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Geschichte der Sprachphilosophie

Band 2: Von Herder bis Humboldt

1007
2015
978-3-8233-7953-9
978-3-8233-6953-0
Gunter Narr Verlag 
Eugenio Coseriu
Jörn Albrecht

Die "Geschichte der Sprachphilosophie" geht auf Vorlesungen zurück, die der Sprachforscher Eugenio Coseriu (1921-2002) in Tübingen gehalten hat. Sie liegt nun erstmals komplett in zwei Bänden vor und bietet sowohl Einsteigern als auch Fachleuten ein Panorama des sprachphilosophischen Denkens von den Anfängen bis zum 19. Jahrhundert, von Heraklit bis Wilhelm von Humboldt. Coserius souveräner Umgang mit geistesgeschichtlichen Entwicklungen und Ereignissen, die leserfreundliche Darbietung des Stoffes jenseits des fachwissenschaftlichen Jargons sowie die kritische Durchdringung machen die Lektüre zu einem besonderen Leseerlebnis. Inhalt von Band 2: Die deutschen Länder zwischen Spätaufklärung und Romantik - Herder - Hamann - Fichte - Friedrich Schlegel - August Wilhelm Schlegel - Schleiermacher - Schelling Schopenhauer - Hegel - Wilhelm von Humboldt

<?page no="0"?> Coseriu Band 2 Von Herder bis Humboldt Geschichte der Sprachphilosophie Eugenio Coseriu <?page no="1"?> Geschichte der Sprachphilosophie Band 2 <?page no="3"?> Eugenio Coseriu Geschichte der Sprachphilosophie Band 2 Von Herder bis Humboldt Auf der Grundlage der nachgelassenen Aufzeichnungen des Verfassers und einer Nachschrift von Heinrich Weber und anderen, neu bearbeitet und herausgegeben von Jörn Albrecht <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in the EU ISBN 978-3-8233-6953-0 Umschlagabbildung Hans-Joachim Madaus: Eugenio Coseriu (1986) <?page no="5"?> Inhalt Vorwort des Bearbeiters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI 1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Zielsetzung der verschiedenen Vorlesungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.2 Zielsetzung des vorliegenden Bandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 2 Die deutschen Länder zwischen Spätaufklärung und Romantik: ein ideengeschichtlicher Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 2.1 Kontinuität und Originalität der Sprachphilosophie der deutschen Romantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 2.2 Charakterisierung und Gesamtwürdigung der „ Deutschen Bewegung “ 6 2.3 Ein kurzer Rückblick auf das 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 2.3.1 Von der Instrumentalität zur Expressivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 2.3.2 Die Sprache zwischen Universalität und Partikularität . . . . . . . . . . . 9 2.3.3 Instrumentalität vs. Expressivität - Universalität vs. Partikularität: die Sprachphilosophie der deutschen Romantik vor einer doppelten Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2.4 Rückblick: Weitere Motive der Sprachphilosophie im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2.5 Die Sprache als System von Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 2.6 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 3 Johann Gottfried Herder (1744 − 1803) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 3.1 Einführung in das sprachphilosophische Denken Herders . . . . . . . . . 18 3.2 Die Sprache als einheitsstiftendes Prinzip im Denken Herders . . . . 21 3.2.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 3.2.2 Die Originalität der frühen sprachphilosophischen Synthese Herders . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 3.2.3 Der Sinn der Sprache überhaupt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 3.2.4 Die drei sprachphilosophischen Problemkreise im Werk Herders . . 25 3.3 Die Behandlung der Sprache in den Fragmenten . . . . . . . . . . . . . . . 26 3.4 Die Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772) . . . . . . . . . 34 3.4.1 Die Fragestellung der Preisschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 3.4.2 Der Übergang vom Tier zum Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 3.4.3 Der Mensch als Mängelwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 3.4.4 Der Begriff der „ Besonnenheit “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 3.4.5 Der Akt der namengebenden Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 3.4.6 Der Mensch schafft die Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 3.4.7 Der Sinn des sprachlichen Zeichens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 V <?page no="6"?> 3.4.8 Die Entwicklung der Grammatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 3.4.9 Der zweite Teil der Abhandlung: die „ Mittel “ der menschlichen Spracherfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 3.5 Sprache und Kultur in den Ideen zu einer Philosophie der Geschichte 55 3.6 Das Problem der Sprache in der Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 3.7 Herders sprachphilosophische Leistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 3.8 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 4 Johann Georg Hamann (1730 − 1788) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 4.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 4.2 Hamanns kultur- und geistesgeschichtliche Bedeutung . . . . . . . . . . . 66 4.3 Hamanns Schriften zur Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 4.4 Zum Problem der Deutung von Hamann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 4.5 Die zentralen Motive im Denken Hamanns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 4.5.1 Die frühen Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 4.5.2 Die Herder-Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 4.5.3 Nationalistische Motive bei Hamann: Die sogenannten Schriften zur Orthographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 4.5.4 Die Kant-Schriften: Die Rezension von 1781 und die Metakritik von 1784 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 4.6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 4.6.1 Hamanns Leistung als Kritiker seiner Zeitgenossen . . . . . . . . . . . . . 97 4.6.2 Hamanns positive Motive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 4.7 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 5 Johann Gottlieb Fichte (1762 − 1814) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 5.1 Die sprachphilosophische Bedeutung Fichtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 5.2 Fichtes Schriften zur Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 5.2.1 Frühe Reaktionen Friedrich Schlegels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 5.3 Fichtes Abhandlung Von der Sprachfähigkeit und dem Ursprung der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 5.3.1 Die Deduktion der Sprache aus einem Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . 107 5.3.2 Fichtes uneingestandene Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 5.3.3 Die Frage nach dem Ursprung der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 5.3.4 Zur Sprachgeschichte a priori . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 5.4 Weitere Ausführungen zur Sprache bei Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 5.4.1 Die Vorlesung Über den Ursprung der Sprache überhaupt . . . . . . . 115 5.4.2 Die patriotischen Dialoge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 5.4.3 Die vierte und die fünfte Rede an die deutsche Nation . . . . . . . . . . 116 5.5 Herder, Hamann und Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 5.5.1 Negativer Zusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 5.5.2 Positiver Zusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 5.6 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 VI <?page no="7"?> 6 Friedrich Schlegel (1772 ‒ 1829) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 6.1 Friedrich Schlegels Bedeutung für die Sprachphilosophie . . . . . . . . 121 6.1.1 Die verschiedenen Epochen im Werk Schlegels . . . . . . . . . . . . . . . . 122 6.1.2 Die wichtigsten Texte mit Äußerungen Friedrich Schlegels zur Sprachphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 6.2 Die Philosophie, insbesondere die Sprachphilosophie Friedrich Schlegels in der Forschung. Ein Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 6.3 Drei Hauptthemen der Sprachphilosophie Friedrich Schlegels . . . . . 126 6.3.1 Die Grundlage der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 6.3.2 Das Wesen der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 6.3.3 Die Pluralität der Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 6.4 Friedrich Schlegels Ideen zum Ursprung der Sprache . . . . . . . . . . . . 148 6.5 Einige weitere, eher marginale Aspekte der Schlegelschen (Sprach)Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 6.6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 6.6.1 Die Wirksamkeit Schlegels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 6.6.2 Die Originalität Schlegels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 6.6.3 Der sprachphilosophisch-sprachtheoretische Ertrag der Ideen Schlegels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 6.7 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 7 August Wilhelm Schlegel (1767 ‒ 1845) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 7.1 Gesamtcharakteristik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 7.1.1 Die Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 7.2 Hauptmotive der Sprachphilosophie August Wilhelm Schlegels . . . 161 7.2.1 Die Sprachtypologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 7.2.2 Spekulationen über den Sprachursprung im Briefwechsel mit Humboldt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 7.2.3 Kunst, Dichtung und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 7.3 Die weitere Ausgestaltung der Hauptmotive in den Vorlesungen . . . 177 7.3.1 Die Jenenser Vorlesungen über philosophische Kunstlehre . . . . . . . . 178 7.3.2 Die Berliner Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst . . . . . . . 179 7.3.3 Die Berliner Privatvorlesungen über Encyklopädie . . . . . . . . . . . . . . 180 7.4 Gesamtwürdigung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 7.5 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 8 Friedrich Schleiermacher (1768 ‒ 1834) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 8.1 Versuch einer allgemeinen Charakterisierung der Sprachphilosophie Schleiermachers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 8.1.1 Schleiermachers neue Thematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 8.1.2 Schleiermacher im Vergleich zu seinen Zeitgenossen . . . . . . . . . . . . 191 8.1.3 Die allgemeine Fragestellung der Sprachphilosophie Schleiermachers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 VII <?page no="8"?> 8.2 Sprache und Denken in der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 8.2.1 Die vier Grundfragen Schleiermachers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 8.2.2 Schleiermachers Antworten auf die vier Fragen im Überblick . . . . . 203 8.2.3 Der Anfang von Sprache und Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 8.2.4 Die biologisch-intellektuelle Duplizität von Sprache und Denken . . 214 8.2.5 Das Verhältnis von Sprache und Denken zu den übrigen psychischen Tätigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 8.2.6 Die Universalität des Denkens und die Mannigfaltigkeit der Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 8.3 Die Verschiedenheit der Sprachen und das Problem der Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 8.3.1 Die Übersetzungstheorie in der Abhandlung vom Übersetzen . . . . . 244 8.3.2 Die Sprachphilosophie in der Abhandlung zur Übersetzung . . . . . . . 245 8.3.3 Zur Kritik der Einheit von Sprache und Denken . . . . . . . . . . . . . . . . 252 8.4 Das Problem der Sprache in der Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 8.4.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 8.4.2 Definition und Charakterisierung der Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 8.4.3 Die Sprache als Bezeichnungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 8.5 Hermeneutik als Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 8.5.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 8.5.2 Die formalen Aspekte des Verstehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 8.5.3 Das Objekt des Verstehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 9 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775 ‒ 1854) . . . . . . . . . . . . . 292 9.1 Schellings Beitrag zur Sprachphilosophie im Kontext seines Gesamtwerks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 9.2 Die Philosophie der Kunst: Schelling über das Wesen der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 9.3 Die Einleitung in die Philosophie der Mythologie . . . . . . . . . . . . . . 298 9.3.1 Dritte Vorlesung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 9.3.2 Fünfte Vorlesung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 9.3.3 Sechste Vorlesung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 9.3.4 Vierundzwanzigste Vorlesung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 9.4 Literaturhinweise des Bearbeiters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 10 Arthur Schopenhauer (1788 ‒ 1860) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 10.1 Schopenhauers Sprachphilosophie in den Parerga und Paralipomena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 10.2 Weitere Auslassungen zur Sprache und zu den Sprachen am selben Ort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 10.2.1 Sinnlose Meinungen Schopenhauers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 10.2.2 Falsche Ansichten Schopenhauers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 10.2.3 Belangloses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 10.3 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 10.4 Literaturhinweise des Bearbeiters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 VIII <?page no="9"?> 11 Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 ‒ 1831) . . . . . . . . . . . . . . . . 315 11.1 Ein erster Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 11.1.1 Drei Wege zur Sprachphilosophie Hegels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 11.1.2 Beschränkung auf Hegels Äußerungen über die Sprache . . . . . . . . . 316 11.1.3 Die Bedeutung Hegels für die Geschichte der Sprachphilosophie . . 317 11.1.4 Die Hegelschen Texte zur Sprachphilosophie in chronologischer Reihenfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 11.1.5 Literatur zur Sprachphilosophie Hegels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 11.2 Die Stelle der Sprachphilosophie in der Philosophie Hegels . . . . . . 319 11.2.1 Hegels System: Eine erste Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 11.2.2 Die Grundzüge des Hegelschen Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 11.2.3 Der Ort der Sprache im „ Prozeß “ und im „ System “ . . . . . . . . . . . . . 323 11.2.4 Methodisches zur Rekonstruktion einer „ Sprachphilosophie “ aus Bruchstücken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 11.2.5 Von der Voreiligkeit der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 11.2.6 Der Tod der Sprache als Sprache schlechthin . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 11.3 Diskussion von Interpretationen der Sprachphilosophie Hegels . . . . 328 11.3.1 Josef Simon: Das Problem der Sprache bei Hegel (1966) . . . . . . . . 328 11.3.2 Karl Löwith: „ Hegel und die Sprache “ (1965) . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 11.3.3 Henri Lauener: Die Sprache in der Philosophie Hegels (1962) . . . . 330 11.3.4 Bruno Liebrucks: Sprache und Bewußtsein, Bd. 5 (1970) . . . . . . . . . 330 11.3.5 Theodor Bodammer: Hegels Deutung der Sprache (1969) . . . . . . . . 330 11.3.6 Josef Derbolav: „ Hegel und die Sprache “ (1959) . . . . . . . . . . . . . . . 332 11.3.7 Franz Schmidt, Hegels Philosophie der Sprache (1961) . . . . . . . . . . 332 11.3.8 Stellungnahme zu den Interpretationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 11.4 Zu Hegels Texten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 11.4.1 Die Sprache im Bereich des subjektiven Geistes im Allgemeinen . . 334 11.4.2 Sprache im Bereich der Seele im Besonderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 11.4.3 Die Sprache als Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 11.4.4 Sprache als „ Zeichen machende Phantasie “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 11.4.5 Die Sprache im Rahmen der verschiedenen Stufen der „ Vorstellung “ : Erinnerung, Einbildungskraft, Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 11.5 Rekapitulation: Hat Hegel alle Aspekte der Sprache behandelt? . . . 346 11.6 Weitere Aspekte, die nur erwähnt aber nicht behandelt werden können . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 11.7 Einige Fragestellungen anstelle einer Konklusion . . . . . . . . . . . . . . . 349 11.8 Literaturhinweise des Bearbeiters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 12 Wilhelm von Humboldt (1767 − 1835) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 12.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 12.2 Die wichtigsten Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 12.3 Der Sprachwissenschaftler als Sprachphilosoph. Versuch einer allgemeinen Charakteristik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 12.3.1 Die vier Teilaspekte der Sprachauffassung Humboldts . . . . . . . . . . . 358 12.4 Hinweise zu den wichtigsten Arbeitsinstrumenten . . . . . . . . . . . . . . 360 IX <?page no="10"?> 12.4.1 Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 12.4.2 Gesamtübersicht über Humboldts Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 12.5 Humboldts Denkweise und „ Textstil “ als Problem der Interpretation 370 12.5.1 Konsequenzen für die Humboldt-Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 12.6 Die wichtigsten Fragen der Humboldt-Interpretation im Überblick . 371 12.6.1 Humboldts Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 12.6.2 Die Stellung der Sprache in Humboldts Philosophie . . . . . . . . . . . . . 374 12.7 Die Schriften im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 12.7.1 „ Ankündigung über die Baskische Sprache und Nation “ . . . . . . . . . 375 12.7.2 „ Grundzüge des allgemeinen Sprachtypus “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 12.7.3 „ Über das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung “ (1820) . . . . . . . . . . 391 12.7.4 „ Über das Entstehen der grammatischen Formen, und ihren Einfluss auf die Ideenentwicklung “ (1822) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 12.7.5 Steinthals Humboldt-Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 12.7.6 „ Ueber den Nationalcharakter der Sprachen “ (Fragment, um 1822) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 12.7.7 „ Ueber den Dualis “ (1827) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 12.7.8 „ Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues “ (1827 − 29) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 12.7.9 „ Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts “ (1830 − 1835) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 12.7.10 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 12.8 Weitere Literaturangaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 13 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 X <?page no="11"?> Vorwort des Bearbeiters Eugenio Coseriu (1921 ‒ 2002) hat in seiner Tübinger Zeit ungefähr fünfzehn Vorlesungen zur Sprachphilosophie im Allgemeinen und zur Geschichte der Sprachphilosophie im Besonderen gehalten. Das Thema hat ihn bis in seine letzten Lebenswochen hinein beschäftigt. Die ersten Vorlesungen, die die Zeitspanne von den Anfängen bis Rousseau zum Gegenstand hatten, sind der Fachwelt seit langem durch die von Gunter Narr und Rudolf Windisch angefertigten Nachschriften (TBL 11 und 28) bekannt. Vor knapp zehn Jahren habe ich eine völlig neu bearbeitete und erweiterte Ausgabe des in diesen beiden Bänden dargebotenen Vorlesungsstoffes vorgelegt. Ich konnte mich dabei auf Vorschläge stützen, die mir Eugenio Coseriu selbst in einem längeren in Heidelberg geführten Gespräch unterbreitet hat (vgl. mein Vorwort zu Band I, XI ‒ XIII). Der vorliegende zweite Band ist unter anderen Bedingungen entstanden. Coseriu konnte anlässlich einer akademischen Feier zu seinem 80. Geburtstag eine provisorische und noch recht unvollkommene Version des in Arbeit befindlichen ersten Bandes in Empfang nehmen; dessen Erscheinen hat er nicht mehr erlebt. Es ergab sich auch keine Gelegenheit mehr, über die Gestaltung des Fortsetzungsbandes mit ihm zu sprechen; seine Krankheit war bereits zu weit fortgeschritten. Im Gegensatz zum ersten Band ist der Inhalt des zweiten bisher noch nie publiziert worden, wenn man von einigen Artikeln Coserius absieht, die in Fachzeitschriften und Sammelbänden erschienen sind und die ich bei der vorliegenden Bearbeitung berücksichtigt habe. Dieser zweite Band behandelt ausschließlich die deutsche Sprachphilosophie in der Zeit zwischen Spätaufklärung und Romantik - Coseriu spricht in diesem Zusammenhang von der „ deutschen Renaissance “ . Natürlich werden zahlreiche Verbindungslinien zum sprachtheoretischen Denken anderer europäischer Länder, insbesondere zu Frankreich gezogen. Der Leser hat ein Recht darauf, über die Quellen unterrichtet zu werden, die mir bei der Redaktion des vorliegenden Bandes zur Verfügung standen. Da sind zunächst meine eigenen Aufzeichnungen aus den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts - stark abstrahierend und mit eigenen Kommentaren durchsetzt, also nur bedingt verwendbar. Zudem konnte ich nur einen Teil der in Frage kommenden Vorlesungen besuchen. Dazu kommen die verhältnismäßig sorgfältig ausgearbeiteten (und erstaunlich gut lesbaren) handschriftlichen Aufzeichnungen Coserius, die mir Reinhard Meisterfeld, der Verwalter des Coseriu-Nachlasses, in Form von Kopien zur Verfügung gestellt hat. Leider sind sie nicht ganz vollständig, da einige ausgeliehene Konvolute bis heute nicht zurückgegeben wurden. Last but not least verdienen es die Nachschriften, die Heinrich Weber und seine Mitarbeiter in den 1980er Jahren von einem Teil der Vorlesungen angefertigt haben, an dieser Stelle besonders hervorgehoben zu werden. Ich selbst habe an diesen Vorlesungen nicht teilgenommen; zu diesem Zeitpunkt hatte ich Tübingen längst verlassen. Sie umfassen fast den gesamten Stoff des vorliegenden Bandes, waren allerdings, wie XI <?page no="12"?> in der Vorrede ausdrücklich betont wird, als geraffte Zusammenfassungen der vorangegangenen Vorlesungen konzipiert. Dabei ist die Vorstellung der Primärtexte knapper gefasst als in den vorangegangenen Vorlesungen, Kommentar und Exegese sind hingegen umfangreicher ausgefallen (vgl. 1.1). Ich habe mich bemüht, so weit wie möglich alle in der ersten Vorlesungsreihe zitierten Primärtexte in der vorliegenden Nachschrift zu berücksichtigen. Der zweite Band soll hinsichtlich seiner Konzeption eine Fortsetzung des ersten darstellen, auch wenn er nicht mehr in einer Lehrbuchsammlung erscheint. Ich glaube, damit einem mir gegenüber mehrfach geäußerten Wunsch meines verstorbenen Lehrers zu entsprechen. Wie im ersten Band sollen die Primärtexte zunächst vorgestellt und auf einer textnahen Ebene kommentiert werden. Dabei war in erster Linie auf die von Coseriu selbst herangezogene Sekundärliteratur zurückzugreifen, die zum größten Teil älteren Datums ist. Natürlich musste auch neuere Literatur herangezogen werden, in einem Ausmaß, für das ich allein verantwortlich bin. Alle Zusätze, die ich für angebracht hielt, finden sich in eckigen Klammern. Vergleichbares gilt für die Ausgaben, aus denen die Primärtexte zitiert werden. Es wurden, wo immer es möglich oder sogar erforderlich schien, die neuesten kritischen Ausgaben herangezogen, also nicht in jedem Fall diejenigen, aus denen Coseriu selbst zitiert hat. Genauere Angaben zu der hier herangezogenen Textgrundlage finden sich in den einzelnen Kapiteln. Wie im ersten Band, der - das haben einige Kritiker offenbar übersehen - ursprünglich in einer renommierten Reihe einführender Darstellungen für Studienanfänger erschienen ist, wurden einige biographische und elementare philosophiegeschichtliche Informationen hinzugefügt. In Coserius eigenen handschriftlichen Aufzeichnungen der ersten Vorlesungen sind die Angaben zu den Lebensumständen der behandelten Philosophen teilweise recht ausführlich geraten, in manchen Fällen fehlen sie dagegen völlig. Hier habe ich ausgleichend eingegriffen. Alle hier behandelten Philosophen - auch der von Coseriu wenig geschätzte Schopenhauer - haben eine biographische Einführung erhalten, bei deren Abfassung ich in keinem Fall auf eine einzige Quelle zurückgegriffen habe. Somit ist der vorliegende Band, auch wenn er nun in einer Reihe erscheint, die sich nicht ausdrücklich an Studienanfänger wendet, weiterhin auch auf die Bedürfnisse gänzlich unbefangener, neugieriger ‚ Einsteiger ‘ abgestimmt. Spezialisten sollten über ‚ naive ‘ Orientierungshilfen großmütig hinwegsehen und hinweglesen; es bleibt auch für sie noch genügend weniger leicht zu Assimilierendes übrig. Die von Coseriu eindeutig gewollte, nicht streng chronologische Reihenfolge der Behandlung einzelner Autoren (so steht Herder vor Hamann, Friedrich Schlegel vor seinem älteren Bruder August Wilhelm) wurde beibehalten. Nur im Fall von Schelling und Schopenhauer bin ich eigenmächtig verfahren. Sie wurden in der 6. Vorlesung (Wintersemester 1975/ 76) zwischen Hegel und Humboldt behandelt, in der späteren, von Heinrich Weber und seinen Mitarbeitern aufgezeichneten Vorlesungsreihe überhaupt nicht mehr. Es schien mir aus verschiedenen Gründen angebracht, die Kapitel über Schelling und Schopenhauer, die in Form von Aufsätzen bereits an anderer Stelle veröffentlicht wurden, vor die großen Kapitel zu Hegel und Humboldt einzureihen. Im Interesse der Ökonomie XII <?page no="13"?> der Darstellung musste einiges stark gerafft oder ganz weggelassen werden, wenn es im ersten Band schon ausführlich behandelt worden war. In diesem Fall wird auf die betreffenden Stellen verwiesen. Die beiden Bände sind also durchaus als eine Einheit zu sehen. Mit Wilhelm von Humboldt, einem besonders häufig zitierten und auf die unterschiedlichste Art und Weise „ produktiv missverstandenen “ Sprachforscher, Sprachtheoretiker und Sprachphilosophen, schließt eine Vorlesungsreihe, die laut Ankündigung der ersten Vorlesung im Jahr 1968 eigentlich „ bis zur Gegenwart “ hätte fortgeführt werden sollen. Christoph Helferich (Florenz), Verfasser einer für ein breiteres Publikum bestimmten Philosophiegeschichte, schrieb mir vor Jahren, er finde es bedauerlich, dass sich Coseriu nie der Herausforderung gestellt habe, die die moderne amerikanische Philosophie für jeden der abendländischen Tradition verbundenen Denker darstellt. Jürgen Trabant hat sich in seinen ‚ Vor-Bemerkungen ‘ zum ersten Band ähnlich geäußert. Dieses Bedauern ist nicht ganz ungerechtfertigt. Coseriu, ein typischer Vertreter des ‚ alten Europa ‘ , reagierte gelegentlich mit ganz ‚ unphilosophischer ‘ Gereiztheit auf die Unbekümmertheit, mit der einige amerikanische Kollegen sich über die europäische Tradition hinwegzusetzen pflegen. In terminologischer Hinsicht machte er keinerlei Konzessionen an die moderne ‚ analytische ‘ Sprachphilosophie. Dem Kenner, der beim vergleichenden Zuordnen nicht ausschließlich auf die chaîne des signifiants angewiesen ist, werden jedoch einige inhaltliche Bezüge nicht entgehen. So endet nun Coserius historische Darstellung der Sprachphilosophie mit einem Forscher, auf den sich auch viele moderne Sprachtheoretiker berufen haben: Wilhelm von Humboldt. Die meisten Einführungen in die Sprachphilosophie, vor allem diejenigen, die nicht konsequent historisch ausgerichtet sind, beginnen dort, wo Coseriu endet. In einer neueren, in einem angesehenen Verlag erschienenen Einführung in die Sprachphilosophie wird Coseriu nicht einmal erwähnt. Das ist angesichts der gegenwärtigen Rezeptionssituation nicht verwunderlich. Erstaunlicher ist schon, dass dort auch auf keinen der in diesem Band behandelten Philosophen Bezug genommen wird; nur auf den Sprachforscher Wilhelm von Humboldt wird kurz im Zusammenhang mit dem sog. „ sprachlichen Relativitätsprinzip “ verwiesen. Noch bemerkenswerter erscheint die Tatsache, dass Kant, den Coseriu nur indirekt, im Zusammenhang mit Hamann und Herder behandelt, weil er, wie schon diese beiden Schüler und Landsleute Kants festgestellt hatten, die Sprache völlig ausblendet, in dieser Einführung verhältnismäßig ausführlich berücksichtigt wird. Wo es sich anbot oder, genauer gesagt, wo es sich geradezu aufdrängte, habe ich auf Bezüge zu neueren Positionen hingewiesen, wobei ich stets darauf zu achten hatte, meinen akademischen Lehrer nicht gegen dessen Willen zu „ aktualisieren “ . Dafür wäre er mir keineswegs dankbar gewesen; ganz im Gegenteil, er hätte darin eher eine Art von Verrat gesehen. Die beiden nun vorliegenden Bände wollen nichts weiter sein als eine erste „ Bestandssicherung “ (weitere Hinweise finden sich in der nachfolgenden Einführung; vgl. 1.1 und 1.2 und im Ausblick, Kap. 13). Wer einen solchen Versuch mit dem Nachlass eines bedeutenden Wissenschaftlers unternimmt, der sich aus hier nicht zu diskutierenden Gründen davor gescheut hat, seine XIII <?page no="14"?> umfangreichen Manuskripte selbst zu publizieren, wird von seinen Nachfolgern nahezu notwendigerweise Prügel beziehen. Dafür gibt es wohlbekannte Parallelen in der Geschichte der Sprachwissenschaft. Aber lohnt es sich nicht manchmal, freiwillig die Rolle des „ nützlichen Idioten “ zu übernehmen? Bernd Villhauer und Daniel Seger habe ich für die sorgfältige Durchsicht des Typoskripts und für viele wertvolle Hinweise und Ratschläge zu danken. Heidelberg, im April 2015 Jörn Albrecht XIV <?page no="15"?> 1 Einführung Was die Zielsetzung der verschiedenen Vorlesungen Coserius und der beiden neu herausgegebenen bearbeiteten Nachschriften betrifft, so ist das Wichtigste bereits im Vorwort ausgeführt worden. Hier sollen einige sowohl für wirkliche Leser als auch für bloße ‚ Benutzer ‘ wichtige Informationen nochmals besonders hervorgehoben werden. 1.1 Zielsetzung der verschiedenen Vorlesungen In den nachgelassenen Manuskripten Coserius stößt man immer wieder auf die Versicherung, es gebe bis heute keine „ Geschichte der Sprachphilosophie “ . In der Tat erscheint diese Formulierung auch in den neueren Publikationen zur Sprachphilosophie verhältnismäßig selten; doch auch dort, wo sie erscheint, entspricht der Inhalt der Publikation nicht genau dem, was Coseriu in seinen Vorlesungen vorschwebte. Zunächst einmal hatte er eine traditionelle Vorstellung von „ Geschichte “ . Seine historische Darstellung ist immer primär personenbezogen, allenfalls sekundär „ problembezogen “ . Er geht immer von ganz schlichten Fragestellungen aus: Welcher Philosoph hat was tatsächlich gesagt oder geschrieben? In welchen Texten hat er sich zur Sprache geäußert? Durch wen könnte er beeinflusst worden sein? Wie wurde das Gesagte von späteren Philosophen aufgenommen? Darüber hinaus war Coseriu bemüht, die Disziplinen Sprachwissenschaft, Sprachtheorie und Sprachphilosophie so streng wie möglich zu unterscheiden (vgl. Bd. I, Kap. 1 und 2). Viele Veröffentlichungen, die den Terminus Sprachphilosophie im Titel führen, ließ er allenfalls als Beiträge zur Sprachtheorie oder Sprachwissenschaft gelten. In seinen Vorlesungen sah Coseriu nur einen „ Entwurf “ zu einer später zu schreibenden „ wirklichen “ Geschichte der Sprachphilosophie. Viele „ Vorarbeiten und monographische Untersuchungen “ (ich zitiere wörtlich aus verschiedenen Manuskripten), die man für so eine Geschichte brauche, fehlten bis heute. Und so sollten seine Vorlesungen vor allem Anregungen zur Füllung dieser Forschungslücken geben. So versichert er in der Einführung zur vierten Vorlesung (Wintersemester 1972/ 73), dass über Johann Heinrich Lambert als Sprachphilosoph (vgl. Bd. I, Kap. 17.2) „ überhaupt nichts geschrieben “ worden sei, dabei sei Lambert in sprachphilosophischer Hinsicht „ besonders interessant “ . Nun ist zwar bereits 1996 eine Berner Dissertation erschienen, die nicht dem Mathematiker, Physiker oder Astronomen, sondern dem Philosophen Lambert gilt, 1 um eine systematische Darstellung seiner Sprachphilosophie handelt es sich dabei jedoch nicht. In größeren zusammenhängenden Darstellungen der Sprachphilosophie wird man - mit Ausnahme von Coserius Geschichte - nur sporadisch auf den Namen Lambert 1 Gesine Lenore Schiewer: Cognitio symbolica. Lamberts semiotische Wissenschaft und ihre Diskussion bei Herder, Jean Paul und Novalis. Tübingen 1996. 1 <?page no="16"?> stoßen. In einem großen Handbuch zur Sprachphilosophie, das ich im ersten Band häufig zitiert habe und auch in diesem Band zitieren werde, wird er an zwei Stellen in nebensächlichem Zusammenhang erwähnt. 2 So lässt sich denn die Zielsetzung der Vorlesungen, die Coseriu im Zeitraum von gut zwanzig Jahren zur Sprachphilosophie und ihrer Geschichte gehalten hat, folgendermaßen zusammenfassen: Die Texte, in denen bekannte und - das muss besonders hervorgehoben werden - weit weniger bekannte Philosophen sich zur Sprache geäußert haben, sollen vorgestellt, kommentiert und historisch eingeordnet werden. Die Vorstellung der Texte stützt sich auf verhältnismäßig ausführliche Zitate - der Leser soll gewissermaßen zum close reading angeleitet werden. Der Kommentar haftet in der Regel eng am kommentierten Text: Im Zentrum steht immer der sensus litteralis. Er mündet nicht selten in eine Kritik am vorgestellten Autor, die manchem empfindsamen Leser etwas schulmeisterlich erscheinen mag. Die historische Einordnung erfolgt nach einem Schema, das heute unter dem Generalverdacht des Positivismus steht: Aufspürung möglicher Quellen bei früheren Denkern, Verfolgung nachweisbarer Einflüsse auf die Nachfolger. 1.2 Zielsetzung des vorliegenden Bandes In einer Sammelrezension, in der meine Bearbeitung des ersten Teils der Sprachphilosophie und Reinhard Meisterfelds Bearbeitung des ersten Teils der Geschichte der romanischen Sprachwissenschaft gemeinsam besprochen werden, 3 ermahnt Franz Lebsanft künftige Herausgeber nachgelassener Manuskripte Coserius, sie sollten sich nicht dazu verleiten lassen, „ mehr an einer in Marmor zu meißelnden Gültigkeit seiner Schriften als an deren historisch-kritischer Aufarbeitung interessiert zu sein “ . Das editorische Konzept der „ autorisierten Bearbeitung “ sei zu Lebzeiten Coserius „ vollkommen legitim “ gewesen, es könne „ jedoch über den Tod des Autors hinaus vernünftigerweise nicht weiter verfolgt werden “ 4 . Das ist eine fundierte, durchaus ernst zu nehmende Mahnung, der man sich zu stellen hat, wenn man sich anschickt, eine notgedrungen nicht-autorisierte Bearbeitung anzufertigen. Denn genau darum handelt es sich beim vorliegenden Band. Eine Ausgabe, die, wie Lebsanft fordert, „ dem heutigen Stand der Editionsphilologie gerecht “ 5 würde, wäre allein schon in rein sprachlicher Hinsicht „ unlesbar “ . Coseriu hatte mich nach der Lektüre einer provisorischen Fassung meiner Bearbeitung der Textlinguistik dafür kritisiert, dass ich mich zu eng an den tatsächlich vorgetragenen Text mit all seinen sprachlichen Eigentümlichkeiten gehalten hatte. Mit der später publizierten, weit stärker ‚ bearbeiteten ‘ Version war er dann zufrieden. Ich erkühne mich also, aus dieser Erfahrung sowie aus langen Gesprächen über das anzustrebende Vorgehen bei der Redaktion des ersten Teils der Sprachphilosophie wenn nicht eine ‚ Autorisierung ‘ , so doch eine Legitimation 2 Dascal et al. (Hg. 1992/ 1996), 135; 1559. 3 Romanische Forschungen 118 (2006), 257 − 259. 4 ibid., 258. 5 ibid. 2 <?page no="17"?> meines Vorgehens ‚ über den Tod hinaus ‘ abzuleiten. Quare id faciam, fortasse requiris. Zum einen fühle ich mich dem Andenken eines trotz gelegentlich aufgetretener Differenzen hoch geschätzten akademischen Lehrers verpflichtet; zum anderen bin ich davon überzeugt, dass es die höchst eigenwillige, sich dem mainstream der Forschung standhaft entziehende Darstellung Coserius einer großen Epoche der deutschen Sprachphilosophie auch heute noch verdient, einer größeren Öffentlichkeit bekannt gemacht zu werden. Mit dem vorliegenden Band wird also das Ziel verfolgt, eine für ein breiteres Publikum ‚ lesbare ‘ Fassung der Darstellung zu bieten, die Coseriu in verschiedenen Vorlesungen von der Entwicklung der deutschen Sprachphilosophie von der Spätaufklärung bis zum Ende der Romantik gegeben hat - möglichst wenig mit Jargon befrachtet und hin und wieder ergänzt durch einige biographische und philosophiegeschichtliche Informationen. Der Leser soll auch ohne Hilfe von Wikipedia dem Text folgen können. Wie bereits erwähnt: eine vorläufige Bestandssicherung - nicht mehr. Über die Quellen, die dem vorliegenden Text zugrundeliegen, wurde bereits im Vorwort alles Nötige gesagt. 3 <?page no="18"?> 2 Die deutschen Länder zwischen Spätaufklärung und Romantik: ein ideengeschichtlicher Überblick Bevor wir uns den einzelnen Sprachphilosophen zuwenden, soll zunächst ein allgemeiner Überblick über den zu behandelnden Zeitraum geliefert werden. Wie schon in den ersten Vorlesungsreihen, die einem außerordentlich langen Zeitraum galten, der sich von den Anfängen bis ins 18. Jahrhundert zu Jean-Jacques Rousseau erstreckte, soll auch in diesen Vorlesungsreihen, die eine vergleichsweise knappe Spanne, nämlich die Zeit zwischen 1750 und 1850 behandeln, die Sprachphilosophie im engeren und ‚ eigentlichen ‘ Sinn im Zentrum der Betrachtung stehen. Die Unterscheidung zwischen Sprachphilosophie, Sprachtheorie und Sprachwissenschaft wurde zu Beginn der ersten Vorlesung ausführlich erläutert (cf. Bd. 1, Kap. 2). Es soll hier nur noch einmal an das Wichtigste erinnert werden. Unter den heutigen Linguisten (und nicht nur unter ihnen) besteht eine Tendenz, innerhalb der Sprachphilosophie auch Fragen zu behandeln, die keine philosophischen Fragen sind, d. h. in diesem Fall sprachtheoretische und sprachwissenschaftliche Fragen, ja sogar die Sprachphilosophie auf eben diese Fragestellungen zu reduzieren. Demgegenüber wird hier am Begriff einer autonomen Sprachphilosophie festgehalten, die nicht mit der Sprachtheorie und der Allgemeinen Sprachwissenschaft zusammenfällt und sprachtheoretische und sprachwissenschaftliche Fragen nicht als sprachphilosophische Fragen an sich, sondern nur im Zusammenhang mit sprachphilosophischen Fragen behandelt. 2.1 Kontinuität und Originalität der Sprachphilosophie der deutschen Romantik Von einer Kontinuität der deutschen Sprachphilosophie kann nur die Rede sein, wenn man bereit ist, ihre Originalität anzuerkennen. Gerade diese Originalität ist jedoch in Frage gestellt worden. Man hat die Zusammenhänge zwischen Humboldt und der französischen sprachtheoretischen Schule der „ Ideologen “ , die sich auf Condillac (cf. Bd. 1, Kap. 18.2) berufen, hervorgehoben und den Zusammenhang mit Herder geleugnet. Der amerikanische Wissenschaftshistoriker Hans C. Aarsleff betont die Einflüsse der Ideologen, macht Humboldt sogar zu einem Mitglied dieser Gruppe und bestreitet andererseits den Einfluss Herders und leugnet damit die innere Kontinuität der Sprachphilosophie der deutschen Romantik. Einer meiner Schüler hat sich in einem Aufsatz mit dem Titel „ Wem gehört Humboldt? “ mit dieser These auseinandergesetzt. 6 Die These, dass es Zusammenhänge 6 [Oesterreicher 1981. Es geht um Hans C. Aarsleff: „ Guillaume de Humboldt et la pensée linguistique des idéologues “ . In: A. Joly/ J. Stéfanini (Hgg.): La grammaire générale. Des 4 <?page no="19"?> zwischen Humboldt und den ‚ Ideologen ‘ gibt, ist sicherlich nicht völlig falsch. Sie ist aber einseitig und führt im Ergebnis zu einem verzerrten Bild. Sicherlich ist es richtig, dass die deutsche Bewegung mit dem gesamten europäischen Denken zusammenhängt. Sie stellt dieselben Fragen und verwendet dabei zum Teil sehr ähnliche Termini. Darin einen Grund für die Leugnung ihrer Originalität sehen zu wollen, liefe jedoch auf einen Trugschluss hinaus. Es gibt nicht nur eine Traditionslinie, die von Condillac über die Ideologen zu Humboldt führt, sondern es gibt auch eine Kontinuität von Herder und den übrigen Sprachphilosophen der deutschen Romantik bis zu Wilhelm von Humboldt. Wenn man die Zusammenhänge zwischen der „ Deutschen Bewegung “ und dem europäischen Denken überblicken möchte, so darf man nicht nur nach Frankreich sehen. Von großer Bedeutung ist auch der englische Einfluss. Der wichtigste englische Sprachphilosoph im 18. Jahrhundert, James Harris, wurde schon 1788 ins Deutsche übersetzt (cf. Bd. 1, Kap. 15.3). Wie wir im 3. Kapitel sehen werden, wurden auch die drei ersten Bände des Buches von Lord Monboddo 1784/ 85 ins Deutsche übersetzt; das Vorwort dazu schrieb Herder. Den Brüdern Schlegel war Adam Smiths Dissertation on the Origin of Language (1776) bekannt; Friedrich Schlegel wurde wie Herder stark von Monboddo beeinflußt. Aber auch die Südromania ist nicht ganz ohne Einfluss auf Deutschland gewesen. So hat Giambattisa Vico mit seiner Scienza Nuova (1725, 2. überarbeitete Aufl. 1744), die 1822 ins Deutsche übersetzt wurde, 7 eine Wirkung in Deutschland entfaltet. Von den Romantikern wird er zwar kaum erwähnt. Er war aber Herder und Goethe in der Originalversion bekannt. Herder erwähnt ihn zweimal, zunächst im neunundfünfzigsten der Briefe zu Beförderung der Humanität, wo er die Absicht äußert, „ das ziemlich vergessene Andenken eines Mannes zu erneuern, der zu einer Schule menschlicher Wissenschaft im echten Sinne des Wortes an seinem Ort vor andern den Grund legte “ , und später noch einmal in einer Schulrede, in der er den Schülern Vico als einen „ sehr verständigen Philosophen der Humanität “ zum Vorbild empfahl. 8 Goethe berichtet in seiner Italienischen Reise unter dem Datum des 5. März 1787, dass ihn ein italienischer Bekannter in Neapel mit Vico bekannt gemacht habe. Es sei offenbar den Italienern ein „ Ältervater “ , wie Johann Georg Hamann es dereinst den Deutschen sein werde. Auch der Altphilologe Friedrich August Wolf (1759 ‒ 1824), der Verfasser der Prolegomena ad Homerum, bezieht sich auf Vico im Zusammenhang mit der homerischen Frage. Schließlich wurden die Sprachphilosophen der deutschen Romantik, was die Kenntnis der unterschiedlichsten Sprachen und die Interpretation ihrer Strukturen betrifft, auch durch modistes aux idéologues. Lille 1977, 217 ‒ 241. Oesterreicher kritisiert die dort vertretene These scharf.] 7 [Giambatista Vico: Grundzüge einer Neuen Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker. Leipzig 1822. Übersetzt von Wilhelm Ernst Weber. Das im Netz verfügbare Werk enthält auch eine deutsche Übersetzung der Autobiographie Vicos.] 8 Sämtliche Werke hrsg. Von Bernhard Suphan, Bd. XVIII, Nachdruck Hildesheim 1967, 245 f.; Bd. XXX, Nachdruck Hildesheim 1968, 276. 5 <?page no="20"?> die Arbeiten des gelehrten spanischen Jesuiten Lorenzo Hervás y Panduro (1735 ‒ 1809) beeinflusst. Als Ergebnis können wir festhalten, dass die deutsche Sprachphilosophie der Romantik mit dem gesamten europäischen Denken zusammenhängt. Diese Feststellung ist jedoch kein Grund, die Originalität und Kontinuität der deutschen Bewegung in Frage zu stellen. Vorläufer einer neuen Auffassung und Übereinstimmungen mit scheinbar weit auseinanderliegenden Denkern wird man immer finden, wenn man nur lange genug sucht. Man sollte jedoch darauf achten, in welchem Zusammenhang sie auftreten. Man darf darum nicht einzelne isolierte Fakten hervorheben, sondern muss sie im Gesamtzusammenhang interpretieren. 2.2 Charakterisierung und Gesamtwürdigung der „ Deutschen Bewegung “ Die Sprachphilosophie der deutschen Romantik ist die zweite große Epoche der Sprachphilosophie überhaupt, nach der Epoche Platons und Aristoteles ’ . Von Herder bis Humboldt lässt sich eine fast ununterbrochene, reichhaltige und vielfältige Kette der Meditation über die Sprache verfolgen. Diese Meditation ist Bestandteil der Philosophie, bis zu einem gewissen Grade auch der Ideologie der deutschen Romantik. Es handelt sich um die Entdeckung der menschlichen Welt als einer historischen Welt, um die Abgrenzung und Auslegung dieser Welt, in gewisser Hinsicht um die zweite Entdeckung der Welt des Menschen, dieses Mal als Welt der Völker oder Nationen - nach der ersten Entdeckung einer anthropozentrischen Welt im italienischen Humanismus und in der Renaissance. In der Renaissance bilden die Menschheit (genus humanum) und das Individuum die beiden Pole dieser Welt; in der deutschen Renaissance, die man allgemein „ deutsche Romantik “ nennt, sind diese Pole die Menschheit auf der einen und die Völker oder Nationen auf der anderen Seite. Diese beiden Ausdrücke erscheinen nicht zufällig in den Titeln verschiedener Schriften. Im Gegensatz zum abstrakten und ahistorischen Menschenbild der Aufklärung wie z. B. bei Condillac oder, speziell in sprachphilosophischer Hinsicht, bei Lord Monboddo, wendet man sich nun der konkreten Geschichte der Völker zu und sieht in ihr das, was die Menschheit eigentlich ausmacht. Die entscheidenden Fragestellungen sind nun philologischer Natur, wie einst im Humanismus. Man interessiert sich für andere Völker, für ihre Besonderheit und für die Produkte ihrer Kultur. Daher werden Italien und Spanien gewissermaßen neu entdeckt, osteuropäische und asiatische Völker geraten zum ersten Mal ins Blickfeld - man denke nur an August Wilhelm Schlegels Sprache und Weisheit der Indier (Kap. 7) - und auch die Antike kommt zu einer neuen Geltung: Die bekanntesten Zeugnisse dafür sind u. a. Barthold Georg Niebuhrs Römische Geschichte (1811 ‒ 1832); August Böckhs Begründung der wissenschaftlichen Epigraphik und einer frühen kulturwissenschaftlichen Ausweitung der Philologie und nicht zuletzt die oben erwähnten Prolegomena ad Homerum von Friedrich August Wolf, durch die die klassische Philologie neu begründet und das Interesse für eine „ volkstümliche “ , mündlich tradierte Literatur geweckt wurde. Diese volkstümliche Literatur wird gesammelt, dokumentiert und 6 <?page no="21"?> durch Gelehrte wie Herder oder die Brüder Grimm neu bewertet. Der Unterschied zwischen den entwickelten Kultursprachen und den sog. „ primitiven Sprachen “ wird weitgehend eingeebnet - für Humboldt sind die „ Primitivsprachen “ einfach nur „ anders “ . Die Sprachen dürfen nun nicht mehr anhand einer abstrakten Skala als weniger oder mehr „ entwickelt “ eingestuft, sie sollen vielmehr in ihrer je eigenen Spezifizität untersucht werden. Die Schlagworte jener Zeit sind Volk (oder Nation), Geschichte, Philologie, Vergleich, Verschiedenheit, Geist und Sprache. Was aber eigentlich interessiert, sind alle Aspekte des menschlichen Schaffens. Was immer aus Frankreich, England oder Italien hereinkommt - alles wird sympathetisch aufgenommen, mit kritischer Anteilnahme geprüft, dann jedoch auch in Frage gestellt und neu fundiert. Zu einer Zeit, zu der die politischen Maximen und Parolen von Frankreich ausstrahlen, wird Deutschland zum Zentrum der europäischen Kultur. Dieses Land, das, wie Leibniz einmal bemerkte, vor allem „ absorbiert “ hat, das fleißig in die biedere, fromme, tüchtige aber auch bescheidene Schule von Aufklärern wie Christian Wolff, Alexander Gottlieb Baumgarten oder Georg Friedrich Meier gegangen ist, fängt nun auf einmal an, Neues und Originelles zu produzieren, und zwar auf fast allen Gebieten. Im Zeitraum von fünfzig Jahren, vom Erscheinen der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft im Jahre 1781 bis zum Tod Hegels im Jahre 1831 findet eine ununterbrochene hermeneutische, kritische und schöpferische Tätigkeit statt, eine Arbeit zur Neufundierung der geschichtlichen Welt. Fast alle für die europäische Kultur maßgebenden Werke erscheinen zu dieser Zeit in Deutschland. Wenn man sich ein erstes Bild von der Intensität des geistigen Lebens jener Zeit machen möchte, braucht man sich nur zu vergegenwärtigen, wen man zu welchen Zeitpunkten gleichzeitig hätte antreffen können: Um 1760 finden wir Kant, Lessing, Hamann und Winckelmann an der Arbeit; um 1770 treten Herder und der junge Goethe auf die Bühne, um 1780 kommt der junge Schiller hinzu. Um 1800 sind bereits drei Generationen bedeutender Persönlichkeiten am Werk. Unter den Philosophen ist Kant noch am Leben, kann aber seit 1798 nichts mehr veröffentlichen; Fichte, Schelling, Hegel und Schleiermacher sind neu hinzugekommen. Die Literatur ist durch Goethe, Schiller, Hölderlin, Friedrich von Hardenberg alias Novalis, Kleist und Jean Paul vertreten, auf dem Gebiet der Philologie und der Literaturkritik sorgen August Wilhelm Schlegel und sein jüngerer Bruder Friedrich sowie Wilhelm von Humboldt für Aufmerksamkeit. Dazu kommen Friedrich August Wolf in der klassischen Philologie, Alexander von Humboldt in der Naturforschung und der junge Niebuhr in der Geschichtswissenschaft. Um 1820 ist die Konstellation noch beeindruckender, vor allem im Bereich der Philosophie und der Philologie; neben Goethe und Jean Paul finden wir die Romantiker Eichendorff, Ludwig Tieck, Clemens Brentano, E. T.A. Hoffmann an der Arbeit, Hölderlin lebt noch, ist jedoch bereits seit einiger Zeit verstummt. Die Brüder Schlegel sind wie die Brüder Grimm sowohl literarisch als auch philologisch-kritisch tätig; Niebuhr, Böckh und Friedrich August Wolf treten immer noch mit Arbeiten auf ihren Gebieten hervor; Hegel, Schleiermacher, Schelling, Schopenhauer, Alexander und Wilhelm von Humboldt wirken nicht zuletzt durch ihre universitäre Lehre, mit Franz Bopp ist ein Vertreter der historisch- 7 <?page no="22"?> vergleichenden Sprachwissenschaft in Erscheinung getreten, einer Disziplin, die den Übergang von der Romantik zum Historismus kennzeichnet. Die deutsche Universität erlebt zwischen 1820 und 1830 eine Blütezeit. An der Berliner Universität lehren gleichzeitig Böckh, Bopp, Niebuhr und Hegel und die Brüder Humboldt. Berlin ist zu dieser Zeit das wichtigste kulturelle Ausstrahlungszentrum. Die Berliner Akademie, die bis dahin ein europäisches Zentrum französischer Sprache gewesen war, wird nach den napoleonischen Kriegen zu einer deutschen Institution. Zugleich entwickelt sich Wien zu einem Ausstrahlungszentrum für die slawischen Nationen und für die Länder des Balkans. Kleinere Zentren befinden sich in Bonn und Weimar. Manche Fächer wie z. B. die Ästhetik, die Philosophie der Kunst, die philosophische Hermeneutik, die Historisch-vergleichende Sprachwissenschaft entwickeln sich zunächst als „ deutsche “ Disziplinen. Es ist unmöglich, die geistige Atmosphäre jener Zeit auf wenigen Seiten zu rekonstruieren. Es genügt an dieser Stelle der Hinweis, dass die Sprachphilosophie jener Epoche eng mit dieser Atmosphäre zusammenhängt; denn alle - die Dichter nicht weniger als die Philosophen, die Kritiker nicht weniger als die Philologen oder die neu hinzugekommenen Sprachwissenschaftler im technischen Sinn - alle interessieren sich für die Sprache. Und an der Sprache wiederum interessiert sie alles. Das Wesen der Sprache schlechthin, ihr Ursprung, ihre Formen und Leistungen, die Sprachen in ihrer Entwicklung, der grammatische Bau der Sprachen und ihre Erzeugungsverfahren. 2.3 Ein kurzer Rückblick auf das 18. Jahrhundert Richtig verständlich wird die Eigenart der Sprachphilosophie der deutschen Romantik erst vor dem Hintergrund dessen, was das 18. Jahrhundert auf diesem Gebiet erreicht hat; denn die deutschen Sprachphilosophen waren historisch sehr weitreichend informierte Denker. Die verschiedenen sprachphilosophischen Strömungen des 18. Jahrhunderts wurden in den vorangegangenen Vorlesungen ausführlich behandelt: Großbritannien von George Berkeley bis John Horne Tooke (Bd. 1, Kap. 15); Deutschland von Christian Wolff bis Dietrich Tiedemann, an den Herder unmittelbar anknüpft (Bd. 1, Kap. 17) und schließlich Frankreich von Etienne Bonnot de Condillac bis Rousseau (Bd. 1, Kap. 18). Es können hier nur einige sehr allgemeine Charakteristika in Erinnerung gerufen werden. 2.3.1 Von der Instrumentalität zur Expressivität Das 18. Jahrhundert ist den Weg von der Sprache als Instrument zur Sprache als Ausdruck gegangen. Im Rationalismus wurde die Sprache als Instrument des Denkens betrachtet, die Sprache als Ausdruck, d. h. das, was die Autonomie der Sprache ausmachen könnte, musste als „ uneigentlich “ , als abgeleitete Funktion angesehen werden. Bei der Betrachtung der Sprache als Form des Ausdrucks, eventuell sogar als Hauptform des menschlichen Ausdrucks, wird zwar eine gewisse, wenn auch nur provisorische und noch nicht genau abgegrenzte Autonomie der Sprache erreicht. Aber nun stellt sich das Problem in umgekehrter 8 <?page no="23"?> Richtung: Wie gelangt man vom Ausdruck zur Instrumentalität, von der Dichtung zum rationalen Denken? Wir haben gesehen, wie Condillac (Bd. 1, Kap. 18.2) und Rousseau (Bd. 1, Kap. 18.4) dieses Problem zu lösen versuchten. 2.3.2 Die Sprache zwischen Universalität und Partikularität Ein weiteres Problem, das die deutsche Bewegung von den Denkern des 17. und 18. Jahrhunderts „ geerbt “ hat, ist das der Universalität der Sprache im Allgemeinen und der Partikularität der Sprachen im Besonderen. Wie hat man das Verhältnis zwischen der Sprache im Allgemeinen, der lingua universalis, und den konkreten historischen Einzelsprachen aufzufassen? Soll man, um die Unterschiede zwischen den Einzelsprachen zu überwinden, eine ars combinatoria, eine Universalsprache, konstruieren, wie es u. a. Raimundus Lullus oder Leibniz versucht haben (Bd. 1, Kap. 11.3 bis 11.4) oder soll man versuchen, das allen Einzelsprachen Gemeinsame aufzufinden und auf der Grundlage des Herausgefundenen eine grammatica universalis zu verfassen, wie es Johann Heinrich Lambert oder Johann Werner Meiner im 18. Jahrhundert vorgeschlagen haben (Bd. 1, Kap. 17.2 und 17.3)? Im ersten Fall sollte ein perfektes Instrument zum Ausdruck des Gedankens geschaffen werden, das jedoch selbst so etwas wie eine Einzelsprache, oder besser eine Sondersprache sein musste, da es nicht der allgemeinen menschlichen Sprachfähigkeit (faculté de langage) entsprach. Im zweiten Fall wurde die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Sprache als in allen Einzelsprachen enthalten (später wird es dann heißen „ zugrundeliegend “ ) aufgefasst, es galt nur, sie mit den richtigen Methoden herauszufinden. 2.3.3 Instrumentalität vs. Expressivität - Universalität vs. Partikularität: die Sprachphilosophie der deutschen Romantik vor einer doppelten Problematik Die Sprachphilosophen der Romantik befinden sich also vor einer doppelten Problematik: 1) Durch die Trennung der Sprache von der Logik geht die Identität von Sprache und rationalem Denken verloren, die Wörter sind nicht mehr, wie bei Vives, Ausdruck des animi universi, der Einbildungskraft, Gefühlsregungen, Verstand und Willen umfasst (Bd. 1., Kap. 10.2.6). 2) Durch die Entdeckung der Pluralität, der Vielzahl und Vielfältigkeit der Sprachen ergibt sich (wie bereits in der Renaissance) das Problem der Universalität der Sprache(n). Ad 1) Instrumentalität vs. Expressivität Einerseits gibt die als Instrument des Denkens bzw. als Instrument zur Bildung der sog. „ allgemeinen Ideen “ betrachtete Sprache Anlass zur Kritik; sie ist in dieser Hinsicht nicht vollkommen. Aber selbst wenn sie nicht identisch mit der Logik ist, so kann sie doch als eine unvollkommene Vorstufe der Logik angesehen werden, wie z. B. bei Locke (cf. Bd. 1, Kap. 12.1). Andererseits wird die Sprache als etwas 9 <?page no="24"?> außerhalb der Logik Stehendes angesehen, z. B. als Mittel des Ausdrucks, von Gefühlen, von Leidenschaften. Da nun die Sprache beides sein kann, ergibt sich in beiden Fällen die Frage des Übergangs vom „ Eigentlichen “ zum „ Uneigentlichen “ , vom „ Ursprünglichen “ zum Abgeleiteten “ . Ad 2) Universalität vs. Partikularität Man ist also wiederum auf der Suche nach der verlorenen Universalität, die jedoch eine Universalität des Denkens, nicht der Sprache war. Soll man sie durch Konstruktion einer Ars combinatoria, einer Characteristica universalis herzustellen versuchen, eines allgemeingültigen Instrument des Denkens „ neben “ oder „ über “ den „ natürlichen Sprachen “ oder soll man sie in diesen Sprachen selbst zu finden suchen, indem man das allen Gemeinsame in Form einer grammatica universalis herausarbeitet? Alles, was dieser angenommenen Universalität in einer gegebenen Sprache nicht entspricht, muss dann, wie etwa bei Meiner, für nebensächlich, unvollkommen, ja sogar für „ irrtümlich “ erklärt werden (cf. Bd. 1, Kap. 17.3.2). Da man nichts anderes sucht, findet man natürlich auch nur das, was man eigentlich verloren hatte: die Universalität des Denkens, nicht der Sprache. Das Problem der Sprache wird dadurch nicht gelöst, sondern nur klarer herausgearbeitet: Wie kann man die Universalität des Denkens mit der Verschiedenheit der Sprachen in Einklang bringen? Gibt es unterschiedliche Arten des Denkens in verschiedenen Sprachen, d. h. verschiedene „ Welten “ bei verschiedenen Völkern, oder gibt es doch die Möglichkeit eines Übergangs von der Spezifizität der Einzelsprachen zu einer Universalität des Denkens? Das 18. Jahrhundert löst also das Problem der Sprache nicht (nicht einmal in dem Sinn, in dem es in der Scholastik als gelöst galt), aber es erhebt die Sprache wieder zu einem Problem, nachdem sie unproblematisch geworden war. Es wird in verschiedenen Richtungen gearbeitet, wobei Schwierigkeiten und Aporien auftreten. Als solche entdeckt werden diese Probleme freilich nicht im 18. Jahrhundert selbst, das sich recht selbstzufrieden gibt, sondern erst post festum bei einer kritischen Betrachtung der sprachphilosophischen Leistungen dieser Epoche. Das gilt für die Hauptproblematik ebenso wie für die Nebenproblematik bzw. für das, was im 18. Jahrhundert als nebensächlich galt. Wir wollen auch diese weiteren Motive, die im 18. Jahrhundert zur Meditation über die Sprache angeregt haben, in Erinnerung rufen. Sie gehören zum unmittelbaren Kontext der Sprachphilosophie der deutschen Romantik, und dies nicht nur in Form von allgemein verbreiteten und bekannten Ideen, sondern durch direkte Kenntnis der entsprechenden Texte. Man liest, was die Vorgänger geschrieben haben. Ein Autor wie Lambert nimmt sich vor, Locke und Wolff miteinander in Einklang zu bringen (Bd. 1, Kap. 17.2). Auf die Rezeption bzw. auf die Übersetzung ins Deutsche von Autoren wie Harris, Lord Monboddo, Adam Smith, ja sogar Giambattista Vico wurde bereits verwiesen (cf. supra 2.1). 10 <?page no="25"?> 2.4 Rückblick: Weitere Motive der Sprachphilosophie im 18. Jahrhundert Folgende Motive spielten bereits im 18. Jahrhundert eine gewisse Rolle, wenn sie auch noch nicht die Rolle spielten, die ihnen in der Sprachphilosophie der deutschen Romantik zukommen sollte. 1) Die Bestimmung der eigentlichen Funktion der Sprache; 2) die Typologie der Sprachen; 3) das Problem des Ursprungs der Sprache; 4) das Verhältnis der Sprache zu anderen Formen der Kultur, bzw. zu anderen menschlichen Tätigkeiten. Ad 1) Die Bestimmung der eigentlichen Funktion der Sprache Der Versuch einer solchen Bestimmung vollzieht sich auf unterschiedliche Weise: a) Im Empirismus erfolgt sie in Form einer Kritik an den „ allgemeinen Ideen “ , womit „ Vorstellungen “ gemeint sind. Berkeley zeigt, dass es keine allgemeinen Ideen in diesem Sinn geben kann (man kann sich keinen „ allgemeinen “ Baum vorstellen, sondern nur einen spezifischen). Viel später erscheint diese These wieder bei Horne Tooke in seiner „ Abkürzungstheorie “ ; die Bedeutungen sind nun keine Vorstellungen. Das heißt in positiver Hinsicht: Die allgemeinen Begriffe existieren nur sprachlich (cf. Bd. 1, Kap. 15.1 und 15.4.4). b) Bei Harris erfolgt sie durch die Feststellung, dass die Wörter keine Bezeichnungen von individuellen Dingen, sondern Symbole für allgemeine Ideen sind, und durch seinen Versuch, die Sprache auf die Phantasie (imagination, fancy) zurückzuführen, Sinneserfahrungen zu speichern oder auch auf die Fähigkeit, solchen Erfahrungen vorzugreifen. Er hält es also für möglich, dass Wörter auch für Produkte einer geistigen Wahrnehmung stehen können, die nicht direkt mit der sinnlichen Erfahrung, sondern mit den Phantasmata der Einbildungskraft operiert, indem sie Universalien schafft. Diesen Vorgang vermag er dann nicht anders als durch den Begriff der „ Teilhabe “ (eine Analogie zwischen dem menschlichen Geist und Gott) erklären. Dieser Begriff der μέϑεξις erscheint auch bei Lord Monboddo, bei beiden treten die Begriffe „ Stoff “ und „ Form “ auf, bei Harris, unter dem Einfluss Shaftesburys, sogar die Unterscheidung zwischen „ innerer “ und „ äußerer “ Form (cf. Bd. 1, Kap. 15.3). c) Leibniz bestimmt die Funktion der Sprache, indem er sie zu den species civiles rechnet, zu einer besonderen Art von (historisch gegebenen) Universalien (Bd. 1, Kap. 13.2.3). Innerhalb der Nachfolge Leibnizens wird dann vor allem eine Theorie der Stufen der Erkenntnis wichtig, mit deren Hilfe eine Standortbestimmung der Kunst (so z. B. bei Baumgarten) aber auch der Sprache bei Wolff und Lambert vorgenommen wird. Bei Wolff befindet sich die Sprache auf der Stufe der figürlichen Erkenntnis, die noch nicht cognitio distincta (reflexiv begründete) Erkenntnis, doch mehr als die bloße Intuition (Anschauung) ist (Bd. 1, Kap. 17.1). Bei Lambert befindet sie sich auf der Stufe der symbolischen Erkenntnis (der 11 <?page no="26"?> Unterschied zu Wolff ist rein terminologischer Natur). Besonders wichtig in diesem Zusammenhang ist Lamberts Theorie der „ synthetischen “ Benennungen “ , womit eigentlich ganzheitliche Intuitionen gemeint sind (Bd. 1, Kap. 17.2). d) Bei Condillac läuft die Funktionsbestimmung der Sprache auf ihre Einstufung innerhalb einer idealen Skala der Entwicklung der geistigen Operationen hinaus. Die Sprache erscheint dort gleich nach der contemplation zusammen mit der mémoire noch vor der réflexion und entspricht somit der ersten eigentlich menschlichen Operation in dieser Stufenfolge (Bd. 1, Kap. 18.2). e) Bei Diderot erfolgt die Funktionsbestimmung durch die Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und Analyse, wobei die Sprache mit der Analyse gleichgesetzt wird (Bd., 1, Kap. 18.3). f) Bei Vico ergibt sich die Funktionsbestimmung der Sprache aus einer Umkehrung des Verhältnisses zwischen logischem und poetischem Denken. Nicht das logische Denken ist primär und das poetische eine Art von „ Abweichung “ davon, sondern die Sprache ist die ursprüngliche Form eines Denkens, das von poetischem, bildhaftem und intuitivem Charakter ist. Die poetischen Universalien erscheinen vor den logischen, wie denn überhaupt die Annahme von universali fantastici, die den universali ragionati vorausgehen, die eigentlich große Entdeckung Vicos darstellt. Hier erscheint das Universale als Individuum, als Exemplum oder als Mythos. Es handelt sich um eine besondere Form der Erkenntnis, die vor der Abstraktion in Form der Bildung von „ Klassen “ liegt. Ad 2) Die Typologie der Sprachen Ansätze hierzu erscheinen bei Harris, Adam Smith, Lambert, Priestley, Lord Monboddo und Diderot. Auf alle wurde in Bd. 1 kurz eingegangen. Man findet zum Teil schon eine rein strukturelle Typologie wie bei Adam Smith; im Allgemeinen geht die Sprachtypologie jedoch mit einer Typologie der entsprechenden Völker einher. Das Verhältnis von Sprache und Volk, von Sprache und Kultur, die Spezifik der Sprachen und der entsprechenden Kulturen - all das, was für die deutsche Romantik so wichtig werden wird, ist im 18. Jahrhundert schon vorgebildet, allerdings in ersten primitiven und schwach begründeten typologischen Versuchen. Ad 3) Das Problem des Ursprungs der Sprache In dieser Frage gibt es - in grober Einteilung - im 18. Jahrhundert drei verschiedene Positionen, die hier noch einmal in schematischer Form in Erinnerung gerufen werden sollen. a) Die Sprache wird in einem einmaligen Akt im Ganzen „ erfunden “ ; entweder durch Gott (Süßmilch 1766) oder durch den Menschen (Tiedemann 1722; cf. Bd. 1, Kap. 17.4). b) Die Sprache entsteht allmählich, indem sich sprachliche Kategorien (Wortarten, Tempora, Satzmuster etc.) nach und nach herausbilden. Diese Auffassung 12 <?page no="27"?> findet man - bei großen Unterschieden im einzelnen - u. a. bei Adam Smith (Bd. 1, Kap. 15.4.1) oder bei Condillac (Bd. 1, Kap. 18.2). c) Der „ Ursprung “ der Sprache wird nicht nur in chronologischer und in kollektiver Hinsicht gesucht; es geht also nicht nur um die Frage „ Wie ist die Menschheit, oder wie sind die Völker zur Sprache gelangt? “ Es geht darüber hinaus auch um die Entstehung der Sprache beim Individuum in Form einer idealen Reihenfolge von aufeinander aufbauenden geistigen Operationen oder Phasen - so bei Vico und in gewisser Hinsicht auch bei Condillac. Ad 4) Das Verhältnis der Sprache zu anderen Formen der Kultur, bzw. zu anderen menschlichen Tätigkeiten Das Verhältnis der Sprache zu den übrigen typisch menschlichen Fähigkeiten und Tätigkeiten hat fast alle Philosophen des 18. Jahrhunderts beschäftigt. Für Lord Monboddo gehört die Sprache zu den intentionalen Tätigkeiten des Menschen, sie beruht also nicht etwa auf einem „ Instinkt “ . Die „ allgemeinen Begriffe “ sind nicht naturgegeben, sie werden vom Menschen auch nicht passiv übernommen, sondern sie sind das Ergebnis geistiger Schöpfung, Erzeugnisse der selbsttätigen Arbeit des Verstandes. Die Sprache ist sowohl in ihrem Stoff als auch in ihrer Form Produkt der zielbewussten Tätigkeit des Menschen (cf. Bd. 1, Kap. 15.4.3). Was bei Lord Monboddo nur angedeutet wurde, wird für Rousseau zum Problem, der Zusammenhang von Sprache und Gesellschaft. Schafft eine Gesellschaft ihre Sprache oder konstituieren sich Gesellschaften überhaupt erst durch eine gemeinsame Sprache? Irgendwie scheint beides zuzutreffen (cf. Bd. 1, Kap. 18.4). Da die Sprache zunehmend als ein von der Logik getrenntes Phänomen wahrgenommen wird, muss ihr ein neuer Bereich zugewiesen werden - die Dichtung, oder allgemeiner, die Kunst. Dies geschieht am eindrucksvollsten bei Vico, jedoch ebenfalls bei Condillac, bei Rousseau und zumindest zum Teil - was die sog. „ Kunstsprachen “ angeht - bei Lord Monboddo. Man könnte eine ähnliche Auffassung sogar Wolff zuschreiben, wenn er sie auch nicht expressis verbis äußert, denn seine „ figürliche Erkenntnis “ müsste eigentlich auch der Kunst entsprechen (Bd. 1, Kap. 17.1). Fragestellungen und Auffassungen dieser Art wären vorher überhaupt nicht möglich gewesen. Natürlich gab es von jeher so etwas wie sprachliche Künste, Künste, bei denen die Sprache als Material auftrat. Aber Sprache als Kunst? Völlig undenkbar! Mit dieser neuen, zunächst noch tastenden Zuordnung wird eine völlig neue Perspektive eröffnet. Historisch gesehen liegt darin vielleicht die wichtigste Leistung der Sprachphilosophie im 18. Jahrhundert; denn erst wenn die Sprache als eine absolute Kategorie des Menschlichen gesehen wird (oder als Ausschnitt, als besondere Form einer solchen Kategorie), kann sie auch autonom untersucht werden. Das 18. Jahrhundert macht also einen ersten, noch mühsamen Schritt in Richtung auf die Autonomie der Sprache. Die Sprache wird nun nicht mehr als Ausdruck, als Instrument des logischen Denkens oder als eine bloße Form der 13 <?page no="28"?> Kunst angesehen, sondern als etwas Eigenständiges. Damit wird der Weg für die Thematisierung der Sprache in der Philosophie vorbereitet. 2.5 Die Sprache als System von Zeichen Zu all dem kommt noch die Auffassung der Sprache als eines Zeichensystems, wobei die „ Zeichen “ für eine schon gegebene außersprachliche Wirklichkeit stehen. Diese Auffassung ist nun sicherlich keine Errungenschaft des 18. Jahrhunderts. Sie kommt aus der Antike und wird auch im 18. Jahrhundert so gut wie allgemein akzeptiert, in Einzelheiten weiter entwickelt und im Ganzen bestätigt. Nach der überkommenen Auffassung gehört die Sprache zu den Zeichensystemen, die sprachlichen Zeichen stellen gewöhnlich die vollkommenste Stufe der Zeichen insgesamt dar. Das Verhältnis Zeichen-Bezeichnetes ist also weiterhin das, was die Sprache auszeichnet. Diese Auffassung wird das ganze Jahrhundert hindurch kaum durch irgendein Gegenargument erschüttert. Allerdings hatte schon Aristoteles bemerkt, dass das Wort ein Erzeugnis der Einbildungskraft, der φαντασία ist. Nicht jeder Ton, den ein Lebewesen erzeugt, sei Stimme. Dies sei er nur dann, wenn er mit einer Vorstellung verbunden sei (cf. De anima II, 420, 30 ff. und Bd. 1, Kap. 6.3.3). Auch die Stoiker hatten von den φαντασίαι λογικαί gesprochen, die sich in Benennungen ausdrücken (cf. Bd. 1, Kap. 7.2.1). Dies ist aber nie genau verstanden worden und wurde inzwischen längst vergessen. Es gibt aber im 18. Jahrhundert neue Ansätze und mehr oder weniger schüchterne Versuche, das sprachliche Zeichen nicht als Benennung für etwas schon außersprachlich Abgegrenztes anzusehen. So bei Condillac, wo die sprachlichen Zeichen nach der imagination (Einbildungskraft) und contemplation (Anschauung) eingestuft werden, bei Rousseau, für den die ursprüngliche Sprache eine Sprache der Gefühle gewesen sein muss, bei Lord Monboddo, bei dem das begriffliche Denken als schöpferische Tätigkeit des Menschen erscheint, und vor allem bei Harris, bei dem die imagination oder fancy (ganz offensichtlich die φαντασία des Aristoteles) der sinnlichen Erfahrung vorausgreifen kann, so dass die Einbildungskraft auch Symbole vor und in Abwesenheit einer sinnlichen Erfahrung hervorbringen kann. Und schließlich gibt es in diesem Jahrhundert einen großartigen, wenn auch in mancherlei Hinsicht nicht zufriedenstellend begründeten Versuch, mit der herkömmlichen Auffassung der Sprache als eines Zeichensystems Schluss zu machen und die Sprache nur an und für sich zu betrachten und nicht im Hinblick auf das, was sie bezeichnet. Das ist der Versuch von Vico, der, wenn man ihn richtig interpretiert, jedes Fragment der Sprache als Kunstwerk erscheinen lässt, das im Hinblick auf seinen inneren Sinn und nicht in seinem Verhältnis zum Außersprachlichen betrachtet und bewertet werden muss. Für ihn ist die Sprache nicht Abbild der Welt, sondern eine Welt für sich. 14 <?page no="29"?> 2.6 Literaturhinweise Eva Fiesel: Die Sprachphilosophie der deutschen Romantik. Tübingen. 1927 Die Autorin geht nicht nach Autoren, sondern nach Epochen vor: Frühromantik, Romantik, Nachromantik bis zum Jungen Deutschland. Innerhalb dieser Epochen wird systematisch vorgegangen: Wesen und Bedeutung der Sprache, Ursprung der Sprache usw. usf. Es versteht sich von selbst, dass bei einer solchen Vorgehensweise die einzelnen Autoren ziemlich unsystematisch behandelt werden müssen. Behandelt werden u. a. Herder, Fichte, Jacob Grimm, Hölderlin, Humboldt, Novalis, Friedrich und August Wilhelm Schlegel, Schelling. Pieter A. Verburg: Taal en functionaliteit. Een historisch-critische Studie over de opvattingen aangaande de functies der taal vanaf de prae-humanistische philologie van Orleans tot de rationalistische linguistiek van Bopp. Wageningen 1952. Verburg behandelt Hamann und Herder. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Erster Band: Die Sprache. Berlin: 1923. Nachdruck der 2. Auflage Oxford 1956 (= Gesammelte Werke Bd. 11). Hamburg und Darmstadt 2001. Das Werk behandelt sehr kurz Hamann, Herder, Friedrich Schlegel und - etwas ausführlicher - Wilhelm von Humboldt. Bruno Liebrucks: Sprache und Bewußtsein, Bde. 1 − 5, Frankfurt am Main 1964 - 1966. Bd. 1: behandelt u. a. Hamann und Herder; Bd. 2 Wilhelm von Humboldt; Bd. 5 Hegel. Siegfried J. Schmidt: Sprache und Denken als sprachphilosophisches Problem von Locke bis Wittgenstein. Den Haag 1968. Kann zu Herder und Humboldt herangezogen werden. Hans Georg Gadamer (Hg.): Das Problem der Sprache. Akten des 8. Deutschen Kongresses für Philosophie. München 1967. Enthält Aufsätze zu Humboldt und Hegel. Hans Helmut Christmann: Beiträge zur Geschichte der These vom Weltbild der Sprache. (= Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Abhandlungen der Geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse, Jg. 1966, Nr. 7). Mainz 1967. Die Abhandlung behandelt Hamann, Herder und Humboldt. Theodor Benfey: Geschichte der Sprachwissenschaft und orientalischen Philologie in Deutschland seit dem Anfange des 19. Jahrhunderts mit einem Rückblick auf die früheren Zeiten. München 1869. Nachdruck New York 1965. Behandelt Jacob Grimm, Franz Bopp und Wilhelm von Humboldt. Erich Heintel: „ Sprachphilosophie “ . In: Deutsche Philologie im Aufriß, hrsg. von Wolfgang Stammler. Bd. I 2 1965; Kap. 9 und 10. Zu Hamann, Herder und Humboldt. 15 <?page no="30"?> Hermann Schweppenhäuser: „ Sprachphilosophie “ . In: Fischer Lexikon Philosophie. Hrsg. Alwin Diemer und Ivo Frenzel. Frankfurt am Main 1958, 313 ‒ 327. Enthält knappe Informationen zu Hamann, Herder und Humboldt. Textsammlungen Heinrich F. J. Junker (Hg.): Sprachphilosophisches Lesebuch. Heidelberg 1948. Enthält Texte von Hamann, Herder, Fichte, Schleiermacher, Novalis. Hans Joachim Störig (Hg.): Das Problem des Übersetzens. Darmstadt 3 1973. Enthält Texte von Goethe, Novalis, Schleiermacher, A. W. Schlegel, Humboldt und Schopenhauer. [Nach Abschluss der Vorlesungsreihe ist eine Fülle von Literatur erschienen; Arbeiten zu einzelnen Autoren werden in den entsprechenden Kapiteln nachgewiesen, hier können nur Gesamtdarstellungen erwähnt werden. Heranzuziehen ist in jedem Fall das HSK Handbuch Sprachphilosophie (Dascal et. al. 1992/ 1996), das sich allerdings - abgesehen vom dem Artikel „ Sprachphilosophie der Romantik “ von Helmut Gipper - für die hier behandelte Epoche als wenig ergiebig erweist. Die Anthologie von Tilmann Borsche (= Borsche 1996) enthält Aufsätze zu Hamann, Herder, Kant, Hegel und Humboldt. Einige Einführungen und Textsammlungen, die in Bd. 1 in der Sektion II angeführt werden, können zu diesem Band ebenfalls herangezogen werden. Von ganz besonderer Bedeutung für die hier behandelte Epoche ist das umfangreiche Buch Sprachreflexion der deutschen Frühromantik von Jochen A. Bär (= Bär 1999). Dieses Werk enthält eine reichhaltige Zusammenstellung der Primärtexte in den zur Zeit seines Erscheinens verfügbaren kritischen Ausgaben und darüber hinaus eine überaus umfangreiche Bibliographie der Sekundärliteratur. La philosophie romantique allemande von André Stanguennec (2011) behandelt vor allem Novalis, Friedrich Schlegel und Schleiermacher.] 16 <?page no="31"?> 3 Johann Gottfried Herder (1744 − 1803) Johann Gottfried Herder wurde am 25. August 1744 in einer, wie er es selbst formuliert hat, „ dunklen, aber nicht dürftigen Mittelmäßigkeit “ 9 geboren, genauer gesagt in Mohrungen, einer kleinen, südwestlich von Königsberg gelegenen Stadt im heute polnischen Teil des ehemaligen Ostpreußens. Widerstrebend ertrug er den starren, aber verhältnismäßig soliden Schulunterricht in seiner Heimatstadt, an den er sich erst viel später dankbar erinnerte. Frühzeitig machte er sich im Selbststudium mit der zeitgenössischen deutschen Literatur vertraut und folgte dann 1762 ohne Einwilligung der Eltern, ganz auf sich selbst gestellt, einem durchreisenden Arzt nach Königsberg, um ein Medizinstudium aufzunehmen. Er scheiterte kläglich bereits im anatomischen Praktikum und wandte sich der Theologie zu. Er hörte Vorlesungen beim ‚ vorkritischen ‘ 10 Kant und schloss Freundschaft mit dem vierzehn Jahre älteren ‚ Magus in Norden ‘ Johann Georg Hamann. Schon zwei Jahre später begab er sich nach Riga, um dort eine Stelle als Lehrer und Domprediger anzutreten. Das Völker- und Sprachengemisch im Zentrum des damaligen Livland scheint ihn entscheidend geprägt zu haben. Im Gegensatz zu seinem Lehrer Kant, der zeitlebens nicht über die engere Umgebung Königsbergs hinausgekommen war, hielt es den jungen Herder nicht lange an einem Ort. Schon fünf Jahre später quittierte er den Dienst und trat eine abenteuerliche Schiffsreise nach Nantes an, über die er in seinem postum veröffentlichten Journal meiner Reise im Jahre 1769 berichtet. 11 Nach kürzerem Aufenthalt in Nantes reiste er nach Paris, wo er wahrscheinlich einige bedeutende französische Schriftsteller kennenlernte. 12 Die Begegnung mit Goethe in Straßburg im Jahre 1771 gehört wohl zu den bekanntesten Episoden seines Lebens. Weitere Reisen und Stationen der nächsten Jahre können hier nicht dokumentiert werden; es genügt festzuhalten, dass er in diesen Jahren nicht nur Klopstock, Matthias Claudius und Lessing aufgesucht, sondern auch in Darmstadt seine künftige Frau Caroline Flachsland kennengelernt hat. Auf Betreiben Goethes erhielt er 1776 in Weimar die Stelle eines General- 9 [Brief an Caroline Flachsland vom 20. September 1770, zit. nach: Maria Caroline Herder: Erinnerung aus dem Leben Johann Gottfrieds von Herder. Stuttgart und Tübingen: Cotta, Bd. 1, 162.] 10 [Noch heute bleibt umstritten, ob seine Kantkritik (cf. infra) wirklich als „ metakritisch “ oder nicht doch eher als „ vorkritisch “ anzusehen sei. (cf. Borsche 2006 a)] 11 Herder 2002 [1846; 1878]. 12 [Ein Passus in einem Brief an den Verleger Hartknoch aus Nantes (Oktober 1769): „ Von Voltaire bis Fréron, und von Fontenelle bis Montesquieu und von D ’ Alembert bis zu Rousseau [. . .] habe ich mich herumgeworfen und herumgewälzt “ (Johann Gottfried von Herders Lebensbild. Sein chronologisch geordneter Briefwechsel [. . .]. Herausgegeben von seinem Sohne Dr. Emil Gottfried von Herder. Bd. II, Erlangen, Theodor Bläsing 1840, 80) ist von einigen Biographen im Sinne von persönlichen Begegnungen missverstanden worden. Es handelt sich natürlich um „ Lesebekanntschaften “ .] 17 <?page no="32"?> superintendenten (Pfarrer und Amtsvorsteher des Kirchenkreises), die mit viel Verwaltungsarbeit verbunden war, was er als starke Belastung empfand. Von nun an verlief sein Leben in ruhigeren Bahnen. Eine Reise nach Rom im Jahre 1788 war in äußerlicher Hinsicht das bedeutendste Ereignis der letzten Jahrzehnte seines Lebens. Seine Eindrücke scheinen, seinen Briefen zufolge, weit weniger lebhaft und erfreulich gewesen zu sein als diejenigen Goethes. Die letzten Lebensjahrzehnte waren durch eine Entfremdung gegenüber fast allen Weimarer Zeitgenossen und durch einen Niedergang seiner geistigen Kräfte gekennzeichnet. Seine letzte Energieleistung war die Metakritik der Kritik der reinen Vernunft aus dem Jahre 1799; nicht zuletzt auch eine Replik auf die kritische Rezension, die Kant einst seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1. Teil 1784) gewidmet hatte. Herder ist am 18. Dezember 1803 gestorben. Kant hat ihn um wenige Monate überlebt, aber er war schon seit einiger Zeit nicht mehr in der Lage gewesen, die schriftstellerische Produktion seiner Zeitgenossen zu verfolgen. 3.1 Einführung in das sprachphilosophische Denken Herders Schon in seinen frühen Jahren entwickelte Herder ein ausgeprägtes Interesse für das Eigentümliche der verschiedenen Völker und Kulturen. Besonders eindrucksvolle Zeugnisse dafür sind der „ Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker “ in: Von deutscher Art und Kunst (1773); die Abhandlung Auch eine Philosophie zur Geschichte der Menschheit; Älteste Urkunde des Menschengeschlechts (1774), die Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784/ 85), auf die hier näher eingegangen werden soll und schließlich die zwischen 1774 und 1779 erschienene Volksliedersammlungen (sie wurden postum 1805 unter dem Titel Stimmen der Völker in Liedern publiziert). In seinem Werk gibt es noch eine zweite Konstante, die mit der ersten eng zusammenhängt: Er betrachtet den Menschen nicht nur als ein historisches Wesen, sondern auch als eine Art des Seins, gerade auch in biologischer Hinsicht. Er grenzt die „ Humanität “ ab von der „ Brutalität “ (Tierheit) und „ Angelität “ (dem Wesen der Engel). 13 Die dritte Konstante seines Werkes ist die Sprache - auch sie in engem Zusammenhang mit den beiden ersten. Vor allem die folgenden Schriften werden uns hier beschäftigen: Fragmente über die neuere deutsche Literatur 1767. Abhandlung über den Ursprung der Sprache 1772, abgeschlossen 1770. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit 1784 ‒ 91. Metakritik der Kritik der reinen Vernunft 1799. 14 13 Briefe zur Beförderung der Humanität, 3. Sammlung, 27. Brief. 14 Cf. infra: Literaturhinweise. 18 <?page no="33"?> Die drei Konstanten seines Werkes bildeten für Herder, der die Synthese suchte, letztlich eine einzige These. Heintel meint dazu: Die Sprache ist Herder in stärkerem und umfänglicherem Maße zum Gegenstand der Reflexion geworden als es jemals vor ihm bei einem Denker unserer abendländischen Tradition der Fall gewesen ist. Sein ganzes Bild vom Menschen, seine Lehren von der Stellung dieses Wesens in der Schöpfung überhaupt, in Geschichte und Gemeinschaft sowie Gott gegenüber im besonderen, sind von seiner Auffassung der Sprache her wesentlich mitbestimmt. Sprache ist für ihn ebenso Voraussetzung der „ Humanität “ im Sinne der natürlichen geschöpflichen Bestimmtheit des Tieres Mensch, wie das wichtigste Mittel ( „ Vehiculum “ ) für die Erfüllung der Bestimmung dieses Geschöpfes der „ Tradition und der Bildung “ in seiner Geschichte, und zwar von der Selbstfindung und der Selbstverwirklichung des Einzelindividuums über alle Gemeinschaften, besonders auch über diejenige des Volkes, hin, bis zur „ Humanitas “ als dem hohen Ziel der Menschheit überhaupt. „ Könnte ich nur hier “ , so ruft Herder bezüglich der Sprache aus, „ alle Enden zusammennehmen und mit einmal das Gewebe sichtbar machen, das menschliche Natur heißt: durchaus ein Gewebe zur Sprache. “ (Heintel 1960, XV; der zitierte Abschnitt stammt aus der Abhandlung über den Ursprung der Sprache I, 3) Es gibt keine bessere und genauere Charakterisierung Herders als die Heintels. Allerdings ist es nicht ganz richtig, dass bei niemandem zuvor die Sprache so sehr Gegenstand der Reflexion geworden sei. Bei Vico spielt nämlich die Sprache eine ähnlich wichtige Rolle (cf. Bd. I, 273 ‒ 316). Im Hinblick auf die europäische Kulturgeschichte ist Heintels Feststellung aber zutreffend, weil Vico lange Zeit weitgehend unbekannt geblieben ist. In dieser Charakterisierung finden wir alle für Herders Sprachphilosophie und über Herder hinaus für die Sprachphilosophie der deutschen Romantik charakteristischen Schlagworte und Grundbegriffe: „ Stellung des Menschen in der Schöpfung, in der Geschichte und in der Gemeinschaft “ ; „ Humanität “ , „ Tradition “ ; „ Volk und Menschheit “ . Diese Begriffe deuten zugleich auf die beiden Gebiete hin, auf denen die Sprachphilosophie Herders ihre positiven Leistungen, ihre eindeutig formulierten Ergebnisse zu verzeichnen hat, nämlich die Stellung des Menschen im Universum als „ sprechendes Tier “ und das Gebiet der Kultur und der Kulturtraditionen, das Gebiet der „ nationalen Denkungsarten “ . Im Bereich der Sprache im Allgemeinen (langage) bestimmt Herder die Stellung des Menschen als die des „ sprechenden Tiers “ und zeigt damit auf, wodurch der Mensch gerade kein Tier mehr ist. Er bestimmt den Menschen also wieder so, wie es einst Aristoteles in der Politik getan hatte: der Mensch ist zôon lógon échon (Politik 1253 a). Auf dem Gebiet der Einzelsprachen (langues) behandelt Herder das Gebiet der Kultur und der kulturtragenden Gemeinschaften, der „ nationalen Denkungsarten “ , den Bereich all dessen, wodurch Sprachen und Völker charakterisiert und voneinander abgegrenzt werden. Obschon bei Herder noch andere Aspekte eine Rolle spielen, sind doch von seinen verschiedenen Interpreten, mit Ausnahme Heintels, nur die beiden soeben genannten berücksichtigt worden. 19 <?page no="34"?> Den Gesichtspunkt der Sprache im Allgemeinen und ihrer Bedeutung für die Stellung des Menschen greift - auf vorzügliche Weise vom Standpunkt der modernen Biologie aus - Arnold Gehlen auf in Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (Bonn 5 1955, weitere Aufl.). Bruno Liebrucks hat in seinem monumentalen Werk Sprache und Bewußtsein Gehlens „ Antwort auf Herder “ ausführlich gewürdigt. 15 Hanna Weber stellt dagegen den Gesichtspunkt der langues, d. h. der unterschiedlichen Völker und Sprachen, in den Mittelpunkt. P. Verburg, einer der besten Kenner der Geschichte der Sprachphilosophie, bemerkt, Hanna Weber habe die einzig richtige Frage gestellt, nämlich die Frage nach der Stellung der Sprache im Aufbau der Kultur. 16 P. Verburg weist aber zugleich darauf hin, dass Hanna Weber eine Frage nicht gestellt habe, nämlich die Frage nach der Herkunft der Thesen, die Herder zu einer Synthese führt. Er versucht das Versäumte nachzuholen, indem er folgende Quellen identifiziert (in einigen Fällen werden die niederländischen Originalausdrücke beigefügt): 17 - den ästhetischen Ethizismus (aesthetisch ethicisme) Shaftesburys; - die Einbeziehung (opneming) der Sprache in die Kulturgeschichte durch Vico; - die Erhebung des Griechentums zum allgemeinen Maßstab durch Harris (Harris ’ griekendom-norm); - Diderots Begeisterung für die Nationalsprache und ihren Gebrauch; - Rousseaus Musiksprache und Sprache als Handlung; - die Wiederaufnahme der Merkmalproblematik von Hobbes durch Maupertius (Herders Merkzeichen in der Abhandlung); - die universellen Repräsentationen bei Leibniz. Hier hat man sich allerdings zu fragen, ob Herder all die Autoren, die Verburg nennt, tatsächlich gekannt hat. Dies ist einigermaßen fraglich; es dürfte sich meist um Kenntnisse aus zweiter Hand gehandelt haben, die zu seinem allgemeinen Bildungshintergrund gehörten. In seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache bezieht sich Herder auf Süßmilch, Lambert, Condillac, Diderot, Maupertius und Leibniz (vgl. die entsprechenden Kapitel im 1. Band der Geschichte der Sprachphilosophie). Zu Diderot äußert er sich negativ: Diderot ist in seinem ganzen Briefe „ Sur les sourds & muets “ kaum auf diese Hauptmaterie gekommen [scil. die Bedeutung des Gehörsinns für den Menschen], da er sich nur bei Inversionen und hundert andern Kleinigkeiten aufhält. (Herder 1985, 735, Anm. 18) Die Abhandlung von Maupertius, dem Präsidenten der Berliner Akademie, Sur les différents moyens dont les hommes se sont servis pour exprimer leurs idées (1756) (vgl. Bd. I, 346 f.), ist ihm nur über das Resümee bei Süßmilch bekannt; sein 15 Sprache und Bewußtsein, Bd. I, Frankfurt am Main 1964, 79 − 169. 16 Verburg 1952, 415 f. 17 Vgl. ebenfalls Alexander Gillies: Herder. Oxford 1945. 20 <?page no="35"?> Kommentar ist negativ. Rousseau ist ihm ebenfalls nur zum Teil bekannt. Er kannte zwar den 1755 erschienenen Discours sur l ’ origine et les fondements de l ’ inégalité parmi les hommes, nicht jedoch den Essai sur l ’ origine des langues, der wahrscheinlich unmittelbar nach dem Discours entstand, jedoch erst postum 1782 veröffentlicht wurde (cf. Bd. I, 382). Vico war Herder ebenfalls noch unbekannt. Shaftesbury 18 und Harris werden nicht erwähnt, waren Herder jedoch wahrscheinlich bekannt. Die Übereinstimmungen mit den genannten Autoren können nur zum Teil dem sog. „ Zeitgeist “ zugeschrieben werden. Die Sprache stand damals, abgesehen von Hamann, noch nicht im Mittelpunkt des philosophischen oder kulturellen Interesses. Kant ignoriert das Problem der Sprache, und genau das werfen ihm Hamann und Herder vor. Auch Goethe, der Herder zunächst als ein „ leicht und spatzenmäßiger “ junger Mann erschien, 19 vermochte den Sinn der Reflexion über die Sprache nicht einzusehen, wie er später in seiner Autobiographie anlässlich der Schilderung seiner Begegnung mit Herder in Straßburg eingestand. Die Frage nach dem Ursprung der Sprache schien ihm „ einigermaßen müßig “ (Dichtung und Wahrheit, Teil II, Buch 10). Die Zeit war damals noch nicht reif für eine gründliche Reflexion des Problems der Sprache, und wenn es später in der deutschen Romantik zu einem zentralen Thema werden sollte, so ist dies nicht zuletzt Herders Verdienst. 3.2 Die Sprache als einheitsstiftendes Prinzip im Denken Herders 3.2.1 Allgemeines Drei Schlagworte sind für das Denken Herders charakteristisch: Mensch bzw. Menschheit, Geschichte und Sprache. Diese Leitvorstellungen bilden eine Einheit, die durch die Sprache gestiftet wird. Es geht Herder um den Menschen in zweierlei Hinsicht: um den Menschen als biologisches Wesen, um eine „ biologische Anthropologie “ , nämlich das Verhältnis von Mensch und Tier, um die „ ontologische Differenz “ zwischen Mensch und Tier auf der einen Seite, und, auf der anderen Seite, um den Menschen in der Geschichte, um den Menschen als Angehörigen eines Volks, als Kulturwesen. Für beides gilt die Sprache als Kennzeichen und als Maßstab, als Sprache im Allgemeinen und als Sprache schlechthin (langage). Die Sprache ist Charakteristikum des Menschen gegenüber dem Tier und, wie Herder meint, auch gegenüber den höheren geistigen Wesen, den Engeln. Die Sprache ist Kennzeichen der Humanität gegenüber der „ Brutalität “ (Tierheit) auf der einen und der „ Angelität “ auf der anderen Seite (cf. supra). Andererseits faßt Herder die Sprache auch als historisch determinierte Institution auf, als Einzelsprache (langue). Sie ist das, was die Völker und Nationen voneinander abgrenzt und den Menschen zu einem geschichtlichen Wesen macht. 18 [In Herders Briefen wird Shaftesbury erwähnt.] 19 Heintel 1960, XVI. 21 <?page no="36"?> Die Einheit im Denken Herders ist also durch die Sprache gegeben. Sie ist Kennzeichen für beide Aspekte, unter denen der Mensch betrachtet wird: Mensch Sprache biologische Anthropologie Volk - Geschichte Sprache schlechthin (langage) Einzelsprache Die Sprache rückt somit in beiden Reflexionsbereichen ins Zentrum: - Sprache als Charakteristikum des Menschen im Universum (Stellung des Menschen im Universum) - Sprache in der Geschichte, „ die Stellung der Sprache im Aufbau der Kultur “ 20 Der erste Aspekt wird, wie bereits erwähnt, von Arnold Gehlen charakterisiert und interpretiert; der zweite wird von Hanna Weber behandelt: Zu der Feststellung: Sprache muß Inhalt menschlicher Gedanken sein, kam Herder auf Grund der rein durch Erfahrung gewonnenen Tatsache, daß jede Sprache, die nie die Sprache eines Einzelnen, sondern stets die einer Gesamtheit, einer Nation ist, diese Denkart einer Nation in so vollkommener Weise widerspiegelt, daß sie geradezu diese Nationaldenkart selbst ist. 21 Dieser zweite Aspekt ist bei Herder eng mit seiner Ablehnung der These Süßmilchs vom göttlichen Ursprung der Sprache verbunden (vgl. Bd. I, 346 f.) In der Tat setzt diese These „ für alle Sprachen eine Sprache als Ideal der Vollkommenheit voraus “ . 22 Die Nationalsprachen wären demnach nur Abweichungen von einem Idealtyp. Herder betrachtet hingegen eben diese Eigentümlichkeiten der Nationalsprachen als das „ Normale “ , als den Ausdruck verschiedener „ Nationaldenkungsarten “ . Daraus folgt die These vom menschlichen Ursprung der Sprache. Manche Autoren reduzieren die Leistung Herders auf den zweiten Aspekt. Dies gilt vor allem für die Sprachtheoretiker, von denen Pieter A. Verburg der interessanteste ist (cf. supra). 23 3.2.2 Die Originalität der frühen sprachphilosophischen Synthese Herders Die Charakterisierung der Herderschen Sprachphilosophie durch Erich Heintel, den Wiener Philosophen und Sprachphilosophen, scheint mir die angemessenste zu sein. Sie bezieht sich auf beide Aspekte, die in Herders Schriften überall präsent 20 Cf. Weber 1939, Teil II, cf. Literaturhinweise. 21 ibid., 10. 22 ibid., 11. 23 [Eine englische Übersetzung von Taal en functionaliteit ist 1998 erschienen, cf. Literaturhinweise.] 22 <?page no="37"?> sind. Wie wir noch sehen werden, fügt Heintel aber noch einen dritten Gesichtspunkt hinzu. Wie wir bereits gesehen haben, stellt Verburg Überlegungen hinsichtlich der Traditionen an, die Herder übernommen haben könnte. Nicht alles ist annehmbar, jedoch stimme ich ihm in zwei Punkten zu: Herder bietet eine frühe Synthese der Sprachphilosophie des 18. Jahrhunderts. Die deutsche Forschung verkennt sehr oft diese frühen Ansätze und klammert sie aus ihren Untersuchungen aus. Man geht von der Synthese als Faktum aus und fragt nicht mehr danach, wie sie zustande gekommen war. Darin liegt ein impliziter Vorwurf an die deutsche Forschung. Hier soll auch die Leistung jener gewürdigt werden, die solche Synthesen geschaffen haben. Eine in wissenschaftlicher Hinsicht sinnvolle Synthese besteht nicht nur in der Vereinigung verschiedener Ansätze. Wenn sie über rein zufälligen Eklektizismus hinausgehen soll, so muss sie auch eine Wahl beinhalten: Was soll aufgenommen und was ausgeschlossen werden? Im Hinblick auf Herder bedeutet dies: a) Wichtig ist auch der Hinweis auf das, was er nicht übernimmt, die Themen, zu denen er sich negativ äußert. So gehörte z. B. die Universalgrammatik zu den Traditionen des sprachtheoretischen Denkens im 18. Jahrhundert, sie stellte sogar das Hauptthema dar. Andere Themen waren die Universalität des Französischen oder die kreationistische Theorie vom Ursprung der Sprache, d. h. die Auffassung, dass die Sprache den Menschen von Gott eingegeben worden sei. All dies greift Herder nicht auf und zeigt schon in der Ablehnung dieser Motive Originalität. b) Von „ Synthese “ kann nur die Rede sein, wenn der Wille, eine solche zu bilden, erkennbar ist. Die vor Herder vorhandenen Ansätze sind nur disiecta membra, die für sich noch keine Einheit darstellen. Es ist Herders Absicht, eine solche Einheit zu bilden, und er verwirklicht sie. Er schöpft aus der deutschen, englischen, französischen Tradition und aus weiteren Traditionen und trifft eine Wahl. c) Herders Synthese erfolgte, bevor die „ Ideologen “ (les idéologues), die Philosophen der Französischen Revolution, Einfluss gewinnen konnten. Wenn es einen solchen Einfluss je gegeben hat, so ist er für die Zeit um 1800 anzusetzen und Humboldt wäre unmittelbar betroffen. Bei Herder liegt aber eine viel frühere, schon 1770 entstandene Synthese vor, die Humboldt ebenfalls beeinflusst hat. d) Die Bildung einer Synthese ist keinesfalls mit Nicht-Originalität gleichzusetzen. Eine sinnvolle Synthese strebt nach einer ganz bestimmten Einheit; es gibt ein Zentralmotiv, das die Wahl der Ansätze bestimmt. 24 24 Das gilt nicht nur für Herder, sondern ganz allgemein. So hat man mir vorgeworfen, ich mindere die Bedeutung Saussures, wenn ich einige seiner zentralen Begriffe auf Georg von der Gabelentz zurückführe. Das Gegenteil trifft zu. Saussure ist für mich ein bedeutender Linguist, weil es ihm gelingt, verschiedene Ansätze zu einer Synthese zu führen. In der Kultur ist nämlich das erste die Tradition und erst das zweite die Originalität und das Neue. Wer nur Neues sagt, sagt gar nichts Neues. Vgl. auch Coseriu 1969. 23 <?page no="38"?> Eine allgemeine Ausrichtung des Denkens war bei Herder von Anfang an da, schon bevor er einzelne Ansätze bewusst übernahm. Was Verburg in diesem Zusammenhang nennt, gilt für den ganzen Herder, für die ganze Romantik. Vieles davon war Herder anfänglich noch gar nicht bekannt, aber die Einheit war im Keim schon angelegt. Sie determiniert die weiteren Synthesen und die Übernahme von Motiven. Man darf sich in diesem Zusammenhang nicht auf den sogenannten „ Zeitgeist “ berufen. Herders Motive lagen nicht „ in der Luft “ ; dort findet man keine Ideen. Der Stellenwert gewisser Ansätze in der Kultur der jeweiligen Epoche ist nicht derselbe wie der, den wir ihnen heute zuweisen. Die Sprache stand zur Zeit Herders überhaupt nicht im Zentrum des Interesses. Insofern kommt Herders Synthese ein hohes Maß an Originalität zu. Sie stellt zugleich eine Wende in der philosophischen Anthropologie dar, indem sie die Sprache in das Zentrum der Reflexion rückt, sie zum Schlüssel für das Wesen des Menschen macht. Für Kant ist die Sprache noch kein Problem. Nach Herder ist es nicht mehr möglich, sich nicht auf die Sprache zu beziehen. Vorher war es normal, der Sprache keine Aufmerksamkeit zu schenken. Das Wichtige an dieser Entwicklung besteht darin, dass etwas zum Problem wird, das vorher fraglos hingenommen wurde. Herder fragt nach der Bedeutung der Einzelsprachen, nach dem Zusammenhang von Sprache und Denkart, von Nationalsprache und nationaler Denkart. Es gibt aber bei Herder noch ein anderes Problem, die Stellung des Menschen im Universum, das erst in der Abhandlung über den Ursprung der Sprache thematisiert wird. Beide Gebiete, Sprache schlechthin und Einzelsprache, hängen für ihn eng miteinander zusammen. 3.2.3 Der Sinn der Sprache überhaupt Die beiden Gebiete repräsentieren also so etwas wie Herders „ sprachphilosophische Lehre “ . Aber über diese explizit formulierte Lehre hinaus, tritt - undeutlicher - noch ein anderes Thema in Erscheinung: die Frage nach dem Sinn der Sprache überhaupt. In dieser Frage sieht Herder mehr oder weniger intuitiv das Grundproblem der Sprachphilosophie, aber er stellt sie nicht eindeutig und geht ihr nicht methodisch nach. Es ist eigentlich die Frage nach dem „ zeitlosen Ursprung der Sprache “ , die Herder, wie schon vor ihm Vico, nicht streng von dem glottogonischen Problem trennt. Heintel vergleicht sie mit der transzendentalen Frage Kants nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung: Die Frage lautet nicht: „ welches ist der Inhalt der Erfahrung, wie erfolgt sie? “ , sondern „ wie ist Erfahrung überhaupt möglich, welches sind ihre kategorialen Bedingungen? “ Stellt man die transzendentale Frage als sprachphilosophische Frage, so wird sie zur Frage nach der Vermittlung der Sprache für die Schaffung der menschlichen Welt, nicht der Welt an sich, sondern der Welt, die für den Menschen sinnhaft ist. Durch die Sprache wird nämlich ein Gegenstand nicht einfach als aktuell gegeben aufgefasst, als etwas, das sich links oder rechts von mir befindet, das schwarz, groß oder sonst irgendetwas ist, sondern als ein „ Etwas “ , als ein Baum, Haus, Fluss usw., dessen Eigenschaften damit als bestimmt oder benennbar aufgefasst werden. 24 <?page no="39"?> Die kategoriale Vermittlung der Sprache ist auch dort anwesend, wo ein Gegenstand keinen Namen hat. Wir fragen dann „ Was ist das? “ und setzen dabei ein „ Was “ voraus. Denn jeder Gegenstand ist ein Nennbares. Nicht im Benanntsein, sondern in der Nennbarkeit liegt das Ursprüngliche bei der Erfassung der Welt. Die Welt ist das Nennbare, das, was durch die Sprache gestaltet und benannt werden kann. Ohne die kategoriale Vermittlung der Sprache kann keine Erfahrung, keine gegenständliche Welt als möglich gedacht werden. Heintel zieht zum Vergleich die These Kants heran, dass es ohne Raum und Zeit keine Erfahrungsgegenstände geben könne (1960, XIXff.). Er zitiert in diesem Zusammenhang einen Ausspruch von Hamann: „ Ohne Wort keine Vernunft - keine Welt. “ 25 Heintel möchte darüber hinaus die These Kants mit der These Herders gleichsetzen; es handle sich um die sprachphilosophische Fassung desselben transzendentalphilosophischen Zentralproblems. Die Erkenntnis, dass es sich bei seiner These um das sprachphilosophische Problem katexochen handelt, hat Herder dazu bewogen, von sich selbst zu sagen: „ Kein Mensch hat mehr Anlage zur Philosophie der Sprache als ich. “ 26 Dem würde ich nicht uneingeschränkt zustimmen: Herder hat das Problem nicht eindeutig gestellt und nicht gelöst. Er stellt das Problem im Rahmen seiner Kantkritik und versteht dabei nicht, worum es Kant eigentlich geht. Wichtig sind jedoch in unserem Zusammenhang nicht Herders Lösungen, sondern das Faktum, dass die ihnen vorausgehenden Fragen überhaupt gestellt wurden. 3.2.4 Die drei sprachphilosophischen Problemkreise im Werk Herders Mit der Frage nach dem Sinn der Sprache rückt die Sprachphilosophie zum ersten Mal ins Zentrum der Philosophie schlechthin. Die griechische Philosophie hatte zwar bei der Sprache begonnen, ging dann aber schnell über sie hinweg zu den Gegenständen selbst. Die klassische Erkenntnistheorie stellt das Problem der Vermittlung zwischen Mensch und Welt in einem anderen Rahmen. Nun wird jedoch die Sprache zum Problem der Philosophie schlechthin: Es geht um die Entstehung der Welt des Menschen. Nach Heintel gibt es in Bezug auf die Sprache drei Problemkreise: 1. Sprache und Philosophie: Logos, Weltschöpfung, Menschsein. 2. Sprache und Biologie: (das Tier Mensch und die Sprache). 3. Sprache und Geschichte: Kultur, Tradition, Gemeinschaft. Im Sinne einer (notwendigen) Differenzierung der Frage nach dem Ursprung der Sprache könnten diese drei Hauptprobleme auch folgendermaßen formuliert werden: 1. Sprache und „ Urschöpfung von Sinn “ (Hönigswald) 27 25 Brief an Jacobi am 2. 11. 1783. 26 In: Journal meiner Reise im Jahr 1769, vgl. Herder 2002, 60. 27 Cf. Richard Hönigswald: Philosophie und Sprache. Darmstadt 1970 [Basel 1937], Kap. 2: „ Ursprung “ . 25 <?page no="40"?> 2. Ursprung des Sprache besitzenden Wesens Mensch 3. Sprache als Ursprung und Aktualität aller Kultur (Hegel) 28 Hegel spricht in diesem Zusammenhang von der „ Aktualität der Kultur “ , Herder von der „ Wirklichkeit der Kultur “ . Wirklichkeit bedeutet hier nicht „ Realität “ , sie steht nicht in Zusammenhang mit den res (Sachen). Gemeint ist vielmehr Aktualität, Wirksamkeit im Zusammenhang mit wirken, in actu, in Tätigkeit sein. Wir haben uns nun zu fragen, wo und wie sich diese Fragen in den Werken Herders wiederfinden. Fragmente: Es gibt Ansätze und Motive zu allen drei Problemen. Im Vordergrund steht aber der dritte Problemkreis: Einzelsprache, Eigentümlichkeit, Charakterisierung des Deutschen. Abhandlung über den Ursprung der Sprache: Es geht um die Notwendigkeit der Sprache für den Menschen als Naturgeschöpf, um die Rechtfertigung der Sprache durch seine Sonderstellung im Reich der belebten Wesen. Es steht also das zweite Thema im Mittelpunkt. Es ist aber auch die Bestimmung der Funktion von Sprache im Sinne von Thema 1 gegeben oder vorausgesetzt. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit: Hier geht es um die Stellung der Sprache in der geschichtlichen Welt (Thema 3). Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft: Hier dreht sich alles um die erkenntnistheoretische und kategoriale Bedeutung der Sprache (Problem 1). Diese Problematik wird aber auch in anderen Werken angedeutet. 3.3 Die Behandlung der Sprache in den Fragmenten Nach, diesem Überblick wenden wir uns nun der Behandlung der Sprache in den verschiedenen Werken zu. Wir beginnen mit den Fragmenten über die neuere deutsche Literatur (1767/ 68). 29 Im dritten Fragment aus der ersten Sammlung wird in Abschnitt b „ Ob man einen göttlichen Ursprung annehmen müsse? “ 30 Süßmilchs These vom göttlichen Ursprung der Sprache kritisiert. Aus dieser Kritik lassen sich die Anforderungen ableiten, die Herder an die Sprachphilosophie stellt: - Die Sprachphilosophie muss philologisch sein, d. h. sie muss die Sprache in ihrer konkreten Wirklichkeit betrachten ( „ das wahre Ideal einer Sprache “ ). - Die Sprachphilosophie muss geschichtlich sein; sie muss die Sprache in ihrer Entwicklung betrachten. - Die Sprachphilosophie muss Sprache als Entwicklung der Vernunft und Erzeugnis menschlicher Seelenkräfte erklären. 28 Heintel 1960, XLV. 29 Herder 1985, 161 − 539 (=1. Ausgabe 1767); 541 − 810 (= 2. völlig umgearbeitete Ausgabe 1768). Heintel zitiert aus beiden Ausgaben (vgl. 231). 30 Herder 1985, 605 − 609. 26 <?page no="41"?> Diesen Anforderungen entspricht er selbst in den Fragmenten nicht oder allenfalls teilweise. Versucht man seinen diesbezüglichen Gedankengang zu rekonstruieren und kohärent zu formulieren, so stößt man zwar auf einige Intuitionen, aber auf keine Theorie. So heißt es in dem soeben zitierten Absatz: Kurz! die ganze Hypothese vom göttlichen Ursprung der Sprache, ist wider die Analogie aller menschlichen Erfindungen, wider die Geschichte der Weltbegebenheiten, und wider alle Sprachphilosophie. Sie setzt eine Sprache voraus, die durch Denken ausgebildet, und zum Ideal der Vollkommenheit ausgedacht ist (ein Bild, dass wir uns oft bei allem seinem krüppelhaften doch schön und gesund denken), und bekleidet dies Kind des Eigensinnes, das augenscheinlich ein späteres Geschöpf und ein Werk ganzer Jahrhunderte gewesen, mit den Strahlen Olymps, damit es seine Blöße und Schande decke. [. . .] Über göttliche Produktionen läßt sich gar nicht urteilen und alles Philosophieren darüber κατ’ ἄνθρωπον wird mißlich und unnütz. [. . .] Man lasse mich also einen menschlichen Ursprung der Sprache voraus setzen, sollte es auch nur meiner leidigen Philosophie und des bessern Teilnehmens halber, kurz! meines schwachen Magens wegen sein. (Herder 1985, 607 f.) Diesem Passus liegt die Intuition zugrunde, dass nur menschliche Produkte vom Menschen wirklich erklärt und verstanden werden können. Das erinnert an Giambattista Vicos Prinzip der Identität von verum und factum. Einen Gegenstand versteht derjenige am besten, der im Stande ist, ihn herzustellen, ihn zu „ machen “ . Gewissheit (certum) besteht für den Menschen vor allem, wenn nicht gar ausschließlich, in dem Bereich. in dem verum und factum zusammenfallen, verum et factum convertuntur (cf. Bd. I, 282 f.). Herder betrachtet die Sprache als erste und größte Erfindung des Menschen. Über die Quelle der Sprache kann er aber nichts sagen, was er auch eingesteht: Überdem keine menschliche Erfindung ist auf einmal da, und am wenigsten die erste und größeste aller Erfindungen, die Sprache! Nicht war sie gleich, was sie ward und ist. Denn siehe diesen majestätischen Fluß: er entsprang - aus einer Quelle, die an sich unbekannt geblieben wäre, hätte sie nicht diesen Sohn geboren. Und die Quelle selbst? das ist schwerer! Aus dem Verborgenen quoll sie hervor: entstand nach und nach, ihren Ursprung hat niemand bemerken wollen und man hat gnug, zu erklären, wie sie hat entstehen können. (Herder 1985, 604) In eine nicht-bildhafte Sprache übersetzt bedeutet dies: - Die Sprache ist primär gegenüber anderen Tätigkeiten. - Die Sprache enthält ihr Prinzip in sich selbst und ist nur aus sich selbst zu erklären. - Die Sprache ist, wie alle schöpferischen Tätigkeiten des Menschen, nur von ihrer inneren Kausalität (ihrer Finalität) her zu erklären. In der Bemerkung, die Quelle der Sprache habe niemand bemerken wollen, steckt eine tiefe Einsicht: Die Sprache ist so selbstverständlich gegeben, dass sich ein Nachdenken über sie dem Menschen keineswegs als unmittelbar notwendig aufdrängt. Wir leben schon in der Sprache und verwenden die Sprache als Vermittlerin der Welt, so dass uns das Moment der Vermittlung selbst gewöhnlich 27 <?page no="42"?> entgeht. Das, was wir mit der Sprache meinen, scheint uns wichtig, nicht die Tatsache, dass wir sprechen. Herder hat dafür ein anschauliches Bild gefunden: So wenig die Augen in ihrem natürlichen Zustande, das Werkzeug des Sehens, die Lichtstrahlen deutlich wahrnehmen: ebenso wenig mag vielleicht die Seele das Werkzeug ihrer Gedanken, die Sprache, bis auf ihren Ursprung untersuchen können. (Herder 1985, 179) So wichtig diese Einsicht ist, sie bildet nur den Anfang der Sprachphilosophie und der Philosophie schlechthin; denn es ist Aufgabe der Philosophie, das Selbstverständliche zum Problematischen zu machen. Herder sieht auch, dass es bei der Deutung der Sprache nicht um eine Hypothese im Hinblick auf ein „ Sein-Können “ geht: Nun entwerfe man nach einer philosophischen Heuristik Pläne: wie eine Sache hätte entstehen können, hätte entstehen sollen? Man wird mit allen Grundsätzen a priori ein Tor! Nicht, wie die Sprache entstehen sollte? entstehen konnte? sondern entstanden ist? das ist die Frage! (Herder 1985, 605) Hierin steckt möglicherweise eine Anspielung auf Condillac, der seine Überlegungen zum Ursprung der Sprache ganz bewusst in Form von Hypothesen vorgetragen und dabei das auch von Herder verwendete Bild des „ Romans “ verwendet hatte „ Peut-être prendra-t-on toute cette histoire pour un roman. . . “ 31 Der Titel des dritten Abschnitts der ersten Sammlung der Fragmente lautet: Fragmente über die Bildung einer Sprache: Wo ein Roman von ihren Lebensaltern vorausgeschickt wird. 32 Dieser „ Roman von den Lebensaltern “ geht nicht über das hinaus, was man in anderer Form auch bei Vico, Condillac oder Rousseau finden kann. Schematisch: 1. Kindheit Affektsprache Gefühl 2. Jugend dichterische Sprache Ästhetik 3. männliches Alter Kunstprosa Ästhetik 4. hohes Alter philosophische Sprache Logik Herder erklärt zwar, er wolle Rousseaus Idee eines „ Zustandes der Natur “ nicht übernehmen ‒ „ Ohne nun einen Rousseauschen Zustand der Natur romanhaft zu erdichten, oder das Bild eines werdenden Volks zu übertreiben. . . “ (Herder 1985, 609) - nimmt dann aber dennoch eine Phase der Menschheit an, in dem die Poesie natura ist, und eine weitere (die der prosaischen Sprache), in der sie ars wird. Die Gleichung Sprache = Nation wird zwar behauptet, die Entwicklung der verschiedenen Sprachen, die er nun meist „ Sprachen eines Volkes “ nennt, verläuft jedoch nach einem allgemein gültigen Schema. Herder spricht immer wieder von den Eigentümlichkeiten der Einzelsprache; seine Charakterisierungen der verschiedenen Sprachen gehen jedoch nicht über das hinaus, was man bei Harris oder Priestley findet (cf. Bd. I, 238 ff.; 253 ff.). Mit einer Ausnahme: Dem Deutschen 31 Cf. Bd. I, 367, Fn. 896. 32 [Die „ Titel “ von denen hier und im Folgenden die Rede ist, stammen von Heintel; sie stimmen nicht immer mit den von Herder verwendeten überein. J. A.] 28 <?page no="43"?> widmet er einige schöne Seiten, die nicht nur von literarischem Interesse sind (1. Sammlung 2 „ Über die Eigenheit unserer Sprache “ ). 33 Die „ Lebensalter der Sprachen “ spiegeln die Lebensphasen des Menschen wider. Von der Kindheit heißt es: Eine Sprache in ihrer Kindheit bricht wie ein Kind, einsilbichte, rauhe und hohe Töne hervor. Eine Nation in ihrem ersten wilden Ursprung starret, wie ein Kind, alle Gegenstände an; Schrecken, Furcht und alsdenn Bewunderung sind die Empfindungen, derer beide allein fähig sind, und die Sprache dieser Empfindungen sind Töne, und Geberden. Zu den Tönen sind ihre Werkzeuge noch ungebraucht: folglich sind jene hoch und mächtig an Akzenten; Töne und Gebärden sind Zeichen von Leidenschaften und Empfindungen, folglich sind sie heftig und stark: ihre Sprache spricht für Auge und Ohr, für Sinne und Leidenschaften: sie sind größerer Leidenschaften fähig, weil ihre Lebensart voll Gefahr und Tod und Wildheit ist: sie verstehen also die Sprache der Affekte mehr als wir. . . (Herder 1985, 181 f.) In der frühen Phase habe man es also mit einer Sprache der rein subjektiven Reaktionen zu tun. Zu diesem Alter gehöre in einer zweiten Phase auch die Benennung der Gegenstände für die Herder - wie Vico - auf die φύσει -These in ihrer ursprünglichsten Form, reine Lautmalerei, zurückgreift: . . .man ward mit ihnen [den Gegenständen] vertraut und gab ihnen Namen, Namen, die von der Natur abgezogen waren, und ihr so viel wie möglich im Tönen nachahmten. Bei den Gegenständen fürs Auge mußte die Geberdung noch sehr zu Hülfe kommen, um sich verständlich zu machen, und ihr ganzes Wörterbuch war noch sinnlich. (Herder 1985, 182) Das zweite Alter ist dann das Alter der Metapher, in dem das Sinnliche auch zur Benennung des Nicht-Sinnlichen gebraucht wird (vgl. Vico, Bd. I, 292 ff.); es entspricht dem Zeitalter der Dichter: Das Kind erhob sich zum Jünglinge: die Wildheit senkte sich zur politischen Ruhe: die Lebens- und Denkart legte ihr rauschendes Feuer ab: der Gesang der Sprache floß lieblich von der Zunge herunter [. . .]. Man nahm Begriffe, die nicht sinnlich waren, in die Sprache; man nannte sie aber, wie von selbst zu vermuten ist, mit bekannten sinnlichen Namen. Daher müssen die ersten Sprachen bildervoll und reich an Metaphern gewesen sein. Und dieses jugendliche Sprachalter war bloß das poetische; man sang im gemeinen Leben und der Dichter erhöhete nur seine Akzente in einem für das Ohr gewählten Rhythmus: die Sprache war sinnlich, und reich an kühnen Bildern. Sie war noch ein Ausdruck der Leidenschaft, sie war noch in den Verbindungen ungefesselt. Die Periode fiel auseinander, wie sie wollte. (Herder 1985, 182 f.) Sprache und Dichtung (und auch das Wissen, denn auch das Wissen wird gesungen) sind zu dieser Zeit noch eins. Sie gehören eigentlich noch zur Natur (im Sinne der alten Gegenüberstellung von natura und ars - zugleich eine Gegenüberstellung von spontan und reflektiert. 33 Herder 1985, 570 − 597. 29 <?page no="44"?> Das dritte Alter ist dann eine Epoche der Prosa. Die Dichtung endet nicht als solche, aber sie wird zur „ Kunst “ (ars, τέχνη ); sie wird „ künstlich “ . Mit Schiller könnte man von einem Übergang von der naiven zur sentimentalischen Dichtung sprechen. Allerdings betont Herder nur das Künstliche als solches, die τέχνη , eine spontane oder gewollte Rückkehr zum kindlichen Alter wie bei Vico oder Schiller zieht er nicht in Erwägung: Eine Sprache, in ihrem männlichen Alter, ist nicht eigentlich mehr Poesie; sondern die schöne Prose. Jede hohe Stufe neiget sich wieder zum Abfall, und wenn wir einen Zeitpunkt in der Sprache für den am meisten poetischen annehmen: so muß nach demselben die Dichtkunst sich wieder neigen. Je mehr sie Kunst wird, je mehr entfernet sie sich von der Natur. [. . .] Je mehr man am Perioden künstelt, je mehr die Inversionen abschaffet, je mehr bürgerliche und abstrakte Wörter eingeführet werden, je mehr Regeln die Sprache erhält: desto vollkommener wird sie zwar, aber desto mehr verliert die wahre Poesie. (Herder 1985, 183) Dieses Alter der Sprache ist jedoch für Herder immer noch ein ästhetisches, die ideale Norm, auch für die Prosa, ist immer noch das Schöne, wenn auch eine künstliche Schönheit. Das vierte Alter verzichtet hingegen auf die Schönheit zugunsten von Ordnung und Korrektheit: Das hohe Alter weiß statt Schönheit bloß von Richtigkeit. Diese entzieht ihrem Reichtum, wie die lazedämonische Diät die attische Wollust verbannet. Je mehr die Grammatici den Inversionen Fesseln anlegen, je mehr der Weltweise die Synonymen zu unterscheiden oder wegzuwerfen sucht, je mehr er statt der uneigentlichen eigentliche Worte einführen kann je mehr verlieret die Sprache Reize: aber auch desto weniger wird sie sündigen. Ein Fremder in Sparta siehet keine Unordnungen und keine Ergötzungen. Dies ist das philosophische Zeitalter der Sprache. (Herder 1985, 184) Wie für Condillac und Rousseau und ebenso für Adam Smith geht also auch für Herder ästhetischer Verfall mit logischem Fortschritt einher. Herder stellt ausdrücklich der „ Schönheit “ die „ Vollkommenheit “ gegenüber. Er spricht zwar schlicht von „ Vollkommenheit “ , wenn er „ Mustergültigkeit in logischer Hinsicht “ meint, er gibt aber der dichterischen Sprache den Vorzug, oder zumindest der Sprache in ihrer zweiten, der ästhetischen Periode, der Sprache der Prosa: Man siehet von selbst, daß diese Zeitalter so wenig zu einer Zeit sein können bei der Sprache als bei dem Menschen. Wenn sie zur Poesie am höchsten geschickt ist: so kann sie nicht eine höchst philosophische Sprache sein. So wie Schönheit und Vollkommenheit nicht einerlei ist, so ist auch die schönste und vollkommenste Sprache nicht zu einer Zeit möglich. Die mittlere Größe, die schöne Prose, ist unstreitig der beste Platz, weil man von da aus auf beide Seiten auslenken kann. . . (Herder 1985, 184) Einige Seiten später, nachdem die These vom göttlichen Ursprung der Sprache zurückgewiesen wurde, heißt es dann: „ Dichterisch ist eine Sprache am vollkommensten, ehe sie; und philosophisch am vollkommensten, wenn sie bloß geschrieben wird [. . . ist] “ . (ibid., 251) Diese Wiederaufnahme des Themas von den 30 <?page no="45"?> Lebensaltern der Sprache in den späteren Abschnitten des dritten Fragments der ersten Sammlung unterscheidet sich nur wenig von der ersten. Der einzige Unterschied besteht darin, dass nun „ Kindheit “ und „ Jugend “ in einer einheitlichen Phase zusammengefasst werden: Eine Gesellschaft, die tausend Gefahren ausgesetzt, in unbekannten Gegenden zwischen den Zähnen und Klauen der Tiere und Tiermenschen, der Räuber und Mörder umherirret: wo jeder sich durch einen Freund, wie durch einen Schutzengel seines Lebens sichert, von dem er in einem Augenblick Hülfe erwartet [. . .] - ein Volk, dem also Entsetzen, Furcht, Staunen, Bewunderung wie bei Kindern, die häufigsten Regungen sein müssen: ein solches Volk wird diesen Geist auch seiner Sprache mitteilen, große Leidenschaften mit gewaltsamen Geberden und mächtigen Tönen ankündigen, schleunige Bedürfnisse durch kurze und heftige Akzente des Geschreies melden. . . (Herder 1985, 610) In dieser frühen Phase ist Sprache hauptsächlich Nachahmung des Erfahrenen: So wie es die älteste Schrift ist, seine Gegenstände in Bildern zu malen: so malte auch die erste Sprache: Dinge, die durch Bewegung in die Sinne fielen, dem Ohre: Dinge, die durch das Anschauen begreiflich wurden, dem Auge. [. . .] Die ältesten Sprachen hatten vielen lebenden Ausdruck, wie es die Reste alter und ursprünglicher Sprachen [. . .] bezeugen. (Herder 1985, 611) Sprechen und Singen waren noch nicht unterschieden: Lange Zeit war bei den Alten singen und sprechen [. . .] einerlei. [. . .] Man sprach im gemeinen Leben (und ein anderes gab es noch nicht) die Worte in höherm Ton, daß man nicht bloß lange und kurze Akzente, sondern auch hohe und niedere Silben deutlicher hören ließ. (Herder 1985, 612) Dieser Sprechgesang war, viel stärker als in späterer Zeit, von Gebärden begleitet: Und in diesem Gesang für das Ohr, sprachen noch mit hundert Stimmen Geberdungen und Zeichen für das Auge, daß also die Rede im neueren Verstande Malerei heißt. [. . .] Ich verweise nur darauf, daß [. . .] die Alten weit mehr mit Geberdungen gesprochen und die Rede deklamiert haben, als wir. (Herder 1985, 613) Das Bildhafte ging noch unmittelbar in das Sprechen ein, wovon die lexikalisierten Metaphern und idiomatischen Wendungen Zeugnis ablegen: Bilder wurden so viel möglich, als Bilder eingetragen: und so entstand ein Vorrat von Metaphern, von Idiotismen, von sinnlichen Namen. (Herder 1985, 615) All diese Eigenschaften charakterisieren die dichterische Sprache: . . .man sammle die vorhergehenden Bruchstücke, eine Sprache, voll Bilder und Leidenschaften, − Idiotismen und Pleonasmen - Wortumkehrungen und Eigensinn - die da sang und sich geberdete - für Auge und Ohr malte - was ist sie, wenn etwas Kunst über die kommt? - Nichts anderes und nichts besser als eine poetische Sprache. (ibid.) 31 <?page no="46"?> Offensichtlich identifiziert Herder, wie vor ihm Vico (cf. Bd. I, 294), das poetische Sprechen mit einer Entwicklungsstufe der Sprache überhaupt. Das gilt auch für die späteren Phasen, wie für die Zeit der Prosa, die dem männlichen Alter der Sprache entspricht: Ich komme an die Zeit, da der Jüngling sich zu politischen Sitten und zur bürgerlichen Brauchbarkeit bildet [. . .]. Dies sei das männliche Alter der Sprache, die Zeit der schönen, natürlichen Prose. [. . .] Zween Wege gehen vor mir auseinander: Poesie, die da aufhörte, die einzige Sprache der Schrift, und darf ich kühn mit den Alten sprechen, die Sprache des Lebens zu sein: und auf dem andern Wege: Prose, die jetzt ward, die natürliche Sprache der Schrift ward, weil sie allen die natürliche Sprache des Lebens war. (Herder 1985, 618; 620) Erst in dieser späteren Phase wird die Dichtung zur „ Kunst “ : Er [scil. der erste Weg, cf. supra] giebt die große Untersuchung auf: wie aus der Dichterei Dichtkunst ( ποίησις ) und der Sänger der Natur zum Poeten wurde? [. . .] Wie nach Homerus Gedichten, in denen an Natur nichts mehr zu übertreffen war, allmählich immer mehr Kunst in die Poesie kam? [. . .] Sei die Poesie in allen Zeitaltern, was sie wolle. Seitdem die Prose entstehen mußte, war sie eins nicht mehr: Gesang der Natur. (Herder 1985, 620 f.; 624) Was die philosophische Sprache betrifft, so kommt in den späteren Abschnitten des dritten Fragments etwas Neues hinzu. Die Vorzüge der philosophischen Sprache wie z. B. die Eindeutigkeit des Verhältnisses von Begriff und Benennung werden zwar hervorgehoben: Jeder deutliche Begriff habe hier also nur einen Ausdruck; hätte er mehr, so wären sie überflüssig, unnütz oder schädlich. (Herder 1985, 632) Dennoch wird dieses späte Stadium nicht mehr als das Ideal der Sprache angesehen. Es stellt ihre letzte, aber nicht ihre höchste Entwicklungsstufe dar. In dreifacher Hinsicht nimmt Herder Abstand vom „ philosophischen Zeitalter der Sprache “ : a) Herder identifiziert die philosophische Sprache mit den künstlichen, konstruierten Sprachen: Wenn die Grundsätze die eine Semiotik a priori bestimmt, bei einer wirklichen Sprache wenigstens teilweise anzuwenden wären: so gäben diese Teile zusammen gesetzt eine Sprache der Philosophie. (Herder 631 f.) b) Die philosophische Sprache entspricht seines Erachtens nicht dem üblichen Begriff „ Sprache “ - sie ist keine wirkliche Sprache: Die philosophische Sprache soll ja ein ander Ding sein, als die Sprache für den gemeinen Verstand (sens commun) anders als eine Sprache zum täglichen Umgange, anders als eine zum angenehmen Bücherlesen. Dies alles will sie ja nicht sein, kaum sich mit allen vergleichen, am wenigsten ihnen zur Last fallen. . . (Herder 1985, 636) 32 <?page no="47"?> c) Herder lässt keinen Zweifel daran, dass die philosophische Sprache nicht seinem Sprachideal entspricht: Hier ist nicht von Faßlichkeit, Wohlklang, Anmut, Herzregung, Lesbarkeit usw. die Rede: sondern von intellektualer Vollkommenheit, in welcher Richtigkeit statt Schönheit, die Wahrheit statt Rührung, und Deutlichkeit statt aller Verzierungen ist. Sie sei immer barbarisch, monotonisch, trocken und ohne sinnlichen Reiz - sind diese Mängel in ihr Mittel zu Vollkommenheiten; so übersieht man sie - sind sie selbst Vollkommenheiten; so kann man sie nicht missen und der Weltweise nimmt alsdenn den Namen eines Barbaren, eines simplen und trockenen Kopfes sich so zum Ruhm an, als Sokrates den Namen eines Unwissenden. (ibid., 636 f.) Eine philosophische Sprache hat also den Grund ihrer Vollkommenheit außerhalb ihrer selbst; vollkommen ist sie in Bezug auf das mit ihr Gemeinte, im Hinblick auf ihre Instrumentalität, als Sprache ist sie nicht vollkommen, sondern barbarisch. Als reines Instrument, als Werkzeug (nicht als Werk) ist die philosophische Sprache auch leer, im Gegensatz zur „ Sprache des Lebens “ , die an sich ein Kulturgut ist: Das Land der Kunst ist wie dürrer Sand, aber auf dem Boden der Natur blühet das herrlichste Paradies. (Herder 1985, 639) Dies ist also Herders erste Begründung der Auffassung der Sprache als „ Wirklichkeit “ der Kultur. Das Eigentümliche der Sprachen liegt also nicht nur im Ausdruck - es liegt in den jeweils spezifischen „ Welten von Kenntnissen “ : Wir sind Menschen ehe wir Weltweisen werden: wir haben also schon Denkart und Sprache, ehe wir uns der Philosophie nähern, und beide müssen also zum Grunde liegen, die Sprache des Verstandes, der Vernunft, die Denkart des Lebens, der Spekulation. Und wieviel liegt damit zum Grunde? Muttersprache, der ganze Umfang von Begriffen, die wir mit der Muttermilch einsogen - Muttersprache, die ganze Welt von Känntnissen, die nicht gelehrte Känntnisse sind - Muttersprache, das Feld, auf welchem alle Schriften des guten Verstandes hervor wuchsen - was ist sie also für eine Menge von Ideen! (Herder 1985, 638) Wenn dem so ist, so heißt dies, dass auch die Philosophie bei der gewöhnlichen Sprache ansetzen muss: Ist es wahr, daß alle unsere erworbenen Känntnisse, Ideen und Erfahrungen in der Sprache des Lebens aufbehalten werden, so muß sich aus ihr auch die Philosophie gleichsam entwickeln, und wir fehlen leicht weit ab, wenn man bloß von gewissen gegebenen Punkten der Schulsprache sein Gewebe fortleitet, ohne zu sehen, wo diese Punkte Haltung haben. (Herder 1985, 639) Wir finden bei Herder also zunächst eine Reihe von bereits in anderem Zusammenhang behandelten Themen. Was die Sprachentwicklung und Sprachcharakteristik betrifft, so handelt es sich um eine Art von Synthese von Condillac und Rousseau einerseits und von Harris und Priestley andererseits (vgl. die entsprechenden Kapitel in Bd. I). Dazu kommt jedoch das neue Motiv der jeweils eigenen Sprache, der Muttersprache oder der Nationalsprache als Kultur, nicht als eines bloßen Werkzeugs. 33 <?page no="48"?> Darüber hinaus findet man bei Herder jedoch auch die Forderung nach einer Sprachphilosophie, die Sprache und Denken in ihrer parallelen Entwicklung betrachtet. Diese Forderung leitet sich ab aus der Behauptung (vorerst bleibt es nur eine Behauptung), dass es zwischen Sprache und Denken kein bloßes Nacheinander in dem einen oder dem entgegengesetzten Sinn gebe, sondern dass ein dialektisches Verhältnis zwischen beiden bestehe. Zugleich fordert Herder, die Sprache müsse auf die sog. „ seelischen Kräfte “ des Menschen zurückgeführt und durch ein ihr immanentes Prinzip erklärt werden. Welcher Art diese „ seelischen Kräfte “ und das „ immanente Prinzip “ sind, bleibt vorerst unbestimmt. Herder behauptet nur, dass es so etwas gebe und dass man danach suchen müsse. 3.4 Die Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772) Wir kommen nun zu Herders wichtigstem Beitrag zur Sprachphilosophie. Die Abhandlung über den Ursprung der Sprache ist sein gelungenster Beitrag, auch in technischer Hinsicht. Es ist das eindeutigste, klarste und präziseste Werk und trotz des zuweilen enthusiastischen Tons zugleich das nüchternste. Viele der in den Fragmenten aufscheinenden Motive werden übernommen und in folgerichtiger Reflexion zu einem organischen Ganzen umgebildet. Auch hier gibt es Abschweifungen, doch werden sie - im Gegensatz zu den Fragmenten - meist als solche gekennzeichnet. Abgeschlossen wurde die Arbeit 1770 in Straßburg und 1771 der Berliner Akademie vorgelegt. Herder nahm mit der Abhandlung an einem Preisausschreiben über das Thema teil, ob der Mensch die Sprache erfunden habe und, wenn ja, durch welche Mittel er zu dieser Erfindung gelangt sei. 3.4.1 Die Fragestellung der Preisschrift Im Jahr 1769 stellte die Berliner Akademie der Wissenschaften folgende Preisfrage: En supposant les hommes abandonnés à leurs facultés naturelles, sont-ils en état d ’ inventer le langage? Et par quels moyens parviendront-ils d ’ eux-mêmes à cette invention? On demanderoit une hypothèse qui expliquât la chose clairement et qui satisfît à toutes les difficultés. 34 Obwohl die Frage auf Französisch gestellt wurde, haben sowohl Herder als auch sein Mitbewerber Tiedemann (cf. Bd. I, 347 − 349) in deutscher Sprache geantwortet. Es wurden insgesamt drei Arbeiten vorgelegt. Herder erhielt den ersten Preis. Die Akademie druckte die Schrift 1772. Herder folgt zwar im Plan seiner Abhandlung genau den Fragestellungen der Akademie, inwieweit er jedoch die gestellte Frage tatsächlich behandelt hat, müsste genauer untersucht werden. Formal gesehen vertritt er die These des menschlichen Ursprungs der Sprache, geht dabei aber weit über die einfache Gegenüberstellung „ menschliche Erfindung “ vs. „ Gabe Gottes “ hinaus. Hamann 34 Zit nach Gaier 1988, 75. 34 <?page no="49"?> erklärte in einer seiner Rezensionen der Abhandlung 35 , die Frage der Akademie sei falsch gestellt und sinnlos; Herder habe dies nicht bemerkt (cf. infra Kap. 4) In Wirklichkeit hat er es aber durchaus gesehen. Der Terminus erfinden (inventer) bleibt im Rahmen der Aufklärungsphilosophie. Man stellte sich vor, dass der Mensch zu einem bestimmten Zeitpunkt die Sprache „ erfunden “ haben musste. Hierzu vorerst nur zwei Bemerkungen: a) Herder bleibt zwar bei dem Terminus, versteht aber Sprache nicht als „ Erfindung “ , sondern als ein Schaffen, als eine Art Erleuchtung. Im zweiten Teil wird nach den Mitteln der Erfindung gefragt. Herder spricht hier von schaffen und nicht von erfinden. b) Vom „ Ursprung der Sprache “ spricht Herder zwar auch (und sogar vor allem) in zeitlich-genetischer Hinsicht. Zugleich behandelt er aber auch den sog. „ zeitlosen Ursprung “ der Sprache. Er sagt ausdrücklich, dass Sprache immer wieder entsteht. In diesem „ zeitlosen Ursprung “ , in der Rechtfertigung der Existenz der Sprache, liegt das eigentliche Problem der Sprachphilosophie. Herder trennt die beiden Fragen nicht konsequent, sei es, weil er die Konsequenzen seiner intuitiv getroffenen Unterscheidung nicht wirklich überschaute, sei es, weil er innerhalb des Rahmens der Preisfrage bleiben wollte. Ich neige eher zur ersten Erklärung. Im Rahmen einer philologisch-historischen Untersuchung, bei der die Einzelsprachen in ihrer Vielfältigkeit und ihrer Historizität im Vordergrund stehen, ist es nämlich nicht leicht, den „ zeitlosen Ursprung “ und die Geschichtlichkeit mit einander zu vereinbaren; das eine betrifft die Sprache als Kategorie ( „ das Sprachliche “ ), das andere die Sprache als ein im Laufe der Geschichte entstandenes Kulturprodukt, d. h. das Sprachliche in seiner historischen Objektivierung. Was den „ zeitlosen Ursprung “ betrifft, so muss Herders Ansicht besonders hervorgehoben werden, die Kinder würden ihre Sprache nicht von den Eltern lernen, sondern sie immer wieder neu erfinden: Eltern lehren die Kinder nie Sprache, ohne daß diese nicht immer selbst mit erfänden: jene machen diese nur auf Unterschiede der Sachen, mittels gewisser Wortzeichen, aufmerksam, und so ersetzen sie ihnen nicht etwa, sondern erleichtern und befördern ihnen nur den Gebrauch der Vernunft durch die Sprache. (Herder 1985, 727) Wie schon in den vorangegangenen Abschnitten werden wir zunächst der Fragestellung Herders folgen, indem wir ihn selbst zu Wort kommen lassen. Erst danach werden wir uns fragen, was Herder mit seinen Ausführungen in philosophischer Hinsicht geleistet hat. 3.4.2 Der Übergang vom Tier zum Menschen Die Abhandlung beginnt mit der Versicherung: „ Schon als Tier hat der Mensch Sprache “ (Herder 1985, 695). Herder beginnt mit einer Schilderung der unmittelbaren lautlichen Äußerungen der Gefühle, die anscheinend Tiere und Menschen gemein haben: 35 Hamann 1999 [1951], Bd. 3, 35 − 53. 35 <?page no="50"?> Diese Seufzer, diese Töne sind Sprache: es giebt also eine Sprache der Empfindung, die unmittelbares Naturgesetz ist. Daß der Mensch sie ursprünglich mit den Tieren gemein habe, bezeugen jetzt freilich mehr gewisse Reste, als volle Ausbrüche; allein auch diese Reste sind unwidersprechlich. (Herder 1985, 698) Diese sog. „ Reste “ beruhen auf einem Irrtum, auf weit verbreiteten falschen Vorstellungen von den sog. „ primitiven Sprachen “ , die Herder zu teilen scheint, obgleich sie - wie gleich deutlich werden wird - seinen sonstigen Anschauungen widersprechen). Gemeinsam ist Tieren und Menschen auch die Sprache der „ Rührung “ , der sympathetischen Anteilnahme: Das war gleichsam der letzte, mütterliche Druck, der bildenden Hand der Natur, daß sie allen das Gesetz auf die Welt mitgab: „ empfinde nicht für dich allein, sondern dein Gefühl töne! “ [. . .] Deine Empfindung töne deinem Geschlecht Einartig, und werde also von allen, wie von Einem, mitfühlend vernommen! (Herder 1985, 698) Und einige Seiten später: Da unsre Töne der Natur zum Ausdrucke der Leidenschaft bestimmt sind, so ist ’ s natürlich, daß sie auch die Elemente aller Rührung werden. (Herder 1985, 705) An dieser Stelle ist ein kleiner Exkurs notwendig. Herder vertritt in diesem Zusammenhang die These, dass die Schrift die Vielfalt des Phonischen nicht angemessen wiedergeben könne: Keine einzige lebendigtönende Sprache lässt sich vollständig in Buchstaben bringen und noch weniger in zwanzig Buchstaben [. . .] Welche lebendige Sprache läßt sich ihren Tönen nach aus Bücherbuchstaben lernen? Und welche tote Sprache daher aufwecken? (Herder 1985, 702) Dies gilt natürlich nur für die „ Naturtöne “ , nicht jedoch für die Laute als funktionelle Einheiten der Sprache. Die „ Naturtöne “ (die ἀγράμματοι ψόφοι des Aristoteles; cf. Bd. I, 77) können prinzipiell nicht geschrieben werden, die Sprachlaute dagegen sehr wohl, wenn auch oft große praktische Schwierigkeiten auftreten. Herder unterscheidet an dieser Stelle nicht zwischen der biologischen und der kulturellen Seite der Sprache. Anders als in den Fragmenten vertritt Herder die Auffassung, dass kein Übergang von der Gefühlssprache zur Sprache schlechthin möglich sei. Es bestehe kein quantitativer, sondern ein qualitativer Unterschied. Die menschliche Sprache sei ihrem Wesen nach etwas anderes als die Naturtöne. Es bestehe ein scharfer Unterschied zwischen Tiersprache und menschlicher Sprache: Alle Tiere, bis auf den stummen Fisch tönen ihre Empfindung; deswegen hat doch kein Tier, selbst nicht das vollkommenste, den geringsten, eigentlichen Anfang zu einer menschlichen Sprache. Man bilde und verfeinere und organisiere dieses Geschrei, wie man wolle; wenn kein Verstand dazukommt, diesen Ton mit Absicht zu brauchen: so sehe ich nicht, wie nach dem vorigen Naturgesetze je menschliche, willkürliche Sprache werde? (Herder 1985, 708) 36 <?page no="51"?> Condillac mache die Tiere zu Menschen, Rousseau die Menschen zu Tieren: Condillac und Rousseau mußten über den Sprachursprung irren, weil sie sich über diesen Unterschied so bekannt und verschieden irrten: daß jener die Tiere zu Menschen, und dieser die Menschen zu Tieren machte. Ich muß also etwas weit ausholen. (Herder 1985, 711) Das folgende Schema zeigt den Unterschied der Auffassung Herders gegenüber derjenigen der Aufklärung: Aufklärung Naturtöne Tier Herder Naturtöne philosophische Sprache Mensch philosophische Sprache Kontinuität Sprache Mensch Tier Die Entwicklung der Naturtöne geht nach Herder zwar weiter, die Entwicklung der Sprache ist aber etwas anderes. Aus der von Herder angenommenen biologischen Notwendigkeit der Sprache für den Menschen resultiert das Prinzip der Identität zwischen Sprachbesitz und Menschsein: Und da die Menschen für uns die einzigen Sprachgeschöpfe sind, die wir kennen, und sich eben durch Sprache von allen Tieren unterscheiden: wo finge der Weg der Untersuchung sichrer an, als bei Erfahrungen über den Unterschied der Tiere und der Menschen? (Herder 1985, 711) 3.4.3 Der Mensch als Mängelwesen Für Herder entspringt die menschliche Sprache einer biologischen Notwendigkeit. Worin besteht sie? Er stellt zwei Thesen auf: a) Die These von der Schwäche des Menschen als Tier: Daß der Mensch den Tieren an Stärke und Sicherheit des Instinktes weit nachstehe, ja daß er das, was wir bei so vielen Tiergattungen angeborne Kunstfertigkeiten und Kunstriebe nennen, gar nicht habe, ist gesichert. . . (Herder 1985, 711) b) Die These vom umgekehrten Verhältnis zwischen Fähigkeiten und Wirkungskreis der Tiere: Jedes Tier hat seinen Kreis, in den es von der Geburt an gehört, gleich eintritt, in dem es lebenslang bleibet und stirbt; nun ist es aber sonderbar, daß je schärfer die Sinne 37 <?page no="52"?> der Tiere, und je wunderbarer ihre Kunstwerke sind, desto kleiner ist ihr Kreis: desto einartiger ist ihr Kunstwerk. [. . .] Die Biene in ihrem Korbe, bauet mit der Weisheit, die Egeria ihren Numa nicht lehren konnte; aber außer diesen Zellen und außer ihrem Bestimmungsgeschäft in diesen Zellen ist sie auch nichts. Die Spinne webet mit der Kunst der Minerve; aber alle ihre Kunst ist auch in diesen engen Spinnraum verwebet; das ist ihre Welt! [. . .] Gegenteils. Je vielfacher die Verrichtungen, und Bestimmung der Tiere; je zerstreuter ihre Aufmerksamkeit auf mehrere Gegenstände, je unstäter ihre Lebensart, kurz je größer und vielfältiger ihre Sphäre ist; desto mehr sehen wir ihre Sinnlichkeit sich verteilen und schwächen. (Herder 1985, 712) Damit wird zumindest in Ansätzen die „ biosemiotische “ Theorie Jacob von Uexkülls vorweggenommen, der zufolge die Welt der Tiere (ihre „ Umwelt “ ) durch zwei Systeme beherrscht ist. das Empfindungssystem und das Wirkungssystem. Die Welt einer Species besteht somit aus der Gesamtheit der Wechselwirkungen zwischen diesen beiden Systemen. Die Umwelt der Tiere ist im strengen Sinn „ spezifisch “ , d. h. unterschiedlich für jede species. Herder hat seine These von der Reziprozität von Fähigkeiten und Wirkungskreis der Tiere auf eine einfache Formel gebracht: . . .die Empfindsamkeit, die Fähigkeiten und Kunsttriebe der Tiere nehmen an Stärke und Intensität zu im umgekehrten Verhältnisse der Größe und Mannigfaltigkeit ihres Würkungskreises. (Herder 1985, 713) Anders verhält es sich dagegen beim Menschen: Der Mensch hat keine so einförmige und enge Sphäre, wo nur Eine Arbeit auf ihn warte: - eine Welt von Geschäften und Bestimmungen liegt um ihn - (ibid.) Und daher ist seine Sprache auch etwas ganz anderes als die sog. „ Sprache der Tiere “ : Seine Sinne und Organisation sind nicht auf Eins geschärft: er hat Sinne für alles und natürlich also für jedes Einzelne schwächere und stumpfere Sinne. Seine Seelenkräfte sind über die Welt verbreitet; keine Richtung seiner Vorstellungen auf ein Eins: mithin kein Kunsttrieb, keine Kunstfertigkeit - und, das eine gehört hier näher her, keine Tiersprache. Was ist doch das, was wir [. . .] bei einigen Gattungen Tiersprache nennen, anders, als ein Resultat der Anmerkungen, die ich zusammengereihet? ein dunkles sinnliches Einverständnis einer Tiergattung unter einander über ihre Bestimmung im Kreise ihrer Würkung? Je kleiner also die Sphäre der Tiere ist: desto weniger haben sie Sprache nötig. (ibid.) Der Mensch hingegen in seinem unbegrenzten Wirkungskreis braucht die Sprache. Sie wird ihm nicht mitgegeben, er wird stumm geboren: Ich nehme bei einem neugebornen das Geschrei seiner empfindsamen Maschine aus; sonst ist ’ s stumm; es äußert weder Vorstellungen noch Triebe durch Töne [. . .]; bloß, unter Tiere gestellet, ist ’ s also das verwaisteste Kind der Natur. Nackt und bloß, schwach und dürftig, schüchtern und unbewaffnet. . . (Herder 1985, 715) 38 <?page no="53"?> Deshalb muss der Mensch statt in ihm steckender Instinkte andere Kräfte besitzen, die es ihm erlauben, sich seine Sprache zu schaffen. Als Tier betrachtet ist er das schwächste unter allen Tieren; er muss darum etwas anderes besitzen: Seine Waffe ist die „ Besonnenheit “ . 3.4.4 Der Begriff der „ Besonnenheit “ Der nun folgende zweite Abschnitt des ersten Teils der Abhandlung ist in philosophischer Hinsicht der wichtigste. Er enthält die Bestimmung des Wesens der Sprache und des „ inneren Wortes “ ; die Entstehung der Sprache aus der menschlichen Gabe der „ Besonnenheit “ . Herder geht von den Schwächen des Menschen aus, die in Erscheinung treten, wenn man ihn als Tier betrachtet. Der Mensch besitzt nicht die wunderbare Anpassungsfähigkeit der Tiere an ihren jeweiligen Wirkungskreis, wie z. B. die Bienen, Spinnen oder Ameisen. Man kann jedoch eine Gattung nicht durch ihre Lücken und Mängel charakterisieren, da in der Natur alles seine Vollkommenheit hat. Darum muss man nach einer Eigentümlichkeit (einem „ Charakter “ ) des Menschen suchen, die zugleich seine natürliche Vollkommenheit darstellt und die Ursache für die Mängel ist, die dem Menschen anhaften, wenn man ihn als Tier ansieht. Wenn es gelänge, so Herder, eben diesen „ Charakter “ zu finden, so wäre diese Einstimmung ein genetischer Beweis, daß hier die wahre Richtung der Menschheit liege und daß die Menschengattung über den Tieren nicht an Stufen des Mehr oder Weniger stehe, sondern an Art. (Herder 1985, 716) Der Unterschied zum Tier ist also nicht quantitativer, sondern qualitativer Natur. Der Mensch ist für Herder nicht bloß ein weiterentwickeltes Tier. Wie im Verhältnis von Natursprache und eigentlicher Sprache gibt es auch hier keine Kontinuität. Herder durchbricht das aufklärerische Schema Condillacs. Nicht die Natursprache, z. B. das Schreien, entwickelt sich weiter. Die Natursprache bleibt erhalten, die Sprache im eigentlichen Sinne kommt hinzu. Ebenso bleibt der Mensch in biologischer Hinsicht Tier, es kommt aber etwas hinzu. Das neu Hinzugekommene determiniert das Vorhandene (vgl. Schema): eigentliche Sprache Determination Natursprache Mensch Tier Die Hauptidee besteht darin, dass das Menschsein keine Weiterentwicklung ist, sondern etwas von Anfang an Anderes. Es ist darüber hinaus die Determination dessen, was sich weiterentwickelt durch das neu Hinzukommende. Was das Tier durch das Schreien ausdrückt, das gestaltet der Mensch durch die Sprache. Was das Tier durch seinen Anpassungsmechanismus in seinem Wirkungskreis leistet, wird auch durch den Menschen geleistet. Wenn der Mensch z. B. schwach ist und die 39 <?page no="54"?> Naturkräfte nicht bewältigen kann durch seine biologischen Kräfte, dann baut er sich Instrumente, Werkzeuge, die das leisten können. Der Mensch kann zwar nicht Lasten wie die Ameise tragen, aber er erfindet das Rad und den Wagen und kann dadurch viel größere Lasten als die Ameise bewegen. Ähnliche Gedanken finden sich auch bei Hegel. Das Charakteristikum des Menschen im Universum muss zugleich der Grund für die Entwicklung der Sprache sein, muss dem Instinkt der Tiere entsprechen, muss das Menschsein ausmachen: Und fänden wir in diesem neugefundnen Charakter der Menschheit sogar den notwendigen genetischen Grund zu Entstehung einer Sprache für diese neue Art Geschöpfe, wie wir in den Instinkten der Tiere den unmittelbaren Grund zur Sprache für jede Gattung fanden; so sind wir ganz am Ziele. In diesem Falle würde die Sprache dem Menschen so wesentlich, als - er ein Mensch ist. Man siehet, ich entwickle aus keinen willkürlichen oder gesellschaftlichen Kräften, sondern aus der allgemeinen tierischen Ökonomie. (Herder 1985, 716) Dieses Charakteristikum (Charakter), das den Menschen ausmacht, ist die „ Vernunftmäßigkeit “ , die - was den Gebrauch der menschlichen Sinne gegenüber der Welt betrifft - sich als Freiheit erweist. Sie besteht darin, dass der Mensch nicht an einen bestimmten Wirkungskreis gebunden ist. Diese Vernunftmäßigkeit entspricht sicherlich in gewissem Sinn der alten ratio, die schon seit der Antike mit der Sprache verbunden ist. Ratio beruht in diesem Zusammenhang auf einer ungenauen Übertragung eines Passus aus der Politik von Aristoteles: Der Mensch, das lógos habende Lebewesen (zóon lógon échon; cf. supra 3.1) wurde ins Lateinische mit animal rationale übersetzt. Herder schlägt zunächst versuchsweise für diesen „ Charakter “ des Menschen verschiedene Benennungen vor: „ Verstand, Vernunft, Besinnung “ (cf. infra). Etwas weiter entscheidet er sich dann für Besonnenheit. Sie unterscheidet sich in zweierlei Hinsicht radikal von der traditionellen ratio: Erstens handelt es sich nicht um eine Eigenschaft, die der Mensch gegenüber den Tieren zusätzlich besitzt (etwa: Mensch = Tier + ratio), sondern sie sie stellt ein Ordnungs- und Gestaltungsprinzip für alle Kräfte des Menschen dar. Zweitens ist sie nicht einfach „ Erzeugerin “ der Sprache. Die Sprache ist kein „ Produkt “ der „ Vernunftmäßigkeit “ - ein Produkt unter anderen - sie ist vielmehr ein primärer, wesentlicher Akt der Besonnenheit. Sprache ist Besonnenheit in actu, die Besonnenheit selbst. Die Besonnenheit ist die Wirklichkeit ( „ Aktualität “ ) des Menschseins. Lassen wir zunächst Herder nochmals selbst zu Wort kommen: Man nenne diese ganze Disposition seiner Kräfte wie man wolle, Verstand, Vernunft, Besinnung, Reflexion usw. Wenn man diese Namen nicht für abgesonderte Kräfte oder für bloße Stufenerhöhungen der Tierkräfte annimmt, so gilt ’ s mir gleich. Es ist die ganze Einrichtung aller menschlichen Kräfte; die ganze Haushaltung seiner sinnlichen und erkennenden, seiner erkennenden und wollenden Natur; oder vielmehr - Es ist die Einzige positive Kraft des Denkens, die mit einer gewissen Organisation des Körpers verbunden bei den Menschen so Vernunft heißt, wie sie bei den Tieren Kunstfertigkeit wird, die bei ihm Freiheit heißt, und bei 40 <?page no="55"?> den Tieren Instinkt wird. Der Unterschied ist nicht in Stufen oder Zugabe von Kräften, sondern in einer ganz verschiedenartigen Richtung und Auswickelung aller Kräfte. . . (Herder 1985, 717) Man habe die Vernunft nur deshalb als etwas Hinzugefügtes betrachtet, weil der Mensch nicht alles auf einmal sehen könne und somit aus rein praktischen Gründen zu solchen Abstraktionen genötigt sei. Aus diesem Grund entscheidet sich Herder für den Terminus Besonnenheit, mit dem nicht eine abgetrennte Eigenschaft, sondern die Organisation des Menschlichen insgesamt benannt werden soll. Der Mensch sei ein Geschöpf, das abgetrennt und frei nicht bloß erkennet, will, und würkt, sondern auch weiß, daß es erkenne, wolle und würke. Dies Geschöpf ist der Mensch und diese ganze Disposition seiner Natur wollen wir, um den Verwirrungen mit eignen Vernunftkräften usw. zu entkommen, Besonnenheit nennen. (ibid., 719) Der Mensch tut nicht nur etwas, sondern er weiß auch, dass er es tut. Die Besonnenheit ist also zugleich Bewusstsein und Selbstbewusstsein. Da die Besonnenheit keine hinzugekommene Eigenschaft ist, kann sie auch nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt der Entwicklung in Erscheinung treten. Das aufklärerische Schema wird ein weiteres Mal durchbrochen. Die Vernunft tritt nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt auf den Plan, sie ist etwas Ursprüngliches, das gleichzeitig mit der Entstehung des Menschen auftritt: Ist nemlich die Vernunft keine abgeteilte, einzelwürkende Kraft, sondern eine seiner Gattung eigne Richtung aller Kräfte: so muß der Mensch sie im ersten Zustande haben, da er Mensch ist. (ibid.) Herder sagt aber nicht, ob er eine Mutation in der biologischen Entwicklung oder einen schöpferischen Akt Gottes annimmt. Gegen Rousseaus Begriff der „ réflexion en puissance “ wendet er ein, dass es Reflexion nur in actu geben könne, nicht in potentia. Zunächst stellt Herder zwischen Besonnenheit und Sprache einen Parallelismus auf: Die Sprache ist für den Menschen ebenso charakteristisch wie die Besonnenheit, sie ist die Quelle der Besonnenheit: Der Mensch, in den Zustand von Besonnenheit gesetzt, der ihm eigen ist, und diese Besonnenheit (Reflexion) zum ersten Mal frei würkend, hat Sprache erfunden. (ibid., 723) Daraufhin geht Herder zu einer inhaltlichen und materialen Bestimmung der Besonnenheit über, die er bisher nur äußerlich und formal identifiziert hatte als das, was für den Menschen charakteristisch ist. Was ist nun diese Besonnenheit in actu? Es ist das „ innere Wort “ , das „ Wort der Seele “ , die distinktive, merkmalbestimmende und namengebende Erkenntnis. 3.4.5 Der Akt der namengebenden Erkenntnis Bei dieser Erkenntnis geht es nicht um die bloße Wahrnehmung der Eigenschaften eines Gegenstandes (die im Fall von individuellen Gegenständen unendlich sind), 41 <?page no="56"?> sondern um das Erfassen von unterscheidenden Eigenschaften, „ Merkmalen “ , durch die der Gegenstand als eine Art des Seins wiedererkannt werden kann. Es ist der Akt, bei dem der Gegenstand getrennt von einer oder mehreren seiner Eigenschaften gedacht wird, wobei die Eigenschaften dem Gegenstand als das ihn Unterscheidende und Identifizierende zugeschrieben werden. Es ist der Akt der ursprünglichen, abgrenzenden Prädikation, die Analyse und Synthese zugleich ist. Sprachlich müssen wir sie in der Form „ Das ist das, was x hat bzw. tut “ ausdrücken. In der Intuition geht es jedoch um die Identifizierung und Benennung von x zugleich. Der Gegenstand wird gesehen als Bündel von Eigenschaften. Eine bestimmte Eigenschaft wird von diesem Bündel abgetrennt und dabei im gleichen Akt als charakteristisch diesem Gegenstand wieder zugeschrieben, d. h. Analyse und Synthese, Erkenntnis und Anerkennung, Identifizierung und abgrenzende Prädikation sind in einem einheitlichen Akt vereinigt. x Diesen Akt betrachtet Herder als sprachlich; die Identifizierung eines Merkmals ist schon Namengebung: . . .wodurch geschahe die Anerkennung? Durch ein Merkmal, was er absondern mußte, und was, als Merkmal der Besinnung, deutlich in ihn fiel. Wohlan! lasset uns ihm das εὕρηκα zurufen! Dies Erste Merkmal der Besinnung war Wort der Seele! Mit ihm ist die menschliche Sprache erfunden! (Herder 1985, 723) Herder führt hier das Beispiel des Schafs an, das in keiner Darstellung seiner Sprachphilosophie fehlen darf. Eine Eigenschaft wird als die erkannt oder gesetzt, durch die das Schaf identifiziert wird, etwa das Blöken: Das Schaf kommt wieder. Weiß, sanft, wollicht ‒ sie [die Seele] sieht, tastet, besinnet sich, sucht Merkmal - es blöckt und nun erkennt sies wieder! „ Ha! Du bist das Blöckende! “ fühlt sie innerlich, sie hat es menschlich erkannt, da sies deutlich, das ist mit einem Merkmal erkennet und nennet. (ibid) Das Merkmal ist also das tertium comparationis der Erkenntnis, das die Verbindung zwischen Erkennendem und Erkanntem stiftet und darüber hinaus auch das tertium comparationis, das man benötigt, um Gegenstände voneinander abzugrenzen. Für Herder ist es auch Merkwort: Mit einem Merkmal also? und was war das anders als ein innerliches Merkwort? Der Schall des Blöckens von einer menschlichen Seele als Kennzeichen des Schafes wahrgenommen, ward, kraft dieser Bestimmung Name des Schafs, [. . .] Er erkannte das Schaf am Blöcken, es war gefaßtes Zeichen, bei welchem sich die Seele an eine Idee deutlich besann - Was ist das anders als Wort? (ibid., 224) 42 <?page no="57"?> Das Blöken, als Merkmal gedacht, wird Name. Das Merkmal muss nicht mitgeteilt werden. Die merkmalidentifizierende Erkenntnis ist schon Sprache. Sie kennzeichnet den Übergang vom Gegenstand zum Begriff, vom Individuum zur species. Nach dieser Bestimmung der Sprache unternimmt Herder eine Kritik der anderen Theorien über den Ursprung der Sprache. Die meisten, die sich damit beschäftigt haben, hätten ihn dort gesucht, wo man ihn nicht finden konnte. Die physiologischen Theorien könnten nicht erklären, warum der Orang-Utan bei sehr ähnlichen Sprechwerkzeugen keine Sprache hat; Lautnachahmung finde man auch bei Affen oder Amseln, aber keine Sprache. Laute der Leidenschaft gebe es auch bei den Tieren. Die Theorie, die in der Sprache ein Produkt eines „ Einvertrags “ sehen will, beachte nicht, dass Konventionen schon Sprache voraussetzen; das habe bereits Rousseau sehr wohl gesehen. Im Übrigen setze die Sprache das Vorhandsein des Anderen nicht notwendig voraus: . . .der Wilde, der Einsame im Walde hätte Sprache für sich selbst erfinden müssen; hätte er sie auch nie geredet. Sie war Einverständnis seiner Seele mit sich, und ein so notwendiges Einverständnis, als der Mensch Mensch war. Wenns andern unbegreiflich war, wie eine menschliche Seele hat Sprache erfinden können, so ist ’ s mir unbegreiflich, wie eine menschliche Seele, was sie ist, sein konnte, ohne eben dadurch, schon ohne Mund und Gesellschaft, sich Sprache erfinden zu müssen. (ibid., 725) Besonders eindringlich nimmt Herder nochmals gegen Süßmilchs These vom göttlichen Ursprung der Sprache Stellung. Hier würden Sprache und Vernunft getrennt. Beide Vorstellungen, ein Mensch, der Vernunft besitze und dann von Gott die Gabe der Sprache zusätzlich erhalte, oder ein Mensch, der noch keine Vernunft besitze, weil dazu ja Sprache notwendig sei, aber dennoch bereits Mensch sei, seien widersinnig. Vernunft - Sprache - Mensch - Sein müssen für ihn zusammenfallen. Dazu kommt noch, dass Süßmilch eine ratio in potentia annimmt, die es für Herder nicht geben kann, genau so wenig, wie eine „ Erfindung der Sprache “ im strengen Sinn (cf. supra): Wenn er [Süßmilch] nun folgert: Kein Mensch kann sich selbst Sprache erfunden haben, weil schon zur Erfindung der Sprache Vernunft gehöret, folglich schon Sprache hätte da sein müssen ehe sie da war: so halte ich den ewigen Kreisel an, besehe ihn recht und nun sagt er ganz was andres: Ratio et Oratio! Wenn keine Vernunft dem Menschen ohne Sprache möglich war: wohl! so ist die Erfindung dieser dem Menschen so natürlich, so alt, so ursprünglich, so charakteristisch, als der Gebrauch jener. (ibid., 727) 3.4.6 Der Mensch schafft die Sprache Dass die menschliche Sprache keine „ Erfindung “ sein könne, ist kein neues Argument. Wichtiger ist Herders weitgehende Identifizierung von „ Sprache lernen “ und „ Sprache schaffen “ . Ein Lernen, das nicht zugleich ein Schaffen ist, ist aber unmöglich. Die Kinder lernen die Sprache nicht eigentlich von den Eltern, sie werden vielmehr dazu gebracht, die Sprache zu erfinden. Dass ein Wort ein Wort ist, kann das Kind nicht lernen. Es muss es in sich selbst finden (cf. supra 3.4.1). 43 <?page no="58"?> Kinder schaffen die Sprache. Dies ist eine der tiefsten Intuitionen Herders. Sie wurde u. a. von Humboldt, von Georg von der Gabelentz und von Benedetto Croce wieder aufgenommen. Dies gilt nicht bloß für die Sprache, sondern für alle geistigen Tätigkeiten des Menschen, Kunst, Religion, Wissenschaft, Philosophie. Es handelt sich um ein im Grunde offensichtliches Faktum, das jedoch entweder übersehen oder nicht richtig verstanden wird. Natürlich lernt man eine Sprache, wenn dies auch nicht in Form einer reinen Reproduktion des Vorgefundenen, sondern als Aneignung eines offenen Systems geschieht. Aber man kann nicht lernen, dass eine Sprache Sprache ist. Ein Universale kann man nicht erlernen. Dass etwas sinnlich Wahrnehmbares für etwas anderes steht, dass es Zeichen ist, muss schöpferisch erfasst werden. Bedeutung findet man nicht im Materiellen der Sprache. Vergleichbares gilt für die Kunst, die man ebenso wenig durch die Wahrnehmung ihrer materiellen Manifestation erfassen kann. Natürlich kann im Falle der Kunst, Religion, der Wissenschaft und der Philosophie die Sprache dabei helfen, das Universale zu vermitteln. Für die Sprache selbst, die primäre Vermittlerin, gibt es keine solche Vermittlung. Zur Vermittlung der Sprache gibt es nur die Sprache selbst. Die Gleichzeitigkeit des Erscheinens von sprachlichen Zeichen und gewissen Gegenständen, Sachverhalten und Situationen, auf die moderne Theorien die Spracherlernung zurückführen möchten, ist für den primären Akt des Verstehens der Sprache als Sprache völlig bedeutungslos. Dadurch kann das Zeichenhafte selbst, die Möglichkeit des Zeichen-Seins, nicht erfasst werden. Ohne die Intuition der Sprache werden Zeichen nur als Anzeichen für bestimmte Phänomene verstanden. Sie bleiben immer Anzeichen für etwas, werden nie zu Namen von etwas. Herder bemerkt in diesem Zusammenhang völlig richtig, dass Tiere nie die Sprache als Sprache verstehen. Ein Hund „ versteht “ , wie man so sagt, Wörter und Befehle, aber gerade nicht als Wörter, sondern als Anzeichen und Gebärden, die mit gewissen Handlungen verbunden sind. Manche Tiere können auch menschliche Laute erstaunlich gut nachahmen, aber eben nur als Laute. Ein Wort besteht aber nicht aus Lauten, die man nachahmen kann. Es muss innerlich als Zeichen angenommen werden. Am Ende des zweiten Abschnitts des ersten Teils der Abhandlung, kommt Herder ganz kurz auf ein Problem zu sprechen, das er nicht wirklich behandelt: „ . . .wie weit kann man ohne - was muß man mit der Sprache denken? “ (Herder 1985, 732) Gibt es ein Denken ohne Sprache und wenn ja, um welche Art des Denkens handelt es sich dabei? Dieses Problem beschäftigt uns noch heute. Man kann die Frage folgendermaßen beantworten: Ein nicht-begriffliches Denken, die bloße Vorstellung, kann ohne Sprache erfolgen. Man kann in Situationen handeln und sich selbst in Situationen vorstellen (einschließlich des Handelns in der Situation) - theoretisch ohne Sprache. Man kann sich ein Schaf vorstellen, aber nicht das Schaf. Dass dies alles in praxi nicht ohne Sprache erfolgt, liegt daran, dass die Sprache das Menschliche vollständig durchdringt. Die Sprache ist das äußere Charakteristikum des Menschen: Hier sei es gnug die Sprache als den würklichen Unterscheidungscharakter unsrer Gattung von außen zu bemerken, wie es die Vernunft von innen ist. (Herder 1985, 732 f.) 44 <?page no="59"?> Diese Intuition kommt auch im Wortschatz verschiedener Sprachen zum Ausdruck: In mehr als einer Sprache hat also auch Wort, und Vernunft, Begriff und Wort, Sprache und Ursache einen Namen, und diese Synonymie enthält ihren ganzen genetischen Ursprung. [. . .] Sie [die Morgenländer] nennen den Menschen das redende Tier und die unvernünftigen Tiere die Stummen: der Ausdruck ist sinnlich charakteristisch: und das griechische ἄλογος fasset beides. (ibid., 733) Die Sprache ist das Organ des Verstandes - nicht das Instrument, mit dessen Hilfe der Verstand operiert, sondern die Instanz, durch die er in Erscheinung tritt (cf. ibid., 732). 3.4.7 Der Sinn des sprachlichen Zeichens Der letzte Abschnitt des ersten Teils ist mit „ die tönende Natur “ überschrieben. Er ist in philosophischer Hinsicht weniger interessant als in ideologischer. Es geht hier um die Sprache als lautliches Phänomen - soweit ich informiert bin, sowohl in der Sprachphilosophie als auch in der Sprachwissenschaft zum damaligen Zeitpunkt ein Unikum. Es geht bei Herder nicht nur um ein rein technisches, sondern durchaus auch um ein philosophisches Problem; denn es soll der lautliche Charakter der Sprache gerechtfertigt, sein Sinn erklärt werden. Die Wissenschaft im Allgemeinen, in diesem Fall die Sprachwissenschaft, nimmt diesen lautlichen Charakter als gegeben hin und untersucht das Wie der lautlichen Organisation der Sprache. Die Sprachphilosophie hingegen stellt das Gegebene zur Diskussion und fragt: Warum ist die materielle Seite der Sprache gerade lautlicher Natur, worin liegt der Sinn des lautlichen Charakters der Sprache? (Cf. Bd. I, 3 − 7) Bisher war es Herder vornehmlich um das „ innere Wort “ gegangen, nun wird das „ äußere Wort “ behandelt. In Bezug auf die Sprache stellen sich in diesem Zusammenhang zwei Fragen: Erstens: Warum gibt es überhaupt äußere Zeichen? Und zweitens: Warum sind diese äußeren Zeichen gerade lautlicher Natur? Die erste Frage wurde schon von Thomas von Aquin gestellt und beantwortet, und zwar durch den Hinweis auf die gesellschaftliche Verfassung des Menschen: Wäre der Mensch kein animal naturaliter politicum et sociale, dann würden ihm die inneren Vorgänge genügen, er bräuchte sich nicht zu äußern. Da der Mensch aber animal naturaliter politicum et sociale ist, muss er sich äußern, Zeichen für andere schaffen (cf. Bd I, 152 f.). Dies ist auch die Antwort Herders; sie wird allerdings nur durch eine kurze Behauptung am Ende des vorangehenden Abschnitts angedeutet. Für Herder ist bereits das innere Wort dialogisch, Sprechen mit anderen: Ich kann nicht den ersten menschlichen Gedanken denken [. . .], ohne daß ich in meiner Seele dialogiere [. . .]. Das erste Merkmal, was ich erfasse, ist Merkwort für mich und Mitteilungswort für andre! (ibid., 733) Ausführlich behandelt Herder das zweite Problem, die Frage, warum die Menschen Lautzeichen verwenden. Er argumentiert folgendermaßen: 45 <?page no="60"?> Es sei durchaus denkbar, dass die Sprache auch nicht-lautlicher Natur sein könne. Die Ausbildung der Artikulationsorgane, die in neueren Theorien eine große Rolle spielt, zieht er nicht in Betracht; denn sie ist auch bei anderen Primaten gegeben. Herder versucht, die Frage auf eine „ natürliche “ Weise anzugehen, von der Natur des Lautlichen und von der Natur des Gehörs her. Der Laut lässt sich leichter als Merkmal eines Gegenstandes vom Gegenstand selbst trennen als andere Sinneseindrücke. Denn das Tönen ist keine ständige Eigenschaft der meisten Gegenstände. Der Ton erscheint als etwas, das der Gegenstand tut, als Handlung, die von ihm getrennt werden kann. So kann z. B. das Blöken vom Schaf getrennt werden: Alle Merkmale sind fein verflochten, nebeneinander - alle noch unaussprechlich! Wer kann Gestalten reden? Wer kann Farben tönen? Er [der Mensch] nimmt das Schaf unter seine tastende Hand - Das Gefühl ist sicherer und voller; aber so voll, so dunkel ineinander - Wer kann, was er fühlt sagen? Aber horch! das Schaf blöcket! Da reißt sich ein Merkmal von der Leinwand des Farbenbildes, worin so wenig zu unterscheiden war, von selbst los: ist tief und deutlich in die Seele gedrungen. „ Ha! sagt der lernende Unmündige wie jener Blindgewesene Cheselden ’ s 36 : „ Nun werde ich dich wiedererkennen - Du blöckst! “ Die Turteltaube girrt! der Hund bellt! Da sind drei Worte, weil er drei deutliche Ideen versuchte, diese in seine Logik, jene in sein Wörterbuch [einzutragen]. (ibid., 734) Es ist eine besondere Form der φύσει -These, die Herder hier vertritt: . . .der Mensch erfand sich selbst Sprache! - aus Tönen lebender Natur! - zu Merkmalen seines herrschenden Verstandes! (ibid., 736) Im Zusammenhang mit seinen Ausführungen zur Synästhesie wendet er sich dann sogar ausdrücklich gegen die These vom „ willkürlichen “ (arbiträren) Charakter der Wörter: Nur mag mans nicht übel nehmen, daß ich in diesem Falle das Wort willkürlich nicht begreife. Eine Sprache willkürlich und ohne allen Grund der Wahl aus dem Gehirn zu erfinden, ist wenigstens für eine menschliche Seele, die zu allem einen, wenn auch nur einigen Grund haben will, solch eine Qual, als für den Körper sich zu Tode streicheln zu lassen. (ibid., 743) Die authentische These vom willkürlichen Charakter der sprachlichen Zeichen ist allerdings anders zu interpretieren, Herder wird ihr nicht wirklich gerecht. Die These, dass das Verhältnis zwischen Namen und Ding nicht kausal bestimmt sei, impliziert nicht, dass die Namengeber keinerlei Motive für ihre Tätigkeit gehabt hätten, dass sie wirklich „ willkürlich “ vorgegangen seien. Schon Aristoteles hatte darauf hingewiesen, dass man statt äußerer Gründe innere Gründe annehmen müsse, m. a. W., dass man das Verhältnis nur finalistisch interpretieren dürfe. Unter einigen anderen ist ihm auch Christian Wolff in diesem Punkt gefolgt (cf. Bd. I, 72 ff., 317 ff.). So kann das Blöken des Schafes erst dann als Wort, als Zeichen angesehen werden, wenn es zum einem „ Symbol “ geworden ist. 36 [Englischer Anatom (1688 − 1752).] 46 <?page no="61"?> Herder argumentiert nun nicht nur von der Natur des Lautlichen, sondern auch von der Natur des Gehörs her. In diesem Zusammenhang entwickelt er eine recht interessante These. Das Gehör sei als mittlerer Sinn zwischen dem Tastsinn und dem Gesichtssinn einzuordnen. Der Tastsinn sei ein stumpfer Sinn, er könne nur wenige mögliche Merkmale unterscheiden (z. B. glatt vs. rauh). So liefere er nur wenige Merkmale für die vielen Gegenstände der Welt. Beim Gesichtssinn sei es gerade umgekehrt: Das Sehen vermittle zu viele Merkmale, und von diesen seien kaum welche vom Gegenstand abtrennbar. Das Gehör unterscheide dagegen nicht gar zu viele und dazu trennbare Merkmale. Darum seien die Laute für die äußerliche Sprache gewählt worden. Die äußere Sprache beginnt als Uminterpretation der Naturtöne selbst. Sie setzt bei den Gegenständen an, bei denen dies möglich ist, weil sie mit Schallereignissen verbunden sind. Wie verhält es sich aber nun bei der nichttönenden Erfahrung? Wie aus Tönen zu Merkmalen vom Verstande geprägt, Worte wurden, war sehr begreiflich; aber nicht alle Gegenstände tönen, woher nun für die Merkworte, bei denen die Seele sie nenne? woher dem Menschen die Kunst, was nicht Schall ist in Schall zu verwandeln? Was hat die Farbe, die Rundheit mit dem Namen gemein, der aus ihr so entstehe, wie der Name Blöcken aus dem Schafe? (ibid., 742 f.) Hier beruft sich Herder auf die Theorie der Synästhesie der Sinne, auf die Analogie der Sinne: Die verschiedenen Arten des Empfindens hängen nicht objektiv, sondern subjektiv miteinander zusammen: Wie hängt Gesicht und Gehör, Farbe und Wort, Duft und Ton zusammen? Nicht unter sich in den Gegenständen, aber was sind denn diese Eigenschaften in den Gegenständen? Sie sind bloß sinnliche Empfindungen in uns, und als solche fließen sie nicht alle in eins? Wir sind ein denkendes sensorium commune, nur von verschiedenen Seiten berührt - Da liegt die Erklärung. Allen Sinnen liegt ein Gefühl zum Grunde, und dies gibt den verschiedenartigsten Sensationen schon ein so inniges, starkes, unaussprechliches Band, daß aus dieser Verbindung die sonderbarsten Erscheinungen entstehen. Mir ist mehr als ein Beispiel bekannt, da Personen natürlich, vielleicht aus einem Eindruck der Kindheit, nicht anders konnten, als unmittelbar durch eine schnelle Anwandelung mit diesem Schall jene Farbe, mit dieser Erscheinung jenes ganz verschiedene dunkle Gefühl verbinden. . . (ibid., 743 f.) Man vergleiche Bedeutungsgegensätze wie spitz vs. stumpf oder hell vs. dunkel mit den entsprechenden Lautformen, durch die sie ausgedrückt werden. In Kollokationen wie ein dunkles Gefühl, ein dumpfer Schall, un cri aigu findet man die Spuren dieses synästhetischen Empfindens. Herder bemüht in diesem Zusammenhang das Beispiel des Blitzes: Der Blitz schallet nicht: wenn er nun aber ausgedrückt werden soll, dieser Bote der Mitternacht! [. . .] natürlich wirds ein Wort machen, das durch Hülfe eines Mittelgefühls dem Ohr die Empfindung des Urplötzlichschnellen gibt, die das Auge hatte - Blitz! (ibid., 746) 47 <?page no="62"?> Damit hat Herder auch das äußere Wort gerechtfertigt - in seinem Lautcharakter. Die „ Hauptbemerkung “ , die sich an diese Überlegungen anschließt, kann gleichzeitig als Ergebnis des gesamten Abschnitts gelten: Da der Mensch bloß durch das Gehör die Sprache der lehrenden Natur empfängt, und ohne das die Sprache nicht erfinden kann: so ist Gehör auf gewisse Weise der mittlere seiner Sinne, die eigentliche Tür zur Seele, und das Verbindungsband der übrigen Sinne geworden. (ibid.) Was er sonst noch vorbringt, ist entweder Korollar oder nochmalige Bestätigung dieser Schlussfolgerung, so z. B., dass in der „ tönenden Natur “ der Ursprung sowohl der Mythologie als auch der Dichtung zu suchen sei. Daraus folge auch, was „ so viele Alten sagen und so viele Neuere ohne Sinn nachgesagt [haben] “ , „ daß nämlich Poesie älter gewesen als Prosa “ (Herder 1985, 740). Ein Vergleich mit Vico drängt sich geradezu auf, zumindest was das Ergebnis, nicht jedoch was die Prämissen betrifft (cf. Bd. I, Kap. 16, insb. 308 ff.). Es geht nicht um die bloße Nachahmung der Naturtöne als solcher, auch nicht um eine Weiterentwicklung des „ Geschreis der Empfindung “ wie u. a. bei Condillac und Rousseau, es geht um den Menschen, der in materieller Hinsicht zwar die Naturtöne wiedergibt, diese jedoch als „ Merkmale der Dinge “ , als Wörter gebraucht (cf. ibid., 742). Zur Bestätigung seiner Schlussfolgerung versucht Herder Spuren des ursprünglichen Sprechens in den Sprachen zu finden. Dazu muss er natürlich eine Art von Chronologie aufstellen, er muss gewisse Sprachen für urtümlicher als andere halten, wie dies vor und nach ihm viele andere ebenfalls getan haben: Ich gehe [. . .] zu beweisen [. . .]: Je älter und je ursprünglicher die Sprachen sind, desto mehr wird diese Analogie der Sinne in ihren Wurzeln merklich. (Herder 1983, 750 f.) Bemerkenswert ist dabei, dass er viele weniger bekannte Sprachen heranzieht und dass er oft versucht, auf dem Wege einer „ übergenauen “ Übersetzung genau wiederzugeben, was in diesen Sprachen eigentlich gesagt wird. Damit wird er zum Wegbereiter des Sprachdenkens deutscher Romantiker und insb. Wilhelm von Humboldts, der auf der Grundlage dieses Vorgehens seine Theorie der „ inneren Form “ und der grammatischen Form überhaupt entwickeln wird. Man stößt auf eine Menge von Ideen, Feststellungen und Deutungen, die man z. T. noch bei Wilhelm Wundt findet oder die bis heute zum Gemeingut sprachphilosophischer Überzeugungen gehören. Dazu gehört z. B. seine Überzeugung, die bis heute von den meisten geteilt wird, dass die Entwicklung der Sprachen vom Gefühl zum rationalen Ausdruck, vom Konkreten zum Abstrakten verlaufe. Die frühen Stadien sind noch nicht wohlgeordnet. Dies äußere sich vor allem in ihrem Reichtum an Synonymen: Je ursprünglicher eine Sprache ist, je häufiger solche Gefühle sich in ihr durchkreuzen, desto weniger können diese sich genau und logisch untergeordnet sein. Die Sprache ist reich an Synonymen: bei aller wesentlichen Dürftigkeit hat sie den größten unnötigen Überfluss. (ibid., 755) 48 <?page no="63"?> Die berühmten Beispiele für eine Unzahl von Synonymen für Gegenstände, die in einer bestimmten Kultur eine große Rolle spielen, dürfen in diesem Zusammenhang natürlich nicht fehlen, so z. B. die fünfzig Wörter, die die Araber für den Löwen, die zweihundert, die sie für die Schlange und die tausend, die sie angeblich für das Schwert haben sollen. (ibid., 756) 3.4.8 Die Entwicklung der Grammatik Herder vertritt wie viele andere auch die Auffassung, dass mit der Entwicklung der Sprachen eine Differenzierung und Bereicherung ihrer Grammatik einhergehe: ursprüngliche Sprachen hätte noch wenig „ Grammatik “ . . . .da jede Grammatik nur eine Philosophie über die Sprache, und eine Methode ihres Gebrauchs ist: so muß, je ursprünglicher die Sprache, desto weniger Grammatik in ihr sein. . . (Herder 1985, 762) Bei Humboldt wird dieser Auffassung eine besondere Bedeutung zukommen. Bei August Schleicher gerät sie schließlich zu einem starren Raster, nach dem der Grad der Sprachentwicklung und der typologische Status beurteilt werden. Einige Einzelheiten der Herderschen Auffassung sollen hier besonders hervorgehoben werden. Er vertritt die These, dass das Verb die ursprüngliche Wortart und beim Verb wiederum das Präteritum das ursprüngliche Tempus sei. Dem liegt eine sehr wichtige Intuition zugrunde. Denn mit der Ursprünglichkeit des Verbs könnte man eine Theorie des Sprechens und eine syntaktische Theorie beginnen. Das erste, worüber man spricht, sind nicht Gegenstände, sondern Vorgänge oder Handlungen. Ursprünglich ist ein Vorgang, dem noch kein Agens zugeschrieben wird: In diesem Sinne sind die unpersönlichen Verben die ursprünglichsten. Erst mit der Entwicklung des Nomens kommen Konstruktionsmöglichkeiten des Verbs hinzu, die wir heute intransitiv, transitiv usw. nennen. Die postulierte Ursprünglichkeit des Präteritums hängt zusammen mit der Auffassung, dass Sprache Erkenntnis sei. Die Erkenntnis ist nun aber an das Gedächtnis und damit an das Vergangene gebunden. Das Schaf wird nicht in der Form Du bist das Blökende erkannt, sondern in der Form: Ach ja, du warst das Blökende (mit diesem Merkmal habe ich dich in Erinnerung). In der Gegenwart gibt es Empfindung, für die Zukunft gibt es Erwartung oder Hoffnung, in Bezug auf die Vergangenheit aber Erkenntnis. Die Problematik taucht bereits bei Aristoteles auf, so z. B. in der Abhandlung De memoria et reminiscentia (Über Gedächtnis und Erinnerung) in den Parva naturalia. Sie hat dort aber noch keinen Bezug zur Sprachphilosophie. In seinen Confessiones (11, 20) spricht Augustinus von der Einteilung der Zeit. Im Bewusstsein gebe es eine Kopräsenz der Zeitabschnitte, eine Art „ Dreiheit in der Seele “ . Nur die Gegenwart „ ist “ ; darüber hinaus gebe es eine „ Gegenwart vom Vergangenen “ und eine „ Gegenwart vom Künftigen “ . Die Vergangenheit erscheine als memoria (Erinnerung), die Gegenwart als contuitus (Anblick, Augenschein), die Zukunft als expectatio (Erwartung). In der Moderne taucht die Problematik auf in Heideggers Sein und Zeit (cf. Kap. 3, § 65) sowie bei dem italienischen Philosophen Pantaleo Carabellese, der der Vergangenheit das Erkennen (conoscere), 49 <?page no="64"?> der Gegenwart das Empfinden (sentire) und der Zukunft das Wollen (volere) zuweist. Herder geht es jedoch nicht in erster Linie um die Einteilung der Zeit, sondern um die Bestätigung des menschlichen Ursprungs der Sprache. Die Sprache ist für ihn nicht rationale Konstruktion, sondern unmittelbare Manifestation der Besonnenheit. Bei der rationalen Konstruktion einer Sprache (in der Logik und Philosophie) wäre etwas anderes zu erwarten. Man würde zuerst das Substantiv schaffen, als Subjekt einer Aussage, und die Gegenwart, als typisches Tempus der logischen Aussage. Wäre der Erfinder der Sprache göttlich, so wäre es ebenso: Gott tritt als Philosoph auf. Herder hat hier eine wichtige und entwicklungsfähige Intuition, ihre Bedeutung gewinnt sie aber - wie auch in anderen Fällen - erst in ganz anderen Zusammenhängen. Der Abschnitt endet mit Überlegungen zum „ Fortgang der Sprache durch die Vernunft und der Vernunft durch die Sprache “ (Herder 1985, 766). Herder bringt jedoch fast nur Beispiele für die Weiterentwicklung der Sprache durch die Vernunft: Erfindung der Schrift, Gedichte (als Kunstformen), durch die „ Silbenmaße, Wahl der stärksten Wörter und Farben, Ordnung und Schwung der Bilder “ gefördert werden; die Geschichte, die zur „ Unterscheidung der Zeiten “ und zu „ Genauigkeit des Ausdrucks “ nötigt, und schließlich „ die Redner “ , durch die „ die völlige Rundung der Periode “ in die Sprache gebracht wird (ibid.). Diese Ausführungen sind m. E. anders aufzufassen, nicht als Fortschritt der Sprachen, sondern als Dialektik zwischen Sprache und Denken - Herder unterscheidet oft nicht zwischen Sprache und Sprachen. Ich selbst habe mich bemüht, diese dialektische Entwicklung zu begründen: Die Sprache enthält - auf der Ebene der Intuition - die Ausgangspunkte für die Formen des Denkens. Das wissenschaftliche Denken setzt bei der Sprache an, entwickelt die Ansätze weiter und gibt in einem späteren Stadium die Ergebnisse dieser Ausarbeitung in Form von Terminologie an die Sprache zurück. 37 3.4.9 Der zweite Teil der Abhandlung: die „ Mittel “ der menschlichen Spracherfindung Der zweite Teil der Abhandlung ist in philosophischer Hinsicht weit schwächer. Herder versucht hier offensichtlich, der gegliederten Fragestellung der Akademie gerecht zu werden. Wenn, wie Herder dargelegt hat, die Sprache mit dem Menschsein zusammenfällt, dann ist die Frage nach den „ Mitteln “ (moyens) ihrer Erfindung eigentlich sinnlos. Die Frage wird im Rahmen der aufklärerischen Konzeption der „ Konstruktion “ der Sprache gestellt. Am Ende des ersten Teils hatte Herder eine andere Formulierung gewählt. Er schickt sich an zu zeigen, unter welchen „ Umständen “ der Mensch die Sprache „ am füglichsten habe erfinden können “ . Es geht ihm aber eigentlich nicht um Erfindung, sondern um Entwicklung. Und damit bleibt er einer anderen aufklärerischen Idee verhaftet, der Idee des „ Fortschritts “ , der allmählichen Vervollkommnung der Sprache. Das bleibt als ungelöster Widerspruch in seinem Denken. Fortschritt kann es nur in der Technik 37 Vgl. u. a. Coseriu 1987. 50 <?page no="65"?> geben, in quantitativer Hinsicht, nicht hinsichtlich der Kategorie, in qualitativer Hinsicht. Anders ausgedrückt: Man kann nur eine Sprache perfektionieren, nicht die Kategorie „ Sprache “ , die als Kategorie etwas Absolutes ist - sie kann nicht in höherem Maße Sprache werden. Ebenso verhält es sich mit der Kunst: „ Fortschritt “ gibt es im rein Technischen, nicht in der Kategorie „ Kunst “ . Die spätere Dichtung ist nicht „ dichterischer “ als die frühere. Herder weiß das im Grunde, wie noch zu zeigen sein wird. Herder nimmt vier „ Naturgesetze “ an, denen er jeweils sprachliche Korollare zuordnet: Erstes Naturgesetz: Das Gesetz der freien Entwicklung: „ Der Mensch ist ein freidenkendes, tätiges Wesen, dessen Kräfte in Progression fortwürken “ ; darum sei er ein Geschöpf der Sprache. (Herder 1985, 769) Der Sinn der Sprache wird schon vom ersten Menschen bei der Bildung des ersten Gedankens erfasst: Wenn es nun bewiesen ist, daß nicht die mindeste Handlung seines Verstandes, ohne Merkwort, geschehen konnte: so war auch das erste Moment der Besinnung, Moment zu innerer Entstehung der Sprache. (ibid., 770) Zwar erkennt Herder, dass der Mensch sich immer im Werden befindet ( „ immer in Entwicklung, im Fortgange, in Vervollkommnung “ (ibid., 773)). Aber das bedeutet zunächst nur, dass er immer neue Erfahrungen sammelt, dass er ständig lernt, dass er als Individuum und im Kollektiv immer mehr Wissen ansammelt. Doch in diesem Zusammenhang blitzt bei Herder eine wichtigere Intuition auf: Der Mensch ist nicht einfach, er wird. Mensch-Sein heißt Mensch-Werden. Die „ Kräfte in Progression “ , von denen eingangs die Rede war, bedeuten nur „ Weiterbildung “ des von Anfang an vorhandenen, nicht die Entstehung von etwas kategorial Neuem. Die aufklärerische These von der stetigen Vervollkommnung der Sprache, kann Herder nicht bestätigen, und gerade darin liegt seine Kohärenz. Wäre es ihm gelungen, so wäre er in einen Widerspruch zu seiner eigenen These über Mensch- Sein und Sprache geraten. Zweites Naturgesetz: Das Gesetz der Sozialität: Der Mensch ist in seiner Bestimmung ein Geschöpf der Herde, der Gesellschaft: die Fortbildung einer Sprache wird ihm also natürlich, wesentlich, notwendig. (ibid., 783) Die theoretischen Grundlagen für die Sozialität der Sprache wurden schon im ersten Teil gelegt, und zwar mit der These, dass das Merkmal einerseits Merkwort, aber zugleich auch Mitteilungswort für andere ist (cf. supra 3.4.7). Damit soll die konkrete Grundlage für die Sozialität der Sprachen, für die Bindung jeder Sprache an eine historische Gemeinschaft gelegt werden. Diese Grundlage besteht in der Sozialität des Menschen, in seiner Bindung an eine Gruppe. Gemäß seinem Denkschema will Herder auch diese Bindung aus natürlichen Bedingungen ableiten. Er gibt nochmals zahlreiche Beispiele für die biologische Schwäche des Menschen in der Natur, die ein Leben in der Gemeinschaft notwendig macht: 51 <?page no="66"?> Der Mensch ist ein schwächeres Tier, was in mehrern Himmelsgegenden sehr übel den Jahreszeiten ausgesetzt wäre: das menschliche Weib hat also als Schwangere, als Gebärerin, einer gesellschaftlichen Hülfe mehr nötig als der Strauß, der seine Eier in die Wüste legt. (ibid.) Somit ist die eigentliche Existenz des Menschen eine gesellschaftliche: Kein einzelner Mensch ist für sich da; er ist in das Ganze des Geschlechts eingeschoben, er ist nur Eins für die fortgehende Folge. (ibid., 785) Damit hänge auch die Sprache zusammen; denn die Erziehung des Individuums zu einem Teilhaber an der Tradition der menschlichen Gemeinschaft - zunächst der kleinen Gemeinschaft der Familie - erfolge durch die Sprache: . . .da der Unterricht der eigenen Seele, der Ideenkreis der Elternsprache ist: so wird die Fortbildung des menschlichen Unterrichts durch den Geist der Familie, durch den die Natur das ganze Geschlecht verknüpft hat, auch Fortbildung der Sprache. (ibid., 786) Es handelt sich dabei nicht um einen Zwang, sondern um die Möglichkeit der Entfaltung, die dem Individuum geboten wird. Die Sprache wird ihm nicht aufgezwungen, sie wird ihm gewissermaßen als erster menschlicher Wert zur Verfügung gestellt: Unsre Muttersprache war ja zugleich die erste Welt, die wir sahen, die ersten Empfindungen, die wir fühlten, die erste Würksamkeit und Freude, die wir genossen! Die Nebenideen von Ort und Zeit, von Liebe und Haß, von Freude und Tätigkeit [. . .] wird alles mit verewigt. . . (ibid., 787) Mit der Übernahme der gemeinschaftlichen Sprache erfolgt gleichzeitig die Übernahme der gemeinschaftlichen Traditionen: Und welcher Schatz ist Familiensprache für ein werdendes Geschlecht! Fast in allen kleinen Nationen aller Weltteile [. . .] sind Lieder von ihren Vätern, Gesänge von den Taten ihrer Vorfahren der Schatz ihrer Sprache, und Geschichte, und Dichtkunst; ihre Weisheit und ihre Aufmunterung. . . (ibid., 791) Die Erlernung einer Sprache schließt im Übrigen die individuelle Sprachschöpfung keineswegs aus. Eine Sprache ist nach Herder nur zum Teil ausgebildet, zum anderen Teil in ständiger Entwicklung. Herder behandelt das Problem vom Gesichtspunkt der Einzelsprachen aus, nicht von dem des sprachschöpferischen Individuums. Genau das tut auch die moderne Linguistik, die die Sprachschöpfung primär als Sprachwandel wahrnimmt. Drittes Naturgesetz: Das Gesetz der Aufgliederung der Menschheit in Nationen: So wie das ganze menschliche Geschlecht unmöglich Eine Herde bleiben konnte: so konnte es auch nicht Eine Sprache behalten. Es wird also eine Bildung verschiedener Nationalsprachen [notwendig]. (ibid., 791) In diesem Abschnitt lässt sich ein Widerspruch zwischen Differenzierung und Vereinheitlichung bei der Schilderung der Entstehung von Nationalsprachen 52 <?page no="67"?> feststellen. Einerseits geht es um eine einheitliche Sprache, die sich in verschiedene Einzelsprachen aufspaltet, andererseits um eine große Zahl von Familien - oder gar individuellen Sprachen, die sich durch allmähliche gegenseitige Anpassung zu Volkssprachen vereinen. Die oben wiedergegebene Formulierung des „ dritten Naturgesetzes “ entspricht der ersten Auffassung. All das, was über die Sprache der Familie ausgesagt wird, würde eher für die zweite Annahme sprechen. Herder bemerkt in diesem Zusammenhang ausdrücklich, dass kein Individuum genau die gleiche Sprache spricht: So wenig als es zween Menschen ganz von einerlei Gestalt und Gesichtszügen; so wenig kann es zwo Sprachen, auch nur der Aussprache nach, im Munde zweier Menschen geben, die doch nur eine Sprache wären. (ibid., 792) Die übrigen Argumente entsprechen jedoch eher der ersten Annahme, Herausbildung von Einzelsprachen im Verlauf des Sprachwandels durch fortschreitende Differenzierung. Diese Annahme wird auch heute noch in der Linguistik privilegiert, obwohl die Geschichte großer Kultursprachen wie des Lateinischen oder des Französischen in vielen Punkten eher für die Vereinheitlichungsthese sprechen. Den Sprachwandel führt Herder auf Klima, geographische Gegebenheiten, soziales Milieu und weitere Faktoren dieser Art zurück. Wenig entwickelte Sprachen verändern sich schneller als alte Kultursprachen: Je lebendiger eine Sprache; je näher sie ihrem Ursprunge, und also noch in den Zeiten der Jugend und des Wachstums ist: desto veränderlicher. Ist sie nur in Büchern da, wo sie nach Regeln gelernt, nur in Wissenschaften und nicht im lebendigen Umgange gebraucht wird, wo sie ihre bestimmte Zahl von Gegenständen und von Anwendungen hat, wo also ihr Wörterbuch geschlossen, ihre Grammatik geregelt, ihre Sphäre fixiert ist - eine solche Sprache kann noch eher im Merklichen unverändert bleiben. . . (ibid., 793) Der Sprachwandel als solcher genügt Herder jedoch nicht, um die Herausbildung von Einzelsprachen zu erklären. Für ihn muss dabei auch Konkurrenzdenken und gegenseitige kollektive Abneigung im Spiel sein: Tun wir einen Blick in die lebendige, würksame Welt, so sind Triebfedern da, die die Verschiedenheit der Sprache unter den nahen Völkern sehr natürlich veranlassen müssen [. . .] der Grund von dieser Verschiedenheit so naher, kleiner Völker in Sprache, Denk- und Lebensart ist - gegenseitiger Familien und Nationalhaß. (ibid., 792) Das, was Mitglieder einer Gemeinschaft miteinander verbindet, trenne sie gleichzeitig von anderen Gemeinschaften - Eintracht und Zwietracht speisen sich aus derselben Quelle: Dieselbe Familienneigung, die, in sich selbst gekehret, Stärke der Eintracht Eines Stammes gab, macht, außer sich gekehrt, gegen ein andres Geschlecht, Stärke der Zwietracht, Familienhaß: dort zogs viele zu Einem desto fester zusammen; hier machts aus zwei Parteien gleich Feinde. (ibid., 796) 53 <?page no="68"?> Der Fremdling, so Herder, sei immer schlechter als wir, in einigen Sprachen seien „ Fremder “ und „ Feind “ synonym (vgl z. B. lat. hostis). Das mag ein „ natürlicher “ Grund für Sprachverschiedenheit sein; es ist dennoch merkwürdig, dass Herder ihn anführt. Das hängt mit den erwähnten Widersprüchen in seiner Argumentation zusammen. Den eigentlichen Grund hat er anderenorts angegeben: er liegt im Sprachwandel, der auffälligsten Manifestation des schöpferischen Charakters der Sprache. Und unter diesem Gesichtspunkt stellt sich die Frage nach der Sprachverschiedenheit nicht als Problem der Aufgliederung einer einheitlichen Ursprache in Nationalsprachen, sondern umgekehrt als Problem der Vereinheitlichung der Sprechweise von Individuen zu Einzelsprachen. Viertes Naturgesetz: Das Gesetz der Einheit des Menschengeschlechts So wie nach aller Wahrscheinlichkeit das menschliche Geschlecht Ein progressives Ganze von Einem Ursprunge in Einer großen Haushaltung ausmacht: so auch alle Sprachen, und mit ihnen die ganze Kette der Bildung. (ibid., 799) Der Einheit des Menschengeschlechts, so sollte man annehmen, müsste eine ideelle Einheit der Sprache entsprechen. Für Herder bedeutet dies zweierlei: einerseits Monogenese der Sprachen, andererseits fortschreitende ( „ progressive “ ) Vereinheitlichung, Einheit durch gegenseitigen Einfluss. Für die Monogenese spreche die ideelle Einheit der Grammatik der verschiedenen Sprachen. Herder ist davon überzeugt, dass alle Grammatiken einem Typus entsprechen, mit Ausnahme des Chinesischen. Diese Idee wird von Humboldt wieder aufgenommen werden. Die progressive Annäherung vollzieht sich durch die Überlieferung von Volk zu Volk. So gibt es eine Tradition, die vom Griechischen zum Lateinischen und weiter zum Deutschen führt. Der Einfluss des Lateinischen auf das Deutsche wird nun plötzlich positiv bewertet. In den Fragmenten war das noch ganz anders. Dort hatte Herder behauptet, der römische Einfluss habe die Echtheit des Deutschen verdorben, durch ihn habe die deutsche Sprache ihre alte Stärke verloren: Wäre Deutschland bloß von der Hand der Zeit, an dem Faden seiner eignen Kultur fortgeleitet: unstreitig wäre unsere Denkart arm, eingeschränkt; aber unserem Boden treu, ein Urbild ihrer selbst, nicht so mißgestaltet und zerschlagen (Dritte Sammlung; Herder 1985, 376 f.) In der Abhandlung ist Herder weit entfernt von diesem naiv nationalistischen Ton. Es ist nicht gerechtfertigt, in ihm eine der Quellen des deutschen Chauvinismus zu sehen. 38 Er kann für beides, für Nationalismus und für Internationalismus herhalten: Ist denn diese so bewunderte Sprache die Sprache des Ursprungs? Oder nicht schon das Kind ganzer Jahrhunderte, und vieler Nationen? Siehe! an diesem großen 38 [Cf. Trabant 2006, 263: „ Dies [Herders Beitrag] ist eine durchaus neue Philosophie der Sprache. Dies ist eine Theorie der Sprache, die in interessanter Nähe - und in ebenso interessanter Ferne - zu Chomskys Sprachauffassung steht. Dies ist kein nationalistischer Sprach-Relativismus. “ ] 54 <?page no="69"?> Gebäude haben Nationen, und Weltteile und Zeitalter gebaut. . . (ibid., Herder 1983, 807) Wenn er in einem Punkt konsequent ist, so in seiner entschiedenen Ablehnung der These vom göttlichen Ursprung der Sprache. Am Ende seiner Beweisführung wagt er sogar, diese These als „ Unsinn “ : zu bezeichnen: Oder endlich die höhere Hypothese sagt gar: [. . .] Ja ich sehe in der Sprache und im Wesen der Gottheit die Ursache deutlich, warum keiner als Gott sie erfinden konnte. Nun bekäme zwar der Schluß Folge, aber nun wird er auch der gräßlichste Unsinn. (ibid., 808) Schließlich sei die These vom göttlichen Ursprung auch alles andere als fromm, denn sie verkleinere Gott, indem sie ihn anthropomorphisiere: Der höhere Ursprung ist, so fromm er scheine, durchaus ungöttlich: bei jedem Schritte verkleinert er Gott durch die niedrigsten, unvollkommensten Anthropomorphien. Der menschliche zeigt Gott im größten Lichte: sein Werk, eine menschliche Seele, durch sich selbst eine Sprache schaffend [. . .] Der Ursprung der Sprache wird also nur auf eine würdige Art göttlich, sofern er menschlich ist. . . (ibid., 809) Das Geheimnisvolle sei nicht die aus dem Mensch-Sein zu erklärende Sprache, sondern das Mensch-Sein selbst. Diese Behauptung erlaubt es Herder, in den Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit von der Sprache als einer „ Gabe Gottes “ zu sprechen, ohne in Widerspruch mit sich selbst zu geraten. 3.5 Sprache und Kultur in den Ideen zu einer Philosophie der Geschichte Wir kommen nun zum dritten Problemkreis, zum Thema Sprache und Kultur, Sprache und Geschichte. Schon in den Fragmenten gab es Ansätze in dieser Richtung. Dort findet sich vor allem die Gleichsetzung von „ Nationalsprache “ und „ nationaler Denkungsart “ ; der Begriff der Muttersprache wird besonders hervor gehoben. Die Sprache als Einzelsprache wird als Grundlage und als „ Organ “ der Erkenntnis angesehen: . . .und diese ersten Wörter, die wir lallen, sind die Grundsteine aller unserer Erkänntnis. Bei allen sinnlichen Begriffen, bei den einfachen und Erfahrungsideen verhält sich „ der Ausdruck zum Gedanken wie die Haut zum Körper “ . [. . .] Da nun auf diesem Wege die menschliche Erkänntnis fortschreitet, mittelst Sachen zugleich Worte zu lernen, so möchten zweitens alle die Gegenstände des Lebens, die ich sinnlich klar unterscheide, ohne mir des unterscheidenden Merkmals deutlich bewußt zu sein, noch den Gedanken mit dem Ausdruck paaren. (Herder 1985, 395) In den Ideen zu einer Philosophie der Geschichte wird insbesondere dieses Problem behandelt. Wir finden noch dieselbe Auffassung, jedoch auf der höheren Ebene der philosophischen Anthropologie und der Philosophie der Geschichte. In sprachphilosophischer Hinsicht geht es um die anthropologische Bedeutung der 55 <?page no="70"?> Sprache, oder, wie Heintel sich ausdrückt, um den „ systematische[n] Ort der Sprache in Herders Menschenbild “ (Heintel 1960, 161). Die Grundlage bildet die Idee der Kontinuität von Natur und Kultur bzw. Geschichte, zwischen dem biologischen und dem geschichtlichen Leben. Das alles war bereits in der Abhandlung vom Ursprung der Sprache angelegt. Zugleich geht es um eine Analogie der beiden Welten, um das innere Gesetz der progressiven Entwicklung. In der Natur führt es zum Menschen, bis zum In-Erscheinung-Treten von Vernunft und Freiheit. Der Mensch ist „ der erste Freigelassene der Schöpfung “ . In der Geschichte geht es um die progressive Entwicklung des Menschen in der Verwirklichung seiner Humanität. Hier stößt man wiederum auf eine Analogie zwischen Herder und Vico; vielleicht besteht auch ein historischer Zusammenhang. Beide, Herder und Vico, unternehmen hier den Versuch, die geschichtliche Welt zu interpretieren, ihre Gesetze und Ordnungen festzustellen. Die Analogie geht aber nicht über die Problemstellung als solche hinaus. Für Vico gibt es keineswegs nur Fortschritt in der Geschichte. Die Geschichte wird bei Vico von den Menschen gemacht. Sie ist daher immer problematisch, auch kontradiktorisch. Die Freiheit ist für Vico eigentlich Freiheit in einer eigenen Welt. Für Herder gibt es zwar Kontradiktion in einzelnen Aspekten, dort wo gegensätzliche Kräfte miteinander kämpfen. Es gibt aber keine Kontradiktion in der Geschichte als ganzer. Denn diese folgt einem notwendigen göttlichen Plan. Die Ordnung ist im Voraus schon festgelegt, der Fortschritt des Menschengeschlechts notwendig. Was ist nun die Freiheit in einer solchen Welt? Nicht die Freiheit, Geschichte zu machen (wie in der biologischen Welt und beim Übergang von der Natur zur Kultur), sondern nur die Freiheit, gerade das anzustreben und zu realisieren, wozu man im Voraus bestimmt ist. Herder sagt das nicht ausdrücklich. Aber in der deterministischen Geschichtsauffassung ist die Freiheit nur Wissen um die Notwendigkeit. Hierin besteht der Unterschied zum Tier: Der Mensch strebt bewusst das an, wozu er geschaffen ist. Die philosophische Anthropologie ist zugleich Philosophie der Geschichte. Welche Funktion hat nun die Sprache in der Geschichte? Ausgangspunkt ist der Vergleich von Mensch und Tier. Die Wesenszüge des Menschen spiegeln die angenommene Kontinuität von Natur und Kultur wider. Ein Wesenszug des Menschen ist sein aufrechter Gang, der die Hände zu vielerlei Tätigkeiten freistellt. Der aufrechte Gang gehört noch zur biologischen Ausstattung, Vernunft und Freiheit gehören aber zur Kultur. Hier erscheint die Sprache im Rahmen des Menschseins als Organ der Vernunft, als die Kraft, die die Vernunft in Bewegung setzt: Indessen wären alle diese Kunstwerkzeuge, Gehirn, Sinne und Hand auch in der aufrechten Gestalt unwirksam geblieben, wenn uns der Schöpfer nicht eine Triebfeder gegeben hätte, die sie alle in Bewegung setzte; es war das göttliche Geschenk der Rede. Nur durch die Rede wird die schlummernde Vernunft erweckt oder vielmehr die nackte Fähigkeit, die durch sich selbst ewig tot geblieben wäre, wird durch die Sprache lebendige Kraft und Wirkung. (Herder 1989, 138) 56 <?page no="71"?> Die Aufgabe des Menschen in der Geschichte ist die Humanität, und zwar als Idealbild und als Ziel. Es sei in diesem Zusammenhang bemerkt, dass für Herder die höchste Ausprägung der „ Humanität “ die Religion ist: Ich wünschte, daß ich in das Wort Humanität alles fassen könnte, was ich bisher über des Menschen edle Bildung zur Vernunft und Freiheit, zu feinern Sinnen und Trieben, zur zartesten und stärksten Gesundheit, zur Erfüllung und Beherrschung der Erde gesagt habe: denn der Mensch hat kein edleres Wort für seine Bestimmung als Er selbst ist, in dem das Bild des Schöpfers unsrer Erde, wie es hier sichtbar werden konnte, abgedruckt lebet. (ibid., 154) Die Selbsterziehung des Menschen zur „ Humanität “ ist eine gemeinschaftliche und zugleich historische Aufgabe, d. h. gemeinschaftlich auch in zeitlicher Perspektive. Das Prinzip der menschlichen Geschichte ist „ Sozialität “ (Geselligkeit) und Tradition. Es handelt sich dabei nicht um zwei Begriffe, sondern um einen einzigen Begriff, wenn auch aus unterschiedlicher Perspektive: Da nun aber unser spezifischer Charakter eben darin liegt, daß wir, beinahe ohne Instinkt geboren, nur durch lebenslange Übung zur Menschheit gebildet werden, und sowohl die Perfektibilität als auch die Korruptibilität unsres Geschlechts hierauf beruhet, so wird eben damit auch die Geschichte der Menschheit notwendig ein Ganzes, d. i. eine Kette der Geselligkeit und bildenden Tradition vom Ersten bis zum letzten Gliede. (ibid., 337) In der Geschichte erscheint nun die Sprache als „ Organon der Tradition “ . Denn die Überlieferung erfolgt durch die Sprache: Ein Volk hat keine Idee, zu der es kein Wort hat: die lebhafteste Anschauung bleibt dunkles Gefühl, bis die Seele ein Merkmal findet und es durchs Wort dem Gedächtnis, der Rückerinnerung, dem Verstande, ja endlich dem Verstande der Menschen, der Tradition einverleibet: eine reine Vernunft ohne Sprache ist auf Erden ein utopisches Land. (ibid., 347) Die Macht der Sprache wird von Herder nicht überschätzt. Die Sprache sei aus zwei Gründen unvollkommen und fragil: Zum einen erkenne der Mensch nicht die Dinge als Ganze, sondern nur das Nennbare, d. h. ein Gefüge von Merkmalen. Zum anderen würden die Merkmale durch die Sprache nicht als solche ausgedrückt, sondern in Form von Lauten, d. h. indirekt ausgedrückt durch die Analogie der Sinne: Keine Sprache druckt Sachen aus, sondern nur Namen: auch keine menschliche Vernunft also erkennt Sachen, sondern sie hat nur Merkmale von ihnen, die sie mit Worten bezeichnet; eine demütigende Bemerkung, die der ganzen Geschichte unseres Verstandes enge Grenzen und eine sehr unwesenhafte Gestalt gibt. (ibid., 348 f.) Und etwas weiter: Diese Merkmale werden abermals in willkürliche, ihnen ganz unwesenhafte Laute verfaßt, mit denen die Seele denket. Sie rechnet also mit Rechenpfennigen, mit Schällen und Ziffern: denn daß ein wesentlicher Zusammenhang zwischen der 57 <?page no="72"?> Sprache und den Gedanken, geschweige der Sache selbst sei, wird niemand glauben, der nur zwo Sprachen auf der Erde kennet. . . (ibid., 349) Die durch die Sprachen überlieferte Welt ist nicht die absolute Welt, die Welt schlechthin, sondern die geschichtliche Welt des Menschen: Durch die Sprache hat uns die Gottheit auf einen sicherern, den Mittelweg geführet. Nur Verstandesideen sinds, die wir durch sie erlangen und die zum Genuß der Natur, zur Anwendung unsrer Kräfte, zum gesunden Gebrauch unsres Lebens, kurz zur Bildung der Humanität in uns gnug sind. . . (ibid., 351) Die philosophische Anthropologie und die Geschichtsphilosophie haben darum die Auseinandersetzung mit den Sprachen und ihren Vergleich zur Aufgabe: Der schönste Versuch über die Geschichte und manigfaltige Charakteristik des menschlichen Verstandes und Herzens wäre also eine philosophische Vergleichung der Sprachen: denn in jede derselben ist der Verstand eines Volkes und sein Charakter gepräget. (ibid., 353) Herder sagt nicht viel zur eigentlich philosophischen Problematik, hat aber den Sprachwissenschaften entscheidende Anregungen gegeben: Die Wende in der Linguistik von der allgemeinen Grammatik hin zur Sprachgeschichte und zum Sprachvergleich, zur „ historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft “ , setzt eben hier bei Herder an. Durch ihn wird zum ersten Mal die geschichtliche und anthropologische Herangehensweise als die eigentliche Aufgabe der Wissenschaft von den Sprachen theoretisch begründet. 3.6 Das Problem der Sprache in der Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft Zu unserem ersten Problembereich, zum Verhältnis von Sprache und Philosophie, wirft Herder das Problem der sprachlichen Bedingtheit des Philosophierens auf. Es geht nicht um die Philosophie, die die Sprache zum Gegenstand hat, sondern um die Philosophie schlechthin, die selbst sprachlicher Natur ist, d. h. die Sprache voraussetzt. Es handelt sich eben nicht um die Metaebene, d. h. um die Sprache als Instrument des Denkens über die Dinge, sondern um die sprachliche Gegebenheit der Dinge selbst, über die man nachdenkt. Die Grundidee erscheint schon in den Fragmenten, in der dritten Sammlung. Ein Abschnitt beginnt dort mit Es ist der Tod der Philosophie nach ihrer Materie und Form, den Gedanken bloß eingehüllt in gewisse Ausdrücke zu betrachten. . . (Herder 1985, 369). 39 Auch dort war es Aufgabe der Philosophie, bei der Sprache anzusetzen, sie sollte aber anschließend über die Sprache hinausgehen. In den Fragmenten, in der Abhandlung und in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit ist die Sprache zwar noch nicht mit der Vernunft identisch. Sie ist aber Vernunft, erster Akt der Vernunft. In der Metakritik wird ‒ unter dem Einfluss Hamanns ‒ die Vernunft mit der Sprache 39 [ In Heintels Auswahl steht dieser Satz tatsächlich am Anfang des betreffenden Abschnitts. In der kritischen Ausgabe findet er sich nur im Inhaltsverzeichnis der dritten Sammlung; J. A.] 58 <?page no="73"?> gleichgesetzt. Das Denken erfolgt mittels der Sprache und in der Sprache. Deshalb hat auch die Philosophie schlechthin Philosophie der menschlichen Sprache zu sein, aber keine „ Grammatik “ : Ein großer Teil der Mißverständnisse, Widersprüche und Ungereimtheiten also, die man der Vernunft zuschreibt, wird wahrscheinlich nicht an ihr, sondern an dem mangelhaften oder von ihr schlecht gebrauchten Werkzeug der Sprache liegen, wie das Wort Widersprüche selbst saget. Glaube niemand, daß die hohe Kritik der reinen Vernunft hierdurch erniedrigt und die feinste Spekulation zur Grammatik werde. (Herder 1998, 320 f.) Eine transzendentale Philosophie sei nicht möglich, weil man die Sprachlichkeit des Gegebenen nicht transzendieren könne: Statt nämlich zu transzendieren, kehre die Vernunft auf den Ursprung ihres Besitzes, d. i. in sich selbst zurück, mit der Frage: „ wie kamst du zu dir und zu deinen Begriffen, wie hast du diese ausgedrückt und angewandt, verkettet und verbunden? woher kommts, daß du ihnen allgemeine, notwendige Gewissheit zueignest? “ (ibid., 342) Anstelle der Transzendentalphilosophie schlägt Herder eine Physiologie der menschlichen Erkenntniskräfte vor: Das unziemende Wort Kritik der Vernunft verliert sich also in das anständigere wahre: Physiologie der menschlichen Erkenntniskräfte. . . (ibid., 343) Gerade dies hatte Kant abgelehnt. Kants Fragestellung wird durch Herder auf eine andere Ebene verlagert, nämlich auf die Begriffs- und Kategorienbildung durch die Sprache. So seien beispielsweise Raum und Zeit in der Sprache gegeben, als Ausdruck der intuitiven Erfassung des Nebeneinander und des Nacheinander: Der ganzen Sprachfügung bemächtigte sich also die Zeit allmählich; sie, die alles regieret, ordnete auch die Folge der menschlichen Gedanken. Da alles Tun und Leiden der menschlichen Gedanken sich in der Zeit zuträgt und es nie gleichgültig ist, wenn etwas geschehe oder geschehen sei oder geschehen werde, so fügete sich die Zeit an alle Tat- und Leidensworte (verba). (ibid., 358) Hier zeigt sich Herders Missverständnis. Denn zur Erfassung des Nebeneinander und des Nacheinander müssen die Kategorien Raum und Zeit als Bedingungen der Anschauung schon gegeben sein. Es geht nicht um die Begriffe ‚ Raum ‘ oder ‚ Zeit ‘ , sondern um ihre objektiven Korrelata. Die Frage lautet Was ist Raum oder Zeit? und nicht Wie kommt man zum Begriff des Raums oder der Zeit? Wenn ein Nacheinander da ist, wird die Idee dieses Nacheinanderfolgens sprachlich zu einer Einheit gemacht. Es entsteht der Begriff ‚ Zeit ‘ in der Sprache. Das Nacheinander ist aber nicht Ergebnis der Begriffsbildung, sondern es verhält sich umgekehrt: Die Anschauung selbst erfolgt schon im vorgegeben Rahmen des Nacheinander. Kant fragt nicht „ Warum gibt es den Inhalt ‚ Zeit ‘ ? “ sondern „ Warum gibt es überhaupt ein Nacheinander? “ Es geht ihm nicht um den Begriff ‚ Zeit ‘ , sondern um die Zeit selbst als Form und Bedingung der Erfahrung. 59 <?page no="74"?> Was Herder unternimmt, ist sicher sinnvoll. Er sieht aber nicht, dass Kant nicht die Erkenntnis selbst analysiert, sondern ihre Bedingungen. Die Bedingungen der Erkenntnis sind auch dort gegeben, wo die Begriffe in einer Sprache fehlen oder ganz anders gestaltet sind. So ist z. B. in den romanischen Sprachen wie im Lateinischen das Nacheinander selbst und das Wie dieses Nacheinander durch einen einheitlichen Begriff vertreten ‚ tempus ‘ . Im Vergleich mit dem Deutschen erscheint dieser Begriff als Oberbegriff für ‚ Zeit ‘ und ‚ Wetter ‘ . Es liegt nur ein Begriff vor, wo es im Deutschen deren zwei gibt. In gewissen Sprachen und Mundarten gibt es den Begriff ‚ Zeit ‘ überhaupt nicht. Die Fakten werden sprachlich auf die entsprechende Frage zurückgeführt, d. h. auf den Begriff „ Wann? “ . Herder versucht sogar eine biologische Erklärung von Raum und Zeit. Er setzt den Raum mit dem Auge, die Zeit mit dem Ohr in Beziehung. Das Auge präsentiere das Nebeneinander, das Ohr das Nacheinander der Fakten: Hieraus ergeben sich Gesetze einer dreifachen Verknüpfung, dem Verstande nicht durch Formen a priori, sondern mittelst seiner ihm unableglichen, unentbehrlichen Organisation gegeben: 1. Gesetze der Kontiguität, vermittelst des Auges und Lichts im Nebeneinander, durch einen lichten Punkt auf die bestimmteste Weise ihm durch sein Organ gegeben. 2. Gesetze der Zeitfolge, mittelst des Gehörs und der innern Empfindung im Nacheinander dreier Momente. (Herder 1998, 400) Im Rahmen dieses Argumentationsschema reduziert Herder schließlich die Ontologie auf die Philosophie der Sprache: 40 Ontologie liegt allem [Naturkenntnis, Naturwissenschaft, Mathematik] zum Grunde; denn alle gebrauchen ihre Sprache, rechtverstanden ist sie nichts als Philosophie der allgemeinen Verstandessprache. (ibid., 412) Ähnlich verhält es sich mit seiner Kritik an Kant hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Begriff und Sache: Auf keine andere Weise ist diesem Übel [irreführende sprachliche Formen] zu entkommen als wenn man drei Dinge, Sache, Begriff und Wort rein unterscheidet. Unser Begriff macht die Sache nicht, weder möglich noch wirklich; er ist nur eine Kunde derselben wie wir sie haben können, nach unserm Verstande und unsern Organen. (ibid., 424) Hier liegt wiederum ein Missverständnis vor. Es geht Kant um die Konstituierung des Objekts in seiner Objektivität, nicht um das Schaffen des Objekts. Symptomatisch ist ebenfalls Herders Kritik an der Unterscheidung zwischen Phänomena und Noumena: Phänomen heißt, was erscheinet, Noumenon, was sich der Verstand ( νοῦς ) denket. Dies denkt er sich nicht hinter und außer, sondern an dem Phänomenon und damit ist die ganze Verwirrung gehoben. (ibid., 469) 40 [Einen Verweis auf den sog. „ linguistic turn “ könnte man hier erwarten - Coseriu hat sicherlich bewusst darauf verzichtet; J. A.] 60 <?page no="75"?> Somit habe auch Kants „ Ding an sich “ seinen Ursprung in der Sprache: Woher nun entstand das abenteuerliche Mißverständnis, sich an Noumenen „ Vorstellungen ohne Gegenstand “ , „ Dinge an sich selbst “ zu denken? Der Ursprung liegt klar am Tage. Da unser Verstand nämlich nicht anders als durch Merkmale, die er in Worten festhält, den Begriff fassen kann: so hat er die Macht, im erfaßten Begriff wieder ein Merkmal, Eins in Vielem, sich besonders anerkennbar zu machen, und durch ein Wort festzuhalten. [. . .] Alle abgezogenen Begriffe also, d. i. in Begriffen bemerkte und für sich als Begriffe vorgestellte Merkmale, haben die Gestalt von Gedanken- oder Verstandeswesen, die sie im rechten Sinne des Wortes auch sind, ob sie gleich damit nichts weniges als Vorstellung ohne Gegenstand, Dinge an sich selbst werden. (ibid., 470 f.) Das Ding an sich wäre somit also das Verstandene, der erfasste Sinn: Hinweg das Blendwerk! Wenn Etwas ins ’ s Reich der Dinge an sich, d. i. der Wahrheit gehöret, so ists unser Verstand, oder wir reden im Traum Worte des Traumes. Sein νούμενον also, d. i. der Sinn, den er an Gegenständen erfaßt, ist ihm das Ding an sich. . . (ibid., 473) Dies alles läuft am Ende auf eine vollständige Identifizierung von Sprache und Vernunft hinaus: Wie der Verstand Erfahrung, so hat die Vernunft zu ihrer Sphäre das weite Reich menschlicher Gedanken, mittelst der Rede. Was durch irgendein Zeichen ausgedrückt, festgehalten, verständlich gemacht werden kann, darf sich vor die Vernunft als eine Vernehmerin wagen. Auf Angaffungen im Raum und in der Zeit läßt sie sich nicht einschränken. Mittels der Sprache ist ihr alles gegeben, was sich durch Sprache im weitesten Sinne des Wortes ausdrücken läßt; sie selbst ist und heißt Sprache. (ibid., 593) Herder hat Kant offensichtlich nicht verstanden. Die Intuition, die seinen Ausführungen zugrunde liegt, ist die sprachliche Bedingtheit der Erfahrung. Dieser Einwand gegenüber Kant wiegt sicherlich schwer. Bei der Deutung dieses Einwands geht Herder jedoch fehl. 3.7 Herders sprachphilosophische Leistung Was hat Herder nun im Ganzen für die Sprachphilosophie geleistet? Die wichtigsten Aspekte seien am Ende dieses Kapitels noch einmal zusammengefasst: 1. Die Sprache wird bei Herder zum ersten Mal zum zentralen Problem der philosophischen Anthropologie und der Philosophie schlechthin. 2. Herder versucht, das Verhältnis von Sprache und Mensch zu bestimmen. Die alte ratio wird - unter der Bezeichnung Besonnenheit - zum Inbegriff der Menschlichkeit des Menschen. 3. Herder behauptet den schöpferischen Charakter der Sprache und zeigt ihn auf. Er unterscheidet zwischen der Sprache als Kategorie, die immer wieder geschaffen werden muss, und der Sprache als Technik, die überliefert und gelernt wird. 61 <?page no="76"?> 4. Die Sprache erscheint ihm als die geschichtliche Wirklichkeit des Menschen, als Organon und als erstes In-Erscheinung-Treten der Kultur, und zwar jeweils in der Form einer Einzelsprache. Daher rührt sein großes Interesse für die Einzelsprachen und für die Einzelsprachlichkeit der Kulturtraditionen. Er eröffnet dadurch auch die Möglichkeit einer neuen Sprachwissenschaft, die sich vor allem mit den Einzelsprachen beschäftigt. 5. Das Problem Sprache und Denken wird in neuer Form gestellt, allerdings mit Schwankungen. Die Sprache erscheint zunächst als Ausdruck der Vernunft, Organ der Vernunft, Form der Vernunft. Schließlich wird sie mit der Vernunft identifiziert. Hier beginnt ein Irrweg: die These von der Identität von Einzelsprache und Denken. Dieser Irrtum, der auf Herder zurückgeht, lebt weiter und treibt mitunter seltsame Blüten. Eigentümlichkeiten der Nationalsprache werden als Ausdruck „ nationaler Denkart “ verstanden. In Wirklichkeit ist die Einzelsprache zwar Ausgangspunkt des Denkens, das Denken geht aber über die Einzelsprache hinaus. Herders Irrtum wurde zu einer Art von Krankheit der deutschen Sprachphilosophie - und nicht nur der deutschen. Das Vorhandensein gewisser sprachlicher Kategorien kann die philosophische Einsicht in technischer Hinsicht erleichtern und gewisse Fragestellungen anregen, so z. B. das Vorhandensein von Artikeln im Griechischen, oder eines allgemeinen Ausdrucks für die fundamentalste Kategorie überhaupt: ὄν „ seiend “ . Die Behauptung Bertrand Russells, alle Ontologie beruhe letztlich auf dem Vorhandensein gewisser Wörter in einer Sprache ist ein Sophismus. 41 In der Philosophie geht es nur um das Sein selbst. Wenn gewisse Zugriffe schon intuitiv in einer Einzelsprache vorgegeben sind, umso besser - unbedingt notwendig sind sie nicht. 6. Herder versucht, die Sprachbedingtheit der Erfahrung zu bestimmen und zu begründen. Der Versuch scheitert mangels einer ausreichenden vis philosophica. Das Thema der Sprachbedingtheit der Erfahrung wurde aber von Herder (zusammen mit Hamann) in die Philosophie eingeführt. Wenn Kant einen Wendepunkt in der Erkenntnistheorie bezeichnet, so bezeichnen Herder und Hamann einen Wendepunkt in der Sprachphilosophie. Nach ihnen ist keine Erkenntnistheorie ohne Rekurs auf die Sprache möglich. Die Behandlung der übrigen Sprachphilosophen im Zeitraum der deutschen Spätaufklärung und Romantik wird durch die hiermit abgeschlossene ausführliche Behandlung Herders erleichtert. 3.8 Literaturhinweise Zu Herder gibt es eine riesige Bibliographie. Anspielungen finden sich darüber hinaus in zahlreichen Werken. Wir nennen nur das Grundlegende. Die relevanten Texte finden sich in der folgenden Ausgabe: 41 [Sinngemäß mehrfach in: The Philosophy of Logical Atomism (erstmals 1918).] 62 <?page no="77"?> Herders Sprachphilosophie. Ausgewählte Schriften, hrsg. v. E. Heintel. Philosophische Bibliothek, Nr. 248, Hamburg 1960. Diese Textausgabe ist die einzige, die gerade die philosophischen Schriften enthält, und zugleich die allerbeste. Die Anthologie enthält alles Wesentliche: die Abhandlung über den Ursprung der Sprache, Auszüge aus den Fragmenten, Auszüge aus den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit u. a. Zu Herder sind vor allem die folgenden Texte heranzuziehen: E. Heintel: „ Herder und die Sprache “ , in: Herders Sprachphilosophie (siehe oben; XV − LVII) Die Studie Heintels ist in philosophischer Hinsicht grundlegend. Hanna Weber: Herders Sprachphilosophie. Eine Interpretation im Hinblick auf die moderne Sprachphilosophie. Berlin 1939, Neudruck 1967. Das Buch enthält die gesamte frühere Bibliographie. [Die oben angeführten Literaturhinweise stammen aus dem Jahr 1986. Seither ist das Interesse an Herders Sprachphilosophie nicht geringer geworden - ganz im Gegenteil. Zunächst einige Bemerkungen zu den Primärtexten. Heintel hatte die Texte zur Sprachphilosophie, die er für repräsentativ hielt, der monumentalen Ausgabe von Bernhard Suphan entnommen (Berlin 1877 − 1913; Neudruck Hildesheim 1967 − 68). Einige Texte wurden dabei erheblich, andere weniger stark gekürzt. Alle Texte wurden recht großzügig „ modernisiert “ , ohne dass die Kriterien angegeben worden wären, nach denen verfahren wurde. Im Jahr 2005 hat Ulrike Zeuch die zweite, um einige kurze Texte vermehrte Auflage der Heintelschen Ausgabe (1964) neu herausgegeben. An der Textauswahl und der Schreibweise hat sie nichts geändert; Heintels Einleitung, auf die sich Coseriu ständig bezieht, jedoch durch eine eigene Einführung ersetzt und eine kurze Bibliographie mit neuerer Literatur bis 2003 hinzugefügt (Herder 2005). Diese Neuauflage ist nach wenigen Jahren vom Buchmarkt verschwunden. In der vorliegenden Nachschrift wurden die von Coseriu aus der Ausgabe Heintels ausgewählten Zitate in der Fassung wiedergegeben, die Herders Texte in den kritischen Editionen erhalten haben, die inzwischen im Deutschen Klassiker Verlag erschienen sind (Herder 1985; 1998). Die Lesbarkeit wird dadurch nicht gerade erleichtert; Herders Orthographie ist gewöhnungsbedürftig, insbesondere was Groß- und Kleinschreibung und Interpunktion betrifft. Die Textgrundlage ruht jedoch nun, dank der Vorarbeit ausgewiesener Spezialisten, auf einem solideren Fundament. Was die Hinweise auf die inzwischen erschienene Literatur betrifft, so wird hier, wie in den weiteren Kapiteln, folgendermaßen verfahren: Die in einem spezifischen Kontext erwähnten Werke werden an der betreffenden Stelle mit vollständigen bibliographischen Angaben in einer Fußnote angeführt und erscheinen nicht im Literaturverzeichnis am Ende des Bandes. Dort erscheinen hingegen alle Arbeiten, die in den Texten und in den Literaturhinweisen nur in Kurzform zitiert werden. 63 <?page no="78"?> Kurz nachdem die Vorlesungsreihe Coserius abgeschlossen war, hat der Germanist Ulrich Gaier eine umfangreiche Arbeit über Herders Sprachphilosophie und Erkenntniskritik vorgelegt (Gaier 1988); in verschiedenen Aufsätzen, so im Handbuch Sprachphilosophie (HSK 7,1; Gaier 1992) und in dem von Tilman Borsche herausgegebenen Band Klassiker der Sprachphilosophie (Gaier 1996) hat er seine Auseinandersetzung mit Herders Sprachphilosophie fortgesetzt. Chris Hutton hat in der Reihe History of Linguistics einen kommentierten Nachdruck von Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache herausgebracht, und zwar zusammen mit Tiedemanns Versuch einer Erklärung des Ursprungs der Sprache und Fichtes Von der Sprachfähigkeit und dem Ursprunge der Sprache, Arbeiten, die in dieser Nachschrift ebenfalls berücksichtigt werden. Der Artikel von Paul Salmon (2009) im Lexicon Grammaticorum geht besonders stark auf Herders Auseinandersetzung mit Kant ein. Zwei Sammelbände müssen an dieser Stelle erwähnt werden: Borsche (Hg.; 2006): Herder im Spiegel der Zeiten und Groß/ Sauder (Hg.; 2007): Der frühe und der späte Herder. Beide Bände gelten keineswegs ausschließlich dem Sprachphilosophen Herder, enthalten jedoch einige wichtige Beiträge zur Sprachphilosophie. Die in einer populären Reihe erschienene Kurzbiographie von W. Kantzenbach (1970) informiert über grundlegende Fakten, die auch heute noch nicht „ veraltet “ sind.] 64 <?page no="79"?> 4 Johann Georg Hamann (1730 − 1788) 4.1 Allgemeines Johann Georg Hamann wurde nach eigenem Bekunden „ leider! den 27. Augusti 1730. P. C. n. geboren “ , 42 − in Königsberg, wie Kant, sein Freund und Antipode. Er stammte aus kleinbürgerlichen Verhältnissen; der Bruder seines Vaters, der den gleichen Namen wie er trug und weit entfernt in der Lausitz lebte, war immerhin mit einem Roman und einigen Kirchenliedern hervorgetreten. Hamann studierte an der Königsberger Universität zunächst Theologie und dann „ zum Schein Rechtsgelehrsamkeit “ . 43 Er verließ die Universität, an der er sich hauptsächlich mit Sprachen und Literaturen beschäftigt hatte, ohne Abschluss, um eine Stelle als Hauslehrer im damaligen Kurland, der Gegend um Riga, anzunehmen. Im Herbst 1757 reiste er im Auftrag des Rigaer Handelshauses Berens in geschäftlicher Mission nach London. Er konnte den in ihn gesetzten Erwartungen nicht gerecht werden, geriet in finanzielle Schwierigkeiten und machte eine Lebenskrise durch. Nach intensivem Studium der Bibel hatte er ein religiöses Erweckungserlebnis, über das er selbst berichtet. 44 Nach seiner Rückkehr nach Ostpreußen schlug er sich mit der Abfassung kleiner, meist polemischer Schriften und sonstigen literarischen Kleinarbeiten durch, unternahm eine Reise nach Süddeutschland und in die Schweiz, war kurzfristig Schreiber in einer Anwaltskanzlei in Mitau (Jelgava) und Warschau, bis er endlich 1767 eine Stelle als Übersetzer bei der von Franzosen geleiteten Zollbehörde in Königsberg erhielt. Von 1777 − 1787 war er Packhofverwalter im Königsberger Hafen, eine Position, die ihm eine gewisse finanzielle Sicherheit verschaffte. 1887 wurde sein Gesuch um Beurlaubung mit seiner Pensionierung beschieden. Er hatte nun endlich die Möglichkeit, einige Gönner in Westfalen zu besuchen, darunter die Fürstin Amalie von Galitzin. Seine Heimreise nach Königsberg, auf der er in Weimar Station zu machen gedachte, war schon geplant, doch er erkrankte schwer und starb am 21. Juni 1788 in Münster. Der Beiname „ Magus in Norden “ (man stößt auch auf im Norden, aus Norden, von Norden) wurde ihm von Carl Friedrich von Moser (1723 − 1798) bereits 1762 in einem „ Sendschreiben “ verliehen, in Anlehnung an die „ drei Magi aus dem Morgenlande “ , die sich nach dem neu geborenen König der Juden erkundigten, nachdem sie stellam eius in oriente (Mt. 2,2) gesehen hatten. Er hat diesen Beinamen, nicht ohne Koketterie, gern akzeptiert. So heißt es auf dem Titelblatt der Philologische[n] Einfälle und Zweifel über eine akademische Preisschrift (cf. infra): „ Entworfen vom Magus in Norden im Weinmonate 1772 “ . 42 „ Ausblick “ ; Hamann 1999 [1951], Bd. 3, 9. 43 ibid., Bd. 2, 21. 44 ibid., Bd. 2 39 − 42. 65 <?page no="80"?> 4.2 Hamanns kultur- und geistesgeschichtliche Bedeutung Josef Simon beginnt die Einleitung zu seiner Ausgabe von Hamanns Schriften zur Sprache (s. Literaturverzeichnis) mit einer Würdigung der Bedeutung Hamanns für das geistge Leben seiner Zeit: Hamann [. . .] gilt in der Philosophie und der Geistesgeschichte in erster Linie als Anreger und Vorläufer der Epoche, die sich in der Literatur vom Sturm und Drang zur deutschen Klassik, in der Philosophie von Kant zum deutschen Idealismus entwickelte. Die Bedeutung, die ihm in dieser Hinsicht zugesprochen wird und die er zum Teil schon zu seinen Lebzeiten erreichte, sein Einfluß über Herder auf den jungen Goethe, später über Jacobi auf Schelling, seine freundschaftlichen Auseinandersetzungen mit Kant durch mehrere Jahrzehnte hindurch, der geistige Rang der Personen, die sich mit seinen Schriften befaßten oder sich auf ihn beriefen, unter anderen Hegel und Kierkegaard, und schließlich seine weitgespannte Korrespondenz erscheinen in einem seltsamen Gegensatz zu seinen Schriften, wie sie sich dem Leser unmittelbar präsentieren, und nicht weniger im Gegensatz zu den äußeren Umständen seines Lebens. (Simon 1967, 9) Schon sehr viel früher hatte sich Goethe in seinen Lebenserinnerungen veranlasst gesehen, „ an schickliche[r] Stelle . . . dieses würdigen einflußreichen Mannes zu gedenken, der uns damals ein ebenso großes Geheimnis war, als er es immer dem Vaterland geblieben ist “ . 45 Goethe trug sich sogar mit dem Gedanken, eine „ Herausgabe der Hamannschen Werke entweder selbst zu besorgen, oder wenigstens zu befördern. . . “ . 46 Es ist erstaunlich, dass ein Schriftsteller, der kein opus magnum hinterlassen hat, so viel Aufmerksamkeit erlangen und so viel Einfluss auf bedeutende Zeitgenossen ausüben konnte. Sein Verhältnis zu Herder wurde bereits im vorherigen Kapitel berührt. Es bleibt nachzutragen, dass Hamann Herder im Frühjahr 1764 Englischunterricht erteilte und damit das Interesse seines jungen Freundes für die englischsprachige Literatur, nicht zuletzt für den damals noch nicht „ enttarnten “ Ossian geweckt hat. Darüber hinaus stand er mit Matthias Claudius, Moses Mendelsohn und anderen zeitgenössischen Schriftstellern in Verbindung. Nach 1781 war er, der kleine Königsberger Hafenbeamte, neben Kant, der in diesem Jahr die erste Auflage der Kritik der reinen Vernunft veröffentlichte, der zweite praeceptor Germaniae. Im Hinblick auf die Philosophie der Sprache lautet Hamanns Prinzip: „ Ohne Wort, keine Vernunft - keine Welt. “ 47 In einem Brief an Herder aus dem Jahre 1784 versichert er: „ Vernunft ist Sprache − Λόγος . “ 48 Und ein Jahr später heißt es in einem Brief an Friedrich Heinrich Jacobi: „ Bey mir ist weder von Physik noch Theologie die Rede − sondern Sprache, die Mutter der Vernunft und Offenbarung, ihr Α und Ω . “ 49 Die Sprache nimmt also eine zentrale Stellung in seinem Denken 45 Dichtung und Wahrheit, Teil III, Buch 12, Artemis Gedenkausgabe, Bd. 10, 561. 46 ibid., 563. 47 Brief an Jacobi vom 2. 11. 1783. 48 Brief an Herder vom 8. 8. 1784. 49 Brief an Jacobi vom 28. 10. 1785. 66 <?page no="81"?> ein, eine noch zentralere - soweit dies überhaupt möglich ist - als im Denken Herders. 4.3 Hamanns Schriften zur Sprache Aus dem soeben Mitgeteilten geht hervor, dass so gut wie alles aus Hamanns Feder irgendetwas mit Sprache zu tun hat. Die folgenden Schriften sind im Hinblick auf seinen Beitrag zur Sprachphilosophie heranzuziehen: 1760: Versuch über eine akademische Frage Die Schrift bezieht sich auf eine Preisfrage der Berliner Akademie aus dem Jahr 1759 mit dem Titel: „ Quelle est l ’ influence réciproque du langage sur les opinions et des opinions sur le langage “ . Den Preis erhielt der Orientalist Johann David Michaelis, der die Frage zunächst in deutscher Sprache beantwortet hatte. Später wurde seine Preisschrift zusammen mit anderen eingereichten Antworten in französischer Übersetzung veröffentlicht. 1761: Vermischte Anmerkungen über die Wortfügung in der französischen Sprache 1762: Aesthetica in nuce Der Untertitel „ Rhapsodie in kabbalistischer Prose “ charakterisiert diese für Hamann verhältnismäßig umfangreiche sprach- und literaturtheoretische Schrift am besten. 1771: Rezension: Versuch einer Erklärung des Ursprungs der Sprache Gegenstand der Rezension ist die Preisschrift von Tiedemann, mit der sich auch Herder auseinandergesetzt hat (cf. supra Kap. 3 und Bd. 1, Kap. 17.4.2). 1773: Neue Apologie des Buchstaben h. Oder: Ausserordentliche Betrachtungen über die Orthographie der Deutschen 1780: Zwey Scherflein zur neuesten Deutschen Literatur In diesen Schriften geht es um die Orthographie des Deutschen, nicht ohne nationalistische Untertöne (cf. infra 4.5.3) 1772: Herder-Schriften: Rezension der Herderschen Preisschrift über den Ursprung der Sprache Abfertigung der im sechs und zwanzigsten Stück enthaltenen Recension Des Ritters vom Rosencreuz letzte Willensmeynung über den göttlichen und menschlichen Ursprung der Sprache Philologische Einfälle und Zweifel über eine akademische Preisschrift Au Salomon de Prusse Diese alle im Verlauf ungefähr eines Jahres erschienenen Schriften bleiben nicht ohne Einfluss auf Herder und bewirken; dass sich der späte Herder den Ansichten Hamanns annähert. 67 <?page no="82"?> 1781 und 1784: Kant-Schriften: Rezension der Kritik der reinen Vernunft (1781, im Erscheinungsjahr) Metakritik über den Purismum der Vernunft (geschrieben 1784, postum gedruckt 1788) Die beiden Kant-Schriften haben unter den späteren Sprachphilosophen den größten Widerhall gefunden. Briefe an Jacobi und an Herder. Von den unzähligen Briefen, die Hamann im Lauf seines Lebens verfasst hat (s. im Literaturverzeichnis die Ausgabe von Ziesemer und Henkel), sind die an Herder und Jacobi gerichteten hinsichtlich des Themas „ Sprache “ die wichtigsten. Hamann selbst war sich der Tatsache bewusst, dass seine Schriften ohne Kommentar kaum lesbar sind. Seine Ausdrucksweise ist dunkel, die Texte sind voller Anspielungen, die schon für die Zeitgenossen schwer auflösbar waren und vom modernen Leser erst recht in mühsamer Kleinarbeit entschlüsselt werden müssen. Sein Stil ist sprunghaft, halb ernsthaft, halb ironisch, kurz voll von dem, was man „ schillernde Ironie “ zu nennen pflegt. Die Schwierigkeiten des Verständnisses gehen wenigstens zum Teil nicht auf Schwierigkeiten des Ausdrucks zurück. Sie sind vom Autor gewollt, von außen an den Gegenstand herangetragen. Untertitel wie eine „ Rhapsodie in kabbalistischer Prose “ (cf. supra) oder - zu Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeynung über den göttlichen und menschlichen Ursprung der Sprache - „ aus einer Caricaturbilderurschrift eilfertig übersetzt vom Handlanger des Hierophanten “ zeigen, dass der Autor den Scharfsinn und die Geduld seiner Leser bewusst auf die Probe stellen will. 4.4 Zum Problem der Deutung von Hamann In der spanischen Literatur des Barock gab es zwei unterschiedliche literarische Strömungen. Die eine, der sog. culteranismo, verlegte sich auf die komplizierte Ausgestaltung des Ausdrucks, seine Vertreter glänzten mit einem elaborierten ornatus, mit einem Spiel aus schwer zu entschlüsselnden Metaphern und Allegorien; die andere, der sog. conceptismo, setzte auf die Verätselung des Inhalts, auf ein begriffliches Dunkel, herbeigeführt durch ein raffiniertes Spiel von Assoziationen. Beide Strömungen vereinen sich schließlich in Baltasar Gracián. In höherem Maß noch als bei Gracián finden sich beide Arten von Schwierigkeit bei Hamann, die Schwierigkeit des Ausdrucks und des Inhalts, des von ihm eigentlich Gemeinten. Hamann selbst kommt öfter auf die Schwierigkeit zu sprechen, die es ihm bereitet, deutlich und kohärent zu schreiben. Man kann nicht sicher sein, inwieweit dies aufrichtig und ernst gemeint ist, denn gelegentlich bezeichnet er seinen Stil als seiner dunklen Lage angemessen; damit würde dieser keinem Unvermögen, sondern einer Ausdruckabsicht entspringen. Simon versucht, gerade diese Argumentation zu rechtfertigen. 68 <?page no="83"?> Hegel weist darauf hin, dass Hamann sich selbst auf die coincidentia oppositorum berufen habe, die für Giordano Bruno „ den Gehalt der Philosophie ausmacht “ . 50 Er charakterisiert Hamanns Stil folgendermaßen: Die Unverständlichkeit der Hamannschen Schriften, insofern sie sich nicht auf den aufgezeigten Gehalt, der freilich überdem für viele unverständlich bleibt, bezieht, sondern die Formierung desselben betrifft, ist für sich unerfreulich, aber sie wird es noch mehr dadurch, daß sie sich beim Leser mit dem widrigen Eindrucke der Absichtlichkeit unausweichlich verbindet. Man fühlt seine ursprüngliche Widerborstigkeit hier als eine feindselige Empfindung Hamanns gegen das Publikum, für das er schreibt; indem er in dem Leser ein tiefes Interesse angesprochen und so sich mit ihm in Gemeinschaft gesetzt hat, stößt er ihn unmittelbar durch eine Fratze, Farce oder ein Schimpfen, das durch den Gebrauch von biblischen Ausdrücken eben nichts Besseres wird, oder irgendeinen Hohn und Mystifikation wieder von sich und vernichtet auf eine gehässige Weise die Teilnahme, die er erweckt, oder erschwert sie wenigstens und häufig auf unüberwindliche Weise, indem er barocke, ganz entfernt liegende Ausdrücke hinwirft oder vielmehr zusammenschraubt und den Leser vollends damit zu mystifizieren meint, daß darunter nur ganz platte Partikularitäten verborgen sind, wo er den Schein oder die Erwartung einer tiefsinnigen Bedeutung erweckt hatte. (ibid., 332) Was das Begriffliche betrifft, so sagt er von sich selbst - auch Hegel zitiert diese berühmt gewordene Stelle - dass er es dem Leser überlasse, „ die geballte Faust in eine flache Hand zu entfalten “ . 51 Er gesteht also ein, dass er absichtlich sibyllinisch schreibt. An Kant schrieb er trotzig, es gehe ihm nicht um die Feststellung der Wahrheit: „ Ich glaube wie Sokrates alles, was der andere glaubt, und gehe nur darauf aus, andere in ihrem Glauben zu stören “ . 52 Im Hinblick auf das Problem der Sprache versichert er in einem Brief an Herder, dass er zwar eine feste Überzeugung vertreten könne und müsse, dass er diese jedoch nicht begründen könne: Wenn ich auch so beredt wäre, wie Demosthenes, so würde ich doch nicht mehr als ein einziges Wort dreymal wiederholen müßen: Vernunft ist Sprache - Λόγος ; an diesem Markknochen nag ’ ich und werde mich zu Tod drüber nagen. Noch bleibt es immer finster über dieser Tiefe für mich: Ich warte noch immer auf einen apokalyptischen Engel mit einem Schlüssel für diesen Abgrund. 53 Andererseits zweifelt er an der Möglichkeit, das Problem der Sprache mit Hilfe der Vernunft zu lösen. In den Sokratischen Denkwürdigkeiten fragt er sich, ob nicht die Historie, und mit ihr die Sprache, „ gleich der Natur ein versiegelt Buch “ sei, „ ein verdecktes Zeugnis, ein Räthsel, das sich nicht auflösen läßt ohne mit einem anderen Kalbe, als unserer Vernunft zu pflügen “ . 54 50 Hegel 1970 [1821 − 1825], 330. 51 Metakritik, Hamann 1999 [1951], Bd. III, 289. 52 Zit. nach Hegel 1970 [1821 − 25], 299. 53 Brief an Herder vom 8. 8. 1784; cf. supra. 54 Hamann 1999 [1951], Bd. II, 65. 69 <?page no="84"?> Es ergibt sich also folgendes Problem: Soll man Hamann selbst Glauben schenken, und auf eine Interpretation seiner Schriften verzichten? Ich muss gestehen, dass ich beinahe der Versuchung erlegen wäre, einfach eine Sammlung Hamannscher Fragmente als geballte Faust darzubieten und es meinen Hörern zu überlassen, sie - jeder auf seine Weise - in eine flache Hand zu entfalten. Dies hätte bedeutet, Hamann als Literaten, als einen Dichter zu behandeln - für Josef Simon ein durchaus berechtigtes Vorgehen. Aber schon die Zusammenstellung einer Anthologie seiner Schriften wäre Fälschung gewesen, denn sie hätte einem Ordnungskriterium folgern und Kohärenz aufweisen müssen. Es eröffnen sich verschiedene Möglichkeiten des Vorgehens, und vielleicht können sich mehrere darunter als angemessen erweisen: 1. Man interpretiert Hamann im Rahmen der herkömmlichen Auffassung der Sprache als eines Zeichensystems, wie es Rudolf Unger und - bis zu einem gewissen Grad - auch Verburg getan haben. Dabei muss man zu dem Schluss kommen, das Denken Hamanns sei kontradiktorisch, unlogisch, „ irrationalistisch “ . Damit hätte man dieses Denken nur äußerlich im Hinblick auf das „ Wie “ charakterisiert. 2. Man schließt sich Heintel an, der die Ansicht vertrat, Hamann (ebenso wie Herder und die gesamte Romantik, ja sogar Humboldt) hätten „ ungeachtet der auf dem Wege liegenden Schwierigkeiten und Antinomien zu letzten Wesenseinsichten “ [in Bezug auf die Sprache] gestrebt, hätten jedoch nicht über „ jenes methodische Instrument “ verfügt, „ mit dem sie die Tiefe innerer Schau in Gedanken zu befestigen vermocht “ hätten. 55 Dies würde bedeuten, die Einsichten Hamanns als intuitive Ansätze, als naive Philosophie eines Nicht-Philosophen zu interpretieren. 3. Man versucht - ungeachtet der Schwierigkeiten, die Hamanns Ausdrucksweise bereitet - seine losen Betrachtungen und fragmentarischen Behauptungen in ein festes, kohärentes System umzugestalten. Diesen Weg wählt und geht Lupi in souveräner Weise. Er sieht in Hamann einen Vorläufer Humboldts. Man hat sich dabei allerdings zu fragen, wie groß dabei der Anteil des Auslegers ist, der die geballte Faust zur flachen Hand entfaltet, einer flachen Hand mit ausgestreckten Fingern, um mit Hegel zu sprechen. 56 4. Man beruft sich auf Hegel, wenn man als Charakteristikum Hamanns gerade die Partikularität und die Subjektivität ansehen möchte. Hegel zufolge war Hamann „ nicht nur auch originell [wie einige seiner Zeitgenossen], sondern mehr noch ein Original, indem er in einer Konzentration seiner tiefen Partikularität verharrte, welche aller Form von Allgemeinheit, sowohl der Expansion denkender Vernunft als des Geschmacks, sich unfähig gezeigt hat. “ (ibid., 280) Dies würde bedeuten, Hamann lediglich als außergewöhnliche Persönlichkeit zu würdigen, seinen 55 Heintel, 1957, 591. 56 Hegel 1970 [1821 − 1825], 330. 70 <?page no="85"?> Schriften jedoch jede philosophische Qualität abzusprechen, bzw. ihnen mit Hegel lediglich eine negative Bedeutung zuzusprechen: Aus [. . .] den mannigfaltigsten Äußerungen seiner Schriften und Begriffe wie aus seiner ganzen Eigentümlichkeit geht [. . .] hervor, daß seinem Geiste das Bedürfnis der Wissenschaftlichkeit überhaupt, daß Bedürfnis, des Gehaltes sich im Denken bewußt zu werden und ihn in demselben sich entwickeln zu sehen und ihn ebensosehr hiermit in dieser Form zu bewähren, als das Denken für sich zu befriedigen, ganz ferne lag. [. . .] Er muß so auch noch mehr dies übersehen, daß seine, obgleich orthodoxe Konzentration, die bei der intensiven subjektiven Einheit festblieb, in dem negativen Resultate mit dem, was er bekämpfte, übereinkam, alle weitere Entfaltung von Lehren der Wahrheit und deren Glauben als Lehren [. . .] für gleichgültig anzusehen. (ibid., 331) 5. Man versucht - mit Simon - in dieser Subjektivität und Partikularität einen eigenen Wert zu erkennen. Hamann habe gerade die Situationsgebundenheit - in politischer, sozialer, psychologischer und denkerischer Hinsicht - zu seinem Thema gemacht. Sein Stil entspreche der von ihm immer wieder betonten Nichtidentität zwischen ihm selbst und dem Allgemeinen. Einer der Exegeten Hamanns verweist in diesem Zusammenhang auf Goethe: So stellt sich denn nach den Worten Goethes sein Stil als der große Versuch dar, die Totalität seiner freien Person frei durchs Wort in Erscheinung treten zu lassen. Das Wort wird zur singulären Form der singulären Personalität Hamanns, wie sein ganzes Weltbild sich nur als partikulärer Ausdruck seines partikulären Geistes enthüllte. 57 Auch das Okkasionelle der Schriften Hamanns sei als solches zu bewerten. Nicht umsonst seien schon die Sokratischen Denkwürdigkeiten „ an das Publikum oder Niemand, den Kundbaren “ gerichtet. Dem Leser werde jeder Anspruch auf Allgemeinheit abgesprochen: „ Wir wissen, daß es keinen Götzen in der Welt giebt. Ein Mensch bist Du auch nicht; doch must Du ein menschlich Bild seyn, das der Aberglaube vergöttert hat. “ 58 Der Adressat sei also gar nicht das „ Publikum “ , von dem Hegel sprach: Das ‚ Publicum ‘ bleibt für ihn [Hamann] ein ‚ künstlicher ‘ , ‚ tauber ‘ Götze, der aber ‚ Glauben ‘ findet, ein leerer Begriff von einem allgemeinen Bewusstsein unter dessen sprachlicher Scheinwirklichkeit sich die Menschen betrügen, sofern sie ihn nicht als noch einzulösenden begreifen. (Simon 1967, 20) Man hat sich allerdings zu fragen, ob man, wenn man das alles ernst nimmt, noch von einer „ Sprachauffassung “ Hamanns sprechen kann. Simon sieht das Problem selbst, wenn er von „ Hamanns Sprachtheorie “ spricht und einschränkend hinzufügt, „ sofern von einer solchen die Rede sein kann “ . (ibid., 19) 57 H. Heinekamp: Das Weltbild J. G. Hamanns. Düsseldorf 1936, 59. 58 Hamann 1999 [1951], Bd. II, 59. 71 <?page no="86"?> 6. Man hebt - was im Folgenden geschehen soll - die Kontinuität des Denkens Hamanns hervor. Es gibt keine Okkasionalität ohne Universalität. Rein empirisch wird die behauptete Okkasionalität zum einen durch die Tatsache widerlegt, dass Hamann immer wieder zu den gleichen Themen zurückkehrt, z. B. in den fünf Herder-Schriften, zum anderen dadurch, dass das Problem der Sprache immer anwesend ist - von der ersten bis zur letzten Schrift. Dadurch ist (wenn auch mit Schwankungen, Unklarheiten usw.) eine gewisse Kontinuität seines Denkens gegeben. Der Interpretationsansatz (6), dem wir folgen wollen, ähnelt dem Ansatz (2), ohne dass dabei eine vermisste Systematik gewissermaßen eingefordert würde. Zunächst soll die Kontinuität von Hamanns Beschäftigung mit der Sprache in ihrer Objektivität verfolgt werden, und zwar im Hinblick auf das, was Hamann sagt, gleichgültig, ob er es begründet oder nicht. Daraufhin soll versucht werden, Zentralmotive der Hamannschen Beschäftigung mit der Sprache zu identifizieren, um sie schließlich auf Grundintuitionen zurückzuführen. Diese Grundintuitionen können als solche festgestellt und weiterentwickelt werden. Die Überführung dieser Motive auf die Ebene der Reflexivität ist dann nicht mehr Hamanns eigene Leistung, sondern Exegese. Liebrucks schreibt in diesem Zusammenhang ganz zutreffend, dass „ Hamann nicht ahnen konnte, was er hier aussprach “ (Liebrucks 1964, 295). Es geht dann um das „ was Hamann sagen wollte “ , das er aber nicht als Philosoph, sondern gewissermaßen als Dichter gesagt hat. 4.5 Die zentralen Motive im Denken Hamanns Wir haben als Methode der Interpretation die isolierte Darstellung der Äußerungen und der Motive Hamanns vorgeschlagen. Es gibt bei Hamann keine kohärente Argumentation. Kohärenz manifestiert sich nur in seiner tiefen Überzeugung, die Sprache sei bedeutsam, sie sei der Grund aller Dinge und die Grundlage des Denkens und aller Erkenntnis. Alles sei sprachlich bedingt und vermittelt. Andere würden dies nicht verstehen, er, Hamann, habe es verstanden, könne aber nicht erklären, wie und warum. Jeder Versuch, die ganzheitliche Intuition zu erklären, sei zum Scheitern bestimmt, müsse vielleicht notwendigerweise scheitern. Betrachten wir nun die Zentralmotive Hamanns in der Reihenfolge seiner Schriften, beginnend mit den frühen Schriften: 4.5.1 Die frühen Schriften ‒ Versuch über eine akademische Frage Hier geht es um die Preisfrage der Berliner Akademie aus dem Jahr 1759 mit dem Titel: „ Quelle est l ’ influence réciproque du langage sur les opinions et des opinions sur le langage “ . Hamann diskutiert zunächst den Terminus opinion. Er sei zweideutig, denn er werde sowohl für „ zutreffende Ansicht “ als auch für „ bloße Annahme “ gebraucht. Hamann zeigt, wie man die Frage beantworten könnte: 72 <?page no="87"?> 1. Zunächst wird (vor Herder! ) ein Parallelismus (eine „ Entsprechung “ ) von Einzelsprache und „ Denkungsart “ behauptet: Erstlich: die natürliche Denkungsart hat einen Einfluß in die Sprache. Sowohl die allgemeine Geschichte als die Historie einzelner Völker, Gesellschaften, Secten und Menschen, eine Vergleichung mehrerer Sprachen und einer einzigen in verschiedener Verbindung der Zeit, des Orts und des Gegenstandes, liefern hier ein Weltmeer von Beobachtungen, die ein gelehrter Philosoph auf einfache Grundsätze und allgemeine Klassen bringen könnte. Wenn unsere Vorstellungen sich nach dem Gesichtspunkt der Seele richten, und dieser nach vieler Meynung durch die Lage des Körpers bestimmt wird; so läßt sich ein gleiches auf den Körper eines ganzen Volkes anwenden. Die Lineamente ihrer Sprache werden also mit der Richtung ihrer Denkungsart correspondieren. . . 59 Das, was man unter dem „ Genie einer Sprache “ versteht, ihr „ Naturell “ , dürfe jedoch „ weder mit der Grammatik noch Beredsamkeit verwechselt werden “ . (ibid., 123) 2. Dann wird zwischen einer wesentlichen und einer zufälligen Denkungsart unterschieden. Die zuletzt genannte sei durch „ Modewahrheiten, Vorurtheile des Augenscheins und Ansehens, die bey einem Volke circulieren “ gekennzeichnet. Das „ Genie der Sprache “ wird von diesem Unterschied nicht berührt: Wer über den Einfluß der Meynungen in die Sprache eines Volkes Untersuchungen anstellen will, muss diesen zwiefachen Unterscheid nicht übersehen. Die erste Gattung der Meynungen macht die unbewegliche Denkungsart eines Volks, die andere die bewegliche aus. Jene kann sehr füglich als die älteste, und diese als die neueste betrachtet werden. (ibid., 124) 3. Man müsse, gibt Hamann zu bedenken, sich erst einmal darauf einigen, was man genau unter „ Sprache “ verstehen wolle, bevor man die Frage nach der wechselseitigen Beeinflussung stellt. Er schlägt vor, sich in dem gegebenen Zusammenhang auf die Sprache als eines Mittels der gegenseitigen Verständigung zu konzentrieren: . . .so wäre es am besten denselben [den Begriff der Sprache] nach der Absicht zu bestimmen, als das Mittel unsere Gedanken mitzuteilen und anderer Gedanken zu verstehen. Das Verhältnis der Sprache zu dieser doppelten Absicht würde also die Hauptlehre seyn, aus welcher die Erscheinungen von dem wechselweisen Einfluß der Meynungen und Sprache so wohl erklärt als auch zum voraus angegeben werden könnten. (ibid., 125) 4. Am Schluss seines Versuchs unterscheidet Hamann schließlich, anhand eines anschaulichen Beispiels, zwischen kreativem und nicht-kreativem Sprachgebrauch: Wer in einer fremden Sprache schreibt, der muß seine Denkungsart, wie ein Liebhaber zu bequemen wissen. - Wer in seiner Muttersprache schreibt, hat das 59 Hamann 1999 [1951], Bd. II, 122. 73 <?page no="88"?> Hausrecht eines Ehmanns, falls er dessen mächtig ist. Ein Kopf, der auf seine eigene Kosten denkt, wird immer Eingriffe in die Sprache thun; ein Autor hingegen auf Rechnung einer Gesellschaft, läßt sich die ihm vorgeschriebenen Worte wie ein Miethsdichter die Endreime (bouts-rimés) gefallen, die ihn auf die Gleise derjenigen Gedanken und Meynungen bringen, die sich am besten schicken. (ibid., 126) ‒ Vermischte Anmerkungen über die Wortfügung in der französischen Sprache In dieser Schrift, „ zusammengeworfen, mit patriotischer Freyheit von einem Hochwohlgelahrten Deutsch-Franzosen “ 60 behandelt Hamann ein wohlbekanntes Problem der Sprachtypologie. Die vergleichsweise starre Wortfolge des Französischen wird auf die reduzierte Morphologie dieser Sprache zurückgeführt. Bemerkenswerter ist jedoch die Art und Weise, wie Hamann, immerhin hundertfünfzig Jahre vor Saussure, die Theorie der Sprache mit der Theorie des Geldes in Parallele setzt: Das Geld und die Sprache sind zween Gegenstände, deren Untersuchung so tiefsinnig und abstract, als ihr Gebrauch allgemein ist. Beyde stehen in einer näheren Verwandschaft, als man muthmaßen sollte. Die Theorie des einen erklärt die Theorie des andern; sie scheinen daher aus gemeinschaftlichen Gründen zu fließen. Der Reichthum aller menschlicher Erkenntnis beruhet auf dem Wortwechsel [. . .]. Alle Güter hingegen des bürgerlichen oder gesellschaftlichen Lebens beziehen sich auf das Geld als ihren allgemeinen Maasstab [. . .]. Man darf sich also nicht wundern, daß die Beredsamkeit in den Staatsunternehmungen der ältesten Zeiten ein eben so stark Gewicht gehabt, als das Finanzwesen in der Klugheit und im Glück der unsrigen. (ibid., 129) Hamann sieht sehr wohl, dass die sprachlichen Zeichen wie das Geld keinen Wert an sich haben, sondern im gesellschaftlichen Verkehr Werte vertreten. ‒ Aesthetica in nuce Es handelt sich um eine Schrift, die in einem völlig andersartigen Stil gehalten ist und sich auf einer ganz anderen Ebene bewegt. Die folgenden Punkte verdienen es, besonders hervorgehoben zu werden: 1. Hamann vertritt die Ansicht, dass die Sprache - zumindest in ihrer ursprünglichen Form - dichterischen Charakter habe: „ Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts. . . “ (ibid., 197) 2. Zum ersten Mal erscheint die These von der Sprache als Bild, vom bildhaften Charakter der menschlichen Erkenntnis: Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder. In Bildern besteht der ganze Schatz menschlicher Erkenntnis und Glückseligkeit. Der erste Ausbruch der Schöpfung, und der erste Eindruck ihres Geschichtsschreibers; − die erste Erscheinung und der erste Genuß der Natur vereinigen sich in dem Worte: Es werde Licht! Hiemit fängt sich die Empfindung von der Gegenwart der Dinge an. (ibid.) 60 Untertitel, ibid., 127. 74 <?page no="89"?> Hamanns Thesen unterscheiden sich deutlich von denen Condillacs, weisen jedoch eine gewisse Analogie zu denen Vicos auf (vgl. Bd. 1, Kap. 16 und 18.2). Es handelt sich allerdings um bloße Behauptungen. 3. Außerdem wird die These von der Sprachlichkeit der Natur aufgestellt: die Natur sei die Sprache Gottes: Rede, daß ich Dich sehe! - Dieser Wunsch wurde durch die Schöpfung erfüllt, die eine Rede an die Kreatur durch die Kreatur ist; denn ein Tag sagts dem anderen, und eine Nacht thuts kund der anderen. (ibid., 198) 4. Die menschliche Sprache sei eine Art von Übersetzung der Sprache des Himmels: Reden ist übersetzen - aus einer Engelsprache in eine Menschensprache, das heist, Gedanken in Worte, − Sachen in Namen, Bilder in Zeichen; die poetisch oder kyriologisch, historisch oder symbolisch oder hieroglyphisch - und philosophisch oder charakteristisch seyn können. Diese Art der Übersetzung (verstehe Reden) kommt mehr, als irgendeine andere, mit der verkehrten Seite von Tapeten überein. (ibid., 199) 5. Gott spricht zum Menschen in göttlicher und menschlicher Sprache, die Sprachlichkeit ist nicht auf den Menschen beschränkt: Nachdem GOTT durch Natur und Schrift, durch Geschöpfe und Seher, durch Gründe und Figuren, durch Poeten und Propheten sich erschöpft und aus dem Othem geredet hatte: so hat er am Abend der Tage zu uns geredt durch seinen Sohn. . . (ibid., 213) 4.5.2 Die Herder-Schriften ‒ Rezension: Versuch einer Erklärung des Ursprungs der Sprache Die Rede ist von Tiedemanns Schrift über den Ursprung der Sprache, die im vorhergehenden Herder-Kapitel bereits erwähnt wurde (vgl. ebenfalls Bd. 1, Kap. 17.4.2). Auf knapp zwei Druckseiten fertigt Hamann die Preisschrift ab. Er wendet sich entschieden gegen die dort vertretene aufklärerische Auffassung von der graduellen Entwicklung der Sprache, z. B. der schrittweisen Erfindung der Wortarten, der Annahme etwa, dass zuerst Wörter für Dinge und dann erst für Vorgänge gefunden worden wären: Der Ursprung der menschlichen Sprache und die Erfindung der Partium Orationis sind soweit von einander unterschieden, als Vernunft, Logik, und Barbara Celarent. 61 Tiedemann nehme die Verbindung eines Tons mit einem Inhalt des Bewusstseins als etwas Gegebenes an, doch gerade das gelte es zu erklären. Hamann löst das Problem nicht, sondern zeigt nur, wie es gestellt werden sollte. Dieser Ansatz entspricht eigentlich auch der Fragestellung bei Herder. 61 [ibid., Bd. III, 16. Barbara und Celarent sind die Merkworte für die beiden ersten Schlussfiguren der Syllogistik; J. A.] 75 <?page no="90"?> ‒ Rezension der Herderschen Preisschrift über den Ursprung der Sprache Wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben, fragt Herder nämlich nicht, wie der Mensch Sprache erfunden hat, sondern warum der Mensch Sprache schaffen musste. Für Hamann liegt gerade in dieser Übereinstimmung mit Herder eine Schwierigkeit; denn einerseits möchte er sein Nicht-Einverständnis zum Ausdruck bringen, andererseits kann er die Frage auch nicht anders stellen. Dazu stellt er Herders Ausführungen so dar, als habe dieser die tatsächliche Fragestellung der Akademie übernommen, auf die Herder jedoch nur zum Schein eingegangen war. Hamann sucht immer wieder zu zeigen, dass er die Frage der Berliner Akademie für falsch gestellt hält und unterstellt, Herder habe die Unzulänglichkeit der Fragestellung nicht gesehen. In seiner Darstellung blitzt immer wieder Ironie auf, so wenn er sich fragt, ob Herder einen zentralen Begriff seiner Argumentation, die „ Besonnenheit “ , für sich selbst in Anspruch nehmen könne: Wir finden wirklich in Herrn Herders Schreibart viel Action im theatralischen Verstande; wenn aber die Eigenheit und die wahre Richtung der Menschheit in der „ Besonnenheit “ bestehen soll: so haben wir Blätter und Stellen in dieser Preisschrift gefunden, wo die Besonnenheit in einem so unmerklichen Grade bey dem Verfasser gewirkt haben muss, daß das ecce homo! eher zum „ Merkmal “ und „ Mittheilungswort “ des unbesonnenen oder zu menschlichen Kunstrichters dienen möchte. (ibid., 17) Was ist damit gewonnen, wenn man dem behaupteten göttlichen Ursprung der Sprache den menschlichen gegenüberstellt? Die erste These werde von jenen vertreten, die annehmen, man könne die Sprache aus der Natur des Menschen nicht erklären. Bei Herder werde das Geheimnis der Sprache auf ein höheres Geheimnis zurückgeführt, auf das der Natur des Menschen. Dabei tritt das Problem des Zirkels auf. Man fragt sich allerdings, wie man eine solche Frage überhaupt anders stellen könnte. Voller Ironie zitiert Hamann Herders Behauptung, er habe seine Ausführungen so bewiesen, „ wie die festeste philosophische Wahrheit bewiesen werden kann “ (ibid., 19). Könne man denn eine solche Frage wirklich wie eine „ philosophische Wahrheit “ beweisen? Könne man von der menschlichen Seele als einer bekannten Größe ausgehen? In der Rezension wird Herders These des menschlichen Ursprungs der Sprache ad absurdum geführt, jedoch mit effekthascherischen, problematischen Argumenten. ‒ Abfertigung der im sechs und zwanzigsten Stück enthaltenen Recension Hinter der Maske des Aristobulos, eines griechischen Historikers, legt Hamann eine „ Abfertigung “ seiner eigenen Herder-Rezension vor. Es handelt sich um ein schwer durchschaubares Spiel von Zitaten und ironischen Kommentaren. Hamann geht von der auch von Herder vertretenen These aus, das ursprüngliche Stadium der Sprache sei aufgrund der heutigen Erfahrung zu erklären: Nachdem wir also mit geziemender Kürze ausgemacht haben, „ daß die erste, älteste, ursprüngliche Sprache dem Menschen auf keine andere Art, als die noch itzt wirklich und täglich gangbar ist, mitgetheilt worden “ , so kommt es nunmehro auf 76 <?page no="91"?> die Frage an: „ durch welchen Weg heut zu Tage die Mitheilung der Sprachen geschehe? “ (ibid., 21) Drei Wege der Erklärung böten sich zunächst an: Entstehung durch Instinkt, durch Erfindung oder durch Unterricht. Nur der dritte Weg sei gangbar. Die Widersprüchlichkeit der Erklärung durch Erfindung springe ins Auge: „ Die sinnreiche Hypothese, welche den Ursprung der Sprache menschlicher Erfindung unterschiebt “ , sei nichts weiter als „ ein loser Einfall “ von Leuten, die „ mit dem Grundsatz des Widerspruchs alle Besonnenheit scheinen beynahe verleugnet zu haben. Erfindung und Vernunft setzen ja schon eine Sprache zum voraus. . . “ (ibid.) Es bleibe also nur die These des Unterrichts. Aber um welchen Unterricht kann es sich dabei handeln? Der menschliche Unterricht fällt von selbst weg; der mystische ist zweydeutig, unphilosophisch, unästhetisch und hat sieben und neunzig Gebrechen mehr [. . .] Es bleibt also, nothwendiger Weise und zum guten Glück, nichts als der thierische Untericht übrig. (ibid., 21 f.) Diese krause Art von Argumentation zeigt: Hamann führt diese Frage ad absurdum, weil er sie als solche ablehnt. ‒ Des Ritters vom Rosencreuz letzte Willensmeynung über den göttlichen und menschlichen Ursprung der Sprache Dieser Text ist zwar vor der „ Abfertigung “ entstanden, soll jedoch, der Reihenfolge in der hier benutzten Ausgabe von Nadler entsprechend, im Anschluss daran behandelt werden. Waren die Rezensionen durchweg von Ironie und Ablehnung geprägt, so findet man hier endlich so etwas wie eine positive These des Verfassers. Alles sei göttlichen Ursprungs und damit auch die Sprache. Aber das Göttliche sei zugleich menschlich, und daher sei die Sprache beides zugleich: Wenn man Gott zum Ursprung aller Wirkungen im Großen und Kleinen, oder im Himmel und auf Erden, voraussetzt; so ist jedes gezählte Haar auf unserem Haupte eben so göttlich, wie der Behemoth, jener Anfang der Wege Gottes. [. . .] Folglich ist alles göttlich, und die Frage vom Ursprung des Übels läuft am Ende auf ein Wortspiel und ein Schulgeschwätz heraus. Alles Göttliche ist aber auch menschlich; weil der Mensch weder wirken noch leiden kann, als nach der Analogie seiner Natur, sie sey eine so einfache oder zusammengesetzte Maschiene, als sie will. Diese communicatio göttlicher und menschlicher idiomatum ist ein Grundgesetz und der Hauptschlüssel aller unsrer Erkenntniß und der ganzen sichtbaren Haushaltung. (ibid., 27) Das alles wird im Anschluss daran noch genauer ausgeführt. Da die Werkzeuge der Sprache, Ohr und Zunge, ein Geschenk der alma mater Natur seien, sei der Ursprung der Sprache letztlich ein göttlicher. Wenn sich jedoch ein höheres Wesen uns Menschen kundtun wolle, so könne es das nur in Analogie zur menschlichen Natur tun, und somit könne der Ursprung der Sprache und erst recht „ ihr Fortgang “ (ihre Überlieferung und Weiterentwicklung) nicht anders als menschlich erscheinen (ibid.). 77 <?page no="92"?> Eine wirkliche Erklärung wird damit nicht geliefert. Da Hamanns eigene Versuche der Explikation scheitern, kann er die Versuche anderer großzügig betrachten, indem er zwar die Fragestellung ablehnt, aber eine Art sympathetisches Verständnis für das Scheitern der anderen an der Schwierigkeit und Unergründlichkeit des Problems aufbringt. ‒ Philologische Einfälle und Zweifel über eine akademische Preisschrift Unter Hamanns Herder-Schriften ist diese die wichtigste. Hamann geht hier methodisch klarer vor als in den anderen Herder-Schriften. Es werden zunächst Einfälle anderer vorgestellt und diese dann mit eigenen Zweifeln an diesen Einfällen und eigenen Einfällen konfrontiert. Die Schrift besteht aus drei Teilen. Zuerst wird Hamanns eigene Theorie parallel zu derjenigen Herders vorgetragen, dann kommt die Kritik an Herder zur Sprache. Bis hierher wird Herder nicht genannt. Sein Name erscheint erst im dritten Teil, wo Hamann zu einer Art von Aussöhnung mit seinem ehemaligen Schüler gelangt, der als Opfer des Zeitgeistes hingestellt wird. Nun zum ersten Teil. Es wird nicht klar, ob dieser - wie u. a. Elfriede Büchsel und Josef Simon annehmen - ernst gemeint ist, oder ob nicht doch Ironie zumindest mitspielt. Hamann möchte den „ platonischen “ Thesen Herders eine „ aristotelische “ Theorie der Sprache gegenüberstellen. Wie Aristoteles setzt auch er bei der Unterscheidung zwischen „ Stimme “ und „ Sprache “ an. Auch für ihn ist die „ Stimme “ [i. e. die „ Naturlaute “ ] noch keine Sprache, jedoch „ Wurzel und Stamm, Nahrungssaft und Lebensgeist der Sprache “ . (ibid., 37) Herder war von einem radikalen Unterschied zwischen Mensch und Tier ausgegangen. Für ihn war es kein Unterschied der Entwicklungsstufe, sondern ein grundsätzlicher Unterschied der Art. Hamann zeigt sich in dieser Hinsicht skeptisch, akzeptiert jedoch schließlich einen Unterschied der „ Lebensart “ : Der Mensch hat nicht nur das Leben mit den Thieren gemein; sondern ist auch sowol ihrer Organisation als ihrem Mechanismus mehr oder weniger, das heist, nach Stufen ähnlich. Der Hauptunterscheid des Menschen muß also auf die Lebensart ankommen. (ibid.) Das, was nach Aristoteles die Würde des Menschen ausmache, sei seine Teilnahme an der Rechtsprechung (krísis) und an der Regierung (arch ē ). Diese Würde, wie die Natur selbst des Menschen, sei allerdings ein Geschenk Gottes: Diese Würde nun, gleich allen Ehrenstellen, setzt noch keine innere Würdigkeit noch Verdienst unsrer Natur voraus; sondern ist wie letztere selbst, ein unmittelbares Gnadengeschenk des großen Allgebers. (ibid., 37 f.) An die Stelle von Herders Besonnenheit tritt bei Hamann die Freiheit, von der freilich Herder ebenfalls gesprochen hatte. Die Freiheit ist die Voraussetzung für die Nachahmung, auf die alle Erziehung und Erfindung zurückzuführen sei: Die Freyheit ist das Maximum und Minimum aller unsrer Naturkräfte, und sowol der Grundtrieb als Endzweck ihrer ganzen Richtung, Entwickelung und Rückkehr. [. . .] Ohne das vollkommene Gesetz der Freyheit würde der Mensch gar keiner 78 <?page no="93"?> Nachahmung fähig seyn, auf die gleichwol alle Erziehung und Erfindung beruht; denn der Mensch ist unter allen Thieren der größte Pantomim. (ibid., 38) Es folgt die Unterscheidung zwischen der „ Sphäre “ des Tiers und dem „ Gesichtspunkt “ des Menschen: Die Sphäre der Thiere bestimmt daher, wie man sagt, die Richtung aller ihrer Kräfte und Triebe durch den Instinct eben so individuel und eingeschloßen, als sich im Gegentheil der Gesichtspunct des Menschen auf das Allgemeine ausdehnt und gleichsam ins Unendliche verliert. (ibid., 38 f.) Und nun vollzieht Hamann einige der für ihn so charakteristischen Sprünge in seiner Argumentation - zunächst zum Inhalt des Bewusstseins. Dieses enthalte sowohl Offenbarungen als auch Überlieferungen, die letzten Endes auf die Sinneserfahrung zurückgehen: Nichts ist [. . .] in unserm Verstande ohne vorher in unsern Sinnen gewesen zu seyn . . . Die stamina und menstrua unsrer Vernunft sind daher im eigentlichsten Verstande Offenbarungen und Überlieferungen, die wir zu unser Eigenthum aufnehmen . . . Gesetzt also auch, daß der Mensch wie ein leerer Schlauch auf die Welt käme: so macht doch eben dieser Mangel ihn zum Genuß der Natur durch Erfahrungen und zur Gemeinschaft seines Geschlechts durch Ueberlieferungen desto fähiger. Unsere Vernunft wenigstens entspringt aus diesem zwiefachen Unterricht sinnlicher Offenbarungen und menschlicher Zeugnisse, welche sowol durch ähnliche Mittel, nämlich Merkmale, als auch ähnlichen Gesetzen, mitgetheilt werden. (ibid., 39 f.) Von hier geht es - in Metaphern, deren Bildspender aus dem Bereich der Landwirtschaft stammen - zum Wesen des Menschen. Der Mensch sei zugleich kreativ und rezeptiv: Der Mensch ist also nicht nur ein lebendiger Acker sondern auch der Sohn des Ackers, und nicht nur Acker und Saame [. . .], sondern auch der König des Feldes, guten Saamen und feindseeliges Unkraut auf seinem Acker zu bauen. . . Und schließlich ein sprunghafter, mit also eingeleiteter (Be)schluss, der wiederum nicht begründet wird: Diese Drey sind also Eins nämlich Θεοῦ γεώργιον [Gottes Acker]. (ibid. 40) Der Mensch lerne alles, auch die Sprache. Wie man sich dieses Erlernen vorzustellen habe, sagt Hamann nicht. Der zweite Teil der Einfälle und Zweifel enthält die eigentliche Kritik an Herders Abhandlung. Sie wird in Form von Zweifeln vorgetragen, oft schlicht und einfach durch eine Parodie der Herderschen Ausführungen. Herder unterliege dem Zeitgeist und der herrschenden Mode. Von den vielen Zweifeln, die ihm bei der Lektüre der Preisschrift angefallen hätten, wolle er nur einen ernsthaften vortragen: Dieser eine Zweifel besteht lediglich darin: ob es auch dem platonischen Apologisten des menschlichen Sprachursprungs je ein Ernst gewesen sein Thema zu beweisen oder nur zu berühren. [. . .] Hätte der 79 <?page no="94"?> gelehrte Verfasser im Ernst geschrieben; würde er sich wol so muthwillig und leichtsinnige einem gedrückten, gerüttelten, hyperbolischpleonastischen Wiedervergeltungsmaaße der Kritik ausgesetzt und sich selbst zur Wunden, sich selbst zur Beulen! polemische Waffen gemisbraucht oder immer das Gegentheil von dem geleistet haben, was er seinen Lesern verspricht, angelobt und einzubilden vermeynt? − − (ibid., 42) Es folgt nun ein Referat der Herderschen Thesen mit dem bezeichnenden Titel Platonischer Beweis vom menschlichen Ursprung der Sprache, das fast ausschließlich aus Zitaten besteht. Herder könne sich nicht entscheiden ob der Mensch Tier oder kein Tier sei: Der platonische Beweis vom menschlichen Ursprunge der Sprache besteht aus zwey Theilen, einem negativen und positiven. Der erste enthält Gründe, daß der Mensch gar kein Thier sey und der zweite enthält Gründe, daß der Mensch dennoch ein Thier sey. (ibid., 42) Allein dadurch, dass man den „ Instinkt “ durch „ Besonnenheit “ ersetze, begründe man keinen Unterschied zwischen Mensch und Tier: Denn was sagt der ganze positive Theil des platonischen Beweises positiver und ausdrücklicher, als daß der Mensch aus Instinct denke und rede - daß die positive Kraft zu denken und zu reden ihm angeboren und unmittelbar natürlich sey - daß sie, wie der Instinct der Thiere, auf den Punct eines Merkmals hingerißen, hingezogen oder hingelenkt werde - daß mit dem ersten Worte die ganze Sprache erfunden worden . . . und daß nichts mehr dazu gehöre als den Menschen in den Zustand von Besonnenheit zu setzen, der ihm eigen ist, um dasjenige noch zu erfinden, was ihm schon natürlich ist - (ibid., 45) Es folgt eine Parodie der Herderschen Kernthesen in Form einer „ neuesten Genesis im morgenländischen Dialect “ , von der hier nur ein kleiner Teil wiedergegeben werden kann: Er schuf ihn ein Unthier und Thier aus einem ganzen Ocean von Empfindungen, aus dem ganzen schwebenden Traum der Bilder seine Sinne vorbeistrichen und zum Actu ihrer Anerkenntnis, zum Merkmal seiner Besinnung das Gewehr vor ihm streckten. Hoch über den Thieren nicht an Stufen sondern an Art des Instincts stand der platonische Androgyn als ein Unthier - ohne Instinct. (ibid., 46) Im dritten Teil wird endlich Herder namentlich genannt der Freund, gegen den er, der Magus in Norden, bisher nur „ mit verbundenen Augen “ gefochten habe. Die folgende Rechtfertigung des Freundes ist halb ernst, halb ironisch gehalten: Muste nicht mein Freund Herder um in den akademischen Schranken dem vorgesteckten Ziel, dem Kleinode des verkündigten Preises nachzujagen, muste er nicht laufen als aufs Ungewisse, fechten als der in der Luft streicht? [. . .] Als ein kluger Haushalter eines ungerechten Mammons hat er nicht anders als die Offenbarungen und Überlieferungen seines Jahrhunderts zum Grunde seiner Abhandlung legen und seinen Beweis auf Sand, Stückwerk, Holz, Heu, Stoppeln bauen können - (ibid., 50) 80 <?page no="95"?> Herder habe nach der Mode der Zeit gehandelt, indem er versucht habe, philosophisch zu beweisen, was eigentlich nicht bewiesen werden könne. ‒ Au Salomon de Prusse Diese Schrift gehört zwar zu den Herder-Schriften, zu ihrem ideengeschichtlichen Hintergrund, sagt aber fast nichts zur Sprache. Hamann wendet sich direkt an den König, den Beinamen „ preußischer Salomo “ übernimmt er von Voltaire. Hatte er seinen obersten Dienstherren in einer früheren Schrift noch als den „ gütigen und in einem unzugänglichen Lichte wohnenden “ Friedrich bezeichnet, so zeigt er sich hier ironisch und parodistisch. Das wird schon am ersten Satz erkenntlich, der sich auf Herder bezieht: Sire, je suis un pauvre Diable, fou de mes bâtards, que je viens de léguer à un cadet perdu pour sa patrie, mais digne d ’ être le Président de l ’ Académie des Sciences par laquelle il a été couronné pour un Discours aussi méchant que le Siècle, qui laisse périr de faim les Mages au lieu de les jetter dans une fournaise de feu ardent. 62 Der König steht für das von Hamann entschieden abgelehnte politische, kulturelle und ideologische System der Aufklärung. Es versteht sich nahezu von selbst, dass Hamann sich vergeblich bemüht hat, einen Verleger für diese Schrift zu finden. 4.5.3 Nationalistische Motive bei Hamann: Die sogenannten Schriften zur Orthographie In der Forschung werden die Neue Apologie des Buchstaben h. Oder: Ausserordentliche Betrachtungen über die Orthographie der Deutschen (1773) und Zwey Scherflein zur neuesten Deutschen Literatur (1780) gewöhnlich als „ Schriften zur Orthographie “ bezeichnet. In Wirklichkeit geht es darin um mehr. In den beiden Apologien des Buchstabens h (in der zweiten verteidigt sich der Buchstabe selbst) wird ein Plädoyer für die Individualität und den Glauben, und gleichzeitig gegen den Rationalismus, gegen den Schematismus des sogenannten „ gesunden Menschenverstandes “ gehalten, gegen diejenigen, die das für wahr halten, was die Mehrheit der Stimmen findet. Die Schrift Zwey Scherflein enthält einen besonders wichtigen Beitrag Hamanns zur Sprachtheorie. Sie verteidigt die Autonomie der Schreibkunst gegenüber der vorwiegend praktisch begründeten Annahme, dass die geschriebene Sprache lediglich ein Abbild der gesprochenen sei. Beide Schriften sind aus konkretem Anlass entstanden. Die Apologien sind eine Antwort auf die Betrachtungen über die Religion (1773) von Christian Tobias Damm, in den Zwey Scherflein nimmt Hamann zu Klopstocks Schrift Über die deutsche Rechtschreibung (1778) Stellung. 62 ibid., 57 [ „ Majestät, ich bin ein armer Teufel, vernarrt in meine illegitimen Kinder, die ich gerade einem Jüngeren vermacht habe, der zwar für sein Vaterland verloren ist, jedoch würdig, der Präsident der Akademie der Wissenschaften zu sein, von der er für eine Schrift preisgekrönt wurde, die so schlecht ist wie dieses Jahrhundert, und die die Weisen aus dem Morgenland vor Hunger sterben lässt, anstatt sie in einen glühenden Ofen zu werfen. “ ]. 81 <?page no="96"?> C. T. Damm, ein Philologe, hatte sich bei der Lektüre von Christian Wolff (vgl. Bd. 1, 17.1) und anderen Aufklärern „ zum Rationalismus bekehrt “ und wollte mit seinen Betrachtungen eine „ Naturreligion “ , d. h. eine rationalistische Religion begründen. Er bekämpfte den „ Irrationalismus “ der überlieferten Religionen und wollte diesen Kampf auch auf andere Gebiete ausdehnen. „ Irrational “ schien ihm auch die traditionelle deutsche Orthographie, insbesondere der Buchstrabe h zwischen zwei Vokalen, der nie ausgesprochen wird. So erklärt sich der Titel des Pamphlets, dessen Verfasser in der Folge von seinen Lesern spöttisch als der „ H-Mann “ bezeichnet wurde. Mit einem Pedanten von der Sorte seines Kontrahenten lohne eine Auseinandersetzung nicht. Er, Hamann, wolle sich nicht länger mit einem Gegner überwerfen, der nicht einmal fähig ist einzusehen, daß eine allgemeine gesunde, practische Menschensprache, und Menschenvernunft und Menschenreligion ohne willkührliche Grundsätze sein eigener Backofen von Eis sind. (ibid., 97) In der zweiten Apologie, in der der Buchstabe selbst das Wort ergreift, wird das Prinzip der coincidentia(e) oppositorum erwähnt, das Hamann Giordano Bruno zuschreibt, obwohl es eigentlich auf Nikolaus von Kues zurückgeht und ansatzweise bereits bei Heraklit anzutreffen ist. Weit wichtiger im hier verfolgten Zusammenhang sind die Zwey Scherflein, in denen die Orthographie selbst zu einem philosophischen Problem erhoben wird. Hamann hatte die Orthographie in praktischer Hinsicht behandelt, wie das auch heute noch meist zu geschehen pflegt, nämlich im Hinblick auf die Notwendigkeit einer einheitlichen Rechtschreibung und einer möglichst präzisen Nachbildung der Lautung durch die Schrift. Hamann sieht ein solches Vorhaben als widersprüchlich an, und zwar sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht. Man müsste die kurze Abhandlung eigentlich im Ganzen wiedergeben, weil sie uns viel über Hamanns Sprachauffassung und über sein ganzes Denken zu lehren vermag. Wir müssen uns hier jedoch auf das Wesentliche beschränken. Mitgeteilt werden sollen einerseits die Aussagen, die unmittelbar mit dem Problem der Orthographie zusammenhängen, andererseits Äußerungen allgemeiner Art, die den sprachphilosophischen Hintergrund darstellen. Inwiefern ist nun das gesamte Vorhaben widersprüchlich? Zunächst einmal in praktischer Hinsicht. Beides zugleich, eine einheitliche Rechtschreibung und eine genaue Abbildung der Lautung durch die Schrift, könne man nicht haben; denn die Lautung, die Aussprache ist nun einmal nicht einheitlich. Eine einheitliche Rechtschreibung würde also eine einheitliche Aussprache einschließen. Es müsste also eine bestimmte Aussprache zur Grundlage der Schreibung gewählt werden. Deutschland gestehe, so Klopstock, durch die allgemeine Rechtschreibung gewissen Gegenden die richtige Aussprache zu. Folglich wird von allen Deutschen und Herrn Klopstock selbst der Orthographie eine größere Sphäre als der Orthoepie zuerkannt; folglich nicht Aussprache überhaupt, sondern nur eine gewisse und auserwählte, die nemlich erst ihr Creditiv gleichsam durch die allgemeine Rechtschreibung erhalten (und zwar zur Norm, nicht aber zur Form derselben), wird auch eingestanden. Dies allgemeinere der 82 <?page no="97"?> Rechtschreibung überschreitet also das Gebiet des Gehörs und schliest das Besondere und Einheimische oder Eigenthümliche der Aussprache aus. (ibid., 236) Schon aus diesem Grund ist Hamann gegen eine einheitliche Rechtschreibung. Einerseits widerspreche sie der Freiheit der Sprache - auch was ihren praktischen Zweck betrifft; denn die meisten Kinder müssten sich dann beim Erlernen des Schreibens auf eine ihnen fremde Aussprache beziehen: Jemehr nun die poetische Darstellung einer Orthographie dem Ideal der deutschen Gelehrtenrepublik entspricht [i. e. den Vorstellungen Klopstocks]; desto unbrauchbarer wird sie als Werkzeug zum ersten Geschäfte des Buchstabenspiels. . . (ibid., 234) Andererseits - und dies ist auch in rein praktischer Hinsicht ein gewichtigerer Grund - würde eine Regelung der Rechtschreibung ein Eingreifen des Staates erforderlich machen (was Klopstock ausdrücklich fordert), und das kann Hamann in keinem Fall akzeptieren. Er wehrt sich entschieden gegen jede Einmischung in Fragen der Rechtschreibung von Seiten der Behörden: „ Wahrheit, Gründe, Überzeugungen und Muth richten vielleicht nichts aus, wo nicht Verabredung, Übereinstimmung und Unterstützung der Obrigkeit mitwirken. Eine auf die vernünftigste, leichteste und sicherste Grundsätze gebaute Orthographie würde ausgezischt! werden, wenn nicht Fürsten und Obrigkeiten sie für die Schulen gründen, und in ihren Kanzleyen und Rathhäusern in Übung bringen lassen würden. . . “ [. . .] Selbst bey der möglichsten und thunlichsten „ Verbesserung offenbarer Fehler “ in einer so geistigen Angelegenheit als Sprache ist, halt ich es mit der ökonomischen Klugheit, Toleranz und Enthaltsamkeit des Hausvaters im Evangelio [cf. Matth. 13, 29 f.], nicht zu vorläufig und übereilend, sondern zaudernd sich zu zauen in Ausgätung des Wucherkrauts und es aufschießen zu lassen bis zur Erndte. . . (ibid., 232 f.) Für seine Ablehnung jeder Form von Regulierung der Rechtschreibung hat Hamann darüber hinaus einen tieferen, theoretischen Grund. Für ihn ist die Schrift kein bloßes Abbild der Sprache; Sprechen und Schreiben sind für ihn zwei gleichberechtigte Formen der Sprache: Nicht: Sprache = Sprechen Schrift, sondern: Sprache Sprechen Schrift Denn so wenig der Zweck des Redens in bloßen Articulationen und Modificationen blinder Töne: noch weit weniger besteht der Zweck des Schreibens in einer Abzählung, Abwägung und Punctirung ihrer stummen Statthalter; welches alles auf eine pharisäische Auszehntung von Münz, Till und Kümmel hinausläuft, in Verhältnis des wahren, natürlichen und höheren Zwecks, der sowol Rede als Schrift vereinigt - zu einer Schechine, Stiftshütte und Wagenthron unsrer Em- 83 <?page no="98"?> pfindungen, Gedanken und Begriffe durch hörbare und sichtliche Zeichen der Sprache. (ibid., 237) Die Schrift sei eine Ausdrucksform der Sprache mit eigenem Status und eigenen Rechten: Die Harthörigkeit, welche der allgemeinen Rechtschreibung vorgeworfen wird, ist lange nicht so anstößig als das Augenweh eines in der Mönchenschrift des vierzehnten Jahrhunderts ungeübten Lesers [. . .]; weil durch die neueste Rechtschreiberey unsere deutsche Wörter [. . .] geschändet werden. 63 Und nun kommt das Entscheidende: Da die menschliche Sprache ein Abbild der göttlichen sei, könnten auch die Buchstaben auf irgendeine nicht weiter bestimmte, geheimnisvolle Weise mit dem Wesen der Sprache zusammenhängen. Sie könnten Gegenbilder einer Theopneustie, einer göttlichen Eingebung sein: Denn gehören die Haare unsres Haupts, bis auf den Wechsel ihrer Farbe, zu den Datis der göttlichen Providenz; warum sollten nicht die geraden und krummen Grundstriche und Züge unserer symbolischen und typischen (aber nicht hieroglyphischen) Handschrift [durch „ Typen “ , Buchstaben, nicht durch Ideogramme ausgedrückten; J. A.], Gegenbilder und Spiegel einer Theopnevstie, 2. Tim. III, 16, einer unerkannten Centralkraft seyn, in der wir leben, weben und sind. . . (ibid., 240) Hier macht Hamann, wie so häufig, einen Sprung ins Mystische und Irrationale. Schließlich gelangt er doch zu einer Art von Kompromiss. Eine allgemein geregelte Rechtschreibung sei für wirklich allgemein verfolgte Zwecke angebracht, „ zum Gebrauch der Kanzleyen, Rathhäuser, Cabineter, Toiletten, Almanache, Bibliotheken, Magazine, Encyclopädien etc. etc. “ (ibid., 241). Da sie jedoch auf einem Missverständnis beruhe, das darin bestehe, dass sie der Inkommensurabilität von Aussprache und Schrift nicht Rechnung trage, sei sie nicht für die Erziehung geeignet . . .Weil bey der Ausstellung des Grundgesetzes im Zweck der Rechtschreibung ein Misverständnis zum Grunde liegt, und das ganze Universalmittel selbst nichts als ein leidiges Ohrenpolster der Sinnlichkeit ist; keine wahre Quadratur der Verhältnis zwischen Aussprache und Schrift, und ihrer auszugleichenden Incommensurabilität, ohne Fragmente und Fractionen. (ibid.) Kommen wir nun noch, wie angekündigt, zum allgemeinen sprachphilosophischen und ideologischen Hintergrund von Hamanns Ausführungen. Er sieht jedes Problem der Sprache in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Problematik des Menschen als eines denkenden, religiösen, gesellschaftlichen und politischen Wesens. In der Sprache finde man die Grundlage (vielleicht sollte man besser „ Bedingung “ sagen) für das soziale Leben des Menschen; sie sei Bindeglied zwischen Vernunft, Religion und Gesellschaft: 63 ibid., 237 f. [Gewisse Analogien zur modernen Schriftforschung, angefangen bei Derrida, sind nicht zu übersehen; J. A.] 84 <?page no="99"?> Ohne Sprache hätten wir keine Vernunft, ohne Vernunft keine Religion, und ohne diese drey wesentliche Bestandtheile unserer Natur weder Geist noch Band der Gesellschaft. (ibid., 231) Selbst ein so nebensächliches Problem wie das der Orthographie hänge daher mit dem Problem der Sprache überhaupt zusammen: Also auch die allgemeine Rechtschreibung „ bewahrt die Begriffe, Meinungen, Vorurtheile eines Volks bis zur feinsten Nebenausbildung, selbst in jenen winzigen, unwahrhaften, etosiologischen Fragmenten auf. “ Man könnte dies Aufbewahrte die Mädchenseele der Sprache nennen. . . (ibid., 239) Im Festhalten an der herkömmlichen Rechtschreibung manifestiere sich auch die Anhänglichkeit gegenüber der eigenen Muttersprache. Die Orthographiediskussion sei auf den allein auf praktische Gesichtspunkte gerichteten, bornierten Rationalismus des aufklärerischen Zeitgeistes zurückzuführen, bei dem es sich letztlich um fremdes, „ welsches “ Gut handele: Welschlands unsauberer Geist ist ausgefahren, durchwandelt dürre Stäte, sucht Ruhe und findet ihrer nicht und kehrt mit sieben Geistern, die ärger sind als er selbst; in seinen mit Besemen gekehrten und geschmückten Palast heim - bis ein Stärkerer über ihn kommt, der ihm seinen Harnisch nimt. . . (ibid., 241) Josef Simon bemerkt in seinem einleitenden Kommentar, dass es sich bei Hamann nicht um den vulgären Nationalismus handele: Hamanns Reflexion auf die Sprache grenzt sich ausdrücklich gegen eine Schwärmerei gegenüber der „ Muttersprache “ ab. „ Purismus “ in diesem Sinne kann man Hamann wohl schwerlich vorwerfen, wenn man einen Blick in seine Schriften geworfen hat. (Simon 1967, 61 f.) Seine Argumentation habe vielmehr einen tieferen Grund. Die Sprache als Einzelsprache sei die historische Sprache in ihrer Echtheit und Authentizität. Daher müsse die „ Muttersprache “ und ihre nicht näher zu definierende „ Denkungsart “ gegen fremde Einflüsse verteidigt werden: Daß sich die „ Liebe des Vaterlandes “ auf die „ Muttersprache “ und „ Mutterkirche “ „ natürlicher weise “ beziehe, ist für Hamann mit der Einsicht identisch, daß es „ ohne Sprache “ „ keine Vernunft “ und „ ohne Vernunft keine Religion “ gäbe und „ ohne diese drey wesentlichen Bestandtheile unserer Natur weder Geist noch Band der Gesellschaft. “ Veränderungen in der Sprache bleiben nicht ohne Einfluß auf das Schicksal sozialer Gruppierungen, Manipulationen der Sprache sind mittelbar Manipulationen des gesellschaftlichen Lebens. (ibid., 62) Dass diese Begründung sich vom „ vulgären “ Nationalismus abhebt, lässt sich nicht leugnen, dennoch lassen sich mit einem solchen Hinweis die nationalistischen Akzente in Hamanns Denken nicht verwischen. Ganz im Gegenteil; man kann Hamann nicht als rein sozialen Denker interpretieren, da das Soziale bei ihm eng mit dem Nationalen verbunden ist. Dass er „ welschen Geist “ mit dem gesellschaftspolitischen System in Preußen identifiziert, kann auch nicht im Sinne einer bloßen Inanspruchnahme einer solchen Identifizierung als eines Instruments zur Bekämp- 85 <?page no="100"?> fung eben dieses Systems interpretiert werden. Hier zeigt sich ein unhistorischer Aspekt in Hamanns Denken. Man kann nicht einfach negative Aspekte eines sozialen Systems auf fremden Einfluss zurückführen. Die Gründe für den fremden Einfluss liegen in der Gesellschaft, die die Einflüsse übernimmt. Dies gilt für die Sprache genauso wie für die anderen Aspekte. Das Negative eines fremden Einflusses besteht nicht in seinem Fremdsein als solchem. Es müssen universelle Maßstäbe herangezogen werden, um diesen Einfluss positiv oder negativ zu bewerten. Etwas später kommt Simon nochmals auf Hamanns Ansichten in Bezug auf das Problem fremder Einflüsse auf die Muttersprache zurück: Die eigene Sprache ist „ natürlicher weise “ unbeschnitten, ihre Ausrichtung nach fremden Vorbildern engt sie unnötigerweise ebensosehr ein wie ihre puristische „ Reform “ in anderer Weise. Sie streift, indem sie sich an dem orientiert, was in fremder Sprache möglich ist, von ihren eigenen Möglichkeiten vor allem den Hof der Unbestimmtheit ihrer Begriffe ab, ohne das fremde Vorbild in allen seinen Möglichkeiten erfassen zu können. Was von einer fremden Sprache aufgenommen wird, ist unter irgendwelchen subjektiven Gesichtspunkten aufgenommen und bedeutet als generelles Vorbild eine künstliche Beschränkung der Freiheit noch unter das wirklich bestehende Maß. (ibid., 65) Das kann aber nur heißen, dass Hamanns Nationalismus echt und theoretisch begründet ist. Die Folgen eines solchen Nationalismus, vor allem bei einer oberflächlichen Interpretation, die leicht in einen leeren Vulgärnationalismus abrutschen kann, sind nicht abzusehen. Hamann steht offensichtlich auch am Anfang einer „ nationalistischen “ Deutung der Sprache. Es ist nutzlos, darüber einfach hinwegsehen zu wollen. Dass Hamann andererseits in seiner schriftstellerischen Praxis alles andere als ein Purist ist, gehört zu den Widersprüchen, die man immer wieder in seinem Werk festgestellt hat. Der Verdacht, dass er die Nationalidee zur nationalistischen Idee gemacht habe, lässt sich nicht ganz ausräumen. Auch bei Herder ist von Hass gegenüber anderen Gemeinschaften die Rede (cf. supra, 3.4.9 „ Drittes Naturgesetz “ ). Dieser Hass hat aber keine theoretische Begründung in der Natur der Sprache, sondern ist bloße Feststellung eines Teilaspekts in der Geschichte der Gemeinschaften: Er ist das Gegenstück der inneren Solidarität jeder Gemeinschaft, die sich in Abgrenzung zu anderen Gemeinschaften konstituiert. In jedem Fall scheinen die Gegensätze bei Herder auf höherer Ebene überwunden, nämlich in der Gemeinschaft aller Menschen. Dies könnte eventuell auch bei Hamann der Fall sein, doch ist die Gefahr von Missdeutungen im oben ausgeführten Sinn bei ihm größer als bei Herder. 4.5.4 Die Kant-Schriften: Die Rezension von 1781 und die Metakritik von 1784 Wir wollen uns nun den schwierigen und anspruchsvollen Kant-Schriften zuwenden, der Rezension aus dem Jahre 1781, die lange unveröffentlicht blieb, und der erst postum veröffentlichten (1800) Metakritik über den Purismum der Vernunft aus dem Jahre 1784. 86 <?page no="101"?> ‒ Rezension der Kritik der reinen Vernunft Für Simon ist der Zugang Hamanns zu den Kantschen Schriften klar: Die Besprechung des Hauptwerkes Kants entstand im Jahr seines Erscheinens. Mit „ unverstellter Achtung “ zeigt der Rezensent das Werk an. Auch Kant wird unter dem Thema Sprache und Sprachkritik behandelt. (ibid., 66) Martin Seils stellt sich Hamann bei der Lektüre der Kritik der reinen Vernunft vor. Er werde wohl gleich gemeint haben, Kants Voraussetzung seien brüchig; denn „ es ist völlig unmöglich, dass das Denken jemals von der Sprache getrennt und ‚ rein ‘ erfaßt und gefaßt werden könnte “ . 64 Kants reine Anschauungsformen „ Raum “ und „ Zeit “ sind ebenso wie die reinen Verstandesbegriffe lediglich Modifikationen des Tatbestandes, dass das menschliche Denken stets sprachgebunden ist. Das Wort ist immer schon vor dem Denken anwesend. Man kann nur in Worten denken. Das Denken kann die Worte nicht abschütteln. Es steht ihm kein Ort zur Verfügung, von dem her es der Worte völlig Herr werden könnte. Es muß sie vielmehr als faktisch vorgegeben hinnehmen. Natürlich kann es den Gebrauch der Wörter bis zu einem gewissen Grade regeln, aber es kann sich von ihrem Gebrauch nicht lösen und bleibt deshalb auf die Sprache angewiesen. Das Wort ist früher als der Gedanke. (ibid., 315) So weit also die Überlegungen Hamanns nach den dichterischen Imaginationen von Martin Seils. Dies alles ist jedoch interpretatorische Zutat, eine Interpretation, die eigentlich die Metakritik im Auge hat, wenn sie von der Rezension spricht. In Wirklichkeit ist in der Rezension von der Sprache überhaupt nicht die Rede - zumindest nicht ausdrücklich. Diese Schrift ist nichts weiter als eine genaue und ziemlich klare resümierende Darstellung der Kritik der reinen Vernunft. Auch das eigentliche Anliegen Kants ist Hamann völlig klar, und zu diesem Anliegen äußert er sich kaum kritisch; er beschränkt sich darauf, es in verständlichen Worten darzulegen, ähnlich wie bei seiner Besprechung der Herderschen Abhandlung, mit dem Unterschied, dass hier kein ironisierender Ton zu spüren ist. Seils bemerkt selbst, dass die Besprechung „ fast ohne jede kritische Bemerkung nur die Gedankenlinien des Kantschen Werkes “ nachzeichnet. Eine negative Stellungnahme, die ja bei Hamann nicht fehlen darf, ist allenfalls zwei abschließenden Zitaten zu entnehmen, die ohne Begründung angeführt und später der Metakritik vorangestellt werden: [O curas hominum] O quantum est in rebus inane! (O wie vergeblich sind diese Mühen! ) Persius (Sat. 1,1) sunt lacrumae [lacrimae] rerum (Dinge zum Weinen sind ’ s) (Aeneis 1, 462) An zwei Stellen im Text blitzt ebenfalls Ironie auf, dort wo Hamann Epikur als Haupt der sensualistischen und Platon als Haupt der intellektualistischen Schule einander gegenüberstellt und statt Epikur (versehentlich? ) Christus schreibt und 64 Martin Seils: „ Wirklichkeit und Wort bei Johann Georg Hamann “ . In: Wild (Hg.; 1978), 314 − 339, hier 314 f. 87 <?page no="102"?> gleich darauf Platon an die Spitze der Neologisten satt Noologisten stellt, 65 offensichtlich mit dem Ziel, die Intellektualisten mit den Vertretern der Aufklärungstheologie zu identifizieren. Insgesamt ist die Rezension jedoch eine nüchterne Darstellung. Hamann zeigt, dass er genau verstanden hat, worum es Kant geht. ‒ Metakritik über den Purismum der Vernunft Diese Schrift ist Hamanns wichtigste philosophische Arbeit. Hier kommt seine ablehnende Haltung gegenüber Kant deutlich zum Ausdruck, eher in negativer als in konstruktiver Hinsicht. Hier wird auch dem Problem der Sprache eine zentrale Stellung eingeräumt. Zwei wesentliche Punkte der Kantschen Kritik werden von Hamann kritisiert: der sog. „ Purismus “ der (reinen) Vernunft und die Trennung zwischen Sinnlichkeit (Anschauung) und Verstand (Begrifflichkeit). Die Existenz selbst der Sprache würde diese Punkte widerlegen; denn einerseits sei die Vernunft nicht „ rein “ zu erfassen, da sie immer sprachhaft sei, und andererseits sei die Sprache Einheit von Sinnlichkeit und Begrifflichkeit. Wenn man zusätzlich gewisse Unterschiede einführt, sind beide Argumente sicherlich nicht sinnlos, da Hamann die Unterschiede nicht macht, kann er Kant nicht gerecht werden und muss dessen Anliegen, das er in der Rezension richtig dargelegt hatte, missverständlich darlegen und verzerren. Das fängt damit an, dass er sich der Auffassung Berkeleys hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Wörtern und Ideen anschließt: Ein großer Philosoph hat behauptet, „ daß allgemeine und abstracte Ideen nichts als besondere sind, aber an ein gewisses Wort gebunden, welches ihrer Bedeutung mehr Umfang oder Ausdehnung giebt, und zugleich uns jener bey einzelnen Dingen erinnert “ . (ibid., 283) Diese Entdeckung sei sogar nichts weiter als die ausdrückliche Feststellung einer dem gesunden Menschenverstand unmittelbar zugänglichen Tatsache: Was aber die wichtige Entdeckung selbst betrift: so liegt selbige wohl ohne sonderlichen Tiefsinn im bloßen Sprachgebrauch der gemeinsten Wahrnehmung und Beobachtung des Sensus communis offen und aufgedeckt. (ibid.) Kant hingegen habe sich etwas Unmögliches vorgenommen, nämlich von der Möglichkeit einer Erkenntnis vor aller Erfahrung und von der Möglichkeit einer sinnlichen Anschauung vor aller Empfindung zu sprechen: Zu den verborgenen Geheimnissen, deren Aufgabe geschweige ihre Auflösung noch in keines Philosophen Herz gekommen seyn soll, gehöret die Möglichkeit menschlicher Erkenntnis von Gegenständen der Erfahrung ohne und vor aller Erfahrung und hiernächst die Möglichkeit einer sinnlichen Anschauung vor aller Empfindung eines Gegenstandes. (ibid.) Dies alles ist nun - und zwar unabhängig von den positiven Absichten Hamanns im Hinblick auf die erkenntnistheoretische Rolle der Sprache - völlig verkehrt. Die 65 Hamann 1999 [1951], 279. 88 <?page no="103"?> Grundannahmen sind unzutreffend, sowohl was Berkeley als auch was Kant betrifft. Im Falle von Berkeley bedeutet „ idea “ im Kontext seiner Philosophie (wie überhaupt im gesamten englischen Empirismus) nicht „ Begriff “ , sondern „ Vorstellung “ (cf. Bd. 1, Kap. 15.1). Berkeley behauptet lediglich, dass es keine allgemeinen, sondern nur Individualvorstellungen gibt. Seine Bestimmung der Sprache ist deshalb eine rein negative. Richtig interpretiert besagt sie nur, dass die Wortbedeutungen keine Vorstellungen sind. Und was Kant betrifft, so handelt es sich bei ihm keineswegs um eine Erkenntnis vor der Erfahrung, noch um eine sinnliche Anschauung vor der Wahrnehmung, sondern um die subjektiven, d. h. die subjektbezogenen, das Subjekt betreffenden Bedingungen der sinnlichen und begrifflichen Erkenntnis - um den notwendigen Beitrag des erkennenden Subjekts zur Erkenntnis des Objekts. Hamann spielt hier mit der logischen Zweideutigkeit des Wortes Möglichkeit je nachdem, worauf es bezogen wird: Er interpretiert es als Möglichkeit der Existenz, des Daseins, der Aktualität der Erkenntnis vor der Erfahrung. Kant hingegen verwendet Möglichkeit im Sinne von Bedingtheit, von Ermöglichung der Erkenntnis in der Form, in der sie erfolgt. Die subjektbezogenen Bedingungen, von denen Kant spricht, sind nur insofern vor der Erfahrung da, als sie nicht zum Stoff des Erfahrenen als solchem gehören. Im tatsächlichen Akt des Erfahrens sind natürlich die subjektbezogenen Bedingungen der Erfahrung mit der objektiven Erfahrung gleichzeitig anwesend. Es geht also nicht etwa eine Erfahrung ohne Inhalt einer solchen mit Inhalt voraus, sondern die „ Form “ , die Möglichkeit der Erfahrung eines erkennenden Subjekts kann getrennt vom „ Stoff “ der Erfahrung, dem erkannten Objekt untersucht werden. Auch in sprachphilosophischer Hinsicht ist, formal gesehen, die Fragestellung Kants die richtige, obwohl sie gerade nicht die Sprache betrifft, unter der Voraussetzung, dass das Objekt als für das Subjekt zwar sprachlich gegeben, nicht aber an sich schon „ sprachhaft “ aufgefasst wird. Für Hamann ist nun aber eben das der Fall, was auf eine Extrapolation und Verabsolutierung des „ Sprachlichen “ hinausläuft. Zwei Fehldeutungen also: Im Falle von Berkeley handelt es sich um ein bloßes Missverständnis. Was die Kant-Deutung betrifft, so scheint - angesichts der korrekten Deutung in der Rezension - eine durchaus beabsichtigte Fehldeutung vorzuliegen. Die unkritischen Bewunderer Hamanns versäumen es häufig, auf dergleichen beabsichtigte Missdeutungen zu achten. Gleich nach der verzerrten Vorstellung des Anliegen Kants trifft Hamann eine Unterscheidung zwischen der Vernunft als Erkenntnisquelle oder Erkenntnisart, die untersucht wird, und der untersuchenden Vernunft, die sich selbst als Objekt, Erkenntnisquelle oder Erkenntnisart untersucht. Simon äußert sich in seiner Einleitung folgendermaßen dazu: Diesen Begriff der Vernunft, nämlich den der konkreten Vernunft, in oder mit der die „ Kritik der reinen Vernunft “ in ihrer besonderen sprachlichen Gestalt geschrieben worden ist, erreicht natürlich die „ Kritik der reinen Vernunft “ nicht, denn er bleibt wesentlich vorausgesetzt. Von da aus versteht Hamann seine Schrift als „ Metakritik “ oder Kritik der Kritik. (Simon 1967, 71) 89 <?page no="104"?> Dieser Unterschied ist zwar wichtig und sogar grundlegend - wir werden in diesem Zusammenhang von Vernunft 2 (Objekt der Untersuchung) und Vernunft 1 (untersuchende Vernunft) sprechen - auf die Argumentation Hamanns angewendet führt er jedoch nur zu Unklarheiten. Es ist nämlich im weiteren Verlauf seiner Schrift nicht zu erkennen, von welcher Art der Vernunft jeweils die Rede sein soll. Wenn es sich um die Vernunft 2 handelt, d. h. um die von Kant beschriebene Vernunft, so sind Hamanns Einwände in formaler Hinsicht annehmbar, in dem Sinne nämlich, dass sie wenigstens den Gegenstand der Diskussion betreffen, wenn sie auch in materieller Hinsicht diskutierbar sein können. Wenn es sich hingegen um die Vernunft 1 handelt - und dies scheint der Fall zu sein - dann sind die Einwände schon in formaler Hinsicht nicht annehmbar, denn sie würden etwas betreffen, wovon bei Kant überhaupt nicht die Rede ist, nämlich die Vernunft, mit der Kant von der Vernunft spricht. Es könnte sich wiederum um eine Art von Spiel handeln: Die Einwände richten sich expressis verbis gegen die Vernunft 2 , gemeint ist jedoch insgeheim die Vernunft 1 . Oder aber es handelt sich gar nicht um Einwände, sondern - insofern die Darstellung einen neuen Gegenstand betrifft - um die Beschreibung der Vernunft 1 , der Vernunft, mit der Kant über die Vernunft 2 spricht. Eine solche Darstellung dürfte dann aber nicht nur Negatives (das wäre von vornherein unannehmbar), sondern sie müsste auch Positives enthalten. Ein analoger Unterschied müsste nun auch für die Ausführungen Hamanns gelten, womit man notwendigerweise in den Zirkelschluss des Skeptizismus gerät. Denn wir müssten, wie im Fall Kants, auch zwei Formen der sprachbedingten (kurz sprachlichen) Vernunft annehmen: sprachliche Vernunft 1 sprachliche Vernunft 2 (die Vernunft, mit der Hamann spricht) (die Vernunft, von der Hamann spricht) Die sprachliche Vernunft 2 wird nun von Hamann als durch die spezifischen geschichtlichen und gesellschaftlichen Traditionen bedingt dargestellt. Wenn dies auch für die sprachliche Vernunft 1 gelten soll, so würden die Aussagen Hamanns selbst relativiert, denn auch sie wären durch spezifische Umstände und Überlieferungen bedingt. Man könnte sie somit überhaupt nicht als allgemeingültige Beschreibung der sprachlichen Vernunft 2 akzeptieren, sondern nur als eine Äußerung des Individuums Hamann, die durch die zu einem bestimmten Zeitpunkt gegebenen Umstände bedingt wäre. Nun zu den vorgebrachten Einwänden im Einzelnen: 1. Kant habe die Vernunft von Tradition und Glauben getrennt: Die erste Reinigung der Philosophie bestand nehmlich in dem theils misverstandenen, theils mislungenen Versuch, die Vernunft von aller Ueberlieferung, Tradition und Glauben daran unabhängig zu machen. 66 66 Hamann 1999 [1951], Bd. 3, 284. 90 <?page no="105"?> 2. Er habe, dem Geist des Jahrhunderts entsprechend, die Vernunft von der Erfahrung getrennt: Die zweite ist noch transcendenter und läuft auf nichts weniger als auf eine Unabhängigkeit von der Erfahrung und ihrer alltäglichen Induction hinaus. . . (ibid.) 3. Vor allem aber habe Kant die Vernunft nicht im Zusammenhang mit der Sprache betrachtet - er glaubte, von einer nicht-sprachlichen Vernunft sprechen zu können: Der dritte höchste und gleichsam empirische Purismus betrifft also noch die Sprache, das einzige erste und letzte Organon und Kriterion der Vernunft, ohne ein ander Creditiv als Ueberlieferung und Usum. (ibid.) Das alles ist für Hamann nicht annehmbar oder unmöglich. Diese Einwände - gleichgültig, welche Vernunft sie betreffen, diejenige, mit der Kant spricht, oder diejenige, von der Kant spricht - haben nicht denselben Status. Die beiden ersten sind formal zutreffend; sie beziehen sich auf Unterschiede, die Kant tatsächlich macht. Hierzu ist zu bemerken, dass es Kant nicht um eine Phänomenologie der Vernunft und der Erkenntnis ging, sondern um die Eigenschaften der Vernunft als solcher, unabhängig von ihrer geschichtlichen, individuellen und okkasionell-objektiven Bedingtheit. Man kann natürlich die These vertreten, eine Betrachtung der reinen Vernunft sei generell unmöglich. Das käme der bekannten These gleich, die endliche Natur des menschlichen Denkens schließe eine solche Betrachtung aus. Hamann behauptet nun eine solche These, ohne sie wirklich mit Argumenten zu vertreten. Bei der Deutung seiner Behauptungen müssen die Argumente hinzugefügt werden. Der dritte Einwand betrifft hingegen etwas, das Kant zu tun versäumt hat. Er hat die reine Vernunft nicht ausdrücklich von der Sprache getrennt. Er hat nur stillschweigend angenommen, eine Betrachtung der reinen Vernunft sei unabhängig von der Sprache möglich. Er hat sozusagen vergessen, die sprachliche Bedingtheit der Vernunft auszuschließen oder wenigstens auszuklammern. Er hat eine solche Ausklammerung stillschweigend für möglich gehalten. Eine solche Ausklammerung wäre dann auch für die Vernunft 1 nicht möglich, da sich auch diese sprachlich äußern muss. Das heißt, der sprachlichen Bedingtheit, der Vermittlung der Welt durch die Sprache, müsste eigentlich der gleiche Status wie der Gesamtheit der Kantischen Anschauungsformen und Kategorien zukommen; sie müsste, wie Hamann etwas später ausführt, als eine reine Form a priori angesehen werden. Hamann selbst hält übrigens diese Bedingtheit durch die Sprache für nicht untersuchbar. Er schreibt: „ Je länger man nachdenkt, desto tiefer und inniger man verstummt und alle Lust zu reden verliert. “ (ibid.) Diese Äußerung wird von Simon, zu Recht wie mir scheint - folgendermaßen kommentiert: In der Sprache wird mit der eigenen Endlichkeit Unendlichkeit im Sinne von nicht zu bestimmender Unbestimmtheit erfahren. Hamann entschuldigt aus dieser Einsicht heraus geradezu den Kantischen „ Purismus “ der Sprache gegenüber, 91 <?page no="106"?> denn es ist im Sinne einer bestimmten Theorie auch nicht möglich dahinterzukommen, inwiefern Vernunft Sprache ist. (Simon 1967, 73) Dies bedeutet: Wenn auch die Vernunft 1 sprachbedingt ist, ist es nicht möglich zu ermitteln, inwiefern die Vernunft 2 ihrerseits wiederum sprachbedingt ist; denn man befindet sich von vornherein im Rahmen der sprachlichen Bedingtheit. Wenn man jedoch dies alles annimmt, so entstehen wieder eine Reihe von weiteren Schwierigkeiten, von Aporien: a) Wenn eine Distanz gegenüber dieser Bedingtheit unmöglich ist, wie kann man dann überhaupt von ihr sprechen? b) Wenn diese Bedingtheit immer und in jeder Hinsicht gegeben ist, so ist sie belanglos. Man kann sie ignorieren, da sie keinerlei Differenzen ausmacht - das Denken beschäftigt sich schließlich mit Differenzen. c) Wie kann man Kant vorwerfen, er habe eine Bedingtheit nicht berücksichtigt, die ohnehin nicht untersuchbar ist? d) Wie kann man Beispiele für diese Bedingtheit anführen? Würde das nicht bedeuten, dass man in einigen Fällen ihr gegenüber doch jene Distanz gewinnen kann, die notwendig ist, um gewisse Fakten unabhängig von ihr darzustellen? Exkurs: Hamanns Auffassung von der sprachlichen Bedingtheit des Denkens In genau diesen zuletzt angeführten Widerspruch gerät Hamann, wenn er von dieser Bedingtheit spricht und dann Beispiele dafür anführt. Das erste Beispiel betrifft das Wort Metaphysik, dessen Bedeutung einzelsprachlich bedingt sei: Schon dem Namen Metaphysik hängt dieser Erbschade und Aussatz der Zweideutigkeit an, der dadurch nicht gehoben, noch weniger verklärt werden mag, daß man bis zu seinem Geburtsort, der in der zufälligen Synthese eines griechischen Vorworts [i. e. eines Präfixes; J. A.] liegt, zurückgeht. 67 Dieses Beispiel ist - wie andere, die man anführen könnten - widersprüchlich und zeigt, worum es bei dieser Art der Argumentation eigentlich geht: um eine Verwechslung, eine Verwechslung, wie sie für eine gewisse Ausrichtung der Sprachphilosophie von Hamann und Herder bis hin zu Whorf und Weisgerber charakteristisch ist. Das Beispiel ist allein deshalb widersprüchlich, weil schon die Tatsache, dass Hamann es anführen und erklären kann, zeigt, dass das Denken über das einzelsprachlich Gegebene hinaus zu den Gegenständen selbst und zu ihrer Definition gelangen kann, dass sich also das Denken vom einzelsprachlich Vorgegebenen befreien kann, indem es eben dieses Vorgegebene analysiert, und darüber reflektiert. Das ist natürlich auch in der eigenen Sprache ohne weiteres möglich. Hier nur ein immer wieder angeführtes Beispiel: Bei der Beschreibung einer species fängt man mit dem sprachlich Gegebenen an, z. B. mit dem Wort Walfisch. Dann stellt man in der Wissenschaft fest, dass der Walfisch kein Fisch ist, d. h. man kommt auf die Grundlagen zurück und korrigiert die Klassifizierung, die in 67 Hamann 1999 [1951], Bd. 3, 285. 92 <?page no="107"?> der Sprache gegeben war. So geht es - wenn auch nicht immer so einfach - überall im Denken zu, das, obwohl sprachlich bedingt, über die Sprache hinausgeht. Wäre eine Einzelsprache tatsächlich ein in sich geschlossenes, undurchdringliches System, so hätte Benjamin Lee Whorf die Hopi-Sprache gar nicht in einer anderen Sprache, etwa auf Englisch, erklären können. Ebenso könnte man, wenn das ganze Denken sprachlich bedingt wäre, von dieser Bedingtheit überhaupt nicht sprechen. Der Tatsache, dass man von dieser Bedingtheit sprechen kann, schließt etwas Wichtiges ein, nämlich dass es ein Denken gibt, das diesen Widerspruch feststellen kann, das also nicht sprachlich bedingt ist. Und gerade dieses Denken sollte zugleich behaupten, alles Denken sei sprachlich bedingt? Somit läuft die Behauptung Hamanns eigentlich auf die Feststellung hinaus, dass das naive Denken häufig eine solche Analyse nicht durchführt und damit Gefahr läuft, das Außersprachliche anhand des einzelsprachlich Gegebenen zu interpretieren. Eine solche Feststellung ist für die Sprachbeschreibung und sogar für die Sprachtheorie nicht ohne Interesse, bereitet jedoch dem reflexiven Denken keine besondere Schwierigkeit. Die Verwechslung, von der oben die Rede war, ist diejenige zwischen der Sprache als tradierter Sprache, als Einzelsprache (Sprache1) und Sprache als Ausdruck des Denkens (Sprache2). Es geht dabei nicht um das Denken, das in der Bildung der Einzelsprache selbst festgestellt werden kann, sondern um das Denken mit einer gegebenen Einzelsprache. Zwischen dem Denken und der Sprache gibt es natürlich einen völligen Parallelismus insofern, als alles theoretische Denken sprachlich ausgedrückt werden muss. Diese Sprachlichkeit des Denkens darf jedoch keinesfalls mit der Einzelsprachlichkeit identifiziert werden, denn dann wäre das Denken unübersetzbar und nur Franzosen könnten französisches Denken, nur Deutsche deutsches Denken verstehen. Das Verhältnis des Denkens zur tradierten Sprache ist das einer Anfangsdetermination, nicht einer dauerhaften Determination. Das Denken setzt zwar notwendigerweise beim einzelsprachlich Vorgegebenen an, geht jedoch dann darüber hinaus, bleibt nicht für alle Zeit darin gefangen. Natürlich ist es nicht uninteressant, auf die einzelsprachlichen Ansätze des Denkens zurückzugehen; für die es in gewissen Sprachen besonders günstige Voraussetzungen geben kann (z. B. Vorhandensein eines Artikels). Insofern ist es auch ratsam, die ursprünglichen Bedeutungen von Wörtern zu kennen, die zu philosophischen Termini geworden sind. Das Denken geht jedoch über die Einzelsprache hinaus und schafft sich die Sprache, die es braucht. So können die Wörter einer Einzelsprache, wenn sie zu Termini geworden sind, prinzipiell in jeder anderen Sprache definiert werden. Τέχνη ist gewiss zunächst ein griechisches Wort mit einer bestimmten Bedeutung. Wenn nun aber diese Bedeutung als Inhalt eines Fachterminus erscheint, wie z. B. bei Platon, kann man prinzipiell in jeder Sprache sagen, was damit gemeint ist. Platon spricht von der τέχνη selbst, von den objektiven Korrelationen des Wortes τέχνη , nicht von diesem Wort und seiner Bedeutung im Griechischen, denn er ist Philosoph, nicht Linguist und Semantiker. Somit sind die Äußerungen „ ohne Sprache keine Vernunft, keine Welt “ und „ ohne Sprache kein Denken “ an sich völlig annehmbar. Sie bedeuten jedoch nicht, 93 <?page no="108"?> dass die Reflexion über die Welt mit der Reflexion einer Sprache identisch ist und nicht über diese Sprache hinausgehen kann. Sie bedeutet ebenso wenig, dass das Denken nur das denkt, was in dieser Sprache schon gedacht worden ist. Dies alles bedeutet aber zugleich, dass Hamann Recht hat, solange es sich um die Anfangsdetermination des Denkens handelt, solange man nicht annimmt, dass sich das Denken innerhalb des sprachlich Gegebenen erschöpft, solange man nur den Anfangspunkt des Denkens im Auge hat. In dieser Hinsicht muss man Hamann Recht geben, wenn er feststellt, dass die Frage ‚ ‚ wie das Vermögen zu Denken möglich sei ‘ nicht ohne Bezug auf die Sprache, in der die erste menschliche Welt gegeben ist, gestellt werden kann, und dass Kant in dieser Hinsicht ein schweres Versäumnis unterlaufen sei: Bleibt es allso ja noch eine Hauptfrage: wie das Vermögen zu denken möglich sey? - Das Vermögen, rechts und links vor und ohne, mit und über die Erfahrung hinaus zu denken? So braucht es keiner Deduction, die genealogische Priorität der Sprache vor den sieben heiligen Functionen logischer Sätze und Schlüsse und ihre Heraldik zu beweisen. (ibid., 286) Weniger annehmbar ist es, dass Hamann die Materialität der Sprache als Form a priori darstellt: Laute und Buchstaben sind also reine Formen a priori, in denen nichts, was zur Empfindung oder zum Begriff des Gegenstandes gehört, angetroffen wird und die wahren, ästhetischen Elemente aller menschlichen Erkenntnis und Vernunft. (ibid.) In gewisser Hinsicht sind die Laute und Buchstaben schon Formen a priori, das heißt Erzeugnis des menschlichen Schaffens, gerade weil sie weder durch Empfindungen noch durch Begriffe motiviert sind. Sie sind es jedoch, wie alles, was zur menschlichen Kreativität gehört, nicht in dem Sinn, wie Kant sie versteht, und auch nicht im Sinne der Kantischen Synthese a priori. Völlig unannehmbar ist Hamanns Versuch, Raum und Zeit als sprachlich deduzierte Begriffe darzustellen. Die älteste Sprache, schreibt er, sei Musik, „ das leibhafte Urbild alles Zeitmaaßes “ , die älteste Schrift die „ mit der Oekonomie des Raums “ befasste Malerei gewesen: Daher haben sich die Begriffe von Zeit und Raum durch den überschwänglich beharrlichen Einfluß der beyden edelsten Sinne, Gesichts und Gehörs, in die ganze Sphäre des Verstandes, so allgemein und notwendig gemacht, als Licht und Luft für Aug, Ohr und Stimme sind, daß Raum und Zeit war [zwar] nicht ideae innatae, doch wenigstens matrices aller anschaulichen Erkenntnis zu seyn scheinen. (ibid.) Wir haben diese Argumentation bereits bei Herder angetroffen, der in dieser Hinsicht von Hamann abhängt (cf. supra 3.6). Sie ist völlig unannehmbar, und zwar aus drei Gründen: - Erstens geht es nicht um Begriffe, sondern um „ Formen der Anschauung “ vor jeder Begrifflichkeit. Auch ohne die Begriffe „ Raum “ und „ Zeit “ gibt es Raum und Zeit als Formen der Anschauung. 94 <?page no="109"?> - Zweitens geht es nicht um die Deduktion dieser Begriffe, sondern um ihre objektiven Korrelate, die in diesem Fall den dem Subjekt gegebenen Anschauungsformen entsprechen. - Drittens weil die „ Deduktion “ Hamanns eigentlich nicht die Sprache als ganze betrifft, sondern nur deren Materialität, Laute und graphische Figuren, d. h. Gegenstände des Ohrs und des Auges. Warum wird hier ausschließlich auf sprachliche Laute und Figuren und nicht auf die anderen, nicht sprachlichen abgehoben? Was nun den oben bereits angeführten zweiten Einwand betrifft, den Einwand gegenüber der Trennung von Vernunft und Erfahrung, den er nochmals in anderer Terminologie erhebt: Entspringen aber Sinnlichkeit und Verstand als zwey Stämme der menschlichen Erkenntnis aus Einer gemeinschaftlichen Wurzel, so daß sie durch jene Gegenstände gegeben und durch diesen gedacht werden, zu welchem Behuf nun eine so gewaltthätige, unbefugte, eigensinnige Scheidung desjenigen, was die Natur zusammengefügt hat! (ibid.), so kann er in dieser generellen Form ebenfalls nicht angenommen werden, weder im Hinblick auf die Erkenntnis noch im Hinblick auf das Kantische Vorhaben. Die Einheit von „ Sinnlichkeit “ und „ Verstand “ trifft zwar für die Sprache zu, nicht jedoch für die Erkenntnis. Denn zum einen impliziert das, was in der Sprache eine Einheit bildet, nicht dieselbe Einheit im Bereich der Erkenntnis und zum anderen ist die „ Sinnlichkeit “ der Sprache (Ausdruck) nicht mit der Sinnlichkeit der Erkenntnis (der Gegenstand, das Datum) gleichzusetzen. Was nun Kant betrifft, so hat er eine Unterscheidung getroffen, die keine „ Trennung “ bedeutet. Auch wenn man die Einheit von „ Sinnlichkeit “ und „ Verstand “ betonen möchte, muss man zuvor die betreffende Unterscheidung machen. Wichtiger ist da schon, was Hamann zum Verhältnis der beiden Sphären in der Sprache sagt: Wörter haben also ein ästhetisches und logisches Vermögen. Als sichtliche und lautbare Gegenstände gehören sie mit ihren Elementen zur Sinnlichkeit und Anschauung, aber nach dem Geist ihrer Einsetzung und Bedeutung, zum Verstand und Begriffen. (ibid., 288) Das ist eine bedeutsame Analyse des Phänomens „ Wort “ und seiner geheimnisvollen Aspekte. Warum sind Laute mit Begriffen verknüpft? Hamann stellt sich die Frage nach der gegenseitigen Determination der beiden Sphären im sprachlichen Zeichen: a) Inwiefern determiniert der Stoff die Bedeutung? Ist es nun möglich, frägt der Idealismus von der einen Seite, aus der bloßen Anschauung eines Worts den Begriff desselben zu finden? Ist es möglich aus der Materie des Wortes Vernunft, seinen 7 Buchstaben 68 oder 2 Sylben - ist es möglich, 68 [Auch bei Hamann selbst sind es acht; J. A.] 95 <?page no="110"?> aus der Form, welche die Ordnung dieser Buchstaben und Sylben bestimmt, irgend etwas von dem Begriff des Wortes Vernunft herauszubringen? Hier antwortet die Kritik mit ihren beyden Waagschalen gleich. 69 b) Inwiefern determiniert die Bedeutung den Stoff? Ist es ferner möglich, frägt der Idealismus von der anderen Seite, aus dem Verstande die empirische Anschauung eines Wortes zu finden? Ist es möglich aus dem Begriff des Worts Vernunft die Materie ihres Namens, d. i. die 7 Buchstaben oder 2 Sylben im deutschen oder irgend einer anderen Sprache zu finden? Hier deutet die eine Waagschale der Kritik ein entscheidendes Nein! (ibid., 288 f.) Bei der sich daran anschließenden Frage handelt es sich um einen für Hamann typischen Scherz: Sollte es aber nicht möglich sein, aus dem Begriff die Form seiner empyrischen Anschauung im Wort herzuleiten, vermöge welcher Form die eine von 2 Silben a priori und die andere a posteriori steht, oder daß die 7 Buchstaben, in bestimmter [bestimmtem] Verhältnis geordnet, angeschaut werden? Hier schnarcht der Homer der reinen Vernunft ein so lautes Ja! wie Hans und Grethe vor dem Altar. . . (ibid., 289) Was nun den „ Idealismus “ betrifft, so kann man ihm, sollte denn Kant gemeint sein, die ihm von Hamann untergeschobenen Antworten keineswegs zuschreiben. Am Ende der Metakritik erscheint nochmals ein Bild, das wir bereits kennengelernt haben. Er, Hamann, überlasse es jedem Leser, „ die geballte Faust in eine flache Hand zu entfalten “ (ibid.). In seinem Sprachphilosophischen Lesebuch hat Heinrich Juncker noch ein Zitat hinzu gefügt: Ich [. . .] halte mich jetzo an das sichtbare Element, an dem Organo oder Criterio - ich meine Sprache. Ohne Wort keine Vernunft - keine Welt. Hier ist die Quelle der Schöpfung und Regierung. Was man in morgenländischen Cisternen sucht, liegt im sensu communi des Sprachgebrauchs, und dieser Schlüßel verwandelt unsere beste und wüste Weltweisen in sinlose Mystiker, die einfältigsten Galiläer und Fischer in die tiefsinnigsten Forscher und Herolde einer Weisheit, die nicht irdisch, menschlich und teufelisch ist, sondern von einer heimlichen verborgenen Weisheit Gottes. . . 70 Das stammt nicht aus der Metakritik, sondern aus dem bereits zitierten Brief an Jacobi aus dem Jahre 1783, gehört aber sicherlich in denselben Kontext und gibt zudem einen guten Schluss für unsere Beschäftigung mit Hamann ab. 69 Hamann 1999 [1951], Bd. 3, 288. 70 [Junker 1948, 43 f. Hier zit. in etwas veränderter Form nach der Briefausgabe von Ziesemer und Henkel.] 96 <?page no="111"?> 4.6 Fazit Wir haben es bei Hamann mit Ansätzen zu tun, die in verschiedene Richtungen gehen und verschiedene Aspekte der Sprache beleuchten. Einheitliche Grundlage ist die Überzeugung von der Bedeutung der Sprache für den Menschen und seine Kultur. Es handelt sich um ein Motiv, das speziell die deutsche Sprachphilosophie charakterisiert und ihre Einheit ausmacht. Bei Hamann gibt es zwei Gruppen von Motiven, nämlich negative, die sich als Kritik an den Ansätzen anderer artikulieren und positive, die als eigene Ansätze in losem Zusammenhang zum Ausdruck kommen. 4.6.1 Hamanns Leistung als Kritiker seiner Zeitgenossen Hamanns kritische Argumente gegenüber anderen sind nicht sehr zahlreich, vielleicht jedoch wichtiger als seine positiven Ansätze. Sie beziehen sich auf drei Komplexe, erstens auf den Begriff der „ Besonnenheit “ bei Herder, zweitens auf die mechanistische Interpretation der Sprache in der Aufklärung und drittens auf das, was man Kant im Hinblick auf die Sprache als „ Versäumnis “ anlasten könnte: 1. In der Herder-Rezension (sowie in der Abfertigung einer Rezension und den Philologischen Einfällen) zeigt Hamann, dass Herders Rekurs auf die „ Besonnenheit “ einem Zirkelschluss entspricht: Der Mensch erschafft die Sprache, weil er ein sprachfähiges Wesen ist. Damit wird das Problem nur verlagert auf die Frage: Warum ist der Mensch sprachfähig? Dass man bei Fragestellungen dieser Art notwendigerweise in einen Zirkel gerät, hat Hamann implizit wohl gemeint, er sagt es aber nicht ausdrücklich. Er deutet es allenfalls indirekt an, wenn er feststellt, dass die Bedingtheit des Menschen und seiner Kultur durch die Sprache nicht untersucht werden könne, weil man aus dem Zirkel nicht heraus gelangen könne. Da sei es immer noch besser, einen göttlichen Ursprung der Sprache anzunehmen. 2. In den Rezensionen zu Tiedemann und Herder sowie in den Philologischen Einfällen übt Hamann Kritik an der aufklärerischen Deutung der Sprache, insbesondere an der Annahme einer Kontinuität zwischen Tier und Mensch und einer allmählichen Erfindung der Redeteile (partes orationis). In positiver Hinsicht läuft diese Kritik auf die Feststellung hinaus, dass die Entstehung der Sprache nicht als Entwicklungsprozess verstanden werden kann. Sprache muss auf einmal da sein. Der Ursprung der Sprache und der Ursprung des Menschen sind eins. 3. In der Metakritik wird die sprachliche Bedingtheit der Erkenntnis behauptet. Darin liegt der wichtigste Beitrag Hamanns zur Sprachphilosophie. In der Folge rückt die Sprache ins Zentrum der Philosophie als Instanz, die Erkenntnis und Erfahrung bedingt und Voraussetzung dafür ist, dass es für den Menschen eine „ Welt “ gibt. Wie die Sprache die Erkenntnis bedingt, kann Hamann jedoch nicht sagen; er stellt nur die Behauptung auf, dass es sich so verhält. Zum ersten Mal wird die Sprachlichkeit der Welt des Menschen behauptet. Wir finden diese Idee später bei Hegel in völlig anderen Termini oder bei Cassirer in 97 <?page no="112"?> seiner Philosophie der symbolischen Formen. Bei Hegel sind die beiden Fähigkeiten des Menschen Arbeit und Sprache. Die Arbeit entspricht seinem biologischen Wesen und ermöglicht ihm, eine besondere Welt zu schaffen bzw. sie nach seinen biologischen Bedürfnissen zu gestalten. Die Sprache betrifft den Menschen als geistiges Wesen, indem sie seine geistige Welt schafft. Erst mit der Sprache sind die Dinge als diese oder jene gegeben, entsteht ein „ Sein “ der Dinge für den Menschen. Kant sieht nur in der Kunst die Brücke zwischen Notwendigkeit und Freiheit, Natur und Mensch. Hamann wirft ihm vor (ähnlich wie Hegel), dass er diese Brücke nicht in der Sprache gesehen habe. 4.6.2 Hamanns positive Motive Die positiven Motive bei Hamann, die nirgendwo in kohärenter, ausgearbeiteter Form anzutreffen sind, lassen sich in elf Punkten zusammenfassen: 1. In den Zwey Scherflein und in der Metakritik erhebt Hamann die Sprache zu dem Problem, das allen anderen Problemen zugrundeliegt. Die Problematik der Sprache sei zugleich die Problematik der Vernunft, der Religion und der Gesellschaft, d. h. der Zusammenhänge, die den Menschen determinieren. Die Vernunft betreffe das Verhältnis des Menschen zur Welt, die Religion das Verhältnis des Menschen zu Gott, die Gesellschaft das Verhältnis des Menschen zu anderen Menschen und zur menschlichen Gemeinschaft. 2. Mit dem zuletzt genannten Verhältnis des Menschen zur Gesellschaft hängt die These von der Traditionsgebundenheit der Sprache zusammen, die in der Abfertigung der Recension, in den Philologischen Einfällen und in der Metakritik erscheint, die These, die mit dem Verhältnis des Menschen zur Gesellschaft zusammenhängt. Wie so häufig handelt es sich dabei um eine Behauptung ohne Begründung; Hamann mangelte es sowohl an einer wissenschaftlichen Methode als auch an der nötigen vis philosphica, um eine solche Begründung zu liefern. 3. Mit dem Verhältnis von Sprache und Gesellschaft hängt weiterhin die Idee des Parallelismus zwischen der Theorie der Sprache und der Theorie des Geldes zusammen (vgl. Vermischte Anmerkungen über die Wortfügungen in der französischen Sprache). Hamann wendet die Idee des Wertes, der valeur, als einer nicht absoluten, sondern proportionalen Größe auf die Sprache an, so wie es später in der Linguistik Georg von der Gabelentz und Ferdinand de Saussure tun sollten. Diese Idee steht freilich im Widerspruch zu derjenigen des notwendigen Zusammenhangs zwischen Inhalt und Ausdruck; denn wo es nur um den „ Tauschwert “ geht, wird das Materielle zu etwas Gleichgültigem und Unwichtigem. Hamanns Hinweis ist trotzdem scharfsinnig, solange er nicht auf die Sprache im allgemeinen, sondern nur auf die Sprache im sozialen Verkehr angewandt wird; denn dort findet - um es in der Terminologie der „ Prager Schule “ des Strukturalismus auszudrücken - tatsächlich so etwas wie eine „ Entaktualisierung “ u. a. der Materialität der Sprache statt, weil in diesem Bereich Sprache nur zu den praktischen Zielen der Kommunikation verwendet wird. 98 <?page no="113"?> 4. In den Zwey Scherflein und in der Metakritik finden sich Thesen zum Thema „ Sprache und Vernunft “ , „ Sprache und Denken “ . Hamann sieht sehr wohl, dass die Sprache bereits eine Form der Vernunft und eine Form des Denkens ist, jedoch führt die Art und Weise, wie er das exemplifiziert (cf. supra die Bemerkungen zu Metaphysik) zu Widersprüchen. Mit meinem eigenen Vorschlag einer angemessenen Darstellung des Sachverhalts, versuche ich, diesem Widerspruch zu entkommen: Der Gegenstand der Vernunft ist die sprachlich gegebene, „ vermittelte “ Welt. Die Sprache ist Ausdruck des noch nicht differenzierten lógos, sie ist Eröffnung aller menschlichen Möglichkeiten. Darin liegt der primäre Charakter der Sprache. Das Denken geht vom sprachlich Vermittelten aus und ist somit an einem Ende, an seinem Ausgangspunkt, notwendig sprachlich bedingt. Es bleibt aber nicht bei den sprachlich vermittelten Gegebenheiten stehen, sondern gelangt über sie hinaus zu den Gegenständen selbst. Herder war noch weniger weit als Hamann gelangt. Er behauptet nur den primären Charakter der Sprache gegenüber Vernunft und Denken. 5. Mit dem primären Charakter der Sprache hängt die implizite oder explizite Identifizierung von Sprache und Dichtung zusammen, von der seit Vico immer wieder die Rede ist. In seiner Aesthetica in nuce bietet Hamann jedoch noch weniger Interpretation dieser These als bei Vico zu finden ist. Die These wird später immer wieder in Erscheinung treten, so bei Benedetto Croce und Martin Heidegger. Ich würde dieser Auffassung entgegenhalten, dass die Dichtung zwar „ absolute Sprache “ , die Sprache jedoch nicht schlechthin „ absolut “ ist. 6. Mit dem Problem von Sprache und Denken hängt auch die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Einzelsprache und nationaler „ Denkungsart “ zusammen. Ein solcher Parallelismus wird von Hamann im Versuch über eine akademische Frage tatsächlich behauptet. Originell ist seine Unterscheidung zwischen wesentlicher und zufälliger Denkungsart, eine Idee, die nicht weiter verfolgt wird, aber latent vorhanden ist, so z. B. in der Ablehnung „ welschen Einflusses “ auf das Deutsche in den Schriften zur Orthographie. 7. Ebenfalls im Versuch über eine akademische Frage wird der scheinbare Gegensatz zwischen der Bedingtheit durch die Einzelsprache und der Möglichkeit des kreativen Sprechens berührt. Man könne sich innerhalb einer Sprache bewegen und trotzdem kreativ sein, „ Eingriffe in die Sprache thun “ . Wie eine solche „ regelgeleitete Kreativität “ möglich ist, stellt bis heute ein Problem dar. Auf einer sehr theoretischen Ebene könnte man behaupten, dass die Einzelsprache Rahmen und Bedingung der Freiheit des Sprechens, nicht Zwang und Einschränkung darstelle. 8. In der Aesthetica in nuce und in den Zwey Scherflein findet sich die Idee von der Sprache als Bild. Diese Idee, die schon bei Vico und Herder auftaucht, überwindet die traditionelle Zeichentheorie. Die traditionelle Theorie betrachtet die Sprache als System von materiellen Ausdrücken für schon gegebene „ Gegenstände “ oder „ Begriffe “ . Die Sprache als solche ist dabei weitgehend nur ein System jeweils spezifischer Wortformen für einheitliche Gegenstände. Die Idee der Einzelsprach- 99 <?page no="114"?> lichkeit impliziert, dass jede Sprache nun auch die „ Gegenstände “ enthält, in einer ebenfalls jeweils spezifischen Form. Die Dinge der Welt sind somit nicht sprachunabhängig, sondern werden als Bedeutungen in den Einzelsprachen gegeben: Die Sprache „ enthält “ die Gegenstände. Für die moderne Theorie des „ Zeichens “ ist dies weitgehend selbstverständlich geworden, zur Zeit Hamanns war es jedoch eine neue Einsicht. In dieser neuen Sicht erscheint die die Sprache als ein Bild, in dem die Dinge zwar erscheinen, aber in einer Interpretation des sprachlichen Subjekts. 9. Sowohl in der Aesthetica in nuce als auch in der Willensmeynung ist von der Natur als der Sprache Gottes die Rede. Schon bei Berkeley findet sich die Behauptung, die menschliche Sprache sei eine Nachahmung der universellen Sprachlichkeit (vgl. Bd. 1, Kap. 15.1). Bei Hamann wird eine Identität zwischen „ menschlich “ und „ göttlich “ beim Ursprung der Sprache angenommen. „ Göttlich “ ist er insofern, als dem Menschen die Fähigkeit von Gott gegeben wurde, die Sprachlichkeit als solche zu interpretieren; „ menschlich “ ist er in dem Maß, in dem es darum geht, der Sprachlichkeit des Universums mit der menschlichen Sprache zu entsprechen. Wir brauchen eine solche „ Sprachlichkeit des Universums “ natürlich nicht als Faktum anzunehmen; dennoch muss man eingestehen, dass eine solche Interpretation möglich ist. Alles kann vom Menschen als zeichenhaft interpretiert werden. Das Zeichenhafte, d. h. die Interpretation der Gegebenheiten nach dem Schema Bezeichnendes - Bezeichnetes, ist eine Dimension des menschlichen Denkens. In dieser Erkenntnis liegt Hamanns Beitrag zur Hermeneutik. Wir werden später bei Friedrich Schlegel auf die Entwicklung einer analogen Idee stoßen. 10. Die Ideen von der „ Sprache als Bild “ und der „ Natur als Sprache Gottes “ führen geradewegs zur Idee der „ Sprache als Übersetzung “ , die in der Aesthetica in nuce anklingt. Damit ist gemeint, dass die menschliche Sprache Übersetzung der Welt ist. Die Sprache ist Interpretation der Welt; sie enthält die Welt, so wie eine Übersetzung den Inhalt des Originals enthält. 11. In der Tiedemann-Rezension, in den Zwey Scherflein und in der Metakritik wird die Sprache als Einheit von Sinnlichkeit und Begrifflichkeit thematisiert. Es wird also die Frage nach der Verbindung von Ausdruck und Inhalt gestellt, sowohl im spezifischen Fall einer gegebenen Sprache (warum <Vernunft> für „ Vernunft “ ? ) als auch im Allgemeinen (warum gerade Laut - Begriff? ). Eine bestimmte Verbindung in einer gegebenen Sprache ist historisch notwendig; gilt das auch für die Verbindung Laut-Begriff im Allgemeinen? Auch auf diese Frage werden wir wieder bei Schlegel stoßen. Welchen Schluss dürfen wir nun aus diesen Einzelbeobachtungen ziehen? Bei Herder und Hamann finden wir ein „ Mosaik “ der deutschen Sprachphilosophie. Vor allem das Denken Hamanns darf nicht auf ein geschlossenes System zurückgeführt werden. Man kann die deutsche Sprachphilosophie unter dem Gesichtspunkt behandeln, wie die Ideen von Herder und Hamann aufgegriffen, besser begründet und weiterentwickelt werden. Bei Hamann kann das Urteil in Bezug auf 100 <?page no="115"?> das tatsächlich Gesagte nur negativ ausfallen. Denn er ist voller Widersprüche, wenn man - wie Unger - seine Gedanken in systematischem Zusammenhang zu interpretieren versucht. Andere Interpreten, die ebenfalls Kohärenz in sein Denken bringen wollen (z. B. Martin Seils oder Sergio Lupi) müssen zu viel hineininterpretieren. Wir dürfen nicht annehmen, dass er all das schon wusste, von dem er selbst behauptet, es nicht zu wissen. Hamanns Denken folgt keinem System, das einzige, was seine Ideen zusammenhält, ist der permanente Bezug zur Sprache. Er entwickelt Ansätze, Fragestellungen und offene Möglichkeiten des Denkens. Als kontradiktorisch erscheinen seine Gedanken nur, wenn sie als System betrachtet werden, außerhalb eines Systems werden sie als mögliche Denkerfahrungen wahrgenommen. Hamann ist anregend durch die Fragen, die er stellt, nicht durch die Antworten, die er anbietet. 4.7 Literaturhinweise Die Schriften Hamanns sind in folgenden Ausgaben zugänglich: Johann Georg Hamann: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe von Josef Nadler. 6 Bde., Nachdruck Wien 1949 − 1957. [Es handelt sich um die nicht ganz unumstrittene historisch-kritische Ausgabe, aus der auch Simon zitiert. Hier wurde ein neuerlicher Nachdruck Wuppertal 1999 verwendet. Die hier zitierten Texte finden sich in Band 2 und 3.] Johann Georg Hamann: Hauptschriften erklärt. Bd. 4: Über den Ursprung der Sprache. Erklärt von Elfriede Büchsel. Gütersloh 1963. Dieser Band entspricht den Herder-Schriften. Ein geplanter Band zu „ Vernunft und Sprache “ ist nicht mehr erschienen. Johann Georg Hamann: Schriften zur Sprache. Einleitung und Anmerkungen von Joseph Simon. Frankfurt am Main 1967. Johann Georg Hamann: Scritti e frammenti di estetica. Introduzione, versione e note di Sergio Lupi. Firenze 1938 (= Studi di critica ed estetica II). Diese italienische Anthologie wurde von Benedetto Croce angeregt. Croce setzt Ästhetik mit Sprachphilosophie gleich; die Schriften erscheinen darum in einer Reihe zur Ästhetik. Johann Georg Hamann: Briefwechsel. Bände 1 bis 3 herausgegeben von Walther Ziesemer und Arthur Henkel, Bände 4 − 7, herausgegeben von Arthur Henkel. Frankfurt am Main 1955 − 1979. Die hier zitierten Briefe finden sich in den Bänden 5 und 6. Hamann ist ohne Sekundärliteratur kaum lesbar. Zu erwähnen sind zunächst die Einleitungen der Anthologien, insbesondere die von Simon. Ausführlicher noch und vorzüglich ist die Einleitung von S. Lupi. Außerdem sind hervorzuheben: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: „ Hamanns Schriften “ (1828). Jetzt in: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 11: Berliner Schriften 1818 − 1831, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt am Main, 1970, 275 − 352. 101 <?page no="116"?> Hegel bietet eine ausführliche sprachlich lebendige Lebensschilderung und ein Bild des Menschen Hamann verbunden mit Darstellung seiner Schriften. Wilhelm Dilthey: „ Johann Georg Hamann “ (1858). In: Gesammelte Schriften, Bd. 11 (1936). Leipzig 1936. Wiederabdruck in: Wild (1978), 44 − 90 (cf. infra). Rudolf Unger: Hamanns Sprachtheorie im Zusammenhange seines Denkens. Grundlegung zu einer Würdigung der geistesgeschichtlichen Stellung des Magus in Norden. München 1905. Rudolf Unger: Hamann und die Aufklärung. Studien zur Vorgeschichte des romantischen Geistes im 18. Jahrhundert. 2 Bände. Jena 1911; 2. Aufl. Halle 1925; 3. Aufl. Tübingen 1968). Unger bietet die klassische Interpretation in der rationalistischen Sprachphilosophie; er ist Bezugspunkt der neueren Interpretationen. Die neueren Interpreten lehnen aber Ungers Interpretation Punkt für Punkt ab. Ernst Cassirer (1923): Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache. Berlin 1923. Jetzt in: Idem: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. 11, Hamburg 2001. Verburg: Taal en functionaliteit, 1952 (cf. Kap. 3). Das Werk enthält einige wichtige Seiten zu Hamann. Erich Heintel: „ Sprachphilosophie “ . In: Wolfgang Stammler (Hg): Deutsche Philologie im Aufriss, Bd. I. Berlin 1957, Spalte 563 − 619. Bruno Liebrucks: Sprache und Bewußtsein. Bd. 1: Einleitung: Spannweite des Problems. Frankfurt am Main 1964, 296 ff. Liebrucks ist Lehrer von J. Simon. [Wie im Falle von Herder hat auch das Interesse an Hamann inzwischen nicht nachgelassen. Es ist allerdings deutlich weniger neue Literatur zu ihm erschienen als zu Herder. Die Anthologie von Reiner Wild (1978) bietet einen repräsentativen Überblick über die Hamann-Forschung von 1858 bis 1977. In Heintel (1975), Einführung in die Sprachphilosophie wird Hamann in verschiedenen Zusammenhängen erwähnt. Elisabeth Leiss (1991) liefert einen Überblick, in dem auch Hamanns Vergleich zwischen Sprache und Geld erwähnt wird; eine sehr knappe Zusammenfassung dazu findet sich in ihrer Sprachphilosophie (2009), 119 − 124. Im HSK Handbuch Sprachphilosophie findet sich ein Beitrag zu Hamann von Rüdiger Welter (1992). Im Sammelband von Borsche (Hg., 1996) berichtet Detlef Otto (1996, 197 − 213) über Hamanns sprachphilosophische Schriften. Der Tübinger Theologe Oswald Bayer hat 2002 eine umfangreiche Darstellung der Metakritik vorgelegt. In all diesen Darstellungen findet sich reichlich weiterführende Literatur. In den vergangenen Jahrzehnten haben mehrere Fachkongresse zu Hamann stattgefunden. Hier seien nur die Akten eines davon angeführt, des Kongresses in Münster 1988 (Gajek/ Meier (Hrsg.), 1990). Eine recht spekulative Verbindungslinie von Hamann über Schlegel bis zu den „ Dekonstruktivisten “ unter dem tertium comparationis der „ Ironie der Unverständlichkeit “ zieht Eckhard Schumacher (2000).] 102 <?page no="117"?> 5 Johann Gottlieb Fichte (1762 − 1814) Johann Gottlieb Fichte wurde am 19. Mai 1762 in Rammenau, nordöstlich von Dresden geboren, nicht weit von Kamenz, dem Geburtsort Lessings. Wie einige seiner berühmt gewordenen und wie er in sehr bescheidene Verhältnisse hineingeborenen Zeitgenossen, verdankt auch er seine Ausbildung der Protektion eines adeligen Gönners. Ein Verwandter des örtlichen Gutsherrn, der die Sonntagspredigt verpasst hatte, wurde vom kleinen Johann Gottlieb Fichte genauestens über deren Inhalt informiert und dieser erhielt daraufhin die Möglichkeit, zunächst die Stadtschule in Meißen und schließlich die angesehene Landesschule Pforta bei Naumburg zu besuchen, die später auch Nietzsche zu ihren Schülern zählen sollte. Nach Studien in Jena und Leipzig trat er eine Hauslehrerstelle in Zürich an und lernte nach seiner Rückkehr nach Leipzig 1790 die Kantische Philosophie kennen, die einen entscheidenden Einfluss auf ihn hatte. Er legte Kant in Königsberg seine Schrift Kritik aller Offenbarung vor, die daraufhin mit Unterstützung Kants anonym gedruckt und zunächst für ein Werk Kants gehalten wurde. Nachdem Kant diesen Irrtum aufgeklärt hatte, erhielt Fichte, nun plötzlich berühmt geworden, eine Professur in Jena. Als akademischer Lehrer war er dort sehr erfolgreich und hatte zeitweilig einige junge Männer unter seinen Hörern, von denen in den folgenden Kapiteln die Rede sein wird. Nach wenigen Jahren geriet er wegen seines ex cathedra dargelegten und in polemischen Traktaten verteidigten sehr abstrakten Gottesbegriffs in den Verdacht des Atheismus (der sog. ‚ Atheismusstreit ‘ 71 ) und musste die Professur aufgeben. Nur kurze Zeit hatte er den Lehrstuhl für Philosophie in Erlangen inne; es folgten verschiedene Tätigkeiten in Berlin und in Königsberg. 1810 erhielt er die Position des Dekans der Philosophischen Fakultät der Universität zu Berlin und wurde bald darauf deren erster nicht eingesetzter, sondern gewählter Rektor. Schon wenige Jahre später, am 29. Januar 1814, starb er an einer Infektionskrankheit. Er hatte sie sich bei der Pflege seiner Frau, einer Nichte Klopstocks, zugezogen, die sich ihrerseits bei der Pflege von Verwundeten der Napoleonischen Kriege infiziert hatte. Fichtes Hauptwerk entstand relativ früh in mehreren Anläufen: Über den Begriff der Wissenschaftslehre (1794); Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794/ 95); Grundriß des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre in Rücksicht auf das theoretische Vermögen (1795). Er hat sehr viel geschrieben, aber vergleichsweise wenig veröffentlicht; viele seiner Schriften wurden erst nach und nach aus dem Nachlass publiziert, zunächst durch seinen Sohn, den Philosophen Immanuel Hermann Fichte (1796 − 1879). Eine eigentliche Schule hat er - im Gegensatz zu Kant und Hegel - nicht gebildet. 71 Die verschiedenen Flugschriften zu diesem Thema sind aufgelistet in Bd. I; 6 der Ausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften = Fichte 1981, 461 − 471. 103 <?page no="118"?> 5.1 Die sprachphilosophische Bedeutung Fichtes Im Gegensatz zu Hamann tritt Fichte entschieden mit dem Anspruch auf, ein System zu errichten. Es stellt sich somit die Frage nach der Kohärenz innerhalb einer Phase seines Denkens und die der Entwicklung im Verlauf der aufeinander folgenden Phasen seines Denkwegs. Ich werde Fichte hier aus zwei Gründen behandeln: Zum einen steht er durch seine Fragestellungen mit dem Sprachkonzept Herders und Hamanns in Verbindung. Wie für Herder und Hamann ist auch für ihn die Sprache Ausdruck des Seins. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern bewertet er dieses Faktum jedoch negativ: Die Sprache bleibe im Bereich des Seins und erreiche nicht den des Werdens; sie sei somit statisch und nicht geeignet, das Leben auszudrücken. Zum anderen ist Fichte der erste Philosoph nach Kant, der sich überhaupt zur Sprache äußert. Kant konnte von der Sprache noch fast völlig absehen; Fichte hingegen musste bereits die Sprache als „ philosophischen Gegenstand “ anerkennen. Ebenfalls aus zwei Gründen soll Fichte hier nur kurz behandelt werden: Zum einen hat er nur wenig zur Sprache geschrieben, und es gibt bei ihm weniger Bezugspunkte zu den Konzeptionen von Herder und Hamann als bei späteren Autoren. Zum anderen versetzt uns Fichte im Bereich der Sprachphilosophie in gewisser Hinsicht um Jahrzehnte zurück. Er räumt der Sprache keine zentrale Stellung ein, weder in der Philosophie noch in der Erkenntnistheorie, sondern bemerkt in einer Fußnote zu seiner Abhandlung Von der Sprachfähigkeit und dem Ursprunge der Sprache, auf die ich gleich zurückkommen werde, unter Anspielung auf Herder und Hamann, die Bedeutung der Sprache sei übertrieben worden: Ich beweise hier nicht, daß der Mensch ohne Sprache nicht denken, und ohne sie keine allgemeinen abstracten Begriffe haben könne. Das kann er allerdings vermittelst der Bilder, die er durch die Phantasie sich entwirft. Die Sprache ist meiner Ueberzeugung nach für viel zu wichtig gehalten worden, wenn man geglaubt hat, daß ohne sie überhaupt kein Vernunftgebrauch Statt gefunden haben würde. 72 5.2 Fichtes Schriften zur Sprache Es gibt ein Werk, in dem fast die gesamte Sprachphilosophie Fichtes enthalten ist, eine Abhandlung von etwa vierzig Seiten: „ Von der Sprachfähigkeit und dem Ursprunge der Sprache “ . Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten, Jena, Bd. 1 (1795). Später in: Sämmtliche Werke, Bd. 8. Berlin 1846, 301 − 341. [Neuerdings in: Gesamtausgabe 72 Fichte 1966 [1795], 103, Fußnote. 104 <?page no="119"?> der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 3 der 1. Reihe. Stuttgart/ Bad Cannstatt 1966, 97 − 127.] Darüber hinaus sind heranzuziehen: Ueber den Ursprung der Sprache. Vorlesung (1797). Nachschrift von Karl Chr. F. Krause. In: Schriften aus den Jahren 1790 − 1800, hrsg. von Hans Jacob, Bd. II, Berlin 1937, 146 − 189; [neuerdings in Bd. IV, 1 (1977), 292 − 327 der Akademie- Ausgabe.] Fichte hat diese Vorlesungen wohl 1797 gehalten, aber nicht veröffentlicht, vielleicht nicht einmal schriftlich ausgearbeitet, sondern nur vorgetragen. In der Lehre hat sich Fichte immer wieder mit dem Problem der Sprache beschäftigt. Er hat von 1794 − 1799 in jedem Semester Vorlesungen über Logica et Metaphysica in Jena gehalten und dabei die folgende Textsammlung zugrundegelegt: Ernst Platner: Philosophische Aphorismen neben einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte. Ganz neue Ausarbeitung. 1. Theil. Leipzig (1793). Darin findet sich auch ein Kapitel „ Von der der Sprachfähigkeit “ §§ 473 − 504. Von dieser Beschäftigung Fichtes mit der Sprache in seinen Lehrveranstaltungen bietet die Nachschrift Krauses die einzige Überlieferung. [Inzwischen sind auch Fichtes eigene Notizen zu dieser Vorlesung publiziert worden, cf. Bd. II, 4 (1976), 158 − 181 der Akademie-Ausgabe.] Patriotische Dialoge (1807) Der offizielle Titel dieser aus dem Nachlass publizierten Schrift lautet: Der Patriotismus und sein Gegenteil. Sie besteht aus einem Vorwort und zwei „ Gesprächen “ . Es handelt sich um zwei Dialoge von der Art, wie sie seit Platon lange Zeit üblich waren. Im ersten Gespräch unterhalten sich A. und B., im zweiten B. und C. Hinter B. ist in beiden Fällen unschwer der Verfasser selbst zu erkennen. [Vgl. Bd. II, 9 der Akademie-Ausgabe.] Berliner Vorlesung (1807/ 08) Bekannt geworden unter dem Titel Reden an die deutsche Nation. Der Inhalt der Vorlesungsnachschrift von Krause entspricht im Wesentlichen dem der Abhandlung, die wahrscheinlich zusammen mit der Ausarbeitung der Vorlesung entstanden ist. Die Patriotischen Dialoge enthalten einige der wichtigsten Ideen Fichtes, nämlich die These, die Sprache entspreche dem Sein, nicht dem Werden und könne damit dem Leben nicht gerecht werden. Die Vierte Rede an die deutsche Nation enthält ein Elogium auf die deutsche Sprache, das in der fünften fortgeführt wird. Die deutsche Sprache wird dann doch - im Gegensatz zu anderen Sprachen - als Ausdruck des Lebendigen angesehen. 105 <?page no="120"?> 5.2.1 Frühe Reaktionen Friedrich Schlegels Friedrich Schlegel, der Fichte in Jena gehört hatte, war auf die Abhandlung unmittelbar nach ihrem Erscheinen aufmerksam geworden. Sein widersprüchliches Urteil sagt wenig über Fichte, jedoch viel über seine Art zu urteilen aus. Am 23. Dezember 1795 schrieb er an seinen Bruder August Wilhelm: Ich wünschte, daß Du bey Deinen Untersuchungen über Sprache etc. eine Abhandlung darüber von Fichte in Niethammers philosophischen Journal lesen möchtest. Du darfst hier nicht die Schillersche Scholastik fürchten: denn dieser Denker, der wenn es seyn muß, Kant und Spinosa zurückläßt, kann auch, sobald er reden will, Rousseau übertreffen. (Schlegel/ Walzel 1890, 244) Das Urteil spricht nicht für Schlegels Urteilsfähigkeit in philosophischen Fragen. Wahrscheinlich hatte er die Abhandlung zum Zeitpunkt des Schreibens noch nicht ganz gelesen. Später änderte er sein Urteil. Am 30. Januar 1796 schrieb er wiederum an seinen Bruder: Höre, ich liebe und ehre, wo es geschieht mit Leib und Seele, aber nicht blöd. Der Ursprung der Sprache ist nicht von dem unsterblichen Grundleger Fichte, sondern von dem Offenbarer, der durch ein lächerliches Versehen berühmt wurde. Es ist ein dürftiges Ding. Der erste Gedanke ist aber doch gut. ‚ Wer nicht zeigt, wie die Sprache entstehn mußte, der mag zu Hause bleiben. Träumen, wie sie entstehen konnte, kann jeder. ‘ (ibid., 262) Mit Grundleger und Offenbarer wird auf die ersten beiden Veröffentlichungen angespielt, von denen oben die Rede war. Nach wenigen Monaten hält Schlegel nun den Aufsatz für dürftig und bewertet nur den Anfang positiv. Beide Urteile Schlegels sind zutreffend, aber nicht in der Hinsicht, die er im Auge hatte. 5.3 Fichtes Abhandlung Von der Sprachfähigkeit und dem Ursprung der Sprache Fichte nimmt sich vor zu zeigen, wie die Sprache entstehen musste, nicht etwa, wie sie entstehen konnte. Der von Friedrich Schlegel hoch gelobte Anfang der Abhandlung lautet folgendermaßen: In einer Untersuchung über den Ursprung der Sprache darf man sich nicht mit Hypothesen, nicht mit willkürlicher Aufstellung besonderer Umstände, unter welchen etwa eine Sprache entstehen konnte, behelfen; denn da der Fälle, welche den Menschen bei Erfindung und Ausbildung der Sprache leiten konnten, so mancherlei sind, daß sie keine Forschung ganz erschöpfen kann; so würden wir auf diesem Wege eben so viele halbwahre Erklärungen des Problems erhalten, als Untersuchungen darüber angestellt würden. Man darf sich daher nicht damit begnügen zu zeigen, daß und wie etwa eine Sprache erfunden werden konnte: man muß aus der Natur der menschlichen Vernunft die Nothwendigkeit dieser Erfindung ableiten; man muß darthun, daß und wie die Sprache erfunden werden mußte. (Fichte 1966 [1775], 97) 106 <?page no="121"?> 5.3.1 Die Deduktion der Sprache aus einem Grundsatz Dem Inhalt nach ist dieser erste Absatz der Abhandlung keineswegs neu - wir haben vorher Ähnliches bei Herder gesehen. Bei Fichte hängt diese Forderung jedoch mit seiner Auffassung von der Philosophie überhaupt zusammen, sie entspricht seinem methodischen Prinzip. Die Philosophie soll aus einem einzigen Grundsatz abgeleitet werden. Am 15. Januar 1794 schreibt er aus Zürich an Franz Volkmar Reinhard in Dresden: . . .die Philosophie [. . .] kann und soll sie [scil. ihre Begriffe] aus einem einzigen Grundsatze, den jeder zugeben muß - durch Denken deducieren. Die Form der Deduktion ist die gleiche, wie sie in der Mathematik gilt, nämlich die von der allgemeinen Logik vorgeschriebene. (Fichte 1970, 40) Es geht Fichte also darum, die Sprache mit Notwendigkeit aus der Natur der menschlichen Vernunft abzuleiten. Also nicht darum, wie bei Herder, die Notwendigkeit der Sprache durch äußere Bestimmungen des Menschen, durch seine Stellung im biologischen Universum zu rechtfertigen, sondern darum, das Prinzip der Sprache im Menschen selbst, und zwar in seiner „ Vernunft “ zu finden. Dies entspricht der berühmten Mahnung Fichtes Noli foras ire, „ gehe nicht nach draußen, d. h. außerhalb deiner selbst “ , mit der die Einleitung zum Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (1797/ 98) beginnt: Merke auf dich selbst: kehre deinen Blick von allem, was dich umgiebt, ab, und in dein Inneres − ist die erste Forderung, welche die Philosophie an ihren Lehrling thut. Es ist von nichts, was ausser dir ist, die Rede, sondern lediglich von dir selbst. (Fichte 1966 [1797/ 98], 186) Zusätzlich müsse man, so Fichte, sich in eine Zeit ohne Sprache versetzen und sich selbst die Erfindung der Sprache als Aufgabe stellen: Man denke sich in den Gesichtspunkt der Menschen hinein, welche noch überhaupt keine Sprache hatten, sondern sie erst erfinden sollten; welche noch nicht wußten, wie die Sprache gebaut sein müsse, sondern die Regeln darüber erst aus sich selbst schöpfen mußten. Jedem, der dem Ursprung der Sprache nachforscht, muß die Sprache so gut als nicht erfunden sein: er muß sich denken, daß er sie erst durch seine Untersuchung erfinden soll. (Fichte 1966 [1775], 97) Fichte geht also zunächst von folgender Frage aus: „ Wie würde ich die Sprache erfinden, wenn es noch keine Sprache gäbe? “ In seiner Abhandlung wird diese Frage dann in zwei Problemkomplexe aufgeteilt, nämlich: 1. Die Deduktion der Sprache aus einem Grundsatz; 2. Der Gang der Entwicklung der sprachlichen Formen und Kategorien nach der Erfindung der Sprachlichkeit schlechthin, der allmähliche Ausbau der Sprache. Die Idee zu dieser Fragestellung findet sich zum Teil schon bei Herder, sie wird auch ganz besonders von Humboldt vertreten: Es werden zwei Phasen der Entstehung unterschieden, ein allgemeiner Entwurf der Sprachlichkeit schlechthin und dann der allmähliche Ausbau der Sprache. Die zweite Phase entspricht dem Schema der Aufklärer. 107 <?page no="122"?> Der erste Teil stellt einen wichtigen Beitrag Fichtes zur Sprachphilosophie dar; der zweite Teil ist schwach und in sprachwissenschaftlicher Hinsicht naiv. Er folgt dem üblichen aufklärerischen Schema der Entwicklung vom Einfachen zum Komplexen bzw. zu dem, was man dafür hält. Was Fichte über Eigennamen und Universalien zu sagen hat, versetzt uns um Jahrzehnte zurück. Es entspricht weder dem damaligen Stand der Allgemeinen Sprachwissenschaft in der Form der Universalgrammatik noch der konkreten historischen Entwicklung, in der normalerweise das Einfachere das Spätere ist, während am Anfang, oder am erkennbaren Anfang, gerade das Komplexe steht. 5.3.2 Fichtes uneingestandene Voraussetzungen Kehren wir zurück zum wichtigeren ersten Teil. So voraussetzungslos, wie Fichte zu glauben scheint, ist seine Fragestellung nicht, denn schon die Formulierung der zweiten Frage enthält zwei schwerwiegende Voraussetzungen, nämlich: 1. Die Sprache sei erfunden worden, sie sei menschliche Erfindung; 2. Die Sprache sei von der Vernunft erfunden worden, sie sei also ein rationales Produkt des Menschen. Betrachten wir zunächst die Implikationen der ersten Voraussetzung. Eine „ Erfindung “ ist eine intentionale, oder in Fichtes Ausdrucksweise, eine „ willkürliche “ Handlung: Die Sprache ist das Vermögen, seine Gedanken willkürlich zu bezeichnen. Sie setzt demnach eine Willkür voraus. Unwillkürliche Erfindung, unwillkürlicher Gebrauch der Sprache enthält einen inneren Widerspruch. Man hat sich zwar auf unwillkürliche Töne beim Ausbruch der Freude, des Schmerzes u. s. w. berufen, und daraus gar manches über Erfindung und Gesetze der Sprache ableiten wollen; aber beides ist völlig verschieden. Unwillkürlicher Ausbruch der Empfindung ist nicht Sprache. (ibid., 98) Eine intentionale Handlung ist eine finalistische Handlung, sie erfolgt zu einem bestimmten Zweck. Die Frage nach dem Ursprung wird zur Frage nach der zweckbedingten Erfindung, kurz nach dem Zweck der Sprache. Fichte will also eine funktionale Bestimmung der Sprache vornehmem: Ihr Wesen fällt mit dem Zweck ihrer Erfindung zusammen. Nun zu den Implikationen der zweiten Voraussetzung: Wenn die Sprache als Erfindung der Vernunft angesehen wird, so bedeutet dies, dass die Vernunft irgendwie bereits vor der Sprache da sein muss. Eine Gleichzeitigkeit der Entstehung der Sprache und der Aktualität der Vernunft wie bei Herder (Sprache als erster Akt der Vernunft) oder gar eine Identität von Sprache und Vernunft wie bei Hamann kommen für Fichte nicht in Frage. Im Laufe der Untersuchung spricht er zwar immer wieder von einer Entwicklung, von Fortschritten der Vernunft, die Entwicklung ist aber für ihn keineswegs sprachlich bedingt - wie bei Herder und Hamann - sie spiegelt sich nur in der Sprache wider. Diese beiden Voraussetzungen zeigen Zusammenhänge und Abweichungen gegenüber Herder und 108 <?page no="123"?> Hamann. Die Vernunft schafft Sprache; die Sprache ist Produkt der Vernunft zu einem bestimmten Zweck. Sie ist aber in ihrer weiteren Entwicklung grundsätzlich von ihr unabhängig. Und nun kommen noch drei weitere, ausdrücklich formulierte Voraussetzungen hinzu: 3. Die These der Konventionalität der Sprache wird von Fichte entschieden abgelehnt: Ferner hat man bei allen Untersuchungen über Entstehung der Sprache es auch darinn versehen, daß man zuviel auf willkürliche Verabredung baute; daß man z. B. meinte: da ich ein Buch liber, βιβλον [sic], book u. s. w. nennen kann, so müssen die Nationen einig geworden sein, die eine, dieser bestimmte Gegenstand solle Buch - die andere, er solle liber, u. s. w. heißen. Aber auf eine solche Uebereinkunft dürfen wir wenig rechnen, da sie sich nur mit der größten Unwahrscheinlichkeit denken läßt, und wir müssen daher selbst den Gebrauch der willkürlichen Zeichen aus den wesentlichen Anlagen der menschlichen Natur ableiten. (ibid., 97) Und etwas weiter wird das Gleiche in Bezug auf die Grammatik behauptet, wenn auch mit einer unterschiedlichen Begründung: So irrig es ist, zu glauben, daß die willkürlichen Bezeichnungen der Gegenstände durch eine besondere Uebereinkunft der miteinander vereinigten Menschen gebildet worden seien, so irrig ist es auch, anzunehmen, daß Grammatik durch Verabredung entstanden sei. Eine Verabredung zu einem solchen Zweck setzt einen Grad von Geistesbildung, und insbesondere von Philosophie der Sprache voraus, der bei den Menschen auf der Stufe der Cultur, auf der wir sie hier uns denken müssen, gar nicht statt finden konnte. (ibid., 115) Dies tritt noch deutlicher in den Vorlesungen Ueber den Ursprung der Sprache in Erscheinung, wo dieselbe Thematik wieder aufgenommen wird: Dieienigen, welche sagen, der Mensch habe die Sprache selbst erfunden, rechnen mehrenteils auf Verabredung, aus Uebereinkunft, wie man etwas nennen wolle; das ist aber ein sehr grober Zirkel. Die Hauptregel ist die, daß auf Verabredung durchaus nicht gebaut werden darf in dieser Untersuchung, es ist sehr unphilosophisch. (Fichte 1977 [1797], 304) Und etwas weiter: Es kommt, wie schon erinnert, darauf an, der Verabredung u. Willkür in der Ausbildung der Sprache so wenig als möglich, zu überlassen, weil es ganz unbegreiflich ist, wie man darzu kommen konnte, über etwas Verabredung zu treffen, das man nicht kannte. (ibid., 307) Fichtes Argumente entsprechen den schon von Herder und Hamann vorgebrachten: Eine Übereinkunft über die Sprache ist unmöglich, denn zu einer solchen würde man eben diese Sprache benötigen. Wenn also die erfundene Sprache in den allgemeinen Gebrauch übergeht, von anderen übernommen wird, so muss es andere Gründe dafür geben, die Fichte ebenfalls zu deduzieren versucht: 109 <?page no="124"?> 4. Nach Fichte benötigt die Vernunft für sich selbst überhaupt nicht die Sprache. Wir haben dies bereits in dem eingangs angeführten Zitat gesehen, in dem Fichte bestreitet, dass es kein Denken ohne Sprache geben könne. Daraus folgt, dass die Vernunft, wenn sie denn doch Sprache schafft, einen anderen Zweck verfolgt, als den Ausdruck ihrer selbst. 5. Die fünfte Voraussetzung hängt eng mit der zweiten und der vierten zusammen. Für Fichte ist die Sprache nicht Ausdruck und Bedeutung, sondern nur Ausdruck. Die Bedeutung gehört nicht zur Sprache; was man gemeinhin „ Bedeutung “ nennt ist für ihn der Gedanke, der durch die Sprache nur bezeichnet wird. Der unmittelbare Zweck der Sprache sei die Bezeichnung der Gedanken, und dadurch unterscheide sie sich von nicht-zeichenhaften Handlungen, die zwar ebenfalls interpretiert werden können, die aber nicht ausschließlich dafür vorgesehen sind: Bei allem, was Sprache heißen soll, wird schlechterdings nichts weiter beabsichtet, als die Bezeichnung des Gedankens; und die Sprache hat außer dieser Bezeichnung ganz und gar keinen Zweck. Bei einer Handlung hingegen ist der Ausdruck des Gedankens nur zufällig, ist durchaus nicht Zweck. (Fichte 1966 [1795], 98) „ Willkürlich “ bedeutet für Fichte in diesem Zusammenhang „ intentional “ : Ich habe mich bei der Erklärung der Sprache des Ausdrucks „ willkürliche Zeichen “ bedient. Darunter verstehe ich hier solche Zeichen, welche ausdrücklich dazu bestimmt sind, diesen oder jenen Begriff anzudeuten. Ob dieselben mit dem Bezeichneten natürliche Aehnlichkeit haben, oder nicht, ist hier völlig gleichgültig. (ibid.) 5.3.3 Die Frage nach dem Ursprung der Sprache Unter den soeben angeführten Voraussetzungen stellt Fichte nun die Frage nach dem Ursprung der Sprache. Die Frage besteht für ihn aus zwei Teilen, nämlich zunächst in der Frage nach dem Ursprung der Idee selbst der Sprache und danach in der Frage nach den Mitteln zur Verwirklichung dieser Idee: Die Frage, die sich uns zunächst darbietet, ist folgende: Wie ist der Mensch auf die Idee gekommen, seine Gedanken durch willkürliche Zeichen anzudeuten? Diese enthält unter sich folgende zwei: 1) Was brachte den Menschen überhaupt auf den Gedanken, eine Sprache zu erfinden? 2) In welchen Naturgesetzen liegt der Grund, daß diese Idee gerade so und nicht anders ausgeführt wurde? (ibid.) Wie bei jeder nicht zufällig gemachten, sondern angestrebten, intentionalen Erfindung müsse die Idee vor ihrer Realisierung schon da sein, andererseits müssten die zur Realisierung dieser Idee notwendigen Mittel zur Verfügung stehen. Die Antwort auf die erste Frage soll eigentlich die Rechtfertigung der Sprache enthalten; die Antwort auf die zweite Frage würde einer Geschichte a priori der Sprache entsprechen d. h. einer rational deduzierten Geschichte: Um die Willkür zur Erfindung einer Sprache zu bestimmen, wurde eine Idee derselben vorausgesetzt. Daher die Frage: wie entwickelte sich in den Menschen die Idee, ihre Gedanken sich gegenseitig durch Zeichen mitzutheilen? Allein daraus, 110 <?page no="125"?> daß sie sich die Aufgabe aufstellten, eine Sprache zu erfinden, folgt noch nicht, daß ihnen überhaupt, und durch welche Mittel ihnen die Ausführung gelang. Daher die zweite schon angeführte Frage: giebts in der menschlichen Natur Mittel, welche man nothwendig ergreifen mußte, um die Idee einer Sprache zu realisiren? Kann man diesen Mitteln nachspüren, und, wie mußten sie gebraucht werden, wenn durch sie der Zweck erreicht werden sollte? Fänden sich solche Mittel, so ließe sich wohl eine Geschichte der Sprache a priori entwerfen. (ibid., 99) Hier darf vielleicht bereits ein Werturteil ausgesprochen werden: Die erste Antwort auf die Frage enthält das wirklich Wertvolle und Originelle der Sprachauffassung Fichtes, das, was Friedrich Schlegel nicht sehen konnte. Die Antwort auf die zweite Frage ist hingegen in der Tat „ ein dürftiges Ding “ , weit unter dem Niveau eines Denkers wie Fichte, und in dieser Hinsicht kann man Schlegels negativem Urteil nur zustimmen. Nur die Antwort auf die erste Frage soll uns hier etwas ausführlicher beschäftigen. In diesem Teil der Antwort führt Fichte die Sprache auf das doppelte, verschieden ausgerichtete Verhalten des Menschen zurück - zur Natur auf der einen und zu den anderen Menschen auf der anderen Seite. Der Mensch befinde sich im Kampf mit der Natur und strebe danach, sie zu bezwingen und sich zu unterwerfen, sie nach seinen Zwecken umzugestalten: In diesem Verhältnisse steht der Mensch mit der belebten und leblosen Natur: er geht darauf aus, sie nach seinen Zwecken zu modificiren; aber diese widerstrebt der Einwirkung, und nimmt oft genug sie gar nicht an. Daher sind wir mit der Natur in stetem Kampfe, sind bald Sieger, bald Besiegte, − unterjochen oder fliehen. (ibid.) Ganz anders verhalte sich der Mensch den anderen Menschen gegenüber. Thomas Hobbes ‘ Ansicht, unter den Menschen herrsche ein Krieg aller gegen alle, wird von Fichte nicht geteilt. Die Tatsache selbst der Existenz menschlicher Gesellschaften widerlege eine solche Auffassung. Das ist ein zentraler Passus, der es verdient, im Ganzen angeführt zu werden: Wie verhält sich dagegen der Mensch ursprünglich gegen den Menschen selbst? Sollte wohl zwischen ihnen im rohen Naturstande dasselbe Verhältniß statt finden welches zwischen dem Menschen und der Natur ist. Sollten sie wohl darauf ausgehen, sich selbst unter einander zu unterjochen, oder, wenn sie sich dazu nicht Kraft genug zutrauen, einander gegenseitig fliehen? / Wir wollen annehmen, es wäre so, so würden gewiss nicht zwei Menschen neben einander leben können: der Stärkere würde den Schwächeren bezwingen, wenn dieser nicht flöhe, sobald er jenen erblickte. Würden sie aber auf solche Art wohl jemals in Gesellschaft getreten, würde durch sie die Erde bevölkert worden sein? Ihr Verhältniß würde ganz so gewesen sein, wie es Hobbes im Naturzustande schildert: Krieg Aller gegen Alle. Und doch finden wir, daß die Menschen sich miteinander vertragen, daß sie sich gegenseitig unterstützen, daß sie in gesellschaftlicher Verbindung miteinander stehen. Der Grund dieser Erscheinung muß wohl in dem Menschen selbst liegen: in dem ursprünglichen Wesen desselben muß sich ein Prinzip aufzeigen lassen, welches ihn bestimmt, sich gegen seines gleichen anders zu betragen, als gegen die Natur. (ibid., 99 f.) 111 <?page no="126"?> Während Herder und Hamann das innige Verhältnis des Menschen zur Natur betonen, ist für Fichte die Natur das Andere, des Dunkle, das, wogegen man zu kämpfen hat, wozu der Mensch keine unmittelbare Verbindung hat, das er überwinden muss. Die Romantik wird, wie wir sehen werden, diesen negativen Aspekt Fichtes wiederaufnehmen und versuchen, das Verhältnis des Menschen zur Natur wieder herzustellen. Das unterschiedliche Verhalten des Menschen gegenüber der Natur und gegenüber seinesgleichen führt Fichte auf ein inneres Prinzip des Mensch-Seins zurück, besser gesagt, er leitet es aus einem solchen Prinzip ab. Dieses Prinzip äußere sich in dem für den Menschen geltenden Imperativ, immer einig mit sich selbst zu sein. Dies würde einschließen, dass der Mensch danach strebt, das „ Andere “ nach seinem Muster umzugestalten. Da nun aber ein Charakteristikum des Menschen die Vernunft sei, strebe der Mensch danach, das Andere vernunftmäßig zu machen. Daraus rühre sein Streben, die Natur zu bezwingen: Der Mensch geht drauf aus, die rohe oder thierische Natur nach seinen Zwecken zu modificieren. Dieser Trieb muß untergeordnet sein dem höchsten Prinzip im Menschen, dem: sei immer einig mit dir selbst; nach welchem Princip er in den allgemeinsten Aeußerungen seiner Kraft beständig fort handelt, auch ohne sich desselben bewußt zu sein. Der Mensch sucht also - nicht gerade aus einem deutlich gedachten, aber aus einem durch sein ganzes Wesen verwebten, und dasselbe ohne alles Hinzuthun seines freien Willens bestimmenden Princip - die nicht vernünftige Natur sich deswegen zu unterwerfen, damit alles mit seiner Vernunft übereinstimme, weil nur unter dieser Bedingung Er selbst mit sich übereinstimmen kann. (ibid., 100) Der Mensch sucht daher die Vernunftmäßigkeit außerhalb seiner selbst: Der Mensch geht also nothwendig darauf aus, Vernunftmäßigkeit außer sich zu finden; er hat einen Trieb dazu, der sich deutlich genug dadurch offenbart, daß der Mensch sogar geneigt ist, leblosen Dingen Leben, und Vernunft zuzuschreiben. (ibid., 102) In der Natur sucht er die Vernunftmäßigkeit vergebens. Bei anderen Menschen hingegen begegnet er ihr, findet er die Übereinstimmung mit sich selbst außerhalb seiner selbst. So erklärt sich, dass der Mensch sich seinesgleichen gegenüber anders verhält als gegenüber der Natur: Wenn er nun in diesen Versuchen auf einen Gegenstand stoßen sollte, an welchem sich die gesuchte Vernunftmäßigkeit, ohne seine Mitwirkung schon äußerte, so wird er sich in Rücksicht auf diesen aller Bearbeitung wohl enthalten, da er dasjenige, was einzig und allein durch sie hervorgebracht werden soll, an dem entdeckten Gegenstand schon findet. [. . .] Das Gefundene wird ihm ein Gegenstand des Wohlgefallens sein: er wird sich freuen, ein mit ihm gleichgestimmtes Wesen - einen Menschen angetroffen zu haben. (ibid., 101) Die „ Vernunftmäßigkeit “ erkenne man bei den anderen Menschen am Handeln nach Zwecken und am veränderten Handeln, wenn sich die Zwecke ändern. Das bloße Handeln ist aber nur ein Anzeichen für Vernunftmäßigkeit und kann auch 112 <?page no="127"?> missverstanden werden. Es entsteht daher der Wunsch, die eigenen Gedanken nicht nur im Handeln, sondern unmittelbarer mitzuteilen: Eben dieser Trieb mußte in dem Menschen, sobald er wirklich mit Wesen seiner Art in Wechselwirkung getreten war, den Wunsch erzeugen, seine Gedanken dem andern, der sich mit ihm verbunden hatte, auf eine bestimmte Art andeuten, und dagegen von demselben eine deutliche Mittheilung seiner Gedanken erhalten zu können. (ibid., 102) Dadurch sei die Idee der Sprache bereits gegeben. Und nun der entscheidende Passus: Durch die Verbindung mit Menschen wird also in uns die Idee geweckt, unsere Gedanken einander durch willkürliche Zeichen anzudeuten - mit Einem Worte: die Idee der Sprache. Demnach liegt in dem, in der Natur des Menschen gegründeten Triebe, Vernunftmäßigkeit außer sich zu finden, der besondere Trieb, eine Sprache zu realisiren, und die Nothwendigkeit, ihn zu befriedigen, tritt ein, wenn vernünftige Wesen mit einander in Wechselwirkung treten. (ibid., 103). Aus der Maxime „ Sei immer einig mit dir selbst “ folgt also einerseits eine feindselige Haltung des Menschen gegenüber der Natur, andererseits eine sympathetische Einstellung des Menschen zu den anderen Menschen, aus der die Idee der Schaffung der Sprache entsteht, als eines Mittels, das eigene Handeln mit dem der anderen zu koordinieren. Anna Maria Schurr-Lorusso (cf. infra 5.6) glaubt behaupten zu können, die Vernunft habe die Sprache um der Kommunikation, um des gesellschaftlichen Zusammenlebens ( „ l ’ esigenza del vivere sociale “ ) willen geschaffen. Dies ist nicht ganz richtig. Die Sprache wird von Fichte nicht durch die Existenz des Sozialen gerechtfertigt, sondern durch den Trieb des Menschen, Vernunftmäßiges außerhalb seiner selbst zu suchen. Eva Fiesel hat das richtig gesehen: In seinem [i. e. Fichtes] Aufsatz [. . .] über den Ursprung der Sprache führt er aus, daß die Sprache aus Gründen der Zweckhaftigkeit, aus dem Bedürfnis nach Mitteilung nämlich, und als Mittel geselliger Verständigung entstehen mußte: Sie ist keineswegs unmittelbarer Ausdruck des Innern, sondern sekundäre in Willkür gewählte Bezeichnung der Gedanken. Sie unterscheidet sich darin scharf von dem Gedanken selbst, der eine Handlung des Geistes ist. - Wenn solche rationalistische Erklärung gerade bei Fichte zunächst befremdlich erscheinen will, so findet sie doch ihre innere Begründung im Zusammenhang der dort entwickelten Ideen; denn Fichte zeigt, wie die Erfindung und Weiterbildung der Sprache in der Freiheit des menschlichen Geistes ihre Ursache hat: in seinem Streben mit sich selbst in Einklang zu sein. Deshalb sucht der Mensch außerhalb seiner selbst nach Vernunft, deshalb unterwirft er die Natur, um sie vernunftmäßig zu machen. (Fiesel 1927, 56 f.) Damit wird das Soziale nicht ausgeschlossen - ganz im Gegenteil. Es geht bei Fichte zwar nicht um die „ äußere soziologische Bedingtheit “ der Sprache, jedoch um das Soziale in einem tieferen Sinn, um die Grundlage selbst des Sozialen. Der Trieb, das Vernunftmäßige außerhalb seiner selbst zu suchen und stets einig mit 113 <?page no="128"?> sich selbst zu sein, gründet die Gesellschaft in demselben Augenblick, in dem die Sprache erfunden wird. Sprache und Gesellschaft erscheinen also bei Fichte als ursprünglich miteinander verbunden. In diesem Sinn stellt auch die Sprachauffassung Fichtes ein absolutes Novum in der Geschichte der Sprachphilosophie dar. Seine Auffassung geht weit über das hinaus, was wir bei Thomas von Aquin, bei Vives und Rousseau in dieser Hinsicht gefunden haben. 5.3.4 Zur Sprachgeschichte a priori Der zweite Teil der Abhandlung gibt Antwort auf den zweiten Teil der Frage, folgt dem üblichen aufklärerischen Schema und beruht, wie andere Geschichten a priori, wie z. B. diejenigen von Condillac oder Adam Smith, auf willkürlichen, sinnwidrigen oder sinnlosen Annahmen. Sogar die Ausdrucksweise erinnert gelegentlich an Condillac oder andere aufklärerische Sprachtheoretiker, so z. B. die Formulierung „ man wird wohl annehmen müssen “ . Die Ursprache (oder „ Hieroglyphensprache “ ) sei eine Sprache für das Auge und für das Gehör gewesen, ihr Zeichenvorrat habe aus Bildern und Nachbildungen von Naturgegenständen und Ereignissen bestanden. Danach habe man die Sprache in eine reine Gehörsprache verwandelt, u. a. deshalb, weil sich die für das Auge bestimmten Zeichen als nicht für den Gebrauch in der Dunkelheit oder über eine größere Entfernung hinweg geeignet erwiesen hätten. Man habe mit den Bezeichnungen für einzelne Gegenstände begonnen und sei schließlich zu den allgemeinen Begriffen gelangt. Die Erfindung des Verbs sein und der Zeichen für geistige Begriffe habe erheblich Schwierigkeiten bereitet. Glücklicherweise habe die Vernunft alle Schwierigkeiten überwinden können und sei Schritt für Schritt zu solch begrifflich-geistigen Höhen wie Seele, Unsterblichkeit usw. vorgestoßen. Wo eine Nachahmung der Natur nicht möglich war, habe man die neuen Zeichen mit Hilfe bereits vorhandener erklärt. Sicherlich habe es auch professionelle „ Sprachhandwerker “ gegeben: Es wird unter unkultivirten Völkern immer wenige geben, welche Kopf und Lust genug besitzen, sich mit Ausbildung der Sprache vorzüglich zu beschäftigen. Daher werden diejenigen, welche Fähigkeit und Neigung zu diesem mühsamen Geschäfte zeigen, schon dadurch bald über die Horde großen Einfluß gewinnen. (Fichte 1966 [1795], 109) Nachdem er die Ausbildung der Sprache als allmähliche Erfindung von Wörtern dargestellt hat, bemerkt Fichte, bis zu diesem Stadium seien die Wörter gleichzeitig ganze Sätze gewesen. Bei der Schilderung der weiteren Entwicklung kommt er dann auf die Erfindung der Grammatik zu sprechen. Zuerst sei der Aorist entstanden, dann andere Tempora, zuerst das Verb, dann andere Wortarten wie Partizipien, Substantive, Adjektive; zuerst habe es eine neutrale Diathese gegeben, danach sei das Aktiv und sehr viel später das Passiv entstanden: zuerst also der Löwe frisst, dann der Löwe frisst das Schaf und schließlich das Schaf wird von dem Löwen gefressen. Die grammatischen Personen seien „ ohne Zweifel “ in folgender Reihenfolge entstanden: zuerst die dritte, dann die zweite und schließlich die erste, die ja „ von höherer Vernunftcultur zeugt “ . Es frage sich noch, wie die Kasus 114 <?page no="129"?> entstanden seien - aber auch auf diese Frage hat Fichte Antworten a priori. Ganz zum Schluss habe man die Hilfsverben gebildet, die „ einen hohen Grad von Abstraction beweisen “ (vgl. ibid. 112 ff.). Das Prinzip besteht darin, das Komplexere aus dem Einfacheren abzuleiten und für die Entwicklung dann die umgekehrte Reihenfolge anzunehmen. Einfach ist das, was als einfacher erscheint. So seien z. B. die Eigennamen einfacher als die Gattungsnamen, weil sie nur einen Gegenstand bezeichnen. In Wirklichkeit, d. h. in der tatsächlichen historischen Entwicklung, verhält es sich jedoch ganz anders. Dieser Teil der Abhandlung enthält zwar manch interessante und wertvolle grammatische Definition, manche bemerkenswerte universalgrammatische Einsicht, aber im Vergleich zu Herder und Hamann einerseits und Harris andererseits (vgl. Bd. 1, Kap. 15.3) überrascht doch eine grenzenlose, erstaunlich ernsthafte und ernstgemeinte Naivität. 5.4 Weitere Ausführungen zur Sprache bei Fichte 5.4.1 Die Vorlesung Über den Ursprung der Sprache überhaupt Die Vorlesung zum Ursprung der Sprache enthält kaum etwas Neues, abgesehen von einer neuen Einschätzung der Sprache, in der die Dimension der Alterität noch höher bewertet wird: Kann der Mensch ohne Sprache gedacht werden? [. . .] also, so gewiß Menschen sind, so gewiß sind Zeichen, denn wo ein Mensch ist sind mehrere, diese stehen mit einander in Verbindung durch Begriffe vermittelst der Zeichen. Diese Wechselwirkung ist nun Sprache im allgemeinsten Sinn, u. ohne diese kann der Mensch nicht sein. (Fichte 1977 [1797], 293; 296) 5.4.2 Die patriotischen Dialoge Wenn es auch in den beiden Gesprächen eigentlich um „ Patriotismus “ geht und das Thema „ Sprache “ nur gestreift wird, enthalten diese Dialoge, im Zusammenhang mit einer Diskussion um die Pädagogik Pestalozzis doch einige Gedanken zur Sprache, die es wert sind, hier zitiert oder referiert zu werden: Nicht zwar die Sprache, aber das Sprechen selber [. . .] ist das allererste Mittel zur Entwicklung der Selbstbesinnung. [. . .] In allen höheren Regionen ist die Sprache nur Princip der weitern Bildung des ganzen Geschlechts von begünstigtern Individuen aus; hier allein ist sie das absolut schöpferische Princip einer Geisterwelt überhaupt. (Fichte 1993 [1807], 442 f.) Die Sprache erscheint als Prinzip der Welt des Geistes, nun offenbar nicht nur als Ausdruck, sondern als Ausdruck mit Bedeutung. Das Kind komme zur Selbstbesinnung, oder, in Fichtes Sprechweise, „ es gebiert sich zur Ichheit “ . . .offenbar [durch] die zu seiner Hülfe bereitstehende Menschheit, die aber durchaus durch kein anderes Medium mit ihm zusammenhängt außer durch das der Sprache. (ibid., 442) 115 <?page no="130"?> Fichte übt zugleich Sprachkritik in dem Sinn, wie wir sie später bei Bergson finden: Die Sprache drücke das Statische, nicht das Dynamische aus. Nicht das Sein sei das Wahre, sondern das geistige Leben; die Sprache entspreche jedoch dem Sein, sie biete nur ein statisches Bild des Lebens: Nicht im Seyn ist Wahrheit, und Realität, sondern allein im unmittelbaren Leben selber; das erstere ist nur der Schatten des letzern. . . (ibid., 428) Zwar wird diese Äußerung dem Gesprächspartner C. im zweiten Gespräch in den Mund gelegt, jedoch stimmt ihm B., hinter dem wir Fichte selbst vermuten dürfen, vorbehaltlos zu. Die weiteren Bemerkungen stammen dann alle von B.: . . .die Sprache liegt selbst in der Region der Schatten, und die durchgeführte fällt zusammen mit dem Seyn, als deßelben erster und unmittelbarer Schatten. (ibid., 429) Ausgerechnet der Philosoph, der die Sprache gerade durch die Kommunikation gerechtfertigt hat, gelangt hier zu dem Schluss, dass die Sprache doch ein unzulängliches Mittel dafür ist: Was ich daher ausspreche ist nie meine Anschauung selber: und nicht das, was ich sage, sondern das, was ich meine, ist unter meinem Ausdruke zu verstehen. [. . .] Es ist durchaus nothwendig [. . .], daß über dieses Prinzip eine Verständigung in bloßen Worten nicht möglich sey. (Fichte 1993 [1807], 429) 5.4.3 Die vierte und die fünfte Rede an die deutsche Nation In der Vierten Rede an die deutsche Nation knüpft Fichte an Herder und Hamann an, wenn er die Bedeutung der Nationalsprache für das geistige Leben einer Nation betont. Bei Herder geht es um alle Nationalsprachen, bei Hamann und Fichte fast ausschließlich um die deutsche Sprache. Fichtes Apologie des Deutschen ist vor dem Hintergrund der Napoleonischen Kriege zu sehen. Er unterscheidet zwischen toten und lebendigen Sprachen. Bei der lebenden Sprache seien alle Wörter unmittelbar motiviert; es trete . . .in den Fluß der Bezeichnung keine Willkühr ein. [. . .] Die Worte einer solchen Sprache in allen ihren Theilen sind Leben und schaffen Leben. (Fichte 2005 [1808], 149) Im Grunde geht es um das, was man später „ Bildungsdurchsichtigkeit “ genannt hat 73 : So verhält es sich, sage ich, mit einer Sprache, die vom ersten Laute an, der in demselben Volke ausbrach, ununterbrochen aus dem wirklichen gemeinsamen Leben dieses Volks sich entwickelt hat, und in die niemals ein Bestandtheil gekommen, der nicht eine wirklich erlebte Anschauung dieses Volks, und eine mit allen übrigen Anschauungen desselben Volks im allseitig eingreifenden Zusammenhange stehende Anschauung ausdrückte. (ibid., 150) 73 [Vgl. Jörn Albrecht: Le français langue abstraite? Tübingen 1970, 220 f.] 116 <?page no="131"?> Unter „ toten Sprachen “ versteht er vorzugsweise die „ neulateinischen “ , die romanischen Sprachen, die mit Latinismen befrachtet sind, die in keinem erkennbaren morphologischen Zusammenhang mit den sog. „ Erbwörtern “ stehen. Strenggenommen seien dies fremde Elemente für die Sprecher: . . .ein völlig leerer Schall, der an nichts ihm schon bekanntes durch Verwandtschaft des Lautes erinnert und so aus dem Kreise seiner Anschauung, und aller möglichen Anschauung ihn vollkommen herausreißt. (ibid., 151 f.) In der Fünften Rede an die deutsche Nation, in der Fichte „ die Folgen “ des in der vierten Rede Ausgeführten darlegen will, heißt es dann: Diese lebendige Wirksamkeit des Gedankens wird nun sehr befördert, ja, wenn das Denken nur von der gehörigen Tiefe und Stärke ist, sogar nothwendig gemacht, durch Denken, und Bezeichnen in einer lebendigen Sprache. Das Zeichen in der letzten ist selbst unmittelbar lebendig, und sinnlich, und wieder darstellend das ganze eigene Leben und so dasselbe ergreifend, und eingreifend in dasselbe; mit dem Besitzer einer solchen Sprache spricht unmittelbar der Geist, und offenbart sich ihm, wie ein Mann dem Manne. (ibid., 160) Es ist schwer, eine Kohärenz zwischen diesen Aussagen und Fichtes früheren Stellungnahmen zum Problem der Sprache zu finden. Genauere Nachforschungen in dieser Richtung wären wünschenswert. 5.5 Herder, Hamann und Fichte Gibt es nun eine Kohärenz zwischen Herder und Hamann auf der einen und Fichte auf der anderen Seite? Hier soll die These vertreten werden, dass Fichte zwar an Herder und Hamann anknüpft, dass er aber dennoch eine eigene Position vertritt. In negativer Hinsicht zeigt sich dies daran, dass er gegen beide Stellung nimmt, wenn er auch keine Namen nennt. Wir wollen nun versuchen zu zeigen, inwiefern Fichte in negativer und in positiver Hinsicht mit der von Herder und Hamann begründeten Tradition zusammenhängt. 5.5.1 Negativer Zusammenhang Fichte wendet sich gegen die These, dass Sprache und Denken eine Einheit bilden. Er hält die Aufmerksamkeit, die seine Vorläufer dem Problem der Sprache geschenkt haben, für übertrieben. Der Behauptung, es könne ohne Sprache kein Denken geben, widerspricht er entschieden. Das Gleiche gilt für die Auffassung, die Sprache sei zeichenhaft sowohl was den Ausdruck als auch was den Inhalt, die Bedeutung betrifft. Für ihn ist Sprache nur Ausdruck; die Bedeutungen sind vorgegeben, gehören nicht zur Sprache. Die Gedanken sind vor der Sprache, unabhängig von der Sprache da. Nur in dem oben angeführten Passus aus den Patriotischen Dialogen scheint er eine andere Auffassung zu vertreten. In beiden Fällen besteht ein negativer Zusammenhang zwischen Fichte und seinen beiden Vorläufern. Dabei handelt es sich allerdings - zumindest aus heutiger Sicht - eher um einen Schritt zurück in Richtung auf frühere Positionen, als um eine Weiterführung der von Herder und Hamann eingeführten Problematik. 117 <?page no="132"?> 5.5.2 Positiver Zusammenhang In positiver Hinsicht wird die Problematik unter einem anderen Gesichtspunkt sehr wohl weitergeführt, und zwar im Hinblick auf die allgemeine Idee, die Sprache sei auf ein einziges Prinzip zurückzuführen. Bei Herder war dieses Prinzip die Besonnenheit, bei Hamann die Freiheit. Bei Fichte tritt nun der Imperativ der Vernunftmäßigkeit an diese Stelle: „ Sei immer einig mit dir selbst. “ Aus dieser Forderung wird eine Weiterführung der Problematik abgeleitet, und zwar durch eine neue Auffassung der sozialen Bindung. Bei Herder wird das Gesetz der sozialen Bindung biologisch begründet: Wegen seiner Schwäche sei der Mensch auf die Hilfe anderer angewiesen. Eine Verbindung mit der Sprache bestehe insofern, als das Sprechen einen anderen voraussetzt, als es kein Ich ohne Du geben kann. Diese Rechtfertigung erfolgt im Rahmen des äußeren Wortes, das an den anderen gerichtet ist. Die Sprache als solche in ihrer Gestaltung der Wirklichkeit ist für Herder hingegen das innere Wort, mit dem der Nennende das Benennbare bezeichnet. Das Soziale an der Sprache wird - genau wie schon bei Thomas (vgl. Bd. 1, Kap. 9.1.3) - durch die schon bestehende soziale Bindung des Menschen begründet: das äußere Wort sei notwendig, weil der Mensch animal naturaliter politicum et sociale sei. Anders verhält es sich bei Fichte. Fichte hebt die Trennung von innerem und äußerem Wort auf. Das Wort ist notwendigerweise Äußerung. Die soziale Bindung des Menschen besteht nicht vor der Sprache, sondern sie entspringt mit der Sprache einem einzigen Prinzip. Es gibt nicht zuerst das Verhältnis von Mensch und Benennbarem, Mensch und Welt (das innere Wort) und erst danach das Verhältnis von Mensch zu Mensch (das äußere Wort). Beides ist gleichzeitig. Die objektive und die intersubjektive Dimension der Sprache (Alterität) sind gleichzeitig gegeben. Die Feststellung der Ursprünglichkeit der Alterität der Sprache als Grundlage der menschlichen Gesellschaft schlechthin ist Fichtes große Leistung auf dem Gebiet der Sprachphilosophie. Es gibt noch weitere positive Zusammenhänge in Bereichen, die Fichte nicht wirklich thematisiert, sondern nur gelegentlich streift. Fichte setzt sich mit der von Herder und Hamann geschaffenen ideologischen Atmosphäre auseinander und versucht, sie zu assimilieren. 5.6 Literaturhinweise Zur Sprachphilosophie Fichtes gibt es keine Monographie. Sie wäre, etwa in Form einer Dissertation, ein Desideratum. Alle einschlägigen Stellen und ihre Zusammenhänge wären zu berücksichtigen. Hierzu ist mir nur ein einschlägiger Aufsatz bekannt: Schurr-Lomosso, Anna Maria: „ II pensiero linguistico di J. G. Fichte “ . In: Lingua e Stile 5 (1970), 253 − 270. Dieser ausgezeichnete, aber eher linguistische als philosophische Aufsatz diskutiert den Begriff „ willkürlich “ bei Fichte und wählt ihn zum Ausgangspunkt für die Interpretation. In der Tradition bedeutet willkürlich meist „ nicht motiviert “ , d. h. nicht natur- 118 <?page no="133"?> oder kausalmotiviert, wie ich in meinem Aufsatz „ L'arbitraire du signe “ gezeigt habe. 74 Bei Fichte bedeutet willkürlich dagegen „ intentional “ , „ der Freiheit des Menschen entsprechend “ . [Bei Abschluss der zweiten Vorlesungsreihe im Jahr 1986 war die Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften noch längst nicht abgeschlossen. Der letzte Band ist 2012 erschienen. Eine Monographie zu Fichtes Sprachphilosophie scheint es weiterhin nicht zu geben. Bezeichnenderweise befindet sich weder im HSK-Handbuch Sprachphilosophie noch in der hier häufig zitierten Anthologie von Tilmann Borsche ein eigener Beitrag zu Fichte. Am häufigsten erwähnt wird Fichte im Aufsatz von Helmut Gipper „ Sprachphilosophie der Romantik “ im oben erwähnten HSK-Handbuch (Gipper 1992). Unter den Gesamtdarstellungen ist zuerst auf einen „ Klassiker “ hinzuweisen, auf die Lebens- und Werkbeschreibung aus der Feder von Fichtes Sohn (Immanuel Hermann Fichte 2 1862) Die neueste Gesamtwürdigung stammt von einem ausgewiesenen Fachmann für die Philosophie des deutschen Idealismus (Jacobs 2012). Wer sich speziell der Sprachphilosophie Fichtes annehmen möchte, findet in der Ausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften nunmehr alle heranzuziehenden Materialien an einem Ort: Reihe I, Bände 1 − 10 = Werke; Reihe II, Bände 1 − 17 = Nachgelassene Schriften; Reihe III, Bände 1 − 8 = Briefwechsel; Reihe IV, Bände 1 − 6 = Kollegnachschriften.] 74 Vgl. Coseriu 1967. 119 <?page no="134"?> 6 Friedrich Schlegel (1772 ‒ 1829) Friedrich Schlegel wurde am 10. März 1772 in Hannover geboren. Wie sein älterer Bruder August Wilhelm (vgl. Kap. 7) entstammte er einer hochangesehenen, in Sachsen beheimateten protestantischen Familie, die bereits im 17. Jahrhundert geadelt worden war, jedoch keinen Gebrauch von diesem Titel machte. Erst zu Beginn der Restaurationszeit schien es beiden Brüdern opportun, sich um eine Erneuerung der Adelswürde zu bemühen. Man findet sie daher in vielen Nachschlagewerken mit der Partikel von aufgeführt. Viele Vorfahren, darunter der Vater Johann Adolf und der Onkel Johann Elias Schlegel, sind mit historischen, kunsttheoretischen und literarischen Arbeiten hervorgetreten. Im Gegensatz zu August Wilhelm fiel Friedrich in seiner Kindheit durch keine besondere Begabung auf und wurde daher von seinem Vater in eine kaufmännische Lehre gegeben. Das scheint wie eine Art von Schocktherapie auf ihn gewirkt zu haben: In kürzester Zeit eignete er sich das Wissen an, das ihn zur Aufnahme eines Studiums der Rechtswissenschaft befähigte, zunächst in Göttingen, wo sein älterer Bruder bereits klassische Philologie studierte. Wie Goethe und vielen anderen vor ihm, diente auch ihm das Studium der Rechte lediglich als Vorwand für ausgiebige literarische Studien. Im Gegensatz zu Goethe verzichtete er jedoch auf jeden noch so bescheidenen Abschluss und beschloss bereits mit einundzwanzig Jahren - ähnlich wie Lessing - sich als freier Schriftsteller zu etablieren. In dieser Zeit - und weit darüber hinaus - war August Wilhelm ihm Ratgeber und Helfer, eine Art von Vaterfigur. Obwohl die beiden Brüder oft längere Zeit räumlich getrennt voneinander lebten, wurden sie von den Zeitgenossen meist als Einheit wahrgenommen, als die ‚ Dioskuren ‘ der Kritik. Ihr ausgedehnter Briefwechsel ist längst ein Teil der deutschen Literatur geworden und muss auch, wie wir im vorhergehenden Kapitel gesehen haben, als Quelle für die Geschichte der Sprachphilosophie herangezogen werden. Von 1798 bis 1800 erschien die von beiden Brüdern herausgegebene Zeitschrift Athenäum, die in der kurzen Zeit ihres Bestehens das literarische Leben Deutschlands stark beeinflusste. Auf die weiteren Lebensstationen Friedrichs kann hier nur in groben Zügen eingegangen werden. Er setzte seine Studien in Dresden und vor allem in Jena fort, das nicht zuletzt dank der „ Brüder Schlegel “ , wie sie allgemein genannt wurden und werden, zu einem der Zentren der ‚ ersten Schule ‘ der deutschen Romantik, der sog. ‚ Frühromantik ‘ , wurde. Nach einem längeren Aufenthalt in Berlin kehrte Friedrich nach Jena zurück, wo er kurze Zeit und mit sehr geringem Erfolg Philosophie lehrte. Außer mit Schiller, den er durch eine boshafte Rezension derart verärgert hatte, dass selbst Goethe den Bruch nicht zu kitten vermochte, verkehrte er mehr oder weniger freundschaftlich mit vielen bedeutenden Zeitgenossen: Wieland, Goethe, Friedrich von Hardenberg, der sich später Novalis nannte, Ludwig Tieck, den er in Berlin kennengelernt hatte, Henriette Herz, Rahel Levin und der Bankiersgattin Dorothea Veit, der ältesten Tochter Moses Mendelsohns, seiner späteren Frau. Mit ihr hatte er vor der Eheschließung jahrelang zusammen- 120 <?page no="135"?> gelebt und hat schließlich, als ob der Skandal nicht schon groß genug gewesen wäre, von dieser Episode seines Lebens in seinem Roman Lucinde (1799) ein kaum verhülltes Zeugnis abgelegt. Darüber hinaus pflegte er Umgang mit Persönlichkeiten, von denen hier schon die Rede war oder noch die Rede sein wird: Fichte (Kap. 5), Schleiermacher (Kap. 8) und Schelling (Kap. 9). Im Frühjahr 1802 reiste er mit Dorothea nach Paris, hielt dort Vorlesungen über deutsche Literatur und Philosophie und war zwei Monate lang Gast von Mme de Staël in Coppet am Genfer See. In dieser Zeit beschäftigte er sich u. a. mit der Troubadourlyrik, ein Gebiet, auf dem sein Bruder August Wilhelm später Pionierarbeit leisten sollte. Es folgte eine kurze Lehrtätigkeit in Köln und schließlich, im Jahre 1808, der Übertritt zur katholischen Kirche, der unter seinen Freunden einiges Aufsehen erregte und letztlich auch zu einem Bruch mit seinem Bruder führte. Im selben Jahr erschien Über die Sprache und Weisheit der Indier. Dem frisch Konvertierten eröffnete sich eine politische Karriere am Wiener Hof unter der Ägide Metternichs. Für kurze Zeit war er sogar österreichischer Gesandter beim Deutschen Bundestag in Frankfurt. 1822, mit eben einmal fünfzig Jahren, beginnt er mit einer Herausgabe seiner Sämtlichen Werke, in die er nichts aufnimmt, was ihn in konservativen Kreisen hätte kompromittieren können. In seinen letzten Lebensjahren lehrte er in Wien und gelegentlich in Dresden, wo er im Hôtel de Pologne vor einem ausgewählten Publikum Vorlesungen abhielt, die erst 1846 unter dem vermutlich von seiner Frau vorgeschlagenen Titel „ Philosophische Vorlesungen, insbesondere über Philosophie der Sprache und des Wortes “ veröffentlicht wurden. Mitten in diesem Vorlesungszyklus starb er an einem Herzanfall in der Nacht auf den 12. Januar 1829. 6.1 Friedrich Schlegels Bedeutung für die Sprachphilosophie Mit den Brüdern Schlegel und mit Schleiermacher gelangen wir nun zur eigentlichen Romantik. Es gilt zu zeigen, dass diese Denker Motive von Herder und Hamann weiter entwickeln. Dies wird uns leichter fallen als etwa bei Fichte, weil hier der Zusammenhang mit Herder und Hamann klarer ausgeprägt ist. Friedrich Schlegel nahm Einfluss nicht nur auf die Sprachphilosophie, sondern auch auf die Sprachtheorie und die Sprachwissenschaft im engeren Sinne. Er hat sich kontinuierlich mit dem Problem der Sprache beschäftigt, und zwar sowohl in philosophischer als auch, wenigstens zum Teil, in wissenschaftlicher Hinsicht. Wir finden bei ihm eine Einheit von Sprachphilosophie, Sprachtheorie im engeren Sinne und − auch empirischer − Sprachwissenschaft. Er liefert keine streng begründete Sprachphilosophie, sondern eher eine Ideologie mit verschiedenen interessanten Ansätzen, die nicht alle in die gleiche Richtung gehen. Eine kohärente Sprachauffassung aus seinen Schriften herauszulesen fällt etwas leichter als bei Hamann, aber schwerer als bei Herder. 121 <?page no="136"?> 6.1.1 Die verschiedenen Epochen im Werk Schlegels Heinrich Nüsse, gegenwärtig neben Ernst Behler einer der besten Kenner Friedrich Schlegels, führt in seiner Gesamtdarstellung der Schlegelschen Sprachtheorie (Nüsse 1962) ein Schema an, das geeignet ist, die verschiedenen von Schlegel behandelten Probleme im Überblick vorzustellen. Nüsse unterscheidet drei Lebensepochen, nämlich die Berliner und Jenaer Zeit von 1794 − 1802, die Pariser und Kölner Zeit von 1802 − 1808 als die große Zeit der Beschäftigung mit der Sprache und die Wiener Zeit von 1808 bis zu seinem Tode 1829, die „ Katholische Epoche “ (vgl. ibid., 14). Im Gesamtwerk Friedrich Schlegels finden wir die Themen Herders und Hamanns wieder. Dies wird durch die in eckigen Klammern stehenden Zusätze verdeutlicht, die dem ursprünglichen Schema von Nüsse hinzugefügt wurden: 1. Epoche 1794 − 1802 Berlin/ Jena 2. Epoche 1802 − 1808 Paris/ Köln 3. Epoche 1808 − 1829 Wien Grundlage der Sprache [rein biologische und geistige Grundlagen; Herder] Wesen der Sprache [Herder/ Hamann] Pluralität der Sprachen [Herder] Ursprung der Sprache [Herder/ Hamann] Laut und Schrift; Ausdrucksmittel [Hamann] Gespräch und Buchstabe [Hamann] Geist und Buchstabe [Hamann] Philosophie und Philologie [Herder] Dieses Schema ist nützlich, wenn auch nicht völlig annehmbar, und dies vor allem wegen der Unterbewertung der dritten Epoche, in der Schlegel doch noch etwas zum Wesen und insbesondere zur Bedeutung der Sprache zu sagen hatte. Es besteht bei einigen Interpreten eine Tendenz, die dritte Epoche zu vernachlässigen und im Schlegel dieser Lebensphase einen Menschen zu sehen, der körperlich und geistig nicht mehr im Vollbesitz seiner Kräfte war. Diese Ansicht ist wohl nicht völlig unbegründet. 6.1.2 Die wichtigsten Texte mit Äußerungen Friedrich Schlegels zur Sprachphilosophie Fast alle Schriften Schlegels beziehen sich wenigstens zum Teil auf die Sprache. Die wesentlichen Stellen finden sich bei Nüsse, meist in Form von wörtlichen Zitaten. Besonders wichtig sind die folgenden Werke: 122 <?page no="137"?> [Verweise auf die Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe (KFSA) stehen in eckigen Klammern. In einigen Fällen wurde aus der Studienausgabe (1988) zitiert, die denselben Text bietet. In einigen wenigen Fällen wurde nach Nüsse zitiert, da die betreffende Stelle in der KFSA nicht aufgefunden werden konnte.] Prosaische Jugendschriften (Schriften der 1. Epoche 1794 − 1802) (hrsg. von Jakob Minor, 2 Bde. Wien 1882, 2 1906) [Inhalt nunmehr verteilt auf KFSA Bde. 1, 2 und 8] Philosophische Vorlesungen 1804 − 1806 (hrsg. von C. J. H. Windischmann, 2 Bde., Bonn 1836/ 37, 2. Aufl. Bonn 1846) [KFSA; Bde. 12 und 13] Philosophie der Philologie (hrsg. von Josef Körner). In: Logos, Bd. 17. Tübingen 1928, 1 ‒ 72. [KFSA, Bd. 16; keine Zitate in dieser Vorlesung] Über die Sprache und Weisheit der Indier. Heidelberg 1808 (Wieder in: Studien zur Philosophie und Theologie. Kritische Ausgabe, Bd. 8, hrsg. von Ernst Behler und Ursula Struck-Oppenberg. Paderborn: Schöningh / Zürich: Thomas-Verlag 1975, 105 ‒ 433). [KFSA, Bd. 8, 113 − 433. Dem Nachdruck der Erstausgabe (mit leicht modernisierter Orthographie, aus dem hier zitiert wird, wird in der Kritischen Ausgabe die Handschrift in diplomatischem Abdruck gegenübergestellt. Sie unterscheidet sich erheblich vom Text der Ausgabe von 1808]. Mit diesem Werk ist Schlegel in die Geschichte der Sprachwissenschaft im engeren Sinne eingegangen. Philosophische Vorlesungen insbesondere über Philosophie der Sprache und des Wortes (Dresden 1828/ 29). Wien 1830 [KFSA, 1. Abt., Bd. X., 309 − 534] Dieses Werk enthält leider nicht die ganze Sprachphilosophie. Der Titel geht, wie bereits im biographischen Abschnitt erwähnt, auf einen Vorschlag von Dorothea Schlegel zurück. Heranzuziehen sind darüber hinaus zahlreiche Fragmente und Briefe. [Nunmehr in der 2. und 3. Abteilung der KFSA] 6.2 Die Philosophie, insbesondere die Sprachphilosophie Friedrich Schlegels in der Forschung. Ein Überblick Eva Fiesel bietet in ihrer bereits mehrfach zitierten Sprachphilosophie der deutschen Romantik (1927) keine kohärente Gesamtdarstellung der Sprachphilosophie Schlegels; es geht ihr eigentlich nur um eine kohärente Darstellung der gesamten Sprachphilosophie der deutschen Romantik. Nachdem sie die Themen und Motive dieser Sprachphilosophie identifiziert hat, reiht sie schlicht Äußerungen der verschiedenen Autoren aneinander, die das jeweilige Thema dokumentieren sollen: „ Friedrich Schlegel sagt einmal . . ., Novalis schreibt seinerseits . . ., auch August Wilhelm Schlegel ist davon überzeugt, dass . . . “ . Bei diesem Vorgehen verschwindet der Gedankenzusammenhang eines jeden einzelnen Denkers ins Unbestimmte. Was speziell Friedrich Schlegel betrifft, so wird die Kölner Epoche kaum behandelt. Dennoch werden einige Aspekte der Sprach- 123 <?page no="138"?> philosophie Friedrich Schlegels zutreffend hervorgehoben und richtig interpretiert. Das betrifft insbesondere die folgenden Aspekte: - die Auffassung der Sprache als eines Produkts des ganzen inneren Menschen (S. 1); - die Idee der Sprache als Kunst (S. 11); - die Idee der Abstraktion (S. 32); - die Idee vom ständigen Ursprung der Sprache (S. 55); - die vergleichende Charakterisierung des Begriffs der „ Besonnenheit “ bei Schlegel und Herder (S. 69), sowie - den Vergleich zwischen Friedrich Schlegel und Hamann im Hinblick auf die Sprachidee (S. 73 − 74). Bei Friedrich Kainz (1941) werden weitere Motive identifiziert und hervorgehoben: - die Idee der Sprache als eines Produkts aller Kräfte des Bewusstseins (S. 264); - die dialogische Auffassung der Sprache und des Denkens (S. 256); - die soziologische Komponente der Schlegel ’ schen Sprachphilosophie (S. 276 ff.). Darüber hinaus versucht Kainz eine Gesamtinterpretation der Sprachtheorie Schlegels zu bieten: Sie gilt ihm als Beispiel für den Übergang von der systematisch-sprachphilosophischen zur geschichtlich-sprachwissenschaftlichen Betrachtung der Sprache, also etwa von Herder-Hamann-Fichte zu Wilhelm von Humboldt. Von einem noch allgemeineren Gesichtspunkt aus, könne man in dieser Sprachtheorie einen ersten Ansatz des Übergangs zwischen zwei Kulturtypen sehen, nämlich von der „ Kultur der Idee “ zur „ Kultur der Erfahrung “ : F. Schlegels Sprachtheorie stellt ein fruchtbares Arbeitsbündnis zwischen Sprachphilosophie und historisch-genealogischer Sprachwissenschaft dar, das bei allen zeitbedingten - und damit zeitkennzeichnenden - Fehlern doch auch wertvolle Anregungen enthält, welche die gesamte Sprachwissenschaft der Folgezeit aufs nachhaltigste befruchten. Zugleich ist mit der hier deutlich werdenden Verlagerung des Forscherinteresses vom philosophischen auf das linguistische Gebiet ein geistesgeschichtlicher Vorgang angebahnt, der die Ablösung der reinen Kultur der Idee durch eine neue Kultur der Erfahrung zumindest in ersten Ansätzen auch innerhalb der Romantik selbst erkennen läßt. (Kainz 1941, 282) Dies trifft allerdings nicht genau zu, denn: - erstens ist eine Koppelung von Idee und Erfahrung schon bei Herder feststellbar, der eigentlich als Erster auf die Historizität der Sprachen hinweist und diese Historizität - unter Verwendung von konkretem Material aus verschiedenen Sprachen - in seine Sprachauffassung einbezieht; und - zweitens wird die Erfahrung bei Schlegel sofort zur Idee, d. h. die Erfahrung, die bei ihm meist an der Oberfläche bleibt, dient ihm nur als Anlass für ideologische Konstruktionen. Er wirkt dadurch sicherlich anregend auf die in Entstehung begriffene historisch-vergleichende Sprachwissenschaft, aber er beteiligt sich 124 <?page no="139"?> nicht an diesem Unternehmen. Die nüchterne Tätigkeit seines Bruders August Wilhelm ist - wenn auch mit weit weniger Glanz und geringerer poetischer Faszination behaftet - in dieser Hinsicht auf die Dauer sicherlich weit wirksamer gewesen, wenn man einmal von der ersten Phase der Begeisterung absieht. Und was die philosophische Seite des Sprachvergleichs betrifft, so muss doch einmal klar ausgesprochen werden, dass Friedrich Schlegel nicht über die Fähigkeit verfügt, von der Mannigfaltigkeit der sprachlichen Erfahrung her das Ganze der Sprache in ihrer Besonderheit zu denken. Ein Wegbereiter Humboldts ist er nicht; - drittens betrifft die Charakterisierung Friedrich Schlegels durch Kainz vor allem die zweite Phase seiner sprachtheoretischen Tätigkeit und sieht vor allem von der dritten Phase fast vollständig ab. Diese späte Phase gilt Kainz als ein sacrificium intellectus, das in Verbindung mit Schlegels Übertritt zum Katholizismus gesehen wird. Dies ist zwar sub specie aeternitatis, was den geschichtlichen Fortgang der Sprachphilosophie und der Sprachwissenschaft betrifft, nicht ganz unrichtig, denn mit den mystischen Aspekten dieser dritten Phase ist in sprachtheoretischer Hinsicht tatsächlich nicht viel anzufangen. Die Gleichung, die katholisch mit „ falsch “ und evangelisch mit „ richtig “ gleichsetzt, geht aber nicht auf. Bei der Charakterisierung Friedrich Schlegels kann man von dieser dritten Phase nicht absehen, da sie eng mit den vorhergehenden Phasen zusammenhängt und in gewisser Hinsicht die gleiche forma mentis aufweist. Wir werden hier versuchen, gerade diese Zusammenhänge, die Kainz vernachlässigt, klar herauszuarbeiten. Schließlich waren ihm die Kölner Aufzeichnungen kaum bekannt. Das Buch von Heinrich Nüsse ist sicherlich der beste Führer zur Sprachphilosophie Friedrich Schlegels, da er alle in Frage kommenden Texte genau kennt. Richtig ist auch seine Entscheidung, den Ausdruck Sprachtheorie zum „ Ordnungsbegriff “ für die Darstellung der Schlegelschen Sprachauffassung zu wählen, da bei Friedrich Schlegel Sprachphilosophie, Sprachtheorie und allgemeine Sprachwissenschaft, noch mehr als es heute der Fall ist, ineinandergreifen. Doch ist auch seine Auffassung nicht im Ganzen annehmbar. Zum einen bringt Nüsse der darzulegenden Sprachauffassung allzu viel Begeisterung entgegen. Obwohl er Schlegel zutreffend als einen „ nicht strengen aber empfindlichen “ Geist charakterisiert und zu Recht bemerkt, dass Schlegel „ eine wissenschaftlich systematische Erwartung ebenso oft weckt wie enttäuscht “ (Nüsse 1962, Vorwort), neigt er dazu, bei seinem Autor mehr zu finden als tatsächlich dasteht. Mehrmals konstruiert er, im Anschluss an ein Zitat, Zusammenhänge, die bei Schlegel nicht erscheinen und bietet aufgrund einer in seinen Autor hineininterpretierten Kohärenz etwas, das Schlegel hätte sagen können, aber nicht wirklich gesagt hat. Seine Darlegung wird zu einer Sprachtheorie, die man aufgrund der Ansätze Schlegels folgerichtig entwickeln könnte. Zum anderen ist bei Nüsse, wie bereits angedeutet, eine Unterbewertung der dritten Phase, insbesondere der Dresdener Vorlesungen festzustellen. Trotz dieser Unzulänglichkeiten werden wir uns bei der folgenden Darstellung an dem 125 <?page no="140"?> Ordnungsschema orientieren, das Nüsse seiner kommentierten Darstellung der Schlegel ’ schen „ Sprachtheorie “ zugrundegelegt hat. 6.3 Drei Hauptthemen der Sprachphilosophie Friedrich Schlegels Schlegel behandelt in seinem Werk drei große Themen: die Grundlage der Sprache, das Wesen der Sprache und die Pluralität der Sprachen. Sie betreffen die Aspekte, die im Zusammenhang mit der hier vertretenen These stehen, die Sprachphilosophie der deutschen Bewegung sei von Herder und Hamann ausgegangen. Die Grundlage der Sprache soll den Anfang machen. 6.3.1 Die Grundlage der Sprache Gemeint ist die biologische Grundlage der Sprache. Hier bewegt sich Friedrich Schlegel im Großen und Ganzen im Gedankenkreis von Herder, ohne dass es ihm wie Herder gelänge, die biologische Notwendigkeit der Sprache zu beweisen. Dies wird von seinen Interpreten nicht bemerkt, auch von Nüsse nicht, obwohl er Arnold Gehlens Der Mensch 75 zitiert, ein Werk, das sich ganz auf Herder stützt und sogar mit dem Herderschen „ Schon als Thier hat der Mensch Sprache “ beginnt. (cf. ibid., 3.4.2) Vier Punkte sind in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen: (1) Die tierischen Laute als Grundlage der Sprache; (2) die natürliche Unbestimmtheit als Spezifikum der menschlichen Laute; (3) die Rechtfertigung des lautlichen Charakters der Sprache im Zusammenhang mit dem Gehörsinn und schließlich (4) das Problem der Taubstummen: 6.3.1.1 Die tierischen Laute als Grundlage der Sprache Für Schlegel sind die tierischen Laute Grundlage der Sprache; es gebe so etwas wie eine biologische (in heutiger Sprechweise genetisch bedingte) Neigung zu sprechen: Die thierischen Laute scheinen mir die Grundlage der Sprache, Bezeichnung und menschliche Stimme Frucht langer Uebung und späterer Bildung. Würde es eine Sprache geben, wenn es keine Neigung zum sprechen - keine organische Tendenz thierischer Laute gäbe? 76 Diese Neigung kommt aber bei den Tieren nicht zur Verwirklichung, weil die Laute der Tiere nicht von Natur aus unbestimmt sind. Die Laute der Tiere charakterisieren deren Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gattung. 6.3.1.2 Die natürliche Unbestimmtheit der menschlichen Laute Der Mensch hat zwar die Neigung, sich durch Laute auszudrücken, jedoch nicht durch bestimme Laute: Vom Menschen lässt sich nicht sagen, er stoße bestimmte Laute aus, an denen man ihn erkennt: 75 Gehlen 5 1955; cf. supra Kap. 3.1. 76 Brief an August Wilhelm 23. 12. 1795 = KFSA, 3. Abt., Bd. 23, 265. 126 <?page no="141"?> Jeder Laut eines lebenden Wesens hat seinen eigentümlichen Sinn, und auch die Gleichartigkeit mehrerer Laute ist nicht bedeutungslos. Wie der einzelne Laut den vorübergehenden Zustand, so bezeichnet sie die beharrliche Eigentümlichkeit. Sie ist die tönende Charakteristik, das musikalische Portrait einer individuellen Organisation. So wiederholen viele Tierarten stets dasselbe Geräusch, gleichsam um der Welt ihre Identität bekannt zu machen - sie reimen. 77 Von dem Menschen kann man nicht sagen, daß er ein eignes thierisches Geschrey habe; denn unbestimmte Bestimmbarkeit ist „ eben “ der Unterschied s[einer] Thierheit von der „ der “ andren Thiere, welche eine bestimmte Richtung haben. (KFSA, Bd. 23, 264 f.) Das gilt natürlich nicht nur für die Sprachlaute, sondern für die Fähigkeiten des Menschen im Allgemeinen: Dasjenige aber, was den Menschen zum Menschen macht, und wovon sich bei den Tieren auch nicht die geringste Spur findet, ist jene willkürlich freie Bewegung seiner geistigen Kraft und Thätigkeit. (KFSA, Bd. 13, 237) Nüsse bringt das alles auf eine knappe Formel: „ Der Mensch ist das unbestimmt bestimmbare Tier. “ (Nüsse 1962, 20) 6.3.1.3 Die Rechtfertigung des lautlichen Charakters der Sprache im Zusammenhang mit dem Gehörsinn Da die Sprache am Bereich der sinnlichen Wahrnehmung teilhat, hängt sie unmittelbar mit dem Gehör zusammen. Dies sei jedoch nicht nur biologisch und physikalisch bedingt. Das Gehör sei nämlich der Sinn für das Bewegliche und dieser entspreche der Freiheit des Menschen: „ [Es sei] ganz und gar nicht zufällig, sondern sehr wesentlich, daß die Materie des Worts der Schall ist. “ 78 An weiteren Stellen seines umfangreichen Werks äußert sich Schlegel in diesem Sinn, wobei Anklänge an Herder und Hamann unübersehbar sind: Das Gehör ist der Sinn bloß für das Bewegliche, keineswegs für den Stoff, für das Beharrliche; nicht für das Seyn, sondern für das Werden der Gegenstände. (KFSA, Bd. 12, 346) Wir glauben zwar auch Bewegung zu sehen, eigentlich aber sehen wir nur die veränderten Umrisse der äußern Gestalten und schließen nun, daß eine Bewegung vorgegangen sei, die Bewegung selbst aber sehen wir nicht. (KFSA, Bd. 13, 229) [Der Schall als Materie des Wortes] hat als solcher unendlichen Vorzug, insofern er etwas durchaus Bewegliches ist, denn dadurch entfernt man sich schon von der Starrheit und Unbeweglichkeit des Dings zur Freiheit. (KFSA, Bd. 12, 345) Dies hängt, wie gesagt, eng mit Herder zusammen. Auch für Herder hat der Mensch schon als Tier Sprache, auch bei Herder stößt der Mensch im Gegensatz zu den Tieren keine Laute aus, an denen man ihn erkennen könnte, auch bei Herder besteht ein enger Zusammenhang zwischen Laut und Gehör. Die Begründung ist aber bei Herder eine andere; sie erfolgt über die „ tönende Natur “ , über das Gehör als 77 Friedrich Schlegel Studienausgabe (1988), Bd. 1, 76. 78 KFSA, Bd. 12, 345. 127 <?page no="142"?> „ mittlerem Sinn zwischen Gesichts- und Tastsinn “ (cf. supra 6.3.1 und 3.4.2). Neu bei Schlegel ist die glückliche Formel von der „ unbestimmten Bestimmbarkeit “ , die allerdings inhaltlich schon bei Herder angelegt ist. Schlegels Begründung der Notwendigkeit des Zusammenhangs zwischen Schall, Gehör und Sprache ist weitergehend und tiefer als bei Herder, dagegen fehlt bei ihm die biologische Begründung der Notwendigkeit der Sprache und die Abhebung der menschlichen Sprache gegenüber der „ Sprache “ der Tiere, die bei Herder deutlich ausgeführt wird (cf. supra 3.4.2). 6.3.1.4 Das Problem der Taubstummen Das Problem der Taubstummen wurde bereits von Diderot in seiner Lettre sur les sourds et muets aufgeworfen (cf. Bd. I, 18.3) und sowohl von Herder als auch von Hamann aufgegriffen. Für Friedrich Schlegel ist jedoch, anders als für Diderot, die Sprache notwendigerweise lautlich. Taubstumme sind daher für ihn unvollkommene Menschen; diese Auffassung vertritt er sowohl in seiner zweiten als auch seiner dritten Lebens- und Schaffensphase: Der Blinde, besonders der Blindgeborne, verliert mit der Anschaung der äußern Welt freilich sehr viel, doch ist er Mensch, wie andere Menschen, das kann man aber von dem Taubgebornen nicht ganz behaupten. Dieser kann mit dem Verlust des ersten und vollkommensten Organs der Mitteilung und dem daraus notwendig entspringenden Mangel an geistiger Entwicklung nur einer halben Art von Vernunft teilhaftig werden. (KFSA, Bd. 13, 230) An anderer Stelle heißt es: „ [Die] Zeichen der Taubstummen [seien] immer nur als sehr prekäre und unvollkommene Worte zu betrachten “ 79 und noch in seiner Philosophie des Lebens (1827) bedauert er die Taubstummen, „ da ihnen mit dem Sprachvermögen zugleich eine Hauptbedingung des vernünftigen Charakters abgeht “ 80 . Nach Friedrich Kainz möchte Schlegel mit diesen Bemerkungen eine Art von Beweis für den engen Zusammenhang von Sprache und Denken führen: Den Beweis für den engen Zusammenhang zwischen Sprechen und Denken sieht Schlegel dadurch erbracht, daß ohne Sprache ein vollentwickeltes Geistesleben unmöglich ist. In dieser Hinsicht sind die Taubgeborenen weit schlechter daran als die Blindgeborenen, die durch die mangelnde Anschauung der äußeren Welt nicht in ihrer Vernunftentwicklung benachteiligt sind. Die sich selbst überlassenen Taubstummen würden wie die Blödsinnigen werden, da ihnen mit dem Sprachvermögen zugleich eine Hauptbedingung des vernünftigen Charakters abgeht. Die Taubstummenlehrer, die es unternehmen, diese unglücklichen Menschen dennoch zur Vernunft zu bilden, vermögen dies nur dadurch, daß sie ihnen „ eine andere Zeichensprache beibringen als die gewöhnliche lautbare Gehörsprache, deren sie beraubt sind, so daß es sich auch hier nur von neuem bewährt, wie nahe das Sprachvermögen in jeder Beziehung mit dem vernünftigen Charakter zusammenhängt “ . Mit dem Fehlen des „ ersten und vollkommenen Organs der Mittheilung “ ist 79 KFSA, Bd. 12, 345. 80 3. Vorlesung = KFSA, Bd. 10, 45. 128 <?page no="143"?> notwendig ein „ Mangel an geistiger Entwicklung “ verbunden, der den Taubstummen nur einer halben Vernunft teilhaft werden lässt. (Kainz 1941, 266 f.) Es ist ein Verdienst Schlegels, das Problem gestellt zu haben, jedoch sind weder die Art der Fragestellung noch das daraus abgeleitete Argument annehmbar. Die Fragestellung ist rein empirischer Art, soll jedoch auf die Lösung eines theoretischen Problems hinführen. Es ist kein Beweis für den Zusammenhang von Lautsprache und Vernunft im absoluten Sinn, dass den Taubstummen in einer Gesellschaft von Sprechenden die Entfaltung der Vernunft erschwert ist. Ganz im Gegenteil, die Vernunft und die Sprachfähigkeit sind offenbar auch bei Taubstummen vorhanden, da sie eine Ersatzsprache, die sog. „ Gebärdensprache “ lernen und „ Worte “ von den Lippen ablesen können. Die Sprachfähigkeit muss, wie u. a. Humboldt richtig gesehen hat, etwas vom Gehörsinn bis zu einem gewissen Grade Unabhängiges sein; das zeige sich gerade in den Strategien, die Taubstumme entwickeln, um beim Sich-Mitteilen das fehlende Gehör zu kompensieren: Der Ton, den wir hören, offenbart sich ihnen [den Taubstummen] durch die Lage und Bewegung der Organe [. . .], sie vernehmen durch das Auge und durch das angestrengte Bemühen des Selbstsprechens seine Articulation ohne sein Geräusch [. . .] Sie [. . .] erkennen nicht bloß angeregte Vorstellungen an Zeichen oder Bildern. Sie lernen reden, nicht bloß dadurch, daß sie Vernunft, wie andere Menschen, sondern ganz eigentlich dadurch, daß sie auch Sprachfähigkeit besitzen, Übereinstimmungen ihres Denkens mit ihren Sprachwerkzeugen, und Drang, beides zusammenwirken zu lassen, das eine und das andere wesentlich gegründet in der menschlichen, wenn auch von einer Seite verstümmelten Natur. 81 Ähnlich äußert sich auch Ernst Cassirer in seinem Essay on man auf den Seiten, die der taubstumm geborenen Helen Keller gewidmet sind. Der Beweis für den Zusammenhang zwischen Sprache und Denken müsste anders als bei Schlegel geführt werden: Es wäre zu zeigen, dass bei einem Fehlen der Sprachfähigkeit als solcher (unabhängig von ihrer materiellen Manifestation) auch die Entwicklung des Denkens über das Praktische hinaus fehlt, dass in einem solchen Fall zwar praktische Fähigkeiten entwickelt werden können, nicht jedoch das Denken als solches. 6.3.2 Das Wesen der Sprache Das Wesen der Sprache ist das eigentliche Problem der Sprachphilosophie. Die wichtigsten Ausführungen zu diesem Thema finden sich wohl, wie Nüsse festgestellt hat, in den Kölner Vorlesungen, die nur in Form von Nachschriften erhalten sind und erst 1836 publiziert wurden. Auf einige Gedanken zu diesem Thema stößt man auch in späteren Schriften, z. B. auf die Bemerkungen über den dialogischen Charakter des Denkens. Nüsse ist bemüht, Schlegels Auseinandersetzung mit Fichtes idealistischer Position zu rekonstruieren, die er noch in Richtung auf einen 81 Zit. n. Nüsse (1962 23.) [Eine sehr ähnliche, teilweise textidentische Passage findet sich in § 37 von „ Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaus “ = Humboldt 2010, III, 193.] 129 <?page no="144"?> absoluten Idealismus zu übertreffen sucht, ein Vorhaben, das dann in einen absoluten (oder, wenn man so will, „ kritischen “ ) Realismus mündet. Dabei identifiziert Nüsse in vorzüglicher Weise die beiden sprachphilosophischen Motive Schlegels, die zugleich Hauptmotive seiner Ontologie und seiner Anschauungslehre darstellen: die Bedeutung als sinnhabender Schein und die Sprache als Befreiung vom Ding. Er bemerkt auch richtig, dass das Theorem von der „ Sprache als Befreiung vom Ding “ auf eine Anregung von Franz Hemsterhuis zurückgeht, der den jungen Schlegel in nicht unbedeutendem Ausmaß beeinflusst hat. Bei Hemsterhuis findet man folgende Bemerkung: Ainsi pour qu ’ un être, qui a la faculté de recevoir des idées, pense, raisonne ou projette, il faut qu ’ il ait des signes qui ne soient pas les objets, mais qui répondent aux objets, et dont il soit parfaitement le maître. 82 Eine ganze Reihe von Dingen hat Nüsse allerdings nicht bemerkt: (1) dass der „ sinnhabende Schein “ bei Schlegel gar nicht die Bedeutung, sondern das Wort ist - für ihn das Erscheinen einer Bedeutung; (2) dass die Bemerkung von Hemsterhuis eine lange Tradition hinter sich hat, zunächst einmal auf das englische Denken zurückführt, wahrscheinlich auf Shaftesbury, und dann dem für die damalige Zeit üblichen Weg gefolgt ist, nämlich von England über die Niederlande nach Deutschland, letztlich jedoch auf eine These von Aristoteles zurückgeht; (3) dass die Lehre von Friedrich Schlegel im Grunde die von Hamann ist und dieselben Schwächen aufweist; (4) dass der Begriff „ Sprache “ in den Ausführungen Hamanns, wie schon bei Schlegel, mehrdeutig ist und dass deshalb seine Diskussion des Idealismus vom Gesichtspunkt der Sprache her keineswegs solide fundiert ist, und (5) dass die These von der „ Befreiung vom Ding “ , sofern man im Rahmen der innerhalb des ersten Hauptthemas vertretenen Auffassung bleibt, zu Widersprüchen führen muss. Punkt (1) und (5) können erst im Zusammenhang mit der Diskussion der Schlegelschen Texte erläutert werden; zu den übrigen kann hier bereits Folgendes bemerkt werden: Was die „ Befreiung vom Ding “ im Sinne von Hemsterhuis betrifft, so findet man das Wesentliche bereits in den Sophistischen Wiederlegungen (Sophistici elenchi) von Aristoteles, dem vierten Teil des sog. Organon: Man kann beim Diskutieren (im Dialog) nicht die Dinge selbst hernehmen, sondern gebraucht statt ihrer die Namen (Wörter) als Symbole (Zeichen) für sie. . . (Soph. el. 165 a, 6 ff.) 83 82 F. Hemsterhuis: Œ uvres philosophiques, Paris 1792, Bd. II, 135; zit. nach Nüsse 1962, 35 Anm. 15 [offenkundige Fehler korrigiert]. 83 Vgl. (auch griech. Originaltext) Bd. 1, 6.2.3.3, e). 130 <?page no="145"?> Wie für Hamann ist auch für Schlegel die Sprache nicht nur etwas Menschliches, sondern zugleich und vor allem etwas Übermenschliches, denn das Wort ist auch Prinzip der Natur (vgl. die Natur als Sprache Gottes bei Hamann, supra, 4.5.1). Nüsse resümiert Schlegels Haltung folgendermaßen: Das Prinzip des Idealisten ist der Glaube an sich selbst, das Prinzip des Dogmatikers der Glaube an die Dinge. Schlegel glaubt an ein Drittes: „ Nicht an die Dinge dürfen und sollen wir glauben, wohl aber an die Signatur der Dinge, an die Offenbarung des Bildnisses, an das Wort. “ 84 Es handelt sich also wie bei Hamann um einen Glauben, und wie bei Hamann ist das Wort „ Offenbarung “ . Dies ist nun aber für die gesamte Sprachtheorie Schlegels charakteristisch. Nüsse bemerkt wiederum zu Recht, dass es sich dabei um eine mystische Haltung handelt und dass gerade in dieser Hinsicht eine von Hamann zu Schlegel hinführende Traditionslinie festzustellen ist: Darin ist sich alle mystische Versenkung in die Sprache einig: Sprache macht Sprache hörbar. Die Sprache kann die Dinge nur treffen, weil sie sie bereits redend antrifft. Diesen Grundgedanken bewahrt Schlegel über die Kölner Epoche hinaus. Werden in der Kölner Philosophie die Dinge aktualistisch in Worte aufgelöst, so wird später das Wort zum tragenden Grund der Dinge. (Nüsse 1962, 36) In den Fragmenten aus dem Jahr 1818 wird das Wort als Prinzip des Realen überhaupt, als dem Menschen entgegenkommender Logos der Wirklichkeit und zugleich als Gott dargestellt: Das Wort ist der Geist und der König der Natur; daher seine ursprüngliche und ewige Affinität mit dem Menschen. [. . .] Das Wort ist immer menschgestaltig, nämlich ein in der Natur waltender und mit der Natur umkleideter, aus der Tiefe der Natur hervorbrechender, von ihrem Gipfel gebietend umherstrahlender Gott (Christus). (Studienausgabe (1988), Bd. 5, 149) Diese Linie kann noch weiter, bis zu den letzten Dresdener Vorlesungen verfolgt werden. Sicherlich enthält dieser Sprachmystizismus, der letztlich auf eine an Heraklit erinnernde Identifizierung (bzw. Nicht-Unterscheidung von Wirklichkeit, Denken und Sprache hinausläuft, 85 eine wichtige Intuition, die es verdient, zur Kenntnis genommen zu werden, aber es handelt sich eben nur um eine Intuition ohne jedes durch Reflexion gesichertes Fundament. Schließlich sind die Begriffe „ Sprache “ und „ Bedeutung “ in Schlegels Ausführungen mehrdeutig: Einerseits werden sie im üblichen Sinn gebraucht, andererseits stehen sie jedoch auch für die Dinge selbst oder zumindest für die Dinge soweit sie von einem Subjekt erfahren werden, und zwar nicht nacheinander, sondern miteinander und durcheinander. Schlegels Argumente beziehen sich meist auf die Sprache als Ausdruck des Denkens (Sprache 2 ), sie treten jedoch mit dem Anspruch 84 Nüsse 1962, 36. [Bei dem Schlegelzitat handelt es sich um einen Zusatz zu den Kölner Vorlesungen, abgedruckt in der Ausgabe von Windischmann, Bd. 2, 400.] 85 Vgl. Bd. 1, Kap. 4. 131 <?page no="146"?> auf, im Rahmen einer Theorie der Sprache als tradierter Institution, als Einzelsprache (Sprache 1 ) zu gelten. 86 Was nun die Behandlung der Zeichenfunktion bei Schlegel betrifft, so konstatiert Nüsse eine „ terminologische Vieldeutigkeit “ , die Verwirrung stiften kann. Es gebe bei Schlegel zwei Ausdrücke für die bezeichnende und nicht weniger als vier für die bezeichnete Seite: Bezeichnende Seite Bezeichnete Seite 1. Wort 1. Sache selbst 2. Bild 2. Begriff (den ein Geist dem andern mitteilt) 3. Verbindung (in welche zwei Geister miteinander treten) 4. Gegenstand (den das Wort bedeutet) (Nüsse 1962, 26, Fn. 6) Die Ausdrücke auf der bezeichneten Seite müssen, so Nüsse, „ allesamt als synonym gelten “ . Sie können jedoch nicht als synonym gelten, denn es handelt sich nicht nur um unterschiedliche Ausdrücke, sondern auch um unterschiedliche Begriffe. Trotz dieser Einschränkungen dürfen die Lehre von der Bedeutung als sinnhabender Schein und die Lehre von der Sprache als Befreiung vom Ding auf die Sprache als solche bezogen als Schlegels wichtigster Beitrag zur Sprachphilosophie gelten. Dies gilt vor allem für die Lehre von der Befreiung vom Ding, die bei Schlegel nicht bloß im rein praktischen Sinn verstanden wird wie bei Aristoteles und später bei Hemsterhuis, sondern zugleich die Lehre von der Intersubjektivität begründet. Leider führt die Identifizierung von Sprache 1 mit Sprache 2 (Sprache als Einzelsprache und Sprache als Erscheinungsform der Dinge, d. h. in ihrem Sein für ein Subjekt) zu einer Verabsolutierung der Sprache im Sinne Hamanns. Dadurch geht das Spezifikum der Sprache verloren, denn in einer Welt, die nichts weiter ist als „ Sprache “ , ist die Sprache nicht mehr abgrenzbar. Dass dabei auch die „ Befreiung vom Ding “ aufgehoben wird, ist nur eine weitere Folge dieser Verabsolutierung; denn die Befreiung vom Ding setzt das Ding als etwas nicht sprachlich Gegebenes voraus. Es soll nun versucht werden, beides zu trennen - ohne Schlegel zu verfälschen - und dann wieder zu vereinigen. Damit müssen wir (bei Schlegel und generell) die Ebene der Intuition und die Ebene der Reflexivität unterscheiden, einen Konflikt zwischen diesen beiden Ebenen unterstellen. Das gilt für mich persönlich als hermeneutisches Prinzip überhaupt. 6.3.2.1 Die Bedeutung als sinnhabender Schein Schlegels Ausgangspunkt ist die Diskussion der idealistischen Systeme von Kant und Fichte im Hinblick auf den Begriff „ Schein “ : Den Grund der Unvollkommenheit der idealistischen Systeme [Kants und Fichtes] wird man finden in der Art, wie dieselben den Schein zu erklären gesucht; [. . .] 86 Cf. supra Kap. 4.5.4; Exkurs. 132 <?page no="147"?> solang die Empfindung von dem äußern Gegenstand selbst immer noch verschieden, durch eine ungeheure Kluft von ihm getrennt ist, ganz und gar keine Ähnlichkeit mit ihm hat, [kann] der Gegenstand, insofern als immer der Eindruck auf ihn übertragen wird, nicht anders als Schein seyn. . . (KFSA, Bd. 12, 148) Der Schein bestehe in der Tatsache, dass ein Objekt für ein Subjekt erscheint, d. h. Objekt für ein Subjekt ist: Objekt Subjekt In den von Schlegel kritisierten „ idealistischen Systemen “ stellen sich jedoch, ihm zufolge, die Verhältnisse folgendermaßen dar: Objektvorstellung Objekt Subjekt In den idealistischen Systemen sei der Schein auf „ den subjektiven Schein in den Vorstellungen “ reduziert worden und somit sei er seiner Objektivität entleert worden; er sei nun nicht mehr das „ Andere “ , das auf das Subjekt wirkt, sondern ein Anderes, das im Bewusstsein dem Subjekt gewissermaßen fremd gegenübersteht, eine Objektvorstellung ohne Objekt. Schematisch ließe sich das etwa folgendermaßen darstellen: Objektvorstellung Subjekt Unter diesen Umständen sei der Schein nicht mehr in das Ich auflösbar, weil er sozusagen das „ ewig Andere “ ist und keine Gemeinsamkeit, keine Affinität mit dem Ich besitzt. Damit gehe auch die Idee einer unendlichen Realität verloren. Damit der Schein in das Ich auflösbar ist, muss er schon ursprünglich dasselbe wie das Ich sein. Das ist aber nur dann möglich, wenn man die gesamte Realität zum „ Ich “ macht und so eine ursprüngliche Verwandtschaft zwischen Subjekt und Objekt, Mensch und Dingen annimmt und somit aus dem absoluten Idealismus einen Realismus macht. Genau das tut Schlegel, indem er in der ganzen unendlichen Realität ein Ur-Ich sieht. Sowohl das Subjekt als auch das Objekt seien dieses Ur-Ich, und zugleich seien sie es nicht (als gleichsam sind sie es, als ungleichsam sind sie es nicht). Schematisch lässt sich das folgendermaßen darstellen: Objekt Subjekt „Ich“ „Du“ „Ur-Ich“ 133 <?page no="148"?> Das heißt, das „ Objekt “ ist eigentlich ein „ Du “ , etwas, das vom Subjekt als anderes Ich anerkannt wird, etwas, mit dem Kommunikation möglich ist. Anders als Fichte, bei dem nur andere Menschen über Ich-heit verfügen, schreibt Schlegel diese jedem Objekt zu. Gerade hier setzt in systematischer Hinsicht Schlegels Bedeutungstheorie an, wenn die Überlegungen Schlegels auch in einer anderen Reihenfolge vorgetragen werden als es hier geschehen soll. Schlegel identifiziert „ Schein “ mit dem, was er unter „ Bedeutung “ versteht. Der Ausgangspunkt ist dabei die fehlende Ähnlichkeit zwischen Erscheinung und Erscheinendem: Das Bild oder Wort, das einen Geist mit dem andern verbindet und in Gemeinschaft bringt, hat doch selbst gar nichts gemein mit dem Begriff, den dadurch ein Geist dem andern mitteilt, oder der Verbindung, in welche dadurch die beiden Geister miteinander treten. Ein Bild oder Wort ist also, ungeachtet es gar keine Ähnlichkeit hat mit dem Gegenstand, den es bedeutet, doch kein leerer Schein. (KFSA, Bd. 12, 148) In dieser Hinsicht sei das Wort (nicht die „ Bedeutung “ , wie es bei Nüsse an der betreffenden Stelle heißt) „ sinnhabender Schein “ . Das Wort sei aber nicht nur eine Art von Schein - und hier findet ein unbemerkter Übergang von der Sprache 1 zur Sprache 2 statt - denn alles sei Bedeutung, besser gesagt „ Wort “ : [man sollte] die Eindrücke aller Naturerscheinungen auf die vorhin angegebene Art als Worte ansehen, die auch nicht der Gegenstand selbst sind, uns jedoch als ein Medium mit demselben verständigen, als Ausdrücke also, als halbverständliche halb unverständliche Worte verwandter aber gefesselter Geister, die sich nicht verständlich machen können. (ibid., 149) Wir haben es also mit einer Analogie zwischen der Zeichenrelation und der Relation zwischen Objekterscheinung und Objekt zu tun: 1. Wort Objekt (Bezeichnetes) 2. Objekt in der Objekt an sich („verwandter, aber Erscheinung (Schein) gefesselter Geist“) Objekt in der Erscheinung Objekt = Wort Objekt Auch wenn man davon absieht, dass hier kein Unterschied zwischen Bedeutung und bezeichnetem Objekt gemacht wird, ist die Analogie unvollkommen: In (1) ist das Wort kein „ Erscheinen “ des Objekts; das Objekt wird einfach benannt, d. h. die Initiative geht vom Subjekt aus: Wort → Objekt Bei (2) hingegen handelt es sich tatsächlich um ein „ Erscheinen “ des Objekts. Die Initiative liegt beim Objekt, das dem Subjekt etwas anzeigt. Es handelt sich nicht um ein Zeichen, wie im ersten Fall, sondern um ein Anzeichen. 87 87 [In einer anderen, weit verbreiteten Terminologie: Symbol vs. Symptom; J. A.] 134 <?page no="149"?> Wort ← Objekt Nicht die Unähnlichkeit zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem ist hier das Maßgebende, sondern das Vorhandensein oder die Abwesenheit eines „ natürlichen “ oder kausalen Zusammenhangs zwischen Wort und Objekt. Das Zeichen wird gesetzt für das zu Bezeichnende und gehört damit zur finalistischen Welt; das Anzeichen verweist auf das Angezeigte und gehört damit in den Bereich der Kausalität. Die „ Ungereimtheiten “ in der Bedeutungstheorie Friedrich Schlegels rühren daher, dass er keinen Unterschied zwischen Zeichen und Anzeichen macht. Schlegel selbst muss eine Finalität anerkennen, wenn er z. B. davon spricht, dass die Gegenstände versuchen, „ sich auszudrücken “ . In diesem Fall haben wir es mit finalistischen, d. h. einen Zweck verfolgenden Anzeichen zu tun. Es geht dann nicht mehr um die Wörter einer Sprache im üblichen Sinn, um die Wörter, mit denen ein Subjekt seine Begriffe bezeichnet, sondern um Worte, die die Gegenstände selbst äußern. Nicht Worte, mit denen ein Subjekt die Welt benennt und interpretiert, sondern das „ Wort “ als Erscheinen des Gegenstandes, demgegenüber das Subjekt nicht als Sprecher, sondern gewissermaßen als Hörer auftritt. Nüsse stellt die Anschauungslehre Schlegels folgendermaßen dar: Welche Elemente der Schlegelschen Anschauungslehre sind diesen Elementen des sprachlichen Bedeutungs-Aktes zugeteilt? 1. Das Bedeutende ist die sinnliche Erscheinung des Gegenstandes, das „ Wort des Gegenstandes “ . 2. Das Bedeutete ist das „ Du des Gegenstandes “ . 3. Die Intersubjektivität besteht in der Vereinbarung des Ich mit dem „ Du des Gegenstandes “ . (Nüsse 1962, 31) Dabei geht es jedoch nicht um den sprachlichen Bedeutungsakt als solchen, sondern um die Erfahrung, die als „ Sprache der Dinge “ dargestellt wird, und zwar durch eine unzulässige Verschiebung des Begriffs „ Sprache “ . Die Dinge, so wie sie uns erscheinen, werden als „ Worte “ angesehen. Somit ist die Natur Sprache, die Sprache von „ gefesselte[n] Geistern “ . Bei dieser Interpretation erübrigt sich für Schlegel auch der Rekurs auf das Nicht-Ich: Zur Erklärung eines [. . .] bedeutenden Scheins braucht nicht allein kein Nicht-Ich angenommen zu werden [. . .], sondern es lässt sich auch, die Mehrheit bedingter Geister vorausgesetzt, im Ich selbst ein Grund von diesem bedeutenden Schein angeben. Ja man kann ihn selbst [. . .] als Gemeinschaft des unbedingten Geistes mit dem bedingten ansehen. (KFSA, Bd. 12, 149) Fassen wir das alles noch einmal recht schematisch, dafür aber übersichtlich zusammen: a) Erkenntnis ist möglich aufgrund einer ursprünglichen Verwandtschaft von Subjekt und Objekt, von Mensch und Welt; b) Erkenntnis beruht auf einer Gemeinschaft zwischen Subjekt und Objekt; c) Erkenntnis in actu kann als eine Art von „ Gespräch “ , als Kommunikation verstanden werden; 135 <?page no="150"?> d) Erkenntnis wird als „ Sprache “ aufgefasst. Das heißt nicht, dass Erkenntnis ohne Sprache (im herkömmlichen Sinn) nicht möglich oder dass sie Funktion einer bestimmten Stufe der Erkenntnis wäre; nein, jede Erkenntnis ist „ Sprache “ , nicht nur „ sprachlich bedingt “ , sondern selbst „ Sprache “ . Übrigens hat auch die „ Bedeutung “ in diesem Zusammenhang kaum etwas mit „ Bedeutung “ im üblichen sprachtheoretischen Sinn zu tun; denn das Bedeuten hier ist Kundgabe, das Sich Offenbaren der Dinge. Nüsse versucht in diesem Zusammenhang aus Schlegels Ausführungen eine großartige sprachphilosophische Leistung zu rekonstruieren. Schlegel habe „ die Sprache zum Vehikel der Erklärung der ganzen Welt “ machen wollen und er habe in der Sprache, die zum Sinnlichen und Geistigen zugleich gehört, die Stelle gefunden, an der „ die Struktur der Welt gleichsam bloßliegt “ (cf. Nüsse 1962, 29). Zugleich führt er eine Unterscheidung zwischen „ horizontaler “ und „ vertikaler “ Intersubjektivität ein: die horizontale besteht zwischen einem empirische Ich und dem anderen, die vertikale zwischen dem empirischen und dem absoluten Ich (ibid., 28). Aber in Wirklichkeit geht es nicht um die Sprache als „ Vehikel der Erklärung der ganzen Welt “ , denn die Sprache als solche wird hier überhaupt nicht berücksichtigt. Es wird lediglich das sprachliche Schema (und zwar ein dürftiges, auf die Relation von Bezeichnendem und Bezeichnetem reduziertes) mit dem Schema der Erfahrung gleichgesetzt, und die Erfahrung selbst wird als „ Sprache “ dargestellt. Es liegt auf der Hand, dass dadurch keine Überwindung des Idealismus zustande kommen kann. Dass das „ Wort des Gegenstandes “ nicht leer ist, heißt nur, dass die Erscheinung des Gegenstands auf den Gegenstand selbst verweist, denn das „ Wort des Gegenstands “ ist ja nichts anderes als dessen Erscheinung. Das „ Ding an sich “ wird nicht wirklich aufgehoben. Es bleibt im Hintergrund zurück; als etwas Geheimnisvolles, als „ gefesselter Geist “ , steht es nun hinter dem „ Wort des Gegenstands “ . Die Auflösung in das Ich geschieht ja erst über das Ur-Ich, d. h. eigentlich durch eine Auflösung des Ichs in das Sein. Das Ich ist hier übrigens nur ein passives Element, auf das die Gegenstände einwirken, nicht etwas Aktives, das auf die Gegenstände einwirken würde: Es „ hört sich die Gegenstände an “ . Mit besserem Recht könnte man demnach von einer Auflösung des Ichs in das Gegenständliche sprechen. Bei Schlegel gibt es ein Streben nach der Einheit mit dem Universum; dabei nimmt er die Auflösung des Ichs in das Universum in Kauf. Dieses Streben ist charakteristisch für einen Teil der Romantik. Schlegel schwebt hier eigentlich etwas anderes vor, nämlich dass das Charakteristikum der Ichheit die Sprache ist. Um also den Gegenständen „ Ichheit “ zuschreiben zu können, damit sie andere Ichs (und damit „ Dus “ ) werden können, muss er ihnen auch Sprache verleihen. Diese Intuition wird jedoch dadurch zerstört, dass die Gegenstände nicht einfach „ sprechen “ , sondern Sprache sind. Sie sind die „ Bedeutungen “ ihrer eigenen Wörter. Ein Baum „ spricht “ nicht etwas in dieser „ Sprache “ , sondern er zeigt sich, offenbart sich als „ Baum “ . In dieser „ Sprache “ gibt es nur Sprecher (die Gegenstände) und Hörer (das Ich), aber keine Objekte, über die gesprochen wird. Dadurch wird nun das Eigentliche der Sprache zerstört; 136 <?page no="151"?> denn die Sprache spricht stets von einem Dritten - auch wenn man mit sich selbst spricht. Es ist stets ein Objekt des Sprechens vorhanden und nur in diesem Sprechen von einem Dritten tut sich das Subjekt als Subjekt kund. Kundgabe allein ist keine Sprache. In den folgenden Schemata soll die Auffassung Schlegels mit der hier vertretenen konfrontiert werden: Schlegel Subjekt 1 Subjekt 2 (Objekt) Subjekt 1 Subjekt 2 Coseriu Objekt des Sprechens Schlegels „ Sprache “ ist ein bloßes Sich-Kundtun der Gegenstände. Die Gegenstände „ kommunizieren “ zwar mit dem Ich, aber sie teilen ihm nichts mit. Die Objektivität wird nicht „ aufgehoben “ , sie ist einfach nicht da, wird nicht zur Kenntnis genommen. Was nun die Intersubjektivität betrifft, so gilt es auch hier, die Begriffe zu klären. Bei der sog. „ vertikalen Intersubjektivität “ handelt es sich gar nicht um Intersubjektivität im üblichen Sinn. Sie kommt auch nicht durch Sprechen zustande, sondern es geht nur um die ursprüngliche Identität zwischen dem Ich und dem Ur-Ich, um das Verhältnis von Ich-Sein und dem Sein überhaupt. Sprache gibt es zwischen diesen Instanzen eigentlich nicht, das Ich erkennt sich nur als Form des Ur-Ichs, indem es feststellt, dass alles „ sprechend “ ist, d. h. über „ Ichheit “ verfügt. Mit der sog. „ horizontalen Intersubjektivität “ steht es nicht viel besser. Schlegel spricht zwar von Ich, Du und Wir und bemerkt ausdrücklich „ Das transzendentale Ich ist nicht verschieden von d[em] transzendental[en] Wir “ (KFSA, Bd. 18, 31). Aber das Du ist nicht nur das persönliche Du, sondern jeder beliebige Gegenstand, alles kann als Du angesehen werden. Es verschwindet dabei jeder Unterschied zwischen dem wahren Du, mit dem das Ich sprechen kann, und den Gegenständen, die das Ich nur anhören kann und für die es eigentlich selbst zu einem Du wird. Und das Wir ist nicht „ persönliches “ Ich + „ persönliches “ Du, sondern Ich+ „ gegenständliches “ Du (ganz abgesehen davon, dass es der Gegenstand ist, der als erster „ Du “ sagt). Das erscheint völlig eindeutig in Schlegels dialogischer Theorie des Denkens soweit sich diese, wie seine dialogische Anschauungslehre, auf einen Dialog mit den Gegenständen bezieht: Sind alle Gegenstände unseres Nachdenkens nur Einkleidungen für das verwandte Gegen-Ich oder Du, so ist ja das Nachdenken als ein Streben zum Verstehen, doch nichts anderes, als ein Streben zur Vereinigung, zur Mitteilung mit jenen verhüllten Geistern. Das einsamste, innerste, am wenigsten zur gemeinen Mittheilung geeignete Nachdenken kann man ein Gespräch zwischen unserm Ich und dem 137 <?page no="152"?> unendlichen nennen. Es bezieht sich nämlich immer entweder auf die Verschiedenheit oder die Vereinigung des unendlichen Ich mit dem abgeleiteten, in unserer gemischten Ichheit. (KFSA, Bd. 12, 363 f.) Das ist aber keineswegs die Intersubjektivität, die durch die Sprache gestiftet wird. Die Intersubjektivität der Sprache besteht nicht darin, dass man sich einander kundtut, sondern darin, dass die Gegenstände, von denen man spricht, intersubjektiv werden, dass also durch die Sprache zwei Subjekte über die gleichen „ Objekte “ verfügen. Man spricht nämlich dieselbe Sprache, insofern man stillschweigend, durch das Sprechen selbst, die Objekte in Übereinstimmung mit dem Angesprochenen als dieses und jenes erkennt, d. h. indem man sie auf ähnliche Weise von anderen Objekten abgrenzt. Dies ist übrigens nicht etwas, das durch die Sprache erreicht wird (obwohl auch das „ Sprechen derselben Sprache “ durch die Sprache erreicht werden kann), sondern es ist eine Voraussetzung der Sprache. Wenn ich Baum sage, zu jemandem, der dieselbe Sprache spricht, so setzte ich voraus, dass er dasselbe darunter verstehen wird wie ich. Die Intersubjektivität des Objektiven ist, zumindest als Annahme, stets mitgegeben. Stellen wir fest, dass wir uns missverstehen, so ist das immer sekundär gegenüber der Annahme einer grundsätzlichen Möglichkeit des Verstehens. Es geht bei der Intersubjektivität nicht um die Kontaktaufnahme zwischen Subjekten, mit einem „ leere[n] Bewusstsein “ , die dadurch erreicht wird, dass in diesem zuvor „ leeren “ Bewusstsein ein Inhalt wie „ Du bist auch ein Ich “ aufschiene, sondern um die schon vorgegebene Intersubjektivität der Inhalte des Bewusstseins, soweit diese verbalisiert, schon sprachlich geformt sind. Auch in der inneren Sprache sind die Objekte des Bewusstseins, soweit sie genannt werden, nicht mehr meine Objekte allein, sondern Objekte eines angenommenen Wir, einer Sprachgemeinschaft, deren Mitglieder diese Objekte auf dieselbe Weise abgrenzen und nennen. Als sprachliches Subjekt bin ich selbst ursprünglich schon ein Wir, verfüge ich über eine „ innere Intersubjektivität “ . Wir sind hier weit entfernt von Kant und seiner Unterscheidung zwischen Welt der Finalität (Freiheit) und Welt der Kausalität (Notwendigkeit). Bei Schlegel ist auch die Natur „ finalistisch “ , verfolgt ihre Zwecke. Aber kann man noch von „ Freiheit “ sprechen, wenn es sich nicht um die Freiheit des Menschen handelt, oder wird nicht vielmehr die Kausalität durch die Hintertür eingeführt? Wir sind auch weit entfernt von Vico. Das, was bei Vico Gegenstand der Philosophie ist, wird bei Friedrich Schlegel zur Philosophie selbst. Schlegels „ Sprachlichkeit der Natur “ hat auch nur noch wenig mit „ Sprache “ im herkömmlichen Sinn zu tun: „ Toute la nature est allégorique, tout est expression et significatif “ heißt es im Manuskript einer Unterrichtsstunde, die er Mme de Staël erteilt hat. 88 Schlegel postuliert eine Einheit von Mensch und „ Welt “ ; doch diese wird eher dichterisch erfasst als philosophisch begründet. 88 Zit. n. Kainz 1941, 265. [KFSA, Bd. 13, 391: „ . . .tout est expression et signification “ ] 138 <?page no="153"?> 6.3.2.2 Die Sprache als Befreiung vom Ding Die Konzeption der Sprache als einer Befreiung vom Ding, die, wie wir gesehen haben, ansatzweise schon bei Aristoteles erscheint, ist von besonderer Bedeutung. Sie ist die Vorformulierung des Hegelschen Prinzips, das in der Sprache eine Art von Inbesitznahme der Dinge sieht. Lassen wir zunächst Friedrich Schlegel ausführlich zu Wort kommen: . . .im bloßen Empfangen des Gegenstandes verliert das Ich sich im Gegenstande, im Denken verliert es den Gegenstand. Soll beides vereinigt werden, soll der Gegenstand als Gegenstand bleiben und dennoch die Selbsttätigkeit des Ichs einigermaßen gerettet werden, so wird ein neues Mittelglied erfordert und dies Mittelglied ist das Bild. Das Bild ist nur Abdruck des Gegenstandes, das, was dessen Stelle vertritt; aber es ist innerlich hervorgebracht und ein Werk der Freiheit. Das Bild ist gleichsam ein Gegen-Ding, welches das Ich hervorbringt, seine Freiheit zu retten, und doch den Gegenstand fest zu halten, von dem es nicht lassen will. Indessen bleibt das Bild als Gegenstück, als Stellvertreter des Gegenstandes doch immer noch mit dem Ur-Dinge, mit dem Scheine des Dings behaftet, ist daher immer nur eine erste Annäherung zur Freiheit. Das Bild ist nur ein schwacher Gegensatz gegen die Übermacht des sinnlichen Eindrucks. Um nun diesen schwachen Gegensatz zu verstärken, ohne die Stufe zu überschreiten, die in der Anschauung nötig ist und die man behalten muß, d. h. ohne den Gegenstand fahren zu lassen, weil er im Denken verloren geht, bleibt kein anderes Mittel übrig, als die Gemeinsamkeit, welche erreicht wird durch das Wort und die Sprache. Erst hiedurch wird die im Bilde immer noch schwache Annäherung zur Freiheit mächtig verstärkt. Bei einem äußern sinnlichen Eindrucke ohne Bild ist das Ich ganz und gar leidend. Das Bild, wenn gleich nur ein Gegending, ist doch eine Hervorbringung des Ichs, ein erster Schritt zur Freiheit; das Wort aber ist gleichsam die Bestätigung und Bekräftigung der im Bilde gewonnenen Freiheit. Es ist dem Menschen die Bestätigung, daß er bei der Anschauung doch nicht ganz der Tyrannei der Dinge unterliege, sondern daß er frei darauf wirken und sie handhaben könne; und dies deswegen, weil erstlich, obschon das Ich noch immer auf der Stufe der Anschauung, und insofern unter dem Einflusse des Dings bleibt, im Wort viel mehr Freiheit und Willkür ausgeübt wird, als beim Bild; und zweitens durch die Gemeinsamkeit die Schwachheit des einzelnen gar sehr verstärkt [wird], und die Verallgemeinerung und Verbreitung der Bilder durch Worte dem Ich immer mehr und mehr Spielraum und Freiheit gibt. (KFSA, Bd. 12, 344) Der Schritt vom Bild zum Wort (bei Hegel wird von Symbol und Zeichen die Rede sein) kann als eine Art von Abstraktion angesehen werden. An einer anderen Stelle seines Werks verrät Schlegel, welch hohen Wert er dieser Operation beimisst: „ Die wahre Abstraktion selbst, was tut sie anders, als die Vorstellung von ihrem irdischen Anteile reinigen, sie erheben und unter die Götter versetzen. “ 89 Das Wort (und mit ihm die Sprache) ist das Ergebnis eines solchen Reinigungsprozesses. Durch die Sprache zeigen wir uns als frei, wir können mit den Dingen frei operieren, uns als frei behaupten. Dies ist nicht nur im praktischen Sinne zu verstehen, etwa in dem 89 „ Über die Philosophie. An Dorothea “ (1799) = KFSA Bd. 8, 54. 139 <?page no="154"?> Sinne, dass das Wort Tiger leichter zu handhaben ist als ein wirklicher Tiger. Hegel wird später erklären, der Geist erweise sich beim Schaffen von Zeichen als frei. Diese Idee, der man nur zustimmen kann, finden wir hier schon bei Friedrich Schlegel. Man hat sich allerdings zu fragen, ob sie bei ihm nur die Sprache als solche oder zugleich das gesamte Universum betrifft. Beides zugleich ist unvereinbar und widersprüchlich. Im ersten Fall hätten wir es mit einer richtigen Intuition zu tun, im zweiten würden wir auf einen Widerspruch stoßen. 6.3.2.3 Anthropologie der Sprache Zur Anthropologie der Sprache findet man bei Friedrich Schlegel drei wichtige Ideen, die nur bei Kainz klar identifiziert werden. Durch diese drei Ideen lässt sich erklären, inwiefern Schlegels „ Philosophie des Lebens “ zugleich Sprachphilosophie ist, inwiefern die Auffassung der Sprache, die sich aus dem Plan zu den Dresdener Vorlesungen ableiten lässt, die Grundlage für die „ Philosophie des Lebens “ , d. h. für die philosophische Anthropologie bilden soll. Wenn die Sprachlichkeit der Natur, so wie sie von Schlegel dargelegt und erklärt wird, eher ein Irrweg der Sprachphilosophie ist, so findet die Sprachphilosophie schließlich im Rahmen der Anthropologie doch einen ihr angemessenen Platz - wenn man einmal von Schlegels Sprachmystizismus absieht. Die von Kainz identifizierten drei Ideen sind die folgenden: (1) die Sprache als Charakteristikum des Menschen; (2) die Sprache als Erzeugung des ganzen Menschen; (3) die Sprache als Bild, als Analogon des Menschen. Wir wollen nun diese drei Ideen etwas genauer betrachten. Ad 1) Für Schlegel ist „ der Mensch [. . .] ein vollständig zur Sprache gelangtes Naturwesen “ . 90 Ein Streben nach Sprache ist zwar in der ganzen Natur vorhanden, nur der Mensch gelangt jedoch zur eigentlichen Sprache. Es geht hier offensichtlich nicht darum, dass der Mensch - als Naturwesen - schon Sprache ist - wie alle „ Gegenstände “ : Auch die Natur redet in ihrer stummen Bilderschrift eine Sprache; allein sie bedarf eines erkennenden Geistes, der den Schlüssel hat und zu brauchen weiß, der das Wort des Rätsels in dem Geheimnis der Natur zu finden versteht, und statt ihrer, das in ihr verhüllte innere Wort laut auszusprechen vermag, damit die Fülle ihrer Herrlichkeit offenbar werde. Wem aber unter allen Geschöpfen der Erde allein das Wort verliehen war, der ist eben auch damit zum Herrn und Beherrscher derselben eingesetzt worden. (KFSA, Bd. 9, 30) In einer früheren Phase hatte Schlegel einen ähnlichen Gedanken noch weit radikaler formuliert: Sind nicht alle Arten von Pflanzen und Thieren nur falsche Tendenzen d[er] Erde in ihrem Bestreben nach Menschscheit, verunglückte (Versuche nach derselben) Menschen? (KFSA Bd. 18, 163) 90 Kainz (1941), 264; vgl. KFSA, Bd. 10, 339. 140 <?page no="155"?> Nun ist die Idee von der Sprache als Charakteristikum des Menschen alles andere als neu: Man findet sie bei Aristoteles, Vives, Descartes und Herder. Bei Schlegel finden wir jedoch zwei neue Aspekte: - Die Sprache unterscheidet nicht nur den Menschen vom Tier wie in den früheren Auffassungen auch, sondern sie hebt - ähnlich wie bei Fichte - den Menschen ab von der „ Welt “ überhaupt. - Eine „ Tendenz “ zur Sprache gibt es auch außerhalb der menschlichen Sphäre, aber diese Tendenz wurde nur beim Menschen realisiert. Ad 2) Zur zweiten Idee, zur Sprache als Erzeugung des ganzen Menschen, äußert sich Kainz ausführlich, wobei er seine Ausführungen immer wieder durch Originalzitate unterstreicht und belegt: Die Sprache ist „ ein lebendiges Produkt des ganzen inneren Menschen; und alle sonst getrennten Geisteskräfte oder Seelenvermögen haben ihren vollen Anteil an diesem gemeinsamen Erzeugnis. “ * Die vier Grundkräfte des Bewußtseins sind hier ungefähr in gleicher Weise beteiligt. Der grammatische Bau, die innere Struktur und Regel der Verständigung “ **, gehört der Vernunft an; die tief in das Wesen aller Sprachbedeutungen eingreifende Bildlichkeit ist ein Werk der Phantasie; der Verstand bekundet sich in der „ klar bestimmten äußeren Gliederung und deutlich schönen Gestaltung irgendeines ganzen Sprachwerks “ ***, ferner in den charakteristisch-imitativen Elementen der Sprache; „ die magische Kraft aber eines alles bloß durch sich selbst dahinreißenden gebietenden Willens ist wenigstens an den einzelnen leuchtenden Stellen einer Rede, der höchsten Begeisterung oder der dichterisch vollkommene Darstellung bemerklich, wo sie aus den scheinbar unaussprechlichen und doch so klaren Worten und Ausdrücken wie ein elektrischer Schlag auf die empfänglichen und verwandten Gemüter mitentzündend einwirkt “ **** 91 An einer anderen Stelle seines Werks, in der Philosophie der Geschichte, findet sich eine Variante der gleichen Idee; Nüsse spricht in diesem Zusammenhang vom „ pleonastischen Gedankenvortrag der späten Vorlesungen “ (Nüsse 1962, 60): . . .es ist nicht bloß die Anlage der Sprache, sondern die fruchtbare Wurzel, aus welcher sich der ganze Reichtum aller Sprache so herrlich entfaltet hat. Aber es ist nicht allein hierauf beschränkt, es ist demnächst auch die lebendig wirkende Kraft mit darin begriffen, denn es ist das Wort nicht allein ein verstandenes und verstehendes, ein lehrendes und lernendes, sondern zugleich auch ein liebevoll anknüpfendes, oder versöhnend ausgleichendes, ein richterlich entscheidendes und wirksam gebietendes, oder auch ein schöpferisch fruchtbares, wie uns das Wort in jeder dieser Bedeutungen aus der eignen Erfahrung und dem Leben selbst, denn hinreichend bekannt ist; und so umfaßt das Wort die die ganze Fülle aller der Vorzüge und Eigenschaften, welche den Menschen eigentümlich charakterisieren. (KFSA, Bd. 9, 29 f.) 91 [Kainz 1941, 264. Die Asterisken stehen für Verweise auf verschiedene Schriften Schlegels. Die Stellen auf die verwiesen wird, sind sehr kurz und zudem meist nicht wörtlich, sondern paraphrasierend wiedergegeben. Sie konnten daher in der KFSA nicht aufgefunden werden.] 141 <?page no="156"?> Die Idee, die Sprache als Manifestation aller „ Grundkräfte des Bewußtseins “ aufzufassen - die Aufteilung in Vernunft, Phantasie, Verstand und Wille stammt aus der klassischen Psychologie der damaligen Zeit - , ist nicht neu. Sie findet sich u. a. schon bei Vives. Auch für ihn ist die Sprache Ausdruck aller menschlichen Kräfte, nicht des Denkens allein, auch bei ihm erscheinen bereits vier Elemente: Voces in homine signa sunt animi universi, et phantasiae, et affectuum, et intelligentiae et voluntatis. . . (De tradendis disciplinis, Nachweise Bd. 1, 10.2.6) Bei Herder ist die Sprache kein Produkt, sondern ein Akt einer spezifisch menschlichen Gabe, der Gabe der „ Besonnenheit “ , in der die „ ganze Einrichtung aller menschlichen Kräfte “ (er nennt ebenfalls vier) zusammengefasst wird (cf. supra Kap. 3.4.4). Bei Schlegel in Ueber die Sprache und Weisheit der Indier erscheint diese Besonnenheit als eine Art von Erleuchtung, als unmittelbare Intuition der Sprachlichkeit, die den „ organisch gebildeten “ Sprachen zugrundeliegt. Ad 3) Was nun die dritte Idee, die Sprache als Bild, als Analogon des Menschen betrifft, so bewegt sich Schlegel in vertrauten Bahnen. Friedrich Kainz resümiert zu diesem Thema einen Passus aus der Philosophie des Lebens: Der Mensch ist ein Wesen, das nicht nur geistig seelisch, sondern auch körperlich ist, und die Sprache ist Symbol und Abbild dieser seiner vernünftig-sinnlichen, himmlisch-irdischen Natur. 92 Diese Idee findet sich bereits bei Hamann, sie wird jedoch bei Schlegel klarer formuliert und in einen Zusammenhang mit der philosophischen Anthropologie gestellt. 6.3.3 Die Pluralität der Sprachen Die Vielzahl der Sprachen, die Tatsache, dass Sprache konkret immer nur im Plural, in Form von Sprachen erscheint, ist für Schlegel kein philosophisches Problem im eigentlichen Sinne. Für Schleiermacher hingegen bedeutet diese Pluralität eine wesentliche Aporie der Sprache; für Humboldt wiederum liegt darin die konkrete Realisierung ihrer Universalität. In der frühen Arbeit Über das Studium der griechischen Poesie (1795/ 96), ringt sich Schlegel gewissermaßen zur Anerkennung des Faktums durch, dass Sprache „ eigentümlich “ sein muss: Durch ein seltsames Mißverständnis verwechselt man sehr oft ästhetische Allgemeinheit mit der unbedingt gebotenen Allgemeingültigkeit. Die größte Allgemeinheit eines Kunstwerks würde nur durch vollendete Flachheit möglich sein. [. . .] Wenn der Künstler nur seiner hohen Sendung würdig, wenn er nur göttlich redet; so bleibt ihm die Wahl der Mundart, in der er reden will, völlig frei. Es würde nicht nur unrechtmäßig, sondern auch sehr gefährlich sein, ihn hierin beschränken zu wollen: denn die Sprache ist ein Gewebe der feinsten Beziehungen. Sie muß sogar, so scheint es, ihre Eigenheiten haben, um bedeutend und trefflich zu sein: wenigstens hat man noch keine allgemeine Allerweltssprache, die allen alles wäre, erfinden können. (Studienausgabe 1988, Bd. 1, 117) 92 Kainz 1941, 264; vgl. Philosophie des Lebens = KFSA, X, 54. 142 <?page no="157"?> Eine genuin philosophische Auseinandersetzung Schlegels mit dem Thema der Pluralität der Sprache findet sich in Über die Sprache und Weisheit der Indier (1808). Es sind drei Aspekte zu unterscheiden: (1) die Idee des grammatischen Sprachvergleichs (2) die Idee der sprachlichen „ Organizität “ (3) der sprachtypologische Gesichtspunkt. Ad 1) Friedrich Schlegel steht am Anfang einer wissenschaftlichen Teildisziplin, nämlich der vergleichenden Grammatik der indoeuropäischen Sprachen. Zu den finnisch-ugrischen und den semitischen Sprachen gab es schon so etwas wie eine vergleichende Grammatik ante litteram. In Über die Sprache und Weisheit der Indier (1808) schlägt er gewissermaßen ein Forschungsprogramm vor: Jener entscheidende Punct aber, der hier alles aufhellen wird, ist die innere Structur der Sprachen oder die vergleichende Grammatik, welche uns ganz neue Aufschlüsse über die Genealogie der Sprache auf ähnliche Weise geben wird, wie die vergleichende Anatomie über die höhere Naturgeschichte verbreitet hat. (KFSA, Bd. 8, 137) Vorher hatte es vor allem lexikalische Vergleiche gegeben. Dennoch ist die Idee nicht völlig neu; schon bei Bernardo Aldrete (1560 ‒ 1641) findet man schüchterne Versuche einer Gegenüberstellung grammatischer Paradigmata und bei Joseph Justus Scaliger (1540 ‒ 1609) die Idee „ abstrakter Lexeme “ mit Abkömmlingen in verwandten Sprachen. Eine vergleichende Betrachtung des genius linguarum setzt dann verstärkt bei verschiedenen Autoren im 18. Jahrhundert ein. Adam Smith liefert sogar ein konkretes Beispiel eines grammatischen Vergleichs alter und moderner Sprachen (vgl. Bd. 1, 15.4.1). James Burnet, Lord Monboddo (1714 − 1799; vgl. Bd. 1, 15.4.3) sieht im „ Mechanismus einer Sprache “ (Ableitung, Komposition, Flexion) ein Kriterium zur Bestimmung der Verwandtschaft zwischen verschiedenen Sprachen. In einem frühen Gesamtüberblick über die Sprachen der Welt, dem Catálogo de las lenguas de las naciones conocidas (1800) des Spaniers Lorenzo Hervás y Panduro erscheint der artificio gramatical, die spezifische morphosyntaktische Struktur, als Klassifikationskriterium; er sei das wichtigste Mittel, um Unterschiede und Ähnlichkeiten (diferencia y afinidad) zwischen den Sprachen festzustellen. Die Kenntnis einiger einzelner Wörter führe da nicht weit, man müsse schon ihre syntaktische Anordnung mit heranziehen. Auch der Terminus vergleichen (cotejar) erscheint dort bereits; Vergleichende Grammatik findet sich jedoch erst bei Schlegel. Er macht sie zu einer Leitidee der sprachwissenschaftlichen Tätigkeit. Ad 2) Neu ist bei Schlegel eine sehr weite Definition des Organischen, die nicht mehr auf rein gegenständliche Phänomene beschränkt ist. Das folgende Zitat stammt aus den Kölner Vorlesungen: . . .organisch heißt [. . .] dasjenige, worin Einheit und Fülle auf das innigste verbunden sind; was in sich selbst und in seinen Teilen vollendet ist, ein Ganzes, wo alle Glieder und Theile in ein System harmonisch verschmolzen, zu einem 143 <?page no="158"?> Zwecke wechselseitig zusammen wirken, so daß jeder Teil für das Ganze notwendig ist, die einzelnen Teile und Glieder aber doch nur durch das Ganze bestimmt und beherrscht werden. (KFSA, Bd. 13, 262) Das Organische ist ein Ganzes, das in einem System harmonisch verbunden ist, es ist das Zusammenwirken zu einem Zweck; die Teile sind vom Ganzen bestimmt. Der naturwissenschaftliche Organismus-Begriff wird nach Auffassung von Nüsse später zu einem Formbegriff erweitert. Es handelt sich hier sicher um eine Erweiterung des naturwissenschaftlichen Organismusbegriffs. Nüsse betont zwar, dass er im Schlegelschen Denken zu einem reinen „ Formbegriff “ werde; seine Herkunft aus dem Bereich der Biologie ist jedoch nicht zu verkennen. Erst bei Schleicher stoßen wir wieder auf eine naturwissenschaftliche Organismus-Interpretation: „ Organismus “ wird als eine biologische Entität aufgefasst, die Sprache erscheint als Naturorganismus. Was nun die Übertragung dieses Organismusbegriffs auf die Sprache und die Sprachen betrifft, so besteht ein enger Zusammenhang mit James Burnet, Lord Monboddo. Teile von dessen Of the Origin and Progress of Language (6 Bde., 1773 ‒ 1793) wurde auf Veranlassung Herders ins Deutsche übersetzt und erschien unter dem Titel Ursprung und Fortschritt der Sprache in deutscher Übersetzung in zwei Bänden in Riga 1784/ 85, und zwar mit einem Vorwort von Herder (vgl. Bd. 1, 15.4.3). Schlegel hat dieses Buch sicher gekannt. Er vertritt eine in mancherlei Hinsicht parallele Auffassung. Auf diesen Zusammenhang zwischen Monboddo und der deutschen Sprachphilosophie ist bisher noch nicht ausdrücklich hingewiesen worden. Monboddo beeinflusst auch die Auffassungen über die flektierenden Sprachen bei Humboldt und über Humboldt hinaus, mindestens bis August Schleicher. Damit soll nicht gesagt werden, dass alles, was Schlegel zu den angegebenen Themen vorbringt, bereits bei Monboddo zu finden wäre. Andererseits darf man jedoch auch nicht, wie es üblicherweise in der Historiographie der Sprachwissenschaft und auch bei Nüsse geschieht, Schlegel völlig unabhängig behandeln, so als habe es diesen englischen Einfluss nicht gegeben. Denn Schlegels Auffassung erweist sich bei genauerer Betrachtung als eine Übertragung der Vorstellungen Monboddos zum einen in die Sprache der deutschen Romantik, wodurch sie in einem unterschiedlichen theoretischen Rahmen erscheint, was sich u. a. darin zeigt, dass aus Monboddos „ Vollkommenheit des Sprachbaus “ die „ Organizität “ wird, und zum anderen in Schlegels spezifische Sprache und seine sehr eigentümliche Denkweise. Es handelt sich also keineswegs um identische, aber um durchaus parallele Auffassungen. Als „ organische “ Sprachen betrachtet Schlegel die flektierenden Sprachen, zu denen er nur die indoeuropäischen, insbesondere Sanskrit, Griechisch und Latein rechnet, „ von denen man wohl sagen kann, daß sie organisch entstanden sein, und ein organisches Gewebe bilden “ . 93 Monboddo nennt die flektierenden Sprachen, zu denen er auch die semitischen rechnet, „ Kunstsprachen “ , „ künstlerische Sprachen “ , „ gebildete Sprachen “ , „ regelmäßig gebildete Sprachen “ - was seiner 93 Sprache und Weisheit, Kap. 4 = KFSA VIII, 159. 144 <?page no="159"?> Vorstellung der von ihm noch nicht so genannten „ Organizität “ entspricht. Schlegel betrachtet die flektierenden Sprachen als „ vollkommen “ ; er stimmt mit Monboddo darin überein, dass man im Reichtum der Flexion ein Kriterium für „ Vollkommenheit “ zu sehen habe. Wie Monboddo sieht auch er in der Entwicklung zum „ modernen “ analytischen Sprachtyp ein Anzeichen für Dekadenz, für Abbau der sprachlichen Vollkommenheit. Entscheidend für die Auffassung der „ organischen “ Sprachen ist die Theorie der Wurzel: In der indischen oder griechischen Sprache ist jede Wurzel wahrhaft das, was der Name sagt, und wie ein lebendiger Keim; denn weil die Verhältnisbegriffe durch innre Verändrung bezeichnet werden, so ist der Entfaltung freier Spielraum gegeben, die Fülle der Entwicklung kann ins Unbestimmbare sich ausbreiten, und ist oftmals in der Tat bewundrungswürdig reich. Alles aber, was auf diese Weise aus der einfachen Wurzel hervorgeht, behält noch das Gepräge der Verwandtschaft, hängt zusammen und trägt so und erhält sich gegenseitig “ (ibid., 157 f.) In den nicht-flektierenden Sprachen gebe es hingegen keine wirklichen Wurzeln: In Sprachen hingegen, die statt der Flexion nur Affixa haben, sind die Wurzeln nicht eigentlich das; kein fruchtbarer Same, sondern nur wie ein Haufen Atome, die jeder Wind des Zufalls leicht aus einander treiben oder zusammenführen kann. . . (ibid., 159) Monboddo war es, der zum ersten Mal eine „ Wurzeltheorie “ entwickelt hat, die in die hier angedeutete Richtung verweist. Der Begriff der „ Wurzel “ stammt aus der hebräischen Grammatik und hat im 18. Jahrhundert eine Verbreitung weit über diesen Ursprung hinaus gefunden. Charles de Brosses (1709 ‒ 1777) verwendet ihn in seiner Theorie von der „ mechanischen Ausbildung der Sprachen “ und viele Zeitgenossen sind ihm gefolgt. 94 Monboddo behauptet, die flektierenden Sprachen seien auf der Grundlage von Wurzeln aufgebaut und versucht, diese These anhand des Griechischen konkret nachzuweisen. Den nicht-flektierenden Sprachen spricht er die Wurzeln ab . . .for the barbarous languages having no composition or derivation, can have no roots; but they belong only to artificial languages, and are the invention of the grammatical art, to make the words of a language connect and hang together. . . 95 Ad 3): Der sprachtypologische Gesichtspunkt ist sicherlich der bedeutendste; denn mit seiner Einteilung aller Sprachen in zwei „ Hauptgattungen “ aufgrund ihres „ inneren Baus “ , in die flexivischen und die nicht-flexivischen Sprachen steht Friedrich Schlegel am Anfang der Sprachtypologie. Vor Schlegel werden in vergleichbaren Ansätzen einer typologischen Klassifikation der Sprachen meist Fakten außerhalb der Grammatik oder, wie z. B. bei Adam Smith, ein begrenzte 94 Vgl. u. a. Antoine Court de Gébelin (gest. 1784); Carl Friedrich Fulda: Sammlung und Abstammung germanischer Wurzelwörter, Halle 1776. 95 Of the Origin and Progress of Language, Bd. I, 397 f.; vgl. Bd. I, 15.4.3.6. 145 <?page no="160"?> Anzahl von grammatischen Fakten zur Charakterisierung bestimmter Sprachgruppen (in diesem Fall „ alte “ vs. „ moderne “ Sprachen) herangezogen. Schlegel hat dagegen die Intuition der Einheitlichkeit des einzelsprachlichen Sprachbaues, der Konstruktion jeder Sprache nach einem einheitlichen Prinzip. Darüber hinaus vertritt er die gewagte These, ein einziges Einteilungsprinzip könne auf alle Sprachen der Welt angewendet werden. Er unterscheidet „ Sprachen in denen „ die Nebenbestimmungen der Bedeutung durch innre Veränderung des Wurzelelements angezeigt [werden] durch Flexion “ und Sprachen, in denen dies „ jedesmal durch ein eignes hinzugefügtes Wort “ geschieht. Diese Sprachen nennt er „ Sprachen durch Flexion “ und „ Sprachen durch Affixa “ . Bei den Sprachen ohne Flexion sei zwar ein „ Stufengang “ festzustellen; so stelle das Chinesische, eine Sprache „ ganz ohne Flexion “ dar, in der die Partikeln „ für sich bestehende von der Wurzel ganz unabhängige einsylbige Worte “ seien, die niedrigste Stufe dar. Auf einer höheren Stufe, wie in den amerikanischen Sprachen, könnten zwar die Partikeln „ dem Wort eingeflochten werden “ , das sei jedoch „ im Grunde für die Hauptsache einerlei “ , es handele sich auch in diesem Fall nur um „ eine Grammatik durch Anfügung von außen, nicht durch Flexion “ . Die Sprachen durch Flexion seien „ organisch “ ; in den anderen hingegen sei der Zusammenhang zwischen Grundwort und Nebenbestimmungen „ kein andrer, als bloß mechanischer durch äussere Anfügung “ . Im Grunde gebe es nur diese beiden Sprachtypen: . . .diese beiden einfachsten Fälle bezeichnen auch die beiden Hauptgattungen aller Sprache. Alle übrigen Fälle sind bei näherer Ansicht nur Modifikationen und Nebenarten jener beiden Gattungen; daher dieser Gegensatz auch das Ganze in Rücksicht auf die Mannigfaltigkeit der Wurzeln unermeßliche und unbestimmte Gebiet der Sprache umfaßt und völlig erschöpft. (KFSA, Bd. 8, 153) Friedrich Schlegel steht somit am Anfang der klassischen Sprachtypologie. Über die Sprache und Weisheit der Indier bildet die Grundlage für die spätere Weiterentwicklung der Theorie. Wie wir noch sehen werden, modifizierte und erweiterte sein älterer Bruder August Wilhelm das ursprüngliche einfache Schema. Wenn wir Adam Smiths Unterscheidung von „ synthetischen “ und „ analytischen “ Sprachen innerhalb der Gruppe der flektierenden Sprachen mit einbeziehen, gelangen wir zu folgendem Schema: F. Schlegel A.W. Schlegel Sprachen durch Flexion durch Affixa flexivische Sprachen isolierende Sprachen agglutinierende Sprachen synthetisch analytisch 146 <?page no="161"?> Diese Klassifikation bildet die Grundlage der klassischen Sprachtypologie und wird zum Allgemeingut der traditionellen Sprachwissenschaft. Sie wird später von August Schleicher strenger formuliert und formalisiert werden. Die sowohl bei Lord Monboddo als auch bei Friedrich Schlegel anklingende Idee, die flektierenden Sprachen seien bereits in voller Dekadenz begriffen, findet sich auch bei Schleicher. Nun aber zurück zu Friedrich Schlegel. Die Idee, die ganze Technik einer Sprache auf ein Prinzip zurückzuführen, in der Mannigfaltigkeit der sprachlichen Struktur ein einziges formatives Prinzip sehen zu wollen, ist großartig. Es entspricht dem romantischen Streben nach Einheit ebenso wie Schlegels Fähigkeit, die Vielfalt als zusammenhängende einheitliche Form zu sehen. Darüber darf jedoch nicht vergessen werden, dass Schlegels Einteilung derjenigen von Lord Monboddo völlig parallel ist. Vieles hat Schlegel von James Burnet Lord Monboddo in zum Teil fast wörtlicher Übersetzung übernommen. Darin liegt eine weitere Bestätigung der These eines engen Zusammenhangs zwischen der Sprachphilosophie der deutschen Romantik und der englischen Sprachphilosophie des 18. Jahrhunderts. Der starke Einfluss, den Monboddo auf Schlegel ausgeübt hat, lässt sich bis in Einzelheiten hinein nachweisen, z. B. in der Einschätzung des „ Verfalls “ der modernen flektierenden Sprachen. Monboddo betrachtet die Entwicklung zum „ modernen “ , „ analytischen “ Typ ausdrücklich als „ Dekadenz “ ; insbesondere erscheint ihm seine Muttersprache, das Englische, im Vergleich zum Griechischen als besonders „ hässliche “ Sprache. Bei Schlegel kann man lesen, . . .in den Sprachen durch Flexion [. . .] geht die Schönheit und Kunst der Struktur, durch den Hang sichs zu erleichtern, allmählich mehr und mehr verloren, wie wir es sehen, wenn wir manche deutsche, romanische und jetzige indische Mundarten mit der ältern Form, aus denen sie abstammen, vergleichen. (ibid., 163) Nur die Zuordnung bestimmter Sprachen oder Sprachgruppen zu einem der beiden Typen ist bei den beiden Autoren zum Teil verschieden. Den Platz des Griechischen, für Monboddo die schlechterdings vollkommene Sprache, nimmt bei Schlegel das Sanskrit ein. Wenn auch die Bedeutung dieses ersten Ansatzes einer Sprachtypologie in sprachwissenschaftlicher Hinsicht historisch wirksam gewesen ist, so kann man über ihren sprachphilosophischen Ertrag nicht viel Positives sagen. Wie Monboddo hat sich auch Schlegel dadurch den Weg zum Verständnis der Einzelsprachlichkeit der Sprache, d. h. der notwendigen Manifestation der Sprache im allgemeinen in Form von Einzelsprachen, versperrt; denn einerseits sind für ihn die „ Sprachen durch Affixa “ (wie für Monboddo die „ barbarischen Sprachen “ ) keine echten Sprachen, d. h. die Universalität der Sprache geht verloren, andererseits gibt es bei ihm auch keinen Platz für die Individualität einer jeden Einzelsprache. Denn die Einteilung in zwei „ Gattungen “ wird auf der Ebene des Universellen vorgenommen; Sprachbauprinzipien (oder das Gegenteil dieser Prinzipien, die mechanische Anhäufung) gibt es nur auf dieser Ebene, nicht auf der Ebene einer jeden einzelnen Sprache. Daher hat Wilhelm von Humboldt, der die These von der prinzipiellen Universalität der Sprache und zugleich die These der prinzipiellen Individualität 147 <?page no="162"?> der Sprachen vertrat und beide zu vereinbaren wusste, die Einteilung Schlegels immer wieder kritisiert und entschieden abgelehnt. 6.4 Friedrich Schlegels Ideen zum Ursprung der Sprache Seine Einteilung der Sprachen in zwei „ Gattungen “ überträgt Schlegel auch auf die Problematik des Ursprungs der Sprache, wobei der Zusammenhang mit Monboddo noch deutlicher wird. Es stimmt zwar, dass man bei Schlegel - wie bei der Problematik des Ursprungs der Sprache überhaupt - drei Fragen unterscheiden muss: 1. Es wird gefragt nach dem Woraus des Entspringens, nach dem Grund, der die Sprache entspringen läßt und sie als Entsprungene trägt. 2. Es wird gefragt nach dem Wie des Entspringens, nach der Art und Weise, dem Vorgang des Entspringens. 3. Es wird gefragt nach dem Entsprungenen selbst, nach der Sprache, soweit ihr der Vorgang des Entspringens noch anhaftet: nach der Ursprache. (Nüsse 1962, 52) Die zentrale Frage ist jedoch die Frage des „ Wie “ und gerade darin stimmen Monboddo und Schlegel überein, oder, besser gesagt, stimmt Schlegel mit Monboddo überein. Das „ Woraus “ ist bei beiden unterschiedlich, und nur dadurch ergeben sich auch gewisse Unterschiede des „ Wie “ . Bei Schlegel ist der Grund der Sprache Gott, der Ursprung der Sprache göttlich; bei Monboddo ist die Sprache hingegen Erzeugnis des Menschen, und zwar entweder „ natürliches “ oder „ künstlerisches “ Erzeugnis. Was die Ursprache bzw. die Ursprachen betrifft, so stimmen die beiden Autoren wiederum überein, wenn man von den Differenzen absieht, die durch das unterschiedliche „ Woraus “ gegeben sind. Fast während seiner gesamten Beschäftigung mit der Sprache stellt Schlegel auch die Frage nach dem Ursprung der Sprache - von den Kölner Vorlesungen (1805) bis zu den Wiener und Dresdener Vorlesungen (1827 − 1829), sowohl in Ueber die Sprache und Weisheit der Indier (1808) als auch noch in seiner langen Besprechung des Büchleins von Johann Gottlieb Rhode Über den Anfang unserer Geschichte und die letzte Revolution der Erde, Berlin 1819 (etwa 1820). Im Verlauf dieser Linie lassen sich Schwankungen feststellen: Längere Zeit hindurch werden die Fragen nach dem Wesen und nach dem Ursprung der Sprache nebeneinander gestellt, in der letzten Lebensphase wird die Frage nach dem Wesen verworfen und durch die Frage nach dem Ursprung ersetzt (vgl. Nüsse 1962, 52). Eines bleibt jedoch gleich, nämlich das Schema der Einteilung aller Sprachen in zwei Gruppen, auch was ihren Ursprung betrifft. Gerade in dieser Hinsicht ist die Übereinstimmung zwischen Schlegel und Monboddo vollkommen. Der Sinn des Schemas wird zwar verschoben, da die Grundlage der Sprache bei Schlegel eine andere ist als bei Monboddo, in formaler Hinsicht bleibt es jedoch beim gleichen Schema. Auch in dieser Hinsicht kann man von einer „ Übertragung “ in eine andere „ ideologische “ Sprache sprechen. Schlegels Theorie des Ursprungs der Sprache beruht auf folgender Grundlage: Die Sprachen der Welt können nicht alle auf dieselbe Weise entstanden sein. Es sei 148 <?page no="163"?> . . .eine ganz willkürliche und irrige Voraussetzung, daß Sprache und Geistesentwicklung überall auf gleiche Weise angefangen habe. Die Mannigfaltigkeit ist im Gegenteile auch in dieser Rücksicht so groß, daß man unter der Menge leicht irgend eine Sprache als bestätigendes Beispiel fast für jede bis jetzt ersonnene Hypothese über den Ursprung der Sprachen wird auffinden können. (KFSA, Bd. 8, 167) Das gilt natürlich vor allem für die beiden „ Hauptgattungen “ , die „ Sprachen durch Affixa “ und die flektierenden Sprachen. Sie können nicht auf dieselbe Weise entstanden sein. Bei den zuerst genannten könne man zwar eine allmähliche Entwicklung vom tierischen zum menschlichen Zustand annehmen, nicht aber bei den Sprachen durch Flexion. Da diese „ organisch “ sind, müssen sie auch „ organisch “ , d. h. auf einmal entstanden sein: Wie sind denn aber jene verwandten Sprachen durch Flexion, wie ist das Indische, oder falls auch dieses zwar die ältere aber doch auch nur eine abgeleitete Form ist, wie ist diejenige Sprache entstanden, welche wo nicht für alle andre, doch für diese Familie die Ursprache und der gemeinschaftliche Quell war? - Einiges wenigstens läßt sich auf diese wichtige Frage mit Gewißheit antworten; sie ist nicht aus einem bloß physischen Geschrei und allerlei schallnachahmenden oder mit dem Schall spielenden Sprachversuchen entstanden, wo dann allmählich etwas Vernunft und Vernunftform angebildet worden wäre. Vielmehr ist diese Sprache selbst ein Beweis mehr, wenn es dessen noch bei so vielen anderen bedarf, daß der Zustand des Menschen nicht überall mit tierischer Dumpfheit angefangen, woran sich denn nach langem und mühevollem Streben endlich hie und da ein wenig Vernunft angesetzt habe; sie zeigt vielmehr, daß wenn gleich nicht überall, doch wenigstens gerade da, wohin uns diese Forschung zurückführt, gleich von Anfang die klarste und innigste Besonnenheit stattgefunden; denn das Werk und Erzeugnis einer solchen ist diese Sprache, die selbst in ihren ersten und einfachsten Bestandteilen die höchsten Begriffe der reinen Gedankenwelt, gleichsam den ganzen Grundriß des Bewußtseins, nicht bildlich, sondern in unmittelbarer Klarheit ausdrückt. (ibid., 168 f.) Die „ Sprachen durch Affixa “ tragen zwar an sich „ die Spuren eines dürftigeren und roheren Ursprungs “ , die erste Ausbildung der organischen Sprache könne man sich hingegen nicht bloß aus Mischung und Ableitung, und einer Zusammensetzung aus lauter Einzelheiten [. . .] erklären, sondern [man müsse sich] dieselbe mehr als eine Hervorbringung im Ganzen vorzustellen suchen, etwa so wie auch noch jetzt ein Gedicht, oder <auch> sonst ein andres wahres Kunstwerk, aus der Idee des Ganzen hervorgeht, und nicht bloß atomistisch zusammengesetzt werden kann. (KFSA, Bd. 10, 367 f.) Der von Nüsse in diesem Zusammenhang angestellte Vergleich mit Humboldt, der ebenfalls von der einmaligen Entstehung der Sprache spricht, ist hier nicht am Platz; denn Humboldt spricht nicht vom Ursprung in glottogonischer Hinsicht. Im Übrigen - und das hat auch Nüsse sehr wohl bemerkt - spricht er nicht von besonders gestalteten Sprachen, sondern von jeder Sprache. 149 <?page no="164"?> Die „ Sprachen durch Flexion “ hängen nach Schlegel auch genetisch zusammen, dagegen lasse sich . . .die unbestimmbare Mannigfaltigkeit der andern Sprachen nicht auf Einheit zurückführen. [. . .] Der Sprachen durch Affixa gibt es sehr viele unter sich ganz verschiedne; die Sprachen durch Flexion zeigen umso mehr innere Verwandtschaft und gegenseitigen Zusammenhang auch in den Wurzeln, je höher man in der Geschichte ihrer Bildung hinauf steigt. (KFSA, Bd. 8, 161) Das heißt also Polygenese für die „ Sprachen durch Affixa “ , Monogenese für die „ Sprachen durch Flexion “ . Auch hier finden wir die Ansichten von Lord Monboddo wieder. Für ihn haben sich die „ barbarischen Sprachen “ aus unartikuliertem Geschrei und Lautnachahmung entwickelt, wohingegen die Kunstsprachen auf einmal „ erfunden “ und intentional konstruiert worden seien. Für die barbarischen Sprachen, die eine „ natürliche “ Entwicklung durchlaufen haben, nimmt er Polygenese an; für die Kunstsprachen stellt er hingegen eine monogenetische Hypothese auf. Diese Sprachen stammten alle entweder aus einer Ursprache oder aus einer Sprache dieser Gruppe ab: I think it probable, that all the languages spoken in Europe, all Asia, if you will, and some part of Africa, are dialects of one parent-language, which probably was invented in Egypt. (Vgl. Bd. 1, 15.4.3.6) Die organische Sprache wird Schlegel zufolge in einen Zustand der Erleuchtung, den er „ Besonnenheit “ nennt, geschaffen: Wie der Mensch also zu jener Besonnenheit kam, das ist eine andre Frage; mit derselben aber, mit dem tiefen Gefühl und der Geistesklarheit, die wir darunter verstehen, ist auch die Sprache gegeben; und zwar eine so schöne, kunstreiche Sprache als die, von der hier die Rede ist. Mit dem hellen Blick für die natürliche Bedeutung der Dinge, mit dem feinen Gefühl für den ursprünglichen Ausdruck aller Laute, welche der Mensch vermöge der Sprachwerkzeuge hervorbringen kann, war ja auch der feine bildende Sinn gegeben, der Buchstaben trennte und einte, die bedeutenden Silben, den eigentlich geheimnisvollen und wunderbaren Teil der Sprache, erfand und auffand, bestimmte und biegend veränderte, zu einem lebendigen Gewebe, das nun durch innre Kraft weiter fortwuchs und sich bildete. Und so entstand dieses schöne, einer unendlichen Entwickelung fähige, kunstvolle und doch einfache Gebilde, die Sprache; die Wurzeln und die Struktur oder Grammatik, alles beides zugleich und vereint, denn beides ging ja aus einem und demselben tiefen Gefühle und hellen Sinne hervor. Ja auch die älteste Schrift war zugleich mit entstanden, die noch nicht sinnbilderte, wie es später beim Unterricht wilder Völker geschah, sondern aus Zeichen bestand, die dem Wesen der einzelnen Sprachbestandteile nach, dem Gefühl der damaligen Menschen wirklich entsprachen. (ibid., Kap. 4, 169 f.) So äußert sich Schlegel in Sprache und Weisheit der Indier, in anderen Schriften vermag Schlegel darüber hinaus auch die Frage nach dem Zustandekommen der Besonnenheit beantworten. Das Wort sei dem Menschen „ verliehen und zugeteilt “ (vgl. Nüsse 1962, 62) worden: 150 <?page no="165"?> Wenn man [. . .] die Sprache bloß natürlich erklären will, so haben wir zwei Quellen: Empfindungslaute und Schallnachahmungen. Zu denen dann freilich später das Prinzip der willkürlichen, vernünftigen Übereinstimmung kommt. Allein dieser natürliche Entstehungsgrund paßt nicht auf jene ältesten Sprachen, die je höher wir sie verfolgen, eine größere Ausbildung und Kunstmäßigkeit verraten. Für diese muß ein anderer Ursprung angenommen werden und dieser ist - Offenbarung. (KSFA, Bd. 13, 56) Wir finden also sowohl bei Lord Monboddo als auch bei Schlegel die These, der Mensch habe eine einheitliche Intuition der Sprache gehabt. Schlegel fragt nun darüber hinaus nach der Ursache dieser Intuition und findet sie in Gott. Monboddo gibt sich damit zufrieden, diese Intuition zu konstatieren und fragt nicht weiter nach deren Ursache. Man braucht nur im zuletzt angeführten Passus das Wort Offenbarung durch Erfindung zu ersetzen, um bei der Auffassung Monboddos anzugelangen. Bei Schlegel handelt es sich übrigens um eine Erfindung durch Offenbarung: Monboddo erklärt die „ Kunstsprachen “ durch Erfindung, Schlegel geht einen Schritt weiter und erklärt die Erfindung durch Offenbarung. Eine Zusammenfassung seiner Lösung des Problems des Ursprungs der Sprache hat Schlegel im ersten Kapitel seiner Philosophie der Geschichte gegeben. Einiges daraus wurde bereits angeführt (cf. supra 6.3.2.3); hier soll nun die ganze Stelle im Zusammenhang mitgeteilt werden: Die Art, wie man gewöhnlich das unterscheidende Merkmal und den eigentümlichen Vorzug des Menschen und seiner Natur oder Bestimmung, so wie diese in dem allgemeinen Gefühle anerkannt sind, als Vernunft oder Sprachfähigkeit bezeichnet; hat aber den Fehler, daß das eine ein abstraktes Vermögen ist, welches erst eine psychologische Erörterung oder Zergliederung erfordert, das andre aber eine bloße Anlage oder Möglichkeit, die erst der Entwicklung bedarf, um etwas Wirkliches zu sein oder zu werden. Mithin dürfte es wohl eine viel richtigere, und vollständiger umfassende Bezeichnung sein, wenn man statt dessen sagte: der dem Menschen eigentümliche Vorzug besteht darin, daß ihm unter allen Erdgeschöpfen das Wort verliehen und zugeteilt war. Das lebendig mitgeteilte, wirklich ausgesprochene Wort, ist nicht bloß ein totes Vermögen, sondern eine Tatsache, etwas historisch Wirkliches und Gegebenes; und schon darum ist diese Bezeichnungsweise für den Anfang der Geschichte viel passender, als jene andre abstrakte. Es liegt zuerst in der Idee des Worts, als Grundlage der Menschenwürde und eigentümlichen Menschenbestimmung, allerdings auch das innre Licht des Bewußtsein und des eignen Verständnisses; es ist nicht bloß die Anlage zur Sprache, sondern die fruchtbare Wurzel, aus welcher sich der ganze Reichtum aller Sprache so herrlich entfaltet hat. Aber es ist nicht allein hierauf beschränkt, es ist demnächst auch die lebendig wirkende Kraft mit darin begriffen, denn es ist das Wort nicht bloß und allein ein verstandenes und verstehendes, ein lehrendes und lernendes, sondern zugleich auch ein liebevoll anknüpfendes, oder versöhnend ausgleichendes, ein richterlich entscheidendes und wirksam gebietendes, oder auch ein schöpferisch fruchtbares, wie uns das Wort in jeder dieser Bedeutungen aus der eignen Erfahrung und dem Leben selbst, denn hinreichend bekannt ist; und so umfaßt das Wort die ganze Fülle aller der Vorzüge und Eigenschaften, welche den Menschen eigen- 151 <?page no="166"?> tümlich charakterisieren. Auch die Natur redet in ihrer stummen Bilderschrift eine Sprache; allein sie bedarf eines erkennenden Geistes, der den Schlüssel hat und zu brauchen weiß, der das Wort des Rätsels in dem Geheimnis der Natur zu finden versteht, und statt ihrer, das in ihr verhüllte innere Wort laut auszusprechen vermag, damit die Fülle ihrer Herrlichkeit offenbar werde. Wem aber unter allen Geschöpfen der Erde allein das Wort verliehen war, der ist eben auch damit zum Herrn und Beherrscher derselben eingesetzt worden. Sowie er aber diesen göttlichen Mittelpunkt in seinem Innern, dieses ihm gegebene, und mitgeteilte, oder anvertraute Wort des Lebens verläßt und verliert; so sinkt er zur Natur herab, und wird nun, statt daß er ihr Herr sein sollte, ihr untertänig; und dieses ist der Anfang der Menschengeschichte. (KFSA, Bd. 9, 29 f.) Fassen wir alles noch einmal in Form eines Schemas zusammen: Monboddo Schlegel a) barbarische Sprachen ← Empfindungslaute a) Sprachen durch Affixa ← Lautnachahmung b) „ Kunstsprachen “ ← einmalige Erfindung b) Sprachen durch Flexion ← einmalige Erfindung ← durch Offenbarung Die Frage nach den Ursprachen im absoluten - oder, wie er sich ausdrückt, im „ metaphysischen “ Sinn - wird nun von Schlegel in diesem Rahmen gestellt, vor allem in der letzten, religiösen und mehr und mehr mystischen Phase seines Lebens. Er fragt sich, wie es mit der adamitischen Sprache bestellt sein konnte. Steht Adam für eine Mehrheit? Dafür spräche die Größe des Paradieses. Wenn es sich aber nur um einen einzelnen gehandelt hatte, wie konnte Sprache da sein, bevor Eva geschaffen wurde? Mit wem hätte er reden sollen? Schlegel gelangt schließlich zu der Hypothese, es müsse zwei einander feindlich gesinnte Urvölker gegeben haben; er nennt sie Kainiten nach Kain und, da der von Kain erschlagene Abel begreiflicherweise keine Nachkommen haben konnte, Setiten, nach dem dritten Sohn Adams, von dem in der Genesis die Rede ist. „ Zwei Nationen gab es also nur in der Urwelt, die wahrscheinlich auch eine verschiedene Sprache hatten “ . 96 In den Dresdener Vorlesungen wird das schließlich noch genauer ausgeführt: Wenn aber das Reden dem Denken entspricht, und die Sprache selbst nur ein treuer Widerschein des Innern ist, so möchte ich wohl die Frage aufwerfen [. . .]: konnte denn wohl die Sprache des fluchbeladnen, unseelig auf der Erde umher irrenden Kain, die nämliche sein, wie die jener andern frommen Patriarchen und großen Heiligen <der Urwelt>, die zum Theil unter andern Nahmen, obwohl nicht minder hochverehrt, <auch> in der Ueberlieferung der alten Perser, in den heiligen Büchern der Indier und andrer asiatischen Völker vorkommen. . .? (KFSA, Bd. X, 369) Als „ Sprache der Offenbarung “ konnte die adamitische Sprache nur eine „ organische “ Sprache gewesen sein. Die Kainiten, die Nachfahren des fluchbeladenen Brudermörders, mussten demnach in einen naturnahen Zustand zurückgesunken, und die verlorene Sprache neu erfunden haben, allerdings nur eine „ mechanische “ Sprache. 96 Aus den Nachlass; zitiert nach Nüsse (1962), 65. 152 <?page no="167"?> Hier gehen Monboddo und Schlegel aufgrund völlig unterschiedlicher Rahmenvorstellungen weit auseinander. Bei Monboddo haben wir auf der einen Seite eine Entwicklung der „ barbarischen Sprachen “ von einer „ natürlichen “ tierischen Stufe des Geschreis und der Lautnachahmung auf die höhere Stufe der „ Primitivsprachen “ ; auf der anderen Seite die „ Kunstsprachen “ , die aus einer einmaligen „ Erfindung “ herrühren “ und nicht als dritte Stufe aus den barbarischen Sprachen hervorgegangen sind. Bei Schlegel sind die organischen Sprachen älter als die „ mechanischen “ , die Sprachen durch Affixa; denn diese beruhen auf einer unzulänglichen Neuerfindung der verloren gegangenen Ursprache. Schlegel hat sich stets gegen die Idee ausgesprochen, das Hebräische sei die Ursprache der Menschheit. Da er es nicht zu den „ organischen “ Sprachen zählte, konnte es für ihn auch nicht die Sprache der Offenbarung gewesen sein. Das Hebräische ist für ihn ein Beispiel einer „ neu erfundenen “ Sprache, die nach einem Zurücksinken des Sprachvolks in den Naturzustand wieder hergestellt wurde: Die hebräische [Sprache] kann vielleicht nur richtig verstanden werden, wenn man sie als die wiederhergestellte oder wiedergeborne Sprache der Wiederherstellung betrachtet. Sie ist daher nicht die älteste, sondern gerade die letzte Sprache unter den alten. 97 Soll man daraus schließen, dass Schlegel das Hebräische als die oder als eine der Sprachen der Kainiten ansah? Eine solche Annahme würde gewiss zu erheblichen interpretatorischen Schwierigkeiten führen. Wir stoßen hier offensichtlich auf die Spuren von Schlegels eigener Dekadenz, seines eigenen „ Herabsinkens “ von einem hohen Niveau der Reflexion auf eine Art von Naturzustand - eine Entwicklung, die von seinem Bruder August Wilhelm und von vielen anderen sehr bedauert wurde. 6.5 Einige weitere, eher marginale Aspekte der Schlegelschen (Sprach)Philosophie Das Wesentliche und Interessantere der Sprachphilosophie Friedrich Schlegels wurde nun in groben Umrissen vorgestellt und kommentiert. Darüber hinaus gibt es noch einige Themen, die von Nüsse identifiziert, abgegrenzt, rekonstruiert (und wenigstens zum Teil konstruiert) wurden. Sie sind einerseits nur für die spezialisierte Schlegelforschung von Belang, andererseits zwar anregend, jedoch schwer zu bewerten, da sie, wie bei Schlegel üblich, in ganz verschiedene Richtungen weisen. Dazu gehören z. B. der Komplex „ Natur als Schrift “ und der gesamte Schlegelsche Schriftmystizismus. Drei Aspekte verdienen es, hier wenigstens kurz erwähnt zu werden. Nur der erste soll etwas genauer ausgeführt werden: (1) Die Buchstabenschrift als Analyse der Sprache (2) Ansätze zu einer Philosophie der Schrift (3) Ansätze zu einer hermeneutischen Theorie 97 ibid. = Nüsse (1962), 67. 153 <?page no="168"?> Ad 1) Ideographische Schriftsysteme ( „ sinnbildernde “ Schriften, cf. supra) bringt Schlegel mit seiner Rezension einer Abhandlung von J. G. Rhode in Zusammenhang mit den „ mechanischen “ , phonographische Systeme (Buchstabenschriften) mit den organischen Sprachen. Es besteht für ihn eine . . .innige Verbindung der Buchstabenschrift mit der mehrsilbigen [i. e. organischen] Sprache, da sie beide auf derselben dynamischen Zerlegung und Auffassung der innern Elemente des Menschenlautes, wie der Lebenserscheinungen [. . .] beruhen. . . (KFSA, Bd. 8, 511 f.) Der Buchstabe ist allein schon deshalb „ sprachlich “ , weil er nicht bildlich ist: Die Buchstabenschrift beruht auf einer, wenn man will, sehr kunstreichen, vielleicht aber auch bloß sehr naturgründlichen Zerlegung eines jeglichen Menschenlautes in seine einzelnen und einfachen Elemente. Auf einer eben solchen Zerlegung des bezeichneten Gegenstandes beruht die aus mehrsilbigen Wurzeln organisch emporwachsende Sprachbildung. Es ist nicht ein äffender Nachklang des äußern Gegenstandes, ein unwillkürlicher Ausschrei des inneren Zustandes, wie in den einsilbigen Sprachen, sondern ein wahrhaft geistiges Auffassen aller verschiedenen innern oder äußern Lebenswirkungen und Kraftäußerungen; mehrsilbig in den ersten Wurzeln, die schon gegliedert und selbst Worte sind; also nicht bloß nach dem rohen Totaleindruck ausgestoßen, sondern geistig gesondert nach den dynamischen Bestandteilen und innern Elementen, denen, wie sie in der Natur sind, wohl auch die Elemente des in Vokale, Konsonanten und den geistigen Hauch und Akzent zerlegten und zergliederten Menschenlauts in mannigfacher und tiefer Analogie entsprechen mögen. (ibid., 511) Im Hinblick auf die große Bedeutung, die er dem Unterschied zwischen einsilbigen und mehrsilbigen Wurzeln beimisst, dürfte Schlegel von Johann Christoph Adelung beeinflusst sein. Wir haben es also grundsätzlich mit zwei unterschiedlichen Analyseschritten zu tun: Sprache als Analyse der Natur Schrift als Analyse der Sprache Diese beiden Schritte sind nur bei den „ mechanischen “ Sprachen, die sich einer „ sinnbildernden “ Schrift bedienen, wirklich getrennt. Bei den in Buchstabenschrift geschriebenen organischen Sprachen sind Sprache und Schrift eins, der Buchstabe analysiert mit der Sprache gleichzeitig auch die „ Natur “ . Nüsse weist darauf hin, dass wir es hier mit einer Intuition der Phonemtheorie zu tun haben; denn „ Buchstabe “ sei (ähnlich wie lat. littera) nicht einfach als geschriebenes Zeichen aufzufassen: Offenbar meint „ Buchstabe “ etwas, das weder mit dem Laut (als Laut) noch mit dem Schriftzeichen (als Schriftzeichen) identisch ist, sondern etwas, das beide Phänomene in eins faßt. (Nüsse 1962, 79) Es ist zwar aller Achtung wert, dass jemand ohne sprachwissenschaftliche Ausbildung erkennt, dass der „ Buchstabe “ nicht einfach für einen Laut, sondern 154 <?page no="169"?> für ein Phonem, einen Laut mit bedeutungsunterscheidender Funktion steht; neu ist diese Erkenntnis indes nicht; sie lässt sich bis zum littera-Begriff der Antike zurückverfolgen. 98 Interessanter ist da schon Schlegels Ansicht, die Bilderschrift sei eine Sprache „ neben der Lautsprache “ . Das gilt für ihn nicht nur im Falle der „ einsylbigen “ Sprachen, sondern für jedes nicht-phonematische Schriftsystem. Ad 2) Wie schon Platon geht auch Schlegel bei seiner Betrachtung der Schrift davon aus, dass geschriebene Texte kein Umfeld haben, das bei der Erschließung des Sinns helfen würde; die Umfelder müssen aus dem Text selbst erschlossen werden, und der Leser erweist sich dabei als Ko-Autor: [Wer] die Nachhülfe der mitsprechenden Gebehrde, Stimme und Augen entbehrt . . . [der muss], um die Bestandtheile, die er aus dem Leben nahm, oder die in seiner dramatisierenden Einbildungskraft von selbst entstanden, zu ergänzen und zu ordnen, mehr oder weniger auch erfinden, absichtlich darstellen, dichten. 99 Ad 3) Die Kunst der Interpretation geschriebener Texte eröffnet die Möglichkeit, diese Texte besser zu verstehen als der Autor selbst. Schlegel knüpft hier offensichtlich an einen Passus aus der Kritik der reinen Vernunft an, in dem Kant sich mit Platons Begriff von der „ Idee “ auseinandersetzt: Ich will mich hier in keine literarische Untersuchung einlassen, um den Sinn auszumachen, den der erhabene Philosoph mit seinem Ausdrucke verband. Ich merke nur an, daß es gar nichts Ungewöhnliches sei, sowohl im gemeinen Gespräche, als in Schriften, durch die Vergleichung der Gedanken, welche ein Verfasser über seinen Gegenstand äußert, ihn so gar besser zu verstehen, als er sich selbst verstand, indem er seinen Begriff bestimmte, und dadurch bisweilen seiner eigenen Absicht entgegen redete oder auch dachte. 100 Schlegels Variation dieses Themas zeigt deutliche Spuren der Ironie, die für seine frühe Lebensphase charakteristisch ist: Um jemand zu verstehen, muß man erst[lich] klüger seyn als er, dann eben so klug und dann auch eben so dumm. Es ist nicht genug, daß man d[en] eigent[lichen] Sinn eines confusen Werkes besser versteht, als d[er] Autor es verstanden hat. Man muß auch die Confusion bis auf d[ie] Principien kennen, charakterisieren und selbst construieren können. (KFSA, Bd. 18, 63) 6.6 Fazit Beim Versuch einer Gesamtwürdigung der Bedeutung Friedrich Schlegels für die Geschichte der Sprachphilosophie, der Sprachtheorie und nicht zuletzt auch der Sprachwissenschaft sind drei Aspekte zu berücksichtigen: 98 [Vgl. hierzu: David Abercrombie: „ What is a ‚ letter ‘ ? “ , Lingua II (1949), 54 − 63]. 99 Prosaische Jugendschriften, hrsg. Von J. Minor, Bd. II, 137, zit. nach Nüsse (1963), 85. 100 Transzendentale Dialektik, II. Erstes Buch; Erster Abschnitt = Kant 1966 [1787], 322. [Man wird dabei an das berühmte Bonmot des Philosophen Odo Marquard erinnert: „ Hermeneutik ist die Kunst, aus einem Text etwas herauszukriegen, was nicht drinsteht. . . “ .] 155 <?page no="170"?> - die historisch-pragmatische Wirksamkeit seiner Ideen für die Entwicklung der Sprachbetrachtung; - die philologische Frage nach der Originalität seiner Ideen; - die Frage nach dem sprachphilosophischen und sprachtheoretischen Ertrag dieser Ideen. 6.6.1 Die Wirksamkeit Schlegels Im Hinblick auf die historische Wirksamkeit der Ideen Friedrich Schlegels kann nicht der geringste Zweifel bestehen: Sie stehen am Anfang der neueren Sprachwissenschaft. Die historisch-vergleichende Grammatik konstituiert sich schon einige Jahre später als „ Paradigma “ und bezieht sich dabei u. a. ausdrücklich auf Schlegels Ueber die Sprache und Weisheit der Indier. Das große Interesse für das Sanskrit als Grundlage der indoeuropäischen Sprachen hängt nicht zuletzt mit Friedrich Schlegels Buch zusammen, und zwar nicht nur in sprachlicher, sondern auch in allgemein kultureller Hinsicht, d. h. im Hinblick auf die Philosophie, die Literatur und die Religionen Indiens. Ebenso ist die morphologische Sprachtypologie Friedrich Schlegels Grundlage und Ausgangspunkt für die spätere klassische Sprachtypologie mit ihren drei Klassen und der Aufteilung der flektierenden Sprachen in synthetische und analytische. 6.6.2 Die Originalität Schlegels Was Schlegels Originalität betrifft, so muss zunächst nochmals auf seine starke Abhängigkeit von den Ideen James Burnets, Lord Monboddo hingewiesen werden. Auf die Gemeinsamkeiten und die (letztlich nicht sehr bedeutsamen) Unterschiede wurde in den vorausgegangenen Abschnitten ausführlich eingegangen. 6.6.3 Der sprachphilosophisch-sprachtheoretische Ertrag der Ideen Schlegels Wie bereits erwähnt, lässt sich über den sprachphilosophischen Ertrag im Rückblick, aus der Perspektive einer späteren Epoche, wenig Positives sagen. Auch dies wurde in vorhergehenden Abschnitten bereits ausgeführt und begründet. Es sei in diesem Zusammenhang nochmals an Humboldts Kritik erinnert (cf. supra 6.3.3 ad 3). Immerhin können wir bei Friedrich Schlegel ein Streben nach Synthese feststellen, das ausdrücklich auf Herder und Hamann zurückgreift, aber auch, weit weniger klar erkennbar, Motive aus England, genauer gesagt bei Lord Monboddo, aufgreift und verarbeitet. Was nun die Nachwirkungen insgesamt betrifft, so ist die Interpretation von Friedrich Kainz gerade auch durch ihre Unzulänglichkeiten symptomatisch für die Schlegel-Interpretation generell. Kainz stellt einige Motive fest und unternimmt daraufhin den Versuch einer allgemeinen Charakterisierung. Auf der Grundlage einiger recht großzügiger Verallgemeinerungen kommt er zu voreiligen Schlüssen. So sieht er bereits bei Schlegel eine Art von Einheit zwischen Sprachphilosophie und empirischer Sprachwissenschaft. Tatsächlich kann man jedoch erst bei 156 <?page no="171"?> Humboldt ein Zusammentreffen dieser beiden Richtungen feststellen (cf. supra 6.2). Schematisch lassen sich die Verhältnisse folgendermaßen darstellen: Sprachphilosophische Sprachbetrachtung Herder Hamann Fichte sprachwissenschaftliche Sprachbetrachtung Schlegel Humboldt Bei Humboldt fließen tatsächlich die beiden Richtungen ineinander, da Humboldt der erste große Sprachwissenschaftler ist, der zugleich ein richtiger Sprachphilosoph war. Eine tatsächliche Überwindung der Verschiedenheit der Sprachen durch die Sprachidee, die in jeder Sprache angestrebt und mehr oder weniger realisiert wird, wie sie bei Humboldt vorliegt, findet man bei Schlegel noch nicht. 6.7 Literaturhinweise Friedrich Kainz: „ Friedrich Schlegels Sprachphilosophie “ . Zeitschrift für deutsche Geisteswissenschaft 3. Jg. (1941), 263 − 282. Heinrich Nüsse: Die Sprachtheorie Friedrich Schlegels. Heidelberg (1962) (= Germanische Bibliothek. Dritte Reihe: Untersuchungen und Einzeldarstellungen, Bd. 7). Im Übrigen ist Eva Fiesels bereits mehrfach erwähntes Buch Die Sprachphilosophie der deutschen Romantik (1927) heranzuziehen. Zu Schlegels Buch Ueber Sprache und Weisheit der Indier geben die einschlägigen Geschichten der Sprachwissenschaft Auskunft, wenn auch eher über sprachwissenschaftliche Aspekte als über den sprachphilosophischen Ertrag. [Zum Zeitpunkt des Erscheinens der Darstellung von Nüsse, aus der Coseriu fast ausschließlich zitiert, waren von der Kritischen Friedrich Schlegel Ausgabe (KFSA) gerade einmal vier Bände (ohne jeden Bezug zur Sprachphilosophie) erschienen. Immerhin war Nüsse über den Plan der seit 1958 erscheinenden Ausgabe gut informiert. Dieses auch heute noch nicht ganz abgeschlossene Werk, aus dem hier so weit wie möglich zitiert wird, bietet für die größeren Werke einen orthographisch leicht modernisierten Text und enthält in vier Abteilungen alles, was Friedrich Schlegel selbst und andere nach seinem Tod publiziert haben und darüber hinaus den bisher noch nicht veröffentlichten Nachlass. Zumindest die wichtigeren Arbeiten sind mit ausführlichen Einleitungen und kritischen Kommentaren versehen; die Ausgabe kann also auch als „ Sekundärliteratur “ herangezogen werden. 157 <?page no="172"?> Wenn die neuere germanistische Literatur zu Friedrich Schlegel auch außerordentlich reichhaltig ist, so nimmt dieser Autor in der Literatur zur Sprachphilosophie keinen herausgehobenen Rang ein. In der von Tilman Borsche zusammengestellten Reihe der „ Klassiker “ von Platon bis Noam Chomsky (Borsche, Hg., 1996) erscheint er nicht; ebenso wenig im HSK-Handbuch Sprachphilosophie, wo Friedrich Schlegel, wie alle hier behandelten Philosophen, nur im Artikel „ Sprachphilosophie in der Romantik “ von Helmut Gipper berücksichtigt wird. In der Übersichtsdarstellung von Hösle (2013) spielen die Brüder Schlegel eher eine literarische denn eine philosophische Rolle; André Stanguennec (2011) geht im ersten Kapitel seiner Philosophie romantique allemande wenigstens aus einem sehr allgemeinen Blickwinkel auf Friedrich Schlegels Sprachphilosophie ein. Friedrich Schlegels bekanntestes Werk (wenn man einmal von der Lucinde absieht), Ueber Sprache und Weisheit der Indier, ist in der Reihe Amsterdam Classics in Linguistics in Form eines kommentierten Nachdrucks der Ausgabe von 1808 erschienen. Die ins Englische übersetzte Einleitung von Sebastiano Timpanaro „ Friedrich Schlegel and the Development of Comparative Linguistics in the 19th Century “ behandelt eher sprachwissenschaftliche als sprachphilosophische Aspekte, enthält jedoch zahlreiche nützliche Literaturhinweise (Friedrich Schlegel/ Timpanaro 1977). In einem von Donatella Di Cesare und Stefano Gensini herausgegeben Sammelband zur Historiographie der Sprachwissenschaft findet sich ein Aufsatz der Mitherausgeberin zu den „ Ansätzen einer Philosophie des Dialogs “ bei Friedrich Schlegel (Di Cesare 1990). Schließlich sei noch auf die Monographie von Ernst Behler hingewiesen, die umfassend über Leben, Werk und Nachwirkung Friedrich Schlegels informiert (Behler 1966).] 158 <?page no="173"?> 7 August Wilhelm Schlegel (1767 ‒ 1845) August Wilhelm Schlegel wurde am 5. September 1767 geboren - in Hannover, wie sein jüngerer Bruder Friedrich. Im Gegensatz zu diesem wurde er durch seinen Vater von Anfang an für ein Studium ausersehen. Er nahm es in Göttingen auf und wechselte bald von der Theologie zur Philologie über. Bei dem damals renommierten klassischen Philologen Christian Gottlob Heyne wurde er in die historischkritische Interpretation der bedeutenden Werke der Antike eingeführt; sein Mentor Gottfried August Bürger, der Dichter der Lenore und Herausgeber des Musenalmanachs, machte ihn mit dem Umgang mit zeitgenössischer Literatur und vor allem mit der Kunst des Übersetzens vertraut. Während seiner Tätigkeit als Hauslehrer in Amsterdam (1791 ‒ 1795) war er zum ersten Mal längere Zeit von seinem Bruder Friedrich getrennt. Über die Blütezeit der ‚ ersten romantischen Schule ‘ , an der die Brüder Schlegel einen entscheidenden Anteil hatten, wurde bereits berichtet (Kap. 6). Von 1797 an begann seine Übersetzung der Werke Shakespeares zu erscheinen, an der später Dorothea Tieck, die Tochter Ludwig Tiecks, und Wolf Graf Baudissin mitwirkten. Trotz zahlreicher Neuübersetzungen ist sie bis heute die kanonische deutsche Shakespeareübersetzung geblieben, die in den Zitatenschatz der Nation eingegangen ist. Weit weniger bekannt sind A. W. Schlegels Übersetzungen aus den romanischen Literaturen und aus dem Sanskrit. Nach der Auflösung der Ehe mit seiner Frau Karoline, die später Schelling heiraten sollte, lebte er zeitweise als Begleiter Mme. de Staëls am Genfer See, wo auch sein Bruder Friedrich kurz Station gemacht hatte. Über seine Arbeiten mit Bezug zur Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft wird in den folgenden Abschnitten zu berichten sein. Wie viele Zeitgenossen und die Nachwelt hat auch er selbst seinen jüngeren Bruder - zumindest in dessen früheren Lebensphasen ‒ als den originelleren Geist angesehen. Nichtsdestoweniger ist seine akademische Laufbahn erfolgreicher gewesen: Von 1818 bis zu seinem Tod war er Professor für Kunst und Literatur in Bonn. In dieser Zeit widmete er sich verstärkt den indischen Sprachen und Literaturen. Unter seinen Schülern befand sich kurze Zeit Heinrich Heine, der in seiner historischen Darstellung der Romantischen Schule ein wenig schmeichelhaftes Bild des gealterten Gelehrten vermittelt hat: „ Er war ein alter eitler Geck geworden, der sich überall zum Narren halten ließ “ (Romantische Schule, 2. Buch). August Wilhelm Schlegel ist am 12. Mai 1845 in Bonn gestorben. 7.1 Gesamtcharakteristik Mit August Wilhelm Schlegel betreten wir eine zumindest teilweise andersartige Welt als die seines Bruders Friedrich. A. W. Schlegel ist ein viel genauerer Kenner der Sprachen, besonders des Sanskrit. Er ist der Herausgeber der Altindischen Bibliothek (1823 ‒ 30), ein Kenner der klassischen altindischen Literatur, ein allgemein anerkannter Übersetzer Shakespeares und anderer Klassiker. Mit seinen Studien zu den romanischen Sprachen und Literaturen wird er zum Neubegründer 159 <?page no="174"?> der romanischen Sprachwissenschaft. In diesem Zusammenhang ist vor allem das Werk Observations sur la langue et la littérature provençales (Paris 1818) zu nennen. Sprachphilosophie und Sprachtheorie stehen bei ihm im Zusammenhang mit der Frage nach dem Sprachursprung (den er allerdings ebenso wie seine Vorgänger als permanenten Ursprung, als ein ständiges Entspringen der Sprache auffasst) und mit der Problematik der Dichtung. Sie werden nur zum Teil im Rahmen der Sprachtypologie behandelt. Seine Beschäftigung mit der Sprachphilosophie gehört fast im Ganzen einer relativ frühen Phase seiner Tätigkeit an; sie ist auf die Jahre 1795 ‒ 1818 beschränkt. Danach geht A. W. Schlegel, um es mit den Worten von Friedrich Kainz (cf. supra) auszudrücken, von der „ Kultur der Idee “ zur „ Kultur der Erfahrung “ über. Dieser Übergang vollzieht sich auf der Grundlage seiner praktischen Beschäftigung mit der sprachlichen Kultur und vor allem mit seiner Tätigkeit als Übersetzer. Wie sein Bruder Friedrich durchläuft auch er eine spekulative Phase. In dieser Zeit betreibt er keine faktische Wissenschaft; er vermag immer nur das eine oder das andere, nie, wie Humboldt, beides zugleich. Mit dem Beginn seiner Universitätslaufbahn verzichtet er auf die Philosophie zugunsten der Wissenschaft. Sprachphilosophisches erscheint nur noch im Briefwechsel mit Wilhelm von Humboldt; in den Publikationen findet sich nichts mehr. Seinen Bruder Friedrich hatten der Mut zum Irrtum und die Begeisterung nie verlassen, und damit hat er letztlich doch mehr zu den neueren Entwicklungen beigetragen als der Skeptiker August Wilhelm Schlegel. 7.1.1 Die Texte [Grundlage für die Vorlesung bildet die zuverlässige aber unvollständige Werkausgabe von Eduard Böcking: ] August Wilhelm Schlegels Sämtliche Werke, 12 Bde., Leipzig 1846 ‒ 47. Diese Ausgabe hat Edgar Lohner für seine nicht chronologisch, sondern nach sachlichen Gesichtspunkten geordnete Auswahl einiger Schriften A. W. Schlegels herangezogen, aus der ebenfalls zitiert wurde: August Wilhelm Schlegel: Kritische Schriften und Briefe. Bd. I Sprache und Poetik. Herausgegeben von Edgar Lohner. Stuttgart 1962. [Inzwischen sind aus der im Erscheinen begriffenen Ausgabe der Vorlesungsnachschriften zwei Bände erschienen, die alles Wesentliche für den vorliegenden Band enthalten: August Wilhelm Schlegel: Vorlesungen über Ästhetik. I (1798 ‒ 1803). Mit Kommentar und Nachwort herausgegeben von Ernst Behler. Paderborn usw. 1989. August Wilhelm Schlegel: Vorlesungen über Encyklopädie. (1803). Kommentiert und herausgegeben von Frank Jolles und Edith Höltenschmidt. Paderborn usw. 2006.] Nun zu den einzelnen Schriften, die für August Wilhelm Schlegels Sprachphilosophie heranzuziehen sind; die Quellenangabe erfolgt in Kurzform, wenn sie sich auf eines der oben genannten Werke bezieht: 160 <?page no="175"?> Briefe über Poesie, Silbenmaß und Sprache (1795). [Auswahl Lohner 141 ‒ 180] Vorlesungen über philosophische Kunstlehre (1798 ‒ 1799). [Vorlesungen über Ästhetik, 1 ‒ 177] Der Wettstreit der Sprachen. Ein Gespräch über Klopstocks grammatische Gespräche (1798). [Auswahl Lohner 219 ‒ 259] Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst (1801 ‒ 1804). [Vorlesungen über Ästhetik, 179 ‒ 781] Berliner Privatvorlesungen über eine Encyklopädie der Wissenschaften. [Vorlesungen über Encyklopädie; dritter Teil: Philologie, 285 ‒ 373] Briefwechsel zwischen W. v. Humboldt und A. W. Schlegel. Herausgegeben von Albert Leitzmann. Halle Saale 1908. [Elektronische Version verfügbar]. Observations sur la Langue et la Littérature Provençales. Paris 1818. Neudruck Tübingen mit einem Vorwort von Gunter Narr: „ August Wilhelm Schlegel - ein Wegbereiter der Romanischen Philologie “ . Tübingen 1971 (= TBL 7). Angaben zur Forschungsliteratur finden sich am Ende dieses Kapitels. 7.2 Hauptmotive der Sprachphilosophie August Wilhelm Schlegels In A. W. Schlegels Beschäftigung mit sprachphilosophischen Fragen lassen sich drei Motive unterscheiden, die allerdings so eng miteinander verbunden sind, dass keine klaren Abgrenzungen vorgenommen werden können: 1. Die Sprachtypologie, die sich gelegentlich in Form von Sprachcharakteristik und Sprachbewertung artikuliert; 2. Die Frage nach dem Sprachursprung, die vor allem im Briefwechsel mit Wilhelm von Humboldt diskutiert wird und 3. Die Sprache als Kunst, die Beschäftigung mit dem sprachlichen Kunstwerk. 7.2.1 Die Sprachtypologie Wir wollen mit den sprachtypologischen Bestrebungen A. W. Schlegels beginnen. Sie sind zwar in sprachphilosophischer Hinsicht weniger interessant, haben jedoch im Bereich der Sprachwissenschaft zum Teil eine breite Aufnahme gefunden und stellen zum anderen Teil vielversprechende Ansätze dar, die noch weiter entwickelt werden könnten. Sprachtypologische Fragen behandelt A. W. Schlegel in zwei Werken: Zunächst in ironischer, spielerischer Form in seinem Wettstreit der Sprachen aus dem Jahr 1798 und dann, sehr viel fachmännischer und nüchterner in den Observations sur la langue et la littérature provençales von 1818. Im Wettstreit befasst sich A. W. Schlegel mit sprachtypologischen Problemen im Rahmen einer im 18. Jahrhundert sehr beliebten Fragestellung: Welches sind die Vorzüge, die gewisse Sprachen gegenüber anderen aufweisen? Die Art, wie er dies tut, zeigt, dass er diese Art des „ Wettbewerbs “ nicht wirklich ernst nehmen kann. Entweder führt er Gegenbeispiele für die gerühmten Vorzüge einer bestimmten Sprache an, oder er findet analoge Beispiele aus anderen Sprachen, die 161 <?page no="176"?> belegen, dass die betreffende Sprache den behaupteten Vorzug nicht allein besitzt. Die Unterhaltung findet zwischen Vertretern verschiedener Nationen, der Poesie und der Grammatik statt. Am Ende tritt eine Grille auf (die metaphorische Bedeutung „ schrulliger Einfall “ war damals noch lebendiger als heute) und beendet das Gespräch: „ Sie haben sich wirklich schrecken lassen, und mein Zweck ist erreicht, diese Zusammenkunft zu trennen, wobei ich, ohne daß sie es wußten, den Vorsitz führte. “ 101 Damit wird die gesamte Fragestellung als naiv hingestellt. Nichtsdestoweniger findet man im Wettstreit einen interessanten Ansatz einer morphophonologischen Sprachtypologie. Es geht dabei um die Frage, ob und wie der Inhalt der sprachlichen Formen mit ihrem Ausdruck zusammenhängt, und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen in Bezug auf die sog. ikastischen (lautmalerischen und lautsymbolischen), allein durch ihre Materialität bezeichnenden Formen, zum anderen im Hinblick auf den Ausdruck des Verhältnisses von Grundbegriff und Nebenbegriff in grammatischer und lexikalischer Hinsicht (Lexem - Morphem; Lexem - Derivativum). Was das erste betrifft, so bemerkt der Italiener zum deutschen Wort Sprache: Wenn der Klang Mitausdruck ist, so hat sich eure Sprach, so heißt es ja noch jetzt in einigen Mundarten, durch diese Benennung drollig genug charakterisiert. So ist die Bezeichnung des Bestandes, der Festigkeit, der ruhenden Kraft; Str der angestrengten; Spr der plötzlich losbrechenden, wie in „ Springen, Spritzen, Spreizen “ , alsdann kommt der gedehnt breite Vokal, und endlich ein rauher Hauch. . . Und der Franzose ergänzt: So daß es also ein wahres Losbrechen wäre. (ibid., 234) Das Problem, das hier implizit aufgeworfen wird, ist das folgende: Soll man den ikastischen Wert, den man bei gewissen sprachlichen Elementen feststellt oder festzustellen glaubt, auch auf andere Elemente übertragen, bei denen sich dieser Eindruck nicht unmittelbar einstellt, also den lautsymbolischen Wert der Phonemfolge spr in Wörtern wie spritzen, springen oder spreizen auf Sprache? Diese Frage wird auch in der modernen Sprachwissenschaft immer wieder gestellt, doch kann sie bis heute nicht als beantwortet gelten, da sie immer wieder falsch gestellt wird. Da wird z. B. festgestellt, dass das Phonem / č / im Deutschen häufig in Wörtern wie zwitschern, plätschern, glitschig usw. eine ikastische Funktion zu haben scheint, die in anderen Wörtern mit demselben Phonem wie Kutsche, deutsch, Dolmetscher nicht zum Tragen kommt. In Wirklichkeit handelt es sich hier um zwei völlig verschiedene Werte der sprachlichen Formen: unmittelbare Eingebung auf der einen, historisch gewordene Bedeutung auf der anderen Seite. Beide können in manchen Fällen übereinstimmen, in anderen sich hingegen widersprechen. Frz. gros entspricht der Bedeutung „ dick “ besser als engl. big; engl. thin der Bedeutung „ dünn “ besser als it. sottile. Der französische Dichter Mallarmé hat einmal Anstoß daran genommen, dass frz. nuit „ Nacht “ einen hellen, jour „ Tag “ dagegen einen 101 A. W. Schlegel 1962 [1798], 259. 162 <?page no="177"?> dunklen Vokal aufweist. 102 Die Tatsache, dass sich in diesem Fall die unmittelbare Eingebung und die historische gewordene Bedeutung im Widerspruch befinden, heißt nicht, dass die Bedeutungen der beiden Wörter „ falsch “ seien. 103 Was das zweite betrifft, so dreht es sich darum, ob und inwiefern der „ prosodische Wert “ der Formen einer Sprache mit ihrem grammatischen Wert übereinstimmt. So rühmt der Deutsche seine Sprache dafür, dass in Ableitungen immer die Stammsilbe den Hauptakzent trage. [A. W. Schlegel spricht hier noch im Rahmen einer quantitierenden Metrik von Längen und Kürzen, wodurch seine Argumentation für den modernen Leser missverständlich wird]. Der Grieche möchte die Behauptung des Deutschen widerlegen: Grieche: Du setzest bei diesem Eindruck [. . .] auch das voraus, worüber gestritten wird: ob nämlich diese Eigenheit eurer Sprache ein allgemeingültiges Gesetz zum Grunde hat, ob wichtigere oder unwichtigere Teilbegriffe eines Wortes in einem natürlichen Verhältnisse zu Längen und Kürzen stehen? Dies scheint mir nun gar nicht so [. . .] Vielleicht leuchtet dir das Willkürliche der Regel mehr ein, wenn ich dir ein Beispiel aus deiner Sprache anführe, wo sie nicht beobachtet ist. Deutscher: Es gibt deren nur wenige. Grieche: Ihr sagt lebéndig: würde das Wort nun deutlicher, nachdrücklicher, schöner werden, wenn ihr lébendig sagtet? Deutscher: Es ist überhaupt nicht gut abgeleitet; ein Deutscher muß bei näherer Betrachtung etwas Unschickliches darin wahrnehmen. Grieche: Weil es Ausnahmen macht. 104 In den Observations unterscheidet A. W. Schlegel zum ersten Mal in der Geschichte der Sprachtheorie drei Klassen von Sprachen, und zwar diejenigen man später isolierend, agglutinierend und flektierend nennen sollte: Les langues qui sont parlées encore aujourd ’ hui et qui ont été parlées jadis chez les différens peuples de notre globe, se divisent en trois classes: les langues sans aucune structure grammaticale, les langues qui emploient des affixes, et les langues à inflexions. (A. W. Schlegel 1971 [1818], 14) Gegenüber seinem jüngeren Bruder erweist sich August Wilhelm als seltsam bescheiden. Erstaunlicherweise schreibt er ihm seine eigene Klassifikation zu: „ Cette classification fondamentale des langues a été développée par mon frère dans son ouvrage sur la langue et l ’ antique philosophie des Indiens. . . “ (ibid., Endnote 6, p. 85) In Wirklichkeit stammt die Dreiteilung von ihm selbst. Friedrich hatte, wie wir gesehen haben, nur zwei Klassen unterschieden und dazu ausdrücklich bemerkt, dass es nur zwei Hauptgattungen der Sprache geben könne. Diese Zweiteilung hängt nämlich, wie bereits gezeigt wurde, eng mit seiner Auffassung 102 Cf. E. Coseriu: Textlinguistik. Eine Einführung. Tübingen 4 2007, 116 f. 103 Roman Jakobson geht in „ Linguistics and Poetics “ ausführlicher auf diese Frage ein. 104 A. W. Schlegel 1962 [1798], 239. [Längen durch Akzente ersetzt; J. A.] 163 <?page no="178"?> vom Ursprung der Sprache zusammen. Die flektierenden Sprachen nennt auch er, in Anlehnung an Friedrich, „ organische Sprachen “ : Je pense, cependant, qu ’ il faut assigner le premier rang aux langues à inflexions. On pourroit les appeler les langues organiques, parce qu ’ elles renferment un principe vivant de développement et d ’ accroissement, et qu ’ elles ont seules, si je puis m ’ exprimer ainsi, une végétation abondante et féconde. (ibid., 15) Die flektierenden Sprachen unterscheidet A. W. Schlegel dann, in Anlehnung an Adam Smith, in synthetische und analytische Sprachen: Les langues à inflexions se subdivisent en deux genres, que j ’ appellerai les langues synthétiques et les langues analytiques. J ’ entends par langues analytiques celles qui sont astreintes à l ’ emploi de l ’ article devant les substantifs, des pronoms personnels devant les verbes, qui ont recours aux verbes auxiliaires dans la conjugaison, qui suppléent par des prépositions aux désinences des cas qui leur manquent, qui expriment les degrés de comparaison des adjectifs par des adverbes, et ainsi de reste. Les langues synthétiques sont celles qui se passent de tous ces moyens de circonlocution. 105 Damit wird der Grundstein für die „ klassische Sprachtypologie “ gelegt. August Friedrich Pott (1802 ‒ 1887) und August Schleicher (1821 ‒ 1868) werden dann für die drei Typen die Ausdrücke isolierend, agglutinierend und flektierend von Wilhelm von Humboldt übernehmen, die dieser allerdings in einem anderen Zusammenhang gebraucht hatte. Dieses unbestreitbare Verdienst August Wilhelm Schlegels betrifft jedoch nur die Allgemeine Sprachwissenschaft. Wie steht es nun aber um den sprachphilosophischen Ertrag dieser Typologie? In rein materieller Hinsicht steht die Klassifikation von A. W. Schlegel derjenigen seines Bruders Friedrich sehr nahe. Friedrich unterscheidet zwei Klassen, August Wilhelm drei, und die Sprachen, die Adam Smith, Lord Monboddo und Friedrich „ alt “ und „ modern “ nennen, nennt August Wilhelm „ synthetisch “ und „ analytisch “ (vgl. das Schema in Kap. 6). Was nun aber den Inhalt, den Ideengehalt angeht, so ist der Fortschritt von Friedrich zu August Wilhelm Schlegel groß. Erstens sieht August Wilhelm Schlegel die Möglichkeit von Übergängen zwischen seinen drei Klassen vor, wodurch jede Einzelsprache einen ihr eigenen Platz auf der ideellen Anordnungslinie aller Sprache einnehmen kann und somit eine individuelle Charakterisierung zulässt. Einen solchen Übergang sieht Friedrich Schlegel, wie wir gesehen haben, nicht vor; darüber hinaus spricht er der einen Klasse, den „ Sprachen durch Affixa “ den Charakter einer „ eigentlichen Sprache “ ab. Zwar 105 ibid., 16. [Die flektierenden Sprachen lassen sich in zwei Arten unterscheiden, die ich synthetische und analytische Sprachen nennen werde. Unter „ analytischen Sprachen “ verstehe ich diejenigen, die den Artikel vor Substantiven und Personalpronomina vor Verben gebrauchen müssen, die auf Hilfsverben in den Konjugationen zurückgreifen, die fehlenden Kasusendungen durch Präpositionen ersetzen und die Steigerungsstufen der Adjektive durch Adverbien ausdrücken. Synthetische Sprachen heißen diejenigen, die ohne alle diese Mittel der Umschreibung auskommen.] 164 <?page no="179"?> formuliert A. W. Schlegel seine Hypothese der Existenz von Übergängen in Form einer Frage, es scheint aber klar, dass er diese Frage gern positiv beantworten würde: Une question fort ardue, et que je n ’ entamerai pas ici, c ’ est de savoir si les langues peuvent, ou non, graduellement changer de nature, et de passer de la première classe à la seconde et de la seconde à la troisième. S ’ il étoit possible de répondre à cette question par des faits d ’ une certaine évidence, une foule de problèmes relatifs aux origines de la civilisation se trouveroient par-là même résolus. 106 Zweitens ist die Klassifikation August Wilhelm Schlegels nicht glottogonisch, sondern rein deskriptiv. In seinen Ausführungen zum Ursprung der Sprache findet man nicht die geringste Anspielung auf die sprachlichen Klassen. Wenn bei ihm von Ursprung und Entwicklung der Sprache die Rede sein kann, so in ideeller Hinsicht nur von einem einheitlichen Ursprung und einer einheitlichen Entwicklung im Sinne der ideellen Reihenfolge seiner drei Klassen und in konkreter Hinsicht nur von einem unendlich differenzierten Ursprung. Für ihn entsteht nämlich die Sprache in jedem Augenblick; das Problem des Ursprungs der Sprache liegt für ihn nicht in der „ Ursprache “ oder den „ Ursprachen “ , sondern nur im jeweiligen „ Woraus “ und im „ Wie “ des Entstehens der Sprache. Darin liegt auch der Grund dafür, dass Wilhelm von Humboldt, der die Klassifikation von Friedrich Schlegel stets ablehnte, sich gegenüber August Wilhelms Klassifikation wohlwollend geäußert hat. Der von Friedrich Kainz bei Friedrich Schlegel konstatierte Wechsel von einer „ Kultur der Idee “ zu einer „ Kultur der Erfahrung “ findet also, wie bereits erwähnt, in Wirklichkeit bei August Wilhelm statt. Dass die rein geschichtlich-sprachwissenschaftliche Betrachtung auch philosophisch solider begründet werden kann, wird sich erst bei Humboldt zeigen. Bei August Wilhelm Schlegel kann man Versuche einer solchen Begründung feststellen; alles, was er dazu ausführt, ist jedoch noch ziemlich schwach. 7.2.2 Spekulationen über den Sprachursprung im Briefwechsel mit Humboldt Diesem Übergang von dunklen Intuitionen und aprioristischen, schwach begründeten Behauptungen zu einer, wie Walter Jesinghaus sich ausdrückt, nicht „ empirischen “ , sehr wohl aber historischen Forschung kann man im Briefwechsel zwischen Humboldt und A. W. Schlegel nahezu „ beiwohnen “ . Man kann dabei auch feststellen, dass dieser Übergang nicht ohne Mühe und auch nicht in einem Zug erfolgt ist. Am Anfang steht A. W. Schlegel noch ganz unter dem Einfluss dessen, was sein Bruder in Ueber die Sprache und Weisheit der Indier ausgeführt hatte. Auch Humboldt zeigt sich vom Sanskrit tief beeindruckt: 106 ibid., Endnote 7, 86. [Eine außerordentlich schwierige Frage, die ich hier nicht in Angriff nehmen werde, besteht darin, herauszufinden, ob die Sprachen allmählich ihre Art ändern und von der ersten zur zweiten und von der zweiten zur dritten Klasse übergehen können oder nicht. Wenn man diese Frage durch Fakten mit einiger Beweiskraft beantworten könnte, so wären allein schon dadurch eine Menge von Problemen bezüglich des Ursprungs der Zivilisation gelöst.] 165 <?page no="180"?> Es ist mir, als würde mir etwas recht Wesentliches gefehlt haben, wenn ich ohne das hätte die Erde verlassen müssen. Man kann nicht sagen, daß man gerade dadurch neue Wahrheiten entdeckt. Der unbeschreiblich fesselnde Reiz liegt nicht einmal in der Bestätigung längst erkannter. Aber man wird von einem so wundervollen Gefühle alterthümlicher, großartiger und tiefsinniger Menschheit ergriffen, daß man wie in einem Punkt die geistige Entwicklung aller Menschengeschlechter und ihre Verwandtschaft mit dem Unsichtbaren zu empfinden glaubt. Die Sprache erscheint ganz anders in diesen Ueberbleibseln der ältesten Zeit. Der Gedanke scheint inniger mit den Worten verschmolzen, und in dem Laute, der Bewegung dieser, ihren Anklängen an verwandte Begriffe und Bilder fühlt man immer mehr, als den einzelnen Gedanken, ja selbst als ein Individuum, wirklich das geistige Walten eines ganzen Zeitalters. 107 Bei Humboldt findet man eine Schilderung spontaner Eindrücke, Ausdruck des Gefühls und Begeisterung für die Gestaltung des Sanskrits - eine etwas gedämpfte Begeisterung, denn er sagt ausdrücklich man könne nicht sagen, dass man dadurch neue Wahrheiten entdecke oder längst erkannte bestätige. August Wilhelm Schlegel hingegen versucht, dies alles in die Sprache und Vorstellungswelt seines Bruders zu übertragen. Auch er möchte die Entstehung der Sprache auf eine Art von Erleuchtung zurückführen; auch er nimmt, um die Menschengeschichte zu begreifen, „ Platonische Gesetzgeber, eines Menschengeschlechtes “ , an, „ das ursprünglich erleuchtet war, dem eine divinatorische Erkenntniß einwohnte, welche nicht aus der Erfahrung geschöpft war, sondern ihr vorauseilte “ . 108 Die Intuition, die diesen Ausführungen zugrunde liegt, ist durchaus richtig. Er ahnt, dass Sprache nicht etwa ein Produkt des Verstandes, des rationalen Denkens, ein konventionell konstruiertes Instrument ist, sondern unmittelbare Erfassung, die dem rationalen Denken vorausgeht. Aber wie sein Bruder Friedrich verbaut er sich diese richtige Intuition durch allerlei spekulative Zutaten: Erstens möchte auch er verschiedene Arten von Menschen „ in Absicht auf die Culturfähigkeit “ unterscheiden, die ursprünglich selbstthätigen, die für fremde Anregungen empfänglichen, und endlich, die ganz tellurischen Menschen, bei denen der himmlische Funken niemals zünden konnte “ (ibid.). Wie Friedrich geht auch er von ursprünglich verschiedenen Arten von Sprachen aus: Ich glaube nämlich, daß es ursprünglich tellurische, siderische und spirituale Sprachen giebt. Dieß würde auf die Einteilung nach den drei gû ń a ’ s hinauslaufen. 109 Reine Exemplare von den drei Gattungen lassen sich freilich nicht nachweisen, man dürfte aber wohl versuchen, die Sprachen nach dem vorwaltenden Prinzip zu classificieren. 110 107 Humboldt an A. W. Schlegel 21. 6. 1823 = Leitzmann 1908, 158. 108 A. W. Schlegel an Humboldt 29. 5. 1822 = Leitzmann 1908, 72. 109 [Die drei Gû ń as: nach der hinduistischen Glaubenslehre die drei Grundbestandteile der Urmaterie.] 110 A. W. Schlegel an Humboldt 21. 2. 1826 = Leitzmann 1908, 187. 166 <?page no="181"?> Diese drei Gattungen der Sprachen scheinen seinen oben erwähnten drei Arten von Menschen entsprechen. Der Ausdruck siderische Sprachen stammt allerdings von seinem Bruder. Zweitens erfasst er die Sprachbildung zwar richtig als Hervorbringung im Ganzen, aber einerseits denkt er dabei an eine zeitgebundene, nicht an eine außerzeitliche Entstehung der Sprache und nimmt wie sein Bruder Zeiten des Vergessens an: [Die Sprachbildung] erscheint wie ein Moment; dann folgten oft lange Zeiträume der Vergessenheit und der Verwahrlosung und endlich späte Nachhülfe, um sich ein brauchbares Werkzeug zu verschaffen. 111 Andererseits sieht er in der historischen Entwicklung der Sprachen nur Dekadenz; die Sprachschöpfung habe in der Urzeit stattgefunden. Hingegen das Zusammenflicken mit dem Verstande, wo die ursprüngliche Einheit der Anschauung verloren war, die Surrogate, die Misbildungen und Fehlgeburten des grammatischen Instinkts sind das Machwerk späterer Zeiten. (ibid., 72 f.) Auf die eine erstaunliche Kontinuität dieser Auffassung, die sich von Adam Smith über Rousseau, Lord Monboddo, die Brüder Schlegel bis zu Schleicher und darüber hinaus verfolgen lässt, wurde bereits hingewiesen. Zweimal hat Humboldt die Schlegelsche Unterscheidung von synthetischen und analytischen Sprachen kritisiert, doch ist die Kritik wenig wirksam gewesen. Bei Adam Smith wurde die ästhetische Dekadenz noch durch logischen Fortschritt kompensiert. Ein Analogon dazu lässt sich bei Vico im Übergang von der dichterischen Ursprache zu den nicht-dichterischen lingue volgari erkennen (vgl. Bd. 1, Kap. 16.4.5). Bei Lord Monboddo hingegen und in noch höherem Maße bei Rousseau und bei den Brüdern Schlegel wird die ästhetische Dekadenz zur Dekadenz schlechthin. Drittens vertritt August Wilhelm Schlegel die Ansicht, es habe eine privilegierte Klasse von Sprachschöpfern gegeben: Ich kann unmöglich die ersten großen Grundlagen als den späten und allmählichen Erfolg eines experimentierenden Herumtappens betrachten; sie scheinen mir ein genialischer Wurf zu sein, wo alles mit einem Male da ist, wie beim Anfange des organischen Lebens. Die Urväter des Menschengeschlechts - einige, nicht alle; denn ich fürchte ich bin in der dreifachen Ketzerei begriffen ein Präadamit, ein Coadamit und ein Postadamit zu sein - vergleiche ich mit Menschen, welche die Fähigkeit besessen hätten, in einem dunkeln Schacht durch die Kraft der eigenen Augen zu sehen, während unsere Bergleute sich der Lampen und Laternen bedienen müssen. - Divinatorische Durchschauung der Natur und von außen erworbene Erfahrung scheinen mir die beiden Pole der menschlichen Kultur zu sein; jenes der positive, dieses der negative. 112 Die Erleuchtung, das divinatorische Volk oder die divinatorischen Völker, die die Sprache schaffen, sind schon da - es fehlen nur noch die ausdrückliche Berufung 111 A. W. Schlegel an Humboldt 29. 5. 1822 = Leitzman 1908, 72. 112 A. W. Schlegel an Humboldt, 21. 2. 1826 = Leitzmann 1908, 188. 167 <?page no="182"?> auf eine Offenbarung und der Versuch, das alles mit der Bibel in Einklang zu bringen, um August Wilhelm völlig mit der Gedankenwelt seines Bruders Friedrich in Einklang zu bringen. Man kann sich in diesem Zusammenhang auch fragen, ob für die divinatorischen Sprachschöpfer der Urzeit nicht Vicos eroi und die popoli fanciulli, die Helden der Urzeit und die Völker in ihrer Kindheit Pate gestanden haben. Karl Borinski hat in der Tat einen Einfluss Vicos auf die deutsche Sprachphilosophie, insb. auf Herder und Hamann angenommen. 113 Das ist jedoch bis heute noch nicht wirklich nachgewiesen worden. Vicos Sprachauffassung scheint in Deutschland eher über Rousseau und Charles de Brosses gewirkt zu haben, die ihrerseits möglicherweise direkt von Vico beeinflusst wurden. August Wilhelm wurde sicherlich sowohl von Rousseau als auch von de Brosses beeinflusst, doch ist bei beiden Autoren nirgendwo von einem divinatorischen Volk und von einer Sprachschöpfung in einem Wurf die Rede. Das alles stammt wohl von seinem Bruder Friedrich, und bei diesem fremde Einflüsse nachzuweisen, ist außerordentlich schwierig. Wilhelm von Humboldt nimmt August Wilhelms Ausführungen mit väterlicher Nachsicht und mit zuweilen aufblitzender Ironie entgegen, obwohl die beiden Briefpartner genau gleich alt sind. Er ziehe es vor, sich nicht mit „ nicht erweisbaren Möglichkeiten “ zu befassen, sondern sich stattdessen lieber an das „ wirklich Gegebene “ zu halten. Er gehe eben „ mehr furchtsam historisch zu Werke “ . Sein Briefpartner sei da um einiges kühner: [Sie jedoch] gehen viel weiter, setzen Uebermenschliches, oder wenigstens Menschliches, wovon wir nirgends ein Analogon ahnden können, voraus, scheinen das Mechanische, auch wo es sein kann und ist, ganz verdrängen zu wollen, und sehen in einigen Sprachen nur den kühnen freien Gang einer schöpferisch bildenden Kraft, indeß Sie andere dem gebundenen und mühseligen, der irdisch aneinanderknüpft, hingeben. 114 Humboldts Bedenken gegenüber einer solchen Unterscheidung zwischen geistigen und geistlosen Sprachen ist unverkennbar. Im Übrigen kritisiert er Friedrich Schlegel sehr scharf, und das überträgt sich dann auch auf die allzu kühnen Spekulationen August Wilhelms. Im Verlauf des Briefwechsels wird dann der Gedankenaustausch zwischen Humboldt und A. W. Schlegel zunehmend konkreter, nüchterner und sachlicher. Dies alles lässt darauf schließen, dass sich der Übergang von der „ Kultur der Idee “ zur „ Kultur der [historischen] Erfahrung, von der dichterischen Einbildung zur Geschichte “ , bei A. W. Schlegel wenigstens zum Teil unter dem Einfluss Humboldts vollzogen hat. Der Briefwechsel findet jedoch nach 1818 statt, zu einer Zeit, als A. W. Schlegels intensive Beschäftigung mit der Sprachtheorie schon beendet war. Daraus ergibt sich ein besonderes Interpretationsproblem. Die Observations aus dem Jahr 1818 erwecken den Eindruck, als sei der Verf. zu 113 Cf. Karl Borinski: Der Ursprung der Sprache. Halle 1911, 8. 114 Humboldt an Schlegel 5. 3. 1826 = Leitzmann 1908, 196. 168 <?page no="183"?> dieser Zeit historisch-nüchtern vorgegangen und habe bereits allen philosophischen Ehrgeiz abgelegt. Warum erscheinen nun diese schwer nachvollziehbaren Spekulationen nicht schon in den früheren Arbeiten, sondern erst im Briefwechsel mit Humboldt? Soll man darin, wie Jesinghaus annimmt, einen „ Bruch “ sehen, herbeigeführt durch eine „ Ueberspannung des idealistischen Entwicklungsgedankens “ unter dem Einfluss seines Bruders Friedrich und der Entdeckung des Sanskrits? (Jesinghaus 1911, 55) Ich persönlich bin der Ansicht, dass A. W. Schlegel schon früher ähnliche Gedanken hegte, dass er sie jedoch nie öffentlich vertrat, sondern dass er sie erst jetzt, im Rahmen eines privaten Gedankenaustauschs, Humboldt anvertraute. Wenn sich der endgültige Übergang von der Spekulation zur geschichtlichen Forschung erst unter dem Einfluss Humboldts vollzog - später hat sich A. W. Schlegel nie wieder zu sprachtheoretischen Fragen geäußert - so handelte es sich für ihn - wie schon früher einmal - um einen Übergang von einer zu einer anderen Tätigkeit. Wenn für den jüngeren der beiden Brüder gilt „ entweder Dichtung oder Philosophie und Wissenschaft “ (was auf eine Entscheidung für die Dichtung hinausläuft), so gilt für den älteren Bruder „ entweder Wissenschaft oder Philosophie “ , was in diesem Fall bedeutet, dass man nur eines, nicht beides zugleich treiben kann. Man kann nicht davon ausgehen, dass der Einfluss Friedrich Schlegels und der Entdeckung des Sanskrits auf August Wilhelm sich erst 1823, zur Zeit des Briefwechsels mit Humboldt, bemerkbar macht. Der Einfluss des 1808 erschienenen Buchs über Sprache und Weisheit der Indier lässt sich in den zehn Jahre später erschienen Observations klar erkennen, z. B. was die Charakterisierung der flektierenden Sprachen betrifft. Bei August Wilhelm klingt das alles eine Spur zurückhaltender: „ man könnte diese Sprachen ‚ organische Sprachen ‘ nennen “ . Symptomatisch ist jedoch, dass August Wilhelm zwar diese Charakterisierung übernimmt, nicht jedoch die These in Bezug auf den Ursprung der Sprache; das eine ist Beschreibung (Wissenschaft), das andere hingegen Spekulation ( „ Philosophie “ ) - entweder das eine, oder das andere. Einen Bruch bedeuten sicherlich die Ausführungen zum Ursprung der Sprache im Briefwechsel mit Humboldt. Dabei handelt es sich jedoch um einen Bruch mit der aufklärerischen Theorie der Sprachentwicklung, und mit der hatte A. W. Schlegel in gewisser Hinsicht schon von Anfang an gebrochen. Einen Bruch bedeutet schließlich auch der endgültige Übergang zur rein historischen Forschung nach dem Briefwechsel mit Humboldt. Sprachhistoriker und Sprachphilosoph zugleich wie Humboldt kann und will er nicht sein. Friedrich Schlegel reduziert die historische Forschung auf Spekulation und verzichtet auf faktische Wissenschaft; sein Bruder August Wilhelm hingegen verzichtet fortan auf Spekulation und entscheidet sich für die faktische Wissenschaft. Die im Briefwechsel mit Wilhelm von Humboldt vertretenen Ansichten stellen A. W. Schlegels esoterische Sprachphilosophie dar. Alles, was er in seiner exoterischen, d. h. von ihm selbst veröffentlichten oder in Vorlesungen mitgeteilten Sprachphilosophie vertritt, sind weit weniger gewagte, dafür aber solider begründete Ansichten. Damit soll nicht gesagt werden, er sei stets fähig gewesen, reine Spekulation und empirische Wissenschaft säuberlich zu trennen. Ganz im 169 <?page no="184"?> Gegenteil - wie andere Romantiker auch, stellt er empirische bzw. historische Fragen so, als handele es sich um theoretische Hypothesen und möchte Fragen, die die empirische Beschaffenheit der faktisch gegebenen Einzelsprachen betreffen, auf spekulativem Weg lösen, so als könne man die nicht-universellen, und nicht allgemein notwendigen oder auch die zwar allgemein vorhandenen aber nur praktisch bedingten Eigenschaften der Sprachen aus dem Begriff „ Sprache “ deduzieren. So deduziert er z. B. in den Berliner Vorlesungen über Encyclopädie (1803) aus dem Prinzip der Einheit von Natur und Kultur im Hinblick auf die Sprache, dass die Einzelsprachen in ihrer Materialität sowohl den Nationalcharakter als auch ihr jeweiliges natürliches Umfeld widerspiegeln müssten: Wie in der Natur alles in der vollkommensten Harmonie steht, wie uns die mineralischen, vegetabilischen und animalischen Producte eines Landstrichs den Charakter seiner Bewohner müßten erkennen lassen, wenn wir sie gehörig verständen: so spiegelt sich in den Tönen und Formen der Sprache nicht nur der Charakter einer Nation, sondern ich glaube, man muß auch das Bild der ganzen sie umgebenden Natur, die Pflanzen, Blumen, Thiere, ja die Luft, und was sonst ein Land eigenthümliches haben kann, darin anschauen. Dieß ist allgemeiner anerkannt, als die meisten es sich bewußt sind. Daher der Reiz fremder Sprachen; daher die zauberischen Wirkungen des Wohllauts, in welchem wir gleichsam die aromatischen Düfte eines schönen Himmelstrichs einathmen. (A. W. Schlegel 2006 [1803], 293) So weit war noch nicht einmal Herder gegangen. Auch die ideelle Einheit des Subjektiven und des Objektiven würde sich in der materiellen Beschaffenheit einer Sprache widerspiegeln. So seien die Konsonanten Ausdruck des Objektiven, die Vokale Ausdruck des Subjektiven; auch bei Ablaut- oder Umlauterscheinungen sei Objektives wie Subjektives im Spiel. Der Hauptbegriff, durch Konsonanten ausgedrückt stelle das Objektive dar, seine durch Vokalalternationen ausgedrückten Bestimmungen seien Ausdruck des Subjektiven: Wie ich das articulierte Sprechen oben überhaupt symbolisch gedeutet habe, so kann man damit mehr ins einzelne gehen; so bedeuten die Vokale als die Stimme aus der Brust, die sich unmittelbar mit dem Athmen verbindet, mehr das Subjective; die Consonanten als willkürliche Acte der Sprachorgane das Objective. Dieß wird wiederum allgemeiner anerkannt und gefühlt als man eingesteht. Denn alle sind darüber einverstanden, daß die Musikalische Beschaffenheit einer Sprache in den Vocalen ihrer Stellung liege. Das Musikalische ist aber eben Ausdruck der Gemüthsstimmung, also des Subjectiven. Hingegen die Consonanten kann man wie die Vokale den musikalischen, so den mahlerischen Bestandtheil der Sprache nennen. Alle Grammatiker wissen, daß bey der Ableitung weit mehr auf die Consonanten ankömmt, daß diese oft bei der größten Wandelbarkeit der Vokale dieselben bleiben. Im Deutschen wie im Hebräischen wird nicht selten dieselbe Wurzel bey unveränderten Consonanten durch die ganze Tonleiter der Vocale hindurchgeführt, um Modificationen auszudrücken, welche im Verhältniß gegen den Hauptbegriff als das Subjektive d. h. Beziehung desselben auf uns erscheinen. Im menschlichen Geiste ist das Objective und Subjective untrennbar; und dieß 170 <?page no="185"?> drückt sich in der Sprache sinnbildlich dadurch aus, daß Vocale und Consonanten nicht ohne einander bestehen können: die letzten sind ohne Vocale gar nicht aussprechbar, sie bedürfen wenigstens eines begleitenden Hauchs; ohne Consonanten hingegen bey bloßen Vocalen geht der Charakter der Articulation verlohren, die Sprache würde in ein bloßes dem thierischen Schrey verwandtes Singen ausarten. (ibid., 293 f.) Man fragt sich, warum die historisch objektiv gegebenen Vokale einer Sprache „ subjektiver “ als die ebenfalls historisch objektiv gegebenen Konsonanten sein sollen, und die individuell hervorgebrachten Konsonanten „ objektiver “ als die ebenfalls individuell hervorgebrachten Vokale; warum eine Alteration vom Typ Baum - Bäume stärker „ die Beziehung auf uns “ ausdrücken soll als die Verfahren anderer Sprachen, die eine funktional analoge grammatische Bestimmung durch konsonantische Alternationen ausdrücken. Die Verschiedenheit der Einzelsprachen versteht A. W. Schlegel in denselben Vorlesungen zwar richtig als eine rationale Notwendigkeit im Rahmen seiner Auffassung der Sprache als eines Werks der Phantasie und als „ subjektiv-objektive Darstellung “ , obwohl er die geistige Tätigkeit wiederum von der natürlichen Umgebung abhängig sehen will: . . .wenn keine Verschiedenheit der Sprachen auf der Erde statt fände, würde man glauben müssen, die Sprache sey durch Convention fixirt, oder durch göttliche Belehrung mitgetheilt worden. Denn wenn die Sprache eine Darstellung der Welt und des menschlichen Geistes ist, so muß sie auch unter so verschiedenen klimatischen Einflüssen, welche die Organisation und durch sie den Geist des Menschen so verschieden affiziren, und auf der andern Seite ihm ein ganz verschiednes Bild der Natur vorhalten, höchst verschieden ausfallen. Die Sprache ist eine subjectiv-objective Darstellung; nun ist aber in den verschiedenen Welttheilen bey ganz anders gearteten Nationen sowohl Subject als Object durchaus verschieden: wie sollte also die Darstellung einerley sein können? Dazu kommt, daß die Sprach Darstellung nur eines oder wenige Merkmale der Gegenstände auffaßt; eine kleine Verschiedenheit in der Richtung der Fantasie reicht also hin, sie sehr abweichend zu bestimmen, und die Äußerung des Individuellen gewinnt hier ein großes Feld. Deswegen sind die Sprachen so unendlich interessant, als die lebendigsten Gemählde von Nationalcharakteren. (ibid., 292 f.) Dies ist - in nicht gerade sehr gewandter Formulierung - eine sehr tiefe Einsicht: Als in jedem ihrer Bestandteile individuelle Erzeugnisse müssen die Sprachen verschieden sein. Die eigentliche Frage ist nicht, warum sie verschieden sind, sondern umgekehrt, warum sie nicht noch viel verschiedener sind, warum jede Einzelsprache eine so starke und bindende Tradition darstellt, und warum darüber hinaus die Einzelsprachen untereinander so viele gemeinsame Merkmale aufweisen. Nicht die Kreativität und die Vielfältigkeit, sondern die Einheitlichkeit, die historische Fixierung in der Form von breiten Traditionen, die weitgehende Einheitlichkeit aller Sprachen stellen uns vor ein Problem. Die Manifestation der „ Sprache “ in Form von Einzelsprachen ist also eine rationale Notwendigkeit. Dennoch möchte A. W. Schlegel - wiederum wegen der 171 <?page no="186"?> angenommenen Einheit von Materie und Geist, von Ausdruck und Inhalt - zu einer Universaletymologie gelangen, die bis zu den durch die Laute direkt symbolisierten Inhalten gelangen soll: Man muß bei der Etymologie davon ausgehen, daß alle Wörter durch Hinzufügung bestimmender Laute und ableitender Sylben aus den einfachsten syllabischen Zusammenfügungen entstanden sind. Die einzelnen Buchstaben bedeuten aber schon an und für sich etwas, nur ist es sehr schwer, dieß zu fassen, weil es natürlich schwankend und unbestimmt ist. (ibid., 294) Diese ursprüngliche und universelle Lautsymbolik möchte er sogar auf eine motorische Symbolik zurückführen: Den größten Aufschluß hierüber muß die Betrachtung der Bewegungen, welche mit den Sprachorganen zur Hervorbringung gewisser Laute vorgenommen werden, geben. (ibid.) Das hängt vermutlich mit der Theorie der „ Bewegungen der Fibern des Gehirns “ von Frans (François) Hemsterhuis (Hemsterhuys) zusammen. Es handelt sich dabei um Bewegungen, die einerseits Anschauungen bzw. Ideen entsprechen, andererseits in Töne umgewandelt werden: Objekt Töne Bewegung der Fibern Idee Die Töne werden also von den Fibern des Gehirns determiniert, diese wiederum durch objektive oder subjektive Stimuli; damit wäre jedes Zeichen in dieser Hinsicht „ naturnotwendig “ . Schlegel zitiert Hemsterhuis in der sechsunddreißigsten seiner Berliner Vorlesungen (ibid., 295). Seine Ausführungen hängen jedoch auch mit den „ Lautbegriffen “ oder „ Urlauten “ von Carl Friedrich Fulda (cf. supra, Kap. 6.3.3) und damit wiederum der alten Theorie der πρῶτα στοιχεία (cf. Bd. 1, Kap. 7.2.1) zusammen. Bei Fulda heißt es: L ist die voluble Zunge, die beim Gefühl des Wallenden, Leichten und dem Affekt des Lieblichen und Widrigen im Munde wallt; und heißt die Zunge, Element, lieb und unangenehm. R: die Zunge rasselt an den Zähnen in jedem starken Affekt und bei einer starken Empfindung eines Geräusches und der Bewegung; und heißt Gemüthsrührung Geräusch und Bewegung. M ist der mampfende Laut beim Essen und heißt Essen und Gesellschaft. Nur Menschheit oder Bewußtheit seiner selbst und Einbildungskraft gehörte dazu, um auf diesem Weg, den die Natur gebahnt hatte, mehrere Lautbegriffe zu verbinden und unter mehreren Organen auszuteilen. 115 115 Fulda, zit. nach Jesinghaus (1913), 12 f. 172 <?page no="187"?> Vorstellungen dieser Art führen A. W. Schlegel zur Idee eines universellen phonematischen Systems: Wiewohl die Alphabete verschiedener Nationen von einander abweichen, so giebt es doch auch hierin etwas gemeinschaftliches, ein Grundalphabet, welches nicht zufällig aus grade so vielen, und diesen oder jenen Lauten besteht, sondern worin gesetzmäßige Einheit ist, so daß es ein wahres System ausmacht, in welchem alles zusammenhängt, sich gegenseitig fodert und bestimmt. (A. W. Schlegel 2006 [1803], 294 f.) Die Idee ist zwar sehr wichtig, jedoch lässt sich ein solches System gewiss nicht durch Lautsymbolik rechtfertigen. Uns führt diese Idee jedoch in das Zentrum der Sprachproblematik bei August Wilhelm Schlegel, zu den für ihn typischen Fragestellungen. Denn seine veröffentlichte, „ exoterische “ Sprachtheorie weist eine bemerkenswerte Kohärenz auf, von den Briefe[n] über Poesie, Silbenmaß und Sprache (1795) bis zu den Berliner Privatvorlesungen. Schon in den Briefen geht es darum, die sprachlichen Zeichen als unmittelbar „ natürlich “ bedeutend auszuweisen. Daraus ergeben sich für ihn gewisse Leitthemen: 1) Das Problem der Sprache wird auf die Frage nach dem Ursprung der Sprache, nach der Sprache in ihrer Ursprünglichkeit und ursprünglichen Reinheit zurückgeführt: So wie die grenzenlose Mannigfaltigkeit der Natur in abgezogenen Begriffen verarmt, so sinkt die lebendige Fülle der Töne immer mehr zum toten Buchstaben hinab. Zwar ist es unmöglich, daß dieser jene vollständig verdrängen sollte, weil der Mensch immer ein empfindsames Wesen bleibt [. . .]. Allein in den gebildeten Sprachen, hauptsächlich in der Gestalt, wie sie zum Vortrage der deutlichen Einsicht, der Wissenschaft gebraucht werden, wittern wir kaum noch einige Spuren ihres Ursprungs, von welchem sie so unermeßlich weit entfernt sind [. . .]. Indessen liegt doch jene innige, unwiderstehliche, eingeschränkte, aber selbst in ihrer Eingeschränktheit unendliche Sprache der Natur in ihnen verborgen. . . (A. W. Schlegel 1962 [1795], 145 f.) 2) Sowohl die Hypothese, Sprache sei aufgrund von gegenseitiger Verabredung entstanden als auch die Annahme eines göttlichen Unterrichts werden abgelehnt: Du erlässest es mir gern, dir von den Schulübungen unseres ersten Stammvaters zu erzählen, von dem göttlichen Unterricht, der seiner Unfähigkeit, die Sprache zu erfinden, zu Hilfe gekommen sein soll, da doch zu ihrer Erlernung dasselbe Vermögen erfordert wird, dem ihre Erfindung angehört: nämlich das Vermögen, Vorstellungen durch Zeichen festzuhalten und zu erneuern; oder von der müßigen und überlegten Verabredung der Menschen, kraft welcher sie den Dingen diese oder jene beliebigen Namen gaben, wie man etwa Kinder tauft, und sich also verständigten, ehe sie ein Mittel der Verständigung hatten. Diese beiden Meinungen sind vielleicht noch nicht für immer abgewiesen, doch gewiß für immer widerlegt. (ibid., 150) 173 <?page no="188"?> 3) Die Naturlauttheorie (Empfindungstheorie) und die Nachahmungstheorie sind zu so zu verbinden, dass sie miteinander vereinbar sind: Wofür sollen wir uns im Gedränge zwischen diesen zwei entgegengesetzten Systemen [i. e. spontane Naturlaute vs. Lautnachahmungen] entscheiden? Da wir nicht beide zugleich gelten lassen und doch weder das eine noch das andere unbedingt verwerfen können, so müssen wir sie friedlich zu vereinigen suchen. Beide scheinen mir Teil an der Wahrheit zu haben. . . (ibid., 155) 4) Im Zusammenhang mit der Nachahmungstheorie gilt das Prinzip der Selbsttätigkeit [Eigeninitiative], die „ selbsttätige Richtung “ : In der Empfänglichkeit des Menschen allein, wäre sie auch noch so vieles zarter und umfassender als in den übrigen Tieren, liegt kein unterscheidendes Kennzeichen seiner Natur. Er würde also, wie wir es an jenen sehen, mit den Vorzügen seiner Organismen durch alle Geschlechter hin beständig auf eben dem Punkte beharren, wäre ihm nicht eine selbsttätige Richtung derselben verliehen. Bei dem Eindruck der Gegenstände durch die Sinne auf die inneren Organe, und bei der Gegenwirkung dieser auf die äußeren verhält er sich bloß leidend: der Gebrauch einer ganz hierauf beruhenden Sprache würde folglich gar nicht von seinem Willen abhängen. Unser Liebling Hemsterhuis hat [. . .] dieser Einwendung dadurch vorzubeugen gesucht, daß er bei der Sprache, als Werkzeug der Mitteilung betrachtet, die innere Sprache der Seele, das Vermögen, Vorstellungen durch Zeichen festzuhalten und zu erneuern, schon voraussetzt, und nur die Beschaffenheit der Mitteilungszeichen durch den notwendigen Zusammenhang zwischen den Bewegungen der inneren und äußeren Organe bestimmen läßt. Allein warum sollte die Selbsttätigkeit gerade hier stillstehen, da doch ihre Macht sich so viel weiter erstreckt? (ibid., 155 f.) 5) Das, was das Denken begrifflich in Bezug auf die ursprüngliche Sprache feststellt, wird von der Dichtung konkret realisiert. Die Dichtung ist die Tätigkeit, die die Sprache auf ihren Ursprung zurückführt: Poesie entstand gemeinschaftlich mit Musik und Tanz, und das Silbenmaß war das sinnliche Band ihrer Vereinigung mit diesen verschwisterten Künsten. Auch nachdem sie von ihnen getrennt ist, muß sie immer noch Gesang und gleichsam Tanz in die Rede zu bringen suchen, wenn sie noch dem dichtenden Vermögen angehören, und nicht bloß Übung des Verstandes sein will. Dies hängt genau mit ihrem Bestreben zusammen, die Sprache durch eine höhere Vollendung zu ihrer ursprünglichen Kraft zurückzuführen und Zeichen der Verabredung durch die Art des Gebrauchs beinah in natürlich an sich bedeutende Zeichen umzuschaffen. (ibid., 148) 6) Sprachtrieb und Geselligkeitstrieb sind eins: Der Trieb, andere gleichsam in sein eigenes Dasein anzunehmen, und wiederum in ihnen verfielfacht zu leben, der zwar nicht selbst die Fähigkeit zur Sprache ist, aber sie doch hervorgerufen hat, macht die eigentliche menschliche Grundlage der Geselligkeit aus, wieviel andere Umstände und Bedürfnisse auch dazu einladen und nötigen mögen. Schon in den frühesten Zeiten des geselligen Standes [. . .] mußte daher häufig der Fall kommen, daß dieselben Gefühle mehrere Gemüter zur 174 <?page no="189"?> gleichen Zeit bewegten, entweder weil einer sie den übrigen durch sichtbaren und hörbaren Ausdruck mittgeteilt hatte oder weil das, was sie hervorbrachte, alle gemeinschaftlich betraf. (ibid., 146) 7) Sprache und Rhythmus - Sprache, Dichtung, Tanz und Musik haben einen gemeinsamen Ursprung: Kein Wunder also, wenn Gesang und Tanz unter weniggebildeten Völkern von jeher die Seele aller Zusammenkünfte war und noch ist. [. . .] Daß diese menschlich natürlichen Künste Sache der Gesellschaft wurden, konnte und mußte zum Teil auf ihre weitere Bildung den entscheidensten Einfluß haben. Zuverlässig beschränkte er zuvörderst ihre ursprüngliche Freiheit und fügte zu dem, worin man ohne Absicht, fast ohne Bewußtsein übereinstimmte, äußerliche Gesetze der Übereinkunft und des Herkommens hinzu. (ibid., 147) Damit haben wir die ganze Thematik der Sprachphilosophie August Wilhelm Schlegels in all ihren Hauptmotiven zusammengestellt. Diese Thematik wird in seinen späteren Beiträgen zwar vertieft, einzelne Punkte werden erweitert, umgewichtet oder sie erhalten einen anderen Sinn. Andererseits ändern sich auch der Rahmen, die Grundlage und die Art der Fragestellung. Wie bereits erwähnt wurde, möchte A. W. Schlegel anfangs ganz ohne Philosophie auskommen, obwohl er sich auf Rousseau und Hemsterhuis bezieht und die Art und Weise seiner Fragestellung von diesen beiden Denkern abhängt. In den Jenenser Vorlesungen über philosophische Kunstlehre (1798/ 99) spürt man bereits den Einfluss von Kant und Fichte; in den Berliner Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst (1801 ‒ 1804) wird die Philosophie Schellings, insb. das Schellingsche Identitätsprinzip als Grundlage der Interpretation herangezogen; in den fast zeitgleich abgehaltenen Berliner Vorlesungen über Encyklopädie (1803) kommt noch der Einfluss von August Ferdinand Bernhardi (1769 ‒ 1820) hinzu. In den frühen Briefe[n] über Poesie, Silbenmaß und Sprache ist die Argumentation vorwiegend „ historisch “ im Sinne der Aufklärung, d. h. glottogonisch. Sie bezieht sich auf das abstrakt und willkürlich angenommene Bild vom „ primitiven Menschen “ . In den späteren Werken wird sie zunehmend philosophischer; die Charakteristika der Sprache werden nun vorwiegend aus allgemeinen Prinzipien deduziert. Die Thematik als solche bleibt in ihren Hauptzügen die gleiche ebenso wie das implizit gegebene oder expressis verbis geäußerte Ziel seiner Ausführungen. 7.2.3 Kunst, Dichtung und Sprache An erster Stelle ist charakteristisch für August Wilhelm Schlegels Bemühungen um die Sprachphilosophie, dass es ihm dabei primär gar nicht um die Sprache als solche, sondern um die Kunst geht. Die Kunst ist für ihn, wie in der Romantik allgemein, das den Bereich des Menschen (und sogar darüber hinaus) Allumfassende, das, was den Menschen charakterisiert und ihm sein Fundament verleiht. Die erste unter den Künsten, die Kunst par excellence, ist für Schlegel, wie wiederum für die gesamte Romantik im engeren Sinne, die Dichtung. Die Dichtung aber ist sprachlich, sie operiert mit der Sprache, und zwar nicht wie mit einem ihr nicht angehörigen Stoff, den sie lediglich gestalten würde, sondern wie mit ihrem 175 <?page no="190"?> sie selbst konstituierenden Gehalt: Dichtung ist Sprache. Andererseits erscheint aber auch die Sprache, wie die Kunst, als das Allumfassende, das den Menschen Charakterisierende und Fundierende. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, bei der Behandlung des Problems der Kunst und insbesondere der Dichtung sich mit der Sprache auseinanderzusetzen, mit dem Ziel, die Identität von Sprache und Dichtung zu erweisen, eine Identität, die allerdings bei dieser Auffassung nur durch eine Zurückführung der Sprache auf die Dichtung, und nicht umgekehrt, erreicht werden kann. Dies lässt sich schon in den Briefe[n] über Poesie, Silbenmaß und Sprache nachweisen, es wird aber erst in den Jenenser Vorlesungen vollkommen eindeutig. Und genau so verhält es sich auch in den späteren Schriften, wenn man auch auf den ersten Blick den Eindruck gewinnen kann, das Problem der Sprache werde um der Sprache selbst willen behandelt. An zweiter Stelle ist für die Sprachphilosophie A. W. Schlegels kennzeichnend, dass er das Problem der Sprache als Problem des Ursprungs der Sprache, genauer, als Problem der ursprünglichen Sprache stellt. Dies hängt mit seinem inneren Zwang zusammen, die Sprache auf die Dichtung zurückzuführen. Die Hauptschwierigkeit dabei besteht darin, dass die begriffliche und in Bezug auf die Zeichenmotivation „ willkürliche “ Sprache sich nicht unmittelbar auf die Dichtung zurückführen lässt. Deshalb wird, im Rahmen dieser Fragestellung, die begriffliche und „ willkürliche “ Sprache als später erscheinende und entartete Form der Sprache angesehen. Die Sprache muss also, in Schlegels Auffassung, entweder in ihren Anfängen im glottogonischen Sinn oder jedoch in ihrer primären Form als etwas stets von Neuem Entstehendes mit der Dichtung zusammenfallen. In den Briefen und in den Jenenser Vorlesungen stellt er das Problem in Form der Frage nach der Ursprache: In den ausgebildeten Sprachen könne man nur noch Spuren des dichterischen Ursprungs erkennen (Briefe) oder aufgrund ihres Ursprungs könne die Sprache nicht völlig unpoetisch werden (Jenenser Vorlesungen, cf. supra). In den Berliner Vorlesungen hingegen sieht er den Ursprung der Sprache als permanenten Ursprung, als ständige Sprachschöpfung. Bei der zuerst angestrebten Lösung wird folglich die Ursprache, bei der darauf folgenden der sprachschöpferische Akt als poetisch, als mit der Dichtung identisch angesehen. In den Briefen wird diese Identität fast nur als in materieller Hinsicht gegeben betrachtet; die Ursprache ist Dichtung aufgrund unmittelbarer Lautnachahmung und unmittelbaren Ausdrucks von Empfindungen, sowie durch den Rhythmus. In den Jenenser Vorlesungen wird dieselbe Identität dann als eine fast ausschließlich geistige, durch die „ Selbsttätigkeit “ (cf. supra) gegebene dargestellt. In den folgenden Vorlesungen kann Schlegel nun auf der Grundlage des Prinzips der Identität von Geist und Materie die Identität von Sprache und Dichtung sowohl in materieller als auch in geistiger Hinsicht erklären. Das macht seine eigentliche Originalität aus. Es gelingt ihm sogar, wie wir gesehen haben, in der materiellen Seite der Sprache, in ihren Konsonanten und Vokalen, Symbolisierungen des Geistigen auszumachen. Die beiden vorgeschlagenen Lösungen des Problems des Ursprungs der Sprache bestimmen, in jeweils unterschiedlicher Weise, auch den Standort der Dichtung gegenüber der Sprache. Bei der ersten Lösung bedeutet Dichtung Zurückführung 176 <?page no="191"?> der Sprache auf ihren Ursprung, auf ihre durch die spätere Entwicklung weitgehend verloren gegangene ursprüngliche Kraft, bei der zweiten Lösung besteht die Dichtung in einer ständigen Aktualisierung der primären Kräfte der Sprache. An dritter Stelle ist für die Sprachphilosophie A. W. Schlegels charakteristisch, dass er, gerade wegen der angenommenen Identität von Sprache und Dichtung, die ursprüngliche Sprache als nicht „ konventionell “ oder „ willkürlich “ , sondern als natürlich motiviert ansieht (cf. Vico, Bd. 1, 16.4.3). Dies hängt mit einer tiefen, wenn auch in diesem Fall nur intuitiven Einsicht in das Wesen der Kunst zusammen. Die Kunst ist nämlich „ Nachahmung der Natur “ , und dies nicht im Sinne einer abbildenden Nachahmung, wie es in der vulgären mimetischen Kunsttheorie gesehen wird, sondern in dem Sinn, dass sie „ natürlich “ ist, dass ihre Hervorbringungen die gleiche Notwendigkeit, das gleiche „ Nicht anders sein Können “ wie die Natur aufweist. Deshalb muss auch die Ursprache „ natürlich “ und „ natürlich bedeutend “ sein. So bemüht sich Schlegel einerseits immer wieder, gerade den lautlichen Charakter der Sprache zu rechtfertigen, als die Sprachform, die der Sprachlichkeit als solcher, der „ Natur “ der Sprache am besten entspricht, andererseits darum, die Ursprache als „ natürlich “ , d. h. als unmittelbar verständlich darzustellen, als etwas, das man nicht erlernen muss. In den Briefen wird diese unmittelbare Verständlichkeit vor allem auf die Nachahmung der bezeichneten Naturerscheinungen und auf den ebenfalls „ natürlichen “ , unmittelbar biologisch bedingten Ausdruck von Empfindungen zurückgeführt, obwohl darüber hinaus auch das Prinzip der „ Selbsttätigkeit “ anerkannt wird. Später, insbesondere in den Berliner Vorlesungen über Encyklopädie wird die unmittelbare Verständlichkeit der Sprache auf die Natur des Menschen und auf die Anerkennung der Menschlichkeit zurückgeführt, aber die „ Natürlichkeit “ der Sprache bleibt dabei bestehen. Die Nachahmung der Natur wird in den Jenenser Vorlesungen, unter Hinweis auf die „ Selbsttätigkeit “ , zu einer umbildenden Darstellung, und die Naturlaute bleiben vorerst im Hintergrund. In den Berliner Vorlesungen werden sie dann wieder eingeführt, obwohl der menschliche Ausdruck von Empfindungen nicht nur als rein biologisch bedingt aufgefasst wird. So wird die schon anfangs erklärte Notwendigkeit, die Nachahmungstheorie und die Naturlauttheorie zu vereinbaren, noch in den Berliner Vorlesungen über Encyklopädie behauptet, wenn auch in veränderter Form. 7.3 Die weitere Ausgestaltung der Hauptmotive in den Vorlesungen Dies waren die Hauptmerkmale der Sprachphilosophie August Wilhelm Schlegels. Was die bereits erwähnten Verschiebungen der Fragestellungen, die Vertiefung einzelner Punkte und die Verlagerung der Akzente betrifft, so können wir uns kurz fassen, da wir diese Aspekte bereits bei der Darlegung der Hauptmotive angedeutet haben. 177 <?page no="192"?> 7.3.1 Die Jenenser Vorlesungen über philosophische Kunstlehre In den Jenenser Vorlesungen wird ausdrücklich die These formuliert „ daß im Menschen eine ursprüngliche und allgemeine Anlage zur Kunst sein “ . 116 Um diese These zu beweisen, untersucht Schlegel den Ursprung der Sprache. Bei der Entstehung der Sprache durch eine dichterische Tätigkeit könne man dieses allgemeine Gegeben-Sein einer Anlage zur Kunst feststellen. Wie Jesinghaus mit Recht bemerkt, hilft hier also der Ursprung der Sprache „ wesentlich die zentrale Stellung [zu] begründen, welche die Romantiker der Kunst zu geben wünschen “ (Jesinghaus 1913, 25). Das Prinzip der „ Selbsttätigkeit “ wird dabei besonders hervorgehoben. Unter dem Einfluss von Fichte verwendet A. W. Schlegel für dieses Prinzip weiter Benennungen wie „ das Ich “ , „ Freitätigkeit “ , „ reine Intelligenz “ , „ Prinzip der reinen Tätigkeit “ . Diesem Prinzip steht die Passivität gegenüber, die völlige Abhängigkeit von äußeren Eindrücken, die für das Tier charakteristisch sei. Von einem unmittelbaren Ausdruck von Empfindungen, der auch im tierischen Bereich vorkommt, spricht Schlegel hier nicht. Ganz im Gegenteil - ein Übergang von der tierischen zur menschlichen Sprache scheint ihm grundsätzlich unmöglich (vgl. Herder), denn die Entstehung der Sprache sei Resultat einer Überwindung der Passivität, „ ein erstes Losreißen von der Natur, wodurch der Mensch sich selbst konstituiert, “ 117 obwohl die ursprüngliche Sprache noch viel Tierisches enthalte. Aber ein wichtiger Schritt über den tierischen Bereich hinaus werde dadurch vollzogen, dass Eindrücke durch den Menschen in Form von Symbolen festgehalten werden, an erster Stelle für sich selbst, später dann auch zum Zwecke der Mitteilung an andere. Die Überwindung der Passivität durch die „ Freitätigkeit “ schließt ein, dass die Nachahmung nicht sklavische Nachbildung, sondern nur vermenschlichende Umgestaltung sein kann. Dies zeige sich schon darin, dass der Mensch, wenn er denn gewollt hätte, zu einer viel genaueren Nachbildung fähig gewesen wäre als zu derjenigen, die man in den lautnachahmenden Wörtern feststellen kann. Die objektiv ungenaue Nachahmung, die in diesen Wörtern vorliege, sei keine Unvollkommenheit, sondern vielmehr ein Anzeichen dafür, dass es sich bei der Sprache eben nicht um eine rein abbildende Tätigkeit handelt, sondern um eine aus der Einbildungskraft hervorgegangene „ umbildende Darstellung “ . 118 Diese Bemerkung ist besonders wichtig, denn sie zeigt, dass A. W. Schlegel sehr wohl erkannt hat, dass auch die lautnachahmenden Wörter nicht „ natürlich “ , sondern finalistisch motiviert sind. Schlegel verweist in diesem Zusammenhang auch auf den Anthropomorphismus der Sprache sowie auf ihren metaphorischen Charakter. Die Sprache stelle die Natur vermenschlicht und handelnd dar. Auch die Identität von (Ur)-Sprache und Dichtung wird nun nicht mehr im rein materiellen Sinne verstanden; Sprache und Dichtung sind nun ihrem Wesen nach, als geistige Tätigkeiten identisch; denn die Dichtung ist „ bildende Darstellung der inneren Empfindungen und der äußeren Gegenstände vermittels 116 A. W. Schlegel 1989 [1798 − 99], 4, cf. Jesinghaus 1913, 24. 117 A. W. Schlegel 1989 [1798 − 99], 5. 118 ibid., §§ 34 bis 41; A. W. Schlegel 1989 [1801 − 1804], 400; cf. Jesinghaus 1913,. 30 f. 178 <?page no="193"?> der Sprache “ . 119 In dieser Hinsicht sei die Dichtung ihrem Wesen nach „ sprachschaffend “ : Wie die Sprache in ihrem Entstehen drücke sie stets das aus, was bisher noch nicht ausgedrückt wurde. Die weitere Umbildung der Sprache, durch die die „ natürlichen “ Zeichen mehr und mehr zu konventionellen Zeichen werden, töte hingegen die Poesie. Durch diesen Vorgang trenne sich die Sprache von der Dichtung. In dieser Phase sei die Dichtung Wiederherstellung des ursprünglichen Gleichgewichts zwischen Nachahmung und Umbildung, Zurückführung der Sprache auf ihre ursprüngliche Anschaulichkeit und Sinnlichkeit. 7.3.2 Die Berliner Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst In den Berliner Vorlesungen wird das Problem der Identität von (Ur)-Sprache und Dichtung im Lichte und auf der Grundlage des Schellingschen Identitätsprinzips gestellt, d. h. der Gleichheit von Geist und Materie. Diese Gleichheit mache Sprache überhaupt erst möglich. Indem sie im materiellen Laut Geistiges ausdrückt und geistige Phänomene mit den verschiedensten durch die Sinne erfassbaren Symbolen verknüpft, sei die Sprache unbewusster Ausdruck dieses Identitätsprinzips. Sinnlich fassbare Symbole gelten als „ Bilder “ geistiger Gegenstände. Aufgabe der Dichtung ist es nun, das bewusst zu tun, was sich in der Sprache unbewusst vollzieht. Auch in diesem Kontext geht es darum, die Sprache in der Dichtung auf ihre ursprüngliche Sinnlichkeit zurückzuführen, und zwar deshalb, weil in der Sprache selbst der Verstand die primären Bilder der Einbildungskraft in Begriffe verwandelt, die ursprüngliche Bildhaftigkeit der Sprache verleugnet und aufhebt und somit die Verknüpfung von Sinnlichkeit und geistigem Gehalt zu einer „ willkürlichen “ macht. Dabei geht es nicht mehr um den Ursprung der Sprache im glottogonischen Sinn, sondern um das Entstehen der Sprache im Sinne einer ständigen Sprachschöpfung. Der Ursprung der Sprache wird nun nicht mehr „ als etwas in einen gewissen Zeitpunkt zu Setzendes “ angesehen, sondern als ständige Neuschöpfung „ in dem Sinne, wie die Sprache immer noch entsteht, sowie die Schöpfung der Welt sich jeden Augenblick erneuert “ (ibid. 396). In diesem Sinne sei die Sprache, genauer die Sprachfähigkeit, dem Menschen angeboren, da der Mensch durch seine „ Freitätigkeit “ Sprache ständig schafft. Auch bei den Kindern wiederhole sich die „ Erfindung “ der Sprache durch das Menschengeschlecht, denn auch das Erlernen einer bereits gegebenen Sprache setze die Fähigkeit voraus, die Sprache als Sprache zu verstehen, d. h. als „ Möglichkeit, Vorstellungen durch artikulierte Laute zu bezeichnen und diese selbst zu wählen “ . 120 (Wie bei Herder muss man auch hier zwischen der „ Spracherfindung “ , d. h. der Entstehung der Sprachidee, der Erfassung der Sprachlichkeit bei jedem Einzelnen, und dem ständigen Entstehen der Sprache im Sprechen, der Verwirklichung der Sprache in der Sprachschöpfung, unterscheiden; cf. supra Kap. 3.4.) Das Tier hingegen sei nicht sprachfähig, weil es nur über ein passives Gedächtnis verfüge und nicht „ freitätig “ sein könne. Auch die ganz kleinen Kinder seien in dieser Hinsicht zunächst wie die Tiere, weil bei ihnen bis zu einem gewissen Alter das Prinzip der 119 A. W. Schlegel 1989 [1798 − 99], 7. 120 ibid.; cf. A. W. Schlegel 1989 [1801 ‒ 1802], 395. 179 <?page no="194"?> „ Selbsttätigkeit “ (vgl. die „ Besonnenheit “ bei Herder) noch nicht zur Geltung komme. Schließlich wird in den Berliner Vorlesungen die „ umbildende Darstellung “ auch für die sog. Naturlaute in Anspruch genommen. Auch die Ausdrücke von spontanen Empfindungen seien nicht bloße Äußerungen der Sinnlichkeit wie bei den Tieren. Die Empfindungen selbst haben eine grundlegende Funktion für den Menschen, weil sie die Erfassung der Sukzessivität, des Aufeinanderfolgens und damit der Kategorie „ Zeit “ ermöglichen. 7.3.3 Die Berliner Privatvorlesungen über Encyklopädie Die Identität von „ Ursprung der Sprache “ und „ ständiger Sprachschöpfung “ wird in den Berliner Privatvorlesungen wieder aufgenommen und vertieft - im Rahmen einer viel breiteren Auffassung einer universellen Dynamik des Seins. „ Alles scheinbare Seyn “ sei „ dem Wesen nach eine fortgesetzte Wirksamkeit, ein Thun “ . „ In allem Bestehen erblicken wir nur das Resultat ins Gleichgewicht gesetzter Kräfte “ . 121 Auch die Sprache dürfe nicht statisch, sie müsse vielmehr dynamisch aufgefasst werden. Man sei nur allzu gern bereit, die Sprache als eine schon gegebene „ Sache “ anzusehen. Dies gelte insbesondere für die Grammatiker, die die „ besondere Sprache “ auf diese Weise verstehen. (Es gilt festzuhalten, dass A. W. Schlegel hier deutlich zwischen langage und langue, zwischen Sprache im Allgemeinen und Einzelsprache unterscheidet.) Die Grammatiker möchten den Sprachgebrauch aufzeichnen und meinen, damit hätten sie ihn ein für allemal fixiert. Allein der Sprachwandel zeige schon die Widersinnigkeit einer solchen Auffassung. Hier wird zum ersten Mal in der Geschichte der Sprachphilosophie die These vertreten, der Sprachwandel sei Anzeichen und Folge der ständigen Sprachschöpfung im Sprechen: Menschen von mechanischem Geiste sind geneigt, die Sprache als eine bloße Sache, wie z. B. irgendeine andre Geräthschaft zu betrachten. So ist den gewöhnlichen Grammatikern die besondere Sprache von der sie handeln, ein Quantum von Wörtern, bestimmt durch ein Quantum von Biegungen dieser Wörter und von Möglichkeiten sie zusammenzufügen; sie sehen nichts als Gedächtnißwerk darin, und der Sprachgebrauch ist ihr oberstes Princip. Wäre er dieß aber wirklich, so könnte sich eine Sprache niemals verändern, jede Veränderung stößt einen bisherigen Sprachgebrauch um, und wäre also ein Sprachschnitzer. Diese Grammatiker müssen also behaupten, der Sprachgebrauch werde nur dadurch, daß sie ihn aufzeichnen, fixirt und zum Prinzip erhoben; da aber schon andere Grammatiker vor ihnen dasselbe mit einem nun abgekommnen Sprachgebrauche gethan haben, so müssen sie sich dasselbe gewärtig seyn. Es liegt überhaupt in dieser Betrachtung des Sprachgebrauches als höchsten Prinzips etwas widersinniges und sich selbst aufhebendes. . . (ibid., 285 f.) Der Sprachgebrauch müsse jedoch als „ fortgesetztes Handeln des menschlichen Geistes “ angesehen werden; es gebe in dieser Hinsicht überhaupt keinen Unterschied zwischen dem Sprachgebrauch und der ersten Hervorbringung der Sprache: 121 A. W. Schlegel 2006 [1803], 12. 180 <?page no="195"?> Die Sprache ist zwar Werkzeug des menschlichen Geistes, aber wie es sich für diesen geziemt, kein todtes und mechanisches, sondern ein organisches, worin folglich eine Einheit und allgemeine Wechselbeziehung Statt findet. In einem sehr wichtigen Sinne nennt man daher diejenigen Sprachen, welche noch immer fortfahren, sich zu entwickeln, zu bilden, mit den Nationen selbst zu verändern, lebende Sprachen. Der Gebrauch der Sprache ist wie ihre erste Hervorbringung ein immer fortgesetztes Handeln des menschlichen Geistes. . . (ibid., 286) Etwas später zieht A. W. Schlegel dann eine Verbindungslinie zum Problem des Ursprungs der Sprache: Dies führt also nothwendig auf das in unseren Zeiten so berühmt gewordne und in so vielen Schriften behandelte Problem vom Ursprunge der Sprache. Des Brosses, Rousseau, Monboddo, Herder pp. Allerdings kann man unter diesem Titel die ganze philosophische Grammatik begreifen, wenn man das Wort Ursprung nicht bloß auf die ersten Anfänge bezieht, sondern die Fortbildung der Sprache bis zu den künstlichsten Werken der Wissenschaft und Poesie, als fortgehende Hervorbringung, Sprachschöpfung, begreift, wie sie es denn wirklich ist. (ibid., 287) Es springt ins Auge, dass A. W. Schlegel hier (im Jahre 1803) der Humboldtschen Auffassung der Sprache als enérgeia sehr nahe kommt. Man kann sogar sagen, dass er sich bereits - viel eindeutiger als etwa Herder - im Umkreis einer solchen Auffassung bewegt. Es fehlen ihm nur die eindeutigen Termini, enérgeia - érgon (Tätigkeit - Werk), und es fehlt ihm Humboldts aristotelische Grundlage, und damit die eindeutige Unterscheidung von schöpferischem und nicht-schöpferischem Handeln. Was das erste betrifft, so stellt er jedoch die Sprache als „ immer fortgesetztes Handeln des menschlichen Geistes “ und die Sprache „ als bloße Sache “ einander gegenüber. Und was das zweite betrifft, so fasst er das „ fortgesetzte Handeln des menschlichen Geistes “ offensichtlich und ausdrücklich als ein schöpferisches Handeln auf, als ein Handeln, das Sprache hervorbringt, nicht als ein Handeln, das Sprache bloß „ kreativ “ gebraucht und schon Gegebenes neu zusammenfügt. Es geht ihm um sprachliche Kreativität im eigentlichen Sinn, nicht in dem entarteten Sinn, wie man sie heute üblicherweise versteht. 122 Auch der in den Briefe[n] über Poesie, Silbenmaß und Sprache vorausgesetzte und im Sinne von Rousseau auf das Bedürfnis nach Geselligkeit zurückgeführte Sprachtrieb wird nun in den Berliner Privatvorlesungen in Anlehnung an Fichte und Bernhardi (cf. supra 7.2.2) näher bestimmt. Wie Fichte - und, was den Ansatz betrifft, ihm fast wörtlich folgend - bemerkt Schlegel, dass das Problem der Entstehung der Sprache als Problem von deren rationaler Notwendigkeit gestellt werden muss (cf. supra Kap. 5.3): Es kommt nicht darauf an, zu zeigen, daß etwas sich hier oder da habe zutragen können, sondern daß es allzeit nothwendig so habe erfolgen müssen. Nur das letzte in Bezug auf die Sprache dargethan, verdient den Namen einer philosophischen Sprachlehre, aus welcher dann entscheidende Resultate für die Grammatik be- 122 [In eine früheren Phase des Generativismus war in diesem Zusammenhang von „ regelgeleiteter “ vs. „ regelüberschreitender Kreativität “ die Rede.] 181 <?page no="196"?> sonderer Sprachen und für den grammatischen Theil der Poetik und Rhetorik entlehnt werden können. 123 Er räumt ein, dass er in seinen veröffentlichten Untersuchungen zur Sprache sich „ von der psychologischen Ansicht “ nicht habe losmachen und „ zu den Prinzipien durchdringen können “ , obwohl er „ die symbolische Natur der Sprache “ wohl gefühlt und manches „ richtig bemerkte “ (ibid.). Jetzt möchte er von einem Satz von Bernhardi ausgehen, dem zufolge die Sprache „ Allegorie des Menschen und seiner Natur “ sei, „ eine sinnliche Construktion seines Wesens, und den Gesetzen desselben ebenso gut wie jede andre Aeußerung unterworfen “ (ibid.). In Wirklichkeit greift er aber eigentlich auf Fichte zurück (wenn auch vielleicht auf dem Weg über Bernhardi) und nimmt als Grundlage des Sprachtriebs und der „ unmittelbaren Verständlichkeit “ der Sprache die gegenseitige Anerkennung der Vernünftigkeit (und damit der Menschlichkeit) an: Aus diesem höheren Gesichtspunkte kommt es nun bey dem Problem vom Ursprunge der Sprache zuvörderst darauf an, ihre Nothwendigkeit zu zeigen; und diese wird dargetan aus der Forderung der Vernunft, Gemeinschaft zwischen vernünftigen Wesen zu stiften. Die gegenseitige Anerkennung der Vernünftigkeit ist also das erste, worin sich die Menschen verstehen, und dieß ist sehr begreiflich, da die Natur hier für sie spricht indem sie das innere Wesen durch die Gestalt symbolisch ausgedrückt hat. Es ist also kein Errathen, Vermuthen, Erschließen sondern ein unmittelbares Anschauen der gleichen Vernünftigkeit. Mittheilung, Sprache, soll also seyn. (ibid., 290) A. W. Schlegel unterscheidet hier auf eine sehr scharfsinnige Weise - und möglicherweise zum ersten Mal in der Geschichte der Sprachphilosophie - zwei gänzlich verschiedene Arten der „ Verständlichkeit “ sprachlicher Zeichen. Man kann ein Zeichen als Zeichen verstehen und man kann es in seinem objektiven Bezug verstehen, d. h. man kann verstehen, dass die Buchstabenfolge <Haus> oder die Lautfolge / haus/ als Zeichen für das Objekt „ Haus “ gelten soll. In der Tat werden Zeichen als Zeichen auch dann verstanden, wenn sie im zweiten Sinne nicht verstanden werden, wenn einem z. B. Wörter einer unbekannten Fremdsprache nicht verständlich sind, man jedoch sehr wohl versteht, dass sie etwas „ bedeuten “ (vgl. Heidegger, Sein und Zeit, § 34). Umgekehrt können Tiere, die Zeichen grundsätzlich nicht als Zeichen verstehen, gewisse Zeichen dennoch im zweiten Sinne gewissermaßen „ verstehen “ , nämlich als Anzeichen, als Teile faktischer Zusammenhänge, die auf andere Teile von faktischen Zusammenhängen hinweisen. Ein „ gut gezogener “ Hund setzt sich, wenn er den Befehl „ Platz! “ hört; das heißt nicht, dass er die Bedeutung „ Platz “ losgelöst von dieser spezifischen Situation verstünde. Daher sind auch die frühbehavioristischen Erklärungen der Zeichenrelation (z. B. diejenige, die Bloomfield in Language, Kap. 9 gibt), nicht nur unzulänglich, sondern völlig unangemessen: Sie betreffen nicht das Verstehen im ersten Sinne, sondern nur das Verstehen im zweiten Sinne, d. h. nur das Verstehen von Zeichen als Anzeichen, zu dem auch Tiere fähig sind, nicht jedoch 123 A. W. Schlegel 2006 [1803], 289. 182 <?page no="197"?> das Verstehen der Zeichen als Zeichen und damit der Sprache als Sprache. Schlegel hingegen unterscheidet die beiden Fragen. Im Anschluss an das oben angeführte Zitat schreibt er: „ Die zweite Frage betrifft die Mittel der Bezeichnung. . . “ . Die erste Art des Verstehens, das Verstehen der Zeichenhaftigkeit, der nicht an und für sich geltenden Faktizität des Zeichens, führt er auf das Wesen des Menschen, auf die „ gegenseitige Anerkennung der Vernünftigkeit “ (cf. supra) zurück. Somit bezieht er die Nachahmungstheorie und die Naturlauttheorie, die er auch in diesem Vorlesungszyklus mit einander vereinbaren möchte, nur auf die zweite Art des Verstehens, auf das Verstehen der Zeichen in ihrem objektiven Bezug. Damit wird auch klar - auch wenn er es nicht ausdrücklich sagt - was A. W. Schlegel meint, wenn er sagt, dass Tiere keine Sprache haben, wo sie doch sehr wohl materielle Zeichen nachahmen können und über „ Naturlaute “ verfügen. Auch das Thema der ursprünglichen Identität von Sprache und Dichtung wird in den Berliner Privatvorlesungen nicht vergessen, aber es wird hier nur gestreift. Zunächst spricht Schlegel von Ähnlichkeitsbeziehungen unterschiedlicher Art, von der Ähnlichkeit der Zeichen mit den von ihnen bezeichneten Fakten, von der Ähnlichkeit der Bewegung der Sprachwerkzeuge mit bezeichneten Bewegungsvorgängen im weitesten Sinn, von der synästhetischen Gleichsetzung von Tönen mit Farben, von der metaphorischen Bezeichnung geistiger Phänomene durch sinnlich fassbare, und dies alles bei ausdrücklichem Hinweis auf das Schellingsche Identitätsprinzip: Die Andeutung des Geistigen durch körperliche Bilder ist eine Universalmetapher welche durch die ganze Sprache hindurchgeht. In dieser Gleichsetzung der sinnlichen und intellectuellen Welt, liegt eine instinktmäßige gleichsam ahndende Anerkennung der im Idealismus deutlich entwickelnden Wahrheit, daß sie unzertrennlich eins, und die eine nur ein Reflex der andern ist. (ibid., 291 f.) Im Anschluss daran schreibt er: Diese ebenso allgemeine Figur der Personification, welche sich in den Geschlechtern die den Substantiven nach gewissen Analogieen beygelegt werden, in dem Gebrauch der persönlichen Fürwörter und der Handlungswörter (verba) von ihnen kund giebt, begründet nebst jener Metapher, welche das Sinnliche für das Geistige setzt schon in der Ursprache die Poesie, und ist Hauptquelle der Mythologie, welche als eine natürliche unbewußte Poesie betrachtet werden muß. Ohne beydes wäre auf einer höheren Stufe der Ausbildung gar keine Rückkehr zur Poesie möglich. Die Kunstpoesie ist eine höhere Potenz von der bey der ersten Sprachbildung wirksamen Anlage des menschlichen Geistes. (ibid., 292) Die Hauptmotive, die ursprüngliche Identität von Sprache und Dichtung, die Dichtung als Rückkehr zum Ursprung der Sprache und die universelle Anlage des Menschen zur Kunst bleiben also auch in den Berliner Privatvorlesungen erhalten. Aber nicht rein zufällig wird von der Dichtung hier nur wenig und gewissermaßen nur am Rande gesprochen. Der Einfluss von Bernhardi macht sich in dieser Zeit besonders geltend. 124 Sprache wird als unmittelbarer Ausfluss der Vernunft 124 Vgl. Jesinghaus 1913, 45. 183 <?page no="198"?> aufgefasst, die Redeteile als Korrelate der Begriffe und der Satz als Korrelat des Urteils angesehen. Die Zeichenrelation erklärt er folgendermaßen: Das Geschäft des menschlichen Geistes dabey ist ein immer wiederhohltes Setzen der Identität, eine fortgehende Anwendung des allem Bewußtseyn zum Grunde liegenden Princips A=A. Zuerst wird dem Gegenstande als dem objectiven, der Begriff als das Subjective gleichgesetzt; dann wieder dem letzten das Zeichen, wo denn der Begriff als das Objective und das Zeichen als das Subjective erscheint. 125 Ja Schlegel spricht sogar von der Sprache als Logik, wenn auch mit einer besonderen Akzentsetzung: Die Sprache ist gleichsam eine materiell gewordene Logik, dieß letzte Wort nicht bloß in dem gewöhnlichen engeren Sinne von Syllogismus, sondern von der Gesetzmäßigkeit der geistigen Kraft überhaupt verstanden. (ibid., 286) Auch die ursprüngliche Identität von Sprache und Dichtung muss im Kontext dieser Vorlesungen offenbar anders interpretiert werden. Es geht hier nicht mehr wirklich um eine Zurückführung der Sprache auf die Dichtung. Sprache und Dichtung verhalten sich vielmehr zu ihrer ursprünglichen Phase (in der die Dichtung nur als unbewusste Tätigkeit erscheint) wie zwei Phänomene zu einem dritten, gewissermaßen einem tertium comparationis. Nach dieser ursprünglichen, einheitlichen Phase trennen sich Sprache und Dichtung, ohne dass dabei die weitere Entwicklung der Sprache als Verfall angesehen werden müsste. Hier geht es im Keim um eine Betrachtung der Sprache um ihrer selbst willen. Leider endet August Wilhelm Schlegels Sprachphilosophie an dem Punkt, an dem er bereit ist, die Autonomie der Sprache anzuerkennen. Man hat sich zu fragen, warum er plötzlich auf die Weiterführung der Sprachphilosophie verzichtet, die er als junger Mann vertreten hat. Eine Antwort kann hier nicht gegeben werden. 7.4 Gesamtwürdigung und Ausblick Der plötzliche Verzicht A. W. Schlegels auf die Fortführung seiner Sprachphilosophie bedeutet keineswegs, dass das bis dahin Geleistete unwichtig wäre. Ganz im Gegenteil. Zum Schluss sollen seine wichtigsten und originellsten Beiträge nochmals übersichtlich zusammengefasst werden: 1) Die Begründung der traditionellen Sprachtypologie; 2) Ansätze zu einer morphophonologischen Sprachtypologie (die eng mit Punkt 3 zusammenhängen); 3) Seine Versuche - auf verschiedenen Ebenen - die Identität des Geistigen und des Materiellen in der Sprache festzustellen; 4) Der Übergang von der bloßen Spekulation zur historischen Forschung im Bereich der Sprache; 125 A. W. Schlegel 2006 [1803], 291. 184 <?page no="199"?> 5) Die Begründung der Notwendigkeit der Einzelsprachlichkeit von „ Sprache “ , d. h. der Tatsache, dass „ Sprache “ immer nur in Form von verschiedenen Sprachen in Erscheinung treten kann; 6) Die Idee eines universellen Lautsystems (das Schlegel allerdings aus der Lautsymbolik ableiten möchte); 7) Die Interpretation des Ursprungs der Sprache als ständige Sprachschöpfung (wie vorher bereits bei Vico und Herder, jedoch bei Schlegel in viel deutlicherer und entschiedenerer Formulierung); 8) Die dynamische Auffassung von „ Sprache “ (auch der Einzelsprachen), fast schon im Sinne Humboldts; 9) Die Idee, dass der Sprachwandel Anzeichen und Folge der ständigen Sprachschöpfung ist; 10) Die Unterscheidung zweier Arten des Verstehens, dem Verstehen einer Sprache als Sprache und das Verstehen dessen, was mit ihrer Hilfe mitgeteilt wird. Nach der Dissertation von Jesinghaus, in der noch nicht alle inzwischen edierten Texte berücksichtigt werden konnten, ist keine monographische Darstellung der Sprachphilosophie A. W. Schlegels mehr erschienen. Es wurden nur Einzelaspekte in kürzeren Arbeiten behandelt. Das hiermit abgeschlossene Kapitel soll die Voraussetzung für eine künftige umfassende kritische Darstellung der Sprachphilosophie August Wilhelm Schlegels liefern. 7.5 Literaturhinweise Walter Jesinghaus: August Wilhelm von Schlegels Meinungen über die Ursprache. Mit einem Abdruck aus Schlegels Manuscript zu den Berliner Privatvorlesungen über eine Encyklopädie der Wissenschaften. Diss. Düsseldorf: C Jesinghaus 1913. Es handelt sich um eine ausgezeichnete Dissertation; der Autor ist später als Nietzscheforscher hervorgetreten. Jesinghaus hat alle wichtigen Quellen identifiziert und Schlegels Ausführungen im zeitgenössischen philosophischen Kontext interpretiert. August Wilhelm Schlegel: Sprache und Poetik. Kritische Schriften und Briefe Bd. I. Hrsg. von Edgar Lohner. Stuttgart: Kohlhammer 1962. Diese Anthologie enthält einiges, aber keineswegs alles zu A. W. Schlegels Sprachphilosophie. [Seit Abschluss der letzten Vorlesung im Jahr 1986 hat sich an der bibliographischen Situation in Bezug auf August Wilhelm Schlegels Sprachphilosophie nichts Grundlegendes geändert. Es gibt eine große Anzahl von Studien, die A. W. Schlegel zusammen mit einigen Zeitgenossen behandeln. Die Gesamtdarstellung von Ruth Schirmer (1986) ist keine „ monographische Darstellung von Schlegels Sprachphilosophie. In der in den Literurhinweisen zum 2. Kapitel aufgeführten Darstellung von Jochen A. Bär (1999) wird er ebenso wie sein Bruder häufig erwähnt; das Gleiche gilt für den bereits mehrfach erwähnten 185 <?page no="200"?> Artikel von Helmut Gipper im HSK-Handbuch Sprachphilosophie. Die neuere Literatur zum Literaturhistoriker und Übersetzer A. W. Schlegel ist sehr viel reichhaltiger.] 186 <?page no="201"?> 8 Friedrich Schleiermacher (1768 ‒ 1834) Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher wurde am 21. November 1768 in Breslau, dem heutigen Wroc ł aw geboren. Sein Vater war Militärgeistlicher in Schlesien, seine Mutter stammte ebenfalls aus einer Familie protestantischer Theologen. Wie seine Eltern gehörte er nicht der lutherischen, sondern der reformierten Kirche an. Früh schon sah er in der Spaltung des Protestantismus einen Nachteil und bemühte sich (letztlich erfolgreich) um eine Union der beiden Kirchen in Preußen. Nach dem Besuch von Schulen erst in Breslau, dann in Oberschlesien besuchte er das Pädagogikum der Herrenhuter Brüdergemeinde zunächst in Niesky bei Görlitz und später in Barby bei Halle. Von 1787 bis 1789 studierte er Theologie in Halle und besuchte nebenher auch Vorlesungen zur Philosophie und zur Altphilologie bei Friedrich August Wolf, dem Autor der Prolegomena ad Homerum. Seine profunde Kenntnis des Griechischen befähigte ihn zu einer Übersetzung der Dialoge Platons (1804 - 1824), die heute noch auf dem Buchmarkt erhältlich ist. Wilhelm Dilthey, sein erster und wichtigster Biograph, sah in dieser Übersetzung „ die Uebertragung der neuen Methode der ästhetischen Auslegung und Kritik auf die strenge Philologie “ . 126 Nach Abschluss seines Studiums hatte er verschiedene Stellungen in den östlichen Gebieten des damaligen Preußens inne. Von 1796 bis 1802 war Schleiermacher Prediger an der Charité in Berlin. Dort lernte er, im Salon von Henriette Herz, einige bedeutende Persönlichkeiten der deutschen Geistesgeschichte kennen: die Brüder Humboldt, Ludwig Tieck, Jean Paul, August Wilhelm Schlegel und vor allem Friedrich Schlegel, mit dem er eine Zeitlang die Wohnung teilte. Seine Vertrauten Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde (1800) sind ein Zeugnis dieser Freundschaft. Er steuerte auch einige Beiträge zu der von den Brüdern Schlegel herausgegebenen Zeitschrift Athenäum [cf. Kap. 6] bei. Im Jahre 1804 wurde Schleiermacher zunächst als außerordentlicher, später als ordentlicher Professor für Theologie nach Halle berufen. Nach der kriegsbedingten Schließung der Universität zog er nach Berlin, wo er zunächst Privatvorlesungen abhielt. Ähnlich wie Wilhelm von Humboldt, der ihn 1810 als Mitarbeiter ins Kultusministerium holte, stellte er Überlegungen zur Reform der deutschen Universität an (Gedanken über Universitäten im deutschen Sinn, 1808). Unter der Ägide des Freiherrn von Stein und Wilhelm von Humboldts setzte er sich für die Gründung der Friedrich-Wilhelms-Universität, der Vorläuferin der heutigen Humboldt-Universität ein und lehrte dort - trotz einiger Differenzen mit der preußischen Regierung vor allem in kirchenpolitischen Fragen - bis zu seinem Lebensende als ordentlicher Professor für Theologie. Schleiermacher starb am 12. Februar 1834 in Berlin. Zu seinen Lebzeiten standen Schleiermachers Arbeiten zur Theologie im Zentrum des allgemeinen Interesses, vor allem sein erstes Buch mit dem Titel Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799; weitere 126 Allgemeine Deutsche Biographie, Berlin 1890; Neudruck Berlin 1970, Bd. 31, 429. 187 <?page no="202"?> Fassungen 1806, 1821 und 1831). Viele seiner Arbeiten wurden erst nach und nach aus dem Nachlass publiziert. Die kritische Gesamtausgabe [cf. infra] ist noch nicht abgeschlossen. Für seine Bemühungen um eine Erneuerung der klassischen Hermeneutik begann man sich erst im 20. Jahrhundert ernsthaft zu interessieren. Sein Beitrag zur Sprachphilosophie soll hier - möglicherweise zum ersten Mal - in größerem Zusammenhang gewürdigt werden. Seine sprachphilosophische Tätigkeit erstreckt sich von den ersten Aphorismen zur Hermeneutik bis zu seinen letzten Vorlesungen, so dass sie sich zeitlich größtenteils mit derjenigen Humboldts überschneidet und teilweise noch über die Hegels hinausgeht, der 1831 starb. Schleiermachers Sprachtheorie ist zu seinen Lebzeiten der allgemeinen Öffentlichkeit weitgehend unbekannt geblieben, da sie vor allem in Werken enthalten ist, die erst postum, aufgrund von Vorlesungsnachschriften und Aufzeichnungen aus seinem Nachlass, veröffentlicht wurden. Die Tätigkeit Schleiermachers begann etwas früher als die Hegels, dessen Phänomenologie und Wissenschaft des Geistes erst 1807 bzw. 1812 − 16 erschienen. Die früheren Arbeiten Hegels waren zu dieser Zeit noch weithin unbekannt. Der Beginn von Schleiermachers sprachphilosophischer Aktivität ist viel früher anzusetzen als bei Humboldt, der seine Sprachphilosophie vor allem in der Zeit von 1820 − 1835 entwickelte. Zumindest was die Betonung der Verschiedenheit der Sprachen betrifft, ist es sogar möglich, dass Humboldt von Schleiermacher beeinflusst wurde, und zwar durch den Teil seiner Sprachtheorie, der im Druck erschienen und somit allgemein zugänglich war. Andererseits hängt Schleiermachers Theorie historisch mit der früheren Sprachphilosophie, etwa derjenigen der Brüder Schlegel zusammen. Auf diese Zusammenhänge wird in der Folge zurückzukommen sein. 8.1 Versuch einer allgemeinen Charakterisierung der Sprachphilosophie Schleiermachers Bei Schleiermacher liegt der Schwerpunkt auf der Bedeutung der Sprachphilosophie für den normalen Umgang mit der Sprache. Sprachphilosophie wird bei ihm vor allem als angewandte Philosophie verstanden, die die Tätigkeiten betrifft, welche sich auf die Sprache beziehen oder Sprache notwendigerweise gebrauchen. Für Schleiermacher sind dies im Grunde drei Tätigkeiten: die Interpretation, die Übersetzung und die Wissenschaft. Gerade aufgrund seiner Philosophie des Sprachgebrauchs ist Schleiermacher auch heute noch aktuell. Bei Schleiermacher begegnen uns eine neue Thematik und zugleich eine neue Gedankenwelt in der Sprachwissenschaft der deutschen Bewegung. Das von Herder bis August Wilhelm Schlegel geltende aufklärerische Schema rückt bei Schleiermacher in den Hintergrund oder verschwindet gänzlich. Schleiermacher hat wenig Interesse für das Problem des Ursprungs der Sprache. Er beschäftigt sich vielmehr mit dem wesentlichen Unterschied zwischen der menschlichen Sprache und der sogenannten Tiersprache. Die Entwicklung der menschlichen Sprache aus den Ausdrucksfähigkeiten der Tiere ist für Schleiermacher kein relevantes Problem. Er stellt die Frage nach Identität und Differenz zwischen beiden - wie in vielen anderen Bereichen auch. Wir werden noch sehen, dass die Frage nach 188 <?page no="203"?> Identität und Differenz die Grundlage der Methode Schleiermachers darstellt. Auch die ursprüngliche Identität von Sprache und Dichtung interessiert Schleiermacher nicht. Sein Interesse ist rein deskriptiv und beschränkt sich auch hier auf die Identität bzw. Differenz von Sprache und Dichtung. Die Kreativität, mit der er sich beschäftigt, ist die historisch bedingte und historisch wirkende. Diese erfolgt für ihn im Rahmen der Dialektik von Einzelsprache und Rede. Seine Sprachphilosophie könnte, wie schon angedeutet, als eine Philosophie des Sprachgebrauchs charakterisiert werden. Das Wesen der Sprache soll einfach durch die Analyse der Spracherfahrung und in der Spracherfahrung selbst, im Sprachgebrauch festgestellt werden. Dafür benötigt Schleiermacher eine neue Methode, die er selbst entwickelt. Er lehnt Hypothesen und Thesen als Ausgangspunkt ab und geht rein hermeneutisch vor. Er ist auch in der Sprachphilosophie stets ein Hermeneutiker, ja fast ein Philologe, der Texte interpretiert. Dabei sind seine ‚ Texte ‘ nicht nur solche im engeren Sinne, sondern Lebenserscheinungen und Tätigkeiten des Menschen ganz allgemein. Bei jedem Schritt der Analyse und Auslegung sind einerseits Fragestellungen möglich, die auf Irrwege führen könnten, andererseits werden mit einigen Fragestellungen wirkliche Probleme identifiziert, die dann weiter diskutiert werden. Als Gegebenheit und zugleich als Resultat der Analyse gilt dabei an erster Stelle die Mannigfaltigkeit des Sprachlichen, des Gegebenen und daraus folgend auch die Mannigfaltigkeit der entsprechenden Problematiken. Oft schließt Schleiermacher dann den hermeneutischen Kreis, indem er vom identifizierten Wesentlichen wieder zu den konkreten Erscheinungen kommt, die er dann in ihrer Mannigfaltigkeit rechtfertigt. Die Grundlage seiner Methode ist stets die Festlegung von Identität und Differenz und zugleich von Einheit, Allgemeinheit und Pluralität, Mannigfaltigkeit und Individualität. Die Unterscheidung von Identität und Differenz entspricht dabei in etwa der Theorie der Abgrenzung (des horismos, der Definition) bei Aristoteles. Die Identität entspräche in etwa dem genus proximum in der traditionellen aristotelischen Definitionstheorie, die Differenz wäre mit der differentia specifica gleichzusetzen, als das, was innerhalb eines Identischen etwas als ein anderes vom übrigen abhebt. Die Identität ist also das Gemeinsame, die Differenz das jeweils Unterschiedliche. Allerdings wird nicht einfach etwas als zum Teil identisch und dann differenziert betrachtet, sondern vielmehr ist die Differenz immer schon vorhanden, und das, was wir als Undifferenziertheit ansehen, ist im Grunde ein Minimum an Differenz. Daher können wir für hermeneutische Zwecke in der Interpretation die Differenz, die als solche auffällt, von der Beinahe-Undifferenziertheit unterscheiden. So sieht Schleiermacher einerseits eine Einheit von Sprache und Denken, andererseits die Differenz von Sprache und Denken. Er geht von einer identischen Grundlage für menschliche Sprache und Tiersprache aus und betrachtet dann die Differenz zwischen menschlicher Sprache und Tiersprache. Was die Einheit/ Allgemeinheit und Mannigfaltigkeit der Sprache selbst betrifft, betrachtet er die Mannigfaltigkeit in verschiedenen Phasen: Zunächst die Sprache im Allgemeinen als die gegebene Allgemeinheit und dann die Formen des 189 <?page no="204"?> Sprachgebrauchs als die Pluralität, die Mannigfaltigkeit. Dann wiederum einerseits die Einheit der Sprache als eine allgemein menschliche Erscheinung und andererseits die Pluralität der Einzelsprachen. Die Einzelsprachen stellen jedoch jeweils wieder die Allgemeinheit dar im Verhältnis zu den verschiedenen historischen Sprachzuständen als Mannigfaltigkeit. Ein historischer Sprachzustand kann als Einheit angesehen werden, zu dem die Individualsprachen als Mannigfaltigkeit gehören. Schließlich ist auch die Individualsprache die Allgemeinheit gegenüber den Möglichkeiten der Rede im Rahmen desselben Sprachkreises als Mannigfaltigem. Wir sehen also, wie sich jeweils das Einheitliche unter einem anderen Blickwinkel auch als Mannigfaltiges, als Pluralität erweist. Einheit Mannigfaltigkeit Sprache als allgemein menschliche Erscheinung Einzelsprachen Einzelsprache Historische Sprachzustände Historischer Sprachzustand Individualsprachen Individualsprache Möglichkeiten der Rede (parole) Das Bewusstsein dieses langen Weges über Einheit und Mannigfaltigkeit bis zur endgültigen Determination durch einen besonderen Text in einer besonderen Rede bildet den Rahmen der Hermeneutik, der Interpretation von Texten. So viel allgemein zum Sinn der Sprachphilosophie Schleiermachers, die wir später noch näher betrachten werden. 8.1.1 Schleiermachers neue Thematik Trotz unübersehbarer Anleihen bei einigen Vorgängern eröffnet sich mit Schleiermachers Sprachtheorie eine völlig neue Thematik, ja eine völlig andere Gedankenwelt. Neu ist das Interesse für das sogenannte ‚ Leben ‘ der Sprache, für die Sprache in ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit, das Interesse für die sprachliche Erfahrung, für die verschiedenen Formen des Umgangs mit der Sprache. Schleiermacher spricht dabei zwar auch von Entwicklungsstufen der Sprachen, das in der Aufklärung diskutierte Problem der Entwicklung der menschlichen Sprache aus niedrigeren Formen des tierischen Ausdrucks stellt sich für ihn jedoch nicht. Ihn interessiert viel mehr die Frage nach dem Unterschied zwischen der menschlichen Sprache und der sogenannten Tiersprache. Ebenso betrachtet er das Verhältnis von Sprache und Dichtung weniger nach dem aufklärerischen Schema, demzufolge die Trennung irgendwo in der Vergangenheit, idealiter in der Entwicklung der Sprache anzusiedeln wäre. Für Schleiermacher ist dies wiederum ein Problem der Analyse der Identität und Differenz. Sein Interesse gilt vor allem der Frage, welcher Sprachform die Sprache 190 <?page no="205"?> der Dichtung entspricht. Die dichterische Sprache stellt damit nur eine der Formen dar, unter denen die Sprache auftritt. Die verschiedenen Sprachformen, einschließlich der dichterischen Sprache, sind für ihn im Übrigen nur theoretisch identifizierbar und nur idealiter, also begrifflich zu charakterisieren. Denn − und das ist das Wichtige für Schleiermachers Problemstellung hier und im Allgemeinen − in konkreter Hinsicht, in der Sprache als unmittelbarer Erscheinung, gehen diese Formen alle ineinander über und sind nicht voneinander trennbar. Die dichterische Sprache ist in dieser Hinsicht nur die Sprache, in der die dichterische Komponente überwiegt; entsprechendes gilt auch für die anderen Formen der Sprache als konkreter Erscheinung. Diese Überlegungen nehmen Roman Jakobsons Konzept der „ poetischen Sprache “ vorweg. Die schon erwähnte sprachliche Kreativität, die ihn interessiert, entspricht in ähnlicher Weise nicht der ursprünglichen, der glottogonischen, der absoluten, sondern der ständigen Kreativität, die zwischen einer besonderen individuellen Sprache und den Möglichkeiten der Rede, d. h. in der Dialektik zwischen Instrument und Zweck im konkreten Redeakt angesiedelt ist. Das Wesen der Sprache möchte er durch die Analyse der sprachlichen Erfahrung, des Sprachgebrauchs und durch den Sprachgebrauch selbst feststellen. Es ist daher zu bedauern, dass der Großteil seiner Ausführungen erst viele Jahre später außerhalb des unmittelbaren Kreises seiner Schüler bekannt wurde, denn die gesamte Sprachphilosophie Schleiermachers ist eine Philosophie des Sprachgebrauchs ante litteram. Sie hätte nicht nur die Sprachphilosophie, sondern auch die Sprachwissenschaft beeinflussen und insbesondere der Sprachwissenschaft neue Möglichkeiten der Untersuchung eröffnen können, zu denen diese Disziplin oft erst in unserer Zeit und auf völlig anderen Wegen gelangt ist. Wir sind erst in letzter Zeit zu einer Philosophie des Sprachgebrauchs gelangt, die in Ansätzen schon bei Schleiermacher enthalten ist. Seine Methode werden wir dann bei der Behandlung der einzelnen Probleme noch näher betrachten. 8.1.2 Schleiermacher im Vergleich zu seinen Zeitgenossen - Friedrich und August Wilhelm Schlegel Wie bereits erwähnt, soll Schleiermacher hier weitgehend unabhängig von seinem Kontext und den in den vorangegangen Teilen dieser Vorlesung behandelten Autoren betrachtet werden. Dennoch soll präzisiert werden, warum auf eine Bezugnahme zu Friedrich und August Wilhelm Schlegel verzichtet wird: einerseits, weil dieser Aspekt gerade in der Dissertation von Reinhold Rieger Interpretation und Wissen [cf. infra Bibliographische Hinweise] behandelt wurde, andererseits, weil sich das Denken Schleiermachers von demjenigen der Brüder Schlegel radikal abhebt. Nach der hier vertretenen Auffassung kommt Schleiermacher nach Friedrich und August Wilhelm Schlegel. Tatsächlich sind die drei jedoch Zeitgenossen, August Wilhelm lebte sogar noch elf Jahre länger als Schleiermacher. Trotzdem wirkt das Denken der Schlegels, vor allem dasjenige 191 <?page no="206"?> Friedrichs, gegenüber dem Denken Schleiermachers geradezu archaisch. Die verschiedenen Auffassungen trennen Welten voneinander. - Condillac und die französische Aufklärung Es wurde bereits betont, dass sich Schleiermacher gegen die aufklärerischen Schemata wendet, etwa gegen die Fragestellung nach der ursprünglichen Identität von Sprache und Dichtung. Was ist damit gemeint? Im Allgemeinen gilt insbesondere für die französische Aufklärung, etwa für Condillac, ein evolutionistisch verstandenes Schema. Aus einfachen Tätigkeiten bzw. Fähigkeiten entwickeln sich determinierte Tätigkeiten, wobei eine Art von Tätigkeit zu einer autonomen Tätigkeit wird. Man hat sich das ungefähr folgendermaßen vorzustellen: Zunächst gibt es die Handlungssprache, d. h. die Bewegung als Ausdruck, von der sich dann als autonome Zweige die Mimik und der Tanz trennen. Es verselbständigen sich also gewisse Formen des Ausdrucks durch Handlung, durch Bewegung. Was von der gesamten nicht differenzierten Handlungssprache übrig bleibt, ist nur das Vokale, die gesungene Sprache als neue Einheit. Von dieser nicht differenzierten Einheit trennen sich wiederum durch Differenzierung das Singen und die Musik allgemein. Nach der Abspaltung von Singen und Musik bleibt dann noch die dichterische Sprache, die als Sprache der Dichtung nicht weiter differenziert ist. Von der dichterischen Sprache trennt sich dann die Dichtung und wird autonom. Zurück bleibt die prosaische, die rationale praktische Sprache [vgl. Bd. I, Kap. 18.2]. In zweierlei Hinsicht wird dieses Schema von Schleiermacher und von den bedeutenden Vertretern der deutschen Romantik abgelehnt: Erstens: Was die Evolution der Sprache, das Glottogonische, also das zeitlich Ursprüngliche und die zeitliche Entwicklung betrifft: Schleiermachers Analyse entspricht einer phänomenologischen Analyse, sie geht nicht von einer Entwicklung in der Zeit aus. Die Komplexität ist nach Schleiermacher schon von Anfang an vorhanden, sie ist das ursprünglich Gegebene. Deshalb stellt sich für Schleiermacher das Problem des Sprachursprungs nicht. Die Entstehung der Sprache vollzieht sich für ihn in jedem Augenblick, und er betrachtet die dichterische Sprache nicht als eine ursprüngliche Form der Sprache. Zweitens: Statt von einer ursprünglichen Identität und Nicht-Differenziertheit und einer späteren Differenzierung und Abzweigung dieser oder jener Tätigkeit geht Schleiermacher von der Identität und Differenzierung von Anfang an aus. Dabei ist die Identität das jeweils Gemeinsame, innerhalb dessen die Differenzierung erfolgt. Die Identität stellt die Grundlage, den jeweiligen Hintergrund für die Betrachtung der jeweiligen Differenz dar. Nach dieser Auffassung galt also die Sprache nicht irgendwann einmal als nicht differenzierte Ausdrucksform zusammen mit anderen Formen, sondern sie ist immer schon und bis heute eine Ausdrucksform, und als solche entspricht sie einer Identität. Zugleich weist sie eine bestimmte Differenz auf, für Schleiermacher gegenüber dem Lachen und Weinen, und dies wiederum innerhalb der menschlichen Ausdrucksformen. 192 <?page no="207"?> 8.1.3 Die allgemeine Fragestellung der Sprachphilosophie Schleiermachers 8.1.3.1 Die Psychologie als wichtigster Text Wir kommen nun zur allgemeinen Fragestellung in der Sprachphilosophie Schleiermachers. Für den wichtigsten Text zu diesem Thema halte ich einen Abschnitt aus Schleiermachers Psychologie (cf. infra 8.5.3.9, Bibliographische Hinweise). Von diesem Text aus kann man sowohl die früheren als auch die späteren Beiträge Schleiermachers zur sprachphilosophischen Thematik am besten betrachten und erörtern. Das gilt auch für die Hermeneutik, die in allen Schleiermacher-Interpretationen hervorgehoben wird. Auch sie muss im Rahmen der allgemeinen Sprachphilosophie, die in der Psychologie entworfen wird, verstanden werden. Ich werde deshalb von diesem Text als Grundlage für die Darstellung der Sprachphilosophie Schleiermachers ausgehen. Der Text geht von der Frage nach dem Verhältnis der Sprache zum Denken aus und bezieht sich daher sinnvollerweise erst im letzten Abschnitt auf das für Schleiermachers Sprachauffassung zentrale Thema der Verschiedenheit der Sprachen. 8.1.3.2 Schleiermachers Grundpositionen Damit kein schiefes Bild dieser Auffassung entsteht, soll zunächst eine allgemeine Charakterisierung der Position Schleiermachers vorgelegt werden. Was diese Auffassung an erster Stelle und quasi bei jeder Fragestellung charakterisiert, ist einerseits der Gegensatz von Identität/ Gemeinsamkeit und Differenz, andererseits der Gegensatz und eventuell die entsprechende Dialektik von Identität ≈ Einheit vs. Allgemeinheit und Pluralität ≈ Mannigfaltigkeit vs. Individualität. So werden in Bezug auf den Gegensatz von Identität und Differenz etwa die menschliche Sprache und die Tiersprache oder die Sprache und das Denken betrachtet, wobei das Denken sehr umfassend gesehen wird, so dass es auch das sog. poetische Denken einschließt. In Bezug auf das zweite Gegensatzpaar von Einheit und Mannigfaltigkeit ist die Einheit der Sprache im allgemeinen gegenüber der Pluralität der Formen des Sprachgebrauchs zu sehen (in der Dialektik erscheinen diese Formen als Arten der Gesprächsführung), oder auch die Einheit der Sprache als Einheit des Denkens gegenüber den Einzelsprachen usw., bis hin zur individuellen Sprache gegenüber den verschiedenen Möglichkeiten der Rede auch bei einem Individuum mit seinem besonderen Sprachbesitz. Die Unterscheidung von Sprache und Rede im Sinne etwa der Differenzierung von langue und parole bei Ferdinand de Saussure wird von Schleiermacher nicht ausdrücklich formuliert, sie wird jedoch schon durch die unterschiedlichen Bezeichnungen für Sprache und Rede angenommen. Auch die Charakterisierungen, die Schleiermacher von diesen beiden allgemeinen Formen der Sprache gibt, entsprechen den erst im 20. Jahrhundert nach Ferdinand de Saussure üblich gewordenen Bestimmungen. Ich werde insbesondere beim sprachphilosophischen Text aus der Psychologie der Argumentation Schleiermachers folgen, um zu zeigen, wie er vorgeht. Bei den anderen Texten soll dagegen unmittelbar eine Interpretation oder eine knappe 193 <?page no="208"?> Darstellung des Wesentlichen geliefert werden. Um ein Verständnis des Textes, der uns zunächst interessiert, zu ermöglichen, müssen zunächst einige Begriffe und Unterscheidungen Schleiermachers geklärt werden. 8.1.3.3 Subjektives und objektives Bewusstsein Die Grundlage der Interpretation der Sprache bildet bei Schleiermacher die Unterscheidung von subjektivem und objektivem Bewusstsein. Das subjektive ist das empfindende Bewusstsein, das Bewusstsein, das seine eigenen Veränderungen registriert und eventuell auch als angenehm oder unangenehm bewertet, jedoch kein Objekt als das andere, sich selbst gegenüberstehende wahrnimmt. Das objektive Bewusstsein hingegen ist das betrachtende Bewusstsein, das in sich selbst sozusagen Objekte vor sich hat, die es als das andere wahrnimmt. Das subjektive Bewusstsein bedeutet also die Konzentration des Subjekts auf sich selbst und auf die Veränderungen der eigenen Zustände. Das objektive Bewusstsein ist dagegen dasjenige, dem wenigstens ein Objekt gegenübersteht, das nicht nur als Veränderung seiner eigenen Zustände anzusehen ist, sondern als das „ andere “ ; etwa als Vorstellung, als inneres Bild, das schon objektive Eigenschaften aufweist, wobei gleichgültig ist, ob dieses Objekt als angenehm oder nicht angenehm bewertet wird. Damit sollen allerdings nicht zwei getrennte Arten von Bewusstsein unterschieden werden, sondern zwei Modi, zwei Momente oder Dimensionen des einen Bewusstseins. 8.1.3.4 Rezeptivität und Selbsttätigkeit Die Unterscheidung subjektiv vs. objektiv ist bei Schleiermachers Interpretation der Sprache und in seinem gesamten Werk einerseits an die Unterscheidung zwischen Rezeptivität und Selbsttätigkeit, andererseits an die methodische Annahme in Bezug auf die Differenziertheit und Undifferenziertheit gekoppelt. Die Unterscheidung von Rezeptivität und Selbsttätigkeit stellt im Grunde einen Gegensatz dar, der nicht mit demjenigen von Subjektivität und Objektivität zusammenfällt, sondern vielmehr parallel zu diesem verläuft. Hier geht es nämlich um die Tätigkeiten des Subjekts, also um die Frage, ob sich das Subjekt gegenüber Gegenständen passiv verhält, ob es die Gegenstände einfach in sich aufnimmt oder ob sich das Subjekt aktiv verhält, einerseits als subjektives Bewusstsein, indem es etwa Empfindungen ausdrückt, andererseits als objektives Bewusstsein, indem es mit den Gegenständen operiert und neue Gegenstände schafft. Die beiden Begriffspaare subjektiv vs. objektiv und rezeptiv vs. selbsttätig bilden die Grundlage für die Interpretation der Sprache gemeinsam mit den beiden schon erläuterten hermeneutischen Paaren, die fast zusammenfallen: Identität und Differenz und daneben Identität als Einheit und Mannigfaltigkeit. Allerdings taucht bei Schleiermacher immer wieder der wichtige Hinweis darauf auf, dass das Differenzierte, Nichtidentische nicht notwendigerweise aus dem Undifferenzierten entsteht. Das Differenzierte sei immer schon vorhanden, das Undifferenzierte sei nur in rationaler oder hermeneutischer Sicht das Ursprünglichere, das Einfachere. Dies ist also der Hintergrund für die Interpretation der Sprache im sprachphilosophischen Teil von Schleiermachers Psychologie, den wir näher betrachten 194 <?page no="209"?> werden, da hier der Kern seiner Sprachphilosophie enthalten ist und seine Hermeneutik begründet wird. Dieser Text ist wenig bekannt und wird selten zitiert, obwohl gerade hier die Grundlagen von Schleiermachers Sprachphilosophie und die Bestimmung der Sprache zu finden sind. 8.1.3.5 Die These von der Identität von Sprache und Denken Die Bestimmung der Sprache erfolgt auf der Basis einer wesentlichen These, die auch die gesamte Interpretation begleitet: die These von der Untrennbarkeit, der Identität von Sprache und Denken. Obwohl Identität hier im Sinne Schleiermachers als eine Identität zu verstehen ist, die Differenz nicht ausschließt, so geht die Untrennbarkeit hier, wie wir noch sehen werden, doch weiter als in anderen Fällen. Denn Schleiermacher ist vor allem darum bemüht zu zeigen, warum trotz einiger Differenzen Sprache und Denken doch dasselbe sind. Es handelt sich hier also um eine Identifizierung von auf den ersten Blick verschiedenen Phänomenen, wobei diese für Schleiermacher in beide Richtungen gilt: von der Sprache her zum Denken und vom Denken her zur Sprache. Es gebe keine Sprache ohne Denken, keine Sprache, die kein Denken wäre, so wie kein Denken existiere, das nicht zugleich sprachlich wäre. Eine Unterscheidung zwischen einem sprachlichen und einem reinen Denken trifft Schleiermacher nicht. Zugegebenermaßen ist eine derartige Unterscheidung tatsächlich unmöglich, wenn man jeden Ausdruck des Denkens in Wörtern und Sätzen Sprache nennt, wobei diese Sprache dann nicht mehr einer Einzelsprache entspricht. Sie wäre in diesem Fall vielmehr die Sprache der Wissenschaft, eine rein terminologische Sprache, die nur noch ein ahistorisches Bezugssystem darstellt. Schleiermacher nennt tatsächlich alles, was in Form von Wörtern und Sätzen ausgedrückt wird, Sprache, also auch die Sprache der Wissenschaft, die er neben der Dichtung, sogar als eine der beiden höchsten Formen des Sprachlichen ansieht. Dichterische Sprache und Wissenschaftssprache stünden wiederum der alltäglichen Sprache des praktischen Lebens gegenüber. Bleiben wir aber vorerst bei der Identifizierung von Sprache und Denken, der zufolge es kein reines „ sprachfreies “ Denken gibt. Das Denken tendiere nur dazu, sich von der Einzelsprache zu befreien, es existiere sozusagen nur ein Sein-Wollen des Denkens. Mit anderen Worten und etwas vereinfacht gesagt: Eigentlich denke man deutsch, englisch, französisch usw., man wolle dabei jedoch zugleich das eigene Denken als ein universelles auffassen und sich von der Einzelsprache befreien. Was man denkt, soll für jede Sprache, d. h. für jedes Denken in jeder Sprache, gelten. 8.1.3.6 Vorsprachliches und nachsprachliches Denken Um meine eigene Interpretation und Kritik der These Schleiermachers verständlich zu machen, möchte ich schon hier darauf hinweisen, dass ich selbst eine andere Auffassung des Verhältnisses von Sprache und Denken vertrete, die eher der implizit bei Aristoteles angelegten und explizit vor allem der bei Hegel vertretenen Auffassung entspricht: Die Sprache als solche ist sicherlich eine Form des Denkens. Das Denken ist jedoch nicht vollkommen auf die Sprache reduzierbar, denn es gibt auch ein vorsprachliches und ein nachsprachliches Denken. Das 195 <?page no="210"?> vorsprachliche Denken ist gleichzeitig nichtsprachlich, das nachsprachliche Denken wird zwar durch Sprache ausgedrückt und ist somit auch sprachlich, es ist aber außereinzelsprachlich. Obwohl das nachsprachliche Denken notwendigerweise von einer Einzelsprache ausgeht, diese de facto als Ausdrucksmaterial gebraucht und die tatsächlich gebrauchte Einzelsprache Ursache für Irrtümer im Denken sein kann, ist das nachsprachliche Denken doch tendenziell unabhängig von den Einzelsprachen. Es schafft sich eine universelle Fachsprache, die durch eine Einzelsprache vertreten wird, allerdings als Gesamtheit von objektiven Bezeichnungen der Dinge selbst und nicht als Gesamtheit von Bedeutungen einer bestimmten Einzelsprache. Während also Schleiermacher davon ausgeht, dass der Mensch dazu tendiert, sich von der Einzelsprache zu befreien und die Begriffe der jeweiligen Einzelsprache zu Universalbegriffen zu machen, die den Dingen selbst entsprechen, interpretiere ich das Verhältnis folgendermaßen: Es gibt ein vorsprachliches Denken, ein Denken, das in Vorstellungen von Situationen und von sich selbst in bestimmten Situationen in Erscheinung tritt. Es ist ein Denken, das überhaupt nicht zur Sprache kommt und nicht sprachlich formuliert zu werden braucht. So kann man sich vorstellen, wie man in einer bestimmten praktischen Situation reagieren würde und dann auch tatsächlich reagiert, ohne dies sprachlich ausdrücken zu müssen. Die Sprache kann natürlich dann den praktischen Umgang mit Gegenständen beeinflussen und ihn auch erleichtern. Sie ermöglicht es darüber hinaus, Handlungen auf andere zu übertragen, d. h. von anderen etwas zu verlangen, was man selbst gerade nicht tut. 8.1.3.7 Einzelsprache und Universalsprache bzw. Fachsprache Daneben gibt es das sprachliche Denken, das immer einer bestimmten Einzelsprache entspricht, da die Sprache ausschließlich als Einzelsprache gegeben ist. Man verfügt nie unmittelbar über eine Universalsprache, sondern immer nur über eine historisch gewordene Sprache. Das Denken geht nun nicht nur tendenziell, sondern tatsächlich über die Einzelsprache hinaus, hängt aber sozusagen an einem Ende von der jeweiligen Einzelsprache ab, da diese dem Denken die ersten notwendigen Unterscheidungen, ja die Gegenstände selbst bietet, über die dann gedacht werden kann. Diese Gegenstände können die Wissenschaft des Allgemeinen betreffen, wie z. B. das Wort Baum, oder die Geschichte, wie etwa die Eigenamen Peter oder Berlin, die mathematischen Wissenschaften, wie die z. B. die Zahlwörter eins, zwei, drei, oder auch die Philosophie, wie etwa das Wort Tugend. Die Einzelsprache erlaubt es dann zu fragen: „ Was ist ein Baum? “ ; „ Wer ist Peter? “ ; „ Welche Stadt ist Berlin? “ ; „ Was ist zwei? “ ; „ Was ist Tugend? “ Beantwortet man diese Fragen ausführlich, betreibt man die Wissenschaft des Allgemeinen bzw. man verfolgt die Geschichte des jeweiligen Gegenstandes, man beschäftigt sich mit Zahlentheorie oder man betreibt Philosophie, in unserem Fall Moralphilosophie oder Ethik. Zur Veranschaulichung will ich ein Beispiel aus John Deweys Logik übernehmen, das zumindest die Wissenschaft des Allgemeinen, die Geschichte und die Philosophie betrifft: 196 <?page no="211"?> Die allgemeinwissenschaftliche Frage könnte etwa lauten: „ Was ist ein Schiff? “ Die ‚ Schiffologie ‘ würde sich ausführlich mit der Beantwortung dieser Frage beschäftigen, deren Ergebnis das Sein des Schiffes wäre. „ Welches ist dieses Schiff? “ wäre dagegen die Frage nach der Identität eines Individuums. Sie könnte durch die Geschichte beantwortet werden und würde uns zur historischen Identität des Gegenstandes führen. „ Was ist Schiffsein? “ oder, wie Dewey sagt, „ Was ist die Schiffheit? “ Schließlich wäre die philosophische Frage die Frage nach dem Sinn des Seins, in diesem Fall des Schiffseins. Sie hätte das Ergebnis der Wissenschaft von Schiffen, nämlich das Schiffsein, zum Gegenstand und würde die Frage nach dessen Sinn stellen [cf. Dewey 2008 [2002; 1938]: 412 ff. und Bd. 1, Kap. 1]. Die Wissenschaft in all ihren Formen bleibt aber gerade nicht bei den in der Sprache gegebenen Abgrenzungen stehen, sondern sie gelangt notwendigerweise zu den Dingen selbst. Sie geht zwar von den einzelsprachlichen Abgrenzungen aus, stellt diese dann aber in Frage und macht gegebenenfalls andere bzw. genauere Abgrenzungen. Die Wissenschaft stellt z. B. fest, dass ein Walfisch kein Fisch ist, und zieht deshalb eine andere Grenze als die Sprache. Solche neuen oder anderen Abgrenzungen werden auf irgendeine Weise benannt, und es wird eine Sprache geschaffen, die nicht mehr Einzelsprache sondern Fachsprache ist. Dabei werden zwar weitgehend die schon zur Verfügung stehenden Zeichen der Einzelsprache verwendet, die Fachsprache der Wissenschaft ist jedoch eine objektive Sprache, die in ihren Abgrenzungen den Dingen selbst entspricht. Das Denken ist in dieser Hinsicht zwar sprachlich, aber es ist gerade nicht einzel-, sondern universalsprachlich. Es macht auch die Einzelsprache zu einer Universalsprache, zu einer Sprache also, die den in den Gegenständen und Sachverhalten selbst vorgenommenen Abgrenzungen entsprechen will. Betrachten wir, für uns naheliegend, ein Beispiel aus der Sprachwissenschaft: Es gibt ein sprachliches Denken auch über die Sprache selbst, und dieses Denken unterscheidet etwa im Französischen langue, parole, langage, mot, propos, discours usw., also eine Anzahl von Benennungen, die Unterscheidungen innerhalb der Einzelsprache darstellen. Nun macht ein Wissenschaftler aus langue und parole Fachtermini der Sprachwissenschaft. Diese beziehen sich auf die Sachverhalte selbst und sind dabei immer noch französische Wörter, allerdings nicht mehr inhaltlich. Wenn wir nun wissen wollen, was mit langue und parole in der Sprachwissenschaft gemeint ist, fragen wir nicht mehr, was diese Wörter im Französischen bedeuten, wo sie auch mit mot, propos, discours etc. zusammenhängen. Vielmehr ist nur von Interesse, was Ferdinand de Saussure langue bzw. parole nennt und wie man denselben Sachverhalt am besten mit deutschen Wörtern bezeichnen kann. Man gelangt dann zum Wort Einzelsprache für langue und zu Rede für parole, wobei natürlich nicht die gehaltene Rede, sondern das Reden als Realisierung einer Einzelsprache gemeint ist. Es wird also eine Fachterminologie geschaffen, in der nicht etwa deutsche oder französische Wörter benutzt werden, sondern für die Universalität beansprucht wird. Es werden die Formen der jeweiligen Sprache verwendet, denen jedoch ein von der Wissenschaft festgelegter Inhalt zugeordnet wird, der die Dinge selbst betrifft und nicht mehr das, was die Wörter im Französischen oder im Deutschen bedeuten. Die Wissenschaft kann, 197 <?page no="212"?> obwohl sie sich mit ihrer Fachsprache von der Einzelsprache befreit hat, doch an gewissen Punkten in der Einzelsprache verankert bleiben. Ich will dazu wiederum ein Beispiel ans der Sprachwissenschaft geben: Wenn Hermann Paul sagt, die Sprachwissenschaft sei Sprachgeschichte, so denkt er im Grunde nicht nur fachsprachlich sondern zugleich spezifisch deutsch. Er meint nämlich mit Geschichte nicht etwa die Historie, die histoire de la langue, wie zum Teil übersetzt wurde, sondern das, was mit der Sprache in jedem Augenblick geschieht. Er interpretiert Geschichte als Geschehen und zugleich als die Wissenschaft des Geschehens. Liest man die Prinzipien der Sprachgeschichte, so findet man auf jeder Seite auch das Funktionieren der Sprache beschrieben, was andere eindeutig zur Sprachbeschreibung rechnen würden. Für Paul aber gehört all dies zur Geschichte, da es sich auf das bezieht, was mit der Sprache geschieht. Die Wissenschaft kann zwar zum Teil in der Einzelsprache verhaftet bleiben, sie strebt aber eine Universalsprache des Denkens unabhängig von der Einzelsprache an. Alle Begriffe, die vorgeschlagen werden, werden immer als Bezeichnungen der Dinge selbst vorgeschlagen. Dies gilt nicht nur für die Sprachwissenschaft und die Naturwissenschaft, sondern auch für die Philosophie. Die Ontologie beschäftigt sich nicht etwa mit dem Verb sein in einer Einzelsprache, sondern mit dem Sein an sich. Natürlich ist das Denken immer auch geschichtlich, es erfolgt in geschichtlichen Situationen. Es ist jedoch nicht sprachgeschichtlich sondern menschheits- und kulturgeschichtlich. Höchstens in seinem Anfangspunkt kann das Denken als sprachgeschichtlich betrachtet werden, da es von in der Sprache schon gegebenen Abgrenzungen ausgeht. 8.1.3.8 Kontinuität von Einzelsprache und Fachsprache bei Schleiermacher Kehren wir nun zu Schleiermacher zurück. Er geht nicht von einem vorsprachlichen Denken als solchem aus, wobei er Denken grundsätzlich anders definiert als ich. Er versteht unter Denken nur das Denken mit Worten und Sätzen, nur das reflexive Denken über die Dinge und nicht mit der Vorstellung der Dinge selbst. Schleiermacher schreibt in seiner Psychologie das vorsprachliche Denken daher den Sinnestätigkeiten zu. Der Unterschied zwischen meiner Auffassung und derjenigen Schleiermachers besteht also nicht in diesem Punkt, sondern vielmehr darin, dass Schleiermacher eine Kontinuität zwischen Einzelsprache und Fachsprache annimmt. Auch die Sprache des Wissens ist für ihn einfach Deutsch, Französisch, Englisch usw., und sie operiert nach seiner Auffassung nur mit den Inhalten der Einzelsprachen. Die Einzelsprachen selbst neigen seiner Auffassung nach zur Universalität, sie sind tendenziell universell. Dabei ist ihm die Universalität nur ein Normbegriff, sie entspricht einem nicht erreichbaren Status, da zugleich Differenziertheit immer wieder historisch entsteht. Dieses Fehlen einer Trennung zwischen Einzelsprache und Fach-/ Universalsprache und damit das Fehlen einer Trennung von einzelsprachlichem Denken bzw. der Sprache als Denken und dem nachsprachlichen Denken ist der Punkt, den wir bei Schleiermacher an erster Stelle diskutieren wollen. 198 <?page no="213"?> Kommen wir nun aber zurück zu Schleiermachers eigener Interpretation. Es stellt sich die Frage, wie es möglich ist, mit dem Elementarinstrumentarium hermeneutischer Kategorien - wie dem von Identität vs. Differenz und von Allgemeinheit vs. Mannigfaltigkeit − eine so differenzierte Analyse vorzunehmen und so hochkomplizierte Fakten zu interpretieren wie im Falle der Sprache. Es ist dadurch möglich, dass Schleiermachers Instrumentarium der Identität und Differenz ein rein formales ist und dass die Kompliziertheit durch den entsprechenden Stoff gegeben ist, also durch die Frage, welches jeweils die Identität, welches die Differenz ist und was innerhalb des Differenzierten, nach einer neuen Bestimmung Identität und Differenz ausmachen. Ich hatte gesagt, dass die Frage der Sprache für Schleiermacher zugleich eine Frage des Denkens darstellt, da er der Auffassung ist, beide gehörten so weitgehend zusammen, dass sie als identisch betrachtet werden könnten. Das lässt vermuten, es bleibe auch bei Schleiermacher in dieser Hinsicht ein Zweifel bestehen, denn er nimmt in diesem Fall nicht eine tatsächlich gegebene Identität, sondern nur eine sehr enge Zusammengehörigkeit an, die die Identifizierung beider Tätigkeiten nahelegt. Wenn er gleich darauf die Schwierigkeit der Untersuchung betont und dies teilweise auf die Tatsache zurückführt, dass die unmittelbare Gewissheit der Menschen beim Gebrauch des geistigen Organons viel dazu beigetragen habe, dessen Untersuchung zu vernachlässigen, ist nicht ohne weiteres zu entscheiden, ob sich Schleiermacher mit Organon auf die Sprache, auf das Denken oder auf beides bezieht. Immerhin wird das Problem „ Sprache und Denken “ hier zum ersten Mal thematisiert. 8.2 Sprache und Denken in der Psychologie Schleiermachers Untersuchung zu Sprache und Denken in der Psychologie folgt unmittelbar auf die Behandlung der Sinnestätigkeiten, wo Schleiermacher von den unmittelbaren Empfindungen bis zur Konstruktion allgemeiner sinnlicher Bilder bzw. Schemata gelangt. Bei der Behandlung der Sinnestätigkeiten bleibt die Frage der Sprache zunächst ausgeklammert, obwohl die Sprache nicht erst nach Vollendung der Sinnesoperationen, sondern schon früher eintritt und diese Operationen beeinflusst. Schleiermacher weist selbst ausdrücklich darauf hin. Auch die Konstruktion allgemeiner Bilder ist schon weitgehend sprachlich, von der Sprache beeinflusst, wird jedoch immer noch an erster Stelle als Sinnesoperation bestimmt. Die Untersuchung der Problematik von Sprache und Denken erfolgt bei Schleiermacher dadurch, dass er vier Fragen diskutiert. Diese Fragen werden zu Beginn der Untersuchung aufgeführt und erläutert. Die beiden ersten Fragen werden in Analogie zur Problematik der Sinnestätigkeiten gestellt, die beiden letzteren betreffen das Eigentümliche der Problematik Sprache/ Denken. Auch ich werde die vier Fragen zunächst als solche nennen, da ich gerade in diesem Fall dem Gedankengang Schleiermachers folgen möchte, um zu sehen, wie er eine lebendige Hermeneutik schafft und seine eigene Hermeneutik zumindest intuitiv schon anwendet. Auch im weiteren Verlauf der Argumentation werde ich Schleiermacher folgen. 199 <?page no="214"?> 8.2.1 Die vier Grundfragen Schleiermachers Kommen wir nun zu den Fragen selbst. Zunächst soll die genaue Formulierung Schleiermachers wiedergeben werden und danach folgen einige Erläuterungen. 8.2.1.1 Die Frage nach dem Anfangspunkt von Sprache und Denken Es geht hier, wie immer bei Schleiermacher, um eine grundlegende Identität. Sprache und Denken seien idealiter einerseits als Einheit anzusehen, andererseits schon in ihrer Differenziertheit wahrzunehmen. Schleiermachers Formulierung lautet: Die erste Aufgabe wird immer die sein, daß wir fragen, was ist denn eigentlich anzusehen als der erste Anfangspunkt und als der ursprüngliche Impuls, aus welchem diese Thätigkeiten, die wir gleich in ihren beiden Seiten als wesentlich zusammengehörig fassen müssen, Denken und Sprechen, sich entwikkeln? (Schleiermacher/ George 1862, 133 f.) Bei der ersten Frage geht es darum, auch für Sprache und Denken eine Daseinsform zu suchen, bei der die beiden Tätigkeiten schon ein Minimum des Gegensatzes zwischen objektivem und subjektivem Bewusstsein aufweisen. Beim vollständig entwickelten Bewusstsein stelle man fest, dass „ ein jeder psychisch erfüllte Lebensmoment zusammengesezt ist aus einem innern des Impetus und einem äußeren der Veranlassung “ (ibid., 134). Der Anfangspunkt sollte jedoch auch bei Sprache und Denken eine in dieser Hinsicht noch unentwickelte Differenz sein. 8.2.1.2 Die Frage der biologisch-intellektuellen Duplizität von Sprache und Denken Für die Sinnestätigkeiten hatte Schleiermacher eine Duplizität von Organisch- Biologischem einerseits und Intellektuellem andererseits angenommen. Im Zusammenhang mit Sprache und Denken schreibt Schleiermacher nun Folgendes: Das zweite ist dieses, giebt es auch hier eine solche Duplicität wie dort [bei den Sinnestätigkeiten], das mehr organische und das mehr intellectuelle, das mehr physische nur aus der Beschaffenheit der Organe zu begreifende und das aus dem eigentlich geistigen zu verstehende? (ibid., 134 f.) Für die zweite Frage nennt Schleiermacher schon mögliche Lösungen, um auf die mit dieser Frage zusammenhängenden Schwierigkeiten hinzuweisen. Da er hermeneutisch vorgeht, muss er auch sich möglicherweise anbietende Lösungen diskutieren, nur um dann zu zeigen, dass diese keineswegs wirkliche Lösungen sind, sondern einen Irrweg darstellen. Schleiermachers zweite Frage könnte durchaus auch in der Annahme einer organisch-intellektuellen Duplizität von Sprache einerseits und Denken andererseits gestellt werden. Die Frage wäre dann wie folgt zu verstehen: Gibt es eine Duplizität von organisch, physisch, nur biologisch bedingt einerseits und intellektuell, geistig bedingt andererseits? Eine mögliche Antwort wäre: Ja, es gibt diese Duplizität. Es ist die von Sprache und Denken selbst. Die Sprache wäre das Biologische, das physisch Bedingte, das Organische; das Denken wäre das Geistige, das Intellektuelle. Die Sprache wäre 200 <?page no="215"?> nach dieser Auffassung nur die biologische Grundlage und der materielle Ausdruck des Denkens. Sprache und Denken wären in diesem Fall die zwei Seiten ein und derselben Erscheinung, das Sprechen wäre eine organische Tätigkeit, das Denken hingegen das Psychische, „ das Bewußtsein selbst in einer bestimmten Gestalt “ (ibid., 135), wie Schleiermacher sagt. Ein derartiges Verständnis der Fragestellung nennt Schleiermacher „ die erste Ansicht aus dem groben “ (ibid.). Es entspricht der alten, rationalistischen Identifikation von Sprache und Denken, bei der nicht die Sprache schon als Denken interpretiert, sondern nur als Ausdruck, als organische Äußerung des Denkens angesehen wurde. Diese Interpretation sieht aber von der Tatsache ab, dass die Sprache selbst auch schon Denken ist, dass sie also an sich schon zugleich organisch und psychisch sein muss. Darin besteht laut Schleiermacher die mit dieser Fragestellung verbundene Schwierigkeit. Es sei nämlich nicht zu leugnen, dass in der Sprache als solcher auch eine Duplizität festzustellen ist: die ganze Mannigfaltigkeit der bloß organischen Elemente, wie sie sich im gesamten System der Sprachelemente manifestiert. Nimmt man die Duplizität von Biologischem und Psychischem für die Sprache als solche an, kann man sich fragen, ob Entsprechendes auch für das Denken gilt. Es ist nach Schleiermacher aber schwierig, sich das Denken, verstanden als Bestimmtheit des objektiven Bewusstseins, als organisch bedingt vorzustellen. Lehne man die Duplizität für das Denken ab, so entstehe die Schwierigkeit, „ in Beziehung auf diese beiden zusammengehörenden Operationen “ , nämlich Sprache und Denken, „ eine solche Verschiedenheit anzunehmen “ (ibid., 135). Schleiermacher sieht also zwei Lösungsansätze für die zweite Frage. Einerseits die rationalistische „ Ansicht aus dem Groben “ , nach der das Organische die Sprache, das Psychisch-Intellektuelle das Denken wäre. Schleiermacher lehnt diese Auffassung ab, da er Sprache und Denken als identisch betrachtet und festgestellt hat, dass auch die Sprache selbst zugleich organisch und psychisch, dass sie als solche schon Denken sei. Andererseits kann man sowohl bei der Sprache als auch beim Denken Organisches und Psychisches annehmen. Allerdings sieht Schleiermacher hier die Schwierigkeit darin, entweder das Denken als organisch bedingt zu betrachten - Schleiermacher wusste natürlich noch nichts von den Erkenntnissen der modernen Neurologie, die eine solche Auffassung rechtfertigen - oder aber in diesem Punkt auf den Parallelismus zwischen Sprache und Denken zu verzichten. Im letzteren Fall erschiene zwar die Sprache als organisch und psychisch, das Denken jedoch ausschließlich als psychisch gegeben. Wir werden noch sehen, wie Schleiermacher die Schwierigkeiten überwindet oder zumindest zu überwinden versucht. 8.2.1.3 Die Frage des Verhältnisses von Sprache und Denken zu den übrigen psychischen Tätigkeiten Schleiermacher formuliert diese dritte Frage folgendermaßen: Es wäre immer noch zweierlei übrig, erstens das Verhältniß der Momente, in denen diese Thätigkeit vorkommt, zu allen übrigen psychischen Thätigkeiten, die das menschliche Leben constituiren, festzustellen. . . (ibid., 135) 201 <?page no="216"?> Bei dieser Frage geht es nach Schleiermacher nicht nur darum, dass Denken und Sprechen alle übrigen psychischen Tätigkeiten begleiten. Davon geht Schleiermacher zweifellos aus, da er diese Annahme sogar auf die Sinnestätigkeiten überträgt. Die Klarheit in Bezug auf den Gegensatz von angenehm und unangenehm und auf die Zustände des Organismus wird nämlich für ihn erst durch die Reflexion darauf, durch das Aufnehmen in das Denken vollendet. Auch das, was das subjektive Bewusstsein feststellt, wie etwa, das Angenehme oder Unangenehme, wird klarer, wenn es von Sprache und Denken begleitet ist. Erst wenn wir z. B. die Empfindung von angenehm oder unangenehm auch aussprechen, haben wir sie in das Denken aufgenommen und damit von einer vagen Empfindung zu einem klaren Begriff gemacht. Ich vermute übrigens, dass in diesem Punkt ein Zusammenhang zwischen Schleiermacher und Aristoteles besteht, ja dass Schleiermacher möglicherweise bewusst auf Aristoteles anspielt. Denn im Passus über die Sprache zu Beginn seiner Hermeneutik schreibt Aristoteles, dass die Stimme als solche nur das Angenehme oder das Unangenehme ausdrücke, die Sprache aber darüber hinausgehe, da sie auch das Richtige oder nicht Richtige ausdrücke (Peri hermeneias, Kap. 1). Die Feststellung, dass Sprache und Denken auch andere Tätigkeiten begleiten, stellt für Schleiermacher aber noch keine Lösung dar, sondern ist vielmehr der Anfangspunkt einer schwierigen Aufgabe. Es geht nämlich darum, die Differenz zwischen dem Denken, das andere Tätigkeiten begleitet, und dem selbständigen Denken als höchster Bestimmtheit des objektiven Bewusstseins zu präzisieren. 8.2.1.4 Die Frage nach der Universalität des Denkens angesichts der Mannigfaltigkeit der Sprachen Schleiermacher fragt sich, wie die angenommene Universalität des Denkens mit der Mannigfaltigkeit der Sprachen zu vereinbaren ist: . . .und zweitens dann das noch größere, die Differenzen in der Thätigkeit selbst, welche nun erst zusammengenommen die Denk- und Sprachthätigkeit des Menschen repräsentiren, d. h. die Mannigfaltigkeit der Sprachen in ihren organischen Differenzen und in Beziehung auf das intellectuelle ebenfalls zu erklären. (ibid., 135 f.) Bei dieser Frage geht es um die Aporie, die durch das Festhalten an der Einheit des Denkens einerseits und der Feststellung der Differenziertheit der Sprachen und damit auch des Denkens andererseits gegeben ist. Die wichtige Ansicht und zugleich Einsicht Schleiermachers ist hier die, dass die Verschiedenheit der Sprachen nicht nur oberflächlich materiell, sondern tief inhaltlich ist. Wären die Sprachen nur materiell verschieden gegenüber der Einheit des Denkens, so würde sich das Problem der Differenziertheit überhaupt nicht stellen. Für ihn unterscheiden sich die Sprachen aber gerade auch als Erscheinungen des Denkens voneinander. Schleiermacher betont mit Entschiedenheit, dass die einzelnen Elemente einer Sprache auch in Bezug auf den logischen Gehalt nie in denen der anderen aufgehen, dass also das Denken, wie es in den einzelnen Sprachen 202 <?page no="217"?> auftritt, nie bei allen Sprachen identisch ist. Diese Tatsache dürfe man bei einer Untersuchung über Sprache und Denken keinesfalls ausklammem. Schleiermacher hebt ferner hervor, dass dieses Problem das schwierigste der ganzen Untersuchung darstelle und dass er keine ausführlich begründete, sondern lediglich eine skizzenhafte Lösung dieser Frage anbieten und eine Grundlage für weitere Untersuchungen legen könne. Er schreibt: Denn um den Gegenstand zu erschöpfen, müßten wir uns eine allgemeine Sprachlehre schaffen in einem Umfange, wie sie jezt noch nicht existirt, und eine vollkommene Kenntniß von allen Sprachen besizen, so daß wir das differente von dem identischen sondern könnten. (ibid., 137) Die vierte Frage ist für Schleiermacher also zugleich die Frage nach den empirischen sprachlichen Universalien. Bei ihm wird dieses Problem zum ersten Mal in seinem wirklichen Sinn und mit voller Klarheit gesehen. Eigentlich wäre dies die Frage par exellence für die Universalgrammatik des 18. Jahrhunderts gewesen, sie wurde dort jedoch kaum als solche gestellt. Die Differenziertheit der Sprachen gegenüber der Universalität des Denkens war nicht von Interesse, da sich die Universalgrammatik damit begnügte, die Differenziertheit der Sprachen als Randerscheinung und nicht als wesentliches Merkmal der Sprache zu betrachten. Es wurde verkannt, dass die Sprache überall differenziert auftritt und nicht nur am Rande eines einheitlichen Kerns, der für alle Erscheinungen gilt. 8.2.2 Schleiermachers Antworten auf die vier Fragen im Überblick 8.2.2.1 Der Anfang von Sprache und Denken Bei der Beantwortung der ersten Frage nennt Schleiermacher das Sich-Manifestieren-Wollen als Individuum als charakteristisches Merkmal des Menschen. Dieses Sich-Manifestieren-Wollen trete in vier Formen in Erscheinung: als Lachen, als Weinen, als Singen und als Sprechen. Warum aber macht Schleiermacher den Zusatz als Individuum? Es sei gerade dieser Aspekt, durch den sich der Mensch vom Tier abhebe, so dass es vom Tier zum Menschen keinen fließenden Übergang, keine Entwicklung gebe. Tiere lachten, weinten und sprächen nicht. Bei gewissen Tieren werde zwar von unserem menschlichen Gesichtspunkt aus von Gesang gesprochen, das Singen stehe aber auch in diesen Fällen nicht dem Sprechen oder anderen Naturlauten gegenüber, die dann kein Gesang wären. Es gebe also bei den Tieren auch kein eigentliches Singen. Die Tiere manifestierten sich nicht als Individuen, sondern als Gattung. Das tierische Leben könne nur zur Abhebung der menschlichen Sprache herangezogen werden, als eine Form, bei der der Gegensatz von subjektivem und objektivem Bewusstsein unentwickelt bleibt. Die menschliche Sprache stehe in direktem Zusammenhang mit dem differenzierten objektiven Bewusstsein, das bei Tieren grundsätzlich ausgeschlossen sei. Was ist dann aber das Gemeinsame von Mensch und Tier, gegenüber dem sich nach Schleiermachers Methode die Differenz erst feststellen lässt? Die Gemeinsamkeit wäre hier das Sich-Manifestieren-Wollen, denn auch Tiere seien gesellig und äußerten ihr Sein durch Laute (von anderen bei Tieren möglichen Zeichen spricht Schleiermacher nicht). Das Gemeinsame zwischen Mensch und Tier wäre 203 <?page no="218"?> also das Sich-Manifestieren-Wollen, die Differenz wäre das Sich-Manifestieren- Wollen als Gattung beim Tier, gegenüber dem Sich-Manifestieren wollen als Individuum beim Menschen. Dabei sei innerhalb dieses Sich-Manifestieren- Wollens als Individuum wiederum das Sprechen als objektives Bewusstsein von den anderen möglichen Formen zu unterscheiden. Die Sprache sei damit zu bestimmen als ein Sich-Manifestieren-Wollen als Individuum und als objektives Bewusstsein gegenüber den anderen Formen des Sich-Manifestieren-Wollens als Individuum, dem Weinen, Lachen und Singen. 8.2.2.2 Die biologisch-intellektuelle Duplizität von Sprache und Denken Die zweite Frage beantwortet Schleiermacher wie folgt: Die Duplizität organischpsychisch in Bezug auf Sprache und Denken bestehe darin, dass diese einerseits allgemeine Bilder, also Produkte der Sinnestätigkeit benennen und zu Begriffen erheben und andererseits diese Begriffe miteinander verbinden. Die Sinnestätigkeit könne nur bis zu einem allgemeinen Bild, zu einem Schema eines Gegenstandes gelangen. Solche Schemata würden dann in der Sprache zu Begriffen gemacht, wobei die Sprache auch Begriffe schaffen könne, denen kein allgemeines Bild zugrundeliegt. So werde etwa analog zur Bildung des Begriffs „ Baum “ , dem ein allgemeines Bild des Baumes zugrundeliegt, auch der Begriff „ Tugend “ geschaffen, der ja nicht mehr auf ein sinnliches Bild hinweist. Die einzelnen Begriffe werden darüber hinaus miteinander verbunden, was wiederum ein rein psychischer Vorgang sei und damit keine Entsprechung im Sinnlichen habe. Dieser Duplizität von Organischem und rein Psychischem entspreche in der Sprache im engeren Sinn der Gegensatz Wort vs. Satz. Dabei sei die Benennung der Begriffe dem Wort, die Verbindung der Begriffe dem Satz gleichzusetzen. Innerhalb der Begriffe selbst bestehe ebenfalls eine Duplizität als Gegensatz zwischen Begriffen, die Bildern entsprechen, und solchen, die nicht auf Bilder zurückgeführt werden könnten. Eine Entwicklung von der Sinnestätigkeit zu Sprache und Denken sei allerdings ausgeschlossen, denn die Sinnestätigkeiten produzierten allgemeine Bilder, nicht aber Begriffe. Die allgemeinen Bilder könnten zwar Begriffe motivieren, allerdings nur als deren äußere Veranlassung. Auf keinen Fall aber könnten Bilder Sätze, also die Verbindung von Begriffen, motivieren. Es muss hier sozusagen eine Mutation nach demselben Muster eintreten von der Tätigkeit, die Begriffe bestimmten Bildern entsprechen lässt, zur Bildung von Begriffen, die mit sinnlichen Bildern überhaupt nichts mehr zu tun haben. Nur die allgemeine Form bleibe analog. So werde etwa das Wort Tugend gebraucht, als ob damit eine Klasse von Dingen bezeichnet würde, es sei genauso ein Substantiv wie z. B. Baum oder Tisch. 8.2.2.3 Das Verhältnis von Sprache und Denken zu den übrigen psychischen Tätigkeiten Bei der Beantwortung der dritten Frage vertritt Schleiermacher die Auffassung, Sprache und Denken begleiteten die Sinnestätigkeiten und die Willensentscheinungen; dabei folgten sie den zuerst genannten, während sie den zuletzt genannten vorausgingen. Die Empfindungen könnten durch ihre Benennung mit einem 204 <?page no="219"?> Begriff klarer gemacht werden. Bei den Willensentscheidungen hingegen stünden an erster Stelle die Sprache, die Planung und das Entwerfen dessen, was zu tun sei, und erst an zweiter Stelle folge das Tun. Daneben erschienen Sprache und Denken, auch ohne andere Formen von Tätigkeiten zu begleiten, als selbständig in ihrer eigenen freien Produktion. Es existierten zwei Grundformen dieser freien Produktion: Die Sprache der Dichtung und die Sprache des Wissens. Die Stellung der Sprache gegenüber anderen Tätigkeiten sei also entweder nachfolgend oder vorangehend oder aber selbständig im Fall der Sprache der Dichtung oder des Wissens. 8.2.2.4 Die Frage nach der Universalität des Denkens angesichts der Mannigfaltigkeit der Sprachen Als Antwort auf die vierte Frage, wie es überhaupt möglich sei, das Denken als einheitlich und universell, die Sprache hingegen als in sich verschieden zu betrachten, wenn man die Identität von Sprache und Denken annimmt, äußert Schleiermacher Folgendes: Die Einheit des Denkens sei nicht ein Faktum, sondern ein Glaubenssatz, ein normatives, finalistisches Prinzip der Tätigkeit des Denkens selbst. Das Denken strebe Einheitlichkeit und Universalität an, was in absoluter Hinsicht, in der Orientierung auf das Ziel auch erfüllt sei. Die absolute, finalistische Bestimmung des Denkens sei aber nur die eine Seite. Auf der anderen Seite stehe die Sprachverschiedenheit, die der Relativität und der Historizität des Denkens entspreche. Absolut und finalistisch betrachtet sei das Denken also einheitlich, konkret und historisch betrachtet sei es relativ und unterschiedlich. Es handelt sich hier um einen Gegensatz zwischen absoluter Betrachtungsweise einerseits und geschichtlicher Betrachtung andererseits. Die ideelle Einheit des Denkens manifestiere sich allerdings auch in der Geschichte: In der Überwindung der Sprachverschiedenheit erstens im individuellen Bereich, bei zweisprachigen Individuen, die dasselbe Denken in verschiedenen Sprachen ausdrücken, zweitens, auf der Ebene der Sprachgemeinschaft, in der sich immer aufs Neue wiederholenden Überwindung der sprachlichen Verschiedenheit bei bestimmten Produkten des Denkens. So würden etwa Begriffe ganz verschiedener sprachlicher Prägung einander angeglichen. Ich will ein Beispiel dazu geben, das allerdings nicht von Schleiermacher stammt: Die ursprünglich sprachlich vollkommen verschiedenen Begriffe gr. τέχνη , lat. ars und dt. Kunst werden angeglichen und bezeichnen schließlich dasselbe, τέχνη ist im Griechischen dasjenige Wissen, das sich in einer Tätigkeit manifestiert als das Machen-Können. Es ist das freie absolute Machen-Können gemeint, das Tätigkeiten betrifft, die unter den Oberbegriff der Kunst fallen. Andere praktische Arten der τέχναι beziehen sich auf bestimmte Gebiete und gelten dort auch. Die τέχνη als freie Tätigkeit hat dagegen kein spezielles Gebiet, sondern sie lässt Wirklichkeit auf allen Gebieten entstehen. Bei den Römern hängt ars mit der Artikuliertheit zusammen, sie ist das gut Gefügte und betrifft damit eher die Notwendigkeit der Gestaltung beim Kunstobjekt. Im Kunstobjekt passen also sozusagen die einzelnen Teile zueinander. Kunst schließlich hat mit Können zu tun. 205 <?page no="220"?> Sie ist nicht etwa das Wissen, sondern die Fähigkeit als solche, die Möglichkeit des Tuns. Eine bestimmte Art dieses Könnens wird dann zum absoluten Können und bezeichnet die Musik, die Architektur, die Malerei, die Bildhauerei oder die Dichtung. Die ursprünglich bzw. rein sprachlich sehr verschiedenen Begriffe werden aneinander angeglichen und gelten dann als Entsprechung voneinander, als Äquivalenz auch in der Übersetzung. Dass sich die Einheit des Denkens auch in der Geschichte manifestiert, bedeute jedoch keineswegs eine tatsächliche allmähliche Überwindung der Sprachverschiedenheit, die eines Tages abgeschlossen sein könnte. Es handle sich vielmehr um eine Annäherung ad infinitum. Die Einheit sei tendenziell, die Differenziertheit historisch und, da die Geschichte nicht endet, ständig gegeben. 8.2.2.5 Schleiermachers Verwechslung von Einzelsprache und Fachsprache Ich möchte schon an dieser Stelle auf den Paralogismus hinweisen, der in diesem Zusammenhang die Grundlage von Schleiermachers Denken ausmacht. Aufgrund der postulierten Einheit von Sprache und Denken gerade auch in den Einzelsprachen erkennt Schleiermacher nicht, dass die Angleichung sprachlich verschiedener Begriffe in der Bezeichnung nur die Sprache des Wissens betrifft. Er sieht nicht, dass es sich um zwei völlig unterschiedliche sprachliche Ebenen handelt: einerseits um eine Einzelsprache, andererseits um eine Fachsprache. So geht es in unserem oben angeführten Beispiel nicht mehr um den griechischen Begriff „τέχνη“ , um die Bedeutung „ ars “ im Lateinischen oder um den deutschen Begriff „ Kunst “ , und es sind nicht diese Begriffe, die dann die allgemeine Verwendung dieser Formen rechtfertigen. Vielmehr handelt es sich hier um eine fachsprachliche Verwendung von τέχνη , von ars und von Kunst. Ars etwa bedeutet nicht mehr das Gutgefügte in Bezug auf die Künste, das ist nur noch die etymologische Bedeutung des Wortes. Die aktuelle Bedeutung in der Fachsprache ist eine andere. Es stehen sich also Einzelsprache und Fachsprache gegenüber, wobei für letztere durchaus Formen aus einer konventionellen Sprache verwendet werden können. Ars z. B. wird nicht mehr als lateinisches Wort und im Zusammenhang mit anderen lateinischen Formen gesehen, sondern einfach als Bezeichnung eines bestimmten Phänomens, so wie wir etwa in der Sprachwissenschaft langue und parole auch im Deutschen oder in einer anderen Sprache verwenden können, da wir diese Formen nicht als französische Begriffe interpretieren, sondern als Bezeichnung in Bezug auf die Gegenstände selbst verstehen. Trotzdem ist Schleiermachers Lösung dieser Frage durch die Unterscheidung von absoluter und geschichtlicher Betrachtung des Denkens nicht uninteressant, zumal diese Auffassung auch heute noch von vielen vertreten wird, die eine ähnliche Identität von Sprache und Denken in Bezug auf die Einzelsprache als solche annehmen. 206 <?page no="221"?> 8.2.3 Der Anfang von Sprache und Denken Nur für die erste Frage werde ich Schleiermachers Gedankengang genau nachzeichnen, einerseits einfach, um ein Beispiel für Schleiermachers Vorgehensweise zu geben, andererseits deshalb, weil im Zusammenhang mit dieser Frage das Wesen der Sprache bestimmt wird. Hier also eine Übersicht darüber, wie Schleiermacher die Behandlung seiner ersten Frage einteilt: 8.2.3.1 Die Gliederung der Frage A - Allgemeine Einführung a) Voraussetzung: kein Denken ohne Sprache. b) Ablehnung der Theorie vom göttlichen Ursprung der Sprache. c) Das tierische Leben als Daseinsform der Undifferenziertheit. B - Betrachtung der Sprache von den tierischen Lauten her a) Ausgangspunkt: die Gemeinsamkeiten zwischen Tier und Mensch. Diese sind: die Ausdrucksfreiheit, denn auch das Tier reagiert nicht notwendigerweise durch Laute; die Bezogenheit auf andere in dem Maße, in dem Tiere gesellig sind. b) Der Unterschied zwischen Tiersprache und menschlicher Sprache: beim Tier keine Bezugnahme auf das objektive Bewusstsein. c) Der Übergang von den tierischen zu den menschlichen Lauten C - Betrachtung der Sprache von den menschlichen Lauten her a) Schon bei den Lauten sind zwei Gegensätze festzustellen: Vokale vs. Konsonanten, Rede vs. Gesang Diese Gegensatzpaare sind auf den Gegensatz Artikuliertheit vs. Nicht-Artikuliertheit reduzierbar. Das Denken hängt notwendigerweise mit der Artikuliertheit zusammen. b) Ursprünglichere Naturlaute des Menschen als die artikulierten: Lachen und Weinen. Charakterisierung von Lachen und Weinen in Bezug auf die Kategorien Rezeptivität und Selbsttätigkeit, sowie auf das subjektive und das objektive Bewusstsein. Worin besteht ihr Gegensatz zur Sprache? c) Menschliche Naturlaute und Gesang: Charakterisierung des Gesangs in Bezug auf die angenommenen Kategorien: Zwar Selbsttätigkeit, allerdings nur im Bereich des subjektiven Bewusstseins. Darin besteht der Gegensatz des Gesangs zur Sprache. d) Möglichkeit einer subjektiven Sprache, die dem Gesang entsprechen würde. D - Identifizierung des Anfangspunktes Das Sich-Manifestieren-Wollen als Individuum, beim Menschen Manifestierung des objektiven Bewusstseins. Die Sprache ist Ausdruck des Selbstbewusstseins, die Stimme als solche und damit auch die tierischen Laute sind Manifestationen des Gattungsbewusstseins ohne Differenzierung zwischen Gattung und Individuum. 207 <?page no="222"?> 8.2.3.2 Zur Genesis der Sprache Wir wollen nun Schleiermachers Behandlung der Sprache im Einzelnen betrachten, um zu sehen, wie die Sprache sozusagen deduziert wird. Die Frage nach dem Anfangspunkt von Sprache und Denken wird folgendermaßen gestellt: Wir fangen nun bei der ersten Frage an, wie ist überhaupt die Genesis dieses Actes des Denkens und Sprechens im einzelnen klar zu machen? Wie kommt der Mensch in der zeitlichen Entwikklung seines Lebens zum Denken und Sprechen, da es offenbar eine Zeit giebt, wo er nicht spricht, wo wir also auch nicht Ursache haben zu glauben, daß er denkt, weil beides unzertrennlich ist? (ibid., 137) Wie bereits mehrfach erwähnt, lehnt Schleiermacher die Auffassung, dass es ein Denken ohne Sprache geben könne, entschieden ab als reine Imagination, die niemand nachweisen könne: Insofern irgendein Bewußtsein Denken ist, ist es auch immer ein innerliches Sprechen, und wo dieses nicht ist, da ist auch nur eine Bewegung von sinnlichen Bildern, die wir gar nicht mit dem Denken verwechseln müssen. (ibid., 138) Zur Rechtfertigung seiner Fragestellung muss Schleiermacher zunächst die Theorie vom göttlichen oder, wie er sich ausdrückt, „ wunderbaren Ursprung “ der Sprache ablehnen, da die Annahme dieser Theorie seine Fragestellung im Voraus ausschließen würde. Geht man vom göttlichen Ursprung der Sprache aus, kann man nicht mehr nach dem Anfangspunkt der Sprache bei jedem Menschen fragen. Schleiermacher lehnt die Vorstellung vom „ wunderbaren Ursprung “ aus zwei Gründen ab: Erstens: Die Hypothese vom göttlichen Ursprung der Sprachen sei im Grunde nur eine Erklärung ex negativo. Es werde einzig und allein festgestellt, dass man die Frage nach dem Ursprung nicht beantworten oder untersuchen könne. Zweitens: Diese Hypothese bedeute, dass die Sprache nicht von selbst in der menschlichen Seele entstehen könne. Genau das geschehe aber immer wieder, bei jedem Kind aufs Neue, woraus folgen würde, „ daß die Seele selbst eine andre geworden sein müßte “ . (ibid., 138) 8.2.3.3 Tierische Laute und menschliche Sprache Das Verhältnis zwischen dem Menschlichen und dem Tierischen ist für Schleiermacher ein geeigneter Ausgangspunkt, das Wesen der Sprache zu bestimmen. Man müsse lediglich das Minimum des Menschlichen ermitteln, das zugleich einen spezifischen Unterschied gegenüber dem Tierischen enthalte. Die Voraussetzungen hierfür seien: Erstens, dass die Sprache gegenüber dem objektiven sinnlichen Bewusstsein, gegenüber den sinnlichen Bildern abgehoben werden soll, zweitens, dass die Sprache „ mit dem Denken, einer bestimmten Modification des Bewußtseins, nothwendig verbunden ist “ . (ibid., 139) 208 <?page no="223"?> Die Frage, ob es Gemeinsamkeiten zwischen menschlicher und tierischer Sprache gebe, bejaht Schleiermacher und nennt dafür die folgenden Belege: Erstens: die Freiheit der Erzeugung, die in der einen oder anderen Form auch für Tiere angenommen werden müsse. Schleiermacher schreibt dazu: Wir mögen aber nehmen welche thierischen Laute wir wollen, so finden wir allerdings dieses Analogon, daß sie uns nicht erscheinen als mechanisches Resultat, sondern als wirkliche Lebensfunctionen, auf irgendeine Weise von innen her bestimmt und mit einem gewissen Grade von Freiheit verbunden. (ibid., 140) Dabei bleibt es aber unbestimmt, inwieweit die tierischen Laute etwas Selbsttätiges und inwieweit sie nur eine Reaktion auf Reize von außen sind. Zweitens: Die Tatsache, dass sowohl die Sprache als auch die tierischen Laute auf andere Individuen bezogen seien: Betrachten wir die menschliche Sprache, so finden wir, wenn sie als Erscheinung vollständig ist, daß sie in jedem einzelnen Moment sich auf andre bezieht, also der Moment ein Wechselverhältniß zwischen mehreren Individuen ist. [. . .] Wenn wir nun fragen, ist in den thierischen Lauten auch eine solche Beziehung zu dem Wechselverhältniß der Individuen, so werden wir das nicht ableugnen können. (ibid., 140) Eine gewisse Freiheit und Gerichtetheit auf andere sei also auch bei den tierischen Lauten festzustellen. Worin liegt dann aber der Unterschied zwischen tierischen Lauten und menschlicher Sprache? Der Unterschied bestehe darin, dass die Sprache mit dem objektiven Bewusstsein zusammenhänge, dass also die Sprache eine neue begriffliche Welt schaffe. Dies sei bei den tierischen Lauten ausgeschlossen, da bei den Tieren der Gegensatz zwischen der subjektiven und der objektiven Seite des Bewusstseins unentwickelt bleibe. Für das Tier gebe es weder eine reine Objektivität noch eine reine Subjektivität. So sei „ für jedes einzelne Thier die ganze Gattung in seinen Lebenscyclus hineingesetzt, ohne daß die Differenz des einzelnen und der Gattung dabei mit entwikkelt würde “ . (ibid. 141) Mit anderen Worten: Es gebe beim Tier nur Reaktionen gegenüber der Umwelt, eventuell auch durch Laute oder Zeichen im Allgemeinen. Schleiermacher spricht nur von den Lauten als Zeichen. In der modernen Forschung wurde aber vor allem das hochentwickelte und komplexe Zeichensystem der Bienen untersucht, die durch eine Art von Tanz sehr differenziert auf bestimmte Phänomene in der Welt reagieren, z. B. auf das Vorhandensein von Nahrungsquellen. Dennoch findet dabei keine Bezeichnung statt. Es wird nicht zwischen der Welt, gegenüber der man reagiert, und einer gedachten, begrifflichen Welt unterschieden. Die Biene ist z. B. nicht dazu in der Lage zu sagen: „ Das ist dieselbe Nahrung wie die, die wir letztes Jahr gefunden haben. “ Ebenso wenig kann sie lügen oder sich etwas nicht Reales vorstellen und etwa sagen: „ Wenn wir diese Nahrung finden würden, dann . . . “ Die Biene reagiert einzig und allein, wenn auch auf durchaus komplexe Weise. Eine gewisse 209 <?page no="224"?> Objektivität ist dabei sicherlich gegeben, denn die Biene reagiert auf einen Reiz der Außenwelt. Es fehlt allerdings die Unterscheidung von Subjektivität und Objektivität. Bei den Tieren kann laut Schleiermacher kein Unterschied zwischen der Bezeichnung von Dingen und den Formen der einfachen Kundgabe, der Reaktion, des Empfindens festgestellt werden. Schleiermacher selbst bezieht sich zwar nur auf die lautlichen Zeichen der Tiere; der Befund, dass keine Bezeichnung erfolgt, trifft aber auch für das äußerst komplizierte Zeichensystem der Bienen zu. Bei den Menschen dagegen ist die Welt der Dinge von der Welt der Begriffe getrennt. Der Mensch reagiert nicht nur gegenüber dem Objektiven, sondern er benennt das Objektive auch. Damit schafft er sich eine zweite Welt, mit der er über die objektive Welt sprechen und Relationen festsetzen kann. 8.2.3.4 Die Artikuliertheit der menschlichen Sprache Für Schleiermacher stellt sich nun die Frage, ob, da beim Menschen subjektives und objektives Bewusstsein differenziert auftreten, auch zwei lautliche Systeme für den Menschen existieren, das eine dem subjektiven, das andere dem objektiven Bewusstsein entsprechend. Die Sprache unterscheidet sich als Erscheinung des objektiven Bewusstseins schon von den bloßen Reaktionen. Wenn es nun ein anderes Lautsystem für das subjektive Bewusstsein geben sollte, könne man dieses System nicht „ Sprache “ nennen. Bei Schleiermacher folgt nun die schönste und scharfsinnigste Betrachtung der menschlichen Sprache von der organischen Seite her, die mir bekannt ist. Schon im Organischen könnten bei der menschlichen Sprache zwei Gegensätze festgestellt werden: ein innerer Gegensatz zwischen Vokalen und Konsonanten, die zusammen die Artikulation ausmachten, und einen äußeren Gegensatz zwischen der Rede mit artikulierten Lauten und dem Gesang. Der erste Gegensatz sei bei den Tieren unentwickelt, obwohl man auch in den tierischen Lauten eine Annäherung an das Konsonantische am Ende, an das Vokalische in der Mitte der Lautäußerung feststellen könne. Da es sich jedoch nur um Annäherungen handle, könnten tierische Laute nicht durch artikulierte Laute nachgebildet werden. Unsere Nachahmung tierischer Laute sei also immer eine menschliche, eine artikulierte Nachahmung, die den tierischen Lauten nie vollkommen entspreche, da diese unartikuliert seien. Es existiere bei den Tieren zwar ein demjenigen zwischen Vokalen und Konsonanten ähnlicher Gegensatz, dieser sei jedoch nur schwach entwickelt. Die Laute der Tiere seien nicht artikuliert, da sie nicht aus einzelnen Gliedern bestünden. Das entspricht der Auffassung von Aristoteles, der die Laute der Tiere αγράμματοι ψόφοι (unartikulierte Geräusche) nennt [cf. Bd. 1, 6.2.2.1.]. Der zweite, äußere Gegensatz zwischen dem artikulierten Sich-Äußern mit Vokalen und Konsonanten und dem nicht artikulierten Sich-Äußern, zwischen Rede und Gesang, existiere bei den Tieren überhaupt nicht. Obwohl man bestimmte Tierlaute auch als Gesang interpretieren könne, könnten bei den entsprechenden Tieren keine Laute festgestellt werden, die mit der Rede vergleichbar wären. Die Interpretation einiger tierischer Laute als Gesang erfolge rein vom menschlichen Standpunkt aus, zumal bei den Tieren der Gegensatz zwischen Gesang und etwas, 210 <?page no="225"?> das nicht Gesang ist, nicht existiere. Das Denken hänge nun auf eine Weise, die noch zu bestimmen sei, mit der Rede, nicht jedoch mit dem Gesang zusammen: Betrachten wir die Sprache in der unmittelbaren Beziehung auf unsere nächste Veranlassung, so werden wir die Rükksicht auf den Gesang ganz beiseite zu schieben haben. Der Zusammenhang der Sprache mit dem Denken wird durch diese Differenz der Gemessenheit oder Nichtgemessenheit des Tones gar nicht afficirt, sondern nur durch das articulirte oder nichtarticulirte. Das die Denkthätigkeit begleitende innere Sprechen wird niemals irgendeine Annäherung an den Gesang sein, aber das articulirte wird ihm immer wesentlich anhangen, es ist ein inneres Wortbilden und ein Zusammenhang von Wörtern zu einer Einheit verbunden, wobei in der Hebung und Senkung des Tons ein Minimum von Annäherung an den Gesang sich zeigt. (ibid., 143) Mit anderen Worten: der Gesang braucht nicht artikuliert zu sein. Ein artikuliertes Lied ist nicht mehr nur Gesang, sondern zugleich auch Sprache. Unter Gesang versteht Schleiermacher nur die Melodie „ ohne Worte “ . 8.2.3.5 Lachen und Weinen als menschliche Naturlaute Warum aber besteht diese Beziehung zwischen Denken und Artikuliertheit? Warum gibt es einen Zusammenhang zwischen Rede und Gesang, der sich darin manifestiert, dass ein Minimum von Gesang in der Rede festzustellen ist durch die Intonation und Akzente? Gibt es etwa ursprünglichere Naturlaute des Menschen, die den tierischen Lauten noch näher kommen? Schleiermacher bejaht diese Frage und nennt als Naturlaute das Weinen und das Lachen. Weinen und Lachen könnten nicht etwa als vorläufige Versuche in Richtung auf die Sprache betrachtet werden. Die Sprache sei mit Selbsttätigkeit verbunden, das Weinen und Lachen hingegen mit der Empfänglichkeit, der Rezeptivität, mit der Passivität des Subjekts. Dies sei beim Weinen offensichtlich, da man nicht absichtlich weine. Das Lachen setze zwar eine gewisse Selbsttätigkeit voraus, es könne aber auch eine andere Genesis haben, da es insbesondere bei Kindern auch mechanisch erzeugt werden könne. Darüber hinaus hingen Weinen und Lachen mit dem subjektiven Bewusstsein zusammen: Hier haben wir also das Uebergewicht nach der Seite der Receptivität und ebenso nach der Seite des subjectiven Bewußtseins, wogegen die Sprache überwiegend nach der Seite des objectiven Bewußtseins und der Selbstthätigkeit liegt. (ibid., 144) Es gebe einen Übergang vom Lachen und Weinen zum Gesang, nicht aber zur Sprache. Wir haben da die ersten Anfänge des Gegensazes, welche den Gesang bilden, nicht bloß in der modernen Tonkunst zwischen Dur und Moll, sondern allgemein den des heitern und wehmüthigen. Wir werden also sagen können, es giebt Töne, die nicht mehr Lachen und Weinen sind, aber doch keinen anderen Zwekk haben, als diesen Gegensatz zu manifestieren. (ibid., 144 f.) 8.2.3.6 Gesang als Möglichkeit einer subjektiven Sprache Es gebe also Töne im Gesang, die heiter oder wehmütig sind und damit dem Lachen oder Weinen entsprächen. Damit existiere ein Übergang vom Weinen und Lachen 211 <?page no="226"?> zum Gesang. Der Gesang sei zwar schon Selbsttätigkeit, gleichzeitig jedoch wie das Lachen und Weinen auch Manifestation des subjektiven Bewusstseins. Er stelle damit ein intentionales Lachen bzw. Weinen dar. Das Heitere und das Wehmütige seien hier zwar selbsttätig erzeugt, es manifestiere sich in ihnen aber immer noch das subjektive Bewusstsein. Ein System zum Ausdruck des subjektiven Bewusstseins sei ohne weiteres auch ohne Sprache vorstellbar und könnte etwa nur aus Tönen und Gebärden bestehen. Hierin liege der entscheidende Unterschied zwischen Gesang und Sprache, denn der Ausdruck des objektiven Bewusstseins sei ohne Sprache nicht möglich. Eine rein gesungene ‚ Sprache ‘ als System zum Ausdruck des subjektiven Bewusstseins wäre denkbar, nicht aber ein System zum Ausdruck des objektiven Bewusstseins, das nicht sprachlich wäre. Wenn wir uns denken ein Zusammentreffen von Menschen, welche durchaus keine homogenen Elemente in ihren Sprachen haben, so werden sie doch Mittel der Verständigung finden in Beziehung auf alles das, was auf der Seite des subjectiven Bewußtseins liegt, ohne die Sprache zu Hülfe zu nehmen, nur daß wir es als natürlich ansehen, wenn die Bewegungen des übrigen Leibes, die Geberden, zu dem Tone hinzukommen, was aber so zusammengehört, daß wir gar nicht zwei Elemente unterscheiden. Wenn sie sich aber verständigen wollen über Gegenstände des objectiven Bewußtseins, so werden sie auch Bewegungen hinzunehmen müssen, die aber keineswegs mit den Tönen ein so organisches Ganze bilden wie jene, sondern als ein fremdartiges hinzutreten. (ibid., 145) 8.2.3.7 Rede als Selbsttätigkeit und objektives Bewusstseins Demnach ist es also möglich, Reaktionen des „ subjektiven Bewusstseins “ einem anderen gegenüber zu manifestieren. Man könne durchaus sozusagen ohne Worte ausdrücken: „ Du gefällst mir “ bzw. „ Du gefällst mir nicht “ oder „ Ich liebe dich “ bzw. „ Ich hasse dich “ . Dagegen sei es unmöglich, sich über die Gegenstände des objektiven Bewusstseins ohne Sprache zu verständigen, also etwa zu fragen, was etwas ist, wofür etwas da ist, mit welchen Gegenständen ein bestimmter Gegenstand zusammenhängt u. a. Die Sprache wird, wie wir gesehen haben, von Schleiermacher Schritt für Schritt bestimmt. Gegenüber den undifferenzierten tierischen Lauten erscheinen die menschlichen als differenziert in vier Formen: Weinen, Lachen, Gesang und Rede. Weinen und Lachen unterscheiden sich vom Gesang durch ihre Rezeptivität, wobei Schleiermacher eine geringfügige Einschränkung in Bezug auf das Lachen macht, das schon eine gewisse Selbsttätigkeit aufweise, obwohl das Wesentliche bei der Rezeptivität bleibe, da das Lachen auch mechanisch erzeugt werden könne. Von der Rede unterscheiden sich Weinen und Lachen zusätzlich dadurch, dass sie Manifestationen des subjektiven, nicht des objektiven Bewusstseins sind. Der Gesang hingegen hängt wie die Sprache mit der Selbsttätigkeit zusammen, er unterscheidet sich jedoch von ihr dadurch, dass der Gesang wie das Weinen und das Lachen eine Manifestation des subjektiven Bewusstseins ist. Die Rede hat nicht nur Empfindungen, sondern vor allem Objekte zum Gegenstand. Dabei sind im Grunde auch die Empfindungen ‚ Objekte ‘ ; denn sie werden benannt und sind somit begrifflich. Während etwa Hass und Liebe ohne 212 <?page no="227"?> weiteres als Haltungen des subjektiven Bewusstseins ausgedrückt werden können, gehören die Benennungen Hass und Liebe schon zu der zweiten Welt, der Welt der Benennungen, der Begriffe. Betrachten wir die Rezeptivität und das subjektive Bewusstsein als Negativum der Selbsttätigkeit bzw. des objektiven Bewusstseins, so ergibt sich folgendes Schema: Selbsttätigkeit Objektives Bewusstsein Weinen ‒ ‒ Lachen ‒ ‒ Gesang + ‒ Rede + + 8.2.3.8 Sprache als Manifestation menschlicher Individualität Das Gemeinsame der genannten Lebensfunktionen, das auch die Grundlage der beschriebenen Differenzierung darstellt, muss jedoch eine Eigenschaft sein, die auf alle vier Lebensfunktionen zutrifft. Dieses Gemeinsame ist nach Schleiermacher das Sich-Manifestieren-Wollen gegenüber anderen: Der Mensch würde weder lachen noch weinen, weder reden noch singen, wenn er nicht von Menschen umgeben wäre. (ibid., 146) Dies würde aber bedeuten, „ daß das Denken im Gegensaz zu dem bloß bildlichen Bewußtsein mit dem erwachten Gattungsbewußtsein des Menschen zusammenhinge “ (ibid.). Was unterscheidet alle vier menschlichen Funktionen von den Lauten der Tiere? Es gibt zwar auch beim Tier das Sich-Manifestieren-Wollen gegenüber anderen, jedoch jeweils nur als Spezies oder Gattung. Eine Katze gibt also nicht Laute von sich als Individuum, sondern als Vertreter der Spezies „ Katze “ . Tierische Laute sind immer Laute der Gattung, der Spezies, ohne Differenzierung zwischen Gattung und Individuum. Auch die Reaktionen der Tiere sind natürlich die eines einzelnen Tieres, es sind aber immer gattungsspezifische Reaktionen, Katzenreaktionen, Hundereaktionen etc., nicht individuelle Reaktionen von Peter oder Anna in einer bestimmten Situation. Das Gemeinsame der menschlichen Äußerungsformen ist also das Sich-Manifestieren-Wollen als Individuum, allerdings zugleich mit dem Bewusstsein der Gattung, der Menschheit. Es ist das erste Mal in der Geschichte nicht nur der Sprachphilosophie, sondern auch der Philosophie allgemein, dass die Sprache mit derartiger Akribie und Deutlichkeit gegenüber den übrigen Äußerungen des Menschen abgegrenzt wird, die bei anderen häufig ebenfalls als Sprache betrachtet werden, da auch sie Formen der Manifestation sind. 213 <?page no="228"?> 8.2.4 Die biologisch-intellektuelle Duplizität von Sprache und Denken 8.2.4.1 Die Fragestellung Bei der zweiten Frage geht es um den Übergang von Organischem zu Psychischem, um das Verhältnis zwischen den Bildern, die die Sinnestätigkeit als solche erzeugen kann, und dem Denken. Es wird nach der Duplizität von Sprache und Denken gefragt, danach also, welches der Anteil des Organischen an Sprache und Denken ist und welches der Anteil des Psychischen. Wir haben schon gesehen, dass Schleiermacher die zeitgenössische traditionelle Auffassung abgelehnt hat, nach der die Sprache als bloße Äußerung, als das Organisch-Materielle, das Denken dagegen als das Innere, das Psychische betrachtet wurde, und damit die Sprache bloße materielle Manifestation des Denkens wäre. Schleiermacher fasst dagegen die Sprache von vornherein nicht nur als Ausdruck, sondern zugleich als Inhalt, als Bedeutung auf. Es geht ihm also um die eventuelle organisch-psychische Beschaffenheit sowohl der Sprache als auch des Denkens. Wir werden noch sehen, dass Schleiermacher dabei zwei völlig verschiedene Arten der Duplizität entweder bewusst identifiziert oder unbewusst verwechselt. 8.2.4.2 Die Bilderbildung als Vorstufe von Sprache und Denken Bei der Frage nach der Duplizität ergibt sich die Notwendigkeit zu klären, „ was für eine Bestimmtheit des Bewusstseins es ist, welche der Sprache zum Grunde liegt und sie hervorbringt “ (ibid., 146). Deswegen betrachtet Schleiermacher die Sprache zunächst von der Sinnestätigkeit her. Er fragt: Hat auch die Sinnestätigkeit einen objektiven Sinn, ist auch die Sinnestätigkeit eine Form des objektiven Bewusstseins, schafft sie also auch Gegenstände? Schleiermacher bejaht diese Frage, die Sinnestätigkeit könne auch Form des objektiven Bewusstseins sein, da sie etwa durch Kombination verschiedenartiger Sinneseindrücke allgemeine Bilder, Gattungsbilder oder Schemata erzeugen könne. In diesem Sinne seien die Sinnestätigkeiten selbst abstrahierend, sie ordneten Erfahrungen und hätten die Tendenz, „ uns in dem Sein des Außer-uns zu orientiren “ (ibid., 148). Diese Bilderbildung als solche sei jedoch noch kein Denken, da sie grundsätzlich ohne Beteiligung der Sprache möglich sei: Wenn wir davon ausgehen, daß das Denken immer in dem Gegensaz zwischen dem mehr und minder allgemeinen versirt, so haben wir in jener Abstufung der Bilder offenbar diesen Gegensaz, indem wir aber auf der andern Seite gesagt haben, es gäbe kein Denken ohne Sprechen, so werden wir, da diese ganze Totalität der Bilder zu Ende gebracht werden kann ohne Sprache, auch sagen müssen, daß dies noch nicht das Denken sei. (ibid.) Es ist hierbei hervorzuheben, dass für Schleiermacher die Abstraktion aufgrund von Sinneserfahrungen nicht zur Begriffsbildung führt, sondern zu allgemeinen Gegenständen, zu Bildern, also z. B. nicht zum Begriff „ Baum “ , sondern zu einem schematischen Bild ‚ Baum ‘ , zu etwas, das wiederum ein Gegenstand und ein Vertreter der entsprechenden Gattung ist, nicht aber ein Begriff. 214 <?page no="229"?> Fragestellung Schleiermachers Die andere Fragestellung Bilderbildung Denken A B C vorsprachl. Denken sprachl. Denken A B C Schleiermachers Gedankengang mag als Zirkelschluss erscheinen, denn seine Argumentation beruht im Grunde darauf, dass die Bilderbildung nicht als Denken betrachtet werden kann, weil zuvor die Identität von Sprache und Denken angenommen wurde. Wenn also keine Sprache gebraucht wird, werde auch nicht gedacht. Schleiermacher ist, anders ausgedrückt, einfach nicht dazu bereit, die Bilderbildung „ Denken “ zu nennen. Nennt man hingegen, wie ich, jede psychische Operation, die zu selbsttätigen Handlungen in der Welt führen kann, „ Denken “ , so wird man auch die Bilderbildung zum Denken rechnen müssen. Der Zirkelschluss in Schleiermachers Argumentation beeinträchtigt jedoch nicht den Sinn der Fragestellung, sondern nur deren Formulierung. Trennt man mit Schleiermacher die Bilderbildung vom Denken, so muss die Frage lauten: „ Was ist das Spezifikum des Denkens? “ Nennt man dagegen die Bilderbildung und die damit zusammenhängenden Operationen vorsprachliches Denken, so lautet die Frage: „ Was ist das Charakteristikum des sprachlichen Denkens? “ In beiden Fällen wird jedoch in Bezug auf dasselbe und nach demselben Charakteristikum gefragt. Wir sehen hier, und das ist das methodisch Wichtige dabei, dass Fragen nicht allein aufgrund ihrer Formulierung abgelehnt werden dürfen, denn unterschiedliche Formulierungen bedeuten nicht zwingend inhaltlich verschiedene Fragestellungen. Was ist nun aber ohne Beteiligung der Sprache nicht möglich? Die Bilder eines einzelnen einem anderen mitzuteilen, sie einem anderen zum Bewusstsein zu bringen, sei ohne Sprache überhaupt nicht oder zumindest nur teilweise möglich. Man könne zwar in einzelnen Fällen bestimmte Bilder oder Schemata einfach zeigen, dabei könne man jedoch nie zugleich die Relationen zwischen den Bildern ausdrücken und die gesamten Operationen mitteilen: Es giebt allerdings eine Möglichkeit das Bild äußerlich zu machen, aber dies würde doch nur vereinzelt gelingen und der Verkehr im Ganzen dadurch nicht herzustellen sein, zumal wenn es darauf ankommt unser Verfahren dabei und die ganze Operation mitzutheilen. (ibid., 148) Mit Bildern oder Gebärden könne zwar einiges geäußert werden, der Empfänger könne diese Bilder auch aufnehmen, wodurch sie ins Bewusstsein des anderen gebracht wären. Die Relationen allerdings müsse er alleine herstellen, denn durch Gebärden allein würden keine Relationen mitgeteilt. Wenn man etwa jemandem den Vogel zeigt, interpretiert er das ihm gegenüber als Beleidigung, denn er sieht sich als Dummkopf bezeichnet. Im Grunde wird das aber allein durch die Geste noch nicht mitgeteilt. Vielmehr muss die Geste durch den Empfänger in eine bestimmte 215 <?page no="230"?> Relation gebracht werden, sie muss wie alle Gesten und Gebärden erst interpretiert werden. Denken wir nur daran, wie schwer es oft etwa in gerichtlichen Verfahren ist zu beweisen, dass eine bestimmte Geste tatsächlich eine Beleidigung war, denn die jeweilige Relation muss auf irgendeine Weise sprachlich hergestellt werden. 8.2.4.3 Zum Ursprung der Laute und zur Lautnachahmungstheorie Erst in diesem Zusammenhang oder eigentlich ein wenig außerhalb davon stellt Schleiermacher fest, dass die Sprache zwar ihren Sitz in den Lauten habe, die ja nur Ankündigungen des subjektiven Bewusstseins seien, dass sie sich aber nicht aus den Naturlauten als Fortsetzung und Erweiterung derselben entwickelt haben könne. Die Äußerungen des subjektiven Bewusstseins in der Sprache seien die Interjektionen. Diese hätten in der Sprache selbst allerdings nur einen marginalen Status als etwas Fremdes gegenüber den restlichen sprachlichen Elementen. Im Übrigen seien die Interjektionen auch nicht mehr ein unmittelbares Hervorbrechen des subjektiven Bewusstseins, sondern nur mehr dessen Nachbildung. Schleiermacher schneidet das Problem der Interjektionen hier an, da man, wie er meint, vermuten könnte, auch andere Sprachelemente als die Interjektionen gingen auf Nachbildungen zurück. Die Sprache wäre dann eine Art Ersatz für die allgemeinen Bilder. Schleiermacher spielt hier auf die Lautnachahmungstheorie an und lehnt diese ab, da sie nur einen kleinen Teil der Sprache erklären würde, nämlich die Bezeichnungen für Gegenstände, „ zu deren Natur es gehört Laute hervorzubringen “ (ibid., 149). Eine raffiniertere Lautnachahmungstheorie, die etwa die Entsprechung zwischen unterschiedlichen Sinnesbereichen, die Synästhesie der Sinne voraussetzt und Übertragungen annimmt, erwähnt und diskutiert Schleiermacher nicht. Eine Entsprechung in verschiedenen Sinnesbereichen wäre etwa, dass das Helle sowohl bei Licht und Farbe als auch im lautlichen Bereich festgestellt werden kann oder dass es möglich ist, das Stumpfe mit dem Dunklen gleichzusetzen. Schleiermacher jedoch berücksichtigt nur die Laute und lehnt, wie erwähnt, die Lautnachahmungstheorie ab, nach der die Sprache einfach die allgemeinen Bilder ersetzen würde und allein die Fortsetzung der Sinnestätigkeiten wäre. Schleiermacher sieht hier vielmehr den Übergang von den aufnehmenden zu den „ ausströmenden “ Tätigkeiten. Gehörten die mit dem Wahrnehmen zusammenhängenden Sinnestätigkeiten zu den aufnehmenden Tätigkeiten, so sei die Sprache offensichtlich eine ausströmende Tätigkeit. Die Frage sei nun, „ ob auch das Denken ebenfalls eine von dem Wahrnehmen specifisch verschiedene, von innen ausgehende Thätigkeit “ (150) ist; ob das Denken also spontanen Charakter habe. Für die Sprache wird ja schon angenommen, dass sie „ Ausströmung “ und nicht einfach Wahrnehmen sei. Gilt dasselbe aber auch für das Denken? Die Lautnachahmungstheorie wird von Schleiermacher als eine Theorie interpretiert, welche die Kontinuität von Wahrnehmen und Denken voraussetzt: Die ganze Tendenz die Sprache aus Imitation von Naturlauten zu erklären hat offenbar die Richtung darauf, das Denken als etwas dem Wahrnehmen homogenes durch Aufnehmen von außen entstandenes darzustellen. . . (ibid.,150) 216 <?page no="231"?> Die entgegengesetzte Theorie, die den göttlichen Ursprung der Sprache annimmt, setze zwar ebenfalls ein Aufnehmen voraus, wenn man diese Auffassung aber auf ihren rationalen Sinn reduziere, „ so bleibt bei dieser Richtung nichts übrig, als das Denken und Sprechen als eine von innen her entstehende Thätigkeit anzusehen “ (ibid., 150). Im Grunde bedeute diese Theorie nur, dass man den Ursprung der Sprache nicht wirklich erklären könne. Es werde auf eine Erklärung aus äußeren Einflüssen verzichtet und eigentlich gesagt, dass Sprache und Denken im Innern des Menschen entstehen. Schleiermacher möchte sich für keine der beiden Theorien entscheiden, da dies eine metaphysische Frage sei und er sich vorerst mit Psychologie befasse, daher also keine metaphysischen Fragen zu beantworten brauche. Tatsächlich hat er sich für die zweite Auffassung entschieden, allerdings nicht in ihrer groben Formulierung, bei der der göttliche Ursprung der Sprache angenommen wird, sondern sozusagen rational übertragen. Dann nämlich bedeutet diese Theorie einfach, dass die Sprache nicht etwa durch Lautnachahmung und durch Fortsetzung des Wahrnehmens entsteht, sondern dass die Sprache eine selbstständige Tätigkeit des Menschen ist, die in seinem Innern entsteht. 8.2.4.4 Zur Kontinuität vom Wahrnehmen zum Denken Schleiermacher wird hier der Lautnachahmungstheorie im Grunde nicht gerecht. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass seine Theorie einseitig ist, da dies mit der allgemeinen Kritik dieser Art von Theorien zusammenhängt, die auch noch heutzutage vertreten werden. Die Lautnachahmungstheorie kann zwar die Kontinuität des Wahrnehmens und des Denkens voraussetzen, und vielleicht trifft dies auch für die meisten derartigen Theorien zu. Allerdings muss die Kontinuität vom Wahrnehmen zum Denken nicht zwingend vorausgesetzt werden. Es handelt sich hier nämlich um drei verschiedene Fragen, die voneinander unterschieden werden müssen und auch auf unterschiedlich Weise beantwortet werden können: Erstens: Was sind sprachliche Inhalte und warum gibt es sie? Zweitens: Warum müssen sprachliche Inhalte materiell ausgedrückt werden? (Das betrifft das allgemeine Problem der Entstehung sprachlicher Ausdrücke.) Drittens: Aus welchem Material werden sprachliche Ausdrücke gebildet? Eine Lautnachahmungstheorie könnte nun tatsächlich eine Kontinuität von den allgemeinen Bildern zur Sprache annehmen und sprachliche Inhalte nur als Nachahmungen dieser Bilder der Wirklichkeit bzw. als deren Ersatz betrachten. Die sprachlichen Ausdrücke wären dann nur die ‚ vereinfachte ‘ Manifestation der Bilder. Es ist z. B. viel einfacher, Baum zu sagen, als einen Baum zu zeichnen. Was die Frage nach dem Material betrifft, so würde dann der Stoff, mit dem allgemeine Bilder nachgebildet werden, dem Nachgebildeten auch ähneln. Als Beispiel hierfür wird üblicherweise der Wind an geführt: Das materielle Zeichen für Wind beginnt mit dem Laut / v/ , was als Nachahmung des Windes betrachtet werden kann. Hier wäre also das Material der Nachbildung dem Nachgebildeten ähnlich. 217 <?page no="232"?> Es ist jedoch keineswegs zwingend, dass eine Lautnachahmungstheorie die Kontinuität von den Bildern zur Sprache annimmt. Vielmehr könnte eine solche Theorie auch ausschließlich die dritte Frage betreffen und besagen, dass sprachliche Inhalte nicht als solche Bilder sind, sondern Begriffe. Diese Begriffe als Bewusstseinsinhalte müssen in der Welt durch etwas anderes vertreten werden, damit sie von anderen Menschen aufgenommen werden können. Begriffe können nicht unmittelbar mitgeteilt werden, da kein direkter Zugang von einem Bewusstsein zum anderen existiert. Die Mitteilung muss also über die Sinnestätigkeit erfolgen, weshalb etwas sinnlich Wahrnehmbares den Bewusstseinsinhalt vertreten muss. In Bezug auf die dritte Frage kann der Stoff für den Ausdruck dann durchaus ein nachahmender sein. Zumal es bequemer und eindeutiger ist und die Wahrnehmung durch einen anderen erleichtert, wenn ein materielles Zeichen geschaffen wird, das dem entsprechenden Gegenstand in irgendeiner Form ähnlich, d. h. ikastisch ist. Es geht hier also um die Ikonizität der Sprache. Und so kann etwa Fichte die Auffassung vertreten, ein Zeichen, das dem bezeichneten Gegenstand ähnlich ist, sei genauso willkürlich, wie ein Zeichen, das dem entsprechenden Gegenstand nicht ähnelt. Das Zeichen ist in jedem Fall willkürlich geschaffen worden. 8.2.4.5 Der Satz als Grundeinheit der Sprache Kommen wir zurück zur Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Bildern. Nach Schleiermacher könnte man sich die Sprache als eine Art Endprodukt der Sinnestätigkeit, als eine höhere Stufe der Bilderbildung vorstellen. In diesem Fall wäre die Sprache ein Ausströmen, das durch ein Sich-Entledigen-Wollen bestimmt wäre. Bei einer Übersättigung des Bewusstseins mit Bildern hätte die Sprache die Funktion eines Ventils. Gegen diese Auffassung spreche aber, laut Schleiermacher, dass die Sprache auch in der Entwicklung des einzelnen nicht erst nach der Endphase der Bilderbildung entsteht, sondern schon viel früher: Wenn nun das erste Sprechen auch eine weitere Entwikklung der von außen aufnehmenden Thätigkeit wäre, so könnte es nicht eher eintreten, als bis diese bis zu der Stufe gediehen, daß sich jenes daraus entwikkeln könnte. Dies ist aber keinesweges der Fall und das Factum wäre also jener Ansicht nicht günstig. (ibid., 151) Sein Hauptargument ist ein anderes: Eine Theorie, die Sprache einfach als weitere Stufe der Bilderbildung betrachtet, wäre dann annehmbar, wenn die Sprache ausschließlich den allgemeinen Bildern entspräche. Dies sei aber keineswegs der Fall, da die Grundeinheit der Sprache der Satz sei und nicht das Wort, das als Abkürzung von Bildern bzw. als deren Ersatz betrachtet werden könnte. Für das allgemeine Bild eines Tisches etwa kann ein Ersatz gebildet werden, das Substantiv Tisch, mit dem man dann viel leichter operieren kann als mit den Bildern. Entsprechendes gilt für die Verben, zumindest für diejenigen, die etwas Konkretes in der Welt bezeichnen, etwa eine bestimmte Bewegung oder eine Manifestation, wie z. B. das Weinen oder das Lachen. Auch hier kann das allgemeine Bild vom Weinen oder Lachen durch ein Wort ersetzt werden. Die Bildung von Sätzen jedoch 218 <?page no="233"?> sei damit unmöglich, worin gerade die differentia specifica der Sprache gegenüber der Bilderbildung bestehe. Der Satz könne nicht einfach als Fortsetzung der Bilderbildung interpretiert werden. Gerade der Satz, die selbsttätige Verknüpfung von Bildern, sei die Einheit, die sowohl die Sprache als auch das Denken ausmacht. Es ist dies das erste Mal, dass in dieser Weise das Spezifikum der Sprache auf den Satz und nicht auf das Wort zurückgeführt wird. Nicht die Verwandlung von Bildern in Wörter, sondern deren Verknüpfung schon in Form von Wörtern, nicht die Klassifizierung der Welt, sondern das Verknüpfen von schon Klassifiziertem sei das Spezifische von Sprache und Denken. Vor Schleiermacher hatte man die Wörter eher der Sprache zugeschrieben, die Sätze, also die Verknüpfung der Bilder, eher dem Denken. Schleiermacher ist der erste, der den Satz zugleich als Einheit für die Sprache und für das Denken ansieht und der dann davon ausgehend feststellen kann, dass sehr viele Wörter existieren, die keinen Bildern entsprechen und nicht als deren Ersatz betrachtet werden können. So etwa Wörter, die Relationen oder Abstrakta bezeichnen. Schleiermacher führt als Beispiele die Wörter Kraft und Ursache an. Beide könnten weder Bildern entsprechen, noch als Abkürzungsmittel für Bilder angesehen werden. 8.2.4.6 Die traditionelle Vorstellung vom Satz Seit der Antike unterscheidet man die beiden sprachlichen Operationen Wort und Satz, die τῶν αδιαιρέτων νόησις , die Erfassung des Ungeteilten im Wort, und die Analyse und Synthese im Satz [Aristoteles, De anima 430 a, 26 − 29, vgl. Bd. 1, Kap. 6.3.5]. So steht schon bei Aristoteles in De Interpretatione die Unterscheidung in negativer Formulierung: In der Sprache selbst, bei den Wörtern, gebe es keine Analyse und Synthese. Ähnliches findet sich bei Platon im Sophistes, wo zwischen Benennen und Sagen, zwischen ὀνομάξειν und λέγειν unterschieden wird [vgl. Bd. 1, 5.5.2]. Eindeutig und ausdrücklich wird diese Unterscheidung bei Thomas von Aquin formuliert, und zwar in seinem Kommentar zu Aristoteles In peri hermeneias [vgl. Bd. 1, Kap. 9.1.1]. Jedoch wird seit der Antike auch an erster Stelle das Wort, das Benennen, die Gestaltung der Welt durch die Sprache als die eigentliche Leistung der Sprache angesehen. In Bezug auf den Satz wird traditionell eine Unterscheidung gemacht, die schon bei Aristoteles enthalten ist, eindeutiger und ausdrücklicher aber von den Stoikern formuliert wird: Die Unterscheidung zwischen Aussagesatz, der wahr oder falsch sein kann und damit Ausdruck eines Urteils, also im Grunde ein Werk des Denkens ist, einerseits und andererseits allen übrigen Arten von Sätzen, so z. B. Imperativsätzen, Bitten oder Fragesätzen, die an sich weder wahr noch falsch sein können, die also selbst keine Urteile sind und höchstens Urteile voraussetzen können. Derartigen Sätzen werden dann einfach dieselben Eigenschaften wie den Wörtern zugeschrieben: Es findet keine Analyse oder Synthese statt, es gibt keine eigentliche Prädikation im Sinne von wahr oder falsch. Nach dieser Vorstellung ist etwa eine Bitte wie ein Wort ausschließlich semantisch. Sie gehört damit nur zum sprachlichen Denken und stellt nichts anderes dar als eine Art erweitertes Wort. 219 <?page no="234"?> Wollte man auf dieser Grundlage Linguistik betreiben, so würde der Satz mit dem Aussagesatz identifiziert. Auf dieser Auffassung beruht auch die traditionelle Definition des Satzes als „ Ausdruck eines Urteils “ . 8.2.4.7 Schleiermachers Verständnis des Satzes Schleiermacher vertritt, wie wir gesehen haben, eine andere Auffassung und zwar in zweierlei Hinsicht: Erstens: Bei der Unterscheidung von ὀνομάξειν und λέγειν , von Benennen und Sagen, seien aufgrund der Identifizierung von Sprache und Denken das Spezifikum der Sprache der Satz, nicht das Wort. Das Wort könne noch als Abkürzungsmittel zur bequemeren Mitteilung von Bildern, als eine Übertragung der allgemeinen Bilder auf das Gebiet des Verbalen betrachtet werden. Für den Satz, die Verknüpfung von Bildern, sei dies jedoch nicht mehr möglich. Zweitens: Schleiermacher modifiziert die seit der Antike üblichen Abgrenzung, der zufolge die Wörter und alle nicht aussagenden Satzarten eher der Sprache, die Aussagesätze hingegen, die wahr oder falsch sein können, eher dem Denken zugerechnet werden. Für Schleiermacher liegt die Grenze nun zwischen den Wörtern, die nur benennen und allen Formen von Sätzen, die Benennungen verknüpfen; sie machen das eigentlich Sprachliche aus. Dem Sprachlichen werden nun also alle Arten von Sätzen zugerechnet, zugleich aber werden die Wörter ausgegrenzt; sie werden dem Bereich „ Sprache und Denken “ zugewiesen, der noch mit der Sinnestätigkeit zusammenhängt. Wir wollen kurz dem Gedankengang Schleiermachers folgen, um zu sehen, wie er zu seiner Auffassung kommt. Schleiermachers Hauptargument gegenüber der Vorstellung von Sprache und Denken als Fortsetzung der Wahrnehmung ist, dass die Sprache nicht einfach den allgemeinen Bildern entspreche, da das einfachste Produkt der Sprache nicht das Wort, sondern der Satz sei. Nur wenn man die Sprache allein mit Substantiven und Verben gleichsetze, könne man tatsächlich eine Entsprechung zwischen Bild und Wort feststellen. Von diesem Gesichtspunkt aus wäre die Sprache auch den Gebärden analog, denn auch diese stellten eine Materialisierung der Bilder von der Welt dar. Es wäre dann im Grunde gleichgültig, ob man als Abkürzungsmittel Gebärden oder Töne verwendet. Eine solche Interpretation sei aber für die Sätze nicht möglich, da der Satz als Verknüpfung der allgemeinen Bilder zu einer Einheit nicht durch die Bilder selbst motiviert sei. Die Einheit, die durch die Verknüpfung geschaffen wird, könne nicht mehr nur als verfeinerte Wahrnehmung oder als Objektivierung des Wahrgenommenen interpretiert werden, sie sei ein Werk der Selbsttätigkeit. Nimmt man diesen Gesichtspunkt auf, so stellt man fest, dass die Einheit des Satzes etwas ist, das sich in den Systemen der Bilder nicht darstellen lässt. Daraus ist zu schließen, dass das Wesen des Denkens, das ja mit der Sprache identifiziert wurde, gerade in der selbständigen, intentionalen Herstellung einer Einheit besteht. Schleiermacher schreibt hierzu: Das System der Gattungsbegriffe ist gar nichts anderes als das der Bilder, und ebenso das System der Veränderungen, wie es durch die Zeitwörter ausgedrükkt 220 <?page no="235"?> wird, aber die Combination, die das Wesen des Sazes ausmacht, ist das, was dem Denken eigentümlich ist. (ibid., 153) Schleiermacher betont dann immer wieder, dass die Einheit, die mit dem Satz ausgedrückt wird und die ein intentionaler Akt ist, d. h. von den Menschen in die Dinge hineinprojiziert wird, das Eigentümliche der Sprache gegenüber den allgemeinen Bildern ausmache. Schleiermacher gibt hierzu selbst ein Beispiel: Verfolgt man z. B. die Veränderungen in der Vegetation vom Frühling an bis zu Ende, so wird man alle in einzelne Säze bringen können, und zulezt muß es möglich sein die ganze Reihe in eins zusammen zu fassen; denkt man sich aber, was man in den Bildern hat, so ist es nur eine Aufeinanderfolge von Bildern der Pflanze in den Blättertrieben, Knospen, Blüthen u. s. w., aber die Einheit des Subjects in der Succession der Prädikate ist niemals in den Bildern, sondern wir bringen sie erst hinein durch die Form des Gedankens. (ibid., 153 f.) Der Übergang von der Sinnestätigkeit zur Sprache erfolge also erst wirklich mit dem Satz. Das Verhältnis von Sinnestätigkeit und Sprache/ Denken könnte man sich dann folgendermaßen vorstellen: Bei der Sinnestätigkeit entsprächen die allgemeinen Bilder als Endprodukt den Gattungen der Gegenstände. Die Bilder könne man in der Mitteilung durch Abkürzungsmittel materialisieren, wobei als Mittel sowohl Wörter als auch Gebärden oder andere Materialisierungen fungieren könnten. Der eigentliche Übergang von der Sinnestätigkeit zur Sprache und zum Denken sei der zu den Sätzen, zu der Verknüpfung der Abkürzungsmittel für allgemeine Bilder. Erst vom Satz her kommt Schleiermacher dann wieder zu den Wörtern und stellt, wie schon erwähnt, fest, dass auch hier nicht alle Begriffe einfach allgemeinen Gattungsbildern entsprechen. Auch in der Sinnestätigkeit gebe es schon selbstständige Denktätigkeit und somit selbständige Sprache, denn es existierten Substantive und Verben, die nicht auf Bilder zurückgingen und auch keinen Bildern entsprächen, wie etwa die Wörter Kraft und Ursache [cf. supra, 8.2.4.5]. Darin bestehe die organisch-intellektuelle Duplizität von Sprache und Denken. Beide Tätigkeiten knüpften einerseits zwar an die Bilder an und entsprächen in dieser Hinsicht dem sinnlichen Bewusstsein. Sie blieben aber gerade nicht darauf beschränkt, sondern schafften auch Begriffe, die keineswegs Bildern entsprechen, und verknüpften die Begriffe miteinander. Dadurch werde deutlich, dass Sprache und Denken nicht einfach auf derselben Ebene wie die Sinnestätigkeit erklärt werden könnten und nicht nur der Endpunkt der Sinnestätigkeit seien. Nun braucht man nur daran zu denken, in wie viele Modificationen und Verhältnisse diese beiden Begriffe [Kraft und Ursache] sich spalten, um auf das bestimmteste den Schluß zu ziehen, daß die Denkthätigkeit im Zusammenhange mit der Sprache sich wohl an das sinnliche Bewußtsein in seiner vollständigen Bildung anlegt, aber doch eine besondere Thatigkeit ist, welche keinesweges aus ihm allein verstanden werden kann. (ibid., 154) Allerdings seien die spekulativen Verhältnisse nicht in allen Sprachen in gleichem Maße entwickelt. Es könne laut Schleiermacher auch Sprachen geben, „ wo 221 <?page no="236"?> Philosophie und Speculation nicht in der Form unserer Dialektik sondern mehr in poetischen Bilderreihen sich ausbildet “ (ibid., 154 f.). Es gebe also poetischere und philosophischere Sprachen zumindest als Möglichkeit. 8.2.4.8 Zum Ursprung der Begriffe Von der Problematik von Wörtern wie Kraft und Ursache geht Schleiermacher zum Problem der ideae innatae, der angeborenen Begriffe über. Die Theorie von den angeborenen Begriffen in ihrer extremen Form lehnt er natürlich ab, indem er sie wieder, wie schon die Theorie vom göttlichen Ursprung der Sprache, auf ihren rationalen Kern reduziert. Was bedeutet nun angeborener Begriff? „ Die Bezeichnung “ , sagt Schleiermacher, „ ist sehr mangelhaft, denn der Begriff ist nie ohne Wort und das Wort kann nicht angeboren sein “ (ibid., 155). Aus der Identifikation von Sprache und Denken und damit verbunden der zwingenden Verbindung von Begriff und Wort, nicht nur von Begriff und Bild, ergibt sich, dass der Begriff so wenig angeboren sein kann wie das Wort. Fragt man sich aber nach dem rationalen Sinn der These von den angeborenen Begriffen, so kommt man zu dem Ergebnis, „ daß die Production der Begriffe von der Sinnesthätigkeit ganz unabhängig ist “ (ibid.). Mit den angeborenen Begriffen ist also im Grunde die Kreativität des Menschen gemeint, die selbständige Denktätigkeit und nicht nur die Wahrnehmung. Ebenso wenig nimmt Schleiermacher die entgegengesetzte Theorie an, die auch diejenigen Elemente, die keine Gegenstände, sondern etwas in den Gegenständen Vorauszusetzendes bezeichnen, aus Sprachelementen abzuleiten versucht, die tatsächlich auf Bilder zurückgehen. Diese Theorie versucht, auch die Relationen und Verknüpfungen auf Bilder zurückzuführen. Schleiermacher betont nun auch hier, dass er sich für keine der beiden Theorien entscheiden möchte. Er stellt fest, dass der Ertrag, was die Frage der Duplizität in beiden Fällen betrifft, analog sei. Denn beide Male werde deutlich, dass der Gehalt des Denkens bei Begriffen, die Erfahrungsgegenständen entsprechen, und solchen wie „ Kraft “ und „ Ursache “ im Grunde verschieden ist. Das ist für Schleiermacher schon ausreichend, da er die Frage der Duplizität als solche klären will. Nimmt man an, dass es angeborene Begriffe wie etwa „ Ursache “ oder „ Kraft “ gibt, so hat man sie damit von auf Erfahrungsgegenstände zurückgehenden Begriffen wie „ Baum “ oder „ Ball “ unterschieden. Man hat festgestellt, dass es sich hier um zwei verschiedene Gattungen von Begriffen handelt. Nimmt man dagegen an, dass auch Begriffe wie „ Kraft “ und „ Ursache “ aus solchen abzuleiten sind, die allgemeinen Bildern entsprechen, betrachtet man also z. B. Ursache als Ursprung, als eine Art Quelle, so kommt man am Ende doch zum gleichen Ergebnis. Denn auch in diesem Fall werden die Begriffe nicht unmittelbar von Bildern abgeleitet, sondern sind sekundär und damit anders zu interpretieren als direkt auf Bilder bezogene Begriffe. „ Ursache “ wäre eine Art Ableitung von „ Quelle “ . Auch bei dieser Auffassung wird zumindest zugegeben, dass eine Grenze existiert zwischen Begriffen, die unmittelbar von Bildern abzuleiten sind oder diesen direkt entsprechen und solchen, die nur indirekt auf Bilder zurückgehen und die erst durch Interpretation auf allgemeine Bilder zurückgeführt werden können. 222 <?page no="237"?> Bei beiden Theorien wird also die Duplizität von Sprache und Denken gesehen, weshalb ihr Ertrag für Schleiermacher in dieser Hinsicht in beiden Fällen derselbe ist. Wie bei der Theorie vom göttlichen Ursprung der Sprache entscheidet sich Schleiermacher aber doch in gewisser Weise für die Theorie von den angeborenen Begriffen, allerdings nicht in ihrer groben Form, sondern in Bezug auf das, was er selbst als ihren rationalen Kern ausmacht. Hier werde im Grunde einfach die Kreativität des menschlichen Bewusstseins festgestellt: Die Begriffe Kraft, Causalität, Substanz sind aus unserem Selbstbewußtsein hergenommen und Manifestationen von diesem; wir sind uns unserer selbst als solcher bewußt in der unmittelbaren Ausübung unserer Selbstthätigkeit, und in sofern sind sie angeborne Begriffe. (ibid., 158) Angeboren bedeutet hier also: „ vom Bewusstsein selbsttätig gebildet “ . Was die Übertragung dieser Begriffe auf das Gebiet der Bilder und den Wahrheitswert dieser Übertragung betrifft, gebe es zwei Ansichten: den Skeptizismus und den Dogmatismus. Für den Skeptizismus bleibe es fraglich, ob die Übertragung eine Fiktion ist oder ob ihr etwas Wahres zugrunde liegt. Der Dogmatismus nehme dagegen an, es handele sich hier nur um . . .die tiefere Identität des Geistes als des sich bewussten mit dem Sein überhaupt, vermöge deren wir als die eigentliche, ursprüngliche Wesenheit diese Begriffe auf das Sein übertragen und das ganze Gebiet der Wesen dieser unterordnen. (ibid., 158) Es gibt hier also die Alternative, entweder daran zu zweifeln, dass die Übertragung von Begriffen wie „ Kraft “ und „ Ursache “ auf die objektive Wirklichkeit den tatsächlichen Verhältnissen entspricht (Skeptizismus) oder die Identität des Geistes mit dem Sein schlechthin anzunehmen, wobei dann das, was wir selbst hineinbringen, dem Wesen der Sachen entspräche. „ Ursache “ , „ Kraft “ und Ähnliches gingen dann nicht nur auf unsere Interpretation zurück, sondern existierten tatsächlich. Auch in diesem Fall will sich Schleiermacher für keine der beiden Theorien entscheiden, was er wiederum damit begründet, dass es ihm hier nur um die Feststellung der unterschiedlichen Positionen und um Bestimmung der Abgrenzung für Sprache und Denken, nicht aber um die metaphysische Frage gehe. Schleiermachers Antwort auf die Frage nach der Duplizität von Sprache und Denken ist demgemäß folgende: Wir geben also zu, es giebt allerdings Elemente in der Sprache, welche nichts anders sind als Uebertragung dessen, was im sinnlichen Bewußtsein als Bild gewesen, und dies gilt nicht bloß vom objectiven Bewußtsein sondern auch vom reflectirten subjectiven Bewußtsein, es giebt aber auch andre Sprachelemente, welche nur in diesem Selbstbewußtsein entstehen. Wir sezen damit zwei ganz differente Elemente des Denkens, die einen sind das eigenthümliche, die anderen das aufgenommene. Diese werden in die Form der Denkthätigkeit nur aufgenommen durch Mittheilung, die ersten haben ihren Grund in diesem Act der Selbstthätigkeit sie aufzunehmen ins Bewußtsein und so Bewußtsein zu werden [. . .]. (ibid., 158 f.) 223 <?page no="238"?> 8.2.4.9 Sprache des praktischen Lebens und Sprache des Wissens Dementsprechend unterscheidet Schleiermacher auch zwei „ Gebrauchsweisen “ der Sprache, nämlich die Sprache des praktischen Lebens (oder, wie er selbst sagt, „ die Sprache in dem Verkehr des gemeinen Lebens “ ) und die Sprache des Wissens, je nachdem, ob die „ aufgenommenen “ oder die eigentümlichen sprachlichen Elemente überwiegen. Werden vor allem Begriffe verwendet, die auf Bilder zurückgehen, interpretieren wir also wenig und bringen wir nur das in die Wirklichkeit hinein, was für das praktische Leben notwendig ist, handelt es sich um die Sprache des praktischen Lebens. Überwiegen dagegen Begriffe, die Produkte der selbsttätigen Denktätigkeit sind, die also durch Interpretation hineingebracht werden, so wird die Sprache des Wissens verwendet. Wie immer bei Schleiermachers Unterscheidungen geht es auch hier um ein Mehr oder Weniger, nicht um ein Entweder − Oder. Die Sprache des praktischen Lebens einerseits und die Sprache des Wissens andererseits sind demnach die beiden Endpunkte, wo jeweils die eine oder die andere Art von Begriffen am deutlichsten überwiegt. Dazwischen gibt es eine unendliche Reihe von Möglichkeiten der Mischung von beiden Arten: . . .die eine [Gebrauchsweise], in welcher jene aufgenommenen Elemente die Hauptsache sind, hat die Tendenz auf die Mittheilung der Menschen unter einander, um das Gebiet des sinnlichen Bewußtseins zu bezeichnen, die Sprache in dem Verkehr des gemeinen Lebens, wo man über die Dinge und das Verhältniß der Dinge zu dem Menschen sich mittheilen will um der Handlungen willen; die andre Gebrauchsweise ist die, in welcher das Eigenthümliche der Denkthätigkeit dominiert und deren Tendenz darauf hingeht, das ganze Gebiet der Wahrnehmung auf das Wesen des Seins zu reduciren, die Sprache zum Behufe der Wissenschaft. (ibid., 159) Die Einteilung der Flora in Kraut und Unkraut oder der Fauna in zahme und wilde Tiere etwa entspräche der Sprache des praktischen Lebens. Schleiermacher ist davon überzeugt, dass diese Form der Sprache nicht das Maßgebliche bei der Sprache ist, sondern dass die „ eigentümlichen “ Elemente das tatsächlich Definitorische, das, was die Einheit der Sprache ausmacht, darstellen. Die Sprache sei also grundsätzlich durch ihre Richtung auf das Wissen charakterisiert. Bei einer primitiveren Form der Sprache dominierten zwar noch die Bilder, nicht aber bei den weiterentwickelten Formen. Im praktischen Leben habe man vor allem über die Dinge und deren Verhältnis zu den Menschen zu befinden, es gehe um Handlungen, um ein Umgehen mit den Dingen selbst, weshalb dort die Form der Sprache gebraucht wird, in der die Bilder oder das den Bildern Entsprechende überwiegen. Die Duplizität der Sprache in diesem Sinne ist im Rahmen der Sprachtheorie Schleiermachers insofern wichtig, als sie zugleich den Rahmen für das Verständnis seiner Übersetzungstheorie darstellt. Denn auch dabei unterscheidet er die Übersetzung im praktischen, alltäglichen Leben von der Kunstübersetzung, womit er sowohl die Übersetzung von Dichtung als auch die von Wissenschaftstexten meint. 224 <?page no="239"?> 8.2.4.10 Kritik der sprachlichen Duplizität bei Schleiermacher Von einem allgemeineren, von Schleiermacher unabhängigen Gesichtspunkt aus muss man feststellen, dass Schleiermacher eigentlich das, was er sich anfangs vorgenommen hatte, nicht zu leisten vermochte. Es ist ihm nicht gelungen, die Duplizität auf der Seite des Inhalts nachzuweisen. Die organisch-intellektuelle Duplizität der Sprache, die er meint, ist eine doppelte: Erstens: Die Duplizität Materie vs. Geist, Stoff vs. psychischer Gehalt, Ausdruck vs. Inhalt. Zweitens: Die Duplizität im Inhalt selbst: Gestaltung der Welt vs. Interpretation der Welt. Hier wird also unterschieden zwischen dem, was Erfahrungsgegenständen entspricht, und dem, was bei der Interpretation der Welt vom Bewusstsein selbsttätig beigetragen wird, also zwischen der ‚ materiellen ‘ Gestaltung der Welt der sinnlichen Erfahrung durch objektbezogene Begriffe und der Interpretation der Welt durch auslegende Begriffe und Sätze. Diese Unterscheidungen sind sicherlich als solche gerechtfertigt, sie entsprechen jedoch nicht dem, was Schleiermacher bei ihrer Bestimmung zugrundelegt. Dieser geht nämlich von der ersten Duplizität, von Materie vs. Geist, Ausdruck vs. Inhalt aus, überträgt dann aber seine Argumentation auf das Gebiet der zweiten Duplizität, nämlich diejenige von Gestaltung vs. Interpretation. Schleiermacher behauptet, innerhalb des Inhalts gebe es ebenso Stoffliches und Psychisches wie bei der Duplizität von Ausdruck und Inhalt. Diese Verschiebung ist jedoch keineswegs zulässig, da es sich hier um zwei radikal verschiedene Fragestellungen handelt. Einmal geht es um die Frage nach dem Ausdruck und seiner Materialität, d. h. um die Frage, warum die Inhalte ausgedrückt werden müssen und warum der Ausdruck nicht anders als materiell sein kann. Im anderen Fall geht es dagegen um den Zusammenhang zwischen sprachlichen Inhalten und sinnlicher Erfahrung, d. h. um die Frage, inwiefern die sprachlichen Inhalte den Gegenständen der sinnlichen Erfahrung entsprechen. Was nun diese Frage betrifft, ist Schleiermachers Lösung, der zufolge es einerseits Begriffe, die Bildern entsprechen und andererseits solche, die keinen Bildern entsprechen, gibt, zwar interessant, sie ist jedoch nicht ohne weiteres annehmbar. Die Tatsache, dass sprachliche Inhalte der Begriffe allgemeinen Bildern entsprechen, bedeutet weder, dass diese mit den Bildern identisch sind, noch dass die betreffenden Wörter einfach Übertragungen der Bilder auf das Gebiet des Hörbaren darstellen. Alle Begriffe enthalten ein Wissen in Bezug auf die Gegenstände der Erfahrung, auch Begriffe wie „ Kraut “ und „ Unkraut “ . Sie stellen in jedem Fall ein bestimmtes Wissen dar, so dass die Richtung auf das Wissen für die Sprache des praktischen Lebens nicht weniger charakteristisch ist als für die Sprache des Wissens. Die Bedeutungen selbst sind jeweils schon ein Wissen. Kennt man die Bedeutung „ Baum “ , so weiß man, was man einen Baum nennen kann. Der Übergang von der einen zur der anderen Form der Sprache wäre vollkommen unmöglich, wenn 225 <?page no="240"?> einerseits nur das den Bildern Entsprechende, andererseits tatsächlich eigenständige und selbsttätige Begriffe existieren würden. Es ist zwar ein Unterschied zwischen der Sprache des praktischen Lebens und der des Wissens vorhanden, dieser betrifft aber nur den Grad und die Art des Wissens. Im praktischen Leben begnügen wir uns mit dem Wissen und mit dessen Fundierung, die für das praktische Leben und den praktischen Umgang mit den Dingen notwendig sind. Man benötigt also nur so viel Wissen, dass es einem möglich ist, Dinge zu identifizieren und zu wissen, wie man mit diesen Dingen umgehen soll. In der Wissenschaft tendiert man dagegen zum Wissen an sich, zu einem totalen Wissen, einschließlich dessen, was in praktischer Hinsicht auf den ersten Blick nutzlos scheint. Es interessiert nicht nur das, was man für die Normierung des eigenen Verhaltens braucht, sondern auch die objektive Kenntnis der Gegenstände, wobei die Wissenschaft zu einer totalen Fundiertheit dieses Wissens neigt. Hier liegt der eigentliche Unterschied und nicht im Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein von Wissen. Auch die Gleichsetzung von Gebärden und Wörtern, die beide einfach den allgemeinen Bildern entsprechen würden, ist daher falsch. Gebärden und sichtbare Zeichen haben an sich weder etwas allgemeines, noch manifestieren sie allgemeines Wissen, denn sie entsprechen nicht Begriffen sondern Gegenständen. Es ist unmöglich, etwa die Bedeutung, den Begriff „ Baum “ zu zeigen. Was man zeigt, ist immer ein Baum, ein konkreter Gegenstand und was man zeichnen, also mit einem sichtbaren Zeichen darstellen kann, entspricht ebenfalls nicht der Bedeutung „ Baum “ , sondern immer einem Gegenstand, der ein Bezeichnetes, ein Beispiel für diese Bedeutung ist. Die Bedeutung „ Baum “ kann weder gezeigt noch gezeichnet werden. Warum musste ein Bloomfield die Betrachtung der Bedeutung aus dem Gebiet der Sprachwissenschaft ausschließen? Doch gerade deshalb, weil die Bedeutung in der Welt nicht feststellbar ist, weil die Bedeutung nur zum Bewusstsein gehört und weil Bloomfield auf die Introspektion, auf das Wissen des Sprechers verzichten wollte. Die Bedeutungen sind nie in der Welt gegeben. Es ist zwar ein Faktum, dass wir die Gebärden, das Zeigen, die sichtbaren Zeichen mit Bedeutungen in Verbindung bringen. Das geschieht jedoch immer über die Sprache. Nur wer im Besitz der Sprache ist, kann die Gebärden als Ersatz für die Sprache interpretieren, kann das Zeigen oder das gezeichnete Bild eines Baums als Andeutung des Begriffs „ Baum “ deuten. Beim Zeigen oder Zeichnen eines Gegenstandes beschränkt man sich nicht nur auf dieses eine Dasein, sondern das Sein dieses Daseins soll selbst deduziert werden und es soll verstanden werden, dass die Art des Seins dieses Gegenstandes z. B. Baum heißt. Die Tatsache aber, dass man durch Vorlage eines Gegenstandes zum entsprechenden Begriff gelangen kann, hängt mit der Sprachlichkeit des Menschen zusammen und erfolgt nicht ohne die Vermittlung zumindest einer inneren Sprache. Ohne diese Voraussetzung wäre der Übergang von einer Sprachform zur anderen nicht nur unverständlich, sondern gänzlich unmöglich. Ohne Sprache ist es unmöglich, vom Bild eines Gegenstandes zum entsprechenden Begriff zu gelangen. 226 <?page no="241"?> Dass Sprache gerade in Kontexten und in Bezug auf Gegenstände, die so oder so genannt werden, gelernt wird, ist sicherlich ein Faktum, das immer wieder empirisch festgestellt wird. Es bedeutet aber nur, dass das Erlernen immer kreativ ist. Das Kind gelangt, obwohl es nur Bezeichnungen hört, selbst von den Bezeichnungen zur Bedeutung und versteht das Zeichen über das Bezeichnete hinaus. Es hört angewandte Zeichen, versteht diese aber als Möglichkeit einer Bezeichnung, die über das jeweils Bezeichnete hinausgeht. 8.2.5 Das Verhältnis von Sprache und Denken zu den übrigen psychischen Tätigkeiten 8.2.5.1 Universalität des Denkens und der Sprache Kommen wir nun zu Schleiermachers dritter Frage, bei der es um das Verhältnis der Sprache zu den übrigen psychischen Tätigkeiten ging. Bei der Beantwortung dieser Frage unterscheidet Schleiermacher zunächst äußeres und inneres Sprechen und stellt fest, dass das Denken ein inneres Sprechen ist. Dies bedeutet aber zugleich, dass das Denken die Identität des individuellen Bewusstseins und des Gattungsbewusstseins voraussetzt. Das Denken wird schon im Hinblick auf dessen Mitteilung sprachlich formuliert. Derjenige, dem das Denken mitgeteilt werden soll, ist im individuellen Denken demnach bereits enthalten: Betrachten wir die Sache so, so gewinnen wir das Resultat, daß bei dem innern Sprechen, wo dies am meisten vorkommt, in der Richtung auf das Wissen, das Denken auch schon die Eigenschaft hat, daß es ein gemeinsames sein will, und daß, wenn dieses nicht zum Wesen unseres geistigen Lebens gehörte, auch das Sprechen nicht in einem so genauen Zusammenhang mit dem Denken stehen würde. Damit aber sagen wir, daß es eine Function des Geistes ist, welche die Identität des Selbstbewußtseins und des Gattungsbewußtseins in sich schließt. (ibid., 163) Wäre dem nicht so, hätte man zu den anderen Menschen im Grunde dasselbe Verhältnis wie zu den äußeren Gegenständen. Dies treffe, glaubt Schleiermacher, allerdings für die rein subjektive Seite der Sprache und für niedrigere Stufen der Entwicklung des Menschen zu. Da der Einzelne im Grunde keinen Kontakt mit dem Bewusstsein des Anderen hat, muss er das Bewusstsein bei diesem voraussetzen. Es ist dieses Voraussetzen des Bewusstseins beim Anderen, das die Sprachlichkeit und die Mitteilbarkeit des Denkens ausmacht. Man setzt voraus, dass der andere ebenfalls die Fähigkeit besitzt, zu denken, ein Zeichen aufzunehmen, es zu verstehen und zu interpretieren. Und erst nachträglich, wenn der andere sich auch tatsächlich gemäß den eigenen Erwartungen verhalten hat, bestätigt sich, dass wirklich ein Verstehen stattfand. Die Fähigkeit wird aber im Voraus angenommen, weshalb auch das Verhalten des Einzelnen einem anderen Menschen gegenüber anders ist als das den Gegenständen der Welt gegenüber. Dies ist ein sehr wichtiger Punkt, und man kann bei seiner Formulierung sogar etwas weiter gehen als Schleiermacher selbst: Das Denken will ein gemeinsames sein, weil es schon ursprünglich ein gemeinsames ist: Das Denken setzt seine Universalität voraus. Wenn man objektiv denkt, sieht man nicht einen Menschen, 227 <?page no="242"?> den anderen Menschen, sondern den Menschen schlechthin. Man nimmt ein gleiches Denken für alle Menschen an; gegenüber den Sachen an sich vertritt man nicht eine individuelle Meinung, sondern das Sein der Sachen selbst ist die Grundlage menschlicher Meinung und macht den „ gesunden Menschenverstand “ aus. Wenn man nun diese Universalität annimmt, kann man die Sprache im Ganzen rechtfertigen und nicht nur eine einzelne Sprache, nicht nur die Sprache des Wissens, weil alle Sprachen schon in ihrem Inhalt ein Wissen sind. Die Tatsache des Sprechens mit einem anderen setzt die Annahme voraus, dass der andere, der Empfänger, das gleiche Wissen besitzt und die gleichen materiellen Zeichen mit dem Wissen verbindet. Dieses Wissen kann nicht ein gemeinsames werden, strebt aber danach, da es ursprünglich ein gemeinsames ist. Diese Gemeinsamkeit wird durch das Sprechen mit dem anderen bestätigt und die Universalität wird gerade dabei vorausgesetzt. 8.2.5.2 Die Pluralität der Sprachen Die Linguisten, die diesbezüglich meist oberflächlich sind und ihre Intelligenz an der Oberfläche üben, verstehen oft nicht, dass dem naiven Sprecher allein schon die Existenz fremder Sprachen sinnwidrig vorkommt. Der naive Sprecher wundert sich über die anderen Sprachen. Mit anderen Worten: darüber, dass es andere Sprachen gibt, die − seiner Meinung nach − mit ihren Worten nicht dem Sein der Sachen entsprechen. Auch ist der naive Sprecher darüber erstaunt, dass fremde Sprachen andere Unterschiede in der Abbildung der Wirklichkeit machen. Diese beschriebene Haltung der Sprecher hat eine sehr tiefe Begründung: Der Punkt ist der, dass jede Sprache ihre eigene Universalität voraussetzt. Die Sprache will dem Sein der Dinge entsprechen, sie versucht das Sein der Dinge abzugrenzen. Nicht eine naive Verabsolutierung der eigenen Sprache gegenüber einer schon gegebenen Pluralität der Sprachen ist der Grund für die Haltung der naiven Sprecher, sondern das Gegenteil ist der Fall: Die beanspruchte Universalität der Sprache ist ursprünglich und primär, während die Pluralität eine sekundäre, eine historische Relativierung dieser Universalität ist. Die Sprache vertritt für den Sprecher die Welt schlechthin. Die historische Relativierung, die Tatsache anderer Sprachen, die mit dem eigenen Anspruch auftreten, die Welt darzustellen, ist nur eine Aufhebung der Universalität im Sinne Hegels: Die Universalität wird dadurch nicht zerstört, sondern sie ist eine Universalität unter anderen, die in der historischen Realisierung der Sprachen möglich ist. Der objektive Bezugspunkt - die Welt - ist bei allen Sprachen als die objektive Welt gegeben, als das, was bei allen Menschen in gleicher Weise da sein müsste. Dies bildet die Grundlage für die Annahme, dass unterschiedliche Sprachen dasselbe ausdrücken können, bzw. ausdrücken müssen. Daher ist es auch der Anfangspunkt der Spracherlernung, da ein Erlernen einer fremden Sprache nicht möglich wäre, wenn diese Annahme falsch wäre. 228 <?page no="243"?> 8.2.5.3 Primitive und entwickelte Sprachen Schleiermacher trifft die Unterscheidung nicht in dieser Form, da er nicht von der Sprache als Wissen, sondern von der Sprache des Wissens ausgeht. Daher macht er auch die Unterscheidung zwischen zwei Phasen: (a) die nicht im Gesamten entwickelte Sprache; (b) die bereits entwickelte Sprache. Erstere wären beispielsweise die „ Primitivsprachen “ . Hiermit sind Sprachen gemeint, die sich fast nur mit der Übertragung des Sichtbaren ins Hörbare begnügen und sich daher auf das praktische Leben beschränken. Das Märchen das da erzählt, bei Vertretern dieser Sprachen würden die sinnlichen Tätigkeiten überwiegen, Sprechen sei mehr eine Übertragung der Bilder und die Sprecher dieser Sprachen seien schweigsamere Völker, wurde lange Zeit in der Sprachtheorie verbreitet und als Grundlage angenommen - insbesondere von Lord Monboddo und seinem deutschen Nachahmer Friedrich Schlegel, die dann beide auch zu einem solch schematischen Verständnis von höher entwickelten Sprachen kamen [vgl. Bd. 1, Kap. 15. 4.3.6]. So entstand z. B. das Bild der schweigsamen Indianer, die nur hohe Laute kennten und daher eine Artikulation hätten, die kaum von nicht-artikulierter Lautbildung zu unterscheiden wäre. Heute wissen wir, dass solche Bilder falsch sind und dass jede Sprache über ein hohes Entwicklungsstadium verfügt. Manche angeblichen „ Primitivsprachen “ scheinen uns aufgrund ihrer Komplexität als schwer erlernbar. Humboldt stellte sich die Aufgabe zu zeigen, dass die Idee jeder Sprache die gleiche ist, und dass es daher keine „ Primitivsprachen “ geben könne. Daher bekämpfte er die allgemein verbreitete Unterscheidung zwischen den Kunstsprachen von der Art unserer sog. Kultursprachen und den sog. primitiven, barbarischen Sprachen, denen die meisten anderen Sprachen zuzuordnen wären. Schleiermacher nahm die gleiche Position ein, die auch Friedrich Schlegel vertrat, gestand der Sprache jedoch grundsätzlich eine Weiterentwicklung zu, während Schlegel meinte, aus den verschiedenen primitiven Urformen hätten sich die barbarischen Sprachen entwickelt, und die Kunstsprache − nur die indoeuropäische Sprachfamilie wird als eine solche verstanden - wäre als einzige geschaffen worden; und Entwicklung bedeute in ihrem Falle nicht Verfeinerung, sondern Verfall. [Cf. supra Kap. 6.4] Bei dieser primitiven Form der Sprache ist die Sprache neben anderen psychischen Tätigkeiten eine Begleiterscheinung. Einerseits ist die Sprache ein Nachher gegenüber der Empfindung: sie dient zur Fixierung der Empfindung; andererseits ist sie ein Vorher gegenüber dem Willen: Sie gibt die Möglichkeit zur Planung von Handlungen. Diese beiden Arten der Begleitung anderer psychischer Tätigkeiten durch die Sprache werden von uns im praktischen Leben genutzt. Im Denken ist ursprünglich etwas gesagt, das erst werden soll. Während ansonsten das Denken allem anderen nachfolgt, ist es hier das schlechthin erste, sobald wir einen Willensakt als etwas Besonderes setzen, unabhängig von seiner Veranlassung. Hier geht es also um die Planung des noch zu Realisierenden, und die Sprache sei eben an 229 <?page no="244"?> dieser Planung beteiligt: Sie sei die Ausdrucksweise der Planung selbst, Ausdruck eines Sein-Sollens. 8.2.5.4 Sprache der Dichtung vs. Sprache der Wissenschaft Wichtiger ist aber die Behandlung der Sprache als freie Produktion: die Sprache der Dichtung, die der der Wissenschaft gegenübergestellt wird. Trotz der schematischen Fragestellung und der schematischen Beantwortung zeigt Schleiermacher ein tiefes Verständnis des Wesens der Dichtung, so dass es sogar für uns heute noch von Interesse ist. Hier, wo die Sprache als eins mit der Denktätigkeit hervortritt, finden wir ihre höchsten Erscheinungsformen. Das wissenschaftliche Denken sei zwar als selbständige Erscheinung frei, aber inhaltlich gebunden, weil es mit der Erfahrung des Seins übereinstimmen müsse. Demgegenüber sei das dichterische Denken nicht an die Erfahrung des Seins gebunden, denn es sei eine in das Subjektive aufgenommene Produktion, so dass es auch das Objektive in das Gebiet des Subjektiven hineinzieht und daher in seinem Ausdruck an den Ausdrucksformen der Subjektivität, an Bildern und Gesang, festhält: Wenn wir darauf zurükkgehen, daß das Denken nichts von außen gegebenes und wenn auch durch das organische hervorgerufen, doch ein innerlich producirtes ist, so werden wir auch das Denken als eine freie Thätigkeit sezen können; wenn es sich aber anschließt an das, was ursprünglich Wahrnehmung gewesen ist und dieses festhält, so ist es zwar seiner Genesis nach auch noch frei, aber dem Inhalte nach ist es gebunden, denn es soll das Sein darstellen und mit der Wahrnehmung übereinstimmen und sich dadurch immer mehr bewähren. Betrachten wir dagegen das poetische Product, so finden wir auf der einen Seite diesen Zusammenhang gelöst, auf der andern ihn in eigentümlicher Weise festgehalten. Denn wollte man sich eine Poesie denken, welche aus überwiegend combinatorischen und speculativen Sprachelementen bestände, also losgerissen von den sinnlichen Bildern, so wäre das ein Versuch etwas in eine dem Inhalte nicht angemessene Form zu bringen. Wir haben es hier mit einer rein in das subjective aufgenommenen Production zu thun, die an die Gesammtheit der Bilder gebunden ist aber ganz unabhängig von der Richtung auf das Wissen, und denken wir sie verbunden mit dem Gesange, so ist auch, was ursprünglich Gedanke ist, in das Gebiet des subjectiven hineingezogen. (ibid., 166 f.) Schleiermacher betrachtet die Kunst und somit auch die Dichtung als eine ständige Dimension des Menschen. Deshalb lehnt er auch alle Theorien entschieden ab, die eine zeitliche Aufeinanderfolge von Dichtung und Wissenschaft annehmen. Diese zeitliche Aufeinanderfolge würde heißen, dass Dichtung mit einer Art Kindheit der Sprachentwicklung der Menschheit verbunden wird, also eine ursprünglichere Phase der Sprachentwicklung darstellen würde. Dies ist ein wichtiger Punkt, der in systematischer Hinsicht - d. h. in Bezug auf den Aufbau der Sprachphilosophie - aber auch in hermeneutischer Hinsicht - d. h. hinsichtlich der Interpretation der Sprachphilosophie in ihrer Geschichte - entscheidend ist. Schleiermacher sagt es nicht ausdrücklich, aber er betrachtet das, was andere als eine ursprüngliche Sprache und ursprüngliche Dichtung ansehen, als 230 <?page no="245"?> etwas noch nicht genügend Differenziertes, das mit der schon von der Wissenschaft getrennten Dichtung nicht identifiziert werden darf. Die Mythologie würde Schleiermacher als Dichtung und Wissenschaft zugleich ansehen. Schleiermacher spielt hiermit auf Vico und auch auf Rousseau oder Condillac an. Er hat hier die charakteristische Unzulänglichkeit der Sprachauffassung Vicos identifiziert, die gerade darin besteht, dass sie das noch nicht in Dichtung und Wissenschaft Differenzierte mit der schon differenzierten Dichtung gleichsetzt. Dies will sagen, dass die Sprache ursprünglich Dichtung war, wobei eine ursprüngliche Phase angenommen wird, in der Dichtung und Wissenschaft noch nicht als solche differenziert waren. Deshalb könnte mit gleichem Recht gesagt werden, dass die Sprache ursprünglich Wissenschaft gewesen ist, was jedoch auf die gleiche Weise falsch wäre. Für Schleiermacher müssen nicht zwei voneinander zu unterscheidende Phasen angenommen werden, sondern zwei Richtungen der Denktätigkeit: die objektive und die subjektive Richtung. Indem wir also dies als eine Einseitigkeit ansehen können und das gänzliche Fehlen dieses Gliedes uns offenbar als eine Ausnahme von dem natürlichen Entwicklungsgange denken, so müssen wir eine zwiefache combinatorische Thätigkeit in Beziehung auf das Denken, wie es sich im Gefolge des sinnlichen Bewußtseins entwikkelt, annehmen; die eine, welche rein objectiv auf das Verhältniß der Intelligenz zu dem Sein an sich gerichtet ist, die andre, in welcher sich die Intelligenz als Einzelwesen auf eine eigenthümliche Weise productiv manifestirt. (ibid., 168) D. h. das wissenschaftliche Denken geht von der „ Welt “ zum Geist, das poetische Denken vom Geist zur „ Welt “ . Das wissenschaftliche Denken denkt das Objektive: die Welt wird zum Geiste gemacht, sie wird etwas Bekanntes. Das dichterische Denken hingegen entspricht der subjektiven Richtung, so dass auch das Objektive zum Subjektiven gemacht wird: Die objektive Produktion wird zu einer Empfindung, zu einem Gefühl, dahingehend, dass die Subjektivität zur Welt gemacht wird: Das wissenschaftliche Denken interpretiert die Welt, das poetische Denken schafft eine Welt. In dieser Hinsicht sei das wissenschaftliche Denken das Aufnehmen des Subjektiven in das Objektive. Auf der anderen Seite wäre das poetische Denken das Aufnehmen des Objektiven in das Subjektive. Darin besteht die Trennung von objektivem und subjektivem Bewusstsein. In der Wissenschaft ist meine Erkenntnis der Welt die Welt. Im poetischen Denken verhält es sich umgekehrt: Die erkannte Welt ist meine Welt. Im wissenschaftlichen Denken wird die Welt zum Geist gemacht, die Welt ist eine bekannte Größe. Im poetischen Denken wird der Geist zur Welt gemacht: Er projiziert sich selbst in die Welt und wird selbst zu einer Welt. Dies wird beispielsweise an der Ilias deutlich, die nicht die Darstellung einer Welt und auch nicht eine Interpretation einer schon gegebenen Welt ist, sondern die subjektive Vorstellung einer Welt. Im Falle der Wissenschaft schreibt man die freie Produktion, das Ergebnis der Interpretation dem Objekt zu. Die Relationen sind nicht im Objekt selbst gegeben, 231 <?page no="246"?> sind also kein Gegenstand der Erfahrung, sondern werden erst hineininterpretiert. Als Ergebnis der Interpretation gehören die Relationen aber selbst zum Gegenstand. Dies bedeutet eine Aufnahme des Subjektiven der Interpretation in das Objektive. Was bedeutet nun die Aufnahme des Objektiven in das Subjektive im Falle der Kunst? Das Objektive selbst wird subjektiv interpretiert und somit subjektiv produziert. In der Literatur wird ein gegebenes außerliterarisches Faktum zum Anlass einer subjektiven Interpretation und Produktion. Das gleiche Faktum kann entweder objektiv festgestellt oder literarisch uminterpretiert werden, wobei nicht gesagt werden kann, dass das Faktum als solches der eigentliche Inhalt des literarischen Werkes ist. Beispielsweise liegt dem Roman Le rouge et le noir von Stendhal ein sogenanntes wirkliches Ereignis zugrunde, das der Schriftsteller aus den Zeitungen übernommen hat. Das Thema des Romans ist aber nicht dieses Faktum, sondern die subjektive Interpretation dieses Faktums, die subjektive Produktion. Auch in der Malerei ist Vergleichbares festzustellen. Der französische Maler Camille Corot sagte einmal, die Natur sei ihm langweilig geworden, da er überall in der Natur nur noch Bilder von Corot sähe. Das Objektive wird also von ihm uminterpretiert, und es wird durch das Subjektive gesehen. Die Interpretation wird zum Objektiven, da das Objektive so aufgefasst wird, wie ich es produzieren würde. Mit dieser Behauptung scheint eine andere im Widerspruch zu stehen, nämlich die, dass die Wissenschaft das Objektive zum Geist, zum Wissen macht. Die Realität in der Wissenschaft wird von mir verstanden, d. h. zu meinem inneren Eigentum, zu einem Wissen über die Realität gemacht. Die Realität wird nicht von mir produziert, sondern die Inhalte des Bewusstseins, nämlich Wissen, sind mein Produkt. In der Dichtung und in der Kunst überhaupt verhält es sich genau umgekehrt: Von den Inhalten des Bewusstseins wird der Schritt zur Realität gemacht. Natur und Welt werden also produziert. Die Kunst stellt sich als Objektivierung des Subjekts dar; sie stellt das Subjekt in die Welt hinein. Die Wissenschaft interpretiert die Welt und macht sie zum Wissen, während die Dichtung die Welt bzw. Welten produziert. Diese beiden Behauptungen sind also komplementär und nicht kontradiktorisch zu verstehen. Das wissenschaftliche Denken sei ferner als Kombination frei, weil nichts in Kombination gegeben ist, sondern das Gegebene erst gerade durch die Kombination des Denkens zu einem Kombinierten wird. Wir stellen also die Relationen in der Welt erst fest. Dies ist eine Tätigkeit des subjektiven Bewusstseins, die wir aber dem Objektiven zuschreiben, so dass unsere Interpretation zur Welt wird. Die Kombinationen selbst müssen beim wissenschaftlichen Denken aber objektiv begründet sein, bis sie dann auf die Wirklichkeit übertragen werden. Demgegenüber sind die Kombinationen im poetischen Denken frei, so dass sie nur subjektiv durch die Anschauungen des Dichters begründet sind. Als weiteren Gegensatz würde man bei Schleiermacher erwarten, dass er den Inhalt dem Ausdruck gegenüberstellt, wobei der Inhalt in der Wissenschaft gebunden und der Ausdruck frei sein würde. In der Dichtung wäre der Inhalt frei, aber im Ausdruck wäre sie gebunden. Eine solche Gegenüberstellung wäre 232 <?page no="247"?> aber problematisch. In der Tat kann die Wissenschaft eine konstruierte Fachsprache und sogar eine logisch-symbolische Sprache verwenden, aber auch hier müssten die Kombinationen objektiv begründet sein. Eine Dichtung aber, die eine konventionell konstruierte Fachsprache verwendet, ist kaum vorstellbar. Schleiermacher, der nur den Inhalt der Sprache berücksichtigt, betrachtet gerade die Wissenschaft als sprachlich gebunden. Er dachte an die Notwendigkeit der Kohärenz, vergaß aber, dass man auch eine Kunstsprache verwenden könnte. Die Dichtung ist an den Ausdruck gebunden, sowohl an die subjektiven Ausdrucksformen, beispielsweise den Gesang, als auch an die historische Sprache. Wenn ich meine subjektive, individuelle Welt - mich selbst - objektiviere, muss ich mich in der Sprache des Volkes, in der Sprache der Menge ausdrücken. Der Schluss der Behandlung der dritten Frage wurde von uns schon angedeutet. Hier die Formulierung Schleiermachers: Hierin ist nun das ganze Verhältniß der Denkthätigkeit zu allen andern Functionen erschöpft. Diejenigen, welche überwiegend empfänglich sind, sind uns repräsentirt durch die Sinnesthätigkeit, diejenigen, welche überwiegend selbstthätig sind, sind uns repräsentirt durch die Willensacte, an beide hängt sich das Denken, den einen nachfolgend den andern vorangehend und zwischen beiden liegt die freie Production. (ibid., 170) 8.2.6 Die Universalität des Denkens und die Mannigfaltigkeit der Sprachen 8.2.6.1 Die Fragestellung Wir kommen nun zur vierten Frage Schleiermachers. Das Denken ist universell und beansprucht Universalität als seine Voraussetzung. Die Objektivität des Denkens wird vorausgesetzt, die Relationen, die durch das Denken geschaffen werden, sind der Welt selbst zuzuschreiben. Zugleich beinhaltet dieser Universalitätsanspruch Gültigkeit für alle Menschen, da es um Objektivität und nicht um Subjektivität geht. Nun drängt sich die Frage auf, warum die Sprachen so verschieden sind, wenn es sich doch so verhält. Sie stellt sich umso mehr, als diese Verschiedenheit nicht nur oberflächlich ist, sondern tatsächlich auch inhaltliche Unterschiede aufweist und somit die Denktätigkeit selbst affiziert. Schleiermacher formuliert diese Fragestellung folgendermaßen: Wie ist, da doch die Denkthätigkeit auf dem Gattungsbewußtsein ruht und dabei die Identität der Vernunft in allen vorausgesezt wird, die große Verschiedenheit und das Verhältniß der verschiedenen Sprachen, insofern dies zugleich die Denkthätigkeit selbst afficirt, zu begreifen? (ibid., 170) 8.2.6.2 Exkurs: Historischer Überblick über frühere Lösungsansätze Die Frage, die Schleiermacher stellt, entspricht der neuen Suche nach der verlorenen Einheit der Sprache, die man fast allgemein im europäischen Denken, im sprachphilosophischen und auch im sprachwissenschaftlichen Bereich, noch vor Herder im 18. Jahrhundert aufgenommen hatte. Die These der Universalgrammatik, die die Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft in gleicher Weise betraf, besagte, dass alle Sprachen im Grunde und im wesentlichen einander gleich seien. 233 <?page no="248"?> Wenn eine Sprache von einer anderen abweicht, die in diesem Punkt das Richtige darstellt, so wird dies als eine Art von Irrweg diese Sprache angesehen. Oder aber man rechnet „ Abweichungen “ dieser Art nicht zum Wesentlichen der Sprache, sondern fasst sie als nur marginal auf. Die These, die in letzter Zeit in der Generativen Grammatik Noam Chomskys eine Rolle spielte, beruhte nicht auf der Annahme, dass alle Sprachen in jeder Hinsicht gleich seien. Man nahm vielmehr einen Kern an, in dem alle Sprachen gleich sind, und verortete die Differenzierungen außerhalb dieses Kerns. Das Gemeinsame stellt dabei das Wesentliche dar, so wie es bereits im Untertitel der „ Allgemeinen Grammatik “ von Port Royal aus dem Jahre 1660 anklingt: Die Grammatik verspricht, die Gründe für das zu behandeln „ was allen Sprachen gemeinsam ist [les raisons de ce qui est commun a toutes les langues] und sieht von dem ab, was bloß dem Usus entspricht [sauf ce qui est de l ’ usage]. “ Dieser Auffassung gegenüber führt Herder ausdrücklich die Eigentümlichkeit und die Verschiedenheit der Sprachen als etwas Primäres und als ein Universale der Sprache ein. Die Eigentümlichkeit und Verschiedenheit dürften nun nicht als Randerscheinung abgetan werden, sondern sie gehörten zum Wesen der Sprachen [cf. supra, Kap. 3.4.9]. Sowohl die Sprachwissenschaft als auch die Sprachtheorie und die Sprachphilosophie versuchen, nach Ansicht Herders, die verlorene Einheit wiederzufinden, d. h. die Verschiedenheit der Sprachen, ihre Eigentümlichkeit, mit der Einheit zu vereinbaren. Bei Herder ist diese Eigentümlichkeit auf verschiedenen Ebenen zu finden: auf der Ebene der Spracherlernung, der Ebene der Übersetzung und der Ebene der Sprachtheorie. Die Suche nach der Einheit ist ein Charakteristikum der Sprachphilosophie der deutschen Romantik. August Wilhelm Schlegel nimmt beispielsweise eine sekundäre kulturelle Einheit der Sprachen an und formuliert die Idee des Sprachbundes. Er stellte fest, dass die Sprachen Europas trotz ihrer Verschiedenheit weitgehend dasselbe sagen. Dies führte er auf die gegenseitige Beeinflussung und auf die Gemeinsamkeit der Traditionen der europäischen Kultur zurück. August Wilhelm Schlegel ist der Wegbereiter einer Linguistik, die die Gemeinsamkeiten in einem bestimmten Kulturkreis feststellt. Auch bei genetisch sehr verschiedenen Sprachen − beispielsweise dem Ungarischen gegenüber den indoeuropäischen Sprachen − versucht diese „ europäische Linguistik “ die Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. Auf der anderen Seite wird eine typologische Einheit postuliert, die besagt, dass die Sprachen auf der Ebene ihrer Strukturierung zwar verschieden, aber auf der nächst höheren Ebene nach wenigen einheitlichen Prinzipien gestaltet seien, so dass sich Sprachtypen als höhere Einheiten feststellen ließen. So lässt sich beispielsweise sagen, dass das Deutsche zwar völlig anders als das Griechische sei, dass jedoch auf einer bestimmten Ebene große Ähnlichkeiten zwischen diese beiden Sprachen festzustellen seien. In anderer Hinsicht ist es möglich, nach der historisch-genealogischen Einheit zu suchen. Hierin liegt das Motiv für die Entstehung der historisch-vergleichenden Grammatik, die diese Einheit in einer gemeinsamen Ursprache sieht. In unserem 234 <?page no="249"?> Fall wäre dies die indoeuropäische Sprache, aus der sowohl das Griechische als auch das Deutsche hervorgegangen sind. Oder man findet diese Einheit in der Sprachidee selbst, wie es Humboldt tat. Humboldt meint, die Sprachidee sei überall die gleiche, obwohl die Realisierung dieser Sprachidee in jeder Sprache eine andere sei. Bei Humboldt bestehen also die Einheit auf der Ebene der Sprachidee und die Verschiedenheit auf der Ebene der Realisierung dieser Sprachidee. So kommt es, dass das Thema seiner gesamten Sprachphilosophie die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues ist. Auf der anderen Seite ist es von Bedeutung, das Einheitliche an den Sprachen zu begründen und zu verstehen, nachdem das Eigentümliche in das Universelle aufgenommen worden ist. Die Verschiedenheit wird nicht als etwas Marginales der Sprache angesehen, sondern gehört zur Einheitlichkeit der Sprache, zu deren Einheit. Die Einheit der Sprache, die Äquivalenz zwischen Sprache und Denken, die noch in der Universalgrammatik angenommen wurde, ging durch die Annahme einer universellen Dimension der Eigentümlichkeit der Sprache verloren. Auf verschiedenen Wegen versucht man nun diese Einheit wiederzufinden. Dies ist der tiefere Sinn der neuen Fragestellungen, die sich in dieser Zeit getrennt voneinander herausbilden und die in einem völlig neuen Kontext im Vergleich zu den früheren stehen. Es wurde schon bemerkt, dass einer dieser Wege in der typologischen Fragestellung besteht: Sprachen wurden in verschiedene Typen eingeteilt. Als universelle Einheit der Sprachen schlechthin wird die prinzipielle Kohärenz der Sprachen angesehen. Dies meint, dass die Einheit der Sprachen in ihrem kohärenten Aufbau liegt. In den unterschiedlichen Verfahren zur Herstellung dieser Kohärenz kann man eine Reihe von Typen erkennen. Auf diese Weise fand man eine relative Einheit innerhalb der faktisch vorliegenden unendlichen Verschiedenheit wieder. Der andere Weg ist der genealogische: Bei all ihrer Verschiedenheit ließen sich alle Sprachen doch auf Urformen zurückführen. Man postuliert genealogische Familien - also Einheiten - , die den Gegenstand der historisch-vergleichenden Grammatik bilden. Die historisch-vergleichende Grammatik ist demnach nicht allein ein Vergleich verschiedener Sprachen - etwa kontrastive Linguistik - , sondern es geht darum, tatsächliche, historisch gegebene Sprachfamilien, größere Einheiten festzustellen. Humboldt, der diese Einheiten ebenfalls anerkennt, sowohl die typologische als auch die genealogische, wobei er sich auf die kulturell bedingte kaum bezieht, sieht die Einheit in der Sprachidee selbst, wie weiter oben bereits erwähnt wurde. Für Hegel, der in gleicher Weise die Verschiedenheit der Sprachen betont, ist die Einheit der Sprache durch die Methode gegeben; dieser Ansatz entspricht fast dem Humboldtschen. Es würden in den Sprachen Unterschiede nach denselben allgemeinen Kriterien getroffen, wobei diese Kriterien nicht an denselben Stellen und nicht in gleicher Weise eingebunden werden; die analytische Methode selbst sei jedoch in allen Sprachen die gleiche. Die Sprachwissenschaft Hegels versucht zu zeigen, dass die Sprachen ihre Einteilungen aufgrund einer begrenzten Anzahl von Kriterien und durch die verschiedenen Kombinationen dieser Kriterien machen. 235 <?page no="250"?> 8.2.6.3 Die inhaltliche Verschiedenheit der Sprachen Schleiermacher betont am eindeutigsten die Verschiedenheit der Sprachen und findet die klarsten Formulierungen dafür. Auf das Problem wurde bereits mehrfach hingewiesen: Es scheint ein Widerspruch zwischen der angenommenen Einheit des Denkens und der Verschiedenheit der Sprachen zu bestehen. Die Universalgrammatik meinte, dass die Verschiedenheit nur den Ausdruck betreffe und dass die Verschiedenheit des Inhalts marginal sei. Die Position Schleiermachers ist eine andere. Er nimmt die gegebene Verschiedenheit voll an und betont sie sogar: Es sei falsch, nur Verschiedenheit des Ausdrucks anzunehmen, der zufolge sich die Sprachen nur bezüglich ihrer Laute unterscheiden würden. Wenn nämlich das Verhältniß ein solches wäre, daß die Sprachen nur ihrem Laute nach verschieden wären, das dabei gedachte aber in allen dasselbe, so würde die Schwierigkeit nicht groß sein und sie würde uns gar nicht betreffen, weil sie ganz in das Gebiet des physiologischen fallen würde. (ibid., 170 f.) Den Inhalt betreffend betont er zum einen eine quantitative Verschiedenheit. Hiermit ist das gemeint, was man bereits früher als den „ Reichtum “ der Sprachen erkannt hat. Das Quantitative gilt nicht nur für die gleichen Abgrenzungen - z. B. eine größere Anzahl von Wörtern − , sondern es ist auch ein Reichtum an getroffenen Unterschieden damit gemeint. Diese zusätzliche Differenzierung ist qualitativer Natur. Hierunter versteht Schleiermacher, dass die Begriffe selbst noch weiter und anders analysiert sind. Schleiermacher führt dafür ein Beispiel aus der Wortbildung an. Er zeigt, dass Wortbildungsprodukte, die in verschiedenen Sprachen für analoge Begriffe stehen, aufgrund ihrer unterschiedlichen Bestandteile dennoch nicht als gleichwertig anzusehen sind. Als Beispiel können die Wörter annehmen und admettre dienen: annehmen hängt mit dem Wort nehmen zusammen, admettre kommt dagegen von mettre, „ setzen, stellen, legen “ . Die Relationen der Inhalte sind also unterschiedlich, das beeinflusst die Verwendbarkeit der Wörter in unterschiedlichen Kontexten. Daher ist es unmöglich, dass das, was in einem bestimmten Text als genaues Äquivalent gelten kann, in anderen Texten und andersartigen Verwendungen durchweg ebenfalls als Äquivalent angesehen werden kann. In diesem Zusammenhang spricht Schleiermacher von der „ Irrationalität “ der Sprachen. Gemeint ist „ irrational “ im mathematischen Sinn; die Möglichkeiten der Entsprechungen zweier Wörter aus verschiedenen Sprachen lassen sich nicht durch ein ganzzahliges Verhältnis (1: 1: 1; 1: 1: 2 oder 1: 1: 3 usw.) ausdrücken. Zudem ändern sich die Verhältnisse, wenn eines der Wörter mit Äquivalenten aus einer anderen Zielsprache konfrontiert wird. Schleiermacher betont also die Verschiedenheit im Inhalt, insbesondere die der inneren Relationen im System der Sprache. Er kann als ein Vorläufer von Saussure angesehen werden, der seinerseits einen Unterschied macht zwischen signification (tatsächliche Verwendung) und valeur (Bedeutung in einer Sprache). In einer Sprache ist die valeur zwar eine Einheit, denn ein Wort hat eine einheitliche Bedeutung, diese Bedeutung entspricht aber nicht einer Bedeutung in einer anderen 236 <?page no="251"?> Sprache, denn Bedeutungen sind von Sprache zu Sprache unterschiedlich. Entsprechungen in der Verwendung gibt es natürlich; sie sind jedoch nie vollständig, sondern ihr Verhältnis ist „ irrational “ im oben erläuterten Sinn. Der folgende Passus von Schleiermacher ist für das genaue Verständnis der Verschiedenheit der Sprachen so wichtig und so neu und einmalig im Vergleich zur vorausgehenden Sprachphilosophie, dass er hier ganz zitiert werden soll: Die Differenz ist jedoch auch eine qualitative. Es ist eine sehr unvollkommene Ansicht von einer Sprache, wenn man die einzelnen Wörter nur als ein nebeneinander gestelltes für sich betrachtet, vielmehr ist es eine naheliegende Aufgabe sie zu gruppiren und nach dem Verhältniß ihrer Zusammengehörigkeit zu ordnen. Wenn es in einer Sprache eine große Masse von Formen giebt, dasselbe Stammwort durch Anhängung von einzelnen an und für sich nicht selbständigen Lauten, Beugungen u. s. w. zu modificiren, so entstehen daraus eine große Menge von Wörtern, die sich alle auf eine Wurzel zurükkführen lassen. Thut man dies in verschiedenen Sprachen, so findet sich nicht nur eine Mannigfaltigkeit in der Art und Weise, die Begriffe zu zersezen und zu verknüpfen, sondern es zeigt sich auch, daß die Stammwörter selbst nicht in einander aufgehen und ebenso die Beugungswörter, kurz man kann diese qualitative Differenz der Sprachen nicht anders bezeichnen, als daß sie alle gegen einander irrational sind. Keine kann durch die andre adäquat gemessen werden und zwar nicht allein so, daß für ein einzelnes Wort in der anderen Sprache nicht ein solches gefunden wird, welches ganz dasselbe bedeutet, sondern auch so, daß das ganze Verhältniß dieser Wörter auch zugleich logisch verschieden ist. (ibid., 171 f.) Schleiermacher sagt, dass man wenigstens zum Teil die Verschiedenheit der Sprachen als eine Verschiedenheit des Denkens auf die unterschiedlichen Entwicklungsstufen der Sprachen zurückführen könne. In einem vorangegangenen Abschnitt haben wir schon festgestellt, dass Schleiermacher auf der alten Idee der Primitivsprachen beharrt, weil er Fachsprachen als Einzelsprachen ansieht. Sprachen, die keine entwickelten Fachsprachen besitzen, versteht er als Sprachen einer niedrigeren Entwicklungsstufe. Zum Teil lässt sich demnach die Verschiedenheit der Sprachen auf die Verschiedenheit der Entwicklungsstufen zurückführen. Dies reiche aber noch nicht aus, weil man nicht die ganze Verschiedenheit - gerade die inhaltlichen nicht - auf Entwicklungsstufen zurückfuhren könne, denn auch bei Sprachen derselben Entwicklungsstufe ließen sich solche Verschiedenheiten feststellen: Allein das [die Entwicklungsstufen] ist noch gar nicht der ganze Umfang der Sache, sondern nur das eine Princip, wir können vielmehr Sprachen vergleichen, welche eine ebenso starke Richtung auf das Wissen haben, aber das logische in den Sprachelementen ist doch in ihnen ein verschiedenes, und da ergiebt sich eine Art von Nothwendigkeit, indem wir die Identität der Denkthätigkeit voraussezen, doch eine ursprüngliche Verschiedenheit in der Art und Weise, wie sie sich ausbildet, anzunehmen. (ibid., 172) Schleiermacher führt drei Beispiele an, bei denen ein deutsches Wort einem griechischen gegenüber gestellt wird (und vs. καί , Gott vs. θεός , Stoff vs. ὕλη ) um 237 <?page no="252"?> seine Ausführungen zu begründen. In linguistischer Hinsicht zeigt gerade dieses letzte Beispiel die Unzulänglichkeit seiner Fragestellung, aber auch, dass seine Intuition viel weiter geht als seine rationale objektive Analyse. Er sagt, dass es zwischen Stoff und ὕλη eine Differenz gebe, obwohl in der Verwendung eine solche nicht festzustellen sei. Was er meint, wird deutlich, wenn wir bedenken, dass das griechische Wort aus dem Alltagsleben herrührt und von da erst in die Sphäre der abstrakten Begriffe übertragen wurde, während dies beim deutschen Wort nicht der Fall war. Daraus folgert Schleiermacher, dass wir beide Wörter nicht gleichsetzen können. Aber der Unterschied liegt hier nicht in der Bedeutung, wie in den anderen von ihm angeführten Fällen, sondern in der Konnotation, in dem, was diese Wörter evozieren. Das eine Wort ist ein Wort der üblichen Umgangssprache, während das andere aus der Fachsprache genommen ist. 127 Diese linguistische Unzulänglichkeit der Analyse braucht uns aber nicht aufzuhalten. Das Wichtige ist, dass Schleiermacher dieses irrationale Verhältnis gesehen, und dass er das Zusammenhängen der Wörter, der Einheiten einer Einzelsprache mit einem bestimmten lexikalischen System festgestellt hat. Diese unterschiedlichen lexikalischen Kontexte beinhalten für Schleiermacher auch Unterschiede im Denken, denn für ihn ist die Sprache gerade durch diese Inhalte auch Denken. Das Problem der Sprachphilosophie besteht darin, beides auf irgendeine Weise zu vereinbaren. Hierzu ein Zitat: Es fragt sich also, wie man beides vereinigen könne, die Annahme, daß die Sprache nicht anders zu erklären ist als durch die Identität der Denkthätigkeit, und die Verschiedenheit der Sprachen. Es ist offenbar, daß jeder, der spricht, verstanden werden will, und das sezt die Identität voraus, aber es ist auch ebenso offenbar, daß die verschiedenen Sprachen aus einer Differenz in der Denkthätigkeit entstanden sind. (ibid., 174) Hier wird die Spannung thematisiert, die sich aus dem Unterschied zwischen dem Prinzip der Einheit des Denkens und der festgestellten Verschiedenheit der Sprachen ergibt. 8.2.6.4 Überwindung der Verschiedenheit durch eine historisch gewonnene Universalsprache Wie ist diese Spannung nun zu überwinden, wenn das Prinzip von der Identität der Sprache und des Denkens aufrechterhalten werden soll? Man kann versuchen, diese Verschiedenheit auf dem Gebiet der Sprachen selbst zu überwinden. Dies müsste dann durch eine Universalsprache geschehen. Was Schleiermacher in den vorangegangenen Versuchen zur Entwicklung einer solchen Sprache als Tendenz erkennt, betrachtet er als einseitig, da immer nur von einer Differenz der Sprachen ausgegangen und die gleichzeitige Differenz des Denkens übersehen worden sei. Hiermit meint er z. B. die Universalgrammatik, die nur eine 127 [Die Tatsache, dass Stoff auch heute noch in der Bedeutung „ Gewebe “ verwendet wird, spricht dem entgegen. Das griechische Wort stammt allerdings aus einem anderen Bildspenderbereich: „ Bauholz “ .] 238 <?page no="253"?> oberflächliche Differenz der Sprachen annahm und eine tiefere Verschiedenheit der Sprachen in der Gestaltung des Denkens selbst nicht berücksichtigte. 8.2.6.5 Überwindung der Verschiedenheit durch Verständnis aller fremden Sprachen Eine andere Möglichkeit wäre, „ sich in die vorausgesetzte Differenz selbst hineinzudenken “ (175). Dies hieße, nicht nur eine Sprache zu verstehen, sondern die verschiedensten Sprachen verstehen zu wollen. Dies würde eine Überwindung der Differenz durch eine Zuwendung zur absoluten Gemeinschaft bedeuten, verbunden mit der idealen Vorstellung, dass jeder jeden verstehen könne. Hierzu bemerkt Schleiermacher, dass eine absolute Gemeinschaft nicht anders erreicht werden könne als von der ersten Voraussetzung aus, d. h. durch das Zusammenfließen aller Sprachen. Dieses Zusammenfließen aller Sprachen würde auch ein Zusammenfließen aller Gemeinschaften voraussetzen. Diese Idealvorstellung, dass alle Menschen alle Sprachen verstehen, ist jedoch empirisch unmöglich. Falls eine Einheit des Denkens vorausgesetzt wird, geht man von einer Tendenz zur Überwindung der Sprachverschiedenheit aus, weil angenommen wird, „ daß der Denkgehalt aller Sprachen derselbe sei “ (175). Eine solche Identität wird z. B. hinsichtlich des Verhältnisses des Subjekts zum Prädikat oder des Allgemeinen zum Besonderen angenommen. Eine solche Identität wird jedoch bei der Mitteilung von Wissen nur vorausgesetzt, nicht tatsächlich festgestellt. Wir können zwar den Anspruch erheben, dass der Inhalt unseres Denkens universell sei, gleichgültig in welcher Weise, in welcher Sprache er ausgedrückt wird; festgestellt haben wir dies in den Sprachen jedoch nicht. In den Sprachen lässt sich erkennen, dass jede Sprache ihre eigene Weise hat, das Allgemeine und das Besondere zu gestalten, und dass unterschiedliche Formen des Allgemeinen in verschiedenen Sprachen gelten. Diese Differenzen können nicht dadurch aufgehoben werden, dass man die Sprache vom Denkinhalt trennt, denn es geht hier auch um verschiedene Erfahrungen der Welt selbst. Die Idee vom „ Weltbild “ , von der Sprache als Welt der Erfahrung, findet sich bereits bei Schleiermacher. Sie besagt, dass die Sprachen die erfahrene Welt darstellen. Verschiedene Sprachen seien verschiedene Darstellungen der Welt; in ihrer Gestaltung spiegelten sie unterschiedlich erfahrene Welten wider. Schleiermacher sagt wörtlich: Es ist offenbar, daß je mehr sich die Welt differenzirt, desto mehr differenziren sich die übrigen Verhältnisse. Es liegt also darin, daß die Differenz der Sprachen nicht allein abhängt von der der Organisation sondern auch von den Verhältnissen und Bedingungen, unter welche die Organisation gestellt ist. (ibid., 177) Eine gemeinsame Sprache würde somit eine gemeinsame Welt, verschiedene Sprachen würden verschiedene Welten bedeuten. Ob man nun von der Universalsprache ausgeht oder vom Denken - man gelangt in beiden Fällen zu der gleichen Aporie. Wie lässt sich nun diese Verschiedenheit überwinden, oder besser, wie lässt sich unser Prinzip verstehen, trotz aller festgestellten Unterschiede die Universalität 239 <?page no="254"?> und Einheit des Denkens und der Welt anzunehmen? Wie lässt sich die Tatsache erklären, dass wir hinter dieser Welt, die uns durch eine Sprache gegeben ist, eine Welt voraussetzen, die für alle Sprachen gemeinsam ist oder für alle Sprachen gemeinsam sein soll? So wie wir uns bei der Verschiedenheit der Sprachen eine einheitliche Sprache denken, die einfach nur die Sprachidee ist, setzen wir eine Einheit der Welt voraus. Gegeben sind die Einzelsprachen mit einer bestimmten Gestaltung der Welt. Sprachen verkörpern verschiedene Gestaltungen der Welt oder verschieden erfahrene Welten. Wenn wir jedoch von der Welt sprechen und dabei unser Denken als ein für alle Sprachen, für alle Menschen und für die Welt selbst universell geltendes betrachten, dann nehmen wir eine einheitliche Welt hinter den gegebenen Welten unserer Sprachen an. Unsere eigene Sprache entspricht der Universalsprache, die für alle Menschen einheitlich ist, und der Einheit der Welt. Das außerhalb des Gegebenen Stehende ist unser Anspruch und unsere Voraussetzung beim objektiven Denken. Für Schleiermacher bedeutet dies, dass die Welt erst durch die Gemeinsamkeit der Erkenntnis eine gemeinsame wird. Diese beruht aber wiederum auf der Mitteilung durch die Sprache. Von der Voraussetzung der Identität des denkenden Prinzips aus, ist das Ziel eine völlig gemeinsame Erkenntnis in Beziehung auf die Gesamtheit der Welt. Weil diese nur durch die Gemeinschaft der Sprachen erreicht werden kann, kommen wir hier auf denselben Punkt wie von der vorherigen Voraussetzung aus, nämlich dass die Sprache als Universalsprache für diese Gemeinsamkeit der Erkenntnis bürgt. Damit hängt eine andere Forderung nach einer Universalsprache zusammen. Die Universalsprache braucht nicht historisch erreicht zu werden, sondern kann durch die Symbolisierung der unmittelbaren Gegenstände der Erfahrung konstruiert werden. Eine solche Sprache sollte aber das Universaldenken repräsentieren. Schleiermacher betont aber, dass die Anstrengungen in dieser Richtung nur erfolglos sein können, weil die Zeichen nicht auf äußere Gegenstände, sondern nur auf die entsprechenden psychischen Bilder bezogen werden können, und diese kein gemeinsames Gut darstellten. Das Zusammenfließen der Sprachen kann nicht historisch erreicht werden, sondern müsste durch die Konstruktion einer Universalsprache geschehen. Diese Universalsprache wäre den Gegenständen entsprechend zu konstruieren. Damit spielt Schleiermacher auf die vielen Versuche einer Universalsprache an und hat die spezielle Idee von Leibniz vor Augen, eine analytische Universalsprache zu konstruieren. Gegenüber dieser Universalsprache von Leibniz und den anderen Versuchen, nimmt er die Position ein, die auch Hegel vertrat, dass eine solche Sprache an sich schon unmöglich sei und notwendigerweise erfolglos, da die Sprache nicht den äußeren Gegenständen entspreche, sondern von den psychischen Bildern - den Bedeutungen - abhänge, die nicht überall gleich seien. 240 <?page no="255"?> 8.2.6.6 Überwindung der Verschiedenheit durch Approximation Die Idee einer allgemeinen Sprache kann also nur durch das Bestreben erfolgen, alle Differenzen in den Sprachen dadurch auszugleichen, dass sie auf allen Sprachteilhabern allgemein verständliche Zeichen zurückgeführt werden. Die Unmöglichkeit des Gelingens eines solchen Vorhabens liegt jedoch darin, dass man sich dabei nur an die ursprünglichen Bilder halten kann, die nicht übertragbar sind. Dies ist bei Schleiermacher ein sehr wichtiger Punkt, der bedeutet, dass die gegenseitige Verständlichkeit der Zeichen überhaupt eine Voraussetzung und eine ursprüngliche Annahme des Sprechens ist, nicht aber eine ursprüngliche Tatsache. Wir können also nicht tatsächlich, primär, feststellen, dass die anderen das verstehen, was wir meinen. Schon beim Mitteilen muss diese Gemeinsamkeit eine Voraussetzung sein. Wir nehmen also im Voraus an, dass unser Gegenüber denselben materiellen Zeichen auch dieselbe Bedeutung zuschreibt. Wenn uns jemand ein schwarzes Pferd zeigt und schwarzes Pferd dazu sagt, können wir vieles verstehen: „ dieses Pferd “ , „ schwarzes Pferd “ , „ Pferd allgemein “ , „ ein Reittier wie Pferd und Esel “ , „ Vierbeiner “ , „ Tier allgemein “ , „ etwas Bewegliches “ . Der Sprecher kann überhaupt nicht wissen, dass wir das verstanden haben, was er mit Pferd gemeint hat. Nicht die Annahme von konventionellen Zeichen für einmal abgegrenzte Dinge ist der Grund für das gemeinsame Verstehen, sondern unser immer wieder neues Entdecken der Sprache. Wir korrigieren ständig unsere Annahmen über die konventionellen Zeichen durch unsere Erfahrung von neuen Kontexten. Wir können nie ganz sicher sein, dass sich unsere Sprache mit der eines anderen vollkommen deckt. Im Sprachgebrauch wird diese Voraussetzung des gegenseitigen Verstehens immer wieder bestätigt. Andererseits wird diese vorausgesetzte Annahme stets korrigiert, wenn wir durch den Sprachgebrauch in neuen Kontexten und Situationen erfahren, dass das von uns Gemeinte nicht die gemeinsame Bedeutung repräsentiert. In solchen Fällen modifizieren wir unsere ursprüngliche Bedeutung. Um bei unserem Beispiel zu bleiben: Falls wir zuerst „ Vierbeiner “ verstanden haben, als unser Gegenüber Pferd sagte, werden wir unsere Vorstellung ändern, sobald er auch Hund, ebenfalls ein Vierbeiner, in den Kontext einbringt. Dies geschieht bei der Spracherlernung. Das Kind erlernt nicht die Sprache, indem es einfach die Bedeutungen der Umwelt übernimmt. Das Kind schafft Bedeutungen, die keineswegs mit den Bedeutungen der Umwelt zusammenfallen, aber diese geschaffenen Bedeutungen werden im Sprachgebrauch korrigiert. Dies geschieht entweder durch ausdrückliche Korrektur der Umwelt, indem sie das Kind darauf aufmerksam macht, dass ein Gegenstand nicht das ist, was das Kind damit assoziierte, sondern etwas anderes, oder vom Kind selbst, indem es anstelle der geschaffenen Bedeutung eine andere entwirft, die dem neuen Gebrauch eher entspricht. Natürlich ist es nur eine Annahme, dass diese vom Kind geschaffene Sprache im Ganzen mit der gemeinschaftlichen Sprache zusammenfällt. Es gibt nur eine Approximation, denn man lernt seine Sprache während seines ganzen Lebens. Man entdeckt immer wieder, dass das, was wir mit einem bestimmten Wort meinten, nicht das gleiche ist, was andere mit demselben 241 <?page no="256"?> Wort ausdrücken wollten. Wir können uns also nie sicher sein, dass wir schon alle nicht übereinstimmenden Bedeutungen entdeckt haben und dass unsere Sprache nun mit der eines anderen genau zusammenfällt. [Es] entsteht uns die Aufgabe [. . .], eine Gemeinschaft zu finden, durch welche die Irrationalität, wenn auch nicht gänzlich aufgehoben, doch durch Approximation bis zu jedem beliebigen Punkt vermindert wird. (ibid., 178) Dies bedeutet für Schleiermacher, dass die Gemeinsamkeit der Sprachen nicht durch Aufhebung der Differenzen zu erreichen ist, sondern nur durch Approximation. Man muss auch die Überwindung der Sprachverschiedenheit als Approximation auffassen, genauso wie auch die der Welten. Eine solche Approximation kann zuerst beim mehrsprachigen Individuum festgestellt werden, das das gleiche Denken in verschiedenen Sprachen beherrscht - nach Schleiermacher zumindest auf der Ebene des Satzes. Aber auch in der Sprache des Wissens allgemein kann es diese Überwindung der Differenz geben. In der Wissenschaft würde dies auf gemeinsame Erkenntnis hinauslaufen. Zumindest tendenziell käme es zu gemeinsamen Benennungen oder Entsprechungen in den verschiedenen Sprachen. Diese Einheit ist nur ein regulativer Begriff unserer wissenschaftlichen Tätigkeit. Wir wollen die Einheit des Denkens erreichen. Das Denken wäre nicht möglich, wenn wir radikal skeptisch wären und nicht annehmen würden, dass unser Denken universelle Gültigkeit hat. Wir dürfen aber ebenso wenig übersehen, dass wir historisch denken, und dass dieses Denken zwar tendenziell einheitlich ist, aber historisch jeweils verschieden. So lässt sich auch für die Sprachen sagen, dass sie tendenziell einheitlich sind, was den Ausdruck des Denkens betrifft, historisch, d. h. als „ vorhandene “ Einzelsprachen, jedoch verschieden sind. Diese Verschiedenheit ist historisch, d. h. durch die Entwicklung der Einzelsprachen, nicht zu überwinden, weil es bei der angestrebten Einheitlichkeit nur um den Normbegriff der Denktätigkeit selbst geht. 8.2.6.7 Aufhebung der Irrationalität der Sprachen Eine Aufhebung der Irrationalität der Sprachen liegt dort vor, wo ein Individuum sich in verschiedenen Sprachen ausdrücken kann. Schleiermacher bemerkt dazu: Da wäre die Irrationalität der Sprachen aufgehoben und man müßte von den Säzen, welche in verschiedenen Sprachen dasselbe ausdrükken, sagen, sie wären zwar in ihren einzelnen Theilen irrational, aber in ihrem combinatorischen Act wären sie eins. (ibid., 179) Hier liegt also eine Einheit durch die Bezeichnung vor, durch die Tatsache, dass Sätze in verschiedenen Sprachen dasselbe bezeichnen können und daher auch übersetzbar sind. Eine andere Art der Aufhebung der Irrationalität ist bei den Sprachgemeinschaften festzustellen, die miteinander im Verkehr stehen. Durch den immer reger werdenden Verkehr des Wissens fällt die Irrationalität weg. Dies geschieht nicht innerhalb eines einzelnen Satzes, sondern in einer ganzen Gedankenreihe. Das 242 <?page no="257"?> Denken eines französischen Philosophen ließe sich beispielsweise ins Deutsche übersetzen, auch wenn nicht jeder Satz adäquat wiedergegeben werden kann. 8.2.6.8 Die einheitliche Aufgabe der Sprachen Zunächst sei das Ergebnis vorweggenommen: Auf dem Hintergrund seiner Identifizierung von Sprache und Denken sieht Schleiermacher die Einheit der Sprachen in ihrer einheitlichen Aufgabe. Alle Sprachen haben die gleiche Aufgabe, alle lösen in gleicher Weise das ihnen gestellte Problem, indem sie Sprache sind. Bei Schleiermacher können wir demnach auch von einer Einheit der Sprachidee sprechen, da diese Idee der einheitlichen Aufgabe auch als eine Idee im Sinne Humboldts aufgefasst werden kann. Die Ebene der Realisierung stellt dann die Verschiedenheit dar, die sich in der unterschiedlichen Lösung der gleichen Aufgabe zeigt. Die Identität des Denkens ist ein normatives Prinzip und keine tatsächliche Identität. Dass das denkende Prinzip in allen Menschen identisch sei und dass es ein gemeinsames Erkennen gebe, ist ein Glaubenssatz. Dies ist eine wesentliche Überzeugung aller Menschen, welche beständig das Prinzip ihrer Handlungen bestimmt. Schleiermacher geht also wieder nur von einer vorausgesetzten Einheit und Universalität des Denkens aus. Er versichert: Die Idee von einem Wissen, welches nicht in den Grenzen einer bestimmten Sprache eingeschlossen, sondern ein gleiches für alle sein soll, beruht lediglich darauf, daß diese Approximation immer mehr realisirt wird. (ibid., 180) Die Annahme der Einheit wird gerade dadurch bestätigt, dass das Denken tatsächlich immer einheitlicher wird. Dies geschieht durch eine Zusammenarbeit verschiedener Gemeinschaften bei der Analyse der Welt, d. h. bei der Aufnahme der Welt in das Wissen. Von der Sprache aus betrachtet, ist die Einheit die universelle Aufgabe, die darin besteht, das Denken in Einklang mit der Erfahrung der Welt zu bringen. Jede Sprache versteht es, auf ihre eigene, geschichtlich bedingte Art, dieser Aufgabe zu entsprechen. Die Sprachen sind ihrem Zweck nach identisch, nicht aber in der Art der Verwirklichung dieses Zweckes, da die Sprache jeweils etwas geschichtlich Gegebenes ist. Die Einheit der Sprache betrifft demnach die Sprachidee, die Verschiedenheit beruht auf ihrer Historizität. Jede Sprache tut zwar dasselbe, aber auf eine andere Art und Weise: Alle Sprachen sind dann nichts anderes als eine eigenthümliche Art diese beiden Elemente in einander aufzulösen, die Einheit, die in dem Sein liegt, und die Totalität, die in der Welt liegt, und die Vollendung des Denkens ist die Vollendung dieser beiden Elemente in ihrer Beziehung auf einander, das differente gehört allein dem geschichtlichen an. (ibid., 181 f.) Die Gemeinschaft des Wissens in Bezug auf die Welt, d. h. die Feststellungen über das Sein der Welt, ist eine ständige Überwindung der sprachlichen Differenz. Daher bedeuten in der Sprache des Wissens - abgesehen von der geschichtlichen 243 <?page no="258"?> Entwicklung der Wörter - κόσμος und Welt dasselbe. Dies bedeutet nicht, dass die Differenz irgendwann einmal völlig aufgehoben sein wird, sondern es besteht nur die Tendenz einer Aufhebung dieser Differenz. Da die Differenzierung der Sprachen für sich weiter fortschreitet, wird auch die Aufgabe dieser Tendenz auf dem Hintergrund des regulativen Prinzips eine ewige sein. Schleiermacher sah nicht, dass die Sprache nur als Denken im Allgemeinen gelten kann. Da er die dichterische Sprache als höchste Manifestation des Denkens ansah, musste es im Zusammenhang mit der angestrebten Approximation zu einem Konflikt zwischen dem differenzierenden, dichterischen Denken und dem wissenschaftlichen, vereinheitlichenden Denken kommen. Außerdem hat Schleiermacher nicht gesehen, dass die Einheit von Sprache und Denken das nachsprachliche Denken und nicht die Sprache als Denken betrifft. Hiermit ist das Denken gemeint, das sich von den Sachen ausgehend eigene Sprachen schafft, wie zum Beispiel die Fachsprache: κόσμος bedeutet im Griechischen nicht dasselbe wie Welt im Deutschen; nur in der Fachsprache der Philosophie haben sie die gleiche Bedeutung. Dies meint er mit dem Begriff des Überwindens: Fachsprachen werden für das Universelle ausgebildet. Seine Aussagen über die geschichtliche Differenzierung betreffen hingegen die Sprachen als solche, das rein sprachliche Denken. 8.3 Die Verschiedenheit der Sprachen und das Problem der Übersetzung 8.3.1 Die Übersetzungstheorie in der Abhandlung vom Übersetzen 8.3.1.1 Vorbemerkung Wir kommen nun zur Anwendung der Prinzipien Schleiermachers auf zwei Gebieten: Das größere Gebiet ist die Hermeneutik, die Philosophie der Interpretation. Die Hermeneutik beruht aber ihrerseits auf dem Prinzip der Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der Sprachen. Es soll darum auch das Gebiet behandelt werden, das in Schleiermachers berühmter Abhandlung Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens (in der Folge „ Abhandlung zur Übersetzung “ ) besprochen wird. 8.3.1.2 Dolmetschen und Übersetzen Die Abhandlung zur Übersetzung stellt einen theoretischen Beitrag zur angewandten Linguistik dar. Hier trifft Schleiermacher wichtige und sinnvolle Unterscheidungen. Beispielsweise vergleicht er das Dolmetschen und Übersetzen: Dolmetschen ist das Übersetzen im praktischen Leben und im praktischen Verkehr, z. B. bei Handelsbeziehungen. Das Übersetzen ist ein künstlerischer Akt. Dies gilt sowohl für das Übersetzen in der Wissenschaft als auch für das in der Dichtung; die Philosophie ist dabei eingeschlossen. Die Unterscheidung entspricht der Differenzierung zwischen der Sprache des gemeinen und praktischen Lebens und der Sprache der Dichtung und Wissenschaft als autonome Form der Kultur. 244 <?page no="259"?> 8.3.1.3 Paraphrasierung und Nachbildung Die zweite Unterscheidung wird zwischen der Paraphrasierung und der Nachbildung gemacht. Eine Übersetzung, die das Fremdsprachliche als Fremdes stehen lässt, wird derjenigen gegenübergestellt, die es als etwas zeitgenössisch Einheimisches behandelt. Es gibt zwei Pole: die Gemeinschaft und die Zeit des ursprünglichen Textes, und die Gemeinschaft und die Zeit des übersetzten Textes. Die Übersetzung wird sich zwischen diesen beiden Polen bewegen. Erstens: Sie kann die Welt des ursprünglichen Textes den Lesern des übersetzten Textes nahe bringen. In diesem Falle behält sie nur so viel vom Ursprünglichen bei, wie der Leser des übersetzten Textes in seiner historischen Situation verstehen kann. Der Text wird in der Weise übersetzt, wie er in der heutigen Gemeinschaft und Zeit hätte entstehen können. Die alte und fremde Welt wird zu unserer Welt gemacht: Die Gedanken Platons werden so übersetzt, wie sie ein zeitgenössischer Philosoph hätte ausdrücken können. Zweitens: Die andere Möglichkeit besteht darin, den Leser zur ursprünglichen Welt des Textes hinzuführen. Hier wird das Fremdartige als solches beibehalten und dem Leser eine andere Welt gezeigt. Das Griechische wird in seinem historischen Kontext gelassen, und der Leser wird in das griechische Altertum hineingeführt. Es wird also entweder der Leser zu einer fremden Welt oder eine fremde Welt zum Leser gebracht. Dies sind die Grenzpunkte der Möglichkeit einer Übersetzung, während in der tatsächlichen Übersetzung eine unendliche Verschiedenheit von Lösungen zu finden ist, die einer Approximation in die eine oder andere Richtung entsprechen. Eine Bewertung der Übersetzung hängt von den Absichten des Übersetzers ab, so dass die eine oder auch die andere im Einzelfall optimal sein kann. Hierbei spielt die historische Situation eine Rolle, in der er übersetzt. Außerdem muss die Übersetzung von den Bedürfnissen der Gemeinschaft abhängen, denen sie entsprechen will. So macht es einen Unterschied, ob man Platon das erste Mal ins Deutsche übersetzt für Menschen, die die griechische Philosophie überhaupt nicht kennen, oder für Philosophen, die mit der griechischen Philosophie vertraut sind. 8.3.2 Die Sprachphilosophie in der Abhandlung zur Übersetzung 8.3.2.1 Die Bedeutung der Individualität Es geht uns hier weniger um die Übersetzungstheorie selbst als vielmehr um die Sprachauffassung, die in der Akademierede zur Übersetzung formuliert ist und ihr als Grundlage dient. Diese Rede ist deshalb so bedeutend, weil sie die Mannigfaltigkeit der Sprachen, die Verschiedenheit und die Historizität der Sprachen zum ersten Mal in so eindeutiger Weise hervorhebt. Außerdem beschäftigt sie sich mit dem Problem des Verhältnisses zwischen Sprache und Individuum, betont dabei die Individualität der Rede und führt uns zu einem wichtigen Begriff der Sprachphilosophie Schleiermachers: dem Begriff der Individualität. Dieser Begriff ist im Folgenden für die hermeneutische Fragestellung grundlegend. 245 <?page no="260"?> Die konzentrischen Kreise der Sprache sind schon beim Individuum zu sehen, das seine Sprache, seine Mundart, die Sprache seiner Zeit, seiner sozio-kulturellen Gruppe und zuletzt seine eigene originelle Sprache spricht. Die Aufgabe der Hermeneutik ist es, die Texte in ihrer Individualität zu interpretieren. Hierbei muss so weit wie möglich die Individualität übernommen werden, und der Text muss in eigener Dynamik neu produziert und verstanden werden. Während sich die Interpretation vom Ausdruck und dem individuellen Sinn des Textes fortbewegt, muss sie als eine Umkehrung der Produktion verstanden werden, ist aber gleichzeitig eine Bestätigung durch eine ideelle Wiederholung der Produktion. Jede sinnvolle Interpretation begleitet den Text mit den Worten: „ Auch ich hätte dies in der gleichen geschichtlichen Situation mit der gleichen Sprache genauso geschrieben und ausgedrückt “ oder „ Ich hätte dies in der gleichen geschichtlichen Situation mit der gleichen Sprache mit dem gleichen Gedanken anders ausgedrückt, und der Ausdruck des Autors stellt eine Inkohärenz dar und entspricht nicht dem dynamischen Kern seines Denkens “ . Bei der zweiten Möglichkeit handelt es sich um den Fall, dass ich einen Autor besser verstehe, als er sich selbst verstehen konnte, da die „ Wiederholung der Produktion “ für mich eine reflektierte Wiederholung bedeutet. Vorerst gilt es aber nur, bis zum Individuum vorzudringen und die Individualität als solche zu übernehmen. Der Begriff der Individualität wird in diesem Beitrag begründet. 8.3.2.2 Die Mannigfaltigkeit der Sprache Wir kommen nun zur Mannigfaltigkeit der Sprache. Es geht um die Pluralität und Veränderlichkeit der Sprachtraditionen. Die Sprache im allgemeinen zerfällt zuerst in die einzelnen Sprachen, die für sich aber wiederum mundartlich und sozial unterschiedlich ausgeprägt sind und durch die Historizität der Sprecher und die „ Situationalität “ der Rede bis zur Sprache und Rede des Individuums aufgesplittet werden können. Schleiermacher bemerkt dazu: „ Ja unsere eigene Reden müssen wir bisweilen nach einiger Zeit übersetzen, wenn wir sie uns recht wieder aneignen wollen. “ (KGA, 1. Abt., Bd. 11, 67) Selbst das Individuum spricht zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Weise, so dass es nach einiger Zeit in einer neuen Situation nicht mehr das gleiche ist. Hier ist eine wichtige Parallele zu Humboldt zu finden. Bei Humboldt heißt es: Dennoch wären die allgemeinen Anlagen des Menschen doch dieselben auch in Amerika, es wäre, man leite sie nun aus einer Abstammung von Einem Menschenpaare, oder aus der Einheit der schaffenden Idee her, dieselbe Einheit des menschlichen Wesens, ohne welche die Sprache selbst nicht möglich seyn würde, es müsste daher auch daraus nothwendig eine Gleichartigkeit der Sprachen hervorgehen. In diesem Sinne giebt es nur Eine Sprache, wie es nur Eine Menschengattung giebt. . . (Humboldt 1906 = Ausg. Leitzmann, Bd. V [1824 − 26], 393) 128 128 [ „ Natur der Sprache überhaupt “ ; ein Abschnitt aus der Abhandlung Grundzuege des allgemeinen Sprachtypus. Als Einleitung zu ausführlichen Untersuchungen über die Amerikanischen Sprachen, die Humboldt 1826 unvollendet liegen ließ und aus der er Vieles mehr 246 <?page no="261"?> Alle Sprachen entsprechen der gleichen Sprachidee, und diese Gleichheit ist die Grundlage der Möglichkeit, das gleiche in verschiedenen Sprachen zu sagen und verschiedene Sprachen zu verstehen. So ist durch diese Gemeinsamkeit aller Sprachen eine Sprache der Schlüssel zu allen anderen Sprachen. Humboldt sagt aber auch: Eine Nation hat freilich im Ganzen dieselbe Sprache, allein schon nicht alle ihre Mitglieder ganz dieselbe, und geht man noch weiter in das Feinste über, so besitzt jeder Mensch seine eigne. (Natur der Sprache überhaupt, ibid., 396) Hiermit bringt er zum Ausdruck, dass die Differenzierung bis zum Individuum reicht. Ebenso sieht es Schleiermacher, wenn er sagt, dass alle Sprachen die gleiche Aufgabe haben, nämlich die Analyse des Seins, und in dieser Hinsicht gleich seien, dass sie aber auch bis zum Individuum unendlich mannigfaltig ausfallen würden. In der Ideologie der Aufklärung war von einer Historizität und Verschiedenheit der Sprachen überhaupt nicht die Rede. Nur vereinzelte Denker stellten diese Verschiedenheit heraus. Hegel betont diese Verschiedenheit der Sprache, erkennt aber auch noch nicht ihre ganze Tragweite. Seine Formulierung besitzt darum noch nicht die Prägnanz, die bei Schleiermacher zu finden ist. Humboldts Abhandlung über die Verschiedenheit der Sprachen auch im grammatischen Bereich erscheint erst im Jahr 1822 [cf. infra Kap. 12]. Damit soll darauf hingewiesen werden, dass die für uns heute geläufigen Erkenntnisse in der damaligen Wissenschaft keineswegs bekannt waren, sondern radikale Neuerungen darstellten. In dem folgenden Zitat unterscheidet Schleiermacher schon die relevanten Dimensionen der sprachlichen Mannigfaltigkeit: Denn nicht nur daß die Mundarten verschiedener Stämme Eines Volkes und die verschiedenen Entwickelungen derselben Sprache oder Mundart in verschiedenen Jahrhunderten schon in einem engeren Sinne verschiedene Sprachen sind [. . .]. selbst Zeitgenossen, nicht durch die Mundart getrennte, nur aus verschiedenen Volksklassen, welche durch den Umgang wenig verbunden in ihrer Bildung weit auseinander gehen, können sich öfters nur durch eine ähnliche Vermittlung verstehen. Ja sind wir nicht häufig genöthiget, uns die Rede eines andern, der ganz unseres gleichen ist aber von anderer Sinnes- und Gemüthsart, erst zu übersetzen? (KGA, 1. Abt., Bd. 11, 67) In der von mir verwendeten Terminologie entsprechen die Mundarten der diatopischen, die Sprachen oder Mundarten in verschiedenen Jahrhunderten der diachronischen Verschiedenheit, Sprecher verschiedener Volksklassen weisen eine diastratische Unterschiede auf, und die Unterschiede hinsichtlich der Umstände des Sprechens werden diaphasische Verschiedenheiten genannt. oder weniger wörtlich in seine späteren Abhandlungen zur Sprachphilosophie übernommen hat.] 247 <?page no="262"?> 8.3.2.3 Exkurs zur Stilometrie Platon hat nicht in allen Phasen seines Schaffens die gleiche Sprache gebraucht. Dies ist eine der Grundlagen dafür gewesen, eine Chronologie in seine Werke hineinzubringen. Aufgrund bestimmter Einzelheiten seiner Formulierungen kann auf die Entstehungszeit zurückgeschlossen werden. Die zugrundeliegende Technik wird „ Stilometrie “ genannt. Diese Methode wurde von Wincenty Lutos ł awski auf die Texte Platons angewandt. Das Prinzip beruht auf der Feststellung, dass auch die Individualsprache zu einer bestimmten Zeit durch marginale Züge charakterisiert ist. Diese individuellen Details werden nicht bewusst verwendet, sondern sie sind gewissermaßen automatisiert und entziehen sich der Ausdrucksabsicht des Schreibenden. Die Methode wird auch bei der Identifizierung von Kunstwerken verwendet, wo gewisse Details, die nicht nachgeahmt werden können, einen bestimmten Künstler charakterisieren. Selbst in einem kollektiven Kunstwerk kann später noch bestimmt werden, was von einem gewissen Künstler stammt, wenn auf diese Details geachtet wird. Im Falle von Platon und seinen geschriebenen Texten sind es vor allem die Partikeln und die kleinen grammatischen Wörter, die zur Gewohnheit des Sprechens zu einer bestimmten Zeit gehören. Zunächst werden die Endpunkte bestimmt: Im Fall von Platon gilt die Apologie als eines der frühesten und die Nomoi als eines der letzten Werke. Man zählt nun in beiden Werken gewisse Wörter, die entweder signifikant häufig auftreten oder sehr selten bzw. überhaupt nicht vorkommen. Dadurch erhält man eine Skala, in der man progressive Reduzierung und progressive Vermehrung der Merkmale ausmachen kann. Die chronologische Anordnung, die man mittels dieser Methode aufgestellt hat, stimmt - und dies verdient Beachtung - mit auf anderen Wegen gewonnen Erkenntnissen überein. Das Beispiel der Stilometrie macht deutlich, dass selbst eine Individualsprache zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Situationen variiert. 8.3.2.4 Die Verschiedenheit der Sprachen Mit der Verschiedenheit der Sprachen ist etwas anderes als mit der Mannigfaltigkeit der Sprachen gemeint, nämlich die verschiedenartige Gestaltung der jeweiligen Sprache. Nach Schleiermacher gibt es nicht nur viele Sprachen, sondern diese Sprachen sind auch jeweils anders gestaltet. Das Übersetzen wäre eine rein mechanische Angelegenheit, wenn die Unterschiede der Sprachen rein äußerlicher Natur wären. Wenn Schleiermacher jedoch von einer „ irrationalen “ Entsprechung spricht, so möchte er auf die Tatsache aufmerksam machen, dass die Kriterien der Einteilung der Inhalte bei verschiedenen Sprachen unterschiedlich sind: Wenn nämlich in zwei Sprachen jedem Worte der einen ein Wort der andern genau entspräche, denselben Begriff in demselben Umfang ausdrückend; wenn ihre Beugungen dieselben Verhältnisse darstellten, und ihre Verbindungsweisen in einander aufgingen, so daß die Sprachen in der That nur für das Ohr verschieden wären: so würde dann auch auf dem Gebiete der Kunst und Wissenschaft alles Uebersetzen [. . .] eben so rein mechanisch seyn, wie auf dem des Geschäftslebens. (KGA, 1. Abt., Bd. 11, 70) 248 <?page no="263"?> Bei allen Sprachen, die nicht nah verwandt sind, kann es vorkommen, dass kein Wort der einen Sprache dem in der anderen Sprache entspricht und keine Beugungsweise der einen Sprache in der anderen Sprache zu finden ist. Diese Irrationalität im mathematischen Sinne geht dann durch alle Elemente zweier Sprachen hindurch - ein großes Problem für jeden Übersetzer: . . .wie will der Uebersetzer sich hier glücklich durchfinden, da das System der Begriffe und ihrer Zeichen in seiner Sprache ein ganz anderes ist, als in der Ursprache, und die Wortstämme, anstatt sich gleichlaufend zu decken, vielmehr einander in den wunderlichsten Richtungen durchschneiden. (ibid., 79) Jede Sprache ist demnach nicht nur ein System verschiedener Formen, sondern ein System verschiedener Bedeutungen oder Inhalte, die jeweils nach anderen Kriterien eingeteilt werden, so dass sie beim Vergleich zweier Sprachen miteinander in den seltsamsten Verhältnissen stehen. 8.3.2.5 Die Historizität der Sprachen Schleiermacher kommt nun auf die Historizität der Sprachen zu sprechen. Aus seiner Sicht ist eine Sprache zuerst eine historische Erscheinung, die mit der Historizität eines bestimmten Volkes zusammenfällt und eine bestimmte Denkweise darstellt: Nemlich wie die Sprache ein geschichtliches Ding ist, so giebt es auch keinen rechten Sinn für sie, ohne Sinn für ihre Geschichte. Sprachen werden nicht erfunden, und auch alles rein willkührliche Arbeiten an ihnen und in ihnen ist Thorheit; aber sie werden allmählig entdeckt, und Wissenschaft und Kunst sind die Kräfte, durch welche diese Entdeckung gefördert und vollendet wird. (ibid., 78) Wenn seine Leser [die Leser des Übersetzers] verstehen sollen, so müssen sie den Geist der Sprache auffassen, die dem Schriftsteller einheimisch war, sie müssen dessen eigenthümliche Denkweise und Sinnesart anschauen können; und um dies beides zu bewirken, kann er ihnen nichts darbieten als ihre eigene Sprache, die mit jener nirgends recht übereinstimmt. . . (ibid., 72 f.) Eine Sprache stellt demnach die Eigentümlichkeit eines Volkes dar und bestimmt auch die Denkweise eines jeden Sprechers, der zu diesem Volk mit seiner Sprache gehört: . . .denn wer die bildende Kraft der Sprache, wie sie Eins ist mit der Eigenthümlichkeit des Volkes, anerkennt, der muß auch gestehen, daß jedem Ausgezeichnetsten am meisten sein ganzes Wissen, und auch die Möglichkeit es darzustellen, mit der Sprache und durch sie angebildet ist, und daß also Niemanden seine Sprachen nur mechanisch und äußerlich gleichsam in Riemen anhängt, und wie man leicht ein Gespann löset und ein anderes vorlegt, so sich jemand auch nach Belieben im Denken eine andere Sprache vorlegen könne, daß vielmehr jeder nur in seiner Muttersprache ursprünglich producire, und man also gar die Frage nicht aufwerfen kann, wie er seine Werke in einer andern Sprache würde geschrieben haben. (ibid., 85) 249 <?page no="264"?> Nach Schleiermacher haben zweisprachige Individuen auch zwei Muttersprachen, so dass das Prinzip der Muttersprache unerschüttert bleibt. Benutzt jemand beim Philosophieren eine bestimmte Sprache, so ist sie in diesem Moment seine Muttersprache: Grotius und Leibnitz konnten nicht, wenigstens nicht ohne ganz andere Menschen zu seyn, deutsch und holländisch philosophiren. (ibid., 86) In dieser Hinsicht versteht Schleiermacher die Einzelsprache als Dimension des Seins des Individuums: Wie Einem Lande, so auch Einer Sprache oder der andern, muß der Mensch sich entschließen anzugehören, oder er schwebt haltungslos in unerfreulicher Mitte. (ibid., 87) Es ist also möglich, eine andere Historizität anzunehmen, ein Deutscher kann in dieser Hinsicht wenigstens zeitweilig „ dem Latein angehören “ . Sich keiner Historizität anzuschließen ist aber unmöglich. In diesem Sinne gehört jedes Individuum zu einer Einzelsprache. Der Übergang von einer Einzelsprache zu einer anderen bedeutet gleichzeitig die Annahme einer anderen Historizität und auch einer anderen Art des Denkens. 8.3.2.6 Individualität und Sprache Nach der Betrachtung der Mannigfaltigkeit, der Verschiedenheit und der Historizität der Sprachen kommen wir nun zum vierten Punkt, zu der Individualität und dem Verhältnis zwischen dem Menschen als Individuum und der Sprache. Das Verhältnis zwischen dem Individuum und seiner Sprache sieht Schleiermacher als ein doppeltes. Zum einen ist das Individuum von seiner Sprache völlig abhängig: Jeder Mensch ist auf der einen Seite in der Gewalt der Sprache, die er redet; er und sein ganzes Denken ist ein Erzeugniß derselben. Er kann nichts mit völliger Bestimmtheit denken, was außerhalb der Grenzen derselben läge; die Gestalt seiner Begriffe, die Art und die Grenzen ihrer Verknüpfbarkeit ist ihm vorgezeichnet durch die Sprache, in der er geboren und erzogen ist, Verstand und Fantasie sind durch sie gebunden. (ibid., 71) Dem zufolge denkt der Mensch mit und in seiner Sprache, im Rahmen dessen, was in seiner Sprache vorgegeben ist. Zum anderen aber wird die Sprache gerade durch die schöpferische Tätigkeit der Sprecher gebildet: Auf der andern Seite aber bildet jeder freidenkende geistig selbstthätige Mensch auch seinerseits die Sprache. Denn wie anders als durch diese Einwirkungen wäre sie geworden und gewachsen von ihrem ersten rohen Zustande zu der vollkommeneren Ausbildung in Wissenschaft und Kunst? (ibid.) Die Bildung der Sprache durch den Sprecher erfolgt durch das, was man „ Sprachwandel “ nennt. Diesen Sprachwandel versteht Schleiermacher als Sprachschöpfung von Seiten des Individuums und als Selektion durch die Gemeinschaft der Sprecher. Zum einen stellt er eine Kreativität des Individuums fest, zum ande- 250 <?page no="265"?> ren bemerkt er die Aufnahme des Geschaffenen durch andere Individuen, die eine Art von Auswahl betreiben, durch die eine Sprachtradition entsteht. Die Frage des Sprachwandels ist die folgende: Welche der Fakten, die von den Sprechern geschaffen sind, bleiben in einer Sprache erhalten? Gibt es eine Selektionsnorm, nach der Neuerungen durch andere Individuen übernommen werden? Denn bei weitem nicht alles, was geschaffen wird, wird auch zur Sprachtradition. Das sprechende Individuum schafft stets mit einer individuellen und okkasionellen Ausdrucksabsicht, nimmt sich also beim Sprechen nicht vor, seine Sprache zu verändern. Von dem, was durch das Individuum geschaffen wird, wird nur das in die Sprache übernommen, was es verdient, übernommen zu werden: In diesem Sinne also ist es die lebendige Kraft des Einzelnen, welche in dem bildsamen Stoff der Sprache neue Formen hervorbringt, ursprünglich nur für den augenblicklichen Zweck, ein vorübergehendes Bewußtseyn mitzutheilen, von denen aber bald mehr, bald minder in der Sprache zurückbleibt und, von anderen aufgenommen weiterbildend um sich greift. Ja man kann sagen, nur in dem Maaß einer so auf die Sprache wirkt, verdient er weiter als in seinem jedesmaligen unmittelbaren Bereich vernommen zu werden. Jede Rede verhallt nothwendig bald, welche durch tausend Organe immer wieder eben so kann hervorgebracht werden; nur die kann und darf länger bleiben, welche einen neuen Moment im Leben der Sprache selbst bildet. (ibid., 71) Die Idee von Schleiermacher besteht also darin, dass nur das bleibt, was auch der Struktur und dem Geist der Einzelsprache entspricht, was eine Möglichkeit dieser Sprache ist. Nur das verdient es, übernommen zu werden. 8.3.2.7 Der doppelte Sinn der Rede. Einzelsprache und Individualität Was bedeutet dies nun für die Rede, die Texte, die Interpretation und schließlich für die Übersetzung? Wir haben ein doppeltes Verhältnis des Individuums zur Einzelsprache festgestellt: die Abhängigkeit des Individuums von der Sprache auf der einen Seite und die schöpferische Tätigkeit im Rahmen der Virtualität der Sprache auf der anderen Seite. Dieses doppelte Verhältnis führt auch zu einem doppelten Sinn der Rede. Einerseits entspricht die Rede einer bestimmten Sprache und sogar einem bestimmten Kulturkreis, andererseits aber auch der Individualität des Sprechers: Man versteht die Rede auch als Erzeugniß der Sprache und als Aeußerung ihres Geistes nur, wenn, indem man z. B. fühlt, so konnte nur ein Hellene denken und reden, so konnte nur diese Sprache in einem menschlichen Geist wirken, man zugleich fühlt, so konnte nur dieser Mann hellenisch denken und reden, so konnte nur er die Sprache ergreifen und gestalten, so offenbart sich nur sein lebendiger Besitz des Sprachreichthums, nur ein reger Sinn für Maaß und Wohllaut, nur sein denkendes und bildendes Vermögen. (ibid., 72) Dies gilt für die Interpretation und für die Übersetzung. Der ideale Übersetzer wird als Kenner der Sprache auch im Text, den er zu übersetzen hat, das Individuelle als solches identifizieren: 251 <?page no="266"?> Er [der Übersetzer] merkt, welche Wörter welche Verbindungen ihm dort noch in dem ersten Glanz der Neuheit erscheinen. . . (ibid., 78) Als Beispiel mag die Übersetzung Platons durch Schleiermacher selbst dienen: Er hatte die Kenntnis des Griechischen, des Griechischen einer bestimmten Zeit, eines bestimmten Kulturkreises und die Kenntnis der Sprache Platons mit dessen individuellem Sprachgebrauch. All dies ist Voraussetzung für eine angemessene Übersetzung: . . .der Leser der Uebersetzung wird dem besseren Leser des Werks in der Ursprache erst dann gleich kommen, wann er neben dem Geist der Sprache auch den eigenthümlichen Geist des Verfassers in dem Werk zu ahnden und allmählig bestimmt aufzufassen vermag, wozu freilich das Talent der individuellen Anschauung das einzige Organ, aber eben für dieses eine noch weit größere Masse von Vergleichungen unentbehrlich ist. (ibid., 82 f.) Wie diese individuelle Anschauung operiert, sagt Schleiermacher nicht. Sie muss wohl verstanden werden vor dem Hintergrund jener Lehre vom Zirkel des Verstehens, die von ihm nie eindeutig formuliert wurde, aber in Fragmenten immer wieder anzutreffen ist. 8.3.3 Zur Kritik der Einheit von Sprache und Denken 8.3.3.1 Die Virtualität der Sprache Die vier Punkte, die wir besprochen haben, nämlich (1) die Mannigfaltigkeit der Sprachen, (2) die Verschiedenheit der Sprachen, (3) die Historizität der Sprachen und (4) das Verhältnis des Individuums zur Sprache sind in sprachtheoretischer und sprachphilosophischer Hinsicht die wichtigsten Ausführungen in Schleiermachers Akademierede. Vor allem der letzte Punkt, der das Verhältnis des Individuums zur Sprache in Verbindung mit der Eigentümlichkeit einer jeden Sprache aufzeigt, macht uns aber auch die Grenzen und die Unzulänglichkeiten der Auffassung Schleiermachers von der Sprache klar. Ich will auf die Behauptung zurückkommen, dass die Sprache „ entdeckt “ werde. Nach Schleiermacher ist das Individuum schöpferisch tätig, aber nur innerhalb der Sprache. Das Denken gilt ihm als einzelsprachlich, nicht nur einzelsprachlich bedingt, sondern auch einzelsprachlich bestimmt. Er sieht noch nicht, dass der Satz im Gegensatz zu den Wörtern eine radikale Gestaltungsverschiedenheit zulässt, andererseits aber die Gleichheit, die Äquivalenz des in den Sätzen Bezeichneten sichert; denn nur das Wie der Sätze ist einzelsprachlich bestimmt, nicht aber das in den Sätzen Ausgesagte. Für ihn bedeutet die Einzelsprachlichkeit der Wörter und der grammatischen Gestaltung zugleich Einzelsprachlichkeit des Denkens, auch des philosophischen Denkens. Die Verschiedenheit der begrifflichen Gestaltung in einer Sprache gilt für Schleiermacher auch und umso mehr für die Sprache des Wissens und für die Sprache der Philosophie und für die Inhalte, die in der Philosophie mitgeteilt werden. Demnach ist auch die Sprache des Wissens und die Sprache der Philo- 252 <?page no="267"?> sophie Einzelsprache. Schleiermacher geht sogar noch weiter: Für ihn ist die Sprache des Wissens und die der Philosophie in höherem Maße einzelsprachlich als die Sprache des praktischen Lebens, die überwiegend nur auf der Ebene der Bezeichnungen operiert. Hier können mögliche Missverständnisse durch den direkten Bezug auf die Situation und auf die Dinge behoben werden. In der Sprache des Wissens ist dies nicht möglich, da sie sich auf einer anderen Ebene bewegt und nicht den unmittelbaren Bezug zu den Gegenständen hat. Die angestrebte Universalität, die im Voraus angenommene Objektivität des Denkens, tritt als Korrektiv nicht in Erscheinung. Für Schleiermacher ist das Denken schlicht einzelsprachlich, auch in der Philosophie. Daher ist es möglich, die Sprache zu „ entdecken “ . Das Neue in der Sprache des Wissens ist eine sprachliche Entdeckung. Es ist auf irgendeine Weise in der Sprache vorgegeben. Die Sprachen würden demnach nicht erfunden, sondern entdeckt. Die Sprache des Wissens realisiert die Möglichkeiten, die in der Sprache angelegt sind, ihre bereits angelegten Virtualitäten. Es wird das in der Sprache „ geschaffen “ , was bereits vorgegeben ist, weshalb es sich um ein „ Wiedererkennen “ handelt. Jede Sprache ist ein offenes System von Virtualitäten, so dass Neues nur innerhalb einer Sprache geschaffen werden kann. 8.3.3.2 Die Entdeckung der Sprache in Wissenschaft und Kunst Für Schleiermacher ist die Sprache des Wissens und insbesondere die Sprache der Philosophie immer noch Einzelsprache, wie sich in folgendem Zitat zeigt: . . .so gilt dieses noch mehr von allen Begriffen, je mehr ihnen ein philosophischer Gehalt beigemischt ist, und also am meisten von der eigentlichen Philosophie. Hier mehr als irgendwo enthält jede Sprache, trotz der verschiedenen gleichzeitigen und auf einander folgenden Ansichten doch Ein System von Begriffen in sich, die eben dadurch, daß sie sich in derselben Sprache berühren verbinden ergänzen, Ein Ganzes sind, dessen einzelnen Theilen aber keine aus dem System anderer Sprachen entsprechen, kaum Gott und Sein, das Urhauptwort und das Urzeitwort abgerechnet. Denn auch das schlechthin allgemeine, wiewohl außerhalb des Gebotes der Eigentümlichkeit liegend, ist doch von ihr beleuchtet und gefärbt. In diesem System der Sprache muß die Weisheit eines jeden aufgehn. Jeder schöpft aus dem vorhandenen, jeder hilft das nicht vorhandene aber vorgebildete ans Licht bringen. Nur so ist die Weisheit des einzelnen lebendig, und kann sein Daseyn wirklich beherrschen, welches er ja ganz in dieser Sprache zusammenfaßt. (ibid., 89) Schleiermacher nimmt eine Kontinuität von sprachlichem und nachsprachlichem Denken an. Das Denken, das wir nachsprachlich erlernt haben, erscheint ihm als ein Denken, das das in den Sprachen schon Gedachte wieder denkt und weiter denkt. Sprachen würden nicht geschaffen, sondern entdeckt. Wissenschaft und Kunst seien die Kräfte, durch die sich diese Entdeckung vollziehe, wodurch die Sprachen gefordert und vollendet würden. Das Wissen, zu dem die Wissenschaft gelangt, sei in der Sprache bereits als Projekt und Leitlinie angelegt, vorgegeben und vorgebildet; die Wissenschaft wäre demnach nur eine Entfaltung und Entwicklung des in der Sprache schon Gegebenen. Auch das philosophische Denken ist nur Entfaltung des zwar nicht Vorhandenen, aber Vorgebildeten. Im System der 253 <?page no="268"?> Sprache muss die Weisheit eines jeden aufgehen. Jeder schöpft aus dem Vorhandenen. Jeder hilft, das nicht Vorhandene, aber Vorgebildete ans Licht zu bringen. Wäre dies der Fall, würde Philosophie nichts weiter als Sprache an sich, Einzelsprache sein. Schleiermacher geht es darum, die Historizität des Denkens zu betonen, die seine Relativität ausmacht und die gleichzeitig den unendlichen Charakter des Denkens begründet. Die Historizität ist die Garantie des unendlichen Lebens, während ein absolutes Denken zu einer bestimmten Zeit mit seiner Aufgabe fertig wäre und somit aufhören würde. Die Aufgabe des Denkens wäre dann aus empirischer Sicht zwar eine gewaltige, in rationaler Hinsicht jedoch eine begrenzte. Die geschichtlich bedingte Relativität ist hingegen eine Garantie des unendlichen Lebens des Denkens. Schleiermacher bleibt aber zu früh stehen: Diese Historizität ist nicht nur auf die Einzelsprache beschränkt. Außerdem fehlt bei Schleiermacher das Korrektiv der angestrebten Universalität des Denkens, das er in seiner Psychologie durchaus gesehen hatte, dort wird betont, dass es sich bei der Universalität des Denkens nur um einen regulativen Begriff handelt: Das Denken verwirklicht sich in der Geschichte, indem es zeitlich bedingte Lösungen für eine universale Aufgabe bietet. 8.3.3.3 Parallelismus zwischen Philosophie und Sprache Was ist mit dieser Intuition des Parallelismus von Sprache und Philosophie gemeint? Wie die Philosophie umfasst auch die Sprache das Ganze des Seins. Das Schema der Sprache ist folgendes: S S S 0 Da ist zunächst das Subjekt unter Subjekten mit jeweils einem Objekt. Dieses Objekt ist nun nicht nur das Objekt dieses einen Subjekts, sondern des einen Subjekts unter anderen Subjekten. Hinzu kommt noch die Bewegung dieser Relationen in der Geschichte: der Weg der Subjekte mit ihrer Alterität und ihrem Objekt. Genau dies ist auch das Schema des Gegenstandes der Philosophie. Das Gezeigte ist die Ganzheit des Seins. Das Sein ist nicht nur das Subjekt allein und isoliert, wie im Falle des Ausdrucks der reinen Gefühle, der Kundgabe des Subjektiven. Es ist auch nicht nur Subjekt unter Subjekten, wobei das eine Subjekt das andere beeinflusst, wie es sich im praktischen Leben vollzieht. Es ist nicht nur 254 <?page no="269"?> Subjekt/ Objekt, d. h. ein Subjekt, das sich selbst objektiviert, sich selbst zur Welt macht wie in der Kunst, wo das Subjektive zum Objektiven wird. Es ist auch nicht allein das Objekt in seiner eigenen Objektivität und für sich selbst wie in der Wissenschaft, wo das Subjekt Wissenschaft macht, sich selbst aber ausklammert und auch das Subjektive, das subjektiv Geschaffene, d. h. die Relationen, dem Objekt zuschreibt, so dass die Relationen im Objekt selbst sind und nicht im Subjekt, das sie eigentlich geschaffen, hergestellt, im Objekt entdeckt hat. Alle diese Relationen zusammen, nämlich das Subjekt unter Subjekten mit dem Objekt und mit der Bewegung in der Geschichte, bilden die Ganzheit des Seins. In diesem Sinne vertritt auch die Sprache die Ganzheit des Seins, da die Sprache eine Tätigkeit eines Subjektes unter Subjekten ist und mit der Objektivierung der subjektiven Intuition das Objektive hervorbringt. Die Sprache umfasst jedoch diese Ganzheit anders als die Philosophie. Die Sprache ist nicht Aussage über die Ganzheit. Daher ist sie weder wahr noch falsch. Sie stellt die Ganzheit dar, sie vertritt die Ganzheit. Die Philosophie hingegen ist Aussage und Reflexion über die in der Sprache schon erfasste Ganzheit. 8.3.3.4 Kein Übergang zwischen Sprache und Philosophie Wegen dieses Parallelismus von Sprache und Philosophie kann es keine Kontinuität zwischen beiden geben. Es gibt nämlich auch keine Kontinuität von Gegenstand und ihm entsprechender Wissenschaft. Die Sprache vertritt das Sein, während die Philosophie das von der Sprache vertretene Sein zum Gegenstand hat. Deshalb gibt es auch keine Kontinuität von der Sprache zur Philosophie oder Wissenschaft. Mit Hegel könnte man sagen, Sprache sei das Bekannte, die Philosophie und die Wissenschaft schlechthin sei das Erkennen des Bekannten, die Erhebung des Bekannten zum Erkannten. 129 Die Sprache grenzt nur das Sein ab. Das Sein der Dinge ist in diesem Sinne durch die Sprache gegeben. So ist z. B. Baum etwas Da-Seiendes. „ Baum “ als eine Modalität des Seins ist in der Sprache gegeben als das, was die Sprache abgrenzt. Baum vertritt dann dieses Sein der Dinge, diese unendliche Möglichkeit von Gegenständen, die man dem „ Baum-Sein “ subsumieren kann. Die einst gewesenen, die existierenden und die zukünftigen Bäume bilden diese unendliche Menge des „ Baumseins “ oder der „ Baumheit “ . Sie wird von Baum abgegrenzt und vertreten, sagt jedoch nichts direkt über sie aus. Es ist so, als seien die Dinge selbst in der Sprache gegeben. Die Wissenschaft kommt auf das in der Sprache abgegrenzt Gegebene zurück und fragt, was es ist. Somit interpretiert es dieses Sein, das durch die Sprache nur vertreten wird. Die sprachlichen Begriffe dienen nur zur Fixierung der Abgrenzung einer Art des Seins. Sie sagen aber nichts über dieses Sein. Sie stehen für die Ganzheit dieses Seins. Die Unzulänglichkeit der Auffassung Schleiermachers und ihr widersprüchlicher Charakter liegen darin, dass die beiden Ebenen nicht auseinandergehalten werden, dass die Beschreibung und Interpretation des Seins einfach als Fortsetzung 129 [Vgl. Vorrede zur Phänomenologie des Geistes, = Hegel 1970, Bd. 3, 35.] 255 <?page no="270"?> der Sprache angesehen wird. Was Schleiermacher intuitiv ganz richtig sieht, ist eben dieser Parallelismus, die Tatsache, dass die Sprache die Gegenstände der Philosophie und der Wissenschaft zur Verfügung stellt. In diesem Sinne kann man metaphorisch sagen, dass die Philosophie und die Wissenschaft das schon Vorgebildete entdecken. Eigentlich wird im sprachlichen Sinne nichts entdeckt, denn im sprachlichen Sinne ist nur der Begriff gegeben ( „ Baum “ ), der so wie er ist bestehen bleibt. In der Sprache der Wissenschaft wird dieser Begriff modifiziert, und somit kann sie als Fortsetzung der Sprache angesehen werden. Das eigentliche Vorgehen der Wissenschaft besteht darin, das Leere mit Wissen aufzufüllen. Die Abgrenzung von „ Baum “ wird mit dem bekannten Sein des Baumes aufgefüllt, indem gesagt wird, was ein Baum ist. Die Sprache ist hier nur eine Art Deixis, eine Art der Monstration: Die Bäume sind das da und nicht das andere. Dadurch wird das Fragen in Bezug auf die Bäume erst ermöglicht. 8.3.3.5 Einzelsprachlichkeit bedingt keine absolute Relativität des Denkens Die Widersprüchlichkeit der These von Schleiermacher zeigt sich auch darin, dass er als Denkender die Sprachverschiedenheit und den irrationalen Charakter dieser Verschiedenheit erkennt. Welches ist denn das Denken, das diese Verschiedenheit und Irrationalität feststellt? Das sprachliche Denken ist es nicht, denn dieses ist an und für sich absolut. Auf dieser Ebene gilt: Ein Pferd ist ein Pferd und kein Esel. In diesem Sinne sind die Abgrenzungen einer Sprache in dieser Sprache absolut. Nur ein übereinzelsprachliches Denken, das das sprachliche Denken transzendiert, kann die Verschiedenheit der Sprachen und des sprachlichen Denkens überhaupt feststellen. Das ist der Selbstwiderspruch aller relativistischen Theorien, die die absolute Relativität behaupten. Sie sehen nicht, dass wenigstens diese Behauptung der Relativität für sich in Anspruch nimmt, selbst nicht relativ zu sein. Allein die Tatsache, dass man andere Sprachen eben als „ andere Sprachen “ wahrnehmen kann, ist ein Beweis dafür, dass das Denken jede Einzelsprache transzendiert. Das rein sprachliche Denken „ versteht “ andere Sprachen nicht. Es identifiziert die anderen Sprachen mit der eigenen und betrachtet diese als entweder nur materiell verschieden oder sieht sie als Abweichungen von der „ richtigen “ Sprache, die jeweils die Muttersprache des Sprechers ist. Das sprachliche Denken als solches, soweit es innerhalb einer Sprache bleibt, betrachtet andere Sprachen als bloße Nomenklaturen für die gleichen Inhalte, die als „ Gegenstände “ in der eigenen Sprache gegeben sind. Verfügten wir nur über sprachliches Denken, so könnten wir andere Sprachen nicht als solche wahrnehmen oder gar erlernen. Es wäre für uns nicht einmal denkbar, dass andere Sprachen auch andere Inhaltseinteilungen aufweisen; denn dafür müssten wir darauf verzichten, unsere eigene Sprache als absolut zu setzen. Wer dies tut, macht aus der Relativität der Sprachen eine Relativität der Welten: für jede Sprache eine eigene „ Welt “ . Um uns aus dieser Schwierigkeit zu befreien, müssen wir erkennen, dass unsere Sprache nur eine Möglichkeit der Sprache realisiert und nicht die Sprache schlechthin. Dies ist aber nur bei einem Denken möglich, das die Einzelsprachlichkeit transzendiert und dadurch die Relativität einer jeden Sprache erkennt. 256 <?page no="271"?> In seiner Dialektik bezeichnet Schleiermacher diese Relativität als „ Perspektivismus “ : Die Welt sei zwar die gleiche, werde aber aus verschiedenen Perspektiven betrachtet. Aber schon dieses Denken ist ein übereinzelsprachliches. Man muss über die Einzelsprache hinausgehen, um die Einzelsprache als relativ ansehen zu können. 8.4 Das Problem der Sprache in der Dialektik 8.4.1 Allgemeines 8.4.1.1 Die Dialektik als Grundlage der Hermeneutik Wir kommen nun zum Problem der Sprache in Schleiermachers Dialektik. Sie soll uns als Vorbereitung auf die Hermeneutik dienen. In Junkers Sprachphilosophischem Lesebuch [cf. supra] wird der sprachphilosophische Gehalt der Dialektik auf die Darstellung der Sprache als eines Bezeichnungssystems reduziert. Auch Gadamer schätzt den Beitrag dieser Vorlesung zu Schleiermachers Sprachphilosophie nicht eben hoch ein. In einem Aufsatz zu Schleiermachers Dialektik heißt es: Zwar spielt das Problem der Sprache weder in der Lehre vom Denken noch in der Ethik eine zentrale thematische Rolle. Aber einiges läßt sich zur Ergänzung des in der Hermeneutik Gesagten aus diesen Vorlesungen gewinnen. (Gadamer 1972, 130) Mit dieser Behauptung kann man nicht einverstanden sein, zumindest nicht in Bezug auf die Dialektik. Es ist nicht so, dass die Dialektik lediglich zur Ergänzung des in der Hermeneutik Gesagten herangezogen werden könnte; es verhält sich vielmehr umgekehrt: Zum ersten ist das, was in der Dialektik, vor allem im dritten Abschnitt „ Sprache als Bezeichnungssystem “ , ausgeführt wir, wichtig als Vorbereitung und Grundlage für die Hermeneutik. Es geht dort um deren Rechtfertigung. Eine Hermeneutik ist notwendig, weil die Texte Erscheinungen aufweisen, die in der Dialektik festgestellt werden. Die Dialektik ist also keineswegs als ein nachträglicher Zusatz zur Hermeneutik anzusehen. Sie bildet vielmehr die Grundlage für die Hermeneutik, und die Ausführungen über die Verschiedenheit der Sprachkreise in der Abhandlung zur Übersetzung bilden wiederum die Grundlage für die Dialektik. 8.4.1.2 Die relevanten Fragestellungen Zum Thema „ Sprache “ sind drei Abschnitte von Bedeutung: Abgesehen von kürzeren Passagen und Anspielungen befasst sich nämlich Schleiermacher mit der Sprache in der Dialektik in drei längeren Abschnitten, und zwar jeweils in einem nicht unwichtigen und keineswegs marginalen Zusammenhang, nämlich: Erstens: Die Definition, Charakterisierung und Standortbestimmung der Dialektik selbst [ed. Odebrecht 1942, 5 − 32], [Entspricht „ Einleitung (Reinschrift) “ in: KGA, 2. Abt., Bd. 10, Teilband 1, 393 − 426]; zweitens: der Abschnitt über die Differenz des Denkens [a. a. O., 167 − 174]. [Entspricht Nachschrift des Kollegs von 1822 von Johann Gustav Kropatschek, in: KGA, 2. Abt., Bd. 10 Teilband 2, 478 − 484] und 257 <?page no="272"?> drittens: die Verfahren zur Konstitution des Wissens [a. a. O., 369 − 381]. [Entspricht einer Kompilation der Nachschriften von Johann Gustav Kropatschek und Carl Heinrich Ludwig Klamroth, in: ibid., 625 − 635.] [Die entsprechenden Stellen weichen in der Kritischen Gesamtausgabe so stark von dem bei Odebrecht gebotenen Text ab, den Coseriu zitiert, dass sich der Bearbeiter aus Gründen der Textkohärenz gezwungen sieht, bei den von Coseriu ausgewählten Zitaten zu bleiben und auf die entsprechenden Stellen in der KGA lediglich zu verweisen.] Neue Gesichtspunkte gegenüber dem Bisherigen bringen vor allem der erste und der dritte Abschnitt. Im ersten Abschnitt sind vor allem drei Punkte wichtig: a) Die Unterscheidung zwischen dem „ vorsprachlichen Denken “ und dem „ Denken mit der Sprache “ , das bei Schleiermacher sowohl das „ sprachliche “ als auch das „ nachsprachliche Denken “ (in meiner Terminologie) betrifft. b) Die Definition der Dialektik als Kunst, d. h. Technik der Gesprächsführung auf dem Gebiet des reinen Denkens. c) Die These, dass die Selbständigkeit des reinen Denkens an den Besitz der Sprache gebunden ist. Im Einzelnen werden im ersten Abschnitt unter (a) die folgenden Unterscheidungen bezüglich des Denkens vorgenommen: Schleiermacher unterscheidet das nicht-sprechende Denken und das sprechende Denken. Im Bereich des sprechenden Denkens unterscheidet er wiederum zwei Arten: Einerseits Denken als Gedankenentwicklung, als Monolog, und andererseits Denken als Dialog, als Gesprächsführung, in Form der Diskussion, der Auseinandersetzung. Die Unterscheidung zwischen dem „ vorsprachlichen Denken “ und dem „ Denken mit Sprache “ trifft Schleiermacher nur indirekt, indem er sagt, dass er „ Denken “ im weitesten Sinne versteht: Denken wird hier als die allgemeinste Bezeichnung der bekannten geistigen Function in dem weitesten Umfange genommen, so daß nicht nur das im engem Sinne sogenannte Denken vermittelst der Sprache darunter zu verstehen ist, sondern auch das Vorstellen, oder das Beziehen sinnlicher Eindrükke und Bilder auf Gegenstände oder Thatsachen, mithin auch was wir die Thätigkeit der Fantasie nennen, dem Denken nicht entgegengesezt, sondern mit darunter begriffen wird. (KGA, 2. Abt., Bd. 10, 1, 393) Etwas weiter spricht Schleiermacher von einem „ sprechenden Denken “ . Die Dialektik betreffe zumindest zum Teil das „ sprechende Denken “ , denn die „ Gesprächsführung “ gehöre eben zu diesem Denken; sie betreffe jedoch nicht das „ sprechende Denken “ insgesamt, sondern nur dasjenige, das im Einzelnen ( „ innerer Dialog “ ) oder zwischen Einzelnen als „ Gesprächsführung “ , „ Diskussion “ auftritt, nicht jedoch auf das „ sprechende Denken “ als „ fortlaufende innere Rede oder Gedankenentwicklung “ ohne dialogische „ Entgegensetzung “ von Fakten und Ideen. Es geht also um folgende Unterscheidung: 258 <?page no="273"?> nicht sprechendes Denken sprechendes Denken Denken Gedankenentwicklung („Monolog“) Gesprächsführung („Dialog“ - auch mit sich selbst) Im zweiten Abschnitt stoßen wir wiederholt auf die These von der Differenz der Sprache als einer Differenz des Denkens, allerdings mit einer Einschränkung im Hinblick auf die Bedingungen, unter denen sich das Denken vollzieht. Im dritten Abschnitt wird die Sprache als „ allgemeines Bezeichnungssystem “ vorgestellt. In diesem Zusammenhang unternimmt Schleiermacher auch den Versuch, die Verschiedenheit der Sprachen und des ihnen entsprechenden Denkens zu begründen. Weiterhin ist in diesem Abschnitt die Interpretation der Relativität des Denkens wichtig, die als „ Perspektivismus “ dargestellt wird [cf. supra]. Die Überwindung dieser Relativität erfolgt dadurch, dass sie als solche erkannt wird. 8.4.2 Definition und Charakterisierung der Dialektik 8.4.2.1 Dialektische Rede als Entsprechung des reinen Denkens In der dialektischen Rede tritt das reine Denken in Erscheinung, das vom geschäftlichen, vom praktischen und auch vom künstlerischen Denken unterschieden wird. Das geschäftliche Denken ist das Denken um eines anderen willen; das künstlerische Denken ist ein Denken, dem ein ausgezeichnetes Wohlgefallen beiwohnt. Das reine Denken geschieht nicht um eines anderen willen und ist gleichzeitig nicht auf das Subjekt beschränkt, sondern im Subjekt selbst objektiv und universell. Das reine Denken ist das Denken, das auf das Wissen ausgerichtet ist und um des Wissens willen erfolgt. Jede Art von Denken ist mit einer Art von Befriedigung verbunden. Die Befriedigung des geschäftlichen Denkens liegt darin, dass sich etwas ändert, dass ein Ziel erreicht wird und somit ein Zweck erfüllt worden ist. Die Befriedigung des künstlerischen Denkens liegt im Moment des Wohlgefallens, während die Befriedigung des reinen Denkens im Wissen liegt, wenn das Denken selbst zum Wissen wird. Wie hängt nun die Dialektik mit all dem zusammen? Jeder dieser drei Richtungen des Denkens entspricht auch einer bestimmten Art der Gesprächsführung. Wichtig (gerade auch für die heutige Linguistik) ist die Unterscheidung von Arten der Gesprächsführung, also von den Arten des Sprechens: Trotz gleicher Sprache spricht man nicht immer in gleicher Weise, denn die Sprachverwendung kann allgemeinen Arten des Sprechens entsprechen. Dem geschäftlichen Denken entspricht die Gesprächsführung als Überredung eines anderen. Hier versucht jemand einen anderen dazu zu bringen, etwas Bestimmtes zu tun oder nicht zu tun. Dem künstlerischen Denken entspricht 259 <?page no="274"?> das freie Gespräch. Dem reinen Denken entspricht die dialektische Gesprächsführung. Dies ist die Diskussion, durch die das gemeinsame Wissen erreicht werden soll. Das Wohlgefallen bei der Gesprächsführung ist natürlich auch im Bereich des geschäftlichen Denkens möglich, aber hier geht es nur um das Wohlgefallen als Befriedigung des Willens und nicht um das Wohlgefallen an der Gesprächsführung selbst, wie es in der Dichtung der Fall ist. Es kann auch vorkommen, dass sich die Gesprächsführung des geschäftlichen Denkens auf das Wissen bezieht. Da jedoch der Zweck der Rede im Mittelpunkt steht, ist es belanglos, ob das Wissen echt oder unecht ist, und daher gibt diese Gesprächsführung sich nach Meinung Schleiermachers mit einem Schein des Wissens zufrieden. Die eigentliche Bestimmung der Rede ist nicht das Erreichen des Wissens, sondern eines Zwecks. Auf dem Gebiet des reinen Denkens setzt die Gesprächsführung eine Hemmung des Denkens voraus. Das kann eine Hemmung beim Einzelnen sein, durch die das Selbstgespräch entsteht, oder eine bei mehreren Individuen, die das Gespräch auslöst. Diese Art der Gesprächsführung setzt also ein Moment des Zweifels oder der Uneinigkeit voraus. Bei vollkommener Übereinstimmung wäre nur Zustimmung, aber kein Gespräch denkbar. In diesen drei Arten der Gesprächsführung manifestieren sich für Schleiermacher die ursprünglichen Arten des Denkens. 8.4.2.2 Die Relativität der Dialektik Im zweiten Abschnitt wird ein bei Schleiermacher ständig wiederkehrendes Thema behandelt: Die Differenz der Sprache als Differenz des Denkens. Da die Dialektik die Kunst der Gesprächsführung im Bereich des reinen Denkens ist, die Bedingung der Gesprächsführung aber das gegenseitige Sich-Verstehen ist, kann auch die Dialektik nur für einen bestimmten Sprachkreis entwickelt werden. Zunächst muss also von einer Relativität der Dialektik ausgegangen werden. Für Schleiermacher ist die Verschiedenheit der Sprachen ein ursprünglicher Zustand, so dass die Römer beispielsweise nicht das Gleiche wie die Griechen denken konnten. Dasselbe gilt notwendigerweise auch von den dialektischen Termini selbst, auch sie können nur für die Sprachgenossen selbst ihren vollen Wert beanspruchen. Somit ist die Dialektik selbst auch historisch und relativ. Sie muss vorerst auf den Anspruch der allgemeinen Gültigkeit verzichten. Dies schließt drei Sachverhalte mit ein: Erstens: Respekt für anders Sprechende und anders Denkende, weil gerade die Differenz der Sprache und des Denkens ursprünglich und nicht willkürlich ist. Zweitens: Die Variabilität des Denkens charakterisiert den menschlichen Geist. Deshalb wäre auch eine Universalsprache kein Gewinn, da gerade dann das Charakteristische des Menschen fehlen würde. Drittens: Die eigentliche Aufgabe der Dialektik, der Kunst der Gesprächsführung im Bereich des reinen Denkens, besteht nur in einer Approximation der Methoden und Gesichtspunkte. 260 <?page no="275"?> In diesem Zusammenhang wird auch der Begriff „ Sprachkreis “ eingeführt und näher charakterisiert, so wie hier schon am Anfang von konzentrischen Kreisen die Rede war, die in einer Sprache und dann auch über diese hinaus vorzufinden sind. Strenggenommen ist die Verständigung außerhalb des jeweiligen Sprachkreises nicht möglich. Es geht Schleiermacher aber nicht darum, sich damit abzufinden, in seinem eigenen Sprachkreis eingeschlossen zu bleiben. Man müsse vielmehr die Relativität des eigenen Denkens erkennen und versuchen, andere zu verstehen. Daher liegt die erste Begründung der Hermeneutik, der Interpretation, in Folgendem: Es muss der Versuch unternommen werden, die Individualität des Anderen zu übernehmen, damit man ihn gerade in seinem eigenen Sprachkreis versteht, weil die Verständigung nur innerhalb eines Sprachkreises möglich ist. Somit ist ein Grundsatz der Interpretation, dass die Dimensionen des Anderen übernommen werden müssen. Dies ist nur die erste Begründung; weitere folgen im dritten Abschnitt mit dem Titel: die Sprache als Bezeichnungssystem. 8.4.3 Die Sprache als Bezeichnungssystem 8.4.3.1 Die Fragestellung Im Hinblick auf den Begriff „ Sprachkreis “ unterscheidet Schleiermacher zwei Richtungen des Denkens: Das „ zentripetale “ Denken, das innerhalb seines eigenen Sprachkreises verharrt und das „ zentrifugale “ Denken, das über seinen eigenen Sprachkreis hinausgreift. In diesem Zusammenhang stellen sich folgende Fragen: - Wie ist es überhaupt möglich, das Denken auf etwas außerhalb des eigenen Sprachkreises zu richten? - Wie kann man von einem gemeinsamen Denken und einem gemeinsamen Wissen innerhalb verschiedener Sprachkreise ausgehen, wo doch das Wissen individuell ist? - Wie kann die Einheit des Wissens in Zusammenarbeit mit anderen hergestellt werden? 8.4.3.2 Sprache als Befreiung vom Bild und vom Ding Die Teilhabe an einem Sprachkreis bildet für Schleiermacher eine Voraussetzung des Denkens selbst. Die Möglichkeit des gemeinsamen Wissens und Denkens wird als eine Art von „ idealer Norm “ ohne historische Relativierung im Voraus angenommen. Wie wird diese Norm nun realisiert? In der gemeinsamen Konstruktion des Wissens durch den Austausch der sprachlichen Zeichen, durch den das gegenseitige Verständnis auf die Probe gestellt wird: Daß nun die Sprache uns eine hinlängliche Gewähr ist für die Identität des Prozesses, d. h. daß ich gewiß bin, es müsse, wer mit mir dasselbe Wort ausspricht, auch dabei dasselbe innere Bild konstruieren und dadurch dieselben einzelnen organischen Affektionen bilden, erscheint freilich nur als Voraussetzung, die sich beständig bewähren muß und, indem sie sich bewährt, für wahr erklärt wird. Dies muß beständig erprobt werden und geschieht auch in vielen identischen Momenten. In dem gleichen Maße wächst die Überzeugung von der Identität des Prozesses, und hierbei wird dann suppliert, was uns von seiten der organischen Funktion immer 261 <?page no="276"?> dunkel bleibt. [. . .] Wir sind beständig in der Probe begriffen, und so auch in der Wahrnehmung der Identität der Konstruktion. Alle Mitteilungen über äußere Gegenstände sind beständiges Fortsetzen der Probe, ob alle Menschen ihre Vorstellungen identisch konstruieren. (Norm sei hier der Regenbogen, der doch nichts Objektives ist, sondern nur dem Auge jedes Einzelnen erscheint und von allen auf gleiche Weise bezeichnet und beschrieben wird.) (373) 130 In der sich anschließenden Argumentation ist ein Einfluss von Friedrich Schlegel auf Schleiermacher spürbar. Schlegel sagt, dass das sprachliche Zeichen eine Befreiung vom Ding, vom Bild sei. Die Sprache entspricht zuerst meinem allgemeinen Bild von einer Sache, einer Vorstellung von einem bestimmten Gegenstand. Sobald ich aber den Gegenstand auf eine bestimmte Weise nenne, ist es gleichgültig, ob meine Bilder und die eines anderen zusammenfallen oder nicht. Diese Annahme gründet in der Überzeugung, dass beide das gleiche meinen; allerdings muss diese Überzeugung im gemeinsamen Handeln und Meinen in tatsächlichen Situationen immer wieder neu verifiziert werden [vgl. Kap. 6.3.2.2]. Was bedeutet diese Befreiung vom Ding und vom Bild? Hier vollzieht Schleiermacher einen sehr wichtigen Schritt, den wir nur bei Hegel und bei John Dewey in dieser Klarheit formuliert finden. Das Bezeichnen durch Zeichen wird erst dann objektiv und universell, wenn es sich um ein Bezeichnen auch für Andere handelt und nicht nur für mich selbst. Solange es nur um die Fixierung der allgemeinen Bilder für den Einzelnen allein geht, bleibt das Zeichen an das Bild gebunden und bezeichnet nur mein Bild, das ich von bestimmten Gegenständen habe. Wenn ich aber das Zeichen als Zeichen für einen Anderen gebrauche, trete ich aus mir selbst heraus. Das Zeichen bezeichnet nicht mehr mein Bild, sondern sein objektives Korrelat, von dem die Bilder im Bewusstsein der einzelnen völlig verschieden sein können. Das Zeichen ist somit eine Befreiung vom Bild des Einzelnen. Das Gemeinte ist das Gemeinsame, nicht die Bilder als solche. Das Zeichen stellt demnach das mir und einem Anderen Gemeinsame dar. Es vertritt die Objektivität der Bilder und nicht die Vorstellungen als solche, es vertritt das Vorgestellte. Gegeben sei ein X, das ich meine, wenn ich ein Wort für dieses X gebrauche. Von diesem X habe ich ein Bild ‚ a ‘ , und ein Anderer kann ein Bild ‚ b ‘ davon haben. Wir gebrauchen aber das gleiche Zeichen dafür, so dass wir alle Operationen gemeinsam durchführen können, die sich auf X selbst, auf das Korrelat der unterschiedlichen Bilder, beziehen. Dies ist die Bedingung der gegenseitigen Verständigung. So kann ich z. B. die Farbe Grün so sehen, wie ein Anderer die Farbe Rot sieht. Ich kann nichts darüber wissen, da ich nicht in sein Bewusstsein hineinschauen kann. Dies ist aber völlig belanglos. Falls meine Farbe in meiner Vorstellung seinem Rot entspricht, wir beide jedoch diese Farbe Grün nennen, so bedeutet dies eine Befreiung von diesem Bild. Wir bezeichnen das gleiche Korrelat, so dass wir uns ohne weiteres verständigen können, wenn wir sagen, dass die Bäume grün seien. Eine Zusammenarbeit, eine Verständigung ist also möglich, 130 [Odebrecht bietet hier eine Kompilation aus verschiedenen Nachschriften, die dem Text der Kritischen Gesamtausgabe nicht genau entspricht (cf. KGA, 2. Abt., Bd. 10., 628 f.).] 262 <?page no="277"?> auch wenn ich das Grün anders sehe als andere. Das, was das Zeichen hier bezeichnet, ist jeweils das Korrelat der Bilder. Diese Interpretation bestätigt Schleiermacher durch seine Aussagen über die Farbvorstellungen: Man hat hier die Skepsis bis ins Unendliche getrieben und zum Beispiel gefragt, ob bei einer Farbe gleichen Namens der eine vielleicht ein anderes Bild hat als der andere. Dies lässt sich nie ausmitteln, ist aber auch gleichgültig, wenn nur der Gegenstand derselbe ist, den ich habe, und der andere dieselben Aktionen vom Gegenstande beschreibt, die ich beschreibe. Die Ungewißheit geht eigentlich ganz auf die Empfindung zurück. (373; cf. KGA, ibid., wieder mit nicht genau identischem Text) In dieser Hinsicht ist die Sprache in zweierlei Hinsicht universell: Zum einen durch die Universalität der Bilder selbst, zum anderen durch die Universalität der Gültigkeit, die ihre Bezeichnungen für die Mitglieder einer Gemeinschaft beanspruchen. Wie der Gegenstand an sich ist, spielt auch hier wieder keine Rolle; allein wichtig ist nur die Identität der Gegenstände, die Möglichkeit, dass wir uns durch die Sprache auf das Gleiche beziehen. Universalität heißt einerseits Identität verschiedener Gegenstände, die durch das Zeichen gestiftet wird: Baum steht nicht für diesen oder jenen Baum, sondern für den Baum im Allgemeinen. Andererseits beinhaltet Universalität Identität für verschiedene Sprecher. Der Anspruch auf Universalität, den jede Sprache für sich selbst erhebt, stiftet diese Identität für alle Subjekte. In diesem Sinne vertritt und manifestiert die Sprache die Identität des Denkens, die im Voraus angenommene Universalität des Denkens. Die Überzeugung, dass jeder mit denselben Worten das gleiche meint, ist auch die Voraussetzung des Sprechens und der Gesprächsführung selbst und zugleich die Voraussetzung der Konstruktion des Wissens als eines gemeinsamen Unternehmens: Das Verständnis der Sprache beruht auf der [vorausgesetzten] Identität des menschlichen Bewusstseins. (374, cf. KGA, ibid., 629 mit kleinen Varianten) 8.4.3.3 Die Überwindung des eigenen Sprachkreises durch Konstruktion bzw. Interpretation Die Universalität der Gegenstände ist für Schleiermacher nur eine Dimension der Sprache und zugleich des Denkens. Die andere besteht in der Historizität, der Relativität, der Verschiedenheit, der Individualität des Denkens. Die Aufgabe heißt Konstruktion, Konstruktion in der Geschichte, Geschichte selbst. Die Konstruktion allein ist abstrakt, sieht eigentlich von dieser Verschiedenheit ab. Die Geschichte allein ist nur ein leeres Sammeln, wenn sie nicht zugleich mit der Konstruktion einhergeht. Um jedoch bei aller Sprachverschiedenheit und den verschiedenen Sprachkreisen in der Geschichte gemeinsam etwas erreichen zu können, müssen wir auch im Stande sein, uns gegenseitig zu interpretieren. Die Arbeit im eigenen Sprachkreis ist noch nicht Konstruktion, Interpretation. Die Zusammenarbeit außerhalb des Sprachkreises ist aber immer zugleich Interpretation des Denkens des Anderen. Und da diese konzentrisch 263 <?page no="278"?> angelegten Sprachkreise bis zum Individuum reichen, beginnt die Interpretation des Denkens des Anderen schon innerhalb des größeren Sprachkreises meiner gesellschaftlichen Schicht, also außerhalb des Individuellen, außerhalb des Familiären. Würde man im Voraus annehmen, dass die Anderen anders dächten, dass die Anderen mich sowieso nicht verstehen können, weil jeder für sich subjektiv denkt und seine eigenen Bedeutungen hat, würde man überhaupt nicht sprechen, denn das Sprechen setzt eben diese Gemeinsamkeit des Denkens und der gedachten Welt voraus. 8.4.3.4 Relativität des Wissens Andererseits erhellt aus der Verschiedenheit der Sprachen, dass es keine Allgemeinheit der Konstruktion des Denkens geben kann, wenn wir nicht der Sprache gegenüber Distanz einnehmen und sie als einen historisch gegebenen Gegenstand betrachten. Dabei sind zwei Gesichtspunkte zu unterscheiden: Einerseits der sprachinterne Gesichtspunkt, derjenige des Sprechenden beim Sprechen, und andererseits der sprachexterne Gesichtspunkt, derjenige des Sprechers bei der Betrachtung der Sprache. Beim sprachinternen Gesichtspunkt handelt es sich trotz eines gemeinsamen Seins um verschiedene Gesichtspunkte, da jeder das Sein aus einer anderen Perspektive wahrnimmt. Solange wir uns jedoch in unserer Sprache befinden, stellt diese für uns die Objektivität des Seins dar; dies gilt grundsätzlich für alle Menschen. Die Verschiedenheit der Sprachen, die Tatsache, dass es hier nicht um einen Gesichtspunkt, sondern um mehrere geht, wird von einem anderen Gesichtspunkt aus festgestellt, nicht von dem demjenigen des Sprechenden, sondern von demjenigen des Sprachbetrachters. Die Sprachen (und für Schleiermacher auch die durch sie vermittelten Bilder) erscheinen von diesem sprachexternen Gesichtspunkt aus als verschieden. Dies könnte bedeuten, dass man auf das Wissen verzichten muss, weil es sowieso nur relativ sein kann. In vielen Fällen geht die Verschiedenheit der Sprachen bis hin zum Bereich des Individuellen. Für Schleiermacher jedoch kann die Relativität des Wissens aufgelöst werden, indem sie selbst zum Gegenstand des Wissens gemacht wird: Gesetzt, wir könnten diese Relativität niemals aufheben, so würde uns übrigbleiben, daß wir die Relativität des Wissens selbst auf ein Wissen zurückbrächten. (376, cf. KGA a. a. O., 631) Es bleibt also nur übrig, daß wir die Relativität selbst zum Gegenstande machen. (378, cf. KGA, a. a. O., 632 = Variante Klamroth) Im Übrigen hebt diese Relativität die Identität des Menschen als eines denkenden Subjekts nicht auf. Die Menschen befinden sich im gleichen Verhältnis zum Sein, nur eben jeweils aus einer anderen Perspektive. Hierzu ein wichtiges und grundlegendes Zitat: Jeder Mensch hat seinen Ort in der Totalität des Seins, und sein Denken repräsentiert das Sein, aber nicht getrennt von seinem Ort. (377, cf. KGA a. a. O. 632) 264 <?page no="279"?> Hieraus ergibt sich als Kanon: Die Identität des Denkens drückt die Zusammenstimmung des Menschen mit dem Sein in dem Orte aus, wo er sich befindet; die Differenz die Verschiedenheit seines Denkens vom Sein in dem Orte. (377, cf. KGA, a. a. O., 632) Dieser Ort, in dem sich der Mensch befindet, wird, schematisch gesehen, jeweils gegenüber dem ganzen Sein eingenommen. Unter dem „ Ort “ in der Totalität des Seins versteht Schleiermacher nicht nur die Perspektive eines Einzelnen, sondern die eines Volkes, einer Sprache. 8.4.3.5 Die Begründung der Wissenschaftsgeschichte Die lange Tradition der Bemühungen um die Begründung der Wissenschaft sagt uns, dass es nur Wissenschaft des Allgemeinen und nicht des Individuellen oder Partikulären geben kann. Hiermit wäre sicherlich auch Schleiermacher einverstanden, denn es hieße, dass Wissenschaft immer Wissenschaft vom Sein wäre. Das genügt nicht ganz. Das Wissen muss auch das Individuelle beinhalten, denn gerade wenn es universelles Wissen sein will, kann es nicht nur den Gesichtspunkt des Allgemeinen berücksichtigen, denn nur so kann es seine eigene Relativität überwinden. Es muss demnach diese Relativität, diese Individualität des Wissens selbst zu seinem Gegenstand machen, so dass klar wird, dass dieses Wissen nur aus einer besonderen Perspektive gewonnen wurde, während es noch weitere Perspektiven geben kann: Wir müssen die individuelle Differenz selbst erkennen und bleiben also in unserer Aufgabe, nämlich im Wissenwollen. Dies aber ist nur ein neuer Koeffizient in der Annäherung zum wirklichen Wissen. Denn es wird verlangt, die Eigentümlichkeit eines Volkes oder eines einzelnen Menschen vollkommen zu wissen. Und dies sind Gegenstände, von denen wir wissen, dass wir sie immer nur in der Approximation erreichen können. (378, cf. KGA, a. a. O., 632, mit größerem Abweichungen) Daher sind auch die Wissenschaft und die Forschung stets nur Approximation, indem sie das Ziel des totalen Wissens haben, dieses aber nie erreichen werden. Anders formuliert heißt das, dass das Wissen seine eigene Historizität in sich aufnehmen muss. Dies bedeutet, dass es Konstruktion sein muss in Bezug auf das Sein, zum Beispiel Konstruktion in der deutschen Sprache oder Konstruktion von Seiten eines deutschen Denkers einer bestimmten Zeit, andererseits aber auch Wissen von anderem Wissen, also zugleich Geschichte, Erkenntnis anderer Perspektiven. Dies ist meines Erachtens die beste Begründung der Notwendigkeit der Wissenschaftsgeschichte. Die Wissenschaftsgeschichte ist nicht etwa eine sekundäre Tätigkeit, sondern sie gehört mit zum objektiven Wissen und bedeutet stets eine Überwindung der Relativität des Wissens. Hierzu ein weiteres Zitat: Es gibt auf keinem Gebiet ein vollkommenes Wissen als zugleich mit der lebendig aufgefaßten Geschichte desselben zu allen Zeiten und an allen Orten, welche durch dieses kritische Verfahren in seinem ganzen Umfange zusammengenommen ist. Und es gibt keine Geschichte desselben ohne seine lebendige Konstruktion. (381, cf. KGA, a. a. O., 634) 265 <?page no="280"?> Wir haben gesehen, wie Schleiermacher in der Dialektik das Problem der Sprache behandelt. Gewisse Schwächen waren nicht zu übersehen: Einerseits die schwankende und nicht eindeutige Verwendung der Termini Denken und Wissen, dann die Nichtunterscheidung von „ Erkenntnis “ , „ Denken “ und „ Wissen “ , schließlich die Annahme einer Kontinuität von „ sprachlichem Denken “ und „ Denken mit der Sprache “ sowie die Zurückführung der Relativität des Denkens (und des Wissens) auf die Verschiedenheit der Sprachen. Eine nicht annehmbare These fiel dabei besonders auf. Sie besagt, die Verschiedenheit der Sprachen sei von Natur her gegeben, nicht durch die Natur der bezeichneten „ Gegenstände “ (die keine Verschiedenheit einschließen würde), sondern durch die Natur der organischen Eindrücke, d. h. durch die organische φύσει der Menschen (etwa im Sinne von Epikur). 131 8.5 Hermeneutik als Wissenschaft 8.5.1 Allgemeines 8.5.1.1 Ziel der Hermeneutik Wir haben gesehen, dass für Schleiermacher das Sein von verschiedenen Individuen aus unterschiedlichen Perspektiven gesehen wird. An dieser Stelle setzt die Hermeneutik ein. Denn was bedeutet Geschichte des Wissens, Kenntnis der verschiedenen Perspektiven? Dieses Wissen aus verschiedenen Perspektiven, das von verschiedenen Orten aus gesehene Sein, findet man in den Texten. Daher ist es von Bedeutung, Texte zu interpretieren, andere Perspektiven aufzunehmen, die Darstellungen des Seins von anderen Gesichtspunkten aus zu verstehen und uns zu eigen zu machen. Auf hermeneutische Motive sind wir bereits in der Abhandlung zum Übersetzen im Zusammenhang mit dem doppelten Verstehen der Rede gestoßen. Vor allem aber sind es die Ausführungen in der Dialektik, durch die die Hermeneutik gerechtfertigt wird. Dialektik ist für Schleiermacher zugleich allgemeine Wissenschaftslehre, allgemeine Epistemologie. In der Dialektik geht es um die Gesprächsführung auf dem Gebiet des reinen Denkens. Gesprächsführung bedeutet aber immer Gespräch mit einem Anderen, der grundsätzlich als Einzelner oder als Vertreter eines anderen Volkes, einer anderen Zeit oder einer anderen Sprache dem Sein gegenüber in einer anderen Perspektive steht. Daher ist eine Kunst, eine Technik der Gesprächsführung nötig, und diese Technik setzt das Verstehen des Gesprächspartners voraus. Aus diesem Grund benötigt man eine Kunst, eine Methodik des Verstehens. Ein Anderer meint es nicht so, wie ich es meine. Diese Relativität des Wissens muss ich auf irgendeine Weise verstehen und mit dem Anspruch in Einklang bringen, man meine das Gleiche, wenn man die gleichen Zeichen verwendet. Auf irgendeine Weise muss ich die anderen Gesichtspunkte auf meine eigenen Gesichtspunkte zurückführen, indem ich beispielsweise in meiner Sprache etwas 131 [Vgl. hierzu E. Coseriu: Der Physei-Thesei-Streit (= Coseriu 2004), insb. 160.] 266 <?page no="281"?> interpretiere und versuche, die anderen Gesichtspunkte als meine eigenen aufzunehmen, damit ich die jeweilige Perspektive genau verstehen kann. Das ist zunächst einmal die Grundlage und Motivation der Übersetzung. In der Übersetzung als Kunst werden andere Perspektiven übernommen und es wird versucht, sie auf das, was in der eigenen Sprache gesagt wird, zurückzuführen. Es ist jedoch auch die Aufgabe der Interpretation. Deren Ziel ist aber nicht die Übersetzung, sondern die gemeinsame Konstruktion des Wissens. 8.5.1.2 Die philosophische Hermeneutik In Bezug auf einen Text sind bei der Interpretation verschiedene Schichten zu unterscheiden. Die erste Schicht ist die Interpretation selbst. Sie hat den Text als Gegenstand. Auch Schleiermacher verwendet hier den Begriff der Interpretation, der Auslegung. Als zweite Schicht setzt diese Interpretation eine Technik des Interpretierens voraus: ein Gefüge von Verfahren, die ich in der Interpretation anwende, eine Methode des Interpretierens. Man muss nicht bei jeder Interpretation von Grund auf beginnen, man hält sich vielmehr ein Instrumentarium bereit. Man verwendet eine offene Technik der Auslegung, die man zuvor konstruiert hat. Diese Technik, diese Anwendung ist aber Anwendung eines Wissens oder einer Wissenschaft, so dass man in Bezug auf das Objekt einiges, bezüglich seiner allgemeinen Eigenschaften sogar so viel wie möglich wissen muss, um die Verfahren der Interpretation abzugrenzen. Dies bedeutet grundsätzlich, dass es eine Wissenschaft oder Theorie der Auslegung geben muss: die dritte Schicht. Andererseits benötigt diese Wissenschaft der Auslegung selbst Prinzipien, auf die sie zurückführbar ist. Auf der höchsten Ebene muss man sich fragen, wie eine Auslegung überhaupt möglich ist, was Auslegung bedeutet, was man interpretiert, was man beim Interpretieren tut. Die Wissenschaft, die diese Fragen zu beantworten sucht, ist nun die Hermeneutik als Philosophie der Auslegung, als Philosophie der Interpretation. In der üblichen Terminologie wird Hermeneutik für die Interpretation selbst verwendet. Bei Schleiermacher ist dies nicht der Fall. Er unterscheidet sehr klar zwischen der Interpretation oder Auslegung, der Tätigkeit während des Auslegens, und der eigentlichen Hermeneutik. Oft bezeichnet Schleiermacher mit Hermeneutik auch die Technik und die Wissenschaft der Auslegung, so dass er für alle drei Stufen den Ausdruck Hermeneutik gebraucht. Sein ganzes Leben hat er sich mit der Hermeneutik und ihrer Fundierung beschäftigt, aber eine Abhandlung zur Hermeneutik hat er nicht geschrieben. Man kann Hermeneutik sowohl als Technik und Wissenschaft als auch als allgemeine Theorie dieser Wissenschaft selbst verstehen. Im Folgenden soll aus Gründen der Klarheit die Hermeneutik als Technik von der Hermeneutik als Wissenschaft sowie von der Hermeneutik als Theorie getrennt werden. Im letzten Fall wollen wir von „ Hermeneutik im engeren Sinne “ sprechen. In Bezug auf die Philosophie soll Hermeneutik hier als Philosophie der Auslegung oder philosophische Hermeneutik verstanden werden. Damit ist nicht etwa Hermeneutik für 267 <?page no="282"?> philosophische Texte gemeint, sondern die Hermeneutik selbst wird als Philosophie verstanden. Diese Hermeneutik als Kunst und zugleich Wissenschaft des Verstehens hat Schleiermacher entwickelt. Er gilt als derjenige, der das Problem des Verstehens zu einem philosophischen Problem gemacht hat. Wenn man von vereinzelten Bemerkungen über die Auslegungskritik absieht, war die Hermeneutik vor ihm eine in der Praxis der Interpretation implizierte Technik. Als Vorläufer von Schleiermacher und Wegbereiter der Hermeneutik als autonomer Disziplin kann Jörg Friedrich Maier angesehen werden, der in seinem Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst (Halle 1757; Nachdruck 1965) eine allgemeine Hermeneutik entworfen hatte. Der theoretische Teil des Versuchs betrifft vor allem die Theorie der Zeichen mit der üblichen und traditionellen Einteilung. Der praktische Teil betrifft die Hermeneutik als Technik, als eines Systems von Verfahren zur Interpretation der Zeichen. 8.5.1.3 Technische vs. philosophische Hermeneutik Auch die Hermeneutik Schleiermachers ist zu einem guten Teil eine (mitunter recht explizite) Technik, also „ Hermeneutik im weiteren Sinne “ . Jedoch stellt gerade das Konzept Schleiermachers ein entscheidendes Moment des Übergangs von der technischen zur philosophischen Hermeneutik dar. Was bedeutet dies? Die Hermeneutik kann sowohl als philosophische wie auch als technische Disziplin aufgefasst werden. In technischer Hinsicht ist die Hermeneutik eine Technik der Interpretation von Texten, ein Gefüge von praktischen Normen und Verfahren. Sie ist eine angewandte Wissenschaft, die die Möglichkeit, Texte zu interpretieren, als ein gegebenes Faktum annimmt und diese Möglichkeit selbst sprachlich problematisiert. Anders verhält es sich mit der Hermeneutik als philosophischer Disziplin: In philosophischer Hinsicht ist die Hermeneutik eine theoretische Disziplin, die die Möglichkeit des Interpretierens problematisiert. Sie fragt nach dem Sinn und den allgemeinen Voraussetzungen des Interpretierens. Folgende Fragen sind denkbar: - Was heißt überhaupt verstehen? - Was verstehe ich, wenn ich einen Text verstehe? - Wie ist das Verstehen von Texten möglich? - Welches sind die Voraussetzungen des Verstehens? - Wie erfolgt das Verstehen? - Was bedeutet in anthropologischer Hinsicht die Tatsache, dass der Mensch durch die Auslegung und durch das Verstehen von Texten mit dem Denken anderer Menschen in Verbindung tritt? - Was bedeutet in dieser Hinsicht, dass der Mensch in einer gegebenen historischen Situation durch die Interpretation von Texten der Vergangenheit die historische Distanz, die ihn von diesen Texten trennt, aufhebt? - Inwiefern wird diese Distanz auch wirklich aufgehoben? Inwiefern bleibt man im Prozess des Verstehens noch dieselbe Person? 268 <?page no="283"?> 8.5.1.4 Definition der Hermeneutik Im Mittelpunkt der weiteren Ausführungen soll nun die Problematik der Sprache in der Hermeneutik Schleiermachers stehen. Unter „ Hermeneutik “ wollen wir folgendes verstehen: Die philosophische Wissenschaft des Auslegens, d. h. der universellen Prinzipien und Bedingungen des Auslegens. Das Auslegen kann mit Schleiermacher als Verstehen fremder Texte aufgefasst werden, die entweder geschrieben oder gesprochen sind. Welches sind nun die objektiv gegebenen Probleme des Auslegens? Dies lässt sich am besten anhand der Kontexte darstellen, in denen ein Text betrachtet werden kann und anhand der Implikationen, die sich dabei ergeben. 8.5.1.5 Der Text und seine Kontexte Ein Text kann in verschiedenen Zusammenhängen betrachtet werden. Er ist (1) individuelles Ereignis, (2) sprachliches Faktum, (3) Äußerung eines Bewusstseinsinhalts mit möglichem Realitätsbezug, (4) Moment im Leben eines Individuums, steht (5) in objektivem Zusammenhang mit anderen Denkinhalten und entsteht (6) in einer bestimmten geschichtlichen Situation: (1) Der Text ist zunächst eine individuelle und einmalige Äußerung, die einen einmaligen Inhalt eines individuellen Bewusstseins ausdrückt. (2) Zum Zweiten ist der Text ein sprachliches Faktum. Im Text kommen zwei Seiten zusammen: Er ist einerseits ein Individuum, andererseits ein sprachliches Faktum, das aus sprachlicher Sicht mit anderen Fakten zusammenhängt, die ebenfalls sprachlicher Natur sind, nämlich (a) mit anderen Einzeltexten desselben Individuums; (b) mit anderen Einzeltexten, anderer Individuen; (c) mit einer bestimmten Art von Texten, und zwar sowohl in allgemeiner Hinsicht, insofern er zu einer Textsorte gehört, als auch in historischer Hinsicht, insofern er zu einer bestimmten Textgattung gehören kann; (d) mit einer bestimmten „ Art des Sprechens “ ; (e) mit einer bestimmten „ Sprache “ , wobei die Varietäten einer Einzelsprache gemeint sind, die von einer funktionalen Sprache bis zur historischen Sprache reichen. Das sprachliche Faktum steht somit nicht allein, sondern in einer Reihe sprachlicher Zusammenhänge. (3) Zum Dritten kann der Text als Äußerung eines Bewusstseinsinhaltes entweder eine konstruierte Realität wie im Falle der Dichtung enthalten, oder er kann sich auf eine andere Realität außerhalb des Textes beziehen, über die er etwas aussagt. Im letzteren Fall hängen Text- und Denkinhalt mit der Objektivität dieser anderen Realität zusammen. Grundsätzlich kann aber jeder Text auf die eine oder andere Weise betrachtet werden. Man kann einen Dialog von Platon entweder als ein Gefüge von Aussagen über die außersprachliche Wirklichkeit betrachten oder auch als ein dichterisches Werk, als Konstruktion einer Realität ansehen. Der Text ist also zugleich Ausdruck eines Denkinhalts. 269 <?page no="284"?> (4) Viertens ist der Denkinhalt ein Moment im Leben eines Individuums und hängt zusammen mit: (a) anderen Momenten in seinem Leben; (b) seinem ganzen Leben; (c) seiner Persönlichkeit, seiner Individualität. (5) Zum Fünften sind auch von der Seite der Denkinhalte Zusammenhänge feststellbar, die andere Denkinhalte anderer Individuen betreffen. „ Andere “ ist dabei in historischer und allgemeiner Hinsicht zu verstehen. Wenn wir die Inhalte im Leben des Individuums als einen Teil der Kontexte verstehen (cf. 4), dann gibt es andererseits noch die objektiven Zusammenhänge mit anderen Denkinhalten. (6) Sechstens ist von Bedeutung, dass der Text in einer geschichtlichen Situation steht und mit seinen sprachlichen und nichtsprachlichen Implikationen auf diese bezogen ist. Der Text stellt sich demnach als ein Geschehen in einer geschichtlichen Situation dar und ist auf diese bezogen. Das Verstehen ist nun ein Verstehen des Textes in all diesen Zusammenhängen. Das bedeutet, dass das Verstehen die Aufnahme des Sprachlichen, der Denkinhalte, aller Zusammenhänge und des Bezugs auf die geschichtliche Situation in das Bewusstsein des Auslegers ist. Auf der anderen Seite vollzieht sich auch das Verstehen als solches in einer historischen Situation, und zwar in einer anderen historischen Situation als die, in der das zu Verstehende entstanden ist. Es stellt somit die Frage, inwiefern der Akt des Verstehens mit der Situation zusammenhängt, in der er sich vollzieht. 8.5.1.6 Die vier Fragen der Universalhermeneutik Wie sieht nun die Stellungnahme der Hermeneutik Schleiermachers gegenüber dieser Problematik aus? Die bloße Technik der Auslegung, die Anweisungen zu einer besseren Auslegung bestimmter Texte, wird zugunsten der Problematisierung des Auslegens selbst aufgegeben. Dies schließt zweierlei ein: Erstens: Es wird nicht mehr nach verschiedenen Hermeneutiken für verschiedene Textarten oder Textgruppen gesucht, sondern es wird eine Universalhermeneutik angestrebt, die als Untersuchung des Auslegens im Allgemeinen, als einer Kategorie des geistigen Lebens, verstanden wird. Zweitens: Es wird nach dem Wesen, nach der Möglichkeit, nach den allgemeinen Prinzipien und Bedingungen des Auslegens gefragt. Dabei stellen sich vier Grundfragen: (a) Was ist eigentlich Auslegung? (b) Wie ist diese überhaupt möglich, denn Denkinhalte als solche sind nicht unmittelbar im Sprachlichen gegeben; sie müssen erst deduziert werden. (c) Welches sind die allgemeinen Prinzipien der Auslegung? (d) Nach welchen allgemeinen Bedingungen erfolgt das Auslegen? 270 <?page no="285"?> 8.5.1.7 Der Gegenstand der Hermeneutik Schleiermacher betont des Öfteren, dass Hermeneutik eine Kunst sei. Dies impliziert aber eine Verwechslung der Hermeneutik mit ihrem Objekt: Nicht die Hermeneutik als philosophische Disziplin, sondern ihr Gegenstand, die Interpretation selbst, kann in gewisser Hinsicht als Kunst betrachtet werden, während die Problematisierung des Auslegens selbst eine wissenschaftliche Aufgabe ist, so dass die Hermeneutik nicht als Kunst, sondern als Kunstlehre angesehen werden muss. Schleiermacher nennt aber häufig das Auslegen selbst Hermeneutik und kann dann auch von Kunst sprechen. Schleiermacher erweiterte das Objekt der Hermeneutik insofern, als es nicht um spezielle Texte, sondern um das Verstehen der Rede schlechthin geht. Auch die Spracherlernung wird von ihm als Auslegung angesehen, wie im folgenden Aphorismus zum Ausdruck kommt: „ Jedes Kind kommt nur durch Hermeneutik zur Wortbedeutung. “ 132 Hermeneutik betrifft jede Form der Interpretation, und in gewisser Hinsicht ist alles, was sich auf Sprache bezieht, notwendigerweise Interpretation. Auf der anderen Seite schränkt Schleiermacher den Gegenstand der Hermeneutik aber auch ein: Die Hermeneutik betrifft nur das Verstehen als solches, die subtilitas intelligendi im Sinne des Theologen Johann August Ernesti, nicht auch die Kunst der Darstellung des Verstandenen (subtilitas explicandi). Wenn letztere über die äußere Seite des Verstehens hinausgeht, ist sie ihrerseits Objekt der Hermeneutik und gehört zu einer anderen Kunst, die der folgenden Frage nachgeht: Wie stellt man das Verstandene dar? Auch die Philologie im engeren Sinne als Textkritik gehört nicht zur Hermeneutik, da es sich ausschließlich um eine technische Tätigkeit handelt, die der Hermeneutik zeitlich vorausgeht, indem sie für die Interpretation authentische Texte sicherstellt. Schleiermacher sieht das Verstehen nicht als gegebenes Faktum, das nur zu verbessern wäre, sondern als eine ständige Aufgabe. Das Übliche ist seiner Auffassung nach nicht das Verstehen, sondern das Missverstehen. Missverstehen ergebe sich von selbst, nicht das Verstehen. Daher ist nach Schleiermacher die Hermeneutik auch die Kunst, das Missverstehen zu vermeiden. 8.5.1.8 Sprachliche vs. psychologische Hermeneutik Das Problem der Stellung der Sprache in der Hermeneutik Schleiermachers hängt nun mit dem Problem des materiellen Objekts zusammen: Was wird jeweils verstanden? Der Text als sprachliches Gebilde, als Lebensakt, als beides? Oder wird der Text über die Sprache als Lebensakt verstanden? Bei Schleiermacher tritt im Laufe seiner Beschäftigung mit der Hermeneutik eine Verschiebung von der sprachlichen Hermeneutik zur psychologischen Hermeneutik ein, d. h. vom Verstehen des Textes als sprachliches Gebilde zum Verstehen des Textes als Lebensakt. Dies wurde häufig falsch verstanden, da einerseits die Verschiebung der Herme- 132 [Zur Hermeneutik 1805 und 1809/ 10, Kritische Gesamtausgabe (KGA), II. Abt. Bd. 4 (2012), 20.] 271 <?page no="286"?> neutik von der rein sprachlichen zur psychologischen nicht beachtet, andererseits die Einheit, die zwischen beiden besteht, nicht verstanden wurde. Man hat bei der Exegese entweder die rein sprachliche oder die rein psychologische Hermeneutik zugrunde gelegt. 8.5.2 Die formalen Aspekte des Verstehens Unabhängig vom „ Was “ des Verstehens gibt es formale Aspekte des Verstehens, die allgemein gelten. Diese formalen Aspekte, die die Hermeneutik Schleiermachers charakterisieren, habe ich in sieben Punkten zusammengefasst: (1) Das Verstehen betrifft immer das Individuelle. Für das, was nicht individuell ist, gibt es keine im Sinne Schleiermachers vollständige Interpretation: Für den Mythus giebt es aber keine technische Interpretation, weil er nicht von einem Einzelnen herrühren kann und das Schwanken des gemeinen Verständnisses zwischen dem eigentlichen und uneigentlichen Sinn macht hier die Duplicität am scheinbarsten. (Hermeneutik 1819 = KGA, 2. Abt., Bd. 4, 125) (2) Das Verstehen setzt eine Spannung zwischen Individualität, bzw. Eigentümlichkeit und Identität bzw. Allgemeinheit, voraus, und zwar: (a) in rein sprachlicher Hinsicht, (b) im Bereich der Denkinhalte und (c) in Bezug auf das Verhältnis von Ausleger und Auszulegendem. (3) Das Verstehen stellt immer einen Prozess dar und erfolgt somit immer als Approximation, als progressive Annäherung. Hiermit hängt die Idee des Zirkels beim Verstehen zusammen; er wird als ein alternatives Gehen von den Teilen zum Ganzen und vom Ganzen zu den Teilen bestimmt, d. h. als ein methodischer Zirkel, der eigentlich nur scheinbar „ zirkulär “ ist. (4) Das Verstehen ist immer Rekonstruktion des zu Verstehenden. In dieser Hinsicht ist die Interpretation eine Umkehrung der Konstruktion des Textes und die Hermeneutik eine Umkehrung der Rhetorik und der Poetik. (5) Das Verstehen setzt die Gleichsetzung von Individuen voraus. Hiermit ist eine Gleichsetzung des Auslegers und des Auszulegenden gemeint: die Übernahme des Individuellen des Autors mit gleichzeitiger Identifizierung mit dem Autor des Textes. Die Möglichkeit dieser Identifizierung ist Schleiermacher zufolge einerseits durch die virtuelle Identität aller Menschen im Allgemeinen, andererseits aber auch durch eine gewisse Kongenialität im Besonderen gegeben, so dass nicht jeder von jedem vollständig interpretiert werden kann. (6) Das Auslegen ist zwar Methode, als Verstehen des Individuellen muss es aber zugleich auch Kunst sein; es setzt immer auch eine „ Divination “ voraus. (7) Wenn das Verstehen quantitativ immer noch Approximation ist, so dass das vollständige Verstehen nur einen nie zu erreichenden ideellen Endpunkt, eine Zielvorgabe der Interpretation darstellt, verhält es sich qualitativ doch anders, 272 <?page no="287"?> insofern der Ausleger den Autor oft besser versteht, als sich jener selbst verstehen konnte. Im Folgenden möchte ich auf Einzelheiten der vorausgegangenen Punkte eingehen. 8.5.2.1 Der Gegenstand des Interpretationsprozesses ist notwendigerweise individueller Natur Beim Verstehen geht es um das Individuelle. Das zu Verstehende ist entweder individuelle Rede, also ein Text, oder ein individueller Lebensakt. Für das Nicht- Individuelle gibt es nach Schleiermacher keine Interpretation als Prozess (cf. supra). 8.5.2.2 Die Spannung zwischen Individualität und Allgemeinheit Interpretation und Verstehen gibt es nur, wenn eine Spannung zwischen Individualität und Identität bzw. Allgemeinheit besteht. In den beiden theoretischen Grenzfällen gibt es kein Verstehen als Aufgabe: Die Interpretation ist im Falle des absolut Individuellen unmöglich und in dem der absoluten Identität nutzlos, da sie sich bereits gegeben ist. In der Sittenlehre schreibt Schleiermacher dazu: Von Seiten der Sprache angesehen entsteht aber die technische Disciplin der Hermeneutik daraus, daß jede Rede nur als objective Darstellung gelten kann, inwiefern sie aus der Sprache genommen und aus ihr zu begreifen ist, daß sie aber auf der anderen Seite nur entstehen kann als Action eines Einzelnen, und als solche, wenn sie auch ihrem Gehalt nach analytisch ist, doch von ihren minder wesentlichen Elementen aus freie Synthesis in sich trägt. Die Ausgleichung beider Momente macht das Verstehen und Auslegen zur Kunst. (Schleiermacher 1967 [1812/ 13], 356) In der tatsächlichen Interpretation geht es darum festzustellen, wie ein Individuum seine Individualität mit den Mitteln der Gemeinschaft und über jene Mittel hinaus ausdrückt und wie das Individuum zu einem Ausgleich zwischen Individualität und Allgemeinheit kommt. In der Hermeneutik Schleiermachers gilt dies in dreierlei Hinsicht: (a) Im sprachlichen Bereich geht es darum, wie das Individuum seinen individuellen Ausdruck mit der Sprache der Gemeinschaft schafft. (b) Im Bereich der Denkinhalte ist zu fragen, wie das Individuum dasselbe wie andere doch auf eine eigentümliche Weise denkt. (c) In Bezug auf das Verhältnis zwischen dem Ausleger und dem zu Interpretierenden ist zu beachten, dass beide Individuen in verschiedenen historischen Situationen sind und einander auf dem Gebiet der Identität begegnen müssen. 8.5.2.3 Der Zirkel des Verstehens Das Verstehen ist für Schleiermacher ein Prozess und kann nur ein Prozess sein, weil „ kein Auszulegendes auf einmal verstanden werden kann “ (Hermeneutik 1819 = KGA, 2. Abt., Bd. 4, 129). Das Verstehen ist somit eine Approximation. In Bezug auf das Objekt des Verstehens bedeutet dies, dass die Einzelteile nur vom 273 <?page no="288"?> Ganzen, und dass das Ganze nur von den Einzelteilen her verstanden werden kann. Dies geschieht nicht mit einem Male, sondern in einer Hin-und-Her-Bewegung: Jedes Verstehen des Einzelnen ist bedingt durch ein Verstehen des Ganzen. (Zur Hermeneutik 1805 und 1809/ 10 = KGA, 2. Abt., Bd. 4, 29) Wie allmählig durch die einzelnen Gebrauchsweisen die Einheit, so [tritt] auch erst durch die einzelne Erforschung des Gedankenganges die Eigentümlichkeit [in Erscheinung]. (ibid., 31) Der Hauptpunkt der grammatischen Interpretation liegt in den Elementen durch welche der Centralgegenstand bezeichnet wird; der Hauptpunkt der technischen im großen Zusammenhange und seiner Vergleichung mit den allgemeinen Combinationsgesezen. Daher muß man beim ersten Anfang gleich den Zusammenhang auffassen. Einzig mögliche Lösung durch cursorische Lection. (Hermeneutik, Erster Entwurf 1805, ibid., 38 f.) Dies ist die Theorie des „ Zirkels im Verstehen “ , die von Dilthey weiter entwickelt wurde und auch in der modernen Stilistik - vor allem bei Leo Spitzer − Anwendung gefunden hat. Hierzu sind zwei Punkte anzumerken: Erstens: Die Unterscheidung von Teil und Ganzem ist rein formaler und nicht materieller Natur. Teil und Ganzes sind demnach korrelativ, da nur in Bezug auf ein Ganzes etwas Teil sein kann und umgekehrt. Diese Hin-und-Her-Bewegung zwischen Teil und Ganzem kann in immer weiteren Kreisen stattfinden: Ein Wort ist Teil eines Satzes. Ein Satz ist Teil eines Textes. Ein Text ist Teil eines Gesamtwerkes. Das „ Ganze “ ist jeweils das Übergeordnete, so dass der „ Zirkel im Verstehen “ immer wieder anwendbar ist für umfassendere Gesamteinheiten, deren Verständnis wiederum das Verständnis des schon auf einer unteren Stufe Verstandenen modifiziert. Das Verständnis der Wörter wird durch das Verständnis des Satzes modifiziert, wie auch das Verständnis des Satzes durch das des Textes. In immer weiteren Kreisen werden umfassendere Gesamteinheiten verstanden, und zugleich werden die Teile neu interpretiert und anders verstanden. Das gleiche gilt auch auf der Seite der Denkinhalte und der Personen, so dass partielle Denkinhalte immer tiefer und besser durch das Verstehen des Ganzen aufgenommen werden können. Zweitens: Der Zirkel ist für Schleiermacher nur ein scheinbarer. Er ist kein circulus vitiosus, denn der Ausleger konstruiert jeweils ein provisorisches Schema des Ganzen, von dem her die Einzelfakten interpretiert werden. Das Ganze bleibt immer auf der Stufe eines Projekts und bildet einen konstruierten Rahmen für die Interpretation der Einzelteile, der durch die Hin-und Her-Bewegung modifiziert wird. In gewisser Hinsicht sind aber das Ganze und die Teile zugleich gegeben und deshalb kann die Bewegung vom einen zum anderen und wieder zurück nicht als circulus vitiosus angesehen werden. Der Zirkel gilt insbesondere auch in sprachlicher Hinsicht, für die Spannung zwischen der einheitliche Wortbedeutung und den unendlich vielen Verwendungen eines Wortes in den Texten. Nur Einzelverwendungen sind unmittelbar gegeben; diese Verwendungen sind aber nur von der einheitlichen Wortbedeutung her verständlich. 274 <?page no="289"?> Das gleiche gilt nach Schleiermacher auch für die Erlernung der Sprache von Seiten der Kinder, die immer wieder auf der Grundlage von Einzelverwendungen allgemeine Bedeutungen konstruieren. Dies ist das Geheimnis der Spracherlernung: Man konstruiert allgemeine Bedeutungen und nimmt nicht an, dass die konkret festgestellte Verwendung die allgemeine Bedeutung repräsentiere. 8.5.2.4 Verstehen als Rekonstruktion Das Verstehen ist dem Akt der Hervorbringung des zu Verstehenden in dem Sinne analog, dass es eine Rekonstruktion dieses Aktes ist. In einem der ersten Aphorismen zur Hermeneutik liest man: Ich verstehe nichts, was ich nicht als nothwendig einsehe und construieren kann. (Zur Hermeneutik 1805 und 1809/ 10 = KGA, 2. Abt., Bd. 4, 6) In den Vorlesungen zur Hermeneutik heißt es dann: Das Maximum dieser Reproduction ist Nachahmung, so schreiben können wie ein anderer denselben Gegenstand würde behandelt haben. (Hermeneutik Erster Entwurf 1805, ibid., 65) Mit den Worten Gadamers heißt dies: Jeder Akt des Verstehens ist nach Schleiermacher Umkehrung eines Aktes des Redens, die Nachkonstruktion einer Konstruktion. Die Hermeneutik ist entsprechend eine Art Umkehrung zur Rhetorik und Poetik. “ (Gadamer 1990, Bd. 1 [= Wahrheit und Methode], 192) Das bedeutet nicht, dass man tatsächlich rekonstruiert, sondern nur, dass man innerlich beim Verstehen diesen Prozess des Verstehens des Werkes nachahmt, sowie man ein Gebäude als Werk der Architektur versteht, indem man es „ in Gedanken “ rekonstruiert. 8.5.2.5 Identifikation mit dem Autor Die Rekonstruktion setzt voraus, dass man sich dem Autor, den man interpretiert, auch gleichsetzt. Man muss darauf bedacht sein, etwas so zu machen, wie er es gemacht hat. Die Gleichsetzung ist für Schleiermacher nicht nur möglich, sondern für das Verstehen auch notwendig und unentbehrlich. Auf der anderen Seite spricht er zwar auch von der Bestimmung des Horizontes des Einzelnen, meint hiermit aber eine Gleichsetzung mit dem Autor, eine Übernahme der Individualität des Autors. Das bedeutet, dass die historische Distanz für Schleiermacher eigentlich überwindbar ist. Gadamer bemerkt dazu: Aber diese „ Operation des Gleichseins “ , die sprachliche und historische Herstellung dieser Gleichheit, ist ihm nur eine ideale Vorbereitung für den eigentlichen Akt des Verstehens, der ihm nicht die Gleichsetzung mit dem ursprünglichen Leser ist, sondern die Gleichsetzung mit dem Verfasser, durch die der Text als eine eigentümliche Lebensmanifestation seines Verfassers aufgeschlossen wird. Schleiermachers Problem ist nicht das der dunklen Geschichte, sondern das des dunklen Du. (Gadamer 1990, Bd. 1, 195) 275 <?page no="290"?> Wie ist eine solche Gleichsetzung möglich? Einerseits im Rahmen der Idee der Identität aller Menschen, wie sie im italienischen Humanismus formuliert wurde. Es heißt dort, man könne grundsätzlich alle Menschen allein aufgrund ihrer Menschlichkeit verstehen. Der Humanist Pietro Marcello lässt Caesar und Alexander die Frage nach den Gründen ihrer Handlungen durch einen Hinweis auf ihre Menschlichkeit beantworten. Andererseits wird eine solche Gleichsetzung möglich durch die Kongenialität bestimmter Menschen. Im Rahmen der ersten Möglichkeit könnte jeder jeden interpretieren, im Rahmen der zweiten könnte nur ein bestimmter Mensch einen bestimmten anderen Menschen mehr oder weniger vollkommen interpretieren. 8.5.2.6 Das Verstehen bedarf der Intuition Die Spannung von Identität und Individualität ist nach Schleiermacher bei jedem Individuum gegeben. Die Identität umfasst nicht alles Individuelle, denn „ der productive Geist bringt immer etwas, was man nicht erwarten konnte “ . (KGA, Abt. II, Bd. 4, 26) Dies gilt auch für den Begriff des Individuums bei Schleiermacher, wonach jedes Individuum anders als alle anderen ist: [Jede Seele ist] in ihrem einzelnen Sein, das Nicht-Sein der anderen. . . (= „ Über den Begriff der Hermeneutik “ , Akademierede vom 12. 8. 1829, KGA, 1. Abt., Bd. 11, 621) Deshalb kann das Auslegen auch nicht reine Technik, reine Anwendung des schon Festgestellten, der Identität sein, es muss auch Kunst sein. Zum einen ist zwar die Identität auf Regeln reduzierbar, so dass gesagt werden kann, dass sich X so verhalten wird, wie sich die Menschen im Allgemeinen in solchen Situationen verhalten. Zum anderen ist dies aber nicht alles, denn es bleibt das Individuelle, das Anderssein als alle anderen, für das es keine Regeln gibt. Hier ist eine Art „ Divination “ nötig, ein intuitiver Akt, für den es keine Regeln geben kann. Dies gilt auch für die moderne Anwendung des „ Zirkels im Verstehen “ bei Spitzer: Man muss sich in diesem Zirkel bewegen, ohne dass man unbedingt und automatisch zu einem Verständnis kommt, denn ohne eine hinzukommende Intuition ist dieses Verstehen nicht möglich. Man bewegt sich im Kreise, bis dann am Ende alles Einzelne wie auf einmal sein volles Licht erhält. Weil die Individualität nicht vollständig in die Identität auflösbar sei, könne das Verstehen in quantitativer Hinsicht nie vollkommen sein, lasse sich „ das Nicht- Verstehen niemals gänzlich auflösen “ (ibid.). 8.5.2.7 Die qualitative Überlegenheit der Interpretation Während also in quantitativer Hinsicht keine Interpretation vollständig ist, kann sie in qualitativer Hinsicht über den Akt der Textproduktion hinausgehen. Immer wieder - und nicht nur in seiner Spätzeit, wie Gadamer behauptet - spricht Schleiermacher davon, dass man bei der Interpretation einen Autor besser verstehen könne, als er sich selbst verstand oder verstehen konnte. Die These, man könne einen Autor besser verstehen, als er sich selbst verstand, findet sich nach Schleiermacher auch bei dem Sprachwissenschaftler Heyman 276 <?page no="291"?> Steinthal und dem Philosophen Wilhelm Dilthey und scheint älteren Ursprungs zu sein. Otto Friedrich Bollnow hat die Formel bei Fichte und Kant gefunden und vermutet daher eine mündliche Tradition, eine Art mündlich überlieferte Handwerksregel. Gadamer bemerkt hierzu, dass die Formel bei Kant und Fichte anders zu interpretieren sei als bei Schleiermacher. Bei Kant und Fichte gehe es um die Wahrheit: Das, was ein Anderer nur dunkel gesehen hat, was er hatte sagen wollen, aber nicht gesagt hat, dies wird beim interpretierenden Denken weitergeführt und vertieft. In diesem spezifischen Sinn sei die Idee alt, man finde sie bereits bei Luther. Bei Schleiermacher gehe es um etwas anderes; bei ihm stehe das Verständnis des Künstlers, also das reflexive Verstehen, im Mittelpunkt. Der Künstler könne nicht zugleich Kritiker seiner selbst sein wie der Kunstkritiker, der ihn interpretiert. Was der Künstler intuitiv erfasst, hebt der Kritiker auf die Ebene der Reflexivität. Steinthal äußert sich sehr ähnlich in einem kleinen mit „ Die Arten und Formen der Interpretation “ überschriebenen Aufsatz: . . .der Philologe versteht den Redner und Dichter besser als dieser sich selbst und besser als ihn die Zeitgenossen schlechthin verstanden haben; denn er macht klar bewusst, was in jenem nur unmittelbar und thatsächlich vorlag. (Steinthal, 1970, 536) Hier geht es eindeutig um Interpretation von Kunst. Schleiermacher möchte seine Aussage jedoch nicht nur auf Kunstinterpretation, auf Interpretation dichterischer Texte bezogen wissen, wie es Gadamer getan hat, der in der Hermeneutik Schleiermachers einen Wendepunkt der Kunstinterpretation sah. Wir haben bereits an anderer Stelle gesehen, dass seine Hermeneutik in erster Linie mit der Dialektik und dem objektiven Denken und nicht nur mit der Kunst zusammenhängt. 8.5.3 Das Objekt des Verstehens 8.5.3.1 Die Doppelheit des Verstehens Wir kommen nun zu dem Aspekt der Hermeneutik, der die Stellung der Sprache betrifft. Es wurde bereits festgehalten, dass dieser Gesichtspunkt mit der Frage nach dem „ Was “ des Verstehens zu umschreiben ist. Was wird verstanden: die Rede als Sprachgebilde oder als Denkinhalt und Lebensakt oder als beides zugleich? Schon im Kompendium von 1819 heißt es: Das Reden ist die Vermittlung für die Gemeinschaftlichkeit des Denkens, und hieraus erklärt sich die Zusammengehörigkeit von Rhetorik und Hermeneutik und ihr gemeinsames Verhältniß zur Dialektik. [. . .] Die Zusammengehörigkeit besteht darin daß jeder Akt des Verstehns ist die Umkehrung eines Aktes des Redens; indem in das Bewußtsein kommen muß welches Denken der Rede zum Grunde gelegen. (Hermeneutik 1819 = KGA, 2. Abt., Bd. 4, 120) Hier erscheint also die Idee, dass im Verstehen der Rede zugleich das Denken, das der Rede zugrunde liegt, zum Bewusstsein kommen muss. Vor dem Hintergrund unseres Schemas, bei dem der Text mit seinen sprachlichen Zusammenhängen auf der einen Seite, das Denken mit den Lebenszusammenhängen auf der anderen Seite 277 <?page no="292"?> zu finden ist, ist nun die Frage zu stellen, welches die Stellung der Sprache ist. Was heißt es, dass beide Seiten verstanden werden müssen, bzw. dass das Denken, das der Rede zugrunde liegt, in das Bewusstsein gelangen muss? Es scheint, dass beides, die Interpretation des Textes und des Denkinhaltes, als Einheit gegeben ist, dass die beiden Komponenten jedoch unterschieden werden. Die Interpretation des Textes in sprachlicher Hinsicht, bei der auf die Objektivität der Sprache, der Einzelsprachen in ihren verschiedenen Ausprägungen rekurriert wird, nennt Schleiermacher grammatische Interpretation. Die Interpretation des Denkinhalts durch Zurückführung auf das Denken und das Leben des zu interpretierenden Individuums und zugleich auf die Allgemeinheit und die jeweilige historische Objektivität des Denkens und des Lebens nennt Schleiermacher technische Interpretation. In den letzten Jahren gibt er ihr den Namen psychologische Interpretation. Diese Zurückführung ist allerdings nicht als Reduktion auf das Allgemeine zu verstehen, sondern als eine Begegnung, als eine Kombination von Allgemeinheit und Individualität. Dies führt zu einem Verstehen des Individuellen durch Abhebung gegenüber dem Allgemeinen, bei dem die Originalität erkannt werden kann. 8.5.3.2 Die Interpretation Kimmerles Bis vor fünfundzwanzig Jahren war man allgemein der Meinung, Schleiermacher habe vor allem die zweite Art der Interpretation hervorgehoben. Vor allem Dilthey vertrat diese Ansicht: Das Verstehen sei grundsätzlich Verstehen des Denkinhaltes als eines Lebensaktes, ein psychologisches Nachbilden, das auf den schöpferischen Vorgang bei der Entstehung eines Werkes ausgerichtet sei, und bedeute gleichzeitig eine Vernachlässigung des Poles der sprachlichen Interpretation. Der Herausgeber der Handschriften Schleiermachers zur Hermeneutik, Heinz Kimmerle, vertritt eine neue These: Er behauptet, Dilthey habe die These des Überwiegens des psychologischen Pols nur aufgrund der lückenhaften Materialien äußern können. Diese Interpretation entspreche nur der letzten Phase des Denkens Schleiermachers (der Akademierede aus dem Jahre 1829), nicht aber den früheren Phasen, wo im Gegenteil die sprachliche Interpretation im Vordergrund gestanden habe. In Schleiermachers Hermeneutik habe somit eine Verschiebung von der sprachlichen zur psychologischen Interpretation stattgefunden: Je mehr Schleiermacher seine Hermeneutik zu einer solchen Wissenschaft vom Verstehen macht, um so mehr tritt bei ihm die Bindung des Verstehensprozesses an das lebendige Sprechen zurück. Die Frage nach der Auffindung des sprachlichen Sinnes (der Worte im Satz) wandelt sich immer mehr zu der Frage, welches besondere (individuelle) Denken einer sprachlichen Äußerung jeweils zugrunde liegt. (Kimmerle 1974, Vorwort zur ersten Auflage, 6) Im Übrigen bewertet Kimmerle diese Entwicklung negativ, wenn er meint, dass die früheren Ansätze durch die allmähliche Befreiung vom Sprachlichen in Vergessenheit geraten seien. Am Anfang habe Schleiermacher noch ausdrücklich betont: „ alles vorauszusetzende in der Hermeneutik ist nur Sprache und alles zu findende [. . .] muss aus der Sprache gefunden werden. “ (KGA, 3. Abt. , Bd. 4, 17) 278 <?page no="293"?> Alles, was Aufgabe der Hermeneutik sein könne, sei Glied eines Satzes. Mit der Zeit sei Schleiermacher zu der Auffassung gekommen, dass es doch keine solche Identität zwischen Sprache und Denkinhalt gebe, dass nicht alles, was im Text erscheint und durch die Rede bezeichnet wird, allein sprachlicher Natur sei. Er sei zu der Auffassung gelangt, dass sich Denken und Sprache etwa wie Idee und Erscheinung unterscheiden würden. So sei diese Verlagerung zustande gekommen, durch die das Positive der früheren Phasen verloren gegangen sei. Schleiermacher konnte - so Kimmerle - „ nur gegen einen Widerstand in der Sache [. . .] die Einsicht preisgeben, dass unser Denken wie unser ganzes Sein ursprünglich und wesentlich von der Sprache bestimmt sind, mit der für uns das Verständnis unserer Welt gegeben ist. “ (21) In der frühen Phase habe Schleiermacher Denken und Sprache in dieser Hinsicht identifiziert, erst später schreibt er: Jedes Werk eines Autors [erscheint als die] That seines Urhebers und bildet mit den andern Thaten zusammen das ganze seines Lebens, und ist also nur aus der Gesammtheit seiner Thaten [. . .] zu verstehen. (Schleichermacher, Entwurf von 1819, zit. bei Kimmerle 1974, 23) In dieser Phase der Hermeneutik habe Schleiermacher auch die Interpretation anders verstanden: Am Anfang stehe die Auffindung eines Keims, d. h. einer Einheit und einer Ausrichtung jedes Werkes, in rein psychologischer Hinsicht. Der zweite Schritt bestehe im Verständnis der Komposition, in der objektiven Realisierung und Entfaltung dieses Keims, der dritte schließlich in der Feststellung der sprachlichen Realisierung, im Sinne der elocutio der alten Rhetorik. Schleiermacher entschließt sich tatsächlich, den zweiten Teil der Hermeneutik den „ psychologischen Teil der Auslegung “ zu nennen und diese in eine rein psychologische und rein technische einzuteilen. Dies heißt etwa, dass die Idee selbst, das Zentrum des Werkes, zur psychologischen Interpretation gehört, die Komposition des Textes, die Entfaltung des Keims zur technischen und der Ausdruck zur grammatischen Interpretation zu zählen ist: Idee, Entfaltung und Ausdruck auf der einen Seite und psychologische, technische und grammatische Interpretation auf der anderen Seite. Hier wird die Umkehrung der Rhetorik eindeutig, denn diese Phasen entsprechen genau den Produktionsphasen der alten Rhetorik: inventio, dispositio und elocutio. In der Interpretation würde man nun in umgekehrter Richtung von der elocutio zur inventio gelangen. Die Diltheysche Interpretation entspreche nun dieser Endform der Hermeneutik von Schleiermacher. Dadurch - meint Kimmerle - seien die sachlich überzeugenden und positiven Gedanken in den frühen Entwürfen Schleiermachers in Vergessenheit geraten (vgl. ibid., 23 f.). Was ist nun an dieser Interpretation richtig? Richtig ist, dass in der Auffassung der Hermeneutik bei Schleiermacher tatsächlich eine Entwicklung festgestellt werden kann und dass diese Entwicklung in der traditionellen Interpretation kaum berücksichtigt worden ist, weil die frühen Ansätze von Schleiermacher in Vergessenheit geraten waren. Fraglich ist aber, ob diese Verschiebung eben derjenigen entspricht, die Kimmerle zu finden meint, nämlich einer Aufgabe des Sprachlichen 279 <?page no="294"?> zugunsten des Psychologischen. Vor allem ist zu fragen, ob diese Verschiebung negativ und die früheren Ansätze positiv zu bewerten sind. Für die Interpretation der Verschiebung gibt es zunächst ein rein philologisches Argument. Schon dem Kompendium von 1819 mit Randbemerkungen aus dem Jahre 1828 ist zu entnehmen, dass Schleiermacher nicht mehr Sprache und Denken identifizierte. Die späten Randbemerkungen weisen nichts von dem auf, was in der Darstellung enthalten ist. In der Darstellung der Hermeneutik von 1819, die ich für den wichtigsten Text Schleiermachers zur Hermeneutik halte, erscheinen die grammatische und die psychologische Interpretation als gleichzeitig und gleichrangig, wie folgendes Zitat belegt: „ Das Verstehen ist nur im Ineinandersein dieser beiden Momente. “ (KGA, 2. Abt., Bd. 4, 121) 8.5.3.3 Bedeutung, Bezeichnung und Sinn Darüber hinaus gibt es ein theoretisches Argument: Mit der Sprache als solcher meint man noch nichts. Die Sprache enthält nur die Möglichkeit des Meinens, aber nicht das Individuelle des Sagens. Sprachlich gegeben sind nur die Bedeutung der materiellen Zeichen und die Möglichkeit, dass etwas durch diese Bedeutung bezeichnet wird: Bedeutung und Bezeichnung in Bezug auf etwas Außersprachliches. In der Hermeneutik geht es aber um das Verständnis des Individuellen, des individuellen Sprechens; um das Individuelle in zweifacher Hinsicht, d. h. einmal als Individualität des Sprechenden und einmal als Individualität des Textes. Ein Sprachgebrauch, und sei es auch der Sprachgebrauch eines einzelnen Individuums, ist immer noch eine Art von langue, etwas, das das „ Meinen “ in Texten ermöglicht, jedoch keineswegs mit den Texten zusammenfällt. Deshalb war auch die Aufgabe, die Schleiermacher in seiner frühen Phase der technischen Auslegung zuschrieb, nämlich den „ Stil “ , den individuellen Sprachgebrauch zu bestimmen, eigentlich nicht der Hermeneutik zuzuteilen, und dies hing bei Schleiermacher wiederum mit der unzulässigen Identifizierung von Sprache und Denken zusammen: Ein und derselbe Sprachgebrauch lässt in Wirklichkeit auf die unterschiedlichsten Denkarten schließen. Dies führt uns zu der Frage nach dem „ negativen “ oder „ positiven “ Charakter der „ Verschiebung “ in der späten gegenüber der frühen Hermeneutik Schleiermachers. Meines Erachtens ist diese Verschiebung durchaus positiv zu bewerten, denn sie ist die Überwindung eines Irrtums. Zum einen Überwindung der angenommenen Identität von Akten (des Denkens) und Systemen von Möglichkeiten (Sprachen). Zum Anderen auch Überwindung der Identifizierung von Sprechen und Denken, die wiederum nicht annehmbar ist, wenn das Sprechen als etwas rein „ Sprachliches “ angesehen wird. Stellen wir uns nochmals die Frage, was es eigentlich bedeutet, einen Text zu verstehen. An erster Stelle sicherlich, den Text in rein sprachlicher Hinsicht zu verstehen, d. h. gewisse materielle Laute mit bestimmten Bedeutungen und darüber hinaus mit bestimmten Redebedeutungen und Bezeichnungen zu verbinden, kurz, im Einzelfall, die Realisierung einer Form mit der Realisierung einer Bedeutung zu verbinden. So wird z. B. der Gebrauch der Form Haus mit der Bedeutung „ Firma “ verbunden, wenn der Text „ Mit den besten Wünschen unseres Hauses “ lautet. Das nenne ich das „ sprachliche “ Verstehen des Textes. Der Text will aber noch tiefer 280 <?page no="295"?> verstanden werden - z. B. durch sein „ Warum “ und „ Wozu “ , im Hinblick auf die Absichten und Erwartungen desjenigen, der den Text produziert hat. Der gleiche Text kann beispielsweise höflich oder ironisch, eine Anerkennung oder eine Beleidigung sein. Das Sprachliche im Text mit Bedeutung und Bezeichnung wird wiederum zu einem Zeichen, einem signifiant für etwas, das ich den Sinn des Textes nenne. Allein die Tatsache, dass gerade dieses oder jenes und nicht etwas anderes bezeichnet wird, bedeutet ihrerseits etwas und weist auf einen Sinn hin. Daher ist auch die Interpretation eines Textes jeweils eine doppelte: Zum einen gelangt man vom sprachlichen Ausdruck zum Inhalt, zur Bedeutung und Bezeichnung. Zum anderen muss man ausgehend von der Bezeichnung und Bedeutung zum Sinn des Textes kommen. Zuerst ist das Verstehen wichtig: Was lässt Kafka mit Gregor Samsa eigentlich geschehen? Dann muss gefragt werden, was dies bedeutet: Was heißt es, dass sich Gregor Samsa in ein Ungeziefer verwandelt hat? Das Verständnis des Textes besteht nicht darin, dass nur das rein Sprachliche verstanden wird. Wie jedes Zeichen besitzt auch das Textzeichen, die sprachliche Form mit Bedeutung und Bezeichnung, die Möglichkeit für den Sinn als Zeichen (höherer Ordnung) oder als Anzeichen zu fungieren. Es ist Zeichen im eigentlichen Sinn, wenn es intentional für diesen Sinn hervorgebracht wird, es ist Anzeichen, wenn es nicht für diesen Sinn beabsichtigt ist und nur unwillkürlich einen Sinn manifestiert, wie in der psychoanalytischen Interpretation etwa die Tatsache, dass jemand dieses oder jenes bezeichnet. Schematisch: Ausdruck (1) Bedeutung Bezeichung Sinn (2) 8.5.3.4 Zur Abgrenzung von Sprachlichem und Außersprachlichem Nun ist es möglich, bei diesem Prozess des Verstehens nur das Äußere, die Form, „ Sprache “ und all das Innere, d. h. Bedeutung, Bezeichnung und Sinn, „ Denken “ zu nennen. Die sprachliche Interpretation kann dann als rein grammatische, materielle Interpretation angesehen werden. Man kann aber auch all das durch die Möglichkeiten der Sprache Gegebene „ Sprache “ und das andere, das Individuelle des Textes „ Denken “ nennen. Das Sprachliche ist dann Bezeichnung, Bedeutung und natürlich Ausdruck, Form, der Sinn kann dann als „ Denken “ interpretiert werden. Darüber hinaus kann man jedoch das Ganze „ Sprache “ nennen: Bedeutung, Bezeichnung und Sinn. Nur in diesem Fall sind dann Sprache und Denken tatsächlich identisch. Aus vielen Gründen, die hier nicht erörtert werden können, halte ich die zweite Lösung für richtig: Ausdruck, Bedeutung und Bezeichnung werden dem Sprachlichen, dem, was tatsächlich durch die Einzelsprache in ihrer Verwendung gegeben ist, zugerechnet, und im Sinn als Denkinhalt sieht man das Nichtsprachliche. Dies 281 <?page no="296"?> unter anderem auch deshalb, weil der Sinn bei Gleichheit von Bedeutung und Bezeichnung in verschiedenen Situationen durch außersprachliche Bestimmungen völlig verschieden sein kann. Sinn kann darüber hinaus durch unterschiedliche Mittel ausgedrückt werden. Grundsätzlich ließe sich beispielsweise auf einer sehr abstrakten Ebene einem Roman und einem Film trotz grundverschiedener Ausdrucksmittel der gleiche Sinn zuschreiben. Wenn wir Schleiermacher - gemäß seinem eigenen Prinzip - besser verstehen wollen, als er sich selbst verstanden hat, müssen wir sagen, dass er mit dieser Verschiebung recht gehabt hat und dass dieser Wandel nicht negativ, sondern positiv zu bewerten ist. Anfangs identifiziert er Sprache und Denken und betrachtet alles als sprachlich, mit der Zeit kommt er aber doch zu der Auffassung, dass Bedeutung und Bezeichnung vom Sinn zu trennen sind, so dass die Interpretation nicht eine rein sprachliche, sondern eine doppelte ist. Man muss natürlich weiterhin grammatisch interpretieren (und diese Vorgehensweise hat Schleiermacher auch niemals aufgegeben), aber dieser Schritt darf aber nur als Voraussetzung für die technische und psychologische Interpretation gelten. 8.5.3.5 Sprachliche Interpretation als Voraussetzung Warum darf man die „ grammatische “ Interpretation nicht aufgeben? Wenn Bedeutung und Bezeichnung als signifiant für einen neuen Inhalt, nämlich den Sinn, fungieren, muss man durch die sprachliche bzw. grammatische Interpretation ganz genau die Zeichen als solche feststellen. Wenn man auf die rein sprachliche Interpretation verzichtete, erhielte man keinen sauberen Text, dessen Sinn man ermitteln könnte. Es wäre eine Interpretation ohne genaue sprachliche Wahrnehmung. Wenn beispielsweise das Wort Baum als Raum mit falscher Bedeutung und falscher Bezeichnung interpretiert würde, könnte man den zutreffenden Sinn nicht mehr ermitteln. Die sprachliche Interpretation hat eben die Funktion, bei einer Interpretation des Textes die Bedeutung und die Bezeichnung genau festzustellen, die dann ihrerseits als Zeichen für den Sinn, die psychologische Interpretation dient. Natürlich sind diese Phasen zugleich gegeben, und das Verstehen erfolgt auch hier in diesem „ Zirkel des Verstehens “ , so dass auch die Bedeutung und Bezeichnung durch das Ganze, durch den Sinn, immer wieder neu interpretiert wird. Aber nur mit einem Sinn, den man zuvor entworfen hat, kann man auch die Teile richtig interpretieren. In dieser Hinsicht hat tatsächlich eine Verschiebung des Schwerpunktes bei Schleiermacher stattgefunden. Dies geschah aber nur als Klärung der tatsächlichen Verhältnisse, nicht als ein Vergessen, ein Aufgeben von positiven Ansätzen, sondern als Unterscheidung zwischen dem rein Sprachlichen und dem Sinn. Deshalb ist diese Verlagerung positiv zu deuten als die Entdeckung dieser höheren Einheit des Sinnes. All das, was nicht mehr rein sprachlich gegeben ist oder als reine Verwendung der Sprache, als Originalität der Sprache angesehen werden kann, nennt Schleiermacher „ Lebensart “ , „ Lebensform “ , „ Denkinhalt “ . Die grammatische Hermeneutik bleibt natürlich bestehen, ist aber nur noch als eine Voraussetzung für das psychologische Verstehen zu betrachten. Die rein 282 <?page no="297"?> sprachliche Interpretation ist für den Sinn, für das Verstehen unentbehrlich. Die Frage bei einer Interpretation des Textes ist aber nicht nur „ Was bedeuten die Worte? “ , sondern auch „ Was bedeuten die Bedeutungen? “ 8.5.3.6 Zu Gadamers Einwänden gegen Schleiermachers Hermeneutik Ganz im Gegensatz zu Kimmerle, der die Verschiebung von der sprachlichen zur psychologischen Interpretation feststellt und bedauert, erhebt Gadamer in seinem Aufsatz zur Hermeneutik Schleiermachers den Einwand, Schleiermacher habe die Individualisierung, die Originalität, auch die psychologische, nur von der sprachlichen Seite her gesehen und habe das Verhältnis zwischen sprachlicher Originalität und Originalität des Denkens nicht richtig beurteilt, da jedes von beiden auch ohne das andere möglich sei: [Die individualisierende Gegenbewegung] beschränkt sich offenkundig nicht auf das Lebendigmachen der Bedeutungen [. . .] Nicht nur der sprachliche Ausdruck, sondern gerade auch das damit Gemeinte kann originell sein. Nicht nur die Welt der Sprache, sondern die Welt der konventionellen Ansichten wird durch einen jeden ständig individualisiert. Man kann in einer völlig unpersönlichen Sprache sehr persönliche und originelle Dinge sagen - und leider auch umgekehrt. Der Extremfall, in dem das Sprechen mehr ein Ballspielen als eine lebendige Kommunikation ist, läßt umgekehrt die wirkliche Lebendigkeit des Sprechens als den normalen Fall erscheinen, und es fragt sich, worin diese Lebendigkeit besteht. Ist sie immer nur die Tat des freien Individuums und muß auf das individuelle Lebensganze zurückbezogen werden? Aber was ist individueller Gebrauch? Persönliche, originelle Ansichten oder persönlicher, origineller Wortgebrauch, Stil also? Beides ist lebendige Rede und Aufgabe des Verstehens, aber nur das letztere ist in der Sprache als Sprache da. Und selbst dann: Ist die Individualisierung der Rede nur vom Einzelnen her zu verstehen? Ist nicht die Rede durch den Sprachgebrauch, der herrscht, in einen Freiheitsspielraum ausgesetzt, der als solcher, vom Sprachgebrauch als solchem aus, durch Besonderheiten und Beliebigkeiten ausgefüllt wird, die nicht einer Individualität individueller Ausdruck sind? Wenn das richtig sein sollte, würden sich für die Hermeneutik Konsequenzen ergeben, die Schleiermachers dialektische Umspielung des Phänomens sprengen müßten. (Gadamer 1990, Bd. 4, 368) Psychologisch höchst Originelles könne mit alltäglichen Worten ausgedrückt werden, und eine hohe Originalität des sprachlichen Ausdrucks bürge nicht für einen originellen Inhalt, einen originellen Sinn. Zum anderen sei es überhaupt nicht notwendig, dass das inhaltlich Neue und Originelle auch zu einer Sprachänderung führen müsse, denn auch das Neue könne in traditioneller Sprache ausgedrückt werden: [Die grammatische Interpretation] wird aber bei Schleiermacher ungenügend analysiert. Denn er unterscheidet nicht recht zwischen dem Sprachgebrauch, von dem eine normierende Kraft ausgeht, und der Sachanschauung, die in einer Rede entwickelt wird und die auf allgemeine Geltung Anspruch erhebt. Ihm gilt es als eine Fortbildung der Sprache, wenn durch einen Autor ein Prädikat mit einem Subjekt verbunden wird, das so noch nie verbunden worden war. Hier scheint mir 283 <?page no="298"?> Schleiermacher zu verkennen, daß die Sprache als Sprache gerade fähig ist, allen Gedanken einen angemessenen Ausdruck zu geben, ohne daß sich die Sprache durch die Originalität der Ansicht, die sie ausdrückt, veränderte. Die Wendung, daß der Verfasser „ in der Sprache mit arbeitet “ , ist zwar richtig, aber sie wird nicht durch jede noch nicht gemachte Verbindung eines Subjekts mit einem Prädikat verifiziert. Im allgemeinen steht der Verfasser unter der Potenz der Sprache, und es ist höchst seltsam, wenn Schleiermacher bei einer neuen Verbindung eines Prädikats mit einem Subjekt von der „ Gewalt, die der Einzelne in der Sprache ausübt “ , redet, welche „ Erweiterungen und Contractionen der Sprachelemente nach der logischen Seite hin “ zustande bringe. Der Sprachgebrauch ist nicht identisch mit einer bestimmten inhaltlichen Aussage, sondern von derselben unabhängig. Man kann den Gegensatz Identität und Individualität nicht der ‚ Sprache ‘ und der ‚ Gedankenerzeugung ‘ zuordnen. So ist die hermeneutische Aufgabe bei Schleiermacher zwischen Grammatik und Psychologie am Ende gerade durchgefallen. (ibid., 140) Es ist zu fragen, ob Gadamers Einwände berechtigt sind. Sie gelten nur für die frühe Phase, weil hier Schleiermacher den Sinn der Sprache zuschreibt und weil er Sprache und Denken identifiziert. Aber bereits in dem für uns grundlegenden Text, dem „ Kompendium “ von 1819, lässt sich eine Stelle finden, die diese Einwände aufhebt. Zum hermeneutischen Minimum und Maximum in sprachlicher und psychologischer Hinsicht äußert sich Schleiermacher folgendermaßen: Nicht alle Rede ist gleich sehr ein Gegenstand der AuslegungsKunst; einige haben für dieselbe einen Nullwerth, andere einen absoluten. Das meiste liegt zwischen diesen beiden Punkten. Einen Nullwerth hat was weder Interesse hat als That noch Bedeutung für die Sprache. Es wird geredet weil die Sprache sich nur in der Continuität der Wiederholung erhält. [. . .] Auf jeder Seite giebt es ein Maximum, grammatisch nämlich, was am meisten produktiv ist und am wenigsten Wiederholung; klassisch. Auf der psychologischen Seite, was am meisten eigenthümlich und am wenigsten gemein originell. Absolut ist aber nur die Identität von beiden, das genialische. (KGA, 2. Abt., Bd. 4, 123) Dies bedeutet, dass ein Maximum an Sprachlichem in Verbindung mit einem Minimum an Psychologischem (oder umgekehrt) in Erscheinung treten kann: Wenn beide Seiten überall anzuwenden sind so sind sie es doch immer in verschiedenem Verhältniß. 1. Dies folgt schon daraus, daß das grammatisch unbedeutende nicht auch psychologisch unbedeutend zu sein braucht und umgekehrt, sich also auch nicht aus jedem unbedeutenden das bedeutende gleichmäßig nach beiden Seiten entwickelt. (ibid.) Dies ist gerade das, was Gadamer bei Schleiermacher zu Unrecht vermisst. Schleiermacher hält es für möglich, dass es einerseits ein Verhältnis von Laut und Bedeutung geben kann, auf dessen Grundlage oberflächliche Sprachspiele möglich sind, andererseits das komplexere Verhältnis „ Bedeutung-Bezeichnung-Sinn “ . So wie man mit den gleichen sprachlichen Ausdrücken einen unterschiedlichen Sinn ausdrücken kann, können auch materiell identische Sprachspiele etwas Unterschiedliches ausdrücken, nämlich „ Un-Sinn “ oder „ tieferen Sinn “ . In diesem Zusammenhang können die sprachlichen Spiele bei Rabelais und Raymond 284 <?page no="299"?> Queneau angeführt werden. In materiell sprachlicher Hinsicht können sie identisch sein; während sie aber bei Rabelais eine verzerrte und absurde Welt symbolisieren, bleiben sie bei Queneau oberflächliche Wortspielereien, die keinen Sinn konstituieren. Dies spricht auch gegen Gadamers Ansicht, die Hermeneutik von Schleiermacher sei so gut wie ausschließlich eine Hermeneutik für literarische Kunstwerke. Im Prinzip betrifft die Hermeneutik Schleiermachers alle möglichen Textsorten. Dadurch, dass er Textgattungen zu identifizieren versucht, für die nicht das parallele, sondern das umgekehrte Verhältnis der grammatischen und psychologischen Minima und Maxima gelten soll, zeigt Schleiermacher, dass er eine klare Intuition des Verhältnisses von Text und Sinn gehabt hat: 2. Das minimum von psychologischer Interpretation wird angewendet bei vorherrschender Objectivität des Gegenstandes: reine Geschichte, vornämlich im Einzelnen, denn die ganze Ansicht ist immer subjectiv afficirt. Epos. Geschäftliche Verhandlungen welche ja Geschichte werden wollen. Didaktisches von strenger Form auf jedem Gebiet. Hier überall ist das subjective nicht als Auslegungsmoment anzuwenden sondern es wird Resultat der Auslegung. Das minimum von grammatischer beim maximum von psychologischer in Briefen nämlich eigentlichen. Untergang des historischen und didaktischen in diesen. Lyrik Polemik? (ibid., 123 f.) 8.5.3.7 Die praktische Einheit von Voraussetzungen, Verstehen und Darstellung Man könnte die Auffassung Schleiermachers, dass der hermeneutische Prozess in sich geschlossen und autonom sei, und dass die historischen Voraussetzungen und die Darstellung der Interpretation selbst nicht dazugehörten, als einen Mangel seiner Hermeneutik betrachten. Zur Erinnerung: Nach Schleiermacher ist das alleinige Objekt der Hermeneutik das Verstehen unter Ausklammerung einerseits der Voraussetzungen, andererseits der Darstellung des Verstandenen. Somit ist nach Schleiermacher die theologische Arbeit noch nicht Interpretation, sondern nur Voraussetzung für eine Interpretation. Hiermit ist beispielsweise das Verhältnis der Sprache des Verfassers zu der Sprache seiner Zeit oder das Verhältnis des Denkens eines Verfassers zum Denken seiner Zeit gemeint. Tatsächlich ist die Darstellung der Interpretation von der Interpretation selbst zwar begrifflich zu unterscheiden, aber nicht im tatsächlichen Auslegungsprozess zu trennen. Die Darstellung trägt zur Interpretation bei, weil oft erst bei einer Darstellung Lücken und Undeutlichkeiten einer vorhergehenden Interpretation entdeckt werden. Beim Versuch des Formulierens meines Verständnisses entdecke ich Mängel und Unzulänglichkeiten, so dass es danach klarer und deutlicher wird. Bei zeitgebundenen Texten ist es weder praktisch noch theoretisch zulässig, die Voraussetzungen eines Textes auszuschließen. Auf die historischen Voraussetzungen bei der Interpretation „ zeitloser “ oder als „ zeitlos “ gemeinter Texte kann gewiss verzichtet werden. An der Grenze der Zeitlichkeit befindet sich beispielsweise die lyrische Dichtung, die beinahe zeitlos ist. In hermeneutischer Hinsicht ist dies aber ein Grenzfall. In den übrigen Fällen werden in praktischer 285 <?page no="300"?> Hinsicht die historischen Voraussetzungen selbst, mit denen man bereits am Anfang der Interpretation operiert hat, im Laufe des hermeneutischen Prozesses genauer verstanden; somit werden auch sie im Verlauf des Interpretationsprozesses modifiziert. Es ist nicht möglich, die Voraussetzungen des Textes vom Text selbst säuberlich zu trennen oder auch nur diese als solche richtig zu verstehen, ohne den Text als Reaktion auf diese Voraussetzungen zu interpretieren. Die Interpretation modifiziert demnach auch das Verständnis der Voraussetzungen selbst. Auch hier gilt der schon angesprochene „ Zirkel des Verstehens “ : Die Voraussetzungen müssen schon auf irgendeine Weise bekannt sein, damit die Interpretation des Textes möglich ist. Die Interpretation des Textes wirkt dann aber auch auf die Interpretation der Voraussetzungen zurück. In theoretischer Hinsicht kann man die Voraussetzungen nicht ausschließen, weil es überhaupt keine Voraussetzungen eines Textes gibt, die den Text selbst nicht einschließen. Wenn beispielsweise von Platon und seiner Zeit gesprochen wird, so handelt es sich nicht um zwei entgegengesetzte, sich gegenseitig ausschließende Größen. Denn eine Zeit ohne Platon ist nicht mehr die Zeit Platons. Platon selbst ist eine Komponente seiner Zeit; diese kann nicht unabhängig von Platon gesehen und als bloße Voraussetzung für die Interpretation Platons verstanden werden. Hierzu muss aber betont werden, dass Schleiermacher selbst dieser These der Ausschließung der geschichtlichen Situation aus dem hermeneutischen Prozess in der Darstellung von 1819 ausdrücklich widerspricht. Er schreibt dort: Der Sprachschaz und die Geschichte des Zeitalters eines Verfassers verhalten sich wie das Ganze, aus welchem seine Schriften als das Einzelne müssen verstanden werden, und jenes wieder aus ihnen. 1. Ueberall ist das vollkommne Wissen in diesem scheinbaren Kreise daß jedes Besondere nur aus dem Allgemeinen dessen Theil es ist, verstanden werden kann und umgekehrt. Und jedes Wissen ist nur wissenschaftlich wenn es so gebildet ist. 2. In dem genannten liegt die Gleichsezung mit dem Verfasser; und es folgt also erstlich daß wir um so besser gerüstet sind zum Auslegen je vollkommener wir jenes inne haben 2. aber auch daß kein auszulegendes auf einmal verstanden werden kann: sondern jedes Lesen sezt uns erst indem es jene Vorkenntniß bereichert zum besseren Verstehen in Stand. Nur beim unbedeutenden begnügen wir uns mit dem auf Einmal verstandenen. (KGA, 2. Abt., Bd. 4, 129) Hier wird gerade das betont, was in anderen Teilen seiner Hermeneutik vermisst wurde. 8.5.3.8 Die Problematik der Identifikation mit dem Autor Für gewisse Aspekte, die als Unzulänglichkeiten der Hermeneutik bei Schleiermacher angeführt werden, sind Interpretationen möglich, die diese Unzulänglichkeiten aufheben. Für andere, die an gewissen Stellen zum Ausdruck zu kommen scheinen, kann man andere Stellen bei Schleiermacher finden, die die ihm zugeschriebenen Unzulänglichkeiten sogar ausdrücklich widerlegen. Dies gilt zum Beispiel für die Reduzierung auf das Grammatische, für die fehlende Unterscheidung zwischen der sprachlichen und psychologischen Originalität 286 <?page no="301"?> oder auch für die Trennung der Voraussetzungen eines Textes von der Interpretation, vom Verstehen im engeren Sinne. Es muss aber noch auf den Aspekt eingegangen werden, der meiner Meinung nach die größte Unzulänglichkeit der Hermeneutik Schleiermachers und überhaupt der Hermeneutiken dieser Art darstellt. Die Hermeneutik Schleiermachers verlangt vom Ausleger, dass er sich mit dem Verfasser identifiziert. In einem Fragment wird sogar die Nachahmung, die Möglichkeit, genau dasselbe zu tun und zu sagen, als höchste Stufe des Verstehens dargelegt. Ein Verstehen, das den Anderen und das Andere nicht als ein Anderes versteht, das also die individuelle Differenz aufhebt und bis zur tatsächlichen Identifizierung mit einer anderen Persönlichkeit, bis zur Nachbildung und Nachahmung gelangt, hört auf, Verstehen zu sein. Es gehört zum Wesen des Verstehens, dass es Verstehen eines anderen auch und gerade in seiner Alterität, in seinem Anderssein ist. Wenn ich Platon bin, kann ich Platon nicht mehr in seiner Alterität verstehen. Die Nachahmung ist nicht die höchste Form des Verstehens, sondern eine der vulgären Formen des Nicht- Verstehens. Ich muss wohl den Anderen und seine historische Situation mit all seinen Voraussetzungen in mich selbst aufnehmen, seine Ziele und Ansichten technisch übernehmen, aber nur so, dass er doch mir gegenüber ein Anderer mit seiner historischen Situation bleibt, die nicht die meine ist, in seiner Eigenschaft als eines Objektes der Auslegung. Dies heißt wohl, wie R. G. Collingwood in der Idee der Geschichte sagt 133 , dass ich mich fragen muss, warum ich Cäsar töten würde, wenn ich Brutus wäre. Ich muss demnach Brutus mit seinen Zielen und in seiner Situation verstehen, aber auch bei dieser technischen, methodischen Identifizierung meine Alterität beibehalten. Die Voraussetzung des Verstehens ist nicht ein Indikativ, sondern ein Konditional. Nicht „ Ich bin Platon “ , sondern „ Was würde ich denken, wenn ich Platon wäre und mich in seiner geschichtlichen Situation befände “ . Die Innerlichkeit des Platons, den ich verstehe, darf nicht seine Alterität in meinem Bewusstsein aufheben: er muss zugleich ein Anderer bleiben. Dies ist die Voraussetzung jeder Interpretation. Es geht um eine methodische, nicht um eine tatsächliche Identifizierung bzw. Nachahmung oder Nachbildung. Nur auf diesem Hintergrund, kann auch das Prinzip gelten, dass man einen Verfasser besser versteht, als er sich verstehen konnte. Würde ich mich nämlich vollkommen mit dem Verfasser identifizieren, hätte ich kein anderes Verstehen als er selbst: Er stünde mir nicht mehr gegenüber, und ich könnte ihn nicht besser verstehen, als er sich selbst verstand. 8.5.3.9 Bibliographische Hinweise − Primärtexte Im Folgenden wird auf die Werke Schleiermachers verwiesen, in denen seine Sprachphilosophie zu finden ist oder die zumindest wichtige sprachphilosophische bzw. sprachtheoretische Äußerungen enthalten. [Ein Überblick über die bisher 133 The Idea of History, Revised Edition Oxford 1993 [1946], 214. 287 <?page no="302"?> erschienen Teile der Kritischen Gesamtausgabe wird am Ende des Abschnitts gegeben.] Besonders bekannt ist der Aufsatz „ Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens “ , ursprünglich eine Berliner Akademierede aus dem Jahre 1813. Er stellt den wichtigsten Entwurf einer Theorie der Übersetzung nach Martin Luther dar und enthält, ausgehend vom Gesichtspunkt der Übersetzung, eine umfassende Sprachtheorie. Der Aufsatz wurde 1816 gedruckt und ist in der Anthologie von Hans Joachim Störig Das Problem des Übersetzens, Darmstadt 3 1973, 38 − 70 besonders leicht zugänglich. [Der Text wird hier aus der Kritischen Gesamtausgabe, 1. Abt., Bd. 11 zitiert.] Schleiermachers Psychologie wurde auf der Grundlage des handschriftlichen Nachlasses und der Vorlesungsnachschriften von Leopold George veröffentlicht. Diese Schrift ist im 4. Band der Reihe Friedrich Schleiermachers literarischer Nachlaß zur Philosophie, Berlin 1862, enthalten, wobei die Sprache auf den Seiten 133 − 182 behandelt wird. Es handelt sich um den längsten zusammenhängenden Text Schleiermachers zur Sprachphilosophie. Leider wurde er von vielen Autoren nicht genügend berücksichtigt, die sich stattdessen viel stärker auf die Dialektik oder die Hermeneutik beziehen. Die Dialektik, auch auf der Basis von unveröffentlichtem Material von Rudolf Odebrecht herausgegeben und 1942 in Leipzig erschienen. [Auszüge daraus in: Heinrich Junker Sprachphilosophischem Lesebuch, cf. supra, 74 − 80.] [Das Zitat aus der Sittenlehre wurde der folgenden Ausgabe entnommen: Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher: Werke. Auswahl in vier Bänden. Bd. 2 Entwürfe zu einem System der Sittenlehre. Nach den Handschriften neu herausgegeben und eingeleitet von Otto Braun. Neudruck der 2. Aufl. Leipzig 1928. Aalen 1967. Es gehört zu den Vorlesungen zur Ethik von 1812/ 1813] Friedrich Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, hrsg. von Friedrich Lücke. In: Sämtliche Werke, 1. Abt., Bd. 7 Berlin 1838. Die Schriften zur Hermeneutik wurden ebenfalls auf der Grundlage von Handschriften herausgegeben. Dabei ist zunächst die Ausgabe von Heinz Kimmerle, Hermeneutik, Heidelberg 1959 [ergänzte Auflage, Heidelberg 1974], zu nennen, die allerdings die ältere Ausgabe von Lücke nicht ersetzen kann, da in letzterer auch Abschnitte aus Vorlesungsnachschriften enthalten bzw. eingearbeitet sind. Im Einzelnen handelt es sich um folgende Schriften: - Aphorismen aus den Jahren 1805 und 1809; - Ein erster Entwurf aus den Jahren 1809 − 1810; - Eine thesenhafte Darstellung ( „ Kompendium “ ) aus dem Jahre 1819; - Eine ähnliche Darstellung der „ technischen Interpretation “ , wahrscheinlich aus dem Winter 1826/ 27; - Zwei Akademiereden aus dem Jahre 1829; - Randbemerkungen aus den Jahren 1832 − 1833 zu den beiden thesenhaften Darstellungen. 288 <?page no="303"?> Für diese Vorlesung sind die thesenhaften Darstellungen aus den Jahren 1819 und 1826/ 1827 am wichtigsten. Schleiermachers übrige Schriften enthalten nur Weniges zur Sprachphilosophie. Für Spezialisten wäre auch Schleiermachers Ästhetik von Interesse (besonders das 3. Kap. des 2. Teils „ Über die redenden Künste “ , 257 − 287). Auch sie wurde auf der Basis von Nachschriften Rudolf Odebrechts in Berlin/ Leipzig 1931 herausgegeben. Schließlich wäre das Buch Hermeneutik und Kritik, hrsg. von Manfred Frank, Frankfurt a. M. 1977 zu nennen. Diese Ausgabe ist meines Wissens die neueste Veröffentlichung von Texten Schleiermachers. Sie enthält im Anhang eine Auswahl sprachphilosophischer Texte und kann daher als eine Art Anthologie zum Denken Schleiermachers auf diesem Gebiet gelten. Keinesfalls kann sie aber die von mir schon lange angeregte, bisher jedoch noch nicht zustande gekommene Sammlung aller sprachphilosophischen Texte Schleiermachers ersetzen. − Sekundärtexte Aus der Bibliographie der allgemeinen Werke zu Schleiermacher will ich nur das Wichtigste erwähnen: An erster Stelle ist immer noch Wilhelm Diltheys zweibändiges Werk Das Leben Schleiermachers zu nennen. Der erste Band erschien in Berlin 1870 ( 2 1965), der zweite Band wurde nicht mehr zu Lebzeiten Diltheys veröffentlicht, er wurde 1966 in Berlin von Martin Redecker unter dem Titel Schleiermachers System als Philosophie und Theologie herausgegeben, der auch die dritte Auflage des ersten Bands auf der Grundlage des Textes der erste Auflage und der Zusätze aus dem Nachlass besorgt hat (Berlin 1970). Über Dilthey ist die Hermeneutik Schleiermachers den Philologen und Linguisten, z. T. auch den Philosophen und Theologen bekannt geworden; insbesondere Schleiermachers berühmtes Prinzip des „ Zirkels im Verstehen “ . Dieses Prinzip wurde z. B. von Leo Spitzer zur Grundlage der stilistischen Interpretation, ja der Stilistik überhaupt gemacht. Die Sprachphilosophie Schleiermachers ist jedoch bis heute weitgehend unbekannt. Es fehlt eine ausführliche Gesamtdarstellung. In Eva Fiesels bereits mehrfach erwähntem Buch Sprachphilosophie der deutschen Romantik findet man die üblichen unverbindlichen und allgemein gehaltenen Hinweise zu Schleiermacher. Vermutlich hat Eva Fiesel von Schleiermacher nur die noch von ihm selbst veröffentlichte Abhandlung zur Übersetzung zur Kenntnis genommen. Ausschließlich mit der Hermeneutik haben sich viele Philologen und Philosophen beschäftigt, weshalb auch die meisten Werke und Abhandlungen zu Schleiermacher v. a. Abhandlungen zu seiner Hermeneutik oder zu Aspekten seiner Sprachphilosophie sind, die mit der Hermeneutik zusammenhängen. In diesem Zusammenhang ist ganz besonders Hans-Georg Gadamers großes Werk Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960, 2 1965 ( 6 1990), zu erwähnen, wo einige Seiten zu Schleiermacher zu finden sind: In der Ausgabe von 1990, 188 − 201 289 <?page no="304"?> Noch wichtiger ist Gadamers Aufsatz „ Das Problem der Sprache in Schleiermachers Hermeneutik “ aus dem Jahr 1968, neu abgedruckt in: Kleine Schriften, Bd. 3, Idee und Sprache, Tübingen 1972, 129 − 140. Aus der Schule Gadamers im weiteren Sinn stammt: Werner Schulz: „ Die Grundlagen der Hermeneutik Schleiermachers − ihre Auswirkungen und ihre Grenzen “ , in: Zeitschrift für Theologie und Kirche, 1953, 158 − 154. Zwei weitere wichtige Werk, die eine Wiederentdeckung Schleiermachers zumindest außerhalb Deutschlands eingeleitet haben, stammen von Gianni Vattimo: Introduzione all ’ ermeneutica di Schleiermacher, Turin 1967; Schleiermacher, filosofo dell ’ interpretazione, Mailand 1968. In Deutschland ist etwas später ebenfalls ein Buch erschienen, das in erster Linie die Hermeneutik betrifft: Manfred Frank, Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und Interpretation nach Schleiermacher. Frankfurt a. M. 1977. Schließlich seien zu der hermeneutischen Tradition, die Schleiermacher fortsetzt und weiterentwickelt, zwei Beiträge erwähnt, die ich selbst angeregt habe: Reinhold Rieger: Interpretation und Wissen. Zur philosophischen Begründung der Hermeneutik bei Friedrich Schleiermacher und ihrem geschichtlichen Hintergrund. Berlin/ New York 1988. Micaela Verlato: „ Sprachinhalt und Interpretation. Bedeutung und Sinn in Schleiermachers Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition “ in: Zeitschrift für Theologie und Kirche, 83 (1986), 39 − 84. − Zur philosophischen Hermeneutik im Allgemeinen Emilio Betti: Zur Grundlegung einer allgemeinen Auslegungslehre, Tübingen 1954. Emilio Betti: Teoria generale dell ’ interpretazione, 2 Bde., Mailand 1955. Ernst Fuchs: Hermeneutik, Stuttgart Bad Cannstatt 1954. Hans-Georg Gadamer: „ Idee und Sprache “ , in: Kleine Schriften, Bd. 3, Tübingen 1972. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, [cf. supra]. − Zur Geschichte der Hermeneutik: Wilhelm Dilthey: „ Die Entstehung der Hermeneutik “ , in: Gesammelte Schriften Bd. 5, Stuttgart/ Göttingen 1957 ( 4 1964), 317 − 338. Joachim Wach: Das Verstehen. Grundzüge einer Geschichte der hermeneutischen Problematik im 19. Jh., 3 Bde., Tübingen 1926 − 1933, Nachdruck Hildesheim 1966. Karl Otto Apel: „ Das Verstehen - eine Problemgeschichte als Begriffsgeschichte “ , in: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. 1, Bonn 1955. Otto Friedrich Bollnow: Das Verstehen, Mainz 1949. 290 <?page no="305"?> Rudolf Bultmann. „ Das Problem der Hermeneutik “ . In: Glauben und Verstehen, Bd. 2, Tübingen 1952, 211 − 235. [Die nach Abschluss der Vorlesungsreihe erschienene Literatur zu Schleiermacher und zur Hermeneutik im Allgemeinen ist unübersehbar. Es können hier nur sehr knappe Hinweise gegeben werden: Ulrich Barth: „ Schleiermacher-Literatur im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts “ . In: Theologische Rundschau 66 (2001), 408 − 461. Jean Grondin: Einführung in die philosophische Hermeneutik. 2. überarbeitete Aufl. Darmstadt 2001. Günter Figal (Hrsg.): Internationales Jahrbuch für Hermeneutik. Tübingen 2002 ff. Seit 1980 ist im Erscheinen begriffen: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe. Im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen herausgegeben von Günter Merckenstock . . . Berlin/ New York 1980 ff. Wie aus Band 2, 4 Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik, Berlin/ New York 2012 hervorgeht, dürfte sich die Textgrundlage gegenüber den von Coseriu verwendeten Ausgaben im Hinblick auf die Vorlesungen Schleiermachers z. T. erheblich ändern. Leider sind einige für die Textgrundlage dieser Vorlesung wichtige Bände der Zweiten Abteilung aufgrund von Finanzierungsschwierigkeiten noch nicht erschienen. In diesen Fällen (Psychologie, Sittenlehre) wurden die Zitate in den von Coseriu verwendeten Ausgaben übernommen und gegebenenfalls korrigiert. Dies gilt - aus Gründen der Textkohärenz - auch für eine Reihe von Zitaten aus den Texten zur Hermeneutik. In diesen Fällen wurde jedoch auf die entsprechenden Texte der Kritischen Gesamtausgabe verwiesen.] 291 <?page no="306"?> 9 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775 ‒ 1854) Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (geadelt 1812) wurde am 27. Januar 1775 in Leonberg, nicht weit von Stuttgart geboren. Sein Vater war protestantischer Pfarrer und hatte sich als theologischer Schriftsteller und Orientalist einen Namen gemacht. Wie seine späteren Kommilitonen Hegel und Hölderlin entstammte er einem Milieu, dass durch die drei ‚ Schwabenväter ‘ , die Leitfiguren des süddeutschen Pietismus, Johann Albrecht Bengel, Friedrich Christoph Oetinger und Philipp Matthäus Hahn geprägt war. Der junge Schelling besuchte zunächst die Lateinschule in Nürtingen, dann das Höhere Seminar im Kloster Bebenhausen bei Tübingen, wo der Vater lehrte und wo Schelling auf den Eintritt in das Tübinger Stift vorbereitet wurde. Mit einer Sondergenehmigung durfte er dort mit sechzehn Jahren das Studium aufnehmen. Seine Zimmergenossen waren Hegel und Hölderlin, beide fünf Jahre älter als er. Das enge Zusammenleben und der ständige Gedankenaustausch der „ Tübinger Drei “ in den Jahren 1790 bis 1793 auf der Grundlage gemeinsamer Lektüren (Giordano Bruno und vor allem Spinoza) hatte nicht nur Folgen für deren weitere Entwicklung, sondern auch für die deutsche Geistesgeschichte insgesamt. Nur die wichtigeren Stationen von Schellings weiterer Laufbahn können hier erwähnt werden: Bei einem längeren Aufenthalt 1798 in Dresden machte er die Bekanntschaft der Brüder Schlegel, Friedrich von Hardenbergs (Novalis) und Schleiermachers. 1801 erhielt er auf Empfehlung Goethes eine außerordentliche Professur in Jena, an der Seite Fichtes, den er bereits in Tübingen kennen und schätzen gelernt hatte, mit dem er sich jedoch bald überwarf. 1803 heiratete er die soeben von A. W. Schlegel geschiedene Caroline (geb. Michaelis; cf. Kap 7). Sie starb schon wenige Jahre später. Im selben Jahr folgte er einem Ruf nach Würzburg, wo er wenig Anklang fand und Anfeindungen durch Geistliche beider Konfessionen ausgesetzt war. 1806 wechselte er als Mitglied der Akademie der Wissenschaften nach München, wo er bis 1820 blieb. Wenn er auch keine offizielle Lehrtätigkeit ausübte, so hatte er doch als Generalsekretär der neugegründeten Akademie der bildenden Künste und als Philosophielehrer des Kronprinzen großen gesellschaftlichen Erfolg. Konservative Geister schätzten ihn weniger. Wie vor ihm Fichte (cf. Kap. 5) sah er sich scharfen Angriffen wegen seiner „ pantheistischen, potentiell atheistischen “ Ansichten ausgesetzt; der prominenteste unter seinen Angreifern war Friedrich Heinrich Jacobi. Ab 1820 war er für einige Jahre Honorarprofessor in Erlangen; schließlich folgte er 1827 einem Ruf an die soeben von Landshut nach München zurückverlegte bayerische Landesuniversität ( „ zweite Münchner Zeit “ ). Den Abschluss seiner akademischen Laufbahn bildete dann die Übernahme einer Professur in Berlin im Jahr 1841. Bei seinen ersten Vorlesungen saßen unter vielen anderen Friedrich Engels, Søren Kierkegaard und Michail Bakunin im Publikum. Sie waren schnell von ihm enttäuscht. Schon wenige Jahre später gab er seine Vorlesungstätigkeit auf und hielt nur noch wenige Vorträge. Er starb am 20. August 1854 während eines Kuraufenthalts in Bad Ragaz, nördlich von Chur. Er hat die meisten 292 <?page no="307"?> Gesprächspartner und Freunde seiner Jugend überlebt, war ihnen jedoch schon lange vorher fremd geworden. Wie so viele unter seinen Zeitgenossen hat er selbst wenig veröffentlicht; die erste Ausgabe seiner Werke besorgte sein Sohn aus seiner zweiten Ehe mit Pauline Gotter, Karl Friedrich August Schelling; sie erschien zwischen 1856 und 1861. [Weitere Literaturangaben am Schluss des Kapitels.] 9.1 Schellings Beitrag zur Sprachphilosophie im Kontext seines Gesamtwerks Schellings Ausführungen zur Sprache finden sich in zwei miteinander zusammenhängenden Werken: In der Philosophie der Kunst, die in Jena und später in Würzburg vorgetragen, aber nicht von Schelling selbst veröffentlicht worden war, und in der Einleitung in die Philosophie der Mythologie, und zwar im ersten Band: Historisch-kritische Einleitung in die Philosophie der Mythologie. Dabei handelt es sich um zehn in Erlangen gehaltene Vorlesungen, die zwar bereits 1825 gedruckt aber nicht veröffentlicht wurden und lange Zeit nur sehr wenigen Personen zur Kenntnis gelangten. In der Philosophie der Kunst ist § 73 dem Problem der Sprache gewidmet. Durch seine Fragestellungen und Lösungen führt uns Schelling hier einen Schritt zurück in die Nähe von August Wilhelm und mehr noch von Friedrich Schlegel. Was die Einleitung in die Philosophie der Mythologie betrifft, so geht es in Vorlesung III u. a. um das Wesen der Sprache, insbesondere der Einzelsprache; in den Vorlesungen V und VI wird dann die Verschiedenheit der Sprachen und die Differenzierung der Sprachen behandelt. Im zweiten Band der Philosophie der Mythologie, der spätere Vorlesungen enthält, geht Schelling in der vierundzwanzigsten Vorlesung auf das Chinesische ein. Da diese Ausführungen in der sechsten Vorlesung des ersten Bandes angekündigt waren, sollen hier einige Passus aus diesem Kapitel angeführt und diskutiert werden (cf. infra 9.3.4). Zum besseren Verständnis von Schellings Ausführungen zur Sprache muss zunächst das Notwendigste zu seinem System und zu den Hauptmotiven seiner Philosophie gesagt werden. Während sich das Interesse von Fichte auf das ethische Leben konzentriert und dasjenige Hegels auf die Geschichte als Welt der menschlichen Gemeinschaften und der Kultur, ist Schellings Interesse auf die Natur und auf das „ Natur-Machen “ , auf die Kunst ausgerichtet. Während Fichte das Absolute im Subjekt - im „ Ich “ - findet, in der unendlichen Tätigkeit des Bewusstseins, und Hegel es in der „ Idee “ , die sich in der Realität verwirklicht, entdeckt, und somit in der Realität selbst in all ihren Formen, insbesondere jedoch in den geistigen, sucht Schelling, nachdem er für kurze Zeit Fichtes subjektiven Idealismus akzeptiert hatte, nach einem Absoluten, das die Objektivität und Organizität der Natur rechtfertigen kann - nach einem Prinzip, das einerseits demjenigen der objektiven Unendlichkeit (der „ Substanz “ Spinozas) und andererseits demjenigen der subjektiven Unendlichkeit (dem Fichteschen „ Ich “ ) zugleich entsprechen sollte. Dieses Prinzip, dieses „ Eine “ (im Sinne von Giordano Bruno), das Absolute oder Gott, setzt er als ein Prinzip, das zugleich Objekt und Subjekt, Natur und Vernunft ist, unbewusste und bewusste Tätigkeit. Es geht also um die Einheit, die Identität oder einfach um die Nicht-Differenzierung all dieser Gegen- 293 <?page no="308"?> sätze, kurz um Hegels „ Nacht [. . .] worin, wie man zu sagen pflegt, alle Kühe schwarz sind. . . “ . 134 Schelling wird später an Hegel hauptsächlich kritisieren, dass im Gegensatz zu dessen Behauptung das Rationale die Existenz des Realen nicht erkläre; das Vernünftige betreffe nämlich das „ Sein “ , nicht das „ Dasein “ . (Hegel hatte allerdings diese Kritik in der Diskussion um die Beweise der Existenz Gottes bereits vorausgesehen und zurückgewiesen.) Schellings Philosophie bleibt im Grunde dualistisch. Während für Fichte und Hegel das Organ und der Gegenstand der Philosophie im Grunde zusammenfallen, sucht Schelling ein (vom Gegenstand unterschiedenes) Organ der Philosophie. Nachdem er es anfangs mit Fichte in der menschlichen Vernunft gefunden zu haben glaubte, findet er es in der originellen Phase seines Denkens in der Kunst, später in der Religion. (Die Philosophie der Kunst gehört der originellen Phase an, die Einleitung in die Philosophie der Mythologie markiert bereits den Übergang zu seiner Konzentration auf die Religion.) Die Kunst ist Organ der Philosophie in dem Sinn, dass sie die Antinomie von Subjekt und Objekt, von Idealem und Realem, von Bewusstsein und Unbewusstsein, von Freiheit und Notwenigkeit überwindet, beziehungsweise die Identität dieser Gegensätze ausmacht und damit zum Absoluten gelangt. Die Kunst sei eben Natur und Kultur, φύσις und τέχνη , unbewusste und bewusste Tätigkeit zugleich. Das Absolute produziere die Natur mit voller Freiheit, jedoch vor der Trennung von Idealität und Realität; die Kunst sei eine Synthese von Idealität und Realität (von Idee und Natur) nach ihrer Trennung. In diesem Sinne sei sie Rückkehr des Absoluten zu sich selbst und folglich das Selbstbewusstsein des Absoluten. Die Mythologie hängt für Schelling eng mit der Kunst zusammen. Anfangs fällt sie sogar mit der Kunst zusammen. Im System des transzendentalen Idealismus (1800) wird die griechische Mythologie als Beispiel für Kunst angeführt; sie enthalte Ideen und Symbole, deren sich das Volk, das sie schuf, wie für Künstler generell üblich, nicht bewusst gewesen sei. In der Philosophie der Kunst bleibt die Mythologie in der Nähe der Kunst, jedoch als eine von dieser getrennte Erscheinung. Die Kunst stelle die Dinge als „ absolut “ , als absolute Formen der Dinge dar. Diese Formen sind in philosophischer Hinsicht Ideen, Bilder des Göttlichen; nur wenn man sie im Einzelnen als real ansieht, sind sie getrennt wahrgenommene Gottheiten, Götter im Plural. Die Welt der Götter ist nun die Mythologie, und in dieser Hinsicht ist sie für Schelling Bedingung und Stoff der Kunst. In der Einleitung in die Philosophie der Mythologie erscheint die Mythologie als eine Vorform der Religion, als Theogonie, als kollektive symbolische Erfassung des Göttlichen. Als Erfassung von Wahrheiten, von Ideen ist sie implizite Philosophie, als symbolische Objektivierung ist sie Kunst. Es handelt sich jedoch um eine „ kollektive “ und religiöse Kunst, um das Werk von Völkern als Individuen. Kunst 134 [Vgl. die Vorrede zur Phänomenologie des Geistes (Hegel 1970 [1807] 22), die von vielen Zeitgenossen (und vom Betroffenen selbst) als Kritik an Schellings System aufgefasst wurde.] 294 <?page no="309"?> und Philosophie sind hier noch nicht wirklich getrennt, sie stehen in formaler Entsprechung zueinander. In diesem Argumentationszusammenhang behandelt Schelling auch die Sprache. 9.2 Die Philosophie der Kunst: Schelling über das Wesen der Sprache Die Sprache ist für Schelling grundsätzlich Einheit des Besonderen und des Allgemeinen; einerseits Auflösung des Individuellen in das Begriffliche, andererseits Ausdruck des Idealen im Realen. In diesem Sinne sei sie (formal gesehen) Kunstwerk. Sie entstehe allerdings nicht mit der Intention, Kunst zu sein, sondern „ auf natürliche Weise “ . Wie man sich das genau vorzustellen hat, sagt Schelling nicht. In diesem Sinne sei sie doch nicht Kunst, sondern ein vorgegebenes natürliches Kunstwerk: Die ideale Einheit als Auflösung des Besondern ins Allgemeine, des Concreten in Begriff, wird objektiv in Rede oder Sprache. [. . .] Die Sprache ist, nur wieder real angeschaut, dieselbe Auflösung des Concreten in das Allgemeine, des Seyns in das Wissen, welche das Denken ideal ist. Die Sprache von der einen Seite betrachtet ist unmittelbarer Ausdruck eines Idealen - des Wissens, Denkens, Empfindens, Wollens u. s. w. - in einem Realen, insofern selbst ein Kunstwerk. Allein sie ist von der anderen Seite ebenso bestimmt ein Naturwerk, indem sie als die Eine nothwendige Form der Kunst nicht ursprünglich durch Kunst erfunden oder entstanden gedacht werden kann. Sie ist also ein natürliches Kunstwerk, wie es mehr oder weniger alles ist, was die Natur hervorbringt. (Schelling 1980 [1859], 126) Das heißt, insofern sie Stoff für die Poesie ist, kann sie selbst nicht als durch Kunst entstanden angesehen werden; denn sie ist die erste Verbindung von Idee und Stoff, und sozusagen Erfindung des Stoffes. Sie ist nur φύσις , nicht auch τέχνη . Sie ist der Natur (der natürlichen „ Materie “ ) der bildenden Künste analog. Da die Sprache Interpretation von Idee und Realem ist, und da jede Idee eine Partikularisierung des Absoluten, d. h. Gottes darstellt, ist die Sprache auch Symbol Gottes: In dieser Integration entsteht das entsprechendste Symbol der absoluten oder unendlichen Affirmation Gottes, weil diese hier sich durch ein Reales darstellt, ohne daß sie aufhörte ideal zu seyn (welches eben die höchste Forderung ist), und dieses Symbol ist die Sprache, wie sich leicht einsehen läßt. Aus diesem Grunde hat nicht nur in den meisten Sprachen Sprache und Vernunft (welche eben das absolute Erkennen, das Erkennende der Ideen ist) ein und denselben Ausdruck, sondern auch in den meisten philosophischen und religiösen Systemen, vorzüglich des Orients, ist der ewige und absolute Akt der Selbstaffirmation in Gott - der Akt seines ewigen Schaffens - als das sprechende Wort Gottes, der Logos, der zugleich Gott selbst ist, bezeichnet worden. 295 <?page no="310"?> Das Wort oder Sprechen Gottes betrachtete man als den Ausfluß der göttlichen Wissenschaft, als die gebärende, in sich unterschiedene und doch zusammenstimmende Harmonie des göttlichen Producierens. (ibid., 127) Wie Hamann betrachtet übrigens auch Schelling die Natur als Sprache Gottes. Daher wird der Parallelismus von Sprache und „ Materie “ nochmals bestätigt. Der Unterschied bestehe darin, dass die Sprache (als Sprechen! ) etwas Aktuelles, ein absoluter Erkenntnisakt, die Natur hingegen ein Vergangenes sei. Die Natur sei nicht „ Sprechen “ , sondern „ Gesprochenes “ : Auf keine andere Weise, als wie sich in der Sprache das Wissen noch jetzt symbolisch fasset, hat sich das göttliche Wissen in der Welt symbolisch gefasst, so daß auch das Ganze der realen Welt (nämlich inwiefern sie selbst wieder Einheit des Realen und Idealen ist) auch wieder ein ursprüngliches Sprechen ist. Aber die reale Welt ist nicht mehr das lebendige Wort, das Sprechen Gottes selbst, sondern nur das gesprochene - geronnene - Wort. (ibid., 128) Die Sprache im Ganzen entspreche der Totalität des Absoluten und sei ein Bild des Absoluten in seiner Differenziertheit und Undifferenziertheit: Die Sprache als die sich lebendig aussprechende unendliche Affirmation ist das höchste Symbol des Chaos, das in dem absoluten Erkennen auf ewige Weise liegt. In der Sprache liegt alles als eins, von welcher Seite man sie auffasse. Von der Seite des Tons oder der Stimme liegen in ihr alle Töne, alle Klänge ihrer qualitativen Verschiedenheit nach. Die Verschiedenheiten sind alle vermischt in der menschlichen Sprache; daher sie keinem Klang oder Ton insbesondere ähnlich ist, weil alle in ihr liegen. Noch mehr ausgedrückt ist die absolute Identität in der Sprache, inwiefern sie von der Seite ihrer Bezeichnungen betrachtet wird. Sinnliches und Unsinnliches ist hier eins, das Handgreiflichste wird zum Zeichen für das Geistigste. Alles wird Bild von allem und die Sprache selbst eben dadurch Symbol der Identität aller Dinge. In der innern Construktion der Sprache selbst ist alles Einzelne bestimmt durch das Ganze; es ist nicht Eine Form oder einzelne Rede möglich, die nicht das Ganze forderte. (ibid., 128) Hier kommt eine wichtige Intuition der Undifferenziertheit der Sprache zum Ausdruck, jedoch entspricht sie nicht dem, was ich darunter verstehe. Für mich handelt es sich um eine fragile, schon in ihrem Ursprung aufhebbare, differenzierbare Undifferenziertheit in Bezug auf die Möglichkeiten des Menschen. Die Sprache ist Eröffnung aller menschlichen Möglichkeiten - für Schelling handelt es sich dagegen um etwas objektiv Darstellendes, um eine symbolische Undifferenziertheit in Bezug auf das Absolute. Für Schelling ist diese Undifferenziertheit Entsprechung, für mich ist sie menschliche Möglichkeit der Differenzierung: „Das Identische“ Undifferenziertheit (Möglichkeit) (Symbol) Differenzierung 296 <?page no="311"?> Auch ist mit der Differenzierung, von der Schelling in diesem Zusammenhang spricht, nicht das Transzendieren der Sprache in den Bereich hinein gemeint, der nicht mehr Sprache allein ist, sondern Wissen, Handeln, Sinnkonstruktion; es geht vielmehr um eine Differenzierung in Einzelsprachen, in Beispiele für Sprache schlechthin, Beispiele, von denen jedes für sich die gleichen Charakteristika der Sprache schlechthin aufweist und denselben symbolisierenden Wert hat. In eben diesem Zusammenhang sieht Schelling wie A. W. Schlegel eine symbolische Dualität der Sprache auch in ihrer materiellen, phonischen Gestaltung: Die Sprache, absolut betrachtet oder an sich, ist nur Eine, wie die Vernunft nur Eine ist, aber aus dieser Einheit gehen ebenso, wie aus der absoluten Identität die verschiedenen Dinge, die verschiedenen Sprachen hervor, deren jede für sich ein Universum, von den andern absolut gesondert, und die doch alle wesentlich eins, nicht bloß dem inneren Ausdruck der Vernunft nach, sondern auch was die Elemente betrifft, die bei jeder Sprache, wenige Nüancen ausgenommen, gleich sind. Nämlich dieser äußere Leib selbst ist in sich wieder Seele und Leib. Die Vocale sind gleichsam der unmittelbare Aushauch des Geistes, die formirende Form (das Affirmative); die Consonanten sind der Leib der Sprache oder die geformte Form (das Affirmirte). (ibid., 129) Also haben wir uns den Übergang von der Undifferenziertheit zur Differenzierung bei Schelling nicht als ein Transzendieren der Sprache in den Bereich ihrer Verwendungen vorzustellen, sondern als Übergang von der Sprache im Allgemeinen zu den Einzelsprachen, wobei jede Einzelsprache ein Beispiel für die ursprüngliche Undifferenziertheit bleibt. Da er die Sprache als „ Natur “ (naturgegeben? ) ansieht, weigert sich Schelling auch, die Frage nach dem phonischen Charakter der Sprache zu stellen und diesen Charakter (zumindest so, wie es Herder und A. W. Schlegel versucht haben) zu rechtfertigen: Ich will hier noch kurz die verschiedentlich gemachte Frage berühren, warum sich das Vernunftwesen eben für die Rede oder Stimme als unmittelbaren Leib der inneren Seele entschieden habe, da es auch andre äußere Zeichen, z. B. Geberden, dazu hätte brauchen können, wie nicht nur die Taubstummen sich verständlich machen, sondern auch gewissermaßen alle wilden und uncultivirten Nationen, die mit dem ganzen Leib sprechen. Schon die Frage selbst betrachtet die Sprache als Willkür und als Erfindung der Willkür. Einige haben als Grund angegeben, diese äußeren Zeichen hätten solche seyn müssen, die der, welcher sie brauchte, zugleich selbst beurtheilen konnte, also natürlich ein auf Laut und Stimme sich beziehendes Zeichensystem, damit der Sprecher sich zugleich selbst hörte, welches bekanntlich für manche Sprecher in der That ein großes Vergnügen ist. - So zufällig ist die Sprache nicht; es liegt eine höhere Nothwendigkeit darin, daß Laut und Stimme das Organ seyn müssen, die inneren Gedanken und Bewegungen der Seele auszudrücken. Man könnte jene Erklärer fragen, warum denn auch der Vogel Gesang und das Thier eine Stimme hat. (ibid., 129). Worin diese „ höhere Notwendigkeit “ besteht, erfahren wir bei Schelling nicht. 297 <?page no="312"?> Schließlich trennt Schelling - in durchaus sinnvoller Weise - die Frage nach dem geschichtlichen Ursprung der Sprache von der Frage nach ihrer rationalen Rechtfertigung. Er rechtfertigt die Sprache als unbedingte Erfassung des Absoluten, als „ absoluten Erkenntnisakt “ : Die Frage nach dem ersten Ursprung der Sprache hat bekanntlich Philosophen und Historiker, besonders neuerer Zeit, sehr stark beschäftigt. Sie hielten es für möglich, die Sprache aus der psychologisch-isolirten menschlichen Natur zu begreifen, da sie nur aus dem ganzen Universum begreiflich ist. Die absolute Idee der Sprache muß man also nicht bei ihnen suchen. Jene ganze Frage nach dem Ursprung der Sprache, so wie sie bis jetzt behandelt worden, ist eine bloß empirische, mit der also der Philosoph nicht zu thun hätte; nur den Ursprung der Sprache in der Idee interessirt ihn zu wissen, und in diesem Sinn entspringt die Sprache noch immer ebenso wie das Universum auf unbedingte Weise durch die ewige Wirkung des absoluten Erkenntnißakts, der aber in der vernünftigen Natur die Möglichkeit findet, sich selbst auszusprechen. (ibid., 130) In einer Randbemerkung im Manuskript (in der hier benutzten Ausgabe als Fußnote abgedruckt) führt Schelling die Sprache auf den „ Kunsttrieb des Menschen “ zurück. Sprache überhaupt = Kunsttrieb des Menschen, und wie der Lehrer des Instinkts das Sittliche ist, so der Sprache. Beide Behauptungen, daß durch Erfindung der Menschen, durch Freiheit, und daß durch göttlichen Unterricht, sind falsch. (ibid.) Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass mit dem „ absoluten Erkenntnisakt “ ein Akt des Menschen gemeint ist. Wenn dem so ist, dann ist der Parallelismus mit der Entstehung des Universums ( „ nur aus dem ganzen Universum begreiflich “ ) nicht nachvollziehbar; denn das Universum entsteht nach Schelling selbst als Werk des Absoluten, als „ Sprache Gottes “ . Man dürfte dann allenfalls von einem Parallelismus zwischen Universum und Sprache sprechen. Von einer Entstehung der Welt des Menschen durch die Sprache (wie bei Hegel) ist bei Schelling natürlich nicht die Rede. 9.3 Die Einleitung in die Philosophie der Mythologie 9.3.1 Dritte Vorlesung In dieser Vorlesung wird die Sprache in die Nähe der Mythologie gerückt. Sie ist für Schelling der Mythologie analog, in gewisser Hinsicht ist sie sogar Mythologie. Was das Wesen der Mythologie anbelangt, so vertritt Schelling die These, diese enthalte Philosophie und Kunst in noch nicht von einander getrennter Form. Beweise dafür könne man durch Beobachtung ihres Analogons, der Sprache, zusammentragen - gemeint sind in diesem Fall die Einzelsprachen. Die Ausführungen zu diesem Punkt sind denjenigen sehr ähnlich, die man in Hegels Vorrede zur zweiten Auflage der Wissenschaft der Logik nachlesen kann; Schelling findet sogar noch plausiblere Beispiele. Die Sprachen - so Schelling - enthalten auf eine unbewusste, unreflektierte Weise sehr tiefe philosophische Einsichten: 298 <?page no="313"?> Dem Schlusse, daß Poesie und Philosophie, weil sie sich in der Mythologie finden, auch zur Entstehung derselben mitgewirkt haben, sollten Sprachkenner und Sprachforscher am wenigstens vertrauen; in der Bildung der ältesten Sprachen läßt sich ein Schatz von Philosophie entdecken. War es aber darum wirkliche Philosophie, vermöge welcher diese Sprachen in den Benennungen oft sogar der abstractesten Begriffe noch die ursprüngliche, aber dem späteren Bewußtseyn fremdgewordene Deutung derselben bewahrten? Was ist abstracter als die Bedeutung der Copula im Urtheil, was abstracter als der Begriff des reinen Subjekts, das nichts zu seyn scheint; denn was es ist, erfahren wir ja nur durch die Aussage, und doch kann es auch ohne das Attribut nicht nichts seyn; was ist es denn also? Wenn wir es aussprechen, sagen wir von ihm: es ist dieß oder jenes, z. B. ein Mensch ist gesund oder krank, ein Körper dunkel oder hell; aber was ist er denn, ehe wir dieß aussprechen? Offenbar nur das dieses, z. B. gesund oder krank, seyn Könnende; der allgemeine Begriff des Subjects also ist reines K ö n n e n zu seyn. (Schelling 1986, [1856], 49 f.) Dies komme am klarsten im Arabischen zum Ausdruck, wo „ ist “ und „ kann “ zusammenfallen. Auf den ersten Blick ist die Fragestellung Schellings derjenigen Hegels in formaler Hinsicht analog: In den Sprachen finde man als bereits gegebene Kategorien, was die Reflexion nur mühsam erreicht und rechtfertigt. Im Unterschied zu Hegel sind jedoch für Schelling einerseits diese Kategorien in den Sprachen nicht nur zufällig und sporadisch gegeben; die gesamte Einzelsprache ist vielmehr sinnvoll und organisch gestaltet und bis in ihre Teile auf eine tiefe Weise motiviert; ja „ organisch “ entstanden (cf. infra Humboldt). Andererseits ist für Schelling, der die Intuition über alles schätzt, gerade das in den Sprachen Gegebene (Hegels „ Bekanntes “ ) das Wertvolle, das Tiefe, nichts das „ Erkannte “ , das reflexiv Tradierte: Die Sprache ist nicht stückweis oder atomistisch, sie ist gleich in all ihren Theilen als Ganzes und demnach organisch entstanden. Der vorhin erwähnte Zusammenhang ist ein objectiv in der Sache selbst liegender, und eben darum allerdings nicht ein von Menschen mit Absicht hineingelegter. Von der deutschen Sprache sagt Leibnitz: Philosophiae nata videtur; und wenn es überall nur der Geist seyn kann, der sich das ihm gemäße Werkzeug erschafft, so hat hier eine Philosophie, die noch nicht wirklich Philosophie war, sich ein Werkzeug bereitet, von dem sie erst in der Folge Gebrauch machen soll. (ibid., 51 f.) Im Übrigen wird die Sprache bei Schelling wie bei Hegel bestimmt: als „ bewusstlose Schöpfung “ . Und auch die Begründung dieser Bestimmung fällt auffallend ähnlich aus: Die Sprache sei Voraussetzung für das Bewusstsein; ohne Sprache sei Bewusstsein überhaupt nicht möglich, deshalb müsse das Entstehen der Sprache dem Bewusstsein - und damit ist natürlich das reflexive Bewusstsein gemeint - vorausgehen: Da sich ohne Sprache nicht nur kein philosophisches, sondern überhaupt kein menschliches Bewusstseyn denken läßt, so konnte der Grund der Sprache nicht mit Bewußtseyn gelegt werden, und dennoch, je tiefer wir in sie eindringen, desto 299 <?page no="314"?> bestimmter entdeckt sich, daß ihre Tiefe die des bewußtvollsten Erzeugnisses noch bei weitem übertrifft. Es ist mit der Sprache, wie mit dem organischen Wesen; wir glauben diese blindlings entstehen zu sehen, und können die unergründliche Absichtlichkeit ihrer Bildung bis ins Einzelste nicht in Abrede ziehen. (ibid., 52) Jedoch sei die Sprache gleichzeitig auch Poesie und daher auch Mythologie. Es handele sich dabei um eine inaktuelle, verborgene Poesie, die der Dichter wieder aktualisieren kann, und dazu um eine abstrakt gewordene Mythologie. So bedeute jede Namengebung eine Personifikation und das grammatische Genus habe z. B. etwas Mythologisches an sich: Aber ist etwa P o e s i e schon in der bloßen materiellen Bildung der Sprachen zu verkennen? Ich rede nicht von den Ausdrücken geistiger Begriffe, die man metaphorische zu nennen pflegt, wiewohl sie in ihrem Ursprung schwerlich für uneigentliche gehalten worden. Aber welche Schätze von Poesie liegen in der Sprache an sich verborgen, die der Dichter nicht in sie legt, die er nur gleichsam hebt, aus ihr wie aus einer Schatzkammer hervorholt, die er die Sprache nur beredet zu offenbaren. Ist aber nicht schon jede Namengebung eine Personification, und wenn aller Sprachen Dinge, die einen G e g e n s a t z zulassen, mit Geschlechtsunterschieden denken oder ausdrücklich bezeichnen; wenn die deutsche sagt: der Himmel, die Erde; der Raum, die Zeit; wie weit ist es von da noch bis zu dem Ausdruck geistiger Begriffe durch männliche und weibliche Gottheiten. Beinahe ist man versucht zu sagen: die Sprache selbst sey nur die verblichene Mythologie, in ihr sey nur in abstracten und formellen Unterschieden bewahrt, was die Mythologie noch in lebendigen und concreten bewahre. (ibid., 52) Schon in der Ausrichtung von Schellings Denken und in seiner Methode sieht man: Es geht ihm nicht darum, das „ Bekannte “ zum „ Erkannten “ zu machen, in der sprachlichen Intuition nur eine Bestätigung von reflexiv gewonnenen Einsichten zu suchen. Er will das „ Verborgene “ enthüllen, und das enthüllte Verborgene gilt ihm als Hinweis auf weitere Verborgenheiten. Das zeigt sich noch eindeutiger in der fünften und in der sechsten Vorlesung. 9.3.2 Fünfte Vorlesung In der fünften Vorlesung untersucht Schelling das, was er die Trennung der Völker und der Sprachen nennt. Er stellt zunächst fest, dass jedem Volk eine Sprache angehört und deduziert daraus einen Parallelismus zwischen Trennung der Völker und Trennung der Sprachen; denn es müsse ein Urvolk und eine Ursprache gegeben haben. Mehr noch: Aus dem Faktum, dass die Sprache etwas Geistiges ist, leitet er ab, dass die Ursache der Trennung der Völker, die ja mit der Trennung der Sprachen einhergeht, eine geistige gewesen sein müsse: Und nachdem dieß nun im Allgemeinen ausgesprochen, daß die Ursache eine geistige seyn mußte, können wir uns nur verwundern, wie etwas so nahe Liegendes nicht unmittelbar erkannt worden. Denn verschiedene Völker lassen sich ja ohne verschiedene Sprachen nicht denken, und die Sprache ist doch etwas G e i s t i g e s. 300 <?page no="315"?> Sind die Völker durch keinen ihrer äußeren Unterschiede, zu denen die Sprache von ihrer einen Seite ja auch gehört, so innerlich getrennt wie durch die Sprache, und sind erst diejenigen Völker wirklich geschieden, die verschiedene Sprachen reden, so ist die Entstehung der Sprachen von der Entstehung der Völker nicht zu trennen. Und ist die Verschiedenheit der Völker nicht etwas von jeher Gewesenes, sondern Entstandenes, so muß eben dieß von der Verschiedenheit der Sprachen gelten. Gab es eine Zeit, in der keine Völker, so auch eine, in der keine verschiedenen Sprachen waren, und so ist es unvermeidlich, der in Völker zertrennten Menschheit eine unzertrennte vorauszusetzen, so ist es nicht weniger unvermeidlich, den völkertrennenden Sprachen eine der ganzen Menschheit gemeinschaftliche vorausgehen zu lassen. (ibid., 100 f.) Auch die Genesis spreche ja von einer Ursprache und einem Urvolk und verknüpfe die Trennung der Völker mit derjenigen der Sprachen: Die Genesis nämlich setzt die Entstehung der Völker mit der Entstehung der verschiedenen Sprachen in Verbindung, aber so, dass sie die Verwirrung der Sprache als die Ursache, die Entstehung der Völker als die Wirkung bestimmt. Denn die Absicht der Erzählung ist keineswegs, n u r die Verschiedenheiten der Sprachen begreiflich zu machen, wie diejenigen vorgeben, die sie für ein zu diesem Zweck erfundenes mythisches Philosophem erklären. Auch ist sie überhaupt keine bloße Erfindung; diese Erzählung ist vielmehr aus wirklicher Erinnerung geschöpft, die sich ja zum Theil auch bei andern Völkern erhalten, eine Reminiscenz - aus der mythischen Zeit allerdings, aber eines wirklichen Ereignisses derselben. . . (ibid., 101 f.) In der Annahme, damit bereits die Existenz eines einheitlichen Urvolks und einer einheitlichen Ursprache bewiesen zu haben, geht Schelling weiter und fragt sich, welches die sonstige Ursache der Differenzierung der Völker und Sprachen gewesen sein kann. Dabei kommt Schellings Denkweise noch klarer zum Ausdruck. Bei der Feststellung und unmittelbaren Interpretation des „ Bekannten “ (in diesem Fall des Zusammenfallens von Volk und Sprache) stimmt er fast genau mit Hegel überein. Über diesen Punkt hinaus geht er jedoch nicht mehr wie Hegel vor. Er fragt sich nicht, was dieses Zusammenfallen von Volk und Sprache für das Funktionieren der Sprache in der Gemeinschaft bedeutet. Er geht nicht den Weg vom „ Bekannten “ zum „ Erkannten “ , zum reflexiven Verständnis des Realen in seinen Zusammenhängen. Er schlägt vielmehr den umgekehrten Weg ein: Das Bekannte ist für ihn ein Sprungbrett für kühne Sprünge ins Unbekannte, und was er dort entdeckt oder zu entdecken glaubt, dient ihm wiederum als Sprungbrett für weitere und noch kühnere Sprünge. Dabei verlässt er den Boden des Belegten im eigentlichen Sinn und begibt sich durch Übertragung des an den Sprachen Beobachteten auf die Völker in den Bereich vorgeschichtlicher Hypothesen. Die Ursache der Sprachen- und Völkertrennung müsse eine geistige Erschütterung gewesen sein: Aber als unmittelbare Ursache der Völkertrennung nennt sie [die „ Erzählung “ , die Genesis] die Verwirrung der bis dahin einigen und dem ganzen Menschen- 301 <?page no="316"?> geschlecht gemeinschaftlichen Sprache. Schon damit allein ist die Entstehung durch einen geistigen Vorgang ausgesprochen. Denn eine Verwirrung der Sprache läßt sich nicht ohne einen inneren Vorgang, nicht ohne Erschütterung des Bewußtseyns selbst denken. Ordnen wir die Vorgänge nach ihrer natürlichen Folge, so ist das Innerlichste nothwendig eine Alteration des Bewußtseyns, das Nächste, schon mehr Äußerliche, die unwillkürliche Verwirrung der Sprache, das Aeußerste die Scheidung des Menschengeschlechts in fortan nicht bloß räumlich, sondern innerlich und geistig sich ausschließenden Massen, d. h. in Völker. (ibid., 103) Das Mittlere, d. h. das „ Nächste “ nehme in Bezug auf das zuletzt genannte, das „ Aeußerste “ , die Funktion einer „ nächsten Ursache “ , i. e. einer Ursache zweiten Grades ein; die Sprachentrennung, das letzte Glied in der Kette von Ursachen und Wirkungen, sei nun einmal das unmittelbar wahrnehmbare Faktum: Aber auch jene Affection des Bewußtseyns, welche zunächst eine Verwirrung der Sprache zur Folge hat, konnte keine bloß oberflächliche seyn, sie mußte das Bewußtseyn in seinem Princip, in seinem Grund, und wenn der angenommene Erfolg, Verwirrung der bis dahin gemeinschaftlichen Sprache, eintreten soll, in eben dem erschüttern, was bisher das Gemeinsame war und die Menschheit zusammenhielt. . . (ibid., 103) Nun - was kann innerlicher sein als die Religion, bzw. die Religiosität? Die geistige Ursache sei folglich in einer Erschütterung der religiösen Verhältnisse zu sehen, im Übergang vom vorzeitlichen Monotheismus zum Polytheismus. Schelling merkt zwar selbst, dass diese Deduktion willkürlich ist, er glaubt jedoch, sie durch den Hinweis auf ein angeblich allgemein übliches Vorgehen in der Forschung rechtfertigen zu können: Nun drängt sich hier natürlich eine andere Frage auf: Wie kann der entstehende Polytheismus als Ursache von Sprachverwirrung gedacht werden, welcher Zusammenhang ist zwischen einer Krisis des religiösen Bewußtseyns und den Aeußerungen des Sprachvermögens? Wir könnten einfach antworten: es ist so, mögen wir die Verbindung einsehen oder nicht. Das Verdienst einer Forschung besteht nicht immer darin, schwierige Fragen aufzulösen, das größere ist vielleicht, neue Probleme zu erschaffen und für künftige Untersuchungen zu bezeichnen, oder schon bestehenden Fragen (wie eben der über Grund und Zusammenhang der Sprachen) eine neue Seite abzugewinnen. (ibid., 107) Trotzdem versucht Schelling, religiöse Affektionen konkret mit Affektionen des Sprachvermögens in Zusammenhang zu bringen. Nun ist das gleichzeitige Auftreten dieser Affektionen keineswegs ein Beweis für einen kausalen Zusammenhang in der gemeinten Richtung. Schließlich könnten beide Affektionen auf eine gemeinsame andersartige Ursache zurückzuführen sein. Daher behauptet Schelling nochmals mit Nachdruck die Einheit von Sprache und Volk: Eben dieß muß nun aber auch von der Sprache jedes Volkes gelten, daß sie sich erst bestimmt, indem es selbst zum Volk sich entscheidet. Bis dahin und so lange es noch 302 <?page no="317"?> in der Krisis, also im Werden begriffen, ist auch seine Sprache flüssig, beweglich, nicht rein von den andern ausgeschieden, so daß wirklich gewissermaßen verschiedene Sprachen durcheinander gesprochen werden, wie auch die alte Erzählung nur eine Verwirrung annimmt, nicht sofort eine gänzliche Ablösung der Sprachen voneinander. (ibid., 110) Da also die Völker- und Sprachtrennung ein lang andauernder Vorgang gewesen sein muss, müsse man bei noch schwach ausgebildeten Völkern auch schwach ausgebildete, wirre Sprachen vorfinden. Und Schelling glaubt tatsächlich Beispiele dafür bei den südamerikanischen Eingeborenen auszumachen, in deren Sprachen große Verwirrung herrsche: . . .das Sprachvermögen selbst scheint bei ihnen [i. e. den Ureinwohnern Südamerikas] dem Ausgehen und Erlöschen nahe zu seyn. Ihre Stimme ist niemals stark und sonor, sie reden nur leise, ohne jemals zu schreien, selbst nicht, wenn man sie tödtet. Sie bewegen beim Sprechen kaum die Lippen, und begleiten ihre Rede mit keinem Blick, der zur Aufmerksamkeit auffordert. Zu dieser Gleichgültigkeit gesellt sich eine solche Abneigung zu sprechen, daß wenn sie mit jemand zu thun haben, der hundert Schritte vor ihnen ist, sie nie rufen, sondern laufen, ihn einzuholen. Die Sprache schwebt also hier auf der letzten Grenze, jenseits welcher sie ganz aufhört, sowie man wohl fragen dürfte, ob Idiome, deren Laute meist Nasen- und Gurgel-, nicht Brust- und Lippentöne sind, und dem größten Theile nach durch Zeichen unserer Schriftsprache nicht auszudrücken sind, noch überhaupt Sprachen zu heißen verdienen. (ibid., 114 f.) Gewiss nicht, möchte man da hinzufügen, wo sie doch so völlig anders sind als im Deutschen. 9.3.3 Sechste Vorlesung In der sechsten Vorlesung werden schließlich - und, wie Schelling glaubt, folgerichtig - die verschiedenen Völker mit den verschiedenen Mythologien oder Götterlehren in Verbindung gebracht: Den verschiedenen Götterlehren entsprechen die verschiedenen Völker; [. . .] Durch das Successive im Polytheismus sind die Völker zugleich hinsichtlich ihrer Erscheinung, ihres Eintretens in die Geschichte, auseinander gehalten. (ibid., 131) Den verschiedenen Götterlehren entsprechen natürlich auch die verschiedenen Sprachen. Und diese müssen in ihrer Beschaffenheit die Verschiedenheit der Götterlehren gewissermaßen widerspiegeln: Noch aber ist etwas zurück, von dem wir früher gestehen mußten, daß es sich mit den damals erlangten Begriffen nicht vollkommen aufklären lasse: nämlich die mit der Entstehung der Völker unzertrennlich verknüpfte Entstehung verschiedener Sprachen - die Sprachenverwirrung als Folge einer religiösen Krisis. Sollte nun nicht auch dieser Zusammenhang, der uns ein von seiner Auflösung noch unbestimmt weit entferntes Problem schien, durch die jetzt erlangte Einsicht dem vollständigen Begreifen wenigstens um etwas näher gerückt seyn? (ibid., 132) 303 <?page no="318"?> Natürlich soll er das, denn: Wenn es eine Zeit gab, in welcher, wie das Alte Testament sagt, alle Welt nur einerlei Zunge und Sprache hatte - und wir sehen so wenig ein, wie wir dieser Annahme uns erwehren sollen, als der andern, daß es eine Zeit gab, wo keine Völker waren - , so werden wir eine solche Unbeweglichkeit der Sprache auch nicht anders begreifen können, als indem wir uns denken, daß die Sprache in jener Zeit nur von Einem Princip beherrscht wurde, das, selbst unbeweglich, jede Alteration auch von ihr fern-, also sie auf der Stufe einer Substantialität festhielt, wie der erste Gott A reine Substanz und erst durch den zweiten B accidentelle Bestimmungen anzunehmen genöthigt ist. War es nun ein Princip, und unstreitig ein geistiges, durch das die Sprache auf dieser Stufe zurückgehalten wurde, so begreift es sich schon an sich leichter, wie zwischen diesem Princip der Sprache und dem religiösen Princip, das in derselben Zeit nicht einen Theil des Bewußtseyns, sondern das ganze einnahm und beherrschte, ein Zusammenhang war und sogar seyn mußte. Denn die Sprache konnte nur dem Gott gleichen, von dem das Bewußtseyn erfüllt war. Aber nun kommt ein neues Princip, von dem jenes erste auch als die Sprache bestimmendes afficiert, umgewandelt, zuletzt unkenntlich gemacht und in die Tiefe zurückgedrängt wird. Jetzt, wenn die Sprache von zwei Principien bestimmt ist, sind nicht bloß materielle Verschiedenheiten derselben, die sich in Masse hervordrängen, unvermeidlich, sondern, je nachdem die Wirkung des zweiten umwandelnden Princips tiefer oder oberflächlicher eindringt, also die Sprache ihren substantiellen Charakter mehr oder weniger verliert, erscheinen nicht mehr bloß materiell, sondern auch formell in Ansehung der Principien sich ausschließende Sprachen. So viel läßt sich einsehen, ohne noch die Grundverschiedenheiten der Sprache in näheren Betracht gezogen zu haben. (ibid., 132 f.) Nur so viel für den Augenblick! Wenn man aber „ die Grundverschiedenheiten der Sprache in näheren Betracht “ zieht, lässt sich freilich noch viel mehr sagen. Denn der Weg der Götterlehren führt vom ursprünglichen Monotheismus über den Dytheismus zum Polytheismus. Da die Sprache Symbol der Gottheiten ist, müsste sie dies auch widerspiegeln. Nun, was kann an einer Sprache mono, dy oder poly sein? Natürlich der Mono-, Dy- oder Polysyllabismus! Folglich entspreche der Entwicklung der Götterlehren im Bereich der Sprache der Übergang vom Monosyllabismus über den Dysyllabismus zum Polysyllabismus; denn das Wort ist Gott, Symbol Gottes: Nun bitte ich Sie aber, Folgendes hinzunehmen. Sind unsere Voraussetzungen gegründet, so wird die Menschheit vom relativen Monotheismus oder von Eingötterei (hier ist das sonst, und wie es ehemals gebraucht wurde, völlig unstatthafte Wort ganz an seiner Stelle) durch Zweigötterei (Dytheismus) zur entschiedenen Vielgötterei (Polytheismus) fortschreiten. Aber derselbe Fortschritt ist in den Principien der Sprachen, die von ursprünglichem Monosyllabismus durch Dysyllabismus zu ganz entfesseltem Polysyllabismus fortgehen. (ibid., 133) Damit haben wir den Boden der Sprachphilosophie endgültig verlassen und befinden uns bereits mitten in der Sprachmythologie. 304 <?page no="319"?> Den angeblichen Übergang vom Monosyllabismus zum Polysyllabismus diskutiert Schelling mit großer Erudition und mit scheinbar „ wissenschaftlichen “ Argumenten. Er verspricht, auf diese Frage und insbesondere auf den Monosyllabismus des Chinesischen und die eigentliche Gestaltung der Ursprache in der Philosophie der Mythologie zurückzukommen. Und dieses Versprechen hält er dann auch. 9.3.4 Vierundzwanzigste Vorlesung Die im zweiten Band der Mythologie abgedruckten Vorlesungen wurden nach Auskunft des Herausgebers Karl Friedrich August Schelling zum letzten Mal in den Jahren 1841 und 1845/ 46 in Berlin vorgetragen. Nachdem sein Vater, Friedrich Schelling, in der dreiundzwanzigsten Vorlesung „ das Unmythologische der Religion und der ganzen Denkweise des chinesischen Volkes “ besprochen hat, kommt er in der vierundzwanzigsten auf die chinesische Sprache zu sprechen: Auch in der chinesischen Sprache nämlich scheint noch die ganze Kraft des Himmels, der ursprünglich alles durchwaltenden und jede Einzelheit absolut beherrschenden und sich unterwerfenden Macht zu wohnen. (Schelling 1986 [1857], 541) Zur Ursprache und zu dem Unterschied zwischen ihr und später entstandenen Sprachen weiß Schelling - so als hätte er unmittelbar Kenntnis davon erhalten - Folgendes zu berichten: Die durchgängige Einheit der Sprache konnte nur erhalten werden, inwiefern die freie Entwicklung zu einzelnen Wörtern gehemmt war. Die alles durchwaltende Kraft, von welcher das Bewußtseyn beherrscht war, hielt auch die Elemente der Sprache unterworfen. Wie die himmlischen Sphären in dem Wirbel, von dem sie fortgerissen werden, nur Elemente sind, nicht selbständige, für sich oder frei bewegliche Körper, so mußte auch die Ursprache des Menschengeschlechts eine gleichsam astralisch bewegte seyn; noch war sie nicht zu der Einzelheit des Worts fortgezogen, das Einzelne trat in ihr nicht aus dem Ganzen heraus, noch entwickelte es sich nach einem eignen, ihm besonders inwohnenden Gesetz. Die Sprachverwirrung entstand, sowie die einzelnen Elemente sich gegen die Macht empörten, der sie bisher ganz unterworfen waren, die ihnen keine Entwicklung verstattete. Verwirrung mußte entstehen in dem Verhältniß, als jedes Element sich zu einem selbständigen Körper, zum für sich bestehenden und organischer Veränderungen in sich fähigen Worte ausbildete, und so paradox dieser Satz außer seinem Zusammenhang erscheinen würde, so einleuchtend ist in dem Ganzen unserer Untersuchung, daß der Polysyllabismus der Sprache und der Polytheismus gleichzeitige, miteinander gesetzte, parallele Erscheinungen sind. [. . .] Die entwickelten Sprachen sind von den ursprünglich gebundenen nicht durch ein bloßes Hinzufügen, sondern durch ihren innern Charakter verschieden. Die Bewegung der Ursprache verhält sich zur Bewegung der frei entwickelten Sprachen, wie sich die Bewegung des Himmels zu den freiwilligen, willkürlichen und mannichfaltigen Bewegungen der Thiere verhält. Diejenige Sprache aber ist die am meisten menschliche, welche am meisten dem menschlichen Gang ähnlich ist, mit der Majestät die Sanftheit, mit der 305 <?page no="320"?> Bestimmtheit die vollkommene Freiheit der Bewegung vereinigt. Darum haben auch nur diese Sprachen erst eigentlich eine Grammatik oder ein grammatisches System. Die Ursprache bedarf der grammatischen Formen nicht, so wenig als der Weltkörper der Füße bedarf um zu gehen. (ibid., 546 f.) Das Chinesische habe noch einiges von den „ Zügen “ , den Merkmalen der Ursprache beibehalten. Deshalb sei auch das Chinesische von unserem Gesichtspunkt aus keine Sprache, sondern ein anders beschaffenes Ausdruckssystem: Züge der Ursprache, auch was die materielle Beschaffenheit betrifft, mögen noch in der chinesischen enthalten seyn. [. . .] Das Chinesische ist für uns wie eine Sprache aus einer andern Welt, und wenn man eine Definition der Sprache nach dem Sinn geben wollte, in welchem die andern Idiome Sprache heißen, so würde man in die Nothwendigkeit kommen zu gestehen, daß die chinesische Sprache gar keine Sprache ist, wie die chinesische Menschheit kein Volk ist. (ibid., 547 f.) Die Chinesen bildeten somit kein Volk, sondern eine Form der Menschheit. Mit diesen Ausführungen haben wir wahrscheinlich auch den Boden der Sprachmythologie verlassen und stehen dem reinen Sprachmythos gegenüber, der Sprache als Mythos. Man darf - gewissermaßen als Antwort auf Betrachtungen dieser Art - mit einem Wort von Schelling selbst schließen: Es gibt der wahren Geheimnisse genug, man braucht sich keine willkürlichen zu erschaffen und speculative Ideen da zu suchen, wo die gewöhnlichen Mittel ausreichen. (ibid., 553) 9.4 Literaturhinweise des Bearbeiters [Dieses Kapitel ist - ähnlich wie das folgende zu Schopenhauer - weitgehend textidentisch mit einem 1977 im Druck erschienenen Aufsatz des Verfassers: „ Schellings Weg von der Sprachphilosophie zum Sprachmythos “ (= Coseriu 1977). Der Bearbeiter hat sich in erster Linie an das Vorlesungsskript (nicht an den gedruckten Text) gehalten und nur kleine sprachlich-stilistische Eingriffe vorgenommen. Anders als im Fall Schopenhauer scheinen Vorlesungstext und Festschriftbeitrag mehr oder weniger parallel redigiert worden zu sein. Zu Schelling insgesamt gibt es eine reiche Literatur, sowohl zu seiner Stellung innerhalb der romantischen Bewegung als auch zu seiner Natur- und Religionsphilosophie. Zu seiner Sprachphilosophie scheint es sehr wenig zu geben, und dies ist vermutlich der Grund dafür, dass Coseriu zu diesem kurzen Kapitel keine Literaturhinweise gegeben hat. Drei Gesamtdarstellungen, die von ausgewiesenen Kennern für ein breiteres Publikum geschrieben wurden, können an dieser Stelle empfohlen werden: Jochen Kirchhoff: Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1982. Manfred Frank: Eine Einführung in Schellings Philosophie. Frankfurt am Main 1985. Franz Josef Wetz: Friedrich W. J. Schelling zur Einführung. Hamburg 1996. 306 <?page no="321"?> In dem schon mehrfach zitierten Artikel von Helmut Gipper (HSK-Handbuch Sprachphilosophie, Bd. I, 1992) finden sich einige kurze Abschnitte zu Schellings Sprachphilosophie, vor allem zu seinem Übergang in die ‚ religiöse Phase ‘ . Die Historisch-kritische Ausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaft ist seit 1976 im Erscheinen begriffen. Die hier behandelten Texte liegen noch nicht vor. Die angeführten Zitate stammen aus dem leicht zugänglichen Nachdruck von Teilen der von Fichtes Sohn veranstalteten Ausgabe der Sämtlichen Werke, Darmstadt 1986. Dieser Nachdruck umfasst die wichtigsten Texte.] 307 <?page no="322"?> 10 Arthur Schopenhauer (1788 ‒ 1860) Arthur Schopenhauer wurde am 22. Februar 1788 in Danzig geboren. Als die Freie Stadt Danzig, die formal unter polnischer Oberhoheit stand, 1793 an Preußen fiel, siedelte die Familie nach Hamburg über. Schopenhauer war von seinem Vater für eine kaufmännische Laufbahn bestimmt und wurde bereits als Kind zum Erwerb von Sprachkenntnissen für längere Zeit nach Frankreich und England geschickt; den Vornamen Arthur hatte sein Vater gewählt, weil er in vielen Sprachen ähnlich lautet. Obwohl der Vater 1805 starb, trat Schopenhauer zunächst aus Pflichtgefühl, gegen seine Neigung, eine kaufmännische Lehre an. Nachdem seine Mutter, die Schriftstellerin Johanna Schopenhauer, eine seiner frühesten und schärfsten Kritikerinnen, zusammen mit seiner Schwester nach Weimar gezogen war und dort im Umkreis von Goethe eine gewisse gesellschaftliche Rolle spielte, verließ auch er Hamburg und holte auf Rat des inzwischen von Rom nach Weimar berufenen Kunsttheoretikers und Sprachforschers Carl Ludwig Fernow in kürzester Zeit seine gymnasiale Ausbildung in Gotha und Weimar nach. 1809 schrieb er sich in Göttingen für das Fach Medizin ein, wechselte aber bald zur Philosophie über. Zwei Jahre später wechselte er nach Berlin, wo er mit schwindender Begeisterung und Zustimmung Fichte und Schleiermacher hörte. In Göttingen wurde er 1813 mit einer Arbeit Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde promoviert, zu deren ersten Lesern Goethe gehörte. Wenige Jahre später erschien die erste Fassung seines Hauptwerks Die Welt als Wille und Vorstellung. Nachdem ein Teil seines ererbten Vermögens durch den Konkurs des Bankhauses, bei dem es angelegt war, verloren schien, bemühte er sich um eine Dozentur an der Universität Berlin und war dabei genau so wenig erfolgreich wie bei einem erneuten Versuch einige Jahre später. Er war mit der Absicht angetreten, Hegel die Hörer abspenstig zu machen, was ihm gründlich misslang. Die einzige positive Resonanz, die er in jener Zeit erhielt, war eine sehr wohlwollende Besprechung seines Hauptwerks durch den Dichter Jean Paul. Im Jahre 1833 ließ er sich endgültig in Frankfurt am Main nieder, wo er, nachdem sich seine finanzielle Lage gebessert hatte, eine Existenz als äußerst streitbarer Privatgelehrter führte, der zu allen möglichen Angelegenheiten meist recht polemisch Stellung bezog. Die Parerga und Paralipomena, von denen nun die Rede sein wird, erschienen 1851. Schopenhauer starb in Frankfurt am 21. September 1860. Dass bald die Würmer seinen Leib zernagen würden, sei ein Gedanke, versicherte er einmal, den er ertragen könne, nicht jedoch den, dass die Schulphilosophen mit seiner Philosophie etwas Ähnliches im Sinn haben könnten. Die Befürchtung war unbegründet. Schopenhauer hat unter ‚ Schulphilosophen ‘ weit weniger Resonanz gefunden als unter Schriftstellern und Künstlern. 308 <?page no="323"?> 10.1 Schopenhauers Sprachphilosophie in den Parerga und Paralipomena Das Wesentliche der Sprachphilosophie Schopenhauers findet sich in Kapitel 25 (§§ 298 ‒ 303) der Parerga und Paralipomena. Es handelt sich um das letzte von Schopenhauer selbst im Jahre 1851 veröffentlichte Werk; die verschiedenen Teile sind zu unterschiedlichen Zeitpunkten entstanden. Statt „ Über Sprache und Worte “ hätte Schopenhauer dieses Kapitel - wäre er überhaupt der Selbstkritik fähig gewesen - „ Ausfälle und Gemeinplätze eines Widerspenstigen zur Sprache und zu den Sprachen “ betiteln können. Denn es handelt sich im Grunde um eine Anhäufung von Vulgaritäten und Banalitäten. Vulgarität ist sogar das Hauptmerkmal dieser Ausführungen, eine Vulgarität, die in den populär geschriebenen Parerga und Paralipomena viel stärker zutage tritt als in den anspruchsvolleren philosophischen Werken Schopenhauers. Der philosophische Ertrag dieser Texte ist sehr gering. Von Schopenhauers Hauptidee des Willens als Prinzip des Universums findet sich darin nur eine flüchtige Spur. Schopenhauer meint nämlich, dass die Stimme der Tiere den Willen ausdrücke, die menschliche Stimme hingegen auch die Erkenntnis: Die thierische Stimme dient allein dem Ausdrucke des Willens in seinen Erregungen und Bewegungen, die menschliche aber auch dem der Erkenntniß. Damit hängt zusammen, daß jene fast immer einen unangenehmen Eindruck auf uns macht; bloß einige Vogelstimmen nicht. (Schopenhauer o. J., um 1920 [1851], § 298, 615) Deshalb seien auch die Interjektionen als Äußerungen des Willens die ersten Erscheinungsformen der menschlichen Sprache gewesen, und aus ihnen hätten sich die anderen Wortarten entwickelt: Beim Entstehn der menschlichen Sprache sind ganz gewiß das Erste die Interjektionen gewesen, als welche nicht Begriffe, sondern, gleich den Lauten der Thiere, Gefühle, − Willensbewegungen - ausdrücken. Ihre verschiedenen Arten fanden sich alsbald ein: und aus deren Verschiedenheit geschah der Übergang zu den Substantiven, Verben, Pronomina personalia u. s. w. - (ibid.) Wie und warum diese Entwicklung stattgefunden hat, sagt Schopenhauer nicht. Nur an dieser Stelle findet sich ein Hinweis auf den Willen im Zusammenhang mit der Sprache. Im Übrigen vertritt Schopenhauer ganz bieder die gleichen Thesen wie die anderen Sprachphilosophen im Zeitalter der Romantik, nur mit schwächerer und unverbindlicherer Begründung. So nimmt auch er wie etwa Friedrich Schlegel an, die Sprachen seien ursprünglich, in vorgeschichtlicher Zeit, vollkommen und dann, im Verlauf der Geschichte, einem ständigen Verfall ausgesetzt gewesen: Bekanntlich sind die Sprachen, namentlich in grammatischer Hinsicht, desto vollkommener, je älter sie sind, und werden stufenweise immer schlechter. . . (ibid., § 298) 309 <?page no="324"?> Als „ Antiidealist “ und „ Pessimist “ lässt er sich nicht die Gelegenheit entgehen, darauf hinzuweisen, dass dies den „ beliebten Theorien unsrer so nüchtern lächelnden Optimisten vom ‚ stätigen Fortschritt der Menschheit zum Besseren ‘ , wozu sie die deplorable Geschichte des bipedischen Geschlechts verdrehen möchten “ (ibid.), zuwiderlaufe. Die Erklärung hingegen, die dieser Antihegelianer für die ursprüngliche Vollkommenheit der Sprachen liefert, ist derjenigen von Hegel (und Schelling) recht ähnlich, wenn man davon absieht, dass Schopenhauer anstelle von „ bewusstlos “ „ instinktiv “ gebraucht. Immerhin wird bekanntlich auch bei Hegel, in der Vorrede zur zweiten Auflage der Wissenschaft der Logik, das instinktartige Tun dem freien und intelligenten Tun gegenübergestellt (Hegel 1969 [1831], 27). Schopenhauer denkt allerdings an einen beinahe tierhaften Instinkt, was für Hegel selbstverständlich von vornherein ausgeschlossen war: Wir können doch nicht umhin, das erste aus dem Schooße der Natur irgendwie hervorgegangene Menschengeschlecht uns im Zustande gänzlicher und kindischer Unkunde und folglich roh und unbeholfen zu denken: wie soll nun ein solches Geschlecht diese höchst kunstvollen Sprachgebäude, diese komplicirten und mannigfaltigen grammatischen Formen erdacht haben? [. . .] Um eine solche [scil. Erklärung] zu erlangen, scheint mir das Plausibelste die Annahme, daß der Mensch die Sprache instinktiv erfunden hat, indem ursprünglich in ihm ein Instinkt liege, vermöge dessen er das zum Gebrauch seiner Vernunft unentbehrliche Werkzeug und Organ derselben ohne Reflexion und bewußte Absicht hervorbringt, welcher Instinkt sich nachher, wann die Sprache einmal da ist und er nicht mehr zur Anwendung kommt, verliert. Wie nun alle aus bloßem Instinkt hervorgebrachten Werke, z. B. der Bau der Bienen, der Wespen, der Bieber [. . .] eine ihnen eigenthümliche Vollkommenheit haben, indem sie gerade und genau Das sind und leisten, was ihr Zweck erfordert, so daß wir die tiefe Weisheit, die darin liegt, bewundern, − ebenso ist es mit der ersten und ursprünglichen Sprache: sie hatte die hohe Vollkommenheit aller Werke des Instinkts: dieser nachzuspüren, um sie in die Bedeutung der Reflexion und des deutlichen Bewußtseins zu bringen, ist das Werk der erst Jahrtausende später auftretenden Grammatik. (ibid., 616) Das alles ist offensichtlich Schelling, jedoch ohne dessen geniales Pathos und ohne kohärente Begründung. Wie Schleiermacher, Schelling und Hegel stellt auch Schopenhauer, als guter Sprachenkenner der er war, die Verschiedenheit der Sprachen in ihrer inhaltlichen Gestaltung fest und liefert dazu eindrucksvolle lexikalische Beispiele: Nicht für jedes Wort einer Sprache findet sich in jeder andern das genaue Äquivalent. Also sind nicht sämmtliche Begriffe, welche durch Worte der einen Sprache bezeichnet werden, genau die selben, welche die der andern ausdrücken [. . .] Deutlich zu machen was ich meine mögen einstweilen folgende Beispiele dienen: ἀπαίδευτος , rudis, roh; ὁρμή , impetus, Andrang; μηχανή , Mittel, medium; seccatore, Quälgeist, importun; ingénieux, sinnreich, clever; 310 <?page no="325"?> Geist, esprit, wit; Witzig, facetus, plaisant, Malice, Bosheit, wickedness. (ibid., 617) Darüber hinaus bringt er die Sprache mit dem Geist der Nation in Verbindung ( „ denn wie der Stil zum Geiste des Individuums, so verhält sich die Sprache zu dem der Nation “ , ibid., 619 f.), und betont, dass diese Verschiedenheit der Sprachen in ihrer inhaltlichen Gestaltung eine besondere Schwierigkeit bei der Spracherlernung (der er wie Hegel großen erzieherischen Wert beimisst) und bei der Übersetzung darstellt. Im Zusammenhang mit einigen Überlegungen zur chinesischen Schrift (ibid., § 301) stellt auch er sich die Frage nach der Rechtfertigung des lautlichen Charakters der Sprache und nach dem Zusammenhang zwischen Sprache und Gehör, ohne darauf hinzuweisen, ja vielleicht ohne zu wissen, dass diese Frage schon lange vor ihm gestellt und dass - u. a. von Herder und August Wilhelm Schlegel - auch sinnvolle Antworten auf sie vorgeschlagen worden waren. Bei Schopenhauer lautet die betreffende Fragestellung folgendermaßen: Es frägt sich demnach, welchen Vorzug denn das hörbare Zeichen vor dem sichtbaren habe, um uns zu vermögen, den geraden Weg vom Auge zur Vernunft liegen zu lassen und einen so großen Umweg einzuschlagen, wie der ist, das sichtbare Zeichen erst durch Vermittlung des hörbaren zum fremden Geiste reden zulassen. . . (ibid., § 301, 626) Er erteilt die folgende Antwort: Die hier nachgefragten Gründe würden nun wohl diese sein: 1) Wir greifen, von Natur, zuerst zum hörbaren Zeichen und zwar zunächst um unsre Affekte, danach aber auch, um unsre Gedanken auszudrücken: hiedurch nun gelangen wir zu einer Sprache für das Ohr, ehe wir nun nur daran gedacht haben, eine für das Gesicht zu erfinden. [. . .] 2) Das Gesicht kann zwar mannigfaltigere Modifikationen fassen, als das Ohr: aber solche für das Auge hervorzubringen, vermögen wir nicht wohl ohne Werkzeuge, wie doch für das Ohr. Auch würden wir die sichtbaren Zeichen nimmer mit der Schnelligkeit hervorbringen und wechseln lassen können, wie, vermöge der Volubilität der Zunge, die hörbaren; wie Dies auch die Unvollkommenheit der Fingersprache der Taubstummen bezeugt. Dieses also macht, von Hause aus, das Gehör zum wesentlichen Sinn der Sprache, und dadurch der Vernunft. (ibid.) 10.2 Weitere Auslassungen zur Sprache und zu den Sprachen am selben Ort Dies ist im Wesentlichen alles, was Schopenhauer zur Sprache im Allgemeinen zu sagen hat. Der Rest besteht in sinnlosen, falschen, oder auch richtigen, aber belanglosen Meinungen, die nicht mehr philosophische Probleme, sondern nur sprachwissenschaftliche im engeren Sinn betreffen. 10.2.1 Sinnlose Meinungen Schopenhauers Das Englische sei ein „ Jargon “ , ein „ aus Lappen heterogener Stoffe zusammengeflicktes Gedankenkleid “ (§ 298, 615); das Französische, „ dieses auf die 311 <?page no="326"?> widrigste Weise verdorbene Italiänisch mit den scheußlichen Endsilben und dem Nasal “ sei ein „ ekelhafter Jargon “ (ibid., 299, 624). Dass es im Französischen kein Verb für „ stehen “ gebe, sei „ ein höchst skandalöses Bespiel “ (ibid., § 299, 618) für die (ansonsten richtig beobachtete) Tatsache, dass bisweilen in einer Sprache das Wort für einen Begriff fehlt, der in vielen anderen zum Alltäglichen und Üblichen gehört. Die lateinischen Deponentia seien „ unvernünftig “ , genauer „ das einzig Unvernünftige, ja Unsinnige der römischen Sprache “ , und „ nicht viel besser steh[e] es um die Media der griechischen. . . Es sei „ ein specieller Fehler, des Lateinischen, „ daß fieri das Passivum des facere vorstellt “ (ibid., § 302, 627). Nichts empört Schopenhauer mehr, „ als der Ausdruck: indo-germanische Sprachen “ , da damit „ die Sprache der Veden unter einen Hut gebracht “ werde „ mit dem etwaningen Jargon besagter Bärenhäuter “ (ibid., § 303, 630). 10.2.2 Falsche Ansichten Schopenhauers Auch für schlechterdings falsche Ansichten lassen sich Beispiele anführen: Die Deutschen seien „ wenigsten der Sprache nach, Gothen “ (ibid., § 303, 630); im Französischen fänden sich keine deutschen Wörter, was umso auffälliger sei, als Frankreich von verschiedenen germanischen Stämmen besiedelt worden war; Affe komme von Afer „ afrikanisch “ , „ weil die ersten von Römern den Deutschen zugeführten Affen ihnen durch dieses Wort erklärt wurden “ ; parlare komme „ wahrscheinlich “ von perlator „ Überbringer, Botschafter “ ; Ferkel von ferculum, „ weil es ganz auf den Tisch kommt “ (ibid., 631); infolge einer „ Verwechslung “ bedeute aceite im Spanischen nicht „ Essig “ , was es offensichtlich bedeuten müsste, sondern „ Öl “ (ibid., § 303, 629). 10.2.3 Belangloses Hierzu gehört all das, was entweder weit verbreitet ist, oder bereits seit Langem feststeht: So vertritt Schopenhauer die Ansichten, die Konsonanten seien das „ Skelett “ , die Vokale das „ Fleisch “ der Wörter (ibid., 628) und deutsch Fürst sei ursprünglich dasselbe wie englisch first. Im ersten Fall handelt es sich um eine communis opinio, im zweiten um eine längst bekannte Tatsache. Vergleichbares gilt für die Zurückführung von Argwohn auf Argwahn; die beiden Formen konkurrierten im Deutschen lange Zeit; Luther gebraucht beide, wobei -wahn noch die frühere Bedeutung „ Vermutung “ hatte (ibid., 629). 10.3 Schlussbetrachtung Schopenhauer hat mit Kritik an seinen berühmten Zeitgenossen nicht gespart und insbesondere in Hegel einen Antipoden gesehen, den er immer wieder einmal mit herabsetzenden Urteilen bedenken zu können glaubte. Im Gegensatz zu Hegel jedoch, der alles, auch bescheidene Aufgaben wie Rezensionen, Rektoratsreden, Lehrmaterial für Gymnasiasten usw. mit vollem Ernst in Angriff nahm, der sich stets genau informierte und der dem, was die Wissenschaft festgestellt hatte, mit großer Achtung begegnete, hielt sich Schopenhauer für berechtigt, seine Mei- 312 <?page no="327"?> nungen zu Fachgebieten zu äußern, ohne sich vorher informiert zu haben. Manchmal blieb er bei seiner Ansicht, obwohl er wusste, dass sie von den Fachgelehrten nicht geteilt wird. So wusste er z. B. sehr wohl dass die Germanisten seiner Zeit die germanischen Völker anders einteilen als er selbst. Dennoch bekennt er sich, wie er sagt, zum „ System von Rask “ : „ Das Gothische, aus dem Sanskrit stammend, ist in drei Dialekte zerfallen: Schwedisch, Dänisch und Deutsch. “ Und zumindest der Sprache nach seien die Deutschen Goten (ibid. § 303, 630). Und im Hinblick auf seine Etymologien schreibt er: Ich weiß, daß sanskritgelehrte Sprachforscher ganz anders angethan sind, als ich, die Etymologie aus ihren Quellen abzuleiten, behalte aber dennoch die Hoffnung, daß meinem Dilettantismus in der Sache manches Früchtchen aufzulesen übrig geblieben ist. (ibid., 632) Natürlich sind einige Etymologien Schopenhauers richtig; dies ist jedoch völlig irrelevant, denn sie sind nur zufällig richtig. Sie wurden nicht mit Hilfe einer Methode gewonnen, ja sie entspringen nicht einmal einer einheitlichen Intuition. Wer etwas über Etymologien deutscher Wörter wissen will, wird nicht bei Schopenhauer nachschauen, wo nur persönliche Meinungen zu finden sind, sondern in einem etymologischen Wörterbuch. Und es würde sich auch nicht lohnen zu überprüfen welche von Schopenhauers Etymologien - es gibt ein paar Dutzend davon − richtig und welche falsch sind. Es sei denn, man interessiere sich gerade nicht für objektives Wissen sondern für den individuellen Fall Schopenhauer. 10.4 Literaturhinweise des Bearbeiters [Mit Schopenhauer hält die „ Weltanschauung “ Einzug in die deutsche Philosophie, und die überaus reichhaltige Literatur zum Autor der Welt als Wille und Vorstellung trägt vor allem dieser Tatsache Rechnung. Es geht nicht mehr nur ‒ und nicht einmal mehr in erster Linie ‒ um Erkenntnis und Interpretation der „ Wirklichkeit “ , es geht auch und vor allem um eine „ wertende Stellungnahme “ dazu, die sich oft nur schwer von der Interpretation unterscheiden lässt. Wer den „ Ton “ der vorangegangenen Abschnitte zur Kenntnis genommen hat ‒ man hätte sich eine etwas sachlichere und differenziertere Einkleidung der entschiedenen Ablehnung gewünscht ‒ wird nachvollziehen können, dass Coseriu keine Sekundärliteratur zu Schopenhauers Sprachphilosophie angegeben hat. Für den bescheidenen Zweck dieser Vorlesungsnachschrift genügen einige wenige Gesamtdarstellungen: Walter Abendroth: Arthur Schopenhauer mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1967; 21 2007 mit aktualisierten Literaturangaben. Rüdiger Safranski: Schopenhauer und die wilden Jahre der Philosophie. München 1987. Dieter Birnbacher: Schopenhauer. Stuttgart 2009. (Reclam Grundwissen Philosophie) 313 <?page no="328"?> Das vorliegende Kapitel entspricht weitgehend einem längst veröffentlichten Festschriftbeitrag des Verfassers: Eugenio Coseriu: „ Der Fall Schopenhauer. Ein dunkles Kapitel in der deutschen Sprachphilosophie “ . In: Integrale Linguistik. Festschrift für Helmut Gipper. Herausgegeben von Edeltraud Bülow und Peter Schmitter. Amsterdam 1979,13 ‒ 19. Klarer als im Fall von Schelling lässt sich erkennen, dass das Vorlesungsskript zuerst verfasst und später für den Festschriftbeitrag geringfügig erweitert und sprachlich überarbeitet wurde. Der Bearbeiter hat sich an beide Texte gehalten und dabei zusätzlich Schopenhauer noch etwas ausführlicher zu Wort kommen lassen. Die Zitate wurden der „ Großherzog Wilhelm Ernst Ausgabe “ in fünf Bänden (Leipzig o. J., um 1920) entnommen, die mit den wie immer peinlich genauen handschriftlichen Exzerpten Coserius genau übereinstimmen.] 314 <?page no="329"?> 11 Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 ‒ 1831) Georg Wilhelm Friedrich Hegel wurde am 28. August 1770 in Stuttgart in eine gutbürgerliche, vom schwäbischen Pietismus geprägte Familie hineingeboren. Vielen gilt er als Urschwabe; seine Vorfahren väterlicherseits stammten allerdings aus Kärnten. „ Meine Eltern [. . .] sorgten für die Bildung in den Wissenschaften sowohl durch Privatunterricht als durch den öffentlichen des Gymnasiums zu Stuttgart, wo die alten und neuen Sprachen sowie die Anfangsgründe der Wissenschaften gelehrt wurden “ , liest man im „ eigenhändigen Lebenslauf “ 135 aus dem Jahr 1804. Im Wintersemester 1788/ 89 nahm Hegel das Studium der Theologie und Philosophie in Tübingen auf. Über die mit Schelling und Hölderlin im Tübinger Stift verbrachte Zeit wurde bereits in Kapitel 9 berichtet. Nach Abschluss seines Studiums, währenddessen er wie seine Freunde eine der Obrigkeit verdächtige Sympathie für die Französische Revolution an den Tag gelegt hatte, bekleidete er, wie so viele vor ihm, eine Stelle als Hauslehrer, zunächst in der Schweiz, später, auf Empfehlung von Hölderlin, in Frankfurt am Main. Schelling, sein anderer Kommilitone aus der Tübinger Zeit, der ihm, obwohl fünf Jahre jünger, in der Laufbahn vorausgeeilt war, ermöglichte ihm eine Habilitation in Jena. Dorthin wurde er 1805 zum ordentlichen Professor berufen; kurze Zeit gab er zusammen mit Schelling das Kritische Journal für Philosophie heraus. Nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt - Schelling lehrte bereits in Würzburg - floh er aus Jena mit einem Teil des Manuskripts der Phänomenologie des Geistes - durchaus nicht unzufrieden, denn er hatte in der Gestalt des siegreichen Korsen „ den Weltgeist zu Pferde “ gesehen. 1807 war er als Journalist in Bamberg tätig; dort erschien die erste Auflage der Phänomenologie. Kurz darauf wurde er Rektor eines Gymnasiums in Nürnberg, an dem er u. a. auch höhere Mathematik unterrichtete. 1816 folgte er einem Ruf auf einen Lehrstuhl für Philosophie nach Heidelberg, wo der größte Teil der ersten Fassung der Enzyklopädie der Wissenschaften entstand und zum Druck befördert wurde. 1818 wurde er als Nachfolger Fichtes nach Berlin berufen. Das folgende Jahrzehnt gestaltete sich außerordentlich erfolgreich für ihn; seine Vorlesungen wurden nicht nur von den Studenten der Universität, sondern auch von den Honoratioren der Berliner Gesellschaft besucht. Er galt bald als „ preußischer Staatsphilosoph “ , eine scherzhafte Bezeichnung, die von den „ Rechtshegelianern “ mit positiver, von den „ Linkshegelianern “ mit negativer Konnotation gebraucht wurde. Er starb, auf dem Höhepunkt seines Ruhms, überraschend am 14. November 1831 in Berlin. Nach offizieller Lesart soll er der damals herrschenden Cholera zum Opfer gefallen sein, vor der sich sein erfolgloser Herausforderer Schopenhauer rechtzeitig in Sicherheit gebracht hatte. In Wirklichkeit ist er wohl einem Magenleiden erlegen, das sich schon einige Jahre früher bemerkbar gemacht hatte. 135 Hegel, Theorie Werkausgabe, Bd. 2., 1970, 582. 315 <?page no="330"?> 11.1 Ein erster Überblick 11.1.1 Drei Wege zur Sprachphilosophie Hegels Drei Wege bieten sich uns zur Behandlung der Sprachphilosophie bei Hegel an: (a) Man könnte Hegels ganz besondere Verwendung der Sprache, die zu vielen Missverständnissen geführt hat, zum Ausgangspunkt und Zentrum der Betrachtung wählen; man könnte versuchen, seine Verwendung der Sprache zu rechtfertigen und von hier aus seine generelle Haltung gegenüber der Sprache zu bestimmen. (b) Man könnte die gesamte Philosophie Hegels als von seiner Sprachauffassung her bestimmt, als mit dem Wesen der Sprache zusammenhängend ansehen, etwa im Sinne von Josef Simon, und die Grundkategorien der Philosophie Hegels im Zusammenhang mit der Sprache behandeln. (c) Man könnte sich auf das beschränken, was bei Hegel über die Sprache als einen speziellen Gegenstand gesagt wird, d. h. auf die Stellen bei Hegel, wo er selbst sprachphilosophische Probleme behandelt. Die erste Möglichkeit würde bedeuten, eine Theorie des philosophischen Sprachgebrauchs aufgrund der Praxis von Hegel zu entwickeln. Dies wäre durchaus interessant, würde jedoch nicht unserem Vorhaben entsprechen, eine Geschichte der Sprachphilosophie vorzulegen. Die zweite Möglichkeit bestünde darin, eine Interpretation der Hegelschen Philosophie ausgehend von der Problematik der Sprache zu liefern. Eine solche Gesamtinterpretation wird hier ebenfalls nicht angestrebt; sie wird vielmehr für die folgenden Betrachtungen stillschweigend als bekannt vorausgesetzt. Natürlich werden wir uns mit dem Buch von Simon auseinanderzusetzen haben, jedoch halte ich ein anderes und bescheideneres Vorhaben für notwendiger. Ich werde also den dritten Weg gehen und mich auf die Stellen beschränken, an denen Hegel in seinen Werken tatsächlich etwas über die Sprache aussagt. Natürlich müssen diese Stellen in ihrem Zusammenhang betrachtet werden. 11.1.2 Beschränkung auf Hegels Äußerungen über die Sprache Auch wenn man sich auf die Stellen bei Hegel konzentrieren möchte, an denen er sich zur Sprache äußert, hat man sich darüber hinaus zu fragen, warum Hegel die Sprache so selten als autonomes Objekt behandelt und der Sprache keinen besonderen Platz im Rahmen des objektiven Geistes der Kultur einräumt. Warum sind die Religion, die Kunst, die Philosophie Formen des „ absoluten “ , des historisch realisierten Geistes, nicht aber auch die Sprache? Die Stellen, an denen sich Hegel expressis verbis über die Sprache äußert, sind nicht sehr zahlreich und dazu meistens knapp gefasst; somit werden sie hier nicht viel Raum in Anspruch nehmen. Die Kürze der Behandlung - etwa im Vergleich zu der Beachtung, die den Ausführungen Schleiermachers geschenkt wurde − steht jedoch in keinem Verhältnis weder zu der Bedeutung, die ich Hegel in der Geschichte der Sprachphilosophie in absoluter Hinsicht beimesse, noch zu meiner Einschätzung seiner historischen Wirksamkeit. 316 <?page no="331"?> 11.1.3 Die Bedeutung Hegels für die Geschichte der Sprachphilosophie In absoluter Hinsicht, d. h. was die Bestimmung des Wesens der Sprache betrifft, betrachte ich Hegel als den zweiten Höhepunkt der Geschichte der Sprachphilosophie nach Aristoteles. Die Wirksamkeit Hegels in der Folgezeit und bis heute ist viel bedeutender, als man sich vorzustellen geneigt ist, und zwar sowohl auf dem Gebiet der Linguistik als auch auf dem der Sprachphilosophie. Was die Linguistik betrifft, so meine ich damit nicht die mechanische Übernahme der Hegelschen Schemata, wie man sie etwas bei August Schleicher oder Victor Henry antrifft, sondern der viel tiefere, weniger bekannte und nicht so leicht zu erkennende Einfluss, den Hegel auf die Entwicklung der linguistischen Sprachtheorie ausgeübt hat. Hegel hat Humboldt direkt und Ferdinand de Saussure entweder direkt oder indirekt über den Dänen Johan Nicolai Madvig (1804 ‒ 1886) beeinflusst, so dass seine Ideen auch heute noch in der Sprachwissenschaft weiterleben, auch wenn man sie nicht als solche erkennt. In der Sprachphilosophie sind seine Ideen einerseits in den verschiedenen Formen des Idealismus und des „ Spiritualismus “ - so von Rudolf H. Lotze (1817 ‒ 1881), Henry Bradley (1845 ‒ 1923) oder Bernard Bosanquet (1848 ‒ 1923) − übernommen worden und haben weitergewirkt. Andererseits haben die Klassiker der „ hegelianischen Linken “ und des Marxismus Stellungnahmen von Hegel zum Problem der Sprache oft wörtlich übernommen, so dass auch die marxistische Sprachphilosophie (und mit ihr die marxistische Sprachwissenschaft, sofern man von einer solchen sprechen kann) von Hegel geprägt wurden und zwar in einem Ausmaß, auf dessen genaue Einschätzung man noch heute wartet. 11.1.4 Die Hegelschen Texte zur Sprachphilosophie in chronologischer Reihenfolge − Jenenser Realphilosophie, Bd. I, hrsg. von J. Hoffmeister als Bd. 66 b der Philosophischen Bibliothek, 1932 (= Bd. XIX von Hegels sämtliche Werke in 26 Bänden, hrsg. von Georg Lasson). Darin: Hegels erste Philosophie des Geistes von 1803/ 04, Abschnitt B: „ Erste Potenz des Gedächtnisses und der Sprache “ , und Abschnitt E: „ Der Volksgeist “ [chronologische Einordnung inzwischen umstritten; vgl. letzter Abschnitt]. Es handelt sich um Vorlesungen aus den Jahren 1803/ 04. Sie bieten wichtige Stellen zur Gegenüberstellung von Arbeit und Sprache als den Grunddimensionen des Menschseins. − Jenenser Realphilosophie, Bd. II, hrsg. von J. Hoffmeister, Bd. 67 der Philosophischen Bibliothek, 1931 = Bd. XX der Ausg. von Lasson, cf. supra. Hierin: Teil B: Geistesphilosophie, I: „ Subjektiver Geist “ , a: Intelligenz. Hierin: „ Die Sprache als namengebende Kraft “ . II: „ Wirklicher Geist “ , d: Vertrag. [Hoffmeister nahm an, dass es sich um Vorlesungen aus den Jahren 1805/ 06 handele. Die Hrsg. des Nachdrucks mit geändertem Titel tragen der neueren Forschungslage Rechnung; cf. Literaturhinweise am Ende des Kapitels] 317 <?page no="332"?> − Die Phänomenologie des Geistes. Einleitung mit den Ausführungen zur „ Diesheit “ und zur Universalität der Pronomina, A: Bewusstsein, I: „ Die sinnliche Gewißheit oder das Diese und das Meinen “ ; BB: Der Geist, B. „ Der sich entfremdete Geist, Die Bildung “ (= Theorie Werkausgabe Bd. 3). − Die Wissenschaft der Logik, 1812 und 1816: Hierin: Vorrede Teil II: Die subjektive Logik oder die Lehre vom Begriff, 1. Abschnitt, Kapitel III, A: Der Schluß, (Dort findet sich in einer Anmerkung eine Stellungnahme gegen den sprachlichen Kalkül) (= Theorie Werkausgabe Bd. 6, 374 ‒ 380). − Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, 1. Fassung: 1817, rev.: 1827, 1830. Resümee der Philosophie Hegels. §§ 455 (Einbildungskraft); § 458: (Zeichen), § 459: (Sprache), §§ 461 − 464; (Gedächtnis),und hier speziell zum Begriff: „ Name “ § 462 (= Theorie Werkausgabe Bd. 10). − Ästhetik. Teil III, 3. Kapitel: „ Die Poesie “ , insbesondere hier: B 2 „ Der sprachliche Ausdruck “ . B 3: „ Versifikation “ (= Theorie Werkausgabe Bd. 15). − Philosophie der Weltgeschichte. 1. Hälfte: „ Die Vernunft in der Geschichte “ ; Allgemeine Einleitung, Abschnitt II „ Der Gang der Weltgeschichte “ . Den einzigen längeren und zugleich sprachlich zugänglicheren, leichter verständlichen Text bilden die §§ 458 ‒ 464 der Enzyklopädie. 11.1.5 Literatur zur Sprachphilosophie Hegels Josef Simon: Das Problem der Sprache bei Hegel. Stuttgart 1966. Hier wird die gesamte Philosophie Hegels aus der Sicht der Sprache interpretiert. Theodor Bodammer: Hegels Deutung der Sprache. Interpretationen zu Hegels Äußerungen über die Sprache. Hamburg 1969. Der Verf. geht in gleicher Weise vor, wie ich hier vorgehen will: Es behandelt die ausdrücklichen Äußerungen Hegels zur Sprache und berücksichtigt den jeweiligen systematischen Ort des Erscheinens der Sprache. Josef Derbolav: „ Hegel und die Sprache. Ein Beitrag zur Standortbestimmung der Sprachphilosophie im Systemdenken des deutschen Idealismus “ . In: Sprache: Schlüssel zur Welt. Festschrift für Leo Weisgerber, hrsg. von H. Gipper. Düsseldorf 1959, 56 ‒ 86. Derbolavs Haltung gegenüber Hegel und seiner Sprachphilosophie ist eher negativ. Franz Schmidt: „ Hegels Philosophie der Sprache “ . In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie (1961), 1479 ‒ 1486. Auch dieser Beitrag aus marxistischer Sicht ist gegenüber Hegel sehr kritisch. Henri Lauener: Die Sprache in der Philosophie Hegels, mit besonderer Berücksichtigung der Ästhetik. Bern 1962. Karl Löwith: „ Hegel und die Sprache “ . In: Die neue Rundschau, Jahrgang 76, 1965, 278 ‒ 297. 318 <?page no="333"?> Dieser Aufsatz interpretiert die ausführlicheren Abschnitte zur Sprache in der Enzyklopädie und über „ Arbeit und Sprache “ in der Jenenser Realphilosophie I. Jürgen Trabant: Zur Semiologie des literarischen Kunstwerks, München 1970. Trabant behandelt nur einige Aspekte der Hegelschen Sprachphilosophie im Vergleich mit der Glossematik, insb. mit Hjelmslev. Bruno Liebrucks: Sprache und Bewußtsein, Bd. 5, Frankfurt 1970. Heyman Steinthal: Die Sprachwissenschaft Wilhelm von Humboldts und die Hegelsche Philosophie, Berlin 1848. Neudruck: Hildesheim 1971. [Moderne Editionen der Primärtexte und weitere Sekundärliteratur werden am Ende des Kapitels aufgeführt] 11.2 Die Stelle der Sprachphilosophie in der Philosophie Hegels Es geht hier tatsächlich um die Stelle, nicht etwa um die Stellung von Hegels Sprachphilosophie im Rahmen seines gesamten Systems, d. h. nicht um die Bedeutung, die er dem Phänomen „ Sprache “ beimisst, sondern um den Ort, an dem im System der Wirklichkeit und der Philosophie die Sprache „ situiert “ wird. Die Philosophie Hegels will mit dem System des Seins bzw. der Wirklichkeit übereinstimmen, ja zusammenfallen, und in diesem System findet jede Erscheinung ihren eigenen Platz. 11.2.1 Hegels System: Eine erste Übersicht Wer die „ Stelle “ der Sprache im Hegelschen System angemessen darstellen will, muss dieses System zunächst schematisch darstellen. Dies ist, sofern man von Begründungen absieht, relativ einfach, weil dieses System völlig systematisch und klar aufgebaut ist. Entgegen der weit verbreiteten Meinung ist die Philosophie Hegels eine Philosophie des konkret und historisch Gegebenen, eine Philosophie, die die Welt (einschließlich der geschichtlichen Welt) so annimmt, wie sie ist (bzw. erscheint), und eben diese Welt mit all ihrem Reichtum und in ihrer ganzen Differenziertheit zu einem Eigentum der Vernunft, zu einem vollkommen Intelligibile machen will. Es geht Hegel also weder darum, die Realität aus einem einzigen Prinzip zu deduzieren, noch darum, die Bestimmungen der Wirklichkeit in einem undifferenzierten „ Absolutum “ aufzuheben, sondern darum, jeden Aspekt der Wirklichkeit, jedes „ reale “ Faktum rational zu rechtfertigen. Das Kennzeichnende für die Philosophie Hegels ist dadurch gegeben, dass er die Trennung und die Distanz zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen, dem Rationale (dem Vernünftigen) und dem Reale (dem Wirklichen), zwischen dem Sein-Sollen und dem Sein, dem Universellen und dem Individuellen aufhebt. Das Endliche ist nur eine Manifestation des Unendlichen, das Unendliche in seiner Determination, und löst sich stets ins Unendliche auf. Zwischen dem Rationale und dem Reale gibt es keine Trennung und keine Distanz. „ Was vernünftig ist, das ist wirklich, was wirklich ist, das ist vernünftig “ , 319 <?page no="334"?> schreibt Hegel in der Vorrede zur Philosophie des Rechts. 136 Ebenfalls keine Trennung und keine Distanz gibt es zwischen dem Sein-Sollen und dem Sein; die Wirklichkeit ist eben wie sie sein soll. Das Gleiche gilt für das Universelle und das Individuelle: Das Individuelle ist nichts anderes als das Universelle in seiner totalen Determination. Von daher rührt auch die Begeisterung Hegels für Aristoteles, der, wie Hegel sagt, das Individuelle und Konkrete nicht abtut, sondern sich auf das Individuelle und Konkrete konzentriert und im Individuell-Konkreten das Universelle sieht. Daher ist auch das Interesse für allerlei Einzelheiten der Wirklichkeit, für alle Aspekte des Universums zu verstehen, die er in sein Gesamtsystem einordnen will. Es geht ihm darum, die Dinge so zu sagen, wie sie sind. Die Philosophie als Wissenschaft hat die Aufgabe, die Wirklichkeit verständlich zu machen, und sie kann das, da die Wirklichkeit an sich schon Rationalität, Logos, Vernunft ist. In der Vorrede zur Rechtsphilosophie heißt es: . . .daß die Philosophie, weil sie das Ergründen des Vernünftigen ist, eben damit das Erfassen des Gegenwärtigen und Wirklichen, nicht das Aufstellen eines Jenseitigen ist, das Gott weiß wo es sein sollte − oder von dem man in der Tat wohl zu sagen weiß, wo es ist, nämlich in dem Irrtum eines einseitigen, leeren Räsonierens. (ibid., s. Fn. 136) Das Reale, nicht das, was sonst Gegenstand der Metaphysik gewesen ist, ist hiermit gemeint. Im System der Philosophie Hegels erscheint überhaupt keine Metaphysik. In dem Maße, in dem sie von Hegel überhaupt für möglich gehalten wird, ist sie in der Logik enthalten. 11.2.2 Die Grundzüge des Hegelschen Systems Welches ist nun in ihren Hauptdeterminationen diese Wirklichkeit, die zugleich Vernunft ist? Hegel stellt sie zweimal dar, einmal als Prozess, das andere Mal als System. Als Prozess erscheint sie (abgesehen von den frühen Jenaer Schriften) in der Phänomenologie des Geistes und als System in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften und den damit zusammenhängenden Werken, d. h. in der noch vor der Enzyklopädie erschienenen Wissenschaft der Logik, die in der Enzyklopädie selbst resümiert wird, in den Grundlinien der Philosophie des Rechts und in verschiedenen postum erschienen Vorlesungsnachschriften, die Sektionen der Enzyklopädie erweitern. In dieser Hinsicht steht die Phänomenologie allen anderen Werken gegenüber. Die Phänomenologie des Geistes schildert den Prozess der Überwindung und Aufhebung des Endlichen, den Weg des Geistes vom Endlichen zum Unendlichen, den Weg des Bewusstseins von der Individualität zur Universalität. Die anderen Werke stellen die unendliche Vernunft (oder „ Idee “ ) in ihren Hauptdeterminationen systematisch dar. Die primären Determinationen (bzw. die determinierten Formen) der Vernunft, die als Phasen eines Prozesses aufgefasst werden, sind nach Hegel: (1) die reine Idee „ an sich “ und „ für sich “ ; 136 Hegel 1970 [1821] = Theorie Werkausgabe Bd. 7, 24. 320 <?page no="335"?> (2) die Natur, d. h. die Idee „ außer sich “ selbst, die „ entfremdete Idee “ , die zu einem Anderen sich selbst gegenüber wird; (3) der Geist, d. h. die zu sich selbst und zum Selbstbewusstsein zurückgekommene Idee. Aus diesen primären Determinationen ergeben sich die drei großen Sektionen der Hegelschen Philosophie: Idee, Natur und Geist. Der „ reinen “ Idee entspricht in der Philosophie als Disziplin die Logik. Der „ Natur “ entspricht die Philosophie der Natur, die (abgesehen von den Jenaer Frühschriften) nur in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften behandelt wird. Dem Geist entspricht die Philosophie des Geistes. Die Philosophie Hegels ist vor allem eine Philosophie des Geistes und des Menschen. Der Geist erscheint bei Hegel wiederum in drei Formen, die als Phasen eines Prozesses aufgefasst werden: (a) Der subjektive (erkennende) Geist, der als Subjekt der Erkenntnis auftritt; (b) Der objektive Geist, der in der Gesellschaft tätig ist und sich in Institutionen manifestiert; (c) Der absolute Geist (von anderen Autoren „ Kultur “ genannt), der sich selbst in den Formen der Kunst, der Philosophie und der Religion realisiert. Diesen Formen des Geistes entsprechen nun wieder unterschiedliche Disziplinen der Philosophie: Der subjektive Geist würde einer „ Erkenntnistheorie “ entsprechen, allerdings nur als Behandlung des „ Wie “ der Erkenntnis und nicht ihrer Möglichkeit. Die Frage nach der Möglichkeit der Erkenntnis wäre für Hegel kontradiktorisch, unzulässig und nutzlos. Dem objektiven Geist, entsprechen die Ethik (die von Hegel kaum behandelt wird) und die Rechts- und Staatsphilosophie. Dem absoluten Geist entsprechen die Philosophie der Kunst (Ästhetik), die Religionsphilosophie und die Philosophie der Philosophie, die aber meist mit der Geschichte der Philosophie zusammenfällt. Hiermit ist die Entwicklung der Philosophie von den Anfängen bis zur ihrer Vollendung in der Philosophie Hegels selbst gemeint. Beim subjektiven Geist gelten für Hegel folgende weitere Determinationen, denen jeweils philosophische Teildisziplinen entsprechen: (a) Seele, an das Individuum gebundener und durch äußere Umstände determinierter Geist, bei Hegel Gegenstand der Anthropologie. Darunter ist nicht die allgemeine Philosophie des Menschen zu verstehen, die der Philosophie des Geistes insgesamt entspricht, sondern das philosophische Gegenstück der „ Naturwissenschaft “ , insbesondere der Zoologie. Für Hegel ist der Mensch nie 321 <?page no="336"?> Tier, so dass er auch nicht Herder zustimmen würde, wenn dieser sagt: „ Schon als Tier hat der Mensch Sprache. “ (cf. supra Kap. 3.4.2) (b) Bewusstsein, der Geist als ICH, als Selbstbewusstsein: Dem Bewusstsein entspricht die Phänomenologie des Geistes, und zwar in systematischer Hinsicht, nicht als Prozess. (c) Geist schlechthin, der Geist als der Welt gegenüber und in der Welt tätig. Er unterliegt der philosophischen Disziplin der Psychologie. Für die Seele gelten weiterhin folgende Determinationen: ( α ) die natürliche Seele, ( β ) die fühlende Seele, ( γ ) die wirkliche Seele; nicht die „ reale “ , sondern die „ nach außen wirkende “ . Beim Geist trifft Hegel wiederum die folgenden Unterscheidungen: ( α ) der theoretische Geist, ( β ) der praktische Geist, ( γ ) der freie Geist, der schon den Übergang zum „ objektiven Geist “ (cf. supra) darstellt. Hinzu kommt noch, dass sich der Geist in all seinen Formen in der Geschichte realisiert, d. h. den Weg zu sich selbst sucht und sich selbst findet (insofern ist dieser Weg Gegenstand einer Philosophie der Geschichte) und dass die Philosophie selbst in der Geschichte den gleichen Prozess der Vernunft bis zu ihrem totalen Selbstbewusstsein und ihrem Zusammenfallen mit der Wirklichkeit (d. h. bis zur Philosophie Hegels) durchmacht. So lässt sich die Geschichte der Philosophie als historische „ Philosophie der Philosophie “ verstehen. Schematisch lässt sich das folgendermaßen darstellen: B. Natur A. Idee C. Geist natürlich fühlend Seele Bewusstsein subjektiv Geist objektiv Absolut wirkend theoretisch praktisch frei Kunst Religion Philosophie 322 <?page no="337"?> 11.2.3 Der Ort der Sprache im „ Prozeß “ und im „ System “ Welches ist nun der Ort der Sprache im Prozess, wie er in der Phänomenologie behandelt wird, und im System, das in der Enzyklopädie und den dazu gehörigen Werken dargestellt ist? Im Prozess finden wir die Sprache an dem Punkt, an dem das Selbstbewusstsein aus sich selbst ausgeht und nicht mehr allein an sich und für sich selbst, sondern zugleich für andere ist. Dies bezeichnet Hegel als vollkommene Existenz des Bewusstseins. Die Grundform des „ Aus-sich-selbst-Herausgehens “ ist die Sprache. Somit wird die Sprache als Grundlage und Konstruktion der Welt des Geistes angesehen. Wo findet man die Sprache im System der Wirklichkeit? Da die Sprache einerseits Ausdruck des Individuums auch in seiner empirischen Individualität (wenn auch nicht als „ Sprache “ , sondern als materieller Ausdruck), andererseits aber Form der Erkenntnis ist, darf man erwarten, dass man sie einmal im Bereich der Seele (und zwar der „ wirksamen “ , in der Welt wirkenden Seele) zum anderen im Bereich des Geistes (und zwar des „ theoretischen “ Geistes) antrifft. Und in der Tat erscheint die Sprache einmal - wenn auch, wie ich glaube, noch nicht als Sprache im eigentlichen Sinn - unter den verschiedenen körperlich bedingten Ausdrucksformen (Enzyklopädie § 411), und das zweite Mal als eigentliche Sprache (§§ 458 − 459 und 461 − 464 der Enzyklopädie). Da die Sprache aber eine Form des Geistes ist, darf man erwarten, dass man sie sowohl im Bereich des „ subjektiven “ als auch des „ objektiven “ und des „ absoluten “ Geistes antrifft. Im Bereich des subjektiven Geistes müsste man sie als Sprache im Allgemeinen antreffen; im Bereich des objektiven Geistes als Sprache eines Volkes; im Bereich des absoluten Geistes als Kunst. Dies trifft für die erste und für die dritte Erscheinungsform tatsächlich zu. Die zweite Form, die Sprache im Bereich des objektiven Geistes wird jedoch in der entsprechenden Sektion der Enzyklopädie und in der Philosophie des Rechts - deren Gegenstand der „ objektive “ Geist ist − nicht getrennt behandelt. Sie wird als Einzelsprache in der Enzyklopädie (§ 459) und in der Phänomenologie (VI, B) nur am Rande berührt. Gelegentlich wird sie in verschiedenen anderen Werken, normalerweise in Zusammenhängen, die nicht direkt die Sprache betreffen, insbesondere in der Philosophie der Geschichte kurz besprochen. Einen längeren zusammenhängenden Abschnitt zu dieser Form der Sprache findet man in der Jenenser Realphilosophie I, Teil 2 E ( „ Der Volksgeist “ ). Hiermit ergibt sich − zumindest im Hinblick auf die Systematik − die Reihenfolge der Fragestellungen zur Sprachproblematik bei Hegel und die dazu heranzuziehenden zentralen Texte: A - Die Sprache im Prozess - Phänomenologie VI, B. B - Die Sprache im System (a) Sprache als individuelle Ausdrucksform: Enzyklopädie § 411 (b) Sprache als (nicht nur individuelle) Sprache: 323 <?page no="338"?> ( α ) Die Sprache als Zeichen und als Name im Bereich des subjektiven Geistes: Enzyklopädie §§ 458 − 459, 461 − 464; Jenenser Realphilosophie, 1. Teil 2B; 2. Teil B, 1 a. ( β ) Die Sprache in ihrer historischen Objektivität (die Sprache in der Gesellschaft und in der Geschichte, insbesondere die Sprache als Gesamtheit der Sprachen): Jenenser Realphilosophie I, Teil 2, E ( „ Der Volksgeist “ ) sowie Jenenser Realphilosophie Teil 2 B, II b „ Vertrag “ ); Phänomenologie VI, B; Enzyklopädie § 459; Philosophie der Geschichte, passim. ( γ ) Sprache als absoluter Geist (insbesondere als Dichtung): Ästhetik III Dies sind jedoch nur die zentralen Texte, die im Mittelpunkt der folgenden Darstellung und Interpretation stehen sollen; denn für jeden Aspekt der Sprache kommen viele andere kürzere Stellen aus verschiedenen Werken in Frage, die diese Zentraltexte bestätigen, erweitern, präzisieren und beleuchten. 11.2.4 Methodisches zur Rekonstruktion einer „ Sprachphilosophie “ aus Bruchstücken Es lässt sich erkennen, dass Hegel die Sprache nirgendwo zusammenhängend und ausführlich behandelt hat. Daraus ergeben sich für die Behandlung des Themas eine Reihe von Konsequenzen: (1) Im Hinblick auf die Fragestellung selbst (a) dass wir andere Texte, wie z. B. die Einleitung in die Phänomenologie des Geistes oder einschlägige Stellen aus der Wissenschaft der Logik, wo von der Sprache die Rede ist, nicht als Stellen anzusehen haben, die die Sprache direkt betreffen. Diese Stellen (und viele andere, an denen in Hegels Werken die Sprache erwähnt wird), behandeln eigentlich nicht die Sprache als solche, sondern setzen unter Verfolgung anderer Zielsetzungen und zur Klärung anderer Phänomene das Wesen der Sprache voraus, und zwar jeweils nur unter einem bestimmten Aspekt. Sie können folglich nur im Zusammenhang mit anderen Stellen, die tatsächlich die Deutung der Sprache zum Gegenstand haben, richtig interpretiert werden. Sie dürfen deshalb auch nicht vereinzelt als Grundlage für eine Kritik der Hegelschen Sprachauffassung herangezogen werden, wie es z. B. Benedetto Croce getan hat. 137 (b) dass wir keinen der Texte, die wir für „ zentral “ halten, als den zentralen Text schlechthin ansehen dürfen, als einen Text, von dem man ausgehen könnte, um die Sprachphilosophie Hegels organisch als ein Ganzes darzustellen. Aus keinem der angeführten Texte lässt sich die ganze Sprachphilosophie Hegels gewissermaßen „ deduzieren “ (auch aus dem Text zur Sprache als Zeichen und Name nicht). (c) dass sich keine chronologische Betrachtungsweise anbietet. 137 Benedetto Croce: „ Ciò che è vivo e ciò che è morto nella filosofia di Hegel “ ; in: Idem: Saggio sullo Hegel seguito da altri scritti di storia della filosofia. Bari 1906, 5 1996, 1 ‒ 142 (dt. Üb. Lebendiges und Totes in Hegels Philosophie, Heidelberg 1909). 324 <?page no="339"?> Soll dies nun bedeuten, dass die „ Philosophie der Entwicklung “ selbst keine Entwicklung aufweist? Dazu ist Folgendes hinzuzufügen: Erstens: Es geht nicht so sehr um Entwicklung als vielmehr um Entfaltung: Es treten nicht nach und nach Mutationen auf, alles ist in gewisser Hinsicht schon von vornherein da. Der „ Prozess “ ist ein Prozess der Entfaltung. Zweitens: Auch die Philosophie Hegels erfährt eine „ Entfaltung “ . Sicherlich werden einige Aspekte erweitert, präzisiert, begründet. Die Theorie des Zeichens in der Jenenser Realphilosophie ist nicht identisch mit derjenigen in der Enzyklopädie, jedoch ist das ganze System in nuce bereits in den Jenaer Schriften und in den Lehrmaterialien für die Nürnberger Gymnasiasten enthalten. Eine „ chronologische Ordnung “ ist allenfalls im Hinblick auf einige Einzelheiten zu erkennen. (2) Im Hinblick auf die Stellung der Sprachphilosophie in der Philosophie Hegels und deren Interpretation haben wir zu beachten: (a) dass bei Hegel keine zusammenhängende Behandlung der Sprache als eines autonomen Gegenstandes anzutreffen ist, wie dies z. B. für das Recht, die Religion oder die Kunst der Fall ist, dass er also auch keine „ Sprachphilosophie “ als autonome philosophische Disziplin vorgelegt hat. (b) dass die Sprache bei Hegel jeweils nur in einer bestimmten Perspektive betrachtet wird, immer im Zusammenhang mit der Form des Geistes, von der jeweils die Rede ist: Bei dieser Form, in dieser Phase des Geistes erscheint die Sprache als. . . usw. usf. Dies darf jedoch nicht dahin gehend interpretiert werden, als fehle bei Hegel die Sprache als spezifische und bestimmbare philosophische Problematik. Es wurde des Öfteren behauptet, in der systematischen Philosophie der Neuzeit bis hin zu Kant und Hegel fehle die Sprachphilosophie völlig. Darin liegt eine unzulässige Verallgemeinerung. Hegel ist in dieser Hinsicht keineswegs mit Kant vergleichbar. Bei Kant „ fehlt “ die Sprachphilosophie im eigentlichen Sinn des Wortes; sie ist nicht da. Kant berührt die Sprache nur sehr selten und macht sie als solche so gut wie nie zum Gegenstand der philosophischen Reflexion. Bei Hegel hingegen ist die Sprache so gut wie immer präsent. Die Problematik der Sprache erscheint immer wieder in den verschiedensten Zusammenhängen in seinen Werken, stetiger sogar als bei Denkern, die der Sprache eine systematische Behandlung widmen. Was bei Hegel fehlt, ist die Sprache als ein Ganzes, als organischer Gegenstand - und dementsprechend fehlt auch eine Sprachphilosophie als Disziplin in seinem System. (c) dass bei einer Interpretation der Sprachphilosophie Hegels auch die Stelle, an der die Sprache jeweils erscheint, die Perspektive, aus der sie betrachtet wird, in Betracht gezogen werden muss. Dies alles erschwert die Interpretation in besonderem Maße. In einfachen Worten ausgedrückt: Hat Hegel eigentlich eine einheitliche Sprachauffassung? Oder setzt er sich nur dort mit der Problematik der Sprache auseinander, wo er ihr nicht aus 325 <?page no="340"?> dem Weg gehen kann, weil die Sprache bei der Behandlung dieser oder jener Frage als „ störende “ Präsenz auftaucht? Anders gesagt: Verweilt Hegel bei der Sprache jeweils nur so lange, wie dies notwendig ist, um diese Problematik zu überwinden, auszuklammern und über die Sprache hinweg zu gehen, wie dies in der gesamten Philosophie von der Antike bis zur deutschen Romantik meist der Fall war? Auf diese Frage wird im nächsten Abschnitt zurückzukommen sein. Und wenn Hegel eine einheitliche Auffassung der Sprache hat, wie erklärt es sich dann, dass sie in seinem System keinen eigenen Platz findet? Für uns heißt das, dass eine Einheit der Sprachphilosophie Hegels - so denn eine solche überhaupt angenommen werden darf - nicht aus einer einzigen Perspektive, sondern nur unter Berücksichtigung der verschiedenen von Hegel eingenommenen Perspektiven begründet werden darf. Dabei müssen wir aber mit Hegel über Hegel hinausgehen und ihn auch das sagen lassen, was er nicht ausdrücklich sagt, was er aber mehr oder weniger andeutet. 11.2.5 Von der Voreiligkeit der Sprache Eines stört Hegel an der Sprache, und dies darf nicht übersehen werden: sie passt in seine Schemata nicht so richtig hinein. Es geht mutatis mutandis um etwas, was die Marxisten heute noch stört, nämlich darum, dass die kollektivste aller Kulturerscheinung sich so gar nicht kollektiv verhält, dass sie nicht brav zum „ Überbau “ gehört, dass sie in allen politischen Revolutionen sich gleich bleibt, dass sie sich um die stadiale Entwicklung der Gesellschaft so wenig kümmert. Gemessen an der gesellschaftlichen Entwicklung erscheint sie als „ voreilig “ . Der absolute Geist realisiert sich in der Geschichte in einer bestimmten Reihenfolge: als Kunst, besonders in der griechischen antiken Welt, als Religion in der christlichen Welt, als Wissenschaft und Philosophie in der modernen Welt. Jeweils eine Form ist in der Kultur die zentrale Form, die alles in sich aufnimmt. Hegel stört nun, dass sich die Sprache nicht in dieses Schema einfügt. Sie hat keinen besonderen Augenblick in der geschichtlichen Entwicklung: Vor jeder Entwicklung ist die Sprache schon ganz entwickelt, sie ist schon da, sie ist voreilig: Die Sprache der primitiven Völker ist schon so entwickelt wie die Sprachen der Kulturvölker. Die Sprache wartet nicht mit der Entwicklung in der Geschichte, und sie entwickelt sich auch nicht, wie sich andere Dinge entwickeln, wie sich wissenschaftliche Disziplinen, z. B. die die Mathematik, weiterentwickeln. Bei der Spracherlernung ist eine Entwicklung zu sehen: aber auch hier ist der Endpunkt beim Erlernen der Sprache eines Kind nur das, was die Gemeinschaft schon erreicht hat. Für keine andere Form der Kultur gilt, dass sie das von der Gemeinschaft schon Erreichte ist. Das Anstoßnehmen an dieser Voreiligkeit ist der Schlüssel zur Sprachphilosophie Hegels. Stalin konnte mit seinem ausgeprägten Sinn für praktische Gegebenheiten sagen: Nun ja, da gibt es etwas, das nicht in unsere Schemata hineinpasst, und als Marxisten haben wir das zu akzeptieren. 138 Hegel mit seinem noch höher ausgeprägten Sinn nicht nur für praktische 138 [Anspielung auf Stalins Auseinandersetzung mit den Thesen von N. J. Marr. Dabei ging es jedoch nicht nur um die „ Voreiligkeit “ , sondern auch um die „ Trägheit “ der Sprache, d. h. um 326 <?page no="341"?> Gegebenheiten konnte seine Schemata nicht einfach von der Sprache sprengen lassen. Die Voreiligkeit wird erst in der Philosophie der Geschichte als etwas immer schon Dagewesenes anerkannt. Voreiligkeit darf nicht in der Hinsicht verstanden werden, als gehöre die Sprache wie auch die Entwicklung der Sprachen eigentlich zur Vorgeschichte, und nach dem Eintritt in die Geschichte gäbe es nur noch Dekadenz für die Sprachen. Dies ist tatsächlich in der Sprachwissenschaft die Interpretation von Schleicher gewesen, der die Philosophie Hegels nur in einer sehr schematischen Form übernommen hat. In seiner Sprachtypologie zeichnet er die Voreiligkeit der Sprache nach, wobei er das dialektische Schema von These, Antithese und Synthese zugrundelegt. Die höchste Entwicklungsstufe ist mit den flektierenden Sprachen erreicht, danach ist nur noch Dekadenz und „ Gegenentwicklung “ zu verzeichnen. Damit wird jedoch die „ Voreiligkeit “ der Sprache falsch interpretiert. Die Sprache wartet nicht auf die Dialektik der Geschichte, auf die Realisierung des Geistes in der Geschichte, sondern ist immer schon da gewesen. Auch ohne Kunst, ohne Literatur und ohne Wissenschaft hat der Mensch doch schon Sprache. Auch wenn die andere Grunddimension des Menschen, die Arbeit, fehlt, auch wenn der Mensch in rationaler Hinsicht sorglos wie ein Affe lebt und einfach die physische Welt annimmt und sich ihr anpasst, so ist er eben doch kein Affe, denn er verfügt über Sprache. Die Sprache ist demnach immer schon da; auch bei den primitiven Völkern ist sie bereits im Ganzen entwickelt. In dieser Hinsicht stellt die Sprache ein besonderes Problem dar. Bei allen übrigen Formen der Kultur stellt man ein Fortschreiten der Entwicklung fest: Es kommt zu einer Bereicherung und Verfeinerung, die im Falle der Sprache nicht anzutreffen ist. Insofern kann Hegels Feststellung der Voreiligkeit der Sprache gegenüber der Dialektik - die Tatsache, dass er die Sprache nicht als eine Form der Kultur neben anderen, als eine Form der Realisierung des absoluten Geistes ansieht - in der Hinsicht interpretiert werden, dass Hegel der Sprache eine andere Stelle zuweist. Die Behauptung, dass die Sprache immer schon dagewesen und immer schon ganz entwickelt - ohne weitere innere Entwicklung - gewesen wäre, beinhaltet, dass die Sprache den anderen Formen der Kultur stets parallel ist. 11.2.6 Der Tod der Sprache als Sprache schlechthin In der Philosophie - vor allem in der Ästhetik - hat man viel über Hegels „ Tod der Kunst “ diskutiert. Hiermit meinte er, dass die Kunst als Form des absoluten Geistes tot sei, denn nach der Antike sei nicht mehr die Kunst die Vertretung des absoluten Geistes schlechthin und so sei sie in dieser Hinsicht gestorben. Ein italienischer Philosoph bemerkte mit Recht, dass der Tod der Kunst gerade ihr Leben ausmache. Die Kunst als glückliche, unwissende, unproblematische Kunst, als Kunst in völliger Versöhnung mit sich selbst mag gestorben sein, die tatsächlich lebendige die Tatsache, dass sich gesellschaftliche Veränderungen nicht unmittelbar in der Sprache widerspiegeln.] 327 <?page no="342"?> Kunst, die experimentiert, die zum Bewusstsein des Unglücklichen gekommen ist, lebt darum umso mehr. Bei der dialektischen Entwicklung erscheint die Sprache als eine parallele Form, die schon am Anfang der Dialektik der Geschichte in voller Entwicklung da ist und in dieser Form mit der Möglichkeit der Verfeinerung im instrumentalen Bereich zum Ausdruck der Kunst, der Religion und der Wissenschaft bleibt. Wenn sie sich also in diesem Bereich weiterentwickelt, wie es z. B. in der Dichtung bei der Metrik der Fall ist, so tut sie es nicht als Sprache. Für Hegel ist somit die Sprache nicht eine Form neben den anderen Formen der Kultur. In den Kulturwissenschaften ist man heute geneigt, unter den verschiedenen Kulturgegenständen die Sprache und die Kunst auf einer Ebene anzusiedeln. Für Hegel ist die Sprache dagegen nicht eine Form neben anderen, da sie stets nicht nur Form des Geistes, sondern Geist ist: Sie ist das Dasein selbst des Geistes. Und wenn Hegel etwas zur Sprache in der Vorgeschichte sagen will, dann nur, dass die Sprache anstelle der übrigen Formen der Kultur da ist und jene vertritt, solange sie noch nicht als solche da sind. Wenn eine von diesen Formen da ist und sich als solche behauptet, dann verliert die Sprache ihre Vertreterrolle: Sie ist nicht mehr Sprache allein, sondern zugleich Ausdruck dieser anderen Form; in dieser Hinsicht wird sie dann zum Instrument, obwohl sie als Sprache weiterhin die gleiche bleibt. Wenn es beispielsweise darum geht, Wissenschaft auszudrücken, ist die Sprache nicht mehr Sprache schlechthin, sondern Fachsprache und Ausdruck der Wissenschaft; in diesem Sinne ist sie für etwas anderes da, und in diesem Sinne kann man analog zum „ Tod der Kunst “ vom „ Tod der Sprache “ reden. 11.3 Diskussion von Interpretationen der Sprachphilosophie Hegels Die verschiedenen Interpretationen der Sprachphilosophie Hegels sind immer wieder der soeben behandelten Schwierigkeit begegnet, die darin besteht, dass Hegel die Sprache nicht als einen autonomen Gegenstand behandelt. Die folgenden Zusammenfassungen einiger Hegelinterpretationen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. 11.3.1 Josef Simon: Das Problem der Sprache bei Hegel (1966) Das Hauptanliegen der Dissertation Simons besteht darin, Hegels Philosophie vom Gesichtspunkt der Sprache her zu interpretieren. In gewisser Hinsicht versucht er, die ganze Philosophie Hegels als Sprachphilosophie oder zumindest als eine Philosophie darzustellen, die eng mit der Sprache zusammenhängt. Seine These formuliert er folgendermaßen: Nach Hegel ist letztlich weder die Religion noch die Kunst, sondern seine Philosophie Darstellung des Absoluten. Zu zeigen, daß sie Darstellung des im faktischen Sprechen und in faktisch-endlicher Weltbegegnung verstellten Wesens der Sprache als des Grundes ist, der zugleich in diese Verstellung einleitet, ist Aufgabe dieser Arbeit. (Simon 1966, 13) 328 <?page no="343"?> Und einige Abschnitte weiter heißt es: Indem wir die Sprache als „ Grund “ der Verstellung des Absoluten bei Hegel deuten, deuten wir sie als das Phänomen, das die Hegelsche Philosophie beschreibt, indem sie das Absolute als wesentlich erscheinendes und sich in der Erscheinung verstellendes Absolutes versteht. (ibid., 14) Er meint damit, dass das Absolute auf irgendeine Weise in der Sprache gegeben ist. Die ganze Philosophie zeige diesen steten Bezug auf die Sprache, auch dort, wo nicht von der Sprache gesprochen wird, müsse von der Sprache ausgegangen werden. Daher müsse alles Verstehen als das Sein des Geistes, das in der Sprache gegeben ist, verstanden werden. Man könnte diese Auffassung mutatis mutandis dergestalt interpretieren, dass die Sprache als gemeinsame Form und als Rahmen der Kultur überhaupt und aller Formen der Kultur fungiert und dass sie nicht nur die erste, sondern die wesentliche und zugleich ständige Form des Geistes ist, aus der sich andere Formen entwickeln und sich gegenüber der Sprache verselbstständigen, so dass die Sprache zu ihrem Instrument wird. 11.3.2 Karl Löwith: „ Hegel und die Sprache “ (1965) Löwith interpretiert nicht die ganze Philosophie Hegels, sondern nur die Sprachphilosophie. Dabei geht er auch diese nur partiell, aber auf sehr scharfsinnige Weise an. Er übernimmt die anthropologische und semiotische Fragestellung Hegels und interpretiert sie. Für seine Interpretation berücksichtigt er die Paragraphen aus der Enzyklopädie, die sich auf das Zeichen beziehen, sowie die Abschnitte aus der Jenenser Realphilosophie, die der Bedeutung von Arbeit und Sprache in der Lebenswelt des Menschen gewidmet sind. Da für Hegel Sprache und Arbeit „ gleich ursprüngliche Existenzweisen des als Bewusstsein erscheinenden Geistes “ sind (285), würden sie den Menschen charakterisieren und vom Tier abheben, zwar dadurch, dass Arbeit und Sprache „ den Menschen mit seiner Welt durch geistige Abstraktion und Negativität “ vermitteln (286). Der Mensch zeigt sich also hier als das negierende Wesen, das die Welt - so wie sie ihm gegeben ist - negiert, das sich nicht anpasst, sondern die Welt verändert. An dieser Stelle scheint ein kleiner Exkurs angebracht: Manche glauben, erst Marx habe gesagt, die Philosophen hätten die Welt immer nur interpretiert, es komme jedoch darauf an, sie zu verändern. Ähnlich hatte sich aber schon Hegel in den Jenaer Schriften geäußert. Marx hängt - zumindest was seine Anthropologie betrifft - eng von dem Anthropologen Hegel ab. Arbeit bedeutet Negierung der Welt. Sie ist nicht Anpassung an die Welt, sondern Konstruktion einer Welt für den Menschen als biologisches Wesen. Tiere arbeiten nicht, der Mensch aber arbeitet immer. Er macht aus seinem Körper ein Instrument: Hegel spricht von der Hand als dem „ wunderbaren Instrument “ . Außerdem macht er für sich Instrumente, die für ihn arbeiten können, und bereitet sich eine besondere Welt zum Leben im biologischen Sinn. 329 <?page no="344"?> Die Tiere sprechen ebenso wenig: Sie stellen sich nicht die Frage, ob man diese Welt, die uns gegeben ist, zu einer Welt des Denkens machen kann. Die Welt ist für das Tier eine gegenständliche Welt: Sie hat nur Dasein, aber kein Sein. Für den Menschen gibt es Begriffe, die sich in den Sachen realisieren: die Sachen können Gegenstände des Denkens sein. Der Mensch konstruiert sich über die Sprache seine eigene Welt als denkbare Welt, als seine eigene geistige Welt. 11.3.3 Henri Lauener: Die Sprache in der Philosophie Hegels (1962) Lauener betrachtet insbesondere das Verhältnis von Sprache und Denken und glaubt, die Sprache bei Hegel als „ das Denken an sich “ bestimmen zu können. Er bringt die Sprache in einen Zusammenhang mit der Dialektik oder glaubt zumindest, eine solche Analogie feststellen zu können. Wie die Dialektik fehle bei Hegel auch die Sprache als Gegenstand einer besonderen Untersuchung da beide das Ganze beträfen. Im Übrigen sei die Sprache eng mit der Dialektik verbunden; denn diese sei „ das der Sprache immanente Leben “ (7). 11.3.4 Bruno Liebrucks: Sprache und Bewußtsein, Bd. 5 (1970) Liebrucks hatte schon 1950 anlässlich des Philosophenkongresses in Bremen bemerkt: „ Hätte Hegel mehr von der Sprache gewußt, so hätte er sie in die Mitte der Phänomenologie des Geistes gestellt. “ 139 Diese These wurde von Josef Simon in seiner Dissertation vertreten und weiterentwickelt. Liebrucks versucht ebenfalls zu zeigen, dass Hegel über die Sprache mehr meint, als er ausdrücklich sagt. Sicherlich sind die Behauptungen Hegels - im Einzelnen betrachtet - überraschend: „ Der Name ist die Sache; die Sprache ist der Geist; die Sprache ist das Dasein des reinen Selbst; die Sprache ist ursprüngliche Existenzweise des als Bewußtsein erscheinenden Geistes usw. usf. “ 140 Ohne weiteren Kontext bleibt das reichlich dunkel. Einigermaßen verständlich werden Aussagen dieser Art nur aus der jeweils eingenommenen Perspektive. 11.3.5 Theodor Bodammer: Hegels Deutung der Sprache (1969) Bodammers Anliegen lässt sich am besten anhand der „ Zusammenfassenden Schlussbemerkung “ seines Buchs charakterisieren: Blickt man abschließend auf diesen Weg [den Verlauf der Untersuchung] zurück, so könnte man sagen, Hegel habe die Sprache als ein „ Gebildeter “ in dem von ihm selbst gekennzeichneten Sinne des Wortes betrachtet. Denn zum „ Gebildeten “ gehört nach Hegels Verständnis die Fähigkeit, einen Gegenstand unter mannigfaltigen Gesichtspunkten erfassen zu können. In dieser Hinsicht lässt sich von Hegel in der Tat behaupten, daß seine Deutung der Sprache eine große Aspektvielfalt und zudem eine lebendige Reichhaltigkeit an konkreten Beobachtungen aufzuweisen hat. (239) 139 Zit. Nach Bodammer 1969, 5. 140 Vgl. ibid., Teil I, Abschnitt A. 330 <?page no="345"?> Auch Bodammer stellt sich - wie Lauener und ich selbst - die Frage, warum Hegel die Sprache nicht zu einem autonomen Gegenstand der Philosophie gemacht hat. Seine Antwort fällt folgendermaßen aus: Gerade weil Hegel innerhalb der Mannigfaltigkeit seiner Gesichtspunkte doch auch einiges als einheitliche Grundlage der verschiedenen Betrachtungen durch die verschiedenen Zusammenhänge „ hindurchhalte “ , insbesondere die „ Interpretation der Sprache als einer ersten unmittelbaren und natürlichen Erscheinungs- oder Existenzweise des Geistes “ , fehle bei Hegel eine Sprachphilosophie als eigene Disziplin. Die Sprache sei für ihn eine Art von „ Hintergrundphänomen “ : Die Sprache ist für Hegel nicht neben Recht, Staat und Geschichte, sowie schließlich auch der Kunst, Religion und Philosophie selbst eine „ objektive “ Gestalt des Geistes, sondern sie besitzt gewissermaßen nur Hintergrundcharakter. Nicht die Sprache selbst wird „ objektiv “ , sondern in ihr „ objektivieren “ sich geistige Gehalte und nehmen auf diese Weise eine Gestalt an, in der der Geist sich als Selbstbewußtsein realisiert und anschaut. In der Geschichte als dem Bezirk des objektiven Geistes hat sich dementsprechend nicht eigentlich „ Sprache “ niedergeschlagen, sondern Gesetze, Verträge, Staatsverfassungen, sowie ebenfalls Dichtungen, religiöse Dokumente oder auch philosophische Systeme. (ibid.) Die Sprache sei also nie für sich selbst einfach als Sprache, sondern stets für etwas anderes da. Sie wird von dieser Objektivierung des Geistes in der Vernunft der Gemeinschaft und den absoluten Formen der Kultur vorausgesetzt. Bodammer sieht hier einen Zusammenhang mit der „ Unbewusstheit “ der Sprache. Dies soll nicht heißen, dass das Sprechen unbewusst wäre, sondern dass das Bewusstsein nicht die Sprache als solche betrifft. Wenn man denkt, so denkt man schon „ in der Sprache “ . Alles ist schon sprachlich vermittelt, und gerade das wird nicht Gegenstand des Bewusstseins: Es weiß so z. B. nicht ohne weiteres darum, daß das, was es „ Welt “ oder „ Gegenstand “ nennt, selbst immer bereits sprachlich und - in der Sprache unmittelbar hinterlegt und wirksam - zugleich logisch konstituiert ist. (ibid., 240) Wegen ihrer „ Bewusstlosigkeit “ , Unmittelbarkeit und Natürlichkeit könne für Hegel die Sprache kein Thema der Philosophie sein: Das Interesse der Philosophie beginnt vielmehr erst dort, wo die Sphäre der bloßen Natürlichkeit verlassen wird und die Vernunft anfängt, sich selbst bewußt zu realisieren und zu erkennen. Da die Sprache die erste, unmittelbare Erscheinungsweise des Geistes ist und in allen seinen bewußten Gestaltungen als das allgemeine Element, in dem die Gestaltung stattfindet, vorausgesetzt werden muss, kann Hegel zwar in allen systematischen Bedeutungszusammenhängen auf die Sprache zurückgreifen. Im Zentrum seiner Philosophie jedoch steht die Betrachtung des Vernünftigen selbst, das sich in der Logik rein in sich selbst bestimmt, sich zur Natur entfremdet, in der Geschichte sich als Selbstbewußtsein realisiert und sich schließlich in seinen absoluten Gestalten in seinem reinen Wesen anschaut. (ibid.) 331 <?page no="346"?> Interessant und annehmbar an diese Interpretation ist ihr Kern: Gerade weil er die Sprache als Sprache verstand, hat Hegel sie nicht zu einem autonomen Gegenstand der Philosophie gemacht. Die meisten anderen Sprachphilosophen haben dagegen die Sprache gerade nicht als Sprache, sondern stets als etwas anderes betrachtet: als Denken, als Kunst, als praktisches Handeln. Nicht annehmbar an Bodammers Interpretation ist, dass sie die Sprache in ihren sekundären Hypostasen betrachtet und nicht in ihrer eigentlich sprachlichen Funktion: Sprache ist nicht Denken, nicht Religion, nicht Recht usw., sie geht all diesen Formen voraus. Ja, aber als was? Ob diese Interpretation der Hegelschen Sprachphilosophie auch Hegels Interpretation der Sprache entspricht, ist eine ganz andere Frage, eine Frage, die hier noch nicht gestellt werden soll. 11.3.6 Josef Derbolav: „ Hegel und die Sprache “ (1959) Mit Derbolav kommen wir zu den Arbeiten, in denen Hegel negativ interpretiert wird. Derbolav vertritt die Meinung, Hegel habe „ die Sprache nur als Tat der theoretischen Intelligenz begriffen und sich damit ihren praktischen Horizont verdunkelt “ . (78) Indem er sich auf die wissenschaftliche Aussageform festgelegt habe, sei er den übrigen Weisen der Sinnoffenbarung durch Sprache nicht gerecht geworden. Die Thematik seiner Zeit habe er nicht berücksichtigt, insbesondere die Individualität der Sprache nicht. Was Derbolav eigentlich vermisst, ist, dass das Ganze der Sprache nicht thematisiert wird, dass die Sprache Hegel nicht in dem Sinne beschäftigt hat, in dem sie Humboldt beschäftigte. Was die „ Intelligenz “ betrifft, so liegt hier wahrscheinlich eine Verwechslung vor, da Hegel diesen Begriff nicht im üblichen Sinne gebraucht hat - im Sinne eines rationalen Denkens, das einem vorrationalen entgegengesetzt wird − , sondern im Sinne der Fähigkeit des intelligere in all seinen Formen. Dabei werden die Formen, die vorrational und vorlogisch genannt werden, nicht ausgeschlossen. (Übrigens hat auch Benedetto Croce dies falsch interpretiert, weil er den Begriff im engeren Sinne verstanden hat. Er sagt, dass Hegel die Intuition, das Dichterische an der Sprache nicht berücksichtigt habe; cf. supra Fn. 137) 11.3.7 Franz Schmidt, Hegels Philosophie der Sprache (1961) Als Marxist spricht sich Schmidt natürlich gegen den Idealismus aus. Wenn er auch dem System Hegels einen „ maximalen Wirklichkeitsgehalt “ zuerkennt, stellt er dennoch mit Erstaunen fest, dass „ Hegel die Sprache nicht als ein Feld des objektiven Geistes in der Kulturphilosophie, sondern als ein Phänomen des subjektiven Geistes in der Psychologie abhandelt “ . Er meint, dass Hegel gerade nur in der Psychologie der Zeichen über Herder hinausgehe. Das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit habe Hegel nicht erörtert; die Objektivität der Sprache habe er nur unvollkommen geklärt. Er habe weder ein besonderes Interesse für das Verhältnis von Sprache und Gemeinschaft an den Tag gelegt noch für den gerade in seiner Zeit entstehenden Sprachvergleich. 332 <?page no="347"?> Es ist richtig, dass Hegel die Sprache nicht als ein Objekt der Kulturphilosophie behandelt. Die Behauptung, er sei nur in der Psychologie des Zeichens über Herder hinaus gegangen, ist hingegen völlig unannehmbar. Ebenso wenig trifft es zu, dass Hegel für das Problem Sprache und Gemeinschaft und für die vergleichende Sprachwissenschaft kein Interesse gezeigt habe. Zum Verhältnis von Sprache und Gemeinschaft hat sich Hegel, wenn auch nur kurz, schon in der Jenenser Realphilosophie geäußert (cf. infra), und in Bezug auf die vergleichende Sprachwissenschaft war er verhältnismäßig gut informiert. Er pflegte gute Beziehungen zu Bopp und er kannte die Schriften von Humboldt, wenn er auch nur die Abhandlung „ Ueber den Dualis “ (1827) zitiert und Humboldt - wie dieser selbst meinte - nicht als Philosophen anerkennen wollte. Außerdem hat er 1827 eine wichtige Rezension zu Humboldts Abhandlung „ Über die unter dem Namen Bhagavad-Gítá bekannte Episode des Mahá-Bhárata “ veröffentlicht, wo u. a. auf das Problem der Übersetzung eingegangen wird. Das Problem des Verhältnisses von Sprache und Wirklichkeit, so wie Franz Schmidt es aufzufassen scheint, hat Hegel tatsächlich nicht behandelt. Eine solche Fragestellung wäre für Hegel völlig sinnlos gewesen. Wenn man in diesem Zusammenhang die Realität als etwas ansieht, das schon vorsprachlich gegeben ist, dann hat Hegel diese Frage nicht einmal gestellt. Wenn es aber um ein Verhältnis geht, bei dem man die Realität nicht im Voraus als gegeben ansieht, dann geht es in der Enzyklopädie und in der Theorie des Zeichens gerade auch in den von Schmidt zitierten Paragraphen nur um dieses Verhältnis. Denn es geht darum, wie die Realität als Sein durch die Sprache entsteht, wie den Dingen durch die Sprache Realität und Objektivität verliehen wird. 11.3.8 Stellungnahme zu den Interpretationen Was ist das Gemeinsame an diesen verschiedenen Interpretationen? Alle Autoren stellen eine Lücke fest: Obwohl Hegel immer wieder und bei jedem Anlass von der Sprache spricht, hat er die Sprache nie als ein autonomes Objekt der Philosophie betrachtet. Ebenso wenig hat er die Sprache - so wie ich es getan habe - als eine Form der Kultur neben anderen Formen angesehen. Es stellt sich allerdings die Frage, ob es sich dabei nicht um eine scheinbare Lücke handelt. Sagt Hegel nicht gerade dadurch etwas Wesentliches zur Sprache, dass er sie „ ausklammert “ ? Bei Hegel finden wir die Sprache stets als Voraussetzung; die Sprache ist immer für etwas anderes da und nicht für sich selbst. 11.4 Zu Hegels Texten Aus didaktischen Gründen empfiehlt es sich, nicht chronologisch vorzugehen und zuerst das leichter Verständliche, die Sprache im „ System “ zu behandeln und dann erst zum gewissermaßen „ Prozessualen “ überzugehen, zum „ Werdenden Wissen “ , wie Hegel es in seiner Selbstanzeige der Phänomenologie für den Buchhandel genannt hat. Ich werde also zuerst auf die Sprache bei Hegel in jeder Perspektive 333 <?page no="348"?> eingehen und auf die diesen Perspektiven zugrundeliegende Einheit. Darauf folgt eine Gesamtinterpretation einschließlich einer kritischen Diskussion. Schließlich möchte ich versuchen, etwas zur Überwindung der „ störenden Schwierigkeit “ (cf. supra 11.2.5) beizutragen, auf die Hegel bei der Behandlung der Sprache gestoßen ist. 11.4.1 Die Sprache im Bereich des subjektiven Geistes im Allgemeinen Beginnen wir bei der Behandlung der Sprache im Bereich des subjektiven Geistes, wie sie Hegel in der Enzyklopädie vornimmt (vgl. das Schema in 11.2). Im Bereich des subjektiven Geistes erscheint die Sprache in der Enzyklopädie im Abschnitt C, in der Psychologie. Das muss richtig verstanden werden: (a) im Bereich des subjektiven Geistes im Allgemeinen vom Gesichtspunkt der Entstehung der Sprache (des Sprachlichen) aus, d. h. vom Gesichtspunkt ihrer Produktion durch den Geist (Namengebung), des ursprünglichen Akts, aus; (b) im Bereich der Psychologie im Besonderen als die Frage, welche Fähigkeit (Form) dieses Geistes bei dem ursprünglichen Akt der Namengebung tätig ist, und durch welche geistige Mechanismen dies erfolgt; natürlich auch die Frage, „ was “ benannt wird. Nun, die Form des Geistes, die dabei tätig wird, ist die zeichenerzeugende Phantasie, und das, was benannt wird, ist eine allgemeine, durch die Einbildungskraft selbst produzierte Vorstellung. Durch die Namengebung wird den Vorstellungen „ Objektivität “ verliehen; sie werden zu „ Gegenständen “ auf die man die Anschauung zurückführen und über die man nachdenken kann. Dies ist die Bedingung für das Denken im engeren Sinne: Mit den Namen denkt man die Gegenstände selbst - so wie sie in den Namen gegeben sind. Dies ganz liegt ganz auf der Linie von Aristoteles ( πάθηματα τῆς ψυχῆς , μετὰ φαντασίας τινός ; vgl. Bd. 1, Kap. 6; und Harris (fancy; vgl. Bd. 1, Kap. 15.3). In gewisser Hinsicht geht also Hegel tatsächlich nicht über Aristoteles hinaus, jedoch wird bei ihm einerseits die Objektivierung der Vorstellung durch die Namengebung eindeutiger hervorgehoben und andererseits der Mechanismus der Namengebung klarer und ausführlicher dargelegt. 11.4.2 Sprache im Bereich der Seele im Besonderen Im Bereich der Seele, der ersten Determinierung des „ subjektiven Geistes “ , genauer gesagt im Bereich der „ wirkenden Seele “ , geht es zunächst um die biologische Bedingtheit des Menschen, um l ’ esprit dans sa condition charnelle im Sinne von Jacques Maritain. Die Sprache wird hier noch nicht als Sprache behandelt, sondern vielmehr als Stimme unter anderen Ausdrucksformen der Seele wie Lachen und Weinen. Schon diese Form trennt den Menschen als biologisches Wesen vom Tier. In seiner Vorlesung „ Die Vernunft in der Geschichte “ erwähnt Hegel Friedrich Schlegels vollkommenes Urvolk, das zwar in 334 <?page no="349"?> einen Urzustand zurückgefallen, aber deswegen dennoch nicht „ aus „ tierischer Dumpfheit “ entstanden sei (cf. supra, Kap. 6.4). Dies sei richtig meint Hegel, aus tierischer Dumpfheit konnte es sich nicht entwickeln, wohl aber aus menschlicher Dumpfheit. Tierische Menschlichkeit ist etwas ganz anderes als Tierheit. Den Anfang macht der Geist; dieser aber ist erst an sich, er ist natürlicher Geist, dem jedoch der Charakter der Menschlichkeit durchaus aufgeprägt ist. Das Kind hat keine Vernünftigkeit, aber die Realmöglichkeit, vernünftig zu sein. Das Tier dagegen hat keine Möglichkeit, seiner sich bewußt zu werden. Schon in der einfachen Bewegung des Kindes liegt etwas Menschliches; seine erste Bewegung, sein Schreien schon ist etwas ganz anderes als tierisches. Der Mensch war stets eine Intelligenz. . . (Vernunft in der Geschichte = Hegel 1930 [1830], 142) Das bedeutet jedoch nicht, dass der Mensch über alles schon von Anfang an verfügt hätte; Wissenschaft und Kunst, sowie das Bewusstsein der inneren Wirklichkeit der Idee - all das hat er nur mühsam durch höchste Anstrengung errungen. Bei der Behandlung der „ wirkenden Seele “ geht es eigentlich nicht um die Sprache, sondern um den Ausdruck der Seele im Leib, durch das Leibliche. Das Leibliche ist Instrument des Geistes in der Form der Seele. Durch den Körper fühlt sich die Seele selbst, „ gibt sich zu fühlen “ , d. h. drückt sich als Seele aus; Lachen, Weinen, Gebärden usw. sind nicht Manifestationen des Körpers als solchen, sondern der Seele mittels des Körpers. Es ist nicht der Körper, der lacht, weint, „ sich gebärdet “ usw., sondern die Seele, und so werden diese Ausdrücke auch allgemein interpretiert: „ Warum weinst du? “ . „ Weil ich traurig bin. “ „ Traurig sein “ ist kein physiologischer Zustand. In § 411 der Enzyklopädie bemerkt Hegel dazu: Zum menschlichen Ausdruck gehört z. B. die aufrechte Gestalt überhaupt, die Bildung insbesondere der Hand, als des absoluten Werkzeugs, des Mundes, Lachen, Weinen usw. und der über das Ganze ausgegossene geistige Ton, welcher den Körper unmittelbar als Äußerlichkeit einer höheren Natur kundgibt. Dieser Ton ist eine so leichte, unbestimmte und unsagbare Modifikation, weil die Gestalt nach ihrer Äußerlichkeit ein Unmittelbares und Natürliches ist und darum nur ein unbestimmtes und ganz unvollkommenes Zeichen für den Geist sein kann und ihn nicht, wie er für sich selbst als Allgemeines ist, vorzustellen vermag. Für das Tier ist die menschliche Gestalt das Höchste, wie der Geist demselben erscheint. Aber für den Geist ist sie nur die erste Erscheinung desselben und die Sprache sogleich sein vollkommen[er] Ausdruck. (Hegel 1970 [1830], 192) Mit „ für das Tier “ ist nicht gemeint, dass Tiere den Menschen interpretieren würden, gemeint ist vielmehr „ vom Gesichtspunkt des Tierischen “ aus, bei einer rein zoologischen Betrachtung, d. h. wenn man den Menschen als Tier betrachtet, sind diese Ausdrucksformen das Höchste - die Tiere lachen und weinen nicht, viele drücken das Wohlbefinden und den Schmerz überhaupt nicht aus. „ Für den Geist “ , d. h. vom Gesichtspunkt des Geistes aus, sind diese Ausdrucksformen die niedrigste Stufe - erst die Sprache ist vollkommener Ausdruck des Geistes. Dem Satz Herders „ Schon als Tier hat der Mensch Sprache “ (cf. supra 11.2.2) hätte Hegel also nicht zugestimmt, denn zum einen ist der Mensch nie Tier und zum 335 <?page no="350"?> anderen hat er, als Tier betrachtet, keine Sprache, sondern nur Ausdrucksformen der „ Seele “ . Aus demselben Grund hätte Hegel eine Definition des Menschen als animal loquens nicht angenommen; sie wäre für ihn eine contradictio in adiecto gewesen. Ein Wesen kann entweder animal oder loquens sein, nicht beides; denn der Mensch spricht eben nicht als Tier. Im Zusatz zu § 411 beschreibt und analysiert Hegel verschiedene Ausdrucksformen (den „ Ausdruck durch die Mienen und Gebärden “ ), z. B. Kopfnicken, Sich Verbeugen, Kopfschütteln, und bemerkt in diesem Zusammenhang: Übrigens hat der Gebildete ein weniger lebhaftes Mienen- und Gebärdenspiel als der Ungebildete. [. . .] Der Gebildete hat nicht nötig, mit Mienen und Gebärden verschwenderisch zu sein; in der Rede besitzt er das würdigste und geeignetste Mittel, sich auszudrücken, denn die Sprache vermag alle Modifikationen der Vorstellung unmittelbar aufzunehmen und wiederzugeben, weshalb die Alten sogar zu dem Extreme fortgegangen sind, ihre Schauspieler mit Masken vor dem Gesicht auftreten zu lassen und so, mit dieser unbeweglichen Charakterphysiognomie sich begnügend, auf das lebendige Mienenspiel der Darsteller gänzlich zu verzichten. (ibid., 195) Auch hier geht es nicht um die Sprache als Sprache, sondern um die Ausdrucksmöglichkeiten, die die Sprache durch ihre materielle Seite, als Stimme hat. Gleich danach weist Hegel darauf hin, dass gewisse „ Verleiblichungen “ des Geistes sowohl freiwillig oder willkürlich wie auch unwillkürlich sein können (die Wörter bedeuten hier „ bewusst, beabsichtigt “ und „ unbewusst, unbeabsichtigt “ ): Dahin [zu den freiwilligen Verleiblichungen des Geistes] gehört vor allem die menschliche Stimme; indem dieselbe zur Sprache wird, hört sie auf, eine unwillkürliche Äußerung der Seele zu sein. Ebenso wird das Lachen, in der Form des Auslachens, zu etwas mit Freiheit Hervorgebrachtem. Auch das Seufzen ist weniger etwas Ununterlaßbares als vielmehr etwas Willkürliches. (ibid., 196) Natürlich wird die Stimme nicht einfach zur Sprache (sie bleibt Stimme) - sie wird nur zur Stimme in der Sprache, zur sprachlichen Stimme, zur materiellen Erscheinungsform der Sprache. In dieser Form kann sie allerdings als solche (also nicht durch die Inhalte der Sprache) zu einem intentionalen Ausdrucksmittel der Seele werden. Hegel vertritt also die Auffassung, die Sprache gehöre nicht als Sprache zu den Ausdrucksformen der Seele, sondern nur durch ihre materielle Erscheinungsform, als Stimme. Mit den anderen Ausdrucksformen der Seele hat sie die Intentionalität auch in ihrer reinen Materialität gemeinsam. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob man die Sprache, die als Stimme, d. h. als Stufe oder als Ausdruck der Innerlichkeit allein verstanden wird, von der Sprache als Bedeutungsträgerin trennen kann. Meines Erachtens führt Hegel hier keine Trennung, sondern lediglich eine methodische Unterscheidung durch, eine Unterscheidung innerhalb der systematischen Betrachtung verschiedener Stufen der Sprache. Vergleichbares findet sich bei Condillac (vgl. Bd. 1, Kap. 18.2) und bei Schleiermacher (cf. supra Kap. 8). 336 <?page no="351"?> Wichtig ist allerdings, dass diese Form des Ausdrucks der Seele nicht einfach die Form ist, die unter anderem Bedeutung vermittelt, sondern dass die Bedeutung das Definitorische für die Sprache ist. Dies ist immer wieder die Fragestellung bei Hegel: Damit ein x zu einer Klasse Y gehört, genügt es nicht, dass x und y etwas gemeinsam haben, sondern sie müssen das Definitorische gemeinsam haben. Das Definitorische der Sprache bleibt außerhalb der Klasse der Ausdrucksformen der Seele, obwohl die Sprache in materieller Hinsicht als Stimme mit diesen Ausdrucksformen etwas gemein hat: Ausdrucksformen der Seele sind beispielsweise Gestik, Weinen und Lachen und auch Sprache, so dass die Sprache etwas mit ihnen gemein hat, aber eben gerade nicht das Definitorische. Durch das Gemeinsame ist die Sprache eine unter diesen Ausdrucksformen, durch das Definitorische ist sie etwas anderes. (Das ist auch die Fragestellung in Bezug auf das Verhältnis von Mensch und Tier bei Hegel: Der Mensch und das Tier haben etwas Gemeinsames, aber gerade nicht das Definitorische, so dass der Mensch für Hegel kein Tier ist.) Halten wir also fest: (a) Die Sprache gehört zum Bereich des Intentionalen; (b) sie ist nur durch ihre Materialität, ihre materielle Erscheinungsform, Ausdruck der Seele als solcher; (c) sie ist eigentlich Ausdruck des „ Geistes “ im engeren Sinne, als Form des „ subjektiven Geistes “ (cf. supra Schema in 11.2.2). Hier entsteht nun (wie bei jeder „ genetischen “ Fragestellung) eine Schwierigkeit. Die „ Seele “ ist eine Entfaltungsstufe des Geistes, auf der es noch keine Sprache als Sprache gibt, da diese zu einer höheren Stufe gehört: Rationale Reihenfolge der Entfaltungsstufen e) d) c) b) a) Sprache „Ausdrucksformen“ Die Stufe (b) ist, was die Sprache betrifft, nie als solche da, denn die Sprache, die eigentlich zu einer höheren (späteren) Entfaltungsstufe (d) gehört, wirkt auf die ihr vorausgehende Stufe (b) zurück, indem sie die Ausdrucksformen der Seele determiniert, so dass etwa Mienen und Gebärden bereits sprachlich interpretiert werden: Hegel selbst interpretiert das Kopfnicken als „ Bejahung “ , das Kopfschütteln als „ Verneinung “ . Die Sprache ist eine Dimension des menschlichen Daseins, durch die die ihr rational vorausgehenden Entfaltungsstufen modifiziert werden. Wir wollen diese Schwierigkeit zunächst ausklammern. 337 <?page no="352"?> 11.4.3 Die Sprache als Sprache Die Sprache als Sprache (Zeichen und Name) erscheint bei Hegel erst im Bereich des Geistes im engeren Sinne − also bei der dritten Stufe des „ subjektiven Geistes “ - und zwar bei der ersten Stufe desselben, beim „ theoretischen Geist “ (vgl. Enzyklopädie, §§ 440 ‒ 465). Dieser ist zugleich Wissen und Fähigkeit zu wissen, bzw. die entsprechende Tätigkeit, das Intelligibile (bzw. Intelligendum) und das Intelligere. Als Fähigkeit des Intelligere, des Verstehens, ist der Geist Intelligenz. Bei der „ Intelligenz “ unterscheidet Hegel wiederum drei Stufen: (1) Anschauung, die auf ein unmittelbares Objekt bezogene Intelligenz und das ihr entsprechende „ stoffartige “ Wissen; (2) Vorstellung, die auf einen in sich reflektierten, erinnerten Gegenstand bezogene, diesen Gegenstand auf ein Allgemeines beziehende Intelligenz; (3) Denken, die das konkret Allgemeine der Gegenstände begreifende Intelligenz - die Intelligenz, die dem in der Vorstellung als ein So-Sein Erkannten Objektivität verleiht. Die Sprache wird von Hegel der zweiten Stufe zugeordnet, allerdings im oben definierten Sinn, nicht als bloße „ Vorstellung eines Gegenstandes “ . Bei der Vorstellung unterscheidet Hegel wiederum drei Stufen: (a) Erinnerung; (b) Einbildungskraft; (c) Gedächtnis. - Die Erinnerung ist das „ unwillkürliche Hervorrufen eines Inhalt [. . .] welcher bereits der unsrige ist “ (§ 451) - zuerst in Anwesenheit einer Anschauung, dann als „ Wiedererkennen “ . - Die Einbildungskraft ist die sich einen ihr eigentümlichen Inhalt erarbeitende Vorstellung; die verallgemeinernde, allgemeine Vorstellungen schaffende Erinnerung. - Das Gedächtnis kann nicht ohne Bezug auf die Sprache definiert werden. Die Sprache als „ Zeichen “ wird schließlich von Hegel der Einbildungskraft zugeordnet (vgl. μετὰ φαντασίας τινός ; νόησις τῶν αδιαιρέτων bei Aristoteles). Die Erinnerung hat noch keine Zeichen, nur Bilder, die der Anschauung entsprechen. Sie operiert nicht mit den Bildern, sie erkennt sie nur. Die Einbildungskraft hingegen operiert aktiv mit den Bildern, und zwar - erstens reproduktiv, als Bilder reproduzierende Einbildungskraft; - zweitens als Phantasie, als symbolisierende oder dichtende Einbildungskraft; als freies Verknüpfen und Subsumieren von Bildern unter einen von ihr bestimmten Inhalt; - drittens als „ Zeichen machende Phantasie “ . 338 <?page no="353"?> 11.4.4 Sprache als „ Zeichen machende Phantasie “ Die „ Sprache als Zeichen “ ist das Produkt der „ Zeichen machenden Phantasie “ und befindet sich für Hegel damit in unmittelbarer Nachbarschaft zur Kunst (ein Faktum, das Croce nicht gesehen hat). Die Kunst ist nämlich in gewisser Hinsicht das Produkt einer Form der Einbildungskraft, die der zeichenbildenden Phantasie unmittelbar vorausgeht - der „ symbolisierenden, allegorisierenden oder dichtenden “ Einbildungskraft, die Hegel übrigens manchmal einfach „ Phantasie “ nennt. In beiden Fällen handelt es sich um „ produktive Einbildungskraft “ . Allerdings gehört die Kunst nur durch ihre „ formale “ , d. h. materielle Seite dieser Form der Einbildungskraft an; denn der Inhalt der Kunst ist die „ Idee “ selbst: Diese [die produktive Einbildungskraft] bildet das Formelle der Kunst; denn die Kunst stellt das wahrhaft Allgemeine oder die Idee in der Form des sinnlichen Daseins, des Bildes dar. (§ 456, Zusatz, = Hegel 1970 [1830], 267) Dies macht einen wichtigen Unterschied zwischen Sprache und Kunst aus, der uns noch beschäftigen wird. Zunächst aber zum Moment der Entstehung des „ Zeichens “ : Die Intelligenz ist in der Phantasie zur Selbstanschauung in ihr soweit vollendet, als ihr aus ihr selbst genommener Gehalt bildliche Existenz hat. Dies Gebilde ihres Selbstanschauens ist subjektiv; das Moment des Seienden fehlt noch. Aber in dessen Einheit des inneren Gehalts und des Stoffes ist die Intelligenz ebenso zur identischen Beziehung auf sich als Unmittelbarkeit an sich zurückgekehrt. Wie sie als Vernunft davon ausgeht, sich das in sich gefundene Unmittelbare anzueignen [. . .], d. i. es als Allgemeines zu bestimmen, so ist ihr Tun als Vernunft (§ 438) von dem nunmehrigen Punkte aus [dies,] das in ihr zur konkreten Selbstanschauung Vollendete als Seiendes zu bestimmen, d. h. sich selbst zum Sein, zur Sache zu machen. In dieser Bestimmung tätig, ist sie sich äußernd, Anschauung produzierend, Zeichen machende Phantasie. (§ 457 = ibid., 267 f.) Nachdem Hegel die Phantasie als diejenige Instanz bestimmt hat, die Gebilde hervorbringt, die als Vereinigung des Inneren des Geistes und des Anschaulichen gelten können, macht er noch auf einen besonderen Umstand aufmerksam: Es ist noch dies besonders herauszuheben, daß, indem die Phantasie den inneren Gehalt zum Bild und zur Anschauung bringt und dies ausgedrückt wird, daß sie denselben als seiend bestimmt, der Ausdruck auch nicht auffallend scheinen muß, daß die Intelligenz sich seiend, sich zur Sache mache; denn ihr Gehalt ist sie selbst, und ebenso die ihm von ihr gegebene Bestimmung. Das von der Phantasie produzierte Bild ist nur subjektiv anschaulich; im Zeichen fügt sie eigentliche Anschaulichkeit hinzu; im mechanischen Gedächtnis vollendet sie diese Form des Seins an ihr. (ibid.) Dies muss richtig verstanden werden, was leicht und schwierig zugleich ist. Es ist leicht, weil es völlig klar ist, worum es geht. Es ist schwierig, weil wir bei der Bestimmung dieses Urmoments der Sprache, wie bei der Betrachtung des Sprachlichen überhaupt, immer schon mit der Sprache rechnen müssen. Hier besteht die Schwierigkeit darin, dass man zur Verdeutlichung des Mechanismus der Ent- 339 <?page no="354"?> stehung der Sprache die durch die Einbildungskraft geschaffenen Bilder bezeichnen muss, dass sie jedoch gleichzeitig als noch nicht bezeichnet verstanden werden müssen. Ich werde deshalb mit Zeichen in Klammern operieren: Mit (x) wird ein Bild bezeichnet, dass bei der Entstehung des Zeichens x eben mit x bezeichnet werden wird. So habe ich z. B. das Bild eines (Waldes) hervorgebracht. Dieses Bild befindet sich auf der subjektiven Seite des Bewusstseins: (1) (Wald) Diese Bild „ ist “ noch nicht für mich, denn es befindet sich nicht vor mir als etwas das da ist, sondern dieses Bild bin ich selbst, der ich es hervorgebracht habe, denn ich bin auch das, was ich hervorbringe. Wenn ich nun dieses Bild durch das Zeichen Wald bezeichne, wird es zu einem Gegenstand, zu einer „ Sache “ , da es zur objektiven Seite des Bewusstseins übergeht: (2) (Wald) Wald Jetzt bin ich das Zeichen, und das Bezeichnete ist da, vor mir, auf der objektiven Seite meines Bewusstseins. In dieser Hinsicht verleiht das Zeichen den Dingen „ Objektivität “ : Erst jetzt sind die Vorstellungen zu „ Sachen “ geworden. Diese „ Sache “ Wald, die ich jetzt, da ich sie nenne, vor mir habe, war ich selbst als namenlose Vorstellung - d. h., dass ich mich zu meinem Gegenstand, zu einer „ Sache “ gemacht habe. Es geht also bei der Namengebung nicht nur um ein „ Festhalten “ , eine Fixierung von Vorstellungen, sondern um deren Projektion in die Objektivität und damit in die „ Welt “ . Dies gilt für jede Benennung, denn jedes Mal setze ich virtuelle Bedeutungen vor mich, in den Bereich des Gegenständlichen. Es ist dies ein unendlicher Prozess, der darin besteht, dass die Sprache, indem sie funktioniert, die Objektivität der „ Dinge “ ausmacht, das rein Subjektive zum „ Dasein “ bringt. Nun wird man einwenden, dass es doch „ Wälder “ als Gegenstände der Erfahrung gibt und dass wir mit dem Zeichen Wald gerade solche Dinge wie die Wälder unserer Erfahrung bezeichnen. Ein solcher Einwand ist völlig verständlich, aber bei genauerem Hinsehen zugleich völlig unbegründet. Denn: Erstens gibt es „ Wälder “ als „ Wälder “ in der Erfahrung nur deshalb, weil es in der Sprache das Zeichen Wald gibt. Hätten wir in unserer Sprache eine andere 340 <?page no="355"?> Abgrenzung der Bedeutungen - z. B. eine solche, die Wälder, Wiesen, Gärten usw., jede Art von pflanzlicher Vielfalt, in eins zusammenfasst, so gäbe es auch keine Wälder. Genauer, es gäbe sie sicherlich als partikularisierenden Aspekt dieses Einen, jedoch nicht als „ Wälder “ ; denn das sind sie nur durch Zurückführung auf ein Allgemeines, das in der Sprache geben ist. Zweitens gibt es Dinge „ als solche “ , d. h. als eben diese, gleichgütig ob Wälder oder irgendetwas anderes, überhaupt nicht in der Anschauung. In der Anschauung gibt es nur dieses oder jenes Ding in seiner totalen Bestimmtheit, wohingegen es sich beim „ Ein-solches-Sein “ (Ein-solches und nichts anderes Sein) um etwas Allgemeines handelt, das in der sinnlichen Erfahrung überhaupt nicht festgestellt werden kann. Denn dabei geht es um eine unendliche Möglichkeit, und diese unendliche Möglichkeit ist gerade die Bedeutung des Zeichens Wald. Drittens ist die Existenz in der sogenannten „ Erfahrung “ nicht etwas Primäres, sondern etwas unter Rekurs auf die Sprache Abgeleitetes. Das heißt, dass die „ Existenz “ von etwas durch eine Entsprechung zur Sprache festgestellt wird. Man sucht in der sinnlichen Erfahrung etwas, das einer Bedeutung entspricht, und dabei kann man feststellen, dass etwas „ existiert “ (d. h. dass eine Anschauung auf eine Vorstellung zurückführbar ist), dass es nicht existiert, nicht mehr existiert oder noch nicht existiert. Viertens werden die „ namenlosen “ Dinge der Welt der sinnlichen Erfahrung überhaupt nicht als solche benannt. Benannt werden Komplexe von Merkmalen. Die Bezeichnung des Außersprachlichen (der jeweiligen Anschauung) ist eine Zurückführung auf diese Komplexe. Das zeigt sich daran, dass man bei der Bezeichnung der jeweiligen Anschauung Schwierigkeiten haben kann, dass man sich fragt, ob dies da ein x oder ein y ist, d. h. ob es eher der Bedeutung von x oder eher derjenigen von y entspricht. Dies ist es, was Hegel meint, wenn er sagt, dass den Vorstellungen durch die Benennung das „ Sein “ verliehen wird, dass sie in die Objektivität projiziert werden. Durch die Benennung werden sie zu „ Sachen “ , die man in der sinnlichen Erfahrung suchen und oft auch auffinden kann - oft jedoch auch nicht. Fünftens ist es für die Sprache völlig gleichgültig, ob die benannten Dinge in der sinnlichen Erfahrung erscheinen oder nicht. Zentauren sind, sprachlich gesehen, nicht weniger „ objektiv “ als Pferde. Man kann von Zentauren sprechen, man kann sie beschreiben, charakterisieren, klassifizieren. Man kann u. a. auch sagen, dass sie nicht existieren, und zwar gerade deshalb, weil man weiß, was sie sind. Wenn es den Ausdruck nicht gäbe, könnte man es nicht. Man ‚ benennt ‘ das, was die Phantasie als Vorstellung erzeugt, unabhängig davon, wie es erzeugt worden ist - ob aufgrund sinnlicher Erfahrung, ob aufgrund von Kombinationen sinnlicher Erfahrungen, die in dieser Form in der „ Welt “ nicht zusammen vorkommen oder durch Negierung der sinnlichen Erfahrung usw. usf., denn die Phantasie als solche zeigt weder Interesse für die natürliche Existenz noch für die Wahrheit der Dinge. Hegel bemerkt dazu: 341 <?page no="356"?> Als die Tätigkeit dieser Einigung [scil. des Eigenen oder Inneren des Geistes und des Anschaulichen] ist die Phantasie Vernunft, aber die formelle Vernunft nur, insofern der Gehalt der Phantasie als solcher gleichgültig ist, die Vernunft aber als solche auch den Inhalt zur Wahrheit bestimmt. (ibid., 268) In einfachen Worten: Man benennt seine eigenen Vorstellungen und lässt die Frage offen, ob diese mit einem x zusammenfallen oder nicht. Das bedeutet wiederum nicht, dass jeder von uns die „ Sachen “ erschafft “ ; dass sie an sich nicht existieren. Es bedeutet vielmehr, dass sie als diese oder jene Dinge für den Menschen sprachlich vermittelt sind. Man könnte in diesem Zusammenhang Existenz (Dasein) und Sein unterscheiden. Die Existenz, ein „ Draußen Sein “ , tritt in diesem Zusammenhang zweimal auf: vor und nach dem Sein. So ist unser Wald da, er „ existiert “ , insofern er in der Anschauung als etwas Wahrgenommenes erscheint. Er ist dann aber nicht als Wald da, sondern nur als diese Anschauung. Die Sprache verleiht nun diesem Wald ein Sein, grenzt ihn ab, durch die Zurückführung auf eine bestimmte Vorstellung. Nun ist auch die Existenz eine andere: Der Wald existiert, ist da als Wald, als eine bestimmte Form des Seins. Nun bedeutet Existenz „ Entsprechung von Vorstellung und Anschauung “ , von „ mentalem Objekt “ und „ Objekt der sinnlichen Erfahrung “ . Zwei Ideen sind in diesem Zusammenhang noch besonders wichtig: (1) Die Unterscheidung zwischen Symbol und Zeichen; (2) die Feststellung des negativen Charakters des Zeichens, genauer des Bezeichnenden, des Signifikanten. Beides hängt miteinander zusammen. Ad (1): Die Unterscheidung zwischen Symbol und Zeichen betrifft das Verhältnis von „ Anschauung “ und „ Vorstellung “ , cum grano salis von Signifikant und Signifikat. Beim Symbol haben Vorstellung und Anschauung einen ähnlichen Inhalt; die Anschauung weist auf die Vorstellung hin, weil sie der Vorstellung (allerdings in einem von der Intelligenz bestimmten Sinn) „ ähnlich “ ist. Es handelt sich um eine Art Gleichsetzung im Hinblick auf einen bestimmten Aspekt - so z. B. von Waage und Gerechtigkeit im Hinblick auf das Gleichgewicht, die Unparteilichkeit. Beim Zeichen hingegen haben Vorstellung und Anschauung an sich nichts Gemeinsames (d. h. es wird keine Gemeinsamkeit angenommen). Das Verhältnis von Anschauung und Vorstellung ist in diesem Fall eine (von der Intelligenz bestimmte) völlig freie Verbindung. Das bedeutet für Hegel, dass die „ Zeichen machende Phantasie “ eine freiere ist als die symbolisierende: Als bezeichnend beweist daher die Intelligenz eine freiere Herrschaft im Gebrauch der Anschauung denn als symbolisierend. (ibid., 270; vgl. ebenfalls Zusatz zu § 457, 269) Ad (2) Ich habe von der „ Feststellung “ des negativen Charakters des Zeichens (Signifikanten) gesprochen, weil es sich dabei um etwas Offensichtliches handelt, das allerdings niemand so klar gesehen und formuliert hat wie Hegel. Es geht darum, dass das Zeichen (das Bezeichnende) nicht als das gilt, was es ist. Ein Buchstabe ist aus Kreide oder Tinte, gilt aber nicht als Kreide- oder Tintenspur, 342 <?page no="357"?> sondern als Vertretung dessen, was er bedeutet. Man sagt sogar, dass ist ein A, ein B usw. Damit wird das eigene Sein des Buchstaben aufgehoben; darin besteht gerade sein Zweck: In dieser von der Intelligenz ausgehenden Einheit selbständiger Vorstellung und einer Anschauung ist die Materie der letzteren zunächst wohl ein Aufgenommenes, etwas Unmittelbares oder Gegebenes [. . .]. Die Anschauung gilt aber in dieser Identität nicht als positiv und sich selbst, sondern etwas anderes vorstellend. Sie ist ein Bild, das eine selbständige Vorstellung der Intelligenz als Seele in sich empfangen hat, seine Bedeutung. Diese Anschauung ist das Zeichen. (§ 458 = ibid., 270) Die Anschauung, als unmittelbar zunächst ein Gegebenes und Räumliches, erhält, insofern sie zu einem Zeichen gebraucht wird, die wesentliche Bestimmung, nur als aufgehobene zu sein. Die Intelligenz ist diese ihre Negativität; so ist die wahrhafte Gestalt der Anschauung, die ein Zeichen ist, ein Dasein in der Zeit, ‒ ein Verschwinden des Daseins, indem es ist, und nach seiner weiteren äußerlichen psychischen Bestimmtheit ein von der Intelligenz aus ihrer (anthropologischen) Natürlichkeit hervorgehendes Gesetztsein. . . (§ 459 = ibid., 271) (Nebenbei bemerkt: Diese Feststellung scheint mir auch in anderer Hinsicht wichtig. Ähnlich wie mit dem Zeichen verhält es sich nämlich auch mit der Sprache. Auch sie ist nur ein Provisorium, etwas, das überwunden werden muss.) Exkurs: Schließlich möchte ich nochmals auf meine Behauptung zurückkommen, Hegel gehe hier im Grunde nicht über Aristoteles hinaus, auch was das Verhältnis von Phantasie und Wahrheit betrifft (cf. supra). Dies zeigt sich noch deutlichen in § 459, in der Kritik der Hieroglyphenschrift und der Möglichkeit einer characteristica universalis (vgl. Bd. 1, Kap. 11), bei der es sich um den Versuch handelt, die Vorstellung in ihre Bestandteile zu zerlegen. Der Name, betont Hegel, ist keine Definition: Seitdem man vergessen hat, was Namen als solche sind, nämlich für sich sinnlose Äußerlichkeiten, die erst als Zeichen eine Bedeutung haben, seit man statt eigentlicher Namen den Ausdruck einer Art von Definition fordert [. . .] ändert sich die Benennung, d. i. nur die Zusammensetzung aus Zeichen ihrer Gattungsbestimmung oder anderer charakteristisch sein sollender Eigenschaften, nach der Verschiedenheit der Ansicht, die man von der Gattung oder sonst einer spezifisch sein sollenden Eigenschaft faßt. (§ 459 = ibid., 274) Der „ Umstand der analytischen Bezeichnungen der Vorstellungen bei der hieroglyphischen Schrift “ habe Leibniz dazu verführt, diese für besser als die Buchstabenschrift zu halten. Dies widerspreche jedoch dem Grundbedürfnis der Sprache: . . .für die unmittelbare Vorstellung, welche, so reich ihr Inhalt in sich gefaßt werden möge, für den Geist im Namen einfach ist, auch ein einfaches unmittelbares Zeichen zu haben, das als ein Sein für sich nichts zu denken gibt, nur die Bestimmung hat, die einfache Vorstellung als solche zu bedeuten und sinnlich vorzustellen. (ibid., 275) 343 <?page no="358"?> Das entspricht ziemlich genau den Ausführungen Aristoteles ’ in Peri hermeneias (De interpretatione) zur Bedeutung als etwas Ungeteiltem (vgl. Bd. 1 Kap. 6.2.4 und 6.3.5). Da die ältere Geschichte der Sprachphilosophie nicht besonders gut bekannt ist, wurde diese Übereinstimmung bisher nicht hervorgehoben. Diese Analogie hat jedoch Grenzen. Auch für Aristoteles werden nicht die Gegenstände benannt, sondern die Inhalte des Bewusstseins. Diese jedoch sind unmittelbare Eindrücke ( παθήματα ) und sie werden mit Beteiligung der Phantasie ( μετὰ φαντσίας τινός ) gerechtfertigt, so dass auch ein Name wie Bockhirsch verstanden werden kann. Aristoteles ist jedoch überzeugt, dass die Species außersprachlich gegeben sind (oder zumindest die meisten). Das hängt einerseits damit zusammen, dass Aristoteles „ ernsthaft “ nur mit einer einzigen Sprache rechnet, mit der seinen, andererseits damit, dass er auch die Fälle einschließt, in der die Sprache bereits als (volkstümliche) Fachsprache, als vorwissenschaftliche Terminologie auftritt. Keinesfalls jedoch hätte er der Auffassung zugestimmt, dass einfache Wörter für den Sprecher „ zusammengesetzte “ Bedeutungen enthalten, wie etwa Stute „ Pferd “ + „ weiblich “ oder Eis „ Wasser “ + „ gefroren “ . 11.4.5 Die Sprache im Rahmen der verschiedenen Stufen der „ Vorstellung “ : Erinnerung, Einbildungskraft, Gedächtnis Auf der Stufe der Einbildungskraft werden die Namen nur erzeugt (Hegel ist vom Zeichen zum Namen übergegangen). Die Intelligenz hat sich „ veräußerlicht “ in der Form der allgemeinen Vorstellungen. Die weitere Stufe der Intelligenz als Vorstellung ist das Gedächtnis. Auf dieser Stufe werden die Vorstellungen vollständig durch Namen ersetzt, indem die Verknüpfung von Zeichen (Signifikant) und Bedeutung, die den Namen ausmacht, selbst verallgemeinert wird. Erst jetzt ist das Andere, die „ Welt “ , d. h. die Intelligenz als das Andere, völlig zu Sprache geworden. Die Namen fallen nun mit den Dingen zusammen. Das geht u. a. aus der Definition des Gedächtnisses hervor: Der Name als Verknüpfung der von der Intelligenz produzierten Anschauung und ihrer Bedeutung ist zunächst eine einzelne vorübergehende Produktion, und die Verknüpfung der Vorstellung als eines Inneren mit der Anschauung als einem Äußerlichen ist selbst äußerlich. Die Erinnerung dieser Äußerlichkeit ist das Gedächtnis. (§ 460 = ibid., 277) Erinnerung bedeutet hier „ Er-innerung “ , „ Verinnerlichung “ . Das Gedächtnis wiederholt mit den Namen all das, was die Erinnerung mit der unmittelbaren Anschauung getan hat. Es geht dabei auch um ein „ Wiedererkennen “ - „ ah, das da ist jenes “ - jedoch um ein Wiedererkennen der „ Dinge “ in den Namen: Die Intelligenz durchläuft als Gedächtnis gegen die Anschauung des Worts dieselben Tätigkeiten des Erinnerns wie als Vorstellung überhaupt gegen die erste unmittelbare Anschauung [. . .]. Jene Verknüpfung, die das Zeichen ist, zu dem Ihrigen machend, erhebt sie durch diese Erinnerung die einzelne Verknüpfung zu einer allgemeinen, d. i. bleibenden Verknüpfung, in welcher Name und Bedeutung objektiv für sie verbunden sind, und macht die Anschauung, welche der Name 344 <?page no="359"?> zunächst ist, zu einer Vorstellung, so daß der Inhalt, die Bedeutung, und das Zeichen identifiziert, eine Vorstellung sind und das Vorstellen in seiner Innerlichkeit konkret, der Inhalt als dessen Dasein ist; ‒ das Namen behaltende Gedächtnis. (§ 461 = ibid., 277 f.) Dabei stehen nicht etwa die Namen für die Dinge, sondern sie sind jetzt die Dinge; denn die Dinge selbst sind Bedeutungen, keine Bilder: Der Name ist so die Sache, wie sie im Reiche der Vorstellung vorhanden ist und Gültigkeit hat. Das reproduzierende Gedächtnis hat und erkennt im Namen die Sache und mit der Sache den Namen, ohne Anschauung und Bild. [. . .] Bei dem Namen Löwe bedürfen wir weder der Anschauung eines solchen Tieres noch auch selbst des Bildes, sondern der Name, indem wir ihn verstehen, ist die bildlose einfache Vorstellung. Es ist in Namen, daß wir denken. (§ 462 = ibid., 278) Hegel bestreitet die Möglichkeit des Denkens ohne Sprache (etwa in Bildern) und gleichzeitig wendet er sich gegen die Überbewertung des Ineffabile, des Unaussprechlichen: Die wahrhaft, konkrete Negativität des Sprachzeichens ist [. . .] die Intelligenz, weil durch dieselbe jenes aus einem Äußerlichen in ein Innerliches verändert und in dieser umgestalteten Form aufbewahrt wird. So werden die Worte zu einem vom Gedanken belebten Dasein. Dies Dasein ist unseren Gedanken absolut notwendig. Wir wissen von unseren Gedanken nur dann, haben nur dann bestimmte, wirkliche Gedanken, wenn wir ihnen die Form der Gegenständlichkeit, des Unterschiedenseins von unserer Innerlichkeit, also die Gestalt der Äußerlichkeit geben, und zwar einer solchen Äußerlichkeit, die zugleich das Gepräge der höchsten Innerlichkeit trägt. Ein so innerliches Äußerliches ist allein der artikulierte Ton, das Wort. Ohne Worte denken zu wollen [. . .] erscheint daher als eine Unvernunft [. . .] Es ist aber auch lächerlich, das Gebundenseins des Gedanken an das Wort für einen Mangel des ersteren und für ein Unglück anzusehen; denn obgleich man gewöhnlich meint, das Unaussprechliche sei gerade das Vortrefflichste, so hat diese von der Eitelkeit gehegte Meinung doch gar keinen Grund, da das Unaussprechliche in Wahrheit nur etwas Trübes, Gärendes ist, das erst, wenn es zu Worte kommen vermag, Klarheit gewinnt. (§ 462, Zusatz = ibid., 280) Das Wesentliche ist bereits in der Jenenser Realphilosophie an den oben angegebenen Stellen zu finden: - Das „ Sein “ der Dinge vor und nach der Sprache: Die „ Dinge “ verfügen vor der Sprache über keine Universalität; kein „ Sein “ ; sie sind nur Anschauung, nur „ dies da “ und „ das da “ , kein „ etwas “ . - Die Überwindung des Körperlichen, des Tierischen: Auch die allgemeinen Vorstellungen sind immer noch mit der Anschauung verbunden. Dieser Zustand wird erst im Namen überwunden; das Bild verschwindet und ist nur noch Name, frei geschaffener Name, der in seiner Materialität nur ein negatives Dasein hat. - Die Inbesitznahme der „ Welt “ : Jetzt, da ich über Namen verfüge, ist die Welt in mir selbst als meine Welt: 345 <?page no="360"?> Der erste Akt, wodurch Adam seine Herrschaft über die Tiere konstituiert hat, ist, daß er ihnen Namen gab, d. h. als Seiende vernichtete und sie zu für sich Ideellen machte. (Hegel 1932 [1803/ 04], 211) In den oben behandelten Paragraphen der Enzyklopädie wird das zum Teil genauer ausgeführt, aber nicht wesentlich modifiziert: Hegels Philosophie ist - wie Minerva aus dem Kopf des Jupiter - auf einmal entstanden. Man sieht nun klarer, warum Hegel in der Enzyklopädie dem Zeichen einen so hohen Wert beimisst: Das Zeichen muss muß für etwas Großes erklärt werden. Wenn die Intelligenz etwas bezeichnet hat, so ist sie mit dem Inhalte der Anschauung fertig geworden und hat dem sinnlichen Stoff eine ihm fremde Bedeutung zur Seele gegeben. (Hegel 1970 [1830], § 457, 269) In der Namengebung manifestiert sich das „ Erwachen des Geistes “ ; die erste Welt des Geistes ist „ das Reich der Namen “ , die erste Stufe des „ wahren Seins des Geistes als Geist überhaupt “ ; sie ist „ die erste Schöpferkraft, die der Geist ausübt “ . Und dazu gehört auch der willkürliche Charakter des Zeichens. Das Zeichen ist auf der Stufe des Gedächtnisses „ aufgehoben “ ; der Name ist „ notwendig “ : Dies ist ein Löwe, ein Haus, ein Baum und könnte nichts anderes sein (vgl. Jenenser Realphilosophie II = Hegel 1967 [1805/ 06], 182 ‒ 184). 11.5 Rekapitulation: Hat Hegel alle Aspekte der Sprache behandelt? Hat Hegel in seinen hier mitgeteilten und kommentierten Schriften die Sprache vollständig behandelt; hat er das Wesen der Sprache bestimmt? Er selbst scheint dieser Meinung zu sein: Gewöhnlich wird das Zeichen und die Sprache irgendwo als Anhang in der Psychologie oder auch in der Logik eingeschoben, ohne daß an ihre Notwendigkeit und Zusammenhang in dem Systeme der Thätigkeit der Intelligenz gedacht würde. Die wahrhafte Stelle des Zeichens ist die aufgezeigte. . . (Hegel 1970 [1830], § 458, 270) Andererseits bemerkt er aber, dass es sich dabei nur um einen Aspekt der Sprache handelt, um die Namengebung, um „ die Sprache als die namengebende Kraft “ (Hegel 1967 [1805/ 06], 185). Die Sprache ist aber auch etwas anderes; sie ist auch Stimme (cf. supra 11.4.2) und sie ist ebenfalls „ Grammatik “ . Hegel selbst spricht von der Sprache als einem „ System “ : Der für die bestimmten Vorstellungen sich weiter artikulierende Ton, die Rede, und ihr System, die Sprache, gibt den Empfindungen, Anschauungen, Vorstellungen ein zweites, höheres als ihr unmittelbares Dasein, überhaupt eine Existenz, die im Reiche des Vorstellens gilt. (§ 459, ibid., 271) 346 <?page no="361"?> Hegel neigt also dazu, die Grammatik als „ Werk des Verstandes “ zu interpretieren und Namengebung und Grammatik voneinander zu trennen; diese wird allerdings nur auf der Stufe des Instinkts, des „ logischen Instinkts “ angesiedelt: Das Formelle der Sprache aber ist das Werk des Verstandes, der seine Kategorien in sie einbildet; dieser logische Instinkt bringt das Grammatische derselben hervor. (ibid., 272) Der Verstand befindet sich nicht mehr im Bereich der Vorstellung; er stellt vielmehr die erste Stufe des Denkens dar (cf. supra 11.4.3). Er erkennt Kategorien, Gattungen, Arten, all dies ist für Hegel auf der Stufe der Namengebung noch nicht vorhanden. Dort gibt es nur einfache, in sich abgeschlossene Namen, die sich nicht aufeinander beziehen, für die das Ich Ordnungsprinzip ist. Ein Kompositum wie Apfelbaum würde Hegel schon dem Bereich des „ Verstandes “ zuordnen. Die Sprache als Stimme behandelt Hegel ebenso wenig wie die Sprache unter dem Gesichtspunk der Grammatik. Schließlich kann auch das, was Hegel zur Namengebung ausführt, nicht völlig befriedigen: (a) Einerseits, weil der Übergang vom Zeichen (Signifikanten) zum Namen und das Verhältnis zwischen den beiden unklar bleiben. Das Zeichen ist der materielle Zeichenträger (im modernen Verständnis), der bei Hegel auch nicht-sprachlicher Natur sein kann, der Name ist die Verknüpfung von Zeichen und „ Bedeutung “ . Das alles entspricht ziemlich genau der Behandlung des Zeichens bei Aristoteles. Jedoch wird bei Hegel wie bei Aristoteles das Verhältnis von σημεῖον und ὄνομα (als Bestandteil der Sprache) nicht weiter bestimmt (vgl. Bd. 1, Kap. 6.2). (b) Was nun den Namen als Verknüpfung von Anschauung und Bedeutung betrifft, so fragt man sich (cf. supra 11.4.4), wohin die Bedeutung gehört: zum Namen? Zur Sprache? In der Jenenser Realphilosophie II wird die Bedeutung zwar als das „ Innere des Namens “ dargestellt; was damit genau gemeint ist, wird jedoch nicht weiter erklärt (ibid., 185). Aufgrund von Hegels Ausführungen in der Enzyklopädie könnte man - da dort die Phasen des Prozesses der Entstehung der Sprache getrennt dargestellt werden - zu der Auffassung gelangen, die zu benennenden Vorstellungen seien schon vor der Sprache vorhanden; die Sprache sei lediglich Namengebung, das Schaffen willkürlicher Zeichen und deren Verknüpfung mit den bereits „ fertigen “ Vorstellungen. In dieser Hinsicht ist z. B. auch Karl Löwith bei seiner Interpretation Hegels in die Irre gegangen (vgl. Löwith 1965, 286 ff. und unten 11.6). 347 <?page no="362"?> 11.6 Weitere Aspekte, die nur erwähnt aber nicht behandelt werden können - In der Jenenser Realphilosophie, Bd. 1: Hegels erste Philosophie des Geistes von 1803/ 04 finden sich in Abschnitt E „ Der Volksgeist “ einige Bemerkungen zur Sprache als Einzelsprache. Es sollen hier wenigstens zwei Passus aus diesem Abschnitt mitgeteilt werden: Die vorhergehenden Potenzen [i. e. die Sprache im Allgemeinen betreffenden] sind überhaupt nur ideale; sie sind erst existierend in einem Volke; die Sprache ist nur als Sprache eines Volkes, ebenso Verstand und Vernunft. Nur als Werk eines Volkes ist die Sprache die ideelle Existenz des Geistes, in welcher er sich ausspricht, was er seinem Wesen [nach] und in seinem Sein ist. (235) Die Sprache wird also auf diese Weise in einem Volk rekonstruiert, daß sie als das ideelle Ver[nichten] des Äußern selbst als ein Äußeres ist, das vernichtet, aufgehoben werden muß, um zur bedeutenden Sprache zu werden, zu dem, was sie an sich, ihrem Begriffe nach ist; also ist sie im Volke als etwas total Anderes als sie selbst, und wird Totalität, indem sie als ein Äußeres aufgehoben und zu ihrem Begriffe wird. (236) - In der Ästhetik wird klarer ausgeführt, was - wie oben erwähnt - in der Enzyklopädie Anlass zur Unsicherheit gegeben hatte, dass die Wörter nicht einfach Zeichen für vorgegebene Vorstellungen sind, dass vielmehr die beiden Momente, die Bildung der allgemeinen Vorstellungen und die Namengebung etwas Einheitliches sind. - In der Phänomenologie in Kapitel VI Der Geist, Abschnitt B Der sich entfremdete Geist. Die Bildung kommt Hegel auf die intersubjektive Dimension der Sprache zu sprechen und liefert dafür die bedeutendste Motivation, die mir bekannt ist: Diese Entfremdung [des Selbsts] aber geschieht allein in der Sprache, welche hier in ihrer eigentümlichen Bedeutung auftritt. ‒ In der Welt der Sittlichkeit Gesetz und Befehl, in der Welt der Wirklichkeit erst Rat, hat sie das Wesen zum Inhalte und ist dessen Form; hier aber erhält sie die Form, welche sie selbst ist, selbst zum Inhalte und gilt als Sprache; es ist die Kraft des Sprechens als eines solchen, welche das ausführt, was auszuführen ist. Denn sie ist das Dasein des reinen Selbsts als Selbsts; in ihr tritt die für sich seiende Einzelheit des Selbstbewußtseins als solche in die Existenz, so daß sie für andere ist. Ich als dieses reine Ich ist sonst nicht da [. . .] Die Sprache aber enthält es in seiner Reinheit, sie allein spricht Ich aus, es selbst. (376) Erst in der intersubjektiven Dimension kommt auch das Selbst zum eigentlichen Dasein. 348 <?page no="363"?> 11.7 Einige Fragestellungen anstelle einer Konklusion Zum Ausklang des Kapitels sollen noch einmal einige Frage angesprochen werden, die bereits gestellt wurden, wenn auch nicht in dieser Form: - Was bedeutet es, dass die Sprache das erste In-Erscheinung-Treten des Geistes ist? - Was bedeutet es, dass die Sprache immer schon da ist, dass sie innerhalb der Geschichte „ voreilig “ ist, dass Völker, die sonst nichts anderes haben, doch bereits über Sprache verfügen? - Warum sind die verschiedenen „ Stufen “ notwendig: Sprache als Stimme, aber auch als Einbildungskraft wie in der Kunst, oder als Verstand wie in der Wissenschaft und in der Philosophie? - Warum kann die Sprache als alles Mögliche interpretiert werden, als Kunst, als Handlung, als „ verborgenes Wissen “ , als „ verborgene Philosophie? Liegt das nicht an ihr selbst? 11.8 Literaturhinweise des Bearbeiters [Zunächst einige Bemerkungen zu den Primärtexten. Der größte Teil der hier wiedergegeben Zitate wurden der im Suhrkamp Verlag erschienenen Theorie Werkausgabe entnommen, die für jedermann leicht zugänglich ist. Im Gegensatz zu den in den vorhergehenden Kapiteln angeführten Texten sind diese Textausschnitte in modernisierter (inzwischen allerdings auch nicht mehr aktueller) Orthographie gehalten. Das lässt sich rechtfertigen, da es sich in diesem Fall nicht um eine ad hoc, sondern systematisch nach einheitlichen Kriterien vorgenommene Modernisierung handelt. Seit 1968 ist die von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegebene historisch kritische Ausgabe der Gesammelte[n] Werke im Erscheinen begriffen. Kritische Leser können die hier wiedergegebenen Zitate aus den von Hegel selbst veröffentlichten Werken (Phänomenologie, Enzyklopädie) mit den dort gebotenen Texten vergleichen. Die Abteilung II dieser Ausgabe, die die Vorlesungsnachschriften enthalten soll, ist noch nicht sehr weit gediehen. Daher mussten die Texte aus der Jenenser Realphilosophie I und II und die Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte (Die Vernunft in der Geschichte) aus den im Meiner Verlag erschienen Bänden der Philosophischen Bibliothek zitiert werden, die auch Coseriu benutzt hat. Der zunächst unter dem Titel Jenenser Realphilosophie II erschienene Band, auf den sich Coseriu bezieht, ist inzwischen unter neuem Titel nachgedruckt worden. Die vom ersten Herausgeber Johannes Hoffmeister angenommene Chronologie hat sich inzwischen als falsch erwiesen. Die beiden Bände wurden auch nicht in die Theorie Werkausgabe aufgenommen; die beiden Herausgeber sind der Ansicht, dass die Textgrundlage unzuverlässig sei und kein richtiges Bild der Entwicklung von Hegels Systemdenken liefere (Bd. 2, 584). 349 <?page no="364"?> Nun zu den Sekundärtexten, zunächst zu einigen einführenden Gesamtdarstellungen: Franz Wiedmann: Georg Wilhelm Friedrich Hegel in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1965. Sicherlich nicht auf dem neuesten Stand, aber aufgrund der den Autoren vorgegeben Struktur der Reihe hilfreich bei der schnellen Orientierung. Friedrich Fulda: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. München 2003. Thomas Sören Hoffmann: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Eine Propädeutik. Wiesbaden 2004. Die Forschungsliteratur zu Hegel ist selbst für Spezialisten kaum zu überblicken. Da Hegel, wie aus diesem Kapitel deutlich geworden sein dürfte, die Sprache immer nur knapp und im Zusammenhang mit anderen Phänomenen behandelt hat, gibt es über die von Coseriu diskutierten Arbeiten hinaus nicht allzu viel Neueres. Die beiden folgenden Titel mögen als Ergänzung zu den Ausführungen Coserius genügen: Thomas Sören Hoffmann: „ Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 ‒ 1831) “ . In Borsche (Hg.), Klassiker der Sprachphilosophie (1996), op. cit, 257 ‒ 273. Bettina Lindorfer/ Dirk Naguschewski (Hrsg.): Hegel zur Sprache. Beiträge zur Geschichte des europäischen Sprachdenkens. Festschrift für Jürgen Trabant zum 60. Geburtstag. Tübingen 2002. Es gibt eine Reihe von Zeitschriften, die der Hegel-Forschung gewidmet sind und in denen sich auch Beiträge finden, in denen Hegels Sprachphilosophie berührt wird.] 350 <?page no="365"?> 12 Wilhelm von Humboldt (1767 − 1835) 12.1 Allgemeines Wilhelm Freiherr von Humboldt wurde am 22. Juni 1767 in Potsdam geboren. Er wuchs zusammen mit seinem 1769 geborenen Bruder Alexander auf Schloss Tegel bei Berlin auf. Die beiden Brüder, die ihr Leben hindurch - trotz zeitweilig großer räumlicher Entfernung - eng verbunden bleiben sollten, erhielten eine sorgfältige Schulausbildung bei berühmten Hauslehrern. Zusammen mit seinem Bruder schrieb sich Wilhelm 1787 an der Universität in Frankfurt an der Oder ein; ein halbes Jahr später wechselte er an die Universität Göttingen. Einen regulären Studienabschluss hat er nicht erlangt und wohl auch nicht angestrebt. Es folgten zahlreiche Reisen nach West- und Süddeutschland, Paris und in die Schweiz. 1790 trat er als Referendar am Kammergericht in Berlin in den Staatsdienst ein, aus dem er kurze Zeit später wieder ausschied. Am 29. Juni 1791 heiratete er Caroline von Dacheröden, eine hochgebildete Frau, die neben seinem Bruder die zweite wichtige Bezugsperson für sein Leben und Werk wurde. „ Von dieser Zeit an bis zum Jahre 1797 “ , heißt es in seinem Lebenslauf aus dem Jahr 1828, in dem er von sich selbst in der dritten Person redet, „ lebte er anfangs auf dem Lande, nachher abwechselnd in Jena und Berlin “ (Humboldt 2010, Bd. 5, 12). Nach verschiedenen kleineren Reisen hielt er sich längere Zeit (1797 ‒ 1800) in Paris auf. Er unterbrach diesen Aufenthalt nur für seine erste Spanienreise. Seine zweite Reise nach Spanien - ins Baskenland - unternahm er 1801. Von 1802 ‒ 1808 lebt er als preußischer Resident beim päpstlichen Stuhl in Rom. In dieser Zeit erwachte sein Interesse für die Verschiedenheit der Sprachen im Besonderen und für das Problem der Sprache im Allgemeinen. Im Jahre 1809 kehrte er nach Deutschland zurück und war für kurze Zeit als Direktor der Sektion für Kultus und Unterricht in Königsberg, dem damaligen preußischen Regierungssitz, im Innenministerium tätig. Sein Beitrag zur Reform der deutschen Universität, den er in diesen Monaten leistete, ist bis heute nicht vergessen; die auf seine Initiative hin gegründete Universität in Berlin trägt heute seinen Namen. 1810 wurde er zum Staatsminister ernannt und vertrat Preußen als Gesandter in Wien. Nach der sich abzeichnenden Niederlage Napoleons, zu der er als Offizier im österreichischen Heer beigetragen hatte, nahm er 1813 als preußischer Unterhändler am Prager Kongress teil und vertat nach seiner Teilnahme am Kongress in Châtillon-sur-Seine im Jahre 1814 zusammen mit Hardenberg die preußischen Interessen auf dem Wiener Kongress. In den Jahren 1817/ 18 war er preußischer Gesandter in London. Seine preußische Beamtenlaufbahn beendete er als Minister für ständische Angelegenheiten; nach einem Konflikt mit Hardenberg schied er Ende 1819 aus dem Staatsdienst aus. Von 1820 bis zu seinem Tod am 8. April 1835 ging er als finanziell unabhängiger Privatgelehrter seinen Studien im heimatlichen Tegel nach. Dort entstand der größte Teil der Schriften, die uns hier beschäftigen werden. Sein Bruder Alexander veröffentlichte ein Jahr nach seinem Tod sein vielleicht wichtigstes Werk Über die Verschiedenheit 351 <?page no="366"?> des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechtes, die sprachphilosophische Einleitung zu dem ebenfalls postum erschienenen Werk Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java. In den vorhergehenden Kapiteln haben wir uns u. a. mit Schleiermacher, Schelling und Hegel beschäftigt. Kommt man von diesen Autoren her, so führt uns Humboldt in eine andere Welt. Zum einen ist Humboldt weder Philosoph noch Dichter. An die Stelle der universitären systematischen, organisch entwickelten und gegliederten Philosophie tritt bei ihm das unsystematische, mehr oder weniger okkasionelle und trotzdem im Grunde einheitliche Denken. Es wurde sogar gesagt, er sei überhaupt kein Philosoph gewesen, nur deshalb habe er an der Sprache Aspekte sehen und hervorheben können, die den Philosophen selbst entgangen waren. Dies stimmt auch in gewisser Hinsicht, wenn man unter einem Philosophen einen Denker versteht, der sich mit dem gesamten Feld der Philosophie beschäftigt und sich bemüht, auf alle philosophischen Fragen - von den erkenntnistheoretischen bis zu den ethischen und naturphilosophischen - systematisch und folgerichtig zu antworten. Er ist aber durchaus ein Philosoph, wenn man unter einem Philosophen einen Denker versteht, der die empirische Verschiedenheit der Gegenstände seines Denkens bzw. ihre empirisch-wissenschaftlichen Behandlung explicite oder implicite auf Prinzipien oder auf ein Prinzip zurückführt. In der ganzen denkerischen Tätigkeit Humboldts ist ein solches Prinzip identifizierbar; ein bedeutsames Faktum, das von sprachwissenschaftlicher Seite selten zur Kenntnis genommen wurde. Man könnte dieses Prinzip das anthropologische nennen. Der ideelle einheitliche Gegenstand, auf den Humboldt die empirischen Gegenstände seiner Forschung zurückführt, ist die „ Menschlichkeit “ , der „ Geist der Menschheit “ , d. h. das spezifisch Menschliche in den menschlichen Tätigkeiten, gleichgültig um welchen Gegenstand der Forschung es sich gerade handelt. In jedem Fall ist es das Prinzip und das Ziel seiner Bemühungen, sei es in der Politikwissenschaft oder in der politischen Philosophie, sei es in der Ästhetik oder in der Sprachwissenschaft im engeren Sinne. Dieser Geist der Menschheit ist zugleich das Ziel und das Prinzip, die gestaltende „ innere Form “ - um es mit einem von ihm geprägten Begriff zu sagen - der spezifisch menschlichen Tätigkeiten. Auch bei der Erforschung von empirischen Gegebenheiten, die auf den ersten Blick als vereinzelt, als nicht zusammenhängend erscheinen, ist es faszinierend, bei Humboldt immer wieder dieses Prinzip zu entdecken, auch wenn er scheinbar bei Einzelheiten verweilt, wie z. B. bei Aspekten der Buchstabenschrift oder der Bedeutung einer Verbalform im Sanskrit. In dieser Hinsicht steht Humboldt Hegel näher als er selbst und wahrscheinlich auch Hegel glaubte. Humboldt sucht das Universelle im Konkreten, in den kleinsten Einzelfakten. Zum anderen ist Humboldt in einer weitgehend romantischen, man möchte sagen dionysischen Zeit ein klassischer, ein apollinischer Geist. Das soll nicht heißen, dass er nur Bekanntes systematisiert und kaum Neues entdeckt hätte. Seine Entdeckungen finden jedoch ihren Platz in einem schon im Voraus gegebenen ideellen Rahmen. Nicht zuletzt deswegen ist Humboldt, anders als Schelling oder Schlegel, zusammen mit Schiller und Goethe, mit denen er auch persönlich 352 <?page no="367"?> befreundet war, einer der Hauptvertreter der deutschen Klassik. Dennoch besteht sein Werk - und das ist das Widersprüchliche am Schriftsteller, Denker, vielleicht auch am Menschen - vor allem aus unvollendeten Schriften, aus geplanten, aber nicht ausgeführten Arbeiten, aus Entwürfen und Projekten. Andererseits schreibt dieser Klassiker auf eine eigentümliche Weise. Vor allem wenn es um Ideen geht, ist seine Schreibweise von einer Art, dass sogar Kant, dem man eine gewisse Auffassungsgabe nicht gut absprechen kann, Schwierigkeiten beim Verstehen hatte. Schließlich verläuft auch das Leben Humboldts anders als das der Vertreter der deutschen Bewegung bzw. der „ Romantik “ , die weitgehend auch Klassik ist. Er hat keine Schule besucht, sondern wurde privat zu Hause unterrichtet. Die Universität verließ er nach kurzer Zeit ohne Studienabschluss. Er ist ein großer Herr, ein hoher Adeliger, der in materieller Hinsicht von niemandem abhängt. Er braucht nicht so hart zu arbeiten wie z. B. Hegel, um leben zu können. Er kann sich immer wieder auf eines seiner Landgüter zurückziehen. Er ist ein hoher Staatsbeamter, der als Vertreter seines Landes an wichtigen Ereignissen seiner Zeit teilnimmt und einige dieser Ereignisse im politischen wie im kulturellen Bereich zum Teil mitbestimmt. Zugleich ist er Privatgelehrter, der bisweilen auch ein Gedicht verfasst und der viel mehr schreibt als er veröffentlicht. Er reist viel vor und während seiner Beamtenzeit und lebt verhältnismäßig lange im Ausland. Im In- und Ausland hat er Kontakte zu vielen großen Persönlichkeiten auf verschiedenen Gebieten, von der Philosophie und Dichtung bis zur Politik und Gelehrsamkeit. Vielen ist er als Mensch ein Rätsel geblieben; man denke nur an die Urteile von Schiller oder Grillparzer (cf. Berglar 1970, 162 f.). Ich möchte meiner Darstellung so weit wie möglich hermeneutischen Charakter verleihen: Gewisse Grundtexte sollen vorgestellt und im Anschluss daran interpretiert werden. Dies setzt eine gewisse Mitarbeit des Lesers voraus. Bevor ich auf Humboldt als Sprachforscher und Sprachphilosoph zu sprechen komme, sollen daher einige Literaturhinweise gegeben werden. 12.2 Die wichtigsten Texte So gut wie alle wirklich wichtigen Texte von Humboldt zur Sprache finden sich in der folgenden Ausgabe: - Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Hrsg. von Andreas Flitner und Klaus Giel. Bd. III: Schriften zur Sprachphilosophie. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1965 ff. [In der vorliegenden Bearbeitung wird die Studienausgabe von 2010 herangezogen.] Der 1981 erschienene Band V enthält einige „ Kleine Schriften zur Sprachphilosophie “ . Für uns sind zwei davon wichtig, weil sie zu den ersten Äußerungen Humboldts zu diesem Thema gehören: - „ Über Denken und Sprechen “ : Der Titel stammt vom Herausgeber Leitzmann. Die Schrift hat nur vier Manuskriptseiten; sie ist undatiert, wird aber aufgrund der Wasserzeichen im Papier den Jahren 1795/ 96 zugeschrieben. 353 <?page no="368"?> - „ Ankündigung einer Schrift über die Vaskische Sprache und Nation, nebst Angabe des Gesichtspunctes und Inhalt derselben “ (Humboldt 2010 [1812], Bd. V, 113 − 126). Es handelt sich um die erste veröffentlichte Schrift Humboldts zur Sprache. Sie ist zugleich eine Art von Programm der Sprachphilosophie und der allgemeinen Sprachwissenschaft. Mit einer Ausnahme, auf die ich zurückkomme, haben wir damit alles, was uns hier interessiert. Neben dieser Werkausgabe gibt es aber auch nützliche kleinere Anthologien: - W. von Humboldt: Schriften zur Sprache. Hrsg. von Michael Böhler. Stuttgart: Reclam 1986. Diese kleine Anthologie enthält ebenfalls „ Über Denken und Sprechen “ . - Eine andere besonders empfehlenswerte Anthologie ist die von Jürgen Trabant: W. von Humboldt: Ausgewählte Schriften über die Sprache. Hrsg. von J. Trabant. München: dtv 1985. Die Sammlung enthält besonders wichtige Kommentare und Interpretationen. Trabant ist zusammen mit Tilmann Borsche der wichtigste Kommentator Humboldts in letzter Zeit. Zwei wichtige Neuerscheinungen stammen von diesen beiden Autoren: - Tilmann Borsche: Sprachansichten. Der Begriff der menschlichen Rede in der Sprachphilosophie Wilhelm von Humboldts. Stuttgart 1981 (Tübinger Dissertation). - Jürgen Trabant: Apeliotes oder der Sinn der Sprache. Wilhelm von Humboldts Sprachbild. München 1986. Ap(h)eliotes ist der aus der Gegend des Sonnenaufgangs wehende Wind. Trabant versucht auch eine Interpretation des Menschen Humboldt, der vielen immer noch ein Rätsel ist. 12.3 Der Sprachwissenschaftler als Sprachphilosoph. Versuch einer allgemeinen Charakteristik In der Sprachphilosophie ist Humboldt der Techniker, der Fachmann auf dem Gebiet der Sprachen und der Sprachwissenschaft. Er kennt sehr viele Sprachen verhältnismäßig gut, wenn auch nicht alle im gleichen Ausmaß, und beschäftigt sich mit noch mehr Sprachen, auch mit solchen, die vorher in Deutschland so gut wie unbekannt waren, z. B. mit dem Baskischen, mit den Eingeborenensprachen Amerikas, mit den Sprachen der indonesischen Sprachgruppe. Für diese Sprachen gilt er in Deutschland (und für das Indonesische nicht nur hier) sogar als Begründer der entsprechenden Zweige der Sprachwissenschaft. Sein größtes Werk, zu dem die wichtigste theoretische Schrift als Einführung gehört, betrifft eine indonesische Sprache, das Kawi. Termini und Begriffe der Sprachtypologie gehen auf ihn zurück oder wurden wenigstens durch ihn verbreitet. Humboldt kann auch als Begründer der analytischen funktionellen Sprachwissenschaft angesehen werden. Der Begründer der Prager Schule, Vilém Mathesius, hat in Humboldt sogar den Begründer 354 <?page no="369"?> der sog. statischen Sprachwissenschaft gesehen, womit er die synchronische Sprachwissenschaft meinte. In letzter Zeit ist diese Auffassung kritisiert worden, jedoch ohne genaues Verständnis des mit der Formulierung Gemeinten. Mathesius gebrauchte „ statisch “ nicht im Gegensatz zu „ dynamisch “ , sondern zu „ diachronisch “ , d. h. im Gegensatz zur rein historischen Sprachbetrachtung. Humboldt ist also - wie gesagt - der Sprachwissenschaftler, der Fachmann unter den Sprachphilosophen. Er ist Sprachwissenschaftler und Sprachphilosoph, besser noch Sprachwissenschaftler als Sprachphilosoph, eine Charakterisierung, die wir noch zu begründen haben werden. Dies ist nun, genau betrachtet, ein Novum und etwas Einmaliges in der Sprachphilosophie. Neben Aristoteles und Hegel ist Humboldt meines Erachtens einer der größten Sprachphilosophen überhaupt, aber er ist der einzige Sprachwissenschaftler unter den Sprachphilosophen und vielleicht auch deshalb der einzige Sprachphilosoph unter den Sprachwissenschaftlern, die gewöhnlich philosophisch nicht besonders begabt sind. Heute gilt Humboldt zwar in gewissen Kreisen vor allem oder ausschließlich als Sprachwissenschaftler. Dies ist aber nicht der Fall, denn Humboldt ist nicht Sprachwissenschaftler allein. Er vertritt die Meinung, dass es keine eigentliche Wissenschaft von der Sprache gibt, sondern nur Sprachstudium, und über das Sprachstudium will er zum Menschen gelangen und zugleich zur Entwicklung des Menschen in Richtung auf das ideale Menschenbild. Zwar ist die Sprache für Humboldt sehr wichtig, sie ist sogar der Hauptgegenstand seiner Forschungen in den letzten Jahren seines Lebens, jedoch ist sie ihm nur ein Schlüssel zum Menschen. So kann man Humboldt nicht wirklich verstehen, wenn man ihn nur als Sprachwissenschaftler betrachtet. So bedeutsam die Sprache für ihn sein mag, kommt Humboldt doch, zumindest in seiner öffentlichen Tätigkeit, erst ziemlich spät zur Sprachwissenschaft, Sprachtheorie und Sprachphilosophie. Seine erste sprachwissenschaftliche Veröffentlichung, die schon erwähnte „ Ankündigung einer Schrift über die Vaskische Sprache und Nation “ in Schlegels Deutschem Museum, Bd. 2, wurde im Jahre 1812 gedruckt. Humboldt war da schon fünfundvierzig Jahre alt. Mit dieser 1812 angekündigten Schrift (sie ist nie als solche geschrieben worden) hängen die fünf Jahre später im Band 4 des Mithridates von Adelung und Vater (Berlin 1817) erschienenen „ Berichtigungen und Zusätze zum ersten Abschnitt des zweyten Bandes des Mithridates über die Cantabrische oder Baskische Sprache “ zusammen (275 bis 346). Es ist bemerkenswert, wie der Autor auf dem Titelblatt (275) vorgestellt wird: . . .von Wilhelm von Humboldt, Königlich-Preußischem Staats-Minister, Gesandten an dem königlich-französischen Hofe und Ritter vieler hoher Orden. Man erkennt, dass Humboldt damals noch nicht als Sprachwissenschaftler auftreten konnte oder wollte; er ist Staatsminister und Gesandter. Seine kontinuierliche sprachwissenschaftliche und sprachphilosophische Forschung setzt noch später ein, eigentlich erst im Jahre 1820, als Humboldt 53 Jahre alt war, und dauerte ununterbrochen bis zu seinem Tode. Sein erstes veröffentlichtes sprachphilosophisches Werk ist die kurze Schrift: 355 <?page no="370"?> „ Ueber das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung “ (1820). Die Abhandlung wurde 1820 in der Berliner Akademie vorgetragen und 1822 in den Abhandlungen der historischen-philosophischen Klasse der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin veröffentlicht. Sieht man von der oben erwähnten Notiz „ Über Denken und Sprechen “ ab, die mehr das Denken als das Sprechen betrifft und eher eine Stellungnahme zu Fichte darstellt, so findet Humboldts ‚ Entdeckung der Sprache ‘ erst in diesen Jahren statt. Sie führt zu einer leidenschaftlichen und ausschließlichen Beschäftigung mit diesem Thema. Wie es dazu kam, bedarf der Erklärung. Die Entdeckung der Sprache erfolgte gleichwohl nicht so spät, wie man aufgrund der veröffentlichten Arbeiten annehmen könnte. Die ersten Veröffentlichungen von Humboldt sind jedoch der Staatsphilosophie und der Kunsttheorie, vor allem aber der Literaturästhetik gewidmet. Wenn man auch die nicht veröffentlichten Schriften berücksichtigt, sieht man deutlicher, dass Humboldts gemeinsamer Nenner die (bereits erwähnte) anthropologische Idee ist. Herbert Nette führt im Nachwort zu seiner empfehlenswerten Ausgabe von Humboldts „ Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus “ (Darmstadt 1949) eine symptomatische Liste von Abhandlungen an, die Humboldt zwischen 1791 und 1799 verfasst hat (Nette 1949, 371). Wir finden in diesen Schriften nichts über die Sprache, aber immer wieder etwas über die menschlichen Kräfte, die menschliche Bildung und ähnliches. Erst in den römischen Jahren 1802 − 1808 „ erfolgte schließlich “ , wie Nette mit Recht schreibt, „ die Konzeption der Sprache als der zentralen geistigen Erscheinung im Leben des Einzelnen wie der Nationen “ (ibid., 372). Am 16. Juni 1804 schreibt Humboldt aus Rom an seinen Freund, den berühmten Philologen F. A. Wolf: Im Grunde ist alles, was ich treibe, Sprachstudium. Ich glaube die Kunst entdeckt zu haben, die Sprache als ein Vehikel zu brauchen, um das Höchste und Tiefste und die Mannigfaltigkeit der ganzen Welt zu durchfahren. (Gesammelte Werke, Bd. 5, Berlin: Reimer 1846, 266 − 67) Die Identität von Anthropologie und Sprachforschung kommt in diesem Brief an Wolf klar zum Ausdruck. Wie Humboldts ältere Schriften zeigen, stand für ihn die anthropologische Idee im Zentrum des Interesses. Dies bedeutet, dass Humboldts Überlegungen sehr eng mit der allgemeinen anthropologischen Fragestellung bei Herder zusammenhängen und dass man Humboldts Sprachphilosophie als die Vollendung der in Deutschland von Herder begründeten anthropologischen Sprachphilosophie auffassen kann. Dem wird leider in den meisten Interpretationen der Schriften Humboldts der letzten Zeit kaum Rechnung getragen. Ich meine damit insbesondere die Interpretationen von Linguisten, die im Allgemeinen nicht den ganzen Humboldt, ja nicht einmal den ganzen Linguisten Humboldt kennen. In den letzten Jahren hat man oft von einer Entdeckung bzw. Wiederentdeckung Humboldts gesprochen, von einer Wiederbelebung der Humboldt-Studien insbesondere durch die generative Grammatik Noam Chomskys. Chomsky habe 356 <?page no="371"?> durch seine Hinweise auf Analogien und teilweise Identitäten zwischen Transformationsgrammatik und Humboldt ’ scher Sprachauffassung das Interesse an Humboldt von neuem angeregt. Dies ist nur mit Einschränkungen richtig. Es handelt sich weder um eine Entdeckung im eigentlichen Sinn noch um eine Wiederbelebung der Humboldt- Studien im Allgemeinen. Denn in anderen Kreisen, insbesondere im deutschsprachigen Raum, aber auch in den romanischen Ländern, war das Interesse an Humboldt seit Steinthal oder wenigstens seit Croce und Vossler nie ‚ eingeschlafen ‘ und brauchte darum auch nicht wieder ‚ erweckt ‘ zu werden. Man braucht nur einen Blick in die Bibliographie von Leonhard Josts Buch über Humboldts „ energetische Sprachauffassung “ zu werfen (cf. infra 12.4.1) um festzustellen, dass es ein kontinuierliches Interesse an Humboldt gegeben hat. Richtig ist hingegen, dass Humboldt in den Kreisen jener Linguisten entdeckt wurde, für die die Sprachwissenschaft bis vor Kurzem mit Saussure in Europa und Bloomfield in Amerika begonnen hat. Beide kannten wenigstens den Linguisten Humboldt recht gut. Über das Verhältnis von Saussure zu Humboldt gibt es einen schönen Aufsatz von Hans- Helmut Christmann (cf. infra 12.4.1), und Bloomfield bezieht sich ausdrücklich und mit hohem Lob auf Humboldt. Die nordamerikanische Linguistik hatte aber Humboldt wieder vergessen, obwohl der Deskriptivismus teilweise auf seine Anregungen zurückgeht. Die wirkliche Wende war in Nordamerika mit Boas und dem Studium der Indianersprachen eingetreten. Boas war ein Humboldtianer. Das Prinzip der Immanenz bei der Analyse und Beschreibung der Sprachen, das Boas im Vorwort des großen Handbuchs der Indianersprachen formuliert hat, 141 dem zufolge die Sprachen nach den ihnen eigenen Kategorien zu analysieren sind, geht nämlich auf Humboldt zurück. Auch Sapir war noch ein guter Kenner von Humboldt und hat ebenfalls Humboldt ’ sche Anregungen aufgenommen. Erst später, nach der Veröffentlichung von Language von Bloomfield, bezieht sich die neuere Sprachwissenschaft in Nordamerika auf dieses Buch und die in diesem Buch vertretene Methode und Technik der Analyse und nicht mehr auf die ältere Tradition. Nur in dieser Hinsicht kann man von einer Wiederentdeckung von Humboldt sprechen, nämlich in den Kreisen, die ihn vergessen hatten, und man kann hoffen, dass Humboldt in den Literaturverzeichnissen mit dem richtigen Namen erscheint, d. h. mit dem Vornamen Wilhelm und nicht mit dem seines Bruders Alexander, des Naturforschers, wie in einigen nordamerikanischen Werken. 142 Nicht selten sprechen diejenigen von einer ‚ Entdeckung ‘ Humboldts, die ihn lediglich für sich selbst entdeckt haben. Ähnlich hat man auch von einer Entdeckung der Grammaire générale von Port Royal durch Chomsky gesprochen; tatsächlich hat er sie nur für sich selbst entdeckt. Im Übrigen haben die Humboldt-Interpretationen, die sich auf Chomsky berufen, auch zu einem schiefen Bild von Humboldt geführt, und zwar unabhängig 141 [Handbook of American Indian Languages. Washington D. C., 1911.] 142 Vgl. z. B. Harry Hoyer (Hrsg.): Language and Culture. Chicago 1954, 7 1971 oder Sidney Hook (Hrsg.): Language and Philosophy. New York/ London 1969. 357 <?page no="372"?> von den fälschlich behaupteten Analogien und Parallelen zwischen Humboldt und generativer Grammatik, z. B. zwischen „ innerer Sprachform “ und „ Tiefenstruktur “ oder zwischen „ Spracherzeugung “ und „ generativem Prinzip “ . Dabei handelt es sich allenfalls um rein terminologische Übereinstimmungen (cf. infra; Abschnitt 12.4 meines Aufsatzes „ Semantik, innere Sprachform und Tiefenstruktur “ , 1970). Ich meine vielmehr das Gesamtbild Humboldts. Er erscheint in diesem Licht als ein Sprachforscher, der vor allem im Bereich der Beschreibungstechnik und -methode tätig gewesen sei und Einzelaspekte der Sprachtheorie beleuchtet haben soll. Dabei sind die Einheit von Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie bei Humboldt und der allgemeine anthropologische Rahmen verloren gegangen, d. h. das eigentliche Zentrum seiner Studien. Es entstand ein Sprachwissenschaftler Humboldt, der bei den Linguisten und ein Sprachphilosoph Humboldt, der bei den Philosophen beheimatet war. In Wirklichkeit gibt es sicherlich eine Analogie zwischen Chomsky und Humboldt, aber eben keine methodisch-technische und partiell-theoretische, wie sie Chomsky selbst annimmt. Die Analogie betrifft vielmehr das allgemeine anthropologische Interesse von Chomsky und die Tatsache, dass auch für Chomsky die Sprache eine spezifische und charakteristische Dimension des Menschen darstellt, wenn auch nicht wie bei Humboldt die Grunddimension des Menschlichen überhaupt. 12.3.1 Die vier Teilaspekte der Sprachauffassung Humboldts Leider habe auch ich, ohne es zu wollen, zum heutigen schiefen Bild von Humboldt im Bereich der Sprachwissenschaft beigetragen. In meiner ersten Vorlesung zur Sprachphilosophie der Romantik hatte ich als Hauptmotiv von Humboldt vier Punkte angegeben. Ich meinte damit eigentlich folgende miteinander zusammenhängenden Ideen bei Humboldt: 1. Den Begriff energeia: Dieser Begriff, der auf Aristoteles zurückgeht, meint die Idee der Kreativität, der Sprache als schöpferischer Tätigkeit. 2. Die Form der Sprache: Dieser Begriff meint die Sprache als Gestaltung, mit der typisch aristotelischen Opposition zwischen Form und Stoff. „ Form “ und „ Stoff “ sind übrigens zwei korrelative Begriffe, so dass das, was Form auf der einen Betrachtungsebene ist, zum Stoff auf einer höheren Ebene wird. Die Form ist dabei das Gestaltende, der Stoff das Gestaltete. Bei sukzessiver Anwendung dieser Opposition wird schließlich die Sprache selbst zur Form für die Erfahrung des Außersprachlichen, und jede Sprache erscheint als eine bestimmte Form gegenüber anderen Sprachen. Schließlich ist jede Sprache insofern eine Form, als sie Prinzipien aufweist, nach denen sie selbst gestaltet ist bzw. wird. 3. Die Idee vom Weltbild: Nach dieser Idee ist die Sprache Erfassung und Konstruktion der Welt des Menschen, so dass die Welt der Dinge dem Menschen zuerst sprachlich gegeben ist. 358 <?page no="373"?> 4. Die Sprache als Organismus: Hier meinte ich das Systematische, die Tatsache also, dass die Sprache organisch ist, und ich wollte vor allem auf diese besondere Bedeutung auch des Terminus Organismus in der deutschen Sprachphilosophie insbesondere im Zeitalter der Romantik hinweisen: Organismus ist das Organisierte, das systematisch Gestaltete. Organismus ist nicht etwa im biologischen Sinne zu verstehen, sondern als der viel allgemeinere Begriff der Organisiertheit schlechthin. Dies ist vor allem deshalb zu beachten, weil später Organismus als lebender Organismus interpretiert wurde, was ursprünglich überhaupt nicht gemeint war. Diese vier Punkte wurden als einzeln wahrzunehmende bedeutsame Aspekte in die Humboldt-Interpretation aufgenommen. In einer wichtigen Humboldt-Bibliographie der deutsch-italienischen Professorin Maria Elisabeth Conte (cf. infra) - im Übrigen die beste Bibliographie zu Humboldt in den letzten Jahren - werden eben diese vier Punkte zur Charakterisierung der Sprachauffassung und -theorie von Humboldt aufgeführt, und zwar als getrennte Aspekte ohne systematischen Zusammenhang. Diese Punkte bleiben sicherlich in praktischer und didaktischer Hinsicht gültig. Zu einer Charakterisierung Humboldts reichen sie jedoch nicht aus. Ich hatte damals lediglich am Ende einer Vorlesung eine Ankündigung in Form einer Übersicht über das künftig zu Behandelnde geben wollen. So muss denn das schiefe Bild von Humboldt hier korrigiert werden. Was den genannten Aspekten einen einheitlichen Sinn verleiht, ist die Identität von Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie sowie die Identität des einheitlichen Sprachstudiums mit der philosophischen und wissenschaftlichen Anthropologie. Diese Gleichsetzungen bilden die Voraussetzung für das, was ich hier die anthropologische Idee genannt habe. Zum einen ist die Anthropologie Sprachstudium. Dies ist nicht als tatsächliche Identität gemeint. Das Sprachstudium wird vielmehr als Grundlage und Modell für jede anthropologische Forschung aufgefasst. Die Sprache ist Schlüssel zum und Schema des Menschlichen überhaupt. Zum anderen ist Sprachphilosophie zugleich Sprachwissenschaft. Anders ausgedrückt besagt dies: Es gibt keine abgeschlossene Wissenschaft von der Sprache, sondern eigentlich nur Sprachstudium. Dieses Studium ist zugleich Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft in einer unzertrennlichen Einheit. Die vier Hauptgedanken Humboldts gelten weiterhin. Sie müssen aber als Teile eines Ganzen und als Aspekte einer einheitlichen Sprachauffassung angesehen werden. Das geistige Band ist der Geist der Menschheit, die innere Motivierung und das Ziel der menschlichen Tätigkeiten schlechthin und damit das eigentliche Objekt und Ziel der anthropologischen Forschung. Diese Forschung ist zugleich Bildung des Menschen, hat ebenfalls eine pädagogische Dimension. Man bildet sich auch als Mensch weiter, indem man das Menschliche untersucht. Und für Humboldt gibt es sogar Idealbilder des Menschlichen im Bereich des Individuellen und im Bereich der historischen Gemeinschaften. Wir werden noch sehen, dass er im Bereich des Individuellen Goethe als Idealbild annehmen möchte und im kollektiven Bereich das Griechische der klassischen Zeit. Durch dieses geistige 359 <?page no="374"?> Band finden auch die vier Hauptgedanken zur Sprache ihre Einheit, und sie dürfen nur im anthropologischen Rahmen zusammengesehen werden. 12.4 Hinweise zu den wichtigsten Arbeitsinstrumenten Nach dieser Einführung komme ich zu den wichtigsten Arbeitsinstrumenten, zunächst zur Forschungsliteratur. 12.4.1 Forschungsliteratur Maria-Elisabeth Conte: „ Wilhelm von Humboldt nella linguistica contemporanea. Una bibliografia ragionata 1960 − 1976 “ . In: Luigi Heimann (Hg.): Wilhelm von Humboldt nella cultura contemporanea. Bologna 1976, 281 − 325. Unter den Beiträgen, die in der Bibliographie von Maria-Elisabeth Conte aufgeführt werden, sind einige besonders wichtig. Auf sie möchte ich zunächst hinweisen: Ernst Cassirer (1954): Philosophie der symbolischen Formen. Teil 1. 2. Aufl. Oxford [Neue Auflage Hamburg 2001]. Dieser erste Teil betrifft die Sprache. Humboldt wird in Kap. 1.5 behandelt. Wichtig ist diese knappe Darstellung wegen der Darstellung der historischen Zusammenhänge mit Kant, Schelling, Herder und Leibniz. Hermann Schweppenhäuser (1958): „ Sprachphilosophie “ . In: Fischer-Lexikon Bd. 11: Philosophie. Frankfurt. Waltraud Bumann (1967): „ Sprachphilosophie “ . In: Fischer-Lexikon Bd. 11: Philosophie. Neuausgabe. Frankfurt. In beiden Ausgaben finden wir eine kurze Interpretation Humboldts. Frau Bumann ist eine gute Kennerin vor allem des Sprachwissenschaftlers und Sprachtheoretikers Humboldt. Sie kommt zu Humboldt über Steinthal, über den sie ein Buch geschrieben hat. Bumann gibt eine eher sprachwissenschaftliche Interpretation, die weitgehend auf Steinthal zurückgeht. In der älteren Ausgabe behandelt Schweppenhäuser die Sprachphilosophie von Humboldt. Auch in diesem zwar partialisierenden, aber gleichwohl wichtigen Aufsatz geht der Autor auf eine besondere Idee ein, nämlich auf die Idee der Vermittlung. Die Sprache werde bei Humboldt aufgefasst als Vermittlung zum einen zwischen der unendlichen und der endlichen Natur, zum anderen zwischen dem einen und dem anderen Individuum. Dies ist die Grundidee in den Interpretationen von Liebrucks und von Heintel. Sie wurde von Schweppenhäuser aufgenommen. Wichtig ist meines Erachtens auch die folgende Interpretation: Klaus Giel (1967): „ Die Sprache im Denken Wilhelm von Humboldts “ . Zeitschrift für Pädagogik 13, 201 − 219. Giel ist einer der beiden Herausgeber der bereits erwähnten fünfbändigen Ausgabe. In seinem Aufsatz hebt er die Idee der Bildung hervor. Es handelt sich sicherlich um eine einseitige Interpretation, nämlich eine solche, die den Aspekt der schöpferischen Kräfte des Menschen zum Ausgangspunkt wählt. Ich halte sie aber vor allem deshalb für lesenswert, weil sie sich gegen die populäre traditionelle These über Humboldt wendet, 360 <?page no="375"?> wonach der „ Volksgeistmythos “ das Hauptmotiv der Sprachphilosophie Humboldts sei. Dieser Mythos gehört auch zum schiefen Bild von Humboldt in der Sprachwissenschaft. Das folgende Buch sagt im Untertitel, worum es dem Verfasser geht. Es ist von Bedeutung, weil es die ununterbrochene Humboldt-Tradition wenigstens in den deutschsprachigen Ländern herausarbeitet: Leonhard Jost (1960): Sprache als Werk und wirkende Kraft. Ein Beitrag zur Geschichte und Kritik der energetischen Sprachauffassung seit Wilhelm von Humboldt. Bern. Bei den folgenden Texten geht es um Interpretationen der Sprachphilosophie von Humboldt, die gleichzeitig die eigene Sprachphilosophie der Autoren widerspiegeln: Bruno Liebrucks (1965): Sprache und Bewußtsein. Band 2: Sprache. Wilhelm von Humboldt. Frankfurt. Erich Heintel (1972): Einführung in die Sprachphilosophie. Darmstadt. Das 5. Kapitel Heintels handelt von „ Wilhelm von Humboldt: Die Dreistrahligkeit der semantischen Relation “ . Mit dieser von Liebrucks übernommenen Formel ist gemeint, dass die Sprache Vermittlung ist zwischen dem Ich und der Welt einerseits und dem Ich und dem Du andererseits. Die Dreistrahligkeit bezieht sich auf Ich, Du und Welt. Damit ist auch das Grundproblem der Sprache angesprochen, nämliche ihre Bidimensionalität, d. h. ihre objektive Dimension als Erfassung der Welt oder des Seins und ihre intersubjektive Dimension der Alterität, wie ich sie nenne, d. h. des Miteinanderseins der Menschen. Weiterhin ist der folgende ältere Beitrag zu nennen, einer der wichtigsten Beiträge unter denjenigen, die die Vorgeschichte der Auffassung Humboldts verfolgen. Hans Helmut Christmann (1967): Beiträge zur Geschichte der These vom Weltbild der Sprache. Wiesbaden. Hier geht es um die Wegbereiter der Weltbild-These in der Aufklärung, wie sie u. a. von Johann David Michaelis, dem Vater von Caroline Böhmer-Schlegel-Schelling (cf. Kap. 6 und 9), Herder und italienischen Gelehrten vertreten wurde. Zwei Aufsätze betreffen die Analogien zwischen der Humboldt ’ schen Fragestellung und der Fragestellung der generativen Transformationsgrammatik: Noam Chomsky (1964): Current issues in linguistic theory. Den Haag. Eugenio Coseriu (1970): „ Semantik, innere Sprachform und Tiefenstruktur “ , In: Folia Linguistica 4 (1970), 53 − 63. Die folgenden drei zusammenhängenden Titel betreffen die These vom Weltbild und das sogenannte „ sprachliche Relativitätsprinzip “ , dem zufolge die Erkenntnis der Welt durch die Strukturen der jeweiligen Einzelsprache vermittelt wird. Hier ist in erster Linie Benjamin Lee Whorf zu nennen: Benjamin Lee Whorf (1956/ 1963): Language, Thought, and Reality. Selected writings, ed. by J. B. Carroll. Cambridge, Mass. [deutsch 1963: Sprache, 361 <?page no="376"?> Denken, Wirklichkeit. Beiträge zur Metalinguistik und Sprachphilosophie. Reinbek bei Hamburg] Sein Ansatz geht davon aus, dass die Sprache als Determination des Denkens und implizite Philosophie verstanden werden muss, so dass die Sprache nicht nur Metaphysik und Wissenschaft ist, sondern auch das Verhalten des Einzelnen bestimmt. Diese These wird in dieser Form auch Humboldt zugeschrieben. Ich habe mehrmals versucht zu zeigen, dass Humboldt dies nicht so verstanden hat: Man denkt zwar in einer bestimmten Sprache, auf der anderen Seite ist diese Sprache aber auch Schlüssel zu allen anderen. Hier kommt die Dimension des Universalismus zum Tragen. Man kann sagen, dass es für Humboldt in gleicher Weise sinnvoll sei zu behaupten, dass jedes Individuum eine besondere Sprache spricht und dass alle Individuen die gleiche Sprache sprechen. D. h. alle Sprachen entsprechen der gleichen Sprachidee und haben somit die gleiche Aufgabe. Mit dieser Frage befassen sich auch: Roger L. Brown (1967): Wilhelm von Humboldts conception of linguistic relativity. Den Haag. Robert L. Miller (1968): The linguistic relativity principle and Humboldtian ethnolinguistics. Den Haag. Julia M. Penn (1972): Linguistic Relativity versus Innate Ideas. The Origins of the Sapir-Whorf Hypothesis in German Thought. The Hague/ Paris. Das Buch von Miller betrifft eher Weisgerber als Humboldt, das von Penn dagegen in erster Linie die Sapir-Whorf-Hypothese in doppelter historischer Perspektive: von Humboldt bis heute und - rückblickend - von Humboldt bis Platon. Zum Verhältnis von Sprache und Bildung ist der folgende Aufsatz hervorzuheben: Clemens Menze (1963): „ Sprache, Verstehen, Antworten als anthropologische Grundphänomene in der Sprachphilosophie Humboldts “ . In: Pädagogische Rundschau 17, 475 − 489. Menzes Aufsatz in diesem dem Thema „ Sprache und Bildung “ gewidmeten Band bietet eine der scharfsinnigsten Interpretationen der Auffassung Humboldts. Mit der Problematik der Vermittlung (zwischen Ich und Du) hängt die Interpretation des Liebrucks-Schülers Josef Simon zusammen: Josef Simon (1971): Philosophie und linguistische Theorie. Berlin. Das letzte Kapitel „ Humboldts Alternative “ bietet eine ausgezeichnete Interpretation von Humboldts Auffassung der Einzelsprachlichkeit. Simon verwirft die engere Interpretation der Relativität. Er zeigt, wie die Idee der Einzelsprachlichkeit zugleich die Universalität mit enthält, während die Einzelsprachlichkeit stets die Realisierung der Universalität in der Geschichte betrifft. Für die Geschichte der Humboldt-Interpretation vor allem in den Vereinigten Staaten sind Beiträge von Viertel wichtig: John Viertel (1966): „ Concepts of language underlying the 18th Century controversy about the origin of language “ : Monograph Series on Language and Linguistics 19 [Georgetown-University]. 362 <?page no="377"?> John Viertel (1973): „ The concept of ‚ diversity ‘ in Humboldts thought “ . Lingua e stile 8, 83 − 105. Viertel versucht, Humboldt historisch zu interpretieren und ihn - vielleicht mehr als annehmbar - auf Herder und Christian Wolff zurückzuführen. Der Aufsatz in der Humboldt gewidmeten Sondernummer von Lingua e stile gilt Humboldts Auffassung der sprachlichen Variation. Viertel ist Chomskys Humboldt-Informant und schon deshalb von Bedeutung. In dem folgenden Aufsatz zeige ich selbst an einem Aspekt der Humboldt ’ schen Sprachauffassung, der Typologie, wie bei einer Interpretation von Humboldt die völlig verzerrte Auffassung entstehen konnte, Humboldt habe Sprachen klassifiziert: Eugenio Coseriu (1972): „ Über die Sprachtypologie Wilhelm von Humboldts. Ein Beitrag zur Kritik der sprachwissenschaftlichen Überlieferung “ . In: L. Hösle, (Hrsg.): Beiträge zur vergleichenden Literaturgeschichte. Festschrift für Kurt Wais. Tübingen, 107 − 135. Zu ergänzen sind noch Titel, die in der Bibliographie von Conte nicht erscheinen: Otto F. Bollnow (1938): „ Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie “ . In: Zeitschrift für deutsche Bildung 14, 102 − 112. Dieser Aufsatz betrifft insbesondere das Verhältnis von Sprache und Denken. Er geht von der berühmten Formel Humboldts aus, die Sprache sei „ das bildende Organ des Gedanken “ . Heyman Steinthal (1888): Der Ursprung der Sprache im Zusammenhang mit den letzten Fragen des Wissens. Eine Darstellung der Ansicht Wilhelm von Humboldts, verglichen mit denen Herders und Hamanns. 4. Aufl. Berlin: [1. Aufl., 1858]. Heyman Steinthal (1867): Gedächtnisrede auf Humboldt. Berlin. Heyman Steinthal (1883): Über Wilhelm von Humboldt. Berlin. Heyman Steinthal (1884): Vorwort, allgemeine Einleitung und Kommentar zu: Die sprachphilosophischen Werke Wilhelms von Humboldt. Berlin. [Nachdruck 2012, als Taschenbuch erhältlich.] Auf Steinthals Interpretation der Sprachphilosophie Humboldts wird noch zurückzukommen sein. Benedetto Croce (1902/ 1930): Ästhetik als Wissenschaft vom Ausdruck und allgemeine Sprachwissenschaft. Tübingen. Im 2.Teil, Kap. 12, findet sich die „ Bewertung der Sprachphilosophie von Humboldt “ . Croce interpretiert im wesentlichen Humboldts Sprachauffassung sehr positiv, soweit es die Kreativität betrifft. Er findet aber in seinem Ansatz Überreste eines aufklärerischen Intellektualismus und bedauert ganz besonders, dass Humboldt Sprache und Dichtung nur als parallel und nicht als identisch ansieht. Es ist kennzeichnend, dass diese Interpretation in der Ästhetik von Croce erscheint. Denn Croce vertritt die These der Identität von Sprache und Dichtung und folglich auch von Sprachphilosophie und Ästhetik bzw. Kunstphilosophie. Dieser Auffassung entspricht eine Gesamtinterpretation von der Ästhetik und der Literaturtheorie her, die vor allem von Gaetano Marcovaldi vertreten wird, der jedoch 363 <?page no="378"?> hier in Deutschland kaum bekannt ist. Wir finden seine Interpretation in der Einleitung zu seiner Anthologie von Humboldt (Scritti di estetica, Florenz 1934). Hier wird auch in Auszügen einiges aus dem großen Werk über den Sprachbau übernommen. 12.4.2 Gesamtübersicht über Humboldts Schriften 12.4.2.1 Frühe eigene Publikationen Humboldts Es wurde bereits erwähnt, dass Humboldt selbst sehr wenig veröffentlicht hat. Von 1792 − 1800 hatte er eine sehr aktive Periode, in der er sich zur Politikwissenschaft, zur biologisch fundierten Anthropologie (zum Beispiel zu den Geschlechtsunterschieden) und zu verschiedenen Fragen der Ästhetik äußerte. Über Sprachtheorie und Sprachwissenschaft erscheint in diesen Jahren jedoch noch nichts. In der nächsten Lebensphase ist er vor allem in der Politik und Kulturpolitik sehr stark engagiert. Im Jahr 1817 beginnt er vor allem sprachtheoretische Schriften zu publizieren; aber diese Schriften sind noch kurz [bibliographische Angaben in Abschnitt 12.7]. 1820 „ Prüfung der Untersuchungen über die Urbewohner Hispaniens vermittelst der Vaskischen Sprache “ In dieser Schrift wird die zum Teil bis heute gültige Theorie des Basko-Iberismus begründet, die besagt, dass eine Identität zwischen den Basken und Iberern angenommen werden kann. Die erste wichtigere Schrift zur Sprachtheorie ist die folgende: 1820 „ Über das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung “ Schon hier offenbart sich in nuce die Sprachauffassung von Humboldt. Im gleichen Jahr verfasst er die folgende Schrift: 1822 „ Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers “ Auch diese Schrift ist noch nicht sprachtheoretisch; jedoch entstand im gleichen Jahr eine meines Erachtens grundlegende Schrift, die aber erst später publiziert wurde: 1825 „ Über das Entstehen der grammatischen Formen und ihren Einfluss auf die Ideenentwicklung “ Ich habe auf diese Schrift schon öfter hingewiesen, weil sie in meinen Augen den Wendepunkt in der Grammatiktheorie schlechthin darstellt. 1825/ 26 „ Über die unter dem Namen Bhagavad-Gítá bekannte Episode des Mahá- Bhárata “ Diese Schrift ist für die Theorie des Übersetzens von Bedeutung. Sie ist auch insofern wichtig, als sie Anlass für eine Rezension von Hegel wurde (cf. supra, Kap. 11). Hegel nahm die Besprechung zum Anlass, seine eigene Sprachtheorie auf eine volkstümliche Weise darzustellen. 1826 „ Über die Buchstabenschrift und ihren Zusammenhang mit dem Sprachbau “ Diese Schrift ist in theoretischer Hinsicht bedeutsam, weil Humboldt bereits hier anhand der Analyse, die sich in der Buchstabenschrift zeigt, die Formativität, die gestaltende Tätigkeit des Menschen, identifiziert. 364 <?page no="379"?> 1827 „ Lettre à M. Abel-Remusat, sur la nature des formes grammaticales en général, et sur le génie de la langue chinoise en particulier “ Paris [Neudruck Bordeaux 1969] Dieser als Büchlein publizierte Brief ist eine Abhandlung über das Chinesische, in der die Grundlage für seine Sprachtypologie gelegt wird. Außerdem behandelt Humboldt noch zwei allgemeine sprachtheoretische Probleme: 1827 „ Über den Dualis “ 1832 „ Über die Verwandtschaft der Ortsadverbien mit dem Pronomen in einigen Sprachen “ In der ersten Veröffentlichung geht es um das Problem des Ich und Du, d. h. um die Alterität und das Verstehen. Die zweite Schrift behandelt den Anthropozentrismus bei der Einteilung des Raumes; die Ortsadverbien werden auf die grammatischen Personen zurückgeführt. 12.4.2.2 Die späteren, teils von ihm selbst, teils postum veröffentlichten Schriften Die bei weitem bedeutenderen Schriften wurden erst nach seinem Tod veröffentlicht. Bevor wir uns mit einigen unter ihnen ausführlicher beschäftigen werden, soll hier zunächst eine Übersicht über die sprachphilosophischen Werke, einschließlich der zu Humboldts Lebzeiten publizierten Schriften, geliefert werden. Bald nach seinem Tod erscheint 1836, von seinem Bruder Alexander veröffentlicht, das große sprachphilosophische Werk: 1836 „ Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwickelung des Menschengeschlechts “ Diese Arbeit ist zwischen 1830 − 1835 entstanden und stellt Humboldts Hauptwerk dar. Ich werde es im Folgenden abgekürzt als Sprachbau bezeichnen. Die Schrift wurde gemäß der Arbeitsweise Humboldts diktiert. Die Untertitel stammen nicht von ihm, sondern von seinem Sekretär Buschmann. Zum Teil haben sie sich in der Geschichte der Sprachtheorie als irreführend erwiesen. Das Werk ist eigentlich Band 1 eines dreibändigen Werkes über eine indonesische Sprache, die Kawi- Sprache auf der Insel Java, wie es im Titel des Gesamtwerks heißt. Der Sprachbau bildet die Einführung und enthält zugleich Humboldts Sprachtheorie. Band 2 und 3 erschienen erst 1838 und 1839. Sie werden in der Sprachphilosophie kaum berücksichtigt, obwohl sie gerade eine praktische Anwendung der Sprachauffassung von Humboldt dokumentieren. Der Sprachbau ist sicherlich Humboldts wichtigste Schrift, enthält jedoch nicht alles, was für seine Sprachtheorie von Bedeutung ist. Wir werden sehen, dass es sich um die letzte Fassung eines Werks handelt, das Humboldt immer wieder geschrieben hat. So gibt es von den darin enthaltenen Themen „ Allgemeine Sprachtheorie “ oder „ Einführung in das Sprachstudium “ mindestens fünf Fassungen. Die letzte Fassung vor dem Sprachbau, die einen ganz ähnlichen Titel trägt, in dem aber das Wort Verschiedenheit im Plural erscheint (daher im Folgenden 365 <?page no="380"?> verkürzt Verschiedenheiten), enthält manches für das Humboldt-Verständnis Wesentliche, das nicht in die letzte Fassung übernommen wurde. Das große postum erschienene Werk enthält etwas Entscheidendes nicht, oder zumindest nicht in der ausführlichen Form wie in den Verschiedenheiten: die Begründung der Sprachwissenschaft als Humanwissenschaft und die Ausführungen zu den Sprachen als historischen „ Individuen “ , die sich gegen die Klassifikation und die naturwissenschaftliche Methode in der Sprachwissenschaft wenden. Der Sprachbau ist mehrmals allein oder zusammen mit anderen Schriften neu herausgegeben worden: als Einzelpublikation in Berlin 1935, Hannover 1960 und 1968 (als Nachdruck der ersten Auflage). Zudem findet sich die Schrift in Gesammelte Werke in 7 Bde. (Berlin 1841 − 1852); in den Gesammelten Schriften der Preußischen Akademie der Wissenschaften in 17 Bde. (Berlin 1903 − 1936; Bd. 7) sowie der bereits erwähnten Ausgabe Werke in fünf Bänden von Flitner und Giel in Bd. 3 [neueste Auflage Darmstadt 2010]. Der Indogermanist Pott hat eine kommentierte Ausgabe vorgelegt: August Friedrich Pott (1876): Humboldt und die Sprachwissenschaft. 2. Bde. Berlin. [mehrere Neuauflagen, inzwischen auch als Nachdruck erhältlich] Der erste Band enthält eine Studie über Humboldt, der zweite Band die betreffende Schrift. Besondere Aufmerksamkeit verdient wegen ihrer Akribie und den scharfsinnigen Kommentaren die bereits erwähnte Ausgabe von Herbert Nette (Darmstadt, 1949). Diese Ausgabe markiert die Neubelebung der Humboldtstudien nach dem Zweiten Weltkrieg. Auf die Ausgabe von Steinthal, die in der Geschichte der Humboldt- Interpretation eine besondere Rolle gespielt hat, möchte ich später eingehen. Folgende Teile des Sprachbaus sind in allgemeiner Hinsicht besonders wichtig: - Der gesamte Anfang bis „ Lautsystem der Sprachen “ (§§ 2 − 14); - Genauere Darlegung des Sprachverfahrens (§ 24); - Hauptunterschied der Sprachen nach der Reinheit ihres Bildungsprinzips (§ 30) und Charakter der Sprachen (§§ 31 − 33). Natürlich lohnt es sich, alles zu lesen. Die Schrift ist aber unsystematisch und daher schwer verständlich, denn Humboldt möchte immer alles auf einmal sagen, was wegen der Linearität der Sprache nun einmal nicht möglich ist. 1827 − 29 „ Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues “ Ich komme nun zu der Schrift „ Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues “ , auf die ich mich im Unterschied zum Sprachbau mit der Kurzform Verschiedenheiten beziehen werde. Diese Arbeit ist vor dem Hauptwerk in den Jahren 1827 bis 1829 entstanden. Sie behandelt das gleiche Problem, jedoch geht es hier im Gegensatz zum Sprachbau in erster Linie um die Verschiedenheit. Im 2. Abschnitt „ Von der Natur der Sprache und ihrer Beziehung auf den Menschen im allgemeinen “ (§§ 34 − 66) werden die Grundideen Humboldts zur Sprache entwickelt. Hier finden sich Ausführungen, die zum Teil im Sprachbau fehlen, wie 366 <?page no="381"?> beispielsweise die bereits erwähnte Konzeption der Individualität der Einzelsprachen in Abgrenzung zu den Naturgegenständen. Auf der anderen Seite lässt sich beobachten, dass in diesem früheren Werk die vollendete Form des Gedankens noch nicht erreicht war. Am Anfang von § 35 steht der berühmte Satz: „ Die Sprache ist das bildende Organ des Gedanken. “ Kleinere Schriften Die Schrift „ Ueber das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung “ (1820) ist im Ganzen belangvoll, jedoch seien auch hier einige wesentliche Punkte besonders hervorgehoben: - Zur Ausbildung der Sprachen (§ 13) - Zu Begriff und Wort (§ 17 − 18) - Zur „ Sprache als Vermittlerin “ und zugleich zur Sprache als Weltauffassung und Weltansicht (§§ 20 − 21) Bei der Schrift „ Ueber das Entstehen der grammatischen Formen und ihren Einfluss auf die Ideenentwicklung “ (1822) ist der erste Teil der sehr langen Einleitung von Belang, und dort insbesondere der Begriff der „ grammatischen Form “ . Die Abhandlung „ Ueber den Einfluss des verschiedenen Charakters der Sprachen auf Literatur und Geistesbildung “ (1821) ist Fragment geblieben. Sie bietet nur eine Einführung in das Thema, kommt jedoch nicht zu dessen Behandlung. Das Bruchstück „ Ueber den Nationalcharakter der Sprachen “ (vermutlich 1822) ist vor allem in zweierlei Hinsicht von Bedeutung: Es findet sich dort eine sehr berühmte Stelle: „ Der Mensch denkt, fühlt und lebt allein in der Sprache. . . “ (Humboldt 2010, Bd. III, 77). Für mich und meine Interpretation Humboldts ist dieser Satz wegen des bestimmten Artikels bei Sprache sehr wichtig. Der Mensch denkt, lebt und fühlt nicht in einer Sprache, d. h. nicht etwa in einer geschlossenen, durch eine bestimmte Sprache gegebenen Welt. Ebenso ist die Stelle von Belang, wo die Sprache mit der Kunst verglichen wird, insofern beide „ das Unsichtbare sinnlich darzustellen “ bestrebt sind (ibid., 79). Dies war auch für Croce Anlass zu seiner Kritik an der Sprachauffassung von Humboldt, der hier die These von einer Parallelität, nicht jedoch der Identität von Sprache und Kunst vertrat. Der Akademievortrag „ Ueber die Buchstabenschrift und ihren Zusammenhang mit dem Sprachbau “ (1824) ist vor allem im Hinblick auf den Begriff der „ Gliederung “ von großer Wichtigkeit. Humboldt betrachtet die Artikulation, die Gliederung, als Charakteristikum der Sprache. Er steht hier in einer Tradition, die von Aristoteles bis zum Strukturalismus reicht. Die Abhandlung „ Ueber den Dualis “ (Akademievortrag von 1827) gibt Aufschluss über die Methode Humboldts beim Sprachstudium: Es kommt ihm nicht auf die Betrachtung nur einer Einzelsprache an, sondern darauf, den Vergleich eines Sprachteils in möglichst allen Sprachen durchzuführen. Bedeutsam ist die Schrift auch bezüglich des Problems der Alterität. Sie enthält eine Kritik der Auffassung der Sprache als eines bloßen Verständigungsmittels. 367 <?page no="382"?> Für eine Erweiterung und Präzisierung des Bildes von Humboldt sind noch die folgenden Schriften wichtig: Die „ Lettre à M. Abel Remusat “ (1827; cf. supra) ist wichtig wegen der Präzisierung des Begriffes der „ grammatischen Form “ und wegen des dort erscheinenden Begriffes der „ Sprachidee “ . Von besonderem Interesse ist auch das Fragment „ Untersuchungen über die amerikanischen Sprachen “ ; insbesondere die Einleitung „ Grundzuege des allgemeinen Sprachtypus “ (Humboldt 1906 [1824 − 26], 364 − 473). Sprachtypus ist hier nicht im Sinne der Sprachtypologie gemeint, sondern im Sinne von „ Sprachbau “ , „ Sprachstruktur “ . Es handelt sich um einen ersten Entwurf der Humboldt ’ schen Sprachtheorie, in der der Begriff des „ Organismus “ erscheint, und aus der Manches mehr oder weniger wörtlich in die späteren Arbeiten übernommen wurde. Ich habe dazu in meinem Aufsatz über Humboldts Sprachtypologie Stellung genommen (vgl. Coseriu 1972; span. als Kap. VIII von Tradición y novedad en la ciencia del lenguaje, Madrid 1977). In der „ Ankündigung einer Schrift über die Vaskische Sprache und Nation “ (1812, cf. supra) wird in eindringlicher Weise die These von der Sprache als Vermittlung formuliert. 12.4.2.3 Steinthals Humboldtausgabe Heyman Steinthals Humboldtausgabe hat die spätere Humboldt-Rezeption stark beeinflusst und soll daher hier etwas ausführlicher vorgestellt werden. Die sprachphilosophischen Werke Wilhelm ’ s von Humboldt, herausgegeben und erklärt von H. Steinthal. Berlin 1884. Dieses Werk enthält „ Über das vergleichende Sprachstudium “ , „ Über das Entstehen der grammatischen Formen “ , „ Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers “ und „ Sprachbau “ . Alle Schriften sind mit Erläuterungen und einem Kommentar von Steinthal versehen. Es handelt sich demnach um eine kommentierte und interpretierte Anthologie. In den Erläuterungen und im Kommentar bezieht sich Steinthal auch auf andere Schriften von Humboldt. Im Ganzen handelt es sich um eine organische, intelligente und sympathetische Lektüre des „ Sprachbaus “ im Zusammenhang mit anderen Texten. Die Ausgabe ist vor allem für die sprachwissenschaftliche Interpretation Humboldts interessant, weniger für die Sprachphilosophie. Auf die Sprachphilosophie Humboldts bezieht sich Steinthal in seiner Einleitung, in der er die Sprachauffassung Humboldts allgemein charakterisiert. Dieser lange Passus aus der Einleitung soll hier ganz zitiert werden: Ich glaube behaupten zu dürfen; Humboldts Ansicht ist kantisierter Spinozismus. Näher betrachtet liegen hierin drei Hauptpunkte: Der erste ist die Identität der Sprache mit dem menschlichen Geiste; und H. stellt sie mitten in jenes Problem, wie der einfache Geist sich in mannigfacher Tätigkeit offenbart, die eine Kraft sich in verschiedenen Richtungen zeigt, und wie überhaupt geistiges erscheint. 368 <?page no="383"?> Hieran knüpfte sich nun für H. sogleich weiter das Problem der Erkenntnis: wie erfasst das Denken das Sein? Vermittelst der Sprache, antwortet H., wiederum nur ein Rätsel durch ein Rätsel erklärend. Der andere Punkt ist empirisch: Humboldt erkannte, daß jede Sprache eine ganz individuelle Form habe; schließlich habe jedes Individuum seine Sprache. Diese empirische Entdeckung war der Stachel, der zur speculativen Erfindung trieb. Ist die Sprache so individuell, so sehr Sache des Einzelnen: wie ist Verständnis möglich? Ist Verständnis möglich, so ergab sich daraus für H. ohne weiteres, dass die Sprache nicht dem Einzelnen, sondern der Gesammtheit, schließlich der Menschheit gehöre. Die Frage aber ist nun: wie muss die Individualität gedacht werden, ohne daß sie aus der Gesammtheit herausfalle? Nicht das Sprechen, das Verstehen ist das wirklich Rätselhafte. So war der dritte Punkt gegeben: die Sprache ist einerseits das Band der Individuen, welches sie aneinander und an die unendliche Urkraft bindet; und sie ist andrerseits das individualisirende Prinzip, welches die Urkraft in die Wirklichkeit der Erscheinungen und in die geschichtliche Entwicklung versenkt. Da nun die Individualisierung zunächst und hauptsächlich in den Nationen vorliegt, so ist hiermit die Wichtigkeit der Verteilung der Menschen nach Völkern und somit die Wichtigkeit der Sprache für die Geschichte angesprochen. Was aber hier in drei Punkte zerschlagen ist, war für H. mit einem Schlage eine einzige Gedanken-Tat im Zusammenwirken aller seiner Kräfte. Dieses Zusammen von Speculation, Kunstsinn und Scharfblick war eben Wilhelm von Humboldt. (Steinthal 1884,14) Bei der Frage, wie Verstehen angesichts des individuellen Charakters der Sprachen möglich sei, nimmt Steinthal Bezug auf die Seiten in Sprachbau, auf denen Humboldt das erste Mal von der „ energeia “ spricht (§ 12, Anfang). Hieran schließt sich der berühmte Satz an, „ dass man ebenso richtig sagen “ könne, „ dass das ganze Menschengeschlecht nur Eine Sprache, als dass jeder Mensch eine besondere besitzt “ (Humboldt 2010, Bd.III, 424). Steinthals Ausführungen interessieren uns nicht nur wegen der Identifizierung dreier Hauptpunkte in der Sprachauffassung Humboldts, sondern auch wegen der abschließenden Behauptung, diese drei Hauptpunkte stellten für Humboldt nur eine einzige „ Gedankentat “ dar. Ich möchte hier nicht die Frage diskutieren, inwiefern die angeführten drei Hauptpunkte die sind, die Steinthal tatsächlich identifizieren wollte. Da es sich um die Zerlegung einer einzigen und einheitlichen „ Gedankentat “ handelt, könnten die Einzelpunkte, je nach den Kriterien der Zerlegung selbst, auch andere sein. Bemerkenswert scheint vor allem, dass Steinthals Zerlegung mittels Humboldt ‘ scher Begriffe erfolgt: „ Form “ , „ individuelle Form “ , „ unendliche Urkraft “ sind keine allgemeine Eigenschaften (etwa der deutschen Sprache), sondern es handelt sich um spezifisch Humboldt ’ sche Inhalte. Steinthal verwendet als Metasprache der Auslegung die Humboldt ’ schen Begriffe, die Sprache Humboldts. Zugleich erscheint in dieser Auslegung die Schlussfolgerung, „ dass die Sprache nicht dem einzelnen, sondern der Gesamtheit, schließlich der Menschheit gehöre “ (ibid.). Dies ist aber bei Humboldt nicht 369 <?page no="384"?> wirklich Schlussfolgerung, sondern seine Prämisse; d. h. was explizit als Schlussfolgerung erscheint, beruht auf einer impliziten Prämisse. 12.5 Humboldts Denkweise und „ Textstil “ als Problem der Interpretation Die Art, wie Steinthal verfährt, und seine Bemerkung zur Einheitlichkeit der „ Gedankentat “ Humboldts weisen zusammen - implicite - auf eine besondere Schwierigkeit der Auslegung dieses Autors hin. Es ist oft bemerkt worden, dass Humboldt über einen besonders schwierigen Stil verfüge. Schon Kant hatte nach der Lektüre des Aufsatzes „ Ueber den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluß auf die organische Natur “ aus dem Jahr 1795 bemerkt, der Verfasser scheine zwar ein guter Kopf zu sein, seine Abhandlung könne er dennoch nicht enträtseln. Wenn die Humboldt-Lektüre einem (wenn auch schon alten) Kant Schwierigkeiten bereitete, so darf unsereiner ruhig eingestehen, dass ihm die Lektüre ebenfalls nicht leicht fällt. Es handelt sich aber bei Humboldt nicht um einen besonderen „ Sprachstil “ , eine besondere Verwendung der sprachlichen Formen und Inhalte, sondern um einen besonderen „ Textstil “ , einen Stil der Darlegung, den man als „ unsystematisch “ charakterisieren kann. In einer üblichen „ systematischen “ Darlegung gehen wir, wie man zu sagen pflegt, „ der Reihe nach “ vor: Wir stellen z. B. eine Behauptung als allgemein gültig auf, führen dann eine Einschränkung ein, bemerken dann, dass diese Einschränkung unter gewissen Bedingungen aufgehoben wird und fügen schließlich hinzu, dass die aufgehobene Einschränkung unter gewissen anderen Bedingungen, für gewisse Fälle dennoch ihre Gültigkeit behält. Humboldt denkt die allgemeine Behauptung, die Einschränkung, die aufgehobene Einschränkung und die begrenzte Gültigkeit der aufgehobenen Einschränkung zugleich, in einem einzigen Gedankenakt − und will es auch zugleich sagen, was ihm freilich kaum gelingt, wegen des linearen Charakters des Sprechens. Aus diesem Grund kann er (mit Recht) behaupten, dass er mit einer bestimmten, mit einer anderen, fast identischen Darlegung, etwas völlig anderes gemeint habe, und umgekehrt, dass er mit verschiedenen Darlegungen das gleiche meine. Für die Lektüre bedeutet dies, dass man sich den gelesenen Text selbst organisieren und nach Hauptpunkten gestalten muss, bevor man ihn zum zweiten Mal liest. Es geht dabei nicht nur um die Frage des sprachlichen Stils, sondern auch um die Frage der Art und Weise des Denkens. Humboldts Denken ist manchmal als „ systematisch “ und in anderen Fällen als „ unsystematisch “ dargestellt worden. Beides trifft zu. Humboldt ist unsystematisch, in dem, was er sagt, und er ist systematisch in dem, was er meint. Mutatis mutandis kann vom Denken Humboldts das ausgesagt werden, was er über die Sprache sagt, nämlich „ damit der Mensch nur ein einziges Wort wahrhaft [. . .] verstehe, muss schon die Sprache ganz, und im Zusammenhang in ihm liegen “ (Humboldt 2010, III, 10). So setzt auch bei Humboldt jede Behauptung - wenn es nicht um empirische Feststellungen, sondern um spekulatives Denken geht - sein ganzes Denken 370 <?page no="385"?> voraus. Die systematische Ordnung liegt nämlich bei Humboldt im Bereich der Intuition und nicht im Bereich des diskursiven Denkens. Er hat eine einheitliche, systematische und organische Intuition von der Sprache, die er aber stets nur mühsam und nur in Bruchstücken zu explizieren vermag. So erklärt sich auch, dass er das gleiche Thema mehrmals, aber in verschiedener Weise behandelt. Ebenso sind die unendlichen Wiederholungen mit stets neuen Schattierungen zu erklären. Es sind jeweils in der Explikation mehr oder weniger zusammenhängende Bruchstücke, wobei aber jeweils die einzelnen Bruchstücke auf das Ganze der Intuition verweisen. So kann man auch sagen, dass die erste veröffentlichte Schrift zur Sprache ( „ Ankündigung einer Schrift über Vaskischen Sprache und Nation. . . “ , 1812) bereits im Keime seine gesamte Sprachauffassung enthält und dass darin auch schon die Punkte vorausgesetzt werden, von denen expressis verbis noch nicht die Rede ist, z. B. die Idee der „ energeia “ (das Wort erscheint nur im Sprachbau) und die des Weltbildes, die Humboldt in dieser Zeit noch nicht wirklich klar waren. 12.5.1 Konsequenzen für die Humboldt-Interpretation Angesichts des Schreib- und Denkstils Humboldts ergeben sich für die Interpretation zwei verschiedene Wege: - entweder derjenige einer systematischen Darstellung des von Humboldt zwar systematisch Gemeinten, aber nirgendwo systematisch Dargelegten; - oder derjenige einer Begleitung Humboldts bei der Explikation seiner Intuitionen, dergestalt, dass man der allmählichen Entfaltung dieser Intuitionen beiwohnen kann. Da meine Auslegung zugleich eine Anleitung zur Lektüre Humboldts sein soll, glaube ich, nur auf dem zweiten Weg Humboldt gerecht werden zu können. So werde ich also chronologisch vorgehen und Humboldt auf seinem Denkweg kritisch, aber sympathetisch begleiten. Erst am Ende kann dann versucht werden, eine resümierende Darstellung der Humboldt ’ schen Sprachauffassung zu liefern. 12.6 Die wichtigsten Fragen der Humboldt-Interpretation im Überblick 12.6.1 Humboldts Anthropologie Ich werde meine Humboldt-Auslegung mit der „ Ankündigung einer Schrift über die Vaskische Sprache und Nation “ von 1812 beginnen (cf. infra 12.7). Diese Schrift expliziert zum ersten Mal Humboldts Idee der Sprache in einigen ihrer Hauptzüge, steht jedoch ihrerseits im weiteren Zusammenhang mit dem anthropologischen Denken Humboldts. Steinthal stellt dies auf eine scheinbar naive, aber im Grunde zutreffende Weise fest: Worauf es mir dabei vorzugsweise anzukommen scheint, habe ich schon vor Jahren ausgesprochen: Die Klarheit der Idee der Humanität und die Anspannung des Gefühls der Humanität. Sie ist die Mutter der H.schen Sprachphilosophie, und diese ist eine ihrer schönsten Töchter. (Steinthal 1884, 14) 371 <?page no="386"?> Wir müssen uns darum zunächst auf die Hauptzüge des anthropologischen Denkens Humboldts beziehen, über das bereits die frühen politischen und ästhetischen Schriften Auskunft geben. Im Zentrum dieses Denkens, das zugleich Handlung, d. h. ein Beitrag zum Sein-Sollen, sein will, steht, wie bei Herder und Schiller, der Mensch, und zwar der Mensch in seiner unendlichen historischen Verschiedenheit und zugleich der Mensch als Idealform, genauer: als Bezugspunkt für die idealiter angenommene, jedoch stets als anwesend vorausgesetzte und wirkende Finalität der spezifisch menschlichen Handlungen. Man kann sich fragen, inwiefern dies alles als eine Art Neohumanismus mit dem historischen Humanismus, insbesondere dem italienischen, in Zusammenhang steht. Zusammenhänge bestehen möglicherweise mit Giordano Bruno, der auch von Hegel wieder aufgegriffen wird. Beim Neohumanismus geht es aber um etwas anderes. Im italienischen Humanismus ist das Zentralproblem das „ Zumeigenen-Bewusstsein-Kommen “ des Menschen. Daher betonte man die privilegierte Stellung des Menschen im Kosmos. Im Neohumanismus wird diese Erkenntnis schon vorausgesetzt; es geht eher um die Aufgaben des Menschen sich selbst gegenüber, um den Zweck des Menschen, die Erziehung des Menschen zum Menschen. Steinthal hat recht, wenn er von Humboldts Kantianismus spricht. Es gibt einen Zusammenhang mit Kant, der den Zweck des Lebens nicht im Glück, sondern im Verlangen nach der Vernunft und der Freiheit sieht. Hier geht es um die Freiheit des Menschen, die sich selbst in der Geschichte behauptet. Andere Zusammenhänge mit Kant bestehen in der philosophischen Anthropologie. Für Kant gibt es vier Probleme des Menschen: (a) Was kann ich wissen? − das erkenntnistheoretische Problem; (b) Was soll ich tun? - das ethische Problem, behandelt in der Kritik der praktischen Vernunft; (c) Was kann ich erwarten? - das teleologische Problem; (d) Was ist der Mensch? - das Problem, auf das man alle vier anderen Probleme zurückführen kann. 143 Der Zweck des Menschen ist für Humboldt die Erziehung des Menschen zum Menschen, die progressive Realisierung der idealen „ Menschheit “ (des idealen Menschseins) in der historisch gegebenen Menschheit. Dafür besitze der Mensch spezifische Kräfte - die geistigen Kräfte - und das charakteristische dieser Kräfte ist die „ Formativität “ , die Fähigkeit zu gestalten. Der Mensch gestaltet und bildet, d. h. er bezieht stets ein Gegebenes auf eine „ Form “ , die als solche noch nicht verwirklicht ist, sondern verwirklicht werden soll. Aber das, was der Mensch gestaltet, ist eigentlich er selbst als Wesen, das sich ein Ideal von sich selbst vorstellen kann. Den „ Geist der Menschheit “ als Idealform und determinierende Kraft findet man nie vollständig verwirklicht. In jedem Menschen und in jedem Volk verwirklicht er sich nur bis zu einem gewissen Punkt; man könnte deshalb jede 143 [Kritik der reinen Vernunft B 833: „ Was kann ich wissen? , Was soll ich tun? ; Was darf ich hoffen? “ In der Logik (1800), Einleitung 25 erweitert um „ Was ist der Mensch? “ ] 372 <?page no="387"?> menschliche Verwirklichung, jedes „ Produkt “ mit der Idealform vergleichen und den Grad ihrer Verwirklichung ermitteln, und dies sowohl bei Individuen, als auch bei Völkern und bei historischen Epochen. Goethe z. B. habe den Geist der Menschheit als Einzelner in höchstem Grade verwirklicht und die Griechen hätten es als Volk getan. Die historisch gegebene Menschheit soll und will sich dem Idealbild progressiv annähern. Die Realität des Menschen ist demnach dynamisch und finalistisch: sie ist bildend, sich selbst bildend. Dies darf nicht allein im pädagogischen Sinn verstanden werden, ist aber wenigstens zu einem Teil doch pädagogisch gemeint. Die menschliche Realität besteht in der Verwirklichung der Idealform der Menschheit, und somit ist es die Aufgabe des Menschen, die Humanität, den Geist der Menschheit, historisch zu verwirklichen. In diesem Sinne steht Humboldt im Gegensatz zu Hegel: Auch bei Hegel kann man von einer Aufgabe des Menschen sprechen. Bei ihm geht es jedoch nicht um die Verwirklichung eines Sein-Sollens, sondern um das Verstehen, um das „ Vernünftig-Machen “ , um die reflexive Annahme der Identität von Wirklichkeit und Vernunft, von Sein und Sein-Sollen. Als seine wichtigste Leistung betrachtet Hegel die Aufhebung der Differenz zwischen dem Sein und dem Sein-Sollen. Für Humboldt hingegen besteht die Aufgabe des Menschen in der Verwirklichung dieser Identität; für ihn hat der Mensch nicht nur eine Aufgabe, das Menschsein als solches ist schon Aufgabe. Es geht ihm nicht um das Verstehen des Gegebenen, sondern um das Handeln mit dem Ziel der Verwirklichung des noch nicht konkret Gegebenen, des nur ideal Gesetzten. Wir leben nicht in der besten aller Welten; wir haben die Möglichkeit, uns eine bessere Welt vorzustellen und uns auch unsere eigene Vollkommenheit vorzustellen. Es bleibt jedoch bei dieser Vorstellung, beim Versuch, vollkommener zu werden. Somit bleibt beim Menschsein der Abstand zwischen dem Sein und dem Sein-Sollen. Und ihn gibt es nur beim Menschen, der diese Vorstellung der Vollkommenheit überhaupt haben kann. Deshalb bleibt es Aufgabe des Menschen, diesen Abstand zu überwinden. Dies ist einerseits das nie erreichte und nie erreichbare Ziel, denn einen Abstand wird es immer geben, andererseits gibt dieses Ziel dem Menschen seinen Sinn. Humboldt denkt nicht an einen ständigen Fortschritt, sondern vielmehr an eine ständige Aufgabe. Rückschritt, Verfehlung des Ziels, Dekadenz sind für ihn jederzeit möglich. Die Verwirklichung der Idee der Menschheit in all ihren Formen zu untersuchen, ist die Aufgabe der allgemeinen philosophischen Anthropologie und ihrer verschiedenen Zweige. Zu diesen Zweigen gehören die Kunsttheorie, die Geschichtsphilosophie, die Staatstheorie, die Geschichte selbst als Historiographie. Denn auch die Kunst, die Politik und die Geschichte sind für Humboldt nichts anderes als Formen der Verwirklichung der Humanitätsidee. Dies alles ist Aufgabe des Individuums in seiner Eigenschaft als Bürger, nicht Aufgabe des Staates. Humboldt ist bemüht, die Einflussnahme des Staates auf das geistige Leben so weit wie möglich einzuschränken. Der Staat darf seiner Meinung nach nicht einmal die Bildung, die Verwirklichung des Geistes der Menschheit, lenken und leiten. Seine Aufgabe besteht ausschließlich darin, für die Freiheit und die Sicherheit des Einzelnen und der Gemeinschaften zu sorgen, damit diese sich frei entwickeln können. 373 <?page no="388"?> Die Philosophie Humboldts ist also eine Philosophie der freien Formativität, der Selbstbildung des Menschen. Welches ist nun die Stelle der Sprache, bzw. des Sprachstudiums innerhalb dieser Philosophie? 12.6.2 Die Stellung der Sprache in Humboldts Philosophie Die Sprache ist für Humboldt Formativität, mehr noch, sie ist das Modell, die allgemeine Form dieser Formativität. Sie ist nicht schon gemachte Sprache, nicht historisch gewordenes Kulturprodukt, so wie der Mensch auch nie der schon verwirklichte, sondern der sich verwirklichende Mensch ist. Die Sprache ist daher die Tätigkeit, die Sprachen (Sprachliches) schafft. Und als solche muss auch die Sprache ihre „ Finalität “ , ihre Idealform haben, die sich in den Sprachen nur allmählich und nur teilweise realisiert und stets jenseits des Realisierten bleibt. (Hier ist nicht der Ort, die Frage zu diskutieren, ob das, was Humboldt als die Idealform der Sprache ansieht, nämlich die Flexion, tatsächlich der Sprachidee entspricht.) Es muss also eine „ Sprachidee “ , eine „ Idealsprache “ als Normbegriff, als Ziel der Sprachen geben und somit ist es für Humboldt auch bei den Sprachen grundsätzlich möglich, den Grad ihrer „ Realisierung “ im Verhältnis zur Sprachidee festzustellen und sogar eine Art Skala der (immer relativen) Vollkommenheit der Sprachen aufzustellen. Alle Sprachen gleichen sich im Hinblick auf die Sprachidee, die sie verwirklichen, d. h. als konkrete historische Formen ein und derselben Bestrebung, die Idealform der Sprache schlechthin zu erreichen. Alle Sprachen sind aber zugleich verschieden, und zwar zum einen als verschiedene Stufen der Verwirklichung der Sprachidee, zum anderen auch auf ein und derselben Stufe; denn die Freiheit lässt nicht nur verschiedene Formen der Realisierung zu, sie schließt sie sogar ein. Wie für Vico ist auch für Humboldt keine Sprache uninteressant, denn es geht ihm nicht um die Sprache als Form von etwas Anderem, sondern wie für Vico um die Sprache selbst als verwirklichte Form, als „ Formatum “ . Aus diesem Grund kann Humboldt, ohne in einen Widerspruch zu geraten, sowohl die Einheit, die ideelle Identität aller Sprachen, und zugleich ihre unendliche Verschiedenheit vertreten. Die Sprache ist demnach die Tätigkeit, die die Sprachen macht. Sie schafft (verwirklicht) „ Sprachliches “ . Damit wird jedoch das Phänomen „ Sprache “ nur identifiziert, noch nicht charakterisiert. Sprachliches zu schaffen, ist für Humboldt nicht irgendeine, den anderen gleichgeordnete, unter den formativen, selbstbildenden Tätigkeiten des Menschen. Die Sprache ist vielmehr die erste unmittelbare Tätigkeit der geistigen Kräfte des Menschen. Mehr noch: Sie ist identisch mit diesen Kräften selbst in ihrer Tätigkeit. (In diesem Sinne ist auch für Humboldt - wie für Hegel - die Sprache das Dasein des Geistes als solches, das erste In- Erscheinung-Treten des Geistes.) Nichts im menschlichen Geist ist nicht-sprachlich. Da die Sprache selbst in der Tätigkeit der geistigen Kräfte besteht und da es keine geistigen Kräfte gibt, die untätig wären oder die man außerhalb ihrer Tätigkeit wahrnehmen könnte, so gibt es nichts im Menschen, was nicht als Sprache auftreten und sich nicht selbst in der Sprache erkennen wurde. (Dies würde 374 <?page no="389"?> einschließen, dass all das Übrige beim Menschen entweder als virtuell Sprachliches oder als Differenzierung des Sprachlichen aufgefasst werden müsste, aber das sagt Humboldt nirgendwo ausdrücklich.) Daher konnte Humboldt auch behaupten, alles was er treibe sei „ Sprachstudium “ (auch dort, wo es dem Anschein nach nicht um Sprache im engeren Sinne geht) und dass er die Kunst entdeckt zu haben glaubte, die Sprache als ein Vehikel zu gebrauchen, um das Höchste und Tiefste und die Mannigfaltigkeit der Welt zu erfahren. Das heißt, ohne dass sie mit den anderen Formen der Verwirklichung des Menschlichen einfach zusammenfällt, umfasst die Sprache all diese Formen. Dies gilt dann auch für die Sprachphilosophie und die Sprachwissenschaft (das „ Sprachstudium “ ) im Rahmen der allgemeinen Anthropologie. Das „ Sprachstudium “ fällt zwar nicht mit den anderen anthropologischen Disziplinen zusammen, bildet jedoch ihre Grundlage und zugleich ihr Modell. Man muss sich also das Verhältnis der Sprache zu den anderen formativen Tätigkeiten etwa folgendermaßen vorstellen: Die Sprache ist der Ursprung der formativen Tätigkeiten des Menschen. Die anderen Tätigkeiten entfernen sich mit der Zeit von ihrem sprachlichen Ursprung. So ist zum Beispiel Kunst einerseits noch Sprache und zugleich schon etwas anderes als Sprache. Ebenso muss man sich das Verhältnis zwischen der Sprachwissenschaft und den anderen anthropologischen Wissenschaften vorstellen. Es gibt auch keine faktische Trennung zwischen Philosophie und dem Studium etwa der Kunst, der Geschichte oder der Sprachen. Das Studium der Sprachen ist schon philosophische Anthropologie. Dies gilt auch dann, wenn man den Eindruck hat, man arbeite rein empirisch und treibe keine Philosophie. Das sollte zur Darstellung der Humboldt ’ schen „ einheitlichen Gedankenthat “ genügen. Sehen wir uns nun an - gründlicher als in den bereits gegebenen Kurzcharakterisierungen - wie diese Gedankentat in den einzelnen Schriften entfaltet und expliziert wird. 12.7 Die Schriften im Einzelnen 12.7.1 „ Ankündigung über die Baskische Sprache und Nation “ Ich beginne mit Humboldts erster sprachphilosophischen Schrift: „ Ankündigung einer Schrift über die Vaskische Sprache und Nation nebst Angabe des Gesichtspunctes und Inhalts derselben “ (zuerst 1812 in F. Schlegels Deutschem Museum 2; nun Humboldt 2010, Bd. V, 113 − 126). Es ist eine kurze Schrift. Von den zwölf Seiten sind nicht einmal alle der Sprachphilosophie gewidmet, sondern ein Teil der Schrift beschäftigt sich mit dem Land und den Sitten der Basken. Es blieb bei dieser Ankündigung, die Schrift selbst wurde nie geschrieben. Die „ Ankündigung “ enthält bereits in nuce den ganzen Humboldt. Wir finden hier zwei wichtige Punkte, nämlich die Sprache als Organismus und die Sprache als 375 <?page no="390"?> Vermittlung. Dem Scharfsinn von Steinthal ist diese Schrift nicht entgangen. In seiner Ausgabe der sprachphilosophischen Werke geht er gründlich auf sie ein. In der „ Ankündigung “ fasst Humboldt das „ Menschengeschlecht “ zuerst als eine Naturform auf: Das Menschengeschlecht ist in Nationen, Stämme und Racen getheilt; wie selbständig und frei das Individuum überall da ist, wo es sich seines Willens und seiner sittlichen Unabhängigkeit bewusst wird, so gehört doch das ganze Geschlecht auf eine ähnliche Weise, als die Geschlechter der Pflanzen und Thiere, der Natur an. (ibid., 113) Durch die ständige Bewegung der Grenzen innerhalb der Einheiten zeigten sich immer wieder andere Formen der Menschheit. Sicherlich gibt es nicht nur „ Trennung “ , sondern auch „ Vereinigung “ . Die Weltgeschichte müsse sowohl die Verschiedenheit als auch die Einheit des Menschengeschlechtes berücksichtigen. Beide Fragestellungen müssen ineinandergreifen auf eine Weise, die Humboldt nicht erörtert. Hier gehe es nur um das eine „ Geschäft “ der Weltgeschichte, um die artikulierte Mannigfaltigkeit der Nationen und Rassen. Schon hier stellen wir fest, dass sich Humboldt zwar auf die Verschiedenheit konzentriert, in ihr aber die Einheit entdeckt. Nach Humboldt kann man die ideelle Einheit der Menschheit gerade nur in den unendlich verschiedenen konkreten Formen entdecken. (Deshalb die Titel Verschiedenheiten, Verschiedenheit, wo es doch eigentlich um die Einheit geht.) Die Verschiedenheit setzt eben die Einheit voraus. Sie ist kein radikales Anderssein, sondern ein Anderssein innerhalb desselben. Es sei notwendig, der „ Weltgeschichte “ durch eine genaue Beschreibung der Menschheit in ihrer Verschiedenheit „ vorzuarbeiten “ . Dabei müsse man in erster Linie auf die Sprache zurückgreifen: Denn da der Unterschied der Nationen sich am bestimmtesten und reinsten in ihren Sprachen ausdrückt, so muss in einer solchen Beschreibung das Studium der Sprache mit dem der Sitten und der Geschichte zusammenstossen. . . (ibid., 115) Die sprachwissenschaftliche Methode sei jedoch noch nicht weit genug entwickelt, es fehle noch an „ festen Grundsätzen, die Verwandtschaftsgrade der Sprachen zu bestimmen “ (ibid.). Das Sprachstudium sei in dieser Hinsicht noch fragmentarisch; man begnüge sich „ mit ein paar Dutzend auf gut Glück aus einer Sprache herausgerissene[n] Wörter[n] “ und man habe noch „ zu schwankende Begriffe über die Art, wie die Sprache einer Nation zugleich Massstab und Mittel ihrer Bildung “ sei (ibid.). In diesem Rahmen formuliert Humboldt nun zwei seiner Hauptideen in Bezug auf die Sprache: die „ Idee der Sprache als Organismus “ die, wie bereits erwähnt, immer wieder missverstanden wird und die Idee der Sprache als „ Vermittlung “ . Entgegen der Zufälligkeit und der Willkür des Herausgreifens von Fragmenten müsse man jede Sprache als ein Ganzes betrachten. Dies sei nicht nur methodisch, sondern auch aus der Realität der Sprache selbst gerechtfertigt. Die Sprache - als Einzelsprache - sei ein Produkt einer formativen Tätigkeit, und deshalb sei sie „ organisch “ , d. h. diese Tätigkeit folge gewissen Bildungsprinzipien. Dies erkenne 376 <?page no="391"?> man vor allem daran, dass jede Sprache fremde Elemente „ assimiliert “ und somit ihren eigenen ähnlich macht: Man kann es als einen festen Grundsatz annehmen, dass Alles in einer Sprache auf Analogie beruht und ihr Bau, bis in seine feinsten Theile hinein, ein organischer Bau ist. Nur wo die Sprachbildung bei einer Nation Störungen erleidet, wo ein Volk Sprachelemente von einem anderen entlehnt, oder gezwungen wird, sich einer fremden Sprache ganz oder zum Theil zu bedienen, finden Ausnahmen von dieser Regel Statt. (ibid., 121) Die Ausnahmen seien in empirischer Hinsicht sogar die Regel, jedoch zeige die ständige Anpassung der fremden Elemente, dass die Analogie immer am Werke sei. Dieser Fall tritt nun zwar wohl bei allen, uns jetzt bekannten Sprachen ein - da wir von den Ursprachen und Urstämmen durch Klüfte getrennt sind, über die keine Ueberlieferung mehr hinüber hilft [. . .]. Allein wo eine Sprache ein fremdes Element in sich aufnimmt, oder sich mit einer anderen vermischt, da beginnt auch sogleich ihre assimilirende Thätigkeit, und ihr Bemühen, nach und nach denjenigen Stoff, welcher in der Vermischung den kürzern zieht, so viel als möglich, in die, dem anderen eigenthümliche analogische Bildung zu verwandeln, so dass durch diese Mischungen zwar kürzere und längere analogische Reihen entstehen, nicht leicht aber ganz unorganische Masse zurückbleibt. (ibid., 121) Ich nehme an, dass diese Idee von Humboldt auf den Kontakt mit Lorenzo Hervás zurückgeht, und es ist gerade an dieser Stelle interessant, wie beide dasselbe formulieren, der Sinn des Formulierten jedoch grundverschieden ist. Für Hervás ist die Sprache ein Organismus, ein festes System, das sich nicht ändert und sich jeweils durchsetzt, wenn der fremde Einfluss nicht allzu tief ist, und zwar deshalb, weil die Sprache von Gott erschaffen wurde und ihre feste Form erhalten hat. Humboldt hingegen sieht die Prinzipien der Sprache als unveränderlich, gerade weil sie vom Menschen gemacht wird. Sie bleibt sich stets gleich, da auch das Neue - auch als Anpassung des Fremden - jeweils auf einer Zurückführung auf die gleichen Prinzipien beruht. Es ist heute, nach so viel Arbeit auf dem Gebiet der Sprachbeschreibung, nicht leicht, genau einzuschätzen, was Humboldt mit diesen wenigen Sätzen bewirkt hat. Zum einen deshalb, weil wir nicht mehr das richtige Bild der Zeit, des damaligen Wissens und der herrschenden Ideologie haben, und zum anderen, weil durch den Positivismus eine Modifikation des Begriffs Organismus eingetreten ist; Organismus wird nunmehr als Naturorganismus verstanden. In Wirklichkeit entspricht der Begriff bei Humboldt und auch in der ganzen deutschen Romantik dem griechischen οργανισμός , das so viel wie „ Organisation, Strukturierung, zusammenhängendes Ganzes “ bedeutet. Er ist demnach ein Oberbegriff, der auch für Lebewesen anwendbar ist, da diese ebenfalls organisiert sind. Um deutlich zu machen, dass diese gemeint sind, musste man früher „ lebender Organismus “ sagen. Was nun die vor Humboldt gängigen Anschauungen betrifft, so gab es in der allgemeinen Grammatik, etwa in der Grammatik von Port Royal, auf der einen Seite allgemeine Prinzipien, die der Vernunft entsprechen sollten, auf der anderen Seite wurde alles, was sich damit nicht in Einklang bringen ließ, der Willkür des 377 <?page no="392"?> Sprachgebrauchs zugeschrieben. Es gab zwar den Begriff des génie de la langue, mit dem das spezifisch Einzelsprachliche erfasst werden sollte. Dies geschah aber mit so allgemeinen Kategorien, dass man nie zu einer wirklichen Charakterisierung einer Sprache gelangen konnte, sondern nur zu sehr groben Einteilungen von Klassen von Sprachen. So konnte man beispielsweise auf der Grundlage der Wortfolge zwei Arten von Sprachen feststellen, solche mit „ direkter “ oder „ normaler “ Wortfolge (Subjekt - Verb - Objekt) und solche mit abweichender, „ nicht normaler “ . Auch wenn diese Einteilung nur auf eine Sprache angewendet wurde, wurde sie damit nicht wirklich charakterisiert. Etwas völlig anderes ist es, wenn die Organisationsprinzipien nun für jede Sprache angenommen werden, wenn jede Sprache eigentlich ein „ Sprachtypus “ , eine Möglichkeit der Sprache im Allgemeinen wird. In diesem Fall bleibt nichts übrig, was einfach Willkür des Sprachgebrauchs wäre. Hier ist dann gerade die „ unorganische Masse “ , die in der Sprache zurückbleibt, nicht allgemein sprachlich, für alle Sprachen geltend, sondern für jede Sprache typisch. Damit wird ein radikaler Übergang von der Klasse zum Individuum vollzogen. Jede Sprache wird als Individuum aufgefasst. Es gibt nur die Klasse Sprache, die aber auch keine Klasse im üblichen Sinne ist, sondern eine Idealform, die sich in Individualsprachen verwirklicht. Was ist hier geleistet worden? Es wurde die Methode der immanenten Sprachbeschreibung begründet: Jede Sprache wird nun von ihrem eigenen Gesichtspunkt aus beschrieben. Was einen bei Humboldt immer wieder einmal stört, hängt damit zusammen, dass er kein Philosoph im technischen Sinne ist. Er vermag nicht alles zu reflektieren, und daher erscheinen ihm selbst manche seiner Intuitionen als geheimnisvoll. Leider ist der daraus resultierende „ dunkle “ Stil später zum Teil von der deutschen Sprachphilosophie übernommen worden. Steinthal glaubt, Humboldt habe sich, da seine „ Ankündigung “ in Schlegels Zeitschrift erschien, an den Stil der deutschen Romantik anpassen wollen. Das halte ich für unwahrscheinlich; denn ein solcher „ Diplomat “ war er nicht. Außerdem ist die Ausdrucksweise in der „ Ankündigung “ keine singuläre Erscheinung in seinem Werk. Ich gebe nun ein Beispiel für das, was bei Humboldt stört: Auch die wirklich vorhandene Analogie lässt sich indess nicht immer mit Glück bis in ihre feinsten Zweige verfolgen. Die Zeit verwischt ihre Spuren; Mittelglieder der Reihen gehen, da die Elemente der Sprache auch in ihrem wechselnden Entstehen und Untergehen lebendigen Individuen gleichen, verloren; ja der Mensch selbst, welcher die Sprache mit bilden geholfen bat, und noch hilft, ist sich nicht immer der Analogie, welcher er instinctmässig folgt, bewusst, und das in ihren einzelnen Gliedern zertrennte Bewusstseyn der Nation lässt sich nicht in Einen Brennpunct lebendig vereinigen. Zu dem eigentlichen Wesen der Sprache kommt man überdies durch keine, auch noch so vollständige Zergliederung. Es gleicht einem Hauche, der das ganze umgiebt, aber, zu fein, an dem einzelnen Element seine Form für das Auge verliert, wie der Nebel des Gebirgs nur aus der Ferne Gestalt hat, so wie man aber in ihn hineintritt, formlos umherstiebt. (ibid., 121 f.) 378 <?page no="393"?> Es gibt also eine Analogie, die für eine bestimmte Sprache einheitlich ist, aber leider kann man sie nicht erkennen. Sie „ gleicht einem Hauch “ . Dies erklärt, warum die Humboldt ’ sche Linguistik es so schwer gehabt hat, sich zu einer Methodik zu entwickeln. Dieses Ziel ist bis heute nicht erreicht worden. Nach meiner eigenen Auffassung gleicht das Wesen der Sprache nicht „ einem Hauch “ und der Sprecher als Sprachschöpfer verfährt auch nicht „ instinktmäßig “ . Das sprachliche Wissen ist zwar kein theoretisches, reflexives, jedoch deshalb keineswegs ein unbewusstes Wissen. Es gehört zum Typ der Erkenntnis, den Leibniz cognitio clara confusa nannte: 144 Es gehört nicht zur begründbaren, aber doch völlig sicheren Erkenntnis, die sich im Handeln, in der sprachlichen Tätigkeit selbst, manifestiert. Dieses intuitive Wissen des Sprechers auf die Ebene der Reflexivität zu heben, zur cognitio clara distincta adaequata zu bringen, ist Aufgabe des Linguisten. Dieser kann und muss diese ideelle Einheit der sprachschaffenden Verfahren in jeder Sektion des Sprachsystems entdecken und dann die ideelle Einheit der verschiedenen Sektionen eines Sprachsystems, d. h. den Sprachtypus, erkennen. Dafür kann man Verfahren entwickeln und durch diese die Intuition Humboldts voll bestätigen, ohne beim „ Nebel des Gebirgs “ Zuflucht zu suchen. Nun aber zurück zur Idee des Organismus. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass in dieser frühen Schrift auch diejenigen Ideen implizit anwesend sind, von denen explizit noch nicht die Rede ist, so die Ideen der energeia und des „ Weltbilds “ . Da die Sprache nicht einfach das sprachlich Gemachte ist, sondern dieses „ analogische Machen “ , ist sie nicht Werk, sondern Tätigkeit, und da diese Tätigkeit auch zuvor noch nicht Gemachtes hervorbringt, muss sie schöpferische Tätigkeit sein: energeia. Da eine Sprache ein einheitlicher und eigentümlicher „ Organismus “ ist, muss sie es sowohl im Ausdruck wie auch im Inhalt sein. Die eigentümliche Gesamtheit der Inhalte einer Sprache in ihrem objektiven Bezug ist dann nichts anderes als das, was später das „ Weltbild “ dieser Sprache genannt wird, die „ Objektivität “ , so wie sie von dieser Sprache erfasst wird. So könnte man sagen, dass auch der Begriff der „ Form “ (als „ Gestaltung “ , „ formative Tätigkeit “ ) im Begriff der Sprache als eines werdenden Organismus schon mitgegeben ist, obwohl dieser Begriff nicht ausdrücklich formuliert wird. Allerdings betreffen diese Begriffe vorerst nur das „ Wie? “ der Sprache (und der Einzelsprachen) und noch nicht ihr „ Was? “ , das zugleich auch ihre „ Funktion “ , d. h. ihr „ Wozu? “ sein kann. Was wird in der Sprache organisch geformt und worin besteht eigentlich das zu Gestaltende? Zu dieser Frage, wenigstens zur ersten Hälfte dieser Frage (genauer, auch schon zur entsprechenden Antwort) gelangt Humboldt auf dem Wege seiner Frage nach der Methodik des Sprachstudiums. Für ihn ist das Wesen der Sprache bei der Betrachtung einer einzigen Sprache noch nicht erfassbar. Man kommt ihm näher, wenn man immer mehr verschiedene 144 [cf. Meditationes de Cognitione, Veritate et Ideis] 379 <?page no="394"?> Sprachen betrachtet. Dabei werde sowohl die Individualität einer jeden Sprache als auch die Universalität der Sprache schlechthin immer deutlicher. Dazu ist zu bemerken, dass dies im Grunde eine empirische Forderung ist, denn grundsätzlich sollte es möglich sein, das Universelle und zugleich das Individuelle einer Sprache durch die Kraft der Vernunft allein abzusondern, sobald man die Sprachidee als solche erfasst hat. Andere Möglichkeiten als die in einer bestimmten Sprache gegebenen kann man sich vorstellen, wenn man verstanden hat, dass die eigene Sprache nur eine Möglichkeit der Sprache überhaupt verwirklicht. Es ist bekannt, dass viele Kinder Sprachen erfinden. Dies zeigt, dass Kinder die Distanz zwischen ihrer eigenen Sprache und der Sprachidee intuitiv erfassen. Das Sprachstudium ist nur ein empirischer Weg zu einem Ziel, das auch auf theoretischem Weg erreicht werden kann. Methodisch ist jedoch der Vergleich durchaus hilfreich: Wenn man immer wieder Unterschiedliches und Gleiches feststellt, fällt es leichter, das Verschiedene der Individualität der Sprachen zuzuschreiben und sich in Bezug auf das Gleiche zu fragen ob es seine Motivation in der Sprachidee selbst hat oder ob es auf den Zufall der Geschichte zurückzuführen ist. Bei Humboldt geht es jedoch nicht nur um das empirische Prinzip, sondern darum, dass die Verschiedenheit selbst, die Mannigfaltigkeit als solche, zum Wesen der Sprache gehört und das anthropologische Studium diese Mannigfaltigkeit zu rechtfertigen hat. Dies ist jedoch für Humboldt noch nicht das Wichtigste. Wesentlich ist, dass Humboldt damit zur Idee der Sprache als Vermittlung gelangt. Auf dem Wege der Analyse und des Vergleichs verschiedener Sprachen nämlich gelange man notwendigerweise über die Sprache hinaus, denn man kommt zugleich zu dem in der Sprache und durch die Sprache Gegebenen. Er formuliert dies auf eine besonders eindringliche Weise: Wenn man diesen Weg [den Weg des Sprachstudiums in Bezug auf verschiedene Sprachen] richtig verfolgt, gelangt man indess freilich selbst über die Gränzen des blossen Sprachstudiums hinaus. Denn die Sprache ist überall Vermittlerin, erst zwischen der unendlichen und endlichen Natur, dann zwischen einem und dem andern Individuum; zugleich und durch denselben Act macht sie die Vereinigung möglich, und entsteht aus derselben; nie liegt ihr ganzes Wesen in einem Einzelnen, sondern muss immer zugleich aus dem andern errathen, oder erahndet werden; sie lässt sich aber auch nicht aus beiden erklären, sondern ist (wie überall dasjenige, bei dem wahre Vermittelung Statt findet) etwas Eignes, Unbegreifliches, eben nur durch die Idee der Vereinigung des, für uns und unsre Vorstellungsart, durchaus Geschiedenen Gegebenes, und nur innerhalb dieser Idee Befangenes. Ihre Betrachtung, die jedoch, um nicht chimärisch zu werden, von der ganz trocknen, sogar mechanischen Zergliederung des Körperlichen und Construirbaren in ihr anfangen muss, führt also bis in die letzten Tiefen der Menschheit. (ibid., 122) Zunächst fragt man sich bei der Analyse einer Sprache ganz unschuldig, was dies oder jenes „ bedeutet “ . Wenn man jedoch fragt, was bedeuten bedeutet, so kommt man zum Wesen der Sprache und zugleich über die Sprache hinaus, da es eben zum Wesen der Sprache gehört, auf ein anderes als sie selbst hinzuweisen. In meinem Bedeuten ist immer auch zugleich der „ Andere “ , der „ Mitsprechende “ gegeben. 380 <?page no="395"?> Man entdeckt also, dass die Sprache doppelte Vermittlung ist: einerseits zwischen dem „ Ich “ und dem „ Sein “ (das, was hier die „ objektive Dimension der Sprache genannt werden soll), andererseits zwischen dem „ Ich “ und dem „ Du “ (das, was hier als intersubjektive Dimension der Sprache, als ihre „ Alterität “ bezeichnet werden soll). Die Dinge sind für mich dies und jenes in der Sprache und durch die Sprache. Die Sprache ist eben „ Vermittlerin “ , weil sie als meine Bedeutung, als mein Wort, mir gehört, eine Form von mir selbst ist, durch die objektive Ausrichtung der Bedeutung jedoch den Gegenstand nicht nur in seiner Objektivität belässt, sondern eigentlich in seine Objektivität rückt. Der bedeutete Gegenstand ist nicht einfach mein Eindruck und meine Vorstellung, sondern etwas als außerhalb von mir selbst bestehendes Vorgestelltes. „ Bedeuten “ ist aber zugleich „ Bedeuten für einen Anderen “ . In gewisser Hinsicht könnte man sagen, dass die Sprache die Vereinigung von „ Ich “ und „ Du “ ermöglicht, weil sie das Ich dem Du vermittelt und umgekehrt. Diese Vermittlung setzt aber voraus, dass das Ich und das Du schon analog, schon virtuell vereinigt sind, dass das Du als ein anderes Ich verstanden wird, welches die gleichen Bedeutungen und dadurch die gleichen Dinge kennt. In dieser Hinsicht „ entsteht “ die Sprache aus der Vereinigung, sie macht sie manifest ebenso wie die Tatsache, dass man die Einheit schon im Voraus angenommen hat. Wenn ich etwas ganz Einfaches sage; beispielsweise Pferd, dann sage ich nicht etwas, was nur für mich „ Pferd “ ist (obwohl ich natürlich mit dieser Möglichkeit spielen kann, z. B. indem ich „ Pferd “ sage und dabei „ Esel “ denke, nicht aber wenn ich „ eigentlich “ spreche - und sogar in diesem Fall, d. h. wenn ich spiele, denke ich mich als einen Anderen, der mich versteht und der weiß, dass ich mit „ Pferd “ eigentlich „ Esel “ meine). Anders ausgedrückt, Bedeuten setzt voraus, dass Bedeutung nicht nur meine Bedeutung, sondern etwas Intersubjektives ist. Mein Verhältnis zum Gegenstand bildet sich über die intersubjektive Bedeutung, so dass der Gegenstand selbst im Akt des Bedeutens als etwas aufgefasst wird, das auch für andere „ dasselbe “ ist. Man kann auch sagen, dass die Sprache gerade diese im Voraus angenommene Identität des Gegenstandes für mich und für andere zeigt, dass sie Kommunikation von etwas ist, indem sie Kommunikation mit jemandem ist. Schematisch lässt sich dies folgendermaßen darstellen: G W Du Ich Das Wort (W) - die Sprache - ist Vermittlung zwischen Ich und Du, jedoch nicht Vermittlung der bloßen Ich-heit, sondern zugleich Vermittlung des objektiven 381 <?page no="396"?> Gegenstandes (G) für uns beide. Der Gegenstand selbst befindet sich durch die Sprache „ zwischen “ uns beiden. Ich meine den Gegenstand, indem ich ihn auch als von dem anderen gemeint meine. Da nun die Sprache „ Vermittlung “ ist, muss man sie auch als Vermittlung denken, um sie genau zu verstehen, und das ist alles andere als leicht. Es gehört zum Wesen der Vermittlung, dass es sehr schwer fällt, bei ihr selbst zu bleiben, da man ständig entweder in den Bereich des Vermittelnden oder in den des Vermittelten abgleitet, wobei die Vermittlung selbst verloren geht und auch das Vermittelte und das Vermittelnde nicht mehr als solche gegeben sind, d. h. nicht mehr das, was sie nur in der Vermittlung sind. Humboldt äußert sich in dieser Hinsicht wie folgt in Bezug auf die erste Dimension der Sprache: Man muss sich nur durchaus von der Idee losmachen, dass sie sich so von demjenigen, was sie bezeichnet, absondern lasse, wie z. B. der Name eines Menschen von seiner Person, und dass sie, gleich einem verabredeten Chiffre, ein Erzeugniss der Reflexion und der Uebereinkunft, oder überhaupt das Werk der Menschen (wie man den Begriff in der Erfahrung nimmt) oder gar des Einzelnen sey. (ibid., 122 f.) Die Sprache als Zeichensystem für schon auf andere Weise gegebene Dinge anzusehen, bedeutet, dass man sie eben nicht mehr als „ Vermittlung “ versteht; denn die Dinge werden dann als außerhalb der Vermittlung stehend, als nicht vermittelt gedacht. Darin liegt eben die Gefahr der Idee von der Sprache als eines Zeichensystems oder, schlimmer, als einer Semiotik unter anderen. Die Tatsache, dass für die durch die Sprache gegebenen Bedeutungen auch andere Semiotiken möglich sind, bedeutet nicht, dass die Sprache einfach eine Semiotik ist, sondern nur, dass sie Semiotiken ermöglicht, dass man die durch die Sprache vermittelten (und als solche vom Verstand festgehaltene) Dinge auch anders nennen kann. Die Sprache ist nicht eine Semiotik unter anderen, ein Exemplar der Klasse „ Semiotik “ , sondern das Modell aller Semiotiken. Die Sprache als Vermittlung zu begreifen, bedeutet, dass man sie gerade in ihrem Bezug auf ein anderes, das nicht sie selbst ist, denkt. Sie ist nicht das andere und das andere ist nicht Sprache; sie ist nur Sprache in Bezug auf ein Anderes, und das andere ist nur in der Sprache als „ etwas “ gegeben. Wenn das Andere keinen Namen hat, so ist es doch ein „ das “ (so wie in „ Was ist das? “ ). Aber auch in diesem Fall ist es sprachlich gegeben, nämlich als ein „ das “ . Anders gesagt: Das Wort ist bedeutendes Wort nur im Hinblick auf den Gegenstand, sonst ist es selbst ein Gegenstand, der benannt werden kann. Der Gegenstand ist dieser oder jener nur in dieser (virtuellen) Bezeichnungsrelation und nicht irgendwie an sich. Dieser Tisch zum Beispiel ist ein Tisch, ein Gegenstand, ist ein Stück Holz, etwas Gelbes, etwas Viereckiges, ein Brett mit Beinen usw. je nach der Benennung. Ein Ding ist dieses oder jenes nur in einer bestimmten Bezeichnungsrelation. Hiermit meine ich auch, dass das Wort ohne einen Bezug zur Objektivität kein Wort mehr ist. Aber auch die Dinge existieren nicht als solche, denn ohne sprachlichen Ausdruck verlieren sie ihre Objektivität als dieses oder jenes bestimmte Ding. 382 <?page no="397"?> Ohne das Wort ist das Ding nur ein nicht fixierbarer und nicht mitteilbarer momentaner Eindruck für mich und nichts weiter. Humboldt sieht sehr wohl, dass es sowohl Wort als auch Gegenstand nur in gegenseitiger Vermittlung geben kann. Eine weitere Möglichkeit, von der Humboldt nicht spricht, soll hier ausdrücklich ausgeschlossen werden. Es gibt keine magische Identität von Wort und Gegenstand, denn das Wort ist nicht der Gegenstand. Das Wort Pferd ist weder das Pferd an sich noch ist es die Klasse Pferd. Gerade die Tatsache, dass wir das Pferd anders nennen könnten, hebt hervor, dass das Pferd eine Sache ist, die vermittelt wird in der Sprache. Das Pferd ist auch etwas anderes als die Bedeutung ‚ Pferd ‘ , eine rein mentale Gegebenheit. Das Pferd gehört nicht wie die Bedeutung ‚ Pferd ‘ zugleich im Ganzen mir und im Ganzen dir. Es gehört zum Wesen der Vermittlung, dass in ihr das Andere mitgegeben ist, aber gerade als ein Anderes. Wort und Sache sind unterschieden, andererseits sind sie jedoch nur in ihrer gegenseitigen Beziehung gegeben. Das Gleiche - mutatis mutandis - könnte man auch bezüglich der Vermittlung zwischen Ich und Du sagen. Auch das Du ist Du als ein anderes Ich nur in dieser Vermittlung. Außerhalb der Vermittlung ist es nicht mehr Du, zweite Person, sondern Es, dritte Person oder besser Nicht-Person, ein Etwas, von dem man sprechen kann. Jedoch hat das Er gegenüber dem Es die Eigenschaft, dass es ein potentielles Du ist, dass es als das „ Es “ aufgefasst wird, das jederzeit zu einem Du werden kann und, wie das Ich, von sich selbst „ Ich “ sagen kann. Diese Beziehung zwischen dem Ich und Du wird von Humboldt noch weiter verfolgt. Die Sprache sei nicht als Werk des „ Einzelnen “ aufzufassen: Als ein wahres, unerklärliches Wunder bricht sie aus dem Munde einer Nation, und als ein nicht minder staunenswerthes, wenn gleich täglich unter uns wiederholtes, und mit Gleichgültigkeit übersehenes, aus dem Lallen jedes Kindes hervor, und ist (um jetzt nicht der überirdischen Verwandtschaft des Menschen zu gedenken) die leuchtendste Spur und der sicherste Beweis, dass der Mensch nicht eine an sich abgesonderte Individualität, besitzt, dass Ich und Du nicht bloss sich wechselseitig fordernde, sondern, wenn, man bis zu dem Puncte der Trennung zurückgehen könnte, wahrhaft identische Begriffe sind, und dass es in diesem Sinn Kreise der Individualität giebt, von dem schwachen, hülfsbedürftigen und hinfälligen Einzelnen hin bis zum uralten Stamme der Menschheit, weil sonst alles Verstehen bis in alle Ewigkeit hin unmöglich seyn würde. (ibid., 123) Es ist bei Humboldt gar nicht unüblich, dass ein Satz mehrere wichtige Ideen enthält, die gar nicht unmittelbar zusammenhängen. Dies ist auch hier der Fall; wir können vier Ideen unterscheiden: (1) Die Sprache entspringt dem Munde einer Nation - einer unter verschiedenen „ Kreisen der Individualität “ , die sich feststellen lassen; (2) der Ursprung der Sprache erfolgt fortwährend ( „ die Sprache bricht aus dem Lallen jedes Kindes hervor “ ); (3) die Annahme einer ursprünglichen Identität von Ich und Du; (4) die Frage nach der Möglichkeit des Verstehens. 383 <?page no="398"?> Den ersten Punkt werden wir erst an dritter Stelle diskutieren, den zweiten im Zusammenhang mit der Frage nach dem Ursprung der Sprache bei der Besprechung der Abhandlung „ Über das vergleichende Sprachstudium “ . Wir beginnen mit dem dritten Punkt, nämlich der ursprünglichen Identität von Ich und Du. Man kann sich zunächst fragen, ob dies ein Anklang an Friedrich Schlegels Auffassung von der ursprünglichen Identität von Ich und Du im sogenannten Ur-Ich sein kann (cf. supra 6.3.2.1): Vielleicht spielt Steinthal darauf an, wenn er von der Mystik bei Humboldt spricht und sie damit rechtfertigt, dass die „ Ankündigung “ in Schlegels Zeitschrift erschienen ist, vielleicht ist die These aber auch zugleich ein Korollar der von Humboldt selbst postulierten Einheit aller Menschen durch die Idee der Menschheit. Bei Friedrich Schlegel, der ins Du auch die Natur aufnimmt, ist die angenommene Einheit von Ich und Du eine gegenstandsleere Vereinigung, eine Vereinigung ohne einen gemeinsamen „ Gegenstand “ , eine bloße Kundgabe des Ich und des Du, die als solche kaum noch etwas mit der Sprache zu tun hat. „ Ich bin ich und du bist du “ sagt das Ich. „ Nein, ich bin ich und du bist du “ sagt das Du, und dies ist ihr ständiges und einziges Gespräch, ein Gespräch, das sie auch ohne Worte, durch ihre bloße Kopräsenz führen könnten. Bei Humboldt ist es anders, und dies wird gerade durch die die objektive Dimension der Sprache deutlich: Die Gemeinsamkeit von Ich und Du ist zugleich die der Dinge, die das Ich und Du gemeinsam haben und die durch die Sprache als gemeinsame erscheinen. Hier haben das Ich und Du Gesprächsstoff: das gesamte Verständnis der Welt, das gemeinsam ist und gemeinsam werden muss. Hier können das Ich und Du mit den gemeinsamen Gegenständen gemeinschaftlich operieren. Dies wäre nicht möglich, wenn ich annehmen müsste, dass die Dinge für uns nicht die gleichen wären. Mit einem Geistesgestörten, der das, was wir für einen Stock halten, als Schlange ansieht, kann man nicht kooperieren. Aber wie soll man nun die „ ursprüngliche Identität “ von Ich und Du verstehen? Sicherlich nicht als natürliche Identität, als Identität außerhalb der Ich-Du- Relation, wie Humboldt sie zu verstehen scheint. Die Alterität ist in Wirklichkeit nichts anderes als eine Dimension der Ich-heit. Es ist die Offenheit (das Offen-Sein) des Ich selbst, sein Anspruch auf seine eigene Universalität. Ich als Ich beanspruche meine eigene Universalität und die Universalität der Sachen, die ich durch Bedeutungen bezeichne, nicht als eigene Universalität, sondern als Universalität der Welt. Ich könnte diese Universalität nicht beanspruchen, wenn dies nur meine Sachen, meine „ Privatsachen “ wären, wenn dies nur meine Welt im engeren Sinne wäre. Die Welt der Dinge muss auch die der anderen sein, damit diese Dinge objektiv sind und nicht nur meinen Vorstellungen entsprechen. Hierzu müssen aber auch die anderen potentielle Ichs sein. Diese „ Potenz “ wird ihnen stets vom Ich verliehen, und diese Verleihung erfolgt eben durch die Sprache. Wenn ich mit dem Anderen spreche, nehme ich an, dass er jemand ist, der verstehen kann, d. h. so mit der Sprache operieren kann wie ich. Ich weiß es nicht ihm voraus, ob er dieselben Bedeutungen hat wie ich, ich schreibe ihm aber diese Fähigkeit zu. Ich gehe von einer potenziellen Du-heit aus, indem ich mich selbst als ein mögliches Du verstehe für das andere Ich. Daher ist die Du-heit nichts anderes als eine anerkannte 384 <?page no="399"?> potenzielle Ich-heit. Sie ist insofern eine „ verliehene “ Ich-heit, als das nur Potenzielle überhaupt nicht erkannt werden kann. Wir verleihen diese potenzielle Ich-heit, die Fähigkeit, Sprache aufzunehmen und zu verstehen, nicht nur an Menschen, sondern auch an Tiere und an Sachen - wenn wir nicht mit Menschen sprechen können - als ob sie uns verstehen könnten. Hier stellen wir dann aber fest, dass sie uns nicht verstehen. Im Falle der Menschen haben wir aber die Bestätigung dafür, dass unsere Verleihung der Ich-heit nicht umsonst war, denn sie verstehen uns - manchmal - tatsächlich. Damit sind wir bereits beim vierten Punkt angelangt, beim Problem des Verstehens. Wir nehmen an, dass uns die anderen verstehen, indem wir den anderen diese Fähigkeit des Verstehens zugestehen. Damit sie uns aber verstehen, müssen wir auch verständlich sprechen. Da grundsätzlich jeder nur seine eigenen Bedeutungen denken und somit verstehen kann, muss man sich darum bemühen, die Bedeutungen der anderen zu erlernen, um stets mit diesen Bedeutungen zu sprechen, so dass das Ich zum Du wird, die Ich-heit des anderen übernimmt. Und genau dies ist „ Sprache lernen “ , wie es auch die Kinder tun. Sprache lernen ist nichts Äußeres, das wir uns aneignen. Das Kind versucht stets, die Bedeutungen der Umwelt zu seinen eigenen zu machen. Hierbei verzichtet es auf seine eigenen Sprachschöpfungen. Das Kind bleibt nur in dem Maße bei seinen eigenen Bedeutungen, wie sie von den anderen gelernt und übernommen werden. Falls sich dies aber nur auf einen bestimmten Kreis bezieht (z. B. den Familienkreis), dann wird es auf diese bestimmten Bedeutungen, auf diese kleine Sprache der Familie verzichten. Der Prozess der Spracherlernung dauert daher ein ganzes Leben lang und kommt nie zu einem Ende. Man übernimmt stets die Sprache der Anderen, und das „ Wie bitte? “ , „ Wie meinen Sie das? “ , „ Was verstehen Sie darunter? “ hört niemals auf. Das Verstehen wäre sicherlich unmöglich, wenn jedes Ich in sich geschlossen bleiben würde. Das Verstehen wäre ein Geheimnis, wenn es nur Tatsache wäre. Es ist aber nicht nur Tatsache, sondern zugleich und an erster Stelle die ständige Aufgabe der Übernahme der „ Anderen “ in uns selbst, und es ist nur in dem Maße Tatsache, in dem wir diese Aufgabe schon erfüllt haben, in dem wir „ verstanden haben “ . Das Problem des Verstehens führt uns nun zur Frage des Verhältnisses zwischen der Sprache und der Nation. Dies ist ein Punkt, den ich für eine besondere Schwäche Humboldts halte. Steinthal hatte vielleicht diesen Punkt vor Augen, wenn er ihn spinozistisch nannte. Humboldt denkt hier naturalistisch, er denkt die Nationen als species, als naturgegeben, als eine natürliche Einteilung der Menschheit. Hier finden wir eine Inkohärenz in seinem anthropologischen Denken, denn die Nation ist nicht ein Gegebenes, sondern ein Werdendes. Sie ist nur in dem Maße gegeben, indem sie schon geworden ist. In diesem Sinne ist sie aber auch eine Dimension des Einzelnen. Die Sprache entspringt sicherlich nicht dem Munde des Einzelnen, der völlig frei von jeder nationalen Determinierung wäre, aber sie bricht auch nicht aus dem Munde der Nation hervor; denn die Kollektivität als solche hat keinen Mund und kann nicht sprechen. 385 <?page no="400"?> Heute hat die Angst vor der persönlichen Verantwortung dazu geführt, dass man immer wieder „ wir “ anstelle von „ ich “ sagt. In Wirklichkeit aber glaubt, meint und will jeweils nur der Einzelne, und nur der Einzelne schafft etwas: Der Schöpfer kann unbekannt sein, aber „ die Kinder von unbekannten Eltern sind nicht Kinder eines Kollektivs “ . 145 Das kollektive Schaffen ist nur eine Metapher, denn konkret kann nur das Individuum schaffen. Das Schaffen des Individuums kann aber, wie Hegel es formulierte, dem Geist der Nation entsprechen und ihn vertreten. Dann schafft das Individuum nicht als Person, sondern als Vertreter der Nation. Mit der Metapher ist gerade dies gemeint: Jeder trägt zur Sprache bei, denn schon die Übernahme einer Sprache oder eines Elementes der Sprache schafft Sprache, indem sie deren Kontinuität sichert. Es kann aber auch gemeint sein, dass jeder in Vertretung der Gemeinschaft schafft. Dies ist ebenfalls richtig, denn diejenigen, die Sprache schaffen, schaffen innerhalb einer bestimmten Sprache aufgrund bestimmter historischer Traditionen. Niemand glaubt, seine private Sprache zu sprechen, sondern die deutsche, italienische oder französische Sprache. Im Zweifelsfall beruft man sich auch nicht auf die eigene Sprache, sondern auf eine historisch gegebene: „ So sagt man im Deutschen, im Französischen “ usw. Auch beim individuellen Schaffen übernimmt man diese Verantwortung gegenüber der Sprache schlechthin und der objektiven Sprache der Gemeinschaft. Dies geschieht, wenn man die Kollektivität, die Gemeinschaft, als eine ständige Dimension und ständige Aufgabe des Einzelnen versteht. Die Sprache entspringt demnach stets dem Munde eines Einzelnen, der als ein Vertreter einer Nation auftritt, der über diese besondere Form der Alterität verfügt. In diesem Sinne lässt sich dann - in Form einer Metapher - sagen, dass die Sprache dem Munde der Nation (über den Mund des Einzelnen) entspringt. In eben diesem Sinne könnte man jedoch ebenfalls behaupten, dass die Sprache dem Mund der Menschheit entspringt. In der Tat beansprucht jede Sprache Universalität für die Menschheit schlechthin. Ihre Unterscheidungen werden nicht als relativ verstanden, sondern als solche, die der Welt für die Sprecher wirklich entsprechen, die auch alle Menschen treffen müssten. Daher nennen sich viele Völker einfach „ die Sprechenden “ , „ die über Sprache verfügen “ . Die anderen gelten dann als die Stummen, die nicht Sprechenden. Es gibt eine Volksetymologie, nach der der Name nemec, den die Slawen für die Germanen, speziell für die Deutschen, prägten, auf „ stumm “ zurückgeht, da sie kein Slawisch und somit überhaupt nicht sprechen konnten. Es ist in diesem Zusammenhang nicht wichtig, ob die Etymologie zutrifft oder nicht; 146 wichtig ist hingegen, dass dies so interpretiert wurde und dass das Wort mit dem Wort für ‚ stumm ‘ in den slawischen Sprachen zusammenfällt. Geht man davon aus, dass nur das Individuum sprachlich schafft, d. h. dass das sprachliche Schaffen nur beim Individuum konkret erfolgt, dann bedeutet dies, dass das Individuum als solches Universalität beansprucht und in seinem Sprechen die 145 L. Stefanini: Trattato di estetica I, Brescia 1955, 122. 146 [Ein Zusammenhang mit nemoj „ stumm “ , „ stammelnd “ scheint allgemein angenommen zu werden.] 386 <?page no="401"?> Menschheit schlechthin vertritt. Deshalb kommt es auch zur Krise der Individualität, je nach der überindividuellen Individualität, die man übernimmt. Man spricht als Tübinger, als Schwabe, als Deutscher, als Westeuropäer, als Europäer, als Mensch (und manchmal sagt man auch, dass man speziell als Vertreter einer dieser Gruppen sprechen will). In Wirklichkeit spricht man aber zugleich als Tübinger, als Schwabe, als Deutscher, als Westeuropäer, als Europäer, nur Akzentverschiebungen sind hierbei möglich. Mit diesen Bemerkungen schließe ich die Behandlung der „ Ankündigung einer Schrift über die Vaskische Sprache und Nation “ ab. Ich hoffe, dass ich in diesen Text nicht zu viel hineininterpretiert habe. Wir werden nun sehen, wie sich Humboldts Denken in den anderen Schriften entfaltet. 12.7.2 „ Grundzüge des allgemeinen Sprachtypus “ Die Einleitung zu dem geplanten, aber nie ausgeführten Werk zur Darstellung der amerikanischen Sprachen trägt den bezeichnenden Titel „ Grundzüge des allgemeinen Sprachtypus “ (cf. supra, 8. 3.2.2). Die Schrift stammt ebenfalls aus dem Jahre 1812 147 und kann als eine weitere Phase in der Entfaltung der Sprachauffassung Humboldts angesehen werden. Sie steht in der Übergangsphase zwischen der Ankündigung der Schrift zum Baskischen und der Abhandlung zum vergleichenden Sprachstudium. Das Thema ist wiederum das gleiche: Sprache und Mensch. Es ist für die Denkart von Humboldt kennzeichnend, dass er das gleiche Werk zumindest fünfmal geschrieben hat: die „ Ankündigung “ , den „ Sprachtypus “ , das „ Sprachstudium “ , die „ Verschiedenheiten “ und den „ Sprachbau “ . Bei Humboldt kommt der Begriff „ Typus “ nicht häufig vor. Er verwendet Typus in einer anderen Bedeutung als der uns heute vertrauten, denn er versteht unter diesem Begriff „ Struktur “ oder „ Bau “ . Für das, was wir heute Sprachtypus nennen würden, verwendet Humboldt das Wort Form, und zwar als charakteristische Form, als Form, die die Sprache selbst gestaltet. Einige Ideen aus der „ Ankündigung “ werden in dieser Schrift fast wörtlich wiederholt. Humboldt formuliert die Idee des Organismus und die Idee der Nicht- Konventionalität der Sprache: Die Sprachen seien nicht Anhäufungen von konventionellen, an sich gleichgültigen und nur bequemen und leicht verwendbaren Zeichen. Alles in einer Sprache beruhe ohne Ausnahme auf einer manchmal offensichtlichen, manchmal verdeckten Analogie, und ihr Bau sei bis in die feinsten Teile organischer Natur. Diese Idee ist zum Gemeingut geworden; man weiß allerdings nicht genau, auf welchen Wegen. Ihre Formulierung durch Antoine Meillet wurde in der Sprachwissenschaft berühmt: „ La langue est un système où tout se tient “ (Eine Sprache ist ein System, in dem alles mit allem zusammenhängt) (Meillet 1938, 16 f.). Das Zitat wurde oft Saussure zugeschrieben; man findet bei 147 [Coseriu erwähnt zwar, dass Leitzmann, dessen Text er benutzt hat, die Schrift auf 1824 − 26 datiert, nimmt jedoch weiterhin einen viel früheren Entstehungszeitpunkt an. Leitzmanns Datierung wird jedoch im inzwischen erschienen Verzeichnis des sprachwissenschaftlichen Nachlasses Wilhelms von Humboldt bestätigt (cf. Mueller-Vollmer 1993, 325).] 387 <?page no="402"?> ihm aber nur die Idee, nicht die Formulierung. Wahrscheinlich kommt die Idee bei Saussure direkt oder indirekt von Humboldt. Auch im Hinblick auf den Ursprung der Sprache werden die Ausführungen der Ankündigung wiederholt. Ebenso werden die Idee der Vermittlung und die Idee des Verhältnisses von Sprache und Nation wieder aufgenommen und präzisiert. Humboldt hebt vor allem die erste Dimension der Vermittlung (Mensch − Universum), also die objektive Dimension hervor. Das Wort sei Vermittlung zwischen dem Universum und dem Menschen; das Wort sei es, das die „ Welt “ für den Menschen schafft und das den Menschen befähigt, sein eigenes Werk zu begreifen, und zwar dadurch, dass die Sprache eine Projektion der Ideen „ nach außen “ sei, wodurch die Ideen selbst objektiv und zugleich klarer und deutlicher werden. Auch die intersubjektive Dimension erfährt eine weitere Präzisierung, und zwar in dem schon erörterten Sinn: Beim Sprechen werde der Mensch von einem unwiderstehlichen Gefühl der Gemeinsamkeit, der Gemeinschaftlichkeit bewegt. Er setze die Einheit mit dem Anderen, die Gemeinsamkeit der Bedeutung, und dadurch die in der Bedeutung gegebenen Gegenstände voraus. Man spreche schon mit der Gewissheit, dass man verstanden werde. Die Sprache sei zwar nicht Übereinkunft, man spreche aber so, als sei bereits eine solche vorhanden. Dies ist die Begründung der Idee der Konventionalität bei David Hume: es gebe keine Übereinkunft, aber man handle so, als ob es eine geben würde (vgl. Bd. 1, Kap. 15.2). Die Gemeinschaft wird im Voraus angenommen, sie gehört zu den Voraussetzungen der Sprache. Wenn man dies versteht, so hat man schon einen guten Teil vom Wesen der Sprache verstanden. In Bezug auf das Verhältnis von Sprache und Nation nimmt Humboldt die Idee der Individualitätskreise wieder auf. Er wiederholt zwar, dass die Sprache nicht das Werk eines Einzelnen ist, sie bricht hier jedoch nicht nur aus dem Munde „ einer „ Nation “ hervor, sondern aus dem „ einer Familie “ , „ eines Stammes “ − ja dann selbst einer „ Nation “ : je nach der Gemeinsamkeit, die der Einzelne gerade übernimmt und vertritt (cf. Humboldt 1906 [1824 − 26], 386). Darüber hinaus werden hier Sprachschöpfer angenommen, Individuen, die den Geist der Nation in höchstem Maße vertreten. In diesem Sinne ist nach Humboldt die Analyse einer Sprache zugleich die geistige Biographie der Genies, die von der Sprache erzeugt wurden und die ihrerseits die Sprache erzeugt haben. Ich hatte bereits erwähnt, dass man in den Grundzügen des allgemeinen Sprachtypus auch einige Ideen zum ersten Mai explizit findet, die in der Ankündigung nur impliziert sind, nämlich die Idee vom Weltbild, die Energeia-Idee und die Idee von der Sprache als Dasein des Geistes (die Termini gehen nicht auf Humboldt zurück, sondern stammen von mir). Die Idee des „ Weltbildes “ erscheint hier im Zusammenhang mit dem Verhältnis von Sprache und Nation. Für Humboldt sind die Sprachen zwar zum großen Teil Werk der Nationen, beherrschten andererseits jedoch die Nationen: Sie schlössen sie in einen bestimmten Kreis ein und machten zum Teil die Unterschiede im Nationalcharakter aus. Dies ist eine gefährliche Formulierung, sie entspricht jedoch nicht seiner später vertretenen Auffassung. 388 <?page no="403"?> Humboldt behauptet, es gebe eine so enge Einheit zwischen Sprache und Nationalcharakter, dass es müßig sei zu fragen, ob der Nationalcharakter die Sprachen determiniere oder umgekehrt, ob die Sprachen Ursachen des Nationalcharakters seien, denn der Einfluss sei stets wechselseitig. Deshalb würde sich in der Sprache auch immer der besondere Gesichtspunkt widerspiegeln, von dem aus die Nation das Universum begreift. Dies ist nun der Kern der „ Weltbildidee “ , die man bei Humboldt „ Perspektivismus “ nennen könnte und die man oft im Sinne eines Relativismus (relativity) interpretiert hat. Meines Erachtens ist die Interpretation dieses „ Perspektivismus “ im Sinne eines Relativismus nicht ganz korrekt, zumindest wenn man auch den späteren Formulierungen Rechnung trägt. Der Perspektivismus kann auch folgendermaßen erklärt werden: Jede Sprache ist ein Gesichtspunkt unter dem - oder eine Perspektive aus der - man die Welt erfasst. Dies setzt aber nicht eine an sich unerkennbare Welt voraus, was dem sogenannten Kantianismus Humboldts entsprechen würde. Es bedeutet auch nicht, dass es verschiedene, in sich geschlossene und nicht miteinander kommunizierende Welten geben muss (so viele, wie die verschiedenen Sprachen): Die Welt (wenigstens als Welt des Menschen) ist im Ganzen in der Sprache gegeben (ohne dass es dabei ein Jenseits der Erkenntnis gäbe), und die Welt ist auch nur eine, jedoch jeweils in einer bestimmten Perspektive erfasste, in der Perspektive der jeweiligen Sprache. Somit darf der „ Perspektivismus “ Humboldts weder als Partialisierung noch als Vorhandensein streng getrennter Weltbilder interpretiert werden. Die Formativität ist die gleiche, die Welt ist ebenfalls die gleiche. Nur der Gesichtspunkt, der zugleich auch die Grundlage für die Einheit der Welt in jeder und durch jede Sprache ist, ist verschieden. Auch in dieser Hinsicht stimmt Humboldt mit Hegel überein: Den „ anderen “ Sprachen entsprechen zwar andere Vorstellungen, aber keine anderen „ Welten “ , und es ist auch nicht unmöglich, von einer Sprache zu einer anderen zu gelangen. Die Energeia-Idee erscheint im „ Sprachtypus “ in einer noch elementareren Form im Zusammenhang mit der Frage des Sprechens (gegenüber dem Sprachsystem) und mit der Frage der Spracherlernung. Humboldt unterscheidet nämlich das „ Sprachsystem “ - die grammatische und lexikalische Organisation und die Gesamtheit der Wörter einer Sprache sowie die Sprache selbst als System unendlich häufig kombinierbarer Elemente - einerseits und die Anwendung dieses Systems andererseits. Unter „ Anwendung “ versteht er zunächst die verschiedenen Formen, unter denen dasselbe System in einer Sprachgemeinschaft erscheinen kann, und zwar stufenweise − von den Klassen- und Gruppensprachen bis zu den Individualsprachen; andererseits aber auch die Anwendung des Systems im Sprechen, die unendliche Modifizierungen zulässt. In diesem Sinne will Humboldt das Attribut „ schöpferisch “ verstanden wissen. Auf der anderen Seite schaffe man auch die Sprache selbst. Humboldt versteht die Spracherlernung nicht im üblichen Sinne als Erlernung von etwas bereits im Ganzen Gegebenen. Das gelte sowohl für das Erlernen der Muttersprache durch die Kinder als auch für das Erlernen einer Fremdsprache durch die Erwachsenen. Die Kinder bildeten vielmehr aufgrund von nur fragmentarischer Spracherfahrung 389 <?page no="404"?> Formen und Flexionen, die dem jeweiligen Sprachgeist entsprechen. Die Erwachsenen lernten niemals alle Wörter und Sätze, sondern errieten einen guten Teil davon. In Wirklichkeit erwerbe man nicht den Stoff einer Sprache, sondern die Fähigkeit, sie zu begreifen und zu schaffen. Hier geht es demnach um eine schöpferische Tätigkeit, die die Sprache selbst schafft, aufgrund von Erzeugungsprinzipien, die in der Sprache intuitiv entdeckt werden. Diese schöpferische Tätigkeit wird allerdings hier noch nicht „ energeia “ genannt und sie wird auch noch nicht mit der Sprache identifiziert. Die Anwendung des Systems bedeutet somit einerseits die Befolgung gewisser Normen und andererseits die Realisierung des individuellen Sprechens mit unendlichen Modifizierungen. Die unendlichen Modifizierungen und das Schaffen der Sprache sind bei Humboldt eins, so dass gerade diese mögliche Unterscheidung der Anwendung der Sprache und des Weiterschaffens der Sprache bei Humboldt nicht erscheint. Man vergleiche dazu meinen Aufsatz „ Semantik, innere Sprachform und Tiefenstruktur “ (Coseriu 1970). Bei Humboldt wird die Energeia-Idee nur apodiktisch formuliert. Ich selbst habe versucht, sie in der Unterscheidung von Norm, System und Typus, auf die ich zurückkommen werde, für die praktische linguistische Beschreibung zu nutzen. In den Grundzügen des allgemeinen Spachtypus beantwortet Humboldt schließlich den zweiten Teil der Frage „ Was ist Sprache? “ . Der erste Teil der Frage lautete „ Was wird in der Sprache organisch geformt? “ . Diesen Teil der Frage hatte er mit dem Hinweis auf die doppelte Vermittlungsfunktion der Sprache beantwortet, ihre „ objektive “ und ihre intersubjektive Funktion (cf. supra). Der andere Teil der Frage lautet: „ Was ist nun das Gestaltende, das die Sprache selbst als etwas Gestaltetes schafft und damit die Erkenntnis objektiviert? “ Humboldt antwortet, dass es der menschliche Geist, die menschliche Kreativität sei. Er beantwortet diese Frage vorerst nur indirekt im Rahmen der Diskussion der Verschiedenheit der Sprachen. Die Sprachen, die einerseits unendlich verschieden sind, finden andererseits nach Humboldt ihre Einheit in der Sprachfähigkeit des Menschen. Diese „ Sprachfähigkeit “ , sei auch der eigentliche Gegenstand des Sprachstudiums. Diese Fähigkeit falle jedoch mit dem menschlichen Geist zusammen. In der Tat sei das Ziel des Sprachstudiums die Erkenntnis des Umfangs und der Entwicklung des menschlichen Geistes. Und dieses Ziel erreiche man (wenn auch nur perspektivisch) schon beim Studium einer einzigen Sprache. Denn jede Sprache stelle den menschlichen Geist (den Geist der Menschheit) im Ganzen dar, wenn auch - da sie eben „ Perspektive “ ist - von einer einzigen Seite her. Die Sprache sei also Darstellung, „ Objektivierung “ des Geistes. Geist ist für mich nicht irgendetwas Tätiges, die „ Substanz “ oder das „ Subjekt “ der sogenannten „ geistigen Tätigkeiten “ , sondern er besteht in diesen Tätigkeiten selbst: er ist nur „ energeia “ , nur Akt, nur kreative Tat. Deshalb gebrauche ich niemals diesen Terminus, wenn ich von der Sprache oder anderen Formen der menschlichen Tätigkeiten spreche, denn dies wäre für mich tautologisch: Die Sprache ist Geist, nicht etwa Produkt des Geistes. Den Geist findet man in all den Tätigkeiten, die mit dem Selbstbewusstsein anfangen und die sich in historischen 390 <?page no="405"?> Formen objektivieren: in Sprachen, Kunst, Wissenschaft, Philosophie, in den menschlichen Institutionen. Aber das entspricht wahrscheinlich auch der Auffassung Humboldts. Zu sagen, die Sprache sei Geist, ist demnach das Gleiche wie zu sagen, die Sprache sei eine schöpferische Tätigkeit. Damit sind wir erneut beim Begriff der „ energeia “ angelangt. 12.7.3 „ Über das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung “ (1820) Wir kommen nun zur dritten Darstellung der Ideen Humboldts zur Sprache, nämlich zur Akademieabhandlung „ Über das vergleichende Sprachstudium “ . Es handelt sich hier um einen Vortrag, der am 29. Juni 1820 vor der Berliner Akademie gehalten wurde und das Humboldt ’ sche Programm des Sprachstudiums im Umriss aufzeigt. Die Abhandlung ist insofern bedeutsam, als sie den ersten Versuch Humboldts darstellt, seine Auffassung vom Sinn des Sprachstudiums systematisch darzustellen. Die Schrift ist sehr schwer verständlich; die genauen Zusammenhänge sind nicht einfach festzustellen. Die sorgfältige Einteilung in Paragraphen darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Textaufbau keine klare Struktur aufweist; die Paragraphen hängen ebenso wenig mit einander zusammen wie die einzelnen Abschnitte innerhalb der Paragraphen. Wir finden im „ Sprachstudium “ wiederum punktuelle Entfaltungen der Gesamtkonzeption. Das Verhältnis von Sprache und Nation wird ohne wirklich neue Formulierungen von Neuem behandelt. Die Organismusidee erscheint in einer prägnanteren Formulierung, die eindeutig zeigt, dass es um Organisiertheit geht und nicht um Organismus im biologischen Sinne: Unmittelbarer Aushauch eines organischen Wesens in dessen sinnlicher und geistiger Geltung, theilt sie darin die Natur alles Organischen, dass Jedes in ihr nur durch das Andre, und Alles nur durch die eine, das Ganze durchdringende Kraft besteht. (Humboldt 2010, Bd. III, 2 − 3) Zugleich ist die Schrift aber auch ein Programm für das Sprachstudium und eine Rechtfertigung desselben. Zunächst geht es um das „ Wozu? “ des Sprachstudiums. Da gibt es einerseits das Sprachstudium „ für sich selbst “ , insofern Sprachen um ihrer selbst willen und nicht als Instrumente für etwas anderes untersucht werden. Es geht Humboldt darum, dass man die Kreativität, das Menschliche schlechthin, in den Sprachen selbst feststellt. Der Wert der Sprachen „ an und für sich “ und der in ihnen gegebenen Intuitionen wurde schon von Vico gesehen. Andererseits kann man auch Sprachen untersuchen und erlernen, um etwas außerhalb der Sprachen selbst Liegendes zu erkennen, z. B. eine fremde Kultur. Dabei betreibt man jedoch ein philologisches Studium und kein reines Sprachstudium, da das eigentliche Ziel die in der betreffenden Sprache hervorgebrachte Literatur ist. Die Philologie untersucht und studiert nur diejenigen Sprachen, die auch eine bedeutende Literatur hervorgebracht haben. Das Sprachstudium als solches betrifft jedoch alle Sprachen, da für den reinen Sprachforscher keine Sprache uninteressant ist. 391 <?page no="406"?> Nach Humboldt hat man die Sprachen unter zwei Gesichtspunkten zu untersuchen: einerseits unter dem des „ Organismus “ der Sprachen, des Sprachsystems, wobei die Verschiedenheiten „ als unvermeidliche Folge der Verschiedenheit, und Absonderung des Menschengeschlechts “ (ibid., 6) zu erklären sind, andererseits unter dem ihrer Ausbildung, worunter er die sprachliche Weiterbildung durch die kulturelle Elite, „ den gebildeten Theil des Menschengeschlechts “ (ibid.) versteht. Die Unterscheidung der beiden Gesichtspunkte wird folgendermaßen angekündigt: Der Kürze wegen, will ich [. . .] die beiden beschriebenen Theile des vergleichenden Sprachstudiums durch die Untersuchung des Organismus der Sprachen, und die Untersuchung der Sprachen im Zustande ihrer Ausbildung bezeichnen. (ibid., 6) Wir werden sehen, dass Humboldt zwei Phasen in der Bildung der Sprachen unterscheidet: eine Phase, in der das Sprachsystem, der Organismus einer Sprache, in einem einzigen Augenblick entworfen wird und schon virtuell im Ganzen besteht. Daran schließt sich eine zweite und längere Phase der Ausbildung der Sprachen an. In dieser Phase werden auf der Grundlage des gegebenen Systems neue Formen, Wörter und Konstruktionen geschaffen. Der große Unterschied zwischen einer Ursprache oder Primitivsprache und einer ausgebildeten Sprache liegt nicht im Organismus, denn in dieser Hinsicht sind nach Humboldt alle Sprachen gleich. Er behauptet sogar im Gegenteil, in Bezug auf den Organismus sei die Kohärenz in den sogenannten Primitivsprachen größer, in den ausgebildeten Sprachen habe man auch Zufälliges und Abweichendes. So erkläre sich die merkwürdige Beobachtung, dass eine charakteristische Eigenschaft der rohen Sprachen Consequenz, der gebildeten Anomalie in vielen Theilen ihres Baues ist [. . .]. (ibid., 13) Bezüglich des Organismus seien alle Sprachen - mutatis mutandis - gleich, in der Ausbildung seien jedoch gewisse Sprachen viel weiter fortgeschritten als andere. Auch in diesem Zusammenhang betont Humboldt, dass das Altgriechische die „ vollkommene “ Sprache in beiderlei Hinsicht sei: bezüglich der Organizität und der sinnvollen kohärenten Ausbildung. Das Studium der Sprachen „ für sich selbst “ besteht nun einerseits im Studium des Organismus, andererseits im Studium der Ausbildung der Sprachen. Dabei studiert man eigentlich vier Gegenstände: die Sprache als solche, die durch sie erreichbaren Zwecke des Menschen überhaupt, das Menschengeschlecht in seiner fortschreitenden Entwicklung und die einzelnen Nationen. Was bedeutet aber nun genau das „ Studium der Sprache für sich selbst “ ? Zuerst bedeutet es Studium der Einzelsprache. Aber dieses zielt nicht nur auf die Eigentümlichkeiten der Sprachen ab, sondern sucht jede Sprache als innerlich motiviert und im Ganzen zusammenhängend bzw. kohärent zu verstehen. Einerseits wird somit das Prinzip des Immanentismus aufgestellt, das später dann in der 392 <?page no="407"?> Humboldt ’ schen Linguistik übernommen und angewandt wurde: Jede Sprache sei von ihrem eigenen Gesichtspunkt aus zu untersuchen, mit ihren eigenen Kategorien zu beschreiben. Andererseits muss man im vergleichenden Sprachstudium alle Sprachen mit denselben Kategorien untersuchen, um festzustellen, wie sich in den verschiedenen Systemen der Einzelsprachen doch das Gleiche manifestiert, die gleiche Idee zu finden ist. Wir haben demnach einen doppelten Sinn des Sprachstudiums, da es einerseits auf die innere Kohärenz einer Einzelsprache und andererseits auf die vergleichende Betrachtung einer Kategorie in jeder Sprache abzielt. So ist einerseits die Einheit der Idee festzustellen und andererseits die Verschiedenheit der Realisierung in verschiedenen Zusammenhängen, denn die Verschiedenheit gilt bei Humboldt nur als unendlich unterschiedliche Widerspiegelung des Einheitlichen. Man studiert tatsächlich die Sprachen, wenn man von diesen Systemen, die man in ihrer Kohärenz beschreiben kann, bis zur Sprachidee und bis zur Sprachfähigkeit gelangt. Wenn man betreibt, was wir Linguistik nennen würden, hätte man das, was Humboldt für berechtigt, aber nicht für wesentlich für das Verständnis der Sprache schlechthin hält. Man würde bis zum Sprachbau, bis zu den Strukturen der Sprachen kommen. Man könnte auch historische Fragen stellen und einzelne geschichtliche Untersuchungen unternehmen (z. B. die Erforschung der Zusammenhänge zwischen Sprachen, um zu einer Sprachfamilie zu gelangen). In diesem Fall würde man aber nicht die Sprachfähigkeit als solche, sondern schon die Manifestation der Sprachfähigkeit untersuchen und eigentlich immer wieder das gleiche sagen, da man nur die Möglichkeit hätte, die verschiedenen Formen aneinanderzureihen, die stets dasselbe aussagen. Das eigentliche Sprachstudium sei jedoch das Studium, das das eine und das andere vereinigt, das die Systeme und die Realisierungen auch der Einzelfakten in verschiedenen Sprachen als Manifestation der Sprachfähigkeit schlechthin sieht. Dies ist nach Humboldt das eigentliche Ziel des Sprachstudiums, das auch auf dieser Ebene rein empirisch vorgehen soll, da Humboldt keine Trennung zwischen der empirischen und theoretischen Forschung vornimmt. Seine empirische Arbeit ist nur darauf aus, die Sprachfähigkeit in ihren mannigfaltigen Verwendungen zu ergründen. Er fragt, wie sich die Sprachfähigkeit schlechthin in unendlichen Formen manifestiert und gerade diese Mannigfaltigkeit motiviert. Beim Sprachstudium geht es also nicht nur um Sprachwissenschaft, die etwas in sich Geschlossenes zum Gegenstand hat, sondern darum, den Geist bzw. die Kreativität des Menschen in ihren verschiedenen Formen zu untersuchen. Es geht darum, die Einheit, die durch die Formativität gegeben ist, in der unendlichen Verschiedenheit ihrer tatsächlichen Realisierung zu erfassen. Dies kann man nach Humboldt auf zweierlei Weise tun: (1) Entweder man untersucht die Einheit und Eigentümlichkeit einer jeden Sprache, d. h. die Organizität im Sprachsystem, die ideelle Einheit einer jeden Sprache, und betrachtet die Sprachen jeweils als organische Individuen (immanentes Studium und Rechtfertigung des „ Wie? “ der Kategorien in ihrem Zusammenhang innerhalb einer Sprache). Hier betrifft die Formativität die Prinzipien 393 <?page no="408"?> einer jeden Sprache. Dieser Gedanke hängt zusammen mit der Idee der Form, auch wenn Humboldt dies nicht ausdrücklich sagt; (2) oder man untersucht eine bestimmte Kategorie in verschiedenen Sprachen vergleichend. Hier wäre die Einheit dann durch das Geformte gegeben und durch eine Sprachidee oder einen Denkinhalt, der jeweils anders geformt wird, z. B. das Verbum in verschiedenen Sprachen. Es werden offensichtlich zwei Arten von Einheit in der Sprache schlechthin angenommen, nämlich auf der einen Seite die organisch-strukturelle Einheit einer jeden Sprache, und auf der anderen Seite die Einheit aller Sprachen gerade im Gegenstand der jeweiligen Formativität. Dies führt Humboldt zur Idee der ideellen Form einer jeden Sprache und zu ihrer Aufgabe. Zu all dem ist das Sprachstudium um seiner selbst willen da. In den Sprachen selbst soll - so wie etwa in den Kunstwerken - die Kreativität aufgespürt werden. Das Sprachstudium dient nicht etwa der Erlernung der Sprachen als Instrumente zum sprachlichen Verkehr mit anderen Völkern. Das sei zwar auch eine Art von Sprachstudium, jedoch nicht das eigentliche. Hingegen wird von Humboldt dem philologischen Sprachstudium ein bestimmter Eigenwert beigemessen, d. h. dem Studium der eigentümlichen Kultur einer bestimmten Nation über das Studium ihrer Sprache. Dabei geht es aber zugleich auch um Sprachstudium. Denn Humboldt nimmt stillschweigend an, dass die gleiche Art der Kreativität in der Sprache und in anderen Bereichen der Kultur wirkt, d. h. dass es eine ideelle Einheit gibt etwa zwischen der griechischen Sprache, der griechischen Kunst, der griechischen Wissenschaft und der griechischen Philosophie. Auch in concreto wäre das philologische Studium Sprachstudium, denn es ginge dabei um das Studium der zweiten Phase in der Entwicklung der Sprache und jeder einzelnen Sprache, nämlich der Phase der Ausbildung. Ich komme später auf diese zum Teil merkwürdige Idee zurück. Die beiden Phasen gelten, wie die Idee der Sprache bei Vico, sowohl für den Einzelnen bei der individuellen Spracherlernung als auch für die Entwicklung einer historischen Sprache einer Sprachgemeinschaft. Beim Erlernen der Sprache hat das Kind zuerst die Intuition eines Systems von Möglichkeiten und kommt erst dann zu seiner Realisierung. Das Kind erwirbt nicht eigentlich Sprache, sondern schafft sie. Diese Idee ist auch in der Sprachwissenschaft wenigstens teilweise fruchtbar gemacht worden, und zwar durch Georg von der Gabelentz. In der Sprachphilosophie wiederholt Croce fast wörtlich, was Humboldt sagt, nämlich, dass man nicht eine Sprache lernt, sondern lernt, mit einer Sprache kreativ zu handeln. Ich komme nun zu einigen weiteren Problemen, auf die Humboldt im „ Vergleichenden Sprachstudium “ zu sprechen kommt. Die bisher behandelten Ausführungen zum Sprachstudium, die den Titel der Abhandlung rechtfertigen, stehen nicht an einer bestimmten Stelle, sondern finden sich hier und da. Außerdem finden wir Präzisierungen und Bereicherungen zu folgenden Ideen: Ursprung der Sprache (§ 13), Sprache als Vermittlung (§ 14), Sprache als Weltbild (§ 20). Zur Sprache als Weltbild hat Humboldt im „ Sprachstudium “ nicht viel Neues zu sagen. Nicht unwichtig ist aber die folgende Formulierung: 394 <?page no="409"?> Ihre [der Sprachen] Verschiedenheit ist nicht eine von Schällen und Zeichen, sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst. Hierin ist der Grund, und der letzte Zweck aller Sprachuntersuchung enthalten. (ibid., 20) Humboldt sagt hier, dass jede Sprache eine bestimmte Gestaltung der Welt, eine bestimmte „ Weltansicht “ darstellt. Es geht ihm darum, beim Studium einer Sprache deren besondere Gestaltung der Welt zu erfassen und in ihr nicht einfach eine andere Nomenklatur für eine bereits vorgegebene Gestaltung zu sehen. Neu gegenüber den bisher behandelten Schriften sind die folgenden Ideen: 1. Die Idee der Vorgeschichtlichkeit der Sprache: Wir finden diese Idee in anderer Form bei Hegel, nämlich in der Form der Voreiligkeit der Sprache (cf. supra, 11.2.5). Nach Hegel wartet die Sprache nämlich die Phasen der geschichtlichen Entwicklung des Geistes nicht ab, sondern ist gegenüber der Entfaltung des Geistes voreilig. Die Sprache nimmt die verschiedenen ideellen Formen des Geistes (Kunst, Religion, Mythos, Wissenschaft und Philosophie) sozusagen vorweg und stellt sie für sich selbst wenigstens schon als Entwurf dar. Bei Humboldt geht es um die Intuition der Sprachen als organischer Systeme. In dieser Hinsicht sei schon jede Sprache vorgeschichtlich, in der Geschichte gehe es nur noch um die Ausbildung (vgl. §§ 3 und 20). 2. Die Unterscheidung zwischen Bildung und Ausbildung der Sprachen, auf die ich bereits kurz eingegangen bin. Im Zusammenhang damit und im Zusammenhang mit der Rechtfertigung des Sprachstudiums, insbesondere auch des philologischen Studiums finden wir diese merkwürdige Unterscheidung (§§ 2 und 8). Sie wird auch in anderen Bereichen und in anderen Formen immer wieder angenommen, etwa von Nietzsche bis Kuhn. 148 Man unterscheidet zunächst eine Phase der Kreativität, der Umbildung, der Revolution, des einmaligen Schaffens, und daran anschließend eine Phase der weniger kreativen, aber geordneten, ruhigen Arbeit zur Präzisierung und zur Ausbildung des einmal Entworfenen. 3. Die Idee des Zusammenhangs zwischen Form und Grad an Vollkommenheit der Sprachen. Dies ist ein Problem, mit dem Humboldt sich sein ganzes Leben lang abgequält hat, ohne zu einer Lösung zu kommen. Es hängt einerseits mit seinem ästhetischen Ideal zusammen und andererseits mit seiner kulturbedingten Überzeugung, die indoeuropäischen Sprachen - und unter ihnen ganz besonders das Altgriechische - seien die vollkommenen oder wenigstens vollkommeneren Sprachen. Es ist allerdings nicht zu übersehen, dass Humboldt eigentlich nicht von vollkommenen Sprachen spricht, sondern - wie Steinthal hervorgehoben und als Grundlage der Humboldt ’ schen Sprachtypologie angenommen hat - von vollkommeneren und weniger vollkommenen Sprachen. 148 [Cf. Thomas S. Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions. Chicago 1962. Die völlige Umarbeitung seiner Thesen, die der Physiker Kuhn als Reaktion auf die Kritik seiner Kollegen vorgenommen hat, wurde in den Geisteswissenschaften kaum zur Kenntnis genommen.] 395 <?page no="410"?> Die ästhetische Motivation Humboldts besteht in der Überzeugung, dass in allem, was der Mensch gestaltet, und damit auch in der Sprache die Teile sich organisch in das Ganze einfügen zu einer Einheit werden müssen. Sie bleiben als Teile erhalten und sind zugleich in das Ganze harmonisch eingefügt. Wie bei einem Kunstwerk muss das Detail einerseits Detail bleiben, andererseits darf es nicht aus dem Rahmen fallen, sondern muss im Ganzen des Kunstwerks den richtigen Platz einnehmen. Humboldt findet, dass gerade das Verfahren der Flexion diesem ästhetischen Ideal entspricht. Denn in ihr werden die Teile, d. h. die verschiedenen Funktionen zugleich getrennt und einheitlich angegeben. Sie sind nicht völlig voneinander getrennt wie in den isolierenden Sprachen, etwa im Chinesischen, das deshalb eine andere Art der Vollkommenheit aufweist, nämlich die Vollkommenheit der Unvollkommenheit; denn ihre Vollkommenheit besteht in der folgerichtigen Anwendung des Getrenntseins. Sie sind aber auch nicht total verschmolzen wie in den einverleibenden Sprachen, wo Wort und Satz, d. h. die lexikalische und grammatische Funktion, eine vollständige Verbindung eingehen. In diesem Sinne gibt es vollkommenere Sprachen. Es sind die Sprachen, die Flexion aufweisen, insbesondere die innere Flexion, z. B. den Ablaut in binden, band, gebunden. Ich komme noch darauf zurück. In Bezug auf die Idee vom Ursprung der Sprache sind folgende Aspekte zu berücksichtigen: 1. In der „ Darstellung der amerikanischen Sprachen “ hatte Humboldt angekündigt, im „ Vergleichenden Sprachstudium “ werde davon ausführlicher die Rede sein. Wie wird nun hier der Ursprung der Sprachen behandelt? Ich muss hier wiederum das Untrennbare trennen und das zu Bildung und Ausbildung Gesagte ausschließlich unter dem Gesichtspunkt des Ursprungs behandeln. Beim Ursprung ist zu unterscheiden zwischen dem Ursprung in der Zeit und dem ständigen Ursprung der Sprache als Sprachfähigkeit, d. h. als Fähigkeit, Sprache als Sprache zu verstehen und zu konstruieren. 2. Außerdem kann der Ursprung der Sprache aufgefasst werden als intuitive Erfassung der Sprachidee. Diese Idee schließt schon die Einzelsprachlichkeit ein. Sie besagt nicht nur, dass etwas Materielles Bedeutung haben, d. h. auf etwas anderes hindeuten kann, sondern zugleich auch, dass das Hinweisen ein einzelsprachliches ist, d. h. eine Möglichkeit der Sprachidee überhaupt. 3. Der dritte Gesichtspunkt besteht in der Identifizierung von Sprache und menschlicher Natur. Das Problem des Ursprungs der Sprache wird dabei auf das Problem des Ursprungs des Menschen zurückgeführt. Humboldts Behandlung des Sprachursprungs bleibt leider fragmentarisch. Ich stelle zuerst die Fragmente vor und versuche dann eine Synthese. Humboldt konstatiert zunächst, dass die Sprache unmöglich ein Produkt des Verstandes sein könne: 396 <?page no="411"?> Die Sprache muss zwar, meiner vollesten Ueberzeugung nach, als unmittelbar in den Menschen gelegt angesehen werden; denn als Werk seines Verstandes in der Klarheit des Bewusstseyns ist sie durchaus unerklärbar. Es hilft nicht, zu ihrer Erfindung Jahrtausende und abermals Jahrtausende einzuräumen. Die Sprache liesse sich nicht erfinden, wenn nicht ihr Typus schon in dem menschlichen Verstande vorhanden wäre. Damit der Mensch nur ein einziges Wort wahrhaft, nicht als blossen sinnlichen Anstoss, sondern als articulirten, einen Begriff bezeichnenden Laut verstehe, muss schon die Sprache ganz, und im Zusammenhange in ihm liegen. (ibid., 10) Das heißt, man kann nicht einen Verstand annehmen, der vor der Sprache gegeben ist und die Sprache erzeugt; man kann auch keinen Sprachschöpfer annehmen, sondern jeder muss stets die Sprache als Sprache erfinden, denn schon zum Verständnis eines Wortes muss man die Idee der Sprache haben. Und diese „ Erfindung “ erfolgt immer „ im Ganzen “ : Auch das Verständnis eines Wortes als eines Wortes ist schon sein Verständnis als Bestandteil eines Organismus, einer schon als solcher entworfenen Virtualität: Es giebt nichts Einzelnes in der Sprache, jedes ihrer Elemente kündigt sich nur als Theil eines Ganzen an. So natürlich die Annahme allmähliger Ausbildung der Sprache ist, so konnte die Erfindung nur mit Einem Schlage geschehen. Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache; um aber die Sprache zu erfinden, müsste er schon Mensch seyn. (ibid., 10 f.) Das letzte Zitat betrifft die Identität von menschlicher Natur und Sprache; ich werde auch hierauf zurückkommen. Was ist damit gemeint, dass schon beim Verständnis eines einzelnen Wortes das Ganze der Sprache erfunden sein müsse? Damit ist die empirisch feststellbare Tatsache gemeint, dass man die Idee der Sprache schon intuitiv erfasst haben muss, um die Sprache als Sprache zu verstehen. Wir haben gesehen, dass es unmöglich ist, die Sprache als Werk des Verstandes zu erklären, dass jemand sich vornimmt, Sprache auf eine bestimmte Weise zu schaffen. Denn dies würde die Sprache schon voraussetzen. Außerdem erfolgt diese Erfindung in einem Augenblick, und zwar in zweierlei Hinsicht, einerseits als Sprache schlechthin, andererseits als ein Organismus, d. h. als ein zusammenhängendes System. Kann man das überhaupt verstehen? Humboldt fährt fort: Sie [die Sprache] geht nothwendig aus ihm selbst hervor, und gewiss auch nur nach und nach, aber so, dass ihr Organismus nicht zwar, als eine todte Masse, im Dunkel der Seele liegt, aber als Gesetz die Functionen der Denkkraft bedingt, und mithin das erste Wort schon die ganze Sprache antönt und voraussetzt. (ibid., 11) Das heißt nicht, dass etwa die deutsche Sprache von Beginn an als ganze geschaffen würde. Aber das Kind versteht zuerst auf einmal, was die Sprache ist, und das ist auch bei Humboldt die Hauptfrage beim Ursprung der Sprache und bei der Erörterung der Sprache schlechthin: die Tatsache, dass man versteht, dass etwas Sprache ist. 397 <?page no="412"?> Das Kind hat zweierlei verstanden, wenn es zum ersten Mal versteht, dass etwas Zeichen ist, dass eine Bedeutungsrelation gegeben ist. Einerseits hat es verstanden, dass ein Zeichen für etwas anderes steht. Andererseits hat es die Tatsache erfasst, dass das Zeichen nicht nur für diesen Gegenstand steht und nicht nur für diese Situation gilt, sondern auch für andere ähnliche Gegenstände und für andere Situationen. Denn entgegen einer weitverbreiteten Meinung versteht man zuerst die Zeichen gerade nicht als Eigennamen, als Namen für „ diesen “ Gegenstand, sondern als Namen für „ solche “ Gegenstände. Wenn der Vater z. B. einen Bart hat, dann könnte jeder Mann mit einem Bart Vater sein. Das Kind versteht das Zeichen als Universelles und zugleich als Möglichkeit, Zeichen zu erfinden. So erfindet es Zeichen, die mit dem Gegenstand zusammenhängen, z. B. Muh, Wauwau, Miau, und verwendet sie als Namen anstelle der erlernten Zeichen. Dies ist die Erleuchtung, die das Kind auf einmal bekommt, wenn es versteht, dass die Zeichen sich auf Formen des Seins beziehen können, die eben als solche nur im Bewusstsein gegeben sind. Wenn das Kind fragt „ Was ist das? “ , hat es verstanden, was Sprache ist, weil es erfasst hat, dass es so etwas wie Bedeutung gibt. Es ist bemerkenswert, dass die Kinder in allen bekannten Sprachen fragen „ Was ist das? “ . Das Kind versteht die Tatsache, dass das Wort das Sein von etwas darstellt. Es wird selbst kreativ mit der Sprache; es spielt mit der Sprache, es kann Sprache schaffen. In dieser Hinsicht hat die Sprache keinen Ursprung und keine Entwicklung. Sie entsteht für jeden Menschen in dem Augenblick, in dem man auf einmal dieses „ Was? “ der Sprache erfasst. Das eigentliche Problem ist nicht das Problem des „ Wann? “ , denn die Sprache entsteht immer wieder, das Problem ist eigentlich das Problem des Verständnisses von Sprache als Sprache, wie Humboldt auch ausdrücklich hervorhebt: Die wahre [Schwierigkeit] der Spracherfindung liegt nicht sowohl in der Aneinanderreihung und Unterordnung einer Menge sich aufeinander beziehender Verhältnisse, als vielmehr in der unergründlichen Tiefe der einfachen Verstandeshandlung, die überhaupt zum Verstehen und Hervorbringen der Sprache auch in einem einzigen ihrer Elemente gehört. Ist dies gegeben, so folgt alles Uebrige von selbst, und es kann nicht erlernt werden, muss ursprünglich im Menschen vorhanden seyn. (ibid., 12) Hat man verstanden, was Sprache ist, kann man mit ihr kreativ weiterarbeiten und Sprache erfinden. Ebenso muss man bei der Kunst intuitiv verstehen, was Kunst ist; man kann dies nicht lernen. Die kreativen Tätigkeiten des Menschen sind nicht in ihrem Wesen erlernbar. Ich kann nicht lernen, was Sprache ist, ebenso wenig wie ich lernen kann, was Kunst ist; ich muss es aus mir selbst verstehen. Natürlich befinden wir uns bei der Kunst, bei der Wissenschaft, bei der Philosophie usw. in einer günstigeren Lage, weil wir schon Sprache haben und erklären können, was Kunst usw. ist. Wir können dadurch zwar nicht dem anderen das „ Was? “ dieser Tätigkeiten beibringen, können ihn aber dazu führen, dass er selbst versteht, was sie sind. Verstehen tut man dies nur, wenn man es selbst betreibt. Ein einziges Wort ist schon Schaffen von Sprache, eine einzige Idee in der 398 <?page no="413"?> Kunst ist schon Schaffen von Kunst, eine einzige Behauptung über das Sein von etwas ist schon Wissenschaft usw. Schon Augustinus meinte in De magistro, dass man mittels der Sprache nicht tatsächlich lernt, sondern dass man immer vom inneren Lehrer lernt, d. h. durch eigene Entdeckung (cf. Bd. I, Kap. 8.2). Man wird aber durch die Sprache in die Lage versetzt, durch eigene Entdeckung zu lernen. Da nun die Sprache ursprünglich gegenüber den übrigen menschlichen Tätigkeiten ist, kann sie uns nicht zur Entdeckung ihrer selbst führen. Bei der Sprache habe ich nichts, das mir sagt, was Sprache ist, mich zur Sprache hinführt und mich in die Lage versetzt, das Wesen der Sprache zu entdecken. Deswegen ist nach Humboldt und Hegel gerade die Sprache der erste Akt des Geistes, der die anderen virtuell insofern enthält, als er sie ermöglicht. Meine eigene Formulierung ist bescheidener, aber eindeutiger: Die Sprache ist die Eröffnung aller eigentlich menschlichen Möglichkeiten. Auch in dieser Hinsicht kann man das „ Was? “ nicht erlernen, man muss es entdecken. Das „ Was? “ der Sprache wird auf einmal entdeckt, das „ Wie? “ der Sprache dagegen - auch für Humboldt - nach und nach erarbeitet. Gelernt wird also nicht die Tatsache, dass etwas Sprache ist, sondern das „ Wie? “ der Sprachen. Hier geht es nun darum, dass das Erlernte oder das Geschaffene (das Lernen ist auch Schaffen) organisch ist, Zusammenhänge voraussetzt, ein Verfahren ist, eine Regel, die immer mehr als das konkret Gelernte enthält und mehr als das konkret Gelernte betrifft. Ein Beispiel mag dies veranschaulichen: In dem Ausdruck Es regnet haben wir nicht nur die Bezeichnung für einen bestimmten Sachverhalt, etwa den, dass eine Menge von Wassertropfen vom Himmel fällt, sondern zugleich einen Verfahrenstyp, der auf andere Fälle angewandt werden kann. So könnte man für den Sachverhalt, dass eine Menge von Menschen in einen Raum drängen, den Ausdruck Es menscht bilden. Dies ist grundlegend für das Verfahren der Spracherlernung und für die Auffassung vom Wesen der Bedeutung. Man hat in der empiristischen, positivistischen Sprachwissenschaft versucht, die Bedeutung auf die Kontexte zurückzuführen, in denen ein Wort oder eine Konstruktion verwendet wird. Diese Auffassung ist auch in rein empirischer Hinsicht absurd, weil sie den Verzicht auf die Idee der Bedeutung zur Konsequenz hat. Niemand kann alle Kontexte feststellen, niemand hat sie je festgestellt. Es ist empirisch unmöglich, sie festzustellen, weil es nicht nur um die schon gegebenen Kontexte geht, sondern auch um neue. Die Verwendung der Wörter und ihrer Bedeutungen ist gerade dadurch charakterisiert, dass sie auch in völlig neuen Kontexten auftreten können. Natürlich lernt man Bedeutungen in Kontexten und Situationen. Aber das heißt überhaupt nicht, dass die Verwendung in einem bestimmten Kontext die Bedeutung ist; denn das, was man in einem Kontext feststellt, ist immer nur eine bestimmte Bezeichnung, d. h. eine bestimmte Anwendung der Bedeutung, und nie die Bedeutung selbst. Im Kontext erfolgt z. B. die Bezeichnung eines bestimmten Ochsen durch das Wort Ochse, das als Wort mit Bedeutung die unendliche Möglichkeit des Bezeichnens eröffnet. Die Bedeutung ist die unendliche Möglichkeit der Gegenstände, und eben das wird gelernt, nicht das tatsächlich Festgestellte. 399 <?page no="414"?> Begreift man das, so versteht man, was Bedeutung ist. Bedeutung ist nicht nur diese Sache, die wir jetzt feststellen, sondern diese Sache und ihre unendliche Möglichkeit. Entgegen einer früher vertretenen Meinung sind die primären Bedeutungen nicht individuell, sondern universell. Das Universelle ist zuerst gegeben, das Individuelle ist sekundär. Ein Wort ist nicht zuerst Eigenname. Primär ist das Universelle, erst danach erfolgt eine Individualisierung innerhalb des Universellen. Es gibt keine Eigennamen für Dinge, die nicht schon ein Appellativum als Namen hatten. Der Eigenname ist immer historische Individualisierung. James Harris hat dies als erster ausdrücklich bemerkt und hervorgehoben (cf. Bd. I, Kap. 15.3); Humboldt und andere haben Harris, den sie in der von Herder herausgegebenen Übersetzung kennenlernen konnten, einiges zu verdanken. Nachdem wir gesehen haben, dass die Sprache in einem Augenblick als Entwurf eines Systems entsteht, können wir die Frage stellen, woher der Mensch die Fähigkeit hat, Sprache zu schaffen und Sprache zu verstehen. Humboldt hält diese Frage für berechtigt. Sie fällt aber mit der Frage nach der menschlichen Natur zusammen, d. h. mit der Frage, seit wann der Mensch Mensch ist. Dies ist der Sinn des schon zitierten Humboldt ’ schen Satzes: Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache; um aber die Sprache zu erfinden, müsste er schon Mensch seyn. (ibid., 11) Wie steht es aber nun mit dem Ursprung der Sprachen? Immer wenn man spricht, setzt man die Entdeckung der Sprache voraus. Man macht die stillschweigende Voraussetzung, dass das gesprochene Wort etwas bedeutet und dass der andere es verstehen und auf Bedeutungen zurückführen kann. Die Frage nach dem Ursprung einer bestimmten Sprache entspricht der Frage nach der Entstehung des Bewusstseins für diese Sprache. Eine Sprache setzt eine andere Sprache fort. In manchen Fällen kann man ungefähr sagen, seit wann eine Sprachgemeinschaft zu dem Bewusstsein kam, dass die eigene Sprache anders als andere Sprachen ist. Wo es Dokumente gibt wie in den romanischen Sprachen, kann man sagen, seit wann es eine bestimmte Sprache gibt. Seit dem 9. oder 10. Jahrhundert kamen bestimmte romanische Völker zu dem Bewusstsein, dass sie neue Sprachen sprechen. Sie kamen dazu, weil ihre Sprachen neben sich eine andere hatten, das Lateinische, aus dem sie hervorgegangen waren. Sonst hätten sie nie feststellen können, dass sie eine andere Sprache sprechen. Nur im Vergleich zu anderen Sprachen hat man das Bewusstsein, eine bestimmte Sprache zu sprechen, sonst hat man nur das Bewusstsein, dass man die Sprache schlechthin spricht, die Sprache der Menschen. Manche Sprecher einer Sprache heißen einfach die Menschen, und die anderen sind die Unmenschen oder die Barbaren, d. h. die, die nicht sprechen können. Man identifiziert die eigene Sprache mit der Sprache schlechthin. Der Ursprung einer Einzelsprache liegt dort, wo die eigene Sprache neben diejenige tritt, aus der sie hervorgegangen ist. Unter den romanischen Völkern wissen die Rumänen bis heute noch nicht intuitiv, dass sie nicht mehr römisch sprechen, denn sie nennen ihre Sprache immer noch „ römisch “ . Der Sprecher hat immer noch den Eindruck, dass er die gleiche Sprache spricht. Unter den 400 <?page no="415"?> germanischen Völkern wissen die Deutschen immer noch nicht, dass sie eine andere Sprache als das Urwestgermanische sprechen. Denn Deutsch heißt immer noch „ Sprache des Volks “ oder „ unsere Sprache “ (germ. thiuda = „ Volk “ , „ unsere Gemeinschaft “ im Gegensatz zu Latein und Romanisch). Der Ursprung einer Sprache resultiert aus dem Bewusstsein der Sprecher, dass sie eine andere Sprache sprechen. Objektiv ist die Sprache nicht eine andere, sondern Fortsetzung der früheren. Man kann nicht sagen, dass das Italienische oder Spanische in einem bestimmten Augenblick entstanden sei. Dass sich die Sprecher ihrer Sprache bewusst wurden, war ein langer historischer Prozess. Erst nachdem man in den karolingischen Reformen das Latein wieder fixiert und normiert hatte, stellte man fest, dass es als Schriftsprache schon völlig anders war als die gesprochene Sprache. Nicht alle Sprecher kommen zu dem Bewusstsein, dass die andere Sprache anders ist. Die Humanisten z. B. nennen das Latein immer noch „ unsere Sprache “ . In Spanien verwendet Vives immer nostra lingua, wenn er vom Lateinischen spricht. Man muss aus dem Kontext ableiten, dass er nicht etwa das Katalanische oder Spanische meint. Eine Sprache entsteht in jedem Augenblick des Sprechens, wird eigentlich stets geschaffen. Wir neigen dazu, eine Sprache zu reifizieren und als eine Sache vor uns zu sehen. Tatsächlich wird eine Sprache nur fortgesetzt durch die Sprecher, die sie annehmen und sprechen. Dies ist die Art, eine Sprache zu schaffen, sie anzunehmen und weiterzuführen. Dass die Sprache sehr oft genau so entsteht, wie sie schon war, d. h. dass man noch genau die gleichen Verfahren weiter anwendet, die schon früher da waren, ist sicherlich ein Faktum. Es bedeutet aber nur, dass die Sprache genau so wieder gemacht worden ist, wie sie war. Aber jeder Sprecher hat sie von Neuem machen müssen. Der Vokal a hat keine Kontinuität in der Zeit. Er ist ein Akt, und als Akt muss er von jemandem auf eine bestimmte Weise ausgeführt werden. Und die Tatsache, dass der Akt fast genauso vollzogen wird, wie andere Akte vor ihm, bedeutet nicht Kontinuität einer Sache, sondern ein neues Verfertigen nach einem vorhandenen Verfahren. Im Vergleich zu anderen menschlichen Tätigkeiten, etwa zur Kunst, Wissenschaft u. a., ist die Tätigkeit der Sprache nicht weniger kreativ. Sie ist aber viel traditioneller bzw. traditionsgebundener, weil hier gerade das Gewicht der anderen, der Alterität, des Zusammenhangs mit Geschichte und Gemeinschaft viel wichtiger ist als in der Kunst oder in der Wissenschaft. Trotzdem ist nicht die Tatsache, dass etwas neu geschaffen wird, erklärungsbedürftig, sondern die Tatsache, dass etwas weiterhin auf die gleiche Weise gemacht wird. Die Kontinuität des sprachlichen Wissens, die Petrifizierung der Traditionen, ist das eigentliche Problem der Sprachentwicklung. Das Neue entspricht dagegen dem (aktuellen) Wesen der Sprache und der übrigen menschlichen Tätigkeiten. Der Sprachwandel ist nichts anderes als die historische Objektivierung des Geschaffenen. Er besteht in der Tatsache, dass etwas, was neu geschaffen wird, zur Sprache der Gemeinschaft wird. Er ist nichts anderes als die Sprache in ihrem Wesen. Das Problem des Ursprungs der Sprache ist das Problem der menschlichen Natur überhaupt. Der Mensch wird durch die Sprache zum Menschen. Dabei 401 <?page no="416"?> müssen mehrere völlig verschiedene Probleme unterschieden werden, nämlich der Ursprung einer bestimmten Einzelsprache einerseits und der Ursprung der Sprache als Sprachfähigkeit schlechthin andererseits. Die Einzelsprache entsteht nicht auf einmal, sondern kontinuierlich, und die Entstehung besteht in der Übernahme sowohl des Alten als auch des Neuen durch die Sprecher. In der Tatsache, dass eine Sprache gesprochen wird, besteht ihr ständiger Ursprung. Eine Sprache, die nicht mehr gesprochen wird, hört auf zu bestehen. Eine Sprache lebt im Bewusstsein der Sprecher. Von einer ostsibirischen Sprache, dem Jukagirischen (Odulischen), die nur noch von zweihundert Menschen gesprochen wird, hat man gesagt, sie existiere nicht mehr, wenn alle Sprecher schlafen ohne zu träumen. Die strukturelle Sprachwissenschaft hat uns gelehrt, nach Oppositionen und Funktionen zu suchen, die durch eine bestimmte Tradition motiviert sind. So besteht im Deutschen eine Opposition in der Betonung von Adjektivkomposita, z. B. blutárm, steinreích ( „ sehr arm, sehr reich “ ) vs. blútarm, steínreich ( „ arm an Blut “ , „ reich an Steinen “ ); im Niederländischen ist Amsterdam endbetont; Anfangsbetonung findet man nur, wenn Amsterdam neben Rotterdam steht. Im Deutschen kann níemals auch mit Endbetonung niemáls auftreten, niemand aber nicht. In der alten Österreichischen Nationalhymne gibt es Vokaldehnungen, die sonst nicht auftreten: Gott erhalte, Gott beschütze, uunsern Kaiser, uunser Land. Hier ist die Tradition der Hervorhebung auf diesen Text beschränkt. Dies sind Beispiele für die außerordentliche Traditionsgebundenheit der Sprache, die als Motivation für bestimmte „ abweichende “ Phänomene angenommen werden muss. Zu einem bestimmten Zeitpunkt in seiner Entwicklung kommt das Kind zu der verblüffenden Entdeckung, dass gewisse Laute Sprache sein können und dass es selbst mit der Sprache spielen und Sprache schaffen kann. Zuerst versteht das Kind, dass etwas Signal sein bzw. Satzfunktion haben kann. Es merkt z. B., dass das intentionelle Weinen die Mutter zu etwas veranlasst oder - und das ist ein Schritt weiter - dass es anstelle des Weinens ma oder mama hervorbringen kann, um die intendierte Wirkung, nämlich gestillt zu werden, zu erzielen. Die Signalfunktion erklärt aber überhaupt nichts. Denn über die Fähigkeit, Handlungen mit Appellfunktion zu bilden und zu verwenden, verfügen auch die Tiere. Auch sie bilden auf eine bestimmte Weise ihre Schreie, um etwas zu bekommen. Vielleicht sind ihre Signale weniger differenziert, aber es gibt sie, und man kann verstehen, was das Tier will. Mit „ Satzfunktion “ ist nicht die Konstruktion aus Subjekt und Prädikat gemeint, sondern nur der Ausdruck einer Intention: Der Hund kann signalisieren, dass er Hunger hat, aber nicht sagen Ich habe Hunger. Die tatsächliche Entdeckung der Sprache besteht darin, dass das Kind auf einmal versteht, dass mama nicht nur zu dem Zweck hervorgebracht wird, Milch zu erhalten, sondern dass es ein Name sein kann, der einen Gegenstand (in diesem Fall eine Person) vertritt und auch in dessen Abwesenheit geäußert werden kann. Dies ist die tatsächliche Entdeckung, das Verstehen von Sprache als Sprache. Wieso kommt das Kind plötzlich zu diesem Verständnis? Wie kommt die Erleuchtung zustande, dass etwas Sprache ist? Darin liegt das eigentliche Problem. 402 <?page no="417"?> Humboldt und die idealistische Sprachphilosophie im Allgemeinen nehmen zu dieser Frage etwa folgendermaßen Stellung: Wir brauchen uns um dieses Problem nicht zu kümmern. Es ist eben so, dass der Mensch schöpferisch ist und Neues entdeckt oder schafft. Der Mensch verfügt nun einmal über Sprachfähigkeit, Kunstfähigkeit usw., und jeder Mensch hat für sich selbst die Intuition des Wesens dieser Fähigkeiten. Ganz so einfach ist das aber nicht. Schon Humboldt sieht, dass die Entdeckung der Sprache nicht nur die Entdeckung der Sprachfähigkeit schlechthin ist, sondern zugleich die Entdeckung der Virtualität von Sprachsystemen. Es gibt nicht bloß die Entdeckung einer Reihe von Fakten, die zur Bezeichnung von etwas dienen, sondern es gibt zugleich die Intuition eines Sprachentwurfs, d. h. Intuition eines Zusammenhangs zwischen diesen Fakten. Dies besagt, dass der Ursprung der Sprache beim Kind schon Ursprung von Sprache als Einzelsprache ist. Mit Humboldt kann man sagen, dass die Entdeckung der Sprache als Einzelsprache in der Natur des Menschen angelegt ist. In anderen Formen der Philosophie sucht man hier nach Erklärungen, z. B. in der Vorform der idealistischen Philosophie, im Rationalismus. Die Fragestellung wurde von den Empiristen und ihren Nachfolgern übernommen. Man meint, die Sprache müsse schon da sein, wenn das Kind sie entdeckt, und gelangt so zu den angeborenen Ideen. Die angeborenen Ideen werden als anthropologische Tatsache gesehen. Man sieht in der Sprachfähigkeit zugleich ein Modell für mögliche Sprachen. Bei der Spracherlernung schaffe der Mensch nicht ein neues Modell, sondern wähle - natürlich intuitiv - unter verschiedenen Modellen (z. B. die Sprache mit Singular-Pluralopposition). Viele Linguisten halten die Hypothese für plausibel, es gebe angeborene Sprachmodelle. Andere sehen in der Sprache ein Faktum der Kreativität, der Synthese a priori. Für sie gibt es keine angeborenen Ideen, keine Sprache schon als biologisches Faktum. Ich selbst zähle mich zu dieser Gruppe. Die Frage, wie der Mensch zur Sprache kommt, kann so oder so gestellt werden. Die vorgetragenen Antworten bedeuten aber nichts. Das Problem wird nur verlagert. Letztlich kommt man - nicht ganz zu Unrecht - zu dem laienhaften Ergebnis, die Sprache sei ein großes Geheimnis. Eine andere Form der Problemstellung ist die Frage, seit wann der Mensch über Sprache verfügt. Diese Frage wurde in den früher zahlreichen und weit verbreiteten Abhandlungen zum Ursprung der Sprache behandelt. Die meisten Antworten, die gegeben wurden, sind aber keine Antworten auf diese Frage, sondern Antworten auf die Frage, wie die Sprache hätte entstanden sein können: etwa aus unwillkürlichen Interjektionen oder aus Lauten, die man im Zusammenhang mit der Arbeit verwendet hat. Diese Antworten sagen aber nur, wie das Materielle der Sprache entsteht, sie sagen aber nicht, wie die Sprachfähigkeit selbst entstanden ist, d. h. nichts zum Übergang von der Appellfunktion zur Benennungsfunktion. Deshalb hat sich in gewissen Kreisen der Linguistik die Auffassung durchgesetzt, man solle sich nicht mit dem Ursprung der Sprache beschäftigen, weil es da keine Antworten gebe. Die Société Linguistique de Paris bestimmte im 19. Jahrhundert in ihren Statuten, dass sie keine Beiträge zum Ursprung der Sprache annehmen werde. 403 <?page no="418"?> Die eigentliche Fragestellung wäre aber, wieso der Mensch fähig war, aus Lauten gleich welcher Art Sprache zu machen. Hier sagen mit Humboldt fast alle Sprachphilosophen und Sprachwissenschaftler, das Problem falle mit dem Problem der Menschheit zusammen. Der Mensch ist ohne Sprache kein Mensch. Die Frage ist also, warum der Mensch Mensch ist. Das analoge Problem stellt sich in Bezug auf den Ursprung der Kunst, der Wissenschaft, der Religion, des Mythos usw., d. h. in Bezug auf den Ursprung der menschlichen Fähigkeiten. Das Problem wird auch im Rahmen der anthropologischen Biologie gestellt. Man kann eine Mutation annehmen oder eine Gabe Gottes. Man kann fragen, ob diese Problemstellung sinnvoll ist oder nicht. Wir werden keine Antwort auf die Frage bekommen, seit wann der Mensch Mensch ist, auch wenn wir das ganze Leben danach suchen. Die Frage nach dem Ursprung der Sprache hat uns zu dem Ergebnis geführt, dass die Sprache nach Humboldt nicht Werk des Verstandes ist, sondern das In- Erscheinung-Treten der intuitiven Kreativität des Menschen. Wie die Kreativität, die Synthese a priori zu erklären ist, ist bis zum heutigen Tage ein Problem geblieben. Im Rahmen bestimmter Sprachauffassungen sieht man die Lösung in angeborenen Ideen, weil man sich eine creatio ex nihilo nicht erklären kann. Wir kommen jetzt zu Humboldts auf den ersten Blick merkwürdigen Unterscheidung zwischen Bildung und Ausbildung der Sprachen. Sie wird nur in dieser Abhandlung ausführlicher behandelt (§§ 2 und 8). Die Unterscheidung ist notwendig, weil Humboldt mit guten Gründen annimmt, dass eine Sprache im ganzen von Anfang an virtuell geschaffen, d. h. im ganzen entworfen wird, da sie ein zusammenhängendes System ist. Humboldt spricht zwar noch nicht vom „ Sprachsystem “ , der Begriff entspricht aber seiner Auffassung. Im System hängt alles mit allem zusammen. Eine Sektion des Systems setzt schon die übrigen Sektionen voraus und enthält sie virtuell. Es ist die Idee der deutschen Romantik, dass in einem Organismus alle Einzelheiten miteinander zusammenhängen, so dass man grundsätzlich die übrigen Teile des Organismus rekonstruieren kann, wenn man von einem Teil des Organismus ausgeht. Wie Georg von der Gabelentz bei der Erklärung der Grundlagen der Sprachtypologie sagt, verhält sich der Linguist dem Paläontologen analog, der aus einem Knochen das ganze Tier rekonstruiert, oder dem Botaniker, der aus einem Lindenblatt die Linde rekonstruiert. Als Entwurf sei also eine Sprache im Ganzen da. Das betreffe auch den jeweiligen Ursprung einer Sprache beim Kind. Dieser Entwurf entspricht dem, was wir heute die typologischen Prinzipien, die Strukturierungsprinzipien einer Sprache nennen würden. Wir haben also zu unterscheiden zwischen den Strukturierungsprinzipien eines Sprachsystems und der Anwendung dieser Prinzipien in concreto. Diese Konkretisierung erscheint als Realisierung und Erweiterung einer bestimmten Sprache. Der Unterscheidung entsprechen zwei Stufen des Sprachstudiums. Die erste Stufe bezieht sich auf die „ charakteristische Form “ der Sprachen und sucht sie nach ihren Strukturierungsprinzipien zu erfassen, die zweite bezieht sich auf die Anwendung der Prinzipien und auf das, was mit ihnen gemacht worden ist. Die Anwendung betrifft nicht mehr die Sprache allein, d. h. die reine sprachliche Formativität, 404 <?page no="419"?> sondern auch die durch die Sprache gestaltete außersprachliche Kultur. Die erste Form des Sprachstudiums betrifft alle Sprachen: Als Systeme sind alle Sprachen einander gleich und in gleichem Maße interessant. Die zweite Form des Sprachstudiums betrifft insbesondere die Kultursprachen, die Sprachen also, die Träger wichtiger Kulturen sind oder gewesen sind. Die zweite Stufe des Studiums ist philologischer Natur, d. h. sie schließt z. B. die griechische Philosophie und Literatur ein. Ich zitiere die wichtigen Stellen, in denen Humboldt die Unterscheidung behandelt: Die wesentlichen grammatischen Formen bleiben, wenn eine Sprache einmal ihre Gestalt gewonnen hat, dieselben; diejenige, welche kein Geschlecht, keine Casus, kein Passivum, oder Medium unterschieden hat, ersetzt diese Lücken nicht mehr; ebensowenig nehmen die grossen Wortfamilien, die Hauptformen der Ableitung ferner zu. (ibid., 2) Alles, was systematisch ist, bleibt auch in der geschichtlichen Entwicklung gleich. Es kommen lediglich weit mehr Ableitungen, Erweiterungen der Wortfamilien und Vergleichbares hinzu. Humboldt exemplifiziert die „ innere und feinere Ausbildung [einer Sprache], wenn ihre äußere Umgränzung (gegen andre) und ihr Bau im ganzen einmal unveränderlich feststeht “ (ibid., 5) am Beispiel des Griechischen und Lateinischen: Die Griechische [Sprache] finden wir, bei ihrem ersten Erscheinen, in einem, uns sonst bei keiner bekannten Grade der Vollendung, aber sie betritt, von diesem Moment an, von Homer bis auf die Alexandriner, eine Laufbahn fortschreitender Ausbildung; die Römische sehen wir einige Jahrhunderte hindurch gleichsam ruhen, ehe feinere und wissenschaftliche Cultur in ihr sichtbar zu werden beginnt. (ibid., 5 − 6) Die Bildung der Struktur erfolgt in einem Zug; die Struktur ist von Anfang an gegeben, ihre Prinzipien bleiben unverändert. Es folgt darauf eine Erweiterung im Zusammenhang mit der Ausbildung der nichtsprachlichen Kultur. Humboldt erklärt - wie auch in ähnlichen Fällen - nicht in concreto, wie man die Unterscheidung genau zu verstehen hat, und er führt auch nur sehr allgemeine Beispiele an. Ich habe versucht, die Unterscheidung Humboldts, die sicherlich wesentlich ist, folgendermaßen zu entwickeln und zu erklären (vgl. Coseriu 1988, 7 − 8): Es ist zu unterscheiden zwischen dem Sprachtypus, dem Sprachsystem und der Sprachnorm. Bei der Veränderung des Sprachsystems bleibt der Sprachtypus konstant, und bei der Veränderung der Realisierungsnorm bleibt das Sprachsystem konstant. Die Unterscheidung dieser Ebenen erklärt, dass die Sprache, obwohl im ganzen entworfen, sich doch historisch ausbilden und weiterentwickeln kann. Im Deutschen gehören zum Sprachsystem alle möglichen Komposita, auch die, die noch niemand gebildet hat. In Analogie zum Haupteingang könnte man auch von einem Hauptsaal, einem Haupttisch usw. sprechen, auch wenn diese Wörter noch nicht geschaffen worden sind. Oder man kann von allen Substantiven und 405 <?page no="420"?> Eigennamen Verben auf -ieren bilden, und von diesen wiederum Präfixbildungen auf -ent. Das Sprachsystem hindert uns nicht, die Verben chomskysieren, coseriusieren und entchomskysieren, entcoseriusieren zu bilden. Das Sprachsystem ist virtuell, es enthält als Entwurf auch das, was noch nicht realisiert worden ist. Darum erkennen wir auch als naive Sprecher, ob das Neue gut und richtig oder schlecht und unrichtig gebildet worden ist. Oft weiß der Sprecher nicht einmal, dass eine Form neu, d. h. noch nicht in der Sprachnorm vorhanden ist. Oberhalb des Sprachsystems gibt es die Strukturierungsebene des Sprachtypus. Dies ist die Ebene der allgemeinen Prinzipien, der Typen von Funktionen und Verfahren. Der Sprachtypus ist noch beständiger als das Sprachsystem. Die Prinzipien bleiben sehr lange die gleichen. Humboldt nimmt sogar ein ewiges Bestehen des Sprachtypus an, wenn keine Sprachmischung eintritt: So gilt der gleiche Sprachtypus für alle romanischen Sprachen seit der Zeit des Vulgärlatein, für das Französisch allerdings nur bis zum Mittelfranzösischen. Die Prinzipien sind die gleichen geblieben, die Ausbildung auf der Ebene der Sprachsysteme und noch mehr auf der Ebene der Sprachnorm verlief aber anders. Die Sprachsysteme mit ihren Funktionen und Verfahren bleiben jahrhundertelang grundsätzlich gleich, d. h. auch die Funktionen und Verfahren sind die gleichen, auch wenn es in der Sprachnorm eine ständige Entwicklung gibt. Was das Deutsche betrifft, meint Georg von der Gabelentz, sei das Sprachsystem seit Luther grundsätzlich das gleiche geblieben. (Gabelentz 1969 [1901], 271 f.] Der letzte Punkt in der Abhandlung zum „ Sprachstudium “ , den wir hier besprechen wollen, ist die Idee der Form (s. vor allem § 14). Wichtig sind hier (1) die relationale Auffassung der Form und (2) die Auffassung, dass die Form der Sprachen die grammatische Form sei. Das wird zwei Jahre später in der Abhandlung zum „ Entstehen der grammatischen Formen “ noch deutlicher gesagt werden. Die Form ist relational gegenüber dem Stoff. Das, was auf einer bestimmten Ebene Form ist, wird auf einer höheren Ebene zu Stoff, der geformt oder gestaltet wird. Im „ Sprachstudium “ unterscheidet Humboldt nur Form und Stoff bei den Wörtern und in der Grammatik. Stoff sind die Wörter, die Grammatik ist die Form. Später unterscheidet er, wenn auch nie ausdrücklich und ausführlich, drei Stufen der Form, nämlich: - den Wortschatz als Form der Erfassung der Dinge; - die Grammatik als Form der Wörter, des Bezeichneten; - die Gesamtheit der Prinzipien der Sprachgestaltung als charakteristische Form, als Sprachtypus. Im „ Sprachstudium “ behauptet Humboldt vor allem, dass die Grammatik Form sei. Es muss betont werden, dass Humboldt das Charakteristische der Sprachen eben in der Grammatik sieht und nicht im Wortschatz. Im Neohumboldtianismus wird dagegen vor allem der Wortschatz als Form der Welt interpretiert und als die sprachliche Gestaltung schlechthin. Für Humboldt sind die Wörter als Vertreter der Dinge die Materie der grammatischen Gestaltung: 406 <?page no="421"?> Das Wesen der Sprache besteht darin, die Materie der Erscheinungswelt in die Form der Gedanken zu giessen; ihr ganzes Streben ist formal, und da die Wörter die Stelle der Gegenstände vertreten, so muss auch ihnen, als Materie, eine Form entgegenstehen, welcher sie unterworfen werden. Nun aber häufen die ursprünglichen Sprachen gerade eine Menge von Bestimmungen in dieselbe Silbengruppe, und sind sichtbar mangelhaft in der Herrschaft der Form. (ibid., 13) Hier finden wir - merkwürdigerweise - den Begriff der Vollkommenheit der Form allein auf die Grammatik bezogen. Wir werden sehen, dass Humboldt gezwungen ist, diese Art der Vollkommenheit anzunehmen, wenn er in seinem Denken kohärent bleiben will. Er sieht in der Entwicklung der Form drei Stufen: - eine Stufe, bei der die bloße Reihung von Elementen die grammatische Form darstellt; - eine Zwischenstufe, bei der noch einiges im Bereich des Formalen nicht oder nicht immer ausgedrückt wird; - die dritte Stufe, in der alle Bestandteile der Sprache ihre Form in sich selbst tragen. Wir finden die Vollkommenheit der Form in der Flexion, besonders in der inneren Flexion der indoeuropäischen Sprachen. So gilt ihm z. B. den Ablaut als die vollkommenste Manifestation der Form oder als Vereinigung von Stoff und Form. Die Kreativität manifestiert sich in einer unendlichen Tätigkeit, die immer zielgerichtet ist, einen Zweck verfolgt. Sie strebt nach einer Vollkommenheit, ohne sie tatsächlich zu erreichen. Die Vollkommenheit bleibt immer das idealiter gesetzte Ziel der Tätigkeit. Deshalb muss Humboldt auch bei den Sprachen als der primären Form der Kreativität eine Stufung der möglichen ideellen Entwicklung annehmen und das Streben nach einer Form postulieren, die der Sprache am besten oder genau entspricht, d. h. die „ Sprachidee “ . Welches ist diese Sprachidee? Humboldt sagt es in dieser Schrift noch nicht sehr klar, aber die Antwort ist im Keime schon gegeben: einerseits besteht sie in der Gestaltung der Welt, einer statischen Einteilung der Welt, in der Bezeichnung der Welt, andererseits betrifft sie das In-Bezug-Setzen des Bezeichneten mit dem Denken. Dem ersten Ziel (der Bezeichnung) entspricht das Lexikon als solches; Humboldt spricht einfach von Wörtern, die die Gegenstände oder die Fakten vertreten (auch die Verben sind in dieser Hinsicht Benennungen). Die Grammatik entspricht hingegen dem Stiften von Relationen. Die Relationen bestehen nicht mehr bei den Gegenständen selbst in der außersprachlichen Wirklichkeit, sondern in der durch die Wörter gestalteten Wirklichkeit. Die ideale Form wäre die totale Einheit zwischen Lexikon und Grammatik, zwischen der Bezeichnung und dem, was Humboldt „ Andeutung “ nennt, nämlich die Bezeichnung von Relationen, in die das Bezeichnete eintritt. Humboldt vertritt eigentlich ein ästhetisches Ideal, nämlich die Einheit der Form, in der der Stoff als solcher nicht mehr für sich selbst gilt, sondern im ganzen von der Form beherrscht wird und in der keine Trennung mehr zwischen Form und Stoff festzustellen ist, obwohl Form und Stoff noch als unterschieden und verschieden gedacht und erfasst werden können. 407 <?page no="422"?> So ist der Plural als grammatische Form in dem Wort Tage schon nicht mehr trennbar vom Stoff dieses Wortes, weil -e für sich allein nicht ‚ Plural ‘ bedeutet, sondern nur das Ganze pluralisiert. Noch deutlicher wird der Stoff durch die Form beherrscht, wo der Plural nur noch durch den Umlaut ausgedrückt wird; in dem Plural Klöster zu Kloster kann nicht mehr zwischen dem lexikalischen Stoff und der grammatischen Form getrennt werden. Wir erkennen die Form als Variation, aber wir können sie nicht mehr abtrennen. Wir haben eine vollkommene Einheit von Stoff und Form, wie sie der Sprachidee am besten entspricht. Der Ablaut der starken Verben, z. B. in binden band gebunden, exemplifiziert am besten Humboldts Ideal der Vollkommenheit (cf. supra). Da Humboldt die Sprache im Allgemeinen dynamisch versteht, muss er in allen Sprachen Stufen der Entwicklung erkennen, sowohl bei den Völkern als auch bei den Individuen. Und er muss Fälle finden, wo der Zustand der Vollkommenheit schon weitgehend erreicht ist. Hier macht sich der Einfluss von Friedrich Schlegel geltend, auf den ich schon öfters hingewiesen habe (cf. supra Kap. 6.4). Schlegel unterscheidet aufgrund einer Tradition, die noch kaum philosophisch war und als deren Repräsentant ein Autor wie Adelung angesehen werden kann, zwei Typen von Sprachen, nämlich Sprachen ohne Vollkommenheit und Entwicklung und Sprachen, die virtuell für die Arbeit des Geistes gerüstet sind. Die „ sanskritischen Sprachen “ , d. h. die Sprachen der indoeuropäischen Sprachfamilie, werden einzig als vollkommen akzeptiert, so als ob sie von einem Genie oder einem göttlichen Sprachschöpfer geschaffen worden wären. Die unvollkommenen Sprachen seien dagegen auf ewig unvollkommen. Das Sanskrit ist für Schlegel Modell für die vollkommene göttliche Sprache. Danach gibt es nur Abbau oder Dekadenz, weil hier die Vollkommenheit am Anfang steht. Bei den anderen Sprachen gibt es dagegen Ausbildung und Fortschritt als allmähliche Entwicklung. Humboldt lehnt es ab, zwei Klassen von Menschen und Sprachen anzunehmen, nämlich die vollkommenen Menschen als die eigentlichen Sprachschöpfer und alle anderen, denen diese Vollkommenheit abgeht. Er postuliert im Gegenteil von Anfang an die Einheit der Menschheit und damit die Einheit der Sprache schlechthin, obwohl ihm gerade die Verschiedenheit der Sprachen sehr wohl bekannt ist. Er muss die ideelle Einheit als Idealziel ansehen und die Verschiedenheit der Sprachen entweder als Stufen auf dem Weg zum Idealziel oder als Arten, das Idealziel konkret zu realisieren, oder als beides zugleich interpretieren. Er tendiert zur dritten Möglichkeit: Er unterscheidet nicht klar zwischen den Stufen der Entwicklung auf dem Wege zur vollkommenen Realisierung der Sprachidee und den Mitteln zu ihrer Realisierung. Bis zum Ende seiner Tätigkeit schwankt er zwischen der Einschätzung der grammatischen Form als Inhaltsform oder als materieller Gestaltung. So kann er einerseits sagen, dass die Form in den romanischen Sprachen immer noch die gleiche sei wie im Lateinischen, weil er unter der Form die Kategorien der Unterschiede selbst versteht und nicht die Art, wie diese Kategorien ausgedrückt werden, d. h. er versteht unter Form zuerst die Flexion und dann das, was durch die Flexion ausgedrückt wird. Wenn er sagt, dass in den romanischen Sprachen immer noch die Flexion da sei, dann meint 408 <?page no="423"?> er nicht mehr die materielle Gestaltung, sondern das, was die Flexion leistet, nämlich die grammatischen Funktionen. In der Abhandlung zum „ Sprachstudium “ unterscheidet Humboldt die drei Stufen der ideellen Entwicklung der Sprachen. Diese Stufen werden später als Klassifizierung der Sprachen bei Humboldt aufgefasst. Es sind aber Stufen von der totalen Unvollkommenheit bis zur idealen Vollkommenheit. Die erste Stufe ist die der Agglutinierung. Sie entspricht Schlegels Sprachen durch Anhäufung: Jede grammatische Funktion wird getrennt durch eine Form ausgedrückt, und zwar entweder durch hinzugefügten Stoff, z. B. durch Suffixe, oder durch getrennte Wörter, die neben dem Bezeichneten stehen. So kann man den Verbalbegriff, die Person, die Vergangenheit, den Numerus usw. jeweils durch getrennte Formen ausdrücken. Dies ist die erste ursprüngliche Stufe bei der Arbeit des Geistes. Man will die Operationen mit dem Bezeichneten ausdrücken, hat aber noch die Trennung von Stoff und Form. Dies gilt beispielsweise für die „ leeren Wörter “ des Chinesischen, wo ein Wort in Verbindung mit einem Verb das Tempus „ Futur “ bedeutet, alleinstehend aber den Begriff „ Zukunft “ . Die dritte unerreichte Stufe ist die formale Flexion, die Flexion mit totaler Verschmelzung des Bezeichnenden mit der Angabe der Relationen, innerhalb deren es zu sehen ist. In diesem Fall gibt es nicht mehr für jede Funktion ein getrenntes Element, sondern eine einzige Endung für Genus, Numerus und Kasus zugleich wie in lat. hominibus, wo die verschiedenen Funktionen in einer Endung miteinander verschmolzen sind. Zwischen der Anfangs- und der Endstufe gibt es Zwischenstufen, wo die Relationen nicht immer ausgedrückt werden, wo z. B. der Numerus manchmal ausgedrückt wird und manchmal nicht, wo der Unterschied zwischen Verb und Nomen nicht immer gemacht wird, wo zwar die grammatische Form im Gedanken gegeben ist, aber nicht immer zum Ausdruck kommt und vor allem nicht zur Einheit von Form und Stoff, von Grammatik und Lexikon, von Relation und Bezeichnung gelangt: Eigentlich wäre hier eine unendliche Reihe von Stufen denkbar. Humboldt unterscheidet aber nur diese drei Stufen. Das ist die eine Auffassung Humboldts, die er von der Entwicklung der grammatischen Form und von der ideellen Entwicklung aller Sprachen hat. Bei der oben skizzierten Auffassung bedeutet Vollkommenheit die vollkommene Verschmelzung von Stoff und Form, die dann vorliegt, wenn das Grammatische zwar erkennbar, aber nicht mehr trennbar ist wie im Ablaut bei singen sang gesungen. Dieses Idealziel ist von keiner Sprache erreicht worden. Die Sprachen sind also nicht vollkommen, sondern nur vollkommener und weniger vollkommen. In jeder Sprache sind Spuren der früheren Phasen vorhanden, z. B. immer noch Agglutinierung oder immer noch Ausdruck des Grammatischen außerhalb des Bezeichnenden. Man kann hier nur quantitativ feststellen, wie viel Agglutination noch da ist. So werden z. B. in der Konstruktion in meinem Haus die räumliche Relation und die Possessivbeziehung lexikalisch ausgedrückt, während Kasus und Numerus in der Endung -em verschmolzen sind. Bei Sprachen wie dem Ungarischen oder Türkischen stellen wir Agglutination im Wort fest, bei Sprachen wie dem Chinesischen Agglutination außerhalb des Wortes. 409 <?page no="424"?> Das oben Gesagte entspricht einer Auffassung, die nicht nur von Humboldt vertreten wurde. Bei Humboldt findet sich jedoch noch eine andere Auffassung, der ein anderer Begriff von Vollkommenheit zugrunde liegt. Sie erscheint vor allem in dem Brief an Abel Remusat (cf. supra 12.2.4.1). Der allgemeinen Auffassung zufolge wäre das Chinesische eine weniger vollkommene Sprache. Humboldt führt hier aber einen neuen Begriff von Vollkommenheit ein, nämlich die Vollkommenheit als Kohärenz, als Folgerichtigkeit bei der Anwendung von Strukturierungsprinzipien. Daraus ergibt sich eine neue Auffassung von der Abstufung der Sprachen. Die unvollkommenen stehen in der Mitte, die Entwicklung zur Vollkommenheit erfolgt in zwei verschiedene Richtungen: die eine bezeichnet das Grammatische nur durch Kombination des Lexikalischen, die andere Richtung zielt auf die totale Flexion. Das Chinesische und die indoeuropäischen Sprachen bilden die jeweiligen Endpunkte, die meisten Sprachen stehen in der Mitte und tendieren entweder in die eine oder in die andere Richtung. 12.7.4 „ Über das Entstehen der grammatischen Formen, und ihren Einfluss auf die Ideenentwicklung “ (1822) Der Begriff der grammatischen Form ist von besonderer Bedeutung, weil er unmittelbar mit dem allgemeinen Begriff der Formativität, mit der Fähigkeit zu gestalten, zusammenhängt. Diese ist das wesentliche Charakteristikum des Menschen. Die Sprache ist die erste Form der Formativität oder Kreativität des Menschen. Der Mensch formt seine Welt, er formt sich selbst. In der Sprache formt er das Außersprachliche durch den Wortschatz und das Sprachliche selbst durch die Grammatik. Humboldts Problemstellung übte einen starken Einfluss auf die weitere Geschichte der Sprachphilosophie aus. Sie ist aber auch widersprüchlich. Humboldt lebte mit diesem Widerspruch sein ganzes wissenschaftliches Leben. Wir müssen uns bemühen, diesen Widerspruch genau zu verstehen. Das Problem ist auch für die Linguistik wichtig, weil hier die Grammatik zum ersten Mal als besondere Form der Sprache angesehen, zum ersten Mal zum Objekt der Sprachphilosophie wird. In der sogenannten philosophischen Grammatik insbesondere des 18. Jahrhunderts ging man von einer einzigen Grammatik für alle Sprachen aus. Man suchte das Rationale mit dem Grammatischen zu vereinbaren. Man nahm ein allgemeines rationales Denken an, verglich die Sprachen mit diesem und prüfte, ob sie damit übereinstimmten. Was sich in Übereinstimmung mit dem rationalen Denken befand, gehörte zur Sprache im Allgemeinen, in den übrigen Fällen handelte es sich um marginale Abweichungen. Bei Humboldt geht es hingegen um das schon bei Herder formulierte Prinzip der Eigentümlichkeit der Einzelsprachen und damit auch der grammatischen Bedeutung einer jeden Sprache. Es steht nun das Charakteristische und Individuelle der Sprachen im Vordergrund und zum ersten Mal wird die Eigentümlichkeit der grammatischen Bedeutung festgestellt. Nicht nur das Lexikalische wird als jeder einzelnen Sprache eigentümlich angesehen, sondern auch und sogar an erster Stelle das Grammatische, d. h. die Art, wie die schon benannten Dinge in ein Verhältnis zueinander gebracht werden. 410 <?page no="425"?> Während einer sehr langen Zeit ist - grob gesagt - in der Sprachphilosophie von einer Eigentümlichkeit der sprachlichen Inhalte überhaupt nicht die Rede. Grundsätzlich werden die gleichen Bedeutungen für alle Sprachen angenommen. Allenfalls erkennt man an, dass die bezeichneten Sachen verschieden sind und man deshalb auch verschiedene Wörter für sie braucht, oder dass eine Sprache mehr Unterschiede macht im Vergleich mit anderen Sprachen, d. h. dass eine Sprache einen größeren „ Reichtum “ (copia verborum) besitzt im Vergleich mit „ ärmeren “ Sprachen. In praktischer Hinsicht ist die Verschiedenheit der Sprachen den Übersetzern, Dolmetschern und mehrsprachigen Sprechern natürlich wohl bekannt. Die Verschiedenheit der Bedeutungen wurde aber nicht Gegenstand der Reflexion. Als erster erkannte John Locke ausdrücklich, dass mindestens eine partielle Verschiedenheit der Sprachen im lexikalischen Bereich besteht. Er prägte den Begriff der „ gemischten Modi “ (mixed modes). Diese seien traditionell in bestimmten Gemeinschaften und - da historisch bedingt - nicht in allen Gemeinschaften anzutreffen (cf. Bd. I, Kap. 12.2). Leibniz hat die grundsätzliche einzelsprachliche Eigentümlichkeit der lexikalischen Bedeutungen behauptet, und zwar in seiner Auseinandersetzung mit Locke in den Nouveaux essais sur l ’ entendement humain. Er führt dort den Begriff der species civiles ein, d. h. der kulturell bedingten species oder Seinsarten. Diese seien grundsätzlich einzelsprachlicher Natur, auch wenn sie mit den natürlichen species zusammenfallen können und notwendigerweise jeweils eine Sektion der sogenannten logischen species bilden. Die logischen species, deren Zahl unendlich ist, sind alle denkbaren Kombinationen von Merkmalen und enthalten deshalb notwendigerweise sowohl die natürlichen als auch die sprachlichen species. Die natürlichen species können mit den sprachlichen species, d. h. den lexikalischen Bedeutungen, zusammenfallen, müssen es aber nicht (cf. Bd. I, Kap13.2.3 und 13.3.4). Man vergleiche das folgende Schema: logische species natürliche species sprachliche bzw. kulturelle species Zum Beispiel kann das Wort Pferd in einer Sprache einer natürlichen species entsprechen. Eine andere Sprache könnte aber kein Wort für Pferd haben, sondern nur Wörter für weniger umfassende species, z. B. nur Wörter wie Schimmel, Fuchs usw., oder nur ein Wort für eine allgemeinere species, die auch die Esel oder noch mehr einschließt. Mit seinem Begriff der species civiles stellt Leibniz die Eigentümlichkeit der lexikalischen Bedeutungen ausdrücklich fest und begründet sie auch, ohne allerdings auf die Konsequenzen seiner Theorie einzugehen. 411 <?page no="426"?> Die Eigentümlichkeit der grammatischen Bedeutung wird in praktischer Hinsicht wenigstens partiell von Lorenzo Hervás entdeckt und als These in den Begriff des artificio grammaticale (des „ grammatischen Mechanismus “ ) eingebracht. Wir finden diesen Begriff als grammatical device in der neueren Linguistik wieder. Von Humboldt wird die Eigentümlichkeit der grammatischen Bedeutung im Begriff der „ grammatischen Form “ ausdrücklich formuliert und begründet. In dieser Hinsicht ist seine Fragestellung auch für die Linguistik bahnbrechend. Sie führt zu einer anderen Art der grammatischen Beschreibung. Die Grammatik wird nicht mehr nach allgemeinen bzw. universellen Kategorien, d. h. nach den Kategorien der Beschreibungssprache des Grammatikers, die wie in der Universalgrammatik des 18. Jahrhunderts als universell angenommen werden, beschrieben, sondern nach den Kategorien, die in der beschriebenen Sprache selbst enthalten sind. Der Begriff der grammatischen Form impliziert also das Prinzip der Immanenz auch in der grammatischen Beschreibung. Im „ Vergleichenden Sprachstudium “ ist das Prinzip noch nicht ausdrücklich formuliert. Die ausdrückliche Formulierung findet sich erst in der „ Entstehung der grammatischen Formen “ . Widersprüchlich ist die Auffassung Humboldts insofern, als sie einerseits die grundsätzliche Verschiedenheit der Sprachen, andererseits aber eine ideale Sprachidee annimmt, die in allen Sprachen angestrebt wird. Von jeder Sprache nimmt Humboldt an, dass sie gegenüber anderen Sprachen durch eine eigentümliche Kohärenz ausgezeichnet sei, weil sie ideell einheitlich, d. h. nach bestimmten Prinzipien konstruiert sei. Demzufolge bezieht sich die „ Sprachidee “ in dieser Hinsicht nicht auf den langage als Sprache im Allgemeinen, sondern auf das Einzelsprachliche selbst, d. h. auf das Sprachsystem. Humboldts Widerspruch liegt im folgenden Sachverhalt: Die Eigentümlichkeit setzt die einmalige Entstehung einer jeden Einzelsprache voraus. Jedes Element einer Sprache ist zugleich Entwurf des Sprachsystems. Die Eigentümlichkeit bedeutet zugleich die Beständigkeit der einmal entworfenen Sprachsysteme. Humboldt hält die Sprachsysteme an und für sich für ewig, für ein für alle Mal bestehend, und er sagt es ausdrücklich. Hat eine Sprache ein Prinzip angenommen, so gilt es auf unbestimmte Zeit. Deshalb gibt es nur noch Ausbildung, d. h. Anwendung der Prinzipien und Vervollständigung und Verfeinerung des Entwurfs. In dieser Hinsicht ist für Humboldt jede Sprache als System vollkommen durch ihre eigene Kohärenz. Nur im Grad der Ausbildung, d. h. in Bezug auf die Sprachen als Kulturträger, gibt es vollkommenere Sprachen, wie z. B. das Griechische, und weniger vollkommene. Eine Veränderung der Prinzipien ist für Humboldt grundsätzlich nur durch Sprachmischung möglich. Diese Sprachmischung bezieht sich auf die Vorgeschichte der jeweiligen Einzelsprachen. Bei der Sprachmischung wird jeweils das besser geeignete Prinzip der sich vermischenden Sprachen gewählt und dadurch eine neue Kohärenz hergestellt. Als „ Ursache “ des grammatischen Wandels betrachtet Humboldt also die Sprachmischung. Er folgt damit Adam Smith und Friedrich Schlegel (cf. supra 6.3.3). Nur durch Sprachmischung können Systeme sich ändern. Isolierte Systeme kennen dagegen nur Ausbildung, d. h. weitere Anwendung und Entwicklung in der Sprachnorm. 412 <?page no="427"?> Der Widerspruch, den wir bei Humboldt konstatiert haben, besteht nun in der Annahme der „ Sprachidee “ nicht nur als ideale Form einer bestimmten Sprache, sondern als ideale Form der Sprache schlechthin, die durch die allgemeine Formativität als ewige Tätigkeit des Menschen motiviert ist. Die Flexion gilt ihm allgemein als zu erreichendes Ziel. Dies würde ein Streben nach Flexion bei allen Sprachen voraussetzen. Die Annahme, dass die flexivischen Sprachen die Idealform der Sprache sind, findet sich auch bei Friedrich Schlegel. Gerade deshalb ist Humboldt bemüht, immer wieder gegen ihn Stellung zu nehmen und zu zeigen, worin er sich von ihm unterscheidet. Schlegel nimmt nur eine einzige Sprache als Flexionssprache an, nämlich das mit dem Indoeuropäischen weitgehend gleichgesetzte Sanskrit. Von Lord Monboddo übernimmt er die Idee, nur das Indoeuropäische sei organisch entstanden; vielleicht sei dabei ein göttlicher Sprachschöpfer am Werk gewesen. Monboddo hatte sogar Ägypten als den Herkunftsraum dieser Kunstsprache bestimmt. Gegenüber der organisch gebildeten Kunstsprache seien alle übrigen Sprachen Primitivsprachen ohne innere Einheit. Bei ihnen sei nur Ausbildung durch Anhäufung festzustellen. Humboldt besteht immer wieder darauf, dass gerade nicht eine Sprache der Sprachidee entspricht, sondern dass diese das ideale Ziel aller Sprachen ist. Humboldt nimmt also keine Trennung von Idealsprache und primitiven Sprachen vor, sondern fasst die Idealsprache als Ziel und nimmt bei allen Sprachen das Streben nach diesem Ziel an. An diesem Ziel gemessen gibt es nun vollkommenere und weniger vollkommene Sprachen. Dies bedeutet einen anderen Begriff von Vollkommenheit. Nach diesem ist eine Sprache in ihrer Strukturierung selbst nicht vollkommen. Sie ist aber auf dem Weg zur Flexion und hat auf diesem Weg einen bestimmten Punkt erreicht. Sprachidee Sprachen, die nur lexikalisches enthalten (Chinesisch) Sprachen, die die Relationen teilweise ausdrücken Sprachen, die die Flexion kennen, aber nicht vollständig durchgeführt haben Erst bei der völligen flexivischen Strukturierung haben wir eine totale Auflösung des Stoffes in der Form. Dieses Ziel ist von keiner Sprache erreicht worden. Die flexivischen Sprachen sind aber auf der idealen Entwicklungslinie schon weit fortgeschritten. Andere Sprachen sind noch am Anfang des Weges zur Flexion. Sie enthalten nur Lexikalisches; das Grammatische wird nur gedacht oder durch die Wortstellung ausgedrückt. Vom Chinesischen nahm man damals an, es würde alles, was Grammatik ist, dem Denken überlassen und nicht in der Sprache ausdrücken. Werde z. B. das Futur neben dem Verb durch ein eigenes Wort ausgedrückt, das „ Zukunft “ bedeutet, so entspreche ein solcher Ausdruck der grammatischen 413 <?page no="428"?> Verhältnisse noch nicht der Grammatik. In einer mittleren Phase auf dem Weg zur Sprachidee stehen die Sprachen, die zwar Bezeichnung und „ Andeutung “ , d. h. Lexikon und Grammatik aufweisen, die Relationen aber nur in bestimmten Fällen sprachlich ausdrücken und ihre Erfassung im Übrigen dem Denken überlassen. Die Flexion ist schließlich der ideale Ausdruck des Grammatischen, weil das Lexikalische im Ausdruck nicht mehr erkannt wird. Die Endungen können zwar ursprünglich etwas Lexikalisches bedeutet haben. Sie werden aber nicht mehr als lexikalische Elemente verstanden, sondern werden zu Morphemen mit rein grammatischer Funktion. Ebenso gibt es grammatische Wörter, die nichts Lexikalisches mehr enthalten, wie die Präpositionen. Sie können ursprünglich lexikalische Elemente gewesen sein, haben aber jetzt nur noch grammatische Funktion. Für Humboldt ist die Agglutination, die Anhäufung von grammatischen Bestimmungen, Vorstufe der Flexion. In jeder flexivischen Sprache gebe es noch Spuren der Agglutination. Wie wir in den Kapiteln 6 und 7 gesehen haben, unterscheidet Friedrich Schlegel zwischen Sprachen durch Affixa einschließlich des Chinesischen und Sprachen durch Flexion. August Wilhelm Schlegel unterscheidet isolierende Sprachen (er nennt sie Sprachen ohne grammatische Struktur), agglutinierende Sprachen (langues par affixes) und Sprachen durch Flexion (langues par inflexion). Humboldt schließlich ordnet die isolierenden Sprachen, die die Grammatik überhaupt nicht ausdrücken, die agglutinierenden Sprachen und die Flexionssprachen auf einer Entwicklungslinie an, die keine scharfe Trennung zwischen Agglutination und Flexion kennt. Humboldt hat also eine völlig andere Einteilung als Friedrich Schlegel. Es wird keine einmalige Sprachschöpfung angenommen, sondern eine Entwicklung in Richtung auf die Flexion. Das folgende Schema stellt Humboldts Auffassung den Einteilungen von Friedrich und August Wilhelm Schlegel gegenüber: Sprachidee isolierend agglutinierend flektierend W v. Humboldt F. Schlegel A. W. Schlegel Sprachen isolierend agglutinierend synthetisch analytisch flektierend Sprachen durch Affixe alt modern durch Flexion 414 <?page no="429"?> Wir haben gesehen, dass Humboldt in Bezug auf die grammatische Form mit einem Widerspruch zu kämpfen hat, wenn er die Flexion als Idealverfahren der Grammatik annimmt. Humboldts Ideal, die Aufhebung des Stoffes im Ganzen durch die Form, ist ästhetisch motiviert. Die Sprachen können nach dem erreichten Grad der Vollkommenheit geordnet werden. Nun steht aber der Vollkommenheit, die durch Aufhebung des Stoffs durch die Form erzielt wird, eine andere Art von Vollkommenheit gegenüber, die Kohärenz der Strukturprinzipien. Nach dieser Auffassung stehen die unvollkommenen Sprachen zwischen den in unterschiedlicher Hinsicht vollkommenen Sprachen: Kohärenz in Verzicht auf grammatische Strukturierung unvollkommene Sprachen Orientierung in Richtung auf die Flexion Nach dieser Klärung der Begriffe komme ich nun kurz auf den Inhalt der Abhandlung „ Über das Entstehen der grammatischen Formen “ zu sprechen. Sie gehört zwar nicht zu den fünf Schriften, die Humboldts Gesamtauffassung darstellen, ist aber im Hinblick auf den Begriff der „ grammatische Form “ von großer Bedeutung. Ihr Gegenstand ist das ideale Werden der Grammatik, d. h. die Frage, wie sich die Formativität in der Sprache selbst behauptet, wie die Form der Sprachen immer mehr und immer genauer den Anforderungen des Denkens entsprechen. Die Entwicklung der grammatischen Form wird zugleich als virtuelle Ideenentwicklung, als Entwicklung der Denkfähigkeit selbst, aufgefasst. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass im Neohumboldtianismus die These des Weltbildes als Gestaltung der „ Welt “ durch den Wortschatz interpretiert worden ist. Dies ist in gewisser Hinsicht nicht nur im Hinblick auf Humboldt, sondern auch der Sache nach falsch. Die Welt, die im Wortschatz gestaltet wird, ist eine statische Welt, eine Welt der Gegenstände allein. Es fehlt ihr die Möglichkeit, die Gegenstände auf eine ganz bestimmte Weise in Relation zueinander zu bringen. Hierzu heißt es im „ Entstehen der grammatischen Formen “ : Die Wörter und ihre grammatischen Verhältnisse sind zwei in der Vorstellung durchaus verschiedne Dinge. Jene sind die eigentlichen Gegenstände in der Sprache, diese bloss die Verknüpfungen, aber die Rede ist nur durch beide zusammengenommen möglich. Die grammatischen Verhältnisse können, ohne selbst in der Sprache überall Zeichen zu haben, hinzugedacht werden, und der Bau der Sprache kann von der Art seyn, dass Undeutlichkeit und Missverstand dabei dennoch, wenigstens bis auf einen gewissen Grad, vermieden werden. Insofern alsdann den grammatischen Verhältnissen doch ein bestimmter Ausdruck eigen ist, besitzt eine solche Sprache für den Gebrauch eine Grammatik ohne eigentlich grammatische Formen. (Humboldt 2010, Bd. III, 37 − 38) Humboldt unterscheidet hier einerseits die Funktion der Gestaltung der Welt und andererseits das In-Bezug-Setzen der Dinge, d. h. die Verknüpfungen. Er hat später für diese beiden Funktionen die Begriffe „ Bezeichnung “ und „ Andeutung “ eingeführt. Die „ Bezeichnung “ entspricht den durch den Wortschatz eingeführten 415 <?page no="430"?> Begriffen. Die „ Andeutung “ versetzt sie in eine bestimmte Kategorie des Denkens oder des Redens. Durch die lexikalische Gestaltung wird die Welt zu einer Welt des Denkens gemacht, d. h. zu einer Welt, die gedacht werden kann. Sie wird so Eigentum des Menschen und Inhalt des Bewusstseins und ist nicht mehr nur momentaner Eindruck. Die „ Bezeichnung “ ist die Voraussetzung des Denkens, aber noch nicht das Denken selbst. Sie ist nur die „ Zubereitung “ der Dinge für das Denken, um sie „ denkbar “ zu machen. Diese Feststellung bezieht sich natürlich nicht auf das praktische Denken, sondern auf die Möglichkeit des theoretischen Denkens, des Denkens über das Wesen der Dinge, bzw. auf die Möglichkeit, die Dinge zu analysieren. In concreto, d. h. im praktischen Umgang mit den Dingen, kann man auch allein in den Vorstellungen denken. Denkt man sich in eine Situation hinein, kann man in ihr reagieren, ohne Begriffe zu verknüpfen. Mit den konkreten Vorstellungen der Dinge kann man diese aber nicht analysieren, kann man nichts über sie aussagen, sie z. B. auf Klassen zurückführen oder sie beschreiben. Die beste Formulierung für die Unterscheidung zwischen der Bezeichnung des Begriffs und seiner Versetzung in eine bestimmte Kategorie des Denkens oder des Redens finden wir erst in der letzten Abhandlung, „ Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues. . . “ . Ich zitiere diesen wesentlichen Passus ganz: In allen hier zusammengefassten Fällen liegt in der innerlichen Bezeichnung der Wörter ein Doppeltes, dessen ganz verschiedene Natur sorgfältig getrennt werden muss. Es gesellt sich nemlich zu dem Acte der Bezeichnung des Begriffes selbst noch eine eigne, ihn in eine bestimmte Kategorie des Denkens oder Redens versetzende Arbeit des Geistes, und der volle Sinn des Wortes geht zugleich aus jenem Begriffsausdruck und dieser modificirenden Andeutung hervor. Diese beiden Elemente aber liegen in ganz verschiedenen Sphären. Die Bezeichnung des Begriffs gehört den immer mehr objectiven Verfahren des Sprachsinnes an. Die Versetzung desselben in eine bestimmte Kategorie des Denkens ist ein neuer Act des sprachlichen Selbstbewusstseyns, durch welchen der einzelne Fall, das individuelle Wort, auf die Gesammtheit der möglichen Fälle in der Sprache oder Rede bezogen wird. Erst durch diese, in möglichster Reinheit und Tiefe vollendete und der Sprache selbst fest einverleibte Operation verbindet sich in derselben, in der gehörigen Verschmelzung und Unterordnung, ihre selbstständige, aus dem Denken entspringende und ihre mehr den äusseren Eindrücken in reiner Empfänglichkeit folgende Thätigkeit. ( „ Sprachbau “ § 26, = Humboldt 2010, Bd. III, 489 − 490) Erst durch die Grammatik konstituiert sich die Sprache als Tätigkeit. Der Wortschatz als Vertretung der Dinge ist der Stoff, über den man spricht. Durch die grammatische Gestaltung unterscheiden sich die Sprachen nach Humboldt noch mehr als durch ihre Wörter. Die Gestaltung der Welt durch das Lexikalische sei zwar auch schon eigentümlich, die Unterschiede in der grammatischen Gestaltung seien aber noch viel größer und für die Struktur der Sprachen eher maßgebend. Man müsse folglich die Sprachen jeweils auch in dieser Hinsicht von ihrem eigenen Gesichtspunkt aus analysieren und nicht vom Gesichtspunkt der Kategorien einer anderen Sprache oder von angenommenen Universalkategorien aus. 416 <?page no="431"?> Zum Beleg dieser These führt Humboldt vor allem Beispiele aus amerikanischen Eingeborenensprachen an. Er stützt sich dabei, wie ich glaube, vor allem auf Lorenzo Hervás und seine analytische Methode. Mit dieser Methode zeigt er, dass die grammatische Bedeutung in den amerikanischen Sprachen anders ist, als wir es aufgrund einer nach den üblichen Vorstellungen angefertigten Übersetzung annehmen würden. Der Ansatz ist folgender: Die übliche Übersetzung wird dadurch gerechtfertigt, dass die Bezeichnung einer bestimmten, außersprachlich gemeinten Relation im Ausgangstext und im Zieltext die gleiche ist. Die verwendeten Bedeutungen, d. h. das, was in der Sprache selbst gesagt wird, sind aber jeweils anders. Humboldt schreibt: Man muss daher, um diesen Fehler [eine unbekannte Sprache in den Kategorien einer bekannten zu analysieren] zu vermeiden, jede Sprache dergestalt in ihrer Eigenthümlichkeit studiren, dass man durch genaue Zergliederung ihrer Theile erkennt, durch welche bestimmte Form sie, ihrem Baue nach, jedes grammatische Verhältnis bezeichnet. (Humboldt 2010, Bd. III, 35) Das ist das Prinzip der Immanenz bzw. der immanenten Beschreibung. Es besteht darin, eine Sprache so zu beschreiben, wie sie in Bezug auf ihre eigenen grammatischen Bedeutungen ist. Die eigentümlichen grammatischen Bedeutungen einer Sprache werden in der „ lesbaren “ , „ idiomatischen “ Übersetzung nicht bewahrt: Man muss daher bei Uebersetzungen so gearteter Phrasen solcher Sprachen wohl im Auge behalten, dass diese Uebertragungen, soweit sie die grammatischen Formen angehen, fast immer falsch sind, und eine ganz andre grammatische Ansicht gewähren, als der Sprechende dabei gehabt hat. Wollte man dies vermeiden, so müsste man auch der Uebertragung immer nur soweit grammatische Form geben, als in der Originalsprache vorhanden ist. . . (ibid., 40) Humboldt fordert also die wörtliche, die Morphem für Morphem-Übersetzung, um darzustellen, was die entsprechende Sprache tatsächlich sagt. Er führt unter anderem die folgenden Beispiele an: Der Ausdruck der Karaibensprache aveiridaco wird übersetzt mit „ wenn du wärest “ (2. Ps. Imperf. Sg. Konj.). Tatsächlich gebe es in dieser Sprache keinen Konjunktiv, es sei sogar fraglich, ob überhaupt ein Verb vorliegt. Die Sprache sagt vielmehr „ am Tage deines Seyns “ (ibid., 35 − 36). Dies ist die grammatische Bedeutung der Konstruktion. In Bezug auf die außersprachliche Relation entspricht sie aber dem, was wir mit du wärest ausdrücken. Der Ausdruck a-le-ti-pan der Lule-Sprache werde gewöhnlich übersetzt mit „ aus Erde gemacht “ . Wörtlich heiße diese Silbenverbindung aber „ Erde aus sie machen “ (ibid., 36). Der Ausdruck caic tucuec, ebenfalls in der Lule-Sprache, wird übersetzt mit „ Ich pflege zu essen “ , entspricht aber wörtlich den nebeneinander gestellten finiten Verbformen „ Ich pflege, ich esse “ (ibid., 37). Der Ausdruck che caru ai-pota einer brasilianischen Sprache wird übersetzt mit „ Ich will essen “ , entspricht aber wörtlich einem „ Mein Essen ich will “ (ibid., 36). 417 <?page no="432"?> Die Idee der Analyse durch wörtliche Übersetzung stammt von Hervás. Man müsste den Zusammenhängen zwischen Hervás und Humboldt nachgehen. Beide lernten sich in Rom kennen. Die Grammatiken, die Humboldt von Hervás erhalten hatte und kopieren ließ, sind noch erhalten. Sie befinden sich in Berlin und können dort eingesehen werden. Es existiert eine von Hervás selbst geschriebene Liste. Sie betrifft die Sprachen, aus denen Humboldt zitiert und die er im Sinne der eigentlichen grammatischen Form interpretiert. 149 Humboldt geht einen wesentlichen Schritt über Hervás hinaus, dessen Arbeiten rein praktischer Natur waren und kaum theoretische Begründungen aufwiesen. Seine Leistung für die Linguistik besteht in der ausdrücklichen Entdeckung der Grammatik als grammatische Semantik, als inhaltliche Gestaltung nicht der Gegenstände der Welt, sondern der Eigenschaften dieser Gegenstände und ihrer Relationen zueinander. Das Prinzip der Immanenz für die grammatische Beschreibung ist genau das Gegenteil des Prinzips, das der Universalgrammatik zugrunde liegt. Es gilt in gewisser Hinsicht bis heute, und man verwendet teilweise heute noch die Technik, die grammatische Gestaltung einer Sprache durch die wörtliche ( „ morphematische “ ) Übersetzung aufzuzeigen. Was bedeutet das Prinzip der Immanenz für die Sprachphilosophie? Erst jetzt wird die Grammatik auch als Gegenstand der Sprachphilosophie wichtig. Von nun an geht es nicht nur um die Namengebung, sondern auch um das Sprachsystem, d. h. um die Methode, mit der gedachten Welt als mit einem geistigen Eigentum zu operieren. Wie ich in Kapitel 11 angedeutet habe, hatte Hegel mit diesem Übergang von der Namengebung zur grammatischen Strukturierung seine Schwierigkeiten (cf. supra Kap. 11.5). Bis Humboldt bleibt die Sprachphilosophie bei der Sprache als Namengebung, d. h. sie hält nur die Tatsache für wichtig, dass das Ding zum Wort wird. Bei Humboldt haben wir nun zwei verschiedene Operationen, die aber eine Einheit bilden. Die Schwierigkeit des Übergangs wird aufgehoben, weil der Übergang in der Sprache selbst geschieht und in gewisser Hinsicht schon im Voraus gegeben ist. Wir haben nicht etwa zuerst die Wörter zur Einteilung der Welt in Gegenstände und Sachverhalte und dann erst die Sätze zu deren Verknüpfung, sondern es ist in gewisser Hinsicht umgekehrt: Zuerst gibt es das Sprechen mit der Sprache, und die Wörter resultieren aus den Sätzen. Beides ist zugleich gegeben als eine einzige Intuition, und erst dann erfolgt eine Art von Auslese der Bezeichnung, eine Herauslösung des Begriffs aus der einheitlichen Rede. Für die Linguistik bedeutet dies den Primat des Satzes. Das Lexikon resultiert aus den Sätzen. Für die Spracherlernung und für die Entwicklung der Sprache beim Kind heißt dies, dass es zuerst Sätze gibt und dass erst danach aus den Sätzen die 149 [Inzwischen ist in dieser Hinsicht im Rahmen der von Kurt Mueller-Vollmer in Zusammenarbeit mit Tilmann Borsche, Bernhard Hurch, Frans Plank, Manfred Ringmacher, Jürgen Trabant und Gordon Wittacker herausgegebenen und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften geförderten historisch-kritischen Ausgabe der sprachwissenschaftlichen Schriften Humboldts einiges geleistet worden.] 418 <?page no="433"?> Wörter ausgelesen werden. Schon ein einziges Wort des Kindes ist nicht bloß Bezeichnung, sondern schon Satz in unserem Sinne. Milch ist so nicht bloß das Wort Milch, sondern meint „ Ich möchte Milch haben “ oder ähnliches. In dieser Hinsicht wird der Übergang vom Wort zum Satz aufgehoben. Er erfolgt in der Sprache selbst und eher in der umgekehrten Richtung. Gerade dadurch ist die Sprache auch bildendes Organ des Denkens. Sie ist es erst als Sprache mit einer Grammatik, in der man Dinge miteinander in Beziehung setzen und Sätze bilden kann, nicht bloß als Nomenklatur, als Namengebung: Das Sprechen, als materiell, und Folge realen Bedürfnisses, geht unmittelbar nur auf Bezeichnen von Sachen; das Denken, als ideell, immer auf Form. Ueberwiegendes Denkvermögen verleiht daher einer Sprache Formalität, und überwiegende Formalität in ihr erhöhet das Denkvermögen. (ibid., 54) In der Entdeckung der grammatischen Form liegt die Bedeutung dieser Abhandlung für die Linguistik und die Sprachphilosophie in abstracto und über Humboldt hinaus. Sie lässt den Übergang vom bloßen Nennen zum Sagen und folglich zum Denken mit den schon benannten Sachen in der Sprache selbst erfolgen. Erst jetzt ist die Sprache tatsächlich als bildendes Organ des Denkens bestimmt. Man denkt, was schon durch die Sprache gestaltet worden ist. In sprachwissenschaftlicher Hinsicht ist die Abhandlung grundlegend, weil zum ersten Mal der Satz hervorgehoben und das Prinzip der Immanenz eingeführt wird. Für Humboldt selbst sind die Ausführungen zum Werden der Grammatik zugleich Ausführungen über das Werden der Sprachen in Richtung auf die Vollkommenheit. Es geht ihm nicht bloß um die Eigentümlichkeit der grammatischen Gestaltung, sondern auch um die Frage, an welchem bestimmten Punkt ihrer Entwicklung sich eine Sprache befindet, z. B. ob sie schon die Unterscheidung zwischen Verb und Nomen macht, ob sie das Formale auch formal in der Grammatik ausdrückt. Die Beispiele für eine bestimmte Gestaltung, die von unserer Gestaltung des Denkens mit der Sprache abweicht, sind zugleich Beispiele für das Verhältnis der Einzelsprachen zur Sprachidee schlechthin und für die Unvollkommenheit bzw. Vollkommenheit der Sprachen. Bei Humboldt geht es nicht nur um die Formativität, sondern zugleich auch um das Werden der Formativität: Soll aber die Ideenentwicklung mit wahrer Bestimmtheit, und zugleich mit Schnelligkeit und Fruchtbarkeit vor sich gehen, so muss der Verstand dieses reinen Hinzudenkens überhoben werden, und das grammatische Verhältniss ebensowohl durch die Sprache bezeichnet werden, als es die Wörter sind. Denn in der Darstellung der Verstandeshandlung durch den Laut liegt das ganze grammatische Streben der Sprache. Die grammatischen Zeichen können aber nicht auch Sachen bezeichnende Wörter seyn; denn sonst stehen wieder diese isolirt da, und fordern neue Verknüpfungen. (ibid., 38) Eine Sprache wie das Chinesische, die nach damaliger Auffassung nur die „ Bezeichnung “ kennt, die z. B. „ dieser Mensch liest “ durch Dieser Mensch heute lesen ausdrückt, die also das grammatische Verhältnis entweder gar nicht oder durch Wörter ausdrückt, die einen Begriff bezeichnen (z. B. heute statt Präsens in unserem Beispiel), hätte noch keine Grammatik als solche. Denn das Streben nach 419 <?page no="434"?> grammatischer Form richtet sich darauf, das Grammatische auch tatsächlich durch den Laut auszudrücken. Das Grammatische wird nicht durch eine Folge von Lexemen ausgedrückt, sondern dadurch, dass ein Lexem, das etwas bezeichnet, zugleich eine Modifikation aufweist, die es in eine bestimmte Kategorie des Denkens, etwa in eine bestimmte Zeitrelation, versetzt. Humboldt fährt fort: Werden nun von der ächten Bezeichnung grammatischer Verhältnisse die beiden Mittel: Wortstellung mit hinzugedachtem Verhältniss und die Sachbezeichnung ausgeschlossen, so bleibt zu derselben nichts als Modifikation der Sachen bezeichnenden Wörter, und dies allein ist der wahre Begriff einer grammatischen Form. Dazu stossen dann noch grammatische Wörter, das ist solche, die allgemein gar keinen Gegenstand, sondern bloss ein Verhältniss, und zwar ein grammatisches, bezeichnen. (ibid., 38 - 39) Humboldt sieht also in der Modifikation eines Lexems zum Ausdruck eines grammatischen Verhältnisses die eigentliche grammatische Form. Die Grammatik muss seiner Ansicht nach materiell ausgedrückt werden, und zwar entweder durch Modifikation der bezeichnenden Wörter oder durch grammatische Wörter. Humboldt meint damit Konjunktionen, Präpositionen, Partikel u. a., die gar keinen Gegenstand, sondern bloß ein Verhältnis ausdrücken. Es sind reine Instrumentalwörter, reine Morpheme. Die ideale Entwicklung der Sprachen erfolgt nach Humboldts Auffassung in der Richtung, dass die Bezeichnung und die Andeutung zugleich ausgedrückt werden. So stellt er die amerikanische Huasteca-Sprache, die grammatisch ungeformte Begriffe miteinander verbindet, der griechischen gegenüber, und konstatiert: Welch eine unermessliche Kluft ist nun zwischen einer solchen Sprache, und der höchstgebildeten, die wir kennen, der Griechischen. (ibid., 41) Hinsichtlich der Entstehung der grammatischen Formen nimmt Humboldt folgende Entwicklung an: Zuerst ist die Grammatik nur gedacht, aber nicht ausgedrückt, dann gibt es die Mittel zum Ausdruck der grammatischen Form. Er zählt die folgenden auf: - Anfügung oder Einschaltung bedeutsamer Silben, die sonst eigne Wörter ausgemacht haben oder noch ausmachen, - Anfügung oder Einschaltung bedeutungsloser Buchstaben, oder Silben, bloss zum Zweck der Andeutung der grammatischen Verhältnisse, - Umwandlung der Vocale durch Uebergang eines in den andren, oder durch Veränderung der Quantität, oder Betonung, - Umänderung von Consonanten im Innern des Wortes. - Stellung der von einander abhängigen Wörter nach unveränderlichen Gesetzen, - Silbenwiederholung. (ibid., 42 − 43) Im ersten Fall haben wir die Agglutination von selbständigen Formen, die jetzt zu grammatischen Formen werden. Im zweiten Fall haben wir keine Formen mehr, die ursprünglich für sich selbst bedeuten, sondern solche, die entweder tatsächlich willkürlich sind und nur zur Bezeichnung der grammatischen Verhältnisse da sind, 420 <?page no="435"?> oder solche, die die ursprüngliche lexikalische Bedeutung verloren haben wie das deutsche Ableitungssuffix -haft, in dem die lexikalische Bedeutung „ habend “ nicht mehr unmittelbar spürbar ist. Hat sich die grammatische Form verselbständigt, kann ein grammatisches Schaffen nach diesem Muster eintreten. Man sieht von der lexikalischen Bedeutung völlig ab und führt eine autonome Modifikation ein. Ist z. B. ein Plural aus einer Mengenbezeichnung hervorgegangen, aber dann zu einem Suffix geworden, dann ist die Modifikation durch dieses Suffix unabhängig vom Begriff der Menge und dient nur noch zur Bezeichnung des Grammatischen. In diesem Ausdruck der „ Grammatik “ allein liegt eine Art von Fortschritt. Offenbar führt diese ideale Entwicklung zur Flexion, insbesondere zur inneren Flexion, wie wir sie in den indoeuropäischen, aber auch den semitischen Sprachen haben. Hier tritt, wie z. B. im Ablaut bei binden band gebunden, die Flexion durch Modifizierung des Stammes ein, was für Humboldt die Idealform ist. Man kann sich fragen, ob hier nicht ein Widerspruch zu der allgemeinen Auffassung von Humboldt besteht, dass ein Sprachsystem eine innere Kohärenz aufweist, die, wenn sie einmal entworfen ist, auf ewig unverändert bleibt. Zu dieser Frage sind verschiedene Meinungen vertreten worden. Nach der einen Auffassung liegt ein unaufgehobener Widerspruch vor. Dies ist u. a. die Meinung von Steinthal, der das rein Sprachwissenschaftliche betont und die Sprachen nach deren eigenen Kriterien der Gestaltung interpretiert. In seiner Polemik gegen Steinthal vertritt hingegen August F. Pott in einer scharfsinnigen, aber kompliziert geschriebenen Abhandlung „ Wilhelm von Humboldt und die Sprachwissenschaft “ (Pott 1880) die These der Kohärenz bei Humboldt. Pott sagt, dass es nicht um die historische Entwicklung der Sprachen geht, sondern um die Sprachidee, d. h. nur um eine rationale Anordnung, nicht um die tatsächliche Entwicklung der Sprachen. Er schreibt: Da haben wir ’ s. Mit wie leichtem Sinne doch man über Schwierigkeiten hinwegkommen kann, an denen ein Humboldt sich abmüht, ohne eine endgiltige Entscheidung wenigstens zuversichtlich auszusprechen. Man lese Versch. § 25 [. . .] nach. Dort schliesst er damit, dass zwar zwischen Chinesisch und Sanskrit als äussersten Punkten ein sich stufenweis erhebender Fortschritt anerkannt wird. [. . .] Also ein Fortschritt der Sprachidee [. . .]. Allein zugleich weigert sich Humboldt mit weisem Bedacht, aus jenem Verhältnis auch auf ein geschichtliches Nach- und natürliches Zeugen aus einander einen vorschnellen Schluss zu ziehen. (Pott 1880, LXVII − LXV11I) Ich glaube, dass man das tatsächlich annehmen kann. Humboldt unterläuft aber eine Verwechslung, die man schon bei Vico findet: Die ideale Entwicklung wird zugleich als konkrete historische Entwicklung angesehen. Humboldt sagt immer wieder, es gebe ein Streben nach der Flexion in allen Sprachen, und in den flexivischen Sprachen gebe es noch Spuren der Agglutination. Dies seien konkrete historische Spuren in den Sprachen selbst. Ich fürchte, wir werden aus diesem Widerspruch nicht herauskommen, wenn wir bei der Gleichsetzung eines bestimmten Verfahrens mit der Sprachidee 421 <?page no="436"?> schlechthin bleiben, d. h. wenn wir mit Humboldt die Flexion als das ideale Sprachverfahren ansehen und annehmen, dass die Sprachen mit Flexion für das Denken geeigneter sind als Sprachen, die im Materiellen anders gestaltet sind. Im Grunde handelt es sich bei dieser Auffassung eher um eine ästhetische Auffassung von der Sprache und der Sprachstruktur. Humboldt meint, dass die maßvoll ausgebildete Flexion am besten (und das heißt zugleich am schönsten, weil das Gute zugleich das Schöne ist), am harmonischsten der grammatischen Form entspricht, weil sie am genauesten der Einheit des Bezeichnens und der Herstellung von Beziehungen im Denken entspricht. Wird dagegen die Relation nicht ausgedrückt, besteht eine zusätzliche Aufgabe für das Denken, weil es sich das Grammatische vorstellen und sich in dieses hineindenken muss. Wenn die Grammatik durch selbständige Wörter ausgedrückt wird, die selbst etwas bezeichnen, hat man wiederum nicht die Einheit von Stoff und Form, weil die Relation als solche gedacht werden muss, da sie selbst nicht ausgedrückt ist. Habe ich z. B. lesen Zukunft als Futurum von lesen, muss ich wiederum die Relation hinzudenken. Es gibt keine Einheit, Zukunft bleibt getrennt. Auch ein Übermaß an Flexion sei nicht wünschenswert, hebt Humboldt immer wieder hervor. Deshalb betrachtet er die einverleibenden Sprachen, in denen die Autonomie des Wortes im Satz verschwindet, d. h. das Wort idealiter zugleich ein Satz ist bzw. alle Relationen in das Wort einverleibt sind, wiederum als unvollkommen, weil sie allzu viel zu einer Einheit machen. Dadurch werde die Autonomie der Bezeichnung, die ästhetisch begründete Einheit von Bezeichnung und Andeutung, wiederum aufgehoben. Satz und Wort würden zu einer Einheit, und das Wort sei nicht mehr als Wort erkennbar, sondern nur als eine bereits in Beziehung zu den anderen Elementen des Satzes gesetzte Einheit. Dieser Gesichtspunkt findet sich in den späteren Abhandlungen. In dieser Schrift geht es ihm vor allem darum, ob Verb und Nomen unterschieden werden oder nicht. Fassen wir nochmals kurz die Bedeutung der Abhandlung „ Über das Entstehen der grammatischen Formen “ zusammen. Sie ist in philosophischer Hinsicht bedeutsam, weil sie die Philosophie der Grammatik darstellt: Die Sprache ist nicht bloß Nomenklatur, Einteilung der Welt, sondern zugleich System des Sagens. Die Eigentümlichkeit zeigt sich viel mehr im System des Sagens als im System des Benennens, d. h. in den Gegenständen, die die Sprache für das Denken schafft. In sprachwissenschaftlicher Hinsicht ist die Abhandlung bedeutsam, weil sie die Immanenz der Grammatik behauptet: Jede Sprache solle grundsätzlich immanent beschrieben werden, d. h. nach ihrer eigenen Gestaltung, aufgrund ihrer eigenen Gestaltungsprinzipien. Dies bedeutet: Jede Beschreibung ist eine Entdeckung. Man entdeckt etwas anderes und stellt nicht bloß das fest, was man von seiner eigenen Sprache schon kennt. In methodischer Hinsicht ist die Abhandlung relevant für die Beschreibung und für das Verständnis der Sprachen, weil hier die „ Semantik der Grammatik “ begründet wird. Hier findet der Übergang statt, von der materiellen Form zur inneren Sprachform, obwohl der Begriff selbst noch nicht erscheint. Die „ innere Sprachform “ wird dann zum grundlegenden Begriff im „ Sprachbau “ , in der letzten und reifsten Auffassung der Sprache bei Humboldt. 422 <?page no="437"?> 12.7.5 Steinthals Humboldt-Interpretation Wie ich bereits erwähnt habe, glaubte Steinthal, die Widersprüche bei Humboldt auf die Struktur seiner Persönlichkeit zurückführen zu können. Er meint, dass Humboldt zwar als „ Genie “ Intuitionen vom Wesen der Sprache gehabt habe, dass er sie aber nicht zu entfalten vermochte, weil sein Verstand ihm die Möglichkeit der Bestätigung der Intuitionen versagte. Steinthal gibt in „ Classification der Sprachen “ eine Interpretation Humboldts, wie sie für das 19. Jahrhundert insgesamt typisch war. Ich zitiere sie ausführlich: Und Humboldt war ein Genie und trug darum unbewusst an sich selbst die Auflösung jener Widersprüche, und war an sich selbst die Sonne, welche die Nebel zertheilte. Und wie er seine geniale Individualität fühlte, so betrachtete er auch alle Individualitäten als Einheit des Allgemeinen und Besondern, als besondere Darstellung des Allgemeinen. Aber was sein Genie in solcher Weise durch unmittelbare Anschauung des allgemeinen Wesens und durch praktische Erforschung der einzelnen Sprachen fand, das wurde sogleich von seinem reflectirenden Verstande wieder zerstört. Humboldts Genie begriff sich selbst nicht, und unbewusst über die Schranken des Verstandes und des Gemüthes übergreifend, liess es in dieser Bewusstlosigkeit diese Schranken bestehen. Sollten nun die Ergebnisse der umittelbaren Thätigkeit des Genies in das Selbstbewusstsein erhoben, also theoretisch vermittelt werden, so stand der Verstand ungeschwächt da, um die Erfüllung dessen, was das Genie forderte, für unmöglich zu erklären. Wenn nämlich das Genie diese Forderungen nur stellte, weil es dieselben wesentlich schon geleistet hatte, so hielt der Verstand diese Leistungen für unmöglich, weil er dieselben, obgleich sie schon vorlagen, nicht begriff. Dieser Widerspruch zwischen - wie wir hier von nun an kurz sagen wollen - Praxis und Theorie oder Genie und Verstand, zeigt sich in jedem Punkte, den Humboldt bespricht, und drängt sich oft in einem und demselben Satze zusammen. Ein solcher Satz mag ästhetisch schön geformt sein; logisch ist er falsch gegliedert und darum auch, rein an und für sich genommen, vollkommen unverständlich. Das Verständnis Humboldts schliesst darum zugleich die Kritik desselben in sich. Denn ein solcher Satz wird eben nur dann verstanden, wenn man erkennt, was in demselben die Theorie, und was die Praxis hat sagen wollen, wirklich aber keine gesagt hat, weil jede die andere am Reden verhinderte. Die Schwierigkeit des Verständnisses wird nun aber bis zur völligen Unauflösbarkeit an den Stellen gesteigert, wo Mysticismus erscheint. 150 Als „ Mystizismus “ bezeichnet Steinthal die Auffassungen Humboldts, die er am meisten kritisiert. Das Zitat zeigt, dass Steinthal bei Humboldt einen Widerspruch zwischen Praxis und Theorie sieht, oder, wie ich es nenne, zwischen Intuition und Reflexion. Eine Einheit, die intuitiv erfasst wird, wird reflexiv nicht mehr gerechtfertigt, weil sie der Verstand nicht mehr begreifen kann. Man hat sich zunächst zu fragen, ob dies tatsächlich auf Humboldts Persönlichkeit zurückzuführen ist, d. h. auf eine angenommene Schwäche seines Verstandes, oder ob hier auch traditionelle Annahmen im Spiel sind, die Humboldt daran 150 Heymann Steinthal: Die Classification der Sprachen dargestellt als Entwicklung der Sprachidee. Berlin 1850, 20 − 21. 423 <?page no="438"?> hindern, das, was er intuitiv erfasst hat, weiter zu analysieren und zu entfalten. Andererseits fragt man sich, ob diese Widersprüchlichkeit nicht auch in der Sprache selbst begründet liegt. Diese Frage führt uns zu unserem nächsten Thema, zum Begriff der „ Vermittlung “ . In Bezug auf traditionelle Annahmen kann man fragen, ob die Sprache in dem Sinne Organ des Denkens ist, wie Humboldt das annehmen möchte, und ob es einen Fortschritt in den Sprachen in Richtung auf eine ideale Sprachidee gibt. Was meint Humboldt mit der These, gewisse Sprachen seien unvollkommen, weil sie vom Denken mehr Arbeit erfordern oder weil sie den Ausdruck von Relationen so stark übertreiben, dass Wort und Satz zusammenfallen? Die Frage hängt zusammen sowohl mit der Idee der Sprache als Instrument des nichtsprachlichen Denkens als auch mit der Idee der ästhetischen Vollkommenheit im Kunstwerk − und darüber hinaus mit der Idee der Sprache als Kunst. Humboldt meint, dass ein Instrument des Denkens dann vollkommen ist, wenn das Denken nicht bei der Interpretation des Instruments selbst zu verweilen hat, d. h. wenn man bei der sprachlichen Interpretation die grammatischen Relationen nicht in den Ausdruck hineindenken muss. Das Verweilen beim Instrument ist also Kennzeichen der Unvollkommenheit. Wenn ich wiederum bei einer einverleibenden Sprache, wo allzu viel mit einander verknüpft wird, das Bezeichnete nicht mehr auf den ersten Blick als solches erkennen kann, dann habe ich wiederum eine Schwierigkeit: Ich muss interpretieren und die Relationen als solche identifizieren, und das bedeutet wiederum eine Störung des Denkens mit der Sprache. Man kann sich fragen, ob dies tatsächlich so ist oder ob es nicht doch damit zusammenhängt, dass Humboldt seine eigene Sprache mit der Sprache schlechthin identifiziert, d. h. mit der Tatsache, dass man bei seiner eigenen Sprache diese Schwierigkeiten nicht hat. Man muss sich fragen, ob die Sprecher einer isolierenden oder einer einverleibenden Sprache die von Humboldt konstatierte Schwierigkeit haben oder ob sie nicht ebenso automatisch mit ihrer Sprache umgehen wie wir mit unseren Sprachen. Für jeden Sprecher ist die eigene Sprache die Sprache schlechthin. Sie ist die Sprache, die unmittelbar und intuitiv interpretiert wird. Bei der eigenen Sprache gibt es nicht das Distanzverhältnis, das der Verstand gegenüber einer anderen Sprache einnimmt, wenn er in ihr ein äußeres Objekt sieht, das er zu interpretieren und auf die eigenen Kategorien zurückzuführen hat. Als Motivation des Widerspruchs bei Humboldt würde ich auch anführen, dass er die Schwierigkeit, die wir generell mit Fremdsprachen haben, als allgemeine Schwierigkeit aufgefasst hat, die auch für die Sprecher dieser Sprachen bestünde. Diese Schwierigkeit besteht aber vermutlich bei den naiven Sprechern nicht. Ich komme nun zu Humboldts ästhetischer Sprachauffassung. Es gibt bei Humboldt eine Einheit zwischen dem Sprachwissenschaftler und dem Kunstphilosophen. In ästhetischer Hinsicht geht es ihm darum, dass der Fehler, der ästhetische Irrtum, die Aufmerksamkeit auf sich zieht, so dass man das Ganze nicht auf einmal erfassen kann. Der Fehler wird darum bei der Aufnahme eines Kunstwerks zu einem störenden Faktor, der das ästhetische Urteil zwar nicht verhindert, aber doch behindert. Man verweilt bei der Feststellung des Irrtums im Detail und kann das Ganze nicht mehr unmittelbar aufnehmen. Einem großen 424 <?page no="439"?> Dichter wird man verzeihen, wenn in einem Gedicht sprachliche Fehler auftreten, auch wenn diese nicht intendiert sind. Sie stören aber das ästhetische Urteil, weil sie die Aufmerksamkeit auf sich lenken, und sie hindern an der unmittelbaren Erfassung des Kunstwerks als Ganzem, weil man bei den Details gerade darum verweilen muss, um von ihnen absehen zu können. In diesem Sinn versteht Humboldt eigentlich auch die Sprache als ein harmonisches System, an dem nichts stört und bei dem man nicht bei einem Detail verweilen muss, sondern wo man die Einheit unmittelbar aufnehmen kann. Man kann aber fragen, ob diese Harmonie nicht gerade für die naiven Sprecher ihrer eigenen Sprache gilt. Nach Humboldts eigener Auffassung ist nämlich jede Einzelheit einer Sprache durch eine mehr oder weniger verborgene Analogie bestimmt, so dass die Einzelheiten einem bestimmten Prinzip entsprechen. Die Tatsache, dass uns bei der Interpretation einer anderen Sprache eine Einzelheit stört, hängt damit zusammen, dass wir ihr Prinzip noch nicht entdeckt haben. Die Entdeckung solcher Prinzipien ist gerade die Aufgabe der Sprachwissenschaft. Unter diesen Voraussetzungen können wir fragen, ob die Idee des Fortschritts bei den Sprachen am Platze ist, d. h. ob man tatsächlich ein Fortschreiten in Richtung auf die Vollkommenheit der Struktur annehmen muss. Denn in anderer Hinsicht fasst Humboldt Sprachen als kohärent von Anfang an und damit als vollkommen auf und nimmt an, dass Störungen nur durch Sprachmischung entstehen können. Das Problem des sprachlichen Fortschritts ist auch in der Sprachwissenschaft mehrmals gestellt worden. In Bezug auf die Struktur der Sprachen kann man nicht von einem Fortschritt sprechen. Jede Fragestellung, die den Fortschritt betrifft, ist partialisierend. Sie betrifft z. B. den Fortschritt in analytischer Hinsicht, der aber mit einem Verzicht auf Synthese und Relationen einhergeht, oder den Fortschritt in Bezug auf Einfachheit in einem bestimmten Bereich, der aber vielleicht mit Komplexität in einem anderen einhergeht. Letztlich kann man bezweifeln, ob die Frage nach dem Fortschritt überhaupt sinnvoll ist, d. h. ob man überhaupt einen Fortschritt annehmen kann. 12.7.6 „ Ueber den Nationalcharakter der Sprachen “ (Fragment, um 1822) Humboldts Widersprüchlichkeit kann einen noch tieferen Sinn haben. Dies wollte ich andeuten mit der Frage, ob es nicht an den Sprachen selbst liegt, dass ein solcher Widerspruch in Erscheinung tritt. Man kann sich nämlich fragen, ob nicht schon das Begreifen und Festhalten des intuitiv Erfassten durch die „ Fragilität “ der Sprache erschwert wird, d. h. durch die Tatsache, dass man gerade dann, wenn man allein bei der Sprache bleiben will und die Sprache als Sprache analysiert, sie mit ihrem eigenen Status unter den Tätigkeiten des Menschen aus den Augen verliert. Dieses Problem stellt Humboldt in dem Fragment „ Ueber den Nationalcharakter der Sprachen “ . Das eigentlich sprachphilosophische Problem dieser Schrift ist das der Relativität der Sprache. Damit ist gemeint, dass die Sprache zwar unmittelbare und unverzichtbare Vorstufe für jede andere kulturelle Tätigkeit des Menschen ist, dass sie aber zugleich überwunden werden muss, da sie jeweils für etwas anderes da ist oder - wie ich zu sagen pflege - die Eröffnung der menschlichen Möglichkeiten ist, d. h. den Übergang zu anderen Tätigkeiten ermöglicht. 425 <?page no="440"?> Humboldt stellt die Frage mehr oder weniger eindeutig im Zusammenhang mit der Sprache als Vermittlung. Es gehört zum Wesen der Vermittlung, dass das Vermittelnde zum Zwecke eines anderen da ist, so dass es immer einen Abstand zwischen dem Vermittelnden und dem Vermittelten gibt, und dass zugleich ein Streben da ist, das Vermittelnde zu überwinden und über es hinauszugehen. Diese Überwindung ist aber nur durch das Vermittelnde möglich, weil eben dieses den Übergang herstellt. Die Sprache ist für etwas anderes da, nicht für sich selbst. Sie ist nicht bloß Gestaltung des Außersprachlichen, sondern sie ist dazu da, uns in den Stand zu versetzen, mit und aus dem Gestalteten etwas zu machen, z. B. Wissenschaft oder Philosophie. Wir kommen aber zu dem anderen, etwa zu Wissenschaft und Philosophie, nur durch die Sprache. Man muss jedoch die Sprache überwinden und zu den Gegenständen selbst kommen: Der Mensch denkt, fühlt und lebt allein in der Sprache, und muss erst durch sie gebildet werden, um auch die gar nicht durch Sprache wirkende Kraft zu verstehen. Aber er empfindet und weiss, dass sie ihm nur Mittel ist, dass es ein unsichtbares Gebiet außer ihr giebt, in dem er nur durch sie einheimisch zu werden trachtet. Die alltäglichste Empfindung und das tiefsinnigste Denken klagen über die Unzulänglichkeit der Sprache, und sehen jenes Gebiet als ein fernes Land an, zu dem nur sie, und sie nie ganz führt. Alles höhere Sprechen ist ein Ringen mit dem Gedanken, in dem bald mehr die Kraft, bald die Sehnsucht fühlbar wird. (ibid., 77) Dieses Zitat macht deutlich, dass die Sprache für etwas anderes da ist, dass sie jeweils ein Provisorium ist: Sie ist nur Vorstufe, nur Eröffnung von Möglichkeiten. In dieser Hinsicht interpretiert Humboldt auch das Verhältnis von Sprache und Kunst (was Croce kritisiert). Als sinnliche Darstellung des Nicht-Sinnlichen, d. h. dadurch, dass Bedeutungen durch Stoff verstanden werden, ist die Sprache der Kunst ähnlich. Durch die Vermittlung, d. h. dadurch, dass sie für etwas anderes steht, ist sie aber von der Kunst verschieden, ja sogar ihr entgegengesetzt. Für sich selbst betrachtet ist sie ein Kunstwerk; sie ist in der Welt als die Materialisierung von etwas Individuellem. Das Kunstwerk ist aber für sich selbst da; es ist nicht Zeichen. Die Sprache ist dagegen für etwas anderes da und muss überwunden werden, wenn man zu diesem anderen gelangen will, und deshalb ist sie nicht Kunst, sondern ihr entgegengesetzt: Die Sprache, und dies betrift vorzüglich ihre hier erwähnten Verschiedenheiten, ist von einer Seite mit der Kunst zu vergleichen, da sie, wie diese, das Unsichtbare sinnlich darzustellen strebt. Denn wenn sie auch im Einzelnen und in ihrem alltäglichen Gebrauche sich nicht über die Wirklichkeit zu erheben scheint, so liegt doch immer das ganze Bild aller Gegenstände, und nicht bloss dieser, sondern auch ihrer unsichtbaren Verknüpfungen und Verwandtschaften in ihrem Schosse aufgerollt da. [. . .] Von der andren Seite aber ist die Sprache der Kunst gewissermassen entgegengesetzt, da sie sich nur als Mittel der Darstellung betrachtet, diese aber, Wirklichkeit und Idee, insofern sie abgesondert vorhanden sind, vernichtend, ihr Werk an die 426 <?page no="441"?> Stelle beider setzt. Aus dieser beschränkteren Eigenschaft der Sprache, als Zeichen, entstehen neue Charakterunterschiede derselben. (ibid., 78 − 79) Ich sage dies in anderer Formulierung, aber, wie ich glaube, ganz im Sinne von Hegel: Absolut betrachtet ist die Sprache Kunst und kann nicht von ihr unterschieden werden, weil auch die Sprache Erfassung des Universellen im Individuellen ist und sowohl der Unterscheidung von Existenz und Nichtexistenz als auch der Unterscheidung von wahr und falsch vorausgeht. Wir brauchen die Sprache, um überhaupt nach der Existenz fragen zu können. Zuerst müssen wir etwas erfassen, das durch die Sprache selbst gestaltet ist, und erst dann können wir fragen, ob dem universellen Objekt auch ein Objekt in der außersprachlichen Welt entspricht. So müssen wir Einhorn als sprachliche Form haben, um fragen zu können, ob es Einhörner gibt, d. h. wir müssen wissen, wonach wir zu suchen haben. Die Sprache als solche stellt nur eine ideelle Realität dar, sagt aber nichts über ihre Existenz. In dieser Hinsicht hat die Sprache den Status eines Kunstwerks. Sie ist aber nicht absolut, sondern Vorbereitung für etwas anderes. Und die Objektivität, die in der Sprache gestaltet ist, ist ursprünglich schon gemeinschaftliche Objektivität. Im Falle der Kunst nimmt der Künstler die universelle Subjektivität auf. Der Künstler ist das Subjekt schlechthin, das absolute Subjekt, in den Sprachen erkennt das sprachliche Subjekt dagegen von Anfang an seine Relativität: Es ist Subjekt unter anderen Subjekten; es ist ein Ich, dem notwendigerweise ein anderes Ich, ein Du, entspricht. Ich und Du stehen dem Es gegenüber (oder dem Er bzw. Sie), d. h. der Nicht-Person. Dieses Problem der Intersubjektivität der Sprache stellt Humboldt in der Abhandlung über den Dualis dar, von der im nächsten Abschnitt die Rede sein wird. Humboldt entfaltet seine Sprachidee stückweise. Er setzt stets seine gesamte Sprachauffassung voraus, erörtert aber sprachphilosophische und sprachtheoretische Probleme anhand von Einzelfragen, durch die sie exemplifiziert werden. In dieser Hinsicht ist das eigentliche Thema in der hier kommentierten Schrift die Vermittlung. Wir haben Humboldts Lösung kennen gelernt: Es gehört zum Wesen des Vermittelnden, dass es zum Zwecke eines anderen da ist, d. h. dass man stets bemüht ist, das Vermittelnde zu überwinden und zum anderen überzugehen. So geht man von der Sprache zu den Dingen selbst über. Ist man bei ihnen angelangt, kann man von dorther die Sprache kritisieren und korrigieren und wieder Sprache schaffen mit dem Ziel, dass sie den Dingen der Welt besser entspricht. In diesem Zusammenhang stellt Humboldt die Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Kunst. Seine Antwort lautet: Als sinnliche Darstellung des Nicht-Sinnlichen ist sie der Kunst ähnlich, als Vermittlung ist sie der Kunst entgegengesetzt. Ich selbst spreche davon, dass man nur zu den Gegenständen gelangen kann, indem man von einer bestimmten Sprache ausgeht. Ist man aber bei den Gegenständen angelangt, so kann man sie neu abgrenzen und eine sachliche Sprache oder Fachsprache konstruieren, die den neu abgegrenzten Sachen entsprechen will. Ich habe das in den vorangegangenen Kapiteln bereits mehrfach angedeutet: Wir gehen bei der Untersuchung der Walfische von der Sprache aus, stellen aber fest, dass das in ihr Abgegrenzte nicht den Fischen entspricht. Wir machen darum aus Fisch einen 427 <?page no="442"?> technischen Ausdruck, der nun eine bestimmte Klasse bezeichnet, die anders abgegrenzt ist als sie es in der Sprache war, von der wir ausgegangen sind. Das so neu Abgegrenzte kommt dann als Fachsprache wieder zur Sprache zurück. Jede Einzelsprache besteht so aus Sprache schlechthin und aus Fachsprache. (Vgl. hierzu meine Abhandlungen „ Naturbild und Sprache “ (1982) und „ Die Sprache zwischen physei und thesei “ (1988). 151 ) Exkurs: Croces Identifizierung von Sprache und Kunst und was dazu zu sagen ist Mit der Frage der Vermittlung ist die Frage des Verhältnisses der Sprache zur Kunst verbunden. Croce hat kritisiert, dass Humboldt die Sprache nicht mit der Kunst identifiziert hat. Denn Croce geht von den allgemeinen kreativen Tätigkeiten des Menschen aus, wenn er als universelles Subjekts in Erscheinung tritt. Er stellt nur zwei Formen der Kreativität fest, nämlich die Intuition und das rationale Denken. Darum gibt es für ihn nur zwei philosophische Wissenschaften, nämlich die Ästhetik und die Logik. Die Sprache wird der intuitiven Kreativität zugeordnet und mit der Kunst zusammengefasst. Croce nimmt so eine Identität von Sprache und Dichtung bzw. Kunst allgemein an. Croce ist natürlich nicht verborgen geblieben, dass die Sprache als Instrument für etwas anderes verwendet wird, nämlich im theoretischen Bereich für das rationale Denken und im praktischen Bereich als Instrument des praktischen Geistes. Dies ist für ihn aber nur Sprachverwendung und nicht Sprachschöpfung, die für ihn das Wesen der Sprache ausmacht. Natürlich könne man Sprache auch für etwas anderes verwenden, so wie man auch ein Kunstwerk als praktisches Instrument für etwas anderes verwenden könne, z. B. für die politische Agitation. Croce übersieht dabei jedoch, dass man in einem solchen Fall das Kunstwerk nicht mehr als Kunstwerk, sondern nur noch als materielles Objekt verwendet, während man die Sprache als Sprache auch für das Denken über die Dinge und als Instrument im praktischen Leben gebraucht. Bei einem sprachlichen Kunstwerk besteht ein Unterschied zwischen seiner Verwendung als eines solchen und als eines praktischen Instruments. Man kann z. B. die „ Marseillaise “ nicht als Kunstwerk - so sie denn eines ist - , sondern zur Erzeugung von Begeisterung der revolutionären Armeen Frankreichs verwenden, oder man kann die Georgica Vergils, wenn es sich denn dabei um ein Kunstwerk handelt, auch als Instrument zur Förderung der Landwirtschaft im Rahmen der Politik des Augustus heranziehen. Es besteht also ein Unterschied zwischen dieser Verwendung eines sprachlichen Werkes, die der Verwendung nichtsprachlicher Kunstwerke analog ist, und der Verwendung der Sprache bzw. ihrer eigentlichen Bestandteile, der Wörter, für das Denken und für die Praxis. Croce meint, auch Wörter seien Kunstwerke. Wie kann er das behaupten? Er bezieht sich auf einen ursprünglichen kreativen Akt, durch den das Wort entsteht, und sieht von dem ab, was mit dem Wort geschieht, wenn es in die Tradition und damit in die Sprache eingeht. Dies ist für ihn schon praktische Verwendung, nicht 151 [Vgl. ebenfalls: Der Physei-Thesei-Streit, 2004] 428 <?page no="443"?> Sprache in ihrem Wesen. Dabei muss er jedoch gerade von den Bedingungen des kreativen Aktes und seinen Voraussetzungen absehen. Er sieht nur das Objekt und seine Objektivierung in der Sprache, übersieht jedoch, dass die Objektivierung ursprünglich Objektivierung von etwas und für etwas ist. Croce sieht das Sprache schaffende Subjekt als absolutes Subjekt wie in der Kunst und nicht als ein Subjekt, das andere Subjekte voraussetzt. Das Subjekt ist aber nicht absolut, sondern ein Subjekt unter Subjekten, d. h. ein Subjekt, das durch die Dimension der Alterität charakterisiert ist. Damit ist die Tatsache gemeint, dass es Subjekt ist gegenüber anderen Subjekten, d. h. dass es sich selbst als Mitsubjekt ansieht. Darum ist die Sprache von Anfang an, gerade auch im kreativen ursprünglichen Moment, für einen anderen da. Sie dient zur Objektivierung meiner Bewusstseinsinhalte nicht nur für mich selbst, sondern grundsätzlich für alle möglichen Subjekte. Mit der Sprache will ich nicht nur meine Welt schaffen, mich allein zur Welt machen; sondern ich will die Welt als solche, d. h. unsere Welt, die Welt der Menschen, schaffen. In dieser Hinsicht ist die Sprache etwas anderes als die Kunst und doch zugleich dasselbe. Humboldts Auffassung ist die richtige: Sprache ist in dieser einen Hinsicht der Kunst analog, in anderer Hinsicht aber, nämlich als Vermittlung für andere und als Objektivierung der Gegenstände von der Kunst verschieden. Die Kunst als solche ist nicht Vermittlung. In ihr gibt es nur Ich. Die in der Kunst geschaffene Welt bezieht sich nicht auf die objektive Welt, sondern ist jeweils eine andere Welt. Jedes Kunstwerk ist Entwurf einer möglichen Welt. Dies spüren wir intuitiv, wenn wir z. B. sagen, etwas sehe wie ein Gemälde von van Gogh aus, eine Situation sei kafkaesk oder jemand gleiche einer Gestalt von Dostojewski. Wir interpretieren dabei das Kunstwerk als Entwurf einer Welt für sich, auf die wir uns vergleichend beziehen. Das Kunstwerk spricht nicht über die Realität, sondern ist eine Realität. Die Sprache will hingegen eine außersprachliche Realität nicht nur für mich darstellen, sondern grundsätzlich für alle Menschen, auch wenn man in einer bestimmten Sprache und nach einer bestimmten Tradition schafft. Denn für den naiven Sprecher ist die Sprache Universalzeichen. Die Sprache ist das Werk von Subjekten mit dem Ziel der Objektivierung auch für andere. Die Kunst ist als Kunst nur Objektivierung des Subjekts an sich, aber nicht für andere und deshalb keine Objektivierung der Dinge selbst. Deshalb kann man mit Humboldt in der Sprache ein Doppeltes sehen: Die Objektivierung des Subjekts hat sie mit der Kunst gemein, in der Vermittlung unterscheidet sie sich von ihr. 12.7.7 „ Ueber den Dualis “ (1827) Der Abhandlung „ Ueber den Dualis “ aus dem Jahre 1827 entnehme ich zwei Gesichtspunkte, die für mein Verständnis Humboldts relevant sind. Der erste Gesichtspunkt stellt einen Nachtrag zu meiner Behandlung des „ Entstehens der grammatischen Formen “ dar. Humboldt macht nämlich hier 429 <?page no="444"?> deutlich, was mit Form gemeint ist und worin die Verschiedenheit der Sprachen bestehen kann: Die Sprachen sind nemlich grammatisch verschieden: a., zuerst in der Auffassung der grammatischen Formen nach ihrem Begriff, b., dann in der Art der technischen Mittel ihrer Bezeichnung, c., endlich in den wirklichen, zur Bezeichnung dienenden Lauten. Im gegenwärtigen Augenblick haben wir es nur mit dem ersten dieser drei Punkte zu thun, die beiden andren können erst bei der Betrachtung der einzelnen Sprachen in Absicht des Dualis zur Erwägung kommen. (ibid., 133) (a) Die erste Verschiedenheit der Sprachen ist also eine semantische Verschiedenheit in der Grammatik selbst, d. h. die grammatische Form ist jeweils verschieden. Die Sprachen sagen nicht das Gleiche, obwohl sie jeweils das Gleiche über etwas aussagen. Die eine Sprache sagt z. B. wenn du wärest, die andere sagt am Tage deines Seins, d. h. die Form des Gesagten ist völlig anders. (b) Die zweite Art der Verschiedenheit bezieht sich auf den äußeren Ausdruck, z. B. darauf, ob Suffigierung oder Ablaut zum Ausdruck der „ grammatischen Form “ verwendet wird. Die semantische Verschiedenheit, d. h. die Verschiedenheit der grammatischen Form, kann z. B. darin bestehen, ob eine Sprache den Numerus als Inhalt hat oder nicht. Die Verschiedenheit der technischen Mittel besteht z. B. darin, ob der Plural durch Suffixe, durch Umlaut oder durch beides ausgedrückt wird (vgl. Kind/ Kinder; Kloster/ Klöster, Haus/ Häuser). In den semitischen Sprachen haben wir zum Ausdruck des Plurals Modifizierung des Vokals, z. B. kitab „ Buch “ , kutub „ Bücher “ . (c) Die dritte Art betrifft die Frage, ob diese oder jene Endung verwendet wird, z. B. -e in der einen Sprache, -s in der anderen. Die Sprachen können also verschieden sein in der inneren Form, in den technischen Mitteln und in der Materialität. Diese Unterscheidung ist für die Beschreibung grundlegend. Der zweite Gesichtspunkt betrifft die Frage nach der Intersubjektivität der Sprache. Dies ist das zentrale sprachphilosophische Problem der Abhandlung über den Dualis. Humboldt stellt die Frage nach der doppelten Funktion der Sprache, die in gewisser Hinsicht doch nur eine ist: Die Sprache ist Vermittlung der Gegenstände, der außersprachlichen Realität, und zugleich Vermittlung für jemand anderen und nicht nur für mich selbst, d. h. Vermittlung zwischen dem Ich und dem Du. Die Sprache weist also zugleich eine objektive und eine subjektive Dimension auf. Humboldt stellt nun fest, dass diese doppelte Dimension in der Sprache selbst ihren Ausdruck findet, und zwar im Pronominalsystem, nämlich in der Tatsache, dass die Sprachen stets zwischen ich, du einerseits und er/ sie/ es andererseits unterscheiden, und zwar so, dass in objektiver Hinsicht das Du zwar auch dem Bereich des anderen angehört, also ein Er ist, darüber hinaus jedoch nicht nur objektiv gegeben ist, sondern jeweils vom Ich ausgewählt und zum Du gemacht wird. Das andere (er, sie, es) ist objektiv gegeben, gehört nicht zu meinem 430 <?page no="445"?> Bewusstsein. Das Du wird dagegen als ein anderes Ich erkannt, für das ich ein Du sein kann. Maßgebend ist die Tatsache, dass das Ich ein Es auswählt und zum Du macht. Was heißt es nun, dass man etwas als Ich erkennt und zum Du macht? Ich würde diese Frage folgendermaßen beantworten: Die Kommunikation mit dem anderen ist Voraussetzung des Sprechens über die Dinge. Die Verständigung als Möglichkeit des Sich-Verstehens ist nicht Ziel, sondern Voraussetzung der Sprache. Wir verständigen uns über etwas, aber wir haben die Verständigung schon vorausgesetzt, als wir miteinander gesprochen haben: Wir haben vorausgesetzt, dass wir das Gleiche meinen. Ich spreche nicht mit den Dingen, weil ich annehme, dass diese mich nicht verstehen. Wir haben bereits die intersubjektive Dimension der Sprache kennengelernt, wie sie in „ Ueber den Dualis “ dargestellt wird. Ich zitiere nun die Formulierung Humboldts, die meiner bereits gelieferten Interpretation zugrundeliegt: Die Sprache ist aber durchaus kein blosses Verständigungsmittel, sondern der Abdruck des Geistes und der Weltansicht des Redenden, die Geselligkeit ist das unentbehrliche Hülfsmittel zu ihrer Entfaltung, aber bei weitem nicht der einzige Zweck, auf den sie hinarbeitet, der vielmehr seinen Endpunkt doch in dem Einzelnen findet, insofern der Einzelne von der Menschheit getrennt werden kann. Was also aus der Aussenwelt und dem Innern des Geistes in den grammatischen Bau der Sprachen überzugehen vermag, kann darin aufgenommen, angewendet und ausgebildet werden, und wird es wirklich nach Massgabe der Lebendigkeit und Reinheit des Sprachsinns, und der Eigenthümlichkeit seiner Ansicht. (ibid., 135) Es werden hier also beide Dimensionen der Sprache behandelt: die Dimension der Verständigung und die Dimension, die die Sprache als Abdruck des Geistes, der Weltansicht der Redenden betrifft. Zur intersubjektiven Dimension stellt Humboldt fest: Es liegt aber in dem ursprünglichen Wesen der Sprache ein unabänderlicher Dualismus, und die Möglichkeit des Sprechens selbst wird durch Anrede und Erwiederung bedingt. Schon das Denken ist wesentlich von Neigung zu gesellschaftlichem Daseyn begleitet, und der Mensch sehnt sich, abgesehen von allen körperliehen und Empfindungs-Beziehungen, auch zum Behuf seines blossen Denkens, nach einem dem Ich entsprechenden Du, der Begriff scheint ihm erst seine Bestimmtheit und Gewissheit durch das Zurückstrahlen aus einer fremden Denkkraft zu erreichen. Er wird erzeugt, indem er sich aus der bewegten Masse des Vorstellens losreisst, und, dem Subject gegenüber, zum Object bildet. (ibid., 138 − 139) Dass das Denken von einer Neigung zu gesellschaftlichem Dasein begleitet werde, ist eine schwache Formulierung; wir werden eine viel bessere in den „ Verschiedenheiten “ finden. Das „ Zurückstrahlen aus einer fremden Denkkraft “ meint, dass Objektivität erst durch Intersubjektivität erreicht wird. Die Dinge werden erst zu den Dingen als solchen und bleiben nicht nur meine Vorstellungen, wenn ich sie mit anderen teile. Auch wenn ich einen Gegenstand als objektiv ansehe, so ist er 431 <?page no="446"?> doch immer noch der meinige, d. h. er entspricht der Welt, so wie ich sie einteile, denn noch fehlt mir der Nachweis der Objektivität. Die eigentliche Objektivität wird erst durch die Intersubjektivität erreicht, d. h. dadurch, dass die Dinge nicht nur die meinigen sind, sondern in gleicher Weise auch die für einen anderen. Gerade das wird, wie Humboldt zeigt, in der Sprache angenommen: Die Objectivität erscheint aber noch vollendeter, wenn diese Spaltung nicht in dem Subject allein vorgeht, sondern der Vorstellende den Gedanken wirklich ausser sich erblickt, was nur in einem andren, gleich ihm vorstellenden und denkenden Wesen möglich ist. Zwischen Denkkraft und Denkkraft aber giebt es keine andre Vermittlerin, als die Sprache. (ibid., 139) Zum Verhältnis von Ich und Du heißt es wenige Zeilen später: Das Wort muss also Wesenheit, die Sprache Erweiterung in einem Hörenden und Erwiedernden gewinnen. Diesen Urtypus aller Sprachen drückt das Pronomen durch die Unterscheidung der zweiten Person von der dritten aus. Ich und Er sind wirklich verschiedene Gegenstände, und mit ihnen ist eigentlich Alles erschöpft, denn sie heissen mit andren Worten Ich und Nicht-ich. Du ist aber ein dem Ich gegenübergestelltes Er. Indem Ich und Er auf innerer und äusserer Wahrnehmung beruhen, liegt in dem Du Spontaneität der Wahl. Es ist auch ein Nicht-ich, aber nicht, wie das Er, in der Sphäre aller Wesen, sondern in einer andren, in der eines durch Einwirkung gemeinsamen Handelns. In dem Er selbst liegt nun dadurch, ausser dem Nicht-ich, auch ein Nicht-du, und es ist nicht bloss einem von ihnen, sondern beiden entgegengesetzt. (ibid., 139) Die Nicht-Person, das Er/ Sie/ Es, ist der Person gegenübergestellt. Die Nicht- Person kann jedoch durch Wahl zur Person werden. In der Sprachwissenschaft werden die Verhältnisse folgendermaßen dargestellt: In den Sprachen gibt es zunächst die Opposition Person vs. Nicht-Person und dann innerhalb der Person die Opposition Ich vs. Du. Die übrige Welt, d. h. das, was nicht Ich und Du ist, ist die Nicht-Person. Humboldt formuliert diesen Sachverhalt zum Teil anders und auf eine angemessenere Weise. Er geht von der unmittelbaren Wahrnehmung aus: Das Ich ist durch das Selbstbewusstsein gegeben, das Nicht-Ich umfasst alles Übrige, einschließlich des noch nicht als solchen bestimmten Du. Dann tritt die Spontaneität der Wahl ein, durch die ein Er intentional zum Du bestimmt wird. Das Du ist ursprünglich auch ein Nicht-Ich, es wird aber durch die Wahl zu einem virtuellen Ich, für das das Ich wiederum ein Du sein kann. Ich selbst biete mich dem anderen Ich als ein Du an. Erst dadurch gelangt das Er in einen Gegensatz nicht nur zum Ich, sondern zugleich zum Nicht-Ich und zum Nicht-Du. Es gehört eben nicht zu dem gegenseitigen Verhältnis von Ich und Du, das stets auch eine Umkehrung erfahren und in der umgekehrten Richtung gelten kann. 432 <?page no="447"?> 12.7.8 „ Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues “ (1827 − 29) Wir kommen nun zu der umfangreichen Abhandlung „ Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues “ . Sie behandelt das gleiche Thema wie das „ Vergleichende Sprachstudium “ , nämlich das Studium und den Sinn der Sprache, aber nun viel ausführlicher. Sie trägt den gleichen Titel wie die postum erschienene Einleitung ins Kawi-Werk, auf die ich zum Schluss eingehen werde. Der Unterschied besteht nur darin, dass hier Verschiedenheit im Plural steht. Die Form der Darstellung ist noch viel unbefriedigender als im „ Vergleichenden Sprachstudium “ : Der Stoff ist ungeordnet, alles geht durcheinander. Es ist zwar eine Einteilung in Paragraphen vorhanden, sie besagt aber wenig. Wahrscheinlich hat Humboldt das Manuskript deswegen nicht wieder aufgenommen und präzisiert und korrigiert, sondern es liegen lassen und unter fast dem gleichen Titel neu diktiert. Trotz dieser Nachteile sind einige Punkte besser und genauer behandelt als in der späteren Schrift. Einiges steht nur hier in expliziter und ausführlicher Form. Es sind vor allem drei Gesichtspunkte, die in den „ Verschiedenheiten “ besonders prägnant behandelt werden: 1. die Sprachen als Individuen, als historische Gegenstände bzw. als Kulturgegenstände; 2. Sprache und Denken, insbesondere die Erörterung des berühmten Satzes: „ Die Sprache ist das bildende Organ des Gedanken “ ; 3. die Alterität des Denkens, d. h. die Weiterführung der Thematik der Abhandlung „ Ueber den Dualis “ , nach der die Objektivität nur im Lichte der Subjektivität erscheint und erst durch die Intersubjektivität gewährleistet wird. Wir kommen zu unserem ersten Punkt, zu den Sprachen als Individuen, als historischen Gegenständen und als Kulturgegenständen, nicht als Klassen von Naturgegenständen. Dieser Punkt ist insbesondere für die Begründung der Sprachtypologie und für den Sinn der Sprachtypologie selbst grundlegend. Deshalb ist es auch nicht erstaunlich, dass Steinthal, der eine Klassifikation der Sprachen bei Humboldt und mit einer Humboldt ’ schen Grundlage vornehmen, d. h. durch die Interpretation der Texte von Humboldt erarbeiten wollte, Humboldt gerade in diesem Punkt besonders stark kritisiert und seine Auffassung einer Neigung, einer Denkgewohnheit, einem persönlichen Interesse zugeschrieben hat. Humboldt habe sich besonders für das Individuelle und das Eigentümliche interessiert, und dabei seien die Gemeinsamkeiten der Sprachen verloren gegangen oder im Schatten geblieben. Diese Konzentration Humboldts auf das Individuelle ist sicherlich gegeben; er folgt dabei aber nicht einfach einer persönlichen Neigung. Humboldt meint tatsächlich, dass die Individualität dem Wesen der Sprachen und nicht nur unserem Interesse für die Sprachen entspricht. Für ihn ist eine Sprache nämlich ein in sich selbst zusammenhängendes System, wo alles durch alles auf eine ganz besondere Weise bestimmt wird, die nur für diese Sprache gilt. Eine Klassifikation müsste darum notwendigerweise gerade von dem Eigentümlichen und folglich von dem Wesentlichen absehen, denn das Wesentliche ist jeweils der besondere Zusammenhang. Eine Klassifikation nimmt an, dass eine Eigenschaft 433 <?page no="448"?> als solche mehreren Gegenständen gemeinsam ist, und sieht notwendigerweise von dem Zusammenhang dieser Eigenschaft mit anderen Eigenschaften ab. Deshalb vertritt Humboldt die Auffassung, dass hier nur eine Klassifikation wie bei Individuen möglich ist, nämlich eine historisch-genealogische Klassifikation. Allerdings sei auch diese Klassifikation eine sehr schwierige, vielleicht nie im Ganzen zufriedenstellend zu leistende Aufgabe. Gerade in dieser Hinsicht drückt sich Humboldt völlig eindeutig aus: Die Betrachtung der Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaus sollte, dem ersten Anblicke nach, zu einer genauen und erschöpfenden Classification der Sprachen führen. Versteht man unter dieser ein Ordnen derselben nach ihrer Stammverwandtschaft, so hat man dies im Einzelnen oft vorgenommen, es aber durch die ganze Sprachkunde durchzuführen, möchte schwierig, und vielleicht immer unmöglich seyn. Allein einer andren und solchen Classification, wo auch die gar nicht stammverwandten Sprachen nach allgemeinen Aehnlichkeiten ihres Baues zusammengestellt würden, widerstrebt, wenn man den Begriff genau nimmt, und fordert, dass die zusammengestellten wirklich als Gattungen in allen wahrhaft charakteristischen Merkmalen einander ähnlich, und von andren verschieden seyn sollen, die tiefer erörterte Natur der Sprache selbst. Die einzelnen Sprachen sind nicht als Gattungen; sondern als Individuen verschieden, ihr Charakter ist kein Gattungscharakter, sondern ein individueller. Das Individuum, als solches genommen, füllt aber allemal eine Classe für sich. (ibid., § 33, 189) Eine Klassifizierung der Sprachen sei nur ein praktisches Hilfsmittel, eine erste grobe Auskunft über die Ausrichtung des Sprachbaus einer bestimmten Sprache. Eine Sprache könne nur als Individuum charakterisiert werden: Es ist nur ein mehr und ein weniger, ein theilweis ähnlich und verschieden seyn, was die einzelnen unterscheidet, und es sind nicht diese Eigenschaften, einzeln herausgehoben, sondern ihre Masse, ihre Verbindung, die Art dieser, worin ihr Charakter besteht, und zwar alle diese Dinge nur auf die individuelle Weise, die sich vollständig gar nicht in Begriffe fassen lässt. Denn bei allem Individuellen ist dies nur mit einem Verluste möglich, welcher gerade das Entscheidende hinwegnimmt. Aus zwei, die ganze Frage abschneidenden Gründen ist daher die so oft angeregte Eintheilung der Sprachen nach Art der Eintheilung der Naturgegenstände ein für allemal und für immer zurückzuweisen. (ibid., 190) Humboldt legt also keinen Wert auf die Klassifikation der Sprachen und sieht in ihr nur ein praktisches oder didaktisches Instrument. Die Behauptung der traditionellen Sprachtypologie, Humboldt habe die Sprachen so oder so eingeteilt, entspricht darum nicht den Tatsachen. Einverleibung, Flexion usw. sind bei Humboldt nicht Kriterien der Klassifikation, sondern charakteristische Verfahren für jede Sprache. In jeder Sprache kann man mehrere dieser Verfahren finden und allenfalls ein Überwiegen des einen oder anderen Verfahrens feststellen. Eine einverleibende Sprache ist nicht Mitglied einer Klasse, sondern eine Sprache, in der gerade die Einverleibung gegenüber anderem überwiegt. Bei einer naturwissenschaftlichen Klassifikation würde gerade der Zusammenhang zwischen diesem Verfahren und den übrigen innerhalb einer Sprache verloren gehen. 434 <?page no="449"?> Ich komme nun zum zweiten Punkt, zum Verhältnis von Sprache und Denken, genauer zu Humboldts Formulierung, die Sprache sei das „ bildende Organ des Gedanken “ . Diese Formulierung ist wichtiger als ihre Interpretation durch Humboldt selbst. Denn in dieser Interpretation wird die Einheit von Denken und Sprache auf eine Weise behauptet, dass man nicht mehr weiß, welches hier das Erzeugende und welches das Erzeugte ist. Man gewinnt den Eindruck, das Denken im Ganzen sei Sprache: Die Sprache ist das bildende Organ des Gedanken. Die intellectuelle Thätigkeit, durchaus geistig, durchaus innerlich, und gewissermassen spurlos vorübergehend, wird durch den Ton in der Rede äusserlich und wahrnehmbar für die Sinne, und erhält durch die Schrift einen bleibenden Körper. Das auf diese Weise Erzeugte ist das Gesprochene und Aufgezeichnete aller Art, die Sprache aber der Inbegriff der durch die intellectuelle Thätigkeit auf diesem Wege hervorgebrachten und hervorzubringenden Laute, und der nach Gesetzen, Analogieen und Gewohnheiten, die wiederum aus der Natur der intellectuellen Thätigkeit und des ihr entsprechenden Tonsystems hervorgehn, möglichen Verbindungen und Umgestaltungen derselben, so wie diese Laute, Verbindungen und Umgestaltungen in dem Ganzen alles Gesprochenen und Aufgezeichneten enthalten sind. Die intellectuelle Thätigkeit und die Sprache sind daher Eins und unzertrennlich von einander; man kann nicht einmal schlechthin die erstere als das Erzeugende, die andre als das Erzeugte ansehen. Denn obgleich das jedesmal Gesprochene allerdings ein Erzeugnis des Geistes ist, so wird es doch, indem es zu der schon vorher vorhandenen Sprache gehört, ausser der Thätigkeit des Geistes, durch die Laute und Gesetze der Sprache bestimmt, und wirkt, indem es gleich wieder in die Sprache überhaupt übergeht, wieder bestimmend auf den Geist zurück. Die intellectuelle Thätigkeit ist an die Nothwendigkeit geknüpft, eine Verbindung mit dem Ton einzugehen, das Denken kann sonst nicht zur Deutlichkeit gelangen, die Vorstellung nicht zum Begriff werden. (ibid., § 35, 191 − 192). Eine ganz ähnliche Formulierung finden wir auch im „ Sprachbau “ , Humboldts letzter Arbeit: Die Sprache ist das bildende Organ des Gedanken. Die intellectuelle Thätigkeit, durchaus geistig, durchaus innerlich und gewissermassen spurlos vorübergehend, wird durch den Laut in der Rede äusserlich und wahrnehmbar für die Sinne. Sie und die Sprache sind daher Eins und unzertrennlich von einander. Sie ist aber auch in sich an die Nothwendigkeit geknüpft, eine Verbindung mit dem Sprachlaute einzugehen; das Denken kann sonst nicht zur Deutlichkeit gelangen, die Vorstellung nicht zum Begriff werden. (Humboldt 2010, Bd. III, 426) Ich interpretiere das Verhältnis von Denken und Sprechen zum Teil anders als Humboldt, aber doch in seinem Sinne, wie ich meine. Die Sprache ermöglicht das reflexive Denken gerade dadurch, dass sie Befreiung vom individuellen Ding, von der individuellen Vorstellung als solcher ist. Sie ist dies gerade dadurch, dass sie die Dinge in ihre Objektivität rückt, d. h. dass sie - wie Humboldt ausdrücklich sagt - die Vorstellung zum Begriff macht, d. h. zu einer rein mentalen Größe übergeht, für die eine Vorstellung nur ein Beispiel sein kann. 435 <?page no="450"?> Ich kann mir die Vorstellung von einem Ding machen, ich kann mir aber nicht dessen Inhalt vorstellen, denn der ist schon nicht mehr Gegenstand, sondern Begriff: Der Begriff ist eine rein formale Größe, die man sich nicht als solche vorstellen kann. Die Eigenschaften, die man sich vorstellt, sind immer individuelle Eigenschaften in individuellen Situationen. Man kann sich nur Einzeldinge vorstellen, nicht die sprachlichen Inhalte. Die Befreiung von den individuellen Vorstellungen ist die Leistung der Sprache, des sprachlichen Denkens. Ich unterscheide deshalb vorsprachliches, sprachliches und nachsprachliches Denken. Vorsprachliches Denken braucht die Sprache nicht. Dieses Denken stellt sich Gegenstände, Situationen und Maßnahmen oder Reaktionen in Situationen vor. Es wird oft gesagt, man brauche bei automatisierten Bewegungen, wie beim Autofahren, überhaupt nicht zu denken. Tatsächlich liegt hier vorsprachliches und nicht sprachliches Denken vor, d. h. Denken mit den Vorstellungen selbst, praktisches Sich-Verhalten in Situationen. Dass auch das praktische Denken von der Sprache beeinflusst und dadurch erleichtert wird, ist ein anderes Problem. Das sprachliche Denken ist das Denken, das mit der Befreiung vom Ding einhergeht und das Schaffen von universellen Gegenständen bedeutet. Das nachsprachliche Denken ist das, was wir üblicherweise reflexives Denken nennen. Es ist das Denken über das durch das sprachliche Denken Geschaffene. Das reflexive Denken geht notwendigerweise von den Einteilungen aus, die eine Sprache dem Denken bietet. In dieser Hinsicht ist das reflexive Denken von der Sprache abhängig, hat als Ausgangspunkt die Sprache. Sie bildet die erste Einteilung des Seins, das erste Schaffen der Welt des Menschen als einer denkbaren Welt, als einer Welt, über die man sprechen kann (ich verweise nochmals auf meine Aufsätze „ Der Mensch und seine Sprache “ (1968) und „ Die Sprache zwischen physei und thesei “ (1988). Ich interpretiere das Verhältnis von Denken und Sprechen wie folgt: Die Sprache ermöglicht das reflexive Denken. Sie stellt die Gegenstände für das Denken bereit. Ohne Sprache wäre reflexives Denken überhaupt nicht möglich, weil es gegenstandslos wäre. Die Sprache ist der Ort, wo die Begriffe geschaffen werden, und das Denken über die Gegenstände ist eigentlich ein Denken über die Bedeutungen, d. h. über Begriffe in Begriffen. Wir denken auf der Grundlage der durch die Sprache gegebenen Abgrenzungen. Die Sprache schafft nicht die Dinge als solche; nur in der Dichtung lässt die Sprache auch Dinge entstehen, aber Dinge als ideelle Bilder. Die Dinge der Welt entstehen nicht durch die Sprache; die Sprache schafft keine Bäume, keine Flüsse. Die Sprache macht sie aber gerade zu diesen und jenen Gegenständen. Denn vorsprachlich gibt es keine Dinge als Klassen, als unendliche, aber bestimmte Möglichkeiten des Seins, sondern nur Einzelvorstellungen, nur Eindrücke und, wenn man will, Gegenstände, aber keine Begriffe. Meine Unterscheidung zwischen vorsprachlichem, sprachlichem und reflexivem bzw. nachsprachlichem Denken leugnet natürlich keineswegs die Kontinuität des Denkens, macht aber das Verständnis des Verhältnisses zwischen Sprache und Denken etwas leichter oder versucht es wenigstens: 436 <?page no="451"?> Das vorsprachliche Denken ist das Denken ohne Sprache; d. h. das Denken mit Vorstellungen von Gegenständen und konkreten Situationen. Dafür braucht man keine Namen. Man kann sich Gegenstände ohne Namen vorstellen, obwohl es natürlich auch in diesem Bereich leichter ist, mit den Gegenständen umzugehen, wenn Sprache vorhanden ist. Im praktischen Leben könnte ich mittels Mimik und Gestik zeigen, dass ich meinen Fuß nicht mehr heben kann und Hilfe brauche. Ich habe es aber leichter, wenn ich über Sprache verfüge und einfach sagen kann: „ Helfen Sie mir bitte. “ Aber grundsätzlich wären auch die praktische Reaktion und ihre Begründung in rein praktischer Hinsicht ohne Sprache möglich. Das sprachliche Denken ist das Denken, das die Sprache schafft, d. h. die Gegenstände schafft, die gedacht werden können. Hier hat sicherlich Hegel am genauesten gesehen, als er die Sprache als das Dasein des Geistes bestimmt hat. Die Sprache schafft die geistige Welt des Menschen so wie die Arbeit den Menschen an die Welt anpasst bzw. die Welt modifiziert, in der er als ein biologisches Wesen lebt. Wie ich schon sagte, sieht Hegel Arbeit und Sprache als die beiden definitorischen Merkmale des Menschen an, als die für ihn charakteristischen Dimensionen seines Seins. Die Arbeit ist das für den Menschen charakteristische In-Erscheinung- Treten seines biologischen Wesens, die Sprache ist das In-Erscheinung-Treten des geistigen Wesens des Menschen. Sobald der Mensch Sprache hat, kann er nach dem Wesen der Dinge fragen und z. B. sagen „ Das ist jenes. “ Ich kann den einheitlichen Eindruck analysieren und z. B. die Eigenschaften außerhalb des Gegenstandes hinstellen, indem ich sage: „ Der Baum ist grün. “ Im Eindruck selbst ist erstens der Baum als Begriff nicht gegeben, sondern immer nur als ein „ das da “ , und zweitens ist das Grün-Sein nur im Baum selbst gegeben und nicht außerhalb. Erst in der Sprache kann ich den Eindruck bzw. den Gegenstand selbst analysieren. Da wir Sprache haben, nehmen wir diese Analyse automatisch vor. Wir sind uns nicht einmal der erstaunlichen Leistung der Sprache bewusst, die sie erbringt, indem sie die Möglichkeit des Denkens selbst eröffnet. Die Sprache macht es möglich, nach dem Sein der Gegenstände zu fragen und die Wissenschaft von den Dingen zu konstituieren. Das nachsprachliche Denken ist das reflexive Denken mit der Sprache, d. h. das Denken mit den durch die Sprache gegebenen Bedeutungen über die durch diese Bedeutungen abgegrenzten Sachen. Die Sprache denkt nicht über die Sachen, sie stellt aber die denkbaren Sachen dar, sie stellt in dieser Hinsicht dem Denken Gegenstände zur Verfügung. In den Appellativa, z. B. mit Namen wie Baum, Fisch, Löwe usw. liefert sie Gegenstände für die Wissenschaft und das Allgemeine und zwar sowohl im Bereich des Geistes als auch der Naturwissenschaften. Die Eigennamen liefern Gegenstände für die Geschichte, d. h. für das Individuelle. Die sogenannten Abstrakta, d. h. Wörter wie Eigenschaft, Tugend usw. liefern Gegenstände für die Philosophie. Wörter wie gerade, ungerade, eins, zwei usw. präsentieren die Gegenstände für die mathematischen Wissenschaften, d. h. die Wissenschaften von den reinen, an sich leeren Quantitäten und Formen. Die Sprache begnügt sich damit, die Gegenstände dem Denken zur Verfügung zu stellen. Die Wissenschaft untersucht die Dinge selbst, nicht die Bedeutungen der Sprache, und sie grenzt die Dinge auch anders ab, als sie ihr von der Sprache zur 437 <?page no="452"?> Verfügung gestellt wurden. Sie weiß sehr viel mehr über die Gegenstände der Welt als die Sprache. Die Sprache weiß nur, was notwendig ist, um die Dinge als diese oder jene abzugrenzen. Jedes Wort der Sprache hat in gewisser Hinsicht nur diese deiktische, diese zeigende Funktion. Es handelt sich um ein Zeigen, das unabhängig von der Situation ist, im Gegensatz etwa zum situationsabhängigen Zeigen mittels der Pronomina. In der Sprache geht es nur um die so und so abgegrenzte Art von Gegenständen. Aber wie diese im Einzelnen beschaffen sind und welche Eigenschaften sie haben, das weiß die Sprache nicht als Sprache, und auch der Mensch weiß es nicht deshalb, weil er die Sprache kennt, sondern weil er auch Erfahrung von den Dingen hat. Humboldt verbreitet sich nur darüber, dass man sein Denken mittels der Sprache zeigen kann. Dies ist wichtig, aber noch nicht das Wesentliche. Wesentlich ist vielmehr, dass ohne Sprache ein reflexives Denken überhaupt nicht möglich wäre, ja nicht einmal in Frage kommen könnte. Man hätte nicht einmal die Möglichkeit, sich das reflexive Denken vorzustellen, denn man hätte dafür überhaupt keine Gegenstände. In dieser Hinsicht ist das reflexive Denken sehr wohl von der Sprache abhängig. Man braucht aber vor dieser Abhängigkeit keine Angst zu haben. Das Denken ist nicht in jeder Hinsicht von der Sprache abhängig. Dies ist der entscheidende Punkt bei der Interpretation Humboldts, wenn Humboldt es auch anders meint. Das Denken ist von der Sprache nicht in der Hinsicht abhängig, dass man nur das in der Sprache schon Gedachte denken könnte, sondern in der Hinsicht, dass man ohne Sprache nicht denken kann. Die Sprache selbst denkt nicht reflexiv. Es gibt keine philosophische Sprache, d. h. keine Sprache, die philosophischer wäre als eine andere. Erst im Nachhinein kann man gewisse Abgrenzungen in gewissen Sprachen als für das Denken besonders geeignet oder nützlich einstufen. Erst nachdem Hegel den Begriff der „ Aufhebung “ gedacht hat, stellte er fest, dass die deutsche Sprache in dem Verb aufheben eine Bedeutung besitzt, die Negierung und Bewahrung zugleich umfasst. Die „ Aufhebung “ als philosophischer Begriff stammt aber natürlich von Hegel und nicht von der deutschen Sprache, und das Vorhandensein dieses Begriffs in der deutschen Sprache bedeutet keineswegs, dass alle Sprecher des Deutschen den schwierigen Hegel ’ schen Begriff verstehen. Das Denken ist auch nicht unabhängig von der Sprache, wie es z. B. Fichte wollte, auch nicht von einer bestimmten Sprache. In dieser Hinsicht hatte wiederum Hegel recht, als er sagte, dass der Gedanke selbst, man könne aus der Sprache austreten, eine Selbsttäuschung sei. Sogar die Erfinder von konventionellen Zeichensystemen bleiben weitgehend in ihren eigenen Sprachen. Eine künstliche Sprache ist eine reflexive Konstruktion nach dem Muster der Sprachen, und jeder Erfinder einer künstlichen Sprache orientiert sich zuerst an dem Muster seiner eigenen Sprache. Der Erfinder des Esperanto, Ludwik Zamenhof, hatte geglaubt, eine übereinzelsprachliche Sprache zu schaffen, eine wirkliche Universalsprache, die einfacher ist als alle anderen Sprachen. Diese Sprache hat aber merkwürdigerweise einen markierten Akkusativ, den es in vielen Sprachen nicht gibt und die darum in dieser Hinsicht viel einfacher sind. Sie hat sogar sechs Partizipien, nämlich Partizipien für Aktiv und Passiv im Präsens, Futur und Präteritum. Sie hat sie 438 <?page no="453"?> deswegen, weil Zamenhof neben dem Polnischen, Russischen und Deutschen auch mit dem Litauischen vertraut war und er darum diese Partizipien als notwendig ansah. Wäre er Spanier gewesen, hätte er nicht daran gedacht, und vielleicht hätte er nicht einmal das Passiv für notwendig gehalten. Das Denken ist nicht unabhängig von einer Einzelsprache, aber die Abhängigkeit besteht nur an einem Punkt, nämlich am Anfang. Das reflexive Denken setzt zwar bei der Sprache an, es geht aber stets über die Sprache hinaus und gelangt so zu den Dingen selbst, die zuerst bloß durch die Sprache gegeben waren. Es ist falsch zu glauben, dass man nur das denken kann, was in der Sprache gegeben ist. Bertrand Russell hat einmal geschrieben, die Ontologie sei eine rein sprachlich begründete Wissenschaft; man habe sie von den Sprachen her konstruiert, die das Verb sein haben und folglich das Seiende, τό ὅν im Griechischen, als solches abgrenzen konnten. 152 Die Ontologie kann in der Tat leichter in einer Gemeinschaft entstehen, in der es eine entsprechende Abgrenzung durch die Sprache gibt. Aber die Ontologie betrifft nicht die in dieser Sprache gegebene Bedeutung, sondern sie hat wie jede andere Wissenschaft das Sein selbst zum Gegenstand. Man kann zu einer Ontologie auch auf der Grundlage von Sprachen gelangen, die eine solche Unterscheidung nicht machen, wenn auch vielleicht mit größerer Schwierigkeit. Umgekehrt ist die Tatsache, dass eine Sprache „ sein “ als Bedeutung kennt, keine Garantie dafür, dass man mit ihr zur Ontologie gelangt. Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Die Leistung des Artikels in den Sprachen, die ihn kennen, ist von großer Bedeutung. Der Linguist Johannes Lohmann, der Heidegger gut kannte, hat die Leistung des Artikels in Heidegger ’ schen Termini formuliert: Der Artikel sei der Ausdruck der ontologischen Differenz. 153 Was heißt das? Der Artikel erlaubt die Unterscheidung zwischen Gegenstand und Begriff, zwischen dem Aktuellen und dem Virtuellen, dem Seienden und dem Sein. Mensch ist nur das Mensch-Sein, der Mensch ist dagegen ein Seiendes. In der Philosophie kann man diese Unterscheidung sicherlich leichter treffen, wenn man in einer Gemeinschaft philosophiert, deren Sprache den Artikel kennt. Die Griechen konnten auch im reflexiven Denken natürlich viel leichter eine solche Unterscheidung treffen als die Römer mit ihrer artikellosen Sprache. Als man begann, die philosophischen Fragestellungen der Griechen in römischer Sprache weiter zu verfolgen, wurde das Fehlen des Artikels als Mangel empfunden. So verwendete man z. B. im Mittelalter zum Teil den griechischen Artikel im Lateinischen. Viele Sprachen haben den Artikel; manche haben ein Determinationssystem, das viel komplizierter ist als die Unterscheidung virtuell vs. aktuell. So haben das Baskische und das Samoanische, eine polynesische Sprache, den Artikel, das Samoanische sogar mit komplexeren Unterscheidungen. Aber dieses sprachliche Faktum bietet keine Garantie dafür, dass der Unterschied auch reflexiv gemacht wird. Mir ist kein samoanischer Philosoph bekannt, der die Heidegger ’ sche ontologische Differenz formuliert hätte. 152 [Vgl. hierzu: L. S. Feuer: „ Sociological aspects of the relations between language and philosophy “ . In: Philosophy of Science 20 (1953), 85 − 100.] 153 [Vgl. Johannes Lohmann: Philosophie und Sprachwissenschaft. Berlin 1965.] 439 <?page no="454"?> Zum Schluss soll, als eine Art von Resümee, die Abhängigkeit des Denkens von der Sprache in einem einfachen Schema dargestellt werden: Sprache Denken Sachen Das Denken fängt mit der Sprache an, geht dann jedoch unmittelbar über die Sprache hinaus zu den Gegenständen selbst. Ich komme nun zu dem dritten und noch viel wichtigeren Punkt, den Humboldt in den „ Verschiedenheiten “ behandelt, nämlich zur Alterität als der Bedingung für die Objektivität des Denkens: Die wichtigste Ursach, aus welcher die Sprache, vermittelst des Tones, der Wirkung nach aussen bedarf, ist die Geselligkeit, zu welcher der Mensch durch seine Natur unbedingt hingewiesen wird. Es liegt aber in derselben ein zwiefaches, allein in dem Begriffe der Menschheit Verbundenes: einmal dass alle menschlichen Kräfte sich nur gesellschaftlich vollkommen entwickeln, dann dass es etwas Gemeinsames in dem ganzen menschlichen Geschlechte giebt; von dem jeder Einzelne eine, das Verlangen nach Vervollständigung durch die andren in sich tragende Modification besitzt. Beides ist gerade in der Sprache besonders wichtig. (ibid., § 46, 200) Die Alterität ist, wie schon gesagt, Bedingung der Objektivität des Denkens. Objektiv ist eigentlich nur das Intersubjektive, mehr noch, das allgemein als intersubjektiv Gedachte. Wenn ich sage „ Dem ist so “ , so meine ich, dass dem so ist, und zwar für jedes Wesen, das denkfähig ist. Was ich sage, ist eine universelle Behauptung und will dies auch in subjektiver Hinsicht, d. h. für das Subjekt des Behauptens sein. Denn ich will damit nicht sagen, dass ich nur so daherrede oder dass das Ding nur für mich so ist. Es ist naiv zu sagen, ein Satz wie „ Die Erde ist rund “ könne als „ Ich behaupte, die Erde ist rund “ analysiert werden. Denn gerade das meine ich nicht damit. Ich meine nicht, dass ich behaupte, dass die Erde rund ist, sondern dass die Erde rund ist, und zwar in objektiver Hinsicht. Die Alterität der Sprache, das wurde bereits mehrfach gesagt, begründet die Alterität der Welt. Die Welt ist durch die Sprache nicht nur meine Welt, sondern eine Welt, die wenigstens mir und dir gehört, und zwar aufgrund der Sprache als Vermittlung zwischen einem Ich und einem Du. Diese Alterität der Welt begründet ihrerseits die Objektivität des Denkens, weil das Denken ein Denken ist über eine als objektiv bestehend aufgefasste Welt. Ich behaupte etwas über die Dinge selbst nicht nur als meine private Meinung. Ich tue das schon deshalb nicht, weil ich es mit einer Sprache behaupte und diese die Dinge in ihre eigene Objektivität rückt. Es gibt keine Privatsprache. Die Tatsache, dass ich mich irren kann, zerstört nicht die ideelle Intersubjektivität als Voraussetzung jeder Objektivität. Der Irrtum erfolgt erst im Sagen, ist also nachträglich gegenüber der vorausgesetzten Objektivität. Nachträgliches kann aber Voraussetzungen nicht zerstören. Ich kann auch meinen Irrtum feststellen, wenn ich erkenne, dass die Dinge an 440 <?page no="455"?> sich selbst und auch gerade für andere so und so sind. Könnte ich das nicht, könnte ich mich gar nicht irren. Die Tatsache, dass ich mich irren und meinen Irrtum feststellen kann, ist Anzeichen dafür, dass die Behauptungen über die Dinge objektiv sein wollen, d. h. sagen wollen, wie sie sind. In dieser Hinsicht ist die Sprache auch die Grundlage der Objektivität des Denkens und aller Wissenschaft, Humboldt schreibt dazu in den „ Verschiedenheiten “ : Auch die Geselligkeit lässt sich ohne Einseitigkeit nicht aus dem blossen Bedürfniss ableiten. Sie beruht nicht einmal in den Thieren darauf. Keines ist leicht sich so alleingenügend in seiner Stärke, als der gerade vorzugsweise in Heerden lebende Elephant. Auch in den Thieren entspringt daher die bei einigen Gattungen grössere, bei andren geringere Neigung zur Geselligkeit aus viel tiefer in ihrem Wesen liegenden Ursachen. Es ist nur uns unmöglich, dieselben zu ergründen, weil wir uns gar keinen Begriff von der doch nicht abzuläugnenden Fähigkeit der Thiere machen können, wahrzunehmen, zu empfinden und Wahrnehmungen zu verknüpfen. Im Menschen aber ist das Denken wesentlich an gesellschaftliches Daseyn gebunden, und der Mensch bedarf, abgesehen von allen körperlichen und Empfindungsbeziehungen, zum blossen Denken eines dem Ich entsprechenden Du. (ibid., § 47, 200 − 201) Das Du dient also nicht nur der Geselligkeit, sondern begründet die Objektivität des Denkens. Mit dem Tiervergleich spielt Humboldt vielleicht auf Rousseau an. Für Humboldt geht es nicht nur um „ Ich mag dich! “ oder „ Hilf mir “ , d. h. um das Verhältnis der Geselligkeit zwischen dem empirischen Ich und dem empirischen Du, sondern vor allem um das Verhältnis zwischen einem Ich und einem Du, die gemeinsame Gegenstände, eine gemeinsame Welt haben und gerade in dieser Welt stillschweigend im Voraus annehmen, dass sie auf die gleiche Weise operieren können. Es ist zwar möglich, dass wir uns beide irren und der andere gewisse Dinge völlig anders sieht, z. B. die Farbe, die ich als grün bezeichne, so wahrnimmt wie ich die Farbe Rot. Trotzdem meine ich, dass wir dasselbe bezeichnen. Die Tatsache, dass wir das, was ich so sehe und was er so sieht, doch mit dem gleichen Wort bezeichnen, zeigt eben die Objektivität der Bezeichnung. So ist es z. B. gleichgültig, ob ich Pferde größer als andere sehe, denn das gehört zu dem Eindruck, den die Dinge auf mich machen. Die Sprache bezieht sich aber auf die Gegenstände selbst mittels der Bedeutungen, und diese begründen die Intersubjektivität der Erfahrung. 12.7.9 „ Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts “ (1830 − 1835) Wir sind jetzt bei der letzten Schrift angekommen, die wir besprechen wollen, bei der umfangreichsten unter allen übrigen. Bei der Lektüre stellen wir fest, dass schon fast alles Wesentliche behandelt wurde. Fast alles ist schon in den früheren Aufsätzen enthalten; für uns ist nur noch wenig Neues zu finden. Es wird zwar weiter präzisiert, was in nuce schon in den anderen Schriften vorhanden war, 441 <?page no="456"?> andererseits fehlt jedoch einiges, was wesentlich für Humboldts Gesamtauffassung ist. Angesichts dieser Sachlage wäre es eine dringende Aufgabe der Forschung, eine Humboldt-Konkordanz herzustellen, etwa im Rahmen einer Dissertation. Eine solche Arbeit hätte festzustellen, wo Humboldt diese und jene sprachphilosophischen Themen behandelt, wo jeweils die klarste Formulierung steht, wo etwas fehlt, was man aufgrund der Gesamtauffassung erwarten könnte. Das Ergebnis könnte eine kommentierte Konkordanz sein. Eine partielle Konkordanz zwischen „ Verschiedenheiten “ und „ Verschiedenheit “ wurde vor einiger Zeit in einem meiner Seminare erstellt, aber das reicht bei weitem nicht aus. Man müsste alle einschlägigen Schriften berücksichtigen und könnte nur von den deskriptiven Arbeiten, etwa zum Spanischen, Indonesischen, Mexikanischen usw. absehen, weil diese zur Sprachwissenschaft und ihrer Geschichte gehören. Bei den deskriptiven Themen wäre allerdings eine Konkordanz ebenfalls wünschenswert. Man beschäftigt sich seit hundertfünfzig Jahren mit Humboldt, kann aber immer noch nicht sagen, wo Humboldt eine bestimmte Sprache nennt, ob seine Beispiele richtig sind, woher er seine Kenntnisse hat. Dies wurde erst für eine Sprache versucht, und zwar für die aztekische Sprache. 154 Im „ Sprachbau “ finden zwei weitere Hauptideen ihre Entfaltung, nämlich die Idee der inneren Form und die Idee von der Kreativität der Sprache, die nun als energeia bestimmt wird. Es ist einfach peinlich, wenn etwa behauptet wird, die innere Form bei Humboldt sei als die spezifische psychologische Struktur der jeweiligen Sprecher zu verstehen, von der die konkrete Organisation der lautlichen und bedeutungsmäßigen Seite ihrer Sprache direkt abhänge. Einen Beleg möchte ich hier nicht anführen. Eine solche Behauptung ist nur für Personen annehmbar, die keine einzige Zeile von Humboldt gelesen haben. Ebenso unangemessen ist es, wenn die innere Form mit der Tiefenstruktur, d. h. der Struktur der Bezeichnung, identifiziert wird. Denn Humboldt sagt ausdrücklich, dass dies nicht gemeint ist. Bei dieser Interpretation kommt zum Unwissen der Wunsch hinzu, in einem Terminus gerade das zu finden, was in das eigene Konzept passt: Es wäre schön, wenn die „ innere Form “ der Tiefenstruktur entspräche. Da nehme ich eben einmal an, dies sei der Fall, und schon kann ich mich auf einen berühmten Vorläufer berufen. Um zu verstehen, was Humboldt mit „ innere Sprachform “ meint, muss man sich auf das beziehen, was in Paragraph 21 des „ Sprachbau “ steht. Der Titel stammt wie alle Titel und Untertitel von Humboldts Sekretär Johann Karl Eduard Buschmann. Außerdem ist zu berücksichtigen, was im „ Vergleichenden Sprachstudium “ , „ Entstehen der grammatischen Formen “ und „ Ueber den Dualis “ steht. Ich resümiere zuerst, was ich schon an anderer Stelle gesagt habe. 154 [Cf. Humboldt/ Ringmacher 1993. Über die neuere Humboldtforschung, die Coseriu nicht mehr berücksichtigen konnte, berichten die Herausgeber von Bd. V der Werke (2010): „ Humboldt-Forschung und -Interpretation “ , 743 − 779 (mit einer reichen Bibliographie).] 442 <?page no="457"?> „ Form “ und „ Stoff “ sind relationale, genauer aufeinander bezogene Begriffe. Sie entsprechen den Begriffen μορφή „ Form “ und ὕλη „ Stoff “ bei Aristoteles. In dieser Relation ist die Form stets das Gestaltende, das dynamische, aktive Prinzip, der Stoff stets das Gestaltete, das statische bzw. passive Prinzip. In dieser Hinsicht sind Form und Stoff als korrelative Begriffe auch nie einfach dies oder jenes, d. h. etwas, auf das man zeigen kann. Denn eine Form ist nur Form in Bezug auf einen Stoff, und Stoff ist nur Stoff in Bezug auf eine Form, d. h. die Form ist nur Form in einer bestimmten Relation und damit nicht etwas für sich selbst Feststellbares und Beschreibbares. Auch im Falle der Sprache kann sich „ Form “ auf verschiedene Stufen beziehen, denn was auf einer bestimmten Stufe der Betrachtung Form ist, wird, wie gesagt, auf einer höheren Stufe zum Stoff für eine andere Form, wenn die Form der niedrigeren Stufe wiederum geformt wird. Zunächst ist die Sprache im allgemeinen Form des Außersprachlichen, und zwar im Verhältnis zur außersprachlichen Wirklichkeit oder, besser gesagt, zur Erfahrung, zu den Gefühlen, zu den sinnlichen Eindrücken, die sich auf das Außersprachliche beziehen. Wenn wir nun die Relation zwischen Sprache und Außersprachlichem gerade von der Sprache her betrachten, brauchen wir nicht einmal zwischen den Gefühlen und den Erfahrungen über die Welt und den Dingen selbst zu unterscheiden, weil dies alles nur Stoff für die Sprache ist. Wenn wir dagegen von der Sprache absehen, können wir die Erfahrungen und Gefühle als Form für etwas anderes auffassen. In der Sprachwissenschaft hat dies nur Hjelmslev mehr oder weniger richtig gesehen, als er zwischen Substanz und Materie, d. h. zwischen dem Stoff für die Sprache als Form und dem Stoff als amorphe Masse unterschied. Der amerikanische Übersetzer der Prolegomena zu einer Sprachtheorie, Francis J. Whitfield, hat hierfür in Absprache mit Hjelmslev den Terminus purport gewählt (vgl. Hjelmslev 2 1963, chapt. 13). In doppelter Hinsicht ist die Sprache im allgemeinen Form der außersprachlichen Wirklichkeit: 1. Die Wörter sind die Form der Gegenstände; 2. die Grammatik ist Form und Gestaltung der Wörter, d. h. die Wörter sind Stoff für die Grammatik. Ein Sprachsystem, eine Einzelsprache, ist jeweils im Verhältnis zu anderen Einzelsprachen eine bestimmte Form der außersprachlichen Wirklichkeit. Auch innerhalb einer bestimmten Einzelsprache gibt es wiederum das Verhältnis zwischen dem Gestalteten und dem Gestaltenden, etwa zwischen den Prinzipien der Gestaltung und dem damit Gemachten. Das ist der Sinn von Humboldts Unterscheidung zwischen dem Entwurf und dem Ausbau einer Sprache. In jeder Sprache seien Prinzipien zur weiteren Gestaltung da, jede Sprache sei an erster Stelle als Form ein Gefüge von Gestaltungsprinzipien, und aufgrund dieser Prinzipien könne man, im Zuge des weiteren Ausbaus, weiter Sprachliches schaffen. In dieser Hinsicht ist eine Sprache nicht nur das Gesprochene, sondern das, was in ihr gesprochen werden kann. Dies ist die futurische Dimension der Sprache. So enthält das Deutsche z. B. alles, was man auf Deutsch sagen kann, auch wenn es noch nicht gesagt worden ist. 443 <?page no="458"?> Im Verhältnis zwischen Stoff und Form sind verschiedene Stufen zu unterscheiden: 1. Auf der ersten Stufe ist der Stoff die außersprachliche Wirklichkeit, was immer das auch sein mag. Der Stoff ist an sich, ohne die Form, nicht erkennbar. 2. Die Form der außersprachlichen Wirklichkeit ist die Sprache mit ihren beiden Stufen, den Wörtern als Gestaltung der Dinge und der Grammatik als Gestaltung der Relationen. 3. Die Sprache im Allgemeinen wird wiederum zum Stoff für jede Sprache, für eine Sprache. Eine Einzelsprache gestaltet das Sprachliche schlechthin auf eine bestimmte Weise. Die Sprachen in ihrem Verhältnis zueinander sind Formen der Sprache schlechthin. 1. Eine Einzelsprache ist Stoff für eine Form, nämlich für die Strukturierungsprinzipien einer Sprache. Eine Sprache ist teilweise schon gemacht und teilweise bis ins Unendliche noch zu machen. Die Prinzipien dienen der Weiterbildung der Sprache auf eine bestimmte Weise. Man kann dies den Sprachtypus für eine jede Sprache nennen. 2. Ich habe selbst darüber hinaus zu zeigen versucht, dass bei der Sprache als Form das Gestaltete die Norm ist. Die Norm wird durch ein System gestaltet, und das System wird - wie oben in 12.7.2 erwähnt - durch die Prinzipien des Sprachtypus gestaltet. Graphisch könnte man die Stufen von Stoff und Form in der Weise darstellen, dass jeweils ein Pfeil die Form-Stoff-Relation markiert. Die Graphik charakterisiert die außersprachliche Wirklichkeit als den primären Stoff der Sprache und den Typus einer Einzelsprache als die höchste Gestaltungsform: Einzelsprache: Sprachtypus Einzelsprache: Sprachsystem Einzelsprache: Sprachnorm außersprachliche Wirklichkeit Sprache/ Sprechen im allgemeinen: Grammatik Sprache/ Sprechen im allgemeinen: Wortschatz FORM STOFF 444 <?page no="459"?> Wenn man von „ Form “ bei Humboldt spricht, muss man, in Bezug auf die Sprache, stets dazusagen, um welche Stufe der Form es jeweils geht. Auch dies wäre eine Aufgabe der Konkordanz, von der ich gesprochen habe. Nach den vorbereitenden Bemerkungen zum Verhältnis von Stoff und Form kehren wir nun wieder zu Humboldt selbst zurück: Zum Verhältnis zwischen den Prinzipien und ihrer Anwendung äußerst sich Humboldt wie folgt: Die charakteristische Form der Sprachen hängt an jedem einzelnen ihrer kleinsten Elemente; jedes wird durch sie, wie unmerklich es im Einzelnen sey, auf irgend eine Weise bestimmt. Dagegen ist es kaum möglich, Punkte aufzufinden, von denen sich behaupten liesse, dass sie an ihnen, einzeln genommen, entscheidend haftete. Wenn man daher irgend eine gegebene Sprache durchgeht, so findet man Vieles, das man sich, dem Wesen ihrer Form unbeschadet, auch wohl anders denken könnte, und wird, um diese rein geschieden zu erblicken, zu dem Gesammteindruck zurückgewiesen. (ibid., § 12, 420) Die Elemente entsprechen also der charakteristischen Form der Sprache nicht vereinzelt, sondern nur im Zusammenhang der Prinzipien. Ich zitiere jetzt eine weitere wichtige Stelle zur charakteristischen Form, d. h. zu den Prinzipien, die als ihren Stoff die jeweilige Form im System der Sprache haben. Das Zitat knüpft an den oben eingeführten „ Gesamteindruck “ an: Es versteht sich indess von selbst, dass in den Begriff der Form der Sprachen keine Einzelheiten als isolirte Thatsache, sondern immer nur insofern aufgenommen werden darf, als sich eine Methode der Sprachbildung an ihr entdecken lässt. Man muss durch die Darstellung der Form den specifischen Weg erkennen, welchen die Sprache und mit ihr die Nation, der sie angehört, zum Gedankenausdruck einschlägt. Man muss zu übersehen imstande seyn, wie sie sich zu andren Sprachen, sowohl in den bestimmten ihr vorgezeichneten Zwecken, als in der Rückwirkung auf die geistige Thätigkeit der Nation, verhält. Sie ist in ihrer Natur selbst eine Auffassung der einzelnen, im Gegensatze zu ihr als Stoff zu betrachtenden Sprachelemente in geistiger Einheit. Denn in jeder Sprache liegt eine solche, und durch diese zusammenfassende Einheit macht eine Nation die ihr von ihren Vorfahren überlieferte Sprache zu der ihrigen. Dieselbe Einheit muss sich also in der Darstellung wiederfinden; und nur wenn man von den zerstreuten Elementen bis zu dieser Einheit hinaufsteigt, erhält man wahrhaft einen Begriff von der Sprache selbst, da man, ohne ein solches Verfahren, offenbar Gefahr läuft, nicht einmal jene Elemente in ihrer wahren Eigentümlichkeit und in ihrem realen Zusammenhange zu verstehen. (ibid., § 12, 423) Humboldt vertritt hier die Auffassung, dass in einem Sprachsystem alles mit allem zusammenhängt. Damit wird die Aufgabe der Sprachtypologie abgegrenzt. Sie besteht in der Charakterisierung einer jeden Sprache in Bezug auf ihre ideelle Einheit. Die „ innere Form “ betrifft die Sprache allein, nicht das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit, und sie betrifft grundsätzlich jeweils eine Sprache. Nicht die Sprache schlechthin, sondern jede Einzelsprache hat eine innere Form. Die innere Form steht der äußeren Form gegenüber. Es ist symptomatisch für die Fra- 445 <?page no="460"?> gestellung von Humboldt, dass der Paragraph, in dem die innere Form behandelt wird (§ 21), nach den Paragraphen zum Lautsystem steht und dass ein Paragraph mit dem Titel „ Verbindung des Lautes mit der inneren Sprachform “ (§ 22) folgt. Man braucht nicht weiter zu suchen, um zu verstehen, was Form bei Humboldt ist und was gerade in diesem Fall gemeint ist: Die Sprache ist schon Form. Das Lautsystem mit seinen Prinzipien, zu denen noch typologische Prinzipien kommen können, ist die äußere Form der Sprache. Sie steht in Relation mit der inneren Sprachform. Die „ innere Sprachform “ ist einfach die Gestaltung des einzelsprachlichen Inhalts. Die Beispiele, die Humboldt dafür anführt, betreffen eindeutig Einzelsprachen. Leider sind es - wie bei Humboldt üblich - nur wenige. Es geht um das System der Inhalte, und diese sind Bedeutungen in der Sprache und nicht etwa Bezeichnungen. Man hat viel über den Begriff „ innere Sprachform “ diskutiert und in ihm etwas Besonderes sehen wollen. Dies ist aber nicht der Fall. Er ist nur etwas Besonderes in der geschichtlichen Situation, in der er formuliert wurde. Der Begriff bezieht sich einfach auf die Form des Inhalts, auf die eigentliche Semantik einer Sprache, d. h. um das, was die Sprache als solche sagt. Der Begriff ist in der damaligen historischen Situation bedeutsam, weil damals noch nicht anerkannt war, dass jede Sprache über eine spezifische inhaltliche Gestaltung verfügt. Man identifizierte noch die inhaltliche Gestaltung einer Sprache mit der Bezeichnung, mit dem über die Welt Ausgesagten. Es ist wichtig, dass der Begriff „ innere Sprachform “ durch zwei Gegenüberstellungen abgegrenzt wird. Einerseits steht die innere Form der äußeren Form gegenüber, andererseits der außersprachlichen Wirklichkeit, wie im nächsten Abschnitt zu erklären sein wird. Unter äußerer Form versteht Humboldt eindeutig die Gestaltung der lautlichen, materiellen Seite der Sprache, d. h. die Gestaltung der Ausdrucksebene der Sprache. Dies zeigt der Anfang des Kapitels über die Form. Die Gestaltung der Form erfolgt auf drei aufeinanderfolgenden Ebenen: 1. auf der Ebene des Wortes, der Ebene der Begriffsbildung, die der Vertretung der Gegenstände der Welt entspricht, 2. auf der grammatischen Ebene, die den Beziehungen und folglich der morphematischen Gestaltung des Materiellen entspricht, und 3. auf der Ebene des Satzes, der minimalen Einheiten der Rede, die den Einheiten des Denkens in ihrem Bezug auf die außersprachliche, eventuell ideelle (vorgestellte) Wirklichkeit entsprechen. In Bezug auf diese äußere Form verwendet Humboldt den alten Begriff littera „ Buchstabe “ . Er schreibt, schon mit dem Buchstaben fange die Gestaltung an. „ Buchstabe “ ist hier aber nicht das Graphem, wie man aus späterer Sicht geglaubt hat, sondern die Einheit der Ausdrucksebene. Die Sprache kann in geschriebener oder in gesprochene Form und vielleicht noch in anderer Weise erscheinen. Littera oder Buchstabe ist nun die formale Einheit als solche, unabhängig von ihrer jeweiligen Erscheinungsform. 155 155 [Coseriu bezieht sich in diesem Zusammenhang oft auf D. Abercrombie: „ What is a ‚ letter ‘ ? “ , Lingua II, 1 (1949), 54 − 63.] 446 <?page no="461"?> Ich habe schon öfter darauf hingewiesen, daß lat. littera, griech. gramma in der älteren Sprachwissenschaft gerade nicht den Buchstaben als Graphem meint. In der lateinischen Grammatik bis zur Renaissance verwendete man die Begriffe vox und littera. Es wird oft gesagt, dass eine Sprache z. B. so viele litterae hat wie voces, aber dass sie für die litterae bzw. voces (d. h. für die Phoneme) nicht genau so viele figurae (d. h. Buchstaben als graphische Entsprechungen der Phoneme) hat, sondern mehr oder weniger. Wenn man die Dinge in diesem Zusammenhang betrachtet, wird deutlich, dass Humboldt eine besondere Art von Phonologie begründet. Man erkennt dies noch besser, wenn Humboldt eine bestimmte Sprache analysiert, insbesondere in seiner mexikanischen Grammatik, deren Veröffentlichung ich angeregt habe (vgl. Humboldt/ Ringmacher 1993). Mit „ Buchstaben “ meint er die sogenannten logischen oder funktionellen Einheiten unabhängig von ihrer kontextuellen Variation, d. h. mehr oder weniger das, was später in der Phonologie oder Phonemik als „ Phonem “ erscheint. Eine Humboldt ’ sche Phonologie, d. h. eine Phonologie mit explizitem Bezug auf Humboldt, hat sich als solche nicht entwickelt. Man findet aber noch vor der Phonologie der Prager Schule immer wieder phonologische Ansätze in praktischer Hinsicht, z. B. für die Ausarbeitung der Rechtschreibung. So hat man von „ logischen “ Lauten gesprochen, d. h. von den Einheiten, die in einer Sprache distinktiv sind. Man kann sich fragen, ob die Phonologie, die viel später entwickelt wurde, nicht eine Wiederaufnahme der Ideen Humboldts ist, und zwar gerade im Falle der Prager Schule. Mathesius betrachtete sich als Schüler Humboldts; er sieht in ihm den Begründer der statischen oder analytischen Sprachwissenschaft. Baudouin de Courtenay, der in Russland und Polen wirkte, bezieht sich ebenfalls auf Humboldt. In Amerika lehrte Edward Sapir, der im Grunde ein Humboldtianer war. Es wäre im Einzelnen zu untersuchen, inwiefern auch die Idee der Analyse der Sprache auf der materiellen Ebene auf Humboldt zurückgeht, d. h. wie man nach einer langen, vom Positivismus geprägten Unterbrechung der Überlieferung, seine Ideen wieder aufgreift. Die positivistische Linguistik trifft die primäre Unterscheidung von Laut und Buchstabe. Diese Unterscheidung ist sicherlich notwendig. Sie betrifft aber nicht die Ebene, die die Positivisten meinen. Denn die Unterscheidung betrifft nicht die Ausdrucksebene selbst, sondern die Ebene des In-Erscheinung-Tretens der formalen Einheiten des Ausdrucks. Vom positivistischen Gesichtspunkt her erscheint die alte und viel höhere Begrifflichkeit als eine Verwechslung. Man findet in Geschichten der Sprachwissenschaft und in allerlei Handbüchern immer wieder, die ältere Linguistik habe Buchstabe und Laut verwechselt. Man fragt sich, wie so etwas überhaupt möglich ist. Wie kann jemand eine graphische Figur mit einem Laut verwechseln? In Wirklichkeit handelt es sich nicht um eine Verwechslung, sondern um den allgemeineren Begriff. Allerdings war es vielleicht unglücklich, diesen Allgemeinbegriff ausgerechnet Buchstabe zu nennen. Gegenstand der positivistischen Linguistik ist die vox. Sie findet dort nur die tatsächliche unendliche Verschiedenheit der konkreten Realisierungen und kann zu 447 <?page no="462"?> den Einheiten nur durch eine Abstraktion kommen, die unabhängig von der Funktion der Einheiten in der entsprechenden Sprache vorgenommen wird. Die positivistische Linguistik hat uns natürlich sehr viel gelehrt in Bezug auf die tatsächliche Verschiedenheit der Sprachen und die Kasuistik der Rede. Sie hat aber die Einheiten aus den Augen verloren. Als Reaktion auf den „ Atomismus “ der positivistischen Linguistik ist die Phonologie entstanden, die wenigstens die Einheit der vox wieder herstellt. Die Glossematik hat sogar mit dem Begriff „ Plerem “ eine rein formale Einheit eingeführt, die sowohl als Buchstabe wie auch als Phonem erscheinen kann. 156 Man kann auch bei Humboldt Ansätze finden, die höhere Ebenen der äußeren Form betreffen. Die Laute, aus denen aufgrund ihrer distinktiven Funktion der Wortschatz gebildet wird, werden wieder geformt als Morpheme in der Grammatik. Die moderne Phonologie hat versucht, diese Tatsache in dem Begriff „ Morpho (pho)nem “ zu erfassen. Auch die generative Grammatik kennt den Begriff des grammatischen „ Morpho(pho)nems “ . Humboldt weist mindestens auf die Möglichkeit einer Satzphonologie oder einer Gesamtphonologie (im Sinne von Firth und der englischen Schule) hin. Er betrachtet die Determination der Laute im Satz als die erste Gegebenheit im Lautlichen und beschäftigt sich deshalb an erster Stelle mit den Relationen, die im Satz erscheinen. Die „ innere Form “ steht nicht nur der „ äußeren Form “ gegenüber, sondern auch der bezeichneten Wirklichkeit. Die innere Form ist die Form auf der „ intellektuellen Seite “ der Sprache, d. h. auf der Inhaltsebene als solcher. Die sprachliche Gestaltung ist von der Bezeichnung, vom Bezeichneten, von den Gegenständen selbst, zu unterscheiden. Das Bezeichnete ist als Außersprachliches für alle Sprachen das Gleiche, es wird aber jeweils durch andere Merkmale geformt. Leider sind die Beispiele, die Humboldt im „ Sprachbau “ gibt, nicht besonders einleuchtend. Bessere Beispiele finden sich im „ Entstehen der grammatischen Formen, wo es ihm gerade darum ging, anzugeben, was eine Sprache tatsächlich sagt. Ich gebe hier ein Beispiel aus dem „ Sprachbau “ : Wie bei der Lautform als die beiden hauptsächlichsten zu beachtenden Punkte die Bezeichnung der Begriffe und die Gesetze der Redefügung erschienen, ebenso ist es in dem inneren, intellectuellen Theil der Sprache. Bei der Bezeichnung tritt auch hier, wie dort, der Unterschied ein, ob der Ausdruck ganz individueller Gegenstände gesucht wird oder Beziehungen dargestellt werden sollen, welche auf eine ganze Zahl einzelner anwendbar, diese gleichförmig in einen allgemeinen Begriff versammeln, so dass eigentlich drei Fälle zu unterscheiden sind. Die Bezeichnung der Begriffe, unter welche die beiden ersteren gehören, machte bei der Lautform die Wortbildung aus, welcher hier die Begriffsbildung entspricht. Denn es muss innerlich jeder Begriff an ihm selbst eigenen Merkmalen oder an Beziehungen auf andere festgehalten werden, indem der Articulationssinn die bezeichnenden Laute auffindet. Dies ist selbst bei äusseren, körperlichen, geradezu durch die Sinne wahrnehmbaren Gegenständen der Fall. Auch bei ihnen ist das Wort nicht das 156 [Vgl. Louis Hjelmslev/ Hans Jøren Uldall: Synopsis of an outline of glossematics. Kopenhagen 1936.] 448 <?page no="463"?> Aequivalent des den Sinnen vorschwebenden Gegenstandes, sondern der Auffassung desselben durch die Spracherzeugung im bestimmten Augenblicke der Worterfindung. Es ist dies eine vorzügliche Quelle der Vielfachheit von Ausdrücken für die nemlichen Gegenstände; und wenn z. B. im Sanskrit der Elephant bald der zweimal Trinkende, bald der Zweizahnige, bald der mit einer Hand Versehene heisst, so sind dadurch, wenn auch immer derselbe Gegenstand gemeint ist, ebenso viele verschiedene Begriffe bezeichnet. Denn die Sprache stellt niemals die Gegenstände, sondern immer die durch den Geist in der Spracherzeugung selbstthätig von ihnen gebildeten Begriffe dar; und von dieser Bildung, insofern sie als ganz innerlich, gleichsam dem Articulationssinne vorausgehend angesehen werden muss, ist hier die Rede. (ibid., § 21, 467 − 468) Es folgt ein sehr wichtiger Satz, den ich gleich zitieren werde. Zunächst sei festgehalten, dass es Humboldt grundsätzlich um Unterscheidung durch Merkmale geht. Der Gegenstand kann der gleiche sein, auch in einer einzigen Sprache. Er wird aber mit anderen Merkmalen zu einem Begriff gemacht, auf einen Begriff bezogen, wie Humboldt es hier mit den nicht besonders glücklichen Beispielen für den Elefanten zeigt. Wären die drei Bezeichnungen für den Elefanten tatsächlich Namen und nicht bloß Umschreibungen, so hätte man tatsächlich Merkmale. Es wären dann jedoch etymologische Merkmale und nicht Merkmale, die den Inhalt von anderen Inhalten in der gleichen Sprache unterscheiden. Humboldts Beispiele zur Grammatik sind viel besser. Durch den Vergleich der Einteilungen der Verbalsysteme im Sanskrit und im Griechischen zeigt er die besondere Struktur der Tempora und der Aspekte in diesen Systemen. Entscheidend ist hier auf jeden Fall, dass gerade der Begriff „ Merkmal “ erscheint. Die Sprache stellt nicht die Gegenstände als solche dar, sondern jeweils ein Gefüge von Merkmalen. Das Wort porter im Französischen ist z. B. völlig anders gestaltet als entsprechende Wörter im Deutschen oder in den anderen romanischen Sprachen. Es bedeutet „ sich bewegen mit etwas anderem, das sich nicht selbständig bewegt “ . Diese Bedeutung ist im Französischen so gegeben, weil es daneben mener gibt, „ sich bewegen mit etwas anderem, das sich selbst bewegen kann “ . Im Deutschen sagt man: Ich bringe das Buch in die Bibliothek, Ich bringe dich zum Bahnhof, gebraucht also in beiden Sätzen das Verb bringen. Im Französischen würde man dagegen im ersten Satz porter, im zweiten mener verwenden. Im „ Dualis “ hatte Humboldt nur von „ Form “ gesprochen. Es ist aber zu beachten, dass die Form Stoff für eine höhere Form ist, nämlich für die gestaltenden Prinzipien oder für die Formen des Inhalts. Auch der Inhalt wird dreimal geformt: durch Wörter, durch die Relationen der Grammatik und durch die Gestaltungsprinzipien für Wortschatz und Grammatik. Zum Status der Merkmale sagt Humboldt Folgendes, und zwar im Anschluss an das Zitat oben: Freilich gilt aber diese Scheidung nur für die Sprachzergliederung und kann nicht als in der Natur vorhanden betrachtet werden. (ibid., 468) Mit dieser Bemerkung hebt Humboldt die Annahme wieder auf, es gehe bei den Begriffen bzw. Bedeutungen um ein Gefüge von Merkmalen. Es sieht zwar so aus, 449 <?page no="464"?> als ob es Merkmale gäbe, aber in der Sprache selbst gibt es nur einheitliche Intuitionen. Ein Begriff erscheint nur deshalb in der Analyse als ein Gefüge von Merkmalen, weil es andere, ebenfalls einheitliche Einheiten gibt. Die Gegenüberstellung der an sich einheitlichen Begriffe führt uns zu den Differenzen zwischen den Einheiten. Wir sind dann geneigt, die Differenzen als das Primäre und den Begriff als eine Synthese dieser Merkmale anzusehen. In Wirklichkeit ist es vielmehr so, dass zuerst die Oppositionen da sind und erst dann die unterscheidenden Merkmale aus den Oppositionen resultieren, nicht umgekehrt. Darin liegt ein sehr schwieriges Problem der strukturellen Interpretation einer Sprache. Man ermittelt die Merkmale bei der Analyse, wenn sie in der Sprache distinktive Funktion haben. Von „ Synthese “ kann man nur dann sprechen, wenn man von einem Gefüge von Merkmalen ausgeht und nicht von einer primären Intuition. Ich habe versucht, auf diesen Fehler hinzuweisen; es ist mir aber nicht gelungen, andere davon zu überzeugen. Wir kommen jetzt zum letzten wichtigen Begriff, zum Begriff der „ energeia “ . Nach all dem, was wir bisher über die Kreativität bzw. Formativität als Dimension des Menschen schlechthin und zur Sprache als primärer menschlicher Formativität erfahren haben, ist es erstaunlich, dass das Grundprinzip der energeia erst so spät, d. h. erst im „ Sprachbau “ , ausdrücklich formuliert und mehr oder weniger begründet wird. In früheren Werken verwendete Humboldt andere Termini für das Gleiche, insbesondere Kraft. Dieser Terminus ist in einer Form des Neohumboldtismus übernommen worden; man spricht dort, wie z. B. Leo Weisgerber, von den „ Kräften “ der deutschen Sprache. Ich halte das allerdings für eine unglückliche Verwechslung. Erst mit dem Begriff der „ energeia “ versteht man, was Humboldt tatsächlich gemeint hat. Es ist wichtig zu sehen, dass dieser Begriff gerade in dem Paragraphen über die Form steht, weil die Sprache eben als formative Kraft angesehen wird. Und es ist besonders wichtig, dass der gemeinte Begriff hier mit einem griechischen Wort bezeichnet und einem Begriff gegenübergestellt wird, der mit einem anderen griechischen Wort bezeichnet wird. Humboldt sagt nicht einfach „ Tätigkeit “ und „ Werk “ , sondern er sagt zugleich, indem er in Klammem energeia und ergon hinzufügt, dass er eine bestimmte Interpretation von „ Tätigkeit “ und „ Werk “ intendiert. Ich habe immer wieder behauptet, dass Humboldt auf den Begriff „ energeia “ bei Aristoteles hinweisen wollte, so wie er schon bei „ Form “ und „ Stoff “ genau den aristotelischen Gegensatz zwischen μορφή und ὕλη aufgenommen hatte, und zwar genau mit der der gleichen Korrelativität der Begriffe, so dass die Form für eine höhere Instanz zum Stoff wird. Hier greift Humboldt ausdrücklich auf diese Tradition zurück, indem er die griechischen Wörter verwendet. Vor Kurzem hat Donatella Di Cesare (1988, in: Energeia und Ergon II, 29 − 46) den Nachweis erbracht, dass dieser Zusammenhang besteht, indem sie genaue Angaben zu den einschlägigen Stellen in der „ Metaphysik “ geliefert hat. Was besagt nun dieser Begriff? Energeia ist die Kreativität als solche, der kreative Akt, der seiner eigenen dynamis vorausgeht, der nicht Anwendung einer Technik, d. h. Anwendung des durch Erfahrung oder durch Studium Gelernten ist, 450 <?page no="465"?> sondern eben primär Kreativität, der sogenannte reine Akt, der actus purus. Man muss dies wissen, wenn man sagt, die Sprache sei Tätigkeit. Ich habe gesagt, dass der Begriff „ energeia “ ein aristotelischer Begriff ist und bei Aristoteles die produktive schöpferische Tätigkeit bedeutet. Wir werden sehen, wie das genau zu interpretieren ist. Zuerst werde ich die Zitate anführen, die sich im Abschnitt „ Form der Sprachen “ (§ 11) finden: Man muss die Sprache nicht sowohl wie ein todtes Erzeugtes, sondern weit mehr wie eine Erzeugung ansehen, mehr von demjenigen abstrahieren, was sie als Bezeichnung der Gegenstände und Vermittlung des Verständnisses wirkt, und dagegen sorgfältiger auf ihren mit der innren Geistesthätigkeit eng verwebten Ursprung und ihren gegenseitigen Einfluss zurückgehen. (ibid., 416) Der allerwichtigste Passus besagt, dass man die Sprache nicht statisch betrachten dürfe, sondern in Bezug auf das betrachten solle, was sie gestaltet: Die Sprache, in ihrem wirklichen Wesen aufgefasst, ist etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes. Selbst ihre Erhaltung durch die Schrift ist immer nur eine unvollständige, mumienartige Aufbewahrung, die es doch erst wieder bedarf, dass man dabei den lebendigen Vortrag zu versinnlichen sucht. Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia). Ihre wahre Definition kann darum nur eine genetische seyn. Sie ist nemlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen. (ibid., 418) Darauf folgt eine Passage, die normalerweise leider nicht gelesen oder zumindest nicht zitiert wird. Humboldt sagt, dass die energeia an erster Stelle das jedesmalige Sprechen, d. h. die Rede, betreffe, dann aber auch die Sprache im Allgemeinen und natürlich auch jede Sprache. An anderer Stelle spricht Humboldt von Gesetzen der Erzeugung: Denn die Sprache kann ja nicht als ein da liegender, in seinem Ganzen übersehbarer oder nach und nach mittheilbarer Stoff, sondern muss als ein sich ewig erzeugender angesehen werden, wo die Gesetze der Erzeugung bestimmt sind, aber der Umfang und gewissermassen auch die Art des Erzeugnisses gänzlich unbestimmt bleiben. Das Sprechenlernen der Kinder ist nicht ein Zumessen von Wörtern, Niederlegen im Gedächtniss und Wiedernachlallen mit den Lippen, sondern ein Wachsen des Sprachvermögens durch Alter und Uebung. (ibid., § 14, 431) Humboldt spricht hier von der Erzeugung der Sprache selbst, nicht von der Erzeugung von Ausdrücken mit einer gegebenen Sprache. Was entsteht, ist die Sprache selbst, d. h. neue Formen mit neuen Funktionen. Immer wieder weist Humboldt darauf hin, dass die Sprache (das gilt auch für eine spezifische Sprache) nie im Ganzen da ist, sondern dass sie ein Erzeugen ist. Es werden gerade nicht nur neue Sätze erzeugt, sondern die Sprache selbst wird weitergebildet. Eine Sprache zu erlernen heißt lernen, in einer Sprache schaffen, nicht bloß Geschaffenes wiederholen. Was bedeutet nun in diesem Zusammenhang der aristotelische Begriff „ energeria “ ? Bei Aristoteles ist die energeia eine Tätigkeit, die der dynamis vorausgeht. 451 <?page no="466"?> Eine Überlieferung besagt, dass nicht nur der Begriff, sondern auch das Wort auf Aristoteles selbst zurückgeht. Gemeint ist Folgendes: Es gibt zwei Arten von Tätigkeiten, die schon in der griechischen und lateinischen Sprache unterschieden werden, nämlich die produktive und die unproduktive Tätigkeit, d. h. das bloße Agieren, das Tun ohne Produkt, und das Machen, mit dem etwas erzeugt wird. Die Griechen unterschieden die beiden Tätigkeiten mit den Verben πράττειν und ποιεῖν . Πράττειν ist das Agieren, ποιεῖν das „ etwas machen “ . Im Lateinischen gibt es die Unterscheidung von agere und facere, vgl. z. B. Quid agis? „ Wie geht es? “ vs. Quid facis? „ Was machst du? Was produzierst du? “ Die neueren Sprachen machen diese Unterscheidung nicht mehr so genau wie die alten. 157 Die mit energeia gemeinte Tätigkeit ist eine produktive Tätigkeit. Unter den produktiven Tätigkeiten unterscheidet Aristoteles nun Tätigkeiten, die zwar etwas erzeugen, aber nur aufgrund einer Potenz oder dynamis, d. h. einer erlernten oder erworbenen Technik. Die dynamis, das Zu-Machen-Wissen, hat zwei Quellen, nämlich Erfahrung (empeiria) und Studium (mathesis). Hat man ein bestimmtes Muster erlernt, so kann man unendlich nach diesem Muster produzieren, ohne dass man mit seiner eigenen Kreativität eingreifen muss. Allerdings ist diese unschöpferische Produktivität beim Menschen kaum möglich, da er auch im rein technischen Bereich ständig etwas Neues schafft, z. B. bei der Herstellung von Möbelstücken. Beim Produzieren ist nämlich immer auch Kreativität dabei. Die Kreativität geht ihrer eigenen dynamis voraus. Hier ist das Machen primär und die dynamis sekundär. Kreativität zeigt sich in der reinen schöpferischen Tätigkeit, insoweit sie nicht einem vorgegebenen Muster folgt. Wir stellen sie vor allem in der Kunst fest, wo tatsächlich Neues geschaffen wird, was über die Anwendung einer bestimmten Technik hinausgeht. Das Neue kann aber im Nachhinein zu einer dynamis werden. Was z. B. als neu zum ersten Mal bei Leonardo da Vinci in Erscheinung getreten ist, ist nicht das, was er in der Schule von Verrocchio gelernt hat. Das Neue kann aber wiederum zu einer dynamis, zu einer technischen Tradition werden. Die energeia ist also die ursprünglich schöpferische Tätigkeit, die ihrer eigenen dynamis vorausgeht. Sie hat keine technischen Voraussetzungen, sondern geht auf das schöpferische Wesen des Menschen zurück. Nach Aristoteles gibt es die reine energeia im menschlichen Bereich nicht. Der reine Akt der Schöpfung liegt im Göttlichen, mehr noch, das Göttliche ist für Aristoteles nichts anderes: es ist reine energeia, reine Kreativität, actus purus, reiner Akt des Schaffens, und nicht ein Etwas, das schafft. Beim Menschen ist die energeia dagegen nur in Form einer stetigen Überwindung der schon gegebenen dynamis vorhanden. Sie zeigt sich nur in der Tatsache, dass man über das hinausgeht, was man erfahren oder als Technik gelernt hat. Die erlernte Technik zeigt sich natürlich auch in der Kunst; die eigentliche Kunst ist aber das, was über sie hinausgeht. Der Mensch verfügt einerseits über dynamis, andererseits aber auch über die Fähigkeit, bis zu einem gewissen Ausmaß über die dynamis hinausgehen zu können. 157 [Der Unterschied zwischen tun und machen im Deutschen ist jedoch recht ähnlich.] 452 <?page no="467"?> Nach Aristoteles ist der Mensch in dem Maß, in dem er schöpferisch ist, energeia und damit Gott. Er ist in dieser Hinsicht demiurgos, ein schaffendes Wesen. Die gleiche Intuition finden wir übrigens auch in der Bibel, wenn sie sagt, dass der Mensch nach dem Bilde Gottes geschaffen worden sei, d. h dass er nicht allein Produkt Gottes ist, sondern auch Teilhabe an ihm besitzt, insofern er die Möglichkeit zum kreativen Schaffen hat. Ich lasse die theologischen Probleme beiseite, die sich aus all dem ergeben. Ich gehe auch nicht weiter auf die Konsequenz ein, die darin besteht, dass man eigentlich nicht sagen kann, dass Gott irgendwann einmal die Welt geschaffen hat, sondern dass man sagen muss, dass dies ständig geschieht. Dies wurde von anderen in der Form ausgedrückt, dass Gott die Welt ständig denke und dass dieses Denken Gottes die ständige Schöpfung der Welt sei. Beschränken wir uns auf die menschlichen Tätigkeiten. Die These, dass die sprachliche Tätigkeit energeia ist, bedeutet, dass auch die Sprache nicht allein Technik ist, sondern immer über die Technik hinausgeht. Sie besagt, dass die Sprache unendlich ist und dass sie in ihrem Wesen eine Tätigkeit ist wie die Kunst. Im praktischen Umgang mit der Sprache heißt dies, dass eine Sprache nie ein fertiges Produkt ist. Humboldt sagt immer wieder: Die Sprache ist nicht im Ganzen da, sondern sie ist auch die Möglichkeit, in einer bestimmten Weise weiter zu machen. Ich habe dies viel konkreter ausgedrückt: Eine bestimmte Sprache ist nicht das in dieser Sprache schon Gesagte allein, sondern auch all das, was in dieser Sprache noch gesagt werden kann und darum virtuell schon zu dieser Sprache gehört und als ihr angehörig erkannt wird, wenn es entsteht. Es gibt nicht nur das Schaffen von neuen Formen für schon gegebene Funktionen, sondern auch das Schaffen von neuen Funktionen nach vorbestimmten Prinzipien, d. h. nach der charakteristischen Form der Sprache, die auch eine Modalität des Machens und nicht einfach eine Modalität des Seins ist. In dieser Hinsicht war es eine wichtige Einsicht schon der traditionellen Grammatik, ganz besonders aber der generativen Grammatik, dass man bei der Beschreibung einer Sprache auch versuchen muss, das Erzeugen der Sprache zu berücksichtigen. Die generative Grammatik beschreibt jedoch nicht die Kreativität im Humboldt ’ schen Sinne. Es geht ihr vielmehr um die Tätigkeit, die Regeln anwendet; die nach schon gegebenen Regeln eine unendliche Anzahl neuer Sätze bildet. Man hat Humboldt sogar vorgeworfen, er habe nicht zwischen regelgeleiteter und regelschaffender Kreativität unterschieden. Bei Humboldt geht es nicht einfach um diese nur das Materielle betreffende Form der Kreativität, sondern an erster Stelle darum, dass die Sprache selbst weitergebildet wird, dass neue Regeln und Funktionen nach gegebenen Prinzipien geschaffen werden. Humboldt hat nicht wegen einer Unzulänglichkeit seines Denkens verschiedene Arten der Kreativität zu unterscheiden versäumt, sondern deshalb, weil diese Unterscheidung im Rahmen seines Denkens keinen Sinn hatte. Bei einer Einzelsprache manifestiert sich Kreativität nicht in der Anwendung des Systems in der Rede, sondern dadurch, dass die charakteristische Form einer Sprache über das Vorhandene hinaus weiter verwendet wird, z. B. indem man das aus Fremdsprachen Übernommene der eigenen Sprache anpasst. Was man 453 <?page no="468"?> Sprachwandel nennt, ist eben diese Kreativität. Sie ist nicht nur Anwendung von schon Bestehendem, sondern das Schaffen neuer Funktionen, die den Prinzipien der jeweiligen Sprache entsprechen. Die Sprachwissenschaft hat die Aufgabe zu zeigen, wieso die Sprache energeia ist auf allen ihren Ebenen, d. h. als Sprechen im Allgemeinen, als Einzelsprache und als jedesmaliges Sprechen. Auf der Ebene der Einzelsprache ist die Kreativität so zu interpretieren, dass man eine Unterscheidung trifft zwischen der Norm als dem, was gemacht ist, dem System als den Funktionen, nach denen man weitermachen kann, und dem Typus, nach dem neue Funktionen entstehen können. Die eigentliche Betrachtung der Sprache ist genetisch. Auch bei einer Sprache muss man, wenn es um das Wesen geht, jeweils das Entstehen feststellen. Die idealistische Neuphilologie hat dies interpretiert im Sinne einer Stilistik, die insbesondere die Dichtung zum Gegenstand hat. Sie tut das nicht deshalb, weil nur die Dichter schaffen würden, sondern weil man in der Dichtung mehr Schöpferisches feststellen kann als in anderen Bereichen des Sprechens. Grundsätzlich ist aber jeder Sprecher auch ein Sprachschöpfer. Das Entstehen von Sprache wird vor allem in der Sprachgeschichte festgestellt. Denn diese untersucht das Schaffen einer Sprache im Rahmen der historischen Entwicklung der Gemeinschaft ihrer Sprecher. Eine „ genetische “ Sprachbetrachtung zu fordern bedeutet nicht, dass die statische Betrachtung aufgegeben werden soll. Humboldt sagt nur, dass nicht nur das Statische zu untersuchen sei. Aber auch in der statischen Sprachwissenschaft dürfen wir nicht vergessen, dass die Perspektive nicht statisch, sondern dynamisch zu sein hat. Die große Schwierigkeit der Linguistik besteht darin, im Erzeugten die Möglichkeit seiner Erzeugung erfassen. Ich habe versucht, dies mit der Unterscheidung von Norm, System und Typus zu tun. 12.7.10 Zusammenfassung Wir kommen nun abschließend noch kurz zu einem Überblick, der das Ziel hat, die Kohärenz zwischen den Einsichten festzustellen, die wir bei Humboldt vereinzelt und fragmentarisch kennengelernt haben. Es ist klar, dass es bei Humboldt um eine einheitliche Auffassung von der Sprache geht. Es gelingt Humboldt aber nicht immer, diese einheitliche intuitive Auffassung auf die Ebene der Reflexion zu heben und geordnet darzustellen. Dies misslingt ihm auch deshalb, weil bei einer solchen Auffassung alles mit allem zusammenhängt. Die Sprache ist für Humboldt die erste Form der Formativität bzw. Kreativität des Menschen. Der Mensch ist durch die Formativität charakterisiert, und zugleich ist die Formativität der charakteristische Zug und die Aufgabe des Menschen. Da die Sprache die erste und allgemeinste Art der Formativität ist, kann man an ihr am besten ihre charakteristischen Züge feststellen und ihren Sinn erschließen. An erster Stelle formt der Mensch sich selbst, und zwar als Individuum, als Volk oder als Menschheit im Ganzen. Die Formativität als Aufgabe ist die Erziehung des Menschen zum Menschen, d. h. die höchstmögliche Realisierung der menschlichen 454 <?page no="469"?> Möglichkeiten, des Schöpferischen im Menschen, der Freiheit sowohl im individuellen als auch im kollektiven Bereich. Die Sprache kann als ein Gegebenes auf verschiedenen Ebenen betrachtet werden: - als Tätigkeit, die auch sich selbst schafft; - als historisches Produkt (ergon) und - als jedesmaliges Produkt der Sprechtätigkeit. Ursprünglich ist die Sprache die Kraft, Sprachliches zu schaffen. Das Schaffen ist dabei zugleich Erzeugen und Verstehen, d. h. die energeia zeigt sich sowohl im Machen als auch im Verstehen, weil auch das Verstehen ein Machen ist. Ich kann nicht verstehen, was ich nicht machen kann. Um das Neue zu verstehen, muss ich es neu machen. Giovanni Gentile sagte einmal, dass man bei Dichtern, die viel Neues geschaffen haben, mehr versteht als bei denen, die nur wiederholen. Man versteht nämlich mehr in dem Sinne, dass man nicht nur das schon Verstandene versteht, sondern etwas Neues durch das Verstehen schafft. Als energeia, d. h. als Kraft, Sprachliches zu schaffen, gehört die Sprache zur Natur des Menschen. Sie hat darum keinen Ursprung. Das Gemachte hat seinen Ursprung in dem Augenblick, in dem es gemacht wird, nicht aber das Machen. Das Gemachte wird immer wieder gemacht, entsteht immer wieder. Als Tätigkeit, die etwas Neues schafft, ist die Sprache energeia. In der geschichtlichen Situation des Menschen bedeutet energeia auch Übernahme und Umgestaltung des schon Gemachten, d. h. ein Schaffen mit dem schon Gegebenen als Stoff, als Material. Sprachliches zu schaffen bedeutet, Inhalte des Bewusstseins zeichenhaft für einen anderen zu manifestieren, d. h. sie in die Welt zu projizieren. In dieser Hinsicht ist die Sprache Form, und da sie Tätigkeit ist, ist sie Formativität. Sie gestaltet die Inhalte und manifestiert auch ihren materiellen Ausdruck. Sie stellt die Inhalte in die Welt zwischen das Ich und das Du. Stoff ist alles, was geformt wird oder geformt werden kann. Geformt werden kann zunächst alles, was nicht Sprache ist, und dann die Sprache selbst, wenn man sie als ein Objekt betrachtet. Die Formativität manifestiert sich auf verschiedenen Ebenen der Sprache selbst: Zuerst gibt es die Gestaltung des Außersprachlichen durch den Wortschatz, dann die Gestaltung der Wörter durch die Grammatik, die Gestaltung der Grammatik durch das System, die Gestaltung des Systems durch den entsprechenden Sprachtypus. Unter den formativen Tätigkeiten des Menschen ist die Sprache primär: Sie ist die Tätigkeit, die jeder anderen vorausgeht. Andere Tätigkeiten verwenden das schon durch die Sprache Geformte. Sie gehen von der Sprache aus und sind dabei natürlich auch formativ. Da die Sprache objektiv jeweils für einen anderen ist, ist sie Vermittlung zwischen dem Ich und dem Du, d. h. sie ist die Form der Intersubjektivität. Sie vermittelt darüber hinaus die Relation zwischen dem Ich und der Welt. Mehr noch: Die Objektivität der Welt ist nur in der Intersubjektivität gegeben, d. h. in der Tatsache, dass das Ich und das Du durch die Vermittlung der Sprache gemeinsame Bedeutungen und folglich auch gemeinsame Gegenstände für das Denken haben. In dieser Hinsicht ist die Sprache Erkenntnis. 455 <?page no="470"?> Als die erste Formativität ist die Sprache auch Grundlage des Denkens. Sie ist der Ort, an dem das reflexive Denken entsteht. Das sprachliche Denken schafft die Gegenstände, an denen das reflexive Denken ansetzt. Sprachliches Schaffen bedeutet, sprachliche Gegenstände zu schaffen. Die Sprache schafft die Welt der Gegenstände als Welt des Menschen und die Möglichkeit, mit diesen Gegenständen zu operieren, sie miteinander in Zusammenhang zu bringen. Die Sprache ist, insofern sie mit den sprachlichen Gegenständen zugleich Relationen schafft, auch ein organisches Schaffen. Sprache schaffen heißt, jeweils eine bestimmte Sprache zu schaffen. Als allgemeine menschliche Kraft spiegelt die Sprache die unendliche Differenziertheit der Menschheit wider, eine Differenziertheit, die von der Menschheit im Allgemeinen bis zum konkreten Individuum, ja sogar bis zum Individuum in einer bestimmten Situation reicht. Da das sprachliche Schaffen auch ein systematisches Schaffen ist, geht es hier auch um die verschiedenen Systeme des Schaffens: um die Einzelsprachen, die den Nationen als den menschlichen Gruppen, die die gleiche Sprache sprechen, zugeordnet sind. Die Einzelsprachlichkeit der Sprache ist nichts Hinzugefügtes. Die Sprache ist ursprünglich schon Einzelsprache. Die Einzelsprache entspricht der Sprachidee in einer historischen Form, der Historizität schlechthin. Da die Sprache die Welt des Menschen ist, ist eine Sprache, eine Perspektive des Menschen gegenüber der Welt, ein Weltbild. Das sind die Grundprinzipien, die man bei Humboldt feststellen kann. Das Schwierigste ist, daraus tatsächlich eine Humboldt ’ sche Linguistik zu machen, d. h. aufgrund seiner Sprachphilosophie und Sprachtheorie das Sprachstudium zu einer Sprachwissenschaft zu machen. 12.8 Weitere Literaturangaben Tilmann Borsche (1981): Sprachansichten. Der Begriff der menschlichen Rede in der Sprachphilosophie Wilhelm von Humboldts. Stuttgart: Klett-Cotta. Roger L. Brown (1967): Wilhelm von Humboldt ’ s conception of linguistic relativity. Den Haag: Mouton. Maria E. Conte (1973): „ Wilhelm von Humboldt nella linguistica contemporanea. Bibliografia ragionata 1960 − 1972 “ . Lingua e Stile 8 (1973), 127 − 165. Eugenio Coseriu (1972): „ Über die Sprachtypologie Wilhelm von Humboldts. Ein Beitrag zur Kritik der sprachwissenschaftlichen Überlieferung “ . In: Hösle, J. (Hrsg.): Beiträge zur vergleichenden Literaturgeschichte. Festschrift für Kurt Wais. Tübingen: Niemeyer, 107 − 135. Eugenio Coseriu (1982/ 1988): „ Naturbild und Sprache “ . In: Zimmermann, J. (Hrsg.) (1982): Das Naturbild des Menschen. München. Wieder in: Coseriu, E.: Schriften (1965 − 1987). Energeia und Ergon I, hrsg. von J. Albrecht. Tübingen: Narr, 269 − 287. Eugenio Coseriu (1988): „ Die Sprache zwischen ‚ physei ‘ und ‚ thesei ‘“ . In: Ders.: Natur in den Geisteswissenschaften 1. Erstes Blaubeurer Symposion. Tübingen: Attempto, 89 − 106. 456 <?page no="471"?> Donatella Di Cesare (1988): „ Die aristotelische Herkunft der Begriffe ergon und energeia. “ In: Thun, Harald (Hrsg.): Energeia und Ergon II, Tübingen: Narr, 29 − 46. Luigi Heilmann (ed.) (1976): Wilhelm von Humboldt nella cultura contemporanea. Bologna: II Mulino (Quaderni della rivista „ Lingua e Stile “ , l). Louis Hjelmslev (1963): Prolegomena of a Theory of Language. Übers. F. J. Whitfield. Madison: The University of Wisconsin Press (Original (1943): Omkring sprogteoriens grundlæggelse. Kopenhagen: Akademisk Forlag. [Dt. Übers. (1974) Prolegomena zu einer Sprachtheorie, München: Hueber] Wilhelm von Humboldt (1817): „ Berichtigungen und Zusätze zum ersten Abschnitte des zweyten Bandes des ‚ Mithridates ‘ über die Cantabrische oder Baskische Sprache “ . Adelung, Johann Christoph: Mithridates oder allgemeine Sprachenkunde. Fortgesetzt von J. S. Vater. Teil IV. Berlin, 275 − 360 (Neudruck 1970 Hildesheim: Olms). Wilhelm von Humboldt (1841 − 1852): Gesammelte Werke, hrsg. von Alexander von Humboldt. 7 Bände. Berlin: Reimer. Wilhelm von Humboldt (1880): Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues. Mit erläuternden Anmerkungen und Excursen f. . .] hrsg. und erläutert von A. F. Pott. Zwei Bände in einem Band. 2. Aufl. Berlin (Neudruck Hildesheim 1974: Olms). Wilhelm von Humboldt (1884): Die sprachphilosophischen Werke Wilhelms von Humboldt, herausgegeben und erklärt von H. Steinthal. Berlin. Wilhelm von Humboldt (1903 ff.): Gesammelte Schriften. Hrsg. von der Königl. Preussischen Akademie der Wissenschaften. Erste Abt.: Werke, hrsg. von A. Leitzmann. Berlin: Behr. Wilhelm von Humboldt (1963): Werke in fünf Bänden, Band III: Schriften zur Sprachphilosophie, hrsg. von Andreas Flitner und Klaus Giel. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft. Wilhelm von Humboldt (1981): Werke in fünf Bänden, Band V: Kleine Schriften u. a., Kommentare und Anmerkungen zu Band I − V, hrsg. von Andreas Flitner und Klaus Giel. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft. [Inzwischen ersetzt durch die Ausgabe Darmstadt 2010]. Wilhelm von Humboldt (1993): Mexicanische Grammatik. Hrsg. von Manfred Ringmacher. Paderborn: Schöningh. Antoine Meillet (1923): Linguistique historique et linguistique générale. 2 Bde., Paris. Herbert Nette (1949): „ Nachwort “ . In: Humboldt, Wilhelm von: über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues. . . cf. supra. Heymann Steinthal (1850): Die Classification der Sprachen, dargestellt als die Entwickelung der Sprachidee. Berlin: Dümmler. 457 <?page no="472"?> [In den fünfundzwanzig Jahren, die nach Abschluss von Coserius letzter Vorlesungsreihe zur Sprachphilosophie vergangen sind, ist die Flut der Humboldt- Literatur ständig angeschwollen. Einen Überblick über die spezifisch sprachwissenschaftliche oder sprachphilosophische Literatur, die nach 1981 erschienen ist, geben die Herausgeber von Bd. V der „ Studienausgabe “ der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft von 2010, 743 − 779. Die dort angeführte Bibliographie ist leicht zugänglich; daher seien hier nur einige wenige Arbeiten gesondert aufgeführt, Gesamtdarstellungen von Humboldts Leben und Werk, die einen Einstieg in eine intensivere Beschäftigung mit dem preußischen Privatgelehrten bieten: Peter Berglar (1970): Wilhelm von Humboldt in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Dieses Büchlein ist zwar in mancherlei Hinsicht veraltet (z. B. was die Angaben zu Humboldts Nachlass angeht); gibt jedoch einen guten Überblick und wurde von Coseriu zur Vorbereitung seiner Vorlesung herangezogen. Tilmann Borsche (1990): Wilhelm von Humboldt. München: Beck. Lothar Gall (2011): Wilhelm von Humboldt. Ein Preuße von Welt. Berlin: Propyläen. Dieses Werk berücksichtigt den Sprachwissenschaftler und Sprachtheoretiker Humboldt zwar nur in einem Kapitel, enthält jedoch viele neuere Forschungsergebnisse, insb. was Humboldts Wirken als Bildungspolitiker betrifft. Kurt Mueller-Vollmer (1993): Wilhelm von Humboldts Sprachwissenschaft. Ein kommentiertes Verzeichnis des sprachwissenschaftlichen Nachlasses. Mit einer Einleitung und zwei Anhängen. Paderborn: Schöningh.] 458 <?page no="473"?> 13 Ausblick Eugenio Coseriu hatte durchaus die Gepflogenheit, am Ende seiner Vorlesungen etwas Abschließendes zu sagen. Von diesen ‚ Schlussworten ‘ gibt es keine schriftlich überlieferten Zeugnisse. Als Bearbeiter muss ich mich bei der Redaktion dieser Zeilen auf mein Gedächtnis verlassen, auf die Erinnerung an die Schlussworte, die ich selbst im Hörsaal mitbekommen habe, und an eine Reihe von Kommentaren, die in persönlichen Gesprächen gegeben wurden. Was die Ziele betrifft, die Coseriu mit seinen Vorlesungen verfolgte, so ist im Vorwort und in der Einleitung bereits das Nötige gesagt worden. Vielleicht sind jedoch einige Bemerkungen zu der Diskursform, die er für die erste Ausarbeitung ins Auge gefasst hatte, nicht ganz überflüssig. In einem langen Gespräch, das über zehn Jahre vor seinem Tode stattfand, versicherte er mir gegenüber, dass er sich einen zusammenhängenden, vergleichsweise schlichten, auch für ‚ Uneingeweihte ‘ lesbaren Text wünschte, keine Folge von gelehrten Einzeluntersuchungen. Das geht ebenfalls aus seinen handschriftlichen Aufzeichnungen hervor, die auch in rein sprachlicher Hinsicht sorgfältig ausgearbeitet sind und sich deutlich von seinem mündlichen Vortrag unterscheiden. Wenn er noch die Zeit und die Kraft gefunden hätte, auf der Grundlage meiner ersten Ausarbeitung ein eigenes Buch zu schreiben, so hätte er es vermutlich auf Spanisch getan; das scheint mir nicht nur aus einigen eher vagen Bemerkungen, sondern auch aus analogen Fällen hervorzugehen - man denke nur an die Lecciones de lingüística general. Er war ein romanischer Autor, und Spanisch war - noch vor dem Italienischen - seine bevorzugte Publikationssprache, wobei er sich durchaus der Tatsache bewusst war, dass das Festhalten an der Sprache, in der die Arbeiten erschienen sind, die ihn bekannt gemacht haben, einen Verzicht auf weltweite Resonanz bedeutete: Hispanicum est, non legitur pflegte er mit einer Mischung aus Resignation und trotzigem Stolz zu sagen. Wenn ich nun schon ins Spekulieren geraten bin, so kann ich auch mit einigen Vermutungen über die Inhalte schließen, die man in Coserius Vorlesungsreihe hätte finden können, wenn Sie, wie ursprünglich angekündigt, bis in die Gegenwart fortgeführt worden wäre. Nietzsches Bemerkungen zur Sprache - das hat er mir anlässlich meines Habilitationsvortrages über „ Friedrich Nietzsche und das sprachliche Relativitätsprinzip “ deutlich zu verstehen gegeben - hätten vor ihm ebenso wenig Gnade gefunden wie Schopenhauer. Frege wäre wohl äußerst kritisch, aber mit großer Achtung behandelt worden, Russell war für Coseriu - nicht nur was die Äußerungen zur Sprache betrifft - so etwas wie ein ‚ rotes Tuch ‘ . Seine Einstellung zu den ‚ beiden Wittgensteins ‘ war ebenfalls negativ. Das gilt wohl auch für die ‚ Ordinary Language Philosophy ‘ . Zur Semiotik von Peirce und zur sprachanalytischen Philosophie gibt es kaum verwertbare Äußerungen, ebenso wenig zu den sprachtheoretischen Äußerungen von Quine; viele englische und amerikanische Linguisten, die sich selbst auch als „ Sprachphilosophen “ verstanden, hätte er bestenfalls als „ Sprachtheoretiker “ gelten lassen. Der einzige 459 <?page no="474"?> verlässliche Bezug zur amerikanischen Philosophie ist durch John Dewey gegeben; das 1938 erschienene, erst 2002 ins Deutsche übersetzte Werk Logic: The Theory of Inquiry hat Coseriu stark beeinflusst. Zu Croce und zu den ‚ Neohumboldtianern ‘ gibt es so viele Äußerungen allein schon in dieser Nachschrift, dass sich Coserius Meinung zu diesen Autoren wenigstens ansatzweise rekonstruieren lässt. Hat Coseriu einige französische Strukturalisten und ‚ Poststrukturalisten ‘ wie Roland Barthes (immerhin ein Schüler von Greimas), Michel Foucault mit seiner ‚ post-klassischen ‘ Zeichentheorie oder Jacques Derrida und seine grammatologie überhaupt ernsthaft rezipiert, und wenn ja, wie hätte er ihre Äußerungen zur Sprache dargestellt? Darüber wage ich noch nicht einmal zu spekulieren. 460 <?page no="475"?> Literaturverzeichnis Dieses Verzeichnis enthält (von einigen Ausnahmen abgesehen) nur die Arbeiten, auf die im vorliegenden Band 2 in Kurzform verwiesen wurde. Die gesamte Literatur, die bereits in den bibliographischen Hinweisen zu den einzelnen Kapiteln mit vollständigen bibliographischen Angaben aufgeführt wird (dazu gehören vor allem die wichtigsten Primärtexte), wird hier nicht noch einmal angegeben. Wer also spezielle Literatur zu Fichte sucht, sollte dies im fünften Kapitel tun. Der größte Teil der allgemeinen Einführungen in die Sprachphilosophie und der heranzuziehenden Nachschlagewerke konnte hier aus Gründen der räumlichen Beschränkung ebenfalls nicht angeführt werden. Diese Arbeiten finden sich im umfangreichen Literaturverzeichnis zum ersten Band, vor allem in der Sektion II. Nur in besonders wichtigen Fällen wurden sie in das vorliegende Literaturverzeichnis aufgenommen. Bär, Jochen A. (1999): Sprachreflexion der deutschen Frühromantik. Konzepte zwischen Universalpoesie und Grammatischem Kosmopolitismus. Berlin/ New York: de Gruyter. Bayer, Oswald (2002): Vernunft ist Sprache. Hamanns Metakritik Kants. Stuttgart- Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog. Behler, Ernst (1966): Friedrich Schlegel in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Borsche, Tilmann (Hg. 1996): Klassiker der Sprachphilosophie. Von Platon bis Noam Chomsky, München: C. H. Beck. Borsche, Tilman (Hg. 2006) Herder im Spiegel der Zeiten. Verwerfungen der Rezeptionsgeschichte und Chancen einer Relektüre. München: Fink. Coseriu, Eugenio (1967): „ L ’ arbitraire du signe. Zur Spätgeschichte eines aristotelischen Begriffs “ . In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 204, 2, 81 - 112. Jetzt in Coseriu (2004), 1 - 35. Coseriu, Eugenio (1977), „ Schellings Weg von der Sprachphilosophie zum Sprachmythos “ . Festgabe für Julius Wilhelm zum 80. Geburtstag (= ZFSL, Beiheft, Neue Folge 5), 1 - 16. Coseriu, Eugenio (2004): Der Physei-Thesei-Streit. Sechs Beiträge zur Geschichte der Sprachphilosophie. Tübingen: Narr. Coseriu, Eugenio (1977a): „ Zu Hegels Semantik “ . In: Kwartalnik Neofilologiczny 24, 2 - 3 (= Gedenkschrift L. Zabrocki), 183 - 193. Coseriu, Eugenio (1979): „ Ein dunkles Kapitel in der deutschen Sprachphilosophie “ . In: Integrale Linguistik. Festschrift für Helmut Gipper. Amsterdam: John Benjamins, 13 - 19. Coseriu, Eugenio (1982): „ Naturbild und Sprache “ . In: J. Zimmermann (Hg.): Das Naturbild des Menschen. München: Fink, 260 - 284. 461 <?page no="476"?> Coseriu, Eugenio (1987): „ Palabras, cosas y términos “ . In: In Memoriam Inmaculada Corrales, Universidad de la Laguna, Sta Cruz de Teneriffe, 175 - 185. Dascal, Marcelo/ Gerhardus, Dietfried / Lorenz, Kuno / Meggle, Georg (Hgg. 1992/ 1996): Sprachphilosophie. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, Berlin/ New York: de Gruyter, Bd. I 1992; Bd. II 1996. Di Cesare, Donatella (1998): Einführung zu: Wilhelm von Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. Paderborn: Schöningh, 9 - 141. Di Cesare, Donatella/ Gensini, Stefano (Hgg. 1990): Le vie di Babele. Mailand: Marietti. (Enthält u. a. Aufsätze zu Friedrich Schlegel und Humboldt.) Fichte, Immanuel Hermann (1862): Johann Gottlieb Fichtes Leben und Literarischer Briefwechsel. 2 Bde. Leipzig: Brockhaus. (In Form von modernen Nachdrucken und im Netz verfügbar.) Gabelentz, Georg von der (1969 [1901]): Sprachwissenschaft. Ihre Aufgaben, Methoden und bisherigen Ergebnisse. Durchgesehener Nachdruck der zweiten Auflage von 1901. Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von G. Narr und U. Petersen sowie mit einem Aufsatz von E. Coseriu, G. v. d. Gabelentz et la linguistique synchronique. Tübingen: Narr. Gaier, Ulrich (1988): Herders Sprachphilosophie und Erkenntniskritik. Stuttgart- Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog. Gaier, Ulrich (1992): „ Johann Gottfried Herder (1744 - 1803) “ In: Dascal et al.; (Hgg. 1992), Bd. 1, Art. 26, 197 - 233. Gaier Ulrich (1996): „ Johann Gottfried Herder (1744 - 1803) “ . In: Borsche (Hg. 1996), 215 - 231. Gajek, Bernhard/ Meier, Albert (Hgg. 1990): Johann Georg Hamann und die Krise der Aufklärung. Acta des 5. Internationalen Hamann-Kolloquiums in Münster i. W. (1988). Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang. 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Bd. 8 Schriften zur Literatur und Philosophie 1772 - 1800. Hrsg. von Hans Dietrich Irmscher. Berlin [Frankfurt am Main]: Deutscher Klassiker Verlag. Herder (2002; [1846; 1878]) = Johann Gottfried Herder: Journal meiner Reise im Jahr 1769. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. von Katharina Mommsen unter Mitarbeit von Momme Mommsen und Georg Wackerl. Bibliographisch ergänzte Ausgabe gegenüber der Ausg. 1976. Stuttgart: Reclam. Herder (2005) = Johann Gottfried Herder: Sprachphilosophie. Ausgewählte Schriften. Herausgegeben von Erich Heintel. Mit einer Einleitung von Ulrike Zeuch. Hamburg: Felix Meiner. (Neuauflage der von Coseriu verwendeten Textgrundlage, i. e. der Auswahl von Heintel. Nicht mehr verfügbar.) Hösle, Vittorio (2013): Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie. München: Beck. Humboldt/ Nette (1949) = Wilhelm von Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues. Mit einem Nachwort herausgegeben von Herbert Nette. Darmstadt: Claassen & Roether. 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Hamburg: Felix Meiner. Oestereicher, Wulf (1981): „ Wem gehört Humboldt? Zum Einfluß der französischen Aufklärung auf die Sprachreflexion der deutschen Romantik “ . In: Horst Geckeler et al. (Hgg.): Logos semantikos. Studia linguistica in honorem Eugenio Coseriu, Bd. 1, Berlin: de Gruyter/ Madrid: Gredos, 1981, S. 117 - 135. 463 <?page no="478"?> Otto, Detlef (1996): „ Johann Georg Hamann (1730 - 1788) “ . In: Borsche (Hg. 1996), 197 - 213. Salmon, Paul (1996): „ Herder, Johann Gottfried “ . In: Stammerjohann (Hg. 1996), 408 - 409. Schirmer, Ruth (1986): August Wilhelm Schlegel und seine Zeit. Ein Bonner Leben. Bonn: Bouvier. Schlegel, Friedrich (1977): Über die Sprache und die [sic]Weisheit der Indier. Ein Beitrag zur Begründung der Altertumskunde. New edition with an introductory article by Sebastiano Timpanaro. Prepared by E.F.K. Körner. Amsterdam: John Benjamins. Schlegel/ Walzel (1890) = Friedrich Schlegels Briefe an seinen Bruder August Wilhelm. Herausgegeben von Dr. Oskar F. 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Trabant, Jürgen (Hg. 2010): Wilhelm von Humboldt. Das große Lesebuch. Frankfurt am Main: Fischer. (Enthält z.T. in Auszügen Schriften Humboldts aus den verschiedensten Gebieten, nicht nur zur Sprachphilosophie sowie eine Darstellung von Leben und Werk Humboldts.) Verburg, Pieter A. (1951): Taal en functionaliteit: Een historisch-critische studie over de opvattingen aangaande de functies der taal vanaf de praehumanistische philologie van Orleans tot de rationalistische linguistiek van Bopp. Dissertation: Wageningen. Welter, Rüdiger: „ Johann Georg Hamann “ . In: Dascal et al. 1992, Bd. 1, 339 - 343. Wild, Reiner (Hg. 1978): Johann Georg Hamann. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 464 <?page no="479"?> Namenregister Das Register enthält nur in wenigen Fällen die Namen lebender Autoren. Die Literaturangaben wurden nicht berücksichtigt. Aarsleff, Hans W. 4 Adelung, Johann Christoph 154, 408, 457 Aldrete, Bernardo 143 Alembert, Jean Le Rond d ‘ 15 17 Alexander der Große 7, 20, 276, 351, 357, 365, 457 Aristoteles 6, 14, 19, 36, 40, 46, 49, 78, 130, 132, 139, 141, 189, 195, 202, 210, 219, 317, 320, 334, 338, 343 - 344, 347, 355, 358, 367, 443, 450 - 453 Augustinus 49, 399 Bakunin, Michail 292 Barthes, Roland 460 Baudissin, Wolf Graf von 159 Baumgarten, Alexander Gottlieb 7, 11 Bengel, Johann Albrecht 292 Bergson, Henri 116 Berkeley, George 8, 11, 88 - 89, 100 Bernhardi, August Ferdinand 175, 181 - 183 Bloomfield, Leonard 182, 226, 357 Boas, Franz 357 Böckh, August 6 - 8 Böhmer-Schlegel-Schelling, Caroline 361 Bollnow, Otto Friedrich 277, 290, 363 Bopp, Franz 7 - 8, 15, 333 Bosanquet, Bernard 317 Bradley, Henry 317 Brentano, Clemens von 7 Brosses, Charles des 145, 168, 181 Bruno, Giordano 15, 20, 69, 82, 102, 292 - 293, 319, 330, 361, 372 Bürger, Gottfried August 159, 373 Burnet(t), James (Lord Monboddo) 5 - 6, 10 - 14, 143 - 145, 147 - 148, 150 - 153, 156, 164, 167, 181, 229, 413 Caesar (Iulius) 276 Carabellese, Pantaleo 49 Chomsky, A. Noam 54, 158, 234, 356 - 358, 361, 363 Claudius, Matthias 17, 66 Collingwood, Robin George 287 Condillac, Etienne Bonnot (Abbé) de 4 - 6, 8 - 9, 12 - 14, 20, 28, 30, 33, 37, 39, 48, 75, 114, 192, 231, 336 Corot, Jean-Baptiste Camille 232 Court de Gébelin, Antoine 145 Courtenay, Baudouin de 447 Croce, Benedetto 44, 99, 101, 324, 332, 339, 357, 363, 367, 394, 426, 428 - 429, 460 Cusanus (Nikolaus von Kues) 82 Dacheröden, Caroline von 351 Damm, Christian Tobias 81 - 82 Derrida, Jacques 84, 460 Descartes, René (Renatus Cartesius) 141 Dewey, John 196 - 197, 262, 460 Diderot, Denis 12, 20, 128 Dilthey, Wilhelm 102, 187, 274, 277 - 278, 289 - 290 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 429 Eichendorff, Joseph Freiherr von 7 Engels, Friedrich 292 Epikur 87, 266 Ernesti, Johann August 271 Fernow, Carl Ludwig 308 Fichte, Johann Gottlieb 7, 15 - 16, 64, 103 - 119, 121, 124, 129, 132, 134, 141, 175, 178, 181 - 182, 218, 277, 292 - 294, 307 - 308, 315, 356, 438 Firth, John Rupert 448 Fontenelle, Bernard Le Bovier de 17 465 <?page no="480"?> Foucault, Michel 460 Frege, Gottlob 459 Fréron, Louis Stanislas 17 Fulda, Carl Friedrich 145, 172, 350 Gabelentz, Georg von der 23, 44, 98, 394, 404, 406 Gadamer, Hans-Georg 15, 257, 275 - 277, 283 - 285, 289 - 290 Gentile, Giovanni 455 Goethe, Johann Wolfgang 5, 7, 16 - 18, 21, 66, 71, 120, 292, 308, 352, 359, 373 Gracián y Morales, Baltasar 68 Greimas, Algirdas Julien 460 Grillparzer, Franz 353 Grimm, Jakob 7, 15 Grotius, Hugo 250 Hahn, Philipp Matthäus 292 Hamann, Johann Georg XII, XIII, 7, 15 - 17, 21, 25, 34 - 35, 58, 62, 65 - 68, 70 - 79, 81 - 102, 104, 108 - 109, 112, 115 - 118, 121 - 122, 124, 126 - 128, 130 - 132, 142, 156, 168, 296, 363 Hardenberg, Friedrich von, siehe Novalis Harris, James 5, 10 - 12, 14, 20 - 21, 28, 33, 115, 334, 400 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich XII, 7 - 8, 15 - 16, 26, 40, 66, 70 - 71, 97 - 98, 101 - 103, 139, 188, 195, 228, 235, 240, 247, 255, 262, 292 - 294, 298 - 299, 301, 308, 310 - 312, 315 - 339, 341 - 350, 352 - 353, 355, 364, 372 - 374, 386, 389, 395, 399, 418, 427, 437 - 438 Heidegger, Martin 49, 99, 182, 439 Heine, Heinrich 159 Hemsterhuis, Franz (Hemsterhuys, Frans) 130, 132, 172, 174 - 175 Henry, Victor 317 Heraklit 82, 131 Herder, Johann Gottfried XII, XIII - 1, 4, 6 - 8, 15 - 64, 66 - 68, 70, 72 - 73, 75 - 76, 78 - 81, 92, 94, 97, 99 - 102, 104, 107 - 109, 112, 115 - 118, 121 - 122, 124, 126 - 128, 141 - 142, 144, 156, 168, 170, 178 - 179, 181, 185, 188, 233 - 234, 297, 311, 322, 332 - 333, 335, 356, 360 - 361, 363, 372, 400, 410 Hervás y Panduro, Lorenzo 6, 143, 377, 412, 417 - 418 Herz, Henriette 88, 120, 187 Heyne, Christian Gottlob 159 Hjelmslev, Louis 319, 443, 448, 457 Hobbes, Thomas 20, 111 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 7, 350 Hölderlin, Friedrich 7, 15, 292, 315 Homer 96, 405 Horne Tooke, John 8, 11 Humboldt, Wilhelm von XII, XIII, 4, 6 - 8, 15 - 16, 23, 44, 48 - 49, 54, 70, 107, 124 - 125, 129, 142, 144, 147, 149, 156 - 157, 160 - 161, 164 - 169, 181, 185, 187 - 188, 229, 235, 243, 246 - 247, 299, 317, 319, 332 - 333, 351 - 380, 382 - 385, 387 - 400, 403 - 410, 412 - 435, 438, 440 - 443, 445 - 451, 453 - 454, 456 - 458 Hume, David 388 Jacobi, Friedrich Heinrich 25, 66, 68, 96, 292 Jakobson, Roman 163, 191 Jean Paul (Johann Paul Friedrich Richter) 1, 7, 187, 308 Kant, Immanuel XIII, 7, 16 - 18, 21, 24 - 25, 59 - 62, 64 - 66, 68 - 69, 86 - 92, 94 - 98, 103 - 104, 106, 132, 138, 155, 175, 277, 325, 353, 360, 370, 372 Kierkegaard, Søren 66, 292 Kleist, Heinrich von 7 Klopstock, Friedrich Gottlieb 17, 81 - 83, 103, 161 Kuhn, Helmut 395 Kuhn, Thomas S. 395 Lambert, Johann Heinrich 1, 9 - 12, 20 Leibniz, Gottfried Wilhelm 7, 9, 11, 20, 240, 343, 360, 379, 411 Leonardo da Vinci 452 Lessing, Gotthold Ephraim 7, 17, 103, 120 Locke, John 9 - 10, 15, 411 Lotze, Rudolph Hermann 317 Luther, Martin 277, 288, 312, 406 466 <?page no="481"?> Lutos ł awski, Wincenty 248 Madvig, Johan Nicolai 317 Maier, Jörg Friedrich 268 Mallarmé, Stéphane 162 Marcello, Pietro 276 Maritain, Jacques 334 Marr, Nikolai Jakowlewitsch 326 Marx, Karl 329 Mathesius, Vilém 354 - 355, 447 Maupertius, Pierre Louis Moreau de 20 Meier, Georg Friedrich 7, 102 Meillet, Antoine 387, 457 Meiner, Johann Werner 9 - 10, 349 Mendelsohn, Moses 66, 120 Metternich, Klemens Wenzel Lothar Fürst von 121 Michaelis, Johann David 67, 292, 361 Montesquieu, Charles de Secondat baron de La Brède 17 Moser, Carl Friedrich von 65 Napoleon Bonaparte 351 Niebuhr, Barthold Georg 6 - 8 Nietzsche, Friedrich 103, 395, 459 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 7, 15 - 16, 120, 292 Oetinger, Friedrich Christoph 292 Paul, Hermann 64, 198 Peirce, Charles Sa(u)nders 459 Pestalozzi, Johann Heinrich 115 Platon 6, 87 - 88, 93, 105, 155, 158, 187, 219, 245, 248, 252, 269, 286 - 287, 362 Pott, August Friedrich 164, 366, 421, 457 Priestley, Joseph 12, 28, 33 Queneau, Raymond 284 Quine, Willard van Orman 459 Rabelais, François 284 - 285 Raimundus Lullus (Ramón Llull) 9 Reinhard, Franz Volkmar 107 Rhode, Johann Gottlieb 148, 154 Rousseau, Jean-Jacques XI, 4, 8 - 9, 13 - 14, 17, 20 - 21, 28, 30, 33, 37, 41, 43, 48, 106, 114, 167 - 168, 175, 181, 231, 441 Russell, Bertrand 62, 439, 459 Sapir, Edward 357, 362, 447 Saussure, Ferdinand de 23, 74, 98, 193, 197, 236, 317, 357, 387 - 388 Scaliger, Jospeh Justus 143 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph XII, 7, 15, 66, 121, 159, 175, 292 - 303, 305 - 307, 310, 314 - 315, 352, 360 Schiller, Friedrich 7, 30, 120, 352 - 353, 372 Schlegel, August Wilhelm 6 - 7, 15 - 16, 120 - 121, 123, 146, 153, 159 - 173, 175 - 188, 191, 234, 292 - 293, 297, 311, 414 Schlegel, Friedrich XII, 7, 15 - 16, 100, 102, 106, 111, 120 - 148, 150 - 160, 164 - 169, 187 - 188, 191 - 192, 229, 262, 292 - 293, 309, 334, 352, 375, 378, 384, 408 - 409, 412 - 414 Schlegel, Johann Adolf 120 Schlegel, Johann Elias 120 Schleicher, August 49, 144, 147, 164, 167, 317, 327 Schleiermacher, Friedrich 7, 16, 121, 142, 187 - 196, 198 - 225, 227, 229 - 233, 236 - 280, 282 - 292, 308, 310, 316, 336, 352 Schopenhauer, Arthur XII, 7, 16, 306, 308 - 315, 459 Schopenhauer, Johanna 308 Shaftesbury = Anthony Ashley Copper, Earl of 11, 20 - 21, 130 Shakespeare, William 159 Smith, Adam 5, 10, 12 - 13, 30, 114, 143, 145 - 146, 164, 167, 412 Sokrates 33, 69 Spinoza, Baruch 292 - 293 Spitzer, Leo 274, 276, 289 Staël, Mme de (Germaine Necker) 121, 138, 159 Stalin (Dschugaschwili Jessif Wissarionowitsch) 326 Stein, Karl Reichsfreiherr vom und zum 187 467 <?page no="482"?> Steinthal, Heymann 276 - 277, 319, 357, 360, 363, 366, 368 - 372, 376, 378, 384 - 385, 395, 421, 423, 433, 457 Süßmilch, Johann Peter 12, 20, 22, 26, 43 Thomas von Aquin 45, 114, 219 Tieck, Dorothea 159 Tieck, Ludwig 7, 120, 159, 187 Tiedemann, Dietrich 8, 12, 34, 64, 67, 75, 97, 100 Uexküll, Jakob von 38 van Gogh, Vincent 429 Vater, Johann Severin 355 Veit, Dorothea 120 Vico, Giambattista (Giovanni Battista Vico) 5, 10, 12 - 14, 19 - 21, 24, 27 - 30, 32, 48, 56, 75, 99, 138, 167 - 168, 177, 185, 231, 374, 391, 394, 421 Vives, Juan Luis 9, 114, 141 - 142, 401 Voltaire (François Marie Arouet) 17, 81 Vossler, Otto 357 Weisgerber, Leo 92, 318, 362, 450 Whorf, Benjamin Lee 92 - 93, 361 - 362 Wieland, Christop Martin 120 Winckelmann, Johann Joachim 7 Wittgenstein, Ludwig 15, 459 Wolf, Friedrich August 5 - 7, 159, 187, 356 Wolff, Christian 7 - 8, 10 - 13, 46, 82, 363 Wundt, Wilhelm 48 Zamenhof, Ludwik 438 - 439 468 <?page no="485"?> Eugenio Coseriu Geschichte der Sprachphilosophie Band 1 Von Heraklit bis Rousseau 3. bearbeitete Au age 2015 XXVI, 414 Seiten, € 39,99 ISBN: 978-3-8233-6896-0 Coseriu Band 1 Von Heraklit bis Rousseau Geschichte der Sprachphilosophie Eugenio Coseriu Die Geschichte der Sprachphilosophie geht auf Vorlesungen zurück, die der Sprachforscher Eugenio Coseriu (1921- 2002) in Tübingen gehalten hat. Sie liegt nun erstmals komplett in zwei Bänden vor und bietet sowohl Einsteigern als auch Fachleuten ein Panorama des sprachphilosophischen Denkens von den Anfängen bis zum 19. Jahrhundert, von Heraklit bis Wilhelm von Humboldt. Coserius souveräner Umgang mit geistesgeschichtlichen Entwicklungen und Ereignissen, die leserfreundliche Darbietung des Stoffes jenseits des fachwissenschaftlichen Jargons sowie die kritische Durchdringung machen die Lektüre zu einem besonderen Leseerlebnis. Inhalt von Band 1 Die Struktur der philosophisch-wissenschaftlichen Frage · Was ist Sprachphilosophie? · Die Sprachphilosophie der Inder · Heraklit · Platon · Aristoteles · Die Stoiker · Augustinus · Die Sprachphilosophie des Mittelalters · Juan Luis Vives und die Sprachphilosophie der Renaissance · René Descartes · John Locke · Leibniz · Sprachphilosophie zwischen Empirismus, Platonismus und Psychologismus · Giambattista Vico · Das 18. Jahrhundert in Deutschland · Das 18. Jahrhundert in Frankreich Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (07071) 9797-0 \ Fax +49 (07071) 97 97-11 \ info@narr.de \ www.narr.de Stand: August 2015 · Änderungen und Irrtümer vorbehalten! JETZT BESTELLEN! <?page no="486"?> Eugenio Coseriu Der Physei-Thesei-Streit Sechs Beiträge zur Geschichte der Sprachphilosophie Herausgegeben von Reinhard Meisterfeld 2004, X, 213 Seiten, € 39,- ISBN 978-3-8233-6041-4 Im Zusammenhang mit ihrem Fragen nach den Grundlagen und dem Wert des menschlichen Wissens sahen die alten Griechen auch in der Tatsache, dass die Wörter eine bestimmte in der Sprache gegebene Bedeutung haben, ein besonderes Problem. Der Disput um den Sinn des Verhältnisses Name - Sache, ob es natürlich oder konventionell bedingt sei, bezeichnet daher den Beginn der abendländischen Sprachphilosophie. Coserius hier versammelte Arbeiten stehen in Bezug zu diesem Thema. In seinen meisterhaften Analysen - darunter die bisher unveröffentlichte Studie „Die sprachphilosophische Thematik bei Platon“ - zeigt er, dass die Fragestellung keineswegs so schlicht ist, wie sie oft aufgefasst und dargestellt wird, sondern schon in der Antike eine vielfache Facettierung aufwies. Zugleich aber geht es Coseriu darum, die frühen Worte im Zusammenhang mit dem heutigen sprachtheoretischen Diskurs zu sehen. Und er macht deutlich, dass gewisse unüberholbare Wahrheiten vom Wesen der menschlichen Sprache schon in der Antike entdeckt wurden und über verschiedene thematische Pfade bis in die Gegenwart nachwirken. Die Besinnung auf dieses Gültige aber könnte angesichts mancher Abwege und Versuchungen, denen sich das moderne Sprachdenken ausgesetzt sieht, durchaus wegweisend und heilsam sein. JETZT BESTELLEN! Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (07071) 9797-0 \ Fax +49 (07071) 97 97-11 \ info@narr.de \ www.narr.de Stand: August 2015 · Änderungen und Irrtümer vorbehalten! <?page no="487"?> Adolfo Murguía (Hrsg.) Sprache und Welt Festschrift für Eugenio Coseriu zum 80. Geburtstag 2002, 255 Seiten, € 24,90 ISBN 978-3-8233-5882-4 Eugenio Coseriu (1921-2002) zählt zu den bedeutendsten Sprachwissenschaftlern des 20. Jahrhunderts. Viele seiner Werke sind Klassiker. Seine grundlegenden linguistischen Konzepte gehören zum Basiswissen der Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie. Aber auch in anderen Einzelphilologien ist sein Einfluss spürbar. Aus dem Inhalt: H. Aschenberg, Eugenio Coseriu als Hochschullehrer; J.-P. Durafour, Epistémologue, philosophe du langage et linguiste. La sémantique génétique; L. Golubzowa, Mein langer Weg zu Eugenio Coseriu oder Über die Erfahrungen einer Seiteneinsteigerin; K. Kloocke, Albert Camus, L’Étranger, ein Palimpsest; J. Kabatek, Die unveröffentlichten Manuskripte Eugenio Coserius; R. Kontzi, Vergleich zwischen Aljamía und Maltesisch; R. Meisterfeld, Eugenio Coseriu und die Geschichte der romanischen Sprachwissenschaft; A. Murguía, Language and Worldview; F. J. Oroz, Pespuntes filológicos cabe el Camino Jacobeo; H. Weber, Partizipien als Partizipien, Verben und Adjektive; Verzeichnis der Publikationen von Eugenio Coseriu 1997-2001 JETZT BESTELLEN! Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (07071) 9797-0 \ Fax +49 (07071) 97 97-11 \ info@narr.de \ www.narr.de Stand: August 2015 · Änderungen und Irrtümer vorbehalten! <?page no="489"?> Die Geschichte der Sprachphilosophie geht auf Vorlesungen zurück, die der Sprachforscher Eugenio Coseriu (1921-2002) in Tübingen gehalten hat. Sie liegt nun erstmals komplett in zwei Bänden vor und bietet sowohl Einsteigern als auch Fachleuten ein Panorama des sprachphilosophischen Denkens von den Anfängen bis zum 19. Jahrhundert, von Heraklit bis Wilhelm von Humboldt. Coserius souveräner Umgang mit geistesgeschichtlichen Entwicklungen und Ereignissen, die leserfreundliche Darbietung des Stoffes jenseits des fachwissenschaftlichen Jargons sowie die kritische Durchdringung machen die Lektüre zu einem besonderen Leseerlebnis. Inhalt von Band 2 Die deutschen Länder zwischen Spätaufklärung und Romantik · Herder · Hamann · Fichte · Friedrich Schlegel · August Wilhelm Schlegel · Schleiermacher · Schelling · Schopenhauer · Hegel · Wilhelm von Humboldt ISBN 978-3-8233-6953-0