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Fremdsprache Literatur

Literarische Texte im Fremdsprachenunterricht

0509
2016
978-3-8233-9002-2
Gunter Narr Verlag 
Lieselotte Steinbrügge

Literatur hat in der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts wechselnde Aufgaben erfüllt. Seit den kompetenzorientierten Lehrplänen der 2000er Jahre scheint sie erneut ihren Platz im fremdsprachlichen Unterricht zu suchen. Der Band stellt das Thema in seinen historischen und systematischen Kontext. Er lotet außerdem an unterschiedlichen Themen, Texten und aus verschiedenen Perspektiven die Funktion und den Einsatz von literarischen Texten im modernen Fremdsprachenunterricht aus.

<?page no="0"?> Wozu Literatur im Fremdsprachenunterricht? Traditionell hat die Literatur die pädagogische Aufgabe, Bildung zu vermitteln. Seit der pragmatischen Wende geht es jedoch primär um den Spracherwerb, zu dem sich Sachtexte besser zu eignen scheinen. In diesem Buch wird eine Synthese vorgeschlagen, die beide Ziele miteinander verbindet. Die Autorin entfaltet ihren Ansatz im historischen und systematischen Kontext. Dabei untersucht sie an unterschiedlichen Themen und Texten sowie aus wechselnden Perspektiven Funktion und Einsatz von Literatur im fremdsprachlichen Unterricht. Romanistische Fremdsprachenforschung und Unterrichtsentwicklung 4 978-3-8233-8002-3 RFU 4 Steinbrügge Fremdsprache Literatur Romanistische Fremdsprachenforschung und Unterrichtsentwicklung 4 Lieselotte Steinbrügge Fremdsprache Literatur Literarische Texte im Fremdsprachenunterricht <?page no="1"?> Fremdsprache Literatur <?page no="2"?> Romanistische Fremdsprachenforschung und Unterrichtsentwicklung Herausgegeben von Daniel Reimann (Duisburg-Essen) und Andrea Rössler (Hannover) Band 4 <?page no="3"?> Lieselotte Steinbrügge Fremdsprache Literatur Literarische Texte im Fremdsprachenunterricht <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. © 2016 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 2197-6384 ISBN 978-3-8233-8002-3 <?page no="5"?> Inhaltsverzeichnis Einleitung ........................................................................................................ 7 Kontext Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik - Szenen einer Beziehung .......................................................................... 13 Didaktische Transformationen. Fremdsprachendidaktik zwischen Unterrichtspraxis und Philologie .......................................................... 25 Kulturkunde - die verdrängte Tradition der interkulturellen Didaktik ................................................................. 35 Kanon Grenzgänge. Texte zwischen Alltagskommunikation und Literatur am Beispiel der Briefe Madame de Sévignés ....................................... 49 L’Étranger. Über die Haltbarkeit eines Schulklassikers .......................................... 61 Text OuLiPo. Anleitungen zur Fabrikation von Literatur ......................................... 81 Das Uneigentliche verstehen. Tropen im Fremdsprachenunterricht ................................................... 93 Das didaktische Potenzial von literarischen Texten ......................... 107 Bibliographie ................................................................................................ 121 Nachweise .................................................................................................... 134 <?page no="7"?> Einleitung Bei allen Veränderungen, die der Fremdsprachenunterricht im Lauf seiner Geschichte erfahren hat, weist er im Wechsel der Zeiten und Methoden eine Konstante auf: den Einsatz literarischer Texte. Ob es nun die Editionspolitik von Schulbuchverlagen, ministerielle Vorgaben, Lehrpläne, die Praxis der Lehrenden oder die Erinnerungen der Lernenden sind - sie alle scheinen die Gewissheit zu vermitteln, dass Literatur und Fremdsprachenlernen zusammen gehören. Mal dient die Literatur vorrangig dem Spracherwerb, mal ist sie das bevorzugte Mittel zum Erwerb von Bildung; von den Lernenden wird sie mal geliebt, mal gehasst; mal gehört sie einem etablierten Kanon an, mal liegt sie an dessen Rändern oder befindet sich gänzlich außerhalb des Curriculums; mal dient sie der philologischen, mal der humanistischen Bildung, mal dem Erwerb mündlicher, mal dem schriftlicher Kompetenzen. Selbst wenn die einschlägigen Lehrpläne sie aus dem Unterricht vertreiben wollen, schleicht sie sich wieder durch eine Hintertür herein. Literatur ist irgendwie immer da. Mit erstaunlicher Hartnäckigkeit behauptet sie ihre Zugehörigkeit zum fremdsprachlichen Unterricht, geradeso als wollte sie beweisen, dass ohne sie nichts geht. Nun wird man einwenden, dass es sehr wohl Beispiele dafür gibt, dass man eine fremde Sprache lernen kann, ohne auch nur eine Zeile Literatur gelesen zu haben. Die Sprachmeister, die außerhalb der Universitäten und höheren Lehranstalten ihre Dienste feilboten, waren mit dieser Methode nicht selten erfolgreich (Kuhfuss 1991; Apelt 1991: insbes. 101-106). Unzählige Immigranten, die das Idiom ihrer neuen Heimatländer lernen, kommen nicht unbedingt auf die Idee, literarische Texte zu Hilfe zu nehmen. Das trifft zweifellos zu. Allerdings gilt es nur für den Unterricht außerhalb staatlicher Bildungsinstitutionen. Für den Unterricht an allgemein bildenden Schulen, in denen nach wie vor die meisten Menschen ihre ersten Fremdsprachenkenntnisse erwerben, verhält es sich hingegen anders. Die Schüler der humanistischen Gymnasien des 19. Jahrhunderts lernten die altgriechische Sprache an Texten von Homer, Euripides, Äsop und anderen; sie lernten Latein an Schriften von Caesar und Cicero. Es waren diese „großen“ Autoren, die als Vorbilder dazu dienen sollten, wie Sprachen überhaupt anzuwenden seien. Darüber hinaus war das Ziel, die Texte klassischer Autoren im Original lesen zu können, ein <?page no="8"?> Einleitung 8 wesentliches Motiv für das Erlernen antiker Sprachen (Apelt 1991: insbes. 42sq.). Als der berühmte Sozialpädagoge Carl Wilhelm Mager 1848 sein programmatisches Buch Über Wesen, Einrichtung und pädagogische Bedeutung des schulmäßigen Studiums der neueren Sprachen und Literaturen veröffentlichte, war dort immer von „Sprachen und Litteraturen“ in einem Atemzug die Rede (Mager 1965: z.B. 81 und passim). Aber auch als nach und nach die neueren Sprachen, allen voran das Französische, Einzug in die Gymnasien hielten (Christ 1983), war es selbstverständlich, dass neben der Grammatik die Literatur ihren Platz im Unterricht hatte. Ebenso zählebig wie die Präsenz von Literatur im Unterricht sind die Diskussionen darüber, welchen Stellenwert die Lektüre literarischer Texte haben soll. Endlos sind die Debatten über den entsprechenden Schulkanon, über das Verhältnis von Literatur und Spracherwerb sowie über die Methoden des Umgangs mit derartigen Texten. Jeder Paradigmenwechsel in der Fremdsprachendidaktik bewirkte eine Neujustierung und Neubewertung (Cf. u.a. Hüllen 1981; Mihm 1972; Batz/ Bufe 1971; Apelt 1991; Christ 1983). Mager verlangte noch 1848, dass auf „der mittleren Stufe […] ganze Werke geringeren Umfangs aus sämmtlichen poetischen und prosaischen Gattungen, also Episches, Lyrisches, Dramatisches, Historisches, Rhetorisches und Didaktisches“ gelesen werden sollen und auf der „oberen Stufe“ der „litterarische Unterricht […] litterar-historisch“ (Mager 1965: 114sq.) zu werden habe. Demgegenüber forderte Gustav Wendt in seinem berühmten Vortrag 1898, mit dem er auf dem Wiener Neuphilologentag den Startschuss zum Einzug der „Realien“ in den Fremdsprachenunterricht gab: „Litteraturgeschichte ist in jeder Form ausgeschlossen“ (Wendt 1965: 185). Diese Pendelbewegungen sind noch häufiger in der weiteren Geschichte des Fremdsprachenunterrichts zu beobachten (Hüllen 1981: 23; cf. auch Mihm 1972: insbes. Teil III, 135-188). Sie ändern nichts an der eingangs festgestellten Resistenz der Literatur als Unterrichtsgegenstand. Deshalb sollten wir uns ein wenig beeindrucken lassen von der Macht des Faktischen, d.h. von der Zähigkeit, mit der sich literarische Texte im schulischen Fremdsprachenunterricht halten. Wo liegt das Geheimnis dafür, dass Lehrende immer wieder auf literarische Texte zurückgreifen? Und was ist der Grund dafür, dass Lernende, wenn sie an ihren Fremdsprachenunterricht zurückdenken, sich viel häufiger an ihre Lektüren erinnern als an die Lehrbuchtexte oder Grammatikübungen? Warum verabschiedet sich der Unterricht von bestimmten Gegenständen, wie z.B. den detaillierten Statistiken, mit denen die Anhänger der Realienkunde ihre Schülerinnen und Schüler konfrontierten, oder von <?page no="9"?> Einleitung 9 bestimmten Medien, wie etwa dem in den 1960er Jahren hochgelobten Sprachlabor, aber nicht von der Literatur? Natürlich gibt es einige naheliegende Antworten. Am häufigsten wurde und wird immer noch das Argument vorgebracht, die Vermittlung von Literatur trage zur allgemeinen Bildung bei. Die Vorstellung, dass AbsolventInnen des Gymnasiums Shakespeare nicht gelesen haben könnten, ruft Empörung hervor. Eine Empörung, die aus meiner Sicht insofern berechtigt ist, als in der Tat der zunehmende Verlust an (nicht nur) literarischer Bildung mehr ist als nur ein bedauerlicher Kollateralschaden. Mit output, Evaluation und Messbarkeit, auf die zunehmend der Unterricht getrimmt wird durch eine immer dominanter werdende Disziplin, die sich neuerdings „Bildungswissenschaft“ nennt, geht mehr verloren als nur Schöngeistigkeit (Cf. Wernsing 2015). Der literarische Illettrismus vernichtet auch wichtige Wissensbestände, ohne die zivilisierte Gesellschaften nicht funktionieren. Spätestens wenn Kosten für literarische Alphabetisierungskampagnen entstehen, wird man feststellen, dass sich die Bildungsökonomen verzockt haben. Doch glaube ich nicht, dass in ihrer Bildungsfunktion das ganze Geheimnis für die Unverwüstlichkeit der Literatur im Fremdsprachenunterricht liegt. Denn es ist interessant zu beobachten, dass die überzeugendsten Argumente gerade aus einer Ecke kommen, aus der man sie am wenigsten erwartet hätte, nämlich aus der Sprachdidaktik und der Spracherwerbsforschung selbst. 1 Diese Argumente sind sowohl auf der Ebene des Inhalts als auch auf der Formebene, der histoire und des discours, zu verorten. Die Geschichten, die in Romanen und Novellen erzählt werden, sind einfach besser als jene, die wir in Zeitungen oder Geschichtsbüchern lesen. Sie appellieren subtiler an unsere Emotionen, deren Anteil am Gelingen des Sprachenlernens, insbesondere an der so zentralen Gedächtnisleistung, längst von der Sprachlehr- und lernforschung erkannt worden ist. Patrick Modianos Dora Bruder etwa verschafft der Leserin und dem Leser einen viel intensiveren und anschaulicheren Eindruck vom Paris unter deutscher Besatzung, als dies ein Geschichtsbuch tun könnte. Aber auch die Kompetenz zur Sprachbewusstheit, die moderne Lehrpläne wiederholt einfordern, wird einfacher erworben an sprachlich hochstrukturierten Texten als an der Alltagssprache (Wolff 2003: 167sq.). Kunstvoll und sorgfältig gesetzte Wörter offenbaren eben oftmals mehr 1 Am treffendsten hat dies Dieter Wolff in seinem höchst aufschlussreichen Aufsatz formuliert: „Texte im Fremdsprachenunterricht: Plädoyer eines Sprachdidaktikers für die Arbeit mit literarischen Texten im Klassenzimmer“ (2003). <?page no="10"?> Einleitung 10 von einer fremden Sprache als Wörterbücher. So kann man mit Préverts Gedicht Déjeuner du matin nachhaltiger die Polysemie des französischen Verbs „mettre“ vermitteln als mit einem Wörterbuch. Die Literatur hat sogar noch ein weiteres Alleinstellungsmerkmal: Sie ist ziemlich resistent dagegen, ausschließlich um ihres Inhalts willen gelesen zu werden. Ein Glücksfall für einen Unterricht, dessen sprachliche Form gleichzeitig sein inhaltlicher Gegenstand ist. Im vorliegenden Band versuche ich, diese Überlegungen aus unterschiedlichen Perspektiven zu vertiefen. Dabei beleuchte ich den historischen und wissenschaftlichen Kontext ebenso wie Fragen des Kanons und der konkreten Textarbeit im Unterricht. Die folgenden Kapitel wurden an anderer Stelle, teilweise in geringfügig abweichender Form, als Aufsätze veröffentlicht. Sie eint das Ziel, literarische Texte in einen zeitgemäßen, den übergeordneten Zielen der kommunikativen und interkulturellen Kompetenz verpflichteten Fremdsprachenunterricht zu integrieren. Auch wenn meine Beispiele der französischen Literatur entstammen, so beanspruche ich mit den theoreti- Ich danke Christopher Kock für die Formatierung der Druckfassung sowie den Herausgebern Andrea Rössler und Daniel Reimann für die Aufnahme dieses Bandes in ihre Buchreihe. Mein besonderer Dank gilt Johannes Rohbeck für seine wertvollen Anregungen und Ratschläge. schen Reflexionen und Verallgemeinerungen Gültigkeit für den modernen Fremdsprachenunterricht insgesamt. Dabei versteht sich der Titel dieses Buches, der mit freundlicher Genehmigung des Autors einem Aufsatz von Hans Hunfeld (1992/ 2004) entlehnt wurde, als Programm. Literatur (lesen) und Fremdsprachen (lernen) müssen einander nicht aussschließen oder miteinander konkurrieren, vielmehr haben sie das Zeug zum symbiotischen Miteinander. <?page no="11"?> Kontext <?page no="13"?> Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik  Szenen einer Beziehung Die Liste der sogenannten Bezugswissenschaften, mit denen es die fremdsprachliche Fachdidaktik aufnimmt, ist lang; sie reicht von der Pädagogik zur Psychologie, von der Soziologie zur Neurologie, von der Linguistik zur Literaturwissenschaft. Die Beziehungen, die sie mit ihren Bezugswissenschaften pflegt, sind von unterschiedlicher Güte. Die Beziehung zur Literaturwissenschaft  von der hier die Rede sein soll , kann dabei auf eine sehr wechselvolle Geschichte zurückblicken. Während zu Zeiten eines stark philologisch ausgerichteten Fremdsprachenunterrichts diese Beziehung als gut nachbarschaftlich bezeichnet werden konnte, gerieten spätestens mit der kommunikativen Wende der 60er und 70er Jahre literaturwissenschaftliche Interpretationsmethoden und literaturgeschichtliche Wissensbestände ins Abseits. Vor gut 40 Jahren konnte man schon fast von zerrütteten Verhältnissen reden, als literarische Texte weitgehend aus den Lehrbüchern und den Lehrplänen verschwunden waren. Ein pragmatisch an Alltagskommunikation ausgerichteter Fremdsprachenunterricht konnte nicht mehr, wie früher üblich, durch die Übersetzung literarischer Texte gelehrt werden. Die handlungsorientierten Dialoge ersetzten die narrativen und poetischen Texte. Anfang der siebziger Jahre schien die Literatur und ihre Wissenschaft kein Thema mehr für fremdsprachendidaktische Forschungen zu sein. Dies blieb nicht unwidersprochen. Ein Einwand gegen die oben geschilderte Entwicklung war der Verlust an Bildung. Auch wenn in den Fremdsprachendidaktiken diese Diskussion nie mit so harten Bandagen geführt wurde wie in der Deutschdidaktik, so hat sie auch hier Spuren hinterlassen. Um nur ein Beispiel zu nennen: In einer scharfsinnigen, mit viel Witz vorgetragenen Polemik richtet sich Kurt Otten in einem Artikel 1979 gegen die „Brauchbarkeitsfanatiker“, die aus dem Fremdsprachenunterricht eine „kulturelle Mondlandschaft“ machen wollen (Otten 1979). Er erinnert an das emanzipatorische Element des zweckfreien Genusses von Literatur, das jahrhundertelang in der europäischen Erziehung als Privileg des freien Mannes (! ) galt und nun offenbar ausgerechnet unter den Bedingungen demokratischer Bildung abgeschafft werden solle. Solcherlei Besinnungen auf die humanistischen Bildungsideale sind sicherlich nicht frei von Verklärung des traditionellen Grammatik-Übersetzungsunter- <?page no="14"?> Kontext 14 richts vergangener Zeiten. Und nur zu gern werden die so offensichtlichen Defizite dieses Unterrichts von ihren Verteidigern unter den Teppich gekehrt. Typisch dafür ist Ottens euphorische Versicherung: „Wann immer ein Schüler auf einen Schriftsteller scharf ist, wann immer sein Sinn geweckt ist, hat der Sprachlehrer leichtes Spiel. Die Sprache beginnt dann durch die Literatur, sich selber zu lehren“ (ibid.: 266). Diese Behauptung ignoriert natürlich nicht nur alle Ergebnisse der Sprachlehrforschung, sondern auch die Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler, die diesen Unterricht genossen haben und am Ende vielleicht Claudel im Original lesen konnten, aber unfähig waren, auch nur ein einfaches Telefongespräch auf Französisch zu führen. Dennoch: Diese und andere Einsprüche haben dazu geführt, dass die Didaktik des neusprachlichen Unterrichts sich wieder verstärkt mit den übergreifenden Zielen des fremdsprachigen Unterrichts beschäftigt hat. Es wurde offensichtlich, dass mit der Literatur nicht nur traditionelle Bildungsgüter aus dem Unterricht eliminiert worden waren, sondern zugleich kulturelle Wissensbestände, ohne die auch das Lernziel „kommunikative Kompetenz“ nicht erreicht werden konnte. Die fremdsprachendidaktische Wiederbesinnung auf literarische Texte erfolgte Ende der siebziger Jahre  aber die literaturdidaktischen Impulse, von der sie initiiert wurden, orientierten sich nicht mehr, wie vor der „kommunikativen Wende“, an der idealistischen Literaturwissenschaft, sondern sie wurzelten im literarischen Strukturalismus. In einem wegweisenden Aufsatz aus dem Jahre 1976 plädiert der Englischdidaktiker Peter Freese für die didaktische Transformation der Erzählforschung und macht sehr konkrete methodische Vorschläge für eine Neugestaltung des fremdsprachigen Literaturunterrichts (Freese 1976). Freese bezieht sich hauptsächlich auf die Arbeiten Eberhard Lämmerts, Hartmut Stanzels und Percy Lubbocks und zeigt auf, wie die Bauelemente narrativer Texte im Unterricht erschlossen werden können. Freeses Argument für die Wahl der strukturalistischen Erzählforschung ist ihre leichte Didaktisierbarkeit, und zwar aus folgenden Gründen: 1. Ihre Verfahren appellieren nicht  wie der traditionelle Literaturunterricht  an persönliches „Ergriffensein“, sondern sie sind „rational demonstrierbar und auf kognitiver Ebene vermittelbar“. 2. Sie sind am Text belegbar und nachprüfbar. 3. Sie ermöglichen einen weitreichenden Transfer (ibid.: 3). Im selben Heft der Neusprachlichen Mitteilungen, in dem Freeses Aufsatz erschien, macht Klaus Straßburger für den Französischunterricht die <?page no="15"?> Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik 15 Rechnung à la française auf (Straßburger 1976). Straßburger schlägt eine strukturale Textanalyse am Beispiel einer Novelle von Maupassant vor und beruft sich auf französische Theoretiker  allen voran Tzvetan Todorov, Julien Greimas und Roland Barthes. Ähnlich wie Freese führt Straßburger als Argument für eine strukturale Textanalyse an, dass sie schrittweise verfährt, von den Schülern zunächst einmal eine beschreibende und nicht gleich deutende Haltung verlangt, und dass sie ein fächerübergreifendes Methodenbewusstsein fördert. Straßburgers Unterrichtsvorschlag ist noch stärker formalisiert als der Freeses, indem er strenge textlinguistische Kriterien von Korrelationen und Oppositionen zugrundelegt. Freeses Vorschläge, glaubt man der Einschätzung von Günther Jarfe (Jarfe 1997: 12), haben offenbar eine große Wirkung auf den Literaturunterricht im Fach Englisch ausgeübt. Von den - noch puristischeren  Vorschlägen Straßburgers kann nicht behauptet werden, dass sie zahlreiche direkte Nachahmer gefunden hätten in der Französischdidaktik. Die einschlägigen theoretischen Entwürfe aus Frankreich, die im Bereich des français langue etrangère entstanden sind, etwa von Michel Benamou (Benamou 1971) oder Jean Peytard (Peytard et al. 1982), wurden hierzulande nicht gerade breit rezipiert. Das mag aber auch daran liegen, dass die literaturdidaktische Diskussion in der sehr dünn besetzten Fachdidaktik des Französischen sowieso erst Ende der achtziger Jahre richtig auf Hochtouren kam. Das heißt allerdings nicht, dass im Französischunterricht literarische Texte nicht relativ schematischen textanalytischen Steuerungen unterworfen worden wären. Fritz Mundzeck beklagt, dass die Arbeitsaufgaben von Schullektüren zumeist eintönig im artikulatorischen Dreischritt „Informationsentnahme“  „Informationsverarbeitung“  „Informationsbewertung“ erfolgen (Mundzeck 1990). Die „in Ketten angeordneten Erschließungsfragen“ der Lehrerinnen („Qui parle, qui est le narrateur de ce passage, quelle est l'intention de ...? “; ibid.: 42) erlaubten nur eng gesteuerte Unterrichtsgespräche und Rezeptionshaltungen. In der didaktischen Diskussion wurde diese Form der textanalytischen Literaturdidaktik spätestens zu Beginn der achtziger Jahre harter Kritik ausgesetzt. Sie galt als unvereinbar mit einem schüler- und handlungsorientierten Unterricht. Haupteinwände waren (und sind), dass die kognitiven Lernziele die affektive Komponente der Literatur vernachlässigen, dass die Lernenden als eigenständige Leserinnen entmündigt werden, dass formalästhetische Aspekte vor inhaltlichen im Mittelpunkt des Unterrichtsgeschehens stehen  was altersunangemessen sei, da Schülerinnen und Schüler über Inhalte zum Lesen motiviert werden. <?page no="16"?> Kontext 16 Diese Kritik bewirkte einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel in der allgemeinen Literaturdidaktik, aber auch in der fremdsprachlichen. Es entwickelte sich eine innige Beziehung der Fremdsprachendidaktik zur Rezeptionsästhetik. Literaturdidaktiker wie Lothar Bredella (1976), Hans Hunfeld (1990), Jürgen Donnerstag (1989), Daniela Caspari (1994), Eckhard Rattunde (1990) u.a. reflektierten die didaktischen Potenziale der Rezeptionsästhetik; Theoretiker wie Hans Robert Jauß, Wolfgang Iser, Stanley Fish wurden zu Bezugsgrößen für die literaturdidaktische Theoriebildung in der Fremdsprachendidaktik. Der Perspektivwechsel vom Text zum Leser, den die Rezeptionsästhetik vorgenommen hatte, eröffneten der Literaturdidaktik neue Perspektiven eines Literaturunterrichts, der die affektiven Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler zum Ausgangspunkt nimmt und eine offene, individuelle Annäherung an Texte erlaubt. Diese Studien erwiesen sich als äußerst fruchtbar für die Entwicklung neuer Unterrichtsmethoden. Zum einen wurden zahlreiche Wege aufgezeigt, mit Schülern Rezeptionsgespräche zu führen. Zum anderen entstanden, auch unter dem Einfluß der Handlungstheorie, unter dem Schlagwort Kreative Verfahren zahlreiche neue Unterrichtsvorschläge. Diese Verfahren stellten die individuellen Textkonkretisierungen der Schüler in den Mittelpunkt. Nur einige seien genannt:  Die Vorgabe von Textanfängen mit der Aufforderung zur Hypothesenbildung;  die Rekonstruktion von auseinandergeschnittenen Textteilen;  das Füllen von Textlücken;  das Führen von Lesetagebüchern zur Dokumentation von Leseeindrücken;  die Umgestaltung von Texten in andere Textgattungen (Drehbuch, Buchkritik, Klappentext) oder andere Medien (Bilder, Musik, Hörspiel);  das Aus- und Umschreiben von Texten (Ausgestaltung von Figuren oder Handlungen) usw. Der Text ist keine Autorität, der sich der Schüler zu unterwerfen habe, sondern er ist Dialogpartner. Mit den rezeptionsortientierten Verfahren hat die Literaturdidaktik im Fremdsprachenunterricht zurück zum Unterrichtsalltag gefunden  und das ist auch gut so. Sie hat, ähnlich wie die Sprachdidaktik, ihre pragmatische Wende nachgeholt. So wie die Systemlinguistik abgelöst wurde durch die kommunikative Kompetenz, bei der im Mittelpunkt der Sprachreflexion nun nicht mehr der ideale Sprecher/ Hörer, sondern die realen Schüler und Schülerinnen mit ihren <?page no="17"?> Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik 17 Sprechhandlungen stehen, so hat sich die fremdsprachliche Literaturdidaktik den realen Leserinnen und Lesern zugewandt. Die Habenseite dieser modernen Literaturdidaktik ist leicht zu bilanzieren: Schülerinnen und Schülern von heute fällt es leichter als früheren Generationen, ihre Meinung über einen literarischen Text zu äußern und ihre Gefühle zu artikulieren; sie dürften weniger Hemmungen haben, einen Text fortzuschreiben  auch weniger Hemmungen, einfach mal einen nicht-pragmatischen Sprachgebrauch zu üben. Sie erstarren nicht stumm vor der Größe eines kanonisierten Autors. In der Regel gibt es heute bei der Behandlung literarischer Texte keine schmerzverzerrten Gesichter mehr bei jenen Schülern, die sich nicht für Schöngeister halten. Im Idealfall weckt die Behandlung von literarischen Texten im Unterricht bei den Schülern und Schülerinnen die Lust auf Lesen. Auf jeden Fall sind literarische Texte in einen Fremdsprachenunterricht integriert, der sich an pragmatischen Zielen der Befähigung zur Kommunikation und an den Zielen interkulturellen Lernens orientiert. Aber diese glückliche Verbindung von rezeptionsästhetischer Literaturwissenschaft und ihrer Didaktik hat auch ihre Schattenseiten. Denn die Ansätze einer hermeneutischen Literaturdidaktik haben sich in der didaktischen Diskussion zum Teil verselbständigt zu expliziten Argumenten gegen eine formalästhetische Beschäftigung mit der Literatur bzw. gegen literaturwissenschaftliche Methoden überhaupt. Ausdrücklich sei angemerkt, dass dies von den Erfindern produktionsorientierter und kreativer Methoden keineswegs beabsichtigt war. 1 Unter den Bedingungen eines handlungsorientierten Fremdsprachenunterrichts mutierten die methodischen Prämissen einer hermeneutischen Literaturdidaktik aber nicht selten zu Extremen einer Polarisierung, die sich etwa folgendermaßen gestaltet:  Schülerorientierung versus Textanalyse,  Inhalt versus Formalästhetik,  Persönlichkeitsbildung gegen ästhetische Bildung,  Eigenständiges und eigenverantwortliches Arbeiten der Schüler versus Planungshoheit des Lehrers. 1 Lothar Bredella, einer der profiliertesten Verfechter kreativer Verfahren, macht in einem Gespräch mit Ansgar Nünnig auf die Gefahren dieser Verselbständigung aufmerksam: „Vor dem Hintergrund der Vormachtstellung des objektivistischen Paradigmas waren diese kreativen Methoden eine Bereicherung. Heute, vor dem Hintergrund der Vormachtstellung des subjektivistischen Paradigmas, führt die Verselbständigung kreativer Methoden in der Tat in die Irre, und wir müssen für den Text Partei ergreifen.“ (Legutke, Michael K. et. al. (ed.) 2002: 115). <?page no="18"?> Kontext 18 Es scheint mittlerweile in der fremdsprachlichen Literaturdidaktik fast Konsens zu sein, dass literarische Texte ausschließlich als Objekt für subjektive Texterlebnisse gesehen werden. Günter Jarfe schreibt etwa: „Das Sezieren von Leichen ist Teil der universitären Ausbildung, ebenso wie es das Sezieren von Texten sein sollte. Lehrer, die dieser simplen Tatsache zuwider handeln und die Schülerbank zum Seziertisch umfunktionieren, dürfen sich nicht wundern, wenn die Literatur als Leiche zurückbleibt“ (Jarfe 1997: 16). Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als ob eine ganze Generation von Didaktikern, die von der explication de texte, einem dogmatischen Strukturalismus oder gar noch von raunenden Textdeutungen à la Staiger traumatisiert ist, ihren Phantomschmerz pflegt, indem sie einen textanalytischen Zugriff auf Literatur verbieten will. Nun ist aber gerade dies ein wichtiger Teil dessen, was in der akademischen Literaturwissenschaft getrieben wird  und schon haben wir einen wesentlichen Grund dafür, dass es auch heute noch in der Beziehung zwischen Literaturdidaktik und -wissenschaft kriselt. Interessant ist, dass die Didaktik des rezeptionsästhetisch ausgerichteten Literaturunterrichts bei den Lehrerinnen keineswegs immer auf die Zustimmung stößt, die sie nach dem Selbstverständnis der Didaktiker haben müsste. Günther Jarfe findet harte Worte für die „wenig flexiblen“ Kollegen, die hartnäckig an „analytischen Prozeduren“ festhalten und damit die „Misere des fremdsprachlichen Literaturunterrichts“ perpetuieren (ibid.: 16). Die Frage ist, ob die Praktiker vielleicht intuitiv spüren, dass sie ihren Schülern nicht unbedingt einen Gefallen tun mit dem Verzicht auf analytische Texterschließung. Zu dieser Annahme kann man neigen, und zwar nicht nur aus einer idealistischen Vorstellung von literarischer Bildung heraus oder aufgrund von literaturwissenschaftlichen Normen, sondern schlicht und einfach aufgrund der Ergebnisse von PISA. Ich möchte einmal die These wagen, dass die unterentwickelte Lesekompetenz der deutschen Schüler, die in dieser Studie zum Vorschein gekommen ist, auch etwas zu tun hat mit deutscher Literaturdidaktik. In der PISA-Studie wurde getestet, was im anglo-amerikanischen Sprachgebrauch Reading Literaricy heißt. Die deutsche Übersetzung „Lesekompetenz“ gibt nur undeutlich wider, was genau darunter verstanden wird. Es handelt sich um drei Anforderungsbereiche, die jeweils in fünf Kompetenzstufen untergliedert waren (PISA 2000: 83sq.). Sie entsprechen dem oben erwähnten, von Mundzeck so gegeißelten Dreischritt: <?page no="19"?> Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik 19 I. Informationen ermitteln: Die Aufgaben, die diesem Bereich zugeordnet sind, verlangen vom Leser, eine oder mehrere Informationen bzw. Teilinformationen im Text zu lokalisieren. „Dies erfordert eine sorgfältige Analyse von Textabschnitten mit dem Ziel, Detailinformationen zu finden. [...] Darüber hinaus kommt es vor, dass die gesuchte Information nicht explizit im Text enthalten ist, sondern gefolgert werden muß.“ II. Textbezogene Interpretation: Der Leser „muss Bedeutung konstruieren und Schlussfolgerungen aus einem oder mehrer Teilen des Textes ziehen. Hierzu gehören auch [...] der Vergleich von Textteilen im Hinblick auf Evidenz, die mit der bevorzugten Interpretation kompatibel ist.“ III. Reflektieren und Bewerten: „Hier wird vom Leser verlangt, dass er den Text mit eigenen Erfahrungen, Wissensbeständen und Ideen in Beziehung setzt. Es kann beispielsweise darum gehen, die Schlussfolgerungen des Autors bzw. die Botschaft eines Textes mit Wissen in Verbindung zu bringen, über das man hinsichtlich der angesprochenen Thematik schon verfügt.“ Die hier getesteten Kompetenzen gehen eindeutig von der Prämisse aus, dass es eine nicht hintergehbare Substanz eines Textes gibt, die unabhängig ist vom je subjektiven Verstehensprozess. So wird zum Beispiel für den ersten Anforderungsbereich „Informationen ermitteln“ präzisiert: „Je nach Komplexität der Aufgabe ist dafür ein unmittelbares Verstehen größerer Textteile und ein Vergleich von im Text vorhandenen Angaben erforderlich.“ (ibid.: 83sq.). Im dritten Anforderungsbereich „Reflektieren und Bewerten“ muss der Leser in der Lage sein, Textmerkmale wie Ironie, Humor und logischen Aufbau kritisch zu bewerten und in ihren Auswirkungen zu verstehen. So sollen die Schülerinnen und Schüler etwa herausarbeiten, inwieweit die Textstruktur dazu geeignet scheint, „die Ziele des Verfassers zu erreichen.“ Analysieren, konstruieren, vergleichen, schlussfolgern, in Beziehung setzen, eine Textstruktur auf ihren inhaltliche Angemessenheit hin bewerten  dies sind Schlüsselbegriffe der Anforderungsbeschreibungen. Sie verweisen auf Kompetenzen, die nicht oder wenigstens nicht primär durch einen offenen Umgang mit Texten erworben werden; vielmehr erfordern sie einen gelenkten Umgang, d.h. einen textimmanenten Zugang. Ich wähle ein Beispiel aus der PISA-Studie, um das kurz zu demonstrieren: „Das Geschenk“  eine kurze Erzählung, welche von einer Frau handelt, die in ihrem von Hochwasser umgebenen Haus eingeschlossen <?page no="20"?> Kontext 20 ist und erschrocken feststellen muss, dass sich auf ihrer Veranda ein Panter vor den Fluten gerettet hat, für den es ebenfalls kein Entrinnen mehr gibt. Die Frau versucht den Panter zu erschießen. Sie scheitert und wirft schließlich, am nächsten Tag, dem vollkommen ausgehungerten Tier die Hälfte des ihr verbliebenen Schinkens zum Fraß vor. Am nächsten Morgen ist der Panter fort. Das Wasser war so weit gesunken, dass er sich an Land retten konnte. Die Erzählung würde sich auf geradezu klassische Weise für einen rezeptionsorientierten Literaturunterricht eignen. So könnte man z.B. an mehreren Stellen die Lektüre unterbrechen und die Schüler Hypothesen über den Fortgang aufstellen lassen. Man könnte die Schüler das Ende der Geschichte neu schreiben lassen. Möglich wäre, den Mittelteil  die Szene, in der die Frau zuerst ihren Hunger wahrnimmt und anschließend das wohlige Gefühl der Sättigung genießt  wegzulassen und diese Lücke von den Schülern füllen zu lassen. Die existentielle Situation, in der sich die Heldin befindet, appelliert an die Identifikation mit ihr und zum Durchspielen eigener Handlungsoptionen: „Warum hat die Frau den Panter Deiner Meinung nach nicht erschossen? “ Oder: „Wie hättest Du dich verhalten? “ sind zum Beispiel solche Impulse für die Arbeit mit der Erzählung im Unterricht. Eine Reflexion über den Titel „Das Geschenk“ kann Anlass für eine Diskussion geben: „Wer schenkt da eigentlich wem was? “ Die Tatsache, dass die Geschichte von einem externen Standpunkt aus erzählt wird, lässt den Text offen für persönliche Interpretationen. Und nicht zuletzt kann die Erzählung Anlass sein für ein Gespräch über eigene Erfahrungen mit Hochwasser. Man kann den Text aber auch  gerade wegen seiner Leerstellen  hervorragend für eine eng am Text orientierte Lektüre benutzen. Genau diesen Weg schlägt PISA ein. Die Gefühle der Frau und ihre handlungsleitenden Motive werden vom Erzähler nicht expliziert. Sie können aber vom Leser durch eine sorgfältige Analyse der Detailinformationen erschlossen werden. Es ist die Erfahrung des eigenen Hungers und der eigenen Ausweglosigkeit, die bei der Frau den spontanen, unreflektierten Perspektivwechsel bewirken  von der Angst gegenüber dem wilden Tier hin zur Identifikation mit der leidenden Kreatur. Eine Arbeitsaufgabe, welche PISA stellt, heißt nicht: „Was war wohl der Grund dafür, dass die Frau den Panter gefüttert hat? “, sondern: „Was war wohl laut Erzählung der Grund dafür, dass die Frau den Panter gefüttert hat? “ Dieses Detail in der Fragestellung ist nicht so unerheblich, wie es scheinen mag. Um die Frage nämlich „laut Erzählung“ zu beantworten, wird der Leserin ein gehöriges Maß an Problembewusstsein für Textstrategien abverlangt. <?page no="21"?> Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik 21 An keiner Stelle des Textes tut uns der Erzähler den Gefallen, die Motive der Frau für ihr Handeln zu explizieren. Nirgendwo stehen Sätze wie: „Sie begriff, dass das Schreien des Panters ein Zeichen für seinen Hunger war.“ Oder: „Erst nachdem sie einen Teil ihres Schinkens verspeist hatte, spürte sie selbst, wie erlösend es war, vom quälenden Hungergefühl befreit zu sein; es ergriff sie ein großes Mitgefühl für die leidende Kreatur“. Vielmehr lesen wir von den „qualvollen Schreien des Panters“, vom „müde klingenden Schrei“, vom „klagenden Schrei“, von seinem „Wimmern“ und „Knurren“, von den „eingefallenen Flanken und den hervortretenden Rippen“ des Tieres. Gegen Ende der Erzählung ist der Panter „eine Katze, die miaut“. Über die Frau, die den schlafenden Panter betrachtet, heißt es hingegen: „Zum ersten Mal, seit der Regen begonnen hatte, wollte sie weinen, um sich selbst, um all die Menschen, um alles, was in der Flut versunken war“. Und: „Vom Essen war ihr warm geworden“. Kurz: Die Schüler müssen wissen, dass die psychologische Introspektion von Figuren sich bei einer externen Erzählperspektive durch die Beschreibung äußerer Phänomene und Handlungen konstituiert; und sie müssen Strategien entwickeln, dieses Stilmittel zu erkennen und zu deuten  Strategien des Vergleichens, des In- Beziehung-Setzens, des Schlussfolgerns. Und damit sind wir nolens volens doch wieder bei der Textanalyse, dieser von der literaturdidaktischen Zunft so ungeliebten literaturwissenschaftlichen Partnerin. Ich denke aber, dass die Beziehung zwischen den beiden nicht so frostig bleiben muss. Denn der Strukturalismus hat nicht nur das haarspalterische Herausschälen von Äquivalenzen und Oppositionen auf der semantischen, syntaktischen und phonologischen Ebene eines Textes hervorgebracht, sondern er hat auch die Analyse der erzählenden Gattung revolutioniert. Und hier lohnt ein Blick über die Grenze nach Frankreich - nicht nur zur dortigen Literaturwissenschaft, sondern auch zu ihrer Didaktik. Es scheint mir bedenkenswert, dass die Theorien von Narratologen wie Julien Greimas (1966), Claude Bremond (1973) oder Gérard Genette (1972) die französische Literaturdidaktik prägen. Als eher zufälliges Beispiel möge ein Französischbuch für die Seconde (10. Klasse) (Français Lycées, 2001) dienen, in dem für eine Reihe von Textaufgaben ganz offensichtlich  ohne dass dies explizit gemacht würde  die Aktantentheorie von Greimas strukturaler Semantik zu Grunde liegt. Im selben Lehrbuch hat auch Gérard Genettes Discours du récit Pate gestanden für die Übungen zum Erzählerstandpunkt. Die Kompetenz, den Plot von der Story, die Fabel von der Geschichte, le récit von l'histoire zu unterscheiden, gehört ebenso zu den Lernzielen franzö- <?page no="22"?> Kontext 22 sischer Schüler und Schülerinnen wie das Analysieren unterschiedlicher Erzählerstandpunkte. Die Typologisierung von Erzählinstanzen, die Analyse von Erzählperspektiven, das Erkennen von narrativen Funktionsmechanismen sind u.a. Kompetenzen, die den französischen Schülern im Rahmen des Literaturunterrichts vermittelt werden. Zweifellos kann die Erreichung dieser Lernziele zu formalen Exzessen in der Unterrichtspraxis führen. Der große Erfolg von Daniel Pennacs „Zehn Grundrechten des Lesers“ ist sicherlich auch vor dem Hintergrund eines französischen Literaturunterrichts zu sehen, der längst nicht in dem Maße die rezeptionsästhetische Wende vollzogen hat wie in Deutschland (Pennac 1992). Aber die literaturdidaktische Antwort auf die Nachteile des Strukturalismus im Unterricht ist in Frankreich keine generelle Abkehr von der Narratologie, sondern eine Didactique du récit. Der Ansatz von Pierre Glaudes und Yves Reuter (Glaudes, Reuter 1996) erweist sich dabei als sehr fruchtbar. Wie die Literaturdidaktik hierzulande gehen sie vom vorherrschenden Schülerinteresse aus und versuchen es für die narratologischen Übungen einzuspannen. Schüler interessieren sich  da gibt es vollkommene Übereinstimmung mit Jarfe  vor allen Dingen für die Personen in narrativen Texten. Folglich entwickeln Glaudes und Reuter, bezogen auf die literarische Figur als Kristallisations- und Ausgangspunkt, Vorschläge für Textanalysen, die sich an diesem Interesse orientieren. Dies verlangt eine sehr viel detailliertere und größere didaktische Transformation der Narratologie und auch eine größere Operationalisierung, als das in den bisherigen Ansätzen etwa von Freese oder Straßburger der Fall war. Ähnliche Vorschläge finden sich bei Marceline Laparra, die als „lernschwach“ geltenden Schülern den Einstieg in Texte durch Aufgaben erleichtert, die sich an der strukturalen Erzählanalyse orientieren (Laparra 1988). Ich glaube also nicht, dass die Strukturanalyse grundsätzlich aus dem fremdsprachlichen Literaturunterricht zu verbannen ist, sondern dass die in der Sackgasse geratenen Ansätze der siebziger Jahre noch zu wenig verfeinert und operationalisiert waren. Zum Schluss bleibt die Frage: Wie relevant ist das für den Fremdsprachenunterricht? Ist es wirklich Aufgabe des fremdsprachlichen Literaturunterrichts, die von PISA geforderte „Reading Literacy“ zu fördern? Und vor allen Dingen: Lassen sich diese Kompetenzen überhaupt in Einklang bringen mit den Lernzielen des modernen Fremdsprachenunterrichts? Ich denke ja, wenn man die narrative Kompetenz auch als eine kommunikative Kompetenz begreift. Harald Weinrich hat darauf aufmerksam gemacht, dass diskursive Fertigkeiten wie Diskutieren und Disputieren bei Fremdsprachendidak- <?page no="23"?> Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik 23 tikern hoch im Kurs stehen, dass aber das „Erzählen“ weit weniger gefragt ist (Weinrich 1988). Der vorwiegend dialogische Umgang mit literarischen Texten, wie er sich in Rezeptionsgesprächen und in kreativen Verfahren niederschlägt, schließt sich in der Tat nahtloser an die dialogisch strukturierten Lehrbuchtexte an, weil er eher an interaktive Sprechhandlungen appelliert. Aber dagegen ist einzuwenden, dass auch das „Erzählen“ ein höchst kommunikativer Akt ist. Das gilt nicht zuletzt auch unter dem Gesichtspunkt der interkulturellen Kommunikation, einem weiteren großen und wichtigen Lernziel des Fremdsprachenunterrichts. Der eigenen und fremden Identität wird man sich vor allem erzählend gewiss. Deshalb plädiere ich auch beim Fremdsprachenunterricht für eine Didactique du récit. <?page no="25"?> Didaktische Transformationen. Fremdsprachendidaktik zwischen Unterrichtspraxis und Philologie Die Lehrerausbildung befindet sich seit einigen Jahren im Umbruch. Der Master of Education hat weitgehend den alten Staatsexamensstudiengang abgelöst. In Anbetracht der Tatsache, dass die Fachdidaktik im Rahmen dieser Neustrukturierung der ersten Phase der Lehrerausbildung eine größere Bedeutung als bisher erhält, sollte dies Anlass sein, ihre Aufgaben und Funktionen neu zu überdenken, um das Profil der universitären Fachdidaktik klarer zu formulieren. Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist ein Begriff, der mittlerweile so inflationär gebraucht wird, dass man den Eindruck hat, er bedürfe keiner weiteren Erläuterung mehr - ich meine den Begriff „Praxisnähe“ (Cf. Nünning 2004). Er fällt immer dann, wenn es gilt, den Unterschied zu markieren zwischen dem alten Staatsexamensstudiengang und dem Master of Education. Die Praxisnähe schlägt sich in dem neuen Studiengang darin nieder, dass der pädagogische und fachdidaktische Anteil am Studium vergrößert wird und dass er vor allem verbindlicher wird, im Sinne von klareren Leistungsprofilen. Dabei fällt auf, dass im bildungspolitischen Diskurs häufig zwischen dem erziehungswissenschaftlichen Anteil am Studium und dem fachdidaktischen gar kein Unterschied gemacht wird, sondern dass von Bildungswissenschaften die Rede ist. Diese mangelnde Differenzierung, die in den Empfehlungen der Expertenkommission zur Ersten Phase der Lehrerausbildung kritisiert wird (Ministerium NRW 2007: 42), ist nur ein Symptom für die bisher ausgebliebene Reflexion der fachdidaktischen Disziplinen über ihre Aufgaben im Rahmen einer reformierten Lehrerausbildung. Wenn es mir im Folgenden um die Frage des Verhältnisses von akademischem Studium und schulischer Praxis geht, so zielt das auf die Besonderheit der Fachdidaktik, speziell noch einmal der universitären Fachdidaktik, gegenüber den Fachwissenschaften einerseits und den Erziehungswissenschaften andererseits. Um der Beantwortung dieser Frage näher zu kommen, sollten wir uns zunächst auch einmal klar machen, wo unsere Grenzen liegen. Die Fachdidaktik an den Universitäten ist nicht eingebettet in eine kontinuierliche Lehrtätigkeit der Studierenden. Darin unterscheidet sich diese Phase grundsätzlich von der zweiten Phase der Lehrerausbildung. Die <?page no="26"?> Kontext 26 Studierenden können nicht am Dienstag in der Schule anwenden, was sie am Montag im fachdidaktischen Seminar gelernt haben. Vielmehr ist die fachdidaktische Lehre eingebettet in das Fachstudium der Studierenden. Und ich sehe hier, in der Anbindung an das Fach, eine Aufgabe der universitären fachdidaktischen Lehre - nicht die einzige, aber eine wichtige Aufgabe, die bisher nur wenig reflektiert wurde. Die Fachdidaktik hat die Funktion der Vermittlung zwischen den akademischen Disziplinen und der unterrichtlichen Praxis. Im Einzelnen besteht diese Mittlerfunktion darin, die Fachwissenschaften in die Unterrichtspraxis zu transformieren. Ich möchte dies auf zwei Ebenen zeigen. Erstens auf der Ebene der spezifischen Inhalte und zweitens auf der Ebene der Methoden. Transformation der Inhalte Die Transformation der Inhalte bedeutet gerade nicht, den Lehrstoff wie mit einem elektrischen Transformator auf ein niedrigeres Niveau herunter zu transformieren, oder, wie es früher hieß, didaktisch zu reduzieren und zu elementarisieren. Didaktische Transformation bedeutet vielmehr, die Bausteine des Wissens in schulpraktischer Perspektive neu zusammenzusetzen. Denn es ist eine Illusion zu glauben, es gäbe eine feststehende Hierarchie zwischen Höherem und Niederem oder einen objektiven Maßstab für Kompliziertes und Elementares. Was in der wissenschaftlichen Disziplin als grundlegend gilt, kann in der Unterrichtspraxis eine untergeordnete Rolle spielen. Um ein Beispiel zu nennen: altfranzösische Texte und mittelalterliche Literatur spielen im modernen Französischunterricht der Sekundarstufe aus vielen guten Gründen keine Rolle. In der akademischen Forschung haben sie - aus ebenso vielen guten Gründen - nach wie vor einen zentralen Platz. Aber auch der umgekehrte Fall gilt. Was im akademischen Fach als speziell gilt, kann im Unterricht zur elementaren Ausgangsfrage mutieren. So sind Themen, die sich mit der französischen Alltagskultur beschäftigen, das Herzstück eines modernen Französischunterrichts, und jede Französischlehrerin sollte über entsprechendes reflektiertes Wissen verfügen (Cf. Schumann 2008). Was schließlich die Studierenden eines MA-Studienganges lediglich als prozedurales Wissen abzurufen brauchen, müssen zukünftige Fremsprachenlehrerinnen auch als deklaratives Wissen parat haben. Es genügt zum Beispiel nicht, eine gute Aussprache zu haben, man muss auch wissen, wie man sie erwirbt und lehrt. <?page no="27"?> Didaktische Transformationen 27 Ich möchte diese komplizierten Beziehungen von jeweiligen Zentren und Peripherien an einem Gegenstand demonstrieren, der für die philologische Forschung als marginal gilt, der in der Schule aber ins Zentrum rücken kann: dem Brief. Diese Gattung ist geradezu prädestiniert für den fremdsprachlichen Unterricht - aus folgenden Gründen: 1. Für den Brief spricht seine Nähe zum mündlichen Code. Für einen Fremdsprachenunterricht, dessen oberstes Lernziel die Kommunikationsfähigkeit ist und dessen Lehrbuchlektionen im Anfangsunterricht fast ausschließlich dialogisch strukturiert sind, ist der epistolarische Gesprächsersatz das willkommene Medium, um die Brücke zur Schriftlichkeit zu schlagen. Nur wenige Textformen sind so geeignet wie der Brief, um den Schülerinnen und Schülern den Transfer ihrer mündlich erworbenen Kenntnisse in die Schriftsprache zu ermöglichen. 2. Der Brief kann am Anfang für einen Schüler im Umgang mit muttersprachlichen Sprechern sogar der mündlichen Kommunikation überlegen sein. Die großen Barrieren des Hörverstehens, die jeden Lerner spätestens beim Telefongespräch in französi- 3. Der Brief ermöglicht die Kommunikation über Entfernungen. Wenn der Erwerb interkultureller Kompetenzen als ein Ziel des Fremdsprachenunterrichts ernst genommen wird, dann hat der Brief zur Erreichung dieses Ziels eine wichtige Funktion. Denn mit relativ geringem materiellen Aufwand erlaubt er, über die Simulation in den engen Grenzen des Klassenzimmers hinaus in realen Kontakt mit der fremden Kultur zu treten. 4. Der Brief schafft die Gelegenheit, Ich zu sagen bzw. zu schreiben. Die pädagogische Grundregel, dass nur das gelernt wird, was auch einen Bezug zum lernenden Subjekt hat, wird durch die Textform Brief respektiert. Auch wenn die Schülerbriefe nicht gleich zum Spiegel der Seele werden müssen, so bieten sie den Rahmen dafür, dass Schülerinnen und Schüler von und über sich schreiben können. Kein Wunder also, dass der Brief längst zu den Lieblingstextsorten der modernen Fremdsprachendidaktik gehört. Es dürfte wohl kein Fremdsprachenlehrbuch mehr geben, in dem nicht in einer der ersten Lektioscher Sprache verzweifeln lassen, werden durch das verschriftlichte Gespräch im Brief elegant umschifft. Deshalb ist auch das Telefon im Fremdsprachenunterricht längst nicht in dem Maße zum konkurrierenden Medium für den Brief geworden wie bei der muttersprachlichen Kommunikation. <?page no="28"?> Kontext 28 nen ein Brief abgedruckt ist und in dem nicht die elementaren rhetorischen Elemente wie Anrede- und Grußformeln in der fremden Sprache vermittelt würden. Im Rahmen von Schüleraustausch und Schulpartnerschaften werden ganze Klassenkorrespondenzen gepflegt. Der allgemeinen Klage, dass das Internet das Schreiben persönlicher Briefe zu einer aussterbenden Kulturtechnik mache, deren Weitergabe an nachfolgende Generationen angeblich sinnlos sei, kann ich mich nicht anschließen. Dieses Lamento übersieht, dass E-Mail gerade nicht die Schriftlichkeit der persönlichen Darstellung zerstört, sondern ihr wieder eine Renaissance beschert. Mit den Briefen, die über elektronische Post verschickt werden, wird etwas verschriftlicht, was in den letzten Jahren ausschließlich dem oralen Code anvertraut wurde. E-Mails ersetzen keine Briefe, sondern Telefongespräche. Hier wird das Mündliche wieder in den schriftlichen Aggregatzustand zurückversetzt; die ehedem weitgehend mündliche Kommunikation über Distanzen, die durch das Telefon erfolgte, wird wieder mit Buchstaben geführt. Dass E-Mail das Telefongespräch ersetzen kann, liegt daran, dass sie sich im Übertragungstempo dem Gespräch sehr stark annähert. Fast könnte man sagen - und das wäre die Ironie der Geschichte - dass erst durch das Chatten im Internet das Ideal der Brieftheorie erreicht wird, und dass der Brief zum ersten Mal in seiner Geschichte überhaupt in der Lage ist, das Gespräch zu ersetzen. Natürlich hat auch dieser mediale Wechsel eine neue Sprache und einen neuen Stil der Kommunikation hervorgebracht, auf die ich hier aber nicht weiter eingehen möchte. Die Fremdsprachendidaktik hat längst erkannt, dass die E-Mail den Shift von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit noch besser abfedern kann als der papierne Brief (Fischer 1998; Friedel 2000). Was ich mit all dem sagen will: als kommunikatives Faktum (Tynjanov 1982) hat der Brief in der Unterrichtspraxis seinen festen Platz. Aber diese Textform hat noch größeres didaktisches Potenzial. Sie erleichtert nicht nur den Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit, sondern auch den Übergang vom alltagssprachlichen zum literarischen, vom pragmatischen zum ästhetischen Code. Ansätze in der muttersprachlichen Französischdidaktik, die aus dem reichen Textkorpus der Briefliteratur schöpft, gibt es dazu (Taymans et al. 1992). Aber gerade als Gegenstand des fremdsprachlichen Literaturunterrichts würde sich diese Textform besonders eignen. Nur einige Gründe dafür seien genannt: <?page no="29"?> Didaktische Transformationen 29 1. Der persönliche Brief kommt dem Bedürfnis nach kurzen und dennoch dichten Texten nach. Hier müssen keine meisterhaften Texte zusammengekürzt werden, wie wir das aus den Easy- Readers Schulausgaben kennen. Der Brief ist primär nicht auf epische Breite, sondern auf Mitteilung ausgerichtet. Dennoch haben viele Briefe auch narrative Strukturen. 3. Und schließlich bietet der Brief durch seinen Anteil an selbstreferentiellen Passagen Anschluss an einen produktions- und handlungsorientierten Literaturunterricht, der das Spiel mit dem sprachlichen Zeichen zu einer kreativen Form der Sprachaneignung gemacht hat. Doch warum findet der Brief als literarisches Faktum im fremdsprachlichen Unterricht kaum Beachtung? Das hat damit zu tun, dass die Diskussionen über den fremdsprachlichen Lektürekanon mit dem schielenden Blick auf den akademischen Kanon geführt werden. Der traditionelle schulische Literaturkanon hat das Ziel, ein miniaturisiertes Abbild vom akademischen Kanon zu sein. Das ist ein Dilemma für den fremdsprachlichen Unterricht, der es mit traditionsreichen und klassischen Nationalliteraturen zu tun hat, deren große Texte nicht mit dem Ziel geschrieben wurden, Schülern den Erwerb kommunikativer Kompetenz in ihrer Zielsprache zu erleichtern. Es hat auf dieses Dilemma im Laufe der Jahre unterschiedliche Antworten gegeben. Eine besteht darin, um jeden Preis den akademischen Kanon ins Klassenzimmer zu retten. Zu dem Zweck wird der Don Quijote auf den Grundwortschatz gestutzt und die Alexandriner Molières werden als bittere Medizin verabreicht. Dahinter steht die Auffassung, das didaktische Geschäft bestehe in der bloßen Reduzierung oder Elementarisierung der Wissensbestände einer Disziplin. Eine andere Antwort besteht darin, literarische Texte nicht unter ästhetischen Gesichtspunkten auszuwählen, sondern als maßgebliches Kriterium für die Aufnahme in den schulischen Kanon den Bezug der Texte zur Lebenswelt und zur Interessenlage der Schülerinnen und Schüler gelten zu lassen. Dies ist zum Beispiel das entscheidende Argument für die große Beliebtheit, der sich die Kinder- und Jugendliteratur 2. Authentische persönliche Briefe verweisen durch ihre Adressatenbezogenheit und ihren kommunikativen Charakter immer auf die Alltagswirklichkeit der fremden Kultur und sind deshalb gut zu integrieren in einen Unterricht, der die Vermittlung von Literatur mit der von Geschichte und Kultur des Landes verbindet. <?page no="30"?> Kontext 30 als Schullektüre erfreut (Caspari 2007). Der schulische Kanon ist dann explizit ein nicht-akademischer. Beide Positionen widersprechen sich nur vordergründig. Letztlich definieren sie sich beide in Relation zum literaturwissenschaftlichen Kanon, sei es durch dessen rigorose Ablehnung, sei es durch seine bedingungslose Anerkennung als Autorität. Ich plädiere für einen Mittelweg, den ich nicht als faulen Kompromiss verstanden wissen möchte, sondern als Versuch, die Wissensbestände der Disziplin für die Schule nicht didaktisch zu reduzieren, sondern zu transformieren. Ich plädiere deshalb weder für die bedingungslose Unterwerfung unter den akademischen Kanon noch für seine radikale Ablehnung im schulischen Unterricht, sondern für seine Dezentrierung. Literatur am Rande des Kanons und literarische Gattungen am Rande der poetologischen Kodifizierung sind oftmals besser geeignet, den Erfordernissen eines modernen Fremdsprachenunterrichts gerecht zu werden, als solche, die im Zentrum stehen. Das Ausweichen auf die Ränder des akademischen Kanons bedeutet aber nicht den Verzicht auf seine ästhetischen Kriterien, auf seine kulturellen Traditionen und seine Wissensbestände. Die Aufgabe einer so verstandenen Fachdidaktik besteht darin, die didaktischen Potenziale der wissenschaftlichen Disziplinen möglichst breit und fantasievoll auszuschöpfen. Die Fachdidaktikerin sucht nach solchen Inhalten, die sich an schulische Lernziele und zu vermittelnde Kompetenzen anbinden lassen. Am Rande ausgetretener akademischer Pfade findet sie unbekannte Texte, die neue Impulse für die Unterrichtspraxis geben können. Um diese Transformationen zu bewältigen, kann das fachdidaktische Studium und auch die fachdidaktische Forschung nicht abgekoppelt werden von der sogenannten Fachwissenschaft. Es gehört zu den Aufgaben der Fachdidaktik, das Curriculum zu beeinflussen - und zwar nicht nur das schulische, sondern auch das universitäre. Um bei unserem Beispiel zu bleiben: Die sich eher am Rande des akademischen Kanons befindende Briefliteratur und die für das Philologiestudium eher marginale Epistolartheorie haben aus der Perspektive der späteren Berufspraxis der Studierenden einen anderen Stellenwert als aus der Perspektive der philologischen Disziplinen. Betrachtet man die fachdidaktische Forschung, so geschieht diese Transformation natürlich bereits. So hat sich etwa ein Literaturkanon für den Französischunterricht herausgebildet, der sein eigenes Profil hat. Ebenso setzen die sprachdidaktischen Publikationen andere Akzente, <?page no="31"?> Didaktische Transformationen 31 widmen sich anderen Themen als die sprachwissenschaftlichen. Dennoch verlaufen diese Profilbildungen eher unsystematisch und nicht immer im Einklang mit den Desideraten der Unterrichtspraxis. Es gibt eine Reihe von Themen, die in der Unterrichtspraxis von großer Bedeutung sind, die aber nicht angemessen in der fachdidaktischen Grundlagenforschung vertreten sind. Ich denke an Themen wie Hörverstehen, Aussprachetraining oder Kinder- und Jugendliteratur (Caspari 2007). Der Grund dafür liegt m.E. nicht in der mangelnden Praxisnähe der Fachdidaktik, sondern in der noch nicht gelungenen Verbindung von fachwissenschaftlicher und fachdidaktischer Forschung (Cf. Polzin- Haumann 2008). Ich sehe hier die Aufgabe für die Fachdidaktik, Desiderata zu formulieren und auch der fachwissenschaftlichen Grundlagenforschung Impulse zu geben. Transformation der Methoden Transformation der Methoden heißt, die großen fachwissenschaftlichen Theorien werden in didaktische Konzepte umgesetzt. Ich weiß, dass diese These umstritten ist. Die Bruchlandungen, die es in dieser Hinsicht gegeben hat, zum Beispiel die dogmatischen Anwendungen der strukturalistischen Literatur- und Sprachtheorie in den frühen 70er Jahren, haben dazu geführt, dass diese Art der Transformation gern als Sackgasse dargestellt wird, und dass die Entwicklung von Methoden des Fremdsprachenunterrichts ausschließlich den Erziehungswissenschaften oder der Sprachlehrforschung anvertraut wird (Cf. Jarfe 1997). Ich halte das für etwas voreilig. Bei unvoreingenommener Betrachtung muss festgestellt werden, dass wichtige methodische Impulse auch aus dem konkreten Fachbezug gekommen sind. Um ein Beispiel aus dem Bereich der Literaturdidaktik zu nehmen: Es ist offensichtlich und wird von den entsprechenden didaktischen Vertretern auch gar nicht geleugnet, dass der handlungs- und produktionsorientierte Literaturunterricht wichtige Elemente der literaturwissenschaftlichen Rezeptionsästhetik verdankt und nicht nur auf den pädagogischen Konzepten von Lernerautonomie oder Handlungstheorie basiert (Nünning 2004: 79; cf. auch Fäcke 2008). Um den Studierenden aber nicht nur die Unterrichtsmethode, sondern ihnen auch das entsprechende Methodenbewusstsein zu vermitteln, bedarf es einer fundierten Kenntnis von Genese und Transformation der ihnen zugrunde liegenden Theorien. Methodenbewusstsein ist nicht vom konkreten Gegenstand, auf den die Methoden angewendet werden sollen, abzukoppeln. Im Zusammen- <?page no="32"?> Kontext 32 spiel und in der Verzahnung von Methoden und Inhalten sehe ich die wichtigste Funktion der Fachdidaktik. Unsere Unterrichtsmethoden sind kein Selbstzweck, sondern sie haben die Aufgabe, ganz bestimmte Kompetenzen und ganz konkretes Wissen zu vermitteln. Dem können sie nur gerecht werden, wenn sie funktional auf ihren Gegenstand angewendet werden. Nicht jede Methode eignet sich für jeden beliebigen Gegenstand. Erst wenn der Gegenstand durchdrungen ist, kann auch der geeignete methodische Schritt für seine Vermittlung reflektiert werden. Denn eine Methode muss nicht nur den Lernenden, sondern sie muss auch der Sache angemessen sein. Und so wie die Lernenden mit ihren spezifischen Voraussetzungen und Bedingungen bestimmte Methoden verlangen, so gibt es auch methodische Zwänge, die in der Sache liegen. An dieser Stelle verläuft auch für mich die Grenze zwischen den Erziehungswissenschaften und der Fachdidaktik. Während die einen ihren Blick auf die Lernenden unabhängig vom konkreten Unterrichtsgegenstand richten, beschäftigt sich die Fachdidaktik immer mit Lernenden eines bestimmten Schulfaches. Die Aufgabe der Fachdidaktik besteht darin, den künftigen Lehrerinnen und Lehrern die Kompetenz zu vermitteln, das didaktische Potenzial und die didaktischen Schwierigkeiten ihrer Unterrichtsgegenstände zu erkennen. Methodische Fehler im Unterricht werden nicht nur gemacht, weil eine Methode nicht beherrscht wird, sondern auch, weil eine Sache nicht verstanden wurde. Das lässt sich zum Beispiel beobachten an der Anwendung der kreativen Verfahren bei der Behandlung literarischer Texte, die bisweilen aus dem Ruder geraten, ohne dass es - das sei ausdrücklich vermerkt - von ihren Erfinderinnen und Erfindern beabsichtigt worden ist. Wenn die ausdifferenzierten kreativen Verfahren dem Unterrichtsgegenstand äußerlich bleiben, kommt es zu nicht mehr funktionierenden Unterrichtsvorschlägen. Dann sollen Texte ausfabuliert werden, die sich jeder narrativen Struktur verweigern, dann werden absurde Diskussionen in Gang gesetzt, weil die Ironie des Ausgangstextes nicht erkannt wurde, dann werden Texte fortgeschrieben, deren Bedeutungen nicht erfasst wurden, weil ihre Metaphern oder ihre Erzählperspektive nicht erkannt wurden. Ausblick Unter dem Aspekt einer Fachdidaktik, die die Transformation fachwissenschaftlicher Lehre und Forschung in unterrichtspraktischer Perspektive betreibt, sehe ich die zurzeit bestehende Zweiphasigkeit der Lehrer- <?page no="33"?> Didaktische Transformationen 33 ausbildung als eine Chance. Ich sehe darin die Chance, die Wissensbestände der Fachwissenschaften einerseits in noch viel größerem Maße für die Schulpraxis auszuschöpfen und sie andererseits noch klarer als bisher auf ihre Schulrelevanz hin zu befragen. Ich sehe auch umgekehrt darin die Chance, aus den Erfordernissen schulischen Fremdsprachenunterrichts heraus fachwissenschaftliche Forschung zu initiieren. Die vorschnelle Verabschiedung der zweiphasigen Lehrerausbildung zugunsten eines einphasigen Modells übersieht, dass gerade diese Struktur für andere Staaten Modellcharakter hat. Ich stimme der Expertenkommission zu, die in ihrem Gutachten zur Ersten Phase der Lehrerausbildung in Nordrhein-Westfalen ausdrücklich empfiehlt, dass „Ausbildungselemente der Ersten und Zweiten Phase kaum wechselseitig substituiert werden können. Denn deren wechselseitige Verschiebung bedeutet zuallererst eine Einbuße bei den jeweils besonderen strukturellen Stärken“ (Ministerium NRW 2007: 32). Praxisnähe unter diesen Prämissen heißt in der universitären fachdidaktischen Lehre weniger, die Vermittlung von „Handlungssicherheit“ (Ministerium 2007: 30) für die konkrete Planung und Durchführung von Unterricht, sondern die Vermittlung von schulrelevantem Wissen und von Methodenbewusstsein, das dem Fach nicht äußerlich bleibt. <?page no="35"?> Kulturkunde - die verdrängte Tradition der interkulturellen Didaktik Es dürfte schwer sein, in der breiten und intensiven Diskussion der letzten zwei Jahrzehnte um das Konzept interkulturelle Kompetenz einmal den Begriff Kulturkunde zu finden. Während die Bezugnahme der Fachdidaktik auf verwandte Disziplinen die Regel ist, ist die Aufarbeitung der Kulturkunde, die in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts ein genuin fremdsprachendidaktisches Thema war, geradezu tabuisiert. Außer einer pointierten und kenntnisreichen Darstellung von Marcus Reinfried (Reinfried 1999) setzt sich meines Wissens keine einzige der zahlreichen Publikationen des Gießener Graduiertenkollegs zum Fremdverstehen mit dieser Tradition auseinander (Vgl. z.B. Bredella 1995, 1996, 2000, 2002; Bredella/ Christ 1996; Bredella/ Christ/ Legutke 1997, 2000; Bredella/ Delanoy 1999). Es gibt lediglich zwei Monografien aus den sechziger und siebziger Jahren, die sich dem Thema widmen: Volker Raddatz' Studie zur Englandkunde (Raddatz 1977) widmet dem Thema ein Kapitel. Es ist aber vor allem Walter Apelts Buch aus dem Jahre 1967, in dem eine umfassende Sichtung des Materials aus den 20er und 30er Jahren vorgenommen wird und das bis heute das Standardwerk ist. Der Grund für diese Tabuisierung ist nicht schwer auszumachen: Er liegt darin, dass die kulturkundliche Bewegung in die nationalsozialistische Wesenskunde mündete. Kulturkundliche Theoreme und Unterrichtskonzepte konnten nach 1933 in den Dienst einer Bildungspolitik gestellt werden, die auf rassistischen Grundüberzeugungen beruhte. Auch personell ist die Kontinuität von der Kulturkunde zur rassistischen Wesenskunde nur allzu offensichtlich: führende Kulturkundler, wie etwa Walter Hübner oder Richard Münch, gehörten nach 1933 zum „engeren Führerbeirat“ des gleichgeschalteten „Allgemeinen Deutschen Neuphilologen Verbands“ (Apelt 1967: 92sq.; Raddatz 1977: 82). Es ist Apelts Verdienst, diese Kontinuität aufgezeigt und als Erster die Aufarbeitung dieses düsteren Kapitels der Fremdsprachendidaktik geleistet zu haben. Aber Apelts schonungslose Aufdeckung dieser Tradition ist gleichzeitig, so paradox es klingen mag, auch der Grund für ihre Tabuisierung. Zum einen hat dies ganz äußerliche, politische Hintergründe: Apelts Buch erschien mitten im kalten Krieg im Verlag Volk und Wissen in der DDR - was wohl die beste Voraussetzung dafür war, im Westen <?page no="36"?> Kontext 36 nicht rezipiert zu werden. 1 Aber die Gründe liegen auch in Apelts Studie selbst, denn sie ist teleologisch, d.h. sie bewertet die Entstehung und Entwicklung der Kulturkundediskussion von ihrem katastrophalen Ende her. Das ist durchaus legitim angesichts des Ausmaßes dieser Katastrophe und es war sicherlich zum Zeitpunkt des Erscheinens von Apelts Buch auch notwendig, bedenkt man, dass wichtige Vertreter der natinalsozialistischen Wesenskunde, wie eben Walter Hübner, die sich von 1933-1945 mit dem Nationalsozialismus arrangiert hatten, auch in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit wieder Einfluss auf den Fremdsprachenunterricht nahmen. Das Problem dieses teleologischen Blickwinkels ist nur, dass für Apelt die faschistische Degeneration des kulurkundlichen Prinzips eine zwangsläufige Entwicklung war, zu der es keine Alternative gab. Kulturkunde, so Apelts These, hatte von Beginn an nationalchauvinistische Motive, und die rassistische Wesenskunde ist für ihn bereits in der Kulturkunde angelegt. Er konzediert, dass es „subjektiv ehrlich gemeinte Bestrebungen und Wünsche einzelner Neuphilologen“ gegeben habe, die aber - sozusagen in Verkennung dieser Bewegung - keinerlei „objektive Wirkungen“ zeigten (Apelt 1967: 7). Kulturkunde ist für Apelt letztlich „Ideologie“, die jeglichen wissenschaftlichen Anspruchs entbehrt. Er nimmt deshalb auch die unterschiedlichen Strömungen, die Diskussionen und Differenzen innerhalb der kulturkundlichen Bewegung kaum wahr. Ich denke, dass sich ein differenzierter Blick auf die Kulturkunde lohnt. Denn bei halbwegs unvoreingenommenem Hinsehen wird man nicht umhin kommen, Parallelen zu finden zwischen der Kulturkundebewegung in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts und der interkulturellen Fremdsprachendidaktik der letzten 20 bis 25 Jahre. Schon bei flüchtiger Sichtung der kulturkundlichen Literatur ist eine streckenweise terminologische Ähnlichkeit nicht zu übersehen. „Anderssein“, „Fremdkultur“, „Besonderheit des Fremden“, „Das Eigene und das Fremde“ (Schön 1931: 16-17) sind Begriffe, die sich sowohl in den Veröffentlichungen zum interkulturellen Unterricht als auch in den Schriften der Kulturkundler finden. Es gibt noch weitere Parallelen: Sowohl die Kulturkunde als auch der interkulturelle Unterricht thematisieren den Kulturvergleich. Beide reflektieren das Verhältnis von Fremdverstehen und Eigenperspektive, das Verhältnis von Eigenwahrnehmung und Fremdt 1 Volker Raddatz beruft sich interessanterweise in seiner 10 Jahre später erschienen Habilitationschrift auch nur ganz indirekt auf diese grundlegende Studie, indem er seine eigene Arbeit im Klappentext als die „erste nicht-marxistische Gesamtdarstellung der Kulturkunde-Bewegung in Deutschland“ bezeichnet. Er setzt sich aber nicht mit Apelts Positionen auseinander. <?page no="37"?> Kulturkunde 37 wahrnehmung. Natürlich verläuft die eindeutige Trennlinie zwischen der Kulturkundebewegung und dem interkulturellen Ansatz heutiger Tage dort, wo die Kulturkunde sich in erster Linie als „Deutschkunde“ versteht, wo sie als der Weg begriffen wird der „zum deutschen Werterlebnis führen soll“ (Schön 1925c: 193). Aber diese ideologische Wendung war keineswegs durchgängig zu finden ist. Es ist eine Spielart der Kulturkunde - und zu fragen ist, an welchen Stellen die Kulturkunde anfällig ist für das Abgleiten in die Wesenskunde. Eine differenziertere Aufarbeitung dieser Tradition kann auch das Bewusstsein für die Möglichkeiten, aber vor allem für die Grenzen und ideologischen Gefahren des heutigen Paradigmas Interkulturalität schärfen. Ich möchte im Folgenden näher auf zwei Autoren eingehen, die die Diskussion Mitte der zwanziger Jahre im Bereich des Französischen geprägt haben und die in der bisherigen (recht spärlichen) Aufarbeitung des Themas eher am Rande beachtet wurden. Es handelt sich um Victor Klemperer und Eduard Schön. Klemperer war bis zu seiner Entlassung 1935 durch die Nationalsozialisten Professor für Romanistik an der Technischen Universität Dresden und einer der prominentesten Vertreter einer kulturkundlichen Literaturgeschichtsschreibung. Weniger bekannt ist vielleicht, dass er immer wieder in fachdidaktische Diskussionen eingegriffen hat. Wenn man seine Tagebücher aus dieser Zeit liest (Klemperer 1996), wird deutlich, dass er ein gefragter Vortragender auf Neuphilologenkongressen und Fortbildungsveranstaltungen für Gymnasiallehrer war. Im Oktober 1925 führte er einen „Fortbildungslehrgang für Lehrer und Lehrerinnen (sic! ) der neueren Sprachen“ im Auftrag des preußischen Unterrichtsministeriums durch, die er „kulturkundlich gestaltete“ (Klemperer 1925a: 437 Anm.1). Außerdem hielt er im Zusammenhang damit im Berliner Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht einen Vortrag zum Thema: Der Streit um den Begriff Kulturkunde (Klemperer 1925a). Drei Vorträge, die er im Rahmen von Lehrerfortbildungen gehalten hat, sind in dem Band Die moderne französische Prosa und die deutsche Schule (Klemperer 1925b) zusammengefasst. Dr. Eduard Schön war Oberlehrer an der Hamburger Oberrealschule Bogenstrasse. Er ist Verfasser einer programmatischen Broschüre Sinn und Form einer Kulturkunde im Französischunterricht (1925a) und einer umfangreichen Monografie Bildungsaufgaben des französischen Unterrichts (1931). Zusammen mit seinem Kollegen Dr. Walter Fröhlich aus Hamburg St. Georg hat er das wichtigste kulturkundliche Lesebuch für den Französischunterricht herausgegeben (Fröhlich/ Schön 1928). Im Gegensatz zu seinem anglistischen Counterpart, Walter Hübner, der sich organisatorisch und publizistisch ebenso stark engagierte, um den kultur- <?page no="38"?> Kontext 38 kundlichen Paradigmenwechsel im Englischunterricht durchzusetzen, hat sich Schön im Nationalsozialismus nicht kompromittiert. Beide Autoren stehen für die kulturkundliche Wende - Schön auf dem Gebiet des Französischunterrichts, Klemperer auf dem Gebiet der französischen Literaturwissenschaft. Beide nehmen an der Auseinandersetzung um den kulturkundlichen Unterricht Mitte der 20er Jahre teil. Ich möchte diese Debatte an einigen Aspekten etwas näher beleuchten. Nach dem Ersten Weltkrieg steht der Schulunterricht auf dem Prüfstand. Es geht darum, die in den Geisteswissenschaften durch die Lebensphilosophie und Hermeneutik eines Wilhelm Dilthey eingeleitete Wende auch im Schulunterricht wirksam werden zu lassen. Auf der Ebene der fremdsprachlichen Fächer bedeutet das eine Abkehr von einer positivistisch ausgerichteten Realienkunde. Was stört die Didaktiker so an der Realienkunde? Es ist die teilweise vollkommen geistlose Überhäufung der Schüler mit Faktenwisse, das keinerlei Bezug zu ihrer Lebenswirklichkeit hat. Realienkundliche Lehrbücher haben bisweilen seltsame Blüten getrieben. Zur Abschreckung zitiert Schön in seiner Broschüre zu Sinn und Form der Kulturkunde nur ein Beispiel aus dem gängigen realienkundlichen Lehrbuch Le Petit Parisien von Richard Kron: „Le territoire français se divise, au point de vue administratif, en 86 départements. Les départements sont divisés en arrondissements, subdivisiées à leur tour en cantons et communes. Il y a en France 362 arrondissements, 2881 cantons, 36441 communes. Chaque département est administré par un préfet assisté d'un conseil général [...]“ (Schön 1925a: 44). Die Realienkunde beruht noch auf der Überzeugung, man könne die Kultur einer fremden Sprachgemeinschaft verstehen durch möglichst breite und möglichst umfassende Kenntnis „objektiver Fakten“ - eine Überzeugung, die auf der Vorstellung grundsätzlicher Identität von naturwissenschaftlichem und geisteswissenschaftlicher Erkenntnis beruht. Eben diese Identität ist seit Dilthey obsolet geworden. In seiner grundlegenden Schrift Einleitung in die Philosophie des Lebens (1880) unterscheidet er zwischen dem (naturwissenschaftlichen) Erkennen und dem (geisteswissenschaftlichen) Verstehen. Verstehen ist relativ und d.h. in Relation zur eigenen Person, zur eigenen Geschichte, zum eigenen Erleben. Im Gegensatz zur Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen Gegenständen ist bei der Beschäftigung mit gesellschaftlichen, literarischen und historischen Gegenständen immer auch das erkennende Subjekt schon Teil des Erkenntnisprozesses, weil es Teil eben jener Welt ist, <?page no="39"?> Kulturkunde 39 die es analysieren soll. Das verstehende Subjekt kann nicht aus der Welt heraustreten und sie objektiv von außen betrachten. „Einen mathematischen Satz begreift man - einen Menschen versteht man“ - in dieser griffigen Formel findet sich die hermeneutische Philosophie bei Schön wieder (Schön 1925c: 200). Diese erkenntnistheoretische Position hat direkte didaktische Konsequenzen. Die Einbeziehung des erkennenden Subjekts heißt für den Didaktiker die Einbeziehung des Schülers; in der Terminologie Schöns ist es die „jugendkundliche Einstellung“ (Schön 1925b: 428). Sie zeichnet sich durch ihre unbedingte Hinwendung zum „Leben“ aus. „Kulturkunde dient einer Bildungsreform, die nicht vom Fache ausgeht, sondern vom Leben“ - schreibt er programmatisch ganz am Anfang seiner Broschüre (Schön 1925a). Aber was ist das Leben? Es ist immer das „Erleben“ des Schülers. „Erleben“ ist ein Schlüsselbegriff, der sich durch die gesamten Veröffentlichungen Schöns wie ein roter Faden zieht. Es ist der Anspruch, jene Motive, Gefühle, Erlebnisse des einzelnen Autors oder der Akteure historischer Ereignisse durch das eigene „Nacherleben“, „Nachempfinden“ verstehen zu können. Erst wenn - ganz in Dilthey‘scher Manier - der Leser sich kongenial in den Autor hineinfühlen kann, kommt so etwas wie tiefes Verstehen zustande. Ein Schüler, der die französische Verwaltungsstruktur verstehen soll, darf nicht, wie bei Kron, mit Statistik bombardiert werden, sondern er soll, durch geeignete Texte und durch eine geeignete Unterrichtsmethode, dazu gebracht werden, sich in einen französischen Präfekten in der Provinz hineinzuversetzen. „Franzosentum ist den Schülern nicht zu überliefern als eine Summe fester, ‚objektiver‘ Tatsachen, die sie wissen müssen, sondern ist durch die Schüler zu erobern in der Form einer Auseinandersetzung mit dem französischen Geist. Das Wissen, das in fester Form weitergegeben werden kann, ist erkaltet, nachdem es einst, in dem Augenblick, wo es entstand, ein Erlebnis gewesen ist. Ein Erlebnis, das sich als solches dadurch kundtat, daß es von der Glut starker Seelenregungen durchwärmt war. Kulturkunde muß versuchen, fremden Geist in solchen Formen zu bieten, daß sich jene verloren gegangenen, alles junge und neue Wissen begleitenden Emotionen daran entzünden können“ (Schön 1925a: 33, Hv. Schön). Schön will die Emotionen nicht ausschalten, sondern er will sie mobilisieren für den Verstehensprozeß. Diese Hinwendung zum Leben und zum Erleben bewirkt, dass die Literatur wieder einen neuen Stellenwert im fremdsprachlichen Unterricht gewinnt. „Dichtung ist Klärung und Durchleuchtung des Lebens“ <?page no="40"?> Kontext 40 (Schön 1931: 100). Hier kann die kulturkundliche Didaktik an die akademische Literaturwissenschaft anknüpfen. Denn auch in der Philologie hat es in den 20er Jahren einen grundsätzlichen Wandel gegeben. Die Neuphilologien vor dem Ersten Weltkrieg beschränkten sich - nicht zuletzt im Kampf um Gleichstellung mit den ehrwürdigen Altphilologien - auf strenge Formanalysen. In rein positivistischer Manier waren sie ganz auf die wissenschaftlich objektiv feststellbare Erkenntnis ausgerichtet. Ästhetische Wertungen, das Herstellen von Gegenwartsbezügen oder gar übergreifende, verallgemeinernde Deutungen waren verpönt in einer streng philologisch orientierten Disziplin, die noch keine Trennung in Literatur- und Sprachwissenschaft kannte und stark sprachphilogisch ausgerichtet war. Nach dem ersten Weltkrieg gibt es in den Neuphilologien eine kleine Revolution, die Victor Klemperer sehr anschaulich und witzig in einem Kon- „Gustav Groeber stellt den Liebesroman Le livre du voir dit (1364) von Guillaume de Machault folgendemaßen vor: ‚Machault erzählt sein Liebesabenteuer in 8-Silbnern, unterbricht die Erzählung mit 30 Rondeaux zu 2-3 Reimen, 20 Balladen, 10 Chansons baladées, 2 Complaintes, einem Lai nach den komplizierten Regeln gebaut, die Eustache Deschamps aufstellte‘ [...]“ (Klemperer 1926a: 391). Auf diesem Kongress nun in Halle hatte eine neue Philologengeneration der Voßler, Curtius, Wechssler, Spitzer, Lerch und Klemperer deutlich gemacht, dass für sie Literatur mehr war als eine Ansammlung von sprachlichen Formen. Es ist die Hinwendung zum „Geistigen“, zum „Phänomenologischen“ oder auch zur „idealistischen Neuphilologie“ (wie die Festschrift für Karl Voßler 1922 programmatisch von seinen Schülern Victor Klemperer und Eugen Lerch betitelt wurde), die den sprachgeschichtlichen Positivismus der Lehrer ablöst. Die Literaturwissenschaft bedient sich geisteswissenschaftlicher, hermeneutischer Methoden; sie will keine reine Sprachwissenschaft und auch keine Altphilologie sein. Literarische Texte werden als Ausdruck von Ideen, Zeiten, gressbericht (Klemperer 1926a) schildert. Auf dem ersten Neuphilologentag nach dem Krieg, der im Oktober 1920 in Halle stattfand, hat sich offensichtlich so etwas wie eine Querelle des Anciens et des Modernes abgespielt, die dem Streit zwischen Realienkundlern und Kulturkundlern in der Didaktik gar nicht so unähnlich war. Ebenso anschaulich wie Schön die realienkundlichen Exzesse durch sein Zitat aus Krons Realienkundebuch schilderte, so demonstriert Klemperer mit einem Zitat aus der damals noch gängigen Literaturgeschichte von Altmeister Gustav Groeber, was die Anciens auszeichnete. <?page no="41"?> Kulturkunde 41 Charakteren gelesen. Es ist an den Lesern, diese den Werken zugrundeliegenden Ideen zu entschlüsseln und aus ihrer aktuellen Perspektive zu beurteilen. Nicht zuletzt Klemperer selbst mit seiner (auf 5 Bände geplanten) Geschichte der französischen Literatur (Klemperer 1925-1932) trägt wesentlich dazu bei, dass die Literaturgeschichte von der Stoffsammlung zu einer Kultur- und Ideengeschichte wird, indem er ideengeschichtliche Verbindungen herstellt und Synthesen aufstellt, indem er deutet und verallgemeinert. Klemperer ist aber auch derjeneige, der die Herstellung großer Linien am weitesten treibt, indem er in dem einzelnen Werk immer auch den Ausdruck des überzeitlichen, übergreifenden „französischen Geistes“ sieht. In der kulturkundlichen Didaktik wird diese Tendenz der synthetisierenden Deutung nun mit Begeisterung aufgenommen. Die unterschiedlichen Kulturerscheinungen sollen nach Ordnung stiftenden Kategorien beurteilt werden. Die französische Kultur soll für die Schüler „ein Relief“ bekommen (Schön 1925a: 5). Schön bedient sich, wie andere Kulturkundler auch, des von Eduard Spranger eingeführten „Strukturbegriffs“ und versucht, die Stoffhuberei der Realienkundler durch eine für Schüler durchschaubare und verstehbare Vermittlung von Strukturen zu ersetzen. Es ist das Prinzip der Verallgemeinerung und Typisierung, das das Lehrbuch von Frölich/ Schön bestimmt. „Manche Kritiker glauben nicht an das, was ein Franzose selbst ‚Les traits éternels de la France‘ genannt hat. Wir sind mit vielen französischen Literaturkritikern der Meinung, daß es gewisse konstitutive Merkmale französischer Art gibt“ (Fröhlich/ Schön 1928: IV). In der Tat ist der leitende Gedanke der Anthologie, dass die Schüler das Typische kennenlernen sollen, das „Franzosentum“ - wie auch oftmals geschrieben steht. Was die Autoren unter „konstitutiven Merkmalen“ genau verstehen, kann man an den Kapitelüberschriften des kulturkundlichen Lehrbuch ablesen: Neben einigen Kapiteln, die Sachtexte zur Landeskunde bringen (Paris et les provinces, Education et vie de famille) sind es vor allen Dingen folgende Begriffe, die das Wissen strukturieren: Sociabilité, rationalisme, tempérament oratoire, sentiment religieux et patriotisme. Wer nun aber denkt, hier würden die Schüler mit einfachen Klischees des geselligen, schöngeistigen, vernunftgeleiteten und chauvinistischen Franzosen abgespeist, hier würden grobe Verallgemeinerungen durch ideologische Phrasen vermittelt, der irrt. Die Breite der Texte kann heutige Französischlehrerinnen vor Neid erblassen lassen. Es sind ausschließlich Originaltexte - von Schriftstellern von Fénelon bis Marcel <?page no="42"?> Kontext 42 Prevost, von Literaturkritikern von Sainte-Beuve bis Gustave Lanson, von Historikern von Michelet bis Taine. Die einleitenden, extrem knappen Kommentare sind sachlich und informativ. Außerdem kommt dem, was wir heute mit dem schrecklichen Begriff gender-mainstreaming bezeichnen, eine große Bedeutung zu. Das Lesebuch enthält erstaunlich viele Texte von Autorinnen und Texte zur kulturgeschichtlichen Rolle der Frauen in Frankreich. Aber diese 200 Seiten werden von den Autoren selbst nur als zweitrangige Unterrichtsmaterialien eingestuft; im Vorwort betonen sie: „Nicht oft genug kann gesagt werden, dass im Mittelpunkt des Unterrichts das gehaltvolle Schriftwerk größeren Umfangs zu stehen hat.“ (Fröhlich/ Schön 1928: VI). Wo also liegt das Problem? Wie kommt es, dass dieser didaktische Ansatz von der rassistischen Wesenskunde vereinnahmt werden konnte? Ich denke, dass Victor Klemperer, der in der Literaturwissenschaft das kulturkundliche Prinzip vertritt, bereits 1925 den Finger auf den wunden Punkt der kulturkundlichen Didaktik gelegt hat. Klemperer war von Schön gebeten worden, ein Vorwort zu Sinn und Form einer Kulturkunde im Französischen Unterricht der höheren Schule (Schön 1925a) zu schreiben. In seinem Tagebuch findet sich unter dem Datum des 31. Mai 1925 folgender Eintrag: „In Magdeburg bat mich Eduard Schön, ihm ein Vorwort zu seiner Broschüre über französische Kulturkunde zu schreiben. Jetzt schickte er das Heft in letzter Correctur. Mein Vorwort würde ein Eiertanz. Gott schütze mich vor meinen Freunden! “ (Klemperer 1996: 62). Ganz offensichtlich hat er dieses Vorwort auch geschrieben, aber der Verleger hat es abgelehnt, es dem Band voranzustellen, denn wenige Tage später (Eintrag vom 5. Juni 1925) lesen wir: „Teubner (Ehlers) schrieb mir drei Seiten langen Brief, er könne mein Vorwort nicht drucken, ohne Schoen u. sich zu schädigen. (Ich hatte geschrieben: Vous vous êtes condamnés à la vertu à perpétuité! ) Ich habe mich sehr geärgert, aber Unrecht hat der Mann nicht, u. vielleicht ist es auch für mich besser so“ (Klemperer 1996: 64). Wir kennen Klemperers Vorwort nicht, aber wir kennen seinen Vortrag im Oktober desselben Jahres zum Streit um den Begriff Kulturkunde, in dem er sich kritisch mit Schön und mit dem kulturkundlichen Unterricht auseinandersetzt. Klemperer will in diesem Vortrag an „einigen gefähr- <?page no="43"?> Kulturkunde 43 lichen abschüssigen Stellen Warnungstafeln“ aufstellen für die „warmherzige und reiche Schrift“ Schöns (Klemperer 1925a: 442). Klemperers „Warnungstafeln“ stehen immer dort, wo es Schön nicht um die französische Kultur, sondern um die deutsche Pädagogik geht. Für Schön ist der kulturkundliche Unterricht eben nicht nur Fachunterricht, sondern auch Erziehung. „Dies vor allem scheidet unsere, der Schulmänner, Arbeit von der wissenschaftlichen Arbeit: die Wissenschaft erstrebt Klarheit im Gegenständlichen, wir Ordnung im Seelischen des Schülers“ (Schön 1925a: 15). Genau hier stellt Klemperer seine Warntafel auf. Er befürchtet, dass die Vermittlung eines so komplexen Gegenstandes wie der Kultur in pädagogischer Vereinfachung nur noch zum Klischee gerinnt. Das Bestreben, „Ordnung in die Seele zu bringen“, führt die kulturkundliche Didaktik dazu, dem Schüler sozusagen in didaktischer Reduktion sehr reduzierte Versionen der fremden Kultur zu vermitteln. Einzelne, wenige Verallgemeinerungen werden dann für das Ganze gehalten. Schön nimmt dabei auch billigend in Kauf, dass dabei vereinfacht und vergröbert wird. Ablehnend zitiert Klemperer folgende Schön'sche Passage: Und er entgegnet dem: „Was kann ich denn dem Schüler von dem Allgemeinbegriff Frankreich verdeutlichen? Doch nur sehr Verallgemeinertes, Vergröbertes, formelhaft Erstarrtes. Es kann Frankreich gegenüber mit Begriffen wie ‚esprit‘ oder ‚esprit classique‘ oder ‚raison‘ operieren lernen, und aus den starren oder von unzureichendem Inhalt erfüllten Formeln werden allzu leicht plumpe Schlagworte. Wessen Wissen sich aber nach Schlagworten richtet, der weiß weniger als nichts, denn er weiß Falsches […]“ (Klemperer 1925a: 441). Klemperer sieht also luzide die Gefahr er diagnostiziert aber m.E. nicht genau die Ursachen. Er sieht die Ursachen für die Erstarrung in Stereotypen in der ungenügenden stofflichen Unterfütterung. Sein Tenor ist: die Wissenschaft darf verallgemeinern, weil sie aus der Komplexität, aus dem stofflichem Reichtum heraus verallgemeinert - sozusagen auf einer großen empirischen Basis. Die Schule darf das nicht, weil sie den Unterricht „mit unzureichendem Inhalt“ gefüllt hat. Diese Diagnose übersieht, „Die Wendung zum Aktivistischen, zur Lebensgestaltung, die wir dem Begriff Kulturkunde gegeben haben, verlangt, daß das Franzosentum auch in zugespitzten Formeln gleichsam verwendbar, verfügbar deutschen Jungen zur Hand liege“ (Schön 1925a: 43; Klemperer 1925a: 441). <?page no="44"?> Kontext 44 dass die unzulässige Verallgemeinerung der Didaktiker bereits in einem gewissen Fundamentalismus der kulturkundlichen Literaturgeschichtsschreibung selbst begründet ist. Wenn man Klemperers Vorträge zur Lehrerfortbildung liest, so beruft er sich dort eben auch immer wieder auf die „traits éternels de la France“. Bezeichned dafür ist z.B. folgende These: „[…] das klassische Jahrhundert [brachte] alle wesentlichen Anlagen der Franzosen zur Entfaltung; und weil es das tut, so herrscht es noch heute und wird immer herrschen, so lange der französische Geist lebt, und so mannigfaltig er sich fortentwickelt; “ (Klemperer 1925b: 52). „Wir vermeiden, die fremde Kultur nach den Kategorien unseres eigenen Werterlebens zu werten; wir hüten uns, in den allgemeinen Sätzen über das Wesen der fremden Kultur mehr als Ergebnisse eines typisierenden Betrachtens zu erblicken“ (Schön 1931: 17). Aber weder Schön noch Klemperer ziehen die genaue Grenze zwischen kulturellem Deutungsmuster und Stereotyp, zwischen Verallgemeinerung und Klischee. Diese Grenze verläuft auf dem schmalen Grat zwischen Natürlichkeit und Geschichtlichkeit. Dass die genaue Markierung leicht verwischt werden konnte, liegt nicht zuletzt an der Verteufelung der Realienkunde. Denn der von Klemperer so angemahnte stoffliche Reichtum wurde ja gerade von der Realienkunde in den Mittelpunkt des Unterrichts gestellt. In seinem Aufsatz „Romanische Kulturkunde im französischen Unterricht“ entwickelt Klemperer die Kritik am kulturkundlichen Fremdsprachenunterricht noch weiterer. Er sieht eine Entwicklung des schulischen Unterrichts von der Scylla des Positivismus zur Charybdis des Klemperer versteht, wie alle Kulturkundler, die für den Verstehensprozess grundsätzlich notwendigen Typologisierungen und Verallgemeinerungen nicht als menschengemachte, künstlich erschaffene, kulturelle Deutungsmuster, sondern er suggeriert eine Natürlichkeit. Er redet von der „französischen Natur“, wenn er eigentlich die Kultur meint, vom „Wesen der anderen“ (ibid.: 53), wenn er bestimmte, historisch gewachsene Mentalitäten betrachtet. Ihm ist zugute zu halten, dass er seine eigenen Arbeiten weniger dem „Ewig Französischen“ widmet, sondern der Mannigfaltigkeit seiner Erscheinungen. Ich würde das übrigens auch für Schön gelten lassen; seine Unterrichtsvorschläge in Bildungsaufgaben des französischen Unterrichts (Schön 1931) sind keineswegs stereotyp. Er schreibt dort zum Beispiel: <?page no="45"?> Kulturkunde 45 „ethischen Wertens und des politischen Betrachtens“ (Klemperer 1925b: 58f). „Alles muß einen bestimmten sittlichen oder religiösen Wert oder Weiheton bekommen, alles ein Stephan Georgesches Gesicht erhalten. Daß es dabei die eigenen Züge mehr oder minder und manchmal bis zur Unkenntlichkeit einbüßt, tut nichts“ (ibid.: 59). Was er unter „Weiheton“ versteht, ist nicht schwer auszumachen, wenn man Schöns Sinn und Form liest. Im Gegensatz zum praktischen Lehrbuch, das sich mit den konkreten Texten beschäftigt, haben seine allgemein-pädagogischen Ausführungen häufig einen pathetischen Grundton durch das Insistieren auf der Wertevermittlung, die er der Wissensvermittlung und dem „kalten, erstarrten Wissen“ entgegensetzt. Begriffe wie „Werterlebnis“, „Wertstruktur“, „Werttypen“ (z.B. Schön 1925a: 2; siehe auch Schön 1925c: 200) sind Schlüsselbegriffe in seinen Ausführungen. Jede Kultur zeichne sich durch eigene Werte aus. „Das Schicksal differenziert die Völker nach Werttypen“ (1925a: 2). Auch hier legt Klemperer den Finger auf einen wunden Punkt des kulturkundlichen Unterrichts. Er sieht die Gefahr des ideologischen Mißbrauchs des wertenden Prinzips schon sehr früh. „Pazifismus und Chauvinismus, Freundschaft und Feindschaft müssen gleicherweise verzerrend wirken“ (Klemperer 1925b: 59). In dem Maße, wie die rein fachunterrichtlichen Lernziele übergreifenden politischen oder pädagogisch definierten Lernzielen untergeordnet werden, besteht seiner Meinung nach die Gefahr zum Fundamentalismus. Genau das ist wenige Jahre später im Fremdsprachenunterricht des Nationalsozialismus eingetreten. Französische Kultur wurde auf wenige, sehr abstrakte Wesensmerkmale reduziert, die zudem dann nicht mehr nur als vom Deutschen „unterschiedliche Werttypen“ bezeichnet wurden, sondern als vom Deutschen abweichende, minderwertige. Ich denke, auch hier verläuft die Grenze auf einem schmalen Grat - ähnlich wie dem zwischen kulturellem Deutungsmuster und Stereotyp. Es ist die Verselbständigung des ethischen, politischen oder pädagogischen Prinzips gegenüber dem fachlichen Unterrichtsgegenstand. Der Konfrontationskurs, den die Kulturkunde gegen die alte Realienkunde fuhr, hat dieser Verselbständigung Vorschub geleistet, indem das Wissen als totes dem Leben gegenübergestellt wurde. Indem die Kulturkunde Erziehung und Wissensvermittlung in einen Gegensatz brachte, war sie sehr anfällig für die ideologische Entgleisung. Auch hier muss Schön zugebilligt werden, dass er dieses Problem durchaus gesehen hat. Wäh- <?page no="46"?> Kontext 46 rend er noch 1925 zu einer deutschzentrierten, tendenziell nationalistischen Betonung der Eigenperspektive neigte, kann man in seinem 1931 erschienen Band zu den Bildungsaufgaben des französischen Unterrichts lesen: „Das einseitige Herausarbeiten des Andersseins hat für den Erzieher ethische Bedenken. Sicherungen gegen ein Unterwerten (d.h. eine Einstufung als minderwertig) der Fremdkultur werden dann nötig, und der irrige Glaube an eine gänzliche Verschiedenheit führt leicht zu der Meinung, ein ewiger Kampf sei daraus die notwendige Folge. Die Hamburger Neuphilologentagung 1928 hat die Parole des Andersseins durch die der Humanität und der Solidarität ergänzt“ (Schön 1931: 16). Reinfried weist ausdrücklich auf diesen „Stimmungswandel“ hin und erklärt ihn plausibel vor dem Hintergrund des Abschlusses der Locarno- Verträge und der Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund (Reinfried 1999: 212). Er bewertet diese „solidaristische Sichtweise“ als eine „vorübergehende Komplementarität zur bereits etablierten Kulturkunde- Konzeption“ (ibid.: 213). Diese Richtung der Kulturkunde war in der Tat eine Alternative, die keineswegs zwangsläufig in die nationalsozialistische Wesenskunde mündete und die möglicherweise unter weniger unheilvollen politischen Umständen den Fremdsprachenunterricht dominiert hätte. <?page no="47"?> Kanon <?page no="49"?> Grenzgänge. Texte zwischen Alltagskommunikation und Literatur am Beispiel der Briefe Madame de Sévignés Wer die Diskussionen der letzten Jahre verfolgt hat, wird unschwer feststellen, dass es längst nicht mehr um die grundsätzliche Existenzberechtigung literarischer Texte im Fremdsprachenunterricht geht, sondern vielmehr um deren Funktion und die entsprechende Methodik ihrer Vermittlung. Hier allerdings streiten sich die Geister - und das ist nicht weiter verwunderlich angesichts der Verschiedenheit der beiden Partner, die eine Ehe eingehen sollen. Auf der einen Seite ein Fremdsprachenunterricht, der an den Zielen der alltagssprachlichen mündlichen Kommunikation ausgerichtet ist und auf der anderen Seite literarische Texte, die weder dem Bereich „Alltagskommunikation“ noch dem Bereich „Mündlichkeit“ angehören. Es gibt zwei grundsätzlich unterschiedliche Auffassungen über die Aufgaben von Literatur im Fremdsprachenunterricht. Die eine Richtung geht davon aus, dass die Arbeit mit literarischen Texten zu trennen ist vom eigentlichen „Sprachunterricht“. In der Unterrichtspraxis werden „Spracherwerb“ und „Literaturunterricht“ voneinander getrennt, was sich häufig in der Institutionalisierung von „Lektürestunden“ einerseits und „Grammatikstunden“ andererseits niederschlägt. Folglich konzentrieren sich die didaktisch aufbereiteten Schullektüren hauptsächlich auf inhaltsbezogene Themen. Allenfalls werden sprachbetrachtende, eher der Stilistik zuzuordnende Fragestellungen in den Übungsteil integriert, Übungen zur Lexik oder Grammatik hingegen sind die Ausnahme. 1 Diese Trennung beruht auf einer der humanistischen Tradition verpflichteten Literaturkonzeption, derzufolge literarische Texte der Vermittlung ethischer Bildungswerte dienen. Diese Vermittlung erfolgt in erster Linie über die in der Literatur dargestellten Identifikationsfiguren. Als ein wesentliches Lernziel von Literaturunterricht wird auch in der Fremdsprache immer wieder gefordert, dass der Schüler sich anhand des Textes mit moralischen Konflikten der Personen auseinandersetzen können muss und dass ihm Möglichkeiten der Identifikation und Abgrenzung gegeben werden müssen (siehe z.B. Stütz 1990, Husmann 1 Herbert Christs Plädoyer, den literarischen Text nicht als „Vehikel der Sprachvermittlung“ (Christ 1979) zu missbrauchen, dürfte auch heute noch weitgehend auf Zustimmung stoßen. <?page no="50"?> Kanon 50 1992). Die Debatte um den fremdsprachlichen Literaturunterricht wird stark von seiner erzieherischen Funktion geprägt. Das Dilemma, das aus diesen - in erster Linie dem muttersprachlichen Literaturunterricht entnommenen - Lernzielen resultiert, liegt auf der Hand und ist von den Praktikern häufiger erfahren worden, als dass es von den Theoretikern formuliert worden wäre: Die Texte, die den Anforderungen des literaturgeschichtlichen Kanons und der moralisch-ethisch begründeten Bildungsziele gerecht werden, sind nicht auch gleichzeitig sprachlich geeignet, um von den Lernenden in der fremden Sprache gelesen zu werden. Ein Literaturunterricht, der sich vorrangig von nichtsprachlichen Zielen leiten lässt, wird immer wieder mit Zielen und Anforderungen des Sprachunterrichts in Konflikt geraten, da der moderne Sprachunterricht praktische Fertigkeiten in den Vordergrund seiner Lernziele gestellt hat. Nun gibt es eine zweite Richtung: Sie sieht gerade in der Spezifik literarischer Texte ein didaktisches Potenzial, das es für einen modernen, d.h. kommunikativ ausgerichteten Fremdsprachenunterricht zu nutzen gilt. Programmatisch für die Didaktik des Französischen war ein 1982 von Jean Peytard herausgegebener Band, in dem Forschungsergebnisse zum Literaturunterricht als Sprachunterricht zusammengetragen sind (Peytard 1982; cf. insbesondere den Aufsatz von Coste). Ein 1983 erschienener Aufsatz von Harald Weinrich (Weinrich 1983) war symptomatisch für das Umdenken hierzulande. Weinrich geht, wie die meisten Verfechter einer größeren Berücksichtigung von literarischen Texten im Fremdsprachenunterricht, von den nicht zu leugnenden Defiziten der herrschenden Unterrichtspraxis aus, die zu einseitig auf (oftmals langweilige) alltagssprachliche Dialogtexte abzielt. Und er schlägt auch literarische Texte als Heilmittel vor. Aber seine Begründung und methodischen Konsequenzen stehen quer zur traditionellen Literaturdidaktik. Weinrichs überzeugendes Plädoyer für eine stärkere Einbeziehung von literarischen Texten gründet sich weniger auf die humanistischen Bildungsziele von Literatur als auf die hohe sprachliche Dichte, die literarische Texte von nicht-literarischen unterscheidet. Nach Weinrich ist es gerade der literarische Code, der Texte dazu prädestiniert, so gelesen zu werden, wie ein Leser normalerweise einen Text in einer fremden Sprache liest, nämlich langsam. Die Tatsache, dass die Literarizität von Texten es geradezu erfordert, dass der Leser seine Aufmerksamkeit nicht vollkommen dem sachlichen Inhalt widmet, sondern sie auch auf die sprachliche Form verwendet, spricht für Weinrich nicht - wie bei vielen Didaktikern - gegen, sondern für die Behandlung literarischer Texte im Fremdsprachenunterricht. „Nur Texte, die sich durch eine exquisite <?page no="51"?> Grenzgänge 51 Formgebung von beliebigen Alltagstexten unterscheiden, verdienen und ertragen es, langsam oder sehr langsam rezipiert zu werden, so wie es der Fremdsprachenunterricht zwangsläufig mit sich bringt“ (ibid.: 205; cf. auch Weinrich 1980). Der Umgang mit einem sprachlich hochstrukturierten Text schaffe, so Weinrich, jenen „interessanten Schwebezustand“ zwischen Wörtern und Sachen, der es dem Schüler überhaupt erst erträglich mache, sich intensiv mit den Wörtern, d.h. der Sprache auseinanderzusetzen. Weinrich leitet seinen didaktischen Neuerungsvorschlag aus den Traditionen der formalistischen und strukturalistischen Literaturwissenschaft ab, indem er die Bedeutung des signifiant gegenüber dem signifié betont. Diese Perspektive eines am Zeichencharakter der Sprache orientierten literarischen Fremdsprachenunterrichts musste nun automatisch die Textauswahl beeinflussen. Weinrich schlägt denn auch Texte aus dem Bereich der konkreten Poesie und der literarischen Moderne (Robbe- Grillet, Ionesco) als praktische Anwendungsbeispiele seines methodischen Konzepts vor, d.h. Texte, die in hohem Grade autoreferentiell sind und bei denen es in erster Linie nicht um Inhalte, sondern um Sprache geht. Ausdrücklich ist das Kriterium für die Textauswahl die sprachliche Form und nicht die erzieherische Funktion des Textes. Es ist interessant festzustellen, dass im Anschluss an diesen formalistischen Ansatz mitt- Dennoch sind auch die Grenzen einer am Zeichencharakter der Sprache ausgerichteten Literaturdidaktik klar zu erkennen. So sehr sie das Lesen in seiner intensiven Form (vor allem von poetischen Texten) und die Lektüre autoreferentieller Texte für den Spracherwerbsprozess fruchtbar gemacht hat, so kann doch nicht übersehen werden, dass damit die Lektüre von nichtmodernen Texten, d.h. von stark referentiellen Texten, die es schließlich auch in der Literatur gibt, nicht bewältigt werden kann. Es kann nun aber nicht Ziel des fremdsprachlichen Unterrichts sein, sozusagen in Umkehrung der bisherigen Verhältnisse, auf stark themenorientierte, erzählende Texte zu verzichten. Eine Strategie, um diesen Schwierigkeiten beizukommen, ist die vor allem von der Englischdidaktik favorisierte, auf der response theory von Stanley Fish beruhende schülerorientierte Textrezeption (Cf. hierzu u.a. Bredella/ Legutke 1985). Dielerweile eine Vielzahl von Unterrichtsideen vorliegen, die den Französischunterricht, insbesondere auf der Sekundarstufe I, grundlegend verändert haben (Cf. z.B. Knauth 1986, Rattunde 1990, Rück 1989, Mundzeck 1990, Steinbrügge 1990, Caspari 1995), weil sie die Möglichkeiten ausschöpfen, die der Umgang mit einer von pragmatischen Zwängen befreiten Sprache für den Lerner einer fremden Sprache bietet. <?page no="52"?> Kanon 52 se Richtung hat sicherlich die zu stark werkorientierte Methode abgelöst. Im Zentrum des Verständnisses stehen der Lernende und sein Verhältnis zum Text. Dennoch ist auch durch eine größere Orientierung an der Lebenswelt der Schüler die Kluft zwischen dem Spracherwerbsprozess und der Lektüre literarischer Texte keineswegs automatisch behoben. Wenn das Ziel, dem Schüler zu einer möglichst kompetenten schriftlichen und mündlichen Alltagskommunikation in der fremden Zielsprache zu befähigen, auch in der Sekundarstufe II weiterhin seine Gültigkeit haben soll, so muss sich auch der Literaturunterricht mit diesem Ziel verbünden (Zydatiß 1992). Bei allen Kriterien, die für eine geeignete Textauswahl vorgeschlagen werden, spielt zwar längst - neben thematischen Aspekten - immer die sprachliche Angemessenheit eine Rolle; die Wahl der Texte bewegt sich aber nach wie vor im Spektrum der etablierten literarischen Gattungen. Hier legt sich der schulische Fremdsprachenunterricht immer noch eine unnötige Beschränkung auf (Cf. Weller 1994). Denn literarische Texte, die an die den Schülern aus der Lehrbucharbeit vertrauten alltagssprachlichen Kommunikationssituationen anknüpfen, sind meistens gerade nicht Bestandteil des Kanons. Es sind vielmehr die marginalen, von der Literaturwissenschaft vernachlässigten Gattungen, die genuine Strukturmerkmale aufweisen, um einem fremdsprachlichen Leser nicht nur den Sprung aus dem Schonraum des progressiv gesteuerten Lehrbuchs zu erlauben, sondern es ihm auch umgekehrt ermöglichen, seine sprachlich-kommunikativen Fertigkeiten in Auseinandersetzung mit diesem Text zu aktivieren. Besonders geeignet sind solche Gattungen, die als zwitterhafte Genres zwischen Alltagskommunikation und Literarizität oszillieren, die also nicht eindeutig dem literarischen Code zuzuordnen sind wie der Brief, das Tagebuch oder die Autobiographie. Ich möchte das am Beispiel der Gattung Brief näher erläutern. Juri Tynjanow hat einmal den Brief als ein literarisches und kommunikatives Faktum zugleich bezeichnet (Tynjanow 1982). In der Tat beinhaltet der Brief typische Strukturmerkmale der mündlichen Kommunikation. Bereits in den Brieftheorien der Antike gilt er als Gesprächsersatz. Das nimmt Gellert auf, als er 1742 in seinen „Gedanken von einem guten deutschen Briefe“ schreibt: „So viel ist gewiß, daß wir in einem Briefe mit einem andern reden, und daß dasjenige, was ich einem auf ein Blatt schreibe, nichts anders ist, als was ich ihm mündlich sagen würde, wenn ich könnte oder wollte“ (zitiert nach Ebrecht et al. 1990: 22). Der Brief ist eine Form schriftlicher Äußerung, die der mündlichen Kommunikation sehr nahe steht. In ihm werden Mitteilungen an einen authentischen <?page no="53"?> Grenzgänge 53 Adressaten gemacht, Mitteilungen, die sich in der Regel auf die reale Lebenssituation beziehen. Es ist deshalb auch längst üblich, dass sich der Fremdsprachenunterricht das Medium Brief zunutze macht. Es gibt bereits in den ersten Lektionen kurze Brieftexte; im Rahmen von Schüleraustausch werden Klassenkorrespondenzen gepflegt; die Übung, einen Brief zu schreiben, gehört zu den Standards der ersten Lernjahre. Die Unterrichtsmaterialien von Raymond Lichet (1979) und von Helmut A. Seidl (1987) sind dafür gute Beispiele. Als kommunikatives Faktum also hat der Brief im Fremdsprachenunterricht seinen festen Platz. Als literarisches hingegen findet er, im Gegensatz zum muttersprachlichen Deutschunterricht übrigens (Hurrelmann/ Shikorsky 1993), kaum Bedeutung. Das hat sicherlich mit der oben beschriebenen Fixiertheit auf die etablierte Kanonbildung zu tun. Nach wie vor ist der Brief eine wenig beachtete literarische Gattung, auch wenn in den letzten Jahren ein deutlicher Paradigmenwechsel in der Literaturwissenschaft zu verzeichnen ist (Cf. z.B. Nikisch 1991, Runge/ Steinbrügge 1991). Dabei würde sich gerade diese Gattung anbieten, um den vielfach beklagten Komplexitätsschock etwas abzufedern, der Schüler befällt, wenn sie mit literarischen Texten in der Fremdsprache konfrontiert werden. Denn Briefe bieten unendlich viele Übergangsstufen zwischen dem alltagssprachlichkommunikativen und dem literarischen Diskurs. Bereits die räumliche und zeitliche Distanz von Autor und Adressat impliziert in jedem noch so banalen Brief bestimmte Verfahren, die auch literarischen Texten eigen sind. So muss der Briefschreiber dem Empfänger z. B. den Kontext des Geschriebenen vermitteln, er muss die zeitliche Verschiebung von Schreiben und Lesen mit einkalkulieren, und er kann nicht auf nonverbale Unterstützung seiner Aussagen zurückgreifen. Es gibt aber auch ebensosehr Briefe, die weitgehend den Charakter des Gesprächsersatzes verloren haben und überwiegend die Merkmale eines literarischen Textes aufweisen. So haben z. B. die häufig anzutreffenden Selbst- und Fremdentwürfe, zu denen dieses Medium des vertraulichen Dialogs geradezu prädestiniert, nur noch wenig Gemeinsamkeiten mit dem alltagssprachlichen Dialog und sind eher der Erfindung fiktiver Figuren aus der Literatur vergleichbar. Introspektion und Selbstreflexion können ebenso Thema von Briefen sein wie der Dialog. Dies sei im Folgenden an zwei Briefen einer klassischen Briefautorin, der Marie de Rabutin-Chantal, marquise de Sévigné (1626-1696) demonstriert. An französischen Mädchengymnasien gehörte das Studium ihrer Briefe noch bis ins 20. Jahrhundert zu den ersten Pflichtlektüren; ihr Stil hatte Vorbildgeltung wegen seiner Natürlichkeit und Lebhaftig- <?page no="54"?> Kanon 54 keit. Und es ist kein Zufall, dass sich an diesem epistolarischem Werk eine der fruchtbarsten Kontroversen um die Literarizität und Gattungsproblematik von Briefen entfachte (Horowitz 1972, Nies 1972). Der Herausgeber der Sévigné-Briefe, Roger Duchêne, betont den strikt privaten Charakter der Briefe, die für ihn ausschließlich der spontane Ausdruck von freundschaftlichen und mütterlichen Gefühlen sind (Duchêne 1970, 1972). Bernard Bray widerspricht dem und belegt durch seine Stilanalysen, dass die Briefe konstruktive Merkmale literarischer Texte aufweisen und dass die Marquise sie durchaus mit dem Anspruch einer Autorin im Hinblick auf ein literarisches Publikum schrieb. Für ihn sind die Briefe ein „literarisches Faktum“, die Briefsammlung ist das literarische Werk einer großen Schriftstellerin (Bray 1969). Die beiden von mir ausgewählten Briefe (Cf. S. 58-60 in diesem Buch) Sévignés an ihren Cousin und engen Freund, Philippe-Emmanuel de Coulanges (1633-1716), sind ein gutes Beispiel dafür, wie sehr der Brief sowohl dem Gespräch als auch dem literarischen Diskurs verhaftet ist. Der Gegenstand der Briefe ist zunächst einmal typisch für die kommunikative Funktion des Briefs. Es handelt sich um Gesellschaftsklatsch, der ja häufig Gegenstand von Gesprächen ist. Die Aussage des ersten Briefs ist simpel: Anne-Marie Louise d’Orléans, Duchesse de Montpensier, genannt La Grande Mademoiselle (Garapon 1989), kündigt ihre Heirat mit dem Grafen Lauzun an. Diese Ankündigung war seinerzeit höchst spektakulär. Die Herzogin gehörte dem französischen Hochadel an. Henri IV. war ihr Großvater, und ihr Vater war Gaston d’Orléans („Monsieur“, Z. 33), der Bruder von Louis XIII. Zum Zeitpunkt des Briefes war die Mademoiselle bereits 43 Jahre alt, und der auserkorene Lauzun war nicht nur etwas jünger als sie, sondern stand in der Adelshierarchie weit unter ihr. Sie war eine der großen Gestalten der Fronde. In Männerkleidung hatte sie ein Heer befehligt, das den aufständischen Adligen einige militärische Erfolge einbrachte. Nach dem Sieg der zentral-monarchistischen Kräfte war sie dafür von ihrem Cousin, Ludwig XIV., mit der Verbannung aus Paris bestraft worden. Der mächtige Vetter wollte sie aus Gründen seiner Staatsraison bereits mehrmals verheiraten, mal mit dem uralten König von Portugal, mal mit dem Prince of Wales. Sie widersetzte sich allen königlichen Plänen. Aus Rache wurde ihr die Erlaubnis zur Heirat mit dem geliebten Edelmann Lauzun jahrelang verweigert. 1670 scheint es nun dennoch soweit zu sein - wie wir dem ersten Brief entnehmen. All das wissen die Schüler nicht. Aber dass es sich hier um etwas Außergewöhnliches handeln muss, das werden sie bereits an dem ersten <?page no="55"?> Grenzgänge 55 Satz des Briefes merken, mit dem die Autorin eine ungeheure Spannung erzeugt. „Je m’en vais vous mander la chose la plus étonnante, la plus surprenante, la plus merveilleuse, la plus miraculeuse, la plus triomphante, la plus étourdissante, la plus inouïe, la plus singulière, la plus extraordinaire, la plus incroyable, la plus imprévue, la plus grande, la plus petite, la plus rare, la plus commune, la plus éclatante, la plus secrète jusqu’aujourd’hui, la plus brillante, la plus digne d’envie: enfin une chose dont on ne trouve qu’un exemple dans les siècles passés, encore cet exemple n’est-il pas juste; “ (Sévigné 1976: 65). Bereits dieser erste Satz demonstriert geradezu beispielhaft den Zwittercharakter des Briefes. Hier soll etwas mitgeteilt werden: „Je m’en vais vous mander […].“ Das Vokabular, in dem dies geschieht, dürfte den Schülern kaum Schwierigkeiten bereiten. Zum anderen aber weist bereits dieser Satz ein Stilmerkmal auf, das vom mündlichen Code abweicht: die extensive Reihung und Wiederholung. Er verzeichnet eine Reihung von 19 verschiedenen Superlativen, an die sich eine sechsfache Wiederholung der Struktur „une chose qui […]“ anschließt. Zudem ist der Brief sehr artifiziell strukturiert, indem er nur wenige, einfache syntaktische Muster vielfältig variiert. Der Höhepunkt ist in den Zeilen 30- 37 erreicht, wo die vielen titres de noblesse der hocharistokratischen Braut zum Anlass für eine 15-fache Wiederholung des Wortes Mademoiselle genommen werden. Wir haben es hier also mit einem sprachlich hochstrukturierten, d.h. literarischen Text zu tun. Dennoch haften ihm viele Spuren des Gesprächs an. Der Duktus der Autorin gegenüber ihrem Adressaten ist gekennzeichnet durch eine Haltung frei nach dem Motto „stell dir vor“ und „rate mal“. Dieser stark appellative Charakter, der durch die rhetorischen Fragen entsteht (Z. 20- 26), simuliert ebenso eine mündliche Kommunikationssituation wie die Auslassungszeichen und abgebrochenen Sätze (Z. 30). Man meint fast, Madame de Sévigné vor sich zu sehen, wie sie sich zusammenreißt, um möglichst lange die Nachricht zurückzuhalten, um sie dann schließlich herauszuprusten. Der offenbar vor Neugier brennende Kommunikationspartner ist eine Voraussetzung, ohne den dieser Diskurs nicht einzuhalten wäre; er ist auch im Text ständig präsent. Die erdachten Antworten auf die Fragen der Autorin beziehen gar noch die Frau des Adressaten in das Gespräch mit ein (Z. 21: „Madame de Coulanges dit […]“). Der gesamte Text drückt aus, wie sehr die Autorin es bedauert haben muss, dass sie ihrem Gegenüber diese Nachricht nicht persönlich, d.h. mündlich überbringen konnte, um sein verdutztes Gesicht zu sehen. <?page no="56"?> Kanon 56 Nimmt man auch noch den zweiten Brief dazu, so hat das den Vorteil, dass der Klatsch nicht nur amüsant, sondern eben auch noch dramatisch ist. Die Dramaturgie ist perfekt. Im zweiten Brief nämlich wird die im ersten Brief aufgebaute Spannung noch einmal gesteigert, indem über die Vorbereitungen der Hochzeit berichtet wird, Vorbereitungen, die von Tag zu Tag umfangreicher und gewichtiger werden. Montag wird die Hochzeit bekanntgegeben, Dienstag redet alle Welt davon, Mittwoch dann bekommt der Gatte einen Großteil der Ländereien der steinreichen Braut übertragen, der Heiratsvertrag wird aufgesetzt und er nennt sich bereits Duc de Montpensier. Am Donnerstagmorgen wird das Placet des Königs als eine pure Formalität erwartet - und dann bricht am Abend alles zusammen, weil der König seine bereits gegebene Einwilligung widerruft. Die Grande Mademoiselle weint, schreit, bekommt Wutausbrüche und tritt in den Hungerstreik. Hier wird auf 36 Zeilen eine tragische Geschichte erzählt; erzählt wird aber nicht in epischer Breite, sondern Sévigné skizziert nur. Der Brief ist per definitionem eben nicht auf Erzählung, sondern auf Mitteilung angelegt. Das kommt den didaktischen Notwendigkeiten nach kurzen, dichten Texten entgegen. Hier muss nicht ein meisterhafter Text zusammengekürzt werden, wie wir das aus den easy readers kennen, durch die die chefs-d’œuvre noch für den Fremdsprachenunterricht gerettet werden sollen. Gleichzeitig aber birgt der kurze Text Stoff für einen ganzen Roman. Die Marquise bemerkt das selbst, wenn sie schreibt: «Voilà un beau songe, voilà un beau sujet de roman ou de tragédie, mais surtout un beau sujet de raisonner et de parler éternellement.» (Z. 32-34). Mit diesem letzten Satz wiederum haben wir ein weiteres wichtiges Stilmerkmal, das vielen Briefen eigen ist und auch wiederum die Brücke zu literarischen Texten herstellt, weil es ein genuin literarisches Merkmal ist: Die Selbstreflexion des Textes. Oft werden in Briefen die Möglichkeiten und Zwänge dieses Kommunikationsmediums thematisiert; man schreibt über die Art des Verschickens und des Empfangs des Briefes, über die Schmerzen beim Warten auf Antwort, über die Ungeduld beim Lesen und Schreiben etc., und Sévigné reflektiert hier eben jenen Zwittercharakter des Briefes, der auch uns interessiert. Ihr Brief handelt von etwas, das auch Thema einer Tragödie oder eines Romans sein könnte, das aber eben auch Gesprächsthema in den Salons war. Die Vorteile eines solchen Textes für den Einsatz im Fremdsprachenunterricht liegen auf der Hand. Zum einen kann er als ein authentisches Beispiel für die Briefkultur des 17. Jahrhunderts gelesen werden. Er kann durchaus schlicht als kommunikatives Faktum behandelt werden: Wer teilt wem was mit? Für einen über dreihundert Jahre alten Text ist er <?page no="57"?> Grenzgänge 57 sprachlich erstaunlich einfach - eben weil seine Wurzeln in der Mündlichkeit liegen. Beide Briefe können als Modelle für Schreibübungen herangezogen werden, indem man die Schüler auffordert, eine ebenso höchst erstaunliche, überraschende, wunderbare, traumhafte, einzigartige, unerhörte etc. Begebenheit zu berichten, indem sie die wenigen und einfachen syntaktischen Strukturen der Marquise übernehmen und sie mit ihrem eigenen Vokabular auffüllen. Gleichzeitig aber haben wir es mit einem historischen Roman zu tun. Ich möchte hier nicht näher auf die landeskundlichen Implikationen dieses Textes eingehen, aber es ist wohl unschwer auszumalen, dass man anhand dieser Zeilen ein ganzes Kapitel französischer Geschichte aufblättern kann, wenn man will. Die Verweigerung der Eheschließung durch Ludwig XIV. ist eine der letzten großen Demütigungen, nicht nur der Grande Mademoiselle, sondern des gesamten ehemals frondierenden Adels, der sich nicht dem Diktat der zentralistisch ausgerichteten absoluten Monarchie unterwerfen wollte. Und ganz nebenbei könnte man vielleicht auch einmal ins Bewusstsein rufen, dass die französische Geschichte, ebensowenig wie die Literatur, nicht nur eine Geschichte der großen Männer ist. Die Grande Mademoiselle, die Heldin dieses Romans, kann es mit ihrem abenteuerlichen Leben durchaus mit ihrem Cousin aufnehmen, für dessen langweilige Hofzeremonien die Schüler sich ja per Lehrplan interessieren müssen. Kurz: Der Mischcharakter des Briefes erlaubt auch seinen Einsatz in einem Unterricht, der im Spannungsfeld von zwei unterschiedlichen Zielen steht - nämlich der Einübung von kommunikativen Fertigkeiten einerseits und der Vermittlung von Literatur, Geschichte und Kultur des Landes seiner Zielsprache andererseits. <?page no="58"?> Kanon 58 Lettres de M me de Sévigné A COULANGES A Paris, ce lundi 15 e décembre [1670] 5 10 15 20 25 30 35 Je m’en vais vous mander la chose la plus étonnante, la plus surprenante, la plus merveilleuse, la plus miraculeuse, la plus triomphante, la plus étourdissante, la plus inouïe, la plus singulière, la plus extraordinaire, la plus incroyable, la plus imprévue, la plus grande, la plus petite, la plus rare, la plus commune, la plus éclatante, la plus secrète jusqu’aujourd’hui, la plus brillante, la plus digne d’envie: enfin une chose dont on ne trouve qu’un exemple dans les siècles passés, encore cet exemple n’est-il pas juste; une chose que l’on ne peut pas croire à Paris (comment la pourrait-on croire à Lyon? ); une chose qui fait crier miséricorde à tout le monde; une chose qui comble de joie Mme de Rohan et Mme d’Hauterive; 1 une chose enfin qui se fera dimanche, où ceux qui la verront croiront avoir la berlue; une chose qui se fera dimanche, et qui ne sera peut-être pas faite lundi. Je ne puis me résoudre à la dire; devinez-la: je vous la donne en trois. Jetez-vous votre langue aux chiens? Eh bien! Il faut donc vous la dire: M. de Lauzun épouse dimanche au Louvre, devinez qui? Je vous le donne en quatre, je vous le donne en dix; je vous le donne en cent. Mme de Coulanges dit: Voilà qui est bien difficile à deviner; c’est Mme de la Vallière. 2 - Point du tout, Madame. - C’est donc Mlle de Retz 3 ? - Point du tout, vous êtes bien provinciale. - Vraiment nous sommes bien bêtes, dites-vous, c’est Mlle Colbert 4 ? - Encore moins. - C’est assurément Mlle de Créquy 5 ? - Vous n’y êtes pas. Il faut donc à la fin vous le dire: il épouse, dimanche, au Louvre, avec la permission du Roi, Mademoiselle, Mademoiselle de … Mademoiselle … devinez le nom: il épouse Mademoiselle, ma foi! par ma foi ! ma foi jurée ! Mademoiselle, la grande Mademoiselle; Mademoiselle, fille de feu Monsieur; Mademoiselle, petitefille de Henri IV; mademoiselle d’Eu, mademoiselle de Dombes, mademoiselle de Montpensier, mademoiselle <?page no="59"?> Grenzgänge 59 40 45 d’Orléans; Mademoiselle, cousine germaine du Roi; Mademoiselle, destinée au trône; Mademoiselle, le seul parti de France qui fût digne de Monsieur. Voilà un beau sujet de discourir. Si vous criez, si vous êtes hors de vous-même, si vous dites que nous avons menti, que cela est faux, qu’on se moque de vous, que voilà une belle raillerie, que cela est bien fade à imaginer ; si enfin vous nous dites des injures: nous trouverons que vous avez raison; nous en avons fait autant que vous. Adieu; les lettres qui seront portées par cet ordinaire vous feront voir si nous disons vrai ou non. NOTES 1 Deux femmes de la haute noblesse, qui avaient épousé de très humbles gentilshommes 2 Duchesse Louise de La Vallière, ancienne maîtresse de Louis XIV 3 Nièce du cardinal de Retz 4 Fille du ministre Colbert 5 Fille unique du duc de Créquy A COULANGES A Paris, ce vendredi 19 e décembre [1670] 5 10 15 Ce qui s’appelle tomber du haut des nues, c’est ce qui arriva hier soir aux Tuileries; mais il faut reprendre les choses de plus loin. Vous en êtes à la joie, aux transports, aux ravissements de la princesse et de son bienheureux amant. Ce fut donc lundi que la chose fut déclarée comme vous avez su. Le mardi se passa à parler, à s’étonner, à complimenter. Le mercredi, Mademoiselle fit une donation à M. de Lauzun, avec le dessein de lui donner les titres, les noms et les ornements nécessaires pour être nommés dans le contrat de mariage, qui fut fait le même jour. Elle lui donna donc, en attendant mieux, quatre duchés: le premier, c’est le comté d’Eu, qui est la première pairie de France et qui donne le premier rang; le duché de Montpensier, dont il porta hier le nom toute la journée; le duché de Saint-Fargeau, le duché de Châtellerault: tout cela estimé vingt-deux millions. Le contrat fut fait ensuite, où il prit le nom de <?page no="60"?> Kanon 60 20 25 30 35 Montpensier. Le jeudi matin, qui était hier, Mademoiselle espéra que le Roi signerait, comme il l’avait dit; mais sur les sept heures du soir, Sa Majesté étant persuadée par la Reine, Monsieur, et plusieurs barbons, que cette affaire faisait tort à sa réputation, il se résolut de la rompre, et après avoir fait venir Mademoiselle et M. de Lauzun, il leur déclara, devant Monsieur le Prince, qu’il leur défendait de plus songer à ce mariage. M. de Lauzun reçut cet ordre avec tout le respect, toute la soumission, toute la fermeté, et tout le désespoir que méritait une si grande chute. Pour Mademoiselle, suivant son humeur, elle éclata en pleurs, en cris, en douleurs violentes, en plaintes excessives; et tout le jour elle n’a pas sorti de son lit, sans rien avaler que des bouillons. Voilà un beau songe, voilà un beau sujet de roman ou de tragédie, mais surtout un beau sujet de raisonner et de parler éternellement: c’est ce que nous faisons jour et nuit, soir et matin, sans fin, sans cesse. Nous espérons que vous en ferez autant, e fra tanto vi bacio le mani. (Madame de Sévigné, Lettres, ed. par Bernard Raffalli, Paris, Garnier- Flammarion 1976, 65-67.) <?page no="61"?> L’Étranger. Über die Haltbarkeit eines Schulklassikers Es gehört zu den Paradoxien des Französischunterrichts in Deutschland, dass allen Veränderungen im Bereich der Ziele, Gegenstände und Methoden zum Trotz seit nunmehr über 40 Jahren ein Klassiker der französischen Literatur zum festen Bestand des Lektürekanons auf der Sekundarstufe II zählt: L’Étranger von Albert Camus. Auch wenn Erhebungen über die Lektüren der Oberstufe nur sporadisch und unsystematisch durchgeführt werden (Weller 2000), so deuten alle vorliegenden Daten darauf hin, dass Franz-Rudolf Weller mit seiner Behauptung Recht hat, dass es sich bei diesem Roman um den „Schulklassiker Nummer eins par excellence“ (Weller 2005: 8) handelt. Wellers erste deutsche Schuledition erschien 1964 im Diesterweg Verlag, und die mehr als 250.000 Exemplare, die seither verkauft wurden, sprechen für sich. 1 Warum das so ist, darüber lässt sich trefflich spekulieren. Natürlich kann man auf dem Standpunkt stehen, dass es keiner Begründung bedarf für die Lektüre eines so wichtigen Stücks Weltliteratur; aber der Klassikerstatus allein dürfte nicht ausreichen, um die Beliebtheit von L’Étranger als fremdsprachige Schullektüre zu erklären. Sonst müssten auch Proust, Flaubert oder Racine auf der Ranking-Liste stehen. Wie wird L’Étranger gelesen in unseren Schulen? Wir wissen nur wenig darüber, denn ein anderes Paradoxon besteht darin, dass es bis vor kurzem nur vereinzelte, auf Zeitschriftenartikel verstreute Unterrichtsvorschläge gab, die speziell für den Französischunterricht konzipiert waren. 2 Zwar sind zahlreiche Interpretationshilfen für den muttersprachlichen Unterricht zugänglich, sowohl für den hiesigen Deutschunterricht (u.a. Keiser 2007, Poppe 2003) als auch für die classes de français jenseits des Rheins (u.a. Sauvage 1990, Pingaud 1992, Bagot 1993, Forest 1995, Sauvage 1997, Maritzen/ Maritzen 2005), aber angesichts des massenhaften Einsatzes dieses Romans im Fremdsprachenunterricht ist es 1 1999 hat der Herausgeber eine um Zusatzmaterialien erweiterte Schulausgabe im selben Verlag ediert. Neben dieser liegen noch zwei weitere Schulausgaben für den Französischunterricht vor (Camus 1986, Camus 2005). 2 Unterrichtspraktische Vorschläge finden sich lediglich in den Aufsätzen von Dieter Sauerhoff und Angela Weirath (1987) sowie Josef Bessen (2001). Weitere Aufsäzte, in denen der Roman in didaktischer Perspektive behandelt wird, stammen von Peter C. Spycher (1965), Brigitta Coenen-Mennemeier (1963), Henning Krauss (1970), Peter Kramer (1990), Vincent Grégoire (1997), Michael Wendt (1996) und Wolf Albes (1998). <?page no="62"?> Kanon 62 verwunderlich, dass nicht mehr Unterrichtsmaterialien von den Verlagen angeboten wurden. Das hat sich in den letzten Jahren geändert. Sowohl das Landesinstitut für Schulentwicklung in Baden-Württemberg als auch zwei Schulbuchverlage haben drei detailliert ausgearbeitete Unterrichtsreihen entwickelt, die den Lehrenden Stundenentwürfe, Arbeitsblätter, Informationen und Zusatzmaterialien für die Unterrichtsgestaltung an die Hand geben (Sachse et al. 2005, Rüger-Groth 2005, Mann- Grabowski 2006). Ergänzend dazu liegt seit 2005 eine literaturdidaktische Studie von Franz-Rudolf Weller vor (Weller 2005). Sie enthält einen soliden Forschungsbericht in didaktischer Perspektive und umfangreiche Analysen, die didaktische Potenziale und Schwierigkeiten des Textes aufzeigen, ohne dass diese allerdings in konkrete Unterrichtsvorschläge transformiert würden. Ich möchte mich im Folgenden auf diese vier Publikationen konzentrieren und sie unter den Aspekten der Begründungen für die Auswahl des Romans, der Lernziele, Themen und Methoden analysieren. Warum L'Étranger? Alle Autoren führen als entscheidendes Kriterium für die Auswahl des Romans seine große Verbreitung und literarische Qualität ins Feld. Daneben wird die Zeitlosigkeit des Romans hervorgehoben, sein „überzeitliche[r], universale[r] Aussagegehalt“ (Weller 2005: 41). Das geht bis zu befremdlichen Formulierungen bei Gabriele Rüger-Groth, die von der „bleibende[n] Genialität und Faszination einer mediterranen Literatur durchglüht von algerischer Küstenlandschaft und Lebensfreude eines jungen Schriftstellers“ (Rüger-Groth 2005: 3) schwärmt. Die meiner Meinung nach nahe liegende Begründung, dass es sich um einen der seltenen narrativen Höhenkammtexte handelt, der sowohl aufgrund seines Umfangs als auch seiner sprachlichen Schwierigkeit als Ganzschrift von Sprachlernenden bewältigt werden kann, spielt hingegen in der Argumentation für die Wahl dieses Textes eine nebensächliche Rolle. Dabei dürfte bei einer Länge von 85 Seiten, einem weitgehend der Alltagssprache zugehörigen Wortschatz von nur 2535 Wörtern (Weller 2005: 42), einem Erzähltempus, das das lästige passé simple vermeidet, und einer leserfreundlichen Syntax der „Literaturschock“ 3 wesentlich geringer 3 Der Begriff stammt von Harald Weinrich und bezeichnet den Schock, den Schülerinnen erfahren, wenn sie aus dem lexikalischen und morpho-syntaktischen Schonraum des (vornehmlich an der Alltagskommunikation orientierten) Lehrbuchs heraustreten und mit dem Reichtum literarischer Sprache konfrontiert werden (Weinrich 1983). <?page no="63"?> L’Étranger 63 ausfallen, als etwa bei Klassikern des Realismus. Lediglich Weller reflektiert die Kürze und sprachliche Einfachheit des Romans ausführlich. Er relativiert dieses Argument einerseits mit dem Hinweis auf die unterschiedlichen Sprachebenen zwischen dem ersten und zweiten Teil des Romans. Vor allem aber sieht er hierin eher eine Falle als eine Chance (Weller 2005: 43, Mann-Grabowski 2006: 4). Im Anschluss an die Ausführungen von Philippe Forest, dass sich hinter der einfachen und klaren Sprache „une œuvre à la pensée exigeante, au fonctionnement subtil“ (Forest 1995: 175sq.) verbirgt, warnt Weller davor, sich vom relativ niedrigen sprachpragmatischen Schwierigkeitsgrad blenden zu lassen und er resümiert: „Albert Camus hat den Roman nicht für Jugendliche geschrieben“ (Weller 2005: 40). Er scheint auch zu bezweifeln, dass L’Étranger in besonderem Maße dem Lebensgefühl jugendlicher Leser entspricht. Das sehen die übrigen Autoren anders. Es herrscht Einigkeit darüber, dass die Aktualität des Romans darin liegt, dass Meursault den heranwachsenden Jugendlichen eine gute Projektions- oder gar Identifikationsfläche biete für ihre eigenen Probleme in der Phase des Erwachsenwerdens; allerdings liegt die einzige diesbezügliche Umfrage 25 Jahre zurück (Cf. Heitmann 1983). Das Autorenkollektiv des Stuttgarter Landesinstituts um Claudine Sachse verweist ausdrücklich auf die große Faszination, die der Roman bei Jugendlichen in der ganzen Welt auslöse und auf die Anschlussfähigkeit des Textes an die politischen und philosophischen Interessen seiner heutigen Leserschaft (Sachse et al. 2005: 2sq.); auch Catherine Mann-Grabowski, die Autorin der im Raabe- Verlag erschienenen Unterrichtsreihe, bezieht sich explizit auf die jugendliche Leserschaft und sieht in L’Étranger einen Roman, der „Heranwachsenden auf der Suche nach dem Sinn ihres Lebens viel Stoff zum Nachdenken bietet“ (Mann-Grabowski 2006: 1). Ein ähnliches Motiv für die Auswahl wird deutlich in den Ausgangsfragen, von denen sich Gabriele Rüger-Groth (und ihre Mitwirkenden aus einem Heilbronner Studienseminar) bei der Publikation im Klett-Verlag leiten ließ: „Was soll sie (die Schülerinnen, L.S.) als junge Erwachsene herausfordern auf ihrer eigenen Suche nach Orientierung und Lebenssinn? Inwiefern kann sie die Begegnung mit dem coolen Büroangestellten Meursault aus dem Alger der fernen Kolonialzeit in ihrer eigenen Lebenswirklichkeit betreffen? “ (Rüger-Groth 2005: 3). <?page no="64"?> Kanon 64 Themen und Methoden Welche Konsequenzen hat nun die explizite Orientierung an den Interessen und der Lebenswirklichkeit der Schülerinnen für die Themen der drei Unterrichtsreihen? Ein Leitmotiv der Arbeitsaufgaben besteht darin, den Schülerinnen die Personen und Orte der Handlung zu veranschaulichen, sie mit ihnen vertraut zu machen. Dies geschieht dadurch, dass sie sich im wörtlichen Sinn ein Bild machen. So werden sie aufgefordert zu Bildbeschreibungen von Algier und einem algerischen Dorf (Rüger- Groth 2005: 7), der Wüste und eines schießenden Mannes (Sachse et al. 2005: 23), oder zum detaillierten „Dekor“ für eine Szene (ibid.: 12). Auch die Personen der Handlung werden zu Leben erweckt. Ein Vorschlag besteht darin, für eine Verfilmung des Romans geeignete Schauspieler/ innen zu finden, entsprechende Fotos auszuwählen und ein Casting für die Besetzung zu inszenieren (Rüger-Groth 2005: 8), oder mehrere Szenen, besonders jene vor Gericht, nachzuspielen (Sachse et al. 2005: 27 und 54). Immer wieder gibt es Gelegenheit zur Einfühlung 4 in einzelne Figuren, indem die Schüler angeregt werden innere Monologe zu schreiben (z.B. Sachse et al. 2005: 12 und 38, Rüger-Groth 2005: 10), ihren eigenen Alltag im Stile Meursaults zu beschreiben oder eine Szene aus der Perspektive eines anderen Protagonisten umzuschreiben (z.B. Mann- Grabowski 2006: 25). Rüger-Groth nimmt den Roman zum Anlass, eine Diskussion zum aktuellen Thema „Todesstrafe“ zu initiieren (Rüger- Groth 2005: 34-36). Angesichts dieser Betonung der Referentialität des Textes und der ausdrücklichen Orientierung an der Lebenswirklichkeit heutiger Schülerinnen ist es verwunderlich, dass trotz aller Beteuerungen, dass ein über 60 Jahre alter Roman heute anders gelesen wird als bei seinem Erscheinen, der entscheidende und folgenreiche Unterschied zwischen den heutigen und den früheren Lektüren überhaupt nicht reflektiert wird. Nur schwerlich gelingt es uns heute nämlich, davon zu abstrahieren, dass der Mord, den Meursault begeht, der Mord eines Angehörigen einer Kolonialmacht an einem Kolonisierten ist. Und ebenso wenig können heutige Leser/ innen die Anonymisierung des Opfers als „l’arabe“ verstehen, ohne damit Rassismus zu assoziieren. Diese Lesarten, die u.a. von Isabelle Ancel (1981), Brigitte Sändig (1988), Edward Saïd (1994) und Christiane Chaulet-Achour (1999) formuliert worden sind, werden in den vor- 4 „Indem die Schüler angeregt werden, sich in die Figuren des Romans einzufühlen bzw. ihren eigenen Alltag mit den Augen Meursault zu betrachten, finden sie einen persönlichen und damit auch einen leichteren Zugang zu einem Werk, das sich durchaus nicht von selbst erschließt“ (Mann-Grabowski 2006: 3). <?page no="65"?> L’Étranger 65 liegenden Unterrichtsmaterialien zwar angedeutet, aber letztlich verdrängt. So gibt es zum Beispiel in der Schulausgabe vom Klett-Verlag im Anhang einen zweiseitigen informativen Text über „L’Algérie au moment de la parution de l’étranger“, an den sich in den Lehrerhandreichungen die mir vollkommen unverständliche Frage anschließt: „Comment expliquez-vous l’évolution démographique en Algerie? Discutez de cette évolution dans le contexte social“ (Rüger-Groth 2005: 7). In dem Unterrichtsentwurf der RAAbits-Reihe wird nach der Lektüre der ersten beiden Kapitel die Frage gestellt „Où et quand se passe l’action? “ Die in den didaktischen Erläuterungen formulierte erwartete Antwort lautet: „L’action se passe en Algérie dans les années 40, c’est-à-dire avant la guerre d’indépendance (1954-1962). A cette époque, l’Algérie était une colonie française. Meursault et sa mère sont des Français d’Algérie“ (Mann-Grabowski 2006: Material, 9). Woher aber sollen die Schüler das wissen? Aus ihrer Lektüre können sie höchstens Informationen über den Schauplatz des Geschehens entnehmen. Obendrein ist die Behauptung der Autorin schlicht falsch, dass der (von 1938 bis 1940 geschriebene) Roman „in den 40er Jahren“ spielt. Auch die Verweise auf Camus’ Biographie, auf die „fascination du pays“ (Sachse et al. 2005: 3), die Fotos von Algier und dem ländlichen Algerien samt daran anschließender Fragen (Rüger-Groth 2005: 7) oder die Aufforderungen an die Schüler, ihren Assoziationen zu Algerien vor dem Hintergrund der Ortsbeschreibungen im Text freien Lauf zu lassen (Sachse et al. 2005: 7), zielen nicht auf den kolonialen Kontext des Romans. Trotz der Bekenntnisse zu „Entstaubung“ und „Aktualisierung“ (Mann-Grabowski 2006: 1) folgen die Unterrichtsvorschläge hier der traditionellen Lesart, die den Roman enthistorisiert und die erzählte Geschichte lediglich als Medium einer universellen, von Zeit und Ort unabhängigen Botschaft begreift (siehe dazu auch Chaulet-Achour 1999: besonders 37sq.). Ausgerechnet in einem Unterricht, dessen leitendes Lernziel die „interkulturelle Kompetenz“ ist, wird eine neue Lesart des Romans als eines Konflikts zwischen den colons und colonisés in keiner der vorliegenden Entwürfe berücksichtigt. Es ist bezeichnend, dass unter den Arbeitsaufträgen, die zu einem Perspektivwechsel einladen, z.B. durch das Verfassen innerer Monologe, sich nie die Perspektive des Opfers findet. Sie wird offenbar außerhalb des Erwartungshorizontes der Leser/ innen angesiedelt. Die didaktische Begründung dafür - wenn sie denn überhaupt gegeben wird -, liegt in dem Verweis auf die Intention des Autors. Mann- Grabowski möchte die „Debatte zum Thema Rassismus“ vermeiden, „da das Ziel […] eine Einführung in das Werk von Camus bleibt“ (Mann- Grabowski 2006: Material, 6). Ernsthaft setzt sich lediglich Weller mit <?page no="66"?> Kanon 66 dem Rassismus-Vorwurf auseinander (Weller 2005: 116-120). Seine Haltung dazu ist klar: Er hält diese Lesart für anachronistisch und unzulässig, weil Camus keine „allgemeine Kolonialismusdiskussion oder eine franko-nordafrikanische Rassismusdebatte intendiert hat“ (ibid.: 117). Dennoch gibt er, trotz seiner offensichtlichen Distanz zum interkulturellen Paradigma, hilfreiche praktische Hinweise dafür, wie diese verborgene Kolonialgeschichte hinter dem großen Plot sichtbar gemacht werden kann. Er stellt die einschlägigen Textstellen zusammen (ibid.: 118sq.) und seine abschließende Frage, ob es sich hier um „untergründige rassistische Elemente“ handele, kann vor dem Hintergrund seiner Textanalyse zum Ausgangspunkt eines Gesprächs mit Schülern genommen werden. Nun haben Weller und Mann-Grabowski vollkommen Recht mit ihrer Behauptung, dass Camus nicht den kolonialen Konflikt zum Thema seines Romans gemacht hat. Dass darüber hinaus auch „keine logische Beziehung zwischen Fiktion und Kolonialgeschichte“ (Weller 2005: 117) existiert, wie Weller behauptet, ist allerdings nicht richtig. Schließlich ist die Konstruktion, besonders der zweite Teil, der sich allein um den Täter dreht, nur plausibel, wenn das Opfer gesichtslos ist. Das erfordert die Handlungslogik der Fiktion - ein Aspekt, auf den ich noch zurückkommen werde. Dass die Wahl des Autors dabei auf „l’arabe“ fiel, dürfte sehr wohl etwas mit dem Unterbewusstsein des Kolonisten zu tun haben. Das Problem lässt sich indessen noch verallgemeinern. Spätestens seit der rezeptionsästhetischen Wende, die maßgeblich den didaktischen Paradigmenwechsel von lehrerzentrierten zur schülerorientierten Methoden des Literaturunterrichts in Gang gesetzt hat, ist die „Intention des Autors“ nicht mehr der einzige Maßstab für Interpretationen im Klassenraum (und anderswo). Der Grund dafür liegt in der Erkenntnis, dass Texte ganz unabhängig von ihren Autoren Bedeutungen erlangen können, die ihnen ihre Leser/ innen verleihen. Es ist dieser elementare hermeneutische Grundsatz, der den didaktischen Prämissen subjektiver Lektüren zugrunde liegt. Die Autorinnen der vorliegenden Unterrichtsreihen bekennen sich in ihren Vorworten explizit dazu. Dass aber ihre Schülerinnen, die in ihrer Lebens- und Medienwirklichkeit zwangsläufig, möglicherweise sogar im eigenen Klassenraum, mit ethnischen Konflikten konfrontiert werden, der Aussage Raymonds über „l’arabe“ („Alors, je vais l’insulter et quand il répondra je le descendrai“) eine ganz andere Bedeutung als ihre Vorgänger/ innen vor 40 Jahren verleihen dürften, wird von ihnen nicht bedacht. Dass diese dezentrierte Lektüre durchaus im Horizont heutiger Jugendlicher liegt, beweist der (nicht besonders gelungene) Song „Killing <?page no="67"?> L’Étranger 67 an Arab“ der Rock-Punkband „The Cure“, den Mann-Grabowski, ganz gegen ihre oben referierte Position, in ihre Unterrichtsreihe aufnimmt. Es handelt sich dabei um ein musikalisches Résumé der Mordszene des 6. Kapitels, das dieselbe Erzählperspektive beibehält; nur durch fast unsichtbzw. unhörbare Textelemente wird signalisiert, dass die Aussage des Romans sich verschiebt, hin zu einer Markierung des „Ich“ als rassistischen Mörder. Bewirkt wird dies erstens, indem die Sonne kein Akteur ist, sondern lediglich „angestarrt“ wird („staring at the sun“) von einem Erzähler, der das Abfeuern der Pistole als bewussten Akt beschreibt („I can fire the gun“). Außerdem kommentiert ganz am Ende des Lieds eine Stimme von außen das Geschehen mit „Oh Meursault“ (Cf. auch Calderón 1995). Aber wie sehr die Bedeutung eines Textes von seinem Rezeptionskontext abhängt, beweist gerade dieser Song, denn er wurde auch von rassistischen Diskothekenbesitzern eingesetzt, um unliebsame Gäste fernzuhalten. Vor diesem Hintergrund ist die Tatsache nicht unproblematisch, dass die letzte Zeile („Oh Meursault“) im Arbeitsbogen für die Schülerinnen nicht mit abgedruckt ist und die Arbeitsaufträge überhaupt nicht den Blick auf die (zugegebenermaßen sehr diskreten) Bedeutungsverschiebungen lenken. Von schon fast fahrlässiger rezeptionsästhetischer Naivität ist allerdings der didaktische Kommentar: „Dennoch (trotz des zeitweiligen Verbots des Lieds, LS) besitzt es keinerlei ausländerfeindlichen Bezug, sondern (sic! LS) entstand nach der Lektüre des ‚Etranger‘ von Camus“ (Mann-Grabowski 2006: Material, 41). Diese verunglückte Rezeption ist nur ein Symptom für ein Missverständnis, auf dem möglicherweise sogar die nun bereits Jahrzehnte andauernde Karriere von L’Étranger als Schullektüre beruht. Dieser Roman kann als realistischer Roman gelesen werden, weil die Orte und Protagonisten auf Referenten außerhalb des literarischen Textes verweisen. Schließlich gibt es die Stadt Algier und dort sind auch Büroangestellte zu finden. Die Geschichte, die hier erzählt wird, lässt eine Wirklichkeitsillusion zu. Zwar sind die Brüche allgegenwärtig, denn es ist höchst unwahrscheinlich, dass ein Mensch „à cause du soleil“ einen anderen tötet und dass er dies als Motiv auch noch angesichts der drohenden Todesstrafe zu seiner Verteidigung vor Gericht vorbringt. Aber die zahlreichen realistischen und detailgenauen Beschreibungen von Dingen, Landschaften und Personen führen dazu, dass auch eine irritierte Leserin immer wieder bereit ist, mit Meursault als Erzähler einen Pakt zu schließen und in die realistische Falle zu laufen. Anders als bei den viel autoreferentielleren Texten des Nouveau Roman, bietet L’Étranger die Möglichkeit, der Handlung Plausibilität und Kohärenz zuzubilligen. <?page no="68"?> Kanon 68 Die vorliegenden Unterrichtsreihen, und wohl auch die herrschende Unterrichtspraxis, unterstützen diese traditionelle Lektürehaltung. Viele Aktivitäten gehen vom referentiellen Charakter des Textes aus und verstärken die Wirklichkeitsillusion. Dies wird insbesondere in der Beschäftigung mit Meursault deutlich. Auch wenn er überhaupt nicht wie ein Held in einem realistischen Roman gestaltet ist, wird er dennoch didaktisch als solcher behandelt, indem die Motive für sein Handeln befragt und beurteilt werden. Das geht hin bis zu Arbeitsaufträgen, in denen - fast makaber - die Schuld Meursaults zur Diskussion gestellt wird (Sachse et al. 2005: 22, Rüger-Groth 2005: 11), gerade so als ob jemand, der einen anderen Menschen „a cause du soleil“ tötet, keine Schuld auf sich laden würde. Auch Weller irrt, wenn er einen Mord „aus Notwehr“ annimmt (Weller 2005: 94). Aber genau hier liegt das Problem. L'Étranger ist kein realistischer Roman. Eine Schülerin hat dies im Chat auf einer Internetseite richtig erkannt: „Meursault un être qui manque de vraisemblance, même pour un personnage fictif“ (zitiert bei Rüger-Groth 2005: 21). Eine Lektürehaltung, die sich dieser Erkenntnis verschließt, wird enttäuscht. Spätestens im 6. Kapitel gerät deshalb der/ die Leser/ in in große Erklärungsnot bei dem Versuch, die Beweggründe, Motive, Gefühle, das Unterbewusstsein, kurz: die Psyche eines Zufallsmörders zu verstehen (Mann- Grabowski 2005: Material, 10). Diese Not wird in den Unterrichtsentwürfen auch zu einer didaktischen und methodischen Notlage. Einerseits versucht man ihr zu begegnen durch einen etwas hilflosen Verweis auf die „Ambivalenz“ Meursaults (Mann-Grabowski 2006: 6 und Material, 9). Vor allem aber wird versucht, die Widersprüche und Ungereimtheiten der Handlung durch Camus’ Philosophie des Absurden aufzulösen. Schaut man sich die Unterrichtseinheiten an, so ist vor allen Dingen in den Entwürfen von Rüger-Groth und Mann-Grabowski die Deutung Meursaults als Inkarnation des absurden Menschen der Fluchtpunkt der Interpretationen. Die Fragen sind so anspruchsvoll, dass mit ihnen ganze Philosophiestunden gestaltet werden könnten: „Retracez ses (de Meursault, L.S.) idées philosophiques sur l’existence” (Rüger-Groth 2005: 17); „Comparez ‚l’homme absurde‘ à la conception de l’homme qui est la vôtre et discutez en classe” (ibid.: 18); „Expliquez pourquoi Meursault peut être qualifié de ‚héros de l’absurde‘“ (Mann-Grabowski 2006: LEK, 1) (als Lernerfolgskontrolle); „Contre quoi Meursault se révolte-t-il et comment sa révolte s’exprime-t-elle? “ (Sachse et al. 2005: 42), oder gar „Lisez le Mythe de Sisyphe et marquez les passages qui vous semblent importants pour expliquer ‚l’homme absurde‘“ (Rüger-Groth 2005: 18). <?page no="69"?> L’Étranger 69 Diese Fragen verweisen darauf, dass der Roman als philosophischer Roman gelesen werden soll. Einmal ganz abgesehen davon, dass ihre Beantwortung höchste Anforderungen an das fremdsprachliche Können stellt, werden die Schülerinnen darauf auch inhaltlich nicht vorbereitet. Soll der in den Arbeitsaufträgen benutzte Begriff „l’absurde“ nicht nur auf einer diffusen alltagssprachlichen Bedeutungsebene verbleiben, bedürfte es einer eingehenden Beschäftigung mit der Philosophie Camus’. Die kurzen Auszüge aus Le Mythe de Sisyphe sind nicht dazu angetan, die Philosophie des Absurden zu erläutern. Die - seltsam einsilbigen - Ausführungen zu diesem Thema in den Unterrichtsmaterialien sprechen eine verwirrende Sprache (Mann-Grabowski 2006: Erwartungshorizont der Lernerfolgskontrolle, 3; Rüger-Groth 2005: 31), so dass die Schülerinnen diese Aufgabe nur unter Rückgriff auf - für sie leere - Worthülsen bewältigen dürften. Nur am Rande wird der historische Kontext thematisiert, in dem Camus’ Sinnverweigerung steht. An keiner Stelle wird den Schülerinnen das Wissen vermittelt, gegen welche Weltbilder sich der Roman richtet. Dabei wäre gerade dies wichtig für das Verständnis und die Voraussetzung, um einen kritischen Zugang zu L’Étranger zu finden. Bei der Behandlung der philosophischen Implikationen des Romans zeigt sich nicht zufällig auch eine Strukturschwäche aller vorliegenden Unterrichtsreihen. Zwar wird nirgendwo als Lernziel die Beschäftigung mit der Philosophie Camus’ formuliert, aber sie wird für die Bewältigung bestimmter Arbeitsaufgaben vorausgesetzt. Die methodische Konsequenz dieses Lernziels wird nicht bedacht. Alle Autoren bekennen sich zwar uneingeschränkt zur „Selbständigkeit und Individualität des Lernprozesses“ (Rüger-Groth 2005: 3), zu „handlungs- und produktionsorientierten Methoden“ (Mann-Grabowski 2006: 3), zur „activité du lecteur“ (Sachse et al. 2005: 3), aber die Kenntnis der Philosophie des Absurden dürfte nur durch einen lehrerzentrierten Unterricht, der weitgehend auf Deutsch verlaufen müsste, erreicht werden, indem philosophisches Wissen vermittelt wird. Weller sieht hier klarsichtig das Problem und kommentiert ironisch: „Dass der ‚klassische‘ etwas aus der Mode gekommene Lehrervortrag das Verständnis der Schülerinnen und Schüler [...] fördern könnte, sei hier nur am Rande erwähnt“ (Weller 2005: 104). Das eigentliche Problem besteht jedoch darin, dass die Reflexion der eigenen Sinnsuche und „der persönlichen Schuldfähigkeit des einzelnen“ (Rüger-Groth 2005: 3) oder der „Ausgrenzung von Menschen durch Menschen“ (ibid.) nicht zu dem für die Schüler unbefriedigenden Romanplot hinführen. Einerseits sind diese Lernziele so allgemein und <?page no="70"?> Kanon 70 abstrakt, dass sie fast beliebig sind. Zum anderen wird durch die Aufforderung zur „Einfühlung“ in den Protagonisten, die sich z.B. in Fragen nach Motiven und Gründen Meursaults für den Mord (Sachse et al. 2005: 24) oder nach seiner Schuld (Rüger-Groth 2005: 11, Sachse et al. 2005: 22) artikulieren, die Erwartungshaltung geschürt, dass der Roman auf diese Fragen eine Antwort geben könnte. Diese Erwartungshaltung muss in frustrierende Enttäuschung münden, denn der Mord ist nur der spektakulärste Ausdruck in diesem Text für die Überzeugung Camus’ von der Zufälligkeit, Kontingenz, Unvorhersehbarkeit und Unsteuerbarkeit menschlichen Lebens und Tuns. Bezeichnend ist hier beispielsweise der Irrtum Mann-Grabowskis, dass es sich bei L’Étranger um „das Werk eines über die Absurdität der conditio humana sinnenden jungen Mannes (handelt), das Heranwachsenden auf der Suche nach dem Sinn ihres Lebens viel Stoff zum Nachdenken bietet“ (Mann-Grabowski 2006: 1; cf. auch 3). Camus’ Held „sinnt“ nicht. Das erzählende Ich beschreibt lediglich. Es reiht Geschehnisse aneinander in parataktischen Sätzen, ohne ihnen in reflektierenden Passagen einen Sinn zuzuschreiben. Sartre hat es in seiner Rezension auf die Formel gebracht: „L’étranger n’est pas un livre qui explique; l’homme absurde n’explique pas, il décrit; ce n’est pas non plus un livre qui prouve. M. Camus propose seulement et ne s’inquiète pas de justifier ce qui est, par principe, injustifiable“ (zitiert in Camus 2005: 97). Darüber hinaus verbleibt das Verständnis von „Fremdheit“ in einer diffusen, aktuell-alltagssprachlichen Bedeutung, die dem Text nicht gerecht wird. Die Fremdheit Meursaults liegt ja nicht in seiner Erscheinung, wie es z.B. der Arbeitsbogen mit Fotos von exotisch aussehenden Personen zum Thema „étranger“ (Mann-Grabowski 2006: Material, 5) suggeriert, oder darin, was er tut. Im Gegenteil - Camus hat im ersten Teil seines Romans alles getan, um seinen korrekt angezogenen, höflichen und unaufdringlichen jungen Helden „comme tout le monde“, als einen ganz durchschnittlichen Angestellten zu gestalten und keineswegs als einen Außenseiter der Gesellschaft. Er wäscht sich vorm Essen die Hände, grüßt den Etagennachbarn und kommt pünktlich zur Arbeit. Wenn Michael Wendt in seiner didaktischen Studie ausgerechnet die „Automatenfrau“, jene mise en abyme für die Subjektlosigkeit des modernen Menschen, als „unverstellt handelnde“ bezeichnet (Wendt 1996: 136), dann übersieht er vollkommen die Besonderheit des Textes, die in der Gestaltung Meursaults als eines angepassten Mannes ohne besondere Eigenschaften liegt. Aber dieses bei Wendt explizit formulierte Missverständnis scheint auch implizit in zahlreichen Arbeitsaufgaben durch, in denen Psychogramme der Personen (Mann-Grabowski 2006: Material, <?page no="71"?> L’Étranger 71 24), insbesondere Meursaults, erstellt werden sollen und den Schülern die Gelegenheit gegeben wird, ihre Meinungen zu seinem Charakter zu artikulieren (Sachse et al. 2005: 6, Mann-Grabowski 2006: 9), - bis hin zu Spekulationen über „mögliche Erkrankungssymptome bei Meursault“ (Rüger-Groth 2005: 3). Was Meursault unterscheidet von „den Anderen“ ist nicht, wie er lebt, sondern wie er über sein Leben spricht und denkt. Er weigert sich, für sein stinknormales, überhaupt nicht außenseiterisches Leben die Sinnstiftungen zu akzeptieren, die ihm die Gesellschaft anbietet, und damit weigert er sich, sein Tun und Handeln nach höheren Zielen auszurichten. Er will nicht der gute oder schlechte Sohn, der leidenschaftliche oder laue Liebhaber, der aufstrebende oder sich verweigernde Angestellte, der ehrliche oder unzuverlässige Freund etc. sein - er will einfach nur Sohn, Liebhaber, Angestellter, copain sein. Darum müssen sich die Leser/ innen auch nicht mit so vielen Adjektiven wie bei Balzac herumschlagen. Das wird dem Protagonisten im zweiten Teil des Romans zum Verhängnis, wenn seine Richter die Deutung und Interpretation seiner Existenz und seiner Handlungen vornehmen. Mit dieser Figur demonstriert Camus, dass es ein glückliches Leben gibt, ohne dass dieses Leben Ziele und Ideale benötigt, für die zu leben (oder zu sterben) es lohnt. Das ist gemeint mit „ne pas jouer le jeu“. Nimmt man die philosophischen Implikationen des Romans ernst, enthält der nicht „viel Stoff“ für die „Sinnsuche“ heutiger Schülerinnen. Dies umso weniger, als Camus die Apotheose des Romans, wie Weller treffend bemerkt, „mit philosophisch-theologischen Theorien seiner universitären Lehrmeister Pascal, Nietzsche, Kierkegaard und […] seiner literarischen Wegbereiter, allen voran Kafka“ (Weller 2005: 103) überfrachtet. Camus’ Nihilismus und sein bedingungsloser Atheismus erklären sich vor allen Dingen aus dem Kontext der Kriegs- und Nachkriegszeit, die unter dem Schock der verheerenden Wirkung von Ideologien und der Verstrickung der Kirche in die Verbrechen des Faschismus stand. Deshalb ließ sich die Rezeption in den 1950er und 60er Jahren von den philosophischen Bezügen durch den gesamten Text leiten. In aktuellen ethischen Diskussionen spielt aber Le Mythe de Sisyphe, der Essay, in dem die philosophischen Grundgedanken von L’Étranger explizit ausformuliert sind, keine Rolle mehr und ist kein Klassiker, der zum Lektürekanon des Ethik- oder Philosophieunterrichts gehören würde. <?page no="72"?> Kanon 72 Von der histoire zum discours Dass L’Étranger hingegen noch ein Klassiker ist, liegt nicht an seinem philosophischen Thema, sondern an seiner sprachlichen Besonderheit. Nicht die histoire, sondern der discours hat ihn zum Klassiker gemacht. Und ganz offensichtlich liegt hier auch ein Grund für die nicht nachlassende Lust am Text. Die literaturwissenschaftliche Forschung hat spätestens Ende der 1970er Jahren den Paradigmenwechsel zur narratologisch orientierten Interpretation von L‘Étranger vollzogen (Pingaud 1992: 208). Camus hat mit Meursault einen ganz neuen Typ von Romanheld, oder besser: Antiheld konstruiert. Er hat eine literarische Figur geschaffen, die nur noch jämmerliche Reste von den großen Heldinnen und Helden psychologischer Milieuromane besitzt. Meursault ist ohne Vergangenheit, besitzt keine markanten Charaktereigenschaften, führt kein abenteuerliches Leben. Er hat nicht einmal einen Vornamen. Und um diese Figur darzustellen, hat der Autor eine neue Art des Erzählens und eine neue Sprache gefunden, die den französischen Roman im 20. Jahrhundert revolutioniert haben und ohne die viele Texte der französischen Literatur nicht entstanden wären. Will man diese Besonderheit der Erzählweise vermitteln, muss sich allerdings der Blick von der Ebene der histoire weg auf die Ebene des discours begeben. Schülerinnen müssen dafür sensibilisiert werden, dass hier eine literarische Figur mit ganz anderen Stilmitteln geschaffen wurde, als das in den Romanen des 19. Jahrhunderts der Fall ist. Die didaktische Herausforderung, die daraus erwächst, liegt, trotz der sprachlichen „Einfachheit“ von L‘Étranger, in - der Sprache. Es sind die sprachlichen Zeichen, mit denen die Menschen ihrem Tun und Handeln einen Sinn geben. Meursault verweigert diese Sinngebung, und deshalb ist er höchst wortkarg (daher der kurze Text! ), misstrauisch gegenüber dieser Sprache (daher ihre Nüchternheit und Einfachheit) und erst Recht hält er nichts von Erklärungen und Rechtfertigungen (keine kausalen Nebensätze). Hierauf verweist Weller immer wieder und er richtet sowohl seine Lernziele (Weller 2005: 41) als auch seine didaktischen Analysen (ibid.: besonders 74sq.) am konsequentesten von allen hier verhandelten Materialien auf diese Herausforderung aus. Als Einziger macht er z.B. auf die wichtige Funktion der „Gemeinplätze, Sprachklischees, stereotypen Routineformeln“ aufmerksam (ibid.: 69sq.). Diese Herausforderung des sprachlichen Stils und der narratologischen Struktur hat unterschiedliche Spuren in den Unterrichtsentwürfen hinterlassen. Alle Entwürfe enthalten Aufgaben zu Stilanalysen. Besonders ausgeprägt ist dies im Entwurf des Stuttgarter Landesinstituts, der <?page no="73"?> L’Étranger 73 Um den Schülern aber die Lust an (eher ungeliebten) Stilanalysen zu vermitteln und ihnen nicht das Gefühl zu geben, es handele sich hier um formalistische Fingerübungen, die ins Leere laufen, gelingt es aber nicht, ihnen zu zeigen, dass der Roman erst durch den discours jene Plausibilität erhält, die ihm auf der Ebene der histoire fehlt. Das entscheidende Motiv für den Mord liegt nämlich nicht in Meursaults Erfahrung von Hitze und Licht, sondern darin, dass der Autor ein Handlungselement konstruieren musste, das den Erzähler vor eine Instanz bringt, die die Deutungshoheit von menschlichem Reden und Tun besitzt. Camus hat dafür ein Strafgericht gewählt. Was eignet sich besser als ein Mord, um vor dessen Schranken zu geraten? In dem Prozess geht es nur vordergründig um „das Recht und die Ohnmacht des Einzelnen vor Gericht“ (Weller 2005: 94), sondern um die Absurdität menschlicher Sinngebung und Sinnstiftung allgemein. Um die plausibel zu machen, durfte das Mordopfer kein Handlungsmotiv legitimieren. Dafür musste es stumm und gesichtslos bleiben. Dass das erzählerisch mit „l’arabe“ ausgestaltet wird, kann man nur plausibel finden, wenn man bereit ist, über unterschwelligen Rassismus nicht zu stolpern. Diese mangelnde Aufmerksamkeit für die Bedeutung generierende Funktion des Stils schlägt sich auch methodisch nieder. Es ist auffällig, dass sich der methodische Zugriff bei den Stilanalysen ändert. Der Stuttgarter Entwurf sieht hier sehr wenig handlungs- und produktionsorientierte Aufgaben vor, die Arbeitsaufgaben sind in der Regel eng gelenkt. Immer dort, wo die Analyse formaler Textmerkmale verschränkt wird mit Aufgaben, die den Schülern eigene Textproduktionen erlauben, sind die Vorschläge besonders gelungen. Eine gute Idee ist es z.B. die Schülerinnen aufzufordern, einen Tag ihres eigenen Lebens nach dem Vorbild des Erzählers zu schildern, um ihnen ein Gefühl für die écarts von der Sprache traditionellen Erzählens zu vermitteln (Mann- Grabowski 2006: Material, 12sq.). Aber die Schwierigkeiten und auch die Möglichkeiten dieses Unternehmens werden generell unterschätzt. Das zeigt z.B. die formulierte Erwartung, dass sich „die Merkmale von Camus’ Stil […] durch die Schreibaufgabe wie von selbst einprägen“, oder die recht grobe „fiche d’évaluation“ (ibid.: 11). Wesentliche Stilmerkmale fehlen hier, z.B. die Besonderheit, detailgenaue Beschreibungen oder Berichte vollkommen nebensächlicher Dinge oder Ereignisse zu liefern. hier seinen Schwerpunkt hat. In detailliert ausgearbeiteten Tabellen, die den Lehrer/ innen nicht nur Entwürfe für Tafelbilder, sondern auch präzise fremdsprachliche Kommentare vorgeben, werden die sprachlichen Merkmale und thematischen Motive analysiert und klassifiziert. <?page no="74"?> Kanon 74 Damit diese écarts wirklich erkannt werden, müssten kontrastive Textstellen, etwa aus Balzac-Romanen, herangezogen werden. Vor allen Dingen aber müssten die Schreibübungen und kreativen Aufgaben mehr auf die Besonderheiten des Textes hinführen oder sie zum Ausgangspunkt nehmen. Die Aufforderungen, innere Monologe, Tagebucheintragungen und Briefe aus Figurenperspektive verfassen zu lassen, haben etwas Beliebiges und verhelfen nicht zu einem besseren Verständnis der Sinn generierenden Sprache (Rüger-Groth 2005: 10; Sachse et al. 2005: 12). Dabei böte gerade die binäre Struktur des Romans vielfältige Möglichkeiten für kreative Arbeits- und Schreibaufgaben, die dem Text nicht äußerlich bleiben. Zwar erkennen sowohl Weller (Weller 2005: 42sq.) als auch Mann-Grabowski deutlich die „Spiegelstruktur“ (Mann-Grabowski 2005: 2) des Romans, indem im zweiten Teil die Repräsentanten der Ordnung dem im ersten Teil lediglich wertungsfrei Beschriebenen eine Bedeutung verleihen, es in eine Ordnung bringen, und dem ziellosen Leben des Protagonisten Absichten unterstellen. Aber diese Erkenntnis wird nicht wirklich didaktisch transformiert. Bei Mann-Grabowski bleibt sie folgenlos, Weller leitet daraus lediglich seine, wie ein Leitmotiv immer wiederkehrende, Grundregel ab: „Das A und O ist die Bereitschaft zur ‚relecture‘.“ Einen Schritt weiter geht Rüger-Groth, die vor der Lektüre des zweiten Teils als Schreibaufgabe ein Rollenspiel vorschlägt, in dem mit einigen „phrases-clé“ die Anklage und Verteidigung des Mörders vorwegzunehmen (Rüger-Groth 2005: 12). Diese Erkenntnis, dass der discours die histoire generiert, hat bereits vor 20 Jahren Eckhard Volker in einem leider wenig beachteten Aufsatz (Volker 1987) in einen praxisnahen Unterrichtsvorschlag für die Behandlung des 6. Kapitels transformiert, der obendrein sehr genau das Spannungsverhältnis zwischen Textanalyse und Rezeptionsgespräch reflektiert. Volker demonstriert die Generierung des Sinns durch die Sprache an der entscheidenden Mordszene. Er betont ausdrücklich, dass zunächst die „Zumutung“ der ‚histoire’, dass die Sonne als Motiv für einen Mord fungiert, ausführlich besprochen werden muss, um die Betroffenheit der Schüler nicht „kognitiv (zu)zudecken“ (ibid.: 277). Aber er sieht genau, dass sich auf der Ebene des Plots keine befriedigende Erklärung finden lässt; deshalb überführt er die Frage nach Meursaults Motiv in die eigentlich entscheidenden Fragen, 1. wie der Mord dargestellt wird und 2. welche Funktion die Darstellung hat. Er belässt es nicht bei der gängigen Analyse der Sonnenmetaphorik, sondern mit Arbeitsschritten, die in vorbildhaften Strukturbildern münden, lenkt er die Aufmerksamkeit auch auf jene Stilmittel, die den „Handelnden hinter seinem Werk- <?page no="75"?> L’Étranger 75 zeug verschwinden“ lassen („La gâchette a cédé...“) und die zeigen, dass Camus den Mord sprachlich als unkontrollierten Reflex inszeniert und das Fehlen jeglicher Intention suggeriert. In einem zweiten Schritt lenkt er den Blick der Schülerinnen auf ein wichtiges Konstruktionsmerkmal des Romans, indem er ihnen die Funktion der Sprache für ihre eigene Leserrolle bewusst macht. Die suggestive Beschreibung der Mordszene hat den „Effekt, dass der Leser die von Meursault im Prozess vorgebrachte ‚Erklärung‘ bereits hier als Wahrheit akzeptiert hat“ (ibid.: 279). Bilanz Wird L'Étranger heute anders gelesen als vor vierzig Jahren? Die hier analysierten Unterrichtsvorschläge beanspruchen dies ausdrücklich, indem sie den Schülerinnen die Möglichkeit zu individuellen Interpretationen einräumen. Allerdings wird die Schülerorientierung ausschließlich den Methoden anvertraut. Übersehen wird dabei, dass einerseits die Methoden allein keine neuen Interpretationen hervorbringen und andererseits die Methodenwahl bestimmte Unterrichtsinhalte ausschließt. Indem auf Lehrer/ innenvorträge verzichtet wird, kann das Wissen über Camus’ philosophische Positionen kaum vermittelt werden. Aber auch die Aufgabenstellungen erfolgen nicht unabhängig von den Textdeutungen der Lehrer/ innen. Ob die Frage nach der Beziehung der beiden unterschiedlichen Romanteile eine zentrale, untergeordnete oder gar keine Bedeutung hat, verrät viel über das Textverständnis, das für die Bearbeitung Weichen stellend ist. Das gilt auch für die kreativen Schreibaufgaben oder szenischen Darstellungen, die den Schülerinnen Spielraum für eigene Textkonkretisierungen eröffnen. Der Vorschlag, sich in Personen einzufühlen, setzt voraus, dass von einer realistischen Figurendarstellung ausgegangen wird und die Psychologisierung der Figuren zum Textverständnis beiträgt. Die Analyse der vorliegenden Unterrichtsentwürfe verdeutlicht ein grundsätzliches Problem des aktuellen fremdsprachlichen Literaturunterrichts. Wenn Schülerinnen durch das Lesen fremdsprachlicher Literatur zu eigenen Sprachproduktionen motiviert werden sollen - ein Ziel von Fremdsprachenunterricht, das keiner weiteren Begründung mehr bedarf -, dann muss sich der Zugang zu literarischen Texten unterscheiden von wissenschaftlichen Formen des Umgangs mit Literatur, die sich formanalytischer und metasprachlicher Verfahren bedienen. Die Vielzahl der produktions- und handlungsorientierten Methoden stellt dafür mittlerweile ein breites Spektrum an Möglichkeiten bereit. Aber diese <?page no="76"?> Kanon 76 Methoden mutieren in der Praxis nicht selten zu Extremen einer Polarisierung, die sich etwa folgendermaßen gestaltet:  Schülerorientierung versus Textanalyse,  Inhalt versus Formalästhetik,  Persönlichkeitsbildung gegen ästhetische Bildung,  Eigenständiges und eigenverantwortliches Arbeiten der Schüler versus Planungshoheit des Lehrers. Diese Polarisierung entsteht meines Erachtens durch einen Kurzschluss. Sie verkennt die Tatsache, dass der Einsatz von Methoden, die einen affektiven, nicht-analytischen Zugang zu literarischen Texten ebnen sollen, dennoch diese analytische Durchdringung des Unterrichtsgegenstandes durch die Lehrenden vorgängig voraussetzt. Die handlungs- und produktionsorientierten Aufgabenstellungen funktionieren nur, wenn sie den Eigenheiten, Strukturen und Kontexten des Textes Rechnung tragen. Auch wenn es nicht mehr das Ziel von fremdsprachlichem Literaturunterricht ist, die Konstruktionsmerkmale eines literarischen Textes ausschließlich analytisch, und das bedeutet auch notgedrungen, metasprachlich zu erfassen, so ist seine wissenschaftliche Analyse dennoch weiterhin die Voraussetzung für die Organisation des subjektiv und affektiv-orientierten Leseprozesses. Nur wenn die Spezifika des jeweiligen Textes berücksichtigt werden, bleiben die modernen Methoden den Texten nicht äußerlich. Die Fragen, die heutige Schülerinnen an einen Text stellen können, sind sehr viel offener und subjektiver, als es der traditionelle Literaturunterricht zuließ. Aber ein Dialog mit dem Text kommt nur dann zustande, wenn der Bedeutungshorizont des Textes respektiert wird. Sonst fungiert er lediglich als „prétexte“ und die Schülerinnen fragen sich zu Recht, warum sie die Mühen einer komplizierten Dekodierung auf sich nehmen sollen, wenn es schließlich doch nicht um das Verstehen des Textes, sondern „nur“ um sie geht. Deshalb ist es eine Illusion anzunehmen, dass für die offenen Impulse moderner Unterrichtsverfahren im Literaturunterricht lediglich die Sensibilisierung für den Erwartungshorizont der Lesenden ausschlaggebend wäre und nicht mehr die konkreten Lesarten der „Moderatoren des Lernprozesses“, als die die Lehrenden neuerdings gern bezeichnet werden. Das Gegenteil ist der Fall. Jede Aufgabenstellung, auch jene, die sich kreativer Verfahren bedienen, erfordern Vorannahmen, nicht nur über die Schülerinnen, sondern auch über den Text. Denn nur wenn diese Interpretationen explizit reflektiert werden, wird die Funktion der Aufgabenstellungen transparent und intersubjektiv nachvollziehbar. <?page no="77"?> L’Étranger 77 Auch wenn die hier analysierten Entwürfe zu L’Étranger über die interpretatorischen Vorannahmen ihrer Autor/ innen mit unterschiedlicher Deutlichkeit Rechenschaft ablegen, so lassen sie insgesamt auf eine Lesart dieses Romans schließen, die weiterhin die klassische Interpretation als einer universell-überzeitlichen Auseinandersetzung mit der menschlichen Existenz in den Mittelpunkt stellt und L’Étranger als realistische Erzählung begreift. Neuere Lesarten, die die Zeitgebundenheit und den politischen Kontext der Entstehung des Romans und seiner Rezeption hervorheben oder die Bedeutung seines Stils für die Abkehr vom realistischen Erzählen, wie sie wenig später vom Nouveau Roman vollzogen wurde, werden hingegen weitgehend vernachlässigt. <?page no="79"?> Text <?page no="81"?> OuLiPo. Anleitungen zur Fabrikation von Literatur OuLiPo - hinter diesem Kürzel verbirgt sich eine literarische Bewegung, die nur wenig Platz in den Literaturgeschichten einnimmt und längst nicht zum etablierten Kanon der französischen Literatur gehört. Dafür aber ist das „Ouvroir de Littérature potentielle“, wie es ausgeschrieben heißt, erstaunlich lebendig, obwohl mittlerweile fast sechzig Jahre alt. Jacques Bens, Jacques Duchateau, Michèle Métail, Jacques Roubaud, Marcel Benabou, Hervé Le Tellier sind einige der Autoren, die die Tradition dieser von François Le Lionnais und Raymond Queneau Anfang der sechziger Jahre gegründeten experimentellen Gruppe fortsetzen. 1 Neben Queneau ist der 1982 verstorbene Georges Perec mittlerweile der bekannteste Vertreter dieser Werkstatt. Weniger schwer als die Literaturgeschichtschreibung tut sich die (nicht nur) fremdsprachliche Didaktik der Literatur mit der Rezeption von OuLiPo. Viele Ideen aus der Werkstatt sind bereits in Unterrichtsmaterialien eingegangen oder haben zu methodischen Innovationen angeregt - oftmals, ohne dass sich die Lernenden und bisweilen nicht einmal die Lehrenden dieser Tradition bewusst wären. Die Gründe für die Beliebtheit von OuLiPo-Texten und Techniken im Unterricht liegen im Charakter dieser Literatur selbst: Sie birgt in sich didaktisches Potenzial. Dies gilt insbesondere für den fremdsprachlichen Unterricht. Es gibt zahlreiche Parallelen zwischen dem Lernen einer fremden Sprache und den literarischen Verfahren der OuLiPiens. Diese Potentiale und Parallelen aufzuzeigen und im Anschluss daran Vorschläge für den Französischunterricht zu machen, ist Ziel dieses Kapitels. Bevor darauf näher eingegangen wird, soll zunächst kurz das Programm von OuLiPo vorgestellt werden. 1 Zwei bei Gallimard folio erschienene Anthologien informieren ausführlich über die Geschichte, Programme und Aktivitäten von OuLiPo: 1. OuLiPo 1973, ²1988 und 2. OuLiPo 1981, ²1988. Die von OuLiPo zwischen 1974 und 1987 herausgegebene Zeitschrift La Bibliothèque oulipienne liegt im Reprint. Dort findet sich auch (Bd. 1, S. VII) eine aktuelle Mitgliederliste der Gruppe, die Wert darauf legt, keine „literarische Schule“ zu sein. Eine kurze aber präzise Einführung zu OuLiPo mit praktischen Beispielen und einigen programmatischen Texten der Gruppe in deutscher Übersetzung finden sich bei Boehncke und Kühne (Boehncke/ Kühne 1993). Siehe dazu auch die Besprechung von Scholler (Scholler 1996). <?page no="82"?> Text 82 Das Programm Raymond Queneaus Gedicht „Pour un art poétique“ erläutert besser als jede theoretische Abhandlung das Programm der OuLiPiens (Siepe 1981). Pour un art poétique Prenez un mot prenez-en deux faites-les cuir comme des oeufs, prenez un petit bout de sens puis un grand morceau d'innocence faites chauffer à petit feu au petit feu de la technique versez la sauce énigmatique, saupoudrez de quelques étoiles poivrez et puis mettez les voiles Où voulez vous en venir? A écrire Vraiment? A écrire? ? (Queneau 1989: I. 270.) Wenn das Schreiben poetischer Texte in Form eines Kochrezeptes dargestellt wird, so ist das in mehrfacher Hinsicht provozierend. Hier wird zunächst einmal signalisiert, dass es sich beim Dichten um einen Vorgang handelt, der, ähnlich wie das Zubereiten von Speisen, zu den alltäglichen Verrichtungen gehört. Indem das sprachliche Kunstwerk mit der Syntax und Semantik einer Herstellungsanleitung beschrieben wird, beraubt man es seiner Aura und macht es zu einem reproduzierbaren Gebrauchsgegenstand. Darüberhinaus wird dessen Verfertigung als ein für jedermann erlernbarer Prozess vorgeführt, der lediglich bestimmten Regeln unterworfen ist, die ebenso einfach zu beschreiben sind wie ein Kochrezept. Die Betonung der handwerklichen Seite literarischer Kreativität ist eine klare Absage an jene, vornehmlich der Romantik verpflichteten ästhetischen Theorien, die als Grundlage jeden künstlerischen Schaffens die nicht mehr hinterfragbare subjektive Genialität des Künstlers ausmachen. Programmatisch drückt sich dies in dem Wort ouvroir aus, das im Etikett der Gruppe fungiert. Es ist eine antiquierte Form für atelier, ursprünglich bezeichnete es die Näh- und Webstuben in den Klöstern. 2 2 „ouvroir: Dans une communauté de religieuses, lieu reservé aux ouvrages de couture, broderie etc.“ (Grand Larousse 1976: vol. V, 3884). <?page no="83"?> OuLiPo 83 Was aber wird in der Werkstatt bearbeitet, oder, um im Bild unseres Gedichts zu bleiben, was wird in der literarischen Küche zubereitet? Grundsubstanz der Speise ist „un mot“. Interessant ist, dass das „Wort“ nicht bereits eine Bedeutung besitzt, sondern dass diese erst als zweite Zutat fungiert („prenez un petit bout de sens“). Diese Trennung von mot und sens ist spätestens seit der strukturalistischen Linguistik in das Sprachbewusstsein eingedrungen. In seinem berühmten „Discours de linguistique générale“ unterscheidet Saussure zwischen dem rein materiellen Aspekt der Sprache, d.h. ihrer Phonetik und Graphik, den er als signifiant (Signifikant) bezeichnet, und der Bedeutung des Wortes, seiner Sinnhaftigkeit, dem signifié (Signifikat) (Saussure 1979: 97-103). Die Beziehung zwischen beiden Aspekten ist rein arbiträr, sie beruht auf Konventionen und ist keinewegs eine organische, unauflösliche Einheit. Erst recht sind die im Laufe der Zeit dem Signifikanten aufgebürdeten Konnotationen und seine symbolischen Bedeutungen das Resultat kultureller Übereinkünfte und liegen nicht in seiner Natur. „Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose“ schrieb Gertrude Stein und demonstrierte damit, dass eine Rose längst nicht immer Liebe, Schönheit, Jugend etc. bedeutet, dass also der Signifikant mithin sehr gut ohne sein angestammtes Signifikat existieren kann und es keine metaphysische Verbindung zwischen beiden gibt. Wenn Quenau nun vom sens nur ein kleines Stück in seinem Gericht verarbeitet, hingegen aber „un grand morceau d'innocence“ verwertet, so fordert er auch eine Unbefangenheit und Voraussetzungslosigkeit gegenüber den konventionellen Beziehungen zwischen sens und mot. Die für natürlich gehaltenen Verbindungen dieser beiden Seiten des sprachlichen Zeichens stehen zur Disposition. Um den durch Konventionen und Traditionen aufgeladenen Bedeutungsballast hinter sich zu lassen, bedarf es einer Unschuld („innocence“), die es erst ermöglicht, das für selbstverständlich Gehaltene als etwas Künstliches zu begreifen, das auch verändert werden kann. Und eine weitere Säule der Literatur stürzt Queneau durch seine Präferenz für die sprachliche Form zu Lasten des Inhalts um: die Priorität der Botschaft gegenüber der ihr untergeordneten Form. Das hat er nicht zuletzt eindringlich mit dem Titel seines bekanntesten Romans, Zazie dans le métro, demonstriert. Die Titelheldin, die mit ihren unschuldigen Fragen nach dem Sinn der Wörter ihre Umgebung in manche Verlegenheit bringt, treibt sich in dem Roman so ziemlich überall in Paris herum - nur nicht in der Métro. Die befindet sich nämlich im Streik. In der Küche der OuLiPiens wird nicht primär von einem Thema ausgegangen oder von einer Idee, sondern vom Bearbeitungsmodus des sprachlichen Materials. Dabei verändert letzteres, wie ein Ei beim Ko- <?page no="84"?> Text 84 chen, seine Substanz. Aber das Kochen geschieht nicht von selbst. Es muss beaufsichtigt und gesteuert werden. Queneau empfiehlt „le petit feu de la technique“, d.h. handwerkliches Können, das auf Wissen und Regeln beruht. Die Anwendung und Verfeinerung des poetischen Handwerks steht im Mittelpunkt der Arbeit in der Werkstatt. Das Schlüsselwort ist hier contrainte. So frei sich die Gruppe von den inhaltlichen Zwängen macht, so sehr unterwirft sie sich im Gegenzug den formalen Regelzwängen der Poetik und macht es sich zum Programm, in der Geschichte der Literatur alte contraintes wiederzubeleben und mit neuen zu experimentieren. Hierin liegt auch die Erklärung für das Adjektiv potentielle im Namen. Die Vorgabe einer Struktur birgt in sich die Möglichkeit einer Vielzahl von Texten, die durch die Anwendung der auferlegten Regel realisiert werden können. Darüberhinaus, und das ist die zweite Bedeutung von potentielle, führen die Regelzwänge dazu, die Potenziale einer Sprache tiefer zu ergründen als dies im pragmatischen Umgang mit ihr der Fall wäre. Diese eindeutige Privilegierung der formalen Regeln entlastet den literarischen Text nicht nur von seinem Signifikat; sie bedeutet gleichzeitig eine radikale Abkehr vom Prinzip der dichterischen Inspiration, des individuellen Genies, das als Grundlage jeglicher künstlerischer Produktion galt. Lediglich „quelques étoiles“ bleiben davon übrig. Statt auf dem großen Feuer dichterischer Eingebung zu brodeln, köchelt der literarische Text auf der kleinen Flamme der Technik vor sich hin. Die Oulipiens sind nicht die ersten, die so radikal mit der romantischen Dichtungstheorie abrechnen. Aber im Gegensatz zu ihren Vorgängern, den Dadaisten und Surrealisten, denen sich Queneau im übrigen in seinen Anfängen als Schriftsteller zugehörig fühlte (Queval 1971; Souchier 1991), überlassen sie den Schreibprozess nicht dem Zufall oder dem Unbewussten, wie es in der Praxis der écriture automatique geschieht, sondern sie ersetzen die individuelle Inspiration durch die planmäßige und bewusste Anwendung sprachlicher Regeln (Cf. hierzu auch: Roubaud 1981, besonders den Abschnitt: L‘anti-hasard, 56-58). Nirgends wird dies deutlicher als bei einer Gegenüberstellung von Queneaus „Art poétique“ mit der ebenfalls in Kochrezeptform geschriebenen Anweisung für das Schreiben eines dadaistischen Gedichts von Tristan Tzara: „Pour faire un poéme dadïste“. Bei Tzara werden die einzelnen Wörter lediglich sanft durchgeschüttelt und dann nacheinander aus dem Sack gezogen - der Zufall formt das Gedicht (Siepe 1981). <?page no="85"?> OuLiPo 85 Dem Einwand, dass sich die schöpferische Freiheit des Schriftstellers unter den Bedingungen des auferlegten Regelzwangs nicht entfalten könne, entgegnet Queneau: „Une [...] fausse idée qui a [...] cours actuellement, c'est l'équivalence que l'on établit entre inspiration, exploration du subconscient et libération, entre hasard, automatisme et liberté. Or, cette inspiration qui consiste à obéir aveuglement à toute impulsion est en réalité un esclavage. Le classique qui écrit sa tragédie en observant un certain nombre de règles qu'il connaît est plus libre que le poète qui écrit ce qui lui passe par la tête et qui est l'esclave d'autres règles qu'il ignore“ (OuLiPo 1981: 57). Ebenso programmatisch heißt es bei Jean Lescure in einem kurzen Abriss über die Geschichte von OuLiPo: „Ce que l’OuLiPo entendait montrer, c’est que ces contraintes sont heureuses, généreuses et la littérature même“ (OuLiPo 1973: 27). Vorgegebene Strukturen, so die Überzeugung der Oulipiens, setzen Kreativität frei, anstatt sie zu blockieren. Das verwundert zunächst, bedenkt man, dass hier offensichtlich Literatur am Reissbrett produziert werden soll, von Menschen, die im Übrigen nicht selten ebenso leidenschaftliche Mathematiker wie Schriftsteller waren (Le Lionnais 1981, Roubaud 1981). Doch wenn man die Texte liest, die aus dieser Werkstatt hervorgegangen sind, dann wird man erstaunt zur Kenntnis nehmen, dass sie längst nicht immer so sophistisch sind, wie die programmatischen Bekenntnisse vermuten lassen, sondern dass die hochartifiziellen Sprachprodukte gleichzeitig höchst unterhaltsam sein können. Das wohl bekannteste und populärste Beispiel sind Queneaus Exercices de style (Queneau 1947, Weller/ Patrix-Wenger 1992, 1993). Dieser Text wurde lange vor der Gründung der Gruppe OuLiPo geschrieben, er gibt aber bereits eindeutig die Richtung der späteren Sprachexperimente vor; er ist eine Art Ur-Text, ein „plagiat par anticipiation“, wie die Oulipiens es gerne bezeichnen. In den Exercices de style dient eine kurze banale Episode als Ausgangsmaterial für 99 Variationen, die durch die Anwendung unterschiedlicher „contraintes“ generiert werden. Das Resultat gehört zu den witzigsten Exempeln moderner Literatur. Die zahlreichen Bühnenadaptionen, die es seit dem Erscheinen der Exercices immer wieder gegeben hat, sind ein Beweis mehr für die anhaltende Beliebtheit dieses Werkstücks (Weller/ Patrix-Wenger 1993: 16-18). <?page no="86"?> Text 86 Ein Grund dafür liegt darin, dass die Entlastung von ihrer Signifikatfunktion der Sprache eine Zweckfreiheit verschafft, die sie für den spielerischen Umgang offen macht. Der Sprachunterricht Und hier setzt unser Interesse an OuLiPo für den Französischunterricht ein. Eine literarische Gruppe, die Normen und Zwänge einer Sprache nicht nur spielerisch einhält und bewältigt, sondern sie sich auch noch ohne Not auferlegt, sollte Einiges zu bieten haben für die Schule. In der Tat weisen die literarischen Verfahren von OuLiPo Strukturen auf, die denen des Fremdsprachenlernens ähnlich sind. Es ist diese Strukturhomologie, die das didaktische Potential von OuLiPo ausmacht. Einige Strukturparallelen seien kurz benannt: 1. Der Lerner einer fremden Sprache stößt auch, im Gegensatz zum Muttersprachler, sehr schnell auf die Widerstände des sprachlichen Materials. Bevor er zum Sinn eines Textes vordringt, muss er die Worte entziffern; bevor er „un petit bout de sens“ erheischt, muss er semantische und syntaktische Hürden überwinden. Beim Lernen einer fremden Sprache macht man notgedrungen das, was die Oulipiens freiwillig tun: Man konzentriert seine Aufmerksamkeit auf den Signifikanten in viel höherem Maße, als dies beim pragmatischen, auf Kommunikation ausgerichteten Gebrauch der Mutterspache gemeinhin der Fall ist (Weinrich 1983). Die Beziehung zwischen der Bedeutung eines Wortes und seiner Gestalt, die in der Muttersprache so selbstverständlich ist und als eine natürliche erscheint, offenbart in der fremden Sprache ihre ganze Artifizialität. 2. Die auf konkrete Alltagssituationen bezogenen Unterrichtsgespräche zur Einübung kommunikativer Sprechakte sind mit zunehmendem Alter der Schüler ein Problem. Denn was als kommunikative Handlung ausgegeben wird, ist im besten Falle Simulation. Diese „als ob“-Situation wird als verlogen empfunden. Die Oulipiens nun führen vor, dass eine Befreiung vom pragmatischen Sprachzwang keineswegs zur Sprachlosigkeit führen muss. Gerade für den Lerner einer fremden Sprache ist dies überaus hilfreich, indem er in einer von den „Zwängen eines nur realitätsbezogenen Sprechens gelösten Art und Weise mit Sprache und Inhalten umgehen“ kann (Rattunde 1990: 77; Kordecki: 1997). <?page no="87"?> OuLiPo 87 3. Der Erwerb einer fremden Sprache besteht eben nicht nur in ihrer kommunikativen Anwendung, sondern, trotz aller Errungenschaften der modernen Fremdsprachendidaktik, in der Aufnahme und Übung ihrer orthographischen, grammatischen, phonetischen und syntaktischen Regeln. Dass diese Strukturzwänge, die jedes sprachliche System auferlegt, nicht nur Last und Mühe bereiten müssen, sondern dass sie auch Anlass zum Spielen sind, dass sie nicht nur die Möglichkeiten des Ausdrucks beschränken, sondern ihn stimulieren können, dass sie einen Text ohne eine großartige Botschaft generieren, das führen die OuLiPiens vor. Diese Erfahrung selbst zu machen, ist für Schüler/ innen eine wichtige Motivation. 4. Im Gegensatz zum muttersprachlichen Literaturunterricht verfügen die Schüler/ innen nicht über dasselbe metasprachliche Vokabular, um ihre Rezeption der fremdsprachigen Literatur zu artikulieren. Dies kann auch nicht das Ziel des fremdsprachlichen Literaturunterrichts sein. Vielmehr soll die Sensibilisierung für literarische Formen und Inhalte einhergehen mit einer Anwendung der fremden Sprache, ausgehend vom literarischen Material. Es liegt auf der Hand, dass eine Literatur, die beständig ihre eigenen Produktionsverfahren offenlegt und reflektiert, den Anforderungen eines Literaturunterrichts entgegenkommt, der dem kreativen und d.h. produktionsorientierten Aspekt zunehmend Gewicht beimisst. Aus diesen genannten Gründen ist es kein Zufall, dass sich gerade auch die Fremdsprachendidaktik auf OuLiPo bezieht. Einige Beispiele sollen vorgestellt werden: a) Die von Alain Duchesne und Thierry Leguay 1984 herausgegebene Anthologie ist ein manuel, das ohne den Einfluss von OuLiPo nicht entstanden wäre. Nicht literarische Epochen und geistesgeschichtliche Strömungen gliedern die Textsammlung, sondern die Textverfahren. Der Titel der Sammlung, Petite Fabrique de Littérature, ist Programm: die Aufmerksamkeit soll nicht vorrangig auf die Interpretation und Auslegung der Texte gerichtet werden, sondern auf die handwerklichen Mechanismen ihrer Herstellung. b) Alfons Knauth (1986) knüpft daran im deutschsprachigen Raum an. Er hat nach den regelgeleiteten Prinzipien in der Tradition von OuLiPo mit Studierenden und Schülern Texte verfasst und im Li- <?page no="88"?> Text 88 teraturlabor eifrig experimentiert. Seine Beispiele lassen sich auch auf den fremdsprachlichen Unterricht anwenden. c) Während sowohl Knauth als auch Duchesne/ Leguay formale Regelzwänge in den Mittelpunkt ihrer Materialsammlung stellen, kann gerade an Georges Perecs vielseitigem Werk auch studiert werden, wie semantische contraintes einen Text generieren. Ein Auslöser für die erste simulation globale war der Roman von Perec, La vie mode d'emploi. Perec beschreibt dort sämtliche Räume eines Pariser Mietshauses und seiner Bewohner. Ein strukturierendes Prinzip, den semantischen Regelzwang, hat François Debyser für L'immeuble übernommen (Debyser 1986). Mittlerweile sind zahlreiche simulations globales als Lehrmaterialien verfügbar. 3 Auch die Unterrichtsvorschläge von Petra Doetsch und Jutta Liesen (1994) sowie von Henriette Hoppe und Susanne Müller (1994) weisen in diese Richtung. Sie haben zum Ausgangspunkt die heterogenen Texte von Perecs Espèces d'espaces, einer Collage von Beschreibungen und Reflexionen unterschiedlichster Räume, die die Schüler zu Wortfeldern und Kommunikationssituationen anregen. d) Eckhard Rattunde (1990, 1997) zeigt an zahlreichen Beispielen, wie das Verfahren der „réécriture poétique“ in einem integrierten Sprach- und Literaturunterricht eingesetzt werden kann. Er widmet in diesem Zusammenhang auch den Gedichten von Raymond Queneau ein Kapitel (Rattunde 1990: 108-114), deren formale und semantische Vorgaben er wiederum als matrices einsetzt, um die Schüler zu eigenen poetischen Schreibversuchen zu motivieren. Weitere Vorschläge zu réécriture finden sich auch in den Unterrichtsvorschlägen zur Poesie von Annemarie Kordecki (1997). e) Schließlich haben sich immer wieder Didaktiker von den Sprachspielen von OuLiPo für den Anfangsunterricht inspirieren lassen, wie sich zum Beispiel bei der Lektüre von Jeu, langage et créativité (Caré/ Debyser 1978) ebenso leicht feststellen lässt wie in dem für den Anfängerunterricht sehr anregenden Arbeitsbuch von Paola Bertocchini und Edvige Costanzo (1987) Productions écrites. Le mot, la phrase, le texte. 3 Le Cirque; Iles; (beide Hachette); L'Hôtel; L'Entreprise (beide Langenscheidt); „La conférence de presse“, in: Le Français dans le monde No 211, 1987; „N'Oubliez pas le guide“, in LFM 202, 1986; „Le village“, in: LFM 229, 1989; „L'Hôtel“, in: LFM 228, 1989; siehe auch: Caré/ Debyser 1984 und Yaiche 1998. <?page no="89"?> OuLiPo 89 Ich möchte im Folgenden einige klassische Textverfahren der Werkstatt vorstellen, die im Französischunterricht aller Lernstufen eingesetzt werden können. Le lipogramme Der Begriff Lipogramm kennzeichnet einen Text, bei dem ein oder mehrere Buchstaben des Alphabets weggelassen werden. Je größer die Frequenz eines Buchstabens in einer Sprache ist, umso schwieriger und artifizieller wird der Text. Das berühmteste Beispiel ist sicherlich La Disparition von Georges Perec, ein Roman von immerhin über 300 Seiten, der ohne den Buchstaben e auskommt. Die geniale deutsche Übersetzung, zufällig (? ) von einem Übersetzer, der den verbannten Buchstaben gleich viermal im Namen führt (Eugen Helmlé), ist ebenso beeindrukend wie das Original. Perec beschränkt sich keinesfalls auf die Formspielerei, sondern er erzählt eine kohärente Geschichte vom Verschwinden des Helden, Anton Voyl, und nach und nach all derer, die ihn suchen. Dass das Schreiben an La Disparition Perec aus einer schöpferischen Krise half und ihm wieder Vertrauen in seine Imaginationsfähigkeit verschaffte, vermag ein Hinweis auf die kreativen Potenzen dieser contrainte sein (Bellos 1994: 421-425). Im Unterricht kann auf unterschiedlichen Lernstufen mit dem Lipogramm gearbeitet werden. Bereits im Anfangstadium können sich die Schüler dieser Technik bedienen, indem sie Wortlisten zu einem bestimmten semantischen Feld anlegen und dabei einen Buchstaben systematisch auslassen. Das sollten zu Beginn selbstverständlich weniger frequente Buchstaben sein als das e, zum Beispiel der Vokal o, oder, noch einfacher, ein Konsonant, wie m oder n. Der Vorteil einer solchen Übung liegt darin, dass sie zu einer spielerischen Erweiterung des Vokabulars führt, dass sie die Sensibilität für Synonyme fördert und nicht zuletzt die Orthographie festigt, indirekt auch jene der verbannten Wörter. Wenn in den ersten Lektionen auf dem Markt eingekauft wird, dann gibt es zum Beispiel (beim Lipogramm auf o) keine oranges mehr, dafür umso mehr aubergines und artichauts. Etwas schwieriger bereits ist der Vorschlag von Marc Parayre (1990). Er hat eine witzige Liste von Bewohnern von Lipogrammaville aufgestellt, die durch ihre Namen jeweils ein bestimmtes Lipogramm vorgeben, und deren Porträt die Schüler anfertigen sollen. Monsieur Achat (hache A) wird dann zum Beispiel zum vendeur de vins, der zwangsläufig keine vins blancs im Sortiment haben kann, und Madame Barreau (barre O) kann nicht schnell laufen (courir). Wenn diese Texte auf dem Computer gec <?page no="90"?> Text 90 schrieben werden, genügt der Suchbefehl, um jede Verfehlung gnadenlos zu ahnden. Um den Schülern einen Eindruck von der literarischen Dimension dieses Kunstgriffs zu geben, eignet sich für weiter fortgeschrittene Lerner die Lektüre des Beginns von La Disparition (Cf. S. 92 in diesem Buch). Den Lesern sollte zunächst selbst überlassen bleiben, die Ursache für die Artifizialität des Textes herauszufinden. Dem Aufspüren des fehlenden Buchstabens könnte eine „Rückübersetzung“ folgen, die sich aller 24 Buchstaben des Alphabets bedienen darf. Schließlich eignet sich bereits dieser Romananfang dazu, über die inhaltlichen Konsequenzen des formalen Strukturzwanges zu reflektieren. So musste die Handlung in die Vergangenheit verlegt werden, um die praktische Endung des passé simple zu nutzen; das Verbot der gängigsten Konjunktionen (et, après, ensuite) führt zu einer Häufung von Aufzählungen und Partizipialkonstruktionen und damit zur stakkatoartigen Gleichzeitigkeit des Dargestellten (Penzenstadler 1994). La méthode S + n Hier haben wir es mit einer genuin oulipistischen Methode zu tun, die von Jean Lescure erfunden wurde und im Gegensatz zum Lipogramm in der bisherigen Geschichte der Literatur noch nicht angewandt wurde. In einem bestimmten Text wird jedes Adjektiv und/ oder Substantiv durch das in einem Wörterbuch an n-ter Stelle folgende ersetzt (OuLiPo 1973: 141-150 und OuLiPo 1981: 166-170). Dieses Verfahren kann eingesetzt werden, wenn die Schüler mit einem bestimmten Wörterbuch vertraut gemacht werden sollen; gleichzeitig ist es eine Übung zur grammatischen Definition und zur Habitualisierung der Genusangleichung. Queneau hat in die ursprüngliche Fassung der Exercices diese Methode nicht aufgenommen, er hat sie aber später als eine weitere Stilübung mit zwei Wörterbüchern praktiziert (OuLiPo 1973: 145sq.). Sein Beispiel verdeutlicht, wie unterschiedlich der Zieltext ausfällt, je nach Wahl des Wörterbuchs. Abhängig von Klassenstufe und Unterrichtsziel kann die Vokabelliste des Lehrbuchs, der französische Mindest- und Aufbauwortschatz oder der Petit bzw. Grand Robert als Werkzeug benutzt werden. <?page no="91"?> OuLiPo 91 Anagramme Das Schreiben in Anagrammen ist eine uralte literarische Technik. Sie besteht darin, aus sämtlichen Buchstaben eines Wortes durch Umstellung neue Wörter zu bilden. Da gerade auch die deutschsprachige Literatur sich spätestens seit dem Barock dieses Verfahrens ausgiebig bedient, bieten sich hier interessante Querverbindungen zum Deutschunterricht an (Boehncke/ Kühne 1993: 99-107). Die dogmatische Anwendung, die darin besteht, dass immer alle Buchstaben berücksichtigt werden müssen, ist selbst für Muttersprachler sehr schwierig. In Abwandlung aber, indem auch mit einem Teil der vorgegebenen Buchstaben Neuschöpfungen erlaubt sind, ist es eine gute Wortschatzübung. Wörter, aus denen sich im Französischen eine Vielzahl neuer bilden lassen sind z.B. anniversaire, conversation, élémentaire, secondaire, international (Bertocchini/ Costanzo: 17). Wenn eine entsprechende Wortliste an der Tafel erstellt worden ist, möglichst getrennt nach Wortarten, können die Schüler in einem zweiten Schritt aufgefordert werden, eine kleine Geschichte zu schreiben, in der alle Wörter vorkommen müssen. Littérature définitionelle Dieses Verfahren besteht darin, in einem Text bestimmte Wortarten (Substantive, Verben etc.) durch ihre Definition in einem einsprachigen Wörterbuch zu ersetzen. Ein besonders gelungenes Beispiel hat Queneau in den Exercices (Weller/ Patrix-Wenger 1992: 61) geliefert. Man kann dieses Verfahren beliebig verlängern, indem man auch den neuen Text wieder zum Ausgangspunkt für weitere Definitionen nimmt. Die Oulipiens haben demonstriert, dass auf diese Weise aus dem einfachen Satz „Le chat a bu du lait“ schnell ein Text von 180 Wörtern werden kann (OuLiPo 1973: 115f.) Für die Lernenden, die sich derselben Strukturen bedienen wie die Oulipiens bedeutet dies, dass sie neben der praktischen Spracharbeit gleichzeitig einen Einblick in die Werkstatt für potenzielle Literatur bekommen. Die Verbindung von eigenem Experimentieren in der Literaturwerkstatt und der Rezeption exemplarischer OuLiPo-Texte erhöht nicht nur die Sensibilität und Souveränität im Umgang mit der fremden Sprache, sondern fördert auch das Verständnis für ein wichtiges Kapitel französischer Literaturgeschichte - auch wenn es zum Teil erst noch geschrieben werden muss. <?page no="92"?> Text 92 Georges Perec: La Disparition Anton Voyl n’arrivait pas à dormir. Il alluma. Son Jaz marquait minuit vingt. Il poussa un profond soupir, s’assit dans son lit, s’appuyant sur son polochon. Il prit un roman, il l’ouvrit, il lut; mail il n’y saisissait qu’un imbroglio confus, il butait à tout instant sur un mot dont il ignorait la signification. (Georges Perec, La Disparition, Paris, Denoël, 1969.) Georges Perec: Anton Voyls Fortgang Anton Voyl hat Schlaf nötig, doch Anton kommt nicht an und macht Licht. Auf Antons Uhr ists null Uhr zwanzig. Anton ächzt laut, wälzt sich mal so rum, mal so rum - Antons Schlafcouch ist hart , stützt sich dann auf, griff sich’n Roman, schlug ihn auf und las; doch lang ging das nicht gut, da Anton vom Inhalt absolut nichts schnallt und ständig auf’n Wort stößt, wovon ihm Sinn und Signifikation total unklar ist. (Georges Perec, Anton Voyls Fortgang. Übersetzt von Eugen Helmlé, Reinbek, Rowohlt 1991.) - <?page no="93"?> Das Uneigentliche verstehen. Tropen im Fremdsprachenunterricht Sein Plädoyer für die Rehabilitierung der Rhetorik im Literaturunterricht beginnt Gérard Genette mit einer devinette, die er einem Brief von Flaubert entnahm und die einst mehrere Generationen von Schülern amüsierte. „Quel est le personnage de Molière qui ressemble à une figure de rhétorique? - C’est Alceste, parce qu’il est mis en trope“ (Genette 1969: 23). Genettes Vermutung, dass dieses Wortspiel für heutige Schüler/ innen ein unlösbares Rätsel sein dürfte, gilt sicherlich auch für jene, die sich in den Klassenräumen diesseits des Rheins mit französischer Sprache beschäftigen. Mit dem Bedeutungsverlust der Rhetorik als Unterrichtsgegenstand haben Tropen keinen Platz mehr im allgemeinen Sprachbewusstsein und Sprachunterricht. Im allgemeinen Sprachgebrauch hingegen sind Tropen hochgradig präsent. Mitnichten nämlich sind sie auf den gehobenen Stil begrenzt oder gehören ausschließlich der Literatursprache an. In der Jugendsprache, der Werbung, der Popmusik und -kultur, aber auch in der ganz normalen „Umgangssprache“ (Cf. z.B. Goudaillier 2001) wimmelt es nur so von Ironie, Synekdochen, Metaphern, Hyperbeln, Litotes, Euphemismen und anderen Tropen. Bereits im 18. Jahrhundert zeigte sich Du Marsais in seinem Traité des Tropes davon überzeugt, dass man in einer Markthalle an einem einzigen Tag mehr Tropen zu hören bekomme als an mehreren Tagen in der Académie Française (Du Marsais 1730/ 1977: 8). Der Begriff Tropus leitet sich aus dem griechischen tropos her, was soviel wie „Wendung“, „Umdrehung“ bedeutet. „Der Tropus ist eine ‚Wendung‘ der Bedeutung“, heißt es im Handbuch der literarischen Rhetorik (Lausberg 1960: 283). Tropen sind Stilfiguren, 1 in denen die Wörter nicht in ihrer eigentlichen, ursprünglichen Bedeutung gebraucht werden, sondern in einer abweichenden Bedeutung. Es ist oftmals eingewendet worden, dass das Abweichungstheorem Unschärfen hinterlässt, denn „Abweichung ist ein relativer Begriff“, der nur zu denken ist in 1 Ich gehe in diesem Rahmen auf die Diskussion, ob alle Tropen auch rhetorische Figuren sind (und die z.B. eine wichtige Rolle in der Auseinandersetzung Fontaniers mit seinem Vorgänger Du Marsais spielt) nicht ein und stimme mit der Einschätzung unterschiedlicher neuerer Theoretiker überein, dass die Übergänge „von relativer Flüssigkeit“ sind (Haverkamp 1998: 365) und die „Grenze offen bleibt“ (Schüttpelz 1996: 515). <?page no="94"?> Text 94 Verbindung mit einer Norm und deshalb suggeriert, es gäbe eine „Nullstufe“ der Sprache ohne jede rhetorische Figur (Katthage 2004: 173). Das ist aber gerade nicht der Fall. Die sogenannte „natürliche Sprache“, l’usage, besteht aus unzähligen Tropen. Deshalb wird auch oft von „Uneigentlichkeit“ im Sinne von „nicht-wörtlich“ gesprochen. Kurz schlägt als Definition vor: „Abweichung vom dominanten, prototypischen Gebrauch eines Wortes, der Standardbedeutung“ (Kurz 1988: 17). 2 Wenn der Kontrolleur in der Metro als casquette bezeichnet wird, dann handelt es sich um eine Synekdoche, weil ein Teil, nämlich nur die Kopfbedeckung, die Bedeutung für das Ganze übernimmt. Umgekehrt kann auch der Begriff für das Ganze einfach nur einen Teil bezeichnen, sonst müsste man sich Sorgen machen um die Bilder an der Wand angesichts der Feststellung: „La femme de ménage a ciré le salon“. Ohne Euphemismen ginge es oftmals sprachlich brutal zur Sache. Immer wenn es um heikle oder tabuisierte Themen geht, versuchen wir, den Tatbestand erträglicher zu machen durch weniger schockierende Wendungen. Troisième âge für vieillesse, personne enveloppée und nicht obèse, disparaître anstatt mourir. Die umgekehrte Strategie fährt die Hyperbel. Dass die Lehrerin une tonne de boulot aufgebürdet hat, dürfte pure Übertreibung sein, weil es sich doch wohl nur um Hausaufgaben handelt. Eine Metapher ist oftmals viel anschaulicher als langatmige Umschreibungen. „C’est un ours“ sagt viel über das Sozialverhalten einer Person aus. Und besonders wirkungsvoll kann Ironie sein, indem man einfach das Gegenteil dessen sagt, was man meint. „Merci de votre amabilité“ trifft den unverschämten Schalterbeamten unter Umständen mehr als die hohle Androhung der Beschwerdeführung. Diese Allgegenwärtigkeit des Tropus steht in diametralem Gegensatz zu seiner Präsenz in sprachdidaktischen Überlegungen. Rhetorik allgemein, die elocutio im Besonderen, deren Bereich der Tropus angehört, spielen in der Didaktik keine Rolle. Die Gründe dafür liegen in dem schlechten Ruf, den die Lehre von der Redekunst allgemein genießt. Die Theorien der Kommunikation des 20. Jahrhunderts weisen der Rhetorik die Rolle des Bösewichts zu. Rhetorik, so die Argumentation, instrumentalisiert Sprache zur Machtausübung, indem sie, unter Abstraktion von Inhalten, Strategien bereithält, über die Sprache bestimmte Interessen durchzusetzen. Die antirhetorische Haltung, die schon Platon propagierte, indem er die Rhetoriker als „Händler“, bezeichnete, die ihr Wissen und Können wie Waren an die Mächtigen verkaufen, ist auch in den 2 Zitiert bei Katthage (2004: 174). - Zur Diskussion um das „Abweichungstheorem“ und seine Aporien siehe Schüttpelz (1996). <?page no="95"?> Das Uneigentliche verstehen 95 modernen Geisteswissenschaften verbreitet (Rohbeck 2005: 99). Rhetorik gilt als unmoralisch, weil sie die wahren Redeabsichten verschleiert oder gar verkehrt. Die unzähligen Handbücher, die etwa dem Jargon der Chefs oder den Floskeln der Politiker ihre „wahre Bedeutung“ zurückgeben, scheinen diese These zu bestätigen (z.B. Schönberger 2007). Auch Rhetorikkurse, die zuhauf für alle möglichen Berufsgruppen angeboten werden, sind zunächst einmal lediglich Präsentationstechniken, die ausschließlich dazu dienen, etwas zu verkaufen - vielleicht sogar die eigene Person. Rhetorik erscheint als oberflächliche Überredungskunst. Rhetorik und Unterricht Es wundert daher nicht, dass die moderne Fremdsprachendidaktik bisher kein besonderes Interesse an der Rhetorik, insbesondere der elocutio gezeigt hat. Schließlich liegen die ideengeschichtlichen Fundamente der kommunikativen Wende Ende der 1960er Jahre auch ganz wesentlich im Habermas’schen Diskursbegriff der „herrschaftsfreien Kommunikation“ (Piepho 1974: 9). Kommunikative Kompetenz betont die Fähigkeit zum „wahrhaftigen“, authentischen Diskurs (ibid.: 16), der zunächst einmal gerade nicht an den „konventionellen Normen der Sprachrichtigkeit oder rhetorischen Angemessenheit“ ausgerichtet ist, sondern für den das „Gelingen der kommunikativen Absicht“ entscheidend ist (ibid.: 22). Voraussetzung dafür ist zunächst einmal deren „Verständlichkeit, Direktheit und Ehrlichkeit“ (ibid.: 15). Kommunikation soll gerade nicht uneigentlich sein, sondern durchschaubar und transparent. Ein Blick über die Grenze nach Frankreich zeigt, dass dort die Tradition der Verbindung von Rhetorik und Literaturbzw. Sprachunterricht nie so abgerissen ist wie in Deutschland. Als dispositio wird sie bis heute gelehrt, indem der Fünfsatz der aristotelischen Dialektik das unverzichtbare Handwerkszeug ist, das französische Lehrerinnen ihren Schülerinnen für die dissertation, die übliche Form der Klassenarbeit in den Fächern Französisch, Geschichte und Philosophie, an die Hand geben. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die französische Ideengeschichte keinen Gegensatz konstruiert hat zwischen Rhetorik und Moral. Anders als für seinen deutschen Zeitgenossen Kant, der die Rednerkunst verabscheute als „Kunst, sich der Schwächen der Menschen zu seinen Absichten“ zu bedienen (zit. nach Rohbeck 2005: 100), ist für den französischen Aufklärer und grammairien-philosophe der Encyclopédie, Du Marsais, der stilsichere Einsatz von rhetorischen Figuren keine Verkehrung des Inhalts, sondern im Gegenteil eine Präzisierung und Verdeutli- <?page no="96"?> Text 96 chung („démêler le vrai sens des paroles“). Der Tropus ist nicht nur decorum, sondern verspricht auch Erkenntnisgewinn, und die Kenntnis seiner Gesetzmäßigkeiten gilt als „nützliches Wissen“. „Je conviens […] qu’on peut bien parler sans jamais avoir appris les noms particuliers de ces figures [les tropes, L.S.]. Combien de personnes se servent d’expressions métaphoriques, sans savoir précisément ce qu’est une métaphore! […] Ces connaissances ne sont d’aucun usage pour faire un compte, ni pour bien conduire une maison, comme dit madame Jourdain; mais elles sont utiles et nécessaires à ceux qui ont besoin de l’art de parler et d’écrire; elles mettent de l’ordre dans les idées qu’on se forme des mots; elles servent à démêler le vrai sens des paroles, à rendre raison du discours, et donnent de la précision et de la justesse“ (Du Marsais 1730/ 1977 : 21sq.). In genuin aufklärerischer Tradition versteht Du Marsais deshalb auch seinen Traité des Tropes nicht als scholastische Pflichtübung, sondern als Reflektion und Perfektion von Sprache in praktischer Perspektive. „Les sciences et les arts ne sont que des observations sur la pratique: l’usage et la pratique ont précédé toutes les sciences et tous les arts; mais les sciences et les arts ont ensuite perfectionné la pratique“ (ibid.: 22). Das Interesse Du Marsais’ ist auf die Rezeption gerichtet - auf die Vermittlung von Inhalten. Tropen, so Du Marsais, machen die Rede lebhafter („plus vive“), feiner („plus noble“) und angenehmer („plus agréable“) (ibid.: 16). Damit deutet sich bereits eine genuin didaktische Perspektive an. In dieser Tradition steht das klassische Handbuch Les Figures du discours 3 von Pierre Fontanier, das bis weit ins 20. Jahrhundert in den Schulen eingesetzt wurde. Es wurde ausdrücklich als Schulbuch konzipiert; stolz erwähnt der Autor im Vorwort zu seiner 4. Auflage von 1830, dass die „Jury d’examen des institutrices de Paris“ sein Werk wärmstens empfiehlt, „[…] pas seulement pour les collèges […] mais encore pour les pensionnats de demoiselles“ (Fontanier 1830/ 1977: 22). Für Genette ist es der Höhepunkt der französischen Rhetorik, „l’aboutissement de toute la rhétorique française, son monument le plus représentatif et le plus achevé“ (Genette 1977: 6). 3 Der erste Teil erscheint 1821 und erlebt vier Auflagen zu Lebzeiten des Autors, der zweite Teil wird 1827 veröffentlicht (Genette 1977: 6). Fontanier selbst hat ausdrücklich betont, dass seine beiden, zeitlich getrennt erschienen Schriften zur Rhetorik (Manuel classique pour l’études des tropes und Des figures du discours autres que les tropes) eine Einheit bilden, weshalb der Herausgeber der modernen Ausgabe, Gérard Genette, beide Texte unter diesem Titel veröffentlicht hat. <?page no="97"?> Das Uneigentliche verstehen 97 Auch wenn sich Fontanier nur mit einem Teil der Rhetorik, der elocutio, beschäftigt, so führt er eine pragmatische Dimension in seine Betrachtungen ein, indem er nicht - wie noch Du Marsais - Tropen (und rhetorische Figuren allgemein) als ein Problem der Grammatik auf Wortebene behandelt, sondern als Teil des gesamten discours. Deshalb besteht für Fontanier die Lehre von den Tropen auch nicht in erster Linie „[…] la science des Tropes n’est pas une science de mémoire; et si la mémoire, comme il n’y a point de doute, doit intervenir dans l’étude, ce n’est pourtant pas à elle, mais au jugement, à la raison, qu’y appartient le rôle principal“ (Fontanier 1830/ 1977: 29). Aber Fontaniers Lehrbuch war nicht allein auf die Vermittlung und das Verstehen von rhetorischen Figuren beschränkt. Genette erinnert daran, dass bis weit ins 19. Jahrhundert in den classes de rhétorique das vordringliche Lernziel die Einübung in das eigene Schreiben war: „[…] l’étude de la littérature se prolonge tout naturellement en un apprentissage de l’art d’écrire.“ Gelernt wurde dies durch „exercices pratiques de littérature“ (Genette 1969: 25sq.). Fontanier empfiehlt den Benutzern seines Manuel ausdrücklich: „[…] il faut bien moins la [la science des tropes, L.S.] recevoir toute faite que la faire en quelque sorte soi-même; et travailler à la faire est la seule bonne manière de l’étudier; comme c’est la seule bonne manière de l’enseigner que d’apprendre à la faire“ (Fontanier 1830/ 1977: 29). Diese Tradition der praktischen Unterweisung in der Kunst der elocutio ist auch im heutigen französischen Unterrichtssystem verloren gegangen. Rhetorische Wende in der Didaktik Nun zeichnet sich bereits seit einigen Jahren eine Wende in der wissenschaftlichen Beurteilung der Rhetorik ab, sowohl in der Philosophie als auch in der Literaturwissenschaft, so dass bereits vom rhetorical turn die Rede ist (Cf. z.B. Vetter/ Richard 1999). Die Gründe dafür sind vielfältig und können hier nicht im Einzelnen diskutiert werden. Interessant in im Auswendiglernen, sondern sie fordert vor allem eine Verstehensleistung. <?page no="98"?> Text 98 unserem Zusammenhang ist aber, dass die Rehabilitierung der Rhetorik auch in der deutschsprachigen Didaktik begonnen hat. Gerd Katthage hat 2004 in seiner Dissertation an die Renaissance der Metapher angeknüpft und die zahlreichen Metapherntheorien auf ihre Brauchbarkeit für einen Deutschunterricht geprüft, der literarische Bildung mit Sprachreflexion verbindet. Corinna Koch hat in einer wegweisenden Dissertation (Koch 2013) die Funktion von Metaphern für den Fremdsprachenunterricht ausgelotet. Katthage verweist ausdrücklich auf den Zusammenhang von Didaktik und Rhetorik, wenn er feststellt: „Beide interessieren sich theoretisch dafür, kommunikative Sprachwirkungen zu reflektieren, um gleichzeitig praktisch handlungsrelevantes Wissen zu vermitteln“ (Katthage 2004: 179). Auf diesen Zusammenhang macht auch Johannes Rohbeck aufmerksam in seiner programmatischen Einleitung zum Themenheft Rhetorik der Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik. Er stellt fest, dass die moderne Philosophiedidaktik in ihrer Fixierung auf die Antirhetorik Platons die aristotelische Tradition verdrängt hat, die immer aus einer Verbindung von Rhetorik mit der Theorie und Praxis der Erziehung bestand. In dieser Tradition war Rhetorik weniger eine Kunst der Überredung, sondern sie wurde als „Kunst der Vermittlung“ gelehrt (Rohbeck 2005: 100). Rohbeck plädiert für eine Reintegration der Rhetorik in den Philosophie- und Ethikunterricht, „weil sie lehrt, wie man mit Argumenten in konkreten Situationen tatsächlich zu überzeugen vermag. Auf diese Weise verbindet die Rhetorik den philosophischen Geltungsanspruch mit der Pragmatik persuasiver Kommunikation“ (Rohbeck 2005: 101). Ich möchte im folgenden ausloten, ob auch für den Fremdsprachenunterricht ein ähnlicher rhetorischer Paradigmenwechsel denkbar ist und ob der kreative Umgang mit rhetorischen Stilmitteln nicht doch, entgegen allem Anschein, vereinbar ist mit den Lernzielen des Fremdsprachenunterrichts, d.h. der kommunikativen und interkulturellen Kompetenz. Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist Fontaniers Betonung von jugement und raison, die auf einen wesentlichen Aspekt des Verstehensprozesses von Tropen verweist. Die neue Bedeutung, die den Zeichen durch ihren nicht-wörtlichen Gebrauch verliehen wird, konstituiert sich durch ein komplexes Geflecht aus kontextuellen, kulturellen und sprachlichen Konventionen. Die tropische Bedeutung eines Wortes oder Satzes ist sehr viel stärker abhängig von den je besonderen Umständen der Verwendung und Rezeption, als es bei der wörtlichen Bedeutung der Fall ist. Über die Bedeutung des Wortes ours z.B. herrscht schnell Einig- <?page no="99"?> Das Uneigentliche verstehen 99 Aber sie sind keinesfalls nur ein Thema für den Bereich des (Text-) Verstehens, sondern auch der (Text- und Sprach-)Produktion. Auch hier kann der Blick auf die rhetorische Unterrichtstradition aufschlussreich sein. Fontaniers oben zitiertes Diktum des faire soi-même ist gar nicht so weit von unseren produktions- und handlungsorientierten Unterrichtsmethoden entfernt, wie man denken könnte. Nur scheinbar steht die fest kodifizierte Rhetorik im Gegensatz zu den kreativen Methoden des modernen Fremdsprachenunterrichts. Auch der Rhetorikunterricht in der Tradition Fontaniers zeichnete sich dadurch aus, dass die Schülerinnen weniger textanalytisch arbeiteten, sondern im weitesten Sinn ästhetischkünstlerisch mit Literatur umgingen. Ziel war nicht das Reden (und Schreiben) über Literatur, sondern das Reden und Schreiben im intransitiven Wortsinn (Genette 1969: 27). An dieser Stelle sehe ich in den rhetorischen Figuren, speziell in den Tropen, nicht nur eine Hürde. Sie können auch eine Hilfe für das Lernen einer fremden Sprache und Anschlussmöglichkeiten an die modernen Methoden bieten. Nietzsches Erkenntnis, dass metaphorischer Sprachgebrauch auch ein „Überlebensmittel ist, sich in der Not [zu] verständigen“ (zitiert nach Katthage 2004: 185), hat unmittelbar fremdsprachendidaktische Relevanz. Die Not der Fremdsprachenlerner/ innen, be sonders jener auf der Sekundarstufe II, besteht in der Diskrepanz zwischen ihrem Reflexionsvermögen und Mitteilungsbedürfnis einerseits und ihrem Sprachwissen und -können andererseits. Die Sensibilisierung für Tropen kann hier mehrere Funktionen der Überbrückung haben: keit. Erst wenn es z.B. als Metapher fungiert, bekommt es Bedeutungen, die nicht allein durch lexikalisches und grammatikalisches Wissen erschlossen werden können und die sich in unterschiedlichen Rezeptionssituationen ändern können. Den Bär jedenfalls assoziiert man nicht so schnell mit „Ungeselligkeit“ wie den ours. Dieser Verstehensprozess setzt bestimmtes Weltwissen und kulturelles Wissen voraus, er verlangt besondere Kompetenzen der Texterschließung, der Kontextualisierung und Assoziation. Solche Verstehensschwierigkeiten werden in einer fremden Sprache akzentuiert. Wenn die Untersuchungen zur kontrastiven Semantik ergeben, dass es bereits im Bereich des Verstehens von Konkreta interkulturelle Unterschiede gibt (Roche/ Roussy-Parent 2006), so werden die Hürden erst recht erhöht durch jene Merkmale der Devianz, die den Tropen eigen sind (Cf. auch Heuermann/ Hühn 1983; inbesondere Koch 2013). Die Sensibilisierung für das uneigentliche Sprechen ist eine Sensibilisierung für die kulturelle Dimension von Sprache. Tropen sind also eine Herausforderung für den fremdsprachlichen Verstehensprozess. - <?page no="100"?> Text 100 1. Uneigentlicher Sprachgebrauch unterstützt die Kompetenz, die (begrenzten) sprachlichen Mittel flexibel einzusetzen, sprachliche Defizite zu kompensieren, indem die metaphorischen Bedeutungen als Ausweichmöglichkeiten genutzt werden. Wem die Vokabeln für schüchtern, einsiedlerisch, ungesellig, eigenbrötlerisch etc. fehlen, kann die Person schlicht als ours bezeichnen. 2. Das Vermitteln von Zwischentönen ist in einer fremden Sprache ein besonderes Problem und führt nicht selten zu Missverständnissen. Das Strategiewissen über das Funktionieren von Litotes und Euphemismen kann helfen, mit einfachen Mitteln Höflichkeitssignale auszusenden: „Ce n’est pas gentil.“ 3. Ironie kann unzählige Funktionen haben - eine besteht darin, Spannungen abzubauen. Auch das ist im interkulturellen Kontext häufig nötig. Die Unzufriedenheit mit Kommunikationssituationen kann artikuliert werden, ohne dass dies die Lage verschärft: „Je te comprends mieux si tu parles plus vite.“ An einigen Tropen möchte ich im Folgenden die Einsatzmöglichkeiten im Fremdsprachenunterricht illustrieren. 4 Metapher Es ist hier nicht der Ort, auf die zahlreichen Diskussionen um die Metapher und ihre Definitionen im Detail einzugehen. 5 Wichtig scheint mir aber, dass in neueren Metapherntheorien die (antike) Vorstellung als unzureichend gilt, die die Metapher als einen verkürzten Vergleich definiert, in der ein Begriff aus seinem ursprünglichen Bereich gelöst wird und einen anderen Bereich veranschaulicht, indem er Eigenschaften von sich auf diesen überträgt. Unzureichend deshalb, weil diese Vorstellung die Kontextgebundenheit der Metapher unterschätzt. Denn erst der Kontext filtert überhaupt aus dem Vergleichsgegenstand, dem Bildspender, 4 Für Anregungen danke ich den Teilnehmer/ innen meines Seminars im Sommersemester 2007 an der Ruhr-Universität Bochum zum Thema „Rhétorique en classe de FLE“, insbesondere Tatjana Edelmann, Stephanie Groß, Susanne Hartmann, Claudia Hebbelmann, Sabine Kandziora und Jean-Philippe Primout, deren Materialien ich teilweise verwende. 5 Eine gute Anthologie mit den wichtigsten Texten zu den unterschiedlichen Metapherntheorien wurde von Haverkamp (1983) herausgegeben. Eine höchst interessante und darüber hinaus ausgesprochen anregende und unterhaltsame Diskussion über Metaphern findet sich im online-journal www.metaphorik.de. Einen konzisen Überblick bietet Koch 2013. <?page no="101"?> Das Uneigentliche verstehen 101 heraus, was mit dem Bildempfänger verglichen werden soll. Eine Person (Bildempfänger) als „Katze“ (Bildspender) zu bezeichnen, kann, je nach Kontext, das „Anschmiegsame“ oder das „Raubtierhafte“ der Katze als tertium comparationis meinen. Treffend resümiert deshalb auch Katthage: „Im Streit um die Metapher gibt es zumindest einen klaren Sieger: den Kontext“ (Katthage 2004: 222). Der von mir gewählte kleine und sprachlich einfache Text von Michel Tournier, Des clefs et des serrures, bedient sich zweier Begriffe, die geradezu klassische Metaphern darstellen. „Clef“ wird bereits von Du Marsais als Paradebeispiel für den metaphorischen Gebrauch eines Wortes angeführt. Die entsprechende Passage könnte den Schülerinnen wörtlich als Einstieg in den Text von Tournier vorgelegt werden: „Comme une clef ouvre la porte d’un appartement, et nous en donne l’entrée, de même il y a des connaissances préliminaires qui ouvrent pour ainsi dire, l’entrée aux sciences plus profondes: ces connaissances ou principes sont appelés clefs par métaphore: la grammaire est la clef des sciences: la logique est la clef de la philosophie“ (Du Marsais 1730/ 1977: 115). Michel Tournier Des clefs et des serrures Il doit en être ainsi dans toutes les vieilles maisons. Il y a dans la mienne divorce complet entre les clefs et les serrures. Des clefs, j’en possède un plein tiroir, [...] dont le seul défaut est de ne passer nulle part. Car le mystère est là: aucune des serrures de la maison n’obéit à ces clefs. [...] Est-il besoin de préciser que, réciproquement, aucune des serrures de la maison ne possède sa clef? […] Or, ceci est hautement symbolique, car le monde entier n’est qu’un amas de clefs et une collection de serrures. Serrures le visage humain, le livre, la femme, chaque pays étranger, chaque œuvre d’art, les constellations du ciel. Clefs les armes, l’argent, l’homme, les moyens de transport, chaque instrument de musique, chaque outil en général. La clef, il n’est que de savoir s’en servir. La serrure, il n’est que de savoir la servir… afin de pouvoir l’asservir. (Tournier 1986: 18-20.) <?page no="102"?> Text 102 Während die Eigenschaften der Bildspender begrenzt und klar bestimmt sind, sind die Bildempfänger bei Tournier zum Teil überraschend und ungewöhnlich. Die Spannung, die zwischen den beiden Polen besteht, verlangt von den Leser/ innen komplexe Filteraktivitäten, damit über den Vergleich der unterschiedlichen Teile eine neue Bedeutung konstituiert werden kann. Sie müssen in der Lage sein, den Kontext, in dem die Begriffe als Metapher fungieren, in seiner Tragweite zu erfassen. Um diesen kognitiven Prozess explizit zu machen, sollte versucht werden, die Herstellung der Beziehungen zwischen den beiden Polen zu operationalisieren. Dies kann bereits durch eigenes Schreiben erfolgen, etwa durch folgende Aufgaben: Complétez les phrases suivantes selon les modèles. Le visage humain est une serrure. Il ferme la porte qui mène à l’âme. Pour l’ouvrir, il faut sourire. Le livre est une serrure. Il ferme la porte qui mène à/ au ... Pour l’ouvrir, il faut… Un pays étranger / La femme / etc. Les armes sont les clefs pour ouvrir la porte qui mène au pouvoir / à la guerre. L’argent est la clef pour ouvrir la porte qui mène à/ au… L’homme / Les moyens de transport / Un instrument de musique / etc. Schließlich eignet sich der Text Tourniers zum Nach- und Weiterschreiben. So könnten die Schülerinnen aufgefordert werden, ähnlich wie in Satz 7 und 8, selbst eine Liste von metaphorischen Schlüsseln und Schlössern aufzustellen. Euphemismus / Litotes / Hyperbel Wenn Aussagen übertrieben (Hyperbel) oder beschönigt (Euphemismus) werden, oder wenn das Gegenteil verneint wird (Litotes), so kann eine Wertung über die Aussage mittransportiert werden. Aber gerade hier besteht auch der Grund für interkulturelle Missverständnisse. Der sprachlich einfache Satz über einen Obdachlosen - „Il dort à la belle étoile“ - hat für fremdsprachige Leser/ innen, die diesen in ihrer Sprache ungebräuchlichen Euphemismus nicht als solchen erkennen <?page no="103"?> Das Uneigentliche verstehen 103 und ihn deshalb wörtlich nehmen, eine andere Bedeutung als für muttersprachliche Leser/ innen, die die Uneigentlichkeit der Aussage erfassen. 6 Stilübungen in der Art der folgenden, bei denen nur die „neutrale“ Aussage vorgegeben wird und die Varianten von den Schülerinnen selbst erstellt werden, können hier ein Gefühl für die verschiedenen façons de parler vermitteln. Expression Hyperbole Euphémisme Litote Il est myope. Il est carrément aveugle. Il a quelques petits problèmes de vue. Il n’a pas une vue excellente. Elle est obèse. Elle est supergrosse. Elle est un peu enveloppée. Elle n’est pas mince. Il est vieux. Il est près de la mort. Il appartient au troisième âge. Il n’est plus tout jeune. Elle est détestable. Le monde entier la déteste. Elle a des problèmes de sociabilisation. Elle n’a pas que des ami(e)s. Eine andere Aufgabe, ein Porträt über eine Person zu verfassen und dabei mindestens drei Litotes zu benutzen, wurde von einem Studenten folgendermaßen gelöst: „Nicolas Sarkozy est le nouveau président des Français. Il n’est pas grand par la taille mais il n’en demeure pas moins une figure majeure au niveau politique. Il compte mener une politique d’immigration quelque peu stricte. Libéraliste averti, il n’attendra pas longtemps pour augmenter la TVA et baisser les impôts directs.“ Schließlich ist Rhetorik nicht nur eine Sache der (gesprochenen oder geschriebenen) Rede. Roland Barthes hat als Erster darauf hingewiesen, dass auch Bilder eine Rhetorik haben (Barthes 1964). Wie Hyperbeln bildlich aussehen, kann man sehr gut in der Werbung beobachten, schließlich ist diese Stilfigur auf fast natürliche Art und Weise für die Werberhetorik prädestiniert. Die folgenden Werbeanzeigen 7 können z.B. im Unterricht ohne Text als Impuls dienen, einen hyperbolischen Werbeslogan selbst zu schreiben. 6 Wie umgekehrt auch das „Schlafen unter freiem Himmel“ je nach Vertrautheit mit den Sprachkonventionen unterschiedliche Assoziationen auslösen dürfte. 7 http: / / jpdubs.hautetfort.com/ archive/ 2006/ 10/ 01/ rhetorique-de-l-image-l-hyperbole.html <?page no="104"?> Text 104 Ironie Es ist die ironische Rede, die sprachlich am einfachsten zu realisieren ist - indem das Gegenteil dessen gesagt wird, was gemeint ist -, und die gleichzeitig am schwierigsten einzusetzen und zu verstehen ist. Ironie kann verletzen und schützen, sie kann provozieren und verharmlosen, integrieren und ausschließen, liebevoll und herablassend sein, sie kann Spannungen aufbauen und abbauen, sie ist „ein sprachliches Chamäleon, weil sie sich ihren jeweiligen Umgebungen stets besonders spitzfindig anzupassen versteht“ (Haase 2005: 140). Weil Ironie häufig gebraucht wird, wenn es um das Aushandeln von Normen, Rollen, Werten und Einstellungen geht, trifft man sie oft im Zusammenhang mit der Thematisierung von Stereotypen an - wie folgendes Beispiel zeigt: <?page no="105"?> Das Uneigentliche verstehen 105 Foto: Peggy Breitenstein Allein dadurch, dass ein negatives Heterostereotyp („Deutsche sind humorlos“) in einem bestimmten Kontext als Autostereotyp verwendet wird, wird es ironisch relativiert und kann als Sympathiewerbung eingesetzt werden. Hier ist die Selbstbezichtigung, nicht zu scherzen, selbst scherzhaft gemeint. Gleichzeitig besteht die Ironie der Aussage darin, dass ausgerechnet ein stereotypes Vorurteil als Argument für den Wahrheitswert steht. Adelheid Schumann hat ein überzeugendes Plädoyer für den Einsatz von Stereotypen im Fremdsprachenunterricht abgegeben (Schumann 2007). Ich möchte ihm eines zur Rehabilitierung der lange von der Pädagogik geschmähten Ironie (Groeben/ Scheele 1985: 16) an die Seite stellen. Das oben angeführte Beispiel zeigt die besondere Wirkung von konstruktiv-kritischer Ironie (Haase 2005: 140), die darin besteht, dass sie Selbstdistanz schafft und damit unter Gesprächspartner/ inne/ n „die wechselseitige Reflexion“ in Gang setzt, „der eine Flexibilisierung der jeweils eigenen Position folgen kann“ (Haase 2005: 140). Und schließlich ist das Dekodieren ironischer Strategien eine unverzichtbare Voraussetzung für das Verstehen einer Vielzahl literarischer Texte. Wie heißt es doch gleich zu Beginn im Candide: „Monsieur le baron était un des plus puissants seigneurs de la Vestphalie, car son château avait une porte et des fenêtres. Sa grande <?page no="106"?> Text 106 salle, même, était ornée d’une tapisserie. […] Madame la baronne qui pesait environ trois cent cinquante livres, s’attirait par là une très grande considération et faisait les honneurs de la maison avec une dignité qui la rendait encore plus respectable“ (Voltaire 1759/ 1963: 137sq.). Auch die „Rückübersetzung“ dieser Passage in ihre „Eigentlichkeit“ kann weit mehr sein als eine rhetorische Stilübung, weil sie in wenigen Sätzen Aufschluss gibt über das Deutschlandbild der Franzosen im 18. Jahrhundert. Rhetorische Stilfiguren, so habe ich zu zeigen versucht, haben durchaus fremdsprachendidaktisches Potenzial. Wir sollten sie nicht verachten. <?page no="107"?> Das didaktische Potenzial von literarischen Texten Paradiesische Zustände Es dürfte in der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts in Deutschland wohl kaum eine Periode gegeben haben, in der den Lehrerinnen und Lehrern so viel und so gutes Material zur Verfügung stand, um im Unterricht literarische Texte einzusetzen. Alle relevanten Schulbuchverlage bieten Lektürereihen für jede Jahrgangsstufe an. Die Bandbreite der Editionen reicht von bewährten Klassikern bis hin zu aktuellen Publikationen, von dramatischen Texten bis hin zu Jugend- und Kinderliteratur, von Chansons und Filmdrehbüchern bis hin zu bandes dessinées und Comics. Dabei orientiert sich der schulische Kanon längst nicht mehr am traditionellen, weitgehend durch die literaturwissenschaftliche Zunft vorgegebenen Kanon, sondern er hat eigene Dynamiken und Kriterien entwickelt, wie z. B. diejenigen Bücher zeigen, die im Rahmen des Prix des lycéens ausgewählt werden. Aber nicht nur auf der Ebene des Materials hat sich in den letzten Jahren viel getan. Auch die Unterrichtsmethoden haben sich grundlegend gewandelt. Die Literaturdidaktik hat einen Perspektivwechsel vom Text zum Leser vorgenommen. Die didaktische Transformation der literaturwissenschaftlichen Rezeptionstheorie ist einer der gelungensten Transfers von der Wissenschaft zur Didaktik. Literaturdidaktikerinnen und Literaturdidaktiker wie Lothar Bredella (u.a. Bredella 1985 und 1980), Hans Hunfeld (1990), Daniela Caspari (1995) und andere haben wesentlich dazu beigetragen, dass wir mittlerweile einen fremdsprachlichen Literaturunterricht kennen, der die kognitiven und affektiven Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler zum Ausgangspunkt nimmt und eine offene, individuelle Annäherung an literarische Texte erlaubt. Der Text ist keine Autorität mehr, der sich die Schüler zu unterwerfen haben, sondern er ist Dialogpartner. Mit den rezeptionsorientierten Verfahren hat die Literaturdidaktik im Fremdsprachenunterricht zurück zum Unterrichtsalltag gefunden. Sie hat, ähnlich wie die Sprachdidaktik in den 1970er Jahren, ihre pragmatische Wende nachgeholt. So wie die Systemlinguistik abgelöst wurde durch die kommunikative Kompetenz, bei der im Mittelpunkt nicht mehr der ideale Sprecher, sondern die realen Schüler und Schülerinnen mit ihren Sprechhandlungen stehen, so hat <?page no="108"?> Text 108 sich die fremdsprachliche Literaturdidaktik den realen Leserinnen und Lesern zugewandt. Diese literaturdidaktischen und literarturmethodischen Innovationen haben Eingang gefunden in zahlreiche Unterrichtsvorschläge, Dossiers, Lehrbücher und sogar in Abituraufgaben, wie z.B. kreative Schreibaufgaben, die sich mittlerweile geradezu standardmäßig in Oberstufenklausuren oder Abituraufgaben finden. So wäre z.B. die Aufforderung, aus der Perspektive einer bestimmten Figur einen Brief oder einen inneren Monolog zu schreiben, noch vor 20 Jahren undenkbar gewesen. Sie hätte nicht nur dem objektiven Paradigma eines der Wissenschaftlichkeit verpflichteten analytischen Zugangs zur Literatur widersprochen, sondern sie wäre auch als untauglich für die Schule erklärt worden, da nicht objektiv zu evaluieren und nicht abprüfbar. Damit hat sich die Literatur im Fremdsprachenunterricht unter neuen Vorzeichen wieder einen Platz zurückerobert, den sie in den 1970er Jahren verloren hatte, als er sehr stark geprägt war von landeskundlichen Inhalten und damit eben auch von Sachtexten. Nun scheint es aber, als sei dieser Platz erneut bedroht. Die Fülle an Material und didaktisch-methodischen Ideen steht in seltsamer Diskrepanz zum Stellenwert der Literatur in den neuesten Lehrplänen und ministeriellen Verfügungen. (Mich erinnert das an diese Statistiken, die man immer wieder über moderne Kücheneinrichtungen liest. Noch nie gab es in der deutschen Geschichte so viele schicke, hochgerüstete Küchen und noch nie wurde so wenig selbst gekocht wie in der Gegenwart.) Schaut man sich einmal die entsprechenden Passagen in den von der Kultusministerkonferenz formulierten Bildungsstandards für die Fächer Englisch und Französisch an, so fällt auf, dass der Ort für Literatur nicht klar ausgewiesen ist und allgemein von „Texten“ die Rede ist (KMK 2012: 20). In der Regel wird in Bezug auf die zu erwerbenden Kompetenzen kein Unterschied gemacht, ob sie an Sachtexten oder literarischen Texten erworben werden sollen. Die meisten Lehrpläne handeln vom Leseverstehen oder vom Textverstehen allgemein. Einige Beispiele: Im Lehrplan Niedersachsen für das Fach Französisch heißt es für den Umgang mit Texten für die Jahrgangsstufe 6-10: „Arbeitsgrundlage im Französischunterricht ist jede Art von kommunikativer Mitteilung (erweiterter Textbegriff): geschriebene Texte (z.B. roman, poème, bande dessinée, récit bref, nouvelle, pièce de théâtre), auditive Texte (z.B. émission radiophonique, chanson, publicité, littérature audio), audio-visuelle Texte (z.B. séquence de film, film, clip vidéo, publicité, actualités, site internet) und visuelle Darstellungen (z.B. image, <?page no="109"?> Das didaktische Potenzial von literarischen Texten 109 affiche, tableau, caricature, première de couverture, carte géographique, diagramme)“ (Lehrplan Niedersachsen 2009: 10). Im Lehrplan von Sachsen-Anhalt für die Jahrgangsstufen 7 und 8 werden zahlreiche Textsorten für authentische Texte aufgeführt (Kochrezepte, Einladungen, E-Mails etc.; Lehrplan Sachsen-Anhalt) aber ausdrücklich keine literarischen Gattungen. Es sieht fast so aus, als hätte die Literatur im Französischunterricht (und damit auch die Literaturdidaktik) schon wieder ihre besten Jahre hinter sich, bevor sie sich überhaupt richtig vom Schock der Siebziger erholt hat. Diese Diskrepanz ist aufmerksamen Beobachtern natürlich nicht entgangen. Als plausible Erklärung wird die Umstellung auf die Standardisierung von Lehrplänen, Leistungsevaluationen und damit letztlich die Standardisierung von Unterricht ins Feld geführt. Denn der Kompass der Standardisierung sind Kompetenzen und Fertigkeiten, also nicht mehr, wie in früheren Lehrplänen, Inhalte und Stoffe, die durch einen Bildungskanon vorgegeben waren. Als Reaktionen auf diese Entwicklung kann man zwei Positionen ausmachen. 1. Es wird gewarnt vor einem Verlust an Bildung, literarischen und kulturellen Wissensbeständen. 2. Es werden aufwändige Kompetenzmodelle für den Umgang mit literarischen Texten entwickelt, die zeigen sollen, dass auch die Arbeit mit literarischen Texten spezifische Kompetenzen vermittelt. Beide Positionen möchte ich im Folgenden kurz skizzieren, bevor ich eine eigene, dritte Position vorschlage. Bildungsverlust Bereits 2012 warnte Andreas Nieweler davor, dass „eine blinde und inhaltsleere Kompetenzorientierung meint sich erlauben zu können, unsere europäischen kulturellen Traditionen, die sich gerade in den verschiedenen Nationalliteraturen manifestieren, zu ignorieren“ (Nieweler 2012: 45). Der Verweis auf kulturelle Traditionen ist keineswegs neu. Dieses Argument wurde in der Vergangenheit immer angeführt, wenn es einen Paradigmenwechsel in der Fremdsprachendidaktik gab. Ob das nun die streng philologisch und sprachhistorisch ausgerichteten Widersacher von Wilhelm Viëtor (Cf. Viëtor 1882) waren, die im 19. Jahrhun- <?page no="110"?> Text 110 dert Zeter und Mordio schrien, weil da ein Lehrer einer Lehranstalt für höhere Töchter Wert auf das Sprechen in der fremden Sprache legte, oder ob es die Studienräte der 1970er Jahre waren, die absolut panisch auf die Landeskunde reagierten (Otten 1979): Immer wurde beklagt, dass traditionelle und bewährte Wissensbestände verloren gingen. Das stimmte ja auch. Die Kritiker hatten Recht. Die sprachpragmatischen Entwicklungen waren immer verbunden mit Verlusten an kulturellen Traditionen. Die Schüler, die im 19. Jahrhundert Französisch (nach Latein) auf einem humanistischen Gymnasium lernten, kannten noch sehr genau Wortetymologien; und die Abiturienten der 1950er Jahre lasen Claudel im Original. Aber die Fachdidaktiker haben immer wieder im Laufe der Geschichte auf bestimmte Wissensbestände verzichtet, weil ihnen der Preis dafür zu hoch war. Der literarisch gebildete Gymnasiast alter Schule konnte kein einziges Telefongespräch auf Französisch führen. Die gute Abiturientin der 1950er Jahre, die den subjonctif imparfait herleiten konnte, wusste nicht, was ein croque monsieur ist. Und deshalb wurden nach und nach bestimmte Wissensbestände durch andere ersetzt. Zum Teil waren dies Wissensbestände, die man für absolut unverzichtbar hielt und mit deren Verschwinden man oftmals befürchtete, dass sie zu Katastrophen führen würden. Ich will nicht falsch verstanden werden. In der Tat halte ich den Erwerb literarischer Bildung für ein ganz starkes Argument, um eine Fremdsprache zu lernen. Aber er ist nicht mehr das Ziel des fremdsprachlichen Unterrichts an unseren allgemeinbildenden Schulen und deshalb auch kein Argument mehr, das ernst genommen würde von der Bildungspolitik. Die leitenden und übergreifenden Lernziele des Fremdsprachenunterrichts sind die kommunikative und die interkulturelle Kompetenz. Das ist Konsens, den wohl kaum jemand in Frage stellen dürfte. Die Frage ist allerdings, ob das Lesen literarischer Texte nicht nur Bildungswissen tradiert, sondern auch Kompetenzen vermittelt. Genau diesen Nachweis haben eine Reihe von Autoren und Autorinnen zu führen versucht, und damit komme ich zur zweiten Position. Literarische Kompetenzen Eva Burwitz-Melzer (2005), Angela Bergfelder (2007), Otto-Michael Blume (2007), um nur einige zu nennen, haben sich ganz bewusst auf die Kompetenzorientierung eingelassen und Kompetenzmodelle für die <?page no="111"?> Das didaktische Potenzial von literarischen Texten 111 Arbeit mit literarischen Texten im Rahmen des fremdsprachlichen Unterrichts entwickelt. Am umfangreichsten ist der Versuch von Inez De Florio-Hansen (2012). Sie zielt mit ihrem Kompetenzmodell ganz bewusst nicht nur auf das allgemeine „Textverstehen“ ab, sondern sie fasst ihre Übersicht von Teilkompetenzen (ibid.: 65) programmatisch zusammen unter dem Titel „Ästhetisches und literarisches Lernen“. De Florio-Hansen unterscheidet folgende 13 Teilkompetenzen: 1. Beim Lesen, Betrachten und Hören Vorstellungen entwickeln 2. Sprache und sprachliche Gestaltung aufmerksam wahrnehmen 3. Subjektive Betroffenheit und genaue Wahrnehmung in Beziehung setzen 4. Perspektiven literarischer Figuren nachvollziehen 5. Narrative und dramaturgische Handlungslogik verstehen 6. Mit Fiktionalität bewusst umgehen 7. Metaphorische und symbolische Ausdrucksweise verstehen 8. Sich auf die Relativität des Sinnbildungsprozesses einlassen 9. Mit dem ästhetisch-literarischen Gespräch vertraut werden 10. Prototypische Vorstellungen von Gattungen/ Genres gewinnen 11. Bewusstsein für intertextuelle und intermediale Bezüge entwickeln 12. Narrationen und Selbstdarstellungen an Vorbildern bzw. Mustern orientieren 13. Ästhetische Lernprozesse, insbesondere Leseerfahrungen, steuern und evaluieren (De Florio-Hansen 2012: 66-70). Nun kann man im Einzelnen sicherlich an einigen Teilen dieser Liste Kritik üben. So ist es z.B. nicht ganz einsichtig, warum unter Punkt 7 zwar die metaphorische und symbolische Ausdrucksweise genannt wird, nicht aber die ironische, parodierende, satirische etc. - also insgesamt die ganze Palette des uneigentlichen Sprechens, die meines Erachtens für eine Vielzahl von literarischen Texten zentral ist. Auch dürfte keinesfalls in der Praxis so einfach diese Liste in Übereinstimmung mit den Lehrplänen und Unterrichtsanforderungen gebracht und operationalisiert werden können. Aber ich möchte darauf im Detail nicht eingehen, sondern mich auf ein generelles Problem konzentrieren, das ich mit dieser Liste habe: Der Kompetenzkatalog zum ästhetischen und literarischen Lernen orientiert sich an der Konzeption von literarisch-ästhetischer Kompetenz, wie sie 2006 von Kaspar Spinner für den muttersprachlichen Deutschunterricht entwickelt wurde. Die Verfasserin bezieht sich ganz explizit darauf und <?page no="112"?> Text 112 begründet diese Anlehnung damit, dass im Fremdsprachenunterricht „mit Abstrichen die gleichen Ziele ästhetischen und literarischen Lernens verfolgt werden“ wie im Deutschunterricht (De Florio-Hansen 2012: 71). Genau hier denke ich, dass zu differenzieren ist. Wenn mit Literatur im Fremdsprachenunterricht die gleichen Ziele wie im Deutschunterricht verfolgt werden, und Fremdsprachenunterricht als Deutschunterricht „mit Abstrichen“ aufgefasst wird, kann das nicht funktionieren, und zwar aus mehreren Gründen: 1. Die Schülerinnen und Schüler werden schnell gelangweilt sein, wenn sie im Fremdsprachenunterricht mit denselben Lernzielen und damit auch sehr ähnlichen Methoden und Unterrichtsverfahren konfrontiert werden wie im Deutschunterricht. In den Hochzeiten der Landeskunde wurden schon einmal ähnliche Fehler begangen, und die Schülerinnen und Schüler mussten die Erfahrung machen, dass sie im Fremdsprachenunterricht mit teilweise identischen Texten, identischen Fragen und identischen Methoden konfrontiert wurden wie im Sozialkundeunterricht. 2. Hier wird dem Fremdsprachenunterricht etwas zugemutet, was er nicht leisten kann, weil er ein Unterricht in einer fremden Sprache sein soll. Wenn man die literarisch-ästhetischen Kompetenzen auch nur halbwegs seriös vermitteln und einüben will und dieser Katalog nicht einfach nur Lehrplanprosa sein soll, dann erfordert dies sehr viel Zeit, die notgedrungen abgezogen wird von der Vermittlung anderer, zentralerer Kompetenzen des Fremdsprachenunterrichts. Außerdem läuft dies letztlich, auch wenn das explizit verneint wird, auf einen analytischen Literaturunterricht hinaus mit einer notgedrungen ausdifferenzierten Metasprache und der dominanten Methode des gelenkten Unterrichtsgesprächs. Das ist vor allen Dingen für die ersten Lernjahre ziemlich problematisch. Ich will das an einem Beispiel erläutern. Nehmen wir Punkt 5: „Narrative und dramaturgische Handlungslogik verstehen“. Es gibt eine ganze Wissenschaft, die sich u.a. mit der narrativen Handlungslogik beschäftigt - die Erzähltheorie oder Narratologie. Besonders fruchtbar ist hier ja gerade die französische Theorie. Gérard Genettes Klassiker Discours du récit (1972) gehört zu meinen Lieblingslektüren, und ich bin in der Tat der Meinung, dass man literarische Erzählungen genussvoller lesen kann, wenn man kapiert, wie sie funktionieren. Aber diese Analysekompetenz erfordert ein gehöriges Maß an Reflexionswissen und das Beherrschen und den Gebrauch von Werkzeugen in Form einer ausge- <?page no="113"?> Das didaktische Potenzial von literarischen Texten 113 feilten Fachsprache. Natürlich kann man auch das alles „runterbrechen“ und zuschneidern für den Fremdsprachenunterricht. Aber ich glaube, es ist ein Problem, wenn wir versuchen, den Einsatz von Literatur dadurch zu rechtfertigen, dass wir immer neue Kompetenzen modellieren, die ja auch dann gemessen und evaluiert werden müssen. Ich möchte auch hier nicht falsch verstanden werden: Natürlich werden all die Teilkompetenzen, die für den Umgang mit literarischen Texten formuliert werden, beim Lesen literarischer Texte abgerufen und auch eingeübt - nicht zuletzt auch im Fremdsprachenunterricht. Und natürlich kann ein Schüler, der im Deutschunterricht oder woanders eine große Fiktionalitätskompetenz erworben hat, auch einen fremdsprachlichen fiktionalen Text besser verstehen als einer mit schwacher Fiktionalitätskompetenz. Aus diesem Grunde gehört es auch zur professionellen Kompetenz von Fremdsprachenlehrern und -lehrerinnen, dass sie sowohl selbst über diese Kompetenzen verfügen als auch analysieren können, welche literarisch-ästhetischen Kompetenzen genau unabdingbar notwendig sind für die Arbeit mit dem jeweiligen literarischen Text, den sie einsetzen. Aber die entscheidende Frage ist ja, ob sich Unterrichtsziele, Textauswahl, Unterrichtsmethoden und Leistungskontrollen im Fremdsprachenunterricht an literarisch-ästhetischen Kompetenzen ausrichten sollen. Dies möchte ich in Zweifel ziehen. Wir müssen, um einmal ganz bewusst ein extremes Beispiel zu nehmen, einem Schüler oder einer Schülerin, der oder die eine sehr schwache ästhetische und literarische Kompetenz besitzt, die Chance geben, in der Fremdsprache eine gute kommunikative und interkulturelle Kompetenz zu erzielen. Wir müssen es auch Schülerinnen und Schülern der Oberstufe, die im Deutschunterricht schlechte Noten erzielen, weil sie den Anforderungen an literarisch-ästhetische Standards nicht genügen, ermöglichen, gute Noten in der Fremdsprache zu erwerben, weil sie die Standards erfüllen, die sich aus den übergreifenden Lernzielen des Fremdsprachenunterrichts ergeben. Und diese übergreifenden Ziele sind nun eben nicht mehr, wie vor hundert Jahren, die literarisch-ästhetische Kompetenz, sondern die kommunikative und die interkulturelle Kompetenz. Darauf hat sich der moderne Fremdsprachenunterricht mit guten Gründen geeinigt und dahinter können wir nicht zurück. Ein interessanter Versuch, dem Dilemma aus Kompetenzorientierung und Tradierung von Bildungswissen zu entkommen, findet sich im Plädoyer von Hermann Voss, die Klassikerlektüren im Französischunterricht zu retten. Voss regt an - und die im selben Heft von Der fremdsprachliche Unterricht Französisch versammelten Beiträge demonstrieren <?page no="114"?> Text 114 Offensiv wäre es, wenn man nachweisen könnte, dass auch im modernen, an den kommunikativen Kompetenzen ausgerichteten Fremdsprachenunterricht, die Literatur etwas kann, was nur die Literatur kann. Dann gilt es zu zeigen, dass die Arbeit mit literarischen Texten noch einmal auf ganz besondere Art und Weise und mit einer besonderen Effizienz eben jene Kompetenzen vermitteln kann, die die heutigen Bildungsstandards für den Fremdsprachenunterricht vorgeben und die gemeinhin eben nicht mit Literatur, sondern mit expositorischen Texten in Verbindung gebracht werden. Wenn wir gegenüber den die Standards kontrollierenden und auf Effizienz achtenden Schulministerien literarische Texte weiterhin als integralen Bestandteil des Fremdsprachenunterrichts einklagen wollen, dann müssen wir nachweisen, dass auch im modernen, an den kommunikativen Kompetenzen der Schüler ausgerichteten Fremdsprachenunterricht die Literatur etwas kann, was nur die Literatur kann. Dann müssen wir nachweisen, dass die Arbeit mit Literatur nicht nur Bildung und ästhetisch-literarische Kompetenzen vermitteln kann, sondern eben jene Kompetenzen, die die Bildungsstandards für den Fremdsprachenunterricht vorgeben und die gemeinhin nicht mit Literatur in Verbindung gebracht werden. Ich gehe also in die Offensive und versuche, die Literatur stark zu machen für einen Unterricht, dessen Ziel es nicht in erster Linie ist, Literatur zu lesen, dessen Ziel vielleicht nicht einmal das Lesen tout court ist, sondern der zum Ziel hat, die Schülerinnen und Schüler zu befähigen, in einer Fremdsprache alltäglich zu kommunizieren. es -, den Zugang zu Klassikern der französischen Literatur „mit einem kommunikativen Zugang zu verbinden“ (Voss 2014: 6). Molière, Maupassant, Zola, La Fontaine und Cyrano de Bergerac dienen nicht oder jedenfalls nicht primär als Gegenstand der Vermittlung von literaturgeschichtlichem und -ästhetischem Wissen oder literarisch-ästhetischen Kompetenzen, sondern sie werden eingesetzt für die Schulung des Hörverstehens, sie dienen dem Erwerb der Lese-, Schreib- und Sprachmittlungskompetenz. Auch wenn dieser Ansatz eine bedenkenswerte Antwort auf die „klinisch-kompetenzorientiert verfassten Lehrpläne“ ist (ibid.: 2) - „offensiv“ (ibid.: 2), wie der Verfasser behauptet, finde ich ihn nicht. Er ist eher defensiv, weil er argumentiert, dass die Kompetenzorientierung die Literatur nicht ausschließt. (Einmal ganz abgesehen davon, aber das nur entre parenthèses, kann man durchaus darüber diskutieren, ob ausgerechnet der Französischunterricht dazu berufen ist, den traditionellen Kanon der grands hommes zu zementieren, oder ob nicht gerade der schulische Kanon andere Akzente als der akademische setzen sollte.) <?page no="115"?> Das didaktische Potenzial von literarischen Texten 115 Fremdsprache Literatur Um diese Offensive zu führen, argumentiere ich weder mit dem hohen Bildungsgehalt oder Traditionswert von Literatur, noch fordere ich neue Kompetenzmodelle. Vielmehr frage ich: Worin liegt eigentlich das fremdsprachendidaktische Potenzial von literarischen Texten? Um diese Frage zu beantworten, berufe ich mich auf einen Aufsatz von Harald Weinrich, der mittlerweile über 30 Jahre alt ist, der aber in der Fremdsprachendidaktik nur wenig beachtet wurde. Weinrich entwickelt in seinem Artikel „Literatur im Fremdsprachenunterricht, ja - aber mit Phantasie“, der 1983 in den Neueren Sprachen erschien, eine sehr interessante These. Er geht von einer ganz banalen Beobachtung aus. Er stellt fest, dass das Lesen in einer fremden Sprache, insbesondere das Lesen von Sprachlernanfängern, große Ähnlichkeit hat mit dem Lesen poetischer Texte. In beiden Fällen wird langsamer gelesen. Warum ist das so? In beiden Fällen ist der Leser gezwungen, mehr Aufmerksamkeit auf die sprachliche Form zu richten. Er kann nicht so einfach durch die Form hindurch zur Bedeutung des Textes vorstoßen, sondern er wird aufgehalten durch das oftmals sperrige sprachliche Material: den Signifikanten. Aber - und hier ist Weinrichs Beobachtung nicht mehr ganz so banal - jemand der langsam oder sogar sehr langsam liest, der liest nicht nur weniger schnell, sondern er liest vor allem anders. Er liest viel weniger linear, er liest vor und zurück, umkreist den Text oftmals, getreu nach dem Motto von Jurij Lotman, dass man ein Gedicht nicht lesen, sondern nur immer wieder lesen kann. Wenn eine Leserin die poetische Sprache verstehen will, dann muss sie notgedrungen ihre Aufmerksamkeit zwischen den Wörtern und den Sachen teilen. Dieser Schwebezustand wird als „ästhetischer Reiz“ (Weinrich 1983: 204) wahrgenommen. Was eine muttersprachliche oder sehr geübte Leserin in einer Fremdsprache nur bei sprachlich hochstrukturierten Texten tut - nämlich lange beim Signifikanten verweilen -, das macht eine ungeübte Leserin in der Fremdsprache immer. Das Rezeptionstempo ist gegenüber dem Umgang mit Texten in der eigenen Sprache wesentlich verlangsamt. Ihre Aufmerksamkeit teilt sich immer auf zwischen Signifikant und Signifikat, sie befindet sich ständig im Schwebezustand zwischen der sprachlichen Form und der Bedeutung, sie muss oftmals sehr viel mehr Aufmerksamkeit auf die sprachliche Form richten als auf ihren Inhalt. Und nun kommt Weinrichs schlagendes Argument: Wenn man schon lange bei einem Text verweilen muss, dann doch bitte bei einem, der es auch erträgt, dass man sich lange bei ihm aufhält, der es erträgt, langsam, wiederholt, zögernd und stolpernd gelesen zu werden. Wenn <?page no="116"?> Text 116 schon der Signifikant Aufmerksamkeit erheischt, dann doch bitte einer, der auch „exquisit“ (ibid.: 205) ist. Ich will nicht so weit wie Weinrich gehen, der behauptet, psychisch seien für einen langsam Lesenden nur Texte erträglich, die diesen interessanten Schwebezustand zwischen den Wörtern und den Sachen ermöglichen (ibid.: 204). Wir müssen nicht pathetisch werden und nun das Ziel haben, unsere Schülerinnen und Schüler in ästhetische Dauererregung zu versetzen. Aber ein klein wenig haben wohl alle, die eine Fremdsprache unterrichten, schon beobachten können, dass so manche Lehrbuchdialoge die Schüler einfach langweilen beim wiederholten Lesen, beim Nachsprechen, beim Nachspielen etc. Doch Lernende müssen nun mal wiederholen, sie müssen Sprechhandlungen reproduzieren, manchmal mit nur leichten Veränderungen. Wenn wir nicht nur Sprachwissen, sondern auch Sprachkönnen vermitteln wollen, dann muss der Sprachunterricht immer mal wieder auf Wiederholmodus gestellt werden. Nun wäre es aber ein ganz großer Irrtum zu denken, die Lehrbuchtexte würden durch das Wiederholen deshalb langweilig, weil sie nur elementares sprachliches Material verwenden: Grundwortschatz, simple grammatische und syntaktische Strukturen etc. Nein, sie sind langweilig, wenn sie dieses Material lediglich nach alltagssprachlichen, gängigen kommunikativen Gewohnheiten verwenden, wenig kunstvoll, nicht in besonderer Weise organisiert. Sprache wird hier „nur“ als Mittel zum Zweck der Kommunikation benutzt und nicht auch als Selbstzweck. Das ist im Prinzip auch in Ordnung - es wäre ja lächerlich, wenn wir uns bei unseren alltäglichen Verrichtungen ständig um die Sprachästhetik sorgen müssten. Es ist solange angemessen, wie die Sprache auch wirklich nur das Mittel sein soll und nicht selbst das Thema. Aber bloßes Mittel ist sie nun gerade im Sprachunterricht nicht. Wenn wir im Fremdsprachenunterricht einen Text lesen über das Einkaufen, Essen, Spielen, Reisen, Sport treiben, die Politik usw., dann lesen wir den ja nicht nur, weil wir in einer fremden Sprache essen, spielen, einkaufen wollen oder uns für die Politik interessieren -, sondern auch und manchmal vielleicht sogar nur, weil wir die Sprache lernen wollen. Wenn Schülerinnen und Schüler im Fremdsprachenunterricht diskutieren, dann meistens nicht, weil sie sich leidenschaftlich für eine Sache interessieren, sondern vor allem, weil sie die fremde Sprache sprechen wollen - und manchmal vielleicht sogar nur, weil sie sie sprechen müssen. Sprechen, Schreiben, Lesen geschieht im Fremdsprachenunterricht meistens nicht um der Sache willen, sondern um der Worte willen, um ihres Graphems, ihrer Phonetik, ihrer Morphologie. Und hier liegt das große Dilemma, dem seit Menschengedenken die Schülerinnen und Schüler ausgesetzt sind. <?page no="117"?> Das didaktische Potenzial von literarischen Texten 117 Signifikant und Signifikat schmelzen für geübte Sprecherinnen und Sprecher normalerweise zu einer Einheit zusammen, aber Fremdsprachenlernern wird auf Schritt und Tritt bewusst, dass das zwei getrennte Sachen sind, die durchaus auch ihre getrennten Wege gehen können. Signifikanten entwickeln für Fremdsprachenlerner bisweilen eine Renitenz, die ihnen den Blick für die Signifikate verstellen oder sogar verleiden. Und genau hier setzt Weinrichs Plädoyer für Literatur im Fremdsprachenunterricht an. Er legitimiert den Einsatz von Literatur nicht mit dem Bildungsargument, auch nicht mit ihrer „kommunikativen Mitteilung“, wie der Lehrplan Niedersachsens kalauert (Niedersächsisches Kultusministerium: 10), sondern er plädiert dafür, diese Besonderheit des fremdsprachlichen Lesens nicht zu verdrängen oder so zu tun, als gäbe es sie nicht, sondern sie offensiv zur Kenntnis zu nehmen. Deshalb argumentiert er sehr pragmatisch mit der sprachlichen Form. Das heißt nun nicht, dass Inhalte keine Rolle spielen würden. Aber das entscheidende Kriterium für die Auswahl eines Textes ist im Fremdsprachenunterricht nicht sein Inhalt, sondern seine sprachliche Form. Fremdsprachen- Ich will ein Beispiel geben, und wähle ganz bewusst einen bekannten, in einigen Lehrwerken (vgl. z.B. Brenneisen et. al. 2015: 36) enthaltenen Text aus für die Sekundarstufe I, also für eine Schulstufe, in der wir es grundsätzlich mit ungeübten Leserinnen und Lesern des Französischen zu tun haben: Das Gedicht „Déjeuner du matin“ von Jacques Prévert (1942). 1 Ähnlich argumentiert Gerlind Belke in ihrer exzellenten und höchst anregenden Studie, die sich vor allem mit dem Unterricht der deutschen Sprache in der Grundschule befasst (2012: insbes. Kap. 7, S. 121-149). Für den Spanischunterricht cf. del Valle Luque 2014. lehrerinnen und -lehrer dürfen nicht so tun, als gäbe es dieses aufdringliche Eigenleben des Signifikanten nicht, sondern sie müssen im Gegenteil dem Signifikanten dieses Eigenleben gestatten und darin gerade das fremdsprachendidaktische Potenzial erkennen. Dieses Kriterium erfüllen Texte, die eine hohe sprachliche Dichte aufweisen, oder, um es mit den Strukturalisten zu sagen, einen hohen Grad an Poetizität oder Literarizität. 1 Das heißt, der Text hat bestimmte Merkmale, die bewirken, dass die Sprache abweicht von der Alltagssprache. <?page no="118"?> Text 118 Jacques Prévert Déjeuner du matin Il a mis le café Dans la tasse Il a mis le lait Dans la tasse de café Il a mis le sucre Dans le café au lait Avec la petite cuiller Il a tourné Il a bu le café au lait Et il a reposé la tasse Sans me parler Il a allumé Une cigarette Il a fait des ronds Avec la fumée Il a mis les cendres Dans le cendrier Sans me parler Sans me regarder Il s’est levé Il a mis Son chapeau sur sa tête Il a mis Son manteau de pluie Parce qu’il pleuvait Et il est parti Sous la pluie Sans une parole Sans me regarder Et moi j’ai pris Ma tête dans ma main Et j’ai pleuré. (Prévert 1949: 150sq.) Die Sprache dieses Gedichtes ist nicht besonders komplex. Wer eine Wortschatzübung sucht zum Wortfeld Frühstück und auch noch möglichst vielfältige Verwendungen des Verbs „mettre“, der ist schon mal mit diesem Text ganz gut bedient. Auch die Handlung ist relativ banal <?page no="119"?> Das didaktische Potenzial von literarischen Texten 119 und nicht gerade so abendfüllend, dass man sie zweimal lesen würde, wenn sie in einer Zeitung stehen würde. Aber - und hier ist dieser Text dann doch einem Lehrbuchtext über „le petit déjeuner“ überlegen - dieser Text erträgt es, trotz der einfachen Sprache und der dürftigen Handlung, langsam und auch wiederholt gelesen zu werden. Warum? Weil er ein ganz entscheidendes Literarizitätsmerkmal hat: Er hat sehr bewusst und kalkuliert gesetzte Unbestimmtheitsstellen. Wir haben hier zwar eine erhöhte Rekurrenz des Personalpronomens „il“ - aber für welche Person dieses Pronomen genau steht, das sagt der Text uns nicht. Die Leserin wird automatisch in diesen reizvollen Schwebezustand versetzt, oder der Lehrer kann sie durch die ganz einfachen Impulse „Qui est ‚il‘? “, „Qui est ‚je‘? “ da hinein versetzen, und schon gibt es einen guten Grund, bei dem Text zu verweilen und zu überlegen, ob es sich um einen Mann und eine Frau handelt, um zwei Männer, um eine Mutter und ihren Sohn… Und schließlich: Der Text hat eine Bedeutung, die nicht deckungsgleich ist mit seiner Oberfläche. Hier wird zwar geschildert, wie jemand schweigend seinen Kaffee trinkt und seine Zigarette raucht, aber der Text handelt von etwas anderem. Es ist das Nichtgesagte, die genuin literarischen Leerstellen, über die zu reden, zu spekulieren interessant wird für die Schülerinnen und Schüler. Warum geht „il“ schweigend davon? Was geschah am Abend davor? Ganz nebenbei bemerkt: Natürlich werden beim Lesen dieses Gedichtes auch genuin literarisch-ästhetische Kompetenzen geschult, etwa jene „Sprache und sprachliche Gestaltung aufmerksam wahrnehmen“, „Sich auf die Relativität des Sinnbildungsprozesses einlassen“ „Prototypische Vorstellungen von Gattungen gewinnen“ (De Florio-Hansen 2012: 65). Aber das ist eben nicht das Hauptanliegen. Sondern es geht vor allen Dingen darum, dass Fremdsprachenlerner die Chance haben, ihre Lesefähigkeit zu schulen, dass sie Sprechanlässe haben, etc. Unbestimmtheitsstellen sind nur ein Merkmal für Literarizität. Letztlich sind es all jene Merkmale, die bewirken, dass Texte von dem alltagssprachlichen, ausschließlich auf Kommunikation ausgerichteten Gebrauch von Sprache abweichen. Diese Merkmale lassen sich natürlich meistens in literarischen Texten finden, aber nicht nur. Auch Werbetexte haben oft einen hohen Grad an Literarizität. Aber allen Texten mit diesem Gütesiegel ist gemeinsam, dass sie das langsame, wiederholte, stockende und zögernde Lesen belohnen, anstatt es zur Qual werden zu lassen. Sie machen aus der Schwäche des langsamen fremdsprachlichen Lesens eine Stärke. Texte, die durch ihre bewusst und kalkuliert eingebauten Stolpersteine zum langsamen Lesen zwingen, sind für Fremdsprachenlerner manchmal weniger frustrierend als solche, die für den <?page no="120"?> Text 120 schnellen Konsum, die schnelle Informationsaufnahme geschrieben sind, wie z. B. Zeitungstexte oder auch Texte im Internet. Umgekehrt - und das scheint mir zur Präzision wichtig - weisen mitnichten alle literarischen Texte immer einen hohen Grad an Literarizität auf. Balzac hat ganze Passagen seiner Romane ebenso für den schnellen Konsum geschrieben wie mancher Journalist. Deshalb möchte ich meine Argumentation folgendermaßen zuspitzen: Der moderne, auf kommunikative und interkulturelle Kompetenzen ausgerichtete Fremdsprachenunterricht kann seine Standards nicht ohne Literatur erreichen, weil er sie nicht ohne Literarizität verwirklichen kann. Wir brauchen keine ausgefeilten literarisch-ästhetischen Kompetenzmodelle mit Teilkompetenzen, um den Einsatz von literarischen Texten im kompetenzorientierten Fremdsprachenunterricht zu legitimieren, sondern einen Kanon an sprachlich hochstrukturierten Texten, die es den Schülerinnen und Schülern erlauben, sich auf die ihnen angemessene Art und Weise mit fremdsprachlichen Signifikanten zu beschäftigen. Literarische Texte im fremdsprachlichen Unterricht haben nicht „mit Abstrichen“ dieselbe Funktion wie solche im Deutschunterricht, sondern ihre Aufgaben sind anders gewichtet. Sie dienen nicht dem Erwerb einer literarischen Bildung, sondern dem Spracherwerb. 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KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de JETZT BES TELLEN! JETZT BES TELLEN! Romanistische Fremdsprachenforschung und Unterrichtsentwicklung, Vol. 3 201 , 446 Seiten, €[D] 68,00 ISBN 978-3-8233-6876-2 Der vorliegende Band widmet sich der Erforschung der bisher wenig beachteten und äußerst komplexen (Teil-) Kompetenz des Sehverstehens im Fremdsprachenunterricht. Diese gewinnt im Kontext der Erweiterung des Hörverstehens zum Hörsehverstehen z.B. in den Bildungsstandards für das Abitur an Bedeutung. Was ist Sehverstehen? Welche Sehstrategien können gezielt geschult werden, um das Hörverstehen in All tagssituationen und in Aufgaben zum Hörsehverstehen zu stützen? Welche Situationen gibt es, in denen Sehverstehen interkulturelle und kommunikative Bedeutung hat? Wie können Testkonstrukte zum Sehverstehen empirisch validiert werden? Diesen und weiteren Fragen wird im vorliegenden Band nachgegangen, wobei insbesondere die romanischen Sprachen, aber auch das Englische und das Deutsche als Fremdsprache in Einzelfalldarstellungen Berücksichtigung finden. - 6 Sehverstehen im Fremdsprachenunterricht Christine Michler/ Daniel Reimann (Hrsg.) <?page no="136"?> Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de Daniel Reimann / Andrea Rössler (Hrsg.) Sprachmittlung im Fremdsprachenunterricht Romanistische Fremdsprachenforschung und Unterrichtsentwicklung, Vol. 1 2013, 303 Seiten, €[D] 68,00 ISBN 978-3-8233-6824-3 Daniel Reimann (Hrsg.) Kontrastive Linguistik und Fremdsprachendidaktik Iberoromanisch - Deutsch Studien zu Morphosyntax, Mediensprache, Lexikographie und Mehrsprachigkeitsdidaktik Romanistische Fremdsprachenforschung und Unterrichtsentwicklung, Vol. 2 2014, 292 Seiten, €[D] 68,00 ISBN 978-3-8233-6825-0 <?page no="137"?> Wozu Literatur im Fremdsprachenunterricht? Traditionell hat die Literatur die pädagogische Aufgabe, Bildung zu vermitteln. Seit der pragmatischen Wende geht es jedoch primär um den Spracherwerb, zu dem sich Sachtexte besser zu eignen scheinen. In diesem Buch wird eine Synthese vorgeschlagen, die beide Ziele miteinander verbindet. Die Autorin entfaltet ihren Ansatz im historischen und systematischen Kontext. Dabei untersucht sie an unterschiedlichen Themen und Texten sowie aus wechselnden Perspektiven Funktion und Einsatz von Literatur im fremdsprachlichen Unterricht. Romanistische Fremdsprachenforschung und Unterrichtsentwicklung 4 978-3-8233-8002-3 RFU 4 Steinbrügge Fremdsprache Literatur Romanistische Fremdsprachenforschung und Unterrichtsentwicklung 4 Lieselotte Steinbrügge Fremdsprache Literatur Literarische Texte im Fremdsprachenunterricht