Medienphantastik
Phantastische Literatur im Zeichen medialer Selbstreflexion bei Jorge Luis Borges und Julio Cortázar
0916
2015
978-3-8233-7986-7
Gunter Narr Verlag
David Klein
Die rasante Verbreitung phantastischer Literatur ab dem 19. Jahrhundert ereignet sich zeitgleich mit der Durchsättigung der abendländischen Gesellschaft mit neuen technischen Medien. Die in der Folge explosionsartige Beschleunigung gesellschaftlicher Kommunikation sowie die Proliferation neuer Technologien führen zu einer inkommensurablen Fülle von irreduziblen Weltbildern. Wird phantastische Literatur häufi g als Instrument zur Inszenierung widersprüchlicher epistemologischer oder ontologischer Konzepte beschrieben, so fokussiert die vorliegende Arbeit ihr Potenzial, die weltherstellende und weltzerspielende Kraft neuer Medien erfahrbar zu machen. Die Medienphantastik, die bei Jorge Luis Borges und Julio Cortázar Konturen gewinnt, dient in letzter Konsequenz dazu, die Vielfalt von Weltbildern, die das angehende 20. Jahrhundert prägt, als mediale Konstruktionen auszuweisen und unterschiedlichste Zugriffe auf Welt in ihrer intermedialen Überschneidung zu erkunden.
<?page no="0"?> Medienphantastik David Klein Phantastische Literatur bei Jorge Luis Borges und Julio Cortázar <?page no="1"?> Medienphantastik <?page no="2"?> Studia philologica Monacensia Edunt Andreas Dufter et Bernhard Teuber Volumen 1 · 2015 Comité scientifique - Advisory Board - Wissenschaftlicher Beirat Lina Bolzoni (Scuola Normale Superiore di Pisa) Anthony Cascardi (University of California at Berkeley) Pedro Cátedra (Universidad de Salamanca) Victoria Cirlot (Universitat Pompeu Fabra, Barcelona) Marie-Luce Démonet (Université François Rabelais, CESR, Tours) Carlos Garatea Grau (Pontificia Universidad Católica del Perú, Lima) Barbara Kuhn (Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt) Frank Lestringant (Université Paris-Sorbonne) María Jesús Mancho Duque (Universidad de Salamanca) Wolfgang Matzat (Eberhard-Karls-Universität Tübingen) Paulo de Sousa Aguiar de Medeiros (University of Warwick) Wolfram Nitsch (Universität zu Köln) Uli Reich (Freie Universität Berlin) Maria Selig (Universität Regensburg) Elisabeth Stark (Universität Zürich) Collegium consultorum <?page no="3"?> David Klein Medienphantastik Phantastische Literatur im Zeichen medialer Selbstreflexion bei Jorge Luis Borges und Julio Cortázar <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. © 2015 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 2365-3094 ISBN 978-3-8233-6986-8 Umschlagabbildung: Umschlagphoto auf dem Katalog zum fünfzigjährigen Bestehen der Firma ALEF (A. Lehmann, Fürth) (Quelle: <http: / / www.cinerdistan.co.uk/ alef.htm> [Zugriff am 01.07.2015]) <?page no="5"?> 1 Inhalt Vorwort ....................................................................................... 3 1 Zum Verhältnis von Medialität und Phantastik ............ 5 2 Medienphantastik .............................................................. 11 2.1 Phantastik: Von der Gattung zur Schreibweise ............... 11 2.2 Medienkrise........................................................................... 21 2.3 Kafka, Borges, ‘Neophantastik’ .......................................... 27 2.4 Medienphantastik bei Borges und Cortázar..................... 32 2.5 Die ästhetische Funktion und Intermedialität.................. 42 3 Borges und die Sprache..................................................... 53 3.1 Spiegel: "Tlön, Uqbar, Orbis Tertius" (1940)..................... 53 3.2 Stimme: "Funes, el memorioso" (1942) .............................. 70 3.3 Schrift: "El Aleph" (1949) ..................................................... 91 4 Cortázar und die Medien ................................................ 113 4.1 Musik: "El perseguidor" .................................................... 113 4.2 Kino: "Cartas de mamá" .................................................... 126 4.3 Photographie: "Las babas del diablo" .............................. 144 5 Film und Schrift in Michelangelo Antonionis Blow-Up (1966).................................................................. 167 Schlusswort: Medienphantastik im Zeichen spielerischer Lust ............................................................. 195 Literatur................................................................................... 197 Texte und Filme .......................................................................... 197 Kritische Literatur ...................................................................... 198 Verzeichnis der Abkürzungen ........................................... 208 Danksagung ........................................................................... 209 <?page no="7"?> 3 Vorwort „Something fantastic’s happened. Those photographs in the park, fantastic! “ Mit diesen Worten versucht der Londoner Photograph Thomas seinen Agenten am Telephon von einer sensationellen Entdeckung zu begeistern. Die Photoserie, die er zuvor geschossen hat, deckt angeblich einen Mord auf. „Somebody was trying to kill somebody else. I saved his life“ (01: 06: 02). David Hemmings, der den Protagonisten von Blow-Up (1966, R. Michelangelo Antonioni) verkörpert, verleiht der vordergründigen Begeisterung seiner Figur jedoch ein Moment des Zweifelns. Ganz sicher scheint sich Thomas über das phantastische Ausmaß seiner Entdeckung nicht zu sein. Zudem sieht es so aus, als wolle der Agent die Geschichte nicht hören: „Listen, Ron, there was a girl. Ron will you listen? What makes it so fantastic -.“ Das Gespräch wird durch eine Türklingel unterbrochen, die Sensation bleibt aus. Thomas kommt nicht dazu, seine Geschichte zu erzählen, und der gescheiterte Versuch ist nur einer von vielen weiteren. Der Alltag des Photographen besteht aus einer Serie von Unterbrechungen, Störungen, Ablenkungen, ‘Nicht-Ereignissen’, die das Zustandekommen einer Geschichte - seiner Geschichte - stets verhindern. 1 Dabei gäbe es durchaus einiges zu erzählen. Das Telephonat mit Ron macht jedoch deutlich, dass potenzieller Erzähler und potenzieller Zuhörer nicht so kommunizieren, wie es für das Zustandekommen einer Geschichte nötig wäre. Zum einen will Ron nicht zuhören und zum anderen wirkt Thomas verunsichert, zaudernd, zögernd, hésitant, so als glaube er selbst nicht recht an das, was er Ron beibringen möchte. Ein fiktionaler Kontrakt - willing suspension of disbelief 2 - scheitert nicht nur an Rons Unwille, sondern gleichermaßen an Thomas’ eigenen Zweifeln über die Plausibilität seiner Geschichte. Bisweilen sieht es sogar so aus, als sei David Hemmings kurz davor, aus der Rolle zu fallen. Schuld an dieser Situation sind aber weder Sprecher noch Zuhörer, sondern die Apparate, mit denen erzählt wird. Ron und Thomas telephonieren, die elektrische Studioklingel stört, die blow-ups, die Thomas anfertigen wird, um sich über das phantastische Ausmaß seiner Entdeckung zu vergewissern, rauschen. Sie zeigen eine Leiche und keine Leiche. Und als der Tote tatsächlich im Park liegt, hat Thomas die Kamera nicht dabei. Nicht der Stoff für Geschichten ist ausgegangen, sondern die Bedingungen ihrer Vermittlung sind - wie es scheint - schwierig geworden. Aufnahme- und Wiedergabegeräte erlauben kein spontanes fabulieren mehr. Jede Vergrößerung und Veränderung der Photos fördert einen neuen Aspekt der Geschichte zu Tage und mit jedem weiteren Apparat zeigt sie sich in einem anderen Gewand. Das, was 1 Cf. Seymour Chatman: Michelangelo Antonioni - Sämtliche Filme, Köln: Taschen 2008. 2 Cf. Samuel Taylor Coleridge: Biographia literaria - Or biographical sketches of my literary life and opinions, ed. George Watson, London: Dent 1965. <?page no="8"?> 4 Probleme bereitet und eigentlich erzählt werden müsste, was sich nur schwer fassen lässt und in besonderem Maße phantastisch ist, ist nicht mehr bloß die Geschichte, sondern die Materialien, Apparate und Werkzeuge, die ihrer Vermittlung dienen - Sprache, Schrift, Photographie, Telephon, Film und Kino, kurzum: Medien. <?page no="9"?> 5 1 Zum Verhältnis von Medialität und Phantastik Die vorliegende Arbeit nimmt ihren Ausgangspunkt bei der Vermutung, dass es einen inhärenten Zusammenhang zwischen dem gibt, was wir ‘Medium’ nennen, und dem, was in Literatur und Kunst gemeinhin als ‘Phantastik’ bezeichnet wird. Beide Begriffe sind termine ombrellone, denen eine schier unübersichtliche Fülle an wissenschaftlicher Literatur gewidmet ist. Beide Begriffe haben eigens ihnen zugedachte Forschungsfelder, Sonderdisziplinen, Forschungsgesellschaften, Lehrstühle, ja sogar eigene Institute um sich versammelt. Und beide Begriffe sind sowohl in der Literaturwissenschaft als auch im Literaturbetrieb en vogue. Ein weiteres Buch über Medien, das zugleich ein Buch über Phantastik ist, mag daher aussehen wie ein Anachronismus oder wie der Versuch, zwei Disziplinen zugleich gerecht zu werden. Die Intention dieses Buchs ist indes eine andere. Die Frage, der hier nachgegangen werden soll, gründet in erster Linie auf einem historischen Zusammenhang. Denn was sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts als phantastische Literatur und Kunst herauszubilden beginnt, koinzidiert mit der Entwicklung und Verbreitung technischer Medien. Zwar gibt es phantastische Literatur und Momente phantastischen Schreibens schon früher. 3 Zu kaum einem anderen Zeitpunkt jedoch kann sich die Phantastik als eigenes Genre so gut und so nachhaltig behaupten wie seit dem 19. Jahrhundert. Auch kann sie sich zu keinem anderen Zeitpunkt einer so breiten Leserschaft erfreuen. Mit derselben Geschwindigkeit, mit der sich die technischen Medien ausbreiten, wird damit auch die Phantastik zum Massenphänomen. Vor diesem Hintergrund lautet die zentrale Frage, ob es zwischen der Phantastik des 19. Jahrhunderts und der ‘Durchsättigung’ der abendländischen Gesellschaft mit neuen technischen Mitteln der Kommunikation nicht nur einen historischen, sondern auch einen strukturellen Zusammenhang gibt. Bei phantastischer Literatur darf man davon ausgehen, dass ihr ein besonderes Potenzial bei der Erarbeitung, Infragestellung und Verhandlung von Weltentwürfen zukommt. 4 Phantastische Literatur stellt alternative Welten vor, setzt sie zueinander in Beziehung oder hebt sie ge- 3 Beispiele finden sich bei Ulf Abraham: Fantastik in Literatur und Film - Eine Einführung für Schule und Hochschule, Berlin: E. Schmidt 2012 sowie in Teil II von Hans Richard Brittnacher, Markus May edd.: Phantastik - Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart u.a.: Metzler 2013. 4 Dies aufgrund ihrer binären Opposition auf Sujetebene des Textes. Mehr zu unterschiedlichen Definitionen im Folgenden Abschnitt. Cf. das Vorwort in Oliver Jahraus, Stefan Neuhaus: Der fantastische Film - Geschichte und Funktion in der Mediengesellschaft, Würzburg: Königshausen & Neumann 2005. <?page no="10"?> 6 geneinander ab. Was Medien dagegen betrifft, gilt in der Forschung als konsensfähig, dass es ohne sie auf Welt und Wirklichkeit keinen Zugriff gibt. „Medien“, so fasst es Sybille Krämer zusammen, sind „ein Unhintergehbares, auf das etwas zurückgeführt und mit dem etwas begründet werden kann.“ 5 Indem nun also phantastische Texte das wie auch immer geartete Verhältnis zu unterschiedlichen Entwürfen von Welt zur Disposition stellen, setzen sie in medientheoretischer Blickrichtung immer auch an einer äußerst prekären Schnittstelle an, nämlich an der, an der sich Welt und Textwelt berühren, Ding und Vorstellung aufeinander prallen, Zeichen und Bezeichnetes aufeinander bezogen werden. Die gleichzeitige Vielheit phantastischer Weltentwürfe macht sichtbar, was diese Welten trennt oder verbindet, und betont damit gerade deren Mitte. Phantastische Literatur besitzt somit das Potenzial, erfahrbar zu machen, was ein Medium tut, oder anders gewendet: was Medialität ist. Ist man gewillt, diesem Gedanken zu folgen, dann ist mit ihm gleichzeitig eine basale Definition dessen gegeben, was im Folgenden mit den Begriffen Medium und Medialität gemeint ist. Ein Medium ist im Rahmen dieser Arbeit ganz allgemein etwas, das zwei Seiten auseinander faltet und aufeinander bezieht, wie zum Beispiel Laute und Vorstellungen in der gesprochenen Sprache, oder Schrift und Bedeutung im Medium Text. Ein Medium lässt sich damit nicht allein auf seine materielle oder apparative Basis reduzieren, ist aber stets an eine solche gebunden. Selbst ‘gedachte’ Sprache oder Bilder nutzen die elektrischen Impulse und den Stoffwechsel des Gehirns. Die Beschaffenheit der materiellen Basis eines Mediums ist jedoch variabel. Das bedeutet, dass ein Medium unterschiedliche Formen annehmen kann. 6 Es kann sich zeigen allein in der Form von Material wie Lauten, Lettern, Holz, Farbe oder Leinwand. Es kann sich zeigen in der Form von Artefakten wie geschriebenen oder gesprochenen Texten, Filmen, Photos oder Bildern. Es kann sich zeigen in Form von technischen Apparaten der Vermittlung wie Zeitungs- und Pressewesen, Fernsehen und Internet. Und es erfüllt seine Funktion in Form von Institutionen wie dem Theater, dem Museum, der Ausstellung oder Ähnlichem. Unabhängig davon, in welcher Form sich ein Medium zeigt und in welchen anderen Formen, die hier nicht aufgelistet sind, es sich sonst noch zeigen könnte, nimmt es in jedem Fall eine Vermittlerfunktion wahr. In allen hier genannten Formen verknüpft es Vorstellungen oder Sinn mit etwas sinnlich Wahrnehmbaren, sei dies das Material, die Artefakte, technische Apparate oder institutionelle Praktiken. Auf diese Weise trägt ein Medium ganz allgemein „Sorge, dass etwas für ‘etwas’ zu stehen kommt, dass etwas 5 Cf. Sybille Krämer: "Medien, Boten, Spuren", in: Stefan Münker, Alexander Roesler edd.: Was ist ein Medium? , Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, pp. 65-90, p. 66 sq. 6 Ich übernehme im Folgenden die Terminologie von Andreas Mahler. Cf. id.: "Probleme der Intermedialitätsforschung - Medienbegriff - Interaktion - Spannweite", Poetica - Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaften 44 (2012), 239-260. <?page no="11"?> 7 ‘etwas’ ist.“ 7 Es ermöglicht seinen Benutzern so, sich eine Vorstellung von der Welt zu machen und sich außerhalb ihrer selbst in einer solchen Vorstellung zu entwerfen. Zu letzterem Zweck eignen sich Medien in Form von Artefakten wie Photos, Filmen und der gesprochenen oder geschriebenen Sprache. In besonderem Maße aber eignet sich hierfür die Literatur. Neben allen anderen möglichen Funktionen, die sie erfüllt, ist sie vor allem der Ort, an dem Entwürfe von Welt und Selbst geschehen, an dem sie verhandelt und einer Reflexion ausgesetzt werden. Dies führt zurück zur Literatur der Phantastik und ihrer Fähigkeit, das erfahrbar zu machen, was ein Medium tut. Es führt also zurück zum Begriff der Medialität. Begreift man ein Medium, wie das hier geschieht, als „merkwürdiges, gedoppeltes Relationierungsphänomen, das in der Lage ist, in Form eines Artefakts etwas als etwas anderes auszugeben“ 8 , dann lässt sich Medialität „fassen als (jeweilige) Emergenz semiotischer Bipolarität“ 9 , sprich: als Akt der gleichursprünglichen Relationierung von Material und Vorstellung, Ausdruck und Inhalt, Schrift und Sinn, Signifikant und Signifikat, Text und Welt, Vermittlung und Vermitteltem. Medialität ist vorstellbar als der unvorgängliche Moment, in dem zwei Seiten gleich-ursprünglich auseinander gefaltet und aufeinander bezogen werden. Phantastische Literatur besitzt aufgrund ihrer strukturellen Eigenschaften das Potenzial, genau diesen Moment erfahrbar zu machen. Denn, indem sie durch die Pluralisierung und oftmalige Unvereinbarkeit alternativer Weltentwürfe gerade das betont, was zwischen möglichen Welten unerkannt liegt, trägt sie immer auch die Signatur dessen, was sich zwischen Material und Vorstellung unerkannt verbirgt und beide Seiten auf sonderbare, ja phantastische Weise aufeinander bezieht. Dieses Potenzial ist es, das im Folgenden interessiert. Es zeichnet sich in der phantastischen Literatur seit der Mitte des 19. Jahrhunderts implizit ab in der zunehmenden sujethaften Oppositionsstruktur der Erzählungen eines Jean Potocki, eines Guy de Maupassant oder im Doppelgängermotiv eines E. T. A. Hoffmann. Es wird in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sodann reflexiv eingeholt. Der Ort, an dem dies geschieht, ist Lateinamerika. 10 Die Namen, die damit verbunden sind, sind in einer ersten Phase Horacio Quiroga und Leopoldo Lugones, bei denen alternative Weltentwürfe zunehmend mit Erscheinungsformen des Mediums verkoppelt werden. 11 In einer zweiten Phase sind es Jorge Luis Borges und 7 Ibid., 244. 8 Ibid., 245. 9 Ibid. 10 Zur Vorreiterrolle lateinamerikanischer Literatur und zur Stellung Jorge Luis Borges’ cf. Hans Ulrich Gumbrecht: "‘Objektiver Humor’ - On Hegel, Borges, and the Historical Place of the Latin American Novel", in: Ulrich Schulz-Buschhaus ed.: Projekte des Romans nach der Moderne, München: Fink 1997, pp. 89-102. 11 Zur Auseinandersetzung mit Formen des Mediums in der Lateinamerikanischen Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts cf. Matei Chihaia: Immersion und Infiltration in Film und Literatur, Bielefeld: Transcript 2011. <?page no="12"?> 8 Julio Cortázar, die Medialität und Phantastik nahezu synonym verwenden. Phantastisches Schreiben dient ihnen nicht mehr allein der Konstruktion alternativer Welten. Häufig genug situieren die Kurzgeschichten ihre Handlungswelt sogar in der historischen Wirklichkeit, der sie entstammen. Was dabei jedoch zunehmend in den Blick gerät, ist die Abhängigkeit dieser Welt von Formen von Medien, sei es die gesprochene oder geschriebene Sprache wie meist bei Borges, oder seien es technische oder ‘künstlerische’ Medien wie Photoapparate, Kino oder Musikinstrumente bei Cortázar. Bei beiden Autoren zeichnet sich im Zuge der Beschäftigung mit derartigen Erscheinungsformen eine zunehmende Fokussierung auf das ab, was wir hier Medium oder Medialität schlechthin nennen. Gefragt wird in letzter Konsequenz nicht mehr nur nach den Eigenschaften des Artefakts, sondern nach dem, was ein Medium unabhängig von seiner materiellen Disposition auszeichnet, was es tut und was es möglich macht. Gattungsspezifisches Vehikel und Ausgangspunkt ist beiden Autoren das, was in der Literaturwissenschaft Phantastik genannt wird. Beide Autoren erzeugen jedoch nicht allein Unschlüssigkeit über die Beschaffenheit oder Erklärungsbedürftigkeit erzählter Welten, sondern zunehmend auch über die Form der Vermittlung, sprich: über das Medium. Diese spezifische Form der Phantastik will ich im Folgenden Medienphantastik nennen. Ihr soll anhand einiger exemplarischer Analysen von Kurzgeschichten von Borges und Cortázar systematisch nachgegangen werden. Im Zentrum der Beschäftigung mit Borges stehen drei cuentos aus den vierziger Jahren (Kap. 3). Hier interessiert in erster Linie, inwiefern Borges erzählende Literatur zum Vehikel einer Reflexion über Medialität sowie Sprache und Schrift macht. Dabei geht es mitunter um die Frage, welche Rolle die technischen Medien spielen, zumal ihnen im Werk des Argentiniers eine scheinbar nur randständige Position zukommt. Im Zentrum des zweiten Analyseteils (Kap. 4) stehen sodann drei Erzählungen Cortázars aus der Sammlung Las armas secretas von 1959. Hier beschäftigt vor allem die Frage, ob und inwiefern die materielle Basis des Textes auf medienphantastische Weise in eine andere materielle Basis übergleitet, sprich: inwiefern phantastische Unsicherheit über die Form des Mediums schlechthin erzeugt wird. Was sich bei dieser Form der Medienphantastik explizit zeigt, ist das, was in der Literaturwissenschaft mittlerweile unter dem Begriff der Intermedialität figuriert. Aus diesem Grund befasst sich das letzte Kapitel dieser Arbeit nicht mehr mit einem Medium in Form eines schriftlichen, sondern eines filmischen Textes. Die anhand der vorangegangenen Analysen gewonnenen Erkenntnisse sollen in einem letzten Schritt also auf Michelangelo Antonionis Blow- Up von 1966 bezogen und weitergedacht werden (Kap. 5). Dies erscheint vielversprechend zum einen, da Blow-Up die Adaption von Cortázars cuento "Las babas del diablo" ist, das in Kapitel 4.1 ebenfalls untersucht werden soll, und zum anderen, da einer Form von Intermedialität so auch in <?page no="13"?> 9 materieller Hinsicht nachgespürt werden kann. Welche Methoden der Textanalyse dabei Verwendung finden, soll grundlegend in Kapitel 2.5 sowie - wo zusätzlich nötig - in den Einzelanalysen genannt werden. Zuvor gilt es jedoch, den Begriff der Phantastik, wie er in der Literaturwissenschaft Verwendung findet, in seinen Grundzügen nachzuzeichnen (Kap. 2.1), um ihn sodann für ein medientheoretisches Begriffsfeld zu öffnen. Letzteres geschieht durch die kritische Auseinandersetzung mit der Medien- und Repräsentationskrise des angehenden 20. Jahrhunderts (Kap. 2.2). In einem weiteren Schritt soll sodann der Begriff der ‘Neophantastik’, wie er noch immer für das phantastische Schreiben eines Borges oder eines Cortázars verwendet wird, auf seine medientheoretischen Implikationen hin befragt werden (Kap. 2.3). Am Ende der theoretischen Vorüberlegungen soll im umfangreichen essayistischen und kritischen Werk von Borges und Cortázar nach Spuren Ausschau gehalten werden, die eine medienphantastische relecture von Kurzgeschichten rechtfertigen, welche mittlerweile zum festen Bestand der Weltliteratur gehören. Da die Forschungsarbeit zu beiden Autoren immer noch äußerst aktiv ist und eine immense Fülle von wissenschaftlicher Literatur hervorgebracht hat, kann dieser im Rahmen der vorliegenden Arbeit unmöglich Rechnung getragen werden. Das hier vorliegende Projekt zu einer Medienphantastik bei Jorge Luis Borges und Julio Cortázar versteht sich daher als kleiner Beitrag in einem größeren, äußerst produktiven wissenschaftlichen Gesamtzusammenhang. Es beschränkt sich auf sieben Einzelanalysen von Texten, die ihrerseits eine hohe strukturelle Komplexität aufweisen und gerade aus diesem Grund einen großen Erkenntnismehrwert versprechen. Die Textauswahl im Rahmen der jeweiligen Œuvres beruht auf einer systematischen Entscheidung, die allein dem heuristischen Interesse am Verhältnis von phantastischem Schreiben und Medialität geschuldet ist: Dort, so die Annahme, wo reale oder nicht reale Erscheinungsformen von Medien im Rahmen der erzählten Welt nicht so funktionieren, wie dies zu erwarten gewesen wäre, erfüllen sie möglicherweise die Funktion von Indizien, die dem Text zu einem Bedeutungshorizont verhelfen, in dem auf phantastische Weise die Bedingung der Möglichkeit seiner Existenz ansichtig wird: Es ist dies seine Medialität. <?page no="15"?> 11 2 Medienphantastik 2.1 Phantastik: Von der Gattung zur Schreibweise Jede geisteswissenschaftliche Studie steht anfänglich vor der Herausforderung, einen wissenschaftlichen Zugang zu ihrem Gegenstand zu finden. 12 Damit dies gelingt, muss sie den gesuchten Gegenstand zunächst in geordneter Rede gegen das über den Gegenstand vorherrschende Alltagsverständnis abgrenzen. Nun bedeutet Alltagsverständnis in erster Linie Alltagssprache 13 oder besser: Normalsprache. Letztere unterscheidet sich von Wissenschaftssprache durch Mehrdeutigkeit. Prädikatoren der Normalsprache sind tendenziell polysemantisch, 14 was für die Ökonomie und Dynamik von Sprache zwar entscheidend ist, in einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung aber immer unscharfe Ergebnisse zu Tage fördert. Aus diesem Grund muss der Gegenstand, dem das wissenschaftliche Interesse gilt, im Rahmen einer möglichst unzweideutigen und damit um Intersubjektivität bemühten Wissenschaftssprache verankert und Polysemie vermieden werden. Dies gelingt jedoch nur, wenn klar ist, wie der in Frage stehende Gegenstand zu behandeln ist. Damit B versteht, was A meint, muss A deutlich machen, wie über den Gegenstand zu sprechen ist. Nur so kann gewährleistet werden, dass der Gegenstand als solcher nicht unscharf oder mit einem anderen verwechselt wird. Damit ist zugleich gesagt, dass wissenschaftliche Definitionen nicht ohne methodologische Gesichtspunkte auskommen. Denn, da es „reine gegenstandsunabhängige Objektivität [in kommunikativen Prozessen] nicht geben kann“ 15 , setzt wissenschaftliche Auseinandersetzung mit einem Gegenstand ein „nachvollziehbares Beschreibungsinstrumentarium“ 16 und „explizite Vereinbarung über den Sinn“ 17 der verwendeten Begriffe voraus. Wenn nun gilt, dass die wissenschaftliche Definition eines Gegenstands diesen zuallererst hervorbringt, indem er durch Abgrenzung gegen andere Gegenstände besprechbar wird, dann gilt auch, dass der Gegenstand ohne Klärung methodologischer Gesichtspunkte nicht als wissenschaftlicher zu haben ist. Erfolgt die Definition des Gegenstands im eigentlichen Sinne des Wortes durch Abgrenzung von anderen Gegen- 12 Cf. Oliver Jahraus: Literaturtheorie - Theoretische und methodische Grundlagen der Literaturwissenschaft, Paderborn u.a.: Francke 2004, p. 9 sq. 13 Allein deshalb, weil sich Alltagsverständnis streng genommen dem wissenschaftlichen Zugriff entzieht oder ein anderes Verständnis von ‘Verstehen’ voraussetzt. 14 Klaus W. Hempfer: Gattungstheorie - Information und Synthese, München: Fink 1973, p. 14. 15 O. Jahraus: Literaturtheorie - Theoretische und methodische Grundlagen der Literaturwissenschaft, p. 7. 16 Ibid. 17 K. W. Hempfer: Gattungstheorie - Information und Synthese, p. 14. <?page no="16"?> 12 ständen und damit durch die Feststellung dessen, was der Gegenstand nicht ist, so erfolgt die methodologische Komponente der wissenschaftlichen Begriffsbildung über die Frage, in welcher Beziehung der Begriff zu anderen Begriffen steht und wie mit ihm umzugehen ist. Theoretische und methodologische Aspekte gehen bei der wissenschaftlichen Begriffsbildung also Hand in Hand. 18 Grundsätzlich gilt: ohne Methode kein Gegenstand. Wirft man einen Blick in die Phantastikforschung, so zeichnet sich ein sehr heterogenes Bild des Phantastikbegriffs und dessen methodischer Behandlung ab. Das kürzlich von Hans Richard Brittnacher und Markus May herausgegebene Handbuch zur Phantastik ist hierfür ein eindrucksvoller Beleg. 19 Die Divergenzen der unterschiedlichen Ansätze und Definitionen sind bisweilen gewaltig. 20 Die meisten Untersuchungen sind sich jedoch einig, dass der Begriff dessen, was man als Phantastik bezeichnen möchte, schwer zu definieren ist. Häufig wird ihr ephemerer Charakter entweder durch Abgrenzungsschwierigkeiten von anderen Gattungen betont - das Phantastische erscheint dann als labil, da es leicht in benachbarte Gattungen ‘übergleitet’ 21 - oder durch dessen Eigenschaft, Verstandesgrenzen zu überschreiten - das Phantastische erscheint wissenschaftlich schwer fassbar, da es sich einem rationalen Zugriff kraft seines Wesens widersetzt. 22 Die Unab- 18 O. Jahraus: Literaturtheorie - Theoretische und methodische Grundlagen der Literaturwissenschaft, p. 18. 19 H. R. Brittnacher, M. May edd.: Phantastik - Ein interdisziplinäres Handbuch. Cf. auch Christine Lötscher, Petra Schrackmann, Ingrid Tomkowiak, Aleta-Amirée von Holzen edd.: Übergänge und Entgrenzungen in der Fantastik, Wien: LIT 2014. 20 Pessimistisch äußert sich Uwe Durst: „Die terminologische Anarchie lähmt die Forschung, indem sie jede wissenschaftliche Verständigung unterbindet. Sie ist als ernstzunehmendes Hindernis einzustufen.“ Uwe Durst: Theorie der phantastischen Literatur, Berlin: Lit 2010, p. 21. 21 Cf. Tzvetan Todorov: Introduction à la littérature fantastique, Paris: Seuil 1970 sowie Louis Vax: "Die Phantastik", in: Rein Zondergeld ed.: Phaicon - Almanach der phantastischen Literatur, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, pp. 11-43. 22 In diesem Sinne argumentiert Roger Caillois. Cf. id.: Au cœur du fantastique, Paris: Gallimard 1965 sowie id.: "Das Bild des Phantastischen - Vom Märchen bis zur Science Fiction", in: Rein Zondergeld ed.: Phaicon - Almanach der phantastischen Literatur, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, pp. 44-83. Für ihn stellt das Phantastische als Riss im Kontinuum der geordneten Welt eine Herausforderung an Rationalismus und Determinismus der Aufklärung dar. Phantastik wird in diesem Sinne als Antwort und Reaktion auf die Verwissenschaftlichung der Welt verstanden. Nach Caillois konnte sich die Gattung folglich erst durchsetzen, nachdem ein „strenger Determinismus in Bezug auf Ursache und Folge allgemein anerkannt worden war“ (p. 48). Ihren literarischen Niederschlag findet die Phantastik vor der Kontrastfolie des Märchens mit dem wichtigen Unterschied, dass das Märchen aus einer Zeit stammt, in der es nur die Welt des Wunderbaren gab, während sich die phantastische Literatur überhaupt erst zu einem Zeitpunkt entwickeln konnte, „an dem jeder mehr oder weniger von der Unmöglichkeit von Wundern überzeugt war“ (p. 48). Die Angst, die durch das Lesen phantastischer Literatur hervorgerufen wird, entsteht aufgrund ihrer Verbannung von Rationalismus und Wissenschaft. Diese grundlegende Idee ist zu einem zentralen Topos der Phantastikforschung geworden und hat für zahlreiche Arbeiten strukturbil- <?page no="17"?> 13 geschlossenheit und Unabschließbarkeit der Theoriediskussion ergibt sich in dieser Blickrichtung durch einen Rückkoppelungseffekt ausgehend von dem zu definierenden Gegenstand selbst, der in vielen Fällen wissenschaftlicher Begriffsbildung immer schon als problematisch konzipiert wird. Versucht man die verschiedenen Arbeiten zur Phantastik dennoch nach methodischen Gesichtspunkten zu ordnen, so lassen sich im Wesentlichen zwei Gruppen oder Phasen identifizieren: Die eine behandelt ihren Gegenstand als Gattung und fragt nach distinktiven Merkmalen und Strukturen. Die andere erkennt die Ergebnisse gattungstheoretischer Arbeiten in ihren Grundzügen an und befragt ihren Gegenstand nach seinen kulturellen Funktionen. Was die Behandlung von phantastischer Literatur als Gattung betrifft, so bietet es sich aufgrund der Fülle möglicher Ansätze zunächst an, von einem hinreichend präzisen Gattungskonzept auszugehen, in das sich unterschiedliche literatur- oder kulturwissenschaftliche Arbeiten zur Phantastik sodann einordnen lassen: Wolf-Dieter Stempel definiert literarische Gattungen als Kombinationen rekurrenter Elemente. Sie werden damit „als je unterschiedlich hierarchisierte und in dieser Hierarchisierung mehr oder weniger stark konventionalisierte [und historisch institutionalisierte] Komponentenkomplexionen“ 23 begreifbar. Verfolgt man die groben Linien der Phantastikforschung seit ihren Anfängen, so zeichnet sich zunächst die Tendenz ab, die rekurrenten Elemente, die ein literarischer Text erfüllen muss, um als phantastischer zu gelten, nicht bloß an inhaltlichen, sondern zunehmend an strukturellen Faktoren zu messen. Der wichtigste Impuls geht dabei von der bekannten Definition Todorovs aus: „Le fantastique, c’est l’hésitation éprouvée par un être qui ne connaît que les lois naturelles, face à un événement en dend gewirkt. Unter anderem folgt Christian Wehr in seiner Studie zum französischen récit fantastique - wenn auch nur hinsichtlich einzelner Aspekte - dieser Auffassung, indem er phantastische Literatur als Inszenierung von Ambivalenzen begreift, die den diskursiven Ordnungen des 19. Jahrhunderts inhärent seien. Cf. Christian Wehr: Imaginierte Wirklichkeiten - Untersuchungen zum 'récit fantastique' von Nodier bis Maupassant, Tübingen: Narr 1997. Ähnlich argumentiert Joachim Metzner: "Die Vieldeutigkeit der Wiederkehr - Literaturpsychologische Überlegungen zur Phantastik", in: Christian W. Thomsen, Jens M. Fischer edd.: Phantastik in Literatur und Kunst, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1980, pp. 79-110. Die Verdrängung und Ausgrenzung des Wahnsinns aus der Kultur am ausgehenden 18. Jahrhundert, so Metzner, habe die Entstehung von Irrationalem, Widersinnigem und Ordnungsfeindlichem geradezu konserviert und deren Potenzial dadurch noch gesteigert. Dies setze nun die Literatur des 19. Jahrhunderts in Form von Gespenstern, Wiedergängern, schlafenden Monstern und sonstigen grotesken Wesen frei. So gesehen attackiert die phantastische Literatur rationalistisches und positivistisches Denken oder fördert zumindest deren Schwachstellen zu Tage. Weitere Überlegungen mit ähnlicher Stoßrichtung finden sich bei Gerhard Bauer, Robert Stockhammer edd.: Möglichkeitssinn - Phantasie und Phantastik in der Erzählliteratur des 20. Jahrhunderts, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. 23 Rainer Warning: "Elemente einer Pragmasemiotik der Komödie", in: Id., Wolfgang Preisendanz edd.: Das Komische, München: Fink 1976, pp. 279-333, p. 281. <?page no="18"?> 14 apparence surnaturel.“ 24 Das Ereignis, so die These Todorovs, bildet eine Beobachtung, die sich aus den Gesetzen der dargestellten Welt und der Lebenswelt des Lesers nicht erklären lässt. Eine solche Beobachtung muss von den Figuren oder den Perspektivträgern so registriert werden, dass nicht klar ist, ob sie als nicht-realitätskompatibel oder erklärungsbedürftig eingestuft wird. 25 Phantastik wurzelt damit in der Unschlüssigkeit, in der hésitation der Figuren und des impliziten Lesers hinsichtlich des ontologischen Status des Beobachteten einerseits, und dessen Erklärbarkeit andererseits. Sind die Beobachtungen erklärungsbedürftig, weil sie Naturgesetze verletzen, oder einfach nur außergewöhnlich, aber dennoch erklärbar? Voraussetzung für die literarische Inszenierung des Todorov’schen Zweifels bildet gattungsbasierten Ansätzen somit eine „sujethafte binäre Oppositionsstruktur auf der histoire-Ebene des Textes.“ 26 Wie eng auch immer die Kriterien zur Identifikation dieser Struktur angelegt werden, die Annahme einer Zwei-Seins-Sphäre auf histoire-Ebene ist bis heute gültig. Christian Wehr spricht in diesem Zusammenhang von einem „Minimalbestand einer Gattungsdefinition“ 27 , der bis heute als konsensfähig gilt: Phantastische Texte sind durch ein Moment des Zweifels oder der Verunsicherung gekennzeichnet, das daher rührt, dass mindestens zwei verschiedene Welten nebeneinander existieren oder konfliktiv aufeinander stoßen. Von anderen Gattungen wie der Fantasy-Literatur oder dem magischen Realismus lässt sich die Phantastik auf diese Weise hinreichend abgrenzen. Entsprechend unterscheidet Ulf Abraham in Anlehnung an Martin Horstkotte drei Kategorien höherer Art: Phantastik im engeren Sinn (zwei Welten stoßen aufeinander und erzeugen einen Konflikt [...]), Fantasy (eine geschlossene sekundäre Welt wird ‘nichtkonfrontativ’ entworfen) und magischen Realismus (es gibt zwei Welten, aber sie koexistieren harmonisch). 28 Da in der literarischen und literaturwissenschaftlichen Praxis auch solche Texte als phantastisch (oder fantastic) bezeichnet werden, in denen zwar 24 T. Todorov: Introduction à la littérature fantastique, p. 29. 25 Aus diesem Grund schließt Todorov Kafka als Autor phantastischer Literatur aus. Die Figuren behandeln die Verwandlung Gregor Samsas in ein Ungeziefer nicht als erklärungsbedürftig. Cf. ibid. sowie Oliver Jahraus: Kafka - Leben, Schreiben, Machtapparate, Stuttgart: Reclam 2006. Mehr dazu in Kap. 2.3. Zum Begriff der Realitätskompatibilität cf. U. Durst: Theorie der phantastischen Literatur, p. 9. 26 Jörg Dünne: "Borges und die Heterotopien des Enzyklopädischen - Mediale Räume in der phantastischen Literatur", in: Clemens Ruthner, Ursula Reber, Markus May edd.: Nach Todorov - Beiträge zu einer Definition des Phantastischen in der Literatur, Tübingen: Francke 2006, pp. 189-208, p. 189. 27 C. Wehr: Imaginierte Wirklichkeiten - Untersuchungen zum 'récit fantastique' von Nodier bis Maupassant, p. 10. 28 U. Abraham: Fantastik in Literatur und Film - Eine Einführung für Schule und Hochschule, p. 44 sowie Martin Horstkotte: The postmodern fantastic in contemporary British fiction, Trier: WVT 2004, p. 41. <?page no="19"?> 15 zwei verschiedene Welten nebeneinander existieren, diese jedoch zweifelsfrei voneinander zu trennen sind, unterscheidet Uwe Durst zusätzlich eine maximalistische von einer minimalistischen Definition: Während nach der minimalistischen Definition nur die Texte als phantastisch gelten, die durch das Vorhandensein eines „binnenfiktionalen Zweifels“ 29 gekennzeichnet sind, genügt der maximalistischen Definition allein eine Zwei-Seins-Sphäre, bei der die eine Hälfte als realitätskompatibel und die andere als nichtrealitätskompatibel ausgewiesen wird. Minimalistisch-phantastisch sind demnach Erzähltexte, in denen die Todorov’sche hésitation bis zum Schluss Bestand hat oder ein Konflikt zwischen verschiedenen Erklärungsangeboten für ein Ereignis herrscht, wie z.B. Guy de Maupassants Le Horla (1887) oder La fuerza Omega (1906) von Leopoldo Lugones. Maximalistisch-phantastisch sind Texte, in denen zwei epistemische oder ontologische Sphären gleichrangig und trennscharf nebeneinander existieren, wie in Michael Endes Die unendliche Geschichte (1979). Neben eine genuin „zweipolig konstruierte Phantastik“ 30 tritt im 20. Jahrhundert und insbesondere in Lateinamerika eine „einpolig konstruierte ‘Neo-Phantastik’“ 31 , in der unerklärbare Vorkommnisse als Normalzustand der erzählten Welt figurieren und dennoch als bedrohlich und nicht mit realhistorischen Lebenswelten verrechenbar gelten. „Die Katapultierung in das ganz ‘Andere’“ 32 wird hier jedoch nicht mehr mit Unschlüssigkeit verbunden. Franz Kafkas Die Verwandlung (entstanden 1912) ist für neophantastisches Schreiben insofern paradigmenbildend, als Gregor Samsa und die übrigen Figuren die Verwandlung nicht als erklärungsbedürftig behandeln. Die Unschlüssigkeit ist damit - wie schon Todorov bemerkt - nicht mehr Funktion des literarischen Textes. Vielmehr, so Todorov weiter, scheine es darin nur um die sozialen und psychischen Folgen der Verwandlung zu gehen. Das Verschwinden der hésitation bedeute damit gar das Ende phantastischer Literatur, welche in der Folge durch die Psychoanalyse abgelöst werde. 33 Dies konnte sich aber weder in der literarischen noch in der literaturwissenschaftlichen Praxis bewahrheiten. Phantastische Texte und 29 U. Durst: Theorie der phantastischen Literatur, p. 44. 30 Renate Lachmann: "Schlüssiges - Unschlüssiges (nach und mit Todorov)", in: Clemens Ruthner, Ursula Reber, Markus May edd.: Nach Todorov - Beiträge zu einer Definition des Phantastischen in der Literatur, Tübingen: Francke 2006, pp. 89-97, p. 97. 31 Axel Dunker: "Fantastische Literatur", in: Dieter Lamping ed.: Handbuch der literarischen Gattungen, Stuttgart: Kröner 2009, pp. 240-247, p. 240. Der Begriff stammt von Jaime Alazraki. Cf. id.: En busca del unicornio - Los cuentos de Julio Cortazá - Elementos para una poética de lo neofantástico, Madrid: Gredos 1983. 32 R. Lachmann: "Schlüssiges - Unschlüssiges (nach und mit Todorov)", p. 97. 33 Cf. T. Todorov: Introduction à la litterature fantastique, p. 169. Cf. in diesem Zusammenhang ebenso die Darstellung bei Ulrike Schnaas: Das Phantastische als Erzählstrategie in vier zeitgenössischen Romanen, Stockholm: Almqvist & Wiksell International 2004, p. 13 sqq. <?page no="20"?> 16 solche, die sich so nennen, werden im 20. Jahrhundert weiterhin kontinuierlich produziert. Entsprechend wurde das Ende phantastischer Literatur in der Forschung schrittweise bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts verlagert: Thomas Wörtche (1987) macht für den Schwund des Phantastischen nicht mehr die Psychoanalyse verantwortlich, sondern das hohe „Reflexionsniveau der literarischen Praxis“ 34 der Moderne. Und für Thomas Broß (1996) markiert erst die Postmoderne den Schlusspunkt phantastischer Literatur, da sie sich im Zeichen eines nur mehr spielerischen Zitierens zunehmend ins Parodistische verlagere und zu einem „zweckfreien Spiel der Allusionen“ 35 werde. Da jedoch letztlich das Ende der Postmoderne strittig bleibt, 36 kann auch in diesem Zusammenhang von einem Ende phantastischer Literatur weder aus Sicht der Literaturwissenschaft noch aus Sicht der literarischen und mittlerweile cineastischen Praxis die Rede sein. Seit der Verfilmung von J. R. R. Tolkiens Lord of the Rings Trilogie (ab 2001) erleben phantastische Texte und Filme einen neuen und bis heute anhaltenden Boom. Wenngleich Tolkiens Trilogie aus literaturwissenschaftlicher Sicht dem Fantasy-Genre zugerechnet werden muss, folgten ihr rasch maximalistisch-phantastische Werke wie die Chronicles of Narnia (ab 2005) oder die Harry Potter-Reihe (ab 1997) und in jüngster Zeit schließlich minimalistisch-phantastische Filme, in denen die Todorov’sche hésitation bis zum Schluss aufrecht erhalten wird. Letztere sind mitunter mit dem Namen des aus Mexiko stammenden Guillermo del Toro verbunden. In seinem spanischen Bürgerkriegsdrama El laberinto del fauno (2006) bestehen bis zuletzt Zweifel darüber, ob die paganantiken und märchenhaften Parallelwelten der Protagonistin Produkte kindlicher Phantasie sind oder sich nicht doch mit dem letzten Partisanenkampf in den Bergen decken. Mit Werken wie diesem hat auch die minimalistische Phantastik als Gattung ihren Weg ins Kino gefunden. Damit hat sie nicht nur einen erfolgreichen Medientransfer vollzogen, sondern ist weit über ihr von Todorov prognostiziertes Ende hinaus zur Unterhaltungsliteratur geworden. Was den Boom phantastischer Filme in jüngerer Zeit angeht, mögen die Arbeiten von Ulrike Schnaas (2004) und Nikolaus Förster (1999) einen entscheidenden Hinweis liefern: Da der Fiktionscharakter von erzählender Literatur dem Leser des 20. Jahrhunderts hinlänglich bewusst sei, habe diese längst nicht mehr die Aufgabe, „authentische Abbilder einer ‘Realität’ zu 34 Thomas Wörtche: Phantastik und Unschlüssigkeit - Zum strukturellen Kriterium eines Genres - Untersuchungen an Texten von Hanns Heinz Ewers und Gustav Meyrink, Meitingen: Corian 1987, p. 242. 35 Thomas Broß: Literarische Phantastik und Postmoderne - Zu Funktion, Bedeutung und Entwicklung von phantastischer Unschlüssigkeit im 20. Jahrhundert, Essen: Universität- Gesamthochschule-Essen 1996, pp. 151 sqq. 36 Cf. Hans Ulrich Gumbrecht: "Die Postmoderne ist (eher) keine Epoche", in: Robert Weimann, Hans Ulrich Gumbrecht edd.: Postmoderne globale Differenz, Frankfurt am Main 1991, pp. 366-369. <?page no="21"?> 17 liefern“ 37 , sondern nur mehr „ein Spiel zwischen Realität und Fiktion zu inszenieren.“ 38 Was mit dieser Annahme explizit benannt ist, ist eine spezifische Funktion phantastischer Literatur, auf die auch die Forschungsarbeiten in jüngerer Zeit ihren Blick gerichtet haben. Die Benennung einer Funktion oder ‘Aufgabe’ von Literatur im Allgemeinen verweist immer auch auf ihren „Sitz im Leben.“ 39 Denjenigen phantastischer Literatur versuchen - direkt oder indirekt - neuere Arbeiten aufzuspüren, welche ihren Gegenstand mitunter als (sekundäre) Schreibweise 40 begreifen und sie damit für kulturtheoretische 41 oder diskursanalytische 42 Fragestellungen zugänglich machen. Was phantastische Literatur als Schreibweise betrifft, so bietet es sich ebenfalls an, von hinreichend präzisen Begrifflichkeiten auszugehen, in deren Rahmen sich entsprechende Konzepte einordnen lassen: Grundsätzlich versteht man unter einer Schreibweise eine „gruppenbildende Struktur, die das Gemeinsame an sonst unterschiedlichen Texten meint.“ 43 Den primären Schreibweisen wie dem ‘Narrativen’ oder dem ‘Dramatischen’ liegen spezifische Sprechweisen bzw. Redekonstellationen zugrunde wie der Bericht oder der Dialog. Die sekundären Schreibweisen (das ‘Komische’, das ‘Parodistische’, das ‘Satirische’ oder das ‘Phantastische’) können im Rahmen der primären Schreibweisen realisiert werden und diese überlagern. Primäre und sekundäre Schreibweisen sind „terminologisch somit zunächst als [...] transhistorische Invarianten konstruiert.“ 44 Da sie auf spezifische Redekonstellationen zurückgehen, lassen sie sich unabhängig von historischen und gattungstheoretischen Faktoren denken. Dieser Umstand erklärt mitunter die Tendenz kulturtheoretischer Studien zur Phantastik, diese als Schreibweise zu begreifen, da sich der Gegenstand so als gesamtkulturelle, medienübergreifende und bisweilen sogar an- 37 Nikolaus Förster: Die Wiederkehr des Erzählens, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1999, p. 95. 38 U. Schnaas: Das Phantastische als Erzählstrategie in vier zeitgenössischen Romanen, p. 15. 39 R. Warning: "Elemente einer Pragmasemiotik der Komödie", p. 317. 40 K. W. Hempfer: Art. "Schreibweise", in: Klaus Weimar, Harald Fricke, Jan-Dirk Müller edd.: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Berlin: De Gruyter 2007, pp. 391-393. 41 So z.B. Renate Lachmann: Erzählte Phantastik - Zu Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002 oder Marianne Wünsch: Die fantastische Literatur der frühen Moderne - Definition, denkgeschichtlicher Kontext, Strukturen, München: Fink 1991. 42 So beispielsweise bei C. Wehr: Imaginierte Wirklichkeiten - Untersuchungen zum 'récit fantastique' von Nodier bis Maupassant. 43 K. W. Hempfer: "Schreibweise", p. 391. 44 Ibid. Der sekundären Schreibweise lässt sich noch eine dritte Variante nebenan stellen, die den Terminus vor allem zur Beschreibung stilistischer Charakteristika oder literarischer Darstellungsverfahren bemüht und ihm häufig ein Adjektiv voranstellt (‘offene Schreibweise’, ‘dokumentarische Schreibweise’, ‘feministische Schreibweise’, ‘phantastische Schreibweise’), was aber häufig das Resultat von „ad hoc Prägungen“ ist und „meist wenig zur terminologischen Präzisierung beiträgt“, zumal die Frage nach stilistischen Charakteristika zwangsläufig die Frage nach Komponentenkomplexionen berührt. Die Zitate ibid. <?page no="22"?> 18 thropologische Konstante anlegen lässt, die sowohl in unterschiedlichen kulturellen Artefakten als auch in der alltäglichen Kommunikation realisiert werden kann. Eine einschlägige Arbeit mit vergleichbarer Orientierung stammt von Renate Lachmann. Sie spricht von einer Schreibweise bzw. einem Modus des Schreibens, den sie konstitutiv für die Genese phantastischer Texte und deren genremäßigen Ausprägungen erachtet. Das Phantastische entsteht damit durch eine spezifische Verwendung von Sprache, die einen entrückten Realitätsbezug erkennen lässt. 45 Dieser ergibt sich durch den oft impliziten Verweis auf ausgeschlossene, marginalisierte, häretische, kontrafaktische, irreale oder vergessene Diskurse einer Kultur und manifestiert sich stilistisch in der „Irrealisierung von Sprache.“ 46 Der narrativen Ausprägung der phantastischen Schreibweise liegt auch hier - im Anschluss an vorangegangene gattungstheoretische Ansätze 47 - eine Zwei-Seins-Sphäre auf histoire-Ebene des Textes zugrunde, von der die ausgeschlossene, zunächst unsichtbare Seite in die vormals gültige „einsickert [und] das Sichtbare in andere Deutungsansichten umbiegt.“ 48 Projekte phantastischen Schreibens situieren sich sodann innerhalb von drei zentralen kulturellen Aspekten: dem anthropologischen, dem kulturologischen und dem ontologischen. 49 Im Zeichen des 45 R. Lachmann: Erzählte Phantastik - Zu Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte, p. 13. 46 Ibid., p. 12. Gemeint sind „sprachliche Erzeugnis[se] einer nicht ausschließlich realitätsbezogenen Einbildungskraft“, wie die Rede des Wahnsinns, die Traumrede sowie die ‘kühne Metapher’. Cf. Harald Weinrich: "Semantik der kühnen Metapher", in: Anselm Haverkamp ed.: Theorie der Metapher, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983, pp. 316-339. 47 Lachmann beruft sich in erster Linie auf Pierre-Georges Castex: Le conte fantastique en France de Nodier à Maupassant, Paris: Corti 1951, L. Vax: "Die Phantastik" sowie R. Caillois: "Das Bild des Phantastischen", die allesamt mehr oder weniger deutlich von einer Zwei-Seins-Sphäre ausgehen. Hier zeigt sich, dass der ‘Minimalkonsens’ der Phantastikforschung bereits hinlänglich akzeptiert ist. 48 R. Lachmann: Erzählte Phantastik - Zu Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte, p. 12. 49 Ähnlich argumentieren Marianne Wünsch und Christian Wehr, auf die sich Lachmann nicht bezieht. Wünsch sieht das Phantastische in Abhängigkeit von zeitgenössischen Wirklichkeitskonzepten, die sie fundamentalontologische Basispostulate nennt. Ihre Verletzung stelle ein Ereignis im Sinne der Raumsemantik nach Jurij Lotman dar. Cf. M. Wünsch: Die fantastische Literatur der frühen Moderne - Definition, denkgeschichtlicher Kontext, Strukturen. Wehr hingegen begreift kulturelles Wissen nicht als „inhaltsgebundene Hierarchie isolierbarer Erkenntnis- und Realitätsbereiche“, sondern in Anlehnung an Foucault als „archäologische Tiefenschicht der ‘codes fondamentaux d’une culture’, welche als Ermöglichungsbedingungen jeder Erkenntnis das Wissen einer Epoche positiv definieren und zugleich in seinen Grenzen abstecken.“ Was Wünsch als ein Schwanken zwischen Erklärungsbedürftigkeit (Objektebene, histoire) und Erklärungsverweigerung (Metaebene, discours) beschreibt, fasst Wehr sodann unter dem Begriff der „gattungsspezifischen Ambiguitäten“ der Phantastik zusammen und behandelt diese im Rahmen seiner Studie „als ästhetische Inszenierung von Widersprüchen und Aporien [...], die der diskursiven Ordnung des 19. Jahrhunderts selbst schon im- <?page no="23"?> 19 Phantastischen erhalten alle drei Aspekte einen spekulativen und experimentellen Charakter. Menschenbilder, kulturelle Entwürfe und Ontologien werden spekulativ hinterfragt oder innerhalb einer experimentellen Prüfung literarisch neu modelliert. Grundlegend hierfür ist ein weiterer Gedanke, demgemäß das Fremde einer Kultur sowohl zur Bedrohung als auch zur „Verheißung von Alterität“ 50 werden kann. Gleichwohl spricht Lachmann dem Komischen in seiner Eigenschaft, Vernunftkategorien durcheinander zu bringen, eine dem „Phantasma analoge Funktion“ 51 zu. Das phantastische (und das komische) Projekt dient mitunter dazu, die Kultur mit ausgeschlossenen Eigenanteilen experimentell zu konfrontieren, um dominantes Wissen als defizitär auszustellen. Kulturen erfahren so die Notwendigkeit epistemologischen Wandels und lassen sich womöglich zur Erarbeitung von neuem Wissen provozieren. Diese Sichtweise erlaubt der Verfasserin einen genuin transhistorischen Ansatz, in den sowohl Texte einfließen, die der klassischen (Todorov’schen) Phantastik des 19. Jahrhunderts vorangehen, als auch solche, die diese Entwicklung modifizierend fortsetzen. Romantik, Postromantik, aber auch Realismus, Moderne, Postmoderne sowie schließlich die lateinamerikanische Neophantastik lassen sich in dieser Blickrichtung allesamt nach mehr oder weniger stark ausgeprägten Momenten phantastischer Befragung dominanter Wissensordnungen untersuchen. Die Überlegungen von Oliver Jahraus und Stefan Neuhaus sind an dieser Stelle anschlussfähig. 52 Sie fragen - in Anlehnung an Renate Lachmann - noch allgemeiner danach, welche Aufgabe phantastischer Literatur im Rahmen einer Kultur zukommt, und attestieren ihr sodann aufgrund ihrer Doppelstruktur das Potenzial, „die Frage nach dem Verhältnis von Wirklichkeit und den Erfahrungen, die Wirklichkeit transzendieren“ 53 , zu stellen. Da aber als Wirklichkeit immer nur das gilt, was sich eine Kultur zu gegebenem Zeitpunkt als Wirklichkeit vorschreibt, darf das vermehrte Auftreten phantastischer Literatur als Anzeichen dafür gewertet werden, dass eine Kultur zunehmend Abweichungen von geltenden Wirklichkeitskonstruktionen wahrnimmt. Dort also, wo Wirklichkeit im Rahmen literarischer Inszenierungen explizit mit Erfahrungen konfrontiert wird, die Wirklichkeit transzendieren, wo - erneut mit Renate Lachmann - das Unsichtbare „das Sichtbare in andere Deutungsansichten umbiegt“ 54 , wo - nach jüngeren und plizit sind.“ Cf. C. Wehr: Imaginierte Wirklichkeiten - Untersuchungen zum 'récit fantastique' von Nodier bis Maupassant, p. 14 sq. 50 R. Lachmann: Erzählte Phantastik - Zu Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte, p. 46. 51 Ibid., p. 13. 52 Cf. O. Jahraus, S. Neuhaus: Der fantastische Film - Geschichte und Funktion in der Mediengesellschaft. 53 Ibid., p. 7. 54 R. Lachmann: Erzählte Phantastik - Zu Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte, p. 12. <?page no="24"?> 20 jüngsten Phantastikdefinitionen - das „als natürlich Verstandene“ einem „als übernatürlich Erlebtem“ 55 gegenübersteht, darf vermutet werden, dass ehemals stabile Weltbilder mit anderweitigen Entwicklungen endgültig nicht mehr Schritt halten können. In diesem Licht besehen, lässt sich phantastisches Schreiben als Indiz dafür werten, dass „[o]ffizielle[s] Weltbild und inoffizielle Welterfahrung“ 56 auseinander getreten sind. Ein vergleichbares Moment kennt die abendländische Kultur aus der Frühen Neuzeit. Hier setzt die Erfindung des Buchdrucks einen Säkularisierungsschub in Gang, auf den die Literatur mit der Pluralisierung möglicher Welten und einer verstärkten Arbeit am Sujet reagiert. 57 Auslöser einer zweiten, vergleichbaren Repräsentationskrise ist ab Mitte des 19. Jahrhunderts die massive Beschleunigung gesellschaftlicher Kommunikation durch technische Medien. Literatur und Kunst reagieren hierauf mit dem „Ausstieg aus der Mimesis“ 58 , der Rarefizierung möglicher Welten sowie der Pluralisierung welterzeugender Verfahren. Die Veränderungen, die sich in der abendländischen Kultur um die Jahrhundertwende bemerkbar machen, gehen, neben anderen Faktoren, in weiten Teilen auf die operativen Eigenschaften neuartiger Kommunikationstechnologien selbst zurück. Dieser Gedanke entspricht letztlich der Generalthese der medienwissenschaftlichen Arbeiten aus dem Umkreis der kanadischen Schule ab den 1960er Jahren. Autoren wie Harold A. Innis, Eric A. Havelock, Jack Goody, Ian Watt, Walter J. Ong und Marshall McLuhan gehen nahezu geschlossen davon aus, dass Medientechnologien Gesellschaftsstrukturen nachhaltig prägen und geläufige kulturelle und soziale Praktiken unter Anpassungszwang stellen. 59 Vor dem Hintergrund medientheoretischer Über- 55 A. Dunker: "Fantastische Literatur", p. 240. 56 Robert Weimann: Shakespeare und die Macht der Mimesis - Autorität und Repräsentation im elisabethanischen Theater, Berlin/ Weimar: 1988, p. 171. Cf. auch id.: Authority and Representation in Early Modern Discourse, Baltimore u.a.: John Hopkins Univ. Press 1996. 57 Cf. in diesem Zusammenhang insbesondere Michael Giesecke: Der Buchdruck in der Frühen Neuzeit - Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. Zur Arbeit am Sujet cf. Andreas Mahler: "Welt Modell Theater - Sujetbildung und Sujetwandel im englischen Drama der Frühen Neuzeit", Poetica - Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaften 30 (1998), 1-45. 58 Andreas Mahler: "Skepsis - Imagination - und ’Kultur’ - Zu Genealogie und Funktion des Literarischen in Früher Neuzeit", Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 33 (2008), 119-140, hier 140. 59 Dieter Mersch fasst diesen Gedanken wie folgt zusammen: „Medien ‘be-dingen’ und verändern Kulturen; sie prägen sich in sie ein, arbeiten an ihrer Gestalt mit und erweisen sich damit als wesentliche Faktoren in der Geschichte der Menschheit.“ Siehe id.: Medientheorien zur Einführung, Hamburg: Junius 2006, p. 95. Einschlägige Werke im Umfeld der Toronto-Schule sind bis heute Harold Adams Innis: Empire and Communications, Oxford: Clarendon Press 1950 sowie Harold Adams Innis: Kreuzwege der Kommunikation - Ausgewählte Texte, Wien: Springer 1997. Ebenso Eric Alfred Havelock: Preface to Plato, Cambridge Massachusetts: Belknap 1963, Jack Goody, Ian Watt: "The Consequences of Literacy", Comparative Studies in Society and History 5 <?page no="25"?> 21 legungen erscheint das Phantastische zunächst als Symptom, sodann als Versuch der literarischen Inszenierung und Bewältigung einer tiefgreifenden Repräsentationskrise, die in erster Linie eine Medienkrise ist. Dieser Gedanke soll im Folgenden erörtert werden. 2.2 Medienkrise Spätestens mit dem Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert macht sich bemerkbar, dass Kommunikation mit der Umstellung der abendländischen Gesellschaft auf funktionale Differenzierung als hochgradig kontingent empfunden wird. Kommunikation, so Peter Fuchs, wird insofern irritiert, als immer mehr Anlässe beobachtet werden, bei denen sie nicht sicher sein kann, dass die kommunikativen Anschlussereignisse in den Spielraum erwartbarer Ereignisse fallen [...]. 60 Diesen Umstand hat Gotthard Günther als Polykontexturalität beschrieben. 61 Er wird in aller Deutlichkeit zuerst in der Romantik registriert und reflektiert. Seinen kultursemantischen Niederschlag findet er im horror plenitudinis 62 , der vom Wegfall traditioneller Legitimations- und Beobachtungsinstanzen flankiert wird: „Weder Gott noch Natur [...] können garantieren, dass kommunikative Anschlüsse ‘rahmenfest’ erwartbar sind und nicht durch abweichende Beobachtungen durchkreuzt werden.“ 63 Der empfundene Schwund eines großen Ganzen, einer sinnvollen Verklamme- (1963), 304-345, Walter J. Ong: Orality and Literacy - The Technologizing of the Word, London u.a.: Routledge 1993, Marshall McLuhan: The Gutenberg Galaxy - The Making of Typographic Man, Toronto: Univ. of Toronto Press 2000. Weiterhin einschlägig in diesem Zusammenhang Elizabeth Eisenstein: The Printing Revolution in Early Modern Europe, Cambridge: Cambridge Univ. Press 1993. 60 Peter Fuchs: Moderne Kommunikation - Zur Theorie des operativen Displacements, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, p. 84. Cf. in diesem Zusammenhang ebenso Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft - Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2010. 61 Gotthard Günther: "Wirklichkeit als Poly-Kontexturalität", in: Gotthard Günther ed.: Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Hamburg: Meiner 1979, pp. 283-306. Zur Repräsentation in der Krise cf. ebenso Kerstin Behnke: Art. "Repräsentation", in: Joachim Ritter, Karlfried Gründer edd.: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. VIII, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1992, pp. 790-858, pp. 846-853. 62 Gemeint ist ein „Entsetzen vor der nicht mehr zu greifenden und zu begreifenden, damit die Welt dem Menschen entfremdenden Fülle des Wissens“, das letztlich in „Sprachskepsis, Sprachverzeiflung und Sprachverfluchung“ mündet. Cf. Wolfgang Frühwald: "Die Idee kultureller Nationenbildung und die Entstehung der Literatursprache in Deutschland", in: Otto Dann ed.: Nationalismus in vorindustrieller Zeit - Beiträge eines Forschungskolloquiums im April 1983, München 1986, pp. 129-141, p. 130 sq. Dass eine so gesteigerte Fülle immer auch Effekt einer Proliferation von Medienangeboten ist, wollen die hier angestellten Überlegungen zeigen. 63 P. Fuchs: Moderne Kommunikation - Zur Theorie des operativen Displacements, p. 85. <?page no="26"?> 22 rung, eines archimedischen Punkts oder „eines in sich stimmigen Kontextes“ 64 , erzeugt die Vorstellung einer fragmentarischen Wirklichkeit, die nur partiell und vereinzelt, nie aber als ganze ansichtig wird. 65 Die Industrielle Revolution und der Innovationsschub ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschärfen dieses Problem. Auf der einen Seite scheinen Photographie, Schreibmaschine, Telegraphie, Film und Eisenbahn dank ihrer technischen ‘Überlegenheit’ die Lösung des Problems zu sein. Die Fähigkeit, Komplexität effizienter und schneller zu reduzieren, macht sie zu einheitsstiftenden Heilsbringern in einer zunehmend partikularen Ordnung. Dass die neuen Medien in der abendländischen Kultur mit rasanter Geschwindigkeit und nahezu flächendeckend assimiliert wurden, ist daher alles andere als verwunderlich. 66 Auf der anderen Seite aber sind es gerade die stille Akzeptanz und scheinbar selbstverständliche Implementierung der neuen Technologien in gesellschaftliche Prozesse, die zur Erfahrung einer Krise führen. Ein vergleichbares Moment haben Jan und Aleida Assmann am Beispiel der Schrift identifiziert. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen bildet die These, dass Schrift bestehende kulturelle Gedächtnisräume immer dann neu kartographiert und um noch nicht vorhandene Funktionsbereiche erweitert, wenn sie dank neuer Techniken ‘wendiger’ und ihr Gebrauch geläufiger wird. 67 ‘Wendigkeit’ und Geläufigkeit sind für bestehende Macht- und Organisationsstrukturen zunächst von Vorteil, da sie einen größeren Verbreitungs- und Integrationsradius ermöglichen. Rein orale Kommunikation ist hingegen auf die Kopräsenz und Kolokalität der Partner sowie auf „Voll- 64 Andreas Mahler: "Kontextorientierte Theorien", in: Matías Martínez ed.: Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte, Stuttgart/ Weimar: Metzler 2011, pp. 115- 125, p. 123. 65 Cf. erneut P. Fuchs: Moderne Kommunikation - Zur Theorie des operativen Displacements, pp. 86-92. Zur Fragmentliteratur als Inszenierung und mögliche ästhetische Bewältigung cf. Franz Norbert Mennemeier: "Fragment und Ironie beim jungen Friedrich Schlegel - Versuch der Konstruktion einer nicht geschriebenen Theorie", in: Klaus Peter ed.: Romantikforschung seit 1945, Königstein im Taunus: Verlagsgruppe Athenäum - Hain - Scriptor - Hanstein 1980, pp. 229-250 sowie Gerhard Neumann: Ideenparadiese - Untersuchungen zur Aphoristik von Lichtenberg, Novalis, Friedrich Schlegel und Goethe, München: Fink 1976. 66 Ein technikgeschichtlicher Überblick findet sich bei Friedrich Kittler: Optische Medien - Berliner Vorlesung 1999, Berlin: Merve-Verlag 2002. Wenngleich kritische Stimmen zahlreich waren, so muss vom technikgeschichtlichen Standpunkt von einer breiten Akzeptanz ausgegangen werden. Als Beispiel einer euphorischen Begrüßung telematischer Kommunikation liest Jörg Dünne die Calligrammes von Guillaume Apollinaire. Cf. Jörg Dünne: "Vorwort", in: Jörg Dünne, Hermann Doetsch, Roger Lüdeke edd.: Von Pilgerwegen, Schriftspuren, Blickpunkten, Würzburg: Königshausen und Neumann 2004, pp. 9-20. 67 Aleida Assmann, Jan Assmann: "Schrift und Gedächtnis", in: Aleida Assmann, Jan Assmann edd.: Schrift und Gedächtnis - Beiträge zu einer Archäologie der literarischen Kommunikation, München: Fink 1983, pp. 265-284, p. 271. <?page no="27"?> 23 zug und Mitvollzug“ 68 der Rede angewiesen. Dies ist für bestehende Macht- und Organisationsstrukturen insofern von Nachteil, als situationsgebundene Kommunikation nur begrenzte Gruppen bilden kann. 69 Der räumliche und zeitliche Horizont einer rein oralen Kultur ist gegenüber demjenigen einer Schriftkultur verschwindend klein. Dennoch liegt der Vorteil von oraler Kommunikation darin, dass sie mit größerer Wahrscheinlichkeit abgenommen wird. Die Gleichzeitigkeit von Sender und Empfänger ermöglicht zwangsläufig eine wesentlich höhere Intensität der Identifikation, als dies bei der schriftbasierten, ‘zerdehnten Sprechsituation’ 70 der Fall ist. Damit erschließt die ‘wendigere’ Schrift zwar einen größeren Bereich. Sie erkauft jedoch die „Sprengung der Partizipationsgrenzen“ um den „Preis geringerer Identifikationskapazität“. 71 Vereinfacht gesagt: Der Raum, den das ‘wendigere’ Medium ausdehnt, wird zwar immer größer, möglicherweise jedoch fremder. Dieser Gedanke lässt sich auf die neuen Medien übertragen. Zunächst ist festzustellen, dass sich die Apparaturen und Materialien, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts zu bestehenden Techniken hinzutreten, vor allem durch Geschwindigkeit auszeichnen. Die schnelleren (elektrischen, photographischen, typographischen) Möglichkeiten der Aneignung und Repräsentation von Welt insinuieren gegenüber der geläufigen Schriftpraxis nicht eine zerdehnte, sondern eine zunehmend gestraffte Sprechsituation. Gemessen an bestehenden Kommunikationstechniken tragen sie daher Züge von Oralität. Walter J. Ong spricht in diesem Zusammenhang von einer nach der Frühen Neuzeit wiedereintretenden sekundären Oralität, zumal die neuen Medien spezifische Merkmale der Psychodynamik oraler Kommunikation tragen. 72 Für die medientheoretischen Überlegungen Marshall McLuhans ist diese Eigenschaft zentraler Bezugspunkt. So markiert die Erfindung des Telegraphen (ab 1833) den Beginn dessen, was McLuhan global village oder global network nennt und als Utopie einer weltumspannenden Vernetzung anlegt. Die neuen Medien ‘durchsättigen’ nicht nur die bestehende Gesellschaft, sondern verhelfen ihr zu einer völlig neuen Form. Die elektrische „Nachbarschaft und Augenblickskommunikation im Weltmaßstab, die die Zeiten zusammenschmelzen lässt und Ferne in Nähe verwandelt“ 73 , trägt für McLuhan deutlich Züge von Oralität: 68 Ibid., p. 274. 69 Cf. in diesem Zusammenhang H. A. Innis: Kreuzwege der Kommunikation - Ausgewählte Texte, p. 100 sq. 70 Konrad Ehlich: "Zum Textbegriff", in: Annely Rothkegel, Barbara Sandig edd.: Text, Textsorten, Semantik - Linguistische Modelle und maschinelle Verfahren, Hamburg: Buske 1984, pp. 9-25. 71 Beide Zitate A. Assmann, J. Assmann: "Schrift und Gedächtnis", p. 275. 72 W. J. Ong: Orality and Literacy - The Technologizing of the Word. 73 D. Mersch: Medientheorien zur Einführung, p. 124. <?page no="28"?> 24 Ours is a brand-new world of allatonceness. ‘Time’ has ceased, ‘space’ has vanished. We now live in a global village...a simultaneous happening. We are back in acoustic space. 74 [Herv. Verf.] Folglich erscheint das gruppenbildende Identifikationspotenzial elektrisch vernetzter Kommunikation höher: „We have begun again to structure the primordial feeling, the tribal emotions from which a few centuries of literacy divorced us.“ 75 Gedruckte Schrift, so McLuhan, habe durch die Eigenschaft, Gleichzeitiges in ungleichzeitige Sequenzen zu übersetzen, letztlich dazu geführt, „thought“ und „action“ zu separieren. Elektronische Vernetzung hingegen schaffe Nähe und erleichtere die Partizipation durch radikal erhöhte Geschwindigkeit und die instantane Wechselwirkung von allen „Umwelt- und Erfahrungsfaktoren“ 76 . Die neue, schnellere elektronische Kommunikation verstärkt das Gefühl von Situationsgebundenheit und rückt gegenüber geläufigen und internalisierten Schreib- und Lesepraktiken wie der stillen Lektüre die Kopräsenz von Sender und Empfänger in den Vordergrund. Ebenso wird das neue optische Medium Kino von Anfang an als Massenphänomen wahrgenommen, das mit enormer gemeinschaftsstiftender Wirkung verbunden ist. 77 Das Identifikationspotenzial der neuen Medien ist vor diesem Hintergrund enorm. Was schneller vermittelt wird, wird bereitwilliger abgenommen und mit höherer Wahrscheinlichkeit als Wirklichkeitserfahrung verbucht, da es sich in einem geringeren zeitlichen Nachhinein präsentiert. Erkauft nach Jan und Aleida Assmann die Schrift die „Sprengung der Partizipationsgrenzen“ um den „Preis geringerer Identifikationskapazität“ 78 , so verbinden die operativen Eigenschaften der neuen Apparate und Materialien die Sprengung der Partizipationsgrenzen mit einer Steigerung des Identifikationspotenzials. In dem Maße jedoch, in dem technische Medien ihr Identifikationspotenzial durch Geschwindigkeit erhöhen, verringern sie dieses aufgrund ihrer Materialität. Auf diesen Zusammenhang hat besonders deutlich Friedrich Kittler 74 Marshall McLuhan, Quentin Fiore: The Medium is the Massage - An Inventory of Effects, Corte Madera, CA: Gingko Press 1967, p. 63. Noch radikaler formuliert dies Vilém Flusser: „Die gegenwärtige Kommunikationsrevolution ist im Grunde nichts anderes als die Rückkehr zu einer ursprünglichen Situation, welche durch den Buchdruck und die allgemeine Alphabetisierung durchbrochen und unterbrochen wurde. Wir sind dabei, zu in einem Normalzustand zurückzukehren, welcher nur 400 Jahre lang durch den Ausnahmezustand, genannt ‘Neuzeit’, unterbrochen war.“ Id.: Kommunikologie, Frankfurt am Main: Fischer 1998, p. 53. 75 M. McLuhan, Q. Fiore: The Medium is the Massage - An Inventory of Effects, p. 63. 76 Zitiert nach D. Mersch: Medientheorien zur Einführung, p. 123. Das Original bei M. McLuhan, Q. Fiore: The Medium is the Massage - An Inventory of Effects, p. 63. 77 Paradigmatisch in diesem Zusammenhang noch immer Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935), Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000. 78 Beide Zitate Aleida Assmann, Jan Assmann: "Schrift und Gedächtnis", p. 275. <?page no="29"?> 25 aufmerksam gemacht. Was sich bei McLuhan noch als Verheißung eines Goldenen Zeitalters darstellt, erhält hier pessimistischere Züge. Kittler verbindet das Ausmaß an Automatisierung im Medienverbund insofern mit negativen Folgen, als sich mechanisierte Kommunikation konsequent gegen subjektive Anteile versperrt. Diese würden zwar durch Pluralisierung und Funktionalisierung verschiedener Medienkanäle wie dem Kino oder dem Grammophon kompensiert, 79 aus der Schreibmaschinenschrift sei die ‘Seele’ jedoch für immer verschwunden. Vor ihrer Erfindung war es Leidenschaft des Lesens [...], zwischen den Buchstaben oder Zeilen eine Bedeutung zu halluzinieren: die sichtbare oder hörbare Welt romantischer Poetik. Und alle Leidenschaft des Schreibens war (nach E. T. A. Hoffmann) der Dichterwunsch, ‘das innere Gebilde‘ dieser Halluzination, mit allen ‘glühenden Farben und Schatten und Lichtern auszusprechen‘, um den ‘günstigen Leser‘, ‘wie ein elektrischer Schlag zu treffen‘. 80 Allein dem, so Kittler weiter, mache die Elektrizität selbst ein Ende. Denn indem alles, was bislang imaginiert werden musste - Erinnerungen und Träume, Tote und Gespenster -, nun technisch reproduzierbar sei, erübrige sich die Kraft des Halluzinierens bei Schreibern wie bei Lesern. 81 Imaginationen, Phantasien, Geister, Gespenster und Tote wandern ab in den Film und die Photographie. 82 Die Mechanisierung von Schrift durch die Schreibmaschine stellt damit den konsequenten Schritt einer Entsubjektivierung von Schriftlichkeit dar. Wenn der frühneuzeitliche Buchdruck ‘thought’ und ‘action’ separiert, so trennt die Schreibmaschine nichts weniger als die Seele von der Schrift: Im maschinengeschriebenen „Standardtext fallen Papier und Körper, Schrift und Seele auseinander“ 83 . Entwürfe von Subjektivität, so Kittler weiter, würden deswegen dem Film anvertraut, da er die Möglichkeit der (V)Erkennbarkeit 84 des eigenen Körpers im optischen Medium noch ersetzen könne. Schrift hingegen werde verstärkt in den Dienst der Informationsübertragung gestellt und dürfe daher nicht 79 Kittler bringt die drei dominanten Medien des angehenden 20. Jahrhunderts - Grammophon, Film und Schreibmaschine - mit der psychoanalytischen Begriffstrias Jacques Lacans in Verbindung und ordnet das Grammophon dem ‘Realen’, das Kino dem ‘Imaginären’ und die Schrift dem ‘Symbolischen’ zu. Cf. Friedrich Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin: Brinkmann & Bose 1986 80 Ibid. Die Zitate stammen aus Der Sandmann 1816 von E. T. A. Hoffmann: Fantasie- und Nachtstücke, ed. Walter Müller-Seidel, München: Europäischer Buchklub 1960, p. 343. 81 F. Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, p. 20 sq. 82 Cf. ebenso: F. Kittler: Optische Medien - Berliner Vorlesung 1999. Zum Zusammenhang von Tod und Photographie siehe Roland Barthes: La chambre claire - Note sur la photographie, Paris: Seuil 1987. 83 F. Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, p. 27. Zum Verlust der Sinnlichkeit der Schrift cf. id.: Aufschreibesysteme 1800, 1900, München: Fink 1987; darin vor allem Teil I sowie den Abschnitt zur Lautiermethode. 84 Cf. id.: Grammophon, Film, Typewriter, p. 29. <?page no="30"?> 26 mehr als „Ausdruck von Individuen oder als Spur von Körpern geträumt werden“ 85 . Dies hat weitreichende Folgen für geltende Vorstellungen von Wirklichkeit. Denn möglicherweise deckt sich die Widerständigkeit der Schrift gegen das Subjekt grundsätzlich mit dem Wirklichkeitsbegriff, den Hans Blumenberg mit dem angehenden 20. Jahrhundert verbindet. Galt Wirklichkeit seit der Frühen Neuzeit als „Resultat einer Realisierung, als sukzessiv sich konstituierende Verlässlichkeit“ 86 , die durch ein Subjekt als Garant der Ordnung vorgenommen werden konnte, so erweist sie sich nun als „Erfahrung von Widerstand“ oder „das dem Subjekt nicht Gefügige“ 87 . War das Subjekt mit Kittler vormals in der Handschrift als unverkennbarer Ausdruck von nackter Individualität jedem Adressaten offen sichtbar, so erlaubt die mechanische Schrift nicht mehr, Spuren von individueller Erregtheit oder geistiger Klarheit an der Oberfläche der Zeichen zu erkennen. Waren analoge Elemente von Sprache in handschriftlicher Wiedergabe noch an der Materialität der Signifikanten zu lesen, so eignen sich die optisch immer gleichen Zeichen nur mehr zur Reproduktion von digitalen Elementen, sprich: reiner Information. 88 Gemessen an der romantischen Aufwertung der Handschrift als „Ersatzsinnlichkeit“ 89 erweist sich die Maschinenschrift aufgrund der optischen Monotonie ihrer Signifikanten insofern als das dem ‘Subjekt nicht Gefügige’, als es sich ihm materiell nicht fügt. Die Maschinenschrift nimmt keine Rücksicht auf den Seelenzustand ihrer Benutzer. Wenngleich Blumenberg die Materialien und Apparate, die Subjektentwürfe ermöglichen oder verhindern, außen vor lässt, so scheint doch der Wirklichkeitsbegriff, den er für das 20. Jahrhundert entwickelt, auch für medienhistorische und medientheoretische Überlegungen anschlussfähig. Denn nun leistet das maschinelle Schreiben dem Subjekt Widerstand „und dies [...] in letzter Zuspitzung in der logischen Form des Paradoxes“ 90 . Letzteres womöglich deswegen, da ein Schreibakt, der sich als Ausdruck der Seele versteht, in maschineller Abfassung seine Seele nicht zum Sprechen bringen 85 Ibid. 86 Hans Blumenberg: "Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans", in: Hans Robert Jauß ed.: Nachahmung und Illusion, München: Verlag 1964, pp. 9-27, p. 12. Blumenberg beschreibt für das europäische Abendland vier verschiedene Wirklichkeitsbegriffe: (1) den antiken Wirklichkeitsbegriff der ‘momentanen Evidenz’, (2) die mittelalterliche Vorstellung einer von Gott ‘garantierten Realität’, (3) die frühneuzeitliche Vorstellung von Wirklichkeit als ‘Resultat einer Realisierung’ und schließlich die für das angehende 20. Jahrhundert sich durchsetzende Vorstellung von (4) Wirklichkeit als ‘Erfahrung von Widerstand’. 87 Ibid., p. 13 sq. 88 Zur Unterscheidung von analoger und digitaler Kommunikation cf. Paul Watzlawick, Janet Beavin Bavelas, Don Jackson: Pragmatics of Human Communication - A Study of Interactional Patterns, Pathologies, and Paradoxes, New York, NY: Norton 2011, p. 63. 89 F. Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, p. 25. 90 H. Blumenberg: "Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans", p. 14. <?page no="31"?> 27 kann und stattdessen eine andere, drucktypenspezifische ‘Seele’ zurückerhält. Ob diese noch die subjektiven Anteile enthält, die während des Schreibaktes hineingelegt wurden, kann nicht mit Sicherheit beantwortet werden. Was das Subjekt jedoch zur Selbstaufgabe an die Maschine zwingt, ist die Unmöglichkeit, sich mit ihr oder in ihr als Subjekt auszudrücken. Noch einmal ausführlich Blumenberg: Wirklichkeit ist hier das [...], was sich nicht als bloßes Material der Manipulation und damit der ständig umsteuerbaren Erscheinung unterwerfen lässt, was vielmehr in der Technisierung nur scheinbar und zeitweise in Dienst genommen worden ist, um sich dann in seiner überwältigenden Eigengesetzlichkeit und einer seine Erzeuger tyrannisierenden Mächtigkeit zu enthüllen als ein ‘factum brutum’, von dem nachträglich nur noch behauptet, aber nicht mehr vorgestellt werden kann, dass es aus einem freien und konstruktiven Prozess des Erdachtwerdens einmal hervorgegangen sein könnte. 91 Dies ist bei Blumenberg zwar nicht explizit auf die Maschinenschrift oder andere technische Medien bezogen, doch kann auch in ihrem Fall nur mehr behauptet werden, der Verfasser habe dies oder jenes bei der Betätigung der Apparate empfunden. Ein von der Subjektivität des Verfassers materiell abgelöster kommunikativer Akt steht damit stets unter erschwerten Anschlussmodalitäten, da man im Nachhinein - die romantische Vorstellung von subjektbefrachteter Handschriftlichkeit vorausgesetzt - nur mehr behaupten kann, der Text, das Photo, das Telegramm hätte anders verstanden werden müssen. In diesem Fall steht man gezwungenermaßen vor einer kommunikationslogischen Paradoxie, einem double bind. 92 2.3 Kafka, Borges, ‘Neophantastik’ An dieser Stelle gelangt man zurück zum Minimalkonsens der Phantastik: Indem phantastische Texte zwei inkompatible Angebote von Welt machen, sind sie aus kommunikationstheoretischer Perspektive double binds. Literarhistorisch sind letztere vor allem mit dem Namen Franz Kafkas verbunden, der von der lateinamerikanischen Literaturwissenschaft immer wieder als Gewährsmann neophantastischen Schreibens herangezogen wurde. 93 In seinen Erzähltexten bilden oft technische Medien - vor allem Schreibwerkzeuge - das Ausgangsmoment für eine grundlegende Verunsicherung. So 91 Ibid. 92 Der Begriff geht zurück auf Paul Watzlawick. Cf. hierzu id.: "Wirklichkeitsanpassung oder angepaßte ‘Wirklichkeit’? ", in: Heinz von Foerster ed.: Einführung in den Konstruktivismus, München/ Zürich: Piper 2012, pp. 89-107 sowie P. Watzlawick, J. B. Bavelas, D. Jackson: Pragmatics of Human Communication - A Study of Interactional Patterns, Pathologies, and Paradoxes. 93 Cf. J. Alazraki: En busca del unicornio - Los cuentos de Julio Cortazár - Elementos para una poética de lo neofantástico, insb. pp. 35-41. <?page no="32"?> 28 sind Kafkas Räume häufig mit Bergen von Papier und Akten gefüllt, die die Unordnung, die sie verhindern sollen, nur vergrößern. Den Figuren, denen die Schriftstücke sozialen Rang, Beruf, Funktion, Identität, ja Subjektstatus sichern sollen, stellen sie all dies nur mehr in Aussicht. Auch einen übergeordneten Zusammenhang können sie nicht mehr gewährleisten. Stattdessen sind sie der unendlichen Verlängerung eines Prozesses dienlich, an dessen Ende das Versprechen von Ordnung steht, nie aber eingelöst wird. Damit sind Kafkas Welten - neben anderen Faktoren - geprägt von einer tiefgreifenden medialen Skepsis, die in erster Linie die Schrift in den Blick nimmt, neuere Apparaturen und Techniken jedoch nicht unberührt lässt. 94 Anstatt Komplexität zu reduzieren, wirken die Medien bei Kafka komplexitätssteigernd. Sprache ist hiervon nicht unbenommen. So ist vor allem die Rede der Figuren durchweg paradoxal strukturiert. In Der Proceß werden double binds beispielsweise durch die Figur des Advokaten als Machtinstrument verwendet. Als der Protagonist Josef K. seinem Anwalt das Mandat entziehen möchte, ruft dieser den eingeschüchterten Block aus dem Nebenzimmer, um ihn vor den Augen seines Mandanten zu demütigen: „Block hier? “ fragte er [der Advokat]. Diese Frage gab Block, der schon eine große Strecke weitergerückt war, förmlich einen Stoß in die Brust und dann einen in den Rücken, er taumelte, blieb tief gebückt stehn und sagte: „Zu dienen.“ „Was willst Du? “ fragte der Advokat, „Du kommst ungelegen.“ „Wurde ich nicht gerufen? “ fragte Block, mehr sich selbst als den Advokaten, hielt die Hände zum Schutze vor und war bereit wegzulaufen. „Du wurdest gerufen“, sagte der Advokat, „trotzdem kommst Du ungelegen.“ Und nach einer Pause fügte er hinzu: „Du kommst immer ungelegen.“ 95 Der Advokat adressiert den demütigen Block asymmetrisch durch das Aufbauen von kommunikativen Widerständen. Block wird zwar beim Namen genannt, kann sich unter diesem Namen aber nicht äußern. Er könnte bestenfalls zwei oder mehrere Antworten gleichzeitig wählen, was aber nur mehr deutlich macht, dass sozial ausgerichtetes Verhalten unter derartigen Bedingungen unmöglich ist. Eine soziale Identität wird durch die Form der Anrede, sprich: die Mitteilung zwar in Aussicht gestellt. Der richtige kommunikative Anschluss ist jedoch strukturell nicht vorgesehen. Jede Antwort, die Block wählt, ist genauso richtig wie falsch. Weder kann der Gedemütigte seine eindeutige Stellung in der komplexen Hierarchie der Prozessordnung ausmachen noch darf er jemals auf ein Urteil hoffen, das ihn aus seiner Lage befreit. Nicht zufällig verteidigt er verzweifelt seinen Status als ‘Herr’ gegenüber K., der ihn zuvor wegen seiner Unterwürfigkeit kritisierte: 94 Wie beispielsweise das Telephon in Das Schloss (entstanden 1922) oder die Exekutionsmaschine aus In der Strafkolonie (entstanden 1914). 95 Franz Kafka: Der Proceß, ed. Malcolm Pasley, Berlin: S. Fischer 1990, p. 259 sq. <?page no="33"?> 29 „Sie sind kein besserer Mensch als ich, denn Sie sind auch angeklagt und haben auch einen Proceß. Wenn Sie aber noch ein Herr sind, dann bin ich ein ebensolcher Herr, wenn nicht gar ein noch größerer. Und ich will auch als ein solcher angesprochen werden.“ 96 Die Tatsache, dass Block seiner Situation nicht entkommt und den Advokaten geradezu wie einen Gott verehrt, unterstreicht einmal mehr die Schwierigkeiten, die sich aus den doppelt- und mehrfach kodierten kommunikativen Offerten ergeben. Endgültiger, zuverlässiger Sinn lässt sich unter derartigen Bedingungen nicht feststellen, da die Äußerungsinstanz stets behaupten kann, die Mitteilung hätte anders verstanden werden müssen. Folglich bleibt die Frage, wie der Prozess auf histoire-Ebene oder als literarisches Werk zu bewerten ist, ja, was er ist, bis zum Schluss offen. Weder Figuren, Erzähler noch Autor wollen oder wissen darauf eine endgültige Auskunft zu geben. Dies wird als formgebendes Prinzip auch in materieller Hinsicht greifbar. Denn angesichts der kommunikationslogischen Paradoxien, die Kafka inszeniert, gehört die Tatsache, dass seine Romane Fragmente geblieben sind, zum Programm. Als schriftliche Kommunikationsofferten sind sie selbst double binds, die nicht nur Subjekte auf figuraler Ebene zum Scheitern bringen, sondern die interpretierende Tätigkeit verlagern, sie „anheizen und gleichzeitig hintertreiben, subvertieren und vor allem: immer wieder verkomplizieren“ 97 . Einen solchen Effekt hat Borges im Rahmen seiner Kafka-Rezeption immer wieder als stilbildend für das eigene Schreiben profiliert. 98 Am deut- 96 Ibid., p. 261. 97 Cf. dazu noch einmal O. Jahraus: Kafka - Leben, Schreiben, Machtapparate, p. 67. 98 Zur Rezeptionsgeschichte Kafkas in Lateinamerika siehe Julieta Yelin: "Kafka en Argentina", Hispanic Review 78 (2010), 251-273. Kafkas Texte erscheinen in Argentinien ab Mitte der 1930er-Jahre. Ihre Verbreitung und ihr Echo verdanken sie vor allem der kritischen Rezeption in der Zeitschrift Sur (erstmals ab 1936), ferner durch die von Ezequiel Martínez Estrada verfassten Artikel in La Nación, beides etwa zwischen 1944 und 1960, weiterhin der systematischen Übersetzungsarbeit und Veröffentlichung durch den Verlag Emecé (ab 1949) und der ebenfalls von Estrada 1967 herausgegebenen, gebundenen Ausgabe selbst verfasster Artikel zu Kafka. Schließlich finden die Texte Kafkas ein breites Echo bei Borges, der über sie in La Prensa, La Nación und El Hogar schreibt. Cf. hierzu Martínez Estrada Ezequiel ed.: En torno a Kafka y otros ensayos, Barcelona: Seix Barral 1967 sowie Borges’ Essay "Kafka y sus precursores" (1951) cf. id.: Obras completas, Bd. II (1952-1972), ed. María Kodama, Buenos Aires: Emecé 2009, pp. 88-90. Cf. ebenso J. Alazraki: En busca del unicornio - Los cuentos de Julio Cortazár - Elementos para una poética de lo neofantástico. Letzterer räumt Kafka eine besondere Stellung in der Vorbereitung der Neo-Phantastik ein. Eines ihrer Hauptanliegen sei die Reflexion revolutionärer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und Entdeckungen, die die Vorstellung von Wirklichkeit nachhaltig geprägt hätten. So zum Beispiel das Bohr’sche Atommodell, die Relativitätstheorie oder die Heisenberg’sche Unschärferelation. Letztere findet sich bei Blumenberg ebenfalls in Verbindung mit der Paradoxie. Indiz für Wirklichkeit als ‘Erfahrung von Widerstand’ seien „Aussagen wie die, dass das Spielen mit zwei einander ausschließenden Bildern schließlich den richti- <?page no="34"?> 30 lichsten äußert er sich diesbezüglich im Vorwort zur eigenen Übersetzung von Die Verwandlung (La metamorfosis, Buenos Aires 1938): Dos ideas - mejor dicho dos obsesiones - rigen la obra de Franz Kafka. La subordinación es la primera de las dos; el infinito, la segunda. En casi todas sus ficciones hay jerarquías y esas jerarquías son infinitas [...]. La crítica deplora que en las tres novelas de Kafka falten muchos capítulos intermedios, pero reconoce que esos capítulos no son imprescindibles. Yo tengo para mí que esa queja indica un desconocimiento esencial del arte de Kafka. El pathos de esas ‘inconclusas’ novelas nace precisamente del número infinito de obstáculos que detienen y vuelven a detener a sus héroes idénticos. Franz Kafka no las terminó, porque lo primordial era que fuesen interminables. ¿Recordáis la primera y más clara de las paradojas de Zenón? El movimiento es imposible, pues antes de llegar a B deberemos atravesar el punto intermedio C, pero antes de llegar a C, deberemos atravesar el punto intermedio D, pero antes de llegar a D... El griego no enumera todos los puntos, Franz Kafka no tiene qué enumerar todas la vicisitudes. Bástenos comprender que son infinitos como el Infierno. 99 Die Widerständigkeit der literarischen Welten Franz Kafkas steht Pate für eine Ästhetik des unendlichen Aufschubs oder einer „infinita postergación“ 100 , für die Borges das eleatische Paradoxon als Sinnfigur bemüht. 101 Der ‘regressus in infinitum’, den es beim denkenden Subjekt auslöst, zielt auf denselben schwindelerregenden Effekt wie die sprachlichen Verfahren Kafkas. Die angestrebte „Verunsicherung rationaler Welterkenntnis“ 102 - wie Alfred Blüher dies formuliert - ist dabei jedoch weniger die Folge mimetischer Setzungen als vielmehr das Resultat fortdauernder und offen ausgestellter Verweigerung eines endgültigen Sinns. Ideengeschichtlich entspricht dies der Geste radikal alterierender Skepsis. 103 Sie lässt sich fassen als asystemisches „suchendes Denken“ 104 , das Wissenspositionen konsequent mit Alternativen konfrontiert anstatt diese zu ratifizieren. Bezogen auf die Literatur entspricht eine solche Bewegung dem, gen Eindruck von einer bestimmten Realität geben könne (Heisenberg).“ H. Blumenberg: "Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans", p. 14. 99 J. L. Borges: Prólogos con un prólogo de prólogos, Buenos Aires: Torres Agüero 1977, p. 105. 100 Ibid., p. 104. 101 Borges hat sich in zahlreichen Essays intensiv mit dem eleatischen Paradoxon auseinandergesetzt. So zum Beispiel in "La perpetua carrera de Aquiles y la tortuga" oder "Avatares de la tortuga". Cf. id.: Obras completas, Bd. I (1923-1949), ed. María Kodama, Buenos Aires: Emecé 2009, pp. 244-248 et pp. 254-258. 102 Alfred Karl Blüher: "Paradoxie und Neofantastik im Werk von Jorge Luis Borges", in: Roland Hagenbüchle, Paul Geyer edd.: Das Paradox, Würzburg: Königshausen und Neumann 2002, pp. 531-549. 103 Cf. in diesem Zusammenhang Susanne Zepp: Jorge Luis Borges und die Skepsis, Wiesbaden: Franz Steiner 2003. 104 A. Mahler: "Skepsis - Imagination - und ’Kultur’ - Zu Genealogie und Funktion des Literarischen in Früher Neuzeit", 139. <?page no="35"?> 31 was Rainer Warning (mit Michel Foucault) als poetische Konterdiskursivität beschrieben hat. 105 Sie ereignet sich - anders als das skeptische Denken - im fiktiven Zeigfeld der Literatur, in dem das Hin und Her zwischen unterschiedlichen Positionen, ihre Proliferation, ihr steter Aufbau und ihre stete Zerstörung zum Spiel wird. Gewinnt dieses seit der Frühen Neuzeit zunehmend an Konturen, so wird es im Zug der hier skizzierten Medienkrise reflexiv eingeholt und selbst zum Gegenstand der Literatur. Mit anderen Worten: Vermochte Literatur Wissenspositionen spielerisch als kontingent auszustellen, so nimmt sie in einem weiteren Schub der Metaierung um 1900 ihr eigenes Verfahren selbst in den Blick. Sie wird „radikal intransitiv, alleinig konterdiskursiv“ 106 , zum Spiel mit dem Spiel. Dieser Entwicklung leistet die Pluralisierung von (technischen) Medienangeboten im 19. Jahrhundert zusätzlich Vorschub. Wurde Sinn bislang durch Sprache und Schrift zuverlässig verbürgt, so steht von nun an eine wachsende Zahl anderer Gerätschaften bereit, die einem einzigen Gegenstand zu einer Fülle unterschiedlicher Gestalten verhelfen können. Dies mündet in einen Topos medialer Unzulänglichkeit. Das Nebeneinander mehrerer, gleich-gültiger Zugriffe auf Welt führt zur Gewissheit, dass es keinen Apparat und kein Material mehr geben kann, mit dem sich eine einheitliche Welt herstellen lässt. Sprache und Schrift sind hiervon nicht unbenommen. Die Literatur reagiert auf diese Entwicklung mit dem „Ausstieg aus der Mimesis“, der Befreiung der Sprache von „jeglichen Objektbezügen“ 107 und alleiniger Konterdiskursivität. Wurde die Erfindung der Schrift in der Frühen Neuzeit mit der Pluralisierung möglicher Welten beantwortet, so folgt auf die Erfindung und Verbreitung technischer Medien (zusätzlich) die Pluralisierung welterzeugender Verfahren. 108 Dies ist die epistemologische und mediengeschichtliche Schwelle, die Borges und Cortázar mit ihren cuentos immer wieder aufs Neue umkreisen, um sie in all ihren Konsequenzen spielerisch auszuloten. Dabei interessieren ersteren vor allem die Auswirkungen einer solchen Entwicklung auf Sprache und Schrift. Versperren sich diese dem Subjekt, so gilt es, sie wieder für die ‘Seele’ zu öffnen, sprich: ihre sinnliche, ästhetische Dimension unabhängig von semantischen Zwängen erfahrbar zu machen. 109 Cortázar setzt dieses Spiel fort und dehnt es in einem weiteren Schritt aus auf die technischen Medien. Auch hier lädt die wechselseitige Bespiegelung unterschiedlicher Zugriffe auf Welt ein zur 105 Cf. Rainer Warning: "Poetische Konterdiskursivität - Zum literaturwissenschaftlichen Umgang mit Foucault", in: Id.: Die Phantasie der Realisten, München: Fink 1999, pp. 313- 345. 106 A. Mahler: "Skepsis - Imagination - und ’Kultur’ - Zu Genealogie und Funktion des Literarischen in Früher Neuzeit", 140. 107 Beide Zitate ibid. 108 Cf. Andreas Mahler: "Narrative Vexiertexte - Paradigmatisches Erzählen als Schreiben ohne Ende", Deutsche Vierteljahreszeitschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 3 (2011), 393-410, 393 sq. 109 Zu Borges’ Verständnis von Sprache siehe Kap. 3.1 dieser Arbeit. <?page no="36"?> 32 Reflexion über Medialität. Inwieweit das literarische Spiel mit Schrift und anderen Medien, das Borges und Cortázar betreiben, die Signatur des Phantastischen trägt, wollen die folgenden Überlegungen zeigen. 2.4 Medienphantastik bei Borges und Cortázar Anhand der kritischen Schriften von J. L. Borges und Julio Cortázar wird erkennbar, dass das Phantastische nicht primär auf dargestellte Welten bezogen ist, sondern auf welterzeugende Verfahren, Materialien und technische Medien. Beide Autoren verbinden mit dem Begriff zunächst einen umfassenden und tiefer gehenden Zugang zur Realität. In einem Interview äußert sich Borges diesbezüglich wie folgt: Podría decirse que la literatura fantástica es casi una tautología, pero toda literatura es fantástica. [...] La segunda parte del Quijote es deliberadamente fantástica [Herv. Verf.]; ya el hecho de que los personajes de la segunda parte hayan leído la primera es algo mágico, o al menos lo sentimos como mágico. 110 Für Borges bedeutet Phantastik zunächst allgemein den Bezug von Literatur zur Realität. Im engeren Sinne sei jedoch ‘ausgewiesen’ (oder reflexiv) phantastisch, dass der Titelheld des zweiten Teils von Don Quijote und sein Gefährte die Trennung von Literatur und Leben auf magische Weise überwinden. Literarisch wird dies in einer narrativen Metalepse inszeniert. Sie zwingt einerseits dazu, zwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden, hebt andererseits aber diese Unterscheidung ‘magisch’ auf. 111 Sie stellt damit einen außergewöhnlichen, phantastischen Sonderfall dar, der im alltäglichen Mediengebrauch nicht vorgesehen ist. Denn normalerweise gebietet es die Latenz, dass die Mechanismen von Medien - Literatur mit eingerechnet - zugunsten des Sinns, den sie vermitteln, im Verborgenen bleiben. Niklas Luhmann hat darauf aufmerksam gemacht, dass sich der Mensch die Mechanismen, die alltägliche Prozesse steuern, im Verborgenen halten muss, um reibungslose Abläufe komplexer Organisationsformen sicher zu stellen. 112 Nur so - im Verborgenen - erhalten Medien Glaube und Gewissheit über die Welt aufrecht. Die hier zitierte narrative Metalepse macht jedoch für einen Moment sichtbar, dass die Welt durch Medien bloß vermittelt und dennoch gleichzeitig real ist. Begreifen Don Quijote und Sancho Panza ihre Abenteuer im ersten Teil noch als unvermittelte, flüssige, lebendige Realität, so findet sich diese im zweiten Teil materiell und unabänderlich gefestigt. 110 J. L. Borges: Literatura Fantástica, Madrid: Siruela 1985, p. 18. 111 Es liegt folglich nahe, dass Don Quijote, Sancho Panza und Sansón Carrasco an besagter Stelle in eine Diskussion über den Unterschied zwischen Historiographie und Fiktion verfallen. 112 Niklas Luhmann: "Soziologische Aufklärung", in: Id.: Soziologische Aufklärung. Aufsätze zu einer Theorie sozialer Systeme, Opladen: Westdeutscher Verlag 1974, pp. 66-91. <?page no="37"?> 33 Nicht zufällig entbrennt aus diesem Anlass eine Diskussion darüber, welches der Vorkommnisse aus Teil I wirklichkeitsgetreu festgehalten wurde, und was besser nicht hätte erwähnt werden sollen. Für Don Quijote und Sancho Panza ist die Tatsache, dass sie Figuren in einem Buch sind, vor allem hinsichtlich Ehre und Ansehen folgenreich, tangiert aber nicht die Realität als solche. Für einen (realen) Leser - so Borges in "Magias parciales del 'Quijote'" - wäre ein derartiger Fall jedoch auf beunruhigende Weise mit existentiellen und ontologischen Folgen verbunden: ¿Por qué nos inquieta que Don Quijote sea lector del Quijote y Hamlet espectador de Hamlet? Creo haber dado con la causa: tales inversiones sugieren que si los caracteres de una ficción pueden ser lectores o espectadores, nosotros, sus lectores o espectadores, podemos ser ficticios. 113 Im Resultat kommt eine derartige Inversion von Fiktion und Realität also ihrer Ineinssetzung gleich. In diesem Fall wäre jedoch die medial konstituierte Existenz des Menschen für einen Moment auf bedrohliche Weise aufgehoben. Denn geht man mit Helmuth Plessner davon aus, dass der Mensch als Mensch existiert, insofern er fähig ist, „sich von sich zu distanzieren“ 114 , eine Vorstellung von sich zu erzeugen, die er selbst nicht ist, so muss man annehmen, dass hierfür ein „Relationierungsphänomen“ 115 , sprich: ein Medium notwendig ist, das zwischen Ausdruck und Inhalt, Körper und Vorstellung, Materialität und Immaterialität, verso und recto eine „Kluft“ 116 113 J. L. Borges: "Magias parciales del ‘Quijote’", in: Id.: Obras completas, Bd. II (1952-1972), ed. María Kodama, Buenos Aires: Emecé 2009, pp. 54-57, das Zitat p. 57. 114 Helmuth Plessner: "Die Stufen des Organischen und der Mensch - Einleitung in die philosophische Anthropologie", in: Id.: Gesammelte Schriften, ed. Günter Dux, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, pp. 360-425, p. 363. Cf. in diesem Zusammenhang ebenso Oliver Jahraus: "Die Unhintergehbarkeit der Interpretation und das Medium des literarischen Textes", in: Kai Wiesinger ed.: Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000, Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 2003, pp. 187-192 sowie Oliver Jahraus: "Spiegelungen, Doppelungen, Spaltungen - Zur optischen Codierung des Subjekts in der Krise - Ein Beitrag zur "Literaturgeschichte als Vorgeschichte der Filmgeschichte", in: Oliver Jahraus, Marcel Schellong, Simone Hirmer, Bernd Scheffer edd.: Beobachten mit allen Sinnen - Grenzverwischungen, Formkatastrophen und emotionale Driften. Eine Festschrift für Bernd Scheffer, Frankfurt am Main u.a.: Lang 2008, pp. 243-260. Cf. ebenso A. Mahler: "Probleme der Intermedialitätsforschung - Medienbegriff - Interaktion - Spannweite", 251. 115 Ibid., 245. 116 Plessner spricht von einer solchen Kluft in Bezug auf die Fähigkeit des Menschen, sich exzentrisch und in Distanz zur Umwelt wahrzunehmen. Cf. H. Plessner: "Die Stufen des Organischen und der Mensch - Einleitung in die philosophische Anthropologie", p. 363. Bezeichnenderweise spricht schon Wilhelm von Humboldt von einer Kluft, dies aber in Bezug auf die Sprache: „Es bleibt zwischen dem Wort und seinem Gegenstande eine so befremdende Kluft, das Wort gleicht, allein im Einzelnen geboren, so sehr einem blossen Scheinobject, die Sprache kann auch nur so zur Wirklichkeit gebracht werden, dass an einen gewagten Versuch ein neuer sich anknüpft.“ Siehe id.: Werke VI - 1827-1835, Bd. VI, ed. Albert Leitzmann, Berlin: B. Behr’s 1907, p. 169. Die Unterscheidung von recto und verso geht zurück auf Ferdinand de Saussure. Wörtlich sind <?page no="38"?> 34 schlägt, zwei Seiten voneinander trennt und gleichzeitig aufeinander bezieht. Auch die Unterscheidung von Realität und Fiktion wird durch ein solches Relationierungsphänomen möglich und zugleich verdeckt. Wo sie jedoch - wie in der Borges’schen Metalepse - sichtbar, ausgestellt, verlängert und damit hinlänglich wird, kommt es nicht nur zur logisch unmöglichen Ineinssetzung und Vergleichgültigung von Realität und erzählter Welt, sondern zusätzlich zu einer solchen der beiden medialen Seiten. Repräsentation und Welt, Ausdruck und Inhalt wären dann durch nichts getrennt und einander ebenbürtig. Die Unterscheidung von Körper und Vorstellung, Gedanke und materieller Objektivation, verso und recto wäre hinfällig. Ansichtig würde dann nicht mehr die eine oder die andere Seite, sondern die Form oder das Prinzip ihrer Verknüpfung. Einen ähnlichen Sachverhalt hat Andreas Mahler 117 in Bezug auf Borges erarbeitet: In dem Essay "La muralla y los libros" (1950) erzählt der Argentinier vom Kaiser Shih Huang Ti, der einerseits durch den Bau der Chinesischen Mauer, andererseits durch eine rigorose Bücherverbrennung von sich reden gemacht hat. Borges stellt sich sodann die Frage, wie beides miteinander zu vereinbaren ist, und schlägt vor, beide Akte als Einheit zu denken: Acaso Shih Huang Ti amuralló el imperio porque sabía que este era deleznable y destruyó los libros por entender que eran libros sagrados, o sea libros que enseñan lo que enseña el universo entero o la conciencia de cada hombre. Acaso el incendio de las bibliotecas y la edificación de la muralla son operaciones que de un modo secreto se anulan. 118 Mit dem Bau der Mauer - so Andreas Mahler - korrespondiere ihre Zerstörbarkeit, mit der Zerstörung der Bücher ihre stets potenzielle Wiederherstellung. Beide Akte würden sich entsprechen, gehörten zusammen, ohne dieselben zu sein. Es gehe daher nicht entweder um das Eine oder das Andere, sondern um das verknüpfende Prinzip, das ‘y’. 119 Wie Borges weiter zeigt, berühre uns die differentielle, paradoxale Einheit von Aufbau und Zerstörung schon allein für sich genommen, jenseits die Vorder- und die Rückseite eines Blatt Papiers gemeint. De Saussure verwendet das Begriffspaar zur Beschreibung der Doppelstrukturiertheit von Sprache durch Denken (recto) einerseits und Laute (verso) andererseits: „La langue est encore comparable à une feuille de papier: la pensée est le recto et le son le verso; on ne peut découper le recto sans découper en même temps le verso; de même dans la langue, on ne saurait isoler ni le son de la pensée, ni la pensée de son“. Ferdinand de Saussure: Cours de linguistique générale, ed. Tullio de Mauro, Paris: Payot 1985, p. 157. Mehr dazu in Kap. 4.3 dieser Arbeit. 117 Andreas Mahler: "Imaginäre Karten - Performative Topographie bei Borges und Reda", in: Achim Hölter, Volker Pantenburg, Susanne Stemmler edd.: Metropolen im Maßstab - Der Stadtplan als Matrix des Erzählens in Literatur, Film und Kunst, Bielefeld: Transcript Verlag 2009, pp. 217-239. 118 Cf. J. L. Borges: Obras completas, Bd. II (1952-1972), pp. 13-15, das Zitat p. 15. 119 A. Mahler: "Imaginäre Karten - Performative Topographie bei Borges und Reda", p. 218. <?page no="39"?> 35 der Spekulationen, die sie zulässt. Dies erlaube schließlich die These, dass alles seine Bedeutung, seine virtud, durch sich selbst trägt, anstatt von einem anderweitigen ‘Inhalt’ getragen zu werden. Alles Sicht- und Greifbare wäre demnach nur die eine Seite einer Medaille, von der die andere nicht zu haben, dennoch aber stets mit vorhanden ist. Allein sei diese ureigene Bedeutung der Dinge in ständigem Werden, einer ständigen Prozessualität ausgeliefert, die keine Resultate mehr zeitigt, sondern diese nur mehr im Unendli- Unendlichen in Aussicht stellt: La música, los estados de felicidad, la mitología, las caras trabajadas por el tiempo, ciertos crepúsculos y ciertos lugares, quieren decirnos algo, o algo dijeron que no hubiéramos debido perder, o están por decir algo: esta inminencia de una revelación, que no se produce, es, quizá, el hecho estético. 120 Das Ästhetische wäre demnach nichts weiter als die „unmittelbare Ahnung eines Wesens, eines ‘Dings-an-sich’, einer ‘virtud’ oder ‘Form’ [...], ohne dass sich dies erfüllt“ 121 . Seine Erfüllung - beispielsweise im Rahmen einer literarischen Inszenierung - käme der phantastischen Illusion gleich, noch einmal alles haben zu können, sprich: der medialen Unzulänglichkeit und entfesselten Proliferation von Sinnangeboten, die sich durch Medienpluralisierung eingestellt haben, noch einmal beizukommen. Da sich ein solcher Zustand nicht beschreiben oder benennen lässt, kann er bestenfalls (ephemerer) Effekt eines spezifischen literarischen Verfahrens sein. Carter Wheelock, der seine Überlegungen zum ‘hecho estético’ ebenfalls von der anfänglich zitierten Passage ausgehend entwickelt, deutet an, wie ein solches Verfahren aussehen könnte: Borges carries his readers to a mythic awareness, an aesthetic moment of near-revelation, and at the same time alludes to that moment symbolically through [...] a play of allusions. They comprise an archetypal, almost Olympian representation of the activity of the human consciousness as it creates, destroys and re-creates reality. In this shadowy undulation there is a moment between the chaos of nonbeing (mere perception of meaningless things) and the lucidity of full being (complete, meaningful abstraction) when the consciousness hovers over the brink of a higher revelation. That revelation never comes; instead, what occurs is a kind of short-circuit resulting in ‘language’, the abstraction of a bathetic reality small enough to be expressed. But that hovering instant when some kind of supernal truth seems imminent is the ‘vertiginous’ moment to which Borges refers as the aesthetic event. 122 120 J. L. Borges: Obras completas, Bd. II (1952-1972), p. 15. 121 A. Mahler: "Imaginäre Karten - Performative Topographie bei Borges und Reda", p. 219. Das Prinzip - so Mahler - „ist nicht hermeneutisch greifbar, sondern vermittelt sich fast wie von selbst [...], unmittelbar, direkt, anhermeneutisch.“ 122 Carter Wheelock: "Borges’ New Prose", in: Harold Bloom ed.: Jorge Luis Borges, New York u.a.1986, pp. 105-132, p. 118 sq. <?page no="40"?> 36 Der Passus verdient ein ausführliches Zitat, zumal er einige Implikationen enthält, die für die hier angestellten methodischen Überlegungen maßgeblich sind. Erwähnung verdient zunächst die Tatsache, dass Wheelock das hecho estético ausdrücklich als Spiel begreift, das sich in der deutschen Übersetzung von allusions (Anspielung) semantisch sowie etymologisch in lat. ludus bewahrt hat. Angestoßen wird ein solches Spiel von einem Widerspruch, der sich aus dem Bemühen um ein höheres Wissen einerseits und die Verwendung von „deftly ambiguous language“ 123 andererseits ergibt. Die für Borges typischen zahlreichen Anspielungen auf philosophische Konzepte, literarische Leitmotive und Symbole suggerieren ein vorhandenes Bedeutungsmuster, das sich jedoch nie auf eine letztgültige Position reduzieren lässt, sondern sich selbst fortwährend mit Alternativen konfrontiert und mögliche Interpretationen als anders möglich ausweist. 124 Die Fülle unterschiedlichster Sinnangebote, verbürgt durch reale oder fiktive Hypotexte, eigenartige Gedanken und häretische Positionen, bespielt so einen Rahmen, in dem irrige Positionen keineswegs mehr irrig wären: „Every figment of thought implies a whole new structure of reality, a realm in which the errant idea would not be strange at all.“ 125 Eingelöst wird eine verlässliche Fixierung von Wissen nach skeptischer Manier jedoch nie. Dies führt zu einer Hin- und Herbewegung (undulation), wie sie auch die Todorov’sche Phantastik auf der Sujetebene kennzeichnet. Ihr Resultat ist mit Wheelock zuletzt ein ‘Kurzschluss’, in dem sich das banale Faktum sprachlicher oder textueller Vermitteltheit mit einem höheren, nicht greifbaren oder unausgesprochenen Sinnangebot auf schwindelerregende, phantastische Weise verbindet. Es ist dies die historische Metalepse, die Don Quijote und 123 Ibid., p. 106. Möglicherweise deckt sich dies mit dem, was Renate Lachmann als „Irrealisierung von Sprache bezeichnet.“ Ead.: Erzählte Phantastik - Zu Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte, p. 52. 124 Zu Borges Erzähltexten als Inszenierung von Kontingenz cf. Victor Ferretti: Boreale Geltung - Zu Nördlichkeit, Raum und Imaginärem im Werk von Jorge Luis Borges, Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 2007. 125 C. Wheelock: "Borges’ New Prose", p. 106 sq. Die Fülle verschiedener Symbole in Borges’ Werk hat maßgeblich zur Fülle der Forschungsliteratur beigetragen. Zur Fülle verschiedener Leitmotive cf. Emir Rodríguez Monegal: "Symbols in Borges’ Work", Modern Fiction Studies 19/ 3 (1973), 325-340; Evelyn Fishburn, Psiche Hughes: A Dictionary of Borges, London: Duckworth 1990 sowie Mario Goloboff: Leer Borges, Buenos Aires: Catálogos 2006, pp. 83-93. Zu einzelnen Motiven, Symbolen und Themenkomplexen cf. Jaime Alazraki: "Kabbalistik Traits in Borges’ Narration", Studies in Short Fiction 8 (1971), 78-92; Monika Schmitz-Emans: "Lesen und Schreiben nach Babel - Über das Modell der labyrinthischen Bibliothek bei Jorge Luis Borges und Umberto Eco", Arcadia 27 (1992), 106-124; V. Ferretti: Boreale Geltung - Zu Nördlichkeit, Raum und Imaginärem im Werk von Jorge Luis Borges; Humberto Núñez-Faraco: Borges and Dante - Echoes of a Literary Friendship, Bern: Peter Lang 2006; Ana Lucía Frega: Borges y la música, Buenos Aires: Sb 2011; Nancy Mandlove: "Chess and Mirrors - Form as Metaphor in Three Sonnets", in: Harold Bloom ed.: Jorge Luis Borges, New York u.a.: Chelsea House 1986, pp. 173-183 sowie erneut S. Zepp: Jorge Luis Borges und die Skepsis. <?page no="41"?> 37 Sancho Panza in dramatischer und (fiktiv) lebensweltlicher Perspektive verdoppelt und vertauscht. Wie sich eine solche Bewegung im Rahmen einer verweilenden Textanalyse methodisch beschreiben lassen könnte, soll noch erläutert werden. Für den Moment interessiert jedoch noch ein weiterer Aspekt, der den Überlegungen Wheelocks und Mahlers angeschlossen werden soll: Wenn ein solches Spiel den Text ‘kurzschlussartig’ aus der Latenz hebt und ihn gleichzeitig und unmöglicherweise darin verweilen lässt, dann liegt der Verdacht nahe, dass die impliziten und sinnstiftenden Rahmen, die durch das ständige Anspielen und Zerstören widersprüchlicher Sinnangebote ephemer aufblitzen, nicht allein epistemologischer oder ontologischer, sondern zuletzt materieller Natur sind. Und tatsächlich scheint es in vereinzelten Texten von Borges stellenweise, als bespiele jedes Sprechen oder Schreiben neben einer prozessual sich entfaltenden Sinnstruktur aus unterschiedlichen Gedanken, Symbolen und Positionen mitunter eine alternative materielle Basis, in der der fremdartige Charakter einer Äußerung keineswegs fremdartig oder ambivalent wäre. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wüssten wir, was das sagenhafte Aleph in Borges’ gleichnamiger Erzählung tatsächlich ist, wären die Schwierigkeiten, die sich bei seiner Versprachlichung auftun, möglicherweise trivial. Da sich aber die unterschiedlichen semantischen Angebote dessen, was das Aleph sein könnte, konsequent ablösen und widersprechen, lässt sich zuletzt nur ausgehend von der sprachlichen Qualität der Beschreibung abduktiv auf den Gegenstand schließen. 126 Das Vehikel 126 Zur abduktiven Schlussart cf. Gerhard Schurz: Einführung in die Wissenschaftstheorie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2008, pp. 52 sqq. Der induktive Schluss erlaubt es zwar, von Einzelbeobachtungen ausgehend, generalisierend auf eine Gesetzmäßigkeit zu schließen, die Schlussfolgerung kann jedoch nur die Aspekte bearbeiten, die in der Prämisse enthalten waren: ‘Alle beobachteten Pferde haben Hufe. Damit sind alle Pferde Huftiere.’ Bei der Abduktion ist es hingegen möglich, neue explikative Aspekte in die Schlussfolgerung mit aufzunehmen, die nicht in der Prämisse geäußert wurden. Die Entdeckung des Planeten Neptun Mitte des 19. Jahrhunderts verdankt sich beispielsweise einem abduktiven Schlussverfahren: Da man feststellte, dass die Umlaufbahn des Uranus von derjenigen abwich, die auf Grundlage der Newton’schen Gravitationsgesetze die Richtige gewesen wäre, musste eine neue Erklärung für diese Abweichung gefunden werden. Das erklärungs-bedürftige Ereignis waren zunächst die gemessenen Abweichungen von der nach geltenden Gesetzen zu erwartenden Umlaufbahn des bereits bekannten Uranus. Da sich aber die Newton’schen Gravitationsgesetze in zu vielen Fällen als gültig erwiesen hatten, musste eine Hypothesenmenge gefunden werden, auf deren Grundlage die Abweichungen des Uranus erklärt werden konnten, ohne die Gravitationsgesetze zu verletzen. Anstatt diese in Frage zu stellen, schlugen John Couch und Urbain Leverrier - unabhängig voneinander und nahezu zeitgleich - zunächst hypothetisch die Existenz eines weiteren Planeten (Neptun) vor, der nach gezielter Suche tatsächlich gefunden werden konnte. Cf. ebenso Igor Douven: "Abduction", in: Edward Zalta ed.: The Stanford Encyclopedia of Phylosophy, <http: / / plato.stanford.edu/ entries/ abduction/ > [Zugriff am 26.04.2014]. Zum Verhältnis der abduktiven Schlussart zur Literatur cf. Jo Reichertz: "Von Haaren und <?page no="42"?> 38 eines solchen (medienphantastischen) Sprechens innerhalb fiktiver materieller Rahmen ist bei Borges, neben den in der Forschung mannigfaltig erarbeiteten philosophischen Positionen, das (in der Forschung wenig beachtete) Auftauchen von Medien, wobei hier ausdrücklich Medien im technischen Sinn gemeint sind, sprich: Telegramme, Telephone, Photographien und Photoapparate, Projektoren und Leinwände, aber auch Bücher, Schreibwerkzeug oder sonstige (oft seltsame) Artefakte, die Wissen ordnen, ein Versprechen von Sinn und die geordnete Konstruktion von Welt in Aussicht stellen, aber auch häufig genug deren Unordnung und deren Verlust bewirken. 127 Oft liefern sie die Initialzündung, die eine medienphantastische Lesart in Gang setzt, eine also, die Zweifel nicht über die Beschaffenheit der Welt generiert, sondern über die Beschaffenheit des Materials, das diese Welt repräsentiert. Einen ähnlichen Gedankengang verfolgt Julio Cortázar in seinem Vortrag "Algunos aspectos del cuento". Auch er geht zunächst von einem weit gefassten Begriff des Phantastischen aus: Casi todos los cuentos que he escrito pertenecen al género llamado fantástico por falta de mejor nombre, y se oponen a ese falso realismo que consiste en creer que todas las cosas pueden describirse y explicarse como lo daba por sentado el optimismo filosófico y científico del siglo XVIII, es decir, dentro de un mundo regido más o menos armoniosamente por un sistema de leyes, de principios, de relaciones de causa y efecto, de psicologías definidas, de geografía bien cartografiadas. En mi caso, la sospecha de otro orden más secreto y menos comunicable, y el fecundo descubrimiento de Alfred Jarry, para quien el verdadero estudio de la realidad no residía en las leyes sino en las excepciones a esas leyes, han sido algunos de los principios orientadores de mi búsqueda personal de una literatura al margen de todo realismo demasiado ingenuo. (AdC, 371) 128 Wirklichkeit offenbart sich für Cortázar nur in Abweichungen von eigentlich Erwartbarem. Es sei daher geboten, allem Außergewöhnlichen den Vorrang Nägeln - Zur impliziten Anthropologie von Charles Sanders Peirce", Ars Semeiotica 12 (1998), 287-304. 127 Wie beispielsweise der Zahír, eine Münze, von der der Erzähler behauptet, er könne beide Seiten zugleich betrachten, oder das sagenhafte Aleph, das seinem Betrachter das gesamte Universum in einem Augenblick zeigt. Mehr dazu in Kapitel 3. Auf den Stellenwert der Medien bei Borges, Cortázar u.a. hat in jüngster Zeit Matei Chihaia aufmerksam gemacht. Cf. id.: Immersion und Infiltration in Film und Literatur sowie id.: "Immersive Media in Quiroga, Borges, and Cortázar - What Allegories Tell about Transportation Experience", DIEGESIS. Interdisziplinäres E-Journal für Erzählforschung 2.1 (2013), 75-91. 128 Zitiert wird nach J. Cortázar: Obras completas, Bd. VI (Obra crítica), edd. Saúl Yurkievich, Gladis Anchieri, Barcelona: Círculo de Lectores 2003, pp. 370-386. Alle mit AdC bezeichneten Zitate beziehen sich auf den Abdruck des Vortrags "Algunos aspectos del cuento" (1962-1963) in dieser Ausgabe. <?page no="43"?> 39 zu geben. In Bezug auf Literatur gelte dies sowohl für die Themenwahl als auch für die Formwahl. Aus diesem Grund sei ein cuento besonders geeignet, die ganze Realität in Erscheinung zu bringen. Denn da es kurz sei, dränge es den Autor hinsichtlich der Themenwahl zum Partikularen und hinsichtlich der Formwahl zur Verdichtung. Die Kombination ermögliche eine Öffnung, eine Explosion, die Raum schafft für eine sehr viel umfangreichere Realität, „una realidad mucho más amplia“ (AdC, 374). Zugleich betont Cortázar, dass ein cuento einen sonderbaren, eigentlich unmöglichen Zwischenraum für sich beansprucht: Während Gedanken und Schrift (las ideas) zur Abstraktion neigen und ihren Gegenstand zum Erstarren bringen, entziehe sich das Leben (la vida) diesem Zugriff immer wieder aufs Neue (cf. AdC, 373). 129 Ein cuento stehe jedoch ausdrücklich zwischen dem Leben auf der einen Seite und seiner Verschriftlichung auf der anderen. Cortázar spricht diesbezüglich von einer „idea viva“ (AdC, 373) und erläutert sodann: [U]n cuento, en última instancia, se mueve en ese plano del hombre donde la vida y la expresión escrita de esa vida libran una batalla fraternal; [...] y el resultado de esa batalla es el cuento mismo, una síntesis viviente a la vez que una vida sintetizada, algo así como un temblor de agua dentro de un cristal, una fugacidad en una permanencia. (AdC, 373) Ein cuento ist weder síntesis noch vida und doch sowohl das eine wie das andere. Zwischen flüssigem und starrem Sinn situiert, besitzt es durchweg oxymoralen Status, da es weder vollständig der einen noch der anderen Seite und dennoch beiden zugleich zugerechnet werden muss. Der Chiasmus aus síntesis viviente und vida sintetizada macht dies anschaulich. Seine einzelnen Glieder sind für sich genommen bereits widersprüchlich. Als Teil der ideas kann eine síntesis nicht lebendig sein. Umgekehrt erlaubt das Leben keine Fixierung. Dieser Widerspruch wird zuletzt auf einer höher liegenden (syntaktischen) Ebene - in den über Kreuz liegenden Gliedern des Chiasmus - verdoppelt und so als sichtbarer Widerspruch prozessual entfaltet. 130 Der 129 Cf. in diesem Zusammenhang ebenso Mary Mac-Millan: El intersticio como fundamento poético en la obra de Julio Cortázar, Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 2003, pp. 147 sqq. Die Verfasserin begreift die Öffnung, von der Cortázar spricht, nicht als etwas Substantielles, sondern als den Prozess der Vermittlung - „lo intersticial“ - den ein cuento anstößt: „Es lo que ‘da lugar’ a la escritura cortazariana sin dejarse localizar en ningún lugar.“ Das Zitat ibid. p. 149. 130 Möglicherweise lässt sich die paradoxale Einheit in ihrer Dynamik mit dem Spiegelstadium nach Jacques Lacan in Verbindung bringen. Zwar kann nicht davon ausgegangen werden, dass Cortázar die Schriften Lacans rezipiert hat, dennoch sind die strukturellen Ähnlichkeiten nicht von der Hand zu weisen. Das Spiegelstadium als - im wörtlichen Sinne - ‘Bildner der Ich-Funktion’ lässt sich ebenso als Zwei-Seiten- Struktur begreifen, deren Hälften denkbar sind als körperzentrierte, dynamisch lebendige Vorstellung (vida) einerseits und als materiale Objektivation dieser Vorstellung (síntesis) andererseits. Erst auf dieser Basis wird sich der Mensch seiner selbst bewusst. Gleichzeitig ist das Spiegelstadium mit einer Spaltung verbunden, in der sich Identität <?page no="44"?> 40 verdoppelte Chiasmus vollzieht in diesem Sinne performativ jene Öffnung, die Cortázar beschwört. Das Entscheidende ist: Was sich semantisch nicht ohne logische Komplikationen aussprechen lässt (vida und síntesis), lässt sich syntaktisch widerspruchsfrei abbilden und generiert dabei sogar eine ‘schöne’ Form. Dort also, wo der Sinn der Sprache im Oxymoron an die Grenze des logisch Möglichen gerät, kippt die Schrift ins Optisch-Räumliche und lenkt die Aufmerksamkeit möglicherweise auf ihr Material. Sinnorientiertes Lesen allein ist dann nicht mehr ausreichend und muss um die Sensibilität und Phantasie bezüglich des Materials ergänzt werden. Nicht zufällig gesteht Cortázar an entsprechender Stelle ein: „Sólo con imágenes se puede transmitir esa alquimia secreta que explica la profunda resonancia que un gran cuento tiene en nosotros, [...]“ (AdC, 373). Vor diesem Hintergrund lässt sich ein cuento als Mechanismus denken, der zwei Seiten sinnvoll verbindet, die nicht zwingend zueinander gehören. Im Resultat geht es nicht entweder um die eine oder die andere Seite, sondern um die Evokation des sie verbindenden Prinzips, das man aus literaturwissenschaftlicher Sicht ‘Medium’ nennen könnte. Da sich ein cuento ferner in jenem paradoxalen Zwischenraum von ‘vida y la expresión escríta de esa vida’ bewegt, gleichzeitig aber ‘el resultado mismo’ dieser sonderbar konfligierenden Gegenüberstellung ist, erscheint es - wie ein Medium auch - als Ursprung seiner eigenen Existenz und damit als emergent. Ein cuento erweist sich in Anlehnung an Cortázar also als Inszenierung von Medialität schlechthin, als Inszenierung der „merkwürdigen Tatsache, dass etwas für ‘etwas’ stehen kann, ohne dass es notwendig mit ihm verbunden ist“ 131 . Obgleich ein cuento sprachlich verfasst ist, lässt sich das, was es tut, nicht sprachlich ausbuchstabieren, sondern bestenfalls umschreiben, ertasten und erahnen. Die Tatsache, dass an dieser Stelle nur ein Bild - ein anderes Material als die Schrift - imstande ist, zu vermitteln, ist vor medientheoretischen Gesichtspunkten alles andere als trivial. Denn macht man sich erneut bewusst, dass die Mechanismen von Medien zugunsten des Sinns, den sie vermitteln, im Verborgenen zu halten sind, so steigt die Wahrscheinlichkeit, dass dies nicht mehr gelingt, wenn mehr als ein Medium um denselben Sinn konkurriert. 132 Der oxymorale Chiasmus aus síntesis viviente und vida sintetizada verweist vor diesem Hintergrund in Richtung einer intermedialen Reibung. Er vollzieht jenen Kurzschluss, von dem Carter Wheelock spricht, nicht nur semantisch, sondern materiell, indem er einen Ebenensprung proüber Differenz konstituiert. Erst auf dieser Basis gewinnt der Mensch Gewissheit und Zweifel über sich selbst. Das Spiegelstadium ist auf der einen Seite Selbsterkenntnis in - und auf der anderen Seite Selbstverkenntnis an ein Objekt. Jacques Lacan: "Le stade du miroir comme formateur de la fonction du Je (1949)", in: Jacques Lacan ed.: Écrits I, Paris: Seuil 1966, pp. 89-97. 131 A. Mahler: "Probleme der Intermedialitätsforschung - Medienbegriff - Interaktion - Spannweite", 246. Es ist dies das Bild vom Regenschirm auf dem Seziertisch. 132 Cf. ibid., 252. <?page no="45"?> 41 voziert und logisch Widersprüchliches auf einer höher liegenden Stufe in einer ‘schönen Form’ auffängt. 133 Aus der Latenz gehoben wird Medialität erst - so macht es Cortázar vor - im Dialog mit anderen Medien, in diesem Fall mit realen oder fiktiven Bildern: Vida und síntesis sind unvereinbar. Erst durch intermediale Reibung und (konzeptionell) altermediale Rahmung kommen sie erneut als Einheit für etwas zu stehen. Angesichts derartiger Prämissen wird deutlich, dass das Erzählen eines cuento mit besonderen Schwierigkeiten verbunden ist. Denn einerseits bedeutet die erzählte Geschichte Leben (vida). Der Versuch, sie zu erzählen, verlangt jedoch gedankliche Abstraktion (sintetizar). Da beides offenbar nicht vereinbar ist und dennoch aufeinander bezogen wird, entsteht eine Hin- und Herbewegung zwischen den beiden narrativen Dimensionen, sprich: der Geschichte und ihrer Vermittlung. Jeder Versuch, Leben zu fixieren, wird auf diese Weise mit dessen Prozessualität konfrontiert und als Objekt selbst in den dynamischen Fluss des Lebens eingereiht. Mit anderen Worten: Jeder Versuch, zu erzählen, bedeutet einen Eingriff in und eine Veränderung von erzählter Welt. 134 Auf diese Weise sind beide Aspekte untrennbar und dynamisch aufeinander bezogen. Ihr Resultat kündigt sich zu jedem Zeitpunkt an, lässt sich jedoch nicht verwirklichen, sondern bestenfalls durch ein schnelleres Hin und Her zwischen den beiden Seiten erahnen. Vielleicht bemüht Cortázar aus diesem Grund weitere Bilder, die zentrifugale oder zentripetale Unendlichkeiten anschaulich machen, wie „caracol del lenguaje“ (AdC, 372) oder den bereits zitierten temblor del agua dentro de un cristal. Beiden Autoren - Borges und Cortázar - ist das Phantastische ein Vehikel für die literarische Inszenierung von Medialität oder des Medialen schlechthin. Letzteres ist ganz allgemein ein Relationierungsphänomen, das zwei Seiten zusammen faltet und aufeinander bezieht - wie beispielsweise ein reflektierendes und ein reflektiertes Subjekt oder einen materiellen Sinnträger und seine Bedeutung. 135 Das Phantastische bei Borges und Cortázar besteht mithin vornehmlich darin, sich dem nicht anschaulichen Phänomen der medialen Bedingungen des Textes im Rahmen der literarischen Vermittlung asymptotisch zu nähern. Es besteht in dem unmöglich-möglichen Versuch, zwischen das Vermittelnde und das Vermittelte auf dem Weg der Vermittlung einen Keil zu treiben, um dort hinein zu blicken, wo Ausdruck 133 Zum Ebenenwechsel oder ‘Sprung’ als Strategie der Behandlung von Paradoxien Cf. Niklas Luhmann, Peter Fuchs: Reden und Schweigen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, pp. 47-69. 134 Literarhistorisch ist dies nichts Neues, bildet aber erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein neues Paradigma aus. Ein früheres Beispiel ist Laurence Sternes Tristram Shandy (1759-1767). 135 Cf. in diesem Zusammenhang auch O. Jahraus: "Spiegelungen, Doppelungen, Spaltungen - Zur optischen Codierung des Subjekts in der Krise - Ein Beitrag zur "Literaturgeschichte als Vorgeschichte der Filmgeschichte", pp. 244 sqq. <?page no="46"?> 42 und Vorstellung auf ‘magische’ Weise miteinander verbunden werden. Es erscheint damit als Instrument zur Anschauung „eines an sich unzugänglichen ‘Realen’“. 136 Die ‘klassische Phantastik’ nach (und im Gefolge von) Todorov öffnet jenen Zwischenraum durch die Gegenüberstellung zweier unvereinbarer Erklärungsangebote oder Realitätssysteme auf der Sujetebene des Textes. Die gültige Erklärung für ein unerklärbares Ereignis liegt irgendwo in der unerreichbaren Mitte. Letztgültige Erklärungsversuche pendeln dann notwendig zwischen zwei unterschiedlichen möglichen Erklärungen hin und her. In der Medienphantastik - so die hier vertretene These - infiziert diese Pendelbewegung den Text in allen Zeichendimensionen. 137 Es stehen sich dann nicht mehr zwei verschiedene Realitätssysteme gegenüber, sondern die Pluralität unterschiedlicher welterzeugender Verfahren und deren ephemere Realisate, der lebendige Prozess des Erzählens auf der einen Seite und die Dynamik des Lebens auf der anderen, Wirklichkeit gegenüber Sprachwirklichkeit, Medienvergessenheit gegenüber Medienbewusstheit, Material gegenüber Vorstellung - „síntesis viviente a la vez que una vida sintetizada“ (AdC, 373). Der medienphantastischen Schreibweise von Borges und Cortázar geht es damit nicht allein um die objektivierte Darstellung eines möglichen ‘Dazwischen’, sondern um seine einmalige, wiederkehrende oder gar unendlich verlängerte Evokation als Ästhetisches. Welche textbildenden narrativen Verfahren dabei zum Zug kommen und wie sich diese methodisch identifizieren und in Textanalysen vorzeigen, nachweisen und nutzen lassen, bildet den Kern der folgenden Überlegungen. Sie sollen als Vorschlag dienen, wie mit dem Gegenstand der Medienphantastik in erzählender Literatur methodisch umzugehen sein könnte. 2.5 Die ästhetische Funktion und Intermedialität Die folgenden methodischen Ausführungen basieren auf denjenigen des Berliner Anglisten Andreas Mahler zur Lyrik. Mahler situiert sein Projekt im Rahmen der strukturalistisch geprägten Pragmasemiotik, deren primäres Erkenntnisinteresse einer interaktionalen Sichtweise auf Zeichenbenutzung geschuldet ist. Das syntagmatisch organisierte Zeichenmaterial eines Textes lässt sich demgemäß auf unterschiedlichen Ebenen untersuchen, die sich - in Anlehnung an Charles William Morris - entsprechend der zur Verfügung stehenden Dimensionen der Zeichenbenutzung oder Zeichenrelationierung aufspannen lassen: Die Beziehungen der Zeichen zu anderen Zeichen wer- 136 A. Mahler: "Probleme der Intermedialitätsforschung - Medienbegriff - Interaktion - Spannweite", 251, sowie Anm. 35. 137 Gemeint sind die syntaktische, pragmatische, semantische Dimension nach Charles William Morris. Cf. id.: Writings on the general theory of signs, Den Haag u.a.: Mouton 1971. Mehr dazu im folgenden Teilabschnitt. <?page no="47"?> 43 den mit dem Begriff der Syntaktik beschrieben. Beziehen sich Zeichen auf ihre Benutzer, spricht man von Pragmatik. Die Beziehung von Zeichen zu den bezeichneten Gegenständen fasst man unter dem Begriff der Semantik zusammen. Die drei unterschiedlichen Dimensionen der Zeichenrelationen lassen sich auf den literarischen Text als semiotischen Großkomplex übertragen: In der realen Kommunikationssituation (E 1 ) erzeugt der vom Autor produzierte und vom Leser rezipierte Text (E 2 ) eine fiktionale Sprechsituation (E 3 ), in der ein sprechendes Subjekt einen wie auch immer gearteten Gegenstand (E 4 ) bespricht. Für einen Roman wie beispielsweise den Zauberberg bedeutet dies: Der empirische Autor Thomas Mann (E 1 ) produziert einen Text (den Roman Der Zauberberg) (E 2 ), der eine fiktionale Sprechsituation erzeugt, in der ein erzählendes Subjekt (E 3 ) - im Fall des Zauberbergs ein personaler Erzähler - über den siebenjährigen Aufenthalt von Hans Castorp in einem Schweizer Lungensanatorium spricht (E 4 ). 138 In der gleichen Reihenfolge lässt sich der Prozess der Rezeption beschreiben: Ein empirischer Leser (E 1 ) liest einen Text (E 2 ), der eine fiktionale Vermittlungsinstanz konstruiert (E 3 ), die ihrerseits von Ereignissen (E 4 ) berichtet. Die Vier-Ebenen-Gliederung wird methodisch relevant, wenn man die unterschiedlichen Ebenen zueinander in Beziehung setzt. Mit E 1 und E 2 sind Autorintention und die Bedeutung des Textes voneinander unterscheidbar. Mit der Unterscheidung von E 2 und E 3 lässt sich beobachten, wie das Dargestellte in Beziehung zum Material steht. So lässt sich beschreiben, wie ein Text auf rein materieller Ebene die Äußerungen des Erzählers unterwandern oder überbieten kann. Der Erzähler (E 3 ) kann beispielsweise über Längen hinweg darüber berichten, dass er sich kurz fassen möchte, während der Text (E 2 ) materiell immer länger wird. Und schließlich verdeutlicht die Unterscheidung von E 3 und E 4 die räumliche Nähe, die Wahrnehmung und mithin die Involviertheit des Sprechers zum besprochenen Gegenstand. Ist der Erzähler z.B. Teil der Geschichte, so kann er je nach Interessenlage seine eigene Verantwortung für die Geschehnisse vertuschen oder sich umgekehrt als Held hervortun. Der literaturwissenschaftliche Zweig der Narratologie oder Erzähltheorie betrachtet vordergründig diese Relation. 139 Semiotisch gewendet lässt sich E 1 mit dem Begriff der extratextuellen Pragmatik bezeichnen, wohingegen die drei textinternen Ebenen Syntaktik (E 2 ), Pragmatik (E 3 ) und Semantik (E 4 ) genannt werden und jeweils ein gewisses Spektrum an Gestaltungsmöglichkeiten in sich bergen. Wenn literarische Gattungen oben als historisch institutionalisierte Komponentenkomplexionen beschrieben wurden, so ist damit gemeint, dass deren syntak- 138 Andreas Mahler: "Towards a Pragmasemiotics of Poetry", Poetica - Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaften 38 (2006), 217-257, 222 sq. 139 Einschlägig bis heute Gérard Genette: Die Erzählung, Paderborn u.a.: Fink 2011, Shlomith Rimmon-Kenan: Narrative Fiction - Contemporary Poetics, London: Routdledge 1983 sowie Michael Scheffel, Matias Martinez: Einführung in die Erzähltheorie, München: Beck 2012. <?page no="48"?> 44 tische, pragmatische und semantische Komponenten relativ konstant und transhistorisch 140 sind. Pragmasemiotisch gewendet umfasst der Begriff der Komponentenkomplexion damit eine formale (Syntaktik), modale (Pragmatik) und thematische (Semantik) Dimension, die, bei minimalen Variationen und hinreichenden Rekurrenzen eine literarische Gattung bilden, aber auch bei der Identifizierung einer Schreibweise gruppenbildende Elemente beobachtbar machen können. Der Rezeptionsprozess eines (literarischen) Textes lässt sich mit Hilfe dieses Modells sodann beschreiben als ein Kommunikationsakt, der Textualität in Bedeutung transformiert. 141 Im Normalfall ist das Gefälle zwischen den drei intratextuellen Dimensionen so angelegt, dass ein möglichst rauschfreier und bedeutungsorientierter Vollzug der Zeichenbenutzung gewährleistet wird. Dies fordert das Gebot der Latenz. Die Übertragungsleistung des Mediums läuft umso besser, je mehr sich das physische Zeichenmaterial im Vollzug invisibilisiert. Roland Barthes hat dies effet de réel genannt und definiert als „l’évanouissement du langage au profit d’une certitude de réalité“ 142 . Die Aufmerksamkeitslenkung im Decodierungsprozess überspringt gewissermaßen die materielle (syntaktische) Ebene des Textes, um dessen Bedeutungsseite freizulegen. In medientheoretischer Wendung entspricht dies der Invisibilisierung des Mediums im Vollzug oder seinem Verbleiben in der Latenz. Der optimale Illusionseffekt ist so angelegt, dass am Schluss nur noch E 4 übrig bleibt, und die Ebenen, die dort hinführen, unsichtbar werden. Mahler nennt dies - in Anlehnung an Wolfgang Iser - die mimetische Funktion oder mimetischen drift (im Sinne von Aufmerksamkeitslenkung). 143 Mimetischer Kunst lässt sich eine lange literarhistorische Tradition nachweisen, die in nahezu allen Bereichen westlicher Kunstproduktion bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zu beobachten ist. 144 Die mimetische Funktion führt zu Medienvergessenheit. Abgelöst wird die mimetische Funktion mit dem angehenden 19. Jahrhundert von Baudelaire und den Parnassiens 145 zugunsten einer Form der Aufmerksamkeitslenkung, die in entgegengesetzter Richtung verläuft. Diese nennt Mahler - erneut mit Iser - die performative Funktion (bzw. performativer drift). Hier dient die semantische, pragmatische und syntaktische Di- 140 A. Mahler: "Towards a Pragmasemiotics of Poetry", 225: „[W]ith regard to the institutional character of literary genres, these [components] can be seen as, relatively constant and transhistorical (‘relativement constantes et transhistoriques’). Das französische Zitat bei Gérard Genette: Introduction à l'architexte, Paris: Seuil 1979, p. 154. 141 A. Mahler: "Towards a Pragmasemiotics of Poetry", 225. 142 Roland Barthes: La préparation du roman - Notes de cours et de séminaire au Collège de France 1978-1979 et 1979-1980, Paris: Seuil 2003, p. 114. 143 Mahler nimmt Bezug auf Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993. 144 A. Mahler: "Towards a Pragmasemiotics of Poetry", 226 sq. 145 Cf. K. W. Hempfer ed.: Jenseits der Mimesis - Parnassische transposition d'art und der Paradigmenwechsel in der Lyrik des 19. Jahrhunderts, Stuttgart: Franz Steiner 2000. <?page no="49"?> 45 mension dazu, das sie jeweils konstituierende Zeichenmaterial in den Vordergrund zu spielen. Man spricht in diesem Fall von foregrounding. 146 Es geht dann nicht mehr darum, was der Text ‘sagt’, sondern was er ‘tut’, nicht mehr darum, welche Bedeutung verfügbar wird, sondern wie sie zustande kommt, und darüber hinaus, dass Bedeutung durch ein entfesseltes Spiel mit dem sie konstituierenden Material verschoben, verändert oder zersetzt werden kann. Die performative Funktion führt zu Medienbewusstheit. Die Ablösung der mimetischen durch die performative Funktion zur Mitte des 19. Jahrhunderts schlägt - wenn auch zeitversetzt - in der westlichen Kultur in nahezu allen Künsten zu Buche: Als erste dient Dichtung nicht mehr dazu, Wirklichkeit abzubilden, sondern zeigt sich vielmehr als Kunstobjekt, das eine eigene Sprachwirklichkeit generiert. 147 Parallel dazu verschiebt sich in der Malerei das Interesse vom wirklichkeitsgetreuen Abbild zur Betonung von Form, Farbe und Linie. Was dabei interessiert, ist nicht der abgebildete Gegenstand, sondern das abbildende Verfahren, sprich: die Syntaktik des Bildes (Zentralperspektive, additive vs. substraktive Farbmischung, Farbperspektive u.a.) und ihre Beziehung zur visuellen Semantik. 148 Abbildungsästhetik weicht zugunsten von Kreationsästhetik. Neben der mimetischen und performativen Funktion gibt es noch eine dritte Variante, die darum bemüht ist, beide sprachlichen Funktionen zugleich zu realisieren. Diese nennt Mahler die ästhetische Funktion und verweist damit auf eine Zusatzqualität, mit der die beiden möglichen Pole der Aufmerksamkeitslenkung als Einheit zusammengefasst werden. Es geht dann nicht um die je singuläre Dominanz eines mimetischen oder performativen drifts, sondern um die Erfahrung eines fundamentalen Widerspruchs 149 zwischen der materiellen und der semantischen Ebene (ähnlich wie er sich abzeichnet beim Bau der Chinesischen Mauer und der damit verbundenen Bücherverbrennung oder bei Cortázar in der Formel der síntesis viviente a la 146 Der Begriff geht zurück auf den Formalismus der Prager Schule. ‘Foregrounding’, ‘Aktualisierung’ oder ‘De-Naturalisierung’ als performativ stehen dem ‘backgrounding’, der ‘Automatisation’ oder ‘Naturalisation’ als mimetisch gegenüber. Cf. Jan Mukařovský: "Standard Language and Poetic Language", in: Paul Garvin ed.: A Prague School Reader in Aesthetics, Literary Structure and Style, Washington DC: Georgetown Univ. Press 1964, pp. 17-30. Cf. ebenso Heinrich Plett: Textwissenschaft und Textanalyse - Semiotik, Linguistik, Rhetorik, Heidelberg: Quelle & Meyer 1979. 147 Früher Gegenstand einer solchen poetischen Erschreibung von Wirklichkeit ist die Großstadt, namentlich Paris. Cf. hierzu Horst Weich: Paris en vers - Aspekte der Beschreibung und semantischen Fixierung von Paris in der französischen Lyrik der Moderne, Stuttgart: Steiner 1998. 148 In den Stillleben von Cézanne finden sich die traditionellen Objekte abgebildet. Allein die Zentralperspektive wird geschwächt oder gar umgekehrt. Der Fluchtpunkt befindet sich bei vielen Stillleben nicht mehr ‘hinter’ der Leinwand, sondern ‘vor’ der Leinwand. Cf. in diesem Zusammenhang Annette Gerok-Reiter: "Perspektivität bei Rilke und Cézanne - Zur Raumerfahrung des späten Rilke", Deutsche Vierteljahreszeitschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 67 (1993), 484-520. 149 A. Mahler: "Towards a Pragmasemiotics of Poetry", 227. <?page no="50"?> 46 vez que una vida sintetizada). Die Richtung, in der die Aufmerksamkeitslenkung erfolgt, kann sowohl ausgehend von der syntaktischen Ebene zur semantischen vordringen, als auch von der semantischen zur syntaktischen zurückgeworfen werden. Kunstwerke, die die ästhetische Funktion realisieren, lassen die Aufmerksamkeit ständig zwischen der semantischen und der syntaktischen Ebene, zwischen recto und verso, hin und her oszillieren. Als Beispiel hierfür wählt Mahler Magrittes Ceci n‘est pas une pipe. Es zu ‘lesen’ bedeute weder, es mit der Vorstellung einer Pfeife zu verbinden, noch, es auf sein Zeichenmaterial (strokes and lines) zu reduzieren, sondern vielmehr, einen Unterschied festzustellen, der sich mit der Art der Beobachtung ändert. Man registriert dann, dass man, wenn man eine Pfeife registriert, keine Striche und Linien mehr sieht, und man registriert, dass man, wenn man keine Pfeife registriert, Striche und Linien sieht. 150 Man sieht also nicht nur, was man sieht, sondern auch, dass notwendig etwas unsichtbar gemacht werden muss, um den beobachteten Gegenstand freizugeben. Dies gelingt, indem weiterhin das, was aus der Beobachtung ausgeschlossen wird, scheinbar verfügbar gehalten wird. Damit wird die Illusion erzeugt, den blinden Fleck der Beobachtung mit sehen zu können. Gleichzeitig wird vorgeführt, dass es einer Entscheidung bedarf, die Hin- und Her-Bewegung (toand-fro movement oder tilting game) von der einen zur anderen Seite - sprich von Textur zur Bedeutung und umgekehrt von der Bedeutung zur Textur - zu arretieren, und dass diese Entscheidung auch anders hätte ausfallen können, also kontingent ist. Als ästhetisches ist dieses Spiel nur so lange möglich, wie die Hin- und Herbewegung nicht gestoppt wird und Beschleunigungsmöglichkeiten in Aussicht stehen. Mit anderen Worten: Wenn die mimetische Funktion bedeutungsorientiert operiert und die performative Funktion das Zeichenmaterial in den Vordergrund spielt, dann ist die ästhetische Funktion um ein fortdauerndes und höherfrequentes Kreuzen der medialen Ebenen bemüht, mit dem Ziel, beide stets verfügbar zu halten und nichts aus der Beobachtung auszuschließen. Ästhetische Kommunikation fokussiert also beide Seiten des Mediums gleichzeitig. Dadurch bietet sich die Möglichkeit, zumindest die Illusion eines vordifferentiellen Bereichs zu erzeugen, der sich intellektuell dennoch nicht einholen lässt, da dies logisch und anthropologisch unmöglich wäre: 151 Logisch unmöglich, da wir nicht in der Lage sind, uns etwas vorzustellen, das auf zwei Seiten einer bipolaren Struktur gleichzeitig ist; anthropologisch unmöglich, wenn man - in Anlehnung an Helmuth Plessner - die Exzentrizität des Menschen als Subjekt ernst nimmt, 150 Ibid., 228: „‘Reading’ a work of art such as Magritte’s Ceci n’ est pas une pipe means [...] to acknowledge the difference between what is and what is not on the one hand (‘a pipe’ and ‘no pipe’) and what is not and what is on the other (‘no strokes and lines’ / ‘strokes and lines’).“ 151 Dies gilt natürlich, sofern man akzeptiert, dass Denken Unterscheidungen voraussetzt, d.h. dass jegliche intellektuelle oder gedankliche Aktivität differenzbasiert operiert. <?page no="51"?> 47 der gemäß das Subjekt sich in Relation zu seiner Umwelt nur konstituieren kann, wenn es sich mit Hilfe eines Mediums in ein reflektierendes und ein reflektiertes aufspaltet und eine Objektivation von sich erzeugt, die es selbst nicht ist. 152 Dies entspricht der widersprüchlichen, aporetisch gedoppelten Subjektstruktur, die Christian Wehr für das angehende 19. Jahrhundert als strukturbestimmend für anthropologische Reflexionsmodelle (und mitunter für phantastische Literatur) identifiziert. Da ein derart aporetisch konzipiertes Subjekt sich selbst auf der einen Seite als „transzendentaler Konstitutionsgrund“, auf der anderen Seite aber zugleich als „empirisches Objekt seiner Erfahrungswirklichkeit erscheint“ 153 , wird in dem, was hier als ästhetische Kommunikation beschrieben wird, der Versuch erkennbar, die paradoxalen Konstitutionsbedingungen des Subjekts durch Mediengebrauch ansichtig zu machen. Die subjektkonstituierende Urdifferenz ließe sich so einholen, ohne dass das Subjekt dabei verloren ginge. Ästhetische Kommunikation stellt damit den utopischen Versuch (der Moderne) dar, einen Zustand der „Abwesenheit aller Differenz“ 154 zu evozieren, erschöpft sich aber in der unendlichen Annäherung an die Illusion von totaler ästhetischer Offenbarung. In der Kunst kommt eine solche Offenbarung dem Versuch gleich, beide medialen Ebenen gleichzeitig betrachten zu können, zu beobachten, was zwischen recto und verso, sprich: in der ‘Mitte’ agiert. Was ästhetische Kommunikation damit illusorisch in Aussicht und in Frage stellt, ist gleichwohl die Möglichkeit des Subjekts, sich und die Welt trotz differentieller Konstitution als Einheit wahrzunehmen. Ein literarisches Kunstwerk evoziert hierzu Medienbewusstheit auf der Grundlage von Medienvergessenheit. 155 Die Illusion der Tilgung der Urdifferenz wird effektiv nur durch Differenzierung und Komplexitätssteigerung auf beiden medialen Ebenen erzeugt und gesteigert und lässt sich methodisch auch nur so beobachten: Die semantische Ebene (E 4 ) wird komplexer, indem sie epistemologische oder 152 H. Plessner: "Die Stufen des Organischen und der Mensch - Einleitung in die philosophische Anthropologie". Cf. ebenso Andreas Mahler: "Semiosphäre und kognitive Matrix", in: Jörg Dünne, Hermann Doetsch, Roger Lüdeke edd.: Von Pilgerwegen, Schriftspuren und Blickpunkten, Würzburg: Königshausen und Neumann 2004, pp. 57-69. Ähnlich bei Oliver Jahraus, allerdings mit Bezug auf den deutschen Idealismus. Cf. id.: "Spiegelungen, Doppelungen, Spaltungen - Zur optischen Codierung des Subjekts in der Krise - Ein Beitrag zur "Literaturgeschichte als Vorgeschichte der Filmgeschichte". Für einen Medienbegriff mit systemtheoretischer Fundierung cf. id.: Literatur als Medium - Sinnkonstitution und Subjekterfahrung zwischen Bewusstsein und Kommunikation, Weilerswist: Velbrück 2003. 153 C. Wehr: Imaginierte Wirklichkeiten - Untersuchungen zum 'récit fantastique' von Nodier bis Maupassant, p. 17. 154 Michaela Kenklies: "Paradoxe Kommunikation", in: Oliver Jahraus ed.: Bewußtsein - Kommunikation - Zeichen. Wechselwirkungen zwischen Luhmannscher Systemtheorie und Peircescher Zeichentheorie, Tübingen: Niemeyer 2001, pp. 71-82, p. 72. 155 Denn entfiele dem Subjekt das Medium, wäre es kein gespaltenes mehr. Es wäre aber auch kein Subjekt mehr. <?page no="52"?> 48 ontologische Ambivalenzen in den Blick nimmt. Dies entspricht dem Minimalkonsens über phantastische Literatur, der sich bei Borges als komplexes Netz aus realen und fiktiven Hypotexten sowie wissenschaftlichen und häretischen Diskursen abzeichnet und bei Cortázar durch Standpunktmultiplizierung und fragmentarisierte Wahrnehmung sprechender Subjekte greifbar wird. 156 Die intrapragmatische Ebene (E 3 ) mündet bei beiden Autoren in eine dominante narrative Paradigmatik. 157 Zugleich steigert die syntaktische Ebene (E 2 ) Komplexität durch Abweichungen von als normal markierter Typographie, Prosodie, Phonetik, Morphologie, Lexematik und Syntax (wie z.B. auffallend reichhaltiger oder ärmlicher Wortschatz, spontaner Wechsel sprachlicher Register, spontane Wechsel von Nähesprache und Distanzsprache 158 ). 156 Zur „Subjektivierung, Standpunktmultiplizierung [und] Interiorisierung“ als Signatur der Moderne cf. Andreas Mahler: "Die Welt in Auerbachs Mund - Europäische Literaturgeschichte als Genealogie ‘Realistischer’ Ästhetik", Poetica - Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaften 29 (1997), 255-269, 259. 157 Rainer Warning deutet Erzählen im Paradigma als Antwort auf den „Schwund [...] geschichtliche[n] Sinnvertrauen[s].“ Cf. id.: "Erzählen im Paradigma - Kontingenzbewältigung und Kontingenzexposition", Romanistisches Jahrbuch 52 (2001), 176-209, 180. So sei paradigmatisches Erzählen kein historischer Einzelfall, trete aber besonders deutlich in der Moderne zu Tage, die in besonderem Maße von Beschleunigung bestimmt sei. Die Erfahrung von Gleichzeitigkeit kündigt sich also nach Warning narrativ in Wiederholungsstrukturen an, durch die der syntagmatische Verlauf der Geschichte nahezu zum Stillstand gebracht wird. Ähnlich wie bei der Komödie steht bei einer dominant paradigmatischen Erzählung einer umfassenden anderweitigen Handlung das episodenhafte Scheitern einer Figur gegenüber. Die anderweitige Handlung bietet der Figur einen Widerstand auf und überführt das episodische Scheitern in ein endgültiges. Anders als bei der Komödie gilt bei phantastischen Erzählungen zumeist, dass das Scheitern nicht mehr enthebbar, sondern zumeist mit existentiellen Folgen verbunden ist. Zum paradigmatischen Erzählen siehe ebenso R. Warning: "Elemente einer Pragmasemiotik der Komödie" sowie "Die narrative Lust an der List - Norm und Transgression im 'Tristan'", in: Id., Gerhard Neumann edd.: Transgressionen. Literatur als Ethnographie, Freiburg im Breisgau: Rombach 2003, pp. 175-212. 158 Zur Unterscheidung von Nähesprache und Distanzsprache siehe Peter Koch, Wulf Oesterreicher: "Sprache der Nähe - Sprache der Distanz - Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte", Romanistisches Jahrbuch 36 (1985), 15-43. Peter Koch und Wulff Oesterreicher unterscheiden grundsätzlich zwischen Medium und Konzeption. Während das Medium eine strikte (materielle) Trennung von Mündlichkeit (phonisch) und Schriftlichkeit (graphisch) vorgibt, steht die Unterscheidung ‘gesprochen’ und ‘geschrieben’ für zahlreiche konzeptionelle Möglichkeiten der Rede. Mündliche Kommunikation ist üblicherweise an konkrete Interaktionssituationen gebunden. Bei diesen besteht die Möglichkeit zum Dialog. Die einzelnen Repliken gestatten einen freien Sprecherwechsel, Verständnisschwierigkeiten können antizipiert werden, die Partner sind sich unter Umständen sogar vertraut, entwickeln Inhalte frei und erlauben sich bisweilen spontane Themenwechsel. Ferner ist bei mündlicher Kommunikation von einem höheren emotionalen und situativen Beteiligtsein der Sprecher auszugehen. Affektivpsychische Anteile sind so gesehen höher. Schriftliche Kommunikation geschieht hingegen unter Abwesenheit von Sender und Empfänger. Unterbrechungen und Spre- <?page no="53"?> 49 Durch den nahezu stillgestellten, im Moment verharrenden syntagmatischen Verlauf der Erzählung erhöht sich der virtuelle Spielraum an paradigmatischen Auswahlmöglichkeiten auf der Ebene der Semantik. 159 Aus kommunikationstheoretischer Sicht wird der Selektionsraum, der dem kommunikativen Anschluss in semantischer und materieller Hinsicht zur Verfügung steht, enorm aufgebläht. Die Information (E 4 ) wird auf diese Weise arbiträr, Wirklichkeit wird überkomplex (und widerständig). Gleichzeitig wirkt jede erneute Freigabe ins Syntagma umso betonter. Je höherfrequent also die Wechsel zwischen syntagmatischem Handlungsverlauf und paradigmatischem Erzählen erfolgen, desto wahrscheinlich tritt das ein, was Borges el hecho estético oder - an anderer Stelle - fervor nennt. Auf semantischer Ebene ist jener ‘Eifer’, jene ‘Inbrunst’ bei Borges häufig Effekt eines intertextuellen Dialogs. Manchmal scheint es, als vermischten sich verschiedene Bezugstexte auf eine Weise, die über das bloße Zitat oder die bloße Anspielung hinausgeht und so einen dritten, nicht existenten und nicht sagbaren Text evoziert, der eine höhere Wahrheit als Offenbarung in Aussicht stellt. Vereinzelt ist jener Eifer auch Effekt eines verdeckten und zaghaft angedeuteten intermedialen Dialogs. Dies zeigt sich vor allem bei phantastischen Objekten wie dem Aleph, aber auch bei phantastischen Subjekten wie dem alles erinnernden Funes. Da sich Derartiges im Grunde nicht darstellen lässt, sich derartige Texte nicht zitieren, derartige Räume und derartige Objekte und Subjekte nicht beschreiben lassen, kann sie der Erzähler nur mehr tentativ erkunden und das Unsagbare sprachlich so lange umkreisen, bis es „als nicht ausschließbares, blitzhaft aufscheinendes Produkt performativer Rede“ 160 erfahrbar wird, oder bis es einen epistemologischen oder ontologischen Rahmen oder ein anderweitiges Zeichenverbundsystem erahnen lässt, in dem - um noch einmal die Überlegungen Wheelocks aufzugreifen - ein fremdartiger Gedanke oder eine fremdartige Äußerung keineswegs fremdartig wären. Im Rahmen der narrativen Inszenierung läuft dies über eine Pendelbewegung, die sich zwischen der Darstellung unmöglicher Ideen und deren lückenhafter Vermittlungsversuche ausdehnt. Bestenfalls leuchtet das nicht-darstellbare Objekt, die nicht sagbare Erklärung oder das (simulierte) anderweitige Material der Vermittlung zwischen semanticherwechsel sind nicht vorgesehen. Themen lassen sich stringenter entwickeln. Daraus erklärt sich die Tendenz zur Monologizität. Da die Partner bei schriftlicher Kommunikation meist nicht anwesend sind, ist die emotionale Beteiligung entsprechend klein. Affektiv-psychische Anteile sind daher gering. 159 Jakobson beschreibt dies als die poetische Funktion von Sprache: „Die poetische Funktion überträgt das Prinzip der Äquivalenz von der Axe [sic! ] der Selektion auf die Axe [sic! ] der Kombination.“ Roman Jakobson: "Linguistik und Poetik", in: Heinz Blumensath ed.: Strukturalismus in der Literaturwissenschaft, Köln: Kiepenhauer & Witsch 1972, pp. 118-147, p. 126. 160 A. Mahler: "Skepsis - Imagination - und ’Kultur’ - Zu Genealogie und Funktion des Literarischen in Früher Neuzeit", 122. <?page no="54"?> 50 scher und pragmatischer (und möglicherweise syntaktischer) Ebene des Textes auf. Bei Cortázar ist eine vergleichbare Bewegung in vielen Fällen mit einer konzeptionellen intermedialen Reibung verbunden. Häufig scheint es, als äußere sich der Erzähler nicht schriftlich, ja nicht einmal sprachlich, sondern in oder mit anderem Material, das auf der Ebene der Semantik zunehmend thematisch wird. Dies trifft ebenso auf Figuren zu, die Gebrauch von entsprechenden Gerätschaften machen, wie beispielsweise der Photograph und Erzähler in "Las babas del diablo" oder der erzählende Jazzkritiker und sein Saxophon spielender Antagonist in "El perseguidor". Zwar sind die cuentos von Cortázar durchweg schriftlich verfasst. Im Rahmen der narrativen Inszenierung werden sie jedoch nicht wie Schrift behandelt. Mit anderen Worten: Die fremden Apparate oder Instrumente sind auf materieller Ebene niemals physisch präsent, schlagen sich jedoch auf die Erzählweise und die syntaktischen Strukturen nieder. Methodisch ließe sich mit Uwe Wirth in diesem Fall von der vierten Stufe der Intermedialität sprechen, bei der das „Konzept der Konfiguration eines Zeichenverbundsystems auf die mediale Konfiguration eines anderen Zeichenverbundsystems ‘aufgepfropft’ wird.“ 161 Der intermediale Dialog wird hier nicht hybrid, wohl aber konzeptionell durchgeführt. Man könnte in diesem Fall auch von der Simulation eines altermedialen Zeichenverbundsystems bei gleichzeitiger Dissimulation der Schrift sprechen. Durch das stete Anspielen und die stete Verweigerung eines letztgültigen (fiktiven) materiellen Zugriffs auf Welt dehnt sich die Pendelbewegung zwischen zeichenhafter Vermittlung und unsagbarem Vermittelten auf die materielle Ebene des Textes aus. Auch hier erfolgt der letztgültige Zugriff auf Welt weder durch das simulierte noch das dissimulierte Material, sondern er liegt bestenfalls irgendwo dazwischen. 161 Uwe Wirth unterscheidet vier Stufen der Intermedialität: (1) Das „Thematisieren eines Mediums in einem anderen Medium“, wie die Beschreibung einer Photographie in einer Kurzgeschichte. Derartige Thematisierungen stellt zwar noch keine Form der Intermedialität im engeren Sinne dar, haben jedoch häufig Indizcharakter für „implizite Inszenierungen von Intermedialität“. (2) Die „mediale Modulation“ im Sinne einer transmedialen Rekonfiguration, wie bei der Übertragung gesprochener Sprache in geschriebene Sprache. (3) Die „Kopplung verschieden konfigurierter Zeichenverbundsysteme - etwa die Kopplung von Text und Bild“. (4) Die oben beschriebene „konzeptionelle Übertragung“ im Sinne einer monomedialen Aneignung fremdmedialer Strukturen oder Charakteristika. S. Uwe Wirth: "Intermedialität", in: Alexander Roesler, Bernd Stiegler edd.: Grundbegriffe der Medientheorie, München: Fink 2005, pp. 114-121, p. 118 sowie Uwe Wirth: "Hypertextualität als Gegenstand einer ’intermedialen Literaturwissenschaft’", in: Walter Erhart ed.: Grenzen der Germanisik - Rephilologisierung oder Erweiterung? , Stuttgart/ Weimar: Metzler 2004, pp. 410-430, p. 414. Die vierte Stufe ließe sich alternativ mit Irina Rajewsky fassen als „intermediale Bezugnahme“, bei der fremdmediale Strukturen allein mit den Mitteln des kontaktnehmenden Zeichenverbundsystems (monomedial) nachempfunden werden. Mehr dazu in Kap. 4.1 sowie 4.3. Das Zitat bei Irina Rajewsky: Intermedialität, Tübingen u.a.: Francke 2002, p. 14. <?page no="55"?> 51 Die folgenden Textanalysen wollen mit Hilfe des hier beschriebenen methodischen Instrumentariums zeigen, worin das spezifisch Medienphantastische in der Kurzprosa von Borges und Cortázar liegt. Dabei geht es um die Frage, wie die cuentos Funktionsweisen des eigenen und des fremden Materials im Rahmen der narrativen Inszenierung sowie im intertextuellen und intermedialen Dialog aufrauen, hinterfragen und zur Disposition stellen. Oft erscheint das Nebeneinander mehrerer Zugriffe auf Welt dabei als krisenbehaftet. Aus diesem Grund fragen die Analysen in einem weiteren Schritt nach möglichen Bewältigungsstrategien, ob und wie also die Nahtstellen zwischen den unterschiedlichen medialen Zugriffen auf Welt literarisch-ästhetisch ‘verklebt’ und ‘winddicht’ gemacht oder im Zeichen spielerischer, ästhetischer Lust offen gehalten werden. <?page no="57"?> 53 3 Borges und die Sprache 3.1 Spiegel: "Tlön, Uqbar, Orbis Tertius" (1940) Borges’ Äußerungen zu den technischen Medien sind rar. Sie tauchen zwar sowohl in den cuentos als auch in den kritischen Schriften vereinzelt auf, eine systematische Auseinandersetzung mit ihnen lässt sich jedoch nicht finden. 162 Anders verhält es sich mit der Reflexion über Sprache. Sie steht nicht nur im Mittelpunkt der frühen Erörterungen, sondern bildet auch in den späteren Essays und in den cuentos das zentrale Faszinosum, zu dem der Argentinier immer wieder zurückkehren wird. Dabei lässt er von Anfang an ein spezifisches Sprachverständnis erkennen, das sich durchaus mit jener Widerständigkeit zusammen denken lässt, von der Blumenberg spricht. Die Schwierigkeiten, die sich einem Subjekt beim Zugriff auf Wirklichkeit stellen, sind bei Borges jedoch weniger einer spezifischen Vorstellung von Wirklichkeit geschuldet, als vielmehr der Struktur der Sprache selbst. Was Friedrich Kittler allein mit der Schreibmaschinenschrift verbindet, ergibt sich bei Borges durch einen fundamentalen Widerspruch, der jeder Sprachbenutzung strukturbedingt innewohnt. In dem Essay "Indagación de la palabra", einem Teilstück der frühen Sammlung El idioma de los Argentinos (1928) 163 , verfolgt Borges das Argument, dass sich Sprachlichkeit einer grundsätzlich paradoxalen Dynamik verdankt: Auf der einen Seite sei es möglich, die Bedeutung der Wörter unabhängig von grammatikalischen, syntaktischen oder materiellen Gesichtspunkten zu denken. So spiele beispielsweise die Stellung der Adjektive für den semantischen Gehalt einer Äußerung keine Rolle. Es mache also keinen Unterschied, ob ein Sprecher caballo-colorado oder brown horse sage. Gegenüber dem Sinn des Gesagten oder dem, was Borges „unidades de pensamientos“ (IdA, 19) nennt, verhalten sich Laute, Schrift und Grammatik arbiträr: „Quedamos en que lo determinante de la palabra es su función de unidad representativa y en lo tornadizo y contingente de esa función“ (Ida, 20). Auf der anderen Seite zeigt Borges, dass Schrift und Grammatik imstande sind, auf eigentümliche Weise am Sinn des Gesagten zu zerren. So 162 Cf. hierzu die Aufsätze zu Musik, Kino, Photographie und anderen Künsten bei Borges in Fabialo Knop ed.: Borges y las artes (y las artes en Borges), Buenos Aires: Universidad de Palermo 2008. Zum marginalen Stellenwert technischer Medien bei Borges cf. Christian Wehr: "Borges y los medios acú sticos - Funes el memorioso como alegoría técnica", in: Wolfram Nitsch, Matei Chihaia, Alejandra Torres edd.: Ficciones de los medios en la periferia - Técnicas de comunicación en la ficción hispanoamericana moderna, Köln: Universität zu Köln 2008, pp. 235-244, p. 235. 163 Zitiert wird im Folgenden nach J. L. Borges: El idioma de los Argentinos, ed. María Kodama, Buenos Aires: Seix Barral 1960. Alle mit IdA gekennzeichneten Zitate sind dieser Ausgabe entnommen. <?page no="58"?> 54 gebe es Wörter und Satzbausteine, die zwangsläufig nach weiteren Wörtern und Satzbausteinen verlangten. Ein Mann beispielsweise, der seine Geliebte mit den Worten Era tan linda que… oder Ojos como… beschreibe, werde von den Konjunktionen que und como geradezu in die Pflicht genommen, weitere Varianten hinzuzufügen, mehr zu sagen, vielleicht sogar zu übertreiben, ein besonderes Bewandtnis zu erdichten und eine Wirklichkeit zu erzeugen, die es sonst nie gegeben hätte (cf. IdA, 22). In dieser Blickrichtung erzeugt Sprache stets mehr oder etwas Anderes, etwas zumindest, das sich in der Wirklichkeit nicht mehr findet. Was dann nach dichterischer Tätigkeit und poetischem Verlangen aussieht, entsteht im Grunde genommen nur aufgrund syntaktischer, grammatikalischer oder materieller Zwänge. Borges spricht in diesem Zusammenhang von der Macht des syntaktischen Verlaufs über die Rede - „el poderío de la continuidad sintáctica sobre el discurso“ (IdA, 23) - und erläutert sodann: Ese poderío es de avergonzar, ya que sabemos que la sintaxis es nada. La antinomia es honda. El no atinar - el no poder atinar - con la solución, es tragedia general de todo escribir. Yo acepto esa tragedia, esa desviación traicionera de lo que se habla, ese no pensar del todo en cosa ninguna. (IdA, 23) Damit wird klar: Jeder Versuch, die Dinge sprachlich zu erfassen, tut ihnen Gewalt an, zielt haarscharf an ihnen vorbei oder verfremdet sie. Kein Wort, kein sprachlich manifestierter Gedanke 164 nimmt die Dinge selbst in den Blick, sondern nur mehr ihre Repräsentation oder Vorstellung. So besehen, ist die Sprache ein Zerrspiegel der Wirklichkeit. Zwischen ihm und der Welt klafft eine Lücke oder eine ‘Kluft’, die sich nie schließen lässt. Jeder Sprachgebrauch, so legt Borges nahe, hat diesen Umstand zu akzeptieren und muss sich die Lücke entweder verdecken oder sich an ihr abarbeiten. Dem Sprachbenutzer ist es damit nicht gestattet, Gedanken, Gefühle oder gar das Wesen der Dinge auf direktem Weg auszutauschen, sondern bestenfalls Wörter. Da aber Sprache, so weiter Borges, unhintergehbar und das einzige Schicksal des Menschen sei, sei es geboten, sie in all ihren Möglichkeiten produktiv auszuschöpfen: [S]erá nuestro destino: hacernos a la sintaxis, a su concatenación traicionera, a la imprecisión, a los talveces, a los demasiados énfasis, a los peros, al hemisferio de mentira y de sombra en nuestro decir. Y confesar (no sin algún irónico desengaño) que la menos imposible clasificación de nuestro lenguaje es la mecánica de oraciones de activa, de pasiva, de gerundio, impersonales y las que restan. (IdA, 24) 164 Inwiefern Gedanken und Sprache miteinander zusammenhängen, macht Borges explizit nicht deutlich. Er verwendet die Termini jedoch - soweit sich sehen lässt - synonym. Der Idealismus, den Borges von Berkeley übernimmt, wird an dieser Stelle mit der Sprache als letztem Grund verbunden. Mehr dazu weiter unten. <?page no="59"?> 55 Damit sind die Gesetzmäßigkeiten von Sprache sowie Sprache in ihrer nackten Materialität für Borges das Medium schlechthin. Ihr Gebrauch und Verbrauch, sprich: das Durchspielen aller denkbaren lexematischen und syntaktischen Varianten führt dazu, dass sich die Sprache von ihrem Objektbezug löst, um sich von den Dingen als Sprache zu lösen: „[La lengua] podría ascender de mera variante a representación autonómica“ (IdA, 25). 165 Dies gegeben, werde jedoch erkennbar, dass sich die Ordnung der Sprache nicht den Gedanken, den Ideen, den Erscheinungen, dem intendierten Sinn oder gar den Dingen verdanke, sondern allein eine Ordnung der Sprache selbst sei: „No de intuiciones originales - hay pocas -, sino de variaciones y casualidades y travesuras, suele alimentarse la lengua“ (IdA, 25). Roland Barthes hat dies einmal das Ende der „tyrannie de la signification“ 166 genannt. Erst nachdem, wie Borges anregt, alle Möglichkeiten der Sprache verbraucht sind, und sie sich, gelöst von den Ideen und den Objekten, scheinbar von selbst trägt, scheint es möglich, aller Sprachlichkeit zum Trotz, zum Gemeinten, zu den Dingen oder zumindest zu einer Ahnung der Dinge zurückzufinden. Auch scheint es möglich, die Dinge sprachlich herzustellen, ihnen durch sprachliches Tun zur Gestalt zu verhelfen. Es stellt sich dann die Möglichkeit einer Gewissheit ein, dass es die Dinge gibt, auch wenn sie sich nicht mehr sagen lassen. Es ist dies der Punkt, an dem das eintritt, was der Argentinier später el hecho estético nennen wird. Sprachliche Ordnungen unterscheiden sich bei Borges also grundsätzlich von der natürlichen Ordnung. Anschaulich werde dies, so Borges weiter, in der alphabetischen (Un)ordnung der Enzyklopädien - „la organización (desorganización) alfabética de los diccionarios“ (IdA, 25). Die Ordnungen, die sie schaffen, sind willkürliche Setzungen und bilden nicht die Ordnung der Welt, sondern die Ordnung des Alphabets ab. Bezeichnenderweise entnimmt Borges diesen Gedanken selbst einer Enzyklopädie, dem Wörterbuch der Philosophie (1923) von Fritz Mauthner. 167 Dort findet er sich in jenem Eintrag, der seinerseits von der Enzyklopädie handelt. Darin skizziert Mauthner ihre Geschichte als Wissenschaftsgeschichte, angefangen bei den alten Griechen, weiter über die artes liberales und die summae des Mittelalters „aus denen man jedes Wissen über Gott und die Welt schöpfen konnte“ (Enc, 381), weiter sodann über das „Aufblühen der Wissenschaften“ (Enc, 381) und der Gründung der Universitäten während der Renaissance, weiter über 165 John Stark hat dies in Anlehnung an John Barth als ‘literature of exhaustion’ bezeichnet: „[G]iven [literatures’] current condition, writers should invent and exhaust possiblities and thus create for literature an infinite scope.“ John Stark: The Literature of Exhaustion - Borges, Nabokov, and Barth, Durham: Duke Univ. Press 1974, p. 1. 166 So in seinem Essay "Le grain de la voix" (1972). Siehe Roland Barthes: L’obvie et l’obtus - Essais critiques III, Paris: Seuil 1982, p. 241. 167 Zitiert wird im Folgenden nach Fritz Mauthner: Art. "Encyklopädie", in: Id.: Wörterbuch der Philosophie, Leipzig: Felix Meiner 1923, pp. 379-401, p. 381. Alle mit Enc gekennzeichneten Zitate sind dieser Ausgabe entnommen. <?page no="60"?> 56 den Empirismus Bacons bis hin zu den ersten systematischen Enzyklopädien des 17. und 18. Jahrhunderts, die, nachdem sich die Überzeugung durchgesetzt hatte, dass „das gesamte Menschenwissen [...] in keinem Individuum mehr vereinigt“ (Enc, 384) war, zuletzt in kollektiver Arbeit gefertigt wurden. Von diesem Punkt an gilt: „Die Summa menschlichen Wissens steckt in den Bibliotheken“ (Enc, 395). All die enzyklopädischen Unternehmungen, so Mauthner im zweiten Teilstück des Eintrags, seien Versuche, „ein einheitliches System aller Wissenschaften zu schaffen, einen globus intellectualis“ (Enc, 386). Getragen würden sie jedoch vor allem von einem menschlichen Bedürfnis nach Ordnung, das trotz jeden Strebens nach Wissen ein „äußres Bedürfnis“, „ein architektonisches Bedürfnis“ (Enc, 389) sei. Nicht von ungefähr mache die geordnete Stufenleiter der Wissenschaften „auf den Leser einen ästhetischen Eindruck“ (Enc, 389). Dass sie in dieser Form jedoch notwendig eine natürliche Ordnung abbildet, bezweifelt Mauthner. Spätestens seit der Emanzipation der Wissenschaft von der Theologie müsse der Gedanke aufgegeben werden, „dass der dispositio der Welterkenntnis eine ordo der Welt zugrunde liege, dass ein System der Wissenschaften einem System der Welt entspräche“ (Enc, 393). Alle Enzyklopädisten hätten sich daher von Anfang an darüber im Klaren sein müssen, „dass sie eine unverhältnismäßige geistige Anstrengung auf die Errichtung eines künstlichen Systems verschwendeten [...]. Immer in der Hoffnung, nachher die Ordnung des Katalogs in der Welt wieder zu finden“ (Enc, 393/ 395). Angesichts der Gewissheit, dass die Welt und das Wissen um die Welt zwei verschiedene Dinge sind, stellt Mauthner zuletzt die Frage, wie ein Katalog des Wissens, sprich: eine Enzyklopädie noch aussehen könnte, wie sie aufgebaut sein müsste, um nicht erneut zur unverhältnismäßigen Anstrengung zu werden. Dazu begibt er sich im dritten und letzten Teilstück seines Eintrags auf die Suche nach einer Antwort. Er kommt jedoch schnell zu dem Schluss, dass es ein „objektives System des Wissens nicht geben“ (Enc, 396) kann, und begründet dies mit der Beobachtung, dass sich unsere Sprache mit der Natur niemals deckt. So sei beispielsweise die Assoziation von Feuer und Wärmegefühl eine rein menschliche Assoziation, die seit Jahrhunderten Gewissheit sei, in der Natur aber keine notwendige Entsprechung finde. Die Physik zumindest könne noch immer nicht mit Sicherheit sagen, was Feuer und was Wärme ist. Auch wisse die Natur nichts darüber und brauche „es auch nicht zu wissen, weil sie nichts darüber sagt“ (Enc, 397). Wenn sie denn reden könnte, so hätte sie bestenfalls ihren Spaß an der Beobachtung, wie Feuer und Wärme von den armen Menschen in der Religionsgeschichte, in der Kunst und der Technik, in der Psychologie und in der Kriegsgeschichte, in der Astronomie und in der Zoologie, der Botanik und der Mineralogie, in der Medizin und der Chemie usw. usw. immer wieder von einem anderen Gesichtspunkte aus betrachtet werde müssen, wie alle andern Erscheinungen <?page no="61"?> 57 der Natur ebenso auf alle Wissensgebiete oder Wissenschaften sich verteilen, wie also dem Stoffe nach ein Wissenschaftssystem ein Unding ist, wie die Methoden immer nur dem augenblicklichen Vorteile gehorchend einander ablösen, von Wissensgebiet zu Wissensgebiet und von Generation zu Generation. (Enc, 397) Während die Gegenstände also immer gleich bleiben, vermag sich die Fülle wissenschaftlicher Disziplinen in unendlicher Proliferation an ihnen abzuarbeiten, ohne dabei zu verlässlichen Aussagen zu gelangen. Im Kern deckt sich dieser Gedanke mit dem, was Borges als autonome Ordnung der Sprache gegenüber den Dingen übernimmt und weiterführt. Wie das obige Zitat zudem erahnen lässt, führt das Durchspielen aller denkbaren Varianten auch im Fall einer Enzyklopädie dazu, dass sich die wissenschaftliche Beschreibung von den Dingen, die sie beschreibt, löst. Man sieht dann, so Mauthner an anderer Stelle, „dass der Stoff des Wissens für die Einteilung nebensächlich“ ist (Enc, 396). Was stattdessen ansichtig wird, ist nicht mehr ein bestimmtes Wissen, sondern die Gewissheit, dass sich das Wissen über die Welt einer ästhetischen Anstrengung verdankt, ästhetischer Prozess ist oder, wie Mauthner sagt, ein architektonisches Bedürfnis befriedigt. Jede Sicherheit, jede Antwort, jede Ordnung, die sich auf diese Weise finden lässt, ist damit nicht einer natürlichen Ordnung geschuldet, sondern dem Material, dem Zerrspiegel, der diesen Prozess ermöglicht, ja, der dieser Prozess ist. Der Gedanke, dass es sich dabei um die Sprache selbst handelt, zeichnet sich bei Mauthner bereits ab. So seien die „letzten Fragen (Kausalität, Zweck, Unendlichkeit, Realität) sprachkritische Fragen“ (Enc, 392). Borges treibt diesen Gedanken jedoch in einem weiteren Schritt auf die Spitze. So ist für ihn die Ordnung der Welt eine Ordnung der Sprache. Folgt man diesem Gedanken, dann liegt das, was wir wissen und denken können, nicht mehr in den Systemen der Wissenschaften, sondern nur mehr im Zwischenraum jener doppelseitigen sprachlichen Struktur, die Borges fasst als Antinomie der unidades de pensamientos gegenüber dem poderío de la continuidad sintáctica sobre el discurso, als Kluft zwischen dem ‘Sinn der Rede’ und der ‘Macht der Syntax über die Rede’, in der unschließbaren Differenz zwischen den Dingen und den Wörtern, zwischen dem Gemeinten und dem Gesagten. 168 Wenn sich jedes Schreiben, wie Borges anregt, an jener sprachlichen Kluft abarbeitet, so trägt jede Ordnung, die schreibend entsteht, zwangsläufig die Signatur der Sprache selbst. Die Ordnung der Welt ist in dieser Blick- 168 Es wäre denkbar, dies in systemtheoretischer Blickrichtung als strukturelle Koppelung von Bewusstsein und Kommunikation zu fassen. Anstöße hierzu bei Peter Fuchs: "Kommunikation", in: Oliver Jahraus, Armin Nassehi, Mario Grizelj, Irmhild Saake, Julian Müller edd.: Luhmann Handbuch - Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart/ Weimar: Metzler 2012, pp. 90-92 sowie Peter Fuchs: "Das ’Ich’ ist jenseits der Kommunikation ein lärmender Kasper", Zirkuläre Positionen 2 (1998), 171-194. <?page no="62"?> 58 richtung nicht nur das Ergebnis von Sprache, sie ist Sprache. 169 Mit ihr entsteht und vergeht jede mögliche Welt. Beim Versuch, eine Enzyklopädie zu schreiben oder zumindest über eine Enzyklopädie zu schreiben, stellt Borges diesen Gedanken nicht nur ins Zentrum der erzählten Welt, sondern macht ihn zudem zum textbildenden Prinzip. In "Tlön, Uqbar, Orbis Tertius", der wohl bekanntesten Erzählung aus den Ficciones (1944), vielleicht sogar der bekanntesten Erzählung von Borges, 170 berichtet der Erzähler von der Entdeckung eines vernachlässigten und zweifelhaften Eintrags in der Anglo-American Cyclopedia, einem Nachdruck der Encyclopedia Britannica, welcher ein vormals unbekanntes Land namens Uqbar erwähnt. Er berichtet sodann vom Fund des elften Bandes einer Enzyklopädie über das Land Tlön, von einer Geheimgesellschaft, die es unternimmt, eine Enzyklopädie eines ganzen Planeten anzufertigen, sowie zuletzt von Indizien, die darauf hindeuten, dass sich dieser Planet, Orbis Tertius genannt, mit der bekannten Welt zu vermischen beginnt, in ihr aufgehen 169 Foucault hat dies zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen gemacht. Cf. in diesem Zusammenhang die Überlegungen zu Borges’ chinesischer Enzyklopädie im Vorwort zu Les mots et les choses. Cf. Michel Foucault: Les mots et les choses - Une archéologie des sciences humaines, Paris: Gallimard 1986, pp. 7-16. 170 Ihre Interpretationsgeschichte ist vielstrahlig und so alt wie der Primärtext selbst. Am häufigsten wird die Geschichte im Licht des philosophischen Idealismus nach George Berkeley gelesen. In dieser Blickrichtung gehorchen die Naturgesetze und die Sprache des Landes Tlön dem Grundsatz esse es percipi. Besonders deutlich spiegelt sich dieser in der Sprache Tlöns wieder. Dass sie keine Substantive kennt, bedeutet, dass die Welt in der idealistischen Kosmologie nicht eine Ansammlung von Objekten ist, sondern eine Folge von Wahrnehmungsereignissen. Auch steht die Psychologie an höchster Stufe der Wissenschaften, da die Wahrnehmung im Idealismus den letzten Grund bildet. Liegt es nahe, den Text als Allegorie des Idealismus zu lesen, so gehen die hier angestellten Überlegungen davon aus, dass die Wahrnehmung von Welt bei Borges mit der Sprache zusammenfällt. Wie oben angedeutet, verwendet Borges die Begriffe Sprache und Denken synonym. Was Jacques Derrida fasst als ‘il n y a pas de hors-texte’, gilt bei Borges bezogen auf die Sprache. Sie steht dort, wo Berkeley noch einen ‘infinite’ oder ‘divine spirit’ nachweisen wollte. Für eine Lektüre des cuento als Allegorie des Idealismus siehe John Clark: "Idealism and Dystopia in 'Tlön, Uqbar, Orbis Tertius'", The International Fiction Review 22 (1995), 74-79; cf. ebenso Jacques Derrida: De la grammatologie, Paris: Minuit 1967 sowie George Berkeley: A treatise concerning the principles of human knowledge, Oxford: Oxford Univ. Press 1998. Für eine Lektüre im Lichte des performative turn cf. Monika Schmitz-Emans: Spiegelt sich Literatur in der Wirklichkeit? Überlegungen und Thesen zu einer Poetik der Vorahmung, Göttingen: Wallstein 1994; im Lichte dekonstruktivistischer Philosophie Roberto González- Echeverría: "Borges and Derrida", in: Harold Bloom ed.: Jorge Luis Borges, New York u.a.: Chelsea House 1986, pp. 227-234. Für eine Lektüre Tlöns als Heterotopie im Sinne Foucaults cf. J. Dünne: "Borges und die Heterotopien des Enzyklopädischen - Mediale Räume in der phantastischen Literatur" und V. Ferretti: Boreale Geltung - Zu Nördlichkeit, Raum und Imaginärem im Werk von Jorge Luis Borges. Für eine Lektüre, in der Tlön als Utopie erscheint cf. Cristina Grau: "Tlön o la utopía cósmica", Variaciones Borges 2 (1996), 116-124. <?page no="63"?> 59 wird oder sich möglicherweise bereits mit ihr deckt. Den Anfang bildet bei all dem ein gemeinsames Abendessen des Erzählers mit Bioy Casares und ein Zitat, das dieser von einem der Häresiarchen Uqbars übernommen haben will, wenngleich die Quelle nicht gesichert scheint. Wie die kurze Zusammenfassung der histoire erahnen lässt, ist der Text mehrfach metadiegetisch gestaffelt, wobei jeder Fund eines neuen Schriftstücks mit einem metaleptischen Moment verbunden ist. Die Vergleichgültigung der phantastischen Welt Tlöns mit der diegetisch letztfundierenden Ebene suggeriert am Ende einen Horizont unendlicher Relativierung. Der Weg vom zweifelhaften Zitat bis zur Existenz einer ganzen Welt besteht jedoch weniger aus den Einbrüchen anderer Welten in bekannte Welten als vielmehr aus einer Serie von unpräzisen Nachahmungen und fehlerhaften Kopien, die ihrerseits wieder zu Vorlagen weiterer Nachahmungen werden. Der metaleptische Mechanismus der erzählten Welt ist damit eng gekoppelt an Schriftstücke und Äußerungsakte, kurzum an Sprache und Schrift. So ist selbst jene Anglo-American Cyclopedia, die das Land Uqbar vorgeblich als erste erwähnt, nichts weiter als eine „reimpresión literal, pero también morosa“ (Tlön, 513) 171 einer anderen Enzyklopädie. Wie aber die ergebnislose Suche nach anderweitigen Quellen nahelegt, lässt sich weder die Echtheit des Originals, sprich: des Hypotextes noch die Existenz des entsprechenden Landes bestätigen. 172 Auch weiß Bioy Casares nichts Handfestes darüber zu sagen. Um eine Region im Irak oder in Kleinasien handele es sich, worauf der Erzähler eine erste vorläufige Schlussfolgerung zieht: „Conjeturé que ese país indocumentado y ese heresiarca anónimo eran una ficción improvisada por la modestia de Bioy para justificar una frase“ (Tlön, 514). Ihren Anfang nimmt die behauptete Existenz von Uqbar, von Tlön und zuletzt von Orbis Tertius also nicht, wie angenommen, bei der Kopie einer Enzyklopädie, sondern an anderer Stelle. Sie hat ihren Ort im Gespräch. Es liegt daher nahe anzunehmen, dass sich Bioy das Land Uqbar nur ausgedacht und allein sprachlich erschaffen hat. Wird dieser Gedanke im weiteren Verlauf der Erzählung als einzig mögliche Erklärung aufgegeben, so verdichten sich dennoch die Hinweise darauf, dass "Tlön, Uqbar, Orbis Tertius" und zuletzt die Erzählung ihrer Entdeckung dennoch Produkte sprachlicher Aktivität sind. Kurzum: Auf der einen Seite gibt der Erzähler vor, Welten zu entdecken, auf der anderen Seite lässt er durch verstreute 171 Zitiert wird nach J. L. Borges: Obras completas, Bd. I (1923-1949), ed. María Kodama, Buenos Aires: Emecé 2009, pp. 513-529. Alle mit Tlön gekennzeichneten Zitate beziehen sich auf diese Ausgabe. 172 Die Anglo-American Cyclopedia ist selbst eine Erfindung von Borges. Cf. dazu den entsprechenden Eintrag in E. Fishburn, P. Hughes: A Dictionary of Borges, p. 16 sowie Nicolás Helft: "History of the Land Called Uqbar", Variaciones Borges 15 (2003), 151-180, 164. <?page no="64"?> 60 Hinweise wissen, dass er sie erschafft. Damit pendelt der Text fortwährend zwischen mimetischer und performativer Funktion hin und her. Nicht von ungefähr beschäftigt Bioy und Borges während der beiläufigen Entdeckung Uqbars die Machbarkeit einer Erzählung der besonderen Art: [N]os demoró una vasta polémica sobre la ejecución de una novela en primera persona, cuyo narrador omitiera o desfigurara los hechos e incurriera en diversas contradicciones, que permitieran a unos pocos lectores - a muy pocos lectores - la adivinación de una realidad atroz o banal. Desde el fondo del corredor, el espejo nos acechaba. Descubrimos (en la alta noche ese descubrimiento es inevitable) que los espejos tienen algo monstruoso. Entonces Bioy Casares recordó que uno de los heresiarcas de Uqbar había declarado que los espejos y la cópula son abominable, porque multiplican el número de los hombres. (Tlön, 513) Was wie die Schilderung begleitender Umstände aussieht, nimmt das narrative Programm der gesamten Erzählung vorweg. Denn auf der einen Seite geht es darin um die Konsequenzen, die sich aus der Rechtfertigung des Zitats ergeben: Indem Bioy Casares einen fiktiven Hypotext unterstellt, entsteht die Notwendigkeit weiterführender Fiktionen, die es sonst nie gegeben hätte und die ihrerseits weitere Fiktionen notwendig machen. Auf der anderen Seite verweist der Zusammenhang von espejos y cópula auf die grundlegende Antinomie jedweder Sprachlichkeit, über die Borges in "Indagación de la palabra" spricht. Denn ist cópula, wie Casares später behauptet, die Übersetzung des englischen copulation, so bedeutet das englische copula nicht mehr und nicht weniger als Konjunktion. Die negativen Folgen, die der uqbarische Häresiarch mit der Vaterschaft verbindet, lassen sich in dieser Blickrichtung direkt auf die Zieh- und Zerrkraft des Materials beziehen, die einen Sprecher durch Partikel wie como oder que in die Pflicht nimmt, Dinge zu erfinden: „[E]sa conjunción“, so Borges in "Indagación de la palabra", „esa insignificativa partícula, ya lo está forzando a hiperbolizar, a mentir, a inventar un caso“ (Borges 1960). Der Spiegel, der am Ende des Hausflurs ‘lauert’, wird damit zur Chiffre syntaktischer Zerrkraft, Symbol jenes poderío del la continuidad sintáctica sobre el discurso. Deutet der Spiegel die Vervielfältigung und Verzerrung der Wirklichkeit durch Sprache motivisch an, so dringt seine Wirkung vor bis zur syntaktischen Ebene (E 2 ) selbst. Die cópula nämlich, das que, das beispielsweise in obigem Zitat descubrir und recordar mit den jeweiligen Objekten verbindet und so zuletzt Uqbar selbst ins Leben ruft, findet sich buchstäblich gespiegelt in der ersten Silbe des sonderbaren Namens. Phonisch realisiert - und als ‘verzerrte’ Kopie - wird aus que kurzerhand uq. Damit wird deutlich, dass Tlön, Uqbar und Orbis Tertius keine Welten sind, sondern fehlerhafte Kopien, Abschriften und Spiegelungen zweiten, dritten, vierten Grades, die sich, ganz wie die enzyklopädischen Ordnungen Mauthners, so weit von ihren vorgeblichen Originalen entfernt haben, dass sie für Welten gehalten werden. Dasselbe gilt für die Erzählung von Borges selbst (E 2 ). Auch sie <?page no="65"?> 61 ist eine fehlerhafte Abschrift zweiten, dritten, vierten Grades, möglicherweise von den Schriften Berkeleys, möglicherweise von Mauthners Artikel über die Enzyklopädie, und auch sie entfernt sich so weit von ihren Originalen, dass sie selbst für ein solches gehalten wird oder zumindest den Anspruch darauf erhebt. Im Ergebnis sind all die fehlerhaften Abschriften materiellen Zwängen geschuldet und bringen ihrerseits weitere materielle Zwänge hervor. Mit ihnen vollzieht sich das, was Mauthner über die unverhältnismäßigen Anstrengungen der Enzyklopädisten schreibt, was darin besteht, ein künstliches System zu errichten, in der Hoffnung, die Ordnung des Katalogs in der Welt wiederzufinden. Auch vollzieht sich mit ihnen das, was der uqbarische Häresiarch über Vaterschaft und Konjunktionen sagt. Sie vervielfältigen und verbreiten ganze Universen, was noch semantisch in divulgar nachklingt. Da aber der einprägsame Satz von Bioy Casares als Zitat ausgegeben wird, in Wirklichkeit jedoch keine Quelle besitzt - Nachahmung zu sein vorgibt, stattdessen jedoch Vorahmung 173 ist -, bezeichnet er auf semantischer Ebene das, was er auf pragmatischer und syntaktischer Ebene ‘tut’. Auch er erzeugt Sprache durch Sprache. Dies ist seine ‘realidad atroz o banal’. Während Borges mit "Tlön, Uqbar, Orbis Tertius" eine Welt in dreimaliger paradigmatischer Verdichtung vor den Augen des Leser entstehen und wachsen lässt, macht er diesen Prozess zugleich transparent und weist tentativ immer wieder darauf hin, dass dispositio und ordo der Welt, wie es bei Mauthner heißt, oder sintaxis und unidades de pensamientos, wie Borges selbst sagt, zwei verschiedene Dinge sind und stets nur ihren eigenen Gesetzen gehorchen. Die Ordnungen, die auf diesem Weg entstehen, orientieren sich nicht an einer Wirklichkeit, sondern allein an den Spuren von Schrift und Sprache, die sie hervorbringt. Folglich umkreist das narrative Programm von Anfang an die nicht auszuschließende Möglichkeit, dass die erzählten Welten und die Sprache, die sie trägt, ein und dasselbe sind. Der Text wird damit zur Allegorie seiner selbst. Der phantastische Charakter der Kosmologie Tlöns geht damit allein auf den Umstand zurück, dass hier alles aus Sprache besteht. Dinge sind hier keine Dinge, sondern Wörter oder Schriftzeichen. Sie sind als solche von den Dingen nicht unterscheidbar. Auch die Tatsache, dass Orbis Tertius und die sichtbare Welt am Ende eins werden, legt nahe, dass es einen Unterschied zwischen Welt und Repräsentation von Welt, Zeichen und Bezeichnetem auch auf höher liegenden Ebenen der Repräsentation nicht gibt. Am Ende heißt es: „El mundo será Tlön“ (Tlön, 529). Narrativ wird diese Entwicklung inszeniert durch eine Oszillationsbewegung zwischen E 3 und E 4 . So pendelt der Text fortwährend zwischen der 173 Cf. hierzu M. Schmitz-Emans: Spiegelt sich Literatur in der Wirklichkeit? Überlegungen und Thesen zu einer Poetik der Vorahmung, pp. 11-28. Cf. ebenso Hans Blumenberg: "‘Nachahmung der Natur’ - Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen", Studium Generale 10 (1957), 266-283. <?page no="66"?> 62 Möglichkeit, dass die Dinge, von denen erzählt wird, Repräsentationen, Fiktionen oder bloße Einfälle sind, und andererseits der Möglichkeit, dass diese Dinge unabhängig von jedweder Repräsentation tatsächlich existieren. Exemplarisch wird diese Bewegung im ersten Erzählanlauf anhand des vorgeblich uqbarischen Zitats und seiner Quelle deutlich. Anfänglich ist die ‘Echtheit’ des Zitats fragwürdig, und die weiterführende Recherche vermag die herrschenden Zweifel zu bestätigen - „[e]l examen estéril de uno de los atlas de Justus Perthes fortaleció mi duda“ (Tlön, 514). In dem Moment jedoch, wo ein anderes Medium ins Spiel kommt, werden die Zweifel schwächer: Bioy meldet sich am darauffolgenden Tag per Telephon. Wenn er am anderen Ende der Leitung behauptet, den Artikel über Uqbar vor sich liegen zu haben, kann Borges dies zwar nicht bestätigen, er kann es aber genauso wenig widerlegen. Im telematischen Gespräch gibt es den Artikel über Uqbar und es gibt ihn nicht. Wie der Spiegel zuvor, wird das Telephon damit zur Chiffre syntaktischer oder materieller Zerrkraft. Dennoch produziert es selbst keine Gewissheiten: Sieht es für einen Moment so aus, als sei die Möglichkeit der Existenz des Artikels nicht auszuschließen, so verdichten sich im darauffolgenden Absatz die Anzeichen dafür, dass er eine Fälschung ist. Zumindest verweisen darauf der schlechte Einband der Enzyklopädie, die Bioy ein paar Tage später im Gepäck hat, sowie die Tatsache, dass der darin enthaltene Artikel über Uqbar laut alphabetischem Sigel auf dem Buchrücken nicht vorgesehen ist. Auch findet sich im Artikel selbst anfänglich wenig Interessantes: Leímos con algún cuidado el artículo. El pasaje recordado por Bioy era tal vez el único sorprendente. El resto parecía muy verosímil, muy ajustado al tono general de la obra y (como es natural) un poco aburrido. Releyéndolo, descubrimos bajo su rigurosa escritura una fundamental vaguedad. (Tlön, 514) Erst die zweite, wiederholte Lektüre scheint Erwähnenswertes zutage zu fördern. Vor dem Hintergrund der hier angestellten Überlegungen ist dieser Umstand keineswegs trivial. Er verweist auf jenen Gedanken, den Borges zur Autonomie sprachlicher Repräsentation anstellt. Diese tritt dann ein, wie Borges in "Indagación de la palabra" zeigt, wenn alle Möglichkeiten der Sprache produktiv ausgeschöpft werden, wenn man sich ihren trügerischen Verkettungen, ihrer Ungenauigkeit, ihrem Vielleicht, ihren Betonungen, dem Aber, der Lüge und ihren Schattenseiten ganz hingibt. Auf diese Weise tritt die Sprache selbst ins Zentrum der Aufmerksamkeit und wird gegenüber den Dingen autonom. Es ist bei zweiter Lektüre des sonderbaren Artikels zwar noch nicht explizit die Sprache, die sich von ihrem Objektbezug löst, wohl aber der Artikel über Uqbar als Text. Indem dieser als frei von jeglicher Intertextualität inszeniert wird, ist er als Schriftstück autonom: „La bibliografía enumeraba cuatro volúmenes que no hemos encontrado hasta ahora“ (Tlön, 515). Auch fällt bei wiederholter Lektüre auf, dass Uqbar in geographischer Hinsicht autonom ist, da es keinen sicheren Ort hat, keinen <?page no="67"?> 63 zumindest, der auf Landkarten eingezeichnet ist. Auch hat es keinen kulturellen Ort. Der einzige Hinweis auf einen historischen Namen ist vage und, wie der Erzähler selbst sagt, „invocado más bien como una metáfora“ (Tlön, 515), sprich: Repräsentation zweiten Grades. Einprägsam sei zwar der Vermerk, dass sämtliche Literatur Uqbars phantastischen Charakters sei und sich nie auf die Realität beziehe, sondern auf die beiden imaginären Regionen Mlejnas und Tlön. Dies gegeben, ist jedoch auch die Literatur von Uqbar Repräsentation zweiter Ordnung, auch sie bezieht sich auf keinen ordo naturalis, auch sie ist Nachahmung von Nachahmung. Auf diesen Umstand wird ein weiteres Mal durch den Hinweis auf einen deutschen Theologen angespielt, der die Gründung einer Geheimgesellschaft beschrieben habe, die andere später durchgeführt hätten, „a imitación de lo prefigurado por él“ (Tlön, 515). Auch hier ist Nachahmung zugleich Amplifikation, Proliferation und Übertreibung, wie Borges mit der mehrmaligen Verwendung von divulgar in diesem Zusammenhang nahelegt. Das erste Teilstück des cuento schließt der Erzähler mit dem Hinweis, dass auch in anderen Texten der Biblioteca Nacional nicht die geringste Spur von Uqbar zu finden sei. Damit wird deutlich: Uqbar ist kein Land, sondern bestenfalls jene unschließbare Lücke, die Borges jedweder Sprachbenutzung attestiert. Es ist nicht Ding, sondern Sprache, die beginnt, sich von selbst zu tragen und auf diese Weise Ordnungen unabhängig von der Wirklichkeit schafft und vergrößert. Dieser Gedanke wird im zweiten Teilstück ein weiteres Mal durchgespielt und zugespitzt. Zunächst verdichten sich auf semantischer Ebene eine Reihe von Motiven, in denen sich Sprache als reines Signifikantenspiel darstellt. So ist die Freundschaft Herbert Ashes mit dem Vater des Erzählers eine stille, ‘englische’ Freundschaft, die sich im Austausch von Büchern und Zeitschriften und in schweigsamem Schachspiel erschöpft. Was die beiden miteinander teilen, sind nicht Gefühle oder Erlebnisse, sondern Zeichen in unterschiedlichen Kombinationen. Auch beschäftigt sich Ashe mit der Umrechnung von Zahlensystemen, was voraussetzt, die Beziehung von Ziffern zu numerischen Werten als arbiträr zu denken sowie die Werte selbst als differentiell. Der Hinweis, dass ihm diese Aufgabe von einem Norweger in Rio Grande do Sul aufgetragen worden sei, sowie der Vermerk des Erzählers, Ashe habe nie zuvor erwähnt, jemals in dieser Region gewesen zu sein, sind in etwa vergleichbar mit dem Zitat Bioys, das ebenfalls genauso gut eine Erfindung oder eine Geschichte sein könnte. Im darauf erwähnten Gespräch mit Ashe über Etymologie und die unterschiedlichen Betonungen des Wortes gaucho wird das Spiel mit den Zahlensystemen auf das Lautmaterial der Sprache übertragen und so noch einmal auf den ästhetischen Eigenwert sprachlicher Zeichen verwiesen. Unmittelbar im Anschluss berichtet der Erzähler vom Tod Herbert Ashes und einem Paket, das diesen kurz zuvor aus Brasilien erreicht habe, was ein weiteres Mal auf eine unzuverlässige Quelle verweist. Unglaubwürdig ist <?page no="68"?> 64 zudem der Umstand, dass der Erzähler das Paket Monate später in der Bar findet, in der Ashe es hat liegen gelassen. Ist das Buch, das sich darin befindet, der elfte Band der ersten Enzyklopädie Tlöns, so suggeriert nicht nur die zweifelhafte Herkunft, dass es sich hierbei um ein Produkt literarischer Fiktion handelt, sondern auch die Tatsache, dass der Band 1001 Seiten umfasst. Was sich darin zu lesen findet, bezieht sich, wie der Artikel über Uqbar auch, auf keine Wirklichkeit, sondern erneut auf Literatur und Sprache selbst. Der Verweis auf die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht zeigt vor allem ein Moment weiterer Metaierung 174 oder divulgación an. Doch auch diesmal lassen sich in dem neu entdeckten Text keine intertextuellen Belege finden. Selbst die anderen Bände der Enzyklopädie über Tlön sind nirgends gelistet. Zwar suggerieren zahlreiche Verweise, dass es diese anderen Bände nicht nur gibt, sondern die gesamte Enzyklopädie das Werk mehrerer Verfasser sei. Koordiniert und dirigiert würden diese jedoch, so der Erzähler, von einem „oscuro hombre de genio“ (Tlön, 518) und von „íntimas leyes“ (Tlön, 518). Dass es sich in beiden Fällen um die Dynamik der Sprache selbst handelt, liegt nahe, zumal die Kosmologie Tlöns, wie sie der Erzähler im Anschluss schildert, erneut Borges’ Sprachkonzept ins Gedächtnis ruft. 175 Deutlich wird dies zunächst durch den Hinweis, dass die Sprachen Tlöns den Idealismus voraussetzen. Für die Bewohner Tlöns gibt es die Dinge nur in Abhängigkeit von ihrem Wahrgenommenwerden bzw. von ihrem Versprachlichtwerden: Su lenguaje y las derivaciones de su lenguaje - la religión, las letras, la metafísica - presuponen el idealismo. El mundo para ellos no es un concurso de objetos en el espacio; es una serie heterogénea de actos independientes. Es sucesivo, temporal, no espacial. (Tlön, 518) Der Hinweis, dass Wissenschaften direkte Ableitungen von Sprache sind, verweist auf den Gedanken sowohl Mauthners als auch Borges’, der besagt, dass sich Wissensordnungen und Dingordnungen nicht miteinander verrechnen lassen. Wenn aber Sprache als actos independientes zugleich die einzige Welt ist, so kann deren Ordnung auch nur eine Ordnung der Sprache sein. Mit objetos en el espacio sind damit nicht Dinge oder Objekte im Raum gemeint, sondern in letzter Konsequenz Wörter und Schriftzeichen, die nicht gleichzeitig existieren, sondern nur in einem temporalen Nacheinander. Dieser Gedanke wird in einem weiteren Schritt in der Schilderung der Sprachen Tlöns auf die Spitze getrieben. Unterschieden wird hier zunächst zwischen einer südlichen und einer nördlichen Variante. Wie deren jeweilige Charakteristika zeigen, entspricht die Einteilung in Nord und Süd in etwa dem Oppositionspaar von Linearität und Simultaneität sowie, bezogen auf die Sprache, literaler Realisierung und phonischer Realisierung. So gibt es in 174 Der Text wird erwähnt in "Magias parciales del 'Quijote'" und dort mit der phantastischen Metalepse aus 2.3 in Verbindung gebracht. 175 Sie erinnert zudem den Idealismus George Berkeleys. <?page no="69"?> 65 der Sprache der südlichen (literalen) Hemisphäre keine Substantive, sondern nur unpersönliche Verben, die durch Präfixe und Suffixe adverbialen Gehalts angereichert werden. Einen Gegenstand zu bezeichnen wie beispielsweise den Mond, ist nur durch Reihenbildung möglich. Wie die Schrift selbst sind die Dinge nur in einem zeitlichen Nacheinander zu haben. In der nördlichen (phonischen) Hemisphäre hingegen werden Substantive durch Akkumulation oder Aggregation von Adjektiven gebildet, deren Masse sodann einem realen Objekt entspricht. Dabei ist es dem Zufall überlassen, welche mögliche Adjektivkombination letztlich zum Ding wird, zumal sich Objekte je nach Bedarf scheinbar genauso schnell bilden lassen, wie sie wieder zerfallen, „convocados y disueltos en un momento, según las necesidades poéticas“ (Tlön, 519). So sind die Dinge, wie die gesprochenen Wörter selbst, stets nur im Vollzug anwesend, um im Moment ihrer Äußerung wieder zu verschwinden. Ein Außerhalb der Sprache gibt es in Tlön nicht. Dies zeigt sich darin, dass Kausalität und Assoziation dasselbe sind. Zur Illustration dieses Gedankens bringt Borges eine Variation eines Beispiels, das sich bereits bei Mauthner findet. So beruhen die Wahrnehmung einer Rauchwolke am Horizont und die anschließende Wahrnehmung eines Buschfeuers nicht auf einem Ursache-Wirkungs-Verhältnis, sondern auf bloßer Ideenassoziation. Genauso verhalte es sich mit numerischen Werten. Kommen zwei Individuen beim Zählen derselben Menge auf dasselbe Ergebnis, so sei dies ebenfalls Gedankenassoziation. Damit gilt, dass der ordo naturalis, den die Naturwissenschaften bei Mauthner noch immer nicht hinreichend beschreiben können, auf Tlön nicht unabhängig von der Sprache existiert. Er und die Sprache sind ein und dasselbe, sämtliche Wissenschaften mit eingenommen: „Este monismo o idealismo total invalida la ciencia“ (Tlön, 520). Wissenschaft gebe es daher nur als schöne Kunst, als „arquitectura agradable o de tipo sensacional“ (Tlön, 520). Systeme der Ordnung und des Wissens befriedigen in Tlön, frei nach Mauthner, vor allem ästhetische Bedürfnisse. Möglich seien daher Kosmologien der unterschiedlichsten Art, wie der Erzähler sodann anhand einiger Beispiele zeigt. Die einzige Lehre jedoch, die auf Tlön unmöglich sei, sei der Materialismus. Beispielhaft für seine Undenkbarkeit sei der berühmte Fehlschluss der neun Kupfermünzen. So halte es ein Häresiarch für logisch, dass die Münzen trotz der Abwesenheit einer wahrnehmenden Instanz existierten, und leite daraus die Annahme einer Realität ab. Dies könne ein Bewohner Tlöns jedoch nicht verstehen: „El lenguaje de Tlön se resistía a formular ese paradoja; los más no la entendieron“ (Tlön, 521). Dieser Umstand wiederum erschließt sich, wenn man daran erinnert, dass die Realität Tlöns die Sprache selbst ist und wie diese Realität (Sprache) beschaffen ist. Da sie Sinn nur durch Reihenbildung oder Akkumulation generiert, kann sie - streng genommen - keine negativen Werte bilden. Da Sprache und Welt ein und dasselbe sind, da es die Dinge nicht unabhängig von der Sprache gibt, gibt es <?page no="70"?> 66 auch nichts, was nicht da ist. Vereinfacht gesagt: In dem Moment, wo auf Tlön ein Nichts gedacht oder gesagt wird, ist es kein Nichts mehr. Da es ein Nichts sprachlich nicht gibt, gibt es dieses auch nicht semantisch. Borges fasst diesen Gedanken mit Bezug auf Andrés Bello in "Otra vez la metáfora", einem anderen Essay aus El idioma de los Argentinos, wie folgt zusammen: „Antiguamente nada significaba siempre cosa: nada no es más que un residuo de la expresión cosa nada, cosa nacida, cosa criada, cosa existente“ (IdA, 52). Es verwundert daher nicht, dass die Unmöglichkeit, eine Erklärung für das Nichtvorhandensein der Münzen zu finden, auf Tlön Anlass einer philosophischen Debatte wurde, die zuletzt in die Suche nach Gott mündete. Auch am Beispiel der Literatur Tlöns lässt sich zeigen, dass sie keinen Unterschied zwischen der Welt und der Sprache kennt, ihre Benutzer mit eingenommen. So ist das Konzept der Autorschaft unbekannt. Stattdessen herrscht die Vorstellung eines einzigen Subjekts. Einzelautoren sind als Funktionen von Textkombinationen nur Erfindungen: „La crítica suele inventar autores: elige dos obras disímiles [...], las atribuye a un mismo escritor y luego determina con probidad la psicología de ese interesante homme de lettres…“ (Tlön, 523). Fiktionale und wissenschaftliche Literatur sind, wie die Wissensordnungen Mauthners auch, Kombinationen und Rekombinationen ein und desselben Gegenstands, ein und derselben Handlung. Da aber alles, was Tlön ist, Sprache ist, unterliegt auch die Dingwelt Tlöns jener Zieh- und Zerrkraft, die Borges der Sprache attestiert. Im letzten Abschnitt des zweiten Teilstücks wird dieser Umstand anhand jener Objekte veranschaulicht, die sich hrönir nennen. Zunächst führt sie der Erzähler ein als Kopien von verlorenen Objekten, als „objetos secundarios“ (Tlön, 524). Gegenüber den Originalen wirken sie ein wenig linkisch und sind zudem etwas größer. Wie die Sprache auch sind sie Verzerrungen und Übertreibungen von Dingen: „exageran las aberraciones del inicial“ (Tlön, 524). Was jedoch ihre Herstellung betrifft, berichtet der Erzähler von folgendem Experiment: In einer Gruppe von Gefangenen wurde demjenigen die Freiheit versprochen, dem es gelingen würde, in einem alten Flussbett eine bedeutsame Ausgrabung zu machen. Monate zuvor zeigte man den Gefangenen Photographien der Gegenstände, die vorgeblich zu finden seien. Was sie später zutage förderten, waren jedoch entweder Plunder oder ein verrostetes Rad, das man auf einen Zeitpunkt datieren konnte, der seltsamerweise nach dem Experiment lag. Als unerklärbares Ereignis bedient dies erneut den Topos grundsätzlich entzogener Ursächlichkeit und verweist damit ein weiteres Mal auf die Autonomie der Sprache - in Form der hrönir - gegenüber den Dingen, die auf den Photos abgebildet sind. Bedenkt man jedoch, dass es, wie die Anekdote nahelegt, um die Herstellung von Sprache geht, sprich: um das Finden von Dingen (Wörtern) für andere Dinge (Bilder), so liest sich die Passage bei näherem Hinsehen wie ein poetologisches Konzept und eine Anleitung zum Umgang mit Metaphern. <?page no="71"?> 67 Den Stellenwert der Metapher für Literatur und Dichtung hat Borges wiederholt kritisch beäugt, so beispielsweise in "Otra vez la metáfora". Darin beklagt Borges den Umstand, dass jene Dichter in der Regel mehr Lob ernteten, die offenen Gebrauch von Metaphern machten, „que hablen privativamente en metáforas“ (IdA, 49). Dies gehe wohl auf den Glauben zurück, die Metapher sei die einzige Triebkraft der Dichtung oder einziges poetisches Faktum - „única poetizadora, [...] hecho poético [...] por excelencia“ (IdA, 49) -, weswegen sie gemeinhin bei der Herstellung poetischer Gegenstände Verwendung finde. Für sich genommen seien die Dinge jedoch nicht poetisch. Sie könnten es allerdings werden, wenn sie in enger Beziehung zu unserem Leben stünden. Um aber zu diesem Punkt zu gelangen, bedürfe es eines zweistufigen Prozesses: [E]l de poetización y el de explotación. El primero es pudoroso, torpe, casi lacónico; vaivén de corazonadas y de temores lo hace pueril y apenas si se atreve a decir en voz alta cómo se llama. Su manera de hablar es la exclamación, el relato desocupado, la palabra sin astucia de epítetos. El segundo es resuelto, conversador: el tema ya tiene firmeza de símbolo y su solo nombre - cargado de recuerdos valiosos - es declarador de belleza. Su voz es la metáfora, consorcio de palabras ilustres. (IdA, 50) Es liegt nahe, die hier entfaltete Unterscheidung auf das Experiment mit den Gefangenen in Tlön zu beziehen. Denn seine Wiederholung in Schulen habe, wie der Erzähler berichtet, nach dreimaligem Scheitern erst dann wertvolle Objekte hervorgebracht, nachdem einer der Direktoren während der Ausgrabungen gestorben war. Anstatt also hrönir - Worte, Ausdrücke, Metaphern - zu finden, die einer Vorlage - den Photographien - gehorchten, durften sich die Suchenden diesmal allein auf ihre Intuition verlassen, ohne zu wissen, wonach sie suchten: „Así se descubrió la improcedencia de testigos que conocieran la naturaleza experimental de la busca…“ (Tlön, 524). Was auf diesem Weg zufällig zutage gefördert wurde, war das, was auf Tlön ur genannt wird und mehr als nur bloßes Zerrbild potenziell unendlicher Nachahmungen ist, sondern „más extraño y más puro que todo hrön“, wie der Erzähler später sagt. Aus diesem Grund gebe man nach dieser Erfahrung individuellen Arbeiten den Vorrang, die mehr oder weniger improvisiert seien. Mit diesem Hinweis schließt der Erzähler das zweite Teilstück des cuento. Nahm es seinen Ausgang von der Lösung der Sprache von jeglichen Objektbezügen (Sprache als Signifikantenspiel, fehlende Hypotexte des elften Bandes der Enzyklopädie Tlöns), so mündet es am Ende in eine Auseinandersetzung mit ihrem ästhetischen Gebrauch (Entdeckung der hrönir). Im dritten Teilstück rückt letzterer sodann vollumfänglich ins Zentrum der Narration. Zuvor wird jedoch ein weiteres Mal die Geschichte der Enzyklopädie schlaglichtartig wiederholt, wobei der Fokus dieses Mal verstärkt auf den Gedanken gelegt wird, dass Wissensordnungen in letzter Konsequenz <?page no="72"?> 68 ästhetische oder ‘architektonische’ Ordnungen sind. So wird zunächst von der Entdeckung eines Briefs erzählt, in dem von einer Geheimgesellschaft zu lesen ist, deren Ziel es gewesen sei, ein Land zu erfinden. Bestand dieses Bemühen, so der Erzähler, anfänglich in der Anfertigung einiger weniger Schriften, so setzte sich bald die Überzeugung durch, dass es mehrere Autoren und mehrere Generationen bedurfte, das Werk zu vollenden. In der Geschichte der Enzyklopädie, wie sie Mauthner skizziert, ist dies jener entscheidende Moment, in dem von Einzelautoren zu kollektiver Autorschaft umgestellt wird. Er wird begleitet von der anwachsenden Überzeugung, dass Gott nicht mehr für die Ordnung der Welt bürgt oder, wie Mauthner sagt, die Theologie den anderen Disziplinen subordiniert wird. Diesen Moment verkörpert im dritten Teilstück der exzentrische Millionär Ezra Buckley, der gewillt ist, das Großprojekt der enzyklopädischen Erschaffung eines ganzen Planeten unter der Bedingung zu finanzieren, dass darin über Jesus nichts zu finden sei. Spätestens hier wird deutlich: Das enzyklopädische Großprojekt ist von vornherein nicht mehr an die Wirklichkeit angelehnt, sondern ein interessegeleiteter Entwurf der Welt. Als solcher trägt er die Signatur einer Ideologie und bringt den Menschen Unheil. Ezra Buckley, möglicherweise die Negativkopie George Berkeleys, wird immerhin wenig später vergiftet. Das Werk jedoch, das die von ihm finanzierte Geheimgesellschaft erstellt, wird in die Sprache Tlöns übersetzt und Orbis Tertius genannt. Da die Sprache Tlöns jedoch keine Sprache im eigentlichen Sinn ist, sondern der Erzählung bislang als Vehikel diente, Sprache und Welt paradigmatisch zu vergleichgültigen, so verwundert es an dieser Stelle nicht, wenn Orbis Tertius als in dieser Sprache verfasste Enzyklopädie auch von der Welt des Erzählers Besitz ergreift, mit dieser Welt eins ist. In letzterer tauchen sodann nach und nach Objekte auf, die von Tlön stammen, wie der Kompass, auf dessen Zifferblatt Buchstaben eines der Alphabeten Tlöns zu lesen sind, oder der seltsam schwere Kegel, den ein singender Betrunkener kurz vor seinem Tod verliert. Das rauschhafte Lallen und die milonga, mit der er seine Zimmergenossen bis zum Morgengrauen wach hält, verweisen motivisch auf die sich anbahnende Ununterscheidbarkeit von Form und Inhalt, die Borges grundsätzlich mit der Musik verbindet. 176 Dennoch lässt der Erzähler nicht unverhüllt, dass die Vergleichgültigung der enzyklopädischen Ordnung Tlöns mit der Ordnung der Welt Unbehagen bereitet: Hace diez años bastaba cualquier simetría con apariencia de orden - el materialismo dialéctico, el antisemitismo, el nazismo - para embelesar a los hombres. ¿Como no someterse a Tlön, a la minuciosa y vasta evidencia de un planeta ordenado? Inútil responder que la realidad también está ordenada. Quizá lo esté, pero de acuerdo a leyes divinas - traduzco: a leyes inhumanas - que no acabamos nunca de percibir. (Tlön, 528) 176 Cf. J. L. Borges: "La muralla y los libros", p. 15. <?page no="73"?> 69 Der Gedanke, dass die Ordnung der Welt und die ‘architektonische’ Ordnung des Wissens nicht verrechenbar sind, erhält hier eine politische Dimension. Wissensordnungen sind, wie Ideologien auch, ‘schöne’ Ordnungen, an denen alles seinen erkennbaren Platz hat. In dieser Form entsprechen sie zwar nicht der Ordnung der Welt, werden aber häufig genug für Weltordnungen gehalten. Dass sie verführerische und trügerische Angebote sein können, deutet der Erzähler in der hier zitierten Passage an. Erkennbar wird dies zudem anhand der pragmatischen Begleitumstände der Veröffentlichung der Enzyklopädie Tlöns: Denn möglicherweise, so der Erzähler, wurden die vierzig Bände, die durch Buckleys Geheimgesellschaft angefertigt wurden, so platziert, dass ihre Entdeckung nicht ausgeschlossen werden konnte. Auffällig ist jedoch, dass man bestimmte Passagen der sagenhaften Enzyklopädie, namentlich diejenigen zur Entdeckung der hrönir, gestrichen oder abgeschwächt hat. Erinnert man daran, dass die Experimente zur Herstellung der hrönir zur Gewissheit führten, dass poetische Objekte, solche also, die einen engen Bezug zum Leben haben, dann gefunden werden, wenn niemand da ist, der diesen Prozess steuert, so nimmt das Ausmaß der ideologischen Dimension des cuento noch weiter zu. Denn nun liegt es nahe anzunehmen, dass die Entdeckung des global-enzyklopädischen Entwurfs namens Orbis Tertius ihrerseits eine Inszenierung ist, die bewirken soll, dass das, was sich durch sie präsentiert, für echt gehalten wird. Sie ist eine Illusion, die den Umstand ihrer Inszeniertheit verdeckt. In dem Moment, so der Fingerzeig, wo eine Wissensordnung zur Ideologie wird, bezieht sie ihre Rechtfertigung aus einer vorgeblichen Wirklichkeit. Was es sodann zu tun gilt, ist nicht mehr die Frage einer Entscheidung, sondern Notwendigkeit und damit bar jeglichen Rechtfertigungszwangs. Der Erzähler macht aus dem Unbehagen, das damit verbunden ist, keinen Hehl. Anstatt aber selbst zum Apologet einer Gegenordnung zu werden, inszeniert Borges sein cuento und zuletzt sich selbst als fragenden Skeptiker. Auch dies wird weniger auf der Ebene der Semantik erkennbar als vielmehr auf der Ebene der Pragmatik. Denn bedenkt man den Umstand, dass die posdata, als welche das dritte Teilstück ausgegeben wird, gemessen am Erscheinungsjahr des cuento in der Zukunft liegt, so wird sie selbst mit jenem hrönir vergleichbar, das beim ersten Durchlauf des Experiments in Tlön gefunden wurde. Damals förderten die Ausgrabungen nur Plunder und ein verrostetes Rad zutage, das ebenso auf einen Zeitpunkt zu datieren war, der nach dem Datum des Experiments lag. Folgt man diesem Vergleich, so wäre die posdata nichts weiter als eine ausgebreitete Metapher, eine unbrauchbare verzerrte Kopie der Dinge, während Orbis Tertius Wirklichkeit wird. Bedenkt man jedoch den Umstand, das Orbis Tertius als ‘schöne’ Wissensordnung zuletzt Züge einer Ideologie trägt, so bleibt ihrem programmatischen Gegenentwurf, wenn er nicht selbst zur Ideologie werden möchte, nicht mehr die Macht der Behauptung, sondern nur mehr die einer skepti- <?page no="74"?> 70 schen Befragung von Behauptungen, die sich darstellt als das mehrmalige, paradigmatische Durchspielen sprachlicher und narrativer Möglichkeiten, als Lösung der erzählenden Sprache von Objektbezügen im Sinne einer Befreiung von der „tyrannie de la signification.“ 177 Ähnlich argumentiert Borges in "Otra vez la metáfora". Eine für ihn akzeptable Definition der Metapher sei diejenige, die sie als Ornament betrachtet. In dieser Blickrichtung seien Metaphern Luxus, und der sei erträglich und durchaus genießbar, wenngleich Borges selbst es vorziehe, anstatt mit einem teuren Auto mit der Straßenbahn zu fahren, anstatt der luxuriösen Prunkstraßen die schäbigen Seitengassen zu nehmen (cf. IdA, 55). Im letzten Absatz von "Tlön, Uqbar, Orbis Tertius" wiederholt der Erzähler diesen Gedanken, indem er wissen lässt, dass ihn der unaufhaltsame Fortschritt von Orbis Tertius nichts angehe und er es vorziehe, an einer vagen Übersetzung weiter zu arbeiten, deren Publikation er überdies in Frage stelle. Es ist dies die Geste dessen, was Borges als poetisches Sprechen dem exzessiven Gebrauch von Metaphern vorzieht. Eine solche Geste bestimmt die gesamte hier behandelte Erzählung: Schließlich ist das, was "Tlön, Uqbar, Orbis Tertius" in den Blick nimmt, nicht eine mögliche Ordnung von Wissen, nicht eine mögliche Enzyklopädie, sondern der relativistische Horizont ihrer Konstitutionsbedingungen. Und dieser Horizont ist in letzter Konsequenz nichts weiter als das Material der Sprache, ihre Zieh- und Zerrkraft, die, um die Integrität möglicher Ordnungen nicht zu gefährden, in der Latenz zu bleiben hat, stets aber mit vorhanden ist. 3.2 Stimme: "Funes, el memorioso" (1942) "Funes, el memorioso" ist ein medienphantastischer Text par excellence. Denn hier ist das Phantastische weder Effekt von etwas Unerklärlichem auf der Ebene der Semantik, noch schreibt es sich alleine von einem unterstellten anderweitigen Bezugstext her, wie der Enzyklopädie bei "Tlön, Uqbar, Orbis Tertius". Vielmehr ist das Phantastische in "Funes, el memorioso" Effekt eines anderweitig unterstellten (oder simulierten) apparativen Verfahrens: des Phonographen. Vereinfacht gesagt: Die unglaublichen, mnemonischen Fähigkeiten der titelgebenden Hauptfigur gehen auf den banalen Umstand zurück, dass mit Funes nicht bloß ein Mensch, sondern immer auch ein Phonograph beschrieben wird. Dass Funes als Allegorie oder Personifikation eines Phonographen zu lesen ist, hat als Erster Christian Wehr bemerkt. 178 Gleichwohl räumt Wehr 177 R. Barthes: L’obvie et l’obtus - Essais critiques III, p. 214. Zur Skepsis bei Borges cf. erneut S. Zepp: Jorge Luis Borges und die Skepsis. 178 Cf. C. Wehr: "Borges y los medios acústicos - Funes el memorioso como alegoría técnica". <?page no="75"?> 71 ein, dass es sich bei "Funes, el memorioso" um eine „alegoría disimulada“ 179 handelt, die sich bestenfalls in einer „dimensión escondida, pero significativa de la narración“ 180 entfalte: „[L]as alusiones mediáticas“, so Wehr, „[...] raramente aparecen expresadas de manera directa. Borges las pone en escena con recursos literarios como la metáfora, la alegoría, la metonimia y la personificación.“ 181 Der Bezug zu einem Phonographen - so Wehr weiter - werde jedoch allein durch die mnemonischen Fähigkeiten von Funes deutlich. Denn was ist ein Phonograph anderes als das unerschöpfliche Gedächtnis einer Stimme? Es verwundere vor diesem Hintergrund also nicht, dass Funes’ Stimme, die er als Speichermedium der Schrift vorzieht, als laut und monoton beschrieben werde. Das Fehlen individueller Charakterzüge habe zudem etwas technisch-apparatives, und die Tatsache, dass Funes’ Gesicht gegenüber seiner Stimme zunehmend ins Dunkel zurücktritt, suggeriere die Trennung der Stimme vom Körper - eine Operation, die der Phonograph allein qua technischer Eigenschaften vollzieht. Zum besseren Verständnis einer solchen verdeckten Technikallegorie beruft sich Wehr auf ein Essay des französischen Philosophen Jean Marie Guyau mit dem Titel "Le mémoire et le phonographe". Dessen Hauptargument, demgemäß das menschliche Gedächtnis genau wie ein Phonograph funktioniere, werde in Borges cuento gleichwohl erprobt und illustriert. Wenngleich sich also kein Beleg dafür finden lasse, dass Borges die Überlegungen Guyaus gekannt hat, so sei dennoch nicht ausgeschlossen, dass diese als Palimpsest von "Funes, el memorioso" dienten. Die Erzählung wäre in dieser Blickrichtung als cuento filosófico über „consecuencias estéticas, semióticas y antropológicas“ 182 der neuen Medien zu lesen. Vor dem Hintergrund der hier angestellten Überlegungen zu einem Medienphantastischen, das sich herschreibt von einem anderweitig unterstellten oder simulierten Material, sind die Beobachtungen Wehrs also entscheidender Impulsgeber. Im Folgenden interessieren jedoch nicht allein die ästhetischen, semiotischen oder anthropologischen Schlussfolgerungen, die sich aus einer solchen verdeckten Technikallegorie ziehen lassen, sondern in erster Linie das Verfahren selbst. Im Kern geht es um das, was im Rahmen der theoretischen Vorüberlegungen mit Bezug auf Carter Wheelock und Borges’ hecho estético erarbeitet wurde. Hier wurde vorweggenommen, dass die Fülle unterschiedlichster, teils widersprüchlicher Sinnangebote, wie sie ein cuento filosófico von Borges kennzeichnet, möglicherweise einen Rahmen bespielt, indem irrige Positionen zuletzt in einem neuen (oder anderem) Licht stünden. Wheelock spricht in diesem Zusammenhang von einem Kurzschluss, in dem ein anderweitig unterstellter, latent vorhandener Rahmen aufblitzt, sich jedoch niemals manifestiert, also von keiner Seite aus 179 Ibid., p. 240. 180 Ibid., p. 237. 181 Ibid., p. 235. 182 Ibid. <?page no="76"?> 72 expliziert wird. Die daran sich anschließende Vermutung, dass ein solcher Rahmen nicht allein epistemologischer oder ontologischer, sondern auch materieller (oder simuliert apparativer) Natur sein kann, steht im Zentrum der folgenden Überlegungen zu "Funes, el memorioso". Sie nehmen ihren Ausgangspunkt also nicht bei der verdeckten Technikallegorie, sondern bei jenem „play of allusions“ 183 , wie Wheelock dies nennt, in dem sich widersprüchliche Positionen fortwährend abwechseln und auf diese Weise zu einer ‘Fast-Enthüllung’ (a near revelation) führen. Die verdeckte Technikallegorie, sprich: die unterstellte oder latente Existenz des Phonographen, wäre für die epistemologischen Ambivalenzen, die unlösbaren Widersprüche oder gar Paradoxien, die sich in "Funes, el memorioso" in einem komplexen Beziehungsgeflecht aus realen oder fingierten Hypotexten abzeichnen, so etwas wie ein Regressstopper, im Sinne einer Ebene, von der aus gesehen sich sämtliche Paradoxien entschärfen ließen. Den Weg dahin, gilt es im Folgenden nachzuzeichnen. Denn tatsächlich zieht sich durch "Funes, el memorioso" zunächst ein versteckter philosophischer Diskurs über das Gedächtnis, der seinen Ausgangspunkt nimmt bei Friedrich Nietzsche. Dieser schriebt über das Gedächtnis: „Bei dem kleinsten [...] und bei dem größten Glücke ist es immer eins, wodurch Glück zum Glücke wird: das Vergessenkönnen“. 184 Was dem deutschen Philosophen und Philologen der Schlüssel zu einem zufriedenen Leben ist, will dem jungen Uruguayer Ireneo Funes nach einem Sturz vom Pferd nicht mehr gelingen. Seit ihn der Unfall gelähmt zurückgelassen hat, genügt es ihm, sich die Dinge einmal anzusehen, zu lesen, zu hören, zu riechen oder zu schmecken, um sie für immer zu behalten. Sprachen wie das Lateinische kann der „Mnemonist“ 185 allein durch den Gebrauch eines Wörterbuchs im Handumdrehen lernen. Die einmalige Lektüre jedweder Texte genügt, um sie nie wieder aus dem Gedächtnis zu verlieren. Während wir uns - so der Erzähler - nach einmaligem Hinblicken in Erinnerung rufen könnten, drei Becher auf einem Tisch gesehen zu haben, so erinnere sich Funes nach dem flüchtigen Betrachten eines Weinstocks an jede einzelne Traube, jeden Trieb, jede Frucht, an die genauen Umrisse der Wolken am Morgen des 30. April 1882 oder die einmal gesehenen Formen des Schaums auf der Wasseroberfläche des Río Negro. Jede Erinnerung sei zusätzlich mit körperlichen Zuständen verknüpft wie Muskelspannungen und Temperaturempfindungen. Jedes Ereignis, jede Wahrnehmung, jedes Geräusch, jedes Bild wird im hochpräzisen Speicher- 183 Cf. Carter Wheelock: "Borges’ New Prose", in: Harold Bloom ed.: Jorge Luis Borges, New York u.a.1986, pp. 105-132, p. 118 sowie Kap. 2.4 dieser Arbeit. 184 So in "Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben" (1874). Zitiert wird nach Friedrich Nietzsche: Gesammelte Schriften - Kritische Studienausgabe, Bd. I-XV, edd. Giorgio Colli, Mazzino Montinari, München/ Berlin/ New York: dtv/ de Gruyter 1988, im Folgenden abgekürzt durch KSA I-XV; das Zitat KSA I, p. 250. 185 R. Lachmann: Erzählte Phantastik - Zu Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte. <?page no="77"?> 73 medium, über das Funes verfügt, in allen Sinndimensionen und in unendlich kleinen Zeiteinheiten abgelegt. Funes’ Gedächtnis ist absolut und unerbittlich. 186 Es erlaubt seinem Besitzer sogar, sich an das Erinnern selbst zu erinnern. Glücklich hingegen macht es ihn nicht. Es wird ihm stattdessen zur Qual. Ireneo schläft nicht mehr, altert rapide und stirbt als junger Mann an einem Blutstau in der Lunge. Der Erzähler, der seinen Bericht für einen Sammelband über Funes vier Jahrzehnte nach dessen Tod verfasst, steht der „mnemonische[n] Anomalie“ 187 des uruguayischen Provinzbewohners durchaus kritisch gegenüber: „Mi deplorable condición de argentino me impedirá incurrir en el ditirambo - género obligatorio en el Uruguay, cuando el tema es un uruguayo“ (Fm, 583). 188 Wie er selbst zu erkennen gibt, vertritt er damit jedoch eine randständige Position. Zwar scheint auch er anfänglich von Ireneo fasziniert zu sein. Im Laufe seines Berichts wird der kritische Ton, den er gegen das unendliche Gedächtnis anschlägt, jedoch immer lauter. Am Ende empfindet er mit Ireneo sogar Mitleid. Bei den anderen Verfassern hingegen überwiege fast ausschließlich Lob und Begeisterung. Ein gewisser Pedro Leandro Ipuche sei sogar so weit gegangen, Funes als einen Vorboten des nietzscheanischen Übermenschen zu bezeichnen, als einen „‘Zarathustra cimarrón y vernáculo’“ (Fm, 583). Von solchen Vergleichen will der Erzähler nichts wissen. Bei näherem Hinsehen stellt sich jedoch heraus, dass sie nicht ganz fern liegen. 189 An eine durchaus bekannte Stelle des Zarathustra erinnert bereits die erste Begegnung des Erzählers mit Funes. Damals saß jener, wie er berichtet, zu Pferd und war in Begleitung seines Cousins jüngst in Fray Bentos, der Heimatstadt Ireneos, angekommen: Entramos en un callejón que se ahondaba entre dos veredas altísimas de ladrillo. Había oscurecido de golpe; oí rápidos y casi secretos pasos en lo alto; alcé los ojos y vi un muchacho que corría por la estrecha y rota vereda como por una estrecha y rota pared. Recuerdo la bombacha, las alpargatas, recuerdo el cigarrillo en el duro rostro, contra el nubarrón ya sin límites. (Fm, 584) Das erste Mal sieht der Erzähler Funes also von unten. Die tastende Beschreibung seines Äußeren, angefangen bei den Beinen und Füßen, weiter über das Gesicht bis zum verdunkelten Himmel, unterstreichen die Perspek- 186 Karl August Horst übersetzt den Titel mit "Das unerbittliche Gedächtnis". Cf. J. L. Borges: Gesammelte Werke, Bd. III/ 1, ed. et trans. Gisbert Haefs, München: Carl Hauser 1981. 187 R. Lachmann: Erzählte Phantastik - Zu Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte, p. 402. 188 Zitiert wird nach Borges, OC I, pp. 583-590, im Folgenden abgekürzt durch Fm. 189 Dass Nietzsches „Gedächtnisnihilismus die Folie der Erzählung“ liefert, hat bereits Renate Lachmann angedeutet. Cf. ead.: Erzählte Phantastik - Zu Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte, p. 403. <?page no="78"?> 74 tive auf pragmatischer Ebene ein weiteres Mal. Da die Oberfläche des seltsam hoch gelegenen Gehwegs von unten nicht zu sehen ist, scheint es, als balanciere Funes auf einer schmalen Mauer. Dies wäre nicht weiter bedeutsam, wenn nicht die eigenartige Perspektive wenige Zeilen später mit zusätzlichem Gewicht versehen würde. Als der Erzähler nach zweijähriger Abwesenheit von Fray Bentos von seinem Cousin die schicksalsträchtige Nachricht erhält, dass Funes vom Pferd gefallen ist und nicht mehr laufen kann, erinnert er sich, unter Anderem, seltsamerweise auch an den damaligen Blickwinkel: Recuerdo la incómoda magia que la noticia me produjo: la única vez que yo lo vi, veníamos a caballo de San Francisco y él andaba en un lugar alto; el hecho, en boca de mi primo Bernardo, tenía mucho de sueño elaborado con elementos anteriores. (Fm, 584f) Vordergründig fasziniert den Erzähler, dass Funes damals stets die genaue Uhrzeit ohne Zuhilfenahme technischer Gerätschaften zu sagen wusste. Ebenso erwähnenswert scheint ihm jedoch der Umstand, dass Funes damals in der Höhe zu sehen war. Dies lässt sich sogar als Begründung für das ‘unpässlich-magische Gefühl’ lesen, das den Erzähler ob der Nachricht von Funes’ Sturz beschleicht. Was den Bezug zu Nietzsche betrifft, so erinnern die Höhe, das Balancieren auf dem schmalen Gehweg und zuletzt die Nachricht von Ireneos Sturz an die Seiltänzer-Episode aus dem Zarathustra, der immerhin kurz zuvor namentlich erwähnt wird. So gesehen wäre Funes nicht seine wilde volkssprachliche Reinkarnation, wie Leandro Ipuche dies vorschlägt, sondern der Seiltänzer, der - wie es im Zarathustra heißt - den Weg zwischen Tier und Übermensch begeht. 190 Die Tatsache, dass Seiltänzer auf Spanisch funámbulo heißt, ist dieser Lesart gewiss nicht abträglich. Dennoch geht der intertextuelle Bezug über die Anspielung nicht hinaus und wird sogleich von möglichen Alternativen umspielt: Die Stimme nämlich, an die sich der Erzähler bei der ersten Begegnung mit Funes erinnert, ist „aguda y burlona“ (Fm, 584), grell und spöttisch. Eine „fürchterliche Stimme“ 191 jedoch hat - wie es im Zarathustra heißt - nicht der Seiltänzer, sondern der bunte Gesell und Possenreißer, der jenen drängt, über ihn hinweg springt und schließlich seinen Sturz in die Tiefe herbeiführt. Nicht abträglich wäre dieser Lesart die Tatsache, dass der Erzähler dem Zarathustra- Vergleich Leandro Ipuches entgegenhält, Funes sei nur ein „compadrito“ (Fm, 583) aus Fray Bentos gewesen - ein Geck also, ein Angeber und ‘Großmaul’ aus der Provinz. 192 Damit wäre Funes sowohl der Possenreißer als 190 „Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch“, so Zarathustra beim Auftritt des Seiltänzers. KSA IV, p. 16. 191 Ibid, p. 21. 192 Der entsprechende Eintrag im Wörterbuch der Real Academia Española führt zudem folgende Definition: „Tipo popular, jactancioso, provocativo, pendenciero, afectado en sus maneras y en su vestir.“ Cf. Diccionario de la lengua española, <http: / / lema. rae.es/ drae/ ? val=compadrito> [Stand: 31.01.2014]. <?page no="79"?> 75 auch der Seiltänzer und doch weder ganz der eine noch ganz der andere. Er wäre in diesem Moment jedoch nicht der Lehrer vom Übermenschen, denn der steht unten, blickt hinauf und beobachtet, was sich oben auf dem Seil tut, ganz wie der Erzähler bei seiner Ankunft in Fray Bentos. Der wäre möglicherweise selbst jener Zarathustra, von dem Leandro Ipuche spricht. Bedenkt man, dass Borges den deutschen Philosophen an anderer Stelle augenzwinkernd als „Friedrich Zarathustra“ oder gar „Zarathustra“ 193 bezeichnet hat, so liegt die Vermutung nahe, dass ein argentinischer Nietzsche mit "Funes, el memorioso" die Geschichte eines unendlichen Gedächtnisses erzählt. Wie zu erwarten, ist auch diese Lesart nur fast zutreffend. Es gibt zuletzt eine weitere markante Beziehung, die Ireneo Funes in die Nähe von Friedrich Nietzsche selbst rückt: Neben den intertextuellen Bezügen zum Zarathustra besitzen vor allem die biographischen Einzelheiten, die der Erzähler in den Bericht über Ireneo einstreut, markante Ähnlichkeiten mit dem Lebenslauf des deutschen Philosophen. Geboren wird Funes 1868, genau in dem Jahr, in dem Nietzsches philosophische Laufbahn beginnt. Der Ruf an die Universität Basel ergeht zwar erst ein Jahr später. Ein bedeutsames Ereignis im Leben des damaligen Artilleristen ist jedoch ein Reitunfall im Jahr zuvor, der den künftigen Dienst als Einjährig-Freiwilliger mit einem Schlag beendete und die Fortsetzung der philologischen Tätigkeit während der Genesungskur ermöglichte. 194 Von hier an widmet sich Nietzsche ganz der Wissenschaft. Auch für Funes wird ein Sturz vom Pferd zur entscheidenden Wendemarke, die ihm eine völlig neue Sicht auf die Dinge beschert: Nachdem er - wie er berichtet - die Augen nach der Bewusstlosigkeit geöffnet habe, sei die Gegenwart fast unerträglich gewesen, so detailreich, so gesättigt mit scheinbar belanglosen Erinnerungen. Dass ihn der Unfall gelähmt zurückgelassen habe, sei ihm bei all dem erst später aufgefallen. Dennoch verkürzen die neu gewonnenen Fähigkeiten sein Leben drastisch. Im Alter von nur einundzwanzig Jahren stirbt Funes. Im selben Jahr, 1889, erleidet auch Nietzsche einen Nervenzusammenbruch, der seinen Ausstieg aus dem intellektuellen Leben erforderlich macht und auf diese Weise zumindest seinen geistigen Tod besiegelt. Wie der deutsche Philosoph hatte Funes eine enge Bindung zu seiner Mutter, während der Vater die Familie in beiden Fällen früh verlassen hat - hier krankheitsbedingt, dort unter mysteriösen Umständen. 195 Ist Funes also eine Wiedergeburt oder gar ‘Wiederkehr’ des deutschen Philosophen mit dem Hammer? Die Vorstellung einer sich stets wiederho- 193 So vor allem in seinem Essay "La doctrina de los ciclos" (1944). Cf. J. L. Borges: OC I, pp. 459-468. 194 Sabine Appel: Friedrich Nietzsche - Wanderer und freier Geist, München: Beck 2011. 195 „[A]lgunos decían que su padre era un médico del saladero, un inglés O’Connor, y otros un domador o rastreador del departamento del Salto. Vivía con su madre“ (Fm, 584). <?page no="80"?> 76 lenden Geschichte, kreisläufigen Zeit oder ewigen Wiederkunft 196 , die in dessen Schriften stets eine zentrale Stellung eingenommen hat, wäre auf diese Weise spielerisch angedeutet. Es ist jedoch der Erzähler, den eine solche Vorstellung anlässlich der Nachricht von Funes’ Reitunfall als incómoda magia ereilt. Die Mitteilung - erinnern wir uns - habe etwas von einem Traum gehabt, der aus Teilen der Vergangenheit zusammengesetzt gewesen sei, elaborado con elementos anteriores. Gleichwohl sei daran erinnert, dass der Erzähler bei der ersten Begegnung mit dem Seiltänzer und Geck die Perspektive ‘Friedrich-Zarathustras’ einnimmt. Die geteilten Biographien von Funes und Nietzsche hier, die Positionierung des Erzählers als Zarathustra dort, legen zuletzt den Verdacht nahe, dass die Rolle Friedrich Nietzsches in "Funes, el memorioso" mehrfach und unbestimmt besetzt ist: einmal durch den Erzähler, dem die Vorstellung einer zyklischen Wiederkehr möglicherweise das gleiche magische oder gar metaleptische Unbehagen bereitet, über das Borges in "Magias parciales del Quijote" spricht, und ein anderes Mal durch den Mnemonisten Ireneo Funes, der, sollten seine Fähigkeiten tatsächlich vorhanden sein, die Gültigkeit einer ewigen Wiederkunft belegen könnte, wäre er doch perfekt in der Lage, das Eintreten einer solchen ‘historischen Metalepse’ zweifelsfrei zu benennen. Er wäre aber auch in der Lage festzustellen, dass sich nichts wiederholt. Die Erzählung legt eine intertextuelle Filiation des deutschen Philosophen mit dem uruguayischen Gedächtniskünstler einerseits nahe. Andererseits lässt sie diese Filiation auffällig unbestimmt. Dies mag auf den ersten Blick verwundern, da die Erzählungen von Borges wie gesagt gerne als cuentos filosóficos gelesen werden. Dass die intertextuellen und biographischen Verweise auf Friedrich Nietzsche Zufälle sind, fällt also schwer zu glauben. Néstor Braunstein, der auf letztere hingewiesen hat, schreibt in diesem Zusammenhang: „Es sabido que Borges no daba puntada sin hilo.“ 197 Und tatsächlich hat sich Borges intensiv mit dem deutschen Philosophen auseinandergesetzt. So zum Beispiel in dem Essay "Algunos pareceres de Nietzsche" (1940), in dem er ihn gegen den Vorwurf nationalistischen, deutschtümelnden oder antisemitischen Gedankenguts verteidigt und seinen Schriften neben einer „vertiginosa riqueza mental“ 198 einen kaum zu übertreffenden Gegenwartsbezug attestiert. 196 So das erste Mal in der Fröhlichen Wissenschaft (1882) sowie später mehrfach in Also sprach Zarathustra und zuletzt in Ecce Homo (1888). 197 Néstor Braunstein: "Nietzsche, autor de "Funes"", ISTOR. Revista de historia internacional IV (2003), 112-116, 113. Cf. in diesem Zusammenhang ebenso Gisle Selnes: "Borges, Nietzsche, Cantor - Narratives of Influence", CiberLetras - Revista de crítica literaria y de cultura - Journal of Literary Criticism and Culture 6 (2002), <http: / / www.lehman. cuny.edu/ ciberletras/ v06/ selnes.html> [Zugriff am 06.02.2014]. 198 J. L. Borges: "Algunos pareceres de Nietzsche", in: Emir Rodríguez Monegal ed.: Jorge Luis Borges - Ficcionario - Una antología de sus textos, Mexiko: Fondo de Cultura Económica 1985, pp. 143-146, p. 146. <?page no="81"?> 77 Skeptisch hingegen äußert sich Borges in einem Interview mit Richard Burgin und in seinem Essay "La doctrina de los ciclos" (1934). 199 Fragwürdig erscheint ihm vor allem die oben erwähnte Vorstellung einer kreisläufigen Zeit oder ewigen Wiederkunft, die Nietzsche als „höchste Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann“ 200 , zu einem zentralen Grundpfeiler der eigenen Philosophie gemacht hat. Das Leben seiner unbezweifelbaren Kreisläufigkeit zum Trotz zu lieben - so die radikale Konsequenz dieses Konzepts -, sei die schwierigste Herausforderung für den Menschen und gleichsam das Projekt seiner Überwindung. An dieser Grundprämisse übt Borges in mehrfacher Hinsicht Kritik. Zunächst zeigt er, dass Nietzsches felsenfeste Überzeugung, dass sich die Dinge wiederholen, auf einer (pseudo-)naturwissenschaftlichen Begründung beruht. Sie lautet in etwa wie folgt: Da die Anzahl der Atome im Universum endlich ist, die Zeit sich aber unendlich ausdehnt, müssten sich Permutationen und Kombinationen derselben Atome zwangsläufig irgendwann wiederholen und einmal Gewesenem erneut Gestalt verleihen. Zwar spreche Nietzsche, so Borges, nicht von Atomen, sondern von einer begrenzten Kraft, die sich in der unbegrenzten Zeit ausdehne. Im Kern aber sei die Begründungsfigur dieselbe. Die lässt sich jedoch, wie Borges weiter zeigt, mit anderen Argumenten aus Mathematik, Atomphysik und Thermodynamik leicht widerlegen (Ldc, 459-462). Auf diese Weise werde deutlich, dass die Natur keine Wiederholungen kennt. Vielmehr sei die Idee der ewigen Wiederkunft nur ein Symptom für die Unmöglichkeit, einen zeitlichen Anfang zu imaginieren. Aus diesem Grund sei die ewige Wiederkunft der Kultur schon lange vor Nietzsche als ‘Apokatastasis’ bekannt und habe sie zwangsläufig immer wieder aufs Neue befallen. Auch dies belegt der Argentinier kurzerhand mit einigen Beispielen aus Kultur- und Geistesgeschichte, angefangen im antiken Griechenland (Ldc, 462-465). 201 Wenn es also etwas gibt auf der Welt, das stets wiederkehrt, dann ist dies die Idee der ewigen Wiederkunft selbst. Als weiteres, nicht naturwissenschaftliches Argument bringt Borges das Gedächtnis ins Spiel: Zwar scheine es in der Erfahrung alltäglichen Erinnerns durchaus Belege für die kreisläufige Beschaffenheit der Welt zu geben. Das Déjà-vu liefere den Anhängern einer solchen Vorstellung den schlagkräftigen Beweis. Dabei würden sie jedoch etwas Entscheidendes übersehen: Olvidan que el recuerdo importaría una novedad que es la negación de la tesis [del eterno regreso] y que el tiempo lo iría perfeccionando - hasta el ciclo distante en que el individuo ya prevé su destino, y prefiere obrar de otro modo... Nietzsche, por lo demás, no habló nunca de una confirmación mnemónica del Regreso. (Ldc, 466) 199 Zitiert wird nach J. L. Borges, OC I, pp. 459-468. Alle mit Ldc gekennzeichneten Zitate beziehen sich auf diese Ausgabe. Das Zitat p. 459. 200 Nietzsche: KSA VI, p. 335. 201 Cf. auch Borges: "El tiempo circular", in: OC I, pp. 469-472. <?page no="82"?> 78 Wenn die These von der kreisläufigen Zeit zutrifft - so die Überlegung -, dann wäre jede Erinnerung an etwas bereits Dagewesenes tatsächlich etwas Neues. Sie würde zumindest ein erstes von einem zweiten Mal unterscheidbar machen und damit verhindern, dass sich ein Ereignis je wiederholen könnte. Vereinfacht gesagt: Wenn ich mich an einen Moment erinnere, den es vorgeblich schon einmal gegeben hat, dann kann es diesen Moment nie gegeben haben, sonst müsste ich mich auch daran erinnern, mich einmal an ihn erinnert zu haben. Dies setzt natürlich voraus, dass ein solches Gedächtnis nichts vergisst und so alt ist wie das Universum selbst. 202 Jedes Déjà-vu wäre unter derartigen Voraussetzungen nicht die Bestätigung der Idee einer ewigen Wiederkunft, sondern der Beweis für ihre Ungültigkeit. Und nicht nur dies: Ein unendliches Gedächtnis, das an eine kreisläufige Zeit gekoppelt ist, würde nicht nur neue Wirklichkeiten generieren, sondern irgendwann den Punkt erreichen, an dem es alle möglichen Permutationen und Kombinationen wahrnehmender und wahrnehmbarer Materie mehrmals durchlaufen hätte und bevorstehende Situationen vorhersagen könnte. Unerwünschte Wiederholungen ließen sich auf diese Weise vermeiden, wodurch die Zirkularität der Abläufe ein weiteres Mal durchbrochen, erneuert und zur Geraden umgebogen wäre. Die Idee einer kreisläufigen Zeit oder ewigen Wiederkunft lässt sich - wie Borges zeigt - zusammen mit einem unendlichen Gedächtnis (wie desjenigen Ireneos) nicht denken. Beide Gegenstände schließen einander konzeptionell aus. Aus diesem Grund habe Nietzsche nie den Versuch unternommen, die ewige Wiederkunft durch das Gedächtnis zu belegen (Ldc, 466). 203 Auch habe er sich bei ihrer Schilderung möglicherweise aus taktischen Gründen nicht auf ihre kulturhistorische Herkunft und ihre Überlieferung durch andere Texte berufen, wie diejenigen aus dem Umfeld der Pythagoreer und Stoiker. Dass diese aber einem Altphilologen fremd gewesen seien, bezweifelt Borges. Vielmehr geht er davon aus, dass Nietzsche nach Menschen verlangt habe, die die Unsterblichkeit ertragen, weswegen er die alte Vorstellung der ewigen Wiederkunft - „la intolerable hipótesis griega de la eterna repetición“ (Ldc, 465) - als begrüßenswert und alternativlos habe darstellen müssen. Darüber aber, dass die Vorstellung als solche alt sei und 202 Ein derartiges Szenario ist zwar unwahrscheinlich, jedoch nur so unwahrscheinlich, wie die Möglichkeit eines Menschen, zweimal in exakt derselben Kombination von Atomen aufzugehen. Zur Alltagstauglichkeit derartiger Gedanken cf. erneut Ldc, 468. 203 Bezeichnenderweise betont Nietzsche wie kaum ein anderer Denker zuvor die Bedeutung des Vergessens. In Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874) heißt es: „Zu allem Handeln gehört vergessen: wie zum Leben alles Organischen nicht nur Licht, sondern auch Dunkel gehört. Ein Mensch, der durch und durch historisch empfinden wollte, wäre dem ähnlich, der sich des Schlafens zu enthalten gezwungen würde, oder dem Tiere, das nur vom Wiederkäuen leben sollte. Also: es ist möglich, fast ohne Erinnerung zu leben, ja glücklich zu leben, wie das Tier zeigt; es ist aber ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben“ [Hervorhebung im Original]. Nietzsche: KSA I, p. 250. <?page no="83"?> 79 die Menschheit immer wieder aufs Neue befalle, müsse sich der Philologe Nietzsche im Klaren gewesen sein. Um ihr aber dennoch Gewicht zu verleihen, habe sie der Philosoph Nietzsche stets in einem „estilo profético“ (Ldc, 464) oder einem „sham biblical style“ 204 vorgetragen, der jeglichen Bezug zu vorangegangenen Texten, alten Autoritäten, früheren Versionen und - wie der Hinweis auf das Gedächtnis nahelegt - entwaffnenden Positionen pragmatisch und syntaktisch (philologisch unsauber) wie von selbst ausschließt: Derivar su revelación de un epítome, o de la Historia philosophiae graecoromanae de los profesores suplentes Ritter y Preller, era imposible a Zarathustra, por razones de voz y de anacronismo - cuando no tipográficas. El estilo profético no permite el empleo de las comillas ni la erudita alegación de libros y autores… . (Ldc, 464) Damit wird deutlich: Nietzsches Vorstellung einer ewigen Wiederkunft kappt ihren Vergangenheitsbezug durch die Wahl eines bestimmten Tons, der sich auf pragmatischer und syntaktischer Ebene verorten lässt und aus diesem Grund - so ließe sich hinzufügen - mit größerer Wahrscheinlichkeit in der Latenz - sprich: im Verborgenen - verbleibt. Indem der prophetische Stil des Zarathustra jegliche intertextuelle Verwiesenheit negiert, macht er allem, was er auf semantischer Ebene bezeichnet, die Widerrede unmöglich: „[Nietzsche] no razonó, afirmó.“ 205 In einem späteren Essay, "El propósito de Zarathustra" (1944), charakterisiert Borges jenen Stil wie folgt: El tono inapelable, apodíctico, los infundados anatemas, la ambigüedad, la preocupación moral [...], las repeticiones, la sintaxis arcaica, la deliberada omisión de toda referencia a otros libros, las soluciones de continuidad, la soberbia, la monotonía, las metáforas, la pompa verbal [...]. 206 Vorgetragen in anderem Ton und aus anderer Perspektive - so der Fingerzeig -, stünde die ewige Wiederkunft zwangsläufig im Licht einer alten philologischen und philosophischen Tradition, deren Linien es in einer breit gefächerten intertextuellen Verweisstruktur nachzuzeichnen gälte. Sie wäre in dieser Blickrichtung Gegenstand einander zitierender, ‘nachahmender’ Schreibakte. Bei Nietzsche ist sie jedoch das Produkt prophetischer Verkündungen einer höheren Wahrheit, pompa verbal und damit Gegenstand (vorgebliche) Wirklichkeit referenzierender Äußerungsakte. Ist die ewige Wiederkunft im ersten Fall funktional verbunden mit der Schrift, so wird sie im zweiten Fall - obgleich schriftlich verfasst - allein getragen oder geschaffen von der Präsenz einer Stimme. Nietzsches Konzept der ewigen Wieder- 204 So Borges in einem Interview mit Richard Burgin. Cf. Conversations with Jorge Luis Borges, Letchworth: Souvenir Press 1968, p. 103. 205 J. L. Borges: "El propósito de 'Zarathustra'", in: Textos recobrados II (1931-1955): Debolsillo 2011, pp. 206-210, p. 209. 206 Ibid. <?page no="84"?> 80 kunft gewinnt in Borges’ Lesart Plausibilität allein durch materielle Überlegenheiten. Die markanten und zugleich unbestimmten Bezüge des cuento zu Nietzsche einerseits, die literarisch ästhetische Konstruktion eines unerbittlichen Gedächtnisses andererseits legen den Verdacht nahe, Borges habe das vorgebliche Versäumnis, die Idee einer ewigen Wiederkunft durch das Gedächtnis zu widerlegen, mit "Funes, el memorioso" nachholen wollen. Mit Christian Wehr wäre in diesem Fall von der Inszenierung epistemologischer Ambivalenzen zu sprechen: 207 Verbürgt durch den vielstrahligen Bezug zur Philosophie und Biographie Nietzsches, trifft die Idee einer kreisläufigen Zeit auf ein damit unvereinbares, unerbittliches Gedächtnis. 208 Zu diesem Zweck evoziert Borges mit Ireneo Funes, dessen Erinnerungsvermögen kein Anfang und kein Ende kennt, nicht mehr und nicht weniger als die unvorstellbare, aber nicht auszuschließende Vorstellung einer sich im Unendlichen ausdehnenden Zeit. Dank Ireneos Gedächtnis kann sich insofern nichts wiederholen, als jede Erinnerung mit ihrem Erinnertwerden konfrontiert wird und auf diese Weise eine neue Wirklichkeit generiert. Jeder Versuch, die eigenen Erinnerungen einzugrenzen oder zu systematisieren, mündet so zwangsläufig in deren Iteration und Multiplikation. Eine Wiederkehr der Dinge lässt sich damit implizit ausschließen. So gesehen wäre "Funes, el memorioso" als Gegenentwurf zu einem zyklischen Zeitverständnis und als „contralibro“ (Tlön, 523) zu Nietzsches Zarathustra lesbar. Zentral für die hier angestellten Überlegungen ist jedoch noch ein weiterer Punkt. Dieser betrifft die Tatsache, dass die Nietzsche-Rezeption, die Borges vornimmt, neben strittigen philosophischen Positionen auch deren sprachliche Vermittlung in den Blick bekommt. Wie Borges moniert, ist die ewige Wiederkunft bei Nietzsche nicht das vorläufige Ergebnis einer sauberen philologischen Prüfung, sondern das endgültige Produkt ‘prophetischer’ Rede. Verbürgt wird die Geltung der Vorstellung also nicht intertextuell durch die Schrift, sondern stilistisch durch einen bestimmten Ton oder kon- 207 Cf. erneut C. Wehr: Imaginierte Wirklichkeiten - Untersuchungen zum 'récit fantastique' von Nodier bis Maupassant. In "El propósito de Zarathustra" hält Borges Nietzsche zugute, nicht ein wissenschaftliches, sondern ein ‘heiliges’ Buch geschrieben zu haben. Wie der Koran auch benötige es daher nicht der Anleihen bei anderen Schriften. Nietzsche sei sich stets der Tatsache bewusst gewesen, dass das Buch selbst einmal zum Bezugspunkt einer Auslegungskultur werde: „[Nietzsche] sabía que remotos apologistas vindicarían cada una de sus palabras. Condescendió a un libro más pobre que él: presintió, que otros suplirían lo que él callaba.“ Ibid., p. 209. 208 Ein solches hat Nietzsche selbst als beklagenswerten Zustand imaginiert. In "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" heißt es: „Denkt auch das äußerste Beispiel, einen Menschen, der die Kraft zu vergessen gar nicht besäße, der verurteilt wäre, überall ein Werden zu sehen: ein solcher glaubt nicht mehr an sein eigenes Sein, glaubt nicht mehr an sich, sieht alles in bewegte Punkte auseinanderfließen und verliert sich in diesem Strome des Werdens: er wird wie der rechte Schüler Heraklits zuletzt kaum mehr wagen, den Finger zu heben“ (KSA I, p. 250). <?page no="85"?> 81 zeptionell durch eine Stimme, die ihre dialogische Verwiesenheit systematisch negiert. Ist der Gegenstand in ersterem Fall angreifbar und notwendig offen für Alterität, so wird er im zweiten Fall beglaubigt von einer fiktiven Verlautbarungssituation. Ist man gewillt, Borges in diesem Sinn zu folgen, so liegt der Verdacht nahe, dass "Funes, el memorioso" als Gegenentwurf zum Zarathustra und der ewigen Wiederkunft, als möglichem Modell von Welt, zusätzlich um die Frage welterzeugender, stimmlicher Verfahren kreist, die dem Geäußerten möglicherweise vorgängig sind. Mit anderen Worten: Der „Gedächtnis-nihilismus Nietzsches“ 209 , die Idee einer ewigen Wiederkunft und die möglichen Gegenargumente, die Borges in den beiden Essays ins Feld führt, zeichnen sich in "Funes, el memorioso" auf der Ebene der Semantik zwar ab. Sie dienen dem Text jedoch (nur), wie Renate Lachmann dies anregt, als Folie oder Palimpsest. Was darin neben der mnemonischen Unendlichkeit zusätzlich erahnbar wird, ist die nicht auszuschließende Gewissheit, dass eine derartig postulierte Unendlichkeit, wie die ewige Wiederkunft auch, das Produkt sprachlicher Aktivität ist. Borges greift diesen Gedanken auf und treibt ihn in einem weiteren Schritt auf die Spitze, indem er Funes tentativ als technische Personifikation auskleidet, in der sich die Figur des Gedächtniskünstlers mit dem damals jüngst erfundenen Phonographen zunehmend überkreuzen. 210 In dieser Blickrichtung ließe sich "Funes, el memorioso" durchaus als contralibro zu Nietzsches Zarathustra und dessen tono inapelable lesen, nur dass letzterer seine Unanfechtbarkeit zunehmend über technisch-apparative Vorteile generiert. Präsentiert der Ton Zarathustras bzw. der Phonograph sagbare Wahrheiten medienvergessen, monoton und ‘prophetisch’, so präsentiert der Erzähler die Tatsache, dass mit Funes ein Phonograph gemeint ist genau in umgekehrter Stoßrichtung, nämlich tentativ als unsagbare Ahnung einer nicht greifbaren Wahrheit, medienbewusst, polyphon und ‘ästhetisch’. Funes durchläuft damit einen Parcours, in dem sich die Figur zunächst von Nietzsches Zarathustra herschreibt, um sodann zunehmend zum stimmlichen und zuletzt phonographisch-apparativen Phänomen zu wandeln. Eine solche Wandlung zeichnet sich sowohl durch zahlreiche Anspielungen auf der Ebene der Semantik, als auch stilistisch in der steten Betonung akustischer Phänomene auf Vermittlungsebene ab. Dies zeigt sich hier wie dort anhand einer Oszillationsbewegung zwischen den Paradigmen Stimme und Schrift, bzw. Oralität und Literalität. Auf E 3 werden diese Paradigmen anhand der Verben ver und oír greifbar, denen auf E 4 die Isotopien von Hören und Sehen, bzw. Hell und Dunkel entsprechen. Umgelegt wird die Differenz jedoch zuvorderst auf die Figurenebene: Gibt der Erzähler ausdrücklich vor 209 R. Lachmann: Erzählte Phantastik - Zu Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte, p. 403. 210 Mehr dazu weiter unten in diesem Kapitel. Cf. C. Wehr: "Borges y los medios acústicos - Funes el memorioso como alegorí a técnica". <?page no="86"?> 82 zu schreiben, so zeichnet sich Funes in erster Linie durch seine grelle, spöttische Diktion aus. Auch werden die anderen Verfasser des Sammelbands sowie der Cousin des Erzählers durchweg mit der gesprochenen Sprache in Verbindung gebracht. Letztere verfallen - obgleich schreibend - bei der Schilderung Ireneos in den oralen, chorischen Dithyrambus, während der Erzähler bei der Wiedergabe der Worte des Cousins auf dessen Mund rekurriert. 211 Dabei sieht es so aus, als praktizierten die oralen Sprechinstanzen mit Funes das, was Nietzsche ‘monumentale Historie’ genannt hat. Gemäß der Forderung, dass „das Große ewig sein solle“ 212 , bezeichnen sie den Mnemonisten als „precursor de los superhombres“ (Fm, 583) und schildern seine Fähigkeiten nicht ohne „cierto orgullo local“ (Fm, 584), nicht ohne sie ins „Schöne“ 213 umzudeuten, wie Nietzsche dies formuliert. Die orale Beschreibung von Funes geht also Hand in Hand mit dessen Huldigung. Dabei scheint es auf den ersten Blick, als sei das schriftlose Gedächtnis besser in der Lage, einen Gegenstand zu bewahren, womit Platons Kritik an der Schrift bestätigt wäre. 214 Bei näherem Hinsehen jedoch bewahrt es diesen Gegenstand nicht besser, sondern als besseren. Damit beschreibt die orale Präsentation von Funes nicht dessen besondere Fähigkeiten, sondern bringt diese zuallererst hervor. Sie ist der sagenhaften Qualität des bezeichneten Gegenstandes nicht nachrangig, sondern verbürgt diese. Umgekehrt produziert der schreibende Erzähler bereits im Vorfeld der Begegnung mit Funes Zweifel: So macht er ihn zum Possenreißer „con ciertas incurables limitaciones“ (Fm, 583), nennt ihn einen „eterno prisionero“ (Fm, 585), wirft ihm kurzerhand Hochmut und Heuchelei vor, wie er hört, der Verunglückte bezeichne seinen körperlichen Zustand als ein Geschenk (cf. Fm, 585); hält seine Bitte um Leihgabe der lateinischen Bücher wenig später für einen Scherz (Fm, 585), beziffert sein Vorhaben, eine Sprache allein mit Hilfe eines Wörterbuchs zu lernen als „ignorancia o [...] estupidez“ (Fm, 585) und überlässt ihm den Gradus ad Parnassura und die Naturalis historia nur, um ihn gehörig zu enttäuschen - „para desengañarlo con plenitud“ (Fm, 585). Anders aber als die oralen Sprechinstanzen, kann sich der schreibende Erzähler nur bedingt auf die Speicherfähigkeit der 211 Cf. das Zitat weiter oben: „[E]l hecho en boca de mi primo [...]“ [Hervorhebung von mir, D.K.]. Der Dithyrambus verweist zudem auf Nietzsches Dionysos-Dithyramben (1892). 212 Nietzsche: KSA I, p. 259. 213 Ibid., p. 262. 214 Im Phaidros in der Episode von Thamus und Theut macht Platon deutlich, dass die einseitige Beschränkung auf die Schrift zum Gedächtnisverlust führt. „Denn diese Erfindung wird der Lernenden Seelen vielmehr Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung des Gedächtnisses, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittelst fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden.“ So ist die Schrift bei Platon nicht ein Mittel „für das Gedächtnis, sondern nur für die Erinnerung.“ Platon: Werke, Bd. V (Phaidros, Parmenides, Briefe), ed. Gunther Eigler, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983, p. 177. <?page no="87"?> 83 Schrift verlassen: Nicht von ungefähr unterbricht er sich beim Anfertigen der ersten Erinnerung zweimal selbst (cf. Fm, 583). Nicht zufällig tadelt er seinen Bericht als „el más breve y sin duda el más pobre, pero no el menos imparcial del volumen que editarán ustedes“ (Fm, 583). Auch räumt er ein, in Funes’ Augen möglicherweise nur ein eingebildeter Literat aus der Stadt gewesen zu sein - „literato, cajetilla, porteño“ (Fm, 583) -, was er wenig später sogar implizit bestätigt: „No sin alguna vanagloria yo había iniciado en aquel tiempo el estudio metódico del latín“ (Fm, 585). Anders als die gesprochene Sprache ist der Gebrauch von Schrift anfänglich negativ konnotiert und erzeugt einen debilen und mit Skepsis behafteten Gegenstand. Sind die Schwächen der Schrift auf den ersten Blick ihrer mnemotechnischen Unzulänglichkeit geschuldet, so gehen sie bei näherem Hinsehen auf den trivialen Umstand zurück, dass sich mit Buchstaben nichts anderes abbilden lässt als Laute. So wird die unleugbare Tatsache, dass Schrift nicht Dinge, Bilder oder Sinn speichert, sondern Klang, bei den ersten beiden Beschreibungsversuchen des Mnemonisten paradigmatisch in den Vordergrund gespielt: Immer dann, wenn es darum geht, Ireneos Äußeres zu beschreiben, erinnert sich der schreibende Erzähler schlecht. An die Qualität seiner Stimme hingegen erinnert er sich stets gut. So sind die sichtbaren Bilder von Funes, die sich der Erzähler abringen kann, dunkel und trüb: Lo recuerdo (yo no tengo derecho a pronunciar ese verbo sagrado, sólo un hombre en la tierra tuvo derecho y ese hombre ha muerto) con una oscura pasionaria en la mano [...]. Lo recuerdo, la cara taciturna y aindiada y singularmente remota, detrás del cigarillo. Recuerdo (creo) sus manos afiladas de trenzador. Recuerdo cerca de esas manos un mate, con las armas de la Banda Oriental; recuerdo en la ventana de la casa una estera amarilla, con un vago paisaje lacustre. Recuerdo claramente su voz; la voz pausada, resentida y nasal del orillero antiguo, sin los silbidos italianos de ahora. Más de tres veces no lo ví; la última en 1887… . (Fm, 583) Zusammen mit den anderen Lexemen dieser Passage bildet oscuro eine Isotopie der Dunkelheit und Ferne. 215 Ebenso düster wie fern ist das Gesicht Ireneos, das hinter einer Zigarette kaum zu sehen ist (taciturno, aindiado, remoto, detrás del cigarillo). Eine weitere Modalisierung von recordar durch creo verstärkt diesen Eindruck. Die Wahl des Demonstrativpronomen esas deutet Unbestimmtheit in Bezug auf die Hände an, die neben dem Wappen der letzten spanischen Kolonie (La Banda Oriental) zeitlich in den Bereich nationaler Vergangenheit und Provinzialität rückt. Auch zeichnen der Fußabstreifer und die Teichlandschaft ein trübes Bild (vago). Damit steht die auffällig häufige Verwendung von recordar der allgemeinen Opazität visueller Eindrücke konträr gegenüber. Davon hebt sich die Erinnerung an die 215 Renate Lachmann macht an entsprechender Stelle auf den „poetischen Duktus“ des cuento aufmerksam. R. Lachmann: Erzählte Phantastik - Zu Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte, p. 401. <?page no="88"?> 84 Stimme hingegen mit claramente deutlich ab. Was auf pragmatischer Ebene mit Hilfe der Schrift als sichtbares Objekt oder Bild anvisiert wird, lässt sich nur mehr als Laut einlösen. Damit vollzieht die Passage neben alldem, was auf semantischer Ebene beschrieben wird, einen gleitenden Übergang vom Literalen und Visuellen zum Phonischen und Auditiven. Im Zentrum der narrativen Paradigmatik steht mit Funes also nicht ein Mensch, sondern die nicht sichtbare, aber hörbare Seite der Schrift oder einer anderweitigen Aufzeichnungstechnik. Diese Bewegung wird beim zweiten Erzählanlauf wiederholt und auf syntaktischer Ebene weitergeführt. Wieder wird auf pragmatischer Ebene zunächst ein visueller Eindruck in Aussicht gestellt: „Mi primer recuerdo de Funes es muy perspicuo. Lo veo en un atardecer de marzo o febrero del año 84“ (Fm, 583). Die Substantivierung von recordar suggeriert die Materialisierung des erinnerten Gegenstands, während der Wechsel zum Präsens und die Angabe des Datums im darauffolgenden Satz seine Vergegenwärtigung grammatikalisch beschließen. Dennoch folgt wieder keine genauere Beschreibung des Gedächtniskünstlers. Stattdessen weicht der Erzähler zunächst auf das damals empfundene Vergnügen mit dem umschlagenden Wetter aus. Trägt diese Passage zur Handlung nur wenig bei, so ist die thematische und lautliche Verdichtung, die sich darin vollzieht, dennoch auffällig: Después de un día bochornoso, una enorme tormenta color pizarra había escondido el cielo. La alentaba el viento del Sur, ya se enloquecían los árboles; yo tenía el temor (la esperanza) de que nos sorprendiera en un descampado el agua elemental. Corrimos una especie de carrera con la tormenta. Había oscurecido de golpe; oí rápidos y casi secretos pasos en lo alto [...]. (Fm, 584) Die Farbbezeichnung der Gewitterfront mit pizarra semantisiert diese als Schiefertafel, was zunächst thematisch auf die Schrift verweist. Möglicherweise spielt der Wind auf die gesprochene Sprache an, die der Schrift ‘Leben’ einhaucht, zumal alentar auch atmen bedeutet. Auch lassen sich die Bäume auf Papier oder Schreibwerkzeug beziehen, womit ihr ‘Verrücktwerden’, ihr Sich-Wiegen im Wind auf eine Schreibbewegung verweisen würde. Die Hoffnung, die Gewitterfront möge ihre Elemente auf freiem Feld entladen, beschwört möglicherweise einen erfolgreichen Schreibakt, der ‘Elementares’ zum Vorschein bringt, indem sich Flüssiges auf eine Fläche ergießt. Doch wie die auffällige lautliche Struktur des darauf folgenden Satzes durch correr, carrera und tormenta bereits antizipiert, kommen auch hier wieder nicht Dinge zum Vorschein, sondern Klang. So lässt sich die Wiederholung dunkler Vokale im Verbund mit Vibranten onomatopoetisch auf den Donner des ausbrechenden Gewitters beziehen. Auch sind beim plötzlichen Anbruch der Dunkelheit wieder nur die secretos pasos von Funes zu hören, der hoch oben auf dem Gehweg balanciert. Dort ist er, wie anfänglich zitiert, wieder nur schlecht zu sehen. Der sich daran anschließende kur- <?page no="89"?> 85 ze Wortwechsel mit dem Cousin beeindruckt vordergründig, da Ireneo offensichtlich stets die genaue Uhrzeit zu sagen weiß. Auf Vermittlungsebene wird jedoch erneut der auditive und visuelle Aspekt von Schrift thematisch verdichtet: „Bernardo le gritó imprevisiblemente“ (Fm, 584). Je näher der Erzähler Funes kommt, desto höherfrequent erfolgen die Wechsel zwischen Verweisen auf literale und phonische Realisierung von Sprache, die isotopisch weiter durch die Differenz von Sehen und Hören, bzw. Hell und Dunkel verbürgt werden. Kurz vor der ersten Kontaktaufnahme beispielsweise berichtet der Erzähler, den Mnemonisten zweimal am Fenster gesehen zu haben: „Dos veces lo vi atrás de la reja [...]: una, inmóvil, con los ojos cerrados; otra, inmóvil también, absorto en la contemplación de un oloroso gajo de santonina“ (Fm, 585). Die einmal geschlossenen, ein anderes Mal offenen Augen greifen die Oszillation zwischen Oralität und Literalität thematisch auf, wobei der duftende Wurmsamen-Strauch, aus dem das Halluzinogen Santonin gewonnen wird, das in zu hohen Dosen Sehstörungen verursachen kann, möglicherweise die ekstatische oder rauschhafte (phantastische) Vergleichgültigung der beiden medialen Seiten antizipiert. Und tatsächlich bahnt sich diese in zunehmenden Maß an. So macht Funes, der bislang bevorzugt mit der unsichtbaren phonischen Seite von Schrift in Verbindung gebracht wurde, nun das erste Mal von ihrer sichtbaren Seite Gebrauch, indem er dem Erzähler einen Brief schickt. Darin bittet er um Leihgabe einiger lateinischer Werke zusammen mit einem Wörterbuch. Lässt sich der Brief auf semantischer Ebene als Gesuch nach weiteren Schriftstücken und Kontinuität eines Textraums lesen, so fällt dem Erzähler in erster Linie die syntaktische Seite der Nachricht auf: „La letra era perfecta, muy perfilada; la ortografía, del tipo que Andrés Bello preconizó: i por y, j por g“ (Fm, 585). 216 Trägt die ‘schöne’ Schrift dem hohen Anliegen ihres Verfassers in formaler Hinsicht Rechnung, so gilt dasselbe für die Orthographie, die schriftliche Konventionen zugunsten lautlicher Aspekte ignoriert. Sichtbares und Hörbares, Schrift und Laute, Form und Inhalt sind in materieller Hinsicht, soweit es geht, aufeinander abgestimmt. Anders verhält es sich beim Telegramm, das den Erzähler wenig später vom beklagenswerten Gesundheitszustand des Vaters unterrichtet. Kündigt sich darin auf semantischer Ebene der Bruch einer Kontinuität an (Tod des Vaters), so antizipiert die telematische Kommunikation das Gegenteil, nämlich die unendliche Fortsetzung und radikale Erweiterung schriftlicher Aktionsräume. Nicht ohne gewisse Zurückhaltung muss der Erzähler daher zugeben, dass das Privileg, Empfänger eines „telegrama urgente“ (Fm, 585) 216 Andrés Bello schlug vor, die Orthographie des Spanischen gemäß einer Formel Antonio Nebrijas zu vereinfachen: [C]ada letra debía tener un solo sonido distinto, y cada sonido debía representarse por una sola letra.“ Cf. Andrés Bello, Juan del Río García: "Indicaciones sobre la conveniencia de simplificar la ortografía en América", El Repertorio Americano 1 (1826), 27-41, 28. <?page no="90"?> 86 gewesen zu sein, dessen schmerzlichem Inhalt durchaus konträr gegenüber gestanden sei: So sei es ihm schwer gefallen, überhaupt etwas zu empfinden. Stattdessen habe ihn die Dringlichkeit der Nachricht, namentlich das Adverb urgente, dazu gereizt, die Situation hochzuspielen und den Scherz aufzublasen - oder anders gewendet, das Medium für die Botschaft zu nehmen: [E]l deseo de comunicar [...] la contradicción entre la forma negativa de la noticia y el perentorio adverbio, la tentación de dramatizar mi dolor, fingiendo un viril estoicismo, tal vez me distrajeron de toda posibilidad de dolor (Fm, 585f). Was der Erzähler anlässlich des Telegramms beschreibt, trägt auffällige Ähnlichkeit mit Nietzsches Kritik an dem, was er ‘Übermaß’ 217 der Historie nennt und nicht ohne Ironie als bedauerliche Entwicklung beklagt: Es ist allerdings ein solches Gestirn, ein leuchtendes und herrliches Gestirn dazwischengetreten, die Konstellation ist wirklich verändert - durch die Wissenschaft, durch die Forderung, dass die Historie Wissenschaft sein soll. Jetzt regiert nicht mehr allein das Leben und bändigt das Wissen um die Vergangenheit: sondern alle Grenzpfähle sind umgerissen und alles, was einmal war, stürzt auf den Menschen zu [Hervorhebung im Original]. 218 Die unermessliche Flut der Positionen sei zu viel für ein Gedächtnis, das sich dem Andrang „des Fremde[n] und Zusammenhanglose[n]“ 219 nicht widersetzen könne. Das kaum zu bewältigende Gegeneinander unverdaulichen Wissens sei zudem verantwortlich für den gespaltenen Seelenzustand des modernen Menschen. Wie nie zuvor sei dieser belastet vom „merkwürdigen Gegensatz eines Inneren, dem kein Äußeres, eines Äußeren, dem kein Inneres entspricht [...]. Man sagt dann wohl, dass man den Inhalt habe und dass es nur an der Form fehle [...].“ 220 Historisch lässt sich eine so beschriebene Bezugslosigkeit des ‘Wissens’ zum ‘Leben’ mit dem engführen, was weiter oben als Polykontexturalität und Lösung der Sprache vom Objektbezug beschrieben wurde. Im cuento wird diese Entwicklung durch die Widersprüchlichkeit von Form und Inhalt des Telegramms antizipiert. Zusammen mit dem vorangegangenen Brief lassen sich die Schriftstücke damit als Chiffren eines mediengeschichtlichen Wandels deuten. Mit dem so inszenierten Einbruch telematischer Kommunikation und der Erweiterung schriftlicher Aktionsräume, beginnt der Text sich zunächst auf semantischer Ebene radikaler Alterität zu öffnen und verdeckt auf seine Intertextualität anzuspielen. So werden sämtliche Begleitumstände, die durch die Ankunft des Telegramms angestoßen werden, in einem erweiterten Horizont lesbar. Erkennbar wird dies an scheinbar nebensächlichen Details: Im handschriftlichen Brief erinnert der Mnemonist mitunter an die 217 Nietzsche: KSA I, p. 253. 218 Ibid., p. 271f. 219 Ibid., p. 272. 220 Ibid., p. 273. <?page no="91"?> 87 erste Begegnung mit dem Erzähler und datiert sie auf den 7. Februar 1884. Vordergründig möchte man darüber staunen, wie gut Funes die Dinge im Gedächtnis behalten hat. Hintergründig scheint es jedoch um mehr zu gehen. Denn neben der wörtlichen Wiedergabe des Datums ist es für den Erzähler ebenso erwähnenswert und des Zitats würdig, dass das Telegramm am 14. Februar eingeht. Im Fall des Briefs erwähnt der Erzähler die perfekte Handschrift sowie die seltsame Orthographie Ireneos. Im zweiten Fall - am 14. Februar - registriert der Erzähler die seltsam moderne Spaltung und die damit einhergehende Unfähigkeit, Form und Inhalt miteinander zu korrelieren. Darüber hinaus verweisen die beiden Datierungen auf das siebte Buch und das vierzehnte Kapitel der Naturalis Historia, aus der Funes wenig später aufsagen wird. Die mit Brief und Telegramm verbundenen Umstände erinnern zudem tentativ an die (hepdomadische) Anthropologie der Stoiker, die lehrt, dass sich im Alter von sieben Jahren Vernunft und Sprache vollständig entwickelt haben, während die körperliche Reife und die Fähigkeit, Gutes und Schlechtes voneinander zu unterscheiden, mit vierzehn Jahren ausgebildet sind. 221 Die angedeuteten Parallelen mögen Zufälle sein. Dennoch ist es in diesem Licht betrachtet nicht unerheblich, wenn der Erzähler anlässlich der empfundenen (modernen) Spaltung von einer „tentación de dramatizar mi dolor, fingiendo un viril estoicismo“ (Fm, 586) spricht. Als Redewendung und (phonisch) realisiert, lässt sich estoicismo als Gemütshaltung begreifen. Wörtlich genommen jedoch, sprich: im buchstäblichen, literalen Sinn, ist dies ein Hinweis auf die Lehre der Stoiker, in der die ewige Wiederkunft eine zentrale Rolle spielt. Damit scheint es, als würde der Text, der gerade vor der Beschreibung der Unendlichkeit steht, auch jene Texte zum Sprechen bringen, die Nietzsche in seinen Überlegungen zur ewigen Wiederkunft aktiv vergessen hat. Ein weiteres Detail mag diesen Verdacht stützen: Das Schiff, mit dem der Erzähler zu seinem Vater nach Buenos Aires zurückkehren möchte, trägt den Namen Saturno. Dies mag auf den ersten Blick nebensächlich sein. Möglicherweise aber ist der Name eine Anspielung auf eine Stelle aus der vierten Ekloge Vergils, die von der Wiederkehr der Herrschaft Saturns kündet, also auch einem kreisläufigen Zeitverständnis verpflichtet ist: „Iam redit et virgo, redeunt Saturnia regna“ (Ldc, 463). Dieser Bezug wäre freilich weniger begründet, ja nicht einmal zwingend gegeben, hätte Borges den Passus nicht selbst in "La doctrina de los ciclos" zitiert. Darin bildet die Zeile den Abschluss der Erörterungen über die geistesgeschichtlichen Vorläufer einer sich wiederholenden Geschichte, welche Nietzsche - wie Borges nahelegt - aus taktischen Gründen syntaktisch und pragmatisch aus den eigenen Schriften ausgeschlossen hat. Mit der telematischen Erweiterung schriftlicher Aktionsräume und dem verlorenen Objektbezug 221 Cf. Max Pohlenz: Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1992, p. 56. <?page no="92"?> 88 von Sprache scheint sich jedoch die Schrift radikaler Kontingenz zunehmend zu öffnen. 222 Dabei tritt ein Text in Erscheinung, der, nolens volens mehr zum Klingen bringt, als er zu sehen gibt. Ein solcher Text ist so phantastisch, wie das Gedächtnis von Ireneo selbst. Er ist zudem der Gegenentwurf zu Nietzsches prophetischem Stil, da er zum einen die Dinge sichtbar macht, die er ins Gedächtnis ruft, zum anderen aber jene Dinge zum Klingen bringt, die er vergessen hat. 223 Die zunehmende Vergleichgültigung von Oralität und Literalität schlägt sich in einem weiteren Schritt auf die Ebene der Pragmatik nieder. Wurden die Äußerungen Ireneos beim ersten kurzen Wortwechsel und der schriftlichen Kontaktaufnahme als (wörtliche) Figurenrede zitiert, so bekennt sich der Erzähler bei der dritten Begegnung mit Funes ausdrücklich zur Mischform der indirekten Rede: No trataré de reproducir sus palabras, irrecuperables ahora. Prefiero resumir con veracidad las muchas cosas que me dijo Ireneo. El estilo indirecto es remoto y débil; yo sé que sacrifico la eficacia de mi relato; que mis lectores se imaginen los entrecortados períodos que me abrumaron esa noche (Fm, 586). Auf den ersten Blick erwecken die Adjektive irrecuperable, remoto und débil den Eindruck einer captatio benevolentiae, ganz so, als wolle der Erzähler eingestehen, er verfüge nicht über das Erinnerungsvermögen eines Ireneo Funes, dessen nächtlicher Monolog für ein ‘normales’ Gedächtnis überdies zu komplex sein dürfte. Die Wahl der Prädikate lässt jedoch durchblicken, dass die buchstäbliche Wiedergabe von Funes’ Rede dem Erzähler weder geboten noch zielführend scheint: No trataré, prefiero, yo sé und zuletzt der Appell an die Phantasie des Lesers, die Lücken selbsttätig zu füllen, lassen nicht auf Unvermögen der Erzählinstanz, sondern auf eine bewusste Entscheidung schließen. Umkreist die nächtliche Begegnung mit dem Mnemonisten auf der Ebene der Semantik die Möglichkeit und Plausibilität eines unendlichen Gedächtnisses, so interessiert auf Vermittlungsebene wieder allein der Ton, in dem Funes seine unmöglich-möglichen Fähigkeiten präsentiert. Im Zuge der 222 Cf. in diesem Zusammenhang erneut V. Ferretti: Boreale Geltung - Zu Nördlichkeit, Raum und Imaginärem im Werk von Jorge Luis Borges, pp. 24 sqq. 223 So im Übrigen auch am Ende des cuento als der Erzähler den Anblick Funes’ mit dem alten Ägypten in Verbindung bringt: „[M]e pareció monumental como el bronce, más antiguo que Egipto, anterior a las pirámides“ (Fm, 590). Dazu Renate Lachmann wie folgt: „Borges zitiert hier verdeckt aus Horaz’ Exegi monumentum: ,Exegi monumentum aere perennius regalique situ pyramidum altius‘“ R. Lachmann: Erzählte Phantastik - Zu Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte, p. 404. Darüber hinaus verweist die Passage auf die Entdeckung der ewigen Wiederkunft durch Nietzsche. In "La doctrina de los ciclos" erzählt Borges, Nietzsche sei die Idee während eines Spaziergangs am Silvaplana-See bei der Betrachtung eines „bloque piramidal“ gekommen. Cf. Ldc, 464. Tatsächlich kann man den Stein dort noch heute besichtigen. <?page no="93"?> 89 Schilderung aller denkbaren Varianten und Ausprägungen seiner Gedächtniskunst ist es vor allem die Stimme Ireneos, die zunehmend ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Auch diesmal wird ihre anwachsende Präsenz direkt proportional vom Abfall des Lichts begleitet. Je weiter sich der Erzähler der dunklen Kammer Ireneos nähert, desto deutlicher hebt sich dessen Stimme ab: [La madre] [m]e dijo que Ireneo estaba en la pieza del fondo y que no me extrañara encontrarlo a oscuras, porque Ireneo sabía pasarse las horas muertas sin encender la vela. Atravesé el patio de baldosa, el corredorcito; llegué al segundo patio. Había una parra; la oscuridad pudo parecerme total. Oí de pronto la alta y burlona voz de Ireneo. Esa voz hablaba en latín; esa voz (que venía de la tiniebla) articulaba con moroso deleite un discurso o plegaria o incantación. (Fm, 586) Durch Lexeme wie pieza del fondo, oscuro, horas muertas, vela, baldoso, corredorcito und dem alles verdunkelnden Weinstock (parra, oscuridad total) erinnert das Zimmer an eine Grabkammer. Die Tatsache, dass Funes auf das lateinische funus (dt. Bestattung, Leichenzug) zurückgeht, ist dieser Lesart gewiss nicht abträglich. Resümiert der Erzähler mit Hilfe der indirekten Rede zahlreiche Aspekte von Ireneos Fähigkeiten, so heben sich die wenigen Sätze, in denen Funes dennoch direkt zu Wort kommt, stilistisch umso mehr ab. Dabei scheint es, als sei zuletzt der prophetische Stil Zarathustras zu hören: Me dijo: „Más recuerdos tengo yo solo que los que habrán tenido todos los hombres desde que el mundo es mundo“. Y también: „Mis sueños son como la vigilia de ustedes“. Y también, hacia el alba: „Mi memoria, señor, es como vaciadero de basuras.“ (Fm, 587) Neben der Tatsache, dass alle drei Äußerung in der ersten Person Singular verfasst sind, zeichnen sie sich durch übertriebene Metaphern aus (vaciadero de basuras), durch Repetitionen (tener und mundo), durch eine umständliche Syntax (que los que habrán tenido oder die parenthetische Apostrophe señor), durch die Verwendung eines apodiktischen Tons (tener, ser, todo, solo, mundo), sowie allgemein durch das Versäumnis, Anleihen bei anderen Autoren zu nehmen. Sie ahmen damit jenen Stil nach, den Borges in "La doctrina de los ciclos" und "El propósito de ‘Zarathustra’" kritisiert. Dem hält der Erzähler am Ende einen zunehmend sachlichen, schriftsprachlichen Stil entgegen. So fasst er das unmögliche Unterfangen Ireneos, ein unendliches Vokabularium und einen unnützen Katalog sämtlicher Erinnerungen anzufertigen als „proyectos [...] insensatos“ (Fm, 589) zusammen, beschreibt seinen Zustand der Schlaflosigkeit als beklagenswert und zieht sogar seine Fähigkeit zu Denken in Zweifel - „[p]ensar es olvidar diferencias“ (Fm, 590). Auch unterbricht der Erzähler die Schilderung des nächtlichen Monologs mit einem kurzen Einwand: <?page no="94"?> 90 Esas cosas me dijo; ni entonces ni después las he puesto en duda. En aquel tiempo no había cinematógrafos ni fonógrafos; es sin embargo inverosímil y hasta increíble que nadie hiciera un experimento con Funes. (Fm, 588) Wird dieser Gedanke scheinbar beiläufig geäußert, so macht er bei näherem Hinsehen stutzig. Einerseits werden Kino und Phonograph an dieser Stelle insofern für ein rationales Argument bemüht, als mit ihrer Hilfe die Fähigkeiten Ireneos empirisch überprüfbar gewesen wären. Andererseits ist die Aussage selbst nicht vollständig korrekt: Zwar stimmt es, dass das Kino damals (1887) noch nicht erfunden war. Auf den Phonographen trifft dies jedoch nicht zu. 224 Auch geben einige Bemerkungen, die Funes kurz vor Sonnenaufgang macht, Rätsel auf: Le era muy difícil dormir. Dormir es distraerse del mundo; Funes, de espaldas en el catre, en la sombra, se figuraba cada grieta y cada moldura de las casas precisas que lo rodeaban. (Repito que el menos importante de sus recuerdos era más minucioso y más vivo que nuestra percepción de un goce físico o de un tormento físico.) Hacia el Este, en un trecho no amanzanado, había casas nuevas, desconocidas. Funes las imaginaba negras, hechas de tiniebla homogénea; en esa dirección volvía la cara para dormir. También solía imaginarse en el fondo del río, mecido y anulado por la corriente. (Fm, 589) Die leidvolle Schlaflosigkeit Ireneos plausibilisiert einmal mehr seine unglaublichen mnemonischen Fähigkeiten. Psychologisch lassen sich die Häuser, die Funes imaginiert, als Wunsch nach Ruhe und kurzweiliger Suspension unermüdlicher Speichertätigkeit lesen. Auf einen solchen Zustand verweist zuletzt das Bild vom Treiben und Schaukeln im Fluss sowie die Sehnsucht, sich in seiner Strömung zu verlieren. In dieser Blickrichtung liest sich die Passage wie die ahnungsvolle Beschreibung eines vordifferentiellen Zustands jenseits jeglicher medialer Prägung. Bedenkt man den Umstand, dass der Text bislang konsequent um das Faszinosum von Oralität und Literalität, sowie die (banale) Tatsache kreiste, dass Schrift Klang ‘speichert’, so müsste die hier zitierte Passage vermutlich auch in diesem Sinn lesbar sein. Auffällig ist zumindest, dass Funes, der sich bislang nur durch seine Stimme auszeichnete, anfängt, Bilder zu imaginieren. Auffällig ist auch, dass sich diese Bilder um Ritzen oder Spalten (grieta) sowie gekerbte Leisten (moldura) drehen. Die Linien und Spuren, die damit angedeutet werden, spiegeln sich motivisch in Flussbett und Strömung. Auf der einen Seite wäre denkbar, dass hier erneut auf einen Schreibprozess angespielt wird. Trägt man jedoch dem Umstand Rechnung, dass die Faszination mit Funes’ Gedächtnis stets mit der Aufzeichnung und Erweckung von Lauten durch Schrift verbunden war, und bezieht man in diese Überlegung den falschen Hinweis auf den Phonographen mit ein, so liegt 224 Cf. Jürgen Wilke: Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte, Köln u.a.: Böhlau 2008, p. 325. <?page no="95"?> 91 zuletzt der Verdacht nahe, dass Borges am Ende auf ein solches Gerät anspielt. War Funes bislang stets identisch mit seiner Stimme, so ließe sich sein oben geschildertes Bedürfnis nach ‘Annulierung’ und ‘Schlaf’ als Anspielung auf die Gravur einer Schallrille lesen. Möglicherweise wären der trecho no amanzanado und die casas nuevas aus tiniebla homogénea der unbeschriebene Teil eines Aufzeichnungsmediums, das Funes als Stimme in sich aufnimmt. Dieses Bild erhellt sich umso mehr, wenn man die phonische Seite der zitierten Passage unabhängig von der Schrift liest. In diesem Fall wird in tiniebla möglicherweise das englische Wort für Zinn hörbar, das in den ersten Phonographen als Aufzeichnungsmaterial verwendet wurde. 225 Allein auf seinen Klang reduziert, erhellt sich möglicherweise auch das Bild des Mnemonisten selbst: Mit ein wenig Phantasie wird aus Funes ‘Phon es’. 3.3 Schrift: "El Aleph" (1949) Auf das nicht selten ambivalente Verhältnis von Jorge Luis Borges zu den neuen technischen Medien hat in jüngster Zeit Jörg Dünne aufmerksam gemacht. Er geht davon aus, dass sich der Argentinier - anders als sein Freund und Zeitgenosse Bioy Casares - der expliziten Öffnung zu technischen Medien verweigert. 226 Vielmehr werde in seinen Kurzgeschichten der Versuch erkennbar, die Schrift gegen neuartige und vorschnell gepriesene Materialien und Apparate zu verteidigen. Zu diesem Zweck erschöpfe Borges „im ästhetischen Gebrauch [ihre] Möglichkeiten“. 227 Dies erlaube es ihm, wissens- und mediengeschichtliche Umbrüche der eigenen Kultur zu inszenieren. Folgt man dieser These, so läge nahe, anzunehmen, dass eine solche Inszenierung der „Medialität des Schreibens“ 228 in Dialog stehen dürfte zu alternativen Zugriffen auf Welt, wie dem Phonographen, auf den in "Funes, el memorioso" möglicherweise angespielt wird. Die Schrift ließe sich in einem weiteren Schritt gegen die neuen (technischen) Medien insoweit profilieren, als sie deren operative Eigenschaften aufgreift, um sie genuin schriftlich auszuloten oder gar zu überbieten. Tatsächlich scheint sich ein solches Szenario dem vielleicht bekanntesten cuento des Argentiniers abzuzeichnen. 229 Wird die offen bekundete Feind- 225 Ibid. 226 Cf. J. Dünne: "Borges und die Heterotopien des Enzyklopädischen - Mediale Räume in der phantastischen Literatur". Bioy Casares thematisiert die neuen technischen Medien vor allem in den beiden Inselromanen La invención de Morel (1940) sowie Plan de evasión (1945). 227 J. Dünne: "Borges und die Heterotopien des Enzyklopädischen - Mediale Räume in der phantastischen Literatur", p. 194. 228 Ibid., p. 195. 229 Zum Stellenwert von "El Aleph" cf. Raúl Silva-Cáceres: "Jorge Luis Borges y la cultura latina en El Aleph", Ibérica 5 (1985), 75-82; José Manuel Pedrosa: "Borges y la retórica del <?page no="96"?> 92 schaft des Erzählers zu Carlos Argentino Daneri auf histoire-Ebene durch die Liebe zur selben Frau begründet, so ist sie mehr als nur das. Die Konkurrenz der beiden Figuren ist unweigerlich verbunden mit zwei unterschiedlichen Möglichkeiten der Mediennutzung. Dies wird gleich zu Beginn angedeutet. So steht der Erzähler, der sich selbst Borges nennt, dem Medienenthusiasmus seines literarischen und privaten Widersachers von Anfang an skeptisch gegenüber. Daneri, Cousin der verstorbenen Beatriz, imaginiert den Mann der Gegenwart als „moderno Mahoma“ (Al, 745) 230 , der nicht mehr selbst zum Berg müsse, sondern dieser vielmehr zu ihm komme. In seiner Schreibstube (oder seinem Turm) sei ein solcher Mensch umgeben von Telephonen, Telegraphen, Phonographen, Funkgeräten, Kinematographen, Laternae magicae, Glossaren, Fahrplänen, Handbüchern und Formularen, weswegen sich die Notwendigkeit des Reisens für ihn erübrigt habe. Je mehr Daneri bei derartigen Erörterungen in Begeisterung gerät, desto skeptischer begegnet ihnen der Erzähler und rechnet die seiner Meinung nach unbrauchbaren, maßlosen und lautstark vorgetragenen Medienphantasien kurzerhand der Literatur zu. Auch hält er Daneris Vorhaben, ein Langgedicht zu verfassen, das nicht weniger und nicht mehr als die ganze Welt abbilden soll, für sinnlos und eitel. Dennoch lässt Daneri, sehr zum Leidwesen des Erzählers, jeder Strophe, die er aus seinem Gedicht vorträgt, Erläuterungen zur anspielungsreichen Gelehrsamkeit und üppig-barocken Dekoriertheit der eigenen Verse folgen, woraus sein geplagter Zuhörer folgenden Schluss zieht: Comprendí que el trabajo del poeta [Daneri] no estaba en la poesía; estaba en la invención de razones para que la poesía fuera admirable; naturalmente, ese ulterior trabajo modificaba la obra para él, pero no para otros. (Al, 746) In den Augen des Erzählers dient der größenwahnsinnig-mimetische Versuch, eine vollständige poetische Landkarte der Welt zu erstellen, ihrem Verfasser nur als Vorwand, um sich als Dichter zu inszenieren. Die Abneigung des Erzählers gegen Daneri richtet sich damit nicht nur gegen dessen technologiebegeistertes Allmachtsgebaren, sondern auch gegen den damit verbundenen Gebrauch von Schrift. Aus diesem Grund ist dem Erzähler jede Begegnung mit dem Widersacher unangenehm. Bei den alljährlichen Kondolenzbesuchen im Elternhaus der verstorbenen Beatriz sind sie jedoch ein in Kauf zu nehmendes Übel. So schwer wiegt die Abwesenheit der heimlich Angebeteten, dass der Erzähler Borges bereit ist, auch derartige Widrigkeiten zu ertragen. Insgeheim nämlich geht es ihm darum, einen Blick auf das Antlitz von Beatriz zu erheischen, das auf zahlreichen Photographien im Hauseingang zu sehen ist: ‘disparate’ - fuentes y correspondencias mediavales, recentistas y folclóricas de El Aleph", Dicenda - Cuadernos de filología hispánica 14 (1996), 215-234. 230 Alle mit Al gekennzeichneten Zitate beziehen sich auf den Abdruck von "El Aleph" in der hier verwendeten Gesamtausgabe. Cf. J. L. Borges, OC I, 743-756. <?page no="97"?> 93 Consideré que el 30 de abril era su cumpleaños; visitar ese día la casa de la calle Garay para saludar a su padre y a Carlos Argentino Daneri, su primo hermano, era un acto cortés, irreprochable, tal vez ineludible. De nuevo aguardaría en el crepúsculo de la abarrotada salita, de nuevo estudiaría las circunstancias de sus muchos retratos. Beatriz Viterbo, de perfil, en colores; Beatriz, con antifaz, en los carnavales de 1921; la primera comunión de Beatriz; Beatriz, el día de su boda con Roberto Alessandri; Beatriz, poco después del divorcio, en un almuerzo del Club Hípico; Beatriz, en Quilmes, con Delia San Marco Porcel y Carlos Argentino Daneri; Beatriz con el pekinés que le regaló Villegas Haedo; Beatriz, de frente y de tres cuartos, sonriendo, la mano en el mentón... (Al, 743f) Was der Erzähler vordergründig als unvermeidliche Geste der Höflichkeit präsentiert, entpuppt sich hintergründig als Lust am Schauen. Es scheint, als kenne Borges jedes der einzelnen Photos nur allzu gut. Immerhin versetzen sie ihn in die Lage, kurzerhand eine kleine Biographie der Verstorbenen zusammenzutragen. 231 Anders aber als Daneri, der es sich zum Ziel gesetzt hat, die ganze Welt abzubilden, produziert Borges an dieser Stelle nicht Kunst aus Wirklichkeit, sondern Kunst aus Kunst. Dabei verhelfen ihm die Bilder zu einer für ihn vorteilhaften Asymmetrie in der Beziehung zur Geliebten. Empfand diese seine Annäherungsversuche zu Lebzeiten bisweilen als anstrengend - „mi vana devoción la había exasperado“ - so kann sie dem skopophilen Blick als Tote nichts mehr entgegensetzen - „muerta yo podía consagrarme a su memoria, sin esperanza, pero también sin humillación“ (Al, 743) - und wird so zum bevorzugten Objekt der Dichtung. 232 Dass es dem Erzähler grundsätzlich darum geht, die Geliebte auf ewig vor dem Wandel der Zeit zu bewahren, lässt er bereits zu Anfang wissen. 233 Die Tatsache aber, dass seine Besuche unter dem Deckmantel der Höflichkeit nur ein Vorwand sind, um beim Anblick der Verstorbenen zum Dichter zu werden, stellt ihn auf eine Stufe mit seinem verhassten Konkurrenten Daneri. Schließlich verfolgt auch dieser mit seinem vordergründig ehrbaren Projekt (der Poesie) ein wenig ehrbares - banales - Ziel. Ist das Endprodukt dem Erzähler ein Graus, so ist es Daneris Zwecken mehr als dienlich. In dem Maße aber, in dem das Werk allein für seinen Schöpfer genießbar wird, kennt auch nur Borges allein den Grund für seine alljährlichen Besuche im Trauerhaus in der calle Garay. Was der Familie von Beatriz schmerzlicher 231 Man erfährt, dass Beatriz katholisch ist, was nicht überrascht, der Tatsache aber, dass sie geschieden ist, Gewicht verleiht. 232 Cf. in diesem Zusammenhang Elisabeth Bronfen: Over Her Dead Body, Manchester: Manchester Univ. Press 1992. 233 Al, 743: „La cadente mañana de febrero en que Beatriz Viterbo murió, después de una imperiosa agonía que no se rebajó un solo instante ni al sentimentalismo ni al miedo, noté que las carteleras de fierro de la Plaza Consitutción habían renovado no sé qué aviso de cigarillos rubios; el hecho me dolió, pues comprendí que el incesante y vasto universo ya se apartaba de ella y que ese cambio era el primero de una seria infinita. Cambiará el universo pero yo no, pensé con melancolía vanidad“. <?page no="98"?> 94 Anlass ist, ist für den Erzähler zugleich ein optischer Genuss, ein heimliches Erheischen, verdichtendes und dichtendes Komplettieren verstreuter Bildfragmente und damit poetische Evokation des geliebten und ewig entzogenen Körpers. So gesehen, spielen Borges und Daneri dasselbe Spiel. Damit scheint es in "El Aleph" zwei Geschichten zu geben, die grundsätzlich nicht miteinander vereinbar sind: Vordergründig berichtet der Erzähler von der Zuneigung zu einer Toten, von der wenig subtilen Abneigung gegen Daneri sowie der seltsam phantastischen Schau eines Punkts, der alle Punkte des Universums enthält. Hintergründig und verdeckt umkreist der Text zwei unterschiedliche Möglichkeiten der Realisierung von Sprache, namentlich der phonischen und der literalen. Werden auf histoire-Ebene eine Liebesgeschichte, eine Eifersuchtsintrige oder eine Künstlerrivalität in Aussicht gestellt, so gehen die möglichen Handlungen stets in der kontrastiven und spielerischen Darstellung der abbildenden Verfahren auf. Letzteren Umstand legt der Erzähler nicht offen. Stattdessen streut er die verborgene Geschichte, sprich: die Reflexion über das Material, in Form von „intercalaciones“ 234 in den Text ein, wo sie in einem ganz bestimmten Betrachtungswinkel und unter ganz bestimmten Umständen die Schau einer - wie Borges an anderer Stelle sagt - scheußlichen oder abgedroschenen Realität erlauben, „la adivinación de una realidad atroz o banal“ (Tlön, 513). Ansichtig wird diese jedoch nur, wenn man bereit ist, den Text unter erweiterten materiellen Gesichtspunkten zu betrachten, die den Horizont der Schrift übersteigen und ihr Potenzial aus- oder gar überreizen. "El Aleph" ließe sich auf diese Weise lesen wie ein Vexierbildbzw. ein Vexiertext, der je nach Verfahren und je nach Phantasie bezüglich des Materials (E 2 ) - literal oder phonisch - mal den einen, mal den anderen Gegenstand, mal ein mystisches Erlebnis, mal eine „realidad atroz o banal“, zeigt. Phantastisch wäre für sich genommen weder das eine noch das andere, sondern das Material, das es fertig bringt, eine Welt und ihre Vermittlung zugleich ansichtig werden zu lassen. Die folgenden Überlegungen sollen als Vorschlag für die Frage dienen, wodurch eine ‘medienphantastische’ Lektüre von "El Aleph" motiviert sein könnte. Im letzten seiner Nueve ensayos dantescos (1982) "La última sonrisa de Beatriz" findet sich hierfür ein entscheidender Hinweis. Beim Versuch, ein cuento zu schreiben, bei dem durch Weglassen, Verfremden und die Beschränkung auf einen subjektiven Standpunkt eine zweite (scheußliche oder banale) Realität ansichtig wird, gleicht der Erzähler von "El Aleph" demjenigen, über den Bioy Casares und Borges in "Tlön, Uqbar, Orbis Tertius" diskutieren (cf. Tlön, 513). Er verfolgt aber auch jene Strategie, die Borges beim italienischen Dichterfürsten und Namensvetter Daneris 234 Cf. J. L. Borges: "La última sonrisa de Beatriz", p. 448. Zitiert wird nach id.: OC III, pp. 447-450; im Folgenden abgekürzt durch Usb. <?page no="99"?> 95 ausgemacht haben will. 235 Wie er in "La última sonrisa de Beatriz" nahelegt, habe Dante Alighieri die Divina commedia (neben anderen Gründen) vor allem deswegen verfasst, um einen Anlass zu finden, den Namen der Geliebten in den Text einzustreuen, Beatrice poetisch wieder aufleben zu lassen oder zwischen den Versen aufblitzen zu sehen (Usb, 448ff). In dieser Blickrichtung hat Dante - ganz wie Daneri - sein Langgedicht auch zu einem nur für ihn bekannten Zweck geschrieben. Besonders deutlich - so Borges weiter - spiegelten sich die Motivation und der Charakter dieses Unterfangens im canto XXXI des Paradiso wider. Darin stellt Dante zunächst fest, dass sich Beatrice, die ihn aus den Höllenkreisen ins Empyrium geführt hat, nicht mehr neben ihm befindet. Stattdessen sieht er die Geliebte hoch oben in der Himmelsrose, von wo aus sie ein letztes Mal lächelnd zurückblickt, um anschließend für immer zu verschwinden. Einigen geläufigen Deutungen dieser Szene stellt Borges die eigene Interpretation hinzu: Seiner Ansicht nach habe der historische Dante (E 1 ) die entsprechende Situation mit der Absicht imaginiert, sich noch einmal glücklich bei der Geliebten sehen zu können. Dass ein Unglückseliger einen glücklichen Zustand erträumt, sei etwas Alltägliches. Aus biographischer Sicht habe die Szene jedoch etwas von einem Alptraum, zumal sie den Verlust der verstorbenen Beatrice nur ein weiteres Mal durchspielt. Vor dem Hintergrund nämlich, dass Dante allein und möglicherweise gedemütigt zurückgeblieben sei, erscheinen sämtliche Begleitumstände der Szene in einem anderen, schaurigen Licht: das plötzliche Verschwinden Beatrices, das Auftauchen des Greises an ihrer Stelle (Hl. Bernhard), die jähe Fahrt der Geliebten in den Himmel, ihr Lächeln, ihr Blick, das ewig abgewandte Gesicht. Die poetische Wiederbegegnung habe der Figur Dante (E 4 ) zwar Lust, dem Dichter Dante (E 1 ) in gleichem Maße jedoch Schmerz bereitet. Aus diesem Grund sei das Unterfangen, die Tote im Text der Divina Commedia wieder lebendig zu machen, durchweg paradoxal. Jede Steigerung der Lust ist dabei direkt proportional mit der Steigerung von Schmerz verbunden. In Anlehnung an G. K. Chesterton spricht Borges in diesem Zusammenhang von nightmares of delight, wobei der Schwerpunkt bei Dante auf ersterem Teil des Oxymorons liege. Entscheidend für die hier angestellten Überlegungen ist, dass die Terzine, die den letzten Abschied von Beatrice und das letzte Lächeln besingt, zwei Seiten besitzt, von denen sich stets nur die eine sehen lässt, die andere jedoch stets mit vorhanden ist, ganz wie im Fall des Baus der Chinesischen 235 Die intertextuellen Bezüge zu Dante Alighieri und der Divina Commedia in "El Aleph" sind markant und haben die Forschung immer wieder beschäftigt. Für einen Überblick cf. H. Núñez-Faraco: Borges and Dante - Echoes of a Literary Friendship. Als erster hat auf diesen Zusammenhang Daniel Devoto aufmerksam gemacht. Cf. id.: "Aleph et Alexis", Cahiers de L’Herne 4 (1964), 281-285. Cf. ebenso: Alberto J. Carlos: "Dante y El Aleph de Borges", Duquesne Hispanic Review, 1 (1966), 35-50; Roberto Paoli: Borges percorsi di significato, Messina/ Florenz: D’Anna 1977. <?page no="100"?> 96 Mauer und der damit verbundenen Bücherverbrennung. 236 Diese Doppelstruktur ergibt sich, wie Borges in seinem Essay weiter zeigt, aufgrund von Besonderheiten auf der Ebene der Syntaktik und somit auch unabhängig von der Kenntnis von Dantes amouröser Biographie. Die drei Zeilen, auf die es dabei ankommt, lauten wie folgt: Così orai; e quella, sí lontana come parea, sorrise e riguardommi; poi si tornò all’etterna fontana. 237 „En las palabras“, so Borges, „se trasluce el horror: come parea se refiere a lontana pero contamina a sorrise“ (Usb, 450) Was hier als Kontamination bezeichnet wird, ist Effekt eines Widerspruchs zwischen Satzstruktur und Versstruktur der Terzine und den damit verbundenen Möglichkeiten phonischer Realisierung. Orientieren sich die Sprechpausen an der Interpunktion, so bezieht sich come parea auf die räumliche Entfernung der Geliebten. Orientieren sich die Sprechpausen an der Versstruktur, so bezieht sich come parea auf das Lächeln und den Blick Beatrices. Ist dieser Widerspruch in der Schrift offen zu sehen, so muss er bei phonischer Realisierung verdeckt werden. Die Lektüre muss sich stets zugunsten einer der beiden Möglichkeiten entscheiden und kann nie beide zugleich aktualisieren. Dies gilt ebenso für die Übersetzung. Hier wurde, wie Borges nahelegt, häufig zugunsten der Versgestaltung entschieden. So sei in einer englischen Fassung der Divina Commedia folgendes zu lesen: Thus I implored; and she so far away, Smiled as it seemed and looked once more at me... 238 Anstatt im Zieltext die Zweifel über die Distanz der Geliebten zu benennen, macht der Übersetzer daraus Zweifel über Beatrices Gesichtsausdruck. Auch der Übersetzer der deutschen Ausgabe der Reclam-Universalbibliothek hat sich für diese Variante entschieden: So flehte ich, und jene aus der Ferne Hat, wie ich glaube, lächelnd mich betrachtet, Dann hat sie sich zum ewigen Quell gewendet. 239 Die Wahl der syntaktischen Zuordnung von come parrea motiviert hier sogar den grammatikalischen Wechsel der Perspektive von der unpersönlichen dritten Person zur ersten Person Singular. Die ursprüngliche Ambivalenz hinsichtlich Nähe und Ferne, die im Übrigen wenige Strophen zuvor noch 236 Cf. Kap. 2.4 dieser Arbeit. 237 Usb, 447. Siehe auch Dante Alighieri: La Commedia - IV Paradiso, ed. Giorgio Petrocchi, Florenz: Le Lettere 2003, XXXI, V.91-93. 238 Usb, p. 450. Borges bezieht sich auf die Übersetzung von Henry Wadsworth Longfellow von 1867. 239 Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie, ed. Hermann Gmelin, Stuttgart: Reclam 2007, p. 385, XXXI, V.91-93. <?page no="101"?> 97 ausbuchstabiert wurde, wird in beiden Übersetzungen vereindeutigt. Dabei wird die Versgestaltung ‘kontaminierend’ auf die Ebene der Semantik übertragen. Die Syntax bemächtigt sich, wie Borges dies nennt, der Rede. Anders hingegen übersetzt Hartmut Köhler die Terzine für die zweisprachige Ausgabe der Reihe Reclam-Bibliothek: So flehte ich; und sie, so weit entfernt sie schien, sah mich und lächelte; dann wandte sie sich hin zur ewigen Quelle. 240 Wenngleich der Ausgangstext bei der Übersetzung stets unverändert bleibt, so erzeugt die Wahl des verstehenden Anschlusses je unterschiedliche Varianten im Zieltext. Jede Übersetzung ist damit nicht allein Übersetzung von Schrift, sondern einer möglichen Variante phonischer Realisierung der Terzine. Da sich jede Variante immer auch anders hätte aktualisieren lassen können, ist ihre nicht-aktualisierte Variante - so die Überlegung - stets mit vorhanden. Die schriftliche Vorlage beugt sich dabei stets einem impliziten Akt phonischer Realisierung, der die andere mögliche Variante ausschließt. Wenngleich dies geboten wäre, so ist es doch unmöglich, beide Varianten gleichzeitig (phonisch) zu realisieren. Die markanten intertextuellen Bezüge von "El Aleph" zu Dante Alighieri (mit Daneri), zu Beatrice (mit Beatriz) und zum Paradiso der Divina Commedia (mit der dominanten Lichtmetaphorik und der Schau des gesamten Universums) lassen vermuten, dass sich das cuento ähnlich verhält wie der canto XXXI und die darin enthaltene Abschiedsterzine. Tatsächlich wird die Differenz von Satz- und Versstruktur, die dort zwei unterschiedliche Lesarten ermöglicht, im cuento als Differenz von Oralität und Literalität durchgehend in den Vordergrund gespielt. Geradezu exemplarisch zeichnet sie sich im antagonistischen Verhältnis von Daneri und Borges ab. Beide versuchen sich als Dichter einem unmöglich repräsentierbaren Gegenstand zu nähern. Sie tun dies jedoch ausgehend von zwei unterschiedlichen materiellen Zugriffen: Während Borges sich, von der gesprochenen Sprache ausgehend, der toten Beatriz nähert, so nimmt das poetische Projekt Daneris seinen Anfang bei der Schrift. Nicht von ungefähr richtet sich die Abneigung und Kritik, die der Erzähler an seinem Konkurrenten übt, zuvorderst gegen dessen ostentativen, materialverliebten Gebrauch seiner Werkzeuge. Während Dante Alighieri, wie Borges in seinem ensayo dantesco unterstellt, die alptraumhafte Seite der letzten Abschiedsszene im Paradies stets mit-gesehen habe und Freude daher nur um den Preis von Leid erdichten konnte, so ist sein argentinischer Namensvetter hinsichtlich der eigenen ‘poesía admirable’ über jeden Zweifel erhaben. In dieser Blickrichtung wäre Daneri nicht, wie häufig 240 Dante Alighieri: La Commedia - Die Göttliche Komödie, I-III, Italienisch/ Deutsch, ed. et transt. Hartmut Köhler, Stuttgart: Reclam 2012, XXXI, V.91-93. <?page no="102"?> 98 angeregt wurde, die Reinkarnation des italienischen Dichterfürsten, sondern die seiner Übersetzer. Der Erzähler hingegen, der seinem Widersacher nicht von ungefähr eine „torpeza métrica“ (Al, 746) attestiert und dessen ausufernde Erläuterungen als „pedantesco fárrago“ (Al, 748, Herv. von mir, D.K.) bezeichnet, nähme in dieser Blickrichtung selbst die Rolle Dantes ein. Dies wird zum einen in biographischer Hinsicht (E 1 ) deutlich: Gewidmet ist "El Aleph" Estela Canto, die Borges Beatriz nannte und mit der ihn eine kurze und leidenschaftliche Affäre verband. Seinen Heiratsantrag hatte sie jedoch zuletzt abgelehnt und ihn kurz darauf verlassen. 241 Zum anderen ist die Identifikation des Erzählers mit Dante auf pragmatischer Ebene greifbar: Neben der offensichtlichen Tatsache, dass der Erzähler vorgibt, um die geliebte Beatriz zu trauern, unterlässt er keine Gelegenheit, ihren Namen in seinen Bericht einzustreuen. Damit verpflichtet er sich demselben verzweifelten Bemühen, das - so Borges - in der Divina commedia, aber auch in anderen Schriften Dantes zu erkennen sei. In der Vita nuova beispielsweise sei zu lesen, Dante habe in einer Epistel siebzig Frauennamen aufgezählt, allein um dieser Liste den Namen Beatrices unterzuschieben (Usb, 448). In "El Aleph" ist Beatriz mit siebenundzwanzig Okkurenzen nicht nur der häufigste Eigenname, sondern auch das häufigste Substantiv. Dass dies kein Zufall ist, lässt der Erzähler offen wissen, indem er den Namen der Geliebten auch dort nennt, wo dies nicht zwingend geboten ist. So ist ihm das eigene Sprechen nur mehr Anlass dafür, das entzogene Objekt auch dann zu umkreisen, wenn der Gegenstand der Rede ein anderer ist: [E]ncaré con toda imparcialidad los provernires que me quedaban: a) hablar con Álvaro y decirle que el primo hermano aquel de Beatriz (ese eufemismo explicativo me permitiría nombrarla) había elaborado un poema que parecía dilatar hasta lo infinito las posibilidades de la cacofonía y del caos (Al, 749). Am Ende wird die poetische Wiedergeburt von Beatriz tatsächlich als lustvolle und schmerzliche Erfahrung, als nightmare of delight inszeniert: Bei der mystischen Schau des Aleph sieht der Erzähler die Geliebte wieder. Er befindet sich dabei jedoch nicht in der Himmelsrose, sondern im Inferno, sprich: im dunklen Keller Daneris. Dort bekommt er - wie Dante im canto XXXI - neben allem anderen auch Dinge zu sehen, die ihm die Wiederbegegnung zum Alptraum machen und die schöne Biographie der Geliebten durch ein banales oder abscheuliches Detail in ihre Negativkopie umkippen lassen. Abgesehen von der semantischen Ebene wird die mediale Differenz von Literalität und Oralität auch auf Vermittlungsebene und zuletzt ausgehend 241 Cf. hierzu Humberto Núñez-Faraco: "In Search of the Aleph - Memory, Truth and Falsehood in Borges’s Poetics", The Modern Language Review 92 (1997), 613-629 sowie Estela Canto: Borges a contraluz, Madrid: Espasa Calpe 1989. <?page no="103"?> 99 von der syntaktischen Ebene umspielt. Programmatisch zeigt sich dies am deutlichsten in der Widmung, die dem cuento nachgestellt ist. Je nach Art der materiellen Realisierung bedeutet <A Estela Canto> etwas anderes als / a estela canto/ . Literal realisiert ist der Satz eine Widmung an eine reale Person aus Borges’ Privat- und Liebesleben. Phonisch realisiert gibt ein Sprecher damit vor, seinen Gesang an eine Grabstele zu richten. Letzterer Fall verweist geradezu exemplarisch auf die Urszene phonischer Realisierung von Schrift und die damit verbundene zeichenhafte Repräsentation eines entzogenen (poetischen) Gegenstands. Ähnlich und dennoch komplexer verhält es sich beim Namen von Borges’ Widersacher: Von der Seite der Schrift aus betrachtet, ist <Daneri> ein zusammengezogenes <Dan[te] [Alighi]eri>. 242 In dieser Blickrichtung wäre Daneris Rolle diejenige Dantes. Auch in phonischer Realisierung ist der Name des italienischen Dichterfürsten in / Daneri/ noch zu hören. Was dabei jedoch vorschnell überhört wäre, ist das italienische nero. Unabhängig von der Schrift, wäre / da neri/ wörtlich als ‘er gibt Schwärze(n)’ oder, präpositional, als ‘bei/ von/ aus/ zu/ durch Schwärze(n)’ zu übersetzen. Die Figur steht damit - was die lautliche Seite ihres Namens betrifft - der Dunkelheit nahe. Die Semantisierung der Räumlichkeiten in der calle Garay wäre dieser Lesart nicht abträglich. Schließlich sieht der Erzähler die vielen Photos von Beatriz stets im Halbdunkeln (crepúsculo) des Hauseingangs (cf. Al, 743). Auch ist der Keller, in dem sich das sagenhafte Aleph befindet, „muy oscuro“ (Al, 750) oder von einer „oscuridad [...] total“ (Al, 752). Noch deutlicher aber spielt das / da neri/ auf das Schwarz der Schrift an. So sagt der selbsternannte Dichter über das Ergebnis seiner Arbeit: [P]asa de Homero a Hesíodo (todo un implícito homenaje, en el frontis del flamante edificio, al padre de la poesía didáctica), no sin remozar un procedimiento cuyo abolengo está en la Escritura, la enumeración, congerie o conglobación. (Al, 746) 242 Cf.: Emir Rodríguez Monegal: Jorge Luis Borges - A Literary Biography, New York: Dutton 1978, p. 414. Für die Verbindungen zu Dante bei Borges cf. ebenso Jon Thiem: "Borges, Dante, and the Poetics of Total Vision", Comparative Literature 40 (1988), 97-121. Weitere Lesarten sehen in Daneri die Namen von R[ub]én Darí[o] oder Pablo Ner[u]da, dessen Gedichtsammlung Residencia en la Tierra (1925-1931) in Bezug zu Daneris Gedicht La Tierra zu sehen wären. Zu Neruda siehe E. Fishburn, P. Hughes: A Dictionary of Borges, p. 23 sowie Juan José Barrientos: "Borges y Neruda", Revista de la Universidad de México 42 (2007), 40-42. Zu Rubén Darío cf. J. L. Borges: "Ultraísmo", in: Angel Flores ed.: Expliquémonos a Borges como poeta, Mexico Stadt: Siglo XXI 1984, pp. 19-62. Überblickshaft zusammengefasst finden sich die unterschiedlichen Varianten bei H. Núñez- Faraco: "In Search of the Aleph - Memory, Truth and Falsehood in Borges’s Poetics", 613 sq, sowie Anm. 6 und 8. Zum weitläufigen Interpretationshorizont von "El Aleph" cf. Carlos Rincón: "Das Phantastische als Simulacrum: Jorge Luis Borges", in: Gerhard Bauer, Robert Stockhammer edd.: Möglichkeitssinn - Phantasie und Phantastik in der Erzählliteratur des 20. Jahrhunderts, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, pp. 200-210. <?page no="104"?> 100 Die intertextuellen Verweise dieser Passage greifen erneut die Isotopie von Literalität und Oralität auf. Durch den Schulterschluss mit der Lehrdichtung Hesiods erhebt Daneri didaktischen Anspruch. Zugleich rühmt er sich damit, dass seine Verse der Escritura verpflichtet sind, was sich literal realisiert auf die Heilige Schrift, phonisch realisiert jedoch auf Schrift als solche bezieht. Darüber hinaus verweisen die beiden Dichter ein weiteres Mal auf die Differenz von Schreiben und Sprechen bzw. Sehen und Hören: Während man Homer nachsagt, er sei blind gewesen, so dürfte Hesiod seine Texte in vollem Besitz seines Augenlichts geschrieben haben. Anders als dieser hat Homer die eigenen Verse vermutlich nur gehört, nie aber gesehen. Dass mit der Figur Daneri fortwährend auf die Materialität der Schrift angespielt wird, ist zudem auf pragmatischer Ebene erkennbar. So werden seine Äußerungen bevorzugt in Form schriftlicher Zitate wiedergegeben. Sie sind zudem distanzsprachlich geformt, orientieren sich konzeptionell also an den situationellen Faktoren schriftlicher Kommunikation. 243 So hat Daneri eine Vorliebe für die Hypotaxe („[e]l primer verso granjea el aplauso del catedrático, del académico, del helenista, cuando no de los eruditos a la violeta, sector considerable de la opinión“), neigt zum Monologisieren und zur Verdinglichung („el tercero - ¿barroquismo, decadentismo, culto depurado y fanático de la forma? “ Al, 745 sq.), und ist stets um die Erweiterung seines Wortschatzes bemüht. Borges’ Kritik an Daneri scheint sich gerade auf diesem Umstand zu beziehen: Me releyó, despues, cuatro o cinco páginas del poema. Las había corregido según un depravado principio de ostentación verbal: donde antes escribió azulado, ahora abundaba en azulino, azulenco y hasta azulillo. La palabra lechoso no era bastante fea para él; en la impetuosa descripción de un lavadero de lanas, prefería lactario, lacticinoso, lactescente, lechal... . (Al, 748) Dass Daneri durch das nero in seinem Nachnamen nicht nur auf die Schrift, sondern auch auf die weiße Seite Papier anspielt, wird durch dessen Faszination mit Helligkeit, Beleuchtung und zuletzt der Farbe Weiß unterstrichen. So lädt er den Erzähler nicht von ungefähr auf ein Glas Milch ein, äußert seine Begeisterung nicht zufällig über die Deckenbeleuchtung und ist - wie die oben zitierte Passage nahelegt - immer dann um die Erweiterung seines Signifikantenrepertoires bemüht, wenn es um die Repräsentation von weißen Gegenständen mit schwarzen Buchstaben geht. Der Hinweis des Erzählers, Daneri redigiere seine Texte gemäß einer ostentación verbal, unterstreicht, dass dieser weniger an semantischer Tiefe als an der materiellen Ausgestaltung oder gar Amplifikation von Schrift interessiert ist. Darauf 243 Cf. erneut P. Koch, W. Oesterreicher: "Sprache der Nähe - Sprache der Distanz - Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte" sowie Walter J. Ong: "Writing is a Technology that Restructures Thought", in: Gerd Baumann ed.: The Written Word: Literacy in Transition, Oxford: Clarendon Press 1986, pp. 23-50. <?page no="105"?> 101 wird ein weiteres Mal angespielt, als Daneri seinen Kritikern vorwirft, sie seien nicht im Besitz des richtigen Schreibwerkzeugs, wobei damit ausdrücklich Material und Apparate gemeint sind: „[N]o disponen de metales preciosos ni tampoco de prensas de vapor, laminadores y ácidos sulfúricos para la acuñación de tesoros“ (Al, 748). Der Erzähler hingegen eignet sein cuento der Geliebten als Gesang (canto) zu, sofern man auch hier gewillt ist, die phonische Variante der Widmung zu präferieren. Auf pragmatischer Ebene wird dies durch die Tatsache unterstrichen, dass seine Rede tendenziell sprechsprachlich geformt ist. Besonders deutlich wird dies zu Beginn bei der Beschreibung der Photographien von Beatriz sowie der phantastischen Schau des Aleph gegen Ende der Erzählung. Beide Passagen sind parataktisch konstruiert, während der Sprecher Metaphern oder Vergleiche meidet und nicht einem Thema stringent folgt, wie dies bei distanzsprachlicher Rede geboten wäre, sondern die Lexeme in freier Assoziation aneinanderreiht und das Verstehen dabei dem impliziten Adressaten überantwortet. Auch von Daneri wird der Erzähler stets mit der gesprochenen Sprache in Verbindung gebracht. So bittet er ihn bei einem gemeinsamen Treffen nicht, wie Borges kurzzeitig befürchtet, um das schriftliche Verfassen eines Vorworts für La Tierra, sondern um mündliche Fürsprache bei einem anderen, für eine solche Aufgabe gewünschten „hombre de letras“ (Al, 749). Dass die mediale Differenz, die Borges und Daneri verkörpern, unabschließbarer Prozessualität unterliegt, wird durch die konsequente und niemals deutlich begründete Feindschaft der beiden nahegelegt - „íntimamente siempre nos habíamos detestado“ (Al, 751) - und zuletzt verlängert: So zeigt sich Borges gegenüber der Bitte Daneris innerlich abgeneigt. Als dieser jedoch andeutet, dass der in Frage stehende Literat ein Verhältnis mit Beatriz gehabt haben könnte, willigt er beherzt ein: „Asentí, profusamente asentí“ (Al, 749). Die Liebesbeziehung begründet das Einverständnis jedoch nur kurzzeitig. Denn gleich im Anschluss berichtet der Erzähler, er wolle die Sache auf sich beruhen lassen. Seltsamerweise lässt auch Daneri von der Angelegenheit ab, die ihm zuvor noch so dringlich erschien. Mögliche Ereignishaftigkeit oder eine mögliche Geschichte wird auf diese Weise nur mehr tentativ angedeutet, zu keinem Zeitpunkt jedoch vollzogen. Stattdessen wird auf semantischer, pragmatischer und syntaktischer Ebene stets auf die Differenz von phonischer und literaler Realisierung von Sprache aufmerksam gemacht. Zugleich wird deutlich, dass diese Differenz nicht zu überbrücken ist. Vielmehr provoziert sie, je nachdem, welche der beiden Seiten aktualisiert wird, unterschiedliche Interpretationshorizonte: Liest man Daneri als <Dan[te] [Alighi]eri>, wird man unweigerlich auf andere Texte wie die Divina Commedia verwiesen. Liest man Daneri jedoch als / da neri/ , so wird man nur mehr zurückgeworfen auf die Schrift selbst - zumindest nach der hier angestellten Lesart. Im einen wie im anderen Fall stößt man auf Texte, dies jedoch mit dem Unterschied, dass das Ziel im ersten Fall ein hoher Gegenstand ist, der über seine schriftliche Verfasstheit <?page no="106"?> 102 hinwegzutäuschen vermag und sein Material auf die ganze abendländische und morgenländische Kultur, vielleicht sogar auf die ganze Welt hin transzendiert, während man es im zweiten Fall mit der banalen Tatsache zu tun bekommt, dass jeglicher Sinn schriftlich verbürgt ist, sprich: dass das, was man liest, Schrift ist. Anstatt also einem mimetischen drift, einem Versprechen von Sinn, endgültig nachzugeben, macht der Text (performativ) immer wieder auf die - wie es scheint - bedauerliche Tatsache seiner schriftlichen Verfasstheit aufmerksam. Das verdichtete Potenzial intertextueller Verwiesenheit einerseits (Dante, Beatrice, Homer, Hesiod), die zwischen Literalität und Oralität liegende Isotopie, die dominante Paradigmatik auf Vermittlungsebene, sowie das nie eingelöste Potenzial einer Geschichte andererseits (Daneri, Beatriz, Hören, Sehen) umspielen tentativ nichts weiter als die ästhetische Erfahrung einer sich gleichzeitig vollziehenden, sinnversprechenden (und sinnverweigernden) Lektüre. Ähnliches gilt für das Aleph, dies jedoch mit dem Unterschied, dass niemals deutlich wird, auf welche Art der materiellen Verfasstheit man verwiesen wird. Waren dies bislang die Schrift, so wird der (fiktive) materielle Rahmen in einem weiteren Schritt zunehmend verschleiert. Vereinfacht gesagt: Spielte der Text bislang noch thematisch auf seine schriftliche Verfasstheit an, so ist beim Aleph bis zum Schluss nicht deutlich, woraus es gemacht ist, ja, was es ist. Stattdessen lässt sich auf pragmatischer Ebene in dem Moment eine verstärkte Ambiguierung beobachten, wo das Aleph Gegenstand der Rede wird. Vordergründig ist dies dem Umstand geschuldet, dass die Rede um ein unmögliches Objekt kreist, das es in der bekannten Welt (vorgeblich) nicht gibt und das zugleich die ganze Welt ansichtig werden lässt. Hintergründig sind die Schwierigkeiten der Verständigung über das Aleph bei seiner ersten sprachlichen Erwähnung technischer Natur: Borges und Daneri telephonieren. Ist dieser Umstand - soweit sich sehen lässt - bislang wenig beachtet worden, so ist er für die hier angestellten Überlegungen entscheidend. Dies zum einen, da das Telephon auf einen technikgeschichtlichen Umbruch verweist, der bereits in Daneris Medienphantasien thematisch antizipiert wurde. Zum anderen verbindet der Apparat die Präsenz einer Stimme (als Kennzeichen einer oralen Kommunikationssituation) mit der Absenz eines Sprechers (als Kennzeichen einer literalen Kommunikationssituation). Das ‘Tele-phon’ wird damit zur Chiffre einer phantastischen Vergleichgültigung von Literalität und Oralität, die bislang als konkurrierende und unvereinbare materielle Zugriffe auf ein poetisches Objekt profiliert wurden. Diese Eigenschaft knüpft das Gerät an das Versprechen, die unüberbrückbare Differenz von Oralität und Literalität zu schließen und ins Zentrum der Sprache vordringen zu können. So gesehen, stellt der Apparat nichts anderes in Aussicht als den Genuss von totaler ästhetischer Offenbarung und lockt damit, noch einmal alles haben und womöglich gar eine Einheit her- <?page no="107"?> 103 stellen zu können. Nicht von ungefähr lässt der Erzähler wissen, er habe sich von dem Gerät erhofft, er möge eines Tages die Stimme der Geliebten zum Klingen bringen, nicht aber sich dazu herablassen, den unnützen und cholerischen Klagen ihres Cousins als Gefäß zu dienen (Al, 749). Die Tatsache aber, dass der letztgenannte Fall eintritt, zeigt an, dass das technische Medium zwei Funktionen erfüllt: Auf der einen Seite wird es als Agent der Störung inszeniert. Auf der anderen Seite kündigt es die Existenz des Aleph an, das totale ästhetische Offenbarung verspricht. Bei näherem Hinsehen stellt sich jedoch heraus, das das Telephon durch die Vergleichgültigung von Oralität und Literalität das Aleph zuallererst hervorbringt: Interessiert auf semantischer Ebene während des Telephonats die vorgebliche Existenz des Aleph, so beschäftigt auf pragmatischer Ebene der Umstand, dass die etablierten sprachlichen Register vertauscht werden. So fällt dem Erzähler zunächst auf, dass sich die Stimme Daneris verändert hat: [N]o identifiqué su voz, al principio [...]. Vaciló y con esa voz llana, impersonal, a que solemos recurrir para confiar algo muy íntimo, dijo que para terminar el poema le era indispensable la casa, pues en un ángulo del sótano había un Aleph. Aclaró que un Aleph es uno de los puntos del espacio que contiene todos los puntos. (Al, 750) Wie confiar und íntimo nahelegen, weiht Daneri Borges in sein Geheimnis durch den Gebrauch von Nähesprache ein. Es scheint, als präferiere er nun die phonische Realisierung von Sprache gegenüber der literalen. Zudem werden seine Erläuterungen zur Beschaffenheit des Objekts zunächst nicht mehr in Zitaten, sondern in indirekter Rede wiedergegeben. Erst im darauffolgenden Absatz kommt Daneri direkt zu Wort und gibt Informationen über das Aleph preis, die sich mit den vorangegangenen, durch den Erzähler indirekt vermittelten (s.o.), nicht ohne weiteres decken: -Está en el sótano del comedor -explicó, aligerada su dicción por la angustia- . Es mío, es mío: yo lo descubrí en la niñez, antes de la edad escolar. La escalera del sótano es empinada, mis tíos me tenían prohibido el descenso, pero alguien dijo que había un mundo en el sótano. Se refería, lo supe después, a un baúl, pero yo entendí que había un mundo. Bajé secretamente, rodé por la escalera vedada, caí. Al abrir los ojos, vi el Aleph. (Al, 750) Auffällig ist hier zunächst die gemäßigte Diktion Daneris. Im Manuskript von "El Aleph" war statt aligerada sogar simplificada zu lesen. 244 Die deutliche Verwendung von Nähesprache wird zudem durch die Wiederholungen von es mío, mundo und sótano angezeigt. Auf semantischer Ebene wird dies motivisch von Kindheitserinnerungen und dem damaligen Übertreten eines Verbots begleitet. 244 Cf. Elena del Río Parra, Julio Ortega edd.: ‘El Aleph’ de Jorge Luis Borges - Edición crítica y facsimilar, Mexiko Stadt: El colegio de México 2008, p. 62. <?page no="108"?> 104 Auf pragmatischer Ebene fällt auf, dass sich der Inhalt der wörtlichen Rede Daneris nicht mit demjenigen der indirekt wiedergegebenen Äußerungen deckt: War das Aleph in indirekter Rede noch ein sagenhafter Punkt, der alle Punkte beinhaltet, so handelt es sich in Daneris wörtlicher Beschreibung um einen Koffer, von dem er als Kind glaubte, er beinhalte eine Welt. Dabei stellt Daneri klar, die metaphorische Wendung seines Onkels seinerzeit wörtlich genommen zu haben. Einem Aleph als übernatürlichem Objekt steht ein Aleph gegenüber, das ehemals eine Kinderphantasie war. Entscheidend ist dabei der Umstand, dass sich irrationale und rationale Erklärung je in Abhängigkeit von phonischer oder literaler Realisierung von Sprache ergeben. Erstere Variante wird in direkter Rede vermittelt, zweite Variante in indirekter Rede. Auffällig ist dabei auch, dass die beiden Varianten hinsichtlich ihrer Plausibilität zunehmend die Seiten wechseln: Die Tatsache nämlich, dass Daneri jenen Koffer das erste Mal nach einem Sturz von der Treppe sieht, bemüht der Erzähler als Argument für die Unglaubwürdigkeit der Argumente. Dass Daneri einen bleibenden Hirnschaden erlitten hat und seinem Bericht deswegen nur unter Vorbehalt zu glauben ist, spricht der Erzähler zwar nicht explizit aus. Er deutet dies jedoch wenig später an, als er sich fragt, warum ihm erst jetzt auffalle, dass Daneri verrückt sei (cf. Al, 751). Damit macht der Erzähler Daneri zu einer unzuverlässigen Sprechinstanz, um zuletzt die eigene, übernatürliche und irrationale Erklärung des Aleph gegenüber derjenigen Daneris als rationale Erklärung zu präsentieren. Dem scheinbar vernünftigen Einwand, dass der Keller sehr dunkel sei, begegnet Daneri mit dem, was sich nach einem weiteren Anflug von Medienenthusiasmus anhört: - La verdad no penetra en un entendimiento rebelde. Si todos los lugares de la tierra están en el Aleph, ahí estarán todas las luminarias, todas la lámparas, todos los veneros de luz. (Al, 751) Was auf semantischer Ebene nach einer Medienphantasie klingt, erweist sich erneut auf syntaktischer Ebene als medienphantastisch: Schriftlich realisiert bezieht sich <la tierra> auf die ganze Welt, phonisch realisiert bezieht sich / la tierra/ auf Daneris Langgedicht. Im ersten Fall bezeichnen die Lampen und Leuchtkörper alles Licht des Universums. Im zweiten Fall scheint es, als lasse Daneri erneut seiner Begeisterung für technische Apparate freien Lauf, zumal er sich zuvor schon über die Deckenbeleuchtung der Milchbar sachkundig zu äußern wusste. Das Telephon verdeckt den Unterschied zwischen phonischer und literaler Realisierung von Sprache zwangsweise. Aus diesem Grund bleibt nicht nur auffällig unbestimmt, was das Aleph ist, sondern auch, wie man es schreibt: War die phonische Realisierung schriftlicher Signifikanten bislang vereindeutigend, so erzeugt die (tele)-phonische Realisierung Unsicherheit über die Beschaffenheit schriftlicher Signifikanten einerseits und über die Verschriftlichung phonischer Signifikanten anderer- <?page no="109"?> 105 seits. Im Ergebnis scheint es, als benutzten die Antagonisten bei der Rede über das Aleph dasselbe Lautmaterial, nicht aber dasselbe Schriftbild, womit die Doppelstruktur der Abschiedsterzine des Paradiso endgültig umgekehrt wäre. Auf diese Weise wird bereits im Vorfeld der Kellerszene deutlich, dass das Aleph nicht nur das Produkt sprachlicher Aktivität ist, sondern zuletzt in ihr aufgeht. Die konsequente Verweigerung eines konkreten Objekts und seine fortwährende unbestimmte Umschreibung spielen letztlich auf die Sprache selbst an. So ist auch die mystische Schau aller Dinge in Daneris Keller unweigerlich verbunden mit der Reflexion über Sprache: Da alles, so der Erzähler, was sich im Aleph erblicken lässt, gleichzeitig geschieht, ist die Schrift aufgrund ihres begrenzten Formeninventars und ihrer Linearität ein denkbar ungeeignetes Werkzeug, um die simultane Schau der Unendlichkeit adäquat zum Ausdruck zu bringen. Die Passage, die sich dieser Schwierigkeit annimmt, gehört zu einer der bekanntesten in Borges’ Œuvre. Zur Anfertigung einer endlichen Liste unendlicher Dinge bedient sich der Erzähler des Montage-Stils und reiht ein Bild an das nächste: Vi el populoso mar, vi el alba y la tarde, vi las muchedumbres de América, vi una plateada telaraña en el centro de una negra pirámide, vi un laberinto roto (era Londres), vi interminables ojos inmediatos escrutándose en mí como en un espejo, vi todos los espejos del planeta y ninguno me reflejó, vi en un traspatio de la calle Soler las mismas baldosas que hace treinta años vi en el zaguán de una casa de Fray Bentos [...]. (Al, 753) Im Zuspiel immer neuer Bilder durch das Aleph verbindet die Textstelle eine semantische Fragmentarität mit einer syntaktischen Kontinuität: „Borges seguramente tuvo en cuenta el cine y el montaje.“ 245 Die anaphorische Verwendung von ver (bzw. vi) betont dabei ausdrücklich, dass das Aleph etwas zu sehen, nicht zu hören gibt. Auf den ersten Blick scheint das, was dem Erzähler vor Augen liegt, völlig kontingent zu sein. Zuletzt schiebt das Aleph dem fliegenden Wechsel der Bilder jedoch unerwünschte, schreckliche Elemente unter, die der Erzähler aus seiner heimlichen Liebe Beatriz ausgeschlossen hatte: [v]i en un cajón del escritorio (y la letra me hizo temblar) cartas obscenas, increíbles, precisas, que Beatriz había dirigido a Carlos Argentino, vi un adorado monumento en la Chacarita, vi la reliquia atroz de lo que había sido Beatriz Viterbo, vi la circulación de mi oscura sangre, vi el engranaje del amor y la modificación de la muerte, vi el Aleph, desde todos los puntos, vi en el Aleph la tierra, y en la tierra otra vez el Aleph y en el Aleph la tierra, vi mi cara y mis vísceras, vi tu cara, y sentí vértigo y lloré [...]. (Al, 754) 245 Pablo Brescia: "El cine como precursor - von Sternberg y Borges", Espacios de crítica y producción 17 (1995), 64-70, 67. <?page no="110"?> 106 Die Konfrontation mit der für den Liebhaber unschönen Wahrheit ist in erster Linie eine Konfrontation mit der Schrift. Ausgelöst durch die Ansicht der obszönen Briefe verdichten sich Motive, die Wut, Eifersucht, Frustration und Trauer spiegeln. So wird zunächst der Körper von Beatriz als schreckliche Reliquie bezeichnet. Die Zirkulation von venösem Blut suggeriert Vergiftung, möglicherweise Kontamination, die das Bild der angebeteten Toten modifiziert, umdeutet und den Betrachter darüber zuletzt in Verzweiflung treibt. Damit besteht die dramaturgische Funktion der Szene darin, den Verlust der Geliebten erneut durchzuspielen. Für den Erzähler ist sie das, was für Dante der canto XXXI des Paradiso ist. Dabei betont sie ausdrücklich dessen alptraumhafte Seite, zumal sie nicht hoch oben im Empyrium stattfindet, sondern tief unten im dunklen Keller. Auf Vermittlungsebene wird jedoch nur mehr die syntaktische Struktur der Abschiedsterzine umspielt, zumal der alptraumhafte Abschied von der Geliebten als Konfrontation mit der Schrift inszeniert wird. Ähnlich wie das radikal-mimetische Langgedicht Daneris zeigt das Aleph dem Erzähler alles und damit zu viel. Aus diesem Grund ist der nachfolgende brüske Umgang des Erzählers mit Daneri nicht verwunderlich. Auch überrascht sein schneller Abgang genauso wenig wie die posdata, die Borges der Erzählung nachstellt. Darin berichtet er zunächst von der Veröffentlichung von La Tierra und der bedauerlichen Tatsache, dass man Daneri dafür den Segundo Premio Nacional de Literatura verliehen habe. Im Anschluss stellt Borges unter Berufung auf eine dubiose Quelle die These auf, das Aleph in Daneris Keller sei eine Fälschung gewesen. So gebe es in der Geschichte zahlreiche Belege für artverwandte Phänomene. Diese entnimmt der Erzähler anderen Texten und zitiert die entsprechenden Stellen sogar wörtlich. In der so entstehenden weit verzweigten intertextuellen Verweisstruktur wird das wahre Aleph schließlich in der Amr Moschee in Kairo lokalisierbar (Borges 2009). Dort sei es im Inneren einer Säule untergebracht, wo man es freilich nicht sehen könne. Halte man aber sein Ohr dagegen, so sei sein geschäftiges Rumoren zu hören. Aus dem optischen Phänomen, als welches das Aleph in Daneris Keller präsentiert wird, macht der Erzähler in der posdata wieder ein akustisches Phänomen. Alle vorangegangenen Alephs, so sei jener Quelle zu entnehmen, seien „meros instrumentos de óptica“ (Al, 756). Was es genau ist, was es war und ob es das Aleph tatsächlich gegeben hat, zieht der Erzähler auf diese Weise pragmatisch gänzlich in Zweifel. Ob er das richtige Aleph im Inneren jener Säule damals in Daneris Keller gesehen habe, daran könne er sich nicht erinnern. Zuletzt endet er seinen Bericht mit folgenden Worten: „Yo mismo estoy falseando y perdiendo, bajo la trágica erosión de los años, los rasgos de Beatriz“ (Al, 756). Das Werkzeug ist dem ehemals mit Oralität assoziierten Erzähler bei all dem jedoch die Schrift. Der allmächtigen, totalen Repräsentation durch das Aleph steht auf Vermittlungsebene am Ende nur mehr seine lückenhafte Beschreibung und Nicht-Repräsentierbarkeit gegenüber. Auf diese Weise dient das Aleph zuletzt nicht der Repräsentation von Gegen- <?page no="111"?> 107 ständen, sondern der Repräsentation von Repräsentation - nicht der Vorstellung von Welt, sondern der Vorstellung von Vorstellungen. Nimmt man jedoch ernst, dass "El Aleph" eine phonische und eine literale Seite besitzt, so liegt es nahe anzunehmen, dass sich diese mediale Differenz auf das Aleph selbst anwenden lässt. Hierzu empfiehlt es sich zunächst, noch einmal zur Szene der phantastischen Schau des Universums zurückzukehren. Auffällig ist hier die häufige Verwendung von la tierra. Sie ruft erneut das Langgedicht Daneris ins Gedächtnis. Wie schon bei dessen Äußerungen zur allumfassenden Helligkeit in seinem Keller deckt sich das Aleph auch hier in schriftlicher Realisierung entweder mit der ganzen Welt oder, in phonischer Realisierung, mit Daneris poetischem Projekt. Gerade in letzterem Fall wäre die Behauptung, das Aleph sei für die Fertigstellung des Gedichts unerlässlich, wörtlich zu nehmen. In diesem Fall aber wären auch die übrigen Aussagen, die Daneri über das Aleph macht, gegenüber denjenigen des Erzählers zu präferieren. Schließlich deutet dieser am Ende selbst an, dass er die Dinge fälscht. Bedenkt man den Umstand, dass die Schau des Aleph in die alptraumhafte Variante der Abschiedsszene mündet, so müsste dem Erzähler erst recht daran gelegen sein, Zweifel über das phantastische Objekt zu produzieren und seine Verlässlichkeit, ganz wie die seines Besitzers, in Abrede zu stellen. Er tut dies, indem er dem Aleph andere Schriftstücke entgegenhält, mit denen er dem vermeintlich echten Aleph attestiert, kein optisches, sondern ein akustisches Phänomen zu sein. Dass aber das Aleph je nach Art der Realisierung seines Namens ein anderer Gegenstand sein könnte, deutet der Erzähler selbst an: Dos observaciones quiero agregar: una, sobre la naturaleza del Aleph; otra, sobre su nombre. Éste, como es sabido, es el de la primera letra del alfabeto de la lengua sagrada. Su aplicación al disco de mi historia no parece casual. Yo querría saber: ¿Eligió Carlos Argentino ese nombre, o lo leyó, aplicado a otro punto donde convergen todos los puntos, en alguno de los textos innumerables que el Aleph de su casa le reveló? [Hervorhebung im Original] (Al, 755f) Zum einen fragt sich der Erzähler, ob Daneri den Namen selbst gewählt hat oder dieser irgendwo im Haus zu lesen war, und wenn ja, ob ihn das Aleph selbst zu lesen gegeben hat. Damit ist auch für das Aleph und seinen Namen die Differenz von literaler und phonischer Realisierung angedeutet. Doch schlägt der Erzähler damit die Möglichkeit einer alternativen Schreibweise vor? Immerhin wäre der schriftliche Unterschied zwischen <Aleph> und <Alef> nicht zu hören, ganz wie im Fall der Widmung an Estela Canto. Die Schreibweise mit ph hat schließlich der Erzähler in dem Moment selbst gewählt, als Daneri das erste Mal am Telephon davon erzählte. Überdies ist eine solche Schreibweise im spanischsprachigen Kontext fremd. Geschrieben mit ph wäre das Aleph möglicherweise all das, was darüber in der posdata und in den dort (fiktiv) zitierten anderen Texten zu lesen ist. Geschrieben <?page no="112"?> 108 mit f, sähe der Kreis oder die Scheibe, mit deren Hilfe Daneri sein „poema de luz“ 246 verfasst, möglicherweise aus wie der kleine schwarze Apparat in unten stehender Abbildung (Abb. 1): Abb. 1: Umschlagphoto auf dem Katalog zum fünfzigjährigen Bestehen der Firma ALEF (A. Lehmann, Fürth/ Bayern) (Quelle: <http: / / www.cinerdistan.co. uk/ alef.htm> [Zugriff am 01.07.2015]) 246 So nennt Daneri sein Gedicht noch im Manuskript, als er darauf besteht, das Aleph sei für die Fertigstellung von La tierra unverzichtbar. E. del Río Parra, J. Ortega edd.: ‘El Aleph’ de Jorge Luis Borges - Edición crítica y facsimilar, p. 63. <?page no="113"?> 109 Das Gerät, um das es sich handelt, ist ein Filmprojektor der Firma ALEF- Heimkinos, der etwa 1931 produziert wurde. In einem Katalog zum fünfzigjährigen Bestehen listet das deutsche Unternehmen (gegr. 1881) zehn verschiedene Schmalfilmprojektoren, die für den häuslichen Gebrauch gedacht waren - wie zum Beispiel das hier abgebildete ALESCOP (cf. auch Abb. 2). Die Frage, ob Borges auf ein ähnliches Gerät desselben Herstellers mit dem gleichlautenden Aleph anspielt, kann durch Bezugnahme auf das kritische Œuvre, seine Biographie oder sonstige Äußerungen (wie beispielsweise in Interviews) nicht beantwortet werden. 247 Abb. 2: Titelblatt der Gebrauchsanleitung für ALEF PRIVAT und ALESCOP, um 1931 (Quelle: Deutsches Kameramuseum, Sammlung Kurt Tauber) 247 Zumindest konnten dafür bislang keine Belege gefunden werden. Auch in den einschlägigen Arbeiten über Borges’ Beziehung zum Kino lässt sich dafür kein direkter Beleg finden. Cf. Edgardo Cozarinsky: Borges y el cine, Buenos Aires: Sur 1974 sowie id.: Borges y el cinematógrafo, Barcelona: Emecé 2002. <?page no="114"?> 110 Doch obgleich sich Borges zur Kenntnis eines solchen Apparats nie geäußert hat, kann nicht zwingend ausgeschlossen werden, dass er ihn gekannt hat. Dies vorausgesetzt, darf die Szene im Keller Daneris ohne weitere Vorbehalte als transposition d’art des Mediums Film gelesen werden. Sollte das Aleph in Daneris Keller neben all den anderen Deutungen, die ihm seit Erscheinen des cuento zu Teil geworden sind, tatsächlich auch ein ALESCOP aus dem Hause ALEF sein, so ist das Schweigen des historischen Borges darüber in dem Maße geboten, wie es für die Strategie des Erzählers von "El Aleph" entscheidend ist. Schließlich dient, was dieser als Schau des Universums beschreibt (oder fälschlicherweise vorgibt), dem Überschreiben einer scheußlichen und abgedroschenen Variante der Geschichte - der „realidad atroz o banal“ (Al, 513) -, in der Beatriz nicht die keusche Geliebte ist, zu der sie der Erzähler machen wollte, sondern möglicherweise eine Affäre mit Daneri gehabt hat. Da diese Erkenntnis, wie es scheint, unweigerlich mit der Existenz eines Filmprojektors in dessen Keller zusammenhängt, kann sie nur getilgt und umgedeutet werden, indem aus dem Apparat ALEF der sagenhafte Buchstabe Aleph gemacht wird, sprich: indem durch die Wahl der Schreibweise mit ph ein alternatives Signifikat getilgt wird. Dennoch bleibt der nicht benannte Filmprojektor während des Berichts über den Aufenthalt des Erzählers in Daneris Keller durch zahlreiche Anspielungen sowie auf Vermittlungsebene erahnbar: Zuvorderst wären da die Medienphantasien Daneris. Offensichtlich kennt sich der geheime Geliebte von Beatriz mit optischen Apparaten aus. Nicht von ungefähr ist das Haus voll mit Photographien. Angefertigt wurden diese möglicherweise im dunklen Keller. Denn als Borges ein letztes Mal in der calle Garay ankommt, bittet ihn das Dienstmädchen um Geduld, „[e]l niño estaba, como siempre, en el sótano, revelando fotografías“ (Al, 751). Auch hören sich die Aussagen Daneris nicht mehr wie die eines Übermütigen an, wenn sie auf das ALESCOP bezogen werden. So ist der Koffer, den er als Kind im Keller entdeckt hat, möglicherweise jener Kasten, der Bilder oder, wie der Onkel sagt, Welten zum Vorschein bringt. 248 Im Manuskript von "El Aleph" ist anstelle von „[s]e refería, lo supe desqués, a un baúl“ (Al, 750) zu lesen: „referían a tamaño baúl“ 249 , womit allein die Größe des Aleph gemeint sein könnte. Auch könnten die Lampen, von denen Daneri spricht, technischer Natur sein: Anstelle der sakral angehauchten „veneros de luz“ war im Manuskript noch ein profaneres, technisches „manantiales de luz“ 250 zu lesen. Auch bezeichnet 248 Auch könnte mit baúl ein Koffer gemeint sein, in dem die Projektoren geliefert wurden. Siehe hierzu eine Abbildung eines vergleichbaren Modells im Online-Archiv des Spielzeugmuseums Nürnberg: <http: / / www.vino-onli-ne.net/ frames.php? PHPSESS ID=r9hobqc8o3ci3uospt3vniboupt0mpjh&module=inv&DBApp=spnb&application=sp nb_detail&role=Recherche&PHPSESSID=r9hobqc8o3ci3uospt3vniboupt0mpjh&Ident= IN V_INVNR&Value=1973.1241> [Zugriff am 25.02.2014]. 249 E. del Río Parra, J. Ortega edd.: ‘El Aleph’ de Jorge Luis Borges - Edición crítica y facsimilar, p. 62. 250 Ibid., p. 63. <?page no="115"?> 111 Daneri sein Gedicht im Manuskript - wie erwähnt - als „poema de luz“. 251 Nimmt man an, dass er dieses mit Hilfe eines ALEF-Filmprojektors verfasst, so wäre die Schau der Welt (La tierra) wie sie sich dem Erzähler präsentiert, ein geradezu profaner Hinweis: „vi en el Aleph la tierra, y en la tierra otra vez el Aleph y en el Aleph la tierra“. Wörtlich zu verstehen wäre darüber hinaus das Versprechen, das Daneri Borges kurz vor seinem Abstieg in den Keller gibt: „Baja; muy en breve podrás entablar un diálogo con todas las imágenes de Beatriz“ (Al, 752, Herv. Verf.). Bedenkt man die Tatsache, dass sich Borges kurz zuvor im Zwiegespräch mit einem der vielen Photos der Geliebten im Wohnzimmer befand, so bezieht sich das betonte todas möglicherweise auf den Rest der Photos, Filmstreifen oder Negative, die Daneri in seiner Dunkelkammer lagert. Neben anderem Gerümpel befinden sich dort unten „bolsas de lona“, mit denen Daneri seinem Gast eine Sitzmöglichkeit zu bauen scheint: „Carlos tomó una bolsa, la dobló y la acomodó en un sitio preciso“ (Al, 752). Liest man lona jedoch als Projektionsleinwand, so ergibt sich auch hier ein anderes Bild. Möglicherweise richtet Daneri die Leinwand für eine Filmvorführung ein. Der sitio preciso mag in dieser Blickrichtung wieder technischen Bedürfnissen Rechnung tragen. Deutlich lässt sich auch die mechanische oder optische Aktivität des Aleph auf einen optisch-mechanischen Apparat beziehen: En la parte inferior del escalón, hacia la derecha, vi una pequeña esfera tornasolada, de casi intolerable fulgor. Al principio la creí giratoria; luego comprendí que ese movimiento era una ilusión producida por los vertiginosos espectáculos que encerraba. El diámetro del Aleph sería de dos o tres centímetros, pero el espacio cósmico estaba ahí, sin disminución de tamaño (Al, 753). Bezogen auf das ALESCOP, wäre die esfera tornasolada eine Filmspule, der fulgor ein Leuchtkörper. Wörtlich zu nehmen wären ihr kreisförmiger Lauf (giratoria) sowie die Illusion von Bewegung (movimiento, ilusión, espectáculo), erzeugt durch das schwindelerregende Spektakel im Inneren des Apparats. Im Manuskript war an entsprechender Stelle zu lesen „giratoria, en todos los sentidos“ 252 , was den buchstäblichen Sinn nicht ausschließt. Im diesem Sinn wäre auch das disproportionale Verhältnis von Objektivdurchmesser (diámetro del Aleph) und projiziertem Bildraum zu verstehen (espacio cósmico sin disminuición de tamaño), der sich zudem, wie das ahí suggeriert, an einem anderen Ort befindet, als seine Quelle. Ähnliches Vokabular findet sich in einem frühen Text von Borges mit dem Titel "El cinematógrafo, el biógrafo": „Cinematógrafo es la grafía del movimiento, señaladamente en sus énfasis de rapidez, de solemnidad, de tumulto.“ 253 Mit seiner Geschwindigkeit be- 251 Ibid. 252 Ibid., p. 66. 253 J. L. Borges: "El cinematógrafo, el biógrafo", in: Textos recobrados 1919-1929, ed. María Kodama, Barcelona: Emecé 1997, pp. 381-386, hier p. 381. <?page no="116"?> 112 diene der Apparat allein ein bürgerliches Staunen, das für den technisch ungeschulten Betrachter zwar Effekt sei, der mangelnden Erfindungsgabe des Herstellers jedoch zu pass komme. Es liegt also nahe, Daneri als effektheischenden, medienkundigen und wenig einfallsreichen Dichter, als den ihn der Erzähler präsentiert, mit jenem ALEF in Verbindung zu bringen, das nicht die ganze Welt zeigt, nicht die Schau aller Dinge ermöglicht und nicht die Geliebte Beatriz so ins Leben ruft, wie sie der Erzähler imaginiert, als abweisend, abgewandt und ewig entzogen. Allein dem dramatischen Konflikt würde eine solche Lesart eine ebenso triviale Wendung geben, wie die Gewissheit, dass der Text vor den Augen des Lesers - neben allen Anspielungen und Sinnversprechen - (nur) ein Text ist. <?page no="117"?> 113 4 Cortázar und die Medien 4.1 Musik: "El perseguidor" Dass ausgerechnet "El perseguidor" in der Reihe Analysen der Kurzgeschichten Cortázars als erste zu finden ist, mag verwundern, denn aufgrund ihrer Länge darf die Erzählung nur schwerlich als cuento gelten. Mit einem Umfang von gut fünfzig Seiten wurde sie sogar als Novelle bezeichnet. 254 Auch was die Handlung betrifft, ist im Rahmen einer Arbeit über phantastische Literatur hinsichtlich "El perseguidor" Skepsis anzumelden. Denn nach erster Lektüre lässt sich der Text kaum als phantastisch einstufen. Keine Welt durchdringt hier eine andere Welt, auch ereignet sich kein Einbruch einer übernatürlichen Ordnung in das Kontinuum des Gewöhnlichen und Bekannten. Stattdessen erzählt der Jazzkritiker Bruno von einigen wenigen Treffen mit dem deutlich an Charlie Parker angelehnten Jazz-Saxophonisten Johnny Carter, von dessen Drogenexzessen, dessen Freunden, Frauen und Gönnern, dessen sonderbaren Gedanken über Zeit, dessen Verletzlichkeit und Verzweiflung und am Ende über dessen Tod. Bei all dem lässt der Erzähler keine Zweifel über die ontologische Beschaffenheit der erzählten Welt erkennen. Auch plagen ihn keine Wahrnehmungsschwierigkeiten. Dennoch ist er von Momenten des Zweifels nicht frei. Diese richten sich jedoch zuvorderst gegen die von ihm verfasste, sehr erfolgreiche Biographie über Johnny Carter und lassen vermuten, dass sie nicht die wahre Geschichte erzählt. Letzteren Umstand spricht Bruno freilich nicht unverblümt aus. Die Erzählung jedoch, die er dem Leser überantwortet, erlaubt diesen Schluss. Denn bei Brunos letztem Treffen mit Johnny eröffnet ihm dieser, ihn in seiner Biographie durch und durch falsch dargestellt zu haben. Zwar bewahrt der Perseguidor gegenüber der Presse diesbezüglich Stillschweigen und sichert damit den Erfolg von Brunos Buch über den eigenen Tod hinaus. Am Ende wird jedoch die inoffizielle Erzählung über Johnny zum eindrucksvollen Bericht des Scheiterns der offiziellen Erzählung. Abgesehen also vom sehr lebendigen Einblick in die internationale Jazz-Szene der 50er Jahre, den der Text erlaubt, sowie der Schilderung einiger wichtiger Stationen im Leben Charlie Parkers 255 , kreist die Erzählung um die Möglichkeit und Unmöglichkeit seiner Biographie. 254 Jaime Villarreal: "La crítica catártica en 'El perseguidor' de Julio Cortázar", Armas y letras 66-77 (2009), 32-39, 33 Anm. 2. 255 Cf. dazu Günter Lenz: "Bebop und die Suche nach säkularer Transzendenz in der nord- und südamerikanischen Literatur der frühen Postmoderne", in: Claudius Armbruster, Karin Hopfe edd.: Horizont-Verschiebungen - Interkulturelles Verstehen und Heterogenität in der Romania, Tübingen: Gunter Narr 1998, pp. 279-303, p. 290 sq. <?page no="118"?> 114 Was sich damit auf histoire-Ebene und im Konflikt der beiden Antagonisten geradezu exemplarisch abbildet, ist zunächst ganz allgemein das Verhältnis eines Lebens zu seiner Verschriftlichung. Dieser Gedanke führt zurück zu den theoretischen Erörterungen im ersten Teil dieser Arbeit (cf. Kap. 2.4). Dort konnte gezeigt werden, dass Cortázar selbst das Verhältnis von ‘Leben’ und seiner Verschriftlichung als „batalla fraternal“ (AdC, 373) bezeichnet und als ureigenen Mechanismus eines cuento identifiziert, als „síntesis viviente a la vez que una vida síntetizada“ (AdC, 373). Das Resultat des unmöglichen Versuchs, ‘Leben’ in eine Form zu pressen, umschreibt Cortázar sodann als ‘Öffnung’, die Raum gibt für etwas, das die Sensibilität des Lesers in eine Richtung zwingt, die weit über die erzählte Geschichte hinausgeht, ähnlich wie bei einem Photo: „[Q]ue va mucho más allá de la anécdota visual o literaria“ (AdC, 374). 256 Indem ein cuento erklärtermaßen über sich hinausweist, lässt es sich in letzter Konsequenz als Versuch der Evokation von Transzendenz verstehen. Wie sich eine solche ‘Öffnung’ inszenatorisch herbeiführen lässt, macht Cortázar selbst vor, indem er das Oxymoron aus vida und síntesis - wie ebenfalls gezeigt wurde - mit Altermedialität konfrontiert: Auf der Ebene der Semantik geschieht dies durch gleichnishafte Bilder, die Unendlichkeit suggerieren und das Wirken zentripetaler oder zentrifugaler Kräfte darstellen wie „caracol del lenguaje“ oder „temblor del agua dentro de un cristal.“ 257 Auf der Ebene der Syntaktik geschieht dies durch die Betonung der Laut- und Schriftebene, sprich: durch foregrounding mittels eines Chiasmus. Auf diese Weise wird deutlich: Was sich semantisch nicht ohne logische Komplikationen aussprechen lässt, lässt sich dennoch widerspruchsfrei abbilden. Für ein tieferes Verständnis ist Lesen allein dann nicht mehr ausreichend und muss behelfsmäßig um die gleichlaufende Sensibilität für ‘fremdes’ Material ergänzt werden. Erst indem die Schrift auf phantastische Weise aufhört, Schrift zu sein und zugleich, ebenso auf phantastische Weise, weiterhin Sinn vermittelt, wird das Nicht-Sagbare, das den Sinn des Gesagten übersteigt, in vollem Umfang erahnbar. Ein solcher medienphantastischer Mechanismus bestimmt auch das narrative Programm von "El perseguidor". Er zeichnet sich zunächst auf der Ebene der Semantik ab, wo er in den immer deutlicher werdenden Differenzen zwischen Bruno und Johnny Gestalt annimmt: Während der eine versucht, aus dem Leben des anderen eine Geschichte zu machen, versucht sich dieser den aufgepfropften Beschreibungsmustern konsequent zu entziehen. Ertappt sich der Jazz-Kritiker und Biograph sogar bei dem Gedanken, dass auch der Tod Johnnys nur eine weitere Station im Rahmen einer gründlichen biographischen Arbeit darstellt 258 , so zeigt ihm der Saxophonist fort- 256 Cf. AdC, 374 sq. 257 Cf. Kap. 2.4 dieser Arbeit. 258 „Vaya a saber si Amorous no resulta el testamento del pobre Johnny; y en ese caso, mi deber profesional… | Pero no, todavía no.“ Zitiert wird im Folgenden nach J. Cortázar: <?page no="119"?> 115 während, dass jedwedes biographisches Bemühen bei seiner Person ins Leere führt. Die Unvereinbarkeit von síntesis und vida, die die beiden Figuren verkörpern, der unlösbare Konflikt, der sich zwischen ihnen anbahnt, erzwingt auch auf semantischer Ebene eine ‘Öffnung’, die sich thematisch ausformt als Suche nach Transzendenz 259 : Johnny sehnt sich nach der Suspension jeglicher Zeit und entwickelt zuletzt Todesphantasien, während Bruno beginnt, den Saxophonisten als Heiligen zu stilisieren. Allein auf diese Weise finden die beiden Figuren noch weniger zueinander. Johnny weist gerade die Passagen von Brunos Biographie zurück, die sein vorgebliches Verhältnis zu Gott behandeln, während Bruno Johnny im Stillen vorwirft zu halluzinieren. Dennoch wird der Konflikt zwischen den beiden nicht weiter vertieft. Er wird aber auch nicht beigelegt, sondern verlagert, indem beide Figuren die ‘Welt’ (hier die Pariser Jazz-Szene) tatsächlich verlassen und sie auf eine andere Ebene hin überschreiten: Johnny stirbt, Bruno kehrt zurück ins Private. Nach der Ankündigung, dass die (fehlgegangene) Biographie ein weiteres Mal übersetzt werden soll, beendet Bruno die Erzählung mit den Worten: „Mi mujer está encantada con la noticia“ (Per, 363). Auf der Ebene der Pragmatik wird die Unvereinbarkeit von síntesis und vida, ihr medienphantastischer Mechanismus, greifbar in der anwachsenden Gewissheit des Erzählers, der Person Johnny mit seiner Biographie nicht gerecht werden zu können. Als Biograph scheitert Bruno vor Johnny konsequent. Besonders deutlich zeigt sich dies anhand der verwendeten Tempora. In der Anwesenheit Johnnys scheint Bruno nicht in der Lage, ein Tempus konsequent durchzuhalten. Dies fällt besonders dann ins Gewicht, wenn Johnny seiner Faszination mit Zeit nachgeht. Auch gelingt es Bruno immer schlechter, den Saxophonisten zu beschreiben. Insbesondere Johnnys Äußerungen kann oder will Bruno keinen sagbaren Sinn mehr abringen. Sein Unbehagen ob Johnnys schräger Gedanken mündet zuletzt in die Stigmatisierung seiner Worte als Rede des Wahnsinns, der Verzweiflung und des Rauschs. So gesteht sich der Erzähler nach einer weiteren Drogeneskapade Johnnys ein: Mientras volvía a casa he pensado con el cinismo necesario para recobrar la confianza, que en mi libro sobre Johnny sólo menciono de paso, discretamente, el lado patológico de su persona. No me ha parecido necesario explicarle a la gente que Johnny cree pasearse por campos de urnas, o que las pinturas se mueven cuando él las mira; fantasmas de la marihuana, al fin y al cabo, que se acaban con la cura de desintoxicación. (Per, 343) Obras completas, Bd. I (Cuentos), edd. Saúl Yurkievich, Gladis Anchieri, Barcelona: Círculo de Lectores 2006, pp. 309-363, das Zitat p. 334. Alle mit Per gekennzeichneten Zitate beziehen sich auf diese Ausgabe. 259 Cf. hierzu G. Lenz: "Bebop und die Suche nach säkularer Transzendenz in der nord- und südamerikanischen Literatur der frühen Postmoderne". <?page no="120"?> 116 Die Erkenntnis, etwas ausgelassen zu haben, das möglicherweise entscheidend war, schwächt Bruno zuletzt ab, indem er alles, was sonst über Johnny hätte gesagt werden müssen, für nebensächlich und, aus biographischer Sicht, für exkursorisch erklärt. Dabei ist es Johnny selbst, der immer wieder die eigene Kehrseite hervortut, indem er die Geduld seines Biographen überstrapaziert oder sich gleich zu Beginn nackt zeigt und dessen Ekel hervorruft, bis ihn dieser im Stillen sogar mit einem Schimpansen vergleicht (cf. Per, 316) und sich auch im weiteren Verlauf zu rassistischen oder abwertenden Urteilen hinreißen lässt (cf. Per, 313, 321, 351). Am Ende stellt er gar dessen Intelligenz in Frage (cf. Per, 352). Im selben Zug scheint sich Bruno jedoch zunehmend der eigenen Grenzen bewusst zu werden: Soy un crítico de jazz lo bastante sensible como para comprender mis limitaciones, y me doy cuenta de que lo que estoy pensando está por debajo del plano donde el pobre Johnny trata de avanzar con sus frases truncadas, sus suspiros, sus súbitas rabias y sus llantos. (Per, 315) Wie die Passage nahelegt - und dies betrifft die Ebene der Syntaktik - werden die Widersprüchlichkeiten und sonderbar rauschhaften Gedanken, denen sich Johnny hingibt und die Bruno nicht erzählen kann oder will, nicht in Bilder oder Gleichnisse überführt, sondern in lautliche Strukturen, sprich: Musik. Auf semantischer Ebene liest sich die Beschreibung der Figurenrede Johnnys zunächst wie die Beschreibung eines Saxophon-Solos. Frases truncadas, suspiros, rabias, llantos sind Metaphern, mit denen ein Jazz- Kritiker eine Kunstleistung honoriert oder bemängelt. Auf syntaktischer Ebene fällt jedoch deutlich die lautliche Seite der Passage ins Gewicht. Die sechsmalige Wiederholung von su(s) durch die Possessivpronomen und die Vorsilben von suspiros und súbitas sowie die reimhaften vokalischen Äquivalenzen von súbitas rabias ahmen den hektischen Lauf einer Jazz- Improvisation nach, wie sie typisch ist für den Bebop eines Charlie Parker. Damit bringt der Satz auf syntaktischer Ebene zum Klingen, was er auf semantischer Ebene sagt. Allein die Vorzeichen sind umgekehrt: Während der Gegenstand der Rede aus Sicht des Sprechers negativ konnotiert ist, ist die lautliche Seite des Satzes als Jazz-Solo für denselben Sprecher (und Bewunderer einer Bebop-Ikone) möglicherweise hohe Kunst. Entscheidend ist, dass nur das eine sagbar, das andere aber stets mit vorhanden ist. Wie im Fall des Chiasmus aus síntesis und vida ist für ein tieferes Verständnis auch hier Lesen nicht ausreichend und muss daher behelfsmäßig um die gleichlaufende Sensibilität für fremdes, nicht vorhandenes und doch ‘anwesendes’ Material ergänzt werden. So gilt auch für das zuletzt genannte Beispiel: Erst indem die Schrift auf phantastische Weise aufhört, Schrift zu sein und zugleich auf ebenso phantastische Weise weiterhin Sinn vermittelt, wird das Nicht-Sagbare in vollem Umfang erahnbar. An diesem Punkt soll sich zuletzt der Text (E 2 ) selbst auf eine Ebene hin öffnen, die auf medienphantastische Weise das übersteigt, was sich in der erzählten Welt findet. <?page no="121"?> 117 Was sich auf semantischer Ebene motivisch als Sehnsucht nach Heiligsprechung und Transzendenz sowie auf pragmatischer Ebene als Suspension von Zeit ausformt, bedeutet auf syntaktischer Ebene die Identität von Form und Inhalt. Kann sie die Schrift nicht gewährleisten, so scheint die Musik dazu in der Lage. Wie die kurze Einführung in den zentralen Konflikt der Erzählung erkennen lässt, ist Jazz in "El perseguidor" das tragende Motiv. Zugleich ist er jedoch nur mehr eine Variante einer phantastischen Vergleichgültigung von Form und Inhalt, Klang und Melodie, oder, auf einen Text bezogen Syntaktik und Semantik. Es geht in "El perseguidor" damit nicht allein um die Evokation von Jazz im Medium Text, sondern um den ständigen Wechsel beider Künste oder beider Materialien, das ständige Gegeneinander und Miteinander von Musik und Text, Klang und Bild, Hören und Sehen, das, auf seine sinnlichen Dimensionen reduziert, zuletzt jeden Gebrauch von Schrift bestimmt, jeden Schreib- und Lektüreprozess, ob über Musik oder nicht. Der dramatische Konflikt, síntesis und vida, ist damit zuvorderst ein Vehikel, das einer impliziten Reflexion über das Material der Schrift dient, die diesen Konflikt ihrerseits sichtbar werden lässt. Inszenatorisch erfolgt dies über das spielerisch-oszillierende Angebot zweier unterschiedlicher materieller Zugriffe auf die erzählte Welt. In Anlehnung an Gerhard Neumann ließe sich hier von einem gleitenden Paradoxon 260 sprechen, bei dem die Erzählung wie auf einem Möbiusband fortwährend zwischen zwei Sinnangeboten Hin und Her pendelt, wobei dies für "El perseguidor" vor allem eine Bewegung zwischen zwei unterschiedlichen alternativen Materialien bedeutet. Freilich ändert sich dabei nichts an der materiellen Beschaffenheit des Textes, wohl aber an den narrativen Verfahren. Was die Evokation von Musik im Text betrifft, lässt sich methodisch mit Werner Wolf von musicalization of fiction 261 sprechen, zumal damit, neben der Thematisierung von Musik im Modus des telling, ausdrücklich die Inszenierung von Musik im Modus des showing gemeint ist. Bei Letzterem handelt es sich um die implizite Referenz auf Musik durch eine der Musik angelehnte Textgestaltung [...], sei es durch ‘Lautmusik’ bzw. word music (Musikanalogien auf der Lautoberfläche) oder durch textuelle Form- und Strukturanalogien zu musikalischen Groß- und Kleinformen oder Kompositionstechniken [...]. Nur diese Inszenierung von Musik in der Literatur ist das, was man sinnvollerweise 260 Gerhard Neumann: "Umkehrung und Ablenkung - Franz Kafkas ‘Gleitendes Paradox’", Deutsche Vierteljahreszeitschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 42 (1968), 702-744. 261 Werner Wolf: "‘The musicalization of fiction’ - Versuche intermdialer Grenzüberschreitungen zwischen Musik und Literatur im englischen Erzählen des 19. und 20. Jahrhunderts", in: Jörg Helbig ed.: Intermedialität - Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets, Berlin: Erich Schmidt 1998, pp. 133-164. <?page no="122"?> 118 als ‘Musikalisierung’ bezeichnen sollte; die Thematisierung hat dagegen einen bloßen, wenn auch notwendigen Indizcharakter für das Vorliegen von Musikalisierung. 262 Neben der Thematisierung von Jazz in "El perseguidor" interessiert damit auch hier zuvorderst seine Inszenierung in pragmatischer und syntaktischer Hinsicht. Getragen wird sie nicht allein, wie man zunächst annehmen möchte, vom Jazz-Saxophonisten Johnny, sondern zudem von der Stimme des Erzählers Bruno. Versteht sich dieser selbst als schreibende Instanz, so nimmt seine Rede in Anwesenheit Johnnys - freiwillig oder unfreiwillig - stets Züge des Bebop-Stils in sich auf. Dies betrifft vornehmlich die Ebene der Pragmatik und der Syntaktik. Der Text simuliert Musik und dissimuliert Schrift. Narrativ erfolgt dies durch den Einsatz eines dominant performativen drifts. Nach den Begegnungen der beiden Antagonisten versucht Bruno für gewöhnlich schreibend in die Normalität des Alltags zurückzufinden. Seine Rede legt sodann ‘musikalische’ Züge ab und nimmt schriftsprachliche Züge an. Auch dies geschieht zuvorderst auf der Ebene der Pragmatik und der Syntaktik. Der Text simuliert Schrift und dissimuliert Musik. Narrativ erfolgt dies durch den Einsatz eines dominant mimetischen drifts. Dazwischen kommt es während eines nächtlichen Streitgesprächs zwischen Bruno und Johnny zu einem ständigen Wechsel der beiden Modi und simulierten Materialien. Verbunden ist dies andeutungsweise mit einem ästhetischen drift. Diese Bewegung vollzieht sich möbiusbandartig so lange, bis sie ihrerseits jene ‘Öffnung’ provoziert, die zuletzt auf einer anderen (simulierten) medialen Ebene arretiert wird - einem Photo. Allen drei Textphasen, der performativ-musikalischen im ersten Teilstück, der ästhetischen im vorletzten Teilstück und der mimetischen im letzten Teilstück, soll im Folgenden anhand einiger Textbeispiele systematisch nachgespürt werden. Im Folgenden interessiert allein der erste Abschnitt. Er beginnt im simulierten Medium der Musik (dominant performativ) wie folgt: Dédée me ha llamado por la tarde diciéndome que Johnny no estaba bien, y he ido en seguida al hotel. Desde hace unos días Johnny y Dédée viven en un hotel de la rue Lagrange, en una pieza del cuarto piso. Me ha bastado ver la puerta de la pieza para darme cuenta de que Johnny está en la peor de las miserias; la ventana da a un patio casi negro, y a la una de la tarde hay que tener la luz encendida si se quiere leer el diario o verse la cara. (Per, 309) Auffällig ist auf syntaktischer Ebene zunächst der rhythmisch klingende Name von Johnnys Freundin. Er bildet möglicherweise den für Charlie Parkers Stücke typischen Auftakt. Auffällig ist zudem die lautliche Struktur des ersten Satzes, die vor allem durch Wiederholungen einmal ‘angespielter’ Vokale oder Konsonanten gekennzeichnet ist, wie Dédée me ha llamado, he ido 262 Ibid., p. 133. <?page no="123"?> 119 en seguida oder, konsonantisch, Desde hace unos días oder puerta de la pieza sowie halbkonsonantisch, cuarto, puerta, cuenta, pieza. Die Wiederholungen lautlicher Strukturen werden sodann ausgeweitet auf die semantisch redundante Wiederholung ganzer Wörter wie Johnny, Dédée, hotel, pieza. Die Tatsache, dass neben dem Auftakt zu einer Geschichte hier zugleich ein Musikstück zu ‘hören’ ist, wird am Ende der Passage auf semantischer Ebene durch die Schilderung von Dunkelheit unterstrichen. Auch geht es um mehr als darum, den Text nur zu ‘lesen’, wie zuletzt der Verweis auf das für die Lektüre einer Zeitung zu schwache Licht suggeriert. Die Tatsache aber, dass dabei eine Zeitung mit ins Spiel gebracht wird, dürfte alles andere als trivial sein. Denn gerade auf pragmatischer Ebene fällt auf, dass der Sprecher in zeitlicher Hinsicht schlecht ‘getaktet’ ist. Über den Anfang der Erzählung schreibt Doris Sommer: „Bruno is [...] surprisingly out of phase from the very beginning of his story.“ 263 Das pretérito perfecto ist als Erzähltempus im Spanischen eher ungewöhnlich. Anders als das indefinido, das, wie eine Zeitung auch, auf die Frage antwortet, was in der Vergangenheit geschehen ist, wird das pretérito perfecto in erster Linie zur Beschreibung von Vorgängen verwendet, die innerhalb eines noch nicht abgeschlossenen Zeitraums stattgefunden haben oder noch immer stattfinden. Sein deiktischer Nullpunkt ist nicht ganz in der Gegenwart und nicht ganz in der Vergangenheit. So gesehen konstruiert das verwendete Tempus eine gleitende Zeit, die Vergangenheit und Gegenwart fließend aneinander bindet. Es beschreibt damit nicht einen festen Zeitpunkt oder ein abgeschlossenes Ereignis, sondern einen andauernden Prozess. Es ist in dieser Hinsicht so oxymoral, wie der Versuch, Leben in eine Form zu pressen. Hierzu noch einmal Doris Sommer: „The very term present perfect is oxymoronic, unstable, dislocating, with one foot in the past and the other in the present. Its function is logically pivotal, providing a point of departure from one component tense to the other.“ 264 Die temporale Instabilität, die sich auf pragmatischer Ebene durch die dominante Verwendung des pretérito perfecto im ersten Teilabschnitt einstellt, lässt sich als „intermediale Bezugnahme“ 265 zur Rhythmik des Bebop lesen. Denn charakteristisch sind hier vor allem Polyrhythmik und Synkopen, die es dem Zuhörer erschweren, Taktgrenzen eindeutig zu identifizieren. 266 Dies wird auf pragmatischer Ebene nachempfunden, zumal die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart - 263 Doris Sommer: "Pursuing a Perfect Present", in: Carlos Alonso ed.: Julio Cortázar - New Readings, Cambridge: Cambridge Univ. Press 1998, pp. 211-236, p. 211. 264 Ibid., p. 214. 265 Der Begriff stammt von Irina Rajewsky. Gemeint ist der Versuch, „Elemente und Strukturen eines anderen, konventionell als distinkt wahrgenommenen Mediums mit den eigenen, medienspezifischen Mitteln zu thematisieren, zu simulieren oder, soweit möglich, zu reproduzieren.“ S. I. Rajewsky: Intermedialität, p. 17. 266 Cf. hierzu Ben Scheffler: Film und Musik im spanischsprachigen Roman der Gegenwart - Untersuchungen zur Intermedialität als produktionsästhetisches Verfahren, Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 2004, p. 76 et 80. <?page no="124"?> 120 als Taktgrenzen - durch das pretérito perfecto sprachlich ungenau bestimmt sind. Die Zeit in ihrer Unbestimmbarkeit und Relativität ist auch Gegenstand der Rede Johnnys. So erzählt er gegen Ende des ersten Teilabschnitts von einer Fahrt in der Pariser Métro, bei der ihm aufgefallen sei, dass er eine schier unendliche Fülle an Erinnerungen erlebt habe, während der Zug nur drei Stationen zurückgelegt habe. Was sich unterdessen wie eine Ewigkeit angefühlt habe, könne, gemessen am Fahrplan, nur wenige Minuten gedauert haben. Der objektiv messbaren Zeit stellt Johnny so die eigene subjektive Zeit gegenüber. 267 Auch zieht er dabei einen weiteren Vergleich zum eigenen Bebop-Stil: ¿Ves mi valija, Bruno? Caben dos trajes y dos pares de zapatos. Bueno, ahora imagínate que la vacías y después vas a poner de nuevo los dos trajes y los dos pares de zapatos, y entonces te das cuenta que solamente caben un traje y un par de zapatos. Pero lo mejor no es eso. Lo mejor es cuando te das cuenta de que puedes meter una tienda entera en la valija, cientos y cientos de trajes, como yo meto la música en el tiempo cuando estoy tocando, a veces. (Per, 316) Was Johnny mithilfe einer verräumlichten Metapher beschreibt, lässt sich auf die Melodik des Bebop beziehen. Denn hier erlauben es die freien rhythmischen Akzente, dass sich die Melodie weitestgehend unabhängig vom Metrum bewegt. 268 Besonders die für Charlie Parker typischen eruptiven Solo-Läufe sind häufig durch komprimierte oder abgehackte Phrasen gekennzeichnet, die durch die spielerische Variation der Notenwerte ‘geweitet’ (Sechzentel- oder Zweiunddreißigstelnoten) oder ‘verengt’ werden (verlängerte Notenwerte). Dabei stellt sich der Eindruck ein, dass eine Phrase, wie auch der Koffer, von dem Johnny spricht, für die Anzahl der darin befindlichen ‘melodischen Einheiten’ oder ‘Fetzen’ zu kurz ist oder, umgekehrt, derer unendlich viele in sich aufnehmen kann und so möglicherweise den zeitlichen ‘Spalt’, den die Phrase bildet, bis zum Stillstand weitet. 269 Die Oszillation zwischen komprimierten und gedehnten Passagen, die die Soli Parkers vollziehen, wird im ersten Teilabschnitt des cuento auf pragmatischer Ebene möglicherweise durch einen gleitenden Übergang der 267 Ich übernehme die basale Unterscheidung von ‘subjektiver’ und ‘objektiver’ Zeit von Cornelius Castoriadis: "Time and Creation", in: John Bender, David Wellbery edd.: Chronotypes. The Construction of Time, Stanford: Stanford Univ. Press 1991, pp. 38-64, p. 38. Castoriadis unterscheidet: „Time for us - or for some subject, or being-for-itself, with various evident and, at the same time, enigmatic characteristics (be it only its pulverization among all actual and possible subjects) [and] time in or of the world, as receptacle and dimension of whatever may appear, and as order and measure of this appearance.“ 268 Cf. B. Scheffler: Film und Musik im spanischsprachigen Roman der Gegenwart - Untersuchungen zur Intermedialität als produktionsästhetisches Verfahren, p. 76. 269 Deutlich wird dies beispielsweise anhand von Charlie Parkers Blues for Alice von 1951. <?page no="125"?> 121 Erzähltempora vom pretérito perfecto zum Präsens nachempfunden. Zumindest suggeriert der stufenweise Wechsel ein Abnehmen des Tempos, Ritardando. Nicht von ungefähr spricht Johnny im Vorfeld von der Elastizität der Dinge und nennt sie „…una elasticidad retardada“ (Per, 316). Narrativ wird der Eindruck der Verlangsamung oder Beugung von erzählter Zeit durch eine markante Ellipse zusätzlich verstärkt. Vorbereitet wird sie erneut durch die Imitation von Musik in der Figurenrede Johnnys: - Un contrato de un mes - remeda Johnny con grandes gestos -. La boîte Rémy, dos conciertos y los discos. Be-bata-bop bop bop, chrrr. Lo que tiene es sed, una sed, una sed. Y unas ganas de fumar, de fumar. Sobre todo unas ganas de fumar. Le ofrezco un paquete de Gauloises, aunque sé muy bien que está pensando en la droga. Ya es de noche, en el pasillo empieza un ir y venir de gente, diálogos en árabe, una canción. Dédée se ha marchado, probablemente a comprar alguna cosa para la cena. Siento la mano de Johnny en la rodilla. (Per, 317) Schien es, als sei der Erzähler anfänglich darum bemüht, in hohem Tempo möglichst umfangreich zu berichten, so überrascht, dass er das Weggehen Dédées nicht bemerkt hat. Auch scheint die Nacht unterdessen unmerklich hereingebrochen zu sein. Es scheint, als sei die Zeit für einen Moment stehengeblieben. Die Konzentration auf den singulären Augenblick wird ‘musikalisch’ durch die vorangehenden Wiederholungsfiguren, die die Funktion gesteigerter Notenwerte oder schlichtweg wiederholter Einzeltöne erfüllen, sowie narrativ, durch die im Präsens formulierte körperliche Empfindung zusätzlich verstärkt. Johnny lässt sodann den über lange Strecken monologischen Bericht von seinem Erlebnis in der Métro folgen. Beziffert er auf semantischer Ebene das, was ihm auf pragmatischer Ebene vorausging, die Suspension von Zeit nämlich, so könnte man den Monolog überdies als Solo lesen, das, wie ein Parker-Solo, zu keinem harmonischen Abschluss findet, sondern sich in unendlicher Verlängerung fortsetzt: Te das cuenta de lo que podría pasar en un minuto y medio… Entonces un hombre, no solamente yo sino ésa y tú y todos los muchachos, podrían vivir cientos de años, si encontráramos la manera podríamos vivir mil veces más de lo que estamos viviendo por culpa de relojes, de esa manía de minutos y de pasado mañana… (Per, 320) Was Johnny beschreibt, ist die Möglichkeit der unendlichen ästhetischen Verlängerung eines Moments, der im Bebop durch die zeitliche ‘Dehnung’ einzelner Phrasen evoziert wird. Hinzu kommt die Harmonik der Soli, die das Blues-Schema zwar umspielen, seine Erfüllung durch das Anspielen von Blue-Notes jedoch nur mehr in Aussicht stellen. Auf diese Weise pendelt die Improvisation zwischen harmonischer oder thematischer Gratifikation und dissonanter Verlängerung hin und her. Die zweimalige Okkurrenz syntakti- <?page no="126"?> 122 scher Ellipsen in der hier zitierten Passage sowie der Redegegenstand auf semantischer Ebene spielen möglicherweise auf eine vergleichbare Bewegung an. Damit wird deutlich, dass der Text im ersten Teilstück auf syntaktischer, pragmatischer und semantischer Ebene versucht, rhythmische, melodische und harmonische Strukturen des Bebop mit textanalogen Mitteln nachzuahmen. Neben all den Sinn- und Deutungsangeboten, die über Johnny Carter gemacht werden und die von seiner Charakterisierung als Tier bis hin zur Heiligenfigur reichen, ist der Text damit immer auch Klang. Sein volles mediales und ästhetisches Potenzial lässt sich damit zumindest nicht auf die Ebene der Semantik reduzieren. Er nimmt zuletzt auch in dieser Hinsicht Anleihen beim Bebop. Denn auch dessen zentrales Merkmal ist es, mit musikalischen ‘Sinnangeboten’ im Sinne von wiedererkennbaren rhythmischen, melodischen und harmonischen Strukturen zu spielen, diese zu verzerren, zu dehnen, zu wenden, zu verbeulen, bis sie einem der ramponierten Saxophone gleichen, mit denen Johnny spielt. 270 Auch ist es zentrales Merkmal der Bebop-Soli, sich von wiederkehrenden Mustern zu lösen, diese ‘abzustreifen’ oder zu ‘verlieren’, ganz wie es Johnnys Gewohnheit zu sein scheint, seine Instrumente zu verlieren. Dass ihm dies ausgerechnet während einer Fahrt mit der Métro geschieht, verwundert kaum, wenn man bedenkt, dass ihm die Zugfahrten dasselbe ästhetische Erlebnis bescheren wie die Improvisation. Steht Johnnys phantastische Erfahrung mit der Zeit in der Métro sinnbildlich für das eigene musikalische Programm, so ist es nicht von ungefähr das entscheidende Ereignis, das den Biograph und den Musiker zueinander führt. Denn bedeutet der Vorfall für den Jazz-Kritiker ein Unglück und die Nicht-Fortsetzung dessen, was Johnny musikalisch tut, so ist er für Johnny die logische Konsequenz und Fortsetzung seiner Musik. Ganz abgesehen davon, dass ihm der Verlust des Instruments diebische Freude zu bereiten scheint 271 , so stellt es als letztrangige Zerstörung jedweden Materials geradezu das ästhetische Ziel seiner musikalischen Suche dar. Schließlich passiert Johnny das ‘Missgeschick’ nicht zum ersten Mal. Es scheint geradezu Gewohnheit (cf. Per, 310f) und, ganz wie die exzentrischen Eskapaden, zu seiner Art zu musizieren dazuzugehören. Es ist in dieser Blickrichtung nicht destruktiv, wie die anderen Musiker annehmen, wenn Johnny eine gelungene Aufnahme urplötzlich durch einen schrägen Ton platzen lässt, „un soplido capaz de arruinar la misma armonía celestial“ (Per, 333) oder, wenn er den Studioboden mit Laub bedeckt und verunreinigt, sich während der Session die Schuhe auszieht oder die anderen Musiker einfach stehen lässt. Im sinnzersetzenden Formspiel gehört das Wagnis völ- 270 „Era uno de los peores saxos que he tenido nunca; se veía que Doc Rodríguez había tocado en él, estaba completamente deformado por el lado del alma“ (Per, 310). 271 Nach Johnnys Geständnis über das verlorene Saxophon beobachtet Bruno: „Pero Johnny ha empezado a reírse“ (cf. Per, 310). <?page no="127"?> 123 ligen Materialverlusts zum ästhetischen Programm und ist vergleichbar mit Johnnys Wunsch, sich fiktive Sinnangebote wie Hypotheken oder Religion vom Leib zu streifen wie Kleider (Per, 315f). An anderer Stelle spricht Johnny in diesem Zusammenhang vom Schleim, der Worte mit Bedeutungen verklebt und dabei glauben macht, die Worte seien die Dinge, die sie bezeichneten: „No, no son las palabras, son lo que está en las palabras, esa especie de cola de pegar, esa baba. Y la baba viene y te tapa, y te convence de que el del espejo eres tú“ (Per, 337). Die Gewissheit, dass auch Wörter reines Material sind, bedeutet analog für den Text (E 2 ) das Abstreifen des textuellen Gewands durch die intermediale Bezugnahme zum Jazz. Es bedeutet zudem den Verlust semantischen Schreckens sowie die mediale Transzendenz hin zum reinen Form- und Klangspiel der Musik. Dass Verlust in diesem Zusammenhang Lust bedeutet, legen die sexuellen Konnotationen nahe, mit denen das Musikinstrument belegt wird. So gibt Johnny an, das Saxophon während der Zugfahrt zur Sicherheit unter den Sitz gelegt zu haben, worauf er im nächsten Satz hinzufügt: „Era magnífico viajar sabiendo que lo tenía debajo de las piernas, bien seguro“ (Per, 328). Dass Johnny das Saxophon mit seinem Geschlechtsteil assoziiert, geht an dieser Stelle über die Anspielung nicht hinaus, wird im weiteren Verlauf der Erzählung jedoch immer deutlicher. Etwas später heißt es: „Es un saxo formidable, ayer me parecía que estaba haciendo el amor cuando lo tocaba“ (Per, 328). Das Hin und Her zwischen dissonanter Untererfüllung und harmonischer Gratifikation wird in dieser Blickrichtung zur Möglichkeit der Verlängerung ästhetischer Lust an deren Ende die völlige Befreiung von materiellen Zwängen steht, die sich freilich nie einlösen lässt. Eine vergleichbare Bewegung wird im vorletzten Teilstück in mehrmaliger paradigmatischer Verdichtung wiederholt. Der Wechsel der Repliken der nächtlichen Auseinandersetzung zwischen den Antagonisten ist zugleich ein Wechsel zwischen dem syntaktischem Formspiel Johnnys und den semantischen Deutungen Brunos. Dabei entsteht ein ästhetischer drift, da jedes Sinnangebot, das Johnny macht, in ein Spiel mit Formen mündet, vor dem das semantische Bemühen Brunos zuletzt resigniert aufgeben muss. Ihren Anfang nimmt diese Bewegung in dem Moment, wo die Biographie Gegenstand des Gesprächs wird. Dabei richtet sich Johnnys Kritik nicht gegen Bruno, sondern gegen das Medium der Schrift. So sei das Buch, wie Johnny sagt, zwar wie ein Spiegel, es gebe jedoch nicht alles wieder: - Faltan cosas, Bruno - dice Johnny -. Tú estás mucho más enterado que yo, pero me parece que faltan cosas - Las que habrás olvidado de decirme - contestó bastante picado. Este mono salvaje es capaz de… (Habrá que hablar con Delaunay, sería lamentable que una declaración imprudente malograra un sano esfuerzo crítico que… Por ejemplo el vestido rojo de Lan - está diciendo Johnny. Y en todo caso aprovechar las novedades de esta noche para incorporarlas a una nueva <?page no="128"?> 124 edición; no estaría mal. Tenía como un olor a perro - está diciendo Johnny - y es lo único que vale ese disco. Sí, escuchar atentamente y proceder con rapidez, porque en manos de otras gentes estos posibles desmentidos podrían tener consecuencias lamentables. Y la urna del medio, la más grande, llena de un polvo casi azul - está diciendo Johnny - y tan parecida a una polvera que tenía mi hermana. Mientras no pase de las alucinaciones, lo peor sería que desmintiera las ideas de fondo, el sistema estético que tantos elogios… - Y además el cool no es ni por casualidad lo que has escrito - está diciendo Johnny. Atención.) (Per, 351 sq.) In der geklammerten Passage überlagern die Äußerungen Johnnys die Gedanken Brunos, so dass der Eindruck entsteht, beide Instanzen sprächen zur gleichen Zeit. Fürchtet Bruno zunächst, Johnny könne die Biographie ablehnen, so nimmt er die Dinge, die Johnny ihm vorwirft vergessen zu haben, zum Anlass weiterer semantischer Ergänzungen für sein Buch. Schließlich ist er daran interessiert, die Aussage und den tieferen Sinn der Biographie zu bewahren: „[T]odas las bases estéticas sobre las cuales he fundado la razón de su [Johnnys] música, la gran teoría del jazz contemporáneo que tantos elogios ma ha valido en todas partes“ (Per, 355). Gegen Ende der Passage gibt Bruno jedoch zu erkennen, dass all das, was Johnny nachgetragen haben möchte, Unsinn ist und dem sistema estético, das die Biographie entwickelt, grundsätzlich nicht zuwiderläuft. Und tatsächlich scheint sich dies auf den ersten Blick zu bewahrheiten. Betrachtet man jedoch das Verhalten Brunos im weiteren Verlauf des Abends, so wird deutlich, dass sich das, was er nachgetragen habe möchte nicht sagen, wohl aber ‘tun’ lässt. Denn scheint die obige Liste vermeintlich fehlender Dinge zunächst Proliferation weiterer Sinnangebote zu sein, die Bruno übernehmen könnte, so wird sie zunehmend ins reine Formspiel überführt. Direkt im Anschluss heißt es: - ¿Cómo que no es lo que he escrito? Johnny, está bien que las cosas cambien, pero no hace seis meses que tú… - Hace seis meses - dice Johnny, bajándose del pretil y acodándose para descansar la cabeza entre las manos-. Six months ago. Ah, Bruno, lo que yo podría tocar ahora mismo si tuviera a los muchachos… Y a propósito: muy ingenioso lo que has escrito sobre el saxo y el sexo, muy bonito juego de palabras. Six months ago. Six, sax, sex. Positivamente precioso, Bruno. Maldito seas, Bruno. (Per, 352) Brunos rationalen Einwand nimmt Johnny zunächst zum Anlass, zunächst auf semantischer, sodann auf syntaktischer Ebene zur Musik zurückzukehren. So wird aus hace seis meses zunächst der Titel eines Stücks und schließlich ein Spiel mit akustischem Material. Dies wiederum nimmt Johnny zum Anlass, Bruno nicht ohne Ironie vorzuwerfen, die lautlichen Äquivalenzen von sax und sex semantisch ausgelegt zu haben. Was für Johnny im wahrsten Sinne des Wortes nur eine Anspielung war, ein syntaktisches Spiel <?page no="129"?> 125 mit Klang, ein juego de palabras, dem hat Bruno in seinem Buch eine semantische Tiefenschicht unterlegt, „un sistema de ideas bastante profundo“ (Per, 352), wie er den Leser im darauffolgenden Absatz wissen lässt. Es zu verstehen, so fügt er hinzu, übersteige den Verstand Johnnys. Dass der Konflikt zwischen den beiden zuletzt ein medialer ist, der sich zwischen Material und Bedeutung, Syntaktik und Semantik aufspannt, wird ab diesem Punkt immer deutlicher: Während Bruno versucht, von Johnny zu erfahren, was denn genau fehlt, versucht dieser, jede mögliche Antwort, jeden möglichen Sinn sogleich mit musikalischen Alternativen zu konfrontieren und ihn zu zerspielen. Anstatt also das Gespräch über die Biographie fortzusetzen, fängt Johnny an, auf dem Tisch zu trommeln, von Dédée zu erzählen, abwesend vor sich hin zu starren, zu lallen und unverständliche Gesten zu machen. Wie bei einem Bebop-Solo zögert er die gewünschte harmonische (hier: semantische) Gratifikation so lange hinaus, bis Bruno die Geduld verliert und erneut nachbohrt. Obgleich ihm Johnny dann vorwirft, ihn in seinem Buch vergessen zu haben, so räumt er dennoch ein, dass es nicht Brunos Schuld sei, zumal es auch ihm nicht gelänge, das zu spielen, was er gerne möchte. Es spricht einiges dafür, dass es sich dabei möglicherweise um das handelt, was weiter oben als totale ästhetische Offenbarung oder mediale Kluft beschrieben wurde, als Zwischenraum, der Zeichen und Bezeichnetes, Sprache und Welt miteinander verbindet und so die Anschauung eines an sich unzugänglichen ‘Realen’ verspricht, das sich zu jedem Zeitpunkt nur ankündigt, nie aber einlösen lässt. Dies zeigt sich zunächst auf semantischer Ebene durch die Bilder, die Johnny für seine Musik wählt. So spricht er von einer Tür, die sich ab und an zu öffnen scheint. Auch beschreibt er so etwas wie ein mystisches Erlebnis bei einem Konzert, lehnt jedoch gleichzeitig Gott als letztgültiges Ziel und Erklärung für sein ästhetisches Bemühen ab. Auf pragmatischer Ebene dehnt er jedes Sinnversprechen durch die oben beschriebenen Abschweifungen aus. Einmal unterbricht er das Gespräch auffällig lange, um eine weiße Katze zu streicheln. Als kontrastreiches Bild, das als „gato blanco“ (Per, 355) immerhin zweimal wiederholt wird, spielt es möglicherweise auf die phantastische Einheit von Form und Inhalt, Syntaktik und Semantik an. Auf materieller Ebene ist dies jene konzeptionelle Stelle, an der Bruno Gott sehen will, den Johnny mit den Worten zurückweist: „Yo no sé si hay Dios, yo toco mi música, yo hago mi Dios“ (Per, 356). Zuletzt verfällt Johnny in einen rauschhaften Monolog, der durch eine Vielzahl syntaktischer Ellipsen fragmentarisiert wird. Nicht von ungefähr spricht Johnny darin von der ‘Öffnung’ einer Tür oder einer ‘Kluft’, „una rajita“ (Per, 358), die er mit seiner Musik suche, wobei auch hier wieder ein lustvoller Unterton anklingt, zumal das spanische rajita auch das weibliche Geschlechtsteil bezeichnet. Seinen Höhepunkt findet der fragmentarisierte Monolog Johnnys zuletzt in der Auflösung von Worte zu reinem Klang im Schluchzen und Weinen. <?page no="130"?> 126 Bruno gelingt es, Johnny wieder aufzubauen. Auch gelingt es ihm, dem nächtlichen Streitgespräch kein Gewicht beizumessen. Im letzten Teilstück folgt sodann ein deutlich geraffter Bericht über die Auflösung der Gruppe, Johnnys Rückkehr nach New York sowie die Nachricht von dessen Tod. All dies wird von Bruno nüchtern und mimetisch vorgetragen. Selbst die Versuche von Baby Lennox, den Tod Brunos zu beschönigen, quittiert Bruno mit realistischen Zweifeln. Auch ändert sich an der semantischen Ebene der Biographie nichts. Nur eine kleine „nota necrológica“ (Per, 362) fügt Bruno der zweiten Auflage kurz vor Drucklegung hinzu. Die syntaktische Ebene jedoch wird um etwas ergänzt, das den Text in materieller Hinsicht übersteigt und ihn in gewisser Weise abrundet - das Photo von Johnnys Beerdigung: „En esa forma la biografía quedó, por decirlo así, completa. Quizá no esté bien que yo diga esto, pero como es natural me sitúo en un plano meramente estético“ (Per, 363). Für die Biographie ist es das, was den unvereinbaren Widerspruch von Material und Sinn, den Johnny und Bruno austragen, auf einer höher liegenden Ebene arretiert. Auch ein Photo bildet, anders als die Schrift, die Einheit von Form und Inhalt. Auch ein Photo ist, mit Roland Barthes gesprochen, „signe (puisque reconnu) et cependant ‘étonnant’ [...], l’absence de sens, d’interprétabilité“ 272 und verspricht letztlich die Erfüllung von Johnnys Wunsch, jeden sagbaren Sinn zu zerspielen. Allein die Mittel sind andere: Während das Spiel Johnnys jeden Sinn selbst in die Suche nach Sinn verlegt, ihn aufschiebt, ankündigt, wieder zerspielt, dehnt und ‘zerbeult’, zeigt das Photo etwas, das notwendig so gewesen ist. Es erlaubt keine Fortsetzung, keine Widerrede: „L’image - so Roland Barthes in seinen Fragments d’un discours amoureux - est péremptoire, elle a toujours le dernier mot; aucune connaissance ne peut la contredire, l’aménager, la subtiliser.“ 273 4.2 Kino: "Cartas de mamá" „Tant le fantastique est rupture de l’ordre reconnu, irruption de l’inadmissible au sein de l’inaltérable légalité quotidienne, et non substitution totale à l’univers réel d’un univers exclusivement miraculeux.“ 274 So lautet die Definition des Phantastischen von Roger Caillois. Auch wenn sich darin bereits die bipolare Struktur abbildet, die Todorov in seiner Introduction à la litterature fantastique als konstitutiv für die Gattung erachtet, so wirft dieser Caillois und anderen Theoretikern vor, die Gattung zu einseitig auf motivische Aspekte ausgerichtet zu haben: 272 R. Barthes: La préparation du roman - Notes de cours et de séminaire au Collège de France 1978-1979 et 1979-1980, p. 116 sq. 273 Id.: Fragments d’un discours amoureux, Paris: Seuil 1977, p. 157. 274 R. Caillois: Au cœur du fantastique, p. 161. <?page no="131"?> 127 Ces [...] définitions sont, intentionellement ou non, des paraphrases l’une de l’autre: il y a chaque fois le ‘mystère’, l’ ‘inexplicable’, ‘inadmissible’, qui s’introduit dans la ‘vie réelle’, ou le ‘monde réel’, ou encore dans ‘l’inaltérable légalité quotidienne’. 275 Cortázar argumentiert ähnlich. Auch er war mit den Schriften Caillois’ vertraut und hat sogar einen Nachruf auf ihn verfasst. Allerdings gibt er dort deutlich zu erkennen, eine andere Auffassung des Phantastischen vertreten zu haben. Caillois habe seine cuentos zwar geschätzt, der Einbruch des ‘reinen Phantastischen’ habe ihm darin jedoch stets gefehlt. 276 In Au cœur du fantastique (1965) beschäftigt sich Caillois vorwiegend mit gattungstypischen Motiven und Fabelwesen, die bei Cortázar nur eine untergeordnete Rolle spiele. Was hier das Kontinuum des Alltäglichen durchschneidet, ist nicht zwingend Mysterium, unerklärbar oder unerlaubt. Wenn gewohnte Ordnungen, eingespielte Muster und Verlässlichkeiten mit scheinbar unlösbaren Problemen konfrontiert werden, ändert dies bei Cortázar nichts an der ontologischen Beschaffenheit der Welt. Abgesehen von den motivischen Gesichtspunkten trifft die basale Definition Caillois’ auf die Kurzprosa Cortázars also durchaus zu, zumal es auch hier um eine rupture geht. Der Riss in der Oberfläche des Normalen entsteht dabei jedoch nicht durch übernatürliche Wesen, sondern durch oftmals geringfügige, aber skandalöse Abweichungen von gewohntem Mediengebrauch (im Sinne einer inaltérable légalité quotidienne): Sprache, Texte, Bilder oder sonstige Apparate sind in den Welten Cortázars äußerst prekär gebaut. Ständig kommt es zu technischen Störungen, die nicht nur die Welten, die sie ermöglichen, ins Wanken bringen, sondern so weit ausstrahlen, dass auch der Text vor den Augen des Lesers Interferenzen zu spüren bekommt. Die Kurzerzählung "Cartas de mamá" aus dem Band Las armas secretas (1959) ist hierfür ein gutes Beispiel. Sie erscheint erst vor diesem Hintergrund als phantastisch. Auf histoire-Ebene enthält die Erzählung kein Element, das sich nicht rational erklären ließe: Der Erzähler berichtet allein von den Folgen für den Protagonisten, die nach einer unerwarteten Äußerung der Mutter in einem ihrer regelmäßigen Briefe eintreten. Doch diese Folgen sind ihrerseits so gewaltig, dass sie dem beiläufigen und wahrscheinlich erratischen Satz eine existentielle Dimension verleihen. Im Leben des Erzählers entlarvt er eine brüchige Normalität als Fiktion und konfrontiert die alltägliche Gegenwart der Figuren mit einer katastrophalen, aber wahren Vergangenheit. „Esa mañana“, so schreibt die Mutter, „Nico preguntó por ustedes“ (Cdm, 254). 277 Nico ist zwei Jahre zuvor gestorben. Luis und Laura, an die 275 T. Todorov: Introduction à la littérature fantastique, p. 31. 276 J. Cortázar: "Para un intercesor - Homenaje a Roger Caillois". Cf. id.: Obras completas, Bd. VI (Obra crítica), pp. 610-641, hier p. 613. 277 Zitiert wird nach J. Cortázar: Obras completas, Bd. I (Cuentos), pp. 251-269, im Folgenden abgekürzt durch Cdm. <?page no="132"?> 128 der Brief adressiert ist, haben Buenos Aires darauf fluchtartig verlassen und das alte Leben gegen ein neues in Paris ausgetauscht. Über den toten Bruder und ehemaligen Lebensgefährten Lauras haben die beiden seit der Übersiedlung kein Wort gesprochen. Erst in mehrmaligen, analeptischen Erzählanläufen, die das Erzählte sprachlich zunehmend verdichten, erfährt man den Grund für das Schweigegebot: Laura und Luis hatten bereits eine Affäre, während Nico noch krank im Sterbebett lag. Niemand hatte ihn während seines Siechtums darüber in Kenntnis gesetzt. Seit seinem Tod wird Laura in regelmäßigen Abständen von Alpträumen geplagt, weswegen Luis den Namen des Bruders nicht mehr erwähnt. Beide lassen die Vergangenheit auf sich beruhen. Luis beschließt, den erratischen Satz der Mutter geheim zu halten. Einerseits, um Laura zu schonen, und andererseits, um sich selbst die Trauer und die Enttäuschung in Lauras Gesichtsausdruck zu ersparen. Denn rational betrachtet kann es sich nur um eine Verwechslung gehandelt haben: Die Mutter wollte „Víctor“ schreiben, den Namen des Cousins, hat aber versehentlich den Namen des toten Bruders zu Papier gebracht - vielleicht in einem ersten Anflug von Senilität. Die Aussage der Mutter - so beschließt Luis - beruht nicht auf wahren Tatsachen, sie ist unfreiwillige Fiktion. So einleuchtend die rationale Erklärung für den skandalösen Satz sein mag, so sehr bleibt sie hinter seiner destabilisierenden Wirkung auf den Pariser Alltag zurück. Auch wenn es vorerst gelingt, wieder zur Normalität zu finden, tut sich Luis damit zunehmend schwerer. Er muss den fehlerhaften Text dazu sogar vernichten. Schließlich erreicht ihn ein zweiter Brief der Mutter, in dem sie ankündigt, Nico wolle bald nach Paris übersiedeln. Erneut versucht Luis mit rationalen Mitteln gegenzusteuern und beauftragt einen Onkel, nach dem Rechten zu sehen und medizinische Maßnahmen einzuleiten. Allein vor Laura lässt sich der Geisteszustand der Mutter nicht mehr geheim halten. Luis zeigt ihr den Brief unter dem Vorwand, sie lediglich über die Verfassung der Mutter informieren zu wollen. Gegenüber der fiktiven Möglichkeit, dass Nico nach Paris kommt, erscheint der tatsächlich bevorstehende Alzheimerschub jedoch als das kleinere Übel. Die Unwahrheit, dass der tote Bruder noch am Leben sein könnte, macht das Leben, das sich Laura und Luis in Paris zurecht gelegt haben, zunehmend zur Lüge, die zu entlarven keiner der beiden den Mut aufbringt. Die Aussprache über die Vergangenheit könnte schließlich die unbequeme Wahrheit zu Tage fördern, dass Laura insgeheim noch Gefühle für Nico hat. Stattdessen tun Laura und Luis stur so, als könne allein die rationale Erklärung dem Pariser Leben zur Legitimität verhelfen und in seiner Gültigkeit bestätigen. Doch obwohl das Pariser Leben stets Wirklichkeit bleibt, stellt sich dennoch das Gefühl ein, dass die irrationale Erklärung ebenso viel Gültigkeit besitzt und sich bisweilen ‘wirklicher’ anfühlt als die rationale, offizielle, medizinische. Laura und Luis geraten in eine Krise. Diesen Zustand zu thematisieren, gibt sich jedoch keiner der beiden die Blöße. Und so wird stillschweigend auf zwei verschiedenen Ebenen gleichzeitig kommuniziert, bis Laura und Luis in verschwie- <?page no="133"?> 129 gene Gegnerschaft geraten. Den Ausweg aus dem Dilemma zeichnet zuletzt ein dritter Brief der Mutter vor. Die Krise bahnt sich jedoch erst schrittweise an. In mehreren Erzählanläufen wird tentativ deutlich, dass sich zwei Welten gegenüberstehen - Paris und die gespielte Gegenwart hier, Buenos Aires und die echte Vergangenheit dort. Sie schließen einander zwar nicht im ontologischen Sinn aus, sind aber im Beziehungsdiskurs der Figuren streng voneinander getrennt. Sprachlich darf die Vergangenheit aus Buenos Aires die Pariser Gegenwart nicht berühren. Sie würde einen Caillois’schen Riss in der gewohnten und erwünschten Ordnung herbeiführen. Das Mysterium, das Unerklärbare, das Unerlaubte, das Caillois an den Texten Cortázars vermisst zu haben scheint, besteht auf Figurenebene aus realen Erinnerungen und Gefühlen, die dem Pariser Leben die Rechtfertigungsgrundlage entziehen. Ausgelöst werden die unerlaubten Gefühle durch Störungen im Medienverbund. Mit jedem neuen Brief sickert die abgestoßene Vergangenheit in die Gegenwart ein, um sie - ganz im Sinne von Renate Lachmann - „in andere Deutungsabsichten“ 278 umzubiegen. Jedes Mal wird der Protagonist dazu angestoßen, gegen seinen Willen ein Stück der Vergangenheit nachzutragen, immer etwas mehr von dem preiszugeben, was eigentlich verschwiegen werden sollte, und dabei immer detailreicher und distanzloser zu werden. Dabei wird deutlich, dass der gelebte Alltag gespielt und konstruiert ist. Dies aber nur, da sich die Vergangenheit realer anfühlt als die Gegenwart. Gleichzeitig bleibt dabei stets die Gewissheit, dass die Mutter nicht auf reale Fakten rekurriert. Nico ist tot - daran lässt der Text keine Zweifel. Allein spricht die Mutter so, als wäre er noch am Leben - ganz wie der Erzähler eines narrativen Textes. 279 Jeder der drei Briefe der Mutter infiziert aber nicht nur Elemente der histoire-Ebene, sondern schlägt sich sukzessive auf die Erzählperspektive und auf die Sprache des Erzählers nieder. Dem Riss im Lebenszusammenhang der Figuren korrespondiert die konsequente Profilierung und anwachsende Komplexität der Vermittlungsebene. Was dabei verloren geht, ist eine Geschichte - von Paris und dem glücklichen Paar. Umgekehrt tritt die Vermittlungsebene dort in den Hintergrund, wo die Ereignisse um Buenos Aires immer lebendiger werden und immer stärker zur Identifikation einladen. Was sich dann aufdrängt, ist eine andere Geschichte, die von Buenos Aires und dem Betrug am sterbenden Bruder handelt. Dem Schicksal der Figuren entspricht also eine gezielte narrative Doppelstrategie, die den Verlust und die Aneignung einer Geschichte simultan vollzieht. Neben mehr oder weni- 278 R. Lachmann: Erzählte Phantastik - Zu Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte, p. 12. 279 In konstruktivistischer Lesart könnte man von einer Wirklichkeit erster Ordnung (Nico ist tot) und einer Wirklichkeit zweiter Ordnung (Nico ist nicht tot) sprechen. Die Mutter ersetzt sodann eine Als-ob-Fiktion (das Leben in Paris) durch eine andere Als-ob- Fiktion (Nico kommt nach Paris). Cf. hierzu P. Watzlawick: "Wirklichkeitsanpassung oder angepaßte »Wirklichkeit«? ", p. 92. <?page no="134"?> 130 ger konventionellen narrativen Mustern ist das Erzählen über und in anderen Medien fester Bestandteil dieser Strategie. 280 "Cartas de mamá" beginnt mit einer Gedankenwiedergabe des Perspektivträgers Luis, die stilistisch Züge der erlebten Rede 281 aufweist: Jedes Mal, wenn ein Brief der Mutter kommt, gelte es eine Brücke zwischen Paris und Buenos Aires zu schlagen, die Zeit aus den Angeln zu heben, die ‘Freiheit unter Vorbehalt’ aufzugeben. Das Ganze sei freilich stets nur vorübergehend. Nur dieses eine Mal sei alles anders. Denn die Mutter habe sich verschrieben. Und wie die Gedanken von Luis schrittweise darüber Auskunft geben, dass die Erinnerungen an Buenos Aires überhaupt vermieden und ausgeblendet werden sollten, streut der Erzähler die wichtigeren Informationen parenthetisch ein: Por más ridículo que fuese el error, la confusión de nombres (mamá había querido escribir ‘Victor’ y había puesto ‘Nico’), de todos modos Laura se afligiría, sería estúpido. (Cdm, 252) Der Leser erfährt in diesem Moment das erste Mal, woran Luis bereits über mehr als eine Seite Anstoß nimmt. Mit ähnlicher Plötzlichkeit, mit der die Verwechslung der Namen ins Leben der Protagonisten eingreift, zerstört auf syntaktischer Ebene die Parenthese das normal ablaufende Satzgefüge. Passend dazu wird der falsche Satz von Luis zuerst hinsichtlich materieller Gesichtspunkte kommentiert. Es ist zunächst die Schrift selbst, ihre Buchstaben, an denen Störungen registriert werden, und noch nicht das, was die Schrift sagt: La repentina mención de su nombre a mitad de la carta era casi un escándalo. Ya el solo hecho de que el nombre de Nico apareciera de golpe en una frase, con la N larga y temblorosa, la o con una cola torcida; pero era peor, porque el nombre se situaba en una frase incomprensible y absurda, en algo que no podía ser otra cosa que un anuncio de senilidad. De golpe mamá perdía el tiempo, se imaginaba que... El párrafo venía después de un breve acuse de recibo de una carta de Laura. (Cdm, 254) Die romantische Faszination am Schriftbild wird hier noch einmal als möglicher rettender Anker und Rechtfertigungsfigur bemüht: Im N ist ein V bereits materiell enthalten und die Vokalverteilungen von Nico und Victor sind identisch. Phonetisch wie optisch ist der Weg vom einen zum anderen 280 Erzählen über andere Medien im Sinne der Nullstufe von Intermedialität nach Uwe Wirth und Erzählen in anderen Medien im Sinne der vierten Stufe von Intermedialität. Cf. id.: "Intermedialität", p. 118. 281 Die erlebte Rede oder discurso indirecto libre wird hier verstanden als „confluencia de voces [...] de forma más o menos difusa, la actitud del narrador ante los personajes, actitud que puede ser de distanciamiento irónico o satírico, o de acentuada empatía.“ Carlos Reis, Ana Christina Lopes: Diccionario de narratología, Salamanca: Almar 2002, p. 202. <?page no="135"?> 131 nicht weit. Darüber hinaus ist das Schriftbild, wie Luis informiert, zittrig. All dies rechtfertigt, dass der Satz anders gedeutet werden darf. Verstanden wird also nicht die Information, sondern die Mitteilung, nicht die Signifikate, sondern die Signifikanten. Zwar ist das Skandalon als solches schon bekannt, seine Ursachen werden aber noch an der Oberfläche der Zeichen gesucht. Was sich die Mutter tatsächlich vorgestellt haben will, wird nicht ausgesprochen und in einer syntaktischen Ellipse getilgt. Statt also zu erläutern, was sonst hinter dem Fehler stecken könnte, statt Komplexität im Pariser Leben (E 4 ) zuzulassen, kehrt der Erzähler zur Materialität der Zeichen zurück und verspricht sich vom Material den Gewinn einer Ordnung. Statt von der syntaktischen Ebene zur Pragmatik und Semantik vorzudringen, verharrt Luis auch im Anschluss bei der Schrift selbst und gibt Auskunft über die Position des Satzes im Brief, über das verwendete Schreibwerkzeug sowie seine Herkunft. Erst danach erfährt der Leser etwas über Buenos Aires. Auf Vermittlungsebene dominiert erneut die Form des Berichts. In einer kurzen, gerafften Analepse trägt der Erzähler ein paar Fakten über Luis und Laura nach. Der gefälligen Monotonie des Pariser Lebens auf E 4 korrespondiert auf die syntaktische Monotonie auf E 3 in Form einer enumeratio von sich ohnehin üblicherweise wiederholenden Tätigkeiten: Laura und Luis seien nun schon mehr als zwei Jahre in Paris, Luis habe damals geschworen, Buenos Aires zu verlassen, der Abschied sei grausam gewesen, die Mutter alleine zu lassen ebenfalls, der Neuanfang in Paris sei leicht gefallen, man gehe häufig ins Grüne, häufig ins Kino, man schaue sich hervorragende Filme an und habe sich gut eingelebt (cf. Cdm, 255). An der Stelle jedoch, an der die Mutter erwähnt wird, gleitet der Erzähler erneut vom Bericht in die erlebte Rede über: Mamá se quedaba sola en el caserón con los perros y los frascos de remedios, con la ropa de Nico colgada todavía en un ropero. Que se quedara, que todos se fueran al demonio. Mamá había parecido comprender [...]. Pero Luis no quería acordarse de lo que había sido [...]. (Cdm, 255, Herv. von mir, D.K.) Offenbar fügt sich Buenos Aires nicht der durch Formelhaftigkeit angestrebten, sprachlichen Komplexitätsreduktion, die immerhin als dominanter Beschreibungsmodus für Paris zu funktionieren scheint. 282 Zusätzlich 282 Cf. A. Assmann, J. Assmann: "Schrift und Gedächtnis", p. 237. Jan und Aleida Assmann führen in die Unterscheidung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit die Unterscheidung Komplexitätsreduktion (Ordnung) und Komplexitätssteigerung (Vielfalt) ein. Unabhängig vom Medium, in dem Sprache realisiert wird, erfolgt Komplexitätsreduktion bei Mündlichkeit durch „Formelhaftigkeit, Standardisierung von Themen, Überhöhung der Figuren, antithetische Bewertungen“. Komplexitäts-steigernd wirken bei Mündlichkeit „Expressivität, Dramatisierung, Musik und sonstige mediale Amplifikationen.“ Schriftlichkeit ist hingegen auf andere Verfahren im Umgang mit Komplexität angewiesen. Komplexitätssteigernd sind hier „ein erheblich reicheres Lexem- und Morpheminventar [...], Phänomene der Mehrschichtigkeit, z.B. verschiedene Zeitebe- <?page no="136"?> 132 wird der ausgesprochene und mehrfach betonte Versuch von Luis, einen Bruch zwischen dem alten und dem neuen Leben herbeizuführen, in der zitierten Passage auf pragmatischer Ebene eruptiv konterkariert. Denn die durch das Imperfekt immerhin kurzzeitig gewonnene narrative Distanz schwindet in der konzeptionell mündlichen, komplexitätssteigernden exclamatio. Verstärkt wird dies pragmatisch durch den vorangegangenen Hinweis, dass sich Luis gegen seinen Willen erinnert. Narrativ bewirkt der ‘Zwischenruf’, dass die temporale und figurale Grenze, die den Erzähler vom Erzählten in der Analepse trennt, für einen kurzen Moment implodiert und einer Gleichzeitigkeit Raum gibt. Buenos Aires ist in Paris noch immer Gegenwart und damit genauso real. Unfreiwillig trägt Luis bei diesem Anlass eine Reihe von kleinen Details aus Buenos Aires nach, um sich rasch wieder der Beschreibung von Paris zuzuwenden. Die Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart wird durch den schnellen und eruptiven Wechsel zwischen den Zeitebenen immerhin vorübergehend diffus. Bis auf diese Ausnahme gibt der erste Brief erzähltechnisch durchaus Anlass zu Distanz, die auf pragmatischer Ebene durch dominant narrativen Modus 283 (telling oder partiell histoire-vermittelnder Rede im imperfecto) und spezifisch schriftliche Verfahren der Komplexitätsreduktion herbeigeführt wird. Die Erinnerungen an Buenos Aires sind dominant sprechsprachlich geprägt, während von Paris vorwiegend im schriftsprachlichen Kode erzählt wird. Um sich besser in Paris zu situieren, gilt Luis’ Interesse bevorzugt dem Material der Briefe. Die Signifikanten faszinieren ihn derart, dass die entsprechenden Signifikate unterschlagen werden. Luis ist schließlich Zeichner und gewinnt hierdurch einen Sinn für Ordnung. 284 Auf diese Weise kann er den Abstand zur Vergangenheit noch einmal kurzzeitig retten. Entsprenen [...], verschiedene Sinn-Schichten bei Wiederholung von Episoden auf andere Ebene [...], Polysemie, wie sie in der Lehre vom dreivierfachen Schriftsinn gipfelt [...].“ Komplexitätsreduzierend sind hingegen „systematische Disposition, Überschriften, Gliederung der optischen Textpräsentation im Sinne einer Rezeptionsvorgabe [...], Herstellung textimmanenter Kohärenz (als Kompensation des Verlusts einer bedeutungshaltigen Verlautbarungssituation)“. Siehe dazu erneut P. Koch, W. Oesterreicher: "Sprache der Nähe - Sprache der Distanz - Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprach-geschichte". 283 Zur Unterscheidung von narrativem vs. dramatischem Modus siehe M. S. Matias Martinez: Einführung in die Erzähltheorie. Zur Differenz von showing und telling siehe S. Rimmon-Kenan: Narrative Fiction - Contemporary Poetics. Zu histoire-vermittelnder vs. discours-vermittelnder Rede siehe Eberhard Lämmert: Bauformen des Erzählens, Stuttgart: Metzler 1989 sowie Andreas Mahler: "'Doing' Things With Words - Laurence Sternes Tristram Shandy und die Praxis des narrativen Sprechakts", Anglia - Zeitschrift für englische Philologie 127 (2009), 41-65, 54 sqq. Ebenso grundlegend in diesem Zusammenhang: Helmut Bonheim: The narrative modes - Techniques of the short story, Woodbridge u.a.: Brewer 1992. 284 Etwas später nutzt er seine Arbeit, um sich neu zu sortieren: „Frente a la mesa de dibujo, rodeado de gentes ajenas, Luis recobraba el sentido de la simetría y el método que le gustaba aplicar a la vida“ (Cdm, 263). <?page no="137"?> 133 chend versucht er, die alte Ordnung wieder herzustellen, indem er den Brief physisch vernichtet, sein Material zerstört. In dem Moment, in dem er dies tut, ist Paris auf einmal wieder ganz nah. An entsprechender Stelle kommt es jedoch erneut zu einer massiven Störung auf Vermittlung-sebene, die diesmal noch deutlicher intermedial evoziert wird: Mejor tirar la carta (la tiró esa tarde misma) y por la noche ir al cine con Laura, olvidarse lo antes posible de que Víctor había preguntado por ellos. Aunque fuera Víctor, el primo tan bien educado, olvidarse de que Víctor había preguntado por ellos. Diabólico, agazapado, relamiéndose, Tom esperaba que Jerry cayera en la trampa. Jerry no cayó, y llovieron sobre Tom catástrofes incontables. Después Luis compró helados, los comieron mientras miraban distraídamente los anuncios en colores. (Cdm, 256) Wie ein Schnitt im Film trennt der verlängerte Absatz erneut die Gedankenwiedergabe der Figur vom Ereignisbericht des Erzählers. Dass letzterer nun auf das Geschehen einer Leinwand rekurriert, wird allerdings erst im Nachhinein deutlich. Denn im Unterschied zum Zeichenverbundsystem des Films legen die schriftlichen Signifikanten allein einen Perspektivwechsel nicht offen. Das Temporaldeiktikum después erfüllt dabei mehr als nur eine sequenzierende Funktion. Es trennt nicht nur zeitlich einen Handlungsverlauf von dem darauf folgenden, sondern zusätzlich - freilich konzeptionell und narrativ - die beiden Zeichenverbundsysteme, durch die die entsprechenden Handlungen vermittelt werden. Da zunächst nicht eindeutig ist, dass der Erzähler sich auf Bilder eines Cartoons bezieht, wird die doppelte Trennwirkung des Deiktikums erst verständlich, wo die Kinoszene bereits vorbei ist, oder besser: wo nicht mehr von ihr erzählt wird. Die Tatsache, dass man einen Film ‘gesehen’ hat, erschließt sich so erst anaphorisch, in dem Moment also, wo man ihn bereits nicht mehr ‘sieht’. Der Name Luis und seine raumzeitliche Verankerung im Kinosaal stößt das Verstehen dabei rückwärts in die entgegengesetzte Leserichtung. Después verweist semantisch zwar auf ein Danach, syntaktisch aber auf ein Davor, auf den vorangegangenen Absatz, der von Luis’ inneren Bildern zu den äußeren Bildern des Films überleitet, ohne dass dies auf pragmatischer Ebene kenntlich gemacht wird. Den Übergang bildet allein die weiße Seite Papier, der Raum zwischen den Zeichen. Aus der Latenz gehoben wird also nicht zwingend das Kino, sondern der Text (E 2 ). Denn zum einen wird die Tatsache, dass der Blick des Erzählers auf einen Film fällt, unvermittelt präsentiert. Zum anderen entspricht die Tatsache, dass man im Text (ob physisch oder nicht) rückwärts schreiten muss, um zu verstehen, dass man einen Film sieht, nicht den konventionellen Lesegewohnheiten. Das Rückwärtsblicken im Text wird als Sonderqualität der Schrift inszeniert. Ihre materielle Beschaffenheit erlaubt es, während des Produktions- und Rezeptionsprozesses thematische und argumentative Inkonsistenzen durch das zu eliminieren, was Jack Goody <?page no="138"?> 134 backward scanning genannt hat. 285 Dazu müssen Schrift, Papier und Text jedoch vorübergehend performativ ins Bewusstsein gerufen werden. Der Fluss der Lektüre wird unterbrochen, ‘zurückgespult’ und neu ‘abgespielt’. Die dargestellte Welt ist bei mehrmaliger Lektüre womöglich eine andere. Im Kino ist dies nicht möglich, der Apparat läuft ohne Rücksicht auf Geschichte oder Verständnisschwierigkeiten weiter. Dies wird in der zitierten Passage vom Text konzeptionell im intermedialen Dialog nachempfunden. 286 Dabei wird deutlich, dass man etwas überlesen hat, was die Schrift allein nicht abbilden konnte. Die Aufmerksamkeiten, die dabei auf die syntaktische Ebene gelenkt werden, entsprechen erneut dem Interesse des Protagonisten am Zeichenmaterial des ersten Briefs der Mutter. Was dieser für Luis ist, ist für den Leser der konzeptionell durchgeführte Einschub eines altermedialen Zeichensystems. Beides verhindert Illusionen und fördert sie zugleich. Der Brief der Mutter zerstört den Glauben daran, Paris (E 4 ) möge sich eines Tages unbeschwert, authentisch anfühlen, und fördert zugleich die Illusion, dass Nico noch am Leben sein könnte (E 4 ’). Das Gleiche gilt für den unvermittelten syntaktischen konzeptionellen Übergang in ein anderes Zeichenverbundsystem (auf E 3 und E 2 ). Auch hier entsteht die Möglichkeit von Illusionsbildung bei gleichzeitiger Illusionsdurchbrechung. Denn einerseits lässt sich die Tom-und-Jerry-Episode als Parabel (oder gar als Sentenz) lesen - damit wäre sie dominant discours-vermittelnd und würde einen anderweitigen Deutungshorizont gegenüber der Geschichte eröffnen, die so nur mehr als Geschichte in Erscheinung tritt. Liest man die Passage jedoch ‘als Kinofilm’, so ist die filmspezifische Unmittelbarkeit ihrer Präsentation - sprich: das Fehlen von E 3 - dem Gegenstand durchaus angemessen und rein histoire-vermittelnd. Der Kinofilm wird - vereinfacht gesagt - nicht mehr durch E 3 erzählt, sondern auf E 2 ‘gezeigt’. 287 Die Sequenz erzeugt also einen gegenläufigen drift, sowohl auf Ebene der histoire als auch auf Ebene des discours. Weiterlesen bedeutet ‘rückwärts’ verstehen, weiterleben bedeutet für Luis, das Verdrängte hereinzuholen, rückwärts in die Vergangenheit zu schreiten, sich zu erinnern. Zuletzt eröffnet sich an der zitierten Stelle eine literarhistorische Perspektive: Was für Erzähltexte lange Zeit die Buchstaben auf dem Papier waren, waren für Luis die letzten Wochen in Buenos Aires: Um Welten und Ordnungen zu erzeugen, musste beides dem Gebot der Latenz folgen. Historisch betrachtet, wurde beides zugunsten von Fiktionen verdrängt und im Zeichen von Medienpluralisierung periodisch aufgeraut und ins Bewusstsein gerufen. 285 Jack Goody: The Domestication of the Savage Mind, New York: Cambridge Univ. Press 1977, p. 49 sq. 286 Im Sinne der vierten Stufe von Intermedialität nach Uwe Wirth: Konzeptionell durchgeführt, nicht hybrid realisiert. Cf. id.: "Intermedialität", p. 118 sq. 287 Zur Filmnarratologie cf. Kap. 5 dieser Arbeit. <?page no="139"?> 135 Dass eine solche rupture jedoch nicht mit einem Schlag akzeptiert werden kann, wird auch im weiteren Verlauf der Erzählung deutlich. Denn alsbald kommt es im Leben von Luis zu einem beschleunigten Wechsel zwischen dem Widerstand gegen das Verdrängte und seinem urplötzlichem Einbruch in die Gegenwart des (fingierten) Pariser Lebens. Zunächst gibt der Besuch im Kino ein weiteres Mal Anlass, sich an Buenos Aires zu erinnern. Die anfängliche narrative Distanznahme zum besprochenen Gegenstand scheitert dabei auf ähnliche Weise. Die Analepse wird auch diesmal im Imperfekt vorgetragen, allerdings mischen sich nun nicht die ‘Zwischenrufe’ von Luis in die Rede des Erzählers, sondern schriftliche Elemente des Films, den Luis gerade sieht. An die Stelle des Films im Text tritt nun der Text im Film: Probablemente [Laura y Nico] habían conocido todos los cines de Flores, toda la rambla estúpida de la calle Lavalle, el león, el atleta que golpea el gongo, los subtítulos en castellano por Carmen de Pinillos, los personajes de esta película son ficticios, y toda relación... Entonces, cuando Jerry había escapado de Tom y empezaba la hora de Bárbara Stanwyck y Tyrone Power, la mano de Nico se acostaría despacio sobre el muslo de Laura (el pobre Nico, tan tímido, tan novio), y los dos se sentían culpables de quién sabe qué. (Cdm, 256 sq., Herv. von mir, D.K.) In der enumeratio der Elemente, die eigentlich Buenos Aires zugeordnet sind, befindet sich das letzte Glied der Kette erneut zwischen Buenos Aires und Paris oder zur gleichen Zeit hier wie dort. Denn einerseits mag der Hinweis, dass alle Figuren im Film fiktiv, ein weiteres Detail im Leben von Laura und Nico gewesen sein. Schließlich gibt ihn der Erzähler so wieder, wie er in Buenos Aires lesbar gewesen sein muss - auf Spanisch. 288 Andererseits suggeriert die wiederholte Erwähnung von Tom und Jerry direkt im Anschluss, dass Luis den Satz im gleichen Moment auf der Leinwand im Pariser Kino liest. In jedem Fall stört die Schrift die Illusionsbildung: Auf E 4 durch den Hinweis, dass der Film nur fiktiv ist. Der erwünschten Illusionierung ist eine derartige Information eher abträglich. Auf E 3 , indem sie den Fluss der Erinnerungen an Buenos Aires durchbricht und die Erzählperspektive erneut zur Re-Orientierung im Kinosaal zwingt. 289 Und auf E 2 , indem sie den Text zu einer weiteren graphischen Ellipse zwingt und auch hier eine zu erwartende Illusionsbildung bremst. In allen Zeichendimensionen wird deutlich gemacht: „sehen und lesen bleiben ein Gegensatz“. 290 288 Rede aus dem Pariser Alltag wird im Original, auf Französisch, wiedergegeben: „ - Eh oui, fait lourd - dijo el obrero sentado frente a él“ (Cdm, 252). 289 Zur literarischen Auseinandersetzung mit der filmspezifischen Dialektik von Immersion und Infiltration sowie der damit verbundenen Desbzw. Re-Orientierung bei Horacio Quiroga, Jorge Luis Borges und Julio Cortázar siehe M. Chihaia: Immersion und Infiltration in Film und Literatur, pp. 13-28, sowie id.: "Immersive Media in Quiroga, Borges, and Cortázar - What Allegories Tell about Transportation Experience". 290 Joachim Paech: "Der Schatten der Schrift auf dem Bild", in: Michael Wetzel, Herta Wolf edd.: Der Entzug der Bilder - Visuelle Realitäten, München: Fink 1994, pp. 213-233, p. 214. <?page no="140"?> 136 In dem Maße, wie Lesen bei der Illusionsbildung als abträglich gekennzeichnet wird, gewinnt das Sehen fortan zunehmend an Dominanz. Lesen - so schien der Text bislang vorzuführen - erfolgt in einem zeitlichen Nacheinander, in dem sich eins hinter das andere reiht, dabei jedoch für Unterbrechungen anfällig wird - ganz wie die üblichen Tätigkeiten des Pariser Alltags. Rationales hat hier seinen Platz. Sehen - so wird ebenfalls deutlich - geschieht instantan, gleichzeitig, eruptiv und stört das Nacheinander. Rationales hat hier keinen Platz. Dem Protagonisten fällt es zunehmend schwerer, sich der Macht der Bilder zu entziehen. Das Kinoerlebnis scheint ihn zu mimetischer Rezeption zu drängen, ungeachtet der Warnung, dass das, was folgt, nicht der Wahrheit entspricht. In der Folge scheint sich aber die Schrift für mimetische Rezeption immer besser zu eignen: Den zweiten Brief liest Luis auf der Straße. Dabei versenkt er sich so tief in die Lektüre, dass das Treiben um ihn herum unsichtbar wird, bis ihn ein Passant anrempelt. Anders als bei der Lektüre des ersten Briefs scheint ein Durchdringen zum ‘Gesagten’ 291 nach dem Kinobesuch trotz aller Schriftlichkeit nicht nur möglich, sondern sogar unvermeidbar. Das Zeichenmaterial ist zwar noch immer interpretationssensibel, spielt aber gegenüber seiner Bedeutung eine untergeordnete Rolle und wird seinerseits nun in die Parenthese verbannt: Después había como una estrellita azul (la pluma cucharita que se enganchaba en el papel, la exclamación de fastidio de mamá) y entonces unas reflexiones melancólicas sobre lo sola que se quedaría si también Nico se iba a Europa como parecía, pero ése era el destino de los viejos, los hijos son golondrinas que se van un día, hay que tener resignación mientras el cuerpo vaya tirando. La señora de al lado... Alguien empujó a Luis, le soltó una rápida declaración de derechos y obligaciones con acento marsellés. Vagamente comprendió que estaba estorbando el paso de la gente que entraba por el angosto corredor del métro. (Cdm, 259) Anders als im ersten Brief wird die Erwähnung von Nico nicht mehr als das störende Element inszeniert. Waren es vormals die Briefe der Mutter, die das Leben in Paris periodisch und parenthetisch aus den Angeln gehoben hatten, so ist es nun umgekehrt der Pariser Alltag, der den Fluss der Lektüre unterbricht und zur Re-Orientierung in einer anderen Wirklichkeit zwingt. Die Worte der Mutter erhalten immer deutlichere Konturen, während Paris immer unschärfer wird: „El resto del día fue igualmente vago“ (Cdm, 259). Paris und Buenos Aires wechseln zunehmend die Seiten. Im Leben von Luis scheint ein metaleptischer Zustand einzutreten, da der konstruierte Lebensentwurf nun einer alternativen Erfahrung von Wirklichkeit gegenüber steht und sich beides auf phantastische Weise ebenbürtig wird. Dass es sich hierbei um ein medienphantastisches Moment handelt, liegt nahe, zumal der 291 R. Barthes: La préparation du roman - Notes de cours et de séminaire au Collège de France 1978-1979 et 1979-1980, p. 114. <?page no="141"?> 137 metaleptische Zustand durch Briefe und Kino ausgelöst wurde. Letzteres erscheint aus mediengeschichtlicher Perspektive schließlich als Möglichkeit, die lange Tradition mimetischer Rezeption fortzusetzen. Die Instantaneität, die ‘sehen’ gegenüber ‘lesen’ auszeichnet, wird schließlich auf Vermittlungsebene manifest. In einer weiteren Analepse sieht sich Luis mit der Erinnerung konfrontiert, seinem moribunden Bruder die Freundin streitig gemacht zu haben. Gedanken- und Sprachfetzen reihen sich hier zunehmend unvermittelt aneinander. Auf Vermittlungsebene gleitet die Passage von einem dominant narrativen Modus schrittweise in einen durchweg dramatischen (szenischen) Modus über und gibt zuletzt konzeptioneller Mündlichkeit Raum: De calle en calle fue sintiendo cómo le costaba situarse en el presente, en lo que tendría que suceder media hora más tarde. La carta de mamá lo metía, lo ahogaba en la realidad de esos dos años de vida en Paris, la mentira de una paz traficada, de una felicidad de puertas para afuera, sostenida por diversiones y espectáculos, de un pacto involuntario de silencio en que los dos se desunían poco a poco como en todos los pactos negativos. Sí, mamá, sí pobre Boby sarnoso, mamá. Pobre Boby, pobre Luis, cuánta sarna, mamá. Un baile del club de Flores, mamá, fui porque él insistía, me imagino que quería darse corte con su conquista. Pobre Nico, mamá, con esa tos seca en que nadie creía todavía, con ese traje cruzado a rayas, esa peinada a la brillantina, esas corbatas de rayón tan cajetillas. Uno charla un rato, simpatiza, cómo no va a bailar esa pieza con la novia del hermano, oh, novia es mucho decir, Luis, supongo que puedo llamarlo Luis, verdad. Pero sí, me extraña que Nico no la haya llevado a casa todavía, usted le va a caer tan bien a mamá. Este Nico es más torpe, a que ni siquiera habló con su papá. Tímido, sí, siempre fue igual. Como yo. ¿De qué se ríe, no me cree? Pero si yo no soy lo que parezco... ¿Verdad que hace calor? De veras, usted tiene que venir a casa, mamá va a estar encantada. Vivimos los tres solos, con los perros. Che Nico, pero es una vergüenza, te tenías esto escondido, malandra. Entre nosotros somos así, Laura, nos decimos cada cosa. Con tu permiso, yo bailaría este tango con la señorita. (Cdm, 260) Mit dem totalen Abbau narrativer Distanz werden Erzählen und Erzähltes ununterscheidbar. Was nun geschieht, geschieht unvermittelt, instantan, in einem sprachlichen Hier und Jetzt. Der Dialog zwischen Laura und Luis (und Nico) erfolgt in autonomer direkter Rede und die Sprecherwechsel sind weder durch inquit-Formeln noch syntaktisch markiert. Konzeptionelle Mündlichkeit suggeriert hier ein hohes Maß an emotionaler Involviertheit. Es verwundert daher nicht, wenn Luis selbst eingesteht, Laura den Kopf verdreht und den Bruder durch das gezielte Herbeiführen einer Ekstase - de arrebato - besiegt zu haben. Der hingegen - so Luis durchaus abfällig - spiele nicht Tennis, sondern Schach und sei kaum von seiner Briefmarkensammlung loszueisen gewesen. Luis interpretiert sein Verhältnis zu Nico als ein agonistisches, in dem Laura den Preis darstellt. <?page no="142"?> 138 Auf Vermittlungsebene wird jedoch deutlich, dass Luis nie wirklich gewonnen hat. Der Dialog zwischen dem Paar, der den Erinnerungen an Buenos Aires folgt, ist in dieser Hinsicht aufschlussreich. Er findet zwar im eigentlichen (ontologischen) Hier und Jetzt statt - in Paris -, ist narrativ jedoch von deutlicher Distanz geprägt. Die alltäglichen Ereignisse, die das Gespräch vorbereiten, werden im indefinido erzählt und die Sprecherwechsel sind sowohl durch inquit-Formeln als auch syntaktisch markiert. Gegenüber der vorangegangenen konzeptionell sprechsprachlichen Passage trägt die Rückkehr in den Beziehungsalltag deutlich schriftsprachliche Züge. Die Figuren reden zwar, der Text betont jedoch gerade gegenüber der vorangegangenen Passage seine mediale Beschaffenheit. Obwohl Buenos Aires Vergangenheit ist, wird es im Präsens vorgetragen (dramatischer Modus), und obwohl Paris Gegenwart ist, wird darüber in Vergangenheitsformen und Zitaten berichtet (narrativer Modus). Damit wird deutlich: Paris ist auf histoire-Ebene zwar weiterhin real, wird vom discours jedoch bloß als Wiedergabe von Wirklichkeit und nicht als Wirklichkeit behandelt. Gemessen an der vorangegangenen Passage erscheint es konstruiert. Zusätzlich wird auf Figurenebene eine anwachsende Entfernung zwischen den Partnern deutlich. Luis legt Laura den zweiten Brief nahezu unkommentiert vor. Nach getaner Lektüre berichtet der Erzähler: Acostado, dándole la espalda, [Luis] esperó. Laura guardó la carta en el sobre, apagó el velador. La sintió contra él, no exactamente contra pero la oía respirar cerca de su oreja. (Cdm, 261) Sentir contra bedeutet in der zitierten Passage ideelle Gegnerschaft und körperliche Nähe zugleich. Die Hörbarkeit von Lauras Atem mag entweder physischer Nähe oder psychischer Erregtheit geschuldet sein und gleichzeitig sowohl auf ersteres wie auf letzteres zurückgehen. Laura ist sowohl nah als auch fern und weder das eine noch das andere. Neben der Unbestimmbarkeit ihrer Position im Raum lässt ihr Verhalten nicht auf einen eindeutigen inneren Zustand schließen. Damit zerfällt sie fortan sichtbar in zwei Hälften, von denen sie die eine preisgibt und die andere verbirgt. Diese paradoxale Doppelstruktur wird auch bei Luis deutlich. So bemüht er sich, seine Stimme zu mäßigen, während er sich - Sachlichkeit vortäuschend - danach erkundigt, ob ‘Es’ Laura auch auffalle. Wie Luis bei der Lektüre des ersten Briefs optiert Laura zunächst für die rationale Erklärung. Paris soll damit gerettet werden. Der entsprechende Dialog wird in direkter Figurenrede wiedergegeben. Die einzelnen Repliken werden jedoch von eigentümlichen Kommentaren begleitet: - Sí. ¿No creés que se habrá equivocado de nombre? [Laura] Tenía que ser. Peón cuatro rey, peón cuatro rey. Perfecto. - A lo mejor quiso poner Víctor - dijo, clavándose lentamente las uñas en la palma de la mano. <?page no="143"?> 139 - Ah, claro. Podría ser - dijo Laura. Caballo rey tres alfil. Empezaron a fingir que dormían. (Cdm, 262) Der Verweis auf die Eröffnung eines Schachspiels verleiht der Beziehung fortan einen ludischen Subtext. Einerseits spielen sich Laura und Luis gegenseitig etwas vor, andererseits spielen sie dabei gegeneinander. Was sich im weiteren Verlauf der Erzählung zwischen den beiden ereignet, ist Mimikry und Agon zugleich. 292 Trägt man aber dem Umstand Rechnung, dass Nico der Schachspieler war, so erscheint der Tote im Drama um Laura und Luis nun als stiller Spielmacher, der im Verborgenen steuernd eingreift. Auch lässt sich darüber streiten, welche Sprechinstanz den Schachzug äußert. Zwar manifestiert sich an dieser Stelle nicht der Geist Nicos. 293 Die Tatsache aber, dass Laura die Konfrontation im Anschluss an das Gespräch weiterhin meidet, entkleidet den schönen Schein, den sie wahrt, als fiktionales Konstrukt, als Spiel. Laura und Luis sind Figuren in einer Schachpartie von Nico und Mamá. Und genau diesen Umstand beginnen sie zu erahnen, ganz wie der Leser, den Borges anlässlich metaleptischer Lektüreerfahrungen mit Unbehagen belegt. 294 Der abschließende Satz der zitierten Passage macht deutlich, dass sich Laura und Luis in ihrem Spiel fortan in einer Situation befinden, wie sie hinsichtlich ihrer Pragmatik typisch für das Theater ist. Was sich sodann zwischen den beiden ereignet, rekapituliert entscheidende, dramen-historische Wendepunkte abendländischer Theaterkunst. Dies wird jedoch in erster Linie hinsichtlich formal-struktureller Gesichtspunkte deutlich. Vergleichbar wird die Situation zwischen Laura und Luis mit dem Drama allein, was deren jeweilige kommunikative Grundmuster anbelangen. Zum besseren Verständnis bietet es sich an, zunächst von einer allgemeinen, basalen Formel dramatischer Kommunikation auszugehen. Mit Eric Bentley lautet diese: „A impersonates B while C looks on.“ 295 Mit A sind die Schauspieler gemeint, mit B die fiktiven Figuren und mit C die Zuschauer. Kommunikation findet sodann auf zwei Ebenen statt: Zum einen zwischen den Figuren und zum anderen zwischen Schauspielern und Publikum. Letzterer Fall ist durch eine asymmetrische Beziehung zwischen Sender und Empfänger gekennzeichnet. 296 Im Leben von Laura und Luis gibt es zwar kein Publikum und keine 292 Roger Caillois: Les jeux et les hommes, Paris: Gallimard 1994. 293 Anders sieht dies Michaela Sopranzi: Julio Cortázar - Un escritor sistémico: München: Meidenbauer 2011, p. 93 sq. 294 Cf. Kap. 2.4. 295 Eric Bentley: The Life of the Drama, London: Methuen 1965, p. 150. 296 Cf. Rainer Warning: "Staged Discourse - Remarks on the Pragmatics of Fiction", Dispositio - Revista Hispánica de Semiótica Literaria 5 (1980), 35-54, 43 sowie Andreas Mahler: "Aesthetic Illusion in Theatre and Drama - An Attempt at Application", in: Werner Wolf, Walter Bernhart, Andreas Mahler edd.: Immersion and Distance. Aesthetic Illusion in Literature and Other Media, Amsterdam: Rodopi 2013, pp. 152-181, p. 153 sq. <?page no="144"?> 140 deutliche Rollenverteilung. Dennoch gibt es auch hier zwei Ebenen der Kommunikation, die sich überlagern und pragmatisch an zwei oder mehrere deiktische Zentren gebunden sind. Dass Luis gedanklich in zwei Welten lebt, ist bereits in mehrfacher Hinsicht (insbesondere auf E 3 und E 4 ) deutlich geworden. Als Pariser ist er gegenüber Laura ein B, während ihn die Briefe schrittweise zu einem A gemacht haben. Laura, die gegenüber Luis immer ein B geblieben ist, indem sie zu gegebenem Zeitpunkt stets das Thema wechselt, soll nun auch ihr A preisgeben. Dies erfolgt jedoch schrittweise. Laura pflegt zunächst weiter den alten Stil. Nach der Lektüre des für sie ersten Briefs muss Luis zunächst feststellen, dass Laura ihre Rolle nach außen perfekt weiter spielt und an dem Pariser Scheinleben festhält, an jenem „simulacro de sonrisas y de cine francés“ (Cdm, 263). Schließlich folgert er, sie sei träge, ganz wie Nico, halte sich zurück und sperre sich gegen das Leben. In dramenhistorischer Perspektivierung steht ihre kommunikative Haltung gegenüber Luis im Zeichen des celare artem. Laura bemüht sich noch immer, nicht aus der Rolle zu fallen und Paris als Welt(-im-Text) so weiterzuleben, als wäre es eine Welt, die es unabhängig von den mütterlichen Briefen geben könnte - „as if it were ‘a’ world-without-the-text.“ 297 Durch das Aufbauen einer ‘vierten Wand’ steht Lauras kommunikative Strategie im Zeichen der bis ins 20. Jahrhundert dominanten Tradition illusionsbildenden Theaters. Diese kommt historisch zum Erliegen, wie die paradoxale, pragmatische Doppelung der dramatischen Situation wiederentdeckt und exponiert wird. Mimetisches, illusionsstiftendes, realistisches Theater wird in der Moderne von performativem, illusionsstörendem, ‘epischem’ Theater abgelöst. Was literarhistorisch als „Krise des Dramas“ 298 beschrieben wurde, charakterisiert nun - strukturäquivalent - den Krisenzustand der Beziehung von Laura und Luis. Auch hier wird zunehmend deutlich, dass auf mehreren Ebenen gleichzeitig kommuniziert wird und der Illusionscharakter der Inszenierung als Teil der Inszenierung erkennbar ist. Bevor sich jedoch die Figuren (auf E 4 ) darüber im Klaren sind, kündigt sich die intrinsische Doppelstruktur dramatischer Kommunikation zuerst auf pragmatischer Ebene (E 3 ) des cuento an. Nach der oben zitierten Szene muss Luis zunächst verwundert feststellen, dass Laura ihre Rolle trotz der Lektüre des Briefs perfekt weiterspielt und am Pariser Schein festhält. Auf Lauras ‘realistisches Theater’ reagiert Luis zunehmend gereizt. Eines Tages ereilt sie jedoch ein immer wiederkehrender Alptraum, von dem sie jedes Mal behauptet, keine Erinnerung zu besitzen: 297 A. Mahler: "Doing' Things With Words - Laurence Sternes Tristram Shandy und die Praxis des narrativen Sprechakts", 157. 298 Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, p. 11. <?page no="145"?> 141 Decía no recordar nada, era algo horrible pero no se podía explicar, y acababa por dormirse llevando su secreto, porque Luis sabía que ella sabía, que acababa de enfrentarse con aquel que entraba en su sueño [...]. (Cdm, 263) Auf E 4 wird deutlich, dass die Behauptung Lauras, sich an nichts erinnern zu können, eine Lüge ist. Die gedoppelte Pragmatik wird in „Luis sabía que ella sabía“ ein erstes Mal ausbuchstabiert. Auf E 3 lässt sich die Passage zudem aus zwei verschiedenen Perspektiven deuten: Eine erste Sichtweise ergibt sich, indem man den ersten Satz nach dem Komma als indirekte Rede liest. Dann wird „[...] era algo horrible pero no se podía explicar [...]“ von Laura geäußert. Liest man denselben Satz jedoch als erlebte Rede, dann stammt er aus dem Mund (oder den Gedanken) von Luis. Im ersten Fall bezieht sich der Schrecken auf den Inhalt des Traums, im zweiten Fall auf die Tatsache, dass Laura lügt. Ist man gewillt zu akzeptieren, dass beide Lesarten möglich sind und instantan verbalisiert werden, so scheint es, als vermische sich in der erlebten Rede, wie sie hier zum Einsatz kommt, nicht mehr nur die Stimme des Erzählers mit den Gedanken einer Figur, sondern mit denen mehrerer Figuren. Dafür spricht zudem die Verwendung des unpersönlichen und pragmatisch unspezifischen „no se podía explicar“ anstelle von „[ella] no podía explicar“. Laura, Luis und der Erzähler sprechen und denken gleichzeitig. Der Vermengung und Vergleichgültigung der Perspektiven sowie der Verdoppelung bzw. Verdreifachung des deiktischen Zentrums entspricht die zunehmende Komplexität, die die wechselseitige Illudierung auf Figurenebene mit sich bringt. Denn obgleich die Figuren in der Vergangenheit und der Gegenwart, in Buenos Aires und Paris kommunizieren müssten, tun sie dies stets nur auf einer Ebene, während die andere verdeckt bleibt. Die Überlagerung zweier Kommunikationssituationen wird auf Figurenebene noch latent gehalten. Keiner der beiden will aus dem Spiel herausfallen, denn dann wäre klar, dass beide nur gespielt haben. Eine Liebesbeziehung verlangt schließlich Authentizität. 299 Die wäre jedoch paradoxerweise erst dann gegeben, wenn das Spiel unterbrochen wird, in welchem Fall enthüllt wäre, dass gelogen wurde. Laura und Luis stehen in aller Deutlichkeit vor einem double bind, denn egal, wie sie sich entscheiden, eine richtige Wahl gibt es nicht. Das Spiel aufzugeben, würde bedeuten, gelogen zu haben. Das Spiel weiterzuspielen, würde bedeuten, weiter zu lügen. Trotz aller Schwierigkeiten suggeriert der Text auf E 3 , dass Kommunikation auf mehreren Ebenen gleichzeitig möglich ist. Sprache, so scheint es, ist durchaus in der Lage, mehrere Welten und Standpunkte auf phantastische Weise nebeneinander gelten zu lassen, selbst wenn sich diese epistemologisch, ontologisch oder sprechpragmatisch ausschließen. Bis sich diese Gewissheit bei den Figuren durchgesetzt hat, bedarf es eines dritten Briefs der Mutter, der über die genauen Anreisedaten von Nico informiert: Freitag der 299 Cf. hierzu Niklas Luhmann: Liebe als Passion, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994. <?page no="146"?> 142 17., morgens. „Se ha vuelto loca“ (Cdm, 264), so die erste Reaktion von Laura. Kurz darauf wird jedoch der volle Umfang dessen bewusst, was sich bereits ankündigte: Luís encendió un cigarrillo. El humo le hizo llorar los ojos. Comprendió que la partida continuaba, que a él le tocaba mover. Pero esa partida la estaban jugando tres jugadores, quizá cuatro. Ahora tenía la seguridad de que también mamá estaba al borde del tablero. Poco a poco resbaló en el sillón, y dejó que su cara se pusiera la inútil máscara de las manos juntas. Oía llorar a Laura, abajo corrían a gritos los chicos de la portera. (Cdm, 264) Auf E 4 fallen die Masken, wenngleich Luis noch ein letztes Mal versucht, nicht das Gesicht zu verlieren. Der Erzähler solidarisiert sich dabei immerhin mit Luis, indem er den Rauch für die weinenden Augen verantwortlich macht und das Gesicht syntaktisch zum Subjekt kürt, das seinerseits die Hände anstrengt, die Maske nach außen zu retten. Zugleich schützt sich Luis dabei vor dem Anblick von Lauras weinendem Gesicht. Dies nicht sehen zu müssen, war schon beim ersten Brief das Motiv für dessen Vernichtung. Um ihn sei es nur insofern gegangen, als er Laura nicht weinen sehen wollte. 300 Ihre Gesichtsmaske war für Luis stets Indikator für ein geregeltes, verlässliches Leben. Ihr Zerfall hätte das Herausfallen aus der vereinbarten Ordnung bedeutet. Andererseits jedoch war der Frust über Lauras Maskenspiel immer größer geworden. Damit scheint es, als wünsche sich Luis, dass Laura spielt und nicht spielt, oder als wollte er vorsichtig hinter die Maske blicken, ohne das Spiel dabei zu zerstören. Kommunikationstheoretisch reformuliert strebt Luis damit eine Konstellation an, wie sie typisch für das Theater der Avantgarde ist: „Today’s theatre tempts into illusions and insists on showing them at the same time.“ 301 Kurzum: Luis wünscht sich die Illusionen und die Mechanismen ihrer Vermittlung zugleich. Seine Strategie, Lauras Geheimnis zu lüften, bestand schließlich darin, ihr die falsche, rationale Erklärung als Wahrheit zu verkaufen und ihr dabei eine Falle zu stellen - ganz wie Tom dies bei Jerry im Cartoon versucht. Doch wie Jerry war Laura schlauer und trug die Maske weiter, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Und auch auf Luis regnet es unermessliche Konsequenzen herab. Denn nun muss er feststellen, dass er integraler Bestandteil des Illusionsspiels war und 300 Beim Erhalt des ersten Briefs heißt es: „Al bajar del autobús en la rue de Rennes se preguntó bruscamente (no era una pregunta, pero como decirlo de otro modo) por qué no quería mostrarle a Laura la carta de mamá. No por ella, por lo que ella pudiera sentir. No le importaba gran cosa lo que ella pudiera sentir, mientras lo disimulara. (¿No le importaba gran cosa lo que ella pudiera sentir, mientras lo disimulara? ) No, no le importaba gran cosa. (¿No le importaba? ). Pero la primera verdad, suponiendo que hubiera otra detrás, la verdad más inmediata por decirlo así, era que le importaba la cara que pondría Laura, la actitud de Laura. Y le importaba por él naturalmente, por el efecto que le haría la forma en que a Laura iba a importarle la carta de mamá“ (Cdm, 253). 301 A. Mahler: "Aesthetic Illusion in Theatre and Drama - An Attempt at Application", p. 175. <?page no="147"?> 143 auch seine Maske gegenüber Laura wird fallen lassen müssen. Dabei wird ihm deutlich, dass an dem, was er für ein Duell gehalten hatte, mehrere Parteien beteiligt sind. Der Erzähler muss nun feststellen, dass sich nicht nur Luis und Laura am Spieltisch befinden, sondern zusätzlich die Mutter und womöglich eine vierte Person - Nico? Ein objektiver Beobachterstandpunkt C erscheint damit als unmöglich, die Perspektiven vermengen sich. Folglich ist Fingieren auch keine Option. Was bleibt, ist lediglich die Möglichkeit, sich selbst dabei zuzusehen, eine Illusion zu haben, doch genau das ist unmöglich. Laura und Luis belügen sich fortan offen: ¿Para que fingir (no era una pregunta, pero como decirlo de otro modo) que mamá estaba loca? Lo único que se podía hacer era no hacer nada, dejar que pasaran los días, salvo el viernes. Cuando se despidió como siempre de Laura diciéndole que no vendría a almorzar porque tenía que ocuparse de unos afiches urgentes, estaba tan seguro del resto que hubiera podido agregar: „Si querés vamos juntos.“ (Cdm, 266) Anders als angekündigt geht Luis nicht zur Arbeit, sondern zum Bahnhof. Er verschanzt sich zu gegebenem Zeitpunkt hinter einem Gepäckwagen und beobachtet aus sicherer Distanz, wie Laura den Bahnsteig betritt und sich unter den ankommenden Fahrgästen nach Nico umsieht. Plötzlich werden in der Menschenmenge zwei Männer erkennbar, die aussehen wie Argentinier. Einer der beiden hat sogar Ähnlichkeiten mit Nico, sofern man nach Ähnlichkeiten sucht - „puesto a buscar semejanzas“ - wie dreimal betont wird (Cdm, 267f). Der Illusionscharakter des Geschehens ist der Blickinstanz stets bewusst und wird als mögliches Rezeptionsverhalten präsentiert. Ob Ähnlichkeiten bestehen, wird zur Entscheidung. Luis sieht den Argentinier als B und als A. Auch Laura scheint den Mann zu bemerken, folgt ihm ein Stück weit und macht kurz darauf kehrt. In ihrem Gesicht glaubt Luis nun denselben Ausdruck zu erkennen, den sie kurz nach ihren wiederkehrenden Alpträumen hat und vor dem er sich bislang geschont hatte. Als Zuschauer kann Luis dem Schrecken immerhin ins Gesicht blicken, erhält aber noch keinen Blick zurück. Laura verlässt den Bahnhof, Luis arbeitet den ganzen Nachmittag. Am Abend schweigen sich beide über die Erlebnisse des Tages aus. Laura versucht es mit einer letzten Lüge und gibt ungefragt vor, den ganzen Tag über zu Hause gewesen zu sein. Anstatt wie geplant der Mutter zurückzuschreiben, ergreift Luis nach längerem Schweigen schließlich spontan das Wort: - ¿A vos no te parece que está mucho más flaco? - dijo. Laura hizo un gesto. Un brillo paralelo le bajaba por las mejillas. - Un poco - dijo - . Uno va cambiando... (Cdm, 269) <?page no="148"?> 144 An dieser Stelle endet der Text. Luis adressiert Laura zuletzt auf zwei Ebenen gleichzeitig. Über Nico wird gesprochen, als sei er noch am Leben. Im gleichen Atemzug wird durch das offene Sprechen über den Bruder deutlich, dass dieser nicht da ist. Die sprachliche Repräsentation markiert seine An- und Abwesenheit. Nico ist und ist nicht in Paris. Ähnlich doppeldeutig wird die Reaktion Lauras beschrieben. Un gesto meint zum einen die Veränderung in ihrem Gesicht. Die Maske fällt. Gleichwohl ist dies weder eindeutig positiv noch negativ konnotiert, sondern durchaus neutral. Dass Laura weint, ist ebenso wenig eindeutig. Un brillo paralelo mag zwar zwei Tränen beschreiben, die ihr die Wangen herunterlaufen, insofern man das Substantiv mit ‘Glanz’ übersetzt. Brillo bedeutet jedoch auch gloria, Freude, Ruhm, Genuss, Herrlichkeit. 302 Lauras Reaktion ist Trauer und Triumph. Das Wörterbuch der Real Academia Española führt unter gloria noch eine weitere Bedeutung auf, die in diesem Zusammenhang - beabsichtigt oder unbeabsichtigt - passen mag: „En el teatro, cada de las veces que se alza el telón para que los actores y autores reciban el aplauso del público.“ 303 Denkt man sich den Applaus als spezifische kommunikative Situation, so spiegelt sich in ihr erneut die effektvolle Überlagerung von innerem und äußerem Kommunikationssystem des Dramas. Gerade dann nämlich, wenn das Stück vorbei ist, wird deutlich, dass es nur gespielt war, die Welt und die Menschen der Bühne nur fiktiv waren und gegenüber einer realen Welt unterscheidbar sind. Die Welt aber, ihre Akteure und die Geschichte, die erzählt wurde, sind in Bühnenbild und Kostümen noch sichtbar vorhanden. Der Applaus gilt aus dramatischer Perspektive zum einen den As für deren Performance, aus lebensweltlicher Perspektive jedoch auch häufig den Bs für deren Taten und Worte. Als kommunikatives Ereignis ist der Applaus (phantastische) Antwort auf zwei Ebenen. 4.3 Photographie: "Las babas del diablo" Vorlage für Michelangelo Antonios Blow Up war bekanntlich Julio Cortázars cuento "Las babas del diablo" (1959). Dem Erzähler und Protagonisten der literarischen Vorlage ergeht es ähnlich wie Thomas, von den im Vorwort die Rede war. Auch in "Las babas del diablo" zeigt ein Photo eine andere Geschichte als die, die bei der Belichtung des Films vermutet wurde, und auch hier scheint sich der Erzähler durchweg mit ihrer Vermittlung schwer zu tun. Dabei kommt es zur ständigen Überblendung von discours- und histoire- Ebene, verbunden mit dem steten unvermittelten Wechsel von der Intrazur Extradiegese. Was anfangs den Zugang zur Geschichte durchaus erschwert, hat jedoch einen Grund: Wie sich nach getaner Lektüre herausstellt, sind die 302 "Brillo", in: Diccionario de la lengua española, <http: / / lema.rae.es/ drae/ ? val=brillo> [Stand: 30.06.2015]. 303 "Gloria", in: Ibid., <http: / / lema.rae.es/ drae/ ? val=gloria> [Stand: 30.06.2015]. <?page no="149"?> 145 apparativen Bedingungen, unter denen der Erzähler Sprache formt, durchaus komplex. Denn er ist, wie es scheint, auf seltsame Art und Weise mit jenem Photo verbunden, über dessen Zustandekommen er zu berichten versucht. Zwischen Schreibstube und Bildraum ist ein metaleptischer Zustand eingetreten, was am Ende zur Gewissheit führt, dass es einen Unterschied zwischen Schrift und Bild von Beginn der Lektüre an nicht gab. Wie es zu diesen äußerst prekären materiellen und apparativen Bedingungen gekommen ist, bildet den intradiegetischen Kern der Erzählung: In einem Park photographiert Roberto Michel einen Jungen und eine Frau. Anfangs hält er die beiden für ein Liebespaar. Langsam setzt sich aber die Überzeugung durch, die Frau wolle den Jungen verführen. Als Roberto die beiden photographiert, bemerkt dies die Frau, geht auf ihn zu und verlangt die Herausgabe des Films. Ein älterer Mann, den der Erzähler mit teuflischen Zügen ausstattet, steht der Frau bei. Während sich Roberto beschimpfen lassen muss, kann der Junge entwischen. Überzeugt davon, einem Menschen durch sein Eingreifen zur Flucht verholfen, ihn - wie Thomas den Unbekannten im Park - gerettet zu haben, lässt Roberto die abgelichteten Personen einfach stehen und geht fort. Erst ein paar Tage später entwickelt er den Film und hängt sich eine Vergrößerung des Photos vor seinen Schreibtisch an die Wand. Während er wenig später an einer Übersetzung arbeitet, ereignet sich plötzlich etwas Phantastisches: Auf einmal scheint es, als würde das Bild an der Wand anfangen, sich zu bewegen. Die Figuren werden lebendig, die Äste der Bäume im Park fangen an, im Wind zu zittern. Wie eine Leinwand, die einen Kinofilm zeigt, beginnt das Photo, eine andere, ‘schrecklichere’ Version der Verführungsgeschichte zu zeigen: In wenigen Metern Entfernung wartet in einem Auto der teuflische Mann, dem der Junge hätte zugeführt werden sollen. Die Frau - so folgert Roberto - wollte ihn gar nicht selbst verführen, sondern nur die Vorarbeit im Auftrag des Mannes leisten. Der anfängliche Triumph Robertos weicht gegenüber totaler Verzweiflung. Dennoch gelingt es ihm erneut, in das, was er sieht, einzugreifen - diesmal jedoch nicht mit der Kamera, sondern mit seiner Stimme. Verzweifelt fängt Roberto an, sich schreiend dem Bild zu nähern. Davon nehmen die abgebildeten Figuren Notiz, was dazu führt, dass der Junge ein weiteres Mal entkommen kann. Der wiederholte Sieg währt jedoch nur kurz. Der alte Mann geht nun seinerseits auf den Betrachter zu, streckt die Hände nach ihm aus und überschreitet die Grenze des Bildraums: [...] de frente estaba el hombre, entreabierta la boca donde veía temblar una lengua negra, y levantaba lentamente las manos, acercándolas al primer plano, un instante aún en perfecto foco, y después todo él un bulto que <?page no="150"?> 146 borraba la isla, el árbol, y yo cerré los ojos y no quise mirar más, y me tapé la cara y rompí a llorar como un idiota. 304 (Bdd, 308) Es ist nun Roberto, der von einer Kamera erfasst und ins Bild gebannt wird. Das Übertreten des Bildraums wird zwar nicht deutlich als solches ausgesprochen. Die Tatsache aber, dass der Mann auf die Höhe der Bildfläche vordringt, die Naheinstellgrenze unterschreitet, ohne unscharf zu werden, kann optisch nur bedeuten, dass Bildraum und Raum des Betrachters dieselben sind. 305 Als Roberto die Augen öffnet, sieht er nur mehr eine weißes Rechteck, das mit Nadeln befestigt an der Wand hängt und einen klaren, weißen Himmel zeigt, in dem hin und wieder eine Wolke, eine Taube oder ein Spatz vorbeifliegt. Dabei scheint es, als sei der Protagonist in ein Bild gefallen, aus dem er nun hinausblickt 306 , „largo rato se ve llover sobre la imagen, como un llanto al revés“ (Bdd, 308). Nimmt man diesen Umstand ernst, so würde der Blick von der anderen Seite des Bildes den Protagonisten beim schriftlichen Verfassen einer Geschichte zeigen, die ihrerseits von der Anfertigung eines Photos handelt, in welches der Protagonist stürzt, um darin beim Abfassen einer Geschichte sichtbar zu werden, die von der Anfertigung eines Photos handelt, in welches der Protagonist stürzt usw. Ähnlich wie die sehr kurze Erzählung Continuidad de los parques (1964) besitzt "Las babas del diablo" die Struktur eines Möbiusbands. Die Zirkularität der Geschichte ist auch hier mit einer Metalepse verbunden, die weniger zwei ontologische Sphären voneinander trennt, als vielmehr - kaum merklich - den Wechsel des Materials vollzieht, in dem sich der Erzähler ausdrückt. Noch deutlicher als bei "El perseguidor" lässt sich in diesem Fall von einem „gleitenden Paradox“ 307 sprechen, das mit zwei alternativen (konzeptionell durchgeführten) Materialangeboten verbunden ist. Geht man bei der ersten Lektüre also davon aus, dass sich der Erzähler schriftlich äußert, so stellt sich am Ende heraus, dass er von Anfang an in einem Photo spricht. Dort erscheint ihm die Schrift als neues, fremdes Material, dessen Normalgebrauch er erst im Laufe der Zeit lernt. Dies erklärt unter Umständen den 304 Zitiert wird nach J. Cortázar: Obras completas, Bd. I (Cuentos), pp. 295-308; im Folgenden abgekürzt durch Bdd. 305 Ferner lässt sich der offene Mund des Mannes und die darin schnalzende schwarze Zunge durchaus als Kameralinse deuten, in der ein mechanischer Verschluss auf und nieder klappt. 306 Die These, dass der Erzähler Teil eines Photos wird und in oder mit diesem spricht, ist in Kritik und Forschung durchaus konsensfähig. Cf. Ilan Stavans: Julio Cortázar - A Study of the Short Fiction, New York: Twayne 1996, p. 41. Der Verfasser legt diesen Sachverhalt jedoch psychisch aus und attestiert dem Protagonisten Schizophrenie. Von derselben Prämisse ausgehend und zu anderen Ergebnissen führend cf. David Grossvogel: "Blow-Up - The Forms of an Esthetic Itinerary", in: Jaime Alazraki ed.: Critical Essays on Julio Cortázar, New York: G. K. Hall 1999, pp. 144-154, p. 152. Der Verf. legt die Besonderheiten der Sprechsituation vorwiegend philosophisch aus. 307 Cf. erneut G. Neumann: "Umkehrung und Ablenkung - Franz Kafkas ‘Gleitendes Paradox’". <?page no="151"?> 147 seltsamen Charakter seiner Sprechweise, der in der Forschung häufig genug als Schizophrenie ausgelegt wurde. Hat der Erzähler den Weg in die Schrift jedoch gefunden, so bringt ihn die Geschichte, die er erzählt, unweigerlich an den Punkt, an dem die Schreibstube erneut gegen den Bildraum getauscht wird und er erneut zum konzeptionell photographisch sprechenden Erzähler wird. Im Ergebnis macht diese gleitende Bewegung Roberto zu einer seltsam medienhybriden oder gar medienphantastischen Sprechinstanz, die sich zunächst in einem Photo mit der Schreibmaschine ausdrückt, sodann in der Schrift mit der Kamera. Dem Text darf daher - zumindest konzeptionell und partiell - eine andere materielle Beschaffenheit zugrunde gelegt werden als eine genuin schriftliche. Entsprechend geht die These, die im Folgenden versucht werden soll, davon aus, dass die Vermittlungsebene (E 3 ), gestützt von der histoire, von einem spezifischen kommunikativen Muster geprägt ist, das neben der offensichtlichen Tatsache materieller Schriftlichkeit, operativ und partiell dem der Photographie ähnelt. 308 Methodisch ließe sich in diesem Fall erneut mit Irina Rajewsky von einer intermedialen Bezugnahme sprechen. Im Kern geht es dabei um die Narrativierung der Musik, die Musikalisierung der Malerei oder, wie im vorliegenden Fall, um eine photographische Schreibweise. 309 Diese soll - so die These weiter - in "Las babas del diablo" anfänglich nicht erschrieben, sondern zerschrieben und verdeckt werden. Der Erzähler versucht zunächst nicht ein Bild im Sinne einer Abbildung ekphrastisch zu ‘schreiben’, sondern vielmehr der seltsamen Gefangenheit in einem Photo schreibend zu entkommen. Vereinfacht gesagt: ein Photo tut so, als sei es kein Photo, sondern Schrift. Da all dies natürlich 308 Siehe hierzu die vielzitierte Passage in Cortázar: Adc, 374f: „[L]a novela y el cuento se dejan comparar analógicamente con el cine y la fotografía en la medida en que una película es en principio un ‘orden abierto’, novelesco, mientras que una fotografía lograda presupone una ceñida limitación previa, impuesta en parte por el reducido campo que abarca la cámara y por la forma en que el fotógrafo utiliza estéticamente esa limitación. [E]l fotógrafo o el cuentista se ven precisados a escoger y limitar una imagen o un acaecimiento que sean significativos, que no solamente valgan por sí mismos, sino que sean capaces de actuar en el espectador o en el lector como una especie de apertura, de fermento que proyecta la inteligencia y la sensibilidad hacia algo que va mucha más allá de la anécdota visual o literaria contenidas en la foto o en el cuento. [L]a novela gana siempre por puntos, mientras que el cuento debe ganar por nocaut.“ [Herv. Verf.]. 309 Methodische Analysen suchen sodann nach Möglichkeiten und Funktionen intermedialer Verfahren der Bedeutungskonstitution sowie nach möglichen Kombinationen kontaktgebender und kontaktnehmender Medien. Die Kernfrage, die sich dabei stellt, lautet: Wie kann ein Text eine Photographie mit den eigenen Mitteln überhaupt nachempfinden, ohne dabei Bilder zu zeigen? Wie kann ein Text wie ein Photo ‘sprechen’, ohne dabei aufzuhören Text zu sein? Cf. hierzu erneut I. Rajewsky: Intermedialität, p. 17. Außerdem beispielhaft Bernhart Walter: "Narrative Framing in Schumann’s Piano Pieces", in: Werner Wolf, Walter Bernhart edd.: Framing Borders in Literatur and Other Media, Amsterdam, New York: Rodopi 2006, pp. 449-476. <?page no="152"?> 148 schriftlich (E 2 ) präsentiert wird, lässt sich das Muster ‘photographischer Kommunikation’ nur mehr auf E 3 identifizieren. Dort wird es zunächst erkennbar im stets scheiternden Versuch des Erzählers, die Schrift zum Normalgebrauch sinnvermittelnder Rede zu verwenden. Als dies dennoch gelingt, beginnt Roberto eine Geschichte zu erzählen, die unweigerlich an den Punkt zurückführt, an dem Schrift und Photographie, Schreibstube und Bildraum erneut ineinander übergehen. Der Prozess könnte sich von da an unendliche Male wiederholen. Serielles Scheitern wird auf diese Weise überführt in ein endgültiges. Der einmalige Materialwechsel weitet sich zur Oszillationsbewegung zwischen zwei niemals vollständig reduziblen materiellen Konstitutionsbedingungen. Die Tatsache, dass die Schwierigkeiten zu erzählen anfänglich materialbedingt sind, wird erst in vollem Umfang deutlich, wenn man sich auf ein operatives Grundmuster ‘photographischer Kommunikation’ verständigt. Ein solches hat Roland Barthes anhand eines Vergleichs mit dem japanischen Haiku erarbeitet. 310 Das phänomenologische Wesen (Noema) der Photographie - so Barthes - sei das ‘cela a été’ 311 , sprich: die Gewissheit, dass das, was gezeigt wird, tatsächlich so gewesen ist. Damit gehe stets eine Überraschung des Bewusstseins einher: „la surprise (la pensivité) de ‘C’est sûr, ça a été’. 312 Auf die komme es dem Haiku gleichermaßen an. „[L]e haïku donne l’impression (non la certitude [...]) que ce qu’il énonce a eu lieu, absolument [...].“ 313 Aus diesem Grund seien all seine Realitätseffekte die der Photographie: „individuation du moment [...], Présent très fort qui garantit le ‘Ça a eu lieu’, effectivement [...], le Semelfactif 314 [...], signe (puisque reconnu) et cependant ‘étonnant’ [...], l’absence de sens, d’interprétabilité [...]. 315 Die Evokation des Noemas der Photographie erreiche das Haiku dank seiner sprachlichen Verfasstheit auf direkterem Wege. Denn es sei in beiden Fällen zwar alles sofort gegeben - „tout est donné tout de suite“ 316 . Da ein Photo jedoch mit unvermeidlichen Details gesättigt sei, sei es - anders als das Haiku - stets genötigt, alles zu ‘sagen’. 317 Damit verhindert die technisch 310 Der photographietheoretische Rekurs auf Roland Barthes erfolgt allein aus heuristischen Gründen, zumal dessen Überlegungen auf semiotischer Grundlage gefertigt sind und folglich zu den hier angestellten Untersuchungen die meisten methodischen Berührungspunkte erwarten lassen. 311 R. Barthes: La préparation du roman - Notes de cours et de séminaire au Collège de France 1978-1979 et 1979-1980, p. 114. Barthes spricht vom ‘Noema’ im phänomenologischen Sinn in Anlehnung an Edmund Husserl. 312 Ibid., p. 115. 313 Ibid., p. 116. 314 Ibid. Anm. 3: „Semelfactif : ‘ce qui a lieu une fois’. De semel, adverbe, ‘une fois, la première fois, d’abord’. 315 Ibid., p. 116 sq. 316 Ibid., p. 115. 317 Beide Zitate ibid., p. 117. Cf. in diesem Zusammenhang ebenso Roland Barthes: "Le message photographique", Communications 1 (1961), 127-138. <?page no="153"?> 149 raffinierte photographische Präzision kommunikative Anschlüsse und macht sie zugleich arbiträr. Während das Haiku das Noema des ‘cela a été’ mit einem konventionellen Zeichensystem erfolgreich evoziert, ist die gesättigte Ikonizität des photographischen Materials bei demselben Unterfangen also im Weg. Da das photographische Zeichen Mitteilung und Information in einem ist, kann kommunikatives Verstehen entweder schweigend (oder staunend) abschließen oder völlig kontingent - irgendwo im Bild - anschließen und immer andere Geschichten beginnen. 318 In dem Maße, wie Photographie die unbegrenzte Wirklichkeit präziser - und damit ‘unbegrenzter’ - als andere Zeichensysteme wiedergibt, erschwert sie die Möglichkeit von begrenzten Modellbildungen. Vielleicht bemerkt Barthes aus diesem Grund, dass sie sich kaum für Fiktionen eigne. 319 Auch der Erzähler von "Las babas del diablo" scheint anfänglich nicht zu wissen, wie er die Geschichte im gegebenen Material erzählen soll. Denn beim Versuch, ein Stück Wirklichkeit wiederzugeben, besteht er ganz nach photographischer Manier zunächst darauf, alles gleichzeitig zu sagen. Da er jedoch nach eigenen Angaben mit einer Schreibmaschine erzählt, dies jedoch - scheinbar unbewusst - in einem Bild, erweisen sich die Schriftzeichen, die der Apparat hervorbringt, für das Vorhaben denkbar ungeeignet: Nunca se sabrá como hay que contar esto, si en primera persona o en segunda, usando la tercera del plural o inventando continuamente formas que no servirán de nada. Si se pudiera decir: yo vieron subir la luna, o: nos me duele el fondo de los ojos, y sobre todo así: tú la mujer rubia eran las nubes que siguen corriendo delante de mis tus sus nuestros vuestros sus rostros. Qué diablos. (Bdd, 295) Bevor der Erzähler also anfängt, von den eigentlichen Ereignissen zu berichten, verweist er darauf, dass sich das, was hier erzählt werden soll, dem Zugriff durch Sprache widersetzt. Zum einen, weil diese stets singuläre Perspektiven aufzwingt, zum anderen, weil sie diese stets personalisiert. Es scheint, als suche der Erzähler nach einer einzigen, unpersönlichen, alles - räumlich wie zeitlich - zusammenfassenden Perspektive. Konventionalität des Zeichenmaterials und Linearität der Schrift machen es unmöglich, die Ikonizität und Instantaneität des Bildes zu umzusetzen. Der rätselhaften Exposition folgen weitere Gedanken zur Erzählsituation. Zwar sei Erzählen innere Notwendigkeit und letztlich etwas Alltägliches. Im vorliegenden Fall sei es jedoch schwierig: 318 Dies wird dem Londoner Photograph Thomas in Blow-Up zum Problem. Sein Nachbar hingegen - Maler abstrakter Bilder - macht dies zum künstlerischen Verfahren und erklärt über seine Werke: „They don’t mean anything when I do them. Just a mess. Afterwards, I find something to hang on to, like that... quite like that leg. Then it sorts itself out and adds up. It’s like finding a clue in a detective story“ (00: 16: 06). 319 R. Barthes: La préparation du roman - Notes de cours et de séminaire au Collège de France 1978-1979 et 1979-1980, p. 115. <?page no="154"?> 150 Va a ser difícil porque nadie sabe bien quién es el que verdaderamente está contando, si soy yo o eso que ha ocurrido, o lo que estoy viendo (nubes, y a veces una paloma) [...]. (Bdd, 296) Aus diesem kryptischen Hinweis lässt sich zumindest entnehmen, dass die sprechpragmatischen und materiellen Bedingungen, unter denen der Erzähler Sprache formt, eine Struktur aufweisen, die sich aus yo, lo occurido und lo que estoy viendo zusammensetzt. Erstes entspricht einem erzählenden Ich, zweites der histoire und drittes soll hier versuchsweise den Zeichen zugeordnet werden. Die einzelnen Glieder sind durch das oder nicht-hierarchisch und nicht-temporal miteinander verbunden. Mit anderen Worten: Erzählendes Ich, histoire und die Zeichen bilden eine ternäre Einheit, die aus Sicht der Sprechinstanz nicht unterschieden ist. Ähnlich wie Roland Barthes den semiotischen Charakter des Photos begreift der Erzähler sich, seine Geschichte und seinen Text als „signe [...] et cependant ‘étonnant’“. 320 Das Problem dabei ist jedoch, dass Sprechinstanz und Zeichen unter diesen Bedingungen nur konzeptionell, nicht jedoch materiell unterscheidbar sind. Solange der Erzähler in einem Photo ‘spricht’, herrscht Unsicherheit über ein zweifelsfrei lokalisierbares deiktisches Zentrum: Zunächst behauptet der Erzähler, er schreibe mit Schreibmaschine, einer Remington, die die Geschichte ohne ihn besser erzählen könne, zumal es darin um eine andere Maschine gehe, eine Contax 1.1.2. Ohne ihn würde sich die Schreibmaschine allerdings nicht bewegen, also müsse er schreiben, wobei es dabei auf ihn im Speziellen nicht ankomme. Und wenn er derjenige sei, der die Remington zum Laufen bringe, so sei das besser, da er tot sei und an einem Ort, an dem er nichts weiter sehe als Wolken. Lebendig sei er im Übrigen auch, man dürfe sich schließlich nichts vormachen und werde das später verstehen. Die Ambivalenz hinsichtlich Vorhandensein und Nicht- Vorhandensein des Sprechers sowie die nachgeschobene Erkenntnis, „[u]no de todos nosotros tiene que escribir“ (Bdd, 295), verweisen allzu deutlich auf den Umstand, dass das deiktische Zentrum im gegebenen Fall einer grundsätzlich arbiträren Entscheidung geschuldet ist und im photographisch verstandenen Zeichensystem des cuento solange keinen festen Ort haben kann, wie Zeichen und Gesagtes gleichrangig sind. Mit anderen Worten: alles, was der Photo-Text zeigt, ist Sprechinstanz - jede abgebildete Person, jedes Blatt, jeder Baum, jede Schreibmaschine und jedes Zeichen, das diese produziert. Nichts der gezeigten Gegenstände ist den anderen vorgängig oder nachrangig - und da alles zugleich da ist, es keine ‘Null’ gibt, werden Zählen und Erzählen unmöglich. Der Versuch, dies trotz der angenommenen materiellen Bedingungen zu tun, käme der Bemühung gleich, die differenzlose Einheit aus yo, lo occurido und lo que estoy viendo zu hierarchisieren, sprich: deren einzelne Komponenten mit Hilfe eines wie auch immer gearteten Eingriffs voneinander zu tren- 320 Ibid., p. 116 sq. <?page no="155"?> 151 nen und sinnvoll - beispielsweise temporal - aufeinander zu beziehen. Erst auf diese Weise ließe sich ein erzählendes Ich den erzählten Dingen und den Zeichen gegenüber als vorgängig und nicht mehr gleichrangig begreifen. Ein deiktischer Nullpunkt wäre gegenüber dem Gesagten sodann numerisch (als Null) lokalisierbar. Was der Erzähler sucht, ist ein ordnender Eingriff, der das Material strukturiert und formbar macht. Mit einem solchen Eingriff wären jedoch nicht nur Sprecher und besprochener Gegenstand gefunden, sondern nichts anderes als ein Weg in die Sprache selbst, die das Photo aufgrund seiner Gleichzeitigkeit nicht ist. Das Entkommen aus dem Photo wäre in diesem Kontext also gleichbedeutend mit einem Ankommen in der Sprache. Wie man sich einen solchen Transfer vorstellen kann, mag ein Rekurs auf das Sprachkonzept von Ferdinand de Saussure verdeutlichen. Demgemäß besitzt Sprache in erster Linie die Fähigkeit, Nicht-Unterschiedenes zu unterscheiden. Sie ist in diesem Sinn weder Laut noch Zeichenmaterial, sondern eine „Form“ 321 , die dem einen wie dem anderen gleichursprünglich Konturen verleiht: Prise en elle-même la pensée est comme une nébuleuse où rien n’est nécessairement délimité. [...] La substance phonique n’est pas plus fixe ni plus rigide; c’est ne pas un moule dont la pensée doive nécessairement épouser les formes, mais une matière plastique qui se divise à son tour en parties distinctes pour fournir les signifiants dont la pensée a besoin. 322 Ohne die Sprache sind Denken und Laute amorphe Massen. Erst indem die Sprache als ein Drittes dazwischen tritt, entstehen Formen, die sich für Gedanken und Kommunikation eignen. Dies erfolgt hier wie dort instantan und simultan. Weder gibt es Laute, denen Gedanken zugeteilt werden, noch gibt es Gedanken, die mit bereits existierenden Lauten verknüpft werden: La pensée, chaotique de sa nature, est forcée de se préciser en se décomposant. Il n’y a donc ni matérialisation des pensées, ni spiritualisation des sons, mais il s’agit de ce fait en quelque sorte mystérieux, que la ‘pensée-son’ implique des divisions et que la langue élabore ses unités en se constituant entre deux masses amorphes. 323 Zum einen erfolgt die Doppelstrukturierung der amorphen Massen gleichursprünglich und zum anderen ist sie „radikal invers, insofern zwischen den Substanzen eine Asymptote liegt, die die gleichzeitige Teilhabe an beiden Bereichen logisch ausschließt.“ 324 Das heißt, dass Bedeutungen und Laute, um Sprache zu sein, nicht unabhängig voneinander wahrnehmbar sind. 321 A. Mahler: "Imaginäre Karten - Performative Topographie bei Borges und Reda", p. 222 sowie F. de Saussure: Cours de linguistique générale, p. 157. 322 Ibid., p. 155. 323 Ibid., p. 156. 324 A. Mahler: "Imaginäre Karten - Performative Topographie bei Borges und Reda", p. 222. <?page no="156"?> 152 Ohne Laute keine Bedeutungen und ohne Bedeutungen keine Laute. Für sich genommen, wären die strukturlosen Bereiche entweder gedankliche Nebelwolke oder lautlich-amorphe Masse, undifferenziertes Fluidum oder tonloses Rauschen, sich einer exklusiven Teilhabe hier wie dort streng widersetzend. Ein Sprecher kann bestenfalls so tun, als würde er Sprachlaute oder Schriftzeichen unabhängig von Bedeutungen wahrnehmen. Umgekehrt gilt, dass das Verstehen von Bedeutungen auf der Dominantsetzung von Sinn und der Latentsetzung von Material beruht. Ein Sprecher kann in diesem Fall nur so tun, als würde er Bedeutungen unabhängig von Lauten oder Schriftzeichen aktualisieren. Die paradoxale Doppelstrukturiertheit von Sprache wird in der Regel durch die Vorstellung einer Vorderseite und einer Rückseite bei sinnhafter Dominantsetzung letzterer verdeckt. Im Alltagsgebrauch schließt kommunikatives Verstehen an der Information 325 an, bisweilen als sinnzersetzendes Spiel an der Mitteilung. Die ‘ästhetische’ Teilhabe an beiden Bereichen wird jedoch nur mehr erahnbar - und darauf kommt es im Folgenden an - im „sprachschöpfenden, beziehungsherstellenden Akt“. 326 Nicht durch die Entfaltung von Sinn, nicht durch den materialfixierten, „auf die Oberfläche ungeniert starrende[n] Blick“ 327 , sondern im flüchtigen unendlich kleinen Moment jenes Eingriffs, der immer im Verschwinden begriffen, nur im Resultat, nicht aber durch sich selbst ist. Einem solchen Eingriff ähnelt auf verblüffende Weise das erzählerische Tun Roberto Michels. Wurde die Dominantsetzung von Sinn und Material in seinem Fall gleichermaßen durch die ternäre, nicht-hierarchische, deiktisch ortlose und konzeptionell photographische Sprechsituation anfänglich untergraben, so macht sich der Erzähler nun immerhin darüber Gedanken, wie ein sprachschöpfender Akt in der gegebenen Situation aussehen könnte: Vamos a contarlo despacio, ya se irá viendo qué ocurre a medida que lo escribo. Si me sustituyen, si ya no sé qué decir, si se acaban las nubes y empieza alguna otra cosa (porque no puede ser que esto sea estar viendo continuamente nubes que pasan, y a veces una paloma), si algo de todo eso... Y después del “si”, ¿qué voy a poner, cómo voy a clausurar correctamente la oración? Pero si empiezo a hacer preguntas no contaré nada; mejor contar, quizá contar sea como una respuesta, por lo menos para alguno que lo lea. (Bdd, 296) 325 In medientheoretischer Blickrichtung bedeutet dies: „[...] wir tauschen im Gespräch nicht Laute aus, sondern Meinungen und Überzeugungen [...].“ Sybille Krämer: "Das Medium als Spur und als Apparat", in: Sybille Krämer ed.: Medien, Computer, Realität - Wirklichkeitsvorstellungen und neue Medien, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, pp. 73- 94, p. 74. 326 A. Mahler: "Imaginäre Karten - Performative Topographie bei Borges und Reda", p. 221 sq. 327 S. Krämer: "Das Medium als Spur und als Apparat", p. 74. <?page no="157"?> 153 Mit dem ersten Satz der zitierten Passage wird dem Schreibakt eine handlungskonstitutive und situationsverändernde Funktion zugesprochen. In dem Moment, wo etwas geschrieben wird, wo ein Zeichen auf dem Papier steht, muss sich etwas ändern. Dennoch lässt sich über die anschließende Frage, was denn wäre, wenn das erzählende Ich, der Stoff der Geschichte oder die Zeichen verschwänden, nur spekulieren. Die syntaktische Ellipse verdeutlicht, dass sich die Konsequenzen des sprachschöpfenden Akts weder vorhersagen lassen noch reversibel sind. Dass Erzählen im gegebenen Fall zudem mehr bedeutet, als nur eine Geschichte vorzutragen, legt die dreimalige Verwendung von contar nahe. Die Wiederholungsfigur betont gegenüber der abgeleiteten und kontextabhängigen Bedeutung ‘erzählen’ schließlich die enumerative Denotation von contar - ‘zählen’. Der Erzählakt als ‘Zählakt’ - so ließe sich folgern - macht das, was er erfasst, zu diskreten Einheiten, von denen jede gegenüber anderen Einheiten unterscheidbar, hierarchisierbar und strukturierbar würde. 328 Er erscheint somit als Übersetzung des gleichzeitigen undifferenzierten photographischen Zeichenmaterials in das ungleichzeitig differenzierte und sinnvoll strukturierte Nacheinander der Schrift oder, anders gewendet: als Wandel vom Linearen zum Seriellen. In der Absicht, einen derartigen Eingriff vorzunehmen, unternimmt der Erzähler drei Anläufe. Diesen entspricht - ikonisch - die dreimalige Verwendung von contar. Eingeschobene Überlegungen zum Erzählen bringen das Vorhaben die beiden ersten Male jedoch zum Scheitern. In beiden Fällen verwendet der Erzähler die erste Person Plural. Anfangs heißt es: „Ya que vamos a contarlo pongamos un poco de orden, bajemos por la escalera“ (Bdd, 296). Und der zweite Versuch beginnt mit „[v]amos a contarlo despacio“ (Bdd, 296). Beide Male bricht der Erzähler ab, um sich über die Schwierigkeiten seiner Kunst zu äußern. Der Durchbruch gelingt erst beim dritten Anlauf, diesmal mit einer entscheidenden sprachlichen Modifikation. Anstelle der ersten Person Plural Präsens spricht der Erzähler nun in der dritten Person Singular des indefinido: Roberto Michel, franco-chileno, traductor y fotógrafo aficionado a sus horas, salió del número 11 de la rue Monsieur-le-Prince el domingo siete de noviembre del año en curso (ahora pasan dos más pequeñas, con los bordes plateados). Llevaba tres semanas trabajando en la versión al francés del tratado sobre recusaciones y recursos de José Norberto Allende, profesor en la universidad de Santiago. (Bdd, 296f) 328 Ähnlich argumentiert Damián Podente Fernández: "Cortázar - la metáfora como forma de conocimiento", in: Raúl Castagnino, Jorgelina Loubet, Angel Mazzei, Enrique Molina, Olga Orozco, Ernesto Sábato edd.: Cortázar, 1994 - Actas de las Jornadas de Homenaje a Julio Cortázar 2, 3, y 4 de Noviembre de 1994, Buenos Aires: Ediciones Academia del Sur 1994, pp. 113-119. <?page no="158"?> 154 In dem Moment, wo die Figur buchstäblich ins Freie tritt und die Schreibstube verlässt, wird aus dem undifferenzierten Ichbzw. Wir-Erzähler ein Er-Erzähler, der vorgibt, nicht mehr mit seiner sprachlichen Repräsentation identisch zu sein. Neben der perspektivischen Unterscheidung mit Hilfe der Pronomen ermöglicht das indefinido die temporale Differenzierung von Erzähler und Figur. Die genauen Orts- und Zeitangaben sowie die Berufs- und Herkunftsbezeichnungen erlauben es, die Figur mit einem Schlag in einer lokalen, temporalen und sozialen Wirklichkeit zu situieren, die zwar uno actu in Erscheinung tritt, von der aber angenommen werden darf, dass sie zuerst da war. Dies entspricht dem gängigen Muster romanesker Figurenzeichnung. Name, Vorgeschichte, sozialer Status, Vorlieben und Orte sorgen für Glaubwürdigkeit. Entsprechend ist die Passage um hohe Faktendichte bemüht, wodurch die histoire quantifizierbar und metrifizierbar - ‘zählbar’ - wird, während die Vermittlungsinstanz in den Hintergrund tritt. Auf diese Weise wird zum ersten Mal die Figur vom Erzähler unterscheidbar, Erzählen und Erzähltes, Extradiegese und Intradiegese sowie konzeptionell photographisches und konzeptionell schriftliches Zeichenmaterial treten auseinander. Die ternäre undifferenzierte Einheit wird hierarchisiert zugunsten der histoire - ‘lo occurido’. Dass er sich dieser Tatsache durchweg bewusst ist, lässt die Parenthese erahnen: „(ahora pasan dos más pequeñas, con los bordes plateados)“ (Bdd, 297). Die Wolken und Tauben, die der Erzähler fortwährend in seinen Bericht einstreut, werden durch das ahora weiterhin präsent gehalten und sind auf extradiegetischer Ebene nach wie vor Teil des gegenwärtigen Geschehens. Es scheint, als ließen sich die Zeichen aus Sicht des Erzählers nie ganz zum Verschwinden bringen. Die sprachlich erzeugte Figur hingegen nimmt von all dem keine Notiz. Stattdessen gewinnt sie gegenüber ihrem Schöpfer zunehmend an Autonomie. Denn wie Roberto Michel auf die Straße tritt, nimmt er Dinge wahr, die allein auf das eigene, momentane Erleben zugeschnitten sind. Dabei wird deutlich, dass die histoire dem aufgepfropften Gliederungsraster wieder entgleitet: Es raro que haya viento en París, y mucho menos un viento que en las esquinas se arremolinaba y subía castigando las viejas persianas de madera tras de las cuales sorprendidas señoras comentaban de diversas maneras la inestabilidad del tiempo en estos últimos años. Pero el sol estaba también ahí, cabalgando el viento y amigo de los gatos, por lo cual nada me impediría dar una vuelta [...]. Eran apenas las diez, y calculé que hacia las once tendría buena luz [...]. (Bdd, 297) Das raum-zeitliche, sprachschöpfende Orientierungsraster, mit dessen Hilfe die Figur geschaffen wurde, wird von einer nicht-hierarchischen Fülle von optischen und subjektiven Eindrücken abgelöst, von denen der eine nur <?page no="159"?> 155 mehr auf den nächsten in zeitlicher Sukzession verweist. 329 Die Erzählerrede im Modus des telling wird abgelöst von der Figurenrede im Modus des showing. Die Sprache zieht sich zurück und verschwindet in der Latenz. Entscheidend ist dabei zuletzt der Wechsel von der dritten Person zur ersten Person Singular, sowie der Tempuswechsel vom indefinido zum Präsens. Die Figur, die der Erzähler schriftlich erzeugt, zieht die Perspektive kaum merklich auf sich und bringt die zuvor herbeigeführte Unterscheidung von Erzähler und Figur wieder zum Verschwinden. Dabei ist zunächst nicht deutlich, ab welchem Punkt der Ich-Erzähler übernimmt. Der Wechsel vom indefinido zum Präsens indiziert zwar auch einen Perspektivwechsel, der Sprecherwechsel erfolgt jedoch zweifelsfrei erst einige Zeilen später, als der Ich-Erzähler das erste Mal ‘Ich’ sagt. Mit der materiellen Präsenz des schriftlichen Signifikanten ist die Figur ein Subjekt in der Schrift geworden. Ist sich der Er-Erzähler über die materielle Beschaffenheit der geschaffenen schriftlichen Illusion stets bewusst, so gilt dies nicht für den Ich- Erzähler. Dies erklärt vielleicht das asymmetrische Verhältnis zwischen den beiden Sprechinstanzen. Wenngleich der Ich-Erzähler die Redezeit von diesem Punkt an zunehmend für sich beansprucht, so ist ‘Er’ gegenüber ‘Ich’ durchgängig mit weiterreichenden Kompetenzen ausgestattet. ‘Er’ unterbricht seine Figur bei Zeiten, während diese von all dem keine Notiz zu nehmen scheint und stattdessen materialvergessen erzählt, was ihr in den Sinn kommt. Es scheint, als behalte der Er-Erzähler gegenüber dem Ich- Erzähler stets die Deutungshoheit. Dabei entsprechen den beiden Instanzen zwei unterschiedliche Logiken des Blicks: Während die Er-Perspektive (sprachphilosophisch) gesehen zwar auf äußerer Wahrnehmung beruht 330 , erblickt sie im gegebenen Fall doch fast nichts, was optisch wahrnehmbar wäre. Orts-, Zeit-, Berufsangaben, Adressen, Fremdsprachen, ein Traktat, recusaciones y recursos und dergleichen mehr, kann ein Auge nicht erfassen. Mit Hilfe der Schreibmaschine bringt ‘Er’ schließlich nur Zeichen zu Papier, die keine Ähnlichkeit mit ihren Inhalten haben, dennoch aber andere Dinge hervorbringen als sich selbst. ‘Er’ perspektiviert, zeigt aber nichts. Beruht hingegen die Ich-Perspektive sprachphilosophisch auf „innrer [...] Wahrnehmung“ 331 , verweist sie vorwiegend auf Äußerliches, optisch Wahrnehmbares. ‘Ich’ zeigt, perspektiviert aber nichts. Stattdessen offenbart die geschaffene Figur zunächst eine eigentümliche Vorliebe für den Moment und überlässt sich gerne einer zeigenden Instanz wie dem Wind oder wenig später den auf der Seine treibenden Booten, die den Blick ganz nach schrift- 329 Die „inestabilidad del tiempo“ ließe sich durchaus doppelsinnig als Kommentar auf das Wetter sowie auf die Schwierigkeiten der Temporalisierung auf Vermittlungsebene lesen. 330 Cf. hierzu die Überlegungen bei Wilhelm von Humboldts "Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues", in: Id.: Werke VI - 1827-1835, Bd. VI, ed. Albert Leitzmann, Berlin: B. Behr’s 1907, p. 161. 331 Ibid. <?page no="160"?> 156 licher Manier von einem Gegenstand zum nächsten tragen. Auch durch die Stadt lässt sich Roberto bei seinem Sonntagsspaziergang ohne erkennbares Ziel treiben, während er, literarisch beflügelt, Verse von Apollinaire rezitiert (Bdd, 297). Bestand der Wir-Erzähler Anfangs darauf, nach photographischen Prinzipien alles gleichzeitig zu sagen, so scheint sich der Ich-Erzähler im schriftbedingten Nacheinander persönlicher Eindrücke durchweg in seinem Element zu fühlen. Beim Versuch, ein Stück Wirklichkeit einzufangen, genügt es ihm, ganz im Sinne der Schrift, sich und die Dinge in eine zeitliche Reihenfolge zu bringen. Die gleichzeitigen photographischen Zeichen, die seine Kamera hervorbringen würde, sind für diese Leidenschaft denkbar ungeeignet. Zwar scheint es zwischenzeitlich, als spreche der Ich- Erzähler der Photographie ein Lob aus. Am Ende desselben Absatzes stellt sich jedoch heraus, das dieses vom Er-Erzähler geäußert wurde. Die Photographie, so dieser, sei der beste Weg, das Nichts zu bekämpfen und verlange stets ein waches Auge. Der Ich-Erzähler hingegen sei auch ohne die Kamera im Gepäck ganz zufrieden. Bezeichnenderweise unterlässt es dieser bei seinem Ausflug zweimal, Photos zu machen. Beim ersten Mal zieht er es vor, den Booten zuzusehen, und beim zweiten Mal spricht er sogar offen aus, eigentlich keine Lust auf das Photographieren zu haben und die Sonne um ihrer Wärme willen zu genießen (Bdd, 297 sq.). Den beiden Verweigerungen, von der Contax 1.1.2 Gebrauch zu machen, entspricht der zweimalige gescheiterte Erzählanlauf des undifferenzierten, photographischen Wir-Erzählers zu Beginn des cuento. War dort der dritte Versuch, Schrift illusionsstiftend zu verwenden, geglückt, so geschieht auch hier beim dritten Mal etwas Vergleichbares: No tenía ganas de sacar fotos, y encendí un cigarillo por hacer algo; creo que en el momento en que acercaba el fósforo al tabaco vi por primera vez al muchachito. Lo que había tomado por una pareja se parecía mucho más a un chico con su madre, aunque al mismo tiempo me daba cuenta de que no era un chico con su madre, de que era una pareja en el sentido que damos siempre a las parejas cuando las vemos apoyadas en los parapetos o abrazadas en los bancos de las plazas. (Bdd, 298) Hatte der Er-Erzähler im vorangegangenen Absatz noch scheinbar beiläufig beteuert, die Photographie sei eine der besten Möglichkeiten „de combatir la nada“ (Bdd, 297), so ist der Ich-Erzähler in dem Moment zum Produzent einer optischen Illusion geworden, wo er sich - nur scheinbar „por hacer algo“ (Bdd, 298) - eine Zigarette anzündet. Zeit zu vernichten ist hier gleichbedeutend mit der photographischen Tätigkeit, die die Dinge ebenso ihres zeitlichen Zusammenhangs entreißt oder den zeitlichen Verlauf still stellt. Was sich dabei im Bruchteil einer Sekunde ereignet, erstreckt sich in der erzählten Zeit vom Moment der aufflammenden Glut der Zigarette bis zur Betätigung des Auslösers. Bezeichnenderweise werden der erste Blickkon- <?page no="161"?> 157 takt und das gewonnene ‘Bild’ durch einen Absatz voneinander getrennt. Dass von diesem Punkt an konzeptionell ein Photo entsteht, wird nicht nur durch den Hinweis deutlich, dass Zeit zum Verbrauch vorhanden ist, sondern auch durch das Verb tomar im Sinne von tomar fotos, sowie in der anschließenden Beschreibung des Paares. Es scheint jedoch, als ließe sich ein endgültiges Bild nicht festlegen. Ähnlich den sprachlichen Schwierigkeiten zu Anfang, ist die Verlängerung des eigentlich kleinen Moments auch an dieser Stelle materialbedingt. War es vormals die Linearität der Schrift, die dem Erzähler Probleme bereitete, so ist es im gegebenen Fall die Instantaneität und Ikonizität des erzeugten Bildes, die den Sprechgewohnheiten des schriftlich konstruierten Erzählers zuwiderlaufen. In der Schrift entstehen notwendig Zeichen, die nicht - wie im Fall eines Photos - mit ihrem Inhalt identisch sind, sondern diesen nur im Verbund mit anderen, ähnlichen Zeichen in der Zeit wiederholbar machen. Darse cuenta bedeutet aus diesem Grund nicht nur ‘verstehen’, sondern - in Anlehnung an contar - die sprachlich bedingt unaufhaltsame Verlängerung einer zählbaren Zeichenkette, die ihren verstehbaren Sinn notwendigerweise im Unendlichen verzeitlicht. Nicht zufällig mündet dies zunächst in die Typisierung. Was im Photo als unwiederbringlicher Moment festgehalten wurde, wird in der Schrift zwangsweise paradigmatisiert. Den eingefangenen Moment verlängernd, unternimmt der Ich-Erzähler mehrmalige Anläufe bei der Beschreibung das Jungen und der Frau. Direkt im Anschluss an die oben zitierte Passage beteuert er erneut, bei seiner Beobachtung ausharren zu wollen, da er nichts anderes zu tun habe. Doch auch diesmal verlängert die Beschreibung des singulären Moments eine ohnehin lange Zeichenkette. Die Beschreibung der Nervosität des Jungen erstreckt sich noch im selben Satz über immerhin elf Zeilen. Auffällig ist dabei die Verwendung von Gerundien. Damit scheint es, als Suche der Ich-Erzähler noch in der Schrift nach passendem Material, ein Bild zu fixieren. Bevor er also tatsächlich zum Photoapparat greift, sucht der schriftgebundene Erzähler nach einem bildschöpfenden Akt, ganz wie vormals der Er-Erzähler einen sprachschöpfenden Akt suchte. Wie ein solcher Akt aussehen könnte, wird in den weiteren Beschreibungsversuchen des Jungen und der Frau über einen Umweg deutlich: Im Anschluss an Überlegungen zur Photographie, die vom Er-Erzähler unterbrochen werden, fährt der Ich- Erzähler mit der Geschichte fort und erinnert sich: „Del chico recuerdo la imagen antes que el verdadero cuerpo (esto se entenderá después), mientras que ahora estoy seguro que de la mujer recuerdo mejor su cuerpo que su imagen“ (Bdd, 299). Ohne zu erläutern, was mit cuerpo und imagen gemeint sein könnte, fährt der Erzähler mit der Beschreibung des cuerpo (Gestalt) der Frau fort. Strukturell entspricht diese dem ersten sprachschöpfenden Akt, der den Ich-Erzähler hervorgebracht hat. Diesmal ist er es, der das typische Grundmuster romanesker Figurenzeichnung anzulegen versucht. Unterbrechungen, Korrekturen und Relativierungen werden nun jedoch vom selben <?page no="162"?> 158 Sprecher vorgenommen und erfolgen mit wesentlich höherer Frequenz. Die geschaffene Illusion erwacht diesmal nicht zum Leben. Vokabular, das der Beschreibung äußerer Wahrnehmungen dient, scheint sein Ziel bezeichnenderweise stets zu verfehlen: Era delgada y esbelta, dos palabras injustas para decir lo que era, y vestía un abrigo de piel casi negro, casi largo, casi hermoso. Todo el viento de esa mañana (ahora soplaba apenas, y no hacía frío) le había pasado por el pelo rubio que recortaba su cara blanca y sombría - dos palabras injustas - y dejaba al mundo de pie horriblemente solo delante de sus ojos negros, sus ojos que caían sobre las cosas como dos águilas, dos saltos al vacío, dos ráfagas de fango verde. No describo nada, trato más bien de entender. Y he dicho dos ráfagas de fango verde. (Bdd, 299) Auffällig ist, dass es keine Begriffe zu geben scheint, die den cuerpo der Frau präzise beschreiben könnten. Die asyndetische Wiederholung von casi stellt erneut den gescheiterten Versuch aus, passende Signifikanten zu finden. Zeichen und Bezeichnetes kommen stets nur näherungsweise, nie ganz zusammen. Injusto wäre sodann wörtlich als im materiellen Sinne ‘nichtpassend’ zu übersetzen. Der sprach- und sinnschöpfende Akt geht deutlich fehl. Die anfänglich intendierte Präzision wird sodann aufgegeben zugunsten metaphorischer Rede, die die Konventionalität der Schriftzeichen, ihre grundsätzlich arbiträre Verbundenheit nur ein weiteres Mal ausstellt. Offensichtlich ist es ein Problem, dass die Schrift aus Zeichen besteht, die keinerlei Ähnlichkeit mit ihren Referenten teilen. Das Asyndeton aus Metaphern für die Augen der Frau sowie das Eingeständnis des Erzählers legen nahe, dass der Gegenstand aus Mangel an passenden Signifikanten (sprich: materialbedingt) nicht repräsentierbar ist. Was auch immer mit cuerpo gemeint sein könnte, auf diese Weise ist er nicht zu haben. Die Alternative - la imagen - wird in der Beschreibung des Jungen greifbar. Der Erzähler schildert ihn nicht nur, ohne sich dabei selbst zurechtzuweisen, sondern dichtet ihm eine Vorgeschichte an, in der ein Element quasi natürlich aufs andere verweist und im Gefüge eines sinnvollen Ganzen jeweils für sich selbst zu stehen kommt. An keiner Stelle zweifelt der Erzähler am Wahrheitsgehalt seiner Beschreibung, die Rede ist frei von Interjektionen und bar jeglicher Expressivität. Auffällig ist zudem die Häufung von Präsensformen, verbloser Asyndeta sowie Gerundien. Der Junge und sein Alltag werden beschrieben als reine Präsenz, reine Gegenwart. Materialbedingte Schwierigkeiten gibt es diesmal nicht. Sprachlich verdichten sich dabei klimaktisch Stilmittel, wie sie Roland Barthes anhand des Haiku identifiziert. Die Passage wird entsprechend gerafft zitiert: Seamos justos, el chico estaba bastante bien vestido y llevaba unos guantes amarillos que yo hubiera jurado que eran de su hermano mayor, estudiante de derecho o ciencias sociales [...]. Largo rato no le vi la cara, apenas un perfil nada tonto - pájaro azorado, ángel de Fra Filippo, arroz con leche - y una espalda de adolescente [...] Al filo de los catorce [...] teniendo que deliberar <?page no="163"?> 159 con los camaradas [...]. Por eso tanta calle, todo el río para él (pero sin un centavo) y la ciudad misteriosa de los quince años, con sus signos en las puertas, sus gatos [...], el cartucho de papas fritas [...], la revista pornográfica [...], la soledad [...], los encuentros felices, el fervor por tanta cosa incomprendida pero iluminada por un amor total, por la disponibilidad parecida al viento y a las calles. (Bdd, 299f) Nimmt man den vorangegangenen Hinweis ernst - „esto se entenderá después“ (Bdd, 299) - so lässt sich ein vorläufiger Schluss ziehen: Während die Beschreibung des cuerpo das verwendete Material zum Rauschen und seinen Benutzer zur Verzweiflung bringt, bleibt dasselbe Material im zweiten Fall durchweg unbemerkt. Die Beschreibung der imagen gelingt stattdessen rauschfrei und materialvergessen. Rudolf Wittkopf übersetzt imagen wörtlich mit Bild und cuerpo mit Gestalt. 332 Letztere Entscheidung geht vermutlich auf die Verwendung des Terminus durch Cortázar selbst zurück, der den Begriff stets im Deutschen verwendet. In seiner frühen theoretischen Erörterung über John Keats (entstanden 1951-52) definiert er ‘Gestalt’ als eine Form des künstlerischen Ausdrucks, der bemüht sei, die ganze Komplexität der Wirklichkeit zu erfassen, „las estructuras dadas en su plena complejidad y diversidad, que es a la vez su unidad esencial.“ 333 Erst in der Mannigfaltigkeit sei die Essenz und Einheit sowie das Wesen eines Gegenstands adäquat repräsentiert. Mathei Chihaia erläutert hierzu wie folgt: „Der Gestaltbegriff wird [bei Cortázar] eingeführt, um der perspektivischen Verkürzung, wie sie in der Malerei der Renaissance perspektivische Tiefe ausdrückt, eine ganzheitliche und damit lebensechte Darstellungsweise entgegenzustellen.“ 334 Das kubistische Portrait, das die Vorderansicht mit der Profilansicht verbindet, sei eine mögliche Variante von Gestaltästhetik. Den Gestaltbegriff grenzt Cortázar von einer anderen Darstellungsweise ab, die er in der besagten Erörterung als ‘klassizistische’ definiert. Sie entspricht in etwa der imagen des cuento. Ihr besonderes Charakteristikum sei, dass sie die verwirrende Totalität einer hochkomplexen Wirklichkeit opfere zugunsten einer „belleza desgajada de lo perecedero“. 335 Es gäbe, so erläutert Cortázar, tausende Möglichkeiten, das Antlitz von Cäsar darzustellen. Der Bildhauer müsse sich jedoch für eine entscheiden und andere außen vor lassen. Geleitet sei er dabei von der Überzeugung, eine einzige Pose, ein einziger Blick, eine einzige Geste könne die ganze Wahrheit des Moments zu Tage fördern. Und tatsächlich ist die Beschreibung des Jungen insofern ihrer Flüchtigkeit beraubt, als sie den Versuch erkennbar werden lässt, diesen einen entscheidenden Moment zu fixieren. 332 J. Cortázar: "Teufelsgeifer", in: Die geheimen Waffen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, pp. 65-83. 333 J. Cortázar: Imagen de John Keats, Buenos Aires: Alfaguara 1996, p. 130. 334 M. Chihaia: Immersion und Infiltration in Film und Literatur, p. 326. 335 J. Cortázar: Imagen de John Keats, p. 130 sq. <?page no="164"?> 160 Vor diesem Hintergrund scheint es verwunderlich, dass ein derartiger Beschreibungsmodus dem Jungen (imagen) zusteht, während die Frau (cuerpo) mit ein paar ‘palabras injustas’ bedacht wird. Die längere Erzählzeit hier, die kürzere dort, passen vordergründig nicht zu den angestrebten Darstellungsmodi. Eigentlich müsste die Beschreibung der Frau lang und umfangreich sein, da der Erzähler von ihr schließlich den cuerpo erinnert und eine unermessliche Fülle von Perspektiven unterzubringen hätte. Umgekehrt stünde dem Jungen wenig Erzählzeit zu, da von ihm schließlich die imagen, der unendlich kleine Moment, die unverwechselbare Pose erinnert wird. Im gegebenen Fall verhält es sich jedoch genau umgekehrt. Kein Signifikant scheint sich für die genaue Beschreibung der Frau zu eignen, während dem Jungen eine beträchtliche Bandbreite an Wörtern geradezu auf den Leib geschnitten sind. In der Schrift müsste jedoch die Beschreibung des cuerpo lang sein, die Beschreibung der imagen metaphernreich und kurz. Warum aber behandelt der Erzähler die beiden Gegenstände nicht so, wie dies gemäß seiner Erinnerung angemessen wäre? Die Antwort lautet: Weil er noch immer - sprachlich konzeptionell - im Begriff ist, ein Photo zu machen. Da das dabei verwendete Material bereits - trotz seiner vordergründigen Schriftlichkeit auf E 2 - auf E 3 ikonisch, zentralperspektivisch und a-temporal zugeschnitten ist, ist die Multiperspektivität des cuerpo mit ihm schlichtweg nicht fassbar. Die als photographisch verstandenen Zeichen geben ihren Gegenstand schließlich nur aus einer Perspektive und zu einer Zeiteinheit wieder. Ein cuerpo lässt sich mit dem verwendeten Material also nicht darstellen. Die Schrift hingegen könnte diesen zumindest umschreiben. Im vorliegenden Fall tut sie dies aber nicht, da sie der Erzähler nicht als solche behandelt. Stattdessen verwendet er sie verstärkt so, als sei sie photographisches Zeichenmaterial und macht sich zunehmend auf die Suche nach bestimmten, singulären und photographisch passenden Signifikanten, palabras justas, die die Gegenstände so wiedergeben, wie diese sich dem Auge darbieten. Ein solche Suche stößt jedoch stets nur auf Zeichen, die einen cuerpo eben nur fast wiedergeben, sprich: palabras injustas, verba impropria, Metaphern und Bilder, die abstrahierend und von einer Seite zeigen, was lebendig und vielseitig ist. Casi bezieht sich in der zitierten Passage also nicht auf die Qualität der Referenten, sondern die materielle Beschaffenheit der konzeptionell photographischen Signifikanten, die den eingeforderten cuerpo nicht adäquat repräsentieren können. Dafür, den unendlich kleinen Moment - imagen - zu erfassen, scheinen die photographischen Zeichen hingegen prädestiniert. Anders als bei der Frau funktioniert die Beschreibung des Jungen einwandfrei, ohne dass die Beschaffenheit des Materials Unterbrechungen oder Mängelrügen nach sich zieht. Im Ergebnis wird deutlich: Obgleich der Ich-Erzähler eine Geburt der Schrift ist, ist er im Versuch, Zeit zu tilgen und sie mit einem ‘Klick’ auszuschalten, zum Photographen der Park- Szene geworden. <?page no="165"?> 161 Es verwundert daher nicht, wenn die Geschichte, die er dem Jungen und der Frau andichtet, in der Folge immer länger wird, während sich der Moment, in dem sie erzählt wird, zunehmend verdichtet. Dabei betont der Erzähler immer wieder, kurz vor der Anfertigung eines Photos zu stehen, das jene Geste einfangen soll, die - ganz im Sinne der imagen - das Geschehen am besten zusammenfasse: Levanté la cámara, fingí estudiar un enfoque que no las incluía, y me quedé al acecho, seguro que atraparía por fin el gesto revelador, la expresión que todo lo resume, la vida que el movimiento acompasa pero que una imagen destruye al seccionar el tiempo, si no eligimos la imperceptible fracción esencial. (Bdd, 301f) Die immerhin dreiseitige Biographie und Verführungsgeschichte ist im Ergebnis jedoch genau jener Moment, der, wie die zitierte Passage bereits andeutet, nur solange andauert, wie die Kamera nicht betätigt wird. Denn wie Roberto auf den Auslöser drückt und das Bild fertiggestellt, unterbricht die Frau ihr Verführungsspiel und blickt den Photographen an. Die Tatsache, dass der Junge flieht, legt nahe, dass der Moment der imagen vorüber ist. War dem Er-Erzähler vormals die Kontrolle über die schriftliche Illusion in Gestalt des Ich-Erzählers entglitten, so ergeht es diesem nun ähnlich. Die abgebildeten Figuren fallen aus den Rollen, die ihnen im Bild zugedacht wurden. Darüber hinaus beanspruchen sie nun ihre optische Repräsentation ganz für sich und machen gegenüber ihrem Schöpfer sogar Rechte geltend. In dem Moment also, wo die photographische Illusion vollendet wurde, gewinnt sie zunehmend an Autonomie und schließt ihren Schöpfer aus. 336 Dass der Junge im selben Zuge entwischt, verbucht der Ich-Erzähler als durchaus positiv. Denn da die anfänglich angenommene Verführungsgeschichte durch die Flucht rückwirkend bestätigt wird, gilt für das Photo, dass es diese als wirkliches Geschehen zeigt. Der Erzähler sieht in der Flucht des Jungen den Beweis dafür, eine ‘echte Illusion’ geschaffen zu haben. Eine solche ist jedoch eine Paradoxie, die sich der Ich-Erzähler verdeckt, indem er die falsche Evidenz des Bildes als wahr anerkennt und ihm kurzerhand eine „perdida realidad unterstellt“ (Bdd, 304). Auch dieser Positionswechsel erfolgt als fließender Übergang, bei dem sich Schrift und Bild metaleptisch durchdringen: Zuerst kehrt Roberto den abgebildeten Personen kurzerhand den Rücken und begibt sich nach Hause, wo er einige Tage später einen Abzug des besagten Bildes anfertigt und vor dem Schreibtisch an die Wand hängt. Während er an seiner Übersetzung arbeitet, wandert sein Blick wechselweise vom Papier zum Photo und zurück zum Papier. Zwar ‘liest’ Roberto das Bild anfangs als ‘fertige’ optische Illusion noch durchweg mimetisch. Es scheint jedoch, als stimuliere die gleichzeitige Übersetzungsarbeit ein zusätzliches Interesse am Material des Photos. 336 Cortázar beschreibt etwas Ähnliches in "Apocalipsis en solentiname" (1976). <?page no="166"?> 162 Begreift man Übersetzen als Nachahmung einer Sprache mit Hilfe einer anderen Sprache, so liegt die Überlegung nahe, dass eine solche Tätigkeit neben den Bedeutungen, zusätzlich lautliche und materielle Aspekte zu berücksichtigen hat. 337 Mit anderen Worten: Eine gute Übersetzung ahmt ihre Vorlage nicht nur auf semantischer Ebene nach, sondern auch auf syntaktischer und versucht damit, neben lexikalischen Entsprechungen, materielle Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen Ausgangssprache und Zielsprache zu stiften. Entscheidend ist dabei der Umstand, dass es nicht mehr auf entweder die semantische oder die syntaktische Ebene von Sprache ankommt, sondern auf beide zugleich. Da der Erzähler Inhalts- und Ausdrucksseite von Sprache während der Übersetzungsarbeit zu berücksichtigen hat, liest er das Bild neben seinem unangefochtenen Wirklichkeitsbezug zusätzlich performativ. Zunächst bemerkt er, dass ein Photo dem Betrachter stets die Perspektive des Objektivs aufdrängt, was er durch einen schrägen Betrachtungswinkel zu hintergehen versucht. Die Tatsache, dass die neue, material- und sinnfixierte Rezeptionsweise im Zuge der Arbeit mit Schrift entdeckt wird, zeitigt jedoch einen seltsamen Effekt: Cada tantos minutos, por ejemplo cuando no encontraba la manera de decir en buen francés lo que José Alberto Allende decía en buen español, alzaba los ojos y miraba la foto; a veces me atraía la mujer, a veces el chico, a veces el pavimento donde una hoja seca se había situado admirablemente para valorizar un sector lateral. (Bdd, 305) Der zweite Teil der zitierten Passage suggeriert, dass nicht mehr die Gesamtkomposition interessiert, sondern nur mehr die Einzelkomponenten des Photos in zeitlicher Sukzession ‘gelesen’ werden. Da Ausdrucks- und Inhaltsseite des photographischen Zeichenmaterials ohnehin identisch sind, sind die alternativen Betrachtungswinkel nicht illusionsstörend. Stattdessen generiert das Spiel mit dem Material nur mehr neue Geschichten in der Zeit. Die Rezeption eines Photos ist damit zwangsweise konzeptionell schriftlich. In dem Maße, wie die Linearität der Schrift für die Rezeption des Bildes auf E 4 bestimmend wird, eignet sich die Schrift zunehmend ikonische Qualitäten an. Dies wird deutlich, als sich der Erzähler den Bezug des Photos zur dargestellten Wirklichkeit ein weiteres Mal vergegenwärtigt: [...] Michel es puritano a ratos, cree que no se debe corromper por la fuerza. En el fondo, aquella foto había sido una buena acción. No por buena acción la miraba entre párrafo y párrafo de mi trabajo. (Bdd, 305 sq.) Der erste und zweite Satz der zitierten Passage stammen vom Er-Erzähler, der in einem Photo mit der Schrift erzählt. Die Tatsache, dass seine Äuße- 337 Christian Stetter: "Wort und Zeichen", in: Josef Simon ed.: Distanz Verstehen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, pp. 18-42, p. 24. <?page no="167"?> 163 rungen bislang in Klammern erfolgten, diesmal jedoch ohne weitere Markierungen, legt zunächst nahe, dass sich beide Sprechinstanzen mittlerweile wieder auf derselben materiellen Ebene befinden. Indem die anschließende Äußerung auf einen Absatz folgt, über einen solchen jedoch zusätzlich spricht, stehen Form und Inhalt an dieser Stelle in einem visuellen Ähnlichkeitsverhältnis. Mit anderen Worten: Die Schrift bildet syntaktisch ab, was sie auf semantischer Ebene bezeichnet. Wie bei einem Photo sind sich Ausdrucks- und Inhaltsseite gleich. Da der Satz sowohl vom Ich-Erzähler als auch vom Er-Erzähler geäußert wird, werden sich auch die durch einen schriftlichen Eingriff getrennten Erzählinstanzen wieder gleich. Demgemäß lässt sich der Satz durchweg auf zwei Ebenen lesen: Mit mi trabajo wäre sowohl die Übersetzungsarbeit des Ich-Erzählers gemeint als auch die maschinell verfasste Geschichte des Er-Erzählers. Im ersten Fall bezieht sich ‘la miraba’ auf das Photo an der Wand auf semantischer Ebene, im zweiten Fall auf das konzeptionelle - materiell schriftliche - ‘Photo’, das der Ich-Erzähler als Produkt des Er-Erzählers in der Schrift produziert hat. Da dieses materiell mit jenem Text identisch ist, der dem Leser vor Augen liegt, bezieht sich entre párrafo y párrafo nicht nur auf den Text auf E 4 , sondern auch auf denjenigen auf E 2 . Damit wird entre aus Sicht des Ich-Erzählers temporal verwendet 338 , aus Sicht des Er-Erzählers hingegen spatial 339 . Mit der Vergleichgültigung von Schrift und Bild ist nicht nur die Unterscheidung zwischen den Perspektiven von Ich und Er verloren gegangen, sondern auch die zwischen Zeit und Raum. Ihre Vergleichgültigung macht aus den unbewegten photographischen Zeichen filmische. Tatsächlich beginnt das Bild, sich wie auf einer Kinoleinwand zu bewegen und die andere, schrecklichere Version der Verführungsgeschichte vorzuführen. Dabei scheint es, als werde der Betrachter jeglicher Zugriffs- und Manipulationsmöglichkeiten vollends beraubt: De pronto el orden se invertía, ellos estaban vivos, moviendose, decidían y eran decididos, iban a su futuro; y yo desde este lado, prisioniero de otro tiempo, de una habitación en un quinto piso, de no saber quiénes eran esa mujer, y ese hombre y ese niño, de ser nada más que la lente de mi cámara, algo rígido, incapaz de intervención. (Bdd, 307) Da Zeit und Bild nun kurzgeschlossen sind, hat der Betrachter scheinbar keine Möglichkeit mehr, die geschaffene Illusion zu manipulieren. An die Perspektive der Kamera gebunden und in der Zeit gefangen, die der ‘Film’ vorgibt, verbietet sich jedes Spiel mit dem sich stets verflüchtigenden Bildmaterial. Was Roberto geschaffen hat, sind filmische Zeichen, die nicht mehr aktualisiert werden müssen, sondern dies von selbst tun. Insofern sich diese in der Zeit abspielen und in wechselseitigem Bezug zueinander stehen, sind 338 Gemeint ist das zeitliche Nacheinander der Übersetzungen einzelner Absätze. 339 Gemeint ist das räumliche Hinter- oder Untereinander der einzelnen Absätze von E 2 . <?page no="168"?> 164 sie schriftlich. Insofern sie ein reales Geschehen im Sinne einer vorfilmischen Realität 340 zeigen, sind sie ikonisch. Trägt man jedoch dem Umstand Rechnung, dass die Schriftzeichen auf syntaktischer Ebene zusätzlich (konzeptionell) photographisch sind, so sind sie insofern mit den filmischen Zeichen auf semantischer Ebene vergleichbar, als sie sich in der Zeit vollziehen und ‘Bilder’ zeigen. Nicht vergleichbar hingegen sind sie, insofern sie trotz allem aktiv rezipiert werden müssen. Der Leser wird damit zu jemandem, der auf phantastische Weise einer Illusion verfällt, die er selbst produziert. Dennoch gelingt es auch dem Erzähler, das Blatt ein letztes Mal zu wenden. Indem er die Augen schließt, unterbricht er den unaufhaltsamen Fluss der Bilder. Dabei schafft er zudem Zeichen und Gesten, die Ausdrucks- und Inhaltsseite auf phantastische Weise vereinen: Roberto schreit, weint und fällt in Ohnmacht. Bildraum und Raum des Betrachters gehen erneut ineinander über. Als Roberto die Augen öffnet, findet er sich dort wieder, von wo aus er angefangen hat, die Geschichte zu erzählen. Am Ende bleibt die Gewissheit, dass der Erzähler auf eine weiße Fläche starrt, auf der sich irgendwann eine Geschichte abzeichnen könnte, um zuletzt wieder in eine weiße Fläche zu münden, auf der immer wieder Wolken und Tauben vorbeiziehen. Der Erzähler streut sie immer wieder in seinen Bericht ein. Dabei scheint es bisweilen, als seien sie wichtiger als das eigentliche Geschehen: „(Me cansa insistir, pero acaban de pasar dos largas nubes desflecadas)“ (Bdd, 300). Geht man davon aus, dass das Material auf der Fläche photographisch ist, jedes Wort ein Bild zeigt und der Er-Erzähler in einem Photo spricht, dann müsste man die vorbeiziehenden Wolken und Tauben durchaus als solche im Schriftbild (auf E 2 ) erkennen. Gewiss, die weiße Fläche liegt bereits als weiße Seite Papier vor Augen. Die darauf vorbeiziehenden Wörter sind - wie die Wolken und Tauben für den Erzähler - zwar ephemer, mit jedem Lektüreakt jedoch bedeutungskonstitutiv. So gesehen, laden sich die schriftlichen Signifikanten (auf E 2 ) zumindest ansatzweise mit Ikonizität auf. Immerhin erfolgen die Hinweise in Klammern, seitlich abgerundet, ganz wie die Umrisse einer vorbeiziehenden Wolke. Dies verleiht den (nubes) optische und kinästhetische Ähnlichkeit mit den Gegenständen, die sie lexikosemantisch bezeichnen. Die relecture darf die Zeichen von da an in zwei Richtungen lesen. Denn bringt das lesende Auge die Schrift zum Verschwinden, treten Bilder zu Tage, die im gegebenen Fall immer wieder auf die Schrift zurückverweisen, immer wieder zu erkennen geben, dass die sichtbare Schrift so behandelt wird, als sei sie photographisches Material. All dies widerspricht sowohl der Alltagserfahrung als auch literarischen Gewohnheiten, die lehren, dass schriftliche Zeichen in der Regel konventionell sind, dass sie nicht die Gegenstände sind, die sie bezeichnen, dass sie 340 Im Sinne einer ‘vorfilmischen Realität’. Cf. Etienne Souriau: "Die Struktur des filmischen Universums und das Vokabular der Filmologie", Montage 6 (1997), 140-157. <?page no="169"?> 165 normalerweise im Vollzug verschwinden, unsichtbar und nicht sichtbar gemacht werden müssen, um die Geschichte freizulegen. Auch lehrt die Alltagserfahrung, dass sich nichts durch sich selbst in die Welt bringt, dass ein Subjekt nicht gleichzeitig zwei oder mehrere Perspektiven einnehmen kann, ohne zwei oder mehrere Subjekte zu sein. Der Regelfall von Schrift- und Sprachgebrauch ist in "Las babas del diablo" also durchweg die Ausnahme. Insofern die hybriden Zeichen und die Erzählsituation im vorliegenden Fall nichts verdecken, Bild und Schrift nicht trennen, Subjekt und Objekt nicht temporalisieren, perspektivische und materielle Grenzen hingegen verwischen, Vorderseite und Rückseite der Zeichen vergleichgültigen, beobachtet "Las babas del diablo" nur mehr die Operativität von Sprache und zeigt damit - zumindest versuchsweise - photographisch genau die ganze Wahrheit sprachlichen Tuns. <?page no="171"?> 167 5 Film und Schrift in Michelangelo Antonionis Blow-Up (1966) Ähnlich hybrid wie die Schriftzeichen der literarischen Vorlage verhalten sich die filmischen Zeichen bei der Adaption des cuento durch Michelangelo Antonioni. Bereits die Titelsequenz von Blow-Up vereinigt Schrift und Bilder intermedial (cf. Abb. 4) und realisiert materiell 341 , was im cuento nur konzeptionell möglich war. Auf Handlungsebene jedoch weicht die Verfilmung in weiten Teilen von der literarischen Vorlage ab. 342 Frühe Kritiken und wissenschaftliche Arbeiten zu Blow-Up haben dies bemängelt, gelobt oder zumindest als bedeutsam hervorgehoben. Auch Cortázar selbst stand Antonionis Verfilmung anfänglich distanziert gegenüber. Geht man jedoch davon aus, dass "Las babas del diablo" eine intermediale Bezugnahme zur Photographie auf Grundlage der Schrift vollzieht, so sind die Abweichungen der Adaption insofern nicht überraschend, als Blow-Up unter filmischen Voraussetzungen textualisiert. Zu erwarten wäre dann nicht mehr die intermediale Bezugnahme zur Photographie mittels schriftlicher Zeichen, sondern die intermediale Bezugnahme auf die Schrift mittels filmischer Zeichen. Aus dieser Perspektive betrachtet gibt es zwei gute Gründe dafür, dass Antonionis Version so deutlich von ihrer literarischen Vorlage abweicht: Erstens, weil sie ein Film ist und zweitens, weil der Regisseur die medientheoretischen Implikationen des cuento ernst genommen zu haben scheint. Blow-Up ist damit weniger als filmische Adaption, sondern vielmehr als intermediale Transposition zu deuten. 343 Für eine intermedial interessierte Analyse von Blow-Up bedeutet dies, dass sie dem Wechsel des Materials vor allem methodisch Rechnung tragen 341 Im Sinne der zweiten Stufe von Intermedialität nach Uwe Wirth. Cf. id.: "Intermedialität", p. 118. 342 Antonioni verlagert die Handlung von Paris der 50er Jahre ins swinging London der 60er Jahre. Der Protagonist Thomas ist nicht mehr zusätzlich Übersetzer, sondern Berufsphotograph und verdient sein Geld mit hochstilisierten Modephotos. Aus der Park-Episode und der Verführungsphantasie wird zunächst etwas, das wie eine Affäre zwischen einem Mann und einer Frau aussieht und schließlich einen Mord vermuten lässt. 343 Über die Probleme des Medienwechsel siehe I. Rajewsky: Intermedialität, pp. 15-18. Im spezifischen Kontext von Las babas del diablo und Blow-Up cf. Gudrun Rath: "Teuflische Vergrößerungen - Interpretation und Übersetzung in Julio Cortázars ‘Las babas del diablo’", in: Philipp Obrist ed.: Zeichen setzen - Konvention, Kreativität, Interpretation. Beiträge zum 24. Forum Junge Romanistik, Bonn: Romanistischer Verlag 2009, pp. 483-495 sowie James Cisneros: "How to Watch the Story of Film Adaption. Cortázar, Antonioni, Blow-Up", Intermédialités - histoire et théorie des arts, des lettres et des techniques / Intermediality - History and Theory of the Arts, Literature and Technologies 2 (2003), 115- 131, http: / / cri.histart.umontreal.ca/ cri/ fr/ intermedialites/ p2/ pdfs/ p2_cisneros.pdf [Zugriff am 12.05.2014]. <?page no="172"?> 168 muss. Erzählerische Vermittlung im Film ist an andere Voraussetzungen gebunden als in der Schrift. Narrative Texte sind durch die Präsenz einer fiktiven Erzählinstanz gekennzeichnet, selbst dann, wenn diese verschwindend klein ist. Das Vorhandensein von Sprache genügt, um auf das Vorhandensein eines Sprechers zu schließen. 344 Im Film fehlt diese Instanz. Hier lässt das Vorhandensein von Bild und Ton auf die Abwesenheit einer menschlichen Sprechinstanz und die Anwesenheit von Apparaten schließen. Damit stellt sich - allen Überlegungen zu Blow-Up vorangehend - zunächst die schwierige und interessante Frage, ob Filme überhaupt erzählen. Obgleich der Forschungszweig der Filmnarratologie darüber durchaus uneins ist 345 und der Problemkomplex eine eingehende Diskussion verdient hätte, muss die hier getroffene Antwort aus heuristischen Gründen drastisch kurz ausfallen. Sie lautet daher: Ja und Nein. Insofern das Geschehen im Film technisch-apparativ selegiert, perspektiviert und modalisiert wird, lautet die Antwort ja. Insofern es kein erzählendes Subjekt gibt, lautet die Antwort nein. 346 Anders als bei Erzähltexten kann der hier folgenden filmnarratologischen Analyse kein Erzähler im Sinne eines fiktiven Sprechers unterstellt werden. Denn selbst, wenn eine Figur die Kamera adressiert oder sich ein Sprecher aus dem off per voice over als Erzähler inszeniert, ist die vermittelnde Aktivität der Apparate auch dieser Instanz vorgängig. Die Apparate bestimmen, wie lange, wie laut, wie leise ein Sprecher zu hören ist, und wie lange, wie groß, wie klein, wie hell, wie dunkel er zu sehen ist. Den „cinema- 344 So sieht es zumindest der linguistische Teilbereich der Deixis. In diesem Zusammenhang immer noch maßgeblich Karl Bühler: Sprachtheorie - Die Darstellungsfunktion der Sprache, Stuttgart u.a.: Fischer 1982. Cf. Gabriele Diewald: Deixis und Textsorten im Deutschen, Tübingen: Niemeyer 1991. 345 Die Literatur zum Forschungszweig der Filmnarratologie ist mannigfaltig. In Anlehnung an die narratologische Terminologie nach Gérard Genette cf. Markus Kuhn: Filmnarratologie - Ein erzähltheoretisches Analysemodell, Berlin/ New York: De Gruyter 1972 sowie id.: "Film Narratology - Who Tells? Who Shows? Who Focalizes? Narrative Mediation in Self-Reflexive Fiction Films", in: Peter Hühn, Wolf Schmid, Jörg Schönert edd.: Point of View, Perspective and Focalization - Modeling Mediation in Narrative, Berlin/ New York: de Gruyter 2009, pp. 259-278. Auf semiotischer Grundlage cf. Jurij M. Lotman: Probleme der Kinoästhetik - Einführung in die Semiotik des Films, transt. Christiane Böhler-Auras, Frankfurt am Main: Syndikat 1977 sowie Christian Metz: Langage et cinéma, Paris: Larousse 1971. Rezeptionsästhetisch argumentieren David Bordwell, Kristin Thompson: Film Art - An Introduction, New York: McGraw-Hill 2012 sowie David Bordwell: Narration in the fiction film, Madison: Univ. of Wisconsin Press 1985. An semiotische Grundlagen anschließend cf. Seymour Chatman: Story and Discourse - Narrative Structure and Film, Ithaca u.a.: Cornell University Press 1978 sowie id.: Coming to Terms - The Rhetoric of Narrative in Fiction and Film, Ithaca u. New York: Cornell University 1990. Ein Überblick über die Bandbreite der Diskussion und die unterschiedlichen Positionen findet sich bei Nina Heiß: Erzähltheorie des Films, Würzburg: Königshausen & Neumann 2011. 346 Cf. Andreas Mahler: "Erzählt der Film? ", Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 111 (2001), 260-269. <?page no="173"?> 169 tic narrator“ 347 bildet damit nicht ein fiktives Subjekt, sondern ein breites Spektrum selegierender, perspektivierender und modalisierender Techniken der Bild- und Tongestaltung. Darunter fallen beispielweise Coupage, miseen-scène, mise-en-cadre, Kamera, Beleuchtung, sound recording, sound design, performance, film processing, Spezialeffekte und Montage bis hin zu raffinierten Präsentationsformen wie dem 3D-Kino oder Dolby-Surround-Sound. 348 Da trotz der immensen Fülle an gestalterischen Möglichkeiten bei der Rezeption des filmischen Endprodukts allein der Sehsinn und das Gehör angesprochen werden, bietet es sich an, die unterschiedlichen Möglichkeiten filmtechnischer Gestaltung - in Anlehnung an Seymour Chatman - methodisch einem visuellen und einem auditiven Kanal als übergeordnete und letztfundierende Vermittlungskanäle zuzuordnen (cf. Abb. 3). Das damit verbundene heuristische Interesse ist der methodischen Beschreibbarkeit dessen geschuldet, was im Rahmen dieser Arbeit unter dem Begriff ‘Aufmerksamkeitslenkung’ oder drift figuriert. Die mimetische Funktion - so die These - wäre ausgehend von erzähltechnischen Verfahren und unabhängig von der Plausibilität der dargestellten Welt (E 4 ) sowie der technischen Qualität des Zeichenmaterials (E 2 ) im Tonfilm dann gegeben, wenn visueller und auditiver Kanal integriert sind, mit anderen Worten: wenn das, was man sieht, funktional und thematisch dem entspricht, was man hört - synchrone Lippenbewegung als Integration von Voice und Performance beispielsweise. 349 Analog wäre die performative Funktion realisiert, wenn 347 S. Chatman: Coming to Terms - The Rhetoric of Narrative in Fiction and Film, p. 134. Christian Metz spricht analog von einem „grand imagier“, Sarah Kozloff von einem „image maker“ und André Gaudreault von einem „narrateur fondamental“. Cf. in selbiger Reihenfolge: C. Metz: Langage et cinéma, Sarah Kozloff: Invisible Storytellers - Voice-over Narration in American Fiction Film, Berkeley: University of California Press 1988 sowie André Gaudreault: Du litteraire au filmique - Système du récit, Paris: Klincksieck 1988, p. 88. 348 In diesem Zusammenhang grundlegend: D. Bordwell, K. Thompson: Film Art - An Introduction, S. Chatman: Coming to Terms - The Rhetoric of Narrative in Fiction and Film sowie Benjamin Beil, Jürgen Kühnel, Christian Neuhaus: Studienhandbuch Filmanalyse, München: Fink 2012. Für eine narratologisch ausgerichtete Gliederung der hier genannten Techniken cf. zudem N. Heiß: Erzähltheorie des Films. Einblicke in jüngere und jüngste Techniken der Bild- und Tongestaltung finden sich bei Barbara Flückiger: Sound Design - Die virtuelle Klangwelt des Films, Marburg: Schüren 1999 sowie ead. Visual Effects - Filmbilder aus dem Computer, Marburg: Schüren 2008. 349 Da im Film syntaktische und semantische Ebene in eins fallen, bietet es sich an, deren Differenz auf die Differenz von Bild- und Tonkanal zu projizieren. Der mit dieser Konzeption verbundene Vorteil besteht in erster Linie darin, die unterschiedlichen Formen der Aufmerksamkeitslenkung von der Ebene der Semantik und der Ebene der Syntaktik isoliert betrachten zu können. Eine erzählte Welt, die nicht der unsrigen gleicht, mag zwar rätselhaft sein, sie erzeugt deswegen noch lange keinen performativen drift. Ebenso wenig trifft dies auf audiovisuelle Zeichen von vergleichsweise minderwertiger Qualität zu. Rauschen und Knacksen der Tonspur oder Staub und Kratzer auf dem Bild werden zwar als lästig empfunden, in der Regel aber nicht als gezieltes foregrounding verbucht. Erst das Miteinander oder Gegeneinander der beiden Kanäle er- <?page no="174"?> 170 die Kanäle nicht integriert sind, sprich: wenn man etwas hört, was im visuellen Kanal keine thematischen oder funktionalen Übereinstimmungen hat - diegetisch nicht motivierte Asynchronizität beispielsweise oder Filmmusik, die atmosphärisch nicht zur Performance oder tempogemäß nicht zum Schnitt (Rhythm) passt und sich auch anderweitig schwer der erzählten Welt zurechnen lässt. Die ästhetische Funktion wäre dann gegeben, wenn visueller und auditiver Kanal zugleich integriert und desintegriert sind, sprich: wenn man einen Ball aufprallen sieht, dies aber nicht hört und dabei das Aufprallen desselben Balls zugleich hört, während man diesen nicht sieht. Abb. 3: Der cinematic narrator nach Seymour Chatman: Coming to Terms, p. 135 zeugt - so die Annahme - einen mimetischen oder einen performativen drift. Das Begriffspaar ‘Integration’ vs. ‘Desintegration’ oder ‘integrativer Modus’ vs. ‘desintegrativer Modus’ als illusionsbildende und illusionsstörende Modi der filmischen Narration übernehme ich in ihren Grundzügen von Nina Heiß. Im integrativen Modus „werden die Ausdruckskapazitäten des Films der Vermittlung einer Geschichte untergeordnet [...]“, während es Ziel des desintegrativen Modus ist, „durch die Konkurrenz der medialen Ebenen ihre je eigentypische Funktions- und Wirkungsweise analytisch auszustellen.“ Cf. N. Heiß: Erzähltheorie des Films, pp. 184-190, die Zitate p. 185 und p. 189. Heiß entwickelt das Begriffspaar ihrerseits in Anlehnung an die Unterscheidung von ‘organischem’ und ‘kristallinem Modus’ nach Gilles Deleuze. Cf. id.: Das Zeit-Bild - Kino II, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, pp. 168-204. Kozloff spricht von einem „degree of correspondence between narration and images“, die disparat, komplementär oder überlappend sein kann. Mit narration ist hier allerdings eine figurale intraoder extradiegetische Instanz gemeint, die im Tonkanal mittels Sprache und im Bildkanal mittels Schrift kommuniziert. Cf. ead. Invisible Storytellers - Voice-over Narration in American Fiction Film, p. 103. <?page no="175"?> 171 Die Erkenntnis, dass dies nicht repräsentierbar ist, bildet eines der Lernziele des Protagonisten von Blow-Up. Ein weiteres - wichtigeres - besteht in der Einsicht, dass der Versuch, ‘Nicht-Repräsentierbares’ dennoch zu evozieren, Lust bereitet. Ihre Verlängerung bildet sodann den Kern der Handlung und das ästhetische Programm ihrer Vermittlung. Wie die Befriedigung einer solchen Lust aussehen könnte, wird gleich zu Anfang in der bereits erwähnten Titelsequenz ausgestellt. Die Buchstaben, die den Filmtitel zeigen, geben den Blick wie Schablonen auf eine weitere Filmsequenz frei, in der ein Photograph zu sehen ist, der Aufnahmen für eine Bikini-Modestrecke anfertigt (cf. Abb. 4): Abb. 4: Die Titeltafel von Blow-Up Die Titeltafel ruft damit einerseits die Medienkonkurrenz von Bild und Schrift auf, verweist aber auch auf den ästhetischen Zugewinn, der sich durch die Hybridisierung der beiden Zeichensysteme ergibt. Anders als in Cortázars cuento kann der Betrachter nun lesen und dem zusehen, was hinter den Buchstaben gezeigt wird. Das medienhybride Zeichen ist in dieser Blickrichtung weder rein konventionell noch rein ikonisch, sondern tatsächlich beides zugleich. Sein Inhalt ist bekannt und muss - paradoxerweise - erlernt werden. Die doppelte semiotische Klassifikation eröffnet zudem eine vielstrahlige Verweisstruktur: Exophorisch ist das hybride Zeichen einerseits, insofern die Schrift auf die außerfilmische Wirklichkeit zeigt (‘dies ist der Titel eines Films und dies sind die Personen, die ihn gemacht haben’), andererseits, insofern die Bilder eine Szene zeigen, die in der außerfilmischen Wirklichkeit so stattgefunden haben könnte, während die dargestellte Tätigkeit ein- <?page no="176"?> 172 mal mehr das „cela à été“ 350 der Photographie aufruft (‘seht her, dies ist wirklich passiert, die photographische Tätigkeit bildet ein wirkliches Geschehen ab’). Durch die Bilder ergeht aber auch ein endophorischer Verweis auf die fiktionale Welt des Films (‘dies ist der Protagonist und dies seine Tätigkeit’). Ebenso endophorisch zeigt die Schrift kataphorisch auf das, was noch kommen soll (‘dies ist die Geschichte einer photographischen Vergrößerung’), während die Bilder anaphorisch und kataphorisch etwas zeigen, das entweder schon stattgefunden hat, üblicherweise stattfindet oder noch stattfinden wird (‘dies ist das Tagwerk des Protagonisten, dies hat er neulich getan, dies wird er in Kürze tun’). Neben den exophorischen Beziehungen des filmischen Zeichens zur außerfilmischen Wirklichkeit bestehen also zum größten Teil allophorische Beziehungen zu den übrigen Elementen des Films. Indem sich jedoch die ‘Schrift-Schablonen’ zuletzt ausdehnen und das Dahinterliegende optisch vergrößern, wie bei einem blow-up, ergeht ein zusätzlicher autophorischer Verweis, der das gesamte Arrangement zu einem einzigen Zeichen verklammert (‘dies ist und dies tut ein blow-up’). Da das, worauf autophorisch gezeigt wird, zum Zeitpunkt des Verweises erst im Entstehen begriffen ist, müsste man streng genommen von einem ‘pseudoautophorischen’ Verweis sprechen. 351 In dieser Blickrichtung erscheint die Vergrößerung als Geste, die auf das zeigt, was sie zugleich sichtbar hervorbringt. Damit unterhält das Zeichen, das hier inszeniert wird, neben erwartbaren exophorischen und endophorischen Beziehungen vor allem eine Beziehung zu sich selbst. Es ist den gezeigten Dingen - je nach Wahl des Bezugs - nachrangig, vorrangig oder gleichrangig. Entscheidend ist dabei der Umstand, dass nicht nur Schrift und Bilder, sondern auch Zeichen und Bezeichnetes funktional untrennbar geworden sind. Die autophorische Zeigegeste hebt den Unterschied von Ausdruck und Inhalt ästhetisch auf, während sie Konventionalität und Ikonizität erkennbar zu einer weiteren kinästhetischen Zeichenklasse aufrundet, die ihrerseits ein eigenes, in sich geschlossenes und von der außerfilmischen Wirklichkeit abhängiges und unabhängiges Diskursuniversum begründen kann. Bezogen auf den übrigen Film lässt sich die Schrift-Bild-Relation der Titeltafel als formale mise-en-abyme 352 der Relation von Photographie und Wirklichkeit auf histoire-Ebene lesen: Indem Thomas seinen Photos die Fähigkeit zuspricht, Wirklichkeit abzubilden, vertraut er allein auf deren exo- 350 R. Barthes: La préparation du roman - Notes de cours et de séminaire au Collège de France 1978-1979 et 1979-1980, p. 114. 351 Andreas Mahler: "The Case is ‘this’ - Metareference in Magritte and Ashberry", in: Werner Wolf, Katharina Bantleon, Jeff Thoss edd.: Metareference across Media - Theory and Case Studies, Amsterdam/ New York: Rodopi 2009, pp. 121-134, p. 123 sq. 352 Zur Typologie der mise-en-abyme hinsichtlich quantitativer, qualitativer und - wie im gegebenen Fall - nach Gegenstandsbereichen differenzierter Erscheinungsformen siehe Werner Wolf: Art. "Mise en abyme", in: Ansgar Nünning ed.: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart: Metzler 2004, pp. 461-462, p. 461. <?page no="177"?> 173 phorische Bezüge. Indem er jedoch die blow-ups zu einer narrativen Sequenz zusammensetzt, stellt er endophorische Bezüge zwischen ihnen her und generiert Wirklichkeit, Textualität in Bedeutung transformierend. Exophorische Bezüge der Photoserie werden auf diese Weise nicht nur unmöglich, sondern auch unnötig. Vielmehr lässt sich das photographische Material nun lustvoll formen, bis dabei ein seltsam rauschendes Zeichen entsteht, das nur mehr pseudo-autophorische Bezüge realisiert und sich und die bezeichneten Gegenstände gleichursprünglich in die Welt bringt. Vereinfacht gesagt: In dem Moment, wo Thomas im Park eine Leiche sieht, zeigt das seltsam rauschende Photo auch eine Leiche. In dem Moment, wo sie verschwunden ist, ist sie auch auf dem Photo nicht zu sehen - wenngleich es in beiden Fällen dasselbe zeigt. Neben der Beziehung zur histoire lässt sich die Titeltafel zudem als miseen-abyme der Ton-Bild-Relation auf discours-Ebene lesen. In dieser Blickrichtung wird ein intermedialer Dialog zwischen den audiovisuellen Zeichen auf Vermittlungsebene und den blow-ups auf Geschichtsebene erkennbar: Der Gültigkeit exophorischer Bezüge auf histoire-Ebene entspricht auf Vermittlungsebene die Dominanz des visuellen Kanals gegenüber dem auditiven. Wirklichkeit ist, was visuell vermittelt wird. Der Gültigkeit endophorischer Bezüge entspricht auf Vermittlungsebene hingegen die Dominanz des auditiven Kanals gegenüber dem visuellen. Wirklichkeit ist, was man zu hören bekommt. Der Gültigkeit pseudo-autophorischer Bezüge entspricht auf Vermittlungsebene das Vorhandensein und Nicht-Vorhandensein einer Leiche im visuellen Kanal sowie die plötzliche sprachlich-akustische Konstitution und gleichzeitige Verneinung einer verdeckten Handlung. 353 Was sich für den Moment noch sehr technisch anhört, soll im Folgenden im Rahmen einer mikrotextuellen Analyse als Entwicklung nachgezeichnet werden: Zu Beginn dominiert auf Vermittlungsebene, wie gesagt, der visuelle Kanal gegenüber dem auditiven. Das gezeigte Geschehen ist anfänglich noch äußerst dialogarm, die Verwendung von Sprache wird auf ein Minimum reduziert. Figurales Erzählen oder eine verdeckte Handlung gibt es nicht. Ebenso wenig sind Filmmusik oder psychoacoustics zu hören, die den Bildern und Figuren eine diegetische oder psychische Tiefendimension verleihen könnten. Wenn Musik vorkommt, wenn Geräusche zu hören sind, wenn von Ereignissen berichtet wird, dann nur, wenn dies durch Bilder verifizierbar ist. Auditive Elemente gibt es nur als Elemente der mise-enscène. Nur was man sieht, ist auch da. Was visuell nicht wahrgenommen werden kann, existiert nicht. Die narrative und ontologische Letztbegründungsebene im Diskursuniversum von Blow-Up ist Anfangs eindeutig visuell. Der Alltag des Photographen unterstreicht diesen monomedialen Gestus 353 Zu Begriff und Funktion der verdeckten Handlung cf. Manfred Pfister: Das Drama - Theorie und Analyse, München: Fink, pp. 276 sq. <?page no="178"?> 174 zusätzlich auf histoire-Ebene. Abgesehen vom Agenten Ron und dem Maler Bill haben die Figuren keine Namen. In Forschung und Kritik sind diese allein durch das Drehbuch bekannt. 354 Die Models, mit denen Thomas arbeitet, sprechen kein Wort. Sie wollen auch nicht lächeln und wirken steif und ungelenk wie Puppen. Sie besitzen scheinbar kein anderes Innenleben als das, welches sich auf ihren sichtbaren Oberflächen abzeichnet. Bisweilen erhält letztere jedoch Risse: Verushka, die Thomas zu Beginn im Studio erwartet, wird zunächst nur als verzerrte Reflexion in einer Glasplatte gezeigt. Thomas behandelt sie anfänglich so, als wäre sie gar nicht da. Erst nach ihrer Äußerung - „Here I am“ (00: 05: 38) - wendet er sich ihr zu und nimmt mit ihr Blickkontakt auf. Bis zu diesem Punkt suggeriert die Szene, dass dort, wo ein Bild unscharf ist und seinen Gegenstand nur verzerrt und halbdurchsichtig zu erkennen gibt, die bildtechnischen Voraussetzung also schlecht sind, ontologische Selbstvergewisserung mithilfe anderer Zeichenklassen nötig ist. Abb. 5: Thomas und Verushka im Studio Da Verushka, gemessen an optischen Parametern, dort sitzt, wo sich der Zuschauer befindet, durch die Reflexion im Spiegel aber als Teil des restlichen Raums zu sehen ist, wird der Wahrheitsgehalt ihrer Aussage an dieser Stelle nicht allein von den Bildern beglaubigt, sondern zudem akustischsprachlich. Neben den beiden Büsten und der an der Wand angebrachten 354 Für das Filmskript siehe Michelangelo Antonioni: Blow-Up - A Film by Michelangelo Antonioni, New York: Simon and Schuster 1971. Cf. ebenso S. Chatman: Michelangelo Antonioni - Sämtliche Filme, p. 51. Für eine Liste aller Mitwirkenden siehe: <http: / / www.imdb.com/ title/ tt0060176/ fullcredits? ref_=tt_ql_1> [Stand: 03.01.2013]. <?page no="179"?> 175 Photographie wird Verushka überdies als Gegenstand eines Bildes inszeniert, womit der Kunstcharakter des visuellen Kanals hervorgehoben wird. Die Dominanz des Visuellen als Garant für Wirklichkeit wird auf diese Weise partiell untergraben. Dennoch können sich die Bilder gegenüber der sprachlichen Aussage im weiteren Verlauf der Sequenz behaupten, indem sie Verushka anschließend tatsächlich im Studioraum situieren. Der Riss in der sichtbaren Oberfläche der Bilder kündigt sich hier ein erstes Mal an, um aber sogleich wieder geschlossen zu werden. Die anfänglich dominante Ineinssetzung von Sichtbarem und dargestellter Wirklichkeit, die in der sich anschließenden Sequenz bis zur Park-Szene überwiegt, hat in Forschung und Kritik zu der berechtigten Vermutung geführt, dass sich der Film Blow-Up mit fundamentalen existentiellen Zweifeln und ontologischer Skepsis befasst. Häufig wurde dem Protagonisten nachgesagt, er und sein soziales Umfeld litten an einer grundsätzlichen Unzufriedenheit mit dem eigenen Lebensentwurf. 355 Und tatsächlich ist Thomas „fed up with those bloody bitches“ (00: 37: 12), London langweilt ihn (00: 36: 55). Dass er oder andere Figuren die Wirklichkeit als solche in Zweifel ziehen, wird jedoch an keiner Stelle deutlich. Was mit Thomas geschieht, ist streckenweise zwar rätselhaft, nie aber unerklärlich. Auch die Leiche im Park ist nur eine Leiche im Park, ob die anderen Figuren dies glauben wollen oder nicht. Ihr Verschwinden ist zwar merkwürdig, verweist aber auf erklärbare Motive. Trotz der Tatsache, dass Thomas von existentieller Leere geplagt wird, entsteht an keiner Stelle Revisionsbedarf fundamentalontologischer Basispostulate. Der Eindruck ontologischer Unsicherheit ist stattdessen der anfänglichen Monomedialität geschuldet. Denn insofern Welt und Bilder im Diskursuniversum von Blow-Up in eins fallen, richtet sich jede Kritik an den Bildern immer auch direkt gegen die Wirklichkeit. Indem Thomas seine Unzufriedenheit über die Welt jedoch nur in photographischen Termini äußert, hinterfragt er - absichtlich oder nicht - immer auch die Wirklichkeit als solche. Solange Welt und Bilder identisch sind, ergibt sich gerade für einen Photographen die Chance, gestaltend in die Welt einzugreifen. Denn wenn diese ausschließlich mit den dargestellten und den darstellenden Bildern begründet wird, dann bedeutet die Suche nach neuen Bildern immer auch eine Suche nach neuen Welten und zuletzt die Hoffnung, die eigene entweder mit Spannung aufladen oder ihr entkommen zu können. Tatsächlich begibt sich Thomas von Anfang an auf die Suche nach anderen, neuen Motiven. Sein persönliches Interesse gilt schließlich nicht den immergleichen Modephotos, sondern dem Buch, das er in eigener Initiative zusammenstellt. Thomas photographiert Obdachlose, Straßenkinder oder einen blutüber- 355 Cf. Seymour Chatman: Antonioni, or the Surface of the World, Berkeley u.a.: Univ. of California Press 1985, p. 139 sowie ontologische Fragestellungen betreffend Uwe Müller: Der intime Realismus des Michelangelo Antonioni, Norderstedt: Books on Demand 2004, pp. 145-174. <?page no="180"?> 176 strömten Metzger bei der Arbeit im Schlachthof. Aber obwohl im Zeichen eines photographischen Realismus stehend, sagt das Projekt genauso wenig über die wirkliche Welt wie die immer gleichen Modephotos. Thomas’ Photoreportage zeigt zwar Dinge, die in der sonst sichtbaren Welt von Blow-Up ungewöhnlich sind, sie weist aber nicht über das hinaus, was sie zeigt: „I’ve knocked up a few captions“ (00: 36: 59), lässt der Agent Ron wissen, während er und Thomas in einem Café über den Abzügen sitzen. Was sich über die Bilder sagen oder schreiben lässt, ist jedoch äußerst wenig. Der Tonkanal bietet schlichtweg nichts an, und während Thomas sogar sein Essen mit Handzeichen bestellt (00: 36: 05), kommt es ihm nicht in den Sinn, nachzufragen, was Ron tatsächlich zu sagen hätte. Die Bildunterschriften werden nie ausgesprochen und die Photos stehen weiter für sich allein. Sie dienen lediglich dazu, Thomas’ Sehnsucht nach Freiheit zu relativieren. Seinen Wunsch, frei zu sein, quittiert Ron mit dem Photo eines Obdachlosen und der Frage: „Free like him? (00: 37: 23)“ Selbst die ungeschönten Photos erzählen nichts, sie lassen keinen Zweifel zu. Stattdessen bringen sie auch den Protagonisten zum Schweigen. Die gewünschte Situationsveränderung optischer Monotonie scheitert sowohl auf histoireals auch auf discours-Ebene konsequent an materiellen Restriktionen. Über den narratologisch relevanten Unterschied ikonischer und konventioneller Zeichen schreibt Jurij Lotman: „Konventionelle Zeichen eignen sich zum Erzählen, zur Herstellung erzählender Texte, während ikonische sich auf die Funktion des Benennens beschränken“ [Herv. Verf.]. 356 Zum Verständnis ersterer muss ein Kode erlernt werden, während letztere in photographischer Ausprägung ein „message sans code“ 357 sind. Als allgemein verständliche Zeichen besitzen letztere eine stärkere argumentative Schlagkraft. Auf der Suche nach einer Geschichte für sein Buch fehlen Thomas jedoch konventionelle Zeichen, die über die Oberfläche der Bilder hinausweisen. Es mag daher nicht verwundern, wenn die Serie, die er im Park macht, einen besonderen Reiz entwickelt. Denn schließlich sieht es so aus, als gäbe es hier etwas zu lernen. Diese Vermutung entsteht jedoch nicht durch die Bilder selbst, sondern durch die Forderung der Frau auf Herausgabe des Films und die Verweigerung der Antwort auf die Frage warum. Beides verleiht den Bildern einen Bedeutungshorizont, der über das hinaus deutet, was oberflächlich zu sehen und ohnehin bekannt ist. In dem Moment, wo den Bildern Sinn unterstellt wird, der nicht sichtbar ist, wandeln sie sich von ikonischen Zeichen zu konventionellen, die nicht nur benennen, sondern zusätzliche Informationen über die Welt produzieren könnten, sprich: die bloße visuelle Ähnlichkeit in Richtung einer Semantik überschreiten. 356 J. M. Lotman: Probleme der Kinoästhetik - Einführung in die Semiotik des Films, p. 16. 357 R. Barthes: "Le message photographique", 128. <?page no="181"?> 177 Thomas’ Versuch, das Geheimnis der Photos zu ergründen, stellt ihn jedoch vor ein logisches Problem. Deutlich wird dies, als Jane - die Frau aus dem Park - plötzlich vor seiner Studiotür steht und ein weiteres Mal die Herausgabe der Bilder erbittet. „What’s so important about my bloody pictures“ (00: 42: 38), will Thomas wissen. Doch mit der Antwort „That’s my business“ hält die photographierte Person ihre Geschichte zurück. Als Profi kann Thomas bestenfalls Zustand und Qualität des Materials prognostizieren: „The light was very beautiful in the park this morning. The shots should be very good. Anyway, I need them.“ (ab 00: 42: 55-57) Sprechen kann er nur über die syntaktische Ebene der Photos, während Jane die semantische weiterhin unter Verschluss hält. Dennoch scheint auch sie verführerisch mit der Möglichkeit einer diegetisch sinnvollen Sequenz von Ereignissen zu locken: „My private life is already in a mess. It would be a disaster if...“ (00: 43: 08) Was Jane verbergen will, könnten die guten Abbildungen offenlegen. Der exophorische Bezug der Bilder wäre auf diese Weise gesichert, würde jedoch eine Unordnung - a mess - noch vergrößern. Thomas’ Qualitätsurteil ist daher zwar positiv gedacht, erweist sich für Jane jedoch als Drohung. Je besser die Qualität der Bilder, desto größer das private Chaos. Umgekehrt verweist Janes Replik auf eine bedrohliche Situation, lässt sich aus Thomas’ Sicht jedoch als Verführungsgeste lesen. Je größer die mögliche Katastrophe, desto wertvoller und bedeutsamer die Bilder. Was des einen Vorteil ist, ist des anderen Schaden. Jane und Thomas stehen damit vor der typischen Situation eines double bind. Gibt Thomas den Film (und damit die Kontrolle über die Bilder) heraus, so wird er einen anderen Menschen vor einer privaten Katastrophe retten können. Er wird dies aber nie sehen oder zeigen können, selbst wenn Jane ihr Geheimnis verraten sollte. Gibt Thomas den Film nicht heraus, so verweigert Jane die Aussage, sprich: die semantische Seite der Bilder, und Thomas wird nicht erfahren, wonach er suchen soll. Anders als dies vom aufklärerischen Medium Photographie zu erwarten wäre, entspricht in der gegebenen Situation erst dem Verlust der optischen Repräsentation von Wirklichkeit der Gewinn einer Erkenntnis und die Gewissheit einer Ordnung. Würde Thomas die Photos herausgeben, dann bliebe die Welt, wie sie ist. Das Problem wäre jedoch, dass eine visuell nicht repräsentierbare Welt im photographisch begründeten Diskursuniversum von Blow-Up nicht als real gilt. Umgekehrt wäre der Besitz des Materials (Syntaktik) mit dem Verlust der wahren Geschichte (Semantik) und der Gewissheit erkauft, dass sich an der Welt, wie sie ist, nichts ändert. Im ersten Fall steht eine Geschichte in Aussicht, die mit dem Verlust einer optischen Illusion einhergeht und damit nicht als real gilt. Im zweiten Fall steht eine optische Illusion in Aussicht, die den Verlust einer realen Geschichte zu Folge hat. Da keine der beiden Figuren in der Lage ist, der anderen das zu geben, was diese möchte, kann die kommunikationslogische Paradoxie nicht gelöst, sondern nur entfaltet werden. Da es auf Handlungsebene also darum geht, die syntaktische und se- <?page no="182"?> 178 mantische Ebene der Photoserie aus dem Park zusammenzuführen und gleichzeitig voneinander getrennt zu halten, geht es im Effekt einmal mehr um das Prinzip, das Ausdrucks- und Inhaltsebene der Zeichen verbindet. Der exophorische Bezug der Bilder muss daher bis zuletzt offen bleiben, während der Versuch, ihn herzustellen, auf Darstellungs- und Geschichtsebene als Unzulänglichkeit offen ausgestellter illusionsbildender Verfahren paradigmatisiert und in zahlreichen Varianten durchgespielt wird. Zunächst ist es Thomas, der versucht, Jane zum Gegenstand optisch-photographischer Inszenierungen zu machen. Nach dem ersten kurzen Wortwechsel beobachtet er, wie Jane nervös auf und ab läuft. Abb. 6: Jane als angehendes Objekt einer Photographie Die Strecke, die sie in ihrem unruhigen Hin und Her abschreitet, zeigt sie am äußeren, linken Ende im medium shot vor einer halbtransparenten Folie, freistehend (Abb. 6). Off camera will Thomas wissen: „Have you ever done any modeling. Fashion stuff, I mean. You’ve got it (00: 43: 30).“ Sichtlich nervös schreitet Jane nun von links nach rechts, dorthin, wo Thomas steht. Dieser lehnt gegen einen schrägen Stützbalken, der mit dem darüber liegenden Querbalken einen optischen Rahmen bildet. Die Kamera folgt Jane, nimmt Thomas rechts mit ins Bild und zeigt über dessen Schulter nun die rahmende Balkenkonstruktion, in der das möglicherweise angehende Model zum Stehen kommt. Das Gebälk bildet einen weiteren medium shot, der als Teil der mise-en-scène mit schräger Unterkante stark stilisiert wirkt (Abb. 7). Das Bild im Bild, in welches Thomas Jane gelockt hat, verrät jedoch nichts, was nicht schon bekannt wäre und zeigt die ‘abgebildete Person’ nur mehr als das, was sie bereits ist - eine Frau, die über ein Geheimnis zu verfügen scheint, eine literarische Figur, die ihre Geschichte ‘hütet’. In Bezug auf die <?page no="183"?> 179 vorangegangene Handlung ist das hier erzeugte ‘Bild’ von Jane mimetisch. Vor dem Hintergrund dessen, was über sie bekannt ist, ist diese Form der Inszenierung jedoch redundant und nur mehr bildlicher Ausdruck der Unmöglichkeit, die Park-Episode zu erzählen. Dies wird durch den Tresor auf Janes Seite des ‘Rahmens’ unterstrichen. Nachdem sie jedoch aus dem künstlichen Bild wieder heraustritt, sind es vor allem phototechnische Apparate wie Kabel, Stative, Scheinwerfer oder Kulissenteile, die den Blick auf sie verstellen und den Kunstcharakter der visuellen Inszenierung unterstreichen. Thomas’ Versuch, eine optische Illusion herzustellen, ist gescheitert und diente im Rückliblich lediglich dazu, den Aufbau- und Abbau filmischer Illusionsbildung, ihre Konstruktion und Dekonstruktion durchzuspielen. Die Sequenz erscheint damit erneut als myse-en-abyme des Verfahrens, das sie ermöglicht. Abb. 7: Jane als Objekt einer Photographie Da Jane Thomas‘ Bemühen ins Leere gehen lässt, wechselt zum Zweck weiterer Illudierungsversuche das Material. Anstelle optischer Gratifikation offeriert er sprachliche Ersatzbefriedigung in Form eines vermeintlich komplizierten Privatlebens: Als das Telephon klingelt, bleibt er zunächst unbeirrt sitzen und springt sodann urplötzlich auf, um zu antworten. Am Apparat - so lässt er wissen - sei seine Frau gewesen, was er sogleich revidiert: THOMAS: She isn’t my wife really. We just have some kids. No. No kids. Not even kids. Sometimes, though, it feels as if we had kids. She isn’t beautiful. She’s easy to live with. No, she isn’t. That’s why I don’t live with her. (00: 42: 52) <?page no="184"?> 180 Doch auch mit dieser Strategie kann Thomas seinen Besuch nicht dazu bewegen, die eigene Geschichte preiszugeben und die Bilder mit Sinn anzureichern. Auch der letzte Versuch, Janes Bewegungen „against the beat“ (00: 047.50) optisch prägnant und gegen den auditiven Kanal abgehoben zu inszenieren, scheitert. Jane fällt immer wieder aus der ihr zugedachten Rolle heraus (00: 48: 40). Im Gegenzug ist es sodann Jane, die dabei scheitert, den Photographen in ein Illusionsspiel zu verwickeln. Zunächst bittet sie nach einem Glas Wasser und nutzt Thomas’ Abwesenheit in der Küche dazu, den Film samt Kamera zu klauen. In der Studiotür wird sie jedoch von Thomas abgepasst mit den Worten: „And I’m not a fool, love.“ (00: 49: 38) Zurück im Obergeschoss bietet sie anstelle semantischer Gratifikation (ihr Privatleben) syntaktische Ersatzbefriedigung in Form ihres Körpers. Als sie jedoch ihre Brüste entblößt, versperren erneut Kostümteile und phototechnisches Material den Blick. 358 Auf discours-Ebene wird erneut deutlich, dass Thomas von Jane nicht das bekommt, was er wirklich will. Schließlich beruht Janes Angebot nicht auf gegenseitigem Verlangen. Ihr Wunsch, mit Thomas zu schlafen, ergeht nicht aus Lust, sondern aus erkennbar taktischen Gründen: „Why didn’t you say what you want? “ (00: 50: 07) Was Jane preiszugeben gewillt ist, ist nicht echt. Wie Thomas bietet sie nur an, worüber dieser ohnehin in rauen Mengen verfügt: schöne Frauen, die sich vor ihm ausziehen und mit ihm ins Bett gehen. Dramentheoretisch ist Jane in dieser Situation ein A, das ein B verkörpert, während Thomas als C zusieht. 359 Der Illusionscharakter ihrer Inszenierung bleibt für Thomas stets erkennbar. Genauso falsch wie Janes Angebot ist im Anschluss der Film, den er - das Angebot ablehnend - aushändigt. Der Illusionscharakter seiner Inszenierung bleibt Jane jedoch verborgen. Da sie nicht sehen konnte, dass Thomas den Film ausgetauscht hat, muss sie sein Entgegenkommen nach dem Gebot visueller Letztbegründetheit schlichtweg für ungespielt halten. Dies bringt sie augenscheinlich dazu, ihr Spiel aufzugeben: Zum Dank für den falschen Film gibt sie Thomas einen Kuss. Anders als beim ersten Angebot sexueller (Ersatz)Befriedigung scheint sie es diesmal tatsächlich ernst zu meinen und stellt echte Intimität in Aussicht. Indem Thomas ihr jedoch glaubt, rückt er dramentheoretisch an die Stelle, an die Jane durch den Glauben versetzt wurde, der Film sei echt. In 358 Dies als Zensur zu werten, erscheint wenig plausibel, wenn man bedenkt, dass der Film aufgrund der Darstellung einer ménage a trois mit expliziter Nacktheit zumindest in Italien kurz nach Erscheinen auf dem Index gelistet wurde. Die Kostümteile, die die Brüste in der besagten Szene bedecken, gehören durchaus zum ästhetischen Programm des Films. Zur Zensur siehe Claudia Lenssen: "Blow-up - 1966", in: Peter W. Jansen, Wolfram Schütte edd.: Michelangelo Antonioni, München/ Wien: Carl Hanser Verlag 1984, pp. 171-181, p. 181. 359 Dies gilt in Anlehnung an die Formel des Dramas nach Eric Bentley: „A impersonates B while C looks on.“ Cf. E. Bentley: The Life of the Drama, p. 150. Cf. ebenso Kap. 4.2 dieser Arbeit. <?page no="185"?> 181 dieser Blickrichtung ist das Spiel für ihn aufgehoben. Der Illusionscharakter von Janes Inszenierung bleibt ihm - wenn sie denn spielt - verborgen. Dabei kommt es sogar noch schlimmer. Denn je mehr Thomas davon überzeugt ist, seine Illudierungstaktikt des falschen Films habe gefruchtet, desto mehr muss er Janes Hingabe und Dank für ungespielt halten. Ihr Verhalten bestätigt schließlich das Funktionieren seiner Strategie. Der scheinbar echte Film - und dies ist das Entscheidende - wird mit dem bezahlt, was aussieht wie echte Gefühle und die Aussicht auf echte sexuelle und womöglich semantische Befriedigung. Ohne es zu merken, gibt sich Thomas der Illusion hin, eine Illusion geschaffen zu haben. Bezeichnenderweise wird die bevorstehende sexuelle Vereinigung jäh von der Studioklingel unterbrochen. Vor der Tür steht der Lieferant eines mannshohen Propellers, den Thomas am selben Vormittag gekauft hatte. „What’s it for“, will Jane wissen. „Nothing“, so Thomas, „it’s beautiful (00: 53: 42).“ Vordergründig ist diese Aussage wahr. Die Erzählzeit, die dem scheinbar nutzlosen Objekt eingeräumt wird, und die Begeisterung, die Thomas dafür beim Kauf gezeigt hatte, suggerieren jedoch etwas Anderes. Tatsächlich ist über den Propeller in Kritik und Forschung viel diskutiert worden: er erlaube Rückschlüsse auf die zeitgenössische kunsttheoretische Debatte 360 , verweise auf den inneren Antrieb und Mut des Protagonisten 361 oder gar dessen hektischen Alltag, in dem sich die Dinge drehten, wie der Gegenstand selbst. Betrachtet man jedoch weniger den symbolischen Gehalt, als vielmehr die dramaturgische Funktion, die ihm in der oben beschriebenen Szene zukommt, so ergibt sich eine weitere interessante Sichtweise. Auf histoire-Ebene ist der Propeller tatsächlich für nichts gut. Auf discours-Ebene hingegen ändert sich nach seiner Anlieferung nahezu Alles. Wie bei einem Möbiusband - dessen Form der Propeller auf seiner Außenseite immerhin nachzeichnet - wechseln die beiden Figuren im Rahmen der visuellen Inszenierung plötzlich die Seiten. War es vormals Thomas, der als blickendes Subjekt zu sehen war, so wird diese Position nun von Jane beansprucht. War sie es, die zuvor durch optische Rahmungen oder von phototechnischem Material bedeckt wurde, so rückt Thomas fortan in eine vergleichbare Stellung. Unmittelbar nachdem er den Propeller auf den Studioboden gelegt hat, ist er auf dem Rückweg zum Schlafzimmer als verzerrte Spiegelung in einem Reflektor zu sehen, der seinen Körper im oberen Drittel durchtrennt, wie vormals die Balkenkonstruktion bei Jane (Abb. 8). Der Propeller ist im Hintergrund noch immer zu sehen. In der vorangehenden Einstellung hat Thomas das Bild, von links kommend, auf der rechten Seite verlassen. Korrekte continuity würde verlangen, dass er die oben 360 Aaron Sultanik: Film - A Modern Art, London u.a.: Rosemont 1986, p. 418 sowie D. Grossvogel: "Blow-Up - The Forms of an Esthetic Itinerary", p. 152 sq. 361 Peter Goldman: "Blowup, Film Theory, and the Logic of Realism", Anthropoetics (2008), <http: / / www.anthropoetics.ucla.edu/ ap1401/ 1401goldman.pdf> [Zugriff am 25.01.2014]. <?page no="186"?> 182 gezeigte Einstellung am linken Bildrand betritt. Stattdessen sorgt der Spiegel für einen (Pseudo-) Achsensprung 362 , indem Thomas als Reflexion zuerst von rechts nach links schreitet, bevor er das Bild - in Fleisch und Blut - korrekt auf der linken Seite betritt, um sodann weiter nach rechts zu gehen. Damit erscheint er im visuellen Kanal zunächst nicht mehr als Produzent von Bildern, sondern als deren Produkt. Dass dabei zudem ein (konzeptioneller) Materialwechsel stattgefunden hat, wird deutlich, indem das Spiegelbild anaphorisch auf die vorangegangene Einstellung verweist - sie gewissermaßen im Verschwinden zeigt - während die nächste, aktuelle Einstellung noch nicht komplettiert ist. Abb. 8: Thomas als angehendes Objekt von Text Auf diese Weise wird die in Abbildung 8 gezeigte Einstellung, neben ihrer offensichtlichen ikonischen Beschaffenheit, konventionell. Was im Spiegel zu sehen ist, wurde bereits gezeigt. Dies verlangt danach, die beiden Einstellungen nicht nach perspektivischen Parametern, sondern wie Schriftzeichen miteinander zu verketten. Die Sequenz suggeriert, dass die folgenden Bilder zu ‘lesen’ sind. Denn erzeugen Kamera, montage und mise-en-sène kurzzeitig 362 Zur 180-Grad-Regel oder ‘axis of action’ siehe D. Bordwell, K. Thompson: Film Art - An Introduction, pp. 263 sqq. sowie B. Beil, J. Kühnel, C. Neuhaus: Studienhandbuch Filmanalyse, p. 147. Zur Filmsyntax cf. auch James Monaco: Film verstehen - Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und der Neuen Medien, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2000, pp. 218-228. <?page no="187"?> 183 räumliche Desorientierung, so lässt sich der Raum erst im wechselseitigen, syntaktischen Bezug der Bilder rekonstruieren. 363 Die Reorientierung in der nächsten Einstellung belegt den Verdacht, dass sich das Machtgefälle zwischen den beiden Figuren umgekehrt hat. Stand Thomas in der Park-Episode stets oberhalb von Jane, so befindet sich diese nun weit über ihm (Abb. 9) und kann den scheinbar nutzlosen Propeller sogar auf seinen ureigensten, praktischen Sinn zurückrechnen - “I’d hang it from the ceiling like a fan“ (00: 53: 43) - während er für Thomas weiterhin „a piece of sculpture“ ist (00: 53: 58). Abb. 9: Veränderte Hierarchie Der small-talk über den möglichen dekorativen oder nutzbaren Wert des Propellers erscheint im Anschluss in etwa so wenig relevant wie die beiläufige Information, dass Jane nicht alleine lebt. Wie auf discours-Ebene nahegelegt wird, ist Thomas im Illusionsspiel nun unterlegen, wenngleich er sich selbst weiterhin als Spielmacher versteht. Vielleicht erleidet Jane aus diesem Grund in der anschließenden Einstellung einen Lachanfall (00: 54: 12). Dabei ist sie allein im close up zu sehen, der hart geschnitten auf einen full shot folgt, der die Figuren zuvor noch zu zweit gezeigt hatte (00: 54: 00). Die Ellipse, die bei dem Schnitt entsteht, der Dialog und Lachanfall trennt, unterstreicht die Tatsache, dass das Lachen pragmatisch allein Jane gehört. Zwar mag Thomas zuvor einen Witz gemacht haben, gezeigt wird dies aber nicht. Jane könnte ihn genauso gut auslachen. Sein Auftritt als Entertainer wird 363 In diesem Zusammenhang erneut interessant die Überlegungen von Matei Chihaia zur Immersion als Reorientierung und Desorientierung. Cf. M. Chihaia: Immersion und Infiltration in Film und Literatur, Kap. 1.3 sowie Kap. 1.5. <?page no="188"?> 184 von der Montage übergangen, ganz so, als wäre er aus dem Film herausgeschnitten. So abrupt wie der Lachanfall begonnen hat, wird er von Jane beendet. Über die Tatsache, dass seine vermeintliche Eroberung so plötzlich auf und davon möchte, scheint Thomas wenig amüsiert. War Jane in der Park- Episode noch mit den Worten „You’ve never seen me“ geflohen (00: 30: 08), so fragt Thomas nun flehentlich „Do I see you again? “ (00: 54: 27), was Jane mit einem bloßen Achselzucken quittiert. Mit der Frage „At least give me your name or your telephone number“ (00: 54: 32) sucht Thomas weiterhin nach Möglichkeiten, die exophorischen Bezüge der Bilder durch gesicherte Rückfragemöglichkeiten zu festigen. Während Jane den falschen Film einsteckt, macht sich Thomas auf die Suche nach einem Stift. Dabei tritt er hinter eine Balkenkonstruktion, die exakt derjenigen gleicht, die das vermeintliche Model zuvor gerahmt hatte. Diesmal ist es jedoch Jane, die vor dem abgeschrägten Stützbalken steht, an dessen Äquivalent Thomas zuvor gelehnt hatte (Abb. 10). Abb. 10: Thomas als Objekt von Text Im Hintergrund ist nun nicht mehr der Tresor zu sehen, sondern eine Ansammlung phototechnischer Apparate, die nun den Bildmacher als das zeigen, was er ohnehin ist. Janes Verweigerung der Herausgabe einer Geschichte hat über den Zeitraum ihrer Anwesenheit letztlich eine andere Geschichte mit anderem Material generiert und die ursprüngliche Intrige auf diese Weise überschrieben. Wurde Thomas vormals als Hersteller optischer Erzeugnisse gezeigt (Abb. 7), so erscheint er nun als Produkt von Text. Dies macht Jane zum Verfasser. Da sie im Gegenzug für den falschen Film jedoch eine falsche Telephonnummer notiert, sind die zu erwartenden exo- <?page no="189"?> 185 phorischen Bezüge in diesem Fall ebenso wenig sinnversprechend wie vormals diejenigen der Bilder. Entscheidend ist die Tatsache, dass das dominante illusionsbildende Verfahren auf Geschichts- und Darstellungsebene von nun an konzeptionell schriftlich oder textuell ist. Nach Janes Verschwinden entwickelt Thomas den richtigen Film und reiht die Photos zu einer Sequenz. Indem er den interessierten oder besorgten Blicken der abgebildeten Personen je weitere Bilder der Serie zuordnet 364 , stellt er nur mehr endophorische Beziehungen her und bildet aus der Serie einen konzeptionell schriftlichen ‘Text’. 365 Seine Zeichen müssen erlernt werden. Im ersten Anlauf entdeckt Thomas in ihnen die sehr undeutlichen Umrisse eines weiteren Mannes abseits im Gebüsch. Der Versuch, einen exophorischen Bezug zu sichern und Jane telephonisch zu erreichen, führt ins Leere. Zu sehen ist Thomas dabei durch die Glasscheibe, in der zuvor Verushka als Produzentin sprachlicher Illusionen zu sehen war (Abb. 5). An der Stelle, an der Thomas vormals den Raum betrat als jemand, der optische Illusionen herstellt, steht nun die Kamera selbst (Abb. 11). Abb. 11: Thomas als Produzent sprachlicher Illusionen Der Photograph ist nun, wie vormals Verushka, zum Produzent sprachlicher Illusionen geworden, die er mit photographischem Material herstellt. Deutlich wird dies, als Thomas die Photoserie nach ergebnislosem Telephonat 364 Die genaue Zusammensetzung der Sequenz wird eingehend diskutiert in S. Chatman: Antonioni, or the Surface of the World, pp. 144-152. Sie ist für die hier angestellten Überlegungen jedoch zweitrangig. Entscheidend ist das sujetstiftende und zugleich sujetverweigernde Potenzial der Sequenz. 365 Cf. erneut ibid., pp. 149-152. <?page no="190"?> 186 dennoch komplettiert, im Raum verteilt und betrachtet. Die Kamera übernimmt dabei seinen point of view und zeigt die starren und teilweise rauschenden Schwarz-Weiß-Photos bildfüllend wie bei einer Dia-Show. Während die Park-Episode in dieser Präsentationsform (visuell desaturiert und endophorisch konstruiert) Züge von Schriftlichkeit annimmt, tritt im auditiven Kanal das Rauschen der Blätter als ikonisches Zeichen beglaubigend hinzu. Im visuellen Kanal funktionieren die unbewegten und formalisierten Photos nun wie konventionelle Schriftzeichen, während die Zeichen des auditiven Kanals konzeptionell photographisch sind. Eine weitere Vergrößerung der auffälligen Stelle und eine geringfügige Änderung in der Bildreihenfolge fördern sodann den Mann mit Pistole zweifelsfrei zu Tage. Bezeichnenderweise markiert Thomas die entsprechende Stelle nun mit einem Stift. Überzeugt, einem Mord auf der Spur zu sein, ruft er seinen Agenten an. Die Verständnisschwierigkeiten am Telephon unterstreichen jedoch, dass die so hergestellte Detektivgeschichte sprachlich nicht mehr erzählbar ist. Zudem scheint es, als wolle oder könne Ron sie nicht hören. Die ersehnte sprachliche Gratifikation muss ein weiteres Mal auf sich warten lassen und wird erneut durch die Türklingel unterbrochen. Diesmal sind es zwei junge Photomodels, die sich bereitwillig von Thomas verführen lassen. Wenngleich die Szene häufig als Ablenkung auf der Suche nach Sinn interpretiert worden ist 366 , so erfüllt sie ähnlich dem Propeller eine wichtige dramaturgische Funktion und lässt sich als Kommentar auf den neu gefundenen, schriftähnlichen Verwendungszweck photographischen Materials deuten. Bezeichnenderweise ist es nun nicht mehr eine Frau, die semantische Befriedigung in Aussicht stellt, sondern es sind zwei Frauen, die für syntaktische Befriedigung sorgen. Nicht zufällig werden die beiden wie photographisches Zeichenmaterial inszeniert. Auffällig ist zunächst, dass sich einer der wenigen Wortwechsel zwischen Thomas und den Models um die Frage nach deren Namen dreht: „She always like that“, fragt Thomas eines der beiden Mädchen über ihre Freundin. „Like what? “ will erstere wissen. „Doesn’t speak.“ Und da er auf die Frage „What’s your name? “ keine Antwort erhält, erklärt er die Angelegenheit für erledigt mit den Worten: „Forget it. What’s the use of her name? “ (01: 07: 40-01: 07: 51) Damit werden die Mädchen auf histoire-Ebene allein auf ihre sichtbaren Oberflächen reduziert. Zudem ist die Tatsache, dass die Kamera ihre Kleider auffällig nah zeigt, keineswegs trivial. Immerhin erinnert deren farblicher Kode in mattem Grün und Blau sowie Weiß an denjenigen der Park- Episode. Darüber hinaus inszeniert der Komplementärkontrast der Strumpfhosen in Grün und Pink erneut ein visuelles chromatisches Ergänzungs- und Beglaubigungsverhältnis, ähnlich demjenigen, das Thomas kurz zuvor und überraschenderweise mithilfe der Photoserie entdeckt hatte. 367 In 366 Ibid., p. 140. 367 Ohnehin ist der Besuch der beiden Models eine Überraschung. Die erste Frage einer der beiden lautet nicht zufällig: „You weren’t expecting us, were you? “ (01: 06: 55). <?page no="191"?> 187 dem Maße, wie Bilder von nun an Beziehungen untereinander knüpfen und dabei semantische Befriedigung scheinbar spielerisch von selbst hervorbringen, wälzen und umwickeln sich die Beteiligten der ménage à trois in einem Photokarton, der Jane zuvor noch als Hintergrund dienen sollte. Thomas’ anfängliche Frustration über die fehlende sprachliche Validierung seiner Erzählung weicht in der Orgie der lustvollen Verkettung zweier oder mehrerer ‘Bilder’ sowie der ludischen Verformung und Zerstörung photographischen Materials. Mehr als eine beiläufige oder alltägliche Sex-Episode wird damit die Umfunktionierung von Photographie zu Schrift als Lust- und Materialspiel inszeniert. Auf Vermittlungsebene stößt der ménage à trois einen intermedialen Dialog zwischen den Bildern des visuellen Kanals und dem seltsam rauschenden blow-up auf Geschichtsebene an, welches Thomas im Anschluss herstellen wird: Wie später die vermeintliche Leiche im Park liegt hier der Photograph nach getanem Geschlechtsakt im zerknüllten Photokarton und lässt sich von den Models ankleiden. Abb. 12: Thomas als Leiche im Park? Was Thomas unmittelbar im Anschluss in einem der Photos als Leiche zu entdecken glaubt, entspricht hier also dem, was kurz zuvor von ihm selbst zu sehen war, während die Herstellung des seltsam rauschenden blow-ups das vorangegangene lustvolle Zerstörungs- und Verfielfältigungsspiel wiederholt. Damit mündet die ménage à trois in ein einziges ‘ästhetisches’ Zeichen auf Geschichtsebene, das ebenso enthemmt und vergleichgültigend eine Leiche und/ oder das Korn des Films zeigt und seinen möglichen Sinn fröhlich ins Unendliche verlagert. <?page no="192"?> 188 Dennoch entscheidet sich Thomas beim ersten Anblick des rauschenden blow-ups für eine gegenständliche Lesart. Noch in derselben Nacht begibt er sich in den Park, wo er tatsächlich eine Leiche entdeckt. Ihre Existenz kann im Umkehrschluss nur bedeuten, dass auf dem sonderbaren blow-up auch eine Leiche zu sehen ist. Da Thomas seine Kamera nicht dabei hat, muss er auf visuelle Beglaubigung seines Funds verzichten. Diesmal scheint auch der auditive Kanal keine eindeutige Bestätigung mehr anzubieten. Zwar ist beim nächtlichen Parkbesuch auch das Blätterrauschen nach wie vor zu vernehmen. Während Thomas den Toten jedoch im Gebüsch betrachtet, hört man das, was man für das Knacksen eines Asts und/ oder das Klicken einer Kamera halten könnte (01: 19: 19). 368 Die Doppelkodiertheit des visuellen Zeichens, das eine Leiche zeigt und keine Leiche zeigt, schlägt sich also auch auf die akustischen Zeichen nieder, die die Bilder zuvor noch ikonisch vereindeutigen konnten. Thomas kann zwar die Leiche sehen und dem Bild, das sie in absentia zeigt, denselben Gegenstand unterstellen. Das seltsame Geräusch erinnert jedoch daran, dass diese Zuschreibung auf einer Entscheidung beruht. Damit ermöglicht das rauschende blow-up pseudoautophorische Bezüge. Denn solange Thomas nur die Leiche sieht und nicht den blow-up, zeigt letzterer auch eine Leiche, und solange er entweder das Klicken einer Kamera oder einen Ast hört, existiert entweder das eine oder das andere. Dies macht Thomas zu jemandem, der auf phantastische Weise einer Illusion verfällt, die er zugleich und unmöglicherweise geschaffen hat. Dieser komplexe Zusammenhang wird auf Darstellungsebene reflektiert, als Thomas ins Studio zurückkehrt. Hier betritt er zunächst den Eingangsbereich, wo noch immer der Propeller und der spiegelnde Reflektor zu sehen sind. Ersteren berührt er nachdenklich mit dem Fuß, dreht sich sodann um und wird erneut im Reflektor gespiegelt (Abb. 13). Da der Blick auf den Photographen diesmal von hintereinander gestaffelten Glasscheiben verdeckt wird, erscheint sein Spiegelbild heller als sein tatsächlicher Körper. Die verdunkelte Scheibe lässt diesen gegenüber seiner optischen Repräsentation in den Hintergrund treten. Wurde der Photograph als Produzent optischer Illusionen noch unverstellt gezeigt (Abb. 5), als Produkt textuell erzeugter Illusionen über einen Spiegel (Abb. 8) und als deren Produzent durch eine Glasscheibe (Abb. 11), so erscheint er in optischer Repräsentation nun sowohl als Produzent als auch als Produkt textuell erzeugter Illusionen (Abb. 13). 368 S. Chatman: Antonioni, or the Surface of the World, p. 142. <?page no="193"?> 189 Abb. 13: Thomas als Produzent und Produkt von Text In dieser Position verhält sich Thomas gegenüber der Schrift wie der erotische Frauenkörper gegenüber der Photokamera. Um diesen Umstand zu veranschaulichen, empfiehlt es sich, die erste Photosession mit Thomas und Verushka ins Gedächtnis zu rufen. Auf der einen Seite agierte das Model durch ihre Bewegungen als Produzentin von Lust. Auf der anderen Seite wurde sie für die Kamera zum Objekt von Lust. 369 Dass Thomas das gleiche Schicksal als Produkt von Schrift widerfahren ist, wird in der anschließenden Szene deutlich. Unsicher über das weitere Vorgehen, begibt er sich zu seinem Nachbarn Bill und findet ihn beim Liebesakt mit seiner Frau Patricia. Während ersterer keine Notiz von Thomas nimmt, gibt Patricia still zu erkennen, Thomas möge bleiben, worauf sie ihre Lust an seinem Anblick bis zum Höhepunkt steigert. Peinlich berührt versucht Thomas seinen Blick an Gegenstände des Interieurs zu heften, zuerst einen Laib Brot, sodann ein Radio und einen Aschenbecher auf einer Kommode. Beide Male zeigt die Kamera den point of view shot statisch. Zuletzt gerät sie jedoch in Bewegung und gleitet über die Bettdecke der Liebenden hinweg, um sich in einem der abstrakten spray patterns zu verlieren, die überall in der Wohnung des Malers aufgestellt sind (01: 20: 52-01: 22: 17). Der photographische, objektfixierende Blick des Protagonisten wird an dieser Stelle mit Hilfe der Filmkamera einem lesenden Blick gegenübergestellt, der zwar den sexuellen Höhepunkt nicht in Form von Körpern zeigt, wohl aber in der Form malerischer Ungegenständlichkeit und Differenzlosigkeit ästhetisch evoziert. Auf discours- Ebene wird der lustvolle Höhepunkt durch die steigende Tonfolge einer 369 Cf. in diesem Zusammenhang bezogen auf das Kino: Laura Mulvey: Visual and Other Pleasures, Basingstoke u.a.: Palgrave Macmillan 2009, pp. 14-27. <?page no="194"?> 190 Piano-Jazz Improvisation im Radio beglaubigt, was einmal mehr die Doppelkodiertheit des auditiven Kanals betont. Zurück im Studio stellt Thomas fest, dass die Abzüge und Negative der Photoserie gestohlen wurden. Das einzige, was ihm bleibt, ist das seltsam rauschende blow-up, das eine Leiche und keine Leiche zeigt. Mit dem Verlust der endophorischen Kohärenz, die den kriminalistischen Hintergrund des letzten Bildes noch hätte beglaubigen können, verfällt Thomas zunehmend in Unsicherheit über den Realitätsstatus dessen, was er im Park gesehen hat. Erkennbar wird dies im auditiven Kanal durch die sprachliche Modalisierung 370 im anschließenden Dialog zwischen Patricia und Thomas: PATRICIA: Were you looking for something just now? THOMAS: No. Do you ever think of leaving him? PATRICIA: No, I don’t think so. THOMAS: I saw a man killed this morning. PATRICIA: Where? THOMAS: Shot. In some sort of park. PATRICIA: Are you sure? THOMAS: He’s still there. PATRICIA: Who was he? THOMAS: Someone. PATRICIA: How did it happen? THOMAS: I don’t know, I didn’t see. PATRICIA: You didn’t see? THOMAS: No. PATRICIA: Shouldn’t you call the police? THOMAS: That’s the body. (Zeigt auf das rauschende Photo) PATRICIA: Looks like one of Bill’s paintings. THOMAS: Yes. PATRICIA: Will you help me? I don’t know what to do. THOMAS: What is it? PATRICIA: I wonder why they shot him. THOMAS: I didn’t ask. (01: 25: 00-01: 27: 20) Auffällig ist zunächst die häufige Verwendung der Verben to look und to see. Analog zur visuellen Inszenierung von Textualität nach dem Verschwinden von Jane kommt es immerhin thematisch zur sprachlichen Evokation von Visualität. Anders als das vereindeutigende Rauschen der Blätter durch akustisch-ikonische Zeichen herrscht nun jedoch auch im auditiven Kanal Unsicherheit. Es scheint, als spreche Thomas in der zitierten Passage nicht über das, was er gesehen hat, sondern über das, was er gerade sieht. Mit body ist nicht der Tote gemeint, sondern das Photo. Seine Doppelkodiertheit schlägt sich zu diesem Zeitpunkt nieder auf die Rede selbst. Thomas’ Frage 370 Zur Modalisierung als Signatur des Phantastischen cf. Annette Simonis: Grenzüberschreitungen in der phantastischen Literatur - Einführung in die Theorie und Geschichte eines narrativen Genres, Heidelberg: Winter 2005, p. 46 sq. <?page no="195"?> 191 nach dem Beziehungsstatus Patricias sowie deren Bitte um Hilfe verweist akustisch auf eine bis dato völlig unbekannte verdeckte Handlung, die jedoch sogleich wieder zugunsten des gegenwärtigen Geschehens verschwindet. Wie die Leiche im Park haben Thomas und Patricia eine Vorgeschichte und keine Vorgeschichte. Der visuellen pseudo-autophorischen Zeigegeste des blow-up entsprechen zunehmend sprachliche Zeichen, die die Gegenstände, auf die sie verweisen, zugleich hervorbringen. Dabei sind sie nicht mehr auf visuelle Validierung angewiesen und generieren von nun an nur mehr eigene Wirklichkeiten. Dennoch gibt Thomas die Hoffnung nicht auf. Zuständig für die besondere Kunstform, Bilder zum Sprechen zu bringen, ist schließlich nicht er, sondern Ron. In der Hoffnung auf eindeutige Sinnzuschreibungen an das seltsam rauschende Bild macht sich der Photograph auf, um seinen Agenten auf einer Party abzufangen. Unterwegs sieht er Jane, die vor einem Schaufenster steht und kurz darauf in der Menge verschwindet. Indem Thomas ihr nacheilt, gerät er zufällig in ein Konzert der Yardbirds. Trotz des treibenden Beats steht das Publikum wie angewurzelt im Raum und sieht dem Geschehen nur zu. Niemand bewegt sich zur Musik. Nur ein Pärchen tanzt, dies jedoch gegen den Takt. Auditiver Kanal und visueller Kanal sind nicht mehr integrierbar. Erst als der Gitarrist sein Instrument zerstört und den Gitarrenhals ins Publikum wirft, gerät Bewegung in die Menge, da jeder versucht, sich das begehrte Objekt zu sichern. Die lustvolle und ekstatische Zerstörung akustischer Instrumente bringt jedoch auch hier ein Objekt hervor, das semantische Begehrlichkeiten ebenso schnell weckt, wie es sie tilgt. Thomas gelingt es zwar, sich das akustische Instrument/ Nicht-Instrument zu sichern. In dem Moment jedoch, wo er seine Verfolger abgehängt hat und das Interesse am Gegenstand verschwunden ist, lässt er ihn fallen und läuft davon. Ein weiterer Passant hebt den Gitarrenhals kurz auf, wirft ihn aber sogleich wieder auf den Boden. Was das seltsam rauschende Photo für den visuellen Kanal bedeutet, das ist der Gitarrenhals für den Tonkanal. Auch die akustischen, sprachlichen Zeichen sind von nun an pseudo-autophorisch. Ein letztes Mal versucht Thomas, seinen Agenten auf der Drogenparty von dem phantastischen Ausmaß der photographischen Entdeckung zu überzeugen: „Someone’s been killed. [...] Listen those pictures I took in the park.“ (01: 36: 03) Ron, der an der Geschichte nach wie vor nicht interessiert scheint, winkt Verushka zu sich, die ihm einen Joint in die Hand drückt. „I thought you were supposed to be in Paris“, so Thomas zu dem Model, das seinen deiktischen Nullpunkt mit der Äußerung „I am in Paris“ (01: 36: 15) kurzerhand souverän verlagert. Auch Thomas bekommt die Notwendigkeit zu spüren, sich als Figur selbst entwerfen zu müssen: THOMAS: I want you to see the corpse. We’ve got to get a shot of it. RON: I’m not a photographer. THOMAS: I am. (01: 36: 28-01: 36: 40) <?page no="196"?> 192 Die selbsterzeugte Berufsbezeichnung der Hauptfigur wird zur existentiellen Notwendigkeit, zumal Ron seinen Gesprächspartner kaum wahrnimmt. Von einer unsichtbaren Instanz will er wissen, „What’s the matter with him? “ (01: 37: 00). Erst nach ein paar Sekunden richtet er sich wieder an Thomas mit der Frage: „What did you see in that park? (01: 37: 10), worauf dieser auch die Leiche mit der Antwort „Nothing“ (01: 37: 17) aus der Sprache zum Verschwinden bringt. Bei seiner Rückkehr in den Park am nächsten Morgen muss Thomas feststellen, dass sie verschwunden ist. Von jemandem, der Illusionen produziert, ist Thomas zu jemandem geworden, der einer Illusion verfällt und zuletzt selbst ihr Produkt wird. Dabei war Ersteres zunächst mit Frust nach dem Auftauchen Janes jedoch mit Lust verbunden. Gleichermaßen war der Materialwechsel von der Photographie zur Schrift zunächst frustrierend, da es keine Rückfragemöglichkeiten gab, sodann phantastisch, lustvoll und orgiastisch, da man mit dem Material alles tun durfte, ihm keine Grenzen gesetzt waren. Auch dies wurde zunächst belohnt, wie tatsächlich eine Leiche im Park auftauchte, sodann jedoch enttäuscht, wie sie wieder verschwand. Das Tennisspiel der Pantomimekünstler lässt sich vor diesem Hintergrund als mise-en-abyme dessen lesen, was in den letzten 24 Stunden erzählter Zeit geschehen ist. Da nun jedoch ausschließlich pseudoautophorische Zeigegesten zum Tragen kommen, ist die letzte Szene zugleich mise-en-abyme dessen, was bei all dem erreicht wurde: Zunächst sind es die Mimen, die optische Illusionen produzieren, indem sie mit einem Ball spielen, der nicht zu sehen ist. Als eine der ‘Zuschauerinnen’ diesen ins Gesicht bekommt, scheint Thomas immerhin ein bisschen amüsiert (01: 43: 35) und signalisiert die Bereitschaft, das Illusionsspiel mitzuspielen. Sein müdes Lächeln zeigt jedoch an, dass der Illusionscharakter der Inszenierung - anders als davor - nun bewusst ist. Auf Vermittlungsebene wird dies deutlich, als die Kamera den Bewegungen des ‘Balls’ folgt, dieser aber genauso unsichtbar ist wie zuvor. Daran ändert sich auch nichts, als Thomas einen ‘Querschläger’ aufhebt und zurück ins Feld wirft. Wie er das Spiel sodann aus der Ferne verfolgt, ist er nur mehr im close-up zu sehen, während im auditiven Kanal das Geräusch des hin und her prallenden Balls zu hören ist. Als mitspielender Zuschauer ist Thomas zwar passives Produkt von Illusionen, bleibt aber weiterhin deren aktiver Produzent und wird in der letzten Einstellung erkennbar als jemand, der tatsächlich und unmöglicherweise Illusionen verfällt, die er selbst schafft. Da dies vormals nie zu realisieren war, war jeder Gewinn einer Illusion nur mit dem Verlust einer Realität zu erkaufen und im Effekt stets frustrierend. Die Gewissheit, dass dies nicht so sein muss, war vielleicht eines der Lernziele des Protagonisten. Womöglich wurde dieses einmal sogar ausbuchstabiert: Als Thomas Jane auf dem Weg zur Drogenparty vor einem Schaufenster sieht, steht sie unter einer gut lesbaren Leuchtschrift, die die Namen zweier Firmen zeigt: Leisure und Permutit (01: 28: 44). Jedes der beiden <?page no="197"?> 193 Schilder ist sogar zweimal zu lesen. Die Tatsache, dass ihre Existenz im Film mit dem kurzzeitigen Wiederauftauchen von Jane koinzidiert, mag signifikant oder belanglos sein. Da aber Jane - wie der Propeller - für den weiteren Verlauf der Handlung an dieser Stelle keine Rolle spielt, ist Ersteres wahrscheinlicher. Janes erneutes Auftauchen ist für sich genommen nicht bedeutsam, wohl aber ihr Auftauchen unter zwei Wörtern, die im ersten Fall so viel wie Freizeit, Muße oder Belieben bedeuten, und im zweiten Fall - phonisch realisiert als permute it - die Aufforderung, etwas zu vertauschen, zu kombinieren, einen Wechsel vorzunehmen. Ist es vorstellbar, dass die größtmögliche Lust - auf Geschichtswie auf Vermittlungsebene, auf Senderwie auf Empfängerseite - im nach Belieben vorgenommenen Wechsel von der Materialhoheit zur Materialgläubigkeit, von der Textur zur Bedeutung, vom Produktionszum Rezeptionsprozess, vom Inhalt zur Form die ganze Zeit über zu holen war? Ist es möglich, dass all das nicht zu Zweifeln, Zaudern oder Schrecken führen muss, ob deren Bedrohung der Mensch und seine Ordnungen Gefahr laufen, verlustig zu gehen? Ist es möglich, dass bei diesem Spiel „weder der Mensch noch die Erzählfreude verschwinden“? 371 371 Volker Roloff: "Vom Surrealismus zur postmodernen Erzählfreude - Lateinamerikanische Kombinationen und Beispiele (Borges, Mário de Andrade, Carpentier)", in: Ulrich Schulz-Buschhaus ed.: Projekte des Romans nach der Moderne, München: Fink 1997, pp. 289-310, p. 289. <?page no="199"?> 195 Schlusswort: Medienphantastik im Zeichen spielerischer Lust Die vorliegende Arbeit nahm ihren Ausgangspunkt bei der Frage, ob es einen strukturellen Zusammenhang gibt zwischen dem, was in der Forschung als Phantastik bezeichnet wird, und dem, was hier Medium genannt wurde. Die theoretischen und medienhistorischen Überlegungen konnten zeigen, dass die phantastische Literatur im angehenden 20. Jahrhundert nicht von der Bildfläche verschwindet, sondern sich möglicherweise weiterentwickelt, indem sie fortfährt, ihr eigenes Potenzial auszuschöpfen, das darin besteht, die eigene Medialität zu hinterfragen. Im Rahmen der literarischen Inszenierung geschieht eine solche Befragung zuvorderst durch die implizite oder explizite Auseinandersetzung mit möglichen Erscheinungsformen eines Mediums. Bei Borges ist dies in erster Linie die Sprache und ihre jeweilige Ausprägung als gesprochener und geschriebener. Die Welt, so macht es Borges deutlich, zeigt sich je nach Gebrauch von Sprache in anderem Gewand, wenngleich sie dabei stets dieselbe bleibt. Was im Zuge der Auseinandersetzung mit Borges überrascht hat, war die Tatsache, dass sich hier, wenn auch vereinzelt, eine deutliche Hinwendung zu intermedialen Erzählexperimenten beobachten ließ. Vielleicht liegt die besondere Filiation, die Borges und Cortázar nachgesagt wird, verstärkt in diesem Punkt. Denn gerade bei Cortázar - und insbesondere in Las armas secretas - entfalten intermediale Erzählverfahren ihr volles Potenzial. Vielleicht sind die geheimen Waffen gar Erscheinungsformen von Medien, die Sinn vermitteln, dies aber für gewöhnlich im Verborgenen - geheim - tun. Im Rückblick lässt sich noch ein weiterer Aspekt benennen, der der literarischen Auseinandersetzung mit Medien bei Borges und Cortázar innewohnt und der sich bei Michelangelo Antonionis Blow-Up besonders deutlich abzeichnet. Was bei Borges und Cortázar häufig im Zeichen des Bedrohlichen, Verabscheuungswürdigen, Banalen oder gar Konfliktiven stand, was als ‘realidad atroz o banal’ oder als ‘batalla fraternal’ begann, wird nicht immer, aber doch oft genug überführt in den Bereich des Heiteren, des Spiels und der Lust. So verliert beispielsweise eine sprachlich konstruierte Weltordnung - genannt Orbis Tertius - ihren Schrecken, wo sie durch ein Ausreizen dessen, was das Medium Sprache bietet, ihres Ernstes enthoben werden kann. Auch löst sich eine bedrohliche Vergangenheit aus dem Bereich des Verdrängten und lässt sich womöglich produktiv in die Gegenwart überführen, wo Mechanismen des Mediums, das die Bedrohung verbürgt, im Durchspielen erkannt wurden. Auch konnte zuletzt der Prota- <?page no="200"?> 196 gonist von Blow-Up durch ein Spiel, bei dem etwas nicht ist, was ist, 372 lernen, die Zweifel, die sich nahezu über den gesamten Handlungsverlauf in seinem Gesicht abgezeichnet hatten, produktiv zu nutzen. Im letzten close up, den wir von ihm sehen, vollzieht sein Blick eine Wandlung. Das altbekannte, stirnrunzelnde, gequälte Suchen löst sich für einen kurzen Moment in einem zarten Lächeln und gerinnt sodann zu einem Gesichtsausdruck, in dem sich eine Erkenntnis ankündigt: Thomas schlägt die Augen nieder und blickt vor sich hin ins Leere, dorthin, wo etwas nicht ist, was ist. 372 Es ist dies die Signatur des Fiktiven nach Wolfgang Iser. Cf. id.: Das Fiktive und das Imaginäre, p. 20. <?page no="201"?> 197 Literatur Texte und Filme Alighieri, Dante: La Commedia - IV Paradiso, ed. Giorgio Petrocchi, Florenz: Le Lettere 2003 —: Die Göttliche Komödie, ed. Hermann Gmelin, Stuttgart: Reclam 2007 —: La Commedia - Die Göttliche Komödie, I-III Paradiso/ Paradies, Italienisch/ Deutsch, ed. et transt. Hartmut Köhler, Stuttgart: Reclam 2012 Antonioni, Michelangelo: Blow-Up, Großbritannien: MGM 1966 Berkeley, George: A treatise concerning the principles of human knowledge, Oxford: Oxford Univ. Press 1998 Borges, Jorge Luis: El idioma de los argentinos, ed. María Kodama, Buenos Aires: Seix Barral 1960 —: Prólogos con un prólogo de prólogos, Buenos Aires: Torres Agüero 1977 —: Gesammelte Werke, Bd. III/ 1, ed. et trans. 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"Mise en abyme", in: Ansgar Nünning ed.: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart: Metzler, pp. 461-462 Wörtche, Thomas: Phantastik und Unschlüssigkeit - Zum strukturellen Kriterium eines Genres - Untersuchungen an Texten von Hanns Heinz Ewers und Gustav Meyrink, Meitingen: Corian 1987 Wünsch, Marianne: Die fantastische Literatur der frühen Moderne - Definition, denkgeschichtlicher Kontext, Strukturen, München: Fink 1991 Yelin, Julieta: "Kafka en Argentina", Hispanic Review 78 (2010), 251-273 Zepp, Susanne: Jorge Luis Borges und die Skepsis, Wiesbaden: Franz Steiner 2003 <?page no="212"?> 208 Verzeichnis der Abkürzungen Texte von Jorge Luis Borges: Al "El Aleph" Fm "Funes, el memorioso" Tlön "Tlön, Uqbar, Orbis Tertius" IdA El idioma de los Argentinos Usb "La última sonrisa de Beatriz" Ldc "La doctrina de los ciclos" Texte von Julio Cortázar: Bdd "Las babas del diablo" Cdm "Cartas de mamá" Per "El perseguidor" Adc "Algunos aspectos del cuento" Texte anderer Autoren: Enc Fritz Mauthner: Art. "Encyklopädie", in: Id.: Wörterbuch der Philosophie, Leipzig: Felix Meiner 1923, pp. 379-401 <?page no="213"?> 209 Danksagung Die vorliegende Untersuchung wurde im Sommer 2014 von der Ludwig- Maximilians-Universität als Dissertation angenommen. Mein Dank gilt denjenigen, ohne die diese Arbeit nicht möglich gewesen wäre: Ich bedanke mich bei meinem Doktorvater Prof. Dr. Horst Weich, der mit der beruflichen Stellung nicht nur einen stabilen Rahmen geschaffen hat, sondern im selben Zug für ein Arbeitsklima gesorgt hat, in dem auch abseitige Wege beschritten werden durften. Auch gilt ihm mein Dank für den freundschaftlichen und unkomplizierten Umgang im alltäglichen Universitätsbetrieb. Bedanken möchte ich mich bei meinem Zweitbetreuer und Magistersvater Prof. Dr. Bernhard Teuber für das Vertrauen, ausreichend Zeit sowie die Schaffung einer besonderen intellektuellen Atmosphäre, in der sich die Ideen entwickeln konnten, die diese Arbeit tragen. Bedanken möchte ich mich auch für die Aufnahme der Arbeit in die von ihm und Prof. Dr. Andreas Dufter herausgegebenen Reihe Orbis Romanicus sowie für die Hilfe bei der Veröffentlichung. Mein ganz besonderer Dank gilt Prof. Dr. Andreas Mahler, der die Arbeit mit viel Umsicht, Geduld und Sorgfalt betreut und ihr die entscheidenden Impulse verliehen hat. Ohne ihn wären abseitige Wege zu Hauptstraßen geworden! Auch gilt mein Dank Prof. Dr. Oliver Jahraus, der sich zur Abnahme der mündlichen Prüfung bereit erklärt hat, und dessen intellektuelle Begeisterungsfähigkeit gerade in schwierigen Phasen stets Vorbild und Inspiration war. Ich bedanke mich ferner bei meinen Kolleginnen und Kollegen am Institut für Romanische Philologie sowie der Ludwig-Maximilians-Universität, namentlich bei Martina Bengert für unablässige Diskussionsbereitschaft kniffliger Fragen, bei Daniel Graziadei für elegante Sprünge aus argumentativen Sackgassen, bei Fabian Sevilla für unbequeme Rückfragen sowie - allen voran - bei Benedikt Steierer für die richtigen Worte im richtigen Moment! Katharina Glück danke ich für rasche Korrekturhilfen, Kathrin Heyng und Nadine Schwemmreiter-Vetter vom Narr Francke Attempto Verlag danke ich für die kompetente und rasche Unterstützung bei der Drucklegung. Mein persönlicher Dank geht an Christine Strauss-Seeber und Andreas Seeber, die für jeden Zweifel ein offenes Ohr und einen klugen Gedanken hatten, sowie an meine Mutter für lebenspraktischen Pragmatismus. Mehr als nur Dank gebührt Julia. Sie hat nicht nur die Durchsicht des Manuskripts auf sich genommen, sondern ist sogar noch größeren Schwierigkeiten mit steter Zuversicht begegnet. Ihr widme ich diese Arbeit! <?page no="215"?> Die rasante Verbreitung phantastischer Literatur ab dem 19. Jahrhundert ereignet sich zeitgleich mit der Durchsättigung der abendländischen Gesellschaft mit neuen technischen Medien. Die in der Folge explosionsartige Beschleunigung gesellschaftlicher Kommunikation sowie die Proliferation neuer Technologien führen zu einer inkommensurablen Fülle von irreduziblen Weltbildern. ontologischer Konzepte beschrieben, so fokussiert die vorliegende Arbeit ihr Potenzial, die weltherstellende und weltzerspielende Kraft neuer Medien erfahrbar zu machen. Die Medienphantastik, die bei Jorge Luis Borges und Julio Cortázar Konturen gewinnt, dient in letzter Konsequenz dazu, die Vielfalt von Weltbildern, die das angehende 20. Jahrhundert prägt, als mediale Konstruktionen auszuweisen und unterschiedlichste Zugriffe auf Welt in ihrer intermedialen Überschneidung zu erkunden. ISBN 978-3-8233-6986-8
