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Adjektivischer Bedeutungswandel: Deutsch - Georgisch

Eine gebrauchstheoretische Untersuchung mit strukturalistischen Ansätzen

1209
2015
978-3-8233-7994-2
978-3-8233-6994-3
Gunter Narr Verlag 
Gaios Tsutsunashvili

Dieser Band behandelt die seit der Anfangsphase der modernen Sprachwissenschaft viel diskutierte Frage nach der Systematizität des Bedeutungswandels. Die tragende Idee der korpusbasierten und empirieorientierten Untersuchung bildet die These, dass durch eine Verbindung handlungsorientierter Theorien mit sinnvollen strukturalistischen Ansätzen der systematische Charakter des Bedeutungswandels besser beschrieben werden kann. Im Fokus der Arbeit stehen dabei sowohl einzelsprachliche systematische Wandelerscheinungen als auch parallel verlaufende Bedeutungsentwicklungen im Deutschen und Georgischen Adjektivwortschatz. Beim einzelsprachlichen Bedeutungswandel spielen nicht nur sprecherseitige Faktoren eine Rolle, sondern auch sprachlich strukturelle, wie syntagmatische und paradigmatische Relationen. Für die sprachübergreifenden Parallelentwicklungen sind wiederum allgemeinmenschliche Erfahrungen verantwortlich, die Sprecher unterschiedlicher Sprachen und Kulturen zu ähnlichen Wahlhandlungen bei ihren sprachlichen Mitteln veranlassen.

<?page no="0"?> TBL Tübinger Beiträge zur Linguistik www.narr.de Adjektivischer Bedeutungswandel: Deutsch - Georgisch Eine gebrauchstheoretische Untersuchung mit strukturalistischen Ansätzen Gaios Tsutsunashvili <?page no="1"?> Adjektivischer Bedeutungswandel: Deutsch - Georgisch <?page no="2"?> Tübinger Beiträge zur Linguistik herausgegeben von Gunter Narr 555 <?page no="3"?> Gaios Tsutsunashvili Adjektivischer Bedeutungswandel: Deutsch - Georgisch Eine gebrauchstheoretische Untersuchung mit strukturalistischen Ansätzen <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. © 2015 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 0564-7959 ISBN 978-3-8233-6994-3 Die Arbeit wurde unter dem Titel „Vergleichende Theorie des Bedeutungswandels mit besonderem Schwerpunkt auf georgischen und deutschen Adjektiven. Eine gebrauchstheoretische Untersuchung des Bedeutungswandels mit strukturalistischen Ansätzen“ von der Philosophischen Fakultät der Universität Düsseldorf angenommen. D61 <?page no="5"?> Danksagung Es ist mir ein Anliegen und eine Freude, all denen zu danken, die auf unterschiedliche Weise zur Entstehung meiner Dissertation beigetragen haben. Als erstes möchte ich meinem Doktorvater Prof. Dr. Rudi Keller für die herausragende wissenschaftliche Betreuung, aber auch für seine stets angenehme, menschliche Art danken. In allen Phasen der Dissertation hat er mich ermutigt, eigene Wege in der Wissenschaft zu gehen. Für das entgegengebrachte Vertrauen bedanke ich mich bei ihm sehr. Einen besseren Betreuer als Prof. Keller kann ich mir nicht vorstellen. Mein weiterer Dank gilt meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Dietrich Busse. Durch seinen Einsatz konnten dekanatsbezogene Formalitäten zügig und unkompliziert erledigt werden. Auch hat Prof. Busse mir die Gelegenheit gegeben, meine Arbeit in seinem Doktorandenseminar zu präsentieren. Ich danke der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Gewährung des Promotionsstipendiums aus Mitteln des Auswärtigen Amtes, das maßgeblich zum Gelingen und zur Verlegung der vorliegenden Dissertation beigetragen hat. Des Weiteren gilt meine Erkenntlichkeit der Alfred Töpfer Stiftung für das Forschungsstipendium während der Abschlussphase der Arbeit sowie für den großzügigen Druckkostenzuschuss. Schließlich möchte ich mich bei dem DAAD und dem Industrie-Club Düsseldorf für die Gewährung des High-Potential-Mobility-Grants bedanken, der meinen Forschungsaufenthalt in London ermöglicht hat. Bei Davit Giorgobiani und Fritz Stieleke möchte ich mich für vielfältige Anregungen und für ihre Unterstützung beim Korrekturlesen dieser Arbeit bedanken. Ein besonderer Dank gebührt meiner Familie. Meine beiden Schwestern Ia Toraman und Mzia Tsutsunashvili standen mir in allen Phasen der Dissertation zur Seite und haben Freude und Leid mit mir geteilt. Meine Eltern haben mich während des gesamten Bildungslaufweges nach Maßgabe ihrer Möglichkeiten bestens unterstützt. Ihnen möchte ich diese Arbeit vom Herzen widmen. <?page no="7"?> Inhaltsverzeichnis I. Allgemeiner Teil 1. Einleitung, wissenschaftliche Fragestellung und Übersichtsdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1.1 Allgemeine Einführung in den Forschungsstand . . . . . . . . . . 17 1.2 Forschungsstand: sprachübergreifende Arbeiten im Bereich des Bedeutungswandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.3 Textkorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 1.4 Über den Sinn der wortartenspezifischen Untersuchung des Bedeutungswandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1.5 Bedeutungswandel bei Adjektiven mit evaluativen und expressiven Bedeutungskomponenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2. Bedeutungstheoretische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.1 Die repräsentationistische Bedeutungsauffassung . . . . . . . . . 29 2.1.1 Referenztheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2.1.2 Vorstellungstheorie bzw. kognitivistische Bedeutungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 2.1.3 Instrumentalische Auffassung: Gebrauchstheorie der Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2.2 Verschiedene Gebrauchsparameter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 2.2.1 Parameter aus der äußeren Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2.2.2 Parameter aus der Welt der Gefühle und Haltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 2.3 Semantische Klassifikation von Adjektiven . . . . . . . . . . . . . . . 50 3. Der Bedeutungswandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 3.1 Die Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung . . . . . . . 57 3.2 Unsichtbare Hand und Sprachwandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 3.3 Motive des Bedeutungswandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 3.4 Drei Verfahren des Bedeutungswandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 3.4.1 Bedeutungsspezifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3.4.2 Metaphorischer Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 3.4.3 Metonymischer Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 3.4.4 Das Zusammenspiel von metaphorischem und metonymischem Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 7 <?page no="8"?> II. Empirischer Teil Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 4. Systematizität des semantischen Wandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 4.1 Gesetze des Bedeutungswandels? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 4.2 Allgemeine Tendenzen oder konkrete Pfade des Bedeutungswandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 4.3 Pfade des Bedeutungswandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 5. Einzelsprachliche Wandelpfade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 5.1 Einzelsprachliche semantische Parallelentwicklungen . . . . . 96 5.2 Die kontrastive Parallelentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 5.3 Die Rolle der kontrastiven Parallelentwicklung für eine sprachübergreifende Analyse des Bedeutungswandels der Adjektive recht und link . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 5.3.1 Der Bedeutungswandel des Adjektivs recht . . . . . . . . 101 5.3.2 Der Bedeutungswandel des Adjektivs link . . . . . . . . . 109 5.4 Paradigmatische Bedeutungsrelationen und Wandelpfade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 5.5 Syntagmatische Relationen und Wandelpfade . . . . . . . . . . . . 117 6. Entstehung sprachübergreifender Wandelpfade . . . . . . . . . . . . . . . 120 6.1 Soziokulturelle Zusammenhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 6.2 Reflektiertes menschliches Alltagshandeln und sprachübergreifende Wandelpfade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 7. Methodische Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 8. Der Bedeutungswandel von deskriptiv-evaluativen Adjektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 8.1 Der Bedeutungswandel nach dem Muster: „ menschlicher Körper > menschliche geistige Fähigkeiten “ . . . . . . . . . . . . . . 127 8.1.1 Wandelpfad: „ physische Defizite > geistige Defizite “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 8.1.2 Sprachübergreifende Analyse des Wandelpfads „ physische Defizite > geistige Defizite “ . . . . . . . . . . . . 131 8.1.3 Wandelpfad: „ physische Verletzungen > geistige Defizite “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 8.1.4 Sprachübergreifende Analyse des Wandelpfads „ physische Verletzungen > geistige Defizite “ . . . . . . . 143 8 <?page no="9"?> 8.2 Taktile oder visuelle Wahrnehmung > menschliche geistige Fähigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 8.2.1 Wandelpfad: „ Schneideeigenschaften > geistiges Können “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 8.3 Zusammenfassung: Wandelpfade im Bereich der deskriptiv-evaluativen Adjektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 9. Der Bedeutungswandel von expressiv-evaluativen Adjektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 9.1 Geistige Grenzzustände > starke Begeisterung . . . . . . . . . . . . 161 9.2 Wandelpfad „ bemitleidenswert > miserabel “ . . . . . . . . . . . . . 169 9.2.1 Sprachübergreifende Analyse des Wandelpfads „ bemitleidenswert > miserabel “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 9.3 Wandelpfad „ Glanz ausstrahlend > großartig “ . . . . . . . . . . . 180 9.3.1 Sprachübergreifende Analyse des Wandelpfads „ Glanz ausstrahlend > großartig “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 9.4 Zusammenfassung: Wandelpfade im Bereich der expressivevaluativen Adjektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 10. Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 9 <?page no="11"?> I. Allgemeiner Teil <?page no="13"?> 1. Einleitung, wissenschaftliche Fragestellung und Übersichtsdarstellung Schaut man die Bedeutungsentwicklung des deutschen Adjektivs erbärmlich näher an, so wird man feststellen, dass es zwar gegenwärtig abwertend im Sinne von ‘ miserabel ’ verwendet wird, in seiner Ausgangsbedeutung aber etwas ganz anderes bedeutete. Es wurde dazu genutzt, das Mitgefühl gegenüber den Mitmenschen zum Ausdruck zu bringen. Erbärmlich bedeutete also in seiner Ausgangsbedeutung ‘ Erbarmen erregend ’ . Die Tatsache allein, dass dieses Eigenschaftswort seine Bedeutung so stark geändert hat, macht das Forschungsvorhaben noch nicht spannend, denn es gibt eine Vielzahl von Adjektiven oder Verben, welche ihre Bedeutungen im Laufe der Zeit geändert haben und es gibt eine Vielzahl von Forschungsarbeiten, welche den Bedeutungswandel der betreffenden Ausdrücke untersucht haben. Was den Bedeutungswandel von erbärmlich untersuchungswert macht, ist die Tatsache, dass dieses Adjektiv nicht zu übersehende Ähnlichkeiten in seiner Bedeutungsentwicklung mit weiteren Adjektiven wie kümmerlich, jämmerlich, jammervoll, armselig, elendig und kläglich aufweist. Sie alle haben ihren Bedeutungswandel nach dem Muster „ bemitleidenswert > miserabel “ vollzogen. Was das Ganze aber noch spannender macht, ist die Tatsache, dass das gleiche Muster des Bedeutungswandels nicht nur im Deutschen, sondern auch in anderen Sprachen anzutreffen ist. So weist erbärmlich erstaunliche Parallelen mit seinen georgischen und russischen Pendants auf. In allen diesen Sprachen bedeuteten sie in der Ausgangsbedeutung ‘ bemitleidenswert ’ . Gegenwärtig werden sie aber abwertend im Sinne von ‘ miserabel ’ verwendet. Es ist interessant, dass diese Adjektive keinesfalls eine Ausnahme darstellen. Es gibt etliche weitere Beispiele, welche ebenfalls ähnliche sprachübergreifende Bedeutungsentwicklungen untereinander durchlaufen haben. Angesichts dieser Übereinstimmungen lässt sich fragen, ob diese Ähnlichkeiten im adjektivischen Bedeutungswandel durch einen Zufall zustande gekommen sind. Oder lassen sich diese Übereinstimmungen vielmehr dadurch erklären, dass der Bedeutungswandel einen systematischen Charakter hat? Um es gleich vorwegzunehmen: Laut der weit verbreiteten Annahme in der historischen Sprachwissenschaft gelten Prozesse des semantischen Wandels - anders als der Lautwandel - als sehr unsystematisch. Dieser Annahme zufolge wären dann die einzelsprachlichen und sprachüber- 13 <?page no="14"?> greifenden Übereinstimmungen der semantischen Wandelerscheinungen, wie es beim Adjektiv erbärmlich der Fall ist, dem glücklichen Zufall zu verdanken. Ich möchte aber im Folgenden die These vertreten, dass bei semantischen Wandelprozessen ein hohes Maß an Systematizität zu beobachten ist. Dabei weisen zwar die Wandelerscheinungen häufig nicht eine „ Eins-zu-eins-Übereinstimmung “ auf, aber die Wandelprozesse, die dahinter stehen, besitzen durchaus ein hohes Maß an Systematizität. Deswegen lassen sich die konkreten Beispiele zu Wandelpfaden zusammenfassen, welche sehr oft einen sprachübergreifenden Charakter haben. Bemerkenswert ist, dass die ablehnende Haltung gegenüber dem systematischen Charakter der Wandelerscheinungen in den Anfängen der modernen Sprachwissenschaft weniger stark verbreitet war als heute. Es gab sogar eine rege Diskussion in den Forscherkreisen darüber, ob der Bedeutungswandel willkürlich oder systematisch ablaufen würde. Betrachtet man die Forschungsaktivitäten seit der Mitte des 19. Jahrhunderts im Bereich der historischen Sprachwissenschaft, so stellt man schnell fest, dass sich viele Linguisten auf die rekurrenten Muster hinter den semantischen Wandelerscheinungen aufmerksam machten, die sie auf vermeintliche „ Gesetze “ des Bedeutungswandels zurückführten. Andere Sprachwissenschaftler haben dann diese Sichtweise wiederum kategorisch abgelehnt und vertraten die Ansicht, dass der Bedeutungswandel chaotisch und willkürlich ablaufe, sodass die Frage nach der Systematizität des Bedeutungswandels bis heute nicht eindeutig beantwortet wurde. 1 Durch die vorliegende Arbeit erhoffe ich, Klarheit in genau dieser Frage zu schaffen. Dabei werden vor allem folgende drei Fragestellungen im Mittelpunkt des Forschungsvorhabens stehen: 1. Hat der Bedeutungswandel einen systematischen Charakter und worin besteht diese Systematizität? 2. Gibt es parallele semantische Entwicklungen in unterschiedlichen Sprachen? 3. Wenn ja, wie sehen sie im Einzelnen aus und auf welchen Aspekten basieren sie? Die gesamte Arbeit gliedert sich in zwei Teile. Der erste Teil befasst sich mit theoretischen Fragestellungen und mit der Begriffsklärung. Im zweiten Teil der Arbeit wird anhand der zuvor im theoretischen Teil entwickelten wissenschaftlichen Basis eine empirische Untersuchung von semantischen Wandelprozessen im deutschen und georgischen Adjektivwortschatz unternommen. Unten folgt eine kurze Übersichtsdarstellung. 1 Vgl. Harm 2000: S. 15 14 <?page no="15"?> Zunächst werden unterschiedliche Bedeutungstheorien miteinander verglichen. In diesem Zusammenhang erschien Loppes Bedeutungsbegriff, welcher weitgehend auf Wittgensteins Gebrauchstheorie, dem Lewis ’ schen Konventionsbegriff und Putnams Stereotypensemantik aufgebaut ist, als ein akzeptabler Ansatz für eine plausible Erklärung des linguistischen Bedeutungsbegriffs. Im nächsten Schritt wird kurz die traditionelle repräsentationistische semantische Klassifikation von Adjektiven vorgestellt und ihre Nachteile illustriert. Anschließend wird, basierend auf dem oben vorgeschlagenen konstanten, kontextunabhängigen Bedeutungsbegriff, eine semantische Klassifikation von Adjektiven vorgenommen, welche auf einem instrumentalistischen Zeichenbegriff basiert. Für die Klassifikation von Adjektiven erwiesen sich aber auch Radtkes Gebrauchsparameter aus der äußeren Welt und aus der Welt der Gefühle und Haltungen als besonders nützlich. Insgesamt wird zwischen den folgenden vier semantischen Klassen von Adjektiven unterschieden: 1. Rein evaluative Adjektive: gut, schön, schlecht. 2. Expressiv-evaluative Adjektive: geil, toll, irre. 3. Rein deskriptive Adjektive: blau, verheiratet, laut. 4. Deskriptiv-evaluative Adjektive: geizig, sparsam, schlank, mager. Im Anschluss an die bedeutungstheoretischen Vorüberlegungen werden die Prozesse analysiert, welche im Sprachwandel involviert sind. In Anlehnung an Keller werden diese Prozesse als Phänomene der dritten Art dargestellt und die Invisible-hand-Erklärung als ihr angemessener Erklärungsmodus vorgeschlagen. 2 Bezogen auf den Bedeutungswandel werden dann einzelne Verfahren näher analysiert. Im nächsten Schritt wird auf den systematischen Charakter des Bedeutungswandels eingegangen. Dabei werden kurz die Vor- und Nachteile der bereits existierenden Ansätze thematisiert. Im Anschluss daran wird die Bedeutungsentwicklung von den Adjektiven rechts und links untersucht, weil sie meines Erachtens eine sehr gute empirische Basis für eine facettenreiche, sprachübergreifende Untersuchung von systematischen semantischen Wandelprozessen darstellen. Diese Beispiele erscheinen mir deswegen facettenreich, weil sie einerseits sehr gut illustrieren, dass ganz triviale menschliche Alltagserfahrungen über die Sprachgrenzen hinweg einen Einfluss auf die semantischen Wandelerscheinungen haben können, und weil sie andererseits veranschaulichen, dass auch soziokulturelle Aspekte in den Prozessen des Bedeutungswandels involviert sein können. Schließlich wird anhand der Adjektive rechts und links aufgezeigt, dass einzelsprachliche semanti- 2 Vgl. Keller 1990/ 2003: S. 101 15 <?page no="16"?> sche Wandelprozesse durchaus einen systematischen Charakter haben können. Anhand der gewonnen Erkenntnisse wird ein theoretischer Erklärungsmodus für den systematischen Charakter der einzelsprachlichen und sprachübergreifenden semantischen Wandelerscheinungen vorgeschlagen. Dieser theoretische Unterbau wird dann auf der Basis des umfangreichen sprachlichen Materials überprüft. Dazu werden die Adjektive untersucht, welche in der Ausgangsbedeutung rein deskriptiv genutzt wurden und in der aktuellen Bedeutung expressive oder evaluative Aspekte beinhalten. Bei der Auswahl einzelner Beispiele wurde darauf geachtet, dass der zeitliche Abstand zwischen der alten und der aktuellen Bedeutung nicht zu weit auseinanderliegt, da dies die Untersuchung eines konkreten Falles deutlich erschweren würde. Zum einen fällt die Rekonstruktion der alten Bedeutung deutlich schwer. Zum anderen lassen sich in diesem Fall über die Wandelprozesse keine oder keine zufriedenstellenden Aussagen machen, denn es ist aufgrund der geringeren Anzahl der schriftlichen Quellentexte aus dem alltagssprachlichen Gebrauch der mittelhochdeutschen Zeit fast unmöglich, plausible Annahmen über die Motive der Sprecher z. B. im 13. Jahrhundert aufzustellen. Deswegen sind die allermeisten Belegtexte in der vorliegenden Arbeit nicht älter als aus dem 18. Jahrhundert. Häufig auftretende ähnliche Beispiele des Bedeutungswandels wurden zu Wandelpfaden zusammengefasst. Hierbei wurde zwischen einzelsprachlichen und sprachübergreifenden Wandelpfaden unterschieden. Bei den einzelsprachlichen semantischen Wandelprozessen ist oft zu beobachten, dass der Bedeutungswandel eines Ausdrucks Auswirkungen auf die Bedeutungsentwicklung anderer Ausdrücke hat, welche zueinander in paradigmatischer oder syntagmatischer Bedeutungsrelation stehen. Sprachübergreifende Wandelpfade basieren hingegen sehr häufig auf ganz trivialen menschlichen und alltäglichen Erfahrungen wie z. B. auf der Tatsache, dass bei den meisten Menschen die rechte Hand stärker ist als die linke oder dass die geschmackliche Schärfe zu einer schmerzhaften Wahrnehmung im Mundbereich führen kann. Diese Konzepte sind Grundlagen für Metaphern oder Metonymien in sehr vielen Sprachen, da sie über die Sprachgrenzen hinweg für Menschen die gleiche Gültigkeit besitzen. Diese Metaphern oder Metonymien sind dann ihrerseits grundlegend für zahlreiche Beispiele von Bedeutungswandel. Untersucht wurden die Wandelpfade aus dem Bereich der deskriptiv-evaluativen und expressiv-evaluativen Adjektive. Insgesamt wurden folgende sechs Wandelpfade anhand der Quellentexte ausführlich analysiert: 16 <?page no="17"?> Deskriptiv > deskriptiv-evaluativ 1. Physische Defizite > geistige Defizite 2. Physische Verletzungen > geistige Verletzungen 3. Schneideeigenschaften > geistiges Können Deskriptiv > expressiv-evaluativ 1. Geistige Grenzzustände > starke Begeisterung 2. Bemitleidenswert > miserabel 3. Glanz ausstrahlend > hervorragend Das Ende der Arbeit bildet die zusammenfassende Schlussbetrachtung. In diesem Teil der Forschungsarbeit werden die gewonnenen Erkenntnisse in einer komprimierten Form vorgestellt. 1.1 Allgemeine Einführung in den Forschungsstand Im Vergleich zu anderen Bereichen der Linguistik war die historische Semantik als Disziplin innerhalb der historischen Sprachwissenschaft deutlich unterrepräsentiert. 3 Wie Lehrer dies zu Recht anmerkt, war das Desinteresse der Tatsache geschuldet, dass der semantische Wandel als etwas sporadisches und unsystematisches angesehen wurde: „ One reason for this neglect of semantic change is that the changes themselves seem to be sporadic. “ 4 Diese auf den ersten Blick chaotischen Wandelprozesse erschienen vielen Sprachwissenschaftlern als uninteressant, weil sie der Auffassung waren, dass der Bedeutungswandel im Unterschied zum Lautwandel für eine systematische, logische Analyse weniger geeignet war. Auf diesen Tatbestand weist auch Sweetser hin: „ The general study of semantic change has undergone a long period of relative neglect, largely because the phonological part of word history proved so much more immediately tractable to systematic analysis. Semantic shifts have been felt to be random, whimsical, and irregular; “ 5 Erst ab den 1980er Jahren hat sich die wissenschaftliche Aktivität in diesem Bereich international spürbar verstärkt. Seit dieser Zeit sind wissenschaftliche Publikationen in großer Anzahl erschienen, die sich mit theoretischen und methodischen Fragestellungen des Bedeutungswandels auseinander- 3 Vgl. Nübling 2006: S. 107 4 Lehrer 1985: S. 283 5 Sweetser 1990: S. 23 17 <?page no="18"?> setzen. Eine gute Übersichtsdarstellung findet sich bei Fritz. 6 Besonderes Augenmerk verdienen vor allem die Einführungswerke von Gerd Fritz und Keller/ Kirschbaum, die einerseits durch die theoretischen Überlegungen zu Motiven und Prinzipien des Bedeutungswandels und andererseits durch eine Fülle von Beispielen einen guten Einblick in das Wesen dieses Wissenschaftsbereichs liefern. 7 Das Einführungswerk von Keller/ Kirschbaum ist zudem auch deswegen hervorzuheben, weil es den Zusammenhang zwischen der Mikro- und Makroebene der semantischen Wandelprozesse anhand der Invisible-hand-Erklärung eindrucksvoll erläutert. Dieser Erklärungsmodus wird auch in der vorliegenden Arbeit angewendet und weiter unten näher beschrieben. Auch Fritz erkennt den großen Stellenwert der Invisible-hand-Erklärung an und äußert den Wunsch, diese Theorie „ am umfangreichen historischen Material zu erproben. “ 8 Diesem Wunsch sind später Keller/ Kirschbaum durch ihr Werk „ Einführung in den Bedeutungswandel “ nachgekommen. Dabei handelte es sich um eine Untersuchung des Bedeutungswandels alleine im Deutschen. Meines Wissens wurde aber bis heute keine sprachübergreifende Untersuchung des Bedeutungswandels vorgestellt, die auf der Invisible-hand-Erklärung basiert. Deswegen wird in der vorliegenden Arbeit angestrebt, diese Lücke in der historischen Semantik zu schließen, indem sprachübergreifende semantische Wandelerscheinungen anhand der Invisible-hand-Erklärung analysiert werden. Betrachtet man die neueren Publikationen unter dem Blickwinkel der Systematizität des Bedeutungswandels, so wird man feststellen, dass zwar einige Autoren wie u. a. Harm, Traugott, Nerlich/ Clarke und Blank der Auffassung waren, dass nicht nur der Lautwandel, sondern auch der semantische Wandel einer gewissen Systematizität folgt. 9 Allerdings konzentrierten sich die jeweiligen Wissenschaftler mehr auf traditionelle Verfahren des Bedeutungswandels wie z. B. auf das metaphorische oder metonymische Verfahren oder auf die Bedeutungserweiterung oder die Bedeutungsverengung. Die allgemeinen Prinzipien der systematischen Bedeutungsentwicklung ließen sie aber weitgehend außer Acht. So stellt Bechmann zu Recht fest, „ dass es insbesondere die semantischen Verfahren sind, die traditionell im Lichte der Erkenntnis standen (. . .), nicht so sehr aber die allgemeinen Entwicklungsprinzipien und erst recht nicht diejenigen einzelner Wortarten. “ 10 Tatsächlich sind die Publikationen, welche basierend auf einer handlungstheoretischen Herangehensweise allgemeine 6 Vgl. Fritz 1998: S. 860 7 Vgl. Nübling 2006: S. 107 8 Fritz 1998: S. 871 9 Vgl. Kutscher 2009: S. 73 10 Bechmann 2012: S. 37 18 <?page no="19"?> Entwicklungsprinzipien der lexikalischen Bedeutung erklären, sehr überschaubar. Erst recht sind solche Untersuchungen in Bezug auf einzelne Wortarten äußerst selten anzutreffen. Im Bereich des adjektivischen Bedeutungswandels ist einzig die oben genannte Monographie von Keller/ Kirschbaum bekannt. Bechmann wählte eine ähnliche Herangehensweise, untersuchte aber den deutschen Verbwortschatz. Zwar berücksichtigt Bechmann dabei den handlungstheoretischen Ansatz, indem er sich dem Bedeutungswandel über die Sprecherebene nähert, aber er erkennt nicht die Rolle der syntagmatischen Relationen sowie der sprachinternen Bedeutungsrelationen wie der Ähnlichkeits- oder der Kontrastrelation beim semantischen Wandel. Genau andersherum verfahren die Strukturalisten wie z. B. Lehrer, Trier oder Stern. Sie untersuchen zwar die Bedeutungsrelationen in Form von Ähnlichkeitsrelationen oder Wortfeldrelationen und sehen in ihnen wichtige Faktoren für den Bedeutungswandel. Das machen sie aber nicht auf einer pragmatisch-systematischen Weise, da sie die kommunikationsrelevanten Faktoren wie das intentionale Handeln von Sprachbenutzern nicht berücksichtigen. Schlussfolgernd lässt sich Folgendes feststellen: Trotz der zunehmenden Anzahl der wissenschaftlichen Publikationen im Bereich der traditionellen historischen Semantik seit den 1980er Jahren findet man keine wissenschaftlich ertragreiche Verbindung handlungsorientierter Theorien des Bedeutungswandels mit sinnvollen strukturalistischen Ansätzen. Dabei stellt genau diese Verbindung ein Desiderat für eine Untersuchung zum Bedeutungswandel dar, da sie imstande ist, systematisch verlaufende Wandelprozesse angemessen zu erklären. 1.2 Forschungsstand: sprachübergreifende Arbeiten im Bereich des Bedeutungswandels Bereits in der Anfangsphase des Strukturalismus ist den Sprachwissenschaftlern aufgefallen, dass die Fälle des Bedeutungswandels einen systematischen Charakter haben können. Einige Autoren haben sogar festgestellt, dass solche Regularitäten nicht immer einen einzelsprachlichen Charakter haben und in vielen Fällen auch in anderen Sprachen zu beobachten sind. Es gibt zwar einige komparative Arbeiten von Coseriu und Blank über den Bedeutungswandel im Bereich der romanischen Sprachen, sie sind allerdings für die Erklärung von sprachübergreifenden Wandelpfaden nicht besonders nützlich, da diese Sprachen eine enge genetische Ver- 19 <?page no="20"?> wandtschaft aufweisen. Dies sieht auch Schwarze ähnlich und schreibt: „ Die Frage, ob die Bedeutungsvariation rein willkürlich oder irgendwie geregelt ist, bleibt also bestehen. Um sie entscheiden zu können, empfiehlt es sich die Daten zu erweitern und dabei über den Bereich des genetisch eng Zusammenhängenden, in unserem Falle also die Romania, hinauszugehen. “ 11 Schwarze erkennt, dass man als Untersuchungsgegenstand die Sprachen wählen muss, welche weder genetisch miteinander verwandt sind, noch in einem langwierigen sprachlichen oder gesellschaftlich-kulturellen Austausch standen, wenn man ausschließen möchte, dass systematisch auftretende und parallel verlaufende Phänomene in unterschiedlichen Sprachen nicht durch den Sprachkontakt zustande gekommen sind 12 Aus diesem Grunde erscheint mir die Wahl des Georgischen und Deutschen als Hauptuntersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit als sehr angebracht, denn die Sprachen liegen so weit auseinander, dass die zu untersuchenden sprachübergreifenden Wandelpfade nicht mehr auf Sprachkontakt oder Sprachverwandtschaft zurückgeführt werden können. Betrachtet man die komparativen Arbeiten im Bereich des Bedeutungswandels, so wird man nicht übersehen können, dass sie eine Seltenheit darstellen. Zu den wenigen Autoren, die den Bedeutungswandel sprachüberreifend untersucht haben, zählen Bybee/ Pagliuca. Sie haben unterschiedliche und nicht miteinander verwandte Sprachen untersucht. Das Ziel der Untersuchung war zu zeigen, dass der semantische Wandel in vielen Sprachen zur Bildung der grammatischen Bedeutung führt. 13 So war zum Beispiel das englische Hilfsverb „ will “ noch zu Shakespeares Zeit ein Vollverb und bedeutete „ to want “ . In diesem Zusammenhang wiesen Bybee/ Pagliuca darauf hin, dass auch in anderen Sprachen eine ähnliche Bedeutungsentwicklung zu beobachten war. 14 Ähnlich wie Bybee/ Pagliuca untersuchte auch Abraham Futurmorpheme in unterschiedlichen Sprachen und fand in diesen einige Parallelen z. B. beim Wandel von Fortbewegungsverben hin zu Futurmorphemen. Schließlich sind hier noch die Arbeiten der amerikanischen Sprachwissenschaftlerin Traugott zu nennen. Sie untersuchte regulär auftretende Wandelfälle hauptsächlich im Englischen und Japanischen und leistete damit einen umfassenden Überblick über die Wandelerscheinungen vor allem im Englischen. Allerdings verfolgt sie eine andere Zielsetzung, denn sie befasste sich nicht mit adjektivischen Wandelfällen, sondern vor allem mit der Grammatikalisierung von Inhaltswörtern: „ The greatest degree of 11 Schwarze 1995: S. 206 12 Vgl. Schwarze 1995: S. 206 13 Vgl. Bybee/ Pagliuca 1985: S. 59 14 Vgl. Bybee/ Pagliuca 1985: S. 67 20 <?page no="21"?> semantic regularity has so far been found in conceptual structures the lexemes of which are typically associated with grammaticalization. “ 15 Da sie den adjektivischen Bedeutungswandel nicht untersuchte, ließ sie die expressiven und evaluativen Aspekte unberührt, welche für sprachübergreifende adjektivische Wandelpfade eine tragende Rolle spielen. Zuletzt muss noch der Aufsatz des englischsprachigen Autors Williams erwähnt werden. Die Arbeit ist insoweit interessant, als sie sich mit den Regularitäten in semantischen Wandelprozessen von Adjektiven auseinandersetzt. Williams behandelt aber hauptsächlich englische Adjektive und stellt nur am Rande einige vage Vergleiche mit dem Japanischen und einigen indoeuropäischen Sprachen her. Noch gravierender ist allerdings, dass Williams nur sensorische Adjektive untersuchte, welche rein deskriptiv sind. Er befasste sich aber nicht mit den Adjektiven, welche expressive oder evaluative Bedeutungsaspekte beinhalten. Dabei ist der Bedeutungswandel bei diesen Adjektivgruppen am häufigsten zu beobachten. Zu bemängeln ist außerdem, dass Williams universelle Gesetzte des semantischen Wandels entdeckt haben will, mit denen man sogar Hypothesen über die künftige Bedeutungsentwicklung von sensorischen Adjektiven machen könne. 16 Schließlich basieren seine Erklärungen über den Bedeutungswandel von sensorischen Adjektiven auf den vagen Vermutungen über den Zusammenhang zwischen dem semantischen Wandel und der biologisch-evolutionären Entwicklung menschlicher Sinneswahrnehmungen. Ähnlich wie Williams befasst sich auch Derrig mit einem sehr eng umgrenzten Wortschatzbereich. Diese untersuchte in ihrem sehr komprimierten Aufsatz „ Metaphor in the Color Lexicon “ die metaphorische Konnotation von Fokalfarben in unterschiedlichen Sprachen. 17 Bei all diesen sprachübergreifenden Arbeiten kann man meines Erachtens mehrere wichtige Aspekte vermissen. Erstens beschäftigten sie sich mit speziellen und eng umgrenzten Themen wie z. B. mit der Bedeutungsentwicklung von Fokalfarben oder von sensorischen Adjektiven. Zweitens befassen sich die Autoren bei komparativen Arbeiten im Bereich der historischen Semantik mehr mit Grammatikalisierung als mit dem Bedeutungswandel. So konzentrieren sich viele Publikationen auf die Untersuchung der diachronen Entwicklung von Futurmorphemen und Modalpartikeln. Dabei geriet der semantische Wandel an und für sich in den Hintergrund. Drittens ist zu bemängeln, dass man in allen mir bekannten sprachübergreifenden Arbeiten den Bedeutungswandel nicht wortartenspezifisch untersuchte. Des Weiteren versuchen einige Autoren, den Bedeutungs- 15 Traugott/ Dasher 2002: S. 3 16 Vgl. Williams 1976: S. 473 - 474 17 Derrig 1978 21 <?page no="22"?> wandel aus der kognitionswissenschaftlichen Sicht zu erklären. Handlungstheoretisch wichtige Aspekte wie z. B. Motive der Sprecher werden dabei nicht berücksichtigt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in der historischen Semantik noch keine Arbeit zu finden ist, welche den Bedeutungswandel sprachübergreifend und wortartenspezifisch untersucht und zudem noch auf einem handlungstheoretischen Ansatz beruht. Genau diese Lücke möchte ich mit der vorliegenden Arbeit schließen. 1.3 Textkorpus Betrachtet man die Arbeiten im Bereich der historischen Semantik, so wird man schnell feststellen, dass viele Autoren semantische Wandelerscheinungen weder korpusbasiert noch empirieorintiert untersuchen. Als ein Beispiel können wir die Habilitationsschrift des romanistischen Sprachwissenschaftlers Andreas Blank nehmen. Blank erforscht zwar den Bedeutungswandel als ein ganzheitliches Phänomen und liefert dabei eine inhaltsreiche und beachtliche Analyse dieses Phänomens. Er konzentriert sich dabei allerdings weder auf bestimmte eng umgrenzte Wortschatzbereiche, wie dies bei Harms Monografie 18 der Fall ist, noch untersucht er den Bedeutungswandel wortartenspezifisch. Schließlich verzichtet Blank auf ein Textkorpus bei der Erforschung von semantischen Wandelprozessen. Bechmann betrachtet Blanks Ansatz aus den oben dargestellten Gründen kritisch 19 und behauptet, dass seine eigene Dissertationsarbeit sich den semantischen Wandelerscheinungen „ anhand eines Textkorpus, also empirisch fundiert “ 20 nähere. Allerdings wird man beim näheren Hinsehen feststellen, dass Bechmann diesem Vorhaben nicht gerecht wird, worauf auch Elke Donalies hinweist: „ (Er) liefert keine Textbelege für seine Beschreibungen und zeichnet auch keine belegten Bedeutungswandelbiografien nach. Auch erprobt er sein Kategoriensystem nicht an möglichst vielen Verben, sondern illustriert es mit einzelnen, sich wiederholenden Verben. Insofern ist seine Arbeit weder korpusorientiert noch empirisch. “ 21 In der vorliegenden Arbeit wird hingegen großer Wert darauf gelegt, die semantischen Wandelerscheinungen anhand von zahlreichen Beispielen 18 Vgl. Harm 2000 19 Vgl. Bechmann 2012: S. 45 20 Bechmann 2012: S. 46 21 Donalies 2013: S. 120 22 <?page no="23"?> aus dem deutschen und georgischen Adjektivwortschatz zu untersuchen. Natürlich ist es nicht ausreichend, die Ausgangsbedeutung nur mithilfe der Wörterbuchdateien zu ermitteln, denn diese „ unterscheiden nicht immer systematisch zwischen dem kontextspezifischen Sinn eines Wortes in einem bestimmten Vorkommen und der Bedeutung dieses Wortes auf der Ebene der Sprache, verstanden als langue. “ 22 Aus diesem Grund werden die Ausgangsbedeutungen anhand der konkreten Quellentexte veranschaulicht. Dabei wird darauf geachtet, den konkreten Fall des Bedeutungswandels durch jeweils zwei Belegtexte unterschiedlicher Autoren anzuführen. Diese Vorgehensweise sollte sicherstellen, dass es sich bei dem betreffenden Ausdruck um eine lexikalische und nicht um eine autorenspezifische Bedeutung handelt. Für die Erforschung der möglichst authentischen alltagssprachlichen Verwendungsweise der Adjektive müssen noch weitere Kriterien geschaffen werden. So eignen sich hierfür einige Textsorten wie dramatische Texte besser als lyrische. Neben den rein literarischen Texten können z. B. noch persönliche Briefe oder Presseartikel in Betracht gezogen werden, da sie der gesprochenen Sprache näher stehen. In dieser Hinsicht ist Traugotts Bemerkung besonders wertvoll: „ In general, texts that are drama, personal letters, or trials can be expected to be closer to the spoken language than those that are academic, especially philosophical treatises, or royal proclamations (. . .). “ 23 Eine gute Basis für eine Forschungsarbeit wie die vorliegende stellt das deutsche Referenzkorpus (DeReKo) des Instituts für Deutsche Sprache dar, da es eine nahezu unerschöpfliche Menge an Worteinträgen (5,4 Milliarden Wörter) und eine große Anzahl an Quellentexten unterschiedlichster Art anbietet. Des Weiteren bietet DeReKo einige nützliche Suchmöglichkeiten wie z. B. Kollokation- und Konkordanzanalyse an. Auch Donalies erkennt diese Vorteile des „ Deutschen Referenzkorpus “ für die vergleichbaren Arbeiten im Bereich der historischen Sprachwissenschaft und schreibt: „ Hier empfiehlt sich das ‚ Deutsche Referenzkorpus ‘ (DeReKo) des Instituts für Deutsche Sprache, ‚ die weltweit größte Sammlung deutschsprachiger Korpora als empirische Basis für die linguistische Forschung ‘“ 24 Für die Erforschung von semantischen Wandelerscheinungen im georgischen Adjektivwortschatz wird das Textkorpus Namens GEKKO herangezogen, welches von Paul Meurer in Bergen ursprünglich für die norwegische Sprache zusammengestellt wurde. Zwar ist GEKKO mit seinen 25 Millionen Wörtern deutlicher kleiner als DeReKo, aber es kann trotzdem 22 Keller/ Kirschbaum 2003: S. VI 23 Traugott/ Dasher 2002: S. 47 24 Donalies 2013: S. 120 23 <?page no="24"?> seinen Zweck gut erfüllen und stellt Quellentexte in ausreichender Anzahl für die Untersuchung von adjektivischen Wandelerscheinungen im Georgischen zur Verfügung. Dieses Korpus eignet sich aber auch deswegen sehr gut für die vorliegende Arbeit, weil es neben den zahlreichen literarischen Texten auch über eine große Sammlung von Presseartikeln verfügt. Des Weiteren bietet GEKKO ähnlich wie DeReKo einige nützliche Suchoptimierungen. Zu nennen sind hier vor allem Kollokation- und Konkordanzanalyse. Fasst man die Ergebnisse in Bezug auf das Textkorpus zusammen, so erhalten wir folgendes Bild: Die vorliegende Arbeit untersucht den adjektivischen Bedeutungswandel korpusbasiert und empirieorientiert. Dazu werden zahlreiche Beispiele aus dem deutschen und georgischen Adjektivwortschatz herangezogen. In manchen Fällen werden auch russische und englische Adjektive untersucht. Die einzelnen semantischen Wandelerscheinungen werden anhand von jeweils zwei Quellentexten illustriert. Dies soll sicherstellen, dass es sich bei dem betreffenden Beispiel nicht um eine autorenspezifische Bedeutung handelt. Als Quellentexte werden Presseartikel und literarische Texte herangezogen, die möglichst nah am alltagssprachlichen Gebrauch stehen. Trotz dieser Vorsichtsmaßnahmen bleibt ein Restrisiko, dass die ausgewählten Quellentexte vom alltagssprachlichen Gebrauch abweichen können. Dies erkennt auch Traugott und konstatiert: „ Written data may reflect a literary standard that differs from the spoken language of any segment of the speech community of a given time. “ 25 1.4 Über den Sinn der wortartenspezifischen Untersuchung des Bedeutungswandels Trotz der zunehmenden Anzahl an wissenschaftlichen Aufsätzen und Monografien im Bereich der historischen Semantik stellen die wortartenspezifischen Untersuchungen semantischer Wandelprozesse immer noch eine Seltenheit dar. Die Arbeiten von Keller/ Kirschbaum und Bechmann sind in diesem Zusammenhang als Ausnahmen zu betrachten. Dies ist umso erstaunlicher, als man an konkreten Beispielen beobachten kann, dass die Ausdrücke, die jeweils unterschiedlichen Wortarten angehören, aber dem gleichen Wortstamm entstammen, ganz deutliche Abweichungen auf der semantischen Ebene vorweisen. Das Adjektiv weiblich und das Substantiv Weib sind gute Beispiele dafür. Der Ausdruck 25 Traugott/ Dasher 2002: S. 45 - 46 24 <?page no="25"?> Weib bezeichnet keinesfalls nur eine weibliche Person, sondern er beinhaltet auch evaluative Bedeutungskomponenten. Während das Adjektiv weiblich seine rein deskriptive Bedeutung beibehalten hat, kamen zu dem ehemals rein deskriptiven Substantiv Weib evaluative Bedeutungsaspekte hinzu. Es ist also offensichtlich, dass der Bedeutungswandel von Weib nicht die Bedeutung des sinnverwandten Adjektivs weiblich beeinflusst hat. Die Bedeutungen haben sich also im Laufe der Zeit auseinander entwickelt. Die unten aufgeführten Beispiele zeigen ebenfalls, dass unterschiedliche Wortarten oft unterschiedliche Bedeutungsentwicklungen aufweisen: Rein deskriptiv Deskriptiv-evaluativ 1. Erbarmen erbärmlich 2. Das Kind kindisch 3. weiblich Das Weib 4. billigen billig, z. B. billig angezogen 5. schlichten schlicht, z. B. schlichtes Gemüt 6. Der Affe affig 7. Die Lust lustig 8. demütigen demütig 9. absondern absonderlich Natürlich gilt diese Feststellung nicht nur für den deutschen Adjektivwortschatz, sondern auch für den der georgischen, russischen und weiterer Sprachen. Wenn man alle drei Hauptwortarten näher betrachtet, dann stellt man fest, dass sich die Adjektive besonders gut für die Untersuchung von Wandelprozessen im Semantikbereich eignen, da sie im Vergleich zu anderen Wortarten am stärksten vom semantischen Wandel betroffen sind. So konnten Keller und Radtke in einem Pilotprojekt nachweisen, dass die einzelnen Wortarten unterschiedlich stark vom Bedeutungswandel betroffen sind. Durch einen Vergleich des Sprachgebrauchs der Goethe-Zeit mit dem gegenwärtigen wurde gezeigt, dass unter den Hauptwortarten die Adjektive mit 37 Prozent vom Bedeutungswandel am stärksten betroffen waren. Danach folgten die Verben mit rund 24 Prozent. Die Substantive waren mit 18 Prozent am wenigsten vom Wandel betroffen. 26 Diese Befunde verdeutlichen, dass beim Bedeutungswandel je nach Wortart unterschiedliche Faktoren eine Rolle spielen. Ansonsten wäre es nicht zu 26 Vgl. den Abstract eines Vortrags von Rudi Keller und Petra Radtke 1997. Zu finden unter: http: / / coral.lili.uni-bielefeld.de/ DGfS/ Jahrestagungen/ dgfsabst/ node154. html (Stand: 12. 01. 2010) 25 <?page no="26"?> erklären, warum die Adjektive deutlich häufiger ihre Bedeutungen ändern als andere Hauptwortarten. Dies hängt aber auch damit zusammen, dass „ verschiedene Wortarten verschiedene Bedeutungstypen “ 27 aufweisen. Diese wortartenspezifischen Unterschiede in semantischen Wandelprozessen ergeben sich aber auch daraus, dass die unterschiedlichen Wortarten in der Kommunikation über unterschiedliche Funktionen verfügen. So sind die Adjektive im Vergleich zu Substantiven und Verben besser geeignet, die evaluativen und expressiven Aspekte zum Ausdruck zu bringen. Verben werden hingegen dafür genutzt, um Handlungen oder Zustände zu bezeichnen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass einige Autoren die Trends des Bedeutungswandels identifizierten, die für bestimmte Wortarten typisch sind. So weisen Keller/ Kirschbaum darauf hin, dass ein rein deskriptives Adjektiv evaluativ oder expressiv verwendet werden kann, „ wenn ein solches Adjektiv metaphorisch auf einen Menschen oder eine den Menschen betreffende Situation bezogen wird “ 28 Bechmann hat hingegen gezeigt, dass viele Verben, die ursprünglich körperliche Tätigkeiten bezeichneten, später zur Bezeichnung von geistigen Aktivitäten verwendet werden 29 : „ Ein sehr häufig zu beobachtendes Phänomen ist der semantische Wandel eines Verbes von der Sphäre des Konkreten, häufig des Haptischen, in die Sphäre des Abstrakten und dort vielfach in den Bereich des Kognitiven. “ 30 Auch Fritz fand gewisse Systematizitäten bei einer anderen Klasse von Verben, welche ursprünglich zur Kennzeichnung eines körperlichen Symptoms gebraucht wurden und im gegenwärtigen Sprachgebrauch zur Kennzeichnung eines Gefühls selbst verwendet werden. Dazu zählte er die Verben wie zittern, erröten oder aufatmen. 31 Des Weiteren wies Fritz auf einige Pfade des Bedeutungswandels hin, welche charakteristisch für bestimmte Wortarten wie z. B. Verben, Adjektive, Präpositionen oder Adverbien sind. 32 Resümierend lässt sich festhalten: Es ist offensichtlich, dass der Bedeutungswandel wortartenspezifisch stattfindet. Es ist aber auch unverkennbar, dass die Adjektive am häufigsten den Bedeutungswandel vollziehen. Diese Anfälligkeit von Adjektiven für den frequenten semantischen Wandel macht sie zu einem besonders gut geeigneten Untersuchungsgegen- 27 Schmehl 2006: S. 385 28 Keller/ Kirschbaum 2003: S. 149 29 Erste Hinweise auf solche Wandelprozesse bei Verben lassen sich allerdings bereits bei Keller/ Kirschbaum finden: Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S. 12; Des Weiteren ist es anzumerken, dass Lakoff und Johnson diese Problematik ebenfalls kurz erläutern: Vgl. Lakoff/ Johnson 1980/ 2011: S: 29 30 Bechmann 2012: S. 121 31 Vgl. Fritz 2005: S. 43 32 Vgl. Fritz 2005: S. 40 - 43 26 <?page no="27"?> stand für eine Arbeit, welche die semantischen sprachübergreifenden Wandelprozesse aufklären möchte. 1.5 Bedeutungswandel bei Adjektiven mit evaluativen und expressiven Bedeutungskomponenten Der adjektivische Bedeutungswandel ist ein sehr weites Forschungsfeld. Eine seriöse wissenschaftliche Analyse eines so breiten Feldes würde den Rahmen einer Dissertation in jeder Hinsicht sprengen. Deswegen müssen weitere Präzisierungen in Bezug auf den Untersuchungsgegenstand vorgenommen werden. In der vorliegenden Arbeit befassen wir uns mit dem Bedeutungswandel von Adjektiven, welche ursprünglich eine rein deskriptive Bedeutung hatten und im gegenwärtigen Gebrauch eine expressive oder evaluative Bedeutungskomponente aufweisen. Dabei werden insbesondere die Wandelfälle eingehend untersucht, welche keinen Einzelfall darstellen, sondern einen regulären Charakter haben und häufig anzutreffen sind. Diese Herangehensweise ergibt sich aus folgenden Gesichtspunkten. Der erste Grund besteht in der Tatsache, dass eine sehr große Anzahl von Adjektiven, welche ursprünglich rein deskriptiv war, gegenwärtig eine expressive oder evaluative Bedeutungskomponente aufweist. Auch Keller/ Kirschbaum weisen darauf hin, dass der Bedeutungswandel nach dem Muster „ rein deskriptiv > evaluativ oder expressiv “ am häufigsten im Adjektivwortschatz zu beobachten ist. 33 Diese Ansicht teilt ebenfalls Bechmann und fügt hinzu, dass dies ein charakteristisches Merkmal der Adjektivsemantik darstellt, „ das sich nicht ohne weiteres auf andere Wortarten (. . .) übertragen lässt. “ 34 Auf der anderen Seite lassen sich nur wenige Beispiele finden, welche den Bedeutungswandel in einer umgekehrten Richtung vollzogen haben. So sind mir nur zwei Adjektive im Deutschen bekannt, welche den semantischen Wandel nach dem Muster „ expressiv oder evaluativ > deskriptiv “ vollzogen haben. So weisen Keller/ Kirschbaum darauf hin, dass das Adjektiv barock ursprünglich eine negativwertende Bedeutung ‘ unschön verschnörkelt ’ ‘ überladen ’ und somit eine deskriptiv-evaluative Bedeutung hatte. Gegenwärtig wird es aber polysem verwendet. Barock wird nicht nur deskriptiv-evaluativ, sondern auch rein deskriptiv zur Bezeichnung einer Kunstrichtung verwendet. 35 Ein anderes Adjektiv, das den Bedeutungswandel ähnlich vollzogen hat, ist zierlich. Es diente ursprünglich der „ ästhetischen Wertschätzung von 33 Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S. 148 34 Bechmann 2012: S. 343 35 Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S. 74 - 75 27 <?page no="28"?> etwas, das Menschen zieren kann. “ 36 Heutzutage bedeutet zierlich rein deskriptiv ‘ von einer kleinen Gestalt ’ . Auch in anderen Sprachen ist eine so geartete Bedeutungsentwicklung sehr selten anzutreffen. Resümierend lässt sich sagen, dass die adjektivische Bedeutungsentwicklung nach dem Muster „ rein deskriptiv > evaluativ oder expressiv “ im Gegensatz zu „ expressiv oder evaluativ > deskriptiv “ viel häufiger anzutreffen ist. Aus diesem Grunde erscheinen Adjektive, welche gegenwärtig eine expressive oder evaluative Komponente aufweisen als eine äußerst erkenntnisreiche Quelle, um den semantischen Wandel im Adjektivwortschatz zu erklären. Der zweite Grund für unsere Herangehensweise besteht darin, dass die Bedeutungsentwicklung nach dem Muster „ deskriptiv > deskriptiv “ von einigen Autoren ausführlich untersucht wurde. So analysierte Williams in seinem Aufsatz „ Synaesthetic Adjectives: A Possible Law of Semantic Change “ die Bedeutungsentwicklung von englischsprachigen sensorischen Adjektiven. Harm untersuchte wiederum in seiner Dissertationsarbeit „ Regularitäten des semantischen Wandels bei Wahrnehmungsverben des Deutschen “ die Bedeutungsentwicklung deutscher Wahrnehmungsverben. Beide Autoren untersuchten die semantischen Wandelerscheinungen ausschließlich nach dem Muster „ deskriptiv > deskriptiv “ . Nach meinem jetzigen Kenntnisstand gibt es keine Arbeit, die sich ausschließlich mit dem Bedeutungswandel expressiv-evaluativer, deskriptiv-evaluativer und rein expressiver Adjektive auseinandersetzt. Aus diesem Grunde besteht meines Erachtens ein wissenschaftlicher Bedarf, diese Lücke zu schließen, indem man besonders stark ausgeprägte Wandelpfade untersucht, welche den Bedeutungswandel nach dem Muster rein deskriptiv > evaluativ oder expressiv “ vollzogen haben. Bevor wir tiefer in den theoretischen Teil der Arbeit einsteigen, möchte ich die Ergebnisse über das methodische Vorgehen und über die Forschungsziele kurz zusammenfassen: Die vorliegende Arbeit untersucht den adjektivischen Bedeutungswandel wortartenspezifisch, korpusbasiert und empirieorientiert. Untersucht werden die Adjektive, welche in der Ausgangsbedeutung rein deskriptiv verwendet wurden und in der gegenwärtigen Bedeutung eine expressive oder evaluative Komponente aufweisen. Des Weiteren werden die regulär auftretenden Wandelerscheinungen sprachübergreifend untersucht. Schließlich wird durch eine Symbiose der handlungsorientierten Theorien des Bedeutungswandels mit sinnvollen strukturalistischen Ansätzen das Ziel verfolgt, systematisch verlaufende Wandelprozesse angemessen zu erklären. Diese Gesichtspunkte benennen ein zentrales theoretisches und empirisches Anliegen der vorliegenden Arbeit. 36 Keller/ Kirschbaum 2003: S. 151 28 <?page no="29"?> 2. Bedeutungstheoretische Aspekte Eine angemessene Erklärung des Bedeutungswandels ist ohne eine vorherige Festlegung des Bedeutungsbegriffs kaum möglich. Um zu ermitteln, wie und nach welchen Prinzipien sich der Bedeutungswandel eines Wortes vollzogen hat, muss zunächst geklärt werden, was unter dem Begriff der „ Bedeutung “ selbst zu verstehen ist. Angesicht der Vielfalt des Bedeutungsphänomens und der entsprechenden Bedeutungstheorien ist dies dabei keine leichte Aufgabe. Auch wenn es unmöglich zu sein scheint, eine fest umgrenzte Bedeutungsdefinition aufzustellen, so soll im Folgenden trotzdem angestrebt werden, festzulegen, aus welcher bedeutungstheoretischen Perspektiven die vorliegende Untersuchung des Bedeutungswandels der Adjektive durchgeführt wird. Hierzu werden unten die drei gängigsten Bedeutungstheorien vorgestellt und kurz thematisiert. Anschließend wird basierend auf dem hier vorgeschlagenen Bedeutungsbegriff eine semantische Klassifikation der Adjektive vorgenommen. 2.1 Die repräsentationistische Bedeutungsauffassung Obwohl die „ Bedeutung “ einer der grundlegendsten Begriffe der linguistischen Forschung darstellen, gibt es bis heute keine allgemein anerkannte Definition dieses Terminus. Dabei reichen die Überlegungen über die Bedeutung bis in die Antike zurück und sind fast so alt wie die Philosophie selbst. Ein gutes Beispiel stellt Platons Dialog „ Kratylos “ dar, der sich mit der Frage nach der Beschaffenheit der sprachlichen Bedeutung beschäftigt. Auch Aristoteles beschäftigt sich in seinem Werk, „ Peri Hermenias oder Lehre vom Satz “ mit dem linguistischen Begriff der Bedeutung. Allgemein gibt es zwei unterschiedliche Grundauffassungen über den linguistischen Bedeutungsbegriff: repräsentationistische und instrumentalische Bedeutungsauffassungen. Historisch gesehen ist die repräsentationistische Auffassung sowohl älter als auch verbreiteter. 37 Den entscheidenden Anstoß zu ihrer Verbreitung gab die so genannte Ideal Language Philosophy. 38 Die repräsentatio- 37 Vgl. Keller, Rudi; Kirschbaum, Ilja, 2003: S. 4 38 Ideal Language Philosophy oder Philosophie der Idealen Sprache ist eine Sammelbezeichnung von sprachtheoretischen Ansätzen. Demnach ist unsere Alltagssprache oft irreführend, weil viele Ausdrücke mehrdeutig sind und oft keinen eindeutigen Bezug zu Sachverhalten und Gegenständen der realen Welt haben. Aufgrund dessen wird 29 <?page no="30"?> nistische Zeichenauffassung wurde propagiert in der Referenztheorie ebenso wie in den gängigen kognitiven Bedeutungstheorien. Danach ist die Bedeutung eines Zeichens das, wofür das Zeichen steht bzw. was es repräsentiert: „ Aliquid stat pro aliquo “ 39 - etwas steht für etwas anderes. Dementsprechend versuchen die Anhänger der repräsentationistischen Theorie zu erklären, welche außersprachliche Entität ein sprachliches Zeichen abbildet. 2.1.1 Referenztheorie Innerhalb der repräsentationistischen Zeichenauffassung gibt es grundsätzlich zwei verschiedene Ansichten darüber, welche Entitäten durch sprachliche Zeichen abgebildet werden. Nach der sprachextern orientierten Referenztheorie nimmt man mit den sprachlichen Zeichen Bezug auf die außersprachliche Realität. Demgemäß sind es die Gegenstände bzw. Sachverhalte, später die Mengen von Gegenständen, die für ein Zeichen stehen. Die Referenztheorie siedelt die Bedeutungen also auf der ontologischen Ebene an. Der bekannteste Vertreter dieser Konzeption, der berühmte Logiker, Mathematiker und Philosoph Gottlob Frege, schreibt Folgendes dazu: „ Die Bedeutung eines Eigennamens ist der Gegenstand selbst, den wir damit bezeichnen “ . 40 Eine ähnliche Sichtweise finden wir in Wittgensteins Frühwerk Tractatus: „ Der Name bedeutet den Gegenstand. Der Gegenstand ist seine Bedeutung. “ (TLP 3.203) 41 Die Referenztheorie weist allerdings mehrere Schwächen auf. So lässt sie sich nicht auf alle Wortschatzbereiche anwenden. Sie erweist sich als völlig unplausibel, wenn sie auf den Bereich der Synsemantika angewendet wird. Gemeint sind so genannte Funktionswörter, also Konjunktionen, Artikel, Adverbien oder Präpositionen. Da sie keine Referenz haben können, werden ihre Bedeutungen nicht durch die Referenztheorie erfasst. 42 ein Versuch unternommen, mit Hilfe der Logik und Mathematik eine von Ungenauigkeiten gereinigte Sprache zu entwerfen, die die Grundlagen für Wissenschaft und Philosophie bilden sollte. Prominente Vertreter dieser Denkrichtung sind Frege, Russel, der frühe Wittgenstein und Carnap. Ihre Überlegungen haben einen wesentlichen Beitrag zur Entstehung und Entwicklung der so genannten Referenztheorien geleistet. (Vgl. Blume/ Demmerling 1998: S. 12) 39 Keller 1995: S. 115 40 Frege 1892/ 1994: Funktion, Begriff, Bedeutung: S. 44 41 Es wird die übliche Zitierweise von Wittgensteins Grundwerken verwendet: TLP - „ Tractatus logico-philosophicus ” ; PU - „ Philosophische Untersuchungen “ 42 Vgl. Schwarz/ Chur 2007: S. 83 30 <?page no="31"?> Weiter ist an dieser Bedeutungstheorie zu bemängeln, dass sie keine Unterscheidung von langue und parole macht. Die Bedeutungen werden nicht mehr als Teil der langue aufgefasst, was dazu führt, dass die Bedeutung je nach Verwendung variiert. 43 Dies trifft sowohl auf die deiktischen Ausdrücke wie hier, gestern und dieser als auch auf Substantive wie Auto zu. Der Satz er war gestern hier sowie seine einzelnen Bestandteile können je nach Kontext ganz unterschiedliche Bedeutungen haben. Des Weiteren ist die Bedeutung des Wortes Auto in den Sätzen Mein Nachbar hat für den Umzug ein Auto gemietet und Das Auto ist ein Fortbewegungsmittel nicht identisch. Mit der Modifikation der Referenztheorie durch den Begriff der Extension 44 wird zwar ein Versuch unternommen, eine Unterscheidung zwischen langue und parole zu machen und die sprachlichen Bedeutungen auf der Ebene der langue anzusiedeln, aber weitergeholfen hat dies trotzdem nicht. Denn der Hauptkritikpunkt der Referenztheorie besteht in ihrer naiven Annahme, dass die Funktion der Sprache alleine im Benennen von etwas Externem bestehe, das raumzeitlich und unabhängig existiert. 45 Diese Annahme sieht auch Hare kritisch und schreibt: „ Einer der häufigsten philosophischen Fehler (. . .) besteht in der Annahme, daß alle bedeutungsbestimmenden Regeln von der gleichen Art sein müssen, d. h. daß alle Ausdrücke ihre Bedeutung auf die gleiche Weise erhalten. “ 46 Diese Feststellung kann man auch in Bezug auf die Linguistik treffen, da man auch in diesem Wissenschaftsbereich lange Zeit der sprachlichen Bedeutung nur eine deskriptive Funktion zugewiesen hatte. Dass die Übergeneralisierung der deskriptiven Funktion der Sprache kritisch zu bewerten ist, sieht man alleine daran, dass sie keine Trennlinie zwischen der raumzeitlichen und soziokulturellen Realität zieht. Raumzeitliche Realität gründet sich auf der Wahrnehmung der materiellen Wirklichkeit durch die menschliche Neurophysiologie; dagegen basiert die soziokulturelle Realität auf der intersubjektiven Wirklichkeit. Dabei ist die Existenz von vielen Entitäten und 43 Vgl. Heringer 1974: S. 10 44 Die Extension bzw. Denotation, wie C. I. Lewis es benennt, wird oft auch als Begriffsumfang bezeichnet. Lewis unterscheidet zwischen der Extension bzw. Denotation (,denotation ‘ ) und dem Begriffumfang (,comprehension ‘ ). Unter der Denotation bzw. Extension fallen nach Lewis alle aktuell existierenden Begriffe: „ The denotation of a term is the class of all actual or existent things to which that term correctly applies. “ (C. I. Lewis 1952/ 1970: S. 238) Begriffumfang umfasst hingegen alle denkbaren Gegenstände, d. h. aktuell existierende, vergangene und zukünftige Gegenstände machen die Komprehension eines Begriffs aus: „ The comprehension of a term is . . . the classification of all consistently thinkable things to which the term would correctly apply “ (C. I. Lewis 1952/ 1970: S. 238) 45 Vgl. Cornejo 2000: S. 109 46 Hare 1963/ 1973: S. 22 31 <?page no="32"?> Sachverhalten der realen Welt keine raumzeitliche, sondern eine soziokulturelle Realität. 47 So ist die Bedeutung von Ausdrücken wie Abseits, Junggeselle oder Marktwirtschaft sehr schwer unter Bezug auf irgendeinen raumzeitlichen Gegenstand zu definieren, denn ihre Bedeutung basiert auf einem komplexen Netz von intersubjektiven Konventionen. 48 Zu der Dichotomie „ raumzeitliche Realität vs. soziokulturelle Realität “ kommen wir an einer anderen Stelle noch einmal zurück. Zusammenfassend zur Referenztheorie kann man Folgendes sagen: Diese Bedeutungstheorie konzentriert sich nur auf eine Funktion der natürlichen Sprache, nämlich auf die des Bezugs auf Dinge der realen Welt. Sie verallgemeinert allerdings diese Bezugsfähigkeit der Sprache in unzulässiger Weise. 49 Dabei ist „ eine Sprache ein äußerst komplexes Instrument zur Lösung äußerst komplexer Probleme. “ 50 Dementsprechend ist das Referieren lediglich eine sprachliche Handlung unter vielen anderen. 51 Wittgenstein schreibt in seinem Spätwerk „ Philosophische Untersuchungen “ treffend dazu: “ Als ob mit dem Akt des Benennens schon das, was wir weiter tun, gegeben wäre. Als Ob es nur Eines gäbe, was heißt: ‚ von Dingen reden ‘ . Während wir doch das Verschiedenartigste mit unseren Sätzen tun. “ (PU 27) Aus den oben genannten Gründen kann die Referenztheorie nicht als eine zufriedenstellende Bedeutungstheorie bezeichnet werden. 2.1.2 Vorstellungstheorie bzw. kognitivistische Bedeutungstheorie Die sogenannten mentalistischen Vorstellungstheorien bilden die zweite verbreitete Bedeutungskonzeption innerhalb der repräsentationistischen Zeichenauffassung. Einen wichtigen Beitrag zu ihrer Entwicklung und Verbreitung hat der berühmte Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure geleistet. Seinem Bedeutungsbegriff liegt eine psychologisierende Interpretation zugrunde: Er betrachtet Bedeutung als ein mentales Phänomen und setzt sie mit dem Vorstellungsbild gleich. Dieser mentale Aspekt steht im Gegensatz zur sprachextern orientierten Referenztheorie. 52 Im Unterschied zur Referenztheorie, wo die Bedeutungen auf der ontologischen Ebene der Dinge und Sachverhalte verortet werden, vertreten Vorstellungstheoretiker die Ansicht, dass die Bedeutungen der sprachlichen Zeichen auf der epistemischen Ebene zu finden sind. Sie nehmen an, dass es 47 Vgl. Cornejo 2000: S. 109 - 110 48 Vgl. Cornejo 2000: S. 109 49 Vgl. Heringer 1974, S. 12 50 Keller, Zeichenbegriff und Metaphern 1995: S: 180 51 Vgl. Heringer 1974, S. 12 52 Vgl. Bussmann 1990: S. 123 - 124 32 <?page no="33"?> zwischen sprachlichen Zeichen und Dingen der Welt keine direkte Verbindung gibt, sondern diese Verbindung über die mentale Einheiten läuft. Solche Einheiten werden oft als Vorstellungen oder neuerdings als Konzepte benannt. Diese Überlegungen werden sehr gut durch das Dreieck von Ogden und Richards zum Ausdruck gebracht: Inhalt / Bedeutung Ausdruck Referent Abbildung 1: Das semiotische Dreieck. (Vgl. Schwarz/ Chur, 2007: S. 22) Unter den Anhängern der kognitivistischen Bedeutungskonzeption herrscht allerdings große Uneinigkeit darüber, was man unter solchen mentalen Phänomenen zu verstehen hat. Je nach theoretischem Ansatz der jeweiligen kognitionswissenschaftlich ausgerichteten Semantiktheorie ist das Konzept unterschiedlich definiert. Wie es im Einzelnen geartet ist, lässt sich im Rahmen dieser Arbeit nicht beantworten. Alle kognitivististischen bzw. mentalistischen Semantiktheorien teilen jedoch die allgemeine Annahme, dass die sprachlichen Bedeutungen zu den mit dem sprachlichen Ausdruck verknüpften mentalen Repräsentationen gehören: „ Von einer Bedeutung sprechen wir dann, wenn einer konzeptuellen Einheit eine sprachliche Form zugeordnet ist. Bedeutungen sind in diesem Sinne versprachlichte, mit Wortformen belegte Konzepte. “ 53 Die kognitivistische Bedeutungstheorie muss allerdings mit den ähnlichen Problemen fertig werden wie die Referenztheorie. Sie ist nicht imstande, die Bedeutungen von Konjunktionen wie weil, Präpositionen wie zu oder strukturell definierbarer Wörter wie Donnerstag angemessen zu erklären. 54 Es ist zum einen sehr fraglich, ob solche Ausdrücke tatsächlich irgendwelche Vorstellungen beim Hörer evozieren können. Zum anderen muss man kritisch hinterfragen, ob Vorstellungen überhaupt eine Rolle für die Kommunikation spielen. 53 Schwarz/ Chur 2007: S. 25 54 Vgl. Keller, Rudi: 1995: S. 59 33 <?page no="34"?> Auch bei ganz normalen Inhaltswörtern ist es schwer festzulegen, welche Vorstellung wir mit ihnen verbinden. Welche Vorstellung evoziert z. B. das Wort Auto in unseren Köpfen? Ein Auto mit oder ohne Schiebedach? Einen PKW oder LKW? Einen Oldtimer oder vielleicht einen Rennwagen? Dies führt dann wieder zu dem Langue-Parole-Problem. 55 Um solchen Schwierigkeiten zu entgehen, hat man sogenannte Allgemeinvorstellungen eingeführt, die intersubjektiv sind und daher einen kontextunabhängigen Charakter haben sollen. Heringer weist allerdings darauf hin, dass Allgemeinvorstellungen erst durch den Vergleich von Privatvorstellungen ihre Intersubjektivität erlangen können. Man kann sie aber nicht ermitteln, da man keinen direkten Zugang zu jeder einzelnen subjektiven Vorstellung haben kann. 56 Es ist aber auch zu fragen, ob die Wörter grundsätzlich Vorstellungen, welcher Art auch immer, hervorrufen. Oder ist es vielmehr nicht so, dass wir, wenn wir denken, durch die Sprache denken. Wittgenstein schreibt dazu Folgendes: „ Wenn ich in der Sprache denke, so schweben mir nicht neben dem sprachlichen Ausdruck noch ‚ Bedeutungen ‘ vor; sondern die Sprache selbst ist das Vehikel des Denkens “ (PU 329). Ein weiteres nicht zu unterschätzendes Problem aller kognitivistisch ausgerichteten Bedeutungstheorien besteht darin, dass sie den sozialen Charakter sprachlicher Bedeutungen nicht berücksichtigen und sie nur in Bezug auf das individuelle kognitive Vermögen der einzelnen Sprecher untersuchen. Eine plausible Bedeutungstheorie sollte aber in der Lage sein, dem kommunikativen Aspekt der Sprache angemessen Rechnung zu tragen. Dies setzt voraus, die Sprache als gesellschaftliches Phänomen zu betrachten. Auf dieses Problem weist auch Teubert hin: „ Wenn wir über Sprache reden, meinen wir damit nicht nur das Sprachvermögen der einzelnen Sprecher. [. . .] Sprache ist nicht nur ein psychologisches oder mentales Phänomen, sie ist ebenso ein soziales, ein kollektives Phänomen. “ 57 Dies sieht man vor allem daran deutlich, dass Informationsübertragung und Kommunikation nicht gleichzusetzen sind, denn es „ ist in kommunikativen Handlungen bei weitem nicht immer das informativ, was normalerweise als ihr Inhalt, ihre Bedeutung bezeichnet wird. “ 58 Bilanzierend kann man Folgendes sagen: Die Bedeutungen von Wörtern sind weder auf der ontologischen Ebene der Gegenstände und Sachverhalte zu finden, noch sind sie mentale Präsentationen dieser Gegenstände. Vielmehr muss man die Bedeutungen in dem regelhaften Gebrauch des jeweiligen Wortes suchen. Oder wie es Putnam formuliert: „ Wissen was die 55 Vgl. Heringer 1974: S. 13 56 Vgl. Heringer 1974: S. 13 57 Teubert 2006: S. 322 58 Busse 1994: S. 223 34 <?page no="35"?> Wörter in einer Sprache bedeuten [. . .] beruht darauf, dass man begriffen hat, wie die Wörter gebraucht werden. [. . .] Bedeutungen sind keine Gegenstände in einem Museum, denen die Wörter irgendwie angeheftet werden. “ 59 Damit kommen wir zu der Wittgensteinschen Gebrauchstheorie der Bedeutung. 2.1.3 Instrumentalische Auffassung: Gebrauchstheorie der Bedeutung Ludwig Wittgenstein gilt als einer der außergewöhnlichsten und bemerkenswertesten Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts. Seine Werke zeichnen sich durch eine scharfsinnige Wortgewandtheit aus. Er hat in seinem Spätwerk „ Philosophische Untersuchungen “ eine linguistische Theorie der Wortbedeutung skizziert, die als Gebrauchstheorie der Bedeutung bekannt ist. Diese steht in einem diametralen Gegensatz zu seiner „ Abbildtheorie der Bedeutung “ , die er in seinem ersten Werk “ Tractatus logico-philosophicus “ formuliert hat. 60 In seinem Spätwerk hebt er den kommunikativen Aspekt sprachlicher Zeichen hervor. Die kommunikative Funktion hat die weltabbildende Funktion der Sprache ersetzt und sie als ein soziales Phänomen in den Vordergrund gestellt. 61 Er sieht die Bedeutung eines Wortes weder als ein mentales Konzept, noch als einen Gegenstand der realen Welt an, sondern die regelfolgende Verwendung eines jeweiligen Wortes wird als seine Bedeutung verstanden. 62 Wittgenstein 59 Putnam 1988/ 1991: S. 209 60 Darin vertritt er die Ansicht, dass die Sprache symbolisch die Welt reproduziert, dass sie quasi die Wirklichkeit abbildet. Dabei nimmt Wittgenstein als grundlegend an, dass die Welt logisch strukturiert ist. Die Fähigkeit der Sprache, die Welt abzubilden, besteht also darin, dass sie die logische Struktur der Welt abbilden kann. Sprache und Wirklichkeit weisen somit die gleiche logische Struktur auf. Der Autor ordnet somit der Logik eine Art von Universalität zu. (Vgl. Cornejo 2000: S. 75) 61 Vgl. Hintikka 1979: S. 8 - 9 62 Allerdings steht in der Wittgenstein-Forschung nicht fest, ob der Begriff „ Gebrauchstheorie “ für die späten Überlegungen über die Bedeutung Wittgensteins eine korrekte Bezeichnung ist. Viele Forscher (unter anderem Baker 1992, Savigny 1996) halten es sogar für verfehlt, Wittgenstein zu unterstellen, er habe eine eigene linguistische Bedeutungstheorie aufstellen wollen. Zumal hat sich Wittgenstein selbst in seinen Philosophischen Untersuchungen eindeutig gegen die Aufstellung von Theorien geäußert (vgl. PU 109). Jedoch sind einige Forscher der Meinung, dass seinem Spätwerk eine systematische Theorie oder eine konsequente Konzeption über die Sprache entnehmen lässt (Weiss 2004; Hilmy 1987). Im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist wegen der Zielsetzung und aus Platzgründen nicht möglich, für die eine oder andere Sichtweise argumentativ einzutreten. Trotzdem wird auf dem Begriff „ Gebrauchstheorie “ aus zwei Gründen nicht verzichtet: 1. Dieser Begriff hat sich in der Linguistik seit langem zur Bezeichnung der handlungsorientierten Bedeutungs- 35 <?page no="36"?> betrachtet die Bedeutung eines Wortes nicht ausschließlich als das geistige Vermögen eines Individuums, sondern als etwas, das nur in einer Gesellschaft existieren kann. 63 Somit unterstreicht er den sozialen Charakter der Bedeutung. In dem berühmten und viel zitierten Paragraph 43 der “ Philosophischen Untersuchungen “ bringt er seine Auffassung über den linguistischen Begriff der Bedeutung knapp und prägnant zum Ausdruck: „ Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes ‚ Bedeutung ‘ - wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung - dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache. “ (PU § 43) Wie Keller anmerkt, bringt Wittgenstein mit diesem Absatz zwei Sachverhalte zum Ausdruck. Im ersten Schritt behauptet er, dass das Wort Bedeutung auf verschiedene Art und Weise gebraucht werden kann. 64 Gemeint sind folgende Verwendungsweisen dieses Wortes: „ Martin Luthers Bedeutung für die Entwicklung der neuhochdeutschen Schriftsprache “ , oder „ Die Bedeutung des Wortes change in der Wahlkampfrede des amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Barack Obama. “ Wittgenstein unterscheidet solche und ähnliche Verwendungen dieses Wortes von dem sprachwissenschaftlichen Begriff Bedeutung. Diese Unterscheidung erweist sich als relevant, denn „ als Theorie der sprachlichen Bedeutung befasst sich die Semantik nicht mit ‘ Bedeutung ’ im weitesten Sinne des Wortes, sondern mit der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke für sich genommen. “ 65 Für die Bedeutung eines Wortes auf der Ebene der langue gilt uneingeschränkt, dass sich die Bedeutung eines Wortes aus seinem Gebrauch ergibt. 66 In einem zweiten Schritt bringt er knapp und treffend das zum Ausdruck, was er unter dem Begriff der sprachlichen Bedeutung versteht. Nach Wittgenstein kennt man die Bedeutung eines Wortes, indem man weiß, wie man es in der betreffenden Sprachgesellschaft regelkonform gebrauchen kann, und die Bedeutungen von Wörtern erläutert man dadurch, dass man ihren Gebrauch beschreibt. Diese Herangehensweise ist eigentlich ziemlich plausibel: Die Menschen lernen die Bedeutung von Wörtern dadurch, dass sie ihren Gebrauch lernen, genauso wie sie Schach auffassungen etabliert. 2. Durch die Gebrauchstheorie werden nicht nur Wittgensteins semantische Überlegungen erfasst, sondern auch die linguistischen Bedeutungstheorien, die nach dem Vorbild seines Spätwerks entwickelt worden sind (Keller 1995, Gloning 1996; Loppe 2010, Heringer 1974) 63 Vgl. Loppe 2008: S. 83 64 Vgl. Keller 1995: S. 64 65 Löbner 2003: S. 1 66 Vgl. Keller 1995: S. 64 36 <?page no="37"?> lernen, indem sie lernen, wie die Spielfiguren zu bewegen sind. 67 In einem Gespräch mit Waismann entwickelt Wittgenstein eine ähnliche gebrauchstheoretische Sichtweise am Beispiel des Schachspiels und lehnt die Stellenvertreterfunktion des Zeichens ab. 68 Die Gebrauchstheorie ist auch deswegen sehr plausibel, weil sie die Bedeutungen von Begriffen verschiedener Art erfassen kann, was bei den meisten Bedeutungstheorien nicht der Fall ist. So kann man mit der Gebrauchstheorie, anders als mit Referenztheorien, einerseits sehr gut die Begriffe mit den Wahrheitswerten erfassen, wie z. B. die Bedeutung des Wortes Junggeselle. Man kennt sie, wenn man weiß, wie man dieses Wort regelkonform im Deutschen gebrauchen kann. Andererseits kann man mit dieser Theorie die Bedeutungen von Begriffen ohne Wahrheitswerte erläutern: So kennt man die Bedeutung eines Wortes wie Tschüss, wenn man weiß, dass man es dann gebraucht, wenn man sich verabschieden möchte. Die wittgensteinsche Gebrauchstheorie hat aber auch gegenüber der Vorstellungstheorie Vorteile, die Keller/ Kirschbaum sehr gut am folgenden Beispiel dargestellt haben: Wenn wir versuchen, die Bedeutungen zwei synonymer Wörter wie erhalten und bekommen zu vergleichen, so bieten uns die Theorien zwei unterschiedliche Vorgehensweisen. Nach der Vorstellungstheorie sollten wir, um herauszufinden, ob diese Wörter die gleiche Bedeutung haben, die Vorstellung, die wir mit dem Wort bekommen assoziieren, mit der Vorstellung, die wir mit dem Wort erhalten assoziieren, vergleichen und prüfen, ob sie gleich sind. In der Wirklichkeit machen wir aber so etwas nicht. Wir vergleichen nicht die Vorstellungen miteinander, sondern die Gebrauchsweisen der Wörter. So ist der Satz er bekam die Schmerzen regelkonform gebildet. Im Gegensatz dazu ist der Gebrauch des Wortes erhalten anstelle von bekommen in diesem Satz nicht möglich. 69 Es gibt aber auch Verwendungsweisen, wo das eine Wort das jeweils andere durchaus ersetzen kann. Wenn man aber die Bedeutung eines Wortes in seinem Gebrauch sieht, so meint man nicht den isolierten situationsbedingten Gebrauch eines Wortes, sondern einen gewohnheitsmäßigen Gebrauch. 70 Unter dem gewohnheitsmäßigen Gebrauch werden die sprachlichen Konventionen verstanden. Erst durch sie wird gewährleistet, dass die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft in der Lage sind, ein Wort regelkonform zu gebrauchen. Das beinhaltet wiederum, dass der Gebrauch nicht mit irgendwelchen privaten Regeln konform sein muss, sondern mit konventionell 67 Vgl. Glock 2000: Wittgenstein-Lexikon: S. 121 68 Vgl. Waismann; Wittgenstein; Schlick 1967: S. 150 69 Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S. 5 - 6 70 Vgl. Loppe 2010: S. 109 37 <?page no="38"?> festgelegten sprachlichen Regeln. 71 Langer Rede kurzer Sinn: Die Regeln, welche die sprachlichen Konventionen ausmachen, ergeben sich weder aus dem isolierten situationsbedingten Gebrauch, noch sind sie mit privaten Regeln gleichzusetzen. Für das bessere Verständnis des Konventionsbegriffs ist an dieser Stelle eine Unterscheidung zwischen der Regel und der Regelbeschreibung erforderlich. Wenn wir sprachlich handeln, so handeln wir nach gewissen Regeln, und eine Handlung nach einer Regel setzt die Kenntnis der Regel voraus, nicht aber die Kenntnis ihrer Beschreibung. 72 Nicht die Kenntnis der Regelbeschreibung befähigt Sprachbenutzer, kommunikative Handlungen zu vollziehen, sondern durch das Handeln nach einer Regel vollzieht man eine kommunikative Handlung. Dabei repräsentiert das Wort nicht die Regel seines Gebrauchs, sondern regelhafter Gebrauch macht es bedeutungsvoll. 73 Nach instrumentalistischer Zeichenauffassung ist ein sprachliches Zeichen deswegen bedeutungsvoll, weil es interpretierbar für Hörer und verwendbar für Sprecher ist. 74 Die Interpretier- und Verwendbarkeit von Zeichen wird durch die Gebrauchsregeln definiert, die in einer Gemeinschaft konventionell festgelegt sind. Als Zwischenergebnis können wir festhalten, dass in der Wittgensteinschen Gebrauchstheorie der Konventionsbegriff eine bedeutende Rolle einnimmt. Dies unterstreicht er auch im folgenden Zitat: „ Einer Regel folgen, eine Mitteilung machen, einen Befehl geben, eine Schachpartie spielen sind Gepflogenheiten. “ (PU § 199) Fritz hebt folgende drei Aspekte hervor, die seiner Ansicht nach den Konventionsbegriff angemessen definieren: die Regularität der Verwendung eines Ausdrucks, das gemeinsame Wissen der Sprecher über die Regularität und schließlich das Wissen über den normativen Charakter der Regularität. 75 Lewis bietet eine differenziertere und erweiterte Erklärung des Konventionsbegriffs als Fritz. Sein Konventionsbegriff erfuhr eine große Beliebtheit bei Gebrauchstheoretikern (Heringer 1974, Keller 1995, Loppe 2010). Der Konvention wird im Lewisschen Sinne eine verhaltensregulierende Funktion beigemessen. Er vertritt die Meinung, dass die wiederkehrenden Koordinationsprobleme zur Entstehung der Konventionen führen. In solchen Situationen folgen die Mitglieder der betroffenen Gruppe zwecks 71 Vgl. Loppe 2010: S. 127 72 Vgl. Heringer 1974: S. 22 - 23 73 Vgl. Keller 1995: S. 67 74 Vgl. Radtke 1999: S. 149 75 Vgl. Fritz 2005: S. 6 38 <?page no="39"?> der Herstellung der Koordination einer gewissen Regularität. 76 Die wörtliche Definition des Lewisschen Konventionsbegriffs lautet folgendermaßen: „ Eine Verhaltensregularität R von Mitgliedern einer Gruppe G, die an einer wiederholt auftretenden Situationen S beteiligt sind, ist genau dann eine Konvention, wenn es wahr ist und wenn es in G zum gemeinsamen Wissen gehört, daß bei jedem Auftreten von S unter Mitgliedern von G (1) jeder R folgt; (2) jeder von jedem anderen erwartet, daß er R folgt; (3) jeder hinsichtlich aller möglichen Handlungskombinationen annährend dieselben Präferenzen hat; (4) jeder es vorziehen würde, daß jeder Beteiligte R folgt, sofern auch die übrigen R folgen; (5) jeder es vorziehen würde, daß jeder Beteiligte R ’ folgt, sofern auch die übrigen R ’ folgten, wobei R ’ eine andere mögliche Verhaltensregularität der Mitglieder von G in S ist, derart daß die Beteiligten in keinem einzigen Fall von S unter Mitgliedern von G zugleich R ’ und R folgen könnten. “ 77 Mitglieder einer Gruppe handeln nach bestimmten Konventionen, wenn sie in einer Situation eine von mehreren alternativen Handlungsweisen wählen, wobei es ein wechselseitiges Wissen darüber gibt, dass die anderen Mitglieder der Gruppe in einer ähnlichen Situation die gleiche Handlungsweise wählen würden. Neben der konventionellen Handlungsweise (R) muss es eine alternative Handlungsweise (R ’ ) geben, damit wir von einer Konvention sprechen können. In den Situationen, wo es nur ein einziges koordinatives Gleichgewicht gibt, kann man das Streben nach der Herstellung der Koordination nicht mehr allein auf das gegenseitige Wissen über die wechselseitige Erwartungshaltung bezüglich der Wahl der gleichen Handlungsweise zurückführen, sondern auf faktische, logische oder sonstige Gründe. Vereinfacht formuliert heißt das: Ich handle konventionell, wenn der einzige Grund meiner Handlung meine Erwartungshaltung ist, dass die anderen an meiner Stelle das Gleiche tun würden. 78 Das Vorhandensein alternativer Handlungsmöglichkeiten beinhaltet, dass es auch anders kommen könnte, als es in einer konventionellen Handlungsweise der Fall ist. Dies sieht man sofort, wenn man nonverbale Zeichen aus verschiedenen Regionen miteinander vergleicht. Hierzulande schüttelt man den Kopf, wenn man die eigene ablehnende Haltung zum Ausdruck bringen möchte. In Bulgarien schüttelt man den Kopf, wenn man die 76 Vgl. Lewis 1969/ 1975: S. 42 77 Lewis 1969/ 1975: S. 77 78 Vgl. Lewis 1969/ 1975: S. 71; Vgl. Keller 1995: S. 155 39 <?page no="40"?> Zustimmung zum Ausdruck bringen möchte. Es könnte aber genauso gut sein, dass wir die ablehnende Haltung nicht durch das Kopfschütteln, sondern durch das Kopfnicken zum Ausdruck bringen könnten. Auch das folgende Beispiel über die Farbsymbolik zeigt, dass man erst dann von einem konventionellen Gebrauch reden kann, wenn es neben der aktuellen Handlungsmöglichkeit eine Alternative gibt. So ist hierzulande das Tragen schwarzer Krawatten ein Zeichen der Trauer. Dabei hat die schwarze Farbe keine Eigenschaft, die auf irgendetwas Trauriges hindeutet. Dies wird erst recht deutlich, wenn wir uns vor Augen führen, dass in Japan und anderen östlichen Kulturen nicht schwarz, sondern weiß das Zeichen der Trauer ist. Während in westlichen Kulturen die Braut meist in weiß gekleidet ist, tragen Frauen in Korea weiß zur Beerdigung. Daran sehen wir, dass das, was schwarz in Europa und weiß in Ostasien zum Symbol der Trauer macht, ausschließlich auf der Tatsache beruht, dass das Tragen dieser Farben in diesen Regionen so geregelt ist und dass darüber ein kollektives Wissen besteht. 79 Zusammengefasst: Die Handlungsweisen, bei denen es nur ein koordinatives Gleichgewicht gibt, können nicht als konventionell bezeichnet werden. Erst das Vorhandensein alternativer Handlungsmöglichkeiten zeichnet den konventionellen Charakter eines Zeichens aus. 2.2 Verschiedene Gebrauchsparameter Bevor ich auf die unterschiedlichen Gebrauchsparametern eingehe, möchte ich kurz das letzte Kapitel zusammenfassen: In der Diskussion über den Bedeutungsbegriff unterscheidet man zwischen der instrumentalistischen und der repräsentationistischen Zeichenkonzeption. Die erstere geht davon aus, dass die sprachlichen Zeichen etwas repräsentieren, was sich außerhalb der Sprache befindet. Die außersprachlichen Entitäten können entweder ontologischer Natur sein, so wie es Gegenstände oder Sachverhalte sind, oder sie können aus einem epistemischen Bereich stammen. Solcher Art sind Konzepte über Sachverhalte in der Welt. Dagegen siedeln die Vertreter der instrumentalistischen Zeichenauffassung die Bedeutungen auf der linguistischen Ebene an. 80 Sie verstehen unter dem Bedeutungsaspekt das, was die sprachlichen Zeichen für die Sprachbenutzer interpretierbar macht. Dies ergibt sich daraus, dass der Zeichengebrauch in einer Sprachgemeinschaft konventionell festgelegt ist. Die sprachlichen 79 Vgl. Keller 1995 S. 69 80 Vgl. Keller, Zeichenbegriff und Metaphern 1995: S. 181 40 <?page no="41"?> Zeichen erlangen die Bedeutung nicht dadurch, dass sie etwas repräsentieren, sondern dadurch, dass sie Gebrauchsregeln folgen. 81 Beide Bedeutungsauffassungen schließen sich aber nicht gegenseitig aus, denn die Wahrheitsbedingungen, die in der repräsentationsistischen Zeichenkonzeption eine große Rolle spielen, bilden gleichzeitig einen Spezialfall von Gebrauchsbedingungen, 82 die als Parameter aus dem Bereich der äußeren Welt bekannt sind. Neben dem wahrheitsfunktionalen Gebrauchsparameter lassen sich allerdings weitere vier Parameter unterscheiden, die in Gebrauchsregeln wirksam werden können. Erste Hinweise auf die unterschiedlichen Gebrauchsparameter finden wir bei Keller. Er hat den Zusammenhang zwischen den Gebrauchsparametern auf der einen Seite und Gebrauchsregeln auf der anderen Seite gezeigt. Demgemäß können verschiedene Parameter unterschiedliche Gebrauchsregeln erzeugen. 83 So ist der Gebrauch von Gattungsnamen wie „ Junggeselle “ , „ Katze “ oder „ Monitor “ von anderen Faktoren bestimmt, als dies bei Adjektiven wie „ wahnsinnig “ und bei Modalpartikeln wie „ bloß “ der Fall ist. Die These, dass unterschiedliche Parameter in eine Gebrauchsregel eingehen können, wird auch von Radtke thematisiert. Sie unterscheidet zwischen fünf Typen von Gebrauchsparametern, 84 wobei Keller den ersten Parameter in zwei Subklassen unterteilt: 1. Parameter aus dem Bereich der äußeren Welt: Die Bedeutung des Wortes „ Primzahl “ kennen, heißt zu wissen, dass man dieses Wort dann verwenden kann, wenn man sich auf eine Zahl bezieht, die durch eins und durch sich selbst teilbar ist. Ein gutes Beispiel ist auch das Wort „ Junggeselle “ . Für die Wörter dieser Klasse gilt, dass die Gebrauchsbedingungen als die Wahrheitsbedingungen zu verstehen sind. Keller unterscheidet zwischen den Gebrauchsregeln, die nur wahrheitsfunktionale Merkmale beinhalten, und solchen, die zusätzlich die Merkmale der menschlichen Nutzung des betreffenden Gegenstandes aufweisen. 85 Die letzteren bilden eine Subklasse innerhalb dieses Parameters. Keller erläutert diese Unterscheidung durch den Vergleich von “ Vogel “ und „ Geflügel “ . Die Bedeutung des Wortes „ Vogel “ ist definiert durch bestimmte sinnlich wahrnehmbare Merkmale, die für diese Tiere kennzeichnend sind. Zu der Gebrauchsregel des Wortes „ Geflügel “ kommt noch der Nutzungs- 81 Vgl. Radtke 1999: S. 149 82 Vgl. Keller 1995: S. 67 83 Vgl. Keller 1996: S. 65 84 Vgl. Radtke 1999: S. 149 85 Vgl. Keller 2006: S. 28 41 <?page no="42"?> aspekt hinzu. Wir nennen nur die Vögel als Geflügel, die zum Verzehr bestimmt sind. Eine ähnliche Sichtweise vertritt Schwartz, als er den Unterschied zwischen „ animal “ und „ pet “ erläutert: „ Something is a pet not because of its nature but because of its relationship to other things, its function or role, and so on “ . 86 2. Parameter aus der Welt der Gefühle und Haltungen: Der Gebrauch der wertenden Adjektive wie z. B. „ sympathisch “ oder „ gut “ hängt im Allgemeinen mit Aspekten des Bewertens zusammen. Bei den Ausdrücken wie „ toll “ oder „ geil “ kommen noch expressive Elemente hinzu. 87 Darauf kommen wir später zurück. 3. Parameter aus der Welt des Sozialen: Ein gutes und vielzitiertes Beispiel bildet die Unterscheidung zwischen den deutschen Personalpronomina „ du “ und „ Sie “ . Denn durch die Referenzfunktion solcher Ausdrücke lassen sich ihre Verwendungsregeln nicht explizieren. Erst der Bezug auf soziale Differenzierungen wie z. B. Alter, Bekanntschaftsgrad usw. erklärt den Unterschied zwischen „ du “ und „ Sie “ . Zu den weiteren Beispielen zählen die Ausdrücke, die ausschließlich zur Entstehung oder Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen beitragen. Dazu gehören Abschieds- und Grußformel, aber auch Ausdrücke für Entschuldigung und Danksagungen. Die korrekte Verwendung der Ausdrücke wie z. B. „ Danke “ oder „ Servus “ hängt mit sozialen Regeln der betreffenden Gesellschaft zusammen. 4. Parameter aus der sprachlichen Welt: Der Gebrauch der Funktionswörter wie „ oder “ , „ ohne “ oder „ ihn “ ist offenbar mit innensprachlichen Gesichtspunkten verbunden. So sind für die korrekte Verwendung der Konjunktion „ und “ weder sinnlich wahrnehmbare Merkmale eines Gegenstandes von Bedeutung, noch die Haltung zu diesem Gegenstand. Was hier zählt, ist einzig und alleine das ausreichende Wissen über die Struktur der entsprechenden Sprache. 5. Parameter aus der Welt des Diskurses: Die deutschen Modalpartikel wie z. B. „ eben “ , „ ja “ , „ doch “ usw. folgen diesem Parameter. Sie alle haben eine diskurssteuernde Funktion. Es macht einen großen Unterschied, ob ich zu jemandem sage: „ setzt dich “ oder „ setzt dich doch mal. “ Der zweite Satz ist deutlich weniger verbindlich. 88 86 Schwartz 1978: S. 573 87 Vgl. Loppe 2010: S. 205 88 Für Adjektive sind nur die Parameter aus der äußeren Welt sowie aus der Welt der Gefühle und Haltungen von Bedeutung. Der Parameter aus der sprachlichen Welt ist für die Ausdrücke wichtig, die eine innersprachliche Funktion tragen, - die Synsemantika. Adjektive gehören aber nicht zu den Synsemantika. Auch der Parameter aus der Welt des Diskurses kann nicht in die Gebrauchsregeln von Adjektiven eingehen, da er im Deutschen ausschließlich aus den Modalpartikeln besteht. Da nun der Parameter aus der Welt des Sozialen ausschließlich aus solchen Ausdrücken 42 <?page no="43"?> Bechmann versucht die oben erwähnten Gebrauchsparameter zu erweitern, indem er einen neuen Gebrauchsparameter der inneren Welt in drei Unterparameter unterteilt: 1. Parameter aus der Welt der Haltungen 2. Parameter aus der Welt der Gedanken und Kognitionen 3. Parameter aus der Welt der Gefühle. Der erste Unterparameter ist dabei deckungsgleich mit Radtkes Parameter der Gefühle und Haltungen. Nach Bechmann ist das Alleinstellungsmerkmal für den zweiten und dritten Unterparameter die Tatsache, dass sie auf kognitive bzw. emotive Prozesse referieren. 89 Nach diesem Prinzip könnte man jedoch unendlich viele Unterparameter aufmachen, welche weitere Wortschatzbereiche mit wahrheitsfunktionalen Aspekten denotieren oder prädiziern. Die Gebrauchsparameter sind allerdings nicht mit Wortschatzbereichen gleichzusetzen, welche sich nach gewissen inhaltlichen Kriterien unterscheiden lassen. Bechmann tut jedoch durch seine weitere Differenzierung gerade das, indem er bestimmte Gruppe von abstrakten aber wahrheitsfunktionalen Ausdrücken als unterschiedliche Gebrauchsparameter identifiziert. 90 Für die Unterscheidung zwischen den Parametern sollten jedoch vielmehr, wie wir bereits oben festgestellt haben, unterschiedliche kommunikative Funktionen wie bewertende, deskriptive und weitere Aspekte ausschlaggebend sein. Bechmanns Versuch, einen neuen Parameter einzuführen, ist auch aus einem anderen Grund nicht nur unnötig, sondern auch falsch. So verkennt er den wesentlichen Unterschied zwischen den Begriffen aus der äußeren Welt und den Begriffen aus der Welt der Gefühle und Haltungen, indem er die Ausdrücke mit deskriptiven Aspekten wie Liebe, Hass und denken im gleichen Parameter verortet wie die Ausdrücke mit wertend-emotionalen Aspekten wie toll, geil oder gut. Des Weiteren ist Bechmanns Feststellung, dass alle drei Parameter aus der so genannten inneren Welt abstrakt sind, alles andere als richtig, denn solche Ausdrücke wie toll oder schlecht können weder abstrakt noch konkret sein. Sie bringen kommunikationstechnisch gesehen lediglich bewertende bzw. expressiv-emotionale Aspekte zum Ausdruck, und zu ihren Gebrauchsbedingungen zählt nicht, dass sie „ Entsprechungen in der äußeren Welt “ 91 haben müssen. Da sich die vorliegende Arbeit mit dem Bedeutungswandel von Inhaltswörtern und wertenden Ausdrücken beschäftigt, konzentrieren wir uns auf die ersten zwei Parameter: Parameter aus der äußeren Welt und Parameter aus der Welt der Gefühl und Haltungen. besteht, die zum Zwecke der Entstehung und Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen verwendet werden, kann dieser Parameter ebenfalls nicht in der Gebrauchsregel des Adjektivwortschatzes wirksam werden. 89 Vgl. Bechmann 2012: S. 106 90 Vgl. Bechmann 2012: S. 107 91 Bechmann 2012: S. 107 43 <?page no="44"?> Loppe weist darauf hin, dass „ eine Gebrauchstheorie nicht ohne Rückgriff auf die Wissensbestände der Sprachbenutzer und somit nicht ohne mentale Konzepte, Begriffe [. . .] auskommen kann. “ 92 Das ist auch so weit richtig, denn würde man bei der Bedeutungsexplizierung von Inhaltswörtern von mentalen Aspekten wie Wissensbeständen absehen, liefe man schnell Gefahr, eine inhaltsleere Formulierung wie „ verwende das Wort ‚ Tisch ‘ wenn du auf einen Tisch verweisen möchtest “ als die Bedeutungsexplikation des Ausdrucks „ Tisch “ zu betrachten. Richtig wäre es, einen Zusammenhang zwischen der regelgeleiteten Wortverwendung auf der einen Seite und dem Wissensbestand eines Sprechers auf der anderen Seite zu klären. Im folgenden Kapitel werde ich versuchen, drei verschiedene Begriffstypen aus dem Parameter der äußeren Welt zu klassifizieren. Dabei werde ich den oben erwähnten Zusammenhang vom konventionellen Wortgebrauch und Begriffswissen näher erläutern. 2.2.1 Parameter aus der äußeren Welt Ein Parameter aus der äußeren Welt besteht auf der ontologischen Ebene grundsätzlich aus zwei Teilen, aus der raumzeitlichen Realität und aus der soziokulturellen Realität. Zur ersten Gruppe gehören diejenigen Gegenstände, die durch die menschliche Physiologie sinnlich wahrnehmbar sind. Zu der soziokulturellen Realität gehören hingegen die Entitäten bzw. Sachverhalte, deren Bedeutung größtenteils durch die soziokulturellen Konventionen definiert wird. Die Annahme über die Zweiteilung der Welt in eine soziokulturelle und physisch wahrnehmbare raumzeitliche Realität erkannte auch Sweetser. Für sie war der gesamte Denkprozess auf diese Zweiteilung aufgebaut: „ In particular, we model our understanding of logic and thought processes on our understanding of the social and physical world. “ 93 In Bezug auf den Parameter aus der raumzeitlichen Welt hat Loppe einige relevante Spezifikationen vorgenommen. So wies er anlehnend an Putnam darauf hin, dass die Bedeutungen von Ausdrücken für natürliche Arten und für Artefakte die Form eines stereotypischen Wissens haben. Beide dieser Begriffsklassen bilden zusammen die raumzeitliche Realität, denn sowohl natürliche Arten als auch Artefakte sind durch die menschliche Physiologie wahrnehmbar. Das mit diesen Begriffen in Verbindung stehende stereotypische Wissen ist nach Loppe „ . . .das mit dem Erwerb der Gebrauchsregel verbundene Minimalwissen über typische Referenzobjek- 92 Loppe 2010: S. 200 93 Sweetser 1990: S. 21 44 <?page no="45"?> te. “ 94 Sein Stereotypenbegriff ist somit nicht das geistig-kognitive Vermögen eines Einzelnen, sondern hat die Form des Lewisschen Konventionsbegriffs, denn schließlich wird dieses Wissen „ in einer Sprachgemeinschaft wechselseitig erwartet. “ 95 Damit wird der soziale Charakter des Stereotyps hervorgehoben. Des Weiteren darf das oben erwähnte wechselseitig erwartbare objektbezogene Minimalwissen nicht mit dem Fachwissen gleichgesetzt werden, denn das stereotypische Wissen definiert sich nicht über das Fachwissen, sondern es definiert sich über sinnlich wahrnehmbare Eigenschaften oder 96 Nutzungsaspekte, die ein Gegenstand aufweist. Die Nutzungsbedingungen und Objektmerkmale sind im Sinne der Gebrauchstheorie als Kriterien des regelfolgenden Wortgebrauchs zu verstehen. 97 So impliziert die Kenntnis des Wortes „ Fuchs “ nicht das zoologische Wissen über die Beschaffenheit dieses Tieres, sondern die Kenntnis der Wortbedeutung „ Fuchs “ ist dann gewährleistet, wenn man Füchse identifizieren und sie von Nicht- Füchsen unterscheiden kann. Zusammenfassend lässt sich Folgendes sagen: Man kennt die Bedeutung eines Wortes aus dem Bereich der raumzeitlichen Realität, wenn man das mit dem entsprechenden Wort verbundene, wechselseitig erwartbare Minimalwissen kennt, das sich aus den Nutzungsbedingungen oder sinnlich wahrnehmbaren Objektmerkmalen zusammensetzt. Betrachtet man die Naturphänomene und Artefakte näher, so ist es notwendig, in Bezug auf den Bedeutungsbegriff weitere Differenzierungen vorzunehmen. Sehen wir uns zunächst die natürlichen Arten bzw. Naturphänomene näher an. Zu der Klasse der Naturphänomene gehören all die Gegenstände bzw. Sachverhalte, die es von Natur aus gibt, d. h. all das, was nicht durch die menschliche willentliche Handlung geschaffen wurde. Dazu zählen z. B. Niederschläge, Lebewesen, Wasser usw. Charakteristisch für diese Klasse von Gegenständen ist, dass das durch sie erzeugte Begriffswissen sich überwiegend auf sinnlich wahrnehmbare Merkmale des Referenzobjektes bezieht. In vielen Fällen sind allerdings auch Nutzungsaspekte Teil des stereotypischen Wissens. So bezieht sich nach Loppe die Bedeutung des Wortes „ Wasser “ sowohl auf Objektsmerkmale als auch auf Nutzungsbedingungen. Die Geruchs- und Farblosigkeit sowie Geschmacksneutralität sind als Objektsmerkmale des Begriffs Wasser zu verstehen. Dass es sich zum Trinken, Baden, Duschen und Kochen eignet 98 , sind als die Nutzungsbedingungen von Wasser anzusehen. Beide Teile sind 94 Loppe 2010 S. 280 95 Loppe 2010 S. 239 96 Dieses „ oder “ wird als ein einschließendes „ oder “ zu verstehen. 97 Vgl. Loppe 2010 S. 258 98 Vgl. Loppe 2010 S. 216 45 <?page no="46"?> aber die Bestandteile der Bedeutung von „ Wasser “ , das eindeutig ein Begriff aus der raumzeitliche Realität ist. Gleiches gilt für Obst oder Gemüse. Zu Obst gehören die Pflanzen, die meistens roh gegessen werden (Nutzungsaspekte) und süß oder in Ausnahmefällen sauer schmecken (sinnlich wahrnehmbare Objektsmerkmale). Dagegen sind unter Gemüse all die essbaren Pflanzen oder Pflanzenteile zu verstehen, die gebraten, gekocht oder im Salat verwendet werden (Nutzungsaspekte) und herzhaft schmecken (Objektsmerkmale). 99 Die zweite Klasse von Phänomenen aus der raumzeitlichen Realität besteht aus den Artefakten. Das sind solche Phänomene, die von Menschen geplant und gemacht sind. Dazu gehört ein Schreibtisch ebenso wie ein Kernkraftwerk oder eine Zündkerze. Im Unterschied zu Naturphänomenen bezieht sich das durch die Artefakte erzeugte Begriffswissen überwiegend auf die Nutzungsbedingungen. Löbner verallgemeinert diese Annahme: „ Das Kriterium der Form ist aber bei Tassen, Vasen und Schalen nur sekundär. Primär ist bei allen Artefaktkategorien der Verwendungszweck. “ 100 Dies trifft zwar für die meisten Alltagsgegenstände zu, aber bei weitem nicht für alle Artefakte. Eine Zündkerze ist eindeutig ein Artefakt. Ich kann die Zündkerze problemlos identifizieren und sie von anderen Artefakten und sogar von anderen Autoteilen eindeutig unterscheiden, obwohl ich nichts über ihren Verwendungszweck weiß. Ich kann eine Zündkerze alleine durch ihre äußeren Merkmale identifizieren und sie dadurch von Nicht-Zündkerzen unterscheiden. An diesem Beispiel sehen wir, dass die Nutzungsaspekte einiger Artefakte nicht als stereotypisches Wissen zu betrachten sind, sondern als reines Fachwissen. Das Fachwissen darf aber nicht als Kriterium des regelfolgenden Wortgebrauchs herangezogen werden. Deswegen werden die Ausdrücke für einige Artefakte von normalen Sprachbenutzern nur aufgrund der sinnlich wahrnehmbaren Objektsmerkmale und nicht aufgrund der Benutzungsaspekte regelfolgend verwendet. Neben den Artefakten und natürlichen Arten gibt es die dritte Begriffsklasse, die Teil der soziokulturellen Realität ist. Dazu gehören vor allem Institutionen des sozialen Lebens und ihre Bestandteile. Eine Großzahl dieser Begriffe steht mit Kellerschen Phänomenen der dritten Art in Verbindung, denn diese Phänomene haben ebenso mit sozialen Institutionen zu tun: „ Ihr charakteristischer Bereich sind soziale Institutionen wie Geld, 99 Der Geschmack von Gemüse wird von Loppe fälschlicherweise als Nutzungsaspekt verstanden. Er ist aber als Objektsmerkmal zu betrachten, denn zu den sinnlich wahrnehmbaren Objektsmerkmalen zählen nicht nur optische Eigenschaften eines Referenzobjektes, sonder auch Geschmack, Geruch usw. (Vgl. Loppe 2010 S. 210) 100 Löbner 2003: S. 282 46 <?page no="47"?> Moral, Sprache . . . “ 101 Die Details über die Entstehungsprozesse von Phänomenen der dritten Art werde ich an einer anderen Stelle näher erläutern. Auch Loppe erkennt, dass die obige Begriffsklasse ihre Bedeutungshaftigkeit erst innerhalb einer sozialen Institution erlangt. Er sagt wörtlich, dass „ das mit der Fähigkeit der Verwendung von Ausdrücken wie ‚ Junggeselle ‘ notwendigerweise verbundene Wissen ein konventionell festgelegtes Definitionswissen ist, das nicht unabhängig von sozialen Institutionen unserer Gesellschaft besteht. “ 102 Damit ist das wichtigste Kriterium des regelfolgenden Gebrauchs der Ausdrücke für soziokulturelle Sachverhalte das in einer sozialen Institution festgelegte Definitionswissen. So lässt sich die Bedeutung des Wortes „ Witwer “ nur innerhalb der Institution Ehe definieren und die Bedeutung von „ Abseits “ nur in einer Sportinstitution wie z. B. dem Fußball. Demnach ist das Bezugsobjekt des Ausdrucks „ Witwer “ jemand, der menschlich, männlich sowie erwachsen ist und dessen Ehepartnerin verstorben ist. Dank der Kenntnis dieses Definitionswissens sind die Sprachbenutzer in der Lage, den Ausdruck „ Witwer “ regelkonform zu verwenden. Neben dem institutionellen Wissen spielen allerdings noch andere Faktoren eine Rolle bei den Begriffen aus der soziokulturellen Realität. So konnte Fillmore am Beispiele von Junggeselle illustrieren, dass die Begriffe, welche Loppe als institutionelle Abstrakta nennt, nicht ausschließlich über das institutionelle Definitionswissen zu definieren sind. 103 Dies sieht man auch bei manchen Verwandtschaftsbezeichnungen. Es ist z. B. im Georgischen und Russischen möglich, nicht nur den Bruder eines Elternteils als „ Onkel “ zu bezeichnen, sondern auch eine erwachsene männliche Person, die älter als der Sprecher und nicht mit ihm verwandt ist. Diese Gebrauchsweise ist sogar Teil der lexikalischen Bedeutung des Wortes Onkel in den betreffenden zwei Sprachen. Eine ähnliche Verwendung von Begriffen wie Opa oder Oma ist auch in der deutschen Sprache vorstellbar. Aus diesem Grund teile ich die Meinung Loppes nicht, dass die Begriffe aus der soziokulturellen Realität ausschließlich über das institutionelle Definitionswissen definierbar sind. 104 Diese Annahme führt dann dazu, dass Loppe die Begriffe der Verwandtschaftsbezeichnungen allein über relationale Aspekte definiert: „ Kann man unter diesen Bedingungen noch behaupten, die Fähigkeit zum regelfolgenden Gebrauch sei allein an die Kenntnis des relationalen Aspekts gebunden? Ich denke schon. “ 105 101 Keller 1990/ 2003: S 97 102 Loppe 2010: S. 255 103 Vgl. Busse 2012: S. 98 sowie Fillmore, Charles 1982: S. 32 104 Vgl. Loppe S. 258 Loppe hat für die Begriffe aus der soziokulturellen Realität eigene Begriffsbezeichnung eingeführt und nennt sie institutionelle Abstrakta 105 Loppe 2010: S. 275 47 <?page no="48"?> Bilanzierend können wir den Unterschied zwischen den Begriffen aus der soziokulturellen Realität und denen aus der raumzeitlichen Realität festhalten. Im ersten Fall handelt es sich um solche Begriffe, die ihre Bedeutungshaftigkeit größtenteils durch ein Definitionswissen erlangen, das innerhalb einer sozialen Institution festgelegt ist. Die Sprecher sind aufgrund der Kenntnis des Definitionswissens in der Lage, den betreffenden Ausdruck regelkonform zu gebrauchen. Wie wir allerdings bei den Ausdrücken Tante und Onkel gesehen haben, spielen bei solchen Begriffen manchmal auch andere Aspekte als nur das institutionelle Definitionswissen eine Rolle. Die Grenzen der Begriffe aus der soziokulturellen Realität sind aber im Vergleich zu den Begriffen aus der raumzeitlichen Realität weniger fließend. Ein anderes Verhalten zeigt sich bei den Begriffen aus der raumzeitlichen Realität. Beim Gebrauch von Ausdrücken aus dieser Klasse orientieren sich die Sprachbenutzer nicht an einem Definitionswissen, sondern an stereotypischen Wissensbeständen. Diese Wissensbestände ergeben sich wiederum entweder aus den physisch wahrnehmbaren Objektsmerkmalen, wie es bei natürlichen Arten überwiegend der Fall ist, oder aber aus den Nutzungsbedingungen, wie es bei den meisten Artefakten der Fall ist. Da die Zugehörigkeit zu einer Begriffsklasse aufgrund der stereotypischen Eigenschaften des betreffenden Gegenstandes geregelt ist, haben die Begriffe aus der raumzeitlichen Realität in den allermeisten Fällen fließende Grenzübergänge. 106 2.2.2 Parameter aus der Welt der Gefühle und Haltungen Im vorangegangenen Kapitel haben wir gesehen, dass der Parameter aus der äußeren Welt für die Teile des Wortschatzes von Bedeutung ist, deren Gebrauchsbedingungen sich aus den Wahrheitsbedingungen ergeben. D. h. man verwendet einen Ausdruck dieser Art erst dann regelkonform, wenn man die Wahrheitsbedingungen als Kriterium der regelfolgenden Wortverwendung heranzieht. Jemand ist ein Junggeselle, wenn er männlich, menschlich, erwachsen und nicht verheiratet ist. Ein anderes Verhalten lässt sich bei den Ausdrücken beobachten, deren Gebrauchsregel durch den Parameter aus der Welt der Gefühle und Haltungen erzeugt wird. Die Sprecher verwenden sie, um Emotionen und Haltungen zum Ausdruck zu bringen. Aber mit welchen lexikalischen Mitteln bringen wir denn unsere Emotionen zum Ausdruck? Mit Sicherheit 106 Eine Ausnahme bildet die Kategorie Vogel. Zwar gehört ein Vogel eindeutig zu den natürlichen Arten aber es hat keine fließenden Grenzübergänge. Es gibt zwar gute und weniger gute Vertreter dieser Kategorie aber ein Tier ist entweder ein Vogel oder es ist kein Vogel. 48 <?page no="49"?> nicht durch die Wörter, die bestimmte Gefühlszustände wie Angst, Liebe oder Wut bezeichnen. Hermanns spricht in Bezug auf solche Ausdrücke von „ quasi psychologischen Vokabeln “ , denn „ sie dienen zur Benennung von Gefühlen und Gemütszuständen, insbesondere in deskriptiver Absicht. In der Regel sind sie selber aber gar nicht emotiv oder expressiv. “ 107 Quasi-psychologische Wörter bringen keine Emotionen zum Ausdruck, sondern sie beschreiben sie lediglich. Empfindungswörter sind hingegen solche, die „ primär dem Ausdruck von Gefühlen und Affekten dienen “ . 108 Diese Gruppe von Ausdrücken enthält expressive und evaluative Bedeutungsaspekte, deswegen ist bei ihnen das Kriterium des regelfolgenden Gebrauchs, dass der Sprecher durch sie eine bewertende Haltung oder eigene Gefühlszustände zum Ausdruck bringt. Eigene Gefühlszustände und bewertende Haltungen kann man zum einen mit Partikeln wie ach, au oder pfui zum Ausdruck bringen und zum anderen mit den so genannten expressiv-evaluativen Adjektiven wie toll, cool sowie mit rein evaluativen Adjektiven wie schön und schlecht. Die semantische Klassifikation von Adjektiven werde ich im nächsten Kapitel vorstellen. Dabei werden wir die expressiv-evaluativen und rein evaluativen Adjektive näher kennenlernen. Neben den rein evaluativen und expressiven Ausdrücken gibt es eine weitere Gruppe von Ausdrücken, die neben dem wertenden und emotionalen Aspekt noch wahrheitsfunktionale Aspekte beinhalten. Sie nutzen neben dem Parameter aus der Welt der Gefühle und Haltungen noch den Parameter aus der äußeren Welt. Dazu gehören zum einen die Substantive wie Töle, Gesöff oder Neger und zum anderen die deskriptiv-evaluativen Adjektive wie geizig, sparsam oder schlank. Als Zwischenergebnis können wir festhalten, dass folgende vier Klassen von Ausdrücken den Parameter aus der Welt der Gefühle und Haltungen ausmachen: 1. Partikeln: Ach; Au; Igit. 2. Rein evaluative Adjektive: gut; schön, schlecht. 3. Expressiv-evaluative Adjektive: geil, toll, irre. 4. Deskriptiv-evaluative Adjektive sowie Substantive mit einem deskriptiv-evaluativen Bedeutungsanteil: geizig, sparsam, Neger, Gesöff, Gestank. Wenn man diese vier Klassen von Ausdrücken genauer betrachtet, dann fällt auf, dass allen vier Gruppen gemeinsam ist, dass man mit ihnen eine 107 Hermanns 1995: S. 144 - 145 108 Hermanns 1995: S. 145 49 <?page no="50"?> Bewertung vornehmen kann. Allerdings beinhalten diese Ausdrücke außer rein evaluativen auch andere Bedeutungsaspekte. So drücken die expressiv-evaluativen Adjektive neben Bewertungen noch die emotionale Haltung des Sprechers aus. Schließlich beinhalten die Ausdrücke aus der vierten Gruppe sowohl bewertende als auch wahrheitsfunktionale Aspekte. Keller/ Kirschbaum schreibt passend dazu: „ Wer einem Gegenstand gegenüber eine Haltung zum Ausdruck bringt, der bewertet den Gegenstand. Insofern sind alle Adjektive, deren Verwendung und Interpretation auf emotiv-beschreibender oder emotiv-persuasiver Absicht basieren, auch evaluativ. “ 109 2.3 Semantische Klassifikation von Adjektiven Wie aus der Klassifikation von Radtkes Gebrauchsparametern ersichtlich ist, können Parameter aus der sprachlichen Welt, aus der Welt des Sozialen sowie aus der Welt des Diskurses nicht in die Gebrauchsregeln von Adjektiven eingehen. Aus diesem Grund sind für den Adjektivwortschatz nur noch die Parameter aus der äußeren Welt sowie aus der Welt der Gefühle und Haltungen von Bedeutung. Man kann ausschließlich aufgrund dieser zwei Parameter eine semantische Klassifikation des Adjektivwortschatzes vornehmen, die auf einer instrumentalistischen Zeichenkonzeption basiert. Dabei bietet eine instrumentalistische Klassifikation von Adjektiven einige wichtige Vorteile gegenüber der traditionellen repräsentaitonistischen Klassifikation. Eine weit verbreitete repräsentationistische Klassifikation unterteilt die Adjektive in absolute und relative Adjektive. Absolute Adjektive verfügen demnach über eine feststehende, vom Kontext unabhängige Bedeutung. 110 Im Gegensatz zu absoluten Adjektiven zeichnen sich relative Adjektive dadurch aus, dass „ sie je nach Verwendung Unterschiedliches auf der Objektebene denotieren. Ihre Bedeutung variiert je nach Kontext. “ 111 Wenn man aber die Bedeutung eines Wortes im Sinne Wittgensteins als eine konventionell festgelegte Gebrauchsregel betrachtet, so kann sie nicht je nach Kontext variieren. Wenn die sprachlichen Konventionen je nach Kontext variieren würden, dann hätten die Sprachbenutzer keine verlässlichen Mittel, um miteinander zu kommunizieren. Das was kontextabhängig variieren kann, ist nicht die Bedeutung eines Wortes, sondern dessen Sinn. Die Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung werden wir an einer anderen Stelle näher erläutern. 109 Keller/ Kirschbaum 2003: S. 147 110 Vgl. Rachidi 1989: S. 114 111 Rachidi 1989: S. 115 50 <?page no="51"?> Zurück zu der Klassifikation von Adjektiven. Neben der Unterteilung von Adjektiven in absolute und relative Adjektive gibt es noch eine weitere auf der repräsentationistischen Zeichenkonzeption basierte Klassifikation, die von Bierwisch vorgeschlagen wird. Bierwisch konzentriert sich auf die so genannten Dimensionsadjektive 112 und unterteilt sie in mehrere Typen. 113 Abbildung 2: Bierwischs semantische Klassifikationen von Adjektiven. (Die Grafik wurde von Radtke leicht abgewandelt: Vgl. Radtke 1999: S. 152; Bierwisch 1987: S. 14) Auf der obersten Ebene wird zwischen den restriktiven und nicht restriktiven Adjektiven unterschieden. Nach Bierwisch schränken die restriktiven Adjektive die durch das Nomen angegebene Bezugsklasse ein, indem sie zusätzliche Bedingungen denotieren. Im Gegensatz dazu wird durch nicht restriktive Adjektive die Geltung der Bezugsklasse, die durch das Nomen angegeben wird, aufgehoben. 114 Als Beispiel kann man zwei Nominalphrasen miteinander vergleichen. Die erste Nominalphrase beinhaltet ein nichtrestriktives Adjektiv, die zweite hingegen ein restriktives Adjektiv: „ Ein ehemaliger Polizeibeamter “ ; „ Ein dicker Polizeibeamter “ Im ersten Fall wird die Geltung der Bezugsklasse aufgehoben, denn ein ehemaliger Polizeibeamter ist kein Polizeibeamter mehr. Im Gegensatz 112 Nach Bierwisch sind Dimensionsadjektive solche, die „ quantitative Bewertungen bestimmter Aspekte bzw. Dimensionen von Objekten oder Sachverhalten “ wiedergeben. (Vgl. Bierwisch 1987 S. 12) z. B. Adjektive wie „ groß, klein, lang, kurz, hoch, niedrig, breit, schmal, tief, flach, dick, dünn, weit, nah, eng. “ (Vgl. Bierwisch 1987 S. 11) 113 Vgl. Radtke 1999: S. 152 Die Grafik wurde von Radtke leicht abgewandt. Die Ursprüngliche Grafik von Bierwisch 1987: S. 14 114 Vgl. Bierwisch 1987 S. 14; sowie Radtke 1999 S. 152 51 <?page no="52"?> dazu wird in der zweiten Nominalphrase die Bezugsklasse eingeschränkt, ein dicker Polizeibeamter ist zwar immer noch ein Polizeibeamter, aber er ist im Vergleich zu anderen dick. Bierwisch unterteilt die Klasse der restriktiven Adjektive in relative und nicht relative Adjektive. Zu den nicht-relativen bzw. den absoluten Adjektiven „ gehören u. a. die Farbadjektive, Form- und Substanzbezeichnungen wie rund, quadratisch, sechseckig, eisern, golden, hölzern, aber auch eine Vielzahl konkreter und abstrakter Qualifizierungen wie flüssig, teilbar, männlich, griechisch, kubistisch usw. “ 115 Nach Bierwisch ist ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal für relative Adjektive die Graduierbarkeit. Die relativen Adjektive unterscheiden sich von absoluten bzw. nicht relativen Adjektiven dadurch, dass sie graduierbar sind. 116 Relative Adjektive unterteilt Bierwisch weiter in transparente und nicht transparente Adjektive. „ Ein Adjektiv ist (. . .) transparent, wenn es eine konstante Bedingung festlegt, in Bezug auf die eine vergleichende Wertung vorgenommen wird. Nicht transparente Adjektive binden diese Wertung an wechselnde Eigenschaften des qualifizierten Objekts, sie enthalten mithin einen weiteren Parameter, dessen Wert kontextuell - in der Regel durch eine entsprechende Bedingung, die das Bezugsnomen angibt - festgelegt wird. “ 117 Bierwischs semantische Klassifikation von Adjektiven weist mehrere Mängel auf. Ähnlich wie Rachidi kommt er mindestens bei den so genannten transparenten Adjektiven nicht umhin, die kontextabhängige und variierende Bedeutung ins Spiel zu bringen. Betrachtet man diese Vorgehensweise unter der Perspektive der instrumentalischen Zeichenkonzeption, so verlässt Bierwisch dabei die linguistische Ebene der Bedeutung und begibt sich auf eine andere sprachliche Ebene, die als der kommunikative Sinn der Bedeutung bekannt ist. Hinzu kommt noch Radtkes berechtigte Kritik, dass Bierwischs semantische Klassifikation von Adjektiven keine unabhängige Formulierung der Bedeutung des Adjektivs zulässt. Seine Bedeutung wird bei Bierwisch über die Nominalphrase formuliert. 118 Bierwischs gesamte Adjektivklassifikation kann nicht aufrechterhalten werden, wenn man die Adjektive losgelöst von Nominalphrasen betrachtet, denn nach Bierwisch handle es sich dabei um „ eine Klassifikation der Adjektive hinsichtlich der Art, in der sie ein Bezugselement qualifizieren. “ 119 115 Bierwisch 1987 S. 14 116 Vgl. Bierwisch 1987 S. 15 117 Bierwisch 1987 S. 17 118 Vgl. Radtke 1999: S. 153 119 Bierwisch 1987: S. 13 52 <?page no="53"?> Noch schwieriger gestaltet sich die Problematik, wenn man die Bedeutung von Adjektiven ermitteln will, die über keine Extension verfügen. Adjektive wie geil oder toll haben zwar eine Bedeutung, aber sie haben keine Extension. Deswegen kann man sie nicht durch eine repräsentationistische Zeichenkonzeption ermitteln, denn Vertreter dieser Zeichenkonzeption betrachten die Extension als die Bedeutung des Ausdrucks. Das führt dazu, dass nur die nicht relativen bzw. absoluten Adjektive eine von Bezugsnomen unabhängige Bedeutung haben können. Einen Ausweg aus der oben geschilderten problematischen Situation bietet das instrumentalische Zeichenmodel. Es ist in der Lage, eine von der Nominalphrase losgelöste semantische Klassifikation von Adjektiven vorzunehmen, die auf einem konstanten, kontextunabhängigen Bedeutungsbegriff fußt und die imstande ist, neben den Adjektiven mit wahrheitsfunktionalen Aspekten auch noch alle weiteren Adjektivklassen zu erfassen. Wie im Eingang dieses Kapitels bereits dargelegt wurde, können nur die Parameter aus der äußeren Welt und die aus der Welt der Gefühle und Haltungen für die Gebrauchsregel der Adjektive in Frage kommen. Kombinationen sind auch möglich. Nimmt man die Tatsache zur Kenntnis, dass der Parameter aus der Welt der Gefühle und Haltungen durch expressive und evaluative Aspekte bestimmt wird, so kann man eine semantische Klassifikation von Adjektiven vornehmen. Es ergeben sich folgende vier Klassen: 1. Rein evaluative Adjektive: gut, schön, schlecht. 2. Expressiv-evaluative Adjektive: geil, toll, irre. 3. Rein deskriptive Adjektive: blau, verheiratet, laut. 4. Deskriptiv-evaluative Adjektive: geizig, sparsam, schlank, mager. 1. Mit rein evaluativen Adjektiven kann der Sprecher lediglich eine billigende oder missbilligende Haltung zum Ausdruck bringen. Dabei sind die Eigenschaften oder Standards, aufgrund derer der Sprecher einen Gegenstand positiv oder negativ bewertet, kein Teil der Gebrauchsregel der rein evaluativen Adjektive wie „ gut “ „ schlecht “ oder „ schön “ , 120 denn die Standards oder Eigenschaften, die einen Spielfilm, ein Fußballspiel oder einen georgischen Wein gut machen, sind nicht Teil der sprachlichen Bedeutung des Wortes gut. 121 Kennzeichnend für diese Gruppe der Adjektive ist es außerdem, dass deren Verwendung nicht auf einen spezifischen Bereich eingeschränkt ist, sondern dass sie auf ganz unterschiedliche Bereiche angewendet werden können. 120 Vgl. Keller 1977: S. 36 121 Vgl. Keller 2006: S. 27 53 <?page no="54"?> 2. Expressiv-evaluative Adjektive unterscheiden sich von rein evaluativen Adjektiven dadurch, dass sie neben dem evaluativen Bedeutungsanteil auch einen expressiven in sich tragen. Sie drücken neben Bewertungen auch noch die emotionale Haltung des Sprechers aus. Wenn man etwas geil oder toll findet, dann drückt man zusätzlich zu einer positiven Bewertung noch die eigene Emphase aus. Für die Verwendung eines expressivevaluativen Adjektivs sind dementsprechend beide Aspekte des Parameters aus der Welt der Emotionen und Haltungen von Bedeutung, sowohl die bewertenden als auch die expressiven Aspekte. Dabei ist häufig die Grenze zwischen den expressiven und evaluativen Bedeutungsaspekten nicht klar zu ziehen. Schließlich wird ähnlich wie bei rein deskriptiven Adjektiven die Verwendung der expressiv-evaluativen Adjektive nicht auf einen spezifischen Bereich eingeschränkt. 3. Rein deskriptive Adjektive haben wir bereits als absolute Adjektive kennengelernt. Sie sind durch Wahrheitswerte definierbar. Ihre Gebrauchsbedingungen sind als Wahrheitsbedingungen zu verstehen. In Bezug auf das in den absoluten Adjektiven enthaltene Begriffswissen kann man diese Klasse von Adjektiven weiter differenzieren in die absoluten Adjektive, die zur raumzeitlichen Realität gehören, und in solche, die Teil der soziokulturellen Realität sind. So sind z. B. Adjektive wie schwarz, beweglich oder laut Teil der raumzeitlichen Realität und Adjektive wie verheiratet, marktwirtschaftlich oder katholisch Teil der soziokulturellen Realität. Die Gebrauchsbedingungen der absoluten Adjektive aus dem Bereich der soziokulturellen Realität ergeben sich überwiegend aus dem Definitionswissen, das innerhalb einer sozialen Institution festgelegt ist. Die Sprecher sind aufgrund der Kenntnis des Definitionswissens in der Lage, den betreffenden Ausdruck regelkonform zu gebrauchen. Im Gegensatz dazu orientieren sich die Sprachbenutzer beim Gebrauch absoluter Adjektive aus dem Bereich der raumzeitlichen Realität an sinnlich wahrnehmbaren Merkmalen oder an Nutzungsaspekten. Das Begriffswissen der absoluten Adjektive aus dem Bereich der raumzeitlichen Realität hat deswegen die Form des stereotypischen Wissens im Sinne von Loppe. 122 4. Deskriptiv-evaluative Adjektive bestehen, ähnlich wie die Klasse der expressiv-evaluativen Adjektive, aus zwei Bedeutungskomponenten. Sie nutzen neben dem Parameter aus der Welt der Gefühle und Haltungen noch den Parameter aus der äußeren Welt. Bei der Verwendung der deskriptiv-evaluativen Adjektive beziehen wir uns nicht nur auf wahrheitsfunktionale Aspekte, sondern wir nehmen gleichzeitig eine Bewertung vor. Wenn ich ein Top-Model als mager bezeichne, dann beziehe ich mich nicht nur auf seinen Körperbau, sondern ich bringe gleichzeitig gegenüber diesem meine ablehnende Haltung zum Ausdruck. 122 Vgl. Loppe 2010: S. 241 54 <?page no="55"?> Die semantische Klassifikation von Adjektiven anhand dieses Models birgt in sich zwei unübersehbare Vorteile. Erstens ist die Klassifikation von Adjektiven im Vergleich zu älteren Modellen weniger problematisch, da man Adjektive unabhängig von den jeweiligen Bezugsnomen klassifizieren kann. Dabei stehen nicht mehr die zu beschreibenden Bezugsnomen im Vordergrund, sondern vielmehr die kommunikativen Funktionen der Adjektive. Die unterschiedlichen Typen von Adjektiven ermöglichen somit unterschiedliche kommunikative Ziele zu realisieren. Die oben vorgeschlagene semantische Klassifikation von Adjektiven lässt sich in der unten folgenden Grafik auf diese Weise zusammenfassen: Parameter aus dem Bereich der Emotionen und Haltungen Parameter aus dem Bereich der äußeren Welt Expressiv Evaluativ Deskriptiv Expressivevaluative Adjektive: toll Rein evaluative Adjektive: gut Deskriptive evaluative Adjektive: sparsam Rein deskriptive Adjektive Rein deskriptive Adjektive aus der soziokulturellen Realität: verheiratet Rein deskriptive Adjektive aus der raumzeitlichen Realität: weich Abbildung 3: Semantische Klassifikationen von Adjektiven 55 <?page no="56"?> Des Weiteren ist diese semantische Klassifikation von Adjektiven sehr ergiebig, wenn man den Bedeutungswandel von Adjektiven beschreiben möchte. Denn sie ist in der Lage, die Antwort auf die bedeutungstheoretische Frage zu geben, welche Busse in Bezug auf den Bedeutungswandel treffend formuliert hat: „ Was ändert sich? Und wie ändert sich, was sich ändert? “ 123 Denn dank dieser Klassifikation kann man einerseits darlegen, welche Klassen von Adjektiven besonders häufig vom Bedeutungswandel betroffen sind. Andererseits kann man aber auch aufzeigen, inwieweit ein Adjektiv seine Bedeutung geändert hat. 123 Busse 1988: S. 251 56 <?page no="57"?> 3. Der Bedeutungswandel 3.1 Die Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung Bevor wir uns dem Bedeutungswandel zuwenden ist es notwendig, eine wichtige terminologische Unterscheidung einzuführen. Gemeint ist die Unterscheidung zwischen der sprachlichen Bedeutung an sich und dem kommunikativen Sinn. Die Trennung zwischen den beiden sprachlichen Einheiten ist aus zwei Gründen besonders vorteilhaft. Der erste Vorteil besteht darin, dass diese Zweiteilung einen konstanten kontextunabhängigen Bedeutungsbegriff zulässt. Der zweite Vorteil ist diachronischer Natur. Die Zweiteilung Sinn vs. Bedeutung erweist sich als besonders nützlich, wenn man den Wandel von Wortbedeutungen angemessen erklären möchte. Fangen wir mit dem ersten Teilaspekt an. Bei der Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung handelt es sich um eine Unterscheidung zwischen dem regelhaften Gebrauch eines Ausdrucks auf der Ebene der langue und einer Verwendung dieses Ausdrucks in einer bestimmten Situation bzw. in einem bestimmten Kontext auf der Ebene der parole. Auf der Ebene der langue handelt es sich um die Bedeutung eines Wortes oder Satzes für sich genommen, ohne einen konkreten Kontext. Es ist das allgemeine Potential der Ausdrücke 124 und stellt das Mittel zur Kommunikation bereit. Die kontextabhängige Bedeutung bzw. der Sinn einer Äußerung ist jedoch das, was ein Sprecher in einer bestimmten Situation mit einer bestimmten Verwendung dieses Wortes meint. Fritz bringt diese Zweiteilung treffend zum Ausdruck: „ Wenn man die Bedeutung eines Ausdrucks kennt, weiß man, wie man ihn verwenden kann. Wenn man den Sinn einer bestimmten Verwendung dieses Ausdrucks versteht, weiß man, was der Sprecher bzw. Schreiber mit der betreffenden Verwendung des Ausdrucks gemeint hat. “ 125 Die Fähigkeit, das Gemeinte zu interpretieren, basiert auf der Kenntnis der lexikalischen Bedeutung. Demgemäß ist sie zwar eine notwendige Bedingung für das Verständnis einer Äußerung, aber sie ist nicht hinreichend. 126 Damit der Interpretationsvorgang zum Verstehen führt, braucht man neben der Kenntnis der lexikalischen Bedeutung noch weitere Faktoren 124 Vgl. Löbner 2003: S 8 125 Fritz 2005. S. 6 126 Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S. 155 57 <?page no="58"?> wie z. B. die Festlegung der Referenz der betreffenden Ausdrücke und ggf. die Disambiguierung der ambigen Ausdrücke durch den Abgleich mit situations- oder kontextspezifischen Gegebenheiten. 127 Erst danach ist man in der Lage, die kommunikative Absicht des Sprechers, d. h. den Sinn der Äußerung, zu erschließen. Wenn der Sprecher den Ausdruck dabei auf konventionelle Art und Weise verwendet, kann sich der Hörer auf seine Kenntnis der Regeln und des jeweiligen Kontextes verlassen, um die jeweilige Äußerung direkt zu verstehen. Aber es kommt oft vor, dass der Sprecher etwas auf eine nicht konventionelle Art und Weise sagt. Wie Fritz zu Recht bemerkt, führt das aber nicht zwangsläufig dazu, dass der Sprecher missverstanden wird. Der Hörer kann in diesem Fall seine Fähigkeit nutzen, den vom Sprecher gemeinten Sinn der Äußerung zu erschließen. 128 Nach Ansicht von Fritz läuft dieser Deutungsprozess in folgenden sieben Schritten ab: „ Der Hörer 1. kennt den normalen Gebrauch der verwendeten Ausdrücke (semantisches Wissen) 2. kennt gängige Spezialverfahren für die Verwendung von Ausdrücken (metaphorische Verwendung etc.) 3. kennt mögliche Vorbilder (Präzedenzen) für die vorliegende besondere Verwendung. 4. ist auf der Höhe der Kontextentwicklung in der Kommunikation bzw. im Text. 5. besitzt stereotypes Wissen über die in der Kommunikation / im Text behandelten Gegenstände. 6. kennt einschlägige Kommunikationsprinzipien und weiß, wie sie im betreffenden Kontext anzuwenden sind. (das Relevanzprinzip, das Prinzip der Genauigkeit, das Prinzip der Informativität usw.) 7. Kann aufgrund der genannten Wissensbestände und Fähigkeiten Hypothesen über das Gemeinte aufstellen und überprüfen (z. B. hinsichtlich der Verträglichkeit des gerade Gesagten mit dem vorher in der Kommunikation / im Text Gesagten. “ 129 Den hier beschriebenen Deutungsprozess kann man sehr gut in Zusammenhang mit Grices konversationellen Implikaturen bringen. Bei diesem Umdeutungsverfahren handelt es sich um „ ein vom Produzenten in einer bestimmten kommunikativen Verwendung an eine bestimmte Äußerung geknüpften, aber nicht ausgedrückten Sinn, den es zu erschließen gilt. “ 130 127 Vgl. Keller 1995: S. 195 - 196 128 Vgl. Fritz 2005. S. 9 129 Fritz 2005 S. 10 130 Linke; Nussbaumer; Portmann 1994: S. 198 58 <?page no="59"?> Der Deutungsprozess spielt deswegen eine wichtige Rolle beim Bedeutungswandel, weil wenn man etwas auf nicht konventionelle Art und Weise sagt, wendet der Hörer diesen Prozess an, um den gemeinten Sinn des Sprechers zu erschließen. Wird jedoch ein Ausdruck auf nicht konventionelle Art und Weise zu oft gebraucht, so geht der Hörer bei der Interpretation des gemeinten Sinnes keine Umwege mehr, sondern kürzt den Interpretationsprozess ab und hält den ehemals als nicht konventionell geltenden Sinn für die wörtliche Bedeutung. 131 Bleibt dann die ursprüngliche Bedeutung neben der neuen Bedeutung erhalten, so haben wir Polysemie, bleibt sie nicht, haben wir eine neue Bedeutung. 132 Grice selbst hat darauf hingewiesen, dass eine ehemals konversationelle Implikatur mit der Zeit konventionalisiert werden kann. 133 Der bekannte deutsche Sprachwissenschaftler Hermann Paul hatte mehr als hundert Jahre früher Ähnliches gesagt: „ Darin aber verhält sich der Bedeutungswandel genau wie der Lautwandel, dass er zu Stande kommt durch eine Abweichung in der individuellen Anwendung von dem Usuellen, die allmählich usuell wird. “ 134 Und schließlich schreibt Wittgenstein in den „ Philosophischen Untersuchungen “ Folgendes: „ Was heute als erfahrungsmäßige Begleiterscheinung des Phänomens A gilt, wird morgen zur Definition von A “ (PU 79). An dieser Stelle möchte ich eine Zwischenbilanz ziehen: Wenn die Sprachbenutzer zu häufig und auf lange Sicht einen Ausdruck in einem von der Bedeutung abweichenden kommunikativen Sinn verwenden, so wird der ehemals kommunikative Sinn mit der Zeit zur lexikalischen Bedeutung des betreffenden Ausdrucks. Die unten folgende Grafik von Gévaudan veranschaulicht diesen Zusammenhang: Abbildung 4: Lexikalisierungsschwelle für Bedeutungswandel. Gévaudan: 2002: S. 50 131 Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S. 36 132 Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S. 36 133 Vgl. Fritz 1998: S. 19 134 Paul 1880/ 1920: S. 75 59 <?page no="60"?> Meines Erachtens bedarf die Zweiteilung „ Bedeutung vs. Sinn “ allerdings einer Modifikation, um die semantischen Wandelprozesse angemessen zu erklären, denn durch die bloße Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung wird die Ausgangssituation des semantischen Wandels nicht hinreichend erklärt. Da fehlt noch eine weitere entscheidende Spezifikation in Bezug auf den kommunikativen Sinn einer Äußerung. So hat man bis heute nicht zwischen den kontextabhängigen und den kontextunabhängigen Faktoren unterschieden, welche dabei helfen, den gemeinten Sinn einer Äußerung richtig zu deuten. Kontextabhängige Faktoren sind solche Wissenskonzepte, die nicht von der ganzen Sprachgemeinschaft geteilt werden können und häufig nur einer kleinen Gruppe bekannt sind. Solche sehr speziellen Wissenskonzepte werden beispielsweise häufig von Mitgliedern einer Schulklasse, eines Arbeitskollektivs, aber auch von Mitgliedern einer Familie geteilt. So kann ich anhand solcher Wissenskonzepte eine Metapher bilden, die nur von Mitgliedern der betreffenden Gruppe verstanden werden kann. Diese Metapher wird aber außerhalb dieser Gruppe nicht verstanden, weil diese speziellen Wissenskonzepte außerhalb der Gruppe nicht bekannt sind. Zum Beispiel kann ich eine überfürsorgliche Chefin als Mutti bezeichnen. Diese von der Konvention abweichende metaphorische Verwendungsweise von Mutti könnte ich dann nur in Gesprächen mit meinen Kollegen verwenden. Menschen außerhalb meines Arbeitsplatzes würden aber nicht über das von meinem Arbeitskollektiv geteilte Wissen von meiner Chefin verfügen und dementsprechend den Ausdruck Mutti falsch interpretieren. Von solchen Wissenskonzepten unterscheiden sich die kontextunabhängigen Wissenskonzepte dadurch, dass sie auch außerhalb eines Kontextes die Interpretation eines von der Konvention abweichenden Äußerungssinns erleichtern. Im Unterschied zu rein kontextabhängigen Wissenskonzepten spielen kontextunabhängige Wissenskonzepte eine wichtige Rolle im Prozess des Bedeutungswandels, denn eine von der Konvention abweichende Wortverwendung hat dann gute Chancen, lexikalisiert zu werden, wenn die Aspekte, welche zur richtigen Interpretation des kommunikativen Sinns beitragen, auch außerhalb des konkreten Kommunikationskontextes verstanden werden können. Diese Aspekte müssen also eine gewisse Beständigkeit aufweisen, um in unterschiedlichen Kontexten und in unterschiedlichen Sprachgruppen als Hilfsmittel zur Interpretation einer von der Konvention abweichenden Verwendung eines Ausdrucks eingesetzt werden zu können. Solche Wissenskonzepte sind: 1. Paradigmatische Bedeutungsrelationen wie z. B. Bedeutungsähnlichkeit oder Kontrastrelation 60 <?page no="61"?> 2. Bestimmte syntagmatische Relationen, z. B. Kollokationen 3. Das durch alltägliche Erfahrungen gesammelte und allgemein geteilte Wissen Es liegt auf der Hand, dass diese Wissenskonzepte von Mitgliedern einer ganzen Sprachgemeinschaft geteilt werden. Sie spielen aber auch bei der Erschließung des kommunikativen Sinnes eine wichtige Rolle und tragen auf lange Sicht häufig auch zu systematischen Fällen des Bedeutungswandels bei. Im empirischen Teil der Arbeit werde ich anhand der zahlreichen Beispiele illustrieren, dass kontextunabhängige Wissenskonzepte eine wichtige Rolle beim Bedeutungswandel spielen können. Zuvor müssen aber noch weitere theoretische Aspekte des semantischen Wandels erläutert werden. 3.2 Unsichtbare Hand und Sprachwandel Damit wir eine angemessene Erklärung für den Bedeutungswandel an sich formulieren können, müssen wir diesen Prozess als einen Teil des sprachlichen Wandels ansehen. Dies erfordert wiederum, dass wir ein Erklärungsmodell vorschlagen, das imstande ist, allgemeine Grundprinzipien des Sprachwandels zu erläutern. Dieses Vorhaben setzt seinerseits die Festlegung des ontologischen Status der Sprache voraus, d. h. wir müssen als Erstes die Frage nach den fundamentalen Eigenschaften der Sprache beantworten. Dabei müssen wir uns besonders auf die Aspekte konzentrieren, die den Wandel der Sprache erklären können. Bis in die 80-er Jahre des letzten Jahrhunderts gab es grundsätzlich zwei Antworten auf die Frage, was unter der Sprache im Allgemeinen und unter dem Sprachwandel im Besonderen verstanden werden kann. Die erste Antwort, die im 19. Jahrhundert besonders beliebt und dabei sehr verbreitet war, bestand in der Gleichsetzung der Sprache mit dem lebendigen Organismus. Insbesondere Schleicher verwendete die Begriffe aus der Naturmetaphorik wie „ Geburt, Heranwachsen und Absterben von Sprachen “ , 135 um die Sprachentwicklung zu beschreiben. Einigen Autoren wie Littré betrachteten die Fälle von Bedeutungswandel sogar als Krankheiten oder Anomalien. 136 Diese Ansichten implizieren zwar den Sprachwandel, indem sie besagen, dass die Sprache als ein Organismus wächst und stirbt, d. h. dass sie sich wandelt, aber sie berücksichtigen nicht, dass die Sprache gar kein selbstständiger Organismus sein kann, sondern ihr Dasein allein den 135 Schmehl 2006: S. 30 136 Vgl. Schmehl 2006: S. 107 61 <?page no="62"?> Sprechern der jeweiligen Sprachgemeinschaft verdankt. In der Konsequenz werden der Mensch und die kommunikative Funktion der Sprache vollkommen ausgeblendet, 137 was dazu führt, dass der Wandel nicht auf die Sprecher zurückgeführt wird, sondern alleine als ein ausschließlich naturgesetzliches Phänomen betrachtet wird. 138 Schließlich ist die Sprache kein lebendiger Organismus, sondern sie ist als die Menge der Regeln, bzw. Konventionen aufzufassen, welche die Interpretation und Verwendung sprachlicher Äußerungen erlauben. 139 Diese Theorie hat letztendlich dazu geführt, dass man diejenigen Sprachen als tot bezeichnet hat, die nicht mehr alltäglich praktiziert werden. So ist die häufig zu hörende Aussage, Latein sei eine tote Sprache, eine falsche Behauptung, denn Französisch oder Italienisch sind gegenwärtige Versionen der Sprache, deren früheres Stadium heute als Latein bezeichnet wird. 140 Eine zweite Gruppe der Linguisten lehnte die organizistische Sprachauffassung ab und vertrat die Ansicht, die Sprache sei kein Naturorganismus, sondern eine soziale Institution; deswegen wandle sie sich allein durch menschliche Sprechtätigkeiten. Da Sprechtätigkeit aber ein intentionales und finales Phänomen sei, könne ihr Wandel nicht kausal, sondern nur final erklärt werden. 141 Dieser Ansicht gemäß wird der Sprachwandel durch die Sprecher quasi beabsichtigt und durchgeführt. Auch diese Ansicht ist nicht richtig, denn man hat sich hierzulande nicht dazu verabredet, dass man beispielsweise das Wort toll von heute auf morgen nicht mehr in dem Sinne geistig gestört verwendet, sondern nur noch, um die eigene Begeisterung zum Ausdruck zu bringen. Der Sprachwandel wird zwar durch Sprachbenutzer zustande gebracht, aber er wird von ihnen weder geplant noch beabsichtigt. Nach Keller liegt den beiden Ansichten die bis in die Gegenwart weit verbreitete Annahme zugrunde, dass die ganze Welt ohne Rest in zwei Klassen von Phänomenen aufgeteilt werden kann. Demnach besteht die erste Klasse aus Phänomenen, die es von Natur aus gibt bzw. die von Gott gemacht sind. Man nennt sie Naturphänomene. Die zweite Klasse besteht wiederum aus Dingen, die von Menschen gemacht sind. Man nennt sie Artefakte. Naturphänomene sind vom Willen des Menschen unabhängig und dementsprechend gehören sie zu dem Aufgabenbereich der Naturwissenschaften. Im Gegensatz dazu gehören die Artefakte als Produkte 137 Vgl. Schmehl 2006: S. 30 138 Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S. 126 139 Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S. 129 140 Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S. 8 141 Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S. 126 62 <?page no="63"?> menschlicher willentlicher Handlungen zu dem Bereich der Geistes- und Kulturwissenschaften. 142 Ein Ausweg aus dieser Sackgasse ist erst möglich, wenn man diese Dichotomie durch eine Trichotomie ersetzt, d. h. die Zweiteilung „ Artefakte vs. Naturphänomene “ um eine weitere Klasse von Phänomenen erweitert, die weder als Artefakte noch als Naturphänomene zu betrachten sind. Rudi Keller nennt sie Phänomene der dritten Art. 143 Diese Klasse unterscheidet sich von den anderen zwei u. A. durch die Tatsache, dass sie das Ergebnis menschlicher Handlung sind, aber nicht das Ziel menschlicher Planung. Das folgende Zitat von Keller/ Lüdtke veranschaulicht die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Phänomenen der dritten Art mit den anderen zwei Klassen von Phänomenen: „ Sie haben mit Naturphänomenen gemein, dass sie keine willentlichen Schöpfungen des Menschen sind, und unterscheiden sich von Naturphänomenen dadurch, dass sie aufgrund menschlicher Handlungen entstehen. Mit Artefakten haben sie gemein, dass sie Produkte des Menschen sind, und sie unterscheiden sich von Artefakten dadurch, dass sie nicht die Realisierung eines präexistenten Plans sind. Sie sind weder natürlich noch künstlich, sondern von der dritten Art. “ 144 Die Trichotomie lässt sich durch folgende Tabelle gut veranschaulichen: Ziel menschlicher Planung Ergebnis menschlicher Handlung Naturphänomene — — Artefakte + + Phänomene der dritten Art — + Abbildung 5: Trichotomie: Naturphänomene, Artefakte, Phänomene der dritten Art Als Zwischenbilanz kann man festhalten, dass Naturphänomene weder das Ziel menschlicher Planung, noch das Ergebnis menschlicher Handlung sind. Zu dieser Klasse gehören Niederschläge, die Gravitation und ähnliche Phänomene. Artefakte sind hingegen sowohl Ziel menschlicher Planung als auch Ergebnis menschlicher Handlung. Dazu gehören Mozarts Requiem ebenso wie ein Kernkraftwerk. Schließlich gehören zu der letzten Gruppe all die Phänomene, die zwar das Ergebnis menschlicher Handlung sind, aber nicht das Ziel menschlicher Planung. Dazu gehören vor allem Insti- 142 Vgl. Keller 1990/ 2003: S. 87 143 Vgl. Keller 1990/ 2003: S. 87 144 Keller/ Lüdtke 1997: S. 418 - 419 63 <?page no="64"?> tutionen des sozialen Lebens wie die Ordnung, freie Märkte, die Moral und freilich auch die natürlichen Sprachen. 145 Charakteristisch für solche Phänomene ist, dass sie kollektive Phänomene sind. Sie entstehen durch die gleichförmigen Handlungen vieler Individuen, wobei deren Handeln nicht das Ziel hat, solche Phänomene hervorzubringen Vielmehr verfolgen die Individuen ihre primären Ziele, wodurch die Strukturen entstehen, deren Erschaffung nicht beabsichtigt war. 146 „ Menschen tun etwas quasi auf koordinierte Weise und erzeugen durch dieses Tun, ohne es zu wollen und zu merken, eine höchstfunktionale Struktur. “ 147 Des Weiteren sind die Phänomene der dritten Art zusammengesetzt aus dem Mikrobereich, den die an der Erzeugung beteiligten Individuen bilden, und aus dem Makrobereich, den die durch den Mikrobereich hervorgebrachte Struktur bildet. 148 Dabei entstehen diese Phänomene weder von heute auf morgen, noch sind sie Produkte eines einzelnen Individuums. Vielmehr sind sie kumulative Effekte mehrerer handelnder Individuen. 149 Der Bedeutungswandel ist auch ein Phänomen der dritten Art, und dementsprechend vollziehen ihn die Sprecher unbeabsichtigt. Sie versuchen lediglich, möglichst erfolgreich ihre kommunikativen Ziele zu erreichen. Um dies jedoch zu schaffen, müssen sie beispielsweise innovativ sein und solche kommunikativen Handlungen vollziehen, die nicht von anderen Mitgliedern der Sprachgemeinschaft systematisch verwendet werden. Dabei verfolgen die Sprecher unterschiedliche Ziele und orientieren sich demgemäß an unterschiedlichen Prinzipien. Am Ende solcher Prozesse steht allerdings sehr oft eine neue Bedeutung des jeweiligen Wortes. 150 Zusammenfassend lässt sich zu den Phänomenen der dritten Art Folgendes sagen: „ Ein Phänomen der dritten Art ist die kausale Konsequenz einer Vielzahl individueller intentionaler Handlungen, die mindestens partiell ähnlichen Intentionen dienen. “ 151 Nachdem wir den ontologischen Status der Sprache geklärt haben, können wir zur Frage nach der angemessenen Erklärung des Bedeutungswandels zurückkehren. Da der Sprachwandel und dementsprechend der Bedeutungswandel als Phänomene der dritten Art betrachtet werden müssen, ist es für uns wichtig, eine Theorie zu finden, die eben diese 145 Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S. 130 146 Vgl. Keller 1990/ 2003: S. 91 147 Keller/ Kirschbaum 2003: S. 130 148 Vgl. Keller 1990/ 2003: S. 92 - 93 149 Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S. 133 150 Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S. 13 151 Keller 1990/ 2003: S. 93 64 <?page no="65"?> Phänomene angemessen erklären kann. Dabei muss sie erstens in der Lage sein, die zweite Schicht, den Wandel von sprachlichen Bedeutungen, aus der ersten Schicht des kommunikativen Handelns der Individuen herzuleiten. 152 Zweitens soll nach Keller ein solches Erklärungsmodus folgende drei Wesensmerkmale dieser Phänomene besonders berücksichtigen: 1. Phänomene der dritten Art haben einen prozessualen Charakter 2. Sie lassen sich aus der Mikro- und Makroebene konstituieren. 3. Sie haben mit Artefakten gemeinsam, dass sie von Menschen geschaffen sind. Sie haben aber mit Naturphänomenen gemeinsam, dass sie nicht willentlich von Menschen erschaffen sind. 153 Als ein Erklärungsmodus, der diesem Vorhaben gerecht werden kann, bietet sich die so genannte Invisible-hand-Theorie bzw. Theorie der unsichtbaren Hand an. Sie ist von dem berühmten Volkswirt namens Adam Smith geprägt worden. Neben Smith gebraucht der ebenso berühmte Politikwissenschaftler Robert Nozick „ Invisible-hand explanation “ in seinem Buch „ Anarchie Staat Utopia “ . Er schreibt Folgendes dazu: „ Derartige Erklärungen haben etwas Schönes an sich. Sie zeigen, wie eine Gesamtstruktur oder ein Gesamtsystem, von dem man glauben mochte, es könne nur durch die gezielten Bemühungen eines einzelnen oder einer Gruppe zustande kommen, vielmehr durch einen Vorgang geschaffen und aufrechterhalten wurde, bei dem keineswegs die Gesamtstruktur oder das Gesamtsystem,vorschwebte ‘ . Nach Adam Smith sprechen wir von Erklärungen mittels der unsichtbaren Hand. “ 154 Nach Keller soll die Theorie der unsichtbaren Hand folgende drei Aspekte darstellen und erklären können: 1. Intentionale Handlungen der Individuen. 2. Den Prozess, der aus einer Vielzahl solcher individuellen Handlungen zur Entstehung einer Makrostruktur beiträgt. 3. Die angemessene Darstellung der durch diese Handlungen hervorgebrachten Struktur. 155 Wie wir sehen, wird bei der Invisible-hand-Erklärung zwischen der Mikroebene der Sprecher und der Makroeben der sprachlichen Strukturen unterschieden. Genau diesen Punkt hebt auch Fritz als ein wesentliches Merkmal der semantischen Wandelprozesse hervor. 156 Die letzte Stufe dieser Theorie besteht also in der Beschreibung der erzeugten Makrostruktur. Bezogen auf den Bedeutungswandel ist die Makrostruktur die neue Bedeutung eines Wortes. Diese Ebene bildet 152 Vgl. Keller 1990/ 2003: S. 98 153 Vgl. Keller 1990/ 2003: S. 99 154 Nozick 1976: S. 32 155 Vgl. Keller 1990/ 2003: S. 100 156 Vgl. Fritz 1998: S. 871 65 <?page no="66"?> den Ausgangspunkt, wenn man dem Bedeutungswandel eines Wortes auf die Spur kommen möchte. Letztere Ebene bildet auch deswegen einen Ausgangspunkt, weil die Invisible-hand-Erklärung keinen Anspruch erhebt, einen prognostischen Wert zu haben. Denn wie Keller treffend anmerkt, erklärt sie nicht, wie es weiter geht, sondern vielmehr, wie es eigentlich dazu gekommen ist, d. h. sie hat einen diagnostischen Wert. Außerdem gibt es in der Linguistik keinen praktischen Bedarf, Prognosen zu machen. 157 Kommen wir zurück zur Rolle der Invisible-hand-Erklärung für den Bedeutungswandel. Wenn man die oben behandelten drei Stufen dieser Theorie auf den Bedeutungswandel überträgt, so entstehen folgende drei Ebenen, die man strikt voneinander unterscheiden soll: „ 1. die eigentlichen Intentionen der Sprecher. 2. die sprachlichen Mittel ihrer Umsetzung. 3. die sprachlichen Folgen, die die Sprecherwahl schließlich zeitigt. “ 158 Fangen wir mit der Analyse der Intentionen bzw. Motive der Sprecher an. 3.3 Motive des Bedeutungswandels Wie wir in dem Kapitel „ Die Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung “ gesehen haben, tritt der Bedeutungswandel häufig dann ein, wenn Sprecher damit anfangen, systematisch vom ehemals konventionellen Gebrauch eines Ausdrucks abzuweichen. Dies ist bereits Vendryes vor fast neunzig Jahren aufgefallen: „ It may happen that all the individuals of the same generation are spontaneously led to make the same mistake, which is then imposed upon them like a law, and becomes the rule. “ 159 Nun kann man fragen: warum sollten die Sprecher eigentlich so handeln? Diese Frage ist dabei durchaus gerechtfertigt, „ denn der innovierende Sprecher riskiert nicht mehr und nicht weniger als seinen kommunikativen Erfolg “ , 160 wenn er vom usuellen Sprachgebrauch abweicht. Auf der anderen Seite zahlt sich seine Risikobereitschaft aus, „ wenn die Metapher zündend wirkt, der Euphemismus den erwünschten Effekt hat etc. “ 161 Schauen wir uns nun die Gründe näher an, die häufig ausschlaggebend für sprachliche Innovation sind. Nach Rudi Keller gibt es vier wichtige 157 Vgl. Keller 1990/ 2003: S. 104 158 Keller/ Kirschbaum 2003: S 13 159 Vendryes 1925/ 1996: S. 158 160 Blank 2005: S. 1326 161 Blank 2005: S. 1326 66 <?page no="67"?> Prinzipien, welche die Sprecher dazu bringen, vom üblichen Sprachgebrauch auf systematische Weise abzuweichen. Das sind: Das Streben nach Energieersparnis bzw. sprachlicher Ökonomie, das Bemühen um Höflichkeit, eine bestimmte gedankliche Bequemlichkeit und schließlich das Bedürfnis, positiv aufzufallen, das beim Prozess des Bedeutungswandels eine große Rolle spielt. 162 Diese Motive sind in der linguistischen Fachliteratur bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert bekannt. So kommt Jaberg in seinem 1901 erschienenen Aufsatz zu ähnlichen Ergebnissen. 163 Bis heute werden diese Motive in der traditionellen historischen Semantik unkritisch angesehen. Wir werden uns dieser Sichtweise anschließen und unten die Besonderheiten dieser Motive in einer komprimierten Form darlegen. Fangen wir mit dem Ökonomieprinzip an. Dieses Prinzip wird in der Ausgangssituation fast immer beim Vollziehen mündlicher Sprachhandlungen verwendet. „ . . .die Kommunikatoren können bei Bedarf viel vom expliziten sprachlichen Ausdruck einsparen, da sie damit rechnen können, dass die Rezipienten das Nichtausgedrückte ergänzen können aus den nichtsprachlichen Kommunikationshandlungen, aus der wahrnehmbaren Situation, aus dem gemeinsamen Vorwissen, aus den Voreinstellungen der Beteiligten usw. “ 164 Dies betrifft vor allem die Artikulation. Zum Beispiel artikuliert man Guten Morgen heutzutage sehr oft als (mo: n). Dies könnte dazu führen, dass Menschen irgendwann diese Grußformel nach dem Prinzip der konzeptuellen Mündlichkeit auch als Mon schreiben und die ursprüngliche Form ohne entsprechendes Wissen nicht mehr erkennen können. Neben der Energieersparnis spielt auch das Streben nach Höflichkeit eine wichtige Rolle. So hat man beispielsweise im Mittelhochdeutschen Frau (mhd. frouwe) nur in Bezug auf adlige Damen gebraucht. Später hat man diesen Ausdruck aus Höflichkeitsgründen auch auf Nichtadlige angewendet. Denn sich höflich ausdrücken, heißt auch, Anredeformen wählen, die dem anderen schmeicheln. 165 Als Drittes spielt auch das Bedürfnis, positiv aufzufallen, beim Prozess des Bedeutungswandels eine große Rolle. Dies betrifft vor allem die Jugendsprache. Die Jugendlichen benutzen sehr oft Metaphern oder Tabuwörter, um zu imponieren. 166 Gerd Fritz führt darüber hinaus zwei weitere wichtige Motive auf, die auf längere Sicht zum Bedeutungswandel beitragen, und unterteilt diese 162 Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S 11 - 12 163 Vgl. Jaberg 1901: S. 21 164 von Polenz 1991/ 1999: S. 29 - 30 165 Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S 16 166 Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S. 11 - 12 67 <?page no="68"?> dann in mehrere Prinzipien. So unterscheidet er zwischen den Kommunikationsprinzipien und dem Ökonomieprinzip. Die erste Gruppe besteht demnach aus folgenden Unterprinzipien: Dem Prinzip der Genauigkeit, dem Prinzip der Anschaulichkeit, dem Prinzip der Höflichkeit, dem Prinzip der Originalität und dem ästhetischen Prinzip. 167 Neu sind also folgende drei Aspekte: Das Prinzip der Genauigkeit ist der erste. Es spielt in wissenschaftlicher Rede oder in technischer Dokumentation eine wichtige Rolle. Das Prinzip der Anschaulichkeit kommt meistens bei der Wissensvermittlung vor. Das ästhetische Prinzip wendet man meistens in literarischen Texten an. 168 Fritz orientiert sich somit im Unterschied zu Keller mehr an schriftlichen Texten als an der mündlichen Kommunikation. Sowohl Keller als auch Fritz erkennen aber an, dass der erste Schritt des Bedeutungswandels darin besteht, dass die Sprachbenutzer ihre kommunikativen Absichten möglichst erfolgreich umsetzen möchten. Somit werden in beiden Fällen die kommunikativen Sprecherabsichten in die Beschreibung des Bedeutungswandels einbezogen. Die oben behandelten individuellen Motive der Sprachbenutzer verursachen zwar nicht primär den Bedeutungswandel, aber sie setzen Prozesse in Gang, die auf längere Sicht zum Wandel der sprachlichen Bedeutungen beitragen können. Von diesen Prozessen wird im folgenden Kapitel ausführlich die Rede sein. 3.4 Drei Verfahren des Bedeutungswandels Nachdem wir die erste Ebene der eigentlichen Intentionen bzw. Motive der Sprecher behandelt haben, kommen wir zu der Ebene, die sich mit den sprachlichen Mitteln beschäftigt, die zur Umsetzung der kommunikativen Ziele dienlich sein können. Bei dem zweiten Schritt gibt es nach Rudi Keller drei wichtige sprachliche Verfahren. Das sind: Differenzierung bzw. Bedeutungsspezifizierung, Metapher und letztendlich Metonymie. Somit teilt Keller die klassische und meist verbreitete Ansicht über die Verfahren des Bedeutungswandels, welche seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert thematisiert werden. 169 Wie Jaberg zu Recht hinweist, wurden die Begriffe „ Metonymie “ und „ Metapher “ aus der traditionellen Rhetorik noch in den 1880-er Jahren von Darmesteter entlehnt. 170 Die Differenzierung wird wiederum oft unter dem Begriff Bedeutungsspezifizierung verwendet und ist ebenfalls sehr häufig 167 Vgl. Fritz 1998: S. 40 168 Vgl. Fritz 1998: S. 40 169 Vgl. Fritz 1998: S. 862 170 Vgl. Jaberg 1901: S. 12 68 <?page no="69"?> in der linguistischen Fachliteratur anzutreffen. Im weiteren Verlauf der Arbeit werde ich mich ebenfalls an diese drei Verfahren des semantischen Wandels anlehnen. Davor werden wir uns aber einzelne Verfahren näher anschauen. Fangen wir mit der Bedeutungsspezifizierung an. 3.4.1 Bedeutungsspezifizierung Bei der Bedeutungsdifferenzierung handelt es sich grundsätzlich um die Bedeutungsspezifizierung. Ein Wort, dessen Verwendung relativ bereichsunabhängig ist, bekommt nach Keller/ Kirschbaum dann einen spezifischen Sinn, wenn es auf einen bestimmten Bereich angewendet wird. Dieser bereichsspezifische Sinn wird demnach zur neuen Bedeutung, wenn die Sprecher dazu übergehen, dieses Wort nur auf Gegenstände dieses Bereiches anzuwenden. 171 Struktursemantisch kann man diesen Prozess als Hinzufügung der spezifischen semantischen Merkmale zu einem Begriff ansehen. So einen Fall haben wir z. B. beim Wort „ rüstig “ . Dieses Adjektiv wurde ursprünglich auf Menschen jeglichen Alters angewendet, um von Ihnen zu sagen, dass sie vital und kräftig aussahen. Fischer schreibt in seinem Wörterbuch „ Goethe-Wortschatz “ über die Bedeutung von rüstig Folgendes: „ mit frischer Kraft ausgerüstet “ . 172 Heute können wir das Adjektiv „ rüstig “ nur noch auf ältere Menschen anwenden, um von ihnen zu sagen, dass sie trotz ihres hohen Alters relativ vital aussehen. So schreibt Goethe in seinem Werk „ Dichtung und Wahrheit “ Folgendes: „ Persönlich war mein Vater in ziemlicher Behaglichkeit, welche sonst keine Spur von Ahndungsvermögen zeigten, in seiner Sphäre für den Augenblick die Fähigkeit erlangten, dass sie von gewissen gleichzeitigen, obwohl in der Entfernung vorgehenden Krankheits- und Todesereignissen durch sinnliche Wahrzeichen eine Vorempfindung hatten. Aber auf keines seiner Kinder und Enkel hat eine solche Gabe fortgeerbt; vielmehr waren sie meistenteils rüstige Personen, lebensfroh und nur aufs Wirkliche gestellt “ 173 Dieses Wort, das ursprünglich einen umfangreichen Anwendungsbereich hatte, wurde dann auf den speziellen Bereich der älteren Menschen angewendet, um damit ihnen gegenüber vielleicht eine besondere Höflichkeit und Rücksichtnahme entgegenzubringen. Einen ähnlichen Fall haben wir beim Wort Hochzeit: „ Das Wort Hochzeit, noch bis ins 17. Jh. für jegliche Art von ‚ Fest ‘ gebräuchlich, wurde seit dem 13. Jh. allmählich auf ‚ Fest der Eheschließung ‘ ein- 171 Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S. 30 - 31 172 Fischer 1929: S. 514 173 Goethe, Johann Wolfgang von: Goethes Werke. Band 9. 1808 - 1831/ 2002: S. 41 69 <?page no="70"?> geschränkt, besonders auch durch Luthers Gebrauch, der einer protestantisch-frühbürgerlichen Konzentrierung des gesellschaftlichen und geselligen Lebens entsprach. “ 174 In der älteren Literatur wird die Bedeutungsspezifizierung als Bedeutungsverengung bezeichnet. Nach dieser Theorie gibt es zur Bedeutungsverengung einen entgegengesetzten Trend, nämlich den der Bedeutungserweiterung. Darunter versteht man eine Vergrößerung des Begriffsumfangs bzw. der Referenz, die das betreffende Wort bezeichnet. Struktursemantisch kann man die Bedeutungserweiterung folgendermaßen erklären: Einerseits werden die Anwendungsmöglichkeiten eines Begriffs erweitert, andererseits verliert der Begriff deswegen ein oder mehrere distinktive Merkmale. 175 Bedeutungserweiterung und Bedeutungsverengung werden oft auch als „ Bedeutungsverbesserung “ und „ Bedeutungsverschlechterung “ bzw. „ Bedeutungspejorisierung “ bezeichnet. So schreibt Astrid Stedje in ihrem Buch „ Deutsche Sprache gestern und heute “ Folgendes: „ Eine Bedeutungsverschlechterung ist sehr oft mit einer Bedeutungsverengung verknüpft. So verengte und ‘ verschlechterte ’ das Wort Dirne ‘ junges Mädchen ’ und sank schließlich zu Hure ab. “ 176 Solch eine Herangehensweise ist jedoch kritisch zu betrachten, denn wenn man annimmt, dass Bedeutungen im linguistischen Sinne nichts anderes als Gebrauchsregeln sind, dann kann man nicht behaupten, dass es bessere oder schlechtere Regeln gibt. Einen weiteren Fall der Bedeutungserweiterung bzw. der Bedeutungsverschlechterung haben wir beim oben behandelten Beispiel Frau. Dieses Wort wurde im Mittelalter nur für die adligen Frauen verwendet. Zur Bezeichnung der nichtadligen Frauen hat man das Wort Weib gebraucht. Seit der frühbürgerlichen Zeit verlor das Wort Frau das semantische Merkmal „ adlig “ , und dementsprechend wurden so alle Frauen unabhängig von ihrer sozialen Schichtzugehörigkeit benannt. 177 Zusammenfassend lässt sich zum Verfahren der Bedeutungsspezifizierung Folgendes sagen: „ Ein Bedeutungswandel infolge von Differenzierung liegt dann vor, wenn eine spezifische Hinsicht Teil der Gebrauchsregel geworden ist; wenn also die spezifische Interpretation des entsprechenden Lexems konventionalisiert ist und damit als eigenständige Bedeutungsvariante im Lexikon aufgeführt ist. “ 178 174 von Polenz 1991/ 1999: S. 51 175 Vgl. von Polenz 1991/ 1999: S. 49 176 Stedje 1989: S. 29 177 Vgl. von Polenz 1991/ 1999: S 49 - 50 178 Keller/ Kirschbaum 2003: S. 17 70 <?page no="71"?> 3.4.2 Metaphorischer Wandel Neben der Bedeutungsspezifizierung spielt der Prozess der Metaphorisierung beim Bedeutungswandel eine wichtige Rolle. Der Bedeutungswandel durch Metapher ist deswegen häufig anzutreffen, weil die metaphorische Redeweise eine weit verbreitete und beliebte sprachliche Technik ist, die sowohl in der Alltagssprache vorkommt, als auch in literarischen und wissenschaftlichen Texten weite Verbreitung gefunden hat. 179 Sie ist unter anderem deswegen so attraktiv, weil sie vielfältige kommunikative Funktionen erfüllen kann, die wir im weiteren Verlauf der Arbeit näher betrachten werden. Bevor wir jedoch dieses Verfahren des Bedeutungswandels analysieren, müssen wir den Begriff der Metapher erläutern. Für die metaphorische Verwendung der sprachlichen Zeichen ist die Verknüpfung von zwei unterschiedlichen Gegenstandsbereichen charakteristisch. Dabei wird ein Gegenstand eines Bereiches unter der Perspektive eines anderen bildlich dargestellt. Hier spricht man auch von einer Sinnübertragung. Lakoff und Johnson definieren die Metapher folgendermaßen: „ Das Wesen der Metapher besteht darin, dass wir durch sie eine Sache oder einen Vorgang in Begriffen einer anderen Sache bzw. eines anderen Vorgangs verstehen und erfahren können. “ 180 Metaphorische Äußerungen sind auf den ersten Blick meistens nicht logisch, wenn man sie wörtlich nimmt. Das wird deutlich, wenn man die Äußerung Du bist noch ein grüner Junge näher betrachtet. Sie ergibt deswegen keinen Sinn, „ weil die wörtliche Lesart aufgrund der semantischen Deviation (Abweichung) eine unsinnige Aussage ergibt. “ 181 Grices Kooperationsprinzip besagt aber, dass Sprecher immer etwas Sinnvolles und für Hörer Relevantes mitteilen wollen. Deswegen interpretieren die Rezipienten solche Äußerungen nicht wörtlich, sondern metaphorisch. Damit aber seitens der Hörer die Interpretation der Metapher möglich ist, muss zwischen dem bildlichen Spenderbereich und dem damit zu bezeichnenden Zielbereich eine gewisse Ähnlichkeit und aufgrund dessen eine Vergleichbarkeit vorhanden sein. 182 Es muss also einen systematischen, assoziativen Zusammenhang dazwischen geben. Diese Ähnlichkeit wird durch ein oder mehrere gemeinsame Merkmale der betreffenden Bereiche zum Ausdruck gebracht. Im oben genannten Beispiel macht der Sprecher einen visuellen Vergleich zwischen den nicht reifen, grünen Früchten und dem „ unreifen “ Verhalten der betreffenden Person. 179 Vgl. Fritz 2005: S. 85 180 Lakoff/ Johnson 2011: S. 13 181 Skirl/ Schwarz-Friesel 2007: S. 53 182 Vgl. Nübling 2006: S. 116 71 <?page no="72"?> Häufig wird aber nicht nur der visuelle Sinn aktiviert, sondern je nach Metapher können auch auditive, olfaktorische oder kinästhetische Empfindungen aktiviert werden, d. h. der Zielbereich kann durch die Metapher nicht nur bildlich dargestellt werden, sondern es können ihm quasi auch Düfte oder eine Melodie verliehen werden. 183 Man denke an Metaphern wie „ raue Stimme “ oder „ das stinkt zum Himmel “ . Beim metaphorischen Gebrauch ist meistens ein Bereich eher konkret und der andere eher abstrakt. Wir nutzen quasi das Anschauliche, um über das Abstrakte zu reden. 184 Dies hat bereits der deutsche Sprachwissenschaftler Hermann Paul erkannt: „ Es ist selbstverständlich, dass zur Erzeugung der Metapher, soweit sie natürlich und volkstümlich ist, in der Regel diejenigen Vorstellungskreise herangezogen werden, die in der Seele am mächtigsten sind. Das dem Verständnis und Interesse liegende wird dabei durch etwas Näherliegendes anschaulicher und vertrauter gemacht. “ 185 Neben der Ähnlichkeit zwischen dem Ziel- und Spenderbereich spielen noch Präzedenzfälle eine wichtige Rolle für die Metapher. Gerd Fritz zeigt, dass es in vielen Fällen für neue metaphorische Verwendungen Vorbilder oder sogar etablierte metaphorische Muster gibt. So nutzen die Sprecher bei der Bildung neuer Metaphern sowohl das verfügbare Wissen über die Ähnlichkeit der zwei Gegenstandsbereiche als auch die Präzedenzen und Traditionen metaphorischer Muster. 186 Eine ähnliche These vertritt ebenfalls Blank und präzisiert, dass Präzedenzfälle eine wichtige Rolle für den Prozess des Bedeutungswandels spielen können: „ Wenn ein bestimmtes Bildfeld bereits in einer Sprachgemeinschaft usuell ist, kann man ohne großes Risiko neue Metaphern schöpfen. Dieses Prinzip liegt dem analogischen Bedeutungswandel (. . .) zugrunde. “ 187 Nach Fritz gibt es vier wichtige metaphorische Muster. Zu den wichtigsten Anwendungen des metaphorischen Verfahrens gehört dabei die Möglichkeit, innere geistige Vorgänge als körperliche bzw. optisch wahrnehmbare Vorgänge zu sehen. Beispiele hierfür sind das Problem bzw. den Zusammenhang sehen, etw. begreifen, erfassen usw. 188 Ein anderes Beispiel für metaphorische Muster kann man folgendermaßen beschreiben: Man redet über die Aktivitäten des beruflichen Lebens, als seien sie Sportaktivitäten. Man denke nur an zum Endspurt ansetzen, die 183 Vgl. Mahlmann 2010: S. 76 184 Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S. 36 185 Paul 1880/ 1920: S 95 186 Vgl. Fritz 2005: S. 83 187 Blank 2005: S. 1326 188 Vgl. Fritz 1998: S. 44 72 <?page no="73"?> letzte Hürde nehmen, die Latte hoch legen, noch eine Runde arbeiten, jemanden überrunden, ein Eigentor schießen, eine Vorlage geben. 189 Schließlich sind die folgenden zwei metaphorischen Muster als weit verbreitete Spenderbereiche des metaphorischen Verfahrens anzusehen: „ - Über den Verlauf des Lebens wie über einen Weg reden: der Lebensweg, Vom Weg abkommen, auf die schiefe Bahn geraten, am Scheideweg sein, ein Umweg, eine Abzweigung. Über eine Maschine wie über einen Organismus reden: der Motor ist altersschwach, stark, säuft viel. “ 190 Des Weiteren ist das metaphorische Muster, nach dem Menschen als Tiere bezeichnet werden, weit verbreitet: Peter ist ein Schwein, du hast ’ nen Vogel, sie ist ’ ne echte Schlange u. ä. Häufig werden auch die menschlichen bzw. tierischen Körperteile metaphorisch verwendet. Deswegen bilden sie ebenfalls ein metaphorisches Muster. Die metaphorische Verwendung von diesen Ausdrücken wird durch die Ähnlichkeit in der Form oder in der Funktion gewährleistet. Folgende Beispiele veranschaulichen diese Annahme: Kopfsalat, Ader im Gestein, Stuhlbein usw. Diese Ausdrücke zeigen offensichtliche Ähnlichkeiten in der Gestalt mit ihrem Spenderbereich. Für eine angemessene und systematische Untersuchung vom Bedeutungswandel muss man allerdings noch zwischen den metaphorischen Mustern und den Konzepten bzw. Wissensbeständen unterscheiden, auf denen die metaphorischen Muster basieren. Diese Konzepte werden wir allerdings erst im weiteren Verlauf der Arbeit bei sprachübergreifenden semantischen Parallelentwicklungen näher kennenlernen. Auch Keller-Bauer erkennt die Wichtigkeit der Präzedenzfälle für die metaphorische Verwendung: „ Aufgrund der Kenntnis der metaphorischen Präzedenzen kann man aber zugleich auch die aktuelle Verwendung als Metapher verstehen. “ 191 Gleichzeitig wird den Präzedenzen bei ihm lediglich eine zweitrangige Rolle eingeräumt: „ Ein Verständnis über den wörtlichen Gebrauch besitzt Priorität gegenüber einem Verständnis über metaphorische Präzedenzen. Denn auch Präzedenzen haben mal angefangen und müssen da - wohl oder übel - über den wörtlichen Gebrauch als Metapher bemerkt und verstanden worden sein. “ 192 189 Vgl. Fritz 2005: S. 81 190 Fritz 2005: S. 81 191 Keller-Bauer, Friedrich 1984: S. 30 192 Keller-Bauer, Friedrich 1984: S. 31 73 <?page no="74"?> D. h. am Anfang sollte die metaphorische Verwendungsweise über eine gewisse Transparenz verfügen, damit sie überhaupt als solche verstanden werden kann. In Bezug auf metaphorische Präzedenzfälle ist Skirl/ Schwarz-Friesels Unterteilung der Metapher nach ihrer Neuartigkeit von Bedeutung. Besonders interessant ist dabei die Unterscheidung zwischen einer kreativen und einer innovativen Metapher. Kreative Metaphern sind demnach solche, die nach einem bereits existierenden Muster bzw. existierenden Präzedenzfällen gebildet werden. Innovative Metaphern sind hingegen selbst die Präzedenzfälle. Durch sie werden, „ im Gegensatz zu kreativen Metaphern, ungewöhnliche Konzeptkombinationen ausgedrückt, die sich nicht auf allgemein bekannte konzeptuelle Muster zurückführen lassen. “ 193 Aber diese Präzedenzfälle können nicht ad hoc gebildet werden. Sie brauchen immer einen systematischen, assoziativen Zusammenhang, damit sie als Metaphern erkannt und verstanden werden können. Bilanzierend kann man sagen, dass für die Bildung einer Metapher zwei Faktoren begünstigend wirken: assoziativer Zusammenhang und ein etabliertes metaphorisches Muster. Die so genannten innovativen Metaphern kommen allerdings ohne metaphorische Muster aus. Erwähnenswert ist außerdem auch, dass die Entstehung und die Aufrechterhaltung der einzelnen Metaphern von Kultur zu Kultur unterschiedlich sein können. D. h. die soziokulturellen Aspekte einer Sprachgemeinschaft können die Bildung der neuen Metaphervarianten begünstigen oder gar verhindern. Dies kann man sehr gut mit Hilfe der so genannten Tiermetaphern veranschaulichen, denn sie denotieren sehr oft in unterschiedlichen Sprachen unterschiedliche menschliche Eigenschaften. Mit der Tiermetapher Kuh kann man hierzulande abwertend eine Frau bezeichnen. Diese Gebrauchsweise ist nach meiner Auffassung in Indien nicht möglich, da die Kühe in jenem Land als heilig angesehen werden. Die Unterschiede bei der Metapherbildung können noch gravierender ausfallen, wenn man z. B. die Sprachen von südamerikanischen Eingebornen betrachtet. Da könnte das zweite Muster, wonach die Aktivitäten des beruflichen Lebens metaphorisch mit Sportaktivitäten verglichen werden, überhaupt nicht existieren. Denn sowohl Sport als auch berufliche Tätigkeiten im engeren Sinne spielen keine Rolle im sozialen Leben dieser Sprachgemeinschaft. Jagen und Sammeln könnten hingegen die Bildung eines metaphorischen Musters begünstigen, denn sie spielen eine zentrale Rolle im alltäglichen Leben der Eingeborenen. 193 Skirl/ Schwarz-Friesel 2007: S. 31 74 <?page no="75"?> Aber was veranlasst uns dazu, eine metaphorische Redeweise statt der wörtlichen zu wählen? Die Gründe können unterschiedlich sein. Wer über Abstraktes oder Inneres reden will, kann es im Grunde genommen mittels Analogie machen. Da diese Bereiche nur dem Sprecher zugänglich sind, muss er dem Hörer etwas anbieten, was beiden zugänglich sein kann, und ihn dazu bringen, von da aus die gewünschten Schlüsse zu ziehen. Das heißt, er muss metaphorisch reden und Analogien bilden. 194 Daneben verwendet man Metaphern, um beispielsweise originell und auffallend zu reden. Skirl/ Schwarz-Friesel schreiben passend dazu: „ Metaphern drücken das Bestreben von Sprachbenutzern aus, die konventionellen, alltäglichen und automatisierten Sprachfunktionen zu erweitern und zu verändern, um entweder neue geistige Repräsentationen zu kreieren oder um schwer fassbare, von der Alltagssprache nicht adäquat darzustellende Bereiche (wie die Emotionen von Menschen oder abstrakte Konzepte) durch innovative Konstellationen auszudrucken. “ 195 Daneben nutzt man Metaphern für eine schonende Ausdrucksweise. Letztere liegt dann vor, wenn ein Lehrer über seinen Schüler sagt, dass er schwach sei. Dabei verwendet er den Ausdruck für körperliche Defizite, um über geistige Defizite zu reden. Solche beschönigenden bzw. verhüllenden Ausdrücke nennt man Euphemismen. Sie bilden eine Unterkategorie der Metapher. Neben Euphemismen gibt es noch eine weitere Unterkategorie, die in der Rhetorik oder Stilistik als Ironie bekannt ist. 196 Sie ist eine Form von indirektem Spott, denn der Sprecher sagt das Gegenteil von dem, was er eigentlich meint. Wenn jemand als störend empfunden wird, ihm aber gesagt wird, dass er durch seine Anwesenheit die Menschen beglückt, so handelt es sich hierbei um eine ironische Äußerung. 197 Nachdem wir die Struktur und die Muster der Metapher sowie ihre Funktionen kennengelernt haben, kehren wir zurück zur Rolle der Metapher beim Bedeutungswandel, denn die Bildung einer Metapher stellt an sich zwar noch keinen Fall von Bedeutungswandel dar, aber hier setzt der Wandelprozess oft an. Zuerst wird die Bildung einer neuen Metapher von Rezipienten als eine Abweichung vom usuellen Sprachgebrauch angesehen. Somit ist sie noch keine lexikalische Bedeutung, sondern nur der spezifische Sinn einer Äußerung. Erst wenn sie frequent und von vielen Sprachbenutzern auf Dauer gebildet wird, verliert sie ihre Metaphorizität und wird lexikalisiert, das heißt ihre ehemalige metaphorische Bedeutung 194 Vgl. Keller 1995: S. 222 195 Skirl/ Schwarz-Friesel 2007: S. 1 196 Die Zugehörigkeit der Ironie zur Metapher ist umstritten. Von einigen Autoren wird sie nicht als Verfahren der Zeichenbildung, sondern als ein rhetorisches Mittel angesehen. (Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003 S. 93) 197 Vgl. Skirl/ Schwarz-Friesel 2007: S. 17 75 <?page no="76"?> wird zur lexikalischen. 198 Ab einem gewissen Verbreitungsgrad spricht man demgemäß nicht mehr von einem Äußerungssinn, sondern von einer lexikalischen Bedeutung. Und tatsächlich, wenn wir die heutige Terminologie für geistige Schwäche ansehen, so stellen wir fest, dass es sich dabei um ehemalige Metaphern handelt, die ursprünglich zur Bezeichnung von körperlichen Defiziten verwendet wurden. Dumm bedeutete ehemals ‘ stumm ’ , und blöde bedeutete ‘ schwach ’ . 199 Auch heute haben wir diesbezüglich einen interessanten Fall. Das Wort schwach ist meines Erachtens im Begriff, neben seiner ursprünglichen Bedeutung eine neue hinzuzubekommen. Dieser Bedeutungswandel geschieht dabei schleichend. Dies wird daraus ersichtlich, dass man das Wort Blödsinn synonym zum Wort Schwachsinn gebrauchen kann. Es gibt aber auch einen weiteren Fall, der diese Hypothese zu bestätigen scheint. Das Wort Dummkopf wird synonym zum Wort Schwachkopf gebraucht. Wenn wir das zusammengesetzte Wort in einen Satz umwandeln, dann bekommen wir Folgendes: Schwachkopf - Kopf ist schwach. Dabei wird schwach im Sinne von „ weist geistige Defizite auf “ verwendet. Der Kopf wird dann natürlich metonymisch auf die Person übertragen. So meint man, wenn man sagt Peter ist ein Schwachkopf, dass Peter geistige Defizite aufweist. Es ist also offensichtlich, dass die Wortzusammensetzungen Schwachsinn und Schwachkopf parallel zu Blödsinn und Dummkopf gebildet wurden. Dabei wurden die Adjektive blöd und dumm durch schwach ersetzt. Gleichzeitig besteht zwischen den ersetzten und dem neuen Wort ein logischer Zusammenhang. Zwischen den Adjektiven blöd und schwach besteht der Zusammenhang darin, dass in einem Fall die geistige und in dem anderen die physische Schwäche denotiert wird. Weil zwischen der alten und der neuen Konstruktion mindestens einer der Bestandteile gleich geblieben ist, können die Hörer nicht nur auf der Inhaltsseite, sondern auch auf der Ausdrucksseite einen Zusammenhang zwischen den beiden Konstruktionen herstellen. Haben Sie erstmals diesen Zusammenhang hergestellt, so können sie auch den neuen Bestandteil unter der Bedeutung des ersetzten Wortes sehen. Neben Schwachkopf und Schwachsinn gibt es drei weitere Komposita, die das Wort schwach enthalten, im Sinne von „ weist geistige Defizite auf “ verwendet und analog zu einem bereits existierenden Kompositum gebildet werden. Unten folgt eine Auflistung solcher Komposita: 198 Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S. 36 199 Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S. 36 - 37 76 <?page no="77"?> Dummkopf Schwachkopf Blödsinn Schwachsinn Blödsack Schwachsack Unfug Schwachfug Dummschwätzer Schwachschwätzer Schwachsack, Schwachfug und Schwachschwätzer sind überwiegend in der Jugendsprache gebräuchlich. Sie sind im Unterschied zu Schwachkopf und Schwachsinn noch nicht lexikalisiert. Einige Belege finden wir im Internet: „ Stefan Rahmsdorf, ein besonders fleißiger Schwachschwätzer, war zum letzten Mal zu hören, als sein Potsdamer Institut für Klimaforschung einen neuen Wärmerekord für ganz Deutschland vermeldete. “ 200 „ Hey, Schwachsack! Was willst denn du in unserem Bus? Willste paar in die Fresse? “ 201 „ Schwachfug ist eine Zusammensetzung aus Unfug und Schwachsinn, was dem Wort eine besondere Ausdruckskraft verleiht. “ 202 Allerdings möchte ich betonen, dass es sich bei der Überlegung, wonach das Adjektiv schwach im Begriff ist, seine Bedeutung zu ändern, um eine Hypothese handelt. Denn man kann einen Bedeutungswandel nicht wirklich voraussagen, da die Wahrheit der meisten wichtigen Prämissen, wie Motive von Sprechern, weder aus technischen noch aus psychologischen Gründen verifizierbar sein kann. Bei solchen Voraussagen handelt es sich, wie Keller schreibt, um Trendextrapolationen. 203 Kehren wir nun zurück zur Rolle der Metaphern beim Bedeutungswandel. Ein Grund, warum die Metaphern gute Chancen haben, zu lexikalisieren, liegt einerseits in der Transparenz, die durch den assoziativen Schlussprozess motiviert ist, und andererseits in der Systematizität der Bildlichkeit, denn sie ermöglicht uns, unsere Assoziationen in die richtige Richtung zu leiten. 204 Rudi Keller nennt Metaphern in Anlehnung an Peirce ’ Trichotomie Metaikone und vertritt die interessante Ansicht, dass es beim Prozess der Metaphernbildung um die Symbolisierung von Ikonen geht. Danach ist man in der Lage, das Grundverfahren der Zeichenbildung und der Interpretation, in diesem Fall das ikonische Verfahren, das durch die optische 200 http: / / www.politplatschquatsch.com/ 2007/ 07/ untergang-macht-urlaub.html (28. Januar 2014) 201 http: / / programm.ard.de/ ? sendung=280085971080756 (28. 01. 2014) 202 http: / / mundmische.de/ bedeutung/ 11396-Schwachfug (28. 01. 2014) 203 Vgl. Keller 1990/ 2003: S. 104 204 Vgl. Keller 1995: S. 222 77 <?page no="78"?> Ähnlichkeit motiviert ist, auf der höheren Ebene der Symbole erneut anzuwenden. 205 Aber im Unterschied zu den reinen Ikonen muss man beim Prozess der Metaphernbildung zwei Verfahren hintereinander anwenden: Man muss die Bedeutung bzw. die Gebrauchsregel des betreffenden Wortes kennen und dann assoziative Schlüsse zwischen dem Spender- und Zielbereich ziehen. 206 Wie wir schon wissen, wird nichtwörtlicher Sinn bei hinreichender Gebrauchsfrequenz zum wörtlichen. So müssen auch assoziative Schlüsse beim Prozess der Metaphernbildung im Falle von hinreichender Vorkommensfrequenz notwendigerweise zu regelbasierten Schlüssen werden, sodass die beiden hintereinandergeschalteten Schlüsse zu einer einzigen Regel verschmolzen werden. 207 Wenn die metaphorische Verwendung einmal lexikalisiert ist, gibt es keinen Weg mehr zurück, denn Symbolwerdung geht immer einher mit der Entstehung von gemeinsamem Wissen. Der Weg zurück setzt aber ein „ gemeinsames Vergessen “ voraus, was im Grunde genommen unmöglich ist. 208 3.4.3 Metonymischer Wandel Eine weitere wichtige Methode, die beim Bedeutungswandel eine große Rolle spielt ist die Metonymie. Im Unterschied zur Metapher, wo ein bildlicher Vergleich zwischen zwei verschiedenen Bereichen gemacht wird, handelt es sich bei der Metonymie um weitaus vielfältigere Schlüsse, die jedoch im gleichen Bezugsrahmen stattfinden. Das eigentliche Wort wird durch ein anderes ersetzt, das dem gleichen Bereich angehört und zu dem ersetzten Wort in einer außersprachlichen sachlichen oder logischen Beziehung steht. 209 „ Als Teile dieser Relation, dieses gemeinsamen Bezugsrahmens können sie sich gegenseitig ersetzen, da sie über diesen gemeinsamen Rahmen rekonstruierbar sind. “ 210 Die Metapher kann man demnach eine Sinnübertragung nennen, die Metonymie eine Sinnverschiebung. 211 Ein weiterer Unterschied liegt in der Funktionalität: die Sprachbenutzer nutzen eine Metapher, um ausdruckstark, innovativ oder schonend zu reden. Die Metonymie eignet sich hingegen gut, wenn man präzise oder ökonomisch reden möchte. 212 Den Unterschied zwischen Metapher und Metonymie können wir sehr gut am folgenden Beispiel sehen. Wenn ein Gastgeber seinem Gast ein Glas 205 Vgl. Keller 1995: S. 176 206 Vgl. Keller 1995: S. 178 207 Vgl. Keller 1995: S. 183 - 184 208 Vgl. Keller 1995: S. 186 209 Vgl. von Polenz 1991/ 1999: S. 54 210 Krah 2006: S. 137 211 Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S. 58 212 Vgl. Skirl/ Schwarz-Friesel 2007: S. 16 78 <?page no="79"?> Rotwein reicht und sagt „ trink das Glas “ , dann geht es um eine Metonymie, denn getrunken wird nicht das Glas, sondern dessen Inhalt, denn Rotwein und Glas stehen in einer Gefäß-Inhalt-Relation, deswegen können sie auch einander ersetzen. Gleichzeitig kann der Sprecher durch die Metonymie den Sachverhalt ökonomisch wiedergeben, indem er „ Rotwein “ weglässt. Sagt aber der Gastgeber zu seinem Gast „ trink das Blut der Trauben “ , dann ist dieser sprachliche Ausdruck eine Metapher, denn in diesem Fall gehören beide Ausdrücke unterschiedlichen Bereichen an. Zwischen ihnen gibt es keine außersprachliche sachliche oder logische Relation. Andererseits gibt es zwischen diesen beiden Ausdrücken einen systematischen, assoziativen Zusammenhang, denn sowohl Rotwein als auch Blut sind Flüssigkeiten und beide haben eine ähnliche Farbe. 213 Beim metonymischen Reden und Verstehen stützen wir uns einerseits auf unser Alltagswissen wie z. B. das Wissen, dass ein Glas als ein Gefäß beim Einschenken und Verzehren von Wein gebraucht werden kann. Solche Annahmen über die Zusammenhänge von Gegenständen und Situationstypen nennt man auch frames. Und andererseits stützen wir uns auf unsere Kenntnis metonymischer Muster wie „ mit einem Ausdruck für ein Gefäß können wir auf dessen Inhalt Bezug nehmen “ . 214 Das metonymische Reden lässt sich sehr gut am folgenden Beispielsatz verdeutlichen: das Weiße Haus plant einen militärischen Einsatz im Iran. Der Ausdruck das Weiße Haus wird in diesem Satz metonymisch verwendet. Und zwar basiert diese Verwendung auf der Raumbeziehung. Hier ist nicht das Gebäude gemeint, sondern die Regierung, die in ihm ihren Sitz hat. Die Interpretation basiert seinerseits auf unserem gemeinsamen Wissen darüber, dass die amerikanische Regierung ihren Sitz in einem Gebäude hat, das man als „ das Weiße Haus “ bezeichnet. Nach Krah lassen sich im Deutschen folgende typische metonymische Relationen und metonymische Muster feststellen: „ Kausalbeziehung: Ursache / Wirkung Material / Produkt Produzent / Produkt Eigentumsbeziehung: Besitzer / Besessenes Semiotische Beziehung: Zeichen / Bedeutung Hierarchiebeziehung: Führer / Geführte Raumbeziehung: Gefäß / Inhalt Ort / Bewohner “ 215 213 Vgl. Krah: 2006 S. 138 214 Fritz 2005 S. 98 215 Krah 2006: S. 138 79 <?page no="80"?> Diese Liste lässt um ein weiteres metonymisches Muster erweitern, das in der klassischen Rhetorik unter dem Namen Synekdoche bekannt ist. Viele Linguisten zählen sie zu einem Spezialfall der Metonymie. 216 Bei diesem metonymischen Muster steht der Teil für das Ganze. Ein typischer Fall der Synekdoche haben wir im folgenden Satz: Solange du unter meinem Dach wohnst, wirst du es nie mehr wagen. Der aufgebrachte Vater verwendet das Wort Dach, das eigentlich nur ein Teil des Hauses ist, metonymisch, und bezieht sich mit ihm auf das ganze Haus. Bemerkenswert ist außerdem, dass das Konzept, bei dem das Dach für das ganze Haus steht, sehr oft vorkommt. Z. B. bedeutet der Satz Ein Dach über dem Kopf haben nichts weiter als eine Wohnung oder ein Haus haben, und die Menschen, die kein Doch über dem Kopf haben werden als obdachlos bezeichnet. In Bezug auf die Synekdoche meinen Lakoff/ Johnson, dass die Sprecher die Teile, die für das Ganze stehen, nicht beliebig auswählen, sondern mit der Auswahl eines bestimmten Teils zeigen auf welchen Aspekten des Ganzen sie sich konzentrieren: „ Auf welchen Aspekten des Ganzen wir uns konzentrieren, erkennen wir daran, welchen Teil wir herausgreifen. “ 217 In manchen Fällen könnte man tatsächlich eine gewisse Motiviertheit hinter der Relation „ Der Teil steht für das Ganze “ vermuten. Das Kompositum „ Schwachkopf “ ist so ein Fall. Diese Auswahl scheint nicht zufällig zu sein. Der Kopf wird hier metonymisch auf die Person übertragen und gleichzeitig wird eine Aussage über die geistigen Fähigkeiten dieser Person gemacht, denn eben die geistigen Fähigkeiten assoziieren wir mit dem Kopf. In anderen Fällen lässt sich nicht zwingend eine Motiviertheit hinter der Synekdoche vermuten. So einen Fall haben wir in der metonymischen Relation Das Dach steht für das ganze Haus. Diese Relation macht es nicht offensichtlich, ob die Sprecher sich auf bestimmte Aspekte eines Hauses konzentrieren möchten. Diese Annahme wird durch das Gegenbeispiel vier Wände bestätigt. „ Seit ich vor gut einem Jahr in die Bismarckstraße gezogen bin, habe ich eine neue Identität: Ich bin jetzt „ die mit der schönen Wohnung “ . Das „ schön “ beziehen die meisten Menschen allerdings nicht wirklich auf meine neue Bleibe, sondern vielmehr auf den Ort, an dem sich meine vier Wände befinden. “ 218 Auf das Haus oder die Wohnung kann man sowohl mit dem Ausdruck Dach als auch mit vier Wänden Bezug nehmen. Dabei lässt die Auswahl von 216 Vgl. Lakoff/ Johnson 2011: S. 47 217 Lakoff/ Johnson 2011: S. 47 218 Breitbarth: Kölner Stadt-Anzeige, 05. 10. 2010 80 <?page no="81"?> vier Wänden oder von Dach keine Motiviertheit vermuten. Vielmehr sind es „ praktische Schlüsse, die auf Alltagserfahrungen beruhen. “ 219 Wird jedoch ein Ausdruck metonymisch sehr oft gebraucht, so haben wir einen ähnlichen Fall wie bei Metaphern: Der Hörer geht beim Interpretieren des metonymisch gebrauchten Ausdrucks keinen Umweg über den metonymischen Sinn mehr, sondern kürzt den Interpretationsprozess ab und fasst den ehemals als metonymisch geltenden Sinn als die wörtliche Bedeutung auf. Diesen Prozess formulieren Keller-Kirschbaum anschaulich im folgenden Absatz: „ Wenn der Schluss ‚ wenn x, dann y ‘ mit einer gewissen Frequenz aktiviert wird, dann ist zu erwarten, dass die Sprecher (. . .) dazu übergehen, den Interpretationsprozess gleichsam ‘ kurzzuschließen ’ : Sie nehmen an, x bedeutet ‚ y ‘ . “ 220 Ein Beispiel, bei dem wir den metonymischen Ursprung der jetzigen Bedeutung noch erkennen können, bildet die Redewendung einen dicken Hals kriegen, im Sinne von ‘ wütend werden ’ . Zu erwähnen ist hier außerdem, dass man im Deutschen mit Ausdrücken für körperliche Anzeichen häufig Emotionen zum Ausdruck bringen kann. 221 Bei dem Wort merkwürdig ist hingegen der metonymische Ursprung nicht mehr feststellbar. Dieses Wort wurde noch im 18. Jahrhundert im Sinne von „ beachtenswert, würdig bemerkt zu werden “ gebraucht. 222 Einen Beleg dafür finden wir in Goethes „ Dichtung und Wahrheit “ : „ unter den altertümlichen Resten war mir von Kindheit an der auf dem Brückenturm aufgesteckte Schädel eines Staatsverbrechers merkwürdig gewesen, der von dreien oder vieren, wie das verbotene Vergnügen gleichfalls zu verschaffen wussten. Ja, wenn es dem Autor um Publizität zu tun war, so hätte er selbst nicht besser dafür sorgen können. “ 223 Ausgangspunkt für den Wandel sollte der metonymische Schluss sein, dass gerade das Abweichende sich anbietet, beachtet zu werden. 224 Auffällig ist, dass wir heute zwei nahezu synonyme Ausdrücke haben, die sich lediglich in ihrem positiven oder negativen Gebrauch unterscheiden: Bemerkenswert ist die positive und merkwürdig die negative Kennzeichnung des Beachtenswerten. 225 Ähnlich wie Metaphern lassen sich nach Rudi Keller Symptome symbolisieren. Als Ergebnis haben wir dann die Metonymie. Bei diesem Prozess muss man wieder zwei Verfahren hintereinander anwenden können: Man 219 Keller/ Kirschbaum 2003: S. 68 220 Keller/ Kirschbaum 2003: S. 60 221 Vgl. Fritz 2005 S. 100 222 Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S. 68 223 Goethe, Johann Wolfgang von: Goethes Werke. Band 9. 1808 - 1831/ 2002: S. 148 224 Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S. 69 225 Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S. 69 81 <?page no="82"?> muss die Bedeutung, d. h. die Gebrauchsregel des betreffenden Wortes, kennen und dann in der Lage sein, metonymische Schlüsse zu ziehen, um den gemeinten Sinn der Äußerung zu erschließen. 226 Bei hinreichender Vorkommensfrequenz werden kausale Schlüsse durch regelbasierte ersetzt. Somit wird nicht-wörtlicher Sinn mit der Zeit zur lexikalischen Bedeutung. 227 3.4.4 Das Zusammenspiel von metaphorischem und metonymischem Verfahren Manchmal kommt es vor, dass Sprecher zur Erzeugung der neuen Sinnvariationen metaphorische und metonymische Verfahren gleichzeitig anwenden. Das kann man sehr oft bei den so genannten expressivevaluativen Adjektiven beobachten. Wie wir bereits gesehen haben, bezieht sich diese Klasse der Adjektive auf einen extrem hohen Bereich der positiven Bewertungsskala. 228 Zu dieser Gruppe gehören die Adjektive wie irre, verrückt, geil, wahnsinnig, toll usw. Wie das metaphorische und metonymische Verfahren zusammenspielen, lässt sich sehr gut an dem Beispiel von geil zeigen, das eine sehr interessante Bedeutungsentwicklung vollzogen hat. Im Mittelhochdeutschen bedeutete dieses Wort noch ‘ froh, übermütig ’ und kam sehr oft in der Kombination geil unde frô vor. 229 Daneben wurde und wird dieser Ausdruck in der Fachsprache der Botanik unter einer anderen Bedeutung gebraucht. So wird im Duden darauf hingewiesen, dass das Wort Vergeilen ein verstärktes Längenwachstum von Pflanzen bedeutet, das auftritt, wenn Pflanzen zu wenig Licht bekommen: „ (von Pflanzen) durch Lichtmangel verkümmern; etiolieren. “ 230 In der folgenden Textpassage wird Vergeilen in seiner deskriptiven Bedeutung verwendet: „ Das so genannte Vergeilen oder Langaufschießen der im Dunkeln gewachsenen Triebe findet auch hierhin seine Erklärung. “ 231 Im Unterschied zu Vergeilen hat das Adjektiv geil seine Bedeutung geändert. Ab dem 16. Jahrhundert wurde geil vornehmlich im Sinne von „ sexuell erregt “ gebraucht. Durch seine sexuelle Komponente wurde dieser Ausdruck dann zu einem Tabuwort und verschwand aus dem alltäglichen Gebrauch. Gegen Ende des 20. Jahrhundert tauchte es wieder auf und wurde in der Jugendsprache vornehmlich als ein expressiv-evaluatives 226 Vgl. Keller 1995: S. 178 227 Vgl. Keller 1995: S. 183 228 Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S. 49 229 Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S. 1 230 Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Band 9. 1999: S. 4213 231 Goeppert; Hutstein; Jaeger 1862: S. 292 82 <?page no="83"?> Adjektiv verwendet, das zum Ausdruck der besonderen Begeisterung diente. 232 Wie ist man aber dazu gekommen, diesen Ausdruck, der eigentlich als ein Tabuwort wahrgenommen wurde, als einen Ausdruck der besonderen Begeisterung zu verwenden? Ein wichtiger Grund für diesen Gebrauch dürfte Folgendes sein: Junge Leute haben einen Hang zur Selbstdarstellung und wollen dementsprechend Aufmerksamkeit in der Gesellschaft erregen. Um dies zu realisieren, kann es eine gute Strategie sein, ein sexuelles Tabuwort zu gebrauchen, denn es hat ein hinreichendes Maß an Ausgefallenheit. 233 So kann man sehr gut durch den Tabubruch besondere Expressivität zum Ausdruck bringen und dadurch gesellschaftliche Aufmerksamkeit erlangen. Dabei wird das Verhalten eines sexuell erregten Menschen metaphorisch übertragen auf das Verhalten der Begeisterten. Einen assoziativen Schluss zwischen diesen verschiedenen Bereichen bildet der Aspekt des Kontrollverlustes. 234 Wenn wir jedoch von einem Auto sagen, es sei geil, so meinen wir nicht, dass das Auto begeistert ist, sondern vielmehr Begeisterung hervorruft. In einem zweiten Schritt nutzen wir also metonymische Schlüsse, die es uns ermöglichen, das Wort geil sinnvollerweise auf Gegenstände anzuwenden, um unsere Begeisterung zum Ausdruck zu bringen. 235 Für den Bedeutungswandel des Adjektivs geil spielten also sowohl metonymische als auch metaphorische Schlüsse eine wichtige Rolle. Wenn man einen Vergleich mit anderen europäischen Sprachen anstellt, so wird man sehr schnell feststellen, dass es weder im Französischen noch im Englischen ein Wort gibt, das in seiner Bedeutung dem deutschen Adjektiv geil voll entspricht. Das mag daran liegen, dass das Wort geil eines der wenigen Adjektive im Deutschen ist, das „ sowohl im Sinne von ‘ xempfindend ’ als auch von ‘ x-machend ’“ 236 verwendet werden kann. Im Unterschied zu geil kann das Adjektiv horny im Englischen nur im Sinne von ‘ sexuell erregt ’ verwendet werden. Aufgrund dieser Tatsache ist eine metaphorische Übertragung auf einen Gegenstand ausgeschlossen, denn über einen Gegenstand wie ein Auto kann man nicht sagen, es sei sexuell erregt. 237 Aus diesem Grunde lässt sich feststellen, dass im Englischen der Bedeutungswandel von expressiv-evaluativen Adjektiven wie horny oder crazy nicht durch das Zusammenspiel von metonymischen und metaphorischen Verfahren zustande kommen kann. 232 Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S. 2 233 Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S. 12 234 Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S. 56 235 Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S. 56 236 Keller/ Kirschbaum 2003: S. 124 237 Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S. 124 83 <?page no="84"?> Hierbei ist anzumerken, dass das Wort geil mittlerweile seinen Tabugehalt fast schon verloren hat. So weisen Keller/ Kirschbaum zu Recht darauf hin, dass die Attraktivität der expressiven Ausdrücke wie geil in einem gewissen Überraschungseffekt besteht. Da jeder aber gerne imponieren und daher expressiv reden möchte, werden solche Ausdrücke häufiger verwendet, was notwendigerweise zum Verlust der Expressivität führt, denn Frequenz sei der natürliche Feind von Expressivität. 238 Einen ähnlichen Fall haben wir beim Adjektiv toll. Dieses Wort wurde noch in Goethes Zeit zur Beschreibung des anomalen psychischen Zustands gebraucht. Es hat aber seine ursprüngliche Bedeutung verloren und kann als ein expressiv-evaluatives Adjektiv nur noch zum Ausdruck der Emphase gebraucht werden. Und genau in diesem Punkt unterscheidet sich toll von geil, irre und wahnsinnig, denn sie werden im Unterschied zu toll polysem verwendet und weisen neben der deskriptiven auch noch die expressiv-evaluative Verwendungsweise auf. Ähnlich wie bei geil spielten ebenfalls bei den Adjektiven toll, verrückt, wahnsinnig und irre metaphorische und metonymische Schlussprozesse eine entscheidende Rolle beim Bedeutungswandel. So wurde auch hier im ersten Schritt das Verhalten eines geistig kranken Menschen metaphorisch auf das Verhalten der Begeisterten übertragen. Anschließend wurden diese Adjektive anhand der metonymischen Schlüsse auf die Gegenstände mit dem Zweck angewendet, eigene Begeisterung zum Ausdruck zu bringen. Betrachtet man die Klasse der expressiv-evaluativen Adjektive hinsichtlich ihrer historischen Bedeutungsentwicklung, so kann man zwischen zwei Gruppen unterscheiden. Zu der ersten Gruppe zählen neben toll und geil noch wahnsinnig, irre usw. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass diese Gruppe von Adjektiven sowohl im Sinne von x-machend als auch im Sinne von x-empfindend gebraucht werden kann oder gebraucht werden konnte. Diesbezüglich schreibt Hermanns Folgendes: „ das Verwendungsschema solcher Adjektive wäre demnach, dass man, wenn man etwa sagt: x ist P, damit sagt: x ist so geartet, dass ich, wenn ich es betrachte, oder daran denke, die-und-die Gefühle habe. Oder, um es anders auszudrücken: x bewirkt, dass ich die-und-die Gefühle habe. “ 239 Andere expressiv-evaluative Adjektive wie beispielsweise phantastisch, wunderbar oder niedlich teilen diese Eigenschaft nicht. Sie haben nur die Bedeutung x-ist. Dazu zählen Adjektive wie heiß und stark, aber auch phantastisch und wunderbar. So hat man früher mit dem Wort wunderbar etwas bezeichnet, was dermaßen weit außerhalb der Realität zu liegen schien, dass man es mit einem Wunder vergleichen konnte. 238 Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S. 2 - 3 239 Hermanns 1995: S. 148 84 <?page no="85"?> „ . . .da fand ich, mit was für einer Verachtung der Ruhe er das reiche Haus seines Vaters verlassen, die heiligen Örter hin und wieder mit großer Andacht besucht und endlich beides sein Pilgerschaft und Leben unter einer Stiegen in höchster Armut, ohnvergleichlicher Geduld und wunderbarer Beständigkeit seliglich beschossen hätte. “ 240 Die zweite Gruppe der expressiv-evaluativen Adjektive lässt sich weiter differenzieren. Meines Erachtens gibt es da zwei wichtige Gruppen von Adjektiven, deren Gruppenzugehörigkeit durch die semantische Verwandtschaft gewährleistet wird. Die erste Gruppe besteht aus den deskriptiven Adjektiven, die auch expressiv-evaluativ gebraucht werden können. Da sich diese Adjektive auf hohe Skalenwerte beziehen, kann man sie durch das metaphorische Verfahren auf einen hohen Bereich der positiven Bewertungsskala übertragen. So bezieht sich z. B. heiß auf eine hohe Temperaturskala, scharf auf einen hohen Schneide-Bereich und stark auf eine hohe Kraftskala. 241 In Köln gab es wieder ein heißes Rockfestival. Der Lamborghini ist ein richtig scharfes Auto. Das Spiel war echt stark. Im Unterschied zu heiß, stark und scharf haben die Adjektive aus der zweiten Untergruppe ihre deskriptive Bedeutung verloren, denn fabelhaft, sagenhaft, märchenhaft und phantastisch weisen ausschließlich eine expressiv-evaluative Bedeutung auf. Kennzeichnend für diese Adjektive ist, dass sie ursprünglich etwas Irreales bezeichnet haben. 242 Meiner Auffassung nach sind Adjektive wie phantastisch oder märchenhaft weniger expressiv als die restlichen expressiv-evaluativen Adjektive. Der Verlust an Expressivität könnte dadurch verursacht sein, dass der Bedeutungswandel dieser Eigenschaftswörter viel früher eingesetzt hat, als dies bei geil, heiß oder wahnsinnig der Fall war. Da sie aber von vielen Sprachbenutzern frequent und auf einen sehr langen Zeitraum benutzt wurden, ist der assoziative Schluss zwischen den ursprünglichen und aktuellen Bedeutungen verlorengegangen. Die Ausdrücke haben ihren innovativen Charakter verloren, wodurch ihre expressive Gebrauchsweise maßgeblich abgeschwächt wurde. Im Weiteren Verlauf der Arbeit wird der Prozess des Expressivitätsverlustes näher analysiert. Abschließend ist festzuhalten, dass der Bedeutungswandel durch das metonymische und metaphorische Verfahren im Adjektivwortschatz nur bei einer Gruppe von expressiv-evaluativen Adjektiven anzutreffen ist. Das sind Adjektive wie toll, wahnsinnig oder geil, welche sowohl im Sinne 240 Von Grimmelshausen 1668/ 2000: S. 523 - 524 241 Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S. 50 242 Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S. 50 85 <?page no="86"?> von x-machend als auch im Sinne von x-empfindend gebraucht werden können. Bei den semantischen Wandelprozessen der restlichen expressivevaluativen Adjektive war hingegen nur ein einziges Verfahren involviert, das metaphorische Verfahren. Die Expressivität ist dabei in jeweils unterschiedlichen Adjektivgruppen unterschiedlich stark ausgeprägt. Am geringsten ist die expressive Gebrauchsweise bei Adjektiven wie märchenhaft oder phantastisch ausgeprägt. Dies hängt damit zusammen, dass der Bedeutungswandel dieser Adjektive viel früher eingesetzt hat als bei anderen expressiv-evaluativen Adjektiven. 86 <?page no="87"?> II. Empirischer Teil <?page no="89"?> Einführung Im Folgenden werden systematische Wandelerscheinungen im deutschen und georgischen sowie zum Teil im russischen und englischen Adjektivwortschatz näher untersucht. In Frage kommen die Adjektive, welche ursprünglich eine rein deskriptive Bedeutung hatten und gegenwärtig eine expressive oder evaluative Bedeutungskomponente aufweisen. Dabei wird anhand von Quellentexten illustriert, wie die Adjektive in der Ausgangsbedeutung verwendet wurden. Vor der Präsentierung der konkreten Ergebnisse sollten aber erst einmal einige begriffliche Präzisierungen vorgenommen werden. Zunächst muss geklärt werden, was wir unter der Systematizität des Bedeutungswandels verstehen. Anschließend wird kurz die methodische Vorgehensweise dargestellt. 89 <?page no="90"?> 4. Systematizität des semantischen Wandels 4.1 Gesetze des Bedeutungswandels? Dass im Prozess des semantischen Wandels eine gewisse Systematizität zu beobachten war, fiel den Linguisten bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts auf. Ausgehend von dieser Beobachtung haben sie den Schluss gezogen, dass der Bedeutungswandel gewissen ‘ Gesetzen ’ folgt. Diese Entwicklung wurde natürlich maßgeblich durch die Entdeckung der ‘ Lautgesetze ’ beeinflusst. Einige Linguisten wie beispielsweise Wundt gingen so weit, dass sie sogar glaubten, analoge Entwicklungen zwischen den Lautgesetzten und den semantischen Wandelgesetzen entdeckt zu haben. 1 Ullmann hat aber mit Recht darauf hingewiesen, dass Wundts Parallelismus zwischen phonologischen und semantischen Phänomenen verfehlt war. 2 Wie Busse zu Recht betont, war man mit diesem Vorhaben bemüht, der Sprachwissenschaft analog zu den Naturwissenschaften „ den Charakter strenger Wissenschaftlichkeit und Systematizität zu verleihen. “ 3 Das Interesse der Linguisten war dabei durch „ das Prestige der Naturwissenschaften einerseits und die Existenz von Lautgesetzen andererseits “ 4 geweckt. Allerdings war diese Unternehmung zum Scheitern verurteilt, „ weil Regelmäßigkeiten semantischer Entwicklung (. . .) niemals einen solchen Charakter bekommen, der es erlauben würde, sie mit den sog. ‘ Naturgesetzen ’ zu vergleichen “ 5 . Diese Feststellung ist insofern richtig, als semantische Wandelprozesse Phänomene der dritten Art sind, welche keinen von Natur aus gegebenen Gesetzmäßigkeiten folgen können. Sie entstehen vielmehr unintendiert durch kommunikative Handlungen der Sprecher. Da die Sprachwissenschaftler bald festgestellt haben, dass der semantische Wandel für die systematische Analyse nicht so gut geeignet war wie der Lautwandel, geriet der Bedeutungswandel in Vergessenheit. So lehnten viele Autoren am Anfang des 20-sten Jahrhunderts die Untersuchung von Regularitäten beim Bedeutungswandel gänzlich ab. Der berühmte Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure war einer davon. Er vertrat zwar die Ansicht eines synchronen Systems „ als Gefüge von Unterschieden, Opposi- 1 Vgl. Harm 2000: S. 33 2 Vgl. Ullmann 1967/ 1972: S. 231 3 Busse; 2005: S. 1318 4 Ulmann 1967/ 1972: S. 231 5 Busse 2005: S. 1318 90 <?page no="91"?> tionen und spezifischen Werten “ 6 , er befasste sich aber im Unterschied zu seinen Vorgängern nicht mit der Systematizität des Bedeutungswandels, da er der Meinung war, dass „ die diachronischen Vorgänge (. . .) immer den Charakter des Zufälligen und Vereinzelten “ 7 haben. Auch Traugott weist auf Saussures Sichtweise hin und fügt hinzu, dass es neben Saussure noch weitere Sprachwissenschaftler gab, die den systematischen Charakter des Bedeutungswandels ablehnten. 8 Einer dieser Sprachwissenschaftler war Kronasser. Er war Auffassung, dass aufgrund der Vielseitigkeit von einzelnen Fällen des Bedeutungswandels kein Kriterium zu finden wäre, aufgrund dessen man die Einzelphänomene zu den Klassen des Bedeutungswandels zusammenfassen könnte. 9 Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, dass sogar in einigen gegenwärtigen Arbeiten diese Sichtweise geteilt wird. So sprechen Hock und Joseph von einem sporadischen und unsystematischen Bedeutungswandel: „ Because of its inherently fuzzy nature meaning can be expected to change in a fuzzy, non-systematic manner. Most of the changes examined so far clearly are sporadic, as expected. “ 10 Trotz allem waren die Forschungsaktivitäten in Bezug auf die Erforschung von Mustern des Bedeutungswandels Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts vergleichsweise fruchtbar. Zu erwähnen sind hier vor allem die Arbeiten von Hermann Paul. Er hat zum Beispiel darauf hingewiesen, dass die Gemütsbewegungen sehr oft nach den sie begleitenden Reflexbewegungen bezeichnet werden. 11 Auch wenn es einige ähnlich interessante Ansätze bereits Anfang des 20. Jahrhunderts gab, wiesen sie viele Schwächen auf. Ein großer Nachteil der damaligen forschungstheoretischen Herangehensweise in Bezug auf die Pfade des Bedeutungswandels bestand darin, dass sie sich weniger mit sozialen und kommunikativen Aspekten des semantischen Wandels befasste, sondern sich vielmehr auf „ ein rein klassifikatorisches Vorgehen “ 12 beschränkte. Schließlich waren sich die Sprachwissenschaftler über die Beschaffenheit und die Funktion der „ Bedeutungsgesetzte “ in Bezug auf die Wandelprozesse nicht einig. Nimmt man all diese Tatsachen zur Kenntnis, so ist Busses Feststellung richtig, „ dass letztlich die Suche nach ‘ Gesetzen ’ überhaupt als verfehlt anzusehen ist. “ 13 Vielmehr war der Begriff des Gesetzes hinderlich für eine fundierte Erforschung von Wandelprozessen 6 Ulmann 1967/ 1972: S. 144 7 De Saussure 1916/ 2001: S. 110 8 Vgl. Traugott/ Dasher 2002: S. 60 9 Vgl. Busse 2005: S. 1313 10 Hock/ Joseph 2009: S. 233 11 Vgl. Paul 1880/ 1920: S. 99 12 Fritz 1998: S. 862 13 Busse 2005: S. 1319 91 <?page no="92"?> im Semantikbereich. 14 Dies ergibt sich daraus, dass der Bedeutungswandel nicht den von Natur aus gegebenen Gesetzmäßigkeiten folgt, sondern eher den Mechanismen der Invisible-Hand. Dementsprechend lassen sich die Fälle des semantischen Wandels besser durch Invisible-hand-Theorie erklären, da sie den Zusammenhang zwischen der Mikroebene des Sprachbenutzers und der Makroebene der Sprache plausibel aufzeigen kann. Wie Bechmann allerdings zu Recht anmerkt, reicht die Invisible-hand-Theorie alleine natürlich nicht aus, um die Wandelpfade angemessen zu beschreiben. 15 Um diesem Anspruch gerecht zu werden, müssen noch weitere Spezifizierungen vorgenommen werden. 4.2 Allgemeine Tendenzen oder konkrete Pfade des Bedeutungswandels In der späteren Semantikforschung haben die Linguisten auf den Gesetzesbegriff in Bezug auf die Systematizität in Wandelprozessen verzichtet, da sie erkannt hatten, dass die Wandelprozesse nicht den gleichen Gesetzmäßigkeiten folgen wie es bei den naturwissenschaftlichen Phänomenen der Fall ist. Daraufhin haben sie dann neue Begrifflichkeiten entwickelt. So haben sie versucht, gewisse Regularitäten in Wandelprozessen mit Tendenzen oder Generalisierungen zu erklären. Man hat beispielsweise angenommen, dass der Bedeutungswandel in den meisten Fällen von einer konkreten zu einer abstrakten Bedeutung verläuft oder dass die Bedeutungsverengung viel öfter anzutreffen ist als die Bedeutungserweiterung. Traugott geht sogar so weit, dass sie die Generalisierung konkret > abstrakt als das wichtigste Prinzip im Bereich der Regularitäten des semantischen Wandels ansieht: „ The principle that more concrete terms will almost always give rise to more abstract ones and not vice versa; (. . .) This principle is actually present as a general organizing force . . . “ 16 Das Problem bei solchen Generalisierungen ist, dass sie „ zu pauschal (sind), um eine verlässliche und empirisch validierbare Auskunft über mögliche Regularitäten zu geben. “ 17 Des Weiteren hat Bechmann gezeigt, dass auch eine umgekehrte Entwicklung von einer abstrakten Bedeutung hin zu einer konkreten möglich ist. 18 Um solche Übergeneralisierungen zu vermeiden, sollte man typische Wege des Bedeutungswandels anhand konkreter Beispiele auf einem 14 Vgl. Harm 2000: S. 35 15 Vgl. Bechmann 2012: S. 157 16 Traugott 1985: S. 159 17 Harm 2000: S. 43 18 Vgl. Bechmann 2012: S. 170 92 <?page no="93"?> niedrigeren Niveau untersuchen. Hierdurch dürften bessere und wissenschaftlich gut verwertbare Ergebnisse erzielt werden, denn schließlich wäre „ ein detaillierter Katalog häufig belegter Wandeltypen von (höherem) praktischem Nutzen “ 19 als die trivialen Tendenzen des Typs ‘ konkret > abstrakt ’ . Einerseits kann man tatsächlich mehrere Pfade des Bedeutungswandels zu einem übergeordneten Oberbegriff zusammenfassen, der wiederum eine allgemeine Tendenz in semantischen Wandelprozessen darstellt. So kann aufbauend auf konkreten Pfaden eine allgemeine Tendenz aufgezeigt werden. Solch eine Tendenz würde dann zeigen, dass der Bedeutungswandel im Adjektivwortschatz am häufigsten nach dem Muster „ deskriptive Bedeutung > evaluative oder expressive Bedeutung “ verläuft. Allerdings sollte man andererseits die eng umgrenzten und konkreteren Pfade als Ausgangspunkte für die wissenschaftliche Auseinandersetzung nehmen, um die Systematizität im Bereich des semantischen Wandels fundiert zu erforschen. Wie ich dieses Vorhaben im Einzelnen realisieren möchte, werde ich im folgenden Unterkapitel näher darlegen. 4.3 Pfade des Bedeutungswandels Ein wesentliches charakterisierendes Merkmal von Wandelprozessen ist, dass sie Ausnahmen zulassen, d. h. ein Adjektiv kann durchaus einen anderen Weg beim Bedeutungswandel einschlagen, als dies vom Pfad „ vorgesehen “ war. Dies erkennt auch Traugott: „ In all cases of linguistic change, the regularities are not absolute. Changes fail to occur, and exceptions can be found. This is particularly true in the semantic domain . . . “ 20 Dementsprechend können die Pfade nicht als Gesetzte fungieren. Des Weiteren haben die Pfade des semantischen Wandels keinen universellen Charakter. Wenn wir beispielsweise das Vorhandensein eines bestimmten Pfades in einer Sprache nachweisen können, heißt es nicht automatisch, dass wir denselben Pfad auch in einer anderen Sprache vorfinden müssen. Die Pfade können demgemäß auch einen sprachspezifischen Charakter haben. Sie sind nicht eine „ wenn-dann “ Relation. Harm lehnt den Universalien-Begriff in Bezug auf semantische Wandelprozesse ab, 21 aber er setzt zugleich voraus, dass die systematisch auftretenden Fälle des Bedeutungswandels „ in einer Vielzahl von Wandel- 19 Harm 2000: S. 44 20 Traugott/ Dasher 2002: S. 3 21 Vgl. Harm 2000: S. 37 93 <?page no="94"?> erscheinungen über mehrere Sprachen hinweg gemeinsam auftreten “ 22 müssen, damit es sich um einen Pfad des semantischen Wandels handelt. 23 Diese Annahme ist allerdings nicht haltbar, denn es kommt zwar vor, dass die Pfade in mehreren Sprachen gleichzeitig existieren, aber sie sind in diesem Fall oft in den jeweiligen Sprachen unterschiedlich stark ausgeprägt. Bestimmte Pfade können aber auch lediglich in einer einzelnen Sprache vorkommen. Die unterschiedlichen Ausprägungen der Pfade sind dabei eine sehr ergiebige Erkenntnisquelle für die linguistischen Fragestellungen, denn bei dem sprachübergreifenden Vergleich werden sehr viele erkenntnisreiche Informationen nicht nur über die Wandelprozesse, sondern auch über das Kommunikationsverhalten in den jeweiligen Sprachgemeinschaften zu Tage gefördert. Dies ergibt sich daraus, dass bei der Bildung von Pfaden die Rahmenbedingungen eine große Rolle spielen. Diese können zum einen rein sprachlicher Natur sein. Dies gilt, wenn die morphosyntaktischen Aspekte einer Sprache den Bedeutungswandel in die eine oder andere Richtung beeinflussen können. Zum anderen können aber auch sprachexterne Faktoren wie kulturelle oder gesellschaftliche Aspekte die Bildung eines semantischen Wandelpfades begünstigen. So können beispielsweis die kulturspezifischen Aspekte in Bezug auf „ Kuh “ oder „ Rind “ eine ganz andere Bedeutungsentwicklung im Deutschen hervorrufen, als dies im Hindi möglich wäre. Schließlich muss noch darauf hingewiesen werden, dass das bloße Vorhandensein eines Pfades keine Voraussagen zulässt, ob ein Adjektiv im Laufe der Zeit seine Bedeutung nach diesem oder jenem Wandelpfad ändert, denn wie Keller postuliert, handelt es sich bei solchen Voraussagen um Trendextrapolationen, also um Prognosen auf der Basis unsicherer Prämissen. 24 Da sich aber beim Sprachwandel im Allgemeinen die Prämissen bzw. Rahmenbedingungen jederzeit ändern können, kann man keine seriösen Prognosen in Bezug auf den Bedeutungswandel abgeben. Dies unterstreicht noch einmal, dass es sich bei Pfaden weder um Gesetze noch um Universalien handelt. Allerdings gibt es auch eine sprachexterne Grundlage, die zur Entstehung eines sprachübergreifenden Pfades des Bedeutungswandels beitragen kann. Wie wir im weiteren Verlauf der Arbeit sehen werden, ergibt sich eine solche Grundlage aus den grundlegendsten Gegebenheiten menschlichen Lebens. Dabei spielen triviale, alltägliche Erfahrungen genauso eine Rolle wie die menschliche physiologische Beschaffenheit. 22 Harm 2000: S. 36 23 Harm benutzt zwar nicht den Begriff „ Pfad “ , aber bei seinem Begriff der ‘ Regularitäten ’ des semantischen Wandels handelt es sich im Kern um das gleiche Phänomen. 24 Vgl. Keller 1990/ 2003: S. 104 94 <?page no="95"?> Diese Grundlagen, die für alle Sprachgemeinschaften gemeinsam sind, erklären das Vorhandensein von sprachübergreifenden Wandelpfaden. An dieser Stelle möchte ich kurz zusammenfassen, was ich unter dem Pfad des Bedeutungswandels verstehe. Die Pfade bestehen typischerweise aus mehreren systematisch auftretenden Fällen des Bedeutungswandels. Diese Systematizität ergibt sich aufgrund der Vergleichbarkeit in der Ausgangs- und Zielbedeutung. Beispielsweise bezeichneten viele Adjektive ursprünglich eine körperliche Schwäche. In ihrer Ursprungsbedeutung gehörten sie also dem gleichen Wortschatzbereich an. Gegenwärtig bezeichnen diese Adjektive eine geistige Schwäche. Nach dem Bedeutungswandel teilen sie also wieder den gemeinsamen Wortschatzbereich miteinander. Solche Muster entstehen dabei unintendiert. Sie sind weder Gesetze noch Universalien, sondern vielmehr Phänomene der dritten Art. Schließlich bezeichnen sie keine abstrakten und übergeneralisierten Tendenzen, sondern ein Pfad des Bedeutungswandels ist eng umschränkt und kann einen konkreten Bezugspunkt mithilfe von real existierenden Beispielen erstellen. Dadurch kann er einen typischen Weg des Bedeutungswandels aufzeigen, den mehrere Adjektive auf ähnliche Weise vollzogen haben. Im folgenden Kapitel werde ich zunächst erläutern, wie die einzelsprachlichen Pfade entstehen. Anschließend werde ich die Besonderheiten der sprachübergreifenden Wandelpfade darlegen. 95 <?page no="96"?> 5. Einzelsprachliche Wandelpfade 5.1 Einzelsprachliche semantische Parallelentwicklungen Bei den semantischen Wandelprozessen ist oft zu beobachten, dass der Bedeutungswandel eines Ausdrucks Auswirkungen auf die Bedeutungsentwicklung anderer Ausdrücke hat, welche in einem semantischen Zusammenhang mit dem betreffenden Ausdruck stehen. Solche Prozesse im Semantikbereich werden oft auch Parallelentwicklungen bzw. parallel semantic changes genannt. 25 Auf diese Phänomene hat Sperber bereits 1923 in seinem Buch „ Einführung in die Bedeutungslehre “ hingewiesen. Wenn ein Wort eine neue Bedeutung annimmt, ist mit Bestimmtheit zu erwarten, „ dass derselbe Vorstellungskomplex auch andere ihm angehörige Ausdrücke zur Überschreitung ihrer Verwendungssphäre und damit zur Entwicklung neuer Bedeutungen treiben wird “ 26 , so Sperber. Eine ähnliche Sichtweise vertrat auch Sperbers Zeitgenosse Vendryes: „ . . .if by some mischance there is a displacement of meaning in one of the essential words of the family, this member draws the others along with it in the direction of the new meaning. ” 27 Auch in Triers Wortfeldtheorien findet man ähnliche Gedanken. Neben Sperber und Trier teilten viele Strukturalisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts diese Annahme. So vertrat Lehrer in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts die Ansicht, dass semantisch verwandte Wörter eher zum Bedeutungswandel neigen als semantisch nicht verwandte. Der Grund dafür ist demnach ihre semantische Verwandtschaft. 28 Dies bedeutet, dass ein Wort, wenn es seine Bedeutung ändert, die Bedeutungsentwicklung von anderen Wörtern beeinflusst, welche in einer semantischen Relation mit dem betreffenden Wort stehen. Zum Beweis dieser Annahme untersuchte Lehrer die konventionalisierten Tiermetaphern, mit denen man gewisse menschliche Eigenschaften bezeichnen kann. Dabei vertrat sie die Ansicht, dass die Bedeutungsentwicklung eines Unterbegriffs oft den Bedeutungswandel des anderen Unterbegriffs beeinflussen kann, wenn beide Subklassen demselben Oberbegriff angehören. So beeinflusste die neue metaphorische Gebrauchsweise 25 Vgl. Fritz 1998: S. 871; Sowie Lehrer 1985: S. 285 26 Sperber 1923: S: 63 27 Vendryes 1925/ 1996: S. 195 28 Vgl. Lehrer, Adrianne 1985: S. 286 96 <?page no="97"?> vom englischsprachigen Substantiv donkey die Bedeutungsentwicklung von mule insofern, als mule im Englischen ebenfalls die Zweitbedeutung ‘ starrsinnig ’ erlangte. 29 Der Bedeutungswandel eines Ausdrucks zog also die Bedeutungsveränderung eines anderen semantisch verwandten Ausdrucks mit sich. Dabei beschränken sich die Parallelentwicklungen nicht nur auf Substantive, sondern sie treten auch bei Adjektiven auf. Neben Lehrer untersuchte auch Stern die Parallelentwicklungen beim Bedeutungswandel von semantisch verwandten Ausdrücken: „ Stern aimed to provide evidence that related words (. . .) could show parallel semantic changes. “ 30 Ihm fiel auf, dass englische Adverbien mit der Bedeutung ‘ rapidly ’ den Bedeutungswandel hin zu ‘ immediately ’ vollzogen haben: „ English adverbs which have acquired the sense ‘ rapidly ’ before 1300, always develop the sense ‘ immediately ’ . “ 31 Auch Sterns „ Gesetze “ basierten auf Bedeutungsentwicklungen von Wörtern, die nicht nur der gleichen Wortart angehörten, sondern auch in einer Bedeutungsbeziehung zueinander standen. Schlussfolgernd aus den oben genannten Beispielen kann man festhalten, dass beim Bedeutungswandel die Bedeutungsbeziehungen eine wichtige Rolle spielen können. Dabei kann nicht nur die semantische Verwandtschaft die Bedeutungsentwicklung zweier Ausdrücke beeinflussen, sondern auch ein Kontrastverhältnis kann zu solch einer Entwicklung beitragen. Lehrers Untersuchung hingegen beschränkte sich auf die Analyse von Parallelentwicklungen von bedeutungsverwandten Ausdrücken und ließ dabei die Gegensatzrelation außer Acht. Auch Blank untersuchte den Bedeutungswandel unter strukturalistischen Gesichtspunkten und erkannte, dass semantische Relationen und der semantische Wandel in einem engen Zusammenhang stehen. Im Unterschied zu Lehrer erkannte Blank zwar die Rolle des semantischen Kontrasts für den Bedeutungswandel, aber es ging ihm dabei nur um das Kontrastverhältnis zwischen der Ausgangs- und der Endbedeutung eines einzigen Ausdrucks. Er verstand den „ Bedeutungswandel auf der Basis einer Kontrastassoziation, (als) die Entwicklung einer gegensätzlichen Bedeutung. “ 32 Bei Blanks Beispielen handelte es sich um eine Bedeutungsentwicklung, die oft aufgrund einer ironischen Gebrauchsweise auftreten kann. So schrieb er, dass, „ Euphemismus und Ironie häufig mit diesem Typ von Bedeutungswandel zusammen auftreten. “ 33 Blank ging es also nicht darum, den Einfluss von semantischen Relationen auf die Parallelentwick- 29 Vgl. Lehrer, Adrianne 1985: S. 291 30 Traugott/ Dasher 2002: S. 67 31 Stern 1931/ 1975: S. 190 32 Blank 1997: S. 217 33 Blank 1997: S. 221 97 <?page no="98"?> lung zweier Ausdrücke zu analysieren, sondern vielmehr darum die diachrone Entwicklung eines einzigen Ausdrucks aufzuzeigen, der ein Kontrastverhältnis zwischen der Ausgangs- und der Endbedeutung aufweist. Bilanzierend lässt sich sagen, dass sowohl bei Blanks als auch bei Lehrers Arbeiten die auf der Kontrastrelation basierende Parallelentwicklung keine Erwähnung fand. Mehr noch, wie einige andere Autoren vertritt Volker Harm in seinem Werk „ Regularitäten des Semantischen Wandels bei Wahrnehmungsverben des Deutschen “ die Ansicht, dass Kontrastbeziehungen keine ernstzunehmende Rolle beim Bedeutungswandel spielen: „ Die ‘ horizontalen ’ Relationen umfassen alle Arten von kontrastierenden Beziehungen zwischen lexikalischen Elementen. Auf diese Relationen soll nicht eingegangen werden, da sie (. . .) für Fragen des semantischen Wandels keine zentrale Rolle spielen. “ 34 Dabei spielt aber die Kotrastrelation keinesfalls eine weniger wichtige Rolle bei Parallelentwicklungen als andere semantische Relationen, denn es finden sich mehrere Beispiele für Wörter, deren Bedeutungswandel durch die Kontrastrelation maßgeblich beeinflusst wurde. Diese Beispiele sowie das Verfahren an sich werde ich im folgenden Kapitel näher erläutern. 5.2 Die kontrastive Parallelentwicklung Wenn man den Adjektivwortschatz näher betrachtet, dann wird man nicht übersehen können, dass Adjektive oft in einer Kontrastrelation zueinander stehen. Somit ist die Gegensatzrelation eine bedeutsame strukturbildende Eigenschaft eines Adjektivwortschatzes. So plausibel und vielleicht auch banal diese Feststellung auf den ersten Blick erscheinen mag, trägt sie zum besseren Verständnis von Wandelprozessen im Semantikbereich bei, wenn diese Erkenntnis in Zusammenhang mit Lehrers Parallelentwicklungen gebracht wird. Wie Lehrer oben festgestellt hat, kann der Bedeutungswandel eines Ausdrucks zu einer parallelen Entwicklung eines semantisch verwandten Ausdrucks führen. Dabei kann aber nicht nur die semantische Verwandtschaft, sondern auch die Kontrastrelation zu einer parallelen Bedeutungsentwicklung führen, und zwar insbesondere dann, wenn es sich um zwei rein deskriptive Adjektive handelt, für die diese Bedingung gilt. Es kommt zu einer Parallelentwicklung, wenn eines der deskriptiven Adjektive eine zweite evaluative Bedeutung annimmt, denn dies führt oft 34 Harm 2000: S. 55 98 <?page no="99"?> dazu, dass das gegensätzliche Adjektiv ebenfalls polysem wird und eine zweite wertende Bedeutung hinzubekommt. Parallelentwicklungen dieser Art haben wir auch dann, wenn eines der Adjektive seine deskriptive Bedeutung verliert und aufgrund seiner rein evaluativen Bedeutungskomponente eine Parallelentwicklung beim gegensätzlichen Adjektiv von der deskriptiven hin zur evaluativen Bedeutung hervorruft. Parallelentwicklungen führen also nicht immer zu einer Polysemie, sondern können auch zum Verschwinden der alten und zur Entstehung einer neuen Bedeutung führen. Dieses Verfahren des Bedeutungswandels, das meines Wissens bis heute in der historischen Sprachwissenschaft nicht thematisiert wurde, nenne ich die kontrastive Parallelentwicklung. Markante Beispiele der kontrastiven Parallelentwicklung im deutschen Adjektivwortschatz sind die Adjektive abfällig und beifällig. Das Adjektiv abfällig wurde zu Luthers Zeiten im rein deskriptiven Sinne auf etwas angewendet, das im Begriff war abzufallen. 35 So konnten die Bauern im 16. Jahrhundert über ein abfälliges Laub oder ein abfälliges Obst sprechen, ohne dabei etwas Negatives zu meinen. Wie die Textpassage unten verdeutlicht, war diese deskriptive Gebrauchsweise sogar noch zu Goethes Zeiten vorzufinden: „ Die Spinner nennen das Abfällige der Baumwolle so. “ 36 „ Jeder Knote hat eine Begleitung unter der Erde schließt sich solche an ihn an und deckt ihn als Hülle zu, über der Erde entfernt sie sich mehr oder weniger von ihm. Es ist das Blatt. Wichtigkeit dieses abfälligen und doch mit der Pfl. innig verbundenen Körpers. “ 37 Im 18. Jahrhundert vollzog das Adjektiv abfällig den Bedeutungswandel hin zu ‘ ablehnend ’ . Schließlich wurde es im Sinne von ‘ missbilligend ’ verwendet. Der erste Schritt zu dieser Bedeutungsentwicklung könnte die Bedeutungsübertragung von der sachlichen hin zur menschlichen Ebene sein. So bedeutete abfällig bezogen auf Menschen ‘ abtrünnig, aufsässig ’ . 38 Beifällig war hingegen positiv konnotiert, es bedeutete so viel wie ‘ bereit, für etwas / jemanden einzutreten; bereit mitzumachen ’ . So wird das Wort Beifall im Frühneuhochdeutschen Wörterbuch folgendermaßen erklärt: „ sich jm. (bei einer Unternehmung, auch ütr: in der Meinung) anschließen, jm. (auch einer Sache) anhängen; “ 39 in einigen etymologischen Wörterbüchern wird 35 Vgl. Frühneuhochdeutsches Wörterbuch Bd. 1, 1989: S. 99 36 Jean Paul 1795/ 2000: S. 1236 37 Goethe, Johann Wolfgang von; Becker, Hans-Joachim, 1999: S. 65 38 Vgl. Frühneuhochdeutsches Wörterbuch Band 1, 1989: S. 100 39 Frühneuhochdeutsches Wörterbuch Band 2. 2002: S. 895 99 <?page no="100"?> sogar darauf hingewiesen, dass beifällig und abfällig bereits im 16. Jahrrhundert in dieser Bedeutung kontrastiv gebraucht wurden: „ . . .erscheint nhd. Beifall seit dem 16. Jh. (so bei Luther) ‘ Übertritt zu einer Partei, politische Parteinahme ’ (im Gegensatz zu Abfall ‘ Loslösung, Treubruch ’ ). . . “ 40 Mit der Zeit verschwand die alte, rein deskriptive Bedeutung sowohl von beifällig als auch von abfällig. Allerdings blieb die Kontrastrelation zwischen diesen Adjektiven weiter bestehen, denn auch in der gegenwärtigen Gebrauchsweise werden diese Adjektive kontrastiv verwendet. Darauf wird sowohl im Herkunftswörterbuch des Duden 41 als auch im KLUGE hingewiesen. Demnach wird abfällig „ (i)n der heutigen Bedeutung als Gegenwort zu beifällig gebraucht . . . “ 42 Nimmt man zur Kenntnis, dass die Gegenadjektive beifällig 43 und abfällig sowohl in der Ausgangsals auch in der Zielbedeutung kontrastiv gebraucht wurden, dann wird man nicht übersehen können, dass es sich bei beiden Fällen um eine kontrastive Parallelentwicklung handelt. Der Bedeutungswandel von abfällig fand unter dem Einfluss von beifällig statt. Die Gegensatzrelation auf der deskriptiven Ebene war dabei meines Erachtens ausschlaggebend für eine parallele Bedeutungsentwicklung von beiden Adjektiven. Im Unterschied zu den Adjektiven abfällig und beifällig, welche die alte deskriptive Bedeutung verloren haben und nur noch evaluativ verwendet werden, gibt es im aktuellen Sprachgebrauch mehrere Fälle von Parallelentwicklungen, welche einen Bedeutungswandel hin zu einer Polysemie vollzogen haben. Besonders interessente Beispiele sind dabei die Adjektive link und recht, welche wir im nächsten Kapitel näher kennenlernen werden. 5.3 Die Rolle der kontrastiven Parallelentwicklung für eine sprachübergreifende Analyse des Bedeutungswandels der Adjektive recht und link Bedeutungsgeschichtlich gesehen wecken die Beispiele recht und link ein besonderes Interesse, da sie einige Zusammenhänge und Parallelitäten bei der Bedeutungsentwicklung in der deutschen, englischen russischen und georgischen Sprache aufweisen. Dies macht die Beispiele link und recht zu einer besonders ergiebigen Erkenntnisquelle für den adjektivischen Bedeu- 40 Pfeifer: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen 1993: S. 144 41 Vgl. DUDEN, Herkunftswörterbuch 2001: S. 71 42 Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache 2012: S. 5 43 Das Adjektiv beifällig bedeutete noch ‘ zufällig oder ‘ beiläufig. Es hat aber diese Bedeutung verloren und bedeutet gegenwärtig nur noch ‘ zustimmend, anerkennend ’ . Vgl. DWb. Bd. 1, S. 1370 100 <?page no="101"?> tungswandel. Des Weiteren erachte ich die nähere Untersuchung dieser Wandelpfade aus folgenden drei Gründen für besonders wichtig und zweckdienlich: 1. Es handelt sich hierbei im Allgemeinen um die Wandelpfade nach dem Muster „ deskriptiv > evaluativ “ . Aus diesem Grunde sind sie der primäre Untersuchungsgegenstand der Arbeit. 2. Den Wandelpfaden liegen die kontrastiven Parallelentwicklungen zugrunde, welche ich oben eingehend untersucht habe. Es ist von einem besonderen Interesse, auf der Basis von konkreten Beispielen die Beschaffenheit und die Rolle kontrastiver Parallelentwicklungen beim Bedeutungswandel im Detail zu durchleuchten, da sie bis heute nicht thematisiert oder untersucht worden sind. 3. Schließlich handelt es sich hierbei um sprachübergreifende Wandelpfade. Durch die Untersuchung dieser Wandelpfade werde ich die ersten Hinweise dafür liefern, dass deren Grundlagen nicht primär die kulturspezifischen Stereotypen bilden, sondern „ unser nichtreflektiertes Alltagshandeln “ 44 . Aus den oben genannten Gründen ist die nähere und systematische Untersuchung der Adjektive link und recht mehr als angebracht. 5.3.1 Der Bedeutungswandel des Adjektivs recht Das deutsche Adjektiv recht ist unter dem Aspekt der Vergleichbarkeit mit Adjektiven anderer Sprachen ein äußerst interessantes Beispiel sowohl synchron als auch diachron gesehen. Fangen wir zuerst mit dem gegenwärtigen Gebrauch an. Heutzutage hat das Wort im Deutschen zwei Grundbedeutungen. Zum einen ist recht das Gegenwort von link und zum anderen bedeutet es ‘ richtig ’ im Sinne von ‘ recht haben ’ . Jemand hat recht heißt, dass seine Aussage richtig ist. Ähnlich verhält sich das englische Adjektiv right, denn auch im Englischen findet man die beiden Gebrauchsweisen dieses Wortes wieder. Noch interessanter ist aber die Übereinstimmung des Russischen mit dem Englischen und Deutschen, denn auch das russische Wort прав (prav) weist im gegenwärtigen Sprachgebrauch beide Grundbedeutungen auf. Unten findet man passende Beispiele im Deutschen, Englischen und Russischen: 1. (Dt.) Er hat recht; (Eng.) He ’ s right; (Russ) он прав . (on prav) 2. (Dt.)Auf der rechten Seite; (Eng.) On the right side; (Russ) на правой стороне . (na pravoi staranje) 44 Lakoff/ Johnson 1980/ 2011: S: 11 101 <?page no="102"?> Die georgische Sprache, die bekanntlich nicht zu den indogermanischen Sprachen gehört, verfährt hier anders. Im Georgischen gibt es jeweils zwei verschiedene Ausdrücke für das Adjektiv recht. Recht als Gegenwort von link heißt im Georgischen მარჯვენა (mar ǰ vena), recht im Sinne von ‘ richtig ’ heißt მართალი oder სწორი (mart ’ ali; scori). Etymologisch ist das Adjektiv მარჯვენა (mar ǰ vena) auf das Verb გამარჯვება (gamar ǰ veba) ‘ gewinnen ’ zurückzuführen. Das Antonym link, auf Georgisch მარცხენა (marc ’ xena), ist etymologisch mit dem Verb დამარცხება (damarc ’ xeba) ‘ verlieren ’ , ‘ besiegt werden ’ verwandt. Bemerkenswert ist außerdem, dass im Georgischen das Adjektiv მარჯვე (mar ǰ ve) eine semantische Verwandtschaft mit dem Adjektiv მარჯვენა (mar ǰ vena) aufweist. Dabei bedeutet მარჯვე (mar ǰ ve) im Georgischen ‘ geschickt ’ , ‘ fingerfertig ’ . Hier ist der Zusammenhang zwischen der hohen Handwerklichkeit des rechten Arms und der Geschicklichkeit eines Menschen nicht zu übersehen. Anscheinend war dieser Schluss ausschlaggebend für die Entwicklung einer neuen Bedeutung. Erwähnenswert ist außerdem auch, dass für die romanischen Sprachen ebenfalls der Zusammenhang zwischen der rechten Hand und Geschicklichkeit bekannt ist. Das französische Adjektiv dextre / destre hat die Bedeutung ‘ recht ’ und ‘ geschickt ’ gehabt. 45 Analog zu destre weisen das Spanische mit diestro 46 und das Italienische mit destro den gleichen semantischen Zusammenhang wie das Georgische mit dem Wort მარჯვე (mar ǰ ve) auf. Der Unterschied besteht allerdings darin, dass die Beispiele aus den romanischen Sprachen im Gegensatz zu dem georgischem მარჯვე (mar ǰ ve) ihre Bedeutungen dem lateinischen Adjektiv dexter verdanken. 47 Betrachtet man das Adjektiv recht unter sprachhistorischem Aspekt, so gestaltet sich der Vergleich mit anderen Sprachen noch interessanter. Zunächst möchte ich aber kurz auf die Bedeutungsgeschichte dieses Wortes in der deutschen Sprache eingehen. Das Adjektiv recht hat eine äußerst interessante Geschichte. Es ist ein gemeingermanisches Wort, das in mehreren germanischen Sprachen nachweisbar ist. 48 Das Grimmsche Wörterbuch zählt hierzu folgende Beispiele auf: „ goth. raíhts; altnord. rêttr, schwed. rätt, dän. ret; ags. reht, riht, engl. ryht, neuengl. right; fries. riucht; alts. altnfr. reht, niederd. recht, niederl. regt; ahd. mhd. reht; “ 49 45 Vgl. Gamillscheg, Ernst 1969: Etymologisches Wörterbuch der französischen Sprache. S. 320 46 Das spanische Adjektiv derecho bedeutet ‘ aufrecht, gerade ’ und ‘ recht, auf der rechten Seite ’ gleichzeitig. Das Substantiv el derecho bedeutet ‘ das Recht ’ 47 Vgl. Meyer-Lübke 1968: Romanisches etymologisches Wörterbuch: S 239 48 DWb 17: 388 49 DWb 17: 388 102 <?page no="103"?> Zusätzlich kann darauf hingewiesen werden, dass diese Wortform „ auf einer alten Partizipialbildung zu der idg. Wurzel *reg ’ ,aufrichten, recken, gerade richten ‘“ beruht. 50 Was die semantische Seite von recht anbelangt, so zählt das etymologische Wörterbuch des Deutschen folgende Bedeutungen im Althochdeutschen und Mittelhochdeutschen auf: „ Ahd. reht ‘ recht, gerecht, berechtigt, richtig, gerade, einfach, gut, wirklich, zutreffend, wahr ’ (8. Jh.), mhd. reht ‘ in gerader Linie, gerade, Sitte, Recht entsprechend, gerecht, gehörig, wahrhaft, wirklich, eigentlich ’“ 51 Es herrscht allerdings ein Konsens darüber, dass die Bedeutung ‘ gerade geradegerichtet ’ die Ausgangsbedeutung des Wortes recht darstellt 52 . Recht im Sinne von ‘ gerade ’ war das Antonym von krumm. Passende Belege finden wir bei Konrad von Megenberg: „ Yisidorus spricht, daz der fuchs selten reht weg laff, er lauf beseitz vnd chrumm weg. “ 53 Das englische Adjektiv right hatte ursprünglich die gleiche Bedeutung wie das deutsche recht gehabt. In „ The Oxford English Dictionary “ steht Folgendes dazu: „ a. Straight; not bent, curved or crooked in any way. (. . .) b. Of a way or course: Direct, going straight towards its destination. “ 54 Hierzu gibt es eine verblüffende Übereinstimmung mit den slawischen Sprachen. Das altslawische pr ā v ъ ist auch ein gemeinslawisches Wort und hat ursprünglich ebenfalls ‘ gerade ’ bedeutet. 55 Sowohl im Deutschen als auch im Russischen gab es das Gegenpaar: Dt: recht vs. krumm bzw. schief; Russ: правь vs. кривь (praw; kriw). Die gleiche Etymologie weist auch das englische right auf. Die ursprüngliche Bedeutung ‘ geradegerichtet ’ findet man in einigen deutschen zusammengesetzten Ausdrücken wieder: waagerecht; senkrecht oder aufrecht. Auf diese Beispiele weist auch der DUDEN hin: „ Das gemeingerm. Adjektiv hatte ursprünglich die Bedeutung ‚ gerade ‘ . Diese Bedeutung hat › recht ‹ im heutigen dt. Sprachgebrauch noch in den mathematischen Ausdrücken › rechter Winkel ‹ und › Rechteck ‹ und in Zusammensetzungen wie › senkrecht ‹ › waagerecht ‹ › aufrecht ‹ . “ 56 Auch im Englischen lassen sich Ausdrücke finden, welche die ursprüngliche Bedeutung von right beibehalten haben. Die bekanntesten Beispiele 50 Duden, Herkunftswörterbuch, 2001: S. 656 51 Pfeifer: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen 1993: S. 1095 52 Vgl. Duden, Herkunftswörterbuch, 2001: S. 657; Pfeifer, Wolfgang: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen 1993: S. 1095; 53 Von Megenberg 1349 - 1350/ 2003, Das Buch der Natur: Band 2. S. 189 - 190 54 The Oxford English Dictionary 1989: Band 13. S. 925 55 Vgl. Vasmer: Russisches etymologisches Wörterbuch 1953: Band 2. S. 424 56 Duden, Herkunftswörterbuch 2001: S. 657 103 <?page no="104"?> sind Zusammensetzungen wie upright oder mathematische Ausdrücke wie right angle und right cone. Der erste Schritt der Bedeutungsentwicklung des deutschen Adjektivs recht bestand darin, dass zur ursprünglichen Bedeutung ‘ gerade ’ bzw. ‘ geradegerichtet ’ eine neue Bedeutung ‘ recht ’ im Sinne von ‘ richtig ’ , oder ‘ den Gesetzen entsprechend ’ hinzukam: „ Aus diesem Wortgebrauch (geradegerichtet) entwickelte sich die Verwendung von recht im Sinne von ‚ richtig ‘ und weiterhin im Sinne von ‚ den Gesetzen und Geboten entsprechend, sittlich gut ‘“ 57 Für solch eine semantische Entwicklung können meines Erachtens mehrere Gründe in Frage kommen. Die erste mögliche Ursache für die Bedeutungsentwicklung von ‘ gerade ’ zu ‘ richtig, rechtbeschaffen ’ könnte in der Tatsache begründet sein, dass die meisten Gegenstände des täglichen Gebrauchs rechtbeschaffen waren, wenn sie gerade standen oder eine glatte, gerade verlaufende Oberfläche hatten. So waren ein Tisch oder ein Hocker, die schief standen, keinesfalls rechtbeschaffen. Das gleiche gilt ebenfalls für eine Wand oder eine Mauer, die krumm gebaut worden war. Van Leeuwen-Turnovcova versucht die positive Konnotation von gerade mit der Durchsetzung der geraden Bauformen im Mittelmeerraum zu erklären. Sie geht davon aus, dass diese positive Konnotation durch die römische und griechische Kolonisation in viele indoeuropäische Sprachen transportiert wurde. 58 Diese These ist allerdings insoweit problematisch, dass in australischen und südsudanesischen Sprachen gerade und recht ebenfalls eine semantische Verwandtschaft aufweisen. Nun ist es aber so, dass die Mittelmeerzivilisationen keinerlei Berührungspunkte mit diesen Sprachen hatten. Man kann also hier nicht davon ausgehen, dass diese Sprachen durch Latein oder Griechisch beeinflusst wurden. Vielmehr ist die semantische Verwandtschaft zwischen diesen Adjektiven unabhängig voneinander entstanden. Nach meiner Einschätzung kann die semantische Verwandtschaft zwischen gerade und recht unter anderem durch die Handlung des Abweichens erklärt werden. Zunächst hat man anscheinend angenommen, dass alle Menschen nach religiösen, staatlichen oder gesellschaftlichen Gesetzen, Sitten und Geboten leben müssten. Ist dann jemand von der Norm abgewichen, so hat er den richtigen Lebensweg, der für alle Menschen nur in eine Richtung führt, verlassen. Die Person, die von der Bahn abgekommen war, hat nicht mehr geradlinig nach den Prinzipien gelebt, die ihr die Gesellschaft auferlegt hatte. Ausschlaggebend für diese Bedeutungsentwicklung könnte auch die Vorstellung sein, dass der menschliche aufrechte Körperbau im Vergleich 57 Duden, Herkunftswörterbuch, 2001: S. 657 58 Vgl. Van Leeuwen-Turnovcova 1990: S. 225 sowie 227 104 <?page no="105"?> zum tierischen der „ richtige “ ist. Diesen Zusammenhang kann man dann zwischen ‘ aufrecht ’ und ‘ richtig ’ vermuten. Im Grimmschen Wörterbuch wird die Ansicht vertreten, dass das positive Empfinden des Geradegerichteten oder Geradeausgehenden durch das Bild eines geraden Weges beeinflusst wurde, denn ein gerader Weg führt ohne Umwege und somit am schnellsten zum Ziel. Somit könnte eine „ Vorstellung des gerade aus gehenden und zum Ziele weisenden “ 59 den Anstoß zu dieser Bedeutungsentwicklung gegeben haben; 60 denn auch wenn uns heute eine gerade Straße oder ein gerader Weg selbstverständlich erscheint, so stellte das im Altertum keinesfalls eine Selbstverständlichkeit dar. Der Verlauf keltischer und germanischer Naturwege war meistens durch die topographischen und geologischen Gegebenheiten beeinflusst. Im Gegensatz zu denen waren aber die Römerstraßen, die ein hohes Ansehen aufgrund der technologisch fortgeschrittenen Bauweise genossen, meistens schnurgerade. Solche Straßen wie die Römerstraßen wurden dann positiv von den Menschen wahrgenommen. Ein weiterer Grund für die positive Konnotation des Wortes gerade in Bezug Wege oder Straßen könnte auch dadurch verursacht sein, dass sie zum Königreich oder zu den Fürstentümern gehörten und von den Staatsdienern beschützt wurden. Deswegen haben ehrliche Menschen gerade Wege und Straßen gewählt, die schnell zum Ziel führten und gleichzeitig sicher waren. Und die Leute, die sich vor Gesetzeshütern verstecken wollten, haben eben krumme Wege gewählt. Unter der Berücksichtigung der eben genannten Tatsachen bekommt die Aussage er ist vom rechten Weg abgekommen und geht jetzt krumme Wege bzw. Pfade nur die konsequente Lesart. Hierbei möchte ich aber vermerken, dass man die Echtheit der obigen Hypothesen nicht wirklich überprüfen kann. Schließlich geschah der Bedeutungswandel des Adjektivs recht von ‘ gerade ’ zu ’ richtig ’ noch im Althochdeutschen, und es gibt meines Wissens keine schriftlichen Quellen aus dieser Zeit, die offenlegen, ob die obengenannten Beispiele wirklich ausschlaggebend für die neue Gebrauchsweise waren. Man kann aber nicht leugnen, dass die Bedeutung von recht im Sinne von ‘ richtig ’ aus der Bedeutung ‘ gerade ’ entstanden ist, denn auch wenn heute die genauen Motive für die ursprünglich metaphorische Gebrauchsweise recht im Sinne von ‘ richtig ’ nicht mehr festzustellen sind, so ist mit ziemlicher Sicherheit davon auszugehen, dass das Adjektiv gerade im Unterschied zu krumm 61 59 DWb 14: 391 60 Vgl. dazu den englischen Ausdruck on the line. Dt.: ‘ auf dem richtigen Weg ’ 61 Krumm war das Gegenwort von recht und bedeutete im übertragenen Sinne ‘ unehrlich ’ . Sieh auch: Krummes Geschäft oder krumme Wege. Das russische Wort für krumm 105 <?page no="106"?> eine positive Konnotation hatte. Genau diese Konnotation hat dann die ursprünglich metaphorische Gebrauchsweise begünstigt. Diese Ansicht wird ebenfalls durch den Vergleich mit dem russischen правь (prav ʹ ) und englischen right untermauert. Die gleiche etymologische Entwicklung von ‘ gerade ’ zu ‘ richtig ’ finden wir außerdem in weiteren europäischen Sprachen wie im Französischen, Italienischen und Spanischen. 62 Die semantische Verwandtschaft zwischen ‘ geradegerichtet, aufrecht ’ und ‘ richtig ’ ist aber keinesfalls nur auf die europäischen Sprachen zu begrenzen. So schreibt Wesel: „ Die australischen Walbiri haben sogar ein eigenes Wort für Ihre Ordnung: djugaruru. Das bedeutet wörtlich die Linie oder ‚ der gerade oder richtige Weg ‘ , wie unser Wort recht von richtig, aufrecht, gerade, abgeleitet ist. “ 63 Auch bei den südsudanesischen Nuer findet sich eine ähnliche semantische Verwandtschaft. „ Ihr Wort für Recht ist cuong. Es hat die Grundbedeutung von aufrecht, richtig. “ 64 Dabei vollzog sich der Bedeutungswandel von recht im Sinne von ‘ gerade ’ zu recht im Sinne von ‘ richtig ’ meines Erachtens nach dem weit verbreiteten Muster „ Gegenstand > Mensch “ . Es ist anzunehmen, dass das Wort recht im Sinne von ‘ gerade ’ bzw. ‘ geradegerichtet ’ ursprünglich nur auf Gegenstände angewendet wurde. Diese Gebrauchsweise war dann wertneutral, d. h. der Ausdruck recht war in seiner ursprünglichen Bedeutung ein rein deskriptives Adjektiv. Mit der Zeit sind die Sprachbenutzer dazu übergangen, dieses Wort metaphorisch auch auf die Menschen oder menschliche Handlungen anzuwenden, die mit dem menschlichen Charakter eng verbunden sind, z. B. mit dem Benehmen oder der Denkweise. Diese neue Gebrauchsweise hat natürlich mit der Zeit eine weitere lexikalische Bedeutung des Wortes recht kreiert. Wie wir im weiteren Verlauf der Arbeit feststellen werden, führt das Muster des semantischen Wandels „ Gegenstand > Mensch “ nicht zum Verlust der alten Bedeutung, sondern zur Polysemie. Auch in diesem Fall ist es zur Polysemie gekommen. Dafür spricht die Tatsache, dass die beiden Bedeutungsvarianten des Adjektivs recht bzw. reht ‘ gerade ’ und ‘ richtig ’ sowohl im Althochdeutschen als auch im Mittelhochdeutschen koexistiert haben. 65 Dies scheint auch im Englischen der Fall zu sein. Diese These wird neben den Beispielen aus dem Deutschen, Englischen und Russischen auch durch den Vergleich mit dem Georgischen bestätigt. Das georgische Beispiel სწორი (sts ’ ori) ‘ gerade ’ , welches ich oben kurz кривь (kriv ʹ ) wies ähnliche Bedeutung auf (Sieh: Krys ’ ko 2004: Slovar ’ drevnerusskogo jazyka ’ Bd. 4 S. 310 ( Словарь древнерусского языка (XI - XIV вв ) 62 Französisch droit; spanisch derecho; Italienisch diritto. 63 Wesel 2001: S. 29 64 Wesel 2001: S. 43 65 Vgl. Pfeifer: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen 1993: S. 1095 106 <?page no="107"?> erwähnt habe, weist gegenwärtig zwei Verwendungsmöglichkeiten auf. Bezogen auf Gegenstände ist სწორი (sts ’ ori) wertneutral und bedeutet ‘ gerade ’ , ‘ geradegerichtet ’ oder ‘ glatt ’ . Bezogen auf die Menschen oder menschliches Tun bzw. Handlungen wie Denken, Entscheiden oder Benehmen bedeutet das Wort ‘ richtig ’ . So bedeutet der Satz: სწორ გზაზე დგას (sts ’ or gzaze dgas) so viel wie ‘ er steht auf dem richtigen Weg. ’ Die ursprüngliche Bedeutung ‘ gerade, geradegerichtet ’ verschwand im Deutschen erst im 16 - 17. Jh. mit dem Aufkommen der neuen Bedeutung im Sinne von ‘ Gegenrichtung zu link ’ . Dabei wurden die älteren Wortformen mhd. winster ‘ links ’ und zese ‘ rechts ’ durch die Adjektiven recht und link ersetzt, wobei recht zunächst nur in der Kombination mit rechte Hand analog zu zesewe Hant anzutreffen war. Es ist anzunehmen, dass die Entwicklung von zese zu recht unter dem Einfluss des Französischen stattfand, wo das altfranzösische destre durch droit ersetzt wurde. 66 Die frühesten Belege für die Gebrauchsweise rechte Hand finden wir erst im „ Renner “ von Hugo von Trimberg: „ er gelobt ir mit der rehten hant / ganze triuwe und siben lant “ 67 . Die Möglichkeit der Koexistenz der beiden Bedeutungsvarianten war aufgrund des Bezugs auf den gleichen Bereich problematisch. Denn würde der Ausdruck recht beide Bedeutungen ‘ gerade ’ und ‘ rechts ’ beibehalten, so wäre es schwer für den Hörer zu unterscheiden, welche der beiden Richtungen mit dem Wort recht gemeint war. Interessant ist, dass das französische Wort droit und das spanische derecho zwar beide Bedeutungskategorien ‘ recht ’ und ‘ gerade ’ beibehalten haben, ohne dass dies zu Verständnisproblemen beim Rezipienten geführt hat, was daran liegt, dass die unterschiedlichen Bedeutungen durch morphologische Mittel wie z. B. durch Präpositionen markiert wurden. Da im Deutschen morphologische Mittel nicht in Anspruch genommen wurden, kam es zum Verschwinden der alten Bedeutung ‘ geradegerichtet ’ . Kommen wir nun zur Bedeutungsentwicklung von ‘ richtig ’ zu ‘ rechts ’ . Diesbezüglich kann man im Duden Folgendes lesen: „ Von der Bedeutung ‚ richtig ‘ geht auch die Verwendung von › recht ‹ als Gegenwort zu › link ‹ aus, und zwar bezeichnete › recht ‹ zunächst die rechte Hand, deren Gebrauch allgemein als richtig empfunden wird, während der Gebrauch der linken Hand als ungewöhnlich und nicht richtig angesehen wird,. . . “ 68 Diese Auffassung wird auch von mir geteilt. Die positive menschliche Wertung von recht wird anscheinend vom statistischen Übergewicht der 66 Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 1990: Bd. 4. S. 264 67 Von Trimberg (~ 1300)/ 1970: Band 2. S. 114 68 Duden, Herkunftswörterbuch, 2001: S. 657 107 <?page no="108"?> Rechtshänder beeinflusst. So steht in der Bibel: „ Der Herr ist dein Schatten über deiner rechten Hand “ 69 Des Weiteren heißt die rechte Hand im Volksmund die „ schöne Hand “ . Ein redlicher Mann wird „ rechtschaffen “ genannt. Und schließlich werden Eide mit der rechten Hand geleistet. 70 Alle diese Tatsachen bestätigen die Annahme, dass der Gebrauch der rechten Hand als richtig empfunden wird, und genau dieser Schlussprozess hat die Herausbildung der neuen Bedeutungsvariante gefördert. Bilanzierend kann man zum Adjektiv recht Folgendes sagen: Bei der Betrachtung der synchronen Gebrauchsweise von recht haben wir festgestellt, dass es im Deutschen, Englischen und Russischen ähnliche polyseme Bedeutungskategorien gibt. Das georgische Adjektiv მარჯვენა (mar ǰ vena) ‘ auf der rechten Seite, rechts ’ weist zwar keine Polysemie auf, ist aber semantisch mit dem Wort მარჯვე (mar ǰ ve) ‘ geschickt ’ verwandt. Diese Verwandtschaft beruht auf dem assoziativen Zusammenhang zwischen der hohen Handwerklichkeit des rechten Arms und der Geschicklichkeit eines Menschen. Dieser Zusammenhang ist für einige romanische Sprachen ebenfalls bekannt. Bei der Betrachtung der sprachhistorischen Aspekte des Adjektivs recht haben wir festgestellt, dass das russische прав (prav), das englische right und das deutsche recht nicht nur synchrone, sondern auch erstaunliche sprachübergreifende diachrone Übereinstimmungen aufweisen, was darauf zurückzuführen ist, dass die Ausgangsbedeutung für diese Adjektive ‘ gerade, geradegerichtet ’ darstellte. Diese ursprüngliche Bedeutung lässt sich sowohl im Deutschen als auch im Englischen in einigen Zusammensetzungen und mathematischen Ausdrücken finden. Mit der Zeit ist zur ursprünglichen Bedeutung ‘ gerade ’ bzw. ‘ geradegerichtet ’ eine neue Bedeutung ‘ recht ’ im Sinne von ‘ richtig ’ oder ‘ den Gesetzen entsprechend ’ hinzugekommen. Diese Bedeutungsentwicklung ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass ‘ gerade ’ im Unterschied zu ‘ krumm ’ eine positive Konnotation hatte. Im nächsten Schritt wurden von mir vier mögliche Ursachen für diese semantische Entwicklung vorgeschlagen, wobei die „ Vorstellung des gerade aus gehenden und zum Ziele weisenden “ 71 Weges die wahrscheinlichste Erklärung für diese positive Konnotation wäre, zumal in vielen anderen Sprachen eine semantische Polysemie zwischen ‘ gerade ’ und ‘ richtig ’ vorhanden ist. Dabei vollzog sich der Bedeutungswandel nach dem bekannten Muster „ Gegenstand > Mensch “ . Ursprünglich wurde recht als ein rein deskriptives Adjektiv im Sinne von ‘ gerade ’ nur auf Gegenstände angewendet. Durch die metaphorische Übertragung dieses Wortes auf dem Bereich „ Mensch “ 69 Bibel. Ps. 121.5 70 Vgl. Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. 1990: Bd. 4. S. 262 71 DWb 14: 391 108 <?page no="109"?> konnte man es auch als ein deskriptiv-evaluatives Adjektiv verwenden. Es ist also zu einer Polysemie gekommen. Das georgische Beispiel სწორი (Sts ’ ori) ‘ gerade ’ weist ebenfalls die beiden Bedeutungen ‘ gerade ’ und ‘ richtig ’ auf. Die Ausgangsbedeutung ‘ gerade ’ verschwand im Deutschen mit dem Aufkommen der neuen Bedeutung im Sinne von ‘ Gegenrichtung zu link ’ , wobei recht zunächst nur in der Kombination mit rechte Hand analog zu zesewe Hant anzutreffen war. Der Schluss rechte Hand = richtige Hand wurde durch das statistische Übergewicht der Rechtshänder beeinflusst. Dies hat wiederum zu dieser semantischen Entwicklung beigetragen. 5.3.2 Der Bedeutungswandel des Adjektivs link Wie wir bereits oben erwähnt haben, wird der Gebrauch der rechten Hand als richtig empfunden und „ die schöne Hand “ wird als überlegen und edel angesehen. Dagegen wird der Gebrauch der linken Hand eher als befremdend oder eigenartig angesehen. Aus diesem Grunde gibt es einige negative Konnotationen mit dem Adjektiv link. Eine davon ist vor allem in deutschen Redensarten wie z. B. linker Vogel oder linke Geschäfte zu finden. 72 Diese negative Konnotation entsteht u. a. dann, wenn man das Adjektiv link zur Bewertung des menschlichen Charakters gebraucht. So bezeichnen wir eine Person als link, wenn sie betrügerisch oder fragwürdig handelt, und wir bezeichnen eine Geschäftspraxis als link, wenn sie einen dubiosen und fragwürdigen Eindruck hinterlässt. In der gleichen Bedeutung wird ebenfalls das deutsche Verb linken verwendet, welches von der adjektivischen Form link abgeleitet wurde. Laut Duden bedeutet linken so viel wie täuschen oder jemanden hereinlegen. 73 Diachronisch gesehen ist diese Gebrauchsweise des Wortes link keine primäre, sondern eine sekundäre Bedeutung, die frühestens im Frühneuhochdeutschen zum ersten Mal in Erscheinung trat. Im Grimmschen Wörterbuch spricht man in Bezug auf diese semantische Entwicklung von einer Bedeutungsübertragung jungen Datums: „ in der neueren sprache gewöhnlich übertragen gebraucht, nach link 7: linkisch, fraudulentus, dolosus, infidus “ . 74 Es ist bemerkenswert, dass eine ähnliche Gebrauchsweise auch im Russischen zu finden ist. Das russische Wort für links левый (levyj) hat ebenfalls eine Nebenbedeutung, und zwar bedeutet es so viel wie ‘ unehrlich ’ , bzw. ‘ fragwürdig. So meint man mit dem Ausdruck левые деньги 72 Vgl. Duden, Herkunftswörterbuch, 2001: S. 487 73 Vgl. Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Band 6. 1999: S. 2437 74 DWb 12: 1050 (Lat. fraudulentus, - Dt. betrügerisch; dolosus - listig; infidus - treulos) 109 <?page no="110"?> (levye den ʹ gi) so viel wie ‘ unehrlich oder auf eine dubiose Art und Weise verdientes Geld ’ . Beim Spruch Ходит налево (hodit nalevo) handelt es sich um eine feste Redewendung. Wortwörtlich bedeutet sie ‘ nach links gehen ’ . Ihre sinngemäße Übersetzung lautet aber ‘ fremdgehen ’ . Diese Bedeutungsentwicklung von ‘ auf der linken Seite ’ zu ‘ fragwürdig ’ bzw. ‘ unehrlich ’ wurde meines Erachtens durch den Kontrast mit recht bedingt. Wie wir gesehen haben, wurde recht sowohl im Deutschen als auch im Russischen neben seiner rein deskriptiven Bedeutung als richtungsweisender Ausdruck noch als ein rein evaluativer Ausdruck im Sinne von ‘ richtig ’ bzw. ‘ rechtens ’ gebraucht. Somit steht link zu recht nicht nur auf der Richtungsebene im Kontrast, sondern auch auf der charakterlich-bewertenden Ebene. Anscheinend haben die Sprachbenutzer den Bedeutungskontrast auf der Richtungsebene genutzt, um eine kontrastive Sinnesvariation von link auf der charakterlichen bzw. der wertenden Ebene zu kreieren. Der spezifische Sinn wurde hier eindeutig nach dem Prinzip der kontrastiven Parallelentwicklung realisiert. Durch die semantische Klassifikation von Adjektiven, die ich bereits oben eingeführt habe, lässt sich die Bedeutungsverschiebung hervorragend darstellen. So kann man hier davon sprechen, dass der Kontrast von rechts und links nicht nur auf der rein-deskriptiven Ebene liegt, sondern auch auf der deskriptiv-evaluativen. Die rein deskriptive Gebrauchsweise war dabei die primäre Bedeutung. Den Anstoß zu dieser Bedeutungsentwicklung könnte die Verharmlosung einer fragwürdigen bzw. unrechtmäßigen Tat gegeben haben, sprich ein Euphemismus. Dabei hat man ein Adjektiv mit einer rein richtungsweisenden Bedeutung auf einen wertenden Bereich übertragen. Die Sprecher haben den assoziativen Zusammenhang zwischen beiden Gebrauchsweisen aufgrund einer semantischen Parallelentwicklung gezogen, was dann folgendermaßen aussieht: Rechts und links sind zwei Enden einer Skala. Das rechte Ende wird dabei polysem verwendet. Es deckt sowohl den rein deskriptiven als auch den rein evaluativen Bereich ab. Die Sprachbenutzer haben dann analog zu dem rechten Ende auch das linke Ende der Skala polysem gemacht. Sie haben dem rein deskriptiven Adjektiv link eine evaluative Gebrauchsweise hinzugefügt. Es handelt sich hierbei um systematische, assoziative Schlüsse, die weder metaphorischer noch metonymischer oder bedeutungsdifferenzierender Natur sind. Vielmehr handelt es sich hierbei um einen Schlussprozess, den ich oben als kontrastive Parallelentwicklung bezeichnet habe. Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, dass es auch im Falle von link zu einer Polysemie gekommen ist, denn ähnlich wie bei recht waren auch hier die Anwendungsbereiche „ sachliche Eigenschaften “ vs. menschliche Eigenschaften “ klar voneinander getrennt, so dass es nicht zu einer Verwechslung der Bedeutungen kommen konnte. 110 <?page no="111"?> Schematisch lassen sich die Ergebnisse folgendermaßen zusammenfassen: Ausgangsbedeutung rein deskriptiv Primäre Intention Aussage verstärken Sprachliche Mittel Metonymie Bedeutungsrelation Antonymie Wissenskonzept „ rechte Hand > positiv “ vs. „ linke Hand > negativ “ Sprachliche Folgen 1. Polysemie: a. Rein evaluativ b. Rein deskriptiv Meines Erachtens war die Polysemisierung von link nur deswegen möglich, weil das Adjektiv recht bereits polysem verwendet wurde. Diese Annahme wird auch dadurch bestätigt, dass das georgische Wort მარცხენა (marc ’ xena) nur rein deskriptiv im Sinne von ‘ auf der linken Seite ’ verwendet werden kann, genauso wie sein Gegenwort მარჯვენა (mar ǰ vena) nur im Sinne von ‘ auf der rechten Seite ’ gebraucht wird. Da die georgische Sprache keine evaluative Gebrauchsweise des Adjektivs recht kennt, wäre die Übertragung des georgischen Adjektivs მარცხენა (marc ’ xena) von ‘ auf der linken Seite ’ hin zu ‘ unehrlich ’ oder ‘ fragwürdig ’ nicht möglich gewesen. So bleiben sowohl das rechte als auch das linke Ende der Skala im Georgischen rein deskriptiv. Die semantische Parallelentwicklung greift hier also nicht. Würde ich trotzdem versuchen, das Wort მარცხენა (marc ’ xena) im Sinne von ‘ fragwürdig ’ zu gebrauchen, würden die Hörer meine Äußerung nicht oder falsch interpretieren. Denn wie wir bereits wissen, braucht man einen systematischen, assoziativen Zusammenhang zwischen der usuellen Bedeutung und der neuen Sinnesvariation, damit dies vom Hörer richtig interpretiert werden kann. Da aber im Georgischen im Falle von links ein solcher Zusammenhang nicht hergestellt werden kann, ist die Kreation einer neuen Sinnesvariation auf der evaluativen Ebene nicht möglich. Allerdings muss man auch erwähnen, dass ähnlich wie im Russischen und Deutschen auch das englische Adjektiv right neben seiner Hauptbedeutung auch die Konnotation im Sinne von ‘ richtig ’ aufweist. Jedoch hat dies nicht dazu geführt, dass das englische left eine Nebenbedeutung ‘ unehrlich ’ oder ‘ fragwürdig ’ bekam. Dies spricht aber nicht gegen die Richtigkeit einer möglichen Bedeutungsentwicklung im Deutschen und Russischen von ‘ links ’ zu ‘ fragwürdig ’ , ‘ dubios ’ , denn auch wenn die Voraussetzungen ähnlich sind, müssen zwei Sprachen nicht die gleiche Bedeutungsentwicklung aufweisen. Unten möchte ich anhand der gewonnen Erkenntnisse einen theoretischen Unterbau für weitere empirische Untersuchungen vorstellen. In jenem Teil der Arbeit wird dann eingehend erklärt, was ich unter systematischen Wandelerscheinungen verstehe und wie sie zustande kommen. 111 <?page no="112"?> In diesem Zusammenhang wird großer Wert auf syntagmatische und paradigmatische Relationen gelegt. Des Weiteren wird erklärt, warum es zu sprachübergreifenden Wandelpfaden kommt. 5.4 Paradigmatische Bedeutungsrelationen und Wandelpfade Parallelentwicklungen sind im Grunde genommen einzelsprachliche Wandelpfade. Sie vereinigen in sich Fälle von Bedeutungswandel, die entweder miteinander semantisch verwandt sind oder in einem Kontrastverhältnis zueinander stehen. Dabei weisen die Ausdrücke die gleichen paradigmatischen Bedeutungsrelationen sowohl in ihren Ausgangsals auch in den Endbedeutungen auf. Es stellt sich allerdings die Frage, welchen kommunikativen Nutzen sich die Sprachbenutzer versprechen, wenn sie Parallelentwicklungen ins Leben rufen. Wie wir bereits wissen, besteht der erste Schritt des semantischen Wandels darin, dass die Sprachbenutzer vom usuellen Sprachgebrauch abweichen und einen Ausdruck in einem spezifischen Sinn verwenden. Damit die Hörer diese abweichende Gebrauchsweise verstehen können, müssen die Sprachbenutzer assoziative, logische oder sonstige kognitive Schlüsse anbieten, damit das Verständnis der von der Konvention abweichenden Äußerung möglich ist. Dazu können metaphorische oder metonymische Gebrauchsweisen sehr hilfreich sein. Aber auch Parallelverwendungen von Ausdrücken anhand der semantischen Relationen können das Verständnis des nicht konventionell gemeinten Sinnes zusätzlich erheblich erleichtern, denn sie ermöglichen es dem Hörer, eine gewisse Verbindung zwischen der nicht konventionellen Wortverwendung und den Präzedenzfällen herzustellen, die in einer semantischen Relation zueinander stehen. Diesen Zusammenhang zwischen einem Präzedenzfall und dem leichteren Verstehensprozess der sprachlichen Innovation auf der semantischen Ebene sieht auch Schmehl und schreibt: „ Die erstmalige Verwendung eines Zeichens in einer neuen Bedeutung kann zum Präzedenzfall für weitere analogisch nachempfundene Verwendungen werden. Trotz der Innovation muss das Verstehen auf Seiten der Kommunikationspartner gesichert sein,. . . “ 75 Dabei unterscheiden sich die metonymischen und metaphorischen Schlussprozesse völlig von den Schlussprozessen, welche durch Parallelentwicklungen hervorgerufen werden. Während Metapher, Metonymie und Bedeutungsspezifizierung als eine Art Verbindung zwischen dem kom- 75 Schmehl 2006: S. 372 112 <?page no="113"?> munikativen Sinn und der lexikalischen Bedeutung fungieren, ermöglichen die Bedeutungsbeziehungen es dem Hörer, einen Zusammenhang zwischen der aktuellen metaphorischen oder metonymischen Gebrauchsweise eines Ausdrucks und einer bereits einigermaßen konventionalisierten metaphorischen oder metonymischen Verwendung zu ziehen. Somit helfen die Bedeutungsrelationen den Sprachbenutzern dabei, metaphorische, metonymische, ironische oder sonstige innovative Gebrauchsweise eines Ausdrucks zu verstehen. Die unten aufgeführte Tabelle zeigt die Rolle von Metapher, Metonymie und Bedeutungsdifferenzierung beim Bedeutungswandel: Metapher Bsp. blöd Ausgangsbedeutung ‘ physisch schwach ’ Assoziative Schlüsse Endbedeutung ‘ geistig schwach ’ Metonymie Bsp. staunen Ausgangsbedeutung ‘ starr auf etw. hinsehen ’ Logische Schüsse Reflexbewegung > Gemütszustand; Wirkung> Ursache Endbedeutung ‘ sich wundern ’ Bedeutungsdifferenzierung Bsp. rüstig Ausgangsbedeutung ‘ kräftig ’ im allgemeinen Sinne Spezifizierung auf einem Bereich Endbedeutung kräftig (Trotz Alter) nicht gebrechlich Wie wir hier sehen können, stehen die metaphorischen Schlüsse zwischen der Ausgangs- und der Endbedeutung. Die unten folgenden Grafiken zeigen wiederum die Rolle von Bedeutungsbeziehungen bei bedeutungsähnlichen und kontrastiven Parallelentwicklungen: Deskriptiv expressiv evaluativ toll ‘ geistig krank ’ toll ‘ affektiv begeistert ’ êêê êêê synonym ç-------------------------------è synonym ééé ééé verrückt ‘ geistig krank ’ verrückt ‘ affektiv begeistert ’ êêê êêê synonym ç-------------------------------è synonym ééé ééé wahnsinnig ‘ geistig krank ’ wahnsinnig ‘ affektiv begeistert ’ Abbildung 6: Bedeutungswandel durch die Bedeutungsähnlichkeit nach dem Muster geistige Grenzzustände > starke Begeisterung 113 <?page no="114"?> Die Adjektive toll, verrückt und wahnsinnig wurden/ werden in der deskriptiven Ausgangsbedeutung synonym verwendet. Die synonyme Bedeutungsbeziehung weisen die Adjektive auch nach dem Bedeutungswandel auf der expressiv-evaluativen Bedeutungsebene auf. Die Sprecher wussten also von der Bedeutungsähnlichkeit auf der deskriptiven Ebene und haben diese Bedeutungsrelation auch auf die expressiv-evaluative Ebene übertragen. Sie haben somit zum Bedeutungswandel „ verrückt ‘ geistig krank ’ > verrückt ‘ affektiv begeistert ’“ eine analoge Bedeutungsverschiebung „ wahnsinnig ‘ geistig krank ’ > wahnsinnig ‘ affektiv begeistert ’“ kreiert. Es ist dementsprechend offensichtlich, dass die Grundlage dieser Analogiebildung die Bedeutungsähnlichkeit zwischen den oben aufgeführten Adjektiven darstellt. Dabei sind die semantischen Parallelentwicklungen aufgrund der Bedeutungsähnlichkeit auf der deskriptiven Ebene nicht nur für Adjektive kennzeichnend, sondern auch für den Verbwortschatz. Dies verdeutlichen die georgischen Verben დანძრევა (danjreva) und დარხევა (darxeva) welche auf der rein deskriptiven Ebene die Bedeutung ‘ hin und her bewegen ’ haben. Allerdings werden sie umgangssprachlich, vor allem in der Jugendsprache, im Sinne von ‘ einem droht etwas Negatives ’ , ‘ in Schwierigkeiten stecken ’ verwendet. „ იმ ქალს თუ დაენძრა, წასულია შენი საქმე . “ 76 „ Wenn dieser Frau etwas zustößt, wird dir nichts mehr helfen können. “ „ ვაიმე ჩურჩულით დაარღვია დუმილი მექისემ , დაგვერხა . “ 77 „ Ach, flüsterte der Badebedienstete, wir stecken richtig in Schwierigkeiten. “ Wie wir oben festgestellt haben, können die semantischen Parallelentwicklungen nicht nur durch Bedeutungsähnlichkeit ins Leben gerufen werden, sondern auch durch kontrastive Bedeutungsrelationen. Abbildung 7 verdeutlicht dies. Auch bei den obigen Beispielen können wir feststellen, dass die Adjektive die gleichen kontrastiven Bedeutungsrelationen sowohl in der Ausgangsals auch in der Endbedeutung aufweisen. Dies lässt den Schluss zu, dass durch die Überragung der Kontrastrelation von der deskriptiven Ebene auf die evaluative Ebene die neue expressiv-evaluative Gebrauchsweise der entsprechenden Adjektive leichter erschließbar war. 76 Bregadze 2013: S. 54 77 Bregadze 2013: S. 54 114 <?page no="115"?> Recht > positiv; link > negativ Deskriptiv Evaluativ recht ‘ Gegenrichtung zu link ’ recht ‘ richtig ’ Bsp. rechte Hand Bsp. vom rechten Weg abkommen êêê êêê antonym ç-------------------------------è antonym ééé ééé link ‘ Gegenrichtung zu recht ’ link ‘ unaufrichtig, falsch ’ Bsp. linke Hand Bsp. linker Vogel Stumpf > negativ; scharf > positiv ბრიყვი (briqvi) ‘ stumpf ’ ბრიყვი (briqvi) ‘ dumm ’ Bsp. „ მახჳლნი ჩუენნი დაბრყჳლდეს ” 78 Bsp. ხალხი არ არის ბრიყვი ‘ Unsere Schwerter werden stumpf ’ ‘ Das Volk ist nicht dumm ’ êêê êêê antonym ç-------------------------------è antonym ééé ééé მახვილი (maxvili) ‘ spitz ’ მახვილი (maxvili) ‘ schlau ’ Bsp. მახვილი საგანი ‘ spitzer Gegenstand ’ Bsp. მახვილი გონება ‘ Scharfsinn ’ Abbildung 7: Bedeutungswandel durch eine Kontrastrelation An dieser Stelle möchte ich noch auf einen wichtigen Aspekt hinweisen, um mögliche Missinterpretationen von vornherein aus dem Weg zu räumen. Wenn ein Adjektiv seine Bedeutung ändert, so müssen nicht notwendigerweise alle anderen Adjektive dies auch tun, die mit dem betreffenden Adjektiv in einer semantischen Relation standen. Vielmehr entscheiden die Sprachbenutzer, welche semantisch verwandten Adjektive sie nutzen wollen, um ähnliche oder gegensätzliche kommunikative Effekte zu erzeugen. Am Ende entsteht der Wandelpfad, bei dem die einzelnen Beispiele mithilfe der paradigmatischen Bedeutungsrelationen miteinander verbunden sind. Rückblickend betrachtet kann man dann feststellen, dass bei allen Wandelpfaden einzelne Beispiele sowohl in der Ausgangsals auch in der Endbedeutung eine semantische Verwandtschaft in Form von paradigmatischen Bedeutungsrelationen aufweisen. Aus diesem Grunde kann man festhalten, dass es sich bei Wandelpfaden um die so genannten Phänomene der dritten Art handelt. Diese Feststellung klingt 78 Arabuli 2001: Das Problem von verbalen und nominalen Stammableitung in Kartwelsprachen. S. 57 115 <?page no="116"?> zwar auf den ersten Blick sehr trivial, aber trotzdem muss sie gemacht werden, damit man nicht in die gleiche Ecke geschoben wird wie die Junggrammatiker, welche „ den Menschen mit ihren unantastbaren Gesetzen praktisch gänzlich ausgeschlossen “ 79 hatten. So können die Wandelpfade von Wandelgesetzen auseinandergehalten werden. Betrachtet man semantische Parallelentwicklungen auf der Mikroebene der Sprecher, so ergibt sich folgendes Bild. Die Sprachbenutzer kreieren hauptsächlich aus folgenden zwei kommunikativ wichtigen Gründen parallele semantische Sinnesvariationen. Erstens ist die Bildung einer neuen Sinnesvariation aufgrund des so genannten Bleaching-Effektes notwendig. Dies ist besonders häufig bei expressiv-evaluativen Adjektiven der Fall. Wie wir bereits in Erfahrung gebracht haben, verlieren Adjektive ihre Expressivität, wenn man sie zu häufig verwendet. Damit die Sprachbenutzer den gleichen expressiven Effekt erzielen können, müssen sie meistens einen rein deskriptiven Ausdruck expressiv verwenden. Die semantische Parallelentwicklung bietet sich dabei als ein gängiges Verfahren zur Kreierung neuer expressiv-evaluativer Sinnesvariationen an, da sie durch vorhandene Bedeutungsrelationen auf der rein deskriptiven Ausgangsbedeutung die Erschließung von neu kreierten expressiv-evaluativen Bedeutungen erleichtert. Die Adjektive, welche den Bedeutungswandel nach dem Muster ‘ geistige Grenzzustände > starke Begeisterung ’ vollzogen haben, sind besonders anschauliche Beispiele dafür. Zweitens sind semantische Parallelentwicklungen besonders häufig bei Euphemismen anzutreffen. Dies ergibt sich daraus, dass ein Adjektiv zunehmend seine abschwächende Bedeutung verliert, wenn man es zu häufig euphemistisch gebraucht. Die weitere Verwendung des Wortes in der abschwächenden Bedeutung würde für den Sprecher das Risiko erhöhen, missverstanden zu werden. Dies führt dann dazu, dass die Sprachbenutzer ein anderes sprachliches Material nutzen müssen, um den gleichen euphemistischen Effekt zu erzielen. Auch hier bieten sich semantische Parallelkonstruktionen an, um diesen Effekt erfolgreich zu realisieren. Die Adjektive, welche den Bedeutungswandel nach dem Muster ‘ körperliche Schwäche > geistige Schwäche ’ vollzogen haben, belegen diese Annahme besonders eindrucksvoll. Bilanzierend lässt sich Folgendes über die Rolle der semantischen Relationen für die Wandelpfade sagen: Die Adjektive weisen sowohl auf der deskriptiven als auch auf der evaluativen Ebene gleiche Bedeutungsbeziehungen auf. Anhand der semantischen Relationen können die Sprachbenutzer also eine Verbindung zwischen zwei spezifischen metaphorischen oder metonymischen Verwendungen herstellen, die in einer Ähnlichkeits- oder Kontrastrelation zueinander stehen. Dies erleichtert 79 Schmehl 2006: S. 134 116 <?page no="117"?> natürlich die Interpretation der von der Konvention abweichenden Wortverwendung. Im Endeffekt heißt das nichts anderes, als dass man die neuen Sinnesvariationen durch die Anknüpfung an eine bereits erfolgreich erprobte Versprachlichung von Metaphern, Metonymien und dergleichen kreiert. Die Bedeutungskreation nach dem gleichen Muster führt dann in der letzten Konsequenz zu den Wandelpfaden. Ausschlaggebend ist aber, dass die Anknüpfung an die bereits erfolgreich erprobten Präzedenzfälle erst durch die paradigmatischen Bedeutungsrelationen ermöglicht werden kann. Die paradigmatischen Bedeutungsrelationen nehmen also für meine Theorie der einzelsprachlichen Wandelpfade die zentrale Rolle ein. Ich werde im weiteren Verlauf der Arbeit anhand von mehreren sprachübergreifenden Beispielen zeigen, dass die paradigmatischen Bedeutungsrelationen über die Sprachgrenzen hinweg die Entstehung von Wandelpfaden maßgeblich beeinflussen und somit den Wandelprozessen im semantischen Bereich einen systematischen Charakter geben. 5.5 Syntagmatische Relationen und Wandelpfade Bei der Analyse der Bedeutungsentwicklung des Adjektivs recht ist uns aufgefallen, dass dieses Eigenschaftswort in seiner neuen Bedeutung ‘ rechts ’ erstmals als eine Kollokation rechte Hand gebraucht wurde. Zu diesem Zeitpunkt wies also dieses Adjektiv eine polyseme Bedeutung auf, denn neben ‘ rechts ’ besaß es auch seine alte Bedeutung ‘ gerade ’ . Diese ambige Verwendungsweise beinhaltete allerdings die Gefahr, missverstanden zu werden und machte eine weitere Präzisierung des gemeinten Sinnes notwendig. Man kann also davon ausgehen, dass die Polysemie den Bedarf schuf, die Verwendung von recht durch weitere sprachliche Mittel zu präzisieren, um eben mögliche Missverständnisse aus dem Weg zu räumen. Die Kollokation mit dem Substantiv Hand eröffnete dabei die Möglichkeit, die Bedeutung ‘ gerade ’ von der Bedeutung ‘ rechts ’ klar abzugrenzen, denn durch die Bezugnahme auf die Hand konnte man klarstellen, dass die gegenüberliegende Seite von links gemeint war. An dieser Stelle sehen wir, dass syntagmatische Relationen das Verstehen eines von der usuellen Bedeutung abweichenden kommunikativen Sinns erleichtern und somit zum Bedeutungswandel beitragen können. Wir haben im theoretischen Teil der Arbeit sehen können, dass syntagmatische Relationen nicht nur im Falle der Kollokation rechte Hand eine Rolle bei der Erschließung des kommunikativen Sinnes gespielt haben, sondern auch bei den zusammengesetzten Ausdrücken Schwachsinn und Schwachkopf, denn durch die Bezugnahme auf die Substantive Kopf oder Sinn konnte man gut veranschaulichen, dass man sich mit dem Adjektiv 117 <?page no="118"?> schwach nicht auf eine physische, sondern auf eine psychische Schwäche bezog. Aus den oben genannten Beispielen ist davon auszugehen, dass die Kollokationen und die zusammengesetzten Ausdrücke anscheinend eine willkommene Gelegenheit für die Sprachbenutzer sind, ein Wort in seiner neuen Bedeutung zu gebrauchen. Blank teilt diese Meinung. Für ihn können solche zusammengesetzten Ausdrücke wie Kollokationen oder Phraseologismen in manchen Fällen den Bedeutungswandel auslösen: „ (Der Fall), wo ein Phraseologismus oder eine Kollokation zum Auslöser für Bedeutungswandel werden kann, ist dann gegeben, wenn ein Wort nur noch in einem einzigen sprachlichen Kontext (. . .) auftreten kann. In diesem Fall kann es sein, dass man dieses Wort aus dem gegebenen Zusammenhang heraus ‘ anders ’ versteht. “ 80 Meiner Auffassung nach kann dieses „ Anders-Verstehen “ allerdings mit der Zeit zu einem regelbasierten Verstehen auch außerhalb des gegeben Kontextes werden. Dies würde dann der Entstehung einer neuen lexikalischen Bedeutung gleichkommen. Wir werden bei der Untersuchung konkreter Wandelpfade sehen können, dass syntagmatische Relationen auch in anderen Fällen zum Bedeutungswandel der Adjektive beigetragen haben. Syntagmatische Relationen spielen aber auch in einer anderen Hinsicht eine wichtige Rolle bei semantischen Wandelprozessen. So kommt es manchmal vor, dass Sprachbenutzer eine ähnliche Kollokation parallel zu einer bereits existierenden bilden. Dabei wird in der neuen Kollokation einer der Bestandteile durch einen neuen ersetzt. Einen ähnlichen Fall haben wir auch bei den Kollokationen rechte Hand und zesewe Hant, denn rechte Hand wurde ursprünglich parallel zur Kollokation zesewe Hant gebildet. Solche analoge Kollokationen tragen anscheinend dazu bei, den gemeinten kommunikativen Sinn noch verständlicher für Rezipienten zu machen. Bei einer näheren Betrachtung fällt auf, dass für die Bildung einer parallelen Kollokation oder Wortzusammensetzung insgesamt drei Faktoren von Bedeutung sind. 1. Auf der Ausdrucksseite der Kollokation muss mindestens eines der Teilwörter gleich sein. Dies ermöglicht die Vergleichbarkeit auf der Ausdrucksseite. 2. Auf der Inhaltsseite müssen beide Wortkonstruktionen die gleiche Gesamtbedeutung aufweisen, damit sie überhaupt als analoge Konstruktionen bezeichnet werden können. 3. Das ersetzte und das neue Teilwort der Konstruktion müssen einen assoziativen, außersprachlichen, logischen oder sonstigen Zusammenhang miteinander aufweisen. 80 Blank 1997: S. 217 118 <?page no="119"?> Die Richtigkeit dieser Annahme lässt sich auch an den bereits erwähnten Beispielen Blödsinn vs. Schwachsinn und rechte Hand vs. zesewe Hant überprüfen: 1. Die Vergleichbarkeit auf der Ausdrucksseite ist durch das Teilwort Sinn gegeben. Beide Konstruktionen weisen es als Grundwort auf. Im zweiten Fall ist Hand das verbindende Element. 2. Auf der Inhaltsseite weist die analog zu Blödsinn gebildete Wortzusammensetzung Schwachsinn die gleiche Bedeutung auf. Auch zesewe Hant und rechte Hand weisen gleiche Bedeutungen sowohl im ursprünglichen als auch im metaphorischen Sinne auf. 3. Schließlich kann man einen assoziativen Zusammenhang zwischen den Teilwörtern schwach und blöd nach dem Muster „ beschränkte körperliche Fähigkeiten > beschränkte geistige Fähigkeiten “ herstellen. Ebenso lässt sich ein Zusammenhang zwischen den Bedeutungen richtig und recht herstellen. Sind alle diese drei Faktoren gewährleistet, so ist es für den Rezipienten wesentlich einfacher, den von der usuellen Verwendung abweichenden kommunikativen Sinn der Äußerung richtig zu interpretieren. Auf der Sprecherseite heißt dies wiederum, dass dieser besser verstanden wird, wenn er das Wort unter seinem neuen kommunikativen Sinn in einer analogen Kollokation verwendet, als wenn er es alleinstehend gebraucht. Das bessere Verständnis kann aber nicht als das primäre Motiv des Sprechers angesehen werden. Vielmehr versucht er, mit dem spezifischen kommunikativen Sinn einen besonderen Effekt beim Rezipienten hervorzurufen. Dabei dient die Bildung einer analogen Wortkonstruktion dem besseren Verständnis und somit der Verwirklichung der eigentlichen Motive. Die primären Motive bzw. angestrebten Effekte können dabei vielfältig sein. Sie können der besseren Veranschaulichung, der besonderen Ausdrucksstärke, der Selbstdarstellung usw. dienen. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass syntagmatische Relationen in Form von Wortzusammensetzungen und Kollokationen das Verstehen des vom usuellen Gebrauch abweichenden kommunikativen Sinns maßgeblich vereinfachen, da sie mögliche Mehrdeutigkeiten aus dem Weg räumen können. Wird anschließend das betreffende Adjektiv in seiner neuen Bedeutung auch außerhalb der jeweiligen Kollokation von vielen Sprachbenutzern verwendet, so können wir von einem Bedeutungswandel sprechen. 119 <?page no="120"?> 6. Entstehung sprachübergreifender Wandelpfade 6.1 Soziokulturelle Zusammenhänge Für die Entstehung und Konsolidierung einzelsprachlicher Wandelpfade spielen zwar die semantischen Relationen insoweit eine wichtige Rolle, als sie die Entstehung von semantischen Parallelentwicklungen beeinflussen. Sie reichen allerdings nicht zur Bildung sprachüberreifender Wandelpfade aus. Das ergibt sich vor allem aus der Tatsache, dass Bedeutungsrelationen immer einen einzelsprachlichen Charakter haben. So kann das englische Adjektiv dull nur im Englischen eine Antonymie zu sharp aufweisen und synonym zu blunt verwendet werden. Ein Wort kann also nur in einem Sprachsystem eine jeweilige semantische Relation zu anderen Ausdrücken aufweisen. Da aber die semantischen Bedeutungsrelationen keinen sprachüberreifenden Charakter haben, können sie auch keine sprachübergreifenden Wandelpfade erzeugen. Trotzdem kann man mehrere Wandelpfade finden, welche auch in anderen Sprachen beobachtet werden können und aus diesem Grunde als sprachüberreifend zu charakterisieren sind. So bezeichnen die Adjektive scharf oder stumpf in verschiedenen Sprachen nicht nur die Schneideeigenschaften eines Gegenstandes, sondern auch menschliche, geistigkognitive Eigenschaften. Des Weiteren weisen die Richtungsadjektive recht und link in unterschiedlichen Sprachen ebenfalls systematische Ähnlichkeiten auf, was ihre Bedeutungsgeschichte betrifft. Deshalb bilden sie ebenfalls einen sprachübergreifenden Wandelpfad. Wenn aber die paradigmatischen Bedeutungsrelationen nicht ursächlich für sprachübergreifende Wandelpfade sein können, dann stellt sich die Frage, wie solche Wandelpfade in verschiedenen Sprachen gleichzeitig existieren können. Harm sind solche parallelen Bedeutungsentwicklungen ebenfalls aufgefallen, allerdings lässt er die Frage nach Ursachen und Beschaffenheit solcher Parallelentwicklungen unbeantwortet: „ . . .ob es sich um kulturspezifische oder um ’ allgemein-menschliche ’ Erscheinungen handelt, ist durch parallele Entwicklungen in anderen Sprachen nachzuweisen. “ 81 Für Fritz steht hingegen die Antwort fest. Seiner Auffassung nach sind für die Entstehung sprachübergreifender parallel verlaufender Bedeutungsentwicklungen gewisse „ kulturspezifische Gemeinplätze (wichtig), in denen eine gewisse Sichtweise von sozialen Zusammenhängen und 81 Harm 2000: S. 44 120 <?page no="121"?> Erfahrungen formuliert ist. “ 82 Er bezieht sich hier auf kultur- oder gesellschaftsspezifisches Wissen. Meines Erachtens kann man Lakoffs Metaphernkonzepte wie z. B. die Strukturmetapher Zeit ist Geld 83 als ein solches in der Sprachgemeinschaft geteiltes Wissen ansehen. Auch Fritz führt unterschiedliche metaphorische Muster auf. 84 Solch ein gemeinsames kulturspezifisches Wissen in Form eines Musters kann beim metaphorischen Reden durchaus hilfreich sein, da es beim innovativen Sprachgebrauch neben den assoziativen Schlüssen noch dazu genutzt werden kann, die neue metaphorische Sinnesvariation dem Hörer verständlich zu machen. Nach Fritz sind aber solche metaphorischen Muster zusätzlich ursächlich für die Bildung von Wandelpfaden: „ Die systematische Nutzung metaphorischer Muster ist auch einer der Gründe für Regularitäten des Bedeutungswandels, die wir in bestimmten Wortschatzbereichen beobachten können. “ 85 Grob gesagt kann man Fritz ’ These über die Regularitäten des Bedeutungswandels folgendermaßen darstellen: Die metaphorischen Muster basieren auf den kultur- und gesellschaftsspezifischen Stereotypen. Diese Stereotypen ermöglichen die sprachspezifische metaphorische Gebrauchsweise, welche wiederum zum Bedeutungswandel führen kann. Besonders häufige und stark ausgeprägte Muster führen dann zu Regularitäten des Bedeutungswandels. Fritz geht dann aber noch einen Schritt weiter und sagt, dass die metaphorischen Muster häufig ihren Ursprung in „ christlich-antiken Traditionen in den europäischen Sprachen “ 86 haben. Das bedeutet wiederum, dass diese soziokulturellen Wissensbestände manchmal über die Sprachgrenzen hinausreichen können und auch in anderen Sprachgemeinschaften vorzufinden sind. Deswegen können sie zur Bildung gleicher Muster und anschließend zu einer ähnlichen Bedeutungsentwicklung in unterschiedlichen Sprachen führen. Aus diesem Grunde sind für Fritz die gemeinsamen Stereotypen ausschlaggebend für die Entstehung sprachübergreifender Wandelpfade: „ Dabei deutet auch der Verweis auf Parallelentwicklungen in verschiedenen europäischen Sprachen weniger auf Universalität hin als auf die Gemeinsamkeit von Stereotypen in verwandten Kulturen. “ 87 Diese Annahme ist nur teilweise zutreffend, denn es gibt tatsächlich auch solche stereotypischen Wissensbestände, welche zu einer sprachübergreifenden Parallelentwicklung geführt haben. So verweist Fritz darauf, dass „ der 82 Fritz 1998: S. 871 83 Vgl. Lakoff/ Johnson 1980/ 2011: S: 15 84 Vgl. Fritz 2005: S. 92 - 93 85 Fritz 2005: S. 91 - 92 86 Fritz 2005: S. 92 87 Fritz 1998: S. 871 121 <?page no="122"?> Begriff der Jugend in denjenigen der Dienstbarkeit übergeh(t). “ 88 Allerdings war diese Feststellung keine Innovation in der Sprachwissenschaft, denn Bréal hat viel früher darauf hingewiesen, dass es durchaus möglich ist, dass Metaphern in verschiedenen Sprachen unabhängig voneinander geschaffen werden können. 89 Wenn man aber letztendlich Fritzs Annahme genauer betrachtet, dann wird man feststellen können, dass es sich hierbei um eine rein terminologische Verschiebung handelt. Für Fritz sind stereotypische Wissensbestände oder metaphorische Muster zwar ursächlich für sprachübergreifende Regularitäten des Bedeutungswandels, er erklärt aber nicht, welche Faktoren zur Bildung von solchen Mustern oder Stereotypen führen können. Aus diesem Grunde handelt es sich hierbei um eine façon de parler. Jedoch sind sehr häufig auch Wissensbestände zu finden, die keine stereotypische kulturspezifische Form haben, aber trotzdem unser Denken formen und letztendlich den Bedeutungswandel in verschiedenen Sprachen gleichzeitig in Gang bringen können, ohne dabei auf die Gemeinsamkeiten von Stereotypen zu rekurrieren. Solche Wissensbestände sind manchmal sogar ursächlich für die Bildung von sprachübergreifenden metaphorischen Mustern oder stereotypischen Wissensbeständen. Darauf werden wir im folgenden Kapitel näher eingehen. 6.2 Reflektiertes menschliches Alltagshandeln und sprachübergreifende Wandelpfade Sprachübergreifende Wandelpfade haben ihren Ursprung nicht nur in den soziokulturellen Wissensbeständen, sondern sie basieren vor allem auf ganz trivialen menschlichen alltäglichen Erfahrungen, wie z. B. auf der Tatsache, dass bei den meisten Menschen die rechte Hand stärker ist als die linke oder, dass die geschmackliche Schärfe zu einer schmerzhaften Wahrnehmung im Mundbereich führen kann. Diese Konzepte sind Grundlagen für Metaphern oder Metonymien in sehr vielen Sprachen, da sie über die Sprachgrenzen hinweg für Menschen die gleiche Gültigkeit besitzen. Diese Metaphern oder Metonymien sind dann ihrerseits grundlegend für zahlreiche Beispiele von Bedeutungswandel. Eine ähnliche Sichtweise vertritt auch Blank. Für ihn handelt es sich bei sprachübergreifenden Wandelpfaden „ um typische Versprachlichungsmuster für bestimmte Konzepte, die unabhängig voneinander in vielen Sprachen vorliegen (. . .)Hieraus können dann in vielen Fällen Rückschlüsse auf übergeordnete kognitive 88 Fritz 1998: S. 871 89 Vgl. Schmehl 2006: S. 239 122 <?page no="123"?> Wahrnehmungsprinzipien gezogen werden. “ 90 Bei den „ kognitiven Wahrnehmungsprinzipien “ handelt es sich dabei nicht um komplexe mentale Prozesse, sondern um einfache, alltägliche, menschliche Erfahrungen. Deswegen hat Lakoff recht, wenn er darauf hinweist, dass bei der Bildung dieser sprachübergreifenden Konzepte sehr oft eine ganz triviale, alltägliche Erfahrung eine Rolle spielen kann: „ Konzepte, die unser Denken strukturieren, sind nicht auf den intellektuellen Bereich begrenzt. Sie lenken auch unser nichtreflektiertes Alltagshandeln bis in die prosaischsten Einzelheiten. “ 91 Ein Beweis für diese Annahme sind die rein deskriptiven Adjektive in ganz verschiedenen Sprachen, welche die gustatorische Wahrnehmung des scharfen Geschmacktons kennzeichnen. Im Deutschen, Russischen, Englischen und Georgischen sind diese Adjektive polysem. Sie bezeichnen einerseits den scharfen Geschmackston, andererseits bezeichnen sie auch schmerzhafte Wahrnehmungen. Dieser Zusammenhang basiert auf der einfachen Tatsache, dass die geschmackliche Schärfe Schmerzrezeptoren im Mundbereich aktiviert. 92 Folglich entstehen gewisse schmerzhafte Wahrnehmungen beim Verzehr von scharfen Speisen. Es ist also offensichtlich, dass der sprachübergreifende Bedeutungswandel nach dem Muster „ schmerzhafte Wahrnehmung > gustatorische Wahrnehmung “ auf ganz trivialen, alltäglichen Erfahrungen und nicht auf gemeinsamen kulturellen Stereotypen basiert. Das zugrunde liegende Konzept sieht demgemäß folgendermaßen aus: „ scharf > schmerzhaft “ . Wie uns die Untersuchung der Bedeutungsentwicklung von recht und link gezeigt hat, gibt es neben „ scharf > schmerzhaft “ noch weitere sprachübergreifende Wandelpfade, welche ebenfalls auf Konzepten basieren, die durch alltägliche, reflektierte Erfahrungen zustande kommen können. So gibt es sprachübergreifende Wandelpfade, welche auf Konzepte wie „ krumm > negativ “ vs. „ gerade > positiv “ oder „ recht > positiv “ vs. „ link > negativ “ basieren. Daneben gibt es noch Konzepte wie „ scharf > positiv “ vs. „ stumpf > negativ “ . Diese Konzepte schlagen sich auch in den Sprachen nieder, indem sie Wandelpfade produzieren, welche aus rein deskriptiven Adjektiven evaluative Adjektive hervorbringen. Abschließend möchte ich die wichtigsten Erkenntnisse über die einzelsprachlichen und sprachübergreifenden Wandelpfade knapp zusammen- 90 Blank 2005: S. 1331 91 Lakoff/ Johnson 1980/ 2011: S: 11 92 Es handelt sich dabei um unterschiedliche schmerzhafte Wahrnehmungen. Im Deutschen und Russischen sind eher schneidende Schmerzen gemeint. Im Georgischen und Englischen hingegen wird die geschmackliche Schärfe mit den brennenden Schmerzen assoziiert. Des Weiteren ist es erwähnenswert, dass in weiteren Sprachen wie im Türkischen und Spanischen ebenfalls ähnliche polysemische Bedeutungsentwicklungen anzutreffen sind. 123 <?page no="124"?> fassen: Die paradigmatischen und syntagmatischen Bedeutungsrelationen sind die Grundlage für die Bildung eines sprachinternen Wandelpfades. Die Konzepte, die auf den einfachen, alltäglichen Erfahrungen basieren oder in manchen Fällen auf den sprachübergreifenden Stereotypen fußen, erklären wiederum, warum es zu sprachübergreifenden Parallelentwicklungen kommt. 124 <?page no="125"?> 7. Methodische Vorgehensweise Nachdem die Klärung von wichtigen Begrifflichkeiten vorgenommen wurde, soll noch die methodische Vorgehensweise kurz dargestellt werden. Zunächst werden einzelne Beispiele analysiert, miteinander verglichen und in einen systematischen Zusammenhang zueinander gebracht. Der systematische Zusammenhang wird dabei nach folgenden drei Gesichtspunkten hergestellt: 1. Der Bedeutungswandel von Adjektiven wird zunächst innerhalb einer Sprache in einem bestimmten Bereich des Adjektivwortschatzes analysiert. Wenn der Wandelprozess mehrerer Ausdrücke einer Sprache ähnlich verlief, so kann man darauf schließen, dass es sich um systematische Fälle des Bedeutungswandels handelt, also um einen Wandelpfad. Ausschlaggebend ist dabei die Vergleichbarkeit zwischen der Ausgangs- und Endbedeutung. 2. Als Nächstes wird geprüft, ob sich in anderen Sprachen ebenfalls ähnliche Beispiele finden lassen, welche auf die Existenz des gleichen Wandelpfades schließen lassen. 3. Abschließend zu jedem Wandelpfad werden folgende sechs Punkte grafisch zusammengefasst: a. Ausgangsbedeutung b. Primäre Intentionen der Sprecher c. Sprachliche Mittel für die Realisierung dieser Intentionen, sprich Metapher, Metonymie, Bedeutungsdifferenzierung d. Dem Wandelpfad zugrundeliegende Bedeutungsrelation e. Dem sprachübergreifenden Wandelpfad zugrundeliegendes Wissenskonzept f. Sprachliche Folgen bzw. Zielbedeutung. Bei der Analyse eines sprachspezifischen Pfades des Bedeutungswandels müssen auch paradigmatische und syntagmatische Relationen berücksichtigt werden, welche zur Entstehung des betreffenden Wandelpfads beigetragen haben. Es muss aber auch aufgezeigt werden, warum es nicht zu einer ähnlichen Bedeutungsentwicklung in einer anderen Sprache kam. Lässt sich die Systematizität auch in anderen Sprachen nachweisen, so handelt es sich um sprachübergreifende Wandelpfade. Hier muss das zugrundeliegende Konzept erläutert werden, welche zur Bildung von Wandelpfaden in unterschiedlichen Sprachen beigetragen hat. Die von mir vorgeschlagene semantische Klassifikation von Adjektiven dient dabei als Basis für die Darstellung des Wandelprozesses einzelner Pfade, denn oft geht mit dem Bedeutungswandel der Adjektive auch ihr Wechsel zu einer anderen semantischen Klasse einher. Mithilfe der Klas- 125 <?page no="126"?> sifikation lässt sich dann der Wandelprozess nachvollziehbar darstellen. So ist es möglich anhand der semantischen Klassifikation von Adjektiven zu zeigen, dass alle Adjektive, die den Bedeutungswandel nach dem Muster „ Gegenstandseigenschaft > menschliche Eigenschaft “ vollzogen haben, gleichzeitig ihre semantische Klasse von einem rein deskriptiven Adjektiv zu einem deskriptiv-evaluativen gewechselt haben. Diese methodische Vorgehensweise soll die systematische Beschreibung der empirischen Ergebnisse im Bereich des adjektivischen Bedeutungswandels ermöglichen. Nachdem die methodische Vorgehensweise geklärt wurde, ist es nun an der Zeit, die von mir vorgeschlagene Theorie über die einzelsprachlichen und sprachübergreifenden Wandelpfade anhand eines umfangreichen Sprachmaterials zu überprüfen. Dazu werden wir sechs Pfade aus dem georgischen und deutschen Adjektivwortschatz ausführlich analysieren. 126 <?page no="127"?> 8. Der Bedeutungswandel von deskriptivevaluativen Adjektiven 8.1 Der Bedeutungswandel nach dem Muster: „ menschlicher Körper > menschliche geistige Fähigkeiten “ Würde man die Wandelprozesse im deutschen Adjektivwortschatz näher anschauen, so würde einem aufmerksamen Beobachter nicht entgehen, dass die Sprachbenutzer bevorzugt den menschlichen Körper als Spenderbereich nutzen, um über menschliche geistige oder charakterliche Eigenschaften metaphorisch zu sprechen. Da diese Praxis seit geraumer Zeit praktiziert wurde und wird, haben wir in etlichen Sprachen Ausdrücke für geistige oder charakterliche Sachverhalte, welche aber ursprünglich körperliche Sachverhalte bezeichnet haben. Dies ist auch Keller aufgefallen. So schreibt er: „ Ein bevorzugter Quellbereich, um über geistige Qualitäten unserer Mitmenschen zu reden, sind Bezeichnungen für körperliche Merkmale wie etwa Stärke und Größe sowie deren Gegenteile. “ 93 Grundsätzlich lassen sich in diesem Bereich zwei Wandelpfade ausmachen, welche früher dem menschlichen Körper entstammen und gegenwärtig geistige Fähigkeiten bezeichnen. Die Adjektive des ersten Wandelpfads bezeichneten ursprünglich menschliche physische Fähigkeiten. Heute bezeichnen sie geistige Fähigkeiten. Für die Adjektive des zweiten Wandelpfads ist hingegen charakteristisch, dass sie in der Ausgangsbedeutung körperliche Verletzungen denotierten. Gegenwertig verwendet man sie aber, um menschliche geistige Defizite zum Ausdruck zu bringen. Fangen wir mit der Analyse des ersten Wandelpfades an. 8.1.1 Wandelpfad: „ physische Defizite > geistige Defizite “ Im aktuellen Sprachgebrauch finden wir etliche Adjektive, welche im usuellen Sprachgebrauch zwar menschliche physische Eigenschaften denotieren, aber als Metapher auch menschliche mentale oder geistige Eigenschaften charakterisieren können. Folgende Beispiele sprechen für sich: „ ein gesunder Menschenverstand “ , „ kranke Vorstellungen “ , „ geistig fit sein “ „ lahme bzw. faule Ausreden haben “ . Die häufige metaphorische Verwendung solcher Adjektive kann aber auch dazu führen, dass der vom Sprecher intendierte kommunikative Sinn mit der Zeit zur lexikalischen Bedeutung wird. Die deutsche Sprache weist mehrere Adjektive auf, 93 Keller/ Kirschbaum 2003: S. 36 127 <?page no="128"?> welche ihre Bedeutungen eben nach diesem Muster geändert haben. Keller/ Kirschbaum haben etliche solcher Beispiele aus dem deutschen Adjektivwortschatz detailliert aufgezeigt. Zu den markantesten Fällen zählen dumm, doof und blöd. Alle diese Adjektive haben ursprünglich körperliche Defizite denotiert und bezeichnen heute geistige Defizite: „ Dumm bedeutete ehemals ‘ stumm ’ und doof bedeutete ‘ taub ’ (. . .) Dem gleichen Muster folgte die Bedeutungsentwicklung von blöde. Dieses Adjektiv wurde nämlich ehemals im Sinne von ‘ schwach ’ verwendet. “ 94 In allen oben genannten Fällen kam es deswegen zum Verlust der alten Bedeutung und nicht zu einer Polysemie, weil die Bedeutungsvarianten keine klar unterscheidbaren Gebrauchsregeln untereinander aufweisen. Zwar besteht der Unterschied zwischen der neuen und der alten Bedeutungsvariante darin, dass man sich jeweils auf die körperliche oder geistige Schwäche bezieht, aber in beiden Fällen spricht man über die Schwäche eines Menschen. Deshalb sollte es für den Hörer in der Übergangsphase nicht immer deutlich gewesen sein, ob man z. B. von einem „ körperlich schwachen Peter “ oder „ geistig schwachen Peter “ gesprochen hat. Diese Tatsache hat dann letztendlich zum Verlust einer der Bedeutungsvarianten geführt. Neben Keller hat auch Vendryes vor fast neunzig Jahren darauf hingewiesen, dass nicht nur im Deutschen, sondern auch in weiteren germanischen Sprachen Adjektive für körperliche Defizite häufig zur Kennzeichnung für geistige Defizite verwendet werden. 95 Fasst man diese Beispiele aus dem deutschen Adjektivwortschatz zusammen, so lässt sich dies folgendermaßen graphisch darstellen: ‘ Physische Defizite ’ ‘ geistige Defizite ’ blöd ‘ schwach ’ blöd êêê è Wandel è êêê Bedeutungsähnlichkeit Bedeutungsähnlichkeit ééé ééé dumm ‘ stumm ’ dumm êêê êêê Bedeutungsähnlichkeit Bedeutungsähnlichkeit ééé ééé doof ‘ taub ’ doof Abbildung 8: Wandelpfad „ physische Defizite > geistiges Defizite “ 94 Keller/ Kirschbaum 2003: S. 36 - 37 95 Vgl. Vendryes 1925/ 1996: S. 205 128 <?page no="129"?> Für die Entstehung dieses Wandelpfades war die semantische Ähnlichkeit zwischen den Adjektiven dumm, doof und blöd auf der Stufe der deskriptiven Ausgangsbedeutung ausschlaggebend, denn anscheinend war das Wissen über die Bedeutungsähnlichkeit auf der deskriptiven Ebene vorhanden. Die Sprecher haben dann diese Bedeutungsrelation auch auf die expressivevaluative Ebene übertragen, um dadurch einen analogen euphemistischen Effekt zu erzielen. Neben den paradigmatischen Bedeutungsrelationen spielte meines Erachtens noch ein weiteres Faktor bei der Bedeutungsentwicklung des Adjektivs blöd eine wichtige Rolle. Die semantische Parallelentwicklung von blöd wurde zusätzlich zu der paradigmatischen Bedeutungsrelation noch durch die syntagmatische Relation begünstigt. So wurde das Adjektiv blöd in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts häufig in einer Kollokation mit dem Substantiv Tor deskriptiv-evaluativ verwendet, um die negative wertende Einstellung und geistige Beschränktheit einer Person zum Ausdruck zu bringen. Wenn man die Texte aus dem DEREKO (Deutsches Referenzkorpus) aus dem Zeitraum 1765 - 1845 anschaut, so wird man die Kollokation blöder Tor oder blöde Toren an insgesamt elf Stellen vorfinden: 1. „ Diese Athenienser, die auf ihre Vorzüge vor allen andern Nationen der Welt so eitel waren, stellten sich meiner beleidigten Eigenliebe, als ein abschätziger Haufen blöder Toren dar,. . .; “ 96 2. „ Blöder Tor ich, warum wollt ich es auch? Kann denn ein großer Sünder noch umkehren? Ein großer Sünder kann nimmermehr umkehren, das hätt ich längst wissen können. “ 97 3. „ Es hätte mich einen Fußfall gekostet, es hätte mich eine Träne gekostet - oh ich blöder, blöder, blöder Tor! Wider die Wand rennend. Ich hätte glücklich sein können - oh Büberei, Büberei! “ 98 4. „ Der, welcher in stetem unwandelbaren Vertrauen auf seine Kraft immer fortzuschreiten gedenkt, ist ein blöder Tor, der sich selbst täuscht, denn ihm fehlt ja der eigentliche Impuls zum Streben . . . “ 99 5. „ Du hast als giftgen Schierling sie gebraucht, Um deine Feinde grimmig zu verderben! Wie anders malt ich mir, ich blöder Tor, Einst Sapphon aus, in frühern, schönern Tagen! “ 100 6. „ O ich blöder Tor.- Da ist das glänzende Häuslein, die Engel - der Bräut ’ gam - hei, hei, ihr Herren, nun ist alles gut, alles gut, der Eidam ist gefunden! “ 101 96 Wieland 1767/ 2000: S. 618 97 Schiller 1779 - 1780/ 2000 S. 615 98 Schiller 1779 - 1780/ 2000 S. 581 99 Hoffmann, E. T. A. 1816 - 1817/ 2000: S. 493 100 Grillparzer 1817/ 2000: S. 777 101 Hoffmann, E. T. A. 1821/ 2000: S. 587 129 <?page no="130"?> 7. „ Ach! - wirkungslos blieb das, was ich für ein Meisterstück meiner Kunst gehalten, und ich erfuhr, was ich blöder Tor nicht geahnt. “ 102 8. „ Die blind und taub, ihr Augen habt und Ohren, Nicht Stimmen hören wollt, nicht Zeichen sehen, Ich zittre nur für euch, ihr blöden Toren! “ 103 9. „ Wo habt ihr, blöde Toren, doch den Sinn? Ihr seht den Saft in alle Zweige steigen, Und leugnet euch den Sommer immerhin! “ 104 10. „ Du warst bis jetzt ein blöder Tor; Drum höre, was ich schlage vor “ 105 11. „ Zittert, zittert, blöde Toren. Vor der Zukunft eh ’ rnem Tritt - Ja, die Zeit ist neu geboren, Ja, und ohne Kaiserschnitt; “ 106 Die mögliche Erklärung für die häufige Verwendung dieser Kollokation könnte die Folgende sein: Die neue deskriptiv-pejorative Gebrauchsweise von blöd war für die Hörer leichter im Zusammenhang mit Tor zu verstehen, denn anhand der negativ wertenden Bedeutung des Substantivs Tor konnte man leichter darauf schließen, dass das Adjektiv blöd ebenfalls pejorativ und nicht mehr rein deskriptiv gebraucht wurde. Diese Annahme wird auch durch die Tatsache untermauert, dass blöd, wie in den folgenden Textbelegen zu sehen ist, bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein deskriptiv verwendet wurde. In diesem Zeitraum wurde dieses Adjektiv also polysem gebraucht: „ Getheilt zwischen ihrem Pflichtgefühl und zwischen der Leidenschaft einer ersten Liebe, die um so stärker in ihr brannte, als sie nicht in dem blöden Herzen eines Mädchens, sondern in der vollbewußten Seele einer reifen Frau entstanden war, eben so bange vor der Hoffnung, geliebt zu werden, als vor der Besorgniß, ihre Liebe nicht erwiedert zu finden, suchte sie Anfangs Trost in dem Rathe des bewährten Freundes, des Caplans; “ 107 „ Sie legte das zerfetzte Buch der Alten auf die Knie, und trotz ihrer blöden Augen mußte Hanne Allmann von Blatt zu Blatt die herrliche Historia in den Bildern betrachten und erhub die Hände über Heiden und Türken und menschenfressende Mohren und fand ein großes Behagen und Wohlgefallen an den frommen Lamas . . . “ 108 Die Polysemie schuf anscheinend den zusätzlichen Bedarf, die Verwendung von blöd durch weitere sprachliche Mittel zu präzisieren, um Missverständnisse aus dem Weg zu räumen. 102 Hoffmann, E. T. A. 1821/ 2000: S. 156 103 Von Chamisso 1837/ 2000: S. 375 104 Von Chamisso 1837/ 2000: S. 374 105 Lenau 1840/ 2000: S: 532 106 Herwegh 1844/ 2000: S. 146 107 Lewald 1864/ 2004: S. 401 108 Raabe 1869/ 2000: S. 481 130 <?page no="131"?> Die Kollokation mit dem Substantiv Tor eröffnete dabei die Möglichkeit, die deskriptiv-evaluative Verwendung von der rein deskriptiven Verwendung deutlich abzugrenzen. An dieser Stelle sehen wir, dass „ eine Kollokation zum Auslöser für Bedeutungswandel werden kann . . . “ 109 Die Kollokation blöder Tor hatte demgemäß eindeutige kommunikative Vorteile in der Ausgangssituation des Bedeutungswandels, denn die Sprecher nutzten die Kollokation, um den von der Konvention abweichenden Gebrauch des Adjektivs blöd verständlicher für den Hörer zu machen und Missverständnisse aus dem Weg zu räumen. Es ist auch zu erwähnen, dass die Bedeutungsentwicklung nach dem Muster „ körperlich > geistig “ nicht nur für Adjektive, sondern auch für viele Verben charakteristisch ist. Die Verben, welche menschliche mentale Vorgänge bezeichnen, sind oft in ihrer Ausgangsbedeutung auf körperliche Bewegungen zurückzuführen. Auf solche Topologisierung bzw. Konkretisierung mentaler Akte hat bereits von Keil hingewiesen. Dazu zählte er unter Anderem die Verben wie begreifen, auffassen aber auch berühren oder bewegen. 110 Alle diese Verben haben in ihrer Ausgangsbedeutung körperliche Bewegungen bezeichnet. Heute bezeichnen sie geistige bzw. mentale Aktivitäten. 8.1.2 Sprachübergreifende Analyse des Wandelpfads „ physische Defizite > geistige Defizite “ Es ist interessant, dass der Bedeutungswandel nach dem Muster Körper > Geist nicht nur in der deutschen Sprache, sondern auch in anderen Sprachen zu finden ist. Das georgische Adjektiv ბრიყვი (briqvi) stellt einen besonders interessanten Fall in diesem Zusammenhang dar, denn in seiner Bedeutungsgeschichte zeigt es erstaunliche Parallelen zu Wandelerscheinungen in der deutschen Sprache. Das Wort ბრიყვი (briqvi) weist eine ähnliche semantische Entwicklung auf wie die deutschen Adjektive „ blöd “ , „ dumm “ oder „ doof “ auf. Der Ausdruck ბრიყვი ; ბრიყჳ (briqvi, briqv) wird im Neugeorgischen in der Bedeutung doof, dumm oder blöd gebraucht. Allerdings hat es im Altgeorgischen eine andere Bedeutung besessen. Seine Grundbedeutung war ‘ stumpf ’ . Bezogen auf das Sehvermögen hat es aber auch ‘ schwach ’ bedeutet. Das mit diesem Adjektiv semantisch verwandte Verb დაბრყჳლება (dabrqvileba) bedeutet sowohl ‘ an Sehkraft verlieren ’ als auch ‘ verstumpfen ’ . Auf diese Bedeutungsentwicklung weist auch der 109 Blank 1997: S. 217 110 Vgl. Keil von 1993: S. 233 131 <?page no="132"?> georgische Linguist Arabuli hin. 111 Im alten Testament finden wir eine Stelle, wo das Verb დაბრყჳლება (dabrqvileba) die Bedeutung ‘ an Sehkraft verlieren ’ aufweist: „ და შემდგომად სიბერისა მის ისაკისა დაუბრყჳლდეს თუალნი მისნი ხედვად . . . “ 112 ‘ Als Isaak alt geworden und seine Augen erloschen waren, sodass er nicht mehr sehen konnte . . . ’ Auch im hagiographischen Werk Martyrium Sanctarum Rhipsimae et Gaianae lässt sich das Verb in der Bedeutung ‘ verstumpfen ’ finden: „ მახჳლნი ჩუენნი დაბრყჳლდეს ” 113 ‘ Unsere Schwerter werden stumpf ’ Hierzu gibt es ebenfalls einen Spruch auf Georgisch: თვალი უჭრის (tvali uc ˇ ris). Übersetzt bedeutet er: ‘ mit Augen gut sehen können, gute Seekraft haben ’ . Die wörtliche Übersetzung lautet allerdings: ‘ Seine / ihre Augen schneiden ’ . Belege dafür finden wir u. A. in Akaki Tseretelis literarischem Werk „ Tornike Eristavi “ : „ აღარ მიჭრის არცა თვალი . . . “ ‘ meine Sehkraft hat nachgelassen ’ 114 Es ist eindeutig, dass die Ausdrücke დაბრყჳლება (dabrqvileba) und თვალი უჭრის (thvali uc ˇ ris) in einem semantischen Zusammenhang stehen. Der Grund dafür könnte im folgenden Schlussprozess liegen: Wenn man alt wird, verliert die Sehkraft ihre Schärfe, d. h. „ die Augen werden stumpf “ und folglich können sie nicht mehr „ gut schneiden “ . Das georgische Adjektiv ბეცი (bec ’ i) weist einige interessante Parallelen zu dem Adjektiv ბრიყვი (briqvi) auf, denn seine Ausgangsbedeutung war ‘ schwach ’ (hinsichtlich des Sehvermögens). Im gegenwärtigen Sprachgebrauch wird zwar dieses Adjektiv immer noch rein deskriptiv verwendet, aber es weist auch die zweite deskriptiv-evaluative Bedeutung ‘ dumm ’ auf. Folgende Belegtexte verdeutlichen beide Gebrauchsweisen des Adjektivs ბეცი (bec ’ i): 111 Vgl. Arabuli 2001: Das Problem von verbalen und nominalen Stammableitung in Kartwelsprachen. S. 57 112 http: / / www.orthodoxy.ge/ tserili/ gadasatseri/ dzveli/ dabadeba/ dabadeba-27.htm (Stand: 22. 07. 2011) 113 Abuladze I.: http: / / titus.uni-frankfurt.de/ texte/ etcs/ cauc/ ageo/ ghadd/ ghadd/ ghaddt.htm Kapitel 2; Paragraph 17 (Stand: 22. 07. 2011) 114 http: / / www.nplg.gov.ge/ gsdl/ cgi-bin/ library.exe? e=d-00000-00- - -off-0vertwo- -00 -1- -0-10-0- -0-0- - -0prompt-10- -..-4- - - -4- - -0-1l- -11-en-10- - -10-ka-50- -00-3-preference s-00-0-00-11-1-1utfZz-8-10-0-11-1-0utfZz-8-00&cl=CL2.13&d=HASHf3660e7c640a1d 54cc4867&x=1 Teil 4. (Stand: 22. 07. 2011) Wörtliche Übersetzung würde allerdings lauten: ‘ meine Augen schneiden nicht mehr gut ’ . 132 <?page no="133"?> „ესტატეს ცოლი დაბადებიდან ბეცი იყო, წარმოდგენილი არც ქონდა ნორმალური მხედველობის მქონე კაცის თვალსაწიერი - ასე ეგონა, რახანს მე ვერ ვხედავ ადამიანებს შორიდან, ვერც ისინი მხედავენო . . . “ 115 ‘ Estates Frau hatte eine angeborene Sehschwäche. Sie konnte sich nicht das Sehvermögen eines normalen Menschen vorstellen. Deswegen dachte sie, weil ich die Menschen nicht von weitem aus sehen kann, dann können sie mich auch nicht aus der Ferne sehen . . . ’ „ ნუთუ ასეთი ბეცი უნდა ვყოფილიყავით მხოლოდ იმიტომ, რომ სნობური დამოკიდებულება გვქონდა მთავრობის რომელიმე წევრთან . “ 116 ‘ Sollten wir wirklich so dumm sein, um eine snobistische Einstellung über irgendein Regierungsmitglied zu haben. ’ Ähnlich wie bei den deutschen Adjektiven aus dem Wandelpfad „ körperliche Defizite > geistige Defizite “ war anscheinend auch hier die treibende Kraft des Bedeutungswandels die Motivation der Sprachbenutzer, eine abwertende Haltung gegenüber dem geistigen Vermögen einer Person gesichtsschonend zum Ausdruck zu bringen. Schließlich weist ebenfalls das Adjektiv გამოყრუებული (gamoqruebuli) eine Ähnlichkeit mit weiteren Adjektiven aus dem Wandelpfad „ körperliche Eigenschaften > geistige Eigenschaften “ auf. Auch hier haben körperliche Defizite bei der Bildung dieses Adjektivs eine Rolle gespielt. So lässt sich გამოყრუებული (gamoqruebuli) aus dem Adjektiv ყრუ (qru) ableiten, was so viel wie ‘ taub ’ bedeutet. Im Gegensatz zu ყრუ (qru) wird გამოყრუებული (gamoqruebuli) allerdings deskriptiv-evaluativ verwendet. Es beschreibt einerseits eine Person oder eine Gegend, die so abgeschottet von der Umwelt ist, dass keine Information sie erreichen kann. Dieses Adjektiv kann aber andererseits auch im Sinne von ‘ weist geistige Defizite auf ’ bzw. ‘ dumm ’ gebraucht werden. Folgende Textbelege veranschaulichen beide Gebrauchsweisen: „ . . .მამასახლისმაც რომ, იმ გუშინდელმა ღლაბმა, საცინად აგვიგდო და ბიაბრუთ გაგვხადა ? ‚ გამოყრუებული‘ ბევრი გვიძახა და ‚ გამო- ტვინებული‘ . . . “ 117 ‚ Der Dorfvorsteher, der gestern noch ein Rotzbube war, hat uns zu einer Lachfigur gemacht und uns kräftig ausgelacht. Er hat uns vielmals ‚ dumm ‘ und ‚ doof ‘ genannt . . . ‘ 115 http: / / iness.uib.no/ gekko/ document-element? session-id=237129838898431&cpos= 1749493 (GEKKO, Stand: 25. 07. 2011) 116 http: / / iness.uib.no/ gekko/ document-element? session-id=237129838898431&cpos= 51621445 (GEKKO, Stand: 25. 07. 2011) 117 http: / / iness.uib.no/ gekko/ document-element? session-id=237135852053550&cpos= 81409144 (GEKKO, Stand: 26. 07. 2011) 133 <?page no="134"?> „ ოხ, რა რიგად მიხარიან, კნიაზ იასონ, რომ თქვენისთანა მეზობლები მე- ყოლებიან. Вообразите, მე კი მეგონა, რომ გამოყრუებულ სოფელში ჭკუაზედ შევიშლებოდი . . . “ 118 ‚ Oh, ich freue mich dermaßen, dass ich Ihresgleichen Nachbarn haben werde, Fürst Jason. Und ich dachte, dass ich in diesem gottverlassenen, abgeschotteten Dorf um den Verstand gebracht werden könnte . . . ‘ Das Adjektiv გამოყრუებული (gamoqruebuli) hat man analog zu weiteren deskriptiv-evaluativen Adjektiven gebildet, mit denen man im Georgischen ebenfalls eine negative Bewertung vornehmen kann. Hierzu zählen Adjektive wie გამოტვინებული (gamot ’ vinebuli), გამოშტერებული (gamosht ’ erebuli) გამოთაყვნებული (gamotaq ’ vnebuli). Alle diese Adjektive bedeuten so viel wie ‘ dumm ’ . Die Ähnlichkeit in der Form dieser Adjektive besteht insofern, als sie durch das Präfix გამო - (gamo) und Suffix ბული - (buli) gebildet wurden. Durch eine ähnliche Wortbildung sollte anscheinend auch die semantische Ähnlichkeit zum Ausdruck gebracht werden. In Bezug auf გამოყრუებული (gamoqruebuli) lässt sich allerdings feststellen, dass es sich hierbei nicht um einen Bedeutungswandel handelt, sondern um eine semantische Innovation durch Wortbildung, denn გამოყრუებული (gamoqruebuli) wurde zwar vom Adjektiv ყრუ (qru) ‘ taub ’ gebildet, es hatte aber von Anfang an eine deskriptiv-evaluative Bedeutung ‘ dumm ’ bzw. ‘ abgeschottet ’ . Nichtdestotrotz zeigt dieses Beispiel ähnlich wie die Adjektive ბრიყვი (briqvi) und ბეცი (bec ’ i), dass das Konzept, wonach körperliche Defizite im Lichte der geistigen Defizite dargestellt werden, auch im Georgischen seine Verbreitung fand. Neben ბრიყვი (briqvi), ბეცი (bec ’ i) und გამოყრუებული (gamoqruebuli) gibt es im Georgischen noch weitere Beispiele, die zwar keinen Bedeutungswandel im engeren Sinne darstellen, die aber beweisen, dass das kommunikative Verfahren „ körperliche Eigenschaften > geistige Eigenschaften “ im Georgischen auch im aktuellen Sprachgebrauch zu Neologismen führen kann. Solch ein Beispiel ist das zusammengesetzte Adjektiv ჭკუასუსტი (c ˇ k ’ uasust ’ i). Die sinngemäße Übersetzung dieses Wortes lautet ‘ schwachsinnig ’ und ist dementsprechend aus zwei Wörtern zusammengesetzt. ჭკუა (c ˇ k ’ ua) bedeutet ‘ Verstand ’ und სუსტი (sust ’ i) bedeutet ‘ schwach ’ . Schwach ist allerdings das Adjektiv, welches im usuellen Sprachgebrauch die Defizite der physischen Kraft bezeichnet. Sie konstatiert also faktisches Wissen und beinhaltet keine expressiven oder evaluativen Elemente, wenn man mit ihm körperliche Defizite zum Ausdruck bringt. Bringt man mit diesem Adjektiv aber geistige Defizite zum Ausdruck, so kommt zur deskriptiven Bedeutung die evaluative hinzu. 118 http: / / iness.uib.no/ gekko/ document-element? session-id=237192952779704&cpos= 84466715 (GEKKO, Stand: 26. 07. 2011) 134 <?page no="135"?> Neben ჭკუასუსტი (c ˇ k ’ uasust ’ i) gibt es eine ähnliche Wortzusammensetzung გონებასუსტი (gonebasust ’ i), die ebenfalls ‘ schwachsinnig ’ oder ‘ geistig zurückgeblieben ’ bedeutet. Auch hier beinhaltet ‘ schwach ’ im Zusammenhang mit den geistigen Defiziten sowohl deskriptive als auch evaluative Bedeutungselemente. Beide Adjektive ჭკუასუსტი (c ˇ k ’ uasust ’ i) und გონებასუსტი (gonebasust ’ i) sind sowohl in der georgischen Gegenwartsliteratur als auch im politischen Diskurs gebräuchlich. Ein passendes Beispiel für ჭკუასუსტი (c ˇ k ’ uasust ’ i) findet man in einem Presseinterview mit dem ehemaligen georgischen Oppositionspolitiker Asatiani: „ როცა ჩვენი ქვეყნის სათავეში არიან ჭკუასუსტი და სინდისთან მწყრალად მყოფი ადამიანები, კარგი არასდროს არაფერი გამოვა . “ 119 „ Wenn an der Spitze unseres Landes schwachsinnige und gewissenlose Menschen stehen, dann wird daraus nie etwas Gutes. “ გონებასუსტი (gonebasust ’ i) kommt wiederum im berühmten georgischen Roman „ Data Tutashkhia “ vor: „ ლუკა ნაკაშია - უმცროსი ძმა, ბუდუს თანამოაზრე და იმ საქმეში თანამონაწილე არ ყოფილა, რადგან დაბადებითვე გონებასუსტი იყო . “ 120 „ Der jüngere Bruder Luka Nakaschia war kein Komplize in jener Sache, da er von Geburt an geistig zurückgeblieben war. “ Es ist allerdings bemerkenswert, dass auch im Russischen ein ähnliches zusammengesetztes Adjektiv existiert. Das russische Wort слабоумный (slaboumnyj) besteht aus den Wörtern ‘ schwach ’ und ‘ Verstand ’ und bedeutet ähnlich wie sein georgisches Pendant ‘ schwachsinnig ’ . 121 Es ist durchaus möglich, dass diese Wortzusammensetzung vom Russischen ins Georgische übernommen wurde. Daraus wird offenbar, dass auch im Russischen Sprachbenutzer die Ausdrücke für physische Eigenschaften metaphorisch zur Kennzeichnung geistiger Eigenschaften verwenden. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass das auch im Englischen ähnliche Wortkonstruktionen zu finden sind. Die Ausdrücke feeble-minded und feeble brained bedeuten ‘ schwachsinnig ’ . Dabei bezieht sich das rein deskriptive Adjektiv feeble, welches physische Schwäche denotiert, auf das geistige Vermögen eines Menschen. Dadurch erhält der Gesamtausdruck eine deskriptiv-evaluative Bedeutungskomponente. Als Zwischenbilanz lässt sich feststellen, dass in allen vier Sprachen das Adjektiv schwach in zusammengesetzten Ausdrücken abweichend vom usuellen Sprachgebrauch verwendet wird. Dabei wird diese abweichende 119 http: / / iness.uib.no/ gekko/ document-element? session-id=234411700102326&cpos= 35955990&word= ჭკუასუსტი (Stand: 25. 08. 2011) 120 http: / / myxp.ucoz.com/ book/ daTa_TuTaSxia/ kari2.pdf S. 180 (Stand: 25. 08. 2011) 121 Vgl. Karlfried: Russisch-Deutsches Wörterbuch 1989: S. 580 135 <?page no="136"?> deskriptiv-evaluative Gebrauchsweise mithilfe der syntagmatischen Relation leichter erschließbar. An diesen Beispielen sehen wir noch einmal, dass Sprachbenutzer syntagmatische Relationen häufig dazu nutzen, den spezifischen kommunikativen Sinn erfolgreich zum Ausdruck zu bringen. Dies kann in manchen Fällen zum Bedeutungswandel des betreffenden Ausdrucks führen. Es ist erwähnenswert, dass nach der Auffassung einiger Slawisten das Verfahren „ physische Defizite > geistige Defizite “ im Russischen nicht nur in zusammengesetzten Ausdrücken wie слабоумный (slaboumnyj) ‘ schwachsinnig ’ anzutreffen ist, sondern möglicherweise sogar bei einem alleinstehenden Adjektiv. So weist Brückner auf die mögliche etymologische Verwandtschaft zwischen den russischen Adjektiven глупый (glupyj) ‘ dumm ’ , ‘ albern ’ und глухой (gluhoj) ‘ taub ’ hin. 122 Diese Auffassung teilt auch Mladinov: „ dass in glu-p ь die Silbe glu die Trägerin der Grundbedeutung war, beweist nach meinem Dafürhalten das Vorhandensein von slav. glu-ch ь (gluch) ’ taub, stumm ’ . “ 123 Allerdings ist dieses Beispiel kein Beweis dafür, dass die Bedeutung von глупый (glupyj) aus dem Wort глухой (gluhoj) entstanden ist, sondern es ist nur ein Hinweis darauf, dass die beiden Adjektive auf eine mögliche gemeinsame slawische Wurzel glu (glu) zurückzuführen sind. Die Bedeutung dieser Wurzel ist außerdem nicht geklärt, da einige andere slawische Ausdrücke ebenfalls auf diese Wurzel etymologisch zurückgeführt werden können. 124 Darüber hinaus widersprechen einige Linguisten der These über die etymologische Verwandtschaft zwischen глупый (glupyj) und глухой (gluhoj). So vertritt Uhlenbeck die Ansicht, dass das slavische glupú (glupi) aus dem Germanischen bzw. Altnordischen entlehnt sein könnte: „ Aksl glupú ‘ dumm ’ , ein gemeinslavisches wort (Miklosisch s. 67) ist wahrscheinlich eine alte entlehnung aus dem germ., wo ein stamm glópain derselben bedeutung vorhanden war: vgl. an glópr an ‘ idiot, baboon ’ . . . “ 125 Schließlich gibt es noch einen Fall des Bedeutungswandels im Englischen, welcher eine erstaunliche Parallele zu den obigen deutschen Adjektiven aufweist. Das Englische imbecile hat den semantischen Wandel auf der gleichen Art und Weise vollzogen wie das deutsche Adjektiv blöd. Die Gebrauchsweise dieses Wortes wurde ursprünglich nur auf den Bereich der körperlichen Schwäche beschränkt. In „ The Oxford English Dictionary “ steht über die Ausgangsbedeutung von imbecile Folgendes dazu: „ In general sense: Weak, feeble; esp. feeble of body, physically weak or 122 Vgl. Brückner 1913: S. 299 123 Mladenov 1916: S. 121 124 Vgl. Mladenov 1916: S. 120 - 122 125 Uhlenbeck 1901: S. 287 136 <?page no="137"?> impotent. “ 126 Diese Gebrauchsweise findet man auch in folgenden zwei Belegtexten: „ . . .an old man - he may have seen, who, though dressed with care and spruceness, yet has something strangely old fashioned in his air, and imbecile in his motions. “ 127 „ The administration had, ever since the death of Oliver, been constantly becoming more and more imbecile. “ 128 Ähnlich wie im Falle von blöd hat das englische Adjektiv imbecile seine alte Bedeutung verloren und wird nur noch im Sinne von ‘ weist geistige Defizite auf ’ gebraucht. Die ersten Belege für die neue Gebrauchsweise dieses Adjektivs findet man erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 129 Erwähnenswert ist außerdem, dass auch das Adjektiv dumb vor allem im Amerikanischen Englisch umgangssprachlich auch ‘ dumm ’ bedeutet: „ My obstetrician was so dumb that when I gave a birth he forgot to cut the cord. “ 130 Als Zwischenbilanz kann man an dieser Stelle Folgendes festhalten. Erstens zeigen diese Beispiele, dass nicht nur in der deutschen, sondern auch in der georgischen, russischen und englischen Sprache das kommunikative Verfahren ‘ physische Eigenschaften > geistige Eigenschaften ’ genutzt wird, um negative Wertungen gesichtsschonend zum Ausdruck zu bringen. So besteht die Ähnlichkeit in der Bedeutungsentwicklung zwischen dem georgischen ბრიყვი (briq ’ vi), dem englischen imbecile und den deutschen Adjektiven blöd, dumm oder doof darin, dass sie ursprünglich zur Bezeichnung körperlicher Defizite gebraucht wurden. Sie haben aber ihre Bedeutungen geändert und heute bezeichnen sie geistige Defizite. Die zweite Gemeinsamkeit besteht im Prozess des Wandels selbst. Es ist anzunehmen, dass die Abweichung vom usuellen Sprachgebrauch dadurch verursacht sein könnte, dass man besonders schonend oder euphemistisch über die mangelnden geistigen Fähigkeiten sprechen wollte. Die Intention der Sprecher könnte die Gesichtswahrung des jeweils anderen gewesen sein. Denn es wirkt viel schonender, wenn ich eine Person als „ schwach “ in seinem Benehmen oder „ schwach “ in seinem geistigen Können bezeichnen würde, als wenn ich diese Person gleich geistig beschränkt oder gar dumm nennen würde. Schließlich besteht eine weitere Gemeinsamkeit auf der Ebene der sprachlichen Umsetzung der Intentionen. Denn in den oben genannten Fällen gebraucht man sowohl im Georgischen und Russischen als auch im 126 The Oxford English Dictionary 1989: Band 7. S. 672 127 Godwin 1797: S. 428 128 Macaulay 1855/ 2011: S. 424 129 Vgl. The Oxford English Dictionary 1989: Band 7. S. 672 130 Munier 2004: S. 85 137 <?page no="138"?> Deutschen die Metapher als ein geeignetes Sprachmittel, um auf die Defizite des anderen gesichtsschonend hinzuweisen. Diese Bedeutungsentwicklung wird auch von Keller/ Kirschbaum thematisiert: „ So greifen wir beispielsweise auf Bezeichnungen für körperliche Defizite wie Blind-, Stumm- oder Taubheit zurück, um über geistige bzw. charakterliche Defizite zu reden. Dumm bedeutete ehemals ‚ stumm ‘ und doof bedeutete ‚ taub ‘ . In beiden Fällen wird die geistige Schwäche mit Hilfe einer Bezeichnung für ein körperliches Defizit modelliert. [. . .] Dem gleichen Muster folgt die Bedeutungsentwicklung von blöde. Dieses Adjektiv wurde nämlich ehemals im Sinne von ‚ schwach ‘ verwendet. “ 131 Die häufige euphemistische Verwendung durch viele Sprachbenutzer hat schließlich zum Verlust der alten und der Entstehung der neuen Bedeutung geführt. Freilich spielte auch die selbstbeschleunigende Wirkung beim Gebrauch der neuen Bedeutungsvariante eine wichtige Rolle. Denn je häufiger die neue Variante gebraucht wird, desto größer wird das Risiko, dass der Sprecher beim Gebrauch alter Bedeutungsvarianten missverstanden wird. 132 Es ist bemerkenswert, dass die Adjektive, die einen Bedeutungswandel nach dem Muster „ körperliche Defizite > geistige Defizite “ vollzogen haben, ursprünglich rein deskriptive Adjektive waren. Sie wurden in ihrer alten Bedeutung allein zur Beschreibung körperlicher Defizite verwendet. In ihrer neuen Bedeutung wurden sie dann aber nicht nur zur reinen Beschreibung geistiger Defizite gebraucht, sondern die Sprecher haben gleichzeitig ihre Wertschätzung einer anderen Person gegenüber zum Ausdruck gebracht. Somit wurden diese Adjektive am Ende des Wandelprozesses zu deskriptiv-evaluativen Adjektiven. D. h., wenn wir einen Bedeutungswandel nach dem Muster „ körperliche Defizite > geistige Defizite “ haben, so wandelt sich die Bedeutung wie folgt: „ rein deskriptiv “ > „ deskriptiv-evaluativ “ . Noch ein weiteres Merkmal ist für dieses Muster charakteristisch. In fast allen mir bekannten Fällen führt der Bedeutungswandel nach dem Muster „ körperliche Defizite > geistige Defizite “ nicht zu einer Polysemie, sondern zum Verschwinden der alten und der Entstehung einer neuen Bedeutung. Der Grund hierfür könnte Folgendes sein: Da sowohl die alte als auch die neue Bedeutung den Menschen als den gemeinsamen Bezugsbereich haben, wäre das Risiko im Falle einer Polysemie zu hoch, dass der Sprecher beim Gebrauch von alten Bedeutungsvarianten missverstanden wird. Ausnahmen bilden dabei die Wortzusammensetzungen. Auch Blank erkennt diese Gefahr und konstatiert: „ Stabil ist die Polysemie in der Regel nur dann, wenn die Frames oder die Syntagmen, in denen die beiden 131 Keller/ Kirschbaum 2003: S. 36 - 37 132 Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S. 101 138 <?page no="139"?> Bedeutungen funktionieren, so wenig miteinander zu tun haben, dass Missverständnisse praktisch ausgeschlossen sind. “ 133 Bilanzierend lässt sich sagen, dass dieser Pfad des Bedeutungswandels eher in germanischen Sprachen anzutreffen ist. Allerdings gibt es einzelne Wandelfälle nach dem gleichen Muster ebenfalls im Georgischen, und es ist nicht völlig auszuschließen, dass auch das russische Adjektiv глупый (glupyj) eine ähnliche Bedeutungsentwicklung aufweist. Ausschlaggebend für die neue Gebrauchsweise ist die gesichtswahrende Intention der Sprecher. Dabei wird die Metapher als ein passendes Mittel zur Umsetzung dieser Intention gewählt. Und schließlich führt der häufige Gebrauch zum Verschwinden der alten und zur Entstehung einer neuen Bedeutung. Schematisch lässt dieses Muster folgendermaßen darstellen: Ausgangsbedeutung rein deskriptiv Primäre Intention Aussage abschwächen Sprachliche Mittel Metapher Bedeutungsrelation Bedeutungsähnlichkeit Wissenskonzept „ schwach > negativ “ vs. „ stark > positiv “ Sprachliche Folgen deskriptiv-evaluativ 8.1.3 Wandelpfad: „ physische Verletzungen > geistige Defizite “ Neben den körperlichen Defiziten gibt es noch einen weiteren Bereich, welcher oft zur metonymischen Kennzeichnung menschlicher geistiger Defizite genutzt wird. Im deutschen Adjektivwortschatz sind mehrere Beispiele zu finden, welche ursprünglich physische Verletzungen, insbesondere Kopfverletzungen, bedeuteten und im aktuellen Sprachgebrauch zur Kennzeichnung geistiger Defizite verwendet werden. Beknackt, behämmert, bekloppt und bescheuert sind vier Beispiele, welche ursprünglich rein deskriptiv waren und gegenwärtig deskriptiv-evaluativ genutzt werden. Sie denotieren einerseits geistige Defizite und andererseits bringen sie persönliche, abschätzige Einstellungen des Sprechers zum Ausdruck. Deswegen handelt es sich bei diesen Beispielen um deskriptiv-evaluative Adjektive. Dabei vollzogen diese vier Adjektive den Bedeutungswandel vor nicht allzu langer Zeit. Sie werden deskriptiv-evaluativ erst seit dem 19. und 20. Jahrhundert gebraucht. Nach Cosmas II stammen die frühesten Belege für das Adjektiv bescheuert aus den 1960-er Jahren. Folgender Textbeleg verdeutlicht dies: 133 Blank 1997: S. 217 139 <?page no="140"?> „ bei den ersten Worten Erhards stand auf der Zuschauertribüne ein Mann auf und rief in den Saal: ‚ du bist ja bescheuert. ich bin Arbeiter. arbeite du lieber auch ‘ . der Mann wurde von Saaldienern aus dem Parlament geführt; “ 134 „ Für Verblüffung sorgte dabei die Aussage Peter Engelbachs, er habe zur Tatzeit und die Monate davor einen kurzgeschorenen Kinnbart getragen. ‚ Den habe ich erst am Tag vor Mutters Beerdigung abgenommen, weil sie ihn nie gemocht hat. ‘ Deshalb habe er bei seiner Verhaftung im Oktober auch etwas unwirsch auf ein Phantombild reagiert, das ihm die Polizei nach Befragung eines Zeugen präsentierte. ‚ Ich habe die Beamten gefragt, ob sie denn bescheuert sind. Ich hatte doch da einen Bart, und das Gesicht auf dem Bild war glattrasiert. ‘“ 135 Allerdings vollzog das Adjektiv den Bedeutungswandel anscheinend noch früher. In Küppers „ Wörterbuch der deutschen Umgangssprache “ wird darauf hingewiesen, dass die expressiv-evaluative Gebrauchsweise von bescheuert im Sinne von dumm bereits im 19. Jahrhundert bekannt war. 136 Das Adjektiv bescheuert lässt sich aus dem Verb scheuern leiten. Dabei weist DUDEN auf den Zusammenhang zwischen den Bedeutungen ‘ prügeln ’ und ‘ dumm ’ hin: „ (zu ugs. scheuern = prügeln, eigtl. = jmdn. so lange prügeln, bis er den Verstand verloren hat.) “ 137 Das bedeutungsverwandte Adjektiv bekloppt ist höchstwahrscheinlich aus dem niederdeutschen Verb kloppen bzw. dem hochdeutschen Verb klopfen abzuleiten. Darauf wird auch im DUDEN hingewiesen: „ [Aus] dem Niederdeutschen; eigentlich = beklopft, d. h. von einem Schlag auf den Kopf getroffen. “ 138 Das hochdeutsche Verb beklopfen weist eine ähnliche Gebrauchsweise auf. Folgendes Beispiel verdeutlicht dies: „‚ Streß ist ein aktuelles Problem unserer hektischen Zeit, ein Gefühl, als säße man auf einem fahrenden Zug und könne nicht abspringen ‘ , so Jutta Schulte, die nach der Begrüßung noch eine Anekdote zum Besten gab. Demnach küßte ein gestreßter Ehemann morgens sein Frühstücksei und beklopfte seine Ehefrau mit dem Eierlöffel. “ 139 „ Dafür beklopft man die gut trockenen Blätter auf einer weichen Unterlage mit einer Kleiderbürste so lange, bis nur das Gerippe übrig bleibt. “ 140 134 Frankfurter Allgemeine, (Tageszeitung), 02. 12. 1965 135 Mannheimer Morgen, 03. 09. 1998 136 Vgl. Küpper 1963: Band 2. S. 66 137 Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache 1999: Band 2. S. 547 138 Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache 1999: Band 2. S. 517 139 Rhein-Zeitung, 26. 04. 1999 140 Mannheimer Morgen, 02. 11. 2002 140 <?page no="141"?> Die Ausgangsbedeutung dieses Adjektivs war dementsprechend ähnlich wie bei bescheuert mit der von schlagen verwandt. Ausschlaggebend für den Bedeutungswandel könnte der metonymische Schluss sein, dass durch Zufügen von Kopfverletzungen die Menschen verblöden können. Küpper teilt diese Ansicht und schreibt: „ dumm, verrückt. Verrücktheit ist Gehirnerschütterung, hervorgerufen durch einen Schlag gegen den Kopf. “ 141 Dabei ist die expressivevaluative Bedeutung relativ neu. Sie wurde erst seit den Anfängen des 20. Jahrhunderts gebräuchlich. 142 „‚ tausend Siemens sieben Geld ‘ , ruft ein Händler mit sonorem Baß. mit gezücktem Kugelschreiber und Notizbüchlein verkündet er damit die Absicht, 1000 Aktien des Elektrokonzerns zu einem Kurs von 477 DM zu kaufen. ‚ Ihr seid doch bekloppt! ‘ , mischt sich 3 Meter weiter eine höhere Stimme ein, mit einer Mischung aus Sorge und Empörung. “ 143 „ Johann Fischer fühlt sich gar nicht bekloppt. ‚ Medizinisch ist bei mir alles gesund ‘ , sagt er grinsend. Was bei ihm jedoch auffällt, sind seine Späße, die er regelmäßig macht. Das mag daran liegen, dass der Karnevalist in jungen Jahren als Büttenredner auftrat. “ 144 Auch das Wort beklopft wird ähnlich wie bekloppt gelegentlich im Sinne von ‘ dumm ’ verwendet. Folgende Beispiele verdeutlichen das: „ Das Arbeitsmarktservice stuft Stefan Huber als schwer vermittelbar ein. Schuld daran seien psychische Probleme. Doch Huber lehnt es ab, einen Therapeuten aufzusuchen: ‚ Ich bin ja nicht beklopft. Meine Frau ist eh schon bei der Familienberatung, die hussen sie nur auf! ‘“ 145 „ Nach den ausländerfeindlichen Bemerkungen von Queen-Gemahl Prinz Philip, 77, fordert The Mirror seinen Rückzug aus der Öffentlichkeit: ‚ Auch in anderen Familien gibt es beklopfte alte Männer, die sich immer blamieren. Der aus der Familie Windsor ist ein extrem widerwärtiges Exemplar. Er hat das Ansehen der königlichen Familie lang genug beschädigt . . . ‘“ Im „ Deutschen Referenzkorpus “ des Instituts für Deutsche Sprache ist die Verwendung von beknackt im Sinne von ‘ weist geistige Defizite auf ’ zu finden. Der früheste Textbeleg stammt aus dem Jahr 1985: „ einer brüstet sich damit, daß er in der letzten Woche achthundert Zerquetschte gemacht hat. ob brutto oder netto, das sagt er nicht. sein Nebenmann, der sich vorher noch darüber ausgelassen hatte, daß er im Schnitt nie auf mehr als zwei Schichten pro Woche kommt, hält die Klappe. wär ja auch 141 Küpper 1963: Band 1. S. 95 142 Vgl. Küpper 1963: Band 1. S. 95 143 Mannheimer Morgen, 30. 10. 1987 144 Mannheimer Morgen, 20. 12. 2002 145 von Zöchbauer: Oberösterreichische Nachrichten, 24. 03. 1997 141 <?page no="142"?> beknackt, was zu sagen. jetzt, wo sie sich alle mit ein paar Scheinen in der Tasche wie die Könige von St. Pauli fühlen. “ 146 „ Allerdings haben das laut Wilde die Produzenten noch nicht begriffen: ‚ Die sehen mich immer noch als beknackte Blondine, die hübsch sein muß, grinsen darf und sich wie ein Kleiderständer rumschubsen läßt. ‘“ 147 Laut Küpper ist allerdings die deskriptiv-evaluative Gebrauchsweise von beknackt ursprünglich bereits um 1910 zu finden. 148 Das bedeutungsverwandte Adjektiv behämmert hat hochwahrscheinlich seine Bedeutung zuletzt geändert. Zwar sind die frühesten Belege von behämmert laut Cosmas II in den Texten der 1990-er Jahre zu finden, allerdings wird im Wörterbuch der Deutschen Umgangssprache darauf hingewiesen, dass behämmert im Sinne von ‘ dumm ’ bereits seit 1945 gebräuchlich war. 149 Als Zwischenbilanz kann man an dieser Stelle Folgendes festhalten: Bei allen vier Beispielen können mehrere Ähnlichkeiten gefunden werden. So kann der Zusammenhang zwischen der Ausgangs- und der Endbedeutung nach dem folgenden metonymischen Schluss hergestellt werden: Ursache: Kopfverletzungen > Wirkung: Dummheit. Auch auf der Mikroebene der Sprachbenutzer gibt es eine Ähnlichkeit. Die Sprachbenutzer haben die Adjektive expressiv verwendet, um der Aussage eine besondere Ausdrucksstärke zu verleihen. Eine weitere Ähnlichkeit besteht darin, dass der Bedeutungswandel in den meisten Fällen nicht zum Verlust der alten Bedeutung, sondern zu einer Polysemie führt, denn die Verben haben ihre rein deskriptive Bedeutung beibehalten. Die Adjektive, welche eben als Partizipien dieser Verben verwendet werden, weisen hingegen deskriptiv-evaluative Bedeutungen auf. Dies hängt damit zusammen, dass die beiden Bedeutungsvarianten voneinander klar unterscheidbare Gebrauchsregeln aufweisen. So kann man diese Ausdrücke rein deskriptiv gebrauchen, wenn man sie auf Gegenstände anwendet, während man sie deskriptiv-evaluativ verwendet, wenn man sie auf das geistige Können von Menschen anwendet. Deswegen kann man einerseits von einem behämmerten Schlagzeug und von beklopften Teppichen sprechen. Andererseits kann man einen unliebsamen Nachbar als völlig beklopft und behämmert nennen, ohne dass man dabei von Rezipienten missverstanden wird. Des Weiteren kann man aus diesen Beispielen schließen, dass die oben genannten vier Ausdrücke sowohl auf der deskriptiven als auch auf der 146 Luyken: Die Zeit, 17. 05. 1985 147 Mannheimer Morgen, 20. 07. 1995 148 vgl. Küpper 1963: Band 2. S. 64 149 Vgl. Küpper 1963: band 2. S. 64 142 <?page no="143"?> evaluativen Ebene ähnliche Bedeutungsrelationen aufweisen. Wurden sie in der Ausgangsbedeutung dazu verwendet, um körperliche bzw. Kopfverletzungen zu denotieren, werden sie gegenwärtig zur Kennzeichnung geistiger Defizite verwendet. Aufgrund dieser Relationen auf der Ausgangs- und der Endbedeutung kann man davon ausgehen, dass die Wandelfälle die Form eines einzelsprachlichen Wandelpfades haben. Schematisch kann man den deutschsprachigen Wandelpfad folgendermaßen darstellen: ‘ körperliche Verletzungen ’ ‘ geistige Defizite ’ bescheuert è Wandel è bescheuert êêê êêê Bedeutungsähnlichkeit Bedeutungsähnlichkeit ééé ééé bekloppt bekloppt êêê êêê Bedeutungsähnlichkeit Bedeutungsähnlichkeit ééé ééé beknackt beknackt êêê êêê Bedeutungsähnlichkeit Bedeutungsähnlichkeit ééé ééé behämmert behämmert Abbildung 9: Wandelpfad „ körperliche Verletzungen > geistiges Defizite “ im Deutschen 8.1.4 Sprachübergreifende Analyse des Wandelpfads „ physische Verletzungen > geistige Defizite “ Es ist interessant, dass die Ausdrücke für körperliche Verletzungen bzw. Kopfverletzungen nicht nur im Deutschen, sondern auch in anderen Sprachen dazu genutzt werden, um geistige Defizite zu kennzeichnen. So wurden im Georgischen die Adjektive დარტყმული (dart ’ qmuli) sowie დარეხვილი (darexvili) ursprünglich im Sinne von ‘ prügeln ’ oder ‘ schlagen ’ verwendet. Im gegenwärtigen Sprachgebrauch weisen sie aber die Bedeutung ‘ dumm ’ auf. Im georgischen Jargon-Wörterbuch thematisiert Bregadze den Bedeutungswandel dieser zwei Ausdrücke und schreibt, dass dem semantischen Wandel der Schluss zugrunde liegen müsste, wonach die Dummheit durch den Schlag verursacht worden sein könnte. 150 Dabei wird das Adjektiv დარტყმული (dart ’ qmuli) polysem verwendet. 150 Vgl. Bregadze 2013: S. 58 143 <?page no="144"?> Die rein deskriptive Bedeutung existiert neben der deskriptiv-evaluativen Bedeutung. Dagegen ist die rein deskriptive Gebrauchsweise von დარეხვილი (darexvili) nicht mehr vorhanden. Es wird nur noch deskriptiv-evaluativ verwendet. Allerdings weist Kakulia darauf hin, dass das Verb რეხვა (rexva) eine deskriptive Bedeutung des Schlagens aufwies. 151 Folgende Textbelege zeigen die deskriptiv-evaluative Verwendung von დარეხვილი (darexvili) und დარტყმული (dart ’ qmuli): “ პრეზიდენტმა სააკაშვილმა გადაწყვიტა გაიმეოროს ფილმ ‘უდიპლომო სასიძოში’ დარეხვილი ვეტექიმის - ნიკოლოზის გამოცდილება, რომელიც მუსიკის როლის განვითარების ფონზე წველიდა ძროხებს (თურმე მუსიკის ფონზე წველადობა იმატებდა). “ 152 ‘ President Saakashvili entschied, die Erfahrung des bekloppten Tierarztes Nikolos aus dem Film “ Diplomloser künftiger Schwiegersohn ” zu wiederholen, welcher aufgrund der wachsenden Bedeutung der Musik die Kühe bei laufender Musik molk (Anscheinend würden die Kühe dadurch mehr Milch hergeben) ’ . „ გერმანული გაზეთი „ ბილდი ” რეპერი მისი ელიოტის დახასიათებისას წერს, რომ როცა საქმე სურვილებზე მიდგება ხოლმე, მის მოთხოვნებსა თუ ოცნებებს დალაგებულს ვერანაირად ვერ უწოდებ . ‚ ნორმანული გერმანულით რომ ვთქვათ , დარტყმულია , ‘ . “ 153 ‘ Die deutsche Zeitung „ Bild “ schreibt über die Rapperin Missy Elliot, dass man ihre Wünsche und Träume nicht als normal bezeichnen kann. ‚ Auf gut Deutsch gesagt sind ihre Wünsche bescheuert. ‘’ Eine ähnliche Bedeutungsentwicklung lässt sich auch beim Adjektiv რეგვენი (regveni) bzw. altgeorgisch რეგუენი (regueni) beobachten, das ähnlich wie die zuvor erwähnten Adjektive im Sinne von ‘ dumm ’ verwendet wird. Dabei wird im georgischen Wörterbuch darauf hingewiesen, dass das Verb რეგვა (regva) დარეგვა (daregva) bzw. დარეგუა (daregua) im Altgeorgischen entweder ‘ stark hageln ’ oder ‘ eine Maus in der Falle quetschen ’ bedeutete. 154 Auch hier haben wir einen Zusammenhang zwischen dem Verletzungsakt und den geistigen Defiziten. Den Zusammenhang zwischen dem Verb რეგვა (regva) und dem Adjektiv რეგვენი (regveni) thematisiert ebenfalls Kakulia in seiner Monografie. 155 Allerdings muss man fairerweise erwähnen, dass das Adjektiv რეგვენი (regveni) 151 Vgl. Kakulia 2012: S. 496 152 http: / / iness.uib.no/ gekko/ document-element? session-id=237045333732407&cpos= 39881950 (GEKKO, Stand: 27. 01. 13) 153 http: / / iness.uib.no/ gekko/ document-element? session-id=237045333732407&cpos= 25865937 (GEKKO, Stand: 14. 08. 14) 154 Vgl. http: / / www.nplg.gov.ge/ gwdict/ index.php? a=term&d=8&t=9669 (Stand: 15. 04. 2014) 155 Vgl. Kakulia 2012: S. 496 144 <?page no="145"?> mindestens seit dem 10. Jahrhundert gebräuchlich ist, da der damalige georgische König Bagrat der Zweite in historischen Dokumenten als რეგვენი (regveni) bezeichnet wird. Der Bedeutungswandel von Adjektiven wie დარტყმული (dart ’ qmuli) und დარეხვილი (darexvili) ist hingegen deutlich später zu datieren. Aus diesem Grunde konnte der Bedeutungswandel von რეგვენი (regveni) keinen direkten Einfluss auf die Bedeutungsentwicklung von დარტყმული (dart ’ qmuli) und დარეხვილი (darexvili) haben. Der Wandelpfad „ körperliche Verletzungen > geistige Defizite “ ist im Russischen besonders stark ausgeprägt, denn im russischen Adjektivwortschatz sind die meisten Beispiele für Wörter zu finden, welche ihre Bedeutung eben nach diesem Muster geändert haben. So wird das Wort ебанутый (ebanutyj) in der russischen Umgangssprache im Sinne von ‘ dumm ’ verwendet. Dabei ist es aus dem Verb ебануть (ebanut ʹ ) abzuleiten, welches wortwörtlich ‘ schlagen ’ bedeutet. Dieselbe Bedeutungsentwicklung weist auch das russische Adjektiv долбануты (dolbanuty) auf. Im aktuellen Sprachgebrauch wird es im Sinne von ‘ dumm ’ verwendet. Allerdings wurde es aus dem Verb долбануть (dalbanut ʹ ) abgeleitet, das ähnlich wie das Verb e бануть (ebanut ʹ ) ‘ schlagen ’ bedeutet. Schließlich ist das russische Adjektiv трахнутый (trahnutyj) aus dem Verb трахнуть (trahnut ʹ ) abzuleiten, das im Russischen ‘ jemandem einen Hieb versetzen ’ bedeutet 156 . Ein weiteres Adjektiv, welches ebenfalls polysem verwendet wird und eine deskriptiv-evaluative Bedeutung ‘ dumm ’ aufweist ist чокнутый (c ˇ oknutyj). Es ist aus dem Verb чокнуться (c ˇ oknut ’ sâ) bzw. чокать (c ˇ okat ʹ ) abzuleiten, welches ‘ anstoßen ’ 157 bedeutet und sehr oft im Sinne von ‘ mit den Gläsern anstoßen ’ verwendet wird. Der Zusammenhang zwischen Kopfverletzungen und geistigen Defiziten liegt bei diesem Beispiel ebenfalls auf der Hand. Das russische Adjektiv стукнутый (stuknutyj) weist eine ähnliche Bedeutungsentwicklung wie das deutsche bekloppt auf. Es leitet sich von dem Verb стукать (stukat ʹ ) ‘ klopfen ’ ab. 158 Im gegenwärtigen Sprachgebrauch weist es allerdings eine expressiv-evaluative Bedeutungskomponente auf und bedeutet ‘ verrückt ’ . Einen ähnlichen Fall kann man auch im englischen Adjektivwortschatz finden. So ist in „ The Oxford English Dictionary “ zu lesen, dass das englische Adjektiv wacky gegenwärtig zwar die Bedeutung ‘ eigenartig bzw. ‘ verrückt ’ hat, allerdings aus dem Verb whack abzuleiten ist, das 156 Vgl. Karlfried: Russisch-Deutsches Wörterbuch 1989: S. 636. Das Verb трахнуть (traxnut) wird in der russischen Umgangssprache auch im Sinne von ‘ ficken ’ benutzt. 157 Vgl. Karlfried: Russisch-Deutsches Wörterbuch 1989: S. 688 158 Vgl. Karlfried: Russisch-Deutsches Wörterbuch 1989: S. 615 145 <?page no="146"?> seinerseits ‘ schlagen ’ bedeutet. 159 Dementsprechend ist der Bedeutungswandel nach dem Muster „ körperliche Verletzungen > geistige Defizite “ auch im Englischen nachweisbar. An diesen zahlreichen Beispielen sieht man, dass der Wandelpfad „ körperliche Verletzungen > geistige Defizite “ nicht nur im Deutschen und Georgischen, sondern auch im Russischen und Englischen zu finden ist. Es handelt sich hierbei also um einen sprachübergreifenden Wandelpfad. Es ist besonders hervorzuheben, dass der Wandelpfad auf der trivialen Erfahrung basiert, dass Kopfverletzungen zur Dummheit führen können. Diese Tatsache beschränkt sich naturgemäß nicht nur auf eine Sprachgemeinschaft, sondern hat auch in anderen Sprachgemeinschaften ihre Gültigkeit. Deswegen ist der Wandelpfad in mehreren Sprachen nachweisbar. Diesen sprachübergreifenden Wandelpfad kann man zur besseren Veranschaulichung schematisch folgendermaßen darstellen: Deskriptiv Deskriptiv-evaluativ ‘ Einmaliges Schlagen ’ è Wandel è ‘ dumm ’ Dt. 1. bescheuert Georgisch + 2. beknackt Deutsch + Geo. 1. დარეხვილი (darexvili) Russisch + 2. დარტყმული (dartqmuli) Russ. 1. долбануты (dalbanuty) 2. ибанутый (ibanuty) 3. трахнутый (trachnuty) êêê 4. чокнутый (tschoknuty) Bedeutungsähnlichkeit ééé êêê Bedeutungsähnlichkeit ééé Deskriptiv è Wandel è Deskriptiv-evaluativ ‘ Mehrmaliges Schlagen ’ ‘ dumm ’ Dt. 1. behämmert Deutsch+ 2. Bekloppt Georgisch - Russ. стукнутый (stuknuty) Russisch+ Abbildung 10: Sprachübergreifender Wandelpfad „ körperliche Verletzungen > geistige Defizite “ 159 Vgl. The Oxford English Dictionary 1989: 19. Bd. S. 792 146 <?page no="147"?> Zusammenfassend lässt sich Folgendes über den Wandelpfad „ körperliche Verletzungen > geistige Defizite “ sagen: Alle Adjektive weisen mehrere sprachübergreifende Ähnlichkeiten auf. Erstens liegt dem Bedeutungswandel ein metonymischer Schluss zugrunde. Zweitens handelt es sich bei diesen Wandelfällen um einen Wandelpfad, da die Ausdrücke sowohl auf der Ausgangsbedeutung als auch auf der Endbedeutung semantische Bedeutungsähnlichkeit aufweisen. Des Weiteren war die primäre Intention der Sprecher die Ausdrucksstärke. Schließlich führt der Bedeutungswandel in den allermeisten Fällen zu einer Polysemie und nicht zum Verlust der alten Bedeutungsvariante. Auch auf der Formebene lassen sich Ähnlichkeiten finden, denn alle Beispiele wurden ursprünglich aus Verben abgeleitet. Genauer genommen handelt es sich hierbei um Partizipien von Verben, die im gegenwärtigen Sprachgebrauch als Adjektive verwendet werden. In diesem Zusammenhang lässt sich Kellers Feststellung über das Adjektiv befangen problemlos auch auf Adjektive aus dem Pfad „ körperliche Verletzungen > geistige Defizite “ übertragen: „ Wird ein Partizip häufig genug metaphorisch verwendet, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass es zum Adjektiv wird. “ 160 Anscheinend ist genau dies mit den Adjektiven bekloppt, bescheuert, behämmert, beknackt sowie mit ihren Pendants im Georgischen, Russischen und Englischen passiert. Schematisch lassen sich wichtige Daten des Wandelpfades folgendermaßen zusammenfassen: Ausgangsbedeutung rein deskriptiv Primäre Intention Ausdruck verstärken Sprachliche Mittel Metonymie Bedeutungsrelation Bedeutungsähnlichkeit Wissenskonzept „ Kopfverletzungen > Dummheit “ Sprachliche Folgen 1. (häufig) Polysemie: a. Deskriptiv-evaluativ b. Rein deskriptiv 2. (selten) Neue Bedeutung: Deskriptiv-evaluativ 160 Keller/ Kirschbaum 2003: S. 58 147 <?page no="148"?> 8.2 Taktile oder visuelle Wahrnehmung > menschliche geistige Fähigkeiten Abgesehen von Fremdwörtern wie zum Beispiel debil, idiotisch oder intelligent lassen sich zwei große Adjektivgruppen ausmachen, welche zur Kennzeichnung menschlicher geistiger Fähigkeiten genutzt werden können. Einerseits eignen sich menschliche körperliche Eigenschaften zu diesem Zweck. So haben wir zwei Wandelpfade bereits ausführlich behandelt. Andererseits können ebenfalls sachliche Eigenschaften dazu genutzt werden, um über menschliches geistiges Vermögen zu sprechen. Diachronisch betrachtet ergibt sich dies daraus, dass rein deskriptive Adjektive sehr häufig dazu verwendet werden, evaluative Sinnesvariationen zu kreieren. So schreibt Keller passend dazu: „ Für jedes deskriptive Adjektiv unseres Grundwortschatzes ist eine sinnvolle metaphorische Verwendung ohne Probleme denkbar, (. . .) wenn ein solches Adjektiv metaphorisch auf einen Menschen oder eine den Menschen betreffende Situation bezogen wird. “ 161 Dementsprechend sind viele Wandelpfade zu finden, welche nach dem Muster „ sachliche Eigenschaften > menschliche geistige Eigenschaften “ funktionieren, denn rein deskriptive Adjektive eignen sich sehr gut dazu, um über menschliche geistige Fähigkeiten im negativen oder positiven Sinne evaluativ zu sprechen. Allerdings sind nicht alle rein deskriptiven Adjektive dazu prädestiniert, metaphorisch zur Kennzeichnung des geistigen Könnens verwendet zu werden. So hat Derrig bereits in den 70-er Jahren des letzten Jahrhunderts darauf hingewiesen, dass insbesondere die Adjektive aus dem Bereich der visuellen und taktilen Wahrnehmung zur Kennzeichnung von geistigen Fähigkeiten verwendet werden können: „ In particular, all of the TOUCH and SIGHT adjectives mentioned here have a meaning (. . .) of mental faculties, i. e. ’ intelligent ’ or ’ stupid “ . 162 Tatsächlich sind mir keine Beispiele bekannt, welche in der Ausgangsbedeutung die Sacheigenschaften aus dem Bereich des Auditiven, Olfaktorischen oder Gustatorischen denotiert haben und gegenwärtig evaluativ geistige Fähigkeiten bezeichnen. Es ist sogar schwer vorstellbar, dass man die Adjektive aus diesen Bereich metaphorisch dazu verwendet, intellektuelle Fähigkeiten eines Menschen zum Ausdruck zu bringen. Dagegen können mehrere Beispiele gefunden werden, welche tatsächlich nach dem Muster „ taktile oder visuelle Wahrnehmung > menschliche geistige Fähigkeiten “ ihre Bedeutungen geändert haben. Dabei lassen 161 Keller/ Kirschbaum 2003: S. 149 162 Derrig 1978: S. 90 148 <?page no="149"?> sich vor allem anhand des Wandelpfades „ Schneideeigenschaften > geistiges Können “ der so geartete Bedeutungswandel aufzeigen und einige Parallelen mit anderen Sprachen ziehen, denn dieser Wandelpfad ist nicht nur im Deutschen zu finden, sondern auch im Georgischen, Russischen und Englischen. Dieser sprachübergreifender Wandelpfad wird unten eingehend untersucht. 8.2.1 Wandelpfad: „ Schneideeigenschaften > geistiges Können “ Die Adjektive, welche Schneide-Eigenschaften bezeichnen, sind deswegen ein guter Untersuchungsgegenstand für die vorliegende Arbeit, weil sie einerseits in mehreren Sprachen zu finden sind und es sich andererseits bei ihnen häufig um polyseme Ausdrücke handelt, die je nach Anwendungsbereich Unterschiedliches denotieren. Polysemie ist deswegen interessant für unser Forschungsvorhaben, weil sie sowohl die alte rein deskriptive als auch die neue deskriptiv-evaluative Gebrauchsweise aufweist. Da beide Bedeutungen noch vorhanden sind, kann der Bedeutungswandel eindrucksvoll nachvollzogen werden. Um es gleich vorwegzunehmen: Im Deutschen lässt sich nur das Adjektiv scharf finden, das den Bedeutungswandel nach dem Muster „ Schneideeigenschaften > geistiges Können “ vollzogen hat. Andere Sprachen weisen da deutlich mehr Beispiele auf. Im Georgischen haben beispielsweise mindestens drei Adjektive ჩლუნგი (c ˇ ’ lungi) ‘ stumpf ’ , მახვილი (maxvili) ‘ spitz ’ und ბასრი (basri) ‘ scharf ’ den Bedeutungswandel nach diesem Muster vollzogen. Sie werden im aktuellen Sprachgebrauch polysem verwendet.So bedeutet das georgische Adjektiv ჩლუნგი (c ˇ ’ lungi) bezogen auf Gegenstände ‘ stumpf ’ und bezogen auf Menschen bedeutet es ‘ dumm ’ . Ähnliches gilt für die Beispiele aus dem Russischen und Englischen. Das russische Wort тупой (tupoj) und das englische Adjektiv dull bedeuten ‘ stumpf ’ , wenn man sie auf Gegenstände anwendet. Aber wendet man sie auf Menschen an, so bezeichnen sie geistige Defizite. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass das deutsche Wort stumpf weder im direkten, noch im übertragenen Sinne zur Bezeichnung der geistig-charakterlichen Defizite im Sinne von ‘ dumm ’ verwendet wird. Es gibt zwar einen Ausdruck „ Stumpfsinn “ . Er bezeichnet aber nicht geistige Defizite, sondern einen Zustand der Apathie bzw. der völligen Teilnahmslosigkeit. Anscheinend ist im Deutschen durch die Schneide- Eigenschaft nur die positive Gebrauchsweise möglich, wie man dies am Beispiel von scharfsinnig oder scharfer Verstand sehen kann. Das andere Ende 149 <?page no="150"?> der Skala bleibt aber unbesetzt. 163 Grafisch kann man diese Bedeutungsrelationen folgendermaßen darstellen: Stumpf 1. deskriptiv ‘ stumpf ’ 2. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - ç antonym è Scharf 1. deskriptiv ‘ scharf ’ 2. evaluativ ‘ schlau ’ Die georgische, englische und russische Sprache verfahren hier anders. Bei diesen Sprachen sind beide Enden der Skala besetzt, denn wenn man die Schneide-Eigenschaften in diesen Sprachen metaphorisch auf die Menschen anwendet, so kann man sich mit ihnen sowohl im positiven als auch im negativen Sinne auf die geistigen Eigenschaften des Menschen beziehen. Тупой (tupoj), ჩლუნგი (c ˇ ’ lungi) und dull 164 bedeuten ‘ stumpf ’ , wenn man sie auf Gegenstände anwendet, und sie bedeuten ‘ dumm ’ , wenn man sie für Menschen gebraucht. Auf der anderen Seite verwendet man Ausdrücke wie остроумный (ostroumnyj) ‘ scharfsinnig ’ 165 oder მახვილი გონება (maxwili goneba) ‘ scharfer Verstand ’ , wenn man jemanden als klug oder intelligent bezeichnet. Neben den oben genannten russischen und georgischsprachigen Beispielen lassen sich auch im Englischen Adjektive finden, welche auf der deskriptiven Ebene Schneideeigenschaften ausdrücken und auf der evaluativen Ebene zur Bezeichnung der Intelligenz verwendet werden. Keen und sharp sind eindrucksvolle Beispiele dafür. Bei allen diesen Adjektiven war die Ausgangbedeutung rein deskriptiv. Sie wurden ursprünglich nur zur Benennung wertneutraler Schneideeigenschaften verwendet. Die Adjektive stumpf, Тупой (tupoj), ჩლუნგი (c ˇ ’ lungi) und dull und ihre Gegenpaare haben diese wertneutrale Bedeutung beibehalten und gehören auf der rein deskriptiven Ebene zum Bereich der taktilen Wahrnehmung. Erst später hat man die Eigenschaft der Gegenstände metaphorisch auf die Menschen übertragen. Die primäre Intention der Sprecher bei der ursprünglich metaphorischen Gebrauchs- 163 Das Adjektiv scharf wird nur in Bezug auf das geistige Vermögen eines Menschen im Sinne von intelligent gebraucht, z. B. scharfsinnig; scharfer Verstand usw. Außerhalb dieses Bezugrahmens kann scharf nicht unter dieser Leseart verwendet werden: z. B. scharfe Frau 164 Dull kann im Englischen als Wahrnehmungsadjektiv ebenfalls zur Kennzeichnung der Farbe ‘ matt ’ oder zur Kennzeichnung eines dumpfen Geräusches verwendet werden. Nach Williams war aber die Bedeutung ‘ stumpf ’ die Ausgangsbedeutung. Vgl. Williams 1976: S. 466 165 Vgl. Karlfried: Russisch-Deutsches Wörterbuch 1989: S. 381 150 <?page no="151"?> weise könnte der Wunsch nach einer besonderen Ausdrucksstärke oder einer besseren Veranschaulichung gewesen sein. Denn wie wir bereits oben gesehen haben, nutzen die Sprachbenutzer gern Metaphern, weil sie komplizierte oder schwer erfassbare Sachverhalte über den Bezug zu anderen, meist konkreten Sachverhalten veranschaulichen können. 166 Genau das ist hier der Fall. Mit der Zeit wurde dann die ehemals metaphorische Verwendung zur lexikalischen Bedeutung. Da aber die alte Bedeutung erhalten blieb, entstand eine Polysemie. Dass wir heute zwei unterschiedliche Bedeutungsvarianten von Ausdrücken wie ჩლუნგი ; Тупой und dull haben, ist nur deswegen möglich, weil die beiden Bedeutungsvarianten voneinander klar unterscheidbare Gebrauchsregeln aufweisen. Dies machte den Verlust der alten Bedeutungsvariante nicht mehr zwingend notwendig. Gegenwärtig kann man diese Adjektive deskriptiv gebrauchen, wenn man sie auf Gegenstände anwendet, während man sie deskriptiv-evaluativ benutzt, wenn man sie auf die Menschen anwendet. Deswegen sind die Hörer in der Lage zu verstehen, ob der Sprecher von einem „ stumpfen Messer “ (engl. dull knife) oder von einer „ geistig stumpfen Frau “ (engl. dull woman) spricht. Die Entstehung des sprachübergreifenden Wandelpfades wurde in erster Linie durch die antonyme Bedeutungsrelation zwischen den Bedeutungen ‘ scharf ’ und ‘ stumpf ’ begünstigt. Die Polysemie eines Adjektivs hat zur Polysemie seines Gegensatzpaars geführt. Nachdem zur rein deskriptiven Bedeutung noch eine zweite wertende Bedeutung hinzukam, wurde der evaluative Gebrauch des antonymen Adjektivs einfacher für Sprachbenutzer, denn dadurch konnte man leichter den gegenteiligen wertenden Effekt beim Hörer erzielen. Dies hat dann zur Herausbildung einer Polysemie geführt. Im Ergebnis weisen die Adjektive gegenwärtig die gleichen kontrastiven Bedeutungsrelationen nicht nur auf der deskriptiven, sondern auch auf der evaluativen Ebene auf. Charakteristisch für diesen Wandelpfad ist neben der kontrastiven Bedeutungsrelation auch die Synonymie. So findet man im Georgischen und Englischen Adjektive, welche eine Synonomie sowohl auf der deskriptiven als auch auf der evaluativen Ebene aufweisen. Gemeint sind Beispiele wie keen, sharp so wie მახვილი (maxvili), ბასრი (basri), მჭრელი (mc ˇ reli). Den sprachübergreifenden Wandelpfad kann man zur besseren Veranschaulichung folgendermaßen grafisch darstellen: 166 Vgl. Skirl/ Schwarz-Friesel 2007: S. 61 151 <?page no="152"?> Deskriptiv ‘ stumpf ‘ Dt. Stumpf Geo. ჩლუნგი [c ˇ lungi] Eng. Dull Rus. тупой [tupoi] è Wandel è Evaluativ ‘ dumm ’ Georgisch + Deutsch - Englisch + Russisch + êêê antonym ééé êêê antonym ééé Deskriptiv ‘ scharf ’ Dt. Scharf Geo. მახვილი [maxvili] Eng. Sharp Rus. острый [ostry] Evaluativ ‘ schlau ’ Deutsch + Georgisch + Englisch + Russisch + êêê synonym ééé êêê synonym ééé Deskriptiv ‘ scharf ’ Geo. ბასრი [Basri] Geo. მჭრელი [mc ˇ reli] Eng. keen è Wandel è Evaluativ ‘ schlau ’ Georgisch + Englisch + Abbildung 11: Sprachübergreifender Wandelpfad „ Schneideeigenschaften > geistiges Können “ Schematisch lässt sich der Bedeutungswandel nach dem Muster „ Schneideeigenschaften > geistiges Können “ folgendermaßen darstellen: Ausgangsbedeutung rein deskriptiv Primäre Intention Ausdruck verstärken Sprachliche Mittel Metapher Bedeutungsrelation Kontrastrelation, teilweise Bedeutungsähnlichkeit Wissenskonzept „ scharf > positiv “ vs. „ stumpf > negativ “ Sprachliche Folgen Polysemie: 1. Deskriptiv-evaluativ 2.Rein deskriptiv Die gewonnenen Erkenntnisse über den Wandelpfad „ Schneideeigenschaften > geistiges Können “ lassen sich problemlos auf weitere Wandelerscheinungen übertragen, welche den Bedeutungswandel nach dem Muster „ Gegenstand > Mensch “ vollzogen haben. Insgesamt lassen sich drei wichtige Schlüsse über die so geartete Bedeutungsentwicklung ziehen: Erstens haben wir gesehen, dass der Spenderbereich immer ein rein 152 <?page no="153"?> deskriptives Adjektiv ist. Überträgt man es aber auf Menschen, so wird es zu einem deskriptiv-evaluativen Adjektiv. Denn wenn ein Engländer ein Küchenmesser als dull knife bezeichnet, so konstatiert er nur die deskriptive Eigenschaft dieses Gegenstandes. Bezeichnet er aber seinen Kollegen als dull man, so konstatiert und evaluiert er die geistigen Fähigkeiten der betreffenden Person. Zweitens kann man festhalten, dass alle mir bekannten Fälle des semantischen Wandels nach dem Muster „ Gegenstand > Mensch “ nicht zum Verlust der alten Bedeutungsvariante führen, wie das bei dem Muster „ körperliche Defizite > geistige Defizite “ der Fall ist, sondern zur Etablierung einer Polysemie. Die Adjektive haben neben ihrer neuen deskriptivevaluativen Bedeutung auch die alte rein deskriptive Bedeutung beibehalten. Dies hängt damit zusammen, dass der Anwendungsbereich zwischen der alten und neuen Bedeutungsvariante klar unterscheidbar ist, so dass der Rezipient die Möglichkeit hat, die jeweils gemeinte Bedeutungsvariante richtig zu interpretieren. Schließlich konnten wir durch den Vergleich zwischen dem Deutschen, Englischen, Georgischen und Russischen feststellen, dass es sich bei dem Muster „ Gegenstand > Mensch “ um ein sprachübergreifendes Phänomen handelt. Zwar sind die einzelnen Beispiele nicht eins zu eins in die jeweilige Sprache übertragbar, aber dafür ist die Struktur, die hinter diesen Beispielen steckt, die gleiche und deswegen hat sie einen sprachübergreifenden Charakter. Es ist erwähnenswert, dass es zum übergeordneten Wandelpfad „ Gegenstand > Mensch “ auch einen entgegengesetzten Pfad „ Mensch > Gegenstand “ gibt. Charakteristisch für diesen Pfad ist, dass man mit Sachverhalten aus dem menschlichen Bereich Gegenstände bezeichnet. Z. B. kann man metaphorisch über die Teile eines Gegenstandes wie über menschliche Körperteile sprechen. Dies kann dann zur Entstehung einer neuen Bedeutung nach dem Pfad „ menschlich > sachlich “ führen. Wie Ullmann anmerkt, sind solche Tendenzen in sehr vielen Sprachen zu beobachten. Diese Bedeutungsverschiebung kann man dabei durch so genannte anthropomorphe Metaphern realisieren. 167 Ein klares Beispiel dafür ist das georgische Wort გული (guli) ‘ Herz ’ . Dieses Wort wurde ursprünglich nur zur Bezeichnung des betreffenden menschlichen Organs verwendet, heute aber verwenden die Sprachbenutzer es polysem, denn das Wort wird auch zur Bezeichnung einer Kuchenfüllung gebraucht. Solche Bedeutungsverschiebungen sind auch bei Adjektiven vorstellbar. Beispiele hierfür wären intelligente Maschine oder kräftiger Motor. Diese Beispiele enthalten aber keine evaluative oder expressive Bedeutungskomponente, da sie eigentlich nur rein deskriptive Merkmale des Gegen- 167 Vgl. Ullmann 1973: S. 268 - 269 153 <?page no="154"?> standes an sich beschreiben und keine Haltungen des Sprachbenutzers zum Ausdruck bringen. Deswegen kann dieser Wandelpfad nicht der Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit sein. 8.3 Zusammenfassung: Wandelpfade im Bereich der deskriptiv-evaluativen Adjektive Nach einer ausführlichen Untersuchung von Wandelpfaden im Bereich der deskriptiv-evaluativen Adjektive im Deutschen und Georgischen und zum Teil im Englischen und Russischen ist es an der Zeit, eine Zwischenbilanz zu ziehen und die gewonnenen Ergebnisse in einer komprimierten Form zu präsentieren. Wir haben festgestellt, dass in allen vier Sprachen deskriptiv-evaluative Adjektive ursprünglich eine rein deskriptive Bedeutung hatten und erst im Laufe der Zeit eine evaluative Bedeutung hinzubekommen haben. Trotz dieser Gemeinsamkeit lassen sich auch einige Unterschiede ausmachen. So haben die deskriptiv-evaluativen Adjektive ihre Bedeutungen besonders häufig nach folgenden zwei Mustern systematisch geändert. 1. „ Menschlicher Körper > menschliche geistige Fähigkeiten “ 2. „ Sachliche Eigenschaften > menschliche geistige Fähigkeiten “ Den Bedeutungswandel nach dem Muster „ Menschlicher Körper > menschliche geistige Fähigkeiten “ habe ich anhand zweier ausgewählter Wandelpfade näher analysiert. Diese sind: 1. „ Physische Defizite > geistige Defizite “ ( „ PD > GD “ ). 2. „ Physische Verletzungen > geistige Defizite “ ( „ PV > GD “ ). Den Bedeutungswandel nach dem Muster „ Sachliche Eigenschaften > menschliche geistige Fähigkeiten “ habe ich hingegen exemplarisch am Wandelpfad „ Schneideeigenschaften > Geistiges Können “ ( „ SE > GK “ ) untersucht. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Wandelpfaden lassen sich beim direkten Vergleich einzelner wichtiger Aspekte besonders eindrucksvoll demonstrieren. 1. Die Verbreitung in den jeweiligen Sprachen: Bei dem Wandelpfad „ PD > GD “ konnte man feststellen, dass er im Deutschen stärker ausgeprägt ist als in anderen Sprachen, da im Deutschen deskriptiv-evaluative Adjektive zu finden sind, welche ursprünglich rein deskriptiv physische Defizite bezeichnet haben. Besonders aussagekräftige Beispiele sind dumm, blöd und doof. Trotzdem lassen sich auch im Englischen, Georgischen und Russischen Beispiele finden, welche diesem Wandelpfad zugeordnet werden können. 154 <?page no="155"?> Beim Wandelpfad „ PV > GD “ konnte man hingegen feststellen, dass insbesondere im Deutschen und Russischen eine starke Häufung von Wandelfällen zu beobachten ist, die zudem in einem systematischen Zusammenhang zueinander stehen. Im Georgischen lassen sich zwei Adjektive finden, welche den Bedeutungswandel ähnlich vollzogen haben. Im Englischen findet man lediglich einen Wandelfall, der diesem Pfad zugeordnet werden kann. Gemeint ist das Adjektiv imbecile. Die zusammengesetzten Ausdrücke feeble-minded und feeble brained lassen den Schluss zu, dass auch im Englischen Adjektive für physische Defizite zur Kennzeichnung geistiger Defizite verwendet werden. Ganz anders sieht die Situation beim Wandelpfad „ SE > GK “ aus, da dieser Pfad im Deutschen weniger ausgeprägt ist. Im Englischen, Russischen und Georgischen ist hingegen der Pfad stärker repräsentiert, da in diesen Sprachen deutlich mehr Adjektive zu finden sind, welche diesem Pfad zugeordnet werden können. 2. Primäre Intentionen der Sprachbenutzer und die sprachlichen Mittel ihrer Umsetzung: Beim Pfad „ PD > GD “ war für den Bedeutungswandel die abschwächende, euphemistische Gebrauchsweise auschlaggebend, denn durch diese euphemistischen Ausdrücke war man ursprünglich bemüht, negative Wertungen in Bezug auf das geistige Vermögen eines Menschen gesichtsschonend zum Ausdruck zu bringen, um das Gegenüber nicht zu verletzen. Dabei verwendete man die Ausdrücke für physische Defizite metaphorisch, um mit ihnen menschliche geistige Defizite zu denotieren. Besonders aussagekräftige Beispiele sind die Adjektive blöd und imbecile. Diese haben im Deutschen und Englischen physische Schwäche denotiert. Man bezog sich mit diesen Ausdrücken allerdings metaphorisch auf die geistige Schwäche des Gegenübers, um negative Wertungen gesichtsschonend zum Ausdruck zu bringen. Die Situation sieht beim Wandelpfad „ PV > GD “ diametral anders aus: Im Unterschied zum letzten Pfad wurden hier die vormals rein deskriptiven Verben als Partizipien expressiv verwendet, um der Aussage eine besondere Ausdrucksstärke zu verleihen. So werden die deutschen Adjektive bekloppt, bescheuert, behämmert und beknackt gegenwärtig als besonders expressive Adjektive verwendet. Dabei nutzen die Sprachbenutzer den metonymischen Schluss Ursache: Kopfverletzungen > Wirkung: Dummheit bzw. Verrücktheit, um den gemeinten evaluativen Sinn zum Ausdruck zu bringen. Aufgrund des frequenten Gebrauchs wurde dann der Schluss ‚ wenn x, dann y ’ durch den Schluss ‚ x bedeutet y ’ 168 ergänzt. Betrachtet man Schließlich den Wandelpfad „ SE > GK “ näher, so ergibt sich folgendes Bild: Die Sprachbenutzer verwendeten einst rein deskriptive 168 Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S. 60 155 <?page no="156"?> Adjektive dazu, das geistige Vermögen eines Menschen positiv oder negativ zu kennzeichnen. Dabei haben sie die Schneideeigenschaften von Gegenständen metaphorisch auf Menschen übertragen, um wohlwollend oder ablehnend über ihre kognitiven Fähigkeiten zu sprechen. So kann man im Englischen mit dem Adjektiv sharp die Intelligenz eines Menschen positiv werten. Bezeichnet man hingegen einen Menschen als dull, nimmt man eine negative Wertung vor. 3. Konstituierende Bedeutungsrelationen: Paradigmatische Bedeutungsrelationen stellen die Grundlage eines jeden Wandelpfades dar, da sie parallele Bedeutungsentwicklungen maßgeblich beeinflussen und somit den Wandelprozessen einen systematischen Charakter geben. Grundsätzlich kann entweder die semantische Ähnlichkeit oder das Kontrastverhältnis als eine konstituierende Bedeutungsrelation in Betracht gezogen werden. So wurden die semantischen Parallelentwicklungen auf der deskriptiv-evaluativen Ebene bei den Pfaden „ PD > GD “ und „ PV > GD “ eindeutig durch die Bedeutungsähnlichkeit auf der deskriptiven Ebene begünstigt, denn die Adjektive dumm, doof und blöd, genauso wie die Adjektive bekloppt, bescheuert, behämmert und beknackt, wiesen auf der Ausgangsbedeutung eine semantische Ähnlichkeitsrelation auf. Die Sprecher wussten anscheinend von der semantischen Ähnlichkeit zwischen den betreffenden Ausdrücken auf der deskriptiven Ebene und haben diese Bedeutungsrelation auch auf die deskriptiv-evaluative Ebene übertragen. Ein ganz anderes Bild ergibt sich beim Pfad „ SE > GK “ . Zur Entstehung des Wandelpfades im Georgischen, Englischen und Russischen war hauptsächlich das Kontrastverhältnis zwischen den Bedeutungen ‘ scharf ’ und ‘ stumpf ’ ausschlaggebend. Ein Ende der Bedeutungsskala war polysem geworden, was wiederum zur Polysemie seines Gegensatzpaars führte. Durch die Übertragung der Kontrastrelation von der deskriptiven auf die deskriptiv-evaluative Ebene war es nun möglich, den gegenteiligen wertenden Effekt zu erzielen. Allerdings muss noch erwähnt werden, dass im Englischen und Georgischen zwei Adjektive vorhanden sind, welche eine Synonymie sowohl auf der deskriptiven als auch auf der deskriptivevaluativen Ebene aufweisen. Gemeint sind die Adjektive keen und sharp im Englischen und მახვილი (maxvili) und ბასრი (basri) im Georgischen. Der Wandelpfad „ SE > GK “ basiert also neben dem primären Kontrastverhältnis noch auf einer semantischen Bedeutungsähnlichkeit. 4. Sprachübergreifendes Wissenskonzept: Wir haben an allen drei Wandelpfaden beobachten können, dass sie einen sprachübergreifenden Charakter haben. Dabei konnten wir weder stereotypisches sozio-kulturelles Wissen, noch christlich-antike metaphorische Muster als Ursache für die systematisch auftretenden Wandelfälle identifizieren. Vielmehr basieren 156 <?page no="157"?> die Wandelpfade auf trivialen, alltäglichen Erfahrungen. Derartige auf alltäglichen Erfahrungen basierende Wissenskonzepte beschränken sich selbstverständlich nicht nur auf eine Sprachgemeinschaft, sondern haben ihre Gültigkeit auch in anderen Sprachgemeinschaften. Deswegen können die Wandelpfade in mehreren Sprachen nachgewiesen werden. Für alle Wandelfälle aus dem Wandelpfad „ PD > GD “ war das Konzept ausschlaggebend, dass physische Schwäche bzw. körperliche Defizite als negative Eigenschaften angesehen werden. Diese triviale Tatsache hat in allen vier Sprachen unabhängig voneinander die Bedeutungsentwicklung nach dem Muster „ Physische Defizite > geistige Defizite “ in einer ähnlichen Art und Weise begünstigt. Der Wandelpfad „ PV > GD “ basiert hingegen auf der weit verbreiteten Annahme, dass Kopfverletzungen zu Dummheit bzw. Verrücktheit führen können. Diese Tatsache findet ihre Anwendung freilich nicht nur in einer Sprachgemeinschaft, sondern hat ihre Gültigkeit auch in anderen Sprachgemeinschaften, was man an zahlreichen sprachübergreifenden Fällen des Bedeutungswandels beobachten kann. Der Bedeutungswandel beim Pfad „ SE > GK “ wurde schließlich durch die alltägliche Erfahrungen begünstigt, dass scharfe Gegenstände von Menschen als positiv und stumpfe als negativ empfunden werden, da erstere besser zum Schneiden geeignet sind. 5. Sprachliche Folgen: Es ist kennzeichnend für den Pfad „ PD > GD “ , dass in allen untersuchten Fällen dieses Wandelpfades der Bedeutungswandel zum Verschwinden der alten und zur Entstehung einer neuen Bedeutung geführt hat. Der Grund hierfür könnte darin liegen, dass die Bezugsbereiche der alten und der neuen Bedeutungen nicht klar getrennt sind, denn sowohl die alte als auch die neue Bedeutung haben den Menschen als den gemeinsamen Bezugsbereich. Aus diesem Grunde werden blöd, dumm und doof so wie ihre Pendants im Georgischen, Russischen und Englischen im aktuellen Sprachgebrauch als monoseme deskriptiv-evaluative Adjektive verwendet. Bei den Wandelpfaden „ SE > GK “ und „ PV > GD gibt es hingegen eine Vielzahl polysemer Bedeutungsentwicklungen, da die Adjektive sehr oft ihre rein deskriptive Bedeutung behalten und zusätzlich deskriptiv-evaluativ verwendet werden. Besonders aussagekräftige Beispiele sind sharp, keen und dull so wie тупой (tupoj), ბასრი (basri) und ჩლუნგი (c ˇ ’ lungi). Dies hängt anscheinend damit zusammen, dass die Verwendungsmöglichkeiten im gegenwärtigen Sprachgebrauch klar voneinander getrennt sind. Während man die Ausdrücke rein deskriptiv auf Gegenstände anwenden kann, drücken sie eine deskriptiv-evaluative Bedeutung aus, wenn man sie für die Menschen gebraucht. 157 <?page no="158"?> Es ist allerdings für alle untersuchten Gruppen der deskriptiv-evaluativen Adjektive kennzeichnend, dass sie nur dann wertend verwendet werden können, wenn man sich mit ihnen entweder direkt auf Menschen bezieht oder indirekt auf eine Situation, welche Menschen betrifft. 158 <?page no="159"?> 9. Der Bedeutungswandel von expressivevaluativen Adjektiven Nachdem wir uns mit deskriptiv-evaluativen Adjektiven und deren Bedeutungsentwicklung ausführlich auseinandergesetzt haben, ist es jetzt an der Zeit, uns einer weiteren Adjektivgruppe zu widmen. Gemeint sind die expressiv-evaluativen Adjektive. Charakteristisch für diese Adjektive ist, dass sie nicht nur Wertungen, sondern auch die emotionale Haltung des Sprechers ausdrücken. D. h. sie beziehen sich nicht nur auf eine reine Qualitätsebene, sondern auch auf eine Ebene der Gefühle und Emotionen. 169 Darin unterscheiden sie sich von rein deskriptiven Adjektiven wie gut oder negativ, welche ausschließlich wertende und keine emotiven Aspekte zum Ausdruck bringen. Allerdings muss man erwähnen, dass die Unterscheidung zwischen diesen zwei Gruppen nicht immer sehr einfach fällt, denn expressiv-evaluative Adjektive werden durch eine häufige Verwendung „ abgenutzt “ und verlieren an Expressivität, so dass sie mit der Zeit nur noch evaluativ verwendet werden. Aus diesem Grunde ist es manchmal schwer festzulegen, ob ein bestimmtes Adjektiv noch expressiv-evaluativ verwendet wird oder schon eine rein evaluative Bedeutung aufweist. Es ist bemerkenswert, dass nicht nur Adjektive mit dem frequenteren Gebrauch an Expressivität verlieren, sondern auch andere Wortarten mit expressiv-evaluativen Bedeutungsanteilen sich in diesem Fall gleich verhalten. Diese Besonderheit der affektiven Ausdrücke ist schon vielen Linguisten aufgefallen. So hat Ullman bereits vor mehr als vierzig Jahren diesen Effekt unter dem Begriff Gesetz der Ertragsminderung folgendermaßen beschrieben: „ Je öfter eine ausdrucksstarke Bezeichnung oder Wendung wiederholt wird, desto unwirksamer wird sie. “ 170 Diesen Prozess nennt Traugott Bleaching und weist darauf hin, dass er bei Bréal bereits vor mehr als hundert Jahren beschrieben wurde. 171 Busse thematisiert den Bleaching-Effekt ebenfalls und fügt hinzu, dass die abgenutzten expressiven Ausdrücke „ . . .immer wieder durch frische und darum auffälligere und wirksamere semantische Assoziationen ausgeglichen werden (müssen). “ 172 169 Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S. 49 170 Ullmann 1973: S. 175 171 Vgl. Traugott/ Dasher 2002: S. 59 172 Busse 1989: S. 104 159 <?page no="160"?> Vergleicht man deskriptiv-evaluative Adjektive mit expressiv-evaluativen so lassen sich sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten feststellen. Der Unterschied zwischen diesen zwei Adjektivgruppen besteht darin, dass deskriptiv-evaluative Adjektiven sowohl eine wertende als auch eine deskriptive Komponente aufweisen. Expressiv-evaluative Adjektive weisen hingegen wertende und emotive Bedeutungsaspekte auf. Ähnlich wie bei deskriptiv-evaluativen Adjektiven wiesen aber viele expressiv-evaluative Adjektive ursprünglich rein deskriptive Bedeutungen auf. Erst nach dem Bedeutungswandel wurden die deskriptiven Gebrauchsregeln durch die expressiven und evaluativen Gebrauchsregeln ersetzt. Im weiteren Verlauf der Arbeit werden wir exemplarisch drei Wandelpfade untersuchen, welche den Bedeutungswandel nach dem Muster deskriptiv > expressiv-evaluativ “ vollzogen haben, um die Besonderheit des so gearteten Bedeutungswandels zu eruieren, denn auch wenn alle expressiv-evaluativen Adjektive die gleiche kommunikative Funktion erfüllen, indem sie wertende und emotive Aspekte gleichzeitig zum Ausdruck bringen, lassen sich trotzdem einige Unterschiede in der Bedeutungsentwicklung feststellen. Zunächst werden wir uns mit den Adjektiven befassen, welche ursprünglich geistige Grenzzustände denotierten und zum Teil immer noch denotieren. Sie werden aber gegenwärtig überwiegend dazu verwendet, stark emotionalisierte Wertungen vorzunehmen. Im Anschluss daran werden wir die Wandelfälle untersuchen, welche ursprünglich in der deskriptiven Bedeutung ‘ arm, bemitleidenswert ’ verwendet wurden und gegenwärtig eine negative expressiv-evaluative Bedeutung aufweisen. Zu guter Letzt werden wir uns noch mit den Adjektiven auseinandersetzen, die in der Ausgangsbedeutung die rein deskriptive Eigenschaft des Glänzens denotierten. Da diese Adjektive von den Sprachbenutzern häufig metaphorisch zum Ausdruck der Begeisterung genutzt wurden, wurde die expressiv-evaluative Verwendung lexikalisiert. Die Auswahl dieser drei Wandelpfade erfolgte dabei aufgrund folgender drei Kriterien. 1. Es ist eine große Anzahl von Wandelfällen zu beobachten, die zudem eine hohe Systematizität aufweisen, weswegen sie sich anschaulich zu Wandelpfaden zusammenfassen lassen. 2. Die Beispiele lassen sich gut sprachübergreifend untersuchen, da sie in mehreren Sprachen gleichzeitig vorkommen. 3. Es wurde darauf geachtet, dass sich einzelne Wandelpfade eindeutig voneinander unterscheiden lassen. Dies soll dabei helfen, unterschiedliche Facetten expressiv-evaluativer Wandelpfade zu Tage zu fördern. So werden z. B. nicht nur positiv-wertende Adjektive unter- 160 <?page no="161"?> sucht, sondern auch negativ-wertende. Daneben werden nicht nur Adjektive analysiert, welche in ihrer Ausgangsbedeutung rein sachliche Eigenschaften denotierten, sondern es werden auch diejenigen unter die Lupe genommen, welche ursprünglich deskriptive menschliche Eigenschaften bezeichneten. Des Weiteren wurde darauf geachtet, die Wandelerscheinungen zu untersuchen, welche in der historischen Semantik keine große Beachtung gefunden haben. Aus diesem Grunde wurde auf zwei deutschsprachige Wandelpfade nicht eingegangen, da sie von Keller/ Kirschbaum ausführlich untersucht wurden. Gemeint sind die Dimensionsadjektive, welche sich auf extrem hohe positive Skalenwerte beziehen wie z. B. stark oder heiß sowie die Adjektive, welche ursprünglich etwas irreales bezeichnet haben, z. B. wunderbar oder phantastisch. Beide Adjektivgruppen werden gegenwärtig expressiv-evaluativ verwendet. 173 Auf die Untersuchung dieser Wandelpfade wird aber auch deswegen verzichtet, weil ihre Analyse keine neuen Erkenntnisse über den adjektvischen Bedeutungswandel nach dem Muster „ deskriptiv > expressiv-evaluativ “ erbracht haben, denn georgische und deutsche Wandelfälle aus den oben genannten zwei Pfaden zeigten keine relevanten Unterschiede. 9.1 Geistige Grenzzustände > starke Begeisterung Im Deutschen lassen sich mehrere Beispiele finden, welche ursprünglich rein deskriptiv im Sinne von ‘ weist geistige Grenzzustände auf ’ verwendet wurden und heute als positiv-wertende Adjektive verwendet werden. Keller/ Kirschbaum weisen auf solche Adjektive hin und zählen sie zur expressiv-evaluativen Adjektivgruppe. Dies sind meistens Adjektive, „ die vormals anomale, krankhafte Geisteszustände denotieren, mittlerweile aber alle in erster Linie expressiv-evaluativ gebraucht werden. “ 174 Es handelt sich hierbei um Eigenschaftswörter wie toll, verrückt, irrsinnig oder wahnsinnig. 175 Die letzten drei Adjektive werden gegenwärtig polysem verwendet. Einerseits denotieren sie krankhafte geistige Zustände. Andererseits können sie zur Kennzeichnung der besonderen Begeisterung verwendet werden. Das Adjektiv toll wird hingegen nur noch expressivevaluativ verwendet. Toll wurde früher allerdings rein deskriptiv in der 173 Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S. 53 174 Keller/ Kirschbaum 2003: S. 53 175 Das in Süddeutschland und Österreich gebräuchliche Substantive Fex hat den Bedeutungswandel ebenfalls nach dem Muster „ Geistige Grenzzustände > Begeisterung “ vollzogen. 161 <?page no="162"?> Bedeutung ‘ verrückt ’ verwendet. Noch zur Goethes Zeit können wir diese Verwendungsweise antreffen. Folgende Textbelege verdeutlichen dies: „ . . . nachdem er mich eine Weile fixiert hatte, auf einmal in ein lautes Lachen ausbrach und ausrief: ‘ Nein! Es ist wahr, du siehst ganz verwünscht aus! ’ , versetzte ich heftig: ‘ Und ich weiß, was ich tue; leb wohl und entschuldige mich! ’ - ‘ Bist du toll ’ rief er, indem er aus dem Bette sprang und mich aufhalten wollte. “ 176 „ Das verfluchte Volk schrie aus einem Halse, ihr wäret, mit eurer Erlaubnis zu sagen, im Kopf verrückt, oder gar toll, sie fielen über euch her, und banden euch, ohne daß ich es wehren konnte. “ 177 Heutzutage dient die Verwendung des Adjektivs toll allerdings nicht mehr zur Beschreibung eines krankhaften psychischen Zustands, sondern man verwendet es, wenn man eine gewisse positive emotionelle Emphase zum Ausdruck bringen möchte, d. h. toll hat seine rein deskriptive Bedeutung verloren. Darin unterscheidet es sich von den restlichen Adjektiven aus dem Wandelpfad „ geistige Grenzzustände > starke Begeisterung “ , denn die Adjektive verrückt, irrsinnig oder wahnsinnig werden polysem verwendet und weisen gegenwärtig sowohl die deskriptive als auch die expressiv-evaluative Bedeutung auf. Zu dieser Gruppe zählen Keller/ Kirschbaum ebenfalls das Adjektiv geil, weil ähnlich wie bei toll, verrückt, irrsinnig oder wahnsinnig „ der Kontrollverlust (. . .) eine wichtige Rolle bei der metaphorischen Verwendung des Wortes gespielt haben (mag). “ 178 Meines Erachtens sollte man aber das Adjektiv geil nicht dem Wandelpfad „ geistige Grenzzustände > starke Begeisterung “ zuordnen, denn trotz der unübersehbaren Ähnlichkeit in Bezug auf die Bedeutungsentwicklung wies geil auf der Ausgangsbedeutung keine paradigmatischen Relationen mit den Adjektiven toll, wahnsinnig, verrückt und irre auf. Nichtsdestoweniger ist der semantische Wandel von geil ein sehr interessantes Beispiel insbesondere in Bezug auf die Vergleichbarkeit mit Adjektiven in anderen Sprachen. Deswegen werden wir die Bedeutungsentwicklung dieses Adjektivs im weiteren Verlauf der Arbeit sprachvergleichend untersuchen. Zunächst sollte allerdings der gesamte deutschsprachige Wandelpfad „ Geistige Grenzzustände > Begeisterung “ für eine bessere Veranschaulichung graphisch dargestellt werden: 176 Goethe, Johann Wolfgang von: Goethes Werke. Band 9. 1808 - 1831/ 2002: S. 438 177 Wieland 1772/ 2000: S. 79 178 Keller/ Kirschbaum 2003: S. 56 162 <?page no="163"?> ‘ Geistige Grenzzustände ’ ‘ starke Begeisterung ’ Toll è Wandel è Toll êêê êêê Bedeutungsähnlichkeit Bedeutungsähnlichkeit ééé ééé Wahnsinnig Wahnsinnig êêê êêê Bedeutungsähnlichkeit Bedeutungsähnlichkeit ééé ééé Verrückt Verrückt êêê êêê Bedeutungsähnlichkeit Bedeutungsähnlichkeit ééé ééé Irre / Irrsinnig Irre / Irrsinnig Abbildung 12: Wandelpfad „ geistige Grenzzustände > starke Begeisterung “ Die Einzelheiten des semantischen Wandels dieser Adjektivgruppe haben wir bereits im Kapitel „ Das Zusammenspiel zwischen dem metaphorischen und metonymischen Verfahren “ näher erläutert. Deswegen werden wir an dieser Stelle auf die detaillierte Beschreibung des Wandelprozesses verzichten und direkt mit dem sprachübergreifenden Vergleich anfangen. Bei einem Vergleich mit anderen Sprachen wird man feststellen, dass die Ausdrücke für krankhafte Geisteszustände oft zum Ausdruck der eigenen Begeisterung genutzt werden können. Allerdings gibt es da einige wichtige Unterschiede. So ist es im Georgischen möglich, Adjektive, welche abnormale Geisteszustände kennzeichnen, metaphorisch zum Ausdruck der eigenen Begeisterung zu verwenden. Allerdings lässt sich die Verwendungsweise ‘ x-machend ’ in aller Regel durch Flexionen von der Verwendungsweise ‘ x-ist ’ unterscheiden. Somit kann man die Zweideutigkeit bei dieser Klasse der georgischen Adjektive aus dem Weg räumen. Zum Beispiel bedeutet das Adjektiv გადასარევი (gadasarevi) ‘ x-machend ’ und wird expressiv-evaluativ als ein positiv-wertendes Adjektiv verwendet. გადარეული (gadareuli) hingegen bedeutet ‘ x-ist ’ und wird deskriptiv zur Kennzeichnung von abnormalen Geisteszuständen verwendet. Folgende Beispiele verdeutlichen diese Gebrauchsweisen: გადასარევი (gadasarevi) expressiv-evaluativ: „შაბათს ტურინის „ იუვენტუსს ” ვეთამაშებით . ამ შეხვედრაში ყველას უდიდესი სტიმული გვამოძრავებს, კარგი იქნება თუ გოლს გავიტან და 163 <?page no="164"?> მთლად გადასარევი, თუ ეს გოლი გამარჯვების იქნება . დარწმუნებული ბრძანდებოდეთ, ჩვენზე ბედნიერი იმ საღამოს არავინ იქნება . “ 179 „ Am Samstag spielen wir gegen Juventus Turin. Wir sind alle sehr motiviert. Es wäre toll, wenn wir ein Tor schießen würden und wenn dieses Tor zum Sieg führen würde, wäre das schon wahnsinnig. Sie können sicher sein, niemand würde glücklicher sein als wir. “ „ იმის თქმისგან, რომ რაიმე ციკლი და ხანა დასრულდა, თავს შევიკა- ვებდი . „ რეალი ” ძველებურად გადასარევი კოლექტივია, სადაც მსო- ფლიო დონის ფეხბურთელები თამაშობენ . ” 180 ‘ Ich würde nicht behaupten, dass irgendeine Ära oder irgendein Zyklus zu Ende gegangen ist. Real ist nach wie vor eine wahnsinnige Mannschaft, in der weltberühmte Fußballer spielen. ’ გადარეული (gadareuli) ‘ abnormaler Geisteszustand ’ : „ გაგიჟებული კი არა , გადარეული ვიყავი . 28 ივნისს გადაიყვანეს არამიანცის საავადმყოფოში, ბიჭს გაუკეთეს 3 ოპერაცია . . . “ 181 ‘ Ich bin nicht verrückt, sondern schon wahnsinnig geworden. Der Junge wurde dreimal operiert. ’ Ähnlich verhält es sich mit den Adjektiven გიჟი (gi ž i) so wie გასაგიჟებელი (gasagi ž ebeli). გიჟი (gi ž i) bedeutet rein deskriptiv ‘ verrückt ’ . გასაგიჟებელი (gasagi ž ebeli) weist hingegen eine expressiv-evaluative Bedeutung auf und bedeutet ‘ zum Verrückt werden ’ : „კარგით, ვაღიარებ, რომ ეს დიდი წარმატებაა, მაგრამ არა გასაგიჟე- ბელი . დღევანდელ დღეს უპირატესობა ევროთასებს ენიჭება და პრი- მერაში წარუმატებლობას გუნდის ხელმძღვანელები არაფრად აგდებენ . ასეთ პირობებში ასპარეზობა ადვილია . აი, ჩვენ დროს ყველაფერი სხვაგვარად გახლდათ . “ 182 ‘ Gut, ich gebe zu, das ist ein großer Erfolg, aber es ist nichts Verrücktes. Heutzutage wird eher der Europapokal bevorzugt. Der Misserfolg in der Premier League wird von der Mannschaftsführung für unwichtig erachtet. In solchen Umständen ist es einfach zu spielen. In unserer Zeit war aber alles anders. ’ „ აუტყდა ანზორს სიცილი და ვეღარ ჩერდება, ექიმს მართლა გიჟი ეგონა, გამოუძახა სანიტრებს და ანზორს რომ დროზე არ დაეყვირა, იპოდრომზე 179 http: / / iness.uib.no/ gekko/ document-element? session-id=236201625876929&cpos= 16881177 (GEKKO, Stand: 17. 03. 2013) 180 http: / / iness.uib.no/ gekko/ document-element? session-id=236201625876929&cpos= 24068688 (GEKKO, Stand: 17. 03. 2013) 181 http: / / iness.uib.no/ gekko/ document-element? session-id=236201625876929&cpos= 110451197; (GEKKO, Stand: 17. 03. 2013) 182 http: / / iness.uib.no/ gekko/ document-element? session-id=236201625876929&cpos= 15300129 (GEKKO, Stand: 18. 03. 2013) 164 <?page no="165"?> რესტორანი „ ბუდაპეშტია ” იქ დავლიეთო, სანიტრები გიჟის დამაწყნა- რებელ პერანგში გამოაწყობდნენ . “ 183 ‘ Ansor hat plötzlich angefangen zu lachen und konnte damit nicht aufhören. Der Arzt hielt ihn wirklich für verrückt und rief die Sanitäter. Wenn Ansor nicht rechtzeitig gerufen hätte, ‘ in der Nähe des Hippodroms ist das Restaurant Budapest und da können wir trinken ’ , hätten die Sanitäter ihn mit einer Zwangsjacke ruhig gestellt. ’ Vergleicht man nun die deutschen expressiv-evaluativen Adjektive wie irre, toll oder wahnsinnig mit den georgischen Adjektiven aus der gleichen Klasse, so ergibt sich folgendes Bild: Im Deutschen hat den Bedeutungswandel bei oben genannten Beispielen die Tatsache begünstigt, dass die Adjektive polysem als ‘ x-empfindend ’ und ‘ x-machend ’ verwendet werden können. Im Georgischen wurde die neue expressiv-evaluative Gebrauchsweise durch die Hinzufügung von bestimmten Flexionen ermöglicht. In dieser Sprache scheint also ein morphologisches Verfahren zu existieren, welches darin besteht, dass rein deskriptive Adjektive für geistige Grenzzustände expressiv-evaluativ verwendet werden können, wenn man ihnen bestimmte Flexionsmorpheme hinzufügt. Genau dieses morphologische Verfahren liefert die Antwort darauf, warum im Georgischen nicht der gleiche Wandelpfad entstehen konnte wie im Deutschen. So hat der Romanist Christoph Schwarze beobachtet, dass die innersprachlichen morphosyntaktischen Aspekte die Entstehung von Polysemien und somit den Bedeutungswandel verhindern können, und schrieb passend dazu Folgendes: „ Gibt es in einer gegebenen Sprache morphologische Verfahren zur Erweiterung des Lexikons, so entwickelt sich der mit ihm konkurrierende Typ von Polysemie nur wenig. “ 184 Dass diese Annahme der Wahrheit entspricht, hat einen ganz praktischen Grund: So scheint ein morphologisches Verfahren im Vergleich zur Metonymie die sicherere Alternative zu sein, wenn es darum geht, bestimmte innovative Sinnesvariationen zu erzeugen, die es ermöglichen, Missverständnisse zu vermeiden, welche auf der Hörerseite während des Deutungsvorganges entstehen können. Dies ergibt sich daraus, dass sich die Adjektive aufgrund der morphologischen Markierungen in ihren Wortformen voneinander unterscheiden und dadurch die Bedeutungsunterschiede klarer hervortreten, während bei einer Polysemie diese Unterschiede auf der lexikalischen Ebene nicht sichtbar sind, wodurch das Risiko, missverstanden zu werden, steigt. So weiß der Hörer, dass das Adjektiv გადარეული (gadareuli) zur Kennzeichnung eines krankhaften Grenzzustandes verwendet werden kann, während das Adjektiv 183 http: / / iness.uib.no/ gekko/ document-element? session-id=236201625876929&cpos= 12622156 (GEKKO, Stand: 18. 03. 2013) 184 Schwarze 1995: S. 213 165 <?page no="166"?> გადასარევი (gadasarevi) ausschließlich expressiv-evaluativ gebraucht wird. Beim Adjektiv wahnsinnig kann jedoch die expressiv-evaluative oder rein deskriptive Gebrauchsweise nur aus dem Kontext erschlossen werden. Aufgrund der Wortform allein ist dies nicht möglich. Als Zwischenbilanz kann man Folgendes festhalten: Mithilfe eines morphologischen Verfahrens ist es möglich, den gemeinten expressivevaluativen Sinn auszudrücken, ohne dabei Gefahr zu laufen, missverstanden zu werden. Anscheinend hat genau dieses sprachinterne morphologische Verfahren im Georgischen den Bedeutungswandel rein deskriptiver Adjektive für geistige Grenzzustände hin zu expressiv evaluativen verhindert, was dazu führte, dass hier kein Wandelpfad nach dem Muster „ geistige Grenzzustände > Begeisterung “ entstehen konnte. Zu einer besseren Veranschaulichung dieses Wandelpfades kann man sich ebenfalls englische Adjektive für geistige Grenzzustände näher anschauen. So können im Englischen die Adjektive für abnormale Geisteszustände normalerweise nicht zum Ausdruck der besonderen Begeisterung genutzt werden. Adjektive wie insane oder mad können lediglich dazu verwendet werden, abnormale Geisteszustände zu kennzeichnen. Ein bisschen anders sieht die Situation beim englischen Wort crazy aus. Es gibt zwar die Möglichkeit, mit diesem Adjektiv eine positive Wertung zum Ausdruck zu bringen. Dabei kann man aber mit dem Adjektiv nicht die Gegenstände an sich positiv bewerten, sondern der Sprecher drückt seine eigene Einstellung zu den betreffenden Gegenständen aus. So kann ich zwar sagen I am crazy about bicycles, um zum Ausdruck zu bringen, dass ich Fahrräder mag. Ich kann aber nicht sagen It is a crazy bicycle und damit meinen, dass ich vom Fahrrad begeistert bin, denn mit dem Satz Ich bin verrückt nach Fahrrädern sage ich etwas über meine Einstellung zu Fahrrädern aus. Wenn ich hingegen auf Deutsch sage, dass ich ein verrücktes Fahrrad habe, dann sage ich nicht nur etwas über meine Haltung zu dem Fahrrad aus, sondern bewerte gleichzeitig auch den Gegenstand. Dementsprechend ist die Gebrauchsweise ‘ x-machend ’ nur für deutsche expressiv-evaluative Adjektive charakteristisch. Bei dieser Gruppe der englischen Adjektive ist hingegen nur die deskriptive Gebrauchsweise ‘ x-ist ’ möglich. 185 Wie wir bereits oben erwähnt haben, hat das Adjektiv geil seine Bedeutung ähnlich geändert wie die zum Wandelpfad „ geistige Grenzzustände > besondere Begeisterung “ gehörenden Adjektive. Das verbindende Merkmal dieser Adjektive ist der Kontrollverlust 186 , denn sowohl einem geistig verwirrten als auch einem sexuell erregten Menschen fällt die Selbstbeherrschung schwer. 185 Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S. 124 186 Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S. 56 166 <?page no="167"?> In Bezug auf das deutsche Adjektiv geil lässt sich feststellen, dass es weder im Georgischen, noch im Englischen ein Wort gibt, das in seiner Bedeutung dem deutschen Adjektiv voll entspricht. Das mag daran liegen, dass dieses Adjektiv im Deutschen „ sowohl im Sinne von ‘ x-empfindend ’ als auch von ‘ x-machend ’“ 187 verwendet werden kann. In anderen Sprachen findet man diese Mehrdeutigkeit nicht. Da werden die Unterschiede zwischen den Gebrauchsweisen ‘ x-machend ’ und ‘ x-ist ’ durch zwei unterschiedliche Adjektive zum Ausdruck gebracht. So hat das Adjektiv geil im Englischen die Entsprechungen horny und sexy. Horny kann im Englischen nur im Sinne von ‘ sexuell erregt ’ verwendet werden. Aufgrund dieser Tatsache ist eine metaphorische Übertragung auf einen Gegenstand ausgeschlossen, denn über einen Gegenstand wie ein Auto ist es nicht möglich zu sagen, es sei sexuell erregt. 188 Sexy weist meines Erachtens eine ähnliche Gebrauchsweise im Englischen auf, weil es wie auch geil eine sexuelle Komponente enthält. In beiden Fällen wird zum Ausdruck gebracht, dass man etwas sexuell attraktiv findet. Gleichzeitig kann man mit diesem Adjektiv eine positive Wertung vornehmen, denn alles, was man als sexuell anziehend betrachtet, empfindet man im Normalfall auch als etwas Positives. Im Englischen werden meistens die Menschen als sexy bezeichnet, welche vom Sprecher als sexuell anziehend empfunden werden. So wird sexy häufig mit woman zusammen verwendet. Daneben ist zwar die metaphorische Übertragung auf Gegenstände möglich, aber nur dann, wenn die Gegenstände tatsächlich einen gewissen Sexappeal aufweisen. Zum Beispiel kann man über bestimmte Damenunterwäsche sagen, dass sie sexy ist, da sie einen sexuellen Anreiz besitzt. Man kann aber nicht sagen, dass ein Auto oder ein Fußballspiel sexy sei, ohne dabei Gefahr zu laufen, missverstanden zu werden. So kann der Satz I like this sexy soccer game leicht missverstanden werden. Der Satz I like this sexy underwear wird hingegen nicht zu Missverständnissen führen. Ähnlich sieht die Situation im Georgischen aus. Das Wort აღგზნებული (aghgznebuli) bedeutet ‘ erregt ’ und das Adjektiv სექსუალური (seksualuri) bedeutet ‘ sexuell erregend ’ . Die Gebrauchsweisen ‘ x-machend ’ und ‘ xist ’ werden also durch zwei unterschiedliche Adjektive zum Ausdruck gebracht. Aus diesem Grunde konnte im Georgischen und Englischen die Bedeutungsentwicklung nach dem Muster „ geil > begeistert “ nicht stattfinden. 187 Keller/ Kirschbaum 2003: S. 124 188 Vgl. Keller/ Kirschbaum 2003: S. 124 167 <?page no="168"?> Zusammenfassend lässt sich an dieser Stelle über diese Gruppe der expressiv-evaluativen Adjektive Folgendes sagen: Die sprachvergleichende Analyse im Bereich der expressiv-evaluativen Adjektive der untersuchten Sprachen hat gezeigt, dass Adjektive, welche die Bedeutung nach dem Muster „ geistige Grenzzustände > Begeisterung “ geändert haben, nur im Deutschen anzutreffen sind. Die Bedeutungsentwicklung basiert auf dem erfahrungsbedingten Wissenskonzept, wonach verrückte oder sexuell erregte Menschen die gleichen Symptome des Kontrollverlustes aufweisen wie die Menschen, welche eine starke Begeisterung empfinden. Auch im Englischen und Georgischen gibt es das auf Alltagserfahrungen basierende Wissenskonzept, wonach stark begeisterte Menschen ähnliche Symptome aufweisen wie sexuell erregte oder geistig gestörte Menschen. Allerdings hat das Vorhandensein dieses Konzeptes in den betreffenden Sprachen nicht zu einem Bedeutungswandel geführt. Dies hängt damit zusammen, dass im Englischen und Georgischen der Unterschied zwischen der Gebrauchsweise x-machend und x-ist entweder durch zwei unterschiedliche Adjektive oder durch morphologische Mittel kenntlich gemacht wird. Deswegen kann man im Georgischen und Englischen in diesem Fall nicht von einem Wandelpfad sprechen. Im letzten Teil des Kapitels möchten wir kurz die Besonderheiten des deutschsprachigen Wandelpfades aufzeigen. Die deutschen Adjektive, welche den Bedeutungswandel nach dem Muster „ geistige Grenzzustände > Begeisterung “ vollzogen haben, weisen sowohl auf der Ebene der Ausgangsbedeutung als auch in der Endbedeutung paradigmatische Bedeutungsrelationen auf. Neben den metonymischen und metaphorischen Schlüssen waren eben diese Bedeutungsrelationen maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Hörer die neuen expressiv-evaluativen Sinnesvariationen richtig interpretieren konnten, indem sie diese Relationen von der deskriptiven auf die expressiv-evaluative Ebene übertragen konnten. Der Bedeutungswandel eines Adjektivs hat somit den Bedeutungswandel von weiteren, mit ihm semantisch verwandten Adjektiven nach sich gezogen. Dies hat dann dazu geführt, dass die einzelnen expressiv-evaluativen Adjektive auf der expressiv-evaluativen Ebene ebenfalls eine Bedeutungsähnlichkeit untereinander aufweisen. Aufgrund dieser parallel verlaufenden semantischen Wandelprozesse kann man von einem Wandelpfad sprechen. Dieser einzelsprachliche deutsche Wandelpfad lässt sich graphisch folgendermaßen darstellen: Ausgangsbedeutung rein deskriptiv Primäre Intention Persuasion Sprachliche Mittel Metonymie und Metapher Bedeutungsrelation Bedeutungsähnlichkeit 168 <?page no="169"?> Wissenskonzept „ Kontrollverlust > Starke Begeisterung “ Sprachliche Folgen 1. (häufig) Polysemie: a. Deskriptiv-evaluativ b. Rein deskriptiv 2. (selten) Neue Bedeutung: Deskriptiv-evaluativ 9.2 Wandelpfad „ bemitleidenswert > miserabel “ Nachdem wir uns die Bedeutungsentwicklung einiger positiv wertenden expressiv-evaluativen Adjektive angeschaut haben, ist jetzt an der Zeit, expressiv-evaluative Adjektive unter die Luppe zu nehmen, welche negativ wertende Bedeutungen aufweisen und zugleich aufgrund ihrer systematischen Bedeutungsentwicklung zu einem Wandelpfad zusammengefasst werden können, denn expressiv-evaluative Ausdrücke eignen sich nicht nur zum Ausdruck positiver Emotionen, sondern ebenfalls zur Äußerung negativ-wertender Gefühle. Das Wort Opfer ist ein besonders eindrucksvolles Beispiel, das in der Jugendsprache genau zu diesem kommunikativen Zweck eingesetzt wird. Wie der unten folgende Auszug aus einem Zeitungsartikel verdeutlicht, benutzen Jugendliche dieses Wort abwertend im Sinne von ‘ Schwächling ’ . „ Man redet von Unfallopfern oder Schüler titulieren einen Schwächeren ‚ Du Opfer! ‘ In beiden Fällen ist der Betroffene passiv einer Situation ausgeliefert und dem, was da geschieht, unterlegen. “ 189 Zu den Gebrauchsregeln des Wortes Opfer in der Kommunikation gehört eigentlich, dass man gegenüber den Opfern Mitleid zeigen muss. Dabei werden aber in der Jugendsprache genau solche Ausdrücke dazu verwendet, um eine abwertende Haltung gegenüber den Menschen oder den mit Menschen verwandten Sachverhalten zum Ausdruck zu bringen. Neben Opfer gibt es noch etliche andere sprachübergreifende Beispiele, welche ursprünglich im Sinne von ‘ bemitleidenswert ’ verwendet wurden und im gegenwärtigen Sprachgebrauch eine negativ wertende Bedeutung ‘ miserabel ’ aufweisen. Dies betrifft nicht nur Substantive, sondern vor allem auch Adjektive. So hat der Schweizer Romanist Karl Jaberg bereits Anfang des 20. Jahrhunderts in seinem Aufsatz „ Pejorative Bedeutungsentwicklung im Französischen “ darauf hingewiesen, „ dass der Begriff (. . .) des Bemitleidenswerten sehr oft in denjenigen der Erbärmlichkeit, der Schlechtigkeit übergeht. “ 190 So geartete Wandelprozesse sind anscheinend nicht nur im Französischen zu finden, sondern auch im Deutschen. Dafür sprechen 189 Rhein-Zeitung, 07. 04. 2012 190 Jaberg 1903: S. 45 169 <?page no="170"?> unter anderem solche Adjektive wie kümmerlich, erbärmlich, jämmerlich, jammervoll, armselig, elendig und kläglich, denn alle diese Ausdrücke haben ihre Bedeutungen nach dem Muster „ bemitleidenswert > miserabel “ vollzogen. Sie weisen eine Ähnlichkeit sowohl in der Ausgangsbedeutung als auch in der Endbedeutung auf. Deswegen kann man in Bezug auf diese Adjektivgruppe von einem Wandelpfad sprechen. Die charakteristischen Merkmale dieses Wandelpfades werden wir anhand folgender drei Adjektive näher kennenlernen: erbärmlich, jämmerlich und kläglich. Das Adjektiv erbärmlich wurde ursprünglich im Sinne von ‘ Erbarmen erregend ’ verwendet. So begegnet man im Simplicisimus ausschließlich dieser deskriptiven Gebrauchsweise von erbärmlich. Im folgenden Belegtext wird dies besonders anschaulich dargestellt: „ Von den gefangenen Weibern, Mägden und Töchtern weiß ich sonderlich nichts zu sagen, weil mich die Krieger nicht zusehen ließen, wie sie mit ihnen umgingen: Das weiß ich noch wohl, daß man teils hin und wieder in den Winkeln erbärmlich schreien hörte, schätze wohl, es sei meiner Meuder unserm Ursele nit besser gangen als den andern. “ 191 Im „ Deutschen Referenzkorpus “ des Instituts für Deutsche Sprache findet man insgesamt sechs Textbelege aus dem 17. Jahrhundert mit dem Wort erbärmlich. Dabei wird das Adjektiv in allen sechs Texten im Sinne von ‘ Mitleid erregend ’ gebraucht. Auch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunnderts wurde dieses Adjektiv ausschließlich im Sinne ‘ Mitleid erregend ’ verwendet. Erst in den Texten aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts findet man erbärmlich in der heutigen Bedeutung ‘ miserabel ’ . Der Bedeutungswandel setzte also erst zu diesem Zeitpunkt ein. Der folgende Textbeleg ist einer der ersten, in dem erbärmlich in der gegenwärtigen Bedeutung ‘ miserabel ’ verwendet wird: „ . . . ich bedauere, daß ich Ihnen damit nicht dienen kann, denn ich komme itz gar nicht mehr nach der Stadt, sehen Sie man ißt da gar zu erbärmlich, zumal bey dem Präsidenten, dem komme ich in meinem leben nicht wieder. Er hat mir vor einem halben Jahre eine Zwiebelsuppe und darin kleine nürnberger geräucherte Würste vorgesetzt, ich begreife gar nicht, wie eine menschliche Creatur sich mit so etwas nähren kann. “ 192 Allerdings wurde erbärmlich, wie die folgende Textpassage zeigt, bis ins 19. Jahrhundert gleichzeitig in seiner alten Bedeutung ‘ Mitleid erweckend ’ gebraucht. Anscheinend wurde dieses Adjektiv zu diesem Zeitpunkt polysem verwendet: 191 Von Grimmelshausen 1668/ 2000: S. 18 192 Nicolai 1773 - 1776/ 2000: S. 59 170 <?page no="171"?> „ Da ist aber die Frau Liebste des entfahrnen Schneiderleins dazugekommen, und als diese die gefundenen Sachen erblickt, hat sie die Hände gerungen, gar erbärmlich getan und geschrien: ‘ Ach Jammer, das ist meines Liebsten Schnallendorn, ach Jammer, das ist meines Liebsten Sonntagsweste, ach Jammer, das ist meines Liebsten Stockknopf! ’“ 193 Eine ähnliche Bedeutungsentwicklung weisen auch die Adjektive jämmerlich und kläglich auf. Sie wurden in der Ausgangsbedeutung ausschließlich deskriptiv verwendet und gegenwärtig weisen sie eine negative expressivevaluative Bedeutung auf. Schauen wir uns die Adjektive einzeln an. Kläglich wurde meistens im Zusammenhang mit Handlungen des Rufens, Weinens und Schreiens gebraucht. Es diente also zur verstärkenden Darstellung oder Mitteilung von Leid und Kummer. Folgende Textbelege verdeutlichen diese deskriptive Gebrauchsweise: „ Wie traurig und bestürzt weis sie sich zu geberden? Der Männer Blick will ihr nunmehr zum Ekel werden. Der Minen Traurigkeit, weil sie so kläglich weint, Beschwatzet dich gewiß, als wär es recht gemeynt; “ 194 Wie folgende Textpassagen verdeutlicht, wurde kläglich gleichzeitig im Sinne von ‘ Mitleid erregend ’ verwendet: „ Ich werde sie gewiß sehr lange suchen müssen. Es ist mir bang um sie; sie sah recht kläglich aus. “ 195 „ Wie? Der Schrecken des Sizilianers, die Zuckungen, die Ohnmacht, der ganze klägliche Zustand dieses Menschen, der uns selbst Erbarmen einflößte - alles dieses wäre nur eine eingelernte Rolle gewesen? “ 196 Das Adjektiv jämmerlich wurde ähnlich wie kläglich gebraucht. Einerseits diente es zur verstärkten Darstellung oder Mitteilung von Leid und Kummer. Andererseits konnte jämmerlich im Sinne von ‘ Mitleid erregend ’ verwendet werden. In diesem Fall kam die Perspektive des Außenbeobachters stärker zum Vorschein. Folgende Textpassagen verdeutlichen beide Gebrauchsweisen dieses Adjektivs: „ . . .nichts von einem halben dutzend Katern zu gedenken, die auf dem Dach, das an meinem Fenster anliegt, der jungen Katze vom Hause, wie ich mir einbilde, eine Serenade brachten, und so jämmerlich in die Wette heulten, daß mir jetzt noch alle Rippen im Leibe davon weh tun. “ 197 193 Hoffmann, E. T. A. Erstdruck: 1822/ 2000: S. 131 194 Von Ziegler 1739/ 2004: S. 252 195 Neuber 1754/ 2004: S. 270 196 Schiller 1786 - 1798/ 2000: S. 100 197 Wieland 1772/ 2000: S. 176 171 <?page no="172"?> „ Den 12ten, des Morgens, bekam das Schiff 3 Meilen von dem Capo Finisterre solche starcke Risse, und das Wasser drunge so hefftig hinein, daß der Capitain, da er kein Mittel zur Rettung sahe, die Chalouppe und den Kahn ins Meer ließ, um eiligst Hülfe zu holen. Aber in weniger als einer Stunde war das gantze Schiff bereits zu Grunde gegangen. Die Personen, welche sich am Bord desselben befanden, musten ihr Leben jämmerlich verlieren, und es ist niemand gerettet worden,. . . “ 198 Gegenwärtig verfügen die Adjektive jämmerlich und kläglich, ähnlich wie erbärmlich, über eine negativ wertende expressiv-evaluative Bedeutung. Allerdings haben die betreffenden Adjektive im Unterschied zu erbärmlich die deskriptive Bedeutung beibehalten und werden polysem verwendet. Nachdem wir den Bedeutungswandel dieser drei Adjektive anhand von Quelltexten nachgegangen sind, wollen wir uns der Frage widmen, welche Aspekte zu dieser Bedeutungsentwicklung beigetragen haben. Fangen wir mit den Motiven der Sprecher an. Nach Schuchardt ist für die Bedeutungsentwicklung „ Mitleid erregend > miserabel “ die „ Abneigung (. . .) gegen Menschen die niedere Arbeit verrichten und bei denen rohe Lebensart Not und Natur ist “ 199 ursächlich. Ich denke aber, dass die Bedeutungsentwicklung von ‘ bemitleidenswert ’ hin zu ‘ miserabel ’ bei den Adjektiven jämmerlich, kläglich sowie erbärmlich der Tatsache geschuldet ist, dass die Handlung des Bemitleidens impliziert, dass sich die zu bemitleidende Person in einem schlechteren Zustand befindet als der Sprecher selbst. Die Menschen, die sich in einem besseren Zustand befinden, erregen eben kein Mitleid. Das heißt wiederum, dass man durch die Handlung des Bemitleidens nicht nur sein Mitgefühl zeigt, sondern auch zum Ausdruck bringt, dass sich die betroffene Person in einer schwächeren, unterlegenen und der Sprecher in einer überlegenen Position befindet. Anscheinend war genau dieser Schlussprozess ausschlaggebend für die pejorative Bedeutungsentwicklung von der deskriptiven Bedeutung ‘ bemitleidenswert ’ hin zu der expressiv-evaluativen Bedeutung ‘ miserabel ’ . Die Sprecher haben die Handlung des Bemitleidens ausschließlich pejorativ zum Zwecke der Erniedrigung verwendet, um ihre negative, abschätzige Haltung zum Ausdruck zu bringen. Diesen kommunikativen Effekt hat man durch den ironischen Gebrauch von jämmerlich, kläglich sowie erbärmlich erzielt. Im folgenden Satz sieht man dies besonders eindrucksvoll: „ O Er erbärmlicher Wicht! Er verdient gar nicht, daß sich ein Stubenmädchen von meiner Qualität mit Ihm unter einem Dache befindet. “ 200 Es handelt sich hierbei um eine ironische Gebrauchsweise. Auf den ersten Blick sagt die Autorin dieses Satzes eine Unwahrheit, indem 198 Berlinische Nachrichten von Staats= und gelehrten Sachen, LXIII, 05. 27. 1741 199 Schuchardt-Brevier 1928/ 1976: S. 147 200 Raimund 1828/ 2000: S. 344 172 <?page no="173"?> sie die betreffende Person als ‘ Mitleid erweckend ’ bezeichnet. Aber in Wirklichkeit zeigt sie kein Mitleid, sondern lediglich Verachtung für den Betroffenen. Mit dieser Aussage wollte die Sprecherin natürlich niemanden in die Irre führen, sondern sie wollte durch die ironische Gebrauchsweise des Adjektivs erbärmlich ihrer Aussage eine besondere Expressivität verleihen und ihre eigene missbilligende Haltung verstärken. Daraus kann man schließen, dass von der usuellen Gebrauchsweise abgewichen wurde, um die eigene abschätzige Haltung besonders expressiv zum Ausdruck zu bringen. Mit der Zeit wurde dann diese abweichende Gebrauchsweise zu der lexikalischen Bedeutung von erbärmlich. Ähnliches lässt sich auch über weitere Adjektive aus dem Wandelpfad ‘ Bemitleidenswert > miserabel ’ sagen. Es ist erwähnenswert, dass auch heute die Handlung der Mitleidsbekundung häufig pejorativ genutzt wird. Dies zeigt der gegenwärtig vor allem in der Jugendsprache geläufige Satz „ Du tust mir aber echt leid! “ Dieser Satz wird meistens nicht dazu verwendet, um Mitgefühl zu zeigen, sondern um die eigene negative, herabsetzende Haltung dem Gesprächspartner gegenüber zum Ausdruck zu bringen. Auch das oben behandelte Beispiel Opfer aus der Jugendsprache verdeutlicht diese Sichtweise. Nachdem wir die Motive der Sprecher und deren sprachliche Umsetzungsmittel behandelt haben, sollten wir klären, warum die einzelnen Wandelfälle systematische Parallelen aufweisen. Oder anders ausgedrückt: Welche Faktoren haben zur Entstehung dieses Wandelpfades beigetragen? Ähnlich wie bei den Wandelerscheinungen aus anderen Wandelpfaden lässt sich durch diese Beispiele feststellen, dass die semantischen Wandelprozesse oft systematischer sind, als man dies früher angenommen hat, denn die Wandelfälle weisen sehr oft untereinander unverkennbare Parallelen auf. Diese parallelen Bedeutungsentwicklungen basieren dabei auf Bedeutungsrelationen wie der Ähnlichkeits- oder Kontrastrelation. Sie helfen den Rezipienten dabei, den gemeinten metaphorischen, metonymischen, ironischen oder sonstigen Sinn der Äußerung zu verstehen, da die Hörer dadurch eine Brücke zwischen der aktuellen, von der lexikalischen Bedeutung abweichenden Äußerung und der bereits erfolgreich erprobten Äußerung schlagen können. So war dies auch bei den Adjektiven erbärmlich, kläglich und jämmerlich der Fall. So lässt sich anhand von Belegtexten aus dem „ Deutschen Referenzkorpus “ des Instituts für Deutsche Sprache feststellen, dass die Adjektive jämmerlich und kläglich den Bedeutungswandel später als erbärmlich vollzogen haben. Früheste Belege von erbärmlich in der Bedeutung ‘ miserabel ’ findet man in den Texten aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Adjektive jämmerlich und kläglich wurden hingegen erst in den 1830-er Jahren expressiv-evaluativ verwendet. Dafür sollte die Tatsache verantwortlich sein, dass die neue expressiv-evaluative Gebrauchsweise von 173 <?page no="174"?> erbärmlich mit der Zeit immer stärker lexikalisiert wurde. Mit der voranschreitenden Lexikalisierung wurde aber auch die ironische Verwendung von erbärmlich immer unwahrscheinlicher. Deswegen mussten die Sprecher andere sprachliche Mittel finden, um den gleichen kommunikativen Effekt zu erzielen. Die Adjektive kläglich und jämmerlich waren zu diesem Zweck besonders gut geeignet, da sie in der Ausgangsbedeutung eine ähnliche Bedeutung aufwiesen wie das Adjektiv erbärmlich. Die Sprachbenutzer haben also diese Ähnlichkeit auf der Ebene der Ausgangsbedeutung genutzt und kläglich sowie jämmerlich ebenfalls ironisch verwendet, um den ähnlichen kommunikativen Effekt zu erzielen. Da die expressivevaluative Verwendung ebenfalls Teil der Gebrauchsregel von diesen Adjektiven geworden ist, weisen erbärmlich, kläglich und jämmerlich auch in der Endbedeutung Bedeutungsähnlichkeit untereinander auf. Anscheinend war die semantische Parallelentwicklung von erbärmlich und jämmerlich zusätzlich durch einen weiteren Faktor begünstigt. Das Adjektiv erbärmlich wurde im 19. Jahrhundert als eine Kollokation zusammen mit dem Substantiv Wicht expressiv-evaluativ verwendet, um die negativ wertende Einstellung zu einer Person zum Ausdruck zu bringen. Wenn man die Texte des 19. Jahrhunderts aus dem DEREKO anschaut, so wird man diese Kollokation an insgesamt neun Stellen vorfinden: 1. „ Wenn ebender Mann aus einem erbärmlichen Wichte einen bedeutenden Mann machen kann, warum soll er nicht einen gemeinen Gedanken adeln können? “ 201 2. „ Wenn der Philosoph Plato aus dem guten Sokrates so oft einen Schwätzer machte, ist es denn wohl ein Wunder, daß mancher Geschichtschreiber und die meisten dramatisch-historischen Romanenschreiber aus den großen Männern alter und neuer Zeit erbärmliche Wichte machen? “ 202 3. „ Der Neid ist doch ein erbärmlicher Wicht, da ist der Haß ein anderer Mann. 203 4. O Er erbärmlicher Wicht! Er verdient gar nicht, daß sich ein Stubenmädchen von meiner Qualität mit Ihm unter einem Dache befindet. “ 204 5. „ Da wußt ich ’ s auf einmal, wer ich bin, ein weinerlicher, erbärmlicher Wicht, der noch nichts gemalt und erdacht hat! “ 205 6. „ Laßt brausen im Becher den perlenden Wein! Wer schlafen kann, ist ein erbärmlicher Wicht. “ 206 201 Klinger 1803 - 1805/ 2000: S. 181 202 Klinger 1803 - 1805/ 2000: S. 335 203 Raimund 1826/ 2000: S. 180 204 Raimund 1828/ 2000: S. 344 205 Von Eichendorff 1834/ 2000: S. 402 206 Raimund 1834/ 2000: S. 538 174 <?page no="175"?> 7. „ Ein erbärmlicher Wicht, der meinen Angelo gestern Hoch bis zum Himmel erhob, heute mit Füßen ihn tritt, Tadelt mich, daß ich nicht schläfrig im Zimmer sitze und brüte, Sondern die freie Natur suche, wie Kinder die Brust. “ 207 8. „ Du verstehst das nicht zu trennen, weil Du nie in ’ s Theater kommst. Du würdest vermutlich jeden guten Schauspieler, der einen edlen Helden darstellt, ohne Weiteres für einen höchst edlen Menschen halten, während er vielleicht ein erbärmlicher Wicht ist. “ 208 9. „ Ohne allen Grund war er im Gespräche mit dem Jäger immer anzüglicher geworden und hatte endlich etwas gemurmelt von einem ‚ erbärmlichen Wicht ‘ . “ 209 Die mögliche Erklärung für die häufige Verwendung dieser Kollokation könnte Folgendes sein: Die neue pejorative Gebrauchsweise von erbärmlich war für die Hörer leichter im Zusammenhang mit Wicht zu verstehen, denn anhand der negativ wertenden Bedeutung des Substantivs Wicht konnte man leichter darauf schließen, dass das Adjektiv erbärmlich ebenfalls pejorativ und nicht mehr wertneutral gebraucht wurde. An dieser Stelle sehen wir, dass „ eine Kollokation zum Auslöser für Bedeutungswandel werden kann . . . “ 210 Dies geschah aus einem ganz einfachen, praktischen Grund: Kollokationen helfen dem Hörer dabei, den neuen kommunikativen Sinn richtig zu interpretieren. Dadurch ermöglichen sie seinerseits dem Sprecher, bei einer innovativen Ausdrucksweise Missverständnisse zu vermeiden. Wie erbärmlich kam auch das Adjektiv jämmerlich ebenfalls häufig in einer Kollokation mit Wicht vor. So findet man im DEREKO insgesamt acht Belegtexte aus dem 19. Jahrhundert mit dieser Kollokation. Alleine in Ludwig Börnes Briefen aus Paris findet man an sechs Textstellen diese Kollokation. Für eine bessere Veranschaulichung werden hier vier Textpassagen gesondert aufgeführt: 1. „ Hören Sie nur, was ich in der Schrift des Dr. Meyer alles bin, wie ich genannt werde. Elend - seicht - greulich - ruchlos - lächerlicher Tor - superkluger Schreier - ditto eingebildeter - heilloser Gesell - Haupträdelsführer einer jämmerlichen Skriblerbande - Mensch - ditto gottloser - Kerl - jämmerlicher Wicht - entarteter Bursch - Mordbrenner - schamloser Bube - Jude. “ 211 207 Hebbel 1857/ 2000: S. 365 208 Hahn-Hahn 1860/ 2000: S. 368 209 Von Ebner-Eschenbach 1876/ 2000: S. 114 210 Blank 1997: S. 217 211 Börne 1832/ 2000: S. 361 175 <?page no="176"?> 2. „ Und jetzt kommen solche Mordbrenner, solche Mauerbrecher, Dornbüsche, lächerliche Toren, heillose Gesellen und jämmerliche Wichte, und erfrechen sich zu sagen, ich hätte nichts gelernt! “ 212 3. Er spottet der kleinen Demagogen, die in Köpenick und andern preußischen Festungen eingesperrt sind, und sagt, die wären nur Knirpse und jämmerliche Wichte, mit dem großen Agitator verglichen. “ 213 4. „ Sigismund ist nicht darum ein jämmerlicher Wicht, weil er sein Fürstenwort brach, sondern er brach das Wort, weil er ein Wicht war; er hätte sein Wort halten können, und wäre doch ein Wicht, ein Pfaffenknecht gewesen. “ 214 Auch an dieser Stelle lässt sich das konstatieren, was wir bei der Kollokation erbärmlicher Wicht festgestellt haben. Kollokationen dienen sehr oft als eine Art „ Türöffner “ für den Bedeutungswandel eines Ausdrucks, denn jämmerlich wurde in seiner neuen Bedeutung ursprünglich frequent in der Kollokation mit Wicht gebraucht. Mit der Zeit hat dies dann dazu geführt, dass die erstmals innerhalb der Kollokation konstituierte Sinnesvariation des Adjektivs jämmerlich zu einer regelbasierten Bedeutung auch außerhalb der gegebenen Kollokation wurde. Bei der Kollokation jämmerlicher Wicht sollte aber noch ein zusätzlicher Aspekt eine begünstigende Rolle für den semantischen Wandel von jämmerlich gespielt haben, und zwar das Analogieprinzip. Sprecher bildeten die analoge Kollokation jämmerlicher Wicht zu der bereits existierenden Kollokation erbärmlicher Wicht in der Hoffnung, dass Hörer die neue negativ-wertende Bedeutung von jämmerlich besser in einer Kollokation mit Wicht verstehen konnten, weil sie eine ähnliche Kollokation mit Wicht bereits kannten. Wenn man also eine analoge Kollokation nach dem Muster einer bereits existierenden bildet, hat man eine größere Chance, dass der Adressat das Wort in seiner neuen Gebrauchsweise richtig versteht. Dies trägt dann natürlich dazu bei, dass der Sprecher seine kommunikativen Absichten erfolgreich realisieren kann. Wir haben bereits bei den zusammengesetzten Ausdrücken wie Schwachkopf vs. Dummkopf und Blödsinn vs. Schwachsinn so wie bei den Kollokationen zesewe Hant vs. rechte Hand gesehen, dass das Analogieprinzip bei der Bedeutungserschließung von zusammengesetzten Ausdrücken eine wichtige Rolle spielt. Wie wir oben festgestellt haben, lässt sich diese Feststellung auch in Bezug auf die Kollokation jämmerlicher Wicht ausweiten. 212 Börne 1832/ 2000: S. 541 213 Börne 1837/ 2000: S. 950 214 Stirner 1844/ 2000: S. 292 176 <?page no="177"?> Die gewonnenen Erkenntnisse über den Wandelpfad „ bemitleidenswert > miserabel “ lassen sich für eine bessere Veranschaulichung in der folgenden Tabelle zusammenfassen: Ausgangsbedeutung rein deskriptiv Primäre Intention verstärkende pejorative Wertung Sprachliche Mittel Ironie Bedeutungsrelation Bedeutungsähnlichkeit Wissenskonzept „ Mitleid erregend > schwächere Position “ Sprachliche Folgen 3. (häufig) Polysemie: a. Deskriptiv-evaluativ b. Rein deskriptiv 4. (selten) Neue Bedeutung: Deskriptiv-evaluativ 9.2.1 Sprachübergreifende Analyse des Wandelpfads „ bemitleidenswert > miserabel “ Wenn man den georgischen Adjektivwortschatz näher ansieht, dann wird man schnell feststellen können, dass sich im Georgischen, ähnlich wie im Deutschen, die Bedeutungsentwicklung nach dem Muster „ bemitleidenswert > miserabel “ beobachten lässt, denn die meisten georgischen Adjektive, welche in der Bedeutung ‘ Mitleid erregend ’ verwendet werden, können ebenfalls als negativ wertende Adjektive genutzt werden. Die Adjektive საცოდავი (satsodavi) ‘ kläglich ’ , ‘ elend ’ ; უსუსური (ususuri) ‘ schwach ’ , ‘ hilflos ’ ; საწყალი (satcqali) ‘ arm ’ ‘ kläglich ’ und უბედური (ubeduri) ‘ unglücklich ’ sind gute Beispiele dafür. Die deskriptive Gebrauchsweise dieser Adjektive ist allerdings auch im gegenwärtigen Sprachgebrauch anzutreffen. Deswegen werden sie polysem verwendet. Es gibt allerdings auch Adjektive, welche die deskriptive Gebrauchsweise verloren haben und im gegenwärtigen Sprachgebrauch nur noch expressiv-evaluativ verwendet werden. Solche Adjektive sind ბეჩავი (bec ˇ avi) ‘ miserabel ’ , ‘ erbärmlich ’ und უბადრუკი (ubadruki) ‘ armselig, ‘ dumm ’ . ბეჩავი (bec ˇ avi) lässt sich aus der Zusammensetzung ბედშავი (beds ˇ avi) ‘ mit schwarzem Schicksal ’ ableiten. Es wurde ursprünglich dazu verwendet, Mitleid gegenüber den Menschen zu bekunden, denen etwas Böses widerfahren ist. 215 Die folgende Textstelle aus einem berühmten georgischen Gedicht des 19. Jahrhunderts ist ein Beleg dafür, dass ბეჩავი (bec ˇ avi) in diesem Gedicht in der Bedeutung ‘ arm ’ oder ‘ Mitleid erregend ’ verwendet wurde: 215 http: / / www.nplg.gov.ge/ gwdict/ index.php? a=term&d=14&t=28767 (11. 05. 2014) 177 <?page no="178"?> „‚ეწადა ბეჩავს ადგომა, მაგრამ ვეღარა დგებოდა‘ . აქ ბეჩავი საბრალოს, საცოდავს ნიშნავს.“ 216 ‘ Der arme wollte aufstehen, er konnte es aber nicht. ’ Hier bedeutet bec ˇ avi arm, oder Mitleid erregend. ’ Auch in einem Roman von Qasbegi aus dem 19. Jahrhundert wird ბეჩავი (bec ˇ avi) als ‘ Erbarmen erweckend ’ verwendet: „ მღვდელო, მღვდელო ! - გულის გასაგმირად დაიძახა ონისემ და მუხლებზედ დაეცა : - შემინდევ, მაპატიე, შემიბრალე . . . ბეჩავი ვარ ! “ 217 ‘ Priester, Priester! “ , schrie Onisse herzzerreißend und fiel auf die Knie Vergib mir, verzeih mir, hab Mitleid mit mir . . . ich bin bemitleidenswert! ’ Auch das georgische Adjektiv უბადრუკი (ubadruki) wurde ursprünglich rein deskriptiv verwendet. Früheste Belege für diese Verwendungsweise finden wir im geistlichen literarischen Werk „ Martyrium der Heiligen Schuschanik “ aus dem 5. Jahrhundert. In einem Online-Wörterbuch wird darauf hingewiesen, dass dieses Adjektiv in „ Martyrium der Heiligen Schuschanik “ in der deskriptiven Bedeutung ‘ bemitleidenswert ’ verwendet wurde. Wie in der folgenden Textpassage zu sehen ist, wurde უბადრუკი (ubadruki) in der deskriptiven Bedeutung vereinzelt sogar bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts verwendet: „ მეორე დღეს ორივენი ერთად წავიდნენ თევზებზე სანადიროდ . უფროსი ყანჩა ჯერ კიდევ სუსტად გრძნობდა თავს . წყალს რომ ჩავიდნენ თვალები დაუბნელდა და ფეხები აუკანკალდა . უმცროსმა გემრიელი თევზი მიაწოდა და მოასულიერა . შემდეგ კიდევ ჩაუდო პირში სხვა თევზი . აბა, რა ექნა, ეცოდებოდა უბადრუკი ძმა . “ 218 ‘ Am zweiten Tag sind beide gegangen, um Fische zu angeln. Der ältere Reiher fühlte sich immer noch geschwächt. Als sie am Wasser waren, fingen seine Beine an zu zittern und er verlor das Bewusstsein. Der jüngere gab ihm einen leckeren Fisch und brachte ihn wieder zum Bewusstsein. Was sollte er denn sonst tun. Sein armer Bruder tat ihm leid. ’ Das Vorhandensein des Wandelpfades „ Mitleid erregend > miserabel “ im Georgischen spricht dafür, dass es sich hierbei um einen sprachübergreifenden Wandelpfad handelt. Der Grund für eine ähnliche Bedeutungsentwicklung im Deutschen und Georgischen könnte darin liegen, dass man zu bemitleidende Menschen oder Sachverhalte für gewöhnlich als minderwertig oder schwach empfindet. Diese alltägliche Erfahrung wurde natürlich über die Sprachgrenzen hinweg geteilt, deswegen beschränkte sich die 216 http: / / iness.uib.no/ gekko/ document-element? session-id=236503218702491&cpos= 11360794 (GEKKO, Stand: 11. 05. 2014) 217 http: / / www.lib.ge/ mybook/ 00413/ OEBPS/ chapter-41.html (11. 05. 2014) 218 http: / / iness.uib.no/ gekko/ document-element? session-id=236503218702491&cpos= 10514989 (GEKKO, Stand 11. 05. 2014) 178 <?page no="179"?> mit ihr im Zusammenhang stehende Bedeutungsentwicklung nicht nur auf die deutsche Sprachgemeinschaft, sondern fand ihre Gültigkeit auch in weiteren Sprachen. Anhand von deutschen und georgischen Beispielen kann man diesen Wandelpfad wie in Abbildung 13 graphisch darstellen: Deutsch: Deutsch: deskriptiv expressiv-evaluativ ‘ bemitleidenswert ’ ‘ miserabel ’ 1. Erbärmlich è Wande l è 1. Erbärmlich (Monosem) êêê êêê Bedeutungsähnlichkeit Bedeutungsähnlichkeit ééé ééé 2. Jämmerlich 2. Jämmerlich (Polysem) êêê êêê Bedeutungsähnlichkeit Bedeutungsähnlichkeit ééé ééé 3. Kläglich 3. Kläglich (Polysem) êêê êêê Bedeutungsähnlichkeit Bedeutungsähnlichkeit ééé ééé 4. Armselig 4. Armselig (Monosem) êêê êêê Bedeutungsähnlichkeit Bedeutungsähnlichkeit ééé ééé 5. Elendig 5. Elendig (Polysem) Georgisch deskriptiv Georgisch expressiv-evaluativ ‘ bemitleidenswert ’ ‘ miserabel ’ საცოდავი [sac ’ odavi] საცოდავი (Polysem) êêê êêê Bedeutungsähnlichkeit è Wandel è Bedeutungsähnlichkeit ééé ééé უბედური [ubeduri] უბედური (Polysem) êêê êêê Bedeutungsähnlichkeit Bedeutungsähnlichkeit ééé ééé უსუსური [ususuri] უსუსური (Polysem) êêê êêê Bedeutungsähnlichkeit Bedeutungsähnlichkeit ééé ééé ბეჩავი [bec ˇ ’ avi] ბეჩავი (Monosem) êêê êêê Bedeutungsähnlichkeit Bedeutungsähnlichkeit ééé ééé უბადრუკი [ubadruki] უბადრუკი (Monosem) Abbildung 13: Sprachübergreifender Wandelpfad „ Mitleid erregend > miserabel “ 179 <?page no="180"?> Zusammenfassend lässt sich über diese Gruppe der expressiv-evaluativen Adjektive Folgendes sagen: Sie wurden zwar in der Ausgangsbedeutung deskriptiv gebraucht, haben aber im gegenwärtigen Sprachgebrauch eine negative expressiv-evaluative Bedeutung. Demnach weisen auch bei diesem Wandelpfad die einzelnen Wandelerscheinungen eine paradigmatische Bedeutungsrelation zueinander auf, und zwar eine Ähnlichkeitsrelation. Auch hier sieht man, dass paradigmatische Bedeutungsrelationen eine nicht zu unterschätzende Rolle bei semantischen Wandelprozessen spielen. Besonders markante Beispiele hierfür sind vor allem die Adjektive erbärmlich und jämmerlich. Dass der Bedeutungswandel von erbärmlich einen Einfluss auf die Bedeutungsentwicklung von jämmerlich hatte, sieht man daran, dass beide Adjektive in der neuen expressiv-evaluativen Bedeutung anfänglich häufig in einer Kollokation mit Wicht verwendet wurden, denn die Sprecher wussten, dass erbärmlich und jämmerlich auf der alten deskriptiven Ebene miteinander eine Bedeutungsverwandtschaft aufwiesen. Des Weiteren war den Sprechern bekannt, dass erbärmlich in einer Kollokation mit Wicht expressiv-evaluativ abschätzig verwenden konnte. Anscheinend war hier die treibende Kraft des Bedeutungswandels das Konzept, nach dem bemitleidenswerte Menschen als schwach und unterlegen angesehen werden. Dabei können die betreffenden Adjektive wertend nicht nur auf Menschen, sondern auch auf Gegenstände bezogen werden. Ausschlaggebend für diese Bedeutungsentwicklung war, dass die Sprecher die Handlung der Mitleidsbezeugung ausschließlich pejorativ vollzogen haben, um eine abfällige Haltung zum Ausdruck zu bringen. Dabei bedienten sich die Sprecher des gängigen Mittels der Ironie, um diese Absichten zu realisieren. Die frequente Gebrauchsweise hat dann dazu geführt, dass die alte deskriptive Bedeutung verschwand und sich an ihrer Stelle eine negative expressiv-evaluative Bedeutung etablierte. In manchen Fällen kam es auch zur Polysemie. 9.3 Wandelpfad „ Glanz ausstrahlend > großartig “ Neben den Adjektiven wie toll, wahnsinnig und verrückt gibt es noch eine weitere Gruppe von Adjektiven, die ursprünglich rein deskriptiv verwendet wurden und im gegenwärtigen Sprachgebrauch eine positiv wertende expressiv-evaluative Bedeutung aufweisen. Zu dieser Gruppe gehören Adjektive wie glänzend, glanzvoll, leuchtend, schillernd und blendend. Die Menschen nutzen anscheinend gern Eigenschaftswörter, welche mit dem Bereich des Glanzvollen assoziiert werden, um eine sehr positive Wertung vorzunehmen. So sind die glanzvollen Leistungen eines Schülers sehr lobenswerte, großartige Leistungen, und eine Frau mit einem blendenden Aussehen verfügt im Augen des Betrachters über ein sehr hübsches 180 <?page no="181"?> Äußerliches. Dabei waren die expressiven und evaluativen Bedeutungsaspekte ursprünglich nicht Teil der Gebrauchsregel dieser Ausdrücke, denn ursprünglich wurden diese Adjektive rein deskriptiv verwendet. Schauen wir sie uns einzeln näher an. Das Adjektiv glanzvoll wurde bis zum Ende des 18. Jahrhunderts häufig deskriptiv zur Beschreibung von Gegenständen oder Sachverhalten verwendet, welche Glanz ausstrahlten: „ . . .ein Gestirn, das glanzvoll geleuchtet, kann, unserm Horizont entfliehend, schnell verbleichen und endlich ganz untergehen. “ 219 „ Ich hab zwei frische Augen, Und kann dem blinden Vater keines geben, Nicht einen Schimmer von dem Meer des Lichts, Das glanzvoll, blendend, mir ins Auge dringt. “ 220 Dieses Adjektiv wurde aber bereits im 18. Jahrhundert polysem verwendet. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird glanzvoll allerdings allmählich überwiegend im Sinne von ‘ großartig ’ gebraucht. Im DeReko findet man folgende Textbelege aus dieser Periode, in denen glanzvoll eindeutig eine expressiv-evaluative Bedeutungskomponente aufweist: „ Der erste finstre Schatten, der in Wolfframbs glanzvolles Leben fiel, war Ofterdingens unglückliches Geheimnis. Wenn er gedachte, wie die andern Meister ihn liebten, unerachtet gleich ihm auch ihnen Mathildens Schönheit hell aufgegangen, wie nur in Ofterdingens Gemüt sich mit der Liebe zugleich feindseliger Groll eingenistet und ihn fortgebannt in die öde freudenlose Einsamkeit, da konnte er sich des bittern Schmerzes nicht erwehren. “ 221 „ Sie war seltsam anders als ihr Geschlecht! Wir sprachen einmal über die Corinna, worin uns alles Andere besser gefiel als die eigentliche Liebesgeschichte; und ich sprach meine Verwunderung aus, wie ein so glanzvolles Geschöpf diesen trübseligen Oswald lieben könne. ‘ Mitleid! Mitleid! liebes Herz! ’ rief sie; “ 222 Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte sich die expressivevaluative Bedeutung endgültig durch. Gegenwärtig wird glanzvoll ausschließlich als positiv-wertendes Adjektiv verwendet. Die deskriptive Bedeutung ging verloren. Eine ähnliche Bedeutungsentwicklung weist auch das bedeutungsverwandte Adjektiv glänzend auf. Die ersten Textbelege aus dem „ Deutschen Referenzkorpus “ stammen aus dem 17. Jahrhundert. Zu dieser Zeit wurde 219 Hoffmann, E. T. A. 1819 - 1821/ 2000: S. 384 220 Schiller 1802 - 1804/ 2000: S. 937 221 Hoffmann, E. T. A. 1819 - 1821/ 2000: S. 364 222 Hahn-Hahn 1840/ 2004: S. 341 181 <?page no="182"?> glänzend ausschließlich deskriptiv verwendet. Die deskriptive Gebrauchsweise war auch im 18. Jahrhundert vorherrschend. Folgende Textpassagen verdeutlichen dies: „ Es war eine Lampe hereingebracht und vor ihr auf den Tisch gestellt; sie war zufällig wundervoll beleuchtet. Glänzende Lichtstreifen fielen auf ihr schwarzes Atlaskleid und verriethen ihre liebliche Gestalt. “ 223 „ So wie sie alle Dinge aus ihrem eigenen Gesichtspunkte betrachtete, so konnte sie nicht genug bewundern, wie natürlich der Schäferhabit dem kleinen Predigersohne stände; aber sie fand, daß ebendiese Art von Kleidung ihr jüngstes Fräulein verstelle, ob sie gleich, mit einem gnädigen Kopfneigen gegen Marianen, bemerkte, die Arbeit daran wäre sehr artig. Fräulein Adelheid hingegen, in ihrer von Zindel und Flittern glänzenden Nymphentracht, hatte ihren ganzen Beifall. Sie umarmte sie und spielte mit ihren über den Busen gelegten falschen Locken, die ihr prinzessinnenmäßig vorkamen. “ 224 Im gegenwärtigen Sprachgebrauch weist das Adjektiv glänzend allerdings eine Polysemie auf. Es kann einerseits rein deskriptiv im Sinne von ‘ Glanz ausstrahlend ’ verwendet werden. Andererseits verwenden die Sprecher dieses Adjektiv expressiv-evaluativ, um eine besonders positive Wertung zum Ausdruck zu bringen. Die letztere Bedeutungsvariante kam erst zu einem späteren Zeitpunkt auf. Auch das Adjektiv leuchtend weist in bestimmten Kollokationen, z. B. mit den Substantiven Vorbild, Ziel und Beispiel, eine expressiv-evaluative Bedeutungskomponente auf. Dabei kann man anhand der hohen Trefferzahl im „ Deutschen Referenzkorpus “ feststellen, dass die wertende Gebrauchsweise erst ab den 90-er Jahren des 20. Jahrhunderts besonders häufig anzutreffen war. Folgende Beispiele verdeutlichen diese Gebrauchsweise: „ Die Hausaufgaben, die sich die Staats- und Regierungschefs in Lyon stellten, klingen für deutsche Ohren vertraut. Die Steuer- und Sozialversicherungssysteme müßten reformiert werden, Arbeit müsse sich wieder lohnen, die Sozialabgaben müßten gesenkt werden. US-Präsident Bill Clinton pries den amerikanischen Weg zu mehr Beschäftigung durch flexible Arbeitsmärkte und den Abbau von Haushaltsdefiziten als leuchtendes Beispiel. Von Streit darüber war nichts zu hören. “ 225 „ Denn karitative Arbeit lebt vom Engagement und der Hilfsbereitschaft anderer Menschen. Ohne den unentgeltlichen Einsatz der Helfer könnte das Deutsche Rote Kreuz nicht leben. Berthold Ruppenthal sei in dieser Hinsicht 223 Hahn-Hahn 1840/ 2004: S. 133 224 Nicolai 1773 - 1776/ 2000: S. 157 225 Rhein-Zeitung, 29. 06. 1996 182 <?page no="183"?> ein leuchtendes Vorbild für alle. Helfen, Menschen in Not beizustehen - das scheint eine selbstverständliche Aufgabe für ihn zu sein. “ 226 Gleichwohl muss man aber auch sagen, dass die deskriptive Gebrauchsweise beim Adjektiv leuchtend im gegenwärtigen Sprachgebrauch eindeutig vorherrschend ist. Die expressiv-evaluative Gebrauchsweise ist relativ selten anzutreffen und zwar nur in bestimmten Kollokationen. Trotzdem kann man davon ausgehen, dass es sich hierbei nicht um einen kontextabhängigen Äußerungssinn, sondern eher um eine lexikalische Bedeutung handelt. Dafür spricht vor allem die Tatsache, dass die expressiv-evaluative Bedeutungsvariante auch in den DUDEN aufgenommen wurde. 227 Im Unterschied zu leuchtend ist beim Adjektiv schillernd die expressivevaluative Bedeutungskomponente stärker ausgeprägt, denn die Sprachbenutzer verwenden dieses Adjektiv zum Ausdruck eigener positiver, emphatischer Haltungen in unterschiedlichen Kontexten. So kann man schillernd unter anderem in Bezug auf eine Persönlichkeit, Opernacht, Gestalt oder Bedeutungsvielfalt verwenden. In seiner Ausgangsbedeutung wurde aber dieses Adjektiv ausschließlich rein deskriptiv verwendet. Folgende Belegtexte verdeutlichen diese Gebrauchsweise: „ O wenn du und dein Freund in der letzten Stunde, wo das Leben seine schillernden Pfauenspiegel zusammenfaltet und sie farbenlos und schwer in das Grab einsenkt, bei mir blieben als die zwei ersten Engel der künftigen Welt! “ 228 „ Zuerst erleuchteten sich der Lorbeerkranz mit dem Schmetterlinge und die Trauben, ein dunkles ernsthaftes Grün, das endlich in verschiedene Stimmungen über die umgebenden Früchte zerrann. Dann glühte das ganze Becken in mildem grünen Feuer, und die schillernden Tropfen, die zwischen den Früchten hervordrangen, leuchteten und sammelten die verschiedenen Grade des Feuers in dem Boden des Beckens, das mit grünem Spiegel überzogen die immer gleiche Menge des Wassers mit einer zurückstrahlenden Seele belebte, und in dieser brannte das Ganze noch einmal reflektiert. “ 229 Die Kookkurrenzanalyse im „ Deutschen Referenzkorpus “ hat gezeigt, dass schillernd im 18. und 19. Jahrhundert ausschließlich deskriptiv in Bezug auf Gegenstände angewendet wurde. Erst im 20. Jahrhundert wurde es zur Charakterisierung von Menschen gebraucht und bekam dadurch eine positiv wertende Bedeutung. 226 Rhein-Zeitung, 02. 01. 1998 227 Vgl. Duden, Das grosse Wörterbuch der deutschen Sprache 1999: Band 6 S. 2415 228 Jean Paul 1795/ 2000: S. 1116 229 Brentano 1801 - 1802/ 2000: S. 263 183 <?page no="184"?> Neben den Adjektiven glanzvoll, glänzend, leuchtend und schillernd gibt es noch einen besonders interessanten Fall des Bedeutungswandels, der eindeutig zum Wandelpfad „ Glanz ausstrahlend > großartig “ gezählt werden kann. Gemeint ist das Adjektiv blendend. Auch dieses Adjektiv wurde ursprünglich rein deskriptiv zur Beschreibung eines Gegenstandes angewendet, der so stark glänzte, dass er einem die Augen blendete. Folgende Beispiele verdeutlichen diese Gebrauchsweise: „ Um sie her flatterten auf einer kleinen silbernen Wolke eine Menge Salamander, in Gestalt kleiner geflügelten Knaben von überirdischer Schönheit, ihre Haare schienen gekräuselte Sonnenstrahlen, ihre Flügel Feuerflammen, ihr Leib weißer als der Schnee im Sonnenschein, und die Farbe der Morgenröte schimmerte um ihre Stirn und auf ihren Wangen. Dem ungeachtet wurden sie alle von dem Glanz der Fee verdunkelt, welcher so blendend war, daß mir das Gesicht davon vergangen wäre, wenn sie die Vorsicht nicht gebraucht hätte, mich mit ihrem Stabe zu berühren. “ 230 „ Welche himmlische Gestalt erblicke ich! - War es das Spiel meiner Einbildung, war es die Magie der Beleuchtung? Ich glaubte, ein überirdisches Wesen zu sehen, und mein Auge floh zurück, geschlagen von dem blendenden Licht. “ 231 Obwohl bereits im 18. Jahrhundert auch die expressiv-evaluative Gebrauchsweise von blendend anzutreffen ist, sollte man in diesem Fall noch nicht von einer lexikalisierten Bedeutung sprechen, sondern vielmehr von einer metaphorischen Verwendung. Dafür spricht vor allem die Tatsache, dass blendend zu dieser Zeit wertend sehr häufig zusammen mit dem Substantiv Schönheit gebraucht wurde. In folgenden Belegtexten findet man diese Kollokationen: „ Die Kunst war in der Anlegung desselben so versteckt, daß alles ein bloßes Spiel der Natur zu sein schien. Hier und da sahe er Nymphen von blendender Schönheit unter Gebüschen oder in Grotten liegen, und kleine Bäche aus ihren Urnen gießen, die den Garten durchschlängelten, an vielen Orten in allerlei Figuren in die Höhe spielten, an andern Wasserfälle machten, oder in marmorne Becken sich sammelten. “ 232 „ Ein neugebornes Kind von blendender Schönheit lag auf dem rosenfarbnen Schoos der Fremden, und wurde von ihrem himmelblauen Mantel liebreich gegen die schneidende Kälte geschützt. “ 233 230 Wieland 1772/ 2000: S. 46 231 Schiller 1786 - 1798/ 2000: S. 144 232 Wieland 1772/ 2000: S. 313 233 Naubert 1789 - 1792/ 2004: S. 12 184 <?page no="185"?> Die kollokationäre Gebrauchsweise von blendend mit dem Substantiv Schönheit sollte anscheinend dem Hörer dabei helfen, den gemeinten expressiv-evaluativen metaphorischen Sinn von blendend zu erschließen. Da ein zusätzlicher Aufwand nötig war, um die wertende Verwendung kenntlich zu machen, kann man davon ausgehen, dass die expressivevaluative Verwendung von blendend zu diesem Zeitpunkt noch nicht konventionalisiert war. Die expressiv-evaluative Bedeutung wurde meines Erachtens erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts lexikalisiert Anhand von Belegtexten im „ Deutschen Referenzkorpus “ des Instituts für Deutsche Sprache lässt sich feststellen, dass die deskriptive Verwendung von blendend gegen Ende des 18. Jahrhunderts immer stärker ins Hintertreffen geriet und durch die expressiv-evaluative Bedeutung ersetzt wurde. Im gegenwärtigen Sprachgebrauch ist zwar die deskriptive Bedeutung immer noch anzutreffen, aber die expressiv-evaluative Bedeutungskomponente ist eindeutig vorherrschend in der Gebrauchsregel von blendend. Betrachtet man alle bisherigen Beispiele näher, so fallen dem aufmerksamen Leser sofort einige Gemeinsamkeiten auf. Alle Wandelfälle weisen sowohl in der Ausgangsals auch in der Endbedeutung untereinander semantische Ähnlichkeitsrelationen auf. Sie wurden in der Ausgangsbedeutung in den allermeisten Fällen rein deskriptiv verwendet. Genauer gesagt wurden diese Adjektive zur Kennzeichnung der Lichtkraft oder des Glanzes eines Gegenstandes gebraucht. Gegenwärtig werden sie aber polysem verwendet. Sie werden immer noch rein deskriptiv für Gegenstände gebraucht. Expressiv-evaluativ werden diese Adjektive hingegen auf Menschen oder auf die Bereiche angewendet, die mit dem menschlichen Handeln assoziiert werden. Die Polysemie ist nur deswegen möglich, weil die beiden Bedeutungsvarianten die voneinander klar unterscheidbaren Gebrauchsregeln menschlich vs. nicht menschlich aufweisen. Eine Ausnahme bildet dabei schillernd, das zwar überwiegend in Bezug auf Menschen expressiv-evaluativ verwendet wird, aber auch in Bezug auf Objekteigenschaften evaluativ gebraucht werden kann. Eine weitere Gemeinsamkeit besteht im Wandelprozess selbst. So wurden alle fünf Adjektive ursprünglich metaphorisch verwendet, um mit ihnen eine expressive Wertung vorzunehmen. Dabei war die metaphorische Gebrauchsweise ursprünglich durch die Tatsache motiviert, dass glänzende Gegenstände unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen und sich dadurch von anderen Gegenständen abheben. Dementsprechend wurden glänzende Gegenstände positiv konnotiert. Dies sieht man unter anderem daran, dass sie für gewöhnlich als sehr positiv gewertet werden. So werden beispielsweise sowohl Schmuckgegenstände aus Diamanten und Gold als auch die Sonne, der Mond und die Sterne in ganz unterschiedlichen Sprachgemeinschaften durchgängig positiv wahrgenommen. Diese positiven Konnotationen waren meiner Ansicht nach verstehensrelevante Aspekte für eine 185 <?page no="186"?> erfolgreiche Realisierung des metaphorischen Sinnes, denn durch den metaphorischen Vergleich einer Person mit positiv konnotierten Gegenständen konnte man eine positive Wertung klar verständlich zum Ausdruck bringen. Es ist auch erwähnenswert, dass das Konzept, demzufolge auffallende Gegenstände als positiv wahrgenommen werden, auch bei der Herausbildung anderer Wandelpfade eine wichtige Rolle spielte. Dieses Konzept war z. B. bei der Bedeutungsentwicklung von Adjektiven wie erhaben, hervorragend und herausragend maßgeblich beteiligt, denn diese Adjektive waren ursprünglich ebenfalls rein deskriptiv. Ihre expressiv-evaluative Gebrauchsweise wurde unter anderem dadurch motiviert, dass die Gegenstände, welche herausragen, hervorragen oder sich aus der Masse erheben, unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen und somit attraktiv erscheinen. Bilanzierend lässt sich folgendes sagen: Betrachtet man die Adjektive aus dem Wandelpfad „ Glanz ausstrahlend > großartig “ so wird man schnell feststellen können, dass es sich hierbei um einen stark ausgeprägten Wandelpfad handelt. Die wichtigsten Aspekte dieses Wandelpfades lassen sich schematisch folgendermaßen darstellen: Ausgangsbedeutung rein deskriptiv Primäre Intention positive Wertung Sprachliche Mittel Metapher Bedeutungsrelation Bedeutungsähnlichkeit Wissenskonzept „ Aufmerksamkeit auf sich ziehend > beeindruckend “ Sprachliche Folgen 1. (häufig) Polysemie: a. expressiv-evaluativ b. Rein deskriptiv 2. (selten) Neue Bedeutung: Expressiv-evaluativ z. B. glanzvoll 9.3.1 Sprachübergreifende Analyse des Wandelpfads „ Glanz ausstrahlend > großartig “ Betrachtet man georgische Pendants zu den deutschen Adjektiven glanzvoll, glänzend, leuchtend, schillernd und blendend, so wird man schnell zu der Erkenntnis gelangen, dass dieser Wandelpfad keinesfalls einen einzelsprachlichen Charakter hat, denn die oben behandelten Beispiele aus dem deutschen Adjektivwortschatz weisen unverkennbare Parallelen zu den georgischen Adjektiven auf. So lässt sich das Adjektiv ბრწყინვალე (brcqinvale) ‘ großartig ’ auf das Verb ბრწყინვა (brcqinva) ‘ glänzen ’ zurückführen. Dieses Verb wird im Georgischen rein deskriptiv verwendet. Das Adjektiv hat hingegen eine expressiv-evaluative Bedeutung. Dabei hatte ბრწყინვალე (brcqinvale) 186 <?page no="187"?> ursprünglich ebenfalls eine deskriptive Bedeutung und bedeutete soviel wie ‘ Licht oder Glanz ausstrahlend ’ . Dies sieht man auch im unten folgenden Textausschnitt aus dem georgischen Folkloretext „ Rostomiani “ : „ როსტომ ეტყვის კანჯარჯოგს, ლომთან არა შეუძლია, რა ბრწყინვალე მზე ამოვა, ვარსკვლავები დაბნელდება , ათასი ცხვრის ჯოგი იყოს, ერთსა მგელსა შემოფთხება . “ 234 ‘ Rostom sagte, dass die Herde von Gazellen nichts gegen einen Löwen ausrichten kann, dass, wenn die glänzende Sonne aufgeht, Sterne verblassen und dass sogar tausende Herden von Schaffen durch nur einen Wolf in die Flucht getrieben werden ’ Zwar wurde bereits im Altgeorgischen dieses Adjektiv in Bezug auf Menschen evaluativ verwendet, aber bei der evaluativen Gebrauchsweise wurde häufig ein metaphorischer Vergleich zwischen den Menschen und den leuchtenden Sternen oder der Sonne gezogen. Dadurch war es möglich, ein eigentlich deskriptives Adjektiv als positiv wertendes Eigenschaftswort zu gebrauchen. Ein klares Beispiel für solch eine expressiv-evaluative Verwendung von ბრწყინვალე (brcqinvale) finden wir im folgenden Text: „წმიდა მეფე თევდორე - მზე განმანათლებელი ; ბრწყინვალე ვითა ნათელი მზისა ; ნათლითა სავსე . “ 235 ‘ Der heilige König Theodore - die erleuchtende Sonne, glänzend wie das Sonnenlicht, erfüllt mit Licht. ’ Im Unterschied zu den meisten deutschen Adjektiven aus dem Wandelpfad „ Glanz ausstrahlend > großartig “ wird das Adjektiv ბრწყინვალე (brcqinvale) im gegenwärtigen Sprachgebrauch nicht polysem verwendet, sondern nur expressiv-evaluativ, denn die deskriptive Bedeutung ist verschwunden. Die deskriptive Bedeutung ‘ Glanz oder Licht ausstrahlend ’ wird im Georgischen durch das Adjektiv მბრწყინავი (mbrcqinavi) zum Ausdruck gebracht, das sich ebenfalls vom Verb ბრწყინვა (brcqinva) ‘ glänzen ’ ableiten lässt. Im folgenden Belegtext sieht man, dass მბრწყინავი (mbrcqinavi) im Georgischen ausschließlich deskriptiv verwendet wird: იქ იყო რამდენიმე ფერადი ჩვარი, მძივის ძაფი და ყველანაირი მბრწყინავი საგანი - სარკეები, სექსტანტი, პენსნედა, მათშორის, დიდი სკალპელი . 236 234 http: / / iness.uib.no/ gekko/ document-element? session-id=236874743148777&cpos= 1442690 (GEKKO, Stand 02. 04. 2014) 235 http: / / www.bu.org.ge/ x1226? page=2&tab=3 (GEKKO, Stand 02. 04. 2014) 236 http: / / iness.uib.no/ gekko/ document-element? session-id=236874779124220&cpos= 4523130 (GEKKO, Stand 02. 04. 2014) 187 <?page no="188"?> ‘ Da gab es einige farbige Lappen, Glasperlenfäden und allerlei glänzende Gegenstände - Spiegel, Sextanten, Kneifer und darunter ein großes Skalpell. ’ Im Unterschied zum Deutschen ist es beim georgischen Adjektiv ბრწყინვალე (brcqinvale) nicht zur Polysemie gekommen. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass man im Georgischen ein morphologisches Verfahren zur Erweiterung des Lexikons hatte. Deswegen entwickelte sich der mit ihm konkurrierende Typ von Polysemie nicht. 237 Ein morphologisches Verfahren wurde deswegen bevorzugt, weil die Sprecher dadurch den Unterschied zwischen dem rein deskriptiven მბრწყინავი (mbrcqinavi) und dem expressiv-evaluativen Adjektiv ბრწყინვალე (brcqinvale) klar markieren und dadurch eine höhere sprachliche Präzision erzeugen konnten. Allerdings ist eine so geartete Bedeutungsentwicklung im georgischen Wandelpfad „ Glanz ausstrahlend > großartig “ nicht immer der Fall, denn bei einem bedeutungsverwandten georgischen Adjektiv lässt sich eine ähnliche Bedeutungsentwicklung wie bei deutschen Adjektiven aus dem gleichen Wandelpfad beobachten. So einen Fall haben wir beim Adjektiv თვალისმომჭრელი (tvalismomc ˇ reli) bzw. თვალმომჭრელი ( tvalmomc ˇ reli ) ‘ die Augen blendend ’ . Dieses Adjektiv ist ein sehr interessantes Beispiel insbesondere in Bezug auf die Vergleichbarkeit mit dem deutschen Adjektiv blendend, denn es weist unverkennbare Parallelen zu diesem auf. თვალმომჭრელი ( tvalmomc ˇ reli ) wird ähnlich wie blendend im gegenwärtigen Sprachgebrauch überwiegend expressiv-evaluativ verwendet. Im folgenden Textbeleg wird dies sehr gut veranschaulicht: „ცნობილი მოდელისა და თვალისმომჭრელი ლამაზმანის რჩეული კვლავ „ მილანის ” ფეხბურთელი მარკო ბორიელო გახდა, რომელსაც რამდენიმე წლის წინათაც ხვდებოდა . “ 238 ‘ Der Außerwählte des berühmten Topmodels und der blendenden Schönheit wurde wieder der Fußballspieler von Mailand Marco Borriello, mit dem sie sich auch vor paar Jahren getroffen hat. ’ Eine weitere Ähnlichkeit besteht darin, dass das georgische Adjektiv თვალისმომჭრელი (tvalismomc ˇ reli) ursprünglich rein deskriptiv verwendet wurde. Die Sprecher wollten damit ausdrücken, dass etwas so stark glänzt, dass es einem die Augen blendet. Wie wir am folgenden Beispiel sehen können, wird dieses Adjektiv auch heute deskriptiv angewendet, allerdings nur dann, wenn es sachliche Eigenschaften denotiert: 237 Vgl. Schwarze 1995: S. 213 238 http: / / iness.uib.no/ gekko/ document-element? session-id=236881663671945&cpos= 51692401 (GEKKO, Stand 03. 04. 2014) 188 <?page no="189"?> „თვალისმომჭრელი შუქით გაჩახჩახებულ სასტუმროს გარედანვე ეტყობოდა, რომშიგნით ჯერ კიდევ არავის ეძინა,. . .“ 239 ‘ Aufgrund des blendend leuchtenden Lichtes war schon von draußen zu sehen, dass noch niemand im Hotel schlief . . . ’ Wird თვალისმომჭრელი (tvalismomc ˇ reli) hingegen zur Kennzeichnung menschlicher Eigenschaften verwendet, so kann man damit eine positive Wertung zum Ausdruck bringen. Dabei handelt es sich nicht um eine metaphorische Gebrauchsweise, sondern um eine lexikalische Bedeutung. Die expressiv-evaluative Bedeutung ist in diesem Fall also als Teil der Gebrauchsregel anzusehen. Es ist bemerkenswert, dass auch hier der Auslöser des Bedeutungswandels das Konzept war, demzufolge die Eigenschaft des Glänzens positiv wahrgenommen wird. Bilanzierend lässt sich sagen, dass თვალისმომჭრელი (tvalismomc ˇ reli) ähnlich wie blendend ursprünglich ein rein deskriptives Adjektiv war. Erst mit der Zeit wurde es polysem. Es wird weiterhin deskriptiv verwendet, um damit Objekteigenschaften zu denotieren. Wird es aber zur Kennzeichnung menschlicher Eigenschaften gebraucht, so wird თვა- ლისმომჭრელი (tvalismomc ˇ reli) expressiv-evaluativ verwendet. Die Ergebnisse unserer Analyse der georgischen und deutschen Adjektive aus dem Wandelpfad „ Glanz ausstrahlend > großartig “ lassen sich graphisch wie in Abbildung 14 darstellen. Es ist erwähnenswert, dass sich auch im Englischen einige Fälle des Bedeutungswandels nach dem Muster „ Glanz ausstrahlend > großartig “ finden lassen. Die Adjektive sparkling 240 und dazzling 241 sind gute Beispiele dafür. Neben einer rein deskriptiven Bedeutung weisen beide Adjektive auch eine expressive-evaluative Bedeutungskomponente auf. In ihrer Ausgangsbedeutung wurden sie aber rein deskriptiv verwendet. Ebenso lassen sich auch die Adjektive splendid 242 und brilliant 243 , welche aus dem Französischen entlehnt wurden, in ihrer Ausgangsbedeutung auf die deskriptive Bedeutung ‘ glänzend, Licht ausstrahlend ’ zurückführen. 239 http: / / iness.uib.no/ gekko/ document-element? session-id=236874779124220&cpos= 2092026 (GEKKO, Stand 03. 04. 2014) 240 Vgl. The Oxford English Dictionary 1989: 16. Bd.: S. 123 241 Vgl. The Oxford English Dictionary 1989: 4. Bd.: S. 279 242 Vgl. The Oxford English Dictionary 1989: 16. Bd.: S. 279 243 Vgl. The Oxford English Dictionary 1989: 2. Bd.: S. 551 189 <?page no="190"?> Deutsch: Deutsch: deskriptiv expressiv-evaluativ ‘ Licht ausstrahlend ’ ‘ großartig ’ 1. Glanzvoll 1. Glanzvoll (Monosem) êêê è Wandel è êêê Bedeutungsähnlichkeit Bedeutungsähnlichkeit ééé ééé 2. glänzend 2. glänzend (Polysem) êêê êêê Bedeutungsähnlichkeit Bedeutungsähnlichkeit ééé ééé 3. leuchtend 3. leuchtend (Polysem) êêê êêê Bedeutungsähnlichkeit Bedeutungsähnlichkeit ééé ééé 4. schillernd 4. schillernd (Polysem) êêê êêê Bedeutungsähnlichkeit Bedeutungsähnlichkeit ééé ééé 5. Blendend 5. Blendend (Polysem) Georgisch deskriptiv ‘ Licht ausstrahlend ’ Georgisch expressiv-evaluativ ‘ großartig ’ ბრწყინვალე [brcqinvale]  è Wandel è ბრწყინვალე (Monosem) êêê êêê Bedeutungsähnlichkeit Bedeutungsähnlichkeit ééé ééé თვალმომჭრელი [tvalmomc ˇ reli] ‘ blendend ’ თვალმომჭრელი Abbildung 14: Sprachübergreifender Wandelpfad „ Glanz ausstrahlend > großartig “ Man könnte bilanzierend sagen, dass der Bedeutungswandel nach dem Muster „ Glanz oder Licht ausstrahlend > großartig “ nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass die lichtausstrahlenden Objekte über die Sprachgrenzen hinweg positiv konnotiert werden, was sich wiederum aus trivialen menschlichen Alltagserfahrungen ergibt. Diese positiven Konnotationen spielen deswegen eine wichtige Rolle beim Bedeutungswandel, weil sie bei der Kreierung neuer Metaphern das Verstehen auf der Hörerseite erleichtern. Des Weiteren tragen solche Konnotationen häufig zum sprach- 190 <?page no="191"?> übergreifenden Bedeutungswandel bei, denn die Gültigkeit der oben genannten positiven Konnotationen beschränkt sich nicht nur auf eine Sprachgemeinschaft, sondern findet ihre Anwendung auch in anderen Sprachen. Schließlich konnten wir auch bei diesem Wandelpfad feststellen, dass die paradigmatischen Bedeutungsrelationen zu systematisch auftretenden semantischen Wandelfällen führen können. Dies ist deswegen der Fall, weil einerseits das Wissen über die Bedeutungsrelationen von Mitgliedern einer ganzen Sprachgemeinschaft geteilt wird und andererseits paradigmatische Relationen die Anknüpfung an eine bereits erfolgreich erprobte Versprachlichung von Metaphern ermöglichen. Die Bedeutungskreation nach dem gleichen Muster führt dann in der letzten Konsequenz zu systematisch auftretenden semantischen Wandelfällen. 9.4 Zusammenfassung: Wandelpfade im Bereich der expressiv-evaluativen Adjektive Nachdem wir drei stark ausgeprägte Wandelpfade im Bereich der expressiv-evaluativen Adjektive im Deutschen und Georgischen eingehend untersucht haben, wird nun eine Zwischenbilanz gezogen. Die gewonnenen Ergebnisse werden in einer komprimierten Form vorgestellt. Insgesamt wurden drei Wandelpfade analysiert, deren Bedeutungsentwicklung nach folgenden drei Mustern verlaufen ist: 1. „ Geistige Grenzzustände > starke Begeisterung “ (GG > SB) 2. „ Mitleid erregend > miserabel “ (ME > M) 3. „ Glanz ausstrahlend > großartig “ (GA > G) Bei allen drei Wandelpfaden ist übereinstimmend festzustellen, dass sie sowohl im Deutschen als auch im Georgischen erst im Laufe der Zeit eine expressive und evaluative Bedeutungskomponente hinzubekommen haben. Trotz dieser Gemeinsamkeit lassen sich aber auch einige grundlegende Unterschiede zwischen den einzelnen Wandelpfaden ausmachen, welche wir im Detail analysieren werden, denn beim direkten Vergleich lassen sich signifikante spezifische Merkmale einzelner Wandelpfade eindrucksvoll illustrieren. 1. Die Verbreitung in den jeweiligen Sprachen: Bei dem Wandelpfad „ GG > SB “ ließ sich feststellen, dass er im Deutschen stärker ausgeprägt ist als in anderen Sprachen. Die deutschsprachigen Adjektive aus diesem Pfad werden überwiegend polysem verwendet. Neben der reinen deskriptiven 191 <?page no="192"?> Bedeutung weisen sie auch eine expressiv-evaluative Bedeutungskomponente auf. Besonders aussagekräftige Beispiele sind toll, verrückt, wahnsinnig, und irrsinnig bzw. irre. Zwar werden die Adjektive für geistige Grenzzustände auch im Georgischen expressiv-evaluativ verwendet, allerdings geschieht dies nur dann, wenn ihnen bestimmte Flexionsmorpheme hinzugefügt werden. Deswegen existieren im Georgischen die deskriptiven Adjektive für geistige Grenzzustände parallel zu den expressiv-evaluativen Adjektiven. Diese Tatsache hat die Entstehung von Polysemien und somit den Bedeutungswandel im Georgischen verhindert. An diesem Beispiel sehen wir, dass innersprachliche morphosyntaktische Aspekte einen Einfluss auf die Bedeutungsentwicklung haben können. Anders sieht die Situation beim Wandelpfad „ ME > M “ aus. Hier ließ sich feststellen, dass sowohl im Deutschen als auch im Georgischen eine starke Häufung von Wandelfällen zu beobachten ist, die zudem in einem systematischen Zusammenhang zueinander stehen. Besonders aussagekräftige Beispiele im Deutschen sind kläglich, armselig, erbärmlich und jämmerlich. Im Georgischen lassen sich hingegen fünf Adjektive aus dem Wandelpfad „ ME > M “ finden. Eine andere Situation haben wir beim Wandelpfad „ GA > G “ , da dieser Pfad im Deutschen stärker ausgeprägt ist als im Georgischen. So lassen sich im deutschsprachigen Wandelpfad folgende fünf Beispiele finden, die den Bedeutungswandel nach dem Muster Glanz ausstrahlend > großartig “ vollzogen haben: glanzvoll, glänzend, leuchtend, schillernd und blendend. Im Georgischen gibt es hingegen nur zwei Beispiele, die eine ähnliche Bedeutungsentwicklung aufweisen. Einige vergleichbare Beispiele finden sich auch im Englischen und Russischen. Es wurde darauf verzichtet, sie hier ausführlich vorzustellen, weil ihre Analyse keine neuen Erkenntnisse über diesen Wandelpfad erbrachte. 2. Primäre Intentionen der Sprachbenutzer und die sprachlichen Mittel ihrer Umsetzung: Für den Pfad „ GG > SB “ ist charakteristisch, dass die ehemals deskriptiven Adjektive expressiv verwendet wurden, um der Aussage eine besondere Ausdrucksstärke zu verleihen. Dabei verwendeten die Sprachbenutzer die Ausdrücke für geistige Grenzzustände metaphorisch, um ihre Begeisterung besonders anschaulich zum Ausdruck zu bringen. Beim Wandelpfad „ ME > M “ verläuft die Bedeutungsentwicklung in die diametrale Richtung: Die betreffenden Adjektive hatten ursprünglich die Bedeutung ‘ bemitleidenswert ’ . Dementsprechend wurden solche Adjektive wie jämmerlich, kläglich und erbärmlich dazu verwendet, um Mitleid zu bekunden. Die Sprecher haben allerdings die Handlung der Mitleidsbezeugung pejorativ verwendet, um die negative und abschätzige Haltung 192 <?page no="193"?> einer anderen Person gegenüber zum Ausdruck zu bringen oder diese sogar zu erniedrigen. Diesen kommunikativen Effekt hat man durch den ironischen Gebrauch der obigen Adjektive erzielt. Mit der Zeit wurde dann die ironische Gebrauchsweise zur lexikalischen Bedeutung. Betrachtet man Schließlich den Wandelpfad „ GA > G “ näher, so ergibt sich folgendes Bild: Die Sprachbenutzer vergleichen Objekteigenschaften des Glänzens mit menschlichen Eigenschaften, um dadurch eine besonders positive Wertung vor allem in Bezug auf äußerliche Merkmale (blendende Schönheit) vorzunehmen. Mit diesen Adjektiven kann man aber auch kognitiv-geistige Merkmale eines Menschen evaluieren (glänzende Leistungen). Zur Realisierung von derartigen positiven Wertungen hat man die Metapher als ein geeignetes Sprachmittel gewählt. 3. Konstituierende Bedeutungsrelationen: An den oben behandelten Beispielen haben wir gesehen, dass sowohl paradigmatische als auch syntagmatische Beziehungen zur Entstehung semantischer Parallelentwicklungen maßgeblich beitragen können. Deswegen müssen sie immer berücksichtigt werden, wenn man systematisch auftretende Fälle des Bedeutungswandels untersuchen möchte. So wurden die semantischen Parallelentwicklungen auf der expressivevaluativen Ebene bei allen drei Pfaden eindeutig durch die Bedeutungsähnlichkeit auf der deskriptiven Ebene begünstigt, denn die Adjektive verrückt, wahnsinnig, toll und irrsinnig genauso wie die Adjektive armselig, kläglich, jämmerlich und erbärmlich weisen auf der Ausgangsbedeutung eine semantische Ähnlichkeitsrelation auf. Dasselbe lässt sich auch über die Adjektive glänzend, glanzvoll, blendend und schillernd sowie über ihre georgischen Pendants sagen. Die Sprecher wussten anscheinend von der semantischen Ähnlichkeit zwischen den betreffenden Ausdrücken auf der deskriptiven Ebene und haben diese Bedeutungsrelation auch auf die expressiv-evaluative Ebene übertragen. Dies hatte natürlich einige kommunikative Vorteile in der Ausgangssituation des Bedeutungswandels, denn die Sprecher nutzten die Bedeutungsrelationen, um den von der Konvention abweichenden Gebrauch der betreffenden Adjektive verständlicher für den Hörer zu machen. Zusätzlich zu der oben genannten paradigmatischen Bedeutungsrelation kam beim Pfad „ ME > M “ noch die syntagmatische Relation hinzu. So haben wir gesehen, dass die Adjektive jämmerlich und erbärmlich häufig in der Kollokation mit dem Substantiv Wicht gebraucht wurden. Durch die kollokationäre Verwendung von jämmerlich und erbärmlich erhöhte man die Chance dafür, dass die Hörer sie als expressiv-evaluative und nicht mehr als deskriptive Adjektive identifizieren konnten. 193 <?page no="194"?> 4. Sprachübergreifendes Wissenskonzept: Wir haben an allen drei Wandelpfaden beobachten können, dass die Sprecher, wenn sie einen Ausdruck abweichend vom usuellen Sprachgebrauch verwenden, oft eine Metapher, Metonymie oder Ironie benutzen. Allerdings werden diese sprachlichen Mechanismen nicht ad hoc gebildet, vielmehr beruhen metaphorische, metonymische oder ironische Schlüsse sehr häufig auf ganz trivialen menschlichen alltäglichen Erfahrungen. Solche auf den ersten Blick elementarsten Wissenskonzepte haben dabei oft einen sprachübergreifenden Charakter, was für gewöhnlich dazu führt, dass man ähnliche Bedeutungsentwicklungen in verschiedenen Sprachen finden kann. Georgische Adjektive wie უსუსური (ususuri) ‘ schwach ’ , ‘ hilflos ’ oder ბრწყინვალე (brcqinvale) ‘ großartig ’ sind, um nur einige Beispiele zu nennen, klare Beweise für diese Annahme, denn sie vollzogen den Bedeutungswandel ähnlich wie ihre deutschen Pendants. Diese Ähnlichkeit in der Bedeutungsentwicklung kam dabei nicht durch einen Sprachkontakt zustande, sondern sie wurde maßgeblich durch menschliche alltägliche Erfahrungen begünstigt. Betrachten wir einzelne Wandelpfade in Bezug auf ihr Wissenskonzept, so ergibt sich folgendes Bild: alle Wandelfälle aus dem Pfad „ Geistige Grenzzustände > starke Begeisterung “ basieren auf dem Wissenskonzept, wonach begeisterte Menschen Symptome geistig gestörter Menschen aufweisen. Allen voran ist hier der Kontrollverlust zu nennen. Beim Wandelpfad „ ME > M “ war hingegen die treibende Kraft des Bedeutungswandels das Konzept, demzufolge zu bemitleidende Menschen oder Sachverhalte für gewöhnlich als minderwertig oder schwach angesehen werden. Schließlich wurde der Bedeutungswandel beim Pfad „ GA > G “ durch das Konzept begünstigt, wonach glänzende Objekte als auffallend und attraktiv bewertet werden. Zudem besaßen glänzende Objekte wie z. B. Schmuckgegenstände einen hohen wirtschaftlichen Wert. 5. Sprachliche Folgen: Es ist kennzeichnend für den Pfad „ GG > SB “ , dass er im Deutschen mit insgesamt fünf Beispielen stark ausgeprägt ist. Zudem sind alle Wandelfälle bis auf toll polysem. Sie haben ihre alte deskriptive Bedeutung ‘ weist geistigen Grenzzustand auf ’ beibehalten. Hinzu kam aber die neue expressiv-evaluative Bedeutung ‘ stark begeistert ’ . Allerdings war beim expressiv-evaluativen Wandelpfad „ Geistige Grenzzustände > starke Begeisterung “ zu beobachten, dass es im Georgischen nicht zu einer ähnlichen Bedeutungsentwicklung kam wie im Deutschen. Zwar hat man auch im Georgischen die Adjektive für geistige Grenzzustände dazu genutzt, um eine extrem positive Wertung vorzunehmen, allerdings hat man im Unterschied zum Deutschen die Adjektive für geistige Grenzzustände nicht polysemisiert, sondern man hat Mittel der Wortbildung zu Hilfe genommen. So haben wir gegenwärtig im Georgischen sowohl die 194 <?page no="195"?> alten rein deskriptiven Adjektive als auch die expressiv-evaluativen. Sie lassen sich aber in der Wortform klar voneinander unterscheiden. Eine andere Situation haben wir beim Wandelpfad „ ME > M “ . Dieser Wandelpfad ist sowohl im Deutschen als auch im Georgischen sehr stark ausgeprägt. Die deutschen Adjektive jämmerlich, jammervoll, kläglich und elendig werden polysem verwendet, wobei die expressiv-evaluative Bedeutung eindeutig vorherrschend ist. Die Adjektive armselig und erbärmlich werden hingegen nur expressiv-evaluativ gebraucht. Die alte deskriptive Bedeutung ist verschwunden. Im Georgischen werden drei Adjektive polysem gebraucht und zwei weisen ausschließlich eine expressiv-evaluative Bedeutung auf. Auch die meisten Adjektive aus dem Wandelpfad „ GA > G “ weisen sowohl im Georgischen als auch im Deutschen Polysemie auf, allerdings dominieren auch hier die expressiv-evaluativen Bedeutungskomponenten deutlich. Das Adjektiv glanzvoll hat seine alte rein deskriptive Bedeutung verloren und wird im gegenwärtigen Sprachgebrauch ausschließlich expressiv-evaluativ verwendet. Die restlichen vier Adjektive aus diesem Pfad werden hingegen polysem gebraucht. Im Georgischen lassen sich allerdings nur zwei Adjektive finden, welche den Bedeutungswandel ähnlich vollzogen haben. Das Adjektiv თვალისმომჭრელი ( tvalismomc ˇ reli ) ‘ die Augen blendend ’ wird polysem verwendet. Im Gegensatz dazu wird aber das Adjektiv ბრწყინვალე (brcqinvale) ‘ großartig ’ ausschließlich expressiv-evaluativ gebraucht. Die deskriptive Bedeutung ist aus dem aktuellen Sprachgebrauch verschwunden. Zieht man zum Schluss einen Vergleich mit der Gruppe der deskriptivevaluativen Adjektive, so kommt man zu dem Ergebnis, dass die Gruppe der expressiv-evaluativen Adjektive nicht nur dann wertend verwendet werden können, wenn man mit ihnen Menschen oder die mit Menschen verwandten Bereiche evaluiert, sondern auch dann, wenn ihre emotive oder wertende Einstellung gegenüber den ganz gewöhnlichen Alltagsgegenständen oder Sachverhalten zum Ausdruck gebracht werden soll. So kann man z. B. nicht von einem geizigen, wohl aber von einem erbärmlichen Mittagessen oder von einem geilen Brautkleid sprechen. 195 <?page no="196"?> 10. Fazit und Ausblick Bereits in der Anfangsphase der modernen historischen Sprachwissenschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert beschäftigte man sich mit der Systematizität des Bedeutungswandels. Seit dieser Zeit gab es eine große Anzahl der Publikationen, die sich mit diesem Thema befassten. Trotzdem konnte man bis heute noch keine zufriedenstellende Antwort auf die Frage liefern, worin diese Systematizität besteht. Des Weiteren ist es bislang nicht gelungen, die Prinzipien darzulegen, welche hinter dem sprachübergreifenden Bedeutungswandel zu finden sind. Aus diesem Grund wurde in der vorliegenden Arbeit der Versuch unternommen, eine Theorie zu entwickeln, die imstande ist, systematische sprachübergreifende Wandelerscheinungen angemessen zu beschreiben und die Prinzipien zu erklären, die dahinter stecken. Zu diesem Zwecke wurden die Adjektive aus dem deutschen und georgischen Adjektivwortschatz untersucht, welche in der Ausgangsbedeutung deskriptiv verwendet wurden und gegenwärtig eine expressive oder evaluative Bedeutungskomponente aufweisen. Die tragende Idee des wissenschaftlichen Vorhabens stellt die These dar, dass durch eine Verbindung handlungsorientierter Theorien des Bedeutungswandels mit sinnvollen strukturalistischen Ansätzen der systematische Charakter des Bedeutungswandels besser beschrieben werden kann. Die handlungstheoretische Vorgehensweise soll klarstellen, dass die systematischen semantischen Wandelerscheinungen weder Gesetze noch Universalien, sondern vielmehr Phänomene der dritten Art sind, deren treibende Kraft die Sprachbenutzer und ihre kommunikativen Absichten darstellen. Die Verbindung mit strukturalistischen Ansätzen soll wiederum unterstreichen, dass bei der Realisierung der kommunikativen Absichten der Sprecher sprachinterne Strukturen wie Bedeutungsrelationen oder sprachübergreifende Wissenskonzepte eine tragende Rolle spielen. Dadurch lassen sich die Pfade des Bedeutungswandels nicht mehr als abstrakte und übergeneralisierte Tendenzen abtun, sondern sie nehmen eine konkretere und substanzhaltigere Gestalt an. Diese Herangehensweise erlaubt eine differenziertere und inhaltsreichere Antwort auf die Frage nach dem systematischen Charakter des semantischen Wandels. Bevor wir im Folgenden die Ergebnisse der Arbeit kurz Revue passieren lassen, möchte ich darauf hinweisen, dass ich die Einzelaspekte aus den Untersuchungen der Wandelpfade in zwei Unterkapiteln zusammengefasst habe. Aus diesem Grunde werden sie an dieser Stelle nicht noch einmal thematisiert. 196 <?page no="197"?> Im Zuge dieser Arbeit wurde zwar insgesamt eine Vielzahl neuer Erkenntnisse zu Tage gefördert, aber ein besonderes Augenmerk lag vor allem auf folgenden drei Aspekten, welche die systematischen Wandelprozesse im Semantikbereich in einem neuen Licht erscheinen lassen. So mussten erstens Grundbegriffe geklärt oder teilweise neu geschaffen werden. In diesem Zusammenhang wurde aufbauend auf dem gebrauchstheoretischen Bedeutungsbegriff eine semantische Klassifikation von Adjektiven vorgenommen, deren größter Vorteil im Unterschied zu anderen Klassifikationsvorschlägen darin besteht, dass sie die Adjektive losgelöst von der Nominalphrase je nach ihrer kommunikativen Funktion in unterschiedliche semantische Klassen einteilen lässt. Insgesamt waren für die Klassifikation der Adjektive beschreibende, emotive und evaluative bzw. wertende Aspekte von Bedeutung. Diese Herangehensweise ermöglichte, neben den Adjektiven mit wahrheitsfunktionalen Aspekten auch noch alle weiteren Adjektivklassen zu erfassen. Im Anschluss an die bedeutungstheoretischen Aspekte wurden die Verfahren des Bedeutungswandels in Augenschein genommen. In Anlehnung an Rudi Keller wurde der semantische Wandel als eine makrostrukturelle Erscheinung dargestellt, welche durch die intendierten kommunikativen sprachlichen Handlungen auf der Mikrostruktur unbeabsichtigt zustande gebracht wird. Bei der Realisierung kommunikativer sprachlicher Handlungen auf der Mikrostruktur kommt es allerdings häufig vor, dass die Sprachbenutzer vom usuellen Gebrauch eines Wortes abweichen und es in einem spezifischen kommunikativen Sinn verwenden, d. h. dass die Sprecher einen Ausdruck nicht im wörtlichen, sondern im metaphorischen, metonymischen oder sonstigen Sinn verwenden, um z. B. höflich, imponierend oder originell zu sprechen. Um den vom usuellen Sprachgebrauch abweichenden Sinn erfolgreich zu realisieren, müssen die Sprachbenutzer allerdings auf verschiedene Hilfsmittel zurückgreifen. Hierfür können einerseits kontextabhängige Faktoren hilfreich sein, welche allerdings nur den Gesprächspartnern in der konkreten Kommunikationssituation bekannt sind. Andererseits nehmen sie für diesen Zweck auch sprachinterne Hilfsmittel in Anspruch. So konnte man im empirischen Teil der Arbeit beobachten, dass vor allem bei den systematisch auftretenden Fällen des einzelsprachlichen Bedeutungswandels zwei sprachinterne Aspekte eine wichtige Rolle spielen, welche meines Wissens zuvor in der historischen Semantikforschung kaum thematisiert wurden: Gemeint sind paradigmatische und syntagmatische Relationen. Das ist der zweite Aspekt, der im Zuge der Arbeit ans Licht geführt werden konnte. Syntagmatische Relationen können für die Rezipienten nützlich sein, um den gemeinten Sinn einer Äußerung richtig zu interpretieren. So hat die kollokationäre Einbettung von Adjektiven wie erbärmlich und jämmerlich 197 <?page no="198"?> mit dem Substantiv Wicht zur Disambiguierung dieser Adjektive beitragen. Einen ähnlichen Fall haben wir auch bei der Kollokation blöder Tor und rechte Hant. Die Kollokationen helfen dem Hörer dabei, den neuen kommunikativen Sinn richtig zu interpretieren. Wird das Wort in seiner neuen Bedeutung auch außerhalb der festen Kollokation häufig von vielen Sprachbenutzern verwendet, so kann der ursprünglich kollokationäre Sinn mit der Zeit zu einer lexikalischen Bedeutung werden. Ein zweiter wichtiger Aspekt, welcher für den systematischen Charakter des Bedeutungswandels spricht, ist die Beobachtung, dass der Bedeutungswandel eines Ausdrucks Auswirkungen auf die Bedeutungsentwicklung anderer Ausdrücke hat, welche untereinander paradigmatische Bedeutungsrelationen aufweisen. Dabei werden die Bedeutungsrelationen quasi von der deskriptiven Ebene auf die evaluative Ebene übertragen. So hat beispielsweise der Bedeutungswandel des Adjektivs erbärmlich von ‘ bemitleidenswert ’ hin zu der expressiv-evaluativen Bedeutung ‘ miserabel ’ Auswirkungen auf die Bedeutungsentwicklung semantisch verwandter Adjektiven wie jämmerlich und kläglich. Allerdings kann nicht nur die semantische Verwandtschaft, sondern auch die Kontrastrelation zu einer parallelen Bedeutungsentwicklung führen. Wir konnten u. a. am Beispiel von den georgischen Adjektiven ჩლუნგი (c ˇ ’ lungi) 1. ‘ stumpf ’ 2. ‘ dumm ’ und ბასრი (basri) 1. ‘ scharf ’ 2. ‘ schlau ’ sehen, dass die Polysemie eines Adjektivs zur Polysemie seines Gegensatzpaars geführt hat, denn durch die Übertragung der Kontrastrelation von der deskriptiven Ebene (Schneideeigenschaften) auf die deskriptiv-evaluative Ebene (geistiges Können) war es nun möglich, den gegenteiligen wertenden Effekt im Gespräch zu erzielen. Die häufige polyseme Verwendung der Adjektive hat mit der Zeit dazu geführt, dass diese gegenwärtig die gleichen kontrastiven Bedeutungsrelationen nicht nur auf der deskriptiven, sondern auch auf der evaluativen Ebene aufweisen. Die Sprecher versuchen, durch die Übertragung semantischer Relationen auf die evaluative oder expressive Ebene eine Anknüpfung an die bereits erfolgreich erprobten metonymischen oder metaphorischen Präzedenzfälle herzustellen, um dem Hörer das Verständnis der abweichenden Wortverwendung besser zu ermöglichen. Gleichzeitig erhoffen sie dadurch, einen ähnlichen (im Falle der Bedeutungsähnlichkeit) oder einen gegensätzlichen (im Falle der Kontrastrelation) kommunikativen Effekt zu erzeugen. Dies kann dann auf lange Sicht zur Entstehung von Wandelpfaden führen. Wie die Untersuchungen aus dem empirischen Teil der Arbeit gezeigt haben, kreieren die Sprachbenutzer parallele semantische Sinnesvariationen häufig aus den zwei folgenden kommunikativ wichtigen Gründen. Erstens ist die Bildung einer neuen Sinnesvariation aufgrund des so 198 <?page no="199"?> genannten Bleaching-Effektes notwendig. Da die expressiv-evaluativen Adjektive durch eine häufige Verwendung an Expressivität verlieren, müssen die Sprachbenutzer im Normalfall einen rein deskriptiven Ausdruck expressiv nutzen, um den gleichen expressiven Effekt erzielen zu können. Die semantischen Parallelentwicklungen sind dabei als ein gängiges Verfahren zur Kreierung neuer expressiv-evaluativer Sinnesvariationen anzusehen, da sie durch vorhandene Bedeutungsrelationen zur Erschließung neu kreierter expressiv-evaluativer Bedeutungen maßgeblich beitragen. Die Adjektive aus dem Wandelpfad „ geistige Grenzzustände > starke Begeisterung “ sind anschauliche Beispiele dafür. Zweitens sind semantische Parallelentwicklungen besonders häufig bei Euphemismen anzutreffen. So wie die expressiven Adjektive mit der Zeit an Expressivität verlieren, so verlieren die euphemistischen Adjektive durch eine zunehmende Verwendungsfrequenz ihren abschwächenden Effekt. Um Missverständnisse aus dem Weg zu räumen, müssen die Sprachbenutzer irgendwann ein anderes sprachliches Material zur Erzeugung des gleichen euphemistischen Effekts nutzen. Auch hier bieten sich semantische Parallelkonstruktionen an. Die Adjektive dumm, doof, blöd und ihre georgischen Pendants belegen diese Annahme besonders eindrucksvoll. Die komparative Analyse der Wandelerscheinungen hat schließlich die dritte wichtige Erkenntnis in dieser Arbeit hervorgebracht. Im Zuge der vergleichenden Analyse konnte gezeigt werden, dass die Wandelpfade nicht nur einzelsprachlich einen systematischen Charakter haben, sondern sie auch verblüffende sprachübergreifende Übereinstimmungen aufweisen. Dies konnte man u. a. am Beispiel der Adjektive link und recht feststellen. Diese Adjektive sind im Deutschen, Russischen und Englischen polysem. Sie werden einerseits als rein deskriptive Orientierungsadjektive verwendet, andererseits können sie auch als evaluative Adjektive eingesetzt werden. Im Zuge der empirischen Untersuchung konnte bewiesen werden, dass solche sprachübergreifende Wandelpfade auf ganz trivialen menschlichen und alltäglichen Erfahrungen basieren, wie z. B. auf der Tatsache, dass bei den meisten Menschen die rechte Hand stärker ist als die linke oder dass die geschmackliche Schärfe zu einer schmerzhaften Wahrnehmung im Mundbereich führen kann. Diese Konzepte sind Grundlagen für Metaphern oder Metonymien in sehr vielen Sprachen, da sie über die Sprachgrenzen hinweg für Menschen die gleiche Gültigkeit besitzen. Diese Metaphern oder Metonymien sind dann ihrerseits grundlegend für zahlreiche Beispiele von Bedeutungswandel. Dies erklärt, warum häufig ähnliche Bedeutungsentwicklungen über die Sprachgrenzen hinweg anzutreffen sind. Allerdings sind solche Konzepte kein Garant dafür, dass der semantische Wandel in unterschiedlichen Sprachen in ähnlichen Bahnen ver- 199 <?page no="200"?> laufen muss. So konnten wir beim Wandelpfad „ geistige Grenzzustände > starke Begeisterung “ feststellen, dass innersprachliche morphosyntaktische Aspekte die Entstehung des gleichen Wandelpfads im georgischen Adjektivwortschatz verhindert haben. Dies hängt damit zusammen, dass man im Georgischen ein morphologisches Verfahren zur Erweiterung des Lexikons hat. Durch die Erweiterung des Lexikons lässt sich dabei eine höhere sprachliche Präzision erzeugen als durch die Polysemisierung von Adjektiven. Deswegen kam es im Georgischen nicht zur gleichen Bedeutungsentwicklung wie im Deutschen. Ähnliches lässt sich auch über das georgische Adjektiv ბრწყინვალე (brcqinvale) ‘ glanzvoll ’ aus dem Wandelpfad „ Glanz ausstrahlend > großartig “ feststellen. ბრწყინვალე (brcqinvale) hat seine deskriptive Bedeutung verloren und wird ausschließlich expressiv-evaluativ verwendet. Die deutschen Adjektive aus dem gleichen Pfad weisen hingegen eine Polysemie auf. Auch hier haben die sprachinternen morphologischen Faktoren verhindert, dass das georgische Adjektiv seine Bedeutung auf ähnliche Art und weise veränderte wie seine deutschen Pendants. Zusammenfassen lässt sich über die Systematizität des Bedeutungswandels Folgendes konstatieren: Anscheinend sind einige rein deskriptive Adjektive dazu prädestiniert, den Bedeutungswandel hin zu expressivevaluativen oder deskriptiv-evaluativen Adjektiven zu vollziehen. Diese Prädestination ergibt sich daraus, dass die Gebrauchsregeln deskriptiver Adjektive zur Realisierung bestimmter kommunikativer Absichten besonders gut geeignet sind. Man realisiert dabei die Absichten nicht dadurch, dass man die Regeln befolgt, sondern dadurch, dass man von ihnen abweicht. Das heißt wiederum, dass einige Adjektive die Sprachbenutzer regelrecht dazu verleiten, sie nicht regelkonform zu benutzen. Damit allerdings seitens der Hörer die Interpretation der abweichenden Wortverwendung möglich ist, wird neben metaphorischen und metonymischen Schlussverfahren noch auf syntagmatische und paradigmatische Bedeutungsrelationen zurückgegriffen. Sie helfen den Rezipienten dabei, den gemeinten metaphorischen, metonymischen, ironischen oder sonstigen Sinn der Äußerung zu verstehen, da die Hörer dadurch eine Brücke zwischen der aktuellen, von der lexikalischen Bedeutung abweichenden Äußerung und der bereits erfolgreich erprobten Äußerung schlagen können. Rückblickend betrachtet lässt sich dann feststellen, dass bei allen Wandelpfaden einzelne Beispiele sowohl in der Ausgangsals auch in der Endbedeutung eine semantische Verwandtschaft in Form paradigmatischer Bedeutungsrelationen aufweisen. Abschließend lässt sich die Fragen nach der Systematizität des Bedeutungswandels eindeutig mit ja beantworten. So konnte im Zuge der Analyse sechs unterschiedlicher Wandelpfade aus dem deutschen und georgischen Adjektivwortschatz gezeigt werden, dass die semantischen 200 <?page no="201"?> Wandelprozesse oft systematischer sind, als man dies früher angenommen hat. Sie weisen unverkennbare Parallelen auf und dies sehr häufig über die Sprachgrenzen hinweg. An dieser Stelle kommen wir zu der Frage, welchen Nutzen die vorliegende Arbeit künftigen Forschungsvorhaben bereitstellen kann. So könnte man durch die gewonnenen Ergebnisse weitere Wandelpfade im deutschen Adjektivwortschatz untersuchen und die Karte des adjektivischen Bedeutungswandels weiter vervollständigen. Noch wichtiger erscheint mir aber die Adaption der vorgestellten Ansätze auf weitere Wortarten. Schließlich lassen sich semantische Wandelerscheinungen auch bei Verben (z. B. verorten, ansiedeln) und bei Substantiven (z. B. Säufer, Trinker) finden, bei denen syntagmatische und paradigmatische Bedeutungsrelationen eine wichtige Rolle gespielt haben. Ein großer Nutzen ließe sich aber auch aus vergleichbaren sprachübergreifenden Untersuchungen ziehen, denn dadurch könnten die Prinzipien erklärt werden, die hinter den weiteren sprachübergreifenden semantischen Wandelpfaden stecken. So könnte man die Wissenskonzepte ermitteln, welche die systematische Bedeutungsentwicklung in unterschiedlichen Sprachgemeinschaften in eine oder andere Richtung angeregt haben. Man könnte aber auch sprachinterne Faktoren finden, die eine ähnliche Bedeutungsentwicklung in einer anderen Sprache verhindert haben. Schließlich könnte man in ähnlichen Untersuchungen soziokulturelle Aspekte stärker in den Mittelpunkt stellen. So könnte z. B. die Frage gestellt werden, warum im Deutschen dem Bedeutungswandel des Adjektivs geil ein Tabubruch vorausging und warum dies im Russischen und Spanischen nicht der Fall war. Die vorliegende Arbeit stellt den Versuch dar, semantische Wandelerscheinungen sprachübergreifend zu untersuchen und den systematischen Charakter des Bedeutungswandels wieder in den Fokus der historischen Sprachforschung zu rücken. Es ist nun an anderen, die hier präsentierten Thesen zu kritisieren oder anzunehmen und weiterzuentwickeln. In diesem Sinne möchte ich die Arbeit mit einem Zitat des legendären chinesischen Philosophen Laozi enden: „ Auch der längste Weg beginnt mit dem ersten Schritt. “ Der erste Schritt ist getan. Mögen viele weitere folgen. 201 <?page no="203"?> Literaturverzeichnis A RABULI , Avtandil (2001): Das Problem von der verbalen und nominalen Stammableitung in Kartwelsprachen. Tbilisi. B AKER , Gordon (1992): „ Some Remarks on ‘ Language ’ and ‘ Grammar ’“ . In: S CHULTE , Joachim/ S UNDHOLM , Göran/ M C G UINNESS , Brian (Hrsg.): Criss-crossing a philosophical landscape. Essays on Wittgensteinian themes dedicated to Brian McGuinness. Amsterdam, Atlanta, Ga: Rodopi, 107 - 131. B ECHMANN , Sascha: Bedeutungswandel deutscher Verben. Eine gebrauchstheoretische Untersuchung. B IERWISCH , Manfred (1979): „ Wörtliche Bedeutung - eine pragmatische Gretchenfrage “ . In: G REWENDORF , Günther (Hrsg.): Sprechakttheorie und Semantik. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 119 - 148. B IERWISCH , Manfred (1987): „ Dimensionsadjektive als strukturierender Ausschnitt des Sprachverhaltens “ In: B IERWISCH , Manfred; L ANG , Ewald Grammatische und konzeptuelle Aspekte von Dimensionsadjektiven. 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Die tragende Idee der korpusbasierten und empirieorientierten Untersuchung bildet die These, dass durch eine Verbindung handlungsorientierter Theorien mit sinnvollen strukturalistischen Ansätzen der systematische Charakter des Bedeutungswandels besser beschrieben werden kann. Im Fokus der Arbeit stehen dabei sowohl einzelsprachliche systematische Wandelerscheinungen als auch parallel verlaufende Bedeutungsentwicklungen im Deutschen und Georgischen Adjektivwortschatz. Beim einzelsprachlichen Bedeutungswandel spielen nicht nur sprecherseitige Faktoren eine Rolle, sondern auch sprachlich strukturelle, wie syntagmatische und paradigmatische Relationen. Für die sprachübergreifenden Parallelentwicklungen sind wiederum allgemeinmenschliche Erfahrungen verantwortlich, die Sprecher unterschiedlicher Sprachen und Kulturen zu ähnlichen Wahlhandlungen bei ihren sprachlichen Mitteln veranlassen.