden die unterschiedlichen Erfahrungen von Wirtschaftsexperten genannt. Ein wissenschaftlicher Konsens unter Fachleuten unterschiedlicher Provenienz in Fragen der Bestimmung von Einflussfaktoren in der Eurodebatte, national und international betrachtet, lässt sich von einer Multiperspektivik in Relation zu Wahrnehmungsmuster und Frames her nicht auf Anhieb begründen. Der Konsens in der Sachwahrnehmung von Fachleuten der dieser Argumentation zugrunde liegen würde, verdeckt Verständigungsschwierigkeiten über die unterschiedlichen (methodologischen) Sichtweisen, indem mit unterschiedlichen Leitbegriffen und Argumentationsmustern gearbeitet wird. Kommuniziert werden kann über die Ausgangspunkte und auch über die Durchführungsstringenz in der Darstellung. Bei Letzterem insbesondere über eine detaillierte Analyse zur Form der Belegstruktur jener sich auf Erfahrung stützender Ansichten. Mit anderen Worten: Es kann nur über Unterschiede diskutiert werden. Wenn eine Inventur möglicher Darstellungselemente und Interpretationsrahmen klar definierter Darstellungsmittel vorliegt, umso leichter. Auch wissenschaftliche Kommentare und die Kritik daran können an den verschiedentlich eingesetzten ‚Fakten‘ und ‚Argumenten‘ in Form von Metaanalysen verglichen werden. Vorab sollten über eine inhaltsanalytische <?page no="299"?> Gütekriterien für Vermittlungstexte in der Eurodebatte? 287 Etikettierung unterschiedliche linguistische Elemente und Argumentationsstrategien - wie hier versucht wird - erst einmal kartiert werden. Diese können dann als wichtige Elemente wissenschaftlicher Vorprägung bezeichnet und auch an Debattentexten weiter herausgearbeitet werden. Zunächst betrifft es folgende generelle Anforderungen an den gestützten Argumentationsaufbau mit Beispielen und Gegenbeispielen in wirtschaftswissenschaftlichen Vermittlungstexten: Die Darstellungsweise und Menge der Argumente in der Experten-Experten-Kommunikation (Beleginhalt und Belegstruktur); Das Definierungs- und Paraphrasierungsverhalten (Explizitheitsforderung); Die Stützung mittels Unterargumenten (Aufbau in der Argumentation, wodurch auf der Basis der Explizitheit eine Strategie der reductio ad absurdum weitestgehend auszuschliessen ist) und deren innerer Zusammenhang in der Argumentation (Kohärenzforderung, die einer Einzelfall- Regel-Begründung nicht im Wege steht; Bestimmung der Prototypik); Das Anführen von Autoritätsquellen als Stütze einer internen Evaluationsstrategie; Das Anführen von Beispielen, die wahrscheinlich auf Resonanz (Wiedererkennung) beim Leserpublikum stoßen und zur Erhöhung der Annahme über Übergeneralisierungen beitragen kann (als Rechtfertigungsteil der Argumentationsstruktur); Mehrfachargumentation, also ein gleichzeitiges Anführen mehrerer Eigenschaften; Die Aufforderung bei prototypischen Beispielen Gegenargumente vorzudenken (Entkräftigungsteil bzw. Falsifizierbarkeit der Argumentationsstruktur). Das Nennen von Szenarien oder Optionen, die in spekulativen Situationen unter bestimmten Bedingungen eintreten können. Die oben genannten Aspekte begründeter Argumentation sind als Vorbedingungen wissenschaftlich fundierten Arbeitens in und außerhalb von Vermittlungstexten aufzufassen. Es ist jetzt Aufgabe, jene Auflagen mit den Textstrategien im Textkorpus und deren Bausteinen zu verbinden und analytisch fruchtbar zu machen. 6 Argumentation in Vermittlungstexten zur Eurodebatte Folgende Forderungen gehören zu einer dem Laienpublikum dienenden Darstellungsweise in Vermittlungstexten: 1. Will man der Genese und Chronologie der Eurokrise eine Übersichtlichkeit/ Explizitheit verleihen, sollte man den unterschiedlichen Phasen in der Entwicklungsgeschichte des Euro Aufmerksamkeit schenken. Manchmal <?page no="300"?> Rogier Crijns 288 werden Ansprüche in diese Richtung durch Adjektive oder Partikel nicht erfüllt. Belegbar ist dies am Beispiel ‚aktuelle politische Entscheidungen‘, wenn hier nicht ausreichend die Entwicklungsgeschichte (in) der Eurokrise dargestellt wird (Edler 2013: 23). Ebenso bei der Gleichsetzung der Begriffe ‚Anstoß der Eurokrise‘, ‚Finanzkrise‘ und ‚US‒Immobilienkrise‘. (Edler 2013: 33). 2. Außerdem sollten Fachbegriffe, die eine zentrale Rolle im ‚Werdegang‘ der Krise gespielt haben, wie beispielsweise die Praxis der ‚Wiederverbriefung von Kreditforderungen durch die Banken‘, in einer kontextualisierenden Darstellung erläutert werden und solche Begriffe sollten argumentativ den gebührenden Stellenwert im Frame der Entstehung der Eurokrise bekommen (Edler 2013: 27). Die Wiederverbriefung hat nämlich dazu geführt, dass die Bankenrettung mit finanziellem Aufwand für Nationalstaaten und EU notwendig wurde. Gleiches gilt für Begriffe wie ‚Return of money‘ für Anleger (Edler 2013: 31), ‚Fiskalpakt‘ als Schuldenbremse (Schmieding 2012: 95) oder für den Begriff ‚Kreditklemme‘ (als nichtausreichender Geldfluss für Investitionskredite wegen reiner Geldspekulationen und Kapitalflucht aus den ‚Randländern‘ (Schmieding 2012: 89; 130)). Eine Kontextualisierungsforderung gilt für Urteile ohne Erläuterungen, jedoch mit Erklärungsbedarf und Kontextualisierung für Laien: „Management der Währungsunion, ausgerichtet vor allem auf fiskalische Solidität“ (Flassbeck 2014: 33); „Die Währungsunion barg enorme Chancen - doch die wurden nicht genutzt“ (Flassbeck 2014: 34); „Steuerdumping etwa ist ein großes Problem in Europa“ (Flassbeck 2014: 44); „denn durch diese Politik schafft er [Draghi] eine langjährige Deflation. In Europa wird der Euro nicht überleben“ (Flassbeck 2014: 51). 3. Kontextualisierungsbedarf gilt auch bei der Verwendung unterschiedlicher Begriffe für gleiche Maßnahmen, die in verschiedenen Phasen der Eurodebatte getroffen wurden, z.B. ‚Nichtbeistandsklausel‘ bzw. ‚Solidaritätsverbot‘ oder ‚EU-Konvergenzkriterien‘ (Edler 2013: 35; 37). Veränderungen früherer Vereinbarungen innerhalb der Eurodebatte sollten ebenfalls zur Kenntnissicherung bei Laienrezipienten erläutert werden. Gleiches gilt für die Verwendung von Sammelbegriffen, die einer Auffächerung bedürfen, z.B. ‚Euro-Rettungsschirm‘ (bilaterale Kredite in der EU, europäischer Finanzstabilisierungsmechanismus, europäischer Stabilisierungsmechanismus und europäischer Fiskalpakt). Hinterfragt werden sollten unangemessene Vergleiche, wie Euro-Rettungsschirm mit dem deutschen Länderfinanzausgleich (Edler 2013: 67). Auch beim Begriff ‚Schuldenschnitt‘ wäre eine Erläuterung erforderlich, da er dem englischen Begriff ‚Haircut‘ verpflichtet ist <?page no="301"?> Gütekriterien für Vermittlungstexte in der Eurodebatte? 289 (Edler 2013: 68). In diesen Bereich gehören auch die Verwendung unpräziser Begriffe oder fehlende Paraphrasierung: ‚Bondmärkte‘(positives Beispiel „also Märkte, an denen sich die Staaten refinanzieren)“, ‚Investitionsdynamik‘(Flassbeck 2014: 67f.). 4. Ungenau und für Laien nicht nachvollziehbar sind länderunspezifische, übergeneralisierte („viele Länder“, Edler 2013: 43) Angaben, wenn es um die Erläuterung geht, welche EU-Mitgliedstaaten ein Konjunkturprogramm als finanzielles Mittel zur Bankenrettung einsetzen mussten und deren Begründung (Edler 2013: 43, im Gegensatz dazu Bischoff/ Detje 2013: 75). 5. Metaphernnutzung bei einer bestimmten Deutungsklarheit braucht kein Hindernis in der Interpretation für Laien zu sein. Bei einigen Autoren wird im Rahmen der Eurokrise die ‚Mehltau‘-Metapher eingesetzt: Ein Mehltau, der sich über die Wirtschaftsprozesse lege, wenn von einem Absterben der Nachfrage gesprochen wird (Edler 2013: 47; Schmieding 2012: 9). Stilistisch ist gegen die Wahl dieser Metapher nichts einzuwenden. 6. Wissensvermittlung und Erklärungsbedarf zur richtigen Deutung bei Kürzeln. Die explizite Darstellung der Aufgabenstellung von europäischen Institutionen, die sich hinter Kürzeln verbergen wie EZB und IWF (Edler 2013: 63) beugt Verständnisschwierigkeiten beim interessierten Laien vor. 7. Eine Darstellungsforderung alternativer Krisenbewältigungsszenarien im Vergleich zu einander, wie bei einem Schuldenerlass an ‚Schuldenstaaten‘, ‚Eurobonds‘ und ‚Nord- und Süd-Euro‘ (Edler 2013: 70; 79f.). Diese kommen nicht ohne detaillierte Informationserteilung im Vermittlungstext aus. 8. Die Darstellung von Gruppeninterpretationen (z.B. der AfD) in der Eurodebatte und deren Instrumentalisierung von populistischen Standpunkten der Eurodebatte und die Konsequenzen für die Objektivität in der Berichterstattung. 9. Darlegungen von EU-Positionen im Vergleich zu anderen Ländern weltweit zu nicht vergleichbaren Zeitpunkten (Schmieding 2012: 9) unter der Verwendung von pauschalen Qualitätsurteilen: ‚schneidet gut ab‘. Bei dieser Formulierung reicht eine Argumentation mit vagen Umschreibungen wie ‚schneidet gut ab‘ nicht aus und ist eine weitere Erläuterung erforderlich. 10. Äußerungen, die Beschwichtigungs- oder Mitigationsstrategien enthalten, brauchen noch keine Argumentationsgrundlage zu beinhalten. Wenn sie z.B. nur als Scheinargument gegen (populistische) Aussagen eingesetzt werden, vgl. „Im Gegenteil: […]“ (Schmieding 2012: 10), sollten diese vermieden werden. Dazu sei auch das Beispiel „Das wahre Leben reicht nie an die theoretischen Modelle heran“ (Schmieding 2012: 18) angeführt. 11. Vage oder unbegründete Zeitprognosen („Auf absehbare Zeit sind die Inflationsgefahren gering“; Schmieding 2012: 12), die nicht argumentativ <?page no="302"?> Rogier Crijns 290 gestützt werden, zeugen wenig von einer wissenschaftlichen Vorgehensweise. 12. Der Vergleich von positiven Entwicklungen außereuropäischer Währungen mit der Situation des Euro während der Eurokrise heißt Unvergleichbares vergleichen (Schmieding 2012: 21). 13. Begründung der Effektvorteile der Währungsunion (durch Hinweise auf Nebenmaßnahmen nach der Währungsunion) belegen eher Schwächen als Stärken (Schmieding 2012: 25). 14. Eine ins Gegenteil verkehrte metaphorische Darstellungsweise (Verlierer im Siegeridiom) von Reformlegisten (Griechenland, Spanien, Irland) als Mediallengewinner wegen der ‚Reformpeitsche Euro‘ belegen einen Argumentationsnotstand (Schmieding 2012: 26). 15. Verwendung von Pauschalvorwürfen der Gegenposition gegenüber, ohne eigene Begründungen. „Ohne inhaltlich Analyse“, „sich nicht breiter und unabhhängiger beraten zu lassen“ (Flassbeck 2014: 36). 16. Unvollständiger Szenariorahmen ohne belegte Erklärung der Folgen: „Wenn alle Länder in Europa dem deutschen Beispiel folgen: […] dann gibt es für den Außenwert des Euro vermutlich […] in Richtung Aufwertung“ (Flassbeck 2014: 74). 17. Genauso wie die Vagheit in der Urteilsverkündung, die auch als Objektivitätsansatz wissenschaftlichen Ursprungs bewertet werden kann, wenn es durch ein vielleicht im gebührenden Kontext ersetzt werden würde: „Vermutlich ist daher in puncto Beschäftigung das Gegenteil des Angestrebten der Fall“ (Flassbeck 2014.56). 18. Beispiele einer pauschalpsychologischen bzw. übergeneralisierenden Argumentationsweise können zwar zitiert werden : „Wie so oft schlägt uns unser angelernter einzelwirtschaftlicher Verstand auch bei dieser Frage [positive Folgen der relativen Lohnsenkung in Deutschland] ein Schnippchen“ (Flassbeck 2014, 57), ihnen fehlt jedoch die harte argumentative Beweiskraft. 19. Ein ironisch-metaphorisches Zitieren und Abwerten in Aussagen unterschiedlicher Positionen ohne klare Eigeninterpretation (Flassbeck 2014: 46), z.B. ‚Wirtschaftsexperten‘ (mit eigenen Anführungszeichen) und ‚Phönix aus der Asche der europäischen Wirtschaft‘, sind ebenfalls wenig überzeugend, wenn dem nicht Gegenbeweise entgegengesetzt werden (Flassbeck 2014: 47). Die oben erwähnten Fallbeispiele weisen in Teilen Überschneidungen mit einzelnen Trugschlusskriterien in den Argumentationsstrategien von Braet auf (Braet 1999: 46). <?page no="303"?> Gütekriterien für Vermittlungstexte in der Eurodebatte? 291 7 Gütekriterien für Vermittlungstexte und Ausblick Über eine im Umfang begrenzte Sichtung von Vermittlungstexten zur Eurodebatte ab 2010 wurde ein erster Versuch unternommen, ausgehend von Textgattungsmerkmalen oder Intentionsinterpretationen von Experten zu Qualitätskriterien für Vermittlungstexte zu kommen. Der Fokus liegt auf den Möglichkeiten der Differenzierung von Gütekriterien und von rezeptionsfördernden Kriterien im Kontext der Eurodebatte. Wie Jung betont, sollte bei einer argumentationsorientierten Korpusanalyse, die hier nur ansatzweise erfolgte, mit größeren Textmengen gearbeitet werden, „da der Text nur wegen seiner Kontextualisierungsfunktion für die Interpretation von Aussagen interessiert; er ist lediglich eine notwendige Zwischenetappe der Diskursanalyse, nicht aber eigentlicher Untersuchungsgegenstand“ (Jung 2011: 45). Anders als in einem gattungsorientierten Fokus der Textbeurteilung steht hier auf der Mikroebene die sprachliche Stützung des expliziten und impliziten Merkmalseinsatzes im Argumentationsaufbau im Zentrum des Forschungsinteresses. Die schreibtechnisch wissenschaftliche Forderung nach Klarheit, Eindeutigkeit und Belegbarkeit (Argumentationsqualität) in den Aussagen von Wirtschaftsexperten für interessierte Laien wurden anhand von (Gegen-)Beispielen belegt. Sie sind in einem vorläufig beschränkten korpusanalytischen Kontext als erstes Labelingverfahren zu betrachten. Die Beschreibung von Gütekriterien anhand der Argumentationsstile in Vermittlungstexten bleibt ein fortdauernder Prozess und kann auf der Grundlage einer ersten Sichtung keineswegs als abgeschlossen gekennzeichnet werden. Vielmehr ist die Entwicklung neuer Konzepte und Ergebnisse eines Bestimmungsverfahrens erst als Anfang zu bewerten, gezielt nach Gütekriterien für die wissenschaftsvermittlende Schreibtätigkeit von Experten in Vermittlungstexten zu suchen. Worum es an dieser Stelle vornehmlich ging, war die Erstellung und Bestimmung (ex negativo) von stilistischen Schreibstrategien, und deren positiven oder wissenschaftlich betrachtet, negativen Transferleistungen. Die (Nicht-)Anwendung des Prinzips fundierter vermittelter Positionsbezüge konnte schriftlichen Debatten zum Euro und zur Eurozone entnommen werden. Stilistische Hinweise für Vermittlungstexte (Sachbücher für interessierte Laien, Kommentare und Kritiken) sind zwar den Tagesmoden unterworfen, es gelten jedoch für sie, genauso wie für den schriftlichen Umgang unter Wissenschaftlern, Kodifizierungen in der schreibtechnischen, argumentativen wirtschaftswissenschaftlichen Vermittlung. Was aus den verschiedenen ausgewerteten Beispielen mangelhafter Reflexion über den eigenen wissenschaftlich begründeten Schreibstil hervorgehen sollte, sind Schreibanleitungen für wissenschaftliche Vermittlungstexte. <?page no="304"?> Rogier Crijns 292 Die wissenschaftlichen Vermittlungstexter sollten im Hinblick auf einen anvisierten Qualitätseindruck in einer Knigge - Manier Folgendes berücksichtigen: 1. Generell gelten stilistische Signale, die von Adressatenbewusstsein als ‚Adressatenexplizitheit‘ zeugen und die einem wissenschaftlichen Qualitätstransfer förderlich sind; 2. Explizite, zeitabhängige Kontextualisierungen in vorgetragenen Ergebnissen; 3. Linguistische Signale des Argumentationsaufbaus tragen zur Klarheit und zur begründeten Explizitheit in der eigenen Positionsbestimmung bei und unterstützen damit die Transferleistung im Vermittlungstext (Hyland/ Tse 2004); 4. Ein roter Faden über eine durchgängige, argumentativ offene und trugschlussfreie Darlegung des Begründungskontextes schlägt erst als Beweiskraft zu Buche; 5. Die Explizitheitsforderung im Vermittlungstext ist durch Vermeidung von verschwiegenen Gründen und Erklärung ungeläufiger Fachbegriffe und Kürzel sowie durch Bearbeitungsvorgänge und notwendiger Erweiterungsbemühungen, die das Alltagswissen interessierter Laien ergänzen, zu realisieren. Bei der Metaphernnutzung (auch bei anderen Vergleichsformen) sollte die Genauigkeit und beschränkte Mehrdeutigkeit einer mittels einer Metapher charakterisierten Situation überprüft werden. 6. Textuelle Überführungssignale der Verständnissicherung durch Paraphrasierungen neben der wissenschaftlichen Auflage der Begriffsdefinition bei vermuteter, mehrfacher Bedeutungszuweisung prägen die gemeinsame Verständnisbasis im Vermittlungstext und gehören zu den Unabdingbarkeiten in Experten-Laien-Transferleistungen; 7. Rangordnung in der Erwähnung begründeter Bestimmungsfaktoren: In einer Gesamtschau als Analyse der Eurodebatte ergibt sich in Kombination mit Punkt 2 ein zeitlich differenzierteres Bild; 8. Explizite Mitteilungen zu medialen Einschränkungen erzeugen Selbstreflexion. Einschränkungen in umfassenden Darstellungsmöglichkeiten führt zur Beschränkung aufs Wesentliche; in der Kürze kann auch Angemessenheit ‚belegt‘ werden; 9. Emotionalisierungen im Personalstil sind wegen Reizreaktionen bei Rezipienten zu vermeiden. Im Klartext: Neutralität, Darlegungen in angemessenem Ton, ohne gesichtsbedrohende Kritik sind in der Sachdarstellung bevorzugt einzusetzen; 10. Schreibtechnische Hinweise auf der Ebene der unterschätzten (Modal-) Partikelbzw. Konnektorenverwendung und deren argumentationsstützende Funktion sind der vorliegenden Untersuchung auf der Grundlage von Hyland/ Tse (2004: 196) ebenfalls zu entnehmen. <?page no="305"?> Gütekriterien für Vermittlungstexte in der Eurodebatte? 293 Argumentationskritische Veröffentlichungen zeugen nicht nur davon, aus welcher reflektierten Schreibschule sie stammen, sondern geben ebenfalls Auskunft darüber, welcher Bestimmung sie entgegengehen. Eintagsfliegen oder fundierte Beiträge mit Vermittlungscharakter statt mit Kampfcharakter sind immer argumentativ abgewogen, sprachlich korrekt und nachvollziehbar. Quellen Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.07.2014, S. 17 (N.N.: Geldschwemme schürt neue Ängste). Het Parool, 28.08.2014, S. 22 (Mujagic, Edin: Derde recessie wordt de ergste). NRC Handelsblad, 14.—15.09.2013, S. 5 (Schinkel, Maarten: 4.500.000.000.000. Aan de crisis hangt een miljardenprijs). 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Zahlreiche Untersuchungen zur Wissenschaftssprache Deutsch gehen von Analysen schriftlicher Texte aus, 2 Erst in den letzten Jahren ist damit begonnen worden, auch mündliche Textsorten in Korpora zu erfassen und zu analysieren (GeWiss, EuroWiss). Ein umfassendes Bild des sprachlichen Handelns im Untersuchungsfeld Hochschule bleibt jedoch weiterhin ein Desiderat. Darüber hinaus sollten ebenfalls Bedarfs- und Bedürfnisanalysen durchgeführt werden, um das sprachliche Handeln aus der Sicht der Personen, die an diesen Handlungen beteiligt sind, zu verstehen und im Idealfall deren Bedarfe und Bedürfnisse bei curricularen Entscheidungen zu berücksichtigen. Ausgehend von testwissenschaftlichen Überlegungen, die im Rahmen einer Longitudinalstudie zur Konstruktvalidität der DSH-Prüfung 3 entstanden sind, wird in diesem Beitrag die Frage aufgeworfen, wie die Akteure und Forschenden im Handlungsfeld Deutsch im Studium mit den Veränderungen, die die Internationalisierung der Hochschulen in Deutschland mit sich bringt, umgehen. 1 Der Teminus ist angelehnt an die englischen Begriffe ‚target language use domain‘ (Bachman/ Palmer 1996: 44) bzw. ‚construct domain‘ (Messick 1996: 10). Sprachliches Handlungsfeld wird hier verstanden als die Palette der konkreten sprachlichen Handlungen, auf die sich der Test bezieht. Die Definition lautet im Original „set of specific language use tasks that the test taker is likely to encounter outside of the test itself and to which we want our inferences about language ability to generalise“ (Bachmann/ Palmer 1996: 44). 2 Die folgende Liste erhebt keinen Anspruch auf Repräsentativität, stellt jedoch einige der für die Forschungsarbeit der Verfasserin wichtigsten Titel gegenüber A: zu schriftlichen Textsorten: Büker 1998; Ehlich/ Steets 2003; Esser 1997; Fandrych 2004; Graefen 1997; Hufeisen 2002; Liebaug 1991; Moll 2001; Skiba 2008; Steets 2003; 2004; Stezano Cotelo 2008; Steinhoff 2007; Thielmann 2009. Dagegen B: zu mündlichen Textsorten: Grütz 1995; Guckelsberger 2005; Meer 1998; Wiessmann 1999. Die Liste A ließe sich sehr leicht durch weitere Titel ergänzen, bei der Liste B wäre dies sicher schwieriger. 3 Deutsche Sprachprüfung für den Hochschulzugang Ausländischer Studienbewerberinnen und -bewerber. <?page no="310"?> Silvia Demmig 298 1 Einleitung und Problemlage Die Perspektive auf den Forschungsgegenstand Wissenschaftssprache, die in diesem Beitrag eingenommen wird, erklärt sich aus dem Tätigkeits- und Forschungsbereich der Autorin, der DSH. Aus der Perspektive der Sprachprüfung, die nicht-muttersprachliche Studierende und Bildungsausländer und -ausländerinnen zu absolvieren haben, ist der Bereich Wissenschaftssprache ein sprachliches Handlungsfeld, das als Grundlage dient, um Prüfungsaufgaben abzuleiten, die dann wiederum im Test die sprachliche Eignung der Bewerberinnen und Bewerber für ein Studium an einer deutschen Hochschule zeigen sollen. So funktioniert, kurz zusammengefasst, die Entwicklung eines validen Sprachtests. Dieser Prozess der Konstrukterstellung und -begründung ist für die DSH-Prüfung niemals stringent und testmethodologisch durchgeführt worden (vgl. Demmig 2012). Ein Grund dafür liegt darin, dass das sprachliche Handlungsfeld Deutsch im Studium sehr breit und heterogen und vor allem, und darum soll es in diesem Beitrag gehen, sehr stark im Wandel ist. Die linguistischen Untersuchungen zur Wissenschaftssprache Deutsch, auf die sich diejenigen beziehen können, die Tests entwickeln und evaluieren, spiegeln möglicherweise dadurch, dass sie selbst einem jahrelangen Forschungsprozess entstammen, schon nicht mehr den status quo des sprachlichen Handlungsfeldes wieder. Die Forderung nach der Erhebung und Analyse mündlicher Daten im Bereich der Wissenschaftssprache Deutsch ist mittlerweile durch mehrere Forschungsprojekte eingelöst worden (GeWiss, EuroWiss). Die Ergebnisse dieser Projekte konnten jedoch noch nicht in Bezug auf die Konsequenzen für die Tests, die den Hochschulzugang sprachlich regeln, befragt werden. Eine weitere Besonderheit, die sich aus dem Forschungsfeld Deutsch als fremde Wissenschaftssprache bzw. Deutsch im Studium ergibt, ist die, dass die Subjekte der Forschung, die ausländischen Studierenden, wie sie immer noch im Fachdiskurs genannt werden, dieses sprachliche Handlungsfeld selbst mitgestalten. Um diesen Zusammenhang, der in der Testwissenschaft als ‚feedback-loop‘ bezeichnet wird (vgl. McNamara/ Roever 2006; Demmig 2012; 2014), soll es im Folgenden gehen. Verdeutlicht werden soll diese Argumentation anhand zweier Zitate, die im Rahmen der Datenerhebung der Longitudinalstudie zur Konstruktvalidität der DSH im Zeitraum 2006—2008 geäußert wurden (vgl. Demmig 2012). „Lesen ist nicht sehr große Problem. Aber man können genug Zeit haben.“ (Chen) „Es gibt einfach zu viel für mich […] und ich habe am Anfang, […] so einen dicken Block, und da habe ich gedacht, was soll ich jetzt machen, lesen, täg- <?page no="311"?> Das sprachliche Handlungsfeld Deutsch im Studium im Wandel? 299 lich, und ich habe morgens das gelesen, abends vergessen und dann nach eine Woche ungefähr, habe ich gesagt, OK, Schluss, ich höre auf und dann alle diese Ordner weg, und dann […].“ (Zhang) Diese beiden Zitate zeigen, welche Schwierigkeiten ausländische Studierende auch nach bestandener DSH noch mit dem Lesen in der fremden Wissenschaftssprache Deutsch haben. In Bezug auf die Konstruktvalidität der DSH schließt sich in der hier zitierten Arbeit eine Argumentation an, die in Frage stellt, ob die DSH-Prüfung das Lesen in der Wissenschaftssprache Deutsch adäquat abbildet. Außerdem werden diese Zitate in einem Kapitel, in dem es darum geht, Hypothesen generierend mit dem Datenmaterial zu erarbeiten, erneut aufgegriffen. Hier steht die Lösung der Probleme, die vor allem Herr Zhang beschreibt, im Vordergrund. Er hat eine Vielzahl von Lese-, Hör- und Studierstrategien entwickelt, die er in den Interviews schildert. Aus diesen und weiteren Daten zu Studierstrategien wird die Hypothese entwickelt, dass Strategien einen wichtigen Beitrag zum späteren Studienerfolg der ehemaligen DSH-Absolventen leisten (vgl. Demmig 2014). Die Ergebnisse der Studie wurden bereits im Rahmen von vielen Vorträgen an Hochschulen im deutschsprachigen In- und Ausland vorgestellt. Die Diskussionen, 4 die sich anschlossen, waren, je nach Publikum, sehr heterogen. Das geschilderte Phänomen der großen Lesemenge und der zu ihrer Bewältigung erforderlichen Strategien ist allen Zuhörenden bekannt, so ließ sich aus den Reaktionen schließen. Somit kann davon ausgegangen werden, dass es sich nicht um ein spezifisches Problem der ausländischen Studierenden handelt. 5 Trotzdem waren die Diskussionsbeiträge, die sich im Anschluss an die Vorträge ergaben, eher von der Meinung geprägt, dass es das Problem der ausländischen Studierenden sei, wenn sie im weiteren Verlauf des Studiums noch Probleme mit dem Lesen hätten. Ein weiteres Beispiel aus der Studie, das ebenfalls mit der Fertigkeit Lesen zu tun hat und das ein genauso bekanntes Phänomen behandelt, ist wieder aus dem Fall von Herrn Chen, der in einem bilingualen Masterprogramm (Deutsch - Englisch) im Bereich der Wirtschaftswissenschaften studiert. Er hat Probleme mit den Textaufgaben auf Deutsch (Prüfungsaufgaben auf Englisch werden nicht in allen beteiligten Disziplinen angeboten), daher wählt er gezielt Veranstaltungen aus, von denen er weiß, dass die Prü- 4 Gemeint sind hier vor allem die Diskussionen, die sich an folgende unveröffentlichte Vorträge anschlossen: Tbilissi 2013; Wien 2012 und 2009; Essen 2009; Freiburg-Littenweiler 2009; Greifswald 2010. Die jeweils veröffentlichten Vorträge sind dokumentiert in den Tagungsbänden der FaDaF (Fachverband Deutsch als Fremdsprache)-Tagungen 2013 und 2014 und in einem Tagungsband des BAMF 2008. 5 Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Arras (2012) in Bezug auf die Fertigkeit Schreiben. <?page no="312"?> Silvia Demmig 300 fungsaufgaben mehr Zahlen als verbale Formulierungen enthalten. Diese Strategie bezeichnet er selbst als ‚Professor-Strategie‘. Besonders diese Strategie wurde in den Diskussionen, die sich meinen Vorträgen anschlossen, sehr kritisch diskutiert. Ich meine, mich sogar an Formulierungen wie ‚Durchschummeln‘ zu erinnern. Leider sind diese persönlichen Beobachtungen nicht empirisch belegbar. Die Lesenden dieses Beitrages, sofern sie im selben Feld arbeiten, können jedoch sicherlich aus eigenen Erfahrungen entsprechende Diskussionsbeiträge erinnern. 2 Mögliche alternative Sichtweise Eine andere, ebenso berechtigte, Perspektive auf diese hier nur kurz skizzierten Fälle, die jedoch m.E. exemplarisch für viele andere stehen können, wäre Folgende: Die Studierenden, um die es hier geht, sind erfolgreiche Studierende. Sie haben die DSH-Prüfung bestanden, die aus Sicht von vielen Experten durchaus gut dazu geeignet ist, einen Sprachstand zu prüfen, der für die Aufnahme eines Studiums an einer deutschen Hochschule adäquat ist. Sie haben erfolgreiche Strategien entwickelt, um im Studienalltag gut zurechtzukommen. Sie sind Bestandteil des sprachlichen Handlungsfeldes Deutsch im Studium und gestalten dieses mit. Aus testtheoretischer Sicht gibt es daran keinen Zweifel (vgl. McNamara/ Roever 2006 und Demmig 2012; 2014). Aus curricularer Sicht jedoch gestaltet sich die Argumentation oft anders. Hier stellt sich die Frage, inwieweit auf die Bedürfnisse der ausländischen Studierenden ‚Rücksicht genommen‘ werden kann, inwieweit sie ‚Hilfe bekommen‘ etc. Auch die Empfehlungen, die ich am Schluss meiner Arbeit (vgl. Demmig 2012: 248; 256; 282) formuliert habe, gehen in diese Richtung. Zwar empfehle ich aus Sicht der Testwissenschaft, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der DSH mit in den Blick zu nehmen und die Selektionsfunktion, die dieser Test ausübt, in der Hochschulpolitik transparent zu diskutieren, und, wie es die Testwissenschaft fordert, mögliche Alternativen zu bedenken. Als Alternativen schlage ich jedoch lediglich Förderkonzepte vor. Eine mögliche Anpassung und Änderung der gesamten universitären Lehre in Bezug auf die veränderte, heterogenere Zielgruppe wird zwar nicht explizit gefordert, folgt man aber der Argumentation nach McNamara/ Roever, die in der Arbeit in einem gesonderten Kapitel nachvollzogen und für die Situation der DSH in Deutschland adaptiert wird (vgl. Demmig 2012: 244—258), so ergibt sie sich in der Konsequenz: McNamara und Roever beschreiben einen ‚double-feedback-loop‘ zwischen dem Test und dem sprachlichen Handlungsfeld, der deutlich macht, dass nicht nur der Test aus <?page no="313"?> Das sprachliche Handlungsfeld Deutsch im Studium im Wandel? 301 dem sprachlichen Handlungsfeld abgeleitet werden muss (erste Feedback- Schleife), sondern dass auch die Auswirkungen des Tests auf das sprachliche Handlungsfeld selbst als eine zweite Feedback-Schleife gesehen werden und interpretiert werden müssen. Eine der Auswirkungen des Tests ist es, dass eine ausgewählte Gruppe von ausländischen Studierenden Zugang zum Hochschulstudium in Deutschland bekommt. Diese Gruppe von Studierenden ist demnach gewollter und anerkannter Bestandteil der Studierendenschaft und sollte genauso bei Maßnahmen der Lehrentwicklung berücksichtigt werden wie alle anderen Gruppen auch. 3 Kritische Bedarfsanalyse 3.1 Hintergrund: EAP 6 und Deutsch im Beruf In der US-amerikanischen Forschung im Fach English for Academic Purposes (EAP) wird bereits seit ca. 20 Jahren für eine kritische Bedarfsanalyse plädiert, die die Bedürfnisse der L2-Studierenden in den Blick nimmt und ihre Interessen im Hochschulcurriculum vertritt (vgl. Benesch 1996; 1999; 2013). Ähnliche Ansätze sind in den deutschsprachigen Ländern bereits im Bereich Deutsch im Beruf vorhanden. Hier hat die kritische Bedarfsanalyse bereits seit einigen Jahren einen etablierten Platz (vgl. Haider 2009; 2010; Szablewski-Çavuş 2009). Kein Unternehmen oder Kursträger in der berufsbezogenen Weiterbildung würde heute noch eine Sprachbedarfsanalyse, die lediglich die Sicht der Rahmenbedingungen und Führungskräfte einbezieht, zur Grundlage für curriculare Entscheidungen nehmen. Die Sicht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, also ihre Bedarfe und Bedürfnisse, sind ein wichtiger Bestandteil jeder Kursplanung. 3.2 Situation an den Hochschulen: Diskussion bereits durchgeführter Bedarfsanalyen Welche Rolle spielen Sprachbedarfsanalysen nun in den deutschsprachigen Ländern im Hochschulbereich und wie positionieren sich diese Analysen in Bezug auf die Bedürfnisse der ausländischen Studierenden? Bisher hat es lediglich einzelne Bedarfsanalysen an einzelnen Standorten und in einzelnen Fächern gegeben (vgl. Casper-Hehne 2004; Hartmann 2014; Schumann 2008). Ehlich und Steets haben eine Art Bedarfserhebung in Bezug auf das wissenschaftliche Schreiben durchgeführt, indem sie Professorinnen und Professoren an der LMU München befragt haben (vgl. Steets 6 English for Academic Purposes. <?page no="314"?> Silvia Demmig 302 2001). Eine umfassende Sprachbedarfsanalyse, etwa als Grundlage zur Erstellung eines Testformats für eine Sprachprüfung für den Hochschulzugang, ist jedoch nie durchgeführt worden. Arras (2012) berichtet von einer groß angelegten Studie, die das TestDaF-Institut im Jahr 2011 durchgeführt hat. Arras belegt das Anliegen des TestDaF-Instituts mit dem Hinweis auf den Wandel des sprachlichen Handlungsfeldes: „Da jedoch sprachliche Anforderungen stets auch dem Wandel unterliegen und gerade die letzte Dekade an den Hochschulen durch strukturelle Veränderungen in den Studiengängen geprägt ist, liegt es nahe zu überprüfen, inwiefern sich auch die sprachlichen Anforderungen im Hochschulstudium verändert haben.“ (Arras 2012: 138) Arras kommt in ihrem Beitrag zu der Schlussfolgerung, dass „der TestDaF nach wie vor zentrale sprachliche Anforderungen an der Hochschule erfasst“ (Arras 2012: 138). Als Ausblick formuliert sie, dass „gegebenenfalls ein größeres Augenmerk auf ,zeitgenössische‘ Sprachhandlungen und Kommunikationsformen gelegt werden sollte, etwa die Erstellung von E-Mails oder der mündliche Vortrag anhand einer PowerPoint-Präsentation“ (Arras 2012: 146). Auch in dieser Bedarfsanalyse steht die Validierung des Testkonstrukts im Vordergrund, sodass Bedürfnisse der Zielgruppe nicht direkt ausgewertet wurden und in Empfehlungen für zukünftige Entwicklungen im curricularen Bereich verwendet werden können. Ein weiteres Ergebnis der Studie ist, dass die deutschen Studierenden mit ähnlichen Problemen in Bezug auf die Anforderungen des Studiums zu kämpfen haben wie die ausländischen. In der Diskussion dieses Befundes gibt Arras zu bedenken, dass dies also möglicherweise nicht auf sprachliche Schwierigkeiten, sondern auf fachbezogene oder auf Anforderungen „eher intellektuell-kognitiver Natur“ zurückzuführen sei. Oder aber, und diese Deutung wird nach Arras auch durch die Angaben gestützt, die die Dozenten in den offenen Items der Befragung gemacht haben: Diese Ergebnisse der Befragung verweisen auf mangelnde sprachliche Kompetenzen der deutschen Studierenden. In den von Arras zitierten offenen Items hatten die befragten Dozenten offenbar mehrfach die Schule in Deutschland für mangelnde sprachliche Kompetenzen deutscher Studierender verantwortlich gemacht (vgl. Arras 2012: 145). Eine detailliertere Diskussion dieser Interpretation würde an dieser Stelle zu weit führen. Festzuhalten bleibt jedoch, dass hier die Perspektive der Dozenten die derjenigen ist, die die Norm festlegen, nach der nun nicht nur die Kompetenzen der ausländischen, sondern auch die der deutschen Studierenden als defizitär beurteilt werden. <?page no="315"?> Das sprachliche Handlungsfeld Deutsch im Studium im Wandel? 303 Im Rahmen der PROFIS-Projekte, die vom DAAD gefördert wurden, sind ebenfalls einzelne Untersuchungen entstanden, die eine Art von Bedarfsanalysen enthalten (vgl. TU-Kaiserslautern 2007). Hier wird jedoch als Ausgangsfragestellung bereits die Idee des Defizits der ausländischen Studierenden zu Grunde gelegt. 7 Eine besondere Querschnittstudie stellt die Bedarfsanalyse dar, die im Rahmen des CHAGAL-Projektes 2004 veröffentlicht wurde (vgl. chagal 2004). Sie versucht, unter der Zielsetzung des Herausarbeitens von Bedürfnissen einer spezifischen Zielgruppe, 8 einen Überblick über bestehende Analysen zu geben. Dabei stehen notwendigerweise Probleme und Förderungsbedarf der Gruppe im Vordergrund. Allen diesen Ansätzen gemeinsam ist die Perspektive, die eingenommen wird. Die Gruppe der ausländischen Studierenden wird aus der Sicht der neutral formulierten Anforderungen, die das Hochschulstudium (als nicht personalisierte Instanz) an sie stellt, als defizitär und allenfalls förderungsbedürftig wahrgenommen. Ein wirkliches Umdenken, das die Akteure im Bereich des sprachlichen Handlungsfeldes als gleichberechtigte Personen nebeneinander stellt, hat noch nicht stattgefunden. 9 4 Fazit Der Vergleich mit dem sprachlichen Handlungsfeld Deutsch im Beruf lässt hoffen, dass sich die hier beschriebene Situation bald ändern wird. Hier hat die Perspektivenverschiebung von einer Defizitorientierung hin zu einem partizipatorischen Ansatz schon stattgefunden. Ein weiteres Desiderat, das 7 Im PROFIS-Projekt war das erklärte Ziel, die Studienabbrecherquote, die unter ausländischen Studierenden deutlich höher liegt als unter den einheimischen, zu senken. Das Projekt ging also von einer Situation aus, in der ein Mangel an Förderung als mögliche Ursache für diese Abbrecherquote vermutet wurde. Die Einzelprojekte sollten hier Abhilfe schaffen. 8 Es handelt sich um eine Gruppe, die im Rahmen des GRUNTVIG-Programms der EU förderungsbedürftig war, nämlich erwachsene, bildungsfernere Studierende, die aus Flüchtlings- oder Migrationszusammenhängen kamen, im Projekt chagal-Studierende genannt. 9 Auch die neueste Dissertation zum Thema von Daniela Hartmann (2014), die eine detaillierte Bedarfsanalyse durchführt und einen großen Teil der relevanten Literatur aus dem Bereich EAP aufarbeitet, konstatiert zunächst ‚lacks‘ und ‚necessicities‘, bevor sie in einem weiteren Analyseschritt auch ‚wants‘ der ausländischen Studierenden im Fachgebiet DaF der TU Berlin herausarbeitet. Bei genauerem Betrachten der Datenerhebungsmethode und der Ergebnisse wird jedoch deutlich, dass sich die geäußerten Bedürfnisse (‚wants‘) lediglich auf die Bewältigung der Vorgaben beziehen konnten, die durch die schriftlichen Textsorten im Forschungsfeld gegeben sind (vgl. Hartmann 2014: 86f.; 271f.). <?page no="316"?> Silvia Demmig 304 sich aus der Argumentation in diesem Beitrag ableiten lässt, ist es, die Forschung im Bereich EAP in der deutschsprachigen Diskussion zum Handlungsfeld Deutsch im Studium besser wahrzunehmen. Dadurch, dass Englisch in vielen Ländern der Welt Wissenschaftssprache und Amtssprache ist, kann keine Wissenschaftstradition den alleinigen Blick auf EAP beanspruchen. Hier ergibt sich eine vielfältige und perspektivenreiche Sicht auf die Wissenschaftssprache, die es sich lohnt, auf die Brauchbarkeit für den deutschsprachigen Kontext hin zu prüfen (vgl. Carkin 2005; Charles 2013; Harwood/ Petric 2011). Literatur Arras, Ulrike (2012): Im Rahmen eines Hochschulstudiums in Deutschland erforderliche sprachliche Kompetenzen - Ergebnisse einer empirischen Bedarfsanalyse. In: Tinnefeld, Thomas (2012) (Hrsg.): Hochschulischer Fremdsprachenunterricht. Anforderungen, Ausrichtung, Spezifik. 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Somit ist unschwer zu erkennen, dass nicht-muttersprachliche Benutzer des Englischen kommunikativ benachteiligt und dadurch auch in ihrer Forschung beeinträchtigt sein können. Von dieser Situation ausgehend, befasst sich der theoretisch ausgerichtete Beitrag mit Ausgangsannahmen, Hauptforschungsfragen und Forschungsdesign des Projektes „Publish in English or Perish in German? Wissenschaftliches Schreiben und Publizieren in der Fremdsprache Englisch“. Er dient gleichzeitig als Einführung in den Aufsatz von Frank Rabe in diesem Band, der sich mit ausgewählten empirischen Fragestellungen des Projektes befasst. Die Untersuchung dieser Fragen beruht auf Interviews, die im Rahmen dieses Projektes mit Doktoranden, Postdocs und Professoren verschiedener Disziplinen durchgeführt wurden. 1 Das Englische als internationale Wissenschaftssprache Der Beitrag 1 berichtet über das Forschungsprojekt ‚Publish in English or Perish in German? ‘ (PEPG), in dem die Schwierigkeiten, Lösungsstrategien und Einstellungen deutscher Wissenschaftler beim Schreiben und Publizieren englischer Fachtexte mithilfe von Experteninterviews untersucht wer- 1 Beim vorliegenden Beitrag handelt es sich um eine gekürzte und modifizierte Darstellung von Gnutzmann/ Rabe (2014a). <?page no="320"?> Claus Gnutzmann 308 den. Er informiert über den Hintergrund und das Forschungsdesign des Projektes, diskutiert die von deutschen Wissenschaftlern empfundenen Nachteile, aber auch Vorteile, beim Verfassen englischer Fachtexte und fasst ausgewählte Ergebnisse zusammen. Die Vormachtstellung des Englischen in wissenschaftlichen Publikationen ist ein statistisch eindeutig belegtes Phänomen. Bei naturwissenschaftlichen Publikationen lag der englischsprachige Anteil schon vor mehr als einem Jahrzehnt bei über 90% (vgl. Ammon 1998: 152) und auch für die Sozial- und Geisteswissenschaften wurden Domänenverluste an das Englische festgestellt, wenngleich in geringerem Umfang (vgl. Ammon 2006; Laurén/ Myking/ Picht 2004). Auch die Verwendung des Englischen als Unterrichtsmedium in internationalen Studiengängen ist ein Beleg für dessen Vormachtstellung im akademischen Bereich. Coleman (2006: 4—10) führt als Triebkräfte dieser Entwicklung die Ausweitung des bilingualen Sachfachunterrichts (‚Content and Language Integrated Learning‘ (CLIL)), die verstärkte Internationalisierung der Universitäten, die zunehmende Nutzung englischsprachiger Lehr- und Lernmaterialien, die gestiegene Dozentenmobilität sowie die Entstehung eines internationalen Bildungsmarktes an. Allerdings ist die Nutzung dieser Fremdsprache nicht frei von Problemen (vgl. Fandrych/ Sedlaczek 2012; Knapp/ Timmermann 2012). Da fachliche Inhalte immer über Sprache vermittelt werden und Studierende bekanntermaßen über höchst unterschiedliche Sprachkompetenzen verfügen, erweist sich das Englische hier als wichtiges Einflusskriterium für die Ausgestaltung von Lehrveranstaltungen. So wurde beispielsweise im Rahmen des MuMiS- Projekts (Mehrsprachigkeit und Multikulturalität im Studium), (vgl. Knapp/ Schumann 2008) deutlich, dass Lernprozesse durch die Lehrsprache beeinflusst werden. Neben dem Einsatz als Unterrichtsmedium findet das Englische in vielen Fällen Verwendung in der mündlichen Wissenschaftskommunikation. 2 Für die Beurteilung von Forschungsleistungen gelten im Allgemeinen Publikationen in internationalen Zeitschriften als wichtigster Indikator, zumal diesen in der Regel, nicht zuletzt aufgrund eines größeren Impact Factor, 3 2 Die mündliche fremdsprachliche Wissenschaftskommunikation hat sich daher zu einem wichtigen Forschungsgegenstand entwickelt, wie die Projekte ‚Gesprochene Wissenschaftssprache kontrastiv: Deutsch im Vergleich zum Englischen und Polnischen‘ (Fandrych et al. 2009) und ‚Mehrsprachigkeit bei internationalen wissenschaftlichen Kongressen‘ (Leitung: Ulrich Ammon/ Roswitha Reinbothe) zeigen. 3 Der Impact Factor basiert auf einer Zitationsanalyse von Zeitschriften, die in der Datenbank Journal Citation Reports (JCR) verzeichnet sind. Dabei soll die Zitationsanalyse deren Qualität messen. Impact Factor und JCR werden jährlich von Thomson Reuters herausgegeben (URL 1). <?page no="321"?> Wenn deutsche Wissenschaftler englische Texte schreiben (müssen) 309 ein erhöhtes Prestige zugeschrieben wird. Dem Schreiben und Publizieren englischsprachiger Artikel kommt in der Berufsbiographie von Wissenschaftlern demnach eine Bedeutung par excellence zu. Benachteiligungen von nichtmuttersprachlichen Wissenschaftlern werden seit längerem international diskutiert (vgl. Ammon 2012). Beispielsweise stellt Burrough-Boenisch (2000) sprachliche Probleme niederländischer Wissenschaftler beim Schreiben auf Englisch fest; aber auch ökonomische Konsequenzen der Dominanz des Englischen (vgl. Gazzola/ Grin 2007; Grin 2001; van Parijs 2007) sowie ein möglicher Verlust von wissenschaftlicher Mehrsprachigkeit und Multiperspektivität (vgl. Ehlich 2004; Gnutzmann 2006) wurden erörtert. Zudem sehen sich viele Wissenschaftler mit der Tatsache konfrontiert, dass internationale Fachzeitschriften häufig hohe Ansprüche an die sprachliche Kompetenz der Autoren stellen und aufgrund ihrer inhaltlichen bzw. theoretisch-methodischen Ausrichtung als gatekeeper fungieren können, die Autoren aus anderen, nicht anglo-amerikanischen Wissenschaftsdiskursen den Zutritt zur internationalen Wissenschaftsgemeinschaft verwehren (vgl. Tardy 2004: 248). Geht man des Weiteren davon aus, dass die Strukturen der Fach- und Wissenschaftssprachen aus der ‚Gemeinsprache‘ hervorgehen (vgl. Gnutzmann 2009: 519), so wird deutlich, dass Wissenschaftler mit englischer Muttersprache einen entscheidenden Startvorteil gegenüber Nichtmuttersprachlern haben. 4 Die Englischkompetenz der Wissenschaftler sowie die Vertrautheit mit englischsprachigen Diskursnormen sind somit für das Publizieren in internationalen Journals entscheidende Faktoren. Es stellt sich deshalb die Frage, wie Wissenschaftler mit ihrer sprachlichen Benachteiligung beim Schreiben englischer Publikationen umgehen und wie groß diese ist bzw. von ihnen empfunden wird. Die Projektergebnisse legen nahe, dass das Publizieren in der Fremdsprache Englisch eine intensive Nutzung verschiedener Ressourcen bedingt, wie beispielsweise den gezielten Einsatz von Strategien, technischen Hilfsmitteln wie Online-Wörterbüchern und Korrekturlesern. Dies lässt auf eine große Adaptionsfähigkeit der Wissenschaftler an die veränderten Anforderungen schließen. Zugleich wird aber auch der Mehraufwand unterstrichen, der für Publikationen auf Englisch betrieben werden muss. Einige Forscher (vgl. Ferguson 2007: 33; Swales 2004: 56; Swales/ Feak 2009: xi) gehen allerdings davon aus, dass Muttersprachler des Englischen nur einen sehr geringen Vorteil bei internationalen Publikationen hätten, da diese wie Nichtmuttersprachler auch die Konventionen des wissenschaftli- 4 Beispielhaft resümieren Hyland und Salager-Meyer (2008: 320) die Wahrnehmung deutscher Wissenschaftstexte durch englische Leser mit den Adjektiven „pretentious, digressive, propositionally asymmetrical, long-winded and badly organized“. <?page no="322"?> Claus Gnutzmann 310 chen Schreibens erlernen müssten. Schreib- und Publikationsprobleme seien demnach eher bei akademischen Novizen zu finden, unbeeinflusst von deren Muttersprache oder den rhetorischen Anforderungen der Disziplin. Diese Sichtweise greift jedoch zu kurz, da gerade die Muttersprache als sprachlicher, kognitiver und kultureller Bezugsrahmen je nach Distanz zur Zielsprache die Aneignung einer Fremdsprache deutlich erschweren kann. Obwohl die Unterscheidung zwischen Mutter- und Nichtmuttersprachlern nicht notwendigerweise über die wissenschaftliche Schreibkompetenz der Autoren Auskunft gibt, bleibt dieses Kriterium weiterhin sinnvoll, wenn man von einem vergleichbaren akademischen Hintergrund der Betreffenden ausgeht. Die meisten Nichtmuttersprachler des Englischen erfahren folglich eine unterschiedlich stark ausgeprägte Benachteiligung, wobei hier disziplinenspezifische Unterschiede zu berücksichtigen sind (vgl. Gnutzmann/ Rabe 2014b). US-amerikanische oder britische Wissenschaftler genießen deshalb eine Reihe von Vorteilen, die anderen Forschern in dieser Form nicht zuteilwerden: Sie verfügen nicht nur über eine sprachliche Intuition für das Englische, einen größeren und präziser anwendbaren Wortschatz und ein stärkeres Bewusstsein für wissenschaftliche Diskursnormen in internationalen Fachzeitschriften, sondern profitieren auch von der beruflichen Tätigkeit in der Muttersprache im Zentrum des wissenschaftlichen Mainstream. Dabei sind die erhöhten Opportunitätskosten der meisten Nichtmuttersprachler, wie das jahrelange Lernen der Fremdsprache (bei gleichzeitiger Weiterentwicklung der Schreibfähigkeiten in der nationalen Wissenschaftssprache) und das Bewerkstelligen aufwändiger Korrekturarbeiten vor Veröffentlichungen, noch nicht einmal berücksichtigt. Nicht nur die Ausgangssprache von nicht-muttersprachlich englischen Wissenschaftlern, sondern auch kulturelle Einflüsse auf die Wissenschaften und ihre Sprachen sind auf nationaler Ebene wie auch auf der Ebene der Fächer zu berücksichtigen. Unterschiede in den national geprägten Schreibkulturen lassen sich teilweise durch die verschiedenen Ideale der Bildungssysteme erklären (vgl. Siepmann 2006: 133), die wiederum die Wissenschaftskommunikation in den jeweiligen Ländern beeinflussen. Über die Beachtung des nationalen Kontextes hinaus sind Unterschiede zwischen den großen Fachkulturen - wie Formal-, Natur-, Ingenieur-, Sozial- und Geisteswissenschaften - von Bedeutung. Die von den verschiedenen Disziplinen abgedeckten Untersuchungsgebiete und erkenntnistheoretischen Positionen variieren stark und sind deshalb ein wichtiger Faktor bei der Bestimmung von Schreibkonventionen und den damit verbundenen Anforderungen an die Wissenschaftler. So wird z.B. in den Naturwissenschaften, bedingt durch eine ausgeprägte Gegenstandsbezogenheit und den Einsatz experimenteller Forschungsmethoden, Schreiben oft „als nachgeordnete Tätigkeit, die der <?page no="323"?> Wenn deutsche Wissenschaftler englische Texte schreiben (müssen) 311 ‚eigentlichen‘ Arbeit folgt“ (Lehnen 2009: 281) konzipiert. Im Gegensatz dazu wird das Schreiben in den Geisteswissenschaften als konstitutiv für den Erkenntnisprozess gesehen. Der Grad der Anglophonie einer Wissenschaft, d.h. der Umfang, in dem die englische Sprache in dieser Disziplin verwendet wird, gibt darüber hinaus Auskunft über die dominante Publikationssprache in diesen Fächern. Skudlik (1990: 213) unterscheidet zwischen anglophonen, anglophon geprägten sowie nationalsprachlich geprägten bzw. polyglott orientierten Fächern. In den anglophonen Fächern wird ausschließlich Englisch in der Wissenschaftskommunikation verwendet. In anglophon geprägten Wissenschaften gilt dies nur für internationale Wissenschaftskommunikation, in anderen Bereichen wird aufgrund nationaler Forschungstraditionen oder lokaler Anwendungsgebiete die Nationalsprache eingesetzt. Dagegen ziehen nationalsprachlich geprägte und polyglott orientierte Wissenschaften, deren Inhalte eng mit der Nationalsprache verknüpft sind, „die Sprachenvielfalt als Erkenntnisinstrument ins Kalkül“ (Skudlik 1990: 215). Vor allem in den letzten beiden Gruppen droht bei einer weiter fortschreitenden Anglophonie die Gefahr einer zu starken Orientierung am anglo-amerikanischen Forschungsraum und einer Vernachlässigung des nationalen bzw. lokalen Kontextes (vgl. de Swaan 2001: 78). Auch im Publikationswesen sind die Auswirkungen der Anglisierung spürbar. Ursprünglich nicht-englischsprachige Verlage müssen jetzt Mehrkosten tragen, wie für die Einbeziehung weiterer (anglophoner) Zeitschriftenherausgeber und Lektoren sowie für die Anfertigung von Übersetzungen. Britische und amerikanische Verlage haben hierdurch einen Wettbewerbsvorteil (vgl. Ammon 2003: 29). Insbesondere für Fachzeitschriften ist die Tendenz erkennbar, dass sich auch Herausgeber in nicht anglophon geprägten Disziplinen gezwungen sehen, zunehmend englischsprachige Artikel zu veröffentlichen. Es ist davon auszugehen, dass die Sprachenpolitik 5 der Verlage u.a. durch den Grad der Anglophonie und die Zielgruppe eines Faches beeinflusst wird. Über den Umgang mit Texten von Nichtmuttersprachlern des Englischen seitens der Personen, die beim Redigieren dieser Texte beteiligt sind, gibt es nur wenige Einzelfallstudien (vgl. Kaplan/ Baldauf 2005; Ross et al. 2006; Tardy/ Matsuda 2009). Die Publikationen, die Einstellungen von Herausgebern und deren Umgang mit nicht-muttersprachlichen Texten behandeln (vgl. z.B. Gosden 1992; Flowerdew 2001; Belcher 2007), geben aber Aufschluss über wichtige Bewertungskriterien von Manuskripten. So fallen 5 Hiermit ist die implizite Sprachenpolitik gemeint, die sich z.B. an den sprachlichen Anforderungen an Publikationen eines Verlages ablesen lässt. <?page no="324"?> Claus Gnutzmann 312 Beiträge von Nichtmuttersprachlern häufig durch eine hohe Zahl von sprachlichen Fehlern, eine zu starke Beschränkung auf den jeweiligen nationalen Kontext sowie fehlende Verortung des Autors im wissenschaftlichen Diskurs auf (vgl. Flowerdew 2001: 127). Es gibt weiterhin Einzelberichte über Diskriminierung von Nichtmuttersprachlern aufgrund von Abweichungen von anglo-amerikanischen Diskurserwartungen (vgl. Ammon 2003: 26), die andeuten, dass muttersprachliche Herausgeber oft von einer grundsätzlichen Gültigkeit anglo-amerikanischer Regeln und Sichtweisen im Wissenschaftsbetrieb ausgehen. Diese Faktoren betreffen sowohl die rein sprachliche Ebene als auch die Diskursebene, die durch spezifische „Argumentations-, Denk- und Mitteilungsstrukturen“ (Schröder 1988: 121) gekennzeichnet ist (vgl. auch Clyne 1987). Durch eine gezielte Befragung der Hauptakteure zu diesen Einflüssen können Bewertungstendenzen und mögliche Vorurteile gegenüber Nichtmuttersprachlern aufgezeigt werden. Die Offenlegung von impliziten Bewertungskriterien der Verlage und Fachzeitschriften kann darüber hinaus eine Hilfestellung für Wissenschaftler sein, die in internationalen Journals publizieren wollen. 2 Zielsetzung des Projekts Für den deutschen Sprachraum gibt es bisher keine Untersuchungen darüber, wie Wissenschaftler den Prozess des Schreibens wissenschaftlicher Texte in englischer Sprache im Einzelnen bewältigen und wie von Nichtmuttersprachlern verfasste englische Manuskripte durch - muttersowie nichtmuttersprachliche - Herausgeber und Lektoren von Zeitschriften bewertet werden. Ebenso fehlt es an Studien zum Einfluss der Anglisierung auf das Deutsche als Wissenschaftssprache. Mit dem PEPG-Projekt wird ein Beitrag zum genaueren Verständnis der Rollen des Englischen und Deutschen im wissen-schaftlichen Schreib- und Publikationsprozess geleistet. Das Verfassen (Projektteil Wissenschaftler) und Veröffentlichen (Projektteil Herausgeber und Verlagsmitarbeiter) wissenschaftlicher Artikel soll dafür in vier exemplarischen Disziplinen (Näheres dazu in Abschnitt 3) genauer untersucht werden. Im ersten Projektteil wird das Schreibverhalten der Wissenschaftler disziplinspezifisch betrachtet, um Herausforderungen, handlungsleitende Einstellungen und Problemlösungsstrategien zu ermitteln. Im zweiten Projektteil stehen der Einfluss der Anglisierung auf das Publikationswesen und die explizit und implizit verwendeten Bewertungskriterien für Manuskripte von Nichtmuttersprachlern im Vordergrund. Das Projekt widmet sich folgenden Hauptfragestellungen: <?page no="325"?> Wenn deutsche Wissenschaftler englische Texte schreiben (müssen) 313 1. Auf welche Schwierigkeiten stoßen deutschsprachige Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen beim Verfassen englischsprachiger Aufsätze? 2. Welche Hilfsmittel und Strategien setzen die Wissenschaftler ein, um diesen Schwierigkeiten entgegen zu wirken? 3. Welche Einstellungen zu den Wissenschaftssprachen Englisch und Deutsch sowie zum Publizieren auf Englisch finden sich bei den Wissenschaftlern? Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten gibt es zwischen den Disziplinen? 4. Welche Handlungsempfehlungen können auf Grundlage der Forschungsergebnisse ausgesprochen werden, insbesondere für das wissenschaftliche Schreiben und Publizieren auf Englisch? Die Auseinandersetzung mit bisherigen Forschungsergebnissen sowie die erste Auswertung der in der Pilot- und Hauptstudie erhobenen Daten fanden Eingang in folgende Hypothesen, die dem Projektteil Wissenschaftler zugrunde gelegt wurden: Englisch wird in Deutschland nicht nur zur internationalen Kommunikation eingesetzt, sondern durchdringt inzwischen alle Domänen wissenschaftlicher Kommunikation, von rein theoretischen bis hin zu angewandten und alltäglichen Bereichen. Der wachsende Einfluss des Englischen als Wissenschaftssprache reduziert die Benutzung und den Ausbau deutscher Fachsprachen und verdrängt sie in manchen Disziplinen. Mit der zunehmenden Benutzung des Englischen als Wissenschaftssprache geht eine Annäherung an oder sogar eine Übernahme anglo-amerikanischer Diskursmuster einher. Publizieren auf Englisch bedeutet erhöhte finanzielle Kosten und Opportunitätskosten für Nichtmuttersprachler des Englischen. Mehrsprachige Wissenschaftler profitieren von der Teilnahme an mehreren Wissenschaftsdiskursen, sind aber gleichzeitig gegenüber rein anglophonen Forschern benachteiligt, da sie Kompetenzen in mehreren Wissenschaftssprachen entwickeln und aufrecht erhalten müssen. Mit zunehmender Schreiberfahrung verbessern Nichtmuttersprachler des Englischen ihre Schreibfertigkeiten und -strategien in der Fremdsprache. Für den Projektteil Herausgeber und Verlagsmitarbeiter sind folgende Hypothesen handlungsleitend: Englische Muttersprachler haben erhebliche Vorteile gegenüber Nichtmuttersprachlern bei der Veröffentlichung ihrer Forschungsergebnisse in internationalen Zeitschriften. Das Bewusstsein für die kommunikative Benachteiligung von Nichtmuttersprachlern und andere Wissenschaftstraditionen ist in internationalen Verlagen gering ausgeprägt. <?page no="326"?> Claus Gnutzmann 314 Die Beurteilung der Qualität englischsprachiger Manuskripte durch Muttersprachler erfolgt nach anderen Kriterien als die Beurteilung durch Nichtmuttersprachler. Texte mit hohem Abstraktionsgrad werden eher auf Englisch veröffentlicht, Texte mit hohem Anwendungsgrad eher auf Deutsch. Dissertationen werden in allen Fächern zunehmend auf Englisch verfasst. 3 Forschungsdesign Im Mittelpunkt des Forschungsprojektes standen nicht die ‚fertige‘ Sprach- und Argumentationsstruktur von Fachaufsätzen, sondern der Weg dorthin. Zur Untersuchung der Prozesshaftigkeit und der sozialen Dimension des Schreibens erschien es deshalb sinnvoll, die Hauptakteure in diesem Feld - Wissenschaftler sowie Verlagsmitarbeiter und Herausgeber - genauer in den Blick zu nehmen. Hierzu bieten sich insbesondere qualitativ orientierte Ansätze an, da diese u.a. eine Rekonstruktion „latenter Bedeutungsgehalte“ (Bogner/ Menz 2009: 14), wie z.B. Einstellungen und Sichtweisen, ermöglichen und eine höhere inhaltliche und konzeptuelle Flexibilität als quantitative Ansätze aufweisen. Ein Fragebogen wäre demnach aufgrund seiner geringeren Offenheit und der fehlenden Möglichkeit, Nachfragen zu stellen und Narrationen zu generieren, nicht geeignet, um Hintergründe aufzudecken und die gewünschte Informationstiefe zu erreichen. Erkenntnisse über das Vorgehen der Wissenschaftler beim Schreiben und Publizieren englischsprachiger Artikel und über die Bewertung wissenschaftlicher Artikel durch Verlagsmitarbeiter und Herausgeber sowie handlungsleitende Einstellungen beider Gruppen können am effizientesten über mündliche Befragungsmethoden gewonnen werden. Als besonders geeignet für die Umsetzung der Zielsetzung erwiesen sich dabei Experteninterviews, eine Unterform qualitativer Interviews, bei der mithilfe eines Leitfadens ‚Experten‘ zu einem ausgewählten Gegenstandsbereich befragt werden. Im Unterschied zu wesentlich offeneren narrativen oder problemzentrierten Interviews verfolgt das Experteninterview einen mittleren Grad an Strukturiertheit, der individuelle Relevanzsetzungen der Befragten zulässt, durch im Interviewleitfaden fixierte Fragen jedoch ebenso die Vergleichbarkeit der in den unterschiedlichen Interviews gewonnen Daten sichert (vgl. Liebhold/ Trinczek 2009: 38). Thematisch orientiert sich der Leitfaden mit 20 Hauptfragen und zahlreichen optionalen Unterpunkten (Prompts) zwar an den oben abgebildeten Hypothesen, berücksichtigt aber auch andere Faktoren und setzt diese in offene, Narrationen generierende Fragen um (vgl. Witzel 2000). So zielt beispielsweise die Leitfaden-Frage „Welche Sprachen verwenden Sie in Ihrem <?page no="327"?> Wenn deutsche Wissenschaftler englische Texte schreiben (müssen) 315 Institut, also z.B. in der Lehre oder im Labor? “ darauf ab, das tatsächliche Ausmaß der Anglisierung, gerade in Bereichen außerhalb des schriftlichen Publizierens, genauer zu erfassen. Während derartige Fragen wichtiges Hintergrundwissen zur Situation der Befragten eruieren sollen - ebenso wie beispielsweise eine Frage zur Sprachbiographie der Befragten - spielen Prozessbeschreibungen zum Erstellen, Überarbeiten und Publizieren von Artikeln eine noch zentralere Rolle. Aber auch Fragen zur Wahrnehmung einer Benachteiligung als Nichtmuttersprachler, zum Umgang mit Hilfsmitteln oder zur Rolle des Englischen in der Lehre wurden gestellt. Für die Befragung der Wissenschaftler sind folgende Besonderheiten berücksichtigt worden: Zusätzlich zu den Interviews der Pilotstudie sind für die Hauptstudie in vier ausgewählten Disziplinen insgesamt jeweils sechs Interviews durchgeführt worden. Um einen hochschulspezifischen Bias auszuschließen, sind hierfür Wissenschaftler verschiedener deutscher Universitäten befragt worden. Die vier untersuchten Fächer wurden dabei nach dem Kriterium der exemplarischen Repräsentativität für eine bestimmte Fächergruppe ausgewählt. Dabei handelt es sich um die ‚Geschichte‘ und die ‚Germanistische Linguistik‘ für die Geisteswissenschaften, den ‚Maschinenbau‘ für die Ingenieurwissenschaften und die ‚Biologie‘ für die Naturwissenschaften. Die getroffene Fächerauswahl gilt für beide Teilprojekte. Der Vorteil der Einbeziehung mehrerer Wissenschaftler pro Disziplin besteht darin, dass die Vielfalt der in den verschiedenen Fächern vorherrschenden Denk- und Argumentationsmuster so besser herausgearbeitet werden kann. Es ist weiterhin davon auszugehen, dass die Wissenschaftler sich berufsbiographisch sowohl hinsichtlich fremdsprachlicher Vorkenntnisse als auch muttersprachlicher Schreibsozialisation unterscheiden. Hinzu kommen verschiedene, durch die Fachkultur beeinflusste Einstellungen zum Stellenwert von Sprache in der Disziplin sowie zum Englischen einschließlich der damit verbundenen Auswirkungen auf den Wissenschaftsbetrieb. Diesen Faktoren Rechnung tragend, wurden Wissenschaftler verschiedener Stufen akademischer Erfahrung - Doktoranden, Postdocs und Professoren - befragt, die zum Zeitpunkt der Befragung mindestens eine Publikation in englischer Sprache verfasst haben mussten. Die Befragung der Verlagsmitarbeiter und Herausgeber konzentriert sich analog zur Interviewstudie der Wissenschaftler ebenfalls auf die vier ausgewählten Disziplinen. Somit ergibt sich die folgende Verteilung der Interviews: <?page no="328"?> Claus Gnutzmann 316 Projektteil Schreiben Projektteil Publizieren Disziplin Doktoranden Postdoktoranden Professoren Herausgeber Verlagsmitarbeiter Interviews pro Disziplin Biologie 2 2 2 2 2 10 Maschinenbau 2 2 2 2 2 10 Germanistische Linguistik 2 2 2 2 2 10 Geschichte 2 2 2 2 2 10 Gesamtzahl Interviews 40 Abb. 1: Interviews in den Projektteilen Schreiben und Publizieren An die Durchführung der Interviews mit Wissenschaftlern und Herausgebern schloss sich die Transkription und Anonymisierung der Tonaufzeichnungen an. Die darauf folgende inhaltliche Auswertung der Experteninterviews erfolgt in drei Schritten. Der erste inhaltsanalytische Schritt besteht aus einer interviewspezifischen Auswertung. Dazu werden auf Grundlage der angefertigten Transkripte Individual-Porträts (Fall-Auswertungen) angefertigt, die den Ausgangspunkt für das spätere Kodieren der Interviews bilden (vgl. Kelle/ Kluge 2010: 110). Durch die intensive Auseinandersetzung mit individuellen Fällen ist es möglich, einzelne Aussagekomplexe in Form von Kategorien zu bündeln. Diese „repräsentieren Themen, sie ähneln Überschriften, die mehr oder weniger präzise sein können und ggf. im Zuge des Auswertungsprozesses ausdifferenziert werden müssen“ (Kuckartz 2010: 86). Die Konzentration auf die einzelnen Befragten zu diesem Zeitpunkt der Auswertung erlaubt es, nach subjektiven Sinnstrukturen und persönlichen Einstellungen zum Schreiben und Publizieren auf Englisch und Deutsch zu suchen. Der zweite Schritt der Auswertung ist das Kodieren aller Interviews. Dazu werden die zuvor erstellten und ausdifferenzierten Kategorien zu einem ‚Kodierleitfaden‘ zusammengestellt (vgl. Kuckartz 2010: 87), der unter Zuhilfenahme einer Software für qualitative Datenanalyse (MAXqda 6 ) auf alle Interviews angewendet wird. Im dritten Schritt erfolgt eine fallvergleichende Auswertung der Interviews. Die Erstellung von Fallübersichten ermöglicht eine Auflistung aller Antworten der Befragten zu ausgewählten Kategorien sowie eine Kontrastierung der Daten z.B. nach Fächern oder So- 6 MAXqda ist eine Software zur systematischen Analyse qualitativer Daten. Sie erlaubt das Importieren und Kodieren großer textbasierter Datensätze und bietet eine Reihe von weiteren Funktionen, wie z.B. eine Visualisierung der Ergebnisse. <?page no="329"?> Wenn deutsche Wissenschaftler englische Texte schreiben (müssen) 317 zialisierungsstufen. Ein Beispiel für die Analyse der empirischen Daten ist der Beitrag von Frank Rabe in diesem Band, in dem Begründungen der befragten Wissenschaftler für die Wahl der Publikationssprachen Englisch und Deutsch herausgearbeitet werden. Weitere Untersuchungen im Rahmen des Projektes wurden u.a. zu den verschiedenen sprachlichen und fachlichen Anforderungen deutschsprachiger Wissenschaftler in den hier untersuchten Fächern (vgl. Gnutzmann/ Rabe 2014b) und zu den Einstellungen der Wissenschaftler zur Verwendung des Englischen in der Lehre durchgeführt (vgl. Gnutzmann/ Jakisch/ Rabe i.Dr.). 4 Zusammenfassung In diesem Beitrag wurden die Ausgangsvoraussetzungen und Annahmen, die Hauptforschungsfragen und das Forschungsdesign des Projektes ‚Publish in English or Perish in German? Wissenschaftliches Schreiben und Publizieren in der Fremdsprache Englisch‘ erörtert. Es wurde dargelegt, warum und wie die Studie sich den Herausforderungen, Problemlösungsstrategien und handlungsleitenden Einstellungen deutschsprachiger Wissenschaftler und Herausgeber in fachvergleichender Herangehensweise widmet. Die Untersuchung der wahrgenommenen Probleme und Lösungsstrategien sowie der Einstellungen und Sichtweisen von Forschern verschiedener Fachkulturen ermöglicht nicht nur einen detaillierteren Einblick in die gängige wissenschaftliche Praxis in diesen Kontexten. Sie lässt es darüber hinaus dringend geboten erscheinen, die einzelnen Fachkulturen in ihrem fachlichen Selbstverständnis und ihrer (sprachlichen) Sozialisation besser zu verstehen, wenn Kommunikation mit diesen Erfolg haben soll. Werden die Sichtweisen der einzelnen Fächer nicht wahrgenommen, kann auch kein Dialog mit diesen stattfinden, sondern im besten Fall ein als Einmischung empfundenes ‚Aufoktroyieren‘ von sprachenpolitischen Verordnungen. Elektronische Quellen URL 1: http: / / wokinfo.com/ essays/ impact-factor/ [11.11.2014]. URL 2: Witzel, Andreas (2000): Das problemzentrierte Interview. In: Forum Qualitative Sozialforschung, Nr. 1(1). 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Daher will dieser Beitrag nach einleitenden begriffssystematischen Festlegungen zunächst die Relevanz rhetorischen Wissens für eine gelingende Verständigung zwischen (medizinischen) Experten und Laien (Patienten) hervorheben und sodann die rhetorischen Traditionslinien medizinischer Kommunikation von der Antike bis zur Gegenwart rekonstruieren. Vor dem so entfalteten Hintergrund lassen sich die pragmatischen Bedingungen dieses spezifischen Redekonstellationstypus genauer explizieren. Auf einem solchermaßen sowohl historisch-rhetorisch als auch systematisch-pragmatisch gegründeten Fundament kann die Gesamtheit diskursiver Phänomene institutioneller Kommunikation in Institutionen des Gesundheitswesens genauer in den Blick genommen werden. Dies ermöglicht zugleich einen (im Vergleich zu den Ansätzen traditioneller Literaturwissenschaft) deutlich informierteren Zugang zur Interpretation von Formen der ‚ästhetischen Problematisierung‘ (i.S.v. Hess-Lüttich 1984) medizinischer Kommunikation in exemplarisch ausgewählten Beispielen belletristischer Literatur. 1 Begriff und Motivation 1.1 Medizinische Kommunikation: Intension und Extension des Begriffs Wenn Wissenschaft auf Alltag trifft und Experte auf Laie, etwa Arzt auf Patient, kommt es nicht selten zu Verständigungsschwierigkeiten zwischen beiden Seiten. Dieses sattsam bekannte Phänomen ist anhand der empirischen Analyse von Arzt-/ Patienten-Gesprächen im Bereich der Untersu- <?page no="334"?> Ernest W. B. Hess-Lüttich 322 chung medizinischer Kommunikation mittlerweile gründlich erforscht. ‚Medizinische Kommunikation‘ umfasst aber nicht nur die von struktureller Asymmetrie geprägte Gesprächskonstellation von Arzt und Patient. Vielmehr werden die zahllosen Möglichkeiten sprachlicher, parasprachlicher und nichtsprachlicher Verständigung in der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Domäne der Medizin unter dem Oberbegriff Medizinische Kommunikation subsumiert. Dazu zählen neben dem Arzt-Patienten-Gespräch insbesondere das Arzt-Arzt-Gespräch und das Arzt-Schwester-Gespräch, aber auch die Arzt- und Pflegepersonal-Patienten-Kommunikation in der Intensivmedizin sowie spezifische rhetorische Formen und Wendungen zur Erklärung von medizinischen Sachverhalten. Für medizinische Vorträge, Business-to- Business- oder Business-to-Consumer-Kommunikation von Krankenkassen, pharmazeutischen Unternehmen, Klinikbetreibern, Ärzten und Patienten hat sich ebenso wie für medizinisches Marketing, Public Relations im Gesundheitswesen und die journalistisch und publizistisch aufbereitete, medialisierte Medizinische Kommunikation zusätzlich der Begriff Gesundheitskommunikation etabliert. Als kommunikativer Akt und als Bestandteil der Arzt-Patienten-Interaktion ist die Gesundheitsinformation der Gesundheitskommunikation zuzuordnen. Der folgende Beitrag versucht nun, diese unübersichtliche Vielfalt etwas zu sortieren und im Hinblick auf ihre wissenschaftshistorische Dimension neu zu erschließen, indem er nach einem einleitenden Überblick die rhetorische Tradition medizinischer Kommunikation von der Antike bis zur Gegenwart kursorisch nachzeichnet, die pragmatische Konstellation der Arzt- Patienten-Kommunikation beschreibt, die institutionelle Kommunikation im Gesundheitswesen thematisiert und die ästhetische Problematisierung medizinischer Kommunikation in der Literatur anhand einiger ausgewählter Beispiele exemplarisch illustriert. 1 1.2 Vom Nutzen der Rhetorik für die Medizinische Kommunikation Ärztliche Therapiegespräche oder Gespräche, die im Hinblick auf eine anschließende Therapie geführt werden, sind wie Gespräche unter Ärzten oder zwischen Ärzten und Pflegepersonal als face-to-face-Kommunikation Gegenstand nicht nur der klassischen Rhetorik generell, sondern im engeren Sinne neuerdings Objekt der Erforschung der Medizinischen Kommunikation mit den Methoden und Verfahren der Gesprächsrhetorik, Gesprächsanalyse, Diskursana- 1 Die folgenden Abschnitte (1.2 und 2) sind aus einem gemeinsam mit Jan König verfassten Wörterbucheintrag im Historischen Wörterbuch der Rhetorik (HWR) herausgewachsen, der 2012 im Nachtragsband des Werkes erschien (Hess-Lüttich/ König 2012: 660— 669); sie wurden für diesen Beitrag überarbeitet und um die Abschnitte 3—6 ergänzt. Jan König sei für seine Mitwirkung herzlich gedankt. <?page no="335"?> Bausteine zur Rhetorikgeschichte medizinischer Kommunikation 323 lyse, z.T. auch der Soziologie und der Supervisionsforschung. Handelt es sich um Kommunikation zwischen Pflegepersonal und einem kognitiv eingetrübten und verbal nicht reaktionsfähigen Patienten, treten zudem Forschungsaspekte der Semiotik hinzu (Semantik und Syntaktik para- und nonverbaler Zeichenketten), die z.T. rhetorischen Regeln unterworfen sind und rhetorische Elemente enthalten. Weitere Bezüge zur Rhetorik bestehen seit der Antike im Vergleich der wissenschaftlichen Disziplinen, in der medizinischen Terminologie und in der Repräsentation der Medizin vor einem fachinternen oder fachexternen Publikum (Fachkommunikation vs. Experten-/ Laien-Kommunikation). Eine wissenschaftlich fundierte Orientierung medizinischer Gesprächsführung an rhetorischen Kommunikationsmodellen steht bislang aus, aber einige Ergebnisse aus medizinischen Publikationen lassen sich mit dem rhetorischen Wissen über Kommunikationsstrukturen konfrontieren. Den Ansatz für einen solchen Vergleich bieten z.B. Silverman/ Dean/ Draper (2005: 117), die das Arzt-Patienten-Gespräch chronologisch gliedern und mit ihrer Phasenstruktur - ‚initiating the session‘, ‚gathering information‘, ‚physical examination‘, ‚explanation and planning‘, ‚closing the session‘ - eine Vorlage für die partes orationis eines hypothetischen Arztgesprächs bieten. In der einschlägigen Fachliteratur (auch der medizinischen) sind häufiger Beschreibungen von spezifischen Gesprächsanforderungen zu finden als Analysen der sie bestimmenden Bedingungen. Eine detaillierte Auflistung bietet Monika Dorfmüller (2001: 17), aus der sich einige Aspekte extrahieren lassen, die in der Rhetorik signifikante Äquivalenzen haben: (i) „Stillen des Informations- und Kommunikationsbedürfnisses“, „Darstellung der diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen inklusive Risiken und Nebenwirkungen“, Herstellung einer Vertrauensbasis, Empathie: Wirkungsmittel λόγος (lógos), ἔ θος (ēthos), πάθος (páthos) und das aptum sowie parasprachliche Mittel; (ii) „verständliche Sprache“, Berücksichtigung von Biographie und aktueller Situation, „patientenorientiert aktives Zuhören“: aptum und Redeschmuck sowie parasprachliche Mittel; (iii) „konstruktive Umgangsstrategien“, Überzeugung statt Überredung, Hilfe bei der „Entwicklung individueller Bewältigungsstrategien“, aktive Patientenrolle: τέλος (telos), persuasio und Topik (vgl. Dorfmüller 2001). Für die Entscheidungsfindung bei Therapiegesprächen haben sich die Interaktionsgenera ‚Shared-Decision-Making‘, ‚Paternalistische Entscheidung‘ und ‚Informierte Patientenentscheidung‘ etabliert, die im Sinne des rhetorischen aptum von den Bedingungen der Krankheit und des Krankheitszustandes eines Patienten, von Motivation und Fertigkeit des Arztes sowie von „soziodemographischen und psychosozialen Patientenmerkmalen“ abhän- <?page no="336"?> Ernest W. B. Hess-Lüttich 324 gig sind (Siegrist 6 2005: 263f.). Die Wahl eines bestimmten Interaktionsgenus scheint die ‚Wirksamkeit‘ bzw. ‚efficacy‘ einer Therapie nur eingeschränkt zu beeinflussen, jedoch wird der ‚Nutzwert‘ bzw. die ‚efficiency‘ stark erhöht, die den „unter Alltagsbedingungen zu erwartenden Effekt einer Therapie“ beschreibt (Siegrist 6 2005: 265). Bei der Diskussion über den Zusammenhang von Kommunikation, medizinischer Therapie und Rhetorik darf nicht übersehen werden, dass eine unsachgemäße oder unangemessene Gesprächsführung bei Patienten Fehlwirkungen auslösen kann, deren Folgen zwar denen eines fehlerhaft verordneten Medikaments ähnlich sein können, die aber nicht (oder noch nicht) als ‚Kunstfehler‘ bewertet wird. Solche Folgen können von einer negativen Lebenseinstellung oder gesundheitlich schädlichen Lebensweise über eine fehlerhafte Befolgung ärztlich angeordneter Medikation oder den Abbruch einer notwendigen Behandlung (‚non-compliance‘) bis hin zu Suizidversuchen reichen. Daher gilt noch immer der Grundsatz: „Sprache ist eine Conditio sine qua non der Medizin, Kriterium für Existenz und Qualität des therapeutischen Prozesses“ (Madler 2006: 1037). Die gründliche und wissenschaftlich fundierte Ausbildung eines Mediziners auch im Bereich der Kommunikation, die zweifellos einen elementaren und wesentlichen Bestandteil seiner Arbeit ausmacht (vgl. schon Stössel 1981: 90), ist somit geboten und darf im Studium und nachfolgender Ausbildung nicht länger vernachlässigt werden: „Worte können unsagbar wohltun und fürchterliche Verletzungen zufügen“ (Freud 1997: 280). Die stärkere Einbeziehung der Rhetorik in die medizinische Ausbildung und Praxis ließe dagegen Erfolge in der medizinischen Betreuung erwarten. Aus der Perspektive des Mediziners sind dies z.B. eine strukturierte Anamnese, optimierte Diagnose und fokussierte Therapie, aus der Perspektive des Patienten seine aktive Rolle in der Therapie und damit verständige Teilhabe am Heilungsprozess, beides im Sinne einer holistischen, auch präventiven, nachhaltigen Medizin: „Sprache bewusst und gezielt einzusetzen und den hiermit verbundenen Umdenkprozess hin zu einer anthropologischen Medizin, die den Patienten in seiner biologischen, psychologischen und sozialen Dimension akzeptiert, halte ich für eine der wenigen effektiven Möglichkeiten, unser Gesundheitswesen zum Wohle des Einzelnen und im Sinne der Gesellschaft zu stabilisieren.“ (Madler 2006: 1038) Dies hätte im Übrigen für die Praxis in einem sich dynamisch ökonomisierenden Gesundheitssystem auch wirtschaftliche Vorzüge, die sich aus einer effektiveren Nutzung der Rhetorik für die Medizin ergeben. Hierzu zählen im Sinne der ‚efficiency‘ z.B. eine zielgenauere Diagnostik und damit poten- <?page no="337"?> Bausteine zur Rhetorikgeschichte medizinischer Kommunikation 325 ziell kürzere und kostengünstigere Therapie (Birkner 2006: 179), präziser dosierte Medikation und genauere Befolgung ärztlicher Anweisungen, die höhere Bereitschaft zur demgemäßen Einnahme von Medikamenten (‚compliance‘) und die Vermeidung falscher Selbstmedikation. Der Arzt kann neue kostensenkende Maßnahmen wirksamer vermitteln, etwa durch Aufklärung des Patienten über kostengünstige Medikamentenbestellung oder weiterführende Informationen im Internet. Solche ‚externen Gesundheitsinformationen‘ können freilich, zumal ohne Anleitung des Arztes, auch eine Konfliktquelle in der Arzt-Patienten-Beziehung bewirken, wie Dierks/ Schwartz (2001) sie beschreiben; die „Ärzteschaft kann jedoch diese Herausforderung nutzen, um Stärken und Schwächen dieses neuen Informationsmediums in eine verbesserte Arzt-Patienten-Kommunikation einzubeziehen“ (Siegrist 6 2005: 262). Gesundheitsinformation im Rahmen von Arzt-Patienten-Gesprächen kann der Anleitung zur Selbsthilfe dienen (vgl. Walter 2005). Selbsthilfe als Medizinische Kommunikation findet z.B. oft in Selbsthilfegruppen statt, die in einem therapeutischen Prozess eine relevante Rolle übernehmen können: „Ziele geringer Reichweite wie die Unterstützung anderer Mitglieder, Informationsaneignung, Menschen zum Reden zu finden, selbstständiger Umgang mit der Krankheit und gemeinsame Freizeitgestaltung, und Ziele mittlerer Reichweite wie Einstellungsänderungen bei Betroffenen und im sozialen Umfeld sowie Interessenvertretung für Betroffene, werden in recht hohem Maße verwirklicht.“ (Borgetto/ v.d. Knesebeck 2009: 22) In einem zunehmend privatisierten medizinischen Versorgungsnetz haben Ärzte, Träger und alternative Anbieter, die die Vorzüge einer rhetorisch angemessenen und kommunikativ empathischen Begegnung mit ihren Patienten kennen und zu nutzen wissen, erkennbar Wettbewerbsvorteile gegenüber solchen, die sie nicht kennen oder nicht nutzen wollen. Dies setzt eine diesbezüglich fundierte Ausbildung voraus, auch des ärztlichen Personals in medizinischen Institutionen, weil die progrediente Ausdifferenzierung therapeutischer Kompetenzen zu einer Distanz im Arzt-Patienten-Verhältnis führen kann, die wiederum eine latente Unzufriedenheit des Patienten zur Folge hat, der sich ihrer Ursache nicht bewusst ist und vergeblich immer häufiger verschiedener Ärzte zum selben Symptom oder Syndrom konsultiert (vgl. Ben-Sira 1988). Eine verbesserte Verständigung zwischen Arzt und Patient kann solche Folgen vermeiden helfen, weil sie mit der auch kommunikativ optimierten Versorgung des Patienten zugleich ökonomischen Fehlentwicklungen (Stichwort ‚Apparatemedizin‘) entgegenwirkt: „Sprachvermögen ist das größte ärztliche Kapital“ (Madler 2006: 1037). Eine fundierte <?page no="338"?> Ernest W. B. Hess-Lüttich 326 Ausbildung indes setzt empirisches Wissen darüber voraus, also eine verstärkte Erforschung eben der Medizinischen Kommunikation. 2 Zur Rhetorikgeschichte Medizinischer Kommunikation 2.1 Medizin und Rhetorik in der Antike In der Antike lassen sich drei wesentliche Verknüpfungen von Rhetorik und Medizin feststellen: Rhetorik im medizinischen Wissenschaftsdiskurs, rhetorische Mittel in der Arzt-Patienten-Kommunikation, interdisziplinäre Korrespondenzen zwischen Medizin und Rhetorik. Zum Vergleich der beiden Wissenschaften findet sich bei Platon im Phaidros der Hinweis: „Es hat dieselbe Bewandtnis mit der Redekunst wie mit der Heilkunst. […] In beiden mußt du die Natur auseinanderlegen, die des Leibes in der einen, der Seele in der andern, wenn du nicht nur hergebrachterweise und erfahrungsgemäß, sondern nach der Kunst jenem durch Anwendung von Arznei und Nahrung Gesundheit und Stärke verschaffen, dieser durch angeordnete Belehrung und Sitten, welche Überzeugung und Tugend du willst, mitzuteilen begehrst.“ (Platon, Phaidros, 270b) Im Gorgias lässt Platon den Sophisten sogar davon berichten, wie er bei einem Kranken die Therapie durch Reden ersetzt habe: „Nämlich gar oft bin ich mit meinem Bruder oder andern Ärzten zu einem Kranken hingegangen, der entweder keine Arznei nehmen oder den Arzt nicht wollte schneiden und brennen lassen, und da dieser ihn nicht überreden konnte, habe ich ihn doch überredet, durch keine andere Kunst als die Redekunst.“ (Platon, Gorgias, 456b) Platon teilt die medizinische Versorgung in drei Klassen ein, was erhellende Rückschlüsse auf das Gesundheitssystem der Antike und damit die Stellung der Rhetorik und des Gesprächs in der Therapie zulässt: Für die Sklaven ist eine Medizin vorgesehen, die zutreffend als Veterinärmedizin bezeichnet werden kann. Patienten werden generalisiert behandelt, Krankheiten nur rudimentär und autoritär (Plat. leg. 720a—c). Für die freie Mittelschicht soll eine Medizin in Betracht kommen, die zwar den Menschen heilen will, sich aber therapeutisch ansonsten nicht weiter um ihn kümmert: Wenn ein Zimmermann eine Magen-Darm-Erkrankung hat, bekommt er ein Mittel zum Erbrechen oder Abführen. Hilft es ihm, so wird er geheilt, hilft es nicht, so bleibt er krank - in der Antike und insbesondere in der Staats-Philosophie Platons für die Schicht der Arbeiter und Handwerker eine angemessene Medizin (Plat. rep. III, 406d—e). Der Oberschicht weist Platon individualisierte und durch Gespräche vermittelte medizinische Hilfe zu: in der echten ‚Heil- <?page no="339"?> Bausteine zur Rhetorikgeschichte medizinischer Kommunikation 327 kunst‘ als Krone medizinischer Versorgung tritt zu den medikamentösen Behandlungsmitteln die kommunikative Therapie hinzu. Sie wird als fester Bestandteil der bestmöglichen und wirksamen Medizin: In den Nomoi wird mehrfach beschrieben, wie ein freier Arzt einen freien Patienten individuell berät, überzeugt und therapiert (Plat. 720d u. 857c—d). Rhetorik mit Medizin (auch philosophische Fragen mit heilkundlichen) zu vergleichen, ist ein beliebter Topos in der Antike. Er findet sich nicht nur in Platons Phaidros oder im Gorgias, sondern auch in „fast allen Schriften, die aus Platons Feder stammen“ (Jenzer 1964: 1), aber z.B. auch in den δισσο ὶ λ ό γοι (Dissoi logoi I: 2—3, in: Becker/ Scholz 2004: 49) oder bei Quintilian (II: 17, 19; VI: 4, 19). Im antiken medizinischen Wissenschaftsdiskurs werden häufig Bezüge zwischen Medizin und Rhetorik hergestellt, wie etwa in der bekannten These des Hippokrates: „Die Beweise [über die Hilfskraft der Heilkunst] liefern sie [die Ärzte] lieber durch Taten als durch Worte, nicht weil sie das Wort geringachten, sondern weil sie der Meinung sind, für die Masse der Menschen sei das Vertrauen größer, wenn es aus dem, was sie sehen, entsteht, als aus dem, was sie hören.“ (Hippokrates, De arte 13, 1) Gleichwohl dient ihm die Rhetorik im medizinischen Diskurs als Grundlage; in seinen Texten (auch im erwähnten Werk Über die Kunst) hält sich Hippokrates stets an die geläufigen Muster der Redekunst und Dialektik (in den späteren Jahrhunderten wird die Rhetorik in diesem Bereich, der sich später einerseits zur Rhetorik des medizinischen Diskurses, andererseits zum medizinischen Marketing aufspaltet, immer wieder eine Rolle spielen). Offenbar war die Rhetorik also ein fester Bestandteil der antiken Schulmedizin. Weitere Beispiele finden sich etwa bei Rufus von Ephesus in seiner Schrift Die Fragen des Arztes an den Kranken, bei Hippokrates in Der Arzt, bei Marcellus in Über Heilmittel oder bei Plinius d.Ä. in der Naturalis Historia (bei den beiden letzteren allerdings eindeutig mit Bezug zu Aberglauben und ‚Zauberheilkunst‘). 2 Galen nutzt die Rhetorik, um seinen Ansätzen gegenüber anderen eine größere Durchsetzungskraft zu verleihen: „Zahlreiche historische Exkurse in den Schriften des Galen, insbesondere in seinen Kommentaren zu der hippokratischen Sammlung, sind ein gutes Beispiel dafür, wie Geschichte, Philologie und Rhetorik für die Verteidigung eines bestimmten medizinischen Systems dienstbar gemacht wurden.“ (Grmek 1996: 11) 2 Rufus v. Ephesus: Die Fragen des Arztes an den Kranken 1—9, in: Kollesch/ Nickel 1994: 140—150; Hippokrates, Medic. 1, 2, ebd.; Marcellus: Über Heilmittel 28, ebd. 72— 74; Plinius d.Ä., Naturalis historia, in: Önnerfors 1991: 54—59. <?page no="340"?> Ernest W. B. Hess-Lüttich 328 Galen ist überzeugt von der Funktion der Rhetorik im medizinisch-therapeutischen Prozess: „Verständlicherweise rufen sie [die Kranken] […] nicht nach den besten Ärzten […], sondern nach denjenigen, die ihnen zugleich am vertrautesten sind und am besten zu schmeicheln verstehen“ (Galen, De methodo medendi I, 1, in: Kollesch/ Nickel 1994: 64). Galen verwendet das Verb schmeicheln natürlich nicht in seiner heutigen eher negativen Bedeutung von ‚sich einschmeicheln‘ oder ‚um den Bart streichen‘, sondern meint eher ein Vertrauen erweckendes Erklären von therapeutischen Maßnahmen. Das Gespräch zwischen Arzt und Patient wird damit zu einem wichtigen Bestandteil der Therapie und soll dazu beitragen, dass sie zum medizinischen Erfolg führt. Es geht weniger darum, isoliert einzelne Symptome zu behandeln, sondern den Patienten als Ganzes zu sehen, sein ‚rechtes Sein‘ im Sinne von ‚Arete‘ ( ἀ ρετ ή , aretē) wieder herzustellen (Gadamer 1993: 59ff.). Das Therapie-Gespräch wird demnach als elementarer Bestandteil des Genesungsprozesses geführt. So berichtet Plutarch über Antiphon von Athen: „Während er sich noch mit Poetik befaßte, erfand er seine Kunst der Befreiung von Schmerz, ähnlich wie für jene, die krank sind, eine ärztliche Behandlung besteht. In Korinth wurde ihm ein Haus neben der Agora zugewiesen, auf dem er ein Schild anbrachte, wonach er Kranke durch Worte heilen konnte.“ (Antiphon, in: Diels/ Kranz 2004 [1907, 6 1951], Bd. 2, 1. Hälfte: 590) In die Zeit der Antike fällt auch die Begründung der medizinischen Terminologie, die sowohl am medizinischen Wissenschaftsdiskurs als auch an der Arzt-Arzt- und Arzt-Patienten-Kommunikation einen signifikanten Anteil hat. Altgriechische und lateinische Begriffe und Definitionen, die bis heute in der medizinischen Kommunikation in Gebrauch sind, haben hier „in beträchtlicher Zahl“ ihren Ursprung (Caspar 2007: 4). 2.2 Medizin und Rhetorik im Mittelalter Zu Beginn des Mittelalters findet eine belegbare kommunikative Medizin im Sinne der Interaktion zwischen ärztlichem Akteur und Patient vor allem in Form von ‚Zaubersprüchen‘ statt, denen heilende Kräfte zugesprochen werden. Vom Vertrauen in übernatürliche, magische Kräfte des gesprochenen Wortes zeugen z.B. schon die Merseburger Zaubersprüche (vgl. Braune/ Ebbinghaus 1994: 89). Diese Tendenz bleibt bis in das 8. und 9. Jahrhundert bestehen: „Die Textklasse ‚Texte medizinischen Inhalts‘ besteht im Althochdeutschen aus Vertretern der Textsorten ‚Rezept‘, ‚Zauberspruch‘, ‚Glossenhandschrift‘, ‚Glossar‘ und ‚Schultext‘. […] Bei Rezepten und Zaubersprüchen steht die <?page no="341"?> Bausteine zur Rhetorikgeschichte medizinischer Kommunikation 329 Medizin […] deutlich im Vordergrund, daher nehmen diese Textsorten in der medizinischen Textlandschaft den breitesten Raum ein.“ (Riecke 2005: 92) Zaubersprüche übernehmen somit in der früh- und hochmittelalterlichen Medizin noch eine therapeutische Funktion, die zwar nicht der modernen Vorstellung vom kommunikativen Handeln in der Arzt-Patienten-Interaktion entspricht, aber die gleichwohl bestimmten rhetorisch-ästhetischen Regeln folgt: „Allerdings wird der Zauberspruch durch den Rückgriff auf die magische Kraft des Wortes und darüber hinaus oft auch auf eine Vorbildhandlung poetisch aufgeladen. Unterstützt wird die poetische Form durch performative Verben, parataktischen Satzbau, Stabreim und archaischen Wortschatz.“ (Riecke 2005: 93) Mit der zunehmend von den Klöstern übernommenen Gesundheitsversorgung scheint sich in der kommunikativ-therapeutischen Medizin ab dem Hochmittelalter eine deutliche Wende zu vollziehen. Patienten werden im Kloster aufgenommen und aufwendig gepflegt; dies schließt eine ausgeprägte kommunikative Zuwendung durch das klinisch tätige geistliche Personal ein, denn die Medizin war „in erster Linie eine Medizin der Seele, die den Körper durchzog, ohne sich je auf ihn zu beschränken“ (Le Goff/ Truong 2007: 129). Die Krankenversorgung im Zeitalter der ‚Klostermedizin‘ (vgl. Jankrift 2003) zielt auf praktische Hilfe, in der die gewissenhaften Pfleger den (verbalen und nonverbalen) kommunikativen Bestandteilen der Pflege einen beachtlichen Anteil zumessen (Probst 1982: 269; vgl. Eckart 1994a) - ein bemerkenswerter Aspekt, wenn bedacht wird, dass Krankheiten im Mittelalter oftmals als Sündenstrafe gewertet werden (vgl. Jankrift 2005: 15—22; vgl. Münsinger 1997: 5f.). Im Hinblick auf die Kommunikation zwischen Arzt und Patient seien insbesondere die Lehrschriften des salernitanischen Arztes Archimatheus aus dem 12. Jahrhundert erwähnt, allen voran dessen Werk De visitatione infirmorum. Archimatheus beschreibt darin ausführlich die (rhetorischen) Strategien eines Arztes zur Verständigung mit dem Patienten: „Sie waren mit Rücksicht auf die Interessen des Kranken wie auch die des Arztes offenbar notwendig, um zu Beginn der Behandlung wie auch an deren Abschluß ein Vertrauensverhältnis zum Patienten und zu seiner Umgebung aufzubauen bzw. zu erhalten.“ (Grensemann 2001: vii) Ein weiteres medizinisch-kommunikatives Phänomen stellen im ausgehenden Mittelalter und der Frühen Neuzeit die ‚fahrenden Ärzte‘ dar, die gleichsam als ‚Quacksalber‘ über die Jahrmärkte der Städte ziehen, um dort Arzneien und Heilkünste feilzubieten. Ein bekanntes Beispiel ist der ‚Wun- <?page no="342"?> Ernest W. B. Hess-Lüttich 330 derdoktor‘ Eisenbart (Kröll 1992: 158). Man darf vermuten, dass die Ärzte in ihren Vorstellungen auf den Jahrmärkten viel rhetorisches Geschick aufbrachten, um die Zuschauer vom Kauf ihrer Arzneien zu überzeugen: „Wenn sich der fahrende Arzt kurzweiliger Künste als Mittel zum Zweck bediente, um im Zuschauer den potentiellen Patienten zu finden, darf man annehmen, daß die artistischen Darbietungen in bildhaft-spielerischer Form seine ärztlichen Tugenden zum Ausdruck bringen suchten […]“ (Kröll 1992: 178) Eine Analyse überlieferter Berichte und ein Vergleich mit Darstellungen in der Literatur jener Zeit könnte auch für die durch die Ärzte angewandte Rhetorik neue Erkenntnisse liefern, denn der ‚fahrende Arzt‘ und seine Jahrmarktsauftritte werden in der Literatur der Frühen Neuzeit zu einem beliebten Thema (ebd.: 158—165). 2.3 Medizin und Rhetorik in der Frühen Neuzeit und bis zum 19. Jahrhundert Im wissenschaftlichen Diskurs der Medizin ab der Frühen Neuzeit lassen sich trotz der allmählich einsetzenden Hinwendung zu den Naturwissenschaften rhetorisch-kommunikative Elemente sowohl im Bereich der Interaktion zwischen Arzt und Patient als auch als Stilmittel der Forschungsdarstellung nachweisen. Häufig stellen diese Elemente dabei Entwicklungen dar, die sich parallel zu den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen ereignen: Paracelsus (1493/ 94—1541) gilt zwar als Begründer einer (seriösen) pharmazeutischen Behandlung, zählt zu den ‚4 Säulen‘ der Medizin aber auch die ‚Tugend‘ des Arztes, der das Gespräch mit dem Patienten zuzurechnen ist (vgl. Bruchhausen/ Schott 2008: 71ff.). Auch in der Frühen Neuzeit sucht man medizinische Fragestellungen (besonders zur Physiologie) durch rhetorische Bildhaftigkeit zu veranschaulichen, Organe z.B. durch Vergleiche mit staatlich-politischen Institutionen (Caspar 2007: 171—177). Umgekehrt wird das Stilmittel gebraucht, um die Darstellung politischer Zusammenhänge metaphorisch wie Vorgänge im menschlichen Körper darzustellen (ebd.: 178—190). Auch die Verbildlichung medizinischer Aspekte durch rhetorischen Sprachschmuck wird in der Neuzeit beibehalten, wandelt sich aber bald je nach Vorstellung und Mode. Das Verhältnis zwischen ärztlich handelndem Klerus und tatsächlichen Medizinern bleibt dabei zunächst angespannt. Die Vertreter der Kirche übernehmen zwar selbst ärztliche Funktionen, erkennen die Medizin aber nicht als unabhängige Wissenschaft an. Dies ändert sich erst, als sich „die Medizin als substanzielles Fach und gerechtfertigter Beruf bestätigt hat, […] weil sich die sinnbildlichen und gegenständlichen Schichtungen des Hoch- <?page no="343"?> Bausteine zur Rhetorikgeschichte medizinischer Kommunikation 331 mittelalters aufgelöst haben“ (Agrimi/ Crisciani 1996: 194). Arzt und Priester ergänzen sich nun in der Krankenpflege, wobei letzterer zunehmend die kommunikativ-seelsorgerische Rolle in der Therapie der Patienten übernimmt. Für das Leprosenhospital St. Viti bei Uelzen zum Beispiel wird durch den Stifter zu Beginn des 15. Jahrhunderts bestimmt, dass ein Geistlicher, der im Hospital grundsätzlich anwesend sein soll, ausschließlich für die Seelsorge der Kranken einbestellt wird (Vogtherr 1997: 106). Innerhalb der Städte gewinnt eine allgemeine therapeutische Versorgung an Bedeutung, Wundärzte scheinen auch die „Möglichkeit gehabt zu haben, auf begrenzte Zeit Kranke bei sich zu beherbergen, um sie zu therapieren“ (Vogtherr 2009: 319) (hier bezogen auf die Wundärzte des 16. Jahrhunderts in der Stadt Uelzen). Obwohl kaum von einer erlernten Struktur oder akademischen Schulung auf diesem Gebiet auszugehen ist, die Wundärzte ohnehin nicht ausweisen mussten, um ihren Beruf auszuüben, weist die Versorgung der Patienten systematisch auch kommunikative Aspekte auf. Bis eine moderne, technische Untersuchung des Patienten möglich wird, bleibt die Patientenbefragung für einen Arzt die wichtigste oder gar einzige Möglichkeit, Beschwerden, Symptome und mögliche Ursachen einer Krankheit abzuklären. Die detaillierten Befragungen des britischen Arztes Thomas Sydenham sind bis heute erhalten geblieben und gewähren Einblick in die kommunikative Arbeit eines gewissenhaften Arztes im England des 17. Jahrhunderts (vgl. Dewhurst 1966). Im 16. Jahrhundert verstärken die Entdeckungen vor allem in der Anatomie die Konzentration auf die Naturwissenschaften. Im 17. Jahrhundert wird der menschliche Körper dann eher als mechanische Maschine betrachtet, bei der einzelne Fehler durch chirurgische oder pharmazeutische Eingriffe behoben werden. Dennoch gilt der Grundsatz der Antike - dass der Mensch nur im Ganzen als heil bzw. geheilt betrachtet werden könne - noch bis weit ins 18. Jahrhundert fort (vgl. Hoorn 2004: 82f.). Aber gleichzeitig rücken die Naturwissenschaften durch die zahlreichen neuen Erkenntnisse in der medizinischen Forschung stärker in den Blick. Eine Ausnahme bildet im 18. Jahrhundert der Arzt Christoph Wilhelm Hufeland, der seine Heilkunst explizit noch in die Tradition der antiken Lehrmeinung einer ganzheitlichen Lebensweise stellt und dabei Medizin mit Aspekten der Rhetorik kombiniert: Die ‚Diätik‘, also eine medizinisch gesunde Lebensführung, dient ihm dabei als Leitmotiv seiner Arbeit (vgl. Bruchhausen/ Schott 2008: 91f.). In Halle disputieren, ebenfalls im 18. Jahrhundert, Georg Friedrich Meier und Johann August Unzer über die Zusammenhänge zwischen Körper und Emotionen. Unzer betrachtet menschliche Emotionen dabei in der Tradition der Rhetorik als notwendiges Bindeglied zwischen Körper und Seele (Unzer 1995; vgl. Kröll 1992: 87ff.), woraus sich folgern ließe, dass <?page no="344"?> Ernest W. B. Hess-Lüttich 332 gelingende Medizin eine Therapie im Zeichen der rhetorischen Affektenlehre voraussetze. Im Kontext dieser Lehrmeinungen sind auch die medizinischen Interessen Friedrich Schillers zu betrachten, der seine Dissertation 1780 mit dem Titel „Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen“ veröffentlicht. Schiller spricht darin dem bewusst rhetorisch geführten Therapiegespräch eine wesentliche Aufgabe zu: „Das einige Wort wird jugendliche Kraft durch ihre Glieder gießen, die erstorbenen Augen werden Leben und Feuer funkeln.“ (Schiller 1992: 143) Die rhetorischen Tropen gewinnen für die medizinische Terminologie im 18. Jahrhundert (und bis heute) eine besondere Bedeutung; dies gilt vor allem für die Metapher: Der Körper wird mal als ‚Zellenstaat‘, mal als Eisenbahn- Verkehrsnetz umschrieben, Krankheit als Krieg mit den ‚Leukocytentruppen‘, das Gehirn als Staat, Bibliothek und Verwaltungsapparat (vgl. Schmiedebach 2003: 51ff.; Eckart 1994b: 239—253; Caspar 2007: 171—190). Heute wird gelegentlich der Computer oder die Festplatte als Metapher für das Gehirn verwendet. Die Metaphern dienen dazu, den menschlichen Körper innerhalb und außerhalb der Medizin, im wissenschaftlichen Disput wie im Arzt-Patienten-Gespräch, besser zu verstehen und zu veranschaulichen. Manche Metaphern aus früherer Zeit mögen heute unzulänglich oder überholt erscheinen, aber auch heutige Metaphern (wie der Computer für das Gehirn) sind als zeitbedingte Versuche der Verbildlichung dem rhetorischen Redeschmuck zuzuordnen. Von der Renaissance bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts bildet sich allmählich eine einheitlichere Terminologie in der medizinischen Kommunikation heraus. Ursprünglich aus der arabischen Heilkunst übernommene Begriffe, denen im Mittelalter noch eine hohe Bedeutung zukommt, weichen mehr und mehr und am Ende nahezu vollständig griechischen und später vor allem neuen lateinischen Termini. Im 18. und 19. Jahrhundert führen neue Entdeckungen und Fortschritte der Forschung dazu, dass Mediziner ihre Ergebnisse vor einem großen wissenschaftlichen und/ oder fachfremden Publikum darlegen müssen. Seit der Aufklärung stehen medizinische Objektivität und persuasive Rhetorik dabei „in einem gewissen Gegensatz“ (Hess 1997: 299). Einige Mediziner begreifen allerdings, dass die Rhetorik - wie in der medizinischen Wissenschaft der Antike bereits geläufig - nützlich sein kann, um Forschungsergebnisse prägnanter und damit überzeugender darzustellen: Rudolph Virchow ordnet seine Versuchsbeschreibungen in seinen Darstellungen beispielsweise dramaturgisch neu, um sein Publikum für seine Argumente zu gewinnen (ebd.). <?page no="345"?> Bausteine zur Rhetorikgeschichte medizinischer Kommunikation 333 Nachdem die Medizin aufgrund neuer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse innerhalb kurzer Zeit beachtliche Erfolge erzielen kann, kommt es im medizinisch-kommunikativen Bereich am Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Revolution: Sigmund Freud greift in seiner Psychoanalyse Rhetorik nicht nur in der komplexen Gesprächssituation zwischen Arzt und Patient auf, sondern nutzt rhetorische Tropen auch für die Verbildlichung von Krankheitssymptomen in Gespräch und Traumdeutung. Das ‚Wort‘, das Freud als „wesentliches Handwerkszeug der Seelenbehandlung“ begreift (Freud 1975: 17; vgl. 26), rückt damit ins Zentrum seiner kommunikativen Psychoanalyse: „Wir wollen übrigens das Wort nicht verachten. Es ist doch ein mächtiges Instrument, es ist das Mittel, durch das wir einander unsere Gefühle kundgeben, der Weg, auf den anderen Einfluß zu nehmen. Worte können unsagbar wohltun und fürchterliche Verletzungen zufügen. […] das Wort war doch ursprünglich ein Zauber, ein magischer Akt, und es hat noch viel von seiner alten Kraft bewahrt.“ (Freud 1997: 280) Freud fasst die kommunikative Therapie also durchaus als ein ‚Instrument‘ des Arztes auf und folgt damit bezeichnenderweise der sprachphilosophischen Aussage Wittgensteins: „Was wir ‚Beschreibungen‘ nennen, sind Instrumente für besondere Verwendungen“ (Wittgenstein 1999: 291). Dieser terminus technicus für das Wort gilt dabei sowohl für die Therapie und das Arzt-Patienten-Gespräch allgemein als auch speziell für die Anamnese und Diagnostik des Arztes - vergleichbar mit den metaphorischen Beschreibungen für Krankheit und physiologische Medizin. Wie der Arzt dabei ein ganzes Ensemble verschiedenartiger Zeichen erkennen, deuten, in Zusammenhang bringen und beschreiben muss, dokumentiert Umberto Eco in seiner Einführung in den Zeichenbegriff und seine Geschichte (Zeichen) am Beispiel einer einzigen Untersuchung (Eco 1977: 11ff.). Das Erkennen und Beschreiben von (Index-)Zeichen bzw. Symptomen stellt nicht nur für den Arzt ein hermeneutisches, semiotisches, rhetorisches Problem dar, sondern auch für den Patienten, der seine körperlichen Symptome erkennen und beschreiben (können) muss, wie Thure von Uexküll (1994; ebd. 1984a—c) vielfach belegt hat. 2.4 Medizin und Rhetorik im 20. Jahrhundert Im 20. Jahrhundert verstärkt sich noch die naturwissenschaftliche Gewichtung in der Medizin, aber einige Wissenschaftler (besonders in Deutschland) widmen sich in ihren Arbeiten unter anderem auch kommunikativen Methoden und erlangen damit internationale Aufmerksamkeit: Viktor von <?page no="346"?> Ernest W. B. Hess-Lüttich 334 Weizsäcker (1987) etwa tritt für die ‚biographische Methode‘ ein, die (individualisierende) ‚Einführung des Subjekts‘ und Psychoanalyse in den Bereich der Inneren Medizin; gewiss eine Ausnahmeposition in der Medizin der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die aber Parallelen zum Ideal der antiken Medizin und holistischen Gesundheitsversorgung aufweist. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts finden vor allem die Arbeiten des ungarischenglischen Mediziners und Psychoanalytikers Michael Balint internationale Beachtung. Er wird durch die nach ihm benannten ‚Balint-Gruppen‘ bekannt, die Ärzten zum Austausch von Informationen über den Patienten als Subjekt dienen (Balint 9 1996; 1981; Gutwinski-Jeggle 1987). Balint bewirkt mit seinem Ansatz eine neue Wahrnehmung des Verhältnisses von Arzt und Patient, das heute im Focus aktueller linguistisch-diskursanalytischer Forschung zur Arzt-Patienten-Kommunikation steht. Auch die gegenwärtige medizinisch-soziologische Forschung zu der Frage, was ein ‚guter Arzt‘ sei, sieht sich dazu auf die Analyse der semantischen und pragmatischen Elemente der Arzt-Patienten-Beziehung verwiesen, denn die kommunikativen Fähigkeiten gelten als wichtiges Attribut ärztlichen Handelns (vgl. Dörner 2003). Bei Balint findet sich auch der Begriff ‚Passung‘, der die Motivation, Gratifikation und ‚passende Ebene‘ der (auch nonverbalen) Kommunikation und Interaktion beschreibt (Balint 1981a: 116—135). Die Parallelen zum rhetorischen aptum könnten in einer zukünftigen Forschung zur Arzt-Patienten- Kommunikation - vom Therapiegespräch bis hin zur Kommunikation mit eingetrübten und (verbal) nicht reaktionsfähigen Patienten (Hannich 1987) - noch genauer herausgearbeitet werden. In der hermeneutischen Philosophie widmet Hans-Georg Gadamer (selbst bis ins hohe Alter Schmerzpatient) seine Aufmerksamkeit medizinischer Kommunikation und setzt sich mit zunehmendem Alter verstärkt mit philosophischen Fragen zu Krankheit, Gesundheit, Schmerzen und Medizin im Allgemeinen auseinander. Auch seine Arbeiten stehen in der Tradition der antiken Medizin: Krankheiten betrachtet er nicht als singuläre Erscheinungen, die generalisierend behandelt werden, sondern der Patient soll als Individuum im Ganzen betrachtet und nicht nur naturwissenschaftlich oder maschinell, sondern auch kommunikativ einwandfrei umsorgt werden (vgl. Gadamer 1993; 2003). Das Latein als ‚Sprache der Medizin‘ wird in Europa schon seit dem 16. Jahrhundert langsam durch moderne Sprachen abgelöst. Zwar ist in der Medizinischen Kommunikation heute international nach wie vor eine hohe Zahl an Fachtermini griechischen und lateinischen Ursprungs in Gebrauch, aber in Schreibung, Aussprache, Betonung und Grammatik wird die medizinische Terminologie oft der jeweiligen Landessprache, hier dem Deutschen, angepasst; zudem <?page no="347"?> Bausteine zur Rhetorikgeschichte medizinischer Kommunikation 335 „treten zahlreiche gemischte […] deutsch/ englisch-lateinisch-griechische und rein deutsche und englische Termini und Bezeichnungen auf, wobei die Zahl der Letzteren besonders schnell wächst.“ (Caspar 2007: 4) Die durch die Weltgesundheitsorganisation (World Health Organisation, WHO) herausgegebene Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, ICD) kann zu einer erweiterten medizinischen Terminologie gerechnet werden, da sie in einer internationalisierten Standardklassifikation für Diagnosen Krankheiten in Krankheitsgruppen durch einen alphanumerischen Code systematisch erfasst: „Zweck der ICD ist es, systematische Aufzeichnungen, Analysen, Deutungen der Ergebnisse und Vergleiche der in verschiedenen Ländern oder Gebieten und in verschiedenen Zeiträumen gesammelten Mortalitäts- und Morbiditätsdaten zu erlauben.“ (ICD 2000: 2) Die Ursprünge der ICD liegen bereits im 18. Jahrhundert. Die Ausarbeitung und Etablierung erfolgt dann, zunächst als ‚Todesursachenverzeichnis‘, vor allem im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Bis zur Gegenwart gibt es mehrere Revisionen der Liste, die seit Mitte der 1980er Jahre auch in Deutschland verpflichtend ist, hier in der national variierten Fassung ICD- 10-GM (ebd.: 163—177). Während sie einerseits einen internationalen Standard setzen und den multilateralen Austausch erleichtern soll, dient sie in Deutschland vor allem auch zur business-to-business-Kommunikation, d.h. insbesondere zur Abrechnung mit den Krankenkassen. 3 Zur Arzt-Patienten-Kommunikation Als ‚Kommunikationsverhältnis‘ (im kommunikationssoziologisch definierten Sinne von Hess-Lüttich 1981: 108—123) wird die Arzt-Patienten-Interaktion erst seit den 1970er Jahren empirisch untersucht. Die ersten Arbeiten hierzu stammen aus dem angloamerikanischen Raum (vgl. Tanner 1976; Atkinson/ Heath 1981; Fisher/ Todd 1983) und werden etwa seit Beginn der 1980er Jahre im deutschsprachigen Raum fortgesetzt (Siegrist/ Hendel-Kramer 1979; Köhle/ Raspe 1982). Die Studien der folgenden Jahre befassen sich erstmals systematisch mit der empirischen Erhebung und Analyse von Gesprächen zwischen Arzt und Patient, Arzt-Arzt sowie Arzt und Patientenangehörigen mit modernen Methoden der Soziologie, Psychologie, Linguistik und Diskursforschung, in der Medizinische Kommunikation als institutionelle <?page no="348"?> Ernest W. B. Hess-Lüttich 336 Kommunikation gesprächsanalytisch bzw. diskursanalytisch untersucht wird. 3 Die Ergebnisse dieser Studien weisen meist einen negativ zu bewertenden Zustand der Kommunikation im medizinischen Bereich auf: strukturelle Asymmetrie der Gesprächspartner und unklare oder verwirrende Gesprächsstrukturen mit völlig unzureichender ‚Kommunikationsbeziehung‘ zwischen den Gesprächspartnern seien heute nur zwei der signifikanten Probleme in der Medizinischen Kommunikation: „Gespräch als Störung ärztlichen Tuns“ (Lalouschek 1998: 99ff.). Nach der ‚soziolinguistischen Wende‘ wird die Untersuchung der Arzt- Patienten-Kommunikation auch in der Germanistischen Linguistik weiter intensiviert. Pragmatische, grammatikalische und syntaktische Details werden ebenso erforscht wie sozio-psychologische Zusammenhänge. Die Studien der letzten Jahre beschäftigen sich vor allem mit der Aufarbeitung des Status Quo und geben Hinweise für notwendige Veränderungen in der Arzt-Patienten-Kommunikation (v. Uexküll 1983: ixff.; Lalouschek/ Menz/ Wodak 1990: 197ff.). Dafür böten sich z.T. auch Begriffe, Regeln und Methoden der klassischen Rhetorik an, um theoriegeleitet praxisorientierte Modelle für die (Verbesserung und Effektivierung der) Kommunikation im medizinischen Bereich zu entwickeln. 4 Gesundheitskommunikation Die Verständigung im Fache ‚Gesundheit‘ entzieht sich erst recht der üblichen disziplinsystematischen Rubrizierung. Deshalb zunächst ein Wort zur Klärung des Begriffs ‚Gesundheitskommunikation‘, der sich heute als Pendant zu den seit den 80er Jahren im angloamerikanischen Raum betriebenen health communication studies als Titel eines facettenreichen Forschungsfeldes etabliert hat, in dem ganz unterschiedliche kommunikative Aspekte das Forschungsinteresse auf sich ziehen: die Verständigung zwischen den Agenten oder Akteuren der Institution Gesundheitswesen ebenso wie das klassische 3 Die Literatur dazu ist in den letzten Jahren erheblich angeschwollen und kann hier nicht annähernd angemessen resümiert werden. Vgl. für die Entwicklung dieses Forschungssegments im Bereich der Sprachwissenschaft und Diskursforschung allein im deutschsprachigen Raum jedoch exemplarisch u.a. Lörcher 1983; Löning/ Sager 1986; Bliesener/ Köhle 1986; Ehlich et al. 1990; Lalouschek/ Menz/ Wodak 1990; Menz 1991; Redder/ Wiese 1994; Brünner/ Gülich 2002; Neises/ Ditz/ Spranz-Fogasy 2005; Heritage/ Maynard 2006; Nowak/ Spranz-Fogasy 2008; Nowak 2010. Ergänzend sei aus der medizinischen Forschung verwiesen auf Dürholtz 1993; Ripke 1994 sowie zahlreiche Arbeiten von Thure von Uexküll: http: / / www.karl-koehle.de/ archiv/ uexkuell/ publikation.html. <?page no="349"?> Bausteine zur Rhetorikgeschichte medizinischer Kommunikation 337 Arzt-/ Patienten-Gespräch en face als aktueller Gegenstand der Gesprächsanalyse und der Medizinsoziologie, der (hier gänzlich ausgeklammerte) Großbereich der Klinischen Linguistik und Patholinguistik (Aphasieforschung etc.) ebenso wie Sprachtherapie und Spracherwerbsförderung (bei Entwicklungsretardationen oder bei Läsionen des Sprachzentrums), medizinische Vorträge ebenso wie die sog. business-to-business-communication und businessto-consumer-communication der Krankenkassen, Pharma-Unternehmen oder Klinikbetreiber, das medizinische Marketing und die pharmazeutischen Public Relations ebenso wie die publizistisch medialisierte Gesundheitsinformation. Aus der Fülle dieser Forschungsfelder können wir hier zur näheren Betrachtung nur eines herausgreifen: wir konzentrieren uns im Folgenden auf Formen der öffentlichen Kommunikation über Gesundheit, den öffentlichen Diskurs (vgl. Jazbinsek 2000: 12f.). Die Geschichte der öffentlichen Gesundheitskommunikation kann, cum grano salis, in drei einander überlappende Phasen gegliedert werden (Krause et al. 1989: 29f.). Am Anfang standen so genannte ‚aufklärerische Modelle‘, in denen bereits im 18. und 19. Jahrhundert und dann wieder verstärkt in der Weimarer Republik Gesundheitsförderungskampagnen eine Art öffentliche ‚Gesundheitserziehung‘ übernahmen (vgl. Böning 2000; Schmidt 2000). Deren Ziel war es, Informationen zu liefern, die das Individuum befähigen, Entscheidungen zu einem gesunden Lebensstil selbst zu treffen. Solche Aufklärungskampagnen finden heute in den Kampagnen zur AIDS-Prävention, zur Grippeimpfung oder zum Konsum von Drogen aller Art ihre moderne Fortsetzung. Später entwickelte sich das so genannte ‚psychologische Modell‘, das von der Erfahrung ausgeht, dass „die kognitive Komponente der Information“ allein für eine optimale Gesundheitsbotschaft nicht ausreiche, wenn sie nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch eine Einstellungs- und damit eine Verhaltensänderung erzeugen wolle (Krause et al. 1989: 29). Das dritte (heute auch durch die WHO gestützte) sog. ‚Lebensweisen- Modell‘ fordert, Gesundheitsverhalten nicht mehr isoliert zu betrachten, sondern strukturelle Faktoren (wie Arbeits- oder Umweltbedingungen bis hin zu gesetzlichen Bestimmungen, die auf den individuellen Lebensstil Einfluss nehmen) in der Gesundheitskommunikation zu berücksichtigen. Sie soll m.a.W. nicht mehr nur bloß informativ sein (im Sinne der Aufklärung), sie soll auch nicht mehr primär persuasiv sein (im Sinne der Verhaltensänderung), sondern die Plattform bieten für einen umfassenden Diskurs, der individuelle und gesellschaftlich relevante Aspekte der Gesundheit in sich vereint. Dies erweitert das Feld erheblich: <?page no="350"?> Ernest W. B. Hess-Lüttich 338 „Der Begriff ‚Gesundheitskommunikation‘ bezeichnet also nach wie vor ein Forschungsfeld (und kein bestimmtes theoretisches Konzept oder empirisches Verfahren), die Grenzen dieses Feldes werden jedoch deutlich weiter abgesteckt und nicht mehr auf die Medienprodukte eingeengt, die speziell zum Zweck der Gesundheitsinformation erstellt worden sind.“ (Jazbinsek 2000: 13) Das ‚Fach‘ Gesundheit ist also in seinen Praxisbezügen grundsätzlich heterogen, es integriert zahlreiche Disziplinen wie Medizin, Biologie, Psychologie, Soziologie, Pädagogik und berührt auch benachbarte Gebiete wie (Gesundheits-)Politik oder (Gesundheits-)Recht. All das stellt die Kommunikation darüber und deren Beobachtung vor besondere Herausforderungen. In den modernen Wissensgesellschaften hat Gesundheitsinformation heute einen Stellenwert wie kaum ein anderes Thema; Funktion und Wirkung der Massenmedien auf das Gesundheitsverhalten der Bevölkerung sind daher ein wichtiger Teil der heutigen Gesundheitskommunikationsforschung (Hess-Lüttich 2014). Sei es die Berichterstattung über Themen wie AIDS, Krebsmedizin oder Tabakkonsum, seien es technologisch-politisch relevante Diskussionen (wie Gen- und Gentechnologieforschung) oder gesundheitspolitische Debatten (z.B. über Krankenkassenprämien und Versicherungsmodelle): Der einschlägige öffentliche Diskurs basiert auf der (massen-)medialen Inszenierung von Gesundheit (vgl. Zeh 2009). Die Attraktivität des Medienthemas ‚Gesundheit‘ ist übrigens keineswegs überraschend, sondern illustriert nur besonders anschaulich das medienwissenschaftliche Konzept der ‚Nachrichtenwerttheorie‘ (Burkart 1998: 275—278), die bekanntlich u.a. besagt, dass Themen, die für das Leben des Rezipienten relevant sind, mit denen sich der Rezipient identifizieren kann oder die gar eine gewisse Sensationslust erzeugen, sich auch besonders gut als Medienthemen eignen. Da das Thema ‚Gesundheit‘ explizit oder implizit immer auch mit dem Thema ‚Krankheit und Tod‘ in Verbindung steht, haben Gesundheitsinformationen also eigentlich immer einen hohen Nachrichtenwert. Dabei sind die Medien ja nicht zur Gesundheitsberichterstattung verpflichtet. „Wenn sie dieses Thema dennoch aufgreifen, dann nur weil es für ihr Publikum von Natur aus interessant ist oder weil es von den Gesundheitsförderern zu einer interessanten Nachricht gemacht wurde.“ (Naidoo/ Wills 2003: 247) Dafür nun haben sich in Orientierung an dem medienwissenschaftlichen Ansatz des Agenda Setting (Burkart 1998: 246—253), demzufolge die Medien nicht zwingend darüber bestimmen, was die Menschen denken, sondern vielmehr worüber sich die Menschen Gedanken machen (sollen), im wesent- <?page no="351"?> Bausteine zur Rhetorikgeschichte medizinischer Kommunikation 339 lichen zwei Hauptstrategien entwickelt: der ‚Medienlobbyismus‘ (media advocacy) und das ‚soziale Marketing‘ (social marketing). Medienlobbyismus bedeutet „die besondere Verteidigung der Anliegen der öffentlichen Gesundheitsförderung [und] ist ein neuer, progressiver Ansatz, der sich im angloamerikanischen Raum ausgehend von den großen Nichtraucher-Kampagnen entwickelt hat.“ (Lalouschek 2005: 162) Medien-Lobbyisten verfolgen stets ein definiertes (sozial-)politisches Ziel, das sie durch strategisch gezielte Nutzung der Massenmedien an die Öffentlichkeit bringen wollen. Dazu bereiten sie nach Maßgabe ihres eigenen Interesses Informationen mediengerecht auf, nehmen mit den Akteuren der Massenmedien (Journalisten, Redakteuren, Verlagsleitern, Abteilungschefs der Sender usw.) Kontakt auf und suchen sie zur Publikation ihrer Informationen zu bewegen, d.h. deren journalistische Tätigkeit aktiv zu beeinflussen (vgl. Jazbinsek 2000b: 290). Demgegenüber zielt das soziale Marketing weniger auf die Durchsetzung (gesundheits-)politischer Interessen, sondern orientiert sich an Prinzipien der Konsumgesellschaft. „Soziales Marketing kombiniert theoretische Ansätze der Kommunikationswissenschaften und der Sozialpsychologie mit modernen Marketingstrategien. […] Positives Gesundheitsverhalten soll nach Werbungs- und Vermarktungsstrategien ‚verkauft‘ werden“ (Lalouschek 2005: 162), und zwar mit Hilfe herkömmlicher Marketingstrategien, wie sie bei der Promotion eines jeden Produktes üblich sind. Ziel des sozialen Marketings ist demnach „die Verringerung der psychologischen, sozialen und praktischen Distanz zwischen KonsumentInnen und Verhalten“ (ebd.) zum Zwecke der Vermarktung ‚gesunden Verhaltens‘ - „selling of positive health behaviors“ (Wallak 1990: 155) - als gewünschtem Gegenpol zu der oft eher gesundheitsschädlichen Werbung in den Massenmedien (z.B. für Alkoholika oder Tabakkonsum). Dabei ist freilich auch gesundheitsförderliches Marketing den Bedingungen der massenmedialen Produktion unterworfen, die Gesundheitsvermittler im Dienste der individuellen Identifikation meist zu groben Vereinfachungen komplexer Zusammenhänge zwingen und zur Ausblendung gesellschaftlicher und ökonomischer Ursachen (Lalouschek 2005: 162; Wallak 1990: 157f.). <?page no="352"?> Ernest W. B. Hess-Lüttich 340 5 Zur ästhetischen Reflexion medizinischer Kommunikation in der Literatur Medizinische Kommunikation ist ein Thema, das auffallend häufig auch in der belletristischen Literatur behandelt wurde (vgl. v. Jagow/ Steger 2005: 432): „Der Versuch, dem Wort in der Medizin gründlich nachzuspüren, führt unweigerlich in den prophetischen Sog der Dichter“ (Mettnitzer 2006: 1109). Das kann auf mannigfache Weise geschehen: als literarisierte Darstellung medizinischer Sachverhalte, als fiktionale Texte von Medizinern, als literarischer Niederschlag von Patientenerfahrungen belletristischer Autoren, als Produkte einer (auto-)therapeutischen Strategie, als aus literarischen Quellen destillierte Medizingeschichte, als stilistisch verfremdende Verwendung medizinischer Fachsprache im literarischen Text usw. Literarische Beschreibungen medizinischer Kommunikation stellen meist bestimmte zeitgenössische Tendenzen in der Medizin dar oder sie folgen literarisch-ästhetischen Moden und Strömungen. Man kann also entsprechende Texte in der Literatur (i) medizingeschichtlich als medialen Spiegel des Verhältnisses von Kommunikation und Medizin zu einer jeweiligen Zeit verstehen, man kann sie (ii) im Hinblick auf dessen literarische Bearbeitung vor dem Hintergrund medizinischer Alltagskommunikation analysieren, oder man kann (iii) Schlussfolgerungen über die Beziehungen der Autoren zur Medizin oder zu Ärzten ziehen (vgl. v. Jagow/ Steger 2009: 59). 4 Konventionen medizinischer Kommunikation im Spätmittelalter finden sich z.B. in den Darstellungen des Arztes in der 15. und 17. Eulenspiegel-Historie (1510/ 1511) satirisch beschrieben. In den beiden Geschichten werden die z.T. medizinisch eigenwilligen, z.T. eher auf pekuniären Profit zielenden pharmazeutischen Therapieversuche ebenso parodiert wie die Vertrauensseligkeit, ja Hörigkeit der Patienten gegenüber dem pseudo-gelehrt sprechenden Arzt. In Der abenteuerliche Simplicissimus (1668/ 1669) portraitiert Grimmelshausen in einer Passage die frühneuzeitliche Figur des ‚Quacksalbers‘, als der sein Held Melchior Sternfels von Fuchshaim allerlei Bauern zur eige- 4 Das Interesse an der literarischen Reflexion medizinischen Handelns hat in der Literaturwissenschaft längst zur Etablierung und akademischen Institutionalisierung eines eigenständigen Forschungsfeldes geführt, das sich in zahlreichen Sammelwerken und Überblicksdarstellungen niederschlägt. Freilich wird in den zahllosen Einzelstudien fast nie Bezug genommen auf die rhetorische Inszenierung und ästhetische Problematisierung medizinischer Kommunikation (auch vor dem Hintergrund der dazu längst vorliegenden rhetorisch-linguistischen Forschungsergebnisse). Deshalb sei das potenzielle Themenspektrum hier zum Abschluss in kursorischer Form anhand einiger ausgewählter Beispiele nur veranschaulicht. Eine eingehendere Untersuchung, für die hier nicht der Raum ist, muss einer gesonderten Arbeit vorbehalten bleiben. <?page no="353"?> Bausteine zur Rhetorikgeschichte medizinischer Kommunikation 341 nen finanziellen Genesung betrügt, indem er sie durch die dramaturgisch pfiffig inszenierte Demonstration der (scheinbaren) Wirkung seiner Arzneien beeindruckt, andererseits durch rhetorisch ebenso geschickte wie arglistige Argumentation zu täuschen versteht. Eine berühmte und bis heute bemerkenswerte Andeutung des Zusammenhangs von physischer und psychischer Erkrankung konstruiert Shakespeare in Macbeth (1606) zu Beginn des fünften Akts, wo ein Arzt, der nur das physische Leiden der Lady Macbeth behandeln kann, seine Unfähigkeit beklagt, sie zu heilen, und bekennt, dass die kranke Herrin eher einen Seelsorger benötige als einen Arzt „Doctor: ‚This disease is beyond my practice […] More needs she the divine than the physician‘“ (V.I. 54+69). Bei Molière wird die Darstellung des Arztes in Le Malade imaginaire (Der eingebildete Kranke, 1673) zur ätzenden Kritik an dem verbreiteten zeitgenössischen Berufsbild: „Argan: ‚Deiner Meinung nach wissen somit die Ärzte gar nichts? ‘ Béralde: ‚O doch, Bruderherz. Die meisten von ihnen sind hochgebildete Leute, sie sprechen ein formschönes Latein, können allen Krankheiten griechische Namen geben, können säuberlich einteilen und definieren, hingegen verstehen sie rein gar nicht, wie man heilen soll […] ihre ganze vielgerühmte Kunst besteht in einem geschwollenen Kauderwelsch, in einem schwulstigen Gewäsche, das Worte anstatt Gründe und leere Versprechungen anstelle von Heilerfolgen vorbringt‘.“ (Molière 3 1996: 1002) Mit der Zunahme der Forschung in den naturwissenschaftlichen Disziplinen, die im 18. Jahrhundert in der medizinischen Anwendung spektakuläre Erfolge zeitigt, verändert sich nach der Beobachtung des Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki auch die Art der literarischen Darstellung einer zeitgenössischen Medizin: „Aus dem geschwätzigen Kurpfuscher und eitlen Pseudowissenschaftler wird der dubiose und skurrile Forscher“ (Reich-Ranicki 2007: 10). Ein solcher findet sich z.B. im Woyzeck-Fragment von Georg Büchner (1837/ 1879), der die Figur eines Arztes als gefühllosen Wissenschaftler zeichnet, dessen Experimente seinen Patienten Woyzeck psychisch und physisch malträtieren. Büchners ‚Doktor‘ beherrscht die medizinische Terminologie mit lateinischem Fachvokabular; für die Zwecke der medizinischen Unterweisung seiner Studenten benutzt er Woyzeck als Versuchsobjekt, der Patient als Mensch und Individuum spielt dabei keine Rolle mehr. Dem Typus des gewissenlosen Kurpfuschers oder des gefühllosen Humanmaschinisten stellt Jeremias Gotthelf in seinem Roman Anne Bäbi Jowäger (1843/ 1844) den Typus des idealen Mediziners gegenüber, der sich zugleich als ein naturwissenschaftlich ausgebildeter und seelsorgerisch einfühlsamer Therapeut definiert. Diesem Typus kommt der Arzt in Dostojew- <?page no="354"?> Ernest W. B. Hess-Lüttich 342 skis Schuld und Sühne (1866) nahe, der dort eine vertrauensvolle, ja fast freundschaftliche Position gegenüber seinen Patienten einnimmt, die er eben nicht nur medizinisch zu behandeln vermag, sondern für die er respektvoller und respektierter Gesprächspartner ist. Ein gesellschaftliches Tabu bricht Henrik Ibsen gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit der literarischen Darstellung der Syphilis. Ihre Krankheitsbilder werden in seinem 1981 publizierten Familiendrama Gengangere (Gespenster) zum Dreh- und Angelpunkt des Stücks. Dabei konzentriert er sich auf die Anzeichen einer hereditären und progressiven Paralyse, um die Versprachlichung concomitanter Symptombilder wie Geschwüre, Hautausschlag usw. zu vermeiden. Die psychischen Symptome stattdessen werden in den Gesprächen zwischen Oswald und Frau Alving eingehend erörtert. Die sexuelle Konnotation der Krankheit wird durch Metaphern einer christlichen Sexualmoral chiffriert („die Sünden der Väter“), die zeitgenössische medizinische Debatte verengt auf den sozialhygienischen Topos des erblich belasteten Kindes: Oswald als unschuldiges Opfer der eugenisch verantwortungslosen Ausschweifungen des Vaters (Ibsen 1901: 62; vgl. Schonlau 2005). In seiner Novelle Ein Bekenntnis (1887) greift Theodor Storm mit dem Mann, der seine Ehefrau vergiftet, um sie vor den Qualen einer Krebserkrankung zu bewahren, ein bis heute aktuelles ärztliches Problem der ‚paternalistischen Entscheidungsfindung‘ auf. Storm selbst erkrankt übrigens ein Jahr nach Vollendung der Novelle an Magenkrebs, den die Ärzte ihm gegenüber zunächst auch in aller Offenheit diagnostizieren. Als Storm daraufhin seine schriftstellerische Arbeit einstellt und sich aufgibt, suggerieren sie ihm eine Fehldiagnose, und Storm beginnt wieder zu schreiben: „So haben wir diesen Medizinern, die zur bewußten Irreführung bereit waren, den Schimmelreiter zu verdanken“ (78: 19). Als Beispiel für einen Arzt, der gleichzeitig als Schriftsteller tätig ist, mag Arthur Schnitzler dienen, dessen Novellen und Theaterstücke sich auch als Lehrstücke medizinischer Psychologie lesen lassen. Das gilt z.B. für die (von Stanley Kubrick in Eyes wide shut kurz vor seinem Tod 1999 spektakulär ins filmische Medium transferierte) Traumnovelle (1925), in der die Lösung der Probleme letztlich in therapeutischen Gesprächen besteht. Die Erfolgsaussichten konservativer Therapie und medizinischer Kommunikation thematisiert Schnitzler in seiner Novelle Doktor Gräsler, Badearzt (1914/ 1917), in der u.a. die Leichtigkeit der Kurmedizin und die (kommunikativen) Grenzen der medizinischen Behandlung bei Infektionskrankheiten in der kleinbürgerlichen Vorstadt um die Jahrhundertwende behandelt werden. In Professor Bernhardi (1912) setzt er demgegenüber ein ethisches Problem medizinischer Kommunikation literarisch um: der jüdische Arzt verwehrt einem katholischen Geistlichen den Zutritt zum Krankenbett einer Sterbenden, die im <?page no="355"?> Bausteine zur Rhetorikgeschichte medizinischer Kommunikation 343 Delirium den Schrecken des nahen Todes nicht bewusst erlebt und daher nicht noch einmal geweckt werden soll - eine Exposition, die das Dilemma von hippokratischer Ethik und mitmenschlicher Verantwortung, Ehrlichkeit und Empathie in der Arzt-Patienten-Kommunikation klerikaler Dogmenstrenge eindrucksvoll gegenüberstellt. Das Problem von Schuld und Verantwortung in der medizinischen Kommunikation wird auch in Franz Kafkas Ein Landarzt (1917/ 1918) exponiert: obwohl der herbeigerufene Landarzt bei der medizinischen Untersuchung sofort feststellt, dass dem Patienten nicht mehr zu helfen ist, zieht er es vor, ihn zu belügen und ihm Hoffnungen zu machen. - Gottfried Benn literarisiert das Verflechtungsproblem von ethischer Verantwortung und medizinischer Kommunikation in der Novelle Gehirne (1916) auf seine Weise: der junge Arzt Rönne weiß, welchen Stellenwert das Gespräch und die mündliche Diagnose für einen Patienten haben: „Wer glaubt, daß man mit Worten lügen könne, könnte meinen, daß es hier geschähe. Aber wenn ich mit Worten lügen könnte, wäre ich wohl nicht hier. Überall wohin ich sehe, bedarf es eines Wortes, um zu leben.“ (Benn 1968: 1187) Einige der literarisch-ästhetisch bemerkenswertesten Darstellungen medizinischer Kommunikation finden sich natürlich in den Werken Thomas Manns. Für das gewachsene Vertrauensverhältnis zwischen Arzt, Patient und Familie ist der Hausarzt der Buddenbrooks (1901) ein schönes Beispiel. Wenngleich sich Dr. Grabows Therapien stets auf Franzbrot, Rotwein, „etwas Taube“ und allenfalls einen Kuraufenthalt in der Seeluft des nahen Travemünde beschränken, so tragen seine Besuche im Haus, seine verständige Fürsorge und seine therapeutischen Anweisungen zur Genesung der jeweils erkrankten Familienmitglieder bei. Zahnarzt Brecht ist dagegen nicht nur in der handwerklich-physischen Behandlung seiner Patienten ein Stümper; mit seinen Worten verunsichert er sie zusätzlich, seine Therapie kann so nicht erfolgreich sein. In seinem Roman Der Zauberberg (1924) zeichnet Thomas Mann ein detailgenaues Bild von der Kommunikation im klinisch-stationären Alltag der Kurmedizin zwischen Jahrhundertwende und Zweitem Weltkrieg. Hier werden nicht nur die noch jungen Formen der psychoanalytischen ‚Seelenzergliederung‘ und die kurzweiligen Gespräche zwischen Arzt und Patient als Bestandteil der Kurtherapie aus ironischer Distanz beschrieben, sondern auch kommunikative Unsicherheiten des Arztes, die sich in militärisch klingenden Befehlen, in Vermeidungen des Blickkontaktes, im Ausbleiben einer präzisen Diagnose oder in ausweichendem Gesprächsverhalten manifestieren. - In den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull (1954) wird der Drill <?page no="356"?> Ernest W. B. Hess-Lüttich 344 der Militärärzte persifliert, wenn die Mediziner, gewohnt, dass ihren Befehlen Folge geleistet wird, sich bei der Musterung Felix Krulls als unfähig erweisen, dessen wort- und gestenreich inszenierte Symptomatik zu durchschauen. Der Protagonist in Albert Camus‘ Die Pest (1947), der Arzt Rieux, versteht sich selbst zwar als naturwissenschaftlicher Heiler; durch die empathische Verständigung mit dem Patienten, dem Freunde Tarrou, gewinnt er dessen Vertrauen in seine Therapie auch ohne medizinische Verbosität. Gleichzeitig wird der Arzt, der als Experte die Gefahren der Epidemie einzuschätzen und die Öffentlichkeit aufzuklären hat, hier auch zum (Ver-)Mittler öffentlicher Gesundheitsinformation. In der Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und in der Gegenwart nimmt die kritische Reflexion der Methoden, Ziele und Erfolge medizinisch-ärztlicher Kommunikation weiterhin zu. Max Frisch lässt seinen Protagonisten in Homo Faber (1957) mit kühler Genauigkeit die psychischen Veränderungen nach der (nicht verbalisierten) Diagnose Magenkrebs registrieren. Das Stück Whose Life is it Anyway? (1972) von Brian Clarke erörtert die Problematik von Euthanasie und (paternalistischer) Entscheidungsfindung bei Diagnosen, die für einen Patienten gravierende Auswirkungen haben. Damit steht Clarke in einer Tradition literarischer Annäherungen an die Thematik, wie sie schon bei Theodor Storm zu finden ist. Bettina Galvagni beschreibt in ihrem Roman Melancholia (1997) die Einsamkeit einer Patientin, die trotz Klinikaufenthalts und ärztlicher Behandlung keine tatsächliche Empathie erfährt. - Weniger literarisch als auf dem Buchmarkt erfolgreich ist die einschlägige Pop- und Populär-Literatur seit der Jahrtausendwende, wie die Bestseller von Charlotte Roche (Feuchtgebiete, 2008) oder Sarah Kuttner (Mängelexemplar, 2009) bezeugen. In seinem Sanitäter-Roman Rette mich ein bißchen (2003) satirisiert Jörg Thadeusz Unzulänglichkeiten und kommunikative Absurditäten in der medizinischen Notfallversorgung. In der Gegenwart schenkt auch die populäre Sekundärliteratur fiktionalen Beschreibungen von Arztberuf, medizinischer Kommunikation und Gesundheitsinformation verstärkte Beachtung. Bereits 1987 veröffentlicht Marcel Reich-Ranicki seine Abhandlung über Herz, Arzt und Literatur, in der er die Darstellungen von Medizin in der Literatur und das Verhältnis von Schriftstellern und Ärzten erörtert. Einen weniger literaturkritischen als satirischen Blick richtet Jörg Zittlau in seinem Buch Matt und elend lag er da (2009) auf das Verhältnis zwischen ‚berühmten Kranken und ihren Ärzten‘, wenn er darin von all den Quacksalbereien, den fehlgeschlagenen Beratungen und missglückten Therapien erzählt, mit denen unfähige Ärzte das Leben so mancher Geistesgrößen verkürzten. Zugleich wirft er ein erhellendes Licht auf den ärztlichen Wettbewerb im medizinischen Markt eines Wissen- <?page no="357"?> Bausteine zur Rhetorikgeschichte medizinischer Kommunikation 345 schaftsdiskurses, in dem nicht selten der Patient wie schon bei Büchner wieder zum Versuchsobjekt degradiert wird. Als weiteres Segment populär-publizistischer Gesundheitsinformation sei abschließend nur hingewiesen auf (zumindest für die Autoren finanziell) erfolgreiche Versuche in neuen Mischgenres wie Dietrich Grönemeyers ‚Roman‘ Der kleine Medicus (2007), in dem der Autor allgemeinverständlich über Anatomie, Physiologie und Behandlungsformen aufklärt und nebenbei für seinen Ansatz einer kommunikativ-holistischen Medizin wirbt, oder Eckart von Hirschhausens Wörterbuch Langenscheidt Arzt-Deutsch/ Deutsch-Arzt (2007), das den hermetischen Code der medizinischen Terminologie im alltäglichen Gespräch von Arzt und Patient humorvoll zu entschlüsseln sucht. Die in solchen (beliebig erweiterbaren) Listen von Beispielen zutage tretende Vielfalt der literarischen Behandlung von medizinischer Kommunikation ließe sich übersichtlicher sortieren entlang der von v. Engelhardt (1991: 12ff.) unterschiedenen Dimensionen (i) der literarischen Funktion der Medizin, (ii) der medizinischen Funktion der Literatur, (iii) der genuinen Funktion literarisierter Medizin. Unter (i) wird nach der Bedeutung der Medizin als Strukturmoment und Inhaltsquelle literarischer Werke gefragt: welche medizinischen Bereiche werden behandelt (Arzt, Patient, Institution, soziale Umwelt, Diagnose, Therapie, Wissen, Methode, Theorien)? Mit welcher Gewichtung (Peripherie oder Zentrum)? Wie werden sie verhandelt (Prosa, Lyrik, Drama, Arztsatire, Gesundheitsratgeber, Lehrgedicht)? Unter (ii) werden Werke verhandelt, die medizinische Inhalte im Medium der Kunst anschaulich und begreiflich zu machen suchen, etwa im Lehrgedicht, im Improvisationstheater als Kommunikationstraining mit ‚falschen Patienten‘, in Krankheitsdarstellungen als Studienobjekten, als therapeutische Maßnahme der Poesie- und Bibliotherapie, als Quelle für Medizinhistoriker und die Benennung neuer Krankheiten. Unter (iii) rubrizierte Werke eröffnen Diskurse, die der sich auf Minimalsegmente spezialisierenden Medizin die ganzheitliche Wirklichkeit des Menschen entgegenhält und an das Menschliche im Technischen erinnert (vgl. auch v. Engelhardt 2006): Literatur kann dann in ihrer Funktion als Gesellschaftskritik Reformen anstoßen und zum contrediscours des medizinischen Duktus avancieren (Erhart 2004: 119). Quellen Benn, Gottfried (1968): Gehirne. In: Wellershoff, Dieter (1960) (Hrsg.): Gottfried Benn. Gesammelte Werke. Bd. 5. Wiesbaden: Limes, S. 1185—1191. 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Es wird der Frage nachgegangen, ob sich bei ihrer Realisierung Unterschiede zwischen den beiden Verfassergruppen manifestieren und ob diese interkultureller oder eher individueller Art sind. Neben unterschiedlichen Möglichkeiten der sprachlichen Realisierung der Teiltextsegmente werden auch Differenzen in der Verfasser- und Leserreferenz behandelt. 1 Einleitung Im Zuge der kognitiven Wende und der pragmatischen Zuwendung zum Fachtext in der Fachsprachenforschung seit den 1970er Jahren ist eine Reihe von interkulturell, interlingual, aber auch intertextuell ausgerichteten Studien publiziert worden, dank derer wir erkannt haben, dass sich Fachtextsorten durch Unterschiede in der funktional-inhaltlichen Textorganisation, der sprachlichen Realisierung des Handlungsmusters, der Anordnung der Teiltextsegmente (im Folgenden TTS) oder auch in der Verfasser- und Autorenreferenz auszeichnen (vgl. u.a. Gnutzmann/ Lange 1990; Oldenburg 1992; Trumpp 1998; Vogler 2006; Busch-Lauer 2007; Thielmann 2009; Szurawitzki 2011). Hinsichtlich der zunehmenden Internationalisierungstendenz der wissenschaftlichen Forschung, der sich verstärkenden Position des Englischen als internationaler Wissenschaftssprache und des zunehmenden Einflusses der Bibliometrie im Bereich der Publikationspolitik rückt die Frage nach interkulturellen Konvergenzen, aber auch Differenzen bei der sprachlichen und textorganisatorischen Realisierung des Handlungsmusters wissen- <?page no="366"?> Martin Mostýn 354 schaftlicher Fachartikel wieder stärker in den Vordergrund des linguistischen Interesses. 1 2 Untersuchungsgegenstand und Forschungsfragen In meiner Untersuchung konzentriere ich mich auf den Teiltext 2 ‚Einleitung‘ linguistischer Zeitschriftenaufsätze, die teils von Germanisten-Muttersprachlern und teils von tschechischen Germanisten verfasst wurden. Schwerpunkt der Analyse ist ein kontrastiver Vergleich ihrer Text- und Handlungsstruktur. Es soll festgestellt werden, ob sich bei ihrer Realisierung Unterschiede zwischen den jeweiligen Verfassergruppen feststellen lassen und wenn ja, ob diese interkultureller oder eher individueller Art sind. Einleitungen zu linguistischen Zeitschriftenaufsätzen waren bereits mehrfach Gegenstand linguistischer Studien, insbesondere möchte ich die von Gnutzmann/ Oldenburg (1991), Busch-Lauer (2001), Petkova-Kessanlis (2009), Thielmann (2009) und Szurawitzki (2011) nennen, in denen u.a. der Teiltext ‚Einleitung‘ (in Petkova-Kessanlis ‚einleitender Teiltext‘, in Szurawitzki ‚thematischer Einstieg‘) fokussiert wird und die den Ausgangspunkt für den herangezogenen Analyseansatz bilden. 3 Textkorpus Das analysierte Textkorpus setzt sich aus insgesamt 30 einleitenden Teiltexten zu Fachartikeln aus dem Bereich der germanistischen Sprachwissenschaft zusammen, wobei jeweils 15 von deutschen und 15 von tschechischen Germanisten verfasst wurden. Die jeweiligen Subkorpora werden im Folgenden als Subkorpus -D und Subkorpus -T bezeichnet. Die im Zeitraum von 2007 bis 2013 publizierten Artikel wurden zwei in Tschechien erscheinenden referierten 3 Zeitschriften entnommen. Es handelt sich um: ,Acta Facultatis Philosophicae Universitatis Ostraviensis. Studia Germanistica‘ 1 Siehe den Beitrag von Şenöz-Ayata in diesem Band. 2 In Anlehnung an Gnutzmann/ Lange (1990) wird der Begriff ‚Teiltext‘ als „eine relativ autonome semantisch-pragmatische Einheit unterhalb der Textebene“ aufgefasst (Gnutzmann/ Lange (1990: 93). Zum Begriff ‚Teiltext‘ s. auch Szurawitzki (2011: 30). 3 Alle analysierten Artikel wurden im Peer-Review-Prozess begutachtet und nach vorgegebenen Formatierungshinweisen, die vor allem auf typografische Hinweise ausgerichtet sind, bearbeitet. <?page no="367"?> Formen sprachlichen Handelns in Einleitungen 355 ,Aussiger Beiträge. Germanistische Schriftenreihe aus Forschung und Lehre‘ 4 Bei der Textauswahl war ein proportional ausgeglichenes Verhältnis der zu untersuchenden Texte erwünscht. Es werden verschiedene Themen behandelt: Etwa die Hälfte der untersuchten Fachartikel ist auf die Emotionslinguistik ausgerichtet, weitere Themen sind beispielsweise Lexikologie, Metalexikografie, Fachsprachenforschung und Grammatik. 4 Methodik Die einleitenden Teiltexte habe ich unter Einbeziehung mehrerer Analyseansätze untersucht: Im ersten Schritt wurde die Makrostruktur beschrieben. Die Analyse der Gesamtgliederung sowie die funktional-inhaltliche Analyse der TTS basiert auf dem Analyseansatz von Szurawitzki (2011). 5 Ergänzend dazu werden inhaltlich-funktionale TTS in Anlehnung an Busch-Lauer (2001) bestimmt und ihre Anordnung verzeichnet. In die Analyse werden ebenfalls einige Aspekte des Analyseansatzes von Petkova-Kessanlis (2009) einbezogen (Vorkommen und Realisierung ausgewählter Sprachhandlungen), denn meines Erachtens schließen sich der inhaltlichfunktionale und der handlungsorientierte Ansatz, obwohl sie Texte aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten, nicht aus. Aus Platzgründen gehe ich lediglich auf ausgewählte Ergebnisse der Analyse ein. 5 Ergebnisse der Analyse 5.1 Analyse der Teiltextüberschriften Zunächst wurde untersucht, ob einleitende Teiltexte von den Autoren kenntlich gemacht und wie sie von den Verfassern bezeichnet werden. Dabei wird zwischen strukturellen und thematischen Überschriften unterschieden. Aus der Analyse ergibt sich, dass einleitende Teiltexte ein wichtiges Initialelement von linguistischen Aufsätzen bei beiden Verfassergrup- 4 Für genaue bibliografische Angaben zum Textkorpus s. das Literaturverzeichnis. 5 Die funktional-inhaltliche Analyse beruht auf einer Analyse des Vorkommens und der Anordnung der funktionalen Teiltextsegmente T ERRITORIUM (=thematische Ausrichtung, Forschungsgegenstand), F ORMULIERUNG DER N ISCHE (=weitere Spezifizierung des Forschungsgegenstandes), K ONKRETISIERUNG DES T HEMAS (=Formulierung des Ziels). Hier wird noch zwischen expliziter und impliziter Realisierung unterschieden. Des Weiteren wird das Vorkommen von Literaturverweisen im laufenden Text und in Fußnoten mitberücksichtigt. <?page no="368"?> Martin Mostýn 356 pen darstellen. Die verschiedenen Benennungen werden in der folgenden Tabelle zusammengefasst (vgl. dazu Petkova-Kessanlis 2009: 151). Subkorpus -D Anteil in % Subkorpus -T Anteil in % Thematische Teiltextüberschrift 20,00 Einleitung 40,00 Ohne Teiltextüberschrift 20,00 Thematische Teiltextüberschrift 26,67 Einleitung 13,33 Ohne Teiltextüberschrift 13,33 Zur (Einführung) 13,33 Thema und Zielsetzung 6,67 Vorbemerkung(en) 13,33 Vorbemerkung 6,67 Grundsätzliches 6,67 Zur Einführung 6,67 Die Frage 6,67 Problemstellung 6,67 Abb. 1: Bezeichnungen der Teiltextüberschriften und deren Prozentanteil in den jeweiligen Subkorpora Wie aus der Übersicht ersichtlich ist, lässt sich ein häufigeres Vorkommen der strukturellen Überschrift Einleitung im Subkorpus -T feststellen, im Subkorpus -D wurde hingegen eine etwas größere Varianz in Bezug auf die strukturellen Überschriften beobachtet. Dennoch wird die Einleitung nicht in allen Fällen als selbstständiger Teiltext realisiert und vom Haupttext grafisch abgesetzt. Dies kommt in den beiden analysierten Subkorpora einmal im Subkorpus -D und zwei Mal im Subkorpus -T vor. Die strukturelle Gliederung des Gesamttextes und eine eindeutige Markierung der einleitenden Teiltexte können also als kennzeichnendes Merkmal der untersuchten Fachartikel unabhängig von der Verfassergruppe angesehen werden. 5.2 Quantitative Analyse der Text- und Satzstruktur Um die Textstruktur zu untersuchen, wurden ebenfalls quantitative Methoden herangezogen. Es werden die durchschnittliche Anzahl von Absätzen, die durchschnittliche Anzahl von Wörtern pro einleitenden Teiltext und deren Anteil am Gesamttext in Prozent verglichen. Was den Anteil der einleitenden Teiltexte am Gesamttext betrifft, konnten zwischen den beiden Subkorpora keine signifikanten verfassergruppenspezifischen Unterschiede festgestellt werden (Subkorpus -D - 13,34%; Subkorpus -T - 14,03%). Aus dem Vergleich ihres durchschnittlichen Umfangs und der Gliederung in Absätze geht hingegen hervor, dass die analysierten einleitenden Teiltexte der deutschen Germanisten bei einem etwas kleineren Umfang (517,26 gegenüber 528,89 Wörter) eine höhere Anzahl von Absätzen aufweisen (6,77 gegenüber 4,57), was sich positiv auf die Textverständlichkeit auswirken kann. <?page no="369"?> Formen sprachlichen Handelns in Einleitungen 357 Im Subkorpus -T lassen sich mitunter einleitende Teiltexte finden, in denen komplexe Sätze mit viel Wortmaterial ohne Gliederung in Absätze auftreten, wodurch ihre Verständlichkeit beeinträchtigt werden kann. (1) Die im tschechischen Laienbewusstsein (und häufig leider auch in den Reihen der Germanistikadepten) immer noch herrschende unsinnige Meinung, dass die deutsche Aussprache der tschechischen so naheliegt, dass sie - im Kontrast mit dem phonetisch„schwierigen“ Englisch oder Französisch - fast im Handumdrehen zu erlernen sei, ist unseres Wissens auf die Darstellung der deutschen Standardaussprache in einem deutsch-tschechischen Wörterbuch (weiter nur WB) noch nicht bezogen worden: Die Wörterbuchbenutzungsbzw. Konsultationssituationen (vgl. Wiegand 1998: 824ff.), die im Rahmen der empirischen lexikographischen Forschung postuliert werden, sind von der WB-Didaktik und WB-Planung nicht wegzudenken. (T-12: 25) 6 Insgesamt wurden signifikante individuelle Unterschiede verzeichnet. Die Textlänge der einleitenden Teiltexte variiert bei den beiden Verfassergruppen markant und reicht von einem einzigen Absatz bis zu mehreren längeren Absätzen, wobei deren Umfang mitunter fast drei Seiten einnimmt. Auch der Anteil des Teiltextes am Gesamttext unterscheidet sich deutlich von Verfasser zu Verfasser und schwankt von 2% bis zu 20%. 5.3 Inhaltlich-funktionale Analyse nach Szurawitzki (2011) Die folgende Tabelle gibt Auskunft über die formale Struktur der untersuchten Einleitungen nach dem inhaltlich-funktionalen Analyseansatz von Szurawitzki (2011), der leicht modifiziert wurde. Beiden Subkorpora ist gemeinsam, dass die Teiltextsegmente T ERRITORI- UM , F ORMULIERUNG DER N ISCHE und K ONKRETISIERUNG DES T HEMAS überwiegend explizit realisiert werden. Für das Subkorpus -T konnten einige wiederkehrende Strukturen ermittelt werden, insbesondere die Anordnung der TTS in der Reihenfolge T e F e LK e bzw. T e F e (L)K e oder auch T e LF e K e bzw. T e (L)F e K e . Ein wiederholtes Vorkommen ist ebenfalls bei der Anordnung T e LF e LK e bzw. T e (L)F e LK e zu beobachten. Die genannten Makrostrukturen wurden zwar auch im Subkorpus -D verzeichnet, insgesamt lässt sich aber eine größere Varianz im Aufbau der einleitenden Teiltexte der deutschen Germanisten feststellen. 6 Genaue Angaben zu den analysierten Artikeln s. Literaturverzeichnis. <?page no="370"?> Martin Mostýn 358 Artikel (D) Einleitung kenntlich Struktur Artikel (CZ) Einleitung kenntlich Struktur 1 X 7 T e F e LK i 1 X T e LF e LK e L 2 X T e LF e LK e 2 X T e LF e K e 3 X T e (L)F e K i 3 X T e F e LK e 4 X T i F e K e 4 X T e LF e K e L 5 X T e (L)LF e K e 5 X T e F e (L)K e L 6 X T e F e LK i 6 X T e (L)F e LK e 7 X T e (L)LF i K e 7 X T e F e LK e L 8 X T e F e (L)K e L 8 0 T e F e (L)K e L 9 X T e F e (L)LK i 9 X T e F e K e L 10 X T e (L)F e LK e 10 X T e F e (L)K e 11 X LT e F e K e 11 X T e F i LK i 12 X T e F e (L)K e 12 X T e (L)F e LK i 13 X T e LF e K e 13 X T e F e LK i 14 X T e (L)LF e LK i 14 X T e (L)F i K i 15 0 T i F i K i L 15 0 T e F e K e Abb. 2: Inhaltlich-funktionale Analyse der beiden Subkorpora Literaturverweise, ob in Fußnoten oder im laufenden Text, stellen einen bedeutenden Bestandteil der untersuchten einleitenden Teiltexte bei beiden Verfassergruppen dar. Es werden die Sprachhandlungen V ERWEISEN und Z I - TIEREN realisiert. Literaturverweise begleiten Erläuterungen zu Termini. Alternativ werden hier die wichtigsten Ergebnisse der bisherigen Forschung zusammengefasst bzw. wird auf weiterführende Literatur verwiesen. Literaturverweise begleiten häufig Textpassagen, die auf Forschungsdesiderata hinweisen oder in denen bisherige Forschungsergebnisse problematisiert werden. (2) Schon Dieckmann (1981: 100) beurteilt den Erkenntnisstand zur Konnotationsproblematik als „schlicht chaotisch“. Und über 25 Jahre später kann Schwarz- Friesel (2007: 163) diese Einschätzung nur wiederholen. (D-2: 145) In diesem Zusammenhang konnte auch ein Autorenbezug durch Selbstzitate festgestellt werden. Dieser wird im untersuchten Korpus jedoch selten realisiert. Literaturverweise treten meist nicht als selbstständiges TTS auf, sie dienen auch zur Validierung der aufgestellten Thesen. 7 X = Einleitung kenntlich gemacht, 0 = Einleitung nicht kenntlich gemacht, T = Territorium, F = Formulierung der Nische, K = Konkretisierung des Themas, e = explizite Benennung, i = implizit, L = Verweis auf Forschungsliteratur im Text, (L) = Verweis auf Forschungsliteratur in der Fußnote. <?page no="371"?> Formen sprachlichen Handelns in Einleitungen 359 Unterschiede zwischen den Subkorpora manifestieren sich in der Realisierung des TTS K ONKRETISIERUNG DES T HEMAS . Obwohl Gnutzmann/ Lange eine explizite Nennung des Forschungsziels als obligatorisches Initialelement einer Einleitung ansehen (1990: 98), lassen sich im Korpus ebenfalls Einleitungen finden, in denen dieses TTS nicht explizit realisiert wird: Im Subkorpus -T sind es 20% der einleitenden Teiltexte, im Subkorpus -D bereits 40%. Im Subkorpus -T treten explizite Formulierungen des Forschungsziels (vgl. Beispiel 3) häufiger auf als im Subkorpus -D . (3) Dieser Beitrag setzt sich zum Ziel, die konversationelle Phonologie und ihre soziale Funktionsweise (die Rolle der artikulatorischen, intonatorischen und prosodischen Gesprächsmerkmale für die soziale Funktion der Distanz) im Alltagsgespräch illustrativ zu beschreiben. (T-6: 43) Typisch für die Realisierung dieses TTS im Subkorpus -T ist eine unpersönliche Ausdrucksweise mit der Verwendung der sog. Ablativ-Subjekte ( Dieser Beitrag setzt sich zum Ziel) (vgl. dazu Trumpp 1998: 35), der Gebrauch passivischer Konstruktionen - (4) In der folgenden Analyse wird Scham untersucht […] (T-3: 69) - oder der Einsatz von deontischen Hinweisen, z.B. mit dem Modalverb sollen - (5) An zwei konkreten Gedichten soll hier die sprachliche Gestaltung von Emotionen in lyrischen Texten rekonstruiert werden (T-7: 181). Die Zielstellung wird bisweilen in Form von direkten oder indirekten Fragesätzen realisiert: (6) Die Kernfragen, die man sich im Zusammenhang mit den Emotionen im liturgischen Text stellen kann - sind also folgende: 1. Sind bestimmte emotional-gebundene/ gefärbte Phänomene auch am Wortschatz des liturgischen Textes zu beobachten? , 2. Wie ist ihr Charakter und sind dabei bestimmte Isotopien zu beobachten? Und schließlich 3. Wie ist ihre Funktion im Text und - kann eine pragmatische Wirkung dieses Wortschatzes in Betracht gezogen werden? (T-5: 139) Eine ähnliche Variation bei der Realisierung dieses TTS kommt auch im Subkorpus -D zum Vorschein. Allerdings fällt eine häufigere Verwendung der persönlichen Ausdrucksweise mit der direkten Verfasserreferenz auf. Diese lässt sich vornehmlich bei der Formulierung der Zielsetzung verzeichnen: (7) Ich möchte im vorliegenden Essay nicht versuchen , Klarheit in die Begriffsgeschichte und Definitionen zu bringen.Vielmehr möchte ich zu zeigen versuchen , welche Impulse von dem Begriff selbst in seiner ungenauen Definition ausgehen, wenn man Topikforschung nicht nur auf die Untersuchungen von Stofftraditionen oder auf das Studium von Motivgeschichte einengt. (D-10: 233) In Beleg 7 impliziert der negierte Satz mit dem Prädikat versuchen, dass verschiedene Auffassungen und Definitionen des Begriffs ‚Topik‘ nebeneinander bestehen, und somit eine eindeutige Definition immer noch ausbleibt. Im <?page no="372"?> Martin Mostýn 360 folgenden Satz mit dem mehrteiligen Prädikat möchte ich zu zeigen versuchen modalisiert der Autor die Aussage und drückt auf diese Weise eine Einschränkung hinsichtlich des Geltungsanspruchs des folgenden Kontextes aus (vgl. etwa mit im Folgenden wird gezeigt/ zeige ich). Diese Formulierung lässt sich ebenfalls als Ausdruck der Bescheidenheit des Autors interpretieren. Die Verfasserreferenz durch das Personalpronomen ich oder das Possessivpronomen mein macht sich auch im Subkorpus -T bemerkbar, und zwar vornehmlich bei der Realisierung der TTS F ORMULIERUNG DER N ISCHE und K ONKRETISIERUNG DES T HEMAS . Der Autorenbezug kommt bei der Einführung in die eigene Arbeit, bei der Darstellung eigener theoretischer Ausgangspositionen zum Vorschein, oder wenn von Autoren nähere Erläuterungen zum Textkorpus angeführt werden. (8) Für meine Untersuchungen über die Emotionalität in der Sprache habe ich als Ausgangspunkt die komplexe und komplizierte Emotion Liebe ausgewählt. […]. Diese Problematik möchte ich anhand von Texten behandeln, die die Liebesthematik nicht außer Acht lassen können: Rezensionen/ Kritiken der Filme über Liebe. (T-9: 189) Ein weiterer Unterschied ist in der Leserreferenz zu beobachten. Während der direkte Autorenbezug in der 1. Ps. Sg. in den beiden Subkorpora durchaus zu verzeichnen ist, wird der Leserbezug - wenn man von erstarrten Formen wie vgl., s.u. und dergl. absieht - fast ausschließlich im Subkorpus -T realisiert, und zwar durch die Verwendung der 1. Ps. Pl. in der Funktion des inklusiven Wir: (9) Wollen wir Emotionen in Texten, Bildern oder Textsorten, in denen Text und Bild eine Einheit bilden, untersuchen, müssen wir uns die Frage stellen, WAS alles eigentlich Emotionen ausdrücken können und WIE sie zum Ausdruck kommen. (T-11: 215) Dies könnte mit der tschechischen Tradition wissenschaftlichen Schreibens im Bereich der Linguistik zusammenhängen, denn in linguistischen Zeitschriftenaufsätzen lässt sich die 1. Ps. Pl. nicht nur in der Funktion des inklusiven Wir, sondern auch in der Funktion des Pluralis auctoris finden, die in den gegenwärtigen auf Deutsch verfassten Fachartikeln selten vorkommt und als veraltet gilt. Im Subkorpus -D wird die unpersönliche Ausdrucksweise bevorzugt (das unpersönliche Pronomen man, Passivkonstruktionen, modale Infinitivkonstruktionen lassen + Infinitiv, sein + zu + Infinitiv). Lediglich in einem Fall wird die Leserreferenz als direkte Leseransprache mit der Verwendung der Sie-Anrede realisiert. Solche Leseransprachen sind für popu- <?page no="373"?> Formen sprachlichen Handelns in Einleitungen 361 lärwissenschaftliche Texte kennzeichnend und dienen zu deren Personalisierung und Emotionalisierung: (10) Nehmen Sie an, Sie hätten im Archiv der geschriebenen Sprache des IDS über COSMAS mittels der Suchanfrage & Hand über 650.000 Treffer erzielt, […]. Nun haben Sie häufiger gelesen und in Vorträgen gehört, dass Belegkorpora (oder Belegsammlungen) zwar auch Korpora, aber für genau diese Frage nur eingeschränkt brauchbar sind. (D-13: 102) 5.4 Inhaltlich-funktionale Analyse nach Busch-Lauer (2011) Einen weiteren Einblick in die Text- und Handlungsstruktur der analysierten Einleitungen bietet die inhaltlich-funktionale Bestimmung der TTS, die in Anlehnung an Busch-Lauer (2001) erfolgte. Die Daten wurden mit Hilfe von MS Office Access bearbeitet und ausgewertet. In den untersuchten Einleitungen konnten folgende TTS identifiziert werden, wobei die Buchstaben a—f verschiedene, auch gleichzeitig vorkommende Varianten darstellen: TTS1 - Einführung in den Untersuchungsgegenstand: (a) Identifizierung des Forschungsfeldes, (b) Hervorhebung der Aktualität/ des Interesses, (c) Hervorhebung der Bedeutung, (d) Problematisierung von Forschungsergebnissen, (e) Nennung von Forschungsdesiderata, (f) Einführung durch Beispiel mit Kommentar; TTS2 - Literaturbericht: (a) Verweise auf einschlägige Forschungsliteratur, (b) Beschreibung wichtiger vorliegender Literatur; TTS3 - Legitimierung der eigenen Forschungsarbeit TTS4 - Vorstellung der eigenen Arbeit: (a) Zielstellung, (b) Methodik, (c) Hypothesen, (d) Vorwegnahme von Ergebnissen, (e) Erläuterungen zum Textkorpus, (f) metakommunikative Hinweise zur Gliederung des Folgetextes; TTS5 - Erörterung der theoretischen Grundlagen: (a) Definitionen von Termini, Erläuterungen zu Termini, (b) theoretische Ausgangspositionen anderer Linguisten, (c) eigene theoretische Ausgangspositionen, (d) Kategorisierungen. <?page no="374"?> Martin Mostýn 362 Subkorpus -D Subkorpus -T TTS1(a) 73 87 TTS1(b) 7 13 TTS1(c) 7 7 TTS1(d) 20 13 TTS1(e) 20 13 TTS1(f) 20 13 TTS2(a) 73 73 TTS2(b) 47 60 TTS3 40 27 TTS4(a) 60 80 TTS4(b) 7 27 TTS4(c) 7 0 TTS4(d) 7 0 TTS4(e) 33 33 TTS4(f) 13 0 TTS5(a) 47 67 TTS5(b) 73 40 TTS5(c) 13 20 TTS5(d) 13 27 Abb. 3: Vorkommen der einzelnen TTS in Prozent Aus der Analyse geht hervor, dass bestimmte TTS in beiden Subkorpora zu den dominanten makrostrukturellen Elementen gehören. Es sind allen voran das TTS1(a) (Einführung in den Untersuchungsgegenstand - Identifizierung des Forschungsfeldes), das TTS2(a) (Literaturbericht - Verweise auf einschlägige Forschungsliteratur), und das TTS4(a) (Vorstellung der eigenen Arbeit - Zielstellung). Bei den anderen TTS machen sich sowohl individuelle als auch verfassergruppenspezifische Differenzen bemerkbar. Individuelle Unterschiede sind vor allem bei der Anordnung der TTS zu verzeichnen, wobei immer nur ein Teil von möglichen TTS realisiert wird. Zu den im Subkorpus -T statistisch signifikanten TTS, deren Vorkommen im Subkorpus -D niedriger ist, gehören noch das TTS5 (Erörterung der theoretischen Grundlagen) in der Variante (a) (Definitionen von Termini, Erläuterungen zu Termini) und (b) (theoretische Ausgangspositionen anderer Linguisten). Dementsprechend gehört die Sprachhandlung D EFINIEREN im Subkorpus -T zu den dominanten metasprachlichen Handlungen. Typisch ist der Einsatz metadiskursiver Verben wie z.B. definieren im folgenden Beleg, die direkte Zitate einleiten können: (11) Die lexikographische Funktion eines gegebenen Wörterbuchs definieren BER- GENHOLTZ/ TARP (2005: 19) folgendermaßen: „Hilfe zu leisten für eine spezi- <?page no="375"?> Formen sprachlichen Handelns in Einleitungen 363 fische Benutzergruppe mit spezifischen Merkmalen für eine Menge von Fragen und Bedürfnissen, die in spezifischen Problemsituationen entstehen können“. (T-1: 147) In beiden Subkorpora macht sich eindeutig das Fehlen des eigenständigen Teiltextsegments L EGITIMIERUNG DER EIGENEN F ORSCHUNGSARBEIT bemerkbar. Häufig stehen Äußerungen, in denen sich diese Sprachhandlung vollzieht, in Verbindung mit anderen TTS, oder die Legitimierung wird nur implizit als TTS1 in der Variante (d) (Problematisierung von Forschungsergebnissen) und/ oder (e) (Nennung von Forschungsdesiderata) ausgedrückt wie im folgenden Beispiel. (12) In der Sprachwissenschaft können Onomatopoetika bislang als wenig untersucht gelten. Über die Gründe dafür soll hier nicht spekuliert werden. In jedem Falle kann man festhalten, dass insbesondere die emotionale Spezifizierung durch Onomatopoetika in der Forschung noch keine nennenswerte Aufmerksamkeit erfahren hat. Konfrontative oder kontrastive Studien im Bereich der Lautmalerei sind besonders rar, auch für das Verhältnis der Sprachen Deutsch und Tschechisch. (D-8: 129) Die Notwendigkeit weiterer kontrastiver Untersuchungen auf dem Gebiet der Onomatopoetika wird durch die Gradpartikel besonders hervorgehoben, die zu den sog. „Hedges“ (intensifiers) gehört. Auf Unterschiede bei der Realisierung des TTS4(a) wurde bereits hingewiesen (s.o.). Nur selten (in etwa 7% der Einleitungen im Subkorpus -D ) werden Hypothesen aufgestellt. Eine Charakterisierung der angewandten Methoden kommt im Subkorpus -T in 27% der Einleitungen vor, während dies nur in 7% der Einleitungen der deutschen Germanisten der Fall ist. Es handelt sich also um Makropropositionen, die nicht besonders kennzeichnend für die untersuchten Artikeleinleitungen sind, unabhängig von der Verfassergruppe. Ein verfassergruppenspezifischer Unterschied wurde ebenfalls in Bezug auf das TTS5(b) (Erörterung der theoretischen Grundlagen - theoretische Ausgangspositionen anderer Linguisten) festgestellt, das sich um etwa 33% häufiger in den Einleitungen der Germanisten-Muttersprachler verzeichnen lässt. 6 Fazit Aus der Analyse der einleitenden Teiltexte geht hervor, dass sie einen wichtigen Bestandteil von linguistischen Aufsätzen bei den beiden Verfassergruppen darstellen. Beim Vergleich ihrer Realisierung wurde deutlich, dass <?page no="376"?> Martin Mostýn 364 die einleitenden Teiltexte aus dem Bereich der Linguistik viele individuelle Züge tragen, was auch der Feststellung von Busch-Lauer (2001: 282) entspricht. Trotzdem lassen sich einige verfassergruppenspezifische Unterschiede aufdecken: Im Subkorpus -D wurde eine etwas größere Varianz in Bezug auf die Realisierung der strukturellen Überschriften sowie eine größere Varianz im Aufbau der einleitenden Teiltexte beobachtet. Unterschiede zwischen den Subkorpora manifestieren sich vornehmlich in der Realisierung der TTS 4 (Vorstellung der eigenen Arbeit) und 5 (Erörterung der theoretischen Grundlagen) sowie in der Leserreferenz. Quellen Genaue bibliografische Angaben zu den beiden Subkorpora sind unter http: / / martin-mostyn.webnode.cz/ publikationen/ bibliografische-angaben/ [30.11.2014] zugänglich. Literatur Busch-Lauer, Ines-Andrea (2001): Fachtexte im Kontrast. Eine linguistische Analyse zu den Kommunikationsbereichen Medizin und Linguistik. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang (=Leipziger Fachsprachen-Studien Bd. 16). Gnutzmann, Claus/ Lange, Regina (1990): Kontrastive Textlinguistik und Fachsprachenanalyse. In: Gnutzmann, Claus (1990) (Hrsg.): Kontrastive Linguistik. Frankfurt a.M. u.a.: Lang, S. 85—116. Gnutzmann, Claus/ Oldenburg, Hermann (1991): Contrastive Text Linguistics in LSP- Research: Theoretical Considerations and some preliminary findings. In: Schröder, Hartmut (1991) (Hrsg.): Subject-Oriented Texts. Languages for Special Purposes and Text Theory. Berlin; New York: de Gruyter, S. 103—136. Göpferich, Susanne (1995): Textsorten in Naturwissenschaften und Technik. Pragmatische Typologie - Kontrastierung - Translation. Tübingen: Narr. Oldenburg, Hermann (1992): Angewandte Fachtextpragmatik. ʻConclusionsʼ und Zusammenfassungen. Tübingen: Narr. Petkova-Kessanlis, Mikaela (2009): Musterhaftigkeit und Varianz in linguistischen Zeitschriftenaufsätzen. Frankfurt a.M. u.a.: Lang (=Arbeiten zu Diskurs und Stil Bd. 10). Szurawitzki, Michael (2011): Der thematische Einstieg. Eine diachrone und kontrastive Studie auf der Basis deutscher und finnischer linguistischer Zeitschriftenartikel. Frankfurt a.M. u.a.: Lang (=Duisburger Arbeiten zur Sprach- und Kulturwissenschaft Bd. 85). Thielmann, Winfried (2009): Deutsche und englische Wissenschaftssprache im Vergleich: Hinführen - Verknüpfen - Benennen. Heidelberg: Synchron. Trumpp, Eva Cassandra (1998): Fachtextsorten kontrastiv. Englisch - Deutsch - Französisch. Tübingen: Narr. Vogler, Daniela (2006): Denkstile in der naturwissenschaftlich-technischen Fachkommunikation. Eine kontrastive Analyse von deutschen und angloamerikanischen Hochschullehrbüchern der Werkstoffkunde. Hamburg: Dr. Kovač. <?page no="377"?> Formen sprachlichen Handelns in Einleitungen 365 Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Projekts CZ.1.07/ 2.3.00/ 20.0222 „Posílení rozvoje Centra výzkumu odborného jazyka angličtiny a němčiny na Filozofické fakultě Ostravské univerzity“. <?page no="379"?> Mikaela Petkova-Kessanlis Thematisieren von Textmustermerkmalen in wissenschaftlichen Texten Ein didaktisches Konzept zum Erwerb von Textmusterwissen im Studium Abstract Das explizite Thematisieren und Problematisieren von charakteristischen Merkmalen eines Textmusters durch den/ die Textproduzenten erfolgt in einzelnen Textsortenexemplaren eher selten. Diese Handlungen werden von Kommunikationsteilnehmern immer dann vollzogen, wenn ein Kommunikationsproblem entsteht oder antizipiert werden soll, oder aber, wenn man eine bestimmte stilistische Wirkung erzielen möchte und man daher bewusst von den Konventionen des Textmusters abweicht. Im Beitrag wird ein didaktisches Konzept präsentiert, dessen Ziel es ist, Wissen über die Textsorten der wissenschaftlichen Kommunikation zu vermitteln. Im Mittelpunkt des Konzepts steht die Rekonstruktion des Textmusterwissens der Kommunikationsteilnehmer. Letzteres geschieht anhand von Texten, die explizite Hinweise über einzelne Elemente des Textmusterwissens enthalten und diese gegebenenfalls problematisieren. Die ausgewählten Textexemplare gehören zu einem Textkorpus, das Texte umfasst, die verschiedenen Textsorten angehören (Antrittsvorlesungen, wissenschaftliche Rezensionen, Zeitschriftenaufsätze, Fachvorträge). Die Arbeit mit und an Texten dieser Art soll es den Studierenden ermöglichen, sich ein entsprechendes Wissen anzueignen, das sowohl zur Entwicklung einer rezeptiven als auch einer produktiven Textkompetenz beitragen kann. Denn unzureichendes oder fehlendes Wissen über die verschiedenen wissenschaftlichen Textmuster behindert in erheblichem Maße nicht nur das adäquate Textverstehen, sondern auch die Entwicklung der wissenschaftssprachlichen Kompetenz der Studierenden. 1 Einleitung Kommunikationsteilnehmer orientieren sich in ihrer Kommunikationspraxis, d.h. bei der Produktion und Rezeption von Texten im Alltag und Beruf, an Textmustern. Textmuster sind Wissensmuster, die bei der Textmusterrea- <?page no="380"?> Mikaela Petkova-Kessanlis 368 lisierung, d.h. bei der Herstellung eines konkreten Textes, aktiviert werden. 1 Bei vorhandener Sprachhandlungskompetenz besteht bei der Textmusterrealisierung in der Regel kein kommunikativer Bedarf, Elemente dieser Wissensmuster zu verbalisieren. Denn Textmuster bzw. Textsorten sind für die Textrezipienten aufgrund der „Leistung der Textsortenhinweise“, die „die für den Text als Exemplar einer Gattung charakteristische Musterhaftigkeit“ signalisieren (Hausendorf/ Kesselheim 2008: 171), relativ problemlos erkennbar. 2 Es gibt allerdings Kommunikationssituationen, in denen die Textproduzenten Elemente des Wissens über ein bestimmtes Textmuster, nach dem ein gegebener Text gestaltet wird, thematisieren. Dabei kann entweder das eigene Textmusterwissen zum Thema gemacht werden und/ oder auf das Textmusterwissen einer gegebenen Kommunikationsbzw. Kulturgemeinschaft verwiesen werden. Der vorliegende Beitrag setzt sich zum Ziel aufzuzeigen, in welchen Kommunikationssituationen und zu welchen konkreten kommunikativen Zwecken, d.h. in welcher Funktion, das Thematisieren von Textmusterwissen (im Folgenden: TMW) bzw. Elemente davon in wissenschaftlichen Texten erfolgt. Anschließend wird dafür plädiert, Texte und Teiltexte, in denen diese sprachliche Handlung vollzogen wird, in ein didaktisches Konzept zum Erwerb von Wissen über wissenschaftliche Textmuster im Studium zu integrieren. 2 Thematisieren von Textmusterwissen Wie bereits erwähnt, ist das Thematisieren von Textmusterwissenelementen eine sprachliche Handlung, die in Texten relativ selten vollzogen wird. Erwartbar und somit unauffällig ist die Handlung dagegen in der Ratgeberliteratur, in Lehrbüchern oder in linguistischen Untersuchungen, die sich eigens der deskriptiven Erfassung einer oder mehrerer Textsorten widmen oder in solchen, die ein linguistisches Phänomen beschreiben, für das Textmusterwissen unter einem bestimmten Aspekt relevant ist. Für die Untersuchungsziele von Steinhoff (2007) z.B., der sich mit der Entwicklung der wissenschaftssprachlichen Kompetenz von Studierenden beschäftigt, ist das Wissen über Textmuster der wissenschaftlichen Kommunikation durchaus von Belang. Denn (vereinfacht ausgedrückt) dem Verfasser geht es darum herauszufinden, wie Studierende bei einer gegebenen Textmusterrealisie- 1 Zur Unterscheidung zwischen Textmuster und Textmusterrealisierung vgl. Sandig (1997: 26f.). 2 Zu den verschiedenen Arten von Textsortenhinweisen vgl. die Ausführungen in Hausendorf/ Kesselheim (2008: 175—185). <?page no="381"?> Thematisieren von Textmustermerkmalen in wissenschaftlichen Texten 369 rung ihr Textmusterwissen umsetzen und in welchen Phasen sie diese Kompetenz im Laufe ihres Studiums entwickeln. Bereits in der Einleitung zu seiner Monografie thematisiert Steinhoff (2007: 2) charakteristische Merkmale wissenschaftlicher Texte: 1. „Von wissenschaftlichen Texten wird erwartet, dass sie ein für die Forschung relevantes, klar umrissenes Thema in intersubjektiv nachprüfbarer und argumentativ plausibler Weise behandeln, fachlich-inhaltlich substantiell, kohärent und originell, an einschlägige Erkenntnisse und Begriffe im Fach anschließen, den Konventionen der Wissenschaftssprache gerecht werden und bestimmte formale Merkmale aufweisen. Viele dieser Qualitäten sind schwer zu beurteilen und fallen zudem nicht in den Gegenstandsbereich der Sprachwissenschaft. Wie sind wissenschaftliche Schreibfähigkeiten also linguistisch zu fassen? “ (Kursivschrift i.O.; Anm. M. P.-K.) Hier rekonstruiert der Verfasser das TMW 3 der Wissenschaftlergemeinschaft und thematisiert wesentliche Merkmale wissenschaftlicher Texte. Anschließend problematisiert er diese Merkmale, um eines seiner Untersuchungsziele und ein im nachfolgenden Text zu behandelndes Thema anzukündigen. Die Durchführung der Handlung Thematisieren von TMW ist durch das Thema und durch die Textfunktion bedingt. 4 Fälle wie dieser, in denen der Vollzug der Handlung durch das Thema evoziert wird, werden allerdings im Folgenden ausgeklammert. Im Mittelpunkt des Interesses steht hier das Thematisieren von TMW mit einer bestimmten kommunikativen Funktion. Diese Handlung ist für wissenschaftliche Textmuster nicht konstitutiv und zudem an keine Textsorte(n) gebunden. Ihre Realisierung ist auffällig und somit stilistisch relevant. Ihr Vollzug ist außerdem bedeutsam, da sie dem Rezipienten bzw. dem Analysierenden Aufschluss über das TMW des Textproduzenten gibt. Auf die Möglichkeit einer Rekonstruktion der ‚Textsortendifferenzierungen‘ und ‚Textsortenkonzepte‘ der Kommunikationsteilnehmer und ihre Relevanz für Textsortenbeschreibungen macht Gülich (1986: 19) aufmerksam. In ihrer Untersuchung stellt sie fest, dass Kommunikationsteilnehmer in der Regel nur dann explizit auf ihr TMW Bezug nehmen, wenn dies für die Kommunikation relevant ist: 3 Bei der Rekonstruktion von TMW handelt es sich um eine „Rekonstruktion der konventionellen Erwartungsstrukturen von Kommunikationsteilnehmern“ (Antos 1987: 162; Fettdruck i.O.; M. P.-K.). 4 Vgl. Sandig (2006: 335), die auf das Aufeinanderbezogensein von Thema und Textfunktion hinweist: „Das Thema ist auf die Textfunktion bezogen […]. Es ist in die Handlungsstruktur (d.h. auch Textfunktion) des Textes eingelagert“. <?page no="382"?> Mikaela Petkova-Kessanlis 370 „Das Systematisierungs- und Typisierungsinteresse der Interaktionspartner reicht immer nur so weit, wie es für die jeweilige Kommunikation relevant ist. Relevant im Sinne von ‚explizierungsbedürftig‘ ist offensichtlich nur das, was zum Problem wird. Oder anders gesagt: man kann davon ausgehen, daß das, was die Teilnehmer als relevant für den Fortgang der Interaktion erachten, auch explizit gemacht wird.“ (Gülich 1986: 39) Daraus folgt, dass Textmustermerkmale erst dann zum Thema gemacht werden, wenn ein Kommunikationsproblem entsteht bzw. wenn einer der Kommunikationsteilnehmer ein solches vermutet. Dann hat die Handlung die Funktion, das Fortführen der Kommunikation zu ermöglichen. Ein charakteristischer Problemfall, der mit der Durchführung der Handlung ‚Thematisieren von TMW‘ einhergeht (und auf den Gülich (1986: 33f.) ebenfalls hinweist), ist die Textsortenzugehörigkeit eines gegebenen Textes (im weiten Sinne). Als problematisch kann sich die Textsortenzugehörigkeit dann erweisen, wenn der Textproduzent bewusst den Vorgaben des Textmusters nicht folgt. Dabei expliziert der Textproduzent Elemente des Wissens über ein bestimmtes Textmuster, „um sich von der Verpflichtung zu entlasten, die vom Partner erwarteten Textsorten-Konventionen zu erfüllen“ (Gülich 1986: 39). D.h. die Handlung ‚Thematisieren von TMW‘ kann eine antizipierende Funktion erfüllen. Das ist vermutlich eine der am häufigsten anzutreffende, aber nicht die einzige Funktion, die diese Handlung im Rahmen eines Textes übernehmen kann. Im Folgenden möchte ich zeigen, welche Funktionen das Thematisieren von TMW in konkreten Textsortenexemplaren aus dem Kommunikationsbereich Wissenschaft haben kann und sie an Beispielen illustrieren. Die Beispiele entstammen unterschiedlichen Teilkorpora: einem Korpus aus Antrittsvorlesungen (vgl. Petkova-Kessanlis 2002), einem Korpus aus wissenschaftlichen Rezensionen (vgl. Petkova-Kessanlis i.Dr.) sowie einem Arbeitskorpus, das ich in Lehrveranstaltungen zur Vermittlung deutscher Wissenschaftssprache einsetze und das einerseits wissenschaftliche Artikel und Vorträge, andererseits Teiltexte von Monographien (Vorworte, einführende Kapitel, Zusammenfassungen) umfasst. Für die Beschreibung des TMWs verwende ich die Kategorien des Textmustermodells von Sandig (1997), auf das ich hier nicht näher eingehen kann. 2.1 Thematisieren von TMW in antizipierender Funktion Das Thematisieren von Textmusterwissenselementen erfüllt eine antizipierende Funktion bei problematischem TMW, d.h. dann, wenn der Textproduzent selbst über mangelndes TMW verfügt und/ oder bei den Rezipienten ein solches vermutet. Diese Art Unsicherheit im Umgang mit einem Text- <?page no="383"?> Thematisieren von Textmustermerkmalen in wissenschaftlichen Texten 371 muster kann dann entstehen, wenn man nicht ausreichend Erfahrung mit der Produktion (und/ oder Rezeption) einer Textsorte hat oder wenn die Vorgaben des Textmusters breite Spielräume für die Textmusterrealisierung zulassen. Ein Beispiel par excellence dafür ist die Textsorte Antrittsvorlesung. 5 Um eventuelle Erwartungen der Kommunikationsteilnehmer nicht zu enttäuschen, mögliche Einwände vorwegzunehmen und einen möglichst reibungslosen Kommunikationsverlauf zu gewährleisten, explizieren die Textproduzenten häufig am Anfang des Textes Elemente ihres TMWs, vgl.: 2. „Dies ist eine Antrittsvorlesung. Es ist nicht meine erste, aber meine größte. Angetreten bin ich am 15. April 1998, also vor einem halben Jahr. Deshalb kommt mir das Etikett Antrittsvorlesung etwas seltsam vor. Ich habe schon ein durchaus turbulentes Sommersemester absolviert. Danach kam die vorgeblich ruhige vorlesungsfreie Zeit mit Einstellungen, Bestellungen, Anfragen, Gutachten, Vorträgen, Besprechungen und Sprechstunden reichlich gefüllt. Nun stehe ich vor Ihnen, und es kommt mir nicht so vor wie ein Antreten, eher wie ein Nachtreten, das aber dann natürlich als ein Foul gepfiffen werden musste. Deshalb sollte man es doch eher als ein Vortreten bezeichnen: Ich trete vor die Fakultät, um zu zeigen, was ich hier will, kann und soll.“ (Alemann 1998) Der Textproduzent problematisiert die Textmusterbenennung Antrittsvorlesung, stellt sie infrage und begründet Letzteres. Anschließend teilt er den Rezipienten seine Vorstellung von bzw. seine Interpretation der kommunikativen Funktion der Textsorte mit; gleichzeitig kündigt er seine Intention an und schränkt die folgende Darstellung thematisch ein. Expliziert werden kann auch nur ein Ausschnitt des Wissens über das Textmuster. Im folgenden Fall thematisiert der Textproduzent sein Wissen über die thematischen Vorgaben des Textmusters und begründet damit die Wahl des abzuhandelnden Themas: 3. „Wenn eine Antrittsvorlesung angekündigt ist, was an sich schon etwas traditionell und akademisch klingt, darf man mit einigem Recht erwarten, dass man etwas über die Zukunft zu hören bekommt, etwas über Prognosen und Visionen, etwas über das wissenschaftliche Selbstverständnis des Vortragenden auch. Andererseits darf man ebenfalls mit einigem Recht erwarten, dass diese Visionen nicht nur dem momentanen essayistischen Einfall geschuldet sind, dass sie auf Vorstellungen basieren, die im historischen Zusammenhang gründen und ihre Herkunft im theoretischen Diskurs enthüllen. Erlauben Sie mir also das Perspektiv, durch das ich in die Zukunft der HGKZ [Hoch- 5 Eine Beschreibung des Textmusters Antrittsvorlesung findet sich in Petkova-Kessanlis (2002). <?page no="384"?> Mikaela Petkova-Kessanlis 372 schule für Gestaltung und Kunst Zürich; M.P-K.] blicken will, erst einmal umzudrehen und auf eine historische Momentaufnahme zu richten.“ (Schwarz 2000) 2.2 Thematisieren von TMW in subsidiärer Funktion Besonders häufig werden Mustermerkmale wissenschaftlicher Textsorten in abgeleiteten Textsorten der fachinternen Kommunikation (vgl. Gläser 1990: 50) wie Rezensionen und Gutachten thematisiert. Für beide Textsorten ist Bewerten 6 - neben Informieren - eine konstitutive Handlung. Der Rückgriff auf das TMW hat dabei eine spezifische Funktion zu erfüllen: Dadurch werden die abgegebenen Bewertungen für den Rezipienten verständlich gemacht und somit begründet. Das Bewerten selbst erfolgt bzw. wird erst möglich aufgrund von Bewertungswissen. 7 Das TMW ist ein fester Bestandteil dieses Bewertungswissens, denn: „Zum Bewertungswissen gehört […] ein generelles Wissen über für Textmuster relevante Bewertungsmaßstäbe und über die Art der Anwendung von Bewertungsmaßstäben beim Bewertungshandeln.“ (Herbig/ Sandig 1994: 60) Aus dem Wissen über ein gegebenes Textmuster beziehen Rezensierende ihr Wissen über bewertungsrelevante Eigenschaften, die in ihrer Gesamtheit den Bewertungsmaßstab bilden. D.h. beim Bewerten eines konkreten Textes werden seine Eigenschaften mit den prototypischen Eigenschaften, die ein bestimmtes Textmuster beinhaltet, verglichen und „im Hinblick auf (gegebenenfalls Grade der) Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung […] eingestuft“ (Herbig/ Sandig 1994: 60). Um das Bewerten für die Rezipienten verständlich zu machen und die Einstufung des Bewertungsgegenstandes zu begründen, thematisiert und expliziert der Textproduzent bestimmte Textmustermerkmale. Welche dieser Merkmale zum Thema gemacht werden, ist eine individuelle Entscheidung des Textproduzenten. Im Folgenden werden Beispiele dafür gegeben, welche Merkmale des Textmusters und auf welche Art und Weise sie in Rezensionen thematisiert werden können. Da- 6 Neuere Erkenntnisse zu den zur Realisierung der Handlung Bewerten bzw. Evaluieren verwendeten sprachlichen Mitteln in Rezensionen finden sich z.B. in Szurawitzki (2011), Skog-Södersved/ Malmqvist (2012) und Szurawitzki (2012). Zum Zusammenhang zwischen Bewerten und Informieren und die verschiedenen Auffassungen dazu in der Fachliteratur vgl. Petkova-Kessanlis (i. Dr.). 7 Vgl. Herbig/ Sandig (1994: 60): „Das Prädizieren einzelner Bewertungen erfolgt auf der Grundlage von Bewertungswissen.“ <?page no="385"?> Thematisieren von Textmustermerkmalen in wissenschaftlichen Texten 373 bei handelt es sich nur um einen Ausschnitt aus der Vielfalt der Realisierungsmöglichkeiten. Am Ende einer Rezension findet sich z.B. folgendes abschließendes Urteil: 4. „Als wichtige Anforderungen für Einführungen gelten neben dem Bezug zum aktuellen Forschungsstand vor allem Zielgruppenorientierung, Eignung für autodidaktisches und seminarangeleitetes Lernen sowie ein einführungsadäquates Layout. Das alles wird mehr als zufrieden stellend eingelöst. Der Text wird durch Abbildungen, Tabellen und Zusammenfassungen aufgelockert und ist in wesentlichen Teilen auch gut verständlich geschrieben. In jedem Fall ist das Buch außerordentlich lesenswert und für Studierende der germanistischen Sprachwissenschaft in allen Studiengängen, insbesondere auch den anwendungsorientierten, sehr gut geeignet.“ (Krieg-Holz 2011: 148) Thematisiert werden Merkmale des Textmusters Einführung. Berücksichtigung finden Eigenschaften des außersprachlichen Handlungstyps wie der soziale Sinn (Ergebnisse und Erkenntnisse, die vermittelt werden, sollen aktuell sein), die Adressaten der Textsorte (und ihre Bedürfnisse) sowie Textsorteneigenschaften wie charakteristische Handlungen (z.B. das Verständlich machen) und die materielle Gestalt. Bemerkenswerterweise werden diese für Einführungen prototypischen Merkmale nicht einfach als per Konvention etabliert thematisiert, sondern als hohe Anforderungen, die nicht jeder Text erfüllt, als Idealvorstellungen, denen man entsprechen muss. Auf diese Art und Weise wird den Lesern der Rezension nahegelegt, dass der Bewertungsgegenstand dem Bewertungsmaßstab in hohem Maße entspricht. Der positiven Bewertung wird dadurch Nachdruck verliehen. Das Thematisieren bestimmter Textmustermerkmale hat also in diesem Fall die Funktion, die abgegebene Bewertung wirkungsvoller zu machen. In Rezensionen werden bestimmte Merkmale nur dann zum Thema gemacht, wenn sie in besonders hohem Maße dem Bewertungsmaßstab entsprechen oder ihm gar nicht entsprechen. Die materielle Gestalt eines Textes beispielsweise wird in der Regel in zwei Fällen thematisiert: 1) wenn die materielle Gestalt für eine starke Adressatenberücksichtigung spricht (vgl. 4.), oder 2) wenn die materielle Gestalt eine mangelnde Adressatenberücksichtigung erkennen lässt: 5. „Bezüglich der Abbildungen ist anzumerken, dass diese nicht immer sehr leserfreundlich gestaltet wurden. Zum Teil sind sie so klein, dass man auch mit Lupe nichts zu erkennen vermag und das ist nicht nur schade, sondern auch sehr ärgerlich. So kann der Argumentation der Analyse nicht immer Folge geleistet werden […].“ (Spieß 2009: 126) <?page no="386"?> Mikaela Petkova-Kessanlis 374 Ähnlich verhält es sich mit dem Textmustermerkmal Durchschnittsumfang. Ein nicht dem Prototyp entsprechender Umfang geht mit fehlenden Inhalten einher und wird aus diesem Grund bemängelt: 6. „Bei dem für eine Dissertationsschrift recht knappen Umfang der Arbeit (149 Seiten inklusive Anhang) wäre hier durchaus Raum gewesen, die prototypischen Kernbereiche der Grünen-Stile im Hinblick auf alle von Harms herausgearbeiteten Regeln der NBS genauer herauszustellen und ein abschließendes Resümee der Analyseergebnisse vorzulegen […].“ (Spieß 2009: 126) Ein überdurchschnittlich großer Umfang wird thematisiert und neutral bis eher positiv bewertet: 7. „Der zu rezensierende Band beeindruckt zunächst rein äußerlich durch seinen Umfang. Mit nahezu 800 Seiten ist das bei Sammelwerken Übliche bei weitem überschritten. Dann beeindruckt der Band durch sein Inhaltsverzeichnis. Aufgeführt sind 60 Beiträge zur Phraseologieforschung […].“ (Hoffmann 2013: 243) Hinweise auf das Formulierungswissen der Kommunikationsteilnehmer finden sich in Rezensionen nur selten. Die Verwendung von Wissenschaftssprache, sprachliche Korrektheit und stilistische Angemessenheit gehören zu den Vorgaben des Textmusters und werden nur dann thematisiert, wenn davon in erheblichem Maße abgewichen wird. Dass Verstöße gegen diese Vorgaben nicht toleriert werden, zeigt folgendes Beispiel: 8. „Wenngleich man dem Autor in Bezug auf seine Sachkompetenz bzw. die inhaltliche Gestaltung des Buches kaum Vorwürfe machen kann […], so ist es doch absolut unverzeihlich, dass eine akademische Publikation, die de Gruyter mit sage und schreibe € 69,95 bepreist hat, über eine jegliche Toleranz sprengende Anzahl an sprachlich-formalen Defiziten verfügt, die sich nicht alleine auf ein heutzutage bereits zur Gewohnheit gewordenes nachlässiges Lektorat zurückführen lassen: Eine Flut von Druckfehlern (im Durchschnitt auf jeder zweiten Seite einer! ) und die angesichts der Publikationserfahrung Wildgens völlig überraschende Stil- und Ausdrucksschwäche (beispielsweise unzählige Wortwiederholungen, die jedem Schullehrer des Deutschen die Haare zu Berge stehen ließen) rechtfertigen eine Anschaffung des Buches für von Budgetkürzungen schwer gebeutelte Universitätsbibliotheken erst nach gründlicher Neubearbeitung. Leider scheint hier jedoch das Kind bereits in den Brunnen gefallen zu sein, zumal die meisten deutschen akademischen Büchereien schon über ein Exemplar des Buches verfügen […].“ (Hartmann 2012: 376) <?page no="387"?> Thematisieren von Textmustermerkmalen in wissenschaftlichen Texten 375 Der Autor bewertet hier nicht nur betont negativ, sondern bringt auch seine emotionale Betroffenheit (Empörung) zum Ausdruck. 8 Bedeutsam ist diese Art der Handlungsdurchführung, bei der ein emotionales Verstärken erfolgt, vor allem, weil sie eine argumentationsstützende Funktion erfüllt. 9 2.3 Thematisieren von TMW zu individuellen kommunikativen Zwecken Das Thematisieren von TMW kann vollzogen werden mit dem Ziel, den Text für die Rezipienten attraktiv zu machen. Ein gutes Beispiel dafür ist das Grußwort von Ludwig M. Eichinger auf der 41. Jahrestagung des Instituts für deutsche Sprache. In seinem Text thematisiert er immer wieder Elemente des Wissens über Grußworte auf wissenschaftlichen Tagungen und beschreibt metakommunikativ sein sprachliches Handeln. Dabei weist er darauf hin, ob er den jeweiligen Textmustervorgaben folgt oder davon abweicht. Dies tut er, um einen direkten Zusammenhang zwischen dem Thema der Tagung (Text - Verstehen) und seinem Text herzustellen und zeichnet auf diese Art und Weise den Ablauf von Verstehensprozessen nach: 9. „Sie können erwarten, dass ich Sie alle hier begrüßen werde […]. Vielleicht haben Sie bemerkt, dass ich beiläufig räsonierend in einen weiteren einigermaßen verpflichtenden Teil des Textschemas eingetreten bin, in dem ich mich hier bewege: dem […] Verweis auf Thema und inhaltliche Akzentuierung der Tagung. […] Nun habe ich von Anfang an das Muster der rituellen Begrüßung zu Beginn einer Tagung durch das Zitieren ihrer Bestandteile gebrochen.“ (Eichinger 2006: 1f.) Das Thematisieren von TMW kann aber auch gleichzeitig zwei Funktionen erfüllen. Eine solche Textmusterrealisierung findet sich im Vorwort des von Feilke/ Lehnen (2012) herausgegebenen Sammelbandes Schreib- und Textroutinen: 10. „Vorworte in wissenschaftlichen Büchern sind Beispiele sprachlicher Routine par excellence. Sie haben pragmatisch den Status von Begrüßungen als kommunikativen Ritualen, und für den ganzen Text sind sie so etwas wie ein großformatiges Gliederungssignal: Es wird gesagt, wie es losgeht, wie es weitergeht und was zu erwarten ist. Auch für den Schreiber oder die Schreiberin scheint eigentlich alles klar. Das Buch ist - im Regelfall - schon geschrieben, die Inhalte sind also bekannt und die Erwartungen an diesen Paratext sind es erst recht. Trotzdem wäre es 8 Zur Realisierung des Musters EMOTIONALISIEREN in wissenschaftlichen Rezensionen vgl. Petkova-Kessanlis (i.Dr.). 9 Vgl. Herbig (1992: 121), der u.a. auf Fälle solchen (emotionalen) VERSTÄRKENs aufmerksam macht und sie als zusätzliche Funktionen von Argumentationen betrachtet. <?page no="388"?> Mikaela Petkova-Kessanlis 376 falsch, der hochroutinierten Gattung lediglich mit der Erwartung einer Wiederkehr des Gleichen zu begegnen. Pragmatisch muss sie das Gegenteil leisten, nämlich das jeweils vorliegende Buch als besonders, seine Inhalte als unverwechselbar und neu vorzustellen. (neuer Absatz) Dass Routine und kreative Ordnungsleistungen kein Widerspruch sind, ist im herkömmlichen Konzept sprachlicher Routine, das gerne mit Gleichförmigkeit und einer die Bequemlichkeit stützenden Musterbildung in Zusammenhang gebracht wird, unseres Erachtens zu wenig bedacht. Die Beiträge dieses Bandes argumentieren für ein sozial intelligibles Konzept sprachlicher Routine.“ (Feilke/ Lehnen 2012: V) Im Vorwort kritisieren die Autoren die Gleichsetzung sprachlicher Routine mit „Gleichförmigkeit“ und „Bequemlichkeit“ und vertreten die Auffassung, dass auch bei einer routinierten Textmusterbefolgung Kreativität erforderlich ist. Um diese Auffassung zu begründen, verweisen sie auf ein prototypisches Beispiel sprachlicher Routine - auf die Textsorte Vorwort. Sie thematisieren zunächst Elemente des Wissens über dieses Textmuster, indem sie kurz auf die Textfunktion und die charakteristische Handlungsstruktur (mit ihren Inhalten) eingehen, machen aber auf die individuelle Varianz bei der Textmusterrealisierung aufmerksam und messen dieser Varianz eine besondere Relevanz bei. Das Thematisieren von TMW hat hier eine subsidiäre (vgl. 2.2), argumentationsstützende Funktion zu erfüllen. Der Vollzug der Handlung, bei dem Merkmale des Textmusters Vorwort in einem konkreten Text expliziert werden, der nach demselben Muster realisiert wird, sowie die Initialposition dieser Handlung sollen die Leser aktivieren, ihr Interesse wecken und den Text attraktiv machen. 3 Ein didaktisches Konzept zum Erwerb von Textmusterwissen Eine Reihe von Untersuchungen (vgl. z.B. Guckelberger 2005; 2008 zu mündlichen Referaten; Steinhoff 2007 zu studentischen Hausarbeiten), die sich dem Umgang von Studierenden an deutschen Universitäten mit wissenschaftlichen Textsorten widmen, stellen Defizite beim textproduktiven Handeln fest, die auf fehlendes bzw. unzureichendes Wissen über die Textmuster der wissenschaftlichen Kommunikation zurückzuführen sind. 10 So macht Guckelsberger beispielsweise auf ein Phänomen aufmerksam, das für das sprachliche Handeln im Bereich der Wissenschaftskommunikation grundlegend ist: 10 Das Vorhandensein von TMW ist unabhängig von der Sprachkompetenz der Studierenden, vgl. Guckelsberger (2005: 11): „Unzureichendes Diskursartenwissen ist sowohl bei deutschen als auch bei ausländischen Studierenden zu beobachten.“ <?page no="389"?> Thematisieren von Textmustermerkmalen in wissenschaftlichen Texten 377 „Wissenschaftliche Texte weisen gegenüber nicht-wissenschaftlichen spezifische Merkmale auf, derer sich viele Studierende nicht bewusst sind. Zu nennen wäre hier die wissenschaftlichen Texten inhärente diskursive (eristische) Struktur als Ausdruck eines dynamischen, auf kritische Auseinandersetzung beruhenden Wissenschaftskonzepts.“ (Guckelsberger 2008: 84) Ein Vorschlag zur Förderung der „Ausbildung einer eristischen Schreibkompetenz“ bei Studierenden findet sich in Klemm/ Rahn/ Riedner (2012). Die Autoren zeigen, wie Studierende zentrale wissenschaftssprachliche Handlungen wie das zusammenfassende Referieren und Bewerten einüben können, indem sie Texte produzieren, die der Textsorte ‚Wissenschaftliche Rezension‘ angehören (sollen). Zweifellos eignet sich dieser Vorschlag dazu, wissenschaftssprachliche Kompetenz zu entwickeln; er hat auch gute Aussichten auf Erfolg, vorausgesetzt die Studierenden verfügen über das entsprechende TMW. Klemm/ Rahn/ Riedner (2012) vergleichen studentische Rezensionen mit von Experten verfassten Rezensionen, konstatieren dabei relevante Unterschiede und weisen darauf hin, „dass die mentalen Verarbeitungsleistungen beim Schreiben einer Rezension auch für fortgeschrittene Studierende eine sehr große Herausforderung darstellen“ (Klemm et al. 2012: 411). Diesen Problemen könnte man entgegenwirken, indem man den Studierenden im Vorfeld, d.h. vor der Phase der Textproduktion, das entsprechende TMW vermittelt. Wie kann also dieses Wissen von den Studierenden erworben werden? Folgendes scheint mir bei der Entwicklung eines didaktischen Konzepts zur Vermittlung von TMW von Bedeutung zu sein: Da das Textmusterwissen ein Erfahrungswissen ist, sollte die Beschäftigung und Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Texten in den Mittelpunkt jedes didaktischen Konzepts gestellt werden. Die Auswahl der Texte ist dabei von entscheidender Bedeutung. Besonders dann, wenn Studierende wenig oder gar keine Erfahrung mit wissenschaftlichen Texten haben, sollte man kürzere Fachtexte mit einem möglichst niedrigeren Fachsprachlichkeitsgrad einsetzen. Für Studierende der Germanistischen Linguistik finden sich Texte dieser Art z.B. in der von der Gesellschaft für deutsche Sprache herausgegebenen Zeitschrift Sprachdienst. Die Vermittlung wissenschaftssprachlicher Kompetenz kann und darf kein Selbstzweck sein. Denn das Formulierungswissen ist ein fester Bestandteil des Textmusterwissens: Es kann nicht kommunikationsadäquat umgesetzt werden, wenn man nicht über ein Wissen um die Eigenschaften des Handlungstyps eines gegebenen Textmusters verfügt. Ein integraler Bestandteil dieses Konzepts soll der Rückgriff auf das Textmusterwissen der Kommunikationsteilnehmer sein. Mithilfe von Texten <?page no="390"?> Mikaela Petkova-Kessanlis 378 bzw. Teiltexten, in denen TMW thematisiert wird, können die Studierenden für bestimmte Textmustermerkmale sensibiliert werden und sich Wissen nicht nur über typische, sondern auch über weniger typische Textsortenexemplare aneignen. Im Rahmen entsprechender Lehrveranstaltungen soll es Aufgabe der Studierenden sein (selbstständig oder in Gruppenarbeit), anhand solcher Texte einzelne Textmustermerkmale zu eruieren, die Ergebnisse zu systematisieren und auf diese Art und Weise das TMW der Kommunikationsteilnehmer zu rekonstruieren. 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Abrufbar unter: http: / / ojs.ub.gu.se/ ojs/ index.php/ modernasprak/ article/ viewFile/ 668/ 628 [25.11.2014]. <?page no="393"?> Frank Rabe Einstellungen und Sichtweisen zu den Wissenschaftssprachen Englisch und Deutsch Ein disziplinspezifischer Vergleich Abstract Ausgehend von der Annahme, dass sich das Englische und Deutsche im Zuge der Anglisierung in den jeweiligen Disziplinen in unterschiedlichem Maße etabliert, stellt der Beitrag Sichtweisen und Einstellungen deutschsprachiger Wissenschaftler zu den Publikationssprachen Deutsch und Englisch vor. Als empirische Grundlage dienen 24 Interviews, die im Rahmen des von der VolkswagenStiftung geförderten Forschungsprojektes ‚Publish in English or Perish in German? ‘ mit Vertretern der Fächer Biologie, Maschinenbau, Germanistische Linguistik und Geschichte durchgeführt wurden. Vor diesem Hintergrund soll untersucht werden, wie die Wahl der Publikationssprache von den Wissenschaftlern selbst beurteilt und begründet wird. Es stellte sich heraus, dass die Befragten vor allem den internationalen Austausch als Begründung für das Publizieren auf Englisch anführen und dass wissenschaftliche Mehrsprachigkeit in diesem Sinne als Hindernis wahrgenommen wird. Für das deutschsprachige Publizieren werden Gründe wie eine größere Kosten- und Zeit-Effizienz bei umfangreicheren Werken, eine nationale Adressatenorientierung sowie die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses genannt. 1 Einleitung Da das Englische im Zuge der Internationalisierung der Wissenschaft zunehmend an kommunikativer, beruflicher und identitätsstiftender Bedeutung gewinnt, bietet es sich an, diesbezügliche Einstellungen und Sichtweisen von deutschsprachigen Wissenschaftlern zu untersuchen. Besondere Beachtung verdient hierbei die Zweisprachigkeit der untersuchten Wissenschaftler: Zwar wurde die Vormachtstellung des Englischen als Publikationssprache in vielen Disziplinen vielerorts belegt und diskutiert (vgl. Ammon 2012; Ehlich 2000; Meyer 2004; Gnutzmann 2006). Dennoch kann in den meisten Fällen nicht von einer ‚Alleinherrschaft‘ des Englischen ausgegangen werden, insbesondere wenn man die Verwendung des Deutschen in Lehre, Populär- <?page no="394"?> Frank Rabe 382 wissenschaft, Kommunikation unter Kollegen und auf national bzw. regional bedeutsamen Konferenzen berücksichtigt (vgl. Petersen/ Shaw 2002: 359). Für den Bereich der Wissenschaftssprache stellen z.B. Duszak/ Lewkowicz (2008: 109) fest, dass wissenschaftliches Schreiben und Publizieren auch eine Form der Identitätsausübung darstellt und nicht ausschließlich auf Fragen der Schreib- und Fachkompetenz reduziert werden kann. Die Untersuchung vorhandener Einstellungen und Sichtweisen kann somit einen wichtigen Beitrag zur Wissenschaftssprachforschung leisten, da hierdurch u.a. disziplinäre Selbst- und Fremdwahrnehmungen sowie wissenschaftsbezogene und sprachliche Ideologien 1 ‚sichtbar gemacht‘ und der Analyse zugeführt werden können. Vor diesem Hintergrund untersucht der vorliegende Beitrag, wie 24 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, von denen je 6 den Fächern ‚Biologie‘, ‚Maschinenbau‘, ‚Germanistische Linguistik‘ und ‚Geschichtswissenschaft‘ angehören, die Wahl der Publikationssprachen Englisch und Deutsch begründen. Beachtung finden soll in diesem Zusammenhang ebenfalls, inwiefern die in den Interviews geäußerten Einstellungen und Sichtweisen eher fachspezifisch sind, oder ob sie von allen hier untersuchten Fächergruppen vertreten werden und somit für das untersuchte Korpus als fächerübergreifend gelten können. 2 Der Beitrag ist wie folgt aufgebaut: Zunächst wird die Laien-Linguistik als Ansatz der sprachbezogenen Einstellungsforschung kurz vorgestellt und der methodische Rahmen der Untersuchung beschrieben (Abschnitt 2). Darauf aufbauend werden die Sprachwahlbegründungen der Interviewten für das Englische (Abschnitt 3) und Deutsche (Abschnitt 4) vorgestellt. Der Beitrag schließt mit einer Zusammenfasung der Ergebnisse und zeigt einige Implikationen auf (Abschnitt 4). 2 Zur sprachlichen Einstellungs- und Ideologieforschung Die Laien-Linguistik untersucht sprachbezogene Einstellungen und Sichtweisen von Nichtlinguisten in der Annahme, dass deren Ansichten relevante Informationen über Sprachgebrauch und -wahrnehmung bereitstellen kön- 1 Der Ideologiebegriff soll hier neutral definiert werden als „the deeper layers of culture and society, the unspoken assumptions that, as some kind of ‚social cement‘, turn groups of people into communities, societies, and cultures“ (Blommaert 2006: 510). 2 Eine detaillierte Vorstellung der theoretischen und methodischen Aspekte des Projektes ‚Publish in English or Perish in German? Wissenschaftliches Schreiben und Publizieren in der Fremdsprache Englisch‘, in dessen Rahmen diese Untersuchung durchgeführt wurde, findet sich im Beitrag von Claus Gnutzmann im vorliegenden Band. <?page no="395"?> Einstellungen und Sichtweisen zu Wissenschaftssprachen 383 nen (vgl. Preston 2011: 15). Ihr Aufgabenfeld besteht nach Antos (1996) zum einen in der Beschreibung und Analyse sprachbezogener Themen und Medien, für die Laien sich interessieren, und über die sie sich beispielsweise in Ratgebern informieren. Zum anderen beschäftigt sie aber auch die „Fragestellung nach dem linguistischen Interesse an ‚Alltags-Theorien‘ sprachwissenschaftlicher Laien“ (Antos 1996: 5, Hervorhebung i.O.). Diese Auffassung soll hier Anwendung finden. 3 Die aus den Wissenschaftler-Interviews rekonstruierten Einstellungen und Sichtweisen dienen in erster Linie als Datenquelle (vgl. Wilton/ Stegu 2011: 2) zur Untersuchung des Themenbereichs wissenschaftliches Schreiben und Publizieren; sie sind daher nicht als ‚richtig‘, ‚wahr‘, ‚falsch‘ oder gar ‚naiv‘ zu verstehen. Da sprachpolitische Entscheidungen häufig von Nichtlinguisten getroffen werden und ihre sprachbezogenen Einstellungen und Sichtweisen somit soziale Wirkmächtigkeit entfalten können (vgl. Bogner/ Menz 2009: 67), verspricht ihre Untersuchung Einblicke in die Rolle, die sprachliche Gesichtspunkte in der Entscheidungsfindung der Befragten spielen. 4 Als linguistische Laien werden in der Regel Personen bezeichnet, die keine Sprachwissenschaftler sind. Die ‚Germanistischen Linguisten‘ im Korpus werden dennoch in die Untersuchung einbezogen, da keiner der Befragten das Thema Wissenschaftssprache als Forschungsbereich angegeben oder während der Interviews einen ‚Expertenstatus‘ auf diesem Gebiet reklamiert hatte. Die Perspektiven der Sprachwissenschaftler bilden somit vielmehr eine wertvolle Ergänzung zu den anderen Fächern, da sie sich beruflich mit Sprache als Forschungsgegenstand beschäftigen. Die Nutzung von Interviews für Zwecke der Einstellungsforschung ermöglicht es den Befragten, ihre eigenen Positionen narrativ zu konstruieren und erlaubt den Interviewern folglich Einblicke in Sichtweisen, Einstellungen und Annahmen, die stärker fokussierte Erhebungsmethoden wie Fragebögen in der Regel nicht bieten. Allerdings ist das ‚Elizitieren‘ von Einstellungen aufgrund des Konstruktionscharakters von Befragungen nicht unproblematisch, denn Interviews werden erst durch die Gesprächsteilnehmer 3 Die Laien-Linguistik entwickelt sich zu einem Forschungsschwerpunkt der Angewandten Linguistik, wie ein AILA-Forschungsnetzwerk (URL 1) sowie die Publikation eines AILA Review Bandes zum Thema Applied Folk Linguistics (Wilton/ Stegu 2011) zeigt. 4 Laienlinguistische Untersuchungen wurden u.a. durchgeführt zu Sprachratgebern und Kommunikationstrainings (vgl. Antos 1996), Erst- und Zweitsprachenerwerb (vgl. Cruz-Ferreira 2011) und zur Dialektologie (vgl. Preston 2011). So kam beispielsweise Cruz-Ferreira (2011: 79) in einer Untersuchung von Laien-Sichtweisen zum Erstspracherwerb zu dem Schluss, dass dieser für gewöhnlich als lernerunabhängig und unbewusst ablaufend, ja sogar als „wondrous and infallible“ wahrgenommen wird. <?page no="396"?> Frank Rabe 384 konstituiert und sind damit von situativen und sozialen Faktoren geprägt (vgl. Talmy 2011: 27). Für den vorliegenden Beitrag wurden die Interviewäußerungen thematisch kodiert und dadurch teilweise aus ihrem diskursiven Kontext entfernt, sodass dieser nur bedingt in die Auswertung einbezogen werden kann. Diesen Kompromiss gehe ich aufgrund der Vorteile einer (fach-)vergleichenden und ansatzweise quantifizierenden Perspektive ein. Die Häufigkeitsangaben der einzelnen Kategorien sollen dabei nicht implizieren, dass seltener genannte Begründungen weniger aussagekräftig sind oder häufig vorkommende Nennungen mehr über die Einstellungen einzelner Befragter aussagen. Eine Berücksichtigung der Vorkommenshäufigkeit gibt jedoch Hinweise darauf, wie verbreitet ähnliche Aussagen im Korpus sind und als wie ‚typisch‘ diese für ein bestimmtes Fach gelten können. Dass im Rahmen der Untersuchung Wissenschaftler interviewt wurden, die bereits mindestens eine englischsprachige Publikation veröffentlicht hatten, ist ein weiterer relevanter Faktor. Die Verwendung anderer Auswahlprinzipien, wie z.B., dass mindestens eine deutschsprachige Publikation vorliegen soll, hätte zwar zu mehr Datenmaterial für die Sprachwahlbegründungen des Deutschen geführt, aber ebenfalls die Biologen und einen Teil der Maschinenbauer aus dem Korpus eliminiert. Im folgenden Abschnitt werden einige Interview-Aussagen vorgestellt, in denen die Wahl des Englischen als Publikationssprache begründet wird. 3 Begründungen für die Wahl des Englischen 5 Veröffentlichungen in englischer Sprache haben in einigen Disziplinen bereits einen derart hohen Stellenwert, dass man annehmen könnte, die Wahl des Englischen bedürfe keiner expliziten Begründung mehr. Dennoch scheinen die Wissenschaftler den Wunsch zu verspüren, sich für die Wahl des Englischen zu rechtfertigen, wie die folgende Übersicht (Abb. 1) zeigt. 5 Im Rahmen dieses Beitrages können nur ausgewählte Kategorien vorgestellt werden. Eine vollständige Analyse und Diskussion der im Beitrag in Auszügen behandelten Sprachwahlbegründungen sowie weiterer Themenfelder (Unterstützung des Deutschen als Wissenschaftssprache? ; Der Stellenwert von Sprache in Wissensproduktion und -verbreitung; Sprachliche und kulturelle Zuschreibungen) befindet sich im Rahmen meines Promotionsprojektes in der Fertigstellung (vgl. Rabe 2015). <?page no="397"?> Einstellungen und Sichtweisen zu Wissenschaftssprachen 385 Abb. 1: Von den Befragten angeführte Begründungen für die Wahl des Englischen als Publikationssprache (n=67; enthält Mehrfachnennungen) Die größte Kategorie, ‚Internationale Kommunikation / Sichtbarkeit / Kooperation‘ (n=16; 4xB, 4xM, 4xL, 4xG) 6 , führt die Notwendigkeit des internationalen Austauschs als Begründung für die Wahl des Englischen als Publikationssprache an und spiegelt die zunehmende Internationalisierung der Wissenschaft fächerübergreifend wider. Die Streubreite an Positionierungen soll anhand dreier Begründungen aus den Interviews nachvollziehbar gemacht werden: „Weil ich sonst in der Forschungsdomäne, in der ich wahrgenommen werden will, nicht wahrgenommen werde. Also, das heißt, man kann es auch umdrehen und sagen, die englischsprachigen Kollegen lesen kein Deutsch, egal […] welche sensationellen Dinge man da publizieren kann.“ (G28P, 00: 25: 25-0) „Gerade wenn wir jetzt natürlich auch EU-Projekte haben, internationale Kooperationen, natürlich müssen wir auf Englisch reden und natürlich müssen wir mit den Leuten die Anträge auf Englisch schreiben und die Aufsätze auf Englisch schreiben.“ (L32P, 00: 27: 21-3) 6 Die Kürzel geben die Häufigkeit der Nennungen in den Fächern (B)iologie, (M)aschinenbau, Germanistische (L)inguistik und (G)eschichte an. Die Bezeichnungen der Interviewten (z.B. G28P) nutzen dieselben Zuordnungen. Zusätzlich wird zwischen (D)oktoranden, Postdocs (PD) und (P)rofessoren unterschieden. Die Transkription der Interviews orientiert sich weitgehend an den Regeln der Schriftsprache, da der Auswertungsfokus auf inhaltlichen Gesichtspunkten liegt. <?page no="398"?> Frank Rabe 386 „Da ist der deutsche Markt einfach deutlich zu begrenzt […]. Und deswegen ist es für uns natürlich ganz wichtig, dass wir dann internationale Veröffentlichungen haben, die auf der ganzen Welt gelesen werden können.“ (M5PD, 00: 04: 24-1) Im ersten Zitat verweist ein Geschichtsprofessor (G28P) auf den Wunsch, seine Forschung international wahrgenommen zu wissen, und erklärt, warum dies nicht auch auf Deutsch passieren könne. Dass Muttersprachler des Englischen kein Deutsch lesen, wird zwar kritisch kommentiert, aber der Wunsch nach internationaler Rezeption überwiegt letztendlich. Der zweite Befragte, ein Professor der Germanistischen Linguistik (L32P), betont, dass im Rahmen internationaler Zusammenarbeit ‚natürlich‘ auf Englisch gesprochen und geschrieben werden ‚muss‘. Im dritten Interview-Ausschnitt (M5PD) spielen auch (wissens-)ökonomische Begründungen eine Rolle: Der deutsche ‚Markt‘ sei ‚zu begrenzt‘, möglicherweise im Sinne von dort aktiven Wissensproduzenten und -konsumenten. An den Aussagen wird deutlich, dass die Befragten die Anglisierung der Wissenschaft mit der Notwendigkeit internationaler Kommunikation rechtfertigen. Aussagen, die in die Kategorie ‚Internationales Kommunikationsmedium notwendig / Mehrsprachigkeit hinderlich‘ (n=14; 2xB, 5xM, 5xL, 2xG) eingeordnet wurden, argumentieren für die Notwendigkeit einer einzigen Wissenschaftssprache, da wissenschaftliche Mehrsprachigkeit die Wissenschaftskommunikation behindere: „Ich glaub‘, was sozusagen das Ziel ist, ist eine funktionierende Kommunikation. Und was blöd ist, ist wenn Leute sich irgendwie treffen und nicht kommunizieren können. Und wie kann man das lösen? Man kann das irgendwie lösen, indem beide eine Sprache sprechen, sowas wie Englisch und da hat sich Englisch irgendwie rausetabliert, weil sie schön leicht ist und vielleicht auch aus politischen Gründen.“ (L31D, 01: 03: 10-9) „Es gab früher ja so eine Sache, dass man sagte, ok, man muss neben dem Englischen eben auch noch zumindest das Französische, Spanische und Deutsche vielleicht noch […] - dann würde jetzt noch irgendwann Japanisch und Chinesisch natürlich dazukommen - auch noch irgendwie bewahren als Wissenschaftssprache und so weiter, aber ich glaub‘, das ist einfach Blödsinn.“ (B18P, 01: 01: 10-7) Eine Germanistische Linguistin (L31D) erklärt, warum ihr eine gemeinsame Wissenschaftssprache wichtig ist und stellt darüber hinaus Vermutungen über die Gründe an, die das Englische in diese Position gebracht haben. Sie betont, dass es in erster Linie um (irgend-)‚eine Sprache‘ ginge, die diese Form der Kommunikation ermöglicht. Englisch habe sich dann, eine recht passivische Formulierung, ‚irgendwie rausetabliert‘. Die Aussage des Biolo- <?page no="399"?> Einstellungen und Sichtweisen zu Wissenschaftssprachen 387 gen (B18P) hebt die wahrgenommene Problematik wissenschaftlicher Mehrsprachigkeit anhand einer Übertreibung hervor, d.h., dass man als Wissenschaftler nie alle relevanten Wissenschaftssprachen beherrschen könne. Hier wird ein Einsprachigkeitsargument vorgetragen, das mit einem hohen Lernzeitaufwand für den Fall mehrsprachiger Fachkommunikation untermauert wird. Die Sichtweise, dass wissenschaftliche Mehrsprachigkeit hinderlich sei, wird besonders an der Beschreibung der wissenschaftlichen Lese- und Zitierpraxis verschiedener Befragter deutlich: Gleich vier Interviewte verweisen darauf, dass wissenschaftliche Literatur, die nicht auf Englisch vorliegt, entweder nicht von anderen gelesen werden könne bzw. den Wissenschaftlern selbst nicht zugänglich sei. So berichtet ein Befragter wie ‚angesäuert‘ (M36D, 01: 01: 29-8) er sei, wenn er in einem englischen Artikel französischsprachige Literaturverweise vorfindet. Ein komplementäres Beispiel bezieht sich auf die wahrgenommene Nichtzitierbarkeit deutschsprachiger Arbeiten: „Der Nachteil von einer deutschen Publikation ist folgender: Ich kann es auch nirgends zitieren. Selbst die Dissertation nicht. […] Wenn ich ein englisches Paper schreib‘, und dann [eine] deutsche Referenz mach‘, die kann ja keiner lesen. […] Sie lesen auch kein Paper, wenn sie dann wichtige Referenzen auf Italienisch oder Russisch, Chinesisch [haben].“ (M24PD, 00: 59: 19-3) Der Befragte kommt zu dem Schluss, dass Dissertationen in deutscher Sprache ‚verlorene Veröffentlichungen‘ seien, da sie ‚keiner‘ lesen könne. Die Bezeichung ‚keiner‘ ist zwar nicht korrekt, denn deutschsprachige Wissenschaftler könnten sie lesen, suggeriert aber, dass der Befragte dem deutschsprachigen Fachdiskurs einen geringen Stellenwert einräumt. Die Tendenz, in englischen Artikeln nur englischsprachige Literatur anzugeben und Quellen in anderen Sprachen zu ‚unterschlagen‘, wurde u.a. bereits von Fung (2008) für den Bereich der Medizin kritisiert. Es ist davon auszugehen, dass der ‚Sog‘ ins Englische durch das Nichtzitieren deutschsprachiger Werke noch verstärkt wird, da diese international dann gar nicht mehr sichtbar werden und dadurch ein weiterer ‚Anreiz‘ gesetzt wird, ausschließlich auf Englisch zu publizieren. Das in dieser Kategorie von den Befragten vorgebrachte Einsprachigkeitsargument existiert in verschiedenen Variationen - weltweite Kommunikation funktioniere nur über eine gemeinsame Sprache, Mehrsprachigkeit sei hinderlich, nicht-englische Texte nicht lesbar, deutschsprachige nicht zitierbar. All diesen Begründungen ist jedoch gemein, dass sie für das wissenschaftliche Publizieren ein universelles, internationales Kommunikationsmedium fordern. In diesem Sinne wird mehrsprachige Wissenschaft als „unsinnig, ja den Zielen der Wissenschaft gegenüber schädlich“ (Ehlich 2000: 48) wahrgenommen. <?page no="400"?> Frank Rabe 388 Eine weitere Begründung für die Verwendung des Englischen als Publikationssprache ist die Betonung der Alternativlosigkeit dieser Entwicklung (‚TINA - there is no alternative‘; n=7; 2xB, 2xM, 2xL, 1xG). Es wird argumentiert, dass die Sprachwahl gar keine Wahl als solche sei, sondern durch institutionelle Zwänge oder den Konsens der Diskursgemeinschaft bereits determiniert ist (vgl. auch Peterson/ Shaw 2002: 368). Eine Variante dieses Arguments bezieht sich spezifisch darauf, dass ein Großteil oder gar sämtliche ‚Fachliteratur auf Englisch‘ (n=8; 3xB, 3xM, 2xL, 0xG) vorliege. So hebt ein Biologe die Historizität dieser Entwicklung hervor: „Die ganzen Texte in den Biowissenschaften sind auch vor dreißig Jahren alle nur auf Englisch gewesen“ (B19P, 00: 01: 34-2). Ein Doktorand desselben Faches beschreibt die Notwendigkeit, Primärliteratur auf Englisch heranzuziehen: „Im Studium […] hat man noch viel für Klausuren oder so natürlich aus Lehrbüchern gelernt, aber jetzt für konkrete Fragestellungen zu meiner Doktorarbeit gibt es nichts auf Deutsch mehr, ne? “ (B21D, 00: 06: 21-0). Während diese Aussagen eher deskriptiv angelegt sind, ist ein Teil der Nennungen in dieser Kategorie jedoch normativ zu verstehen, in dem Sinne, dass ‚gute‘ wissenschaftliche Literatur nur auf Englisch veröffentlicht werde, wie folgendes Beispiel zeigt: „Wenn man Wissenschaftler werden will, dann muss man einfach wissen, dass die wichtigen Sachen, also die guten Sachen auf Englisch erscheinen.“ (L27PD, 00: 48: 33-5) Äußerungen in diesen Kategorien betonen somit das Englische als alternativlos, der eigene Handlungsspielraum in der Frage der Sprachwahl wird weitestgehend verneint. Ausschließlich Historiker sahen in der ‚Internationalität des Themas‘ (n=5; 0xB, 0xM, 0xL, 5xG) einen Grund zur Wahl des Englischen. So betont ein Befragter, sein Forschungsbereich sei eher eine Ausnahme im Fach, denn dort gebe es „keine Themen, die man nur auf Deutsch schreiben kann, was bei Allgemeinhistorikern, also so allgemeine politische Geschichte, Kulturgeschichte, Wirtschaftsgeschichte“ (G22P, 00: 40: 05-5) durchaus möglich sei. Die Begründungen der Befragten deuten insgesamt darauf hin, dass das Publizieren auf Englisch in der Geschichtswissenschaft (noch) kein Automatismus ist, sondern einer fallbzw. themenabhängigen Rechtfertigung bedarf. Sie weisen außerdem auf die besondere Stellung der Befragten innerhalb einer überwiegend nationalsprachig geprägten (vgl. Skudlik 1990: 213f.) Geschichtswissenschaft hin. Sprachwahlbegründungen, die auf bestimmte Eigenschaften einer Wissenschaftssprache abheben, also ‚Sprachinhärente Gründe‘ (n=5; 2xB, 1xM, 1xL, 1xG), wurden ebenfalls im Korpus gefunden. Hier sollen zwei Inter- <?page no="401"?> Einstellungen und Sichtweisen zu Wissenschaftssprachen 389 view-Aussagen gegenübergestellt werden, um sprachorientierte Sichtweisen auf das Englische und Deutsche zu verdeutlichen: Biologe Historikerin Weil ich Englisch für eine gute Sprache halte, die Dinge viel, viel kürzer und präziser ausdrücken kann als auf jeden Fall Französisch und wahrscheinlich auch als Deutsch. Also wenn man einen englischen Abstract der deutschen Zusammenfassung gegenüberstellt […] also es sind keine Zusammenhänge da drin, die nicht auch genauso aus dem englischen Text hervorgehen, der dann aber viel kürzer ist. (B18P, 00: 41: 45-0) Ich hab‘ schon das Gefühl gehabt, dass man auf Englisch […] über manche Klippen so ein bisschen drüber segeln kann mit der Sprache und es klingt trotzdem alles sehr überzeugend. Und wenn [man] das aber ins Deutsche dann übertragen müsste, dann müsste man schon sagen: Nee, ich glaube, hier müsste man schon noch ein bisschen genauer schreiben, was man jetzt meint oder so. Und Englisch ist aber alles so Gender, Class, Identity blablabla. (G16PD, 00: 25: 59-3) Abb. 2: Fallkontrastierung wahrgenommener sprachinhärenter Eigenschaften des Deutschen und Englischen Der befragte Biologe führt vermeintliche Vorzüge des Englischen, Kürze und Präzision, gegenüber dem Deutschen bzw. Französischen an. Die Historikerin hingegen glaubt, dass Englisch etwas ‚schwammiger‘ und leichter zu schreiben sei, Deutsch dagegen mehr Präzision und Tiefgang erfordere. Aussagen in der Kategorie ‚Karriere / berufliche Mobilität‘ (n=4; 0xB, 1xM, 2xL, 1xG) beziehen sich einerseits auf den Wunsch, später im anglophonen Ausland zu arbeiten (G26D, L31D), andererseits auf die Notwendigkeit, für eine Karriere in englischsprachigen Fachzeitschriften zu publizieren (M24PD, L33D). Dass es sich bei drei der vier Befragten um Doktoranden handelt, könnte bedeuten, dass eine (antizipierte) wissenschaftliche Laufbahn besonders für Nachwuchswissenschaftler einen Grund darstellt, auf Englisch zu publizieren. Im nächsten Abschnitt werden nun die Begründungen für die Wahl des Deutschen als Publikationssprache vorgestellt. 4 Begründungen für die Wahl des Deutschen Trotz der geringer ausfallenden Dimensionierung des Datenmaterials sind die Sprachwahlbegründungen aufschlussreich, um mehr über die Motive <?page no="402"?> Frank Rabe 390 der Befragten zu erfahren, auf Deutsch zu publizieren. Eine Übersicht der genannten Begründungen gibt Abbildung 3: Abb. 3: Von den Befragten angeführte Begründungen für die Wahl des Deutschen als Publikationssprache (n=18; enthält Mehrfachnennungen) Im Vorfeld der Diskussion einzelner Kategorien kann als fachspezifisches Ergebnis festgehalten werden, dass die Biologen bei den Begründungen für die Wahl des Deutschen als Publikationssprache keine Rolle spielen. Sie geben an, wissenschaftliche Literatur ausschließlich auf Englisch zu veröffentlichen. Die erste Kategorie, ‚Längere Werke haben eine andere Qualität als Artikel‘ (n=4; 0xB, 1xM, 2xL, 1xG), enthält Aussagen, die beschreiben, dass die für wissenschaftliche Fachartikel zutreffenden Eigenschaften für umfangreiche Monographien und Herausgeberschaften nicht gelten. So könnten u.a. die Kosten einer muttersprachlichen Durchsicht deutlich höher ausfallen (G30PD). Aber auch der niedrigere Zeiteinsatz für das Verfassen einer deutschsprachigen Monographie wird als vorteilhaft aufgefasst (L3P). Zusätzlich kann mangelnde sprachliche Variation bei längeren Werken für eine Veröffentlichung auf Deutsch ausschlaggebend sein: „Ein kurzes Paper zu schreiben ist relativ einfach, […] eine Dissertation auf Englisch zu schreiben ist sehr, sehr schwierig, weil man dann irgendwie nach der zehnten Seite merkt: ‚Oh Gott, ich schreib‘ ja immer das Gleiche‘.“ (M23P, 00: 29: 30-7) Eine germanistische Linguistin befürwortet den Einsatz des Deutschen in Sammelwerken, da dies arbeitsökonomischer sei als „400 Seiten Englisch von Deutschen korrigieren [zu] müssen“ (L27PD, 00: 35: 06-3). Die Argumente der Befragten legen ein Bild des Deutschen als der ‚vollständiger‘ beherrschten Wissenschaftssprache nahe, in der stilistische Variation sowie <?page no="403"?> Einstellungen und Sichtweisen zu Wissenschaftssprachen 391 Kosten- und Zeiteffizienz für umfangreiche Publikationen eher gewährleistet werden können. In der Kategorie ‚Schutzraum-Funktion des deutschen Diskurses‘ (n=3; 0xB, 2xM, 1xL, 0xG) wird das Deutsche als Einstiegsmedium in die Wissenschaft beschrieben. Es erlaube Nachwuchswissenschaftlern die Veröffentlichung „im kleinen Kreis“ (M24PD, 00: 54: 08-7) und entlaste sie dahingehend, dass sie ohne die mit einer Fremdsprache verbundenen Einschränkungen in einer eher lokal orientierten Diskursgemeinschaft interagieren können. Gleichzeitig stellt die Verwendung des Deutschen auch eine Art ‚Sprungbrett‘ hin zu englischsprachigen Veröffentlichungen dar: „Das war meine erste Veröffentlichung, […] was eine schöne, ganz tolle Sache war, wo man als junger Doktorand anfangen kann, mal so Veröffentlichungen zu schreiben und seine ersten Sachen einem kleinem Publikum zu publizieren. Und das habe ich gemacht, es hat funktioniert. Und danach, mit mehr Material, bin ich dann auf die internationale Ebene gegangen.“ (M36D, 00: 10: 47-2) Der Befragte macht Gebrauch von der Möglichkeit, sich ‚lokales‘ Feedback einzuholen, um anschließend eine englischsprachige Veröffentlichung anzustreben. Eine mögliche Folge dieses Verwendungsmusters ist, dass das Deutsche zu einer Ausbildungssprache reduziert wird. Zugleich verdeutlicht das Zitat die Notwendigkeit regionaler und nationaler Publikationsforen als ‚Katalysator‘ wissenschaftlicher Ideen. Während das Englische häufig mit Karrieremöglichkeiten und -notwendigkeiten assoziiert wird (vgl. z.B. Ammon 2012: 342), ist dieses Begründungsmuster für das Deutsche weniger augenscheinlich. Umso erstaunlicher sind die fachspezifischen Aussagen aus der Germanistischen Linguistik in der Kategorie ‚Karriere‘ (n=3; 0xB, 0xM, 3xL, 0xG): „Es gibt durchaus eine Gruppe von Nachwuchswissenschaftlern, die halt in so einem internationalen Umfeld sind […]. Man sollte aber auch nicht ganz vergessen, dass die eine oder andere Stelle nachher durchaus in der Germanistik vergeben wird. Da ist es sicher nicht schlecht, wenn man auch mal ein, zwei schöne Publikationen auf Deutsch hat und zeigen kann, man nimmt Deutsch als Wissenschaftssprache ernst, man hat auch nach wie vor die Fähigkeiten, wissenschaftliche Sachverhalte auf Deutsch rüberzubringen.“ (L32P, 00: 55: 32-8) Der Befragte rät dem wissenschaftlichen Nachwuchs, trotz zunehmender Internationalisierung auf Deutsch zu publizieren, da bei der Auswahl wissenschaftlichen Personals in der Germanistischen Linguistik auch deutschsprachige Literatur eine wichtige Rolle spiele. Das Beispiel illustriert eindrücklich die institutionelle Einbettung diverser Fachrichtungen im Rahmen der <?page no="404"?> Frank Rabe 392 Germanistik (wie z.B. der Allgemeinen Linguistik, der der Befragte sich zuordnet) und die damit einhergehende Verwendung des Deutschen als Publikationssprache. Es wirft darüber hinaus die grundlegende Frage auf, über welche Möglichkeiten wissenschaftliche Institutionen verfügen, die Verwendung des Deutschen als Publikationssprache zu steuern. Institutionelle Sprachanforderungen können in anderen Fächern ebenfalls eine Rolle spielen, wenn beispielsweise öffentliche Auftraggeber deutschsprachige Berichte erwarten und so einen Anreiz setzen, das Deutsche als Wissenschaftssprache zu verwenden (vgl. Petersen/ Shaw 2002: 372 für Beispiele im dänischen Kontext). Zwei Interviewte begründen ihre Sprachwahl damit, dass ihr ‚Thema national relevant‘ (n=2; 0xB, 0xM, 1xL, 1xG) sei. Für sie spiele eine nationale Adressatenorientierung bei der Wahl der Publikationssprache eine Rolle. Sie argumentieren dafür, dass bestimmte Themen größeres Interesse bei der deutschsprachigen Leserschaft hervorrufe oder es sprachlich ökonomischer sei, auf Deutsch zu veröffentlichen, da kulturspezifische Konzepte und Begriffe, z.B. aus dem Bildungswesen, nur schwer ins Englische übertragen werden könnten. 5 Zusammenfassung und Implikationen Im vorliegenden Beitrag standen die Einstellungen und Sichtweisen deutschsprachiger Wissenschaftler zum Publizieren auf Englisch und Deutsch im Vordergrund. Grundannahme war, dass ein interviewbasierter und laienlinguistisch orientierter Ansatz Zugang zum sprachlichen und fachlichen Selbstverständnis der Wissenschaftler erlaubt. Zusammenfassend soll nun die Frage beantwortet werden, wie die Befragten die Wahl der Publikationssprachen Englisch und Deutsch begründen. Allein 30 der 67 genannten Begründungen für das Publizieren in englischer Sprache beziehen sich auf die wahrgenommene Notwendigkeit des internationalen Austausches. Es wird zudem betont, dass dieser nicht über individuelle Mehrsprachigkeit handhabbar sei, sondern durch die Nutzung einer ‚globalen‘ Wissenschaftssprache - des Englischen. Derartige Überlegungen wurden von Vertretern aller untersuchten Fächer angeführt und können somit als fächerübergreifend gelten. Ferner war für viele Befragte die Anglisierung im Fach bereits derart fortgeschritten, dass sie die Alternativlosigkeit des Englischen betonten, u.a. da (‚gute‘) Fachliteratur exklusiv in dieser Sprache vorliege. Ein fachspezifisches Ergebnis ist die Begründung der Historiker, dass das eigene Forschungsthema besonders international sei und deshalb auf Englisch publiziert werde. Dies spricht für eine nach wie <?page no="405"?> Einstellungen und Sichtweisen zu Wissenschaftssprachen 393 vor bestehende nationalsprachliche Verankerung der Geschichtswissenschaft, deren ‚Aufbrechen‘ die Befragten in den Interviews rechtfertigen. Berufliche Mobilität und Karrierechancen wurden hauptsächlich von Nachwuchswissenschaftlern angeführt, die zwar prinzipiell eine Publikationssprache wählen könnten, sich aber aufgrund einer anvisierten Karriere im In- oder Ausland für das Englische entscheiden. Dies könnte auch erklären, warum die Biologie-Doktoranden nicht in dieser Kategorie vertreten sind. Das Englische ist möglicherweise bereits derart verbreitet, dass eine englischsprachige Dissertation zum Normalfall geworden ist und keine weiteren karriererelevanten Vorteile mit sich bringt. Begründungen für das Publizieren in deutscher Sprache finden sich, nicht zuletzt aufgrund der berücksichtigten Fächer, seltener im Korpus. Es fällt auf, dass die Biologen nichts zu diesem Thema mitteilen, also keinen triftigen Grund sehen, auf Deutsch zu publizieren. Weiterhin kann konstatiert werden, dass stilistische, sprachen- und zeitökonomische Gesichtspunkte, eine nationale Themen- und Adressatenorientierung sowie in der Germanistischen Linguistik auch eine wissenschaftliche Karriere als Gründe für die Nutzung des Deutschen als Publikationssprache angegeben wurden. Dass die Teilnahme an deutschsprachigen Diskursen zudem von einigen Befragten als ‚Schutzraum‘ bzw. ‚Sprungbrett‘ angesehen wird, unterstreicht die Notwendigkeit national und regional orientierter Publikationsforen, insbesondere für den wissenschaftlichen Nachwuchs. Die Daten legen nahe, dass eine fächerübergreifende Wissenschaftssprach-Politik nicht nur unrealistisch ist, sondern zudem Gefahren für mehrsprachig arbeitende Fächer bergen würde. Insbesondere trifft dies zu, wenn Geistes- und Sozialwissenschaften sich am English only-Modell der Naturwissenschaften orientieren. Für eine mit der jeweiligen Wissenschaftskultur kompatiblen Rolle der Wissenschaftssprachen sind demnach disziplinspezifische ‚Lösungsansätze‘ in Forschung und Lehre nötig: In der Germanistischen Linguistik und der Geschichtswissenschaft ist man einer zwei- oder gar mehrsprachigen Publikationspraxis gegenüber aufgeschlossen, in der Biologie wird das jedoch kaum durchsetzbar sein. Die Kenntnis fachtypischer sowie fächerübergreifender Argumentationslinien bietet in diesem Zusammenhang einen Ansatzpunkt, den Dialog über die Bedeutung des Deutschen und Englischen als Wissenschaftssprachen ‚in den Worten‘ der jeweiligen Fachkulturen fortzusetzen und zu intensivieren. Elektronische Quellen URL 1: http: / / www.aila.info/ en/ research/ list-of-rens/ folk-linguistics.html [11.11. 2014]. <?page no="406"?> Frank Rabe 394 Literatur Ammon, Ulrich (2012): Linguistic inequality and its effects on participation in scientific discourse and on global knowledge accumulation - with a closer look at the problems of the second-rank language communities. In: Applied Linguistics Review, Nr. 3(2), S. 333—355. Antos, Gerd (1996): Laien-Linguistik. Studien zu Sprach- und Kommunikationsproblemen im Alltag. Am Beispiel von Sprachratgebern und Kommunikationstrainings. Tübingen: Niemeyer. Blommaert, Jan ( 2 2006): Language ideology. In: Brown, Keith (²2006) (Hrsg.): Encyclopedia of Language & Linguistics. Band 6. Oxford: Elsevier, S. 510—522. Bogner, Alexander/ Menz, Wolfgang (2009): Das theoriegenerierende Experteninterview: Erkenntnisinteresse, Wissensformen, Interaktion. In: Bogner, Alexander et al. 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Von 1999—2002 war er als Lehrkraft für Deutsch am Gymnasium tätig und erwarb anschließend das „Diplôme d‘études approfondies― an der Universität Metz (Frankreich). Er promovierte 2006 an der Universität des Saarlandes. Dissertationsschrift: Bationo, Jean-Claude (2007): Literaturvermittlung im Deutschunterricht in Burkina Faso. Stellenwert und Funktion literarischer Texte im Regionallehrwerk IHR und WIR. Teil I. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang. Derzeit ist er Maître de Conférences (CAMES) bzw. Associate Professor an der Pädagogischen Hochschule der Universität Koudougou (Burkina Faso). Zu seinen Hauptforschungsgebieten zählen u.a. die Fremdsprachen-, Kultur-, Übersetzungs- und Literaturdidaktik, Interkulturelles Lernen, die Lehrwerkanalyse, die Lehrerbildung und Deutsch als Wissenschaftssprache. Mgr. Eva Cieślarová, Ph.D. Universität Ostrava (Tschechien) Philosophische Fakultät Lehrstuhl für Germanistik eva.cieslarova@osu.cz Eva Cieślarová hat im Jahr 2005 ihr Lehramtsstudium für Germanistik und Geographie an der Universität Ostrava abgeschlossen. Im Fach Germanistik hat sie dort 2008 promoviert. Dissertationsschrift: Ciéslarová, Eva (2010): Phraseologismen im Wörterbuch und im deutschen und tschechischen Sprachgebrauch: Am Beispiel von Phraseologismen mit dem Bild von Mann und Frau. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang. Seit 2008 ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Germanistik der Universität Ostrava tätig. In den Jahren 2009—2013 nahm sie an dem Projekt „Ausdrucksmittel der Emotio- <?page no="408"?> Autorenverzeichnis 396 nalität im deutsch-tschechischen Sprachkontrast― teil. Seit 2013 gehört sie zum Team von Germanisten und Anglisten/ Amerikanisten des Zentrums für Fachsprachenforschung an der Universität Ostrava. Im Rahmen dessen widmet sie sich der Untersuchung der Experten-Laien-Kommunikation. Zu ihren Hauptforschungsinteressen gehören insbesondere die kontrastive Phraseologie, Emotionslinguistik und Fachsprachenforschung. Dott. Mag. Federico Collaoni Alpen-Adria-Universität, Klagenfurt (Österreich) Fakultät für Kulturwissenschaften Institut für Germanistik fcollaon@edu.aau.at Federico Collaoni absolvierte sein Bachelorstudium, Studienrichtung Fremdsprachen und Literaturen, im Jahr 2009 an der Università degli Studi di Udine. Daran schloss er ein Masterstudium „Fremdsprachen für die internationale Kommunikation― ebenfalls an der Università degli Studi di Udine bis 2012 an. Seit 2012 ist er Doktorand an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Das Thema der Dissertation lautet: „Die deutsche Energiewende und die erneuerbaren Energien. Eine linguistische Untersuchung―. Betreuer der Arbeit ist Prof. Dr. Jörg Meier. Seine Hauptforschungsinteressen betreffen die Kontaktlinguistik (insbesondere den Einfluss des Englischen auf das Deutsche und auf das Italienische), die Medienlinguistik (Sprachentwicklungen und -innovationen in der deutschen Presse- und Mediensprache), die Fachsprachenforschung (Verhältnisse zwischen Fachsprachen und Gemeinsprache und die Medien als Mittel zur Popularisierung von Fachtermini) und die Ökolinguistik (insbesondere die ökokritische Diskursanalyse über die Themen „nachhaltige Energieversorgung, Ökologie und Umweltschutz― und „erneuerbare Energien in Deutschland―). Drs. Rogier Crijns Radboud Universiteit, Nijmegen (Niederlande) Fakultät für Geisteswissenschaften Abt. Unternehmenskommunikation und Abt. Deutschlandstudien R.Crijns@let.ru.nl <?page no="409"?> Autorenverzeichnis 397 Rogier Crijns studierte Germanistik und theoretische Literaturwissenschaft an der Radboud Universiteit, Nijmegen. 1994—2011 war er Sektionsleiter Deutsch in der Fachgruppe „Unternehmenskommunikation― (Bedrijfscommunicatie/ CIW [Unternehmenskommunikation und Informationswissenschaften]) an der Radboud Universiteit, Nijmegen. Zu seinen zahlreichen Veröffentlichungen und Herausgeberschaften in den Bereichen Kommunikation, Interkulturalität, Werbeforschung gehört auch: Crijns, Rogier/ Thalheim, Janine (Hrsg.) (²2008 [ 1 2006]): Kooperation und Effizienz in der Unternehmenskommunikation. Inner- und auβerbetriebliche Kommunikationsaspekte von Corporate Identity und Interkulturalität. Wiesbaden: Deutscher Universitäts- Verlag/ VS Research (=Europäische Kulturen in der Wirtschaft, Bd. 8). Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören internationale Unternehmenskommunikation, Werbeforschung interkulturell (NL—D), Öffentlichkeitskommunikation und Citybranding. PD Dr. Silvia Demmig Universität Leipzig (Deutschland) Philologische Fakultät Herder-Institut silvia.demmig@uni-leipzig.de Silvia Demmig studierte bis 1996 Germanistik, Romanistik, Komparatistik und Deutsch als Fremdsprache in Mainz und Kassel. Danach war sie als Lehrkraft in Deutsch-als-Zweitsprache-Kursen und berufsvorbereitenden für Erwachsene und Jugendliche und in universitären Kursen zur Vorbereitung auf die deutsche Sprachprüfung für den Hochschulzugang ausländischer Studierender (DSH) tätig. Von 2000—2002 war sie DAAD-Lektorin in Frankreich. 2003 promovierte sie in Kassel. Dissertationsschrift: Demmig, Silvia (2007): Das professionelle Handlungswissen von DaZ-Lehrenden in der Erwachsenenbildung am Beispiel Binnendifferenzierung. Eine qualitative Studie. München: iudicium. Ihre Habilitation erfolgte 2012 an der Friedrich-Schiller- Universität in Jena zum Thema: „Sprachkompetenz prüfen - aber wie? Zur Konstruktvalidität von standardisierten Sprachtests am Beispiel der Deutschen Sprachprufung für den Hochschulzugang (DSH)―. Derzeit vertritt sie die Professur für Deutsch als Fremdsprache mit Schwerpunkt Didaktik/ Methodik am Herder-Institut in Leipzig. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte umfassen die Bereiche Didaktik und Methodik, Testen und Prüfen, Deutsch als Zweitsprache in der Erwachsenenbildung und die DACHL-Zusammenarbeit. <?page no="410"?> Autorenverzeichnis 398 Dr. philol. Agnese Dubova Hochschule Ventspils (Lettland) Fakultät für Übersetzen und Dolmetschen Lehrstuhl für Germanistik agnesed@venta.lv Agnese Dubova studierte von 1991 bis 1995 Deutsch und Pädagogik im BA- Studiengang an der Universität Lettlands; von 1995 bis 1997 folgte das MA- Studium mit dem Hauptfach Didaktik des Fremdsprachenunterrichts/ Deutsch als Fremdsprache an der Universität Lettlands. Von 2000 bis 2014 promovierte sie an der Universität Lettlands im Bereich der kontrastiven Lexikologie. Dissertationsschrift: Dubova, Agnese (2014): Politiskās jomas svešvārdi vācu 20. Gadsimta leksikogrāfiskajos avotos sastatījumā ar latviešu valodu. Fremdwörter aus dem Bereich Politik anhand der deutschen lexikographischen Que len des 20. Jahrhunderts im Vergleich mit der lettischen Sprache. Rīga: Latvijas Universitāte. Derzeit ist Agnese Dubova Lektorin für Deutsch an der Hochschule Ventspils und erste Vorsitzende des Lettischen Germanistenverbands. Ihre Hauptforschungsinteressen betreffen die Bereiche der kontrastiven Lexikologie im Sprachpaar Deutsch-Lettisch und die Interkulturalität und Kontrastivität in der Wissenschaftssprache. Prof. Dr. Dr. h.c. Konrad Ehlich Ludwig-Maximilians-Universität München (Deutschland) (Prof. i. R.) Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften Institut für Deutsch als Fremdsprache/ Transnationale Germanistik Freie Universität Berlin (Deutschland) (Honorarprofessor) Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften Institut für deutsche und niederländische Philologie konrad.ehlich@ehlich-berlin.de Konrad Ehlich wurde nach einem Studium der protestantischen Theologie, orientalischer Sprachen, der Soziologie, Philosophie und Sprachwissenschaft an den Universitäten bzw. Hochschulen in Bielefeld, Heidelberg, Mainz und Berlin 1976 an der Freien Universität mit einer linguistisch-philologischen Untersuchung zur Verwendung der Deixis beim sprachlichen Handeln promoviert, 1980 an der Universität Düsseldorf mit einer Arbeit zu den Interjekl <?page no="411"?> Autorenverzeichnis 399 tionen in Allgemeiner Sprachwissenschaft habilitiert. Er wirkte als Professor an den Universitäten Tilburg (Niederlande), Dortmund und München, wo er von 1992—2007 das Institut für Deutsch als Fremdsprache leitete. 2000 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Aristoteles-Universität Thessaloniki verliehen. Von 2001—2004 war er Vorsitzender des Deutschen Germanistenverbandes. Er ist Mitglied der Academia Europaea. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der linguistischen Pragmatik, Diskursanalyse und Textlinguistik, in der Theorie gesprochener und geschriebener Sprache, in der Sprachsoziologie und Sprachpolitik, bei der Wissenschaftssprache, beim Deutschen als Fremd- und Zweitsprache, bei der Sprachaneignung, bei der institutionellen und der interkulturellen Kommunikation und der Sprachenpolitik. Seine Publikationen umfassen neben zahlreichen Arbeiten zu den genannten Forschungsfeldern auch Arbeiten zur Allgemeinen Sprachwissenschaft, zur Hebraistik und zur Geschichte der Linguistik (Ein Verzeichnis findet sich unter www.ehlichberlin.de). Prof. Dr. Claus Gnutzmann Technische Universität Braunschweig (Deutschland) Fakultät für Geistes- und Erziehungswissenschaften Englisches Seminar c.gnutzmann@tu-bs.de Claus Gnutzmann war von 1996—2012 Professor für Englische Sprache und ihre Didaktik an der Technischen Universität Braunschweig, davor nahm er von 1980—1996 Professuren an den Universitäten Paderborn und Hannover wahr. Er studierte an den Universitäten Kiel und Stuttgart, der City University of New York und am University College London, wo er einen Master of Arts in Modern English Language erwarb. Er promovierte im Bereich Phonetik an der Universität Kiel und habilitierte in Englischer Sprachwissenschaft an der Universität Hannover. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift Fremdsprachen Lehren und Lernen (FLuL) und war verantwortlich für den Schwerpunkt Bilingualer Sachfachunterricht/ CLIL im Master of Education/ Englisch an der TU Braunschweig. Er führt derzeit gemeinsam mit Jenny Jakisch und Frank Rabe ein von der VolkswagenStiftung gefördertes Projekt durch mit dem Titel „Publish in English or Perish in German? Wissenschaftliches Schreiben und Publizieren in der Fremdsprache Englisch―. <?page no="412"?> Autorenverzeichnis 400 Seine Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind das Englische als Lingua Franca und dessen Umsetzung im Unterricht, Wissenschaftskommunikation, Fachsprachen und Language Awareness. Han Guo Shanghai International Studies University (SISU) (China) German Department School of Germanic Studies cbguohan@hotmail.com Han Guo ist Doktorandin für Germanistik an der Shanghai International Studies University. Sie schreibt ihre Dissertation zum Thema „Die Stellung des Deutschen als Wissenschaftssprache in China― mit einem Schwerpunkt auf der Frage: In welchen Fächern ist Deutsch für ChinesInnen eine besonders wichtige Wissenschaftssprache? Betreut von Prof. Dr. Ulrich Ammon hat sie als DAAD-Stipendiatin einen einjährigen Forschungsaufenthalt an der Universität Duisburg-Essen absolviert. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen die Soziolinguistik, DaF und die Auslandsgermanistik. Prof. Dr. Christopher Hall Universität Ostfinnlands (Finnland) Philosophische Fakultät Professur für Deutsche Sprache christopher.hall@uef.fi Christopher Hall ist Professor emeritus für Deutsche Sprache an der Universität Ostfinnlands in Joensuu. Nach seinem Studium in Bonn promovierte er 1979 im Fach Allgemeine Sprachwissenschaft mit den Nebenfächern Germanistik, Anglistik, Kommunikationsforschung und Phonetik. Er lehrte Anglistik in Bonn und Tampere (Finnland) sowie Germanistik in Leicester (Großbritannien) und Joensuu (Finnland). Zudem war er als Gastdozent an der Waikato-Universität in Hamilton (Neuseeland) tätig. Seine Hauptforschungsinteressen umfassen die Bereiche Germanistische Linguistik und Phonetik, Deutsch als Fremdsprache, neue Technologien im Fremdsprachenunterricht, interkulturelle Kommunikation und Deutsch als Wissenschaftssprache. Er ist Mitherausgeber der Internetzeitschrift German as a Foreign <?page no="413"?> Autorenverzeichnis 401 Language (www.gfl-journal.de). Zu seinen neueren Veröffentlichungen im Forschungsfeld gehören: Hall, Christopher (2010): Kontrastive Analysen Deutsch-Englisch: eine Übersicht. In: Krumm, Hans-Jürgen/ Fandrych, Christian/ Riemer, Claudia/ Hufeisen, Britta (Hrsg.): Deutsch als Fremdsprache. Ein internationales Handbuch. Berlin: de Gruyter, S. 550—561. Außerdem Hall, Christopher (2013): Aussprachewörterbücher: Vorschläge für benutzerfreundliche Formen. In: Deutsch als Fremdsprache, Nr. 50 (2), S. 67—74. Dr. phil. Karl Gerhard Hempel, M.A. Università del Salento (Italien) Dipartimento di Studi Umanistici gerhard.hempel@unisalento.it Karl Gerhard Hempel schloss sein Magisterstudium der Klassischen Archäologie und Philologie in Bonn, Pisa und München 1991 ab und promovierte 1995 an der Ludwig-Maximilians-Universität in München zum Thema „Die Nekropole von Tarent im 2. und 1. Jh. v.Chr―. 1996/ 97 war er Reisestipendiat des Deutschen Archäologischen Instituts, 1998—2001 Lektor für Deutsche Sprache an der Seconda Università di Napoli, 2001—2002 Lektor an der Universität Urbino und 2002—2007 Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent (Ricercatore/ Professore Aggregato) für Germanistische Linguistik und Übersetzungsforschung an der Universität Messina. Seit 2007 ist er an der Università del Salento (Lecce) beschäftigt und arbeitet zugleich als Freelance-Übersetzer für deutsche, italienische und amerikanische Überset z ungsbüros. Er publizierte vielfach zu Mehrsprachigkeit und Übersetzung in den Geisteswissenschaften, darunter: Hempel, Karl Gerhard (2006): Nationalstile in archäologischen Fachtexten. Bemerkungen zu ‚Stilbeschreibungen‗ im Deutschen und im Italienischen. In: Ehlich, Konrad/ Heller, Dorothee (Hrsg.): Die Wissenschaft und ihre Sprachen. Bern u.a.: Peter Lang, S. 255—274. Außerdem: Hempel, Karl Gerhard (2012): Gegenwart und Zukunft der Mehrsprachigkeit in den Geisteswissenschaften. Deutsch und Italienisch in der Klassischen Archäologie. In: trans-kom, Nr. 5(1), S. 60—123. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Fach- und Wissenschaftskommunikation, die italienisch-deutsche Fachübersetzung und das Übersetzen im deutschen Frühhumanismus. <?page no="414"?> Autorenverzeichnis 402 Prof. (em.) Dr. Dr. Dr. h.c. Ernest W.B. Hess-Lüttich Universität Bern (Schweiz) Philosophisch-historische Fakultät Institut für Germanistik Direktor (a.D.) d. Abt. Kommunikationswissenschaft Lehrstuhl für Germanistik hess@germ.unibe.ch Ernest W.B. Hess-Lüttich war (bis 2014) Ordinarius für Germanistik (Sprach- und Literaturwissenschaft) an der Universität Bern (Schweiz) und ist Hon. Prof. Extraordinary an der University of Stellenbosch (Südafrika). Er lehrte außer in Bern und Stellenbosch u.a. in Bonn, London, Braunschweig, Berlin, Madison/ Wisconsin, Bloomington/ Indiana sowie als Gastprofessor an renommierten Universitäten auf allen Kontinenten. Er war u.a. Präsident der „Deutschen Gesellschaft für Semiotik― (DGS) sowie Vize-Präsident der „Gesellschaft für Angewandte Linguistik― (GAL) und der „International Association of Dialogue Analysis― (IADA); derzeit ist er Präsident der internationalen „Gesellschaft für interkulturelle Germanistik― (GiG), zudem Mitglied diverser Herausgebergremien und wissenschaftlicher Beiräte internationaler Zeitschriften sowie Ehrenmitglied der Gesellschaft ungarischer Germanisten (GuG) und des Wissenschaftlichen Beirates der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Er hat bislang ca. 60 Bücher geschrieben oder herausgegeben und über 350 Aufsätze publiziert. Zu den Monographien zählen u.a. Grundlagen der Dialoglinguistik (Berlin: Erich Schmidt 1981), Kommunikation als ästhetisches ‚Problem‘ (Tübingen: Narr 1984), Zeichen und Schichten in Drama und Theater: Gerhart Hauptmanns ‚Ratten‘ (Berlin: Erich Schmidt 1995), Angewandte Sprachsoziologie (Stuttgart: Metzler 1987), Literary Theory and Media Practice (New York: CUNY 2000), Wahrig Grammatik der deutschen Sprache (Gütersloh: Bertelsmann 4 2002). Seine Forschungsschwerpunkte liegen vor allem im Bereich der Dialog- und Diskursforschung sowie der Text- und Kommunikationswissenschaft. Mgr. Eva Maria Hrdinová, Ph.D. Universität Ostrava (Tschechien) Philosophische Fakultät Lehrstuhl für Germanistik eva.hrdinova@osu.cz <?page no="415"?> Autorenverzeichnis 403 Eva Maria Hrdinová ist seit 2004 am Lehrstuhl für Germanistik der Philosophischen Fakultät der Universität Ostrava (Tschechische Republik) v.a. auf dem Gebiet der Translationswissenschaft tätig. Sie studierte Bohemistik und Germanistik mit dem Schwerpunkt Übersetzen/ Dolmetschen in Olomouc und promovierte dort 2005 zum Thema literarische Übersetzung. Seit langem widmet sie sich der Übersetzung theologischer Fachtexte, z.B. Hrdinová, Eva (2013): Překlad liturgického textu v zrcadle teorie skoposu. Na příkladě translace východní Chrysostomovy liturgie do češtiny. Bratislava: Iris. Seit 2009 ist sie auch an der Theologischen Fakultät der Palacký Universität in Olomouc (Tschechische Republik) als Lektorin des Altkirchenslawischen tätig. Sie hat zudem zahlreiche Beiträge in tschechischer und deutscher Sprache zum Thema „Translation der religiösen Lexik der Ostkirchen―, aber auch eigene Übersetzungen theologischer Fachliteratur (u.a. für die Werke von Hugo Rahner, Alfred Delp, K. H. Nuefeld, John Meyendorff) verfasst. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Übersetzung von (religiösen) Fachtexten, die Theorie des Übersetzens und Dolmetschens und die Translationsdidaktik. Dr. Gerhard Katschnig Alpen-Adria-Universität, Klagenfurt (Österreich) Institut für Kultur-, Literatur- und Musikwissenschaft G.Katschnig@gmx.at Gerhard Katschnig studierte Angewandte Kulturwissenschaft, Geschichte und Germanistik in Klagenfurt am Wörthersee, Salzburg und Bremen. Er promovierte in Klagenfurt 2013. Dissertationsschrift: Katschnig, Gerhard (2014): Die Konstruktion von Zukunft im Zeitalter der Aufklärung. Universalgeschichte und Utopie bei Constantin-François Volney. Saarbrücken). Seit 2011 ist er Lehrbeauftragter am Institut für Kultur-, Literatur- und Musikwissenschaft an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt mit den Schwerpunkten Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit sowie Theorien und Methoden der Kulturwissenschaft. Zu seinen weiteren Hauptforschungsinteressen gehören die Geschichts- und Kulturphilosophie der Frühen Neuzeit sowie die Literatur der Aufklärung. <?page no="416"?> Autorenverzeichnis 404 Arne Krause, M.A. Universität Hamburg (Deutschland) Fakultät für Geisteswissenschaften Fachbereich „Sprache, Literatur, Medien I und II― Institut für Germanistik Lehrstuhl für Deutsche Sprache/ Linguistik arne.krause@uni-hamburg.de Arne Krause studierte Germanistik und Germanistische Linguistik an der Universität Hamburg. Derzeit promoviert er zum Thema „Supportive Medien in der wissensvermittelnden Hochschulkommunikation―. 2012— 2014 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt „euroWiss - linguistische Profilierung einer europäischen Wissenschaftsbildung― bei Prof. Dr. Winfried Thielmann, TU Chemnitz, und ist seit 2014 Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Prof. Dr. Angelika Redder, Universität Hamburg. Im Rahmen des euroWiss-Projekts publizierte er (u.a.) zum Umgang mit aktuellem Forschungswissen in der Physik, zu sprachlichen Verfahren zur Vermittlung mathematischen Problemlösungswissens in der Hochschule und zu sprachlichen Ressourcen der Wissensvermittlung in Mathematik, Physik und Maschinenbau. Zu seinen Hauptforschungsinteressen gehören die linguistische Pragmatik, die Wissenschaftskommunikation und das Phänomen der Multimodalität. Prof. Dr. Karin Luttermann Universität Eichstätt-Ingolstadt (Deutschland) Sprach- und Literaturwissenschaftliche Fakultät Deutsche Sprachwissenschaft und Europastudien karin.luttermann@ku.de Karin Luttermann studierte Germanistik und Rechtswissenschaften an der Universität Münster, wo sie 1995 in der Diskurslinguistik zum Dr. phil. Promovierte. Dissertationsschrift: Luttermann, Karin (1996): Gesprächsanalytisches Integrationsmodell am Beispiel der Strafgerichtsbarkeit. Münster: LIT Verlag. Sie habilitierte 2008 zur Textverständlichkeit und Mehrsprachigkeit an der Universität Eichstätt-Ingolstadt. Die Habilitationsschrift trägt den Titel: Sprachgebrauch und Verständlichkeit. Rechtskommunikation im deutschen und in- <?page no="417"?> Autorenverzeichnis 405 terkulturellen Kontext. Dort vertritt sie derzeit das Fach Deutsche Sprachwissenschaft. Ihre Forschungsinteressen umfassen Text- und Diskurslinguistik, Wirtschafts-, Werbe- und Rechtskommunikation, Wissenschaftssprachen, Orthographie, Sprachenpolitik, Fachkommunikation und Mehrsprachigkeit. Sie ist Mitherausgebrin der Reihe Rechtslinguistik. Studien zu Text und Kommunikation (Münster, London: Lit Verlag) und u.a. des interdisziplinären Werkes Stellenanzeigen in der EUKO Reihe (=Europäische Kulturen in der Wirtschaftskommunikation, Wiesbaden: Springer Verlag). Matthias Meiler, M.A. DFG-Graduiertenkolleg 1769 „Locating Media― Universität Siegen (Deutschland) meiler@locatingmedia.uni-siegen.de Matthias Meiler hat von 2006—2012 an der TU Chemnitz Germanistik mit Schwerpunkt „Kommunikationslinguistik― studiert. Seit 2012 promoviert er am Graduiertenkolleg „Locating Media― an der Universität Siegen zum Thema „Eristisches Handeln in wissenschaftlichen Weblogs―. Dort ist er seit Oktober 2013 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter beschäftigt. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen die Untersuchung von Kommunikationsformen, der Wissenschaftssprache und des öffentlichen Raums aus sprach-, kommunikations- und medienwissenschaftlichen Perspektiven. Zu seinen jüngsten Publikationen gehören: Meiler, Matthias (2013): Geoberg.de - ein wissenschaftlicher Weblog. Kommunikationsform und institutionelle Position. In: Navigationen. Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften, Nr. 2, S. 87—99. Außerdem: Meiler, Matthias (2014): Diskurse - Medien - Dispositive ‚oder‗: Die Situationen des Diskurses. Anmerkungen zur postfoucaultschen Diskussion um die Medialität von Diskursen. In: Linguistik online Nr. 67(5), S. 85 - 131. Prof. Dr. med. Ralph Mocikat Ludwig-Maximilians-Universität München (Deutschland) info@adawis.de Ralph Mocikat schloss 1981 sein Studium der Humanmedizin mit dem Staatsexamen ab. Von 1978 bis 1982 promovierte er zum Thema „Untersu- <?page no="418"?> Autorenverzeichnis 406 chungen über die Aromatisierung von Testosteron und Δ4-Androstendion in der Leber des Menschen in vitro―. Seit 1988 war er Arbeitsgruppenleiter und beschäftigte sich mit Grundlagen-, Transplantations- und Tumorimmunologie. 1995 schloss er seine Habilitation ab und erwarb die venia legendi im Fach Immunologie. Das Thema der Habilitationsschrift lautet: „Hocheffiziente Expression chimärisierter Anti-T-Zell-Antikörper für die präklinische Evaluierung der immunsuppressiven Effektorfunktionen humaner Isotypen in vivo―. 2002 erfolgte seine Ernennung zum Professor an der Medizinischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München. In dieser Funktion ist er derzeit tätig. Ralph Mocikat ist Vorstand des „Arbeitskreises Deutsch als Wissenschaftssprache (ADAWIS)―. Er publizierte vielfach im Bereich der Wissenschaftslinguistik, u.a.: Mocikat, Ralph (2013): Die Sprachenfrage in den Naturwissenschaften. In: Österreichische Forschungsgemeinschaft (2013) (Hrsg.) Wissenschaft - Bildung - Politik. Band 16, Kommunikation - Objekt und Agens von Wissenschaft, S. 165—171. Abrufbar unter: http: / / www. adawis.de. Zu seinen Forschungsschwerpunkten (mit mehr als 120 dazu veröffentlichten Original- und Übersichtsartikeln sowie Abstrakts) zählen neben der Wissenschaftslinguistik die Molekularbiologie und Immunologie. Mgr. Martin Mostýn, Ph.D. Universität Ostrava (Tschechien) Philosophische Fakultät Lehrstuhl für Germanistik martin.mostyn@osu.cz Martin Mostýn studierte bis 2003 Lehramt für die Fächer Germanistik und Romanistik (Französisch) an der Universität Ostrava. Er promovierte 2006 ebenfalls dort im Bereich der Fachsprachenforschung. Dissertationsschrift: Mostýn, Martin (2011): Grammatische Mittel der Informationskondensierung in Wirtschaftstexten. Ostrava: Ostravská univerzita. Seit 2009 arbeitet er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Germanistik der Universität Ostrava. Von 2009—2013 war er am Projekt „Ausdrucksmittel der Emotionalität im deutsch-tschechischen Sprachkontrast― beteiligt und widmete sich u.a. dem Thema „Emotionalität in Diskussionsforen oder Internetblogs―. Seit 2013 ist er Mitglied des Zentrums für Fachsprachenforschung an der Philosophischen Fakultät der Universität Ostrava. Seine Arbeitsschwerpunkte in Lehre und Forschung liegen in den Bereichen Grammatik, Fachsprachen und Translatologie. Derzeit forscht er zum <?page no="419"?> Autorenverzeichnis 407 kontrastiven Vergleich wissenschaftlicher Artikel sowie zur fachsprachlichen Wortbildung. Prof. Dr. habil. Danuta Olszewska Universität Gdańsk (Polen) Philologische Fakultät Institut für Germanistik Lehrstuhl für Sprachwissenschaft und Übersetzungstheorie fildo@univ.gda.pl Danuta Olszewska ist seit 2008 Professorin an der Universität Gdańsk. Sie promovierte 1992 zur Fachsprache der Medizin an der Universität Leipzig und habilitierte sich 2007 an der Universität Gdańsk zur deutschen Wissenschaftssprache: Metatexteme in den Geisteswissenschaften. Typologie - Funktionalität - Stilistik. Universitätsverlag Gdańsk. Ihre Forschungsgebiete umfassen die Grammatik des Deutschen, kontrastive deutsch-polnische Grammatik, Semantik, Pragmatik, Textlinguistik, Fachsprachenlinguistik und Wissenschaftssprache. Dr. Mikaela Petkova-Kessanlis, M.A. St.-Kliment-Ochridski-Universität Sofia (Bulgarien) Fakultät für klassische und moderne Philologien Lehrstuhl für Germanistik und Skandinavistik petkovakes@uni-sofia.bg Mikaela Petkova-Kessanlis studierte im Magisterstudiengang Neuere deutsche Sprachwissenschaft, Neuere deutsche Literaturwissenschaft sowie Südslavische Philologie an der Universität des Saarlandes. 2006 promovierte sie dort im Fach Neuere deutsche Sprachwissenschaft. Dissertationsschrift: Petkova-Kessanlis, Mikaela (2009): Musterhaftigkeit und Varianz in linguistischen Zeitschriftenaufsätzen. Sprachhandlungs-, Formulierungs-, Stilmuster und ihre Realisierung in zwei Teiltexten. Frankfurt a.M.: Peter Lang. Seit September 2006 ist sie wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Germanistik und Skandinavistik an der St.-Kliment-Ochridski-Universität in Sofia. Zu ihren Hauptforschungsinteressen gehören die pragmatische Stilistik, die Textlinguistik, die Fach- und Wissenschaftssprachforschung sowie die Phraseologie. <?page no="420"?> Autorenverzeichnis 408 Frank Rabe Technische Universität Braunschweig (Deutschland) Fakultät für Geistes- und Erziehungswissenschaften Englisches Seminar f.rabe@tu-bs.de Frank Rabe studierte Anglistik und Politikwissenschaft an der Technischen Universität Braunschweig und ist derzeit dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter im von der VolkswagenStiftung geförderten Projekt „Publish in Englisch or Perish in German? Wissenschaftliches Schreiben und Publizieren in der Fremdsprache Englisch― beschäftigt. In seinem Promotionsvorhaben untersucht er in einer disziplinspezifisch angelegten Interviewstudie die von deutschsprachigen Wissenschaftlern wahrgenommenen Herausforderungen und Problemlösungsstrategien beim Schreiben und Publizieren auf Englisch, ihre Einstellungen und Sichtweisen zu den Wissenschaftssprachen Englisch und Deutsch sowie die von ihnen vorgeschlagenen Fördermaßnahmen für den wissenschaftlichen Nachwuchs. Seine Arbeitsbereiche umfassen Englisch als Wissenschaftssprache, das wissenschaftliche Schreiben in der Fremdsprache Englisch sowie die Didaktik des bilingalen Sachfachunterrichts. PD Dr. phil. Roswitha Reinbothe Universität Duisburg-Essen (Deutschland) Fakultät für Geisteswissenschaften Lehrgebiet Germanistische Linguistik und Deutsch als Fremdsprache roswitha.reinbothe@uni-due.de Roswitha Reinbothe schloss ihr Studium der Germanistik, Theaterwissenschaft, Philosophie und Politikwissenschaft 1975 in Berlin mit dem 1. Staatsexamen für die Fächer Deutsch und Sozialkunde/ Politologie ab. Sie lehrte an der Fremdsprachenhochschule Shanghai (1981—1985) als DAAD-Lektorin und an der Ondokuz Mayıs Universität in Samsun/ Türkei (1992—1994). 1992 promovierte sie an der Freien Universität Berlin zur Geschichte der deutschen Schulen in China vor dem Ersten Weltkrieg. Sie habilitierte 2006 an der Universität Duisburg-Essen. Habilitationsschrift: Reinbothe, Roswitha (2006): Deutsch als internationale Wissenschaftssprache und der Boykott nach dem Ersten Weltkrieg. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang. <?page no="421"?> Autorenverzeichnis 409 Ihre Hauptforschungsinteressen umfassen die Bereiche Geschichte des Deutschen als Wissenschaftssprache, Mehrsprachigkeit, internationale Sprachenpolitik, Geschichte der deutschen auswärtigen Kulturpolitik und die Geschichte des Deutschunterrichts in China. Prof. Dr. Thorsten Roelcke Technische Universität Berlin (Deutschland) Fakultät I - Geisteswissenschaften Institut für Sprache und Kommunikation roelcke@tu-berlin.de Thorsten Roelcke studierte Germanistik, Philosophie und Geschichte an der Universität Heidelberg. Seine Doktorarbeit (erschienen 1988) ist der Terminologie des Erkenntnisvermögens in Kants ―Kritik der reinen Vernunft― gewidmet; seine Habilitationsschrift beschäftigt sich mit der Modellierung dramatischer Kommunikation in den Werken von Dürrenmatt, Handke und Weiss: Roelcke, Thorsten (1994): Dramatische Kommunikation. Berlin u.a.: de Gruyter. Er arbeitete als Dozent und außerplanmäßiger Professor an den Universitäten Heidelberg (1989-2001) und Freiburg/ Br. (2001-2003) sowie als Lehrer für Deutsch, Geschichte und Philosophie am Kolleg St. Blasien (2003— 2008). Von 2008—2014 war er Professor für Deutsche Sprache und ih-re Didaktik an der Pädagogischen Hochschule in Freiburg. Seit 2014 leitet er das Fachgebiet Deutsch als Fremdsprache an der Technischen Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Fach- und Wissenschaftssprache, Deutsch als Fremdsprache, Sprachtypologie und Sprachvariation sowie der Geschichte der deutschen Sprache. Er ist unter anderem Mitherausgeber der Buchreihe Linguistik - Impulse und Tendenzen sowie der Zeitschriften Glottotheory und Informationen Deutsch als Fremdsprache. Prof. Dr. Canan Şenöz-Ayata Istanbul Universität (Türkei) Philosophische Fakultät Abteilung für deutsche Sprache und Literatur cayata@istanbul.edu.tr Canan Şenöz-Ayata studierte Germanistik an der Universität Istanbul und promovierte dort 1999 mit einer Dissertation zur Textsorte Literaturkritik im <?page no="422"?> Autorenverzeichnis 410 Deutschen und im Türkischen; Titel der Monografie: Almanca ve Türkçede Metin Türü Olarak Yazın Eleştirisi. 2006 erfolgte in Istanbul die Habilitation zur Forschung der Textlinguistik-Texte in der Türkei; Titel der Monografie: Metindilbilim ve Türkçe. Sie arbeitete 2009—2012 an dem internationalen Projekt „Türkisch-deutscher Kulturkontakt und Kulturtransfer―. Seit 2011 ist sie Mitarbeiterin des Projekts über den deutsch-türkischen Film, das im Rahmen der germanistischen Institutspartnerschaft mit der Universität Hamburg durchgeführt wird. 2014 hat sie eine Monografie über Rezeption und Produktion deutscher und türkischer Wissenschaftstexte veröffentlicht: Şenöz-Ayata, Canan (2014): Bilimsel Metin Üretimi. Istanbul: Papatya Eğitim ve Yayıncılık. Seit 2014 ist sie als Professorin an der Germanistikabteilung der Universität Istanbul tätig. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören Textlinguistik, Fachtextlinguistik, kontrastive Linguistik und interkulturelle Wissenschaftskommunikation. Prof. Dr. Klaus Wolf Universität Augsburg (Deutschland) Philologisch-Historische Fakultät Fachbereich Germanistik klaus.wolf@phil.uni-augsburg.de Klaus Wolf studierte Germanistik und römisch-katholische Theologie an der Universität Augsburg und promovierte dort 1998 mit einer Dissertation zu den Frankfurter Passionsspielen (ausgezeichnet mit dem Universitätspreis 1999). 2005 erfolgte in Augsburg die Habilitation zur Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftssprache. Habilitationsschrift: Wolf, Klaus (2006): Hof - Universität - Laien. Literatur- und sprachgeschichtliche Untersuchungen zum deutschen Schrifttum der der Wiener Schule des Spätmittelalters. Wiesbaden (=Wissensliteratur im Mittelalter. Band 45). Seit 2012 ist er Inhaber der Lehrprofessur für Deutsche Literatur und Sprache des Mittelalters und der Frühen Neuzeit mit dem Schwerpunkt Bayern an der Universität Augsburg. Zu seinen Hauptforschungsinteressen gehören das Drama des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, die mittelalterliche und frühneuzeitliche Editionsphilologie sowie die Literatur- und Sprachgeschichte Bayerns von den Anfängen bis zur Gegenwart. <?page no="423"?> Autorenverzeichnis 411 PD Dr. Sabine Ylönen, M.A. Universität Jyväskylä (Finnland) Zentrum für angewandte Sprachforschung sabine.ylonen@jyu.fi Sabine Ylönen ist Senior Researcher am Zentrum für angewandte Sprachforschung der Universität Jyväskylä/ Finnland. Sie studierte Biologie an der Martin-Luther-Universität in Halle a.d. Saale (Dipl.-Biol.) und Germanistik an der Universität Jyväskylä in Finnland (M.A.). In Germanistik promovierte sie in Jyväskylä 1999. Dissertationsschrift: Ylönen, Sabine (2001): Entwicklung von Textsortenkonventionen am Beispiel von ‚Originalarbeiten‘ der Deutschen Medizinischen Wochenschrift (DMW). Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang. 2001 erhielt sie die Dozentur für Deutsche Sprache, insbesondere deutsche Sprachdidaktik und Fachsprachen am Institut für deutsche Sprache und Kultur der Universität Jyväskylä. Zu ihren Hauptforschungsinteressen gehören Fragen der Didaktik des Deutschen, Fach- und Wissenschaftskommunikation sowie Sprachen-(bildungs-)politik. Sie war Koordinatorin und Mitarbeiterin in mehreren nationalen und internationalen Forschungs- und Entwicklungsprojekten, z.B. im Projekt „Euromobil―, das 2009 mit dem Preis für Innovation und Kreativität im Programm für lebenslanges Lernen der EU ausgezeichnet wurde. Sie ist Herausgeberin zahlreicher mediengestützter Unterrichtsmaterialien für Deutsch als Fach- und Wissenschaftssprache sowie der Zeitschrift Apples - Journal of Applied Language Studies. <?page no="425"?> Wie international, interdisziplinär und interkulturell ist Deutsch als Wissenschaftssprache? Der Band beleuchtet diese Frage durch aktuelle Forschungsbeiträge aus verschiedenen Perspektiven. Neben der diachronen und synchronen Entwicklung des Deutschen als Wissenschaftssprache wird ihre heutige Rolle in verschiedenen Fachdisziplinen und Ländern diskutiert. Kontrastive Studien zeigen auf, welche Probleme sich bei der Rezeption und Produktion von deutschen Wissenschaftstexten für Muttersprachler und Nichtmuttersprachler ergeben und wie diese durch Text- und Diskursanalysen thematisiert werden können. Der Band beinhaltet ausgewählte Beiträge der Tagung „Wissenschaftssprache Deutsch - international, interdisziplinär, interkulturell“, die vom 2.-4. Juli 2014 an der Universität Regensburg stattfand. Er richtet sich insbesondere an Linguisten und Germanisten, aber auch an Entscheider in Bildungsinstitutionen und an Leser, die sich für Sprachentwicklung, Sprachvermittlung und Sprachpolitik interessieren. Wissenschaftssprache Deutsch international, interdisziplinär, interkulturell Szurawitzki/ Busch-Lauer/ Rössler/ Krapp (Hrsg.) Wissenschaftssprache Deutsch Michael Szurawitzki / Ines Busch-Lauer Paul Rössler / Reinhard Krapp (Hrsg.) 015115 Szurawitzki.qxp_015115 Szurawitzki Umschlag 18.02.15 14: 05 Seite 1