Theater und Ethnologie
Beiträge zu einer produktiven Beziehung
0912
2016
978-3-8233-7976-8
978-3-8233-6976-9
Gunter Narr Verlag
Natalie Bloch
Dieter Heimböckel
In Zeiten der Globalisierung nehmen interkulturelle Kontakte im Theater zu und sie wirken sich auf Produktionsprozesse und Ästhetik aus. Der Umgang mit Menschen anderer kultureller Prägung und die damit verbundenen Vorstellungen des ,Eigenen' schließen an Grundfragen der Ethnologie an. Ebenso wie diese produziert das Theater Diskurse über das ,Andere', wobei sowohl in der Theaterwissenschaft als auch in der Ethnologie ein besonderes Interesse am Performativen besteht. Der vorliegende Sammelband erprobt ethnologische Perspektiven auf die Arbeiten zeitgenössischer Theatermacher/innen und -autoren/autorinnen, die mitunter - wie Katrin Röggla oder Rimini Protokoll - selbst mit ethnologischen Verfahren arbeiten. Dabei wird nicht nur die ästhetische und performative Beschaffenheit der Inszenierungen und Theatertexte in den Blick genommen, sondern diese werden auch unter anthropologischen und politischen Aspekten betrachtet.
<?page no="0"?> In Zeiten der Globalisierung nehmen interkulturelle Kontakte im Theater zu und sie wirken sich auf Produktionsprozesse und Ästhetik aus. Der Umgang mit Menschen anderer kultureller Prägung und die damit verbundenen Vorstellungen des ‚Eigenen‘ schließen an Grundfragen der Ethnologie an. Ebenso wie diese produziert das Theater Diskurse über das ‚Andere‘, wobei sowohl in der Theaterwissenschaft als auch in der Ethnologie ein besonderes Interesse am Performativen besteht. Der vorliegende Sammelband erprobt ethnologische Perspektiven auf die Arbeiten zeitgenössischer Theatermacher/ innen und -autoren/ autorinnen, die mitunter - wie Katrin Röggla oder Rimini Protokoll - selbst mit ethnologischen Verfahren arbeiten. Dabei wird nicht nur die ästhetische und performative Beschaffenheit der Inszenierungen und Theatertexte in den Blick genommen, sondern diese werden auch unter anthropologischen und politischen Aspekten betrachtet. Forum Modernes Theater Schriftenreihe | Band 46 ISBN 978-3-8233-6976-9 Bloch/ Heimböckel (Hrsg.) Theater und Ethnologie Natalie Bloch/ Dieter Heimböckel (Hrsg.) Theater und Ethnologie Beiträge zu einer produktiven Beziehung <?page no="1"?> Theater und Ethnologie <?page no="2"?> Forum Modernes Theater Schriftenreihe l Band 46 _______________________________________________________________________ begründet von Günter Ahrends (Bochum) herausgegeben von Christopher Balme (München) <?page no="3"?> Natalie Bloch / Dieter Heimböckel (Hrsg.) / unter Mitarbeit von Elisabeth Tropper Theater und Ethnologie Beiträge zu einer produktiven Beziehung <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Clemens Concept & Design, Trier © 2016 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 0935-0012 ISBN 978-3-8233- 7976-8 <?page no="5"?> 5 Inhalt Natalie Bloch, Dieter Heimböckel: Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Dieter Heimböckel: Ethnologie-- Theater-- Interkulturalität. Ein Ausblick zur Einführung . . . . . . . . 9 Christopher Balme: Dichte Aufführungen. Zur Ethnologie des postdramatischen Theaters . . . . . . . 21 Bart Philipsen: C’est du Chinois. Theater für Experten des Nicht-Verstehens . . . . . . . . . . . . . . . 33 Lorenz Aggermann: ‚Zigeuner‘ als Maske des Fremden. Marginalisiertes Leben zwischen dem Realen und dem Fiktiven. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Franziska Bergmann: Hautfarbe im deutschen Theaterdiskurs der Gegenwart. Ein Diskussionsbeitrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Nicole Colin: Wie das Fremde zum Eigenen wurde. Französisches théâtre populaire und deutsches Volkstheater aus begriffsgeschichtlicher Perspektive. . . . . . . . . . . . . . 81 Anna Seidl: Vom Avantgardetheater zum Welttheater. Ästhetische Tendenzen im Tanztheater der Pina Bausch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Natalie Bloch: Schlingensief, das Operndorf und Afrika. Inszenierungen eines komplexen Verhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Katharina Pewny, Irfan Hošić: Das Bild des ‚Muslims‘ als des ‚Anderen‘ auf dem Theater und in der Bildenden Kunst nach 9 / 11 . Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft im Dialog. . . . . . 127 Franziska Schößler: Menschen, Fremde, Tiere. Ethnologie und Interkulturalität am Beispiel von Rimini Protokolls Produktion Heuschrecken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 <?page no="6"?> 6 Johannes Birgfeld: Ethnologie auf der Bühne? Überlegungen zu Formen literarisierter und dramatisierter Ethnologie bei Kathrin Röggla . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Elisabeth Tropper: „I always look for groups that challenge each other.“ Improvisation und kollektives Schreiben als Prinzipien interkultureller Theaterpraxis . . . . . . . . . 173 Mina Novakova: Ich bin ich und bin der andere. Wie Interkulturalität als künstlerische Forschung gedacht werden kann. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Frank Raddatz: Die Tragödie und das Fremde. Das tragische Narrativ als Generator interkultureller Projekte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Autorinnen und Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 <?page no="7"?> 7 Vorwort Natalie Bloch, Dieter Heimböckel (Luxemburg) Mit dem Verhältnis von Theater und Ethnologie nimmt dieser Tagungsband ein vielschichtiges und komplexes Gefüge in den Blick, das in disziplinübergreifenden Beiträgen und in Hinblick auf das Gegenwartstheater untersucht wird. Dabei wird zum einen die Frage gestellt, inwieweit die Ethnologie theoretisch und analytisch zu einem erweiterten Verständnis aktueller Internationalisierungs- und Interkulturalitätsprozesse im zeitgenössischen Theater beizutragen vermag; zum anderen werden theatrale Arbeiten untersucht, die selber einen ethnologischen, d. h. verfremdenden, Blick auf das Eigene werfen. Denn das Theater des 21 . Jahrhunderts weitet den Blick in die Welt: Verschiedenste Spielarten internationaler Koproduktionen und Theaterfestivals zeugen von einem Internationalisierungstrend, der im Zuge der Globalisierung alle gesellschaftlichen Bereiche erfasst. Mit dieser (veränderten) strukturellen Ausrichtung nehmen allerdings nicht nur interkulturelle Kulturkontakte zu, sie wirken sich auch auf den Produktionsprozess und die theatrale Ästhetik aus und rücken damit den Aspekt der Interkulturalität, wie die vorliegenden Beiträge dokumentieren, zusätzlich in den Fokus der Auseinandersetzung. In dieser Entwicklung ist jedoch nur unter Vorbehalt ein Fortschritt in Hinblick auf interkulturelle Verständigung oder Kompetenz zu sehen. So ist die Frage, wie Andere oder Fremde im Theater vorkommen, repräsentiert und damit interpretiert werden, von größter Brisanz und beinhaltet politische und ethische Dimensionen, wie beispielsweise die aktuelle Debatte um das Black- Facing oder die Kritik postkolonialer Theoretiker an einer unreflektierten Form des Interkulturalismus vorführen. Wie schon andernorts betont wurde, sind Fremdheitsdarstellungen jedoch auch „Bestandteil einer reziproken Beziehung“, 1 die weit über die kulturelle Andersartigkeit hinausweist. Somit sind sie immer auch eine Darstellung des Eigenen, die sowohl ganze Nationen wie auch einzelne Subjekte für ihre Selbstvergewisserung benötigen. Das Ineinandergreifen von kulturellen, ästhetischen und ethnischen Aspekten in Theaterproduktionen mit einer interkulturellen Ausrichtung lässt insofern eine Verknüpfung von theaterwissenschaftlicher und ethnologischer Perspektive hinsichtlich der Untersuchung dieser Theaterformen sinnvoll erscheinen. Darüber hinaus ist die Erforschung interkultureller Phänomene im Theater mit ähnlichen Schwierigkeiten wie die Ethnologie kon- 1 Christopher Balme, „Einleitung“, in: ders. (Hg.), Das Theater der Anderen. Alterität und Theater zwischen Antike und Gegenwart, Tübingen, Basel 2001 , S. 7 - 19 , 7 . <?page no="8"?> 8 Natalie Bloch, Dieter Heimböckel frontiert, nämlich mit der Suche nach einem adäquaten Kulturbegriff, der für den Umgang mit dem Fremden grundlegend ist. Denn in Anbetracht der kulturellen Vielfalt und der Hybridität der Kulturen ist der klassische Dualismus von Eigenem und Fremdem kaum aufrechtzuerhalten. Dementsprechend hat man sich in der ethnologisch, kulturanthropologisch und postkolonial fundierten Kulturtheorie von einem ‚Containermodell‘ der Kultur verabschiedet-- unter anderem mit der Konsequenz, dass die Beschäftigung mit dem, was als kulturell fremd gilt, nicht mehr unbedingt an einen fremden Ort gebunden ist, sondern bereits „vor der eigenen Haustür“ 2 beginnen kann. Die vorliegenden Beiträge diskutieren mit unterschiedlichen Ansätzen-- wie den Postcolonial und Performance Studies, aber auch der Kulturanthropologie und soziologischen Theorien- - interkulturelle Theaterproduktionen, Inszenierungen und -texte ebenso wie institutionelle und strukturelle Entwicklungen des Theaters und dokumentieren so aktuelle Forschungspositionen. Sie gehen insgesamt auf eine internationale Tagung zurück, die vom 26 . bis zum 28 . Juni 2014 an der Universität Luxemburg ausgerichtet wurde und dort Teil eines größeren Forschungsprojekts zum Thema Prozesse der Internationalisierung im Theater der Gegenwart ist. Zu danken ist in diesem Zusammenhang der Universität Luxemburg für die Förderung des Projekts und Christopher Balme dafür, dass er als Herausgeber von Forum Modernes Theater die Aufnahme dieses Bandes in die Reihe unterstützt hat. Esch-sur-Alzette, im Mai 2016 2 Karl-Heinz Kohl, Ethnologie-- die Wissenschaft vom kulturell Fremden. Eine Einführung, 3 ., akt. u. erw. Aufl., München 2012 , S. 171 . <?page no="9"?> Ethnologie-- Theater-- Interkulturalität 9 Ethnologie-- Theater-- Interkulturalität Ein Ausblick zur Einführung Dieter Heimböckel (Luxemburg) Der Annäherungsprozess zwischen Theater und Ethnologie, der sich in den 1960 er Jahren angebahnt hat, stand von vornherein unter Fragestellungen, die bis heute von interkultureller Relevanz sind. Das hat zum einen mit dem disziplinären Selbstverständnis der Ethnologie als einer Wissenschaft zu tun, die traditionell ihre Aufgabe im Studium der Unterschiede zwischen den Kulturen sieht, und ist zum anderen auf eine Theaterentwicklung zurückzuführen, bei der die Überschreitung kultureller Grenzen zur Erschließung neuer ästhetischer Erfahrungen und Ausdrucksmittel seinerzeit eine Art „Theaterrebellion“ in Gang gesetzt hat. 1 Wer über Ethnologie und Theater in diesen Jahren sprach, sprach zwangsläufig auch immer, wenngleich nicht unbedingt explizit, über Interkulturalität. Angesichts der globalen Blickrichtung des Theaters seit dem ausgehenden 20 . Jahrhundert verwundert es nicht, dass sich Theater und Ethnologie in der Zwischenzeit weiter einander angenähert haben. Die Bedeutung, die im Bereich der Theaterwissenschaft der Performance-Theorie und -Ästhetik in der jüngeren Vergangenheit beigemessen wurde, 2 zeugt vielmehr von der Nachdrücklichkeit, mit der sie den Austausch mit der Ethnologie vollzogen hat. Der Reflexion über Interkulturalität ist dieser Austausch allerdings nicht unbedingt zugutegekommen. Woran das liegt, in welcher Form Ethnologie und Theater dieses Defizit befördert haben und inwieweit neuere Ansätze der Interkulturalitätsforschung zur (theoretischen) Fundierung der Grundlagen beider Felder und ihrer ‚Kooperation‘ beitragen können, soll im Zentrum der nachfolgenden Ausführungen stehen. Dabei entspricht es ihrem einführenden Charakter, dass sie den Zusammenhang von Ethnologie, Theater und Interkulturalität allenfalls kursorisch in den Blick nehmen. Sie sollen einerseits als eine Art begrifflich-heuristischer Referenzrahmen für die in dem vorliegenden Band versammelten Beiträge dienen, andererseits aber 1 Manfred Brauneck, Kleine Weltgeschichte des Theaters, München 2014 , S. 17 . 2 Vgl. u. a. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004 . <?page no="10"?> 10 Dieter Heimböckel auch weitere Denkanstöße zur Komplexitätserweiterung der Interkulturalitätsforschung vermitteln. 3 1. Interkulturalität (und Theater) Im öffentlichen wie im wissenschaftlichen Diskurs hat sich die Rede über Interkulturalität als eine zentrale Größe der Auseinandersetzung mit Themen, Problemen und Phänomenen, die sich aus dem Zusammentreffen und der Interaktion unterschiedlicher Kulturen ergeben, mittlerweile fest etabliert. Es wird sogar behauptet, wir lebten im „Zeitalter der Interkulturalität“. 4 Vielleicht müsste man eher sagen, unser Zeitalter sei so interkulturell wie nie, denn anders als interkulturell lässt sich die Geschichte der Menschheit wohl nicht vorstellen. Was passiert aber eigentlich im Theater, wenn es sich für Interkulturalität interessiert? Strebt es interkulturelle Verständigung an, oder stellt es sie nur aus? Erstreckt sich Interkulturalität lediglich auf das inszenierte Stück, oder schließt es auch das Personal- - Schauspieler, Regisseure, Dramaturgen, Beleuchter etc. unterschiedlicher nationaler oder ethnischer Abstammung- - mit ein? Erfüllt es einen Vermittlungsauftrag, und/ oder geht-- gewollt oder nicht gewollt-- mit Interkulturalität eine Form der Vereinnahmung einher? Und wenn das Theater sich für Interkulturalität interessiert, ist es dann zwangsläufig auch ein interkulturelles Theater? Gibt es womöglich ein Ideal des interkulturellen Theaters? Diese Fragen sind so ohne Weiteres nicht zu beantworten, und es ist auch nicht mein Ziel, dies hier zu leisten. Interessant ist freilich der Umstand, dass die Problematik der Beantwortung unter anderem dem Sachverhalt zugeschrieben wurde, dass wir es mit einem vergleichsweise offenen Theorie- und Arbeitsfeld zu tun haben, das angesichts des beschleunigten Globalisierungsprozesses zu einer „große[n] Unübersichtlichkeit“ beigetragen habe. 5 Am Ende mag es ein wenig einfach sein, die Globalisierung, wie es so häufig geschieht, für alle Probleme verantwortlich zu machen, die aufgrund einer nicht mehr eindeutigen bzw. schwieriger gewordenen Verständigung über Gegenstände, Sachverhalte usw. entstanden sind. In unserem Fall liegt einer der Gründe für die angesprochene Einschätzung womöglich im Begriff der Interkulturalität selbst. Zwar ist von einer „unentbehrlichen Denknotwen- 3 Zur Notwendigkeit der Komplexitätserweiterung der Interkulturalitätsforschung vgl. Dieter Heimböckel, „Interkulturalität interdisziplinär denken. Ansätze zur Erweiterung ihrer Komplexität“, in: Thomas Ernst, Dieter Heimböckel (Hgg.), Verortungen der Interkulturalität. Die ›Europäischen Kulturhauptstädte‹ Luxemburg und die Großregion (2007), das Ruhrgebiet (2010) und Istanbul (2010), Bielefeld 2012 , S. 21 - 38, 27 - 30 . 4 Hamid Reza Yousefi, Peter Gerdsen, Interkulturalität- - Wozu? Hamid Reza Yousefi und Peter Gerdsen im Gespräch, eingel. u. hg. v. Ina Braun u. Hermann-Josef Scheidgen, Nordhausen 2008 , S. 24 . 5 Christel Weiler, „Interkulturalität“, in: Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch, Matthias Warstat (Hgg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart, Weimar 2005 , S. 156 - 159 , 158 . <?page no="11"?> Ethnologie-- Theater-- Interkulturalität 11 digkeit unserer Zeit“ die Rede, 6 aber im gleichen Atemzug wird zugegeben, dass kaum Klarheit darüber bestehe, was Interkulturalität bedeute, 7 was sie „eigentlich ist bzw. sein soll“, wie es noch vor Kurzem in einem Grundlagenartikel zur „Black Box ‚Interkulturalitat‘“ schlagwortartig formuliert wurde. 8 Wenn solche Unkenrufe aus dem Revier der Interkulturalitätsforschung in die Welt gesendet werden, dann mag es wenig verwundern, warum Theater und Theaterwissenschaft, wenn sie sich mit dem Thema beschäftigen, einen gewissen Eindruck der Orientierungslosigkeit hinterlassen. Aber mir scheint hier weniger eine Orientierungslosigkeit bestimmend zu sein, sondern genau das Gegenteil: -- eine Art-- sagen wir-- Voreingenommenheit bezüglich dessen, was Interkulturalität ist, so als wäre es keiner weiteren Erwägung mehr wert, darüber jenseits der Vorstellung nachzudenken, dass es sich um eine Begegnungskonstellation zwischen zwei voneinander deutlich abgrenzbaren Kulturen und/ oder ihren Repräsentanten handeln würde. Das Nachdenken über Interkulturalität im Zusammenhang mit dem Theater hat etwa Mitte der 1970 er Jahre eingesetzt und seinen vorläufigen Höhepunkt in den 1990 er Jahren erreicht. Inzwischen ist es geradezu ein Topos, davon auszugehen, dass ohne das Interkulturelle die Theatergeschichte gar nicht denkbar wäre. 9 „Theatre has always been intercultural“. 10 Im Zuge solcher Festschreibungen sind weitere Auseinandersetzungen und Vertiefungen mit diesem Thema weitgehend zu den Akten gelegt worden. Es wird vielmehr, wenn von Interkulturalität die Rede ist, regelmäßig allem Anschein nach davon ausgegangen, dass Klarheit über ihren begrifflichen Horizont besteht. „Die Auseinandersetzung mit anderen Kulturen und dem Fremden hat eine lange Tradition im europäischen Theater, Nathan der Weise und Andorra sind Dauerbrenner im Theater“, 11 lautet es noch kürzlich in einem Vortrag, der sich dem interkulturellen Theater widmete. Wenn es sich bei „Nathan der Weise“ um ein interkulturelles Theaterstück handelt, wie 6 Yousefi, Gerdsen, Interkulturalität-- Wozu? S. 9 u. 24 . 7 Vgl. ebd., S. 14 - 15 . 8 Csaba Földes, „Black Box ‚Interkulturalität‘. Die unbekannte Bekannte (nicht nur) für Deutsch als Fremd-/ Zweitsprache. Rückblick, Kontext und Ausblick“, in: Wirkendes Wort 59 ( 2009 ), S. 503 - 525 , 504 . 9 Vgl. Norbert Mecklenburg, „Theater in interkultureller und transkultureller Sicht. Zehn Thesen“, in: Zblizenia interkulturowe 7 ( 2010 ), S. 38 - 43 , 40 . 10 Ric Knowles ( 2010 ), Theatre & Interculturalism, Hamshire, New York 2010 , S. 6 ; vgl. auch Franziska Schößler, „Der Streit um die Differenz-- Theater als Interkultur“, in: Natalie Bloch (Hg.), Internationales Theater und Inter-Kulturen. Theatermacher sprechen über ihre Arbeit, Hannover 2014 , S 11 - 23 , 11 . 11 Wolfgang Sting, Interkulturalität als ästhetische, thematische und soziale Herausforderung in der schulischen Theaterarbeit. Vortrag / Fachforum am 23 . 03 . 2012 im Rahmen des Kongresses Lebenswelten (de-)konstruieren- - Theaterunterricht in der Sekundarstufe I ist anders, S. 1 - 11 , 6 , online: http: / / li.hamburg.de/ contentblob/ 3848800 / data/ download-pdfkongress- 2012 -f 05 -sting-interkulturalitaet.pdf [ 30 . 04 . 2016 ]. <?page no="12"?> 12 Dieter Heimböckel verträgt sich damit die Diagnose, dass, zumindest in der deutschen Theaterlandschaft, „Interkulturalität-[…] wie ein Fremdwort“ wirke? 12 Offenkundig sind hier jedoch unterschiedliche Interkulturalitätsbegriffe am Werk, denn im Falle „Nathans“ wird Interkulturalität als eine religiöse Dreiecks- und Austausch-Beziehung inszeniert, von der die formale Gestaltung dieses Dramas weitgehend unberührt bleibt. Anders verhält es sich dagegen, wenn es um den durch Einwanderer aus Korea im 8 . Jh. geprägten japanischen Hoftanz bugaku geht oder aber um die in Mexiko ab dem 16 . Jahrhundert um sich greifenden Autos sacramentales, „die die katholischen Zeremonien der spanischen Kolonialherren mit indianischen Ritualen vermischten“, 13 um die Rezeption der Commedia dell’arte in der französischen Klassik oder um die westlichen Avantgarden des 20 . Jahrhunderts von Artaud, Brecht und Craig bis Wilson. In diesen Fällen handelt es sich um Formen der Rezeption, Aneignung und Vermischung, die in Auseinandersetzung mit einem Theater stehen, das in kulturell anders geprägten Kontexten entstanden ist, und die sich sowohl auf den Inhalt als auch auf Struktur, Inszenierung und Sprache des jeweiligen Stücks auswirken können. Damit wird allerdings eine differentia specifica in das Verhältnis von Theater und Interkulturalität eingezogen, die auf ein Theater hinausläuft, „bei dem sich Individuen unterschiedlicher ethnischer Identität begegnen oder Elemente sich völlig fremder Theatertraditionen aufeinander stoßen.“ Der Konvention entsprechend soll also dann von interkulturellem Theater die Rede sein, „wenn es sich um verschiedene ethnische Kulturen handelt und unterschiedliche Einzelsprachen gesprochen werden.“ 14 Sind wir mit Blick auf die eingangs gestellte Frage, was denn eigentlich passiert, wenn sich das Theater für Interkulturalität interessiert, ihrer Beantwortung einen Schritt näher gekommen? Nimmt man die allgemeine Diskussion zum Maßstab, so lässt sich zumindest festhalten, dass von dem Befund einer interkulturellen Konstellation im theatralen Raum in concreto nicht notwendigerweise auf ein interkulturelles Theaterstück geschlossen werden kann. Umgekehrt haben wir es beim interkulturellen Theater mit einem für das Verhältnis von Interkulturalität und Theater spezifischen Fall zu tun, der es uns ermöglichen soll, aus ihm wiederum Schlussfolgerungen für das Verhältnis selbst zu ziehen. Bei der begrifflichen Einschränkung auf solche Inszenierungen, in denen Elemente aus mehr oder weniger deutlich zu unterscheidenden Kulturen verarbeitet werden, stellt sich allerdings der Verdacht ein, dass damit Differenzen markiert werden, durch die das Fremde gleichsam sicht- und fassbar gemacht werden soll. Anders lässt sich nicht erklären, 12 Christopher Balme, „Deutsches Welttheater? “ In: Die Deutsche Bühne 2007 , 5 , S. 20 - 23 , 20 . 13 Christine Regus, Interkulturelles Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Ästhetik, Politik, Postkolonialismus, Bielefeld 2009 , S. 9 . 14 Ebd., S. 43 ; vgl. auch Christopher Balme, „Interkulturelle Dramaturgie“, in: Peter W. Marx (Hg.), Handbuch Drama. Theorie, Analyse, Geschichte, Stuttgart, Weimar 2012 , S. 85 - 94 . <?page no="13"?> Ethnologie-- Theater-- Interkulturalität 13 warum in der Theaterwissenschaft und nicht nur hier die Tendenz vorherrscht, dann von interkulturellem Theater zu sprechen, wenn sich westliche-- europäische oder europäisch-amerikanische-- Elemente mit außereuropäischen verbinden. Der dahinter stehende Wille, die europäische Theatertradition nicht dominant werden zu lassen, um solchermaßen dem Vorwurf des Eurozentrismus zu entgehen, wird nicht nur durch die Überbetonung der Differenz und damit durch das offenkundige Wissen über das, was das Eigene und Fremde ist, partiell zurückgenommen; er führt auch-- wenn auch nicht unbedingt beabsichtigt-- zur Stärkung eines Containermodells von Kultur zu Lasten eines Verständnisses von Kultur als plurale tantum. 15 Problematisch ist dabei nicht, dass es Differenzen gibt, sondern dass vermeintlich gewusst wird, was dies- und jenseits der Grenze liegt, die die Differenzen bloßlegt. Dahinter verbirgt sich eine Verstehensbemühung, die immer schon und auch heute, wenn von interkultureller Kommunikation und ihren Zielen die Rede ist, auf die Herstellung von Eindeutigkeit ausgerichtet ist. Interkulturalität sollte es jedoch nicht um die Herstellung von Eindeutigkeit, sondern um deren Infragestellung gehen. Sie schließt Verstehen zwar nicht aus, aber es ist nicht ihr primäres Anliegen. Denn ein solches Anliegen zielt darauf, das, was verstanden werden soll, den Voraussetzungen eines ,Denkens-wie-üblich‘ (im Sinne von Alfred Schütz) anzupassen. 16 Insofern geht nach meinem Verständnis mit Interkulturalität der (kultur-)anthropologische Ausbruch aus diesem Denken-wie-üblich einher. Darauf wird im weiteren Verlauf noch einmal einzugehen sein. 2. Ethnologie (und Interkulturalität) Während im Denken-wie-üblich Kultur ihre Ontologie bewahrt, zielt Interkulturalität darauf ab, sie zu durchkreuzen. Durchkreuzen heißt gleichzeitig, Irritationen zu erzeugen, das Üblichsein in eine Art Unvertrautheit zu überführen. Ein solches Interkulturalitätsverständnis ist in besonderem Maße inspiriert durch die Ethnologie und ihre Theorie- und Methodendiskussion der letzten 40 - 50 Jahre, eine 15 In eine entsprechende Richtung gehen auch die Versuche von Erika Fischer-Lichte, den ursprünglich von ihr für das Theater stark gemachten Begriff des Interkulturellen (vgl. u. a. Erika Fischer Lichte, Das eigene und das fremde Theater, Basel, Tübingen 1999 ) einer kritischen Revision zu unterziehen und ihn durch das Konzept der Verflechtung bzw. des ,Interweaving‘ zu ersetzen (vgl. u. a. Erika Fischer-Lichte, Theaterwissenschaft. Eine Einführung in die Grundlagen des Faches, Tübingen, Basel 2010 ). Ihr Vorgehen ist allerdings nicht nur deswegen problematisch, weil dem Begriff der Interkulturalität Vorannahmen zugrunde liegen, die auf ihn projiziert werden, ihm aber nicht-- gleichsam ontologisch-- eingeschrieben sind, sondern auch deswegen, weil die Analysemodalitäten des Verflechtungs-Konzeptes bei näherer Betrachtung diejenigen des Interkulturalitäts-Konzepts lediglich fortschreiben. 16 Alfred Schütz, „Der Fremde. Ein sozialpsychologischer Versuch“, in: ders., Gesammelte Aufsätze II. Studien zur soziologischen Theorie, hg. v. Arvid Brodersen, Den Haag 1972 , S. 53 - 69 , 58 . <?page no="14"?> 14 Dieter Heimböckel Diskussion, die, wenn man sich jüngste Publikationen vor Augen führt, immer noch nicht abgeschlossen ist. 17 Die moderne Ethnologie gilt nicht von ungefähr als eine Disziplin, die im Sinne Foucaults vor allem „ein ständiges Prinzip der Unruhe, des Infragestellens,-[…] des Bestreitens dessen“ bildet, „was sonst hat als erworben gelten können.“ 18 Insofern ihre kritische Selbstreflexion auch in andere Disziplinen hineingetragen wurde, blieb auch die Interkulturalitätsforschung- - in welchem Fach auch immer-- davon nicht unberührt. Die durch James Clifford und George E. Marcus Mitte der 1980 er Jahre auf den Weg gebrachte Writing Culture-Debatte hat freilich die Unruhe und Verunsicherung so weit in das Fach hineingetragen, 19 dass als Ausweg aus der sich krisenhaft zuspitzenden Selbstbefragung unter anderem vorgeschlagen wurde, überhaupt keine Ethnografie mehr zu betreiben. 20 Mit ihrer prinzipiellen Infragestellung der Repräsentierbarkeit radikalisierte Writing Culture noch einmal die Grundannahme Clifford Geertz’, dass ethnologische Schriften Fiktionen, dass sie, wie es in seiner Dichten Beschreibung heißt, etwas „Gemachtes“ und „Hergestelltes“ seien. 21 Denn so sehr sich mit Geertz der Blick darauf, was Ethnografie eigentlich ist, verändert hat, so deutlich scheint bei ihm eine Art Wahrheit in der Beschreibung des Anderen und damit dessen Repräsentierbarkeit als möglich auf. Für ihn bleibt, auch wenn die Repräsentation erschüttert wird, „ein liberal-humanistisches Verständigungsideal verbindlich“. 22 Anders dagegen Clifford und Marcus. Was mit ihnen problematisiert wird, sind nicht so sehr die Spezifika kultureller Bedeutungssysteme, die Frage nach der Bedeutung der Dinge, sondern die Frage, wie sich das Fremde auf eine Weise darstellen lässt, dass es nicht in der vermeintlich objektivierten Perspektive des Betrachters so aufgeht, als wären die Kulturen etwas Fixes oder Fixierbares. „Cultures do not hold still for their portraits.“ 23 Mit dieser Position ging vor allem die 17 Vgl. Hans Peter Hahn, Ethnologie. Eine Einführung, Frankfurt a. M. 2013 , S. 171 - 208 . 18 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, aus dem Französischen von Ulrich Köppen, Frankfurt a. M. 1997 , S. 447 . 19 Vgl. James Clifford, George E. Marcus (Hgg.), Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography, Los Angeles, London 1986 . 20 Vgl. Hahn, Ethnologie, S. 207 . 21 Clifford Geertz, „Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur“, in: ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a. M. 1987 , S. 7 - 43 , 23 . 22 Klaus R. Scherpe, „Grenzgänge zwischen den Disziplinen. Ethnographie und Literaturwissenschaft“, in: Petra Boden, Holger Dainat (Hgg.), Atta Troll tanzt noch. Selbstbesichtigungen der literaturwissenschaftlichen Germanistik im 20. Jahrhundert, Berlin 1997 , S. 297 - 315 , 310 . 23 James Clifford, „Introduction: Partial Truths”, in: Clifford, Marcus, Writing Culture, S. 1 - 26 , 10 . Zur Writing Culture-Debatte vgl. Doris Bachmann-Medick, „,Writing Culture‘- - ein Diskurs zwischen Ethnologie und Literaturwissenschaft“, in: Kea. Zeitschrift für Kulturwis- <?page no="15"?> Ethnologie-- Theater-- Interkulturalität 15 auch aus dem Postkolonialismus bekannte Frontstellung gegenüber hegemonialen Standpunkten der Repräsentation und des mit ihr verbundenen Othering oder des „Verandern“, wie es Werner Schiffauer einmal nannte, einher. 24 Mit dem „Verandern“ ist die grundsätzliche Frage berührt, ob eine Beschreibung des Fremden überhaupt möglich sei, wenn doch die Beschreibung den Fremden erst hervorbringe. Im „Othering“ werde, so Spivak, ein „Different-Machen“ betrieben, 25 das die Differenzen erst erzeugt, die zu analysieren das vorgebliche Ziel ist. Einer Wissenschaft, die als „Wissenschaft vom kulturell Fremden“ gilt, 26 ist damit gewissermaßen ihr disziplingeschichtlich verbürgter Gegenstand abhanden gekommen. Ob das ihre von Bruno Latour verkündete ,Rückkehr aus den Tropen‘ erklärt, 27 ist nicht auszuschließen; als sicher darf freilich gelten, dass „das Feld als autonomer Ort mit festen raum-zeitlichen Grenzen, als Heimat einer homogenen Kultur, in die die Ethnographen als Fremde zu Besuch kommen“, 28 sich aufgelöst hat. Stattdessen sind ihre Positionen, eingebettet in eine „multi-sited ethnography“, 29 mobil und vielfältig. In den Worten des Ethnologen Christoph Antweiler: „In der modernen Ethnologie geht es nicht mehr nur um außereuropäische und einfache Gesellschaften, sondern um Gruppen und Netzwerke irgendwo auf dem Globus“, 30 was u. a. auch erklärt, warum die Ethnologie, zumal in den letzten 30 - 40 Jahren, im Zuge ihrer Auseinandersetzung mit Fragen der Repräsentation die Nähe zur Kunst sucht. Jedenfalls ist das wechselseitige Interesse von Kunst bzw. Kunstbetrieb und Ethnologie durch zahlreiche Tagungen und Publikationen im zurückliegenden Dezennium bezeugt. 31 senschaften 4 ( 1992 ), S. 10 - 20 ; Volker Gottowik, „Zwischen dichter und dünner Beschreibung: Clifford Geertzʼ Beitrag zur Writing Culture-Debatte“, in: Iris Därmann, Christoph Jamme (Hgg.), Theorien, Konzepte und Autoren der Kulturwissenschaften, München 2007 , S. 119 - 142 . 24 Werner Schiffauer, „Der cultural turn in der Ethnologie und der Kulturanthropologie“, in: Friedrich Jaeger, Jürgen Straub (Hgg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 2 : Paradigmen und Disziplinen, Stuttgart, Weimar 2004 , S. 502 - 517 , 508 . 25 María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 2006 , S. 60 . 26 Karl-Heinz Kohl, Ethnologie-- die Wissenschaft vom kulturell Fremden. Eine Einführung, 2 ., erw. Aufl., München 2000 . 27 Vgl. Bruno Latour, „Die Anthropologie kehrt aus den Tropen zurück“, in: ders., Wir sind nie modern gewesen, Frankfurt a. M. 2008 , S. 133 - 137 . 28 Claudia Lemke, Ethnographie nach der Krise der Repräsentation. Versuche in Anlehnung an Paul Rabinow und Bruno Latour. Skizzen einer Pädagogischen Anthropologie des Zeitgenössischen, Bielefeld 2011 , S. 15 . 29 Vgl. ebd., S. 14 . 30 Christoph Antweiler, Grundpositionen interkultureller Ethnologie, Nordhausen 2007 , S. 7 . 31 Vgl. Matthias Krings, „Interdisziplinarität und die Signatur der Ethnologie“, in: Thomas Bierschenk, Matthias Krings, Carola Lentz (Hgg.), Ethnologie im 21. Jahrhundert, Berlin 2013 , S. 265 - 283 , 270 . <?page no="16"?> 16 Dieter Heimböckel Insofern ist es geradezu folgerichtig, dass die Ethnologie, will sie sich nicht mit ihrer Selbsteskamotierung zufrieden geben, sich methodisch neu ausgerichtet und sich dabei einer deutlicheren Prüfung ihres Tuns unterzogen hat. Und das geschah und geschieht immer noch einerseits dadurch, dass der Entstehungsprozess von Dokumenten stärker reflektiert wird- - Stephen Tyler etwa nennt dies eine Ethnografie des Sprechens, indem darüber nachgedacht wird, wie ethnografische Aussagen zustande kommen, wie gesprochen und wie etwas Gesagtes als Wahrheit anerkannt wird. 32 Andererseits geschieht dies auf der Grundlage einer kollaborativen Ethnografie: Die „Kollaboration verändert das traditionelle anthropologische Setting. Die Ethnographen sind nun nicht mehr nur ‚teilnehmende Beobachter‘, sondern auf vielfältige Weise in das Geschehen involviert. Sie werden zu eigenständigen Akteuren im Feld, zum Subjekt der Pläne anderer, zur Figur in den Texten anderer etc.“. 33 Kollaboration und Sprache bzw. Metareflexion leisten, wenn sie auch das Problem der Repräsentation nicht abschließend ausräumen, doch einer Multiperspektivierung des ethnografischen Gegenstandes Vorschub und tragen damit zugleich zur kritischen Hinterfragung von Kategorien wie Kultur, Fremde oder Differenz bei. Die kritische Hinterfragung hat allerdings in der Ethnologie meines Wissens nicht dazu geführt, dass sie das Verhältnis zur Interkulturalität geklärt oder zumindest weit ausgreifend reflektiert hätte. Die Ethnologie gilt entweder „per se“ als interkulturell, 34 oder aber es wird mit dem Beiwort „interkulturell“ ein kulturvergleichendes Verfahren bezeichnet, bei dem es um die Prüfung nomologischer Hypothesen, das heißt: um den Nachweis gesetzmäßig auftretender Kulturerscheinungen geht. 35 Gerade aber mit diesem Verfahren, das unter anderem darauf ausgerichtet ist, „weit entfernte Kulturen in Beziehung zu setzen“, 36 um strukturelle Ähnlichkeiten zu erfassen, wird ein Kulturbegriff in die Ethnologie reimportiert, der noch von abgrenzbaren, an räumlichen Vorstellungen gebundenen Einheiten ausgeht, die durch den Vergleich einander gegenüberstellt werden. Der Vergleich voneinander separierbarer Einheiten wird dabei durch das ,inter‘ zusätzlich gefestigt, insofern er an ein geläufiges, vor allem durch die interkulturelle Hermeneutik befördertes Verständnis von Interkulturalität anschließt, demzufolge Kulturen weltweit identifiziert, beschrieben und objektiv voneinander abgegrenzt 32 Vgl. Hahn, Ethnologie, S. 207 - 208 . 33 Lemke, Ethnographie nach der Krise der Repräsentation, S. 15 . 34 Antweiler, Grundpositionen interkultureller Ethnologie, S. 29 . 35 Vgl. Hahn, Ethnologie, S. 180 - 182 . 36 Michael Bollig, „Interkulturelle Vergleichsverfahren“, in: Bettina Beer, Hans Fischer (Hgg.), Ethnologie. Einführung und Überblick, 6 ., überarb. Aufl., Berlin 2006 , S. 391 - 412 , 398 . <?page no="17"?> Ethnologie-- Theater-- Interkulturalität 17 werden können. 37 Dieses Verständnis ist aber inzwischen aus unterschiedlichen Richtungen einer kritischen Revision unterzogen worden, und es wird allenfalls noch dort reaktiviert, wo es um begriffliche Abgrenzungen oder um die Durchsetzung ethnozentrischer Positionen bzw. politisch-ökonomischer Interessen geht. 38 Die Selbstverständlichkeit, mit der die Ethnologie sich als interkulturell versteht, erinnert insofern an die nicht sonderlich theoriegeleitete Interkulturalitätsreflexion im Feld des Theaters. Das hat zur Konsequenz, dass es hier wie dort, wenn auch so vielleicht nicht intendiert, zur Übernahme und Applikation eines eher retrograden Kulturbegriffs kommt. Die Annäherung an aktuelle Interkulturalitätspositionen könnte hier zur theoretischen Neubestimmung beitragen, indem der in der beständigen Neuauslegung liegende Projekt- und Prozesscharakter der Interkulturalität mit der produktiven Verunsicherung, die Ethnologie und Theater gleichermaßen auszeichnet, verklammert wird. Mit dem Projekt der Interkulturalität ist dabei methodisch die Umgestaltung bestehender Denk- und Handlungsformen assoziiert, durch die gewohnte Selbstverständlichkeiten und Sehgewohnheiten hinterfragt werden sollen. Denn Interkulturalität hat etwas mit Risiko zu tun: Wer sich darauf einlässt, verlässt eingetretene Pfade. Interkulturalität geht aus meiner Sicht insofern einher mit dem eingangs bereits angesprochenen kulturanthropologischen Ausbruch aus dem, was Alfred Schütz einmal als „Denken-wie-üblich“ bezeichnet hat. 39 Im Denken-wie-üblich ist das Fremde das aufgefasste Andere. Es ist wie das Eigene eine Setzung, dessen das Denken-wie-üblich bedarf, damit es sein Üblichsein bewahrt. Die Rede vom Eigenen und Fremden-- Klaus Scherpe nennt es die notorische Zweierbeziehung--, 40 trägt insofern zu dessen Stabilisierung bei. Es ist gewissermaßen die begriffliche Grunddichotomie aller interkulturellen Vergleiche, deren Nichthintergehbarkeit dazu führt, dass das Fremde in Schach gehalten wird. Wohin aber „oder wem ein Zeichen oder ein einzelnes kulturelles Element gehört“, 41 ist nicht erst jetzt, aber vor allem in Zeiten forcierter Uneindeutigkeiten immer schwieriger zu beantworten. Das gilt auch und erst recht dann für das Theater, wenn das Fremde „als Prozeß einer kulturellen Transformation“ begriffen wird. 42 Denn das Fremde wird 37 Vgl. Jürgen Mohn, „Probleme der Interdisziplinarität und Interkulturalität“, in: Bernhard Zimmermann (Hg.), Interdisziplinarität und Interkulturalität. Beiträge zum Zweiten Internationalen Tag, München, Mering 2005 , S. 21 - 32 , 21 . 38 Vgl. Dieter Heimböckel, „,Terminologie für gutes Gewissen‘. Interkulturalität und der neue Geist des Kapitalismus“, in: ders. et al. (Hgg.), Zwischen Provokation und Usurpation. Interkulturalität als (un)vollendetes Projekt der Sprach- und Literaturwissenschaften, München 2010 , S. 41 - 52 . 39 Schütz, „Der Fremde“, S. 58 . 40 Vgl. Scherpe, „Grenzgänge zwischen den Disziplinen“, S. 297 . 41 Regus, Interkulturelles Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts, S. 13 . 42 Erika Fischer-Lichte, Das eigene und das fremde Theater, S. 121 . <?page no="18"?> 18 Dieter Heimböckel auch hier noch als ein distinktives Merkmal begriffen, das im Vergleich mit dem eigenen Theater eindeutig identifizierbar ist. 3. Ethnologie-- Interkulturalität-- Theater Der im Kontext von Ethnologie und Theater verhandelte Begriff der Interkulturalität ist prinzipiell immer auch danach zu hinterfragen, ob er nicht doch ontologisch verfestigte statt antiessentialistische Vorstellungen von Kultur transportiert. 43 Die Beantwortung der Frage, wenn sie ins Allgemeine gehen soll, hängt freilich nicht vom Begriff der Interkulturalität alleine ab, so als würde mit ihm eine Setzung nach Art einer Quasi-Ontologisierung erfolgen, sondern auch von der jeweiligen Forschungsrichtung und ihrer analytischen Praxis. Es geht dabei neben dem Kulturbegriff, der zugrunde gelegt wird, um den Standpunkt des Beobachters und seine Bereitschaft, die eigene Position immer wieder aufs Spiel zu setzen und die interkulturelle Praxis zur „Umgestaltung bestehender Denk- und Handlungsformen“ zu nutzen. 44 Von dieser Warte aus liefert die neuere Forschung weitere Ansatzmöglichkeiten, Interkulturalität nicht als Substanzbegriff, sondern als „Kultur-im-Zwischen“ und „Prozess“ bzw. als „Projekt“ zu begreifen- - eine Vorstellung, 45 die Richard Schechner bereits in den 1970 er Jahren in Ansätzen und speziell für das Theater stark gemacht hat. Interkulturalität kann insofern zur weiteren Klärung der für das Verhältnis von Ethnologie und Theater spezifischen Voraussetzungen beitragen; sie kann aber auch, wie ein Blick in die Geschichte und jüngere Vergangenheit zeigt, selbst das Vehikel für eine von ethnologischen Prämissen geleitete Theaterarbeit und umgekehrt für eine durch das Theater inspirierte Kulturanthropologie sein. „Dass Theatertheoretiker, Theaterschaffende und Anthropologen bzw. Ethnologen wichtige Berührungspunkte und gemeinsame Interessen entdeckten, hängt- […] mit der Affinität der westlichen Avantgarde bereits um 1900 und dann wieder in den 1960 er Jahren zum außereuropäischen Theater und zu Ritualen zusammen.“ Auf der anderen Seite existiert in der Ethnologie, bedingt durch die Auseinandersetzung mit außereuropäischen Kulturen und deren oralen Tradition, „ein spezi- 43 Michael Werner: „Konzeptionen und theoretische Ansätze zur Untersuchung von Kulturbeziehungen“, in: Nicole Colin et al. (Hgg.), Lexikon der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945, Tübingen 2013 , S. 23 - 31 , 27 . 44 Raúl Fornet-Betancourt, Interkulturalität in der Auseinandersetzung, Frankfurt a. M. 2007 , S. 9 . 45 Mark Terkessidis, Interkultur, Frankfurt a. M. 2010 , S. 10 ; Dieter Heimböckel, Manfred Weinberg, „Interkulturalität als Projekt“, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 5 ( 2014 ), 2 , S. 119 - 144 . <?page no="19"?> Ethnologie-- Theater-- Interkulturalität 19 fisches Interesse am Performativen“. 46 Das Bedingungsverhältnis, in dem Theater und Ethnologie stehen, wird sinnfällig in der Zusammenarbeit zwischen Richard Schechner, Clifford Geertz und Victor Turner in den 1970 er und 80 er Jahren einerseits und angesichts der Wirkung, die Turners Ritualtheorie auf die Theaterwissenschaft in den 1990 er Jahren ausgeübt hat, andererseits. „Whether practitioners and scholars of either discipline like it or not, there are points of contact between anthropology and theatre; and there are likely to be more coming”, so Schechners einführende Prognose in seiner Abhandlung Between Theater and Anthropology. 47 Gerade Schechner ist es auch, der nach eigener Aussage Anfang/ Mitte der 1970 er Jahre damit beginnt, den Begriff der Interkulturalität-- er spricht ursprünglich von „interculturalism“ zur Abgrenzung von Phänomenen des „internationalism“-- in die theoretische Diskussion einzuführen, 48 wobei er damit neben seinen eigenen Projekten vor allem Arbeiten von Peter Brook, Jerzy Grotowski und Eugenio Barba in Zusammenhang bringt. An diesen Arbeiten ließe sich exemplifizieren, was interkulturelles Theater ist bzw. sein könnte. Doch das ist nicht die Aufgabe meines einführenden Ausblicks, noch will ich in dieser Hinsicht den nachfolgenden Beiträgen vorausgreifen. Wenn es aber um das Verhältnis von Ethnologie und Theater geht, kann die Interkulturalitätsforschung bzw. können interkulturell avancierte Perspektivierungen die Funktion haben, zu einer theoretischen und tendenziell auch analytischen Flankierung dieses Verhältnisses beizutragen. Ebenso können umgekehrt Ethnologie, Theateranthropologie und das Theater selbst als Ort inszenierender und inszenierter Interkulturalität auf das Verständnis von Interkulturalität verändernd und erweiternd einwirken. Grotowski, Brook, Barba, Turner und Turnball haben nach Schechner auf eine Weise zusammengearbeitet, die interkulturell und interdisziplinär zu nennen ist. 49 Wer sich für die Beziehung von Ethnologie und Theater interessiert oder sogar einen Beitrag zur Ethnologie des Theaters leisten will, kann hinter dieser Position nicht mehr zurück. 50 . Sie bildet vielmehr die Grundlage, von der aus es erst zu Weiterungen, Korrekturen 46 Regus, Interkulturelles Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts, S. 27 . Vgl. auch Christopher Balme, Einführung in die Theaterwissenschaft, 5 ., neu bearb. u. erw. Aufl., Berlin 2014 , S. 185 - 192 . 47 Richard Schechner, Between Theater and Anthropology, Philadelphia 1985 , S. 3 . 48 Vgl. Patrice Pavis, Richard Schechner, „Interculturalism and the Culture of Choice“, in: Patrice Pavis (Hg.), The Intercultural Performance Reader, London, New York 1996 , S. 41 - 50 , 42 . 49 Vgl. Richard Schechner, Theater-Anthropologie. Spiel und Ritual im Kulturvergleich, aus dem Amerikanischen von Susanne Winnacker, Reinbek bei Hamburg 1990 , S. 39 . 50 Vgl. hierzu Barry Freemans Dissertation Toward a Postmodern Ethnography of Intercultural Theatre: an Instrumental Case-Study of the Prague-Toronto-Manitoulin Theatre Project, Diss., University of Toronto, 2010 . <?page no="20"?> 20 Dieter Heimböckel oder Verschiebungen in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Thema kommen kann. <?page no="21"?> Dichte Aufführungen 21 Dichte Aufführungen Zur Ethnologie des postdramatischen Theaters Christopher Balme (München) Der Titel meines Beitrags bezieht sich auf eine der wohl einflussreichsten ethnologischen Publikationen der vergangenen vierzig Jahre, Clifford Geertzʼ Einleitung zu seiner Aufsatzsammlung, „The Interpretation of Cultures“, sowie den darin enthaltenen Essay über den balinesischen Hahnenkampf: „Deep Play: Notes on the Balinese Cock Fight“. Diese Aufsätze können gleichsam als Gründungsdokumente der Theaterethnologie betrachtet werden. Der dort entfaltete Begriff der „dichten Beschreibung“ entwickelt eine Methode, die anstelle teleologisch ausgerichteter funktionalistischer Erklärungsmodelle eine hermeneutische Interpretation privilegiert. „Dichte Beschreibung“ kann auch als Aufführungsanalyse für Ethnologen bzw. für ethnologisch ausgerichtete Theater- oder Performance-Wissenschaftler bezeichnet werden. Geertz notiert: Das Ziel dabei ist es, aus einzelnen, aber sehr dichten Tatsachen weitreichende Schlussfolgerungen zu ziehen und vermöge einer präzisen Charakterisierung dieser Tatsachen in ihrem jeweiligen Kontext zu generellen Einschätzungen der Rolle der Kultur im Gefüge des kollektiven Lebens zu gelangen. 1 Geertzʼ Verwendung einer Dramen- und Theatermetaphorik zur Untersuchung gesellschaftlicher Phänomene verlieh dem Text einen paradigmatischen Status innerhalb der Performance Studies, die sich in der von Richard Schechner vorgegebenen Ausrichtung eher als Sozialdenn als Geisteswissenschaft verstand. 2 Während Geertz und vor ihm Milton Singer, ein Mitbegründer der so genannten ‚interpretativen‘ Ethnologie, noch dem Konzept des Textes verhaftet blieben, 1 Clifford Geertz, Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a. M. 1983 , S. 40 . 2 Vgl. Richard Schechner, Theateranthropologie: Spiel und Ritual im Kulturvergleich, Reinbek 1990 . Zur sozialwissenschaftlichen Ausrichtung der Performance Studies vgl. Christopher Balme, „‚verwandt der Kern aller Menschen‘: Zur Annäherung von Theaterwissenschaft und Kulturanthropologie“, in: Bettina Schmidt, Mark Münzel (Hgg.), Ethnologie und Inszenierung: Ansätze zur Theaterethnologie, Marburg 1998 , S. 19 - 44 . <?page no="22"?> 22 Christopher Balme wählte der Ethnologe Victor Turner einen anderen Weg: Sein Konzept des sozialen Dramas sowie seine Studien zum Ritual bereiteten den Boden für die Performance Studies und verstärkten die Bande zwischen Ethnologie und der neuen Disziplin nachhaltig. Dwight Conquergood, ein in den Performance Studies arbeitender Ethnologe, bezeichnet Turner sogar als den „undisputed founding father“ der performativen Wende innerhalb der Ethnologie. Im Zeichen dieser Wissenschaftsgenealogie wird Geertz lediglich die Rolle des „influential in-law“ zugebilligt, „having married into the ‚culture as performance‘ family from the powerful ‚culture as text‘ clan.“ 3 Natürlich gibt es signifikante Differenzen, die auch den grundlegenden Unterschied zwischen Kunst- und Sozialwissenschaft markieren: Beim Hahnenkampf geht es im Gegensatz zur Kunst schließlich um etwas: für die Hähne um ihr Leben, für die menschlichen Teilnehmer um ihr Geld, wie die komplexe Beschreibung des Wettsystems deutlich macht. Ob Hahnenkampf, Hochzeit oder hinduistisches Ritual: Dichte Beschreibungen gehen von einem örtlich und kulturell klar definierten, geradezu ‚umhegten‘ performativen Phänomen aus, um es dann in eine semantische Beziehung zu dem es bestimmenden Kulturgefüge zu setzen. Es gilt- - wenn man es so will- - das Prinzip der raumzeitlichen Kontiguität. In diesem engen Geflecht besteht auch die Affinität zur theaterwissenschaftlichen Aufführungsanalyse, die von einer Kopräsenz von Zuschauern und Darstellern ausgeht. Der Hahnenkampf-Essay von Geertz erschien Anfang der 1970 er Jahre, Milton Singers Arbeiten über Cultural Performance ein Jahrzehnt früher, 4 Victor Turners einschlägige Arbeiten in den 1970 er und 1980 er Jahren. 5 Wenn wir heute die Beziehung zwischen Theater und Ethnologie betrachten wollen, müssen wir selbstredend an die aktuellen Ansätze der Ethnologie anknüpfen. Dem Thema der Tagung folgend, geht es darum, eine theaterfremde Wissenschaft, die Ethnologie, auf den Gegenstand ‚Theater‘, vor allem auf die interkulturell bzw. global erweiterten Spielformen von Theater zu applizieren. Meine Überlegungen hierzu gehen von drei ‚Wenden‘ innerhalb der Ethnologie aus, die das frühere Modell, wenn nicht in Frage stellen, so doch methodologisch und epistemologisch neu konturieren. 3 Dwight Conquergood, „Poetics, Play, Process, and Power: The Performative Turn in Anthropology“, in: Text and Performance Quarterly 9 ( 1989 ), 1 , S. 82 - 88 , 87 . 4 Milton B. Singer (Hg.), Traditional India: Structure and Change, American Folklore Society Bibliographical and Special Series, Vol. 10 , Philadelphia 1959 , und Milton B. Singer, When a Great Tradition Modernizes; an Anthropological Approach to Indian Civilization, New York 1972 . 5 So z. B. Victor Turner, From Ritual to Theatre. The Human Seriousness of Play, New York 1982 , und Victor Turner, The Anthropology of Performance, New York 1987 . <?page no="23"?> Dichte Aufführungen 23 Die erste Wende heißt ‚multi-sited ethnography‘ und steht vor allem mit einem Aufsatz von George Marcus aus dem Jahr 1995 in Verbindung: „Ethnography in/ of the World system: The Emergence of Multi-Sited Ethnography“. Anstelle einer Perspektive, die sich einem einzigen Ort widmet-- „intensively-focused-upon single site of ethnographic observation and participation“- - tritt ein Fokus auf multiple, oft geographisch entfernte Lokalitäten, die mit einander in Verbindung stehen. 6 Der von Marcus als „world system“ betitelte Begriff signalisierte eine Auseinandersetzung mit Globalisierung und dem Befund, dass die Kulturen, für die sich die Ethnologie üblicherweise interessiert, nicht mehr dort sind, wo sie hätten sein sollen bzw. manchmal dort sind, aber auch woanders. Der Dorfbewohner aus Kerala ist ein Gutteil des Jahres in den Golf-Staaten als Wanderarbeiter unterwegs, der junge Samoaner versucht sein Glück als Rugby-Spieler in Japan. Mit anderen Worten fordert Marcus, die Ethnologie müsse methodisch und theoretisch auf die von Arjun Appadurai Anfang der 1990 er Jahre beschriebenen „five dimensions of global cultural flow-(…) ethno-, media-, finance-, techno- und ideocapes“ reagieren: These landscapes thus are the building blocks of what (extending Benedict Anderson) I would like to call imagined worlds, that is, the multiple worlds which are constituted by the historically situated imaginations of persons and groups spread around the globe. 7 Die multiplen Welten der kulturellen Globalisierung stellen die Ethnographie vor besondere Herausforderungen angesichts deren „committed localism“: „Ethnography is predicated upon attention to the everyday, an intimate knowledge of face-to-face communities and groups.“ 8 Der Fokus auf das Lokale verbindet die Ethnologie mit der Theaterwissenschaft, die ebenfalls einem ‚committed localism‘ verpflichtet ist, und zwar in Form von ‚face-to-face-communication‘ und Gemeinschaftsbildung, die beispielsweise Erika Fischer-Lichte in ihrer Ästhetik des Performativen 9 vielfach beschrieben hat. Wie soll sich aber die Theaterwissenschaft neu positionieren, wenn auch im Theater die gleichen Bedingungen der multi-sitedness vorherrschen wie von Marcus beschrieben? Multi-sited research is designed around chains, paths, threads, conjunctions, or juxtapositions of locations in which the ethnographer establishes some form of literal, phy- 6 George Marcus, „Ethnography in/ of the World System: The Emergence of Multi-Sited Ethnography“, in: Annual Review of Anthropology 24 ( 1995 ), S. 95 - 117 , 96 . 7 Arjun Appadurai, „Disjuncture and Difference in the Global Cultural Economy“, in: Public Culture 2 ( 1990 ), 2 , S. 1 - 24 , 6 - 7 . 8 Marcus, „Ethnography in/ of the World System“, S. 99 . 9 Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004 . <?page no="24"?> 24 Christopher Balme sical presence, with an explicit, posited logic of association or connection among sites that in fact defines the argument of the ethnography. 10 Um diesen Pfaden, Verbindungen und Schnittstellen gerecht zu werden, schlägt Marcus eine andere Vorgehensweise vor: ganz im Sinne der Akteur-Netzwerk- Theorie von Bruno Latour heißt es, Dingen, Geschichten, Metaphern und Menschen zu folgen: „Strategies of quite literally following connections, associations, and putative relationships are thus at the very heart of designing multi-sited ethnographic research.“ 11 Die zweite Wende betrifft die Form der wissenschaftlichen Repräsentation und Präsentation, die auch ethische und ideologische Implikationen hat. Dahinter steht eine von der postkolonialen Theorie formulierte Fundamentalkritik an den Modi wissenschaftlicher Wissensaneignung und -darstellung, die auf eine Verfestigung kolonialer Verhältnisse hinausläuft. Wie kann man die alten, der kolonialen Weltanschauung inhärenten Dichotomien wie eigen/ fremd, them and us usw. überwinden? Deshalb fragt der Ethnologe und Theaterwissenschaftler Dwight Conquergood: What are the rhetorical problematics of performance as a complementary or alternative form of „publishing“ research? What are the differences between reading an analysis of fieldwork data, and hearing the voices from the field interpretively filtered through the voice of the researcher? 12 Dies führt schließlich zu der Überlegung, die man als eine Art performativer Wende innerhalb der Ethnologie bezeichnen könnte, die aber analog auf die performance studies zurückwirkt: „What about enabling the people themselves to perform their own experience? “ 13 Diese wohl radikalste Perspektive wirft grundlegende epistemologische Fragen auf hinsichtlich der Darstellung wissenschaftlichen Wissens und der Trennung zwischen Subjekt und Objekt sowie zwischen dem wissenschaftlichen Beobachter und dem Gegenstand dieser Beobachtung. Kann eine Aufführung herkömmliche, ‚objektive‘ Formen wissenschaftlichen Schreibens ersetzen oder zumindest als ebenbürtig betrachtet werden? Dieser Vorschlag fügt sich ein in allgemeinere Überlegungen zu Multivokalität, Dialogizität und Selbstreflexion, die alle Geistes- und Kulturwissenschaften in den späten 1980 er und frühen 1990 er Jahren erfassten. 14 10 Marcus, „Ethnography in/ of the World System“, S. 105 . 11 Ebd., S. 97 . 12 Dwight Conquergood, „Rethinking Ethnography: Towards a Critical Cultural Politics“, in: Communication Monographs 58 ( 1991 ), 2 , S. 177 - 194 , 190 . 13 Ebd. 14 Zur Frage der Reflexivität vgl. auch Jay Ruby, „Exposing Yourself. Reflexivity, Anthropology and Film“, in: ders., Picturing Culture. Explorations of Film and Anthropology, Chicago <?page no="25"?> Dichte Aufführungen 25 Die dritte Wende betrifft die Lokalität der Ethnographie selbst und vor allem das Verhältnis zwischen ‚fremd‘ und ‚eigen‘. In seinem Aufsatz „Feld ohne Ferne: Reflexionen über ethnologische Forschung zu Hause-- in Hamburg zum Beispiel“, stellt der Münchner Ethnologe Martin Sökefeld fest: „Ethnologie [ist] nicht mehr die Wissenschaft vom ‚Fremden‘ oder ‚kulturell Anderen‘, sondern die Wissenschaft von wechselnden Positionierungen und Perspektiven.“ 15 Zunehmend werden die Kultur(en) vor Ort zum Untersuchungsgegenstand, was Sökefeld als das Feld ohne Ferne bezeichnet. Die Frage ist nun, ob und inwiefern eine theaterethnographische Forschung von diesen Ansätzen profitieren und sie anwenden kann? Das möchte ich an zwei Beispielen durchspielen, die jeweils andere Perspektiven beleuchten: an der Arbeit des sehr bekannten Kollektivs Rimini Protokoll und an einem weniger bekannten, internationalen Theaterprojekt, Hunger for Trade, das zwischen 2013 und 2014 am Schauspielhaus Hamburg und in mehreren Ländern realisiert wurde. Rimini Protokoll: Das Feld in der Ferne Die Arbeitsweise des ‚Performancelabels‘, so die Selbstbezeichnung von Rimini Protokoll, legt fast paradigmatisch eine ethnologische Wende der Theaterpraxis nahe: Rimini Protokolls Call Cutta kann bereits als kanonisches Beispiel für postdramatisches Theater bezeichnet werden, da es den Zuschauer zum Teilnehmer macht und auf professionelle Darsteller verzichtet. Der ursprüngliche Theater-Zuschauer wird Teilnehmer und selbst Akteur, der eigentlich Unbeteiligte selbst Teil der Performance. 16 Das „interkontinentale Theaterstück“ Call Cutta wurde zwischen 2005 und 2012 in mehreren Iterationen aufgeführt. Die erste Variante fand in der titelgebenden Stadt Kalkutta statt; eine zweite wurde in Berlin und weitere, ‚kompaktere‘ Versionen-- Call Cutta in a box-- in diversen Städten realisiert. Bei allen Versionen sind die wichtigsten Performer „ausgelagert“. So befinden sie sich-- beispielsweise aus mitteleuropäischer Sicht 15 . 000 km und viereinhalb 2000 , S. 151 - 179 . 15 Martin Sökefeld, „Feld Ohne Ferne: Reflexionen Über Ethnologische Forschung Zu Hause-- in Hamburg Zum Beispiel“, in: Ethnoscripts. Analysen und Informationen aus dem Institut für Ethnologie der Universität Hamburg 4 ( 2002 ), 1 , S. 82 - 95 , 82 . 16 Den ‚kanonischen‘ Status dieser Performance sieht man daran, dass hierzu bereits wissenschaftliche Forschungsliteratur entstanden ist, obwohl die Ansätze recht unterschiedlich sind. So z. B. Wolf-Dieter Ernst, „Akteure im Netz. Rimini-Protokolls Call Cutta und die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation“, in: Hajo Kurzenberger, Hanns-Josef Ortheil, Matthias Rebstock (Hgg.), Kollektive in den Künsten, Hildesheim 2008 , und Benjamin Wihstutz, „Politik der Begegnung (Rimini Protokoll)“, in: ders., Der andere Raum: Politiken sozialer Grenzverhandlungen im Gegenwartstheater, Zürich 2012 , S. 179 - 192 . Ein Interesse an ethnologischen Fragestellungen verfolgt Meg Mumford, „Rimini Protokoll’s Reality Theatre and lntercultural Encounter: Towards an Ethical Art of Partial Proximity“, in: Contemporary Theatre Review 23 ( 2013 ), S. 135 - 165 . <?page no="26"?> 26 Christopher Balme Stunden Zeitverschiebung östlich-- im Infinity Tower, Nordostkalkutta, Indien. Es handelt sich um Angestellte in einem Callcenter. Sie folgen einem vorgegebenen Skript, das nach vielen Seiten offen ist, sie wissen zum Beispiel über Berlin viel, aber ansonsten wenig, obwohl sie den Teilnehmern genaue Anweisungen geben. Der Anrufer ist Regisseur und der Angerufene der Zuschauer, die Bühne ist das Labyrinth von engen Gassen, Hinterhöfen, Hausdurchgängen und belebten Sträßchen in Hatibagan, Nordkalkutta, jenem ältesten und geschichtsträchtigsten Teil der Stadt. Während der Zuschauer, Knopf im Ohr, durch den Irrgarten geführt wird, auf Skulpturen an den Fassaden schaut, vom Leben längst verblichener Schauspielerinnen erfährt, die just in dem Haus geboren wurden, das er gerade passiert, fühlt er sich vom Strudel von Geschichte und Geschichten erfasst, und die enge, arme, durchaus heitere Nachbarschaft verwandelt sich zu seiner Bühne und er zum Akteur. 17 Wie in fast allen ihrer Arbeiten untersuchen Rimini Protokoll in Call Cutta ein im weitesten Sinne soziales Problem, oft in Bezug auf Fragen der Globalisierung, des Neoliberalismus und einer sich verändernden Arbeitswelt. Ob in Kalkutta oder Berlin, die Zuschauer/ Akteure/ Teilnehmer sind keine Fremden, sondern Einheimische, die ihre eigene Stadt erkunden, obwohl es sein kann, dass der Stadtteil ihm/ ihr unbekannt ist. Verknüpft wird diese Tour mit der Erkundung des Callcenter-Betriebs (oder -Business), und vor allem mit dem besonderen Rollenspiel, dem Fingieren von Nähe und Vertraulichkeit, das zum „Aufgabenrepertoire“ der Angestellten gehört. Die Frage ist, ob und inwiefern von einer ethnologischen oder gar ethnographischen Haltung oder Einstellung gesprochen werden kann? Sind die Zuschauer gleichsam Ethnographen der eigenen Umgebung? Welche Haltung wird von ihm/ ihr verlangt? Bei allen kognitiven Dissonanzen, die Aufführungen von Rimini Protokoll gelegentlich auslösen, sind sie edukativ angelegt. Eine Ebene der Projekte scheint stets auf Wissenserwerb ausgerichtet zu sein. Meine These lautet, dass bei Call Cutta eine ethnographische Haltung simuliert wird: Der Teilnehmer-- von Zuschauer kann hier nur bedingt die Rede sein-- wird zum teilnehmenden Beobachter, der mit der fremden Umgebung und der fremden Person am anderen Ende der Leitung interagiert. Natürlich kann nur von einer Simulation die Rede sein, weil teilnehmende Beobachtung als wissenschaftliche Methode eine völlig andere Zeit- und Raumerfahrung voraussetzt, denn Grundvoraussetzung sind meistens mehrere Monate im Feld. Dennoch ist die vom Teilnehmer erwartete Haltung eher mit Wissenserwerb als mit ästhetischer Erfahrung im engeren Sinne verbunden. Ich will nicht behaupten, dass Wissensaneignung im Mittelpunkt steht, aber sie spielt eine ungleich wichtigere Rolle als in einer 17 Martin Kämpchen, „Wege im Ohr. ‚Call Cutta‘: Theater per Handy in Kalkutta und Berlin“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07 . 03 . 2005 . <?page no="27"?> Dichte Aufführungen 27 normalen Stadttheater-Aufführung eines Klassikers. Je nachdem, wo Call Cutta stattfindet-- in Kalkutta oder Berlin-- werden den Teilnehmern während der Erkundungstour zahlreiche Informationen mitgeteilt. Dies gilt auch für die fingierte intime Beziehung zwischen Hörer und Sprecher, die ebenfalls zur Botschaft der Aufführung gehört. Sie doppelt gleichsam die fingierte Vertraulichkeit, wie sie als Grundvoraussetzung für das Geschäftsmodell Callcenter gilt. In der strukturellen Anlage der Performance, dem Nachspüren eines bestimmten Weges oder Pfades durch die Stadt, lässt sich eine performative Umsetzung des von Marcus formulierten Appells an die ethnographische Forschung im Sinne eines multisituierten Ansatzes wiederfinden: man folgt einer Sache, der Metapher, einer Person usw. Diese ‚Verfolgung‘ manifestiert sich auf zwei Ebenen: Erstens folgen die Teilnehmer dem vorbestimmten Weg, zweitens der Stimme aus Kalkutta. Diese räumliche Dissoziation zwischen Hörer und Sprecher zeichnet die Konfiguration eines globalen Arbeitsmarktes nach. Auch thematisch, im (performativen) Nachvollzug der Arbeitsbedingungen der Callcenter-Arbeiter in Indien, bewegt sich damit die Performance in die Nähe der Ethnologie: Die Arbeitsethnologie, ‚Anthropology of Work‘, bildet eine eigene und gewichtige Subdisziplin und gehört zum klassischen Arbeitsbereich der Kulturanthropologie. 18 Das Thema ‚Arbeit‘ wird in einem weiteren in Istanbul realisierten Projekt vertieft, Herr Dagacar und die goldene Tektonik des Mülls ( 2010 ). Es handelt von „Experten des Alltags“, in diesem Fall von Wertstoffsammlern, auch despektierlich „Müllmänner“ genannt, in Istanbul, ihren Routen, ihren Tagesabläufen, ihrem mikroskopischen Blick auf Müll, der mit einem globalen Markt verbunden ist. Gesucht wird nach wertvollen Metallen wie Kupfer, Stahl oder sogar Gold (der Titel verdankt sich dem bekannten Spruch: „Istanbuls Boden ist mit Gold gepflastert“). Die vier ‚Darsteller‘ sammeln Müll in den Straßen Istanbuls. Sie werden zu Protagonisten eines Theaterstücks, indem sie auch von ihrem Leben und ihrer Kultur, ihren Träumen und Albträumen, Hoffnungen und Sehnsüchten erzählen. Auf einer zweiten Kommentarebene agiert ein türkischer Schattenspieler, Hasan Hüseyin Karabag, der ihre Erzählungen mit den Mitteln des karagöz-Theaters ironisch-komisch kommentiert. Im Laufe des Abends wird immer deutlicher, wie sich der Arbeitsalltag der Protagonisten gestaltet: Da ist einerseits der Kleinkrieg mit den Istanbuler Behörden, andererseits die Bedeutung der Weltmarktkurse für Kupfer, Stahl, Gold, Papier, die ihre Arbeit ständig beeinflusst. Thematisiert wird auch die Beziehung von Rimini Protokoll zu den türkischen Wertstoffsammlern als „Experten“, und deren anfängliche Vorurteile, aber auch Ängste, für künst- 18 Vgl. hierzu die entsprechende Unterabteilung der American Anthropological Association, die Society for the Anthropology of Work: online: http: / / www.aaanet.org/ sections/ saw/ [ 30 . 04 . 2016 ]. <?page no="28"?> 28 Christopher Balme lerische und ethnographische Zwecke ausgenutzt zu werden. Somit wird in diesem Stück zum ersten Mal „die produktionseigene Metaebene ihres Arbeitsprozesses freigelegt“. Die Fragen, die sich während der ‚Probenphase‘ stellten, werden von den Protagonisten auf der Bühne diskutiert: „Was bedeutet es für einen Wertstoffsammler, sein Leben auf Festivalbühnen auszubreiten? Wie greift das Bühnenunternehmen in seine Existenz ein? Und welche Rollen spielen die Klischees, die die beiden aufeinander treffenden Milieus vom jeweils anderen haben? “ 19 Die türkischen Wertstoffsammler sind, wie bereits sagt, Beispiele für die inzwischen berühmt gewordenen „Experten des Alltags“, die Rimini Protokoll mit Vorliebe auf die Bühne bringen. Dadurch entsprechen sie in einem gewissen Sinne den neuesten ethnologischen Forderungen nach Multivokalität und Selbstartikulation, hier auf dem Gebiet der darstellenden Künste. Ich erinnere noch einmal an Conquergoods Forderung aus den frühen 1990 er Jahren: „What about enabling the people themselves to perform their own experience? “ Was Conquergood in Hinblick auf alternative Darstellungsmodalitäten ethnologischer Forschung formulierte, erfährt hier eine schlichte, aber wirkungsvolle Umkehrung: Das Theater wird zum Darstellungsort ethnographischer Fragestellungen gemacht. Ein zweiter Aspekt, der die Verbindung zwischen Theater, zumindest postdramatischem Theater, und Ethnologie stärkt, ist die Arbeitsweise der Gruppe. Recherche und Vorbereitung ihrer Projekte haben durchaus einen ethnographischen Ansatz. So formuliert ein Mitglied des Kollektivs, Daniel Wetzel, die Motivation ihrer Arbeit sei das Interesse an anderen Kulturen: One of the things that drives me, or also my colleagues in our theater work,- […] is to open up something new-- that is, to gain access to a country, a society, to a way of thinking, to a way of living. Firstly, the experience of getting to know something for oneself, and doing so through personally looking, rather than say, via a medium such as the internet; and secondly, the achievement of new perspectives through the input of outsiders who have a certain distance from the people and situation being explored. 20 Der Wunsch, sich Zugang zu einer fremden Kultur zu verschaffen, kann vielleicht als Urtrieb aller Ethnologen bezeichnet werden, da ihr Beruf letztlich darauf beruht, diese Motivation in die Tat umzusetzen. Diese ethnographische Forschungsmethode und Betrachtungsweise wird dann in eine theatrale Form übersetzt, die vor allem dazu dient, den Experten des Alltags einen halbwegs sicheren Rahmen zu gewährleisten, in dem die Nicht-Schauspieler agieren können. Dieses Problem 19 Zitiert nach dem Ankündigungstext des Festivals PERSPECTIVES in Saarbrücken, wo Herr Dagacar vom 25 .- 26 . 9 . 2012 aufgeführt wurde. Online: http: / / www.festival-perspectives. de [ 30 . 04 . 2016 ; vgl. das Archiv für das Jahr 2012 ]. 20 Haug, zitiert nach Meg Mumford, „Rimini Protokoll’s Reality Theatre and lntercultural Encounter“, S. 156 (Hervorhebungen durch den Verfasser). <?page no="29"?> Dichte Aufführungen 29 stellt sich bei Audiowalks wie Call Cutta etwas anders, weil die ethnographische Fremderfahrung auf den Teilnehmer übertragen wird. Beiden Ansätzen liegt jedoch ein gemeinsamer Wunsch zugrunde, Wissenserwerb und ästhetische Erfahrung in einem neuen Verhältnis auszubalancieren. Hunger for Trade: Multisituiertes Theater Das zweite Beispiel, Hunger for Trade, verkörpert noch expliziter das Problem der multi-sitedness, und zwar sowohl aus einer produktions-ästhetischen als auch aus einer organisatorischen Perspektive. Hunger for Trade: Ein internationales Theaterprojekt über den globalen Nahrungsmittelmarkt wurde am Hamburger Schauspielhaus unter der Leitung von Clemens Bechtel zwischen 2013 und 2014 in Zusammenarbeit mit acht weiteren Theatergruppen und Ländern realisiert. 21 Ziel des Projekts war es, ein internationales Theaternetzwerk aufzubauen, das die „Möglichkeiten eines globalen, multiperspektivischen und politischen Theaters erprobt.“ 22 Das Thema war die globale Nahrungsindustrie und deren vielfältige Verflechtungen. Hintergrund und Ausgangspunkt waren folgende Überlegungen: Seit 2002 seien die Preise für Grundnahrungsmittel in Folge von Spekulation, Umnutzung von Agrarflächen für Biosprit-Gewinnung, klimatischen Veränderungen und dem Anstieg der Weltbevölkerung um fast 180 % gestiegen. Versorgungskrisen und teilweise in Gewalt mündende Protestaktionen in Afrika, Asien und Südamerika 2008 seien genau wie die revolutionären Ereignisse in Ägypten 2010 / 2011 maßgeblich durch die hohen Nahrungsmittelpreise beeinflusst. Darüber hinaus formiere sich der Nahrungsmittelmarkt neu: Während sich für afrikanische Kleinbauern durch die Preissteigerungen teilweise neue Absatzmöglichkeiten ergeben, komme es in anderen Ländern zu einem Ausverkauf von Agrarflächen an multinationale Konzerne. In Asien und Südamerika werden Bauern von den Feldern vertrieben, die sie seit Generationen bewirtschaften, gleichzeitig werden in Europa Landwirte und Agrarfabriken mit EU -Subventionen unterstützt. 23 Hunger for Trade begegnet der Komplexität des beschriebenen Themas mit einem international angelegten Theaterprojekt. Basierend auf einem parallel durchgeführten und vernetzten Rechercheprozess entwickelten Künstler aus vier Kontinenten an neun verschiedenen Theatern bzw. Standorten inhaltlich und formal eigenständige Dokumentar-Inszenierungen, die sich mit unterschiedlichen 21 Es handelte sich um das Indian Ensemble, Bangalore/ Indien, das State Theatre Pretoria/ Südafrika, das Théâtr’Evasion aus Ouagadougou in Burkina Faso, die Cia de Tivolos, Sao Paolo/ Brasilien, das Teatrul Odeon, Bukarest/ Rumänien, das Royal Exchange Manchester/ UK, die Koninklijke Vlaamse Schouwburg, Brüssel/ Belgien, und das Theater Konzert Bern/ Schweiz. 22 Clemens Bechtel, Unveröffentlichtes Konzeptpapier „Hunger for Trade“, Hamburg, 2013 , S. 1 . 23 Vgl. ebd., S. 2 . <?page no="30"?> 30 Christopher Balme Aspekten des Themas auseinandersetzen. Zugleich fand ein „Schulterschluss“ zwischen Kunst und Wissenschaft statt, der seinerseits innovative ästhetische Formate zu entwickeln versuchte. Dazu kamen im Projekt verschiedene Strategien zum Tragen: Der öffentliche, künstlerisch-wissenschaftliche Austausch zum Beispiel bei einer internationalen „performativen Konferenz“, die Initiation von neuen Theaterprojekten in neun Ländern mit namhaften Künstlern und deren Vernetzung auf allen Ebenen der Arbeit sowie die nachhaltige und langfristige Verankerung der Thematik durch eine öffentlich nachvollziehbare Recherche, die online durch ein WebDoc dokumentiert wird. WebDoc ist ein Online-Format, das weltweit dem Besucher ermöglicht, dokumentarische Inhalte, z. B. Videos, Texte, Tondokumente oder Bilder, aber auch Diskussionen und Kommentare in leicht zugänglicher Art interaktiv zu erleben. 24 Das Projekt gliederte sich in fünf Etappen: eine Auftaktkonferenz im November/ Dezember 2013 ; eine von Januar bis März 2014 andauernde Recherchephase; eine Probenphase (März/ April 2014 ); die ortsverteilten Aufführungen von April bis Juni 2014 ; und ein „Abschlussmarathon“ im Juni 2014 . Die am ursprünglichen Konzeptpapier orientierte Beschreibung des Projekts, das Ende Mai 2014 am Hamburger Schauspielhaus zu einem vorläufigen Abschluss gebracht wurde, macht bereits deutlich, wie sehr die Theaterarbeit nicht nur ethnologische und ethnographische Fragestellungen aufgriff, sondern auch deren Arbeitsmethoden adaptierte. Die sogenannten ‚core themes‘-- Farming, Trading, Eating, Starving, Politics & Markets, Food Arts-- ließen sich ohne weiteres in ein ethnologisches Forschungsprogramm integrieren. So befasste sich das Théâtr’Evasion in Ouagadougou, Burkina Faso im Rahmen ihres Stücks Greve de la faim (Hungerstreik) mit dem Konnex von Hunger und Handel. Das Indian Ensemble aus Bangalore behandelte in einem am dortigen Goethe-Institut aufgeführten Stück Thook die Auswirkungen neoliberaler Reformen auf Nahrung in Indien.- Eine Besonderheit dieses Theaterprojekts war der hohe Grad der Vernetzung zwischen den jeweiligen Projekten, die ‚Rechercheaufträge‘ an andere Projekte vergeben konnten, um auf der Forschungsebene der internationalen Verflechtung der Lebensmittelindustrie gerecht zu werden. Die Innovation des Projekts liegt sicherlich im konzeptionellen Zuschnitt. Die ethnologische Reorientierung hin zu multi-sitedness wurde in den Vorbereitungs- und Recherchephasen umgesetzt. Weniger ‚erfolgreich‘, zumindest im Sinne der öffentlichen Resonanz, waren die eigentlichen Aufführungen und vor allem der ‚Abschlussmarathon‘ am 30 . 05 . 2014 , an dem alle Projekte im Hamburg online in einer Live-Schaltung hätten gezeigt werden sollen. Große technische Probleme 24 Die Website ist noch zugänglich und gibt einen sehr guten Überblick über Aufbau und Ablauf des Projekts. Online: http: / / www.hunger-for-trade.net [ 30 . 04 . 2016 ]. <?page no="31"?> Dichte Aufführungen 31 führten dazu, dass dieser Teil nur unzureichend realisiert werden konnte. In einer der wenigen Kritiken des Abends heißt es: Beim Finale am Freitag sollen die unterschiedlichen Produktionsorte miteinander vernetzt werden. Mit Videobeamern und Laptops haben sich die Macher in den Malersaal des Schauspielhauses zurückgezogen. Das Internet soll die weltweit zeitgleichen Abschlussveranstaltungen über Tausende Kilometer verbinden. Doch es entstehen große technische Probleme: Die Datenverbindungen streiken und Gespräche können nicht geführt werden. Steht die Leitung doch, kommt die Gesprächsführung wegen der schlechten Übertragungsqualität oft über ein Grußwort nicht hinaus. 25 Nichtsdestotrotz kann als Fazit gezogen werden, dass Hunger for Trade neuartige Kooperations- und Arbeitsprozesse erprobte, die einerseits ethnologische Forschung und theaterkünstlerische Arbeitsmethoden eng aufeinander bezogen und sich andererseits der Herausforderung ortsverteilter Theaterproduktion stellte. Fazit: zur Konvergenz von Theater und Ethnologie Ethnologische Weltaneignung im Theater bedeutet eine Verschiebung von der „Verrätselung der Welt durch die Kunst“, um mit Adorno zu sprechen, hin zu einer Enträtselung und Deutung der Welt und ihrer Zusammenhänge. Dies bedeutet auch eine Neuordnung des Theaterrahmens im Sinne Erving Goffmans. Was wir von Theater erwarten, verändert sich offensichtlich. Am Ende des Hahnenkampf- Aufsatzes zitiert Clifford Geertz den Literaturwissenschaftler Northrope Frye: „Niemand ginge in eine Vorstellung von Macbeth, um etwas über die Geschichte Schottlands zu erfahren; man will erfahren, wie sich ein Mann fühlt, der ein Königreich gewonnen, aber seine Seele verloren hat.“ Geertz fährt selber fort: So schafft [der Hahnenkampf] etwas, das man vielleicht- […] ein paradigmatisches menschliches Ereignis nennen könnte, denn es sagt nicht so sehr, was geschieht, sondern eher, was in etwa geschehen würde, wenn das Leben-- was ja nicht der Fall ist-- Kunst wäre und so uneingeschränkt wie bei Macbeth und David Copperfield von Gefühlen bestimmt sein könnte. 26 Bei allen Konditionalsätzen und Theatermetaphern nimmt Geertz doch eine kategoriale Unterscheidung zwischen Theater und Hahnenkampf und somit zwischen Literaturbzw. Theaterwissenschaft und Ethnologie vor. Heute aber, im Zeitalter des postdramatischen Theaters, ist es nicht mehr so gesichert, ob man in eine Theatervorstellung geht und nichts über die Kultur Westafrikas, die Arbeitsbedingun- 25 „Technik streikt beim Theater-Finale ‚Hunger for Trade‘“, in: Focus, 31 . 03 . 2014 ; online: www.focus.de/ kultur/ kunst/ theater-technik-streikt-beim-theater-finale-hunger-for-trade_ id_ 3886646 .html [ 30 . 04 . 2016 ]. 26 Geertz, Dichte Beschreibung, S. 255 - 256 . <?page no="32"?> 32 Christopher Balme gen der Callcenter-Angestellten in Kalkutta, die Müllarbeiter in Istanbul oder die globalen Verflechtungen des Lebensmittelmarktes erfahren will. Bei den heutigen dichten Aufführungen heißt es: Wissenserwerb wahrscheinlich, aber ästhetische Erfahrung ohne Gewähr. <?page no="33"?> C’est du Chinois 33 C’est du Chinois Theater für Experten des Nicht-Verstehens Bart Philipsen (Leuven) Das Forschungsthema ‚Theater und Ethnologie‘ mag auf den ersten Blick andere Schwerpunkte nahelegen, als den des sprachlich Fremden im geläufigen Sinne. Die Frage der Anderssprachigkeit und die damit zusammenhängenden Verständigungs- und Übertragungsprobleme in internationalen bzw. interkulturellen Theateraufführungen werden in heutigen Produktionen längst mittels eingeblendeten Übertiteln gelöst (oder übersprungen). Die exemplarischen Überschneidungen zwischen ethnologisch-anthropologischen, soziologischen und theaterwissenschaftlichen Interessen situieren sich vor allem seit den grundlegenden Arbeiten von Victor Turner und Richard Schechner in erster Linie im Bereich des kulturell Performativen, wobei sowohl nach der Theatralität und Dramatik bestimmter kultureller Praktiken und Prozesse gefragt als auch auf das Potential zur ästhetischen (und kritischen) Reflexion solcher ‚cultural performances‘ in künstlerischen Praktiken, im Besonderen im Bereich des Theaters, fokussiert wird. 1 Das Interesse für ethnologisch-anthropologische Fragestellungen hat in den Theaterpraktiken sowie in der Theaterwissenschaft, vor allem in den USA und Europa, ebenfalls zu einer zunehmenden Aufmerksamkeit für einerseits nicht-europäische Theateraufführungen und Praktiken und andererseits nicht-dramatische und durchaus zeremonielle bzw. kultisch-rituelle Aspekte vormoderner europäischer Aufführungstraditionen geführt. Die Verschiebung des Interesses zum kulturell Fremden sowie zum Rituellen ging und geht nicht selten mit einer Kritik am ‚abendländischen‘ Diskurs-primat einher, einer Infragestellung der westlichen Tradition psychologisch gesteuerten Texttheaters, insbesondere des modernen Dramas (Szondi), dessen Handlung ganz von dialogisierenden Personae, das heißt also: exklusiv 1 Zu der gegenseitigen Annäherung von Theater(-wissenschaft) und Ethnologie siehe u. a. das einschlägige Kapitel in Christopher Balme, Einführung in die Theaterwissenschaft, Berlin 1999 , S. 167 - 174 . <?page no="34"?> 34 Bart Philipsen durch verkörperte Sprechakte durchgeführt wird. 2 Diese Tendenz zu nicht-dramatischen bzw. nicht-diskursiven Theaterpraktiken könnte allerdings auch als Folge des Interesses an fremdsprachigen Theaterformen oder kulturellen Performances betrachtet werden; ist das Verstehen in solchen Fällen doch überwiegend auf eine andere als linguistische, d. h. eher auf eine materielle, sinnliche oder körperliche Zeichensprache angewiesen. Die Kritik am Textbzw. Diskursprimat der westlichen Theatertradition und die Verlagerung des Fokus auf nicht-semantische, körper- oder dingbetonte Zeichensprachen droht freilich auch eine althergebrachte kolonialistische (ggf. orientalistische oder exotistische) Repräsentationslogik zu bestätigen, auch wenn augenscheinlich nur materielle performative Praktiken betont werden. 3 Die einseitige Aufwertung von Musikalität (oder sprachlicher Materialität), Sinnlichkeit und Ritualismus in nicht-europäischen oder nicht-angloamerikanischen Aufführungen, und die spiegelverkehrte Abwertung abendländischer Diskursivität setzen eine durchaus problematische Dichotomisierung fort, die den Fremden nur um den Preis der Sprachlosigkeit bzw. der stummen Körperlichkeit und der grundsätzlichen Unverständlichkeit als den absolut Anderen zu schätzen droht. Dabei verliert man vielleicht aus dem Auge, dass der westlichen Denk- und Wahrnehmungsmustern und diskursiven Modellen öfters zur Last gelegte ‚Logozentrismus‘ in der sich globalisierenden Welt wohl kein exklusiv europäisch-angloamerikanisches ‚Übel‘ mehr ist; überall sind diskursive Mechanismen der Vereinheitlichung, Reduktion, Ein- und Ausschließung sowie der dichotomisierenden Logik wirksam, um kulturelle und linguistische Differenzen entweder zum Zweck weiterer Globalisierung homogenisierenden Strategien zu unterziehen oder (und zugleich) zu bestimmten (sogar marktwirtschaftlichen) Zwecken einer durchaus nationalistischen Identitätspolitik zu unterwerfen. Sprach- und Diskurspolitik und die durch diese eingesetzten performativen Strategien sind wohl wesentliche Instrumente solcher Identität und Homogenität produzierenden Mechanismen, und genuine kulturelle Differenzerfahrungen werden nicht zuletzt solchen Gegenstrategien abgewonnen werden müssen, die eine homogenisierende diskursivsemantische Logik unterminieren und pervertieren. Aus diesem Grund wird längst keiner mehr bestreiten, dass Sprachlichkeit als solche-- d. h. linguistische Diskursivität-- inzwischen einen nicht unbedeutenden Faktor in der Debatte über Theater und Ethnologie, eben auch im oben erwähnten erweiterten Sinne des Interkulturellen, darstellen kann. Das dürfte mit einem verschärften Bewusstsein der in vielen großstädtischen Räumen anwesenden kulturellen Vielfalt oder ‚Multikulturalität‘ zusammenhängen, durch die alte binäre 2 Peter Szondi, Theorie des modernen Dramas (1880-1950), Frankfurt a. M. 1979 , S. 14 - 15 (dort zur „Alleinherrschaft des Dialogs“). 3 Siehe Christine Regus, Interkulturelles Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Ästhetik-- Politik-- Postkolonialismus, Bielefeld 2009 , S. 269 . <?page no="35"?> C’est du Chinois 35 und dichotomische Kategorien und diskursive Strategien des Eigenen und des Fremden schwer unter Druck geraten sind und kulturelle sowie auch sprachliche Hybridität keine Ausnahme mehr bilden. Die Erfahrung kultureller Differenz hat nicht nur zu einer verfeinerten und differenzierteren Semantik von Alterität und Differenz jenseits von und manchmal quer zu den alten Grenzziehungen des Eigenen und des Fremden geführt, sondern die reflektierte Sprachlichkeit der produzierten Repräsentationen kultureller Differenz überschneidet sich auch mit der realen Wahrnehmung einer Multilingualität, die Konzepte wie Muttersprache und Fremdsprache und die in ihnen wirksamen Kräfte der Zuordnung und Zugehörigkeit in Frage stellt. 4 Die mit der Hürde der Fremdsprachen bzw. der Anders- und Vielsprachigkeit verbundenen Schwierigkeiten lassen sich kaum von der Problematik der Übersetzung trennen. So wie ethnologisch-anthropologische Fragestellungen den Kultur- und Geisteswissenschaften neue Impulse gegeben haben und Performativitäts- und Theatralitätskonzepte paradigmatisch für andere kulturelle Forschungsobjekte geworden sind, 5 so lässt sich auch der aktuelle Erfolg der Übersetzungswissenschaft in den Geisteswissenschaften verstehen. Nicht nur ist sie seit einiger Zeit als eine akademisch (und theoretisch) salonfähige Forschungsdisziplin sowohl in literaturwissenschaftlichen bzw. theoretischen und hermeneutischen als auch in kulturwissenschaftlichen Debatten, etwa über Prozesse kulturellen Transfers, ausdrücklich anwesend; so ausdrücklich, dass man von einem translational turn 6 in den Kulturwissenschaften spricht; die Sensibilität für Sprachdifferenz und Sprachlosigkeit in der Theoriebildung (und selbstverständlich auch der Praxis) der Übersetzungswissenschaft bedeutet auch für die Philologie eine Herausforderung und eine Möglichkeit, sowohl ihren Gegenstand als auch ihren Auftrag grundsätzlich neu zu überdenken. Denn die Einsicht in die unaufhebbare Differenz zwischen der unaufhaltsamen und kaum einzugrenzenden Dynamik des Sprechens und den homogenisierenden Standards der (National-)Sprache(n) (langue), die Einsprachigkeit als kulturpolitisches Projekt fördern und konstituieren, zwingt nicht nur das Geschäft des Übersetzens zu einer grundsätzlichen Reflexion über den Akt des Übersetzens und dessen Koordinaten, Grenzen und Ziele; sie führt auch dazu, dass jede Art von Sprach-Wissenschaft sich mit einem Objekt konfrontiert sieht, das den es konstituierenden Beschreibungs- und Zuweisungsstrategien Widerstand leistet und sich ihnen als festumrissenes Wissensobjekt letztendlich entzieht. 4 Sehr aufschlussreich zu dieser Problematik u. a. Till Dembeck, Georg Mein (Hgg.), Philologie und Mehrsprachigkeit, Heidelberg 2014 . 5 Siehe u. a. Erika Fischer-Lichte u. a. (Hgg.), Theatralität als Modell in den Kulturwissenschaften, Tübingen, Basel 2004 . 6 Siehe das Themenheft von Translation Studies 2 , 1 ( 2009 ), das diesem „translational turn“ gewidmet ist. <?page no="36"?> 36 Bart Philipsen Die Infragestellung der dichotomischen Logik des Eigenen und des Fremden, die mittlerweile jeder zeitgenössischen wissenschaftlich fundierten ethnologischen Perspektive zugrunde liegen muss, wird wohl nirgendwo konkreter als in Übersetzungspraktiken, wobei literarische Übersetzungen wegen der erhöhten Sensibilität fürs Sprachliche als exemplarisch gelten können. Aber der wichtigste Ertrag dieser Entwicklung dürfte die Erfahrung jener sich in jeder vermeintlich ‚einsprachigen‘ Sprache (d. h. in jeder sich als eine einheitliche Nationalsprache präsentierenden Sprache) unverfügbar machenden bloßen Sprachlichkeit sein, die sich nicht semantisch auflösen lässt und weder in Übersetzungsprozessen noch in irgendwelchen Erklärungsprozessen innerhalb einer Sprache zu ‚klären‘ ist: die „Fremdsprache des bloßen Sprechens“, so Werner Hamacher in dem Aufsatz „Kontraduktionen“, ist wie die Sprache eines „inneren Ausland[s]- […], in dem keine politische und keine nationalsprachliche Autorität gilt“. 7 Diese Sprachlichkeit ist kein idiomatischer Kern, sondern eher der niemals zu verrechnende Rest, der übrigbleibt, wenn linguistische und hermeneutische Kategorien und Operationen an ihre Grenzen stoßen-- ein Eigentümliches, das paradoxerweise keinem Sprecher und keiner spezifischen Sprache als identifizierbare Eigenschaft oder idiomatische Substanz gehört, da es sich-- um Novalis’ berühmtes Diktum zu zitieren-- „nur um sich selbst kümmert“ und die Absichten und Strategien des wollenden und (gut) meinenden Subjekts sowie der sprachpolitischen Grenzziehungen unterläuft. 8 Es könnte am ehesten noch mit Hilfe von Walter Benjamins Begriff ‚Mitteilbarkeit‘ erhellt werden, mit dem ebenfalls auf ein performatives Mitteilen gezielt wird, das nichts Spezifisches mitteilt oder meint bzw. keinen kommunikativen Inhalt, sondern nur unmittelbar die Sprache als Medium vermittelt (oder dazu einlädt, sie miteinander zu teilen). Die Analogie bringt auch die messianische Tendenz von 7 Werner Hamacher, „Traduktionen“, in: Georg Mein (Hg.), Transmission. Übersetzung- - Übertragung-- Vermittlung, Wien/ Berlin 2010 , S. 13 - 33 , 16 . 8 Hier soll zweimal auf Derrida hingewiesen werden. Einmal auf Derridas Reflexionen Le monolinguisme de l’autre ou la prothèse d’origine, in denen er die These über die jeweils individuelle Unverfügbarkeit der bzw. ‚meiner‘ Sprache entwickelt, die These, dass unser Idiom (unsere Einsprachigkeit) zugleich unbestreitbar und unüberschreitbar ist und uns zugleich nicht ‚gehört‘: „Ich habe nur eine Sprache, und die ist nicht die meinige“. ( Jacques Derrida, Die Einsprachigkeit des Anderen oder die ursprüngliche Prothese, aus dem Französischen von Michael Wetzel, München 2003 , S. 19 .) Der zweite Hinweis betrifft die berühmte Debatte mit Gadamer im Pariser Goethe-Institut. Derrida stellte dort Fragen über Gadamers „Appell an den guten Willen und die absolute Verbindlichkeit im Bestreben nach Verständigung“, die Derrida als „Metaphysik des Willens“ versteht, d. h. als eine „Bestimmung des Seins des Seienden als Wille oder wollende Subjektivität“, die dadurch die Andersheit des Anderen bzw. des Zu-Verstehenden verfehle, dass sie auf eine Form des Selbst zurückgeführt werde. Vgl. Jacques Derrida, „Guter Wille zur Macht (I)“, in: Philippe Forget (Hg.), Text und Interpretation. Deutsch-französische Debatte mit Beiträgen von J. Derrida, Ph. Forget, M. Frank, H.-G. Gadamer, J. Greisch und F. Laruelle, München 1984 , S. 56 - 58 . <?page no="37"?> C’est du Chinois 37 Benjamins Werk ins Spiel. Deren profanere Bedeutung liegt nicht zuletzt in einem impliziten Versprechen, dass die Bereitschaft, sich dem Anderen zu eröffnen, ohne ihn unbedingt verstehen zu wollen oder von ihm verstanden werden zu wollen-- Letzteres wäre noch einmal der gute Wille des Verstehens, der den/ die Anderen der Bestimmung einer wollenden Subjektivität unterwirft--, zu einer Begegnung im ‚unmittelbaren‘ Medium der Sprache führen kann. 9 Sind wir damit vom ursprünglichen Schwerpunkt ‚Theater und Ethnologie‘ ins (zu) weite Feld des Philologischen, Literarischen und (Sprach-)Philosophischen abgedriftet, d. h. in ein Feld, von dem das Theater im zeitgenössischen Sinne, als performative oder aufführungsorientierte künstlerische Praxis, sich vor allem seit der sogenannten postdramatischen Wende hat emanzipieren müssen? Wohl kaum, denn das prekäre Moment des Durchquerens von Sprachlichkeit oder Mitteilbarkeit bzw. ‚Unmittelbarkeit‘ eines Verstehens, das zwar versprochen bleibt, aber keine sichere Auskunft-- weder Gelingen noch Scheitern-- versprechen kann, betrifft ebenfalls einen wesentlichen Aspekt und eine Möglichkeit des interkulturellen Theaters. Es handelt sich um die Aufgabe, sprachlich bedingte Verstehens- und Verständigungsprozesse samt Missverständnissen durchzuspielen und einen Raum der Begegnung jenseits eines vom ‚guten Willen des Verstehens‘ bestimmten Diskurses zu eröffnen. Der von ethnologischen, anthropologischen und soziologischen Impulsen ausgelöste performative turn in den Kulturwissenschaften und dessen Fruchtbarkeit für theaterwissenschaftliche Theoriebildung und Aufführungsanalyse mögen die sprachphilosophische oder -pragmatische Performativität am Anfang überblendet haben; aktuelle Theatertheorien und Analysemodelle bedienen sich mittlerweile jedoch längst eines hybriden Performativitätskonzepts, in dem sich linguistisch-rhetorische und aufführungsanalytische Ansätze ergänzen. 10 Das gilt besonders für solche Performances, in denen die Beziehungen zwischen Sprechakten und deren Verkörperungen hervortreten, Sprechakte also als Handlungen oder Ereignisse oder „unselbstverständliche“ Vorgänge aufgeführt werden, welche die vermeintlich evidente, quasi-natürliche semiotische Beziehung zwischen Sprechendem und Sprache, Körper und Wort in Frage stellen. 11 Eine besondere, für das Thema des interkulturellen Theaters als ‚Theater der Anderen‘ sehr relevante 9 Zu „Mitteilen“, „Mitteilbarkeit“ und „Unmittelbarkeit“ siehe Walter Benjamin, „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“, in: ders., Gesammelte Schriften 2/ 1, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1980 , S. 140 - 157 , 142 - 143 . 10 Für einen Überblick über die verschiedenen Herkunfts- und Anwendungsbereiche des Performanzbegriffs sowie über Übergangs- und Anschlussmöglichkeiten bzw. Versuche zur Integration der unterschiedlichen Bedeutungsfelder siehe Uwe Wirth (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2002 . 11 Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M. 2001 , S. 269 („Sprechakt als Ereignis“). <?page no="38"?> 38 Bart Philipsen Zuspitzung dieser Sprach-Ereignishaftigkeit liegt dann vor, wenn die Fremd- oder Anderssprachigkeit selber reflektiert, die mit ihr verbundene Problematik der Sprachund/ als Kulturzugehörigkeit thematisiert und die Kommunikations- und Verständigungsproblematik mit dem Publikum geteilt und als Moment der Aufführung mitinszeniert wird. Die Inszenierung des Sich-Verständigens als eines performativen Ereignisses ist nur die theatralisierte Vorführung bzw. performance von auch im Realen sich in bestimmten dramatisch-theatralischen Rahmen und nach einschlägigen (Spiel-)Regeln vollziehenden Sprechakten. Sie ermöglicht es allerdings, einen ‚schrägen‘ Blick auf die Performativität des täglichen Verstehens zu werfen und dessen Nicht-Evidenz zu reflektieren. Edit Kaldor Die Beziehungen zwischen Performativität in dem oben skizzierten, komplexen Sinne und einem (inter-)kulturellen Verstehen sollen im Folgenden am Beispiel der ungarisch-belgischen Theatermacherin Edit Kaldor dargelegt werden. 12 Edit Kaldor wurde 1968 in Budapest geboren und emigrierte als Kind mit ihrer Mutter in die Vereinigten Staaten, nachdem sie zuerst ein halbes Jahr in einem österreichischen Flüchtlingslager verbracht hatte. Sie studierte an der Columbia Universität in New York, am University College in London und am DasArts in Amsterdam und arbeitete mehrere Jahre als Dramaturgin und Videokünstlerin für und mit Peter Halasz (Squat theater/ Love theater New York), bevor sie mit eigenen Theaterarbeiten bekannt wurde. Ihr Leben und Werk spielen sich zurzeit zwischen Brüssel und Amsterdam ab. In ihren manchmal multimedialen und interdisziplinären Theaterproduktionen, die sehr oft die Grenzen zwischen Fiktivem und Faktischem abtasten und mit dem Genre des Dokumentartheaters spielen, ist immer wieder die Problematik der Kommunikation und des Verstehens zentral, wobei Kaldor selbstverständlich hin und wieder aus ihrer autobiographischen Erfahrung als politischer Flüchtling und Immigrantin schöpft. Und zu dieser Erfahrung gehört nicht zuletzt die Anders- und Fremdsprachigkeit, mit der sie in den verschiedenen kulturellen und sprachlichen Kontexten, in denen sich ihr Leben und ihre Bildung vollzogen haben, konfrontiert worden ist. Leitmotivisch kehrt in Interviews ihre komplizierte Beziehung zur (Mutter-)Sprache zurück; diese wird nicht nur auf die Tatsache zurückgeführt, dass sie so oft in ihrem Leben den sprachlich-kulturellen Kontext gewechselt habe, sondern ganz besonders auch darauf, dass sie, da sie mit dreizehn schon die Heimat verlassen habe, sich in keiner Sprache, auch nicht 12 Siehe zu Kaldors Leben und Werk, online: http: / / www.editkaldor.com/ en/ about.html [ 30 . 04 . 2016 ]. <?page no="39"?> C’est du Chinois 39 in der Muttersprache, zuhause oder sicher fühle und keine der von ihr benutzten Sprachen wirklich beherrsche. 13 Das nicht-evidente Verhältnis zwischen Sprechen, Kommunizieren und Verstehen sowie die damit (d. h. mit Sprache(n), Fremdwörtern usw.) verknüpften und daraus resultierenden affektiven Aspekte bilden einen roten Faden in Edit Kaldors Theaterproduktionen. Mit ‚nicht-evident‘ ist freilich nicht nur das negative Moment der Kritik rational fundierter Kommunikations- oder aber ‚pfingstlicher‘ Verständigungsideale gemeint; Kaldors Theater lotet vor allem den Raum nicht unbedingt auf rigiden Erkenntnisidealen basierender Verständigungsmöglichkeiten zwischen sturer Skepsis und allzu hoch angesetzten Erwartungen aus. Sie hat sich gewissermaßen zu einer Expertin in den hermeneutischen Möglichkeiten eines Nicht-so-richtig-Verstehens entwickelt. Ihre theatralischen Narrative übersteigen allerdings die sozial-politische Thematik der Emigration und inszenieren Kommunikations- und Verständigungsformen, -modi und -medien-- Internet und soziale Medien sind öfters Motive in ihren Produktionen oder werden als reale Mittel (und nicht bloß als Requisiten) eingesetzt-- um ethische und existentielle Fragestellungen und Erfahrungen wie Isolation, Unverständnis, Identitätskrisen, die Suche nach tragfähigen Lebens- und Beziehungsformen usw. anzuschneiden. 14 Die Aufführungsformen, in denen solche Themen dargestellt werden, lassen sich am besten als theatralisierte künstlerische Forschungs- und Bildungsprozesse begreifen, in denen nicht nur interkulturelle, sondern auch intrakulturelle Fremdheits- oder Differenzerfahrungen erprobt werden und Evidentes durch Verunsicherungsstrategien ‚verfremdet‘ wird. Kaldor untersucht sehr gerne die komplexen Beziehungen zwischen Theater/ Kunst und Wissen bzw. zwischen Wissen und Macht, sie führt Experimente vor und aus, die 13 In Christiane Kühl, „Sag es mit Worten- - Edit Kaldor ‚Cest du Chinois‘“, zit. nach Edit Kaldors, online: http: / / www.editkaldor.com/ nl/ articles.html [ 30 . 04 . 2016 ]. 14 In ihrer ersten Produktion Or Press Escape ( 2002 ) saß die Schauspielerin mit ihrem Rücken zum Publikum und arbeitete auf ihrem Computer. Das Publikum konnte mitlesen, denn alles, was sie schrieb, verwarf und sonst tat-- E-Mails lesen und schreiben, chatten, Fotos löschen und wieder zurückholen, einen Brief zur Immigrationsbehörde schreiben-- konnte auf einer großen Leinwand verfolgt worden. Als Zuschauer glaubte man vorschnell die Satzanfänge der Frau am PC und somit ihre Geschichte(n) schon ergänzen zu können. Aber dieser hermeneutische Fleiß wurde selbst wieder als trügerische Empathie problematisiert. In Point Blank ( 2007 ) wurde man wieder mit einer ähnlichen Konfiguration konfrontiert, nur zeigte jetzt die fiktive Figur der neunzehnjährigen Photographin Nadja den Zuschauern ihr Bilderarchiv, das sie auf ihrem Laptop gespeichert hatte: heimliche Schnappschüsse von unbekannten Leuten, deren Lebensweisen sie bis ins private und bizarre Detail photographisch dokumentiert hatte, um daraus eine Matrix von möglichen Lebensformen und -strategien abzuleiten, die sie (und das Publikum mit ihr) sich für ihr eigenes Leben zunutze zu machen hoffte. Auch hier führten die ‚empirische‘ Methode und der Standpunkt des wissenschaftlichen Beobachters hinterrücks zum Nachdenken über das eigene Leben. <?page no="40"?> 40 Bart Philipsen aber selten zu eindeutigen Erkenntnissen führen, sondern vielmehr die trügerischen Fallstricke und Aporien des Verstehen-Wollens des Anderen ‚exponieren‘. Das bedeutet allerdings, dass das Publikum fast immer in ihre Inszenierungen eingebunden wird, freilich nicht bloß in der Rolle des ‚teilnehmenden Beobachters‘, der frei zwischen den Positionen des Teilnehmers und Beobachters schalten und letzten Endes den übergeordneten Standort des Erkenntnissubjekts zurückgewinnen kann. Kaldors Produktionen sind sehr oft darauf angelegt, die Zuschauer zu Komplizen einer scheinbar voyeuristischen Konfiguration zu machen, in der sie sich am Ende selber als Objekte, allenfalls als unwissende oder, durch die Konfrontation mit den (oft sehr materiellen, physischen) Grenzen des Erkennens bzw. Erfahrens, nur beschränkt oder bruchstückhaft wissende Subjekte wiederfinden. Am radikalsten geschah dies in Woe ( 2013 ), in dem vier Teenager das Publikum indirekt und schrittweise in das Tabu der Kindesmisshandlung, des Missbrauchs und der Vernachlässigung einführten. Die von der Traumaforschung schon ausgiebig erforschte (Un-)Erzählbarkeit des Traumas 15 wurde hier zum Ausgangspunkt eines quasi-wissenschaftlichen und therapeutischen Experiments, das weniger auf die (unmögliche) Enthüllung des Traumas als vielmehr auf die (Un-)Möglichkeitsbedingungen und Grenzen des Nachempfindens von physischem und psychischem Leid eines Jugendlichen durch Erwachsene zielte; deren Einbildungskraft und Erinnerungsvermögen wurden durch experimentelle Übungen und psychotechnische Spiele auf solche Weise stimuliert, dass wenigstens eine Art mentale Regression zustande kam, die den Zuschauer idealiter bis an die Grenzen der eigenen Jugendzeit und der damaligen Existenz- und Welterfahrung führte, freilich auch mit den Möglichkeiten und Grenzen der Erzählbarkeit eigener großer oder kleiner Traumata konfrontierte. Die Selbstverständlichkeit, mit der man sich gerne und besten Willens dem Anderen und Fremden zuwendet, um ihn (sie) an den eigenen vertrauten Lebensformen zu messen, wird in Kaldors Vorstellungen auf eine solche Weise pervertiert, dass man sich ‚selbst‘ bzw. das eigene Leben am Ende dermaßen als bizarre und prekäre Kontingenz empfindet, dass sich jeder klare Begriff des Eigenen und des Fremden, des Normalen und der Ausnahme als obsolet herausstellt. Wissenschaftliche und hermeneutische Überlegenheit verwandelt sich allmählich in Verlegenheit, die aber nicht unbedingt zu einer radikalen Skepsis hinsichtlich Verstehens- und Verständigungsmöglichkeiten zu führen braucht. Die Illusionen über ein repräsentierbares Wissen um eigene oder andere bzw. fremde Lebenserfahrungen und -formen sollen durch eine differenziertere Haltung ersetzt werden, die-- so ließe sich Kaldors Anliegen (oder besser: ihr Glauben) mit Derrida umschreiben-- sich 15 Siehe u. a. Cathy Caruth, Unclaimed Experience. Trauma, Narrative, and History, Baltimore 1996 . <?page no="41"?> C’est du Chinois 41 in den Bruch wagt, der einem genuinen Sichannähern und Begegnen und einem Verstehen des Anderen wesentlich vorangeht: der Bruch des Bezugs, der auch der Bruch als Bezug ist. 16 Dieser Bruch als Bezug lässt sich begrifflich kaum denken/ sagen, er braucht vielleicht ein ästhetisches Dispositiv, eines wie das Theater von Kaldor, in dem Beziehungs- und Beobachtungsdramaturgien erprobt werden, die die übliche performative Beziehung zwischen Wissen und Macht bzw. Willen zum Verstehen unterbrechen und dadurch eine andere Beziehung wenigstens als Möglichkeit erahnen lassen. Diese andere Beziehung scheint eher auf Zulassen und Sich-ereignen-Lassen, d. h. auch auf Vertrauen, Gelegenheit und Chance abzuzielen als auf die Performanz eines gelungenen Verstehen-Wollens und Vorstellens des Anderen bzw. Fremden. C’est du Chinois C’est du Chinois ist eine der erfolgreichsten internationalen Produktionen von Edit Kaldor. Sie war in vielen europäischen Städten, von Göteborg bis Lissabon, von Graz bis Rotterdam und schließlich auch in New York zu sehen. Die Vorstellung dreht sich-- grob gesagt-- um eine chinesische, aus Shanghai nach Europa (bzw. dem jeweiligen Ort der Vorstellung) emigrierte Familie, die in der ‚fremden‘ Gesellschaft damit Fuß zu fassen versucht, dass sie (dem von der Immigrationsbehörde geforderten Projekt bzw. Business-Plan entsprechend) interaktive Intensivkurse in Mandarin mittels eines selbst entworfenen didaktischen Konzepts anbieten will. Das Publikum, das mit der beruhigenden Mitteilung „language no problem“ in die Vorstellung gelockt wurde, sieht sich zunächst mit einer entgegengesetzten Situation konfrontiert: die SchauspielerInnen sprechen nur chinesisch und das kommt der Mehrzahl der Zuschauer eben chinesisch (oder spanisch) vor; aber bald zeigt sich, dass die Vorstellung das scheinbar trügerische Versprechen „language no problem“ in der Vorstellung performativ beweisen will, indem diese den wenigstens minimalen Erwerb der Fremdsprache zum eigentlichen Gegenstand der performance erhebt, oder einen solchen Erwerb zur Bedingung eines gelungenen (verständlichen) Theaterabends macht. Das Publikum sieht sich sofort in die (Haupt-)Rolle der aktiven Teilnehmer einer Sprachstunde versetzt, die im 16 „Mögen nun psychoanalytische Hintergedanken mit im Spiele sein oder nicht, so ist doch die Frage berechtigt, was es mit dieser axiomatischen Bedingung des Interpretationsdiskurses auf sich hat, mit dem, was Professor Gadamer ‚Verstehen‘, ‚verstehen des anderen‘, ‚sich miteinander verstehen‘ nennt. Ob man nun von der Verständigung oder vom Mißverständnis (Schleiermacher) ausgeht, immer muß man sich doch fragen, ob die Bedingung des Verstehens, weit entfernt davon, ein sich kontinuierlich entfaltender Bezug zu sein (wie es gestern abend hieß), nicht doch eher der Bruch des Bezuges ist, der Bruch als Bezug gewissermaßen, eine Aufhebung aller Vermittlung? “ ( Jacques Derrida, „Guter Wille zur Macht (I)“, S. 58 . <?page no="42"?> 42 Bart Philipsen Hinblick auf den (aufgeschobenen) Genuss eines künstlerischen Theaterstücks zunächst die zum Verständnis des Folgenden notwendigen Vokabeln zu pauken hat. In einem Fernsehinterview für CRTV -- den Sender für die chinesische Gemeinschaft in den Niederlanden und für alle dort an der chinesischen Kultur interessierten Bürger-- reagierte Kaldor zunächst gespielt störrisch auf den enthusiastischen Interviewer, der sofort wissen wollte, worüber das Stück handle und was denn die Geschichte sei („What is the play about? What’s the story? “) 17 Das, so Kaldor zögernd, seien zwei verschiedene Fragen. Die undifferenzierte Fragestellung machte sie nicht nur deshalb ein wenig stutzig, weil die Frage nach der aufgeführten Geschichte eine andere war als die nach dem Spiel als ästhetisch-theatralischer Aufführung, und Letztere noch nicht identisch war mit der Frage, was in der Aufführung auf dem Spiel steh („What is it about? “); ihr Zögern ging auch darauf zurück, dass diese Differenzierungen sich noch einmal in der Vorstellung selber wiederholen, freilich umgekehrt, denn was da vorgeführt oder gespielt wird-- eine chinesische Familie, die uns mit anfänglich ansteckender und für Europäer auch wohl ein wenig irritierender Begeisterung mit einer gar nicht langweiligen, zunächst sogar lustigen Stunde Mandarin aufwartet-- steht ein wenig quer zu der latenten Geschichte, in der es weniger zu lachen gibt, obwohl die große Tragik ausbleibt. Das alles macht es nicht so leicht, das ‚was‘ vom ‚wie‘ zu trennen und zu sagen, was hier nun eigentlich gespielt wird und wo der Hund begraben liegt. Kaldor versucht das im Interview zu erklären, indem sie schließlich doch etwas über die Geschichte enthüllt. Die chinesische Familie, die eigentlich schon eine Variante der neu zusammengesetzten Familie ist (Mutter, verheirateter Sohn und Teenager-Sohn, Schwiegertochter und Schwiegervater) bieten dem Publikum eine Stunde Sprachkurs Mandarin für Anfänger an, sie führen wenigstens eine solche Sprachlektion auf, wobei das Publikum in die Rolle der Schüler, letzten Endes aber auch in die Rolle der Kunden einer geschäftlichen Transaktion (die auch einen ästhetischen ‚Konsum‘ zeitigen soll) gezwungen wird. Am Ende wird die DVD zum Zweck des Selbststudiums (und einer performanten Verwirklichung des Businessplans) verkauft. Die Chinesen sind aus einer gewissen Perspektive die uns wohl am meisten vertrauten Fremden und Anderen in der globalisierten Welt; und auch wenn die ‚Relevanz‘ des Chinesischen wohl kaum erklärt werden muss (der Werbespruch der Vorstellung ist nicht zufällig „ein wichtiger Schritt in die Zukunft“), so geht es Kaldor gar nicht um das Chinesische, es hätte genauso gut Ungarisch oder eine andere Sprache sein können. Oder, so könnte man selber ergänzen, Griechisch (that’s greek to me), Latein (dat is Latijn voor mij), Spanisch (das kommt mir Spanisch vor), double-dutch oder, noch eine französische Variante, c’est de 17 Online: https: / / www.youtube.com/ watch? v=DaXu 2 _pEMD 4 [ 30 . 04 . 2016 ]. <?page no="43"?> C’est du Chinois 43 l’hébreu. Das Unverständliche, das Andere spricht viele Fremdsprachen und ist wanderlustig, nomadisch und deshalb auch kontextabhängig. Nicht-Verstehen ist nicht nur zwischen, sondern auch in vielen Sprachen zuhause. Ist das etwa ein indirektes Bekenntnis zum Kulturrelativismus? Kann man sich, ungeachtet der Fremdsprache, mit der man sich verständigen muss oder mit der man konfrontiert wird, verstehen? Wird von Kaldor etwa suggeriert, es gebe ein universelles Verstehen jenseits des partikularen Verstehens, eben weil wir doch alle Menschen sind? Kaldor suggeriert vielmehr, dass ihre eigenen Erfahrungen als Immigrantin, die in diese Vorstellung eingeflossen sind, zu einer verschärften Aufmerksamkeit für das Nicht-Verstehen im Verstehen sowie für das Verstehen im Nicht-Verstehen geführt haben, zu dem sich listig verschiebenden Bruch, der die Beziehung zum fremden Anderen nicht nur kompliziert, sondern überhaupt erst ermöglicht. Und dann gibt es noch etwas anderes: Die Vorstellung ist natürlich nicht nur die Aufführung einer Stunde Mandarin für Anfänger; sie erzählt oder besser, zeigt, auf einer anderen Ebene auch das kleine Drama der aus Shanghai ausgewanderten Familie, die, wie gesagt, eine aus zwei ungleichen Teilfamilien zusammengestückelte ist: eine Mutter, die unbedingt will, dass es ihr ältester Sohn im westlichen Kapitalismus schafft, der Sohn, der unter diesem Druck hin und wieder zerbricht und in Trunk- und Spielsucht flüchtet, auch weil er seiner jungen, etwas weniger disziplinierten Frau und den Reibungen zwischen Mutter und Schwiegertochter nicht gewachsen ist: Und wo bleibt der Nachwuchs, das ersehnte Enkelkind? Der Schwiegervater neigt zum Faulenzen, vor allem leidet er an Heimweh; er trauert einer Karriere als (wohl nicht sehr erfolgreicher) Schauspieler nach, wie man aus einem Foto, das er dem Publikum zeigt, schließen kann (auch wenn das Foto nicht ihn selber, sondern einen amerikanischen Schauspieler zeigt, damit wir wenigstens von dem uns vertrauten auf das weniger bekannte Fremde schließen können). Er musiziert, rezitiert und singt ein Lied aus einer chinesischen Oper (in dem es angeblich um niederstürzenden Regen geht- - oder sind es Tränen? ); und der Teenager-Sohn ist eben ein Teenager, die ganze Sache hängt ihm allmählich zum Hals heraus. Das alles bleibt relativ unterschwellig, unausgesprochen, und führt kaum zum Eklat. Man spürt es, sieht es manchmal auch, aber man muss sich schon bemühen; nur wer sich die chinesischen Vokabeln gut gemerkt hat, wird vielleicht etwas von dem psychischen Konfliktszenario unter dem überspanntlustigen theatralischen Prätext mitbekommen. Wird auf der ersten Ebene nur die Illusion geweckt, dass Kommunikation darin besteht, die richtigen Wörter mit den richtigen Dingen zu verknüpfen, so wird zwischen den Zeilen und Gesten dieses ganz naiven und manchmal komischen Worte-und-Dinge-Theaters, in dem fast gänzlich auf Expressivität, Psychologisierung oder schon irgendwie kodifizierte Körpersprache zum Ausdruck dieser ‚unterschwelligen‘ Realität verzichtet <?page no="44"?> 44 Bart Philipsen wird, etwas anderes mitkonjugiert, das die Performativität des Sprachkurses als einer vermeintlich effizienten und gelungenen Form interkulturellen Austauschs im Innern unterbricht oder es wenigstens daran ‚hapern‘ lässt. Die geschäftliche Performanz, performance in der Sprache des neoliberalen Globalismus-- Vermittlung von Sprachkompetenz und eine geschäftliche Transaktion, die sowohl für den Käufer als auch für den Verkäufer „einen wichtigen Schritt in die Zukunft“ bedeuten könnte--, bleibt scheinbar aufrechterhalten; die Performativität, die sich auf der Ebene der kulturellen Selbstdarstellung und des interkulturellen Austausches vollzieht, artikuliert jedoch eine andere ambivalentere Erfahrung, die auf angestauten Frust und Unverständnis hinweist. Trotzdem gibt es keinen Eklat, keine dramatische Wendung, keine Katastrophe und Peripetie. Aber man ahnt trotzdem, dass aus dem Businessplan nichts wird. Edit Kaldor, deren Gespür für das, was sich in, mittels oder durch Sprache vollzieht oder eben nicht vollzieht, sehr groß ist, nicht zuletzt deshalb, weil sie-- wie sie selber sagt, keine Sprache richtig oder ganz beherrscht (d. h. keine Sprache so fließend spricht, dass sie nicht über die Wörter und Ausdrücke, die sie verwendet, und über die Spannung zwischen Sagenwollen und Sagen andauernd nachdenken muss)--, fängt ihre eigentliche Antwort auf die Frage des Interviewers nach der story oder the play- - what is it about- - damit an, dass sie über die chinesische Familie sagt, es handle sich um eine „family who like many of us is trying to survive by inventing some sort of identity for themselves, some business to make a living and, as it happens to be, in this case by giving Mandarine lessons and making a DVD with Mandarine lessons.“ 18 Damit trifft sie den Nerv der (kulturellen) Performativitätsproblematik. Denn nicht nur spielt sie auf die Verschiebung von einem essentialistischen zu einem performativen Identitätskonzept an, auf die Tatsache, dass die ‚chinesische Familie‘, die vor allem aus der Sicht der Gastkultur, aus unserer Sicht also, eine Art Homogenität aufzuweisen scheint, sich selbst als typische chinesische Familie und Träger einer vermeintlich in der Sprache (aber was für einer? ) 19 aufbewahrten kulturellen Identität erst in dieser heiklen Situation, in der sie sich jetzt befindet, „as it happens to be“, darstellen, ja sogar produzieren und performativ hervorbringen, schließlich auch verdingen 18 Ebd. 19 Mandarin ist bekanntlich die etwas archaische Bezeichnung für sämtliche nördliche Varianten des Chinesischen, aus denen das Hochchinesisch als offizielle Nationalsprache Chinas abgeleitet wurde. Für die Fixierung von Schrift, Aussprache und Grammatik wurde im Laufe eines langen Standardisierungsprozesses wieder auf verschiedene Quellen und Formen zurückgegriffen. Im Klartext: wenn hier von ‚Chinesisch‘ die Rede ist, so handelt es sich selbstverständlich um das Produkt einer hegemonisierenden Sprachenpolitik, die eine komplizierte und komplexe Beziehung zwischen der offiziellen Kommunikationssprache und den vielen Regionalvarianten nicht ganz ausblenden kann. Siehe u. a. Jerry Norman, Chinese, Cambridge 1988 . <?page no="45"?> C’est du Chinois 45 soll. 20 Gerade die Floskel „as it happens to be“ markiert aber auch die Kontingenz der Situation, die ein weitverbreitetes Missverständnis über Performativität klärt: als ob irgendeine biologisch und ontologisch verwurzelte Essenz durch eine frei gewählte und neu konstruierte Identität zu ersetzen wäre; und als ob es ein freies Subjekt gäbe, das diesem performativen Dispositiv voranginge und sich für diese oder jene Rolle, dieses oder jenes Szenario entscheiden würde. Hier hingegen wird ganz deutlich gemacht, dass die Familie sich in einer Situation befindet bzw. sich mit einer Situation abfinden muss, einer nicht-vertrauten Situation, in der sie zu einem Spiel greift, das ihr die materielle Möglichkeit einer Existenz in der ihr fremden Kultur sichern soll und das als ein durchaus ambigues Disziplinierungsspiel präsentiert wird. Stellt die Rollenverteilung zwischen der lehrenden chinesischen Familie und dem lernenden Publikum doch die Pervertierung der eigentlichen Machtverhältnisse dar: Der didaktische Drill samt komischer Trillerpfeife ruft die Ambivalenz von Lust und Unlust im quasi-schulischen Disziplinierungsapparat bestimmter Einbürgerungskurse samt obligatem Sprachkurs auf, die in diesem Fall eher das Los der Lehrenden als das der Studierenden ist, denn das Publikum kann das Spiel ruhig genießen und lässt sich gerne unterhalten durch das, was die lehrende Familie, in einem anderen Sinn freilich, unterhalten soll- - Brecht lässt grüßen. Dennoch hat auch diese Umkehrung der Rollen einen Haken. Was jetzt als Spaß für das westliche Publikum präsentiert wird-- das chorische Nachsprechen von fremden Vokabeln nach dem anfangs skurrilen, allmählich aber irritierenden Signal der Trillerpfeife--, erscheint auf einmal in einem anderen Licht, wenn man es als warnende Antizipation einer uns bevorstehenden, sich rasch nähernden Realität versteht, als lustig-drohendes Zukunftsbild, in dem das alte Europa und die westliche Welt als ganze ihre führende Rolle und damit auch das Recht, als normierender Maßstab und Bildungsideal für das Eigene und das Fremde, für Autonomie und Individualität zu fungieren, verloren haben werden. Als Edith Kaldors CRTV -Interviewer die Vorstellung „a teaching play“ nennt, wird er noch einmal von ihr zurechtgewiesen; sie betrachte ihre Vorstellung doch eher als „a theatre performance“-- und der chinesische Schauspieler, der ihr zur Seite steht, fügt selber halb ironisch, halb stolz „art“- - „Kunst! “- - hinzu. Es ist klar, dass sich C’est du Chinois im Spannungsfeld dieser verschiedenen Diskurse situiert. Natürlich ist die Vorstellung eine zugleich fiktive und reale Lehrstunde und für alle Beteiligten eine Art Lehrstück, in dem nicht nur oder nicht an erster Stelle chinesische Vokabeln gepaukt werden, sondern auch hermeneutisches, dis- 20 Auch die Auswahl der SchauspielerInnen für C’est du Chinois spiegelt auf einer anderen Ebene noch einmal die performative Identitätsproblematik wieder, in dem Sinne, dass die eigens für diese Produktion zusammengestellte Gruppe aus Personen besteht, die sich vorher nicht kannten, aus unterschiedlichen Theatertraditionen (und -generationen) stammen und sehr verschiedene Immigrationshintergründe aufweisen. <?page no="46"?> 46 Bart Philipsen kursives und performatives Grundwissen vermittelt oder einfach geprobt wird. Und zu diesem Wissen gehören eben auch die Erfahrung des Nicht-Verstehens, des Bruchs, der nicht-so-recht gelingenden Performativität einer Identitätskonstruktion in einem anderen als dem vertrauten Kontext sowie die komplizierte Vermittlung bzw. Rezeption dieser an sich schon sehr brüchigen Identität. Es wäre lächerlich zu behaupten, die Vorstellung vermittle uns einen adäquaten Begriff einer authentischen chinesischen Familie, aber sie trennt auch nicht einfach die banale, nach außen gekehrte kommunikative Seite-- die anfangs sehr lustige Sprachstunde- - von einem im Dunkeln bleibenden privaten Kern. Vielmehr inszeniert die Vorstellung, wie schon gesagt, as it happens to be, den unvermeidlich unbeholfenen Versuch einiger Menschen aus Shanghai in dem unvertrauten Kontext, der die europäische Kultur für sie immerhin bedeutet, zunächst eine Gemeinschaft zu bilden, die als Familie fungieren kann. Dabei handelt es sich um Menschen, die einerseits chinesische Werte und Gewohnheiten aufrechtzuerhalten versuchen, die aber andererseits diese prekäre, alles andere denn homogene Identität auch als identifizierbare Ware verdingen müssen, um überhaupt in diesem fremden Kontext überleben zu können und die Arbeit an der Identität bzw. der mehr oder weniger gemeinsamen Existenz zu ermöglichen. Wir verstehen einiges, vor allem das, was sich im schlichten Wort und Ding-Bereich situiert, und weil wir uns Mühe gegeben haben uns etwas zu merken, sind wir imstande, einiges zu ahnen von dem, was sich auch sprachlich den beschreibenden Sprechakten entzieht (wir vermuten, dass beleidigt, geflucht, geträumt wird); und wir ahnen auch etwas von dem Schmerz und dem Frust der Missverständnisse und der Konflikte, des Unverständnisses zwischen Generationen, zwischen Männern und Frauen, von Lust und Unlust, Verlangen und Angst, alles was zwischen den Zeilen gesagt und nicht ausgesprochen wird-- wir brauchen es nicht wirklich zu verstehen, vielleicht irren wir uns auch manchmal. Vielleicht treffen wir ohne unser Wissen ins Schwarze. Fast wie in unserem eigenen, vertrauten Lebenskontext. Als Vorstellung, Performance, führt C’est du Chinois Sprache als Spiel der einfachen Kommunikation, der Verständigung und der Repräsentation auf; sie deckt aber auch den diskursiven und performativen Rahmen auf, das Disziplinierungsmodell, durch das Repräsentation und Kommunikation produziert und erlaubt werden und das hier auch ziemlich unumwunden mit einem umfassenden globalen, wirtschaftlichen Zweck verbunden wird. Die Vorstellung lässt spüren, wie dieses oberflächliche referentielle Sprachspiel zwar nicht genügt, um die komplexere Realität dieser Leute und ihre dramatischen Versuche „to invent some sort of identity for themselves“ sowie die daraus resultierenden Konflikte adäquat zu fassen; aber sie gibt die Sprache als unzulängliches Medium auch nicht auf, um ein Verstehen jenseits der Sprache und ohne die mühselige Arbeit des sprachlichen Verstehens zu befürworten. Gerade die Lücken in der Kommunikation, die Risiken <?page no="47"?> C’est du Chinois 47 des Missverstehens und Nicht-Wissens, die Erfahrung von fremder Sprachlichkeit, deren performatives Potential außerhalb des bloßen Bezeichnens und Benennens man ahnt, ohne es wirklich ganz nachvollziehen zu können-- das alles wird so ins Spiel gebracht, dass es gerade zur Möglichkeitsbedingung der Arbeit des Verstehens wird, oder wenigstens: zur Möglichkeitsbedingung des Spiels des Verstehens, der ‚performance‘ selber, Grund von Lust und Unlust, Aufregung und Langeweile für das Publikum, das dadurch noch einmal an die Grenzen des eigenen Willens zum Verstehen erinnert wird. Das Theater des unwissenden Lehrmeisters Dass Kaldor die Bezeichnung „learning play“ für C’est du Chinois zurückweist und auf dem neutraleren Begriff „theatre performance“ beharrt, bedeutet keineswegs eine Flucht ins Unverbindliche (wie der Ausruf „it’s art! “ des chinesischen Schauspielers suggerieren könnte). Obwohl sie wohl mit Recht ihrem Werk den ausdrücklich politischen und didaktischen Charakter eines ‚Lehrstücks‘ abspricht, hat Kaldor doch eine Dramaturgie entwickelt, die sowohl die (Laien-)Darsteller als auch das Publikum in Situationen einbezieht, die als hermeneutische Experimente und Fallstudien zu betrachten sind. Wie schon oben erwähnt, geht es ihr weniger um objektiven Erkenntnisgewinn, und schon gar nicht um die Vermittlung eines (ihres) Wissens, sondern um die von allen zu teilende Erfahrung, dass Wissen keine Sammlung von Erkenntnissen sei, sondern das Produkt einer bestimmten Konstellation von Positionen, die mit sowohl institutionalisierten als auch völlig historisch-kontingenten Machtverhältnissen und Kontexten zusammenhängen. Ihre Versuche, diese Erfahrung als Künstlerin zu reflektieren bzw. zu teilen und doch wieder für ein praktisches Wissen (oder eine ‚Haltung‘) fruchtbar zu machen, rückt ihre Dramaturgie in die Nähe von Jacques Rancières pädagogisch-philosophischer Allegorie des (historischen) ‚unwissenden Lehrmeisters‘. 21 Rancière entfaltet in einem recht komplexen und mehrschichtigen Diskurs die Geschichte des ab 1818 an der Löwener Universität französische Literatur lehrenden Dozenten Jacques Jacotot, der die alte pädagogische Logik der Erklärung von einer anderen, eigentlich erst emanzipatorischen, absetzt. Die alte Logik, die er als eine Politik der Verdummung bezeichnet, bestünde, so Jacotot (und Rancière), in einer strukturellen und nicht aufzuhebenden Differenz und Inkongruenz zwischen dem Lehrer als einer institutionell gesetzten, bestätigten Instanz des Wissens und den unwissenden Studierenden; deren Unwissen wird durch einen Abstand vom Wissen des Lehrers getrennt, den sie schon aus strukturellen Gründen nie einholen können, weil der Lehrmeister kraft seiner 21 Vgl. Jacques Rancière, Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation, 2 . überarb. Aufl., Wien 2009 . <?page no="48"?> 48 Bart Philipsen Position die Grenzziehung zwischen Wissen und Nicht-Wissen, den Abstand also zwischen ihm und den Lernenden, zu bewahren hat, um Letztere immer einen Schritt weitermachen zu lassen, entsprechend einem von ihm, dem Lehrer, festgelegten (oder vermittelten) Verfahren und im Hinblick auf ein von ihm festgelegtes (oder vermitteltes) Ziel. Nicht nur weiß der Lehrmeister grundsätzlich mehr als die Schüler, er weiß auch um deren Nicht-Wissen und lenkt den Prozess, der zu dessen (freilich nicht endender) Aufhebung führen soll. Die von Jacotot durchgeführte Reform versucht diese verdummende und Ungleichheit fortsetzende pädagogische Dramaturgie umzuwerfen, freilich nicht durch das Aufheben oder Tilgen der Differenz zwischen Wissen und Nicht-Wissen, sondern dadurch, dass diese Differenz nicht mehr zwischen Lehrer und Lernenden situiert wird; beide sind Partner in einer gemeinsamen Auseinandersetzung mit einem Dritten (le tiers), sie sind mit ihrem jeweils eigenen Wissen und Nicht-Wissen beteiligt an einem Prozess der ständigen Beobachtung, des Vergleichens, der Übersetzung, des Weiter- und Anders-Erzählens dieses Dritten. In dieser geteilten Aufmerksamkeit für etwas anderes begegnet man sich. Die Fiktion der Klasse, des Schulraums, kreiert den immerhin geschlossenen Freiraum für diese Aufmerksamkeit. Der unwissende Lehrmeister ist freilich nicht der sprichwörtliche Türöffner, der facilitator der modernen Wissens- und Leistungsgesellschaft, sondern er steht, so Rancière, an der Tür, bewacht sie, damit nichts von der geteilten Aufmerksamkeit für das Dritte ablenke. In dem Sinne behält er (oder sie) auf eine bestimmte Weise eine Überlegenheit, die sich aber nicht länger auf die Ebene des Wissens bezieht, sondern sich auf die des Willens verlagert hat. Rancière hat in einem späteren Aufsatz, „Le spectateur émancipé“, diese Analyse zum Anlass einer Kritik des Theaters und ganz besonders der Beziehung zwischen Publikum und Aufführung gemacht. 22 So wie er der Aufklärung eine Fortsetzung der alten verdummenden Pädagogie vorgeworfen hat, so wirft er den großen Theaterreformern des 20 . Jahrhunderts, Artaud und Brecht voran, eine ähnliche Verdummung vor. Er sieht- - mit Recht oder zu Unrecht- - in beiden Programmen den entweder ausgesprochenen oder impliziten Wunsch, das Theater als Spektakel aufzuheben, d. h. das Theatralische oder Mediale des Theaters als Mittel zum Zweck in einen Prozess zu überführen und aufzulösen, um das Theater, das Medium, mit der romantischen, auch von Rousseau vertretenen Idee einer nicht-repräsentierenden, sondern sich unmittelbar als erlebend, denkend und handelnd präsentierenden Gemeinschaft konvergieren zu lassen. Rancière plädiert dafür, die Distanz des Theaters zum Realen und damit auch dessen Autonomie aufrechtzuerhalten und als Form und Bedingung eines 22 Jacques Rancière, „Le spectateur émancipé“, in: ders., Le spectateur émancipé, Paris 2008 , S. 7 - 29 (dt. Der emanzipierte Zuschauer, Berlin 2010 ). Der Aufsatz geht auf eine Einladung zur Eröffnung der Internationalen Sommer Akademie (Frankfurt a. M., 20 . August 2004 ) zurück. <?page no="49"?> C’est du Chinois 49 fruchtbaren Dissens und eines Austausches zu betrachten. Die Theatervorstellung (performance), so Rancière, sei nicht die Übermittlung des Wissens oder des Atems vom Künstler zum Zuschauer. Sie ist jene dritte Sache, die niemandem zugehört, über deren Bedeutung niemand verfügt und, die sich zwischen ihnen hält und jede identische Übertragung, jede Identität von Ursache und Wirkung unterbindet. 23 Die Analogie zwischen Rancières Analyse und den Möglichkeitsbedingungen eines interkulturellen Theaters im Allgemeinen sowie dem Einsatz von Kaldors Werk (und im Besonderen C’est du Chinois) lässt sich unschwer ahnen. Was steht hier auf dem Spiel: eine Annäherung zwischen dem Fremden und dem Eigenen, dem Anderen und dem Selbst? Geht es hier um die Verringerung einer Kluft oder Distanz, die doch nicht restlos zu überbrücken ist? Anstelle dieses verdummenden und frustrierenden Aufschubs einer unerreichbaren, fiktiven Konvergenz von Nicht-Wissen des/ vom Anderen zum Wissen sowie von falscher, entstellender Repräsentation zu einer angeblich gelungenen Ko-Präsenz tritt aus Rancières Perspektive die Sicherung eines gemeinsamen, zugleich virtuellen und faktischen Zwischenraums, den es zwar zu durchmessen gilt, nicht jedoch im Sinne eines Überbrückens der Distanz zwischen uns hier und dem Fremden dort, sondern verstanden als ein gemeinsames, geteiltes Durchqueren und Fortschreiten im gleichen Raum, ein Fortschreiten von dem, was man schon weiß oder zu wissen meint, zu dem, was man noch nicht weiß, sowohl über die eigenen performativen Selbstdarstellungsversuche als auch über die der anderen. Rancière begreift dieses Fortschreiten nicht als einen von einer kognitiven Teleologie gesteuerten Progress. Er spricht vielmehr von einem nach allen Richtungen offenen Prozess des Übersetzens und des Erzählens in einem diskursiven und performativen Raum, in dem die Distanz kein Übel ist, sondern die normale Bedingung der Kommunikation. Die hier gemeinte Distanz ist also grundverschieden von der institutionalisierten Kluft zwischen Lehrer und Schüler. Edit Kaldor setzt in C’est du Chinois ihre Erfahrung als nicht-wissende Lehrmeisterin ein, ihre Expertise als eine Person, die sich durch Übersetzen, Vergleichen und Erzählen einen Weg durch diese Dimension der Distanz zu bahnen versucht, und die zu verringern sie gar nicht beabsichtigt, im Gegenteil; ihr „teaching play“ ist vor allem a „theatre performance“, ein durchaus autonomes Medium, das die von sämtlichen Beteiligten (Theatermacherin, Schauspieler, Publikum usw.) ver- 23 „Elle [la performance] n’est pas la transmission du savoir ou du souffle de l’artiste ou spectateur. Elle est cette troisième chose dont aucun n’est propriétaire, dont aucun ne possède le sens, qui se tient entre eux, écartant toute transmission à l’identique, toute identité de la cause et de l’effet.“ Ebd., S. 21 (die oben stehende deutsche Übersetzung stammt von dem Verf.). <?page no="50"?> 50 Bart Philipsen folgten Zielen und Aufgaben zwar ermöglicht, ohne jedoch mit solchen Intentionen zusammenzufallen. Sie steht gewissermaßen an der Tür des fiktiven Klassenzimmers und zwingt uns, auf spielerische Weise unsere Aufmerksamkeit einem Dritten zu schenken. Das Dritte ist auf der ersten oberflächlichen Ebene die Fremdsprache bzw. der Sprachkurs (der für beide Parteien, Zuschauer und Schauspieler, eine je eigene Aufgabe darstellt), auf einer anderen Ebene dürfte es aber die mit den Schauspielern geteilte Aufgabe sein, „to invent some identity for ourselves“, das tägliche performative und diskursive Theater, in dem wir uns alle zusammen befinden und in dem wir uns vergleichend und übersetzend vorantasten, „as it happens to be“. Ob es uns nun chinesisch, spanisch, griechisch, lateinisch, polnisch oder double dutch vorkommt, das Dritte, mit dem wir uns auseinanderzusetzen haben, lässt sich nicht mehr auf die Opposition vom Eigenen und Fremden zurückführen, geschweige denn auf die linguistische Distribution von Fremd- und Muttersprache(n). Das ‚Dritte‘ (le tiers) dürfte doch vor allem das Theater selbst sein, Kaldors „theatre performance“, wie sie mit Nachdruck sagt. Denn die gemeinsame Beschäftigung und Aufmerksamkeit der Schauspieler und des Publikums gelten letzten Endes dem ästhetisch-performativen Spiel selber, für das „language no problem“ ist, obwohl/ weil es gerade um sie geht. Damit ist nicht diese oder jene (Fremd-)Sprache gemeint, die wir (und sie, die ‚anderen‘) können oder nicht können, sodass diese (fehlerhaften) Kenntnisse uns die praktische Kommunikation erleichtern (oder eben erschweren) könnten. Gemeint ist vielmehr jene Sprachlichkeit, die uns alle sowohl trennt als auch verbindet, weil sie jenseits der mehr oder weniger anekdotischen Sprachstunde und der sowohl kommunikativen als auch ökonomischen Zweckmäßigkeit des Sprachkurses den Raum einer Unmittelbarkeit der Mitteilung eröffnet; eines Mit-Teilens also im Medium der Sprache(n), dem Begreifen im emphatischen Sinne weniger bedeutet als das Versprechen einer Begegnung in einer Dimension, die weder die des vermeintlich Eigenen noch die des ebenso vermeintlich Fremden ist (sie gehört keinem). Der Bruch, über den man sich vergleichend und übersetzend nähert, mag dazu führen, dass man dort nicht nur einen anderen, sondern auch sich als einen anderen wiederfindet. Damit wäre tatsächlich „ein wichtiger Schritt in die Zukunft“ getan. <?page no="51"?> ‚Zigeuner‘ als Maske des Fremden 51 ‚Zigeuner‘ als Maske des Fremden Marginalisiertes Leben zwischen dem Realen und dem Fiktiven Lorenz Aggermann (Gießen) In den nachfolgenden Zeilen wird der Vorschlag gemacht, ‚Zigeuner‘ als Maske und Figuration des Fremden zu verstehen und darüber den problematischen Umgang der Mehrheitsgesellschaft mit den Angehörigen der größten europäischen Minderheit zu reflektieren. Die Überlegungen orientieren sich an den jüngsten literaturwissenschaftlichen Thesen zur Erfindung der ‚Zigeuner‘ und adaptieren deren Befunde durch den Einbezug eines theaterwissenschaftlichen Standpunktes. Sie fragen nach der spezifischen Aufführung dieser Maske und markieren abschließend am Beispiel einer Performance (Constanza Macras, DorkyPark: open for everything) die Schwierigkeiten, dieser Figuration zu entkommen. I. Die Erfindung der ‚Zigeuner‘ Im 15 . Jahrhundert, knapp bevor sich das europäische Subjekt soweit stabilisiert und emanzipiert hatte, dass es seine Vertreter ausschicken konnte, um neue Länder und Kontinente zu erschließen, wird es selbst heimgesucht und in seiner Identität befragt. Dass man mit dem Fremden und Ungearteten rechnen muss, ist zwar durchaus im Bewusstsein verankert, sein Ort war aber bis dato das Grenzland respektive die unbekannte, unentdeckte Ferne, seine Gestalt mehr oder weniger fabelhaft: Hic sunt dracones. Nun aber erscheint das Fremde nicht nur unvermittelt im eigenen Hoheits- und Wissensgebiet, es zeitigt zudem unverkennbar die Gestalt des Menschen. Rom-Völker und weitere Fahrende tauchen vor den Toren der Städte auf und ziehen infolge durch ganz Europa, wie die Chroniken zahlreicher mittelalterlicher Städte belegen. 1420 kommt es zu einer ersten Konfrontation in Brüssel, 1427 folgt Paris, 1428 werden sie in Nijmegen gesichtet, 1444 stehen sie vor den Toren Bolognas, Forlis und Lwows, für 1447 ist ihr Erscheinen in Barcelona und für 1457 in Mailand belegt. 1 Da sie nicht in kriegerischer Absicht kommen 1 Klaus-Michael Bogdal, Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung, Berlin 2011 , S. 29 . <?page no="52"?> 52 Lorenz Aggermann und nicht mit Gewalt Einlass in die Städte begehren, erwecken diese vagabundierenden Fremden vor allem Verwunderung, der durch zweierlei Deutungsmuster begegnet wird: Entweder werden die Fremden in Analogie zu der aus Ägypten flüchtenden heiligen Familie gesetzt und verehrt oder aber sie werden aufgrund ihrer Fremdheit und Freiheit als Seher und Späher gedeutet. 2 Das Interesse der städtischen Gesellschaften und ihrer Chronisten richtet sich vor allem auf die Art und Weise ihrer Repräsentation, auf ihre seltsame Kleidung, ihr befremdliches Verhalten. In ihren Einträgen wird weniger eine Andersheit reflektiert, denn eine Differenz konstruiert, die primär über Äußerlichkeiten zu Tage tritt, da sich weder Schrift noch Religion als Unterscheidungsmerkmale beiziehen lassen. Die ersten Chronisten bleiben in ihrem Urteil über diese Fremden indes neutral bis vage positiv. Sie betonen die von König Sigismund in einem Schutzbrief gewährten Sonderrechte der „Secanos“ 3 und vermessen das „gens ciganorum“ 4 vor der bekannten mittelalterlichen Ständeordnung und Hierarchie. Dieser entsprechen und entziehen sich die Fremden zugleich: Einerseits gibt es auch unter ihnen Fürsten und Grafen, Ritter und Fußvolk, andererseits wird ihr Umherschweifen mit dem Abfall vom Glauben und ihrem freizügigen Verhalten begründet. Der Blick in diese frühen Dokumente spiegelt somit ein ambivalentes Bild dieser Fremden respektive ihrer Einschätzung durch die Chronisten wider, was sich unter anderem damit erklären lässt, dass weder eine eindeutige geonoch eine ethnographische Verortung und Identifikation dieser Fremden gelingt. Sie bleiben rätselhaft. Vielleicht sind sie Späher und Kundschafter des osmanischen Reiches, vielleicht Pilger aus Ägypten, die gezwungen sind, Buße zu tun-- Mutmaßungen, die sich weder erhärten noch ausräumen lassen. Während sich in den folgenden hundert Jahren durch mündliche Überlieferung die Zeugnisse über das Auftauchen dieser Fremden verdichten und sich das Wissen über ihre Eigenschaften, ihre Wesensart und ihr Verhalten konkretisiert, so verlieren sich die wenigen Anhaltspunkte zu ihrer Verortung vollends. Die Fremden gelten nun als ein „Auswurf aller Nationen“, „‚erfahren‘ in allen Sprachen“, der „ringsumher in allen Provinzen“ Männer und Frauen in seine Gemeinschaft aufnimmt. 5 „Damit setzt sich“, so Reimar Gronemeyer, der diese Quellen bereits in den 1980 er Jahren zusammengetragen, übersetzt und kommentiert hat, „ein weit- 2 Iulia-Karin Patrut, Phantasma Nation. ‚Zigeuner‘ und Juden als Grenzfiguren des ‚Deutschen‘ (1770-1920), Würzburg 2014 , S. 14 - 15 . 3 So der Eintrag zum Jahr 1417 in der Chronik der Hermann Cornerus von 1435 , zit. nach Reimar Gronemeyer, Zigeuner im Spiegel früher Chroniken und Abhandlungen. Quellen vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, Gießen 1987 , S. 15 . 4 So der Eintrag zum Jahr 1424 in der Chronik von Andreas Presbyter, zit. nach Gronemeyer, Zigeuner im Spiegel früher Chroniken und Abhandlungen, S. 18 . 5 So die Chronik des Albert Krantz von 1520 , zit. nach Gronemeyer, Zigeuner im Spiegel früher Chroniken und Abhandlungen, S. 25 . <?page no="53"?> ‚Zigeuner‘ als Maske des Fremden 53 aus aggressiverer Ton gegenüber den Zigeunern durch, die nicht mehr als Fremde gesehen, sondern zu Kriminellen gestempelt werden.“ 6 Nicht verort- und klassifizierbar zu sein erweist sich als eine markante Dysfunktionalität im Austausch mit den spätmittelalterlichen Gesellschaften Europas, deren Subjekte sich mehr und mehr über geographische Spezifika ihres Lebensraums und sprachliche Eigenheiten ihrer Region zu definieren beginnen und deren Gemeinschaft sich mehr und mehr auf topologische Parameter gründet, 7 - - deren Begriff vom Menschen sich also zunehmend „nach dem Volk und nicht nach dem Individuum“ richtet. 8 Diese Dysfunktionalität wird für beide Seiten zum Ausgangspunkt für die fiktionale Konstruktion einer spezifischen Andersheit, die sich strategisch verwerten lässt und der diese Fremden von nun an nicht mehr entkommen werden, auch dann nicht, als im 19 . Jahrhundert durch sprachwissenschaftliche Forschungen erste belastbare Hinweise zur ethnographischen Herkunft dieser, mittlerweile seit Jahrhunderten in Europa lebenden Menschen auftauchen. In dem Prozess, den die Begegnung mit den Rom-Völkern in Gang setzt, treten die konkreten, realen Individuen und ihre Bedürfnisse rasch in den Hintergrund. Folgt man den aktuellen Studien, dann dient das Interesse an ihnen vor allem dem Zweck, eine Negativ-Folie für das Eigene herzustellen, wobei den realen Menschen eine imaginäre Fremdheit übergestülpt wurde, „die nach Gutdünken plastisch modelliert werden“ 9 und dem europäischen Subjekt in Form eines „entwirklichte[n] und entzeitlichte[n] Kollektiv[s]“ gegenüber gestellt werden konnte. 10 Die Menschen, die den Spiel- und Handlungsraum der europäischen Bürger betreten, werden in der Begegnung zu einer Projektionsfläche, die primär der Selbstkonstitution eines urbanen, abendländischen Subjektes dient. Klaus-Michael Bogdal spricht daher auch von der Erfindung der ‚Zigeuner‘: Die Erfindung der ‚Zigeuner‘ durch große Erzählungen- […] stellt von Beginn an die Kehrseite der Selbsterschaffung des europäischen Kultursubjekts dar, das sich als Träger weltzivilisatorischen Fortschritts versteht. Zugleich ist sie die radikale Reinigung des Selbstbildes von dem, was es vermeintlich bedroht. 11 6 Gronemeyer, Zigeuner im Spiegel früher Chroniken und Abhandlungen, S. 25 . 7 Die aktuelle, vornehmlich aus philologischer Feder stammende Forschung analysiert diese Begegnung vor allem vor dem Hintergrund der aufkommenden Nationenbildung in Europa und deutet das strategische (Des)Interesse an diesen Fremden und ihre Marginalisierung als notwendige Voraussetzung für die Konstruktion einer europäischen respektive deutschen Identität. Stellvertretend seien hier die bereits zitierten, umfassenden Studien von Klaus- Michael Bogdal ( 2011 ) und Iulia-Karin Patrut ( 2014 ) genannt. 8 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, München 1991 , S. 437 . 9 Patrut, Phantasma Nation, S. 12 . 10 Bogdal, Europa erfindet die Zigeuner, S. 38 . 11 Ebd., S. 14 . <?page no="54"?> 54 Lorenz Aggermann Deutlich wird dieser Sachverhalt unter anderem in der Benennung dieser Fremden als ‚Zigeuner‘-- einer Fremdbezeichnung, deren Herkunft nach wie vor ungeklärt ist und die sich aus dem mittelalterlichen cingari oder gens ciganorum ableitet. 12 Diese Etymologie führt die Bezeichnung auf das bulgarische acigane zurück, 13 das über das Ungarische ins Deutsche migriert sein soll und das wiederum mit dem griechischen athinganoi in Verbindung gebracht wird, dem Namen für eine gnostische Sekte. 14 Weitere Mutmaßungen bringen diese Fremdbezeichnung mit dem arabischen samerki (Blechschmied) oder dem persischen zang (Blech, Eisen) in Verbindung. Darüber hinaus gibt es zudem jene Bezeichnungen, die auf Landstriche verweisen wie Bohémiens, Ägypter/ Gypsies oder Tataren. 15 In frühen Quellen findet sich zudem häufig der Begriff Heiden als Synonym zur Beschreibung dieser Fremden, und im 18 . Jahrhundert erfährt die Bezeichnung ‚Zigeuner‘ als polizeilicher Ordnungsbegriff eine weitere Resemantisierung. 16 Bei der Suche nach einem adäquaten Namen durchkreuzen einander etymologische Mutmaßungen und gesellschaftspolitische Markierungen. An die Stelle der neugierigen Erforschung und Erkundung der Rom-Völker und ihrer Angehörigen tritt das Bestreben, die Fremden als eine homogene Gruppe zusammenzufassen, ihre bioals auch ethnographischen Unterschiede zu nivellieren und eine Projektionsfläche herzustellen, die für Semantisierungen jeglicher Art herangezogen werden kann. 17 Die Bezeichnung der Fremden als ‚Zigeuner‘ ist somit weniger eine Definition, sondern nachgerade das Gegenteil davon. Aus diesem Grund soll ‚Zigeuner‘ im Folgenden als Maske und noch spezifischer, als Figuration des Fremden verstanden werden. 18 Die Ausbildung einer Figuration, die Maskierung des Fremden ist indes nicht nur ein literarisches und fiktionales Verfahren, das sich auf schriftliche 12 Vgl. Bernhard Streck, „Kultur der Zwischenräume. Grundfragen der Tsiganologie“, in: Fabian Jacobs, Johannes Ries (Hgg.), Roma-/ Zigeunerkulturen in neuen Perspektiven, Leipzig 2008 , S. 21 - 48 , 24 . 13 Vgl. Kirsten von Hagen, Inszenierte Alterität. Zigeunerfiguren in Literatur, Oper und Film, München 2009 , S. 14 . 14 Patrut, Phantasma Nation, S. 33 . 15 Vgl. Lev Tcherenkov, Stéphane Laederich, The Roma. Vol. I. History, language and groups, Basel 2004 , S. 3 - 6 . 16 Vgl. Leo Lucassen, Zigeuner. Geschichte eines polizeilichen Ordnungsbegriffes in Deutschland 1700-1945, Köln 1996 . 17 Patrut, Phantasma Nation, S. 53 . 18 Da die Maske gemeinhin als etwas Flüchtiges gilt, das an- und abgelegt werden kann, bietet es sich an, in weiterer Folge auch den Terminus der Figuration zu verwenden. In der Figuration wird die zeitweilige Spaltung, die mit der Maske einhergeht, arretiert und stabilisiert. Sobald sich eine Maske also langfristig in den Diskursen hält, lässt sich präziser von einer Figuration sprechen. (Vgl. Gerald Siegmund, „Stimm-Masken. Subjektivität, Amerika und die Stimme im Theater der Wooster Group“, in: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.), Stimme- - Klänge-- Töne. Synergien im szenischen Spiel, Tübingen 2002 , S. 69 - 80 , 73 ). <?page no="55"?> ‚Zigeuner‘ als Maske des Fremden 55 Quellen und Diskurse stützt, sondern ein originär theatrales, dessen Mechanismen und Rahmenbedingungen erst in einer Aufführung so recht zum Tragen kommen. Dies erlaubt, die diskursanalytischen Befunde durch aufführungsanalytische Überlegungen zu erweitern und mit anderen Masken des Fremden und deren Aufführungen zu vergleichen. Ein weiterer Vorteil dieses methodischen Transfers liegt darin, dass durch die Prämisse der Ritual- und Performancetheorie auch der darunter liegende Körper einen Eigenwert-- als widerständiger Träger und virtuoser Performer-- zugestanden bekommt und in den Mittelpunkt der Analyse rückt. Die Begegnung und Auseinandersetzung mit den Rom-Völkern wird hierdurch nicht nur als ein Dialog über In- und Exklusion verstanden, sondern als eine triadische Verhandlung von Identitäten, wodurch die Differenz zwischen der Figuration, den Angehörigen der Rom-Völker und den urbanen, zentraleuropäischen Subjekten -- zwischen Maske, Performer und Rezipient- - herausgearbeitet werden kann. Eine derartige methodische Volte erlaubt auch, an jene postkolonialen Theorien anzuschließen, die der Essentialisierung von Eigen und Fremd eine Praxis der Hybridisierung gegenüberstellen, ohne indes diese grundlegende Unterscheidung vollends aufzugeben. Und sie betont den Stellenwert des Theaters und allgemeiner der Kunst, die eben jenen Raum der Hybridität paradigmatisch herzustellen vermögen: „Wer sich in ihm aufhält, der überschreitet die Fremdheit in Richtung einer Alterität, in der die kulturelle Differenz zugleich transzendiert wird.“ 19 II. Alterität als Maske Dass das Fremde ein zentraler Bestandteil der eigenen Kultur, ja ein notwendiger Widerpart des jeweiligen Subjekt-Denkens sein muss, ist mehrfach als grundlegender anthropologischer Mechanismus analysiert worden: „Das Selbe läßt sich nur fassen und bestimmen im Verhältnis zum Anderen, zur Vielfalt der anderen. Wenn das Selbe in sich verschlossen bleibt, ist kein Denken möglich. Und hinzuzufügen ist: auch keine Zivilisation“ 20 , konstatiert Jean-Pierre Vernant, der vornehmlich die Religion und Gesellschaft der griechischen Antike analysiert hat. Doch auch François Jullien, dessen Interesse vor allem der chinesischen Philosophie und Ästhetik gilt, betont die Wichtigkeit eines fremden Anderen, zu dem sich die eigene Kultur in einem Abstand befindet. Ohne diese Prämisse müsste von einer ersten, gemeinsamen, ubiquitären Kultur ausgegangen werden, „von der die 19 So der Kommentar von Wolfgang Müller-Funk zu einem Podiumsgespräch mit Homi K. Bhabha, publiziert in: Homi K. Bhabha, Über kulturelle Hybridität. Tradition und Übersetzung, Wien 2012 , S. 86 . 20 Jean-Paul Vernant, Tod in den Augen. Figuren des Anderen im griechischen Altertum, übers. v. Max Looser, Frankfurt a. M. 1988 , S. 21 . <?page no="56"?> 56 Lorenz Aggermann verschiedenen Kulturen dieser Welt, im Plural, bloße Variationen wären.“ 21 Nicht nur für Jullien führte dies letztlich zu einer unzulässigen und unbrauchbaren Essentialisierung des Kulturbegriffs. Alterität ist indes nicht nur für die Definition und das Wissen um eine Gesellschaft von Nöten, sondern eröffnet dem Subjekt auf basaler Ebene die Reflexion seinesgleichen: „Mit dem anderen, dem Fremden leben,“ so Julia Kristeva, ebenfalls eine Wanderin zwischen den Kulturen, die bereits vor einiger Zeit vor dem Verschwinden des Fremden warnte, „konfrontiert uns mit der Frage, ob es möglich ist, ein anderer zu sein.“ Erst diese Frage erlaubt jedwege Selbstreflexion, was genaugenommen heißt, „sich als ein anderer zu sich selbst zu denken.“ 22 Jede Gesellschaft, die ihre Identität sichern und erhalten, aber auch jedes Subjekt, das als seiner selbst bewusst gelten will, muss das Fremde anerkennen und verhandeln können. Da es indes weder bestimmte Regeln zur Ableitung eines Sinnes noch ein bekanntes Schema für Handlungsrespektive Interaktionsformen mit dem Fremden gibt, 23 stellt sich die Frage, wie sich mit dem Fremden umgehen lässt. Die Anthropologie bringt hierbei die Maske ins Spiel-- genaugenommen definiert sie die Maske und den dazugehörigen Ritus geradewegs als jenen Vorgang, vermittels welchen das Fremde konkretisiert wird. „Die Maske ist die Hypothese einer Existenzform des Anderen“ 24 , schreibt Richard Weihe, und ihre leere Form, so lässt sich weiter folgern, provoziert nachgerade eine imaginäre Besetzung. Die Maske gehört nach derzeitigem Kenntnisstand wohl zu den ältesten Techniken, die der Konstitution einer menschlichen Gesellschaft, einer Kultur, zuarbeiteten, indem sie deren Grenze erkennbar macht. Sie ist ein „notwendiges anthropologisches Dispositiv“ 25 , dessen Mechanismus sich verkürzt wie folgt umreißen lässt: Die Maske verfremdet. Zugleich bietet sie aufgrund ihrer Fiktionalität die Möglichkeit, das Irreale, Fremde und Unbekannte auf einen realen Körper zu applizieren und in die Lebenswelt einzuspeisen. Indem das Fremde konkret figuriert wird und qua Aufführung ein Verhalten gegenüber und mit dieser Maske eingeübt wird, lässt sich durch das Fremde lernen und ein Wissen um das Eigene als auch das Andere generieren. Somit sorgt sie zugleich für die Begrenzung wie die Entgrenzung des menschlichen Subjekts und führt zu einem Prozess der Differenzierung, der gemeinhin in einer Gesellschaft mündet. 21 Vgl. François Jullien, Der Weg zum Anderen. Alterität im Zeitalter der Globalisierung, übers. v. Christian Leitner, Wien 2014 , S. 24 - 25 . 22 Julia Kristeva, Fremde sind wir uns selbst, übers. v. Xenia Rajewsky, Frankfurt a. M. 1990 , S. 23 . 23 Vgl. Werner Kogge, Die Grenzen des Verstehens. Kultur-- Differenz-- Diskretion, Weilerswist 2002 , S. 116 . 24 Richard Weihe, Die Paradoxie der Maske. Geschichte einer Form, München 2004 , S. 16 - 17 . 25 Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a. M. 1991 , S. 144 - 145 . <?page no="57"?> ‚Zigeuner‘ als Maske des Fremden 57 Jean-Pierre Vernant nennt Gorgo, Artemis und Dionysos und die damit einhergehenden Riten als Beispiel für antike Masken, die der Konturierung des Eigenen und der Abgrenzung einer Zivilisation gegenüber dem Wilden, Unbekannten dienen. Seine Überlegungen lassen sich aber auch ohne weiteres auf jüngere Zeitalter und ihre Gesellschaften übertragen: Teufel, Hexen, aber auch Hellequin mit seinem wilden Heer fungieren ebenso wie Schäfer und andere fabelhafte Bewohner Arkadiens als Masken, 26 wobei eine jede für einen spezifischen Typus der Alterität steht. Die Fremdheit, die hierbei in einer ganz bestimmten Form, einem spezifischen Ritual zur Aufführung gelangt, ist ebenso wenig eine universale Chiffre wie die Kultur und Gesellschaft, in welche das Fremde integriert wird. Die gänzlich unterschiedlichen, orts- und zeitgebundenen Rituale, aber auch die Masken, die sich im Hinblick auf ihre Gestalt wie auf ihre Aufführung deutlich voneinander unterscheiden, legen hiervon beredtes Zeugnis ab. Jede Gesellschaft hat ihr eigenes Fremdes, das figuriert werden muss. Hinter all diesen Masken verbirgt sich gleichsam etwas, das unbekannt ist, das sich nur schlecht qua Logos, in Schrift und Sprache, und ebenso wenig auf anderen bildlichen oder akustischen Trägern äußern kann, schlicht, weil es kein Vokabular oder anderweitige Vorlagen für seine Repräsentation gibt. Peggy Phelan hat den Terminus „unmarkiert“ für derartige Phänomene vorgeschlagen, 27 einen Terminus, welcher der Maske in ihrer Auffälligkeit nur vordergründig widerspricht, sondern vielmehr ihre negative, bergende Form und ihre Gebundenheit an eine Aufführung in den Fokus rückt. Das, was unbekannt hinter der Oberfläche ruht, erhält nur über die Maske und ihre Aufführung Kontur. 28 Erst darüber kann sich das Unmarkierte und Unbekannte einen Wert verschaffen. Die Masken des Fremden erweisen sich ganz in Phelans Sinne als ein Negativ, welches im Rahmen einer Aufführung entwickelt werden muss. Die unterschiedlichen Figurationen des Fremden gehen auf jeweils ältere, und fallweise nicht europäische Kulturen zurück und erweisen sich solchermaßen stets als Migranten in eine jüngere Kultur. Die rund um sie entwickelten Riten eröffnen eine Möglichkeit, das Andere in die Gesellschaft zu integrieren. Die daran teilhabenden Subjekte wechseln- - so die These Vernants, die in Bezug auf jüngere Gesellschaften ein wenig zu adaptieren ist-- unter festgelegten Voraussetzungen und für eine bestimmte Zeit auf die Seite des Anderen und werden erst nach dieser 26 Jean-Claude Schmitt, Le Corps, les Rites les Rêves, le Temps. Essais d‘Anthropologie médiévale, Paris 1988 , S. 211 - 220 ; Iser, Das Fiktive und das Imaginäre, S. 130 - 145 . 27 „Unmarked attempts to find a theory for that which is not ‚really‘ there, that which cannot be surveyed within the boundaries of the putative real.“ (Peggy Phelan, Unmarked. The politics of performance, London, New York 1996 , S. 1 ). 28 Dies gilt nachgerade, wenn sich nichts hinter der Maske verbirgt. Vgl. Weihe, Die Paradoxie der Maske, S. 17 . <?page no="58"?> 58 Lorenz Aggermann Fremderfahrung zu vollwertigen Mitgliedern in der Gesellschaft. 29 Das Andere erscheint unter diesen Prämissen nicht nur eine genuin ästhetische, sondern vor allem eine genuin theatrale und performative Kategorie zu sein, die nicht zuletzt die Funktion der Gemeinschaftsstiftung übernimmt, wie insbesondere an den Dionysien, an den mittelalterlichen Fastnachts- und Karnevalsspielen und selbst noch am Beispiel barocker Maskeraden verfolgt werden kann. Die Quellen, die uns über das Auftauchen der Rom-Völker in Europa informieren, zeigen deutlich, wie diese relativ fremden Menschen der Rom-Völker zum Ausgangspunkt für die diskursive Herstellung einer neuen Maske der radikalen Alterität werden, 30 die, besonders langlebig und nachhaltig, bis zum heutigen Tage wirksam ist. Auch wenn in den Schriften die Bemühungen um eine Historisierung, Genealogisierung und geographische Verortung dieser Menschen aufscheinen, so arbeiten die Texte über die Rom-Völker primär der Herstellung einer Maske zu, die recht besehen nichts mit den durch Europa ziehenden Menschen und ihrer Lebensrealität zu tun hat. Das Schrifttum, ab dem 16 . Jahrhundert auch die Literatur, ist verstärkt an der Ausbildung dieser Maske und ihrer Verfestigung beteiligt, wie die Studien von Bogdal ( 2011 ), Patrut ( 2014 ) und von Hagen ( 2009 ) eindrücklich belegen, weshalb hier nur kursorisch auf jene Werke verwiesen wird, welche die schriftliche Arbeit an dieser Figuration konkret an eine Aufführung binden: 1559 verfasst Hans Sachs Ein faßnachtspil mit sechs personen, und wirdt genandt die fünff armen wanderer, das einen frühen Beleg für das Auftreten dieser Maske im deutschen Sprachraum liefert. Bereits etwas früher, 1521 , schreibt und inszeniert der Spanier Gil Vicentes das Maskenspiel Auto das Ciganas, und vermutlich um 1613 entsteht aus der Feder von Ben Jonson eine Masque of gypsies. Im selben Jahr wird auch Cervantesʼ Erzählung La Gitanilla zum ersten Mal publiziert-- jene Vorlage, welche die Figuration der Zigeuner(in) wohl am meisten beeinflusst hat, da die hierin angelegten, fiktionalen Zuschreibungen von zahlreichen Dichtern aufgegriffen und verbreitet wurden. 31 Am französischen Hof ist es bis tief in das 17 . Jahrhundert hinein üblich, sich bei festlichen Anlässen ‚à la mode de Tsigane‘ zu kleiden, eine Praxis, die durchaus auch an den deutschen Höfen zu finden ist, so beispielsweise in Dresden, wo für 1678 im Rahmen eines Festes auch eine Frauen- Zimmer-Zigeuner-Maskerade belegt ist. 32 Die Figuration ‚Zigeuner‘ erfreut sich indes bis zum heutigen Tage einer großen Beliebtheit, wofür unter anderem der Musiker Eugene Hütz Beispiel zu geben vermag, der sich unter dem Pseudonym Gogol Bordello als Gypsie-Punk inszeniert und gleich einem Wanderlust King-- 29 Vgl. Vernant, Tod in den Augen, S. 13 - 15 . 30 Für die Unterscheidung von relativer und radikaler Fremdheit vgl. Bernhard Waldenfels, Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung, Berlin 2012 , S. 297 - 298 . 31 Bogdal, Europa erfindet die Zigeuner, S. 99 . 32 Ebd., S. 141 . <?page no="59"?> ‚Zigeuner‘ als Maske des Fremden 59 so der Titel seines erfolgreichsten Songs (Side one dummy records 2007 )- - um den Globus tourt, oder sein weibliches Pendant Lady Gaga, welches ebenfalls den Topos des vagabundierenden ‚Zigeuners‘ beschwört (Gypsy, Artpop 2013 ). Und auch die primär mit Erotisierung einhergehenden Aufführungen der weiblichen Ausprägung dieser Figuration in den popkulturellen Performances von Jennifer Lopez (Ain’t it funny, Sony music 2001 ), Shakira (I’m a gipsy, Epic records 2009 ) oder Hillary Duff (Gipsy woman, Hollywood records 2007 ) belegen die Aktualität und Attraktivität dieser Maske. Doch der Umgang mit dieser Figuration unterscheidet sich maßgeblich von den älteren, von Vernant erwähnten Masken, liegt ihnen das Fremde doch in Menschenform zu Grunde. Zudem taucht die Maske in einer Zeit auf, in welcher es durch die Verbreitung des Buchdrucks zu einer markanten Aufwertung des schriftlichen Diskurses kommt, welcher die zentraleuropäischen Subjekte ebenfalls rejustiert und weitere Differenzierungen in ihre Gesellschaften (beispielsweise zwischen Schriftkundigen, Lesefähigen und Analphabeten) einbringt. Daraus erklärt sich wohl die zentrale Rolle, die das Schrifttum in der Aufführung dieser Maske übernimmt. Qua Narration und Inszenierung werden ‚Zigeuner‘ mythisiert und dringen in das kollektive Imaginäre einer Gesellschaft vor. Über die Aufführung und Rezeption werden die mythologischen und imaginären Zuschreibungen letztlich in einen Bezug zu den realen Angehörigen der verschiedenen Rom-Völker gesetzt, die infolge allesamt zu ‚Zigeunern‘ werden und diesem diskursiven Prozess nur wenig entgegenzusetzen haben, da ihre Kultur maßgeblich auf oraler Überlieferung basiert. Als Beleg für diesen Mechanismus mag Christoph Besolds Thesaurus practicus von 1629 gelten, der in dem Lemma ‚Zigeuner‘ zahlreiche Charakteristika aus Cervantesʼ La Gitanilla übernimmt und als Fakten präsentiert, ohne auszuweisen oder gar nur zu reflektieren, dass es sich bei letzterem um einen fiktionalen Text handelt-- ein Verfahren, das sich auch in Zedlers Universal Lexikon und anderen enzyklopädischen Nachschlagewerken wiederfindet. 33 Aber auch die im Herbst 2013 durch zahlreiche europäische Zeitungen und Nachrichtenportale geisternde Meldung von der Aufdeckung einer Kindesentführung durch Roma in Athen lässt sich als eindrücklicher Beleg für die Transformation einer literarischen Fiktion in ein (vermeintlich) realpolitisches Faktum werten, schreiben diese Nachrichten doch einen Topos fort, der durch die Comedia ilamada medora ( 1567 ) von Lope de Rueda in die Welt gesetzt wurde. Die spezifische Aufführung dieser Maske und ihre Arretierung als Figuration wirkt somit weniger integrierend denn exkludierend, da unter die Maske nicht nur ein, sondern gleich zwei Körper gezwungen werden. Einerseits handelt es sich um jene Personen, die durch die Maske ihre eigenen kulturellen Grenzen überschrei- 33 Ebd., S. 103 . <?page no="60"?> 60 Lorenz Aggermann ten, sich „zu einer Vielfalt von Facetten auffächern“ 34 wollen, um über sich hinauszugelangen. Andererseits spannt sie die Angehörigen der Rom-Völker in ihre Form, die nun, um in die urbane, europäische Gesellschaft eintreten und auf deren Spielfeld agieren zu können, das Gegenbild des europäischen Subjekts ausfüllen und aufführen müssen: Wilde, ohne Schrift, ohne Vernunft und Religion, ohne Heimstatt, ohne Biographie, denen im Gegenzug aber eine besondere Affektivität, Musikalität, Kriminalität, aber auch die Gabe der Prophetie zugeschrieben wird. So konkretisiert und stabilisiert sich eine nachgerade fatale Figuration, für die eine reale Bevölkerungsgruppe Europas einstehen, als Träger fungieren muss und die Klaus-Michael Bogdal in ihrer verstörenden Paradoxie wie folgt zusammenfasst: „Die Damen des Hofes spielen Zigeunerinnen, während Romfrauen an der Landesgrenze am ‚nächsten Schnell- oder anderen Galgen aufgehenket‘ werden.“ 35 Daran hat sich bis zum heutigen Tag wenig geändert, weshalb es nach wie vor wesentlich ist, auf den Unterschied zwischen ‚Zigeuner‘ und den verschiedenen spezifischen Bezeichnungen der unterschiedlichen Rom-Gruppen und ihrer Individuen hinzuweisen: ‚Zigeuner‘ sind eine kollektiv imaginierte und inszenierte Maske, die in einem markanten Gegensatz zu den Angehörigen der Lovara, Kalderasch, Roma, Sinti, Jenischen, Ashkali, Manoush oder Kalé stehen. Nicht nur die Angehörigen der europäischen Mehrheitsbevölkerung, sondern auch die Angehörigen eben genannter marginalisierter Völker spielen diese Figuration im gesellschaftspolitischen Diskurs aus-- zum Zweck der Marginalisierung und Diskriminierung einerseits, aus Gründen der Koexistenz mit der vorherrschenden ökonomischen und gesellschaftlichen Ordnung andererseits. Diese Maske tritt nun nicht mehr in einem legitimierten, unwiederholbaren Ritual auf, sondern findet Eingang in das vermeintlich zweckfreie ästhetische Spiel. Festivitäten und Maskeraden, Theater und Opern, und in späteren Zeiten auch Filme und Pop-Videos bieten dieser Maske eine Bühne, sorgen für ihre Aufführung und tragen zu ihrer Verbreitung und Verfestigung bei. Das ästhetische Spiel verliert im Falle dieser Figuration seine Harmlosigkeit, zeigt es doch, dass die Kunst und ihre Aufführungen, in welchen sich die zentralen anthropologischen Prozesse von Fiktionalisierung und Inszenierung konkretisieren, maßgeblich zur Ausbildung einer gesellschaftspolitischen Realität beitragen und der Marginalisierung und Diskriminierung bestimmter Bevölkerungsgruppen zuarbeiten. Die darstellende Kunst, die der Maske zahlreiche und medial diverse Möglichkeiten zur Inszenierung eröffnet, hat in diesem Fall eine nachhaltige realpolitische Wirksamkeit. Ihr Spiel bleibt nicht auf einen ästhetischen Raum beschränkt. 34 Iser, Das Fiktive und das Imaginäre, S. 140 . 35 Bogdal, Europa erfindet die Zigeuner, S. 142 . <?page no="61"?> ‚Zigeuner‘ als Maske des Fremden 61 Die bislang gut 600 Jahre währende Existenz dieser Figuration hat bislang keine sehr positiven Auswirkungen auf die Individuen der Rom-Völker gehabt. Ihr Leben wurde und wird dadurch auf jenen dystopischen Raum beschränkt, der aus der Überlagerung von Fiktivem und Realem hervorgeht. Besonders deutlich wird das beispielsweise in der heute noch gängigen Vorstellung von den Rom-Völkern als fahrendem und nomadisierendem Volk. Durch die notwendige wirtschaftliche Anbindung an die Mehrheitsbevölkerung lebt der Großteil der Rom-Völker schon seit Jahrhunderten in bestimmten Regionen, lokal verankert. Ihr Mobilitätsradius war und ist entsprechend gering. Die wenigen verbliebenen Fahrenden wurden spätestens im 20 . Jahrhundert durch den Realsozialismus und den Eisernen Vorhang zur Sesshaftigkeit gezwungen, aber auch in Westeuropa kam es durch politische Initiativen verstärkt zur ihrer Integration und Verstetigung. Migration wurde vornehmlich in der Folge von Konflikten notwendig, zuletzt während der Balkan-Kriege, bei welchen die Angehörigen der Rom-Völker zu den ersten Vertrieben gehörten. Dennoch hält sich die Vorstellung von den vagabundierenden Fremden hartnäckig im kollektiven Gedächtnis, bildet ein wesentliches Merkmal des Daseins als ‚Zigeuner‘. Am Beispiel der Figuration ‚Zigeuner‘ lässt sich zeigen, wie sich Ästhetik und Politik fallweise überlagern. Zu fragen bleibt letztlich: Bietet die Kunst eine Möglichkeit, diesem Dilemma zu entkommen und einer Lösung zuzuarbeiten? Prolongiert nicht ein jeder neuer Diskurs, jede Inszenierung, Verfilmung und weitere Formen der Aufführung die realen Effekte der stigmatisierenden Fremdbeschreibung? Oder lässt sich in Performance und etwas allgemeiner, im Rahmen der Kunst tatsächlich eine kritische Haltung zu dieser Figuration entwickeln? Bietet die Reinszenierung und Resignifizierung dieser Maske ein emanzipatorisches Potenzial für die darunter subsummierten Subjekte, 36 oder wird hierdurch deren Status als „Unmarkierte“ einzig und alleine perpetuiert? An die These, dass das Fremde nur als Figuration mit den Mitteln der Repräsentation konkretisiert werden kann, knüpft sich indes auch das Wissen, dass jedwede Figuration nie holistisch sein kann, weil ihre Repräsentation nie totalisierend gelingen kann. Diese Überlegung räumt der darstellenden Kunst durchaus das Potential ein, das zugrunde liegende Problem, wenn schon nicht zu lösen, so doch wenigstens zu transformieren. Darauf setzen offensichtlich auch zahlreiche Initiativen, die aus der Decade of Roma-Inclusion 2005-2015 (so der Name des EU -Programms zur Verbesserung der Lebensbedingungen von Angehörigen der Rom-Völker) hervorgegangen sind und sich in Publikationen und anderweitigen künstlerischen Formaten niederschlagen. Will die Kunst, die der Ausbildung dieser Figuration zugearbeitet hat, ihre realen Effekte indes subvertieren, dann müsste 36 Vgl. Judith Butler, Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt a. M. 2006 , S. 28 - 29 . <?page no="62"?> 62 Lorenz Aggermann sie auf ebenjenen Spalt fokussieren, der zwischen der Figuration und der realen Person liegt, ihn selbst zum Ausgangspunkt für ein Spiel nehmen, ihn produktiv wenden. 37 Das abschließende Beispiel vermag indes eher eine pessimistische Einschätzung zu geben. III. Verstetigung der Maske Ein rostiger Kleinwagen osteuropäischer Provenienz wird auf die Bühne geschoben. Seine müde Beleuchtung wird von einem Leuchtband an den Schwellern des Autos konterkariert, aus den Fensteröffnungen hängen schlaff Arme, in seinem Inneren sind Gesichter zu erahnen. Es sind etwas viele für die Größe des Wagens, ein Verdacht, der sich erhärtet, als den verschiedensten Öffnungen des Fahrzeugs 15 Personen entsteigen. Deutlich zu viele für die europäische Straßenverkehrsordnung, aber auch für den eher intimen Raum der Bühne, der im Nu bevölkert wird. So beginnt Constanza Macras und ihre Compagnie DorkyPark die Aufführung ihres Stückes open for everything ( UA : 10 . Mai 2010 , Wiener Festwochen), das im Auftrag des Goethe-Instituts produziert wurde und mit einem durchaus aufklärerischen Anspruch durch zahlreiche europäische Länder tourte. 38 Dieser Auftritt lässt sich durchaus als eine Reminiszenz an das Auftauchen der Rom-Völker im Spätmittelalter lesen, aber auch als Tanzstück greift der Abend geradewegs jene frühen literarischen Zuschreibungen auf, die ‚Zigeuner‘ als besonders musisch und leidenschaftlich definieren. Nun soll hier indes keine weitere Maskerade zur Schau gestellt werden, der Abend versteht sich laut Aussage der Choreographin als eine Reise, die durch das Leben der europäischen Roma von heute führt und der aus fundierten Recherche-Aufenthalten hervorgegangen ist. 39 Zugleich soll der Abend nicht als anthropologisches oder ethnographisches Theater missverstanden werden. 40 37 Einige Beispiele für derartige, vornehmlich aus dem Spektrum der Popkultur stammende Performances finden sich bei Dotschy Reinhardt: Everybody’s Gypsy. Popkultur zwischen Ausgrenzung und Respekt, Berlin 2014 ; Beispiele aus dem Fundus der zeitgenössischen bildenden Kunst finden sich in Lith Bahlmann, Matthias Reichelt (Hgg.): Reconsidering Roma. Aspects of Roma and Sinti Life in contemporary art, Göttingen 2011 . Daneben bot auch der erste Roma Pavillion Paradise Lost (Biennale di Venezia 2007 ), die Querelen um ein Nachfolgeprojekt 2009 und vor allem der virtuelle Pavillion Call the witness (Biennale di Venezia 2011 ) einen nachhaltigen Einblick in die Problematik der Selbst- und Fremdrepräsentation von Angehörigen der Romvölker und die damit einhergehenden Diskussionen. Siehe hierzu online: http: / / www.callthewitness.net/ Main [ 30 . 04 . 2016 ]. 38 Für die nachfolgende Analyse wurde von DorkyPark freundlicherweise ein Mitschnitt der Aufführung aus Wien zur Verfügung gestellt. 39 Vgl. den entsprechenden Eintrag auf den Seiten von DorkyPark: online: http: / / www.dorkypark.org/ site/ exhibit/ open-for-everything/ [ 30 . 04 . 2016 ]. 40 Vgl. den Bericht auf den Seiten des Goethe Instituts: online: http: / / www.goethe.de/ ins/ hu/ bud/ kul/ mag/ tut/ de 9232682 .htm [ 30 . 04 . 2016 ]. <?page no="63"?> ‚Zigeuner‘ als Maske des Fremden 63 Vor einer Blechbaracke, die die Bühne nach hinten abschließt, hebt in weiterer Folge ein Reigen an, in welchem fünf Tänzerinnen der Compagnie und 15 Roma aus Tschechien, Ungarn und der Slowakei, begleitet von einer fünfköpfigen ‚Zigeunerkapelle‘ und einer Sängerin, 41 miteinander aber wohl auch gegeneinander tanzen. Flamenco wird dabei ebenso dargeboten wie eine Gruppenchoreographie zu einem Bollywood-Song, ein eigentümlicher Pas-de-deux zu schmachtender Geigenmusik ebenso wie eine Hiphop-Einlage und verschiedene Soli. Unterbrochen werden Musik und Tänze (im wahrsten Sinn des Wortes) von zwei unterschiedlichen Arten von Erzählungen, welche die beteiligten Roma zum Gegenstand haben. Die Tänzerinnen der Compagnie kommentieren ihre Mitspieler während ihres Tuns. Sie adressieren sie stets mit direkter Ansprache („You“, „your houses“, „your clothes“ usw.) und äußern dabei vornehmlich ebenjene Klischees, die auch in den historischen literarischen Vorlagen zur Sprache kommen. Die beteiligten Roma hingegen müssen sich durch Erzählungen aus ihrem Privatleben als authentische Figuren ausweisen. Sie geben intime Details preis, beispielsweise frühe sexuelle Erfahrungen, die Hochzeit mit einem Kleinkriminellen oder die Heimsuchung durch den toten Großvater. Sie schildern Diskriminierung und weitere traumatische Erlebnisse aus ihrem Alltag, ehe sie sich wieder der Musik und dem gemeinsamen Tanz zuwenden oder in Rangeleien und Streitereien (durchaus auch mit den anderen Beteiligten) verfallen. Im Gegensatz zu den Tänzerinnen, deren internationales Englisch ohne weiteres für die Narration herangezogen wird, werden ihre Stimmen immer wieder durch ein Voice-over verstärkt und übersetzt. Auch dies betont die seltsame Asymmetrie, die sich in diese Aufführung einschleicht und sich nicht so recht als Überaffirmation interpretieren lässt. Denn die Dramaturgie des Abends, die durchaus mit den Klischees spielen und darüber eine Reflexion evozieren will, 42 stellt unfreiwillig die Frage nach der Legitimation für den Auftritt auf der Bühne. Den Tänzerinnen wird diese ob ihrer Professionalität ohne weiteres zugestanden, sie müssen keine weitere Erklärung abgeben, weder bezüglich ihrer Ausbildung noch bezüglich ihrer Herkunft oder der daran geknüpften Biographie. Sie dürfen einfach tanzen. Die Roma hingegen betreten in der Art jener „Experten des Alltags“ die Bühne, die durch das dokumentarische Theater von Rimini Protokoll Bekanntheit erlangten und die sich in 41 ‚Zigeunerkapelle‘ ist in diesem Fall die Eigenbezeichnung der Gruppe Gitans. Im Rahmen der Musik, ihrer Aufführung und Theoretisierung wird die Bezeichnung ‚Zigeuner‘ größtenteils vollkommen unproblematisiert verwendet. Dies weist indes weniger auf ein methodisches Manko hin, sondern illustriert, dass auch Angehörige der Rom-Völker sich sehr bewusst der Maske und Figuration bedienen. Unter dem Label ‚Zigeuner‘ ist die Musik deutlich besser zu vermarkten als unter der Bezeichnung ‚Folklore‘. 42 Vgl. die Aussagen auf der Homepage von DorkyPark: online: http: / / www.dorkypark.org/ site/ exhibit/ open-for-everything/ [ 30 . 04 . 2016 ]. <?page no="64"?> 64 Lorenz Aggermann ihrem Tun auf der Bühne erst einmal erklären müssen, um hernach als Objekte eines durchaus ethnographisch zu bezeichnenden Blicks zu fungieren. Doch wofür sind sie Experten? Für die Musik und den Tanz, den sie aufführen und der doch niemals so professionell und legitimationsfrei sein wird, wie jener der Compagnie? Oder für Diskriminierung und das Leben in einem dystopischen Lebensraum, von dem sie fragmentarisch erzählen? Und weshalb sind diese Menschen in ihrem Tun beobachtenswert? Gerade letztere Frage wird durch die gewählte dramaturgische Strategie betont. Damit rückt die Aufführung doch deutlich in die Nähe der Maskerade, die das Fremde ausstellt, um es zu konturieren, und dafür zu sorgen, dass es dem Eigenen subordiniert wird. Dem Spalt zwischen der Figuration und ihrem Träger räumt diese Aufführung hingegen kaum Gewicht ein. Anders als die Filme Emir Kusturicas (Zeit der Zigeuner, Belgrad 1988 ; Schwarze Katze, weißer Kater, Belgrad 1998 ), die sich ebenfalls dieser dramaturgischen Strategie verschrieben haben und Roma als ‚Zigeuner‘ auftreten lassen, lässt open for everything weder eine Differenz zwischen den Trägern und der Maske aufscheinen noch nimmt die Aufführung eine Weitung zu phantastischen Bildern oder Momenten vor, die das Geschehen in jene fiktionale und imaginäre Dimension verrücken, der auch die ‚Zigeuner‘-Maske angehört. So trägt open for everything eher zur Bestätigung eines stigmatisierenden und marginalisierenden Blicks auf diese Minderheit bei, führt die Aufführung einmal mehr zur Stillstellung der Maske in der Figuration. Dass das Theater eigentlich einen hybriden Raum der Freundschaft eröffnen kann, in dem „die Gastgeber nicht mehr ganz und gar Herr (oder Frau) im eigenen Haus sind“ und in welchem der Gast als „Vorgestalt der radikalen Fremdheit-[…] die Grenzen der vorgegebenen Ordnung überschreitet“, 43 hatte vor Jahren bereits das Mülheimer Theater an der Ruhr unter der Intendanz von Roberto Ciulli bewiesen, welches dem 1990 aus Ex-Jugoslawien emigrierten Roma Theater Pralipé bis 2002 Raum und Ressourcen zur Verfügung stellte. Dieses Ensemble erarbeitete über 20 Produktionen, die teils in Romanes, teils in anderen Sprachen Selbst- und Fremdbeschreibung thematisierten, und in welchen die Maske und ihre Träger häufig den zentralen dramaturgischen Ausgangspunkt bildeten. Durch Gastspiele in den neuen Bundesländern prägte das Theater Pralipé die Diskussion rund um den gesellschaftspolitischen Status und Nimbus von Angehörigen der Rom-Völker in Deutschland entscheidend mit, ehe das Ensemble, seit 2002 eigenständig und in Köln ansässig, 2004 Insolvenz anmelden musste. In der 2010 vom Goethe-Institut initiierten Aufführung open for everything erweist sich Theater indes als eine Verlängerung eines realpolitischen Herrschaftsraumes, in dem die Hierarchien klar geregelt sind, der den Fremden Grenzen 43 Waldenfels, Hyperphänomene, S. 308 - 309 . <?page no="65"?> ‚Zigeuner‘ als Maske des Fremden 65 setzt und das gemeinsame Tun mit einem Ablaufdatum versieht-- ein durchaus skeptischer Befund, der sich hier am Ende dieser Ausführungen zu ‚Zigeuner‘ als Maske des Fremden ergibt und der seiner Adaption durch weitere Analysen aus dem Gebiet der zeitgenössischen (darstellenden) Kunst harrt. <?page no="67"?> Hautfarbe im deutschen Theaterdiskurs der Gegenwart 67 Hautfarbe im deutschen Theaterdiskurs der Gegenwart Ein Diskussionsbeitrag Franziska Bergmann (Trier) In den vergangenen Jahren sieht sich das deutschsprachige Repertoiretheater zunehmend mit dem Vorwurf konfrontiert, es sei-- wie es unter anderem in einem Beitrag des Bayerischen Rundfunks vom 19 . Februar 2014 heißt- - eine „weiße Bastion“, ein „‚Bollwerk‘, in das nur wenige farbige Schauspieler“ hineinkämen, ja, es stelle geradezu eine „Parallelgesellschaft“ „von Weißen für Weiße“ dar. 1 Inwiefern weiße Hautfarbe die hegemoniale Norm des deutschen Repertoiretheaters bildet, möchte ich im vorliegenden Aufsatz beleuchten. Dabei verstehe ich weiße Hautfarbe als Phänomen, das metonymisch operiert und erst in Kombination mit bestimmten anderen physischen Merkmalen als Zeichen von nicht-rassistisch markierter Whiteness gelesen wird. In einem kurzen einleitenden Teil werden die methodischen und theoretischen Zugänge skizziert, die sich einerseits an die ethnologische Strategie anschließen, das Eigene aus einer fremden bzw. befremdeten Perspektive zu betrachten. In diesem Falle ist das Eigene die mir wohlvertraute deutschsprachige Theaterkultur und ihre rassifizierten Inklusions- und Exklusionsmechanismen. Andererseits greife ich auf Konzepte der Critical Whiteness Studies zurück, um Weiß-Sein als wirkmächtige Codierung zu beschreiben, die sich aus der Tradition einer abendländischen Schwarz-Weiß-Symbolik speist. Der darauffolgende Hauptteil des Aufsatzes widmet sich den konkreten Auswirkungen der Norm des Weiß-Seins und richtet den Blick auf institutionelle Strukturen (u. a. Besetzungspolitiken) und auf dominante Ästhetiken des deutschen Repertoiretheaters. Als wesentliches Quellenmaterial für meine Untersuchung dienen mir jüngst im Internet und anderen Medien publizierte Äußerungen zahlreicher KünstlerInnen, AktivistInnen und TheaterkritikerInnen, welche die anachronistisch anmutende Dominanz weißer Hautfarbe am deutschen Theater bemängeln 1 Sammy Khamis, „Parallelgesellschaft Theater. ‚Von Weißen für Weiße‘“, online: http: / / www. br.de/ radio/ bayern 2 / programmkalender/ sendung 729194 .html [ 30 . 04 . 2016 ]. <?page no="68"?> 68 Franziska Bergmann und eine zeitgemäße Repräsentation von People of Color bzw. Menschen mit sichtbarem Migrationshintergrund auf der Bühne einfordern. Zudem greife ich auf die Selbstdarstellung diverser Theaterhäuser im Netz zurück oder verweise auf meine eigenen Erfahrungen als langjährige Theatergängerin. In einem dritten Schritt schließlich geht der Beitrag der Frage nach, über welche politischen und ästhetischen Möglichkeiten das deutsche Repertoiretheater verfügt, um seinen bisherigen rassifizierten Ausschlussmechanismen entgegenzuwirken. Der fremde Blick auf das Eigene Im Rahmen meiner Untersuchung orientiere ich mich an einer ethnologischen Methode, die, wie Doris Bachmann-Medick in Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften festhält, im Zuge der anthropologischen Wende für die Geisteswissenschaften insgesamt bedeutsam wurde und die eigene Gesellschaft aus einer gleichsam distanzierten Perspektive in den Blick nimmt. Dazu führt Bachmann-Medick aus: [Die Ethnologie] drängt auf die Entwicklung eines ethnologischen Blicks, der auch auf die eigene Kultur gerichtet werden kann und soll: auf die eigenen sozialen Institutionen, Normen, Werte, Gewohnheiten. Diese Entwicklung eines ethnologischen Blicks wird besonders durch die Konfrontation mit Fremdheit provoziert. Dadurch kann sich die distanzierte Sicht eines von außen kommenden Beobachters auch auf die eigene Kultur richten und diese so verfremden, dass man bisher nicht Gesehenes an ihr wahrzunehmen vermag. Andere Disziplinen können von der Ethnologie diese fruchtbare Praxis des Fremdmachens lernen. 2 Dieser ethnologische Blick, der das Eigene durch die erkenntnisstiftende Brille der Verfremdung betrachtet, wird im Rahmen der vorliegenden Untersuchung durch jene kritischen Stimmen ermöglicht, die vorangehend bereits erwähnt wurden und die sich zunehmend lauter werdend gegen die Dominanz weißer Hautfarbe am deutschen Repertoiretheater zur Wehr setzen. Um im Folgenden den unmarkierten Status weißer Haut als Analysekategorie sichtbar zu machen und ihn zur Diskussion zu stellen, greift der Beitrag zudem auf Axiome der Critical Whiteness Studies zurück. Im Anschluss an Richard Dyers wegweisende Publikation White 3 geht es den Critical Whiteness Studies darum, Weiß-Sein als privilegierte „soziostrukturelle Position,-[…] als kulturelle Repräsentation von Normativität und Dominanz kritisch zu fokussieren“ 4 und diese bis in die Gegenwart bedeutsame 2 Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2007 , S. 28 - 29 . 3 Richard Dyer, White. Essays on Race and Culture, London, New York 1997 . 4 Jana Husmann, Schwarz-Weiß-Symbolik. Dualistische Denktraditionen und die Imagination von Rasse, Religion, Wissenschaft, Anthroposophie, Bielefeld 2010 , S. 15 . <?page no="69"?> Hautfarbe im deutschen Theaterdiskurs der Gegenwart 69 Codierung von weißer Hautfarbe als Produkt historischer rassentheoretischer Diskurse westeuropäischer Provenienz (insbesondere seit dem 18 . Jahrhundert) kenntlich zu machen. In ihrer Studie Schwarz-Weiß-Symbolik legt Jana Husmann dar, dass diese rassentheoretischen Diskurse maßgeblich von den dualistischen Denktraditionen des Abendlandes grundiert sind, in deren Rahmen die Farben Weiß und Schwarz eine symbolische Aufladung erfahren und mit anderen Dualismen wie Licht/ Finsternis, Reinheit/ Unreinheit, Geist/ Körper oder Transzendenz/ Weltlichkeit assoziiert werden. 5 Bis heute, so konstatiert Husmann, bestimmt die „Verschränkung von symbolisch-dualistisch organisierten Bild- und Denkräumen und rassentheoretischen Kategorienbildungen“ den „westlich medialen Alltagsdiskur[s]“. 6 Im Kontext des von mir untersuchten Mediums Theater wird deutlich, dass insbesondere jene dualistische Struktur einflussreich ist, in der weiße Hautfarbe mit dem Eigenen, dunkle Hautfarbe mit dem Fremden gleichgesetzt wird. 7 Inwiefern sich diese Analogiebildung auf institutioneller und ästhetischer Ebene des zeitgenössischen deutschen Repertoiretheaters auswirkt, gilt es im Folgenden zu zeigen. 5 Vgl. ebd., S. 12 . 6 Ebd., S. 26 . 7 Dass diese Gleichsetzung von weißer Hautfarbe mit dem Eigenen und dunkler Hautfarbe mit dem Fremden generell auf wirkmächtige Weise in unserem Alltagsdiskurs vorhanden ist, zeigt jüngst eine Werbekampagne einer österreichischen Universität, mittels derer man die internationale Ausrichtung der Universität demonstrieren wollte. Auf der Homepage der Universität wurde ein Foto mit zwei weißhäutigen Studentinnen und einem schwarzhäutigen Studenten abgebildet. In einem offenen Brief wies der auf der Homepage abgebildete Student darauf hin, dass auch er österreichischer Staatsangehöriger sei und das Foto deshalb nicht als Ausweis der internationalen Ausrichtung der Universität dienen könne. Über die farbsymbolischen Implikationen der Werbekampagne führt Andrea Geier aus: „Die Bildästhetik inszeniert nationale Zugehörigkeit über Farbkontraste. Die hell-dunkel- Differenz wird zusätzlich durch den Umstand verstärkt, dass beide Frauen blond sind. Diese Bildlogik verweist auf ein Selbstverständnis, in dem ‚Weißsein‘ als identitätsstiftende Norm der Mehrheitsgesellschaft fungiert. Die Behauptung, dass auf dem Foto neben Mitgliedern der ‚Eigengruppe‘ auch ein ‚Fremder‘ zu sehen sei, kann nur plausibel erscheinen, wenn ein kulturelles Wissen vorausgesetzt wird, in dem die Hautfarbe weiß als Markierung der ‚Wir‘- Gruppe fungiert und die Hautfarbe schwarz umgekehrt ‚Fremdheit‘ signalisiert. Das Bild sollte einem positiven Image der Universität dienen und wurde nicht in rassistischer Absicht verwendet. Umso mehr demonstriert es die Bedeutung homogenisierender Vorstellungen von ‚Eigenem‘ und ‚Anderem‘ für das kulturelle Selbstbewusstsein.“ Andrea Geier, „Gender als Analysekategorie. Entwicklungen und Tendenzen in den Gender Studies“, in: Forschung & Lehre 11 ( 2014 ), S. 884 - 885 , 884 . <?page no="70"?> 70 Franziska Bergmann Weiß-Sein als Norm im deutschsprachigen Repertoiretheater: Kritik an Institution und Ästhetik Das zeitgenössische deutsche Theater definiert sich als ein ästhetisches Medium, das darauf abzielt, drängende Fragen der Gegenwart zu erkennen und (kritisch) zu untersuchen. So führt der Direktor des deutschen Bühnenvereins Rolf Bolwin im Februar 2013 über das Selbstverständnis des deutschen Stadttheaters aus: Wir erwarten von der Kunst eine Herausforderung, eine Aufforderung zum Denken und zur Reflexion der heutigen Zeit. Das Theater ist und bleibt also ein gegenwartsbezogener Denkraum, ist kein Archiv. Gäbe es nicht die Konfrontation mit dem Heute, wäre Theater langweilig.-[…] [E]s geht dem Theater [ja] darum, die Wirklichkeit abzubilden, um den Zuschauer zu veranlassen, sich eben mit dieser auseinandersetzen. 8 Das hohe reflexive Niveau, der Abbildcharakter und die starke Aktualitätsbezogenheit theatraler Kunst, die Bolwin einfordert, müsse sich vor allem in der Öffnung des Stadttheaters für einen „von ihm [vom Theater, F. B.] erwarteten interkulturellen Dialog“ 9 zeigen, stellen doch Migration, multiethnische und pluralistische kulturelle Gesellschaftsstrukturen das bestimmende Paradigma westeuropäischer Staaten der Gegenwart dar. So beträgt der prozentuale Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund 2011 in Deutschland laut Statistischem Bundesamt insgesamt 19 , 5 %; in einzelnen Großstädten wie Frankfurt sogar 43 %. 10 Dass die deutschen Stadttheater Rolf Bolwins Anspruch nach Aktualitätsbezogenheit und einer daraus abgeleiteten Forderung nach ihrer Öffnung hin zur multiethnischen und kulturell heterogenen Realität bislang mitnichten nachkommen, zeigt sich in den heftigen Diskussionen, die gegenwärtig in verschiedenen Medien um die Partizipation von Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund am deutschen Theater geführt werden. Die Diskussion um die exkludierenden Mechanismen des deutschen Theaters gewinnt vor allem deshalb zunehmend an Einfluss, weil viele der KritikerInnen bevorzugt das Internet als Plattform nutzen, darunter soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter, Blogs oder das online erscheinende 8 Rolf Bolwin, „Quo vadis- - oder was wird aus dem deutschen Stadttheater? “ Online: http: / / www.buehnenverein.de/ de/ publikationen-und-statistiken/ kulturpolitische-papiere. html? det= 344 2013 [ 30 . 04 . 2016 ]. 9 Ebd. 10 Vgl. online: http: / / www.bpb.de/ gesellschaft/ migration/ 148820 / migrantenanteil-in-deut schen-grossstaedten-waechst [ 30 . 04 . 2016 ]. Weiter heißt es in der Erhebung des Statistischen Bundesamts: „Mittelfristig wird sich der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund weiter erhöhen: Insgesamt hatte in Deutschland 2011 gut ein Drittel aller Kinder unter fünf Jahren einen Migrationshintergrund ( 34 , 9 %)-- in der Gruppe der 35 bis unter 45 -Jährigen lag der entsprechende Anteil im selben Jahr bei 22 , 3 % und bei den 85 bis unter 95 -Jährigen bei 5 , 8 %.“ (Online: http: / / www.bpb.de/ wissen/ NY 3 SWU, 0 , 0 ,Bev%F 6 lke rung_mit_Migrationshintergrund_I.htm [ 30 . 04 . 2016 ]). <?page no="71"?> Hautfarbe im deutschen Theaterdiskurs der Gegenwart 71 Theaterfeuilleton nachtkritik.de, das durch die viel frequentierte Kommentarfunktion 11 jenen Personen ein öffentlichkeitswirksames Forum bietet, deren Stimmen von konventionelleren Medien lange Zeit über nicht wahrgenommen wurden. Inzwischen stoßen diese Stimmen aber auf Presseresonanz in diversen Kultursendungen und Fachorganen, z. B. des Deutschlandradios, des Bayerischen Rundfunks oder der Zeitschriften Theater heute und Theater der Zeit. 12 Zu den derzeit besonders aktiven BeobachterInnen und KritikerInnen der deutschen Theaterlandschaft zählen Zusammenschlüsse wie Bühnen-watch, eine Gruppe, die, wie es in der Selbstbeschreibung heißt, 2012 „aus den Auseinandersetzungen um die rassistische Blackface-Inszenierung und anschließende Debatte am Berliner Schlossparktheater hervorgegangen [ist]“ und die sich sowohl gegen „rassistische Darstellungen wie Blackface als auch rassistische Diskriminierung von Schauspieler_innen of Color“ 13 engagiert; die Initiative Göthe-Protokoll aus München, die sich seit Oktober 2013 für mehr Vielfalt in der Kunst und vor allen Dingen auf den Bühnen der Theaterhäuser einsetzt, und Mind the Trap, ein Zusammenschluss von KulturpraktikerInnen, der sich im Januar 2014 in Reaktion auf eine Fachtagung am Berliner DT mit dem Titel „ MIND THE GAP ! “ gegründet hat, um das „eurozentristisch[e] [und] äußerst eingeschränkt[e] Verständnis von Kultur“ 14 der Tagung zu kritisieren. Die Kritik, die von Seiten der Initiativen Bühnenwatch, Göthe-Protokoll, Mind the Trap und anderer AktivistInnen und KünstlerInnen geübt wird, richtet sich sowohl gegen die institutionelle als auch gegen die ästhetische Organisation der deutschen Bühnen, weil in beiden Bereichen Menschen diskriminiert würden, die nicht der Norm des Weiß-Seins entsprächen. So schreibt Murali Perumal, indischstämmiger Schauspieler aus Bonn und Mitbegründer von Göthe-Protokoll, in einem offenen Brief an die Süddeutsche Zeitung, der auf nachtkritik.de publiziert ist und in dem Perumal Stellung zur Rolle von „(Post-)Migranten“ im Theater nimmt: In all den Jahren, die ich am Theater erlebt habe, spielen deutsche Schauspieler mit sichtbarem Migrationshintergrund auf unseren hiesigen Bühnen keine Rolle.- […] Zur Differenzierung von sichtbaren Migranten und denen, denen man es nicht ansieht: Französische, italienische, holländische, australische oder serbische Schauspieler werden sehr 11 Vgl. hierzu die Anzahl der Kommentare auf http: / / www.nachtkritik.de/ index.php? option=com_content&view=article&id= 8851 : muenchner-diskussion-ueber-menschenmit-migrationshintergrund-am-theater&catid= 101 : debatte&Itemid= 84 [ 120 Kommentare, 30 . 04 . 2016 ]. 12 Vgl. beispielsweise http: / / www.deutschlandradiokultur.de/ rassismus-am-theater-keine-rollen-fuer-schwarze-schauspieler. 2159 .de.html? dram: article_id= 299371 [ 30 . 04 . 2016 ]; Khamis, „Parallelgesellschaft Theater“ (online: http: / / www.br.de/ radio/ bayern 2 / programmkalender/ sendung 729194 .html); Theater heute 2 ( 2014 ) sowie Theater der Zeit 10 ( 2014 ). 13 Online: http: / / buehnenwatch.com/ sample-page/ [ 30 . 04 . 2016 ]. 14 http: / / mindthetrapberlin.wordpress.com/ uber-mind-the-trap/ [ 30 . 04 . 2016 ]. <?page no="72"?> 72 Franziska Bergmann gut integriert an den Bühnen, sie werden als Deutsche akzeptiert, nicht jedoch asiatisch-, afrikanisch- oder südamerikanisch-stämmige Darsteller, denen man ansieht, dass sie eine nicht-deutsche Herkunft haben ([…] obwohl viele von ihnen Hochdeutsch sprechen). Da gibt es sehr wohl einen Unterschied, wie wir behandelt werden, und das ist offensichtlich.-[…] Ich werde das Gefühl nicht los,-[…] dass-[…] unser Anliegen bzw. unsere Wut herunter[ge]spiel[t] [wird]-[…] nach dem Motto: „Ach, kommt Leute, so schlimm ist es doch nicht.“ Es tut sich doch was, es werden internationale Produktionen eingeladen (die kommen und wieder gehen), es spielen holländische, schweizer [sic] Schauspieler, Esten, Ungarn (denen man ihre ausländische Herkunft eh nicht ansieht, also keine großartige Weltöffnung), eine Schauspielerin aus Uganda, die als Schauspielschülerin bisher nur ein Stück als Gast-[…] und die anderen beiden Stücke als Inszenierungen der Otto-Falckenberg-Schule gespielt hat. Das ist doch eindeutig zu wenig. Damit braucht sich niemand zu rühmen [Hervorhebungen im Text getilgt, F. B.]. 15 Mithin diagnostiziert Perumal für das deutsche Schauspieltheater, dass es Differenzen gibt, die als Differenz wahrgenommen werden, und Differenzen, die bedeutungslos bleiben, und dass signifikante Differenzierungen entlang spezifisch rassifizierter Erscheinungsbilder produziert werden, u. a. entlang der Codierung unterschiedlicher Hautfarben. Perumals Beobachtung, die deutschen Bühnen schlössen bestimmte Personengruppen aus, wenn diese nicht der Norm des Weiß- Seins entsprächen, lässt sich ohne großen Aufwand mittels einer stichprobenartigen Erhebung verifizieren, welche die Zusammensetzung der Schauspielensembles beliebig ausgewählter kleinerer und größerer Theater aus dem deutschsprachigen Raum untersucht. Bei den renommierteren Theaterhäusern deutscher Metropolen, dem Thalia Theater Hamburg, dem Residenztheater München oder der Schaubühne Berlin sucht man vergebens nach Ensemblemitgliedern, die nicht der Norm des Weiß-Seins entsprechen. 16 Derselbe Befund ergibt sich bei den Häusern mittelgroßer Städte wie Wiesbaden und Essen und bei kleineren Bühnen, etwa dem Theater Lübeck, dem E. T.A- Hoffmann-Theater Bamberg und dem Neuen Theater Halle. 17 Eine geringfügige 15 Murali Perumal, „Brief von Murali Perumal“, online: http: / / www.nachtkritik.de/ index. php? option=com_content&view=article&id= 8880 : debatte-migranten-an-deutschen-theatern-ein-offener-brief-des-schauspielers-murali-perumal-an-die-sueddeutsche-zeitung&catid= 101 : debatte&Itemid= 84 [ 30 . 04 . 2016 ]. 16 Vgl. online: http: / / www.thalia-theater.de/ de/ ensemble/ schauspielerinnen/ [ 30 . 04 . 2016 ]; http: / / www.residenztheater.de/ personen/ ensemble; http: / / www.schaubuehne.de/ de/ ensemblelisten/ schauspieler.html [ 30 . 04 . 2016 ]. 17 Vgl. online: http: / / www.staatstheater-wiesbaden.de/ schauspiel/ ensemble/ [ 30 . 04 . 2016 ]; http: / / www.schauspiel-essen.de/ menschen/ [ 30 . 04 . 2016 ]; http: / / www.theaterluebeck.de/ index.php? seid= 825 [ 30 . 04 . 2016 ]; http: / / www.theater.bamberg.de/ das-haus/ ensemble/ [30. 04. 2016]; http: / / www.buehnen-halle.de/ neues-theater-ensemble [30. 04. 2016]. Lara-Sophie Milagro kommt zum selben Ergebnis: „Klickt man sich im Internet auf der Homepage deutscher Stadt- und Staatstheater durch die Fotos der Ensemble-Mitglieder, so bietet sich einem tatsächlich stets dasselbe, einheitliche Bild: SchauspielerInnen mit stereo- <?page no="73"?> Hautfarbe im deutschen Theaterdiskurs der Gegenwart 73 Abweichung findet sich beim Staatstheater Stuttgart, hier entspricht ein Ensemblemitglied nicht der Norm von Weiß-Sein; in Anbetracht eines verhältnismäßig großen Ensembles und darüber hinaus eines Migrationsanteils in Stuttgart von 38 % ist diese Abweichung jedoch von geringer Relevanz. Das Ensemble des Dortmunder Theaters scheint auf den ersten Blick heterogener zu sein, allerdings entsteht dieser Eindruck nur deswegen, weil hier die Mitglieder sowohl des Schauspiels als auch des Musiktheaters und des Tanztheaters auf einer Seite gemeinsam abgebildet sind. 18 Aus dieser Übersicht über die diversen Ensembles lassen sich mehrere Ergebnisse ableiten, die sowohl die institutionelle als auch die ästhetische Ebene des deutschen Repertoiretheaters betreffen. Anhand der Stichprobe kann zunächst gezeigt werden, dass der Großteil der deutschen Repertoiretheater an der Konstruktion einer visuellen Kultur partizipiert, in der die Norm des Weiß-Seins maßgeblich sanktioniert wird, weil es vor allem die weißen SchauspielerInnen sind, welche die sichtbarste Berufsgruppe am Theater bilden und auf die sich die Aufmerksamkeit und das Interesse der Öffentlichkeit in besonderem Maße richtet. Allabendlich stehen die SchauspielerInnen auf der Bühne, wobei sie nicht nur durch die Aufführungen, sondern auch durch Matineen, Publikumsgespräche, etc. den unmittelbarsten Kontakt mit den ZuschauerInnen haben und anders als z. B. BühnentechnikerInnen, KostümbildnerInnen oder das Einlasspersonal in den Spielplänen und im Netz per Portraitfotografie vorgestellt werden; d. h. die SchauspielerInnen verleihen den Theatern ihr Gesicht-- im Falle der deutschen Theater ist dies ein bislang augenscheinlich weißes Gesicht. Die Frage nach dem Visuellen, die hier gestellt wird, ist deswegen von Bedeutung, weil im Anschluss an Sigrid Schade und Silke Wenk zu berücksichtigen ist, dass Sichtbarkeit in den letzten drei Jahrzehnten zu einem wichtigen Topos sozialer Bewegungen- - wie der Frauen-, antirassistischen, schwul-lesbischen Bewegungen- - [geworden ist], die eine angemessene Stellvertretung in der kulturellen wie in der politischen Öffentlichkeit forderten und fordern. 19 typ deutschem Erscheinungsbild, sprich: weißer Hautfarbe. Hin und wieder mal ein Nachname, der nicht urdeutsch klingt, aber zum Glück sieht man es der Trägerin kaum an. Die wenigen Ausnahmen kann man an einer Hand abzählen.“ (Lara-Sophie Milagro, „Die Bequemlichkeit der Definitionsmacht“, online: http: / / www.nachtkritik.de/ index.php? view=ar ticle&id= 6740 % 3 Adie-blackfacing-debatte-iii-man-muss-kein-neonazi-sein-um-rassistischzu-handeln&option=com_content&Itemid= 60 [30. 04. 2016]). 18 Vgl. online: http: / / www.theaterdo.de/ ensembles/ [ 30 . 04 . 2016 ]. 19 Sigrid Schade, Silke Wenk, Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld, Bielefeld 2011 , S. 104 . <?page no="74"?> 74 Franziska Bergmann Laut Schade und Wenk sind in westeuropäischen Gesellschaften der Gegenwart „Sichtbarkeit und Gesehen-Werden“ zwar nicht grundsätzlich, aber doch in vielerlei Hinsicht mit „‚Anerkennung‘ verknüpft“ 20 und versprechen „die Teilhabe an Macht und Ressourcen“. 21 Die Macht, um die es in Bezug auf das Theater geht, ist seine Macht an Wahrnehmungsgewohnheiten und Repräsentationsmustern mitzuwirken. Zu fragen ist, welche Wahrnehmungsgewohnheiten und Repräsentationsmuster das deutsche Theater (mit-)produziert, wenn sich in den Ensembles kaum Mitglieder finden, die nicht der Norm des Weiß-Seins entsprechen. Auf rein institutioneller Ebene vermitteln die Theater zunächst den Eindruck, als könnten bzw. dürften nur spezifische, nach Hautfarben differenzierte Bevölkerungsgruppen in einem immer noch als hochkulturell bezeichneten und dadurch mit reichlich symbolischem Kapital ausgestatteten Kunstsektor aktiv in Erscheinung treten. Wie Silvia Stammen in einem Theater heute-Artikel über „Migranten und ihre Rollen im deutschen Theater“ 22 zu bedenken gibt, erhärtet sich dieser Eindruck zusätzlich, wenn neben der Zusammensetzung der Schauspielensembles die Besetzungslisten der Führungsriegen der deutschen Theaterhäuser (d. h. Intendanz, Dramaturgie, Regie) in den Blick genommen werden. Auch in den Reihen dieser Berufsgruppen, die über viel Reputation und Handlungsmacht verfügen, befinden sich ebenfalls fast nur Weiße. In seiner Kritik an den institutionellen Strukturen des deutschen Theaters hält Murali Perumal in seinem offenen Brief überdies fest, dass das deutsche Theater nicht „nur von Weißen“, sondern auch „für Weiße“ gemacht werde, dass also Fragen der Produktionsästhetik unmittelbar mit der Seite der Rezeption zusammenhingen. Für das Publikum seien laut Perumal Schauspielerpersönlichkeiten unabdinglich, die als Identifikationsfiguren fungierten und in denen sich die TheaterbesucherInnen angemessen repräsentiert sähen. Dazu notiert Perumal: Als ich in Köln gespielt habe, sah ich zum ersten Mal in einem Theaterpublikum Frauen mit Kopftüchern, Afro-Deutsche und Asiaten im Publikum sitzen. Ich kam mit ihnen ins Gespräch und sie dankten mir dafür, dass ich im Stück mit dabei war. Ich fragte sie, warum, und sie sagten mir, dass sie sich durch mich und andere türkisch- und jamaikanischstämmige Schauspieler im Ensemble endlich repräsentiert sehen würden: im Theater, in der Gesellschaft, auf der Bühne. Sie seien vorher nie ins Theater gegangen. Sie hatten sich ausgegrenzt gefühlt und das hatte sich mit uns geändert. 23 Dass sich die Dominanz weißer Haut im Theater nicht nur in Bezug auf Produktion und Rezeption bemerkbar macht, sondern auch mit werkästhetischen As- 20 Ebd. 21 Ebd., S. 105 . 22 Silvia Stammen, „Farbwechsel“, in: Theater heute 2 ( 2014 ), S. 18 - 20 , 18 . 23 Perumal, „Brief von Murali Perumal“. <?page no="75"?> Hautfarbe im deutschen Theaterdiskurs der Gegenwart 75 pekten verknüpft ist, wird von diversen kritischen Stimmen ebenfalls betont. 24 Im Rahmen dieser Diskussionen kommt ein Verständnis von Repräsentation zum Ausdruck, das sich von den repräsentationsästhetischen Strategien der deutschen Repertoiretheater deutlich unterscheidet. Dort herrsche eine spezifische Auffassung von Repräsentation vor, die einerseits zum systematischen Ausschluss von People of Color und Personen mit sichtbarem Migrationshintergrund aus den Ensembles führe und andererseits diskriminierende Darstellungspraktiken wie blackfacing befördere. 25 Zunächst zum ersten Aspekt, welcher sich anhand des bereits erwähnten Dortmunder Ensembles veranschaulichen lässt. Oberflächlich betrachtet, scheint dieses Ensemble deswegen nicht nur aus weißen Akteuren zu bestehen, weil auf der Homepage die Mitglieder des Schauspiels gemeinsam mit Mitgliedern des Musiktheaters und des Tanztheaters abgebildet sind. Offenbar stellt weiße Hautfarbe also in den beiden letzteren Sparten kein derart bestimmendes Paradigma dar wie im Schauspieltheater. Diese Beobachtung deckt sich insofern mit meiner langjährigen persönlichen Theatererfahrung, als es beispielsweise für einen Tenor mit asiatischem Erscheinungsbild, den Koreaner Alfred Kim, kein Hindernis ist, als Interpret der Titelpartie in einer Inszenierung von Gounods Oper Faust am Staatstheater Wiesbaden ( 2007 ) aufzutreten; einen asiatisch aussehenden Faust- Darsteller im Schauspieltheater indessen habe ich noch nicht erlebt. Diese divergente Besetzungspraxis zwischen Schauspieltheater auf der einen und Musikbzw. Tanztheater auf der anderen Seite greift auch eine Diskussionsteilnehmerin in der Debatte um „Menschen mit Migrationshintergrund am Theater“ auf nachtkritik.de auf. In ihrem Eintrag heißt es: „In der Oper-[…] trifft [man]-[…] auch auf asiatische Othellos, bei denen in der Inszenierung dieses ‚Asiatentum‘ keine Rolle spielt- […]. Auch beim Tanz.“ 26 Im Musik- und Tanztheater gehe es vor allem um handwerkliche Kompetenz, weniger um naturalistische Repräsentation, d. h. in diesem Falle um die Korrespondenz der rassifizierten Physis der DarstellerInnen mit der rassifizierten Physis der gespielten Figuren. Dieser Umstand schütze, so die Beiträgerin, die SängerInnen oder TänzerInnen vor „rassistischen-[…] Determinierungen durch Regie und Dramaturgie“. 27 Wie zahlreiche KritikerInnen anhand eigener Erlebnisse berichten, regiere im Schauspieltheater trotz aller postdramatischen Innovationen weiterhin das Primat einer unzeitgemäßen Repräsentationslogik, was dazu führe, dass ein Erscheinungs- 24 Vgl. Milagro, „Die Bequemlichkeit der Definitionsmacht“. 25 Vgl. ebd. 26 http: / / www.nachtkritik.de/ index.php? view=article&id= 8851 % 3 Amuenchner-diskussion-ueber-menschen-mit-migrationshintergrund-am-theater&option=com_content&Itemid= 84 , Kommentar 61 [ 30 . 04 . 2016 ]. 27 Ebd. <?page no="76"?> 76 Franziska Bergmann bild, das nicht der Norm des Weiß-Seins entspricht, automatisch zum Zeichen für Fremdheit und Andersartigkeit werde. 28 Dazu Murali Perumal: Am Schauspiel Köln ist das Multi-Kulti-Ensemble deswegen gescheitert, weil die Dramaturgen und deutschen Regisseure uns fast nur in Migrantenstücken als Ausländer besetzt haben, nicht jedoch als Deutsche, die wir im wirklichen Leben alle sind. Es wurde von der Dramaturgie behauptet: ‚Ja, wir können ja nicht nur Migrantenstücke machen, wir müssen auch Stücke über Korruption machen‘. Mit dieser Aussage haben sie uns- […] ausgegrenzt als Migranten, die Migranten bleiben und niemals als Deutsche angesehen werden würden. Als ob wir nicht mit menschlichen Themen wie Korruption zu tun hätten.- […] Der Migrant spielt nur den Migrant[en].- […] Das ist leider immer noch Realität auf deutschen Bühnen. 29 Elisabeth Blonzen verweist in einem jüngst in Theater der Zeit erschienenen Interview, in dem die Schauspielerin gemeinsam mit ihrem Kollegen Ernest Allan Hausmann über ihre afrodeutsche Erfahrung an hiesigen Bühnen spricht, auf ein ähnliches Phänomen. Demnach geht die übliche Besetzungspolitik schon bei den Stücken los, wo Schwarze oft ganz Afrika repräsentieren sollen bzw. das Problem, das Afrika für uns Deutsche hat. Also: Ich möchte gerne Asyl, ich suche eine Arbeit, ich bin bei Frontex schon dreimal abgeprallt. Aber nie: Ich suche eine Kita für meine Tochter, ich bin bei einer Prüfung durchgefallen, ich kann mich nicht entscheiden, ob ich in dieser oder in jener Kanzlei arbeiten will. Immer sind es Underclass-Leute, die aus einem anderen Land kommen, und nicht-[…] wie Ernest und ich, Leute, die in Deutschland geboren sind und eben eine dunklere Hautfarbe haben als andere in diesem Deutschland. 30 In dieser von Perumal und Blonzen beschriebenen Besetzungspraxis kommt eine unterkomplexe Auffassung von Repräsentation zum Ausdruck, in deren Rahmen nicht-weiße SchauspielerInnen auf ein stereotypes Rollenfach festgelegt werden, das ihrem äußeren Erscheinungsbild zu entsprechen scheint, während weißen SchauspielerInnen eine Vielfalt von Rollen in Stücken vorbehalten ist, in denen ‚allgemein menschliche‘, über Fragen von Migration oder Fremdheit hinausgehende Themen verhandelt werden. Mithin manifestiert sich hierin das Fortwirken eines abendländischen Diskurses, in dem Weiß-Sein (ähnlich wie Männlich-Sein) zum universalen und unmarkiert Menschlichen erhoben wird, während dunklere Hautfarbe nur die markierte Abweichung zu indizieren vermag. Frank Raddatz bringt diesen Umstand in seiner scharfsinnigen Polemik über die Biopolitik des 28 Vgl. beispielsweise: Lara-Sophie Milagro, „Die Bequemlichkeit der Definitionsmacht“; Elisabeth Blonzen, Ernest Allan Hausmann, Matthias Dell, „Anders geht’s ja nicht“, in: Theater der Zeit 10 ( 2014 ), S. 18 - 21 . 29 Perumal, „Brief von Murali Perumal“. 30 Blonzen/ Hausmann/ Dell, „Anders geht’s ja nicht“, S. 19 . <?page no="77"?> Hautfarbe im deutschen Theaterdiskurs der Gegenwart 77 deutschen Theaters auf den Punkt, wenn er notiert, dass das Menschenbild dort nicht nur männlich und Mitte 40 , sondern maßgeblich auch weiß sei. 31 Eine weitere Konsequenz, welche sich aus dem anhaltenden strukturellen Ausschluss nicht-weißer SchauspielerInnen aus den Theaterensembles ergibt, ist die Praktik des blackfacing; eine Praktik, mit der sich just die Oktober-Ausgabe 2014 von Theater der Zeit schwerpunktmäßig befasst und damit nachdrücklich die Virulenz der Thematik betont. Kommen in einer Inszenierung Figuren mit dunklerer Hautfarbe vor, werden im Hinblick auf vermeintliche Sachzwänge häufig weiße SchauspielerInnen geschminkt, 32 um im Sinne einer möglichst kohärenten Repräsentation eine dunkelhäutige Figur verkörpern zu können. Obgleich blackfacing verschiedene theaterästhetische Wurzeln hat, 33 monieren Gruppen wie bühnenwatch, dass blackfacing vor allem in der Tradition der Minstrel Shows anzusiedeln sei. Diese theatrale Praxis verweise auf die rassistische Darstellung Schwarzer durch Weiße in den USA im 19 . Jahrhundert. Matt Cornish macht in einem Artikel in der erwähnten Oktober-Ausgabe von Theater der Zeit zudem darauf aufmerksam, dass sich maßgeblich auch in der spezifisch deutschen Geschichte eine Ikonografie des blackfacing in diversen visuellen Medien nachweisen lasse: So zählt der Artikel unter anderem zahlreiche Handelsmarken wie Sarotti-Schokolade, Tucher-Bier oder Machwitz-Kaffee auf. Diese Marken zitierten Muster der Minstrel-Charaktere, indem sie AfrikanerInnen mit tiefschwarzen Gesichtern, großen weißen Augen und wulstigen Lippen darstellten. 34 Unauslöschlich ins kulturelle Bildgedächtnis dürfte laut Cornish überdies die schwarze Figur auf dem nationalsozialistischen Propagandaplakat „Entartete Musik“ eingegangen sein. Mitnichten, so führt Cornish aus, sind diese in Deutschland entstandenen Bilder in einer Welt „naiver Diskriminierung“ entstanden. Vielmehr wurden sie vor allem während des grausamen Genozids an den Herero und Nama im heutigen Namibia (1904-1908) verbreitet, während der Verfolgung und späteren Sterilisierung der sogenannten Rheinlandbastarde und während Hitlers Versuchen, die deutschen Kolonien wiederherzustellen. 35 Sofern also blackfacing nicht verfremdend-subversiv oder historisierend genutzt wird (indem etwa auf kritische Weise Weiße gezeigt werden, die Schwarze parodieren), 36 ist diese Form der Maskerade im zeitgenössischen deutschen Theater in 31 Frank Raddatz, „Theater als Identitätszentrifuge“, in: Theater der Zeit 4 ( 2008 ), S. 16 - 17 , 17 . 32 Vgl. Milagro, „Die Bequemlichkeit der Definitionsmacht“. 33 Vgl. Robert Nowatzki, Representing African Americans in Transatlantic Abolitionism and Blackface Minstrelsy, Baton Rouge 2010 . 34 Vgl. Matt Cornish, „Echt kein Brecht“, in: Theater der Zeit 10 ( 2014 ), S. 22 - 23 , 22 . 35 Vgl. ebd. 36 Vgl. ebd., S. 23 . <?page no="78"?> 78 Franziska Bergmann politischer Hinsicht aus mehreren Gründen als problematisch zu bewerten: Erstens lässt sie sich als Praxis lesen, die unmissverständlich auf das rassistische Theaterformat der Minstrel Shows verweist und in Deutschland gleichfalls über eine lange Tradition rassistisch-visueller Diskriminierung verfügt. Zweitens ist blackfacing- - wenn man im Sinne einer naturalistischen Repräsentationslogik argumentieren möchte-- im Gegenwartstheater Symptom einer mangelnden Präsenz dunkelhäutiger SchauspielerInnen in den Ensembles; drittens-- und dies scheint ebenfalls ein neuralgischer Punkt zu sein-- verfügen weiße SchauspielerInnen am deutschen Theater tendenziell über das Privileg, auch schwarze Rollen spielen zu dürfen, während es umgekehrt unüblich ist, dunkelhäutige SchauspielerInnen in tragende weiße Rollen schlüpfen zu lassen. Zu diesem Aspekt äußert sich erneut Perumal auf instruktive Weise: Weiße deutsche Schauspieler spielen spanische Rollen wie Don Carlos, Marquis von Posa, Sultan Saladin und den Derwisch in Nathan der Weise, französische Rollen von Molière, italienische Rollen von Goldoni, schwarze Othellos, das akzeptiert der Zuschauer anscheinend. Aber einen indischen Hamlet, einen afrikanischen Prinz [sic! ] von Homburg, einen türkischen Wallenstein würde er ablehnen? Das widerspricht sich doch erheblich. 37 Mithin macht Perumal deutlich, dass die Möglichkeit, auf der Bühne souverän über Zeichen ethnischer (oder auch nationaler) Alterität, z. B. über eine andere Hautfarbe, zu verfügen, derzeit vorwiegend in eine Richtung funktioniert und hauptsächlich weißen SchauspielerInnen zugestanden wird. Laut Perumal verteidige vor allem die Dramaturgie an deutschen Theaterhäusern diesen gleichsam undemokratischen Zugang zu Zeichen ethnischer Alterität, indem sie auf die Wahrnehmungsgewohnheiten des Publikums verweise, für welches ein dunkelhäutiger Schauspieler in einer tragenden weißen Rolle einer Klassikerinszenierung, z. B. als Hamlet, zu Irritationen führe und stets einer Erklärung bedürfe. Alternative Perspektiven für das Repertoiretheater der Gegenwart In Perumals Forderung nach einem indischen Hamlet, einem afrikanischen Prinzen von Homburg und danach, in einem Stück stets mehrere SchauspielerInnen auftreten zu lassen, die nicht der Norm des Weiß-Seins entsprechen, kommt ein Konzept von Repräsentation zum Ausdruck, das von der Repräsentationsästhetik des zeitgenössischen deutschen Repertoiretheaters deutlich abweicht. So liegt Perumals Forderung primär ein paritätisches Verständnis von Repräsentation zugrunde, in dessen Rahmen es um eine der demografischen Entwicklung angemessene Vertretung nicht-weißer Personen in deutschen Theaterensembles geht. Dieser paritätische Anspruch würde zugleich auf ästhetischer Ebene Wirksamkeit 37 Perumal, „Brief von Murali Perumal“. <?page no="79"?> Hautfarbe im deutschen Theaterdiskurs der Gegenwart 79 entfalten können, denn wenn es üblich wäre, klassische Rollen wie Hamlet auch mit dunkelhäutigen Schauspielern zu besetzen, ließe sich auf deutschen Bühnen sukzessive ein bis dato weiß codiertes Menschenbild verabschieden, verfolgt doch das Theater mit Figuren wie Hamlet zumeist den Anspruch, die conditio humana, d. h. überzeitlich-allgemeine Fragen des Mensch-Seins zur Darstellung zu bringen. Frank Raddatz bemerkt darüber hinaus, dass die verstärkte Partizipation von People of Color und Personen mit sichtbarem Migrationshintergrund an der deutschen Repertoiretheaterkultur vor allem auch „die Chance grundlegender ästhetischer Neubewertungen“ bietet, denn „das heimliche Geschenk der Migranten an das Stadttheater“ ist die „Notwendigkeit, sich vom Verkörperungstheater abzunabeln“. 38 Wie ich im Anschluss an Raddatz argumentieren möchte, ist diese Durchbrechung einer herkömmlichen Repräsentationsästhetik mittels einer Besetzung, die den eigenen Blick provoziert, gerade in Zeiten, in denen das deutsche Repertoiretheater zunehmend um seine Existenzberechtigung bangen muss, in zweierlei Hinsicht wegweisend: Einerseits ließe sich mit der verstärkten Bühnenpräsenz von Menschen, die nicht der Norm des Weiß-Seins entsprechen, ein neues Publikum gewinnen und Bevölkerungsgruppen adressieren, die bislang dem Theater aufgrund seiner rassifizierten Exklusionspraktiken ferngeblieben sind. Andererseits könnte das Theater deutlicher als bisher seine ihm eigentümliche Medialität ausstellen und sich im Sinne René Polleschs noch stärker als Ort des flexiblen Zeichengebrauchs profilieren; 39 als Ort, an dem sich, wie Erika Fischer- Lichte anhand der Polyfunktionalität des theatralen Zeichens 40 gezeigt hat, semiotische Prozesse wesentlich freier gestalten lassen als im Alltag, wodurch man vor allem auch hegemoniale Konzepte ethnischer Alterität noch expliziter einer kritischen Revision unterziehen und mit anderen, neuen Formen von Identität experimentieren könnte. Dass sich ästhetische und institutionelle Experimente im Rahmen eines städtischen Bühnenformats jenseits eines „Theaters von Weißen für Weiße“ 41 erfolgreich 38 Raddatz, „Theater als Identitätszentrifuge“, S. 17 . 39 Vgl. René Pollesch, Frank Raddatz, „Penis und Vagina, Penis und Vagina, Penis und Vagina. René Pollesch über Geschlechterzuschreibungen, das Normale als Konstruktion und die Theoriefähigkeit des Alltags“, in: Frank Raddatz, Brecht frißt Brecht. Neues Episches Theater im 21. Jahrhundert, Leipzig 2007 , S. 195 - 213 , 210 - 211 . 40 Das theatrale Zeichen ist insofern polyfunktional, als es „unterschiedliche Funktionen zu erfüllen vermag und entsprechend unterschiedliche Bedeutungen hervorbringen kann.“ So ist ein Stuhl auf der Bühne nicht unbedingt ein Stuhl, sondern kann „beispielsweise- […] die Bedeutung eines Berges, einer Treppe, eines Schwertes, eines Regenschirmes, eines Autos, eines feindlichen Soldaten, eines schlafenden Kindes, eines zornigen Vorgesetzten, einer zärtlichen Geliebten, eines reißenden Löwen etc. etc.“ annehmen (Erika Fischer-Lichte, Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Bd. 1: . Das System der theatralischen Zeichen, Tübingen 1983 , S. 183 ). 41 Khamis, „Parallelgesellschaft Theater“. <?page no="80"?> 80 Franziska Bergmann und öffentlichkeitswirksam realisieren lassen, zeigt jüngst die Auszeichnung des seit Sommer 2013 von Shermin Langhoff und Jens Hillje geleiteten Gorki-Theaters zum Theater des Jahres 2014 . Durch die Zusammenstellung eines multiethnischen Schauspielensembles und einer Führungsriege, in denen „so viele Namen-[…] von nicht deutscher Herkunft“ 42 erzählen, durch Klassiker-Inszenierungen, in welchen beispielsweise „der Bruder der Ranjewskaja im Kirschgarten ganz selbstverständlich schwarz ist und das gar nicht thematisiert wird“ 43 sowie durch überdurchschnittlich viele Uraufführungen in einer einzigen Spielzeit, die aus multiperspektivischer Sicht die aktuellen „Konfliktzonen-[…] [Berlins] thematisieren“, 44 konnte das Gorki-Theater innerhalb eines Jahres neue künstlerische wie politische Akzente im deutschen Repertoiretheatersystem setzen. Bemerkenswert an der Programmatik des Gorki ist überdies, dass Langhoff und Hillje darauf abzielen, nicht bei Fragen nach Herkunft und Migration stehen zu bleiben, sondern auch gender-relevante Themen oder Klassenzugehörigkeiten zu reflektieren 45 und so im Sinne eines intersektionalen Ansatzes, wie er derzeit vor allem im Kontext der Geschlechterforschung verfolgt wird, multidimensionale Verschränkungen von Identität zu beleuchten. Mit diesem Fokus auf heterogene Subjektivitätsentwürfe bzw. -zuschreibungen will das Gorki laut Hillje das „Wichtigste für das deutsche Theater-[…] verfolgen: den Anschluss an die Realität zu finden.“ 46 42 Shermin Langhoff, Jens Hillje, „Die Leute aus der letzten Bank“, in: Theater heute- - Das Jahrbuch 8 ( 2014 ), S. 38 - 45 , 41 . 43 Ebd., S. 43 . 44 Ebd. 45 Vgl. ebd., S. 42 . 46 Ebd. <?page no="81"?> Wie das Fremde zum Eigenen wurde 81 Wie das Fremde zum Eigenen wurde Französisches théâtre populaire und deutsches Volkstheater aus begriffsgeschichtlicher Perspektive Nicole Colin (Aix-en-Provence) Begriffsgeschichten sind komplex. In ihnen verbinden sich in vielschichtiger Weise historische Diskursentwicklungen mit philosophischen Konzepten und der politischen Ereignisgeschichte. Während im alltäglichen Gebrauch die Komplexität zumeist nicht offensichtlich wird, zeigt sie sich im transnationalen Kontext um so deutlicher: Begriffe wie „Bildung“ oder „bürgerlich“ sind kaum zufriedenstellend in andere Sprachen zu übersetzen, 1 weil diese in der Regel ähnliche Begriffe bereithalten, die jedoch eine andere historische Grundlage besitzen. Im deutsch-französischen Kulturtransfer führt diese Ähnlichkeit in der Differenz häufig zu grundlegenden Missverständnissen, die oft nur schwer als solche detektiert werden. Ein anschauliches Beispiel hierfür liefert der Begriff théâtre populaire, der gemeinhin mit „Volkstheater“ übersetzt wird. Wenngleich sprachlich hieran auf den ersten Blick nichts auszusetzen ist, führt die Übertragung theaterwissenschaftlich jedoch zu Missverständnissen, da die mit diesen Begriffen bezeichneten deutschen und französischen Theaterformen gänzlich andere Entwicklungsgeschichten durchlaufen haben und kaum ästhetische Übereinstimmungen aufweisen. Dabei gründet die Unübersetzbarkeit der beiden Begriffe nicht zuletzt darin, dass der Zusammenhang zwischen Volk und Nation, Ästhetik und Bildung, Kultur und Zivilisation im 19 . Jahrhundert links und rechts des Rheins grundlegend unterschiedlich definiert wurde. Wie zu zeigen sein wird, handelt es sich trotz aller Unterschiede schlussendlich auch um eine deutsch-französische Verflechtungsgeschichte. So erlebte das théâtre populaire nach einer (insgesamt sehr schwachen) Präsenz im französischen Theaterfeld vor 1945 mit dem Aufkommen eines théâtre public in der zweiten Hälfte des 20 . Jahrhunderts einen erstaunlichen Aufschwung und wurde endlich als ernstzunehmende Theaterform sichtbar. Eigentlicher Impulsgeber hierfür war 1 Vgl. Reinhardt Koselleck, Begriffsgeschichten, Frankfurt a. M. 2006 , S. 105 - 155 . <?page no="82"?> 82 Nicole Colin indes kein Franzose, sondern Bertolt Brecht, der 1954 sein erstes Gastspiel mit dem Berliner Ensemble in Paris gab. Der durchaus auch von Missverständnissen begleitete Rezeptionsprozess Brechts in Frankreich stellt eine der wichtigsten Grundlagen eines neuen théâtre populaire dar, das sich genuin vom deutschen Volkstheater unterscheidet. Da es diese Ähnlichkeit in der Differenz besonders schwierig macht, Sachverhalte in transnationalen Kontexten detailgenau zu verstehen und keinen Interferenzen in die Falle zu laufen, soll im Folgenden zunächst versucht werden, die Bezeichnung théâtre populaire begriffsgeschichtlich in Abgrenzung zum deutschen Volkstheater zu fassen, um dann in einem zweiten Schritt die Verflechtungspunkte genauer zu beleuchten. Am Anfang war die Revolution Die ersten konkreten Versuche, die Idee eines théâtre populaire zu entwickeln, lassen sich, wie Pascale Goetschel ausführt, auf die Zeit der Französischen Revolution datieren. Das staatlich unterstützte théâtre du peuple war ein gezielt eingesetztes politisches Theater für das Volk, dem die Aufgabe zugewiesen wurde, benachteiligte Bevölkerungsschichten am kulturellen Leben partizipieren zu lassen. Die eigentliche Geschichte begann in Paris, genauer gesagt in jener Institution, die knapp 100 Jahre später dann zum regelrechten Feindbild der Vertreter des théâtre populaire avancieren wird: in der Comédie-Française. Am 10 . März 1794 erteilte das Comité du salut public- - vom Gedanken der Gleichstellung geleitet- - dem Théâtre-français den neuen Namen Théâtre du Peuple. Fortan, so die Idee, sollte das Theater nicht mehr allein aristokratischen oder großbürgerlichen, sondern allen Gesellschaftskreisen offen stehen. Dabei handelte es sich freilich nur um eine Art Umetikettierung, da mit dem neuen Namen neben den politisch-ideologischen Vorgaben keine künstlerischen Ideen oder inhaltlichen Ziele verknüpft waren. Volkstümliche Theaterformen wurden jedenfalls nicht aufgegriffen, stattdessen funktionierte die Bühne als Massentheater, in dem die Ideale der Französischen Revolution auch über Paris hinaus bekannt gemacht werden sollten: Für die Revolutionäre von 1789, welche die Bürger aufklären und erziehen wollen-[…], stellt das Theater einen bevorzugten Sektor dar. So schlagen sich die zu dieser Zeit von Condorcet geäußerten Forderungen nach einer Bildung für alle, einer Volkserziehung also, unter anderem in Maßnahmen nieder, die einen ‚vereinfachten‘ Zugang ins Theater gewährleisten sollen: Es gibt Gratisvorstellungen von Stücken, die im erzieherischen Sinne als wertvoll gelten; zudem wird eine Vorschrift erlassen, dass Städte mit mehr als 4000 Einwohnern ein Theater einrichten müssen. Als Räumlichkeit werden hierfür Kirchen bereitgestellt. Ein weiteres Merkmal dieses Theaters für alle Bürger besteht in dem Ziel- - in Imitation des griechischen Theaters als zentraler Versammlungsort der Polis- - die gesamte Bevölkerung bzw. das gesamte Volk hier zu vereinen. Im Augen- <?page no="83"?> Wie das Fremde zum Eigenen wurde 83 blick der Französischen Republik feiert das Theater die Revolution- - formal erneuert durch das revolutionäre Fest mit prunkvollen Bühnenbildern, langen Musikeinlagen und Unmengen von Statisten. Das Theater verkörpert in diesem Sinne anschaulich die von den ersten Revolutionären verteidigte Idee einer politischen Einheit von Nation und Revolution. 2 Ganz anders als das Volkstheater im deutschsprachigen Raum war das théatre populaire ursprünglich also ein von oben, d. h. den Machthabern, politisch eingesetztes und instrumentalisiertes Revolutionstheater. Dabei spielt die im deutschen Wort „Volk“ (peuple) oder „volkstümlich“ (populaire) mitschwingende regionale Bodenständigkeit im französisch-zentralistischen Kontext keine Rolle, sondern es ging ganz allgemein um ein die Volksmassen bzw. unteren sozialen Schichten belehrendes Theater. Die in den Regionen entstehenden Theatersäle sollten-- der Logik des jakobinischen Zentralismus entsprechend-- natürlich von Paris aus bespielt werden, um die politischen Ideen der Revolution wirksam vermitteln zu können; die Entwicklung einer eigenständigen regional verwurzelten Theaterkultur war keinesfalls das Ziel. Das revolutionäre Intermezzo sollte allerdings nur von kurzer Dauer sein: Bereits fünf Jahre später bezog die Comédie-Française in einer veränderten politischen Situation unter ihrem alten Namen ihre heutige Hauptspielstätte, die Salle Richelieu an der Place Colette. Fernab von den Vorstellungen eines théâtre populaire beschränkte sich ihr Publikum ab diesem Zeitpunkt konstant wieder auf das gehobene Bürgertum und ihr Spielplan auf das anerkannte Repertoire-- ausländische Autoren waren ebenso ausgeschlossen wie Stücke, die nicht den klassischen Regeln entsprachen. Die Theater in der Provinz verkamen nach und nach zu Operettenhäusern, in denen, wenn überhaupt, vor allem Unterhaltungstheater als Gastspiele geboten wurde. 2 Pascale Goetschel, Renouveau et decentralisation du théâtre ( 1945 - 1981 ), Paris 2004 , S. 33 (Übersetzung, wie alle folgenden, von der Verfasserin): „En 1789 , les révolutionnaires, qui veulent éclairer et instruire les citoyens, cherchent, dans la lignée des théoriciens qui les précèdent, à faire du théâtre un vecteur privilégié. En ce temps de volonté d’instruction pour tous, incarnés par Condorcet, éduquer le peuple passe, entre autres, par un accès plus facile aux représentations théâtrales: les représentations gratuites de pièces jugées édifiantes sont facilitées, la nécessité pour les villes de plus de 4000 habitants de posséder un théâtre proclamée et les églises libérées à cet effet. Enfin, dernière caractéristique de ce théâtre civique, à l’image du théâtre grec rassemblant l’ensemble de la cité, l’idée d’un théâtre unissant la population-- on dira le Peuple-- fait son chemin. Au moment de la Révolution française, le théâtre, renouvelé par la fête révolutionnaire, avec des décors fastueux, de longues partitions musicales, des milliers de figurants, célèbre la Révolution. Le théâtre incarne alors à merveille la communion politique entre nation et Révolution recherchée par les premiers révolutionnaires.“ Vgl. hierzu auch Jean Starobinski, 1789. Les emblèmes de la raison, Paris 1979 . <?page no="84"?> 84 Nicole Colin Zwischen Verwurzelung und Nomadentum: théâtre populaire und décentralisation Wenngleich die erste Umsetzung der Idee eines théâtre populaire in Frankreich jenseits seines politischen Auftrags recht unverbindlich erscheint, tritt hier jedoch bereits ein Aspekt hervor, der die-- in anderen Fragen sich oft deutlich voneinander abgegrenzten-- Theatermacher des späteren théâtre populaire verbinden wird: die Überzeugung, dass die Demokratisierung von Kultur und Bildung im Allgemeinen und die kulturelle Verbreiterung des Publikums im Besonderen in einem zentralistisch regierten Land nicht allein eine soziale, sondern auch eine geographische Dimension besitzt. Paris war (und ist) eben nicht nur politisches und ökonomisches, sondern auch kulturelles und darin nationale Identität stiftendes Machtzentrum. Das erste Projekt der théâtre-populaire-Bewegung, das auch eine regionale Beheimatung des Theaters anstrebte, war das 1895 von Maurice Poettecher in seinem Heimatort Bussang, einem kleinen Dorf in den Vogesen, ins Leben gerufene Festival du Théâtre du peuple. Poettecher, Sohn eines Industriellen und studierter Jurist, begann seine Theaterarbeit 1892 mit dem Molière-Klassiker Le Médecin malgré lui (Der Arzt wider Willen), den er im vogesischen Dialekt mit der ortansässigen Landbevölkerung und Schauspielern aus der Region inszenierte. Es folgte ein von ihm selbstgeschriebenes Stück, das, dem Zeitgeist entsprechend-- man denke an Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang ( 1889 )--, den damals allgemein akzeptierten übermäßigen Alkoholkonsum innerhalb der Gesellschaft verurteilt. 3 Zum ersten Mal Notiz von Poettechers „kuriosem Projekt“ nahm die französische Theaterwelt dann 1895 anlässlich der Gründung des Festival du Théâtre du peuple 4 . Prominenter Fürsprecher der Initiative wurde der spätere Literaturnobelpreisträger Romain Rolland, der sich nicht nur für das Festival einsetzte, sondern in seiner 1903 erschienenen und 1913 mit einem Vorwort und dem Untertitel Essai d’esthétique d’un théâtre nouveau versehenen Schrift Le théâtre du Peuple zum ersten Mal auch die Frage nach der künstlerischen Form eines solchen Theaters stellte. 5 Es ist, wie Marion Denizot herausstellt, eine Bewegung, die ihre Legitimation vor allem aus dem Antagonismus Metropole-Provinz herleitete und sich 3 Jean-Marc Leveratto, „Le Théâtre du Peuple de Bussang. Histoire et sociologie d’une innovation“, in: Vingtième Siècle. Revue d’histoire, Nr. 83 ( 2004 / 3 ), S. 5 - 19 . 4 Vgl. Les Vosges, Au pays de Maurice Pottecher. Un siècle de spectacles au Théâtre du Peuple (Bussang). 1895 - 1995 , Paris 1995 , S. 79 . 5 Romain Rolland, Le théâtre du Peuple. Essai d’esthétique d’un théâtre nouveau, hg. v. Chantal Meyer-Plantureux, Bruxelles 2003 . <?page no="85"?> Wie das Fremde zum Eigenen wurde 85 dezidiert gegen die Pariser Theaterkultur wandte, die Rolland als „europäisches Lasterhaus“ bezeichnete. 6 Es ging also nicht allein um eine Erweiterung, sondern auch und vor allem um eine Erneuerung oder Verbesserung der französischen bzw. Pariser Theaterkultur, die hier aus den Tiefen der ländlichen Traditionen frische, unverbrauchte Impulse erhalten sollte. Dabei weist Rollands Bestimmung des théâtre populaire als ein „einfaches“ Theater in Abgrenzung zu den unnötigen Verschnörkelungen der Pariser Bühnen problematische Parallelen auf zu dem nicht erst seit dem Nationalsozialismus gängigen antisemitischen Diskurs im deutschsprachigen Raum, in dem die tiefe Moralität und Verwurzelung der deutschen Kultur einer oberflächlichen, großstädtischen jüdischen Zivilisation gegenübergestellt wird. So bemerkt Rolland 1913 im Vorwort zur zweiten Auflage von Théâtre du peuple: Unser Glaube an ein théâtre du peuple, das den nervösen Raffinessen des Pariser Amüsements eine männlich kraftvolle Kunst entgegen stellt, die das Leben in der Gemeinschaft versinnbildlicht und die Wiederauferstehung einer Rasse vorbereitet, ja herbeiführt; dieser erhabene Glaube war eine der reinsten, eine der heiligsten Kräfte unserer Jugend. 7 Rollands Vorstellung von einem théâtre du peuple verbindet sich mit den Ideen der Französischen Revolution auf der Grundlage einer nationalistischen Einstellung, die Rolland-- nicht zuletzt in Reaktion auf die Niederlage Frankreichs gegen Deutschland von 1871 -- auch in den unter dem Titel Théâtre de la révolution zusammengefassten Stücken zum Ausdruck bringt: Es ist, wie er im Vorwort schreibt, der Versuch, „das Heldentum und den Glauben an die Nation neu in den Flammen eines republikanischen Epos zu entfachen“. 8 Dabei findet die emphatische Beschwörung der ursprünglichen, unverdorbenen Kräfte des Volkes sowie der Gemeinschaft seine Vollendung auf dem Land fernab von Paris; eine Initiative, die 6 Vgl. Marion Denizot, „Une généalogie méconnue du théâtre populaire en France. Jacques Copeau, le régime de Vichy et l’influence de la tradition barrésienne“, in: L’Annuaire théâtral: revue québécoise d’études théâtrales 45 ( 2009 ), S. 137 - 151 , 139 . 7 Rolland, Théâtre du peuple, S. 25 : „Notre foi en un théâtre du peuple, qui opposât aux raffinements énervés des amuseurs parisiens un art mâle et robuste, exprimant la vie collective, et préparant, provoquant la résurrection d’une race,-- cette foi exaltée--, a été une des forces les plus pures, les plus saintes de notre jeunesse“. 8 Romain Rolland, Théâtre de la Révolution (Préface de juin 1901 ), Paris 1972 , S. 105 , zit. nach Marion Denizot, „Retour sur l’histoire du théâtre populaire: une ‚démocratisation culturelle‘ pensée à l’aune de la nation (XIXe-XXe siècles)“, in: Comité d’histoire du ministère de la Culture et de la Communication, Centre d’histoire de Sciences-Po Paris, La démocratisation culturelle au fil de l’histoire contemporaine, Paris 2012 - 2014 , online: http: / / chmcc.hypotheses.org/ 188 [ 30 . 04 . 2016 ]: „Le Théâtre de la Révolution de Romain Rolland, conçu comme une ‚épopée nationale‘, destinée à ‚rallumer l’héroïsme et la foi de la nation aux flammes de l’épopée républicaine‘ témoigne de ces tensions nationalistes.“ <?page no="86"?> 86 Nicole Colin jedoch trotz seiner langen Tradition-- immerhin existiert das Festival inzwischen seit 120 Jahren-- kaum wahrgenommen wird. Dass diese Idee eines théâtre populaire durchaus nicht von allen Vertretern der Bewegung geteilt wurde, zeigt das Beispiel des bekannten französischen Theatermachers Firmin Gémier, der 15 Jahre nach Poettechers Anfängen in Bussang wiederum in zentralistischer Logik von Paris aus agierte. 1910 gründete er das Théâtre National Ambulant Gémier, um die desaströse kulturelle Situation außerhalb von Paris zu verbessern. Im Mittelpunkt seiner Theaterarbeit standen ganz klar volkserzieherische und soziale Aspekte. Aufgrund seiner vielen Tourneen war Gémier bestens mit den Problemen in der Provinz vertraut, die-- abgesehen von einigen Großstädten (wie Marseille oder Lyon), in denen hin und wieder Compagnien Gastvorstellungen gaben-- einer Theaterwüste glich. Angesichts der miserablen Ausstattung der meisten Theatersäle sah Gémier die einzige Möglichkeit, eine Bühne für ein möglichst breites Publikum zu möglichst niedrigen Eintrittspreisen bereitzustellen, in einem transportablen Theater: 9 1 . 600 Plätze (! ) hatte sein Wandertheater, mit dem er drei bis vier Monate im Jahr herumreiste, die Eintrittspreise waren extrem niedrig (zwischen 0 , 50 und 1 , 50 FF ), gespielt wurde auf Plätzen in Paris, der Peripherie und der Provinz, mit professionellen Schauspielern und einem gemischten Repertoire. 10 Die eigentlich vor allem pragmatisch begründete Konzeption eines théâtre ambulant wurde von Gémier zudem mit Verweis auf den „eigentlichen“ Ursprung des Theaters im Nomadentum künstlerisch bzw. ideologisch aufgeladen, wobei sich diese romantische Verortung deutlich von Rollands „Verwurzelungstheorie“ unterscheidet: Liegt der Ursprung unserer Kunst nicht im Bedürfnis nach einem Nomadenleben, das in unserer Epoche, die intellektuell gänzlich auf die Metropolen und Großstädte fixiert ist, relativ unbekannt ist? Das wahre Theater, das richtige Theater, das seiner tausendjährigen Tradition folgt, vertritt derjenige, der sich bewegt, der der Menge voranschreitet und diese lautstark zum Schauspiel ruft, wie es einst unsere ersten umherziehenden Truppen taten, die auf der Straße lebten, die ersten Schauspieler, unsere Urahnen! 11 9 Aus dem Dossier des Théâtre National Ambulant, zit. nach Denis Gontard, La décentralisation théâtrale en France 1895-1952, Paris 1973 , S. 147 : „[I]l n’est pas possible, dans l’état actuel de l’éducation artistique populaire, de créer, en un endroit déterminé, un public assez nombreux pour permettre à une entreprise théâtrale à prix réduits- […] de subsister longtemps“. 10 Zuvor hatte es bereits ein ähnliches Projekt gegeben, das ebenfalls scheiterte: 1899 ging Catulle Mèndes mit einem transportablen Theater auf Tour, gab den Versuch jedoch 1906 wieder auf. Vgl. Gontard, La décentralisation théâtrale, S. 44 . 11 Firmin Gémier ( 1911 ), zit. nach Gontard, La décentralisation théâtrale, S. 44 : „D’ailleurs, est-ce qu’il n’y a pas, à l’origine même de notre art, comme un besoin de vie nomade que notre époque, intellectuellement absorbée par les capitales et les grandes villes, paraît avoir singulièrement méconnu? Et le vrai théâtre, le théâtre logique, s’inspirant d’une tradition <?page no="87"?> Wie das Fremde zum Eigenen wurde 87 Da Gémier-- obwohl er beim zuständigen Ministerium einen umfangreichen und wohlbegründeten Antrag einreichte- - keinerlei Subventionen für sein Projekt gewährt wurden, brach er es, trotz eines beachtlichen Anfangserfolges, nur zwei Jahre später 1913 wieder ab. Trotz des Scheiterns seiner Initiative kommt ihm jedoch immerhin das Verdienst zu, als Erster ins Zentrum seines Projekts eines théâtre ambulant dezidiert den Kontakt mit einem public populaire gesetzt zu haben. 12 Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs setzte er sich für die Gründung des ersten nationalen Théâtre populaire im alten Palais du Trocadéro in Paris ein, dessen Direktor er ab 1920 wurde und bis zu seinem Tod 1933 blieb. Die beiden Beispiele zeigen, dass die Verbindung zwischen théatre populaire, romantischer Aufladung sowie décentralisation trotz ähnlicher Grundideen zu völlig verschiedenen Theaterkonzeptionen führen kann. In den 1920 er Jahren kommt nun ein drittes Element hinzu, das in gewisser Weise die Frage der „Massenhaftigkeit“ dieses Volkstheaters erneut in Frage stellt: So verstehen sich die Protagonisten des théâtre populaire (als Gegner eines kommerziellen Unterhaltungstheaters) immer stärker auch als autonome Künstler einer Avantgardebewegung und legen entsprechend ihr Hauptaugenmerk nicht mehr auf die Rezeption (hinsichtlich politischer oder volkserzieherischer Ziele), sondern auf die Produktion, d. h. die Entwicklung künstlerisch avancierter Theaterformen- - mit dem paradoxen Ergebnis eines elitären théâtre populaire. Avantgarde und théâtre populaire-- Einheit oder Antagonismus? Die Vermischung der Volkstheateridee mit avantgardistischen Ansprüchen sowie den Forderungen nach einer geographischen Ausweitung des Theaters führt im beginnenden 20 . Jahrhundert zu einer zunehmenden Verwirrung der Begriffe décentralisation théâtrale und théâtre populaire, die aus deutscher Perspektive kaum zu verstehen ist. 13 Maßgeblich an diesem Prozess beteiligt war Jacques Copeau, eine der Symbolgestalten des modernen französischen Theaters, der 1913 in Paris zunächst das legendäre Théâtre du Vieux-Colombier gründete. Inhaltlich eigentlich weit entfernt von den naturalistischen Ideen eines André Antoine, folgte Copeau diesem jedoch insofern, als er sich ebenfalls scharf gegen das kommerzielle Privattheater und die in seinen Augen verstaubte Tradition der Comédie-Française wandte. Anders als Maurice Poettecher bzw. Romain Rolland oder Firmin Gémier millénaire, n’est pas dès lors, celui qui se déplace, qui va au devant de la foule et l’appelle bruyamment au spectacle, comme faisaient naguère nos premiers baladins, ceux qui furent sur les routes, les premiers acteurs, nos primitifs à nous! “ 12 Gontard, La décentralisation théâtrale, S. 55 : „Son grand mérite est d’avoir été l’un des premiers à comprendre l’importance du contact avec le public populaire, que ce soit à l’échelle de la France ou de la seule région parisienne“. 13 Vgl. ebd., S. 11 - 13 . <?page no="88"?> 88 Nicole Colin war Jacques Copeau, was Form und Inhalte anbelangt, keinesfalls Vertreter eines sozial- oder gesellschaftskritischen Theaters und er wollte mit seinen Inszenierungen auch explizit keine Massen erreichen. Das Ziel, das Copeau verfolgte, bestand vielmehr darin, eine kleine (das Vieux-Colombier hatte nur 100 Plätze), künstlerisch ambitionierte und unabhängige Bühne zu etablieren. Wenngleich er durchaus auch Menschen erreichen wollte, die normalerweise nicht ins Theater gingen, richtete er sich dezidiert an ein moindre public, d. h. ein ausgesuchtes Zielpublikum: Ein ‚geringes‘ Publikum, das zum einen Teil aus intelligenten Theaterliebhabern besteht, zum anderen Teil aus Menschen, die keine Lust mehr haben die Banalitäten und Lügen des kommerziellen Theaters zu unterstützen, und zu einem weiteren Teil aus einer neuen Gruppe von Menschen. 14 Copeaus Argumentation knüpft an den oben beschriebenen Paradigmenwechsel an: Zwar steht hier durchaus das Publikum und nicht der autonome Künstler in seinem unbegrenzten Schöpfungswillen im Mittelpunkt, gleichzeitig wird Letzterer jedoch indirekt über die Position eines künstlerisch anspruchsvollen Theaters gestärkt, die einer Vulgarisierung- - jener von Bourdieu beschriebenen Vernichtungsinstanz des für den Avantgardekünstler wichtigen symbolischen Kapitals 15 -- entgegenwirkt. Die Vorstellung eines „ausgesuchten Volkstheaters“ gab Copeau weiter an seine Schüler, so u. a. auch an die beiden bekannten Theatermacher Louis Jouvet und Charles Dullin. Jouvet brachte das Problem, das potentiell in einer Öffnung des Theaters für das so genannte grand public liegt, in einem programmatischen Artikel unter dem offensichtlich auf Victor Hugo anspielenden Titel A temps nouveaux, arts nouveaux 16 Mitte der 1930 er Jahre auf den Punkt: Es geht darum das Theater zu popularisieren und nicht zu vulgarisieren. Das Theater ist ein unbedingtes Bedürfnis, essentiell und allgemein. Es gibt das Problem der Massen, das heißt man muss den Massen die Möglichkeit geben ins Theater zu gehen-- aber man bleibe mir mit dem Gerede vom Massentheater vom Leib! 17 14 Jacques Copeau, „Un essai de rénovation dramatique“, in: La Nouvelle Revue Française (September 1913 ), S. 337 - 353 , 343 : „Un ‚moindre‘ public, composé en partie d’intelligents amateurs, en partie de gens qui ne veulent plus encourager les banalités et les faussetés du théâtre commercial, en partie d’un nouveau contingent d’humanité“. 15 Pierre Bourdieu, Les règles de l’art, Paris 1998 , S. 197 . 16 So fordert Hugo in seinem Vorwort zu seinem umstrittenen Stück Hernani, dessen Uraufführung eine Saalschlacht in der Comédie-Française auslöste: „à peuple nouveau, art nouveau“. Vgl. Victor Hugo, Hernani, Paris 1971 , S. 30 . 17 Louis Jouvet, „A temps nouveaux, arts nouveaux“, in: Comedia, 28 . 07 . 1936 , zitiert nach Denis Gontard, La décentralisation théâtrale, S. 133 : „Il s’agit de populariser le théâtre, non certes de le vulgariser. Le théâtre est un besoin unanime, essentiel et commun. C’est <?page no="89"?> Wie das Fremde zum Eigenen wurde 89 Etwa zur gleichen Zeit kritisiert Dullin in seiner posthum erschienenen Schrift Ce sont les dieux qu’il nous faut die im Rahmen des Wiederaufbaus des Trocadéro begonnene Konstruktion eines riesigen Theatersaals als Nachfolgeprojekt für das von Gémier dort eingerichtete théâtre populaire: Ich glaube, dass ein Theatersaal wie er hier konstruiert werden soll, weder den heutigen Bedürfnissen des Publikums noch denen der Theaterproduktion entspricht. Man kündigt an, ein théâtre populaire einzurichten, aber die Autoren haben deswegen nicht plötzlich mehr Genie, die Schauspieler nicht mehr Talent, und das Publikum nicht mehr Interesse sich an die Kassen des Theaters zu drängen. Meiner Meinung nach kann der einzige interessante Versuch, eine neue Theaterform vorzubereiten, darin bestehen, mehrere mobile Theatertruppen, die in den Vororten und der Provinz spielen sollen, zusammenzustellen und finanziell zu versorgen. 18 Das von Dullin hier als Gegenkonzept zu einem Massentheater in Paris entworfene Modell, das zuweilen zum eigentlichen Ursprung der décentralisation erklärt wird, 19 folgt paradoxerweise eigentlich Gémiers théâtre ambulant, das dieser jedoch wie beschrieben aus finanziellen Gründen einstellen musste, bevor er das Pariser Théâtre national populaire übernahm. Erst Dullins Schüler Jean Vilar wird schlussendlich zu Beginn der 1950 er Jahren in eben diesem umstrittenen Theatersaal im Palais de Chaillot am Trocadéro ein neues Théâtre National populaire etablieren, in dem in gewisser Weise beide Traditionslinien zusammenlaufen. Nationalistische und antisemitische Abgründe des théâtre populaire Es war also keinesfalls ein genuines Interesse am ‚Volk‘-- gleich ob man darunter eine regional verwurzelte Kultur (wie Maurice Poettecher oder Romain Rolland) oder (wie Gémier) die sozial benachteiligten Schichten verstehen will--, das Copeau zu einem der großen Verteidiger des théâtre populaire und der décentralisation théâtrale werden ließ, sondern vielmehr seine negativen Erfahrungen mit dem von ihm als ‚dekadent‘ empfundenen Pariser Kulturmonopolismus. 1924 zog er, künstlerisch ausgebrannt und in gesundheitlich schlechter Verfassung, mit un problème de masse-- c’est-à-dire qu’il faut donner aux masses la possibilité d’aller au spectacle-- mais qu’on ne vienne pas me parler de théâtre de masse.“ 18 Charles Dullin, Ce sont les dieux qu’il nous faut, hg. von Carles Charras, Paris 1969 , S. 156 f.: „Parce qu’on annoncera la construction d’un théâtre populaire, les auteurs n’auront pas plus de talent et le public ne se précipitera pas brusquement aux guichets de ce théâtre. A mon sens, la seule tentative intéressante qui puisse préparer l’avènement d’un nouveau théâtre serait la formation et l’entretien de plusieurs troupes se déplaçant et allant jouer dans la périphérie et en province.“ 19 Genauere Überlegungen zum Thema der décentralisation legte Dullin 1937 dar. Vgl. Dullin, Ce sont les dieux qu’il nous faut, S. 160 : „Aller vers le public, ou le peuple, qui n’est pas seulement à Paris, ni dans la périphérie, ni même dans les grandes villes, mais dans la France entière, d’où décentralisation artistique, si on envisage un plan d’ensemble.“ <?page no="90"?> 90 Nicole Colin einigen Schülern- - ähnlich wie Poettecher, wenngleich unter gänzlich anderen künstlerischen Prämissen-- in einen Ort nahe seiner Heimatstadt Beaune in der Bourgogne, um hier ein Experimentaltheater in der Art einer stehenden Provinz- Bühne einzurichten. 20 Doch der Versuch misslang. Nach fünf Jahren kehrte Copeau nach Paris zurück, ohne allerdings seine Abneigung gegen die Pariser Theaterkultur und seine Vorliebe für die Idee der décentralisation damit begraben zu haben. Indes: Welche problematischen Tendenzen dieser Mischung aus Anti-Urbanismus, Anti-Kapitalismus und dem symbolisch aufgeladenen Begriff des peuple zugrunde liegen, belegt seine mehr als zehn Jahre später verfasste Schrift Théâtre populaire von 1941 . Im Mittelpunkt der Abhandlung steht nicht die ästhetische Form eines Volkstheaters, sondern vielmehr die (erneute) Forderung nach einer décentralisation, die allerdings-- insbesondere im Blick auf die damalige politische Situation in Paris unter deutscher Besatzung sowie den kulturellen Vorgaben des Vichy-Regimes-- eine nationalistische Richtung einschlägt. Eine genaue Analyse der hier zu konstatierenden und (wie schon bei Rolland) gerne übersehenen Verbindungen zwischen der Konzeption eines théâtre populaire und antizivilisatorischen sowie antisemitischen Tendenzen 21 würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen. Dennoch soll auf diesen Aspekt kurz eingegangen und die wichtigsten Koordinaten des Problemfeldes in ihren Affinitäten zum deutschen Nationalismus beschrieben werden. Jacques Copeau zufolge befinden sich viele junge Theaterkompagnien in der freien Zone an einem strategisch-künstlerisch erstaunlich günstigen Ort- - nicht aufgrund der (relativen) Freiheit gegenüber den deutschen Besatzern, sondern vielmehr aufgrund ihrer Distanz zu Paris: Die meisten [dieser jungen Compagnien] haben sich nach der militärischen Niederlage hinter der Demarkationslinie wieder gefunden. Ein ausgezeichneter Ausgangspunkt: der Bruch mit Paris. Sie sind mit einem Ort verbunden, bewegen sich aber in außerstädtischen Räumen. Auf diese Weise kann die schon seit so langer Zeit geforderte décentralisation, die ein vitales Bedürfnis unseres Theaters darstellt, endlich umgesetzt werden. 22 20 Jenseits der romantischen Vorstellungen, die man sich von einem solchen Wandervolk machen kann, verweist der Begriff Nomade indes auch auf die Wüste, die ihn zumeist umgibt. 21 Brigitte Salino, „‚Le théâtre a été un vecteur de l’antisémitisme‘. Entretien avec Chantal Meyer-Plantureux“, in: Le Monde, 23 . 06 . 2005 : „[…] comment mettre en adéquation l’image de Copeau, un des maîtres du théâtre du XXe siècle, et les propos antisémites qu’il tient dans son journal? Ce n’est évidemment pas linéaire. Mais les gens aiment les choses simples. Quand on parle de Romain Rolland, on parle du Théâtre du peuple de Bussang-- une des toutes premières aventures du théâtre populaire, que Romain Rolland a contribué à forger--, mais pas de ses textes antisémites.“ 22 Jacques Copeau, Théâtre populaire, Paris 1941 , S. 10 : „Elles [ces jeunes compagnies] ont été, pour la plupart, rejetées au-delà de la ligne de démarcation par la défaite militaire. Excellent point de départ: la rupture avec Paris. Elles ont leur point d’attache mais se meuvent dans <?page no="91"?> Wie das Fremde zum Eigenen wurde 91 Diese auf den ersten Blick harmlos erscheinende Bemerkung, die man als Versuch werten könnte, aus der Not eine Tugend zu machen, lässt sich im Kontext der in jüngerer Zeit häufig gestellten Frage nach den antisemitischen Wurzeln der französischen Volkstheatertradition jedoch eher als ein Anti-Modernitätsreflex interpretieren. So richtete sich Copeaus Attacke gegen das Pariser Theater nicht nur gegen ein verflachtes, kommerzielles Unterhaltungstheater, sondern (ähnlich wie schon bei Romain Rolland) vor allem dezidiert gegen den Verfall der Sitten und der Moral im Sündenpfuhl Paris. Schon in seinem bereits zitierten Artikel aus dem Jahr 1913 listet er alle ‚verwerflichen‘ Elemente dieses Theaters auf: Eine ungezügelte Industrialisierung, die, von Tag zu Tag in zynischerer Weise, das französische Theater zerstört und dazu führt, dass sich das kultivierte Publikum von ihm abwendet; - […] überall- […] der gleiche Geist des Schmierentheaters und der Spekulation, die gleiche Niedertracht; überall nur Bluff, die gegenseitige Überbietung in jeder Hinsicht und der Exhibitionismus, der sich wie ein Parasit von dieser sterbenden Kunst ernährt- […] überall Weichlichkeit, Unordnung, Disziplinlosigkeit, Unwissenheit und Dummheit, Verachtung gegenüber der künstlerischen Schöpfung, Hass auf die Schönheit; immer verrücktere und sinnlosere Dinge werden produziert, die Kritiker sind mehr und mehr mit allem einverstanden, das Publikum leidet mehr und mehr unter Geschmacksverirrung: Das ist es was uns empört und aufwiegelt. 23 1941 greift Copeau nun in recht eindeutiger Weise den Diskus Petains auf, der an die Stelle der Parole der französischen Republik Liberté, Égalité, Fraternité (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) das Motto Travail, Famille, Patrie (Arbeit, Familie, Vaterland) stellt. Wenn der traditionelle Rahmen- […] zerschlagen ist durch eine Philosophie des Negativen, wenn die natürlichen Neigungen des Menschen seine innere Disziplin zersetzen, wenn eheliche Bindung und väterliche Ordnung so sehr gelockert werden, dass die Familie auseinanderfällt, wenn Liebe auf fleischliche Begierde reduziert ist und die Ehre zum Gegenstand des Hohnes wird, wenn die Ständeordnung durcheinandergerät und der Glaube seine Bedeutung verliert, wenn die Persönlichkeit derart von Zweifel zerfressen wird, dass sie nur noch ein loses Bündel konfuser Ideen darstellt, wenn der Mensch, statt sich zu befreien und zu konstruieren, nur noch auf der Suche nach sich selbst ist-[…] und des espaces extra-urbains. Ainsi s’amorce la décentralisation, qui était réclamée depuis si longtemps, et qui est un besoin vital de notre théâtre.“ 23 Copeau, „Un essai de rénovation dramatique“, S. 337 - 353 . 338 : „Une industrialisation effrénée qui, de jour en jour plus cyniquement, dégrade notre scène française et détourne d’elle le public cultivé; -[…] partout-[…] le même esprit de cabotinage et de spéculation, la même bassesse; partout le bluff, la surenchère de toute sorte et l’exhibitionnisme de toute nature parasitant un art qui se meurt, et dont il n’est même plus question; partout veulerie, désordre, indiscipline, ignorance et sottise, dédain du créateur, haine de la beauté; une production de plus en plus folle et vaine, une critique de plus en plus consentante, un goût public de plus en plus égaré-: voilà ce qui nous indigne et nous soulève.“ <?page no="92"?> 92 Nicole Colin dem Grundsatz folgt, dass alles erlaubt ist,-[…], wenn also schlussendlich keine Moral mehr existiert, dann kann es auch keine Komödie noch Tragödie mehr geben. 24 Hier zeigt sich wie zwei- - aufgrund der gewachsenen politischen Struktur der beiden Länder-- ideologisch völlig unterschiedlich aufgeladene Begriffe von Volk bzw. peuple und Volkstheater bzw. théâtre populaire sich in einer bestimmten historischen Situation auf kuriose Weise verflechten können. Die Grundlage hierfür, das sollte festgehalten werden, bildet indes nicht der vorgeschobene Regionalismus, sondern die anti-modernistische Abkehr vom Großstädtischen (und damit von Paris) und die Hinwendung zum ‚einfachen‘ und ‚unverfälschten‘ Leben auf dem Land, ein Diskurs, der, gleich ob in Frankreich oder Deutschland, immer auch (und sei es latent) auf antisemitische Vorurteile rekurriert bzw. diese explizit zum Ausdruck bringt. Wie Daniel Lindenberg bemerkt, können aus der Perspektive der Verteidiger des théâtre populaire „Geld und Korruption nur von den ‚Entwurzelten‘ herrühren; das kommerzielle oder finanziell einträgliche Theater und ‚Judentheater‘ sind daher oft austauschbare Begriffe“. 25 Vom théâtre de la révolution zur révolution théâtrale Nach diesen verschiedenen Ansätzen, die sich, blickt man auf die Gesamtheit des französischen Theaterfeldes, langfristig nicht durchsetzen konnten und randständige Erscheinungen blieben, gelang es dem théâtre populaire erst in den 1950 er Jahren sich tatsächlich durchzusetzen. Als eigentlicher Initiator hierfür gilt der Theaterregisseur Jean Vilar, wobei es zum Verständnis seines Konzeptes notwendig ist, die kulturpolitischen Hintergründe und Rahmenbedingungen seiner Arbeit kurz zu beleuchten, insbesondere im Blick auf die décentralisation culturelle, die in den späten 1940 er Jahren unter der Kulturbeauftragten Jeanne Laurant eine Be- 24 Copeau, Théâtre populaire, S. 10 : „Quand les cadres- […] sont brisés par une philosophie négative, quand les penchants naturels de l’homme tendent à supplanter (l’emporter) sur toute discipline intérieure, quand les liens du mariage et l’autorité paternelle sont relâchés au point de désassembler la famille, quand l’amour est réduit à l’appétit charnel et l’honneur considéré comme un objet de dérision, quand les rangs sociaux sont confondus et les croyances disqualifiées, quand la personnalité même est mise en doute jusqu’à ne plus former qu’un faisceau délié de tendances confuses, quand l’homme, au lieu de se dégager et de se construire, ne reçoit plus de lui-même que la mission de se connaître, ou plutôt de se chercher, et d’ajouter par son intelligence dévoyée au chaos de la nature, quand il ne trouve plus (en lui ou hors de lui) de résistance(s) et prend pour mot d’ordre (qu’il prend enfin pour mot d’ordre) le ‚tout est permis‘, enfin quand il n’y a plus de mœurs (alors) il n’y a plus de comédie, ni de tragédie.“ 25 Daniel Lindenberg, „Pour en finir avec un discours pieux sur le ‚théâtre public‘“, in: Laurent Creton, Michael Palmer, Jean-Pierre Sarrazac, Art du spectacle, métier et industries culturelles, Paris 2005 , S. 165 - 174 , 167 : „L’argent et la corruption ne peuvent venir que des ‚déracinés‘; théâtre commercial ou mercenaire et ‚théâtre juif ‘ sont donc souvent des termes interchangeables.“ <?page no="93"?> Wie das Fremde zum Eigenen wurde 93 schleunigung erfuhr: So setzte sich Laurant u. a. für die Gründung neuer Theater in der Provinz, in Saint Etienne, Colmar, Rennes und Toulouse, ein und hob gemeinsam mit Jean Vilar 1947 das Festival d’Avignon aus der Taufe. 1951 ernannte sie Vilar zum Direktor des (wieder eröffneten) Théâtre National Populaire im Palais de Chaillot in Paris, ein wahres Massentheater mit damals noch 3 . 000 Sitzplätzen. Begeistert von dieser Initiative gründete der Verlagschef und französische Verleger von Bertolt Brecht, Robert Voisin, 1953 die Zeitschrift Théâtre Populaire, wobei insbesondere seine beiden Redakteure Roland Barthes und Bernard Dort von sich reden machten. Im Januar 1954 formuliert Barthes im Editorial eine programmatische Kampfansage gegen das bürgerliche Theater und seine beiden Eckpfeiler: die kommerziellen Pariser Privatbühnen und die Comédie-Française. Was aber kann an die Stelle des so scharf attackierten théâtre bourgeois treten? Welcher französische Theatermacher ist in der Lage, die Rolle zu übernehmen und ein den Forderungen Barthesʼ entsprechendes künstlerisches Konzept zu entwickeln? Vilars Publikumsarbeit ist überzeugend, sein Repertoire interessant, aber sein Inszenierungsstil alles andere als revolutionär. Es ist Bertolt Brecht, der wenige Monate später mit dem Berliner Ensemble in Paris auftreten und die Leerstelle schließlich besetzen wird. Das Brecht’sche Theatermodell erfüllt in bewundernswerter Weise alle Kriterien dessen, was man sich in Frankreich bisher unter einem théâtre populaire vorgestellt hatte: Es hat einen erzieherischen Anspruch, ist künstlerisch anspruchsvoll, ja geradezu avantgardistisch und dennoch auf die breite Masse ausgerichtet. Zudem zogen die Stücke Brechts auch und vor allem das Interesse der neuen Theatermacher in der Provinz auf sich, was nicht zuletzt daran lag, dass fast alle der damals ernannten Direktoren der neuen Bühnen politisch in Richtung Kommunismus orientiert waren. Brechts Theater war also tauglich für ein théâtre décentralisé und wurde auf diese Weise zum Katalysator des Ausdifferenzierungsprozesses des französischen Theaterfeldes. Langfristig betrachtet waren die nachhaltigen Wirkungen der „révolution théâtrale de Brecht“ 26 in Frankreich insofern allein durch die faktischen Veränderungen im französischen Theaterfeld möglich. So fordert das epische Theater ja nicht nur eine andere Rezeption, sondern auch ein grundsätzlich neues Produktionssystem, das mithilfe der offiziell vom Kulturministerium lancierten décentralisation culturelle und der damit verbundenen Explosion des Theaterfeldes realisiert werden konnte: Gab es 1945 noch kein einziges öffentlich subventioniertes ‚stehendes‘ 26 Roland Barthes, „Théâtre capital“, in: France-Observateur, 08 . 07 . 1954 , wiederabgedruckt in: Roland Barthes, Œuvres complètes, Paris 2002 , Bd. I, S. 503 - 505 , 505 . <?page no="94"?> 94 Nicole Colin Theater in der Provinz, sind es 1960 bereits fünf, 1970 dann neun und 1980 bereits 20 staatliche Bühnen außerhalb der Pariser Stadtmauern. 27 Wie dies praktisch funktionierten konnte, zeigt das Beispiel von zwei Regisseuren, die neben Jean Vilar der französischen Brecht-Rezeption in dieser frühen Phase wichtige Impulse gaben: Roger Planchon in Villeurbanne bei Lyon und Bernard Sobel mit seinem Ensemble théâtral de Gennevilliers bei Paris. Mit ihrer grundsätzlichen Entscheidung gegen Paris und für zwei kulturell extrem unterversorgte Arbeitervororte nahmen Planchon und Sobel eine in doppelter Hinsicht-- nämlich sozial und geographisch-- abseitige Position ein. Ihr Brecht lieferte ihnen (in durchaus unterschiedlicher Weise) entscheidende Argumente dafür, aus ihrer Randstellung heraus ein künstlerisch anspruchsvolles und nicht nur volkaufklärerisches théâtre populaire zu machen. Dieses neue théâtre populaire verortete sich daher auch jenseits von romantischem Kitsch und nationalistischen oder antizivilisatorischen bzw. antisemitistischen Parolen. 28 Insofern erlebte die décentralisation in den 1950 er Jahren einen entscheidenden Umbruch. Wenngleich es schwierig erscheint zu beurteilen, ob diese Elemente, die sich insbesondere bei Copeau und Rolland finden lassen, die älteren Vertreter der neuen Bewegung (wie Jeanne Laurent oder Jean Vilar) bewusst oder unbewusst beeinflusst haben, stehen Theatermacher jüdischer Herkunft wie Bernard Sobel oder auch Gabriel Garran, die als Kinder im Krieg nur knapp der Nazi-Barbarei bzw. dem Tode entkommen waren, sowie ihre Schüler, die für die weitere Entwicklung des Theaterfeldes in besonderer Weise bedeutsam wurden, eindeutig nicht in dieser Traditionslinie. Fazit Wie gezeigt werden konnte, handelt es sich bei der Begriffsgeschichte des théâtre populaire um eine komplexe Entwicklung, die bis ins späte 18 . Jahrhundert reicht und wissenschaftlich- - insbesondere was ihre nationalistischen und antisemitischen Wurzeln anbelangt- - noch nicht vollständig erforscht ist. Allerdings lässt sich nach 1945 ein Bruch mit dieser antizivilisatorischen Tradition konstatieren, der nicht zuletzt dem starken Einfluss Bertolt Brechts zu verdanken ist. Aus dieser Perspektive ist umgekehrt die Tatsache, dass das epische Theater von Brecht in Frankreich im Kontext des théâtre populaire rezipiert wird, nicht als Missverständ- 27 Nach der Jahrtausendwende scheint dieser Ausdifferenzierungsprozess des Theaterfeldes weitgehend abgeschlossen. Vgl. Nicole Colin, Deutsche Dramatik im französischen Theater nach 1945. Künstlerisches Selbstverständnis im Kulturtransfer, Bielefeld 2011 , S. 148 - 165 . 28 Vgl. hierzu auch Susanne Pilgrim, „Brecht und das ‚Théâtre populaire‘“, in: Lendemains Nr.- 41 ( 1986 ), S. 42 - 53 . Laut Pilgrim handelt es sich um ein zufälliges Aufeinandertreffen zweier Bewegungen, die großen wechselseitigen Einfluss genommen haben, eine Analyse der Entwicklung des Theaterfeldes nimmt Pilgrim jedoch nicht vor. <?page no="95"?> Wie das Fremde zum Eigenen wurde 95 nis zu bezeichnen-- selbst wenn das, was Vilar, Planchon und Sobel künstlerisch verfolgten, keinesfalls der deutschen Idee des Volkstheaters entsprach. Oder, positiv formuliert: Erst eine grundsätzliche und nachhaltige Neudefinition des théâtre populaire durch einen ‚fremden‘ Einfluss hat die Thematisierung des Eigenen zu einer künstlerisch interessanten und im Blick auf das Publikum anschlussfähigen ästhetischen Form werden lassen. <?page no="97"?> Vom Avantgardetheater zum Welttheater 97 Vom Avantgardetheater zum Welttheater Ästhetische Tendenzen im Tanztheater der Pina Bausch 1 Anna Seidl (Amsterdam) Pina Bausch gilt mit ihrem Wuppertaler Tanztheater, das sie von 1978 bis zu ihrem Tod 2009 leitete, als eine Ikone Deutschlands. Erst umkämpft, dann umjubelt, feiert man in den 1970 er und 1980 er Jahren ihr Avantgardetheater, ab den 1990 er Jahren dann vor allem ihr interkulturelles „Welttheater“. 2 Dank der zahlreichen Koproduktionen, die mit Ländern wie Chile, Indien, Japan, Italien und Spanien zustande gekommen sind, avanciert die einstige Avantgardekünstlerin zur Vorzeige-Deutschen und Botschafterin des Friedens. 2001 wird ihr in dieser Rolle der Hansische Goethe-Preis verliehen, der Persönlichkeiten würdigt, die sich durch völkerverbindende humanitäre Leistungen im Geiste Johann Wolfgang von Goethes ausgezeichnet haben. Das europäische Kuratorium ehrt Bausch als Künstlerin „von überragender ästhetischer Innovationskraft“, die ihren Körper „als Ausdrucksmedium interkultureller Kommunikation in nie zuvor dagewesener Weise ins Zentrum ihres Schaffens setzt“. 3 2012 werden zehn dieser Koproduktionen bei der Sommer-Olympiade in London unter dem Titel World Cities präsentiert. Oft wird darauf hingewiesen, dass dem Tanztheater Wuppertal der interkulturelle Verständigungsprozess viel müheloser gelinge als vielen anderen Künstlern oder gar Vertretern aus Politik und Wirtschaft. So heißt es heute auch auf der offiziellen Webseite der Kompanie: 1 Teile dieses Aufsatzes wurden aus einer größeren Studie zur Werkbiographie von Pina Bausch übernommen. Anna Seidl, „Ein ‚deutscher‘ Welterfolg. Pina Bausch und das Tanztheater Wuppertal. Schritte zum Welterfolg“, in: Aspekte des deutschen Theaters im 20. Jahrhundert. Kleine Schriften der Gesellschaft für Theatergeschichte, H. 47 , Berlin 2015 , S. 79 - 100 . 2 Norbert Servos, Pina Bausch. Tanztheater, München 2003 , S. 213 . Der damalige Bundespräsident Horst Köhler nannte Bausch „eine herausragende Persönlichkeit der Kulturnation Deutschland“ (Marion Meyer, Pina Bausch. ‚Tanz kann fast alles sein‘, Remscheid 2012 , S. 153 ). 3 Hamburger Morgenpost, 13 . 06 . 2001 , online: http: / / www.mopo.de/ news/ die-choreogra fin-pina-bausch-erhaelt-heute-den-hansischen-goethe-preis-ausloeser-extremer--reaktio nen, 5066732 , 6126896 .html [ 30 . 04 . 2014 ]. <?page no="98"?> 98 Anna Seidl Die anfänglich so umstrittene Arbeit hat sich endgültig zu einem Welttheater entwickelt, das alle kulturellen Färbungen in sich aufnehmen kann und jeden Menschen mit dem gleichen Respekt behandelt.-[…]. Großzügig ist dieses Welttheater, gelassen in der Weltwahrnehmung und äußerst charmant im Umgang mit seinem Publikum. Es bietet ihm an, sich mit dem Leben auszusöhnen und auf den eigenen Lebensmut und die eigene Kraft zu vertrauen. Als Vermittler zwischen den Kulturen ist es ein Botschafter des Friedens und des gegenseitigen Verständnisses. Es ist ein Theater, das sich frei hält von jeglicher Ideologie und Dogmatik, das so vorurteilsfrei wie möglich die Welt anschaut und das Leben zur Kenntnis nimmt-- in all seinen Facetten.-[…] Das Tanztheater Wuppertal fühlt sich nur einem verpflichtet: dem Menschen und damit einem Humanismus, der keine Grenzen kennt. 4 Durch die Zusammenarbeit mit Theatern und anderen Institutionen entstehen insgesamt 15 solcher Koproduktionen, für deren Recherchen und Vorbereitungen Bausch und ihre Tänzer oft mehrere Monate in dem jeweiligen Gastland verbringen, um die Atmosphäre der fremden Kulturen, ihre Gebräuche, geistigen Strömungen, Verhaltensweisen und Rituale kennenzulernen. Zurück in der vertrauten Atmosphäre der Wuppertaler Probenräume entstehen aus dem gesammelten Material Stücke mit Namen wie Palermo, Palermo ( 1989 ), Danzón ( 1995 ), Masurco Fogo ( 1998 ), O Dido ( 1999 ), Nefés ( 2003 ) oder-… como el musguito en la piedra, ay, sí, sí, sí- … 5 Kulturstiftungen und Vereine wie das Goethe-Institut fördern diese Projekte, weil sie in ihnen das Potenzial der Kulturvermittlung und internationalen Vernetzung zu erkennen glauben. In diesem Beitrag geht es um den Versuch einer Bestandsaufnahme dieses interkulturellen Theaters, wobei zwei Themenkomplexe im Mittelpunkt stehen: die Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen, die den Weg vom Avantgardetheater hin zum Welttheater bestimmen, und die ästhetischen Implikationen dieser Wende. Am Anfang war das Avantgardetheater Kurz nachdem der Generalintendant Arno Wüstenhöfer 1973 / 74 der jungen Bausch die Leitung des Wuppertaler Balletts übertragen hat, plant sie mit den bestehenden Strukturen zu brechen. Sie beabsichtige das Publikum mit nichtklassischen Stücken zu konfrontieren, sein Interesse an experimentalen Formen und Inhalten zu wecken und die Tänzer selbst aktiv in den Schaffensprozess ein- 4 Norbert Servos, „Pina Bausch. Tanzend vom Menschen sprechen“, online: http: / / www.pinabausch.de/ pina_bausch/ index.php? text=lang [ 30 . 04 . 2016 ]. 5 Um das Fremde kennenzulernen und es mit anderen zu teilen, sagt Bausch, sei „alles in Tanz übersetzt“ worden. (Pina Bausch, „Was mich bewegt“, zit. nach: Meyer, Pina Bausch, S. 91 ) Bausch wurde nicht nur regelmäßig mit ihrer Kompanie in andere Länder eingeladen, sondern sie veranstaltete auch selbst einige internationale Tanzfestivals in Wuppertal. <?page no="99"?> Vom Avantgardetheater zum Welttheater 99 zubinden, so Bausch. 6 Aus dieser Zeit stammt auch das oft zitierte Bekenntnis, weniger an dem interessiert zu sein, wie sich Menschen bewegen, als daran, was sie bewege. 7 Der Impuls zur Bewegung kommt dabei nicht länger von der Musik, auch das Schrittmaterial wird nicht länger von der Choreografin vorgegeben, sondern sie sind das Ergebnis einer persönlichen Auseinandersetzung der Tänzer mit sozialen Themen, was ihnen zuvor in Form von Fragen angetragen wird. Die Fragen, die Bausch ihren Tänzern stellt, sind dabei meist ganz allgemeiner Art: „Was tun wir eigentlich in dieser Welt, in dieser Zeit? Was täte uns gut? Wie begegnen wir einander? Wie leben wir zusammen? Wie begreifen wir etwas? “ 8 So erstellen die Tänzer ein persönliches Bewegungsrepertoire zu archetypischen Grunderfahrungen wie Liebe, Einsamkeit oder Angst, für das sie entweder Sprachliches oder Gefühltes in körperlichen Ausdruck übersetzen. Im Anschluss wird das Material von der Choreografin gelesen, ausgewertet und am Ende zu einer Art Collage zusammengefügt. Mit dieser Arbeitsmethode nimmt Bausch einen Rollentausch zwischen Tänzer und Choreograf vor, bricht Hierarchien auf, revolutioniert den Tanz und schafft letztlich das Erfolgskonzept des Tanztheaters Wuppertal. Unter Verwendung dieser Praktiken entstehen u. a. Klassiker wie Café Müller ( 1978 ), Kontakthof ( 1978 ), 1980 ( 1980 ) und Nelken ( 1983 ). Bausch begründete diese künstlerische Herangehensweise damit, dass ein Ensemble bzw. das in ihren Körpern aufgehobene Wissen schließlich mehr Speicherungsvermögen habe als das eines einzelnen Choreografen. 9 Das revolutionäre Potenzial, für das dieses frühe Avantgardetheater bekannt ist, liegt dabei zu einem großen Teil in der Verbindung der beiden Ausdruckskünste Tanz und Theater sowie in der besonderen Ästhetik, die sich aus der Verbindung von verbalem und non-verbalem Ausdruck ergibt. Bausch verwendet beispielsweise geflügelte Worte bzw. Sprichwörter wie „jemanden mit Liebe überschütten“, „Blöße zeigen“ oder „sich gut verkaufen“ und übersetzt diese in körperlichen Ausdruck oder lässt die Tänzer Handlungen beschreiben, die sie gleichzeitig ausführen. 6 Vgl. Jochen Schmidt, „Erfahren, was Menschen bewegt. Pina Bausch und das neue Tanztheater“, in: Ulrike Hanraths, H. Hubert Winkels (Hgg.), Tanz-Legenden, Frankfurt a. M., Dülmen 1984 , S. 19 . 7 Bausch ist der festen Überzeugung, dass das gehobene Bein als Zeichen auch eine Funktion haben müsse: „man kann so etwas doch nicht in eine Choreographie einbauen, bloß weil die Ballerina ein hohes Bein hat. Ich baue ja auch keine Sprünge in meine Ballette ein, bloß weil ich Tänzer habe, die vielleicht gut springen können.“ („…ich empfinde Menschen sehr stark. Edmund Gleede sprach mit der Wuppertaler Ballettchefin Pina Bausch“, in: Ballett 1975 . Chronik und Bilanz des Ballettjahres, S. 27 - 31 , 30 ). Die gerade erschienenen fotografischen Aufnahmen von Proben aus der Frühzeit ihres Wirkens als Choreografin dokumentieren die Arbeit mit dieser Vorgehensweise. Vgl. Karl-Heinz Wilhelm Steckelings, Pina Bausch backstage, mit einem Essay von Nora und Stefan Koldehoff, Wädenswil 2014 . 8 Pina Bausch: „Der Anfang bin ich“, in: Die Welt, 05 . 05 . 2000 . 9 Vgl. Servos, Pina Bausch, S. 214 - 215 . <?page no="100"?> 100 Anna Seidl Vereinfacht gesagt, lässt sich ihre Ästhetik mit den Begriffen „Selbstreflexivität“, „Intermedialität“ und „Intersubjektivität“ zusammenfassen, womit es den von Peter Bürger aufgestellten Kriterien von Avantgardekunst folgt: Bruch mit Traditionen, Etablierung neuer ästhetischer Paradigmen, veränderte Beziehung zum Rezipienten sowie Selbstreflexion und Selbstthematisierung des Kunstmediums und der Kunstproduktion. 10 Selbstreflexiv ist das Avantgardetheater von Bausch insofern, als es die eigene Produktionswirklichkeit und Künstlichkeit ausstellt. Unter dem Aspekt der Intermedialität lässt sich das darstellungstechnische Verfahren erfassen, die Verbindung von verbalem und non-verbalem Ausdruck, woraus sich die Doppelbezeichnung Tanz-Theater ergibt, die auf die wechselseitige Übersetzungsleistung von Sprach- und Körpersemantiken verweist. 11 Intersubjektivität ist ein weiteres Kriterium des Avantgardetheaters, womit gemeint ist, dass die individuell gestalteten Geschichten der Tänzer, die auf der Grundlage der ihnen gestellten Fragen beruhen, einen gesellschaftlichen Gestus bzw. Code erkennen lassen, der mit der Aufforderung an den Zuschauer zu einer Co-Autorschaft verbunden ist. Das Erlebte wird dabei entweder mit der eigenen, inneren Erzählung in Einklang gebracht, oder in freier Rezeption weiterentwickelt. Bauschs „archetypische Bildwelten kreieren so das Phantasma einer ursprünglichen Gemeinschaft / Harmonie in Form einer Transzendenz-Imagination, die auf der Gemeinsamkeit des Tanz / Bild-Repertoires beruht“. 12 Nach einer beispiellosen Erfolgsphase gerät Bausch mit diesem Avantgarde- Programm gegen Ende der 1980 er Jahre in eine Krise. Diese spiegelt sich u. a. in den Rezensionen einer ihrer ersten Koproduktionen, Palermo/ Palermo 13 ( 1989 ), wider, wo man sich fragt, ob das Tanztheater dieser Art überholt sei bzw. ob sich die Kunstform selbst vielleicht verausgabt habe? 14 Erste Zweifel kommen auch am „gültigen Ausdruck der Gegenwart“ 15 auf. An anderer Stelle spricht man von einer sich stets wiederholenden „fremdartig deutsche[n] Vermittlungsgruppe west- 10 Vgl. Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt a. M. 1974 . 11 Viele dieser Fragen, die am Anfang des Probenprozesses stehen, hat Bauschs ehemaliger Dramaturg Raimund Hoghe gesammelt und veröffentlicht. Vgl. Raimund Hoghe, Pina Bausch. Tanztheatergeschichten, mit Fotos von Ulli Weiss, Frankfurt a. M. 1986 , S. 8 - 89 . 12 Sabine Sörgel, „Tanz(Ge)schichte(n) der Moderne im Tanztheater der Gegenwart am Beispiel von Kurt Jooss, Pina Bausch, Sasha Waltz und Wanda Golonka“, in: Forum modernes Theater 21 ( 2006 ), 1 , S. 61 - 78 , 68 . 13 Die erste Koproduktion war eine Zusammenarbeit mit dem Teatro Argentina in Rom, bei der das Stück Victor ( 1986 ) entstand, die letzte Koproduktion 2009 eine Zusammenarbeit mit dem Festival International de Teatro Santiago a Mil in Chile. …- como el musguito en la piedra, ay si,si,si-… (dt. „wie das Moos auf dem Stein“) war die letzte Choreografie von Bausch. 14 Helmut Scheier, „Pina Bausch startete in Wuppertal mit neuer Produktion“, in: Kölner Stadt- Anzeige, 19 . 12 . 1989 . 15 Ebd. <?page no="101"?> Vom Avantgardetheater zum Welttheater 101 licher Psychosen und Psychogramme.“ 16 Die „Zeit der Darstellung der alltäglichen Kleinigkeiten, der Absurditäten und der Beschäftigung mit sich selbst“, so meint man, sei vorüber: „Neue Inhalte sind gefordert, die neue Formen erzwingen. Ob sie von Pina Bausch noch zu erwarten sind, ist fraglich. Ob das Tanztheater in seiner bisherigen Gestalt überhaupt noch Zukunft hat, ist zu bezweifeln.“ 17 Das, was man in der Rezeption dieser frühen Koproduktion und der Kritik an mangelnder Innovation allerdings übersehen hat, ist, dass Bausch auf den vermeintlich künstlerischen „burn out“ schon mit neuen Herausforderungen reagiert. Diese liegen für sie in den Koproduktionen, Prozessen der Annäherung und der Frage nach einer adäquaten Repräsentation anderer Kulturen. Sicherlich hat Bausch sich im Vorfeld auch die Frage gestellt, die Patricia Corboud in ihrem Dokumentarfilm über das „andere Tanztheater der Pina Bausch“ im Kontext eines „provocative theater“ formuliert: „what becomes of rejection once it has been established? ” 18 Während die Rezensenten Palermo/ Palermo also noch im Kontext der Ästhetik des Avantgardetheaters reflektierten, lassen sich in diesem Stück schon die neuen Zielsetzungen auf dem Weg zu einem ‚Welttheater‘ erkennen. An dem Stück Palermo/ Palermo soll nun zunächst exemplarisch dieser Aufbruch nachgezeichnet werden, wobei sich die weiteren Entwicklungen und deren ästhetische Implikationen vor allem bei der letzten Koproduktion …-Como el musguito en la piedra, ay si, si, si-… veranschaulichen lassen, das kurz vor dem Tod von Bausch 2009 in Wuppertal seine Premiere feierte. Auf dem Weg zum ‚Welttheater‘ Einen wichtigen Schritt bei der Entwicklung ihres Welttheaters stellt die Koproduktion Palermo/ Palermo dar, die am 17 . Dezember 1989 unter dem vorläufigen Titel Tanzabend I und dem Vermerk des Arbeitstitels Das Palermo-Stück in Wuppertal ihre Premiere feiert. In der Presse wird der Arbeitstitel als „gefährlich“ eingestuft, da Augen und Ohren gleich anfingen, alles, was wir sehen und hören, „auf sizilianische, also auch afrikanische Eindrücke und Einflüsse abzusuchen“. 19 Es ist das erste Stück, das Bausch nach dreijähriger Schaffenspause 1989 in Zusammenarbeit mit dem Teatro Biondo-Stabile di Palermo kreiert. 20 „[Palermo/ 16 Horst Koegler, „Schrottplatz der Gefühle. Pina Bauschs neue Produktion mit dem Wuppertaler Tanztheater“, in: Stuttgarter Zeitung, 19 . 12 . 1989 . 17 Scheier, „Pina Bausch startete in Wuppertal mit neuer Produktion“. 18 Auf der Suche nach Tanz. Das andere Theater der Pina Bausch. Deutschland 1991 , Regie: Patricia Corboud, Produktion: Trans Tel, Köln. 19 Rolf Michaelis, „Die Erde kommt von oben“, in: Die Zeit, 22 . 12 . 1989 . 20 In der Zwischenzeit hat sie sich allerdings schon mit dem Film Die Klage der Kaiserin ( 1989 ) nicht nur einem neuen Genre, sondern auch ihrer neuen Thematik zugewendet. Obwohl der Film in den Augen des Kritikers Rolf Michaelis („Regen-Tänze. ‚Die Klage der Kaiserin‘: Pina Bauschs erster Film“, in: Die Zeit, 09 . 03 . 1990 ) ein „nie weinerliches, oft <?page no="102"?> 102 Anna Seidl Palermo] beginnt mit einer grandiosen theatralischen Szene“, 21 bei der der Zuschauer Zeuge wird, wie auf ganzer Breite der Bühne eine Mauer unter lautem Getöse einstürzt und den Blick auf ein staubiges Trümmerfeld freigibt, das „das Spiel für den gesamten Abend zu einem gefährlichen Hindernislauf “ 22 macht. Die damaligen Zuschauer deuten dieses Trümmerfeld vornehmlich im Kontext des zur Entstehungszeit gerade stattgefundenen Mauerfalls, weniger aber im Kontext interkultureller Annäherungsprozesse. Die Rezensenten sprechen von „Schnappschüsse[n] aus dem aktuellen Tagesgeschehen“, 23 von einer Feier des Mauerfalls und von „Tänze[n] der Trümmerfrauen“, 24 bei denen sich der Zuschauer „statt nach Palermo- […] nach Berlin versetzt“ 25 fühle. Obwohl Bausch einer Stellungnahme hierzu aus dem Weg geht, scheint das Stück nicht auf die deutsch-deutschen Befindlichkeiten abzuzielen, genauso wenig wie auf die metaphorische Verwendung der Mauer als Grenze zwischen Mann und Frau, Individuum und Gesellschaft. Zu vermuten ist, dass es sich vielmehr um eine selbstreferenzielle Geste handelt, bei der die neue Zielsetzung des Tanztheaters deutlich wird, die, wie Bausch es einmal in einem Interview formulierte, der ästhetischen Vermittlung des sinnlichen Erlebnisses von kulturellen Annäherungsprozessen und einer gefühlten, aber nicht weiter zu konkretisierenden Verwandtschaft gelte. 26 Obwohl Bausch immer wieder betont, dass sie keine Ahnung von anderen Kulturen habe und es deshalb schwierig sei, ihnen nahe zu sein, 27 gelingt ihr dies in Palermo/ Palermo, sanft komisches Lamento über die Welt, das Leben- - also über dich und mich“ ist und damit an die Themen des alten Tanztheaters anschließt, lassen sich schon hier ansatzweise neue Herausforderungen und Zielsetzungen erahnen: die künstlerische Auseinandersetzung mit und Darstellung von interkulturellen Annäherungs- und Verständigungsprozessen. Auf diesen Aspekt wird auch im Begleitheft zur gleichnamigen DVD verwiesen: Die Klage der Kaiserin-- ein Film mit dem Ensemble des Tanztheaters Wuppertal und Gästen. Mit alten Herren und Kindern. Mit einem Mann, der Bass spielt, und einer alten Frau, die weitertanzt für sich. Mit einem Jungen aus Süd-Amerika, der auf Menschen aus dem Norden trifft und lernt-- ‚Singt mich tot und herzt mich tot, / Küsst mir aus der Brust das Leben! ‘ Mit einer Schauspielerin und Tänzern aus Frankreich, Irland, Schottland und Japan, aus der Schweiz, Belgien, Marokko, Costa Rica, Holland, der Tschechoslowakei, Italien, der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten.“ Raimud Hoghe, „Exposé“, in: Die Klage der Kaiserin. Dossier, L’Arche 2011 , S. 69 - 71 , 69 . 21 Jochen Schmidt, Tanzen gegen die Angst. Pina Bausch, München 2002 , S. 149 . 22 Ebd. 23 Marieluise Jeitschko, „Pina Bausch- - ihr Parlermo ist Berlin“, in: Die Welt am Sonntag, 31 . 12 . 1989 . 24 Günter Negelhart, „Tänze der Trümmerfrauen“, in: Rheinischer Merkur, 29 . 12 . 1989 . 25 Jeitschko, „Pina Bausch-- ihr Parlermo ist Berlin“. 26 Pina Bausch zitiert nach der filmischen Dokumentation von Kay Kirchmann: Bilder-… aus Stücken der Pina Bausch (D 1990 , Regie: Kay Kirchmann). 27 Ebd. <?page no="103"?> Vom Avantgardetheater zum Welttheater 103 da sie sich in dieser frühen Koproduktion noch auf künstlerische Praktiken ihres Avantgardetheaters stützt. Das Stück thematisiert die soziale und psychische Verelendung Siziliens, und die Tristesse des Südens. Dabei kommt aber nicht die Vorstellung einer spezifisch politischen Botschaft auf, bei der die Chiffre „Palermo“ für den „heillos kaputten Zustand der Welt-- speziell der Dritten“ 28 stehen würde. Dies hängt mit der Reflexion des eigenen Standorts zusammen und mit dem, was die Tanzwissenschaftlerin Gabriele Klein als „Ethos der Grenzachtung“ 29 beschreibt. Die Atmosphäre Süditaliens wird zunächst durch karge Bilder aufgerufen, die Armut und Elend der Bevölkerung und der Landschaft zeigen, durch Bilder der sengenden Sonne, temperamentvolle Folklore, rotglühenden Lavaregen und Beerdigungsrituale. Überexponiert ist dabei der allgegenwärtige Katholizismus, der sich mit wiederholt lautem Glockenläuten in die Köpfe der Zuschauer hämmert. Obwohl das Ambiente des Stücks deutlich mit süditalienischen Referenzen aufgeladen ist, werden gleichzeitig alte Bausch-Themen abgehandelt: soziale Ausgrenzung, Machtspiele, das Scheitern von Kommunikation sowie die vergeblich gesuchte Nähe zum Gegenüber. Während sich hier Landesspezifisches mit menschlich-universellen Befindlichkeiten vermischt, wird analog hierzu die künstlerische Repräsentation Süditaliens und seiner Bürger mitreflektiert. Zwei Szenen veranschaulichen dies. In der bekannten Spaghetti-Szene verkündet die Tänzerin Nazareth Panadero mit eindringlicher Stimme und einem stark südländischen Akzent, dass jede einzelne Nudel, die sie aus einer großen Packung Spaghetti herausholt, ihr Eigentum sei: „Das sind meine Spaghetti, alles meine nur meine, die schenke ich dir auch nicht! “ Währenddessen zeigt sie jede einzelne Spaghetti-Nudel und benennt sie fortwährend als solche, als ob sich der Zuschauer noch nicht zur Genüge darüber im Klaren sei, dass es sich um ihr Eigentum, sprich um das Eigentum Italiens handle. Auch die „Wasserszene“ verweist kritisch auf mögliche Aneignungsprozesse durch das Tanztheater. Hier wird zunächst ein Glas Wasser mit höchster Vorsicht und Präzision von Person zu Person weitergereicht, was als Referenz auf das geweihte Wasser und damit als Metapher der strengen Konventionen des Katholizismus zu verstehen ist, wie sie speziell in Süditalien praktiziert werden. In der unmittelbar darauffolgenden Szene kehrt dieses Wassermotiv zurück. Inzwischen ist es in Flaschen abgefüllt und an Touristen verkauft worden. Im Kontext der vorangegangenen Szene werden nun einerseits Assoziationen zu dem Ausverkauf kultureller Werte und Wertvorstellungen wachgerufen, andererseits werden diese Werte aber auch wieder an die starren Konventionen zurückgekoppelt, deren Kritik als anma- 28 Schmidt, Tanzen gegen die Angst, S. 150 . 29 Gabriele Klein, „Praktiken des Übersetzens im Werk von Pina Bausch und dem Tanztheater Wuppertal“, in: Marc Wagenbrecht, Pina Bausch Foundation (Hgg.), Tanz erben. Pina lädt ein, Bielefeld 2014 , S. 25 - 39 , 30 . <?page no="104"?> 104 Anna Seidl ßend reflektiert wird. Der eigene Standort des Tanztheaters wird hier indirekt an den Blick und die Haltung eines naiven Touristenpublikums gekoppelt. Das, was Bausch in dieser Szene in Frage stellt, sind demnach nicht die starren Konventionen, sondern vielmehr deren vielleicht allzu leichtfertig hervorgebrachte Hinterfragung durch das Tanztheater. Bei dem Versuch der interkulturellen Annäherung liegt die Stärke dieser frühen Koproduktion gerade in so einer Reflexionsgeste des eigenen Standorts, womit das Stück weder als ein „Indiz für einen von Resignation und Fatalismus geprägten Verinnerlichungsprozess“ zu verstehen ist noch als Kapitulation der Choreografin vor einem „mafiosen Klima“, 30 vor den betonierten Gefühlen, den von Armut und Ausweglosigkeit geprägten Überlebenskämpfen der Bewohner Süditaliens. Vielmehr steht Palermo/ Palermo für einen Aufbruch und ein neues Programm, bei dem es um Begriffe wie Verantwortung, Grenzachtung und Fragen der ästhetischen Repräsentation kultureller Differenz geht. Analog zu dieser inhaltlichen vollzieht sich dabei auch eine ästhetische Neuausrichtung, die mit der Schlusspassage von Palermo/ Palermo eingeläutet wird und in den darauf folgenden Koproduktionen immer mehr an Gewicht gewinnt: der reine Tanz als Mittler von Kulturen. Dieser Tanz, der vor allem als gemeinsamer Tanz gedacht wird und für die Choreografin eine Rückkehr zu ihren Wurzeln im Modern Dance bedeutet, kündigt sich in der Apotheose des Stückes an, wenn sich die Kompanie zum Klang einer „kakophonisch schrillen Weltmusik“ 31 auf dem zuvor von ihr produzierten Abfall und Müll langsam zu bewegen beginnt. Gleichzeitig senken sich vom Bühnenhimmel Äste mit blühenden Kirschblüten herab. Es ist die Schlussparade dieses Tanzabends, der als Zeichen einer ins Positive gewendeten Resignation von Bausch gedeutet werden kann. Schleichen die Tänzer in einer Reihe zunächst noch gebückt und in Zeitlupentempo von den Kulissen auf die Bühne, die Arme wiederholt über Kreuz bewegend, bis sie die ganze Breite des Raumes einnehmen, beginnen sie sich im Folgenden aufzurichten und dann ausgelassen zu tanzen. Die zunächst noch durch die Lasten des Alltags und Lebens gebückten Menschen, die gleichsam für Behinderung, Rigidität, Einsamkeit oder Verlust einstehen-- Kennzeichen des Avantgardetheaters- -, richten sich nun plötzlich auf und beginnen gemeinsam zu tanzen. Diesen Wechsel kann man als beispielhaft für die neue positive und vitale Programmatik von Bausch verstehen, bei der die allumfassende, lebensbejahende und universell verständliche Sprache des Tanzes zum interkulturellen Kommunikationsmedium wird. Bausch feiert den Tanz in diesem Schlussbild als 30 Negelhart, „Tänze der Trümmerfrauen“. 31 Schmidt, Tanzen gegen die Angst, S. 150 . <?page no="105"?> Vom Avantgardetheater zum Welttheater 105 ursprüngliche Ausdruckskunst des Menschen, mit der sich die „distanzierte Nähe zu einem Fremden“ 32 aufheben lässt. …-Como el musguito en la piedra, ay si, si, si… Nach Palermo/ Palermo werden fast alle weiteren Produktionen als Koproduktionen realisiert. Immer häufiger werden Bausch und ihre Tänzer nun eingeladen, eigens für die Gastländer Stücke zu entwerfen. Die Produktionsbedingungen dieser Koproduktionen unterliegen dabei sowohl den Ansprüchen der Gastländer als auch denen von Kulturstiftungen und Kulturinstitutionen, die diese fördern und finanzieren. Das Interesse dieser zivilgesellschaftlichen Institutionen richtet sich neben den künstlerischen Qualitäten von Bauschs Welttheater vermehrt nach den sozialen Implikationen. In diesem Kontext ist auch die Künstlerresidenz von Bausch und ihren 21 Tänzern in Chile zu verstehen, dem Gastland der letzten Koproduktion mit dem Titel-… Como el musguito en la piedra, ay si, si, si-…. Für drei Wochen wird die Kompanie vom Goethe-Institut in Chile eingeladen, um vor Ort für das in Auftrag gegebene Stück zu recherchieren. 33 Vom Festival Santiago a Mill erstellt man eigens einen Terminplan, der den Tänzern bei ihren Untersuchungen helfen soll, die nötigen Kontakte und Begegnungen mit Menschen aus unterschiedlichen Bereichen herzustellen. Die Kompanie durchreist im Norden die Wüste des Landes, im Süden die vom regnerischen Klima gezeichnete und für die Schönheit der Natur bekannte Insel Chiloé, besucht den Hafen von Valparraíso und das Stadtleben von Santiago, wo sie in der Villa Grimaldi das ehemalige Folterzentrum unter General Pinochet zu sehen bekommt. Daneben wird sie mit Alltäglichem wie Kochritualen und Kaffeehausszenen bekannt gemacht. Dieses Wissen, das die Tänzer bei ihren Beobachtungen und Forschungen speichern, werden sie dann zu Improvisationen und choreographischen Übungen verarbeiten-- ihre persönlichen Erfahrungen also in körperliche Praktiken übersetzen. Das Programmheft der Premiere von …-Como el musguito en la piedra, ay si, si, si-… zeigt auf dem Titelblatt die Kompanie in einer langen Reihe auf einem trockenen Bergrücken stehend, der, wie zu vermuten ist, das Ziel einer ihrer Exkursionen war. Nicht Fotos der Produktion, die zeigen, wie die Tänzer den politischen, sozialen und kulturellen Kontext künstlerisch umsetzen, sondern die Recherchearbeit wird hierbei deutlich ins Zentrum gerückt. Im Gegensatz zu Palermo/ Palermo, wo diese Recherchearbeit noch geringe Beachtung fand und sich nur durch die lange Liste an Danksagungen im Programmheft niederschlägt, scheinen inzwischen die Produktionsbedingungen 32 Rolf Michaelis, „Die Erde kommt: von oben“. 33 Informationen über den Aufenthalt der Kompanie in Chile wurden von Javier Ibacaches Beitrag übernommen. „Was für Pina Bausch Chiles zerbrochene Liebe war“, online: http: / / www.goethe.de/ wis/ bib/ prj/ hmb/ the/ 154 / de 6568384 .htm [ 30 . 04 . 2016 ]. <?page no="106"?> 106 Anna Seidl sowie der Prozess der Annäherung mindestens genauso wichtig geworden zu sein wie die anschließende ästhetische Repräsentation der Gastländer. Das Bühnenbild von …-Como el musguito en la piedra, ay si, si, si-… besteht aus einem kargen weißen Boden und einer schwarz ausgehangenen Bühne. Im Laufe des Stückes bricht dieser Boden immer wieder auf und zeigt schwarze Risse-- eine Welt also, die als „gefährlich und abgründig“ 34 zu bewerten ist. Einen direkten Bezug auf das Gastland Chile lässt sich allerdings nur durch seinen Titel, 35 die südamerikanischen Musikcollagen und einen in Poncho und Strickmütze bekleideten Chilenen mit Panflöte ausmachen. Kritische Stimmen sprechen hier von naiv übernommenen Klischees, andere von der Großzügigkeit dieses ‚Welttheaters‘ in seiner Wahrnehmung der Welt und vom respektvollen Abstand zu anderen Kulturen und Bräuchen. Im Laufe der zwei Stunden und 40 Minuten, die die Vorstellung dauert, gibt es nur wenige tanzdramatische Szenen, die auf eine politische Dimension verweisen. Da ist zum einen die Eingangspassage: Eine Tänzerin, bekleidet mit einem weißen durchsichtigen Trägerkleid, kniet auf allen Vieren auf dem Boden, die langen schwarzen Haare bedecken das Gesicht. Scheinbar erstarrt in dieser Pose, wird sie von Männern hochgehoben, herumgetragen und an anderer Stelle wieder in genau derselben Pose abgesetzt. Je öfter sich diese Handlung wiederholt, desto lauter schreit sie, bis ein Mann ihr eine Stange bringt, über die sie ihre Arme legt und so, gefangen wie ein Tier, weiter im Kreis herumläuft. In einer anderen Szene sieht man eine immer länger werdende Reihe von Männern, die an der Bühnenrampe liegen, wobei jedem neu dazu gestoßenen Mitglied ein Mantel über den Kopf gezogen wird-- wie um einen Toten zuzudecken. Da das Stück ansonsten eher universelle Themen wie Narzissmus, Eitelkeit und Koketterie spielerisch abhandelt, bleiben solche Szenen, die die landesspezifischen Probleme mit „Folter, Verschleppung, oder Verscharrung anonymer toter Opfer der Diktatur Pinochets“ 36 erahnen lassen, zusammenhangs- und aussagelos. Eine Rezensentin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung fragt, worin nun der Wert eines solchen interkulturellen Theaters liege, und gibt ironisch zur Antwort: „Das Wuppertaler Tanztheater war in Chile und hat herausgefunden, dass dort einst Menschen verschwunden sind, gequält und ermordet wurden.“ 37 Sozialkritik, wie man sie von Bauschs Avantgardetheater kennt, scheint die Rezensentin 34 Jochen Schmid, „Hinreißend rätselhaft. Ein Ereignis des Tanz-Jahres: Pina Bauschs neues Stück in Wuppertal“, in: Die Welt, 15 . 06 . 2009 . 35 Der Titel geht auf das Lied Volver a los 17 der chilenischen Sängerin Violeta Parra aus den 1970 er Jahren zurück und handelt von der „Sehnsucht nach dem Unwiederbringlichen“ (Ibacache, „Was für Pina Bausch Chiles zerbrochene Liebe war“). 36 Wiebke Hüster, „Das wilde Aroma einer neuen Bewegungsfreiheit“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15 . 06 . 2009 . 37 Ebd. <?page no="107"?> Vom Avantgardetheater zum Welttheater 107 zu vermissen. Diese kritische Dimension ergibt sich im Avantgardetheater vor allem durch seine kontrastive Ästhetik. Diese ist hier allenfalls noch in dem weißschwarz gehaltenen Bühnenbild und den wenigen tanzdramatischen Szenen zu finden, welche die Menschenrechtsverletzungen Chiles andeuten und die in einem starken Kontrast zu dem „wilde[n] Aroma einer neuen Bewegungsfreiheit“, 38 dem Tanz, stehen. Fast ekstatisch wirken die Soli der jungen Ensemblemitglieder, die, obwohl sie alle einen eigenen Charakter haben, so doch durchweg Lebensfreude suggerieren, die besonders in den Gruppenszenen verstärkt zum Ausdruck kommt. Ein Tänzer verkündet sogar programmatisch: „You know I learned to enjoy the moment-- and you know I like it“. 39 Aber ist dieser Kontrast wirklich ertragreich, wenn „süße Nymphentänzchen“ 40 neben Folter platziert werden? Inklusionen des Fremden Die Inklusion des Fremden, d. h. die Einbindung von „Elementen verschiedener kultureller Herkunft“, 41 wird zunehmend zu einer wichtigen Komponente der künstlerischen Entwicklung von Bausch, die die Wende innerhalb ihres Werkes markiert. Gemeinhin gilt die Inklusion inzwischen gar als eine allgemeine künstlerische Tendenz, die unter Theaterwissenschaftlern und Kunsttheoretikern auch unter dem Aspekt des „social turn“ 42 verhandelt wird. Der Begriff verweist auf Entwicklungen des beginnenden 21 . Jahrhunderts, welche man mit dem französische Kunstkritiker Nicolas Bourriaud als ‚relational practice‘ 43 bezeichnen kann, womit er auf die zunehmende Vermischung von Kunst und sozialer Realität verweist: „Art is the place that produces a specific sociability.“ 44 Der amerikanische Konzeptkünstler Dan Graham spricht davon: „all artists are alike. They dream of doing something that’s more social, more collaborative, and more real than art“. 45 In diesem Sinn lässt sich in den Inklusionsbestrebungen des Welttheaters eine 38 Ebd. 39 Vgl. Meyer, Pina Bausch, S. 130 . 40 Hüster, „Das wilde Aroma einer neuen Bewegungsfreiheit“. 41 Nach Christine Regus zeichnet sich interkulturelles Theater dadurch aus, dass es sich „durch eine bewusste Vermischung von Elementen verschiedener kultureller Herkunft charakterisieren lässt und verschiedene Ästhetiken entwickeln kann.“ (Christina Regus, Interkulturelles Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Ästhetik-- Politik-- Postkolonialismus, Bielefeld 2009 , S. 12 ). 42 Claire Bishop, Artificial Hells. Participatory Art and the Politics of Spectatorship, London/ New York 2012 , S. 11 . 43 Nicolas Bourriaud, Relational Aesthetics, Dijon 2002 . 44 Claire Bishop, „Social Turn: Collaboration and its Discontents“, online: http: / / newsgrist. typepad.com/ files/ claire-bishop-the-social-turn-collaboration-and-its-discontents-in- 2006 artforum.pdf [ 30 . 04 . 2016 ]. 45 Dan Graham, zit. nach Bishop, Artificial Hells, S. 1 . <?page no="108"?> 108 Anna Seidl soziale Dimension ausmachen, die sich ansatzweise auch in dem Selbstverständnis Bauschs als Künstlerin widerspiegelt. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die Entwicklung des Avantgardetheaters von Bausch hin zum ‚Welttheater‘ verstehen, dessen sozialer Gestus weniger von Fremdheitserfahrungen zwischen den Kulturen gekennzeichnet ist, als vielmehr von der wachsenden Sehnsucht nach kollektiver Identität bei gleichzeitiger „Grenzachtung“: 46 Sie [die Koproduktionen, A. S.] stellen das Fremde nicht aus, sind also keine Völkerschau, Reiseführer oder Folklore, wie manche Kritiker behaupten und sich enttäuscht abwenden. Sie klagen nicht an (z. B. auch nicht Menschenrechtsverletzungen in den koproduzierenden Ländern), sie erheben sich nicht, sie beanspruchen nicht eine kulturelle Autorität. Die Übersetzungen des bei den Recherche-Reisen Wahrgenommenen münden zwar in manche Szenen, die auf die Alltagskultur der Städte und Länder aufmerksam machen-- wie z. B. Beerdigungsrituale in Palermo, Palermo, Massagerituale in einem türkischen Bad in Nefés oder Badeszenen in Aqua, der Co-Produktion mit Sao Paulo. Sie schlagen sich aber auch subtiler in den Choreographien selbst nieder: in den harten Schnitten bei Rough Cut, der Koproduktion mit Seoul, wo der Alltagsrhythmus der südkoreanischen Metropole in die szenische und musikalische Dramaturgie übersetzt ist. 47 Mit dieser Wende gewinnen auch die Produktionsbedingungen und Recherchearbeiten des Wuppertaler Tanztheaters zunehmend an Bedeutung: Die Tänzer sammelten Eindrücke, manchmal im Umherschweifen und zufälligen Entdecken, manchmal bei Veranstaltungen, die zuvor für sie organisiert worden waren.-[…] Einige Mitreisende hielten ihre Eindrücke in Fotos und Videos fest. Manche dieser Aufnahmen tauchen in den Programmheften wieder auf.- […] Damit geraten Aktivitäten, das Tun in den Blick: Praktiken des Aufwärmens, des Trainierens, des Improvisierens, des Recherchierens, des Notierens und Aufzeichnens, des Komponierens, des Choreographierens etc. 48 Die im Umfeld des Recherchetheaters unternommenen Aktivitäten lassen sich als artistic research bezeichnen. Der Begriff, der heute im Kontext des social turn verhandelt wird, verweist auf künstlerische Praktiken, die u. a. mittels Partizipation und Engagement alternative Zugänge zur Erkenntnisgewinnung und Wissensproduktion bieten. 49 Ursprünglich hat Bausch diese Arbeitsweise mit ihrem Avantgar- 46 Klein, „Praktiken des Übersetzens im Werk von Pina Bausch und dem Tanztheater Wuppertal“, S. 30 . 47 Ebd. 48 Ebd., S. 25 - 31 . 49 Vgl. Sibylle Peters (Hg.), Das Forschen aller. Artistic Research als Wissensproduktion zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft, Bielefeld 2014 . <?page no="109"?> Vom Avantgardetheater zum Welttheater 109 detheater entwickelt und nun für die Koproduktionen erweitert. 50 Gerade diesen Aspekt betont auch Wim Wenders in seiner Rede anlässlich der Trauerfeier zum Tod der Künstlerin: „Pina aber war eine Wissenschaftlerin, eine Forscherin, eine Pionierin der weißen Felder auf den Landkarten der menschlichen Seele.“ 51 Kulturspezifische Merkmale und Probleme werden von Bausch in ihrem Welttheater aber eher musikalisch, tänzerisch oder durch das Bühnenbild atmosphärisch reproduziert, als dass sie ihnen mit der typischen kontrastiven Ästhetik begegnen würde. Wenig verweist hierbei noch auf die verstörende Collagetechnik, auf absurde Bildwelten, fehlgeschlagene Kontaktversuche, Enttäuschungen und Verletzungen und letztlich auf das nicht erfüllte Bedürfnis nach Nähe und Liebe. 52 Heiner Müller hat die Kraft eines solchen Avantgardetheaters einst pointiert auf den Punkt gebracht: „Im Theater der Pina Bausch ist das Bild ein Dorn im Auge, die Körper schreiben einen Text, der sich der Publikation verweigert, dem Gefängnis der Bedeutungen.“ 53 Es ist nicht mehr der künstlerisch durch polyphone Kompositionen und Montage verfremdende Blick auf die vertraute Welt des Alltags, sondern die universell verständliche Sprache des Tanzes, die sich in Auseinandersetzung mit dem Fremden dieses vertraut zu machen versucht. Indem sich die Zielsetzung ändert, ändert sich auch die Ästhetik. Das Tanztheater der Koproduktionen ist im Laufe der Entwicklung immer glatter, bunter und zugänglicher geworden. Dabei treten die bekannten tanzdramatischen Elemente zugunsten des reinen Tanzes zunehmend in den Hintergrund. Auf dem Weg zu einer universellen Tanzsprache: „hier Folter, da Vögelchen“ 54 Im Gegensatz zum früheren Avantgardetheater versucht das spätere ‚Welttheater‘ mit einer global verständlichen Symbolsprache zu kommunizieren, die ihm internationale Präsenz und den Ruf einer erfolgsversprechenden Kulturvermittlung garantiert. Während die frühe Koproduktion Palermo/ Palermo noch den Grundsätzen des Avantgardetheaters unter Verwendung von Verfremdungseffekten, Ironisierung, Enthierarchisierung und Dekonstruktion treu bleibt und in der Begegnung mit der anderen Kultur eher die Möglichkeit sieht, das Fremde im Ei- 50 Für die Tanzwissenschaftlerin Gabriele Klein war Bausch eine der Ersten, die etwas realisierte, „für das es damals noch keinen Begriff und keinen Diskurs gab-[…]: artistic research“. (Klein, „Praktiken des Übersetzens im Werk von Pina Bausch“, S. 25 ). 51 Wim Wenders, „Für Pina am 4 . 9 . 09 “. Rede anlässlich der Trauerfeier für Pina Bausch im Opernhaus Wuppertal am 04 . 09 . 2009 , online: http: / / www.pina-bausch.de/ pina_bausch/ rede_fuer_pina_ 040909 .php [ 30 . 04 . 2016 ]. 52 Schmidt, „Erfahren, was Menschen bewegt“, S. 29 . 53 Heiner Müller, „Blut ist im Schuh oder Das Rätsel der Freiheit. Für Pina Bausch“, in: Theater 1981. Jahrbuch der Zeitschrift ‚Theater heute‘, Seelze 1981 , S. 34 - 35 , 35 . 54 Hüster, „Das wilde Aroma einer neuen Bewegungsfreiheit“. <?page no="110"?> 110 Anna Seidl genen zu suchen als das kulturell Fremde vertraut zu machen, kommt es im Laufe der Zeit vermehrt zu einer affirmativen Bild- und Zeichensprache, die sich an Stereotypen und Klischees anderer Kulturkreise bedient. So ist es nur logisch, dass der Tanz und die Musik im Laufe der Zeit prägnanter werden. Mit Unterstützung des Bühnenbilds und von Musikcollagen versucht Bausch die landespezifischen Atmosphären einzufangen und den Tanz zur gemeinsamen Sprache, zum Ausdrucksmedium einer geteilten Sinnes- und Lebensfreude zu erklären. 55 Dies bekundet die inzwischen zum Medienstar aufgestiegene Choreografin in zahlreichen Selbstäußerungen, in denen sie auf das humanistische Ideal verweist, nach dem sich alle Menschen in ihren Gefühlen gleichen und Gefühle deshalb nicht übersetzt werden müssen. 56 Besonderen Nachdruck verleiht sie dieser Idee vom Tanz als Weltprinzip bei einer Rede im Rahmen des ihr verliehenen Kyoto-Preises ( 2007 ). Der bezeichnende Titel des Vortrags heißt Etwas finden, was keiner Frage bedarf, und er beginnt mit folgender (und inzwischen häufig zitierter) Anekdote: In Griechenland war ich einmal bei einigen Zigeunerfamilien. Wir saßen zusammen und haben uns unterhalten, und irgendwann fingen sie an zu tanzen, und ich sollte mitmachen. Ich hatte große Hemmungen und das Gefühl, ich kann das nicht. Da kam ein kleines Mädchen zu mir, vielleicht zwölf Jahre alt, und hat mich wieder und wieder aufgefordert mitzutanzen. Sie sagte: „Dance, dance, otherwise we are lost.“ Tanz, tanz, sonst sind wir verloren. Diese ‚universelle KörperTanzSprache‘ von Bausch wird heute im Kontext der Globalisierung positiv aufgewertet. Hierzu meint der langjährige Bausch-Publizist Norbert Servos: Für kaum ein anderes Ensemble hat das Reisen durch fremde Kulturen eine ähnlich große Bedeutung wie für das Tanztheater Wuppertal.-[…] Und stets entdeckt sich, daß das Repertoire der Grundgefühle bei aller kulturellen Verschiedenheit eine Gemeinschaft schafft, in der man sich treffen kann. 57 Wenn sich im Tanz, wie es hier angedeutet wird, Gegensätze auflösen lassen, dann fragt man sich, ob der Tanz dann überhaupt einen interkulturellen Vermittlungswert hat. Stößt ein Welttheater damit nicht an seine eigenen Grenzen? Soll Interkulturalität hierin ausgestellt oder gerade überwunden werden? Obwohl Tanz als Verständigungsform in den letzten Jahren gerade dadurch an Popularität gewon- 55 Die Bewegung muss dabei nicht mehr wie früher erst durch eine innere Notwendigkeit schwer erkämpft werden. Vgl. Meyer, Pina Bausch, S. 108 . 56 Vgl. Eva-Elisabeth Fischer, „Rattenschwanz der Missverständnisse“, in: Süddeutsche Zeitung, 17 . 06 . 2013 . 57 Servos, Pina Bausch, S. 177 . <?page no="111"?> Vom Avantgardetheater zum Welttheater 111 nen hat, dass er zum „kulturellen Kitt der United Colors of Benetton“ 58 avanciert ist und sich mit ihm als Welterklärung und Weltversöhnung kokettieren lässt, drängt sich die prinzipielle Frage auf, ob „der Tanz einer anderen Kultur also keine Fremdsprache“ 59 ist? Die Idee von einer „universellen Lesbarkeit und Verstehbarkeit von Körperbewegungen und Gesten“ ist indes, wie die Tanzwissenschaftlerin Gabriele Brandstetter meint, illusorisch: Die Tendenz, den Tanz zu einer Universalsprache zu erklären, ist alt, und sie erscheint in neuen Auflagen und mit philosophischen und anthropologischen Begründungen vom 18. Jahrhundert bis heute immer wieder. Doch schon die Aufführung eines traditionellen japanischen Nô-Tanzes vor europäischem Publikum dürfte deutlich machen, dass die Idee von einer universellen Lesbarkeit und Verstehbarkeit von Körperbewegungen und Gesten eine Illusion ist. Nicht die vereinnahmende Übertragung von Wahrnehmungsmustern der eigenen Tanzkultur, sondern die Erfahrung von Differenz ist die Herausforderung und zugleich die Bereicherung einer solchen Begegnung mit einer anderen Tanzkultur. Tanz, in seiner Vielfalt, verkörpert das Wissen einer Kultur in spezifischer Weise: nonverbal, als Körperbewegung, die Raum und Zeit gestaltet-- künstlerisch oder sakral, rituell oder als sportliches Spiel, solistisch oder kollektiv. Gerade in den Übertragungsprozessen zwischen Kulturen verändern sich Tanzformen, indem sie praktisch und buchstäblich über Grenzen gehen. 60 Vor diesem Hintergrund ist das ‚Welttheater‘ von Bausch von einem Paradox bestimmt. Es zeigt Grenzen auf-- Bausch spricht von Grenzachtung-- und hebt die Grenzen in der Suche nach einer universalen Tanzsprache gleichzeitig wieder auf. Im Kontext des social turn und seiner Prinzipien der Partizipation und des Engagements erscheint dieses Welttheater jedoch logisch. Verständlich ist auch die internationale Anerkennung, bei der vor allem die Geste der Annäherung und der im Vorfeld der Koproduktionen geleistete interkulturelle Austausch gewürdigt werden. Bei der künstlerischen Umsetzung dieses interkulturellen Austauschs scheint Bausch allerdings nicht mehr dieselben Risiken einzugehen, wie einst mit ihrem Avantgardeprojekt. Das Welttheater von Bausch verliert dadurch einen Teil seines eminent kritischen Impulses. Sollte der Titel des letzten Stückes von Bausch …-Como el musguito en la piedra, ay si, si, si… mit seinen aussagestarken drei Punkten am Anfang und Ende wirklich eine Wiederholung der Aufforderung ihres Kyoto-Vortrags sein-- „Tanz, tanz, sonst sind wir verloren“-- und damit der 58 Vgl. Georg Diez, „Die Kunst, gesehen zu werden“, in: Der Spiegel, 19 . 04 . 2014 , S. 122 - 123 , 123 . 59 Gabriele Brandstetter, „Nomadischer Tanz. Bewegung zwischen den Kulturen“, in: Das Magazin der Kulturstiftung des Bundes 2009 , 14 , S. 24 - 25 , 24 . 60 Ebd. <?page no="112"?> 112 Anna Seidl Hoffnung Ausdruck verleihen, dass Chile so „aus der Trostlosigkeit und Dürre“ 61 herauswachsen könne? Zusammenfassend lässt sich in der künstlerischen Entwicklung von Bausch ein deutlicher Einschnitt im Werk erkennen. Während es bei ihrem Avantgardetheater um die Auseinandersetzung mit der Alltagswelt geht, für die sie eine ästhetische Sprache der Verfremdung gefunden hat, geht es im ‚Welttheater‘, das im Kontext der Koproduktionen entstanden ist, gerade um Annäherung und die Integration des kulturell Fremden in die eigene vertraute Welt. In dem Maße, in dem sich die Zielsetzung ändert, stößt auch die Ästhetik des Avantgardetheaters an seine Grenzen und weicht auf die Universalität der Tanzsprache aus, sodass hier weniger ein kritischer als affirmativer Impuls entsteht. Was bleibt, ist nun noch die Frage nach dem weiteren Werdegang der Kompanie und danach, welche Tendenzen sich künftig durchsetzen werden. „Wenn das Tanztheater auf lange Sicht um eine Schließung herumkommen will, muss es sich“, so heißt es kürzlich in einer Bestandsaufnahme zum fünften Todestag der Choreografin, „eine maximale Herausforderung, einen Kurswechsel zumuten. Alles andere wäre eine postume Blamage-- für seine Gründerin und Erfinderin. Für Pina Bausch.“ 62 61 Ibacache, „Was für Pina Bausch Chiles zerbrochene Liebe war“. 62 Dorion Weickmann, „Lähmende Ehrfurcht“, in: Die Zeit, 05 . 10 . 2014 . <?page no="113"?> Schlingensief, das Operndorf und Afrika 113 Schlingensief, das Operndorf und Afrika Inszenierungen eines komplexen Verhältnisses Natalie Bloch (Luxemburg) Das Operndorf-- Soziales Projekt oder abgedrehte Künstlerphantasie? Kaum ein Künstler der Gegenwart hat derart gründlich mit einem medialen crossover die Klaviatur der performativen Künste bespielt wie Christoph Schlingensief. In seinen Grenzgängen zwischen Film, Theater, Performances, Installationen und politischen Aktionen stand er häufig als Akteur, Einpeitscher und Kommentator selbst mitten in dem von ihm initiierten Geschehen, das wiederum verschiedene Medien und Künste interagieren ließ, Realität und Medien untrennbar verwob. Kurz vor seinem Tod im Jahre 2010 rief Schlingensief jedoch ein Projekt ins Leben, das sich auf den ersten Blick nicht in seine Arbeit einfügt und das dementsprechend in der bereits umfassenden Sekundärliteratur zu seinem Werk bislang wenig berücksichtigt wurde: 1 das sogenannte „Operndorf “ in Burkina Faso. 2009 gründete Christoph Schlingensief eine Festspielhaus Afrika gemeinnützige GmbH, die zum Ziel hatte, „unter Einbezug künstlerischer und wissenschaftlicher Mittel den Austausch zwischen Europa und Afrika zu verstärken, der mit dem Bau eines Operndorfes in Burkina Faso Gestalt findet“. 2 Im Frühjahr 2010 legte Schlingensief in der Savanne von Burkina Faso, 30 km nordöstlich der Hauptstadt Ouagadougou, den Grundstein für sein letztes und größtes Projekt. Hier sollte ein „schneckenförmiges Festspielhaus bzw. eine afrikanische Oper als Herz und Knotenpunkt inmitten eines sich organisch umschließenden Dorfes“ entstehen. 3 Auch wenn Schlingensief ein halbes Jahr später seinem Krebsleiden erlag, lebt und wächst das Operndorf-- geleitet von Schlingensiefs Witwe, der Kostümbildnerin Aino Laberenz-- jedoch stetig. 4 1 Die wenigen Veröffentlichungen zum Operndorf nehmen es eher aus sozialwissenschaftlicher Perspektive in den Blick. Vgl. z. B. Jan Endrik Niermann, Schlingensief und das Operndorf Afrika. Analysen der Alterität, Heidelberg 2013 . 2 Online: http: / / www.operndorf-afrika.com [ 30 . 04 . 2016 ]. 3 Niermann, Schlingensief und das Operndorf Afrika, S. 8 . 4 Laberenz ist nun die Geschäftsführerin der 2012 ins Leben gerufenen „Stiftung Operndorf Afrika“. Unermüdlich ruft sie zu Spendenaktionen auf, veranstaltet Kunstauktionen und <?page no="114"?> 114 Natalie Bloch Wie man dem ausführlichen Internetauftritt „Operndorf Afrika“ 5 entnehmen kann, gliedert sich das Operndorf-Vorhaben in drei Bau-Etappen: In der ersten, bereits abgeschlossenen Phase wurde zunächst eine Schule für inzwischen 300 Kinder aus der Region realisiert-- an der neben allgemeinbildenden Themen ein Schwerpunkt auf dem künstlerischen Unterricht liegt-- mit Mensa, Lehrerwohnhäusern, Sportplatz, Werkstätten, Verwaltung, einem Kino und einem Tonstudio. Seit Mitte 2014 ist auch die im April 2012 begonnene zweite Bauphase abgeschlossen: Die Krankenstation bietet 5000 Menschen medizinische Erstversorgung, sie beinhaltet zudem eine Geburts- und eine zahnmedizinische Station. In der geplanten dritten Phase sollte das sogenannte ‚Herzstück‘ des Projektes realisiert werden, das multifunktionale Festspielhaus im Zentrum des Dorfes, dessen zentrale Lage (in unmittelbarer Nähe zu Schule und Siedlungen) laut der Operndorf-Webseite „für die direkte Anbindung des kulturellen Lebens an das alltägliche Leben stehen soll“. 6 Dass das Epizentrum von Schlingensiefs künstlerischer Vision, das Festspielhaus, inzwischen einen anderen, weniger zentralen Stellenwert bekommen hat, belegt nicht nur seine Verschiebung in die dritte Bauphase; in einer aktuellen Mitteilung der Initiatoren heißt es auch, es solle inzwischen eher eine Bühne statt ein Festspielhaus werden: „Wir versuchen im Operndorf, die Kunst nicht an ein Gebäude zu binden“. 7 Auch wenn die Kunst eine zentrale Rolle im Dorfleben spielt und inzwischen namhafte Künstler Zeichenkurse und Fotoworkshops für Kinder abhalten, Ausstellungen, Musikfestivals und Tanz- und Theatervorstellungen im Dorf stattfinden, scheint es sich doch-- so Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung-- in erster Linie um ein „hochanständiges Entwicklungshilfeprojekt“ 8 zu handeln. Die im Operndorf Beschäftigten sind ausschließlich Menschen aus der Region, 100 einheimische Bauarbeiter, Ärztinnen, Apothekerinnen und Krankenschwestern werden-- anders Benefizveranstaltungen, welche „die Förderung von Kunst und Kultur sowie einen Völkerverständigungsgedanken im Sinne des Werkes von Christoph Schlingensief zum Ziel haben“ (online: http: / / www.operndorf-afrika.com [ 30 . 04 . 16 ]). Schirmherr des Projektes ist Horst Köhler, Bundespräsident a. D.; zudem gab und gibt es zahlreiche berühmte Unterstützer aus der internationalen Kunstwelt und Literaturszene, wie den inzwischen verstorbenen Henning Mankell, Julia Stoschek, Tom Tykwer, Chris Dercon, Christian Boros, Mahamoudou Nacanabo, Jenny Kirchhoff und Francis Kéré. 5 Online: http: / / www.operndorf-afrika.com [ 30 . 04 . 2016 ]. 6 Online: http: / / www.operndorf-afrika.com/ index.php/ das-projekt/ articles/ das-zukunftsre servoir.html [ 30 . 04 . 2016 ]. 7 Nada Weigelt, „Schlingensiefs Operndorf wächst“, in: Mittelbayerische, 03 . 06 . 2014 , online: http: / / www.mittelbayerische.de/ kultur-nachrichten/ schlingensiefs-operndorf-waechst- 21853 -art 1072943 .html [ 30 . 04 . 2016 ]. 8 Till Briegleb, „Halleluja der Ambivalenz“, in: SZ.de, 07 . 06 . 2012 , online: http: / / www.sued deutsche.de/ kultur/ schlingensiefs-operndorf-in-burkina-faso-halleluja-der-ambivalenz- 1 . 1375354 [ 30 . 04 . 2016 ]. <?page no="115"?> Schlingensief, das Operndorf und Afrika 115 als normalerweise in Hilfsprojekten-- von der heimischen Regierung gestellt und bezahlt. Autonomie statt Abhängigkeit ist auch bei der Besetzung der administrativen und künstlerischen Leitungspositionen mit einem einheimischen Team entscheidend; architektonische Gesamtkonzeption, Entwurf und Durchführung oblagen, in enger Zusammenarbeit mit Schlingensief, dem in Burkina Faso aufgewachsenen preisgekrönten Architekten Francis Kére. 9 In Anbetracht dieser Entwicklungen gerät jedoch aus dem Blick, dass sich Schlingensief von einem sozialen Projekt zeitlebens rigoros distanziert hat und dass das Operndorf einer schillernden Künstlerphantasie entsprungen ist, die Assoziationen zu dem exzentrischen Fitzcarraldo Kinskis in der Verfilmung von Werner Herzog weckt, der eine Oper im südamerikanischen Dschungel bauen wollte. Die ursprüngliche Idee des Operndorfes wird in den Medien vier Jahre nach Schlingensiefs Tod jedoch nurmehr als provokative Entgleisung eines gewieften Künstlers gesehen, der die nötige Aufmerksamkeit für ein soziales Projekt organisieren wollte. 10 Auch Schlingensief schien sich kurz vor seinem Tod- - in Anbetracht der afrikanischen Realität und der ihm noch verbleibenden Zeit-- von seinen anfänglichen Ideen mehr und mehr zu distanzieren: Was heißt hier Oper? Der Ort, das Dorf, das wir bauen wollen, ist nicht dazu da, damit hier später Arien gesungen werden oder Symphonieorchester spielen. Meine Vorstellung vom Operndorf ist immer mit der Hoffnung verbunden, dass wir gemeinsam, mit dem Einsatz und dem Geld vieler, diesen Organismus schaffen, der ein Eigenleben entwickelt, durch uns und vor allem durch die Menschen, die dort sind. 11 Dass in der Fülle der Sekundärliteratur zu Schlingensiefs Werk kaum auf das Operndorf eingegangen wird, scheint darin begründet zu sein, dass das Operndorf entweder in Kontinuität oder Diskontinuität zu Entwicklungshilfe und Kulturimperialismus gesehen wird, wie auch Niermann feststellt. 12 Dabei wird allerdings vergessen, dass Afrika als Sehnsuchtsort und Inspirationsquelle einen kontinu- 9 Francis Kéré hat nicht nur alle Materialien ökologisch nachhaltig für den Bau vor Ort herstellen lassen (wobei Lehm als Hauptbestandteil eingesetzt wurde), sondern er hat auch ein außergewöhnliches natürliches Kühlkonzept für Gebäude entwickelt. 10 „Zwischen Schlingensiefs schillernder Phantasie vom grünen Hügel im Armenhaus der Welt und der afrikanischen Realität schliff sich das Projekt in eine neue Form. Die mag im Verhältnis zu Schlingensiefs Kunst wie Sozialarbeit wirken- […]. [E]in Ort entwickelte [sich], der immer weniger Anti-Bayreuth und immer mehr konkrete Hilfe wurde.“ Briegleb, „Halleluja der Ambivalenz“. 11 Christoph Schlingensief, „Unsere Oper ist ein Dorf “, zusammengestellt aus Reden, Interviews und persönlichen Gesprächen anlässlich der Grundsteinlegung zum Operndorf am 8 . 2 . 2010 , online: http: / / www.operndorf-afrika.com/ index.php/ das-projekt/ articles/ unsereoper-ist-ein-dorf.html [ 30 . 04 . 2016 ]. 12 Niermann, Schlingensief und das Operndorf Afrika, S. 10 . <?page no="116"?> 116 Natalie Bloch ierlichen Bezugspunkt in Schlingensiefs Schaffen bildete; im Operndorf wollte er zentrale Aspekte seiner Arbeit zusammenführen: Die Wiederbelebung der ‚toten‘ europäischen Hochkultur, der Oper, durch die afrikanische Kultur schwebte ihm dabei ebenso vor wie die alle seine Arbeiten kennzeichnende Vereinigung von Kunst und Leben in Form einer ‚sozialen Skulptur‘ im Sinne Joseph Beuys. 13 In diesem Beitrag soll der Versuch einer ästhetischen Verortung des-- den europäischen Kulturkreis verlassenden-- Operndorf-Projektes unternommen werden. Ethnologische und interkulturelle Ansätze, wie die Frage nach der Repräsentation und Interpretation der ‚Anderen‘ bzw. ‚Fremden‘ 14 werden hierbei ebenso relevant wie die nach der damit einhergehenden Inszenierung des ‚Eigenen‘. 15 Vor dem Hintergrund von Schlingensiefs ästhetischem Programm sollen daher im Folgenden seine vielfältigen Äußerungen und Inszenierungen zum Operndorf und zu Afrika ebenso untersucht werden wie die Traditionslinien, in welche diese sich einschreiben. Primitivismus und interkulturelles Theater im 20. Jahrhundert In einem Interview macht Schlingensief deutlich, dass ihn nicht die Hoffnung auf einen gleichberechtigten kulturellen Austausch zwischen Afrika und Europa zum Bau des Operndorfes antreibe, ihm keine ‚Begegnung auf Augenhöhe‘ vorschwebe, sondern dass es ihm um einen kulturellen Gewinn für die westliche Welt gehe: „Denn darum geht es doch: dass wir unsere Begriffe von Kultur, Kunst, Oper usw. neu aufladen. Unsere Batterien sind da ziemlich leer.“ 16 Schlingensiefs künstlerische Faszination für Afrika, die Hoffnung auf neue Impulse durch ein afrikanisches Operndorf und seine mehrfach getätigte Aussage, er wolle von Afrika „lernen“ bzw. „klauen“, 17 verweisen auf eine Avantgardebewegung in der bildenden Kunst 13 Vgl. hierzu sowohl die Webseite des Operndorfes als auch den dokumentarischen Filmausschnitt bei Youtube (online: http: / / www.youtube.com/ watch? v=- 7 io_ 8 gQAVU [ 30 . 04 . 2016 ]). 14 Diese Fragen werden von Christine Regus ebenfalls als zentral für das interkulturelle Theater bestimmt (vgl. Christine Regus, Interkulturelles Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Ästhetik-- Politik-- Postkolonialismus, Bielefeld 2009 , S. 30 ), während Karl Heinz Kohl die Ethnologie als Wissenschaft definiert, die sich der Beschäftigung mit dem kulturell Fremden verschrieben hat (vgl. Karl-Heinz Kohl, Ethnologie-- die Wissenschaft vom kulturell Fremden. Eine Einführung, 3 ., akt. u. erw. Aufl., München 2012 ). 15 Wie Balme betont, sind Fremdheitsdarstellungen „Bestandteil einer reziproken Beziehung“, die weit über die kulturelle Andersartigkeit hinausweist. Somit sind sie immer auch eine Darstellung des Eigenen, die sowohl ganze Nationen wie auch einzelne Subjekte für ihre Selbstvergewisserung benötigen. Christopher Balme , „Einleitung“, in: ders. (Hg.), Das Theater der Anderen. Alterität und Theater zwischen Antike und Gegenwart, Tübingen, Basel 2001 , S. 7 - 19 , 7 . Siehe auch Kohl, Ethnologie-- die Wissenschaft vom kulturell Fremden, S. 8 . 16 Schlingensief, „Unsere Oper ist ein Dorf “. 17 Vgl. ebd., S. 14 . <?page no="117"?> Schlingensief, das Operndorf und Afrika 117 in den 1930 er Jahren, die häufig als Primitivismus bezeichnet wird und die mit der „Entdeckung und Ausstellung afrikanischer und indianischer Kunst als Kunst einher[geht], die damit den Charakter ethnographischer Artefakte verliert“. 18 Die Rezeption der Artefakte der afrikanischen Künstler-- und die damit verbundene „Aneignung von Maltechniken, Koloristik, Formen, Mustern, Materialien, Sujets und Motiven“ 19 -- läutete bei vielen westlichen Künstlern die Moderne ein, wurde zur Initialzündung für Kubismus und Surrealismus. Erinnert sei hier an die Werke von Pablo Picasso, Alberto Giacometti, Max Ernst und Jackson Pollock. 20 Diesen Künstlern ging es jedoch nicht nur um die Weiterentwicklungen ihrer Formensprache, sie rangen auch um ein anderes Rezeptionsmodell. Sie wollten die distanzierte, kontemplative Perspektive des europäischen Betrachters brechen und diesen aus der Fassung bringen, involvieren und beunruhigen. Die Intensität abstrahlenden Artefakte der als ‚primitiv‘ deklarierten Künstler schienen genau dies zu bewirken. 21 Den Einfluss der ‚primitiven‘, oft namenlosen Künstler auf die großen Meister versuchte man allerdings stets zu verschleiern, eine direkte Bedeutung der primitiven Kunst für die Stars der Kunstszene, gar eine Nachahmung, mussten ausgeschlossen werden. Sammler, Publizisten und Kunsthistoriker sprechen höchstens von Verwandtschaft, meist aber von zufälliger Ähnlichkeit. Ähnlich gewichtige ästhetische Umwälzungen durch ‚fremde‘ Kulturkontakte sind zu Beginn des 20 . Jahrhunderts auch im europäischen Theater zu beobachten. Der im Zusammenhang mit dem Kolonialismus stehende, bis in die 1980 er Jahre erfolgende unbekümmerte Zugriff der europäischen und amerikanischen Theateravantgardisten auf ‚indigene‘ und ‚primitive‘ Theatertraditionen, also auf die Riten und Praktiken ‚fremder‘, möglichst ‚exotischer‘ Kulturen, hatte zum Ziel, das westliche Sprechtheater zu retheatralisieren, das ihnen zu verkopft, moralinsauer und dialoglastig erschien. Antonin Artaud hat sich bspw. für die theatertheoretischen Schriften seines Theaters der Grausamkeit von den Riten der Tarahumara- Indianer und dem Balinesischen Theater inspirieren lassen, und in Richard Schechners Performance Theory besitzen rituelle Praktiken präkolumbianischer Prägung eine zentrale Bedeutung. Doch auch wenn zahlreichen Theatermachern die Anleihen aus ‚indigenen‘ Kulturen zu internationalem Ruhm verhalfen, reflektierten sie die kolonialgeschichtlichen Implikationen ihrer Theaterarbeit, -konzepte und -theorien kaum. Völkerverständigung und gleichberechtigter Austausch waren nicht das primäre Ziel dieser interkulturellen Transfers und Rezeptionen; ebenso 18 Därmann, Iris, „Primitivismus in den Bildtheorien des 20 . Jahrhunderts“, in: Nicola Gess (Hg.), Literarischer Primitivismus, Berlin 2012 , S. 75 - 92 , 76 - 77 . 19 Därmann, „Primitivismus in den Bildtheorien des 20 . Jahrhunderts“, S. 76 . 20 Aneignung und Nachahmung dieser Kunst wurden durch die Namenlosigkeit der Künstler und ihren Status als ‚Primitive‘ ermöglicht. 21 Vgl. Därmann, „Primitivismus in den Bildtheorien des 20 . Jahrhunderts“, S. 78 - 79 . <?page no="118"?> 118 Natalie Bloch wenig war ein genuines Interesse am ‚Anderen‘ bzw. an der ‚fremden‘ Kultur bestimmend. Vielmehr ging es darum, mit ihrer Hilfe die jeweils virulenten Probleme im eigenen Theater zu lösen, indem „neue Theaterästhetiken“ 22 bzw. ein „neue[r] theatralische[r] Code“ 23 entwickelt werden sollte. Schlingensiefs Selbstinszenierung als ‚Kulturklauer‘ Auch Schlingensiefs Faszination für Afrika, für Riten unterschiedlichen kulturellen Ursprungs und für die Erprobung neuer Formen der ästhetischen Inklusion des Rezipienten schreibt sich in diese auf ästhetische Erneuerung ausgerichteten, jedoch auf kolonialistischer Eroberung basierenden Avantgardebewegungen ein. Doch während der immense Einfluss auf die Werke der europäischen bildenden Künstler ebenso wie das sich selbstverständliche ‚Bedienen‘ an Elementen aus anderen Theatertraditionen stets herabgespielt wurde, hebt Schlingensief den Aspekt des Sich-Aneignens, des ‚Klauens‘ immer wieder hervor 24 und verknüpft so kulturelle Kontakte bzw. vermeintlich kulturellen Austausch mit globalen Machtverhältnissen. Schlingensief schließt damit an die Position des indischen Regisseurs und Autors Rustom Bharucha an, der die Möglichkeit eines gleichberechtigten interkulturellen Theaters in Frage stellt. Bharucha sieht in dem entkontextualisierenden Zugriff auf Elemente, Zeichen und Traditionen aus anderen Kulturen bereits eine Form von mehr oder weniger subtiler Ausbeutung, auch weil diese in eurozentrische Strukturen übertragen werden, um sie für ein internationales Publikum oder den globalen Theatermarkt konsumierbar zu machen, während die Kulturen, bei denen geborgt, gestohlen, getauscht werde, dadurch nicht unbedingt eine Bereicherung erführen. 25 Indem Schlingensief explizit seine Intention benennt-- nämlich durch den Bau des Operndorfs ‚klauen‘ zu wollen--, negiert er die Möglichkeit eines interesselosen interkulturellen Austausches ebenso wie die einer selbstlosen Entwicklungshilfe. Doch auch wenn diese Selbstinszenierung als ‚Kulturklauer‘, der nicht altruistisch, sondern höchst egoistisch handelt, die Machtverhältnisse zur Schau stellt und sie scheinbar affirmiert, können dem Operndorf-Projekt kulturell ausbeutende oder neokoloniale Strukturen kaum attestiert werden, vornehmlich deshalb, weil es komplett im eigenen Land belassen wird und bislang fast ausschließlich afri- 22 Regus, Interkulturelles Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts, S. 9 . 23 Erika Fischer-Lichte, „Vermittlung des Fremden oder produktive Rezeption? Zur Theorie der interkulturellen Inszenierung“, in: Eijirô Iwasaki (Hg.), Begegnung mit dem ,Fremden‘. Grenzen- - Traditionen- - Vergleiche. Akten des VIII. Kongresses der Internationalen Vereinigung für Germanische Sprach- und Literaturwissenschaft (IVG), Tokio, München 1991 , Bd. 2 , S. 215 - 226 , 221 . 24 So auch in dem Dokumentarfilm von Sibylle Dahrendorf, Das Knistern der Zeit-- Christoph Schlingensief und sein Operndorf in Burkina Faso, Deutschland 2012 . 25 Vgl. Regus, Interkulturelles Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts, S. 61 u. 66 . <?page no="119"?> Schlingensief, das Operndorf und Afrika 119 kanische Künstler und Akteure durch das Projekt unterstützt werden. Dementsprechend steht nicht der Aspekt des Kulturtransfers im Vordergrund, sondern das gemeinschaftliche Kunstwerk, die ‚Soziale Skulptur‘, die alle Dorfbewohner mitgestalten sollen, im Sinne eines erweiterten, demokratischen Kunstbegriffs, den Schlingensief zeitlebens vertrat. Wie Beuys wollte er das Verständnis von Kunst zu einem anthropologischen Verständnis erweitern, es sollte nicht nur die Techniken und Disziplinen wie Malerei, Skulptur und Grafik, Theater und Film umfassen, sondern sämtliche kreative Tätigkeiten des Menschen einschließen, die gesellschaftsverändernd wirken: 26 Unsere Oper ist ein Dorf, ein sozialer Klangkörper, eine Soziale Plastik. In diesem Dorf ist das Leben die Kunst. Wenn wir also Geld sammeln, um in Afrika ein Operndorf als Kraftzentrum zu bauen, dann sammeln wir das Geld nicht für die Leute dort. Wir sammeln das für uns. 27 Auch hier insistiert Schlingensief auf dem künstlerischen Mehrwert seines Vorhabens, möglicherweise tut er dies, damit der Eindruck erst gar nicht entsteht, es könnte sich um ein soziales Projekt handeln-- denn diese Annahme wäre zu Lebzeiten Schlingensiefs in der Tat falsch gewesen. Das Scheitern des erweiterten Kunstbegriffs am Leben Die Idee des Operndorfes scheint eine logische Konsequenz der künstlerischen Ansätze und Schwerpunkte, die Christoph Schlingensiefs Werk prägen. Insbesondere die Oper übte eine Anziehungskraft auf ihn aus, auch weil sie, in ihrer Vereinigung von Musik, Chor, Schauspiel und Tanz, seiner intermedialen Arbeitsweise am nächsten kam. 28 Die afrikanische Oper auf dem roten Hügel in der Savanne Burkina Fasos sollte sich jedoch der Oper auf dem grünen Hügel in Bayreuth widersetzen, deren Lebensfremdheit und Hermetik überwinden und zum Synonym für die Gesamtheit von Künsten und Leben werden, der Gegensätze, die nicht synthetisiert, sondern miteinander konfrontiert werden. Das beabsichtigte Ineinandergreifen von Kunst und Leben im Operndorf bezeichnet Schlingensief bei der Grundsteinlegung als „Gesamtkunstwerk“-- ein Begriff, der in Hinblick auf sein Schaffen allerdings mit Vorsicht zu verwenden ist, auch wenn seine Arbeiten in Presse und Sekundärliteratur häufig als Gesamtkunstwerke deklariert werden und er selber zum „Gesamtkünstler“ erklärt wird. 29 26 Vgl. Klaus Honnef, Kunst der Gegenwart, Köln 1992 , S. 42 . 27 Schlingensief, „Unsere Oper ist ein Dorf “. 28 Seit der Jahrtausendwende realisierte er mehr als zehn Opern, darunter auch seinen viel diskutierten „Parsifal“ im Jahre 2004 bei den Bayreuther Festspielen. 29 So auch der Titel einer umfassenden Darstellung seiner Arbeiten: Pia Janke, Teresa Kovacs (Hgg.), Der Gesamtkünstler: Christoph Schlingensief, Wien 2011 . <?page no="120"?> 120 Natalie Bloch Denn der Begriff des Gesamtkunstwerkes und die damit verbundenen Assoziationen zu Wagner und seinem Totalitätsbegriff sind problematisch, wie Schößler und Diederichsen 30 betonen. Statt sich in einer Einheit zu versöhnen, bleiben die einzelnen Teile dissonant nebeneinander stehen, gibt es Ton- und Bildstörungen, Brüche, Krawall und „Verfehlungen“. 31 Schößler schlägt daher den Begriff der „Widerspruchsinszenierung“ vor, 32 Diederichsen den des „negative[n] Gesamtkunstwerk[s]“, der „gleichwohl ein Arbeitsfeld für zeitgenössische Kunst zwingend vorgibt: die Auseinandersetzung mit dem Verlust ihrer gesellschaftlichen Versprechen“. 33 Das Operndorf und seine anvisierte Vielfalt gegensätzlicher Kunstformen schien die Trennung von Leben und Kunst aufheben zu können. Die allmähliche Entwicklung des Operndorfes zu einem „Realweltprojekt“ führte jedoch „auf seltsame Weise schön und poetisch gerecht- […] ausnahmsweise auf der Ebene des Lebens“ 34 das Scheitern einer Einheit von Kunst und Leben vor- - denn obwohl die Kunst in Schule und Unterricht des Operndorfes eine große Rolle spielt, ist es nicht die, die Schlingensief ihr zugedacht hatte, was sich auch darin zeigt, dass man sich (laut Webseite) von dem künstlerischen Herzstück des Ganzen, dem Bau des Festspielhauses, inzwischen verabschiedet hat. Schlingensiefs Afrika-Imaginationen Schlingensiefs Faszination für Afrika- - Diederichsen spricht etwas ironisch von seinem „mythisch angebeteten Afrika“ 35 - -, die sich in zahlreichen seiner Inszenierungen zeigt, 36 entspringt der Sehnsucht nach einem anderen kulturellen Raum jenseits der westlichen Welt. Geht man davon aus, dass das ‚Fremde‘ bzw. ‚Andere‘ erst in Abgrenzungsprozessen vom ‚Eigenen‘ diskursiv bestimmt wird, ist zu fragen, wie Schlingensief ‚sein‘ Afrika sowohl diskursiv wie auch ästhetisch imaginiert. Folgende Äußerung Schlingensiefs, die sich durch ähnliche Aussagen von ihm ergänzen ließe, kann hier exemplarisch angeführt werden: 30 Vgl. Teresa Kovacs, „Christoph Schlingensief- - Ein Gesamtkünstler? Gespräch mit Claus Philipp, Christian Reder, Franziska Schößler, moderiert von Teresa Kovacs“, in: Janke, Kovacs, Der Gesamtkünstler: Christoph Schlingensief, S. 135 - 150 , 135 , und Diedrich Diederichsen, „Diskursverknappungsbekämpfung und negatives Gesamtkunstwerk: Christoph Schlingensief und seine Musik“, in: Janke, Kovacs, Der Gesamtkünstler, S. 60 - 75 , 66 . Diese Versöhnung zwischen den Künsten und der Nichtkunst hat man laut Diederichsen (ebd., S. 66 - 67 ) aus gutem Grund als bürgerliche Illusion ad acta gelegt. 31 Diederichsen, „Diskursverknappungsbekämpfung und negatives Gesamtkunstwerk“, S. 61 . 32 Vgl. Kovacs, „Christoph Schlingensief-- Ein Gesamtkünstler? “, S. 137 . 33 Diederichsen, „Diskursverknappungsbekämpfung und negatives Gesamtkunstwerk“, S. 67 . 34 Ebd., S. 68 . 35 Ebd., S. 67 . 36 So spielt bspw. der zweite Akt seiner „Parsifal“-Inszenierung in Afrika und die Darsteller seiner letzten Oper Via Intolleranza II stammen aus Burkina Faso. <?page no="121"?> Schlingensief, das Operndorf und Afrika 121 Seit 1993 bin ich immer wieder in Afrika gewesen. Ich habe hier Einsichten gewonnen, die ich zu Hause schon längst verloren hatte. Aber was war das genau? War das nur die Erwartungshaltung eines aufgeklärten Europäers und Touristen? Oder war das doch eine Kraft, ein ursprünglicher Lebenswille? In Afrika fand ich immer alles viel direkter, greifbarer. 37 Schlingensief entwirft hier ein nicht unproblematisches Modell von ‚Eigenem‘ und ‚Fremdem‘, das den afrikanischen Kontinent als vermeintlich ‚ursprünglich‘, ‚direkt‘, ‚greifbar‘ romantisiert. Seine Rede von sich als ‚aufgeklärtem Europäer‘ und von afrikanischer „Kraft und Lebenswillen“, könnte in der Tradition eines eurozentrischen Exotismus gelesen werden. 38 Diese Sicht auf das ‚Fremde‘ interessiert häufig nur das vermeintlich ‚Authentische‘ und ‚Ursprüngliche‘, worunter in der Regel Folklore verstanden wird, während Modernität nach wie vor als illegitim für außereuropäische Künstler gilt. 39 Auch wenn sich in Schlingensiefs Äußerung der Wille erkennen lässt, die europäische Theatertradition nicht dominant werden zu lassen, um dem Vorwurf des Eurozentrismus zu entgehen, wird durch die Überbetonung der Differenz und damit durch das offenkundige Wissen über das, was das ‚Eigene‘ und das ‚Fremde‘ ist, der oder das ‚Andere‘ aus eurozentrischer Perspektive festgeschrieben und somit ein Containermodell von Kultur gestärkt, welches das koloniale Projekt des Westens heute wie einst zu stützen weiß. Schlingensiefs Äußerungen zu dem Verhältnis zwischen Afrika und Europa zeugt in okzidentaler Tradition von einem Prozess des Andersmachens, des sogenannten ‚Othering‘. Schlingensiefs theatrale Afrika-Inszenierungen Zu einem anderen Befund kommt man jedoch, wenn man sich Schlingensiefs künstlerische Arbeiten anschaut: Hier sind unkonventionelle und widersprüchliche Verknüpfungen von ‚Eigenem‘ und ‚Fremdem‘ zu beobachten, die an postkoloniale Theorien anschließen. Ein immer wieder zu beobachtendes Sujet in Schlingensiefs Opern- und Theaterinszenierungen, in das auch die Auseinandersetzung mit anderen Kulturen fällt, sind kulthafte religiöse Handlungen. Oft besitzt die gesamte Inszenierung einen sakralen, zeremoniellen oder exorzistischen Charakter, der bei der Inszenierung „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ bereits im Titel aufgerufen wird. Christliche Zeremonien und Ikonografien bringt Schlingen- 37 Schlingensief, „Unsere Oper ist ein Dorf “. 38 Der mitunter auch von einer Form des interkulturellen Theaters vertreten wurde, denn anders lässt sich nicht erklären, warum in den Theaterwissenschaften (und nicht nur hier) die Tendenz vorherrscht, dann von interkulturellem Theater zu sprechen, wenn sich westliche-- europäische oder europäisch-amerikanische-- Elemente mit außereuropäischen verbinden (vgl. Regus Interkulturelles Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts, S. 28 - 29 ). 39 Vgl. ebd., S. 12 . <?page no="122"?> 122 Natalie Bloch sief mit ‚fremden‘ Riten in Verbindung, gerne mit Voodoo-Ritualen-- so zeigt er parallel zu der feierlichen Gralsenthüllung im ersten Akt des „Parsifal“ eine afrikanische Voodoo-Zeremonie auf einer Leinwand, bei der ein Huhn geschlachtet wird und Medizinmänner mit Hirschgeweihen ein Ritual vollziehen. Auch hier schreibt sich Schlingensief einmal mehr in die Theaterpraxis der Avantgarde des 20 . Jahrhunderts ein, die, so Matthias Warstat, in ihrem Bemühen, das Theater zu retheatralisieren, auf eine Ritualisierung des Bühnengeschehens setzte. 40 In dieser, für Schlingensief typischen, Gleichzeitigkeit von vermeintlich Ungleichzeitigem kann ein Verfahren gesehen werden, das „kulturelle Phänomene verschiedener nationaler Herkunft [überschreibt], um durch die Schichtung Ähnliches und Divergentes in der kulturellen Vielfalt miteinander in Berührung zu bringen“. 41 Es entsteht ein Konglomerat kultureller Praktiken und Rituale, die sich als verschiedene Konstrukte einer gleichartigen metaphysischen Suche erweisen. Im Sinne von Homi K. Bhaba wird damit auf die Ähnlichkeit bzw. Verwandtschaft der ‚fremden‘ und der ‚eigenen‘ kulturellen Praktiken verwiesen bzw. von Ich und ‚Anderen‘, 42 wobei der/ das ‚Andere‘ in der ambivalent-differentiellen Identität des Subjekts als Unheimliches das Heim des Ichs besetzt. Doch auch wenn sich die kulturellen Elemente unterschiedlichen Ursprungs in Schlingensiefs Arbeiten gegenseitig infizieren und infiltrieren, was den Rezipienten überfordern, überwältigen und schockieren kann, wird „das Fremde als solches nie geleugnet, sondern stets seine konflikthafte Beziehung zu dem Eigenen ins Bewusstsein gerückt“. 43 So vollzieht sich im Kontakt mit dem ‚Fremden‘ ein widersprüchlicher Prozess; einerseits wird es nostrifiziert und ins ‚Eigene‘ übersetzt, andererseits bleibt es in seiner Rätselhaftigkeit bestehen. Auch in seiner letzten Operninszenierung Via Intolleranza II (nach der Oper Intolleranza 1960 von Luigi Nono), die er mit einer Gruppe von gecasteten Darstellern vorwiegend aus Burkina Faso entwickelt hat, verarbeitet Schlingensief u. a. seine Erfahrungen mit dem Operndorf. In einem heillosen Durcheinander von Kulturfetzen und Sprachen (Deutsch, Französisch und afrikanischem More) wird jeder Ansatz von ästhetischer und kultureller Geschlossenheit ad absurdum geführt. Die exponierte Pluralität der Stimmen und Sprachen mündet dabei häufig in eine Art Publikumsbeschimpfung und perforiert so die Hegemonie der herr- 40 Vgl. Matthias Warstat, Krise und Heilung. Wirkungsästhetiken des Theaters, München 2011 , S. 127 . Warstat verweist darauf, dass die Darstellung eines Rituals im Theater der Avantgarde des 20 . Jahrhundert seinem Vollzug wich und so neue Formen der Partizipation ermöglichte. 41 Barbara Beyer, „Christoph Schlingensief und die Oper“, in: Janke, Kovacs, Der Gesamtkünstler: Christoph Schlingensief, S. 151 - 163 , 153 . 42 Vgl. Franziska Schößler, Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft, Tübingen 2006 , S. 149 . 43 Beyer , „Christoph Schlingensief und die Oper“, S. 157 . <?page no="123"?> Schlingensief, das Operndorf und Afrika 123 schenden Ordnung. Zugleich wirft Schlingensief den Blick zurück auf sich selbst, den vermeintlichen ‚Gutmenschen‘, sein Afrikabild und Helfersyndrom, indem er einmal mehr sich selber spielt. Auf der Bühne legt er Zeugnis über seine eigene ambivalente Haltung gegenüber Afrika ab, erklärt ausführlich, warum jede Afrikahilfe sinnlos und falsch ist und ruft trotzdem zu Spenden für sein Operndorf auf. Zugleich inszeniert er sich als „pingelige[n] Kotzbrocken, der den Schwarzen die Werte der Weißen erklärt“. 44 Die Wirkung der hier inszenierten, unauflösbaren Melange von Helfenwollen, der Ausstellung von Klischees, missionarischem Eifer und neokolonialem Impetus, die auch die Publikumserwartungen an ein typisches Schlingensief-Spektakel verlässlich erfüllt, reflektiert Schlingensief in einem Kommentar zu Via Intolleranza II : Wir sind auf dem besten Weg, unsere Individualität und die Querverstrebungen zwischen unseren Kulturen zugunsten von Klischees, Konventionen und dem Kult des Mainstream zu verlieren. Wir haben uns-- nur vielleicht heillos-- in unserer Sucht nach Symbolik und Spektakel bei gleichzeitiger Vereinfachung aller Komplexität der Zusammenhänge verstrickt. Wir manifestieren uns als hochkulturelle Erste Welt, nicht zuletzt dadurch, dass wir eine vermeintlich Dritte Welt missionieren wollen. 45 Schlingensiefs Selbstinszenierung als ‚Kulturbringer‘ Trotz oder gerade wegen dieser kritischen Reflexionen ist sich Schlingensief bewusst, dass sein Vorhaben, ein Operndorf in Afrika errichten zu wollen, zunächst ziemlich stark nach einer Mission klingt. Und in der Tat spielt er mit dieser Lesart. Ebenso wie er in seinen Inszenierungen selber stets präsent ist, mit auf der Bühne steht und damit im Sinne seines Kunstbegriffes also nicht Vermittler oder Außenstehender, sondern Teil des Ganzen ist, mischt sich Schlingensief auch bei seinem Operndorf-Projekt als Akteur ein, indem er unsichtbares Theater spielt. So zeigt er sich in Filmausschnitten, welche die das Operndorf vorbereitenden Reisen mit seinem Team in Burkina Faso dokumentieren, als permanent Filmender, der seinen kleinen Fotoapparat sehr aufdringlich auf alles hält, was ihm vor die Linse kommt: Tanzende, Trommelnde, Schulkinder oder die Savanne, 46 was natürlich paradox ist, da er ja beim Filmen selber gefilmt wird. Er inszeniert sich so als dauerfilmender Kulturtourist, macht hyperbolisch klar, wer schaut und wer angeschaut wird und führt so das Blickregime der westlichen Welt nicht nur vor, sondern zieht es auch ins Lächerliche. Vor einer einheimischen Schulklasse stehend, gibt er sich als Einpeitscher, der den Schülerinnen und Schülern zeigt, woher der Wind weht. So 44 So der Kommentar in einem nicht weiter ausgewiesenen Beitrag des Fernsehsenders 3 Sat. Online: http: / / www.schlingensief.com/ projekt.php? id=o 003 [ 30 . 04 . 2016 ]. 45 Online: http: / / www.viaintolleranza 2 .com/ schlingensief.php [ 30 . 04 . 2016 ]. 46 Online: http: / / www.youtube.com/ watch? v=- 7 io_ 8 gQAVU [ 30 . 04 . 2016 ]. <?page no="124"?> 124 Natalie Bloch brüllt er „Allemand“ und die Kinder antworten geschlossen und lautstark „oui“. Er demonstriert karikaturesk, wer hier die Plätze zuweist, Kommando und Ton angibt: der Besucher aus Deutschland und die westliche Welt. In einer anderen Szene, die auf dieser Reise aufgenommen wurde, steht er auf einem vermeintlichen Balkon in einem leeren Festsaal und ruft mit schneidender Stimme „Freiheit“ und „Energie“ in den Raum. Schon räumlich wird so ein konventionelles machthierarchisches Modell installiert, in dem sich Schlingensief als Impresario inszeniert, der quasi von ‚oben‘ seine Visionen kundtut. Schlingensief bietet damit an, sein Projekt als (neo-)koloniales zu lesen, indem er die westliche Kultur als Herrschaftsmedium vorführt. Natürlich affirmiert er so nur scheinbar ein starres hierarchisches Verhältnis zwischen kolonialem Machthaber und Unterworfenem, denn sein hyperbolisches Ausstellen dieses Verhältnisses konterkariert und unterminiert es zugleich, indem er das eigene Auftreten in den Vordergrund stellt. Er präsentiert sich als durchgeknallten, herrisch auftretenden Künstler, der auf die zu Belehrenden bzw. zu Kolonisierenden verweist, und lenkt so den Blick auf den ‚eigenen‘ Umgang mit ‚fremden‘/ ‚anderen‘ Ländern und Kulturen. Über Afrika bzw. die ‚fremde‘ Kultur erfährt man in dieser Form der Selbstinszenierung nichts. Abschließend kann festgestellt werden, dass in Schlingensiefs Idee eines afrikanischen Operndorfes ästhetische und ethnologische Aspekte ineinandergreifen. Auch wenn Schlingensief zunächst ein dezidiert ästhetisches Programm verfolgte, handelt es sich um ein in postkoloniale, globale Machtstrukturen verstricktes Unternehmen, bei dem es durch den Kulturkontakt immer auch um den Umgang mit dem ‚Fremden‘ geht-- ein Umstand, den Schlingensief in seiner Operninszenierung Via Intolleranza II wie auch in seinen Selbstpräsentationen persiflierend thematisiert und reflektiert. Eine Strategie der Selbstinszenierung besteht darin, sich bestimmter Traditionen zu bemächtigen bzw. sich in sie einzuschreiben, und sie dann durch übertriebene Affirmation zu brechen bzw. zu verfremden. 47 So dockt er als ‚Kulturklauer‘ an die Tradition des Primitivismus und des interkulturellen Theaters im 20 . Jahrhundert an und zeigt deren blinde Flecken im Umgang mit Kulturgut aus anderen Ländern, oder er inszeniert sich in dem dokumentarischen Filmmaterial als ‚Kulturbringer‘ und dekonstruiert so Hochkultur als (neo-)koloniale Kultur. Der Widerspruch zwischen seinen eher problematischen Interviewäußerungen, die von idealisierenden Imaginationen eines kulturell Anderen künden, und seinen komplexen, an postkoloniale Diskurse anknüpfenden Inszenierungen bleibt dennoch bestehen, erschwert die Lesbarkeit des Projektes und erzeugt eine Verunsicherung über die Situation. 47 Vgl. Catherina Gilles, Kunst und Nichtkunst: Das Theater von Christoph Schlingensief, Würzburg 2008 , S. 51 . <?page no="125"?> Schlingensief, das Operndorf und Afrika 125 Dass das Operndorf als Schlingensiefs letztes und möglicherweise radikalstes Kunstprojekt einige Jahre nach seinem Tod zu einem sozialen Projekt geworden ist, zeigt, dass es den ihm anheimgestellten emanzipatorischen Impetus voll entfaltet hat. Denn die kulturellen Dimensionen des menschlichen Lebens, die Schlingensief anstachelten, dieses Projekt ins Leben zu rufen, müssen erst durch bestimmte ökonomische und soziale Bedingungen ermöglicht werden. Ähnlich bringt es auch Terry Eagleton in einem Resümee über den Postkolonialismus auf den Punkt: Kultur ist in der neokolonialen Welt in jeder Beziehung wichtig, aber sie ist letztlich kaum entscheidend. Am Ende bestimmen nicht Fragen der Sprache, der Hautfarbe oder der Identität, sondern Warenpreise, Rohmaterialien, Arbeitsmärkte, militärische Bündnisse zwischen reichen und armen Nationen. 48 48 Terry Eagleton, Einführung in die Literaturtheorie, Weimar 1997 , S. 234 . <?page no="127"?> Das Bild des ‚Muslims‘ als des ‚Anderen‘ 127 Das Bild des ‚Muslims‘ als des ‚Anderen‘ auf dem Theater und in der Bildenden Kunst nach 9/ 11 Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft im Dialog Katharina Pewny (Gent), Irfan Hošić (Bihać) Dieter Heimböckel und Natalie Bloch formulieren in der Ankündigung zu ihrer Tagung Theater und Ethnologie an zentraler Stelle die These, dass „die Frage, wie Andere oder Fremde im interkulturellen Theater vorkommen, repräsentiert und damit interpretiert werden-[…], politische und ethische Dimensionen“ beinhalte. 1 Die Darstellung des ‚Anderen‘ ist aus theaterwissenschaftlicher Perspektive besonders wesentlich, weil das europäische Theater seit seiner Entstehung aus der antiken Tragödie Ein- und Ausschlüsse (in den Begriff) des Humanen verhandelt: In der von den und für die Bürger Athens gestalteten Tragödie- - vor allem in ihrer Repräsentationsfunktion der attischen Polis-- stand der soziale und politische Status von Frauen, Fremden und Sklaven ebenso auf dem Prüfstand wie die Selbstvergewisserung des Bürgers als ethisches Subjekt. Die Grenze des attischen Reiches und damit des (nach heutiger Auffassung) hegemonialen Subjekts wurde in oral überlieferten Mythen und in den homerischen Epen durch die Beschreibung der Amazonen, die jenseits des Schwarzen Meeres lokalisiert wurden, und in Euripides’ Tragödie Medea an der Grenze des europäischen zum asiatischen Kontinent verortet. Zwar sind seitdem zweieinhalb Jahrtausende vergangen, das interkulturelle Theater, das in den vergangenen fünf Jahren im deutschen Sprachraum und darüber hinaus blüht, kann jedoch als zeitgenössische Spielart des Wechselspiels von ‚Eigenem‘ und ‚Anderem‘ verstanden werden. 2 Genealogie und Zugehörigkeit, transnationale Identitätsbildung politischer Gemeinschaften und 1 Theater und Ethnologie, Universität Luxemburg, 26 .- 28 . 06 . 2014 , online: http: / / www.prothein.de/ projekt/ konferenz/ [ 30 . 04 . 2016 ]. 2 Hier und im Folgenden setzen wir das ‚Eigene‘, das ‚Andere‘ in einfache Anführungszeichen, ebenso wie ‚Muslim‘, ‚Westen‘ und ‚westlich‘, um die Konstruiertheit dieser Begriffe deutlich zu machen, denn ihre Bedeutung ist (über die konkreten geografischen oder politischen Dimensionen hinaus) gleitend je nach Kontext, zugrunde liegender Theorie und wissenschaftlichem „state of the art“. <?page no="128"?> 128 Katharina Pewny, Irfan Hošić Cluster sozialer Gruppen, Verschiebungen und Re-Definitionen des Europäischen werden darin inszeniert, wobei nicht zuletzt Kriege, Migrationsbewegungen und Debatten um die Verletzung der Menschenrechte maßgeblich sind. Auch Bilder und Imaginationen religiöser Gemeinschaften werden häufig zum Gegenstand der Auseinandersetzung, insbesondere solche, in denen der Islam gleichgesetzt wird mit islamistischen Terroristen, deren Anschläge sich gegen europäische/ westliche Werte richten. 3 In einem Dialog kunsthistorischer und theaterwissenschaftlicher Perspektiven wenden wir uns daher im Folgenden der Frage nach der Funktion des ‚Muslims‘ als des ‚Anderen‘ im Kontext politischer und medialer Diskurse im Gegenwartstheater zu. 4 Dieser Artikel basiert auf der Beobachtung, dass nach 9 / 11 komplexe Prozesse kollektiver Identitätsbildungen stattfinden, in denen das Bild des ‚Muslims‘ als das des gefährlichen ‚Anderen‘ westlicher/ europäischer Perspektiven konstruiert wird. Die hierfür relevanten politischen Diktionen und visuellen Ikonografien sind in der Tradition des Orientalismus zu lesen, den Edward Said in seiner einflussreichen Publikation aus dem Jahr 1978 beschrieben hat. 5 Besonders der heilige Krieg, der so genannte ‚Jihad‘, fungiert seit den 1900 er Jahren in dem europäischen Imaginären als bevorzugte Zuschreibung an den ‚Muslim‘ und damit oftmals an den gesamten Islam als Religion und an alle Angehörige seiner Glaubensgemeinschaft. 6 Im Folgenden betrachten wir erstens Stereotype des ‚Muslims‘ in westlichen Medien und befragen damit einen dominanten diskursiven Kontext von Theaterauführungen, in denen politische Ideologien durch Zuschreibungen an den Islam aufgebaut werden. Zweitens reflektieren wir die Entwicklung der westlichen Sehkultur und der Theaterarchitektur seit der frühen Neuzeit aus kunsthistorischer Perspektive. Drittens analysieren wir die öffentliche Rede über einige Absagen von Bühnenaufführungen, in denen ‚der Muslim‘ oder ‚das Muslimische‘ repräsentiert werden (nach 9 / 11 ), um uns viertens der Aufführung von Milo Raus The Civil Wars ( 2014 ) zuzuwenden. Weil darin das Bild des ‚muslimischen‘ Vaters dramaturgisch zentral ist, vergleichen wir diesen Aspekt mit dem Film des deutsch-türkischen Regisseurs Fatih Akin Auf der anderen Seite ( 2007 ). Die zentrale Frage, der wir dabei nachgehen, ist: Inwiefern sind Bilder des ‚Muslims‘, die in den Medien, in 3 Vgl. Christopher Balme, „Orientalism, Opera, and the Public Sphere“, in: Tobias Döring, Mark Stein (Hgg.), Edward Said’s Translocations. Essays in Secular Criticism, London, New York 2012 , S. 171 - 186 . 4 Der vorliegende Artikel entstand im Zuge des Basileus-geförderten Postdoc-Projekts Portraying the Other. Art and Terrorism after 9/ 11 ( 12 / 2013 - 09 / 2014 ), das Irfan Hošić an der Universität Gent in Zusammenarbeit mit Katharina Pewny durchführte. 5 Edward Said, Orientalism. Western Conceptions of the Orient, London 1978 . 6 Vgl. John Tolan, Henry Laurens, Gilles Veinstein, Europe and the Islamic World. A History, New Jersey 2013 , S. 400 . <?page no="129"?> Das Bild des ‚Muslims‘ als des ‚Anderen‘ 129 der Bildenden Kunst und auf dem Theater nach 9 / 11 zirkulieren, Ausgangspunkte für die Suche nach oder Repräsentation einer ‚eigenen‘/ ‚westlichen‘ Identität? 1. Humanistische Ethik versus öffentliche Konstruktion des ‚Muslims‘ als des ‚Anderen‘ nach 9/ 11 Emanuel Lévinas’ Auffassung von Subjektkonstitution durch die Begegnung mit dem verletzten und verletzlichen ‚Anderen‘ ist paradigmatisch für humanistische Ethik. Der Philosoph sieht die (unausweichliche) Begegnung mit dem ‚Anderen‘ als Grundlage der Subjektwerdung, wobei sich das Mensch-Sein, so Lévinas, aus der Verantwortung dem Anderen gegenüber konstituiert. 7 Dies ist ein humanistisches Ideal, das im historischen Kontext des Holocaust entstand und auf Schutz der menschlichen Verwundbarkeit zielt. Angesichts der visuellen Ausbeutung des Leids des ‚Anderen‘ durch populäre Medien im Irak-Krieg legt Judith Butler eine Re-Lektüre von Lévinas’ Ethik vor. 8 Butler schreibt damit, angelehnt an Lévinas, eine Ethik der Gewaltlosigkeit, die in deutlichem Gegensatz zu Aussagen prominenter Politiker steht, die den sozio-politischen Kontext von Repräsentationen des ‚Anderen‘ nach 9 / 11 maßgeblich geprägt haben. Grundlegend für den antimuslimischen politischen Tenor ist die Formulierung, die George W. Bush, zum Zeitpunkt der Anschläge Präsident der USA , im Jahr 2001 tätigte: „Either you are with us, or you are with the terrorists“. 9 Bushs Aussage vollzieht eine paradigmatische Trennung zwischen einem imaginären ‚wir‘ und ‚ihr‘, die sich feindlich gegenüberzustehen scheinen. Politiken wie diese erzeugen die inhaltlichen Richtlinien für die Repräsentation des ‚Muslimischen‘ als des bedrohlichen ‚Anderen‘, und viele Medien spielten dabei eine inoffizielle PR -Rolle des Weißen Hauses. 10 Polarisierte Kategorien wie fortschrittlich-primitiv, zeitgenössisch-veraltet, Zivilisation-Gewalt, Subjekt-Objekt, wirsie, tragen zur Konstitution des ‚Anderen‘ bei, von dem der ‚westliche‘ Blick sich abgrenzt und durch diese Abgrenzung seine eigenen Konturen erst gewinnt. In dem Zeitraum nach dem 11 . September 2001 wird in einigen Ländern, die der Europäischen Union angehören, in Wahlkampagnen von politischen Parteien 7 Ausführlich besprochen und auf Theateraufführungen als Begegnungen des Publikums mit dem „Anderen“ übertragen in: Katharina Pewny, Das Drama des Prekären, Bielefeld 2011 , S. 23 - 133 . 8 Judith Butler schreibt ausgehend von Lévinas’ Begriff der Verwundbarkeit (Prekarität) eine humanistische Ethik, die im Kontext des Irak-Kriegs steht. Vgl. Judith Butler, Precarious Life. The Powers of Mourning and Violence, London, New York 2004 . 9 George Bush auf dem US Congress, 20 . 09 . 2001 , online: http: / / georgewbush-whitehouse. archives.gov/ news/ releases/ 2001 / 09 / 20010920 - 8 .html [ 30 . 04 . 2016 ]. 10 Vgl. James W. Carey, „American journalism on, before, and after September 11 “, in: Barbie Zelizer, Stuart Allan (Hgg.), Journalism after September 11, London, New York 2003 , S. 71 - 90 . <?page no="130"?> 130 Katharina Pewny, Irfan Hošić aus dem rechten Spektrum mehr und mehr antiislamisch geworben. Neben dem niederländischen Politiker Geert Wilders und seiner kontinuierlichen Anti-Islam- Politik zeigen Aussagen der österreichischen Politikerin der Freiheitlichen Partei Österreichs ( FPÖ ), Susanne Winter, paradigmatisch, welche Pathologisierung/ en des ‚Mulims als des Anderen‘ in politischen Ideologien wirksam werden: Schauen wir uns doch nur den Propheten Mohammed an.- […] Den Koran hat er im Rahmen von epileptischen Anfällen geschrieben.-[…] Er als 50-Jähriger hat eine Sechsjährige, ein sechsjähriges Mädchen geheiratet. Im heutigen System ist dieser Mohammed ein Kinderschänder. 11 In der Reihe der Politiker/ innen, die einen öffentlichkeitswirksamen Beitrag für die Entstehung des Bildes der Moslems im Sinne der ‚Anderen‘ nach der traditionellen Formel „der Westen und der Rest“ leisten, stehen auch Vertreter der katholischen Kirche. Die erste Aussage in dieser Reihe löste weltweit kontroverse Debatten aus und kam von Kirchenoberhaupt Papst Benedikt XVI im Jahr 2006 : „Zeig mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat, und da wirst du nur Schlechtes und Inhumanes finden wie dies, dass er vorgeschrieben hat, den Glauben, den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten“. 12 Eine (ab)wertende Entgegensetzung des ‚Westlichen‘ und des ‚Muslimischen‘ wurde auch von dem Kölner Erzbischof Joachim Meisner getätigt: „Ich sage immer, eine Familie von euch ersetzt mir drei muslimische Familien“. 13 Die erwähnten Zitate zeigen, wie die institutionellen Diskurse der Medien, der Politik und der Kirche in der Entstehung öffentlicher Repräsentationen ineinandergreifen. Die Bildproduktion, die den ‚Muslim‘ als ‚Anderen‘ konstruiert, unterstützt und ergänzt die zitierten verbalen Diskurse. Das sind die knieenden Gefangenen des Guantánamo-Lagers, die obszönen Körper der Gefangenen in Abu Ghraib, die Bilder von getöteten muslimischen Anführern. 14 Diese und alle ähnlichen Bilder versteht Godehard Janzing in seiner Reflexion 11 Susanne Winter (österreichische Politikerin und Abgeordnete des Österreichischen Parlaments) hat diese Rede bei der Neujahrstagung der FPÖ am 13 . 01 . 2008 in Unterpremstätten gehalten, online: http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Susanne_Winter [ 30 . 04 . 2016 ]. 12 Papst Benedikt XVI hielt die Rede an der Universität Regensburg am 12 . 09 . 2006 , online: http: / / www.vatican.va/ holy_father/ benedict_xvi/ speeches/ 2006 / september/ documents/ hf_ben-xvi_spe_ 20060912 _university-regensburg_ge.html#_ftn 3 [ 30 . 04 . 2016 ]. 13 Kardinal Joachim Meisner hielt die Rede bei der Veranstaltung des Neokatechumenalen Weges am 24 . 01 . 2014 im Maternussaal in Köln, online: http: / / www.medientube.de/ video/ Buchvorstellung% 3 A-% 26 quot% 3 BDas-Kerygma% 26 quot% 3 B/ 09557cdd 7932 f 5155256163 c 56 f 78 f 30 [ 30 . 04 . 2016 ]. 14 Kanonische Aufsätze zur Kritik der Entmenschlichung, die auf Hannah Arendts Schriften über den Holocaust zurückgeht und grundlegend durch Giorgio Agambens Schriften seit der Jahrtausendwende bestärkt wurde, ist in dem folgenden Sammelband zu finden: Christoph Menke, Die Revolution der Menschenrechte. Grundlegende Texte zu einem neuen Begriff des Politischen, Berlin 2011 . <?page no="131"?> Das Bild des ‚Muslims‘ als des ‚Anderen‘ 131 über „Bildstrategien asymmetrischer Gewaltkonflikte“ als Sinnbilder: „Als Sinnbilder einer veränderten Konfliktsituation sind sie vielmehr selbst aktiver Part einer neuen Form der Kriegsführung“. 15 Die post- 9 / 11 -Ära ist in der westlichen Hemisphäre von einer symbolisch aufgeladenen Sehkultur gekennzeichnet, der neben populären Medien auch die Gegenwartskünste (Bildende Kunst und Video, Theater, Performance und Tanz) angehören. Die Digitalisierung der Fotografie, die fortschreitende globale Vernetzung und der kontroverse Global War Against Terrorism (Kriege und Drohnenangriffe in Afghanistan, Irak, Pakistan, Libyen, Jemen, Iran, Syrien usw.) beeinflussen die gegenwärtigen Blickordnungen und visuellen Ikonografien. Infolge der Aktivitäten durch die westliche Allianz ist ein fruchtbarer Boden für die Entwicklung eines neuen Modells medialer Kriegsführung entstanden, das auch als Bilderkrieg aufgefasst werden kann. 16 Das Kunstwerk Gun Camera aus dem Jahr 2005 des belgischen Künstlers Francis Alÿs fokussiert die neuen Kriegsmöglichkeiten auf ironische Weise. Alÿs baut eine hybride Kalaschnikow ( AK - 47 ) mit einen Videoband auf. Der Künstler kreiert ein multifunktionelles Gerät, mit dem man tötet, aber auch filmt, was man nachher reproduzieren und multiplizieren kann. In diesem Gerät begegnet man der traumatischen Erfahrung des ‚Anderen‘ sowie auch seiner zeitgleichen Popularisierung durch elektronische Medien, die vor allem nach 9 / 11 geschehen ist, was wieder auf die Bilderproduktion des ‚Muslims‘ als des ‚Anderen‘ zurückführt. Eine beispiellose Begegnung des Todes und der Medien radikalisierte der libanesische Künstler Rabih Mroué in seiner Serie The Pixelated Revolution. Er zeigte eine neue Perspektive der realistischen Repräsentation des Todes bzw. des Erscheinens des Realen in der Gegenwartskunst. Mroué benutzt YouTube-Videos, die von syrischen Journalisten hergestellt wurden und die den eigenen Tod aufzunehmen scheinen. Das Handy als Verlängerung des Auges ermöglicht ein gleichzeitiges Betrachter- und Opfersein. 2. Die Erfindung der Zentralperspektive als westliche Blickordnung Populäre Diskurse über den ‚Muslim‘, die visuellen und performativen Gegenwartskünste und damit auch das Theater wurzeln in historisch gewachsenen Blickordnungen, die untrennbar mit ihrer jeweiligen Geschichte verwoben sind. Das Bild des ‚Muslims‘, das nach dem Angriff auf das World Trade Center im Jahr 2001 aufgrund politischer Rhetoriken und medialer Repräsentationen entstand, kann man als genuin westliche Sehweise betrachten, deren Ursprung aus kunsthistorischer Perspektive in der frühen Neuzeit liegt. Das Quattrocento und das 15 Godehard Janzing, „Bildstrategien asymmetrischer Gewaltkonflikte“, in: Kritische Berichte 1 ( 2005 ), S. 21 - 30 , 21 . 16 Vgl. Irfan Hošić, Art and Terrorism. Bosnian Herzegovinian artwork post 9/ 11, Bihać 2009 . <?page no="132"?> 132 Katharina Pewny, Irfan Hošić Cinquecento sind vor allem durch die Erfindung der räumlichen Perspektive in der Malerei bekannt. 17 Das revolutionäre Vorgehen in der Bildenden Kunst der Renaissance haben Kunsthistoriker als neue italienische Kunstmode beschrieben, in der die Künstler Körperlichkeit und Räumlichkeit nachempfanden. Während die mittelalterliche Kunstproduktion einen „Kontemplator“ suchte, entstand in der Renaissance durch die Entwicklung der räumlichen Perspektive die Position des „spectator“-- des Zuschauers: „So lieferte der Perspektiv-Künstler die neuen Bilder den Augen des Publikums aus, indem er ihr Sehen simulierte.“ 18 Diese neue Sehweise bildete scheinbar Wirklichkeit ab, während sie den Blick des Betrachters zugleich stimulierte und erzeugte. Dieses Modell des Sehens ist in der heutigen visuellen Kultur und auch im Theater, insbesondere in der Theaterarchitektur, tief verankert. Darin scheint das Bild beziehungsweise der sichtbare Bühnenausschnitt etwas darzustellen (zum Beispiel ein bürgerliches Wohnzimmer), während gleichzeitig verdeckt der Blick, den ein Zuschauer auf die Welt wirft, hergestellt wird. Die Welt wird, metaphorisch gesprochen, dabei in einen Blick auf die Welt verwandelt. Dieses Grundprinzip der zeitgenössischen Bilderproduktion erscheint in allen zeitgenössischen Medien. Daher kann die Repräsentation des ‚Anderen‘ als Darstellung der ‚eigenen‘ Identität beschrieben und das ‚Bild des Moslems‘ als eine Art ‚westliches‘ Selbstbildnis definiert werden. Der deutsche Kunsthistoriker Hans Belting nennt diesen Blick den „ikonischen Blick“ Angabe. Besonders interessant in Beltings These ist das Faktum, dass die Bilder von dem Blick selbst erzeugt sind („zum Bild gewordener Blick“ Angabe). 19 Weil das Bild der angegriffenen Türme des World Trade Center erst in dem Blick des Zuschauers Form gewinnt, verlangt es einen Zuschauer. Es ist, um mit Belting zu sprechen, ein Resultat der „hungrigen“ Augen des zeitgenössischen Zuschauers. Die visuelle Konstruktion des ‚Muslims‘ als Terrorist ist daher paradigmatisch für die Bildung eines hegemonialen, westlichen Subjekts. Die Frage, ob es möglich ist, durch das „Antlitz des Anderen“ eine eigene Identität zu rekonstruieren, kann zum Teil ausgehend von Beltings These folgendermaßen beantwortet werden: „Was Kulturen aber mit Bildern machen und wie sie die Welt in Bilder fassen, führt zum Zentrum ihrer Denkweise“. 20 17 „Der Begriff der ‚Perspektive‘ (perspectiva) war in der westlichen Wissenschaft schon dem Mittelalter geläufig, bevor er in der Renaissance in die Kunst eingeführt wurde. Er benannte eine Sehtheorie arabischen Ursprungs.“ (Hans Belting, Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks, München 2008 , S. 9 .) 18 Ebd., S. 23 . 19 Ebd., S. 247 - 249 . 20 Ebd., S. 23 . <?page no="133"?> Das Bild des ‚Muslims‘ als des ‚Anderen‘ 133 3. Die Absage von Bühnenaufführungen und ihre mediale Rezeption Ausgehend von Hans Beltings These betrachten wir im nächsten Schritt die nicht aufgeführte Theatervorstellung mit dem Titel Aïsha and the Woman of Medina, die von der algerisch-französischen Novellistin Assia Djebar im Jahr 2000 verfasst wurde. 21 Die Aufführung wurde im Produktionsprozess gestoppt, weil die marokkanischen Sänger ihre Teilnahme frühzeitig wegen einer Kontroverse um die Legitimität der szenischen Darstellung der heiligen Aisha, einer Frau des Mohammed, absagten. Aufgrund dieses Ausstiegs eines Teiles der beteiligten Künstler/ innen entschied Gerrit Timmers, Direktor des unabhängigen Theaters Onafhankelijk Toneel in Rotterdam, die Produktion abzubrechen und das Projekt abzusagen. Furcht vor Repression und kontextuelle resp. religiöse Konventionen und Differenzen liegen der Absage wahrscheinlich zugrunde, der präzise Verlauf der Debatten ist jedoch wissenschaftlich nicht nachvollziehbar und daher öffentlich nicht zugänglich, wohl aber die mediale Rezeption der Absage. 22 Die Entscheidung löste in den Niederlanden eine kontroverse Debatte aus, die von Zuschreibungen muslimischer beziehungsweise islamistischer Selbstzensur über Verteidigung der Meinungsfreiheit bis zu Terrorverdacht ging. Lonneke van Heugten beschreibt den Diskurs um die Absage der Aufführung wie folgt: „The main argument was that Aïsha was a sacred figure in Islam that could not be depicted on stage“. 23 Wir, die Autor/ innen, verstehen die nicht aufgeführte Vorstellung Aïsha and the Woman of Medina und die Gründe für den Stopp der Produktion weniger als Konsequenz eines islamischen Bilderverbotes, sondern vielmehr (wiederum mit Belting) als Ausdruck einer „fein abgestuften Blickkultur“. 24 Bekanntlich herrscht in islamischen kulturellen Umfeldern eine Art „Verschleierung“ oder Ethik des „Nicht-Sehens“ (des nicht Sichtbarwerdens). Belting vergleicht die islamische Sehkultur mit der Verschleierung von Frauen und ihren Implikationen für Männer: Der Schleier, der heute zu einem Symbol für die Unterdrückung der Frau in der islamischen Gesellschaft wird, war einmal Teil einer fein abgestuften Blickkultur, welche beide Geschlechter in die Pflicht nahm und die Grenze zwischen privatem und öffentlichem Raum regelte. Während die Frauen sich verschleierten, waren die Männer gehalten, ihre Augen abzuwenden. 25 21 Ausführlich hierzu Lonneke van Heugten in ihrer Masterarbeit an der Universität Amsterdam: „It was to be perfomed in Arabic with classical singers from Morocco, and was intended for the dual target audience of Dutch and Dutch-Moroccans“ (Lonneke van Heugten, Theater as a vortex of behaviour in Dutch multicultural society. A discourse analysis of ‚Aïsha‘ in the public sphere, Marburg 2013 , S. 7 ). 22 Vgl. ebd., S. 45 f. 23 Ebd., S. 7 . 24 Belting, Florenz und Bagdad, S. 285 . 25 Ebd. <?page no="134"?> 134 Katharina Pewny, Irfan Hošić Die kursorisch skizzierte komplexe Ordnung des Sehens, Nicht-Sehens, Erscheinens und Verbergens betrifft die öffentliche Erscheinung von Frauen und von heiligen Personen. Auch in Filmen wurde mit ähnlichen Argumenten eine bildliche Darstellung von heiligen islamischen Protagonisten bewusst umgangen oder mit Drohungen erzwungen: Das einzige Tabu scheint in der Darstellung des Propheten auf der Leinwand bestanden zu haben. 1926 beispielsweise hätte der ägyptische Schauspieler Jusuf Wahbi die Rolle des Propheten in einem in Ägypten von dem türkischen Regisseur Wedat Orfi gedrehten Film spielen sollen.-[…] Der ägyptische König Fu’ad drohte, den Schauspieler des Landes zu verweisen und ihm die ägyptische Staatsbürgerschaft zu entziehen: Woraufhin, wie es ein kürzlich veröffentlichtes Buch etwas verstohlen formuliert, der Schauspieler die Rolle ablehnte und der Film nicht gedreht wurde. 26 Ein weiteres Beispiel für die Absage einer laufenden Produktion stammt aus dem Bereich der Oper: Die Wiederaufnahme von Wolfgang Amadeus Mozarts Oper Idomeneo, uraufgeführt durch Hans Neuenfels im Jahr 2003 , wurde wegen potentieller Sicherheitsrisiken von Kirsten Harms, der künstlerischen Leiterin der Deutschen Oper Berlin, 2006 gestoppt. Auch diese Entscheidung löste eine umfangreiche Debatte aus, in der in europäischen und US-amerikanischen Medien die (mangelnde) künstlerische Freiheit betont wurde. In seiner ausführlichen Analyse stellt Christopher Balme fest: „It [the scandal, I. H.] has become politically instrumentalized, and the principle of artistic freedom serves an anti-multicultural agenda“. 27 Balme fokussiert in seiner Analyse nicht die einseitige Darstellung des Islams als bildfeindliche Religion, deren Gläubige im Angesicht einer Darstellung des Propheten Mohammed mit Terror drohen. Der Autor betont vielmehr die politische Instrumentalisierung der künstlerischen Freiheit (im Westen) zugunsten von Angehörigen der christlichen Glaubensgemeinschaft und argumentiert für die Reflexion ethischer Werte in dem jeweiligen Kontext: All abstract expressions of support for the freedom of art misjudged, first of all, the highly volatile nature of around three million Muslims who enjoy the same right to be protected from offensive blasphemy which the Christian majority more or less takes for granted. 28 Auch zeitgenössische Operninszenierungen sind demnach im Kontext der eingangs angeführten islamfeindlichen Äußerungen prominenter Politiker und Kirchenväter zu lesen. 29 Nicht bloß die Absage des Idomeneo, sondern darüber hinaus ihre 26 Silvia Naef, Bilder und Bilderverbot im Islam, München 2007 , S. 107 - 108 . 27 Christopher Balme, „Orientalism, Opera, and the Public Sphere“, S. 180 . 28 Ebd., S. 178 . 29 Ebd. <?page no="135"?> Das Bild des ‚Muslims‘ als des ‚Anderen‘ 135 mediale Rezeption und öffentliche Diskursivierung kann negative Stereotypen des ‚Moslems‘, beispielsweise in Gestalt des „islamistischen Bösen“ als des potenziellen Terroristen, unterstützen. 30 Wir haben gezeigt, dass und wie durch die Absage geplanter oder laufender Produktionen unter Rekurs auf das angebliche islamische Gesetz der so genannten Scharia ein Gegensatz zu der künstlerischen Freiheit als Merkmal westlicher Demokratien diskursiv hergestellt wird. Dem gegenüber schlagen wir eine Verschiebung der Auseinandersetzung der strittigen Inhalte auf die Analyse von Blickordnungen vor. Diese sind in jeder Kultur weltweit anders kontextualisiert. Sowohl Aïsha and the Women of Medina als auch Idomeneo sind als Schauspiele beziehungsweise Theateraufführungen etymologisch bereits mit der Schau, dem Blick, verbunden. Damit ist eine direkte Verbindung mit der Sehkultur des Westens hergestellt, die ihren Ursprung in der Renaissance hat, genauer: in der Perspektivmalerei des Quattrocento und Cinquecento. Theater- und Bühnenbildgeschichte stehen zweifellos im Zusammenhang mit der Erfindung der Perspektive in der Renaissance. Aus kunsthistorischer Perspektive ist es möglich, die Bühne als Perspektivbühne in Verbindung mit der Perspektivmalerei zu setzen. 31 Hans Belting sieht einen zentralen Zusammenhang: Auf der Bühne entfaltete sich die perspektivische Kunst in einer Reinheit, wie sie es sonst nur in der Idee konnte.-[…] Nur in einer imaginären Welt, im Schauspiel, ließ sich die Perspektive störungsfrei anwenden, das heißt, in einem Bühnenbild erproben. 32 Die Erfindung der Perspektive in der Bildenden Kunst und auch der Theaterarchitektur zeugt von der anthropozentrischen Weltanschauung in der frühen Neuzeit; sie kann aber auch allgemeiner als Metapher einer mehr und mehr dominierenden eurozentrischen Weltansicht verstanden werden, die in zahlreichen öffentlichen Debatten, wie gezeigt, nach wie vor wirksam ist. Auch in der Aufführung von Milo Raus Produktion The Civil Wars, die wir im Folgenden genauer betrachten, wird die Zentralperspektive theaterarchitektonisch eingesetzt. Ist The Civil Wars Teil des gegenwärtig wachsenden Korpus an interkulturellen, oder interreligiösen Theateraufführungen? Bewegt die Aufführung sich auch in dieser eurozentrischen Tradition, oder überschreitet sie dieselbe? Wir setzen zur Klärung dieser Frage bei den Interkulturalitätsdebatten in der Theaterwissenschaft an, um dann die Aufführung selbst zu besprechen. 30 „Die Darstellung des islamistischen Bösen und des amerikanischen Guten knüpfte an bekannte Plotstrukturen des Spielfilms an“. Gerhard Paul, Bilder des Krieges- - Krieg der Bilder, München 2004 , S. 442 . 31 Belting, Florenz und Bagdad, S. 202 . 32 Ebd. <?page no="136"?> 136 Katharina Pewny, Irfan Hošić 4. Milo Raus The Civil Wars als interkulturelles Theater Der Begriff der Interkulturalität bezieht sich in der Theaterwissenschaft meist auf Bühnenaufführungen aus den 1980 er Jahren, in denen asiatische Schauspieltechniken angewandt werden und in denen Künstler/ innen aus unterschiedlichen Kulturen kooperieren. In maßgeblichen Texten von Erika Fischer-Lichte und Patrice Pavis gelten vornehmlich Werke von Peter Brook, Ariane Mnouchkine und Eugenio Barba als interkulturelles Theater. 33 Die Rede von interkulturellem Theater wird seitdem problematisiert, weil sie ontologische Definitionen von Kulturen implizieren kann, die Migrationshintergrund mit kultureller Differenz und Integrationsnotwendigkeit gleichsetzen. 34 Wolfgang Sting beschreibt interkulturelles Theater beispielsweise als Theater mit und von jungen Migrant/ innen, die „Einbindung lokaler Migranten-Kultur und -Künstler“ gelinge in dem „postmigrantischen Theater des Berliner Hebbel am Ufer“. 35 Maaike Bleeker kritisiert hingegen Zuschreibungen des Interkulturellen an migrantische Gemeinschaften und betont, dass im „multikulturellen Drama“-- damit ist sowohl die konkrete Theaterlandschaft als auch die politische Landschaft gemeint-- meist die ‚Fremden‘, ‚Anderen‘ im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, wo hingegen die „Alteingesessenen“ sich an die veränderte Gesellschaft gewöhnen sollten. 36 Heute besteht unter kritischen Theater- und Literaturwissenschaftler/ innen weitgehend Einigkeit, dass Interkulturalität oder Multikulturalität nicht nur die Verantwortung oder den Anpassungswillen von Migrant/ innen (und deren Nachkommen) betrifft, sondern auch konkrete politische Regelungen und aktive Beteiligung der Angehörigen der Mehrheitsgesellschaften. Konstatiert wird eine Gratwanderung zwischen Multikulturalität und monokultureller Hegemonie, deren Verlauf stets kritisch zu hinterfragen ist: [D]er in der Bundesrepublik Deutschland seit den 1980er Jahren propagierte differentialistische Multikulturalismus tendiere letztlich dazu, die Grenzen der Kulturen zu erhalten und berge damit stets die Gefahr einer Neo-Assimilation in sich. 37 33 Hier beziehen wir uns auf einen Vortrag von Kati Röttger, den sie unter dem Titel „Intercultural theatre“ am 12 . Mai 2014 an der Universität Gent gehalten hat. Exemplarisch siehe Patrice Pavis, The intercultural performance reader, London, New York 1996 . 34 Siehe auch den Beitrag von Dieter Heimböckel in diesem Band. 35 Wolfgang Sting, „Interkulturalität und Migration im Theater“, in: Wolfgang Sting et al. (Hgg.), Irritation und Vermittlung. Theater in einer interkulturellen und multireligiösen Gesellschaft, Berlin 2010 , S. 21 - 30 , 23 . 36 Maaike Bleeker, „Inleiding“, in: Maaike Bleeker et al. (Hgg.), Multicultureel drama? Amsterdam 2005 , S. 7 - 13 , 8 . 37 So Katharina Keim unter Berufung auf die Bielefelder Erziehungswissenschaftler Hans- Uwe Otto und Mark Schrödter: „‚Allah ist kein Ausländer‘- - Transkultureller religiöser Fundamentalismus in zeitgenössischen deutschsprachigen Theatertexten“, in: Sting et al., Irritation und Vermittlung, S. 71 - 86 , 73 . <?page no="137"?> Das Bild des ‚Muslims‘ als des ‚Anderen‘ 137 In den Theaterwissenschaften existiert aus den oben genannten Gründen keine verbindliche Definition von inter- oder multikulturellem Theater, manche Autor/ innen kontextualisieren das Gegenwartstheater allerdings als „Theater in einer interkulturellen und multireligiösen Gesellschaft“. 38 In einem neueren Aufsatz beschreibt Patrice Pavis interkulturelles Theater als Konsequenz des Zerfalls homogener Gruppen von Theatermacher/ innen und Zuschauer/ innen, und er kommt zu einer sehr breiten Definition des interkulturellen Theaters, das, Pavis zufolge, heute primär interdisziplinär sei: What if the intercultural were in fact only an interartistic practice, a form of interdisciplinarity, a crossing, a confrontation and an addition of arts, of techniques, of cating modes? -[…] Interdisciplinarity itself contains different dicsiplines, which themselves are composed of different (foreign) cultures and of several cultural levels. 39 Wenn man Pavis folgt, dann bietet jede einzelne Aufführung eine spezifische Antwort auf die Frage, wie Theater heute-- unter den komplexen Bedingungen von Globalisierung, Arbeitsmigration, Religionskriegen und multikulturellen und -religiösen Gesellschaften-- gestaltet sein kann. Wir untersuchen daher im Folgenden die Frage, ob und wie die ‚eigene‘ Identität bzw. ein ‚westlicher‘ Blick durch die Begegnung mit dem ‚Anderen‘ in der Theatervorstellung The Civil Wars des Schweizer Theatermachers Milo Rau ( 2014 ) konstitutiert wird. Die Uraufführung von The Civil Wars fand am Brüsseler Kunstenfestivaldesarts im Mai 2014 statt, seitdem tourt die Produktion international. In Brüssel leben offiziell Menschen aus 174 Nationen, weniger als die Hälfte der Brüsseler Bevölkerung ist in Belgien geboren, und ein Drittel stammt aus einem nichteuropäischen Land. Dieser Reichtum wird Superdiversität genannt, ein Konzept, das vor allem die Diversität in der Diversität betont. In dem jährlichen Festival der performativen Künste wird stets eine Vielzahl an international zirkulierenden Aufführungen gezeigt. Der zweisprachige Festivalname Kunstenfestivaldesarts ist ein politisches Statement gegen politisch rechts gerichtete Spaltungsbewegungen, denn er integriert die beiden größten Bevölkerungsgruppen in Belgien, das sind die niederländischsprachigen Flamen und die französischsprachigen Wallonen. Die Aufführung The Civil Wars ist der erste Teil der Europa-Trilogie. The Civil Wars scheint eine Befragung der Realität zu sein und ist als Suche nach Antworten auf die Frage, warum junge Europäer aus Belgien in den „heiligen Krieg“ ziehen, angekündigt: 38 Siehe den Untertitel des Sammelbandes von Sting et al., Irritation und Vermittlung. Theater in einer interkulturellen und multireligiösen Gesellschaft. 39 Patrice Pavis, „Intercultural Theatre today“, in: Forum Modernes Theater 25 ( 2010 ), S. 5 - 15 , 14 . <?page no="138"?> 138 Katharina Pewny, Irfan Hošić Starting with the question of what drives hundreds of Europeans to fight for the establishment of a theocracy and against the dominance of the so-called West in Syria, Milo Rau is staging a four-voice-lecture performance about the premises behind insurrection and political engagement. 40 Die Aufführung entstand im Kontext öffentlicher Debatten im Frühling 2013 , als Männer aus den Niederlanden und Belgien nach Syrien gingen, um den so genannten heiligen Krieg zu fechten („Shariah 4 Belgium“). Die Formulierung „hundreds of Europeans“ nimmt eine sprachliche Gleichsetzung von Angehörigen unterschiedlicher Glaubensgemeinschaften als Europäer vor und ist daher als politische Geste gegen Islamfeindlichkeit zu lesen. The Civil Wars ist Teil des gegenwärtig wachsenden Korpus an semi- oder postdokumentarischem Theater, in dem Performer/ innen ihre eigene Geschichte zu erzählen scheinen, während Kinderfotos, Landkarten und/ oder Close ups ihrer Gesichter auf einem Bildschirm, der als hintere Bühnenwand dient, gezeigt werden. Dies sind beispielsweise neuere Arbeiten von Rabih Mroué, Romeo Castelluccis Operninszenierung Orfeo en Euridice ( 2014 ), das Theater von Rimini Protokoll oder She She Pops Frühlingsopfer ( 2014 ). Milo Raus Inszenierung ähnelt der in diesem Band viel besprochenen Praxis des deutschen Regielabels Rimini Protokoll, das so genannte „Experten des Alltags“, die von sich selbst berichten (zu scheinen), inszeniert. Ein Unterschied ist, dass in The Civil Wars nicht Laiendarsteller/ innen, sondern professionelle Schauspieler/ innen autobiografisch inszenierte Szenen performen. Dies wird deutlich durch die Mitwirkung von Johan Leysen und Sara de Bosschere, die beide in Belgien und darüber hinaus bekannte Schauspieler/ innen sind. Wenn wir von Hans Beltings These ausgehen, dass im Theater die westliche, neuzeitliche Perspektive sich in ihrer reinen Form zeigt, so zeigt sich diese Perspektive in The Civil Wars als verdoppelte oder gespaltene: Von einem ansteigenden Zuschauerraum aus blickt der Zuschauer von oben auf das bürgerliche Wohnzimmer, in dem die Schauspieler/ innen von sich selbst zu erzählen scheinen. Durch die Raumanordnung und das Bühnenbild wird auf die Konvention des Illusionstheaters als bürgerliche Bildungsstätte angespielt, das (ehemalige) Theaterpublikum sitzt gleichsam dem eigenen Spiegel gegenüber. Gleichzeitig findet eine perspektivische Ausrichtung an dem in Augenhöhe aufgehängten Screen statt, auf dem in immersiver Form entweder die Gesichter der Sprechenden oder Kinderfotos, Zeichnungen, etc., gezeigt werden. In dieser Aufführung zeigt sich die ‚westliche‘ Perspektive und Theaterkonvention daher als immer schon gespalten, verstört, mehrdeutig und verfremdet. In der ersten Szene erzählt Sébastien Foucault in dem 40 Online: http: / / kfdarc.live.statik.be/ en/ archive/ the-civil-wars [ 30 . 04 . 2016 ]. <?page no="139"?> Das Bild des ‚Muslims‘ als des ‚Anderen‘ 139 Wohnzimmer-ähnlichen Bühnenbild als Journalist „Joris“ von seinem Interview mit dem Vater eines jungen Mannes, der in den syrischen Dschihad gezogen ist. Die Suche nach seinen Motivationen hierfür verschiebt sich jedoch auf Kindheitserzählungen aller vier Charaktere. Der marokkanisch-französische und die drei europäisch/ belgischen Charaktere berichten von ihren Kindheitserinnerungen und insbesondere von dem problematischen Verhältnis zu den Vätern. Schlussendlich sind alle vier Figuren auf der narrativen Ebene dadurch verbunden, dass ihre Väter als gewalttätig, psychisch erkrankt und/ oder schwer gestört beschrieben werden. Johan Leysen, der deutlich älteste Schauspieler, sitzt während der meisten Szenen im Bühnenhintergrund und nimmt so den Platz des Vaters ein, er reflektiert sein persönliches Bedürfnis nach Revolution in den 1960 er und 1970 er Jahren. Wie oft in Belgien, ist diese Aufführung zweisprachig (französisch/ flämisch), die jeweils nicht gesprochene Sprache erscheint auf Untertiteln auf dem unteren Rand des Bildschirms. Die einzige Figur, die zwischen beiden Sprachen wechselt, ist Leysen. Aufgrund dieser sprachlichen Dramaturgie ist es die Vaterfigur, die über die innerbelgischen Sprach- und Kulturgrenzen und über die Religionen hinweg verbindet. Damit wird auf Gottvater/ Allah/ Jahve der christlichen, islamischen und jüdischen Religionen angespielt. Milo Rau inszeniert eine religionsübergreifende, transnationale Familienstruktur, die alle vor die Herausforderung stellt, in einer ödipalen Konstellation erwachsen zu werden. Karim Bel Kacem erzählt seinen Wunsch, durch den Kampf im heiligen Krieg dem gewalttätigen Vater (der ihn schlussendlich wieder nach Belgien zurückholen wird) zu entkommen. Sein ruhiger Schlaf unter dem arabischen Sternenhimmel wird dem ängstlichen Wachen im geschlossenen Schlafzimmer, den Schritten des gefürchteten Vaters lauschend, gegenübergestellt. Die abschließende Frage des Regisseurs/ Interviewers, ob er denn noch einmal die gleiche Entscheidung treffen und in den „heiligen Krieg“ ziehen würde, bejaht er, ohne zu zögern. Die Reduktion auf die Darstellung des Fremden, mit der migrantische Schauspieler/ innen im Theater oft kontrontiert werden, 41 wird hier umgangen, weil die vier Schauspieler/ innen sich selbst zu spielen scheinen. Die öffentliche Darstellung des eigenen „Ich“, die scheinbare Authentizität, erweist sich jedoch als Teil der Blickordnung, die sich selbst spiegelt und daher die Performance des Selbst als Teil einer neuzeitlichen Illusionsmaschine decouvriert (siehe Belting oben). Ihr ‚Anderer‘ ist der gewalttätige Vater aller Religionsgemeinschaften. Die nachfolgenden Ausführungen gelten daher dem Motiv der Vaterfigur, die als Religionen verbindende Instanz auftritt. In diesem Aspekt ähnelt The Civil Wars Fatih Akins Film Auf der anderen Seite ( 2007 ). Der zuvor bereits preisgekrönte Regisseur gewinnt mit Auf der anderen 41 Vgl. Norma Köhler, „Neugier-Ich: Subjektorientierte Biografiearbeit als interkulturelles Theater“, in: Sting et al., Irritation und Vermittlung, S. 129 - 146 , 131 . <?page no="140"?> 140 Katharina Pewny Seite den Preis der European Film Academy für das beste Drehbuch. Im gleichen Jahr wird Auf der anderen Seite drei weitere Male im europäischen Rahmen ausgezeichnet: mit dem Preis für das beste Drehbuch bei den Filmfestspielen von Cannes, mit dem Filmpreis Lux des EU -Parlaments und mit dem Norddeutschen Filmpreis. Letzterer prämiert Filme, die sich mit Themen zur kulturellen Vielfalt, zur Einigung und zu den Werten Europas befassen. 42 Angesiedelt zwischen Bremen und Hamburg einerseits und zwischen Istanbul und einem kleinen Fischerdorf andererseits, ist die visuelle und narrative Dramaturgie durch die Verbindung dieser Orte gekennzeichnet. Bereits der Titel Auf der anderen Seite suggeriert die Dichotomie der „einen“ und der „anderen“ Seite, die das Christentum und den Islam ebenso wie den Bosporus als Grenze Europas zu Asien mit einschließt. Akin führt Figuren, die in Deutschland und in der Türkei leben, durch die Verstrickung ihrer Geschichten zusammen. Wenn sie nicht zusammenfinden, dann leben bzw. fahren sie haarscharf aneinander vorbei. Hierfür werden bevorzugt Bahnfahrten, Busfahrten und Flüge als dramaturgische Mittel eingesetzt. Der Film zeichnet jedoch nicht nur geografische Seiten, sondern führt vor, was als ‚andere‘ Seite der Normalität gilt. Er handelt von illegalem Kampf im kurdischen Untergrund, 43 von lesbischer Liebe, von Sexarbeit und von Totschlag. Der Spannungsbogen, der sich im Laufe des Filmes aufbaut, mündet nach dem Mord an der jungen Protagonistin in den Begegnungen ihrer Mutter, die von Hanna Schygulla gespielt wird, mit Nejat Aksu, einem türkisch-deutschen Mann, der von Bakr Davrak gespielt wird. 44 Die deutsche Mutter und der deutsch-türkische Sohn sprechen über mögliche Ähnlichkeiten der deutschen und der türkischen Lebensweisen und insbesondere über Menschenopfer in der christlichen und in der muslimischen Religion. Sie betonen, dass das Opfer des Sohnes durch den Vater die großen Religionen verbindet. Der Ort der Annäherung der deutschen Frau und des deutsch-türkischen Mannes ist Istanbul. Die ältere Frau und der jüngere Mann stehen nebeneinander am Fenster, 42 Das „neue Europa“ wird in den Wissenschaften kritisch auf seine Ein- und Ausschlussmechanismen hin befragt. Exemplarisch vgl.: Helma Lutz, „The Long Shadows of the Past. The New Europe at a Crossroad“, in: Ilse Lenz et al. (Hgg.), Crossing Borders and Shifting Boundaries. Vol II: Gender, Identities and Networks, Opladen 2002 , S. 57 - 73 . 43 Frauen werden im Kampf gegen den türkischen Staat gezeigt. Der Film kann daher auch als Meta-Kommentar zu weiblicher Militanz gelesen werden. Interessant im deutschen Kontext ist, dass heftige Auseinandersetzungen der inhaftierten Frauen und gegenseitige Vorwürfe des Verrats gezeigt werden. Diese ähneln auf verblüffende Weise Inszenierungen von Auseinandersetzungen zwischen den RAF-Anführerinnen Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin, die 2007 , im 30 . Jahr des Deutschen Herbstes, öffentlich Thema und am Theater vor allem durch die Premiere von Elfriede Jelineks Ulrike Maria Stuart in der Regie von Nicolas Stemann präsent sind. 44 Die deutsche Schauspielerin Hanna Schygulla wurde in Filmen von Rainer Werner Fassbinder in den 1970 er Jahren bekannt und ist daher, ähnlich wie Johan Leysen, mit der linken Revolutionssehnsucht in europäischen Ländern der 1970 er Jahre verbunden. <?page no="141"?> blicken auf die Straße und beobachten ältere Männer auf ihrem Weg in die Moschee. Die Figur des Sohnes Nejat Aksu, der erst als Literaturprofessor in Hamburg und später als Buchhändler in Istanbul arbeitet, bewegt sich als einzige an all den genannten Orten und sucht im Laufe des Filmes Kontakt zu allen Figuren. Der Film endet mit seiner Suche nach dem Vater, der nach seinem Gefängnisaufenthalt (wegen Totschlags seiner Geliebten) als Fischer in einem Dorf am Meer lebt. Die letzte Einstellung zeigt den wartenden Sohn, der den aufkommenden Sturm beobachtet und realisiert, dass der Vater nicht mehr zurückkommen wird, sondern in dem Wasser, das Europa und Asien trennt, verschwunden ist. Damit verschwindet die Vaterfigur-- so wie die Gestalt des gewalttätigen und/ oder psychisch gestörten Vaters in The Civil Wars-- aus dem Blickfeld und aus der Geschichte. Diesen Vätern haften Alter, Gewalt und gesellschaftliche Nutzlosigkeit respektive der Ausschluss aus der ökonomischen Produktivität an. Während in Akins Film der türkische Vater diese Zuschreibungen verkörpert, werden sie von Milo Rau abgelöst von Herkunft und Religion und scheinen auf Generation (Eltern) und Geschlecht (männlich) übertragen zu sein. Beide Produktionen sind jedoch (mit Hans Belting) weniger als Aussage über Religionsgemeinschaften zu verstehen, sondern vielmehr als Selbstbild der gegenwärtigen postpatriarchalen, multikulturellen Cluster von Menschen, die Kunst- und Kulturfestivals bevölkern, zu verstehen. Inwiefern dies auch problematisch sein kann, betont Jinthana Haritaworn: On the one hand, global multicultural citizens „fit for neoliberal subjectivity“, on the other, disposable populations marked as „monocultural, irrational, regressive, patriarchal, or criminal“-[…]. While racism is renewed for people of colour without class privileges, who as a result of the departure of manufacturing for the South and the East and the dismantling of the welfare state have been turned into a surplus population, globalization also creates „multicultural“ as a new form of whiteness, or rather, the category of whiteness and its privileges are displaced into the category of multiculturalism“-[…]. 45 5. Schlussfolgerungen Eingeschlossen in die Selbstrepräsentation der multikulturellen Festival-Kontexte sind revolutionäre (und andere) Söhne und Töchter, die sich zwischen den Religionsgemeinschaften bewegen und/ oder in einer Art Selbst-Opferung der Verstörung 45 Jinthana Haritaworn, The Biopolitics of Mixing. Thai Multiracialities and Haunted Ascendancies, Surrey 2012 , S. 4 . Haritaworn zitiert in ihrer Ausführung aus: Jodi Melamed, „Reading Tehran in Lolita. Making Racialized and Gendered Difference Work for Neoliberal Multiculturalism“, in: Grace Kyungwon Hong, Roderick A. Ferguson (Hgg.), Strange Affinities: The Gender and Sexual Politics of Comparative Racialization, Durham 2011 , S. 76 - 111 , 87 - 88 . Das Bild des ‚Muslims‘ als des ‚Anderen‘ 141 <?page no="142"?> 142 Katharina Pewny durch den Vater entfliehen. Eingeschlossen ist auch die Gestalt des friedfertigen Vaters und der guten Mutter, die (als Johan Leysen oder Hanna Schygulla) die revolutionäre Tradition des Westens verkörpern und fortschreiben. Die ‚muslimischen‘ Väter und Männer älterer Generationen, die im Übrigen auch nicht (mehr) als Familienernährer gezeigt werden, haben mit ihrer ökonomischen Potenz auch ihre positiven Repräsentationen in der zeitgenössischen Kunst verloren. Der ‚Andere‘ der hier besprochenen Produktionen ist daher nicht bloß der ‚Muslim‘ an sich, sondern diese spezifische Gestalt. Das Paradigma der Inter- oder Multikulturalität, das gegenwärtig besonders gefragt ist in den einschlägigen transnationalen Festivals der performativen Künste, sollte daher immer auf seine Implikationen in Bezug auf Religion, Klasse, Generation und Geschlecht überprüft werden. <?page no="143"?> Menschen, Fremde, Tiere 143 Menschen, Fremde, Tiere Ethnologie und Interkulturalität am Beispiel von Rimini Protokolls Produktion Heuschrecken Franziska Schößler (Trier) Die Ethnologie als klassische eurozentrische Disziplin bestätigt in der Regel die Trennungen zwischen Vormoderne und Moderne sowie zwischen europäischen und nicht-europäischen Kulturen, produziert also einen ‚Great Divide‘ bzw. die Asymmetrie der (post-)kolonialen Situation. Für eine interkulturelle Theaterwissenschaft wäre deshalb an eine Ethnologie anzuknüpfen, die diese Trennungen beobachtet und suspendiert, an eine Ethnologie und Wissenschaftskritik, wie sie beispielsweise Bruno Latour und Donna Haraway entwickelt haben. Deren Ansätze durchkreuzen die ‚großen Trennungen‘ zwischen Menschen, Nicht-Menschen, Tieren und Kulturen, also die Arbeit der „anthropologischen Maschine“, von der Giorgio Agamben spricht, und sind im Kontext einer „Diffusion des Humanen“ zu situieren, die seit etwa 2000 aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven festgestellt wird: Im Schnittpunkt von Mikrobiologie und Makroökonomie, von Genetik und Reproduktionsmedizin, Philosophie und Ethik erodiert um die Jahrtausendwende die vermeintlich verlässliche Bestimmung dessen, was wir Mensch und Tier nennen, und die Beziehung von Mensch und Tier erfährt tief greifende Erschütterungen. 1 In gewissem Sinne kehrt man zu denjenigen flexiblen Verflechtungen zwischen Tier und Mensch zurück, die bis zum Funktionalismus der Frühen Neuzeit selbst in der christlich-jüdischen Tradition-- diese verortete den Menschen immerhin im Resonanzraum der ‚Schöpfung‘-- vorherrschend waren. Thomas Macho hält über den historischen Paradigmenwechsel fest: 1 Julia Bodenburg, Tier und Mensch. Zur Disposition des Humanen und Animalischen in Literatur, Philosophie und Kultur um 2000, Berlin u. a. 2012 , S. 13 . Diese fundamentalen Irritationen begleiten den rezenten Prozess der Globalisierung, der nationale wie kulturelle Grenzziehungen durchkreuzt. <?page no="144"?> 144 Franziska Schößler In derselben Zeit, in der man also lernte, Zahlen nicht mehr als Substanzen und Qualitäten zu begreifen, sondern mit ihnen als Funktionen zu operieren, in derselben Zeit, in der die Philosophie nicht nur die Gottesbeweise kritisierte, sondern nach den Voraussetzungen und kategorialen Funktionen der Erkenntnisleistungen zu fragen anfing, wurden die Begriffe des Tiers, des Menschen oder der Maschine-- analog zu den Begriffen der Natur, Kultur und Technik- - programmatisch geschärft, anstatt zur Bestimmung der funktionalen Arrangements überzugehen, in denen konkrete Tiere, Menschen und Maschinen auf vielfache Weise zusammenwirken und interagieren. 2 Im Folgenden wird das Latour’sche Modell, das Tiere, Menschen und Maschinen als Netzwerke denkt, in Abbreviatur vorgestellt. Es greift in ebenso vielfältiger wie kreativer Weise auf Theatermetaphern und -modelle zurück und eignet sich auch deshalb für die Analyse der theatralen Tier-Mensch-Netzwerke, Labore und stereoskopischen Blicksituationen bei Rimini Protokoll, die im zweiten Teil des Beitrags zum Gegenstand werden. 1. Die großen Trennungen Bruno Latour beschreibt in Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie einen prinzipiellen Hiatus der modernen Gesellschaft. Diese nehme einerseits permanente ‚Reinigungen‘ vor, das heißt, sie trenne Diskurse voneinander ab, begreife beispielsweise die Natur als transzendent und die Gesellschaft als politisches Projekt, hebe andererseits jedoch diese Abtrennungen durch die Konstruktion von Hybriden, von Mischformen aus Natur und Gesellschaft, wieder auf. Bedingung der Moderne sei, dass die Trennungen nicht in ihrem engen Zusammenhang mit den Überschreitungen gesehen werden, dass man die Gleichzeitigkeit von Reinheit und Hybridbildung ignoriere. Während die Vormodernen mit „dem sorgfältigen Durchdenken der Verbindungen zwischen Natur und Kultur beschäftigt“ seien und die Ethnologie genau diese Vermischungen wahrnehmen könne, 3 sei das Tun der Modernen nur möglich, weil sie „eisern an der Dichotomie zwischen Natur- und Gesellschaftsordnung festhalten. Diese Dichotomie wiederum ist nur möglich, weil Reinigungsarbeit und Vermittlungsarbeit nie zusammen betrachtet werden“. 4 Ein Ethnologe der Gegenwart, der nicht modern wäre, weil er Kontinuitäten, nicht Trennungen unterstelle, 2 Thomas Macho, „Tiere, Menschen, Maschinen. Zur Kritik der anthropologischen Differenz“, in: Jörn Ahrens, Mirjam Biermann, Georg Toepfer (Hgg.), Die Diffusion des Humanen: Grenzregime zwischen Leben und Kulturen, Frankfurt a. M. u. a. 2007 , S. 17 - 29 , 28 . 3 Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a. M. 2008 , S. 58 . 4 Ebd., S. 56 . Diese Trennung ergibt sich aus wissenschaftlichen Entdeckungen in der Politik, der Philosophie und der Naturwissenschaft, die die Repräsentation des Menschen von der Darstellung nicht-menschlicher Wesen und damit die Epistemologie von der Gesellschaftsordnung separieren. <?page no="145"?> Menschen, Fremde, Tiere 145 müßte sich an den gemeinsamen Ort versetzen, wo die Rollen, Aktionen und Kompetenzen verteilt werden, durch die dieses oder jenes Wesen als belebt oder unbelebt, ein anderes als Rechtssubjekt, wieder ein anderes als bewußtseinsbegabt, mechanisch, unbewußt oder unzurechnungsfähig definiert wird. Er müßte vergleichen, wie Materie, Recht, Bewußtsein, Tierseele jeweils definiert oder nicht definiert werden, ohne dabei von der modernen Metaphysik auszugehen. 5 An die Stelle der leeren Arena in der modernen Gesellschaft setzt Latour deshalb die Vermittlung, die Netze und Hybride, die die grundlegende Trennung von Subjekt und Objekt aufheben. 6 Er propagiert eine „Anthropologie der Wissenschaft“, die sich gegen die Asymmetrie von Wissenschaft und anderen Glaubenssystemen richtet und sich in hohem Maße interdisziplinär vernetzt. 7 Latour bedient sich einer Vielzahl an Theaterkonzepten, die das Inszenatorische sowie die intrikaten Wahrnehmungskonstellationen in den Wissenschaften profilieren. Seinem Pandora-Projekt, das um die Gemachtheit, die ‚Fiktionalität‘ von wissenschaftlichen Tatsachen kreist-- ähnlich wie die Studien der Wissenschaftssoziologin Karin Knorr Cetina- -, 8 liegt ein polyperspektivischer bzw. stereoskopischer Blick zugrunde, der wiederholt seine ‚Einstellungen‘ verändert und auf die „gleichzeitige Betrachtung von Wissen und Glauben, Natur und Gesellschaft sowie Moderne und Postbzw. Prämoderne“ zielt. 9 Ein ethnologischer Blick, der Hybride, also Mischungen, beobachte, müsse ein stereoskopischer sein, der permanent seine Perspektiven verändere, so Latour-- für Bertolt Brecht, der in seiner Schauspiel- und Theatertheorie die Überlagerung diverser historischer Möglichkeiten im Gestarium verlangt, ein fundamentales Verfahren des Theaters. 10 Darüber hinaus bezeichnet Latour in seiner Studie Les Microbes das Labor, das wissenschaftliche Erkenntnisse in soziale Felder einschreibt und umgekehrt, als „Theater des Beweises“, 11 denn auch ein Beweis müsse inszeniert und aufgeführt werden. Und selbst sein Konzept des Akteurs ist am Theater geschult; dieser sei dramatis 5 Ebd., S. 24 . 6 Vgl. ebd., S. 35 . Danach sind Hybride in der Laborsituation entstehende Akteure, die zwar träge Körper sind, unfähig zu Willen und Vorurteil, jedoch fähig zu zeigen, zu schreiben und zu kritzeln; sie sind mit Sinn begabte nicht-menschliche Wesen. 7 Henning Schmidgen, Bruno Latour zur Einführung, Hamburg 2011 , S. 131 . Den Begriff „Anthropologie“ gebraucht Latour als Metapher und versteht darunter eine deskriptive Methode der Ethnographie. 8 Ähnlich wie Latour untersucht sie die Selektions- und Übersetzungsprozesse, die wissenschaftliche Tatsachen generieren. Vgl. Karin Knorr Cetina, Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, 3 . erweiterte Neuauflage, Frankfurt a. M. 2012 , u. a. S. 26 - 27 . 9 Schmidgen, Bruno Latour zur Einführung, S. 83 . 10 Latour spricht seinerseits vom Doppelgesicht der Wissenschaft und ihrem binokularen Blick (vgl. ebd., S. 122 ). 11 Ebd., S. 91 . <?page no="146"?> 146 Franziska Schößler persona, recht eigentlich aber dramatis personae, denn man könne nicht alleine Theater spielen, 12 und werde durch die Aufführungen im Labor konstituiert. Latours Rede von dem kollektiv generierten Agon der wissenschaftlichen Tatsachen, sein Versuch, einen verfremdenden Blick auf die Wissenschaften zu werfen, sowie die Annahme, dass auch nicht-menschliche Akteure Zeichen bildeten und lesbar seien, machen ebenfalls Anleihen an Theatermetaphern und -modellen, die seine Überlegungen seinerseits für das Theater attraktiv werden lassen. Latours Science Studies befragen dabei sowohl die Differenzen zwischen menschlichen Kulturen als auch die scheinbar fundamentalere Differenz zwischen Menschen und nichtmenschlichen Akteuren, zu denen- - so will es die „anthropologische Maschine“ der Moderne-- neben Instrumenten auch Tiere zählen. Den unterstellten strukturellen Zusammenhang von Tier/ Mensch-Trennungen und kulturellen Asymmetrien bestätigen Giorgio Agambens Texte, beispielsweise seine Studie Das Offene. Der Mensch und das Tier, die die Grenze zwischen Tier und Mensch in diesen selbst verlegt. 13 Agamben beschreibt das abendländische Subjekt als Produkt von aporetischen Trennungen zwischen Humanitas und einer Animalität, die dem biopolitischen Rest, dem homo sacer, entspricht. Der Mensch definiere sich, so verdeutlicht seine Lektüre diverser historischer Entwürfe, über eine abgetrennte Animalität als stummer Mensch, als nicht-sprachliche Entität, als die er sich selbst erkennen muss, um sich davon abtrennen zu können- - die vormodernen Konzeptionen gingen hingegen von der Symbolisierungsfähigkeit des Tieres aus. 14 Es gibt mithin, so führt Agamben aus, keine substanziellen Differenzen zwischen Tier und Mensch, sondern lediglich die Selbsterkenntnis als Bedingung von Abtrennung, das heißt, dass nur derjenige Mensch ist, „der sich selbst als solcher erkennt, daß der Mensch dasjenige Tier ist, das sich selbst als menschlich erkennen muß, um es zu sein“. 15 Seine Internalisierung der Grenzziehungen scheint auf einen assimilatorischen Ansatz zu verweisen, der Tier und Mensch über Gradationen und Entwicklungen verbindet-- der Mensch muss sich, „um menschlich zu sein, als Nicht-Mensch erkennen“. 16 Menschsein wird zum Produkt einer „anthropologischen Maschine“, die gleichwohl harsche Trennungen zwischen Mensch und Tier vornimmt und auch diejenigen Exklusionen organisiert, die das „nackte Leben“ entstehen lassen, das heißt die Grenzen zwischen Selbst und Fremdem, zwischen wertem und unwertem Leben, oder auch, um mit 12 Ebd., S. 103 . 13 So betont Bodenburg, Tier und Mensch, S. 80 . 14 Macho, „Tiere, Menschen, Maschinen“, S. 17 . 15 Giorgio Agamben, Das Offene. Der Mensch und das Tier, aus dem Italienischen von Davide Giuriato, Frankfurt a. M. 2003 , S. 36 . 16 Ebd., S. 38 . <?page no="147"?> Menschen, Fremde, Tiere 147 Judith Butler zu sprechen, zwischen betrauerbarem und unbetrauerbarem Leben. 17 Agamben generalisiert die beschriebene Ausschlussbewegung, wenn er festhält, dass die anthropologische Maschine funktioniere, indem sie ein Schon-Humanes als (noch) Nicht-Humanes aus sich ausschließt, das heißt sie animalisiert den Menschen, indem sie das Nicht-Humane im Menschen absondert: den Homo alalus oder den Affenmenschen. Und es genügt, unser Forschungsfeld um einige Jahrzehnte nach vorn zu verlagern, und wir werden anstelle dieses harmlosen paläontologischen Fundes den Juden, den im Menschen erzeugten Nichtmenschen, vorfinden oder den néomort und den Ultrakomatösen, das heißt das im menschlichen Körper selbst abgesonderte Tier . 18 Die von Agamben entwickelte Ausschlussfigur lässt mithin das Inferiore, Subalterne überhaupt entstehen, den Sklaven, den Barbaren und den Fremden „als Figuren des Animalischen mit menschlichen Formen“. 19 Der umstrittene Tierphilosoph Peter Singer stellt einen ähnlichen Zusammenhang zwischen der Exklusion von Tieren, die er im Anschluss an den Rassismus „Speziezismus“ nennt, und bestimmten Menschengruppen wie Sklaven und Frauen her. 20 Über Tierexperimente auf der Bühne werden mithin zugleich Fragen nach Alterität und der prozessualen Genese von Identität gestellt. 21 Im Vorwort der Ausgabe On Animals der Zeitschrift Performance Research heißt es, dass ein Theater „beyond the human“ die menschlichen Grenzen befrage, „an invocation of complexity“ sei und Aussagen über „inter-species subjectivity“ ermögliche. 22 Interkulturalität ließe sich vor den hier angedeuteten theoretischen Debatten, die von Aristoteles über Descartes und Hegel bis zur Gegenwart reichen, 23 in ei- 17 Judith Butler, Gefährdetes Leben. Politische Essays, 4 . Aufl., Frankfurt a. M. 2012 , u. a. S. 11 , 29 , 49 . 18 Agamben, Das Offene, S. 47 . 19 Ebd. 20 Vgl. Markus Wild, Tierphilosophie zur Einführung, Hamburg 2008 , S. 30 ; ebenso Bodenburg, Tier und Mensch, S. 104 - 105 . 21 Agambens Text spielt in einer der Produktionen von René Pollesch eine zentrale Rolle. 1000 Dämonen wünschen dir den Tod aus der Prater-Trilogie etabliert einen Dialog zwischen europäischer Subjektphilosophie und magisch-metamorphotischen Praktiken Afrikas bzw. Verwandlungsszenarien, die dem abendländischen Konzept eines autonomen, mit sich identischen Subjekts widersprechen. Pollesch untersucht in einer experimentellen Kombinatorik von Theoremen auf einem heterotopischen intellektuellen Tableau das Verhältnis zwischen magischen Transformationspraktiken, die die Subjektgrenzen durch Tier-Metamorphosen in Frage stellen, und der europäischen Sehnsucht nach dem Ende des Subjekts in der Posthistorie, wie es Foucault angedeutet hat und Agamben weiterverfolgt. Vgl. dazu Franziska Schößler, Drama und Theater nach 1989. Prekär, interkulturell, intermedial, Hannover 2013 , S. 166 - 176 . 22 Alan Read, „Editorial“, in: Performance Research 5 ( 2000 ), 2 , S. iii-iv, iii. 23 Zu Aristoteles vgl. Macho, „Tiere, Menschen, Maschinen“, S. 19 - 20 . <?page no="148"?> 148 Franziska Schößler nem weiten Sinne fassen, nämlich als hybrides Netzwerk von Dingen, Tieren und Menschen, das auch die Abtrennungen zwischen den Entitäten, deren Geschichte und Begründungszusammenhänge befragt. Oder anders formuliert: Über die Grenzziehungen zwischen Tier und Mensch können diejenigen zwischen menschlichen Kulturen verhandelt werden- - in der Moderne stellt der Ausschluss von scheinbar inferioren Klassen oder Fremden aus dem Menschlichen eine ebenso wirksame wie beliebte Strategie der Entmachtung dar. Rimini Protokolls Tierproduktionen hingegen entwerfen fluide inkludierende Netzwerke, die Natur- und Gesellschaftswissen zusammenführen und die Grenzen zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren in polyperspektivischen Blickkonstellationen unterlaufen. 2. Rimini Protokolls Tiere und Labore Tierexperimente auf der Bühne sind insbesondere in der Performance beliebt: Zu erinnern wäre etwa an Joseph Beuys’ Experiment Coyote, I like America and America likes me ( 1974 ), das den Schamanen-Künstler zum Pendant des auratisierten Tieres werden lässt, oder an die Tier-Mensch-Metamorphosen in Matthew Barneys Cremaster-Serie ( 1994 - 2002 ). 24 Insbesondere dem Menschen nahestehende Tiere wie Pferde und Hunde erlauben Performern die Erprobung bzw. Simulation von alternativen Wahrnehmungsweisen, von körperlichem Denken und Ritualität. 25 Romeo Castellucci beispielsweise knüpft in seinen verstörenden Tier-Performances an die antiken Wurzeln der Tragödie, an den Bocksgesang, an und bezieht das Tier konsequent auf das Divine. 26 In Rimini Protokolls Tier-Produktionen geht es hingegen nicht um auratisierte Körperlichkeit und die Evokation von Transzendenz (in der Präsenz), sondern um Tier-Mensch-Maschine-Netzwerke in der gegenwärtigen Wissensgesellschaft. Rimini Protokolls Tierexperimente befragen nicht nur das klassische Repräsentationstheater-- das liegt auf der Hand--, sondern auch die ‚großen Trennungen‘ von Natur/ Gesellschaft und verwandeln das Theater in einen interdisziplinären Raum posthumaner, postkolonialer Feldforschung. Tiere entdecken Rimini Protokoll auf ihrer Suche nach Darstellern, die die Konventionen des illusionistisch-repräsentierenden Schauspiels kenntlich machen und durchbrechen. In ihrer Poetologie ABCD . Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik experimentieren sie unter dem Stichwort Prognosen mit der Größe von Schauspielern und imaginieren transportable Miniaturmimen: „In einem mikro- 24 Vgl. dazu Andrea Philips, „A Dog’s Life“, in: Performance Research 5 ( 2000 ), 2 , S. 125 - 130 , 128 - 129 . 25 Vgl. David Williams, „The Right Horse, The Animal Eye-- Bartabas and Théâtre Zingaro“, in: Performance Research 5 ( 2000 ), 2 , S. 29 - 40 , 35 . 26 Romeo Castellucci, „The Animal Being on Stage“, in: Performance Research 5 ( 2000 ), 2 , S. 23 - 28 , 24 - 25 . <?page no="149"?> Menschen, Fremde, Tiere 149 biologischen Theaterlabor werden ganz kleine Schauspieler gezüchtet, damit man Theateraufführungen überallhin mitnehmen kann und die Minischauspieler ihr eingeübtes Spiel überall vormachen können“. 27 Unmittelbar im Anschluss daran heißt es: „Es wird Theateraufführungen für Haustiere geben: -- Theater für Hunde, die bei hohen Frequenzen bellen.- - Theater für Kühe, die während des Stückes essen.-- Theater für Robben, die ununterbrochen klatschen“. 28 Dieses animalische Theater, das das klassische Publikum des Repräsentationstheaters merklich verfremdet, schließt in gewissem Sinne an Brechts Forderung nach einem Rauch- und Bewegungstheater an, um sie hyperbolisch zu überbieten. In ihrem ABCD heißt es unter dem Eintrag Tiere zudem, dass diese als Hauptdarsteller stark unterschätzt seien, „viel zu oft nur als Statisten auf Bühnen geduldet. Wenn man nicht versucht, sie zu zähmen oder zu domptieren, sondern für sie ein lebenswertes Umfeld schafft, dann haben ihre Rollenspiele viel zu erzählen“. 29 Tiere besitzen nach Rimini Protokoll, die auf der Suche nach diversifizierten (Alltags-)Theatralitäten sind, ihre ganz eigene Theatralität, ihre eigene Dramaturgie jenseits circensischer Domestikationspraktiken, und sie irritieren die arbeitsteiligen Zuständigkeiten im Theater-- beispielsweise durch ihre Exkremente, die in der Produktion ¡Sentate! umständlich als Requisiten definiert werden mussten, um entfernt werden zu können. 30 Rimini Protokolls Tierexperimente ermöglichen darüber hinaus in rein quantitativer Hinsicht riesige Populationen im ‚Theater‘, wie in Staat. Ein Terrarium ( 2002 ) besonders deutlich wird- - die hier präsentierte Ameisenpopulation überbietet die Avantgarde-Experimente Max Reinhardts mit großen Zuschauerzahlen bei weitem. 31 Tiere fordern in Rimini Protokolls Wissenstheater zur Beobachtung heraus und erscheinen immer auch als Fremde, als unbekannte Spezies im Sinne eines differenziellen Verhältnisses zwischen Mensch und Tier, das die anthropologi- 27 Rimini Protokoll, ABCD. Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik. Von Helgard Haug, Stefan Kaegi, Daniel Wetzel, hg. v. Johannes Birgfeld, Berlin 2013 , S. 87 . 28 Ebd. 29 Ebd., S. 130 . 30 Ebd., S. 102 . 31 Ameisen, so macht ein Zitat von Hölldobler/ Wilson (Bert Hölldobler, Edward O. Wilson, Ameisen. Die Entdeckung einer faszinierenden Welt, aus dem Amerikanischen von Susanne Böll, Basel u. a. 1995 ) auf der Homepage von Rimini Protokoll kenntlich, bilden eine Population, die an den Sozialismus denken lässt, unter anderem weil Gefühle über das Einzelwesen hinaus zirkulieren. In dem Projekt Staat. Ein Terrarium von 2002 geht es um das verfremdende Zusammenspiel von philosophischen Überlegungen über Staat und Gemeinschaft (Plato, Hobbes), um eine Simulation des Staates, um die Transgression des Theaters und vor allem um Netze aus Menschen, Tieren und Instrumenten, die sich gegenseitig beobachten und kommentieren. (Zitat von Hölldobler/ Wilson auf der Homepage von Rimini Protokoll, online: http: / / www.rimini-protokoll.de/ website/ de/ project_ 351 .html [ 30 . 04 . 2016 ]. <?page no="150"?> 150 Franziska Schößler sche Differenz fassbar werden lässt. 32 Sie werden jedoch zugleich in ein dichtes semiotisch-rhetorisches Gewebe aus Symbolisierungen eingelassen, so dass sie über menschliche Verhältnisse Auskunft geben, an diese assimilatorisch angenähert werden und anthropomorphisierbar sind-- Niels Werber hat für die Spezies der Ameisen die komplexen Austauschbeziehungen zwischen Entomologie und Soziologie aufgezeigt, die dichten Metaphern- und Vergleichsnetze, die für die Legitimation gesellschaftlicher Soziabilität in ihren spezifischen Formen eingesetzt werden können. 33 In Europa tanzt. 48 Stunden Wiener Kongress für 72 Meerschweinchen ( 2001 ) stellt Rimini Protokoll das historische Ereignis des Wiener Kongresses, eines rauschenden Balles trotz tiefgreifender europäischer Feindschaften, mit Meerschweinchen in ihren Gehegen nach. Die Tiere, die sich ohne Skript bewegen und über eine differenzierte Sprache verfügen- - diese wird für den menschlichen Rezipienten übersetzt, wenn es heißt: „Mittelhohes Quieken: Bettellaute, Hohes Quieken: Angst, Schreien: Schmerzen, Gurren: vollauf zufrieden“ etc.- -, 34 generieren Zufallsmomente sowie deutliche Verfremdungseffekte, die den politischen Vorgang kontingent zu kommentieren vermögen. Das Szenario dementiert die Idee einer zielgerichteten, von Menschen gemachten, planbaren Geschichte, splittert vor allem aber die Makrogeschichte in die irregulären Fragmente von Mikronarrativen auf. Die Produktion Europa tanzt illustriert über die Mensch-Tier-(Nicht-)Differenz 35 ein globales Ereignis, das Migration, Nomadentum, Exklusionen und Machtgeschichte aufruft. In Rimini Protokolls Arbeiten zeichnet sich entsprechend eine auffällige Kontiguität zwischen Tier-Akteuren und der Thematisierung von politischen sowie kulturellen Grenzziehungen ab. 36 So heißt es im ABCD unter Prognosen unmittelbar im Anschluss an die bereits zitierten Tierexperimente: 32 Wild, Tierphilosophie zur Einführung, S. 36 . 33 Niels Werber, Ameisengesellschaften. Eine Faszinationsgeschichte, Frankfurt a. M. 2013 , u. a. S. 20 , 31 , 43 , 45 . 34 Online: http: / / www.rimini-protokoll.de/ website/ de/ project_ 468 .html [ 30 . 04 . 2016 ]. 35 Ähnlich wie Latour verstehen Rimini Protokoll Viren als eigenständige Akteure, als Systemerweiterer, die „erst einmal schauen, was schon da ist. Viren und Parasiten sind Vorbild für ein Theater, das keine machtvolle Institution sein will, sondern sich das Leben erst einmal anschaut, wie es spielt“ (Rimini Protokoll, ABCD, S. 143 ). In seiner Untersuchung zu Pasteur beschreibt Latour, wie das Soziale selbst zunehmend nicht mehr aus dem Universum der Arbeiter besteht, sondern aus Mikroben, Bakterien und Viren; die wissenschaftliche Entdeckung definiert das soziale Band neu. (Schmidgen, Bruno Latour zur Einführung, S. 93 .) 36 Glühkäferkomplott von Kaegi ( 2002 ) beschäftigt sich mit der Zerstörungskraft von Bombardierkäfern und Glühkäfern, die bestimmte Guerillastrategien zum Überleben entwerfen. Auch hier geht es um einen globalen Kontext, um globale Werbekampagnen (vgl. Rimini Protokoll, ABCD, S. 44 )-- die Käfer zerfressen Werbeikonen auf Holz. <?page no="151"?> Menschen, Fremde, Tiere 151 In jeder Stadt wird es Orte geben, an denen Migranten und Touristen abwechselnd von ihrer Heimat erzählen. Es wird ganze Familien von Migranten im Theater geben. Zuschauer werden sie dafür bezahlen, an einem Ort ihre Odyssee zu unterbrechen und innezuhalten. Theater werden zu Ländervertretungen, Auffangstationen, Botschaften. 37 Insbesondere nationale Grenzen werden theatralisiert und auf diese Weise als aleatorisches ‚politisches Theater‘ erfahrbar: „An Landesgrenzen werden Zuschauertribünen aufgebaut und mit Feldstechern bestückt“. 38 In der Produktion Heuschrecken überwinden die Insekten ganz problemlos die Miniaturgrenzzäune, allerdings jenseits menschlicher Migrationswünsche; die Zuschauer beobachten diese Vorgänge mit Feldstechern. 3. Natur und Gesellschaft in Heuschrecken In Rimini Protokolls Produktion Heuschrecken wird das Theater zum Labor; das ‚Bühnenbild‘ simuliert den Lebensraum von Heuschrecken und repräsentiert die Migrationsgeschichte eines Somaliers, die von Afrika nach Europa und Südamerika führt. In diesem Setting finden vielfältige Übersetzungen 39 zwischen Disziplinen und Expert/ innen, aber auch zwischen Naturwissenschaft und Gesellschaft statt, hier durch das Theaterpublikum vertreten-- Wissenschaftler/ innen müssten, so Latour in Die Hoffnung der Pandora, ihrer Disziplin einen Kontext verschaffen, „der gesichert und groß genug ist, damit sie existieren und fortbestehen kann“. 40 Für den Abend Heuschrecken kommen Expert/ innen aus der Migrationsforschung, der Politologie, der Lebensmittelforschung, der Insektenkunde und der Astrophysik zusammen, 41 so dass das theatrale Labor einen interdisziplinären Kommunikationsraum bildet; nach Latour wirft Interdisziplinarität, der Brecht’schen Verfremdung ähnlich, neue Blicke auf die vertrauten Disziplinen. 42 Rimini Protokoll arbeitet auch in dieser Produktion mit einem polyperspektivischen und grundsätzlich doppelten Blick auf das ‚Objekt‘, das einerseits als Heuschrecke eine geläufige Metapher für ‚gefräßige‘ Banker ist und andererseits als Tier, als ganz Anderes, merkwürdig befremdend wirkt. Das Projekt denkt damit 37 Rimini Protokoll, ABCD, S. 88 . 38 Ebd. 39 Latour beschreibt in Die Hoffnung der Pandora seine ethnologischen Beobachtungen von wissenschaftlichen Klassifikationsvorgängen, beispielsweise in der Bodenkunde, also die vielfältigen Übersetzungen, die Objekte transportabel und reproduzierbar machen. Vgl. Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt a. M. 2002 . 40 Ebd., S. 126 . 41 Bewegt sich eine Astronautin durch das Terrain, so wird in suggestiven Bildern das historische Mikro-Makrokosmos-Modell aufgerufen. 42 Vgl. Schmidgen, Bruno Latour zur Einführung, S. 176 . <?page no="152"?> 152 Franziska Schößler in zum Teil buchstäblichen mikroskopischen Einstellungen, die auf Leinwände projiziert werden, die getrennten Bewegungen der Moderne zusammen, das heißt die Naturwissenschaft bzw. die Heuschrecke als biologisch zu beschreibendes Tier und das Gesellschaftliche bzw. das (A-)Soziale der Finanzwirtschaft, das auf diese Weise mit der Natur hybridisiert, jedoch nicht naturalisiert wird- - Brecht und Jelinek beispielsweise kritisieren in ihren Theatertexten jegliche Form der Naturalisierung von Ökonomie, wie sie Tiervergleiche nahelegen. 43 Die Gruppe Rimini Protokoll entwirft hingegen ein komplexes semiotisches System, das auch die populäre finanzkritische Metapher der Heuschrecke verunsichert. 44 Die Heuschrecke fungiert als polyvalentes Symbol und als Quasi-Objekt, an dem sich Netzwerke von Dingen, Experten sowie Instrumenten generieren, vor allem aber Netzwerke zwischen Natur und Gesellschaft-- mit der Entdeckung von Körperlichkeit wie in den Tier-Performances von Romeo Castellucci hat dieses zeichenhafte Wissenstheater wenig gemein. Das Biotop der Insekten ist von Akteuren samt ihrer Instrumente umstellt, die zu Beginn des Abends, der Legende eines klassischen Dramas vergleichbar, vorgestellt werden, und zwar dezidiert als Netzwerke aus Menschen und Maschinen. Demgemäß finden ethnologische Feldforschungen und hermeneutische Exegesen statt- - die beiden zentralen Interessen Latours. 45 Die Gruppe Rimini Protokoll führt in ihrem ABCD unter Autor aus: „Die Geschichten selbst müssen nicht erfunden werden, es gilt, sie einzurahmen, auszuwählen und zu fokussieren, zu verbinden, sodass das Publikum sie selbst mit dem eigenen Hermeneutik-Mikroskop durchleuchten kann“. 46 Die Zuschauer sind-- eine Verbuchstäblichung dieser Metapher-- mit Feldstechern ausgestattet und bilden als Cyborgs selbst Netzwerke aus Menschen und Maschinen. Sie legen sich die Situationen aus und werden zu Exegeten der Tiere, unterstützt von Experten, die das Trommeln der Heuschrecken, ihre Sprungwerkzeuge, ihre Fortpflanzung, ihr Sterben etc. erklären. Entsprechend dominieren das Zeigen und Vorführen, die Brecht’sche Demonstration, die auch für Latour zentral ist: Das Soziale selbst, so der Wissenschaftler, habe einen Verweisungscharakter; die Geste füge zusammen, und zwar bevorzugt Belebtes und 43 Vgl. zum Beispiel Elfriede Jelineks Stück zur Finanzkrise, Die Kontrakte des Kaufmanns. Vgl ferner Schößler, Drama und Theater nach 1989, S. 26 , sowie Werber, Ameisengesellschaften, S. 31 . 44 Vgl. zur topischen Finanzkritik Franziska Schößler, Börsenfieber und Kaufrausch. Ökonomie, Judentum und Weiblichkeit bei Theodor Fontane, Heinrich Mann, Thomas Mann, Arthur Schnitzler und Emile Zola, Bielefeld 2009 . 45 Im Zentrum seines Interesses steht die Ethnologie, auch im Sinne der Ethnomethodologie der 1970 er Jahre (Schmidgen, Bruno Latour zur Einführung, S. 181 ), die die Partizipation des Betrachters und seine Exegese verlangt (ebd., S. 169 ). 46 Rimini Protokoll, ABCD, S. 10 . <?page no="153"?> Menschen, Fremde, Tiere 153 Unbelebtes, das Humane und Nicht-Humane. 47 Ein Zeigetheater der Unterbrechung und Distanznahme ist in gewissem Sinne immer schon ein ethnologisches, auch über die eigenen Wirklichkeiten, wie Brechts Straßenszene verdeutlicht. Im ABCD heißt es: „Wir zeigen Leute, die zeigen“. 48 Der Raum, in dem sich die Heuschrecken bewegen, simuliert zum einen ihren Lebensraum, der durch filmische Projektionen mit diversen Narrativen wie der biblischen Erzählung von der Heuschreckenplage angereichert wird, und bildet zum anderen eine Spielwiese menschlichen interkulturellen Lebens, denn die diversen Orte des Biotops repräsentieren diejenigen Kontinente, die für die Biographie von Zakaria Farah eine zentrale Rolle spielen. Seine Biographie ist eine gebrochene, 49 führt von Afrika nach Kanada, von einem Erfahrungswissen durch das Leben in der Wüste zur Lebensmittelexpertise, und überschreitet den Great Divide. Diese individuelle menschliche Erfahrung zwischen Räumen und Kulturen wird von der aktuellen physischen Bewegung der Heuschrecken und einem kollektiven menschlichen Migrationsschicksal, das die Insekten symbolisieren, diaphanisch überlagert: An einem Ort des Biotops ist ein Miniaturzaun aufgestellt, der die Grenze zwischen Mexiko und den USA markiert, so dass die hügelige Landschaft zugleich den sozialen Raum politischer Grenzziehungen und Exklusionen repräsentiert. Der semiotisch komplexe Raum ist also ein biographischer, ein transnationaler (des Geldes)- - die Heuschrecken machen sich über wenige Grasbüschel her, die als die endlichen Ressourcen Gold, Öl etc. ausgewiesen sind-- ein nicht-menschlicher, ja ein extraterrestrischer- - er wird zuweilen mit dem Mars verglichen- -, und er ist ein medialer, denn zahlreiche Detailaufnahmen, Screenings genannt, partialisieren das Arrangement. Der modellhafte Raum als hybride Schnittmenge zwischen menschlichen Sozialformen in diversen Kulturen und animalischem Leben verdichtet Natur und Gesellschaft in Symbolen, die beide Sphären in komplexen Übersetzungen vernetzen und lesbar machen. Damit lässt sich die Raumkonstellation der Produktion von den theatralen Inszenierungen in zoologischen Gärten abgrenzen, die gemeinhin Ausdruck von kolonialen und imperialistischen Bestrebungen sind, gleichwohl als Paradiese zu erscheinen versuchen, 50 vor allem aber die anthropologische Maschine über die profilierten Grenzziehungen zwischen Tieren/ ‚Wilden‘ und Menschen in Gang halten. 51 Rimini Protokolls Produktion Heuschrecken verschiebt diese Grenzen permanent durch Exegesen und deterritorialisierende Blicke. Auch deshalb erweist sich die Namengebung der Laborlandschaft zunächst als problematisch und provoziert Auseinandersetzungen. 47 Vgl. Schmidgen, Bruno Latour zur Einführung, S. 179 . 48 Rimini Protokoll, ABCD, S. 19 . 49 Vgl. dazu auch Schößler, Drama und Theater nach 1989, S. 106 . 50 Vgl. Bodenburg, Tier und Mensch, S. 248 . 51 Vgl. ebd., S. 240 . <?page no="154"?> 154 Franziska Schößler Die Gruppe überlegt zunächst, den Tälern und Hügeln schweizerische Namen zu geben, ließe damit jedoch den Eindruck einer befürchteten Invasion entstehen. Auf dem Mars wurden, so heißt es im ABCD unter dem Stichwort Versuch weiter, die Täler und Berge nach Namen von Verwandten der Astronauten benannt, in Afrika entschieden Kolonialmächte über Ortsnamen. Die Theatermacher beschließen deshalb, die „Landschaft nach einer Erinnerungswelt zu kartographieren: Nach dem Lebensweg von Zakaria Farah“. 52 Räumliche Bedingung der hybriden Netzwerke, die die getrennten Sphären von Natur und Gesellschaft durch rhetorische Verfahren wie Verbuchstäblichung, Metonymie und Metapher aufeinander beziehen, ist also in gewissem Sinne das Modell. Mnemopark ( 2005 ) von Stefan Kaegi beispielsweise stellt die Schweiz in Zusammenarbeit mit den Modulbaufreunden Basel en miniature nach. Modelle können-- und damit eignen sie sich für ein Theaterkonzept der sich zeigenden Dinge und Experten- - Medien der Distanzierung und der Hybridisierung als Grundlage von Verfremdung sein. „Im Modell ist jeder Boden doppelt“. 53 Bruno Latour hat, so ließe sich zusammenfassen, ein genuines Interesse am Eigenleben der Dinge, um die sich disparate Kollektive versammeln-- auf ganz ähnliche Weise lässt sich das Experten-Ding-Theater von Rimini-Protokoll beschreiben. In Karl Marx. Kapital. Erster Band zum Beispiel steht ein Buch im Zentrum, das diverse Biographien um sich zentriert. In Heuschrecken werden Kollektive und Disziplinen zu einer polyperspektivischen narrativen Struktur arrangiert, die diverse Einstellungen erfordert und die Grenzen von Natur und Gesellschaft durchkreuzt. Verallgemeinernd könnte man festhalten: Theater organisiert per se Konstellationen aus menschlichen und nicht-menschlichen Wesen und ist damit in einem weiteren Sinne interkulturell. 54 Was das interdisziplinäre Zeigetheater Heuschrecken von Rimini Protokoll im Speziellen leistet, ist die Befragung einer zementierten kapitalismuskritischen Metapher, der Heuschrecke, die auch als das ganz Andere der damit verbundenen Semantik erscheint-- insofern versucht Rimini Protokolls Theater einer ‚Sprachverhexung‘ zu entgehen. Ihr Theater der 52 Rimini Protokoll, ABCD, S. 142 . 53 Ebd., S. 67 . Diese Tiergehege stellen Sonderformen der Bühne dar, dienen also der Erweiterung des Theaterbegriffes; sie fungieren im Sinne Goffmans als Rahmen, der lesbare Codes entstehen lässt. 54 An die Stelle des dramatischen Rede-Agons treten biographische Fragmente, theoretisches Wissen, Dokumente sowie Medien der Vermittlung, die im Sinne Theodor W. Adornos eine (nicht begrifflich fixierbare) Konstellation bilden und im Sinne Bertolt Brechts Unterbrechungen der Alltagsdiskurse vornehmen, mithin ein assoziatives Geflecht entstehen lassen, das das Publikum zu gedanklichen Operationen herausfordert-- ähnlich wie es Erwin Piscators intermediale Montage von Film und theatralem Geschehen beabsichtigte. Diese polyperspektivische Textur wird durch die Aktionen zusätzlich unterbrochen, kommentiert und relativiert, ebenso durch die Requisiten auf der Bühne. <?page no="155"?> Menschen, Fremde, Tiere 155 vielfältigen Ein- und Entstellungen entkoppelt Dinge und Sprache durch Verbuchstäblichungen, löst die Heuschrecken von dem biblischen Mythos der Plage und der rekurrenten Kapitalismuskritik ab, ohne diese ganz aufzugeben. Die Produktionen üben die Betrachter in einen facettenreichen ethnologischen Blick auf eine ihnen fremde/ eigene Tier/ Kultur ein, deren Eigenschaften wissenschaftlich präsentiert und dem neugierigen Blick gezeigt werden. Demonstriert wird zudem, dass diese fremde Population trotz ihrer anthropologischen Differenz in Erzählungen und Maschinen-Menschen-Netzwerke eingesponnen ist und wie sie semantisiert, erzählbar wird, ohne dass die Differenz verschwindet. Die Heuschrecke ist Natur, das ganz Andere des Sozialen, und sie ist (A-)Soziales. Die Produktion lässt ein Vexierbild entstehen, das die große Trennung von Natur und Gesellschaft sowie die Hybridisierung von Gesellschaft und Natur im Sinne der Vormoderne Latours gleichzeitig erfahrbar macht, die damit als ethnologische Chiffre des Theaters fungieren kann. <?page no="157"?> Ethnologie auf der Bühne? 157 Ethnologie auf der Bühne? Überlegungen zu Formen literarisierter und dramatisierter Ethnologie bei Kathrin Röggla Johannes Birgfeld (Saarbrücken) 1. Vorüberlegungen Es ist selbstredend, dass kein Versuch, prägende Grundstrukturen des Lebens in den westlichen Gesellschaften seit Ende des Zweiten Weltkrieges zu bezeichnen, umhin kommt, von Internationalisierung, Globalisierung und einem zunehmenden Kontakt mit dem kulturell Fremden bzw. mit dem kulturell anders Scheinenden zu sprechen. Spezifisch für die aktuelle Gegenwart ist dabei mindestens erstens die hohe Frequenz, mit der wir dem Anderen und Aspekten seiner Kultur begegnen: Massenhafter internationaler Tourismus, das Internet, die intensiven Migrationsbewegungen, die ein Nebeneinander kultureller Traditionen und Praktiken besonders in (westlichen) Großstädten zur Folge haben, oder die auf weltumfassende Berichterstattung ausgelegten Informationsmedien machen die Wahrnehmung von kulturell differenten Handlungen zu einer alltäglichen Erfahrung. Zweitens umfasst diese Intensivierung des Kulturkontaktes in westlichen Gesellschaften alle Schichten, so dass sich die Berührung mit Vertretern und Praktiken differenter Kulturen von einer Erfahrung weniger Eliten noch vor 100 oder 60 Jahren zu einer allgemeinen Erfahrung gewandelt hat. Markant ist drittens, dass ein Großteil der interkulturellen Kontakte virtuell erfolgt, über Fernsehen, Zeitungen und Internet, über berichterstattende TV -Formate, über Fernsehserien, Beiträge auf YouTube, über Blogs oder direkte Mail-Kontakte etc. Anders gesagt: Mitglieder westlicher Gesellschaften leben heute in Kulturen, in denen der Kontakt mit dem kulturell Anderen zu einem festen Bestandteil ihres Alltags auf allen geworden ist, wobei dieser zunehmend virtuell erfolgt. Wenn die Ethnologie die Wissenschaft vom kulturell Fremden ist, „von den Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen den Kulturen und Gesellschaften der Gegenwart und der Vergangenheit“, wie Bernhard Streck formuliert, 1 dann 1 Bernhard Streck, „Vorwort“, in: ders. (Hg.): Wörterbuch der Ethnologie, Köln 1987 , S. 7 - 13 , 7 . <?page no="158"?> 158 Johannes Birgfeld gehört zu ihren zentralen Aufgaben und Herausforderungen die Wahrnehmung des Fremden: Im Unterschied zur alltäglichen Wahrnehmung fremder Handlungen und Meinungen hat sich die Ethnologie die Aufgabe gestellt, die Wirklichkeit fremder Lebenswelten zu verstehen und sie der Wissenschaft gegenüber auszulegen. Deswegen übt sich der Ethnologe nicht nur in langdauerndem Kontakt mit fremden Gesellschaften, sondern auch in der gedanklichen Verarbeitung dieser Erfahrungen und ihrer Darstellung für ein Publikum, das diese Erfahrungen nicht teilt. Beide Schritte, das Hinüberwechseln in die fremde Wirklichkeit und das Zurückkehren in die vertraute, stellen die Ethnologie vor besondere erkenntnistheoretische Probleme. 2 Diese Probleme liegen in der Tat auf der Hand und sind vielfältig. Sieht man von den ganz grundlegenden Zweifeln ab, inwieweit überhaupt das Erfassen der „Wirklichkeit“ einer Kultur oder so etwas wie ein „Verstehen“ möglich sind, sieht man auch von den von allen Wissenschaften geteilten Problemen der Partizipation ihrer Erklärungstexte an vorgeformten, etablierten Narrativen ab, so sind in der Gegenwart mindestens drei weitere Probleme zentral: 1. Der sich seit vielen Jahrzehnten intensivierende Kontakt mit fremden Kulturen führt in den offenen Gesellschaften (bei Teilgruppen oder in beachtlicher gesellschaftlicher Breite) zu vielfachen Übernahmen einst fremdkultureller Weltdeutungen und Handlungsweisen, so dass die Annahme von der Homogenität einer Kultur, die lange große Überzeugungskraft besaß, im Licht des wachsenden Nebeneinanders von Ritualen und Handlungsmustern unterschiedlicher kultureller Abstammung von Wahrnehmungen der kulturellen Hybridität abgelöst wird. Der Gegensatz zwischen fremd und eigen verliert einerseits an Beschreibungsschärfe und benennt andererseits zunehmend Erfahrungen innerhalb einer Kultur. 2. Zweitens führt die interne Ausdifferenzierung der Gesellschaften in immer radikalerem Maße nicht nur zu einem Nebeneinander der Diskurse, sondern zu wachsender Fremdheit wesentlicher Bereiche der sogenannten eigenen Kulturen, ihrer Regeln, Codes, Werte, Praktiken etc. 3. Drittens schließlich ist die zunehmend mediale, virtuelle Fundierung alles Wissens in einer Kultur und über Kulturen eine Herausforderung aller Kulturwissenschaften, nicht nur der Ethnologie. Wie alle Diskurse unterliegen die Wissensvermittlung und Weltdeutungsprägung im Internet, in Film und TV , in den Printmedien etc. spezifischen Regeln, deren Reflexion Basis der Untersuchung kultureller Differenzen wie kultureller Begegnungen sein muss: In einer Welt, in der für alle Eventualitäten des Lebens medial Anweisungen, 2 Bernhard Streck, „Fremdwahrnehmung“, in: ders. (Hg.), Wörterbuch der Ethnologie, S. 56 - 60 , 56 . <?page no="159"?> Ethnologie auf der Bühne? 159 Erfahrungsberichte oder strukturierende Narrative angeboten werden und jederzeit bereit stehen, deren Abkunft zugleich nicht auf eine Kultur beschränkt ist, verlangt die Untersuchung aller Fragen nach den Differenzen und Begegnungen zwischen Kulturen eine Analyse der medialen Rahmenbedingungen der Herstellung und Wahrnehmung von Differenz wie des Umgangs mit ihr. 2. Literarisierte Ethnologie? Ethnologische Praktiken in der Literatur? Es ist nicht überraschend, dass die Texte der 1971 in Salzburg geborenen Prosa-, Theater-, Essay- und Hörspielautorin Kathrin Röggla bereits mehrmals in die Nähe zu ethnologischer Arbeit gerückt wurden. Vierundzwanzig 3 Interviews über ihre Arbeitswelt und Weltsicht hatte Röggla für ihren Roman wir schlafen nicht von 2004 mit „consultants, coaches, key account managerinnen, programmierern, praktikanten usw.“ 4 geführt und das dabei gewonnene Material bearbeitet, neu arrangiert, montiert-- und es zugleich in die indirekte Rede transponiert. In seiner Rezension in der Neuen Zürcher Zeitung betonte darauf bezugnehmend Paul Jandl, dass der Roman, obgleich aus Material „kompiliert“, keineswegs eine „soziologische Studie“ sei, und schlug eine ethnologische Lesart vor: Während Kathrin Rögglas Generation gerne über geglückte Ost- oder Westkindheiten schreibt oder sich in sonstigen Wehmutsattitüden gefällt, beruft sich die österreichische Autorin auf Hubert Fichte oder Alexander Kluge. Dass physische und psychische Präsenz allein noch keine gültige Gegenwart abgibt, hat Kathrin Röggla so gut wie kaum jemand sonst verstanden. Ihre Ethnologie mag das quirlige Pendant zu Alexander Kluges langsamer Lakonie sein, die von deutschen Verhältnissen erzählt, aber sie ist ein beeindruckender Versuch, die zunehmende Virtualität des Lebens ästhetisch zu reflektieren. Vielleicht wär’s das ja: den „fake reports“ der Welt mit den Mitteln der Literatur zu misstrauen. 5 Lukas Reiter konstatierte 2013 ebenfalls mit Blick auf wir schlafen nicht: Mit der Montage der Interviews [im Roman] wird der methodische Anspruch dieser Gattung [= des Interviews], der Erwerb von Informationen für eine Gesellschaftsbeschreibung, aus Disziplinen, wie beispielsweise der Soziologie und Ethnologie, in den Roman transferiert. Das Ziel einer gesellschaftlichen Beschreibung wird durch die Themen in [R]ögglas Gesprächen mit Erwerbstätigen aus der New Economy genauer konturiert. 6 3 Paul Jandl, „Vom Lebensgefühl der Untoten. Kathrin Rögglas Roman wir schlafen nicht“, in: Neue Zürcher Zeitung, 05 . 05 . 2004 , S. 37 . 4 Röggla, wir schlafen nicht, Frankfurt a. M., S. 4 . 5 Jandl, „Vom Lebensgefühl der Untoten“, S. 37 . 6 Lukas Reiter, „Hybridisierung der Gattungen in Kathrin Rögglas wir schlafen nicht“, in: Eva-Maria Kleinschwärzer, Lukas Reiter, Elisabeth Stecker (Hgg.), Verquer. Relektüren der Abweichung, Wien 2013 , S. 87 - 92 , 89 . <?page no="160"?> 160 Johannes Birgfeld Es ist kein Geheimnis, dass Kathrin Rögglas Arbeiten sowohl auf einer intensiven Auseinandersetzung mit philosophischen, politologischen und soziologischen Schriften basieren wie auf breiten Recherchearbeiten. 7 Gemeint sind damit nicht zuletzt Interviews mit einer Vielzahl von Menschen, die mit einer bestimmten gesellschaftlichen Entwicklung verbunden sind, ebenso wie Reisen, Besichtigungen vor Ort, Konfrontationen mit Schauplätzen-- im deutschsprachigen Raum wie jenseits desselben. Im ersten Vortrag ihrer Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik im Juni 2014 hat Röggla dies skizziert: Nach über zehn Jahren intensivster Recherchetätigkeit fürs Theater ist doch längst klar: Ich brauche die Verzettelung in der Recherche, da komme ich nicht drumherum-[…], ich brauche die Distanz zum Material, ich brauche Theorie und systemische Überlegungen sowie ästhetische Impulse, ich brauche mein Interesse, meine ästhetische Herkunft. 8 Tatsächlich, so scheint es, lässt sich Rögglas Verfahren der letzten Jahre mit Recht auch als das eines ästhetisierten, erkenntnisorientierten und zugleich seine Grenzen ausdrücklich reflektierenden ethnologischen Weltzugriffs beschreiben. 9 Da wäre zunächst der dezidiert auf Weltverstehen zielende Anspruch ihrer Arbeiten, wie sie ihn in Saarbrücken nochmals formuliert hat: [I]ch will Gesellschaft als Zusammenhang verstehen, auch wenn er nicht mehr in der geschlossenen Form beschreibbar ist, wie man es vor dreißig Jahren gemacht hätte. Dies kann ich ganz klassisch nur in Verbindung mit der Hoffnung auf eine gesellschaftliche Veränderung, auf ein Leben, das sozial gerechter und glücklicher verläuft, wollen. Theater ist mir nicht reines Spiel, es ist nicht reines Ereignis, es ist kein kritikloses Dabeisein mit der Wirklichkeit, ich bin kein interesseloser Spaziergänger der Wirklichkeit, wie es einmal Alexander Kluge ausgedrückt hat. Ich will Formen des Sprechens finden, die den Gewaltzusammenhang gesellschaftlicher Verhältnisse deutlicher hervortreten lassen und gleichzeitig unterlaufen. 10 Dazu tritt zweitens die konsequente Reflexion der Rahmenbedingungen ihrer Projekte, die konsequente Selbstreflexion der Medialität ihrer Arbeiten, der Einflüsse der Darstellungsmedien und des eigenen Nichtverstehens. Besonders anschaulich 7 Vgl. dazu eindrücklich Kathrin Rögglas Vorträge im Rahmen der 3 . Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik: Kathrin Röggla: Die falsche Frage. Theater, Politik und die Kunst, das Fürchten nicht zu verlernen, mit einem Nachwort hg. v. Johannes Birgfeld. Berlin 2015 . 8 Röggla, Die falsche Frage, S. 18 . 9 Vgl. zu diesen Überlegungen besonders auch Volker Mergenthaler, „‚verständnisschwierigkeiten‘. Zur Etho-Poetik von Kathrin Rögglas really ground zero. 11. september und folgendes“, in: Carsten Gansel, Heinrich Kaulen (Hgg.), Kriegsdiskurse in Literatur und Medien nach 1989, Göttingen 2011 , S. 239 , auf dessen Ausführungen noch genauer zurückzukommen sein wird. 10 Röggla, Die falsche Frage, S. 22 . <?page no="161"?> Ethnologie auf der Bühne? 161 wird dies etwa an Rögglas 2012 in Hamburg auf Kampnagel gehaltenem Vortrag Beitrag zu einem kleinen Wachstumsmarathon. 11 Ausgangspunkte des Textes sind Rögglas Berufung zur Stadtschreiberin von Mainz und das damit verbundene Fernsehprojekt für das ZDF , das sie so umschreibt: „Wir machen einen Film, und zwar einmal nicht über Risikokapital, sondern über Risikomanager! “ 12 Rögglas Essay freilich beginnt nicht mit der Erklärung des Projekts, sondern mit dem Versuch der Ableitung von Erkenntnissen über die Gegenwart aus eigenen Beobachtungen: Wachstum beginnt heute auf den Flughäfen. In den Reisezentren, in den Senator Lounges, den Businessabteilen, inmitten des Schweigeabkommens der Businessinsassen- […]. Es beginnt nicht mehr bei der schmutzigen Reibung zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, in der klassischen Mehrwertproduktion bei den Stahlkochern, den Sweatshops,-[…] sondern bei den Vermittlern, den Investorenberatern, den internationalen Spürhunden und Consultants, bei der weltweiten Reisebewegung, die viele von uns mitreißt, die auch mich plötzlich mitgerissen hat, so dass ich mich in der einen oder anderen Fluggaströhre wiederfinde. 13 Langsam führt Röggla den Leser von den Flughäfen, auf denen ihre Recherche ebenso wie die internationale Arbeit der Risikomanager beginnt, hin zu einem konkreten Fall, den wirtschaftlich darniederliegenden Minen von Trepça im Kosovo. Hierhin begleitet Röggla eine Gruppe von Risikomanagern, um deren Arbeit zu studieren, um Interviews zu führen, man könnte sagen: um deren (in Folge der fortschreitenden Ausdifferenzierung) hochspezifische Kultur-- oder noch genauer: um deren Arbeitspraxis und Berufsphilosophie als wichtiges, doch unbekanntes Element heutiger internationaler Wirtschaftskultur zu vermessen und zu studieren. Ja mehr noch: „Ich werde Risikomanagement mit Risikomanagern betreiben“, 14 schreibt sie. Ethnologisch gesprochen handelt es sich um Feldforschung, in der der Alltag teilnehmend beobachtet wird. Die Autorin übernimmt probeweise sogar die Sprache der erforschten Kultur: Also rede auch ich jetzt langsam von Stilllegungen, Abwicklungen, Modernisierungsprozessen, Gefahrenklassen. Altlasten. Risikokonflikten. Plötzlich habe auch ich Probleme mit dem Humankapital, mit der Entscheidungsfähigkeit des Managements, volkswirtschaftlichen Entscheidungskonflikten-[…]. Wir sind unterwegs, wenn es wo brennt, wenn Gefahren drohen, andauernd unterwegs. 15 11 Vgl. Röggla, besser wäre: keine. Essays und Theater, Frankfurt a. M. 2013 , S. 185 - 208 . 12 Ebd., S. 187 . 13 Ebd., S. 185 . 14 Ebd., S. 189 . 15 Ebd. <?page no="162"?> 162 Johannes Birgfeld Röggla beschreibt die Risikomanager bei der Arbeit, schildert deren Gegenüber, mutmaßt über ihre Gefühle während des Prozesses, versucht zu verstehen-- und gibt umso deutlicher zu erkennen, dass von Verstehen kaum gesprochen werden kann: „Es ist nicht ausgeschlossen, dass ich keine Ahnung habe, nichts von Visionen verstehe, über keinen Optimismus verfüge, den man anscheinend gerade als Risikomanager braucht“. 16 Und schließlich wird der immer komplexer werdende Feldforschungsbericht von jenen Filmarbeiten überlagert, für die das ZDF -Team Röggla begleitet, um am Ende der Reise den versprochenen ZDF -Film abliefern zu können. „Irgendwer muss ein Bild erstellen von dem, was übrig geblieben ist vom einstigen Wachstum“ in der Mine Trepça. 17 Dann stößt die Recherche selbst an Grenzen-- und mit ihr das Projekt des Films: Nein, das sei was anderes, meint Norbert, aber das wäre ein Nebenschauplatz. Müsste man zu lange ausholen. Die Verkürzungsgefahr ist plötzlich gegeben. Die Verkürzungsgefahr, der ich mich beim Filmemachen andauernd gegenübersehe und die so vieles aus den Bildern verschwinden lässt, die Verkürzungsgefahr, die Drehorte verunmöglicht und Themen wegwischt, weil es zu heikel ist, weil es zu sensibel ist, weil die Dinge noch im Fluss sind-[…]. Die Gefährlichkeit des Fernsehens stellt sich immer wieder direkt neben die Gefährlichkeit der Produktionsprozesse. 18 Und nun erweist sich selbst die Arbeit der Filmemacherin Röggla als eine Form des Risikomanagements: Es ist ein Hin und Her zwischen Ton und Bild entstanden, das meinem Hin und Her zwischen Kamerateam und Bergbauteam entspricht. Ein Gegeneinander der Interessen bahnt sich an. Die einen wollen starke Bilder, große Emotionen, klare Narration, Stimmung. Die anderen komplexe Information, Didaktik, Reflexion, Talking Heads. Und ich stehe dazwischen und will was ganz anderes. Aber erst mal faken wir bei vierzig Grad im Industrieschatten Natur, damit das Bild was hergibt. Inmitten der loswachsenden und weiterwachsenden Natur holzen wir Büsche ab und bauen sie an anderer Stelle wieder auf, damit wir Kamerafahrten durch Fakebüsche fahren lassen können, damit ein realistischer räumlicher Eindruck entsteht.-[…] Alles, was hier geschieht, findet nur noch für den Film statt, einzig Inszenierungsvorgänge beherrschen das alte Gelände.-[…] Momente, in denen die bildliche Mehrwertproduktion im Vordergrund steht. 19 „[I]ch komme nicht wirklich hinterher“, 20 lautet einer der letzten Sätze des Essays. Anlass, über dieses betonte Scheitern des Verstehens zu klagen, gibt es gleichwohl 16 Ebd., S. 197 . 17 Ebd., S. 196 . 18 Ebd., S. 196 - 197 . 19 Ebd., S. 198 - 199 . 20 Ebd., S. 202 . <?page no="163"?> Ethnologie auf der Bühne? 163 nicht. Rögglas Beitrag zu einem kleinen Wachstumsmarathon lässt sich vielmehr mit Gewinn als Beispiel einer produktiven Verschmelzung von (selbstreflexivem) Schreiben und ethnologischen Praktiken beschreiben: Ihm gelingt es, auf die Existenz eines international agierenden Berufsstandes, auf sein Selbstverständnis, auf seine ganz eigene Sprache hinzuweisen, ja in Vollzügen der Feldforschung Aspekte seiner spezifischen und klassische nationale Kulturräume überschreitenden, in die verschiedensten Kulturen hineinreichenden, ja diese nach eigenen Regeln verändernden Arbeitsweise nachzuzeichnen, zugleich aber die Subjektivität der Forschenden als Erkenntnisbegrenzung, das individuelle Nichtverstehen und die Strukturierung der Forschung durch das gewählte Darstellungsmedium mitzureflektieren-- und begründete Skepsis gegenüber den hier geschilderten Vollzügen von Risikomanagern und Medien zu vermitteln. 3. Literarisierte Ethnologie und Hubert Fichte Man tut Kathrin Röggla also wohl nicht unrecht, wenn man für Aspekte ihrer literarischen Arbeiten den Begriff einer literarisierten Ethnologie ins Spiel bringt. Schließlich ist es auffällig, dass Röggla in den konstant auftretenden selbstreferentiellen Schleifen ihrer Texte nicht nur die Grenzen ihrer konkreten ‚Forschungsprojekte‘, sondern zugleich grundsätzlich methodologisch über ihren literarischen Weltzugriff reflektiert. So fragt sie etwa in dem 2008 entstandenen Essay besser wäre: keine mit Blick auf eine Lesereise nach Usbekistan: „Wieso will ich in so einem Land überhaupt auftreten? “ 21 -- und verortet ihr Projekt dann in bemerkenswerten Traditionen: Der Grund dafür ist eine Mischung aus Neugier und Nachahmungstrieb. Nachahmungstrieb? Wen um Himmels willen möchte ich dort nachahmen? Nein, ich kann nicht mehr Annemarie Schwarzenbach sein, ich kann auch nicht Nicolas Bouvier sein oder gar Michel Leiris, reisende bürgerliche Schriftsteller, die ihre feste Identität erst recht aufladen mit den Zufällen und Unfällen der Reise, den Begegnungen, die Fremderfahrung nur auf der Folie von Selbsterfahrung stattfinden lassen, auch wenn sie diese ständig problematisieren. Im Zeitalter von Tourismus und Migration kann ich höchstens ein wenig Hubert Fichte sein, dachte ich mir, das kriege ich vielleicht noch hin, also Reisende als Forscherin zu sein. 22 Noch aufschlussreicher scheint mir Rögglas erstmals 2001 erschienener Essay der akustische fichte: 23 Röggla hat mehrere Aufnahmen Hubert Fichtes vorliegen, die 21 Ebd., S. 100 . 22 Ebd. 23 Zuerst erschienen in: Neue Rundschau 112 ( 2001 ), 4 , S. 100 - 112 , hier zitiert nach: Kathrin Röggla, „der akustische fichte“, in: Kritische Ausgabe. Zeitschrift für Germanistik und Literatur 15 ( 2007 ), S. 57 - 62 . <?page no="164"?> 164 Johannes Birgfeld Star-Club-Lesung 1966 etwa, die St. Pauli Interviews von 1969 , Radiofeatures, einen Gesprächsmitschnitt von 1979 . Sie spielt sie ab, hört zu und beobachtet sich und einen Mithörer dabei. Wie funktioniert das Hören? Jeder hört anders, Differenzen im Vorwissen, Erfahrungsunterschiede etc. führen zu abweichenden Wahrnehmungen. Und: „zum unterschiedlichen hören braucht man aber gar nicht jemand zweiten, das kann man auch alleine, denn beim wiederholten hören ändert sich schon eine menge in der wahrnehmung“. 24 Mit Merleau-Ponty schlägt sich der Bogen weiter: „man betritt beim sprechen einen bereich, den man nicht in der hand hat, der einen übersteigt“. 25 Das hat Konsequenzen für die Literatur: literatur nun reproduziere die sprache als sprache, führt karin fort,- […] zum beispiel die sache mit der mündlichkeit in der schrift: „man glaubt, es mit unmittelbarkeit, nähe und authentischem zu tun zu haben, dabei erlebt man nur effekte, die durch einen hochartifiziellen prozeß erzeugt sind mittels sprachlicher strategien.“ 26 Was das konkret bedeutet, skizziert Röggla an Fichte: fichte [muss] erstmal zuhören und mitschreiben, bevor er loslegen kann mit seiner mündlichkeit im text. drei jahre, wenn es sein muß, wie in der palette, um einen ort zu kennen, um die gesten, rituale, inszenierungen zu verstehen. das gehört zu seinen üblichen tätigkeiten, zu seinem selbstverständnis als autor: die übertragungen sprachlicher äußerungen vom akustischen in den schriftlichen bereich und umgekehrt: transkribieren und vorlesen beispielsweise oder interviews machen, nachdem man schriftlich fragen formuliert hat. kurz: schnittstellen zwischen mündlichkeit und schriftlichkeit auszuloten auf dem feld der literatur. und das nicht nur am schneidetisch, sondern mittels langjährigem einsatz: der autor bewegt sich in die szene hinein, die er porträtiert, und wenn er interviews macht, werden sich mit der zeit seine fragen ändern, die art und weise, wie er auf diese leute zugeht, wird sich ändern. er wird wissen, worauf es ankommt, und manches aus dem blick verlieren. und nicht nur die szene, auch er wird sich durch diesen vorgang verändern. es entsteht ethnologie als entwicklungsroman. 27 Liest man diese Passagen probeweise programmatisch, dann zeigt sich Röggla fasziniert von einer Kombination a) aus ethnologischem Erkenntnisbemühen (jahrelange Feldforschungen, Interviews, Transkriptionen etc., „der autor bewegt sich in die szene hinein“-- um zu „verstehen“), b) dem Anspruch, die Begegnung mit fremden Kulturen nicht als Mittel der Identitätsstabilisierung zu begreifen („auch 24 Ebd., S. 58 . 25 Ebd., S. 59 . 26 Ebd. 27 Ebd. <?page no="165"?> Ethnologie auf der Bühne? 165 er wird sich durch diesen vorgang verändern“), 28 sowie c) einem Schreiben, das sich der Unverlässlichkeit des Hörens und der Unkontrollierbarkeit der Sprache bewusst ist und beide nicht zu verleugnen sucht. Welche Aufgabe einer so konzipierten Literatur zukommt, hat Röggla in den Saarbrücker Vorlesungen unter Bezugnahme auf Deleuze und Proust noch genauer gefasst: Literatur bedeutet, Widerstand zu leisten, in dem man- […] etwas Inkommensurables schafft- […]. Die guten Bücher sind in einer Art Fremdsprache geschrieben,- […] [die Literatur] entwirft- […] eine Art Fremdsprache, die weder eine andere Sprache noch wiederentdeckter Dialekt, sondern ein Anders-Werden der Sprache ist, eine Minorisierung jener großen Sprache, ein Delirium, das sie fortreißt, eine Hexenlinie, die aus dem herrschenden System ausbricht. 29 Und wie tut sie das? [L]iterarische Fremdsprachen-[…] setzen-[…] sich aus den unterschiedlichsten, oftmals auf den ersten Blick sehr vertraut aussehenden Sprachen zusammen, die sich manchmal spinnefeind sind. Sie sind Zusammenballungen von sprachlichen Zumutungen. Es sind Börsennachrichten, die kleinen sprachlichen Gesten gegenwärtiger Wirtschaftsdiplomatie, die Businesssprachen der Politik, merkwürdige Fachbegriffe, die uns als Sicherheitsanker angeboten werden und uns nur untergehen lassen, gefährliche Wörter, plötzlich mächtig und plötzlich ohnmächtig werdende, abwartende und zupackende. Sie bestehen aus Jingles und Signaturen, aus Leitzordnerabdrücken und Lektüreergebnissen, kommen aus dem Hörensagen, dem Grundstrom der Mündlichkeit, auf der unsere Gesellschaft laut Alexander Kluge noch immer beruht. Oder sie kommen aus dem merkwürdigen Hybridzustand aus Mündlichkeit und Schriftlichkeit, die unsere Alltagserfahrung ist, wie dies der Schriftsteller Hubert Fichte so genial vorgeführt hat, mit seinem poetischen Realismus, seiner musikalischen Ethnografie-[…]. Sie stehen immer in mehreren Kontexten und bilden den Kontext für neu zu Sagendes. 30 Wenn Kathrin Röggla demnach ein Projekt literarischer bzw. literarisierter Ethnologie (durchaus in einer gewissen Nachfolge Fichtes) unternimmt, dann kombiniert dieses: a) einen Begriff von Literatur als Arbeit mit Sprache als Sprache, b) Recherchen als Mittel zur Gewinnung des Sprachmaterials, die als ethnologische Recherchen zu beschreiben sind, weil sie die Sprache einer Berufs- oder Wahrnehmungskultur fokussiert und das Sprachmaterial durch einen ethnologischen Fokus begrenzt, c) die Überführung des Sprachmaterials in eine literarische Fremdsprache bewusster Künstlichkeit sowie d) den Willen, mit der von der Unkon- 28 Dies entspricht der zuvor zitierten Abgrenzung Rögglas von Schwarzenbach, Bouvier und Leiris als „reisende[n] bürgerliche[n] Schriftsteller[n], die ihre feste Identität erst recht aufladen mit den Zufällen und Unfällen der Reise“. 29 Röggla, Die falsche Frage, S. 28 - 29 . 30 Ebd., S. 29 - 30 <?page no="166"?> 166 Johannes Birgfeld trollierbarkeit der Sprache und der Unverlässlichkeit des Hörens ausgehenden literarischen Arbeit gesellschaftliche Strukturen zu bearbeiten und zu erhellen: Die literarischen Fremdsprachen sind verbunden mit dem Verlangen, den Wald vor lauter Bäumen nicht vollständig zu übersehen. Sie zielen auf eine relevante Struktur, sie sind eine Verknüpfung von Gesten gegenüber ihren Zuhörern, Lesern, die wiederum für die Gesellschaft stehen. 31 4. Literarisierte und dramatisierte Ethnologie? Noch 2001 erscheint really ground zero, Kathrin Rögglas Prosabuch über den 11 . September, bereits 2002 wird daraus ihr erstes Theaterstück: fake reports. Prosaband und Dramentext folgen gleichermaßen der Chronologie der Ereignisse, beide Texte arbeiten mit vor Ort gewonnenem und recherchiertem Material, fokussieren Sprachen, Narrative und Rituale der Verarbeitung. Es sei der versuch, aus diesem haufen an ideologemen, aufgebrochenem vokabular, kontextverschiebungen, rhetorischen operationen, schrägen übersetzungen, einen überblick zu bekommen-[…] vom haufen der authentizität zum haufen der begriffsverschiebungen, 32 heißt es am Schluss von really ground zero. Entsprechend ist in der Einführung zu fake reports 33 zu lesen: sie arbeiten hier wieder einmal zusammen: präsenzmaschinen [Rollen] (1 und 2), medienmaschinen (3 und 4) und mythenmaschinen (5 und 6). sie könnten fotografen, broker, moderatoren, kabelträger, pr-menschen, journalisten, politiker sein, wobei man sagen muss, alles eher im kleinformat. trotzdem: sie haben etwas mit den medien zu tun, aber auch haben umgekehrt die medien mit ihnen zu tun-- und rhetoriken, formate, gesten, narrative strukturen sind für sie genauso bestimmend wie mentalitäten, politische haltungen oder auch kulturalismen und nicht zuletzt die ganz banalen alltagszwänge. 34 Eingesetzt werden für Prosatext und Theaterstück je Recherchen, Interviews, Beobachtungen vor Ort, Feldforschungen-- um mittels des gewonnenen sprachlichen Materials die Rituale einer Kultur in Aufruhr bzw. die deutsche wie die amerikanische Kultur der Gegenwart zu analysieren und als ebenso fremd wie hinterfragenswert, ja hochgradig problematisch erscheinen zu lassen. Die ethnologische Arbeit auf inhaltlicher Ebene ist in anderen Bühnenstücken Rögglas wie worst case, die unvermeidlichen oder NICHT HIER oder die kunst 31 Ebd., S. 30 . 32 Kathrin Röggla, really ground zero. 11. september und folgendes, Frankfurt a. M. 2001 , S. 109 . 33 Erstdruck 2003 in: Theater Theater. Aktuelle Stücke 13 , hg. v. Uwe B. Carstensen u. Stefanie von Lieven, Frankfurt a. M., S. 387 - 434 , hier zitiert nach dem Neuabdruck in: Kathrin Röggla, besser wäre: keine, S. 39 - 88 . 34 Ebd., S. 39 . <?page no="167"?> Ethnologie auf der Bühne? 167 zurückzukehren mindestens ebenso klar zu erkennen: Je liegen den Stücken breit angelegte Recherchen, Interviews, Ortsbegehungen, Feldforschungen zu Grunde. Je bemühen sich die Stücke, kulturelle Praktiken der Gegenwart-- die spezifische Berufswelt etwa der bei politischen Großkonferenzen agierenden Simultandolmetscher in die unvermeidlichen oder der aus dem Ausland zurückkehrenden Entwicklungshelfer in NICHT HIER oder die kunst zurückzukehren- - fokussiert vorzustellen. Dass Dolmetscher und Entwicklungshelfer täglich in Situationen interkulturellen Kontakts involviert sind, dessen Meisterung Maßstab ihres Erfolges ist, verweist zudem auf Fragen nach der Differenz von Kulturen und nach dem Umgang mit ihnen als zentrales Thema in Rögglas Bühnenstücken. Am Beispiel Hubert Fichtes hatte Röggla ihre Erwartung an eine literarisierte Ethnologie entwickelt, nicht nur „gesten, rituale, inszenierungen zu verstehen“, sondern „die übertragungen sprachlicher äußerungen vom akustischen in den schriftlichen bereich und umgekehrt“ zu leisten, 35 Hybridzustände aus Mündlichkeit und Schriftlichkeit und also literarische Fremdsprachen zu erzeugen. Im Bereich des Dramas allerdings trifft die literarisierte Ethnologie auf ein Problem: Das einmal recherchierte Material wird zunächst durch die Transkription verschriftlicht und so von Körper und Stimme getrennt. Bei der Rücküberführung des Verschriftlichten in die Mündlichkeit der Bühne erhält dann später a) dieses Material zwar erneut Stimme und Körper, aber eben eine fremde. Zudem geht dabei b) im Regelfall die das ethnologische Material einer breiten Recherche auszeichnende Vielstimmigkeit im wörtlichen Sinn in der Bindung der Texte an die Körper und Stimmen weniger Schauspieler verloren. Das von Röggla gewählte Verfahren setzt für die Bühne bekanntermaßen zudem auf eine gegenüber den Prosatexten nochmals nachdrücklich erhöhte Künstlichkeit, auf die „Entsubstanzialisierung der Stimmen“, 36 auf die, wie Röggla formuliert: „Verschiebung durch den Konjunktiv, das Fehlen einer zentralen Figur, Verrückung durch Rhetorik“. 37 Eva Kormann hat diese Besonderheiten des Transfers von Prosamaterial in ein Bühnenstück für Röggla am Beispiel von wir schlafen nicht anschaulich beschrieben: Wenn Röggla das [aus 24 Interviews hervorgegangene] Sprachmaterial ihres Romans auf sechs Dramenfiguren aufteilt, die ja auf der Bühne, verkörpert von Schauspielern, leibhaftig erscheinen, dann lässt sie der Figurenrede dennoch Konjunktiv und dritte Person. Das heißt, auch wer auf der Bühne auftritt, spricht ‚seinen Text‘ in indirekter Rede. Und auch der gedruckte Theatertext schreibt-[…] konsequent klein, das heißt, markiert durch die Orthographie das Abweichen von der Alltagssprache und signalisiert damit, dass 35 Röggla, „der akustische fichte“, S. 59 . 36 Alexander Böhnke, Céline Kaiser, Kathrin Röggla, „Die gouvernementalen Strukturen. Gespräch“, in: Navigationen. Siegener Beiträge zur Medien- und Kulturwissenschaft 4 ( 2004 ), 1 / 2 , S. 171 - 184 , 179 . 37 Röggla, Die falsche Frage, S. 30 . <?page no="168"?> 168 Johannes Birgfeld die Figuren auf der Bühne diese nicht schlicht und direkt zitieren, sondern das Zitieren ausstellen sollen.-[…] Dabei wechseln die Sätze gelegentlich auch ihre ‚Sprecher‘-- in der intertextuellen Beziehung zwischen Roman und Drama liegt also ein weiterer Hinweis auf die Uneigentlichkeit der Figurenrede: Was die Personen sagen, gehört nicht ihnen, die Sätze liegen ‚in der Luft‘ oder genauer: im kommunikativen Raum, in dem sich die Figuren bewegen. 38 Besonders signifikant ist beim Vergleich zwischen Rögglas Prosa und Dramatik zudem c) die Wirkung, die der Verlust der Erzählerstimme auf dem Weg des durch Recherchen gewonnenen Textmaterials auf die Bühne erzeugt: So tritt in really ground zero bereits im ersten Satz ein „Ich“ auf, das bis zum letzten Satz präsent bleibt. 39 Im Text stiftet dieses Ich den Anschein von Kohärenz schon allein durch den Umstand, dass alle geschilderten Wahrnehmungen und Reflexionen, Kommentare und Dokumentationen 40 an dieses spezifische Ich gebunden sind. Zudem schenkt das Ich dem Leser ein ‚Gegenüber‘, an dessen Gedanken und Gefühlen er kontinuierlich miterlebend Anteil nehmen oder auf das er besonders leicht eigene Erfahrungen, Konzepte, Ängste, Fantasien etc. projizieren kann. In fake reports hingegen findet sich dieses „Ich“ als Kohärenz erzeugende Instanz nicht. Konsequent löst somit das Stück Sprache von Subjekt und Individuum, bindet die Polyphonie des Materials an wenige Schauspieler/ Sprecher, löscht aber mit dem Erzähler-Ich jenen Referenzpunkt, an dessen Perspektive, Interessen und Recherchen alle Teile des Prosatextes gebunden waren. Hatte in really ground zero das Erzähler-Ich die Vielstimmigkeit des Materials vielfach durch Kommentare und Erläuterungen, durch Beschreibungen und Benennungen von Szenerien, Ereignissen, Kontexten und Sprechern sichtbar gemacht, so wird das Textmaterial in fake reports durch das Fehlen des (ein)ordnenden, orientierenden und verbindenden homodiegetischen Erzähler-Ichs und durch die Reduktion der Stimmenvielfalt auf nur sechs physisch präsente Stimmen auf der Bühne entkonkretisiert und in nicht geringem Umfang desemantisiert. Ein Beispiel mag diese Transformation im Transfer verdeutlichen-- im ersten Abschnitt von really ground zero heißt es zunächst: 38 Eva Kormann, „Rastlose Medienspiele. Kathrin Rögglas Theaterstück wir schlafen nicht“, in: Gaby Pailer, Franziska Schößler (Hgg.), GeschlechterSpielRäume. Dramatik, Theater, Performance und Gender, Amsterdam, New York 2011 , S. 195 - 206 , 201 - 202 . 39 Dass dieses „Ich“ natürlich nicht mit der Autorin Röggla zu verwechseln, sondern „eine Konstruktion“ von Kathrin Röggla ist, hat Peter Landerl betont. Vgl.: Peter Landerl, „‚jetzt also hab ich ein leben. ein wirkliches.‘ Zu really ground zero. 11. september und folgendes von Kathrin Röggla“, in: recherches germaniques, 39 ( 2009 ), S. 85 - 97 . 40 Man denke ebenso an die really ground zero ergänzenden Fotografien Kathrin Rögglas selbst (vgl. Röggla, really ground zero, S. 2 ) wie an Kapitel „ 5 . mr. Speaker“ oder „ 12 . norman solomon“. <?page no="169"?> Ethnologie auf der Bühne? 169 die junge frau aus dem 22 nd floor-[…] findet es total krank, dass die Leute fotos davon machen. „i can’t believe it! they are taking pictures of a catastrophe! “ ich nicke und werde bald genau zu den leuten gehören, die wahllos losfotografieren-- doch jedem seine strategie, damit klarzukommen, moralische urteile auf dieser ebene scheinen heute disfunktional. nun, es stehen tatsächlich eine menge fotografierender und filmender leute vor unseren silver towers 41 und wenig später: „immer noch versuchen alle zu telefonieren. jeder zweite hält in einer mischung aus lethargie und hektik ein handy am ohr, vergeblich, nur selten kommt jemand durch“. 42 In fake reports tritt dieses Material, variiert und erweitert, ebenfalls in der 1 . Szene auf: 3 irgendwann vorher habe man begonnen, wahllos loszufotografieren. 4 man sei schon eine ganze weile wahllos vor den wohnblocks herumgestanden, und plötzlich habe man begonnen, wahllos loszufotografieren. 3 eben habe man noch keine bilder gemacht, und plötzlich habe man dann begonnen, bilder zu machen. 4 nachdem man schon eine ganze weile vor den wohnblocks gestanden sei mit all den anderen leuten und in die richtung geglotzt habe und sich darüber beschwert habe, dass die anderen leute fotos davon machten. 3 man habe sich zusammen darüber beschwert, bis man angefangen habe, selber fotos zu machen. 4 man habe ja eher wegfotografiert als fotografiert, man habe sich eher weginformiert als informiert. kurzes schweigen 5 was hätte man denn sonst auch machen sollen? 6 telefonieren! 5 ja, immer anrufen. 6 aber wen anrufen? 5 egal, jeden, jeden hätte man anrufen können. 6 alle hätten versucht zu telefonieren. ein jeder habe praktisch versucht zu telefonieren. auch sie hätten versucht zu telefonieren. doch niemanden habe man erreichen können, weil alle leitungen tot gewesen seien. 43 Die Differenz zwischen dem Umgang mit dem vor Ort gewonnenen Recherchematerial liegt auf der Hand. Neben der Eliminierung der Erzählerstimme fallen in der Dramenszene über den Konjunktiv hinaus vor allem die Wiederholungen auf-- 41 Röggla, really ground zero, S. 7 . 42 Ebd., S. 9 . 43 Röggla, besser wäre: keine, S. 40 . Ebenfalls gut für einen Vergleich von Prosa und Drama geeignet sind Kapitel 7 aus Rögglas really ground zero (S. 56 ) und Szene I. 4 aus fake reports (Röggla, besser wäre: keine, S. 56 ). <?page no="170"?> 170 Johannes Birgfeld beides auch hier Hinweise auf eine „Uneigentlichkeit der Figurenrede“. 44 Wenn Wiebke von Bernstorff über fake reports anmerkt, das Stück zeige, wie das „(historische) Geschehen des 11 . September-[…] ganz im medial inszenierten Ereignis auf- und damit verlorengegangen“ sei, 45 so ließe sich auch konstatieren, dass das historische Ereignis im Stück selbst hinter die Ausstellung und Problematisierung der Sprache der Diskurse über den 11 . September zurücktritt. Die Abschaffung der Erzählerstimme, die Entscheidung, die Sprache nicht mehr als Rollen und Figuren zu binden, wie es im Prosatext noch der Fall ist, auf eine Ordnungs-, Orientierungs- und Kommentierungsinstanz zu verzichten, die Entsubstantialisierung der Rede führt wiederholt zu (gewollten) Effekten der Dekontextualisierung und Desemantisierung, die auf diesem Wege die politische und mediale Katastrophenrede als Sprache fokussiert, zur Ansicht ausstellt und in Richtung der von Röggla angestrebten „literarischen Fremdsprache“ entwickelt. So offensichtlich diese Effekte sind, so interessant scheinen Sie mit besonderem Blick auf Projekte einer literarisierten Ethnologie. Volker Mergenthaler hat in seiner Analyse von really ground zero argumentiert, dass Kathrin Röggla darin mittels des Verfahrens der „teilnehmenden Beobachtung“ 46 bei gleichzeitig immer neuer Relativierung des eigenen Standpunktes 47 und unter Hervorhebung von „Verständnisschwierigkeiten“ den beobachteten kulturellen Praktiken gegenüber zu leisten vermag, 48 was Mergenthaler mit einem Zitat aus Clifford Geertz’ Dichte Beschreibung als Fähigkeit bezeichnet, die „Signifikanten-[…] in einen verständlichen Zusammenhang zu bringen“ 49 -- und was Röggla selbst u. a. als Verstehen der „Gesellschaft als Zusammenhang“ (s. o.) oder als Offenlegung des „Gewaltzusammenhang[s] gesellschaftlicher Verhältnisse“ (s. o.) beschreibt. Mergenthaler benennt zudem als zentrale Leistung des Textes, „der eigenen Darstellung Selbstzweifel einzuschreiben, ohne- […] mit diesem reflexiven Gestus neuerlich eine stabile Position der Wahrnehmung (und sei es des eigenen Ich) zu begründen“. 50 Dabei benennt er auch, was ihm Grundlage für das Gelingen des ethnographischen Projekts really ground zero zu sein scheint: 44 Kormann, „Rastlose Medienspiele“, S. 195 - 206 , 202 . 45 Wiebke von Bernstorff, „Die Macht der Bilder: Terror statt Toleranz. Theaterstücke von Kathrin Röggla, Elfriede Jelinek und Ali Jalaly“, in: Nina Gülcher, Insa Wilke, Romana Weiershausen (Hgg.), Aufgeklärte Zeiten? Religiöse Toleranz und Literatur, Berlin 2011 , S. 157 - 174 , 161 . 46 Mergenthaler, „‚verständnisschwierigkeiten‘“, S. 239 . 47 Ebd., S. 237 . 48 Ebd., S. 240 . 49 Ebd., S. 242 . 50 Ebd., S. 245 . <?page no="171"?> Ethnologie auf der Bühne? 171 Für die Aufhebung des ethnographischen Grundproblems auch auf der Ebene der realen Rede des Rögglaschen Textes entscheidend ist nun die Koppelung von erfolgreichen und mißglückten Verständnisprozessen an die Zeiterfahrung, und zwar an die Zeiterfahrung der Sprecherin wie des Lesers, der an den Standort und den Erfahrungshorizont der Sprecherin gebunden wird. 51 Da Ethnografie (wie Rögglas Literatur) auf das Verstehen und die Vermittlung des Verstandenen ausgerichtet ist, da dieses Projekt aber nur durch die Kombination von teilnehmender Beobachtung und steter Selbstreflexion bzw. (in Rögglas Worten) in der Form einer „ethnologie“ als selbstreflexivem „entwicklungsroman“ (s. o.) Erfolg verspricht, ist die Präsenz des Ethnographen im Text in der von Mergenthaler beschriebenen Weise für das Gelingen des Projekts zentral. Diese Überlegungen haben für die Möglichkeiten einer dramatisierten Ethnologie notwendig Konsequenzen. 2008 hatte Kathrin Röggla in dem kurzen Text Theater ist Stottern klassischen Formen des Theaters aus der Analyse der Komplexität der Gegenwart heraus eine Absage erteilt: „wenn man beispielsweise an der frage nach der macht interessiert ist, nach struktureller gewalt“, dann zeige sich, „dass man das nicht in einer einfachen erzählung, nicht in einer repräsentativen schau eines königsdramas mehr unterbringen wird können“. 52 Ähnlich heißt es in really ground zero, das „geschehen“ des 11 . September scheine „weitaus zu groß- […], um es irgendwie integrieren zu können in eine vorhandene Erlebnisstruktur“. 53 Womöglich aber ist es gar nicht eine prinzipielle Unfassbarkeit der Komplexität der Gegenwart an sich, die Kathrin Rögglas Bühnensprache primär bestimmt. Schließlich produziert Kathrin Röggla regelmäßig Essays, in denen die Welterkenntnis, wie im Drama, mittels eines polyperspektivischen Zugriffs, über Interviews und Feldforschung erfolgt-- aber von einem Subjekt getragen wird, an ein Subjekt gebunden ist. 54 Gerade diese Essays beweisen, wie erhellend, erkenntnisreich sich die Komplexität der Welt auch heute in repräsentativen Handlungen bzw. Erfahrungen eines Subjekts spiegeln lässt. Gleiches gilt für really ground zero. Wenn aber komplexe Prozesse der Gegenwart in der Prosa mittels der Bindung von Stimme, Person und Erfahrung darstellbar sind-- eben auch unter systematischer Thematisierung etwa der Instabilität des Subjekts oder der Grenzen des Verstehens- -, spricht kein systematischer Grund dagegen, dass dies nicht auch 51 Ebd., S. 243 . 52 Kathrin Röggla, „theater ist stottern“, in: Stefan Tigges (Hg.), Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater, Bielefeld 2008 , S. 199 - 201 , 200 . 53 Röggla, really ground zero, S. 7 . 54 Vgl. exemplarisch und eindrücklich die Essays in: Kathrin Röggla: besser wäre: keine. <?page no="172"?> 172 Johannes Birgfeld auf der Bühne gelingen könnte. 55 Die Entsubstantialisierung des auf dem Weg der teilnehmenden Beobachtung gewonnenen Materials auf der Bühne wird man daher als Ergebnis einer bewussten ästhetischen Entscheidung betrachten müssen. Da die Auslöschung der Erzählerbzw. Ethnologenstimme im Schauspiel Rögglas eine Entkonkretisierung, Dekontextualisierung und damit eine Desemantisierung der Rede bedeutet, die zusätzlich mit künstlerischen Mitteln (Konjunktiv, Wiederholungen etc.) verstärkt wird, rückt in den Theaterstücken Kathrin Rögglas am recherchierten Material die Sprache selbst stärker als ihre Bedeutung ins Zentrum. Ausgehend von den Beobachtungen an Kathrin Rögglas Literaturen und poetologischen Aussagen, ist nun festzuhalten, dass eine zentrale Herausforderung einer dramatisierten Ethnologie im Umgang mit dem selbstreflexiven Ethnologen besteht, der für das Gelingen der ethnologischen Forschung unerlässlich scheint. Wenn dieser etwa in fake reports fehlt, wenn „die Koppelung von erfolgreichen und mißglückten Verständnisprozessen-[…] an den Standort und den Erfahrungshorizont der Sprecherin“ 56 nicht erfolgt, ist zu fragen, ob womöglich die in fake reports, worst case oder in draußen tobt die dunkelziffer benutzte Collage-Technik alternativ eine Relativierung und Hinterfragung des Materials zu leisten vermag. Für die die Collage ausmachende Kontrastierung des Differenten (auf sprachlicher oder inhaltlicher Ebene) ist dies sicher prinzipiell in gewissem Umfang möglich. Darüber hinaus ist naheliegend, dass eine starke Entsubstantialisierung und Dekontextualisierung des recherchierten Materials seine Erkennbarkeit und Deutbarkeit als ethnologischen Befund erheblich mindert-- während das Material auf diesem Weg zugleich in hohem Maße den von Röggla gewünschten Charakter einer literarischen Fremdsprache erhält. Aufklärung und Inkommensurables, Ethnografie und Verfremdung des Recherchematerials, Erkenntnisvermittlung und die Herstellung einer literarischen Fremdsprache lassen sich auf der Bühne und ohne die Präsenz der Figur des Ethnographen nur schwerlich zur Deckung bringen. Je umfangreicher aber die Entsubstantialisierung und Dekontextualisierung des Sprachmaterials in Kathrin Rögglas Bühnentexten erfolgt, umso mehr wird man von einer Konzentration auf eine dramatisierte Ethnologie der Sprache sprechen dürfen. 55 Selbstredend ist die Präsenz von Stimme, Erfahrung und Körper im literarischen Prosatext eine andere als in der Aufführung eines Theaterstücks durch Schauspieler. Da der Zuschauer im Theater aber ebenso um die Fiktionalität der Spielwelt weiß wie etwa der Romanleser um die der Romanwelt, lässt sich nicht erkennen, wie allein die materielle Präsenz von Schauspielerkörper, Requisiten etc. zu kategorialen Unmöglichkeiten der Kommunikation führen soll. Auf der Bühne ist die Welt in ihrer Vielfalt ebenso imaginierbar wie in einem Prosatext: nicht immer durch Kulissen, gleichwohl durch Worte (vgl. dazu u. a. auch: Roland Schimmelpfennig, Ja und Nein. Vorlesungen über Dramatik, hg. v. Johannes Birgfeld, Berlin 2014 , u. a. S. 55 , 72 - 73 und 75 ). 56 Mergenthaler, „‚verständnisschwierigkeiten‘“, S. 243 . <?page no="173"?> „I always look for groups that challenge each other“ 173 „I always look for groups that challenge each other“ Improvisation und kollektives Schreiben als Prinzipien interkultureller Theaterpraxis Elisabeth Tropper (Luxemburg) 1. Einleitende Gedanken Kollektive Arbeitsprozesse im Theater Theaterschaffen ist stets ein kollektiver Prozess. „Theater wird gesetzt und Theater entsteht“, so Hajo Kurzenberger, daher ist es „ebenso konstruktiver Akt Einzelner, wie, meist gleichzeitig, sich ergebender Vollzug Vieler“. 1 Oder, in den Worten Sandra Umathums: „Proben lassen sich- […] als gemeinschaftliche Suchbewegungen mit unkalkulierbaren Verläufen und unvorhersehbaren Ausgängen beschreiben.“ 2 Bei aller Gemeinschaftlichkeit der Suchbewegung können Probenprozesse im Theater jedoch sehr unterschiedlich strukturiert sein: von hierarchisch und klar arbeitsteilig gegliederten Probengemeinschaften mit einem Regisseur bzw. einer Regisseurin als EntscheidungsträgerIn an der Spitze, bis hin zu weitgehend egalitären Theaterkollektiven, in denen alle Mitarbeiter (d. h. im Regelfall: alle künstlerischen Mitarbeiter) als gleichgestellt betrachtet werden. Bei Letzteren handelt es sich häufig um Gruppen, die regelmäßig in derselben Konstellation zusammenarbeiten; doch lassen sich auch einmalig für eine spezifische Inszenierung zustande gekommene Produktionsgemeinschaften durchaus als Theaterkollektive formieren. In jedem Fall verlangen kollektive Arbeitsweisen von den an ihnen Beteiligten „einen gesteigerten Grad der Einlassung“ 3 in den gemeinsamen Schaffensprozess. Nicht selten wird bewusst an Themen gerührt, die in einem Näheverhältnis zur eigenen Biographie stehen. Eine solcherart praktizierte Probenarbeit 1 Hajo Kurzenberger, Der kollektive Prozess des Theaters. Chorkörper-- Probengemeinschaften-- theatrale Kreativität, Bielefeld 2009 , S. 14 - 15 . 2 Sandra Umathum, „‚Es regiert das abstrakte Konzepttheater‘. Zum Verhältnis von Konzipieren und Probieren im zeitgenössischen Theater“, in: Melanie Hinz, Jens Roselt (Hgg.), Chaos und Chaos, Berlin 2011 , S. 150 - 179 , 53 . 3 Kurzenberger, Der kollektive Prozess des Theaters, S. 21 . <?page no="174"?> 174 Elisabeth Tropper versteht sich dabei keineswegs als Therapeutikum, wenngleich das gemeinsame Ausverhandeln künstlerischer und/ oder privater Erfahrungen und Anschauungen (wie es beispielsweise für die Arbeiten der israelischen Regisseurin Yael Ronen charakteristisch ist) zuweilen durchaus den Charakter einer kollektiven Gesprächstherapie annehmen kann. So stand denn auch ein im März 2014 in der Berliner Zeitung erschienenes Portrait der Regisseurin unter dem Titel: „Die Therapeutin“. 4 Eine besondere Form kollektiven Arbeitens im Theater stellt die Stückentwicklung dar, im Rahmen derer über gemeinsame Findungs- und Erfindungsvorgänge ein originäres Werk bzw. Theaterereignis geschaffen und zur Aufführung gebracht wird. Im Sinne einer gemeinsamen Autorschaft der am Probenprozess Beteiligten ließe sich hierbei auch von ‚kollektivem Schreiben‘ sprechen; diese Formulierung fällt immer wieder im Kontext der Arbeiten von Yael Ronen 5 und lässt sich grundsätzlich auf Arbeitsprozesse beziehen, in deren Verlauf improvisiertes Spiel- und Textmaterial als Aufführungstext festgeschrieben und so für spätere Vorstellungen reproduzierbar gemacht wird. Improvisation Zu den wesentlichen Mitteln kollektiver Arbeitsweisen im Theater, gerade auch im Rahmen von Stückentwicklungen, zählt die Improvisation. Hergeleitet vom lateinischen improvisus, ‚unvorhergesehen‘, definiert Friedrichs Theaterlexikon von 1969 Improvisation in aller Kürze als „Spiel ohne genaue vorherige Festlegung des (textlichen oder mimischen) Ablaufs“. 6 Im jüngeren Metzler Theaterlexikon wird Improvisation in einem deutlich umfassenderen Sinne als Akt der spontanen und kreativen Situationsbewältigung verstanden: Es wird für das handelnde Subjekt erforderlich, ein vorhandenes Situationspotenzial zu nutzen bzw. in actu mit dem Gegebenen neue Möglichkeiten zu erfinden, um zum Ziel zu gelangen, ein Problem zu lösen bzw. um einen Vorgang oder eine Situation zu gestalten. 7 Improvisation ist selbstverständlich eine zentrale Komponente sowohl der Schauspielausbildung als auch jedweder Probenprozesse; Inszenierungen werden 4 Susanne Lenz: „Die Therapeutin“, in: Berliner Zeitung, 12 . 03 . 2014 , online: http: / / www. berliner-zeitung.de/ theater/ maxim-gorki-theater-die-therapeutin, 10809198 , 26535798 . html [ 30 . 04 . 2016 ]. 5 Vgl. z. B. den Beitrag zu Niemandsland auf der Homepage der UTE (Union des Théâtres de l’Europe), online: http: / / www.union-theatres-europe.eu/ UNIQ 141656843128282 / en/ niemandsland_no_mans_land [ 30 . 04 . 2016 ]. 6 Henning Rischbieter (Hg.), Friedrichs Theaterlexikon, Velber bei Hannover 1969 , S. 20 . 7 Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch, Matthias Warstat (Hgg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart, Weimar 2005 , S. 144 . <?page no="175"?> „I always look for groups that challenge each other“ 175 grundlegend über das Ausprobieren unterschiedlicher Darstellungs- und Ausdrucksformen erarbeitet und durch Extemporieren und kontingente Ereignisse im Probenprozess geprägt. Im Folgenden soll es jedoch nicht um spontane Erfindungsvorgänge im Rahmen eines festgelegten Aufführungstextes gehen, sondern um Improvisation als ausdrückliches und bevorzugtes Mittel der Text- und Szenenfindung. Gernot Plass, künstlerischer Leiter des Wiener TAG (Theater an der Gumpendorfer Straße) hat Improvisationstheater in einem Aufsatz mit „Mannschaftssport“ 8 verglichen; dies lässt sich meines Erachtens ebenso für Theaterarbeiten behaupten, deren Improvisationen nicht dem flüchtigen Moment der Aufführung verpflichtet sind (wie im Improtheater bzw. Theatersport), sondern maßgeblich der Szenen- und Textfindung dienen und im Laufe des Probenprozesses verschriftlicht oder anderweitig festgelegt werden. In beiden Fällen entstehen Improvisationen in beständiger Abstimmung der einzelnen Spielpartner aufeinander, die Dialoge und Szenen sind Resultate eines reziproken Prozesses der Auseinandersetzung und des Aushandelns, von Aktion und Reaktion, stets auch im Spannungsverhältnis zwischen Kollaboration und Konkurrenz. Für solche Arbeitsweisen spielt ferner das ‚Gespräch danach‘ eine zentrale Rolle, wie Kai van Eikels in seinem Aufsatz „Der Abend, an dem wir unser Publikum kannten. Improvisieren zwischen Ereignisproduktion und Zusammenleben“ darlegt. Im Zuge der Nachbesprechung werden die Improvisationen gemeinsam ausgewertet; es handelt sich somit um jenen Augenblick, „da sich die Bestimmung des Kollektivs im Prozess des Improvisierens selbst in einer Bestimmung des Kollektivs als Gemeinschaft von Fragend-Beredenden wiederholt, sich erneuert oder verschiebt“. 9 Interkulturalität Abschließen möchte ich meine einleitenden Überlegungen mit dem sensibelsten der von mir gewählten Termini. Zunächst sei vorausgeschickt, dass der hier vertretende Begriff der ‚Interkulturalität‘ auf einem Verständnis von Kultur basiert, das diese nicht als fest umgrenzte Entität, sondern als dynamischen Prozess auffasst. Die Grenze als Markierung wird im Terminus ‚Interkulturalität‘ zwar nicht aufgehoben; es geht jedoch weniger um sie bzw. ihre Ein- oder Ausschlüsse, als 8 Vgl. Gernot Plass, „Improvisationstheater. Nur Theaterfastfood oder mehr? “, in: gift. zeitschrift für freies theater 2 ( 2007 ), S. 17 - 19 , 18 ; online: http: / / culturebase.org/ home/ igft-ftp/ gift 0207 .pdf [ 30 . 04 . 2016 ]. 9 Kai van Eikels, „Der Abend, an dem wir unser Publikum kannten. Improvisieren zwischen Ereignisproduktion und Zusammenleben“. In: Hinz, Roselt, Chaos und Konzept, S. 109 - 131 , 111 . <?page no="176"?> 176 Elisabeth Tropper vielmehr um „das inter selbst“. 10 Im Schwellenraum dieses ‚inter‘ sind, so Dieter Heimböckel, „die Grenzen zwischen Agonalität, Reziprozität und Liminalität verwischt“. 11 Auf Basis eines solcherart verstandenen Interkulturalitätsbegriffs erscheint mir Homi Bhabhas Konzept des dritten Raums, der als „Schwellenraum zwischen den Identitätsbestimmungen“ 12 durch das beständige Aushandeln hybrider (kultureller) Identitäten und die Verweigerung eindeutiger Zuschreibungen gekennzeichnet ist, als eine hilfreiche epistemologische Kategorie, um jenen Punkt zu beschreiben, an dem interkulturelles Theaterschaffen im Sinne des prozessualen Aushandelns von Positionen, Auffassungen und Spielweisen zwischen Akteuren mit unterschiedlichen Zugehörigkeiten-- seien diese kulturell, biographisch, milieu- oder anderweitig bedingt-- vor sich gehen kann, und zwar über Strategien des kollektiven Be- und Erarbeitens von Stoffen, Themen und Texten. Ich möchte den Begriff der Interkulturalität an dieser Stelle nicht weiter problematisieren, obgleich mir bewusst ist, dass in den Literatur- und Theaterwissenschaften in dieser Hinsicht keineswegs Übereinstimmung herrscht, wie auch die Publikation The Politics of Interweaving Performance Cultures. Beyond Postcolonialism ( 2014 ) erkennen lässt, in deren Einführung die Herausgeberin Erika Fischer-Lichte schreibt: The concept of ‚intercultural theatre‘ implies a sharp division between ‚our‘ and the ‚other‘ culture. It assumes that cultures are hermetically sealed, homogeneous entities-- once Japanese, always Japanese; once European, always European. But this is not the case. 13 Fischer-Lichte setzt hier ein Begriffsverständnis von Interkulturalität voraus, dem ein binäres Konzept zugrunde liegt und das folglich auf der Annahme basiert, die kulturellen Komponenten einer Performance seien klar voneinander zu unterscheiden. Dies ist, in der Tat, „not the case“; und zwar auch im Hinblick darauf, wie ich (in Anknüpfung insbesondere an die Arbeiten von Ortrud Gutjahr und 10 Ortrud Gutjahr, „Alterität und Interkulturalität. Neuere deutsche Literatur“, in: Claudia Benthien, Hans Rudolf Velthen (Hgg.), Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte, Reinbek bei Hamburg 2002 , S. 345 - 369 , 352 . 11 Dieter Heimböckel, „Die deutsch-französischen Beziehungen aus interkultureller Perspektive“, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 4 ( 2013 ), 2 , S. 19 - 39 , 21 . 12 Anna Babka, Gerald Posselt, „Vorwort“, in: Homi K. Bhabha, Über kulturelle Hybridität. Tradition und Übersetzung, hg. u. eingel. v. Anna Babka und Gerald Posselt, Wien, Berlin 2012 , S. 7 - 16 , 11 . 13 Erika Fischer-Lichte, „Introduction. Interweaving Performance Cultures- - Rethinking ‚Intercultural Theatre‘. Toward an Experience and Theory of Performance beyond Postcolonialism“, in: Erika Fischer-Lichte, Torsten Jost, Saskya Iris Jain (Hgg.), The Politics of Interweaving. Performance Cultures Beyond Postcolonialism, New York, London 2014 , S. 1 - 21 , 7 . <?page no="177"?> „I always look for groups that challenge each other“ 177 Dieter Heimböckel) den Terminus im Rahmen meiner Überlegungen zur kollektiven Theaterpraxis verstanden wissen möchte. 2. Zwei Beispiele aus der Theaterpraxis Ich wurde gebeten, das Beitragsthema aus meiner Arbeitspraxis als Dramaturgin heraus zu entwickeln, und werde daher im Folgenden über zwei Arbeiten sprechen, denen vergleichbare Arbeitsprozesse zugrunde liegen: die Stückentwicklung Arabqueen oder Das andere Leben nach dem (nahezu gleichnamigen) Roman von Güner Balci (Arabqueen oder Der Geschmack der Freiheit), die ich gemeinsam mit der Regisseurin Nicole Oder im November 2010 am Heimathafen Neukölln in Berlin realisiert habe, sowie Hakoah Wien ( 2012 ) der israelischen Regisseurin Yael Ronen, mit der mich zwar keine Arbeitsbeziehung verbindet, deren kollektive Theaterprojekte jedoch ein wesentliches Beispiel für die hier skizzierten Arbeitsweisen der Improvisation und des kollektiven Schreibens darstellen. Arabqueen oder Das andere Leben (2010) Im Zentrum des Romans Arabqueen der deutsch-türkischen Journalistin und Schriftstellerin Güner Yasemin Balci steht die sechzehnjährige Tochter kurdischer Einwanderer, Mariam, die ihr ‚Coming of Age‘ im Spannungsfeld zwischen familiärer Verpflichtung und individueller Freiheit erlebt. Wie jedes Mädchen ihres Alters versucht sie, das ihr auferlegte Regelwerk- - in ihrem Fall das Regelwerk eines streng muslimischen Elternhauses- - zu umgehen und die Grenzen ihrer Lebenswelt auszutesten. Dem Roman zugrunde liegen die Biographien zweier Mädchen, die Güner Balci während ihrer Tätigkeit als Sozialpädagogin in einem Berliner Mädchentreff kennengelernt hat. 14 Die Spielfassung von Arabqueen wurde auf Basis ausgewählter Passagen des Romans gemeinsam mit den Schauspielerinnen Tanya Erartsin, Sascha Ö. Soydan und Inka Löwendorf am Heimathafen Neukölln in Berlin erarbeitet; auf unsere konkrete Arbeitsweise werde ich an späterer Stelle noch ausführlicher eingehen. Eines unserer Hauptanliegen bestand von Anfang an darin, Pauschalurteile auszuhebeln; gerade das Theater, das gesellschaftliche Fragestellungen und Diskurse auf Individuen und ihre persönlichen und sozialen Konflikte herunterbrechen kann, ist meines Erachtens in der Lage, den pauschal geführten Debatten über Bevölkerungsgruppen individuelle Biographien entgegenzuhalten. Ich spreche hierbei über ein vergleichsweise niederschwelliges Theater, das mit wenigen Mitteln und fernab theaterwissenschaftlicher Diskurse Aufführungen erarbeitet, die seine Macherinnen und Macher für den Kiez Neukölln und dessen Bewohner als 14 Vgl. Güner Yasemin Balci, Arabqueen oder Der Geschmack der Freiheit, Frankfurt a. M. 2010 , S. 9 - 17 . <?page no="178"?> 178 Elisabeth Tropper relevant erachten. Der Heimathafen Neukölln versteht seine Theaterarbeit dezidiert als ‚Neues Volkstheater‘; 15 und ich meine, es funktioniert: Tatsächlich ist das Publikum (ähnlich wie am Ballhaus Naunynstraße) ein sehr heterogenes. Das mag durchaus auch mit der Lage des Hauses mitten auf der Karl-Marx-Straße zu tun haben-- flankiert von einem Dönerverkäufer auf der einen und einem billige Schuhe und Handtaschen feilbietenden Ramschladen auf der anderen Seite. Die Theaterfassung von Arabqueen wird von drei Frauen getragen, die in rasanten Rollenwechseln sämtliche Figuren verkörpern, sich also männlicher und weiblicher ebenso wie kurdischer, deutscher, deutsch-kurdischer oder französischer Identitäten bemächtigen und diese beständig ineinander übergehen lassen. Text und Inszenierung basieren ausschließlich auf improvisiertem Spielmaterial, das später fixiert wurde. Die Regisseurin und ich schrieben vor Probenbeginn keine Szenen, sondern wählten Romanpassagen aus, die wir mit Kurzüberschriften versahen und in eine erste Reihenfolge brachten. Dadurch deutete sich bereits ein bruchstückhafter Handlungsbogen an, in den wir weitere, vorwiegend dokumentarische, Passagen und Textteile einpassten. Das auf diese Weise selektierte und vorstrukturierte Textmaterial wurde am ersten Probentag gemeinsam gelesen und diskutiert, wodurch einzelne Teile wegfielen, während andere hinzukamen; alle Beteiligten hatten den Roman gelesen und brachten ihre eigenen Lektüreerfahrungen und Interessen in die Konzeptionsprobe mit. Die verbliebenen Texte und Dialogskizzen dienten schließlich als Ausgangspunkt für die Improvisationen der drei Schauspielerinnen. Das gemeinsame Gespräch-- als vor- und nachbereitendes Element-- blieb hierbei für den Arbeitsprozess von zentraler Bedeutung. Die Probenarbeit war wesentlich durch Prozesse des gemeinsamen Findens und Erfindens sowie durch große Flexibilität geprägt. Doch selbst Arbeitsweisen, die derart dezentralisiert und prozessorientiert funktionieren, sind am Ende ebenso auf Selektions-, Gliederungs- und Bearbeitungsverfahren angewiesen wie auf Momente analytischer Distanz. An dieser Stelle kamen schließlich die klassischen Hierarchien wieder zum Tragen: Nicole Oder hatte im Rahmen der Proben klar die Funktion der Regisseurin inne, gab Anweisungen und Spielimpulse; ich (als Dramaturgin und Co-Autorin) schrieb die Texte mit und brachte sie bereits in eine erste Form. Schnelle oder besonders dichte Szenen wurden aufgenommen und transkribiert. Im nächsten Schritt arbeiteten wir die Fragmente zu Szenen aus, die wiederum in den Probenprozess rückgeführt und kollektiv weiter bearbeitet wurden, bis nach zahlreichen Bearbeitungsphasen schließlich die Premierenfassung vorlag, der Text also weitgehend fixiert war. Die im Rahmen der Probenarbeit etablierten Prinzipien der Prozessualität und des freien Spiels wirkten jedoch in 15 Vgl. online: http: / / www.heimathafen-neukoelln.de/ haus [ 30 . 04 . 2016 ]. <?page no="179"?> „I always look for groups that challenge each other“ 179 einem gewissen Umfang in den Vorstellungen weiter: bestimmte Textpassagen blieben der Improvisation durch die Schauspielerinnen weiterhin offen. Der fertige Spieltext von Arabqueen ist folglich das Produkt eines kollektiven Arbeitsprozesses und verdankt seine Szenen und Dialoge wesentlich den hervorragenden Improvisationen der drei Schauspielerinnen. Ermöglicht hat dies nicht zuletzt auch das Vertrauen der Autorin, die uns bei der Adaption ihres Romans völlig freie Hand ließ. Hakoah Wien (2012) Als ich begann, mich intensiver mit den Arbeiten der 1976 in Jerusalem geborenen Regisseurin Yael Ronen zu befassen, stieß ich auf überraschende Parallelen zwischen ihren Arbeitsmethoden und jenen, die Nicole Oder und ich für Arabqueen entwickelt hatten und auch in späteren Arbeiten beibehielten. Gerade in den Theaterprojekten Yael Ronens stößt meines Erachtens die für kollektive Arbeitsprozesse charakteristische „kreative Suchbewegung, die sich aus vielen persönlichen Quellen speist“ 16 in eine Art „dritten Raum“ („third space“) 17 vor, innerhalb dessen unterschiedliche Positionen über den gemeinsamen Schaffensprozess (neu) verhandelt werden. Bei Ronen ist die Theaterprobe Ort dieser Verhandlung; eines ihrer zentralen Mittel die Improvisation. Dies trifft bereits auf jene Arbeit zu, mit der sie in Deutschland bekannt wurde: In Die Dritte Generation, uraufgeführt 2008 anlässlich des Festivals Theater der Welt in Halle (als Koproduktion zwischen der Berliner Schaubühne, dem Habima National Theatre of Israel und der Ruhrtriennale 2009 ), ließ sie zehn Schauspielerinnen und Schauspieler israelischer, palästinensischer und deutscher Herkunft, geboren in der dritten Generation nach dem Holocaust und der Nakba, ihre unterschiedlichen Sichtweisen und Identitätskonzepte, aber auch kanonisierte Opfer- und Täterdiskurse in zum Teil heftigen Streitgesprächen ausagieren. Laut programmatischem Untertitel ein ‚Work in progress‘, macht die Produktion den kollektiven Arbeitsprozess transparent, indem sie ihn auf der Bühne imitiert und zugleich der Prozessualität und Kontingenz aussetzt. Die einzelnen Vorstellungen, per se flüchtige und transitorische Ereignisse, unterscheiden sich auch auf inszenatorischer Ebene bisweilen stark-- und zwar sowohl hinsichtlich ihrer szenischen Abfolge als auch in ihren Dialogen und Sprecherrollen, wie Kirstin Frieden beim Vergleich verschiedener Aufzeichnungen von Die Dritte Generation festgestellt hat. 18 An dieser Stelle soll es jedoch um eine andere Theaterarbeit Yael Ronens gehen, nämlich Hakoah Wien, uraufgeführt am 13 . Oktober 2012 am Schauspielhaus 16 Kurzenberger, Der kollektive Prozess des Theaters, S. 14 . 17 Vgl. Homi Bhabha, The Location of Culture, London, New York 1994 . 18 Kirstin Frieden, Neuverhandlungen des Holocaust. Mediale Transformationen des Gedächtnisparadigmas, Bielefeld 2014 , S. 181 . <?page no="180"?> 180 Elisabeth Tropper Graz. Das gemeinsam mit vier Ensemblemitgliedern des Schauspielhauses, dem Regisseur und Schauspieler Michael Ronen und der Choreografin Moria Zrachia entwickelte Theaterprojekt arbeitet u. a. die Familiengeschichte der Ronens auf, die ursprünglich aus Wien stammen: Der Großvater der Regisseurin und ihres Bruders Michael, der einen zentralen Schauspielpart übernimmt, war Spieler in der Fußballmannschaft des jüdischen Sportclubs Hakoah (hebräisch für ‚Kraft‘). Während Großvater Ronen sich in den 1930 er Jahren zur Auswanderung nach Israel entschloss, um den neuen jüdischen Staat mitaufzubauen, stehen seine Enkel heute vor der Frage, ob sie sein Lebensprojekt als gescheitert ansehen und wieder auswandern sollen, wie es im Begleittext zur Produktion heißt. 19 Neben zahlreichen weiteren werden in Hakoah Wien vor allem zwei Handlungsstränge verknüpft, wobei die Zeiten und Orte zuweilen konturlos ineinander übergehen oder sich in manchen Szenen sogar gänzlich überlagern: auf der einen Seite die Geschichte eines jungen Juden kurz vor seiner Auswanderung nach Tel Aviv im Wien der 1930 er Jahre; auf der anderen Seite der (der großväterlichen Migrationsbewegung diametral entgegengesetzte) Wunsch seines Enkels über achtzig Jahre später, österreichischer Staatsbürger zu werden und in Wien zu leben. Den Theaterarbeiten Ronens gehen intensive Recherchen voraus, die teils von der Regisseurin allein, teils im Kollektiv durchgeführt werden. Darauf folgt in der Regel eine zweite Arbeitsphase, im Rahmen derer Arbeitsaufträge an die SchauspielerInnen vergeben werden: In kleinen Arbeitsgruppen oder einzeln verfassen sie Impuls-Texte zu verschiedenen Themen und Fragestellungen (im Falle von Hakoah Wien beispielsweise zu Sport, Mann-Frau-Beziehungen, Heimat etc.), die als Ausgangspunkt für spätere Improvisationen dienen; daneben wird stets auch frei improvisiert. Sämtliche Improvisationen werden aufgezeichnet, transkribiert und von Ronen zu einer Szene überarbeitet, die sie in Gestalt eines rohen Dialogentwurfs in die nächste Probe mitbringt. Auf diese Weise wächst ein Fundus an Themen und Szenen heran, der gegen Ende der Probenzeit kritisch gesichtet wird; das verbliebene Material wird schließlich zu einem Szenengerüst montiert. 20 Interessant im Hinblick auf Ronens Arbeitsweise ist ferner der Aspekt der Plurilingualität. Auf meine Nachfrage hin schilderte mir die Dramaturgin von Hakoah Wien, Regina Guhl, dass in den Proben vorwiegend Englisch gesprochen wurde; gelegentliche Äußerungen auf Hebräisch oder Deutsch wurden von der Dolmetscherin und zweiten Dramaturgin Irina Szodruch übersetzt. Das Textmaterial wiederum generierte sich über mehrere Etappen: Die Impulstexte wurden auf Deutsch 19 Vgl. online: http: / / www.schauspielhaus-graz.com/ schauspielhaus/ stuecke/ stuecke_genau. php? id= 15906 [ 30 . 04 . 2016 ]. 20 Ausführungen zur Arbeitsweise vgl. Unterrichtsmaterial zu Hakoah Wien, S. 6 - 7 , online: http: / / www.nextliberty.com/ upload/ new_upload/ images/ files/ Unterrichtsmaterial% 20 zu% 20 Hakoah% 20 Wien.pdf [ 30 . 04 . 2016 ]. <?page no="181"?> „I always look for groups that challenge each other“ 181 verfasst und für Ronen ins Englische übertragen; diese überarbeitete die Texte und schrieb sie auf Hebräisch nieder, woraufhin Szodruch die bearbeiteten Texte zunächst wieder ins Englische übersetzte und anschließend, wenn die Regisseurin mit ihrer Rückübersetzung einverstanden war, zusammen mit den SchauspielerInnen ins Deutsche übertrug. Häufig wurden in diesem Prozess Teile des Textes auf der Stelle verworfen oder auf Basis des alten Schreibauftrags neu improvisiert. Wo die Improvisation bei der Szenenfindung an erster Stelle stand, wurde diese mitgeschnitten und von der Regisseurin auf Hebräisch zu einem Szenenentwurf überarbeitet. Darauf folgten wiederum die Übersetzung ins Deutsche, gemeinsames Probieren auf Basis der Übersetzung sowie Rewrites auf Hebräisch, die ins Englische und zuletzt ins Deutsche übertragen wurden. Die verschiedenen Filter führten, so die Dramaturgin, zu einer großen Wachheit, was Nuancen und Zwischentöne anbelangt. 21 In den Vorstellungen von Hakoah Wien schließlich wurde Deutsch und Hebräisch gesprochen. Ein weiterer zentraler Aspekt vieler Theaterarbeiten von Yael Ronen ist die thematische Anbindung an ihre eigene Biographie sowie an die Biographien ihrer Darstellerinnen und Darsteller. Im Falle von Hakoah Wien waren diese dazu angehalten, persönliche Familiengeschichten zu recherchieren und in den Arbeitsprozess einzubringen. Der „gesteigerte Grad- […] der Einlassung“ 22 stand für die Beteiligten demnach am Beginn der Probenarbeit, wobei die verschiedenen autobiographischen Elemente der kollektiven Verhandlung und Bearbeitung sowie der Fiktionalisierung unterworfen wurden. Das Spannungsverhältnis zwischen Privatperson und Figur, zwischen biographischem Faktum und szenischer Erfindung, bleibt in den Vorstellungen von Hakaoh Wien jedoch spürbar aufrecht. Dies wird bereits anhand der Eröffnungsszene deutlich, in der zunächst die Ensemblemitglieder des Schauspielhauses Graz von zwei Sportmoderatoren wie auf den Platz joggende Fußballer vorgestellt werden, als plötzlich ein vermeintlicher Flitzer die Bühne stürmt. Nach ersten Aufregungen („A Nockerter! A Nockerter! “) stellt sich heraus: „Das ist doch der fünfte Spieler, Michael Ronen, der aus Israel! “ Ronen, in Boxershorts und mit Kleiderbündeln auf dem Arm, wendet sich daraufhin entschuldigend an das Publikum und erklärt, es gebe leider ein Problem mit seinem Kostüm: Weder das „Auschwitz-Kostüm“ noch die Soldatenuniform gehören ihm. Beide symbolisieren klischierte Zeichen einer vermeintlich jüdischen bzw. israelischen Identität, die Ronen-- an einer diffusen Schnittstelle zwischen Person und Figur-- als seiner Identität ausdrücklich nicht zugehörig erklärt. Am Ende schlüpft er dennoch in die Uniform: Seine Rolle an diesem Abend ist die des jungen Michael Fröhlich, der aus dem israelischen Militärdienst desertiert und in Wien den Spuren 21 So die Auskunft von Regina Guhl in ihrer Mail an die Verf. vom 24 . 11 . 2014 . 22 Kurzenberger, Der kollektive Prozess des Theaters, S. 21 . <?page no="182"?> 182 Elisabeth Tropper seines Großvaters nachgeht. Der ursprüngliche Name des Großvaters von Yael und Michael Ronen vor der Emigration nach Israel lautete ebenfalls Fröhlich. So überlagern sich nicht nur in der uneindeutigen Spielweise zwischen Rolle und Privatperson, sondern auch im Namen des Protagonisten biographisches Faktum und szenische Fiktion. 3. Zur besonderen Funktion des Komischen Eine weitere Gemeinsamkeit der skizzierten Theaterarbeiten besteht in der auffallend starken Integration komischer Elemente: Übertreibungen, Witze, Ironie und deiktische Fiktionsbrüche wie Parodien oder das Aussteigen aus der Rolle provozieren beim Zuschauer Lachen, das unterschiedlichen Haltungen zu entspringen scheint: Mal kommt es aus der Erleichterung, mal aus der Überraschung; mal ist es ein komplizenhaftes Lachen mit den Darstellern, mal ist es in Lachen über sie. Das Komische (laut Susanne Schäfer per se „ein bipolares Kontextphänomen“ 23 ) oszilliert zwischen den Extremen: Es kann affirmativ oder subversiv sein, kann den Gegenstand degradieren oder erhöhen; und nicht zuletzt manifestieren sich in ihm Zugehörigkeiten und Nichtzugehörigkeiten, Ein- und Ausschlüsse. Der belgische Philosoph und Soziologe Eugène Dupréel hat daher-- im Hinblick auf das Verhältnis von Lachenden und Belachten-- die Unterscheidung zwischen „le rire d’accueil“ und „le rire d’exclusion“ eingeführt, 24 d. h. zwischen dem ausgrenzenden und dem einbeziehenden Lachen. Ein- und Ausschlüsse werden jedoch wesentlich auch auf einer anderen Ebene sichtbar: Indem das Lachen die Gruppe der Lachenden verbindet ( Jens Roselt spricht im Hinblick auf das Theater von zeitlich begrenzten „Lachgemeinschaften“ 25 ), schließt es zugleich die Nicht-Lachenden von dieser Gemeinschaft aus. Der Soziologin Giselinde Kuipers zufolge können die Demarkationslinien hierbei sowohl horizontal als auch vertikal verlaufen, d. h. zwischen „cultures, nations, lifestyle groups, age chohorts, and other groupings that are not directly statusrelated“. 26 Dass im Lachen nationale, kulturelle oder anderweitige Zugehörigkeiten manifest werden können, sei anhand eines Beispiels illustriert: Als in der Grazer Urauf- 23 Susanne Schäfer, Komik und Kultur im Kontext, München 1996 , S. 56 . 24 Eugène Dupréel, „Le problème sociologique du Rire“, in: Essais pluralistes, Paris 1949 , S. 27 - 69 , 41 . 25 Jens Roselt, „Chips und Schiller. Lachgemeinschaften im zeitgenössischen Theater und ihre historischen Voraussetzungen“, in: Werner Röcke, Hans Rudolf Velten (Hgg.), Lachgemeinschaften. Kulturelle Inszenierungen und soziale Wirkungen von Gelächter im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Berlin, New York 2005 , S. 225 - 241, 226 . 26 Giselinde Kuipers, „Humor Styles and Symbolic Boundaries“, in: JLT 3 ( 2009 ), 2 , S. 219 - 240 , 225 . Vgl. hierzu auch Schäfer, Komik und Kultur im Kontext, S. 35 ; Schäfer spricht von einer „interkulturellen Varianz“. <?page no="183"?> „I always look for groups that challenge each other“ 183 führung von Hakoah Wien in einem Witz auf die österreichischen Keller referiert wurde (in Anspielung auf den Fall Josef Fritzl als jene Orte, „wo die Österreicher ihre Kinder machen“), löste dies im Parkett schallendes Gelächter aus. Beim Gastspiel der Produktion am Berliner Maxim-Gorki-Theater im Februar 2014 waren an derselben Stelle lediglich vereinzelte (wiewohl sehr laute) Lacher zu vernehmen. Beim anschließenden Publikumsgespräch auf Unterschiede in der Rezeption von Aufführungen in Deutschland und Österreich angesprochen, erwiderte einer der Darsteller, Differenzen würden unter anderem anhand des Lachens sichtbar, und verwies auf den genannten Keller-Witz. Meine Sitznachbarin beugte sich daraufhin zu ihrem Begleiter und fragte flüsternd, ob er denn wisse, was es mit diesen Kellern auf sich habe. Neben dem notwendigen Kontextwissen und der Bildung einer inkludierendenexkludierenden Lachgemeinschaft kommt im kollektiven Gelächter des österreichischen Publikums meines Erachtens noch ein drittes Moment zum Tragen, das sich als Ausdruck von Selbstironie, vielleicht sogar von Selbstkritik, fassen lässt; denn es ist nicht zuletzt ein Lachen auch über sich selbst. Durch das Komische (und das Lachen als Antwort darauf) können jedoch auch Grenzen aufgelöst und eine Gemeinschaft anderer Art hergestellt werden: indem Sachverhalte an den Lachenden herangerückt werden, die dieser in anderen Situationen als ‚fremd‘ und seinem Selbstverständnis nicht zugehörig abtun würde. Dem Philosophen Joachim Ritter zufolge holt das Komische Ausgegrenztes, Verdrängtes oder Tabuisiertes ins gesellschaftliche Innere zurück und erreicht über das Lachen dessen Anerkennung. 27 Die dadurch eintretende Parallelisierung von Ein- und Ausgegrenztem kann zuweilen mit der Überraschung des Wiedererkennens korrelieren: Wenn in Arabqueen beispielsweise über die ungeschickten Annäherungsversuche des kurdischen Jugendlichen Ercan (gespielt von Sascha Ö. Soydan) gelacht wird, so geschieht dies nicht zuletzt auch deshalb, weil die eigenen Coming of Age-Nöte erinnert werden. Hier entsteht eine Lachgemeinschaft, die jenseits kultureller oder nationaler Zugehörigkeiten funktioniert, diese vielmehr für den Moment aufhebt. Daneben zielen andere Formen des Komischen in Arabqueen, insbesondere die rasanten Rollenwechsel und das Spiel mit Parodie und Übertreibung, auf die Bloßstellung der darin zum Ausdruck kommenden Posen, Stereotypen und Pauschalurteile ab. 27 Vgl. Joachim Ritter, „Über das Lachen“, in: ders., Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt a. M. 1974 , S. 62 - 92 , 75 - 77 . <?page no="184"?> 184 Elisabeth Tropper 4. Schluss Das Zitat Yael Ronens, das ich dem Titel dieses Beitrags vorangestellt habe- - „I always look for groups that challenge each other“ 28 -- bezeichnet eine Form interkulturellen Theaterschaffens, das die Herausforderung („challenge“) nicht negiert oder gleichzumachen sucht, sondern als konstruktiven und produktiven Ausgangspunkt für kollektive Arbeitsprozesse ansieht. Wie gezeigt wurde, spielt in diesem Rahmen die Improvisation eine zentrale Rolle; als bewusst eingesetztes Mittel zur kollektiven Stückentwicklung kann sie, so der britische Theatermacher Tim Etchells, Räume entstehen lassen, „in which different visions, different sensibilities, different intentions could collide“. 29 Hierbei haben auch Dissonanzen und Missverständnisse ihre Berechtigung; für Etchells zählen sie überhaupt zu den erkenntnisreichsten Ereignissen im Probenprozess. 30 Über Improvisation sowie andere Formen des kollektiven Be- und Erarbeitens von Themen, Stoffen und Texten lässt sich, so sollte anhand der skizzierten Theaterarbeiten anschaulich werden, das reziproke Ausverhandeln von Positionen, Erfahrungen und Spielweisen zwischen Akteuren mit unterschiedlichen Zugehörigkeiten (kulturellen, nationalen, biographischen usf.) als grundlegendes Prinzip in den Arbeitsprozess integrieren. Die Probe wird so zum Ort einer interkulturellen Theaterpraxis, die sich im freien Spiel entfaltet und durch Vor- und Nachgespräche begleitet und unterstützt wird. Indem die Improvisationen im Rahmen eines verbindlichen Aufführungstexts verschriftlicht werden, wird die Kontingenz des im Stegreif erarbeiteten Szenenmaterials in Wiederholbarkeit überführt. Die Aufführung schließlich ist Resultat und Ausdruck einer umfassenden Einlassung und Teilhabe der am Arbeitsprozess Beteiligten sowie der grundlegenden Prinzipien ihrer kollektiven Entwicklung. 28 Yael Ronen, zit. auf der Homepage der UTE (Union des Théâtres de l’Europe), online: http: / / www.union-theatres-europe.eu/ UNIQ 141656843128282 / en/ niemandsland_no_mans_land [ 30 . 04 . 2016 ]. 29 Tim Etchells, „Play On: Collaboration and Process“, in: ders., Certain fragments. Contemporary performance and Forced Entertainment, London, New York 1999 , S. 50 - 70 , 55 . 30 Vgl. ebd., S. 55 - 56 . <?page no="185"?> Ich bin ich und bin der andere 185 Ich bin ich und bin der andere Wie Interkulturalität als künstlerische Forschung gedacht werden kann Mina Novakova (Bochum) Eine künstlerische Reflexion zu den Projekten Faust-Exhausted und Ich bin ich und bin der andere In den letzten Dekaden wuchs sowohl auf Seiten der Theatertheorie als auch der Theaterpraxis das Interesse für einen Zwischenbereich, oft bezeichnet als „künstlerische Forschung“. 1 Darunter wird ein Wandel in der Betrachtung der Beziehung zwischen Kunst und Wissenschaft verstanden, wobei die explorativen Praxen der Wissenschaft mit den gestalterischen Praxen der Kunst zusammengedacht werden. Dies zeigt sich nicht nur in der hohen Anzahl deutschsprachiger Publikationen zu dieser Thematik, sondern auch in dem Umstand, dass an der Ruhr-Universität Bochum ein einschlägiger Studiengang unter dem Namen „Szenische Forschung“ gegründet wurde. Szenische Forschung wird hier als ein spezieller Fall künstlerischer Forschung verstanden, die sich im weitesten Sinne mit dem Begriff ‚Szene‘ auseinandersetzt, sowohl im klassischen Theaterkontext als auch in jeglicher Form von Situationen, die ‚szenisch‘ funktionieren und durch eine gewisse Theatralität, Performativität und durch Rollen gekennzeichnet sind. Der vorliegende Beitrag ist eine Reflexion über eine szenische Arbeit, die ich im Rahmen der Konferenz „Theater und Ethnologie“ an der Universität Luxemburg am 28 . 06 . 2014 performt habe. Es ist genau genommen ein doppelter Bericht über zwei verschiedene Produktionen- - das interkulturelle Theaterprojekt Faust-Exhausted und meine eigene Performance Ich bin ich und bin der andere, die in der Form einer Lecture Performance über Faust-Exhausted berichtete. Es handelt sich 1 U. a.: Elke Bippus (Hg.), Kunst des Forschens. Praxis eines ästhetischen Denkens, Zürich, Berlin 2012 ; Corina Caduff, Florian Siegenthaler, Tan Wälchli (Hgg.), Kunst und künstlerische Forschung / Art and Artistic Research, Zürich 2010 ; Sibylle Peters (Hg.), Das Forschen aller. Artistic Research als Wissensproduktion zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft, Bielefeld 2013 . <?page no="186"?> 186 Mina Novakova hierbei um eine künstlerische Reflexion, die ein neues Format des Schreibens zu etablieren versucht, das sich zwischen Kunst und Wissenschaft bewegt. Die Erzählperspektive dieser Arbeit bewegt sich auf dem Koordinatensystem der subjektiven Rollenwechsel zwischen meinen Aufgaben als Produktionsleiterin, Dolmetscherin/ Übersetzerin und Regie-Assistentin bei der Produktion Faust-Exhausted sowie meinen persönlichen Fragestellungen als Künstlerin, die sich mit der Problematik der Fremdsprache und der Mehrsprachigkeit im Sprechtheater auseinandersetzt. Zuerst wird das ursprüngliche Projekt Faust-Exhausted vorgestellt, welches aufgrund seiner mehrsprachigen Konzeption in Luxemburg zu einem Konflikt führte. Aus diesem Konflikt rührt die Entscheidung für eine szenische Darstellung im Rahmen der Konferenz „Theater und Ethnologie“ in Luxemburg her. Dementsprechend wird gezeigt, welche Überlegungen mich zum Format der Lecture Performance geführt haben, wie Ich bin ich und bin der andere als künstlerische Forschung zu verstehen ist und warum ich künstlerische Forschung für eine geeignete Form der Auseinandersetzung mit Interkulturalität und Mehrsprachigkeit halte. Das Fazit dieser Arbeit bietet Anstöße für eine mögliche Beschäftigung auf theoretischer und praktischer Ebene mit der Thematik. Das Projekt Faust-Exhausted Das interkulturelle Projekt Faust-Exhausted ist eine Koproduktion des freien Stuttgarter Theaterlabels TART produktion mit dem Theaterlabor SFUMATO in Sofia, der deutschen Abteilung des Nationaltheaters „Radu Stanca“ in Sibiu, dem Théâtre National du Luxembourg, dem Schlachthaus Bern sowie dem Theater Rampe Stuttgart und wurde zwischen Herbst 2013 und Sommer 2014 realisiert. Das Konzeptionsteam der Produktion bestand aus dem Regisseur Bernhard Eusterschulte ( TART produktion) sowie dem Dramaturgen Andreas Wagner (Théâtre National du Luxembourg). Die Textvorlage für die Probenarbeit bestand aus einer vierzigseitigen Umschrift des Faust I und Faust II -Stoffes Johann Wolfgang von Goethes durch den deutsch-serbischen Autor Tomo Mirko Pavlovic. Diese Neubearbeitung häuft Motive und Figuren beider Faust-Teile an, die zu allegorischen Sinnbildern der heutigen Zeit und Gesellschaft synthetisiert werden. Das faustische Subjekt, welches über sich hinauswachsen möchte, liefert die Grundlage zur Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen, verhängnisvollen Verhältnis zwischen Individuum und Wirtschaft. Die exemplarische Figur ‚Faust‘ ist zu einem Projekt expandiert und mutiert, welches das politische und wirtschaftliche Spielfeld der heutigen Europäischen Union vereinnahmen möchte. Er ist gleichzeitig Mephistopheles und Faust. In der Textvorlage für das Projekt Faust-Exhausted sind nur die Figuren von Helena, Gretchen und Euphorion in ihrer Individualität präsent, jedoch fragmentarisch und als Gegenspieler von Faust. <?page no="187"?> Ich bin ich und bin der andere 187 Das Projekt führt die konzeptionelle Auseinandersetzung mit interkultureller und transnationaler Thematik im europäischen Raum fort, welche die Künstlergruppe TART produktion schon bei ihren früheren Arbeiten wie Die Hamletmaschine ( 2008 ), Fuck you Eu.ro.Pa! ( 2009 ), Napoleon Raskolnikow im Schnee ( 2010 ) zu erforschen suchte. Die grundlegende Methode dieser Gruppe ist die Zusammenführung von Schauspielern 2 mit unterschiedlicher Herkunft und Generationszugehörigkeit, die-- jeweils inspiriert durch die gegebene dramatische Vorlage-- ihre eigene, subjektive Erfahrung in und mit der ‚Geschichte‘ als Erzählung und der ‚Geschichte‘ als Historie in das Bühnengeschehen übertragen sollten. Des gleichen Verfahrens bediente sich auch Faust-Exhausted-- jedes Partnerland beteiligte sich am Patchwork des Narrativs durch die Teilnahme von Darstellern aus den jeweiligen Ländern. Da der vorwiegende Teil der Proben sowie die Erstaufführung des Textes von Tomo Mirko Pavlovic in Sofia stattfanden, lag auch der Fokus der inhaltlichen Auseinandersetzung auf Bulgarien. Somit war dieses Land auch mit den meisten Schauspielern vertreten: Margita Gosheva, Vasil Duev und Georgi Novakov. Die anderen Partnerländer nahmen am Projekt mit jeweils einem Darsteller teil-- Fabiola Petri aus Rumänien, Marc Baum aus Luxemburg und Christoph Keller aus der Schweiz. Aus historischer Perspektive verteilten sich die Generationspositionen folgendermaßen: Es gab drei junge Repräsentanten der post-kommunistischen Zeit (Petri/ Duev/ Keller), zwei Darsteller, die ihre Leben zur Hälfte vor und nach dem Mauerfall gelebt haben (Gosheva/ Baum) und einen alten „Faust“ (Novakov), der fast sein ganzes Leben lang im Realsozialismus in Bulgarien gelebt hatte. Essenziell für die interkulturelle Zusammenarbeit waren Fragen nach der Möglichkeit miteinander zu kommunizieren sowie nach individueller/ gemeinsamer/ europäischer Identität, die aufgrund des Zusammentreffens von unterschiedlichen Auffassungen ins Wanken geraten und neu bestimmt werden sollte. Auf der Suche nach Verständigung in der globalisierten Welt folgte TART produktion dem Muster früherer eigener Bühnenexperimente und verzichtete auf eine konventionelle Übersetzung der Inszenierung für das Publikum durch Übertitel. Während der Probenzeit war eine aufwendige und zeitintensive Übersetzungsarbeit notwendig, allein schon um die Kommunikation zwischen allen Beteiligten zu gewährleisten. Die Vermittlungsposition eines Dolmetschers- - vor allem zwischen den Schauspielern 3 -- wurde allerdings immer weniger gebraucht, da sich sowohl die Büh- 2 Bezeichnungen wie ‚Schauspieler‘, ‚Darsteller‘ etc. sind im Folgenden genderneutral zu verstehen, es sei denn, es handelt sich um konkrete Personen. 3 Die Kommunikation zwischen den Schauspielern und der Regie fand grundsätzlich auf Deutsch mittels einer Dolmetscherin statt, während man sich auf der Bühne nur zum Teil mithilfe der Dolmetscherin, häufig jedoch auf Englisch oder auch durch Gesten, Pantomime, Körpersprache und Laute verständigte. <?page no="188"?> 188 Mina Novakova nenvorgänge und Spielsituationen als auch die Etablierung eines Teamgefühls als hervorragende Übersetzungsmittel erwiesen. 4 Die ursprüngliche Textfassung war deutsch-bulgarisch, auf den Proben wurden Passagen auf Englisch, Französisch, Luxemburgisch, Rumänisch und Schweizerdeutsch hinzugefügt. Der bewusste Verzicht auf eine Übertitelung der Inszenierung oder eine anderweitige Form der Übersetzung für das Publikum entsprach der Zielsetzung der Konzeption: Die Fragestellungen der Kommunikation sind immer wieder zentral in unseren Arbeiten. Wenn Kommunikation ein Vorgang des Übersetzens von Information in Sprache ist und ihr Schiffbruch Scheitern, Sprachlosigkeit und auf sich selbst zurück geworfen sein bedeutet, dann verstärkt Mehrsprachigkeit diesen Effekt. Eine mehrsprachige Spielfassung verdeutlicht das Selbstgespräch und das Schweigen der Faust-Akteure und -Akteurinnen zwischen Eigen- und Fremdbestimmung in der Interaktion mit dem Publikum. 5 Die Kernproblematik der Identitätsfindung wurde wiederum nicht nur durch die erschwerten Kommunikationsbedingungen dargestellt, sondern auch durch den postdramatischen Mangel an Rollenzuweisungen. Identität wurde gleichzeitig als Behauptung im Sinne eines Zitats oder einer Figuration sowie als Distanzierung von dieser verstanden. 6 Während des Probenprozesses wurde ein bedeutsamer Teil des Textes gekürzt, so wie es der Regisseur Bernhard Eusterschulte in Vorbesprechungen zum Projekt mit dem Autor Tomo Mirko Pavlovic vereinbart hatte. Die ursprüngliche Textfassung wurde von Anfang an als frei zu gestaltender Spielraum für die Schauspieler verstanden, der nur gewisse Orientierungspunkte geben sollte. Im Laufe der Proben erwiesen sich Improvisationsmomente, die aus verschiedenen darstellerischen Übungen und Spielexperimenten mit der jeweils unbekannten Sprache entstanden, als ein geeignetes Mittel, Inhalte über das bloße Sprechen hinaus zu ‚vermitteln‘. Der Anspruch, Inhalte zu vermitteln, entspricht nicht nur einer prägnanten Zielsetzung des klassischen Bildungstheaters, er reicht auch nicht aus, um zu beschreiben, wonach das Projekt strebte. Bei der künstlerischen Auseinandersetzung des Teams ging es darum, die Interaktionen und Szenen zugänglich und mit-sich-reißend zu machen, indem man gleichzeitig auf die Sprache setzte (falls sie vom Publikum nicht verstanden werden konnte, prägte sie in ihrer Intensität die Szene-- durch Tonalität, Dynamik und Emotionalität) und auch gegen die Sprache setzte (indem man beispielsweise eine lange Improvisationsszene an den Anfang der Inszenierung setzte, in der sich der ältere bulgarische Schauspieler mit dem Schauspieler aus der Schweiz unterhalten sollte, wobei keiner 4 Eine ähnliche Erfahrung wurde auch bei den früheren Projekten gemacht. 5 Bernhard Eusterschulte, Andreas Wagner, Faust-Exhausted (internes Konzeptpapier). 6 Vgl. ebd. <?page no="189"?> Ich bin ich und bin der andere 189 die Sprache des anderen beherrschte und die bruchstückhafte Unterhaltung auf Missverständnissen beruhte). Darüber hinaus befasste man sich mit der sprachlichen Pluralität, indem Textpassagen parallel in verschiedenen Sprachen oder auch nacheinander gesprochen wurden, was nicht unbedingt chronologisch passieren musste, aber immer durch szenische Metaphern aufeinander rekurrieren sollte. Beispielsweise wurde dieselbe Textstelle mit gleichem Duktus einmal auf Bulgarisch und drei Szenen später auf Deutsch deklamiert. Diese Taktik wurde bekräftigt durch das Changieren der Darsteller zwischen ihrer Rolle und dem Ausstieg aus dieser, wobei die weiblichen Parts von Helena (Margita Gosheva) und Gretchen (Fabiola Petri) festgelegt waren, während Faust und Mephisto in einem oder mehreren Darstellern zugleich erkennbar wurden. Euphorion wurde in seiner Individualität wiederum nur von einem Darsteller dargestellt (gespielt von Vasil Duev) als Sinnbild des sterbenden Ikarus, Kind der Poesie und Schönheit, das dem Ideal zu nahe kommt und deswegen zum Sturz verdammt ist. Auf diese Art und Weise erarbeitete man beide Interessensschwerpunkte- - Mehrsprachigkeit und Identitätssuche-- auf der Grundlage der dramatischen Vorlage von Tomo Mirko Pavlovics Faust-Exhausted. Die Vorstellungen in Sofia hatten den höchsten Anteil bulgarischer Textpassagen im Vergleich zu den späteren Gastspielen, wobei prozentual gesehen in Bulgarien eine fast gleiche Gewichtung zwischen der deutschen und der bulgarischen Sprache die Inszenierung bestimmte. Die konzeptionelle Entscheidung für ein mehrsprachiges Experiment ohne Übertitelung wurde sowohl vom bulgarischen Koproduktionspartner, dem Theaterlabor SFUMATO , als auch vom Publikum mit großer Offenheit und Neugierde begrüßt. Dennoch wurde im Einzelnen der Wunsch geäußert, längere Monologe aus Pavlovics Textfassung aus dem Deutschen ins Bulgarische übersetzt zu bekommen. Jedes Gastspiel stellte eine neue Herausforderung an das mehrsprachige Konzept. Als treibende Kraft der künstlerischen Entwicklung wurde die Prozesshaftigkeit der Arbeit verstanden, mit dem Ziel, einen interkulturellen Dialog in Gang zu setzen. Im Idealfall sollte dieser nicht nur im Produktionsteam stattfinden, sondern ebenfalls mit dem Publikum geführt werden. Diese Art prozessualer Weiterentwicklung der Inszenierung bestand in der Idee, an jedem neuen Spielort das bereits Vorhandene neu zu kontextualisieren und in Verbindung zu dem jeweiligen Land und seinen politischen und sozialen Spezifika zu setzen: Für den jeweiligen Aufführungsort bedeutet das, dass die kontextuelle Setzung überprüft, verändert und neu verortet werden muss. So bleibt die Arbeit prozessual und gewinnt jeweils neue ortsbezogene Perspektiven. Das gilt z. B. im besonderen Maße für die Proportion der Mehrsprachigkeit und was sich dadurch vor Ort verändert, werden doch kulturelle Unterschiede besonders in der Sprache deutlich, in dem, was artikuliert werden kann und was nicht. Und so gewinnen wir an jedem Ort eine neue Perspektive <?page no="190"?> 190 Mina Novakova auf die Frage nach europäischer Identität und das Verhältnis west- und osteuropäischer Differenzen und Gemeinsamkeiten. 7 Aufgrund der Produktionsbedingungen 8 war die Zeit für die Verortung des bereits Inszenierten in den Gastspielländern sehr knapp. Seiner ersten großen Herausforderung in Bezug auf das mehrsprachige Konzept begegnete das Team bereits beim ersten Gastspiel am Théâtre National du Luxembourg im November 2013 . Das Unbehagen an der Mehrsprachigkeit Das Théâtre National du Luxembourg hatte sich entschieden, die Inszenierung unter dem Titel FAUST 2.0 9 in sein Programm aufzunehmen. Diese Entscheidung wurde im Nachhinein zu einem der beiden Auslöser für die Konzeptionskrise in Hinblick auf diese mehrsprachige Arbeit, 10 worauf hier später eingegangen wird. Im Rahmen der fünf Vorstellungen von Faust-Exhausted, die am Théâtre National du Luxembourg geplant waren, fand zudem ein Kolloquium statt, das vom Institut Pierre Werner und der Universität Luxemburg veranstaltet wurde. Dieses Kolloquium verstand man als eine zusätzliche Plattform zur Besprechung der Möglichkeiten, Herausforderungen und Grenzen interkultureller Zusammenarbeit. Es sollte einen Tag vor der Premiere des Stücks in Luxemburg stattfinden. Außerdem war das Kolloquium an die Generalprobe der Produktion angeschlossen, welche die Diskussionsteilnehmer als öffentliche Probe besuchen durften. Dieses spezielle Angebot stellte für das Produktionsteam einen zusätzlichen Stressfaktor dar, da der Probenzeitraum bei diesem Gastspiel sehr knapp war 11 und die letzte große Probe nicht mehr eine interne szenische Überprüfung der Neuerungen sein konnte. Andererseits boten das Kolloquium und die öffentliche Probe unter den Bedingungen einer Art Experimentlabor die Möglichkeit, eine Öffnung zum Publikum hin zu schaffen und die ersten Anpassungen an das neue Land und die umgebende Thematik sowie die Veränderungen der mehrsprachigen Fassung zu testen. Für das Gastspiel in Luxemburg wurden einige Textpassagen der jüngeren Darsteller aus Bulgarien und Rumänien (Margita Gosheva, Vasil Duev und Fabiola Petri) ins Deutsche oder Englische übertragen, da es naheliegend schien, dass sie als Repräsentanten einer multilingualen Generation gelten, die mindestens eine Fremdsprache beherrscht und dementsprechend diese Änderungen keinen konzeptionellen Bruch für sie darstellen würden. Für den ‚ältesten Faust‘ (Georgi Nova- 7 Eusterschulte/ Wagner, Faust-Exhausted (internes Konzeptpapier). 8 Jeweils ein bis höchstens zwei volle Probetage waren vor der Premiere im Gastgebertheater möglich. 9 Vgl. online: http: / / www.tnl.lu/ de/ event/ faust- 2 - 0 [ 30 . 04 . 2016 ]. 10 Im Folgenden wird für das Projekt von Bernhard Eusterschulte der Titel Faust-Exhausted beibehalten. 11 In diesem Fall gab es nur einen Tag Probe vor der öffentlichen Probe. <?page no="191"?> Ich bin ich und bin der andere 191 kov) allerdings schien so ein gewaltiger Eingriff in den Text nicht sinnvoll, weil er eine Sozialisierung erlebt hatte, die weit entfernt von den heutigen Maßstäben der fast unausweichlichen Mehrsprachigkeit war. Diese Tatsache wurde durch seine häufig vereinsamte Rede auf Bulgarisch nur noch verstärkt, wonach auch bewusst gesucht wurde. Nichtsdestotrotz wurden einige wenige Texteinheiten vom alten Faust auch auf Deutsch vorgetragen, wobei die Schwerfälligkeit seiner Sprache, die Intentionalität des in der Fremdsprache Gesagten und die Unperfektheit der sprachlichen Formulierung als Verfremdung und Kommentar fungierten. Zu dieser öffentlichen Probe in Luxemburg kamen Gäste des Instituts Pierre Werner und der Universität Luxemburg, aber auch Laufpublikum des Théâtre National du Luxembourg. Ferner waren Lehrer anwesend, die an den darauf folgenden Tagen mit ihren Schulklassen in die Vorstellungen gehen wollten. Hier stießen wir auf den ersten problematischen Moment der Vermarktung dieser Produktion unter einem anderen Titel in Luxemburg. Man könnte vermuten, dass der Titel, der die Ziffern „ 2 . 0 “ in sich trug, irreführend gewirkt hat, weswegen am Ende der öffentlichen Probe viele missbilligende Stimmen die Kritik äußerten, dass vom Originaltext des Faust II von Goethe nichts mehr zu erkennen sei. Anscheinend verführte der neue Titel zu dem Gedanken, dass es sich bei dieser szenischen Arbeit um eine weitgehend klassische Drameninszenierung handeln würde. Die zweite, wesentlich schärfere Kritik warf der Inszenierung vor, durch die Mehrsprachigkeit völlig hermetisch zu sein. Als problematisch wurde insbesondere der große Anteil des Bulgarischen empfunden, der immer noch bestimmend für eine Mehrzahl von (vorwiegend improvisierten) Szenen war. Einer der Lehrer, die der öffentlichen Probe beiwohnten, rief am nächsten Tag im Théâtre National du Luxembourg an, um alle Karten für seine Schulklasse zu stornieren, da er über die Unmöglichkeit, den bulgarischen Text beziehungsweise das Sprechen auf Bulgarisch zu verstehen, empört war. Da man befürchtete, dass dieses Vorgehen auch für andere Schulklassen beispielgebend sein könnte, wurde ein Krisengespräch zwischen dem Produktionsteam von Faust-Exhausted und dem Théâtre National du Luxembourg geführt. Die einzige praktikable Lösung schien die Erstellung von Übertiteln. Übertitel als Hindernis Somit komme ich zum Kern des Problems, das auch die Erarbeitung meiner Lecture Performance inspiriert hatte. Auch wenn man zugeben könnte, dass bis zu einem gewissen Grad die kritische Haltung des Luxemburger Publikums durchaus verständlich war und dass durch diesen Vorfall auf konzeptionelle Schwächen hingewiesen wurde, an denen man hätte weiterarbeiten können, überkam mich aufgrund der kurzfristigen Übertitelungslösung ein starkes Unbehagen. Ich konnte nachvollziehen, dass die Inszenierung durch ihre extreme textliche Komplexität <?page no="192"?> 192 Mina Novakova auch jenseits der Mehrsprachigkeit ein schwieriges Terrain zur Erkundung bot. Nicht nur gilt Faust II als schwer zu inszenierendes Werk, die Neubearbeitung verdichtete zusätzlich die bereits vorhandenen sperrigen Elemente mit weiteren komplexen Themen aus der Gegenwart. Der Homunkulus wurde assoziiert mit der künstlichen Befruchtung, aus der Erschaffung des Geldes wurde die Abschaffung des Geldes in der Finanzkrise, der neue Mephisto hatte viele Gesichter und wurde unter anderem als korrupter und dubioser, östlicher/ westlicher Geschäftsmann, vielleicht sogar Mafia-Boss, interpretiert, der für die Unterschlagung von EU -Geldern inhaftiert wurde. Obwohl hierdurch dem Publikum bereits viel abverlangt wurde, hatte ich wenig Verständnis für die mir angetragene Aufgabe, Übertitel für diese Inszenierung zu erstellen. An erster Stelle bezog sich mein Unbehagen auf die Tatsache, dass nur die bulgarischen Textpassagen übersetzt werden mussten. Das kam mir ungerecht vor, da es im Stück auch andere Fremdsprachen gab- - wenn auch nicht in demselben Ausmaß. Außerdem war der bedeutsame Teil an bulgarischer Rede vor allem in improvisierten Szenen zu finden, die zwar eine äußere Rahmenlogik besaßen, im Inneren jedoch stark variierten, sodass eine genaue Übertragung in textliche Form kaum möglich war. Eine nachträgliche Übertitelung dieser Szenen würde ihnen die darstellerische, bildhafte Kraft sowie ihre über die Sprache hinausgehende Wirkung rauben. Es gab verschiedene Ideen, wie man die Übertitel erstellen könnte-- als Kommentar, als neues ‚Spielmitglied‘ im szenischen Geschehen, welches thematisiert und fokussiert wird-- allerdings fehlte die Zeit für solch ein mehrdimensionales Überdenken der ursprünglichen Konzeption, und die Übertitel wurden einfach da hinzugefügt, wo es möglich war. Für die Darsteller gab es keinerlei szenische Änderungen, sodass die improvisierten Szenen in den Übertiteln nur angedeutet wurden und aus meiner bilingualen Perspektive im Gesamtbild eher eine schlechte, über die Inszenierung geworfene Collage von Sätzen darstellten, die weder hilfreich noch sinnvoll war. Beunruhigend fand ich auch, wie schnell die ökonomischen Faktoren beziehungsweise die Angst vor Verlusten durch abgesagte Tickets zu massiven Eingriffen in die Gesamtkonzeption führten. Ich stellte mir daraufhin folgende Fragen: Müsste man dem aufs Verstehen festgefahrenen Publikum nicht Widerstand leisten? Wie könnte man im Sprechtheater dem rationalen Verstehen eine Absage erteilen und Mehrsprachigkeit als ästhetisches Mittel einsetzen? Wie könnte man die Kommunikation während des Projekts Faust-Exhausted beschreiben und erfahrbar machen? Welche weiterführenden Strategien in Bezug auf die Mehrsprachigkeit hätte man berücksichtigen können? Welche Erfahrung haben die Darsteller mit der Mehrsprachigkeit des Spiels gemacht? Was für ein Wissen generiert eine solche Arbeit, die sich dem sprachlichen Verständnis entzieht? <?page no="193"?> Ich bin ich und bin der andere 193 Vom Vortrag zur Lecture Performance Ich behaupte nicht, dass meine Lecture Performance vom 28 . Juni 2014 alle oben gestellten Fragen beantwortet hätte. Dass es überhaupt zu einer Lecture Performance gekommen ist, war anfangs keine Selbstverständlichkeit. Die Einladung, einen Vortrag über das Projekt Faust-Exhausted im Rahmen der Konferenz „Theater und Ethnologie“ zu halten, kam unmittelbar nach dem Kolloquium zum interkulturellen Theater im November 2013 . Nach meiner Zusage wurde jedoch das Unbehagen in Bezug auf die von mir besonders zu diesem Zeitpunkt als gescheitert empfundene Konzeption nur noch stärker. Wie ließen sich die Erfahrungen aus den Proben und den zwei ersten Aufführungsorten zusammenführen? Wie könnte man den Spuren meines Unbehagens theoretisch folgen? Es ging mir nicht nur um die Unmöglichkeit, Improvisationen zu übertiteln, sondern vor allem um die Behauptung, dass die Übersetzung Mittel zum Verständnis sei. Dieses Verstehen wäre meines Erachtens nach ein rein textliches, auf die Sprache begrenztes, eines, das den Ausdrucksmitteln des Theaters und dem interkulturellen Anspruch der Produktion Faust-Exhausted nicht gerecht werden kann und das intermediale Wesen einer Inszenierung auf das, was sprachlich erklärt werden kann, reduziert. Es ging mir um eine Kritik an dem Konzept der „bürgerlichen Kunstrezeption“, welche Gernot Böhme einleuchtend als eine „Verdrängung von Phantasie und Sinnlichkeit zugunsten der Herrschaft der Vernunft“ 12 beschreibt. Ich wünschte mir, nicht nur meine eigene, sondern auch die Positionen der Darsteller zu Wort kommen zu lassen. Sie haben die Fremdsprache in doppelter Hinsicht als Mittel der Kommunikation erlebt-- untereinander, aber auch mit dem Publikum. Es galt also auch, die künstlerischen Erfahrungen mit der Mehrsprachigkeit zu erforschen. Welche Bedeutung einer Fremdsprache auf der Bühne zukommt, beschäftigte auch den deutschen Theaterregisseur Einer Schleef. Dazu formuliert er mehrere Gedanken und Erfahrungen in seiner Essaysammlung Droge Faust Parsifal. Stellt die Eigensprache, laut Schleef, ein wildes Ungetüm dar, das in einem „tobt“ 13 , so beschreibt er die Fremdsprache folgendermaßen: Wozu noch Sprachunterschiede, wenn es keine unterschiedlichen Kulturen mehr gibt, wenn Fremdsprache als letztes Relikt hinderlich wird. Sprache nur nach ihrem Informationswert zu beurteilen ist genauso Entortung, Entleerung, denn so spricht nicht der gesamte Körper, sondern nur der uniformierte Kopf. Sprache ist jetzt hinderlich, schwerfällig geworden, sie gehört einer anderen Zeit an. Beim Abfassen solcher Sätze beschleicht einen ein Unbehagen, so oder ähnlich formuliert diese Zusammenhänge jeder. Das Unbehagen ist damit in keiner Weise bestimmt, sondern scheint tief in geistigen, körperlichen Vorgängen verhaftet zu sein. Die Veränderung des körperlichen Zustands, die die Abhängigkeit vom Sprechen der eigenen Sprache begleitet, wird nur unter un- 12 Gernot Böhme, Für eine ökologische Naturästhetik, Frankfurt a. M. 1989 , S. 161 . 13 Einar Schleef, Droge Faust Parsifal, Frankfurt a. M. 1997 , S. 89 . <?page no="194"?> 194 Mina Novakova gewöhnlichen Umständen wahrgenommen. Sie drückt sich in einem „Unwohlsein“ aus, in körperlichem Schmerz, vor dem man sich die Ohren zuhalten, sich verkriechen möchte, um das Fremde gleich einem feindlichen Eindringling abzuwehren. Mein Unbehagen bezüglich der Entortung durch die Übersetzung, die meistens genau das tut, was Schleef beschreibt-- nämlich die Sprache ausschließlich nach ihrem Informationsgehalt zu bestimmen- -, ließ mich über eine alternative Möglichkeit nachdenken, wie ich das Projekt Faust-Exhausted vorstellen könnte. Eine Möglichkeit, die es erlaubt (Fremd-)Sprache zu benutzen, um Erkenntnisse zu zeigen, ohne sie lediglich diskursiv und rational-informativ einzusetzen. Die Schwierigkeit, das Projekt Faust-Exhausted vorzustellen, wurde ebenso durch die Tatsache vervielfacht, dass ich dabei auf mehreren Ebenen gearbeitet habe. Ich habe vordergründig als Produktionsleiterin agiert, allerdings war ich auch konzeptionell an der Inszenierung beteiligt aufgrund meiner Dolmetscher- Tätigkeit und durch die Freiheiten, die mir der Regisseur während der Proben gewährt hatte. Deswegen war ich durchaus überfordert mit der Frage, aus welcher Perspektive ich über die Inszenierung berichten sollte. Schon während früherer Arbeiten mit TARTproduktion hatte ich gemerkt, dass es viele verschiedene Anforderungen an die Übersetzungsposition bei einer multilingualen Produktion gibt. Ich erkannte, dass es mir generell um die Bedeutung von Sprachbildern im Kommunikationsprozess zwischen der Regie und den Darstellern geht, die sich nicht ohne Weiteres aus der einen Sprache in die andere übertragen lassen, sondern in der Vermittlungsposition des Übersetzens auch Veränderungen und Verschiebungen erfahren, da man nicht wörtlich, ein Wort nach dem anderen, aus einer beliebigen Sprache in eine andere übertragen kann. Bei diesem Vorgang handelt es sich um die Überbrückung kultureller und linguistischer Differenzen sowie um die Frage, ob eine totale Übertragung überhaupt möglich ist, wenn grundlegende Differenzen in der Art der sprachlichen Weltbeschreibung existieren. Hierfür bietet das Verb ‚übersetzen‘ selbst ein gutes Beispiel, denn im Deutschen wird der mündliche Übersetzungsvorgang auch als ‚dolmetschen‘ bezeichnet, wohingegen auf Bulgarisch sowohl das mündliche als auch das schriftliche ‚Übersetzen‘ in einem Wort ausgedrückt werden-- ‚превод‘ [prevod]. Wie kann man mit ähnlichen Differenzen und Unübersetzbarkeiten auf der Inszenierungsebene umgehen? Vor allem wenn man bedenkt, dass es wesentlich existenziellere und abstraktere Wörter und Begriffe in den unterschiedlichen Sprachen gibt, die genauso verschieden nuanciert sein können. Im Fokus meines Forschungsinteresses befanden sich also gleichzeitig Fragestellungen theoretischer und praktischer Art. Um diese Perspektiven zu bündeln, schien eine andere Form der Präsentation notwendig, die über das diskursive Wissen hinaus, aus Formen impliziten Wissens <?page no="195"?> Ich bin ich und bin der andere 195 im Sinne Polanyis 14 schöpft, das durch die Anschaulichkeit der Präsentation auf assoziativer Ebene arbeitet. Es ging darum, Erkenntnisse zu präsentieren, die im Rahmen des Inszenierungsprozesses durch die Tätigkeit des Inszenierens, Darstellens, Ausprobierens und der Übersetzung dazwischen entstanden sind. Bei Hans-Jörg Rheinberger findet man die Auslegung von Polanyis tacit knowledge im Begriff der „Erfahrenheit“: „die Einschätzungen und Urteile im Prozess der Erkenntnisgewinnung gewissermaßen zu verkörpern-- das heißt, mit den Werkzeugen und mit den Händen zu denken.“ 15 Durch die Form der Lecture Performance konnte die Darstellung als „Freisetzung des Wissens“ 16 fungieren- - ein Wissen, das das Formulierbare und Begriffliche überschritt und die Erfahrenheit im interkulturellen künstlerischen Prozess zum Vorschein brachte. Der Dreh- und Angelpunkt der Untersuchung sollte die Mehrsprachigkeit sein. Ich suchte nach der geeigneten Form, das „implizite Wissen“, das „Wissen, wie“, 17 die Multilingualität, in nicht-diskursive, nicht-übersetzbare Erkenntnisse zu überführen. Ein bedeutsamer Fokus der künstlerischen Forschung liegt eben auf solchen anderen Formen von Wissensproduktion, die nicht sprachlich vermittelbar sind. Aus diesem Grund fiel die Entscheidung darauf, einen performativ-wissenschaftlichen Vortrag zu realisieren, der auch mehrsprachig vorgestellt wird. Auf diese Art und Weise konnte erprobt werden, welche Wirkung erzielt werden kann, wenn dem Publikum der sprachliche Zugang zum Teil verwehrt bleibt. In Sybille Peters Untersuchung zum Vortrag als Performance fand ich eine Korrespondenz zwischen meiner Position und ihrer Betrachtung des Vortrags als Performance. Sie beschreibt die Lecture Performance als „Rückkopplung von Wissenspräsentation in Wissensproduktion“ und die Weigerung, Vermittlung als Ziel des Vortrags zu betrachten, da „Vermittlung das vorauszusetzen scheint, was es zu vermitteln gibt“ 18 . Diese These nahm ich als Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit Mehrsprachigkeit im Bereich des Sprechtheaters, um danach zu forschen, was genau durch den sprachlichen Wirrwarr „vermittelt“ werden kann, welches Wissen dadurch entsteht. Darunter verstand ich nicht nur das explizite, diskursive Wissen. Es ging mir im Sinne Rheinbergers darum, die Erfahrung der theatralen Praxis hervorzuheben, die einen anderen Wissensbegriff fordert und darstellt. In der Lecture Performance sollte demnach das Gezeigte, die Darstellung an sich, als wissenschaftlich-künstlerisches Experiment fungieren. Ich bereicherte 14 Vgl. Michael Polanyi, The Tacit Dimension, Chicago, London 1966 . 15 Hans-Jörg Rheinberger, „Augenmerk“, in: ders., Iterationen, Berlin 2005 , S. 51 - 73 , 62 . 16 Kathrin Busch, „Wissensbildung in den Künsten: eine philosophische Träumerei“, in: Artistic Research 82 ( 2011 ), S. 70 - 79 , 77 . 17 Henk Borgdorff, „Die Debatte über die Forschung in der Kunst“, in: Anton Rey, Stefan Schöbi (Hgg.), Künstlerische Forschung. Positionen und Perspektiven, Zürich 2009 , S. 23 - 51 , 40 . 18 Sybille Peters, Der Vortrag als Performance, Bielefeld 2011 , S. 13 . <?page no="196"?> 196 Mina Novakova das Experiment mit einer PowerPoint-Präsentation-- einem Medium, das im Bereich des wissenschaftlichen Vortragens mittlerweile gang und gäbe, aber auch ironischerweise eine der Softwares ist, mit welcher häufig Untertitel erstellt werden. Die vorwiegenden Sprachen des Vortrags waren Bulgarisch und Deutsch, hinzu kamen aber auch Passagen in Sprachen, die ich gerade lerne (Französisch) oder die ich kaum beherrsche (Türkisch). Diese Wahl entsprach dem Umstand, dass die Darsteller von Faust-Exhausted entweder ihre Muttersprache sprachen oder Fremdsprachen benutzten, in denen sie sehr gute Kenntnisse hatten, sowie Texte in Sprachen erlernen mussten, die sie nur nachsprechen, aber nicht frei sprechen konnten. So stellte ich am 28 . 06 . 2014 meine Lecture Performance über das Projekt Faust-Exhausted unter dem Titel Ich bin ich und bin der andere einem Expertenkreis von Wissenschaftlern vor, indem ich meine wissenschaftlichen und künstlerischen Fragestellungen an das Projekt, sein mehrsprachiges Konzept und dessen Scheitern in einer multilingualen Darstellungsform verband, um das Publikum in denselben Zustand des ‚Verstehens‘ zu versetzen wie beim ursprünglichen Projekt Faust-Exhausted. Ich bin ich und bin der andere als künstlerische Forschung Künstlerische Forschung wird in den letzten Jahren immer prominenter im deutschsprachigen Raum. 19 Es gibt verschiedene Deutungen dieser Entwicklung-- von der geäußerten Kritik, dass es sich hierbei um eine Akademisierung der Kunst handle, bis hin zur starken Befürwortung des Ineinsdenkens von Kunst und Wissenschaft. In diesen Debatten divergieren die Meinungen, was genau unter dieser Bezeichnung subsumiert werden kann-- vor allem findet sie Anerkennung in den Bereichen der Bildenden Künste und des Designs. Im Bereich der Darstellenden Kunst werden am häufigsten Arbeiten als künstlerische Forschung aufgefasst, die entweder bestimmte wissenschaftliche Methoden (beispielsweise durch Testreihen, Experimente, Laborcharakter etc.) anwenden oder die direkt im Feld einer Wissenschaft anzusiedeln sind (zum Beispiel Biogenetische Kunst). Häufig wird bei den Debatten um künstlerische Forschung bemängelt, dass sie in zu hohem Maße auf theoretischer Ebene geführt werden und die tatsächliche künstlerische Praxis außer Acht lassen. Wesentlich und aufregend für meine Arbeit Ich bin ich und bin der andere war das Experiment, einen Vortrag im Rahmen einer Konferenz anzubieten, der durchaus einen Bericht über das Projekt Faust-Exhausted darstellt, gleichzeitig aber auch ein theoretisches Nachdenken über den Vortrag als Handlung und als Performance ist. 19 Vgl. die Angaben unter Anm. 1 sowie: Susanne Stemmler (Hg.), Wahrnehmung, Erfahrung, Experiment, Wissen. Objektivität und Subjektivität in den Künsten und den Wissenschaften, Zürich, Berlin 2014 . <?page no="197"?> Ich bin ich und bin der andere 197 Die Performance Ich bin ich und bin der andere bestand aus 31 PowerPoint- Folien und einer Mappe, die folgende Requisiten zunächst verborgen hielt: 33 grüne Karteikarten, eine blonde Perücke, welche von der Figur Helena in Faust- Exhausted getragen wurde, einen Kompass, DIN A 3 -Blätter, einen schwarzen Textmarker. 20 Der Auftakt meiner Performance fand schon in der Ankündigung meines ‚Vortrags‘ im Programmheft der Konferenz statt. Laut dieser sollte ich das Projekt Faust-Exhausted als ein interkulturelles Projekt vorstellen. Diese Ankündigung lieferte die Grundlage für eine bestimmte Erwartungshaltung meines Expertenpublikums. Als Produktionsleiterin des Projekts hätte ich diese Erwartungen erfüllen können, indem ich in einem konventionellen Vortrag das Projekt Faust-Exhausted vorgestellt hätte. Der Abstract dazu wurde Monate vorher eingereicht, noch bevor die Idee einer Lecture Performance existierte. Dennoch hatte ich damals intuitiv einen Titel gewählt, der aus der ursprünglichen Textfassung Tomo Mirko Pavlovics stammte, aber in der Inszenierung von Bernhard Eusterschulte ausgelassen war-- Ich bin ich und bin der andere. Bei den ersten Überlegungen zum Vortrag wollte ich dadurch meiner Suche nach sprachlichen Ambiguitäten Ausdruck verleihen. Im Nachhinein, mit der Entscheidung für eine Lecture Performance, kam mir dieser Titel sogar noch mehr gelegen, da ich in meiner doppelten Rolle als Performerin und Forscherin agierte, künstlerische und wissenschaftliche Form zu verbinden suchte. Die Problematik der Verhandlung von Überschriften verstärkte ich durch die dreifache Betitelung in den ersten Folien des Vortrags: • FAUST - EXHAUSTED an interМЕЖДУcultural theater project • FAUST 2.0 • Ich bin ich und bin der andere Dadurch bezog ich mich gleichzeitig auf die für die Konferenz gewünschte Vorstellung des ursprünglichen Projekts Faust-Exhausted und meine eigene Performance, getrennt durch die Umbenennung und Anforderung von Übertiteln in Luxemburg. Der rote Faden der theoretischen Auseinandersetzung spannte sich zwischen der ersten Folie mit dem Titel „ FAUST - EXHAUSTED an interМЕЖДУcultural theater project“ und den letzten drei Folien der Präsentation, die folgendes Zitat von Dieter Heimböckel enthielten: Interkulturalität hinterfragt-[…] Repräsentationen des Eigenen und Fremden nicht-- sie hätte ansonsten einen Begriff davon--, sondern setzt deren Dekonstruktion voraus. 20 Aufgrund des vorgegebenen Rahmens dieses Beitrags werde ich hier leider nicht alle szenischen Vorgänge meiner Lecture Performance beschreiben können; deswegen werden einige dieser Requisiten im weiteren Verlauf nicht mehr auftauchen. <?page no="198"?> 198 Mina Novakova Die Dekonstruktion arbeitet sich daran ab, was als Eigenes und Fremdes jeweils gilt. Das, was gilt und was nicht gilt (denn dies ist das durch die Geltung Ausgeschlossene), übersetzt sie in eine Sprache, die dem Denken-wie-üblich unvertraut ist. Interkulturalität ist Übersetzung in eine unvertraute Sprache. 21 Die erste Folie mit dem Titel „FAUST-EXHAUSTED an interМЕЖДУcultural theater project“ war vorgesehen als Statement über die Zielsetzung der Faust-Exhausted-Produktion als ein interkulturelles Projekt, das als solches meiner Meinung nach diese Suche nach einer eben solchen „unvertrauten Sprache“ repräsentierte. Das bulgarische Wort für „inter“-- „между“-- benutzte ich als Separation, als einen symbolischen spaltenden Keil zwischen Konzeption und realer Entwicklung der Inszenierung. Die grünen Karteikarten dienten als Orientierungspfeiler einer strengen Choreografie zwischen meinen Handlungen und der Abfolge der PowerPoint-Folien. Die Karteikarten enthielten Texte auf Bulgarisch und Deutsch, die in einen Dialog mit den parallel laufenden Präsentationsfolien treten sollten, sowie genaue Regieanweisungen, welche ich performativ umsetzte. Jede Karteikarte wurde mit einem übertrieben theatralen Gestus in die Luft geworfen, nachdem sie benutzt wurde. Diese Handlung richtete eine Frage an den Wahrnehmungsprozess seitens des Expertenpublikums. In meiner Hand hielt ich mehr Karteikarten, als es entsprechende Folien gab. Da ich mich konsequent der verbrauchten Karteikarten entledigte, blieben zum Schluss trotzdem noch drei grüne Karten in meiner Hand, die eine Art Bonusmaterial enthielten, und zwar das in dieser Arbeit bereits genannte Zitat von Einar Schleef. Ich hatte eigentlich erwartet, dass diese restlichen Karten als ein theatralisches Zeichen gelesen werden und ich in der dem Vortrag folgenden Diskussion direkt danach gefragt werde, was auf den übrigen Karteikarten stehe. Dadurch hoffte ich, die Diskussion auf die Problematik des Unbehagens mit der Mehrsprachigkeit lenken zu können. Allerdings wurde diese semiotische Überlegung bei meiner Präsentation nicht wahrgenommen. Hier bleibt die Frage offen, ob die Performance als wissenschaftliche Darbietung von Erkenntnissen in diesem Punkt eine Schwäche der möglichen nicht-lesbaren Semiotik aufweist. In den PowerPoint-Folien wurden meine eigenen Repliken immer im selben Grünton wie die Karteikarten markiert, um den Unterschied zwischen der Eigen- und der Fremdrede hervorzuheben. Die Folien berichteten über die Produktion durch Video- und Audiomaterial in Form von Inszenierungsausschnitten oder durch Zitate aus der Konzeption, Aussagen von Schauspielern und wissenschaftliche Thesen. Sie lieferten den wesentlichen Teil an verständlichen, diskursiven Informationen über die Produktion Faust-Exhausted, während die sprachlich-per- 21 Dieter Heimböckel, „Die deutsch-französischen Beziehungen aus interkultureller Perspektive“, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 4 ( 2013 ), 2 , S. 19 - 39 , 20 . <?page no="199"?> Ich bin ich und bin der andere 199 formative Ebene von mir als Dekonstruktion der Sprache genutzt wurde. Die ersten Brüche in meiner wissenschaftlichen Darstellung eines Vortrags etablierte ich dadurch, dass ich durch den Kompass die Richtungen Ost und West im Tagungsraum bestimmte und meine ersten Sätze immer abwechselnd aus diesen beiden entgegengesetzten Punkten vortrug. Später setzte ich mir die blonde Perücke der Helena-Figur aus Faust-Exhausted auf und behielt sie bis zum Ende der Lecture Performance auf dem Kopf. Anfänglich war die gesprochene Sprache Deutsch, langsam wurde sie unterlaufen durch gestische Einschübe bei dem Wort „ DA “, welches auf Deutsch die deiktische Funktion einer Positionsbestimmung hat und in diesem Sinne als Sinnbild der Ost-/ West-, Fremd-/ Eigen-Bestimmung diente. Der gewählte Gestus dazu war im ersten Teil eine vertikale, nickende Kopfbewegung, die sich im Verlauf der Performance zu einer horizontalen, nickenden Bewegung entwickelte. Diese Änderung korrespondierte konsequent mit der Umschaltung der von mir gesprochenen Sprache von Deutsch ins Bulgarische. Die Wahl des Wortes „ DA “ als Kreuzungspunkt der Interkulturalität begründet sich aus einer zwischensprachlichen Homonymie heraus. „ DA “ bzw. „ДА“ bedeutet auf Bulgarisch „ JA “ und drückt sich körperlich in einer horizontalen Kopfbewegung aus, im Unterschied zum westlichen Kulturkreis, wo das Gegenteil als Gestus der Bejahung gilt. Diese Ambiguität zwischen den verschiedenen Kulturkreisen haben die Darsteller in Faust-Exhausted entdeckt und in zwei Szenen als Kommunikationshindernis umgesetzt. Ich griff auf ihre Erfahrung zurück und bildete daraus die Grundlage für die Infragestellung von Übersetzungs-Unmöglichkeiten. Eine Problematik, die sich auch bei Goethe findet: Geschrieben steht: „Im Anfang war das Wort! “ Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort? Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen, Ich muß es anders übersetzen, Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin. Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn. Bedenke wohl die erste Zeile, Daß deine Feder sich nicht übereile! Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft? Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft! Doch, auch indem ich dieses niederschreibe, Schon warnt mich was, daß ich dabei nicht bleibe. Mir hilft der Geist! Auf einmal seh ich Rat Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat! 22 22 Johann Wolfgang Goethe, Faust. Der Tragödie erster Teil, Stuttgart 2000 , S. 36 . <?page no="200"?> 200 Mina Novakova Aus diesen Strophen kann man die Grundzüge von Goethes Wissenschaftsbegriff extrahieren, der Erkenntnis aus der (Selbst-)Erfahrung schöpft und den Ursprung des Wissens im „Tun“ versteht. Hendrik Josephus Pos hat dem Dichter sogar eine vorphänomenologische Sicht der Welt unterstellt, da sich in der Wissenssuche von Faust das Erkennen nur „in einem Sicheinsfühlen und Mitschaffen“ 23 findet. Man könnte das „Tun“ als einen essenziellen Begriff der künstlerischen Forschung bezeichnen. In meiner Arbeit verstehe ich die künstlerische Forschung als den Arbeitsprozess, die Methodik und das Endergebnis zugleich. Es ist der gesamte Weg, vom Ursprungsgedanken, eine Lecture Performance zu machen, über die Lektüre theoretischer Texte, dem Sichten anderer künstlerischer Arbeiten bis zum Probenprozess und zu jeder einzelnen Aufführung, die neue Erkenntnisse mit sich bringt. Sogar die hier vorliegende Form der Verschriftlichung bereichert den Komplex der künstlerischen Forschung in Bezug auf die Mehrsprachigkeit auf der Bühne als Archivierung und Dokumentation der Ergebnisse. Vielleicht könnte man diesen Prozess eher als „Forschen“ denn als „Forschung“ bezeichnen, um eben den Aspekt des Prozessualen und Performativen stärker zu machen. Das genuine Interesse der Lecture Performance im Falle von Ich bin ich und bin der andere liegt eben in der Frage, welches Wissen man durch das künstlerische „Tun“ erfährt, erkennt, artikuliert. Es ist eine Art von forschender Arbeit, die dem Verständnis Henk Borgdorffs nach als ‚Forschung IN der und DURCH die Kunst‘ benannt wird. 24 In ihr ist der Ausgangspunkt die Loslösung vom Trennungsprinzip zwischen Theorie und Praxis, vom forschenden Subjekt zum erforschten Objekt. Dieser Annahme folgend habe ich für meine Performance danach gesucht, wie ich die Erfahrung des Darstellers mit Mehrsprachigkeit zum Ausdruck bringen kann. Deswegen habe ich mit den Schauspielern des Faust-Exhausted qualitative Interviews geführt, um meine Hypothesen zu überprüfen. Zum größten Teil stimmte im Team der Eindruck überein, dass die Mehrsprachigkeit an sich ein hinreichender Forschungsgegenstand hätte sein können. Durchaus wurden von allen gerade die Momente der Inszenierung Faust-Exhausted geschätzt, die fürs Publikum unübersetzt blieben. Eine Synthese der multilingualen Erfahrung fanden alle Darsteller in folgender Beschreibung verschiedener interkultureller Projekte von Christine Regus: 23 Hendrik Josephus Pos, „Goethes Auffassung der Erkenntnis“, in: Goethe und die Wissenschaft. Vorträge gehalten anläßlich des internationalen Gelehrtenkongresses zu Frankfurt am Main im August 1949, Frankfurt a. M. 1951 , S. 52 - 62 , 55 . 24 Henk Borgdorff, „The Production of Knowledge in Artistic Research“, in: Michael Biggs, Henrik Karlsson (Hgg.), The Routledge Companion to Research in the Arts, London, New York 2011 , S. 44 - 64 , 45 . <?page no="201"?> Ich bin ich und bin der andere 201 Die politische Pointe-[…] liegt in den Mehrfachkodierungen und Verwirrungen, der letztlich unauflösbaren Rätselhaftigkeit, dem ständigen Hin- und Hergeworfensein zwischen Entschlüsseln-Können und völligem Fremdheitsgefühl der Rezipienten. 25 Dieses Zitat habe ich in meiner Performance verbunden mit der Unübersetzbarkeit der Kopfbewegungen für Bejahung zwischen Bulgarisch und Deutsch. In den von mir durchgeführten Interviews haben alle Schauspieler diese Beschreibung als zutreffend für die Produktion Faust-Exhausted befürwortet. Ihre Aussagen wurden in der PowerPoint-Präsentation zu Ich bin ich und bin der andere in der jeweiligen Sprache des Interviews belassen, während ich gestisch das deutsche Kopfnicken ins bulgarische Kopfnicken übertrug. Darin ist der Höhepunkt meiner performativen These zu sehen-- die Unmöglichkeit, eine Eins-zu-eins-Übersetzung zu schaffen, ohne gewisse Verschiebungen und Veränderungen vorzunehmen, die sich in der Interkulturalität begründen. Dies habe ich verstärkt durch die unüberwindbare Differenz zwischen den onomatopoetischen Ausdrücken „ BLA BLA “ und „ДРЪН ДРЪН“ (Bulgarisch für „ BLA BLA “ und gleichzeitig Zitat aus einer früheren interkulturellen Produktion von TART produktion Stuttgart- - Die Hamletmaschine). Die Unübersetzbarkeit besteht meines Erachtens im Ton, in der Konstellation der Laute und nicht der begrifflichen Dimension selbst, da sich auf der Bühne-- durch die theatralen Mittel, die schauspielerische Technik, die Intermedialität des Theaters- - ein großer Reichtum an Erkenntnismöglichkeiten eröffnet, sodass es unmöglich ist, die kognitive Erfahrung und die daraus gewonnene Erkenntnis diskursiv zu beschreiben. In diesem Sinne verstehe ich meine Lecture Performance als eine Praxis „explorativ-experimentellen Denkens“ 26 im Sinne Jens Baduras, die sich „als Spannungsfeld von Begreifen-Können und Unfassbarkeit inszeniert“ 27 . Es bedarf eines Mitvollzugs und einer Mitwirkung aller der Inszenierung Beiwohnenden, Zuschauer und Darsteller, sowie der konzeptionellen und inszenatorischen Tätigkeit des gesamten Teams hinter der Produktion, um den Prozess der Erfahrungsbildung zu vollziehen. Bei diesem Prozess kann es sich allerdings nur um einen Prozess handeln, der nie sein Ende findet, nie abgeschlossen sein kann. Er gleicht meiner Vorstellung von Interkulturalität-- sie befindet sich im ständigen Übersetzen und Verhandeln sowie im Scheitern, sodass neues Übersetzen und Verhandeln gefordert ist. Zudem bedarf sie der Anerkennung der Notwendigkeit, das Eigene und das Fremde im performativen Umgang zu erforschen, ohne sie ver- 25 Christine Regus, Interkulturelles Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Ästhetik- - Politik-- Postkolonialismus, Bielefeld 2009 , S. 11 . 26 Jens Badura, „Philosophie als Performance“, in: Martin Tröndle, Julia Warmers (Hgg.), Kunstforschung als ästhetische Wissenschaft. Beiträge zur transdisziplinären Hybridisierung von Wissenschaft und Kunst, Hildesheim 2011 , S. 345 - 350 , 349 . 27 Ebd. <?page no="202"?> 202 Mina Novakova schmelzen lassen zu wollen, indem sie die Räume, die durch die Unmöglichkeit einer Übersetzung entstehen, der Interpretation, der Anschauung, des explorativen Denkens überlässt. Ausblicke Abschließend möchte ich betonen, dass es im Nachhinein nicht möglich war, alle Inszenierungsschritte meiner Lecture Performance in der Verschriftlichung festzuhalten. Ich habe hier nur die wesentlichen Ideen vorgestellt, die für die Argumentation in Bezug auf die Beschäftigung mit künstlerischer Forschung wichtig sind. Wie ich bereits in meiner Verteidigung der nichtdiskursivierbaren Elemente der Inszenierung Faust-Exhausted aufgezeigt habe, gilt auch hier, dass eine Performance, die nicht gesehen wurde, nicht einfach nacherzählt werden kann. Dennoch ergeben sich vielerlei Fragen und Implikationen für eine zukünftige Beschäftigung mit der Sprachproblematik auf der Bühne: • Die Suche nach innovativen Formen des Umgangs mit Fremdsprachen auf der Bühne ist nicht abgeschlossen. • Es gilt neue Formen der Kommunikation zwischen Publikum und Künstlern im interkulturellen Dialog zu finden. • Welche Form können/ dürfen literarische Werke, die dem internationalen Kanon angehören, auf der Bühne finden? • Wie sollten mehrsprachige Produktionsteams miteinander arbeiten? • Welche andere Erfahrenheit und welches diskursive Wissen kumulieren sich während des Arbeitsprozesses von interkulturellen Produktionen? <?page no="203"?> Die Tragödie und das Fremde 203 Die Tragödie und das Fremde Das tragische Narrativ als Generator interkultureller Projekte Frank Raddatz (Berlin) Der vorliegende Beitrag möchte über zwei internationale Tragödienprojekte sprechen, die ich entworfen und geleitet habe. Bei dem ersten Projekt dieser Art handelt es sich um Mania Thebaia 2001 / 2002 , das mit deutschen, griechischen, japanischen und russischen Regiepartnern in Düsseldorf sowie im legendären Theater von Epidaurus/ Griechenland aus dem vierten Jahrhundert vor unserer Zeit aufgeführt wurde. 2010 folgte Die Promethiade, eine Kooperation zwischen dem Hellas Festival in Athen, dem International Theater Festival Istanbul und dem Weltkulturerbe Stiftung Zollverein in Essen, zentriert um das Thema der Prometheussage oder des Prometheusstoffs. Beide Projekte weisen eine unterschiedliche Struktur auf, besitzen aber auch gemeinsame Komponenten, nicht zuletzt die Interkulturalität und den Referenzpunkt: antike Tragödie. Ich skizziere kurz die beiden Projekte und wende mich anschließend dem antiken narrativen Generator und seinem Zusammenhang mit der Thematik des Symposiums zu. 1. Mania Thebaia Mania Thebaia habe ich diesen Zyklus von vier attischen Tragödien benannt, weil alle Stücke in der Stadt Theben angesiedelt sind. Es handelt sich um Die Bakchen, Ödipus, Sieben gegen Theben und Antigone. Wenn ich diese Reihenfolge wähle, beziehe ich mich nicht auf das chronologische Entstehungsdatum der literarischen Werke, sondern bereits auf die verbindende Narration. Die Bakchen des Euripides thematisiert eine Episode, die mit der Gründungszeit der Stadt Theben abschließt. Bekanntlich scheitert die Suche des phönizischen Prinzen Kadmos, der auszog, um seine von Zeus entführte Schwester Europa zu finden. Stattdessen gründet er die Stadt Kadmeia, aus der das tragödienträchtige Theben hervorgeht. Das Stück erzählt, wie der Gott Dionysos, ein Sohn dieser Stadt, heimkommt, um die verlorene Ehre seiner Mutter Semele, einer Tochter des Kadmos, wiederherzustellen, der <?page no="204"?> 204 Frank Raddatz nicht geglaubt wurde, dass sie von und mit einem Gott schwanger wäre. Sie starb noch vor der Geburt, und Zeus selber trug das Ungeborene in seinem Schenkel aus. Dionysos führt bei seinem Einzug in Theben nichts Gutes im Sinn, will er doch die seiner verkannten Mutter angetane Schmach rächen. Dionysos ist ein Gott der Frauen. Der Kult dieses ekstatischen Wein- und Rauschgotts, bei dem Männer nicht zugelassen sind, findet vor den Mauern der Stadt, auf den Hängen des Berges Kithairon, also in der wilden Natur statt und inkludiert blutige Orgien der Zerreißung. Johann Adam Hartung übersetzt 1848 : Da sah man diese ein wohlgenährtes brüllendes Kalb auseinanderzerren mit der Arme Kraft, Von andren wurden Färsen reißweis rasch zerfleischt. Hier sah man Rippen, Füße mit zweispältgem Huf Hinauf-, hinabgeschleudert. Stücke Fleisches, die An Tannen hingen, troffen, überdeckt mit Blut. 1 Statt diesen Botenbericht als Menetekel zu interpretieren, lässt sich der Herrscher von Theben, Pentheus, wie Dionysos ein Enkel des Kadmos, von Dionysos überreden, in Frauenkleidern vor die Tore der Stadt zu ziehen, um Rausch und Fest der Frauen zu beobachten. Als der ungebetene Gast trotz seiner Maskierung entdeckt wird, tötet ihn die eigene Mutter, da sie ihn für einen jungen Löwen hält. Die Textvorlage stammt von Euripides, dem jüngsten der großen drei Tragöden, dessen Werk mit diesem dritten Teil einer weiter nicht erhaltenen Tetralogie kurz vor seinem Tod 406 vor u. Z. abschließt. 405 vor u. Z. gewinnt er mit diesem Entwurf postum bei den Dionysien, den alljährlichen Tragödienwettbewerben in Athen. Als nächstes Stück habe ich Ödipus angeführt. Nach Pentheus ging die Königswürde auf einen Sohn des Kadmos über und führte schließlich zur Herrschaft des Laios, der seinen neugeborenen Sohn dem sicheren Tod in der Wildnis aussetzt. Allerdings bekommt der beauftragte Hirte Mitleid mit dem Säugling und übergibt ihn einem anderen Hirten. Und so nimmt das Unglück seinen Lauf bzw. die wichtigste Narration im Haushalt der europäischen Seele ihren Anfang. Der Ödipus-Mythos wurde von Sophokles zwischen 429 und 425 vor u. Z. bearbeitet. Bekanntlich rekonstruierte mit seiner Hilfe Sigmund Freud den Zugangscode für die psychischen Tiefengeschosse der Moderne. Ich darf die Verwicklungen dieser Tragödie als bekannt voraussetzen. Als drittes Stück wurde Sieben gegen Theben angeführt. In dieser Episode der thebanischen Geschichte sehen wir die Söhne des Pentheus namens Eteokles und 1 Euripides, „Die Bakchen“, übers. v. J. A. Hartung, in: Wolf Hartmut Friedrich (Hg.), Griechische Tragiker. Aischylos, Sophokles, Euripides, Stuttgart 1961 , S. 819 - 861 . <?page no="205"?> Die Tragödie und das Fremde 205 Polyneikes um die Herrschaft in Theben kämpfen und schließlich im brüderlichen Zweikampf fallen. Ein nicht sonderlich beliebtes, wenig gespieltes, handlungsarmes Stück, das für diesen Antikenzyklus von Durs Grünbein neu übersetzt wurde. Die Vorlage stammt von dem ältesten der Tragödiendichter, Aischylos, und wird auf das Jahr 467 vor u. Z. datiert. Den Abschluss in diesem Reigen bildet die Geschichte der Antigone, die es sich nicht nehmen lässt, ihren Bruder Polyneikes trotz des Verdikts des neuen Machthabers Kreon zu bestatten. Die literarische Kritik erkennt hierin ein letztes Zucken der Clangesellschaft, deren Herrschaftsanspruch von dem neuen politischen Gebilde des Staates gebrochen wird. Heiner Müller spricht vom Beginn des „staatliche[n] Griff[s] nach den Toten“. 2 Das erhaltene Stück stammt von Sophokles, der es 442 vor u. Z. zur Aufführung gebracht haben soll. Mania Thebaia wurden in der Spielzeit 2001 / 2002 in Düsseldorf nicht als Gesamtwerk, sondern in vier Einzelteilen produziert. Während der bildende Künstler Janis Kounellis einen einzigen Raum für alle vier Tragödien entwarf, der für das gemeinsame Zentrum, die Stadt Theben, steht, inszenierten vier RegisseurInnen unterschiedlicher Nationalität den Zyklus: Theodoros Terzopoulos aus Griechenland Die Bakchen, Tadashi Suzuki aus Japan Ödipus, Valery Fokin aus Russland Sieben gegen Theben und Anna Badora, Generalintendantin des Düsseldorfer Schauspielhauses, Antigone. Die vier Tragödien wurden in der Spielzeit 2001 / 2002 in einer Halle in Düsseldorf herausgebracht. Im Sommer 2002 wurden die vier Stücke einmalig als Gesamtzusammenhang in der narrativ richtigen Reihenfolge gezeigt. Im Rahmen der griechischen Kulturolympiade wurden an zwei Abenden in der antiken Spielstätte von Epidaurus mit seiner Kapazität für 14 . 000 Zuschauer die Stücke in einem fortlaufenden Bogen aufgeführt. 3 Ein zweites Projekt, das auf einer Initiative der Stiftung Zollverein 2010 in Essen basiert, heißt Promethiade-- Athen, Essen, Istanbul 2010. 2010 waren das Ruhrgebiet sowie Istanbul europäische Kulturhauptstädte. Der Titel signalisiert, dass es einen antiken Referenzpunkt gibt: Prometheus bzw. den Prometheusstoff sowie mehrere Aufführungsorte bzw. Veranstalter. Als Veranstalter zeichnen das Hellas Festival in Athen und das Internationale Theaterfestival von Istanbul verantwortlich, sowie auf deutscher Seite die Stiftung Zollverein, eine ehemalige 2 Heiner Müller, „Brief an den Regisseur der bulgarischen Erstaufführung von ‚Philoktet‘ am Dramatischen Theater Sofia“, in: ders., Werke 8: Schriften, Frankfurt a. M. 2005 , S. 259 - 269 , 268 . 3 Doch das Düsseldorfer Schauspielhaus war dieser Kraftanstrengung nicht gewachsen, verschuldete sich in Millionenhöhe und liegt noch heute, nach über zwölf Jahren und mehreren Intendantenwechseln, am Boden, weil es dem auch schon am Antikenprojekt beteiligten und zwischenzeitlich zum Geschäftsführer aufgestiegenen Manfred Weber gelang, das wahre Defizit bis ins Jahr 2014 geschickt zu verschleiern. <?page no="206"?> 206 Frank Raddatz Bergbauzeche in Essen, welcher von der UNESCO der Status des Weltkulturerbes zuerkannt wurde. Gespielt wird in Athen, Essen und Istanbul. Jeder Partner bringt eine der drei Aufführungen zur Premiere, die anschließend in den beiden anderen Städten gastiert. Auf der Seite der Künstler tritt erneut das Paar Terzopoulos/ Kounellis an, beide Griechen, dazu die türkische Regisseurin Sahika Tekand und die deutsch-schweizerische Formation Rimini Protokoll. Von der Prometheia des Aischylos, die drei Stücke und ein Satyrspiel umfasste, blieb nur Der gefesselte Prometheus erhalten. Seine Entstehungszeit wird um 470 vor u. Z. angesetzt. Andere antike Tragödien aus diesem Sagenkreis sind nicht überliefert. Deswegen mussten Sahika Tekand wie Rimini Protokoll eigene Varianten dieses Stoffes entwickeln, der die Bestrafung des Titanen Prometheus zum Inhalt hat, der gegen den Willen des Zeus den Menschen das Feuer brachte. Die Figur und Thematik beschäftigten immer wieder das Denken und Dichten der Moderne, wie die Texte von Johann Wolfgang von Goethe, Mary Shelley, Franz Kafka, Hans Jonas, Hans Blumenberg, Heiner Müller und vielen anderen bezeugen. Eine der interkulturellen Pointen der Promethiade bestand darin, dass in Essen das Stück der türkischen Regisseurin Sahika Tekand produziert wurde, das Istanbul Festival die Arbeit des griechischen Regisseurs Terzopoulus verantwortete und das Hellas Festival für Prometheus in Athen verantwortlich zeichnete, also den Abend von Rimini Protokoll in Athen. Eine zweite Pointe dieser interkulturellen Kooperation bestand darin, dass Tekand deutsche und türkische Schauspieler besetzte und Terzopoulos sogar dreisprachig operierte und deutsche, griechische und türkische Schauspieler in der Tragödie von Aischylos auftreten und chorisch sprechen ließ. Während Terzopoulos versuchte mit seiner eigenen ethnographischen Grammatik und Körpersprache die Fundamente der traditionellen griechischen Tragödie freizulegen, entwarf Tekand die zeitgemäße Vision eines Zauberlehrlings, dem die promethische Vision des technisch Machbaren längst über den Kopf gewachsen ist. Dabei ist das Stück deutlich an Fernseh- oder vergleichbare Showformate angelehnt. Denn die Instrumente der Naturbeherrschung erzeugen neue Zwänge und Formen der Unterdrückung, so lehrte es jedenfalls die Frankfurter Schule mittels des Topos einer Dialektik der Aufklärung. In der griechischen Hauptstadt holte Rimini Protokoll parallel 100 nach statistischen Gesichtspunkten gecastete Athener auf die Bühne und ließ sie sich in Beziehung zu dem Figurenarsenal der Aischylos-Tragödie setzen und zu Fragen nach Widerstand und Opportunität, die der Text aufwirft, Stellung beziehen. Das Projekt schlägt also einen Bogen von einer ekstatischen Körperlichkeit und Wahrheitsereignissen im Zustand des Außer-Sich-Seins über die Aporien einer <?page no="207"?> Die Tragödie und das Fremde 207 Dialektik der Aufklärung im Fernseh- und Informationszeitalter zu Fragen der Demokratie und des Repräsentationstheaters. 2. Struktur: Differenz und Gemeinsamkeit Wir haben es also mit zwei interkulturellen Theater-Projekten zu tun, die um eine oder mehrere antike Tragödien zentriert sind und insgesamt sieben Stücke umfassen. In beiden Projekten spielen interkulturelle Gesichtspunkte eine Rolle. In Mania Thebaia reduziert sich dieser Aspekt allerdings auf die Auswahl der Regisseure, während er in der Promethiade in den Punkten Veranstalter, Regie, Schauspieler, Mehrsprachigkeit und Spielorte berücksichtigt wurde. Zugleich weisen beide Projekte eine völlig unterschiedliche Struktur auf. Im Fall von Mania Thebaia gibt es einen Veranstalter, in diesem Fall das Düsseldorfer Schauspielhaus, das auf einer Bühne vier unterschiedliche Tragödien spielen lässt. Bei der Promethiade haben wir stattdessen drei Veranstalter, die sich gegenseitig verpflichten, ihre Produktionen auf Gastspiel zu schicken, wobei die Aufführungsorte innerhalb der jeweiligen Städte zusätzlich variieren. Mal wird indoor, mal outdoor gespielt, mal in großen, mal in kleineren Hallen, mal kommen konventionelle Theater zum Einsatz. Diese Struktur ist also vergleichsweise dezentral organisiert. Sie besitzt kein Headquarter, sondern ist wesentlich fragiler, aber auch flexibler. Dass das Projekt ohne größere Aberrationen realisiert wurde, obwohl es in die Zeit der expandierenden griechischen Krise fiel, während das Düsseldorfer Schauspielhaus noch Jahre später darbt, zeigt signifikante Unterschiede in der Kalkulation und Entwicklung der Kosten. Musste man sich bei der Ansetzung von Mania Thebaia fragen, ob in Düsseldorf überhaupt ein Publikum existiert, das in einer Spielzeit vier Tragödien sehen will, stellt sich bei der Promethiade das Problem vollkommen anders. Sind die Zuschauer in den drei Städten Athen, Essen und Istanbul bereit, Gastspiele in fremder Sprache zu besuchen und das Projekt als Einheit zu betrachten oder begnügen sie sich mit der Aufführung in ihrem nationalen Idiom? Die Drei- und Zweisprachigkeit der Aufführungen von Terzopoulos und Tekand arbeitet auch gegen die Tendenz des Publikums, sich von der Unbequemlichkeit der Untertitelung abschrecken zu lassen. Dass an den zwei Abenden in Epidaurus insgesamt um die 17 . 000 Zuschauer bereit waren, sich griechische Tragödien auf Deutsch anzusehen, zeugt von einer Idiosynkrasie, die sich nicht auf das Publikum in der Türkei oder in Deutschland übertragen lässt. 3. Eignung der Tragödien Bei der Konstitution eines mehrgliedrigen interkulturellen Projekts, kommt der Thematik und den sich auf sie beziehenden Texten größte Bedeutung zu. Die Texte müssen in unterschiedlichen Kulturkreisen eine vergleichbare Akzeptanz und <?page no="208"?> 208 Frank Raddatz Relevanz aufweisen. Die Eignung der Tragödie für interkulturelle Projekte leitet sich von ihrer zentralen Position im Universum des Theaters her. Legt man diesen Maßstab zugrunde, ist das Spektrum der Möglichkeiten schon reduziert. Natürlich bildet Shakespeare immer eine Option, aber von der die kulturellen Grenzen überschreitenden Strahlkraft eines Schiller, Goethe oder Kleist lässt sich keineswegs durchgängig ausgehen. Eine universelle Akzeptanz besitzen dagegen die griechischen Tragödien, die nach europäischem Verständnis den Ursprung des Theaters darstellen: Nicht nur überall in Europa und der westlichen Welt, sondern auch in Russland und Japan und wie beim Publikum, dessen latentes und zu weckendes Interesse oder dessen Kooperationsbereitschaft bei solchen Großprojekten nicht zu unterschätzen ist. Den in den Tragödien verhandelten Konflikten werden eine Ursprünglichkeit und Verbindlichkeit attestiert, die auch in der digitalisierten Moderne noch als bedeutsam eingestuft werden. Theoretisch besteht die Möglichkeit, dass sich die Stoffe mittlerweile erledigt haben, wie sich das europäische Theater im 16 . Jahrhundert irreversibel vom christlichen Passionsspiel abgewandt hat. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Die Aufführungen der Tragödien sind konstant und boomten regelrecht nach der ersten weltgeschichtlichen Zäsur des 21 . Jahrhunderts, Nine-Eleven. Das attische Drama und sein mythisches Narrativ werden vom Welttheater als eine Art Urmaterie begriffen, die im Auf und Ab der Zeiten und der wechselnden Chronotopoi Stabilität verspricht. Die Nähe zu Mythos und Ritus, die als Basis jeder Kultur angesehen werden, wird als Merkmal einer überzeitlichen Authentizität begriffen. Die Einzigartigkeit der griechischen Tragödien ist allein dem Umstand zu verdanken, dass vergleichbare Darstellungen von Mythen, Sagen, Totenbeschwörungen in anderen archaischen Kulturen nicht medial konserviert wurden. Allein im antiken Griechenland wurde die performative Urmaterie alphabetisiert. Sie wurde als Literatur über die Epochen und Jahrtausende überliefert. Nicht in Gänze natürlich, aber doch in genügend Zeugnissen, die erlauben sich ein Bild von den Inhalten zu machen. Ob selbiges auch für die performative Realität gilt, sei dahingestellt. Denn während 80 % der Dauer einer Aufführung kamen musikalische Instrumente zur Anwendung, die uns ebenso unbekannt sind wie die gespielte Musik und die intonierten Rhythmen. Notationen wurden offenbar nicht angefertigt. Die dominante Präsenz des rhythmisch-leiblichen Elements bekräftigt den Ursprung der Tragödie aus dem Geist der Musik, wie einmal der Untertitel zu Nietzsches früher Tragödienschrift lautete, als diese performativen Spektakel aus den kollektiven Festen oder kultischen Orgien hervorgegangen sind, die zugleich als Quelle oder Urgrund der dionysischen Komponente samt der Instanz des Chores gelten. Wer den Möglichkeitsraum des Interkulturellen als unausgefüllten Raum künftiger Projekte in den Blick nehmen will, ist gut beraten, davon auszugehen, dass <?page no="209"?> Die Tragödie und das Fremde 209 die griechischen Tragödien zwar singulär sind, aber dass andere Kulturen ebenso Unvergleichbares geschaffen bzw. ihre Antike und theatralen Darstellungen von mythisch konnotierten Exzessen und Überschreitungen hatten. Nur verfügt allein Europa über diese frühen Zeugnisse einer performativen Kultur, weil sie eben nicht nur oral übermittelt, sondern vor dem antiken Zeithorizont in die haltbaren Zeichen des Alphabets überführt wurden. Das heißt, die flüchtige Präsenz, wie sie allem Performativen eignet, besitzt keine überhistorischen Qualitäten, sondern ist als mythisches Narrativ in tragischer Form auch in der antiken Welt ein temporär Erscheinendes, das in den eigenen Zeithorizont eingebunden ist. Dieses Erscheinen betrifft die europäischen wie die außereuropäischen Kulturen. Wenn die antike Tragödie auch eindeutig europäischer Abkunft ist, stellt sie im Umkehrschluss auch für nicht-westliche Traditionen heimisches Gelände dar, weil das mythische Narrativ in seinen verschiedenen Ausprägungen und Modellen auf eine universelle Struktur rekurriert, Charakter darstellt, wie Claude Lévi-Strauss zum Beispiel in Das Rohe und das Gekochte ausführt. Diese performative Urmaterie bildet den Grund aller Theaterkunst, ihre Ausformung ins Tragische und Fixierung im Speichermedium Schrift ist dagegen die singuläre Leistung der europäischen, speziell der griechischen Kultur. Nicht-westliche Kulturen kennen weder den Begriff der Tragödie noch des Tragischen. 4. Die Tragödie und das Fremde Wenn bisher im Sinne der Eignung der Tragödie zur Konstitution interkultureller Projekte argumentiert wurde, weil im alphabetisierten Griechenland das mythische Narrativ, das jede Kultur eröffnet- - die „Dichtung stiftet das Seyn“ 4 - - im performativen Kontext schriftlich fixiert wurde, lässt sich während einer Tagung zu Ethnologie und Theater natürlich ebenfalls konstatieren, dass die Tragödie sich zugleich durch Momente des Fremden auszeichnet. Allein dass sie einer völlig unterschiedlichen Raumzeit entspringt, aus einem anderen Chronotop erwächst, ihr also eine-- mit unserer Gegenwart verglichen-- unterschiedliche Konstellation von Zeithorizonten zu Grunde liegt, darf hinreichen, von Differenzen auszugehen, die hiermit zumindest angesprochen werden sollen. Im Vorwort von Wahnsinn und Gesellschaft lokalisiert Michel Foucault die Tragödie als „an den Toren der Zeit“ 5 angesiedelt. Sie markiert das oder ein Außen der Geschichte bzw. ihrer Kontinuität. 4 Martin Heidegger, „Hölderlins Hymnen ‚Germanien‘ und ‚Der Rhein‘“, in: Martin Heidegger Gesamtausgabe, 2 . Abt., Bd. 39 , hg. v. Susanne Ziegler, Frankfurt a. M. 1980 , S. 74 . 5 Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1969 , S. 9 . <?page no="210"?> 210 Frank Raddatz Nietzsche wies auf die Struktur des Tragischen hin, auf der die Geschichte des Abendlandes aufbaut und die nichts anderes ist als die Ablehnung, das Vergessen und das stumme Zurücksinken der Tragödie. 6 Mythische und geschichtliche Erfahrung sind durch eine Grenze getrennt, um die viele „andere Erfahrungen gravitieren“, 7 die allerdings nicht näher erläutert werden. Die Genese der Tragödie ist unaufhebbar an die mythische Zeitordnung gebunden und der Untergang der um das Tragische zentrierten Kultur, von Nietzsche in der „Geburt der Tragödie“ als Selbstmord der Tragödie apostrophiert, sieht Foucault „durch die Ablehnung der Tragödie durch die Geschichte“ 8 motiviert. Wo Geschichte in einen „horizontalen Werdegang“ 9 drängt, blockieren „die unbeweglichen Strukturen der Tragik“, 10 die der mythischen und damit zyklischen Weltordnung angehören. Diese havarierte tragische Struktur liegt auf dem Grunde oder inmitten jenes „großen Raumes voller Gemurmel“ 11 , der entsteht, weil „die historische Zeit“ ein Schweigen auf das Ausgeschlossene legt, „das wir in Folge nur noch in Begriffen der Leere, der Nichtigkeit, des Nichts erfassen können“, 12 , schreibt Foucault, der seine gesamte Untersuchung konsequenterweise als eine „Archäologie dieses Schweigens“ 13 verstanden wissen möchte und das Tragische als im Schweigen verschollene Grenzerfahrung bestimmt. Heiner Müller wird Foucaults Sprachbild vom Verstummen der Tragödie aufnehmen und mit der kryptisch anmutenden Zeile radikalisieren: „Wenn die Diskotheken verlassen und die Akademien verödet sind, wird das Schweigen des Theaters wieder gehört werden, das der Grund seiner Sprache ist.“ 14 Das Schweigen als Sirenengesang eines Theaterbetriebs, der taub gegenüber seinem eigenen Grundton geworden ist. Das Theater und-- das ist das Reizvolle dieser unauslotbaren Formulierungen Foucaults oder Müllers- - bleibt uns im Grunde ein Rätsel und muss in seiner Rätselhaftigkeit vergegenwärtigt werden. Eine Art von Rätsel, das man schwerlich jemals vollends lösen kann, an dem sich aber partizipieren lässt. Rätselhaft wurden bereits in der späthellenistischen Antike jene Papyri, auf denen die Tragödien verzeichnet waren, den Kopisten in der großen Bibliothek in Alexandria. In den Überlieferungen stießen sie auf Zeichen, die immer seltener wiedergegeben und 6 Ebd., S. 10 . 7 Ebd. 8 Ebd. 9 Ebd., S. 9 . 10 Ebd., S. 11 . 11 Ebd. 12 Ebd. 13 Ebd., S. 8 . 14 Heiner Müller, „Brief an den Regisseur der bulgarischen Erstaufführung von ‚Philoktet‘ am Dramatischen Theater Sofia“, in: Werke 8, Frankfurt a. M. 2005 , S. 259 - 269 , 269 . <?page no="211"?> Die Tragödie und das Fremde 211 damit konserviert wurden, weil sie den Schreibern immer weniger geläufig waren. Dem französisch-schweizerischen Dramatiker Valère Novarina zufolge handelt es sich um Atemsonnen. 15 Um Zäsuren, die mit der Atemtechnik zusammenhängen und unmittelbare Auswirkungen auf den Sinn des gesprochenen Worts haben. Es macht semantisch mehr als einen formalen Unterschied, ob eine Figur mit ihrem Restatem eine Zeile spricht oder in voller Präsenz der Atmung. Diese Praxis zeigt, dass wir es hier nicht mit dem Descartesʼschen Körper (res extensa) zu tun haben, der von seinem Geist, der res cogitans, getrennt ist, sondern mit einem ekstatisch-leiblichen Denken, wo Wort, Atem, Leib ineinander übergehen, wie auch Rhythmus, das durch Versfüße konstituierte Versmaß und die verschiedenen Tanzformen aufs Engste zusammenhängen. Der französische Sinologe Francois Jullien bemerkt in seinen Reflexionen Über das Fade. Eine Eloge zu Denken und Ästhetik in China, dass das okzidentale Denken keine einzige Philosophie hervorgebracht habe, die mit dem Atem beginnt. 16 Vielleicht lässt sich diese Aussage insofern etwas differenzieren, als das tragische Dispositiv diese Tradition durchaus als performative Praxis pflegte bzw. verkörperte. Allein, wie Foucault betont, wurde es vom Logos, einem vom Körper separierten Denken, an den Rand der geschichtlichen Zeit gedrängt und versank im Schweigen. Der Atem oder das Atmen aber verweist nicht nur auf ein leiblich-ekstatisches Körperbild, sondern auf die zentrale ursprüngliche Funktion der tragischen Nachahmung. Die Masken waren notwendig, weil in der antiken Tragödie nur Tote agierten. Die Tragödie war Totenbeschwörung.- […] Tote durften nicht mit nacktem Gesicht dargestellt werden. Tote kann man nicht sehen, also benutzte man die Maske. 17 Die Toten haben keine performative Dimension. Dargestellt werden in der Tragödie mythische Zusammenhänge, die von der Ursprungsgewalt und vom Tod des Heros erzählen. Das rituelle Maskenfest der Tragödie und der Totenkult haben eine gemeinsame Geschichte. Das tragische Spiel repräsentiert jenen Ahnen, der sich nicht selbst performen kann und so eines anderen bedarf, der ihm seinen Atem leiht, um wieder aufzuerstehen. Vor diesem Horizont begreift der französische Germanist und Philosoph Philippe Lacoue-Labarthe den Begriff der Repräsentation als Vergegenwärtigung und nicht als Ausdruck einer sekundären Kultur: 15 Vgl. Valère Novarina, „Brief an die Schauspieler / Für Louis de Funès“, in: Brief an die Schauspieler, Berlin 2007 , S. 7 - 29 , 11 . 16 Vgl. Francois Jullien, Sein Leben nähren. Abseits vom Glück, aus dem Französischen von Ronald Voullié, Berlin 2006 , S. 25 - 26 . 17 Heiner Müller, „Angst und Geometrie. Aus einem Gespräch über Tristan und Isolde“, in: Lettre International 21 ( 1993 ), S. 84 - 85 , 84 . <?page no="212"?> 212 Frank Raddatz Mimesis ist nicht Repräsentation im Sinne einer zweitrangigen, spektakulären und nachbildend-verdoppelnden Präsentation, sondern Repräsentation, wie das französische Wort sie faßt: im Sinne des Vergegenwärtigens (rendre présent). 18 Vergegenwärtigt wird nicht das Präsente, sondern das Abwesende. Zu den Abwesenden gehören primär jene Toten, die Mythos und Ursprung gewährten. Ihre temporäre Anwesenheit wird, wie der Berliner Religionsphilosoph Klaus Heinrich erläutert, von der Repräsentation geleistet: indem ich dieses Wort in den Mund nehme, bin ich bei der ältesten Form des Totenkultes angelangt, denn repraesentatio, das Zurückvergegenwärtigen, ist eine Form des Uralttotenkultes.-[…] Alle Repräsentanz holt im Grunde genommen die mächtigen Ahnen hoch, instrumentalisiert sie für die Dauerhaftigkeit und die Machtentfaltung des eigenen Clans oder Stammes oder der Nation. 19 Ursprünglich verweist Repräsentation auf Rituale einer ambivalenten Totenbeschwörung: Die Ahnen sind die mächtigeren Häuptlinge. Wir stehen in der ständigen Herausforderung, uns gegen diese Urväter, die wiederkehren können, schützen zu müssen; andererseits bedürfen wir ihrer als derjenigen, die uns Stärke und Kraft geben. 20 Mittels der durch die tragische Repräsentation gestifteten Form unterhält das Theater mal loser, mal straffer eine ursprüngliche Verbindung zum Totenreich und damit zum Bereich jenes Schweigens, das nach Michel Foucault und Heiner Müller das Außen des performativen Diskurses bildet. Dieses Außen ist der rituelle und damit öffentliche Umgang der Polis mit dem Tod und den Toten. Mit der chorisch konstituierten Kunstform der Tragödie eignet der ekstatisch-leibliche Körper sich das Leben bzw. den Tod als existentielles Ereignis und zugleich die Geschichten des Ursprungs, das mythische Narrativ, an. Das Theater stiftet den transzendenten Bezug, ohne kultisch oder religiöse Handlung zu sein. Jean-Luc Nancy führt die starke Opposition des Christentums gegen das Theater auf diesen Bezug der Tragödie auf den Tod zurück, dass der tragische Kern, „jeden Gedanken an eine Rettung verbietet“. 21 Die privilegierte Beziehung des Theaters zum Tod und zu den Toten macht für den Philosophen Georges Bataille überhaupt dessen Sinn aus: 18 Philippe Lacoue-Labarthe, Musica Ficta (Figuren Wagners), Stuttgart 1997 , S. 88 . 19 Klaus Heinrich, „Wir und der Tod. Ursprungskult oder Bündniskult-- Über die Mitbestimmung der Toten.“ Interview mit Jochen Rack, in: Lettre International 72 ( 2006 ), S. 100 - 103 , 101 . 20 Ebd. 21 Jean-Luc Nancy, „Theater als Kunst des Bezugs, 1 “, in: Marita Tatari (Hg.), Orte des Unermesslichen. Theater nach der Geschichtsteleologie, Zürich, Berlin 2014 , S. 96 - 110 , 99 . <?page no="213"?> Die Tragödie und das Fremde 213 Eine Komödie wäre es jedenfalls, wenn es irgendeinen anderen Weg gäbe, dem Lebenden das Hereinbrechen des Todes zu offenbaren.- […] Diese Schwierigkeit verweist auf die Notwendigkeit des Schauspiels oder allgemeiner der Repräsentation, ohne deren Wiederholung wir gegenüber dem Tod fremd, ignorant bleiben würden, wie es offenbar Tiere sind. Nichts ist weniger tierisch als die mehr oder weniger realitätsferne Fiktion des Todes. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von den Komödien, mit denen er sich willentlich täuscht. Was im Menschen ißt, das ist das Tier, das ist das natürliche Wesen. Aber der Mensch wohnt dem Kult und dem Schauspiel bei. Oder auch: Er kann lesen; die Literatur also, sofern sie souverän und authentisch ist, weitet in ihm die besitzergreifende Magie der tragischen oder komischen Schauspiele. Wenigstens in der Tragödie geht es darum, daß wir uns mit irgendeiner Person, die stirbt, identifizieren und zu sterben glauben, während wir doch leben. 22 Unter diesem Aspekt ist der Tod, die Sterblichkeit der Körper in allen uns bekannten Kulturen, ob sie sich um Unsterblichkeitskonzepte zentrieren oder nicht und Antonin Artauds Theater der Auferstehung zum Trotz, zugleich mehr als eine gemeinsame interkulturelle Wurzel. Der rituelle, ästhetisch artikulierte Tod ist zugleich ein existentielles Außen, als gemeinsames Fremdes der archimedische (Null-)Punkt aller Kultur. Das tragische Narrativ stiftet als „unbewegliche Struktur“ 23 die inkommensurable Erfahrung der Fremdheit des Todes. Während die Religion die Anstrengung darstellt, den Tod zu inkludieren, indem er ihn in eine metaphysische Ordnung einbindet, kommuniziert das Theater mit den Toten, denen kein performativer Charakter eignet. Die Masken waren notwendig, weil in der antiken Tragödie nur Tote agierten. Die Tragödie war Totenbeschwörung.-… Tote durften nicht mit nacktem Gesicht dargestellt werden. Tote kann man nicht sehen, also benutzte man die Maske. 24 Die sprechenden Toten hinter der Maske sind der Zweck der mimetisch-poetischen Operation, ohne dass damit ein Versprechen auf Erlösung oder Versöhnung einhergeht. Der Tod-- im Ritual der Masken zum Sprechen gebracht-- bleibt ein Fremdes. Das scheint meines Erachtens auch der Grund, warum Hölderlins Versuch zur Tragödie, seine drei Anläufe zu einer Tragödie mit dem Namen Der Tod des Empedokles scheiterten. Der Suizid Empedokles’ steht für die Option, die Fremdheit des Todes in einem voluntaristischen Akt aufzuheben. Der Weise kann vielleicht, wie das Beispiel des Sophokles zeigt, gelassen sterben, aber er kann die Wahrheit des Todes, dass der Tod dem Menschen ein Fremdes ist, nicht aufheben. Keine Kultur 22 Aus Georges Bataille, „Le mort et le sacrifice“; zit. nach Philippe Lacoue-Labarthe, Poetik der Geschichte, Berlin 2004 , S. 127 . 23 Urs Marti, Michel Foucault, München 1999 , S. 37 . Urs Marti bezieht sich hier auf Michel Foucaults Ausführungen in Wahnsinn und Gesellschaft ( 1961 ). 24 Heiner Müller, „Angst und Geometrie“, in: Werke 8 : Schriften, S. 443 - 450 , 445 . <?page no="214"?> 214 Frank Raddatz kann das. Oder konnte das bisher. Jean Baudrillard hat bekanntlich seine These aus Der symbolische Tausch und der Tod, dass der Tod das Andere schlechthin sei, in seinen späteren Schriften zugunsten der Position revidiert, dass das Andere und mit ihm der Tod in „der Ektase der Kommunikation“, 25 also dem postmodernen Zeitalter nach der digitalen Revolution, erlöscht sei und gegenwärtig nur noch eine Form des Verschwindens darstelle, ohne noch eine antithetische Spannung zu eröffnen. Vom Tod des Todes aber wäre nicht nur die Tragödie sondern die gesamte Kultur betroffen. Tod und Kultur bilden eine Einheit. So konstatiert der Mediologe Régis Debray, dass sich generell „jede lebendige Kultur durch Stoffwechsel nährt, so wie der Humus sich von in Verwesung befindlichen Kadavern nährt“, 26 , während Heiner Müller den Tod als Voraussetzung der Kultur begreift und für ihn das „Niveau einer Kultur“ davon abhängt, „wie sie mit den Toten umgeht“. 27 Stellt der Tod kein Außen mehr dar, dann ist das zugleich das Ende der Tragödie bzw. des tragischen Entwurfs wie eines emphatischen, auch interkulturellen Kulturbegriffs. Die Frage, die hier nicht beantwortet werden soll, ist, ob man selbst wenn die Toten gegenwärtig kaum mehr als Rückstände darstellen, die von den Krematorien verarbeitet werden, bzw. sich der Tod als Ereignis unübersehbar entmaterialisiert und die Zeichen der Trauer ebenso verlöschen wie Totenwachen und Liturgien, ob anhand dieser Symptome bereits ein Tod des Todes diagnostiziert werden kann? Die Wahrheit der Tragödie ist der Tod. Das Theater spricht an seinen Ursprüngen nicht vom Tod als einem beruhigten Verschwinden-- eine Ausnahme ist vielleicht Ödipus auf Kolonos--, sondern als einem radikalen Schnitt. Die maskierten Toten dienen auch immer der Vergegenwärtigung jener strukturellen Konflikte, die den Tragödien konstitutiv eingeschrieben sind. „Das Theater behandelt seit jeher in der einen oder anderen Weise den Tod als Bedingung, nicht als möglichen Unfall.“ 28 Der Tod in der Tragödie geht nicht auf eine Fehlfunktion des Körpers oder sein Ermatten zurück, sondern signifiziert die Authentizität und Schärfe eines Konflikts. Diese unaufhebbare, konfliktuöse Struktur wird von der Tragödie im Fundament der Zivilisation selbst verortet. Das tragische Narrativ beherbergt diese Differenz, ob es sich um jene zwischen dem Individuum und der Gesellschaft handelt oder um die Fremdheit der Existenz im Leben. Wie das tragische Dispositiv also einerseits im Kontext der darstellenden Künste prädisponiert ist, in der interkulturellen Differenz ein Gemeinsames zu konstituieren, erweist sich dieser Bezug auf das Tragische, auf ein gemeinsames Außen, auf das Fremde, als Riss in der Existenz. 25 Jean Baudrillard, Das Andere selbst, Wien 1987 , S. 18 . 26 Regis Debray, Einführung in die Mediologie, Bern 2003 , S. 44 . 27 Heiner Müller, „Für immer in Hollywood“ in: Werke 12 , Frankfurt a. M. 2008 , S. 459 - 475 , 468 . 28 Nancy, „Theater als Kunst des Bezugs, 1 “, S. 99 . <?page no="215"?> Autorinnen und Autoren 215 Autorinnen und Autoren Lorenz Aggermann, Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Angewandte Theaterwissenschaften der Justus-Liebig-Universität Gießen.- - Forschungsschwerpunkte: die epistemologische, sonore und affektive Dimension von Theater, Figurationen von Alterität, philosophische und ästhetische Konzeption von Pathos, Affekt und Emotion, formale Gemeinsamkeiten bzw. Gegensätze von Theater, Musik und Film sowie allgemeine Themen der Anthropologie und Ethnologie.-- Wichtigste Publikationen: Beograd Gazela. Reiseführer in eine Elendssiedlung (Mitautor; 2008 ); Der offene Mund. Über ein zentrales Phänomen des Pathischen ( 2013 ); Lernen, mit den Gespenstern zu leben (Mhg.; 2015 ). Christopher Balme, Prof. Dr., ist seit 2006 Direktor des Instituts für Theaterwissenschaft an der Ludwig-Maximilian-Universität München.-- Forschungsschwerpunkte: Geschichte des deutschen Theaters, interkulturelles und postkoloniales Theater und Intermedialität.-- Wichtigste Publikationen: The reformation of comedy. Genre critique in the comedies of Ödön von Horvath ( 1985 ); Decolonizing the Stage. Theatrical Syncretism and postcolonial Drama ( 1999 ); Das Theater der Anderen. Alterität und Theater zwischen Antike und Gegenwart (Mhg.; 2001 ); Theater als Paradigma der Moderne? Positionen zwischen historischer Avantgarde und Medienzeitalter ( 2003 ); Pacific performances. Theatricality and cross-cultural encounter in the South Seas ( 2007 ); The theatrical public sphere ( 2014 ); Einführung in die Theaterwissenschaft ( 2014 ). Mitglied des Beirats des internationalen Forscherkollegs „Verflechtungen von Theaterkulturen“. Franziska Bergmann, Prof. Dr., ist Juniorprofessorin für Gender-Forschung im Fach Germanistik an der Universität Trier.- - Arbeitsschwerpunkte: Konnex von Sensualität und Exotismus in der Literatur des 19 . und frühen 20 . Jahrhunderts, zeitgenössische Dramatik, Gender-Forschung, Interkulturelle Germanistik, Komparatistik, Thomas Mann, Dingkultur, Sinneswahrnehmung, Literatur um 1900 , Literatur des Bürgerlichen Realismus.-- Wichtigste Publikationen: Geschlechter- Szene. Repräsentation von Gender in Literatur, Film, Performance und Theater (Mhg.; 2010 ); Gender Studies. Basis_Scripte-- Reader Kulturwissenschaft (Mhg.; 2012 ); Die Möglichkeit, dass alles auch ganz anders sein könnte. Geschlechterverfremdungen in zeitgenössischen Theatertexten ( 2015 ); Ein starker Abgang. Inszenierungen des Abtretens in Drama und Theater (Mhg.; 2016 ). <?page no="216"?> 216 Autorinnen und Autoren Johannes Birgfeld, Dr., ist Oberstudienrat im Hochschuldienst für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität des Saarlandes (Saarbrücken).- - Arbeitsschwerpunkte: Neuere deutsche Literatur vom 17 . Jahrhundert bis zur Gegenwart, Geschichte und Poetologien von Drama und Theater, Literatur im historischen Kontext.- - Wichtigste Publikationen: Franz Innerhofer als Erzähler. Eine Studie zu seiner Poetik ( 2002 ); Krieg und Aufklärung. Studien zum Kriegsdiskurs in der deutschsprachigen Literatur des 18 . Jahrhunderts ( 2012 ); Michael Kleeberg. Eine Werksbegehung (Mhg.; 2014 ); Roland Schimmelpfennig: Ja und Nein (Hg; 2014 ); Kathrin Röggla: Die falsche Frage (Hg. 2015 ); Rimini Protokoll Close up: Lektüren (Mhg.; 2015 ). Natalie Bloch, Dr., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in dem Projekt „Prozesse der Internationalisierung im Theater der Gegenwart“ an der Universität Luxemburg.-- Arbeitsschwerpunkte: Dramentheorie, Gegenwartsdramatik, Inszenierungsanalyse, Kulturtheorie.-- Wichtigste Publikationen: Legitimierte Gewalt. Zum Verhältnis von Sprache und Gewalt in Theatertexten von Elfriede Jelinek und Neil LaBute ( 2011 ); Ökonomie-- Narration-- Kontingenz. Kulturelle Dimensionen des Marktes (Mhg.; 2014 ), Internationales Theater und Inter-Kulturen. Theatermacher sprechen über ihre Arbeit ( 2014 ); Elfriede Jelinek. Begegnungen im Grenzgebiet (Mhg.; 2014 ). Langjährige Arbeit als Theaterkritikerin. Nicole Colin, Prof. Dr., ist Professorin für neuere deutsche Literatur und Kulturwissenschaft an der Université Aix-Marseille und Honorarprofessorin an der Universiteit van Amsterdam.-- Forschungsschwerpunkte: Kulturwissenschaft und Transferforschung, Theatersoziologie sowie Erinnerungskultur.- - Wichtigste Publikationen: Germanistik, eine europäische Wissenschaft? Der Bologna-Prozess als Herausforderung ( 2006 ); Deutsche Dramatik im französischen Theater nach 1945 . Künstlerisches Selbstverständnis im Kulturtransfer ( 2011 ); Gerhart Hauptmann, Die Weber, Die Ratten ( 2012 ); Lexikon der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945 (Mhg.; 2013 ); Die deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 -- Modell oder Ausnahme? (Mhg.; 2013 ). Dieter Heimböckel, Prof. Dr., ist Professor für Literatur und Interkulturalität an der Universität Luxemburg.- - Arbeitsschwerpunkte: Neuere deutsche Literatur vom 18 . Jahrhundert bis zur Gegenwart, Interkulturalität, Literatur- und Kulturtheorie, Drama und Theater, Literatur und Wissen / Nichtwissen, Moderne.-- Wichtigste Publikationen: Walther Rathenau und die Literatur seiner Zeit ( 1996 ); Emphatische Unaussprechlichkeit. Sprachkritik im Werk Heinrich von Kleists. ( 2003 ); Kein neues Theater mit alter Theorie. Stationen der Dramentheorie von Aristoteles bis Heiner Müller ( 2010 ); Zwischen Provokation und Usurpation. Interkulturalität <?page no="217"?> Autorinnen und Autoren 217 als (un)vollendetes Projekt der Literatur- und Sprachwissenschaften (Mhg.; 2010 ); (K)eine 10 für eine 5 oder vom Einfall des Staunens ( 2016 ). Mitherausgeber der Zeitschrift für interkulturelle Germanistik. Irfan Hošić, Prof. Dr., ist Assistenzprofessor für Kunstgeschichte, Kultur- und Modesoziologie, Textil- und Kleidergeschichte an der Universität Bihać, Bosnien- Herzegowina. Darüber hinaus ist er als Kunsthistoriker und -kritiker tätig.-- Forschungsinteressen: gegenwärtige Kunst von Bosnien-Herzegowina, Probleme der Kunst, Kleidung und Architektur.- - Wichtigste Publikationen: What is an abstraction? Art in Bosnia and Herzegovina in the 1950 s and 1960 s ( 2007 ); Art and terrorism. Arts in Bosnia and Herzegovina after 9 / 11 ( 2009 ); Clothing as a Symbol of Identity ( 2012 ); Iz / van konteksta ( 2013 ). Ko-Kurator des Bosnischen Pavillons an der Biennale di Venezia 2013 . Mina Novakova ist Produktionsleiterin und Dramaturgin bei kainkollektiv und Masterkandidatin an der Ruhr-Universität Bochum im Fach Szenische Forschung-- Interessensschwerpunkte / Tätigkeitsfelder: Produktionsleitung, Dramaturgie, Übersetzung, Performance und künstlerische Leitung.-- Projekte: Die Hamletmaschine ( 2008 ), Fuck you, Eu.ro.Pa! ( 2009 ), Faust-Exhausted ( 2013 ) Fremde Wesen ( 2013 ); LOSIGKEIT ( 2014 ); ich bin ich und bin der andere ( 2014 ). Katharina Pewny, Prof. Dr., ist Professorin für Performance Studies an der Universität Gent, Belgien, und Direktorin des Forschungszentrums S: PAM . Studies in Performing Arts and Media.-- Forschungsschwerpunkte: Ethik und Ästhetik des antiken Theaters und des Gegenwartstheaters, relationale Dramaturgien, Performance, und Mehrsprachigkeit / Migration.- - Wichtigste Publikationen: Ihre Welt bedeuten. Theater- - Feminismus- - Repräsentation ( 2002 ); Performance, Politik, Gender (Mhg.; 2007 ); Zwischenspiele. Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume in Theater, Tanz und Performance (Mhg.; 2010 ); Das Drama des Prekären. Über die Wiederkehr der Ethik in Theater und Performance ( 2011 ); Dramaturgies in the New Millennium: Relationality, Performativity, Potentiality (Mhg.; 2014 ). Sie ist Gründerin und im Leitungsgremium der Arbeitsgruppe Dramaturgie der Gesellschaft für Theaterwissenschaft und des Forschungsnetzwerkes THALIA . Interplay of Theatre, Literature and Media in Performance. Bart Philipsen, Prof. Dr., ist Professor für deutsche Literatur und Theaterwissenschaft an der Universität Leuven (Belgien).-- Arbeitsschwerpunkte: deutsche Literatur und Philosophie vom 18 . Jahrhundert bis zur Gegenwart, das lange 19 . Jahrhundert und die ‚lange‘ Moderne, Literatur & Philosophie, Theater & Theorie, das Nachleben von Tragödie und Trauerspiel, Ästhetik und Politik, Friedrich <?page no="218"?> 218 Autorinnen und Autoren Hölderlin.-- Wichtigste Publikationen: Die List der Einfalt. NachLese zu Hölderlins spätester Dichtung ( 1995 ); Adorno at the crossroads ( 2008 ); StaatsSachen / Matters of State. Fiktionen der Gemeinschaft im langen 19 . Jahrhundert (Mhg.; 2014 ); Tektonik der Systeme. Neulektüren von Oswald Spengler (Mhg.; 2016 ). Frank Raddatz, Dr., ist Theaterpraktiker und Publizist.- - Forschungsschwerpunkte: Brecht, Müller und die Theorie des zeitgenössischen Theaters.-- Wichtigste Publikationen: Reise mit Dionysos. Das Theater des Theodoros Terzopoulos ( 2006 ); Botschafter der Sphinx. Über das Verhältnis von Ästhetik und Politik am Theater an der Ruhr ( 2006 ); Brecht frißt Brecht ( 2007 ); Der Demetriusplan. Oder wie sich Heiner Müller den Blechthron erschlich ( 2010 ). Langjähriges Mitglied der Chefredaktion bei Theater der Zeit. Seit 2014 konzeptioneller Mitarbeiter bei Lettre International. Franziska Schössler, Prof. Dr., ist Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Trier.- - Forschungsschwerpunkte: Gender Studies, Ökonomie und Literatur, Drama und Theater (Schwerpunkt Gegenwartsdramatik).-- Goethes Lehr- und Wanderjahre. Eine Kulturgeschichte der Moderne ( 2002 ); Wichtigste Publikationen: Augen-Blicke. Erinnerung, Zeit und Geschichte in Dramen der neunziger Jahre ( 2004 ); Börsenfieber und Kaufrausch: Ökonomie, Judentum und Weiblichkeit bei Theodor Fontane, Heinrich Mann, Thomas Mann, Arthur Schnitzler und Émile Zola ( 2009 ); Einführung in die Dramenanalyse ( 2012 ); Drama und Theater nach 1989 : prekär, interkulturell, intermedial ( 2013 ); Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama ( 2015 ). Anna Seidl, Dr., ist Kulturwissenschaftlerin an der Universität von Amsterdam.- - Arbeitsschwerpunkte: neuere Kulturwissenschaft mit dem Schwerpunkt auf Körper- und Bewegungsbildern sowie neueren Entwicklungen im Tanz und Theater.-- Wichtigste Publikationen: Der katastrophisch-messianische Geschichtsraum bei W. G. Sebald. Bewegung, Stillstand, Liminalität ( 2014 ); Konfrontationen des ‚Wanderers‘ W. G. Sebald: Ein dynamisches Erinnerungsmodel; in: Dauvenvan Knippenberg / Parr (Hgg.), Räumliche Darstellung kultureller Begegnungen ( 2015 ); Ein ‚deutscher‘ Welterfolg: Pina Bausch und das Tanztheater Wuppertal. Schritte zum Welterfolg, in: Schirmer (Hg.), Aspekte des deutschen Theaters im 20 . Jahrhundert ( 2015 ). Elisabeth Tropper promoviert aktuell an den Universitäten Luxemburg und Trier. Daneben ist sie Mitarbeiterin im Forschungsprojekt »Prozesse der Internationalisierung im Theater der Gegenwart« und als Dramaturgin für die „Münchener Biennale-- Festival für neues Musiktheater“ tätig.-- Arbeitsschwerpunkte: euro- <?page no="219"?> Autorinnen und Autoren 219 päisches Gegenwartstheater, Europastudien, Dramaturgie, Berufsfeld Theater.- - Wichtigste Publikationen: Wühlen im Sehnsuchtsfundus. Oper und Operette im dramatischen Werk von Marlene Streeruwitz, in: Höfer / Melzer (Hgg.): Dossier. 27 ( 2008 ); Monster und Hybride im ‚dritten Raum‘. Michael Stavaričs Terminifera aus interkultureller Perspektive, in: Aussiger Beiträge 8 ( 2014 ); Das neue Europa und seine Nicht(s)-Orte. Gekreuzte Perspektiven in Theatertexten von David Greig, Andrzej Stasiuk und Carles Batlle i Jordà, in: Germanica ( 2015 ).
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