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Fachunterricht und Sprache in schulischen Lehr-/Lernprozessen

0612
2017
978-3-8233-9010-7
978-3-8233-8010-8
Gunter Narr Verlag 
Bernt Ahrenholz
Britta Hövelbrinks
Claudia Schmellentin-Britz

Lernerfolg im schulischen Fachunterricht hängt davon ab, dass Lernende Fachinhalte auch auf sprachlicher Ebene verstehen, prozessieren und selbst darstellen können. Im Hinblick auf Chancengleichheit im Kontext sprachlich-kultureller Heterogenität kommt einem sprachbewussten Umgang mit fachlichen Lerninhalten im Unterricht daher eine zentrale Rolle zu. Der vorliegende Band vereint aktuelle empirische Befunde aus unterschiedlichen Disziplinen und Didaktiken. Er richtet sich an Forschende aus Sprach- und Fachdidaktiken, Erziehungs- und Bildungswissenschaften sowie Lehrpersonen.

<?page no="0"?> Fachunterricht und Sprache in schulischen Lehr-/ Lernprozessen Bernt Ahrenholz / Britta Hövelbrinks / Claudia Schmellentin (Hrsg.) <?page no="1"?> Fachunterricht und Sprache in schulischen Lehr-/ Lernprozessen <?page no="3"?> Bernt Ahrenholz / Britta Hövelbrinks / Claudia Schmellentin (Hrsg.) Fachunterricht und Sprache in schulischen Lehr-/ Lernprozessen <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. © 2017 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISBN 978-3-8233-8010-8 Coverphoto: © iStock.com/ Christopher Futcher <?page no="5"?> Inhaltsverzeichnis Bernt Ahrenholz, Britta Hövelbrinks, Claudia Schmellentin Sprache im fachlichen Lernen - Eine Einleitung ........................................... 7 Sprache in Unterrichtsmaterialien Bernt Ahrenholz, Britta Hövelbrinks, Jessica Neumann Verben und Verbhaltiges in Schulbuchtexten der Sekundarstufe 1 (Biologie und Geographie) ................................................................................ 15 Sandra Drumm Gemischte Zeichenkomplexe verstehen lernen: Arbeit mit Sachtexten im Fach Biologie ................................................................................................. 37 Hendrik Härtig, Nicole Kohnen Die Rolle der Termini beim Lernen mit Physikschulbüchern ...................... 55 Claudia Schmellentin, Miriam Dittmar, Eliane Gilg, Hansjakob Schneider Sprachliche Anforderungen in Biologielehrmitteln ...................................... 73 Diana Maak „Wo kommt das blut HER“? Sprachliche Beschaffenheit des fachlichen Inputs im Fach Biologie .................................................................. 93 Sprachgebrauch, Sicht auf Sprache und Einstellungen von Lehrerinnen und Lehrern Katrin Kleinschmidt Die an die Schüler/ -innen gerichtete Sprache als Spiegel transitorischer schulsprachlicher Normen .............................................................................. 117 Vivien Heller, Uta Quasthoff, Anna Vogler, Susanne Prediger Bildungssprachliche Praktiken aus professioneller Sicht: Wie deuten Lehrkräfte Erklärungen und Begründungen von Kindern? 139 Jörg Jost, Elvira Topalović, Benjamin Uhl Sprachsensibler Mathematikunterricht in Hauptschulen. Sprache im Fach aus Sicht von Sprachfördercoaches, Lehrkräften und Lernenden in einem BiSS-Projekt ........................................................... 161 <?page no="6"?> Inhaltsverzeichnis 6 Sprachgebrauch von Schülerinnen und Schülern Britta Hövelbrinks Bildungssprachliche Diskursfunktionen im frühen naturwissenschaftlichen Lernen. Lexikalische Mittel im sprachlichen Handeln einsprachig und mehrsprachig aufwachsender Kinder zu Schulbeginn ............................... 185 Katrin Hee Schülerkommunikation zwischen Nähe und Distanz. Entwicklungsaspekte in Plenar- und Gruppenphasen des Geschichtsunterrichts ...................................................................................... 205 Friederike Kern, Sören Ohlhus, Thomas Rottmann Zur Rolle von Sprache und multimodalen Ressourcen beim Erwerb von Rechenstrategien ............................................................... 225 Eva Gläser, Ingrid Kunze, Christina Noack, Karin Osterheider Sprachliches Handeln bei der kooperativen Bearbeitung komplexer Aufgaben im naturwissenschaftlich-technischen Anfangsunterricht ....... 247 Markus Linnemann, Sabine Stephany, Gabriele Kniffka Funktionale Sprachvermittlung im Mathematikunterricht ........................ 265 Sarah Fornol Bildungssprachliche Kompetenzen in der Primarstufe im Medium der Schrift .................................................................................... 285 Sven Oleschko Domänenspezifische Schreibfähigkeit messen ............................................. 307 <?page no="7"?> Bernt Ahrenholz, Britta Hövelbrinks, Claudia Schmellentin Sprache im fachlichen Lernen - ine Einleitung Fachliches Lernen in der Schule setzt immer auch die Versprachlichung der zu lernenden Konzepte, Inhalte, Zusammenhänge voraus. Gleichzeitig schließt fachliches Lernen die im jeweiligen Fach angemessene Sprache als - häufig nicht explizierten - Lerngegenstand mit ein (vgl. z.B. Schleppegrell 2004: 2, die von einem „hidden curriculum“ spricht). Dies gilt für den Anfangsunterricht der Grundschule ebenso wie für das fortgeschrittene Lernen in den Sekundarstufen I und II. Sprache im Fachunterricht erscheint dabei in komplexer Vielfalt, produktiv wie rezeptiv, mündlich wie schriftlich, in Schulbuchtexten oder Arbeitsblättern sowie diskontinuierlichen Textformaten, eingebettet in u.U. komplexe fachliche Lehr-/ Lernprozesse. Die linguistische, sprachdidaktische und fachdidaktische Forschung ist daher interessiert an der Beschreibung sprachlicher Erscheinungsformen im schulischen Fachunterricht - im Lehrprozess in Form von Lehrmaterialien und Lehrer- und Schüleräußerungen sowie in der Dokumentation des Lernprozesses im Sprachgebrauch von Schülerinnen und Schülern. Ein Ziel wissenschaftlicher Untersuchungen ist dabei auch, mögliche sprachliche Lernhürden für spezifische Schülergruppen aufzudecken. Sprachlichkeit von Unterricht und die möglichen Implikationen für den Bildungsweg und Bildungserfolg wurden insbesondere in Zusammenhang mit Schülerinnen und Schülern diskutiert, für die die Sprache des Unterrichts Zweitsprache ist. Ein entsprechender Zusammenhang besteht allerdings nur, wenn die allgemeinen Sprachkompetenzen zu eingeschränkt sind und spezifische, vom Fachunterricht geforderte Sprachkompetenzen fehlen. Solche Beschränkungen finden sich - dies sei angemerkt - auch bei einem Teil der Schülerinnen und Schüler mit entsprechender Erstsprache, in unserem Fall Deutsch als L1. Insbesondere in der Folge der ersten PISA-Befunde ist es zu einer Reihe von Untersuchungen und Publikationen gekommen, die versuchen, den Gegenstandsbereich der schulisch relevanten sprachlichen Register begrifflich zu fassen und empirische Befunde zu präsentieren. Hier sei beispielhaft auf Gogolin & Roth (2007), Ahrenholz (2010), Feilke (2012), Becker-Mrotzek et al. (2013), Redder & Weinert (2013), Redder, Naumann & Tracy (2015) oder Lütke, Petersen & Tajmel (2017) verwiesen. Einen umfassenderen Überblick zu dem in diesem Zusammenhang vielfach diskutierten Begriff Bildungssprache geben Berendes et al. (2013). E <?page no="8"?> Bernt Ahrenholz, Britta Hövelbrinks, Claudia Schmellentin 8 Die Diskussion um die Sprachlichkeit von Unterricht wird in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen geführt, die auch in dem vorliegenden Band z.T. vertreten sind. Da es aber um die deutsche Sprache geht, besteht auch in der Deutschdidaktik ein besonderes Interesse am Thema - bei voller Anerkennung des Konzeptes einer Durchgängigen Sprachbildung (Gogolin & Lange 2011) und dem Wunsch nach interdisziplinärer Zusammenarbeit. Entsprechend fand 2014 in Basel auf dem Symposion Deutschdidaktik auch eine Sektion zum Thema Sprache im Fachunterricht statt, dem die vorliegenden Beiträge überwiegend entstammen. Die Autorinnen und Autoren des Bandes widmen sich dem Verhältnis von fachlichen und sprachlichen Lehr-/ Lernprozessen durch unterschiedlichste Herangehensweisen. Alle Beiträge haben das Ziel, sprachliche Anforderungen, Erscheinungsformen und Aneignungsprozesse zu beschreiben. Dabei werden Formen der sprachlichen Präsentation von fachlichen Inhalten in Lehrmaterialien wie auch im Unterricht in der Lehrerkommunikation thematisiert. Gleichzeitig wird der Sprachgebrauch bei Schülerinnen und Schülern untersucht - ein Ansatz, der bisher wenig verfolgt wurde. Im Lehr-/ Lernprozess sind Unterrichtsmaterialien wie Schulbücher eine feste Bezugsgröße, da in ihnen die Lehrgegenstände erfasst sind und eine Form ihrer sprachlichen Darbietung zur Verfügung gestellt wird. Sie bleiben Bezugsgröße im Unterricht - auch dann, wenn Lehrerinnen und Lehrer sie bewusst nicht verwenden. Sie bleiben auch Bezugsgröße in wissenschaftlichen Untersuchungen, um die Sprachlichkeit von fachlichem Lehren und Lernen in zentralen Aspekten zu erfassen. Im vorliegenden Band befassen sich mehrere Artikel aus verschiedenen Blickwinkeln und z.T. in Verbindung mit weiteren Fragestellungen mit diesem Aspekt. Im Beitrag von Bernt Ahrenholz, Britta Hövelbrinks und Jessica Neumann geht es um den Sprachgebrauch in Schulfachbüchern der Sekundarstufe I. In einem Vergleich ausgewählter Schulbuchseiten der Fächer Biologie und Geographie werden Verben und Mehrworteinheiten mit verbalem Bestandteil exemplarisch analysiert. Sandra Drumm analysiert für das Fach Biologie das Verhältnis von Text und Bild auf einer Schulfachbuchseite und bezieht die Ergebnisse auf die Entwicklung mentaler Modelle als fachliches Lernziel. Mit besonderem Fokus auf nominale Fachbegriffe zeigt sie v.a. Kohärenzprobleme in der Text-Bild- Kombination auf, aus denen sie didaktische Konsequenzen für den Fachunterricht zieht. Im Beitrag von Hendrik Härtig und Nicole Kohnen wird die Rolle von Sprache im naturwissenschaftlichen Fachunterricht und insbesondere der Fachtermini in Physikschulbüchern anhand theoretischer und empirischer Befunde interdisziplinär diskutiert. Didaktische Konsequenzen werden durch den Einblick in ein erprobtes Wortschatztraining gezogen. <?page no="9"?> Sprache im fachlichen Lernen - eine Einleitung 9 Im Beitrag von Claudia Schmellentin, Miriam Dittmar, Eliane Gilg und Hansjakob Schneider werden empirische Analysen zum Textverstehen im Biologieunterricht vorgestellt. Eine linguistische Analyse ausgewählter Lehrmitteltexte sowie die Beobachtung von Lernenden beim Lesen dieser Texte erlauben die Identifikation konkreter Textverstehensschwierigkeiten und die Ableitung von generalisierten Textoptimierungsprinzipien. Diana Maak schaut sich mündlichen und schriftlichen Input im Biologieunterricht der achten Klasse an. Mit Hilfe des konzeptorientierten Ansatzes modelliert und analysiert sie die Versprachlichung von Bewegungsereignissen zum Unterrichtsthema Blut und Blutkreislauf. Schulbuchtexte und andere Lehrmaterialien lassen sich unter Spracherwerbsgesichtspunkten und Lehrperspektiven auch als eine Form schriftlichen Inputs betrachten, der den mündlichen Input ergänzt bzw. ergänzen kann. Im Beitrag von Maak werden sprachliche Mittel im schriftlichen und mündlichen Input thematisiert. Er ist damit ein Gelenkstück zur Gruppe der Beiträge, die den Sprachgebrauch, die Sicht auf Sprache und Einstellungen von Lehrerinnen und Lehrern thematisieren. Hierzu liegen drei weitere Artikel vor. Im Beitrag von Katrin Kleinschmidt wird der Sprachgebrauch von (denselben) Lehrkräften in unterschiedlichen Jahrgangsstufen fokussiert. Dazu operationalisiert und analysiert die Autorin ausgewählte Aspekte konzeptioneller Schriftlichkeit und diskutiert diese als Spiegel transitorischer Sprachnormen. Vivien Heller, Uta Quasthoff, Anna Vogler und Susanne Prediger analysieren in ihrem Beitrag, wie Lehrkräfte der Fächer Deutsch und Mathematik fachbezogene Erklärungen und Begründungen von Fünftklässlerinnen und -klässlern wahrnehmen. Anhand von videographierten Gruppendiskussionen arbeiten die Autorinnen lehrerseitige Deutungsmuster zu schülerseitigen bildungssprachlichen Praktiken heraus. Im Beitrag von Jörg Jost, Elvira Topalović und Benjamin Uhl wird sprachsensibler Mathematikunterricht an Hauptschulen unter die Lupe genommen. Berichtet wird von Erhebungen zu Lehrereinstellungen in Bezug auf Sprache im Fachunterricht allgemein sowie Lehrereinschätzungen zu sprachlichen Hürden in Mathematikaufgaben. Bisher stand der Sprachgebrauch von Schülerinnen und Schülern selten im Fokus. Im vorliegenden Band liegen nun sieben Beiträge sowohl zu mündlichen wie auch zu schriftlichen Schülerproduktionen vor. Britta Hövelbrinks widmet sich der bildungssprachlichen Lexik in Schüleräußerungen von einsprachig und mehrsprachig aufwachsenden Kindern im Sachunterricht des ersten Schuljahres. Durch eine kombinierte Analyse von sprachlichen Oberflächenmerkmalen und fachbezogenen Diskursfunktionen zeigt sie Herausforderungen und Potentiale bei der schülerseitigen Konstruktion fachlicher Inhalte auf. <?page no="10"?> Bernt Ahrenholz, Britta Hövelbrinks, Claudia Schmellentin 10 Katrin Hee analysiert für das Fach Geschichte videographisch aufgezeichnete Schülerkommunikation in Gruppenarbeitsphasen der fünften, achten und elften Klasse. Sie untersucht, wie sich die Realisierung konzeptioneller Schriftlichkeit in den Gruppenarbeitsphasen bis hin zur Präsentation im Plenargespräch sowie im Vergleich der drei Schulstufen hinweg entwickelt. Friederike Kern, Sören Ohlhus und Thomas Rottmann diskutieren die Rolle von Sprache und weiteren semiotischen Ressourcen - hier der Rechenrahmen - beim Aufbau mathematischer Grundvorstellungen. Anhand von zwei Aufgabenstellungen mit unterschiedlichem Abstraktionsgrad wird die Veränderung im mündlichen Sprachgebrauch eines Förderschülers mikroanalytisch aufgezeigt. Eva Gläser, Ingrid Kunze, Christina Noack und Karin Osterheider fokussieren in ihren Unterrichtsaufzeichnungen Schülergruppengespräche im Rahmen kooperativer Lernaufgaben im naturwissenschaftlichtechnischen Sachunterricht (2. Klasse). Durch exemplarische Analysen von Sprechhandlungen und deren sprachlich-formaler Ausgestaltung werden fachliche und sprachliche Aushandlungsprozesse identifiziert, die dementsprechend für sprach- und fachdidaktische Konsequenzen gleichermaßen interessant sind. Markus Linnemann, Sabine Stephany und Gabriele Kniffka analysieren den Zusammenhang von Sprache und fachlichen Lerngegenständen am Beispiel des Verallgemeinerns im Mathematikunterricht. Zunächst illustrieren sie anhand von mündlichen und schriftlichen Schüleräußerungen fachliche Versprachlichungsstrategien, im Anschluss daran stellen sie die Ergebnisse einer Unterrichtsintervention nach dem Prinzip des Scaffoldings vor. Sarah Fornol schaut sich den schriftlichen Gebrauch bildungssprachlicher Mittel in Schüleraufsätzen des Sachunterrichts an. Neben einem quantitativen Überblick zu 474 Schülertexten vergleicht sie anhand von zwei Fallbeispielen zu drei Messzeitpunkten die Entwicklung bildungssprachlicher Kompetenzen in Deutsch als Erst- und Zweitsprache. Sven Oleschko widmet sich dem fachspezifischen Schreiben am Beispiel von Schaubildbeschreibungen im gesellschaftswissenschaftlichen Unterricht. Ausgehend von der Modellierung (meta-)kognitiver Prozesse beim Beschreiben stellt er ein diagnostisches Instrument vor, welches er am Beispiel der Kategorie Themenentfaltung beispielhaft anwendet. <?page no="11"?> Sprache im fachlichen Lernen - eine Einleitung 11 Literatur Ahrenholz, Bernt (Hrsg.) (2010): Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache. Tübingen: Narr. Becker-Mrotzek, Michael; Schramm, Karen; Thürmann, Eike & Vollmer, Helmut J. (Hrsg.) (2013): Sprache im Fach. Sprachlichkeit und fachliches Lernen. Münster: Waxmann. Berendes, Karin; Dragon, Nina; Weinert, Sabine; Heppt, Birgit & Stanat, Petra (2013): Hürde Bildungssprache? Eine Annäherung an das Konzept „Bildungssprache“ unter Einbezug aktueller empirischer Forschungsergebnisse. In: Redder, Angelika & Weinert, Sabine (Hrsg.): Sprachförderung und Sprachdiagnostik. Interdisziplinäre Perspektiven. Münster: Waxmann, 17-41. Feilke, Helmuth (2012): Bildungssprachliche Kompetenzen - fördern und entwickeln. Praxis Deutsch 39, 233, 4-13. Gogolin, Ingrid & Roth, Hans-Joachim (2007): Bilinguale Grundschule: Ein Beitrag zur Förderung der Mehrsprachigkeit. In: Anstatt, Tanja (Hrsg.): Mehrsprachigkeit bei Kindern und Erwachsenen. Erwerb, Formen, Förderung. Tübingen: Attempto, 31-46. Gogolin, Ingrid & Lange, Imke (2011): Bildungssprache und Durchgängige Sprachbildung. In: Fürstenau, Sara & Gomolla, Mechtild (Hrsg.): Migration und schulischer Wandel: Mehrsprachigkeit. Wiesbaden: Springer, 107-127. Lütke, Beate, Petersen, Inger & Tajmel, Tanja (Hrsg.) (2017): Fachintegrierte Sprachbildung. Forschung, Theoriebildung und Konzepte für die Unterrichtspraxis. Berlin: De Gruyter. Redder, Angelika; Naumann, Johannes & Tracy, Rosemarie (Hrsg.) (2015): Forschungsinitiative Sprachdiagnostik und Sprachförderung - Ergebnisse. Münster: Waxmann. Redder, Angelika & Weinert, Sabine (Hrsg.) (2013): Sprachförderung und Sprachdiagnostik. Interdisziplinäre Perspektiven. Münster: Waxmann. Schleppegrell, Mary J. (2004): The language of schooling. A functional linguistics perspective. Mahwah/ New Jersey: Lawrence Erlbaum Associates. <?page no="13"?> Sprache in Unterrichtsmaterialien <?page no="15"?> Bernt Ahrenholz, Britta Hövelbrinks, Jessica Neumann Verben und Verbhaltiges in Schulbuchtexten der Sekundarstufe 1 (Biologie und Geographie) 1 Einführendes Schulbüchern wird nach wie vor eine große Bedeutung für den Fachunterricht zugeschrieben (z.B. Obermayer 2013; Ott, Heinz & Kiesendahl 2015). Sie stellen einen wichtigen Zugang zu Wissensbeständen dar, die von der Schule vermittelt werden. Seit einigen Jahren wird auch die Sprachlichkeit von Unterricht und Schulbüchern thematisiert. Sprache im Fachunterricht ist dabei sowohl Medium der Wissensvermittlung wie auch Medium der Aneignung und des Nachdenkens über diese Wissensbestände (z.B. Zydatiß 2010). Fachbezogene Sprachverwendung ist darüber hinaus schulisches Lernziel - sei es gezielt oder beiläufig und damit nicht immer transparent (Schleppegrell 2004: 2). Schulische Bildung trägt so auch zum Ausbau der Sprachkompetenzen der Schülerinnen und Schüler (SuS) bei, und Schulbücher stellen in diesem Sinne eine Form potentiellen Inputs für den fortgeschrittenen Spracherwerb dar. Dies gilt für SuS mit Deutsch als L1 wie mit Deutsch als L2 gleichermaßen. Für Lernende mit geringen Sprachkompetenzen kann diese spezifische Sprachlichkeit von Schulbüchern ein Lernhindernis bedeuten. Der im fachlichen Lernen der Sekundarstufe vorherrschende Sprachgebrauch wird häufig als Bildungssprache bezeichnet. Gemeint ist damit zumeist ein dominantes sprachliches Register, neben dem Fachsprachliches und Gemeinsprachliches, Alltagssprachliches oder Schulsprachliches existieren (vgl. Feilke 2012; Riebling 2013; Ahrenholz 2017). Merkmale und Verwendungsformen dieses Registers sind bisher aber nicht ausreichend empirisch untersucht. 1 Während man bei Fachsprache sehr häufig zunächst an Nomen als objekt- oder ereignisbezogene, unter Umständen theoretisch definierte Termini denkt (so Kniffka & Neuer 2015), kommt in der engeren Auffassung von bildungs- und fachsprachlichen Registern auch anderen Wortarten eine große Bedeutung zu (vgl. z.B. Ahrenholz 2017; Buhlmann & 1 Als umfassendes Forschungsprojekt mit diesem Anliegen sei auf BiSpra = Bildungssprachliche Kompetenzen: Anforderungen, Sprachverarbeitung und Diagnostik verwiesen, in dem auf Grundlage von 2700 Transkripten (700.000 Token, 30.000 Types) für die Jahrgangsstufen 2-4 ein bildungssprachlicher Wortschatz erstellt und für rezeptive Testverfahren operationalisiert wurde (Köhne et al. 2015: 74ff.). <?page no="16"?> Bernt Ahrenholz, Britta Hövelbrinks, Jessica Neumann 16 Fearns 2000). Hierbei spielen insbesondere Verben und verbhaltige Mehrworteinheiten wie auch Nomen mit deverbalem Kopf eine wichtige Rolle (vgl. auch Köhne et al. 2015; Runge 2013). Im vorliegenden Beitrag sollen daher Analysen zu Verben und anderen verbhaltigen lexikalischen Einheiten anhand eines im Aufbau befindlichen Schulbuchkorpus aus dem Fach-DaZ- Projekt (Ahrenholz 2013) vorgelegt werden, um einen Beitrag zur empirischen Beschreibung von Sprache im Fachunterricht und sprachlichem Input im schulisch gestützten Spracherwerbsprozess zu leisten. Nach einem Überblick zu Entwicklungen der linguistischen Schulbuchforschung sowie zur Erforschung von Verben im Rahmen von Bildungs- und Fachsprache (Abschnitt 2) folgen Beispielanalysen aus einem Pilotprojekt zu Partikel- und Präfixverben, Mehrworteinheiten mit verbalem Bestandteil sowie Komposita mit deverbalem Kopf (Abschnitt 3). 2 Sprache in Schulfachbüchern 2.1 Linguistische Schulbuchforschung Schulbuchforschung war lange Zeit historisch, sozialwissenschaftlich und inhaltsanalytisch orientiert (Gogolok 2006: 477) oder auch auf Nutzung bezogen (z.B. Ballis, Hoppe & Metz 2014). Seit einiger Zeit entwickelt sich eine linguistische Schulbuchforschung, bei der Lehrmaterialien u.a. korpuslinguistisch untersucht werden (Ahrenholz 2007, 2013; Ott, Heinz & Kiesendahl 2015; Kiesendahl 2014). Einschlägig ist auch Graf (1989) zum Fachwortschatz in Biologielehrbüchern. Oleschko & Moraitis (2012) untersuchen exemplarisch Operatoren und W-Fragen in Aufgabentexten von Geschichts- und Politikbüchern. Sie halten den verwendeten Fachwortschatz bei der Rezeption für zu schwierig (Oleschko & Moraitis 2012: 19ff.); hierzu rechnen sie auch Verben (Oleschko & Moraitis 2012: 25). Redder (2012) deckt auf Grundlage einer qualitativen sprachlichen Analyse eines Arbeitsblattes die komplexen, rezeptiven (bildungs)sprachlichen Anforderungen für Grundschulkinder auf. Grießhaber (2013) problematisiert den nominalen und verbalen Input in einem Lehrwerk für den Sachunterricht in der Grundschule. Dieser enthält vergleichsweise seltene 2 Lexeme bzw. Komposita und Präfixverben und stellt damit eine Herausforderung für die Rezipienten dar (Grießhaber 2013: 61f.). Obermayer (2013) legt eine umfassende Untersuchung zu elf Lehrbüchern der vierten Jahrgangsstufe vor, die sie in Hinblick auf ihren bildungssprachlichen Gehalt und die Text-Bild-Gestaltung beschreibt, um Aussagen zur 2 Gemessen an einem alltagssprachlichen Vergleichskorpus (Wortschatzportal der Universität Leipzig) und dem Wörterbuch für Kinder der Grundschule von Sennlaub (2011). <?page no="17"?> Verben und Verbhaltiges in Schulbuchtexten 17 Textverständlichkeit treffen zu können. Gegenstand der Korpusuntersuchung von Niederhaus (2011) sind Kapitel aus vier Schulbüchern für die Berufsschule (Körperpflege und Elektrotechnik, insg. 203 Seiten), in denen sie u.a. die Frequenz fachsprachlicher Wortbildungen und komplexer syntaktischer Strukturen untersucht. Zybatow (2014) beschreibt an 60 Texten Vorfeldtypen in Deutsch-, Geschichts- und Biologiebüchern und zeigt fachabhängige Variation, bei der insbesondere Biologie- und Geschichtsbücher komplexere Vorfeldstrukturen aufweisen, deren Folgen für das Textverstehen allerdings noch zu untersuchen wären. Schmellentin, Dittmar, Gig & Schneider (i.d.Bd.) untersuchen hingegen das Textverstehen in den naturwissenschaftlichen Schulfächern im gleichnamigen Projekt mit dem Ziel, Optimierungsvorschläge für Schulbuchtexte zu formulieren. In Ahrenholz (2013) und Ahrenholz & Maak (2012) werden erste korpusbasierte Befunde u.a. zum Passivgebrauch (Biologiebücher) mit dem Sprachgebrauch in mündlicher Unterrichtskommunikation verglichen. Allerdings handelt es sich hierbei um kleinere Falluntersuchungen. Breiter angelegte Untersuchungen zu den sprachlichen Besonderheiten der Schulfachbuchtexte fehlen nach wie vor (vgl. auch Oleschko & Moraitis 2012: 37f. und Lütke 2013: 110). Ansätze einer linguistischen Schulbuchforschung finden sich z.B. in Ott, Heinz & Kiesendahl (2015) und Kiesendahl & Ott (2015). 2.2 Verben im Kontext von Spracherwerb und Fachunterricht Untersuchungen zur Sprachlichkeit von schulischem Unterricht verorten sich vielfach unter den Stichworten Bildungssprache (z.B. Gogolin & Lange 2011), Alltägliche Wissenschaftssprache (z.B. Uesseler, Runge & Redder 2013) oder Academic Language (z.B. Biber 2006). Dabei werden häufig Listen sprachlicher Indikatoren erstellt (vgl. Überblick in Hövelbrinks 2014: 104ff. und eine Kritik in Ahrenholz 2017), allerdings meist ohne Angaben, ob, wie häufig und in welchen syntaktischen, semantischen und fachlichen Kontexten diese tatsächlich vorkommen. Der vorliegende Beitrag versucht daher, für Verben bzw. verbhaltige Einheiten einen Einblick in den tatsächlichen Gebrauch in Schulbüchern der Sekundarstufe I zu geben. Verben sind eine Wortart, die im Vergleich zu Nomen im Erst- (vgl. z.B. Behrens 1999) wie im Zweitspracherwerb (z.B. Dietrich 1990) später differenziert erworben wird. Nomen referieren auf Objekte und Ereignisse. Sie stehen damit häufig im Zentrum kommunikativer Anliegen und haben daher eine hohe Wichtigkeit im Spracherwerb. 3 Ihre Semantik ist - jedenfalls bei Konkreta - relativ leicht zu durchschauen. Verben prädizieren hingegen (vgl. 3 Dietrich (1990: 20) illustriert anhand von Erzählungen, dass diese sich eher ohne Verben als ohne Nomen realisieren lassen. <?page no="18"?> Bernt Ahrenholz, Britta Hövelbrinks, Jessica Neumann 18 Behrens 1999) und beziehen sich auf etwas, dem eine vielfältige Wahrnehmung zugrunde liegen kann. Sie verfügen z.T. über eine sehr komplexe Semantik, die u.U. nur mit Schwierigkeiten aus dem Kontext erschließbar ist. So steht bspw. die Semantik von Bewegungsverben nach Talmy (2000; vgl. auch Maak i.d.Bd.) u.a. in Zusammenhang mit dem, was sich bewegt oder bewegt wird, was die Ursache der Bewegung ist, welchen Weg die Bewegung nimmt, welche Richtung sie hat und in welcher Zeit sie erfolgt. Die hierin begründete Komplexität kann im Erwerbsprozess zu erheblichen semantischen Unschärfen führen (vgl. Ahrenholz 2011). In Fachkontexten können zudem veränderte Bedeutungen hinzukommen (so ist das Partizip II von lösen in „aus dem gelösten Fibrinogen“ nur schwer mit Hilfe des alltagsprachlichen Verständnisses von lösen zu verstehen, vgl. auch Ahrenholz 2017, Köhne et al. 2015: 77, Meißner 2009 für Wissenschaftssprache). Für Verben gilt weiterhin, dass sie z.T. über vielfältige Flexionsformen verfügen, so dass sie zuweilen nicht leicht im Input zu identifizieren sind. Schließlich haben unterschiedliche Rektionsbedingungen Effekte für die Semantik. In der Folge verläuft der Aneignungsprozess des Verbrepertoires im Erstwie im Zweitspracherwerb von Passepartout- oder GAP-Verben 4 wie machen oder tun hin zu einem differenzierteren Verblexikon, das in der Schule weiter ausgebaut wird (Pohl 2011: 214). Es ist daher auch vorgeschlagen worden, Verben als Sprachstandsindikator zu nutzen (Apeltauer 1998). Eine zusätzliche Schwierigkeit beim Verstehen und Verwenden von Verben können sich durch Präfixe und Partikeln ergeben (vgl. z.B. kennen vs. erkennen, fallen vs. auffallen). Gleichzeitig gelten Präfix- und Partikelverben als typisch für bildungssprachliche Kontexte (vgl. z.B. Gogolin & Lange 2011: 114; Hövelbrinks 2013: 80). Redder (2012: 90f.) zeigt in der Analyse eines Arbeitsblattes (Sachkundethema, 4. Klasse) die Bedeutung von insbesondere Präfix- und Partikelverben beim Textverstehen auf. Oleschko & Moraitis (2012: 25) erwähnen Verben unter den „Fachbegriffen“ in Schulbüchern für das Fach Geschichte und die relative Häufigkeit von Präfix- und Partikelverben (Oleschko & Moraitis 2012: 26). Als zentral für Bildungssprache werden Verben auch im BiSpra-Projekt angesehen (z.B. Uesseler, Runge & Redder 2013). In der Hamburg-Bamberger BiSpra-Liste zur Testung des bildungssprachlichen Wortschatzes sind unter 118 Items 26 Partikel- und 22 Präfixverben sowie 8 andere Verben enthalten (Köhne et al. 2015: 90f.). In einem Arbeitsbuch für die dritte Klasse bemerkt Grießhaber (2013: 62) eine hohe Anzahl und einen großen Variantenreichtum bei Präfix- und Partikelverben. Für ein Unterrichtsgespräch in einer Förderstunde im Fach Mathematik (1. Klasse) verweist er auf eine ungleiche Verteilung der Verwendung von Partikelverben zwischen Lehrperson und Lernenden 4 General All Purpose-Verben; vgl. Kilian 2011: 101. <?page no="19"?> Verben und Verbhaltiges in Schulbuchtexten 19 (Grießhaber 2013: 68f.). Runge (2013) analysiert Verben in elizitierten Instruktionen in der vierten und fünften Klasse in verschiedenen Schultypen bei ein- und mehrsprachigen Kindern. Es zeigt sich, dass vor allem Partikel- und Präfixverben, z.T. in Verbindung mit Passepartout-Verben (insbesondere machen) gewählt wurden (Runge 2013: 162). Der Typ des Spracherwerbs wirkt hier etwas schwächer als Geschlechterunterschiede. So verwenden die einsprachigen SuS z.B. häufiger verbinden und seltener befestigen als ihre mehrsprachigen Mitschüler (Runge 2013: 169). In den Wortschatztests von Kurtz (2012: 256) verwenden Kinder der dritten und vierten Klasse mit Deutsch als L2 deutlich weniger Verben als Kinder mit Deutsch als L1, während sich in der Rezeption keine auffälligen Unterschiede zeigen. 5 2.3 Verben und Verbhaltiges in Mehrworteinheiten und Komposita Verben treten syntaktisch nicht nur einzeln, sondern auch in festeren Verbindungen mit anderen lexikalischen Einheiten, z.B. als Bestandteil von Funktionsverbgefügen (FVG), Kollokationen 6 oder Substantivkomposita, auf. Letztere werden als Indikator für fachbzw. bildungssprachliche Texte angesehen (vgl. Hövelbrinks 2014: 104ff.). FVG gelten ebenfalls als charakteristische und z.T. schwierige lexikalische Mittel der Fachsprache (Roelcke 2010), Unterrichtssprache (Leisen 2010), Schulsprache (Schmölzer- Eibinger 2011) oder Bildungssprache (Gogolin & Lange 2011, Ortner 2009). Unter dem Begriff FVG werden z. T. sehr unterschiedliche Konstruktionen gefasst wie z.B. zum Ausdruck bringen, aber auch eine Betriebsprüfung durchführen (Pottelberge 2007: 441). Definitionen, Abgrenzungen und Termini variieren hier (z.B. FVG und Nominalisierungsverbgefüge bei Polenz 1987 und Storrer 2006; Streckverbgefüge bei Heringer 1988) und eine empirisch belegte Systematisierung derartiger Verbindungen steht nach Storrer (2011) noch aus. Im vorliegenden Beitrag erfolgt eine Operationalisierung von FVG nach Kamber (2006: 113), der das „Modell der umrahmten Schnittmengen“ vorschlägt. Als Prototypenkern werden Einheiten aus einem Funktionsverb (z.B. kommen) und einer Präpositionalgruppe mit substantiviertem Verb (z.B. zur Anwendung) aufgefasst (Kamber 2006: 113; vgl. auch Eisenberg 2004: 309). Bestandteile sind Verben - mit stark veränderter Semantik - als Funktionsverben und in substantivierter Form als Verbalabstrakta (Anwendung < anwenden). 5 An dem Wortschatztest nahmen 119 Kinder mit Deutsch als Zweitsprache und 178 Kinder mit Deutsch als L1 teil (Kurtz 2012: 251). 6 Gemeint sind hier (komplexe) Kollokationen in einem engeren Sinn wie z.B. bei Hausmann (1985, 2004). Statistisch betrachtet können diese auch unter die Kollokationen im empirischen Sinn (Evert 2009) fallen, d.h. deren Bindungsstärke kann mit Hilfe von Assoziationsmaßen beschrieben werden (vgl. Bubenhofer 2015: 494ff.). <?page no="20"?> Bernt Ahrenholz, Britta Hövelbrinks, Jessica Neumann 20 Von Interesse für die Analysen in Schulbüchern sind weiter solche Einheiten, die Kamber (2006: 113) zu den Randkategorien der FVG zählt (z.B. Stellung nehmen, zur Welt kommen oder Ordnung schaffen). Diese werden aufgrund ihrer heterogenen Eigenschaften für die vorliegende Untersuchung zu Verb- Nominalgruppenbzw. Präpositionalgruppen-Kollokationen (V-NG-/ -PG- Koll.) zusammengefasst. Semantisch gleichen FVG mit Einschränkung einfachen Vollverben; 7 syntaktisch verhalten sich deren NG/ PG ähnlich den Verbpartikeln (vgl. Eisenberg 2004: 315f.). 8 Ihre textlinguistische Leistung ist jedoch laut Pottelberge (2007: 440) noch wenig erforscht. Betont wird zum einen ihre kohäsive Rolle, indem die nominale Komponente vorweg- oder auch wiederaufgenommen werden kann. Weiterhin können Nomen in FVG zuweilen attribuiert werden, so dass diese auch zur syntaktischen Verdichtung beitragen (Hoffmann 1997: 423). Als Passivsynonyme ermöglichen sie insbesondere in Fachtexten Anonymisierungen und Fokusverlagerungen (Hoffmann 1997: 422, Oksaar 1997: 400). 9 In Bezug auf Schulbücher werden FVG als Mittel angesehen, die zentral für das Textverständnis sind, es aber auch erschweren können (Obermayer 2013: 114ff.). Gleichzeitig treten sie je nach Schulbuch sehr unterschiedlich häufig auf (Obermayer 2013: 114ff.), könnten daher vielleicht auch als stilistische Präferenz gewertet werden; als wichtige verbhaltige Mehrworteinheiten sollen sie in den folgenden Analysen berücksichtigt werden. Bei der händischen Suche nach FVG und Kollokationen (vgl. Abschnitt 3.2.3) im Pilotkorpus fielen insbesondere substantivische Rektionskomposita auf, deren Determinans und Determinatum von einer Kollokation aus Nomen und Verb stammen (z.B. Blutübertragung). Das Zweitglied ist von einem Verb abgeleitet (=deverbaler Kopf), der Nichtkopf (Determinans) kann i.d.R. als Argument zu diesem Verb interpretiert werden (Blut ist Argument zu übertragen). Charakteristisch für den Nichtkopf ist die Anbindung des im Valenzrahmen des jeweiligen Verbs enthaltenen Akkusativobjekts bzw. Patiens oder des Subjekts bzw. Agens (Eisenberg 2004: 231; Fleischer & Barz 2012: 139). Roth (2014: 13) spricht in Hinblick auf den Zusammenhang von Kollokation und Komposition von Konkurrenzbildungen, die beide zum Kernbereich „kombinatorischer Begriffsbildung“ gezählt werden (vgl. dazu auch Donalies 2004). Obwohl deren Konstituenten gleich sind, unterscheiden sie sich hinsichtlich ihrer Morphologie und Syntax, aber auch in ihrer 7 Gemeint sind hier allgemein Vollverben und nicht die Basisverben der FVG. 8 Pottelberge (2001) spricht von morphosyntaktischen Anomalien; die Stellung der NG bzw. PG sei eingeschränkt. Zur detaillierten Analyse vgl. Storrer (2006) oder auch Eisenberg (2004). 9 Diese Eigenschaften treffen zum Teil auch auf die hier als V-NG-/ -PG-Kollokationen zusammengefassten Randkategorien der FVG zu. <?page no="21"?> Verben und Verbhaltiges in Schulbuchtexten 21 semantisch-textuellen Funktion. Kollokationen dienen eher der Beschreibung von Zuständen, Vorgängen und Handlungen, während Komposita häufiger das gemeinte Geschehen benennen (vgl. Roth 2014: 47f.). Fleischer & Barz (2012: 132) nennen als eine Funktion von Komposita zudem die „zusammenfassende […] Wiederaufnahme des vorangehenden Satzinhalts in Folgesätzen“. Auf diese Weise werden die in den zugrunde liegenden Prädikaten beschriebenen Ereignisse im Kompositum stark verdichtet dargestellt (Blutübertragung bedeutet ‚Das Blut wird von jdm. übertragen‘). So können auch sie die Funktion referentieller Eindeutigkeit für komplexe Sachverhalte bei gleichzeitiger struktureller Kondensierung übernehmen. 3 Pilotstudie zur korpusgestützten Beschreibung des Verbgebrauchs in Schulfachbüchern der Sekundarstufe I 3.1 Datengrundlage und Fragestellung Datenbasis sind 23 Seiten aus Biologie- (BIO) und 36 Seiten aus Geographiebüchern (GEO) der Klassenstufen 7 bis 8. Den ausgewählten Seiten liegen die Kapitel zu Blutkreislauf bzw. Plattentektonik zugrunde. Neben Fächern werden verschiedene Schularten berücksichtigt (Gymnasium = Gym und Regel-/ Realbzw. Gesamtschulen = RS). Die Daten sind hier als Pilotkorpus dem im Aufbau befindlichen umfangreicheren Digitalen Schulbuchkorpus entnommen (Ahrenholz, Hövelbrinks, Neumann & Reichel i.Vorb.). Tab. 1: Angaben zu Schulbuchseiten, Wörtern und Sätzen im untersuchten Pilotkorpus Thematische Einheit „Blutkreislauf“ Thematische Einheit „Plattentektonik“ Summe BIO-Gym BIO-RS GEO-Gym GEO-RS Schulbuchseiten (Einzelseiten) 15 8 20 16 59 word token (alle Wortformen) 2.722 2.929 5.550 3.387 14.588 (vollständige) Sätze 416 228 343 215 1.202 In der linguistischen Analyse von Schulbüchern sind verschiedene Textformate zu unterscheiden, z.B. Abbildungsbeschriftungen oder Überschriften. Die folgenden Analysen beziehen sich v.a. auf die im Pilotkorpus als „Fließtext“ und „Textblock“ bezeichneten Absätze, in denen das jeweilige Thema entwickelt oder zentrale Aussagen graphisch hervorgehoben werden. <?page no="22"?> Bernt Ahrenholz, Britta Hövelbrinks, Jessica Neumann 22 Das Untersuchungsinteresse gilt den Vorkommen an Partikel- und Präfixverben sowie weiteren Elementen mit deverbalen Bestandteilen. Im Einzelnen soll untersucht werden: a) mit welcher Häufigkeit einzelne Verben vertreten sind und ob sich für die beiden Fächer Biologie und Geographie eher Unterschiede oder eher Schnittmengen ergeben; b) welchen Anteil Partikel- und Präfixverben am Gesamtverbvorkommen haben, da ihnen in Zusammenhang mit Textverständlichkeit und Spracherwerbsfragen eine besondere Rolle zuzukommen scheint. Dabei sollen mögliche Unterschiede zwischen den Fächern und Schularten berücksichtigt werden; c) in welchem Umfang Verben Teil komplexer Mehrworteinheiten sind; d) in welchem Maße bei Partikelverben und Mehrworteinheiten Nähe- oder Distanzstellung vorliegt, da Nähestellung im Input eine andere Evidenz für Verblemmata erzeugt als Distanzstellung; e) welche Frequenz Komposita haben, die Verbderivata enthalten. 3.2 Exemplarische Analysen zu Biologie- und Geographieschulbüchern 3.2.1 Quantitativer Überblick: Verben insgesamt Unter den 14.588 Token auf 59 Schulbuchseiten finden sich 668 verschiedene Verblemmata (bezogen auf alle Verbvorkommen in allen Textformaten) mit 1830 Token. 10 Hiervon kommen 344 Verblemmata (51%) nur einmal, 129 Verblemmata zweimal (19%), 58 Lemmata dreimal (9%) vor und für 27 Lemmata (4%) gibt es zehn und mehr Vorkommen. In Bezug auf die Fächer und Schularten zeigen sich in der Tendenz kaum Unterschiede, nur das Textvolumen ist in den Büchern für Gymnasien deutlich größer. Insgesamt ist die Datenmenge allerdings relativ gering (vgl. Tab. 2). Tab. 2: Vorkommen der Verblemmata bezogen auf die einzelnen Schulbücher Häufigkeitsklassen BIO-Gym BIO-RS GEO-Gym GEO-RS Verblemmata mit 1 Vorkom. 58% (n=183) 69% (n=153) 66% (n=204) 70% (n=119) Verblemmata mit 2 Vorkom. 20% (n=63) 19% (n=43) 17% (n=51) 19% (n=32) Verblemmata mit 3 Vorkom. 9% (n=29) 8% (n=17) 8% (n=23) 3% (n=5) Verblemmata mit 4 - 9 Vorkom. 12% (n=38) 5% (n=10) 8% (n=24) 8% (n=14) Verblemmata mit >9 Vorkom. 1% (n=3) 0% (n=0) 2% (n=6) 1% (n=1) ∑ n=316 n=223 n=308 n=171 10 Wir danken Jenny Reichel, Tinghui Duan und Markéta Filipová für die Hilfe bei der Auswertung der Daten. <?page no="23"?> Verben und Verbhaltiges in Schulbuchtexten 23 Betrachtet man die beiden Biologielehrbücher zusammengenommen, finden sich auf den 23 Seiten 422 Verblemmata, von denen 228 (54%) nur einmal vorkommen und sieben Lemmata (1,7%) zehnmal oder häufiger. Auf den 36 Seiten der Geographiebücher sind es 405 Verblemmata, von denen 250 (62%) einmal und 9 (2,2%) zehnmal und häufiger verwendet werden. Von den 668 Verblemmata im Gesamtkorpus werden 159 (24%) sowohl in den Biologiewie in den untersuchten Geographiebüchern verwendet; dabei sind alle Häufigkeitsklassen vertreten. 26 Lemmata kommen zehnmal und häufiger vor, 72 Lemmata 4-mal bis 9-mal, 24 Lemmata dreimal und 37 Lemmata nur zweimal. 246 Verben (37%) finden sich ausschließlich in den Geographiebüchern, 263 (39%) ausschließlich in Biologiebüchern, darunter eher fachspezifische wie emporpressen oder zudriften, aber auch eher gemeinsprachliche wie bieten oder kosten (Beispiele für Geographie). Verglichen mit der BiSpra-Wortschatzliste für die Jahrgänge 1-5 (Köhne et al. 2015) zeigen sich vier Tendenzen. Eine Reihe von hier aufgefundenen Verben - auch mit z.T. höherer Frequenz - findet sich nicht in der BiSpra-Liste (n=25 aller Verben mit zehn und mehr Vorkommen, darunter z.B. entstehen). Andere Verben aus der BiSpra-Liste finden sich zwar im Pilotkorpus, aber in sehr geringer Frequenz (n=18 mit einem bis drei Vorkommen, z.B. ergeben), während einige wenig frequente Verben auf den untersuchten Schulbuchseiten sich auch in der BiSpra-Liste befinden (n=3 mit mehr als zehn Vorkommen, z.B. aufnehmen). Schließlich finden sich 21 der 48 Partikel- und Präfixverben der BiSpra-Liste wie z.B. entfallen nicht in den hier untersuchten Schulbuchseiten. Inwieweit die Unterschiede mit der jeweiligen Datenbasis zusammenhängen oder mit den unterschiedlichen Jahrgangsstufen (BiSpra stammt aus dem Grundschulbereich, hier wurden Bücher für die Sek. I untersucht), bedarf einer weiteren Analyse. Vergleicht man die in den hier untersuchten Schulbuchseiten häufigen Verben wie enthalten (17 Vorkommen), entstehen (50 Vorkommen) oder bilden (21 Vorkommen) mit der Häufigkeitsverteilung im Wortschatzportal Leipzig 11 , so sind alle drei in der Frequenzklasse 2^9, die seltenen Verben wie durchtrennen oder umspülen in der Frequenzklasse 2^17 bzw. 2^18. Die Verben haben in dem Referenzkorpus also vielfach eine relativ schwache bis sehr schwache Häufigkeit. Die Datenbasis dieser Analyse ist aus korpuslinguistischer Sicht selbstverständlich klein und die Ergebnisse sollen im Projektrahmen auf der Basis von ca. 1000 Schulbuchseiten überprüft und ergänzt werden. Es fällt aber auf, dass sehr viele Verben in den Schulbüchern eher selten Verwendung zu finden scheinen und weniger Verben fachübergreifend und häufig gebraucht 11 Im Wortschatzportal Leipzig werden die Frequenzklassen in Abhängigkeit der Vorkommen von der bestimmt. 2^9 bedeutet, dass der ca. 2^9 mal häufiger ist als das gesuchte Wort. Als Vergleich: machen hat die Frequenzklasse 2^6. <?page no="24"?> Bernt Ahrenholz, Britta Hövelbrinks, Jessica Neumann 24 werden. Zu prüfen bleibt, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Verben in anderen Kontexten zu erwarten sind. Erst dann lassen sich wirklich Aussagen über mögliche Folgen für die fachbezogene Sprachbildung machen. Zunächst scheint es aber so, dass der seltene Gebrauch vieler Verben Lernende mit eingeschränkten Sprachkompetenzen vor erhebliche Probleme stellen könnte. 12 3.2.2 Quantitativer Überblick: Partikel- und Präfixverben Auf allen 59 Seiten finden sich 204 Lemmata (681 Token) von Vollverben ohne Präfix oder Partikel, 263 Lemmata (445 Token) von Partikel- und 201 (704 Token) von Präfixverben, die jeweils etwa ein Drittel aller Verben ausmachen. Die Variation nach Fach und Schulart ist dabei gering (vgl. Abb. 1). 13 Abb. 1: Anteile der Vollverben (Lemmata) im Schulbuchvergleich (alle Textformate) Werden statt Lemmata die Token gezählt, gibt es eine leichte Verschiebung zugunsten der Präfixverben. Diese werden dann mit 41-43% verwendet, während Partikelverben wie auftreten nur noch einen Anteil von 22-30% ausmachen. Präfixverben wie enthalten, deren Semantik häufig über den Verbstamm nicht gut erschließbar ist, sind demnach in der absoluten Häufigkeit ein relativ stark vertretener Verbtyp in Schulbüchern der Sekundarstufe I, Partikelverben weisen hingegen eine etwas höhere lexikalische Variabilität 12 Abgesehen davon, ob die betroffenen Verben tatsächlich seltener im Input der SuS vorkommen, bleibt die Frage, ob geringe Frequenzen bestimmter Verben tatsächlich zu Verstehensschwierigkeiten führen. 13 Die Gruppe der Partikelverben enthält auch einige Vorkommen, in denen Präfixverben wie in angewöhnen oder fortbewegen Stamm von Partikelverben sind. Zu beachten ist, dass die Lemmata in der Graphik für die Gesamtvorkommen nicht addiert werden dürfen, da sich eine Reihe von Lemmata in mehreren Teilkorpora finden. 32% (n=101) 30% (n=85) 35% (n=105) 34% (n=31) 36% (n=113) 31% (n=70) 31% (n=95) 36% (n=61) 32% (n=102) 38% (n=68) 34% (n=108) 31% (n=57) 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% BIO-Gym (2722 word tokens) BIO-RS (2929 word tokens) GEO-Gym (5550 word tokens) GEO-RS (3387 word tokens) Prozentuale Anteile der Verblemmata Vollverben ohne Präfix oder Partikel Vollverben mit Präfix (untrennbar) Vollverben mit Partikel (trennbar) <?page no="25"?> Verben und Verbhaltiges in Schulbuchtexten 25 auf. Partikelverben können eine besondere Anforderung beim Leseverstehen darstellen, da sie aufgrund einer möglichen Distanzstellung der Partikel nicht immer leicht als solche zu erkennen sind. Interessant ist daher auch, in welchem Umfang sie tatsächlich in Distanzstellung verwendet werden (Bsp. 1) oder nicht (2). (1) […] Ascheregen nieder und es traten mehrere Erdbeben auf. (GEO-Gym, S. 18) (2) […] in welchen Gebieten Kaliforniens größere Erdbeben auftraten. (GEO-Gym, S. 20) Von den hier untersuchten Partikelverben werden 59% (261 Token) in Distanzstellung verwendet. 3.2.3 Quantitative Analyse von Mehrworteinheiten mit verbalem Bestandteil Zur Beschreibung der Verbvorkommen in den Schulbuchtexten werden neben den einfachen Vollverben auch komplexere Einheiten mit festen verbalen Bestandteilen wie Funktionsverbgefüge und V-NG-/ -PG-KollNG-/ - PG-Kollokationen betrachtet; ihr Anteil ist jedoch gering (54 Vorkommen verteilt auf insgesamt 47 MWE) (vgl. Tab. 3). Tab. 3: Absolute Anzahl der verbhaltigen Mehrworteinheiten (MWE) Schulform MWE BIO-Gym BIO-RS GEO-Gym GEO-RS Σ FVG 7 2 7 14 30 V-NG-/ -PG-Koll. 6 6 7 5 24 Σ 13 8 14 19 54 FVG = Funktionsverbgefüge, V-NG-/ -PG-Koll = Kollokationen aus Verb und Nominalgruppe bzw. Präpositionalgruppe Werden die Einzelvorkommen der MWE in den spezifischen Teilkorpora betrachtet, zeigt sich, dass der Großteil der MWE (44) nur einmal im jeweiligen Schulbuch verwendet wird. Lediglich die MWE zum Stillstand kommen, eine Rolle spielen (BIO-Gym) und eine Erklärung finden (BIO-RS) werden zweimal im selben Schulbuchteilkorpus gebraucht. Schulbuchübergreifend werden die vier MWE in Verbindung stehen, eine Erklärung finden, einen Druckverband anlegen und Folge sein in jeweils zwei verschiedenen Schulbüchern vorgefunden. Ob es sich bei den MWE um gebräuchliche Ausdrücke der Standardsprache handelt, zeigt ein Abgleich mit deren Vorkommen im DWDS- <?page no="26"?> Bernt Ahrenholz, Britta Hövelbrinks, Jessica Neumann 26 Kernkorpus 20 (vgl. Tab. 4). 14 Abgefragt wurde dazu jeweils das gemeinsame Auftreten von NG/ PG und Verb in einem Satz. Die Ergebnisse sind aufgrund der hohen Frequenzen noch nicht manuell bereinigt, lassen jedoch Tendenzen erkennen. Drei MWE mit haben und sein fließen nicht in die Ergebnisdarstellung ein, da hier in einer Stichprobe zu viele unpassende Suchergebnisse verzeichnet wurden (das betrifft Auswirkungen haben, eine Vorstellung haben, Folge sein). Fachspezifisch scheint vor allem die Kollokation eine Tiefenbohrung niederbringen (GEO-RS) zu sein, aber auch Einheiten wie einen Druckverband setzen/ anlegen (BIO-Gym und BIO-RS) sind thematisch eng begrenzt. Nur zwei MWE sind idiomatische Phraseme (ins Auge fallen, jmdn. im Zaum halten) und die Verbindung aus dem Schlaf erwachen im GEO-Gym- Schulbuch wird metaphorisch benutzt. Tab. 4: Frequenz der im Pilotkorpus identifizierten MWE im DWDS-Kernkorpus 20 15 Anzahl der Vorkommen Mehrworteinheiten unter 10 Vorkommen als Erklärung heranziehen, zu Erkenntnissen kommen, zum Zusammenstoß kommen, Störung/ en hervorrufen, Ursachen aufzeigen, eine Bohrung niederbringen, einen Druckverband anlegen/ setzen 10-50 Vorkommen Protokoll führen, an Höhe verlieren, eine Vermutung aufstellen, aus dem Schlaf erwachen, eine Vermutung äußern, Beweis/ e vorbringen, zur Erkenntnis kommen 51-100 Vorkommen Rückschlüsse ziehen, zum Tod/ e führen, im Zaum halten, ins Auge fallen, einen Überblick gewinnen, in Ohnmacht fallen 101-200 Vorkommen in die Höhe treiben, in die Geschichte eingehen, Anweisung/ en erhalten, Druck ausüben, in Bewegung bringen, einen Zusammenhang herstellen 201-500 Vorkommen zum Stillstand kommen, zu Hilfe nehmen, Einblick geben, Entdeckung/ en machen, Zustimmung finden, das Leben kosten 501-1000 Vorkommen im Zusammenhang stehen, Scha/ äden anrichten, Erklärung/ en finden, in Verbindung stehen, Aufgabe/ n erfüllen 1001-4200 Vorkommen Auskunft geben, eine Rolle spielen, zur Folge haben, Stellung nehmen, in Anspruch nehmen, zur Verfügung stehen, in der Lage sein 14 Im Kollokationenwörterbuch (Häcki Buhofer et al. 2014) sind 20 der 47 MWE nicht gelistet; in der Regel fehlen die Basen der Kollokationen (z.B. Erkenntnis, Überblick, Vermutung) im Wörterbuch, was verschiedene Vermutungen offen lässt: (1) FVG i.e.S. und Idiome sind nicht gelistet. (2) Diese MWE zählen nicht zum Basiswortschatz Deutsch. (3) Diese MWE sind keine Kollokationen (was jedoch den Assoziationsmaßen im DWDS-Wortprofil widersprechen würde). Gleichzeitig sind im Kollokationenwörterbuch Kollokationen gelistet, die im DWDS nur unter 50-mal vorkommen (als Erklärung heranziehen, an Höhe verlieren, aus dem Schlaf erwachen). 15 Das DWDS-Kernkorpus 20 umfasst 1,5 Mrd. Token, die öffentlich recherchierbar sind. Die Abfrage wurde am 29.09.2015 durchgeführt. <?page no="27"?> Verben und Verbhaltiges in Schulbuchtexten 27 Distanzstellung Auch bei MWE kann man für deren Wahrnehmung und Verständnis annehmen, dass ein erheblicher Unterschied bezüglich der Verwendung in Nähestellung (3) oder Distanzstellung besteht. Letztere trifft zu, wenn Verb und NG/ PG durch andere syntaktische Glieder, darunter auch Attribute zum Nomen, getrennt werden (4): (3) Ordnet Schrift und Bilder so an, dass man schnell einen Überblick gewinnt. (GEO-Gym) (4) Kommt der Kreislauf einmal zum Stillstand, so bedeutet dies zugleich das Ende unseres Lebens. (BIO-Gym) Im Pilotkorpus werden 38% aller MWE in Nähestellung, 62% in Distanzstellung gebraucht. Solche syntaktisch aufgespaltenen MWE finden sich in allen vier Teilkorpora gleichermaßen. Zum Vergleich: im DWDS-Kernkorpus 20 beträgt das Verhältnis der analysierten MWE 46% Nähestellung zu 54% Distanzstellung. Sofern das hier zum Vergleich herangezogene DWDS- Kernkorpus als repräsentativ für den allgemeinen schriftlichen Sprachgebrauch gelten kann, ergibt sich in den Schulbuchtexten eine nicht unerhebliche Abweichung von 7%-Punkten, was wiederum als Indiz für erhöhte syntaktische Komplexität gewertet werden kann. 3.2.4 Ein Blick auf Komposita mit deverbalem Kopf Für die Analyse ausgewählt werden aufgrund ihrer Spezifika (vgl. 2.3) substantivische Rektionskomposita wie bspw. Blutspende; hierbei wurde unberücksichtigt gelassen, ob etymologisch anzunehmen ist, dass das Nomen vom Verb abgeleitet ist oder umgekehrt. 16 Datenbasis sind nun alle Textformate, da NPs auch in Bildbeschriftungen etc. hochfrequent sind. Frequenz Ein quantitativer Vergleich nach Schulform zeigt für die Schulbücher der Regel-/ Real-/ Gesamtschulen eine absolut und auch relativ zur Gesamttokenzahl niedrigere Anzahl an Komposita als in den Gymnasialschulbüchern (vgl. Tab. 5). Betrachtet man lediglich die Lemma/ Token-Relationen, lässt sich zwar im BIO-Gym-Text eine geringere Variabilität als im BIO-RS- Text feststellen (0,42 zu 0,53). Bezogen auf die Gesamttokenzahl ergibt sich allerdings ein anderes Bild: so zeigt sich nicht nur eine stärkere Verwendung von unterschiedlichen Komposita mit deverbalem Stamm in den BIO- 16 Mit dieser Einschränkung sind andere Komposita mit verbalen Anteilen wie z.B. Spenderblut in der vorliegenden Untersuchung ausgenommen. Es wurden nur Rektionskomposita angeschaut, da in diesem Fall die Verben im Grundwort enthalten sind und damit Handlungen/ Vorgänge/ Prozesse/ Zustände beschrieben werden. <?page no="28"?> Bernt Ahrenholz, Britta Hövelbrinks, Jessica Neumann 28 Lehrbüchern, sondern auch ein variantenreicherer Gebrauch in den Gymnasiallehrbuchtexten im direkten Vergleich zu den RS-Texten. Tab. 5: Komposita (Komp.)-Vorkommen in den Lehrwerken Bei Zählung der einzelnen Token wird deutlich, dass ein Großteil der Komposita nur einmal verwendet wird (vgl. Tab. 6). Ein hohes Vorkommen findet sich aufgrund der ausgewählten Themen für die Ausdrücke Blutgerinnung und Blutdruck in den Biologie-Texten sowie Erdbeben, Seebeben und Vulkanausbruch in den Geographie-Texten. Mehrfachnennungen treten vor allem aufgrund der wiederholten Verwendung der Ausdrücke in Kapitel- und Absatzüberschriften, Bildunterschriften und Abbildungsbeschriftungen auf. Außerdem ist bei diesen Komposita auch von einem höheren Lexikalisierungsgrad auszugehen. Tab. 6: Vorkommen der Komposita-Lemmata BIO-Gym BIO-RS GEO-Gym GEO-RS Komposita mit 1 Vorkommen 19 von 30 12 von 21 16 von 28 5 von 11 Komposita mit 2 Vorkommen 2 von 30 4 von 21 6 von 28 2 von 11 Komposita mit 3 Vorkommen 3 von 30 3 von 21 3 von 28 1 von 11 Komposita mit 4-9 Vorkommen 5 von 30 2 von 21 1 von 28 2 von 11 Komposita mit >9 Vorkommen 1 von 30 0 von 21 2 von 28 1 von 11 Bekanntheit Um eine Tendenz für die Zugehörigkeit der Komposita zum Wortschatz der SuS in der Sekundarstufe I auszumachen, wurde geprüft, welche der Komposita im Schülerduden (2014) erfasst sind. Für die Analyse wird unterschieden, ob die Komposita einen eigenen Lemmaeintrag haben (wie bspw. Blutdruck oder Herzschlag), dann ist von einer höheren Lexikalisierung auszugehen, oder ob sie unter einem anderen Lemma (i.d.R. ein Kompositionsglied) als Zusammensetzung oder Synonym (SYN) (z.B. Arterienverkalkung unter dem Lemma Arteriosklerose) zu finden sind. BIO-Gym BIO-RS GEO-Gym GEO-RS Komp.-Token absolut 72 40 86 35 Komp.-Lemmata 30 21 28 11 Komp.-Token/ Gesamttoken 2,65% 1,37% 1,55% 1,03% Komp.-Lemmata/ Komp.-Token 0,42 0,53 0,33 0,31 Komp.-Lemmata/ Gesamttoken 0,0110 0,0072 0,0050 0,0032 <?page no="29"?> Verben und Verbhaltiges in Schulbuchtexten 29 Abb. 2: Anzahl Komposita-Lemmata mit deverbalem Kopf im Schülerduden (2014) Anhand der Abbildung 2 wird deutlich, dass ein Großteil der Komposita (80) nicht im Schülerduden (2014) gelistet ist. Dies kann zum einen lexikographisch begründet sein in der Art, dass es sich hierbei um Ausdrücke handelt, die weniger stark lexikalisiert sind und deren Bedeutungen aus den Einzelkomponenten erschlossen werden können, weshalb sie nicht im Wörterbuch aufgenommen wurden. Dies müsste allerdings mit Hilfe einer semantischen Analyse überprüft werden. Zum anderen wäre auch denkbar, dass es sich um Fachbegriffe handelt, die in einem Wörterbuch mit Wortschatz „zum Schulalltag oder zur Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler“ (Dudenredaktion 2014: Vorwort) nicht zu finden sind. Auch hier müsste ein zusätzlicher Abgleich mit Fachwörterbüchern ansetzen. Erwähnenswert ist zudem, dass viele dieser Wortbildungen je nur einmal in den Teilkorpora vorkommen (BIO-Gym: 16 von 23 nicht gelisteten; BIO-RS: 9 von 15; GEO- Gym: 14 von 24; GEO-RS: 5 von 10), was wiederum die Bedeutungserschließung erschweren könnte. Vergleicht man die in den Kompositagrundwörtern verwendeten Verben bzw. Verbderivata mit den Stichwörtern im Schülerduden (2014), ergibt sich ein anderes Bild (vgl. Tab. 7). Die Mehrheit der Verben scheint zum Wortschatz von SuS der Sekundarstufe I gehören zu können. Lediglich ausstreichen, zufließen und hochdrücken aus den Biologielehrbüchern sowie driften aus dem GEO-RS-Lehrbuchtext sind nicht im Schülerduden gelistet, dafür jedoch die entsprechenenden Derivata Zufluss, Hochdruck und Drift. Nur ausstreichen/ Ausstrich kommen gar nicht vor. Die Verben würden also mithilfe eines Schülerdudens einen Zugang zu den Komposita erlauben. Tab. 7: Verben und Verbderivata im Schülerduden (2014) BIO-Gym BIO-RS GEO-Gym GEO-RS Verblemmata in Komp.lemmata 23 von 30 20 von 21 16 von 28 10 von 11 Verben im Schülerduden 21 von 23 18 von 20 16 von 16 9 von 10 Verbderivata im Schülerduden 18 von 23 19 von 20 13 von 16 8 von 10 0 5 10 15 20 25 BIO-Gym BIO-RS GEO-Gym GEO-RS Komposita mit eigenem Lemma Komposita als SYN unter anderem Lemma Komposita ohne Eintrag <?page no="30"?> Bernt Ahrenholz, Britta Hövelbrinks, Jessica Neumann 30 Komposita und entsprechende verbhaltige Kollokationen Im BIO-Gym-Schulbuch wurde beispielhaft untersucht, ob die Determinantien der verwendeten Rektionskomposita auch als Nomen bzw. Präpositionalgruppen in Verbindung mit dem entsprechenden Vollverb gebraucht werden. Hierdurch könnte die Semantik des Kompositums evtl. leichter erschlossen werden. Allerdings finden sich für die 30 Kompositalemmata des Schulbuchs nur sechs entsprechende Belege (Bsp. 5 und 6). 17 (5) Herzschlag - Erst wenn in besonderen Momenten das Herz vor Aufregung „bis zum Hals“ schlägt, bemerken wir den Herzschlag. (6) Blutverlust - Er verliert viel Blut. Zum Kompositum Bluttransport finden sich Auflösungen im Satzzusammenhang, die unterschiedliche Deutungen des Kompositums zulassen. In den genannten Beispielen kann Blut sowohl als Subjektergänzung als auch als Objektergänzung zu transportieren interpretiert werden. Damit wird ein zentrales Problem für die Bedeutungserschließung angesprochen: Die Gesamtbedeutung des Kompositums ist abhängig von der Rektionsbeziehung zwischen dem Verb im Determinatum und dem Determinans. Zur Verdeutlichung sollen an dieser Stelle Reihenbildungen von Komposita in den einzelnen Teilkorpora dienen (vgl. Tab. 8). In den Biologielehrbüchern ist ein hoher Anteil von Bildungen mit Blutals Determinans zu verzeichnen. Eine Variation findet nicht wie üblich über veränderte Bestimmungswörter, sondern aufgrund differierender Grundwörter statt. Blut nimmt in den Komposita jeweils unterschiedliche semantische Rollen ein, die sich aus den aufgerufenen Argumentstellen des Verbs im Grundwort ergeben. Blut besetzt bspw. die Agensrolle in Blutgerinnerung und Blutfluss, während es in Blutdruck, Blutübertragung, Blutspende und Blutvergiftung als Patiens gelesen werden kann. Eichinger (2000) spricht bei derartigen Reihenbildungen von „syntaktischer Kondensierung“. Demgegenüber wirken variierende Bestimmungswörter bei gleichbleibendem Determinatum modifizierend. Subklassen mit verschiedenen Dimensionen werden im Deutschen typischerweise auf diese Art versprachlicht wie bspw. in den GEO-Texten die Unterkategorien von Beben, Strom oder Bohrung. 17 Dieser Befund deckt sich mit den Ergebnissen von Roth (2014: 193), der die Verteilung von Konkurrenzbildungen in einem Web-Korpus analysierte. Eine wechselnde Verwendung der Konkurrenzbildungen innerhalb eines Textes zeigt sich bei nur 4,4% der betrachteten Fälle. <?page no="31"?> Verben und Verbhaltiges in Schulbuchtexten 31 Tab. 8: Einige reihenhafte Komposita mit deverbalem Kopf im Fächer- und Schulvergleich inkl. Häufigkeiten BIO-Gym BIO-RS GEO-Gym GEO-RS Blutgerinnung 10 Blutdruck 7 Erdbeben 32 Erdbeben 13 Blutdruck 8 Blutgerinnung 3 Seebeben 6 Seebeben 3 Blutfluss 4 Blutübertragung 3 Nachbeben 2 Bluthochdruck 3 Blutstrom 2 Fernbeben 2 Blutstrom 3 Bluthochdruck 2 Flachbeben 1 4 Fazit und Ausblick Die Analyse von 59 Schulbuchseiten aus den Fächern Biologie und Geographie zeigt einen sehr hohen Anteil an wenig frequenten Verben. Es handelt sich in den untersuchten Texten sehr häufig um Einzelvorkommen und auch in den Referenzkorpora muss man sie überwiegend als wenig frequent einstufen. Der Anteil der Partikel- und Präfixverben mit je etwa einem Drittel ist hoch. Da ihre Bedeutung meist nicht gut ableitbar ist, dürften hier, wie in der Literatur vielfach angenommen, Verständnisprobleme entstehen, was aber zu untersuchen wäre. Für Partikelverben ist interessant, dass ca. die Hälfte der Verben auch in Nähestellung verwendet wird, hier also ein Zugang zur Verbform gegeben ist. Es zeigt sich auch, dass ein Blick auf die Wortart Verben allein die Komplexität von Verständnisprozessen nicht ausreichend abbildet. Erst ergänzende Analysen von Mehrworteinheiten mit verbaler Komponente sowie Komposita mit deverbalem Kopf machen vollends deutlich, welche Rolle Verben für die Versprachlichung fachlicher Lerninhalte - hier v.a. Prozesse - spielen. Mit Blick auf die Verwendung der Texte im Fachunterricht ergibt sich die didaktische Konsequenz, Fachlehrkräfte - und in der Folge die Lernenden - darin zu unterstützen, verschiedene Versprachlichungsmuster zu erkennen und an ihnen fachlich zu arbeiten. 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Für sprachschwache Lernende stellen Schulbuchtexte häufig eine Hürde dar, die sie allein nicht bewältigen können. Sie benötigen Unterstützung in Form von Strategien und Aufgaben, um Texte angemessen rezipieren und produzieren zu können. Jedes Fach stellt dabei besondere Anforderungen an die Lernenden, die durch Unterricht aufgefangen werden müssen. Im Biologieunterricht treten Verstehensprobleme im Bereich der Textverarbeitung selten zu Tage, da die Sachverhalte im Unterrichtsgespräch geklärt werden (vgl. Drumm 2016). Diese Unterrichtsform zeichnet sich durch zumeist alltagssprachliche Normen und konzeptionelle Mündlichkeit aus. Sollen die Lernenden nun aber die Ergebnisse schriftlich festhalten oder zusammenhängend vortragen, stellt sich heraus, dass das zuvor sichergestellte Verständnis nicht ausreicht. Sachbezogener Diskurs im Unterricht basiert auf präziser Benennung und sachgerechter Prädikation. Besonders umfassende Zusammenhänge müssen in „sachfunktionalen, beschreibend-erklärenden Darlegungen erschlossen [werden], die auf Explizitheit, Widerspruchslosigkeit und […] Vollständigkeit der Information hin angelegt sind“ (Portmann-Tselikas 2013: 274). Es lässt sich ersehen, dass Texte in Form von Arbeitsblättern und Schulbüchern sowie deren Verarbeitung durch die Lernenden ein zentraler Faktor des Biologieunterrichts sind. Arbeitsblätter und Schulbuchtexte sind jedoch nicht nur Text im Sinne von sprachlichen Zeichen, sondern sie bestehen aus Text-Bild-Kombinationen unterschiedlicher Zusammensetzung. Diese Bestandteile verfolgen sowohl übereinstimmende als auch unterschiedliche Ziele und müssen von den Lernenden erschlossen werden. Außerdem bieten alle Bestandteile der Sachtexte spezifische Problemstellen und Hürden für sprachschwache Lernende. Der vorliegende Artikel befasst sich daher <?page no="38"?> Sandra Drumm 38 zunächst mit den Besonderheiten des Faches Biologie in Bezug auf die zu erwerbenden Kompetenzen und die damit verbundenen Merkmale von fachlichen Sachtexten. Anschließend wird das Zusammenwirken von Text- und Bildelementen vertieft und auf das Lernen, verstanden als den Aufbau mentaler Modelle, bezogen. Anhand eines Beispiels aus einem Biologiebuch werden einige Fragen des Verhältnisses von Text und Bild diskutiert, wobei der Schwerpunkt auf einer Analyse des Umgangs mit Begriffen liegt. Für dieses Beispiel werden abschließend didaktische Vorschäge unterbreitet, die den Abschluss des Beitrags bilden. 2 Besonderheiten des Faches Biologie Sprache ist der Spiegel des fachlichen Verständnisses und Denkens. Biologie als Schulfach versteht die lebendige Umwelt als in Gruppen, Arten und Abläufe, unterteilt und benennt einzelne Phasen und Bestandteile, um Vergleiche zu ziehen und Gegenstände der Analyse zugänglich zu machen. Dabei müssen Phasen und Bestandteile eindeutig zugeordnet und benannt werden. Aus diesem Grund sind Fachbegriffe für das Fach zentrale sprachliche und inhaltliche Elemente. Gleichzeitig werden die in Fachbegriffen ausgedrückten Sachverhalte als systemzugehörig begriffen. Das bedeutet, dass Begriffe nicht nur gelernt werden müssen, sondern dass sie immer auf andere Begriffe verweisen und als Bestandteile eines Systems verstanden werden müssen. Dies dient dem Aufbau der für das Fach Biologie grundlegenden Kenntnisse und Kompetenzen, wie sie bspw. das Hessische Kultusministerium (HKM) im Rahmen des Lehrplans definiert: „Auf der Grundlage eines basalen und vernetzten Fachwissens erwerben Lernende Kenntnisse über Organisationsstrukturen und -prozesse lebendiger Systeme“ (HKM 2010: 12). Dieses vernetzte Wissen soll die Lernenden in die Lage versetzen, Sachverhalte sowohl zu beschreiben als auch sie in ihrem Zusammenhang zu betrachten und Hypothesen über mögliche Entwicklungen aufzustellen. Damit sollen sie nach und nach jeden der drei Anforderungsbereiche des Faches Biologie erreichen (vgl. Tab. 1). Tab. 1: Anforderungsbereiche des Faches Biologie (vgl. HKM 2010: 16) Anforderungsbereich I: Sachverhalte, Methoden und Fertigkeiten reproduzieren Dieses Anspruchsniveau umfasst die Wiedergabe von Fachwissen und die Wiederverwendung von Methoden und Fertigkeiten. Anforderungsbereich II: Sachverhalte, Methoden und Fertigkeiten in neuem Zusammenhang benutzen Dieses Niveau umfasst die Bearbeitung grundlegender bekannter Sachverhalte in neuen Kontexten, wobei das zugrunde liegende Fachwissen bzw. die Kompetenzen auch in anderen thematischen Zusammenhängen erworben sein können. <?page no="39"?> Gemischte Zeichenkomplexe verstehen lernen 39 Anforderungsbereich III: Sachverhalte neu erarbeiten und reflektieren sowie Methoden und Fertigkeiten eigenständig anwenden Dieses Niveau umfasst die eigenständige Erarbeitung und Reflexion unbekannter Sachverhalte und Probleme auf der Grundlage des Vorwissens. Konzeptwissen und Kompetenzen werden u.a. genutzt für eigene Erklärungen, Untersuchungen, Modellbildungen oder Stellungnahmen. Biologisches Fachwissen liegt hauptsächlich in Form von systemisch vernetzten Termini 1 vor. Der Terminus oder Fachbegriff kann unter systematisch-pragmatischen Gesichtspunkten als „die kleinste bedeutungstragende und zugleich frei verwendbare sprachliche Einheit eines fachlichen Sprachsystems, die innerhalb der Kommunikation eines bestimmten menschlichen Tätigkeitsbereichs im Rahmen geäußerter Texte gebraucht wird“ (Roelcke 1999: 51f.), definiert werden. Da die Beherrschung der Termini die Grundlage für das Verständnis biologischer Sachverhalte, Zusammenhänge und Prozesse ist, erweist sich die Begriffsarbeit für den Unterricht im Fach Biologie als zentral (vgl. Graf 1989: 5). Die jeweilige Benennung steht abstrakt für alle Vertreter, die dieselben Merkmale aufweisen. Solche Merkmale werden als kritische Attribute einer Sache bezeichnet. „Der Begriffsinhalt ist die Summe aller kritischen, d.h. gemeinsamen Attribute eines Begriffs. […] Der Begriffsumfang ist die Gesamtheit aller in einem Begriff zusammengefaßten Ereignisse“ (Graf 1989: 13f.). Einen Begriff zu beherrschen, bedeutet in dieser fachbiologischen Sicht mehr als die Verwendung eines Wortes zu kennen, denn der Begriff ist nicht bzw. nicht ausschließlich der Name dessen, was bezeichnet werden soll, sondern das Bezeichnete selbst. Die Verwendung von Begriffen zielt auf die Genauigkeit im Ausdruck. Ein Fachbegriff dient der Ordnung der Welt in Kategorien und Taxonomien. Er ist einerseits mit einer vergleichsweise kurzen Benennung verbunden, andererseits mit einer Definition der bezeichneten Kategorie. Eine Definition ist somit „aus fachsprachenlinguistischer Sicht als Festlegung einer Wortbedeutung aufzufassen“ (Roelcke 1999: 54). Der Begriff besteht, wie alle Wörter einer Sprache, aus einer Inhaltsseite und einer Ausdrucksseite, doch er zeichnet sich dadurch aus, „dass sein begrifflicher Inhalt im Rahmen seiner Terminologie präzise definiert und einer festgelegten Benennung zugeordnet ist“ (Hanser 1999: 71). Sinn der Definition ist, dass Begriff und Benennung in eindeutiger Relation zueinander stehen (vgl. Hoffmann 1985: 26). 1 Im Rahmen dieses Artikels wird Begriff ausschließlich als nominaler Kern eines Gegenstandes oder Prozesses verstanden. Substantivierte Verben oder andere Wortarten in fachspezifischer Verwendung werden hier nicht behandelt. <?page no="40"?> Sandra Drumm 40 Begriffe sind die Grundeinheiten des fachlichen Wissens im Fach Biologie. Sie dienen dem Ordnungssystem als Bestandteile und sind eng vernetzt, was eine Begründung für die hohe Begriffsdichte in Sachtexten der Biologie liefert. Im Begriff ist der Inhalt einer Sache, verstanden als spezifische Merkmalskonstellation, zusammengefasst und durch die Verwendung des Begriffs werden diese Merkmalsbündel schnell und effizient kommuniziert. Ebenso wie die Begriffe haben die anderen sprachlichen Strukturen, die sich unter den Bezeichnungen Bildungssprache des Faches oder konzeptionelle Schriftlichkeit (vgl. Morek & Heller 2010) fassen lassen, ihre Bedeutung für die kommunizierende Behandlung der Sachverhalte. Sie ermöglichen sprachliche Dichte und präzise Bezugnahmen von Elementen im Satz auf andere in demselben oder in benachbarten Sätzen und Abschnitten und über den gesamten Text hinweg. Diese Dichte und Präzision müssen von den Lernenden sprachlich verarbeitet und verstanden werden, da sie die Abhängigkeiten und Differenzierungen der fachlichen Sachverhalte abbilden. Besonders relevant sind in dieser Hinsicht die Attribute für das Fach Biologie, da sie einen Gegenstand spezifizieren und seine Eigenschaften und Funktionen präzisieren (z.B. das dickflüssige Blut, der gallertartige Glaskörper). Auch auf der Ebene des Satzbaus und der thematischen Entfaltung weist das Fach Besonderheiten auf: Der Satz Sie dient der Versorgung des Auges hat eine andere Aussage als Sie versorgt das Auge mit…, denn im letztgenannten liegt das Augenmerk auf den Gütern der Versorgung, nicht auf dem Tatbestand der Versorgung an sich. Diese hier lediglich kurz angerissenen Strukturen entstammen der Fachkommunikation und dienen in Schulbuchtexten nicht nur als Mittel zum Wissenserwerb, sondern auch zur Entwicklung des fachlichen Denkens. Sprache dient dem Transport von Inhalten, ebenso werden jedoch auch fachliche Inhalte und Strukturen durch Sprache auf der kognitiven Ebene zusammengeführt (vgl. Kuplas 2010: 186). Schulfachspezifische Denkstrukturen werden auch durch Sprache und deren Gebrauch herausgebildet. Von Lernenden wird verlangt, dass sie eine neutral beobachtende Perspektive einnehmen und aus gegebenen Informationen Wissenskomplexe aufbauen, über die sie dann ebenso neutral und fokussiert Auskunft geben können (vgl. Portmann-Tselikas 2013: 275). Sprache und Denken bedingen sich hier gegenseitig. Text und Bild bilden gemeinsam das sog. Material (vgl. Drumm 2016: 176). Texte präsentieren gegliederte Informationen, die den Sachverhalt einführen, beschreiben, definieren und in größere Zusammenhänge einordnen. Bilder illustrieren die Zusammenhänge und dienen u.a. in Klassenarbeiten als Ausgangspunkt für weiterführende Überlegungen und Transfer. Der prototypische Aufbau soll an einem Beispielausschnitt eines Schulbuchtextes dargestellt werden (vgl. Abb. 1). <?page no="41"?> Gemischte Zeichenkomplexe verstehen lernen 41 Abb. 1: Ausschnitt einer Schulbuchseite (vgl. BIOskop Gymnasium, Klasse 7-9; 2007) Dieser Textabschnitt führt in das Thema ein. Lernende sollen anhand des Materials das Auge als lichtverarbeitendes Organ kennenlernen (vgl. HKM 2010: 19f.). Dazu gehören die Bestandteile des Gegenstands, die durch das erste Bild eingeführt werden. Im Text werden diese miteinander in Beziehung gesetzt. Anschließend wird der Prozess der Lichtverarbeitung erklärt, der ebenfalls in einer Abbildung zu sehen ist. Die Diskursfunktionen von Text und Abbildung zu Beginn des Textes können mit Benennen und Beschreiben gefasst werden. Ziel ist es, den Lernenden die Bestandteile des Auges und deren Zusammenwirken zu verdeutlichen, die Rolle der Elemente (Stäbchen und Zapfen) zu klären und dies auf verschiedene Bereiche (unterschiedliche Lichtwellenlängen usw.) zu übertragen. Es ist ersichtlich, dass damit die unterschiedlichen Niveaustufen des Faches angesprochen werden: Lernenden sollen die Bestandteile des Auges kennenlernen, um diese benennen zu können (Bereich I). Sie werden angeleitet, den Sachverhalt in <?page no="42"?> Sandra Drumm 42 einem neuen Zusammenhang zu betrachten, nämlich die Lichtverarbeitung zu verstehen, die in Verbindung von Lichtsinnesorgan und Gehirn abläuft (Bereich II). Anschließende Aufgaben zu Versuchen mit dem eigenen Sehvermögen (Lesen in der Dämmerung, Sehtest zur Rot-Grün-Blindheit) sollen die Lernenden zur eigenständigen Bearbeitung auffordern, um Theorien aufgrund des bisher vermittelten Grundwissens zu erstellen (Bereich III). In höheren Klassenstufen liegt auf diesem dritten Anforderungsbereich das meiste Gewicht, während in der Sekundarstufe I das Reproduzieren im Vordergrund steht. Über die Schullaufbahn hinweg lernen Schülerinnen und Schüler mit dem Material zu arbeiten, fachliche Inhalte zu erschließen und darauf aufbauend eigene Schlüsse zu ziehen. Ab der Oberstufe wird von ihnen erwartet, dass sie sich Inhalte eigenständig aneignen und vertiefen, indem sie sich zu Hause mit den Materialien beschäftigen. Daher ist eine ausgeprägte Lesekompetenz bezogen auf die Sachtextmuster im Fach Biologie eine wichtige Grundlage für das Fortkommen im Unterricht. Die gezeigte Textform unterscheidet sich von alltäglicher Leseerfahrung - sei diese aus dem Deutschunterricht oder durch private Leseerfahrungen entstanden (vgl. Rosebrock 2007: 59). Gerade das Fehlen gewohnter narrativer Muster, der Mangel an Redundanz und die hohe Dichte, die z.B. durch Fachbegriffe erreicht wird, bereiten schwächeren Lernenden Probleme. Schülerinnen und Schüler benötigen einerseits kognitiv-akademisch ausgerichtete Sprachkompetenzen, um diese Formen zu verarbeiten und zu produzieren, andererseits fach- und domänenspezifische Lesestrategien (vgl. Schmellentin, Schneider & Hefti 2011: 15f.). Häufig sind diese bei Zweitsprachenlernenden aufgrund geringen bildungssprachlichen Kapitals jedoch schwach ausgeprägt. Diese Lernenden sind durchaus in der Lage, fachliche Sachverhalte mental und alltagssprachlich zu verarbeiten, können sie aber nicht aus Texten herauslesen und nicht angemessen wiedergeben. Eine Grundkompetenz des Faches besteht darin, die gesammelten Informationen schlüssig und strukturiert darzustellen sowie in mündlicher und schriftlicher Form Stellung dazu zu beziehen. Diese produktive Kompetenz muss durch den Unterricht für das Fach Biologie anhand der zur Verfügung stehenden Materialien aufgebaut werden. An diesem Aufbau der Lese- und Schreibkompetenz sind verschiedene Prozesse beteiligt, die durch Text und Abbildung gesteuert werden. Dies soll im Folgenden anhand des eben gezeigten Beispiel-Ausschnitts erläutert werden. 3 Zusammenwirken von Text und Bild Die Abbildungen und der Text nennen die zentralen Bestandteile des Sachverhalts Auge und bringen sie in Beziehung. Die Bilder sind im Gegensatz zu <?page no="43"?> Gemischte Zeichenkomplexe verstehen lernen 43 den sprachlichen Zeichen des Textes durch eine Ähnlichkeitsbeziehung auf der Basis gemeinsamer Strukturmerkmale mit dem bezeichneten Gegenstand verbunden (vgl. Kürschner & Schnotz 2007: 49). Diese Ähnlichkeitsbeziehung kann unterschiedlich eng sein: Die Abbildung des Auges oben rechts soll den Gegenstand im Querschnitt möglichst wirklichkeitsgetreu abbilden. Dies soll u.a. durch die Farbgebung erreicht werden. Zu sehende Hautpartien sind hell eingefärbt und die Wimpern deutlich gezeichnet. Diese äußerlich wahrnehmbaren Merkmale machen das Bild anschlussfähig für die alltägliche Erfahrung der Lernenden. Andere Teile sind für die alltägliche Wahrnehmung nicht sichtbar. Sie werden farblich im Bild voneinander abgesetzt und mit Begriffen bezeichnet. Bei der Einführung dieser Begriffe erfüllt das Bild für den Lernprozess spezifische Funktionen, die durch den Text nicht erfüllt werden können: „Das Bild in den Naturwissenschaften ist primär Visualisierung, d.h. darstellerische Fixierung einer experimentell und technisch erzeugten Spur, und dadurch grundsätzlich mehr als Illustration; es ist unverzichtbares und unersetzbares Instrument des Erkenntnisprozesses“ (Frankhauser-Inniger & Labudde-Dimmler 2010: 849). Der Vorteil des Bildes besteht darin, dass es Elemente, die im Text eingeführt werden, sowie deren Zusammenspiel abbildet. Abbildungen unterstützen damit die Behaltens- und Verstehensleistung in Bezug auf dargestellte Prozesse (vgl. Kürschner & Schnotz 2007: 51). Visuelle Merkmale stellen die Form, Textur, Farbe und räumliche Zuordnung eines Sachverhalts einfacher und zusammenhängender dar, als dies durch Text möglich ist (vgl. Ballstaedt 2012: 15). Folgende Sätze aus dem Text sind ohne Abbildung schwierig zu verstehen: (1) Das eigentliche Auge ist von der Lederhaut umgeben. Es folgt nach innen die Aderhaut. In der Abbildung wird die nach innen folgende Aderhaut in ihrer räumlichen Beziehung zur Lederhaut weitaus eindeutiger dargestellt als im Text. Der Text vermag es aber treffender, die Eigenschaften der Aderhaut darzustellen: (2) Sie [die Aderhaut] enthält viele Blutgefäße und dient der Versorgung des Auges. Diese Informationen würden im Bild aufgrund der mangelnden Dreidimensionalität verwirren, denn die Adern würden parallel zu strukturschaffenden Linien und Pfeilen laufen. Die Abbildung würde unübersichtlich. Diese Details des Aufbaus und die Funktion der Aderhaut werden im Text mit Hilfe bildungssprachlicher Mittel wie Genitivattributen (des Auges) und Substantivierungen (der Versorgung) ausgedrückt, die präzise Bezugnahmen erlauben (vgl. Buhlmann & Fearns 2000: 21). <?page no="44"?> Sandra Drumm 44 Die Kombination von Text und Bild im Sachtext ist in Bezug auf den Lernprozess mit Besonderheiten verbunden. Lernende müssen beide Bestandteile nutzen lernen, wozu der Unterricht sie anleiten muss. Abbildungen müssen lesend erschlossen werden, was aufgrund der codierten Information nicht immer problemlos geschieht (vgl. Drumm 2015: 53f.). Ebenso müssen die bildungssprachlichen Mittel des Textes encodiert werden, um den Inhalt zu erfassen. Jedoch findet Lernen am Text erst statt, wenn beide Informationsquellen verbunden werden. 4 Ziel des Biologieunterrichts: Flexible mentale Modelle Beide Repräsentationsformen - Text und Bild - haben Bedeutung für das Lernen im Fachunterricht und beide müssen zu diesem Zweck von den Lernenden verarbeitet und zu einem sinnvollen Ganzen zusammengefügt werden. Eine solche Repräsentation des Sachverhalts im Gehirn der Lernenden wird als mentales Modell bezeichnet. Nur wenn ein mentales Modell aufgebaut wird, wird ein Sachverhalt tatsächlich verstanden und abgespeichert (vgl. Schmölzer-Eibinger 2008: 60). Mentale Repräsentationen bauen sich beim Lernen stufenweise auf. Auf der ersten Ebene der Verarbeitung werden lediglich die Oberflächenmerkmale von Text und Bild erkannt. Dies umfasst die Formulierung und Verteilung des spraclichen Materials auf der Textseite, Größe und Textur auf der Bildseite. Die nächste Ebene bezieht Propositionen ein, da hier die explizite Bedeutung von Text und Bild erkannt wird. Die tiefste Form des Verständnisses sind mentale Modelle, also „ganzheitlich gebildete Repräsentationen, die den wesentlichen Sachverhalt eines Textes [verstanden als Text-Bild-Kombination, Anm. d. Verf.] beschreiben und bei deren Zustandekommen Textinformationen und Weltwissen beteiligt sind“ (vgl. Kürschner & Schnotz 2007: 50). Aufgrund des Bildes können Lernende eine Vorstellung des Sachverhalts entwickeln, deren Einzelteile kohärent sind und Vorhersagen erlauben. Diese mentalen Modelle bestehen aus „kognitiven Repräsentationen von Teilen eines Systems, d.h. dessen Struktur, und von dynamischen Verknüpfungen dieser Teile, d.h. von Prozessen, denen das System unterworfen ist“ (Weidenmann 1994: 38). Die Leistung von Bildern zur Erstellung mentaler Modelle besteht darin, dass Abbildungen im Gegensatz zu sprachlichen Zeichen von Lernenden relativ einfach als Vorstellungsbild übernommen werden. Besonders realistische Darstellungen können direkt in eine mentale Form überführt werden, da sie den Gegenstand möglichst wirklichkeitsgetreu abbilden (vgl. Schnotz 2001: 302). Oberflächliche Verarbeitungsprozesse von Bildern dauern nur wenige Sekunden und belasten das Arbeitsgedächtnis nur wenig. Zwar <?page no="45"?> Gemischte Zeichenkomplexe verstehen lernen 45 können Lernende nach einem Blick den Gegenstand noch nicht in seinen Einzelheiten benennen oder Funktionen und Begriffe zuordnen, sie kennen aber seine Form und Farbe, Textur und grobe Gestalt. Es handelt sich dabei um die erste Stufe der Verarbeitung. Diese Informationen können ausreichen, um ein passendes Äquivalent im Vorwissen zu finden und zu aktivieren: Der Gegenstand Auge wird erkannt. Dennoch sind auch bei Abbildungen, Fotos und realitätsnahen Grafiken Encodierungprozesse beteiligt, besonders wenn diese tiefergehend verarbeitet werden sollen (vgl. Schnotz 2001: 302f.). Mitunter leistet ein Bild mehr als ein Text. Texte sind linear aufgebaut, weshalb ihre Informationen nacheinander erschlossen werden. Bilder jedoch sind diesbezüglich durch Gleichzeitigkeit gekennzeichnet. Im Bild finden sich alle visualisierten Merkmale direkt und gemeinsam, im Text müssen diese nach und nach erschlossen werden. Sachtexte in Schulbüchern sind deshalb ohne das Hinzuziehen der Abbildung schwer zu verstehen, weil sie darauf abzielen, mit dem Bild gemeinsam parallel gelesen zu werden. Bilder haben damit häufig eine erkenntnisschaffende Funktion. Visuell präsentierte Merkmale sind unmittelbar sichtbar, während dieselben Merkmale aus einem Text erst herausgelesen werden müssen, um dann von der verbalen auf die visuelle Ebene übersetzt zu werden. Der Text bietet hingegen den Vorteil, präziser und eindeutiger zu sein, doch seine sprachlichen Mittel müssen verstanden und miteinander in Beziehung gesetzt werden. Im Gehirn existieren zwei unterschiedliche Wissensbereiche parallel: Das visuelle Wissen und das begriffliche Wissen (vgl. Ballstaedt 2012: 15). Das begriffliche Wissen wird beim Denken in Wortform herangezogen - beispielsweise, wenn gedanklich argumentiert wird, Sachverhalte still vor Augen geführt werden oder jemand mit sich selbst im Dialog steht. Das visuelle Wissen hingegen ist am anschaulichen Denken beteiligt, welches besonders im Zuge kreativer Prozesse bedeutsam ist. Veranschaulichungen sind in diesem Sinne visuelle Vorstellungen eines Sachverhalts, seiner Bestandteile und seiner Funktionsweise. Weidenmann (1994: 38) hat diese Form des gedanklichen Konstrukts als Arbeitsmodell bezeichnet, das es erlaubt, gedankliche Abläufe am Gegenstand zu simulieren. Arbeitsmodelle werden durch den Einsatz von Bildern angeregt, weshalb diese in Lernprozessen eine zentrale Rolle spielen (vgl. Ballstaedt 2012: 15). Sie stehen in Analogiebeziehung zu Ausschnitten aus der Realität und greifen die Einzelheiten des Sachverhalts auf. Sie sind also deutlich komplexer als die nach kurzem Hinsehen entstandenen Abbilder. Um jedoch zu einem solchen komplexen mentalen Modell zu gelangen, sind zwei Bedingungen grundlegend: Zum einen muss ein koordinierter Aufbau von propositionalen Repräsentationen und mentalen Modellen durch den Text-Bild-Aufbau ermöglicht werden; zum anderen müssen beide Bestandteile verarbeitet und verstanden werden, da sowohl Text als auch Bild jeweils unterschiedliche Funktionen für den Aufbau des Modells erfüllen. <?page no="46"?> Sandra Drumm 46 Bilder können der räumlichen Verortung dienen, doch die im Geist erzeugten Abbilder sind statisch und unbeweglich. Einen Gegenstand adäquat zu verstehen bedeutet im Fach Biologie jedoch, Vorhersagen über seine Funktionsweise - auch unter gestörten Bedingungen - treffen zu können. Um dies zu leisten, muss das statische mentale Modell erweitert werden, und dazu braucht es bildungs- und fachsprachliche Mittel, um Abhängigkeiten und Prozesse abzubilden. Diese Mittel sind es, die, wenn sie ins Bildhafte übersetzt werden, das dynamische, flexible mentale Modell formen. Das Bild verortet und visualisiert Teilbereiche des Gegenstandes, doch der Text, der mithilfe bildungssprachlicher Mittel komplex und präzise bezugnehmend gestaltet ist, erweitert diese statische, vom Bild geschaffene Vorstellung und präzisiert sie. Das mentale Modell wird dynamisch, da nun auch Abläufe und Wechselwirkungen gedacht und ausgedrückt werden können. Diese Eigenschaft des Arbeitsmodells ist zentral für die Fähigkeit der Lernenden, Transferleistungen im Unterricht zu erbringen, indem sie basierend auf dem mentalen Modell Hypothesen aufstellen und Schlüsse auf andere Sachverhalte ziehen (vgl. Mayer 1997: 4). Weniger geübte Lernende können solche elaborierten Vorstellungen nicht ohne Hilfe aufbauen - ihre mentalen Modelle zeichnen sich durch inkohärente oder lückenhafte Strukturen aus, aus denen sich nur unzutreffende Vorhersagen ableiten lassen. Dies kann darauf zurückgeführt werden, dass sie keine Strategien zur Hand haben, um Abbildungen und Texte angemessen zu verarbeiten. Weidenmann unterscheidet bei der bildhaften Vorstellung von Sachverhalten zwei Verarbeitungsmodi: einen kurzgreifenden, mehr auf Oberflächenmerkmale bezogenen Zugang und einen tiefergehenden, der strukturelle und kausale Aspekte einbezieht. Wie zu erwarten verfügen erfahrene Lernende über beide Verarbeitungsmodi, während weniger erfahrene Lernende nur die Oberflächenmerkmale zur Verarbeitung heranziehen (vgl. Weidenmann 1994: 39). Da für die Erstellung eines elaborierten Modells und die Fähigkeit zum Transfer eine vertiefte Verarbeitung von Sachverhalten notwendig ist, muss Unterricht die tiefergehende Verarbeitung anleiten und reflektieren. Damit Schülerinnen und Schüler mit Fachtexten lernen können, müssen sie über die Textoberfläche hinaus deren Inhalte bewerten und reflektieren können. Im Fach Biologie bedeutet das, dass sie die begrifflich kommunizierten Sachverhalte in den Abbildungen finden müssen, um sich über deren Verortung klar zu werden. Diese Informationen werden im Text mit Attributen und prozesshaften Verbindungen erweitert. Die Konstruktion eines mentalen Modells des dargestellten Prozessablaufs geschieht auf der Basis bildlich und sprachlich vermittelter Sinnkontexte. Text und Bild können sich auf diese Weise in didaktischen Zusammenhängen ideal ergänzen, da der eine Repräsentationstyp die Schwächen des anderen ausgleichen kann und umgekehrt, was optimale Bedingungen für den Aufbau von komplexen Wissensstrukturen bildet. Damit dies geschieht, müssen <?page no="47"?> Gemischte Zeichenkomplexe verstehen lernen 47 Abbildungen aber bezogen auf den Sachverhalt sinnvoll gestaltet und in den Text integriert sein (vgl. Ballstaedt 2012: 18). Der Aufbau mentaler Modelle wird begünstigt durch eindeutige Kohäsion. Die Ermöglichung von Kohärenzbildung durch den Sachtext kann als eine der zentralen Anforderungen an gemischte Zeichenkomplexe gelten (vgl. Weidenmann 1994: 48). 5 Problemfeld: Wiederaufnahme von Begriffen Sowohl der Text als auch die Abbildungen im gezeigten Beispiel referieren auf Gegenstände der Realität, abstrahieren aber von diesen und stellen sie als fachlich geordnete Sachverhalte dar. Der Text erweist sich dabei als sehr dicht und begriffslastig, die Abbildungen ordnen die im Text genannten Begriffe an und bringen sie in einen visualisierten, räumlich dargestellten Zusammenhang. Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, Textzusammenhang herzustellen. In Bezug auf Fließtext und Abbildung ist zum Beispiel die räumliche Nähe der einzelnen Teile ein Faktor, der verbindend wirkt. Die Abbildung oben präsentiert die Bestandteile des Auges als Querschnitt, jeweils mit dem passenden Begriff benannt, im Anschluss darunter wird der Prozess der Lichtverarbeitung dargestellt und schließlich folgt eine Rasterelektronenmikroskop-Abbildung der Zapfen und Stäbchen. Der Text seinerseits beschreibt zuerst die Bestandteile des Auges und leitet dann über in deren Zusammenwirken bei der Lichtverarbeitung. Text und Abbildungen passen durch die räumliche Anordnung und die Übereinstimmung der thematischen Entwicklung zusammen und ermöglichen so die Bildung von Kohärenz. Betrachtet man nun die begriffliche Ebene, nähert man sich der Mikrostruktur des Textes. Die Wiederaufnahme der Fachbegriffe in Text und Bild sowie über den Textverlauf hinweg ist ein zentrales Mittel, um Beziehungen zwischen den Bestandteilen der Schulbuchseite zu bilden und diese für Lernende transparent zu machen. Die materielle Wiederaufnahme bzw. Rekurrenz eines einmal eingeführten Textelements meint, dass das gleiche Wort immer wieder unverändert verwendet wird. In Bezug auf Fachbegriffe ist dies besonders wichtig, da diese genormte Termini darstellen, die nicht beliebig verändert oder durch andere Begriffe ausgetauscht werden können. Betrachtet man den Textausschnitt unter diesem Gesichtspunkt, zeigt sich jedoch, dass Begriffe in Fließtext und Abbildung häufig entweder nur in einem von beidem auftauchen oder leichte Unterschiede in der Wortgestalt zwischen der Verwendung in Text und Bild aufweisen. Lesende können zwar Begriffe wie Muskel und Ringmuskel miteinander in Beziehung setzen, jedoch nur, wenn sie ihre Aufmerksamkeit bewusst darauf richten. Durch gezielte Begriffsarbeit im Fach kann dies erreicht werden, etwa durch Anleitung zum Suchen von Wortfeldern u.ä. Geht man aber von einem Leseprozess aus, in <?page no="48"?> Sandra Drumm 48 dem der Text bezogen auf die Erschließung des Inhalts chronologisch gelesen wird, wenn also nicht nach Einzelbegriffen gesucht und diese explizit verglichen werden, kann eine solche Abweichung eine Überforderung darstellen. Das Arbeitsgedächtnis schwacher Lesender ist durch den Prozess des Encodierens der Buchstaben, Wörter und Sätze sowie der Erschließung des Textsinns ausgelastet, da diese über kaum automatisierte Routinen verfügen. Sowohl die Speicherdauer als auch die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses ist bei schwachen Lesenden gering ausgeprägt, was Kognitionen über weite Strecken hinweg erschwert (vgl. McElvany 2008: 36). Gemeinsamkeiten von Begriffen, Zusammenhänge zwischen Abbildungsbeschriftung und Text werden deshalb gerade von schwachen Lernenden nicht automatisch hergestellt, sondern diese Prozesse müssen durch Unterricht gestützt werden. Nur knapp die Hälfte der im Textausschnitt vorkommenden Begriffe kann genauso wie sie im Text auftauchen in den Abbildungen wiedergefunden werden. Ein beträchtlicher Teil erscheint nur im Text. Die größere Begriffsmenge im Text ist damit zu erklären, dass dieser den Sachverhalt auf höheren Abstraktionsebenen zusammenfasst, als die Abbildungen dies tun (Augen als Lichtsinnesorgane), Begriffe nutzt, die metaphorisch erklärend sind (Blende), und auf Zusammenhänge verweist, die nicht abgebildet werden, weil sie nicht das Zentrum des Sachverhalts Lichtverarbeitung betreffen (Wimpern, Fremdkörper). Nur zwei Begriffe werden im Bild genannt, jedoch nicht im Text (Linsenbänder, Augenkammer). Sie scheinen für das Verständnis des Sachverhalts unnötig, da sie beim im Text dargestellten Aufbau des Auges nicht erklärt werden. Besonders unter dem Gesichtspunkt, dass erst der Text die Begriffe in Zusammenhänge und Abhängigkeiten einordnet, ist es als problematisch anzusehen, wenn Fachbegriffe nicht erklärt werden. Die Begriffe Linsenbänder und Augenkammer können unter Umständen so für die Lernenden beziehungslos bleiben, da deren Zweck und Eigenschaften anhand des Bildes allein nicht ermittelt werden können. Die Begriffe gelber Fleck, blinder Fleck und Sehnerv scheinen bei der ersten Betrachtung nur in der Abbildung vorhanden zu sein, da sie im Text keine räumliche Nähe zu den Abbildungen aufweisen. Betrachtet man jedoch die gesamte Seite, findet man die genannten Begriffe im letzten Textabschnitt erläutert. Von der Vorgehensweise beim Lesen her gedacht (von links nach rechts, von oben nach unten) werden diese Begriffe im Text erst gefunden, nachdem die Abbildungen bereits betrachtet worden sind. Es folgt im Text jedoch keine explizite Markierung, die vermittelt, dass wieder zum ersten Bild zurückgekehrt werden soll. Mehrere Begriffe tauchen sowohl im Text als auch in der Abbildung auf, jedoch in leicht unterschiedlicher Gestalt. Dies geschieht in Bezug auf vier Begriffe auch im vorliegenden Textausschnitt: Die Wortgestalt ändert sich, da in der Abbildung von Pupille die Rede ist, im Text aber von Pupillenweite. Es findet eine Spezifizierung statt, die die Funktion der Pupille für die <?page no="49"?> Gemischte Zeichenkomplexe verstehen lernen 49 Lichtverarbeitung erklärt (Sie [die Iris] bestimmt die Pupillenweite und reguliert so die einfallende Lichtmenge.) Die Pupille hingegen wird im Text nicht benannt. Auch in Bezug auf die Begriffe Muskel, Ringmuskel, und Augenmuskel liegt Spezifizierung durch Substitution vor. Im Text wird der Begriff Muskeln nicht differenziert, da der ihn betreffende Textteil oberflächlichen Charakter hat (Muskeln sorgen für die notwendige Beweglichkeit der Augen). In der Abbildung wird hingegen in Ring- und Augenmuskel unterschieden. Die Textbestandteile fordern jeweils Kapazitäten der mentalen Verarbeitung ein, was zur Überlastung führen kann. Die Cognitive Load Theory postuliert, dass aufgrund der eingeschränkten Kapazität des Arbeitsgedächtnisses ein Split-Attention-Effect auftreten kann, der die Lernleistung reduziert (vgl. Kürschner & Schnotz 2007: 52). Dies ist besonders in Bezug auf sprachschwache Lernende und den Fachunterricht Biologie interessant: Sprachschwache Lernende lesen langsam und fehleranfällig. Sie verfügen über weniger automatisierte Routinen beim Lesen und belasten ihr Arbeitsgedächtnis allein durch die Textrezeption. Häufig verfügen sie über geringeres Vorwissen und können daher neue Informationen weniger gut einordnen und verknüpfen. Zudem führt die sprachliche Spezifik des Faches Biologie zu einer erschwerten Lesesituation, da die Informationen im Text begrifflich geordnet sind. Ein Großteil des eigentlichen Begriffsinhalts muss in der Abbildung erkannt werden, da dieser im Text nicht ausführlich beschrieben, sondern mehr in seiner Abhängigkeit zu anderen Begriffen dargestellt wird. Daraus lässt sich schließen, dass Sachtexte in Biologie eine besondere didaktische Stütze durch Unterricht erfordern, um den Lernenden - und nicht nur jenen mit sprachlichen Problemen - die Rezeption zu ermöglichen. 6 Didaktische Schlussfolgerungen Die Funktion von Lehrmitteln ist das Kennenlernen und Verstehen von komplexen Sachverhalten. Nodari (2008) fordert, dass sie über ein klares und nachvollziehbares grafisches Leitsystem verfügen, das den Lernenden die Orientierung erleichtert (vgl. Nodari 2008: 7). In Bezug auf Biologiebücher bedeutet dies, dass zwischen den Texten und den Bildern ein eindeutiger Bezug bestehen sollte, der auch für leseschwache Lernende nachvollzogen werden kann. Dieser kann im Fach Biologie über die Begriffe erreicht werden, die den Großteil des Textes ausmachen und die in der Grafik räumlich verortet sind. Im Idealfall lädt der Text dazu ein, einen Begriff, der genannt wird, im Bild zu suchen und sich so die komplexe schriftliche Darstellung zu visualisieren. Gleichzeitig haben Bilder Erkenntniswert bezogen auf die räumliche Verortung der Prozesse, die im Text benannt werden. Beide Bestandteile unterstützen dabei den Lernprozess auf unterschiedliche, <?page no="50"?> Sandra Drumm 50 aufeinander bezogene Weise. Kommen Begriffe wie Augenkammer im vorliegenden Beispiel nur in der Abbildung vor und nicht im Text, können sie die Abbildung unnötig überfrachten. Um möglichst problemlose Kohärenzbildung zu erreichen, sollten die Begriffe in Text und Bild identisch sein. Betrachtet man nun den bereits gezeigten Ausschnitt der Schulbuchseite zum Auge unter dem Gesichtspunkt der direkten Wiederaufnahme, so zeigt sich, dass nur rund die Hälfte der relevanten Begriffe in den Abbildungen auftaucht. Eine nicht zu vernachlässigende Anzahl an Begriffen ist zwar in beidem - Text und Bild - repräsentiert, jedoch mit teilweise großen Unterschieden. Im Idealfall würde Lehrmaterial so konzipiert werden, dass Begriffe in Text und Abbildung in räumlicher Nähe stehen und in ihrer Gestalt und Bedeutung übereinstimmen (vgl. Nodari 2008: 7f.). Kohärenzbildung ist zwar vom individuellen Vorwissen abhängig, aber dennoch kein rein subjektiver Prozess, da sie durch die im Text präsentierten Phänomene angestoßen wird. Daher verläuft sie in gewissem Maße vorhersehbar und nach bestimmten Prinzipien, die als Texterschließungskompetenzen gefasst werden können (vgl. Schwarz-Friesel 2006: 65). Durch einheitlichen Text- und Bilduafbau kann das eigenständige Lesen der Texte durch die Lernenden erleichtert werden, damit diese sukzessive ihre fachliche, aber auch ihre fachbezogene Lesekompetenz aufbauen können. Wird das Verständnis aber durch Begriffe erschwert, die sie nicht im Bild finden können (oder umgekehrt), kann der Leseprozess so weit gestört werden, dass die Aufnahme der in der Text-Bild-Kombination präsentierten Informationen nicht mehr möglich ist. Leider werden Text und Bild in biologischen Lehrwerken selten in Bezug auf die Erleichterung des Leseprozesses aufeinander abgestimmt. Die Schwächen des Sachtextes können jedoch durch leseförderliches didaktisches Vorgehen abgemildert werden. Für Lernende ist die Begriffssprache gegenüber der Bildsprache dominant (vgl. Frankhauser-Inniger & Labudde-Dimmler 2010: 857). Dies ist zu bedenken, wenn man im Unterricht mit den Abbildungen selbstständig arbeiten lässt. Lernende neigen dazu, Bilder nur sehr kurz zu betrachten, statt sie tiefergehend zu verstehen zu versuchen. Die Inhalte suchen sie zunächst im Text, um im Anschluss die Begriffe im Bild zu entdecken, nicht jedoch diese aktiv mit dem Text zu verknüpfen. Aus dem Bild Vorwissen zum Text zu schöpfen und sich die Vorteile des Bildes zu Nutze zu machen, indem sie die Lokalisierung der Sachverhalte reflektieren und räumliche Abhängigkeit vergegenwärtigen, ist für Lernende häufig nicht Teil des Leseprozesses (vgl. Frankhauser-Inniger & Labudde-Dimmler 2010: 856). Gerade die Koordination und Integration beider Sachtextbestandteile bereitet Probleme (vgl. Oleschko 2012: 12). Es fehlt also eine gewisse Form der Bildkompetenz, die der Lesekompetenz vorausgeht und mit dieser verbunden ist, um Sachtexte im Fach Biologie adäquat zu nutzen. <?page no="51"?> Gemischte Zeichenkomplexe verstehen lernen 51 Neben der Begriffshaftigkeit des Faches Biologie, die mit den Lernenden zu erarbeiten wäre, ist die Fokussierung auf die Vorteile der jeweiligen Textbestandteile im Unterricht sinnvoll. Wie erwähnt können Abbildungen - besonders wenn sie realistisch gehalten sind - schnell verarbeitet werden und eine niedrigschwellige Form eines mentalen Modells aufbauen helfen. Daher ist es sinnvoll, den Sachverhalt tatsächlich zuerst anhand des Bildes gemeinsam zu klären. Dennoch ist auch das Bild nicht voraussetzungslos, sondern muss semantisch encodiert und mit dem Text in Verbindung gebracht werden. Schwache Lernende können die bildungssprachlichen Texte nur mit Anleitung und Hilfestellung verarbeiten. In Bezug auf Begriffe bieten sich daher kooperative Sozialformen wie Partnerarbeit an. Dies soll im Folgenden anhand des analysierten Beispiels ausformuliert werden. In Bezug auf den Sachtext Lichtsinnesorgan Auge könnte man die Lernenden anleiten, zunächst die erste Abbildung sowie eine realistische Fotografie eines Auges zu erarbeiten und zu versuchen die Begriffe zu klären, die bereits bekannt sind. Dabei können alltägliche Erfahrungen der Lernenden am Gegenstand Auge einbezogen werden (Wimpern als Schutz vor Schmutz, Tränenflüssigkeit, die Verengung der Iris im hellen Licht usw.). Im Anschluss daran können die Begriffe der Abbildung im Text gesucht werden. Dies verlsangsamt und fokussiert den Leseprozess. Die benachbarten Textteile sollen der Klärung dieser Begriffe dienen, sodass diese als Verstehensinseln fungieren und eine mentale Vorstellung des Textaufbaus und der Verteiung der Inhalte entsteht. Dabei sollte seitens der Lehrkraft Wert darauf gelegt werden, zu verdeutlichen, dass die Begriffe im Text nun durch Attribute spezifiziert werden (lichtundurchlässige Pigmentschicht, elastische Linse) und dass diese die Funktion der präzisen Bezugnahme erfüllen. Dies sollte als Strategie, die zur Erschließung biologischer Texte dienen kann, für die Lernenden explizit gemacht werden. Da es im Fach Biologie besonders die hoche Dichte an Fachbegriffen ist, die das Lesen von Texten erschwert, sollten sie besondere Aufmerksamkeit erhalten. Sie müssen von den Lernenden als Fachtermini erkannt und hierarchisiert werden, je nachdem, ob es sich um zentrale oder periphere Begriffe des Textes handelt. Gerade die zusätzlichen Begriffe, die die Abbildungen bereithalten, sollten durch die Lehrkraft kontextualisiert werden, um die Lernenden dabei zu unterstützen, diese als peripher oder als weiterführend zu begreifen (vgl. Schmellentin, Schneider & Hefti 2011: 9). Entsprechende Text-Bild-Integrationen sind notwendigerweise von Schülerinnen und Schülern im Unterricht zu leisten und müssen von Lehrenden angeleitet werden, indem sie lernrelevante kognitive Prozesse bei den Lernenden anregen. Es konnte gezeigt werden, dass Text-Bild-Kombinationen im Fach Biologie eine zentrale Rolle beim Aufbau der fachspezifischen Kompetenzen spielen. Flexible Arbeitsmodelle ermöglichen die Bildung von Hypothesen <?page no="52"?> Sandra Drumm 52 und Transferleistungen. Um diese aufzubauen, müssen sowohl Text als auch Abbildung von den Lernenden verarbeitet und verstanden werden, weil beide aufeinander bezogene, aber doch unterschiedliche Leistungen für das Arbeitsmodell erbringen. Es kann davon ausgegangen werden, dass ein lückenhaftes mentales Modell sich weniger für die Weiterarbeit eignet, als ein elaboriertes, weil anhand dessen keine Vorhersagen über den Gegenstand unter gestörten Bedingungen getroffen werden können. In Bezug darauf sind nicht nur sprachschwache Lernende auf Unterstützung durch den Unterricht angewiesen. Lehrmaterial weist immer kleine oder größere Schwächen auf, die durch die didaktisch-methodische Planung aufgefangen werden müssen, um den Aufbau fachlicher und bildungssprachlicher Kompetenz zu ermöglichen. Dazu können im Fach Biologie besonders die Fachbegriffe und ihre Verwendung in Text-Bild-Kombinationen berücksichtigt werden. Literatur Ballstaedt, Steffen-Peter (2012): Visualisieren. Bilder in wissenschaftlichen Texten. Wien: Huter & Roth. Buhlmann, Rosemarie & Fearns, Anneliese (2000): Handbuch des Fachsprachenunterrichts. Unter besonderer Berücksichtigung naturwissenschaftlich-technischer Fachsprachen. 6., überarb. und erw. Aufl. Tübingen: Narr. Drumm, Sandra (2015): Abbildungen, Fotos und Grafiken biologischer Sachtexte als Lerngelegenheit. In: Merkelbach, Chris (Hrsg.): Mehr Sprache(n) lernen - mehr Sprache(n) lehren. Aachen: Shaker, 37-56. 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Gerade für leistungsschwache Schülerinnen und Schüler, die aus verschiedenen Gründen dem Unterricht nicht durchweg folgen, könnte das Schulbuch eine sinnvolle Unterstützung bei der physikalischen Begriffsbildung sein. Es wird in den meisten Bundesländern kostenlos oder gegen eine geringe Leihgebühr zur Verfügung gestellt. Die Lernenden könnten es folglich zu Hause nutzen, um den Unterricht vor- oder nachzubereiten. Es ist dabei davon auszugehen, dass die Zeichen, die auf Konzepte verweisen, möglichst stringent und durchgängig genutzt werden sollten (Deese 1962). Nur so können die Zeichen in unterschiedlichen Kontexten bedeutsam werden und auch ihre Funktion mit Bezug auf physikalische Konzepte erfüllen. Allerdings ist zu vermuten, dass die Bücher zu Hause kaum gelesen werden: Lehrkräfte geben an, die Schulbücher vor allem zur Unterrichtsvorbereitung zu nutzen und nicht im Unterricht selbst (Härtig, Kauertz & Fischer 2012). Dies ist neben motivationalen Aspekten eventuell auch auf die Gestaltung zurückführen und wirkt sich vermutlich auch auf die Nutzung seitens der Schülerinnen und Schüler zu Hause aus. Bezogen auf die Lexik lässt sich feststellen, dass Physikschulbücher sehr viele Termini und diese kaum kohärent nutzen (Härtig 2014; Merzyn 1994). Bei der Betrachtung eines exemplarischen Schulbuchs fiel zum Beispiel auf, dass der Terminus Energie selbst zwar sehr häufig genutzt wird. Andere für das Energiekonzept wichtige Zeichen kommen aber kaum vor: Energieform, Energieumsetzung oder Energieerhaltung (Härtig & Neumann 2015). <?page no="56"?> Hendrik Härtig, Nicole Kohnen 56 Damit ist zwar nicht ausgeschlossen, dass die Konzepte in Form anderer oder abgeänderter Zeichen trotzdem genutzt werden, wie beispielsweise in: „Die Energie bleibt bei diesem Prozess erhalten.“ Insbesondere für sprachlich schwache Schülerinnen und Schüler bedingen sich jedoch die konsequente Verwendung der gleichen Zeichen und der Konzeptaufbau (Härtig & Neumann 2015; Duit 1986; Deese 1962). Und auch die Verwendung der verschiedensten Synonyme, Abkürzungen und Pronomen kann so unter Umständen dazu führen, dass zu einem bestimmten Zeichen nur sehr langsam ein bestimmtes physikalisch ädaquates Konzept entwickelt werden kann. Im folgenden Beitrag möchten wir zunächst aus den verschiedenen Perspektiven auf die Rolle der Lexik im Fachunterricht eingehen. Hierzu fügen wir Erkenntnisse und Überlegungen aus der Lehr-Lernpsychologie, der Deutschdidaktik und der Physikdidaktik zusammen. Am Beispiel von Schulbüchern berichten wir, welche Entwicklungsmöglichkeiten vorhanden sind. Abschließend zeigt ein Ausblick, wie die Einbettung von Fördermaßnahmen in den Fachunterricht gelingen kann. 2 Terminus, Zeichen, Konzept, Begriff, Bedeutung, … Zunächst soll für unseren Beitrag eine begriffliche Klärung vorgenommen werden. Da wir Perspektiven aus verschiedenen Forschungsdisziplinen aufgreifen, ergibt sich eine gewisse Unklarheit, da „Konzept“ oder auch „Begriff“ in den verschiedenen Disziplinen nicht einheitlich verwendet werden. Um in diesem Beitrag einen gemeinsamen Bezugsrahmen und eine Einheitlichkeit zu erzielen, greifen wir auf das semiotische Dreieck zurück. Hierbei werden drei Elemente in Beziehung gesetzt: Ein Zeichen, ein Konzept und ein Referent (vgl. Abb. 1) (Stolze 2005). Als Zeichen sind in der Physik sowohl einzelne Buchstaben - auch griechische - als auch Nomen üblich (Beispiele: µ, π, Kraft, Kilogramm, …). Im Rahmen der historischen Entwicklung und des wissenschaftlichen Diskurses wurden dabei nach und nach viele Zeichen mit einer möglichst exakten Definition versehen. Diese Definitionen fallen von Zeichen zu Zeichen unterschiedlich aus, ihre Funktion ist jedoch immer, innerhalb der Physik eine möglichst einheitliche Verwendung der Zeichen sicherzustellen. <?page no="57"?> Die Rolle der Termini beim Lernen mit Physikschulbüchern 57 Abb. 1: Das semiotische Dreieck (übernommen aus Stolze 2005: 39) Folgt man dem operationalistischen Standpunkt nach Bridgeman (1970), so kennt man den Sinn eines Zeichens nur, wenn man die Operation angeben kann, die bei der Anwendung im Kontext herangezogen wird. Über diese Operation wird ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Theorie und Wirklichkeit hergestellt. Für die Physik heißt das, dass eine instrumentale Messbarkeit im physikalischen Rahmen allermindestens denkbar sein muss, um ein Zeichen der physikalischen Fachsprache zuzuordnen. Selbst sehr abstrakt erscheinende Referenten wie Licht oder Feld sind durchaus messbar (Bridgeman 1970). Nach Strube (1989) sind die Anforderungen an ein Zeichen innerhalb der domänenspezifischen Kommunikation, dass sein Kontext fest definiert, es in diesem eindeutig ist und dass seine Beziehungen zu anderen Zeichen des Bereiches explizit sind. Über dieses Beziehungsgeflecht zwischen den einzelnen Zeichen einerseits und den Beziehungen zu bestimmten Referenten andererseits erwächst aus einer fachlichen Sicht ein Konzept. Unter Konzepten werden in der naturwissenschaftlichen Fachdidaktik in gewisser Weise Erklärungsmuster verstanden. So sprechen wir vom Kraftkonzept immer dann, wenn physikalische Gesetzmäßigkeiten, in denen der Referent zu dem Zeichen Kraft verwendet wird, zur möglichst adäquaten Beschreibung einer Situation herangezogen werden. Die Kombination aus einem festgelegten Zeichen und einem bestimmten Konzept wird dann auch als Terminus bezeichnet. In der DIN 2342 (1992: 3) wurde festgelegt: „Terminus (auch: Fachwort): Das zusammengehörige Paar aus einem Begriff und seiner Benennung als Element einer Terminologie.“ Das heißt, in unserem Sinne ist Terminus die Summe aus dem Zeichen und dem Konzept. Wir möchten das Zusammenspiel kurz an einem Beispiel ausführen, um die fachliche Perspektive zu verdeutlichen: Der Absprung eines Weitspringers soll aus physikalischer Sicht beschrieben werden. Als zentrale Referenten ergeben sich damit drei Messgrößen und Konzept Referent Zeichen steht für symbolisiert nimmt Bezug auf <?page no="58"?> Hendrik Härtig, Nicole Kohnen 58 dazu die entsprechenden drei Zeichen: Die Masse m, die Beschleunigung a und die Kraft F. Diese drei Zeichen - bzw. ihre Referenten - erlauben es uns, auf die drei Newton’schen Axiome als zentrale physikalische Gesetzmäßigkeiten zurückzugreifen, denn sie beinhalten wichtige Bezüge zwischen den hier entscheidenden Referenten. Zum Beispiel beinhaltet das zweite Newton’schen Axiom: Die Kraft ist das Produkt aus Masse und Beschleunigung. Wir nutzen im Folgenden daher vor allem Zeichen, wenn wir spezifisch das Nomen oder den Buchstaben meinen, Konzept, wenn wir den gesamten fachlichen Bedeutungshorizont meinen, den Experten zur Beschreibung heranziehen würden, und Terminus, wenn wir das Zusammenspiel aus Zeichen und dem damit implizit transportierten Konzept meinen. 3 Sprachlicher Anteil des Erwerbs von Konzepten im Fachunterricht Ähnlich wie in der Deutschdidaktik sind auch in Physik die Bildungsstandards eine Beschreibung der Kompetenzen, die im Rahmen der Sekundarstufe I erworben werden sollen. Die Bildungsstandards für die drei naturwissenschaftlichen Domänen weisen jeweils vier Kompetenzbereiche aus: Fachwissen, Erkenntnisgewinnung, Kommunikation und Bewertung. Es kann erwartet werden, sprachliche Aspekte vor allem in zwei dieser Kompetenzbereiche zu finden: Einerseits sind Termini ein gutes Beispiel dafür, wie eng das Fachwissen mitunter mit naturwissenschaftlicher Fachsprache verknüpft ist (u.a. Rincke 2011). Andererseits werden sprachliche Mittel im Rahmen der Kommunikation über Fachinhalte aufgegriffen (u.a. Kulgemeyer 2010). Es ist ersichtlich (vgl. Tab. 1), dass die Zeichen und das dazugehörige Konzeptverständnis im Sinne des semiotischen Dreiecks ein zentraler Aspekt naturwissenschaftlicher Fachsprache in allen drei Domänen sind, auch wenn hier von Begriffen die Rede ist. Darüber hinaus zeigt sich auch in den Operatoren (z.B. erläutern oder beschreiben), dass der aktive Umgang mit Sprache bedeutsam ist. <?page no="59"?> Die Rolle der Termini beim Lernen mit Physikschulbüchern 59 Tab. 1: Ausgewählte gekürzte Zitate mit Bezug zur Fachsprache aus den Bildungsstandards (KMK 2005 a, b & c) Domäne Fachsprachliche Kompetenzen Biologie Begriffe kennen und den Basiskonzepten zuordnen. Die Schülerinnen und Schüler wenden idealtypische Darstellungen, Schemazeichnungen, Symbolsprache an. Chemie Chemische Begriffe kennen und Basiskonzepten zuordnen. Die Schülerinnen und Schüler übersetzen bewusst Fachsprache in Alltagssprache und umgekehrt. Physik Physikalische Begriffe kennen und Basiskonzepten zuordnen. Verstehen von Fachtexten, Graphiken und Tabellen. Die Schülerinnen und Schüler unterscheiden zwischen alltagssprachlicher und fachsprachlicher Beschreibung von Phänomenen. Die zentrale Stellung von Termini als Element fachlichen Lernens lässt sich auch durch eine lange Tradition im Rahmen fachdidaktischer Forschung begründen. So wird als belegt angesehen, dass aus der Umgangsin die Fachsprache adaptierte Zeichen bei den Lernenden zu Schwierigkeiten führen (Bach 1984). Zusätzlich benötigt die Fachsprache aber auch neue Zeichen, die längere Definitionen etc. als Fachvokabular zusammenfassen (Pfundt 1981). Aufgrund der bekannten Schwierigkeiten beim Wechsel von der Umgangsin eine Fachsprache werden gezielte Förderungen ebenso gefordert (Snow 2010) wie die Anpassung curricularer Materialien. Begründet wird dies unter anderem mit der Annahme, dass Lernende eigenständig mentale Repräsentationen des Lerngegenstands bilden (vgl. bezogen auf Texte van Dijk & Kintsch 1983). In diesem Verständnis wird Lernen als konstruktivistischer Prozess gesehen: Auf der Basis ihres Vorwissens nehmen die Lernenden den Inhalt wahr, interpretieren ihn und bilden daraus neue Wissenselemente (Norris & Phillips 2002). Betrachtet man die mündliche Unterrichtskommunikation, wird der konstruktivistische Prozess im Sinne eines Aushandelns zwischen Lehrenden und Lernenden noch deutlicher, da hier aufgrund einer wechselseitigen Kommunikation Bedeutungsgehalte entwickelt werden (Starauschek 2006a, 2006b; Rincke 2011). Hier wird es bezogen auf die Termini insbesondere dann schwierig, wenn Lehrkräfte ebenso wie Lernende nicht auf eine konsequent innerfachliche Verwendung der Zeichen im Sinne der Termini achten (Rincke 2010). Wie in Abschnitt 2 dargelegt, lässt sich aus einer didaktischen Perspektive der Erwerb eines Konzepts verstehen als das Erlernen der unterschiedlichen Beziehungen zwischen verschiedenen Zeichen und Referenten sowie die <?page no="60"?> Hendrik Härtig, Nicole Kohnen 60 Abgrenzung von und die Verbindung zu anderen Konzepten (Shavelson 1971). Insbesondere Zeichen mit sowohl alltäglichem als auch fachlichem Konzept können für Lernende Hürden darstellen. Aber für Zeichen gilt generell, dass der erfolgreiche Kompetenzerwerb kaum vom Spracherwerb trennbar ist. Bezogen auf das Textverständnis konnte auch schon gezeigt werden, dass eine häufige und kohärente Verwendung derselben Zeichen zu einem Lernzuwachs führt (Deese 1962). Entsprechend beschreibt Duit (1986: 239ff.) einen deutlichen Zusammenhang zwischen fachbezogenem Unterricht und der Veränderung des Wechselspiels zwischen Zeichen und Konzepten. Mittels Wortassoziationstests zeigt sich eine Verschiebung von rein unterrichtssprachlichen Assoziationen zu einem bestimmten Zeichen hin zu zumindest parallelen fachlichen Terminiassoziationen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Termini bzw. deren Zeichen beim Lernen mitunter problematisch sein können. Gleichzeitig ist das Lernen aus curricularen Materialien genauso wie in der mündlichen Unterrichtskommunikation ein konstruktivistischer Prozess. Aus diesem Grund lohnt sich eine detaillierte Analyse, inwieweit der entsprechende Lernprozess unterstützt werden kann. 3.1 Schulbücher als Lernmedium Im Beitrag findet eine Eingrenzung auf Schulbücher aus zwei Gründen statt. Aus empirischer Perspektive bezieht sich der Großteil der Befunde auf Schulbücher oder andere expositorische Texte. Aus einer linguistischen Perspektive wurde das Wechselspiel zwischen sprachlichem und fachlichem Lernen im gesprochenen naturwissenschaftlichen Unterricht unserer Kenntnis nach bislang nicht betrachtet. Darüber hinaus folgen wir hier auch einem gesellschaftspolitischen Argument: Da die Schulbücher im Zuge der Lernmittelfreiheit den Lernenden kostenfrei oder kostengünstig zur Verfügung gestellt werden, sollten sie eigentlich auch als Lernmedium für möglichst viele Schülerinnen und Schüler geeignet sein. Insbesondere leistungsschwache Schülerinnen und Schüler brauchen außerschulische Unterstützungsangebote, um den Anschluss im Fachunterricht nicht zu verlieren. Gleichzeitig wissen wir, dass fachliche Leistung und sprachliche Fähigkeiten zumindest in den Schulleistungsstudien korrelativ zusammenhängen (vgl. Tab. 2). <?page no="61"?> Die Rolle der Termini beim Lernen mit Physikschulbüchern 61 Tab. 2: Latente Korrelationen der individuellen Kompetenzskalenwerte in der deutschen Teilstichprobe in PISA 2003 (N=535) (Leutner et al. 2004: 167); unterhalb der Diagonalen: Korrelationen, oberhalb der Diagonalen: Partialkorrelationen, kognitive Grundfähigkeiten auspartialisiert Mathematik Lesen Naturwissenschaften Mathematik -- .63 .75 Lesen .80 -- .77 Naturwissenschaften .87 .87 -- Kognitive Grundfähigkeiten .74 .64 .68 Wenn also leistungsschwache Schülerinnen und Schüler auch zu Hause ohne kostenintensiven Nachhilfeunterricht zusätzliche Lerngelegenheiten suchen, sollten diese Lerngelegenheiten unter Umständen auch allgemeinsprachliche Fähigkeiten aus didaktischer Perspektive berücksichtigen und somit das eigenständige Lernen erleichtern. Gleichzeitig wurde schon vor über zwei Jahrzehnten bemängelt, dass Physikschulbücher von Lernenden kaum als Lernbücher genutzt werden können, sondern eher Vorbereitungswerke für die Lehrkräfte darstellen (Duit et al. 1991). Zwar sind die Bücher eigentlich für Lernende konzipiert, in der Vergangenheit wurde jedoch unter anderem beschrieben, dass in den Büchern zu viele Termini vorhanden sind und zu viel Faktenwissen angesammelt wird (Merzyn 1994; Härtig 2014). Ähnliches gilt für die anderen Naturwissenschaften. In Teilen geben sogar die Lehrkräfte selbst an, dass sie die Schulbücher als Lernmedium für ungeeignet halten (Beerenwinkel & Gräsel 2005). Auch für den Physikunterricht nutzen Lehrkräfte die Bücher zwar zur Vorbereitung, aber kaum im Unterricht selbst (Härtig, Kauertz & Fischer 2012). Die Schulbücher könnten in ihrer Funktion als implementiertes Curriculum das schulrelevante Fachwissen für die Schülerinnen und Schüler nicht nur innerhalb einer Unterrichtsreihe, sondern sogar jahrgangsübergreifend in eine lernförderliche Struktur bringen, die auch zum Selbststudium geeignet ist (Härtig & Neumann 2014). Die Grundlage dafür bieten seit der Verabschiedung der Bildungsstandards die so genannten Basiskonzepte (KMK 2005a, 2005b, 2005c). Diese Basiskonzepte sind als übergeordnete Konzepte, also als sehr erklärungsmächtige Zusammenhänge zu verstehen. Ein didaktisches Ziel ist dabei, systematisch Bezüge über die einzelnen Inhaltsgebiete hinaus zu entwickeln. Genau diesen Aspekt könnten Schulbücher als Lernmedium unterstützen, durch eine entsprechende Strukturierung und durch Verweise (Härtig & Neumann 2014). Gleichzeitig scheinen bislang nur wenige Schulbücher diese Funktion zu erfüllen. Das lässt sich insbesondere an den <?page no="62"?> Hendrik Härtig, Nicole Kohnen 62 Termini verdeutlichen. Denn, wie bereits festgestellt, ist gerade die Verbindung zwischen den Zeichen und den Konzepten auch ein Schlüssel für die Verbindung von sprachlichem und fachlichem Lernen. 3.2 Verwendung von Termini in Physikschulbüchern Sowohl Brämer und Clemens (1980) als auch Merzyn (1994) zählen die unterschiedlichen Termini in Physikschulbüchern der Sekundarstufe I. Beide Untersuchungen kommen auf Werte bis zu 2000 Termini in einem Schulbuch, wobei in einem Vergleich der verschiedenen Bücher fast 70% der Termini nur in einem Buch genutzt werden. Sehr ähnlich fällt eine Untersuchung von Biologieschulbüchern aus (Graf 1989). Härtig (2010; 2014) repliziert, wenn auch abgeschwächt, einerseits die Befunde aus den 80er-Jahren auch für aktuelle Schulbücher. Andererseits erweitert er die Befundlage. In der Untersuchung werden die Termini nicht einfach gezählt, sondern die Inhaltsstruktur der Schulbücher wird vollständig über Concept Maps abgebildet (vgl. Abb. 2). Dies ermöglicht eine detaillierte quantitative Analyse der Sachstruktur auf Grundlage der Zeichen und der verschriftlichten Beziehungen zwischen einzelnen Zeichen. Bezogen auf die reine Häufigkeit zeigt sich hier, dass je nach Schulbuch bis zu 1000 verschiedene Termini genutzt werden, rein rechnerisch liegt der Anteil neu eingeführter Termini je Schulbuchseite bei zwei bis drei. Dieser variiert allerdings sehr stark von Seite zu Seite. Vor dem Hintergrund der Erkenntnisse der Fremdsprachenforschung erscheint dies sehr viel. Es liegt auf der Hand, dass ein unbekanntes Wort desto wahrscheinlicher gelernt wird, je weniger unbekannte Wörter in seiner Umgebung vorhanden sind. Man geht davon aus, dass der Anteil der unbekannten Wörter an einem Text mit 2% nur sehr gering sein darf, wenn die Lesenden in der Lage sein sollen, sich die unbekannten Wörter zu erschließen und so eine angemessene Repräsentation des Textes herzustellen (Hsueh-chao & Nation 2000). Außerdem werden durchschnittlich nur 15% der unbekannten Wörter beim Lesen eines Textes gelernt (Swanborn & de Glopper 1999). Obwohl noch untersucht werden muss, inwieweit diese Ergebnisse im Detail auf das Lernen von Termini in naturwissenschaftlichen Texten übertragen werden können, muss doch davon ausgegangen werden, dass zumindest die Tendenz ähnlich ist. Zusätzlich kommt bei naturwissenschaftlichen Termini bisweilen erschwerend hinzu, dass in der Alltagssprache zu bestimmten Zeichen andere Konzepte als in der Fachsprache gehören. Diese Probleme dürften beim Fremdsprachenlernen in geringerem Maße auftreten. Es fällt weiterhin auf, dass in einem exemplarischen Physikschulbuch knapp ein Drittel der Termini nur ein einziges Mal erwähnt wird. Nur 7% aller Termini tauchen zehn Mal oder häufiger im gesamten Schulbuch auf (Härtig 2014). Vor dem oben erwähnten Hintergrund, dass eine häufige und <?page no="63"?> Die Rolle der Termini beim Lernen mit Physikschulbüchern 63 kohärente Verwendung der Zeichen einen Konzeptaufbau erleichtert, ist dies kritisch zu bewerten. Mittels der Concept Maps lässt sich auch untersuchen, welche Zeichen besonders eng in die Sachstruktur eingebunden sind. Dies geschieht anhand einer Netzwerkanalyse. Die Grundidee dabei lässt sich mit einem sozialen Netzwerk vergleichen, wobei dort z.B. die Frage wäre: Wen meiner Freunde frage ich am besten, ob er mein Wohnungsgesuch in einem sozialen Netzwerk teilen kann? Dabei wählt man Personen aus, die vermutlich eine sehr zentrale Stellung einnehmen. Abb. 2: Analyse eines Schulbuchtextes (Bredthauer et al. 2002: 51) mittels Concept Maps (Ausschnitt) Diese Analysen führen zu einem relativ gut beschreibbaren Kern zentraler Termini. 203 Termini kommen in allen vier untersuchten Schulbüchern vor. 53 Termini sind in allen vier Büchern häufiger als zehn Mal Bestandteil von Relationen. Einige dieser Termini scheinen dabei eher eine zentrale Funktion zu übernehmen als andere. Insgesamt lässt sich so zeigen, dass die meisten Zeichen nur in geringem Umfang in Verbindung gesetzt werden. Zu den von allen vier Büchern genutzten Zeichen gehören einerseits wichtige wie Energie oder Strom, aber auch eher randständige wie Transistor oder Emitter. Jedoch nur das oben erwähnte Viertel (53 Termini) dieser Zeichen wird tatsächlich halbwegs regelmäßig und kohärent über die Schulbücher hinweg genutzt. Härtig und Neumann (2014: 12) stellen daher fest, dass für die „Entwicklung eines strukturierten Fachwissens auf Grundlage der Basiskonzepte - wie in den Bildungsstandards gefordert - […] die Basiskonzepte u. E. regelmäßig auch als Begriffe [Zeichen] [genutzt werden müssen].“ <?page no="64"?> Hendrik Härtig, Nicole Kohnen 64 Im Sinne von Deese (1962) oder Shavelson (1971) wäre dies für den Konzeptaufbau unabdingbar. Aus zwei Gründen scheint dies aktuell aber von den Schulbüchern nicht unterstützt zu werden: Zum einen müssten die Schülerinnen und Schüler dafür eigenständig diese zentralen Termini unter allen anderen identifizieren. Dies kann besonders dann schwierig sein, wenn viele Termini zu einer hohen Informationsdichte führen und so das grundsätzliche Textverständnis erschwert wird. Zum anderen müssten sie selber in der Lage sein, über die vorgegebene Inhaltsstrukturierung des Buches hinweg die zentralen Bezüge zu erkennen. Wie oben ausgeführt, liegt jedoch eine Hürde in der Korrelation zwischen Textverständnis als sprachbezogener Fähigkeit und dem fachlichen Verständnis. Die notwendige Kompetenz, sich eigenständig die Inhalte zu erschließen, haben vermutlich nur diejenigen Lernenden, für die der Fachinhalt ohnehin kein Problem darstellt. Gleichermaßen ist für leistungsschwache Schülerinnen und Schüler unter Umständen ein Physikschulbuch zu schwierig geschrieben, als dass diese sich den Inhalt alleine erschließen könnten. 4 Lernangebote zur Förderung sprachlicher Anteile im Fachunterricht Sowohl im Hinblick auf die Anforderungen an Schülerinnen und Schüler im Fachunterricht als auch auf Grundlage der Bildungsstandards und der aktuellen Entwicklungen hin zu Heterogenität und Inklusion ist Sprachförderung auch im Unterricht in Biologie, Chemie und Physik zum expliziten Lernziel zu machen (Lumer, Siegel & Picard 2012; Agel, Beese & Krämer 2012). In der Didaktik für die naturwissenschaftlichen Fächer wurden in der Vergangenheit dabei vor allem zwei Wege beschritten: Modifikationen an den Lernmaterialien selbst und Fördermaßnahmen für die Lernenden. 4.1 Maßnahmen zur Verbesserung der Texte Durch eine Korpusanalyse expositorischer Texte wurden in der Vergangenheit typische Merkmale einer so genannten Fachsprache herausgearbeitet (Roelcke 2010). Dazu zählen zunächst, wie bereits ausführlich diskutiert, die Termini, aber auch Anonymisierung und Objektivierung, ein verstärktes Auftreten von Präsens, Passiv- und Reflexivkonstruktionen. Die ganzen Texte zeichnen sich durch typische Textbaupläne und sprachliche Elemente (Frage- Antwort-Konstruktionen, logische Schlüsse etc.) aus (Roelcke 2010). Hinzu kommen Bildelemente und Formeln. In der Vergangenheit haben sich nur wenige empirische Studien in der Fachdidaktik mit gezielten Modifikationen solcher Texte auseinandergesetzt. <?page no="65"?> Die Rolle der Termini beim Lernen mit Physikschulbüchern 65 Bekannt ist, dass Modifikationen an den Merkmalen auf der Textebene zu einer positiveren Einschätzung der Bücher durch Lesende führen können (Hsu & Yang 2007; Starauschek 2003). Gleichzeitig führt dies wohl nicht automatisch zu einer höheren Lernwirksamkeit. Einen etwas anderen Weg beschreiten sogenannte refutational texts (van den Broek & Kendeou 2008; Kendeou & van den Broek 2007; Diakidoy, Kendeou & Ioannides 2003). Hier wird der gesamte Text insgesamt aus sprachlicher und fachlicher Perspektive didaktisch rekonstruiert. Dabei erfolgt zunächst eine explizite Konfrontation mit (fachlich inadäquaten) Alltagsvorstellungen. Diese werden dann den Lesenden hinsichtlich ihrer mangelnden Tragfähigkeit erläutert. Diese Mischung scheint lernförderlich zu sein. Aber auch Projekte aus der Deutschdidaktik und aus der Lehr- Lernpsychologie widmen sich diesen Fragestellungen. Eine zentrale Grundlage dafür ist die Annahme, dass das Verständnis eines Textes als Interaktion zwischen Eigenschaften des Textes einerseits und der Lesenden andererseits verstanden werden muss. So wird von einer Wechselwirkung zwischen der Textkohäsion und dem Vorwissen der Lesenden berichtet (z.B. McNamara & Kintsch 1996), da die neuen Informationen aus dem Text an das Vorwissen angeknüpft werden müssen (Schnotz 2006). Man würde vermuten, dass sich nun ein hohes Vorwissen ganz grundsätzlich günstig auf das Textverständnis auswirkt (Pascual & Goikoetxea 2014). Dagegen spricht jedoch der Expertise-Reversal- Effekt: Schülerinnen und Schüler mit hohem Vorwissen profitieren von kohäsiven Texten nicht (Linderholm et al. 2000; McNamara et al. 1996). Gleichzeitig scheint es neben dem Vorwissen auch noch Kompensationsmöglichkeiten über allgemeine sprachliche Fähigkeiten zu geben (Ozuru, Dempsey & McNamara 2009). Damit rückt die Personenseite in den Fokus, also die Frage danach, welche Fähigkeiten den Schülerinnen und Schülern dabei helfen, mit den Schulbüchern eigenständig zu lernen. 4.2 Maßnahmen zur Förderung der Schülerinnen und Schüler Das Vorwissen, die Fähigkeit zum schlussfolgernden Denken, das Lesestrategiewissen und das Interesse oder die Motivation werden als bedeutsam für das Verständnis von Fachtexten beschrieben (Schaffner & Schiefele 2013). In der Summe ergibt sich daraus ein relativ komplexes Wirkungsgefüge, in dem diese verschiedenen Komponenten das Textverständnis erklären (DIME- Modell - Direct and Inferential Mediation Model -, Cromley & Azevedo 2007) (vgl. Abb. 3). <?page no="66"?> Hendrik Härtig, Nicole Kohnen 66 Abb. 3: Das DIME-Modell (übersetzt nach Cromley et al., 2010). Eingezeichnet sind nur signifikante Pfade im Modell. Entsprechend bietet es sich an, die für das Textverständnis grundlegenden Fähigkeiten in den Fokus von Fördermaßnahmen zu rücken. Zwei davon haben wir in unseren eigenen Arbeiten verfolgt: Lesestrategien (Härtig 2013) und den Wortschatz (Härtig & Stosik 2015). Entsprechend des Fokus dieses Beitrags soll an dieser Stelle der Wortschatz näher erläutert werden. Der Wortschatz ist vor allem aufgrund des Wechselspiels zwischen Fachinhalt und sprachlicher Repräsentation von Interesse. So deuten unter anderem die Arbeiten von Fang, Schleppegrell und Cox (2006) an, dass gleiche Zeichen in verschiedenen Kontexten auf unterschiedliche Konzepte verweisen (mitunter sind diese als Teekesselchen sogar spielerischer Gegenstand). Betrifft dies ein fachliches Konzept (z.B. das Zeichen Leiter im Elektrizitätslehreunterricht), könnte das den Lernprozess mitunter verlangsamen. Förderung des Wortschatzes im Physikunterricht Das Wortschatztraining bezieht sich auf die wichtige Brückenfunktion von Termini zwischen Sprache und Fach. Wie oben dargestellt, sind sie für den Fachunterricht besonders bedeutsam. Gleichzeitig gibt es Hinweise, dass sprachbezogene Trainings besonders wirksam sind, wenn sie das Anknüpfen neuer Inhalte an vorhandenes Vorwissen unterstützen (Leopold & Leunter 2012). Auch deswegen lässt sich argumentieren, dass die Termini ein besonders relevanter Bereich für Sprachtrainings sind, denn mentale Repräsentationen zum Beispiel der Fachtexte lassen sich als Beziehungsgeflecht zwischen den Zeichen verstehen. Im Rahmen der Studie wurde daher mithilfe kurzer und prägnanter Übungen einerseits die Aufmerksamkeit der Lernenden auf zentrale Zeichen <?page no="67"?> Die Rolle der Termini beim Lernen mit Physikschulbüchern 67 gelenkt. Andererseits war es Ziel der Studie, dass die Schülerinnen und Schüler möglichst adäquate Konzepte mit den Zeichen verbinden. Abb. 4: Auszug aus einem Lückentext als Wortschatzübung (Härtig & Stosik 2015) Abb. 5: Auszug aus einer Verbindeübung (Härtig & Stosik 2015) Dafür wurden Zeichen identifiziert, die in gewisser Weise den inhaltlichen Kern der Unterrichtsreihe umschreiben. Fünf verschiedene Übungsmaterialien wurden in einem Zeitraum von zehn Wochen in den Regelunterricht <?page no="68"?> Hendrik Härtig, Nicole Kohnen 68 implementiert mit dem Ziel, dass bestimmte Fachwörter explizit als solche wahrgenommen werden (vgl. Abb. 4 & 5 als Beispiele). Insgesamt nahmen 38 Schülerinnen und Schüler teil, die zufällig auf die Trainings- und die Kontrollgruppe aufgeteilt wurden. Der Erfolg der Wortschatzübungen wurde mit einem Vor- und einem Nachtest mit fünfzehn Testfragen erhoben, die auch über reine Definitionen der Termini hinausgehen. Im Ergebnis können die Lernenden mit den zusätzlichen Übungen nach der Unterrichtseinheit im Mittel drei Fragen mehr richtig beantworten als die Kontrollgruppe. Dieses Ergebnis ist statistisch bedeutsam, bei einer mittleren Effektstärke. 5 Zusammenfassung und Ausblick Das Lernen von fachlichen Inhalten ist auch in den Naturwissenschaften nicht von der Sprache trennbar. Vor allem bei den Termini wird die Wechselwirkung zwischen dem Fach und der Sprache deutlich. Termini umfassen immer sowohl eine Bezeichnung als auch das dazugehörige fachliche Konzept und werden aufgrund ihrer zentralen Rolle besonders für das Fachwissen und die fachliche Kommunikation auch in den Bildungsstandards aufgegriffen. Hat eine Schülerin oder ein Schüler das einem bestimmten Zeichen zugeordnete Konzept verstanden, so gelingt es ihr oder ihm, diesen Terminus von anderen Termini abzugrenzen und ihn ggf. gleichzeitig zu diesen in Bezug zu setzen. Damit viele Lernende dieses Ziel erreichen können, müssen die wichtigsten Termini kohärent und häufig verwendet werden. Wie gezeigt wurde, bereiten v.a. solche Bezeichnungen oft Schwierigkeiten, die nicht nur in der Fachsprache, sondern - mit einem anderen Konzept - auch in der Alltagssprache verwendet werden. Grundsätzlich kann man diesen Schwierigkeiten auf zwei Arten begegnen, nämlich sowohl auf der Personenals auch auf der Angebotsseite. Wie dargestellt, beschränkt sich letztere nicht nur auf die mündliche Kommunikation während des Unterrichts, sondern schließt auch die (sprachliche) Gestaltung der Schulbücher mit ein. Mehrere Gründe sprechen dafür, hinsichtlich einer kohärenten Verwendung von Termini im Fachunterricht bei einer sprachlichen Umstrukturierung der Schulbücher anzusetzen: Schulbücher können infolge der Lernmittelfreiheit allen Schülerinnen und Schülern eine gute Gelegenheit zum (themen- und jahrgangsübergreifenden) Lernen sowohl während des Unterrichts als auch zu Hause bieten. Sie bilden außerdem in vielen Fällen das implementierte Curriculum und haben demnach oft auch einen Einfluss auf die Gestaltung des (mündlichen) Unterrichts. Nicht zuletzt dürfte eine Änderung hinsichtlich des Umgangs mit Termini an dieser Stelle einfacher anzustoßen sein als in der mündlichen Unterrichtskommunikation selbst. <?page no="69"?> Die Rolle der Termini beim Lernen mit Physikschulbüchern 69 Eine Umstrukturierung der Schulbücher hin zu einer kohärenten Verwendung der zentralsten Termini kann also eine gute Basis für fachliches Lernen bilden. Hinsichtlich der Anzahl und Einführung der Termini könnte eventuell eine Zusammenarbeit mit der Fremdsprachenforschung sinnvoll sein. In der Vorbereitung der hier dargestellten Studien und der Erstellung des Beitrags ist aber auch wieder deutlich geworden, wie inkonsistent die Modelle und Bezeichnungen der verschiedenen Forschungsparadigmen bei dem gleichen Gegenstand sind. Wir möchten hier für eine enge Kooperation aller Fachdidaktiken, der Linguistik und Teilen der Psychologie werben, um sich den relevanten Fragestellungen in Forschungsprogrammen gezielt widmen zu können. Literatur Agel, Christian; Beese, Melanie & Krämer, Silke (2012): Naturwissenschaftliche Sprachförderung. Der Mathematische und Naturwissenschaftliche Unterricht, 65, 1, 36. Bach, Sebastian (1984): Systematische und empirische Untersuchungen über das Verhältnis von Umgangssprache und Fachsprache im gymnasialen Physikunterricht. Dissertation an der Universität Hamburg. 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Schulischfachsprachliche Register werden in solchen Texten im Übergang von der Primarin die Sekundarstufe immer dominanter (vgl. Rincke 2010). Mit den steigenden sprachlichen Anforderungen sind Schüler und Schülerinnen mit schwachen Lesefähigkeiten und mit wenig Bezug zu konzeptionell schriftlicher Sprache bzw. zu schulisch-fachsprachlichen Registern zunehmend überfordert (vgl. Grießhaber 2010; Schmellentin, Schneider & Hefti 2011). Sprachliche Defizite wirken sich kumulativ auf die Leistungen in den Sachfächern aus: Jugendliche mit eingeschränkten Sprachkompetenzen weisen - so die PISA-Studien - mit zunehmendem Lernalter auch geringere Kompetenzen in Mathematik und in den Naturwissenschaften auf und sind in ihren Bildungschancen benachteiligt (vgl. Baumert & Schümer 2001). Mit Konzepten wie sprachbewusster Fachunterricht (vgl. Lindauer et al. 2013) soll sprachbedingten Bildungsungleichheiten entgegengewirkt werden. Gefordert wird gemäß diesem Konzept ein Abbau von fachlich unangemessenen sprachlichen Hürden. Diese Maßnahme hat allerdings ihre Grenzen, denn Sprache kann in ihrer wissenstransferierenden Funktion (vgl. Morek & Heller 2012) nicht beliebig vereinfacht werden. Zu sprachbewusstem Fachunterricht gehört es daher auch, sprachliche Hürden zu überwinden und Schüler und Schülerinnen an die sprachlichen Besonderheiten der allgemeinen und fachspezifischen schulischen Wissenschaftssprache heranzuführen. Daher müssen Lernende einerseits beim Fachlernen sprachdidaktisch unterstützt werden, andererseits muss jedoch auch der Aufbau einer fachspezifischen Literalität zusätzlich curricular strukturiert werden (vgl. auch Snow 2010). Die empirische Basis zur Entwicklung von Umsetzungsmodellen für einen solchen sprachbewussten Fachunterricht fehlt allerdings bisher. <?page no="74"?> Claudia Schmellentin, Miriam Dittmar, Eliane Gilg, Hansjakob Schneider 74 Auf dieses Problem reagiert die hier vorgestellte Studie Textverstehen in den naturwissenschaftlichen Schulfächern. 1 Sie leistet einen Beitrag zum besseren Verständnis der Rolle von Fachtextschwierigkeiten beim Fachlernen im Biologieunterricht. Zudem zeigt sie Möglichkeiten zur sprachlichen Optimierung von Lehrmitteltexten auf. Die Studie verfolgt verschiedene Fragestellungen und Hypothesen. Der vorliegende Beitrag fokussiert zwei davon: - Welche Komplexitätsmerkmale weisen naturwissenschaftliche Lehrmitteltexte auf? - Welche kognitiven Leseprozesse lassen sich bei den Lernenden beobachten? Zur Beantwortung diskutieren wir im folgenden Kapitel den Stand der Forschung, stellen dann die Studie Textverstehen in den naturwissenschaftlichen Schulfächern sowie deren Resultate vor und diskutieren sie. 2 Theoretische Aspekte und empirische Befunde Die Verarbeitbarkeit von Texten ergibt sich immer aus Merkmalen von Texten in Verbindung mit Merkmalen und Handlungsweisen von Lesenden in bestimmten Situationen. Mesmer, Cunningham & Hiebert (2012) unterscheiden deshalb den Begriff Textkomplexität (was an einem Text linguistisch festgestellt werden kann) von Textschwierigkeit (was für Lesende in bestimmten Situationen an Texten schwierig ist). Im vorliegenden Beitrag werden beide Aspekte berücksichtigt: Die linguistische Analyse der Textkomplexität dient dabei der Ermittlung der aus didaktischer Perspektive im Vordergrund stehenden Textschwierigkeiten. Zur begrifflichen Fassung von Lehrmitteltexten in den Naturwissenschaften ist die Verwendung eines weiten Textbegriffs sinnvoll, der den verbalen Text, aber auch Bilder und Diagramme sowie die in den Lehrmitteln typischen Paratexte (Anleitungen, Fragen, Aufgaben) umfasst (vgl. Lindauer & Schneider 2007). Aus text- und psycholinguistischer Sicht zeichnen sich gut verständliche Texte durch eine kohärente Inhaltsorganisation, eine hierarchisch sequenzielle Struktur von Textinhalten und die Aktivierung von Vorwissensbeständen durch advance organizers aus (vgl. Artelt et al. 2007: 23). Eine besondere Kategorie im Zusammenhang mit globaler Kohärenz im Kontext von schulischen Sachtexten bzw. wissenschaftlichen Texten sind Bilder und Diagramme (vgl. Drumm i.d.Bd.). Bilder erleichtern dann das 1 Das Autorenteam dankt dem Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung für die finanzielle Unterstützung der Studie Textverstehen in den naturwissenschaftlichen Schulfächern. <?page no="75"?> Sprachliche Anforderungen in Biologielehrmitteln 75 Verstehen, wenn sie „die Relationen zwischen den im Text enthaltenen Objekten, Ereignissen, Sachverhalten etc. verdeutlichen” (Artelt et al. 2007: 26). Besonders wirksam sind Bilder, wenn der mit ihnen verbundene Text für die Leser und Leserinnen schwierig und unvertraut ist. Dies gilt auch für Diagramme, jedoch in einem geringeren Maß, da sie weniger leicht mit bekannten Alltagsschemata verknüpft werden können als analoge Bilder (vgl. Artelt et al. 2007: 26). Ein weiteres Merkmal von gut verständlichen Texten ist die lokale Kohärenz; sie wird durch koreferenzielle und kausale Verknüpfungen hergestellt (vgl. Artelt et al. 2007: 24). In den Registern der naturwissenschaftlichen Schulfächer werden solche lokalen Bezüge durch nominale oder präpositionale (z.B. durch Verdampfung) und ganz besonders durch verbale Ausdrücke hergestellt (z.B. führen zu, entstehen aus). Aber auch andere Relationen werden oft verbal ausgedrückt, wie z.B. Temporalität (z.B. folgen), Klassifikation (z.B. bilden) oder Addition (z.B. einhergehen mit). Solche Verknüpfungen stellen für Lernende in zweierlei Hinsicht Herausforderungen dar: einmal im Bereich der Wortsemantik (hochdifferenzierte Bedeutungen von teilweise alltäglichen Verben), aber auch unter textsemantischer Perspektive (Verknüpfungen von Propositionen, ohne dass zwischen ihnen ein expliziter Konnektor erscheint, vgl. Schleppegrell 2004: 57). In Bezug auf wissenschaftliche Texte werden komplexe Nominalphrasen als typisch aufgefasst. Gemäß Schleppegrell (2004: 57) dienen sie in der Wissenschaftssprache (und auch in Lehrmitteltexten) der Verständlichkeit. Sie argumentiert, dass die Themenprogression übersichtlicher verlaufe, wenn die bekannte (und in schulischen Sachtexten bzw. Wissenschaftstexten oft komplexe) Information gebündelt am Anfang eines Satzes stehe, statt verteilt über mehrere Nebensätze (vgl. dazu auch Wellenreuther 2008: 206). Allerdings sind komplexe Nominalphrasen für Schüler und Schülerinnen, die damit nicht vertraut sind, schwer zu verarbeiten (vgl. Schleppegrell 2004: 57). Wie in der Einleitung schon erwähnt, sind Gründe für die Verständlichkeit von Fachtexten auch auf Seiten der Lesenden anzusiedeln. Hier sind der Umfang und die Differenziertheit des individuellen Wortschatzes für das Verstehen von Fachtexten entscheidend. Dabei wird zwischen disciplinespecific words (fachspezifischem Wissenschaftswortschatz) und general academic words (allgemeinem Wissenschaftswortschatz) unterschieden (Nagy & Townsend 2012). Vor allem Wörter des allgemeinen Wissenschaftswortschatzes sind problematisch, da sie sich, wie die fachspezifischen Wörter, durch Abstraktheit auszeichnen, aber im Gegensatz zu letzteren in der Schule nicht systematisch vermittelt werden (Begriffe wie beispielsweise Struktur oder Funktion). Die Varianz von Leistungen in vielen Schulfächern kann zu einem erheblichen Teil durch die Vertrautheit mit Wörtern aus dem allgemeinen Wissenschaftswortschatz erklärt werden (vgl. Nagy & Townsend 2012: 96-97). <?page no="76"?> Claudia Schmellentin, Miriam Dittmar, Eliane Gilg, Hansjakob Schneider 76 3 Daten und Erhebungsmethode 3.1 Design Die Mixed-Methods-Studie Textverstehen in den naturwissenschaftlichen Schulfächern untersucht in mehreren Phasen das Leseverstehen von Lehrmitteltexten der Biologie durch Schüler und Schülerinnen der 7. Klasse auf der Sekundarstufe I. In einem ersten Schritt wurden Lehrpersonen über ihren Einsatz von Lehrmitteltexten im Biologieunterricht befragt und Lehrmitteltexte linguistisch analysiert. In einem zweiten Schritt beobachteten wir Schüler und Schülerinnen beim Lesen dieser Texte und befragten sie zu schwierigen Textstellen. Die Analyse dieses Materials führte zur Identifikation von Schwierigkeitsdimensionen. Anhand dieser Befunde wurde ein Text optimiert und die Optimierungen in einer letzten Phase in einer Interventionsstudie auf ihre Wirksamkeit hin überprüft. Diese letzte Phase ist allerdings nicht Gegenstand des vorliegenden Beitrags. 3.2 Auswahl und Analyse der Lehrmitteltexte Die Grundlage unserer Studie bilden Lehrmitteltexte aus in der Schweiz gängigen Biologiebzw. Naturwissenschaftslehrmitteln für die Sekundarstufe I 2 . In der ersten Projektphase wurden prototypische Biologietexte, die der Vermittlung von Lerninhalten dienen, 3 einer linguistischen Analyse unterzogen. Basierend auf dem Analyseraster für Fachlehrmittel von Kernen, Riss, Lindauer & Schmellentin (2012) wurden zunächst drei auf thematischer und sprachlicher Ebene möglichst unterschiedliche, in ein Thema einführende Texte aus den Bereichen der Humanbiologie, der Ökologie und der Botanik ausgewählt. - „Atmung” aus Erlebnis Biologie 2 (Beuck, Dobers, Rabisch & Zeeb 2012: 194-195) - „Die Amsel” aus Urknall 7 (Aegerter et al. 2012: 55-56) - „Vom Bau der Blüte” aus Biologie (Wildermuth 2010: 10-11) 2 In der Schweiz beginnt die Sekundarstufe I im 7. Schuljahr. In den meisten Kantonen ist sie in drei Niveaustufen gegliedert: Sek B (Grundansprüche); Sek A (erweiterte Ansprüche) und progymnasiale Schule. In der vorgestellten Studie wurde das Leseverstehen in der Sek A und Sek B untersucht. Daher wurden nur Lehrmittel berücksichtigt, die auf diesen beiden Niveaustufen eingesetzt werden, nicht solche für progymnasiale Klassen. 3 Kernen, Riss, Lindauer & Schmellentin (2012: 8) unterscheiden verschiedene Textsorten, die sich in naturwissenschaftlichen Lehrmitteltexten finden: neben komplexen Sacherläuterungen u.a. Lexikoneinträge, Versuchsbeschreibungen, Experimentieranleitungen. <?page no="77"?> Sprachliche Anforderungen in Biologielehrmitteln 77 Die ausgewählten Texte wurden einer differenzierten linguistischen Analyse in Bezug auf (Fach-)Wortschatz, Syntax, Kohäsionsmittel, globale Kohärenz (z.B. Textprogression) und Text-Bild-Bezüge unterzogen. Die analysierten Texte weisen in etwa die sprachformalen Merkmale auf, die bereits in anderen Untersuchungen zu schulischer Fachsprache in den naturwissenschaftlichen Fächern beschrieben sind (vgl. Rincke 2010; Graf 1989; Kernen, Riss, Lindauer & Schmellentin 2012; Sumfleth & Schüttler 1995; Leisen 2010 u.v.m.) und die sich teils auch in der Beschreibung von wissenschaftlicher Fachsprache in den Naturwissenschaften wiederfindet (vgl. Shanahan, Shanahan & Misischia 2011): gehäufter Kompositagebrauch, Nominalisierungen, unpersönliche Ausdrucksweisen und damit verbunden gehäufter Passivgebrauch, komplexe Nominalphrasen, gehäufter Gebrauch von Funktionsverbgefügen usw. Auffälligstes Merkmal aller drei Lehrmitteltexte ist die enorm hohe Informationsdichte (vgl. Kernen, Riss, Lindauer & Schmellentin 2012). Sie manifestiert sich unter anderem darin, dass die Texte über sehr viele Fachwörter verfügen und dass in fast jedem Teilsatz eine neue Information enthalten ist (vgl. Bsp. 1). (1) Über den Rachen, wo sich Nasen- und Mundraum vereinigen, gelangt die Luft zum Kehlkopf. Er trennt Speiseröhre und Luftröhre. Die Luftröhre teilt sich in die beiden Hauptbronchien. Jede versorgt einen der Lungenflügel. Luftröhre und Bronchien besitzen Versteifungen aus Knorpel, damit sie sich beim heftigen Einatmen nicht durch den Unterdruck verschließen. Diese Knorpelspangen kann man an der Kehle ertasten. (Auszug aus Beuck, Dobers, Rabisch & Zeeb 2012: 194) Die Informationsdichte wird jedoch nicht nur durch die oben genannten fachsprachlichen Mittel erhöht, sondern auch dadurch, dass viele Fachwörter zwar genannt aber nicht eingeführt und definiert werden, sodass die dahinterstehenden Fachkonzepte unklar bleiben. So bleiben bspw. in (1) der Zusammenhang von Einatmen, der Entstehung von Unterdruck und schließlich auch die Funktion der Knorpelspangen implizit. Diese Verdichtung ist teilweise der Tatsache geschuldet, dass viele Lehrmittelverlage ein komplexes Themengebiet auf einer Doppelseite abhandeln. In einem Lehrmitteltext, in dem jedoch das Ziel verfolgt wird, Fachwissen zu vermitteln, ist es dysfunktional, auf Definitionen weitestgehend zu verzichten bzw. Fachwörter nur beiläufig und unvollständig zu definieren. Weiter ist in allen analysierten Texten eine Tendenz zur Vermeidung von Wortwiederholungen feststellbar, die vor allem dann problematisch ist, wenn Fachwörter betroffen sind (z.B. wird im Atmungstext mit Hauptbronchien, Bronchien und Atemkanälchen jeweils auf das Gleiche rekurriert). Auch dieses Merkmal ist weniger der Textfunktion oder der fachspezifischen Wissenschaftssprache geschuldet, sondern scheint viel eher in einer schulsprachlich- <?page no="78"?> Claudia Schmellentin, Miriam Dittmar, Eliane Gilg, Hansjakob Schneider 78 stilistischen Tradition begründet zu sein, gemäß der auf Wortwiederholungen möglichst zu verzichten ist. In der schulsprachlichen Tradition sind auch die mehr oder weniger verständlichen Metaphern und Vergleiche zu verorten, die das Verstehen durch Alltagsbezüge verbessern sollen. So werden im Atmungstext bspw. die Wände der Lungenbläschen mit Seifenblasen verglichen. Fazit: Die linguistische Analyse bestätigt die Befunde früherer linguistischer Analysen von Lehrmitteltexten. Lehrmitteltexte weisen einerseits typische Merkmale von Wissenschaftssprache auf, andererseits aber auch Merkmale, die eigens der schulsprachlichen Tradition geschuldet sind. Bei der Entwicklung der Untersuchungsinstrumente v.a. für die Fragesequenz (vgl. Abschnitt 3.5) wurden bestimmte linguistische Merkmale fokussiert, um zu überprüfen, inwieweit sie tatsächlich Verstehenshürden für die Schüler und Schülerinnen darstellen. Im Folgenden wird nun die Untersuchungsmethode dieses qualitativen Erhebungsteils näher erläutert. 3.3 Auswahl der Versuchspersonen An den Lesebeobachtungen nahmen 24 Schüler und Schülerinnen der 7. Jahrgangsstufe aus drei Sek A-Klassen (erweiterte Ansprüche) und drei Sek B-Klassen (Grundansprüche) des Kantons Aargau, Schweiz, teil. Die Auswahl der teilnehmenden Klassen erfolgte aufgrund der Ergebnisse einer Fragebogenbefragung mit zwanzig Biologiebzw. Naturwissenschaftslehrpersonen. Voraussetzung für die Teilnahme der Klassen an der Studie war, dass die Schüler und Schülerinnen bereits über gewisse Erfahrungen im Umgang mit Biologielehrmitteltexten verfügten und dass das Thema des jeweiligen Lehrmitteltextes noch nicht im Unterricht behandelt worden war. Aus jeder der sechs Klassen wurden vier Schüler und Schülerinnen für die Leseprozessbeobachtung ausgewählt, die über ein niedriges Vorwissen zum Thema verfügten und die als mittlere bis schwache Leser und Leserinnen eingestuft werden konnten. Zur Ermittlung der Lesefähigkeiten wurden in den Klassen die standardisierten Lesetests LGVT 6-12 (Schneider, Schlagmüller & Ennemoser 2007) und SLS 5-8 (Auer, Gruber, Mayringer & Wimmer 2005) eingesetzt. Das Vorwissen wurde mittels eines eigens für die Studie entwickelten Vorwissenstests ermittelt. Insgesamt nahmen 24 Jugendliche an der Erhebung teil: neun Mädchen und fünfzehn Jungen, bzw. neunzehn Jugendliche mit Deutsch als L1 (davon acht Bilinguale) und fünf Jugendliche mit Deutsch als L2. Jeder der drei Lehrmitteltexte wurde von acht Versuchspersonen mit gleichmässiger Verteilung über die Schulniveaus gelesen. <?page no="79"?> Sprachliche Anforderungen in Biologielehrmitteln 79 3.4 Ablauf der Leseprozessbeobachtung Die Leseprozessbeobachtung gliederte sich in vier Teile: Instruktionen mit Übung, Lesesequenz, Nachwissenstest 4 und Fragesequenz. 5 In der Lesesequenz lasen die Versuchspersonen den Lehrmitteltext still für sich und wurden gebeten mit dem Finger den von ihnen gelesenen Zeilen bzw. betrachteten Bildern nachzufahren. Dadurch konnten wir den Leseverlauf und die Lesegeschwindigkeit nachvollziehen. Die Versuchspersonen wurden zudem aufgefordert, uns mitzuteilen, wenn im Leseprozess Verstehensschwierigkeiten auftauchten. Dadurch sollten kognitive Prozesse und Strategien sichtbar gemacht werden. Wir haben die Methode des Lauten Denkens (Stark 2010) jedoch modifiziert, indem die Versuchsleitung zusätzlich durch Nachfragen intervenierte, sobald Verhaltensweisen beobachtet werden konnten, die auf mögliche Verstehensschwierigkeiten hindeuteten (z.B. verlangsamtes oder wiederholtes Lesen, vgl. Christmann 2010: 154). Diese Modifikation liegt in den Erfahrungen der Pilotstudie begründet. Diese hatte ergeben, dass Lautes Denken während des Lesens den Jugendlichen sehr schwer fällt. Eine Leseprozessbeobachtung ohne Intervention hätte entsprechend nur bedingt Informationen zu auftauchenden Verstehensschwierigkeiten geliefert. Durch die Intervention der Versuchsleitung wurden zusätzliche Verbalisierungen der Versuchspersonen angeregt. Mit der beschriebenen wenig invasiven Methode während der Lesesequenz konnten Verstehensschwierigkeiten sichtbar gemacht werden, die den Versuchspersonen bewusst sind. Bereits die Pilotstudie hatte gezeigt, dass dazu vor allem Verstehensschwierigkeiten auf Wortebene zählen (vgl. Abschnitt 5.2). Um auch Verstehensschwierigkeiten auf den anderen Ebenen sichtbar zu machen, wurde mit der Fragesequenz eine ergänzende, invasivere Methode gewählt. Die Fragesequenz hatte zum Ziel, die Versuchspersonen gezielt auf bestimmte Textstellen zu lenken. Die schriftlichen Fragen in der Fragesequenz, die die Versuchspersonen mit dem Text beantworten sollten, bezogen sich einerseits auf Textstellen, die in der linguistischen Textanalyse 4 Der Nachwissenstest war identisch mit dem Vorwissenstest und diente der Überprüfung des Wissenszuwachses. Er wurde von den Versuchspersonen ohne Rückgriff auf den Lehrmitteltext bearbeitet. Auf den Nachwissenstest wird im Folgenden nicht näher eingegangen. 5 Die Lese- und Fragesequenz wurde mit zwei Kameras videografiert. Eine Kamera filmte dabei das Lehrmittelblatt, um die Fingerbewegungen der Versuchspersonen aufzuzeichnen. Während der gesamten Leseprozessbeobachtung saß die Versuchsleitung im Raum und konnte über einen an diese Kamera gekoppelten Bildschirm die Fingerbewegungen der Versuchspersonen beobachten und bei Bedarf intervenieren. Eine zweite Kamera filmte die Versuchspersonen in einem Ausschnitt, der Kopf, Oberkörper und Textblatt umfasste. Mit dieser Einstellung konnte das nonverbale Verhalten (v.a. Finger-, Kopf- und Blickbewegungen) erfasst werden. <?page no="80"?> Claudia Schmellentin, Miriam Dittmar, Eliane Gilg, Hansjakob Schneider 80 als mögliche Problemstellen analysiert wurden, andererseits bezogen sich die Fragen aber auch auf die im Text beschriebenen wesentlichen fachlichen Konzepte. Die Versuchsleitung forderte die Versuchsperson jeweils auf, ihre Antwort anhand von Textstellen zu begründen. So konnten Informationen zum Verstehen von zentralen Textstellen gewonnen werden. 4 Auswertungsmethode Die Videos aus Lese- und Fragesequenz wurden vollständig transkribiert, wobei neben verbalen auch nonverbale Elemente wie z.B. Verlangsamungen der Fingerbewegungen festgehalten wurden. Anschließend wurden die Transkripte inhaltsanalytisch codiert und die Lesegeschwindigkeit der Versuchspersonen pro Zeile ermittelt. 6 Die Lese- und Fragesequenz wurden wie im Folgenden dargestellt mit unterschiedlichen Methoden codiert. 4.1 Codierung Lesesequenz Auf die Transkripte der Lesesequenzen wurden latente und manifeste Verstehensschwierigkeiten codiert und diese einer Textstelle aus dem Lehrmitteltext zugeordnet. 7 Als latente Verstehensschwierigkeiten wurden Verhaltensweisen codiert, die auf erhöhten kognitiven Verarbeitungsaufwand und somit auf potenzielle Verstehensschwierigkeiten hindeuten. Zu solchen Verhaltensweisen zählen verlangsamtes oder wiederholtes Lesen, unbemerktes Auslassen von Zeilen sowie Decodierprobleme. Als Ergänzung zur Codierung der latenten Verstehensschwierigkeiten und für deren Validierung wurden zusätzlich die Lesegeschwindigkeiten der einzelnen Versuchspersonen für jede Zeile des Lehrmitteltextes berechnet. Auf diesem Weg konnte ermittelt werden, welche Zeilen von der Mehrheit der Versuchspersonen besonders langsam gelesen wurden. 8 Als manifeste Verstehensschwierigkeiten sind jene Sequenzen codiert, in denen die Versuchspersonen explizit Verstehensschwierigkeiten oder Unsicherheiten benannten oder falsche Aussagen zu Textinhalten machten. 6 Für die Transkriptionen der Videos setzten wir die Transkriptionssoftware F4/ F5 ein, für die anschließende Codierung der Lesesequenztranskripte die Analysesoftware MAXQDA. 7 Ein Drittel aller Lesesequenztranskripte wurde doppelt codiert. Die Intercoder- Reliabilität war mit einem Cohens Kappa = 0.79 hoch. 8 Die Zeilengeschwindigkeit wurde in Sekunden pro hundert Silben berechnet. <?page no="81"?> Sprachliche Anforderungen in Biologielehrmitteln 81 4.2 Codierung Fragesequenz Auf die Transkripte der Fragesequenzen wurden ebenfalls Verstehensschwierigkeiten der Versuchspersonen codiert. Dazu wurde zuerst pro Frageitem analysiert, ob die Textverstehensfragen richtig oder falsch beantwortet wurden und ob die Versuchspersonen zur Beantwortung der Frage die richtige Textstelle beigezogen haben. Zudem wurde festgehalten, was die Versuchspersonen dazu verbalisierten. Anhand dieser Analysen wurde codiert, ob eine Passage als problematisch einzustufen ist oder nicht. Diese Grobcodes legten fest, inwieweit ein Verstehensproblem vorliegt. Die so identifizierten Problemfälle wurden danach in einer Feincodierung weiter analysiert: Die Feinkodierung erfolgte induktiv im Prozess einer kommunikativen Validierung in gemeinsamen Codiersitzungen aller vier Autoren und Autorinnen. 9 Die sechs aus der Feincodierung entstandenen Problemkategorien sind im Abschnitt 5.3 aufgeführt und erläutert. 5 Ergebnisse: Textverstehensschwierigkeiten und Zuordnung textseitiger Ursachen Ziel der Codierung der Verstehensschwierigkeiten war die Ermittlung von textseitigen Ursachen. Die codierten Hinweise auf Verstehensschwierigkeiten wurden daher an die jeweilige Textstelle rückgekoppelt, worauf in einem interpretativen Verfahren in Kombination mit der linguistischen Analyse textseitige Ursachen ermittelt wurden. Daraus wiederum wurden globale Prinzipien der Textoptimierung entwickelt. 5.1 Verlangsamt gelesene Textstellen (Lesesequenz) Erste Hinweise auf potenziell schwierige Textstellen gaben die auf die 24 Transkripte der Lesesequenzen codierten latenten Verstehensschwierigkeiten sowie die Zeilengeschwindigkeitsberechnung. Total wurden 282 latente Verstehensschwierigkeiten codiert. Mittels Zeilengeschwindigkeitsberechnung wurden für jeden Lehrmitteltext die im Durchschnitt am langsamsten gelesenen Zeilen ermittelt. Wichtig ist zu betonen, dass Verlangsamungen keineswegs als direkte Hinweise für Textschwierigkeiten interpretiert werden dürfen. Verlangsamungen geben vorerst nur Hinweise darauf, dass die betroffenen Textstellen besonderer kognitiver Anstrengungen bedürfen. Die Verlangsamungen 9 Im Anschluss an die Entwicklung der Feincodes wurde die Intercoder-Reliabilität durchgeführt. 43% der als problematisch eingestuften Frageitems wurden in Hinblick auf die Feinkategorien doppelt codiert. Die Intercoder-Reliabilität war mit einem Cohens Kappa = 0.75 hoch. <?page no="82"?> Claudia Schmellentin, Miriam Dittmar, Eliane Gilg, Hansjakob Schneider 82 können im Zusammenhang mit basalen Decodierprozessen oder mit hierarchie-höheren Verstehensprozessen (vgl. van Dijk & Kintsch 1983) wie z.B. Lesestrategien stehen. Wir haben also selbst bei Häufungen von Verlangsamungen nicht per se auf Textschwierigkeiten geschlossen. Die latenten Verstehensschwierigkeiten wurden daher nur in Abhängigkeit zu den auftretenden manifesten Problemen bzw. den Erkenntnissen aus der Fragesequenz bewertet. Nichtsdestotrotz haben wir die Textstellen mit den auffälligsten Ballungen von Verlangsamungen genauer untersucht. Als Beispiel ist in der Tabelle 1 eine Textpassage aus dem Atmungstext aufgeführt, die laut den Zeilengeschwindigkeitsmessungen von der Mehrheit der Versuchspersonen verlangsamt gelesen wurde. Tab. 1: Die am langsamsten gelesene Textpassage aus dem Atmungstext (Beuck, Dobers, Rabisch & Zeeb 2012: 194-195): durchschnittliche Lesegeschwindigkeit: 30.14 s/ 100 Silben Z. Ø LG a % VPs b 55 […] Deshalb nennt man diese 33.29 s 0% 56 Form der Atmung auch Bauchatmung. Erschlafft das 44.48 s 75% 57 Zwerchfell, verkleinern sich Brustraum und Lungenvo- 30.36 s 14% 58 lumen. […] 29.71 s 0% […] 60 Solche Atembewegungen entstehen auch durch Aus- 24.20 s 0% 61 dehnung des Brustkorbs. Bei dieser Brustatmung 38.63 s 50% 62 heben Zwischenrippenmuskeln das Brustbein und die 31.35 s 25% 63 Rippen an. […] 33.90 s 0% a Die durchschnittliche Lesegeschwindigkeit ist in Sekunden pro 100 gelesene Silben angegeben. b Anteil aller Versuchspersonen, die bei dieser Zeile auffällig verlangsamt haben Die so ermittelten besonders langsam gelesenen Textstellen zeichnen sich alle dadurch aus, dass sie eine hohe Fachwortdichte aufweisen, wobei diese Fachwörter größtenteils Komposita sind (vgl. in Tab. 1: Bauchatmung, Zwerchfell, Brustraum, Lungenvolumen, Brustkorb, Brustatmung, Zwischenrippenmuskeln, Brustbein). Doch diese Merkmale auf Wortebene sind höchstwahrscheinlich nicht allein für die erhöhten Verarbeitungskosten verantwortlich, denn andere Textstellen, die ebenfalls eine hohe Fachwortdichte aufweisen, zeigen keine Auffälligkeiten in Bezug auf die Lesegeschwindigkeit. Alle ermittelten Textstellen mit signifikanten Verlangsamungen weisen neben der hohen Fachwortdichte weitere linguistische Auffälligkeiten auf, so z.B. Brüche in der Inhaltsorganisation (vgl. in Tab. 1: Satzübergang in Z. 56), untypische Satzstrukturen (vgl. in Tab. 1: uneingeleiteter Konditionalsatz in <?page no="83"?> Sprachliche Anforderungen in Biologielehrmitteln 83 Z. 56f.) oder auch, wie andere Textstellen gezeigt haben, uneindeutige Verweise durch Kohäsionsmittel oder unerwartete Registerwechsel. Es scheint also die Kombination von hoher Fachwortdichte mit anderen unerwarteten textstrukturellen Merkmalen zu sein, die zu einer Verlangsamung des Leseprozesses und zu einer Erhöhung der Verarbeitungskosten führt. Wie oben bereits erwähnt, bekommen wir mit dieser Art der Auswertung keine Hinweise darauf, ob die verlangsamt gelesenen Textstellen verstanden worden sind oder nicht. Hinweise auf Verstehen bzw. Nichtverstehen ergeben sich erst in Kombination mit der Auswertung der manifesten Verstehensschwierigkeiten und den aus der Codierung der Fragesequenz gewonnen Erkenntnissen. 5.2 Manifeste Verstehensschwierigkeiten (Lesesequenz) Auf die 24 Transkripte der Lesesequenzen wurden total 113 explizit verbalisierte Verstehensschwierigkeiten (manifeste Verstehensschwierigkeiten) codiert. Die Mehrheit der manifesten Probleme betrifft das (Fach-) Wortverstehen. Während die Versuchspersonen 86 Probleme zu einzelnen Wörtern verbalisierten, wurden nur zwanzig Probleme mit ganzen Sätzen und sieben Probleme im Zusammenhang mit Bildern erwähnt. Rund zwei Drittel aller manifesten Wortprobleme beziehen sich auf Fachwörter. Alle zum Atmungstext verbalisierten Wortprobleme stehen im Zusammenhang mit Fachwörtern (u.a. Bronchien, Flimmerhärchen, Hauptbronchien, Knorpel, Knorpelspangen, Muskelmembran, Nasenmuscheln, Viren, Zwerchfell und Zwischenrippenmuskeln). Der Befund weist darauf hin, dass die Schüler und Schülerinnen durchaus darauf sensibilisiert sind, Verstehensschwierigkeiten auf Wortebene zu erkennen. In Bezug auf Satzverstehen und vor allem auf globales Textverstehen fällt ihnen das Erkennen und somit auch das Verbalisieren von eigenen Schwierigkeiten schwerer. Zu bedenken ist, dass die verbalisierten Verstehensschwierigkeiten nicht immer auf textseitige Ursachen zurückgeführt werden: Während der Lektüre sollen Schüler und Schülerinnen neue Fachwörter lernen und Fachbegriffe aufbauen. Wird ein Fachwort zunächst nicht verstanden, kann dies darauf zurückzuführen sein, dass die Erläuterung des Begriffs noch folgt und dass die Versuchsperson zum Zeitpunkt der Verbalisierung der Verstehensschwierigkeiten noch nicht über alle Informationen verfügt, dass aber der Fachbegriff mit dem dahinterstehenden mentalen Modell im Verlauf der Lektüre noch aufgebaut werden kann. Daher werden die manifesten Verstehensschwierigkeiten aus der Lesesequenz erst zusammen mit der Auswertung der Fragesequenz in Bezug auf mögliche textseitige Ursachen interpretiert. <?page no="84"?> Claudia Schmellentin, Miriam Dittmar, Eliane Gilg, Hansjakob Schneider 84 5.3 Verstehensschwierigkeiten (Fragesequenz) Wie in Abschnitt 4.2 erwähnt, wurden die als problematisch codierten Äußerungen oder Verhaltensweisen für die Feincodierung auf die konkreten Passagen aus dem Lehrmitteltext bezogen und einer der folgenden sechs Problemkategorien zugewiesen. - Kategorie 1: Verstehensschwierigkeiten mit Abbildungen - Kategorie 2: Verstehensschwierigkeiten mit dem Layout - Kategorie 3: Wortverstehensschwierigkeiten - Kategorie 4: Satzverstehensschwierigkeiten - Kategorie 5: Verstehensschwierigkeiten mit Fachbegriffen/ -konzepten - Kategorie 6: nicht interpretierbare Verstehensschwierigkeiten 10 Den Kategorien wurden unter Hinzunahme der Textanalyse mögliche textseitige Ursachen interpretativ zugeordnet. Im Folgenden werden die Kategorien näher beschrieben und anhand von Beispielen erklärt. Zudem wird der Schritt von den Problemkategorien zu den textseitigen Ursachen dargelegt. 5.3.1 Kategorie 1: Verstehensschwierigkeiten mit Abbildungen Diese erste Kategorie umfasst alle Verstehensschwierigkeiten, die die Schüler und Schülerinnen mit Abbildungen zeigten. Weiter wurden dieser Kategorie Ereignisse zugeordnet, bei denen es den Lernenden nicht gelang, Bildbeschriftungen bzw. Bildtitel dem richtigen Bild zuzuordnen oder Bild- Bild-Bezüge herzustellen. Der häufigste Fall war, dass die Versuchspersonen Abbildungen oder Teile davon nicht hinreichend interpretieren konnten. Dieses Phänomen manifestierte sich z.B. in folgender Situation: Eine Schülerin sollte die Frage beantworten, ob sich am Ende der Bronchien die Lungenbläschen befinden. Sie zog für die Beantwortung der Frage eine Abbildung hinzu und argumentierte, dass die Aussage falsch sei, weil sie im Bild keine Lungenbläschen sehe (vgl. Transkript 1). Transkript 1: Als problematisch codierte Verbalisierung Schülerin [Frage 6a]: Also, weil das hier die Bronchien sind [glz. zeigt in Bild B auf Bronchienäste] und sie ja keine Bläschen am Ende haben. [glz. zeigt auf die Enden der Bronchien des linken Lungenflügels auf Bild B]. Also, weil ich keine sehe. Der Versuchsperson gelang es in diesem Fall nicht, die benötigte Information aus dem Bild zu ziehen, weil die Lungenbläschen im Bild losgelöst von den 10 Auf Kategorie 6 „nicht interpretierbar” wird im Folgenden nicht weiter eingegangen. Dazu zählen als problematisch eingestufte Verstehensprozesse, die nicht einem textseitigen Problem zugeordnet werden können, z.B. Verstehensschwierigkeiten, die durch den Einsatz von falschen Lesestrategien oder durch das Aufnehmen von falschem Vorwissen entstanden sind. <?page no="85"?> Sprachliche Anforderungen in Biologielehrmitteln 85 Bronchien dargestellt sind. Basierend auf den beobachteten Verstehensschwierigkeiten konnten wir mit Bezug auf die Textanalysen u.a. folgende textseitige Ursachen für Kategorie 1 ermitteln: - uneindeutige Darstellungen - lückenhafte Darstellungen - komplexe Darstellungen (z.B. Teilquerschnitte) - unklare Fokussierung der Bildinformationen (zu viele oder nebensächliche Informationen im Bild) - fehlende, unklare oder weit vom Bild entfernt stehende Bildbeschriftungen - fehlende oder uneindeutige Bezüge zwischen Text und Bild bzw. zwischen Bild und Bild 5.3.2 Kategorie 2: Verstehensschwierigkeiten mit dem Layout Diese zweite Kategorie umfasst alle Schwierigkeiten, die die Schüler und Schülerinnen mit dem Textverlauf hatten. Zu dieser Kategorie gehört, wenn die Versuchspersonen an falscher Stelle in den Text einstiegen oder Abschnitte übersprangen. In unseren Leseprozessbeobachtungen waren viele Verstehensschwierigkeiten dieser Kategorie durch die Platzierung der Bilder verursacht. Die Abbildung 1 zeigt den schematischen Aufbau des Atmungstextes mit der Platzierung der Bilder und des Lauftextes. Abb. 1: Schematische Darstellung der Text-/ Bildplatzierung (Atmungstext) <?page no="86"?> Claudia Schmellentin, Miriam Dittmar, Eliane Gilg, Hansjakob Schneider 86 Wie in allen analysierten Texten sind auch auf der Doppelseite zur Atmung die Abbildungen nicht leseprozesslogisch, sondern primär platzsparend platziert. So unterbricht bspw. Bild 2 im Atmungstext den Lauftext mitten im Satz (vgl. Abb. 1). Diese Platzierung der Abbildungen wirkte, so die Ergebnisse aus der Leseprozessbeobachtung, bei vielen Schülern und Schülerinnen störend auf den Lesefluss und erschwerte die Orientierung im Text. So begannen bspw. sechs von acht Versuchspersonen den Atmungstext fälschlicherweise in der zweiten Spalte oben, statt in der ersten Spalte unterhalb von Bild 1. Auch hat der Spaltenwechsel von der ersten zur zweiten Spalte zwei Schülern und Schülerinnen Schwierigkeiten bereitet: Sie sind vom Ende der ersten Spalte zum unteren Teil der zweiten Spalte gesprungen und haben den oberen Textteil übersehen. Die Platzierung der Bilder wurde als hauptsächliche textseitige Ursache für die Verstehensschwierigkeiten mit dem Layout ermittelt. 5.3.3 Kategorien 3 und 4: Verstehensschwierigkeiten auf Wort- und Satzebene (ohne Fachbegriffe) Dieser Kategorie wurden nur dann Verstehensschwierigkeiten zugeordnet, wenn sie eindeutig auf ein bestimmtes Wort oder einen Satz zurückzuführen waren. Bezog sich das Nicht-Verstehen auf ein Fachwort oder bedurfte das Verstehen einer Inferenzherstellung zwischen mehreren Sätzen, wurde die Verstehensschwierigkeit der Kategorie 5 „Verstehensschwierigkeiten mit Fachbegriffen/ -konzepten” zugeordnet. Zu den Wortverstehensschwierigkeiten wurden alle Fälle gezählt, in denen die Schüler und Schülerinnen Probleme mit Wörtern formulierten oder falsche Aussagen zur Bedeutung von Wörtern machten. Neben bestimmten, in der Alltagssprache eher selten vorkommenden Wörtern betrifft dies in unseren Erhebungen in erster Linie das Verstehen von Verbbedeutungen (z.B. Sauerstoff austauschen, erschlaffen oder versteifen). Der Kategorie Satzverstehensschwierigkeiten konnten nur dann Fälle zugeordnet werden, wenn die Versuchspersonen explizit ein Problem mit einem Satz geäußert oder eine falsche Antwort zu einer Frage gegeben haben, die sich auf eine in einem Satz ablesbare Information bezog. Die erkannten Satzverstehensschwierigkeiten konnten auf die folgenden textseitigen Ursachen zurückgeführt werden: - komplexe Satzstrukturen (v.a. eingeschobene Nebensätze) - hohe Informationsdichte in Sätzen - uneindeutige Kohäsionsmittel <?page no="87"?> Sprachliche Anforderungen in Biologielehrmitteln 87 5.3.4 Kategorie 5: Verstehensschwierigkeiten mit Fachbegriffen/ Fachkonzepten Diese fünfte Kategorie kam im Datenmaterial am häufigsten vor. In diese Kategorie fielen alle Verstehensschwierigkeiten, bei denen den Versuchspersonen der Kohärenzaufbau über eine oder mehrere Textpassagen hinweg nicht gelang. Sichtbar wurde der gescheiterte Kohärenzaufbau daran, dass die Versuchspersonen, obwohl sie die entsprechende Textstelle unmittelbar davor gelesen hatten, falsche Aussagen zu einem Fachbegriff/ -konzept machten, bzw. explizit äußerten, ein Fachwort nicht verstanden zu haben. Dazu ein Beispiel: Ein Schüler sollte das Rippenfell lokalisieren. Der Schüler zog zur Beantwortung der Frage zwar die richtige Textstelle (2) bei, konnte die Aufgabe aber dennoch nicht lösen und äußerte zusätzlich, dass er die Textstelle nicht verstehe. (2) Außen ist die Lunge vom Lungenfell umhüllt. Zwischen ihm und dem Rippenfell, das den Brustkorb auskleidet, befindet sich ein flüssigkeitsgefüllter Spalt. Dadurch kann sich die Lunge beim Atmen im Brustraum verschieben. (Auszug aus Beuck, Dobers, Rabisch & Zeeb 2012: 194-195) Es lassen sich hier mehrere mögliche textseitige Ursachen festmachen, weshalb die Kohärenzherstellung nicht gelungen ist: Fachwortdichte (z.B. Lungenfell, Rippenfell, Brustkorb, Brustraum), morphologisch komplexe Wörter (z.B. flüssigkeitsgefüllter), Verbbedeutung (z.B. auskleidet, sich befinden), Syntax (eingeschobener Teilsatz mit einhergehender Erhöhung der Informationsdichte), unklare Kohäsionsmittel (z.B. ihm, dadurch), fehlender Bezug zu Bild usw. Mit anderen Worten: Die Verstehensschwierigkeiten dieser Kategorie lassen sich nicht immer eindeutig einer einzigen textseitigen Ursache zuordnen. Es ist durchaus möglich, dass als Auslöser für die Verstehensschwierigkeit mit dem Fachbegriff/ -konzept Rippenfell im Beispiel oben die Ballung von mehreren textkomplexitätserhöhenden Merkmalen fungiert. Wir sind in diesen Fällen, in denen wir keine eindeutige Beziehung zwischen Verstehensschwierigkeit und möglicher textseitiger Ursache herstellen konnten, so verfahren, dass wir mehrere wahrscheinliche textseitige Ursachen aufgeführt haben. Schließlich ging es darum, generalisierte Optimierungsmöglichkeiten zu definieren und nicht Optimierungsmöglichkeiten für eine einzelne Textstelle. Im Folgenden sind die wichtigsten möglichen Ursachen dieser Kategorie aufgeführt: - ungenügende bzw. fehlende Definitionen von Fachbegriffen - komplexe Satzstrukturen - auf Gleiches wird mit unterschiedlichen Begriffen rekurriert (z.B. Bronchien und Atemkanälchen) - verteilt stehende Informationen zu einem Konzept - Informationsdichte - fehlende Text-Bild-Verweise <?page no="88"?> Claudia Schmellentin, Miriam Dittmar, Eliane Gilg, Hansjakob Schneider 88 6 Textoptimierung Die aus dem Bezug von codierten Verstehensschwierigkeiten und Textanalyse hervorgegangene Liste von möglichen textseitigen Ursachen bildete die Grundlage, um generalisierte also nicht textstellenspezifische Optimierungsmöglichkeiten zu formulieren. Diese bildeten als eine Art Handlungsanweisung die Basis für die Textoptimierung. Eine ursachenbezogene Optimierung des Textes machte schließlich eine komplette Neuformulierung und Neugliederung des Textes nötig. Grund dafür war, dass viele der ermittelten Verstehensschwierigkeiten auf sehr vielfältige Ursachen zurückgeführt werden konnten (vgl. die Diskussion zu Kategorie 5 in Abschnitt 5.3.4), sodass eine Optimierung des Textes nur durch Korrekturen auf der Ebene der Syntax oder Lexik nicht möglich war. Es musste ebenfalls in die grundsätzliche Inhaltsorganisation und die Strukturierung der Textinhalte eingegriffen werden. Dazu ein Beispiel: Im Originaltext zur Atmung geht die Erläuterung zur Reinigung der Einatemluft durch die Schleimhäute mit der Beschreibung der Atemwege einher. Die Fragesequenz hat jedoch gezeigt, dass die Funktion der Schleimhäute von den Versuchspersonen nicht erfasst wurde. Die gleichzeitige Darstellung beider Konzepte (Stationen der Atmung und Funktion der Schleimhäute) und damit die Verteilung der Informationen zur Schleimhaut auf mehrere Textstellen wurden als eine der möglichen textseitigen Ursachen ermittelt. Für die Textoptimierung wurde daher dem Prinzip gefolgt, Informationen zu einem Thema zusammenhängend darzustellen und die thematische Gliederung auch auf der Textoberfläche mittels Absätzen und Untertiteln sichtbar zu machen. Der Aufbau der Atemwege und die Funktion der Schleimhäute wurden entsprechend in separate Abschnitte mit Untertiteln gegliedert. Nicht nur der Text, auch die Bilder mussten neu gestaltet und gesetzt werden, denn die Lese- und Fragesequenzen hatten gezeigt, dass die Bilder das Verstehen oft nicht erleichterten, sondern z.T. sogar erschwert haben. Bei der Visualisierung wurde auf die inhaltliche Fokussierung der Bilder geachtet. Es sollten nur die Informationen in den Abbildungen wiederzufinden sein, die auch im Text erwähnt wurden. Um die Vergleichbarkeit der Texte für die Interventionsstudie in der letzten Projektphase zu gewährleisten, musste der optimierte Text dieselben fachlichen Konzepte enthalten wie der Originaltext. Dies wurde durch Fachpersonen aus der Naturwissenschaftsdidaktik überprüft. 11 11 Wir danken Prof. Dr. Anni Heitzmann, Dr. Katrin Bölsterli Bardy, Dr. Anne Beerenwinkel, Prof. Dr. Hendrik Härtig und Prof. Dr. Armin Rempfler für ihre Beratung. <?page no="89"?> Sprachliche Anforderungen in Biologielehrmitteln 89 7 Diskussion und Ausblick Nun gilt es einerseits in einer Interventionsstudie zu überprüfen, ob und welche Konzepte mit dem optimierten Text besser verstanden werden als mit dem originalen Lehrmitteltext. Andererseits soll aber auch mit weiteren Leseprozessbeobachtungen ermittelt werden, welche allfälligen weiteren Textschwierigkeiten sich mit dem optimierten Text ergeben. Ersteres wird quantitativ erfasst, die Textschwierigkeiten des optimierten Textes werden per erneuter Leseprozessbeobachtung qualitativ ermittelt. Auch die Ergebnisse dieser Phase werden schließlich wieder auf die entsprechenden Textstellen bezogen, um Aussagen zum Verhältnis von Textkomplexitätsmerkmal und Textschwierigkeit machen zu können. Wie bereits angedeutet, können Textschwierigkeiten oft nicht eindeutig auf einzelne textseitige Ursachen zurückgeführt werden. Es wird daher in dieser Studie auch nicht möglich sein, isoliert darstellen zu können, welche textseitige Maßnahme welche Auswirkung hat. Um auf einer solch konkreten Ebene verlässliche Aussagen machen zu können, müssten diese Phänomene in Laborexperimenten isoliert betrachtet werden. Dass aber die Optimierung von einzelnen Elementen auf dem Hintergrund unserer Befunde nicht möglich und auch nicht sinnvoll ist, stützt wiederum die von uns gewählte Vorgehensweise. Mit der Kombination von stark qualitativen Herangehensweisen und der quantitativ orientierten Forschungsstrategie der Interventionsstudie haben wir eine valide und verallgemeinerbare Grundlage für die Verbesserung der Verständlichkeit von Lehrmitteltexten in der Biologie geschaffen. Unser Ziel ist, wie oben ausgeführt, die Reduktion von textseitigen Komplexitätsmerkmalen, um die Textverständlichkeit zu verbessern. Es ist jedoch zu betonen, dass Textoptimierungen nicht zu beliebig vereinfachten Texten führen können, da Sachtexte im Unterricht zwei zentrale Funktionen innehaben, nämlich a) (komplexes) Fachwissen transferieren und b) fachspezifische Literalität aufbauen. Es ist also trotz Textoptimierung zu erwarten, dass Verstehensschwierigkeiten auftreten, wenn auch - wie von uns erwartet - in geringerer Anzahl, denn schließlich sollen komplexe Konzepte vermittelt werden. Lehrmitteltexte der Sachfächer sind auf drei Ebenen zu überprüfen: Erstens können Lehrmitteltexte in Bezug auf allgemeine Merkmale der Textverständlichkeit eingeschätzt werden. In diese Kategorie fallen bspw. unklare kohäsive Bezüge. Unter diesem Aspekt sind unverständliche Texte als schlecht geschrieben einzustufen. Zweitens ist zu prüfen, ob die Texte als Fachtexte ihre Funktion erfüllen. In dieser Beziehung sind bspw. folgende Fragen an Fachtexte zu stellen: Sind Fachwörter definiert? Sind Text-Bild- Bezüge explizit gemacht? Werden Fachwörter einheitlich verwendet? Drittens sind Lehrmitteltexte unter dem Aspekt ihrer Funktion als schulische <?page no="90"?> Claudia Schmellentin, Miriam Dittmar, Eliane Gilg, Hansjakob Schneider 90 Texte einzuschätzen. Es stellt sich dabei die Frage, ob das zu vermittelnde Wissen in einer für das Lernen von Schülern und Schülerinnen geeigneten Weise präsentiert wird. Unter diese Perspektive fallen Merkmale der lerntheoretisch begründeten Textorganisation, z.B. die Behandlung eines Phänomens an einer Textstelle (und nicht verteilt über verschiedene Stellen). Da, wie oben dargelegt, nie alle Verstehensschwierigkeiten durch primärtextliche Optimierungen überwunden werden können, bedarf es zusätzlicher fach- und sprachdidaktischer Maßnahmen. Die Entwicklung von sprachdidaktischen Maßnahmen für die Verbesserung der Verständlichkeit und deren Überprüfung wäre jedoch Gegenstand weiterer Untersuchungen. Literatur Artelt, Cordula et al. (2007): Förderung von Lesekompetenz - Expertise. Berlin: Bundesministerium für Bildung und Forschung. Auer, Michaela; Gruber, Gabriele; Mayringer, Heinz & Wimmer, Heinz (2005): SLS 5-8. Salzburger Lese-Screening für die Klassenstufen 5-8. Manual. Bern: Huber. Baumert, Jürgen & Schümer, Gundel (2001): Familiäre Lebensverhältnisse, Bildungsbeteiligung und Kompetenzerwerb. In: Baumert, Jürgen et al. 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(03081V04, Zeile 1786ff.) 1 Einleitung Das obige Zitat verdeutlicht, dass auch nach einer Unterrichtseinheit längst nicht alles geklärt sein muss und Verwirrung zurückbleiben kann. Der Schüler S12 etwa empfindet den menschlichen Blutkreislauf eher als ein ‚Labyrinth‘. Nachfolgend wird daher u.a. der Frage nachgegangen, welche Rolle der unterrichtliche Input für diese Wahrnehmung spielen könnte. Zentrale Aufgabe der Institution Schule ist es, gesellschaftliches Wissen, das weitgehend versprachlicht ist (Ehlich & Rehbein 1983: 8), der jeweils nächsten Generation zugänglich zu machen (Ehlich 2012: 331). Die Beschaffenheit des unterrichtlichen Inputs stellt dabei - neben vielen anderen Faktoren (Helmke 2012: 69ff.) - eine Voraussetzung dafür dar, dass (Sprach-)Lernen überhaupt erfolgen kann (Klein 1992: 53ff.). Spätestens seit den Ergebnissen größerer Schulleistungsstudien wie PISA (Klieme, Artelt, Hartig, Jude et al. 20010, OECD 2007), DESI (Klieme, Eichler, Helmke, Lehmann et al. 2008), TIMSS (Bos, Bonsen, Baumert, Prenzel et al. 2008) und IGLU (Bos, Hoberg, Arnold, Faust et al. 2007) wird diskutiert, ob Sprache ein oder gar der Schlüssel zum Bildungserfolg im deutschen Schulsystem ist (vgl. z.B. Abteilung für Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung 2010). Demnach setzt die Schule die Beherrschung bestimmter sprachlicher Mittel als selbstverständlich voraus, sieht diese aber nicht ausreichend als Lerngegenstand an (Feilke 2012: 4). <?page no="94"?> Diana Maak 94 Seit einigen Jahren stellt daher die Erforschung der so genannten Bildungssprache ein wichtiges Erkenntnisinteresse dar. 1 Bildungssprache wird als Übersetzung des von Cummins (1979, 1984) geprägten Begriffs CALP (Cognitive Academic Language Proficiency) oder im Sinne von Habermas (1977: 39) als Sprache der „Öffentlichkeit“ mit der Funktion „[…] Fachwissen in die einheitsstiftenden Alltagsdeutungen einzubringen […]“ (Habermas 1977: 40) verstanden. Gogolin versteht darunter ein formelles Sprachregister „[…] das auch außerhalb des Bildungskontextes in formalem und öffentlichem Sprachgebrauch vorkommt“ (Gogolin 2009: 46). Bezüglich der Erforschung von Bildungssprache kommt dem Versuch der ‚Trennung‘ bzw. ‚Unterscheidung‘ von alltags-, bildungs- und fachsprachlichen Mitteln eine große Relevanz zu. Der vorliegende Beitrag stellt eine Untersuchung vor, im Rahmen derer sich dem thematischen Feld Sprachliche Anforderungen in schulischen Kontexten von einer etwas anderen Perspektive aus genähert wird. Nicht die Unterscheidung sprachlicher Ebenen oder Register ist handlungsleitend, sondern vielmehr die Frage danach, wie fachliche Inhalte sprachlich getragen werden - dies ganz unabhängig von ihrer Zuordnung zu Alltags-, Bildungs- oder Fachsprache. Um das kontext- und fachspezifische Zusammenwirken von fachlichen Inhalten und sprachlichen Merkmalen untersuchen zu können, wird der Analyse von empirischen Unterrichtsdaten ein Konzept-orientierter Zugang (von Stutterheim & Klein 1987, von Stutterheim & Carrol 2013) zugrunde gelegt. Anlage, theoretischer Rahmen, Umsetzung und Ergebnisse der Untersuchung werden nachfolgend vorgestellt und diskutiert. 2 Forschungsdesign und Erkenntnisinteresse Die hier vorgestellte Studie ist Teil des Forschungsprojekts Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache (kurz Fach-DaZ) 2 . Ziel des Projektes ist es, sprachliche Formen der Wissensvermittlung und -aneignung im Fachunterricht basierend auf empirischen Daten für verschiedene Schulfächer und Altersstufen zu beschreiben. Ahrenholz fasst dies wie folgt zusammen: „Die Bereiche Input (in Form von Schulbüchern und Unterrichtsbeiträgen) und Output (in Form von mündlichen und schriftlichen Schülerproduktionen) sollen in Abhängigkeit von Fach, Alter und Schulart unter Berücksichtigung der Sprachkompetenzen der ein- und mehrsprachigen Schülerinnen und Schüler untersucht werden. Zur Absicherung der Befunde werden in einem 1 Für einen zusammenfassenden Überblick zu dessen Genese und Definition vgl. z.B. Riebling (2013) und Morek & Heller (2012). 2 Vgl. Ahrenholz (2013) für weitere Informationen sowie http: / / www.dafdaz.unijena.de/ Forschung+_+Entwicklung/ Arbeitsstellen/ Deutsch+als+Zweitsprache.html (letzter Zugriff 23.05.2017). <?page no="95"?> Sprachliche Beschaffenheit des fachlichen Inputs im Fach Biologie 95 triangulierenden Verfahren zudem Daten zur Sprachkompetenz (mittels C- Test 3 ) und zur Sprachbiographie erhoben; außerdem werden in leitfadengestützten Interviews die Perspektiven der Beteiligten (Lehrende und Lernende) einbezogen.“ (Ahrenholz 2013: 89). Die vorliegende Teilstudie untersucht die Seite des fachlichen Inputs exemplarisch für den Biologieunterricht in einer achten Klasse (Gesamtschule) zum Thema Blut und Blutkreislauf. Bezüglich des Inputs wird zwischen mündlichem fachlichem Input (MFI) in Form der Unterrichtsbeiträge von Lehrperson und Schülerinnen und Schülern sowie schriftlichem fachlichem Input (SFI) in Form von Schulfachbuchtexten, Arbeitsblättern, Tafelanschrieben u.a. unterschieden. 4 Für das Unterrichtsthema Blut und Blutkreislauf stellt das Verständnis von Bewegungsereignissen einen wesentlichen Lerninhalt dar. Daher wird die Versprachlichung von Bewegung bei der Analyse fokussiert. Folgende Forschungsfragen bilden den Kern der Untersuchung: 1. Wie erfolgt die Versprachlichung von Bewegung im biologischen Fachthema Blutkreislauf im SFI? 2. Wie erfolgt die Versprachlichung im biologischen Fachthema Blutkreislauf im MFI in Form von Lehrerinnen- und Lehrersowie Schülerinnen- und Schülersprache? 3. Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede lassen sich im Vergleich zwischen SFI und MFI identifizieren? Nachfolgend wird das Bewegungskonzept modelliert, welches der Analyse der empirischen Unterrichtsdaten zugrunde liegen soll. Vorab wird der Konzept-orientierte Ansatz, der den theoretischen Rahmen bildet, vorgestellt. 3 Theoretischer Rahmen 3.1 Der Konzept-orientierte Ansatz Der Konzept-orientierte Ansatz, welcher im Kontext der Zweitspracherwerbsforschung entwickelt wurde, ist funktionalen Ansätzen zuzuorden. 5 3 Der C-Test ist ein Instrument zur „globalen Erfassung von Sprachkompetenz in Erst-, Zweit- und Fremdsprachen“ (Grotjahn 1992: 2). Es handelt sich um jeweils vier bis fünf Texte, in denen systematisch Lücken eingefügt werden, die ergänzt werden müssen. Der RF-Wert (Richtig-Falsch-Wert) gibt an, wie viele Lücken vollständig korrekt ausgefüllt worden sind. Für weiterführende Informationen siehe z.B. Baur & Spettmann (2010). 20 Schülerinnen und Schüler der Klasse bearbeiteten einen C-Test. 4 Nicht untersucht werden unterrichtsorganisatorische Äußerungen sowie Äußerungen, die in Parter- oder Gruppenarbeitsphasen getätigt werden. 5 Grundidee aller funktionalen Ansätze ist, dass Struktur und Funktion von Sprache sich gegenseitig bedingen bzw. voneinander abhängen: strukturelle Aspekte von Sprache wie Phonologie und Syntax sind begründet und beschränkt durch funktionale (kommunikative) Anliegen (Englebretson 2011: 327). <?page no="96"?> Diana Maak 96 Von Stutterheim und Klein (1987: 194) gehen davon aus, dass jeder Äußerung das Ausdrücken diverser Konzepte, etwa Temporalität, Modalität und Lokalität, inhärent ist: „Every utterance, no matter what communicative purpose it fills, involves the expression of various concepts such as temporality, modality, and locality. It seems clear that in order to produce an appropriate utterance, a speaker must somehow “have” these concepts: he may have acquired them, or they may be innate. In addition he also must have some specific conventionalized means of expressing them; these are provided by individual’s language or else by the learner variety.” (von Stutterheim & Klein 1987: 194) Konzepte existieren in diesem Sinne übersprachlich und stellen Universalien dar. Beim Lernen einer zweiten Sprache müssen sie in der Regel nicht neu erworben werden, dafür aber die (sprachlichen) Mittel, um sie angemessen auszudrücken. Die Anwendung des Konzept-orientierten Ansatzes erfolgt in zwei Stufen. An erster Stelle steht die Analyse und Modellierung eines Konzepts. Auf dieser Basis erfolgt die Analyse für bestimmte Sprachen. Sie können dann beschrieben werden im Hinblick auf die spezifischen Mittel, die zur Enkodierung diverser Kategorien eines Konzepts in einem bestimmten Kontext verwendet werden. (von Stutterheim & Klein 1987: 194) Der Konzept-orientierte Ansatz bietet einerseits die Möglichkeit, die Sprache im Fach stärker kontextbezogen zu untersuchen und lässt eine Erweiterung der Analyse zu, die sich nicht auf ausgewählte sprachliche Mittel, wie z.B. das Vorkommen von Passiv etc. beschränken muss. Andererseits wären anschließende Untersuchungen für weitere Sprachen mit Blick auf eine mehrsprachige Schülerschaft gut anschlussfähig. 3.2 Das Konzept Bewegung Im Sinne von von Stutterheim ist es sinnvoll, zur Analyse ein Konzept auszuwählen, welches aufgrund seines Referenzfeldes ein gewisses Maß an Objektivität aufweist: „Ist die interne, begriffliche Struktur eines Konzeptes im Wesentlichen durch Kategorien der Realität, bzw. deren logischsystematischer Interpretation bestimmt, so ist ein hoher Grad an intersubjektiver Übereinstimmung gegeben“ (von Stutterheim 1986: 24). Das ausgewählte Konzept sollte in der Realität eine Entsprechung finden. Dies gilt für das Konzept der Bewegung, wenn man es im Sinne der Veränderung der Position, Lage oder Stellung eines Körpers (Götz, Haensch & Wellmann 2002: 162) versteht. 6 6 Neben diesem verhältnismäßig ‚gegenständlichen‘ Verständnis von Bewegung existieren weitere Auffassungen und Formen: Man denke z.B. an die Verwendung im metaphorischen bzw. übertragenen Sinne wie im Satz Der Film hat mich tief bewegt. Ein <?page no="97"?> Sprachliche Beschaffenheit des fachlichen Inputs im Fach Biologie 97 Wesentliche Grundlage für die konzeptuelle Beschreibung von Bewegung stellen die Ausführungen von Talmy (2000a, 2000b) dar, da diese umfassend, verbreitet und aufgrund ihrer funktionalen Orientierung für das vorliegende Erkenntnisinteresse geeignet sind. 7 Für eine Konzeptualisierung von Bewegung im Raum arbeitet Talmy (2000b: 25ff.) mit vier Hauptkomponenten: Figur (Figure), Grund (Ground), Bewegung (Motion) und Weg (Path). Unter den Termini Figur und Grund, die Talmy der Gestaltpsychologie entlehnt hat (Talmy 2000b: 26), versteht er Folgendes: „The Figure is a moving or conceptually movable entity whose site, path, or orientation is conceived as a variable the particular value of which is the relevant issue. The Ground is a reference entity, one that has a stationary setting relative to a reference frame, with respect to which the Figure’s site, path, or orientation is characterized.” (Talmy 2000a: 184) Damit stellt die Figur als bewegtes bzw. bewegbares Objekt gewissermaßen den ‚Hauptaktanten‘ einer Bewegung dar. In Ergänzung dazu ist der Grund eine Referenzeinheit, die es ermöglicht, die Figur und damit auch deren Bewegung im Raum zu verorten. Prinzipiell können mehrere Objekte als Referenz dienen, wobei Referenzobjekte auch impliziert sein können; ein Beispiel wäre der Gebrauch von im Norden, der als Referenzobjekt die Erde impliziert (Talmy 2000a: 203ff.). Talmy (2000b: 25f.) unterscheidet weiterhin zwei grundlegende Bewegungsereignisse, wonach Bewegung erstens ein dynamisches und zweitens ein (vornehmlich) statisches Ereignis sein kann: 1. Bewegung bzw. Lageveränderung eines Objekts (Figur) relativ zu einem anderen Objekt (Referenzobjekt oder Grund); das Referenzobjekt kann auch impliziert sein --> MOVE 2. Verortung eines Objekts (Figur) relativ zu einem anderen Objekt (Referenzobjekt oder Grund) bzw. statische Beibehaltung eines Ortes durch ein Objekt relativ zu einem anderen Objekt (Referenzobjekt oder Grund) --> BE LOC (für ‚be located‘) Die vierte Komponente, der Weg, wird von Talmy wie folgt beschrieben: „The Path (with a capital P) is the path followed or site occupied by the Figure object with respect to the Ground object“ (Talmy 2000b: 25, Hervorhebungen im Original, Anm. d. Verf.). Daraus ergeben sich in Anlehnung an die Unterscheidung MOVE und BE LOC auch für die vierte Komponente, den Weg, zwei Sprecher will damit ausdrücken, dass durch den Film Gefühle hervorgerufen worden sind. (Götz, Haensch & Wellmann 2002: 162) Diese sind jedoch nicht Gegenstand der weiteren Überlegungen. 7 Für eine kritische Diskussion von Talmys Werk sei z.B. auf Berthele (2004) und Oliveira (2012, 19ff.) verwiesen. <?page no="98"?> Diana Maak 98 wesentliche Ausprägungen: einerseits als Weg, dem eine Figur folgt und andererseits als Ort, der von der Figur eingenommen wird. Typischerweise wird Weg im Sinne von Johnsons (Johnson 1987, zitiert nach Langacker 1999: 55) Schema source-path-goal verstanden. Demzufolge gilt: „[…] eine Bewegung hat schematisch gesehen einen Ausgangspunkt und führt über einen Weg zu einem Ziel. Das Quelle-Weg-Ziel-Schema beinhaltet a priori zwei Grundelemente, Quelle und Ziel, weitere Grundelemente können integriert werden, etwa so genannte Meilensteine, das heißt saliente Grundelemente, die als Zwischenstation den Weg der Figur situieren helfen.“ (Berthele 2004: 3) Talmy wendet sich gegen eine Untergliederung von Weg in Quelle, Meilenstein und Ziel und zieht eine durchgängige Verwendung von Grund vor: „The notion of Ground captures the commonality - namely, function as reference object - that runs across all of Fillmore’s separate cases ‚Location‘, ‚Source‘, ‚Goal‘, and ‚Path‘.“ (Talmy 2000b: 26) Zwar ist nicht in jedem Fall eine (eindeutige) Identifizierung von Quelle, Meilenstein(en) und Ziel möglich, doch soll in der vorliegenden Untersuchung dennoch diese Unterscheidung versucht werden, da sie eine Spezifizierug des Weges ermöglicht, die in der Komponente Grund nicht angelegt ist. Insbesondere für fachliche Inhalte im schulischen Kontext wäre aber denkbar, dass eine Zergliederung des Weges und dessen Verständnis in diesem Sinn wichtig sind. Ein Bewegungsereignis kann Talmy zufolge ferner mit einem externen Ko- Ereignis assoziiert sein, das in der Regel Hinweise auf Art und Weise (Manner) sowie Ursache (Cause) der Bewegung gibt (Talmy 2000b: 26). Dabei handelt es sich um zwei weitere wesentliche Komponenten von Bewegungsereignissen. Die Modellierung eines Bewegungskonzepts auf der Basis von Talmys Ausführungen würde demnach sechs wesentliche Komponenten beinhalten. In einer konkreten sprachlichen Äußerung müssen diese allerdings nicht notwendigerweise alle expliziert werden bzw. vorhanden sein. Diese Komponenten sollen ergänzt werden um einen so genannten Verursacher von Bewegung, da er m.E. eine ganz wesentliche Komponente von Bewegungsereignissen darstellen kann und nicht - zumindest nicht in jedem Fall - mit der Ursache gleichzusetzen ist. Eine weitere Komponente ist die Richtung der Bewegung. Schließlich ist auch der Aspekt der Zeit - also die Frage, wann eine Bewegung stattfindet bzw. in welcher Zeitspanne -, dem Talmy z.B. in seinen Bewegungsformeln (2000b: 53f.) Rechnung trägt, zu berücksichtigen. Demnach ergeben sich neun zu berücksichtigende Komponenten von Bewegungsereignissen: 1. FIGUR 2. GRUND bzw. Referenzobjekt 3. BEWEGUNG (bewegend: MOVE, lokalisiert: BELOC) 4. WEG (Weg oder Ort) 5. Art und Weise der Bewegung 6. Ursache für Bewegung <?page no="99"?> Sprachliche Beschaffenheit des fachlichen Inputs im Fach Biologie 99 7. Verursacher 8. Richtung 9. Zeit (Zeitpunkt bzw. Zeitabschnitt und Phasen) Talmy liefert somit die Grundlage für ein geeignetes Instrumentarium zur Analyse, wobei allerdings typologische Aspekte, welche bei Talmy eine wesentliche Rolle spielen, in der vorliegenden Arbeit in den Hintergrund treten. 4 Methode: Datenerhebung, -aufbereitung und -analyse sowie Stichprobenbeschreibung 4.1 Datenerhebung und -aufbereitung Es wurden acht Doppelstunden Biologieunterricht videographiert. In der Regel erfolgte die Aufnahme bei Frontalunterricht den videographischen Datenerhebungsstandards entsprechend (vgl. Maak 2016; Irion & Knecht 2010: 1; Dinkelaker & Herrle 2009: 25; Seidel, Dalehefte & Meyer 2005: 31f.). Dies bedeutet, dass mit einer Schülerkamera und einer Lehrerkamera gearbeitet wurde (vgl. Abb. 1). Abb. 1: Sitzplan der Klasse 03081 (entnommen aus Maak i. Vorb.) Aus forschungspraktischen Gründen war in der Regel eine Kameraperson anwesend, welche hinter der Lehrerkamera stand. In der Regel wurde ein <?page no="100"?> Diana Maak 100 zusätzliches Audioaufnahmegerät auf das Lehrerpult gelegt. 8 Schülerinnen und Schüler, die kein Einverständnis zur Aufnahme von Videodaten gegeben hatten, saßen außerhalb des von der Kamera erfassten Sichtfeldes, was in der Regel eine für die beobachtete Klasse (03081) leichte Veränderung der Sitzordnung bedeutete. Da sich die Sitzordnung im Rahmen der vier untersuchten Unterrichtseinheiten mehrmals veränderte, ist in der Abbildung 1 die normale Sitzordnung dargestellt. Für die vorliegende Untersuchung stehen das sprachliche Verhalten der Lehrperson und der Schülerinnen und Schüler im Plenum im Vordergrund. Daher war der Einsatz von zwei Kameras sowie mindestens einem zusätzlichen Audioaufnahmegerät jeweils ausreichend. Bei der Erhebung waren die Kamerapersonen angehalten, sich möglichst zurückhaltend zu verhalten, um den Grad an Invasivität so gering wie möglich zu halten (vgl. Maak & Ricart Brede 2014). Der SFI in Form von Tafelanschrieben und Overhead-Folien wurde ebenfalls gefilmt. Der weitere SFI in Form von Schulbuch sowie weiteren Arbeitsblättern wurde im Anschluss an die videographierten Stunden erhoben (von der Lehrerin zur Verfügung gestellt). Die Schulbücher wurden mittels des Texterkennungsprogramms Abbyy Fine Reader digitalisiert; mit Hilfe eines Scans wurde das Original mit seinen Textanordnungen und Bildverwendungen dokumentiert. 9 Die mündlichen Unterrichtsdaten wurden im Programm ELAN transkribiert. Als Transkriptionskonvention diente das Minimaltranskript von GAT 2 (Selting et al. 2009), leicht angepasst an die Gegebenheiten im Fach-DaZ-Projekt. 4.2 Datenanalyse Die Datenanalyse erfolgte in zwei Schritten. In einem ersten Schritt wurden die zu analysierenden Einheiten bestimmt. Voraussetzung für die valide Auswahl ist eine genaue Beschreibung dessen, was erfasst werden soll. Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit sind solche Bewegungsereignisse, im Rahmen derer Blut oder Blutbestandteile sich im Sinne von MOVE oder BE LOC bewegen. Im Forschungsprozess erfolgten weitere Konkretisierungen diesbezüglich, welche im Analysemanual dokumentiert worden sind (vgl. Maak i. Vorb.). So wird zum Beispiel das Thema 8 Für einen vornehmlich lehrergesteuerten Unterricht folgt, dass (geflüsterte) Gespräche zwischen einzelnen Schülerinnen und Schülern nicht (in ihrer Gänze) erfasst worden sind. 9 Da für Arbeitsblätter, Tafelanschriebe und Overhead-Folien nur sehr wenige Vorkommen von Bewegungsereignissen dokumentiert werden konnten, wird auf diese hier nicht weiter eingegangen (für weiterführende Informationen vgl. Maak i. Vorb.). <?page no="101"?> Sprachliche Beschaffenheit des fachlichen Inputs im Fach Biologie 101 Blutübertragung/ -transfusion berücksichtigt und im Sinne der MOVE- Bewegung kodiert, da das Blut bei Übertragungen tatsächlich bewegt wird. 10 In einem zweiten Schritt erfolgte die Konzept-orientierte Analyse der so ermittelten Einheiten. Aus dem der Arbeit zugrunde liegenden Bewegungskonzept wurde ein Kategorienschema abgeleitet, dessen Kategorien in der Abbildung 2 dargestellt sind. Im Wesentlichen wurden sie aus der Theorie abgeleitet, zum Teil ergaben sie sich - insbesondere ihre Unterkategorien bzw. die konkrete Spezifizierung - während einer Probeanalyse sowie bei der Analyse der eigentlichen Daten. Die Kodierung erfolgte in MAXQDA, die deskriptiv-statistische Auswertung in SPSS. 11 Abb. 2: Das Bewegungskonzept der vorliegenden Analyse (entnommen aus Maak i.Vorb.) Als Hauptkategorien werden Aktanten, Bewegungstyp, Weg, die Spezifizierung der Bewegung und die Zeit bzw. Phase einer Bewegung unterschieden und für die Analyse berücksichtigt, welche im Wesentlichen bereits in Abschnitt 3.2 vorgestellt worden sind. Bezüglich des Aktanten Verursacher wurde zwischen agentivem und selbst-agentivem unterschieden. Im letzteren Fall sind Verursacher und bewegte Figur identisch, im Fall eines agentiven 10 Zweifelsfälle wurden mit Expertinnen und Experten - es handelte sich um Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler, Biologinnen sowie einen Arzt - in Datensitzungen diskutiert. 11 Das vollständige Kategoriensystem mit Kategorienbeschreibung und Beispielen findet sich in Maak (i. Vorb). <?page no="102"?> Diana Maak 102 Verursachers trifft dies nicht zu: die bewegte Figur wird von einem weiteren Aktanten bewegt. Bewegungsereignisse werden wie bereits erläutert in MOVE und BE LOC unterschieden. Ergänzt wurde aus den empirischen Daten heraus die Kategorie der NON-MOVE-Ereignisse. Dabei handelt es sich um Bewegungsereignisse, die nicht stattfinden. Für die Weg-Kodierung ergeben sich für MOVE-/ NON-MOVE-Ereignisse die Möglichkeit zwischen Quelle, Meilenstein und Ziel zu differenzieren oder einen Grund zu kodieren. Im Fall von BE LOC -Ereignissen können nur Orte kodiert werden. Ferner wurde hinsichtlich der Spezifizierung von Bewegungsereignissen die Unterkategorie Transportmittel ergänzt, die sich ebenfalls induktiv im Rahmen der Probeanalyse ergab. Für die Kategorie der Bewegungsphasen wurde zudem im Zuge der Probeanalyse die Unterkategorie Kreislauf ergänzt, da dieser weder über Anfang noch Ende verfügt. 4.3 Stichprobe Wesentlich für die Beschreibung der Stichprobe sind die beobachtete Klasse 12 und deren Lehrerin sowie die erhobenen Daten selbst. Gegenstand der Analyse sind sieben Biologiestunden 13 in der 8. Klasse einer Gesamtschule mit 25 Lernenden (15 männlich, 10 weiblich; Altersdurchschnitt 14 Jahre). 47% der Schülerinnen und Schüler verfügen über einen Migrationshintergrund 14 . 48% geben an, (auch) eine andere Sprache als Deutsch als Erstsprache zu haben, wobei 32% diese Sprache oft mit Eltern und/ oder Geschwistern sprechen. Die C-Test-Ergebnisse ergeben, dass sieben Schülerinnen und Schüler unter dem Klassendurchschnitt von 75% für den RF-Wert liegen, wobei zwei Schüler mit 57% im RF-Wert mehr als eine Standardabweichung unter dem Klassendurchschnitt liegen und für diese ein Sprachförderbedarf angenommen werden kann. 15 Die Lehrerin 03081L01 verfügt zum Zeitpunkt der Datenerhebung über mehr als 30 Jahre Berufserfahrung. Sie lehrt Chemie und Biologie in den Klassenstufen 7 bis 13. In der beobachteten Klasse unterrichtet sie einmal pro Woche eine Doppelstunde Biologie (90 Minuten). 12 19 Schülerinnen und Schüler füllten einen sprachbiographischen Fragebogen aus. 13 Da in der ersten Stunde der ersten Doppelstunde ein anderes Unterrichtsthema behandelt und abgeschlossen wurde, wird diese Stunde nicht für die Analyse berücksichtigt. 14 Zu den Menschen mit Migrationshintergrund zählen „alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten, sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil“ (Statistisches Bundesamt 2011). 15 Der Gesamtdurchschnitt für alle Schülerinnen und Schüler im Rahmen des Fach-DaZ- Projektes beträgt 74% für den RF-Wert (s=16, Median=78, Modus=83, Min=23, Max=96) jeweils bezogen auf n=213. <?page no="103"?> Sprachliche Beschaffenheit des fachlichen Inputs im Fach Biologie 103 Die erhobenen Videodaten bestehen aus vier aufeinanderfolgenden Doppelstunden Biologie zum Thema Blutkreislauf. Folgende Themenschwerpunkte werden im Laufe der Stunden behandelt: Vorwissensaktivierung mittels Mindmap, Zusammensetzung und Funktion des Blutes, Blutgefäße (Arterien, Venen, Kapillaren), Aufbau des Herzens, Unterscheidung von Körper- und Lungenkreislauf. 5 Ergebnisse Insgesamt wurden 188 Bewegungsereignisse im Schulbuch (SB) und 268 im MFI identifiziert. Von den 268 Äußerungn im MFI entfallen 58,6% (n=157) auf 03081L01, 39,9% (n=107) auf Schülerinnen und Schüler der Klasse 03081 und 1,5% (n=4) auf Ko-Konstruktionen 16 . Das bedeutet, dass 03081L01 anteilig den meisten MFI mit Bezug zum Bewegungskonzept liefert. Bei 25 Schülerinnen und Schülern würden bei 107 Bewegungsereignissen auf jede Schülerin bzw. jeden Schüler etwa vier entfallen. Allerdings zeigt sich bei eingehenderer Analyse eine große Streuung: auf fünf Schülerinnen und Schüler 17 entfällt mehr als die Hälfte aller Bewegungsereignisse und immerhin acht Schülerinnen und Schüler äußern kein einziges. 5.1 Bewegungstyp Die Mehrheit der Bewegungsereignisse sind als MOVE kodiert (94,7% im SB, 92,5% im MFI). Dies ist in Anbetracht des untersuchten Themas erwartbar. BE LOC - und NON-MOVE-Ereignisse treten vergleichsweise selten auf (BE LOC : 1,6% im SB und 6,3% im MFI; NON-MOVE: 3,7% im SB und 1,1% im MFI). Allerdings fokussieren NON-MOVE-Ereignisse einen wesentlichen fachlichen Aspekt, wenn sie z.B. die Funktionsweise von Venenklappen illustrieren: (1) Venenklappen verhindern, dass das Blut zurückfließt. S_203_1_13 18 Zu verstehen, dass in diesem Fall eine Bewegung nicht stattfindet, ist demnach zentral für das fachliche Verständnis. 16 Beenden Schülerinnen oder Schüler angefangene Äußerungen der Lehrperson oder die von Mitschülerinnen und Mitschülern bzw. führen sie diese weiter, dann wird dies als Ko-Konstruktion bezeichnet. 17 03081S12 (n=16), 03081S14 (n=15), 03081S04 (n=12), 03081S17 (n=9) und 03081S03 (n=8) 18 Es handelt sich um zehnstellige Laufnummern für Beispiele, die eine eineindeutige Zuordnung zur Fundstelle in den Daten ermöglichen; S steht für Schulbuch (hier SB), U für Unterricht (hier MFI), L für von der Lehrperson und S für von Schülerin/ Schüler geäußert. <?page no="104"?> Diana Maak 104 5.2 Aktanten Die Analyse der Aktanten ergibt, dass deren Enkodierung eine zentrale Rolle für das Unterrichtsthema darstellt - wer bzw. was bewegt wird bzw. sich bewegt, stellt einen wesentlichen Lehr-/ Lerninhalt dar. So werden in 87,8% aller Fälle im SB und in 72,0% aller Fälle im MFI eine bzw. mehrere bewegte Figuren enkodiert. Als bewegte Figur tritt - in Übereinstimmung mit den Erwartungen - insbesondere Blut hervor, im Schulbuch etwas häufiger als im MFI. Hierbei kommt Blut als einfaches Lexem und als Teil eines Kompositums mit Blut-/ -blutin beiden Inputtypen am häufigsten vor, wobei im MFI das einfache Nomen frequenter ist als im Schulbuch. Auch pronominale Verweise treten in beiden Inputtypen in etwa vergleichbarem Umfang auf. Neben Blut treten auch andere bewegte Figuren im Kontext des Themas Blut und Blutkreislauf auf, wobei sich für das Schulbuch eine größere Varianz feststellen lässt. Abb. 3: Enkodierung von Verursachern in Schulbuch und MFI im Vergleich (entnommen aus Maak i. Vorb.) Die Gegenüberstellung von Schulbuch- und MFI-Daten hinsichtlich der Enkodierung von Bewegungsverursachern ergibt, dass diese in beiden Inputtypen mehrheitlich nicht stattfindet (vgl. Abb. 3). Verursacher sind damit weniger prominente Aktanten als bewegte Figuren. Die Enkodierung von Verursachern tritt im Schulbuch jedoch häufiger auf. Dies scheint mit Blick auf die Daten daran zu liegen, dass das Verständnis für Verursacher bzw. die Verursachung der Blutbewegung im Unterricht kein wesentliches Lernziel darstellt. <?page no="105"?> Sprachliche Beschaffenheit des fachlichen Inputs im Fach Biologie 105 Mit 45,3% (n=29) wurde in den Schulbuch-Daten am häufigsten das werden- Passiv 19 als Verweis auf einen Verursacher, der nicht mit der bewegten Figur identisch und gleichzeitg nicht explizit benannt wird, kodiert. Das folgende Beispiel zeigt, dass über das Passiv jedoch die Information vermittelt wird, dass das Blut sich nicht selbst-agentiv bewegt. (2) Aus der linken Herzkammer wird das Blut in die große Körperarterie oder Aorta gepresst. (S_206_1_10) Das Passiv ermöglicht also unter Beibehaltung der fachlichen Korrektheit eine Fokussierung auf andere inhaltliche Aspekte als den Verursacher und dient hier der Reduzierung sprachlicher und inhaltlicher Komplexität - vorstellbar wären z.B. umständliche Konstruktionen, in denen die wesentlichen Verursacher Herz, Blutgefäße u.a. jeweils alle explizit benannt werden, die für jede Äußerung wiederholt werden müssten und damit redundant wären. Mit 31,4% (n=11) wurde auch in den MFI-Daten am häufigsten das werden-Passiv als ‚Platzhalter‘ für entsprechende agentive Verursacher kodiert. Stellt das Verständnis von Ursachen und Verursachern der Blutbewegung ein wesentliches Ziel dar, dann sollte sichergestellt werden, dass Schülerinnen und Schüler das Passiv fachlich angemessen dekodieren könne. Bezüglich der Enkodierung selbst-agentiver Verursacher wäre die Kodierung von Blut zu diskutieren. Zwar können sich bestimmte Blutbestandteile eigenständig bewegen. Das Blut an sich wird jedoch bewegt. Sowohl im Schulbuch als auch im MFI wurden jedoch entsprechende Kodierungen vorgenommen, etwa im Beispiel 3. (3) Wo gehtn das blut HIN aus der linken herzkammer? (-) letzten ENdes, (U_V04_L_13) In solchen Fällen könnte man dafür argumentieren, dass diese Versprachlichung - hier von der Lehrerin gebraucht - dem fachlichen Konzept widerspricht. Riemeier et al. können zeigen, dass Schülerinnen und Schüler, die noch keinen Unterricht zum Thema Blut und Blutkreislauf erhalten haben, Blut personifizieren: „Gemeinsam ist den Konzepten zu den Blutbestandteilen und zur Funktion des Blutes, dass Schüler menschliche Eigenschaften, 19 Im Deutschen wird zwischen den beiden Formen Aktiv und Passiv als Genus verbi unterschieden. Da das Aktiv in der Gegenwartssprache wesentlich häufiger als das Passiv auftritt, wird auch vom Aktiv als Erst- und vom Passiv als Zweitform gesprochen (Drosdowski 1995: 171f.) Beim Aktiv handelt es sich „[…] um die für den deutschen Satz charakteristische Blickrichtung, die den Träger („Täter“), den Urheber des Geschehens zum Ausgangspunkt macht und das erfaßt, was über ihn ausgesagt wird.“ (Drosdowski 1995: 171) Es werden im Deutschen das Vorgangspassiv (gebildet durch eine Form von werden + Partizip II) und das Zustandspassiv (gebildet durch eine Form von sein + Partizip II) unterschieden (Drosdowski 1995: 180ff.). <?page no="106"?> Diana Maak 106 Emotionen, Fähigkeiten, Handlungen oder auch die menschliche Körpergestalt auf das Blut übertragen.“ (Riemeier et al. 2010: 85) Eine Enkodierung im Unterrichtsverlauf, die nahe legt, dass sich das Blut selbst bewegt, könnte diese Vorstellung demnach festigen. Die Enkodierung von Referenzobjekten erfolgt im Schulbuch in etwa sieben von zehn Fällen, im MFI in der Hälfte aller analysierten Bewegungsereignisse. Das bedeutet, dass Referenzobjekte seltener als bewegte Figuren, aber häufiger als Verursacher enkodiert sind und für die Enkodierung von Bewegung im Kontext des Themas Blut und Blutkreislauf eine wichtige Rolle spielen. Vergleicht man ausschließlich die Äußerungen, in denen eine Kodierung vorgenommen wurde, so ergibt sich für die durchschnittliche Anzahl von Referenzobjekten je Ereignis im Schulbuch der Wert 2 und im MFI der Wert 1. Das bedeutet: Im Schulbuch sind nicht nur in mehr Bewegungsereignissen Referenzobjekte enkodiert, sondern in diesen treten darüber hinaus auch mehr Referenzobjekte auf als im MFI. Folglich werden im Schulbuch im Durchschnitt in größerem Umfang ‚Orientierungspunkte‘ für Bewegung geliefert. Die kodierten Referenzobjekte lassen sich verschiedenen ‚Gruppen‘ zuordnen. Zentral sind die Gruppen: 1. menschliche Organe, 2. Blutgefäße, 3. der menschliche Körper, 4. Blut, 5. deiktische Verweise und 6. Körperteile des Menschen. 1, 2 und 6 dienen als Referenzobjekte maßgeblich dem ‚Nachzeichnen‘ der Bewegung des Blutes durch den menschlichen Körper. Damit ermöglichen sie eine spezifischere Raumstrukturierung von Körper bzw. eine Verortung im Rahmen der jeweiligen Äußerung und unterstützen die Versprachlichung von Lagebeziehungen und räumlichen Zusammenhängen im Körper. Gleichzeitig stellt das Kennenlernen der ‚Stationen‘ im Kreislauf ein zentrales Lernziel dar. Im MFI stellt das Herz (bzw. Herzbestandteile) mit Abstand das am häufigsten auftretende Referenzobjekt dar. Andere menschliche Organe treten hier in den Hintergrund. Riemeier, Jankowski, Kersten, Pach et al. (2010: 89) können aufzeigen, dass dem Herzen in Schülervorstellungen eine zentrale Rolle zukommt, wohingegen die Lunge nicht mitgedacht wird. Ein hochfrequentes Enkodieren im Unterrichtsverlauf so, wie es in den vorliegenden Daten auftritt, könnte dazu beitragen, dass diese Schülervorstellung verfestigt wird. Dass entsprechende Vorstellungen auch nachunterrichtlich erhalten bleiben, konnten bereits Hammann (2003) und Schmiemann und Sandmann (2007) belegen. Eine Fokussierung des Herzens ergibt sich verständlicherweise aufgrund von dessen Rolle als Saug-Druck-Pumpe und damit Mit-Verursacher von Blutbewegung. Allerdings wird diese Funktion im analysierten MFI kaum thematisiert. Schließlich zeigt sich für die Kombination Präposition plus Referenzobjekt ein Form-Funktionszusammenhang sowohl im Schulbuch als auch im MFI. <?page no="107"?> Sprachliche Beschaffenheit des fachlichen Inputs im Fach Biologie 107 Jeweils etwa zwei Drittel aller Referenzobjektvorkommen treten in Präpositionalphrasen auf: (4) Über Arterien fließt das Blut vom Herzen weg - entweder zu den Organen oder zur Lunge. (S_214_1_14; Hervorhebungen durch d. Verf.) In Beispiel 4 treten alle Referenzobjekte (Arterien, Herz, Organe, Lunge) in Verbindung mit Präpositionen auf; dabei liefern die Präpositionen wesentliche Hinweise auf die Bewegung(srichtung) - so stellen die Arterien hier einen Meilenstein, nicht aber eine Quelle dar, obwohl sie an erster Stelle im Satz stehen. Eine Bewusstmachung dieses Zusammenhangs im Unterricht könnte helfen, Referenzobjekte zu identifizieren und ihre angemessene Dekodierung sicherzustellen. 5.3 Weg Die Gegenüberstellung von MOVE- und NON-MOVE-Bewegungsereignissen verdeutlicht, dass die Unterkategorien Wegespunkte (Quelle, Meilenstein, Ziel) und Grund zusammengenommen in beiden Inputtypen in mehr als der Hälfte aller Bewegungsereignisse enkodiert sind - im Schulbuch noch häufiger als im MFI. Abb. 4: Weg-Enkodierung im Schulbuch und im MFI im Vergleich (entnommen aus Maak i. Vorb.) Insbesondere dem Herzen als Quelle und Ziel von Bewegungen kommt eine zentrale Rolle zu, im MFI ist dieses noch stärker im Fokus als im Schulbuch. Es wäre zu diskutieren, welche Auswirkungen eine solche Prominenz in der <?page no="108"?> Diana Maak 108 Enkodierung auf das fachliche Verständnis des Kreislauf-Konzepts hat. Quelle- und Zielkodierungen, insbesondere in zurück zum Herz-Formulierungen, könnten auch Anfang und Ende suggerieren. Dies würde dem korrekten Verständnis des Kreislauf-Konzepts im Kontext der Blutbewegung jedoch eher entgegenstehen. Riemeier, Jankowski, Kersten, Pach et al. (2010: 87) beschreiben sechs Stufen des Verstehens für Konzepte der Blutbewegung: 1. Allgegenwart: Blut ist überall in und unter der Haut. 2. Zu den Organen: Blut fließt vom Herz zu den Organen. 3. Hin und zurück: Blut fließt vom Herz zu den Organen und zurück. 4. Kreislauf: Blut fließt im Kreislauf durch Herz und Körper. 5. Doppelter Kreislauf: Blut fließt im Körper- und im Lungenkreislauf. 6. 2-Schleifen-Kreislauf: Blut fließt in einem Kreislauf mit Lungen- und Körperpassage. Der in den vorliegenden Daten belegte Zusammenfall von Herz als Quelle und Ziel entspricht damit der dritten Stufe und könnte somit diese Vorstellung verfestigen. Allerdings kommt im Unterrichtsverlauf der expliziten Unterscheidung von Körper- und Lungenkreislauf eine wesentliche Rolle zu. 5.4 Spezifizierung Die Gegenüberstellung der Enkodierung von Bewegungsspezifizierungen ergibt: Sowohl im Schulbuch als auch im MFI wird am häufigsten die Art und Weise einer Bewegung näher charakterisiert. Hierbei sind Verben - nicht notwendigerweise Fortbewegungsverben - und Nomen bzw. Nominalisierungen von Bedeutung. Für den konkreten Verbgebrauch lässt sich ein unterrichtsthemenspezifischer Gebrauch im Schulbuch belegen. Beispiele sind die häufigsten Verben aufnehmen, transportieren und pumpen. Im MFI hingegen kommen neben themenspezifischen Verben wie transportieren und pumpen auch kommen und gehen sehr häufig vor. Diese enthalten allerdings weniger fachliche Informationen und können - wie auch die Ergebnisse für die Ausprägung selbst-agentiver Verursacher zeigen - potenziell mehrdeutige bzw. falsche fachliche Informationen liefern. Im Schulbuch finden sich keine Vorkommen von kommen und gehen. Dieser Unterschied zwischen Schulbuch und MFI ist insofern auffällig, als für die bisher vorgestellten Kategorien jeweils ähnliche Tendenzen - wenn auch in der Regel unterschiedliche Frequenzen - identifiziert werden konnten. Dieser Befund sollte in jedem Fall an weiteren Unterrichtseinheiten überprüft werden - auch um den Einfluss interindividueller Unterschiede hinsichtlich der Enkodierung durch verschiedene Lehrkräfte untersuchen zu können. <?page no="109"?> Sprachliche Beschaffenheit des fachlichen Inputs im Fach Biologie 109 Tab. 1: Spezifizierung von Bewegungsereignissen in Schulbuch und MFI im Vergleich Spezifizierung Schulbuch (n gesamt =188) MFI (n gesamt =268) Art und Weise 93,1% 79,1% Richtung 55,9% 69,8% Ursache 17,6% 3,0% Transportmittel 10,1% 9,7% Eine Enkodierung von Richtungsinformationen erfolgte in mehr als der Hälfte der Bewegungsereignisse beider Inputtypen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Kategorien wurden mehr Kodierungen im MFI vorgenommen. Der Enkodierung kommt demzufolge eine wichtige Rolle bei der ‚Navigation‘ durch den Blutkreislauf zu. Dabei findet diese Navigation - abgesehen von zurück-Formulierungen - vornehmlich in einem Nacheinander von Station zu Station ihren Niederschlag. Dem Verständnis der Tatsache, dass das Herz aus zwei Pumpen besteht, die taktgleich arbeiten, jedoch in unterschiedliche Richtungen antreiben (Riemeier, Jankowski, Kersten, Pach et al. 2010: 89), könnte dies zuwiderlaufen. Eine Spezifizierung der Ursache erfolgt seltener. Für diese Kategorie ist auffällig, dass entsprechende Kodierungen im Schulbuch sechsmal häufiger sind als im MFI. Dies unterstützt die bereits für die Unterkategorie Verursacher aufgestellte Hypothese, dass Ursachen der Blutbewegung herauszuarbeiten kein wesentliches Lernziel im untersuchten Unterricht darstellt. Transportmittel werden in beiden Inputtypen in etwa einem Zehntel aller Bewegungsereignisse enkodiert. Im Schulbuch wie auch im MFI treten am häufigsten Blut und Blutbestandteile sowie auch Blutgefäße als Transportmittel auf. 5.5 Zeit/ Phase Eine systematische Verortung der Bewegungen in einer zeitlichen Dimension findet weder im Schulbuch noch im MFI statt. Dies ist ein erwartbares Ergebnis, da eine zeitliche Verortung für das Unterrichtsthema keine Relevanz hat. Die Analyse der Bewegungsphasen ergibt, dass in beiden Inputtypen die aktive Bewegung im Vordergrund steht. Beginn- und Endphasenkodierungen von Bewegung weisen in der Regel auf spezifische Unterthemen, z.B. die Blutgerinnung, hin und könnten entsprechend sprach- und fachdidaktische Berücksichtigung finden, indem Bewegungsphasen thematisiert werden. <?page no="110"?> Diana Maak 110 Abb. 5: Phasenkodierung in Schulbuch und MFI im Vergleich Allerdings ergeben sich für den MFI einzelne widersprüchliche Funde wie so <wo FÄNGT denn der lungkreislauf eigentlich an. ↑ <fragend>> (---) (U_V04_L_79) und der KÖRPERKREISLAUF ist jetz zu ENDE (U_V04_L_76), beide von der Lehrerin geäußert. Diesbezüglich stellt sich die Frage, inwieweit solche Äußerungen das Verständnis des Kreislauf-Konzepts erschweren können. 6 Zusammenfassung und Ausblick Die vergleichende Analyse von Schulbuch- und MFI-Daten zeigt für beide Inputtypen ähnliche Schwerpunkte und Formen der Enkodierung. Themenbzw. fachspezifische Aspekte schlagen sich in beiden Inputtypen in ähnlicher Weise in der Enkodierung nieder. Unterschiede finden sich jedoch in der Regel bezüglich der Frequenz. Dabei zeigt sich generell, dass Bewegungsereignisse im Schulbuch mit durchschnittlich fünf Kodierungen im Vergleich zu den MFI-Ereignissen mit durchschnittlich vier Kodierungen insofern komplexer sind, als sie mehr Informationen zum Bewegungskonzept liefern. Dies lässt sich maßgeblich auf die Unterschiede zwischen medialer Mündlichkeit und medialer Schriftlichkeit zurückführen, etwa auf die Flüchtigkeit des MFI. Unterschiede in den Inputtypen lassen sich ferner auf unterschiedliche inhaltliche Schwerpunktsetzungen zurückführen. Dies konnte z.B. für das Unterthema Verursachung von Blutbewegung aufgezeigt werden. <?page no="111"?> Sprachliche Beschaffenheit des fachlichen Inputs im Fach Biologie 111 Darüber hinaus wirft die vergleichende Auswertung Fragen hinsichtlich der Eignung des Inputs auf. So wäre in weiteren Untersuchungen zu erforschen, ob bestimmte Formen der Enkodierung Alltagsvorstellungen von Schülerinnen und Schülern noch verstärken statt dabei zu helfen, diese zu überwinden. Solche Alltagsvorstellungen - auch als Präkonzepte oder subjektive Theorien bezeichnet - sind mehr oder weniger weit von wissenschaftlichen Konzepten entfernt, i.d.R. äußerst stabil und nur schwer veränderbar, da sie durch plausible und einfache Antworten Sicherheit und Kohärenz im Sein und Selbst schaffen, ferner im Alltag überwiegend erfolgreiches (kommunikatives) Handeln ermöglichen (Fridrich 2010: 307ff.). Im Unterricht können sie als Anknüpfungspunkte für Lernen genutzt werden und damit eine Brücke bauen im Übergang bzw. Wechsel von Präkonzepten hin zu wissenschaftlichen Konzepten (Stichwort: Conceptual Change, vgl. Fridrich 2010: 306). In der beobachteten Unterrichtseinheit erfolgt dies nur in Ansätzen im Rahmen der Mindmap-Erstellung und -Besprechung zu Beginn. Die Resultate der Analyse zeigen, wie die Verwendung bestimmter sprachlicher Mittel als Indikator für inhaltliche Aspekte dient. Die Unterscheidung von Präkonzepten und wissenschaftlichen Konzepten unter verstärkter Berücksichtigung auch der sprachlichen Ebene in diesem Sinne könnte dementsprechend für eine stärkere Verknüpfung von Sprach- und Fachdidaktik genutzt werden, die einen Conceptual Change unterstützen bzw. bereichern könnte. Die Analyse der Daten ermöglicht auch die Bildung von Hypothesen zur Beantwortung der Frage, warum S12, wie eingangs dargestellt, den Blutkreislauf als ein Labyrinth empfindet: eine Ursache dafür könnte etwa die Fülle an Referenzobjekten und Stationen, die sowohl im SB als auch im MFI auftreten, darstellen. Anstatt als Orientierungspunkte zu dienen, wirken sie auf S12 eher verwirrend und ihre fachliche Relevanz und Bedeutung wird eventuell nicht ausreichend deutlich im Unterrichtsverlauf; dabei stellen sie auch eine Möglichkeit dar, Überblick zu schaffen - sprachsensibles Arbeiten könnte hier vielleicht einen Gewinn bedeuten. Literatur Abteilung für Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.) (2010): "Sprache ist der Schlüssel zur Integration". Bedingungen des Sprachlernens von Menschen mit Migrationshintergrund. Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung, Abt. Wirtschafts- und Sozialpolitik (WISO Diskurs - Expertisen und Dokumentationen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik). Ahrenholz, Bernt (2013): Sprache im Fachunterricht untersuchen. In: Röhner, Charlotte & Hövelbrinks, Britta (Hrsg.): Fachbezogene Sprachförderung in Deutsch als Zweitsprache. Theoretische Konzepte und empirische Befunde zum Erwerb bildungssprachlicher Kompetenzen. 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Feilke 2012a/ b) erwerben. Nach Felder (2006: 42ff.) sollte Sprache somit nicht allein als „Medium des Unterrichts“, sondern auch als „Gegenstand des Unterrichts“ betrachtet werden. Allerdings wird sie im (Fach-)Unterricht oftmals nicht explizit zum Gegenstand gemacht, sondern erweist sich als impliziter Lern- oder Erwerbsgegenstand (vgl. Gogolin & Lange 2011: 111; Schleppegrell 2001: 434; Schmölzer-Eibinger 2013: 31f.). Der Erwerb bildungssprachlicher Fähigkeiten wird daher oft auch als „Hidden Curriculum of Schooling“ (Christie 1985: 37) resp. „heimlicher Lehrplan“ (Morek & Heller 2012: 78; ähnlich auch Vollmer & Thürmann 2010: 109) angesehen. Rezeptiv werden die Schülerinnen und Schüler in der Unterrichtsinteraktion durch die medial mündliche Sprache der Lehrkräfte sowie durch medial schriftliche Arbeitsmaterialien (Schulbuchtexte, Arbeitsblätter usw.) implizit mit schulsprachlichen Normen konfrontiert. Im Zentrum dieses Beitrags steht die an die Schülerinnen und Schüler gerichtete Sprache der Lehrerinnen und Lehrer (SgS) (vgl. zum Terminus Pohl 2006: 3; Kleinschmidt 2015). Die grundlegende These des Beitrags ist, dass sich in dieser schülergerichteten Sprache jeweils jahrgangsspezifische, an den rezeptiven/ produktiven Sprachstand der Lernenden angepasste, schulsprachliche Normanforderungen spiegeln. Damit rückt Lehrersprache nicht nur in ihrer Relation zum heimlichen Lehrplan, sondern auch positiv in ihrer Bezogenheit auf den Erwerb in den Fokus des Interesses. Um dieser Erwerbsbezogenheit näher zu kommen, wird in Abschnitt 2 und 3 das Konzept der transitorischen Normen nach Feilke (2015: 128ff.; 2012b: 155ff.) herangezogen. Auch der Forschungsdiskurs der input- und interaktionsfokussierten Spracherwerbsforschung bietet sich als Bezugspunkt an (Abschnitt 4). In einem weiteren Schritt wird vorgeschlagen, konzeptionelle Schriftlichkeit (Koch & Oesterreicher 1994: 587; vgl. auch Koch & Oesterreicher 1986; 2007) als schulsprachliche Zielnorm (Gloy 1975: 21; Feilke 2012b: 155) zu betrachten (Abschnitt 5.1) und zu operationalisieren (Abschnitt 5.2). Schließlich wird konzeptionelle Schriftlichkeit in einem eigens erstellten Korpus zur SgS erfasst und diskutiert (Abschnitt 6). <?page no="118"?> Katrin Kleinschmidt 118 2 Begriffliche Fassung transitorischer Normen Ausgangspunkt von Feilkes Überlegungen zu transitorischen Normen ist seine unter Rückgriff auf Ausführungen von Cathomas (2007) vorgenommene Bestimmung von Schulsprache (Feilke 2012a/ b). Schulsprache sei viel stärker als Bildungssprache allein auf die Institution Schule bezogen, nur dort historisch entstanden und würde außerhalb der Schule nicht vorkommen resp. relevant sein (vgl. Feilke 2012a: 5f.). Die Schule schaffe „eine eigene Sprachumgebung mit eigenen Regeln des Spracherfolgs“ (Cathomas 2007: 180). Feilke versteht unter „Schulsprache i. e. S.“ „auf das Lehren bezogene und für den Unterricht zu didaktischen Zwecken gemachte Sprach- und Sprachgebrauchsformen, aber auch Spracherwartungen […].“ (Feilke 2012a: 5; vgl. auch Feilke 2012b: 151) Bei transitorischen Normen 1 handelt es sich laut Feilke (2012b: 155) nun um Aspekte der „Schulsprache in der Erwerbsperspektive“. Feilke (2012b: 151f.) führt den Begriff der transitorischen Normen in Abgrenzung zur Differenzierung zwischen Zielnormen und Gebrauchsnormen (z.B. Gloy 1975: 21) ein. Wenn das, „was als Norm angesprochen“ werde, „in irgendeiner Weise eine Sollensforderung“ repräsentiere, spricht man nach Gloy (1975: 21) von Zielnormen. 2 Gebrauchsnormen stellen demgegenüber Normen „im statistischen Sinne“ (Gloy 1975: 25) dar. Feilke (2012b: 152) hebt hervor, dass schulische Sprachnormen „im Regelfall keine definitiven Zielnormen“ (Feilke 2012b: 155) sind, 3 sondern „didaktisch konstruiert“ sind und einen vorübergehenden Charakter im Sinne von Übergangsnormen haben (vgl. Feilke 2012b: 156): „Transitnormen-These: […] [S]chulische Sprachnormen sind in der Regel bezogen auf didaktisch konstruierte Gegenstände eines Curriculums und ihr Erwerb kennzeichnet […] einen didaktisch bestimmten Zustand des Wissens und Könnens, der im Regelfall selbst wieder zu überwinden ist. Sprachnormen für den didaktischen Gebrauch sind insofern transitorische Normen. Im Sinne eines sozialkonstruktivistischen Denkansatzes sind sie nicht als Ziel, sondern als 1 Zum Normbegriff: Gloy (2004: 394) definiert Sprachnormen als „Erwartungen und/ oder explizite Setzungen deontischer Sachverhalte, die ihrem Inhalt zufolge die Bildung, Verwendungsabsicht, Anwendung und Evaluation sprachlicher Einheiten der verschiedensten Komplexitätsgrade regulieren (sollen).“ Eine Definition von Normen allgemein findet sich z.B. bei Gloy (1975: 13): „,Normen‘ im Sinne der deontischen Logik sind alle Verhaltensregeln und ihre Äußerungen, d.h. Äußerungen, die eine Verpflichtung oder Obligation meinen.“ 2 Feilke (2012b: 151) fasst diese auch als „sprachlich präskriptive Normen“. 3 Dass Normen selbst „Produkte von Aneignungsprozessen sind“, also auch erst erworben werden müssen, und damit die Zielnorm in den meisten Fällen nicht von Beginn an erfüllt wird, denkt schon Gloy (1997: 29) vor. <?page no="119"?> Die an die Schüler/ -innen gerichtete Sprache 119 unterstützendes Mittel im Sinne eines „Scaffolding“ der Kompetenzentwicklung intendiert […].“ (Feilke 2012b: 155) Transitorische Normen sollen also die Entwicklung der Schülerinnen und Schüler unterstützen, indem sie an deren jeweiligen Erwerbsstand adaptiert sind. Hier greift Feilke auf das Konzept des stützenden Scaffoldings (z.B. Wood, Bruner & Ross 1976: 90; Bruner 1978: 254) zurück. 2015 grenzt Feilke transitorische Normen in einem Vierfelder-Schema von Satzungs-, Gebrauchs- und Individualnormen ab (vgl. Tab. 1). Tab. 1: Vierfelderschema didaktisch relevanter Normtypen nach Feilke (2015: 122) Aneignung Soziogenese explizit statuiert Transitorische Norm (= Didaktische Norm) Satzungsnorm implizit subsistent Individualnorm Gebrauchsnorm Transitorische Normen und Individualnormen beziehen sich auf „Aneignungs 4 - und Lernprozesse“ (Feilke 2015: 123), während Satzungsnormen und Gebrauchsnormen der Soziogenese zugeordnet sind (vgl. Feilke 2015: 122f.). Feilke beschreibt Satzungsnormen als explizite Normen (vgl. Feilke 2015: 122) und nennt als ein Beispiel dafür die Rechtschreibregeln (vgl. Feilke 2015: 123). Eine Individualnorm ist „die Zielerwartung, die der einzelne Lerner oder die einzelne Lernerin an sein/ ihr eigenes Handeln richtet, und die ihm/ ihr eine Kontrolle des Handlungserfolgs ermöglicht“ (Feilke 2015: 127). Sie ist nach Feilke (2015: 122 u. 127) im Gegensatz zur Satzungsnorm und ebenso wie die Gebrauchsnorm implizit und kann den „subsistenten“ Normen, also den „nicht-formulierten“ (Gloy 2004: 394) Normen zugerechnet werden. Die transitorischen Normen sind demgegenüber Feilkes Ausführungen zufolge explizite Normen. Als Beispiele für transitorische schulsprachliche Normen nennt Feilke (2015: 129) die verschiedenen schulischen Ausgangsschriften, die Schriftspracherwerbsmethode der Silbenhäuser, didaktische Textgattungen, wie die Bildergeschichte oder die Erörterung, aber auch die durch Lehrerinnen und Lehrer immer wieder verbalisierte Anforderung, im ganzen Satz zu sprechen. Diese didaktisch konstruierten Normen werden den Schülerinnen und Schülern in der Tat oft explizit gemacht. Im Abschnitt 3 soll reflektiert werden, inwieweit sich in der an die Schülerinnen und Schüler gerichteten Sprache transitorische Normen spiegeln. Ich werde dort jedoch dahingehend argumentieren, dass in diesem Fall transitorische Normen nicht als explizit, sondern als implizit resp. subsistent angesehen werden müssen. 4 Vgl. zum Entwicklungsweg der „Aneignung“ auch Pohl (2007: 90). <?page no="120"?> Katrin Kleinschmidt 120 3 Transitorische Normen in der Lehrersprache Lehrpersonen sind nach Ehlich (2009: 332) „Agenten der Institution Schule“. Als solche verfügen sie nach Neuland, Balsliemke & Baradaranossadat (2009: 398) über eine „nicht zu unterschätzende Vorbildfunktion, die sich auch in mündlicher Kommunikation widerspiegelt“ (vgl. ähnlich auch Gogolin & Lange 2011: 120). Feilke (2012b: 150) formuliert: „Dass Lehrende normierend in den Sprachgebrauch eingreifen, ist keine Frage. […] Wann und in welcher Form Lehrende dies tun, ist eine praktisch höchst relevante und empirisch so gut wie nicht untersuchte Frage.“ In Gloys (1975: 35) Terminologie gefasst kann man Lehrerinnen und Lehrer als „Normvermittler“ und „Normüberwacher“ bezeichnen. Die Schülerinnen und Schüler, die „Klienten der Institution Schule“ (Ehlich 2009: 332), können Gloys Terminologie zufolge als „Normempfänger“ - und in manchen Fällen auch als „Normopfer“ (Gloy 1975: 35) - bezeichnet werden. Im Fokus dieses Beitrags stehen nicht „didaktisch konstruierte Gegenstände eines Curriculums“ (Feilke 2012b: 155, Hervorheb. K.K.), (wie z.B. die didaktischen Textgattungen, die Feilke als Beispiel für transitorische Normen anführt), sondern der eigene Sprachgebrauch der Lehrenden: Es soll gezeigt werden, dass es sich bei der SgS um Phänomene transitorischer Normen handelt. Die SgS bildet insofern eine Norm, als sie an die Schülerinnen und Schüler bestimmte Verstehens-/ Rezeptionsanforderungen stellt. Sie ist zugleich transitorisch, als sie sich über die Jahrgangsstufen verändert. Mit Bezug auf den transitorischen Aspekt gehe ich davon aus, dass die Lehrersprache an die rezeptiven (resp. produktiven) Kompetenzen der Schüler und Schülerinnen angepasst ist und somit als „wichtige externe Ressource sprachlichen Lernens“ (Quasthoff 2009: 97) gelten kann. In diesem Sinne spiegeln sich in der Lehrersprache jahrgangsspezifische sprachliche Normen der Unterrichtssprache resp. Schulsprache. Hinsichtlich des normativen Aspekts der Fragestellung verhält es sich so, dass die Lehrpersonen in ihrer SgS vor allem mit Bezug auf die Rezeption durch die Lernenden normsetzend sind, weil sie verstanden werden müssen. Schüler und Schülerinnen, die nicht folgen können resp. nicht verstehen, erfahren eine Hürde im Unterricht - diesen Aspekt kann man als Rezeptionsnorm bezeichnen. 5 Die sprachlichen Strukturen der Unterrichtssprache werden von den Lehrpersonen zumeist nicht, wie in Abschnitt 1 beschrieben, explizit thematisiert, sondern von den Lernenden rezipiert und nur implizit wahrgenommen. Deswegen können transitorische 5 Gleichzeitig modellieren die Lehrkräfte durch ihre SgS aber auch jahrgangsspezifisch, wie im Unterricht gesprochen werden soll - dies kann man als Produktionsnorm bezeichnen. <?page no="121"?> Die an die Schüler/ -innen gerichtete Sprache 121 Normen, die sich in der Lehrersprache spiegeln, nicht als explizit oder statuiert angesehen werden, wie es Feilke (2015: 122) für transitorische Normen allgemein beschreibt, sondern sie müssen als implizite oder subsistente Normen angesehen werden, die nur in einigen Fällen explizit gemacht werden und dann auch „Normsätze“ darstellen, durch die „das Setzen einer Norm zum Ausdruck kommt“ (Gloy 1975: 16). Sie sind damit zumeist Bestandteil des heimlichen Lehrplans der Schule. 4 Input- und interaktionsfokussierte Spracherwerbsforschung als Bezugspunkt Eine Forschungsrichtung, die derartige adaptive Prozesse zwischen spracherwerbenden Kindern und ihren Bezugspersonen untersucht, ist die input- und interaktionsfokussierte Spracherwerbsforschung. Aus dieser sollen für die Erforschung der Lehrersprache Anleihen gemacht werden. Eine Zugriffsweise auf die Sprache der Bezugspersonen ist die der Inputadaption (vgl. Kleinschmidt 2015: 204). Es konnte in ersten motherese 6 -Studien gezeigt werden, dass die Sprache, die Eltern an kleine Kinder richten, einfacher und redundanter ist, als die Sprache, die Eltern miteinander sprechen (vgl. Snow 1972: 564). Dieses Register wurde von Pine (1994: 15) als „child directed speech“ („CDS“) bezeichnet und von Szagun (2011: 172) als „an das Kind gerichtete Sprache“ („KGS“) übersetzt. Hiervon ist auch die Bezeichnung „an die Schülerinnen und Schüler gerichtete Sprache“ („SgS“; vgl. Pohl 2006: 3 und Kleinschmidt 2015) abgeleitet. Die KGS-Idee wurde mit Hilfe des finetuning-Konzepts (z.B. Newport, Gleitman & Gleitman 1977; Snow, Perlman & Nathan 1987) weitergeführt. Fine-tuning bedeutet, dass die KGS nicht nur generell einfacher und redundanter ist als die Allgemeinsprache, sondern dass sie in ihrem Komplexitätsgrad an den jeweiligen rezeptiven resp. produktiven sprachlichen Erwerbsstand der Kinder angepasst ist - dass sich also der Komplexitätsgrad der KGS mit steigenden Kompetenzen der Kinder erhöht. In der Literatur zum fine-tuning geht man zumeist davon aus, dass sich diese Adaption als spracherwerbsförderlich erweise, wenn sie sich im Bereich der Zone der nächsten Entwicklung nach Wygotski (1977: 236-242) bewege. Ähnliche Überlegungen werden auch für den Zweitresp. Fremdspracherwerb angestellt - hier werden dann häufig „modifications in teacher speech“ (Chaudron 1988: 54) untersucht (vgl. z.B. Early 1987; Gaies 1977; H å kansson 1986; Henzl 1979; Lynch 1986). 7 Für den weiterführenden L1- 6 Vgl. zum Terminus Newport, Gleitman & Gleitman (1977: 112). 7 Diese Studien sind oftmals angelehnt an frühe Untersuchungen zum sogenannten foreigner talk (z.B. Ferguson 1975). <?page no="122"?> Katrin Kleinschmidt 122 Erwerb des Deutschen in der Schule, also für den Erwerb der Unterrichtssprache, liegen allerdings noch keine solchen Studien zur Inputadaption vor. 8 5 Konzeptionelle Schriftlichkeit als unterrichtssprachliche „Zielnorm“ Wenn Lehrerinnen und Lehrer als „Normvermittler“ (Gloy 1975: 35) angesehen werden, in deren SgS sich (transitorische) unterrichtssprachliche resp. schulsprachliche Normen spiegeln, muss der „Norminhalt“ (Gloy 1975: 35) genauer bestimmt werden. Es geht also um die Frage, welche Modellierung der Unterrichtssprache geeignet ist, um die SgS in der Unterrichtsinteraktion genauer zu analysieren. Diese Modellierung muss zweierlei erfüllen: Sie muss einerseits einen kontinualen Charakter haben, um die erwerbsbezogene Transitorik der sprachlichen Normen abbilden zu können. Damit hängt eng zusammen, dass sie andererseits Aufschluss über die Zielnorm, das Qualifikationsziel, geben sollte. In Abschnitt 5.1 wird vorgeschlagen, das Konstrukt der konzeptionellen Schriftlichkeit (vgl. Koch & Oesterreicher 1986; 1994; 2007) für eine solche Modellierung der Unterrichtssprache zu nutzen; in Abschnitt 5.2 wird anschließend ein Operationalisierungsvorschlag konzeptioneller Schriftlichkeit unterbreitet. 5.1 Konzeptionelle Schriftlichkeit als gemeinsame konzeptuelle Klammer unterschiedlicher Ansätze zur Unterrichtssprache Es liegen unterschiedliche Modellierungen der Unterrichtssprache vor; trotzdem konstatiert Riebling (2013: 107), dass eine genaue „Bestimmung dessen, was die Sprache des Unterrichts […] auszeichnet“, noch Desiderat sei. In diesem Abschnitt wird dafür argumentiert, dass konzeptionelle Schriftlichkeit (resp. die Sprache der Distanz; Koch & Oesterreicher 1986; 1994; 2007) als gemeinsame konzeptuelle Klammer unterschiedlicher Konstrukte der Unterrichtssprache angesehen werden kann. 9 Schon Bernsteins Konzept des elaborierten Codes (z.B. 2003 [1962]: 76f.), das er früh auf Unterrichts- und auch auf Lehrersprache bezog (vgl. z.B. Bernstein 1974 [1961]: 140), 10 wurde durch 8 Man kann neben der Inputadaption zwei weitere, stärker interaktionsbasierte Zugriffsweisen auf die Sprache der Bezugspersonen unterscheiden (vgl. Kleinschmidt 2015: 204- 206): die der mikrointeraktionalen Stützmechanismen, wie beispielsweise Reformulierungen, sowie die der makrointeraktionalen Stützmechanismen, wie beispielsweise Scaffoldingformate, die im vorliegenden Beitrag nicht fokussiert werden können. 9 Auch wenn sich selbstverständlich nicht alle angeführten Autoren explizit auf das Konstrukt von Koch und Oesterreicher (1986) beziehen. 10 Im betreffenden Aufsatz von Bernstein (1974 [1961]) bezieht er sich allerdings noch auf das ,Vorgängerkonstrukt‘ des elaborierten Codes, die public language. <?page no="123"?> Die an die Schüler/ -innen gerichtete Sprache 123 Schlieben-Lange (1973: 53) auf „schriftlichkeitsgebundene Verbalisierungstechniken“ zurückgeführt. Das von Cummins (1979; 2000) v.a. für Zweitspracherwerbskontexte entworfene Konzept CALP (cognitive/ academic language proficiency) steht für ihn in erster Linie in Zusammenhang mit „literacy skills“ (1979: 199). Cummins (2000: 68) beschreibt CALP ebenso wie eine Sprache der Distanz als kontextreduziert, resp. dekontextualisiert. Schleppegrell (2004: 49) formuliert für die language of schooling: „[T]he register differences which characterize written language in theses examples are also features of much school-based spoken language […].” Im deutschsprachigen Raum wurde in den letzten Jahren der Begriff der Bildungssprache durch Gogolin und Kollegen wieder in die Diskussion eingeführt (vgl. frühere Ausführungen von Habermas, z.B. 1977). In den frühen Arbeiten von Gogolin u.a. wird das Konzept der Bildungssprache begrifflich nicht systematisch gefüllt. Von Beginn an gibt es aber Hinweise auf den Zusammenhang von Bildungssprache und konzeptioneller Schriftlichkeit (vgl. z.B. Gogolin 2004: 106). In ähnlicher Weise beziehen beispielsweise auch Ahrenholz (2013: 87), Hövelbrinks (2014: 320), Ortner (2009: 2228), Riebling (2013: 120) sowie Schmölzer-Eibinger, Dorner, Langer & Helten-Pacher (2013: 15) Bildungssprache auf konzeptionelle Schriftlichkeit. Feilke (2012a: 6) beschreibt Bildungssprache als „Teil des umfassenderen Bereichs der Schriftsprache“. Auch nach seinem in Abschnitt 2 beschriebenen Konzept der Schulsprache sind schulsprachliche Normen „an literal bestimmten Zielkonzepten“ (Feilke 2012b: 160) orientiert. Dass solch eine große Anzahl von Autoren das von ihnen jeweils beschriebene Konzept der Unterrichtssprache mit konzeptioneller Schriftlichkeit in Zusammenhang bringt, liegt zum einen in der guten Vereinbarkeit der unterrichtssprachlichen Mittel mit den intuitiv gut handhabbaren Versprachlichungsstrategien konzeptioneller Schriftlichkeit nach Koch und Oesterreicher (1986: 23) begründet. Es ist aber auch den in schulischer Unterrichtsinteraktion relevanten und institutionell beeinflussten Kommunikationsbedingungen geschuldet, die der Distanzsprachlichkeit zuzuordnen sind. 11 Zudem 11 So bedingt beispielsweise die „kommunikative Ordnung“ des Unterrichts (Becker- Mrotzek & Vogt 2009: 7) mit dem häufig noch vorherrschenden „Initiation“-„Reply“- „Evaluation“-Schema (Mehan 1979) eine stärkere Monologizität statt Dialogizität. Die von Spiegel (2006: 27-29) beschriebenen „Asymmetrien“ zwischen Lehrpersonen und Lernenden wirken in Richtung einer stärkeren Fremdheit dieser beiden Parteien der Unterrichtskommunikation. Becker-Mrotzek und Vogt (2009: 7) beschreiben den Unterricht außerdem als „öffentliches Ereignis“ [Hervorheb. K.K.]. Und auch die von ihnen beschriebene „thematische Ordnung des Unterrichts“ (Becker-Mrotzek & Vogt 2009: 7) lässt sich mit der Kommunikationsbedingung der Themenfixierung in Zusammenhang bringen. Allein die in Unterrichtsinteraktion vorliegende face-to-face-Interaktion ist eindeutig der Sprache der Nähe zuzuordnen (vgl. zu den kursivierten Parametern der konzeptionellen Schriftlichkeit resp. im letzten Beispiel der konzeptionellen Mündlichkeit Koch und Oesterreicher 1986: 23). <?page no="124"?> Katrin Kleinschmidt 124 kann das entwicklungslogische Argument herangezogen werden, dass die Lernenden nähesprachliche Kompetenzen schon in der familiären sowie Peergroup-Kommunikation erwerben und damit speziell konzeptionell schriftliche Fähigkeiten in der Schule gefördert werden müssen (vgl. Steinig & Huneke 2011: 84), insbesondere für Schülerinnen und Schüler aus bildungsfernen Familien, die im familiären Kontext in geringerem Maße mit der Sprache der Distanz in Kontakt kommen. Die gute Eignung des Konstrukts konzeptioneller Schriftlichkeit liegt aber auch darin begründet, dass die Autoren die Konzeptionsdimension zwischen Nähe und Distanz „als ein Kontinuum von Konzeptionsmöglichkeiten mit zahlreichen Abstufungen“ (Koch & Oesterreicher 1986: 17) modellieren, was sie für entwicklungsbezogene, transitorische Untersuchungen (wie die vorliegende) prädestiniert. Das Kontinuum zwischen Nähe und Distanz überformt nach Koch und Oesterreicher (2007: 356) quasi den gesamten Varietätenraum; die anderen „Varietätendimensionen richten sich […] nach dem Kontinuum aus“ (Koch & Oesterreicher 2007: 356). Das bildungssprachliche Register ist beispielsweise als „[d]iaphasisch hoch markierte Varietät“ 12 (Riebling 2013: 111) dem Distanzpol zuzuordnen. Aus den bis hierhin genannten Gründen wird in vorliegendem Beitrag vorgeschlagen, konzeptionelle Schriftlichkeit zur Analyse von Unterrichtssprache zu operationalisieren. Als Qualifikationsziel resp. Zielnorm unterrichtssprachlicher Förderung ist so konzeptionelle Schriftlichkeit zu bestimmen (vgl. z.B. auch Günther 1993). 5.2 Operationalisierung konzeptioneller Schriftlichkeit Wenn man das Konstrukt der konzeptionellen Schriftlichkeit für Analysezwecke nutzen will, ergibt sich das Problem, dass der Ansatz von Koch und Oesterreicher „keine Anhaltspunkte für eine Operationalisierung bietet“ (Ágel & Hennig 2010: 5). Wie sich die ,Versprachlichungsstrategien‘ 13 also konkret auf der Ebene sprachlicher Merkmale manifestieren, wird nicht systematisch erörtert. Zudem kritisieren Ágel und Hennig (2006: 13) das „generelle Problem der logisch heterogenen Bezüge“, was sich auf die fehlende Modellierung von Zusammenhängen zwischen Kommunikationsbedingungen und Versprachlichungsstrategien bezieht. Als weiterer Kritikpunkt kommt m.E. hinzu, dass innerhalb und zwischen den beiden Dimensionen Redundanzen zu finden sind - die einzelnen Parameter sogar ,miteinander erklärt‘ werden. Im Folgenden wird deshalb eine von Redundanzen bereinigte, also trennschärfere Version der Versprachlichungsstrategien von Koch und 12 Vgl. zu den Varietätendimensionen auch Coseriu (1988: 24). 13 Der Ausdruck ,Versprachlichungsstrategien‘ wird hier in einfachen Anführungszeichen genutzt, weil „unklar bleibt, was eine Versprachlichungsstrategie eigentlich ist“ (Ágel & Hennig 2006: 14). <?page no="125"?> Die an die Schüler/ -innen gerichtete Sprache 125 Oesterreicher entworfen. Die resultierenden Parameter werden als Operationalisierungsdimensionen zur Generierung von Analysekategorien konzeptioneller Schriftlichkeit auf unterschiedlichen sprachlichen Analyseebenen (lexikalischer, phrasaler, syntaktischer, textueller/ diskursiver Ebene) neu interpretiert. Daraus ergibt sich ein zweidimensionales Operationalisierungssystem (Operationalisierungsdimensionen - Analysekategorien). Folgende vier Operationalisierungsdimensionen (OpD) werden vorgeschlagen (Arbeitsdefinitionen): 1. Komplexität: Die OpD Komplexität ist eine relationale Dimension. Denn Komplexität lässt sich nur in Relation zu einer Bezugsgröße bestimmen (z.B. dem Turn), in der durch Addition (resp. Kombination) gleichartiger Strukturen einer niedrigeren Strukturebene (z.B. von Wörtern) ein ,Mehr’ an Komplexität aufgebaut wird. Eine Analysekategorie in dieser OpD auf diskursiver Ebene wäre z.B. die Wortanzahl/ Turn. 14 2. Differenziertheit: Diese OpD ist nur angelehnt an die ,Versprachlichungsstrategie’ „Elaboriertheit“ (Koch und Oesterreicher 1986: 23). 15 Sie wird gebildet, weil davon ausgegangen wird, dass in konzeptioneller Schriftlichkeit zur Bewältigung dekontextualisierter Sprachgebrauchssituationen (z.B. im Sinne „zerdehnter“ Kommunikationssituationen nach Ehlich 2007 [1984]: 542) eine Ausdifferenzierung von Ausdrucks- und Strukturformen notwendig wird. Die Werte dieser Dimension stellen absolute Werte dar, die sich auf unterschiedliche Realisierungsvarianten innerhalb einer spezifischen sprachlichen Kategorie beziehen, also auf die type-Ebene. Ein Beispiel für eine Analysekategorie in dieser OpD auf lexikalischer Ebene wäre die type-token-ratio der Adjektive, auf morphologischer Ebene kann z.B. die Anzahl der genutzten unterschiedlichen Nominalisierungssuffixe betrachtet werden. 3. Integration: Diese OpD ist abgeleitet resp. synthetisiert aus den Versprachlichungsstrategien „Informationsdichte“, „Kompaktheit“ und „Integration“ (Koch und Oesterreicher 1986: 23). Integration zeichnet sich dadurch aus, dass Elemente einer höheren Strukturebene zu Elementen einer tieferen Strukturebene werden. Durch diese Strukturveränderungen entstehen unidirektional dependente (also hierarchische) Strukturen. Ein klassisches 14 Dieser Komplexitätsbegriff ist bewusst auf Aspekte der Additivität beschränkt, um die Dimension Komplexität von der Dimension Integration abzugrenzen. Viele Autoren nutzen auch Integrationsaspekte zur Komplexitätsbestimmung (z.B. Halliday 1987). 15 Im von der Dudenredaktion (2007: 264) herausgegeben Fremdwörterbuch werden die Ausdrücke „elaboriert“ und „differenziert ausgebildet“ synonym verwendet. Der Ausdruck „Elaboriertheit“ wird nicht für die Bildung einer eigenen OpD genutzt, um Anklänge an Defizittheorien Bernstein’scher Prägung zu vermeiden. Zudem eignet sich eine OpD Differenziertheit besser, um Analysekategorien zu bilden - auch wegen ihrer guten Anschlussfähigkeit an Spracherwerbsstudien. Koch und Oesterreicher (1994: 591) selbst sprechen beispielsweise für die lexikalische Ebene von einer „Diversifikation des lexikalischen Materials“ in der Sprache der Distanz. <?page no="126"?> Katrin Kleinschmidt 126 Beispiel ist die Integration eines subordinierten Satzes in einen Matrixsatz, die statt einer potentiell möglichen Struktur eines zusammengesetzten Satzes aus Hauptsatz und Hauptsatz gewählt wird. 4. Planung: Diese OpD ist abgeleitet resp. synthetisiert aus den Parametern „Planung“, „,Verdinglichung‘“ und „Endgültigkeit“ (Koch und Oesterreicher 1986: 23). 16 Koch und Oesterreicher (1986: 20) gehen davon aus, dass die Planung in der Sprache der Nähe „sozusagen während des Äußerungsaktes selbst“ (vgl. ähnlich auch Ágel und Hennig 2007: 189-193) erfolgt. Damit würden Phänomene der online-Planung 17 der Sprache der Nähe zuzuordnen sein. Bei der empirischen Analyse von konzeptioneller Schriftlichkeit in Unterrichtsinteraktion sind Phänomene der offline-Planung allerdings kaum erhebbar. Deswegen müsste die Planungsdimension so angelegt sein, dass in ihr konzeptionelle Schriftlichkeit invers angezeigt wird. Eine Analysekategorie in dieser Dimension wäre beispielsweise die Anzahl der Anakoluthe. Bei der Interpretation der Analyseergebnisse im Rahmen dieser Dimension ist jedoch Folgendes zu bedenken: Psycholinguistisch gewendet können online-Planungsindikatoren auch eine Ermöglichungsfunktion für die Erzeugung stärker konzeptionell schriftlicher (also komplexerer, differenzierterer, integrierterer) Struktur- und Ausdrucksformen aufweisen 18 und damit wäre eine erhöhte Anzahl von online-Planungsindikatoren, die mit erhöhten Werten in den anderen drei OpD einhergeht, durchaus als Anzeiger konzeptioneller Schriftlichkeit denkbar. Eine große Anzahl stiller oder gefüllter Pausen könnte beispielsweise zur Planung von besonders komplexen, integrierten und differenzierten Struktur- und Ausdrucksformen beitragen. Deswegen müssen die Werte in dieser Dimension immer im Zusammenhang mit den Ausprägungen der anderen Dimension gesehen werden. 6 Exemplarische Analyse von Lehrersprache vor dem Hintergrund transitorischer Normen In diesem Abschnitt werden einige ausgewählte Analysekategorien konzeptioneller Schriftlichkeit in den OpD Komplexität, Differenziertheit und Integration vorgestellt. Diese werden genutzt, um auf morphologischer, lexikalischer 16 Kleinschmidt (2015: 211) nennt diese Dimension noch „Kontrolliertheit“. 17 Dazu zählen online-Planungsindikatoren wie Selbst-Reparaturen/ Korrekturen, Anakoluthe, stille oder gefüllte Pausen, Links- oder Rechtsherausstellungen (vgl. zu diesen Phänomenen Schwitalla 2012). Vgl. zur „on line-Syntax“ Auer (2000). 18 Hier kann man sich an die Überlegungen von beispielsweise Levelt (1983; 2000), Goldman Eisler (1968) oder Auer (2000) anlehnen. <?page no="127"?> Die an die Schüler/ -innen gerichtete Sprache 127 und ansatzweise auch syntaktischer Analyseebene exemplarisch die jahrgangsspezifische, transitorische Veränderung der SgS anhand von Daten aus einem größeren Korpus 19 zur SgS zu illustrieren. 6.1 Datengrundlage der Analysen Die Grundidee des methodischen Vorgehens ist es, eine Lehrperson in unterschiedlichen Jahrgangsstufen konstant zu halten - d.h. ihren Unterricht in einer Klasse der Unterstufe, der Mittelstufe und der Oberstufe des Gymnasiums zu videodokumentieren. So ist ein direkter intraindividueller Vergleich des sprachlichen Handelns dieser Lehrperson im Jahrgangsstufenverlauf möglich (vgl. Abb. 1; dunkelgrau). Abb. 1: Grundidee des methodischen Vorgehens; FS = Fallstudien, De = Deutsch, SU = Sachunterricht Diese Perspektive wird geweitet, indem in einem indirekten interindividuellen Vergleich auch das sprachliche Handeln einer Lehrperson der Grundschule in der dritten Jahrgangsstufe hinzugezogen wird. Diese Kernkonstellation wird im Sinne von Fallstudien mehrfach repliziert: Es werden solchermaßen vier Gymnasiallehrkräfte in die vorliegende Untersuchung einbezogen, zwei davon unterrichten Biologie, zwei Deutsch - dieselbe Konstellation ergibt sich auch für die Grundschule, nur dass hier Sachunterricht (SU) mit biologischer Schwerpunktsetzung untersucht wird; zudem wird pro Fach in der Grundschule und am Gymnasium jeweils eine weibliche und eine männliche Lehrperson in die Analysen miteinbezogen. So können Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede der Unterrichtssprache von Lehrkräften in den beiden unterschiedlichen Fächern in den Blick genommen werden. Es wurden 19 Dieses Korpus der SgS ist im Rahmen meines Dissertationsprojekts im Schuljahr 2011/ 12 in Niedersachsen erhoben worden (vgl. Kleinschmidt 2015: 208ff. und i.Vorb.). <?page no="128"?> Katrin Kleinschmidt 128 mehrere Einflussfaktoren auf das sprachliche Handeln der Lehrpersonen konstant gehalten: Die teilnehmenden Lehrkräfte sollten mindestens fünf Jahre Berufserfahrung haben und der Unterrichtsgegenstand sollte in den in die Analyse einbezogenen Unterrichtsstunden eines Fachs möglichst konstant gehalten werden. 20 Es wurden jeweils zwei Unterrichtsstunden pro Lehrperson pro Klasse videodokumentiert und davon jeweils 30 Minuten Plenumsinteraktion mittels HIAT nach Ehlich und Rehbein (1976) transkribiert. 6.2 Analysen in der Komplexitätsdimension Als Beispiel für eine Analysekategorie in der Komplexitätsdimension auf morphologischer Ebene soll die Komplexität der Adjektive vorgestellt werden. Dabei wird der prozentuale Anteil der komplexen Adjektive an der Gesamtzahl aller Adjektive berechnet. Komplexe Adjektive werden als partizipiale Adjektive (Partizipien I und II in adjektivischer Verwendung) (z.B. hemmend) sowie als durch Derivation (z.B. organisch) und Komposition (z.B. energiereich) konstituierte Adjektive operationalisiert. Bei den Partizipformen ergibt sich die Komplexität der Wortformen durch Addition der Partizip-Morpheme, bei den durch Derivation und Komposition entstandenen Adjektiven durch die zusätzlichen Derivationsmorpheme resp. Stämme. Abbildung 2 zeigt die Ergebnisse der Analyse und ist nach Fach (Bio-De) und Geschlecht (m-w) der Lehrpersonen angeordnet. Die Werte der Grundschullehrkräfte sind immer in weiß dargestellt. Zu erkennen ist erstens, dass sich bei den Grundschullehrkräften in drei von vier Fällen die pro Reihe niedrigsten prozentualen Anteile komplexer Adjektive von 31,58% bis 38,46% finden. 21 Zu erkennen ist zweitens, dass sich in allen vier gruppierten Reihen die Tendenz einer Zunahme des Anteils komplexer Adjektive an der Gesamtadjektivanzahl zeigt (bis zum Höchstwert von 74,55% beim männlichen Biologielehrer in der Oberstufe). Zu erkennen ist drittens, dass die Komplexitätszunahmen bei den Biologielehrkräften deutlicher ausfallen als bei den Deutschlehrkräften. Und zu erkennen ist letztens, dass jeweils nicht allein interindividuelle Unterschiede der Grundschullehrkräfte zu den Gymnasiallehrkräften vorhanden sind, sondern dass immer auch - allerdings bei den Deutschlehrpersonen nur geringe - intraindividuelle Zunahmen von der Unterstufe bis zur Oberstufe zu finden sind. 20 Gegenstand des analysierten Biologieunterrichts in den Klassen der Grundschule und Unterstufe waren Nahrungsbeziehungen resp. in der Oberstufe Trophiestufen und Stoffkreisläufe. In den Klassen der Mittelstufe war solch eine Gegenstandsfixierung aufgrund der curricularen Gegebenheiten nicht möglich. Im Deutschunterricht wurde allein Literaturunterricht betrachtet. 21 Außer beim männlichen Deutschlehrer in der Grundschule (53,40%). <?page no="129"?> Die an die Schüler/ -innen gerichtete Sprache 129 Abb. 2: Prozentualer Anteil komplexer Adjektive an der Gesamtadjektivanzahl - Lehrer (m) und Lehrerinnen (w) Für diese Analysekategorie werden in Abbildung 3 vergleichend auch die Schülerwerte dargestellt. 22 Hier sind die Werte wie in Abbildung 2 nach den unterrichtenden Lehrkräften geordnet und gereiht. Zu beachten ist, dass für jede Klasse nur die durchschnittlichen Werte für alle Schülerinnen und Schüler der Klasse aufgezeigt werden. Die niedrigsten Werte sind auch hier bei den Grundschülern (resp. Unterstufenschülern im Unterricht der weiblichen Biologielehrerin) zu erkennen, die höchsten Werte jeweils in der Oberstufe. Im direkten Vergleich mit den jeweiligen Lehrerwerten ist in fünfzehn der sechzehn Klassen der prozentuale Anteil der komplexen Adjektive in der SgS jeweils etwas höher als in der Schülersprache. Dieses Faktum könnte dahingehend interpretiert werden, dass die Lehrerwerte in der Zone der nächsten Entwicklung (Wygotski 1977: 236ff.) der Schüler und Schülerinnen liegen. Nur die durchschnittlichen Werte der Oberstufenschüler und -schülerinnen im Biologieunterricht der Biologielehrerin (Bio-w, OS) liegen etwas über den Werten dieser Lehrerin; die schülerseitige Entwicklung könnte hier ihren Zielpunkt erreicht haben. 22 Dies ist aus Platzgründen für die weiteren Analysekategorien nicht möglich. <?page no="130"?> Katrin Kleinschmidt 130 Abb. 3: Prozentualer Anteil komplexer Adjektive an der Gesamtadjektivanzahl - Schülerinnen und Schüler (gruppiert nach ihren Lehrkräften) 6.3 Analysen in der Integrationsdimension In der Integrationsdimension wird eine Analysekategorie auf phrasaler resp. syntaktischer Ebene betrachtet: die Anzahl der satzwertigen Nominalgruppen, berechnet auf 1000 Wörter. 23 Diese satzwertigen Nominalgruppen werden nach Pohl (2007: 410) als Nominalgruppen mit deverbalen oder deadjektivischen Nominalisierungen, 24 die zumindest „einen syntaktischen Mitspieler“ aufweisen, definiert. Ein Beispiel für eine solche satzwertige Nominalgruppe, die vom Biologielehrer in der Mittelstufe verwendet wurde, ist „die Senkung des Blutzuckerspiegels“. „Senkung“ ist hier die Nominalisierung, der Mitspieler ist das Genitivattribut „des Blutzuckerspiegels“. Diese Nominalgruppe lässt sich durch einen Satz paraphrasieren: „Der Blutzuckerspiegel wird gesenkt.“ Dies lässt sich damit begründen, dass Nominalgruppe und Satz „enge formale und semantische Beziehungen“ (Eisenberg 2004: 252) aufweisen. 25 23 Die Wörter wurden für diese Analysen mit Hilfe der Segmentierungsfunktionalität des Partitur-Editors des EXMARaLDA-Systems gezählt (vgl. dazu Schmidt 2011: 103ff.); vgl. zur Operationalisierung von Wörtern beim computergestützten Transkribieren mit HIAT Rehbein et al. (2004: 30). 24 Dabei werden sowohl lexikalische und syntaktische Konversionen als auch Derivationen - jeweils mit Nomen als Wortbildungsprodukt - als Nominalisierungen angesehen. 25 Im Sinne der Integrationsdimension werden hier Elemente einer höheren Strukturebene (des Satzes) zu Elementen einer niedrigen Strukturebene (der Nominalphrase). <?page no="131"?> Die an die Schüler/ -innen gerichtete Sprache 131 In medialer Mündlichkeit ist keine sehr hohe Anzahl satzwertiger Nominalgruppen zu erwarten. Denn selbst in wissenschaftlichen Hausarbeiten von Studienanfängern (also im medial Schriftlichen) lag die von Pohl (2007: 410) ausgezählte Anzahl der satzwertigen Nominalgruppen nur bei durchschnittlich 16,3 auf 1000 Wörtern; in Staatsexamensarbeiten bei durchschnittlich 31,7 auf 1000 Wörtern. Trotzdem sind in Abbildung 4 Werte bis ca. 9 auf 1000 Wörter beim männlichen Biologielehrer in der Oberstufe zu erkennen. Von den Grundschullehrkräften wird diese Form allerdings kaum verwendet. Bei den Gymnasiallehrpersonen sind intraindividuell die geringsten Werte immer in der Unterstufe zu finden; diese sind in drei der Fälle noch sehr ,grundschulnah’. 26 Zur Mittelstufe resp. Oberstufe ergeben sich dann leichte Zunahmen. 27 Abb. 4: Häufigkeit der satzwertigen Nominalgruppen auf 1000 Wörter 6.4 Analysen in der Differenziertheitsdimension Als Beispiel einer Analysekategorie in der Differenziertheitsdimension wird die Anzahl der types der exogenen Adjektive (mit exogener Basis und/ oder exogenem Affix) betrachtet. 28 Zusätzlich wird deren Frequenz auf 1000 Wörter berechnet. Beispiele für solchermaßen als fremdsprachlich eingeordnete 26 Nur beim männlichen Biologielehrer gibt es in der Unterstufe einen deutlicheren Unterschied zum mit ihm parallelisierten Grundschullehrer im Sachunterricht. 27 Zur Schülerseite: Satzwertige Nominalgruppen werden von den Grundschülern noch gar nicht genutzt. Erst zur Unterstufe gibt es leichte Zunahmen. Etwas deutlichere Zunahmen gibt es vor allem im Biologieunterricht zur Mittelstufe (und Oberstufe). 28 Mit Riebling (2013: 137) werden hier fachliche (wie anorganisch) und nichtfachliche Fremdwörter (wie negativ) zunächst gemeinsam betrachtet. <?page no="132"?> Katrin Kleinschmidt 132 Adjektive sind feministisch (Beispiel einer Deutschlehrerin in der Oberstufe) oder anorganisch (Beispiel einer Biologielehrerin in der Oberstufe). Der Abbildung 5 ist zu entnehmen, dass sowohl in den absoluten Werten als auch in den auf 1000 Wörter bezogenen Werten die Anzahl der types der exogenen Adjektive bei allen Grundschullehrenden niedriger ausfällt (zwischen 1 bis 3 types absolut) als bei den Gymnasiallehrpersonen in den Unterstufenklassen ihrer jeweiligen Vergleichsgruppe. Bei den Gymnasiallehrenden zeigt sich jeweils intraindividuell eine Zunahme von der Unterstufe bis zur Oberstufe, wobei beim männlichen Gymnasiallehrer im Biologieunterricht der deutlichste Unterscheid schon von der Unterstufe zur Mittelstufe erkennbar ist (2 vs. 13 types absolut), während bei den anderen Lehrpersonen die deutlicheren Unterschiede zwischen der Mittelstufe und der Oberstufe zu finden sind. Abb. 5: Absolute Häufigkeit der types der exogenen Adjektive (abs.) resp. Frequenz auf 1000 Wörter (frequ.) 7. Fazit & Ausblick Es wurde der Versuch unternommen, die an die Schüler gerichtete Sprache (SgS) in unterschiedlichen Jahrgangsstufen als Spiegel transitorischer schulsprachlicher Normen nach Feilke (2012b; 2015) zu betrachten. Dazu wurde ein Operationalisierungsvorschlag konzeptioneller Schriftlichkeit unterbreitet, die als Zielnorm schulischer Sprachförderung angesehen werden kann und sich aufgrund des kontinualen Charakters der Konzeptionsdimension besonders zur Analyse transitorischer Normen eignet. In exemplarischen Analysen in <?page no="133"?> Die an die Schüler/ -innen gerichtete Sprache 133 der Komplexitäts-, Integrations- und Differenziertheitsdimension konzeptioneller Schriftlichkeit konnte anhand der SgS von vier Gymnasial- und vier Grundschullehrpersonen im Biologieresp. Sachunterricht sowie Deutschunterricht deren Transitorik von der Grundschule bis zur Oberstufe aufgezeigt werden. Weitere Analysen mit Bezug auf andere Wortarten als das Adjektiv sowie auf syntaktischer und diskursiver Ebene sollen folgen, um die Erwerbsbezogenheit der SgS genauer beschreiben zu können. Zudem sollen Analysen auf der in Abschnitt 4 erläuterten Ebene der mikro- und makrointeraktionalen Stützmechanismen durchgeführt werden, um neben dem spracherwerbsbezogenen Wirk- und Einflussfaktor Rezeption den der Kommunikation (Pohl 2007: 90) resp. der Interaktion (Ohlhus & Stude 2009: 475) stärker in den Blick zu bekommen. Literatur Ágel, Vilmos & Hennig, Mathilde (2006): Theorie des Nähe- und Distanzsprechens. In: Ágel, Vilmos & Hennig, Mathilde (Hrsg.): Grammatik aus Nähe und Distanz. Theorie und Praxis am Beispiel von Nähetexten. 1650-2000. Tübingen: Niemeyer, 3-31. Ágel, Vilmos & Hennig, Mathilde (2007): Überlegungen zur Theorie und Praxis des Nähe- und Distanzsprechens. In: Ágel, Vilmos & Hennig, Mathilde (Hrsg.): Zugänge zur Grammatik der gesprochenen Sprache. Tübingen: Niemeyer, 179-214. Ágel, Vilmos & Hennig, Mathilde (2010): Einleitung. In: Ágel, Vilmos & Hennig, Mathilde (Hrsg.): Nähe und Distanz im Kontext variationslinguistischer Forschung. Berlin: De Gruyter, 3-22. 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Academic Language (Chamot & O’Malley 1997; Snow & Uccelli 2009) zunächst die Perspektive auf andere Sprachebenen, wie etwa die Syntax, ausgeweitet. Zugleich wurde in den Blick gerückt, dass die kommunikative Darlegung und Vermittlung fachlichen Wissens auch auf domänenübergreifenden sprachstrukturellen Fähigkeiten beruht, die als Merkmale eines formellen Registers (Gogolin & Lange 2011; Schleppegrell 2004) und im angloamerkischen Raum jüngst als „core academic language skills“ (Uccelli et al. 2014) beschrieben wurden. Eine stärker pragmatische und in der Ethnomethodologie wurzelnde Sichtweise macht geltend, dass Interaktanten nicht einfach ein bestimmtes Register oder eine bestimmte Varietät von Sprache gebrauchen, sondern sprechen und schreiben, um bestimmte kommunikative Funktionen zu realisieren: Dazu erklären sie einen Sachverhalt oder ein Vorgehen, begründen eine Position, beschreiben einen Versuchsaufbau. Wir plädieren daher für eine Konzeptualisierung von Bildungssprache, die der Kontextualisiertheit, Interaktivität und Zweckorientierung des Sprechens und Schreibens in Bildungszusammenhängen systematisch Rechnung trägt. Damit vollziehen wir abermals eine Erweiterung des Gegenstandes: Als bildungssprachliche Praktiken (Morek & Heller 2012; Heller & Morek 2015) beschreiben wir die situierten sprachlich-diskursiven und körperlichen Verfahren, mit denen in unterschiedlichen Bildungskontexten Erkenntnisse generiert, Wahrheitsansprüche geltend gemacht und gesicherte Wissensbestände vermittelt werden. Der in der Ethnomethodologie wurzelnde Begriff <?page no="140"?> Vivien Heller, Uta Quasthoff, Anna Vogler, Susanne Prediger 140 der Praktiken verweist darauf, dass es sich dabei um gesellschaftlich verfestigte Lösungsverfahren für Probleme handelt, die sich innerhalb einer Gemeinschaft wiederkehrend stellen. In diesem Sinne stellen die Konstruktion, Aushandlung und Vermittlung von Wissen wiederkehrende gesellschaftliche ‚Probleme‘ dar, die sozial geregelte kommunikative Lösungsverfahren verlangen. Es sind nun u.E. gerade diskursive Praktiken, die für die Bearbeitung dieser Probleme bzw. Aufgaben zentral sind. Damit sind Verfahren angesprochen, bei denen äußerungsübergreifende Einheiten, sog. Diskurseinheiten, interaktiv hervorgebracht werden. Sie werden in der Wissenssoziologie als Gattungen bezeichnet (Luckmann 1986). Im Kontext des Unterrichts in der Sekundarstufe, so zeigen unsere Daten 1 , kommt den diskursiven Praktiken des Erklärens und Argumentierens eine Vorrangstellung zu. Die Erfassung von Gattungsrepertoires 2 (vgl. Abb. 1) in den Fächern Mathematik und Deutsch zeigt, dass Erklären und Argumentieren im Vergleich zu anderen Gattungen - bspw. Erzählen, Berichten, Beschreiben - deutlich häufiger realisiert werden. Die Gattungsrepertoires erbringen somit einen empirischen Beleg dafür, dass unter den sprachlich-kognitiven Operationen, die Vollmer & Thürmann (2010) auf Basis einer Curriculumanalyse als grundlegend modelliert hatten (Benennen/ Definieren, Beschreiben/ Darstellen, Berichten/ Erzählen, Erklären/ Erläutern, Bewerten/ Beurteilen, Argumentieren/ Stellung nehmen, Simulieren/ Modellieren), für Unterrichtsgespräche in der Sekundarstufe die Praktiken des Erklärens und Argumentierens von zentraler Bedeutung sind. Dass die Relevanz bestimmter Gattungen möglicherweise auch jahrgangsstufenabhängig ist, legen die Befunde von Hövelbrinks (2014) nahe: Sie findet im naturwissenschaftlichen Unterricht des ersten Schuljahres eine besonders hohe Frequenz des Berichtens, Beschreibens und Explorierens. 1 Die Daten stammen aus dem interdisziplinären Projekt InterPass („Interaktive Verfahren der Etablierung von Passungen und Divergenzen für sprachliche und fachkulturelle Praktiken im Deutsch- und Mathematikunterricht. Eine rekonstruktive Unterrichtsstudie zur Teilhabe an schulischen Vermittlungsprozessen“), das mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert wird (Förderkennzeichen 01JC1112; Projektleitung S. Prediger & U. Quasthoff). 2 Die erfassten Häufigkeiten umfassen alle von der Lehrkraft geforderten und von den Lernenden realisierten Diskurseinheiten. Diese wurden hinsichtlich ihrer Gattungsspezifik differenziert (zur Abgrenzung des Erklärens und Argumentierens vgl. Morek, Heller & Quasthoff 2017; zum Berichten, Erzählen und Beschreiben vgl. Quasthoff 2001 und Rehbein 1984). Aufgrund unterschiedlicher Stundenraster an den fünf Schulen (vgl. Abschnitt 2.1) wird die Gesamtunterrichtszeit in Zeitstunden angegeben. <?page no="141"?> Bildungssprachliche Praktiken aus professioneller Sicht 141 Abb. 1: Häufigkeiten gesetzter Zugzwänge für die einzelnen Gattungen Die besondere Bedeutung des Argumentierens und Erklärens lässt sich aus deren Funktionalität für unterrichtliche Zwecke erklären: Während das Erklären darauf ausgerichtet ist, Probleme des Wissenstransfers und der Wissensdemonstration zu lösen, lassen sich durch Argumentieren divergente Geltungsansprüche behandeln (Morek, Heller, Quasthoff 2017). Wenngleich Kinder auch im (Familien-)Alltag mitunter gefordert sind, Sachverhalte zu erklären (Morek 2012) oder Geltungsansprüche zu begründen (Heller 2012), so kommt ihnen doch im Unterricht eine herausgehobene Bedeutung zu. Damit ist Unterricht zugleich als der primäre Kontext für den Erwerb und Ausbau dieser diskursiven Fähigkeiten zu sehen. Unsere rekonstruktiven Analysen zu Erklär- und Argumentationsprozessen im Unterricht zeigen allerdings, dass diese Fähigkeiten in sehr unterschiedlicher Weise realisiert und gefördert werden: - Es sind bestimmte Aufgabenaufteilungen beim Erklären zu beobachten, die den Lernenden mehr oder weniger Verantwortung für das Erklären zugestehen, indem sie sie entweder als „small piece suppliers“ oder „principal contributors“ beteiligen (Quasthoff, Heller, Prediger & Erath demn.). - Kommt es in Unterrichtsgesprächen zu Erklärungen und Argumentationen, so verdeutlichen Lehrkräfte die damit verbundenen diskursiven und normativen Erwartungen größtenteils auf implizite Art und Weise (Heller 2015). - Interaktive Verfahren des Unterstützens diskursiver wie epistemischer Prozesse von Lernenden finden sich in unterschiedlicher Häufigkeit. Gelegenheiten, die sich im Rahmen von Unterrichtsgesprächen ergeben oder arrangieren lassen, bleiben oftmals ungenutzt (Quasthoff, Heller, Prediger & Erath demn.; Heller & Morek 2015). <?page no="142"?> Vivien Heller, Uta Quasthoff, Anna Vogler, Susanne Prediger 142 Mit diesen Befunden deutet sich an, dass Lehrkräfte in Unterrichtsgesprächen nicht unbedingt auf die Sprachlichkeit fachlichen Lernens orientiert sind. Darauf weisen auch Ergebnisse einer Fragebogenuntersuchung von Busch & Ralle (2013) hin, der zufolge Chemielehrkräfte die Bedeutung von Fachsprache vor allem für den Lehrervortrag und die Arbeit an Texten sehen; in geleiteten Gesprächen im Klassenverband wird sie dagegen für weniger relevant gehalten. Diskursive Aspekte wurden in der genannten Studie nicht eigens untersucht. Fassen wir also zusammen: Die unter dem Terminus Bildungssprache beschriebenen Phänomene zeichnen sich nicht nur durch lexikalische und syntaktische Anforderungen, sondern insbesondere auch durch ihre Übersatzmäßigkeit und Diskursivität aus. Bildungssprachliche Praktiken wie Erklären und Argumentieren sind in besonderer Weise auf die Zwecke von Unterricht zugeschnitten. Dies macht Unterricht zugleich zu dem Kontext, in dem sich Erwerbsgelegenheiten ‚naturwüchsig‘ ergeben können. Die Frage, inwieweit Lehrende wahrnehmen, dass fachliche Lernprozesse immer auch sprachlich-diskursive Anforderungen beinhalten, ist bislang weitgehend unbeantwortet. Die Wahrnehmung (bildungs-)sprachlicher Anforderungen dürfte aber die Voraussetzung dafür darstellen, dass diese zugleich als Lerngelegenheiten erkannt und genutzt werden. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es daher, die professionelle Sicht (Goodwin 1994: „professional vision“; vgl. auch Sherin 2007, s.u.) von Lehrenden auf Unterrichtsinteraktionen, insbesondere auf diskursive Beiträge von Lernenden, zu untersuchen: Wie - oder genauer: als was - nehmen Lehrende vor dem Hintergrund ihrer professionellen Deutungsmuster (s.u.) Beiträge von Schülerinnen und Schülern wahr? Einen Zugang zu professionellen Deutungsmustern haben uns Gruppendiskussionen von Lehrkräften zu videographierten Unterrichtsinteraktionen eröffnet. Unsere Analysen der thematischen Relevanzsetzungen, die Lehrkräfte in diesen weitgehend ungesteuerten Diskussionen vornehmen, zeigen, dass Lehrkräfte ihre Aufmerksamkeit fast durchgängig auf die didaktische Logik des beobachteten Handelns der Lehrkräfte und nur selten auf Beiträge von Lernenden oder gar interaktive Prozesse richten (Vogler 2015; Prediger, Quasthoff, Vogler & Heller 2015; vgl. auch Lee & Takahashi 2011 für den Mathematik- und Bräuer 2015 für den Deutschunterricht). Der vorliegende Beitrag fokussiert jene Sequenzen aus den Gruppendiskussionen, in denen die diskutierenden Lehrkräfte tatsächlich Schülerbeiträge zum Gegenstand machen. Er untersucht, welche Aspekte dabei jeweils in den fachlichen Diskussionen relevant gesetzt werden. Daneben gibt uns der mikroanalytische Blick auf die Verfahren, mit denen Lehrkräfte bestimmte Aspekte zur Sprache bringen, Hinweise auf die Art der Wissensbestände (implizit oder explizit, geteilt oder nicht-geteilt) über bildungssprachliche Praktiken. Die Analyse soll somit Aufschluss darüber geben, was (nicht) ‚im Blick‘ von <?page no="143"?> Bildungssprachliche Praktiken aus professioneller Sicht 143 Lehrkräften ist - an welchen blinden Flecken also die Aus- und Fortbildung von Lehrkräften im Hinblick auf Unterstützungsverfahren diskursiven und fachlichen Lernens anknüpfen müsste. Wir gehen dabei davon aus, dass Lehr-Lern-Prozesse ohne die Berücksichtung der Wahrnehmungs- und Handlungsmuster der Lehrenden (und Lernenden) selbst nicht ‚optimiert‘ werden können (Prediger, Quasthoff, Vogler & Heller 2015). 2 Methodologischer Rahmen: Gruppendiskussionen als Kontexte handlungsentbundenen professionellen Deutens Wir verstehen Lehren als eine Profession, die musterhafte Weisen des Wahrnehmens und Deutens beinhaltet, die im Verlauf der beruflichen Ausbildung und Sozialisation erworben werden. Aus Perspektive der im deutschsprachigen Raum verwurzelten Wissenssoziologie können diese als Deutungsmuster aufgefasst werden. Im Unterschied zu dem Konstrukt der subjektiven Theorien oder beliefs handelt es sich dabei nicht um individuelle Konzeptualisierungen, sondern um sozial geteilte und habitualisierte Muster des Deutens und Bewertens. In Bezug auf beruflich spezialisierte Deutungsmuster hat Goodwin den Terminus professional vision geprägt und bezeichnet damit „socially organized perceptual frameworks” (1994: 616), die von den members einer professionellen community geteilt werden. Nach Mannheim (1980) werden solche gemeinsamen Weltanschauungen und Wahrnehmungsstrukturen im Kontext konjunktiver Erfahrungsräume - bspw. der professionellen Wissensvermittlung - angeeignet. Das Wissen, das in der Praxis des konjunktiven Erfahrungsraums erworben wird, ist ein präreflexives, „atheoretisches Wissen“ (Mannheim 1980: 73). In der Terminologie von Meuser & Sackmann (1992) werden nun solche konjunktiven Sinngehalte in Deutungsmustern prozessiert, die als „überindividuell (re-)produzierte Antwort auf objektive, Handlungsprobleme aufgebende gesellschaftliche Bedingungen“ (1992: 15) zu verstehen sind. Die Nutzung von Deutungsmustern lässt sich aus ethnomethodologischer Perspektive als dokumentarische Methode der Interpretation (Garfinkel 1967: 76ff.) verstehen: Eine Erscheinung, in diesem Fall: das Agieren von Lehrenden und Lernenden in Unterrichtsgesprächen, wird von der handlungsentlasteten Lehrkraft als Dokument eines zugrundeliegenden Musters begriffen. Da Deutungsmuster Suchstrategien nach Belegen erzeugen, können sie als Orientierungsrahmen für die Deutung komplexer Unterrichtsprozesse verstanden werden. Deuten ist immer auch ein interaktiver Prozess. Es bietet sich deshalb an, Deutungen im Rahmen von Gruppendiskussionen zu provozieren. Nur dieser Rahmen ermöglicht es zudem, individuelle Deutungen von kollektiven Deutungsmustern zu differenzieren (Bohnsack 2014: 119). <?page no="144"?> Vivien Heller, Uta Quasthoff, Anna Vogler, Susanne Prediger 144 2.1 Daten Um Aufschluss über die Frage zu erhalten, ob bzw. als was diskursive Beiträge von Schülerinnen und Schülern gesehen werden, haben wir also eine ganz bestimmte Art von Daten konstituiert: Da lehrerseitige Deutungen nicht schon durch die Relevanzen der Forschenden gelenkt werden sollten, verbot sich der Einsatz leitfadengestützter Interviews oder schriftlicher Fragebögen. Stattdessen haben Gruppen von Lehrenden videographierte Unterrichtsepisoden weitgehend ungesteuert diskutiert. Es handelte sich dabei um „other confrontations“ (Auer 1995); die diskutierenden Lehrkräfte waren also selbst nicht in den aufgezeichneten Unterricht involviert. Auswahl und Präsentation der Videosequenzen. Aus dem umfangreichen Unterrichtskorpus von InterPass wurden fünf kurze Sequenzen aus Unterrichtsgesprächen in den Fächern Deutsch und Mathematik ausgewählt, in denen ein- und mehrsprachige Fünftklässler Erklärungen oder Begründungen realisieren. 3 Diese Auswahl eröffnete die Möglichkeit, die übersatzmäßigen, diskursiven Aktivitäten von Schülerinnen und Schülern zu thematisieren. Da die Gruppendiskussionen eine Entbindung von Handlungszwängen und eine Entschleunigung der Wahrnehmung ermöglichen sollten, wurden die Videosequenzen abschnittsweise zusammen mit übersichtlichen Verschriftlichungen präsentiert. Impulse gingen vornehmlich vom ausgewählten Videomaterial aus; weitere Lenkungen wurden weitgehend vermieden, um die Gruppendiskussionen als einen ungelenkten kollektiven Meinungsbildungsprozess zu rahmen. Zusammensetzung der Gruppen. Die beteiligten Lehrkräfte waren hinsichtlich des Alters, der gesprochenen Sprachen, der Ausbildung (Schulart und Fächer) sowie der Berufserfahrung (Unterricht in einer fünften Klasse) mit den aufgezeichneten Lehrkräften vergleichbar. Die vier Gruppen waren heterogen zusammengesetzt, und zwar entweder hinsichtlich der Schulart (Gesamtschule, Gymnasium) oder des fachlichen Hintergrundes (Deutsch, Mathematik). Diese Zusammensetzung zielte darauf ab, die Explikation impliziter schulartspezifischer oder fachkultureller Erwartungen zu provozieren, die sonst nicht thematisiert werden. Es wurden vier Gruppendiskussionen mit insgesamt 28 Lehrkräften aufgezeichnet, die jeweils eine Dauer von 90-110 Minuten umfassen. Datenaufbereitung. Die jeweils mit zwei Kameras aufgezeichneten Gespräche wurden gemäß der Konventionen des GAT 2 (Selting et al. 2009) vollständig transkribiert (Detaillierungsstufe: Minimaltranskription). 3 Aus Darstellungsgründen werden im empirischen Teil nur Diskussionsausschnitte zu drei Videoclips bzw. fünf der insgesamt neun Kinder präsentiert. Diese wurden so ausgewählt, dass eine große Bandbreite an Deutungen sichtbar wird. <?page no="145"?> Bildungssprachliche Praktiken aus professioneller Sicht 145 2.2 Analytischer Zugang Der analytische Zugang im vorliegenden Zusammenhang umfasste drei Schritte. In einem ersten Schritt wurden in den Gruppendiskussionen diejenigen Sequenzen identifiziert, in denen sich die Beteiligten auf Schüleräußerungen in den Videos bezogen. Die insgesamt 96 Sequenzen wurden im Hinblick auf die thematischen Relevanzsetzungen der Lehrkräfte untersucht. Diese betrafen kognitive, fachliche, identitätsbezogene und sprachlichdiskursive Aspekte. In einem zweiten Schritt wurde sequenziell rekonstruiert, wie die Diskussionbeteiligten bestimmte Aspekte einer Äußerung hervorheben und zum Gegenstand ihrer Deutung machen. Dabei lag der mikroanalytische Fokus auf a) den sprachlichen Verfahren, mit denen dies bewerkstelligt wurde (Bewerten, Beschreiben, Metaphern usw.), und b) den Kategorien, die bei den Deutungen in Anschlag gebracht wurden. Auf diese Weise ließ sich Aufschluss darüber gewinnen, auf welche Arten von Wissen (implizites vs. explizites, als geteilt verfügbares vs. ad hoc konstruiertes) die Beteiligten jeweils zugreifen. Die rekonstruierten Deutungsmuster reflektieren somit, wie und im Hinblick worauf Lehrende Erklärungen und Begründungen der Lernenden deuten. In einem dritten Schritt wurden die Deutungsmuster hinsichtlich ihrer Häufigkeit verglichen, um Dominanzen zu ermitteln. 3 Empirische Befunde: Wie deuten Lehrkräfte Diskursbeiträge? 3.1 Nutzung von Erklärungen und Begründungen der Lernenden als Fenster in das Verstehen Wenn Lehrkräfte Diskursbeiträge der Lernenden als Fenster in deren Verstehen nutzen, sehen sie gleichsam durch die Erklärung bzw. Begründung hindurch. Die Äußerung wird dann nicht als diskursive Praktik wahrgenommen, sondern als Dokument bzw. Hinweis auf kognitive Leistungen. Im Beispiel (1) nehmen die Lehrkräfte auf Videoclip 4 Bezug, in dem der Begriff Lexikon in Abgrenzung zum Wörterbuch erklärt werden soll. Die im Videoclip gezeigte und von den Lehrkräften diskutierte Erklärung von Feli lautet: dass man zum beispiel einen BUCHstaben hat, zum beispiel KA: , (.) und dann ist das äh einmal KLEIN und einmal GROSS geschrieben, =und da steht zum beispiel DIE katze daneben,und die ka (.) also katze (.) daneben SO, und DIE katze steht daneben als ähm (.) verb; (4.0) <<p> SO weit war ich>. <?page no="146"?> Vivien Heller, Uta Quasthoff, Anna Vogler, Susanne Prediger 146 Diskussionsexzerpt (1) Les (DL), Val (DL) und Rie (ML) zu Feli, L-GD-2 (GS-DL-ML) 4 2058 les ich finde dass sie eher n WÖRterbuch beschreibt. 2059 val JA. 2060 ((reden durcheinander)) 2061 rie <<all> aber im lexikon habt ihr auch die ANfangsbuchstaben.= 2062 =na GUT. 2063 äh KLEIN gibt es dann AUCH in dem [lexikon nIcht.> ] 2064 les [klein und GROße? ] 2065 aber das ist ja eher das klassische (.) im WÖRterbuch. 2066 dass man dann GUCKT- 2067 schreibt man das GROSS oder KLEIN. 2068 rie hm_hm is RICHtig.=ne? 2069 les von daher hab ich den eindruck dass feli (.) KEInen überblick (.) nicht WEISS was_n lexikon is. 2071 rie aber sie weiss zuMINdest, (-) 2072 dass es nach BUCHstaben geordnet ist; = 2073 =das wollte sie ja damit ANdeuten. Die Deutschlehrerin (DL) Les äußert ihre Wahrnehmung, dass Feli anstelle des Begriffes Lexikon den Begriff Wörterbuch erklärt. Sie lässt zuächst offen, wie das beobachtete Verhalten aus ihrer Sicht zu erklären ist bzw. was es dokumentiert. So wäre denkbar, dass die nicht zum Zugzwang des Lehrers passende Erklärung der Schülerin entweder durch ihr unzureichendes Wissen (keine Differenzierung zwischen Lexikon und Wörterbuch) bedingt ist oder in einer Fehlkontextualisierung des Zugzwangs (Verkennen des genauen Erklärgegenstandes) begründet liegt. In einer side sequence (Jefferson 1972) klären die Lehrkräfte zunächst selbst argumentativ die Frage, ob das von Feli angeführte Beispiel auch auf Lexika zutrifft (Z. 2060-2068). Im Anschluss an die Klärung dieser Frage zieht Les den Schluss, dass Feli „KEInen überblick (.) nicht WEISS was_n lexikon is.“ Les ‚sieht‘ hier also Felis Äußerung als Dokument ihrer Wissensbestände. Die Frage nach Felis Wissen - und die Suche nach und Deutung von Dokumenten, die Rückschlüsse auf dieses Wissen zulassen - wird von Rie in seiner Entgegnung an Les aufgegriffen („aber sie weiss zumindest, […] das wollte sie ja damit ANdeuten.“ Z. 2073). Das hier rekonstruierbare Deutungsmuster von Erklärungen und Begründungen als Fenster in das fachliche Wissen von Lernenden korrespondiert mit Befunden gesprächsanalytischer Unterrichtsstudien, die zeigen, dass Erklärungen und Begründungen im Unterricht häufig zum Zweck der Wissensdemonstration eingefordert werden (Morek 2012; Heller 2012). Dasselbe Muster findet sich auch im zweiten Diskussionsauszug zu Videoclip 1, der Kostas‘ Begründung für eine mathematische Rundungsaufgabe zeigt. Kostas Begründung lautete: 4 Die Kodierung gibt Aufschluss über die Zusammensetzung der Gruppen: GS - Gesamtschule, Gym - Gymnasien, DL - Deutschlehrkräfte, ML - Mathematiklehrkräfte. <?page no="147"?> Bildungssprachliche Praktiken aus professioneller Sicht 147 °hhh ja wenn man die drei_nsechzig ABrundet (.) auf die ZEHner, (-) dann kommt (.) dann isses (.) muss hinten IMmer eine null stehen, es MUSS sein, wenn_man RUNdet; und dann (.) da (-) wenn man (.) die drei WEGnimmt,=und die NULL da hinschiebt,=also (.) könnte man jetzt MAchen; =aber eigentlich is_es FALsch, (.) man muss einfach ABrunden, (--) und ne (.) nähere zahl mit ner NULL muss man da hinschreiben; (-) Diskussionsexzerpt (2) Nho 5 (ML) zu Kostas und Katja, L-GD-2 (GS-DL-ML) 869 nho also ich find, auch wenn ich (.) wenn kostas erklärung n bisschen kompliZIERter und n bisschen verZWICKter ist, 870 hab ICH eher so das gefühl- 871 kostas hat das thema GUT verstanden,= 872 =und er hat das mit EIgenen worten wiedergegeben. Die Beobachtung, dass Kostas seine Erklärung zwar „n bisschen kompliZIERter“, aber „mit EIgenen worten wieder[gibt]“, wird vom Mathematiklehrer Nho als Dokument herangezogen, um Rückschlüsse auf Verstehensprozesse des Schülers zu ziehen: „kostas hat das thema GUT verstanden“. Das evaluierende Adjektiv gut bringt dabei eine positive Bewertung klar zum Ausdruck. Richten wir nun den Blick auf die sprachlichen Verfahren, mit denen die beiden Lehrkräfte Aspekte des Verstehens für sich und die Mitdiskutierenden sichtbar machen: Es fällt auf, dass der eigene Deutungsprozess - das Verstehen also der an sich unbeobachtbaren Verstehensprozesse der Lernenden - vor allem durch verba sentiendi, die die Mittelbarkeit bzw. den inferentiellen Charakter der eigenen Deutung markieren (Bsp. 1: „hab ich den Eindruck“; Bsp. 2: „hab ICH eher so das gefühl“), verbalisiert werden. Die Kategorien, die sodann in Anschlag gebracht werden, sind dichotom: Verstehen vs. Nichtverstehen bzw. Verfügen vs. Nichtverfügen über Wissen. Sie werden den Lernenden in Form von verba cogitandi wissen („nicht weiß“, „weiß zuMINdest“ in Bsp. 1) und verstehen („GUT verstanden“ in Bsp. 2) zugeschrieben. 3.2 Bewerten der inhaltlichen Richtigkeit Inhaltliche Richtigkeit oder auch Vollständigkeit stellt einen weiteren zentralen Interpretationsrahmen für die Wahrnehmung von Erklärungen und Begründungen dar. Der folgende Auszug aus einer Gruppendiskussion bezieht sich auf die oben zitierte Erklärung Felis, was ein Lexikon bzw. Wörterbuch ist. 5 Herr Nho spricht Deutsch als Zweitsprache. <?page no="148"?> Vivien Heller, Uta Quasthoff, Anna Vogler, Susanne Prediger 148 Diskussionsexzerpt (3) Bac (DL) zu Feli, L-GD-4 (GS-Gym-DL) 1372 bac also ich mein- 1373 im LExikon da schlägste halt (---) also jedenfalls nicht wörter nach die: : wo wo du gucken willst wie die geSCHRIEben werden. 1374 also (.) ähm (.) ja ist_n bisschen ! AN! ders als ähm im wörterbuch. 1375 also (.) da kann man doch EINfach glatt sagen, 1376 <<f> NEIN,> (-) 1377 so ist es NICHT, (--) 1378 es ist NICHT dafür da dass man wörter NACHschlägt ne, 1379 er verNEINT das auch nicht so wirklich. Die Deutschlehrerin Bac legt zunächst allgemein bekanntes Wissen (indiziert durch die Modalpartikel halt) über Lexika dar (Z. 1372-1374). Sie realisiert dann eine Bewertung 6 nicht einfach in Form einer Assertion (etwa „Das ist fachlich nicht zutreffend.“), sondern durch eine direkte Rede (Z. 1376-1378), die eine hypothetische lehrerseitige Äußerung konstruiert. Trotz ihres hypothetischen Charakters wird die Rede nicht etwa mit einem verbum dicendi im Konjunktiv, sondern im Indikativ eingeleitet (Z. 1375). Zudem enthält die Redeeinleitung zu der Bewertung „NEIN, so ist es NICHT,“ einen metadiskursiven account darüber, dass in diesem Fall eine Begründung nicht notwendig ist: Das Urteil ist evident und kann „EINfach glatt“ mitgeteilt werden. Zugleich unterstellt die Wahl des neutralen Pronomens man, dass die Feststellung keine subjektive, sondern eine allgemeingültige ist. Der abschließende Kommentar, der sich auf die Lehrkraft im Video bezieht, kontextualisiert die hypothetische Rede als alternative und präferierte Reaktion zu der im Video gezeigten lehrerseitigen Äußerung. Ebenso wie bei Deutungen des Verstehens erfolgen Bewertungen der inhaltlichen Richtigkeit häufig nach einer Sicherung allgemeingültigen Wissens. Die in Deutungen des Verstehens zur Markierung des inferentiellen Charakters genutzten verba sentiendi sind hier jedoch abwesend. Stattdessen werden die Bewertungen im Rahmen einfacher Feststellungen und auf explizite Weise vollzogen. Damit wird auch sprachlich indiziert, dass das Deutungsmuster weniger interpretativ und inferenziell operiert, sondern auf einem Abgleich der inhaltlichen Richtigkeit eines Beitrags mit allgemeingültigem Fachwissen beruht. Die dabei genutzten Kategorien sind i.d.R. dichotom (richtig vs. falsch). 6 Gesprächsanalytische Studien haben gezeigt, dass Bewertungen stets interaktiv organisiert sind und auf erste Bewertungen meist zweite Bewertungen folgen. Dabei wird immer auch die Kompetenz und Berechtigung der Beteiligten für das Abgeben einer Bewertung verhandelt (Pomerantz 1984). Unsere Analyse zielt weniger auf die Beziehung zwischen ersten und zweiten Bewertungen als vielmehr auf die Frage, welche Bewertungsgegenstände wie etabliert werden. <?page no="149"?> Bildungssprachliche Praktiken aus professioneller Sicht 149 Festzuhalten ist: Bei Bewertungen der inhaltlichen Richtigkeit sind fachliche Aspekte einer Erklärung oder Begründung im Fokus. Bezüge zu sprachlichdiskursiven Aspekten werden dabei nicht hergestellt. 3.3 Nutzung von Erklärungen und Begründungen als Fenster in die Identität von Lernenden Vereinzelt ziehen die Lehrkräfte Aspekte einer Äußerung als Dokumente für die Identität der Lernenden heran. Dies zeigt, dass bildungssprachliche Praktiken immer auch identitätsstiftende und sozialsymbolische Funktionen erfüllen (Morek & Heller 2012: 89f.; Snow & Uccelli 2009: 123). Ebenso wie bei der Nutzung von Erklärungen als Fenster in Verstehensprozesse wird hier Nicht-Beobachtbares sichtbar zu machen versucht. Diskussionsexzerpt (4) Tit (ML) zu Kostas, LGD-3 (GS-Gym-ML) 501 tit er war ja auch so_n kleiner SCHAUspieler, ((...)) 531 tit so an seiner GEstik zu anfang hat man gesehen; 532 also er er hat sich da geFALlen das zu machen; 533 und das war (sein ding ne). Der Mathematiklehrer Tit charakterisiert Kostas mit der Metapher „kleiner SCHAUspieler“. Mit Lakoff & Johnson lassen sich Metaphern als sprachliche Instanzen metaphorischer Konzepte verstehen, die unsere Wahrnehmung ebenso wie unser Handeln strukturieren. Metaphern zu gebrauchen heißt: „understanding and experiencing one kind of thing in terms of another“(1980: 5). Diese Form des Deutens ist wie jede andere auch selektiv, indem sie bestimmte Aspekte hervorhebt bzw. ausblendet („highlighting and hiding“). Metaphern stellen somit Verfahren par excellence der Nutzung von Deutungsmustern dar. Dabei werden i.d.R. ganze Metaphernsysteme aktiviert, mit denen ein Phänomen durch bildhafte und anschauliche Analogien fassbar gemacht wird. Im vorliegenden Fall aktiviert Tit mit dem Element Schauspieler das System des Theaters und beschreibt Kostas‘ Verhalten im Rahmen dieses Metaphernsystems: 7 Einzelne kommunikative Verhaltensweisen werden als Dokumente („so an seiner GEstik zu anfang hat man gesehen.“) bzw. Hinweise auf eine bestimmte Identität („SCHAUspieler“) gesehen. Die gewählte Metapher stellt Kostas als eine Person dar, die ihr Handeln nicht primär in den Dienst fachlicher und unterrichtlicher Zwecke stellt, sondern die Äußerungsgelegenheit zum Zwecke der persönlichen Selbstdarstellung 7 Im Unterschied zu sozialen Kategorisierungen (bspw. membership categorization; Sacks 1995) wird eine Person durch die metaphorische Beschreibung nicht einer sozialen Gruppe bzw. Kategorie zugeordnet. Im Vordergrund steht die Charakterisierung der Person: Durch die Metapher werden bestimmte Verhaltensweisen hervorgehoben und als Ausdruck von Charaktereigenschaften (hier: ‚steht gerne im Vordergrund‘) gedeutet. <?page no="150"?> Vivien Heller, Uta Quasthoff, Anna Vogler, Susanne Prediger 150 nutzt („er hat sich da geFALlen“). Dasselbe Metaphernsystem wird auch in einer anderen Gruppendiskussion aktiviert: Diskussionsexzerpt (5) Tho (DL) zu Kostas: LGD-4 (GS-Gym-DL) 418 und der (.) WIRKT ja sehr selbstbewusst, 419 und NUTZT das dann auch als bÜHne um jetzt sozusagen seine kom(.)petenzen hier in den raum zu werfen. Wie im vorigen Beispiel wird zunächst eine Wahrnehmung verbalisiert („der (.) WIRKT ja sehr selbstbewusst“) und als Dokument für persönliche Eigenschaften und Intentionen angeführt. Tho versetzt Kostas auf eine Bühne und macht damit dessen Begründung zu einer für das Schauspielen typischen Handlung: einer Vorführung („NUTZT das dann auch als bÜHne“). Kostas‘ Begründung wird hier also nicht im Hinblick auf kognitive, inhaltliche oder diskursive Aspekte, sondern als Mittel der Selbstdarstellung gesehen. 3.4 Diskursive Aspekte im Fokus Eine gänzlich andere Brille setzen die Lehrkräfte in den Gruppendiskussionen auf, wenn sie über Erklärungen und Begründungen von Kindern als diskursive Aktivitäten sprechen. Am weitaus häufigsten werden dabei sprachliche Formen und Ressourcen (Markierung) zum Gegenstand gemacht. Vergleichsweise selten wird dagegen darauf Bezug genommen, wie Lernende eine Erklärung oder Begründung in den sequenziellen und sozialen Kontext einpassen (Kontextualisierung) und intern strukturieren (Vertextung). Die Unterteilung dieses Abschnittes reflektiert drei Dimensionen von Diskurskompetenz, die auch auf empirischem Wege gattungsübergreifend modelliert wurden (vgl. Quasthoff 2011). 3.4.1 Bewerten und Einschätzen der sprachlichen Formen und Ressourcen In den folgenden Ausschnitten diskutieren die Deutschlehrerin Nac und der Mathematiklehrer Kle die oben erwähnten Beiträge zum mathematischen Runden. Nach Kostas‘ Beitrag hatte Katja auf Nachfrage des Lehrers nach der „! RE! gel,(---) WIE: man da vorgehen muss; “ Folgendes geäußert: bei: (--) null eins zwei drei VIER, (-) rundet man AB, (-) und bei fünf sechs sieben acht NEUN, (.) rundet man (auf); (3.5) Diskussionsexzerpt (6) Nac (DL) zu Katja, L-GD-1 (Gym-DL-ML) 815 nac vor allem katja sagt die antwort gestochen scharf; Diskussionsexzerpt (7) Kle (ML) zu Kostas, L-GD-1 (Gym-DL-ML) 888 kle und_is ja nicht wirklich SAUber formuliert; <?page no="151"?> Bildungssprachliche Praktiken aus professioneller Sicht 151 In beiden Fällen realisieren die Lehrkräfte Bewertungen in Form einfacher Aussagesätze. Anders als in den vorigen Fällen werden nicht zunächst Wahrnehmungen als Grundlage für zu inferierende Urteile dokumentiert; stattdessen erfolgen die Bewertungen sequenzinitial. Dabei werden die sprachlichen Handlungen der Lernenden durch ein evaluierendes Adjektiv näher charakterisiert („sauber“) und ggf. durch Partizipien weiter bestimmt („gestochen scharf“). Während positive Bewertungen direkt zum Ausdruck gebracht werden, erfolgen negative Bewertungen indirekt, und zwar über die Negation der positiven Eigenschaft („nicht wirklich sauber“). In den vorliegenden Fällen beziehen sich beide Bewertungen auf dieselbe Kategorie, nämlich die Präzision von Formulierungen. Damit zeigt sich empirisch, dass eine Funktion bei der Bewertung mündlicher Äußerungen herangezogen wird, die als kennzeichnend sowohl für Wissenschaftskommunikation (Ehlich 1999: 19) als auch für Bildungssprache generell (Gogolin & Lange 2011: 112; Snow & Uccelli 2009: 119) beschrieben wird. Neben einer präzisen Ausdrucksweise wird mit der Verfügbarkeit sprachlicher Ressourcen ein weiterer Aspekt von Bildungssprache thematisiert, ohne dass der Bezug zu letzterer dabei jedoch explizit hergestellt wird. Im folgenden Beispiel nimmt die Deutschlehrerin Pil Bezug auf Videoclip 5, in dem die Lernenden erklären, was einen Geschäftsbrief (im Unterschied zu einem persönlichen Brief) auszeichnet. Nachdem die Schülerin Denise eine tautologische Erklärung produziert hatte („dass es geSCHÄFTlich ist also irgendwie“), wurde die Normverletzung von der Lehrerin expliziert („ihr erKLÄRT mir immer das wort mit dem wort; “). Der nächste Erklärer war der zweisprachige Thasin: „dass man DORT nicht so ähm (-) in dem inhalt nicht etwas von einem erlebnis oder so erzählt, SONde: rn (1.0) über (1.0) ähm (2.3) wie soll ich das jetzt SAgen; (1.8) zum beispiel über das geSCHÄFT das die ein euro macht; “ Diskussionsexzerpt (8) Pil (DL) zu Thasin, L-GD-4 (GS-Gym-DL) 1736 pil aber der thasin hat das ja erKANNT; (-) 1737 er hat ja gesagt der INhalt ist ganz anders. 1738 EINmal geht_s hier um 1739 normalerweise schreib ich über ein erLEBnis oder, (-) 1740 und DAS ist hier ebend ANders; 1741 er hat nur den beGRIFF nicht. 1742 hof hm_hm, 1743 pil bezieht das eben auf geSCHÄFT, 1744 das hat dann (.) 1745 aber er HAT ja eigentlich schon gemerkt den unterschied. (--) 1746 |ist doch in ORDnung. | |((zuckt mit Schultern))| <?page no="152"?> Vivien Heller, Uta Quasthoff, Anna Vogler, Susanne Prediger 152 Sprachliche Ressourcen werden hier deutlich von der Ebene des Verständnisses des Gegenstands (vgl. 3.1) unterschieden. Thasin wird zunächst Verstehen attestiert (Z. 1736); wie für Thematisierungen des Verstehens typisch, werden für die Zuschreibung Dokumente herangezogen, in diesem Fall Teile von Thasins Äußerung (Z. 1737-1740). Davon abgegrenzt wird Thasins Fähigkeit, das Verstandene auch verbal zur Geltung zu bringen. Als zentral für Thasins Schwierigkeiten hebt Pil hier vor allem fehlende lexikalische Ressourcen („er hat nur den beGRIFF nicht.“) hervor. Das Fokusadverb nur markiert, dass das Problem im Unterschied zu einem Verstehensproblem als marginal und nicht gravierend eingeschätzt wird. Dementsprechend wird die Erklärung als „in ORDnung“ bewertet. Der im Video offensichtliche Umstand, dass Deutsch Thasins Zweitsprache ist, wird als mögliche Ursache für dessen Formulierungsschwierigkeiten in diesem Zusammenhang nicht thematisiert, ebenso wenig wie die Tatsache, dass Thasin selbst einen Appell nach sprachlicher Unterstützung auch jenseits der lexikalischen Ebene aussendet („wie soll ich das jetzt SAgen; “). Die Art und Weise, mit der in den drei Auszügen sprachliche Formen und Ressourcen thematisiert werden - nämlich explizit und ohne zusätzliches Heranziehen von Dokumenten - weist darauf hin, dass Lehrkräfte für die Wahrnehmung sprachlich-formaler Aspekte auf verfügbare Kategorien und explizites Wissen zugreifen. Als formal-sprachliche Kategorien werden neben Präzision und lexikalischen Repertoires auch syntaktische Vollständigkeit (L-GD-3, Z. 1212: „vollständige sätze mit inhalten“) thematisiert. Festzuhalten ist, dass diese ausschließlich auf der Wort- und Satzebene anzusiedeln sind. 3.4.2 Beschreiben und Einordnen von Phänomen der Vertextung Im folgenden Auszug richtet die Deutschlehrerin Tho den Blick darauf, wie Felis Erklärung (zum Begriff Lexikon bzw. Wörterbuch, vgl. 3.1) intern strukturiert ist. Sie thematisiert damit einen genuin diskursiven Aspekt, der aus Perspektive der Diskurserwerbsforschung als Vertextungskompetenz (Quasthoff 2011) zu bezeichnen ist. Diskussionsexzerpt (9) Tho (DL) zu Petra, L-GD-4 (GS-Gym-DL) 1500 tho ja am BEIspiel hat die ja ähm (.) beSCHRIEben sozusagen; =ne? = 1501 =im grunde; (---) 1502 das ist ja find_ich so ! TY! pisch auch für die fünfte sechste klasse; = 1503 =dass die IMmer (--) recht viel an BEIspielen erklären; 1504 hof hm_hm; 1505 tho man möchte auch irgendwann ne <<lachend> definiTION dann haben>- 1506 <<p, all> das haben wir ja auch gerade wieder gehabt-> 1507 <<all> und dann SAgen die,> <?page no="153"?> Bildungssprachliche Praktiken aus professioneller Sicht 153 1508 ja das ist zum beispiel ! WIE: ! ; 1509 und dann: (-) ja ist ja AUCH ne (.) definitions: (.)möglichkeit; Tho kategorisiert das Verfahren, mit dem Feli ihre Erklärung bewerkstelligt, als „am BEIspiel beschrieben“. In der Tat hatte Feli am Beispiel Katze den Sachverhalt (Lexikon bzw. Wörterbuch) zu veranschaulichen versucht und damit ein für Erklärungen typisches Verfahren der Vertextung gewählt (vgl. Quasthoff & Hartmann 1982). Indem sie dabei nicht auf ein bestimmtes Exemplar Bezug genommen, sondern in allgemeiner Weise von Katzen gesprochen hatte, hatte sie der Erklärung einen generischen Charakter verliehen. Tho geht jedoch auf diesen Aspekt nicht ein, sondern zieht das Verfahren Erklären am Beispiel als Beleg für eine altersspezifische Erklärkompetenz heran: es wird als „TYpisch“, d.h. als wiederkehrendes Phänomen („immer“) eingeordnet. Erklären am Beispiel wird somit als eine „category-bound activity“ (Sacks 1995) etabliert, die der Kategorie ‚Fünft- und Sechstklässler‘ zuzuordnen ist. Feli wird auf diese Weise zugleich als ‚typische‘ Fünftklässlerin und als in sprachlich-diskursiver Hinsicht noch nicht vollkompetente Sprecherin eingestuft (vgl. 3.1). Durch die Modalpartikel ja (Z. 1502) etabliert die Lehrerin dieses Wissen als ein mit ihren Kollegen geteiltes und professionelles Wissen. Tatsächlich signalisiert Hof an dieser Stelle Zustimmung (Z. 1504). Die kategoriengebundene Aktivität (Sacks 1995) Erklären am Beispiel wird nun kontrastiert mit dem Definieren, das als kompetenteres (und fachlich angemesseneres) Verfahren eingeführt wird (Z. 1505). Auch diese Erwartung wird durch die Wahl des neutralen Pronomens man als eine überindividuelle, von den Mitgliedern der Profession geteilte, etabliert. Durch welche Eigenschaften die beiden Verfahren ausgezeichnet sind, wird von Tho nicht expliziert (bswp. konkret und anschaulich vs. abstrahierend und generalisierend). 8 Stattdessen wird die Typizität des Erklärens am Beispiel noch einmal durch die Inszenierung einer der entsprechenden Altersgruppe zugeschriebenen Rede illustriert („und dann SAgen die“). Die Nichtentsprechung der normativen Erwartungen an unterrichtliches Erklären schwächt Tho abschließend ab, indem sie einräumt, dass das Anführen von Beispielen auch ein mögliches Erklärverfahren darstellt (Z. 1509). Betrachten wir nun, mit welchen sprachlichen Verfahren Aspekte der Vertextung sichtbar gemacht werden, so fällt auf, dass die Beschreibung und 8 Eine andere Äußerung von Tho legt nahe, dass sie in der Tat bestimmte Vertextungsverfahren präferiert, und zwar solche, die nicht „LANG und breit dann irgendwie das erzählen“, die also nicht sequenzierend, sondern eher kondensierend verfahren und durch eine gewisse Ökonomie gekennzeichnet sind. <?page no="154"?> Vivien Heller, Uta Quasthoff, Anna Vogler, Susanne Prediger 154 Kategorisierung des Vertextungsverfahrens mit Vagheitsausdrücken („sozusagen“, „im GRUNde“) und Verzögerungssignalen („ähm (.)“) erfolgt. 9 Die Sprecherin indiziert damit Formulierungsschwierigkeiten und kennzeichnet die Kategorisierung als nur annähernd passend (Schwitalla 2006: 156). Auch in ihrer abschließenden Äußerung (Z. 1509) zeigen Verzögerungssignale und Pausen die Unsicherheit der Einschätzung an. Anders als bei Bewertungen sprachlich-formaler Aspekte kann die Deutschlehrerin hier somit nicht auf bereits etablierte Beschreibungskategorien und Bewertungskriterien zugreifen, sondern entwickelt diese ad hoc und unter Vorbehalt. Ein weiterer Aspekt, der in Bezug auf Vertextungsphänomene thematisiert wird, betrifft das Fehlen von Schritten in der Verknüpfung von Aussagen (z.B. fehlende Gegenüberstellung). 3.4.3 Hindeuten auf Phänomene der Kontextualisierung Höchst selten thematisieren Lehrkräfte, wie Kinder ihre Äußerung in den sequenziellen und sozialen Kontext einpassen. Angesprochen ist damit eine entscheidende Dimension bildungssprachlicher Praktiken, die Kontextualisierungskompetenz (Heller & Morek 2015). Diskussionsexzerpt (10) Rie (ML) zu Feli, L-GD-2 (GS-DL-ML) 2037 rie aber feli hat EIgentlich- 2038 <<p> er wollt ja haben> was ist ANders im lexikon. (-) 2039 aber feli hat eigentlich mit ner geMEINsamkeit geantwortet.= 2040 =sie hat gesagt es wird mit ANfangsbuchstaben (genommen), 2041 und (.) die KATze. 2042 also (log)- (.) 2043 also er hat gesagt lexikon ist ANders als n WÖRterbuch? Der Mathematiklehrer Rie nimmt auf die Erklärung Felis zum Lexikon Bezug. Er unterbricht seinen ersten Turn, um zunächst mit einer direkten Redewiedergabe hervorzuheben, welchen Zugzwang der Lehrer im Video gesetzt hatte: „was ist ANders im lexikon.“ Kontrastierend dazu („aber“) wird dann Felis Antwort auf diesen Zugzwang abstrahierend charakterisiert („mit ner geMEINsamkeit geantwortet“) und mit einer Redewiedergabe belegt (Z. 2040-2041). Zwar wird durch das Nexus-Adverb also in Z. 2042 eine Schlussfolgerung projiziert, diese wird jedoch abgebrochen. Stattdessen stellt Rie im Rahmen einer weiteren Redewiedergabe noch einmal den Zugzwang des Lehrers gegenüber. Es bleibt somit den Zuhörern überlassen, selbst die 9 Daneben ist bei Bezugnahmen auf Vertextungsphänomene häufig zu beobachten, dass diese gar nicht begrifflich gefasst werden. Durch erneutes ‚Vorführen‘ der Vertextung wird lediglich auf das Phänomen gezeigt, ohne dass dies weiter konzeptualisiert wird. <?page no="155"?> Bildungssprachliche Praktiken aus professioneller Sicht 155 Schlussfolgerung zu ziehen, dass zwischen dem lehrerseitigen Zugzwang und Felis Beitrag eine Kontextualisierungsdivergenz besteht. Durch die kontrastierten Redewiedergaben wird hier auf implizite Weise auf ein Phänomen hingedeutet, das nicht benannt werden kann. In unseren Daten thematisieren Lehrkräfte Aspekte der Kontextualisierung nicht nur höchst selten, sondern haben auch an keiner Stelle begriffliche Mittel verfügbar, mit denen sie diese genauer fassen könnten. 3.5 Pauschale Bewertungen Pauschale Bewertungen machen den größten Anteil der Thematisierungen der Erklärungen und Begründungen von Kindern aus. Sie bestehen i.d.R. aus einfachen Feststellungen mit evaluierenden Adjektiven, die die Äußerung in nicht weiter spezifizierter Weise bewerten, und zwar überwiegend als positiv („gut gemacht“, „schöne Antwort“, „irgendwie passend erklärt“; negativ: „nicht so einlassenswert“). Die Adjektive sind zumeist Varianten des dichotomen Kategorienpaares gut - schlecht. Diskussionsexzerpt (11) Kle (ML) zu Feli, L-GD-1 (Gym-DL-ML) 1922 kle die ANTwort? 1923 JA gut. 1924 ist eher PUTzig jetzt erstmal. 4 Zusammenfassung der Ergebnisse und Ausblick Unsere Analysen zeigen, dass in den Diskussionssequenzen, in denen Beiträge von Schülerinnen und Schülern zum Gegenstand gemacht werden, unterschiedliche Deutungsmuster zum Tragen kommen. Diese reflektieren Orientierungen auf kognitive, fachliche, identitätsbezogene und diskursive Prozesse. Unsere mikroanalytische Untersuchung der sprachlichen Verfahren des Deutens geben zudem erste Hinweise auf unterschiedliche Wissensarten und ihre Verfügbarkeit. So zeigt sich, dass insbesondere Phänomene der Vertextung und Kontextualisierung nur auf indirekte und implizite Weise - durch Beschreiben und Hindeuten - erfolgen, ohne dass dabei auf bereits etablierte Beschreibungskategorien zugegriffen werden kann. Demgegenüber zeichnen sich Deutungen von Verstehensprozessen, fachlicher Richtigkeit und sprachlichen Formen/ Ressourcen durch explizite Kategorisierungen und Bewertungen aus. Deutungen von Erklärungen und Begründungen im Hinblick auf die Identität nutzen durchgängig Metaphern; durch diese werden keine Bewertungen anhand dichotom organisierter Kategorien vollzogen, sondern vielmehr Charakterisierungen vorgenommen, bei denen kein fachliches oder fachdidaktisches Wissen genutzt wird. Die Rekonstruktion der sprachlichen Verfahren der Lehrkräfte in den Diskussionen lässt also <?page no="156"?> Vivien Heller, Uta Quasthoff, Anna Vogler, Susanne Prediger 156 bereits den Rückschluss zu, dass bestimmte Deutungsmuster zum expliziten Wissensbestand von Lehrkräften gehören und als solche in anderer Weise verfügbar sind. Ein quantitativer Blick auf die Frequenz 10 , mit der die unterschiedlichen Aspekte in den Fokus gerückt werden, lässt nun genauere Aussagen über die Dominanz und Kollektivität von Deutungsmustern zu (vgl. Abb. 2). Da die Nutzung der Deutungsmuster je nach untersuchter Äußerung aus den Videos variiert (bspw. werden Aspekte der Identität nur bei Kostas thematisiert), stellen wir die Häufigkeiten entsprechend differenziert dar. 11 Abb. 2: Häufigkeit der Deutungsmuster in Gruppendiskussionen der Lehrkräfte Neben den Unterschieden, die in Bezug auf die einzelnen Äußerungen sichtbar werden, lassen sich auch Gemeinsamkeiten in den Deutungen erkennen. In allen Fällen zeigt sich eine Dominanz von Deutungsmustern, bei denen sprachlich-diskursive Aspekte von Beiträgen ausgeblendet werden. Dies ist bei der Nutzung von Schüleräußerungen als Fenster in das Verstehen und die Identität, dem Fokus auf Inhaltliches und pauschalen Bewertungen der Fall. 10 Das Maß für die Beschreibung von Häufigkeiten bilden nicht einzelne Turns, sondern thematische Einheiten (n=96). Diese Entscheidung liegt in der Beobachtung begründet, dass die Lehrkräfte z.T. nicht über die begrifflichen Mittel verfügen, um bestimmte Aspekte explizit zu fassen. Da sie dann auf Formen der Darstellung zurückgreifen, die mehr Rederaum benötigen, stellen Turns in diesem Fall kein verlässliches Maß dar. In fünf Fällen wurden in einer thematischen Einheit zwei Aspekte zum Gegenstand der Deutung gemacht. Diese Einheiten wurden doppelt kodiert. 11 Nicht alle in den Videos gezeigten Beiträge werden in gleichem Umfang thematisiert. Dies hängt maßgeblich mit der Reihenfolge ihrer Präsentation zusammen. <?page no="157"?> Bildungssprachliche Praktiken aus professioneller Sicht 157 Der Anteil dieser Deutungsmuster variiert zwischen 60% bei Thasin und 75% bei Katja. Dabei bildet die Nutzung von Äußerungen als Fenster in das Verstehen fast durchgängig das häufigste Muster (mit Petra als Ausnahme). Angesichts der Tatsache, dass einer der zentralen Zwecke von Unterricht in der Vermittlung von gesellschaftlich als relevant erachtetem Wissen liegt, erscheint dies im Hinblick auf den professionellen Auftrag von Lehrkräften naheliegend und funktional: Das Deutungsmuster ist auf das objektive Handlungsproblem von Lehrkräften bezogen, Verstehensprozesse und Wissensbestände von Lernenden einzuschätzen. Die Frage ist aber, ob Erklären und Begründen auch als bildungssprachliche und diskursive Phänomene wahrgenommen werden. Der quantitative Vergleich zeigt, dass dies deutlich seltener der Fall ist: Ihr Anteil variiert zusammen genommen zwischen 13% (Kostas) und 40% (Thasin). Wenn Lehrkräfte Erklärungen und Begründungen von Lernenden als bildungssprachliche Praktiken betrachten (ohne dabei freilich den Terminus Bildungssprache explizit ins Spiel zu bringen), nehmen sie am häufigsten sprachliche Formen bzw. Ressourcen in den Blick und aktivieren Kategorien der Präzision, des lexikalischen Repertoires und der syntaktischen Vollständigkeit. Sprachliche Anforderungen und Schwierigkeiten werden hier - ähnlich wie in anfänglichen Modellierungen von Bildungssprache (vgl. Abschnitt 1) - ausschließlich in Bezug auf die Wort- und Satzebene thematisiert. Im Vergleich zu lexikalischen und syntaktischen Aspekten werden die genuin diskursiven Dimensionen bildungssprachlicher Praktiken noch deutlich weniger wahrgenommen. Werden Aspekte der Vertextung immerhin bei jedem Beitrag und von verschiedenen Lehrkräften thematisiert, bilden Kontextualisierungsphänomene einen blinden Fleck. Sie werden nicht nur höchst selten, sondern auch von wenigen Lehrkräften und nur auf indirekte Weise (‚Hindeuten‘) zum Gegenstand der Betrachtung gemacht. Für sie scheint also noch mehr als für Vertextungsphänomene zuzutreffen, dass sie nicht Teil expliziter Wissensbestände und kollektiver Deutungsmuster sind. Im Hinblick auf die unterrichtliche Aufgabe der Förderung von Diskursfähigkeiten ist dieser Befund alarmierend: Gerade in der Kontextualisierung und Vertextung übersatzmäßiger Einheiten sind zentrale Erwerbsaufgaben in der Präadoleszenz zu sehen. Dass Äußerungen von Lernenden primär als diagnostisches Fenster in Verstehensprozesse und als Vehikel fachlichen Lernens gesehen und genutzt werden, deutet darauf hin, dass sich Lehrkräfte nach wie vor primär als Agenten der fachlichen Wissensvermittlung verstehen. Eine Förderung bildungssprachlicher Kompetenzen setzt zuallerst voraus, dass Lehrende Erklären und Argumentieren auch als zu erwerbende Kompetenzen und Unterrichtsgespräche auch als Erwerbskontexte zu sehen lernen. <?page no="158"?> Vivien Heller, Uta Quasthoff, Anna Vogler, Susanne Prediger 158 Literatur Ahrenholz, Bernt (2010): Bildungssprache im Sachunterricht der Grundschule. In: Ahrenholz, Bernt (Hrsg.): Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache. Tübingen: Narr, 15-35. Auer, Peter (1995): Ethnographic Methods in the Analysis of Oral Communication. Some Suggestions for Linguists. In: Quasthoff, Uta M. (Hrsg.): Aspects of oral communication. Berlin: De Gruyter, 419-440. Bohnsack, Ralf (2014): Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden. 9. Aufl. Opladen: Budrich. Bräuer, Christoph (2015): An der Schnittstelle professioneller Lehrkompetenz - (Re-) Konstruktion von „Rationalität“ und „Adaptivität“ im Didaktischen Entscheiden. 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Fachsprache - hier im Sinne einer im Fachunterricht gebrauchten Sprache verstanden 1 - in Abgrenzung zur Alltagssprache in ihrer Funktion zu verstehen (Rezeption) und sie angemessen zur Beschreibung und Darstellung fachlicher Inhalte, Konzepte oder Prozesse anzuwenden (Produktion), ist für die Lernenden eine wichtige Voraussetzung für erfolgreiches sprachliches Handeln im Unterricht. Fachlehrkräften wird dabei - etwa im Sinne einer Durchgängigen Sprachbildung (vgl. Gogolin et al. 2011) - auch die Rolle zugewiesen, die Schülerinnen und Schüler bei der Entwicklung bildungssprachlicher Fähigkeiten zu unterstützen, d.h. beim Erwerb etwa jener komplexen sprachlichen Formen, die nicht zwingend fachspezifisch sind, sondern als sprachliche Anforderungen in allen Fächern angenommen werden dürfen. Eine Abgrenzung bildungs- und fachsprachlicher Merkmale in schulischen Texten erweist sich allerdings nicht immer als leicht (vgl. z.B. Ahrenholz 2010b: 17; mit Blick auf Mathematik z.B. Prediger et al. 2013: 173ff.). Da die folgenden Betrachtungen nicht eine Kategorisierung sprachlicher Merkmale in mathematischen Textaufgaben in eher bildungsbzw. eher fachsprachliche Merkmale zum Ziel haben, wird die Frage einer theoretischen Abgrenzung ausgeklammert. 1 Zur „Fachsprache im schulischen Kontext“ vgl. z.B. Ahrenholz (2010b: 16), zur Modellierung der Fachsprache als Theoriesprache vgl. z.B. Riebling (2013: 121), die einen graduellen Unterschied in der konzeptionellen Schriftlichkeit von der Bildungssprache, über alltägliche Wissenschaftssprache zur Fachsprache ansetzt. Feilke (2012: 6) verzichtet auf eine vertikale Gliederung (vgl. dazu Anm. 2) und spricht von „Fach- oder Wissenschaftssprache“. <?page no="162"?> Jörg Jost, Elvira Topalović, Benjamin Uhl 162 Roelcke (2010) differenziert sprachliche Merkmale von Fachsprachen 2 auf Wort-, Satz- und Textebene. Auf Wortebene weisen Fachsprachen z.B. einen spezifischen Fachwortschatz auf wie Hypotenuse, Kathete, Satz des Pythagoras, Gleichung, Variable, quadrieren, multiplizieren oder spezifische Symbolsysteme wie Formeln oder Gleichungen (z.B. a 2 +b 2 =c 2 im Fach Mathematik). Dieser qualitative Unterschied zur Alltagssprache wird entsprechend auch als Erstes mit Fachsprachlichkeit verbunden. Weniger im Blick sind grammatische Strukturen. Ihre Besonderheit besteht in der Quantität, d.h. in der Frequenz bestimmter grammatischer Phänomene, die in den Standardsprachen so zwar auch vorkommen, jedoch weniger häufig. So finden sich in Merksätzen von Mathematikbüchern neben mathematischen Fachausdrücken häufig grammatische Strukturen wie Passivformulierungen, Konditionalsätze und komplexe Nominalphrasen, wie das folgende Beispiel zeigt: „Ein lineares Gleichungssystem aus zwei linearen Gleichungen mit zwei Variablen hat dann eine Lösung, wenn sich die beiden Geraden schneiden.“ 3 In mathematischen Textaufgaben, die wir näher betrachten werden, ist die Fachwort- und Informationsdichte respektive Ökonomie und Eindeutigkeit nicht derart „optimiert“ wie in Merksätzen. In ihnen kommen aber sowohl bildungsals auch fachsprachliche Anteile vor, die eines gemeinsam haben: Sie sind konzeptionell schriftlich und stellen damit für Schülerinnen und Schüler eine höhere sprachliche Anforderung dar (vgl. dazu Prediger et al. 2013: 171ff. mit Beispielen). Das Umgehen mit Mathematiktexten und das Bearbeiten von Mathematikaufgaben verlangen neben dem Verstehen mathematischer Zusammenhänge und Konzepte auch ein Verstehen der verwendeten sprachlichen Formen. Textverstehen kann dabei als eine wichtige Voraussetzung für das mathematische Modellieren verstanden werden. So besteht die Herausforderung bei Textaufgaben darin, den ‚versprachlichten‘ Sachverhalt in ein mathematisches Modell bzw. einen Rechenweg zu transformieren. Wo die Grenzen beider Bereiche liegen bzw. wie sprachliche und mathematische Konzepte und Verstehensprozesse zusammenhängen, ist in der Forschung noch nicht abschließend geklärt (vgl. Prediger et al. 2015: 98ff.). 2 In horizontaler Gliederung unterscheidet Roelcke (2010: 30ff.) verschiedene Fachsprachen, in vertikaler Gliederung z.B. verschiedene fachliche und sprachliche „Abstraktionsebenen“ einer Fachsprache, den schulischen Bereich ordnet er der Experten-Laien-Kommunikation zu (vgl. Roelcke 2010: 30ff.). Zu einer möglichen zweidimensionalen Gliederung der Bildungssprache vgl. Riebling (2013: 125). 3 Aus Schnittpunkt 9, S. 41, Mathematikbuch für die Realschule, zitiert nach Fröhlich (2015), die Merksätze in drei Lehrwerken für die 9. Jahrgangsstufe (Hauptschule, Realschule, Gymnasium) untersuchte. Im Gymnasiallehrwerk sind komplexe Nominalphrasen mit mindestens zwei Erweiterungen in 83% der Merksätze zu finden, im Lehrwerk für die Realschule zu 49% und im Lehrwerk für die Hauptschule zu 40% (gerundet). <?page no="163"?> Sprachsensibler Mathematikunterricht in Hauptschulen 163 In dem vorliegenden Beitrag soll die Ebene der Textoberfläche von Mathematikaufgaben im Mittelpunkt stehen und ein Fokus darauf gelegt werden, welche Rolle Lehrkräfte und Sprachfördercoaches der sprachlichen Gestaltung von Mathematikaufgaben beimessen (vgl. Abschnitt 4.1 und 4.2). Zudem wird die Sicht von Schülerinnen und Schülern auf Mathematikaufgaben thematisiert (Abschnitt 4.3). Ausgangspunkt für dieses Vorhaben ist die Zusammenarbeit von Mathematiklehrkräften und Sprachfördercoaches bei der Entwicklung sprachsensibler Zugänge in einem Verbundprojekt des bundesweiten Forschungs- und Entwicklungsprogramms Bildung durch Sprache und Schrift (BiSS). 4 Die ersten Ergebnisse, die im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung des Projektes (Projektphase 2/ 2014-2/ 2015) gewonnen wurden, werden im Folgenden vorgestellt. Auf der Basis einer Fragebogenerhebung wird zunächst nach den Einstellungen von Fachlehrerinnen und -lehrern zu Sprache im Fach gefragt. Der Beitrag fokussiert anschließend das Verhältnis von Sprache und Mathematik aus der Sicht von Fachlehrkräften und Sprachfördercoaches 5 (Fragebogenerhebung) sowie von Schülerinnen und Schülern (Aufgabenbearbeitung) und bezieht dabei auch konkrete Mathematikaufgaben und ihre sprachlichen Anforderungen ein. 2 Das BiSS-Projekt Sprachsensibler Mathematikunterricht in Hauptschulen Das BiSS-Projekt Sprachsensibler Mathematikunterricht in Hauptschulen in der Bildungsregion Ostwestfalen-Lippe ist an der Schnittstelle von Sprache und Mathematik zu verorten und knüpft an aktuelle Forschungsergebnisse an, die als Einflussfaktoren auf die Leistungen von Schülerinnen und Schülern einerseits den sozioökonomischen Status (vgl. Stanat & Christensen 2006) und andererseits - mit Fokus auf Mathematik - vor allem die sprachlichen Fähigkeiten der Lernenden hervorheben (vgl. Prediger et al. 2013): „Not the family background, but the language proficiency matters most for achievement in the investigated literacy-based high stakes test.“ (Prediger et al. 2013: 54) Daraus schließen die Autoren u.a.: „We therefore need enormous efforts of designing language-sensitive teaching strategies and materials“ (Prediger et al. 2013: 55). 4 Ziel der Initiative BiSS ist es, bundesweit vorliegende Maßnahmen zur Förderung und Diagnostik sprachlicher Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen (d.h. von der Elementarstufe bis in die Sekundarstufe) durch wissenschaftliche Begleitung weiterzuentwickeln und die Qualität implementierter Ansätze zu überprüfen. Weitere Informationen unter: http: / / www.biss-sprachbildung.de [21.04.2016]. 5 Sprachfördercoaches sind Lehrkräfte, die mit Blick auf Sprachförderung weitergebildet wurden und an Schulen als Multiplikatoren fungieren. <?page no="164"?> Jörg Jost, Elvira Topalović, Benjamin Uhl 164 Das Projekt, an dem unter Leitung der Bezirksregierung Detmold vier Hauptschulen beteiligt sind, setzt bei der Förderung sprachlicher Kompetenzen an, die für die Bearbeitung von Mathematikaufgaben notwendig sind. Zentrales Ziel ist es, Lehrkräfte für das Verhältnis von Sprache und Mathematik zu sensibilisieren. Die Professionalisierung der beteiligten Lehrerinnen und Lehrer erfolgt zum einen über die Arbeit der Sprachfördercoaches, zum anderen über die wissenschaftliche Begleitung durch die Mathematikdidaktik der Universität Paderborn und die Sprachdidaktik Deutsch der Universität Paderborn, die gemeinsam mit den Beteiligten Unterrichtsmaterialien und -methoden für einen sprachsensiblen Mathematikunterricht (weiter-) entwickeln und erproben, und zwar zu mathematischen Schwerpunktthemen der Sekundarstufe I (z.B. Prozentrechnung oder Satz des Pythagoras). 3 Einstellungen zu Sprache im Fach Um erste Erkenntnisse zu gewinnen, welche Bedeutung Fachlehrkräfte in der Bildungsregion Ostwestfalen-Lippe der Sprache im Fach zuweisen, wurde zu Beginn des Projekts eine Online-Befragung durchgeführt (2.4.-11.6.2014). Angeschrieben wurden alle Schulen im Bezirk Detmold. Adressaten des Fragebogens waren Lehrerinnen und Lehrer der folgenden Fächer: Biologie, Chemie, Erdkunde, Geschichte, Informatik, Mathematik, Physik, Sachunterricht und Technik. Grundlage der Umfrage war ein Fragebogen, der im Rahmen des österreichischen Forschungsprojekts Didaktisches Coaching für den Unterricht in mehrsprachigen Klassen (2010-2012) der Universität Graz entstanden ist (vgl. Schmölzer-Eibinger et al. 2013) und dessen Ziel die Autorinnen wie folgt beschreiben: „Der [...] Fragebogen wurde für FachlehrerInnen entwickelt und soll dazu dienen, die subjektiven Einstellungen der Lehrkräfte im Hinblick auf die Bedeutung und Rolle der Sprache als Medium der Wissensvermittlung und des Wissenserwerbs in ihrem Unterricht zu ermitteln; auch damit verbundene Schwierigkeiten, Bedarfe oder Wissensdefizite sollen auf diese Weise in Erfahrung gebracht werden.“ (Schmölzer-Eibinger et al. 2013: 95) Mit Blick auf die Ziele des vorliegenden BiSS-Projekts, die auch die Entwicklung eines Diagnoseinstruments vorsehen, und unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Bildungssysteme in Deutschland und Österreich (andere Schulformen sowie Fächerkombinationen) wurde dieser Fragebogen, der ursprünglich aus 30 gegenstands- und sechs personenbezogenen Fragen bestand, modifiziert und ergänzt. Hinzugekommen sind sechs inhaltliche Fragen (u.a. zu diagnostischen Verfahren) und drei personenbezogene (u.a. zur Mehrsprachigkeit der Schülerschaft), eine Frage wurde nicht <?page no="165"?> Sprachsensibler Mathematikunterricht in Hauptschulen 165 übernommen. 6 Da Fachlehrkräfte in Deutschland mindestens zwei Fächer unterrichten, wurden sie in einer Eingangsfrage gebeten, sich bei der Beantwortung der Fragen auf ein Fach festzulegen und weitere Fächer bei den personenbezogenen Fragen am Ende des Fragebogens anzugeben. Im Folgenden werden ausgewählte Rückmeldungen der Befragten (Gesamt: n=345) diskutiert, die hinsichtlich ihrer Einstellung zum Themenbereich Sprache im Fach interessant sind. Die Auswahl erfolgt hinsichtlich der im Beitrag verfolgten Fragestellung, welche Auffassungen Fachlehrkräfte in der Bildungsregion Ostwestfalen-Lippe zum sprachsensiblen Mathematikunterricht haben. 259 Lehrerinnen und Lehrer von n=340 7 geben an, dass ihre Lernenden oft Schwierigkeiten auf der sprachlichen Ebene haben, wenn es darum geht, fachliche Inhalte zu verstehen. Das sind 76,2% der gesamten Antworten (175 antworten mit trifft eher zu, 84 mit trifft völlig zu). Nur neun Lehrkräfte geben an, dass ihre Schülerinnen und Schüler keine Probleme auf der sprachlichen Ebene haben (vgl. Item 3 in Abb. 1). Eine Strategie, um Schülerinnen und Schülern bei der Bewältigung sprachlicher Probleme in fachsprachlichen Aufgabenstellungen zu helfen, ist das mündliche Besprechen der Aufgabenstellung. Von dieser Strategie machen 65% der Befragten Gebrauch (146 antworten mit trifft eher zu, 73 mit trifft voll zu; vgl. Item 35 in Abb. 1). Abb.1: Einschätzung von Lehrkräften zu Schwierigkeiten ihrer Schülerinnen und Schüler auf sprachlicher Ebene (Item 3, grauer Balken) und zum Bedarf mündlicher Besprechungen von Aufgabenstellungen (Item 35, schraffierter Balken) in Prozent. 6 Zu den modifizierten und ergänzten Fragen vgl. Tab. 8 im Anhang. Bis auf Frage 15 (Freitext) sind alle Fragen im geschlossenen Format mit 4er-Skala. 7 Nicht alle Lehrkräfte haben jede Frage beantwortet, im Einzelnen vgl. Tab. 8 im Anhang. <?page no="166"?> Jörg Jost, Elvira Topalović, Benjamin Uhl 166 83% der Befragten geben an, dass sie ihre Schülerinnen und Schüler mit dem Unterschied zwischen Fach- und Alltagssprache vertraut machen (vgl. Tab. 8 im Anhang, Item 12). Eine interessante Tendenz zum Umgang mit Sprache in den Fächern zeigt auch Abbildung 2. Abb. 2: Angaben von Lehrkräften zur Arbeit am Verständnis von Fachbegriffen (Item 23, grauer Balken) und zur gezielten Arbeit an sprachlichen Strukturen im Fachunterricht (Item 25, schraffierter Balken) in Prozent. 86% der Befragten geben an, dass sie mit den Schülerinnen und Schülern an einem Verständnis von Fachbegriffen arbeiten (184 antworten mit trifft eher zu, 109 mit trifft völlig zu; vgl. grauer Balken). Jedoch arbeiten nur 16% der Befragten im Unterricht gezielt an komplexen sprachlichen Strukturen wie Nebensatzkonstruktionen, Passivkonstruktionen etc. (45 antworten mit trifft eher zu, acht mit trifft völlig zu; vgl. schraffierter Balken). Ein Vergleich dieser beiden Ergebnisse legt nahe, dass die Lehrkräfte dem Fachwortschatz eine besonders wichtige Rolle im Fachunterricht zumessen, syntaktische Strukturen hingegen kaum im Blick haben. Dieser Befund verstärkt sich, wenn man nur die Antworten der Mathematiklehrerinnen und -lehrer betrachtet. Von den befragten Mathematiklehrkräften thematisieren 92% komplexe Strukturen wie Nebensatz- oder Passivkonstruktionen in ihrem Unterricht entweder gar nicht oder nur wenig (vgl. Tab. 8 im Anhang, Item 25). 4 Sprache im Fach und Mathematikaufgaben aus Sicht von Sprachfördercoaches, Lehrkräften und Lernenden Anknüpfend an die Ergebnisse der Online-Befragung wurden in einem Folgeschritt der Projektarbeit die Perspektiven aller am Projekt Beteiligten auf den Bereich Sprache im Fach vertiefender betrachtet. Wie die Umfrageergebnisse <?page no="167"?> Sprachsensibler Mathematikunterricht in Hauptschulen 167 nahelegten (vgl. Abschnitt 3), war anzunehmen, dass die Mathematiklehrkräfte - anders als die speziell geschulten Sprachfördercoaches - Fachsprachlichkeit als primär lexikalisches Phänomen konzeptualisieren (vgl. Abschnitte 4.1 und 4.2). 8 Außerdem wurden die Lehrkräfte, die in ihrem Unterricht den Zugang zu Mathematikaufgaben mitsamt ihren sprachlichen Anforderungen für ihre Schülerinnen und Schüler schaffen müssen, gebeten, variierte Mathematikaufgaben nach ihren unterschiedlichen sprachlichen Anforderungen zu beurteilen (vgl. Abschnitt 4.2). Um auch die Sicht der Schülerinnen und Schüler aufzunehmen, um die es im BiSS-Projekt letztlich geht, wurde des Weiteren eine Pilotstudie durchgeführt, die in Mathematikaufgaben häufig vorkommende grammatische Strukturen in den Blick nahm. 9 In der Literatur werden bestimmte sprachliche Phänomene wie Passivkonstruktionen oder komplexe Nebensatzkonstruktionen unter dem Begriff der ‚Stolpersteine’ als Verständnishürde bei mathematischen Textaufgaben gesehen (vgl. z.B. Günther et al. 2013: 10ff.). Um erste Anhaltspunkte in diese Richtung zu bekommen, wurden in dem Pilottest Sprachstrukturen wie Passivkonstruktionen und Konditionalität in Satzgefügen in Mathematikaufgaben in den Blick genommen (Abschnitt 4.3). 4.1 Sprache im Fach aus Sicht von Sprachfördercoaches Im Bezirk Detmold sind zwölf Sprachfördercoaches (SFCs) tätig, von denen zwei dem BiSS-Projekt zugeordnet wurden. Diese sollten schriftlich auf verschiedene Aspekte und Fragen eingehen (n=6), die ihr Verständnis als SFC und ihre Handlungsbereiche in dieser Funktion betreffen, und die ihre erfahrungsbasierte Vorstellung eines SFC für den Mathematikunterricht umfassen, in dem sprachliche Hürden thematisiert werden. Die SFCs wurden weiterhin nach Verbesserungsmöglichkeiten ihrer Arbeit mit Blick auf den Mathematikunterricht gefragt. Zwei der Fragen an die SFCs sollen im Folgenden ausführlicher behandelt werden (da diese auch den Mathematiklehrkräften gestellt wurden, war ein Vergleich der Antworten beider Gruppen möglich): 1. Welche sprachlichen Merkmale sind Ihrer Meinung nach charakteristisch für Fachsprache? 2. Schauen Sie sich die folgende Aufgabe 10 aus der Mathematik an. Können Sie sprachliche Besonderheiten identifizieren, die eine Hürde für das Verstehen der Aufgabe darstellen? 8 Die Daten erlauben aufgrund der geringen Probandenzahl (zwölf Sprachfördercoaches, zehn Mathematiklehrkräfte) lediglich eine - vorsichtig formulierte - Tendenzbestimmung. 9 Da Untersuchungen zum Verhältnis von Sprache und Mathematik dem Fachwortschatz häufig Vorrang einräumen, wurde dieser hier nicht berücksichtigt. 10 Vgl. Abbildung 3. <?page no="168"?> Jörg Jost, Elvira Topalović, Benjamin Uhl 168 Als charakteristisch für Fachsprache nannten die SFCs in einem freien Antwortfeld mehrfach (zu Kategorien zusammengefasst; Anzahl in Klammern): - Wortschatz (5) - Komplexe Syntax (4) - Nominalisierungen (3) - Besonderheiten auf Wort-, Satz- und Textebene (2) - Passivbildungen (2) - Häufige Synonyme (2) Jeweils einmal wurden genannt: uneingeleitete Nebensätze, häufige Attribute, häufige Pronomen, Komposita, unpersönliche Formulierungen, komplexe Inhalte und abstrakte Formulierungen. Damit nehmen die SFCs auch Merkmale von Fachsprachlichkeit in den Blick, die in der Forschungsliteratur zur „mathematischen Fachsprache“ (Maier & Schweiger 1999: 35) sehr häufig angegeben werden, und zwar nicht nur im Hinblick auf Merkmale auf Wort- und Textebene, sondern auch auf grammatische Strukturen mit Schwerpunkt auf der Satzebene (vgl. Abschnitt 1) (vgl. z.B. auch Günther et al. 2013: 10ff., die eine Textaufgabe analysieren). Bei Frage 2 wurde den SFCs die Textaufgabe aus Abbildung 3 gegeben. Abb. 3: Textaufgabe aus Lernstufen Mathematik, 8. Klasse, S. 69, Nr. 5 (Leppig 2010) (Die Aufgabe kann als exemplarisch für Mathematikaufgaben der 8. Klasse an Hauptschulen betrachtet werden.) Als mögliche Hürden für das Textverständnis wurden genannt (bei Mehrfachnennung: Anzahl in Klammern): <?page no="169"?> Sprachsensibler Mathematikunterricht in Hauptschulen 169 - Unpersönliches gibt es … (2) - Partikelverb (nimmt … ein) (2) - Komplexe Syntax („Wie viel Euro nimmt der Kassierer ein, wenn ...“) - Bezugswort beide - Zahlen in Klammern - Wort Kassierer - Lexikalischer Ausdruck zu bezahlen haben Die SFCs fokussieren auch hier grammatische Phänomene, und zwar auch in diesem konkreten Beispiel v.a. auf syntaktischer Ebene. Die Befragung der Fachlehrkräfte (Fragebogenerhebung; vgl. Abschnitt 3) zeigte, dass diese insbesondere die lexikalische Ebene betrachten, wenn es darum geht, Schwierigkeiten von Fachsprache zu benennen. Anders die SFCs: Sie identifizieren neben lexikalischen Phänomenen auch grammatische Phänomene als Einflussfaktoren auf die Aufgabenschwierigkeit. Das Bewusstsein der SFCs, dass neben lexikalischen auch grammatische Phänomene in den Mathematikaufgaben von den Schülerinnen und Schülern rezeptiv zu verarbeiten sind, verweist darauf, wie wichtig die Arbeit der SFCs für die Weiterbildung der Lehrerinnen und Lehrer und deren sprachliche Sensibilisierung im Umgang mit Mathematikaufgaben sein dürfte. 4.2 Sprache im Fach aus Sicht von Lehrerinnen und Lehrern Die am Projekt beteiligten zehn Mathematiklehrkräfte wurden ebenso wie die Sprachfördercoaches (vgl. Abschnitt 4.1) anhand eines Fragebogens befragt, welche sprachlichen Merkmale ihrer Meinung nach charakteristisch für Fachsprache sind (n=5). Drei der befragten Lehrkräfte nannten ausschließlich Merkmale auf Wortschatzebene („Fachbegriffe“, „spezielle Vokabeln“, „Fremdwörter“). Nur eine Lehrkraft gab syntaktische Merkmale an, und zwar „Nominalisierung“, „Häufung von Adjektiven“, „Partizipialkonstruktionen“, „Satzgefüge“, „Verbalklammern“, „Länge der Sätze “; eine Lehrkraft äußerte sich nicht zu dieser Frage. Die Mehrheit der Lehrkräfte sieht also im fachspezifischen Wortschatz eine Herausforderung für die Schülerinnen und Schüler, im Gegensatz zu den SFCs fokussiert nur eine Lehrkraft Merkmale auf syntaktischer Ebene. Des Weiteren wurden sie nach ihrer Einschätzung der sprachlichen Besonderheiten in der in Abb. 3 gezeigten Mathematikaufgabe gefragt. Sie gaben an (bei Mehrfachnennung: Anzahl in Klammern): - Lexikalischer Ausdruck nimmt … ein (2) - Syntaktische Konstruktion (Konditionalsatz) Wie viel … wenn - Lexikalischer Ausdruck beide zusammen - Wort Kassierer (2) - Lexikalische Ausdrücke für zwei Gläser … - Lexikalischer Ausdruck zu bezahlen haben <?page no="170"?> Jörg Jost, Elvira Topalović, Benjamin Uhl 170 Die Lehrerinnen und Lehrer geben ebenso wie die SFCs in der konkreten Aufgabe die syntaktische Konstruktion „Wie viel … wenn“ als mögliche sprachliche Hürde an, konzentrieren sich aber auch hier primär auf die lexikalische Ebene: So wird das Wort Kassierer als ungebräuchlich und der Ausdruck für zwei Gläser als unklar eingestuft, da Schülerinnen und Schüler diesen als Hinweis auf die mathematische Operation der Addition verstehen könnten („Es könnte unklar sein, ob der Preis pro Glas oder für beide zusammen gilt.“). Um Hinweise darauf zu erhalten, wie Lehrerinnen und Lehrer Variationen von Mathematikaufgaben einschätzen, wurden sie gebeten, in drei Variationen authentischer Mathematikaufgaben die sprachlichen ‚Hürden’ zu benennen und die Aufgabe sprachlich zu vereinfachen (vgl. Bsp. 1 bis 3). (1) Mark soll fünf Liter Saft in Gläser einschenken. In ein Glas gehen 0,2 Liter. Hilf Mark! Sprachliche Hürden (bei Mehrfachnennung: Anzahl in Klammern): - Wortschatz: einschenken (2), gehen (2) - Impliziter Sprechakt: Hilf Mark! (3) - wissen SuS, was sie tun sollen? Sprachlicher Optimierungsvorschlag: - Schüler sollen die Frage selbst formulieren (statt Hilf Mark! ): Stelle zu der Aufgabe eine Frage und beantworte sie. (L05) - „Mark soll Gläser mit fünf Liter Saft füllen. In ein Glas passen 0,2 Liter.“ (L01) - „Mark soll Gläser mit fünf Liter Saft füllen. In ein Glas passen 0,2 Liter. Wie viele Gläser kann er füllen? “ (L03) - „Wieviele Gläser braucht Mark? / / Wieviele Gläser werden voll? “ (L04) Der implizite Arbeitsauftrag („Hilf Mark! “) wird bei der Aufgabe als anforderungsreich beschrieben. Der entsprechende Vorschlag dazu geht in die Richtung, konkrete Fragen zur Aufgabenstellung zu formulieren, auf die Schülerinnen und Schüler dann eine Antwort geben können. Auch an dieser Aufgabe werden lexikalische Anforderungen identifiziert, die nach Einschätzung der Lehrkräfte zu Verständnisschwierigkeiten bei den Lernenden führen können. (2) Wie viel kosten fünf Liter Wasser, wenn ein Liter Wasser zwei Euro kostet? Angenommene sprachliche Hürden (bei Mehrfachnennung: Anzahl in Klammern): - Wortschatz: kosten (2), kostet - Satzgefüge (besser zwei Hauptsätze) - Einleitung Konditionalsatz: wenn <?page no="171"?> Sprachsensibler Mathematikunterricht in Hauptschulen 171 Sprachlicher Optimierungsvorschlag: - „Wie teuer sind 5 Liter Wasser, wenn ein Liter Wasser einen Preis von 2 Euro hat? “ (L01) - „Ein Liter Wasser kostet zwei Euro. Wie viel kosten fünf Liter? “ (L02) - „Ein Liter Wasser kostet 2 €. Was kosten 5 l Wasser? “ (L03) - „Wie viel € kosten …“ (L04) - „Wenn ein Liter Wasser zwei Euro kosten, wie viel kosten fünf Liter Wasser? “ (L05) Oder: 2 Hauptsätze bilden. (L05) Das Hauptaugenmerk haben die Lehrkräfte bei dieser Aufgabe auf die Zahlwörter gelegt; eine Vereinfachung wird hier im Gebrauch von Zahlen statt von Zahlwörtern gesehen. Weiterhin wird auch hier die lexikalische Ebene als potentiell schwierig eingestuft, hier die Wörter „kosten“, „kostet“. Eine Lehrkraft geht explizit auf die syntaktische Konstruktion der Aufgabenstellung ein und sieht im Satzgefüge eine mögliche Schwierigkeit für die Schülerinnen und Schüler. (3) Eine Terrasse wurde mit 40 Steinplatten belegt. Eine Steinplatte kostet vier Euro. Wie viel hat das gekostet? Sprachliche Hürden: - Wortschatz: belegt, kostet, gekostet, Terrasse, Steinplatte - Sprachliches Verweisen: Wieviel hat ‘das’ gekostet? Sprachlicher Optimierungsvorschlag: - „Für den Bau einer Terrasse wurden 40 Steinplatten benötigt. Wie teuer war der Ausbau der Terrasse? “ (L04) - „Eine Terrasse soll mit Steinplatten belegt werden. Es werden 40 Platten benötigt. Berechne den Materialpreis, wenn eine Platte 4 € kostet.“ (L03) - „Eine Terrasse hat 40 Steinplatten. Eine Steinplatte hat einen Preis von 4 Euro. Wie viel muss insgesamt für die Terrasse bezahlt werden? “ (L01) Auch bei dieser Aufgabe wird die Lexik (belegt, kostet, gekostet) als sprachlich anforderungsreich eingestuft. Der Optimierungsvorschlag sieht schließlich vor, den anaphorischen Verweis auf das Auslegen der Terrasse („Wie viel hat das gekostet? “) durch Wiederholen des Antezedens („…für die Terrasse…“) aufzulösen bzw. insgesamt die Formulierung zu verändern („Wie teuer war der Ausbau der Terrasse? “; „Wie viel muss … bezahlt werden? “). Die Frageform an die Schülerinnen und Schüler wird in den Optimierungsvorschlägen entweder beibehalten oder durch einen mathematischen Operator ersetzt („Berechne …“). <?page no="172"?> Jörg Jost, Elvira Topalović, Benjamin Uhl 172 4.3 Mathematikaufgaben aus Sicht von Schülerinnen und Schülern Für einen Pilottest, an dem 43 Schülerinnen und Schüler der 7. Jahrgangsstufe teilgenommen haben, 11 wurden in zehn Textaufgaben verschiedene sprachliche Strukturen ausgewählt, die in der Fachsprachenforschung, aber auch in der Einschätzung von Sprachfördercoaches und Lehrkräften als mögliche ‚Hürden’ genannt wurden, und zwar: Passivkonstruktionen (vier Items), Konditionalität in Satzgefügen (vier Items) und implizite Fragestellungen (zwei Items). Mit Letzteren sind Konstruktionen wie „Hilf Mark! “ statt „Wie viele Becher kann Mark füllen? “ gemeint (vgl. unten). Dass Aufgabenstellungen in Schulbüchern als so schwierig gelten, dass sie mündlich besprochen werden müssen, hatten in der Umfrage 69% der Mathematiklehrerinnen und -lehrer angegeben (vgl. hierzu Abb. 1 in Abschnitt 3). Anhand von Tripletten zu jedem konstruierten Item sollten die Schülerinnen und Schüler (a.) die Originalaufgabe, (b.) eine sprachlich modifizierte Aufgabe, die von uns als Vereinfachung eingestuft wurde, und (c.) eine rein mathematische Aufgabe lösen. Die Originalaufgaben stellen sprachlich betrachtet typische Aufgabenmuster dar, die in Lehrwerken für die 8. Jahrgangsstufe an Hauptschulen häufig vorkommen (Aufgaben der 8. Jahrgangsstufe deshalb, weil sie gegenüber denen der 7. Jahrgangsstufe komplexere Sprachstrukturen enthalten, auf die die Schülerinnen und Schüler ‚vorbereitet’ werden könnten). Die Beantwortung der Tripletten erfolgte mittels Tastatureingabe am Computer, die einzelnen Aufgaben wurden randomisiert dargeboten. Auf diese Weise konnte die Wahrscheinlichkeit minimiert werden, dass die Lernenden sich richtige Antworten einprägen - auszuschließen ist das jedoch gerade bei einfachen mathematischen Operationen nicht, wie die Diskussion zu Item k_2 (Variation der Konditionalität) zeigt (siehe unten). Ziel des Pilottests war es, erste empirisch basierte Hinweise zu gewinnen, ob und wie Sprache (bzw. ganz konkrete sprachliche Strukturen) das mathematische Verständnis beeinflusst. Im Folgenden sollen die Ergebnisse des Pilottests vorgestellt werden, auch mit dem Ziel, Hinweise zur Konzeption zukünftiger Tests zu erhalten. Dabei sollen auch jene drei Items näher diskutiert werden, die die Lehrerinnen und Lehrer kommentiert hatten (vgl. Abschnitt 4.2). Die Auswertung der zehn Items mit jeweils drei Varianten zeigt, dass Sprache erwartungsgemäß einen Einfluss auf die mathematische Modellierung hat, und welche sprachlichen Aspekte hieran einen Anteil haben. Dies mag trivial erscheinen, da 11 Beteiligt waren Schülerinnen und Schüler der Partnerschulen Gütersloh, Lemgo und Salzkotten. Auswerten konnten wir 40 Datensätze (drei Datensätze aus Salzkotten wurden aufgrund einer fehlerhaften Erhebung nicht aufgenommen). Der Pilottest fand im Rahmen eines Projektseminars statt und wurde von Studierenden nach Einweisung durchgeführt. <?page no="173"?> Sprachsensibler Mathematikunterricht in Hauptschulen 173 Textaufgaben gemeinhin als schwer gelten: Hier muss der Text erst in eine mathematische Aufgabe übertragen werden. In sieben Items (drei Items mit Konditionalität, drei Items mit Passiv und einem Item mit impliziter Fragestellung) wurden die rein mathematischen Aufgaben besser gelöst als die jeweiligen Textaufgaben; die Triplette in Tabelle 2 steht dafür beispielhaft. Tab. 2: Aufgaben-Triplette Passivkonstruktion (Item p_1) n=40 Passiv Richtig Falsch Ohne Angabe Ein 72 Zentimeter langer Draht wird in acht gleich lange Stücke geschnitten. Wie lang sind die Teilstücke? p_1_1 22 9 9 Matteo schneidet einen 72 Zentimeter langen Faden in acht gleich lange Stücke. Wie lang sind die Teilstücke? p_1_2 26 5 9 72 : 8 = p_1_3 34 3 3 Die Aufgabe mit Aktivkonstruktion wird häufiger richtig gelöst als die Aufgabe mit Passivkonstruktion. Mit der Entwicklung sprachlicher Dubletten konnte die syntaktische Konstruktion (Passiv vs. Aktiv mit Agensnennung) als Variable annähernd isoliert werden. Allerdings ist in beiden Textaufgaben jeweils eine komplexe Nominalbzw. Präpositionalphrase enthalten („ein 72 Zentimeter langer Draht“; „einen 72 Zentimeter langen Faden“; „in acht gleich lange Stücke“), so dass streng genommen keine eindeutige Aussage möglich ist, welche sprachliche Struktur das sprachliche und mathematische Verständnis beeinflusst. Noch komplizierter sieht es bei dem folgenden Item aus (vgl. Tab. 3). Tab. 3: Aufgaben-Triplette Passivkonstruktion (Item p_4) n=40 Passiv Richtig Falsch Ohne Angabe Für den Bau von drei Mauern wird eine Tonne Beton gebraucht. Wie viele Mauern können mit sechs Tonnen Beton gebaut werden? p_4_1 20 11 9 Lisa braucht ein Paket Wolle, um drei Schals zu stricken. Wie viele Schals kann Lisa mit sechs Paketen Wolle stricken? p_4_2 15 13 12 6 x 3 = p_4_3 35 3 2 <?page no="174"?> Jörg Jost, Elvira Topalović, Benjamin Uhl 174 Welche sprachlichen Phänomene auf lexikalischer und grammatischer Ebene nun dazu führen, dass bei den Textaufgaben zwanzig resp. nur fünfzehn Schülerinnen und Schüler die richtige Lösung angeben, kann nicht eindeutig benannt werden, da es gleich mehrere Variablen sein könnten (Passiv, die komplexe Nominalphrase „für den Bau von drei Mauern“, um-zu- Konstruktion, Verbklammern „können - gebaut werden“, „kann - stricken“ etc.). So führte in drei von vier Items, die das Passiv fokussierten, die sprachliche Modifikation sogar zu schlechteren Ergebnissen (vgl. auch Tab. 7). Zu hinterfragen wäre, ob eher unspezifische Aussagen wie: „Passivkonstruktionen stellen im Fachunterricht eine sprachliche Herausforderung dar“ empirisch tatsächlich valide sind. Es dürften selten nur einzelne Sprachstrukturen für das Verständnis verantwortlich sein, sondern immer der gesamte Text. Kritisch zu betrachten ist aber auch die Triplette selbst. Im Aktivsatz hat sich auch die logische Abfolge leicht geändert: Um das Genus verbi sprachlich zu isolieren, hätte der Satz wie folgt lauten müssen: „Lisa braucht für das Stricken von drei Schals ein Paket Wolle“ oder „Für das Stricken von drei Schals braucht Lisa ein Paket Wolle“ (für drei Mauern eine Tonne Beton / für drei Schals ein Paket Wolle - stattdessen in p_4_2: ein Paket Wolle für drei Schals). Allerdings wird auch offensichtlich, dass die kognitiv korrektere Umformung nicht nur sprachlich etwas sonderbar klingt, sondern auch syntaktisch-semantisch undurchsichtig wird. Zwei Items (ein Item zur impliziten Fragestellung und ein Item zur Konditionalität) waren so konstruiert, dass die mathematische Operation für die Altersstufe einmal zu schwer war (5 : 0,2; vgl. Tab. 4) und einmal zu leicht (5 x 2; vgl. Tab. 5). Tab. 4: Aufgaben-Triplette Impliziter Sprechakt (Item is_1) n=40 impliziter Sprechakt Richtig Falsch Ohne Angabe Mark soll fünf Liter Saft in Gläser einschenken. In ein Glas gehen 0,2 Liter. Hilf Mark! is_1_1 8 15 17 Nadine soll fünf Liter Wasser in Becher füllen. In einen Becher gehen 0,2 Liter. Wie viele Becher kann Nadine füllen? is_1_2 10 17 13 5 : 0,2 = ? is_1_3 5 17 18 Bei dem Item zur impliziten Aufgabenformulierung (is_1) führte dies dazu, dass die Textaufgaben sogar besser gelöst wurden als die rein mathematische Operation (Richtige Lösungen: 8/ 10/ 5). Wie im Abschnitt 4.2 dargestellt, wurden Mathematiklehrkräfte gebeten, die Schwierigkeit dieser Aufgabe im <?page no="175"?> Sprachsensibler Mathematikunterricht in Hauptschulen 175 Hinblick auf ihre sprachlichen Anforderungen einzuschätzen. Optimierungsvorschläge zur Aufgabe bezogen sich auf sprachliche Merkmale, z.B. auf das Ausformulieren des impliziten Sprechakts. Bei der Dublette von is_1_1 wurde der implizite Sprechakt („Hilf ihm! “) in diesem Sinne zu einer konkreten Fragestellung („Wie viele Becher kann Nadine füllen? “) umgeformt, was zu einem leichten Anstieg der richtigen Beantwortungen führt. Bei dem Item k_2 trat die Rolle der Sprache in der (sprachlich wie mathematisch) leichten Aufgabe offenbar zurück, da die Schülerinnen und Schüler wahrscheinlich nur die mathematisch wichtigen Informationen ‚herausgegriffen’ haben (vgl. Tab. 5). Tab. 5: Aufgaben-Triplette Konditionalität (Item k_2) n=40 Konditionalität Richtig Falsch Ohne Angabe Wie viel kosten fünf Liter Wasser, wenn ein Liter Wasser zwei Euro kostet? k_2_1 38 2 0 Ein Kilo Mehl kostet zwei Euro. Wie viel kosten fünf Kilo? k_2_2 38 2 0 5 x 2 = k_2_3 38 0 2 Alle Aufgaben des Items k_2 wurden also gleich richtig beantwortet, was in der zu einfachen mathematischen Operation und einem möglichen Memorisierungseffekt begründet sein dürfte. Auch bei dieser Aufgabe schätzten drei von vier Mathematiklehrkräften die lexikalische Ebene als potentiell schwierig ein, d.h. konkret die Wörter kosten, kostet (vgl. Abschnitt 4.2). Eine Lehrerin sah im Satzgefüge eine mögliche Hürde und gab als Optimierungsvorschlag an: „Ein Liter Wasser kostet zwei Euro. Wie viel kosten fünf Liter? “ Auffallend bei dieser Triplette ist, dass im Gegensatz zur Dublette „Ein Kilo Mehl ...“ die Stellung des Konditionalsatzes im Satzgefüge variabel ist und mit Blick auf das chronologische Erscheinen der Zahlwörter der Satz „Wenn ein Liter Wasser zwei Euro kostet, wie viel kosten fünf Liter Wasser? “ ‚passender’ gewesen wäre. Dass das Vorhandensein eines konditionalen Nebensatzes eine Aufgabe möglicherweise erschweren kann, zeigt das Item k_1 (vgl. Tab. 6). Hier wird am deutlichsten, dass die sprachliche Gestaltung einer Aufgabe einen Einfluss auf das Verständnis der Aufgabe hat: Die rein mathematische Operation lösen fast alle Schülerinnen und Schüler. Wird diese aber in einen (sprachlichen) Aufgabenkontext eingebunden, nimmt die Anzahl der richtigen Beantwortungen ab. <?page no="176"?> Jörg Jost, Elvira Topalović, Benjamin Uhl 176 Tab. 6: Aufgaben-Triplette Konditionalität (Item k_1) n=40 Konditionalität Richtig Falsch Ohne Angabe Jenny nimmt fünf Tage an einem Schwimmtraining teil. Sie hat pro Tag zwei Stunden Schwimmunterricht. Wie viele Bahnen schwimmt Jenny in den fünf Tagen, wenn sie in jeder Stunde zehn Bahnen schafft? k_1_1 8 11 21 Timo will fünf Tage lang eine Fahrradtour machen. Er möchte pro Tag zwei Stunden Fahrrad fahren. In jeder Stunde schafft er zehn Kilometer. Wie viele Kilometer legt Timo in den fünf Tagen zurück? k_1_2 13 10 17 5 x 2 x 10 = k_1_3 37 1 2 Erkennbar wird auch ein Unterschied zwischen der Aufgabe mit Konditionalität (k_1_1) und der sprachlich vereinfachten Dublette (k_1_2). Möglicherweise erschwert Konditionalität eine Aufgabe sprachlich. Die Auflösung des Konditionalsatzes in dieser Triplette führt jedoch nicht nur zu sprachlich unterschiedlich strukturierten Aufgaben. Die Aufgabe ändert sich auch hinsichtlich der Strukturierung der Informationen - ein Aspekt, der kritisch in einen Vergleich der beiden Textaufgaben einzubeziehen ist. Zum Abschluss soll nochmals auf die Items zum Passiv eingegangen werden. Wie bereits erwähnt, lassen unsere Daten nicht den Schluss zu, das Vorhandensein einer Passivkonstruktion weise auf ein möglichlicherweise erschwertes Verständnis einer Aufgabe hin: So wird in dem Item p_3 die Aufgabenstellung mit dem Passiv (p_3_1) häufiger richtig beantwortet als die sprachlich modifizierte Variante ohne passivische Struktur (p_3_2) (vgl. Tab. 7). Ein kritischer Blick auf die Triplette zeigt, dass die Modifizierung ausschließlich die Passivstruktur betrifft und keine zusätzlichen Aspekte wie die Informationsstruktur. Die Anzahl richtiger Lösungen ist bei der Passivkonstruktion dennoch höher als bei der Aktivkonstruktion. Einfluss auf die Lösungsquote könnte sicherlich auch der Wortschatz haben - ein Aspekt, der in Folgetests mitberücksichtigt werden müsste. Interessant ist bei dieser Aufgabe auch die Einschätzung der Lehrerinnen und Lehrer zu den möglichen sprachlichen Hürden. Wie bei den anderen Beispielen wird auch hier vor allem die lexikalische Ebene fokussiert: Als anforderungsreich werden das Zahlwort vier und die Lexik der Verben (belegt, kostet, gekostet) eingestuft. Auf die Passivkonstruktion, die sowohl in der Forschungsliteratur (vgl. z.B. Maier & Schweiger 1999; Meyer & Prediger <?page no="177"?> Sprachsensibler Mathematikunterricht in Hauptschulen 177 2012; Abshagen 2015) als auch von den Sprachfördercoaches genannt wird, gehen die Lehrerinnen und Lehrer nicht ein. Tab. 7: Aufgaben-Triplette Passivkonstruktion (Item p_3) n=40 Passiv Richtig Falsch Ohne Angabe Eine Terrasse wurde mit 40 Steinplatten belegt. Eine Steinplatte kostet vier Euro. Wie viel hat das gekostet? p_3_1 23 11 6 Ein Gärtner belegt einen Hof mit 40 Rasenstücken. Ein Rasenstück kostet vier Euro. Wie viel hat das gekostet? p_3_2 20 13 7 40 x 4 = ? p_3_3 31 8 1 Wie die Diskussion in diesem Abschnitt zeigt, scheint es für sprachliche Modifikationen von Mathematikaufgaben wichtig, die mathematische Operation selbst im Blick zu behalten. Auf zahlreiche Diskrepanzen zwischen dem, was Lehrerinnen und Lehrer als schwer einschätzen, und dem, was den Lernenden tatsächlich bei der Bearbeitung einer Aufgabenstellung schwer fällt, wurde in diesem Abschnitt bereits hingewiesen. 5 Resümee Im Beitrag wurden Sprache und sprachliche Sensibilisierung im Mathematikunterricht im Kontext des BiSS-Projekts Sprachsensibler Mathematikunterricht in Hauptschulen in der Bildungsregion Ostwestfalen-Lippe aus drei verschiedenen Perspektiven thematisiert: Befragt wurden Lehrerinnen und Lehrer nach ihrer Einstellung zu Sprache und sprachlicher Sensibilisierung im Fachunterricht. Weiterhin wurden die Perspektiven auf sprachliche Zusammenhänge in Mathematikaufgaben durch Lehrkräfte, Sprachfördercoaches und Lernende thematisiert. Im Ergebnis der Fragebogenstudie unter Fachlehrkräften (n=345) wird die Unterscheidung Alltagssprache und Fachsprache als relevanter Gegenstand der Sprachförderung betrachtet. Im Zentrum sehen die befragten Lehrerinnen und Lehrer lexikalische (v.a. Fachwortschatz) vor syntaktischen Aspekten. Anders ist es bei den Sprachfördercoaches, deren Aufgabe u.a. in der Sensibilisierung ihrer Kolleginnen und Kollegen für das Verhältnis von Sprache und Mathematik besteht: Sie zeichnen ein deutlich breiteres und differenzierteres Spektrum sprachlicher Phänomene als Grundlage zur Unterstützung sprachbildender Prozesse im Fachunterricht. Besonders interessant erscheinen uns die Ergebnisse des Pilottests mit den am Projekt beteiligten Schülerinnen und Schülern. Mit Blick auf die im wissenschaftlichen Diskurs häufig aufgeworfene Frage, worin mögliche sprachliche <?page no="178"?> Jörg Jost, Elvira Topalović, Benjamin Uhl 178 Hürden in Mathematikaufgaben tatsächlich zu sehen sind, deuten sie auf mögliche Diskrepanzen zwischen theoretischen Annahmen und empirischer Evidenz hin. Ob grammatische Strukturen wie bspw. Passivkonstruktionen oder Konditionalsätze tatsächlich eine sprachliche Anforderung für Schülerinnen und Schüler darstellen können, lässt sich nicht abschließend beantworten. Der Pilottest zeigt, dass die Isolierung einzelner sprachlicher Phänomene recht schwierig sein kann. Modifizierungen auf syntaktischer Ebene können nicht nur Veränderungen in der Informationsstruktur nach sich ziehen, sie generieren zum Teil auch andere semantisch-syntaktische Konstruktionen. Zudem scheint die Fokussierung auf komplexe sprachliche Strukturen zwar nötig, ein möglicher Einfluss des Wortschatzes muss allerdings mitberücksichtigt werden. Oder anders gesagt: Eine isolierte Betrachtung bzw. ‚einfache’ Aufzählung sog. „sprachlicher Stolpersteine“ (vgl. z.B. Martens 2014; Abshagen 2015: 16) in einer Textaufgabe reicht offensichtlich nicht aus, um den Einfluss sprachlicher Strukturen auf das mathematische Verständnis zu erfassen (zu einem möglichen Erklärungsansatz vgl. aktuell Stephany 2016). Die Frage, ob und welche sprachlichen Merkmale auf syntaktischer Ebene überhaupt als Einflussfaktoren auf das Textverständnis von Mathematikaufgaben ausgemacht werden können und in welcher Beziehung sie zum (Fach-)Wortschatz stehen, kann entsprechend nur auf breiter empirischer Basis beantwortet werden. Im Beitrag wurden einige Anhaltspunkte genannt, an welchen Stellen es sich dazu nachzuforschen lohnen dürfte. Auch didaktische Ableitungen erlauben die vorliegenden Daten nicht. Sie geben aber Hinweise darauf, dass eine gezielte Entwicklung von Strategien, mit denen Schülerinnen und Schüler sprachlich komplexe Aufgaben selbst ‚knacken‘ können, ein zielführender Weg sein könnte. Sprachliche Vereinfachungen von Mathematikaufgaben sollten entsprechend nur als temporäres Scaffolding im Sprachbildungsprozess verstanden werden. Hier sehen wir Möglichkeiten für zukünftige Forschungsfragen. Literatur Abshagen, Maike (2015): Praxishandbuch Sprachbildung Mathematik. Sprachsensibel unterrichten - Sprache fördern. Stuttgart: Klett. Ahrenholz, Bernt (Hrsg.) (2010a): Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache. 2., durchges. und aktual. Aufl. Tübingen: Narr. Ahrenholz, Bernt (2010b): Bildungssprache im Sachunterricht der Grundschule. In: Ders. (Hrsg.): Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache. 2., durchges. und aktual. Aufl. Tübingen: Narr, 15-35. Baurmann, Jürgen (2009): Sachtexte lesen und verstehen: Grundlagen - Ergebnisse - Vorschläge für einen kompetenzfördernden Unterricht. Seelze: Kallmeyer-Klett. <?page no="179"?> Sprachsensibler Mathematikunterricht in Hauptschulen 179 Becker-Mrotzek, Michael; Schramm, Karen; Thürmann, Eike & Vollmer, Helmut Johannes. (Hrsg.) (2013): Sprache im Fach. Sprachlichkeit und fachliches Lernen. Unter Mitarbeit von Michael Seyfarth. Münster, New York: Waxmann. Feilke, Helmuth (2012): Bildungssprachliche Kompetenzen - fördern und entwickeln. Praxis Deutsch, 233, 4-13. Fröhlich, Nadine (2015): Syntaktische Konstruktionen in Merksätzen. Ein Vergleich von Mathematiklehrwerken der Jahrgangsstufe 9. Modulabschlussarbeit im Seminar „Von der Alltagssprache zur Fachsprache“. WS 2014/ 15. Universität Paderborn. Gogolin, Ingrid; Lange, Imke; Michel, Ute & Roth, Hans H. (Hrsg.) (2013): Herausforderung Bildungssprache - und wie man sie meistert. Münster, New York: Waxmann. Gogolin, Ingrid; Lange, Imke; Hawighorst, Britta; Bainski, Christiane; Heintze, Andreas; Rutten, Sabien; Saalmann, Wiebke (2011): Durchgängige Sprachbildung: Qualitätsmerkmale für den Unterricht. Münster, New York: Waxmann. Günther, Katrin; Laxczkowiak, Jana; Niederhaus, Constanze; Wittwer, Franziska (2013): Sprachförderung im Fachunterricht an beruflichen Schulen. Berlin: Cornelsen. Leppig, Manfred (Hrsg.) (2010): Lernstufen Mathematik 8. Berlin: Cornelsen. Maier, Hermann & Schweiger, Fritz (1999): Mathematik und Sprache. Zum Verstehen und Verwenden von Fachsprache im Mathematikunterricht. Wien: öbv&htp. Martens, Lieselotte (2014): Fortbildungen zur Durchgängigen Sprachbildung. Stolpersteine der deutschen Sprache. Berlin: Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft. Meyer, Michael & Prediger, Susanne (2012): Sprachenvielfalt im Mathematikunterricht - Herausforderungen, Chancen und Förderansätze. Praxis der Mathematik in der Schule, 54, 45, 2-9. Prediger, Susanne; Wilhelm, Nadine; Büchter, Andreas; Benholz, Claudia & Gürsoy, Erkan (2015). Sprachkompetenz und Mathematikleistung - Empirische Untersuchung sprachlich bedingter Hürden in den Zentralen Prüfungen 10. Journal für Mathematik-Didaktik, 36, 1, 77-104. Prediger, Susanne; Renk, Nadine; Büchter, Andreas; Gürsoy, Erkan & Benholz, Claudia (2013): Family background or language disadvantages? Factors for underachievement in high stakes tests. In: Lindmeier, Anke M. & Heinze, Aiso (ed.): Proceedings of the 7th Conference of the International Group for the Psychology of Mathematics Education, Vol. 4, Kiel, Germany: PME, 49-56. Riebling, Linda (2013): Heuristik der Bildungssprache. In: Gogolin, Ingrid; Lange, Imke; Michel, Ute & Roth, Hans H. (Hrsg.) (2013): Herausforderung Bildungssprache - und wie man sie meistert. Münster, New York: Waxmann, 106-153. Roelcke, Thorsten (2010): Fachsprachen. 3., neu bearb. Aufl. Berlin: Schmidt. Schmölzer-Eibinger, Sabine; Dorner, Magdalena; Langer, Elisabeth & Helten-Pacher, Maria-Rita (2013): Sprachförderung im Fachunterricht in sprachlich heterogenen Klassen. Stuttgart: Fillibach bei Klett. Stanat, Petra & Christensen, Gayle S. (2006). Where immigrant students succeed: A comparative review of performances and engagement in PISA 2003. Paris: OECD. Stephany, Sabine (2016). Sprache und mathematische Textaufgaben. Eine empirische Untersuchung zu leser- und textseitigen sprachlichen Einflussfaktoren auf den Lösungsprozess. Dissertationsschrift, Universität zu Köln. <?page no="180"?> Jörg Jost, Elvira Topalović, Benjamin Uhl 180 Anhang Tab. 8: Adaptierter Fragebogen nach Schmölzer-Eibinger et al. (2013) und Antworten der befragten Lehrkräfte (Gesamt: n=345) in Prozent. Die Lehrkräfte, die die Befragung für ihr Fach Mathematik ausfüllten, sind jeweils gesondert in Klammern aufgeführt. In Klammern jeweils: Lehrkräfte Mathematik n = trifft nicht zu in % trifft wenig zu in % trifft eher zu in % trifft völlig zu in % 2. Mein Fach ist mit besonderen sprachlichen Anforderungen verbunden (z. B. viele Fachbegriffe, komplexe Fachsprache etc.). 340 (109) 0,9 (0,9) 10,6 (8,3) 51,5 (55,0) 37,1 (35,8) 3. Meine SchülerInnen haben oft Schwierigkeiten auf der sprachlichen Ebene, wenn es darum geht, fachliche Inhalte zu verstehen. 340 (111) 2,6 (2,7) 21,2 (18,0) 51,5 (54,1) 24,7 (25,2) 4. Die sprachlichen Voraussetzungen meiner SchülerInnen sind sehr heterogen. 337 (109) 2,4 (3,7) 19,6 (20,2) 37,4 (32,1) 40,7 (44,0) 5. Ich drücke mich in meinem Unterricht möglichst einfach aus, um fachliche Inhalte verständlich zu vermitteln. 343 (111) 1,7 (0,0) 12,8 (9,0) 52,2 (51,4) 33,2 (39,6) 6. Ich vermeide, wenn möglich, Fachausdrücke und greife oft auf alltagssprachliche Begriffe zurück. 341 (109) 16,7 (14,7) 39,0 (38,5) 32,8 (35,8) 11,4 (11,0) 7. Ich versuche meinen SchülerInnen ein sprachliches Vorbild zu sein, indem ich auf sprachliche Korrektheit und Genauigkeit bei meinen Äußerungen achte. 338 (109) 0,3 (0,9) 2,7 (0,9) 42,3 (46,8) 54,7 (51,4) 8. Ich achte auch bei der Sprachverwendung meiner SchülerInnen auf sprachliche Korrektheit und Genauigkeit. 342 (110) 0,0 (0,0) 8,5 (11,8) 62,0 (67,3) 29,5 (20,9) 9. Wichtiger als sprachliche Korrektheit ist mir, dass die SchülerInnen genau erklären, beschreiben, begründen etc. können. 341 (108) 2,1 (0,9) 15,0 (10,2) 55,4 (57,4) 27,6 (31,5) 10. Beim Erklären, Beschreiben, Begründen nehmen die SchülerInnen auch andere Sprachen zur Hilfe. 344 (110) 74,7 (77,3) 16,0 (10,9) 4,9 (7,3) 4,4 (4,5) 11. Sprachliche Handlungen, wie Beschreiben, Definieren, Erklären etc., die SchülerInnen in meinem Unterricht realisieren müssen, vermittle ich gezielt. 341 (109) 0,9 (0,9) 16,7 (18,3) 59,5 (62,4) 22,9 (18,3) 12. Ich mache meine SchülerInnen mit den Unterschieden zwischen Alltags- und Fachsprache vertraut. 341 (110) 2,3 (2,7) 15,0 (15,5) 47,5 (53,6) 35,2 (28,2) <?page no="181"?> Sprachsensibler Mathematikunterricht in Hauptschulen 181 13. Ich versuche durch sprachfördernde Maßnahmen, den fachlichen Lernfortschritt in meinem Unterricht voranzutreiben. 341 (107) 11,7 (12,1) 37,2 (39,3) 40,5 (38,3) 10,6 (10,3) 14. Ich kenne mich mit diagnostischen Verfahren zur Ermittlung von Sprachkompetenzen im Fachunterricht aus. 343 (109) 46,9 (48,6) 39,9 (39,4) 8,7 (6,4) 4,4 (5,5) 15. Ich nutze folgende diagnostische Verfahren zur Ermittlung von Sprachkompetenz im Fachunterricht. Keine Auswertung, da Freitext. 16. Es wäre mir wichtig, dass diagnostische Verfahren zur Ermittlung von Sprachkompetenzen in meinem Fach zur Verfügung gestellt werden. 338 (109) 13,6 (15,6) 32,2 (32,1) 34,3 (31,2) 19,8 (21,1) 17. Ich bin der Meinung, dass diagnostische Verfahren zur Ermittlung von Sprachkompetenzen nur im Deutschunterricht verortet sein sollten. 341 (110) 43,1 (47,3) 27,3 (30,9) 23,8 (17,3) 5,9 (4,5) 18. Ich gebe meinen SchülerInnen nicht nur fach-, sondern auch sprachbezogenes Feedback. 344 (110) 3,2 (4,5) 20,9 (22,7) 52,3 (55,5) 23,5 (17,3) 19. Ich vermittle meinen SchülerInnen bewusst bildungssprachliche Fähigkeiten. 334 (107) 3,3 (4,7) 22,8 (22,4) 56,3 (58,9) 17,7 (14,0) 20. Für kooperatives Arbeiten hat man in meinem Fach keine Zeit. 344 (110) 60,2 (58,2) 26,7 (29,1) 10,5 (11,8) 2,6 (0,9) 21. Ich schaffe gezielt Gelegenheiten für meine SchülerInnen, sprachlich aktiv zu werden. 336 (108) 0,3 (0,0) 9,2 (12,0) 56,3 (59,3) 34,2 (28,7) 22. Ich schaffe gezielt Gelegenheiten für meine SchülerInnen, sich Sprach- und Fachwissen individuell anzueignen und darzustellen. 339 (109) 2,1 (3,7) 26,8 (35,8) 53,4 (48,6) 17,7 (11,9) 23. Ich arbeite mit meinen SchülerInnen intensiv am Verständnis von Fachbegriffen. 339 (107) 1,2 (0,9) 12,4 (15,9) 54,3 (57,0) 32,2 (26,2) 24. Ich führe in meinem Unterricht gezielt Wortschatzarbeit (z.B. Synonyme - Antonyme finden) durch. 341 (109) 25,8 (33,0) 38,4 (37,6) 25,8 (24,8) 10,0 (4,6) 25. Ich arbeite im Unterricht gezielt an komplexen sprachlichen Strukturen (z.B. Nebensatzkonstruktionen, Passivkonstruktionen etc.) 335 (108) 51,3 (67,6) 32,8 (24,1) 13,4 (6,5) 2,4 (1,9) 26. Ich arbeite mit meinen SchülerInnen auch am Verständnis und dem Gebrauch von Funktionswörtern (z.B. Präpositionen, Konjunktionen wie z.B. aber, weil, jedoch, daher etc.). 340 (108) 27,9 (27,8) 33,8 (35,2) 27,9 (30,6) 10,3 (6,5) 27. Ich verlange von meinen SchülerInnen, dass sie auch längere Texte zu Sachthemen lesen. 340 (109) 8,8 (22,0) 30,6 (45,0) 33,2 (25,7) 27,4 (7,3) 28. Ich arbeite mit meinen SchülerInnen intensiv am Verständnis von Fachbzw. Sachtexten. 341 (111) 5,0 (12,6) 18,2 (31,5) 49,6 (42,3) 27,3 (13,5) 29. Der überwiegende Teil meiner Lernergruppe hat Schwierigkeiten Fachbzw. Sachtexte zu verstehen. 340 (108) 6,5 (7,4) 29,7 (23,1) 45,3 (48,1) 18,5 (21,3) <?page no="182"?> Jörg Jost, Elvira Topalović, Benjamin Uhl 182 30. Ich arbeite mit meinen SchülerInnen auch am Verständnis von diskontinuierlichen bzw. nicht linearen Texten (z.B. Diagramme, Modelle etc.). 341 (110) 2,9 (4,5) 15,0 (15,5) 44,0 (50,0) 38,1 (30,0) 31. Ich schaffe in meinem Unterricht Gelegenheiten, um Lesestrategien bewusst zu machen und zu erproben. 338 (108) 18,3 (26,9) 39,1 (37,0) 28,1 (27,8) 14,5 (8,3) 32. Im Unterricht lasse ich erst dann schreiben, wenn ich davon ausgehen kann, dass meine SchülerInnen nicht mehr allzu viele Fehler machen. 340 (110) 52,1 (58,2) 37,6 (38,2) 8,2 (3,6) 2,1 (0,0) 33. Ich setze häufig Partner- oder Gruppenarbeiten zum Verstehen und Schreiben von Texten ein. 338 (108) 13,6 (18,5) 30,2 (39,8) 44,4 (34,3) 11,8 (7,4) 34. Ich arbeite in meinem Unterricht vorwiegend mit Schulbüchern, die sprachlich und inhaltlich gut für meine SchülerInnen geeignet sind. 340 (108) 4,1 (4,6) 19,1 (18,5) 54,1 (53,7) 22,6 (23,1) 35. In meinem Unterricht besprechen wir die Aufgabenstellungen im Schulbuch meist auch mündlich, weil die Formulierungen für meine SchülerInnen in der Regel zu schwierig sind. 335 (109) 7,8 (6,4) 26,9 (23,9) 43,6 (52,3) 21,8 (17,4) 36. Sprachkompetenz ist Voraussetzung für das Verständnis meines Faches. Sie sollte im Deutschunterricht aufgebaut werden. 334 (106) 8,7 (11,3) 23,4 (25,5) 40,4 (43,4) 27,5 (19,8) <?page no="183"?> Sprachgebrauch von Schülerinnen und Schülern <?page no="185"?> Britta Hövelbrinks Bildungssprachliche Diskursfunktionen im frühen naturwissenschaftlichen Lernen Lexikalische Mittel im sprachlichen Handeln einsprachig und mehrsprachig aufwachsender Kinder zu Schulbeginn „Die Taschenlampe stand so und dann ist die um die Ecke so.“ 1 Einleitung Für die Untersuchung des (Zweit-)Spracherwerbs bei Kindern und Jugendlichen im schulpflichtigen Alter sind die Kommunikationsbereiche des schulischen Lernens von zentralem Interesse. Im Fokus der Forschungsbemühungen stehen sowohl die sprachlichen Voraussetzungen der Lernenden als auch die sprachlichen Anforderungen, die verschiedene Lernbereiche und Fächer mit sich bringen (vgl. auch die Sammelbände Ahrenholz 2010a; Becker-Mrotzek, Schramm, Thürmann & Vollmer 2013; Röhner & Hövelbrinks 2013 oder Michalak 2014). Letztere wurden in den letzten Jahren unter dem Begriff der Bildungssprache (z.B. Gogolin 2009; Feilke 2012; Morek & Heller 2012) oder verwandten Konzepten (z.B. Schulsprache; vgl. Vollmer & Thürmann 2010 oder schulbezogene Sprache; vgl. Eckhardt 2008) diskutiert. Darüber, dass bildungssprachliche Kompetenz eine Voraussetzung für erfolgreiches Lernen in der Schullaufbahn darstellt, besteht inzwischen Konsens - unklar ist für den deutschsprachigen Raum, wie sich Bildungssprache in verschiedenen Fächern, Altersstufen und kommunikativen Kontexten konkretisieren lässt. Häufig wurden in den vergangenen Jahren Inventare an bildungssprachlichen Mitteln vorgeschlagen (vgl. Abschnitt 2), die zwar relativ gut zu beobachten sind, die Komplexität sprachlichen Handelns im Unterricht jedoch nicht ausreichend erfassen. Andere Herangehensweisen erfassen den Ausschnitt schulrelevanter Sprache zwar auf der sprachlichen Handlungsebene, vernachlässigen jedoch wiederum die konkrete Versprachlichung der Sprachhandlungen; nur vereinzelt werden beide Ebenen miteinander verknüpft und auf empirischer Basis erforscht (vgl. Abschnitt 3). Einen solchen Versuch stellt das in den Abschnitten 4 und 5 vorgestellte Forschungsprojekt dar; vorab sollen Forschungsbefunde zur Bildungssprache und zu fachspezifischen Diskursfunktionen in der Primarstufe zusammengefasst werden. <?page no="186"?> Britta Hövelbrinks 186 2 Bildungssprachliche Lexik Als bildungssprachliche Mittel im Deutschen gelten auf morphosyntaktischer Ebene u.a. komplexe Sätze, die häufig mit komplexen Attributen oder unpersönlichen Konstruktionen angereichert sind; auf Wortschatzebene werden u.a. präfigierte Verben, Nominalisierungen und Komposita genannt; diskursive Merkmale zeigen sich in fachspezifischen Text- und Diskurstypen mit mehr oder weniger starken Konventionalisierungen (vgl. Reich 2008 bzw. Gogolin & Lange 2011: 113f.; Hövelbrinks 2014: 104ff.). Es liegen erste Befunde dazu vor, wie insbesondere lexikalischsemantische Elemente von Bildungssprache zu Lernschwierigkeiten führen können. So illustriert Grießhaber (2013: 71ff.) für eine Mathematikstunde des ersten Schuljahres Probleme bei der schülerseitigen Versprachlichung der Konzepte Abstand und zwischen. Ahrenholz (2010b: 26ff.) zeigt anhand einer Sachunterrichtsstunde zum Thermometer, dass insbesondere - aber nicht nur - Schülerinnen und Schüler mit Deutsch als Zweitsprache häufig Alltagsbegriffe statt fachlicher Ausdrücke verwenden, mit deiktischen Platzhaltern arbeiten und die von der Lehrkraft angebotenen bildungssprachlichen Verben kaum übernehmen. Geht man davon aus, dass alltagssprachliche Fähigkeiten die Grundlage für den Aufbau von Bildungs- und Fachwortschatz bilden, kommt erschwerend hinzu, dass Kinder mit Deutsch als Zweitsprache beim Übergang in die Grundschule meist einen geringeren Wortschatz mitbringen als gleichaltrige Erstsprachlernende (Komor & Reich 2008: 54ff.; Reich & Roth 2002: 30; Tracy 2008: 146). Auch bezüglich der Rezeption von Bildungssprache zeichnen sich Unterschiede zwischen Erst- und Zweitsprachlernenden ab. In der Pilotierung einer auditiven Rezeptionsstudie im BiSpra-Projekt 1 zeigen Grundschulkinder mit Deutsch als Erstsprache in Bezug auf 27 semantisch konsistent und inkonsistent verwendete Konnektoren bessere Leistungen als gleichaltrige Zweitsprachlernende (n=183; Heppt, Dragon & Berendes 2012: 354f.). Das Hörverstehen bezüglich schulbezogener Texte mit unterschiedlichem Grad lexikalischer und syntaktischer Komplexität untersuchte Eckhardt bei Kindern deutscher und nicht-deutscher Herkunft (n=510; Eckhardt 2008: 187). Auch hier zeigten sich schwächere Leistungen bei Kindern nicht-deutscher Herkunftssprache, allerdings nicht in Abhängigkeit von der sprachlichen Komplexität der untersuchten Texte (Eckhardt 2008: 152). 2 Ebenfalls die Rezeption betreffend sind außerdem Hinweise auf komplexe lexikalischsemantische Elemente in Schulbuchtexten der Primarstufe zu berücksichtigen 1 BiSpra = Bildungssprachliche Kompetenzen: Anforderungen, Sprachverarbeitung und Diagnostik im Rahmen der Forschungsinitiative Sprachdiagnostik und Sprachförderung (FiSS). 2 In der Teilanalyse zu produktiven Leistungen verschwinden die Gruppenunterschiede - bei Kontrolle des sozialen Hintergrunds - sogar ganz (Eckhardt 2008: 152). <?page no="187"?> Bildungssprachliche Diskursfunktionen im frühen naturwissenschaftlichen Lernen 187 (z.B. Ott 2006: 203; Luchtenberg 1988: 138f.). Diese können insbesondere für Kinder mit erschwerten Spracherwerbsbedingungen als Verstehenshürden wirken. 3 Diskursfunktionen als Schnittstelle sprachlichen und fachlichen Handelns Fachspezifische Handlungen, Werkzeuge oder Methoden sind eng verknüpft mit dem Sprachgebrauch der Beteiligten: Zum erfolgreichen fachlichen Handeln und damit zum fachlichen Lernen gehört auch die Aneignung sprachlicher Handlungsformen bzw. fachlich relevanter Diskursfunktionen samt sprachstruktureller Ausgestaltung. Unter Diskursfunktionen wird hier mit Vollmer und Thürmann eine „integrative Einheit von Inhalt, Denken und Sprechen“ (Vollmer & Thürmann 2010: 116) verstanden. In ihnen kommen „grundlegende kognitive Operationen und deren verbale Realisierungen simultan zum Ausdruck […], jeweils bezogen auf bestimmte Inhalte und deren (rezeptive oder produktive) Bearbeitung“ (Vollmer 2011: 1). Diskursfunktionen sind zum Teil curricular expliziert und finden sich am ehesten in Operatoren wieder - für das frühe naturwissenschaftliche Lernen z.B. in der Kompetenzbeschreibung „Naturphänomene sachorientiert wahrnehmen, beobachten, benennen und beschreiben“ im Perspektivrahmen Sachunterricht (GDSU 2002: 15). In der fachdidaktischen Forschung werden z.B. „Beobachten und Messen, Vergleichen und Ordnen, Erkunden und Experimentieren, Vermuten und Prüfen, Diskutieren und Interpretieren, Modellieren und Mathematisieren, Recherchieren und Kommunizieren“ als „naturwissenschaftliche Denk- und Arbeitsweisen“ (Möller/ Steffensky 2010: 166) der Grundschule genannt, von denen einige bereits Sprachhandlungen implizieren. Wie die konkrete Versprachlichung der Handlungen aussehen kann und darüber hinaus von Lehrkräften bewertet wird, wird für Lernende jedoch nur selten transparent gemacht (Schleppegrell 2004: 25). Empirische Zugänge zu schulisch relevanten Diskursfunktionen basieren auf Lehrplananalysen (z.B. Thürmann 2009 für die Primarstufe; Vollmer 2011 für die Sekundarstufe), quasi-experimentellen Settings (z.B. Gläser, Kunze, Noack & Osterheider i. d. Bd. für Erklär- und Aushandlungsprozesse in der Primarstufe; Grasser & Redder 2011 für das Erklären in der Sekundarstufe) oder vereinzelt auch auf Unterrichtsbeobachtungen (z.B. Harren 2009 für das Erklären in der Sekundarstufe) und daran anknüpfenden Gruppendiskussionen (Heller, Quasthoff, Vogler & Prediger i. d. Bd.). Eine verknüpfende Analyse von Sprachhandlungstypen und den in Abschnitt 2 genannten bildungssprachlichen Mitteln erfolgte im Projekt Bilinguale Grundschule (Gogolin, Neumann & Roth 2007), in dem der mündliche Sprachgebrauch von <?page no="188"?> Britta Hövelbrinks 188 87 bilingualen Viertklässlern 3 mittels typischen Bildimpulsen des Sachunterrichts quasi-experimentell untersucht wurde. Dabei wurden im Deutschen u.a. die Häufung komplexer Sätze beim Beschreiben sowie die Verwendung des Konjunktivs beim Vermuten beobachtet (Gogolin, Neumann & Roth 2007: 104ff.). Unabhängig vom Sprachhandlungstyp wurden zudem schwächere Leistungen der bis zur Einschulung nicht Deutsch sprechenden Kinder im sog. Akademischen Modus ermittelt. Dieser umfasst laut einer Faktorenanalyse Substantivierungen, Komposita, unpersönliche Ausdrücke und Satzkonnektoren (Gogolin, Neumann & Roth 2007: 57ff.). Auswertungen von Unterrichtsbeobachtungen zur Identifizierung authentischer fachspezifischer Diskursfunktionen und deren Versprachlichung stellen ein dringendes Forschungsdesiderat dar. Insbesondere für das frühe naturwissenschaftliche Lernen im Anfangsunterricht soll das folgende Forschungsprojekt dazu einen explorativen Beitrag leisten. 4 Empirische Analyse bildungssprachlicher Diskursfunktionen in naturwissenschaftlicher Lernumgebung Entsprechend der in den Abschnitten 2 und 3 dargestellten Vorüberlegungen konnte eine vergleichende Analyse der frühen bildungssprachlichen Kompetenz von einsprachig und mehrsprachig aufwachsenden Grundschulkindern per Unterrichtsbeobachtung realisiert werden. 4 Bildungssprachliche Kompetenz wurde dabei in einer methodischen Verknüpfung von sprachlichen Mitteln und Diskursfunktionen untersucht und definiert als die „Fähigkeit zur rezeptiven und produktiven Anwendung (zumeist schriftsprachlicher) morphosyntaktischer und lexikalischer Elemente für die Realisierung (zumeist kontextentbundener) fachlich angemessener Diskursfunktionen“ (Hövelbrinks 2014: 110). 3 Auswertungen in einer italienisch-deutschen, einer portugiesisch-deutschen und zwei spanisch-deutschen Klassen; teilgenommen haben a) einsprachig-deutsche Kinder, b) einsprachige Kinder mit einer der Projekt-Partnersprachen und c) zweisprachig aufwachsende Kinder (Deutsch und die Partnersprache oder eine andere Herkunftssprache); vgl. Gogolin, Neumann & Roth (2007: 1). 4 Die Untersuchungen sind entstanden im Kontext des von Prof. Dr. Charlotte Röhner geleiteten Forschungsprojektes „Sprachförderung von Migrantenkindern im Kontext frühen naturwissenschaftlich-technischen Lernens“ (2006-2009, gefördert von der Cornelsen Stiftung Lehren und Lernen im Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, vgl. Röhner et al. 2009), in dem eine naturwissenschaftliche Sprachförderintervention mit hohem Anteil an Unterrichtsversuchen entwickelt und durchgeführt wurde (19 Lehr-Lern-Einheiten, 6 Monate). <?page no="189"?> Bildungssprachliche Diskursfunktionen im frühen naturwissenschaftlichen Lernen 189 i) Deduktive Analyse der sprachlichen Oberfläche (Bildungssprache: Morphosyntax und Lexik) ii) Induktive Analyse naturwissenschaftlicher Sprachhandlungen (Bildungssprache: Diskursfunktionen) iii) Mikroanalytischer Blick in ausgewählte Unterrichtsszenen (Linguistische Gesprächsanalyse) Die Datengrundlage stellen zwölf videographierte und transkribierte Unterrichtsstunden zum Themenbereich Farben, Licht und Schatten im ersten Schuljahr dar, davon sechs in einer Fallgruppe mit 100% mehrsprachig aufwachsenden Kindern (n=20, Durchschnittsalter 7; 2, acht verschiedene Herkunftsländer, im Folgenden Fallgruppe 1 bzw. FG1) und sechs in einer Vergleichsgruppe mit nur 26% mehrsprachig und 74% einsprachig aufwachsenden Kindern (n=23, Durchschnittsalter 6; 9, fünf verschiedene Herkunftsländer, im Folgenden Fallgruppe 2 bzw. FG2). Der durchschnittliche Sprachstand von Fallgruppe 1 ist laut HAVAS 5 (Reich & Roth 2004) weniger vorangeschritten als in Fallgruppe 2. Ein intensiver Deutscherwerb setzte bei allen mehrsprachigen Kindern mit Eintritt in den Kindergarten ein (zwischen drei und vier Jahren), sodass von einem frühen Zweitspracherwerb ausgegangen werden kann. Bis auf eine Ausnahme haben alle Kinder mindestens zwei Jahre den Kindergarten besucht. 5 Aus der ersten Teilanalyse werden im Folgenden die Ergebnisse zur bildungssprachlichen Lexik herausgegriffen (Abschnitt 4.1); die häufigsten lexikalischen Mittel werden zudem in den identifizierten Diskursfunktionen (Abschnitt 4.2) und in ausgewählten Unterrichtsszenen (Abschnitt 4.3) betrachtet. 4.1 Lexikalische Mittel Von 24 untersuchten Indikatoren zu bildungssprachlichen Merkmalen auf sprachlicher Oberfläche sind achtzehn mit mehr als zehn Vorkommen für die untersuchte Altersgruppe relevant. Tabelle 1 zeigt die lexikalischen Mittel unter ihnen. Da die Gesamtäußerungsmenge sich in den Fallgruppen bereits stark unterscheidet, sind neben den absoluten Zahlen standardisierte Werte pro 100 Schüleräußerungen 6 angegeben. 5 Detailliertere Informationen zur Sprachbiographie konnten leider nicht eingeholt werden. Im Sinne eines Extremgruppenvergleichs unterscheiden sich die Fallgruppen außerdem in ihrer sozialen Herkunft; vgl. Hövelbrinks (2014: Kap. 6.1.1). 6 Eine Äußerung kann zunächst als Turn verstanden werden, mit folgender inhaltlicher Erweiterung: Bei eindeutigem Themen- oder Adressatenwechsel kann eine neue Äußerung ohne Sprecherwechsel beginnen; außerdem kann ein unterbrochener Turn noch zur selben Äußerung zählen, wenn er ohne inhaltlichen Bruch wieder aufgenommen wird (vgl. auch Pauli 2006, 124). Die Analyse erfolgte in einer dreistufigen Verdichtung: <?page no="190"?> Britta Hövelbrinks 190 Tab. 1: Lexikalische Indikatoren (Tokens) der deduktiven Teilanalyse zur Bildungssprache im Gruppenvergleich Lexikalischer Indikator Fallgruppe 1 (2024 Äußerungen) Fallgruppe 2 (3078 Äußerungen) Gruppenvergleich absolut pro 100 Äußerungen absolut pro 100 Äußerungen Signifikanz (5%) t-Test Konnektor im Hauptsatz 134 6,62 262 8,51 p= .045 Konnektor im Nebensatz 80 3,95 113 3,67 n. s. Kompositum 103 5,09 245 7,96 p= .018 Nominalisierung 12 0,59 24 0,78 n.s. untrennbares Präfixverb 31 1,53 75 2,44 p= .028 trennbares Präfixverb 157 7,76 366 11,89 p= .005 Präposition 7 209 10,33 561 18,23 p= .001 Der Großteil der lexikalischen Indikatoren weist einen signifikant selteneren Gebrauch in Fallgruppe 1 auf. Aus qualitativer Sicht sind diese - nämlich Hauptsatzkonnektoren, Präpositionen, Komposita und trennbare Verben - zudem mit niedrigerer lexikalischer Variabilität von den mehrsprachigen Kindern eingesetzt worden. 8 Die beiden häufigsten Indikatoren der Präpositionen und trennbaren Verben sollen im Folgenden näher charakterisiert werden, zunächst anhand von Beispielen aus beiden Fallgruppen (vgl. Bsp. 1 und 2), dann in tabellarischen Übersichten (vgl. Tab. 2 und 3). (1) Tarik: Wenn man schwarz hat, mit schwarz anmalt und im Wasser reinlegst, dann wird da, dann kommen da bunte Farben raus. (FG1, Versuch Chromatographie, Explorieren) 7 Hierunter werden Präpositionen in fakultativen Satzerweiterungen und obligatorischen Präpositionalphrasen zusammengefasst. Ebenfalls sind die beiden Vergleichspartikel wie und als enthalten, auch wenn sie nicht - wie Präpositionen - den Kasus bestimmen. Für ausführliche Informationen zum deduktiven Kategoriensystem vgl. Hövelbrinks (2014: Kap. 6.3.1). 8 Untrennbare Präfixverben hingegen wurden von Fallgruppe 1 flexibler eingesetzt; vgl. dazu Hövelbrinks (2014: 191ff.). <?page no="191"?> Bildungssprachliche Diskursfunktionen im frühen naturwissenschaftlichen Lernen 191 (2) Frauke: Da strömt schon bei mir das Gelb bei Orange raus. (FG2, Versuch Chromatographie, Berichten) Tab. 2: Die vier häufigsten Präpositionen (Tokens absolut und Anteil an allen Präpositionen) im Gruppenvergleich Fallgruppe 1 (2024 Schüleräußerungen) Fallgruppe 2 (3078 Schüleräußerungen) Types Tokens Prozent Types Tokens Prozent 1. bei 64 30,6 1. mit 87 15,5 2. mit 31 14,8 2. bei/ beim 84 15,0 3. auf 18 8,6 3. in/ im/ ins 78 13,9 4. im/ in/ ins 14 6,7 4. auf 66 11,8 Summe 127 60,7 Summe 315 56,2 Die vier häufigsten Präpositionen sind in beiden Fallgruppen die gleichen, lediglich in anderer Reihenfolge. Gruppenunterschiede zeigen sich zum einen in der lexikalischen Variabilität: Bei höherer Summe in Fallgruppe 2 machen die vier häufigsten Präpositionen hier nur 56,2% aller Präpositionen aus, während es in der ausschließlich mehrsprachigen Fallgruppe 1 60,7% bei nur 127 Tokens sind. Außerdem ist die Verteilung in Fallgruppe 2 gleichmäßiger; in Fallgruppe 1 ist die Präposition bei Spitzenreiter, oft im Ausdruck „bei mir“ im Kontext des handlungsbegleitenden Sprechens während der Unterrichtsversuche. Auch bei den trennbaren Präfixen bzw. Partikeln sind drei der nun fünf häufigsten Types gleich, auch hier sind Gesamtanzahl und lexikalische Variabilität in Fallgruppe 2 höher, mit einem Anteil von 40,7% gegenüber 53,5% in Fallgruppe 1 sogar noch deutlicher (vgl. Tab. 3). Tab. 3: Die fünf häufigsten trennbaren Präfixe (Tokens absolut und Anteil an allen trennbaren Präfixen) im Gruppenvergleich Fallgruppe 1 (2024 Schüleräußerungen) Fallgruppe 2 (3078 Schüleräußerungen) Types Tokens Prozent Types Tokens Prozent 1. aus 24 15,3 1. aus 56 15,3 2. rein 19 12,1 2. an 25 6,8 3. an 16 10,2 3. dran 24 6,6 4. dran 13 8,3 4. drauf 23 6,3 5. ab 12 7,6 5. hin 21 5,7 Summe 84 53,5 Summe 149 40,7 <?page no="192"?> Britta Hövelbrinks 192 4.2 Bildungssprachliche Diskursfunktionen Nach der deduktiven Kodierung bildungssprachlicher Mittel in allen Schüleräußerungen sollten fachbezogene, bildungssprachliche Diskursfunktionen induktiv ermittelt werden. Dazu wurde nach der Erprobung verschiedener Varianten der Filter von „mindestens drei bildungssprachlichen Mitteln in einer Schüleräußerung“ 9 gesetzt, um von bildungssprachlichen Diskursfunktionen sprechen zu können. Die so gefilterten Äußerungen wurden anhand eines Kodiermanuals mit einer Intercoder-Reliabilität von κ = .811 in Hinblick auf ihre zugrunde liegenden Diskursfunktionen kategorisiert (vgl. Hövelbrinks 2014, Anhang A3). Auf diese Weise konnten insgesamt 284 Diskursfunktionen in der untersuchten naturwissenschaftlichen Lernumgebung bzw. in der Gesamtäußerungsmenge von 5102 Schüleräußerungen identifiziert werden (vgl. Abb. 1). Abb. 1: Prozentuale Verteilung der bildungssprachlichen Diskursfunktionen in beiden Fallgruppen Die häufigsten Diskursfunktionen in beiden Gruppen sind Berichten (25 Mal in FG1 und 59 Mal in FG2) und Beschreiben (22 Mal in FG1 und 35 Mal in FG2), die auch als zentrale Methoden der frühen Naturwissenschaftsdidaktik bekannt sind - Berichten zum Teil versteckt in Operatoren wie Präsentieren (z.B. Jampert, Leuckefeld, Zehnbauer & Best 2006: 119f.) oder der Altersgruppe entsprechend noch in der narrativen Form des Erzählens (z.B. Gogolin, 9 Vgl. die lexikalischen Indikatoren in Tab. 1 sowie weitere morphosyntaktische und pragmatische Indikatoren in Hövelbrinks (2014: 143ff.). 0% 5% 10% 15% 20% 25% 30% 35% Fallgruppe 1 Fallgruppe 2 <?page no="193"?> Bildungssprachliche Diskursfunktionen im frühen naturwissenschaftlichen Lernen 193 Neumann & Roth 2007: 109). Berichtet wird v.a. parataktisch mit altersgemäßen, alltagssprachlichen Verknüpfungen wie (und) da oder (und) dann. In Fallgruppe 1 tauchen gehäuft allgemeine Verben wie machen und tun auf - auch in Kombination mit trennbaren Verben. Hier und zudem in Bezug auf Präpositionen sind die Äußerungen in Fallgruppe 2 deutlich abwechslungsreicher. Beim Beschreiben war v.a. die Kombination von wenn-dann und dem unpersönlichen man in Fallgruppe 1 erfolgreich. Wie schon beim Berichten greifen die mehrsprachig aufwachsenden Kinder häufiger auf die Verben machen und tun zurück als Fallgruppe 2. Als dritthäufigste Diskursfunktion mit bildungssprachlicher Realisierung ist das Explorieren relevant (10 Mal in FG1 und 34 Mal in FG2). Dies wird in der Naturwissenschaftsdidaktik am ehesten im Kontext des Experimentierens genannt, z.B. als „explorativ wissenschaftliches Experimentieren“ (Murmann, Steffensky & Gebhard 2007: 83) oder „Erkunden und Experimentieren“ (Möller & Steffensky 2010: 166), und ist auf den hohen Anteil an Unterrichtsversuchen im beobachteten Unterricht zurückzuführen. Explorieren wurde mit einer vergleichsweise hohen Vielfalt an bildungssprachlichen Mitteln realisiert - in Fallgruppe 1 sind v.a. Adjektivattribute und trennbare Verben hervorzuheben. Erklären und Argumentieren sind vorwiegend in Fallgruppe 2 vorzufinden (18 Mal Erklären, 27 Mal Argumentieren) - Erklären zwar auch acht Mal in Fallgruppe 1, hier aber nur nach Aufforderung durch die Lehrkraft und mit geringer sprachlicher Variabilität, sodass es sich hier um fortgeschrittene Diskursfunktionen handeln könnte, was auch Ergebnisse von Tajmel (2013: 203) sowie die Kompetenzbeschreibungen im Perspektivrahmen Sachunterricht (GDSU 2002: 203) bestätigen. 4.3 Beispielszenen zum Berichten und Beschreiben Die vier häufigsten Diskursfunktionen wurden schließlich in größeren, vergleichbaren 10 Unterrichtskontexten pro Fallgruppe mittels linguistischer Gesprächsanalyse näher betrachtet (Brinker & Sager 2010; Brünner 2009). Die Auswahl der Unterrichtsszenen entspricht dabei der größeren Einheit der Gesprächssorte (z.B. Beschreibung), die typischerweise die dazugehörige Diskursfunktion (z.B. Beschreiben), aber auch weitere Diskursfunktionen als kleinere Einheiten enthalten kann (Stutterheim & Kohlmann 2001: 1281). Tabelle 4 zeigt das chronologische Vorkommen aller Diskursfunktionen in den untersuchten acht Unterrichtsszenen, kursiv gesetzt sind die bildungssprachlichen Diskursfunktionen, d.h. Schüleräußerungen mit mindestens drei bildungssprachlichen Mitteln. 10 Vgl. die Kontrastive Videoanalyse nach Ricart Brede, Knapp, Gasteiger-Klicpera & Kucharz (2009). <?page no="194"?> Britta Hövelbrinks 194 Tab. 4: Vorkommen der schülerseitigen Diskursfunktionen in den untersuchten Unterrichtsszenen Bericht, Beschreibung, Exploration und Erklärung (mit Angabe der jeweiligen Szenendauer) in auftretender Reihenfolge Unterrichtssequenz Diskursfunktionen in Fallgruppe 1 (kursiv: mind. 3 bildungssprachliche Mittel) Diskursfunktionen in Fallgruppe 2 (kursiv: mind. 3 bildungssprachliche Mittel) Bericht Benennen - Berichten - Beschreiben - Argumentieren (1: 05 min.) Berichten - Berichten - Berichten - Argumentieren - Beschreiben - Berichten (1: 00 min.) Beschreibung Beschreiben - Berichten - Beschreiben - Beschreiben - Argumentieren - Benennen (1: 10 min.) Beschreiben - Benennen (0: 25 min.) Exploration Explorieren - Explorieren -Bewerten - Explorieren - Bewerten - Explorieren - Benennen - Explorieren -Explorieren - Argumentieren - Benennen - Benennen -Bewerten - Bewerten - Benennen (2: 10 min.) Explorieren - Explorieren - Bewerten - Bewerten - Explorieren - Argumentieren - Berichten - Berichten - Erklären - Erklären (1: 35 min.) Erklärung Erklären - Beschreiben - Erklären (0: 30 min.) Erklären - Erklären - Erklären (1: 00 min.) Die Vielfalt an Diskursfunktionen in den verschiedenen Gesprächssorten zeigt, dass die didaktische Planung von fachbezogener Sprachförderung bzw. sprachsensiblen Fachunterrichtsstunden sich nicht nur an Gesprächs- und Textsorten orientieren muss, sondern auch die (kleinere) Einheit der Diskursfunktionen und deren Versprachlichung in den Blick nehmen kann. So kann das Beschreiben gut in einen Bericht integriert werden, Bewerten kommt häufig in Kombination mit Explorieren vor, und Beschreibungen enthalten oft auch Äußerungen des Benennens. Im Folgenden werden zu den zwei häufigsten Diskursfunktionen Auszüge aus den entsprechenden Unterrichtsszenen bzw. Gesprächssorten präsentiert 11 und mit besonderem Fokus auf die zwei häufigsten lexikalischen Mittel - Präpositionen und trennbare Präfixverben - analysiert. 11 Die vollständigen Szenen sind in Hövelbrinks (2014: Kap. 9.1 bis 9.4) nachzulesen; Transkription nach GAT (vgl. Hövelbrinks 2014: 138f.): Großschreibung für auffällige Betonungen, (.) für kurze und (1) für lange Pausen, / und \ für einen steigenden bzw. <?page no="195"?> Bildungssprachliche Diskursfunktionen im frühen naturwissenschaftlichen Lernen 195 Die Auszüge zum Bericht stammen aus der jeweils letzten Unterrichtsphase, der Zusammenfassung eines Versuches zur Umlenkung von Lichtstrahlen mittels Spiegel (vgl. Tab. 5 für FG1 und Tab. 6 für FG2), in Fallguppe 1 von Tarik realisiert, einem türkischstämmigen Jungen (vgl. Tab. 5). Tab. 5: Transkriptauszug aus der Sequenz Bericht in FG1, mit Angabe von Diskursfunktionen und bildungssprachlichen Mitteln; kursiv gesetzte Diskursfunktionen enthalten mindestens drei bildungssprachliche Mittel Transkriptauszug FG1 Bericht Bildungssprache & Diskursfunktionen Päd: Das geht ja ganz schön SCHNELL. Ok, Tarik (1) erzähl 12 uns BITte nochmal, was wir gerade entDECKT haben (.) mit den SPIEgeln \ […] Nein, mit den SPIEgeln. Was haben wir damit geMACHT, Tarik? \ Tarik: Äh überall geLEUCHtet \ BERICHTEN Päd: Hm=hm. Wie hat das funktioniert? / Tarik: [Äh, hm, hm] Wir haben das, wir haben das o‘ über gehalten, dann war das UNten. Wenn wir das NEHmen wollten, dann IST das nicht. (.) So wie das SPIEgeln halten. \ BESCHREIBEN; Hypotaxe, Präposition, Konnektor HS, Konnektor NS Päd: [Hm=hm] [Genau] Päd: Genau, wie man den Spiegel HÄLT, so fällt das LICHT da drauf. \ Tariks Äußerungen zeigen, dass er Mühe hat, den Versuch zusammenzufassen. Seine zentrale Äußerung beschreibt den Versuchsvorgang; sie ist stark deiktisch geprägt und kaum verständlich. Es wird deutlich, dass er keine Richtungen bzw. Bewegungen versprachlicht (stattdessen dynamische Angaben wie „wir haben das gehalten“ und „dann war das unten“); hier wären spezifierende Präfixe denkbar. Die einzige Präposition, die er benutzt, bleibt ohne Bezugselement („wir haben das über gehalten“). Der Kern des Versuchs - nämlich einen Spiegel zur Hilfe zu nehmen - wird mit „so wie“ angedeutet, was die Lehrkraft als verallgemeinernde Regel ausbaut. fallenden Ton am Ende eines Turns, [xxx] für Überlappungen, o‘ für Abbrüche, <xxx> für para- und nonverbale Beobachtungen, <len> und <all> für langsameres bzw. schnelleres Sprechtempo, <p> und <f> für leiseres bzw. lauteres Sprechen; außerdem […] für Auslassungen im Transkript. 12 Trotz des Operators Erzählen wurde die Szene als Bericht charakterisiert; maßgeblich sind nicht die verwendeten Operatoren, sondern die Kategorienexplikationen im Kodiermanual (Hövelbrinks 2014, Anhang A3). <?page no="196"?> Britta Hövelbrinks 196 Auch der Bericht in FG2, der überwiegend von Frank realisiert wird, zeigt den hohen Anspruch an die Kinder, die Nutzung des Spiegels und die daraus folgende Umlenkung des Lichtes zu versprachlichen. Frank benennt im Gegensatz zu Tarik die Hilfsmittel Spiegel und Taschenlampe deutlicher, aber auch seine Äußerungen sind stark deiktisch (v.a. durch Aspektdeixis so), und er bedient sich - durchaus zielführend - bedeutungstragener Gestik. Es werden auch hier keine trennbaren Präfixverben benutzt; dafür werden Präpositionen von Christopher und Frank angemessen eingesetzt („um die Ecke“ und „mit dem Licht“). Tab. 6: Transkriptauszug aus der Sequenz Bericht in FG2, mit Angabe von Diskursfunktionen und bildungssprachlichen Mitteln; kursiv gesetzte Diskursfunktionen enthalten mindestens drei bildungssprachliche Mittel Transkriptauszug FG2 Bericht Bildungssprache & Diskursfunktionen Päd: Ok, dann fang du nochmal AN, was haben wir denn jetzt über das Licht RAUSgefunden? \[…] Christopher: Wir konnten auch mit dem Licht <len> um die ECke leuchten. \ […] BERICHTEN; Präposition (2) Päd: <f> Frank, wie haben wir das geSCHAFFT? \ Frank: Wir haben n Spiegel SO gemacht. \ <zeigt erneut mit der Hand einen schrägen Winkel> BESCHREIBEN Päd: Und was ist dann pasSIERT? / Frank: Der, die Taschenlampe stand SO und dann ist die um die ECke so. \ <zeigt die Bewegungen mit der Hand> BERICHTEN; Kompositum, Konnektor HS, Parataxe, Präposition Päd: Dann ist es um die ECke gegangen. Beide Auszüge zeigen eine gewisse Überforderung, den Unterrichtsversuch zu versprachlichen; Frank löst den Anspruch durch den Einsatz von Gestik, Tariks Versprachlichung bleibt größtenteils unverständlich. In den folgenden Auszügen einer Vorgangsbeschreibung (vgl. Tab. 7 für FG1 und Tab. 8 für FG2) gelingt der Gebrauch (bildungs)sprachlicher Mittel zur Versprachlichung fachbezogener Lerninhalte hingegen besser. Hier sollten die Kinder den Bastelvorgang für ein Kaleidoskop wiederholen, und zwar zu Beginn der folgenden Unterrichtsstunde, in der die vorhandenen Hilfsmittel nicht mehr vorhanden sind, d.h. es handelt sich um einen Sprechanlass mit starker Kontextreduzierung. 13 13 Zur kontextunabhängigen bzw. kontextreduzierten Versprachlichung als Merkmal des bildungssprachlichen Registers vgl. Cummins (1984: 12); Leckie-Tarry (1995: 58ff.) oder Fürstenau & Lange (2011: 42). <?page no="197"?> Bildungssprachliche Diskursfunktionen im frühen naturwissenschaftlichen Lernen 197 Tab. 7: Transkriptauszug aus der Sequenz Beschreibung in FG1, mit Angabe von Diskursfunktionen und bildungssprachlichen Mitteln; kursiv gesetzte Diskursfunktionen enthalten mindestens drei bildungssprachliche Mittel Transkriptauszug FG1 Beschreibung Bildungssprache & Diskursfunktionen Päd: Das KaleidosKOP ne? Das war ganz RICHtig. Weißt du noch, wie wir‘s geBAStelt haben, Selma? / […] Selma: Wi‘ wir habn mi‘, wir habn mit den äh Folien äh (.) so (.) <p> äh (.) so HINgeknickt mit das \ <lacht> BESCHREIBEN; Präposition (2), trennbar Päd: Hm=hm. / Genau, wir haben das zuRECHTgeknickt so in einem DREIeck ne? / <zeigt es mit den Händen> <all> Dann hatten wir so ein DREIeck und was haben wir DANN gemacht? / US: [Meins kaPUTT \] BERICHTEN Selma: Wir habn da äh (.) diese kleinen äh (.) DInger reingetan. \ BESCHREIBEN; Adjektivattribut, trennbar US: [Aua.] Päd: Genau, diese PERlen habn wir die einfach in das Kaleidoskop <Handbewegung Schütteln> REINgeschüttet oder? Nee ne? / Selma: <schüttelt den Kopf> [Hm/ =hm] Päd: Wie haben wir das denn gemacht? \ Tarik: [Nei: : n. Wir habn das da] wir habn das bei die Tanne irgendwie da DRAUFgeklebt, danach da auf den TANne, haben wir mit ein Blatt ZUgeklebt. BESCHREIBEN; Parataxe, Konnektor HS, trennbar (2), Präposition (3) Selma: [Wi‘] A‘ Päd: Genau, so‘n PLAStikfoliendreieck, und das hat ausgesehen wie ne kleine TANne ne? Wie so'n kleiner TANnenbaum. \ Selma: Frau Päd \ Päd: Ja. \ Selma: Aber ei‘ ein bisschen äh PERlen reintun, nich so VIEle. \ ARGUMENTIEREN; Konnektor HS, trennbar Die Vorgangsbeschreibung wird zunächst von Selma, einem Mädchen mit türkischem Migrationshintergrund, begonnen. Sie benutzt bereits erste bildungssprachliche Mittel bzw. Vorformen, v.a. trennbare Verben (hingeknickt und reingetan bzw. später reintun), die in beiden Fällen durch die <?page no="198"?> Britta Hövelbrinks 198 Lehrkraft modelliert werden (zurechtgeknickt und reingeschüttet). Selma spricht hier mit einer gewissen Unsicherheit, die durch Lachen, Wortabbrüche (Wi’, mi‘, a‘ und ei‘) und das häufig eingesetzte Verzögerungssignal äh markiert ist. Zudem greift sie auf sog. Allzweckwörter (Schramm 2009: 134ff.) 14 wie Dinger und tun und die Objektdeixis das („mit das“) zurück. Die Bastelschritte werden trotzdem verständlich versprachlicht und tragen zum Fortgang der fachbezogenen Unterrichtskommunikation bei. Im weiteren Verlauf wird die Beschreibung eigeninitiiert von Tarik fortgesetzt, der ebenfalls Präfixverben (draufgeklebt und zugeklebt) sowie drei verschiedene Präpositionen („bei die Tanne“, „auf den Tanne“, „mit ein Blatt“) verwendet, die semantisch zutreffend, aber noch mit falschem Kasus verbunden sind. Zudem bezeichnet er das gebastelte Dreieck aus Spiegelpapier als Tanne, weil die Form ihn vermutlich an eine Tanne erinnert, was die Lehrkraft im weiteren Verlauf aufgreift und durch das Fachwort Plastikfoliendreieck ersetzt; sie liefert ihm außerdem Tannenbaum als angemesseneres Kompositum für sein Konzept. Selma beendet die Beschreibung mit einem wichtigen Einwand bzw. einer Präzisierung und ersetzt nun Dinger durch das von der Lehrkraft zuvor vorgeschlagene Nomen Perlen. Die Szene zeigt insgesamt, dass die beteiligten Kinder Selma und Tarik die kontextreduzierte, recht anspruchsvolle Aufgabe trotz ersichtlicher Formulierungsschwierigkeiten bewältigen können und auf Vorformen bildungssprachlicher Mittel zurückgreifen - sicherlich auch durch die entsprechenden Modellierungen der Lehrkraft. In Fallgruppe 2 erfolgt die Vorgangsbeschreibung durch Florian, der alle Bastelschritte mit angemessener Benennung der Materialien in einer zusammenhängenden Parataxe beschreibt (vgl. Tab. 8). Die trennbaren Verben sind in diesem Beispiel ähnlich wie in Fallgruppe 1 (reintun und draufmachen); die Präposition im Ausdruck „zu Ecken gebastelt“ als fortgeschritten zu bewerten. Dorian spezifiziert noch das von Florian genannte Papier mit einem nominalisierten Adjektiv („Dies Milchige“), womit die Vorgangsbeschreibung ohne größere Hilfe durch die (selbe) Lehrkraft abgeschlossen wird. Die Szene ist dadurch kürzer und zeigt eine höhere Sicherheit und Eigenständigkeit der einbezogenen Schüler - beide Gruppen kommen jedoch auf ihre Weise und unter Einbezug (bildungs)sprachlicher Mittel zum Ziel. 14 Auch als Allerweltswörter (Glumpler & Apeltauer 1997: 15) oder im verbalen Bereich als General All Purpose-Verben (Rice & Bode 1993) bezeichnet. <?page no="199"?> Bildungssprachliche Diskursfunktionen im frühen naturwissenschaftlichen Lernen 199 Tab. 8: Transkriptauszug aus der Sequenz Beschreibung in FG2, mit Angabe von Diskursfunktionen und bildungssprachlichen Mitteln; kursiv gesetzte Diskursfunktionen enthalten mindestens drei bildungssprachliche Mittel Transkriptauszug FG2 Beschreibung Bildungssprache & Diskursfunktionen Päd: <f> Und wie hABN wir das gebastelt? Kannst du dich noch dran erINnern? / <Nils meldet sich> Florian: Hm=hm. Also wir hatten diese SpiegelpaPIER und das haben wir dann so zu ECken gebastelt. Da haben wir dann di‘ diese ähm <len> Pletikscheiben so reingetan <all> und dann haben wir die PERlen da und dann haben wir dieses ähm (.) PaPIER da draufgemacht. \ BESCHREIBEN; Hypotaxe, Konnektor HS (3), Kompositum (2), Präposition, trennbar (2) Päd: Genau, das Pauspapier / Dorian: [Dies Milchige.] \ BENENNEN; Nominalisierung Päd: Genau, das so MILchig aussah, Dorian. (.) Genau. \ 5 Fazit und Ausblick Das vorgestellte Projekt stellt den Versuch dar, Bildungssprache auf mehreren Ebenen verknüpfend zu analysieren. Die Analyse zeigt zunächst, dass bildungssprachliche Mittel, wie sie in der aktuellen Forschungsliteratur genannt werden (hier: Fokus Lexik), bereits im ersten Schuljahr vorkommen - und zwar auch in Lerngruppen mit erschwerten Spracherwerbsbedingungen (hier: Fallgruppe 1). Besonders produktiv scheinen dabei trennbare Präfixverben und Präpositionen, des Weiteren Komposita und Konnektoren zu sein. Gruppenunterschiede zeigen sich v.a. in der lexikalischen Variabilität einzelner Indikatoren und in der benötigten Unterstützung durch die Lehrkraft bei deren Anwendung in fachunterrichtlicher Kommunikation. Diese frühen Formen bildungssprachlicher Indikatoren werden von beiden Fallgruppen in fachlich relevante Sprachhandlungen einbezogen (hier: Diskursfunktionen), die damit Raum für die Verknüpfung sprachlicher und fachlicher Lernziele geben. In Abschnitt 4 konnte zunächst eine Szene für beide Fallgruppen illustriert werden, in der die Versprachlichung fachlicher Lerninhalte weniger gut gelingt (Bericht); in der anschließend analysierten Vorgangsbeschreibung gelingt dies - unter Einbezug bildungssprachlicher Mittel - besser. <?page no="200"?> Britta Hövelbrinks 200 Um das Potential sprachsensibler Fachunterrichtsplanung (integrativ) oder auch fachbezogener Sprachförderung (additiv) für verschiedene Altersstufen, Spracherwerbstypen und Lernbereiche konkretisieren zu können, werden weitere Mikroanalysen dieser Art vorgeschlagen, um langfristig dem Ziel einer Durchgängigen Sprachbildung (Gogolin & Lange 2011) näher zu kommen. Für den hier untersuchten Ausschnitt scheint das Beschreiben mittels trennbarer Präfixverben und Präpositionen erfolgreich zu sein. Literatur Ahrenholz, Bernt (Hrsg.) (2010a): Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache. Tübingen: Narr. 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Tübingen: Narr, 107-132. <?page no="205"?> Katrin Hee Schülerkommunikation zwischen Nähe und Distanz Entwicklungsaspekte in Plenar- und Gruppenphasen des Geschichtsunterrichts 1 Einführung Warum sich Schülerkommunikation zwischen Nähe und Distanz in Gruppen- und Plenarphasen unter der Perspektive schulischer Lehr-/ Lernprozesse im Fachunterricht zum Forschungsgegenstand nehmen? Um dies zu beantworten, werden folgende Perspektivierungen der Frage vorgenommen und anschließend erläutert: 1. Warum Schülerkommunikation? 2. Warum Schülerkommunikation als Lehr-Lern-Prozess? 3. Warum Schülerkommunikation zwischen Nähe und Distanz? 4. Warum Gruppen- und Plenarphasen? 5. Warum Fachunterricht? Ad 1: Warum Schülerkommunikation? Mit Blick auf die vier Felder des Unterrichtsdiskurses (Pohl 2006), 1 die sich aus der Kreuzklassifikation von medial-mündlich vs. medial-schriftlich und von rezeptiv vs. produktiv ergeben, fällt auf, dass medial-mündliche, lernerseitige Schüler-Schülerinteraktionen bisher ein Desiderat bilden. Tab. 1: Die vier Felder des Unterrichtsdiskurses (Pohl 2006; leicht modifziert v. K.H.) lernerseitig rezeptiv: Input lernerseitig produktiv: Output medial-mündlich die an die SuS gerichtete Sprache mündliche Beiträge der SuS medial-schriftlich die Sprache in den Unterrichtsmaterialien (z.B. Schulbücher, Arbeitsblätter) die von den SuS im Unterrichtskontext verfassten Texte 1 Ähnlich auch Ahrenholz (2013: 87), der allerdings von keiner Kreuzklassifikation, sondern „vier Kontexten“ ausgeht. <?page no="206"?> Katrin Hee 206 So fokussieren bisherige Forschungsbeiträge vor allem den medialschriftlichen Output der Lernenden. Im Bereich der medialen Mündlichkeit ist Schüler-Schüler-Kommunikation, wie sie beispielsweise im Gruppenunterricht auftritt, bisher ebenfalls kaum untersucht worden; 2 im Fokus standen vielmehr die Lehrer-Schüler-Interaktion 3 sowie einzelne spezielle Kompetenzfelder wie das Argumentieren (Grundler & Vogt 2009; Krelle, Vogt & Willenberg 2007) oder das Präsentieren (Berkemeier & Pfennig 2009). Ad 2: Warum Schülerkommunikation als Lehr-Lern-Prozess? Ist Schüler-Schüler-Kommunikation in der Deutschdidaktik bisher in fachlicher resp. inhaltsbezogener Hinsicht bspw. mit Blick auf Schreibkonferenzen im Interesse der Forschung gewesen, so sind Schüler-Schüler-Interaktionen als sprachlicher Erwerbskontext bisher - zumindest in der deutschdidaktischen Forschung 4 - noch nicht untersucht worden; und das vor allem nicht hinsichtlich konzeptionell-schriftlicher Ausdrucksformen, wie sie für den Unterrichtsdiskurs typisch und zentral sind. Ad 3: Warum Schülerkommunikation zwischen Nähe und Distanz? Konzeptionelle Schriftlichkeit als Sprache der Distanz (Koch & Oesterreicher 1985) gilt als grundlegende Voraussetzung für erfolgreiches Lehren und Lernen (Vollmer & Thürmann 2010; Günther 1993). Sie wird von Vollmer und Thürmann (2010) gar als das „geheime Curriculum“ angesehen und entscheidet über schulischen Erfolg oder Misserfolg (Cathomas 2007; Lange 2012). Diese ‚bildungssprachlichen‘ 5 Fähigkeiten stehen bisher allerdings vor allem im Zusammenhang mit Migration im Interesse der Forschung (vgl. z.B. Gogolin 2009; Gogolin & Lange 2011). Ihr Erwerb ist aber auch für Muttersprachler durchaus relevant (vgl. Quehl 2010), da sie „eine sprachliche Basisqualifikation für das Lernen“ (Feilke 2012: 4) darstellen, „Grundlage 2 Die m.W. einzigen empirischen Untersuchungen zum Gruppenunterricht wurden mit unterschiedlichen Schwerpunkten wie beispielsweise der Entwicklung eines Analyseinstruments zur Intragruppeninteraktion (pragmatisch-dynamische Methodenkombination), Lehrerverhalten im Gruppenunterricht sowie der Beziehungsstruktur und Kooperativität in Gruppenarbeiten von der Forschergruppe um Diegritz, Haag und Rosenbusch vorgelegt. 3 Jüngere Publikationen liegen von Richert (2005) sowie Kügelgen (2009) vor. 4 Mehr Forschungsarbeiten gibt es hierzu aus DaZ-Perspektive sowie mit Blick auf den Fachunterricht (vgl. z.B. den Sammelband zu Sprache im Fach, hrsg. von Becker-Mrotzek, Schramm, Thürmann & Vollmer (2013)), bisher mit größerem Schwerpunkt auf dem naturwissenschaftlichen Unterricht. Dies gilt v.a. für den Mathematikunterricht, zu dem dezidiert Arbeiten zur Schüler-Schüler-Kommunikation vorliegen (vgl. u.a. Götze 2007). 5 Der Begriff Bildungssprache scheint mir problematisch. Da das hier beschriebene Phänomen in der Literatur allerdings häufig so genannt wird, wird der Begriff hier als Verweis auf diese Arbeiten in einfachen Anführungszeichen verwendet. <?page no="207"?> Schülerkommunikation zwischen Nähe und Distanz 207 jeglichen unterrichtlichen Lehrens und Lernens“ (Vollmer & Thürmann 2010: 3) sind und „von ‚erfolgreichen Schülerinnen und Schülern‘ erwartet“ (Feilke 2012: 7) werden. Sie sind darüber hinaus nicht nur im schulischen Kontext relevant, sondern gelten als „Voraussetzung zur gesellschaftlichen Teilhabe“ (Quasthoff & Heller 2012). Hier wird in Anlehnung an Cathomas (2007: 180) nicht dafür plädiert, alltagssprachliche Strukturen als Unterrichtsgegenstand und -ziel zu überdenken. Vielmehr liegt der Fokus auf nähesprachlichen Strukturen als Medium - und dies in ganz spezieller Weise in ihrer Anbahnungsfunktion distanzsprachlicher Fähigkeiten. Die Idee, die sich sprachlich in „zwischen Nähe und Distanz“ niederschlägt, ist, dass nähesprachliche Struktur- und Ausdrucksformen als Stützfunktion genutzt werden, über die konzeptionelle Schriftlichkeit angebahnt wird, wie dies beispielsweise auch von Grießhaber (2010) für den DaZ-Kontext, von Gee (2005) unter Berufung auf Vygotsky für den naturwissenschaftlichen Unterricht sowie von unterschiedlichen Mathematikdidaktikern (vgl. Link 2011: 40) angenommen wurde. Ad 4: Warum Gruppen- und Plenarphasen? Unterrichtskommunikation ist kein einheitliches, flaches Konstrukt. Vielmehr finden in ihr zahlreiche unterschiedliche Diskurse statt (man denke beispielsweise nur an die Nebenkommunikation von Schülerinnen und Schülern). Betrachtet man diese Unterrichtsdiskurse nun genauer, kann man auch darin unterschiedliche Rahmen (Goffman 1971) erkennen. Einen solchen Rahmen bilden bspw. die Interaktionsformen Plenumsunterricht (PlU) und Gruppenunterricht (GrU). Gruppen- und Plenarphasen können tendenziell jeweils eher den Polen Nähe bzw. Distanz zugeordnet werden. Dementsprechend lässt sich die These aufstellen, dass in Gruppenarbeitsphasen stärker nähesprachliche Struktur- und Ausdrucksformen verwendet resp. dort die im Plenum notwendigen distanzsprachlichen angebahnt werden können. Empirische Untersuchungen zum Gruppenunterricht liegen bislang nur wenige vor (vgl. aber die Forschergruppe um Haag, Diegritz & Rosenbusch). In der einschlägigen Forschungsliteratur herrscht dagegen die These vor, dass in Gruppenarbeit au s s c h li e ß li c h nähesprachliche, umgangssprachliche Äußerungen verwendet werden und distanzsprachliche Aspekte im Plenum erworben werden müssten. Empirisch ist dies bisher nicht belegt. Ebenfalls nicht empirisch untersucht ist, wie sich unterschiedliche Formen von Unterrichtskommunikation als Lernkontext für die Weiterentwicklung mündlicher Fähigkeiten eignen (vgl. Quasthoff & Heller 2012), was Diegritz (1986: 84) zufolge besonders in Anbetracht der didaktischen Relevanz von Gruppenunterricht erstaunlich ist. <?page no="208"?> Katrin Hee 208 Ad 5: Warum Fachunterricht? Sprachunterricht findet nicht nur im Deutschunterricht statt. Das haben andere Fachdidaktiken längst erkannt. 6 So schreibt bspw. Hallet (2013: 69), „dass der Fachunterricht zu einem guten Teil sehr bewusst als ‚Sprachunterricht‘ […] aufgefasst werden muss“. Wie wichtig Sprache im Fachunterricht ist, wird auch im Modell zur Beschreibung von Schulsprache im Fachunterricht von Vollmer und Thürmann (2013: 47) deutlich. Auch die folgenden drei Thesen von Schmölzer-Eibinger (2013: 28) weisen auf den Zusammenhang von Literalität (verstanden als konzeptionelle Schriftlichkeit) und fachlichem Kompetenzerwerb hin: 1. Fachlicher Kompetenzerwerb erfordert literale Fähigkeiten […]. 2. Fachlicher Kompetenzerwerb erfordert einen Ausbau literaler Fähigkeiten […]. 3. Fachlicher Kompetenzerwerb evoziert die Entwicklung literaler Fähigkeiten […]. Sprache in der Schule ist also nicht losgelöst von anderen Fächern zu denken. Deutschdidaktiker tun daher gut daran, sich auch Spracherwerbsprozessen in anderen Fächern zuzuwenden und diese nicht unberücksichtigt zu lassen. Fazit aus den Punkten 1-5: Schülerkommunikation ist ein bisher stark vernachlässigter Forschungsbereich. Die Entwicklung konzeptionellschriftlicher Fähigkeiten von Schülerinnen und Schülern ist bisher ebenfalls empirisch nicht untersucht worden. Sie entscheiden allerdings über schulischen Erfolg oder Misserfolg. Gruppenunterricht wird im vorliegenden Kontext als Anbahnungsmöglichkeit dieser Fähigkeiten verstanden, mit dem Potential, konzeptionelle Schriftlichkeit bei den Lernenden in einem geschützten Raum anzubahnen, so dass sie darauf später im Plenum zurückgreifen können. Wie genau diese Anbahnung vonstattengeht, soll im Folgenden an Fallanalysen einer 5., 8. und 11. Klasse eines niedersächsischen Gymnasiums im Fach Geschichte gezeigt werden. 2 Theoretische Ausgangsüberlegungen Die in der Schule gesprochene Sprache wird je nach Kontext und Untersuchungsfokus mit unterschiedlichen Begriffen und Konzepten beschrieben. 7 6 Vgl. z.B. die Beiträge in den Sammelbänden von Ahrenholz (2010) und Becker-Mrotzek, Schramm, Thürmann & Vollmer (2013). 7 Der Versuch, die Sprache in der Institution Schule zu konzeptualisieren, hat lange Tradition: Bereits Habermas (1977) beschäftigte sich damit (und grenzt bereits damals Wissenschaftssprache, Fachsprache und Bildungssprache voneinander ab). Aus Platzgründen soll hier nur exemplarisch auf die einzelnen Forschungsdiskurse verwiesen werden: Schulsprache (Cathomas; Vollmer & Thürmann), Language of Schooling (Schleppegrell), <?page no="209"?> Schülerkommunikation zwischen Nähe und Distanz 209 Gemeinsam ist allen allerdings eine Orientierung an den Gebrauchsmustern der Schriftlichkeit und damit an konzeptioneller Schriftlichkeit. 8 Nach Koch und Oesterreicher (u.a. 1985) lassen sich verschiedene Kommunikationsformen hinsichtlich bestimmter Parameter bestimmen, „deren Zusammenwirken unterschiedliche Redekonstellationstypen ergibt“ (Koch & Oesterreicher 1985: 19), die stärker einem Nähepol (konzeptionelle Mündlichkeit) resp. einem Distanzpol (konzeptionelle Schriflichkeit) zugeordnet werden können. Geht man davon aus, dass GrU und PlU zwei unterschiedliche Rahmen (Goffmann 1971) darstellen, die stärker am Nähepol (GrU) bzw. Distanzpol (PlU) liegen, so sind sie jeweils durch diese sprachlichen Parameter 9 geprägt. So ist GrU beispielsweise deutlich stärker dialogisch ausgerichtet, als es der Plenumsunterricht ist, der typischerweise für die Ergebnispräsentation gewählt wird und eher monologisch geprägt ist. Der Redeanteil im Plenumsunterricht liegt v.a. bei der Lehrperson - im Deutschunterricht bei bis zu 80% (vgl. Richert 2005). Damit zusammen hängt der Parameter der kommunikativen Kooperation: Während im GrU Wissen und Verständnis interaktiv erarbeitet werden, gibt es derartiges interaktives, gemeinsames Handeln im PlU eher nicht. Selbst die Frage-Antwort-Interaktionen sind nur scheinbar echte Frage-Antwort- Sequenzen, wie verschiedentlich herausgearbeitet wurde (z.B. Ehlich & Rehbein 1980). So beinhalten sie zum einen keine echten Fragen, die ein Wissensdefizit auf Seiten des Fragenden voraussetzen, sondern die Fragen werden vielmehr vom Wi s s e n d e n gestellt - und zwar häufig mit dem Zwecke, Wissen zu überprüfen bzw. der Klassenöffentlichkeit zugänglich zu machen. Zum anderen liegt in der Klassenöffentlichkeit keine authentische Kommunikationssituation vor, in der die Schülerinnen und Schüler kooperativ agieren, sondern es herrscht eine „Zwangskommunikation“ (Fienemann & Kügelgen 2003: 136) vor, in der die Schülerinnen und Schüler z.B. durch ein Aufrufen durch die Lehrkraft mehr oder weniger genötigt sind, zu antworten. Innerhalb der Gruppenarbeit sind diese Fremdwahlmechanismen ausgeschaltet: Die Gesprächsorganisation obliegt allein den Schülerinnen und Schülern und sie interagieren meist auch kooperativ, indem sie Zugzwänge befolgen. Bildungssprache (Gogolin; Lange; Feilke), CALP (Cummins), horizontaler Diskurs (Bernstein), konzeptionelle Schriftlichkeit/ Sprache der Distanz (Koch & Oesterreicher). Innerhalb der Forschungsliteratur gibt es teilweise keine klare terminologische Trennung. 8 Die Bezüge zur konzeptionellen Schriftlichkeit innerhalb der einzelnen Konzepte sind dabei unterschiedlich explizit: teilweise ist ein direkter Bezug gegeben (z.B. Quehl 2010: 29, Ahrenholz 2013: 87), teilweise bleibt der Bezug implizit, indem ‚Sprache in der Schule‘ mit Parametern der konzeptionellen Schriftlichkeit charakterisiert bzw. ausdifferenziert wird (u.a. Cathomas 2007: 181, Vollmer & Thürmann 2010: 109). 9 Vgl. die im folgenden Abschnitt exemplarisch aufgeführten, kursivierten Parameter. <?page no="210"?> Katrin Hee 210 Nun kann GrU aber auch in seinem Potential als Anbahnungskontext für Ausdrücke konzeptioneller Schriftlichkeit aufgefasst werden: Der GrU bildet in diesem Sinne eine Schnittstelle zwischen Nähe und Distanz. Dementsprechend müssten die Parameter in Gruppenarbeitsphasen zwischen den beiden Polen oszillieren. Auch dies sei an einigen Beispielen gezeigt: So kann das Kriterium Themenfixierung zwar zunächst dem Distanzpol zugeordnet werden, da das Thema für die Gruppenarbeit (von der Lehrperson) festgelegt ist, allerdings mit der Einschränkung, dass es in der Gruppe zu Themenverschiebungen bis hin zu der Etablierung gänzlich neuer (privater) Themen kommen kann. Auch ist der Öffentlichkeitsgrad während der Gruppenarbeitsphase zwar eher dem Nähepol zuzuordnen, allerdings verschiebt er sich mit der Ergebnispräsentation im Plenum, die oftmals genuiner Bestandteil von GrU ist, deutlich in Richtung Distanz. GrU als Teil des Unterrichtsdiskurses kann demnach auch Phänomene einer Distanz-Kommunikation aufweisen, ist doch der Unterrichtsdiskurs generell - einschließlich des GrU - qua seiner institutionellen Funktionalität eher dem Distanzpol zuzuordnen. Dass GrU zwischen den beiden Polen ‚Nähe‘ und ‚Distanz‘ ossiziliert, zeigt sich auch darin, dass die eigentliche Gruppenarbeit 10 von zwei stärker distanzsprachlich affizierten Interaktionsformen (den im Plenum erteilten Arbeitsauftrag resp. die im Plenum stattfindende Ergebnispräsentation/ -sicherung) gerahmt wird und somit im Wortsinne eine Schnittstelle bildet. Diese theoretischen Überlegungen sollen in Fallanalysen empirisch geprüft werden; dabei soll der Frage nachgegangen werden, ob sich behaupten lässt, dass der GrU durch seine Schnittstellenfunktion als Anbahnungskontext für konzeptionelle Schriftlichkeit fungiert. 3 Datengrundlage Datengrundlage der Fallanalysen sind video- und audiographierte Unterrichtsstunden einer 5., 8. und 11. Klasse eines niedersächsischen Gymnasiums in den Fächern Deutsch, Geschichte und Mathematik, die mit der Transkriptionssoftware EXMARaLDA in der Transkriptionskonvention HIAT transkribiert wurden. Gemeinsam ist allen Stunden, dass es sich jeweils um Doppelstunden handelt, in denen eine Gruppenarbeitsphase mit anschließender Präsentation der Ergebnisse im Plenum stattfindet. Das Setting ermöglicht dadurch erstens aktualgenetisch einen direkten Vergleich der sprachlichen Strukturen in GrU und PlU der einzelnen Sprecherinnen und Sprecher. Zweitens erlauben es die Daten durch die Anlage als parallelisierte Querschnittstudie, erste Annahmen 10 In pädagogischen Konzeptualisierungen wird Gruppenunterricht eigentlich gefasst als aus den drei Elementen Arbeitsauftrag, Gruppenarbeit und Ergebnispräsentation bestehend (vgl. Meyer 2011: 242). <?page no="211"?> Schülerkommunikation zwischen Nähe und Distanz 211 und Hypothesen über mögliche Entwicklungstendenzen zu formulieren. Ziel der Studie ist es, linguistisch möglichst genau zu beschreiben, inwieweit Schülerinnen und Schüler nähebzw. distanzsprachliche Struktur- und Ausdrucksmittel in den beiden Unterrichtskommunikationsformen GrU und PlU verwenden und dabei ihre aktual- und ontogenetische Entwicklung hinsichtlich konzeptioneller Mündlichkeit bzw. Schriftlichkeit zu beschreiben. 4 Fallanalysen 4.1 Analysefoki und methodische Vorgehensweise Aus den theoretischen Vorüberlegungen kann die folgende Fragestellung für die Fallanalysen abgeleitet werden: Verwenden Schülerinnen und Schüler distanzsprachliche Strukturen - und wenn ja, - worin resp. wie zeigen sich diese, - unterscheiden sie sich in GrU und PlU voneinander und - gibt es in einer Entwicklungsperspektive Unterschiede in den einzelnen Jahrgangsstufen? Dabei interessiert vor allem die dahinter stehende Frage, ob Schülerinnen und Schüler konzeptionell-schriftliche Struktur- und Ausdrucksmittel in GrU und PlU situationsbezogen resp. situationsangemessen unterschiedlich nutzen. Bietet der GrU dabei ein Stützbzw. Anbahnungsformat? Um diesen Fragen nachzugehen, soll im Folgenden GrU und PlU in den Klassen 5, 8 und 11 im Fach Geschichte untersucht werden. Methodisch soll zunächst von dem durch die Schülerinnen und Schüler im GrU zu bearbeitenden Ausgangstext mit besonderem Fokus auf dessen sprachlicher Verfasstheit ausgegangen werden. Dann soll verfolgt werden, wie Schülerinnen und Schüler mit ihren sprachlichen Möglichkeiten auf die dort verwendeten Ausdrucksmittel zugreifen und sie in der Gruppenarbeitsphase bis hin zur Präsentation verbal ver- und bearbeiten. Ein besonderer Analyseschwerpunkt wird dabei auf die Struktur- und Ausdrucksformen hinsichtlich ihrer syntaktischen, phrasalen und morphologischen Realisierung sowie ihrem integrativen Interagieren gelegt. Die jeweiligen „Versprachlichungsstrategien“ 11 (Koch & Oesterreicher 1985) der Schülerinnen und Schüler können dabei u.a. als tendenziell stärker integrativ (z.B. Nominalisierungen), komplex (z.B. Partizipial-Adjektive; Derivationen und Kompositionen), geplant (z.B. Pausen) und differenziert (konzeptionell-schriftlich) oder weniger integrativ (z.B. Verbalisierungen), komplex, geplant und differenziert (vgl. ausführlich Kleinschmidt in diesem Band) sowie 11 Zur Kritik vgl. u.a. Àgel/ Hennig (2007); Ich beziehe mich hier auf die nach Kleinschmidt (in diesem Band) um Redundanzen bereinigten Operationalisierungsdimensionen. <?page no="212"?> Katrin Hee 212 als typisch gesprochen-sprachliche Strukturen (Schwitalla 2012) (konzeptionell-mündlich) analysiert werden. Abschließend soll ein Blick auf mögliche Entwicklungstendenzen über die Jahrgänge hinweg geworfen werden. 4.2 Fallbeispiel 1: Geschichte, 5. Klasse: Nilüberschwemmungen Die Analysen starten der Erwerbsfolge entsprechend in der 5. Klasse. Unterrichtsthema ist die Lebenswelt der alten Ägypter. Die hier gezeigte Schülergruppe bearbeitet dazu zunächst die dem Schulbuch entstammende Aufgabe, warum die Ägypter am Nil gesiedelt haben. In einer zweiten Gruppenarbeitsphase wird der Arbeitsauftrag vom Lehrer durch die Frage erweitert, inwieweit die bisher zusammengetragenen Ergebnisse für die Herausbildung Ägyptens als Hochkultur von Bedeutung sind. Abbildung 1 zeigt den Ausschnitt des Schulbuchtextes, auf den die Schüler in den folgenden Äußerungen Bezug nehmen. 12 Während der Regenzeit im Juni strömten aus Afrikas tropischen Gebieten ungeheure Wassermassen in den Nil. In dieser Zeit stieg der Wasserstand um 5 bis 7 Meter. Ende September, wenn der Nil in sein Flussbett zurückgekehrt war, blieb zu beiden Seiten des Ufers eine Schlammschicht zurück. […] Im Laufe der Zeit entdeckten die Ägypter, dass es von einer Nilüberschwemmung bis zur nächsten 365 Tage dauerte. Abb. 1: Textstelle: Geschichte, 5. Klasse: Nilüberschwemmungen (Regenhardt 2009: 79) Betrachten wir nun, wie die Schülerinnen und Schüler den Text in der Gruppenarbeit medial-mündlich bearbeiten (chronologische Darstellung). Mit der folgenden Aussage nimmt der Schüler ChWom5 13 als erster Bezug auf den Text und formuliert einen für die schriftlichen Notizen gedachten Satzanfang: (1) ChWom5: Durch den einmal im Jahr über die Ufer getretenen Zunächst ist auffällig, dass das Wissen aus unterschiedlichen Textstellen synthetisiert wird, d. h., es wird keine Textstelle wörtlich oder paraphrasiert übernommen, sondern der Textinhalt wird auf die für die Aufgabe wesentlichen Stellen kondensiert. Man kann außerdem bereits an dieser ersten Formulierung eine Tendenz zu konzeptioneller Schriftlichkeit erkennen, da 12 Die für die Transkripte relevanten Stellen wurden jeweils fett hervorgehoben. 13 Den Schülern wurden, um sie in den Transkripten anonym zu halten, Siglen zugeordnet. Diese setzen sich zusammen aus den ersten beiden Buchstaben des Vor- und Nachnamens, „w“ für weiblich oder „m“ für männlich je nach Geschlecht sowie der jeweiligen Klassenstufe als Ziffer. <?page no="213"?> Schülerkommunikation zwischen Nähe und Distanz 213 komprimierte, integrative Strukturen ausprobiert werden. Interessant - und für die fünfte Klasse überraschend - ist, dass der Schüler die Strukturen nicht aus dem Text entnimmt, sondern selbständig bildet. (2) ChWom5: Einmal im Jahr über die Ufer tretenden Fluss Nil BeLam5: Der Nil, der trat/ t/ trat der Nil trat einmal im Jahr über die Ufer. Der Nil trat jeden Juni WiWem5: Der kann gehen? Diese komplexe Struktur, die ChWom5 etwas später in leicht veränderter Form erneut aufgreift, wird von BeLam5 zu einem stärker konzeptionellmündlichen Demonstrativsatz resp. einer Linksherausstellung 14 aufgelöst, die im Anschluss in einen einfach-hierarchischen, nicht komplexen und damit ebenfalls eher konzeptionell-mündlichen Hauptsatz mündet. Dass durchaus auch nähesprachliche Elemente (hier eine humoristische Einlage in Form eines Wortspiels 15 von WiWem5) vorkommen können, lässt Rückschlüsse auf den kommunikativen Rahmen GrU zu. Denn ähnliche Nebensequenzen treten bei den Interaktionen im Plenum nicht auf - und das auch, wenn diese Diskussionen (und nicht nur die vorbereiteten Präsentationen) enthalten. Etwas später macht ChWom5 einen erneuten Formulierungsversuch: (3) ChWom5: Ehm die Ägypter haben sich am Nil eingesiedelt • durch den einmal über die Ufer tri/ • im Jahr über die Ufer tretenden Fluss Nil. ChWom5 bedient sich erneut der komplexeren Präpositionalphrasen- Struktur mit kausaler Bedeutung, bricht seinen ersten Formulierungsversuch ab und reformuliert zu einer expandierten Nominalphrase, in der auch der jährliche Rhythmus integriert wird (konzeptionell-schriftlich). Im Vergleich zu seiner ersten Formulierung zu Beginn der Gruppenarbeit (vgl. Bsp. 1) ist diese nun auch syntaktisch in den Matrixsatz „Ehm die Ägypter haben sich am Nil eingesiedelt“ integriert. Interessanterweise bildet die Integration aber hier ein Zwischenbzw. Übergangsformat: Die Integration erfolgt in einer für das Medial-Mündliche typischen Rechtsherausstellung resp. der Realisierung im topologischen Nachfeld; und genau nicht in einer vollständigen syntaktischen Integration, bei der die Präpositionalphrase vor der rechten Verbklammer realisiert wäre. 14 Zu Linksheraustellungen als typisch gesprochen-sprachliche Struktur vgl. Schwitalla (2012: 110-112). 15 Interessant ist, dass der Witz als nicht-aufgaben-/ und textbezogene Nebensequenz zwar als nähesprachlich eingestuft werden kann; gleichzeitig ist er aber durch die Realisierung als Wortspiel, das den reflektierten Umgang mit Sprache voraussetzt, auch distanzsprachlich geprägt. <?page no="214"?> Katrin Hee 214 (4) BeLam5: Ehm der Boden war so fruchtbar, weil der Nil einmal im Jahr eh jeden Juni •• über die/ das Ufer tretet Am Ende der Gruppenarbeit löst BeLam5 die komplexe und damit eher konzeptionell-schriftliche Präpositionalphrase mit kausaler Bedeutung auf, indem er durch durch einen eher konzeptionell-mündlichen kausalen Nebensatz ersetzt. Diese Verbalisierungsstrategie 16 verwendet WiWem5 auch in der anschließenden Präsentation: 17 (5) WiWem5: Weil der Fluss • jedes Jahr über die Ufer tritt, • gibt es eine gute Ernte Üben sich die Schülerinnen und Schüler einerseits also bereits in konzeptionell-schriftlichen Struktur- und Ausdrucksmitteln, so zeigt sich andererseits auch, dass sie teilweise an diesen scheitern, und das auf unterschiedlichen Ebenen. In diesem Beispiel sind das: a) die phrasale, b) die syntaktische und c) die lexikalisch-semantische Ebene. Dies soll jeweils an den einzelnen Beispielen (wiederum chronologisch) aufgezeigt werden. In (1) versucht ChWom5 sich an einer komplexen, integrativen Struktur, deren phrasale Einbettung allerdings nicht gelingt: die Phrase wird (durch den Abbruch) nicht gefüllt, der Kopf der Nominalphrase bleibt unbesetzt. In (2) gelingt ChWom5 dies nun, allerdings misslingt hier die syntaktische Einbettung: die Formulierung wird ohne Prädikat abgebrochen. BeLam5 erreicht die syntaktische Einbettung, indem er die integrative Nominalstruktur verbalisiert und damit auflöst. Das verbale Element, das ChWom5 als Partizipialattribut in die Nominalphrase integriert hatte und das ihm dementsprechend als Prädikat fehlte, wird hier also durch die Verbalisierung verfügbar. Hier zeigt sich, dass die Schülerinnen und Schüler komplexe integrative Strukturen zwar einerseits bereits realisieren können, sie andererseits aber noch Probleme mit der phrasalen Sättigung und syntaktischen Einbettung haben. 16 Ich beziehe mich mit den Begriffen verbalisieren resp. Verbalisierung sowie nominalisieren resp. Nominalisierung auf die in DaF-Kontexten üblichen Termini (vgl. u.a. Hall & Scheiner 2001) hinsichtlich syntaktisch-grammatischer Operationen. Verbalisierung meint die Auflösung einer Nominalphrase dergestalt, dass deren Kopf im neu gebildeten Satz die Funktion des Prädikats übernimmt. Umgekehrt wird bei einer Nominalisierung das Prädikat des Ausgangssatzes zur Nominalphrase des neu zu bildenden Satzes. Die Schwierigkeit hierbei liegt darin, ein passendes Prädikat zu finden. Häufig treten hier Probleme hinsichtlich Kollokationen auf. Eine im DaF-Kontext nicht geläufige Operation ist die hier vorliegende Umwandlung des verbalen Elements in ein Partizipialattribut. Analog zu den beiden anderen Operationen könnte man hier von Attributisierung sprechen. 17 Die Präsentation wird durch Vorlesen des zuvor erarbeiteten Textes realisiert und ist damit stark konzeptionell-schriftlich. <?page no="215"?> Schülerkommunikation zwischen Nähe und Distanz 215 In (3) ist die Nominalphrase nun sowohl expandiert resp. gesättigt als auch syntaktisch eingebunden, allerdings geht dies auf Kosten der lexikalischsemantischen Ebene: ChWom5 verwendet die hier nicht adäquate Präposition „durch“ anstelle der passenden Konjunktion wegen 18 sowie „eingesiedelt“ statt angesiedelt. Da das Partikelverb angesiedelt in der Aufgabenstellung zur Verfügung stand, könnte die Realisierung von „e i n gesiedelt“ auf eine Überforderungssituation durch die komplexe Struktur hindeuten. In (4) findet ein Strategiewechsel statt: Die komplexen Strukturen werden verbalisiert, d.h. in einen Nebensatz aufgelöst, in dem das Partizipialattribut zum Prädikat wird. In der Präsentation wird diese Strategie beibehalten. Man kann also sehen, dass a) die Schülerinnen und Schüler im GrU mehrere Anläufe nehmen, konzeptionell-schriftliche, komplexe, integrative Strukturen zu bilden, ihnen dies b) aber auf unterschiedlichen Ebenen nicht ganz gelingt und sie c) deshalb für die Präsentation auf weniger komplexe integrative Strukturen zurückgreifen. Man kann dies als Fehlervermeidungsstrategie verstehen: Die Lernenden merken im GrU, dass sie die komplexen integrativen Strukturen nicht fehlerfrei produzieren können und greifen daher in der Präsentation auf weniger komplexe und integrierte Strukturen zurück, die es ihnen aber ermöglichen, sich sprachlich korrekt auszudrücken. 4.3 Fallbeispiel 2: Geschichte, 8. Klasse: Achtung erfahren Das zweite Fallbeispiel entstammt einer Einheit im Geschichtsunterricht zur Französischen Revolution resp. zur Krise in Frankreich im späten 18. Jahrhundert. Unterthema der Geschichtsdoppelstunde sind die sog. cahier de doléances (Beschwerdehefte), die die Stände an die Abgeordneten der Generalstände und zur Weiterreichung an den König verfasst hatten. Die hier untersuchte Lerngruppe beschäftigt sich mit dem cahier de doléance des femmes, in dem Frauen um mehr Rechte, u.a. eine Schulbildung, bitten. Der von der Lehrerin an der Tafel festgehaltene Arbeitsauftrag besteht darin, zunächst die Quelle vorzustellen sowie anschließend in eigenen Worten die Probleme vorzutragen, die in der Quelle angesprochen werden. Die Fallanalysen beziehen sich auf mehrere Schülergruppen, die jeweils die gleiche Textstelle im Schulbuch (vgl. Abb. 2) bearbeiten. Wir bitten um Ausbildung und Beruf, nicht, um uns die Befugnisse der Männer anzueignen, sondern um von Ihnen höher geachtet zu werden. Abb. 2: Textstelle: Geschichte, 8. Klasse: Achtung erfahren (Regenhardt 2008: 49) 18 Von den Schülerinnen und Schülern verwendete sowie die aus dem Quellentext übernommenen Ausdrücke sind in Anführungszeichen, andere, nicht realisierte, aber mögliche Begriffe kursiv gesetzt. <?page no="216"?> Katrin Hee 216 (5) HaZlm8: HaErm8: FiLim8: HaErm8: FiLim8: (liest ab) Bitten um Ausbildungschancen chancen ((7s)) Damit sie ((unverständlich))/ damit sie von den Männern mehr anerkannt werden? ••• eh mehr Anerkennung und. • Um mehr Anerkennung zu • ve/ um mehr Anerkennung von den Männern zu bekommen. Ja genau. HaErm8 nimmt auf die Textstelle Bezug, indem er die syntaktische Struktur beibehält und höher und geachtet durch die bedeutungsähnlichen Ausdrücke „mehr“ und „anerkannt“ ersetzt. Die passivische Semantik bleibt dabei erhalten. Die konzeptionelle Schriftlichkeit zeigt sich hier in zwei Dimensionen: FiLim8 unternimmt unter einigem Planungsaufwand (vgl. die Pause ••• sowie die gefüllte Pause „eh“) den Versuch einer Nominalisierung (Integration). Dieser scheitert allerdings an der Phrasenexpansion sowie der syntaktischen Integration. Das passivische Moment, das durch die Nominalisierung eigentlich in einen verbalen Kern ausgelagert werden müsste, geht dadurch verloren, dass dieser von den Lernenden nicht realisiert wird. HaErm8 übernimmt die Nominalisierung. Auch hier zeigt sich der Planungsaufwand in Form eines Abbruchs und einer durch eine Planungspause eingeleiteten Wiederholung („mehr Anerkennung“), die phrasal und syntaktisch durch „von den Männern zu bekommen“ erweitert ist. In dieser Formulierung ist die passivische Aspektualisierung durch die Präpositionalphrase „von den Männern“ sowie das Prädikat „bekommen“ realisiert. Phrasenexpansion und syntaktische Integration gelingen, allerdings nur in Kombination mit der Wahl einer eher umgangssprachlicheren Kollokation („Achtung bekommen“). Auffällig ist an diesem Ausschnitt, dass die Schüler bei Nominalisierungen entweder keine (wie bei FiLim8) oder tendenziell eher umgangssprachlichere Verben verwenden („bekommen“). Diese Tendenz zeigt sich auch in der Präsentation: (6) FiLim8: Lehrerin: Klasse: FiLim8: Und siie ham • den ehm/ sie ham den t ähm König gebittet um Ausbildungschancen Gebeten. lacht Ja • um (Beruf/ Ruhm) und Anerkennung von den Männern zu kriegen. <?page no="217"?> Schülerkommunikation zwischen Nähe und Distanz 217 FiLim8 übernimmt wörtlich die in der Gruppenarbeitsphase erarbeitete Formulierung, ersetzt allerdings „zu bekommen“ durch das noch umgangssprachlichere Verb „zu kriegen“. 19 Man sieht also auch hier, dass es den Lernenden offensichtlich Schwierigkeiten bereitet, die richtige Kollokation zu finden (bspw. erfahren, erhalten, finden oder genießen). 20 Auch in der zweiten hier untersuchten Gruppe zeigt sich eine Tendenz zur Nominalisierung: (7) PhUhw8: BePam8: PhUhw8: BePam8: PhUhw8: SoEhw8: PhUhw8: BePam8: liest den Text vor: Wir bitten um Ausbildung und Beruf, nicht, um uns die Befugnisse der Männer anzu/ zueignen, sondern um von ihnen höher geachtet zu werden. Ähm • Berufe und Ausbildungen um Achtung vor Männern ‿ und Bildung ((1s)) bitten um Bildung und/ äh ((1s)) wie schreiben wir das ‿ ja wir schreiben ja ‿ Bildung auf Bittung um Bildung •• für Achtung von •• Männern •• hä? Jaaa die wollen ja geachtet werden von den männern ah achso ja Der Text wird zunächst vorgelesen und direkt im Anschluss paraphrasiert. PhUhw8 arbeitet sofort auf der syntaktischen Ebene, indem sie mit „Achtung vor Männern“ eine Nominalisierung bildet. Auch in dieser Gruppe wird die Nominalisierung nicht syntaktisch integriert und verliert so das passivische Moment, was durch die Präposition „vor“ statt von noch verstärkt wird (aktivische Bedeutungsverschiebung). Die beobachtete Tendenz zur Nominalisierung zeigt sich auch in der nächsten Formulierung von PhUhw8, die zu der Übergeneralisierung „Bittung um Bildung für Achtung von (--) Männern“ führt. Die Konstruktion ist darüber hinaus so komplex, dass sie von der Mitschülerin SoEhw8 nicht verstanden wird. Interessanterweise löst PhUhw8 sie nun im Folgeturn verständnissichernd als V e r b ali s i e r u ng , also in eine syntaktisch weniger integrative Form, auf. Diese Übergeneralisierung sowie die viergliedrige komplexe Nominalphrase erscheinen der Gruppe offensichtlich besonders sprachlich gelungen: Sie wird wortwörtlich so aufgeschrieben und im späteren Verlauf der Gruppenarbeit als Musterlösung wiederholt. In der Präsentation greifen sie dann allerdings auf eine Mischform zurück: Die viergliedrige Nominalphrase wird verständnissichernd in einem finalen 19 Der Duden online listet „zu bekommen“ unmarkiert als „Umschreibung des Passivs“, während „kriegen“ als umgangssprachliches Synonym markiert wird. 20 Die Kollokationen Anerkennung finden bzw. Anerkennung genießen sind als Synonyme von anerkannt werden in der von Helbig & Buscha (1993: 84 u. 87) zusammengestellten Liste der Funktionsverbgefüge gelistet. <?page no="218"?> Katrin Hee 218 Nebensatz aufgelöst, wodurch auch die Übergeneralisierung wegfällt. Bestehen bleibt die Herausforderung, eine angemessene Kollokation zu bilden: (8) PhUhw8: Also/ sie baten um Bildung um höhere Achtung von Männern zu bekommen W erfen wir abschließend einen kurzen Blick auf die dritte Gruppe: (9) AnMaw8: QuHam8: ••• Ehmm ((3s)) dann noch ehm ((2s)) dass die halt mehr •• ja •• ausgebildet werden können, dass die halt nich so eh dumm • rüber kommen beziehungsweise auch sind. •• Dass sie dann halt einfach mehr • Möglichkeiten haben. ••• Und ehmm ((2s)) mehr Achtung der Männer, •• dass sie halt nich so ••• von den männern • (unver.) scherzhaft: o: kay: : In dieser Gruppe wird nur ein einziges Mal auf die zu besprechende Textstelle Bezug genommen: AnMaw8 paraphrasiert den Text ebenfalls, indem sie eine Nominalisierung bildet. Durch die verwendete ambige Struktur mit „der“ sowie das fehlende Prädikat, geht die passivische Semantik verloren. Dies könnte eine Erklärung dafür sein, warum QuHam8 die Sachlage in der Präsentation falsch darstellt: (10) QuHam8: Äh also sie ham kei/ keine Achtung vor den Männern. In dieser Gruppe stellt sich die Arbeit am Text, nämlich den Ausdruck im Ausgangstext zu nominalisieren, als Problem heraus, das sich auf den Inhalt auswirkt. Die Anforderung, eine angemessene Kollokation mit Achtung und passivischer Semantik zu wählen, mündet in eine inhaltlich falsche Darstellung. 4.4 Fallbeispiel 3: Geschichte, 11. Klasse: Bedingungen von Unterdrückung Es handelt sich um einen Geschichtskurs mit erhöhtem Niveau. Unterrichtsgegenstand ist die Auseinandersetzung mit Revolutionstheorien am Beispiel der Geschichtsauffassung von Marx und Engels. Textgrundlage ist ein Originalauszug aus dem Manifest der Kommunistischen Partei (Stammen & Clasen 2009: 121f.). Arbeitsauftrag an die Schülerinnen und Schüler ist es, ein Schaubild zu erstellen, das die Geschichtsauffassung von Marx und Engels veranschaulicht. Dabei sollen sie sich v.a. auf einen bestimmten Textabschnitt konzentrieren (vgl. Abb. 3). <?page no="219"?> Schülerkommunikation zwischen Nähe und Distanz 219 Die aus dem Untergang der feudalen Gesellschaft hervorgegangene moderne bürgerliche Gesellschaft hat die Klassengegensätze nicht aufgehoben. Sie hat nur neue Klassen, neue Bedingungen der Unterdrückung, neue Gestaltungen des Kampfes an die Stelle der alten gesetzt. Abb. 3: Textstelle: Geschichte, 11. Klasse: Bedingungen von Unterdrückung (Stammen & Clasen 2009: 121) ThHöm11 paraphrasiert zu Beginn der Gruppenarbeit das Gelesene für die anderen Gruppenmitglieder: (11) ThHöm11: Und danach • gibt’s wieder Unterdrückte und Unterdrücker nur in ner andern Form Der hier gewählte Erstzugriff ist durchaus alltagssprachlich, konkret. Der abstrakte Begriff Unterdrückung wird konkret zu „Unterdrückte und Unterdrücker“, neue Bedingungen zum alltagssprachlichen „in ner andern Form“. (12) KoDom11: Dann neue Formen der Unterdrückung ne? Die etwas später von KoDom11 gewählte Formulierung zeichnet sich demgegenüber durch eine phrasale Integration aus; gleichzeitig wird auf das im Text genannte abstrakte, vom Agens abstrahierende -ung-Derivat „Unterdrückung“ zurückgegriffen. (13) ToRem11: ThHöm11: ((7s)) Oder wollen wir nich noch ma neue Reformen oder was hinschreiben? Oder •• neue Unterdrückung? Ja en neues System der Unterdrückung • das wird aber zu lang. Dieses wird von ThHöm11 attributiv durch „neues“ sowie semantisch durch „System“ präzisiert; er scheint mit dem Ausdruck allerdings nicht zufrieden, worauf MaJam 11 einen Verbesserungsvorschlag macht: (14) MaJam11: ••• Neues Unterdrückungssystem. In der von MaJam11 gewählten Formulierung zeigt sich - im Vergleich zu Klasse 5 und 8 - zum ersten Mal, wie sich die Formulierungstätigkeit auch auf die morphologische Ebene erstrecken kann: 21 Aus der attributiven Konstruktion „System der Unterdrückung“ wird das mit der Komplexitäts- 21 Sicher kann man die Nominalisierungen in der 8. Klasse auch schon als morphologische Struktur betrachten, die allerdings v.a. Auswirkungen auf syntaktischer Ebene nach sich ziehen. Hier ist indes mit morphologisch die Arbeit auf einer rein kompositionellwortbildungsbezogenen Ebene gemeint. <?page no="220"?> Katrin Hee 220 Dimension als konzeptionell-schriftlich zu bezeichnendes Determinativkompositum „Unterdrückungssystem“. In der Präsentation geht ToRem11 allerdings - wie die Schüler in Klasse 8 und 5 auch - gewissermaßen einen Schritt zurück, indem er die morphologisch integrierte Form des Determinativkompositums wieder in die dekomponierte Form als Genitiv-Attribut auflöst: (15) ToRem11: • Also dass •• ähm • eine Veränderung erzielt wird. •• Und äähm • das schlägt sich dann halt in nem neuen System der Unterdrückung nieder. 5 Ausblick Aus den Fallanalysen lassen sich zwei Beobachtungen festhalten: 1. Der GrU erweist sich - zumindest in den hier analysierten Beispielen - durchaus als Anbahnungs- und Probehandlungskontext zur Ausbildung konzeptionell schriftlicher Struktur- und Ausdrucksformen. 2. Die vorgestellten Analysen lassen zudem auf einen schrittweisen Erwerb der betreffenden Formulierungsfähigkeiten über die Jahrgangsstufen hinweg schließen. Es seien einige erläuternde Anmerkungen sowie Einschränkungen dieser Thesen erlaubt: Ad 1: Die Schülerinnen und Schüler arbeiten im GrU an ihrem sprachlichen Ausdruck und orientieren sich dabei an konzeptionell-schriftlichen Ausdrucksformen. Diese Formulierungstätigkeit kann scheitern (was die Lernenden nicht immer bemerken). Auffällig ist allerdings, dass sie für die Plenumspräsentationen eine sprachliche Sensibilität bezüglich Normverstößen zeigen; diese Verstöße versuchen sie ggf. zugunsten einer weniger elaborierten Ausdrucksweise zu vermeiden. So scheint GrU - zumindest aus Schülerperspektive - ein gewisser Schonraum zum Ausprobieren für diese zu erwerbenden Struktur- und Ausdrucksformen zu sein. Ad 2: Mit Blick auf den Erwerb lassen sich Unterschiede im Gebrauch und in der Bildung der betreffenden Strukturen feststellen: Schülerinnen und Schüler in der 5. Klasse arbeiten bereits stark an konzeptionell-schriftlichen Formen, indem sie versuchen, komprimierte Strukturen zu bilden, was zunächst für eine 5. Klasse ein erstaunliches Ergebnis ist. Sie haben allerdings noch Probleme mit der phrasalen und syntaktischen Integration. GrU scheint dabei ein Anbahnungskontext für ‚bildungssprachliche‘ Ausdrücke zu sein: Man kann erkennen, dass die Lernenden überlegen, mehrere Anläufe benötigen und letztlich auch an der angestrebten Formulierungskomplexität scheitern. D.h., sie benötigen die konkrete Arbeit an den konzeptionell-schriftlichen <?page no="221"?> Schülerkommunikation zwischen Nähe und Distanz 221 Strukturen sowie Kommunikationszeit und -raum, um diese auszuprobieren, weil sie sie noch nicht souverän beherrschen. Dementsprechend verwenden sie in der Präsentation häufig weniger integrierte Strukturen. 22 Das ‚Abarbeiten‘ an diesen Strukturen im GrU ist allerdings ein erster Weg dorthin, d.h., sie nutzen GrU als Anbahnungsformat. In der achten Klasse arbeiten alle Gruppen unabhängig voneinander und auch nicht durch die Aufgabenstellung explizit dazu aufgefordert an Nominalisierungen. Auch hier misslingen den Lernenden teilweise noch die richtigen Formulierungen, v.a. auf Ebene der Kollokationen resp. der Wahl adäquater Verben. Ebenfalls zeigt sich die Tendenz, im GrU stärker auszuprobieren und in den Präsentationen auf die sicherere, weniger komplexe Variante zurückzugreifen. In der elften Klasse zeigt sich bereits ein souveräner Umgang mit konzeptionell-schriftlichen Formen. Das scheint ein Hinweis darauf zu sein, dass das eingangs erwähnte „heimliche Curriculum“ (zumindest für den Teil der Schülerinnen und Schüler, die es bis in die elfte Klasse geschafft haben), implizit wirkt. Der kompetente Umgang mit derartigen Fomulierungsoptionen zeigt sich auch darin, dass sich die Schülerinnen und Schüler in GrU und PlU verbal sehr unterschiedlich verhalten (vgl. detailiert Hee 2016): Den Jugendlichen scheint einerseits der Kontextunterschied bewusst zu sein, andererseits scheinen sie den GrU nicht mehr als Probehandlungskontext zu benötigen (obschon auch dort Arbeit an sprachlichen Strukturen erfolgt). Sie verwenden konzeptionell-schriftliche Struktur- und Ausdrucksmittel nur dann, wenn sie angemessen erscheinen und sie sie zum Ausdruck komplexer Sachverhalte benötigen. Auffällig für die elfte Klasse in Entwicklungsperspektive ist weiterhin, dass hier offensichtlich auch die Formulierungsarbeit an morphologischen Strukturen ausgeprägt ist. Die Integration findet also nicht mehr allein - wie in Mittel- und Unterstufe - auf syntaktischphrasaler Ebene statt, sondern auch auf Wortebene, wie die Bildung von Determinativkomposita beispielhaft gezeigt hat. 22 Diese Unsicherheit zeigt sich im Übrigen auch daran, dass in der fünften Klasse die Schülerinnen und Schüler als einzige der drei Jahrgänge durchweg ihre Präsentationen noch ablesen. An dieser Stelle muss betont werden, dass es sich um Fallbeispiele handelt und das Vorlesen selbstredend auch durch die äußeren Umständen bedingt sein kann. <?page no="222"?> Katrin Hee 222 Literatur Ágel, Vilmos & Hennig, Mathilde (2007): Überlegungen zur Theorie und Praxis des Nähe- und Distanzsprechens. In: Ágel, Vilmo & Hennig, Mathilde (Hrsg.): Zugänge zur Grammatik der gesprochenen Sprache. Tübingen: Niemeyer, 179-214. Ahrenholz, Bernt (2013): Sprache im Fachunterricht untersuchen. 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Bamberg: Buchner, 121-122. <?page no="225"?> Friederike Kern, Sören Ohlhus, Thomas Rottmann Zur Rolle von Sprache und multimodalen Ressourcen beim Erwerb von Rechenstrategien 1 Sprache und multimodale Ressourcen in interaktiven Vermittlungsprozessen Der vorliegende Beitrag ist Ergebnis einer interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Mathematikdidaktik und einer an Lern- und Unterrichtsinteraktion interessierten Gesprächsforschung, die an der Universität Bielefeld initiiert wurde, um genauere Einblicke in die Rolle von Sprache und Interaktion in mathematischen Lernprozessen zu gewinnen. Der Gegenstand unserer Untersuchungen ist mathematischer Förderunterricht für Grundschulkinder, wie er von der Beratungsstelle für Kinder mit Rechenstörungen an der Universität Bielefeld angeboten wird. Dieser Förderunterricht folgt einer Konzeption, die den Gebrauch unterschiedlicher semiotischer Ressourcen 1 im mathematischen Lernen in den Mittelpunkt von Lehr-Lern-Prozessen stellt und bei der nicht zuletzt die wichtige Rolle der Sprache bereits angelegt und unter Bezugnahme auf lernpsychologische Theorien berücksichtigt ist - jedoch ohne dass empirische Studien zu deren Wirkungsweise vorliegen. Aus diesem Grund widmen wir uns in unserem Beitrag der empirischen Beschreibung interaktiv gesteuerter Verknüpfungen sprachlicher Formen mit kontextuell je unterschiedlichen semiotischen Ressourcen, insbesondere einem Rechenrahmen, der je nach Situation mal zugänglich ist, mal verdeckt bleibt. Solche unterschiedlichen „kontextuellen Konfigurationen“ (Goodwin 2007) bieten den konkreten Ausgangspunkt für Manipulationen und sprachliche Handlungen, mit denen z.B. eine bestimmte Bedeutung geklärt, eine spezifische Handlung erläutert und dadurch letztlich Lernen situativ ermöglicht wird. Unser Ziel ist es also, in rekonstruktiven Analysen die interaktiven Muster und multimodalen Verflechtungen nachzuzeichnen, die den situativen Kontext konkreter Lernereignisse bilden. Methodisch schließen unsere Analysen an Arbeiten aus dem Bereich der multimodalen Interaktionsanalyse an (vgl. z.B. Mondada 2011; Enfield 2011; Deppermann & Schmitt 2007), insbesondere 1 Mit multimodale Ressourcen im Titel unseres Beitrages beziehen wir uns auf Konstellationen, in denen den Beteiligten an einer Interaktion zu ihrer Verständigung semiotische Ressourcen aus mehr als einer Domäne (mündliche und schriftliche Sprache, Gestik, Manipulation didaktischer Materialien etc.) zur Verfügung stehen. <?page no="226"?> Friederike Kern, Sören Ohlhus, Thomas Rottmann 226 an die Arbeiten von Charles und Marjorie Goodwin zur Organisation unterschiedlicher semiotischer Ressourcen in Interaktionen, in denen Wissen vermittelt werden soll (vgl. z.B. Goodwin & Goodwin 2004; Goodwin 2007). Diese Ansätze möchten wir mit einer systematischen Beschreibung authentischer Lehr- und Lernsituationen verbinden, in der die situative Herstellung gemeinsamen Wissens als Grundlage für dessen kognitive Aneignung betrachtet wird (Bergmann & Quasthoff 2010; zur kommunikativen Herstellung von Wissen im Mathematikunterricht vgl. z.B. Steinbring 2000; Steinbring & Nührenbörger 2010). Die Untersuchung der Sprache als Teil multimodaler Praktiken in authentischen Lehr-Lern-Interaktionen lässt sich außerdem als ein Beitrag zur Erforschung und genaueren Bestimmung dessen verstehen, was Morek & Heller (2012) als bildungssprachliche Praktiken bezeichnen. Nach unserer Meinung sollte Sprache im Schul- und Unterrichtskontext nicht allein struktur-linguistisch als mehr oder weniger ausgebaute bzw. bildungssprachliche Varietät untersucht werden, sondern als Teil der spezifischen interaktiven und kontextuellen Prozesse, die in Lehr-Lern-Interaktionen durch den dort angelegten Wissensbezug entstehen. Durch ein tiefes Verständnis davon, wie multimodale Ressourcen kontextsensitiv für die Formulierung von sprachlichem oder anderem Wissen genutzt werden, kann der Erwerb bildungssprachlicher Praktiken en detail nachvollzogen werden, um so einerseits Erwerbsprozesse zu modellieren und andererseits didaktisch relevante Unterstützungsmöglichkeiten auszuloten (vgl. Kern, Lingnau & Paul 2014). Die hier umrissene interaktional-linguistische Forschungsperspektive soll im Folgenden also anhand einer Untersuchung der Rolle sprachlicher und multimodaler Ressourcen beim Erwerb von nicht-zählenden Rechenstrategien exemplarisch vorgestellt werden (vgl. Abschnitt 2). Wir werden ihr anhand zweier Ausschnitte aus einer Förderreihe nachgehen und uns dabei exemplarisch auf die interaktive Herstellung der Referenz auf Zahlen innerhalb eines Rechenprozesses konzentrieren. Situativ auf Zahlen zu referieren, d.h. Zahlen in einen Kontext zu setzen, ist ein höchst relevanter kommunikativer Vorgang beim Sprechen über Mathematik und kann deshalb als zentraler Bestandteil der vorliegenden Lehr-Lern-Situationen verstanden werden. Zahlenreferenz kann unter Zuhilfenahme unterschiedlicher semiotischer Ressourcen geschehen und so jeweils verschiedene Konzeptualisierungen des Zahlenbegriffs erzeugen. Im Kontext der hier zugrunde gelegten Förderungen ist es vor allem der ermöglichte oder verhinderte visuelle und/ oder taktile Zugang zum Rechenrahmen, der sich wesentlich auf die Praktiken der Zahlenreferenz auswirkt. Aus diesem Grund erscheint uns die Fokussierung auf diesen Aspekt als fruchtbar. Der folgende Abschnitt 2 führt nun jedoch zunächst in den mathematikdidaktischen Hintergrund der von uns untersuchten Förderstunden ein. Die darin enthaltenen lernpsychologischen Ansätze werden sodann im Abschnitt <?page no="227"?> Sprache und multimodale Ressourcen beim Erwerb von Rechenstrategien 227 3 mit der Methodologie interaktionslinguistischer Untersuchungen in Verbindung gesetzt. In Abschnitt 4 wird die Auswahl und grundlegende Struktur der Daten vorgestellt, bevor wir in Abschnitt 5 unsere Analyse einzelner Datenausschnitte vorstellen und diese abschließend in Abschnitt 6 diskutieren. 2 Konzeption und Hintergründe der Fördermaßnahmen An der Universität Bielefeld existiert seit Ende der 1970er-Jahre eine nichtkommerzielle Beratungsstelle für Kinder mit Rechenstörungen am Institut für Didaktik der Mathematik. Die zentralen Aufgabenbereiche der Beratungsstelle liegen im Service, in der Forschung sowie in der Lehreraus- und -fortbildung. Neben einer telefonischen Beratung werden qualitative Erstüberprüfungen bei Kindern im Grundschulalter durchgeführt, bei denen eine mathematische Lernstörung vermutet wird. Im Rahmen einer Lehrveranstaltung für Studierende im Grundschullehramt übernehmen i.d.R. zwei Studierende gemeinsam die Einzelförderung eines rechenschwachen Kindes für den Zeitraum eines Semesters (ca. fünfzehn Förderstunden). Diese Förderungen werden intensiv durch Lehrende in wöchentlichen Kleingruppensitzungen (von max. vier Förderpaaren) begleitet, in welchen u.a. anhand der in jeder Förderstunde angefertigten Videoaufzeichnungen die Förderarbeit reflektiert und vorbereitet wird (vgl. Rottmann 2015). Die Inhalte der Förderungen orientieren sich dabei nicht (wie in einer gängigen Nachhilfe) am aktuellen Unterrichtsstoff, sondern an den individuellen Kompetenzen und den festgestellten Defiziten der Kinder. Typischerweise zeigt sich ein Förderbedarf bezogen auf die Entwicklung 1. eines sicheren Stellenwertverständnisses (Rittle-Johnson & Siegler 1998; Wartha & Schulz 2012) sowie 2. von nicht-zählenden, so genannten heuristischen Rechenstrategien (wie der Strategie Schrittweises Rechnen, mit welcher z.B. die Aufgabe 58+7 über die Zwischenschritte 58+2=60 und 60+5=65 gelöst wird; Schipper 2009). Grundsätzlich fallen die Kinder oftmals dadurch auf, dass sie im Unterricht oder in der Förderung verwendete Arbeits- und Veranschaulichungsmittel vorwiegend als Lösungshilfe für eine ausschließlich auf Zählstrategien basierende Aufgabenbearbeitung verwenden, nicht aber die Strukturen des Materials nutzen (z.B. Fünfer- und Zehnerstruktur beim Rechenrahmen; vgl. Abb. 1 und Rottmann & Schipper 2002). <?page no="228"?> Friederike Kern, Sören Ohlhus, Thomas Rottmann 228 Abb. 1: Rechenrahmen mit dargestellter Zahl 23 Die Fördermaßnahmen zielen dabei im Wesentlichen auf die Entwicklung von Grundvorstellungen zu Zahlen sowie zu Rechenoperationen und -strategien (vgl. Abschnitt 2.1) und orientieren sich maßgeblich an einem Vier- Phasen-Modell (vgl. Abschnitt 2.2), welches darauf abzielt, ausgehend von konkreten Materialhandlungen mentale Vorstellungen zu Zahlen und Rechenoperationen zu entwickeln. 2.1 Aufbau von Grundvorstellungen Der Begriff der Grundvorstellungen wurde in der Mathematikdidaktik von vom Hofe (1995) geprägt. Grundvorstellungen können generell „als Elemente der Vermittlung bzw. als Objekte des Übergangs zwischen der Welt der Mathematik und der individuellen Begriffswelt des Lernenden“ (vom Hofe 1995: 98) betrachtet werden. In diesem Sinne sind Grundvorstellungen mathematischer Inhalte vor allem bei Übersetzungsprozessen relevant, wie sie z.B. im Modellierungskreislauf beim Wechsel zwischen Realität und Mathematik (z.B. beim Lösen von Sachaufgaben) verlangt werden (vom Hofe 2003; vgl. auch Wartha 2007). Wartha (2011) verallgemeinert dieses Modell für weitere Übersetzungsprozesse zwischen unterschiedlichen Darstellungen bzw. Darstellungsebenen (vgl. Abb. 2). „In diesem Modell werden (anders als beim bekannten Modellierungskreislauf) nicht nur Übersetzungsprozesse zwischen ‚Mathematik‘ und ‚Realität‘ betrachtet, sondern allgemein Übersetzungen zwischen verschiedenen Darstellungsebenen wie Bildern, Handlungen, gesprochenen Symbolen, geschriebenen Symbolen oder realitätsnahen Situationen. Gelingen diese Übersetzungsprozesse, so kann davon ausgegangen werden, dass die entsprechenden Grundvorstellungen aktiviert werden können - dass also ein Verständnis zu Zahlen, Operationen und Strategien vorliegt.“ (Wartha 2011: 8) <?page no="229"?> Sprache und multimodale Ressourcen beim Erwerb von Rechenstrategien 229 Abb. 2: Allgemeines Grundvorstellungsdiagramm (nach Wartha & Schulz 2012: 29) In diesem Sinne sind Grundvorstellungen auch dann relevant, wenn ein Kind eine symbolisch vorgegebene Aufgabe (z.B. 5+3) mit Hilfe einer Handlung z.B. am Rechenrahmen löst. Das Kind muss die symbolisch vorgegebene Aufgabe in eine geeignete Materialhandlung übersetzen und dabei die Grundvorstellung der Addition als Hinzufügen (Wartha & Schulz 2012: 31) aktivieren. Schließlich muss es die Gesamtanzahl der an dem Material geschobenen Kugeln (bestimmt durch ein Abzählen oder auch durch quasi-simultane Anzahlerfassung unter Ausnutzen der Fünfer-Struktur des Materials) rückübersetzen und das Symbol „8“ als Ergebnis angeben (vgl. Abb. 3). Abb. 3: Grundvorstellungsdiagramm bei der Aufgabe 5+3 2.2 Vier-Phasen-Modell zum Aufbau von Grundvorstellungen Nicht zuletzt Analysen und Beispiele zu Schülerfehlern (Wartha & Schulz 2012; Schipper 2009; Gerster & Schultz 2000) machen deutlich, dass es Kindern mit mathematischen Lernstörungen nur unzureichend gelingt, tragfähige Grundvorstellungen aufzubauen und bei der Aufgabenbearbeitung zu <?page no="230"?> Friederike Kern, Sören Ohlhus, Thomas Rottmann 230 aktivieren. Im Rahmen der Fördermaßnahmen in der Beratungsstelle für Kinder mit Rechenstörungen an der Universität Bielefeld wird die Entwicklung von Grundvorstellungen dadurch unterstützt, dass gezielte Maßnahmen zu einer schrittweisen Verinnerlichung und Ablösung von der Materialhandlung durchgeführt werden. Ein zentrales Merkmal dieses schrittweisen Vorgehens besteht darin, dass zunehmend auf die konkrete Durchführung der Materialhandlung verzichtet und diese durch eine Versprachlichung der Lösungshandlung ersetzt wird. Diesen Prozess der stufenweisen Ablösung von der Materialhandlung haben Wartha & Schulz (2012) sowie Schipper, Wartha & von Schroeders (2011) sehr anschaulich als Vier-Phasen-Modell zum Aufbau von Grundvorstellungen beschrieben (vgl. Abb. 4). Abb. 4: Vier-Phasen-Modell zum Aufbau von Grundvorstellungen (aus Wartha & Schulz 2012: 63) In der ersten Phase nimmt das Kind konkrete Materialhandlungen vor und beschreibt diese verbal. Aus mathematikdidaktischer Perspektive kommt der handlungsbegleitenden Verbalisierung hierbei zunächst die Funktion einer Aufmerksamkeitsfokussierung zu; „Handlungen am Material werden durch Versprachlichungen bewusster“ (Schipper 2003: 225). Sowohl in der zweiten als auch in der dritten Phase wird die konkrete Handlung des Kindes durch die Versprachlichung ersetzt; das Kind nennt der Lehrkraft die am Material notwendigen Handlungsschritte, welche diese dann ausführt. Während das Kind in der zweiten Phase auf das Material schauen und damit die fremdausgeführte Handlung beobachten kann, wird in der dritten Phase das Material mit einem Sichtschirm verdeckt und die Handlung erfolgt für das Kind unsichtbar. Diese verdeckte Materialhandlung erscheint auf einen ersten Blick identisch mit einem vollständigen Verzicht auf das Material. Zu einem Arbeiten komplett ohne Material gibt es jedoch <?page no="231"?> Sprache und multimodale Ressourcen beim Erwerb von Rechenstrategien 231 einen zentralen Unterschied: „Das Kind mit den verbundenen Augen [bzw. hinter dem Sichtschirm; Anm. der Autoren] weiß, dass jemand (nach seinen Anweisungen) eine Handlung am Arbeitsmittel vornimmt. Es muss sich daher vorstellen, wie diese Handlung aussieht“ (Rottmann 2004: 18). Erst in der 4. Phase ist das Material dann nicht mehr in konkreter Form vorhanden. Es wird erwartet, dass das Kind eine entsprechende mentale Vorstellung zum Material und einer Handlung an diesem aufgebaut hat und bei der Aufgabenbearbeitung auf diese Vorstellung zurückgreifen kann (vgl. Wartha & Schulz 2012; Rottmann & Peter-Koop 2015; Rottmann 2015). Das Vier-Phasen-Modell fokussiert somit auf Übersetzungsprozesse zwischen verschiedenen Darstellungsebenen und zielt auf deren Verknüpfung. Das Modell greift dabei Ideen u.a. von Bruner (1974), Aebli (1976) und Kutzer (1999) auf, welche in ähnlicher Weise stufenweise Verinnerlichungsprozesse von der konkreten zur gedanklichen, vorstellenden Handlung beschreiben (für eine genauere Analyse vgl. auch Schulz 2014: 85ff.). Grundsätzlich spielen auch bei diesen Autoren Versprachlichungsprozesse eine Rolle, u.a. im Sinne von Ersatzhandlungen als Alternative zu einer konkreten Manipulation von Materialien. Besonders deutlich wird die Rolle der Sprache für das Lernen (bzw. für Erkenntnistätigkeiten) etwa von Lompscher (1972) betont, welcher aufbauend auf den Arbeiten Leontjews (1972) und Galperins (1972) die handlungssteuernde Funktion der Sprache herausstellt. Das von ihm beschriebene „Schema der Ebenen der Erkenntnistätigkeit“ (vgl. Abb. 5) geht davon aus, dass die Bedeutung der Sprache desto größer wird, je mehr die konkrete Anschauung eines Objektes abnimmt (Lompscher 1972: 51ff.). Abb. 5: Schema der Ebenen der Erkenntnistätigkeit (aus: Lompscher 1972: 52) Die mathematikdidaktischen Annahmen zur Rolle von Sprache beim Erwerb mathematischer Fähigkeiten gilt es nun durch eine interaktional-linguistische <?page no="232"?> Friederike Kern, Sören Ohlhus, Thomas Rottmann 232 Perspektive zu ergänzen, um empirisch zu ermitteln, wie genau die Sprache diese steuernde Funktion in interaktiven Lernprozessen erfüllt und welche Arten der Sprachverwendung insbesondere am Übergang zwischen den Phasen des hier betrachteten Förderunterrichtes zu finden sind. 2 3 Analyserahmen: Theorien, Methoden und Daten Um das Modell von Lompscher (oder auch die ganz ähnlichen Überlegungen von Bruner 1974 zu enaktiven, ikonischen und symbolischen Repräsentationsmedien im Lernprozess) für die Rekonstruktion konkreter interaktiver Vermittlungsprozesse fruchtbar zu machen, müssen zunächst die räumlichen und kommunikativen Bedingungen geklärt werden, die diesen Interaktionen zu Grunde liegen. Aus diesem Grund möchten wir die oben genannten Darstellungsebenen empirisch gestützt mit einer Beschreibung der multimodalen Ressourcen und deren je spezifischen Verwendung und gegenseitigen Verknüpfung innerhalb eines sich ändernden participation framework (s.u.) anreichern. So kann sowohl die interaktive als auch die auf die Übergänge zwischen den Phasen bzw. auf die Übersetzungsprozesse bezogene Dynamik in den Blick genommen werden. Der Fokus unserer Analyse liegt dabei auf dem Gebrauch von Sprache und weiterer semiotischer Ressourcen bei der Bewältigung spezifischer Aufgaben innerhalb der zu erwerbenden Rechenstrategie. Durch die rekonstruktive Analyse wollen wir aufzeigen, wie durch das wechselnde Zusammenspiel semiotischer Ressourcen auf der Matrix der oben genannten Darstellungsebenen Wissen etabliert und zugänglich wird. Unsere Daten bestehen aus videographierten Längsschnitten von Kindern, die das Förderprogramm über ein halbes Jahr durchlaufen haben. In den von uns untersuchten Ausschnitten sitzen jeweils ein Kind und ein oder zwei Tutoren oder Tutorinnen über Eck an einem Tisch beisammen. Die Kamera, die ihre Interaktion aufnimmt, steht dem Kind gegenüber auf der anderen Seite des Tisches. Auf dem Tisch steht, als das zentrale didaktische Material der Förderstunde, ein Rechenrahmen (vgl. Abb. 1). Darüber hinaus liegen vor dem Kind zuweilen noch ein Zettel und ein Stift, mit denen etwa die Aufgabe, die bearbeitet wird, notiert werden kann. 3 2 Die in den mathematikdidaktischen Modellen beschriebene unterstützende Rolle, die der Sprache im Aneignungsprozess zukommt, erinnert an die Funktion von Sprache beim Erstspracherwerb in Bruners (1978) Scaffolding-Modell, freilich ohne dass dort Interaktionen schon konkret in den Blick genommen würden. Ebenfalls sind Ähnlichkeiten mit dem Scaffolding-Ansatz im sprachsensiblen Fachunterricht zu vermerken (Gibbons 2006). 3 Auch die Tutoren haben Notizen dabei, die die Planung und Durchführung des Förderunterrichts betreffen. Diese sind aber nicht Teil der hier vorgenommenen Analyse. <?page no="233"?> Sprache und multimodale Ressourcen beim Erwerb von Rechenstrategien 233 Abb 6: Grundkonstellation im Förderunterricht (Phase 2): Tutorin am linken Bildrand, Förderkind, Rechenrahmen. In der so beschriebenen räumlichen Konstellation werden dem Kind nun Rechenaufgaben gestellt, die es, je nach der aktuellen Phase im Vier-Phasen- Modell (vgl. Abb. 4) auf spezifisch unterschiedliche Weise, und in unterschiedlichem Ausmaß von den Tutoren interaktiv angeleitet, bearbeitet und löst. Diese Verbindung bestimmter Aktivitäten mit einer klaren Rollenverteilung unter den Beteiligten (Kind und Tutor bzw. Tutorin) unter Einbezug einer räumlichen Organisation, die einen bestimmten Zugriff auf weitere semiotische Ressourcen erlaubt, lässt sich mit Goodwin & Goodwin (2004) als ein participation framework bezeichnen. Während der Typ der zu bearbeitenden Aufgaben über das gesamte Förderprogramm hinweg gleich bleibt, wird das participation framework hinsichtlich der Zugänglichkeit des Rechenrahmens von Phase zu Phase modifiziert: Zunächst kann er vom Kind im Zuge des Rechenprozesses manipuliert werden; in der zweiten Phase ist dieser direkte Zugriff dann nicht mehr gestattet, sondern erfolgt durch die Tutoren bzw. Tutorinnen, wobei der Rechenrahmen noch sichtbar bleibt; in der dritten Phase wird der Rahmen durch einen Schirm für die Kinder verdeckt und in der vierten dann ganz entfernt. In allen diesen Phasen ist das Rechnen ein interaktiver und damit öffentlicher Prozess, der der interaktiven Herstellung und Zurschaustellung von Wissen dient. Ein Teil dieser Öffentlichkeit ist die Sichtbarkeit der Rechenoperationen, die durch die Manipulationen am Rechenrahmen hergestellt wird. Wichtiger noch für die Entstehung von Öffentlichkeit sind jedoch die sprachlichen Formulierungen, die den Rechenprozess begleiten, und in den unterschiedlichen Phasen des Förderprogramms je unterschiedliche Funktionen haben. In Phase (1) werden sie als Kommentierungen des Kindes zu seinen aktuellen Manipulationen des Rechenrahmens eingeübt. In Phase (2) und (3) sind die Verbalisierungen sodann Instruktionen an den Tutor bzw. die Tutorin, der/ die anstelle des Kindes den Rechenrahmen manipuliert. In Phase (4) handelt es sich dann um Kommentare zur Manipulation eines nunmehr imaginären Rechenrahmens. <?page no="234"?> Friederike Kern, Sören Ohlhus, Thomas Rottmann 234 4 Analysen Im Folgenden werden zwei Bearbeitungen schrittweisen Rechnens näher untersucht. Sie stammen aus ein und derselben Sitzung mit dem Förderschüler Malte (Pseudonym). Malte ist acht Jahre alt und besucht die zweite Klasse. Er wiederholt die zweite Klasse wegen seiner Schwierigkeiten in der Mathematik. Der Rechenrahmen ist ihm aus dem Unterricht bekannt. In der Erstüberprüfung zu Beginn der Förderung löst Malte ihm gestellte Additions- und Subtraktionsaufgaben aber ausschließlich mit einer Zählstrategie (vgl. Abschnitt 2). Unsere Analysen fokussieren den Übergang von einer Aufgabenlösung in Phase (2), in der Malte den Rechenrahmen sieht, dieser aber von der Tutorin nach seinen Anweisungen manipuliert wird, zu einer Aufgabe in Phase (3), in der bei ansonsten gleich bleibenden Bedingungen ein Schirm zwischen den Schüler und den Rechenrahmen gestellt wird, sodass kein direkter visueller Kontakt zum Rahmen mehr möglich ist. Der Fokus liegt damit auf der Frage, wie sich die interaktive Bearbeitung der Rechenaufgaben ändert, wenn der Rechenrahmen der Sichtbarkeit für das rechnende Kind entzogen wird. Die Rechenaufgaben entsprechen dem Format „Zweistellige Zahl plus einstellige Zahl mit Zehnerüberschreitung“, ein Beispiel einer solchen Aufgabe ist 62+9=71. Um diese Aufgabe zu bearbeiten, wird der zweite Summand, die 9, in zwei Teile zerlegt, hier in 8 und 1. Diese Zahlzerlegung ist zwar nicht explizit Teil der Aufgabenstellung, wird aber durch die Ergänzung zum Zehner in den Zwischenschritten der Strategie Schrittweises Rechnen (hier: 62+8=70, 70+1=71) benötigt. Während diese Rechenstrategie im gesamten Verlauf der Förderstunden von einem halben Jahr im Grundsatz dieselbe bleibt, verändern sich die interaktiven Anteile, die die Lernenden und die Tutoren bzw. Tutorinnen jeweils an ihrer Umsetzung haben, sowie - entsprechend dem Vier-Phasen-Modell des Förderprogramms - der jeweilige Umgang insbesondere mit dem Rechenrahmen. In der Bearbeitung von Aufgaben dieser Art etablieren die Tutoren und Tutorinnen im Rahmen des Förderunterrichtes ein sequenzielles Muster, das schnell zu einer festen Routinehandlung zwischen ihnen und dem jeweiligen Kind wird. Dieses Muster wird als grundlegende Rechenstrategie in die Interaktion eingeführt und in der Folge ebenso behandelt. Aus sequenzieller Sicht ist es durch den Aufgabentyp und seine Bearbeitung am Rechenrahmen gleichermaßen geprägt und liegt allen Phasen des Förderprogramms unmittelbar oder mittelbar zu Grunde. 1. Aufgabenstellung durch Tutoren oder Tutorinnen (z.B. 62+9) 2. Einstellen des Zehners des ersten Summanden am Rechenrahmen (60) 3. Einstellen des Einers des ersten Summanden am Rechenrahmen (2) 4. Benennen der eingestellten Zahl (=62) <?page no="235"?> Sprache und multimodale Ressourcen beim Erwerb von Rechenstrategien 235 5. Ergänzen bis zum nächsten Zehner: Hinzuschieben des ersten Teils des zweiten Summanden am Rechenrahmen (+8) 6. Formulieren eines Zwischenergebnisses (=70) 7. Hinzuschieben des zweiten Teils des zweiten Summanden am Rechenrahmen (+1) 8. Formulieren des Endergebnisses (=71) 9. Kommunikative Nachbearbeitung des Rechenprozesses Nicht immer werden in der Realisierung dieser Sequenz die Schritte 2 und 3 getrennt, nicht in jedem Fall wird jedes Zwischenergebnis explizit gemacht, grundlegend jedoch erweist sich das Muster in den verschiedenen Phasen der Förderung als sehr stabil. Dabei unterscheiden sich die konkreten Durchführungsweisen der Schritte des Rechenprozesses innerhalb der Sequenz natürlich danach, wie viel interaktive Unterstützung das Kind bei der Bearbeitung braucht. Sie unterscheiden sich aber nicht zuletzt auch danach, welche semiotischen Ressourcen in der derzeitigen Phase des Förderunterrichtes zur Verfügung stehen. Am Beispiel der Referenz auf einzelne Zahlen im Rechenprozess der Phase (2) und (3) soll dies im folgenden Abschnitt vorgeführt werden. Wie gesagt, widmen wir uns in diesem Zusammenhang der interaktiven Herstellung einer Referenz auf bestimmte Zahlen innerhalb des Rechenprozesses, da sie sich aus unserer Sicht gut für die Rekonstruktion mathematischer Lernprozesse unter sich verändernden situativen Bedingungen (participation framework) eignen. Dabei geht es um die Zahlzerlegung des zweiten Summanden in die beiden für die Rechenstrategie relevanten Teile, also um zwei Zahlen, die in der ursprünglichen Aufgabenstellung nicht explizit enthalten sind. Dabei ist diese Zahlzerlegung ein wesentlicher Bestandteil der zu vermittelnden Rechenstrategie; in der Rekonstruktion des interaktiven Lernprozesses ist die Bezugnahme auf die Zerlegung in der Interaktion deshalb von zentralem Interesse. Sequenziell verortet sind diese Referenzpraktiken in den Schritten 5 bis 7 der obigen Sequenzdarstellung. Wir wollen aufzeigen, wie sich Zahlenreferenz als übergeordnete Praktik in verschiedenen Interaktionszusammenhängen, die medial durch die Zugänglichkeit des Rechenrahmens sowie durch die phasenspezifischen sprachbezogenen Aufgaben („Beschreibung mit Sicht aufs Material“; „Beschreibung ohne Sicht aufs Material“ etc.) geprägt sind, verändert und welche Einblicke dies in die Organisation und Möglichkeit mathematischer Lernprozesse ermöglicht. 4.1 Praktiken der Zahlenreferenz (1): Schauen und Zeigen Das folgende Transkript (1) zeigt eine Aufgabenbearbeitung, die der Phase (2) zuzuordnen ist: Das Kind, Malte, kann den Rechenrahmen sehen, darf ihn aber nicht manipulieren (wie noch in der 1. Phase). Stattdessen instruiert er die Tutorin, wie sie die Kugeln auf dem Rechenrahmen zu bewegen hat, um so den Rechenweg interaktiv zugänglich zu machen (vgl. Abb 6). <?page no="236"?> Friederike Kern, Sören Ohlhus, Thomas Rottmann 236 Die hier zu bearbeitende Aufgabe lautet 27+7. Vor Beginn des Ausschnittes hat die Tutorin bereits 20 Kugeln nach links geschoben. Mit der ersten Zahlenreferenz (Z. 12) verweist Malte nun auf die verbleibenden sieben Einer der Zahl 27: Transkript (1) 4 011 mal und dann 012 °h die sieben daZU? 013 ((zeigt mit Stift auf die 7. Kugel in der 3. Reihe)) 014 tut ja, 015 ((bewegt die 7 Kugeln)) 016 mal siebenundzwanzig plus SIEben? 017 ((blickt zu tut)) 018 tut genau. 019 mal ((blickt zurück zum Rechenrahmen)) 020 und dann °h (.) erst die DREI? 021 ((zeigt mit Stift auf die übrigen drei Kugeln)) 022 tut die DREI,= 023 =und wo BIN ich dann, 024 ((schiebt die 3 Kugeln)) 025 mal bei (.) der [DREISsig; 026 [ ((blickt zu tut)) 027 tut hm, klasse,(4.0) 028 ((hält Zeigefinger vor Rechenrahmen in der Luft)) 029 mal ähm- 030 ((lehnt sich zurück)) 031 mal <<all> und dAnn noch [vier dahi ʔ daZU; > 032 [ ((blickt zu tut)) 033 tut geNAU; Das Transkript beginnt mit der Einstellung der sieben Einer des ersten Summanden 27 (Z. 11-18) durch die Tutorin und auf Anweisung Maltes. Dann werden in Zeile 20ff. zunächst drei (Z. 20) und nach der Explikation des Zwischenergebnisses (Z. 25) weitere vier Kugeln (Z. 31) der nächsten Stange nach links geschoben. Hinter diesen Operationen am Rechenrahmen steht die Zerlegung des zweiten Summanden 7 in die Teile 3 und 4. In den Zeilen 12 und 20 verweist Malte auf die Zahlen in erster Linie zeigend: die Nennung eines Zahlwortes in einer Nominalphrase mit definitem Artikel wird mit einer Zeigegeste auf die jeweiligen Kugeln auf dem Rechenrahmen verbunden; dabei beugt sich Malte sogar vor, um zu genau der Stelle zu zeigen, die von der Tutorin als nächstes manipuliert werden muss. Diese Praktik der Zahlenreferenz ist also durch Schauen und Zeigen gekennzeichnet. Sprachlich wird sie mit Nominalphrasen mit definitem 4 Malte: mal; Tutorin: tut. Die Transkripte sind nach GAT 2.0 (Selting et al. 2009) transkribiert (vgl. Anhang). <?page no="237"?> Sprache und multimodale Ressourcen beim Erwerb von Rechenstrategien 237 Artikel koordiniert. Die Funktion des definiten Artikels in der Nominalphrase ist es, den epistemischen Status der Zahlen als etwas zu versprachlichen, das Sprecher und Hörerin schon bekannt ist. „Die sieben“ (Z. 12) und „die DREI“ (Z. 20) können im gegebenen participation framework genau deshalb als bekannt behandelt werden, weil Malte Zeigegesten auf entsprechende Kugeln mit den Nominalphrasen koordiniert, d.h. die Bekanntheit der Zahlen ist in diesem participation framework eng mit der Möglichkeit verbunden, sie als singuläre, definite Entitäten auszuweisen, indem auf sie gezeigt wird. Somit ermöglichen das geteilte visuelle Wahrnehmungsfeld und Maltes sprachliche und körperliche Handlungen die Durchführung der Aufgabe gemäß der als gemeinsames Wissen etablierten Rechenstrategie. Bezieht man diese Art der Umsetzung auf das Ebenenmodell von Lompscher (vgl. Abb. 5), so kann man sagen, dass Malte durch eine Kombination definiter Nominalphrasen mit Zeigegesten eine Zahlenreferenz auf der Ebene der unmittelbaren Anschauung herstellt. Aber auch die Ebene der praktisch-gegenständlichen Handlung (bzw. die enaktive Repräsentation nach Bruner 1974) ist in Maltes Referenzherstellungen noch präsent. So zeigt die Verwendung der Temporaladverbien (Z. 11, 20 und 30 und dann, Z. 20 erst) an, dass sich Malte an der Abfolge der Handlungen als Teil einer zeitlich geordneten Rechenstrategie orientiert und seine Versprachlichung darauf ausrichtet. Zusammenfassend zeigt sich, dass Malte seine Zahlenreferenzen in den Zeilen 11 und 20 innerhalb des gegebenen participation frameworks im Rückgriff auf unterschiedliche semiotische Ressourcen herstellt: zum einen durch seine zeigenden Verweise auf den Rechenrahmen im Wahrnehmungsraum, die mit der Verbalisierung definiter Nominalphrasen koordiniert werden; zum anderen durch temporale Verknüpfungen, die den Ort der jeweiligen Zahlen in der chronologischen Reihenfolge der Rechenoperationen bestimmen. Im nächsten Rechenschritt in Zeile 31 jedoch, bei der Referenz auf den zweiten Teil des zweiten Summanden, lässt sich eine leichte Verschiebung weg von der Anschauung hin zu einer stärkeren Gewichtung der Versprachlichung erkennen: als Mittel der Zahlenreferenz entfallen definiter Artikel und Zeigegeste. Malte verweist hier lediglich sprachlich mit „und dann noch vier dahi/ dazu“ auf die von der Tutorin durchzuführende Manipulation, ohne durch entsprechende Gesten im Wahrnehmungsraum deutlich zu machen, welche vier Kugeln genau an dieser Stelle wohin geschoben werden sollen. 5 5 Interessant ist in diesem Zusammenhang die Selbstreparatur von dahin auf dazu: Beide Adverbien verweisen deiktisch auf die Zwischensumme, zu der der zweite Teil des zweiten Summanden hinzugezählt werden soll. Während dahin diese allerdings räumlich bestimmt, verweist dazu auf eine nicht näher bestimmte Einheit (von Zahlen). Dahin ist somit näher an der räumlichen Ordnung des Rechenrahmens orientiert als das bei dazu der Fall ist. <?page no="238"?> Friederike Kern, Sören Ohlhus, Thomas Rottmann 238 4.2 Praktiken der Zahlenreferenz (2): Versprachlichen Der nächste Ausschnitt entstammt der gleichen Förderstunde wie der vorige. Die gestellte Aufgabe, 19+7, folgt unmittelbar auf die im vorigen Abschnitt vorgestellte. Ihre Durchführung erfolgt nun allerdings nach den Regeln der Phase (3), in der der Rechenrahmen dem Kind nicht mehr visuell zugänglich, sondern durch einen Schirm verdeckt ist (Abb. 7). Die Phase wird von der Tutorin eingeleitet mit einer entsprechenden Instruktion: Transkript (2.1) 109 tut jetzt sollst du mir erKLÄren, 110 WIE ich das eh (.) wie du das SCHIEben würdest; 111 und ich SCHIEB das dann für dich, 112 und dann überPRÜfen wir. Aufgrund des veränderten participation frameworks sind Schauen und Zeigen als Praktiken der Zahlenreferenz für Malte nicht mehr möglich, über die geforderte Instruktion für die Tutorin bleibt aber der Bezug zum Rechenrahmen bestehen. Abb. 7: Sichtschirm zwischen Malte und Rechenrahmen Der Transkriptausschnitt setzt wiederum ein, nachdem die ersten zehn Kugeln des ersten Summanden durch die Tutorin am Rechenrahmen eingestellt wurden. Transkript (2.2) 115 mal (2.0) und dann (.) neun daZU? 116 tut neun EINer,=ne, 117 mal hm_hm, ((nickt)) 118 tut ja_a, ((schiebt Kugeln)) 119 (1.0) 120 dann bin ich WO, 121 mal (-) ähm (-) bei den NEUNzehn; 122 tut genau klasse; 123 mal <<acc> und dann noch sieben dazu; > <?page no="239"?> Sprache und multimodale Ressourcen beim Erwerb von Rechenstrategien 239 ((blickt zu tut)) 124 tut (-) ja 125 wie=wie würdest du_s am rechenrahmen sieben (.) jetzt MACHen, 126 [(3.0) 127 mal [ ((guckt auf die Tischplatte, dann zu tut)) 128 erst noch die RESTlichen [die dahinten in der REIhe sind? [ ((wedelt mit Hand)) 129 tut und wieviel SIND das? 130 mal EIner; 131 tut Einer,= okay, ((schiebt Kugeln)) 132 da=dann sind wir WO? 133 bei=bei welcher zahl SIND wir, 134 mal (-) bei (der) ZWANzig; ((nickt, schaut zu tut)) 135 tut KLASse, ((schiebt die Kugeln)) Die Referenzen auf die Zahlen 9 und 7 (Z. 115 und 123) werden hier nicht von Zeigegesten begleitet. Auch verwendet Malte diesmal keinen Artikel: Im Unterschied zu den Praktiken im vorherigen Ausschnitt werden die Zahlen also nicht als singuläre, bekannte Entitäten eingeführt bzw. gekennzeichnet, sondern sozusagen als generische Einheiten im Rechenprozess. Diese Veränderung auf der Formulierungsebene von „die sieben“ (vgl. Bsp. 1) zu „neun“ bzw. „sieben“ kann einerseits mit dem veränderten participation framework in Verbindung gebracht werden. Andererseits zeigt sich darin aber auch ein im Vergleich zum vorherigen Ausschnitt veränderter Zugang zu den jeweiligen Zahlen, da hier kein expliziter Bezug zur Konstellation von Kugeln am Rechenrahmen bzw. zur Vorstellung eines Rechenrahmens aufgebaut wird. Spuren einer Orientierung am Wahrnehmungsraum finden sich jedoch in den Formulierungen bei der nachfolgenden Referenz auf den ersten Teil des zweiten Summanden. Malte vermeidet zunächst, den zweiten Summanden aufzuteilen, um so die Differenz zum nächsten Zehner zu überbrücken, indem er die Tutorin einfach anweist, zu den bereits am Rechenrahmen dargestellten 19 „sieben“ hinzuzufügen (Z. 123). Schon damit zeigt er, dass er offenbar mit dem veränderten participation framework kämpft. Da er auf diese Art die für die zugrunde gelegte Rechenstrategie notwendige Zahlzerlegung vermeidet, fragt die Tutorin nach und fordert ihn so indirekt auf, der Rechenstrategie folgend vorzugehen (Z. 125). Malte denkt länger nach und wählt dann eine Formulierung, mit der er direkt auf die relevanten Kugeln auf dem Rechenrahmen Bezug nimmt (Z. 128: „erst noch die RESTlichen die dahinten in der REIhe sind“), ohne dabei den Zahlenwert (eins) zu benennen. Diese Formulierung wird von einer vagen Wedelbewegung der linken Hand begleitet, die als Zeige- oder Schiebegeste gedeutet werden könnte (für die <?page no="240"?> Friederike Kern, Sören Ohlhus, Thomas Rottmann 240 Tutorin ist sie aber kaum sichtbar). Obwohl die von ihm angebotene Charakterisierung nicht falsch ist, zeigt Malte hier doch deutlich, dass ihm die Zerlegung von Zahlen ohne Anschauungsmaterial noch Probleme bereitet. Die Vorstellung, die er sich von der Konstellation der Kugeln am Rechenrahmen macht, scheint zunächst noch zu vage zu sein, um direkt den entsprechenden Zahlenwert daraus ableiten zu können. Es ist also der Übergang von der unmittelbaren zur mittelbaren Anschauung nach Lompscher (siehe oben Abb. 5), der Malte hier Schwierigkeiten bereitet, die erst in der anschließenden fremdinitiierten Reparatur behoben werden können. Aus linguistisch-interaktionaler und multimodaler Perspektive ist die letzte Praktik der Zahlenreferenz zwar vage im Hinblick auf Zahlenwerte, aber recht spezifisch in Bezug auf die visuelle Wahrnehmung: Malte operiert auf deren Basis vor seinem inneren Auge, um das arithmetische Problem zu lösen. Die Formulierung zeigt damit, dass er z.T. noch in einem participation framework verhaftet ist, das die visuelle Präsenz des Rechenrahmens beinhaltet. 4.3 Zusammenfassung Tabelle 1 zeigt die obigen Praktiken der Zahlenreferenz im direkten Kontrast zueinander. Bei der zweiten Aufgabe zeigen die Beispiele, wie eine reduzierte Möglichkeit, den Rechenrahmen als semiotische Ressource zu nutzen, zu veränderten Formulierungen führt, indem Dinge versprachlicht werden müssen, auf die vorher gezeigt werden konnte. Tab. 1: Gegenüberstellung der Praktiken der Zahlenreferenz Aufgabe 1 (27+7, Phase 2) Aufgabe 2 (19+7, Phase 3) die sieben + Zeigegeste Neun die DREI? + Zeigegeste die RESTlichen die da hinten in der REIhe sind + wedelnde Hand Diese unterschiedlichen Praktiken der Zahlenreferenz gehen zunächst auf die Zugriffsmöglichkeiten auf den Rechenrahmen zurück, der für die Darstellung der Rechenoperationen das zentrale Ordnungssystem darstellt. Während in Aufgabe 1 Zeigegesten auf die Kugel-Konstellationen des Rahmens eine wichtige Stütze der Zahlenrefenzen darstellen, besteht in Aufgabe 2 kein direkter Sichtkontakt zum Rahmen mehr. Malte reagiert auf diese Einschränkung zum einen durch eine Verbalisierung bloßer Zahlwörtern, die nicht im Hinblick auf den Rechenrahmen „kontextualisiert“ werden. Zum anderen aber findet sich in der umschreibenden Formulierung „die RESTlichen die dahinten in der REIhe sind“ eine sprachlich hergestellte Verbindung zum <?page no="241"?> Sprache und multimodale Ressourcen beim Erwerb von Rechenstrategien 241 Rechenrahmen, die allerdings nicht präzise genug ausfällt, um sich ohne Weiteres in mathematische Symbole übertragen zu lassen. 5 Das Zusammenspiel semiotischer Ressourcen im Lernprozess: Konstellationen und Praktiken Am Beispiel von Praktiken der Zahlenreferenz haben wir gezeigt, dass und wie veränderte Konstellationen und damit einhergehende veränderte Zugänge zu unterschiedlichen semiotischen Ressourcen zu sprachlichen Umformungen führen. Die verwendeten sprachlichen Formen sind nicht unabhängig vom jeweiligen participation framework zu verstehen und stehen in dieser Hinsicht im Bezug zu verschiedenen semiotischen Ressourcen. So kann man anhand der Ausschnitte gut nachvollziehen, wie die Sichtbarkeit bzw. Unsichtbarkeit des Rechenrahmens als der zentralen semiotischen Ressource mit der Art der Versprachlichung bei der Herstellung einer Zahlenreferenz korreliert. Diese Veränderungen, die sich aus interaktionallinguistischer und multimodaler Perspektive systematisch beschreiben lassen, geben einen Einblick in Lernprozesse, deren Erfassung weniger an (vermuteten) kognitiven Fähigkeiten ausgerichtet ist, sondern vielmehr an beobachtbaren Handlungsorientierungen und Handlungsgestaltungen. So entwickeln sich im Setting der Förderstunden mathematische Grundvorstellungen auf der Basis sich verändernder Praktiken, die durch einen je spezifischen Bezug auf gegebene bzw. gerade nicht zugängliche semiotische Ressourcen geprägt werden. Der Lernprozess ist in dem gegebenen Setting entscheidend dadurch bestimmt, wie der Übergang zwischen den unterschiedlichen participation frameworks und den dadurch erforderlichen unterschiedlichen Praktiken z.B. der Zahlenreferenz gelingt. Die Flexibilität und „Übersetzbarkeit“ solcher Praktiken innerhalb der gemeinsamen Aktivität des Rechnens zeichnen eben die mathematischen Grundvorstellungen aus, die durch das hier untersuchte Förderprogramm aufgebaut werden sollen (vgl. Abschnitt 2.1). Für die Mathematikdidaktik ließe sich aus diesen Beobachtungen schlussfolgern, dass eine erfolgreiche Entwicklung von mathematischen Grundvorstellungen zu besseren Lernerfolgen führen könnte, wenn die Ablösung vom Wahrnehmungsraum unter strukturierter Bezugnahme auf weitere Ressourcen (Gesten, Blicke, Formulierungen) systematisch angeleitet würde. 6 So könnten nicht zuletzt sprachliche Formulierungen, wie Malte sie im zweiten Ausschnitt benutzt, aktiv dazu verwendet werden, die notwendige Vorstellung des Rechenrahmens in Phase (3) zu stabilisieren. 6 Vgl. dazu z.B. eine experimentelle Studie von Goldin-Meadow, Wagner-Cook & Michaell (2009), die nahelegt, dass ein systematischer Gebrauch von Gesten das Lernen bestimmter mathematischer Inhalte unterstützen kann. <?page no="242"?> Friederike Kern, Sören Ohlhus, Thomas Rottmann 242 Aus sprachdidaktischer Sicht ist die Umgestaltung der sprachlichen Formulierungen bei der Zahlenreferenz von Interesse. Das Verstecken des Rechenrahmens hinter dem Schirm bewirkt eine situativ bedingte Dekontextualisierung der Zahlenreferenz, die zum sprachlichen Um- und Ausbau der entsprechenden Nominalphrasen führt. Die situative Veränderung im Kontext korreliert mit einer sprachlichen Dekontextualisierung, die durch den Wegfall des definiten Artikels in der Nominalphrase bzw. mit einer Re-Kontextualisierung, die durch die sprachliche Erweiterung um einen Relativsatz gekennzeichnet ist. Begreift man fachliche Lernprozesse als Aneignung von Mustern kommunikativer Teilhabe (Lave 1988; Gee & Green 1998), so wird an unserem Beispiel deutlich, wie so eine Verschränkung sprachlichen und fachlichen Lernens situativ hervorgebracht und im Rahmen etablierter Interaktionssequenzen verfestigt werden kann. In dem Sinne, in dem Dekontextualisierung und sprachlicher Ausbau als wesentliche Bestandteile von Bildungssprache beschrieben werden (vgl. Schleppegrell 2010), haben wir es hier also mit der Herausbildung bildungssprachlicher Praktiken zu tun (vgl. Heller & Morek 2012). Und auch wenn es sich dabei an der Oberfläche nur um eine minimale Veränderung im Gesamtablauf der jeweiligen Aufgabenbearbeitungen handelt, offenbaren die Mikroanalysen jedoch, dass wir es hier mit wichtigen Ansatzpunkten für das sprachliche und fachliche Lernen zu tun haben. Literatur Aebli, Hans (1976): Grundformen des Lehrens. 9., erw. Aufl. Stuttgart: Klett. Bergmann, Jörg & Quasthoff, Uta (2010): Interaktive Verfahren der Wissensgenerierung: Methodische Problemfelder. In: Dausendschön-Gay, Ulrich; Domke, Christine & Ohlhus, Sören (Hrsg.): Wissen in (Inter-)Aktionen. Verfahren der Wissensgenerierung in unterschiedlichen Praxisfeldern. Berlin, New York: De Gruyter, 21-35. Bruner, Jerome (1974): Entwurf einer Unterrichtstheorie. Berlin: Berlin Verlag. Bruner, Jerome (1978): The role of dialogue in language acquisition. 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Wartha, Sebastian & Schulz, Axel (2012): Rechenproblemen vorbeugen. Berlin: Cornelsen. <?page no="245"?> Sprache und multimodale Ressourcen beim Erwerb von Rechenstrategien 245 Anhang Übersicht zu den verwendeten GAT-Transkriptionskonventionen Sequenzielle Struktur/ Verlaufsstruktur [ ] Überlappungen und Simultansprechen = schneller, unmittelbarer Anschluss neuer Sprecherbeiträge oder Segmente Ein- und Ausatmen °h / h° Einbzw. Ausatmen von ca. 0.2-0.5 Sek. Dauer Pausen (.) Mikropause, geschätzt, bis ca. 0.2 Sek. Dauer (-) kurze geschätzte Pause von ca. 0.2-0.5 Sek. Dauer (4.0) gemessene Pausen von ca. 4 Sek. Dauer Sonstige segmentale Konventionen äh öh äm Verzögerungssignale, sog. "gefüllte Pausen" : Dehnung, Längung, um ca. 0.2-0.5 Sek. Rezeptionssignale hm ja nein einsilbige Signale hm_hm ja_a zweisilbige Signale Sonstige Konventionen (solche) vermuteter Wortlaut ((...)) Auslassung im Transkript Nonverbale Handlungen und Ereignisse ((hustet)) nonverbale Handlungen u. Ereignisse <<hustend> > parallel zu Sprachhandlungen verlaufende Handlungen mit Reichweite Akzentuierung akZENT Fokusakzent Tonhöhenbewegungen am Ende von Intonationsphrasen ? hoch steigend , mittel steigend - gleichbleibend ; mittel fallend . tief fallend Lautstärke und Sprechgeschwindigkeitsveränderungen (mit Reichweite) <<f> > forte, laut <<p> > piano, leise <<all> > allegro, schnell <<acc> > schneller werdend <?page no="247"?> Eva Gläser, Ingrid Kunze, Christina Noack, Karin Osterheider Sprachliches Handeln bei der kooperativen Bearbeitung komplexer Aufgaben im naturwissenschaftlich-technischen Anfangsunterricht 1 Einleitung Wenn Schülerinnen und Schüler kooperativ Aufgaben bearbeiten, kommunizieren sie auf vielfältige Art und Weise. Ihre Kommunikation bezieht sich dabei, so kann begründet angenommen werden, nicht nur auf den Lerngegenstand und den Prozess der Aufgabenbearbeitung, sondern auch auf ihre Interaktion, auf den Lernprozess und ihre sozio-emotionalen Beziehungen. In der Studie, über die hier berichtet wird, wurden aus einer interdisziplinären Perspektive heraus Lerngespräche untersucht, die Schülerinnen und Schüler im Anfangsunterricht beim kooperativen Bearbeiten komplexer Aufgaben zum naturwissenschaftlich-technischen Lernen führten. Diese Lerngespräche wurden dabei einerseits inhaltlich aus fachdidaktischer Perspektive, andererseits nach formal-sprachlichen sowie pragmalinguistischen Gesichtspunkten ausgewertet. Ziel der Studie ist es, ein mehrperspektivisch angelegtes Instrument zur Analyse des Sprechhandelns von Schülerinnen und Schülern in solchen Lerngesprächen zu entwickeln und zu erproben. In diesem Aufsatz liegt der Fokus auf der Darstellung des dazu gewählten Forschungsansatzes und der Demonstration des analytischen Vorgehens an einer Beispielsequenz. Weitere Ergebnisse der Gesamtstudie sollen an anderer Stelle publiziert werden. 2 Stand der Forschung Kooperatives Lernen findet in der Schule zunehmend Anwendung, gilt es doch für alle Altersstufen im Vergleich zu individualisierten und kompetitiven Lernformen als wirksamer, sowohl bezüglich des inhaltlichen (fachlichen) Kompetenzerwerbs als auch der Entwicklung sozialer Kompetenzen, der Lernmotivation und der Selbstwirksamkeitsüberzeugungen (vgl. Hattie 2009; Borsch 2015; für den Elementarbereich Rohrbeck et al. 2003). Studien belegen zudem, dass die Fähigkeit, gelingende kooperative Lernprozesse zu gestalten, trainierbar ist: Dies gilt sowohl für die Schülerinnen und Schüler, <?page no="248"?> Eva Gläser, Ingrid Kunze, Christina Noack, Karin Osterheider 2 48 die konstruktive gegenseitige Lernunterstützung erlernen können (vgl. Gillies 2003b; Gillies & Ashman 1996), als auch für die Lehrkräfte, sofern sie entsprechende Instruktionen erhalten (vgl. Pauli & Reusser 2000; Roberts & Eady 2012). Das kognitive Anregungspotential ist, so wird vermutet, jedoch nicht zwangsläufig durch das kooperative Arrangement an sich gegeben, sondern entfaltet und erweist sich erst in der Interaktion selbst (vgl. Rabenstein & Reh 2007: 35). Deshalb sollte diesen Interaktionsprozessen besondere Aufmerksamkeit gelten. Im Anfangsunterricht werden kooperative Lernarrangements u.a. im Sachunterricht eingesetzt. Im naturwissenschaftlich-technischen Bereich des Sachunterrichts wurden bislang vor allem die Vorstellungen von Schülerinnen und Schülern zu unterschiedlichen Lerngegenständen bzw. Phänomenen (Präkonzepten) und deren Veränderung durch Unterricht erforscht (vgl. Jonen, Hardy & Möller 2003). Die als naive Theorien oder Schülervorstellungen bezeichneten Konzepte der Lernenden sind für die fachdidaktische Planung von Lernarrangements bedeutsam. Die kommunikativen Prozesse im Verlauf des Unterrichts, insbesondere in den Arbeitsphasen unterschiedlicher Lerngruppen, ihre sachbezogenen Lerngespräche untereinander, wurden dagegen bislang nicht untersucht, obwohl hierbei Aushandlungen der Schülerinnen und Schüler untereinander, ihre Rollen im Lernprozess und ihre fachliche Klärung sichtbar werden können. Dieses Forschungsdesiderat gilt in besonderem Maße für Kinder der Klassen 1 und 2. Eine Begründung hierfür kann in der lang überdauernden Annahme der Stadientheorie von Piaget gesehen werden, wonach jüngere Kinder noch nicht in der Lage wären, abstrakt zu denken. Aufgrund jüngerer Ergebnisse der Entwicklungspsychologie (vgl. Koerber & Sodian 2007) wurde dies allerdings revidiert, was auch zu veränderten fachdidaktischen Prämissen führte (vgl. Gläser 2007). Studien zu sachbezogenen Lerngesprächen wurden auch für andere Domänen bzw. Altersstufen durchgeführt. Dabei liegt ein Schwerpunkt auf der detaillierten Erfassung von Aushandlungsprozessen innerhalb der Schülergruppen unter der Frage, wie sich die domänenspezifischen Denk- und Argumentationsprozesse vollziehen, z.B. für mathematisches Lernen in der Grundschule (vgl. Krummheuer 2007; Krummheuer & Naujok 1999) oder das physikalische Lernen in den Sekundarstufen (vgl. von Aufschnaiter 1999). Die dabei vorgenommene Rekonstruktion fallspezifischer Interaktionsmuster wird bei Bonnet (2007: 101ff.) dahingehend erweitert, dass er am Beispiel von Gruppenarbeiten im Chemieunterricht die interaktionale Kompetenz hinsichtlich ihrer sozialen Dimension (Bearbeitung des Beziehungs- und des Partizipationsproblems) und ihrer metakognitiven Dimension (Organisation der Gruppenprozesse und Entwicklung einer Argumentationsstruktur) beschreibt. Sachbezogene Lerngespräche in kooperativen Lernsituationen wurden zudem bislang nicht aus einer fachdidaktischen Sicht analysiert. Bisher <?page no="249"?> Sprachliches Handeln bei der kooperativen Bearbeitung komplexer Aufgaben 249 vorliegende Studien zum kooperativen Lernen und zur Interaktion im Anfangsunterricht sind derzeit vorrangig ethnographisch ausgerichtet und gehen von einer starken Selbstläufigkeit der Prozesse aus (vgl. Huf 2007; 2010) oder fokussieren Aspekte des Helfens unter einer eher normativen Perspektive (vgl. Kucharz & Wagener 2009). Die Aushandlungsprozesse der Lernenden zur Sachthematik werden dabei nicht tiefergehend analysiert. Die verbalen und nonverbalen Aspekte der kooperativen Lernprozesse werden in den vorliegenden Studien nur am Rande als Teil der fachlichen und/ oder interaktionalen Prozesse betrachtet. Einen zentralen Aspekt der hier beschriebenen Studie stellt der Begriff der sprachlichen Handlungsmuster nach Ehlich & Rehbein (1979) dar. Hierbei handelt es sich um sprachliche Formen „verallgemeinerter Handlungsmöglichkeiten, deren Strukturen vom zu erreichenden Handlungszweck her organisiert sind“ (Ehlich 2007: 204). Inwieweit bereits Grundschülerinnen und -schüler in der kooperativen Aufgabenbearbeitung gesellschaftlich etablierte sprachliche Handlungsmuster (Konfliktaustragung, Konsensbildung usw.) nutzen, ist Teil der Untersuchung. Das Sprechhandeln, also der bewusste oder unbewusste Einsatz sprachlicher Handlungsmuster, von Schülerinnen und Schülern in sachbezogenen Lerngesprächen, welches Forschungsgegenstand der linguistischen Pragmatik, des Konstruktivismus, der Soziologie und der unterschiedlichen Fachdidaktiken ist, wurde außerhalb des Deutschunterrichts bislang erst wenig untersucht (für den Physikunterricht vgl. etwa von Aufschnaiter 1999; Hirsch 2005; für die Mathematikdidaktik Prediger 2013; für den Sachunterricht u.a. Redder 2012). Aktuelle Forschungen zum Thema Sprache im Fachunterricht drehen sich mehrheitlich um sog. bildungssprachliche Fragen, welche die sprachliche Oberflächenstruktur betreffen (Vollmer & Thürmann 2013); zwar schließen diese Arbeiten Diskurskompetenzen schon aufgrund der Lehrplananforderungen mit ein, dennoch existieren kaum Studien, die die Entwicklung und Vermittlung von Sprechhandlungskompetenz im Sinne einer bewusst gesteuerten sprachlichen Interaktion im Grundschulalter untersuchen (vgl. hierzu die ältere Arbeit von Pschibul 1980 sowie Hövelbrinks (in diesem Band) zu einer Verknüpfung der pragmatischen und der formalsprachlichen Ebene im grundschulischen Erwerb bildungssprachlicher Diskurskompetenz). Vor allem in fachdidaktischen Arbeiten zum Primarbereich liegen generell kaum tiefere Analysen zu Lerngesprächen vor und es wird bislang nur selten der Anschluss an Forschungen zur sprachlichen Kompetenzentwicklung gesucht. Lediglich zum Begründen und wissenschaftlichen Argumentieren von Schülerinnen und Schülern am Ende der Grundschule existiert eine größere Anzahl auch neuerer Arbeiten (vgl. Beinbrech, Kleickmann, Tröbst & Möller 2009; Grasser & Redder 2011; Tröbst, Hardy & Möller 2011; Schramm, Hardy, Saalbach & Gadow 2013), wobei die Rolle der Lehrkraft häufig im <?page no="250"?> Eva Gläser, Ingrid Kunze, Christina Noack, Karin Osterheider 250 Fokus steht. Gleichwohl gibt es Anknüpfungsmöglichkeiten, etwa an Studien zur Begriffsbildung im Anfangsunterricht (Osburg 2002) und zum kindlichen Erklären (Morek 2012). Anschlussfähig sind insbesondere einige ältere Arbeiten, in denen Gespräche in Kleingruppen (innerhalb und außerhalb von Unterricht) empirisch untersucht und die unterschiedlichen Sprechakte kategorisiert wurden. So entwickelte Bales 1951 im Rahmen der Interaktionsprozessanalyse (IPA) ein differenziertes Kategoriensystem, das u.a. dazu dienen soll, Profile von jedem einzelnen Mitglied einer (Lern)gruppe zu erstellen, um das jeweilige Sprechverhalten, das v.a. auch durch para- und nonverbale Merkmale gekennzeichnet ist, sowie das Sprechhandeln, also den Einsatz spezifischer sprachlicher Handlungsmuster, in der Gruppe auszumachen. Insbesondere lassen sich mit Hilfe der IPA Rückschlüsse auf dynamische Prozesse innerhalb der Gruppenstruktur ziehen, etwa durch einen inklusiven bzw. exklusiven 1 Sprachgebrauch der Schülerinnen und Schüler. Im deutschsprachigen Raum liegt eine weniger engmaschige Kategorisierung von Sprechhandlungen bei Schülerinnen und Schülern durch die Arbeit von Diegritz & Rosenbusch (1977) vor. In Anlehnung an die Sprechakttheorie Austins (1962) unterscheiden sie konstative, positionale sowie evaluative Sprechhandlungen, je nachdem, ob im Gespräch der Inhalts- oder der Beziehungsaspekt überwiegt. Eine Fokussierung auf Sachgegenstand oder Beziehung findet sich auch bei Bales (1951), hier allerdings dichotomisch: Eine Äußerung wird entweder der sozio-emotionalen oder der instrumentalen Ebene zugerechnet. In ihrer linguistisch angelegten Studie zur Unterrichtskommunikation fokussieren Becker-Mrotzek & Vogt u.a. auf die Gruppenarbeit als Unterrichtsform, als deren Besonderheit sie die „Verantwortung für die kommunikative Ordnung und die zu bearbeitende Aufgabe“ (Becker-Mrotzek & Vogt 2009: 115) herausstellen. Dabei gehen die Autoren anhand von exemplarischen Unterrichtssequenzen der Frage nach, mit welchen sprachlichen Mitteln sich Schülerinnen und Schüler in einer Gruppenarbeitsphase einen eigenen sozialen Handlungsraum schaffen und wie sie dabei den Konflikt zwischen der Fremdanforderung der Lehrkraft, gemeinsam ein bestimmtes Problem zu bearbeiten, und der Bereitschaft zu Eigenverantwortlichkeit und Eigenständigkeit lösen. Gillies u.a. konnten in mehreren Unterrichtsstudien (vgl. den Überblick in Gillies 2003a) zeigen, dass Schülerinnen und Schüler bei der Arbeit in Kleingruppen, häufig mithilfe bildungssprachlicher Gesprächsstrategien, Informationen abklären, über den Lerngegenstand debattieren und so ihr Verständnis und Wissen gemeinsam weiterentwickeln, vorausgesetzt, die Gruppen werden von der Lehrkraft bewusst nach bestimmten Kriterien wie 1 Das heißt, dass die angesprochene Person in die Handlung einbezogen bzw. von ihr ausgeschlossen wird. <?page no="251"?> Sprachliches Handeln bei der kooperativen Bearbeitung komplexer Aufgaben 251 Gruppengröße und Zusammensetzung aus schwachen, mittleren und guten Lernenden gebildet und entsprechend instruiert. In einer Vergleichsstudie von Gillies & Ashman (1996) wird dargestellt, dass in der Kleingruppenarbeit deutlich mehr gegenseitige Unterstützung und Kooperation zu beobachten ist, wenn die Gruppe und die Lehrkräfte in einem expliziten Training entsprechend angeleitet werden, was sich insbesondere in einem inklusiveren Sprachgebrauch sowie gegenseitigen Erklärungen ausdrückte. Der Überblick über den Forschungsstand verdeutlicht, dass die Analyse des sprachlichen Handelns bei der kooperativen Aufgabenbearbeitung eines interdisziplinären Zugriffs aus der Perspektive von Deutschdidaktik, Linguistik, Didaktik des Sachunterrichts, Lehr-Lern-Forschung und Didaktik des Grundschulunterrichts bedarf. In diesem Sinne wurde eine Studie durchgeführt, in der Schülerinnen und Schüler der zweiten Klasse in leistungsheterogen zusammengesetzten Lerngruppen kooperativ eine komplexe Aufgabe aus dem technischen Bereich des Sachunterrichts (Konstruktion einer Brücke) bearbeiteten und ihr Ergebnis anderen Schülerinnen und Schülern vorstellten und erläuterten. 3 Forschungsfragen und Vorgehen Das Ziel der Untersuchung bestand darin, das Sprechhandeln von Schülerinnen und Schülern bei der kooperativen Bearbeitung komplexer Aufgaben zum naturwissenschaftlich-technischen Lernen im Anfangsunterricht zu analysieren. Dazu wurde ein mehrperspektivisch angelegtes Analyseinstrument entwickelt, das der Auswertung von videografierten Schüler- Schüler-Interaktionen dient. Das Sprechhandeln der Kinder wird dabei unter zwei zentralen, aufeinander zu beziehenden Aspekten untersucht: - Wie kommunizieren die Schülerinnen und Schüler in ihren Lerngesprächen über die Sache (die sachunterrichtlichen Lerngegenstände) und handeln dabei Sinn aus? - Wie kommunizieren die Schülerinnen und Schüler in ihren Lerngesprächen über ihr Lernen, ihre Interaktionen und ihre sozio-emotionalen Beziehungen; wie konstituieren sie diese verbal und nonverbal? Im Fokus steht damit also das Sprechhandeln der Kinder, in dem, so lässt sich aufgrund des Forschungsstandes annehmen, die Aushandlungsprozesse in inhaltlicher (fachlicher) und interaktionaler (sozialer und metakognitiver) Hinsicht sichtbar werden und zugleich auch die Aushandlung der Gestaltung der verbalen und nonverbalen Kommunikation selbst stattfindet, die wiederum Ausdruck der fachlichen und interaktionalen Aushandlung ist. Damit wird deutlich, dass das Analyseinstrument linguistische und sachunterrichtsdidaktische Aspekte integrieren muss. <?page no="252"?> Eva Gläser, Ingrid Kunze, Christina Noack, Karin Osterheider 252 Für die Erhebung der Daten wurde ein quasi-experimentelles Setting gewählt. Den Schülerinnen und Schülern wurde ein strukturiertes Lernarrangement angeboten, das nach vorliegenden Erkenntnissen besonders förderlich für sachunterrichtliches Lernen und kindliche Interaktion ist. Das betrifft insbesondere die Aufgaben, das Material, die Gruppenzusammensetzung und die gegebenen sprachlichen Anregungen (vgl. Gillies 2003a; 2003b; Möller & Steffensky 2010). Dies erfolgt im Bewusstsein, dass mit jedem Arrangement unweigerlich das Sprechhandeln der Kinder, deren Möglichkeitsraum, beeinflusst wird. Für das vorliegende Setting wurde daher auf bereits erprobte problemorientierte Konstruktionsaufgaben zurückgegriffen, deren Eignung für die Altersstufe nachgewiesen ist (vgl. Möller, Kleickmann & Tröbst 2009). Sie wurden für den Untersuchungszweck und die Altersstufe adaptiert. Die Aufgabenbearbeitung erfolgte unter weitgehendem Verzicht auf die Intervention durch eine Lehrkraft bzw. einen anderen Erwachsenen. Per Video und mitlaufendem Audioband (als Basis für die Gesprächstranskripte) wurden der Prozess der Aufgabenbearbeitung und die mündliche Präsentation der Ergebnisse vor einer anderen Schülergruppe dokumentiert. Das Datenmaterial wurde vervollständigt durch Aufzeichnungen eines Beobachters und die von den Lernenden erstellten Aufzeichnungen und Produkte. Für die Auswertung der Daten 2 wurde ein integratives Instrumentarium entwickelt, das im Sinne einer Methodentriangulation das Material mit verschiedenen Methoden zunächst einzeln und sodann verschränkt untersucht. Verbunden wurden: - eine inhaltliche Analyse bezüglich des sachunterrichtlichen Lernens, der fachlichen Kompetenz und der fachbezogenen Begriffsentwicklung (angelehnt an Richter 2006; Gläser 2006). - eine gesprächs- und argumentationsanalytische bzw. pragmalinguistische Auswertung der schülerseitigen Äußerungen (angelehnt an Becker- Mrotzek & Vogt 2009; Brinker & Sager 2006; Bonnet 2007), auch unter Berücksichtigung der Interaktionsprozessanalyse (vgl. Bales 1951) und der Rahmungen der Kommunikation (vgl. Bräuer 2011). Zentrale zu untersuchende Merkmale sind hier Länge und Anzahl von Redebeiträgen, Sprecherwechsel, inklusiver vs. exklusiver Sprachgebrauch sowie Sequenzen des gegenseitigen Erklärens und Aushandelns von Bedeutungen und Wissenszusammenhängen. - eine formal-linguistische Analyse, in der es darum geht, die von den Schülerinnen und Schülern eingesetzten sprachlichen Mittel quantitativ und qualitativ zu erfassen (im Folgenden am Beispiel der Verwendung von Personal- und Possessivpronomina). 2 Da der Fokus auf dem forschungsmethodischen Vorgehen liegt, wird auf genauere Angaben zum Datenumfang etc. verzichtet. <?page no="253"?> Sprachliches Handeln bei der kooperativen Bearbeitung komplexer Aufgaben 253 Die Sequenzierung des Materials ist durch den Lernprozess und den Unterrichtskontext begründet. 4 Analyse einer Beispielsequenz Die drei unterschiedlichen Methoden bzw. fachlichen Zugänge wurden in die Analyse der Unterrichtssequenzen jeweils integriert. Im Folgenden wird dies am Beispiel einer ausgewählten Sequenz, einem Ausschnitt aus einem Lerngespräch einer Schülergruppe, vorgestellt. Zur Gruppe gehörten vier Jungen einer zweiten Klasse, die heterogene Lernvoraussetzungen in fachlicher und sprachlicher Hinsicht besitzen. Die Aufgabe der Schüler bestand darin, mit Hilfe von konkretem Material (einzelnen Holzbausteinen und einem Modellfahrzeug) die Konstruktion von Brücken zu erarbeiten. Vor der ausgewählten Sequenz hatten die Schüler bereits in Partnerarbeit eine einfache hinführende Aufgabe gelöst. Daran anknüpfend sollten sie zu viert über Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede ihrer Lösungsansätze sprechen. Anschließend sollten sie zu viert eine neue Brücke mit einem modifizierten, komplexeren Anforderungsniveau konstruieren. Ziel des Lernarrangements war es, dass die Schüler eine gemeinsame Lösung für diese Konstruktionsaufgabe finden, um somit in der handelnden, kommunikativen Auseinandersetzung ein Verständnis über die Konstruktion von Brücken anzubahnen. Die analysierte Sequenz endet mit dem erfolgreichen Bau einer neuen Brücke. Die Aufgaben sind angelehnt an die sog. Klassenkisten für den Sachunterricht (vgl. Lemmen, Möller & Zolg 2009), die auf der Basis eines konstruktivistischen Lehr- und Lernverständnisses entwickelt wurden. Basis für die Planung der Lernumgebung waren zudem die Kernelemente kooperativen Unterrichtens, d.h. Arbeitsphasen, die Think, Pair und Share ermöglichen, also die individuelle Auseinandersetzung mit der Aufgabe, die daran anschließende kooperative Bearbeitung und die Präsentation des Ergebnisses für andere. In einem deduktiv-induktiven Verfahren wurden die während des Lernprozesses beobachtbaren Handlungen der Kinder, die in den Videoaufzeichnungen erkennbar sind, kategorisiert. In dem entwickelten Analyseraster sind die Handlungen aller Kinder in Sekundenschritten dokumentiert. Dabei konnten insgesamt acht Handlungskategorien unterschieden werden (vgl. Abb. 1). Teilweise waren Äußerungen bzw. Sequenzen nicht eindeutig zu kategorisieren oder mehrere Kategorien überschnitten sich. Dies wurde entsprechend notiert. <?page no="254"?> Eva Gläser, Ingrid Kunze, Christina Noack, Karin Osterheider 254 1. Bauen - dazu zählt eigenes Ausprobieren oder am Bau Beteiligtsein 2. Lesen - hierunter sind das Lesen und Vertrautmachen mit der Aufgabe sowie wiederholtes Lesen zusammengefasst 3. Externen Kontakt suchen - Absichern durch Nachfragen bei Personen außerhalb der Gruppe, Hilfe holen usw. 4. Zeigen, Vormachen 5. Kommentieren bzw. etwas zur Sache sagen 6. Aktives Zuhören / Zuschauen 7. „off-task“ (Ablenken lassen - über etwas anderes unterhalten, herumalbern etc.) 8. Stand-by - warten bzw. passiv sein Abb. 1: Identifizierte Handlungen der Kinder im Videomaterial Die Bearbeitung der Aufgabe beinhaltete nicht nur das Konstruieren, Planen und Bauen einer vorgegebenen Brücke. Die Schüler mussten implizit auch soziale Prozesse aushandeln 3 (wer baut, wer liest, welche Idee wird verfolgt etc.), die Aufgabentexte lesen und darüber kommunizieren, die Ergebnisse ihrer Gruppenarbeit verbalisieren und verschriftlichen und mit den zeitlichen Vorgaben für diese Aufgabe umgehen können. Hinzu kommt aus fachdidaktischer Sicht ebenso die Frage, ob die Schüler in ihren sprachlichen Aushandlungen über das Phänomen Fachbegriffe verwenden. Der Schwierigkeitsgrad dieser Aufgabe wurde, im Gegensatz zur leichten Einstiegsaufgabe, von den Forscherinnen als mittel bis hoch eingeschätzt. Dies wurde u.a. auch durch die Äußerung eines Schülers (A) während der Gruppenarbeit bestätigt: „Mmh, aber, Spaß macht das schon, aber anstrengend ist es! “ Die Aussagen der Schüler beinhalten nur sehr wenige fachliche Begriffe (z.B. Zentimeter), dennoch zeigte sich, dass sie sich verbal aufeinander beziehen und ihr Handeln sprachlich gegenseitig darlegen, wenn auch in einer sehr einfachen sprachlichen Form: B: Guck, aber das klappt irgendwie nicht. C: Ja, weil du, weil du jetzt das hingestellt, muss ein bisschen da nach hinten. (Er umschreibt die Positionierung der einzelnen Bauklötze für die Statik der Brücke.) A: Da hat er Recht! Die kommunikativen Aushandlungen der Schüler beziehen sich nicht nur auf die sachliche Klärung. Es entsteht auch hinsichtlich der Bedeutung der Methode des Vermutens ein Aushandlungsbedarf in der Gruppe. B: (liest vor) Kann diese Brücke so halten? A: Nee, das geht gar nicht, das kann ich jetzt schon beantworten. 3 Dieses Aushandeln war nicht explizit gefordert, es ergab sich vielmehr durch das Lernarrangement, in dem es jeweils nur ein Aufgabenblatt und ein Materialset gab. <?page no="255"?> Sprachliches Handeln bei der kooperativen Bearbeitung komplexer Aufgaben 255 B: Ja, wir schreiben da jetzt einfach nee hin, fertig. A: Wir vermuten. Nein, es geht nicht. B: Soll ich das jetzt hinschreiben? A: Nee, wir vermuten, es geht nicht! B: Ich schreib das da hin! A: Ja, aber wir hams doch noch gar nicht getestet! C: (baut während des Gesprächs) Ich habs glaub ich geschafft! Während Schüler A die Fragestellung nicht ohne eine Überprüfung beantworten möchte, seine geäußerte Vermutung eindeutig vor den für ihn notwendigen Test stellt, sieht B dies nicht als bedeutsam an. Die Erkenntnis, dass eine Vermutung erst durch eine Überprüfung verneint oder bejaht werden kann, ist Teil der Methodenkompetenz, die im Rahmen des Sachunterrichts bis zum Ende der Grundschulzeit zu vermitteln ist. Die Schüler teilen sich die einzelnen Aufgabenanteile unterschiedlich auf. Bezogen auf das Lesen und Schreiben sind drei der vier Schüler aktiv beteiligt. Allerdings führt das Lesen und Schreiben während der Gruppenarbeit auch zu sozialen Aushandlungsprozessen, die keinen inhaltlichen Bezug zur Problemstellung besitzen. C: Ich schreib das jetzt hin (...) A: Boah, aber ein bisschen gründlicher, wenns geht. B: Jetzt Aufgabe vier oder was? A: Ja, aber erst, wenn das geschrieben ist. B: Darf ich mal lesen? Darf ich mal lesen? D: (liest, was C geschrieben hat): Die Perücke hält. Brücke. B: Hait steht da. Brücke hait. C: Das steht hält. I, das ist ein I. A: Das sieht aber auch nicht gerade gründlich aus. Es zeigt sich, dass diese Schüler der zweiten Klasse die Aufgabenstellungen sehr korrekt ausführen möchten. Zudem erkennt man an diesem Ausschnitt, dass sie als Gruppe interagieren, um die Lese- und Schreibaufgaben zu lösen. Im Folgenden wird ein genauerer Blick auf eine etwa fünfminütige Teilsequenz geworfen, die als repräsentativ für die Gesamtsequenz gelten kann. Eine detaillierte Analyse zeigt, dass Zuhören / Zuschauen mit 47% den bei weitem größten Anteil an Handlungen ausmachte. Danach folgten Bauen (16%), Lesen (12%) und Kommentieren (11%). Mit 5% bzw. 9% wurde kaum ein Ablenken lassen oder Stand-by-Verhalten beobachtet. Externen Kontakt suchen und Zeigen waren mit < 1% bei der Analyse dieser Sequenz zu vernachlässigen. Insgesamt war in der analysierten Teilsequenz die Kategorie Kommentieren mit 11% relativ schwach vertreten. Von den getätigten Äußerungen lässt sich der bei weitem größte Teil als handlungsbegleitende Äußerungen beschreiben. Diese konnten sowohl Fragen (bspw. „Kriegst du das hin? “), <?page no="256"?> Eva Gläser, Ingrid Kunze, Christina Noack, Karin Osterheider 256 Aufforderungen (bspw. „Zeig mal dieses“), Assertive (bspw. „Geht doch“) oder Ähnliches sein. Nur ein kleiner Teil der Äußerungen hingegen konnte als handlungsunterstützend gewertet werden (bspw. „Ja, weil du, weil du da hingestellt, muss ein bisschen da nach hinten“). Als eigene Handlung erläuternd (im Sinne von bspw. „Ich leg den hierhin und dann den da drauf“) konnte keine Äußerung analysiert werden. In einem weiteren Schritt konnten die Handlungen auf die verschiedenen Gruppenmitglieder bezogen werden (vgl. Abb. 2-4). Abb. 2: Schüleranteile in Prozent bei der Handlung Bauen Abb. 3: Schüleranteile in Prozent bei der Handlung Zuhören/ Zuschauen Abb. 4: Schüleranteile in Prozent bei der Handlung Ablenken lassen 20% 56% 9% 15% 0 10 20 30 40 50 60 A B C D Achsentitel 21% 19% 31% 29% 0 10 20 30 40 A B C D 51% 27% 21% 5% 0 10 20 30 40 50 60 A B C D <?page no="257"?> Sprachliches Handeln bei der kooperativen Bearbeitung komplexer Aufgaben 257 Die Teilsequenz enthält insgesamt 65 Äußerungen der Schüler. Von diesen wurden 30 Äußerungen (46%) von A, 15 bzw. 16 Äußerungen (23% bzw. 25%) von B und C und 4 Äußerungen (6%) von D getätigt. Neben der quantitativen Analyse kann die Teilsequenz auch qualitativ im Hinblick auf eine Rollenverteilung analysiert werden. Der Hauptredner A scheint sich innerhalb der Gruppe die Funktion einer Kontrollinstanz gegeben zu haben. Dies äußert sich darin, dass er innerhalb der Gruppe am häufigsten neben seinem eigenen Handeln (bspw. „Schaffen kann ich auch nicht alles“) ebenfalls das Handeln anderer kommentiert (bspw. „Da hat er Recht“). Er ist auch derjenige, der den höchsten Anteil an Modalverben der Verbots- und Befehlsbedeutung in seinen Äußerungen tätigt („Bei einem echten Brummi darf das doch nicht sein, dass das Auto nach unten kippt! “). Mit seinen Äußerungen versucht er bewusst, das Geschehen zu lenken („Nein, lass mal, wir müssen erstmal Test machen“) und die anderen Gruppenmitglieder zu steuern (bspw. „Mach jetzt mal“). Aus diesen Äußerungen ging jedoch kein erfolgreicher Brückenbau hervor. Das heißt, aus qualitativer Sicht dienen diese steuernden Äußerungen nicht unmittelbar der Problemlösung. Konträr zu Schüler A verhält sich Schüler D in derselben Gruppe: Er tätigt mit 5% den geringsten Anteil an absoluten Äußerungen innerhalb der analysierten Teilsequenz, was verglichen mit der Gesamtsequenz einen durchaus repräsentativen Wert darstellt. Gleichzeitig war D relativ wenig am Bau beteiligt, seine wenigen Kommentare zeigen jedoch, dass er durchgehend auf den Bauprozess fokussiert war. Entsprechend ließ er sich kaum ablenken, sondern schaute die meiste Zeit A zu. Sein Verhalten lässt sich als introvertiert, passiv und nicht expressiv charakterisieren. Überraschenderweise hat er durch scheinbar nebensächliche Hilfestellungen (z.B. Untenhalten des Papiers) entscheidend dazu beigetragen, dass A letztlich die Lösung der Aufgabe gelingen konnte, was aufgrund seiner scheinbaren Passivität und verbalen Zurückhaltung jedoch kaum auffiel. So hat auch A die Lösungsfindung ausschließlich sich selbst zugeschrieben. Dies ist in Hinblick auf Unterrichtssituationen interessant, da anzunehmen ist, dass auch Lehrkräfte erfolgreichen, aber stillen Schülern eher wenig Aufmerksamkeit schenken und ihre guten Lernergebnisse entsprechend weniger zur Kenntnis nehmen als die von wortstärkeren, extrovertierteren und expressiveren Schülern. Aufbauend auf die obige Beschreibung der Verteilung der Tätigkeits- und Sprechanteile erfolgt die Analyse der sprachlichen Formen im Hinblick auf mögliche Planungsstrategien. Grundsätzlich sind hier mehrere Möglichkeiten der Erklärung der Planung denkbar. Die Kinder können während des Bauens das eigene Vorgehen kommentieren. Eine andere Möglichkeit ist ein gedanklich durchgespielter Bauprozess, der anschließend hypothetisch geäußert wird - was eine höhere kognitive Leistung erfordert. Ein sprachlicher Hinweis auf Letzteres kann die Verwendung des Konjunktivs II sein („man <?page no="258"?> Eva Gläser, Ingrid Kunze, Christina Noack, Karin Osterheider 258 könnte...“), der „die Funktion als Kontrafaktiv allgemein in Sätzen [hat], die als Konditionale interpretiert werden, auch wenn sie nicht die Form des wenn-dann-Satzes haben“ (Eisenberg 2013: 109). In allen Äußerungen der analysierten Teilsequenz waren keine konjunktiven Strukturen zu finden. Ebenso kontrafaktiv, also den Gegensatz zwischen Realität und Irrealität respektive Gedankenmodell anzeigend, sind demnach wenn-dann-Sätze. Wenn-dann-Strukturen waren in der Teilsequenz nur unvollständig zu finden, d.h. der wennbzw. dann-Teil fehlte („wenn du es besser kannst ...“ oder „und dann fällt das ab ...“). Diese Ellipsen wurden oft als handlungsbegleitender Kommentar zu einem Bauprozess geäußert. Sie können demnach nicht als Verbalisierung eines gedanklich fiktiven Bauprozesses gelten, sondern müssen dementsprechend temporal interpretiert werden. Ein weiterer Hinweis auf eine Äußerung im Sinne einer Verbalisierung eines Gedankenmodells kann die Verwendung des unpersönlichen Personalpronomens man liefern: Mit man wird eine unspezifische Bezugnahme auf eine Person ausgedrückt, wie es bei Verallgemeinerungen üblich ist (bspw. „Allgemein kann man sagen, dass ...“). Dieses war nur einmal in der analysierten Teilsequenz zu finden (D: „wenn man das so hält“). Da kaum kontrafaktive bzw. verallgemeinernde Strukturen dieser Art zu finden waren, liegt der Schluss nahe, dass Bauprozesse direkt ausgeführt wurden und weniger gedanklich mit fiktiven Bauten experimentiert wurde, zumindest nicht in der Form, dass die Ergebnisse dieses Gedankenprozesses in Form einer Hypothese den anderen Gruppenmitgliedern vorgestellt wurden. Beachtenswert ist darüber hinaus eine Analyse im Hinblick auf die Gruppenzugehörigkeit bzw. Identifikation mit der eigenen Gruppe aus sprachlicher Sicht. Aufschluss hierüber liefert die Analyse der verwendeten Personalpronomen und Possessivpronomen (vgl. Tab. 1-3). Tab. 1: Personalpronomen der 1. und 2. Person Singular/ Plural im Nominativ ich du wir ihr Prozentualer Anteil 41% 23% 26% 9% Absolut 14 8 9 3 Tab. 2: Personalpronomen der 1. und 2. Person Singular/ Plural im Dativ mir dir uns euch Prozentualer Anteil - 33% 33% 33% Absolut - 1 1 1 <?page no="259"?> Sprachliches Handeln bei der kooperativen Bearbeitung komplexer Aufgaben 259 Tab. 3: Possessivpronomen der 1. und 2. Person 4 mein dein unser euer Prozentualer Anteil - - 100% - Absolut - - 3 - Die Personalpronomen wir und ihr wurden relativ häufig verwendet. Grundsätzlich kann wir (ebenso wie das Possessivpronomen unser) sowohl inklusiv (wir alle) als auch exklusiv (wir vs. ihr) verwendet werden. 5 Folglich kann so innerhalb einer Gruppe eine Teilgruppe gebildet werden. In der analysierten Sequenz war an einigen Stellen die Konstellation aus der vorhergehenden Partnerarbeit zumindest verbal durch den oben beschriebenen exklusiven Gebrauch des Pronomens beibehalten (bspw. „wir haben das doch gleich gebaut“). So gesehen ist auch das ihr in Äußerungen wie „was habt ihr denn fürn Papier? “ als exklusiv zu verstehen. Dieses muss jedoch im Zusammenhang mit der Aufgabenstellung („zeigt euch eure Brücken“) relativiert werden. An der Häufigkeit, mit der das Personalpronomen der 1. Person Singular verwendet wurde, wird deutlich, dass sich die einzelnen Gruppenmitglieder zumindest sprachlich jeweils als Individuum sehen (bspw. „darf ich mal versuchen“ vs. „wollen wir mal versuchen, das so zu bauen“). 5 Schluss und Ausblick Während bereits zahlreiche Arbeiten einerseits zum kooperativen Lernen, andererseits zu sprachlichen Handlungsmustern bei Schülerinnen und Schülern vorliegen, fehlten bislang Untersuchungen darüber, wie insbesondere Grundschülerinnen und -schüler bei der kooperativen Aufgabenbearbeitung ihre Interaktionen verbal organisieren. Hierfür ist ein interdisziplinärer Zugang erforderlich, welcher in der vorliegenden Studie durch die Integration von Perspektiven der Deutschdidaktik (Vermittlung von Sprachhandlungskompetenz), Linguistik (formalsprachliche und pragmalinguistische Analysen), Didaktik des Sachunterrichts (Prozess der fachlichen Klärung durch die Lernenden), Lehr-Lern-Forschung (Erforschung von Prozessen kooperativen Lernens) und Didaktik des Grundschulunterrichts (Schaffung altersgerechter Lernarragements, Prozesse sozialen Lernens) für diesen Gegenstandsbereich erstmals vorliegt. Erst durch diesen mehrperspektivischen Ansatz gelingt es, holistische Erkenntnisse über Rollenfindung, Gruppenbildung und Zusammenarbeit der 4 Kasusunterscheidungen wurden hier vernachlässigt. 5 Inklusiv bzw. exklusiv sind hier als pragmatische, nicht als grammatische Kategorien zu verstehen. <?page no="260"?> Eva Gläser, Ingrid Kunze, Christina Noack, Karin Osterheider 260 Kinder beim gemeinschaftlichen Lösen naturwissenschaftlich-technischer Aufgaben zu gewinnen und verschiedene Aspekte, die ein kooperatives Handeln in den ersten Schuljahren mit sich bringt, durch die linguistischen Analysen einzelner Handlungssequenzen quasi unter dem Mikroskop zu betrachten. Dabei zeigte sich en detail, worin sich Quantität und Qualität der Redebeiträge unterscheiden können. In dem hier vorgestellten Beispiel wurde deutlich, dass einerseits scheinbar unbeteiligte, passive Schüler durchaus kognitiv auf hohem Niveau an dem Geschehen beteiligt sein und Lösungen beitragen können und andererseits aktive, expressive Schüler auf die Hilfestellung anderer Gruppenmitglieder angewiesen sind. Kooperation manifestiert sich hier also auch in der Akzeptanz unterschiedlicher Rollen- und Handlungsmuster. Besonders vor dem Hintergrund, dass es sich bei der gewählten Aufgabe um ein für Zweitklässler relativ anspruchsvolles Problem handelt, halten wir die wenigen bzw. eher restringierten sprachlichen Muster für das faktische Aushandeln bei der Zusammenarbeit für hoch funktional. Alle Phasen der Aufgabenstellung (Text lesen, bauen, Ergebnis schriftlich formulieren) der Gesamtsequenz sind letztlich gelungen. Insofern erscheint die erarbeitete Methode eines handlungsbezogenen und gleichzeitig formal-sprachlichen Rasters in Verbindung mit Video-/ Audiografie für entsprechende Untersuchungen geeignet. Noch offen ist, wie nonverbale Aspekte in erforderlicher Weise in die Analyse eingebracht werden können und wie sich Schüleräußerungen auf unterschiedlichen Ebenen (z.B. sozio-emotional vs. instrumental, vgl. Bales 1951) verorten lassen. Dies wird Gegenstand weiterer Untersuchungen sein. Literatur Austin, John L. (1962): How to do things with words. Cambridge, MA: Harvard Univ. Press. Bales, Robert F. (1951): Interaction process analysis: A method for the study of small groups. Cambridge, Mass.: Addison-Wesley. Becker-Mrotzek, Michael & Vogt, Rüdiger (2009): Unterrichtskommunikation. Linguistische Analysemethoden und Forschungsergebnisse, 2. Aufl. Tübingen: Niemeyer. 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Das Konzept „Bildungssprache“ hat somit aus analytischer Perspektive „deskriptive Qualität“, „während seine Erklärungsqualität noch nicht übergreifend bestimmt ist“ (Uesseler, Runge & Redder 2013: 48). Eine Verengung des Konzepts auf sprachliche Mittel hat nicht nur Konsequenzen für die wissenschaftliche Aufarbeitung des Gegenstands Bildungssprache, sondern auch weitreichende negative Konsequenzen für die Entwicklung von Materialien und didaktischen Konzepten, die den Erwerb bildungssprachlicher Kompetenzen fördern sollen. Erst eine Auseinandersetzung mit bildungssprachlichen Praktiken, also die den Oberflächenphänomenen zugrundeliegenden sprachlichen Handlungen, bildet die Basis, integrierte Förderung funktional auf das jeweilige Fach bezogen zu gestalten. Denn im Unterricht besteht zwischen Bildungsbzw. Fachsprache auf der einen Seite und fachlichem Wissen und fachlichem Lernen auf der anderen Seite ein funktionaler Zusammenhang. Bildungsbzw. fachsprachliche Kompetenzen können also nicht gefördert werden, indem isolierte Übungen, die sich auf die sprachliche Oberflächenstruktur beziehen, zum Selbstzweck angeboten werden, etwa Übungen, in denen Einzelsätze im Aktiv ins Passiv transformiert werden. Auch können typische sprachliche Mittel, um des vermeintlich besseren Verständnisses willen, nicht uneingeschränkt vereinfacht werden, da damit unter Umständen spezifische Funktionen verlorengehen. Wird z.B. eine Passivform in eine Aktivform transformiert, entfällt zugleich die zur Verallgemeinerung wichtige Funktion der Entpersonalisierung. Die Förderung von bildungs- und fachsprachlichen Kompetenzen gelingt nur dann, wenn sie in funktionalem Zusammenhang mit dem Fachgegenstand steht: Im fachunterrichtlichen Rahmen ist der Gebrauch bildungs- und fachsprachlicher Handlungen authentisch und motiviert. Welche Sprachhandlungen und welche sprachlichen Mittel dabei gefordert sind, ist über die <?page no="266"?> Markus Linnemann, Sabine Stephany, Gabriele Kniffka 266 Analyse des jeweiligen Gegenstands zu ermitteln. Im Folgenden werden der Zusammenhang zwischen fachlich-kognitiven Operationen und bildungs- und fachsprachlichen Handlungen sowie die daraus folgenden didaktischen Implikationen am Beispiel des Mathematikunterrichts näher erläutert. 2 Verallgemeinern im Mathematikunterricht Ein Blick in die Bildungsstandards, hier beispielhaft für die Grundschule 1 (KMK 2005), zeigt drei Anforderungsbereiche für die Bearbeitung von Aufgaben (vgl. Tab. 1). Anforderungsbereich I beschreibt das Reproduzieren, Anforderungsbereich II das Herstellen von Zusammenhängen und Anforderungsbereich III das Verallgemeinern und Reflektieren. Diese Anforderungsbereiche dienen der Einschätzung von Aufgaben hinsichtlich der von den Schülerinnen und Schülern zu erwartenden kognitiven Leistungen. Tab. 1: Anforderungen aus den Bildungsstandards Grundschule (aus: Bildungsstandards Mathematik; KMK 2005) Anforderungsbereiche Anforderungsbereich I: Reproduzieren Das Lösen der Aufgabe erfordert Grundwissen und das Ausführen von Routinetätigkeiten. Anforderungsbereich II: Zusammenhänge herstellen Das Lösen der Aufgabe erfordert das Erkennen und Nutzen von Zusammenhängen. Anforderungsbereich III: Verallgemeinern und Reflektieren Das Lösen der Aufgabe erfordert komplexe Tätigkeiten wie Strukturieren, Entwickeln von Strategien, Beurteilen und Verallgemeinern. Das Verallgemeinern im Anforderungsbereich III ist eine der grundlegenden Tätigkeiten jeglichen Mathematikunterrichts (vgl. Fischer, Hefendehl- Hebeker & Prediger 2010) und zieht sich durch alle Teilgebiete der Mathematik. Die Mathematik wird auch vielfach als die Wissenschaft der Muster bezeichnet (vgl. Wittmann & Müller 2011), mathematisches Handeln ist demzufolge das Erkennen und Nutzen sowie das Konstruieren von allgemeinen Mustern (Devlin 2002; zum Musterbegriff vgl. auch Lüken 2012). Wittmann und Müller (2011: 42) konstatieren, „dass Muster und Strukturen nicht weniger als das Wesen der Mathematik bezeichnen“, denn „Erkennen basiert immer auf Musterbildung. Die Begriffe, die wir benutzen, sind allgemeiner Natur. In der Mathematik wird die Abstraktion aber bewusst 1 Auch die Anforderungsbereiche für den mittleren Schulabschluss sind mit Reproduzieren, Zusammenhänge herstellen und Verallgemeinern/ Reflektieren bezeichnet. <?page no="267"?> Funktionale Sprachvermittlung im Mathematikunterricht 267 zum Programm erhoben und so weit wie nur möglich getrieben.“ (Wittmann & Müller 2011: 48) Musterbildung, Abstraktion und Verallgemeinerung hängen also eng zusammen. Die Anforderungsbereiche I-III der Bildungsstandards beschreiben mathematisch-kognitiv zu erbringende Leistungen, von denen das Verallgemeinern zentral für den Mathematikunterricht ist. Die Schülerinnen und Schüler stehen dabei nicht nur vor der kognitiven Anforderung, Sachverhalte zu reproduzieren, Zusammenhänge herzustellen, zu verallgemeinern und zu reflektieren. Sie müssen auch über die Sprachregister verfügen, mit denen diese kognitiven Operationen, z.B. das Verallgemeinern (vgl. Akinwunmi 2012), ausgedrückt werden können. Sprache hat hier eine kognitive und eine kommunikative Funktion, die stets ineinandergreifen. In den folgenden Kapiteln wird dies am Beispiel des Verallgemeinerns aufgezeigt, ohne die Bedeutung der Anforderungsbereiche Reproduzieren und Zusammenhänge herstellen mindern zu wollen. 3 Kommunikative und kognitive Funktion von Sprache im Mathematikunterricht Die im Mathematikunterricht geforderten sprachlichen Tätigkeiten sind vielfältig. Zu den primär rezeptiven Handlungen gehören das Nachvollziehen des mündlichen Unterrichtsdiskurses genauso wie das Lesen von z.B. Aufgabenstellungen, Sachaufgaben, Definitionen und Merksätzen. Die Sprachproduktion beinhaltet z.B. die aktive Teilnahme am Unterrichtsdiskurs, das mündliche und schriftliche Beschreiben, Erklären und Begründen von allgemeinen Zusammenhängen, das Definieren, das Verbalisieren von Lösungswegen und das Erfinden von Sachaufgaben. Bei den genannten Kontexten zur Sprachrezeption oder -produktion handelt es sich um Unterrichtssituationen, in denen Sprachhandlungen wie das Reproduzieren, das Herstellen von Zusammenhängen oder das Verallgemeinern notwendig sind. Denn diese erfordern die entsprechenden mathematisch-kognitiven Operationen. Heinze, Herwartz-Emden, Braun und Reiss (2011: 24) stellen fest „[...] dass adäquate Fähigkeiten in der Unterrichtssprache eine notwendige Voraussetzung für das Erlernen eines spezifisch mathematischen Begriffssystems sind. [...] Sprache spielt dabei insofern eine entscheidende Rolle, da auch material- oder handlungsbasierte Lernaktivitäten ohne sprachbasierte Anleitung nicht unbedingt zu den erwünschten Lernprozessen führen. Für die Internalisierung von Operationen und die Ausbildung von mentalen Prozessen dürfte eine Interaktion mit anderen Personen über Sprache notwendig <?page no="268"?> Markus Linnemann, Sabine Stephany, Gabriele Kniffka 268 sein, da davon auszugehen ist, dass die Anleitung zu mathematischen Denkprozessen über die Unterrichtssprache mediiert wird.“ Die Ausbildung von mentalen Prozessen und das Erbringen anspruchsvoller Leistungen geschieht letztlich jedoch nur, so Thürmann (2010: 142f.), wenn die Schülerinnen und Schüler „über die entsprechenden Mittel verfügen, die erforderlich sind, um sich aktiv am unterrichtlichen Diskurs auf einer Anspruchsebene zu beteiligen, die für das Sachfach üblich ist“. Ein fortwährendes Scheitern an sprachlichen Hürden führt zu sich fortsetzenden Schwierigkeiten, eigene Ideen angemessen und präzise zu verbalisieren und somit mathematisch-handelnd tätig zu werden. Die auftretenden Hürden sind dabei seltener alltagssprachlicher als vielmehr bildungsbzw. fachsprachlicher Natur - zwei Register, die im Folgenden zunächst näher erläutert werden. Der Begriff Bildungssprache wird bislang nicht einheitlich gebraucht (für einen Überblick vgl. u.a. Feilke 2012; Gogolin, Lange, Michel & Reich 2013; Kniffka & Roelcke 2016; Morek & Heller 2012; Uesseler, Runge & Redder 2013), für die weiteren Ausführungen wird zunächst Feilkes Konzeption von Bildungssprache erläutert. Nach Feilke ist Bildungssprache ein sprachliches Register in literalen Kulturen, das den Gebrauch bestimmter Sprachhandlungen mit einschließt: „Was unter dem Stichwort ‚Bildungssprache‘ in den Blick genommen wird, das sind die besonderen sprachlichen Formate und Prozeduren einer auf Texthandlungen wie Beschreiben, Vergleichen, Erklären, Analysieren, Erörtern etc. bezogenen Sprachkompetenz, wie man sie im schulischen und akademischen Bereich findet.“ (Feilke 2012: 5) Bildungssprache ermöglicht die Darstellung komplexer Sachverhalte und kann somit das Lernen unterstützen (vgl. Feilke 2013: 118). Dabei ist sie „funktional eng mit Anforderungen der Wissensdarstellung und Wissenskommunikation verbunden“ (Feilke 2012: 10). In seinem Modell der Leistungen von Bildungssprache bezieht Feilke (2012) sprachliche Formen auf kognitive Funktionen und Erkenntnisleistungen und geht damit über eine deskriptive Auflistung von Oberflächenmerkmalen hinaus. Er gliedert bildungssprachliche Merkmale in zwei Äußerungsaspekte der Kommunikation (Inhalts- und Beziehungsaspekt) und weist diesen jeweils zwei ‚Sprecher-Strategien‘ zu (vgl. Tab. 2). Innerhalb eines Äußerungsaspekts, so Feilke (2012), mildern sich die Sprecher-Strategien pragmatisch ab und gleichen sich aus: Einerseits müssen Sachverhalte möglichst explizit dargestellt werden (Explizieren), andererseits müssen Sachverhalte, die expliziert und bekannt sind, sprachlich kondensiert werden (Verdichten). Beim Äußerungsaspekt der Sprecherabsicht müssen einerseits Sachverhalte allgemein ausgedrückt werden (Verallgemeinerung), andererseits jedoch diskutierbar bleiben (Diskussion). <?page no="269"?> Funktionale Sprachvermittlung im Mathematikunterricht 269 Tab. 2: Leistungen der Bildungssprache (aus Feilke 2012: 9f., gekürzt um die jeweiligen sprachlichen Mittel) Äußerungsaspekt Inhaltsaspekt (Aussageinformation) Beziehungsaspekt (Sprecherabsicht) Sprecher- Strategien Explizieren Verdichten Verallgemeinern Diskutieren Leistungsbeschreibung Sachverhalte und ihre Zusammenhänge für den Leser möglichst nachvollziehbar darstellen und fokussieren Sachverhalte, die expliziert und bekannt sind, sprachlich ohne finites Verb ausdrücken und in neue Aussagen integrieren Sachverhalte als unabhängig von persönlichen, zeitlichen und lokalen Situationsbezügen darstellen und als allgemein gültig behaupten Sachverhalte als „Gegenstände“ eines Fachdiskurses vorstellen und Behauptungen als hypothetisch, vorläufig und diskussionswürdig darstellen Feilkes Leistungsbeschreibung der Bildungssprache entspricht in etwa dem, was Roelcke (2010) als „allgemeine Fachsprachenkompetenz“ bezeichnet. Im Unterschied zum Konzept der Bildungssprache ist sie nicht als eine eigene sprachliche Varietät oder als ein eigenes sprachliches Register bzw. als eine eigene kommunikative Praxis aufzufassen. Sie stellt vielmehr die kommunikative Fähigkeit einer einzelnen Person dar, „[…] Texte gleich welchen [...] Fachbereichs und welcher Textsorte auch immer aufgrund der Kenntnis übergreifender fachsprachlicher Merkmale mit größerem Erfolg zu rezipieren und gegebenenfalls auch zu produzieren“ (Roelcke 2010: 159). Die Fachsprachenforschung leistet einen Beitrag zur Analyse sprachlicher Handlungen und Mittel (vgl. z.B. Czicza & Hennig 2011; Czicza, Emmrich, Hennig & Niemann 2012), auf die wiederum im Rahmen bildungssprachlicher Handlungen im Unterricht zurückgegriffen wird. Bildungssprache wurde in der Vergangenheit als Vermittlerin zwischen Wissenschaft und Alltag bezeichnet: „Sie [die Bildungssprache] unterscheidet sich von der Umgangssprache durch die Disziplin des schriftlichen Ausdrucks und durch einen differenzierteren, Fachliches einbeziehenden Wortschatz; andererseits unterscheidet sie sich von der Fachsprache dadurch, dass sie grundsätzlich für alle offensteht, die sich mit den Mitteln der Schulbildung ein Orientierungswissen verschaffen können“. (Habermas 1977: 39) Bildungssprache ist also keine Fachsprache, teilt jedoch mit ihr, dass sie sich konzeptionell-schriftlicher Formen (vgl. Koch & Oesterreicher 1985) bedient. <?page no="270"?> Markus Linnemann, Sabine Stephany, Gabriele Kniffka 270 Mit der Bildungssprache „verbunden sind Sprachformen, die eine vom Situationskontext weitgehend abgelöste Verständigung ermöglichen und insofern von den Sprechern auch kognitiv ein abstrahierendes Sprachdenken verlangen“. (Feilke 2012: 6) Bezieht man das Leistungspotenzial von Bildungssprache, wie Feilke (2012) es modelliert, auf die Bildungsstandards der Mathematik der Grundschule, wird deutlich, dass die dort formulierten kognitiven Anforderungsbereiche mit diesem sprachlichen Leistungspotenzial korrespondieren. Der Anforderungsbereich bildet dabei die kognitive, die Sprache die zugehörige kommunikative Funktion ab: - Dort wo mathematisches Reproduzieren einhergeht mit sprachlichem Reproduzieren von bereits bekannten Sachverhalten, ist die Sprecher- Strategie des Verdichtens gefordert, denn Sachverhalte müssen beim Reproduzieren (z.B. beim Zusammenfassen) zum einen vom Einzelgegenstand abstrahiert und zum anderen mittels geeigneter sprachlicher Mittel ökonomischer dargestellt werden - also anders als während des Lehr- und Lernvorgangs. - Dort wo mathematische Zusammenhänge hergestellt und versprachlicht werden müssen, korrespondiert dieses Herstellen von Zusammenhängen mit der Sprecher-Strategie des Explizierens, denn logische Zusammenhänge von Sachverhalten werden erst sichtbar, wenn sie fokussiert und mit den entsprechenden sprachlichen Markierern dargestellt werden. - Die kognitive Operation des Verallgemeinerns lässt sich auf der Seite der Sprecher-Strategie durch das sprachliche Verallgemeinern abbilden. - Die Sprecher-Strategie des Diskutierens bedeutet, Behauptungen als hypothetisch, vorläufig und diskussionswürdig darzustellen. Der Bezug zur Reflexion besteht darin, dass Inhalt nur dann reflektiert werden kann, wenn er prinzipiell diskussionsfähig ist. Festzuhalten ist, dass das Verwenden von bildungs- und fachsprachlichen Elementen im Mathematikunterricht kein Selbstzweck ist, sondern unabdingbarer Bestandteil des unterrichtlichen Diskurses, da sich diese sprachlichen Handlungsmuster genau auf die Anforderungsbereiche des Mathematikunterrichts beziehen. Damit wird auch deutlich, dass die Vermittlung bildungs- und fachsprachlicher Mittel in den fachlichen Kontext eingebunden sein muss: „Anzustreben ist eine funktionale Einbettung; zu vermeiden ist die Isolierung bildungssprachlicher Formen nach dem Muster ‚Wir kommen jetzt mal zum Passiv‘“. (Feilke 2012: 12) <?page no="271"?> Funktionale Sprachvermittlung im Mathematikunterricht 271 4 Verallgemeinern als bildungssprachliche Diskursfunktion am Beispiel von Magischen Quadraten und Diagrammen Im Folgenden wird am Beispiel des Verallgemeinerns gezeigt, wie Form und Funktion, wie Bildungsbzw. Fachsprache und kognitive Operation im Mathematikunterricht aufeinander bezogen sind. Bildungs- und fachsprachliche Mittel erlauben zur Verallgemeinerung dabei im Wesentlichen einen höheren Grad an Genauigkeit (Präzision im Einzelnen) und bieten die Möglichkeit der Entpersonalisierung (vgl. Roelcke 2010; Kniffka & Roelcke 2016: 61). Diese Funktionen werden zunächst am Beispiel des Magischen Quadrates verdeutlicht. Am Beispiel des Umgangs mit Diagrammen wird anschließend eine Unterrichtseinheit vorgestellt, die diese Funktionen in ein Unterrichtssetting einbettet. 4.1 Beispiel 1: Magisches Quadrat Nachfolgend wird an fünf Beispielen untersucht, welche Formen des Verallgemeinerns jeweils realisiert werden. Vier der fünf Beispiele stammen von vier verschiedenen Lernenden (vgl. Abschnitt 4.1.1, Tab. 3, Bsp. B bis E) aus sprachsensiblen Mathematikkursen (vgl. auch Stephany, Linnemann & Wrobbel 2015). Die sprachsensiblen Mathematikkurse fanden im Rahmen einer Ferienschule 2 mit Schülerinnen und Schülern der 5. und 6. Klasse statt, die Deutsch als Zweitsprache sprechen. Aufgabe der Schülerinnen und Schüler war es, das Wesen Magischer Quadrate mündlich oder schriftlich zu erklären. 4.1.1 Definieren als Textroutine des Verallgemeinerns Fachwörter erhalten durch Definitionen ihre präzise Bedeutungsbeschreibung. Unter den verschiedenen Arten von Definitionen ist die aristotelische Definition die bedeutendste. Hierbei werden dem Definiendum, also dem zu definierenden Begriff, mit Hilfe eines Definitors, des Definiens, also bereits bekannte Begriffe, zugeschrieben. Das Definiens besteht wiederum aus dem Genus proximum (Gattungsbegriff) und der Differentia specifica (kennzeichnender Unterschied). Diese Art der Definition sehen wir in Tabelle 3 in Beispiel A als schriftliche Definition bzw. Erklärung. 2 Die Ferienschule wurde im Rahmen des Kooperationsprojektes Sprachliche Bildung vom Institut für Deutsche Sprache und Literatur II der Universität zu Köln durchgeführt. <?page no="272"?> Markus Linnemann, Sabine Stephany, Gabriele Kniffka 272 Tab. 3: Texte zum Magischen Quadrat; S = Schüler, L = Lehrerin Medialität der Unterrichtskommunikation Fachsprachlichkeit mündlich schriftlich Fachtext fachsprachlich (A) Magische Quadrate sind Quadrate mit n x n Feldern, die jeweils eine unterschiedliche Zahl enthalten, sodass die Summe der Zahlen in jeder Spalte, Zeile und Diagonalen gleich groß ist. Diese Summe wird „Magische Zahl“ genannt. Schüleräußerungen hoher Grad an Bildungs- und Fachsprachlichkeit (B) S.: Die ... Summe in jeder Spalte, Zeile und Diagonale (schaut auf das Lernplakat) ... Diagonalen muss gleich sein. Zauberzahl, das is die Zauberzahl. [...] (C) [...] Ein Magisches Quadrat hat vier Ecken. Im Viereck gibt es Kästchen. Darin werden verschiedene Zahlen aufgeschrieben. Oben die drei nennt man Zeile, die schräg sind, nennt man Diagonale und die senkrecht sind, heißen Spalte. Du musst so die Zahl einsetzen, dass in der Zeile, Spalte und Diagonale überall [das gleiche] heraus kommt, also Magische Summe. [...] Schüleräußerungen niedriger Grad an Bildungs- und Fachsprachlichkeit (D) S.: Also hier sooo (zeigt auf eine Spalte) sooo (zeigt auf eine Zeile) und sooo (zeigt auf eine Diagonale) muss gleich sein. L.: Was muss gleich sein? S.: Ja nich was da reinkommt, hier die drei (zeigt auf die drei Felder einer Spalte), das Ergebnis immer. Ergebnis mein’ ich. Das Ergebnis von so (zeigt auf eine Spalte), so (zeigt auf eine Zeile) und so (zeigt auf eine Diagonale) muss gleich sein. (E) Also, Magische Quadrate müssen immer 4x4, 3x3, 5x5 und so weiter. (1) Wenn du so eine MQ hast, musst du so rechnen [Verweis auf eigene Abbildung]. Jetzt guckst du für diese drei Zahlen und rechnest du die! 24 ist die Magische Zahl. Dann musst du hier gucken [Verweis auf Abbildung mit Pfeilen] wie viel und wie viel macht 24! Du hast 3 Quadrate und musst gucken, in jedem Quadrat eine Zahl zu haben wie 9+6+7=24 so rechnen von jeder 3 Quadraten muss 24 heraus kommen! Als Definiendum gilt zunächst das „Magische Quadrat“, das durch das Definiens definiert wird als ein bestimmtes Quadrat mit bestimmten Eigenschaften. Das Definiens lässt sich weiter in das Genus proximus (Quadrate mit n x n Feldern) und der Differentia specifica (das Magische Quadrat hat eine Magische Zahl) aufteilen. Ein Teil der Differentia specifica <?page no="273"?> Funktionale Sprachvermittlung im Mathematikunterricht 273 lässt sich wiederum zum Ausgangspunkt einer Definition machen (vgl. Tab. 4). Das Beispiel A in Tabelle 3 ist eine Definition, die ein Magisches Quadrat sehr präzise beschreibt. Das Definieren stellt hier eine Textroutine zum Verallgemeinern dar (vgl. Feilke 2012: 9; Tab. 2), denn es handelt sich nicht um eine Beschreibung eines konkreten Magischen Quadrates, sondern um einen allgemeinen Fall. Tab. 4: Aristotelische Definition in Schülertexten Definiendum Definitor Definiens Genus proximus Differentia specifica Magische Quadrate sind Quadrate mit n x n Feldern, die jeweils eine unterschiedliche Zahl enthalten, sodass die Summe der Zahlen in jeder Spalte, Zeile und Diagonalen gleich groß ist. Diese Summe wird „Magische Zahl“ genannt. Magische Zahl wird genannt [...] die Summe [...] der Zahlen in jeder Spalte, Zeile und Diagonalen gleich groß ist. Auch Beispiel C in Tabelle 3 orientiert sich an der aristotelischen Definition. Als Definiendum dient hier das „Magische Quadrat“, das Definiens ist allerdings nur implizit verknüpft. Auch lässt sich dieses nicht problemlos in seine Bestandteile aufteilen, Genus proximus ist möglicherweise der Ausdruck „[...] vier Ecken“ bzw. „Im Viereck [...]“. Die Differentia specifica ist die Tatsache, dass die Zeilen-, Spalten- und Diagonalensumme gleich sein müssen. Die Definition ist also unpräzise, da sie Definiendum und Definiens nicht mit einem Definitor verbindet, dazu das Definiens nicht differenziert. Hinzu kommen beschreibende und instruierende Anteile. Insgesamt weist die Definition Teile des Verallgemeinerns und damit Spuren bildungs- und fachsprachlichen Handelns auf. In Beispiel E, einem medial schriftlichen Text, zeigen sich Merkmale konzeptioneller Mündlichkeit wie Deiktika („musst du so rechnen“), die mit einem Verweis auf die (selbsterstellte) Abbildung und mit Pfeilen ergänzt werden, damit der distante Leser den Text verstehen kann. Eine Verallgemeinerung findet vielleicht ansatzweise statt, da das du nicht als Ausdruck einer direkten Ansprache, sondern im Sinne von man verstanden werden kann, wie im mündlichen Sprachgebrauch üblich. Darüber hinaus wird das gegebene Beispiel als Teil des Definiens nicht weiter mit dem Definiendum verknüpft und bleibt somit missbzw. unverständlich. Die mündlichen Beispiele B und D werden auf verschiedene Weise den Anforderungen des Verallgemeinerns und Definierens nicht gerecht. In beiden Äußerungen fehlt die explizite Nennung eines Definiendums. Dies ist <?page no="274"?> Markus Linnemann, Sabine Stephany, Gabriele Kniffka 274 in der mündlichen Kommunikation nicht ungewöhnlich, denn aufgrund der Kontexteinbettung wird offensichtlich, dass das Magische Quadrat das Definiendum ist. Der Produzent von Beispiel B steigt unmittelbar in die Differentia specifica des Definiens ein. Hier fehlen also neben Definiendum der Definitor und das Genus proximus des Definiens. Beispiel D ist eine in hohem Maße konzeptionell mündliche und kontextabhängige Schüleräußerung. Der Schüler verwendet deiktische Ausdrücke („hier“, „so“). Die Lehrerin stellt eine Aufforderung zur Selbstkorrektur im Sinne einer Präzisierung. Zwar gelingt es dem Schüler, einige explizitere Ausdrücke zu verwenden, insgesamt aber verbleibt er im Deiktischen, eine (sprachliche) Verallgemeinerung findet hier nicht statt. 4.1.2 Anonymisierung Sachverhalte zu verallgemeinern bedeutet, sie unabhängig von situativen Kontexten darzustellen. Angesichts dieses Strebens tritt der Autor des Textes mit seinen subjektiven Vorstellungen und Wertungen in den Hintergrund, sodass letztlich ein höheres Maß an Allgemeingültigkeit bzw. Allgemeinverbindlichkeit des Gesagten oder Geschriebenen suggeriert wird (vgl. Kniffka & Roelcke 2016: 80). Solche Anonymisierungen können mit Hilfe von Passivkonstruktionen realisiert werden. Dies zeigt sich deutlich in den Beispielen A, C und E. Während in Beispiel A die Passivform („Die Summe wird [...] genannt“) und Beispiel C eine Passiversatzkonstruktion benutzt wird („nennt man Diagonale“) und damit eine Allgemeingültigkeit verdeutlicht, bleibt das Beispiel E im Aktiv („Jetzt guckst du [...]“, „musst du so rechnen“) und leistet so keine Objektivierung vom handelnden Subjekt (vgl. auch Maier & Schweiger 1999). Auch eine Verschiebung vom dynamischen Verb summieren zum Substantiv Summe bzw. eine Summe bilden dient der Objektivierung, da die Funktion von einer Tätigkeit, die jemand an einem Ort und einer Zeit ausführt, zu einem statischen Gebilde verschoben wird (vgl. Kniffka & Roelcke 2016: 83). 4.1.3 Zahlen und Symbole Der Schreiber von Beispiel A benutzt den Buchstaben n („mit n x n Feldern“) als Variable und das Symbol x als Operator der Multiplikation. Variablen lassen sich als höchste Form der Abstraktion bezeichnen und eignen sich besonders für allgemeingültige Aussagen, denn hier lässt sich kein Situationsbezug mehr erkennen. Der Schreiber in Beispiel E dagegen operiert mit konkreten Zahlen („4x4, 3x3, 5x5“; „9+6+7=24“) und den mathematischen Zeichen x für Multiplikation, + für Addition und = für Gleichheit. Durch die Reihung 4x4, 3x3, 5x5 wird eine Verallgemeinerung angedeutet. <?page no="275"?> Funktionale Sprachvermittlung im Mathematikunterricht 275 4.1.4 Fazit: Magisches Quadrat Die beschriebenen Beispiele für Erklärungen eines Magischen Quadrates zeigen einen unterschiedlich hohen Grad an Bildungs- und Fachsprachlichkeit. Dies lässt sich zum einen durch die Medialität begründen: Deiktische Ausdrücke sind typische Merkmale mündlicher Kommunikation, in der sich die Gesprächspartner auf einen geteilten Erlebniskontext beziehen. In dieser Hinsicht sind die mündlichen Texte nicht etwa defizitär. Die mündlichen Beispiele erfüllen die Funktion, in einer Face-to-Face-Situation ein Magisches Quadrat zu verdeutlichen. Um zu einer Verallgemeinerung des Sachverhaltes zu kommen, muss jedoch von einem gemeinsamen Erlebniskontext zwischen Sprecher/ Schreiber und Zuhörer/ Leser abstrahiert werden; so muss z.B. der persönliche, zeitliche und räumliche Situationsbezug aufgelöst werden. Dies erfordert u.a. das Ausblenden des Handlungsträgers. Auf (bildungs-/ fach-) sprachlicher Ebene wird dies z.B. mit Hilfe von Passivkonstruktionen gegenstandsbezogen realisiert. In den Beispielen oben gelingt dies nicht allen Schülern gleich gut. Im Folgenden wird anhand eines Beispiels aus dem Mathematikunterricht zum Umgang mit Diagrammen skizziert, wie fachliches und sprachliches Lernen verbunden werden kann. 4.2 Beispiel 2: Umgang mit Tabellen und Diagrammen Im vorherigen Abschnitt wurde aufgezeigt, dass fach- und bildungssprachliche Register für den Mathematikunterricht funktional und an kognitive Prozesse, wie das Verallgemeinern, geknüpft sind. Der Mathematikunterricht stellt somit hohe Anforderungen an die kognitiven und sprachlichen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler. Um relevante Sprachhandlungen und mögliche sprachliche Mittel zu erlernen, benötigen Schülerinnen und Schüler gezielte Unterstützung. Hierzu stehen verschiedene Ansätze zur Verfügung. Der hier verfolgte Ansatz des Scaffolding (vgl. Gibbons 2002, 2009; Feez 1998; Kniffka 2012) versteht Hilfe in dem Sinne, dass sie Schülerinnen und Schülern erlaubt, (sprachliche) Handlungen mit Unterstützung angemessen zu vollziehen, die sie ohne Unterstützung noch nicht hätten leisten können. Diese Hilfe ist immer temporär, d.h. Unterstützungsmaßnahmen werden wieder zurückgenommen, wenn sie nicht mehr benötigt werden. Der Fokus dieser Unterstützungsmaßnahmen liegt dabei auf dem gezielten Auf- und Ausbau (bildungs- und fach-)sprachlicher Kompetenz. Die häufig zu beobachtende Strategie des Vereinfachens der sprachlichen Anforderungen hat hier keinen Platz, denn dies würde nicht mehr mit den durch den Fachinhalt geforderten kognitiven Prozessen korrespondieren und möglicherweise den Gegenstand ebenfalls unzulässig vereinfachen. Gefördert werden sollen diejenigen <?page no="276"?> Markus Linnemann, Sabine Stephany, Gabriele Kniffka 276 sprachlichen Kompetenzen, die sich aus den jeweiligen inhaltlichen Anforderungen des Mathematikunterrichts ergeben und damit funktional für die mathematische Kommunikation und das mathematische Verständnis sind. Die folgende Unterrichtseinheit, die in einer Ferienschule (vgl. Stephany, Linnemann & Wrobel 2015) mit Seiteneinsteigern der 5. und 6. Klasse durchgeführt wurde, skizziert, welche sprachlichen Handlungen und Mittel beim Umgang mit Strichlisten, Wertetabellen und Diagrammen benötigt werden. Häufigkeitsverteilungen in grafischer Form, z.B. als Balken- oder Säulendiagramm, unterscheiden sich von Strichlisten und Wertetabellen durch eine Verdichtung und Konzentration der Daten, in denen es nicht mehr um den Einzelfall geht, sondern darum, zusammenfassende und verallgemeinernde Aussagen über den dargestellten Sachverhalt zu tätigen. Schülerinnen und Schüler müssen also beim Erstellen, Beschreiben und Erklären bzw. Präsentieren von Diagrammen zum einen bestimmte kognitive Operationen vornehmen und darüber hinaus zunehmend präzisere und verallgemeinernde sprachliche Prozeduren einsetzen. 4.2.1 Die Unterrichtseinheit Die Unterrichtseinheit orientiert sich an den Grundprinzipien des Scaffolding (vgl. Gibbons 2002). Sie folgt in der Sequenzierung der Unterrichtsphasen erstens dem Prinzip der Verschränkung fachlicher und sprachlicher Lernziele, zweitens dem Prinzip vom Konkreten zum Abstrakten auf fachlicher Ebene und auf sprachlicher Ebene dem Prinzip vom alltagssprachlich-mündlichen zum konzeptionell-fachsprachlichen Register. Die Unterrichtseinheit setzt somit beim sprachlichen und fachlichen Vorwissen der Schülerinnen und Schüler an und baut dieses Schritt für Schritt aus. Die Lernenden können so am Anfang einer Unterrichtseinheit ihre aktuellen Sprachressourcen nutzen, während in den späteren Phasen eine Konzentration auf neue sprachliche Mittel erfolgt. Abbildung 1 zeigt das Ablaufschema der Unterrichtseinheit vom Konkreten und konzeptionell Mündlichen zum Abstrakten und konzeptionell Schriftlichen (vgl. auch Kniffka & Neuer 2008). In der Unterrichtseinheit lernen die Schülerinnen und Schüler an Beispielen aus dem Themenbereich Sport, Daten systematisch zu erheben, in Diagrammen darzustellen und zu präsentieren sowie Informationen aus Diagrammen abzulesen. Die Einheit setzt sich aus zwei Untereinheiten zusammen (Grauabsetzung in Abb. 1). Der erste Teil der Unterrichtseinheit setzt bei den Vorkenntnissen der Schülerinnen und Schüler an. Nach einem einführenden Unterrichtsgespräch werden auf dem Schulhof in Gruppen Daten gesammelt, es werden z.B. die Häufigkeiten von Körben im Basketball oder Treffer beim Torwandschießen erhoben und in Strichlisten notiert. Im anschließenden Unterrichtsgespräch wird die Darstellung von Daten in unterschiedlichen Diagrammtypen besprochen und diskutiert. Dabei werden erste <?page no="277"?> Funktionale Sprachvermittlung im Mathematikunterricht 277 Fachbegriffe und Phrasen eingeführt und auf Lernplakaten festgehalten (vgl. Abb. 2), damit ein Explizieren der Gedanken stattfinden kann. Abb. 1: Ablaufschema Diagramm-Einheit (angelehnt an Kniffka & Neuer 2008) Abb. 2: Beispiele für Lernplakate aus der ersten Untereinheit zu Diagrammen <?page no="278"?> Markus Linnemann, Sabine Stephany, Gabriele Kniffka 278 Schließlich werden in Gruppenarbeit Diagramme aus den erhobenen Sportdaten erstellt. Die Schülerinnen und Schüler haben dann die Aufgabe, den anderen Gruppen ihre Ergebnisse zu präsentieren. Da hierbei die visualisierten Daten von konkreten Schülerinnen und Schülern im Vordergrund stehen, sind die Äußerungen entsprechend im Aktiv formuliert („Lale hatte die meisten Treffer“), fachsprachliche Deagentivierung ist in diesem Kontext noch nicht gefordert. Dieser erste Teil der Unterrichtseinheit ist weitgehend medial und konzeptionell mündlich geprägt. Durch das Einführen von Fachwörtern und Satzgerüsten wird der Blick aber bereits auf neue bildungs- und fachsprachliche Mittel gelenkt, z.B. auf Fachbegriffe („x-Achse“, „Wertetabelle“) oder auf adversative Verknüpfungen („mehr als“, „ist häufiger gesprungen als“). Gibbons spricht in diesem Zusammenhang von „mode continuum“ (Gibbons 2002): Eine erste sprachliche Präzisierung und Differenzierung im Wortschatz findet statt, verallgemeinernde Prozeduren bleiben hier jedoch noch weitgehend ausgeblendet. Im zweiten Teil der Unterrichtseinheit wird anhand einer eigenen Umfrage das Gelernte angewendet, gefestigt und sprachlich ausgebaut. Für die Befragung werden im Unterrichtsgespräch zunächst mögliche Fragen erarbeitet. In Partnerarbeit werden anschließend Fragen zu verschiedenen Sportthemen ausgewählt, ggf. neue erstellt und zu mehreren kurzen Fragebögen zusammengestellt. Die Fragebögen werden dann von Schülerinnen und Schülern aus anderen Klassen ausgefüllt. Während der Auswertungsphase werden die Daten in Partnerarbeit zunächst in Strichlisten notiert, es werden Wertetabellen erstellt und zu Diagrammen verarbeitet. Die von den Schülerinnen und Schülern während der Partnerarbeit verwendete Sprache trägt Merkmale des Mündlichen, jedoch sollen die bereits eingeführten Fachbegriffe, wie „x-Achse“ und „einzeichnen“, benutzt werden. Anschließend werden die Ergebnisse lehrergestützt präsentiert. Hierbei handelt es sich um eine authentische Kommunikationssituation, da innerhalb der Klasse verschiedene Umfragen erstellt wurden. Während der lehrergestützten Präsentation werden nicht nur die eingeführten Begriffe und Formulierungen wiederholt. Die eigene Umfrage und das dazugehörige Diagramm für alle verständlich vorzutragen, erfordert von den Lernenden eine explizitere und präzisere Ausdrucksweise als in der unmittelbar geteilten Situation der Partnerarbeit. Die Schülerinnen und Schüler können sich nicht mehr auf einen gemeinsamen Erlebniskontext beziehen und müssen sprachliche Mittel aus dem konzeptionell-schriftlichen Register einsetzen. Das gelingt einigen Lernenden bereits, wie die Verwendung des Passivs zur Deagentivierung zeigt („Basketball wurde am häufigsten genannt“). Sinnvoll ist abschließend das Verfassen einer schriftlichen Beschreibung und Erklärung der Umfrage und ihrer Ergebnisse, die wiederum bildungsbzw. fachsprachliche Ausdrucksweisen erfordert. Diese war jedoch nicht mehr Teil der Unterrichtseinheit. <?page no="279"?> Funktionale Sprachvermittlung im Mathematikunterricht 279 4.2.2 Ergebnisse Tabelle 5 gibt ein Beispiel des Präsentierens eines selbst erstellten Diagramms mit Daten zur Frage „Welche Sportart guckst du am liebsten im Fernsehen? “ Vorgegeben waren die Antwortkategorien „Fußball“, „Basketball“, „Volleyball“ und „nichts davon“ (vgl. Abb. 3). Die Sprachkompetenz der beiden Schüler (S1, S2), die die Ergebnisse vorstellen, ist noch vergleichsweise gering. So lernt Schüler S2 erst seit kurzem Deutsch. Das Präsentieren von Schüler S1 vor der Klasse ist stark dialog-geprägt, enthält deutliche Züge konzeptioneller Mündlichkeit und muss daher stark von der Lehrerin angeleitet werden. Abb. 3: Von Schülern erstelltes Diagramm zum Thema Sport Die linke Spalte in Tabelle 5 zeigt diese Lehrerin-Schüler-Interaktion. Die rechte Spalte enthält die Beschreibung der sprachlichen Handlungen und Mittel, die von den Interaktanten genutzt werden. Hier wird das Vorgehen des sog. „Micro-Mode-Shifting“ nach Gibbons (2002) deutlich: So spielen die sprachlichen Mittel des Präzisierens und Verallgemeinerns seitens der Lehrerin eine große Rolle, die die Schüleräußerungen in Richtung konzeptionelle Schriftlichkeit rekodiert, indem sie beispielsweise an einigen Stellen präzisiert und abstrakter formuliert („markieren“ statt „Strich machen“). Außerdem <?page no="280"?> Markus Linnemann, Sabine Stephany, Gabriele Kniffka 280 werden im Laufe des Präsentierens zunehmend Prozeduren des Verallgemeinerns eingeführt. Da die Schüler das Passiv noch nicht produktiv beherrschen, kann eine vollständige Deagentivierung (im Sinne von „Volleyball wird am wenigsten/ seltensten geguckt“) noch nicht erwartet werden. Daher wird auf Passiversatzkonstruktionen zurückgegriffen und das allgemeine wir verwendet. So zeigt die Interaktion gegen Ende hin deutliche Züge von Verallgemeinerung. Während die Schüler zunächst noch einzelne Werte aus der Tabelle aufführen („fünfmal nichts davon“), werden am Ende der Sequenz verallgemeinernde Aussagen über die erhobenen Daten gemacht („Die meisten Kinder gucken nichts davon“). Die sprachliche Entfaltung vom alltagssprachlich Mündlichen zum konzeptionell Schriftlichen spiegelt sich in der fachlichen Erweiterung der verallgemeinerten (mathematischen) Aussagen wider. Die kognitive Operation wird im Sprachgebrauch vollzogen. Tab. 5: Lehrergestütztes Berichten; L=Lehrerin, S1=Schüler 1, S2=Schüler 2 Äußerungen sprachliche Handlung und Mittel [...] L: Und was habt ihr dabei herausgefunden? Initialfrage S1: Dreimal Fußball, zweimal Basketball, nullmal Volleyball und fünfmal nichts davon. Und dann haben wir … liest die Werte aus seiner Tabelle ab, listenhaft L: Also, drei Kinder gucken Fußball … Reformulieren, Vervollständigen, Vorgabe von Muster S1: Zwei Kinder gucken Basketball, null - äh - keine Kinder gucken Volleyball und fünf Kinder gucken nichts davon. Schüler greift Muster auf L: Ok. Und als Nächstes? Aufforderung zur Fortsetzung S1: Und als Nächstes dann haben wir so ein Blatt bekommen. Und dann haben wir ein Balken gemacht. unspezifisches Verb L: Wir haben die Achsen eingezeichnet, ne? indirekte Korrektur; Präzisierung durch spezifischeres Verb einzeichnen; Fachvokabular S1: Ja! L: Die Achsen. S1: X-Achse und y-Achse. Y- Achse…y-Achse heißt Sportart. Und x-Achse ist Anzahl der Kinder. unspezifisches Verb ist; Differenzierung der Achsen L: Die diese Sportart gucken, ne? [...] Präzisierung des Sachverhaltes; keine Korrektur des unspezifischen Verbs <?page no="281"?> Funktionale Sprachvermittlung im Mathematikunterricht 281 S1: Ja. Und dann haben wir also ähm Zahlen hier gemacht. Und dann Namen und dann… unspezifisches Verb gemacht L: Die Namen von den Sportarten auf die y-Achse? sachbezogene (nicht sprachbezogene) Nachfrage S1: Ja. L: Mhmm. S1: Und dann haben wir gesucht zum Beispiel: Wer ist nichts davon? Fünf! Dann mussen wir bis fünf, also hier Strich machen und anmalen. unspezifische Lexik Strich machen und anmalen L: Das heißt auf der x-Achse müssen wir die fünf bei ‚nichts davon’ markieren? Präzisierung durch spezifischeres Verb markieren S1: Ja. Und bei Volleyball ist null. unspezifisches Verb ist L: Null Kinder gucken Volleyball? sachbezogene Rückgabe S1: Null. Keine Kinder. L: Und was können wir daran sehen? Das kann der Michal vielleicht sagen. Was können wir jetzt an dem Diagramm sehen? Was kann man da auf einen Blick direkt sehen? (Pause) deiktischer Ausdruck daran wird expliziter durch an dem Diagramm; man und wir als abstraktere Formen, Passiversatzform; deiktischer Ausdruck da Wir könnten zum Beispiel sagen: Die meisten Kinder gucken…? Anbieten von Redemittel für ein Diagramm; Verallgemeinerung die meisten S2: Nischts. L: Nichts davon. Und die wenigsten Kinder gucken…? Verallgemeinerung die wenigsten S2: Nisch äh, also Volleyball. L: Volleyball. Die wenigsten Kinder gucken Volleyball. [...] Reformulieren, Präzisieren 4.2.3 Fazit: Unterrichtseinheit Diagramme Die Unterrichtseinheit Diagramme zeichnet einen Weg vom konkreten Erheben von Daten zu verallgemeinernden (abstrahierenden) Aussagen. Dabei werden zunächst sprachliche Unterstützungen u.a. über das Micro- Mode-Shifting gegeben, damit Verallgemeinerungsprozesse letztlich überhaupt initiiert werden können. Als konkrete Hilfen, und dem Prinzip der sprachreflexiven Phasen folgend, werden mit den Schülerinnen und Schülern gemeinsam Plakate mit typischen verallgemeinernden Phrasen und Satzgerüsten erstellt. Diese Plakate sind während der gesamten Unterrichtseinheit, also z.B. während der Partnerarbeit und während des Unterrichtsgesprächs, sichtbar, so dass darauf stets zurückgegriffen werden kann. <?page no="282"?> Markus Linnemann, Sabine Stephany, Gabriele Kniffka 282 Lehrergestütztes Berichten und Präsentieren vor der Klasse, das bereits etwas kontextentbundener ist als die Kommunikation während der Partnerarbeit, fördert alle Kinder beim Aufbau von bildungs- und fachsprachlichen Kompetenzen. Entsprechend dem erreichten Sprachniveau der Schülerinnen und Schüler muss die Lehrkraft sprachlich interagieren: entweder muss sie die Schülerinnen und Schüler eng anleiten, indem sie reformuliert, präzisiert und sprachliche Mittel vorgibt, mit denen sich die geforderte Sprachhandlung, hier das Verallgemeinern, realisieren lässt, (im Sinne von Microscaffolding, vgl. Gibbons 2009), oder sie lässt den Referenten relativ frei berichten, indem sie Redeübergabe einsetzt, durch Fragen ermuntert etc. Das Training des hier dargestellten Micro-Scaffoldings ist nicht zu unterschätzen - Micro-Mode- Shifting will gelernt sein. Denn, wie Edwards und Mercer bereits 1987 feststellten: “It is essentially in the discourse between teacher and pupil that education is done - or fails to be done.” 5 Fazit Die Bildungsstandards des Unterrichtsfachs Mathematik zeigen drei kognitive Anforderungsbereiche auf: Das Reproduzieren, das Herstellen von Zusammenhängen und das Verallgemeinern bzw. Reflektieren. Bildungs- und Fachsprache bieten als konzeptionell-schriftliche Register dasjenige Repertoire an sprachlichen Handlungen und Mitteln, die die mathematischkognitiven Operationen initiieren, unterstützen und darstellen. Verallgemeinern als kognitive Operation und Verallgemeinern als bildungssprachliche Diskursfunktion sind jeweils wechselseitig aufeinander bezogen: Verallgemeinern bedeutet u.a., sich vom konkreten Erlebniskontext zu lösen und entsprechend kontextentbunden distanz-sprachlich zu agieren. Hierbei zeigt sich, dass die eingesetzten sprachlichen Mittel nicht willkürlich sind: Vom Erlebniskontext zu abstrahieren, heißt fachsprachlich z.B. zu entpersonalisieren. Dafür stellen bildungs- und fachsprachliche Register z.B. das Passiv bereit. Form und Funktionen müssen daher im Unterricht zusammen vermittelt werden: In diesem Kontext ist der Gebrauch der sprachlichen Formen und kommunikativen Praktiken authentisch und motiviert. Das isolierte Vermitteln sprachlicher Mittel greift demgegenüber zu kurz, weil hier allein die Form fokussiert wird, ihr adäquater Gebrauch aber nicht vermittelt wird. Die Förderung bildungs- und fachsprachlicher Strukturen muss demnach integriert in jedem Fach geschehen. Um einer Verengung der Begriffe Bildungs- und Fachsprache auf Oberflächenmerkmale entgegenzuwirken, ist es wichtig, den Zusammenhang von fachlichen Gegenständen, fachlichen Arbeits- und Denkweisen auf der einen und Bildungsbzw. Fachsprache auf der anderen Seite konkreter in den Blick <?page no="283"?> Funktionale Sprachvermittlung im Mathematikunterricht 283 zu nehmen. Dies erfordert sowohl auf der Ebene der Forschung zum sprachsensiblen Fachunterricht als auch auf der Ebene des Unterrichts die Zusammenarbeit von Fach- und Sprachdidaktik. Aufgabe der jeweiligen Fachdidaktiken ist es u.a., Anforderungsniveaus zu bestimmen und darzulegen, welche kognitiven Leistungen erwartet werden. Aufgabe der Sprachdidaktik ist es, die auf diese kognitiven Leistungserwartungen bezogenen sprachlichen Anforderungen zu analysieren und u.a. entsprechende sprachliche Handlungen, kommunikative Praktiken und sprachliche Mittel sowie mögliche sprachliche Hürden zu bestimmen. Literatur Akinwunmi, Kathrin (2012): Zur Entwicklung von Variablenkonzepten beim Verallgemeinern mathematischer Muster. Heidelberg: Springer. Bühler, Karl (1934/ 1999): Sprachtheorie: Die Darstellungsfunktion der Sprache. Stuttgart: UTB. Czicza, Dániel; Emmrich, Volker; Hennig, Mathilde & Niemann, Robert (2012): Zur Verortung von Texten zwischen Polen maximaler und minimaler Wissenschaftlichkeit. Fachsprache 1-2, 2-44. Czicza, Dániel & Hennig, Mathilde (2011): Zur Pragmatik und Grammatik der Wissenschaftskommunikation. Ein Modellierungsvorschlag. Fachsprache 1-2, 36-60. Devlin, Keith (2002): Muster der Mathematik: Ordnungsgesetze des Geistes und der Natur. Heidelberg: Spektrum. 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Aus diesem Grund stellt sich die Frage nach der Bedeutung von DaZ als Einflussvariable in Bezug auf bildungssprachliche Kompetenzen. Das diesem Beitrag zugrunde liegende Forschungsprojekt möchte dieses Desiderat aufgreifen und umfasst zunächst eine kurze Darstellung erster deskriptiv-statistischer Ergebnisse hinsichtlich der Verwendung bildungssprachlicher Mittel in Texten von Grundschülerinnen und -schülern. In einem zweiten Schritt erfolgt die mikroanalytische Betrachtung mit dem Fokus auf DaZ und DaE 1 . Dafür werden Texte von zwei Schülerinnen analysiert, um deren individuelle bildungssprachliche Kompetenzen zu beschreiben. Daran anknüpfend gibt der Beitrag abschließend Denkanstöße hinsichtlich der Beschreibung bildungssprachlichen Könnens im Primarbereich. 2 Bildungssprache als Schlüsselkompetenz Das Konstrukt Bildungssprache hat sich innerhalb kürzester Zeit ohne eine grundlegende empirische Basis konsolidiert. So gelten sprachliche Mittel wie z.B. Fachbegriffe, Nominalisierungen, komplexe Attribute oder Passivstrukturen als bildungssprachlich, sind z.T. aber lediglich aus der angloamerikanischen Forschung (vgl. Schleppegrell 2001; Bailey & Butler 2003) für 1 = Deutsch als Erstsprache <?page no="286"?> Sarah Fornol 286 das Deutsche übernommen worden, während hierzulande bislang noch wenige Forschungsergebnisse zu bildungssprachlichen Mitteln vorliegen (vgl. u.a. Heppt, Haag, Böhme & Stanat 2014; Hövelbrinks 2014; Webersik 2015). Daher besteht Einigkeit bezüglich eines umfassenden empirischen Forschungsbedarfs der bildungssprachlichen Mittel (vgl. Redder et al. 2011; Ahrenholz 2013; Berendes et al. 2013; Gantefort 2013; Hövelbrinks 2014). Fraglich ist nach wie vor größtenteils immer noch, inwiefern die in der Literatur angeführten sprachlichen Mittel bildungssprachliche Kompetenz 2 im medial Mündlichen und Schriftlichen wirklich abbilden. Dabei muss berücksichtigt werden, dass bildungssprachliche Kompetenz differenziert und entwicklungsbezogen betrachtet werden sollte. Bisweilen hat es jedoch den Anschein, als existiere das Register der Bildungssprache nur als ein einzelnes normatives Konstrukt. Vielmehr sollte aber von Bildungssprachen, die in Abhängigkeit verschiedener Faktoren Verwendung finden, die Rede sein. Die eine Bildungssprache gibt es nicht und darf Schülerinnen und Schülern nicht durch verallgemeinerte normative Anforderungen von Bildungseinrichtungen unzugänglich bleiben. 3 Beschreibung des Forschungsprojekts Gegenstand des Promotionsprojekts Bildungssprachliche Mittel in Schülertexten aus dem Sachunterricht der Primarstufe ist der (bildungssprachliche) Sprachgebrauch im Medium der Schrift im Sachunterricht der Grundschule. Ziel ist die Beschreibung der Verwendung bildungssprachlicher Mittel von Schülerinnen und Schülern der Primarstufe in Abhängigkeit von sachunterrichtlichen Kontexten (vgl. Fornol i. Vorb.). Dafür wurden Schülertexte in Anlehnung an Schleppegrell (2001), Bailey, Butler, Stevens & Lord (2007), Koch & Oesterreicher (1994) sowie Biber (1988) auf folgende sprachliche Mittel hin analysiert: - Lexikalisch-semantische Ebene: Fachbegriffe (Nomen, Verben und Adjektive) 3 , fachbezogene Nomen, Verben und Adjektive 4 , bedeutungsverändernde Nomen und Verben, Komposita, Nominalisierungen, 2 Es sei angemerkt, dass eine Analyse des Gebrauchs bildungssprachlicher Mittel lediglich den Anspruch erheben kann, einen Teilausschnitt bildungssprachlicher Kompetenz darzustellen. Da das Ziel des Projekts jedoch darin besteht, einen Beitrag zur Aufklärung der Frage zu leisten, was bildungssprachliche Kompetenz kennzeichnet, wird an dem Kompetenzbegriff weiter festgehalten. 3 Als Fachbegriffe wurden diejenigen Nomen, Verben und Adjektive gezählt, deren Vorkommen gemäß des Wortschatzportals der Universität Leipzig bei 2 14 oder darüber hinaus liegt (vgl. Grießhaber 2013; Hövelbrinks 2014). 4 Fachbezogene Begriffe umfassen hier Nomen, Verben und Adjektive, deren Verwendung erforderlich ist, um den Inhalt verständlich und fachlich richtig darstellen zu können. Darunter fallen z.B. Begriffe wie Magen, markieren oder transportieren, die auch <?page no="287"?> Bildungssprachliche Kompetenzen in der Primarstufe im Medium der Schrift 287 komplexe Verbformen (trennbare und untrennbare Verben sowie Reflexivverben und Funktionsverbgefüge) - Syntaktische Ebene: Hypotaxen, Konnektoren (darunter auch kohäsive Mittel), Relativsätze, Infinitiv- und Partizipialergänzungen, das Passiv und die Passiversatzform man, Adjektiv-, Genitiv- und Präpositionalattribute In Anlehnung an Hövelbrinks (2014) wurden zudem Parataxen mit doppelter Prädikation (z.B. Das Essen wird gekaut und durch die Speiseröhre in den Magen befördert.) als syntaktisches bildungssprachliches Mittel mitaufgenommen. Bei der Analyse wird die folgende Forschungsfrage verfolgt: - Welche bildungssprachlichen Mittel realisieren Schülerinnen und Schüler im Primarbereich bei der schriftlichen Darstellung von Vorgängen im Sachunterricht? 3.1 Beschreibung der Stichprobe Die Datenerhebung erfolgte klassenweise zu drei verschiedenen Messzeitpunkten (MZP). Insgesamt nahmen 236 Schülerinnen und Schüler der zu Beginn der Erhebung zweiten und dritten Jahrgangsstufe von sechs verschiedenen Schulen teil. Dem Projekt liegt daher ein Datenkorpus von insgesamt 474 Texten zugrunde 5 (vgl. Tab. 1). Tab. 1: Differenzierte Aufstellung zu den erhobenen Texten MZP 1 (Juni 2014) MZP 2 (März 2015) MZP 3 (Juni 2015) Gruppe A, 2.-3. Klasse (insg. 202 Schülertexte) 70 Schülertexte 74 Schülertexte 58 Schülertexte Gruppe B, 3.-4. Klasse (insg. 272 Schülertexte) 97 Schülertexte 94 Schülertexte 81 Schülertexte Die insgesamt 17 Klassen, die an dem Projekt beteiligt waren, haben sich im Zeitraum der Erhebung mit z.T. unterschiedlichen Themen im Fach Sachunterricht auseinandergesetzt. Insgesamt wurden Texte zu 19 verschiedenen Themen wie z.B. Wasserkreislauf oder Atmung verfasst, die in den Klassen fachlich erarbeitet wurden. Im Anschluss erhielten die Schülerinnen und Schüler von ihrer Lehrkraft den Schreibauftrag, den jeweiligen Vorgang für im alltäglichen Sprachgebrauch Verwendung finden. Diese Erweiterung wird für die Beschreibung bildungssprachlicher Kompetenzen im Primarbereich als angemessen erachtet. Als Referenzgröße für die Auswahl dienten Texte von Lehrkräften. 5 Zur Gruppe A gehören diejenigen Schülerinnen und Schüler, die sich zum ersten MZP in der zweiten Jahrgangsstufe und zum zweiten und dritten MZP in der dritten Jahrgangsstufe befunden haben. Der Gruppe B sind diejenigen Schülerinnen und Schüler zuzuordnen, die am Anfang der Erhebung die dritte Klasse und zum zweiten und dritten MZP die vierte Klasse besucht haben. <?page no="288"?> Sarah Fornol 288 eine Person, die nicht am Unterricht teilgenommen hat, möglichst detailliert darzustellen. Die Lehrkräfte leisteten dabei keine Unterstützung durch Tafelanschriften u.ä. Die Entscheidung für die Erhebung der bildungssprachlichen Kompetenzen durch kontinuierliche Texte zur Darstellung von Vorgängen und Prozessen wurde nach einer Analyse von 163 Texten, die im Rahmen einer Pilotstudie entstanden sind, getroffen. Zuvor bevorzugte Textsorten wie Versuchsprotokolle stellten sich als zu anspruchsvoll für Kinder der zweiten Klasse heraus. Die schriftliche Darstellung eines Vorgangs war jedoch auch dieser Schülergruppe möglich. Um Aussagen über die alltagssprachlichen Kompetenzen der Lernenden vornehmen zu können, wurden außerdem zu allen drei Messzeitpunkten C-Tests durchgeführt (vgl. Baur & Spettmann 2010: 431). Hintergrundvariablen wurden darüber hinaus durch einen Elternfragebogen 6 mit Fragen zur Sprachbiographie der Kinder und dem bildungsbezogenen Hintergrund der Familie erfasst. 3.2 Datenauswertung Im Rahmen der Datenauswertung werden die in den Texten verwendeten bildungssprachlichen Mittel zunächst in Anlehnung an Hövelbrinks (2014) anhand eines deduktiv entwickelten Kategoriensystems im Rahmen einer Frequenzanalyse erfasst und deskriptiv-statistisch ausgewertet. Dabei wird der Fokus lediglich auf das Vorkommen einzelner sprachlicher Mittel und nicht auf ihre Verwendung im Kontext gelegt. Auch Texte der Lehrkräfte zu den verschiedenen Themen werden auf diese Weise analysiert. Anschließend folgen mikroanalytische Betrachtungen der Texte, da eine Vorstudie zum vorliegenden Projekt gezeigt hat, dass die Schülerinnen und Schüler z.T. zwar bildungssprachliche Mittel verwenden, fachliche Korrektheit dadurch aber nicht gewährleistet ist (z.B. die Verdauung gelangt in den Magen). Ebenso kommt es vor, dass die Formulierung dem situativen Kontext nicht angemessen ist (z.B. die Nahrung landet mit einem Plumpsen in der Toilette). Möglich ist es außerdem, dass die Formulierung nicht in den semantischen Kontext passt. So kann man sich z.B. in eine Warteschlange einordnen, aber nicht wie in dem folgenden Schülertext in die Fahrbahnmitte, sondern zur Fahrbahnmitte. Die drei angeführten Fehlerkategorien können einzeln, aber auch in Verbindung miteinander auftreten. In allen Fällen werden die bildungssprachlichen Mittel ihrer Funktion nicht gerecht (vgl. Fornol 2016). Aus diesem Grund wird im Rahmen der mikroanalytischen Betrachtungen über die sprachliche Oberfläche hinaus die kontextuelle Einbettung der bildungssprachlichen Mittel in den Blick genommen. Miteinbezogen werden an dieser 6 Ich bedanke mich bei der Forschergruppe des erziehungswissenschaftlichen Teilprojekts des von Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung geförderten Projekts Bildungssprachliche Kompetenzen: Anforderungen, Sprachverarbeitung und Diagnostik für das Zurverfügungstellen ihres Elternfragebogens. <?page no="289"?> Bildungssprachliche Kompetenzen in der Primarstufe im Medium der Schrift 289 Stelle auch diskursive und fachliche Performanzen der Lernenden. Dazu werden Fallbeispiele einzelner Schülerinnen und Schüler ausgewählt. Beschrieben werden soll hier qualitativ, wie sich der Gebrauch bildungssprachlicher Indikatoren in den Texten unterscheidet und wie Faktoren, wie z.B. das fachliche Thema, sich darauf auswirken. Insgesamt gesehen sollen die mikroanalytischen Betrachtungen es ermöglichen, bildungssprachliche Kompetenzen über die viel diskutierten bildungssprachlichen Mittel hinaus zu beschreiben. 4 Erste deskriptiv-statistische Ergebnisse hinsichtlich der Verwendung bildungssprachlicher Mittel in Schülertexten Die bildungssprachlichen Mittel wurden auf der Grundlage eines deduktiv erstellten Kategoriensystems kodiert. Aufgrund des in Anlehnung an Hövelbrinks (2014) erstellten Kodiermanuals mit Kodierregeln zu den verschiedenen linguistischen Kategorien (vgl. Abschnitt 3), die wenig Interpretationsspielraum lassen, ist die Kodierung als niedrig-inferent einzustufen. Dennoch kann es zu Abgrenzungsproblemen zwischen einzelnen Kategorien kommen, weshalb eine Interkoderin eingesetzt wurde, die 15% des Datenmaterials kodiert hat. Die Auswertungsübereinstimmung liegt je nach Text zwischen 75% und 100% und im Durchschnitt bei 86%. Erste Berechnungen zeigen zudem eine gute Reliabilität (ҡ = 0.76). Dargestellt wird im Folgenden die Verwendung bildungssprachlicher Mittel - in Relation zur jeweiligen Textlänge nach Wörtern - von den Schülerinnen und Schülern der beiden unterschiedlichen Jahrgangsstufen. Ergänzt werden diese durch die Analyseergebnisse der Texte, die von den Lehrkräften angefertigt wurden (vgl. Tab. 2). Im ersten MZP zeigt sich, dass die Lernenden der höheren Jahrgangsstufe im Schnitt mehr bildungssprachliche Mittel in ihren Texten verwenden, was erwartbar gewesen ist. So überrascht das Ergebnis des zweiten MZP, bei dem die Gruppe A einen deutlichen Leistungszuwachs zu verzeichnen hat, während die Anzahl der verwendeten bildungssprachlichen Mittel in Gruppe B abnimmt und sogar unter den Wert von Gruppe A/ MZP 2 fällt. Beim dritten MZP wird dann jedoch wieder ein ähnlicher Wert wie beim MZP 1 erreicht - und zwar in beiden Gruppen. Eine mögliche Erklärung könnte in der Textlänge gesucht werden. Gruppe B hat zum zweiten MZP fast doppelt so lange Texte angefertigt wie Gruppe A. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass bei längeren Texten die Informationen weniger verdichtet und dementsprechend im Verhältnis weniger bildungssprachliche Mittel verwendet werden. Auch der Zuwachs an bildungssprachlichen Mitteln innerhalb der Gruppe A könnte dadurch erklärt werden, auch wenn sich die Textlängen hier weniger stark unterscheiden. <?page no="290"?> Sarah Fornol 290 Möglicherweise spielen aber auch die den Texten zugrunde liegenden Themen eine Rolle. Der Blick auf die Texte der Lehrkräfte verdeutlicht, dass diese insgesamt längere Texte als die Schülerinnen und Schüler verfassen und mehr bildungssprachliche Mittel im Verhältnis zur Textlänge verwenden. Tab. 2: Übersicht über die verwendeten bildungssprachlichen Mittel in beiden Gruppen und in den Texten der Lehrkräfte Gruppe A SuS Gruppe B SuS Gruppe A Lehrkräfte Gruppe B Lehrkräfte (n=70) (n=97) (n=6) (n=7) MZP 1 Textlänge M=70,50 M=82,95 M=93,83 M=145,71 Lexikalische Mittel M=14,41 M=22,40 M=25,80 M=29,75 Syntaktische Mittel M=20,72 M=25,40 M=34,28 M=30,66 Mittel insgesamt M=35,12 M=47,80 M=60,08 M=60,41 (n=74) (n=94) (n=4) (n=7) MZP 2 Textlänge M=60,91 M=112,27 M=102,5 M=147,43 Lexikalische Mittel M=22,76 M=16,35 M=27,02 M=24,38 Syntaktische Mittel M=21,29 M=23,02 M=26,24 M=30,71 Mittel insgesamt M=44,04 M= 39,38 M=53,27 M=55,10 (n=58) (n=81) (n=4) (n=6) MZP 3 Textlänge M=72,88 M=81,63 M=111,25 M=99,50 Lexikalische Mittel M=23,31 M=23,51 M=26,88 M=30,16 Syntaktische Mittel M=22,22 M=24,19 M=28,28 M=27,90 Mittel insgesamt M=45,52 M=47,70 M=55,16 M=58,06 Die deskriptiv-statistische Gegenüberstellung der sprachlichen Leistungen von Lernenden mit DaZ sowie DaE zeigt, dass sich diese weitestgehend ähneln bzw. die Lernenden mit DaZ teilweise sogar bessere Werte erreichen (vgl. Tab. 3). Tab. 3: Vergleich der verwendeten bildungssprachlichen Mittel von Schülerinnen und Schülern mit DaZ und DaE Gruppe A Gruppe B DaE (n=50) DaZ (n=14) DaE (n=71) DaZ (n=20) MZP 1 Lexikalische Mittel M=17,46 M=23,08 M=35,43 M=30,23 Syntaktische Mittel M=21,62 M=18,95 M=25,49 M=24,70 Mittel insgesamt M=39,08 M=42,04 M=60,92 M=54,94 <?page no="291"?> Bildungssprachliche Kompetenzen in der Primarstufe im Medium der Schrift 291 DaE (n=50) DaZ (n=14) DaE (n=63) DaZ (n=20) MZP 2 Lexikalische Mittel M=32,37 M=29,88 M=24,08 M=25,03 Syntaktische Mittel M=22,12 M=19,62 M=23,59 M=22,44 Mittel insgesamt M=54,49 M=49,50 M=47,68 M=47,48 DaE (n=40) DaZ (n=13) DaE (n=63) DaZ (n=8) MZP 3 Lexikalische Mittel M=35,62 M=39,63 M=35,80 M=32,97 Syntaktische Mittel M=22,83 M=20,61 M=25,15 M=24,69 Mittel insgesamt M=58,45 M=60,24 M=60,96 M=57,67 5 Qualitative Analyse ausgewählter Texte Für die vertiefende Analyse werden die Texte aller drei MZP einer Schülerin mit DaZ sowie einer Schülerin mit DaE herangezogen, um ihre individuelle Entwicklung beschreiben zu können. Nadja und Isabel 7 besuchten zum ersten MZP gemeinsam eine dritte Klasse einer Schule mit städtischem Einzugsgebiet in Baden-Württemberg. Sie haben Texte zu den Themen Der Wasserkreislauf, Die Entstehung eines Gewitters und Der Urknall verfasst. 5.1 Fallbeispiel I - Texte der Schülerin Nadja Nadja ist ein Einzelkind und war zu Beginn der Erhebung 9,0 Jahre alt. Ihre Eltern sind in Polen, sie selber in Deutschland geboren. Ihr Vater lebt bereits seit etwa 28 Jahren in Deutschland, während die Mutter vor 13 Jahren eingewandert ist. Angegeben wurde außerdem im Fragebogen, dass der Vater mit der deutschen Sprache aufgewachsen ist und diese auch vornehmlich mit seiner Tochter spricht. Sowohl Nadja als auch ihre Mutter sprechen dagegen Polnisch als Erstsprache und kommunizieren ebenso häufig in der deutschen wie in der polnischen Sprache miteinander. Mit ihren Freunden spricht Nadja dagegen nur Deutsch. Hinsichtlich der Bildungsnähe des Elternhaushalts ist auszusagen, dass Nadjas Vater die Fachhochschulreife und eine abgeschlossene Berufsausbildung besitzt. Ihre Mutter hat einen Hochschulabschluss. Die Mutter, die den Fragebogen ausgefüllt hat, gibt an, dass sie und ihr Mann ihrer Tochter im Kleinkindalter oft Bücher vorgelesen, Geschichten erzählt oder Lieder vorgesungen und sich viel mit ihr unterhalten haben. Außerdem macht sie die Angabe, dass in ihrem Haushalt 100 bis 200 Bücher für Erwachsene und über 200 Kinderbücher vorhanden sind. Nadja hat beim ersten MZP im Juni 2014 den folgenden Text 8 verfasst: 7 Die Namen der Kinder wurden anonymisiert. 8 Die Texte werden aus Gründen der besseren Lesbarkeit in diesem Beitrag orthografisch, aber nicht grammatikalisch korrigiert abgedruckt. <?page no="292"?> Sarah Fornol 292 (1) Der Wasserkreislauf Wenn es auf einem Berg kalt wird, schneit es auf den Berg. Wenn es dann wärmer wird, beginnt der Schnee zu schmelzen, kleine Quellen enstehen und fließen langsam vom Berg herunter. Wenn die Quellen unten angekommen sind, werden sie immer und immer ein kleines Stück größer, bis aus den Quellen ein Bach entsteht. Das Wasser hat noch einen langen Weg, aber irgendwann fließt es ins Meer. Wenn das Wasser irgendwann von der Sonne erhitzt wird, entstehen Wasserdämpfe. Die steigen in die Höhe und sammeln sich in den Wolken, bis irgendwann die Wolke voll ist und es regnet und dann beginnt alles von vorne. Dass ein typischer Vorgang dargestellt wird, verdeutlicht Nadja durch den durchgängig unpersönlichen Stil in ihrem Text, der durch das durchweg unbelebte Agens als Handlungsträger in den Sätzen erzeugt wird. Zusätzlich unterstützt wird die sprachliche Abstraktion durch die Verwendung des expletiven es (es wird kalt, es wird wärmer, es fließt ins Meer, es regnet). Hervorzuheben ist außerdem, dass das Mädchen eine logische Reihenfolge für die Darstellung des Kreislaufs wählt, indem sie ihren Text mit den Niederschlägen in den Gebirgen beginnt und ihre Erläuterungen dort auch abschließt. Sie hat sich dabei anstelle des Regens für die Niederschlagsart Schnee entschieden und kann so eine zeitliche Dauer aufzeigen: Zunächst herrschen kalte Temperaturen, sodass es schneit, während die zwangsläufig spätere Erwärmung, die von der Schülerin durch die Worte „wenn es dann wärmer wird“ sprachlich eingeleitet wird, zum Beginn des Schmelzens führt. Dass eine zeitliche Abfolge besteht, macht Nadja auch durch die mehrfache Verwendung des Adverbs irgendwann in ihrem Text deutlich, bleibt dabei aber gleichzeitig vage in ihrer Aussage. Die Prozesshaftigkeit wird auch durch die Aneinanderreihung der Ereignisse im zweiten Satz verdeutlicht: „Wenn es dann wärmer wird, beginnt der Schnee zu schmelzen, kleine Quellen enstehen und fließen langsam vom Berg herunter.“ Aus fachlicher Sicht enthält diese Aufzählung jedoch einen Gedankensprung, da nicht deutlich wird, wie durch das Schmelzen des Schnees die Quellen entstehen. Es fehlt die Erklärung, dass Quellen enstehen, weil der Schnee schmilzt und das Wasser in der Erde versickert, auf eine wasserundurchlässige Schicht trifft, sich anlagert und schließlich aus der Erdoberfläche hervortritt. Durch dieses Beispiel kann exemplarisch aufgezeigt werden, dass Nadja in ihrem Text vornehmlich auf die Diskursfunktion 9 des Beschreibens zurückgreift, da sie zu keinem Zeitpunkt kausale Zusammenhänge verbalisiert, was durch den ihr gegebenen Arbeitsauftrag auch nicht explizit eingefordert wurde (vgl. 9 Diskursfunktionen sind Sprachmuster, „in denen grundlegende kognitive Operationen und deren verbale Realisierungen simultan zum Ausdruck kommen, jeweils bezogen auf bestimmte Inhalte und deren (rezeptive und produktive) Bearbeitung“ (Vollmer 2011: 1). <?page no="293"?> Bildungssprachliche Kompetenzen in der Primarstufe im Medium der Schrift 293 Abschnitt 3.1). Die Analyse ihres zweiten Satzes auf sprachlicher Ebene kann exemplarisch aufgegriffen werden, um die Vielzahl an bildungssprachlichen Strukturen aufzuzeigen, die von der Schülerin verwendet werden. So wird die Verknüpfung von Inhalt und Sprache durch den wenn-Satz mit temporaler Komponente deutlich. Auf dieses sprachliche Mittel greift Nadja auch im ersten und dritten Satz ihres Textes zurück, wobei im einleitenden Satz mithilfe der Konjunktion wenn eine Bedingung aufgezeigt wird. Die von ihr verwendeten Verben sind - unter Berücksichtigung des fachlichen Kontexts - ebenfalls als bildungssprachlich zu bezeichnen. Die Schülerin verwendet sowohl untrennbare Verben (beginnen, entstehen, erhitzen), die im Zweitspracherwerb als eine schwierigere Verbform angesehen werden (vgl. Hepsöyler & Liebe-Harkort 1991), als auch ein trennbares Verb (herunterfließen) und greift nicht auf den im Alltag eher verbreiteten und umgangssprachlichen Ausdruck runterfließen zurück. Darüber hinaus verwendet sie im weiteren Verlauf das Verb steigen, dessen Bedeutung sich im alltäglichen und fachlichen Kontext unterscheidet. In der alltäglichen Verwendung ist mit dem Verb eine in sich abgeschlossene Bewegung verbunden: Ich steige auf den Stuhl. Dagegen hat der Satz Der Wasserdampf steigt in die Höhe einen eher passiven Charakter - ein konkreter Abschluss des Vorgangs ist nicht erkennbar. Die Schülerin verwendet außerdem fortgeschrittenere syntaktische Strukturen, wie eine Infinitivergänzung („zu schmelzen“) und eine doppelte Prädikation („kleine Quellen enstehen und fließen langsam vom Berg herunter“), welche Hövelbrinks (2014: 145) aufgrund des erhöhten Planungsaufwands als eines der fortgeschritteneren bildungssprachlichen Mittel bezeichnet. Es ist anzunehmen, dass dies insbesondere auf medial mündliche Äußerungen aufgrund deren Spontanität zutrifft, während medial schriftliche Äußerungen eine ausführlichere Planung ermöglichen. Dennoch ist die doppelte Prädikation auch im medial Schriftlichen als ein wichtiges bildungssprachliches Mittel zu bezeichnen, da ihre Verwendung zu einer Verdichtung des Textes führt. Der in diesem Kontext als fachbezogen anzusehende Terminus Quelle findet zwar in dem Text der Schülerin Berücksichtigung, wird jedoch nicht in seiner Bedeutung als Ursprung von Bächen und Flüssen begriffen, sodass es zu einer fachlich falschen Aussage kommt, da nicht die Quellen, sondern das Wasser aus der Quelle den Berg hinunterfließt. Selbiges zeigt sich auch im anschließenden Satz: „Wenn die Quellen unten angekommen sind.“ Dass Nadja die Tatsache, dass aus einer Quelle ein Bach entspringt, nicht vollkommen unbekannt ist, zeigt sie aber durch die Formulierung „bis aus den Quellen ein Bach entsteht“. Die übrigen fachbezogenen Begriffe werden richtig verwendet und stellen z.T. Komposita dar (Wasserkreislauf, Berg, Schnee, Meer, Sonne, Wasser, Höhe, Wolke, Bach, Wasserdämpfe). Letztgenannter <?page no="294"?> Sarah Fornol 294 Begriff ist grammatikalisch richtig, jedoch eher ungewöhnlich, da in Darstellungen des Wasserkreislaufs häufig nur die Einzahl verwendet wird. Nadja verwendet sowohl Hypotaxen als auch Parataxen. Durch den Gebrauch von Pronomen wie dem Demonstrativpronomen die gelingt ihr die Herstellung von Textkohäsion. Neben der bereits erwähnten logischen Reihenfolge ist aus diskursiver Sicht zu erwähnen, dass die Schülerin eine treffende Überschrift gewählt hat und in ihrem Text nur wesentliche Informationen wiedergibt. Inhaltlich ist der Vorgang dadurch bis auf wenige Ausnahmen vollständig dargestellt. So geht Nadja z.B. auf die Wolkenbildung und Entstehung des Niederschlags nicht im Detail ein. Zudem endet der Text nicht mit einem inhaltlichen Anschluss an den Anfang (zu Beginn ist vom Schnee, am Ende vom Regen die Rede), wie es bei einem Kreislauf der Fall sein sollte. Dass ein solcher jedoch dargestellt wird, macht die Schülerin durch die eher alltagssprachliche Formulierung „und dann beginnt alles von vorne“ deutlich. Sie greift im Laufe des Textes noch auf einige weitere alltags- oder umgangssprachliche Formulierungen zurück, wie z.B. „werden sie immer und immer ein kleines Stück größer“ oder „Das Wasser hat noch einen langen Weg.“ Diese Ausdrucksweise wirkt wie ein sprachliches Stilmittel zur Demonstration des zeitlich sehr langen Vorgangs, um den es inhaltlich geht. Sie sind jedoch eher in literarischen Texten und nicht in der vorliegenden Textsorte des Sachtextes als angemessen zu betrachten. Anders verhält es sich mit Nadjas Formulierung von unten, anstelle vom Fuß des Bergs oder ihrer Beschreibung, dass die Wolken voll sind, anstelle davon, dass sie gesättigt sind. Es handelt sich dabei um Formulierungen, die aus fachlicher Sicht im Primarbereich aufgrund didaktischer Reduktion üblich sind (vgl. Köhnlein 2010: 167). Beim zweiten MZP im März 2015 hat Nadja den folgenden Text zur Wettererscheinung des Gewitters verfasst: (2) Ein Wärmegewitter entsteht, wenn es sehr warm ist. Da hat die Luft schon jede Menge Luftfeuchtigkeit aufgenommen. Dadurch entstehen große Wolken. In den Wolken reiben sich die Wassertröpfchen so stark aneinander, dass Elektrizität entsteht. Die Luftfeuchtigkeit entlädt sich irgendwann durch einen Blitz. Der Blitz erhitzt die Luft auf 10 000 bis 30 000 Celsius. In der Regel läuft er im Zickzack zur Erde. Danach ist auch der Donner zu hören. Ihn hört man erst nach dem Blitz. Das liegt daran, dass das Licht sich schneller ausbreitet als der Schall des Donners. Für diesen Text wählt die Schülerin keine Überschrift. Dennoch zeigen sich auch hier verschiedene Aspekte diskursiver Kompetenz. Ebenso wie beim ersten Text ist die Diskursfunktion des Beschreibens dominierend. Die wesentlichen Inhalte werden dem Adressaten in einer logischen Reihenfolge nachvollziehbar dargelegt. Durch den erneut durchgängig unpersönlichen Stil, <?page no="295"?> Bildungssprachliche Kompetenzen in der Primarstufe im Medium der Schrift 295 welcher ebenfalls durch das durchgängig unbelebte Agens als Handlungsträger sowie einmal durch den Gebrauch der Passiversatzform man erzeugt wird, gelingt es Nadja sprachliche Abstraktion zu erzeugen. Inhaltlich ist der Text unter Berücksichtigung der fachlichen Lerninhalte in der Primarstufe weitestgehend vollständig. So ist z.B. die Formulierung „In den Wolken reiben sich die Wassertröpfchen so stark aneinander, dass Elektrizität entsteht.“ für diese Altersklasse angemessen, da die wichtigsten Aspekte, nämlich die Reibung und die daraus resultierende Elektrizität angeführt werden. Darüber hinaus finden sich durch die Temperaturangaben („Der Blitz erhitzt die Luft auf 10 000 bis 30 000 Celsius“) auch detaillierte Informationen, die jedoch sprachlich nicht vollkommen korrekt sind, weil die Angabe Grad fehlt. Die inhaltliche Vollständigkeit ist insofern nicht vollkommen gegeben, als dass innerhalb der ersten drei Sätze weitere Informationen in Form von Erläuterungen hätten gegeben werden können, die von Nadja lediglich angedeutet werden. So erwähnt sie zunächst, dass Wärmegewitter bei hohen Temperaturen entstehen. Die nächsten beiden Sätze nennen die Folge(n). Es findet aber nicht die Entstehung, sondern jeweils lediglich das Ergebnis dieser Prozesse Erwähnung. So fehlt die Erklärung, dass die Luft sich durch die Wärme erhitzt, aufsteigt und warme Luft viel Feuchtigkeit enthält. Durch ihr Aufeinandertreffen mit kühlerer Umgebungsluft kommt es zur Kondensation und damit zur Entstehung der Wolken. Aus fachlicher Sicht handelt es sich bei diesen Informationen um Wissen, dass die Schülerin im Rahmen der Unterrichtseinheit zum Thema Der Wasserkreislauf erworben haben sollte. Bereits angeführt wurde jedoch, dass auch der Text des ersten MZP an dieser Stelle inhaltliche Lücken aufweist. Dass Nadja aber bei ihrem zweiten Text bereits über das Beschreiben hinausgeht und Ansätze des Erklärens zeigt, wird durch die Verwendung sprachlicher Strukturen wie „Dadurch entstehen große Wolken“ oder „Das liegt daran, dass das Licht sich schneller ausbreitet als der Schall des Donners“ ersichtlich. Der letzte Satz weist eine vergleichende Struktur durch die Konjunktion 10 als auf und dient damit der Veranschaulichung. Der beschriebene Vorgang ist trotz der erwähnten wenigen inhaltlichen Lücken verständlich, was insbesondere auch durch die Verwendung sprachlicher Mittel zur Herstellung von Textkohäsion erzeugt wird, die im Vergleich zum ersten Text häufiger angeführt werden. So werden verschiedene Pronomen zur Verknüpfung verwendet, durch die auch sprachliche Variation entsteht - dies hätte auch beim dritten und vierten Satz erfolgen können, indem das Personalpronomen ihnen verwendet worden wäre. Nadja greift zudem zur Erzeugung von Textkohäsion auf Adverbien 10 „Wie und als werden oft als Präpositionen behandelt. Allerdings regieren sie selbst keinen Kasus, sondern sie leiten einen vorhandenen Kasus weiter […]. Daher ist es angemessener, sie als Satzteilkonjunktionen einzuordnen“ (Grammatik-Duden: 632). Auch Pasch (1994: 112) ordnet wie und als den Subjunktoren zu. <?page no="296"?> Sarah Fornol 296 wie da, danach und dadurch zurück, nutzt aber auch ein diskursdeiktisches das, welches auf den Sachverhalt verweist, dass der Donner erst nach dem Blitz gehört wird. Fachlich sowie sprachlich ist der Text weitestgehend korrekt. Es entlädt sich jedoch nicht die Luftfeuchtigkeit, sondern die Spannung durch den Blitz, und die Verwendung des Präfixverbs verlaufen wäre noch präziser gewesen als das Verb laufen. Dieses ist der Schülerin aber möglicherweise nur als reflexives Verb mit anderer Bedeutung aus dem Alltag bekannt (sich verlaufen). Auch das Verb liegen ist in seiner Verwendung im Text nicht von gleicher Bedeutung wie im Alltag. Insgesamt verwendet die Schülerin vielfältige bildungssprachliche Mittel grammatikalisch, situativ und fachlich korrekt. Sie nutzt trennbare Verben (aufnehmen, aneinanderreiben, ausbreiten) und untrennbare Verben (entstehen, entladen, erhitzen), die z.T. auch als reflexive Verben verwendet werden. Darüber hinaus verwendet sie vielfältige fachbezogene Begriffe und Fachbegriffe, bei denen es sich teilweise auch um Komposita handelt (Luft, Wolken, Elektrizität, Blitz, Celsius, Erde, Licht, Schall, Donner, Wärmegewitter, Luftfeuchtigkeit, Wassertröpfchen). Eher als alltagssprachlich sind die Formulierungen „In der Regel läuft er im Zickzack zur Erde“ sowie „Da hat die Luft schon jede Menge Luftfeuchtigkeit aufgenommen“ zu betrachten. Während im ersten Text eine Parataxe verwendet wurde, kommt dieses sprachliche Mittel im zweiten Text nicht vor. Dafür nutzt Nadja drei Hypotaxen. Darin enthalten sind ein Konditionalsatz sowie ein Konsekutiv- und ein Objektsatz. Die übrigen sieben Sätze stellen einfache Hauptsätze dar, die für eine rein beschreibende Darstellung des Vorgangs auch als angemessen zu betrachten sind. Im Gegensatz zum ersten Text finden sich keine doppelten Prädikationen, dafür aber erneut das unpersönliche es („wenn es sehr warm ist“). Zudem greift sie auf eine Infinitivergänzung („Danach ist auch der Donner zu hören.“) zurück. Außerdem verwendet Nadja ein Genitivattribut („der Schall des Donners“) und verändert, möglicherweise zur Förderung der Textkohäsion, auch einmal ihren Satzbau: „Danach ist auch der Donner zu hören. Ihn hört man erst nach dem Blitz.“ Beim dritten MZP (Juni 2015) hat Nadja schließlich diesen Text angefertigt: (3) Der Urknall Nach der Urknalltheorie gab es vor 15 Milliarden Jahren eine unvorstellbar mächtige Explosion. Zuvor passte das Weltall mit seiner ganzen Masse in ein winziges Körnchen. Durch den Urknall dehnte sich die Masse innerhalb von Bruchteilen von Sekunden bis auf kosmische Dimensionen aus. Danach trieb eine Wolke aus Gas und Staubteilchen durch das All. Neue gigantische Explosionen brachten die Staubteilchen in Bewegung. Sie zogen sich wieder zusammen. Dabei erwärmte sich die Wolke und in ihrer Mitte verschmolzen die Staubteilchen. Es entstanden Klumpen fester Materien und schließlich die ersten Sterne. Zu ihnen gehört auch unsere Sonne. Das Universum wächst weiter und kühlt dabei ab. <?page no="297"?> Bildungssprachliche Kompetenzen in der Primarstufe im Medium der Schrift 297 Dieser Text wirkt auf den ersten Blick stärker konzeptionell schriftlich formuliert als die vorherigen Texte. Dies kann vor allem auf die anspruchsvolle Lexik zurückgeführt werden. Die Schülerin verwendet mehr fachbezogene Begriffe und Fachbegriffe, zu denen auch Komposita zählen: Urknall, Milliarden, Jahre, Explosion, Masse, Körnchen, Sekunden, Dimensionen, Wolke, Gas, All, Bewegung, Mitte, Materie, Sterne, Sonne, Universum, Urknalltheorie, Weltall, Bruchteile, Staubteilchen. Lediglich das Nomen Klumpen könnte als alltagssprachlich bezeichnet werden, stellt jedoch im vorliegenen Kontext einen Fachbegriff dar, der auch in Texten der Fachliteratur Verwendung findet. Nadja verwendet außerdem erneut trennbare Verben (ausdehnen, zusammenziehen, abkühlen), die z.T. auch reflexiv gebraucht werden, sowie untrennbare Verben (erwärmen, verschmelzen, entstehen, gehören). Durch das jeweilige Präfix besitzen die angeführten Verben eine andere Bedeutung als die aus dem Alltag bekannte Stammform (z.B. stehen und entstehen), wodurch der Vorgang gemeinsam mit den nicht präfigierten Verben sehr präzise und damit fachlich angemessen wiedergegeben wird (z.B. „durch das All treiben“). Es findet sich darüber hinaus ein weiteres bildungssprachliches Mittel, das im gesamten Datenkorpus verhältnismäßig selten kodiert wurde: das Funktionsverbgefüge (in Bewegung bringen). Ein besonderes Herausstellungsmerkmal dieses Textes sind die verwendeten Adjektivattribute (z.B. „unvorstellbar mächtige Explosion“, „kosmische Dimension“). Nadja gelingen dadurch auch treffende und anschauliche Gegenüberstellungen: „Zuvor passte das Weltall mit seiner ganzen Masse in ein winziges Körnchen.“ Auf syntaktischer Ebene ist festzuhalten, dass die Schülerin in ihrem dritten Text keine Hypotaxen und nur eine Parataxe sowie doppelte Prädikation verwendet. So besteht der Text vornehmlich aus einfachen Hauptsätzen. In der Fachliteratur werden vorwiegend komplexe syntaktische Strukturen wie Satzgefüge als bildungssprachliches Merkmal deklariert (vgl. u.a. Schleppegrell 2001; Bailey 2006; Reich 2008). Der vorliegende Text verdeutlicht jedoch, dass auch Texte mit einem einfachen Satzbau zum bildungssprachlichen Register gehören können und den Anforderungen der Sprachhandlungsform des Beschreibens genau dadurch nachkommen, auch wenn diese z.B. laut Gogolin, Neumann & Roth (2007) hauptsächlich durch komplexe Satzformen geprägt ist. Dass Nadja bei ihrem dritten Text den Schwerpunkt wieder auf das Beschreiben legt, wird durch die temporalen Adverbien (zuvor, danach, schließlich) sowie das Pronominaladverb dabei zur Herstellung von Textkohäsion deutlich. Darüber hinaus werden die Sätze erneut auch durch die Verwendung von Personalpronomen miteinander verknüpft. Außerdem ermöglicht das fachliche Thema ebenso wie im zweiten Text eine entpersonalisierende Ausdrucksweise durch die Verwendung des unbelebten Agens als Handlungsträger und dem expletiven es („es entstanden“). Zwar verwendet Nadja auch das persönlich geprägte Pronomen unsere, dies ist jedoch in Anbetracht des Kontexts angemessen, weil das <?page no="298"?> Sarah Fornol 298 Pronomen die Menschheit und keine Einzelpersonen beschreibt. Dementsprechend erzeugt die Schülerin die einem Sachtext angemessene Allgemeingültigkeit indirekt durch die Verwendung eines eher konzeptionell mündlichen sprachlichen Mittels (vgl. Fornol 2017). Hinsichtlich diskursiver Kompetenzen ist auszusagen, dass der dritte Text wieder eine Überschrift sowie wesentliche Informationen enthält. Er erscheint nur deshalb nicht inhaltlich vollständig, weil die letzten beiden Sätze nicht in Verbindung miteinander stehen: „Zu ihnen gehört auch unsere Sonne. Das Universum wächst weiter und kühlt dabei ab.“ Der Adressat erwartet möglicherweise auch einen weiteren abschließenden Satz. Hervorzuheben ist der Detailreichtum sowie die sprachliche Variation innerhalb des Textes. Ebenso verwendet die Schülerin durchgängig das Präteritum zur Darstellung für vergangenes Geschehen und das Präsens zum Aufzeigen allgemeiner Befunde. Im Gegensatz zu den anderen beiden Texten ist zudem die fachliche wie sprachliche Korrektheit, unter Berücksichtigung der Altersklasse, durchgängig gegeben. Zusammenfassend zeigt die Analyse der drei Texte von Nadja auf, dass diese eine positive Entwicklung hinsichtlich einer konzeptionell schriftlichen Ausdrucksweise durchlaufen hat. Eine Steigerung im Sinne eines mode continuums (Gibbons 2002) ist deutlich zu erkennen, was sich sicherlich auch mit den fachlich im Verlaufe des Schuljahres immer anspruchsvolleren Themen in Verbindung bringen lässt. 5.2 Fallbeispiel II - Texte der Schülerin Isabel Die Schülerin Isabel ist ebenfalls Einzelkind und war zum Zeitpunkt der ersten Erhebung 9,1 Jahre alt. Sie ist ebenso wie ihre Eltern in Deutschland geboren und spricht mit ihnen sowie mit Freunden ausschließlich Deutsch. Sowohl Isabels Vater als auch ihre Mutter haben einen Hochschulabschluss. Auch hier hat die Mutter den Elternfragebogen ausgefüllt. Sie gibt an, dass ihrer Tochter oft Bücher vorgelesen und Geschichten erzählt wurden und die Eltern sich oft mit ihr unterhalten haben. Lieder wurden dagegen nur manchmal vorgesungen. Im Haushalt befinden sich laut Angaben der Mutter zwischen 26 und 100 Bücher für Erwachsene sowie die gleiche Anzahl an Kinderbüchern. Isabel hat beim ersten MZP den folgenden Text zum Thema Wasserkreislauf verfasst: (4) Es fällt Schnee. Der Schnee schmilzt. Dann entsteht eine Quelle. Die Quelle fließt in ein Fluss. Der Fluss dampft. Das Wasser wird zu Dampf, steigt in die Höhe zu den Wolken. In den Wolken wird es zu Wasser und dann regnet es. <?page no="299"?> Bildungssprachliche Kompetenzen in der Primarstufe im Medium der Schrift 299 Isabel gibt ihrem Text keine Überschrift und fertigt ihn auch inhaltlich nicht vollständig an, wobei zu erwähnen ist, dass die enthaltenen Informationen alle als wesentlich für den Vorgang anzusehen sind. Für ein vollständiges Verständnis des Vorgangs fehlen dem Leser jedoch einige Informationen. So weiß er z.B. nicht, wo der Schnee fällt und unter welchen Bedingungen dies der Fall ist. Die Informationen wirken eher aneinandergereiht und die Beschreibung des Wasserkreislaufs ist weder sprachlich noch inhaltlich in sich geschlossen. Die grundsätzliche Reihenfolge der Darstellung ist zwar angemessen, jedoch fehlt es an Verbindungen zwischen den einzelnen fachlichen Teilvorgängen. Isabel gibt zwar durch wenige kohäsive Mittel (dann, und dann) Hinweise auf die temporale Abfolge, dennoch fehlt es an weiteren Verknüpfungen, die z.B. mit Hypotaxen oder modalen Adverbien sowie weiteren satzübergreifenden Konnektoren hätten erreicht werden können. Isabel kommt jedoch dem Arbeitsauftrag der Darstellung des Vorgangs durch die von ihr verwendete Sprachhandlung des Beschreibens grundsätzlich nach, auch wenn ihr dies weniger anschaulich gelingt als Nadja (vgl. Bsp. 1). Dennoch sind nicht alle Formulierungen fachlich und sprachlich korrekt. So überspringt Isabel die Entstehung eines Baches aus einer Quelle und nennt direkt den Fluss. Zudem sagt sie aus, dass der Wasserdampf zu den Wolken aufsteigt, ohne explizit zu benennen, dass sich die Wolken aus dem Wasserdampf bilden. Fraglich ist, ob das Mädchen überhaupt eine Vorstellung davon hat, was Wasserdampf ist. Ebenso wie ihre Mitschülerin verkürzt auch Isabel die Entstehung des Niederschlags in den Wolken sehr stark. Dies könnte auch auf fehlende sprachliche Mittel zurückgeführt werden, da die Schülerin die Formulierungen „wird zu Dampf“ sowie „wird es zu Wasser“ wählt, anstatt den fachbezogenen Begriff verdunsten und den Fachbegriff kondensieren zu verwenden. Insgesamt verwendet Isabel vornehmlich einfache Verben. Trennbare Verben oder Reflexivverben finden sich nicht. Sie verwendet jedoch ein untrennbares Verb (entstehen) und ebenso wie Nadja das im Vergleich zum alltagssprachlichen Kontext bedeutungsveränderte Verb steigen. Sprachlich nicht korrekt ist die Verwendung des Verbs dampfen in dem Kontext „der Fluss dampft“. Zwar präzisiert sie ihre Darstellung im anschließenden Satz („Das Wasser wird zu Dampf“), jedoch besteht auch hier kein Rückbezug, sodass unklar bleibt, ob das Wasser im Fluss gemeint ist. Das Mädchen verwendet einige fachbezogene Begriffe (Schnee, Quelle, Fluss, Wasser, Dampf, Höhe, Wolken), zu denen jedoch keine Komposita zählen. Auf syntaktischer Ebene verwendet Isabel eine Parataxe sowie eine doppelte Prädikation ohne Konnektor, wodurch zunächst der Anschein einer Aufzählung entsteht. Ihren Text formuliert das Mädchen durch die Verwendung des unbelebten Agens als Handlungsträger durchgängig entpersonalisiert. Zudem greift sie auf das expletive es („regnet es“) zurück. Isabels Text ist insgesamt durch viele Wiederholungen geprägt. Die Nomen <?page no="300"?> Sarah Fornol 300 in den vorangestellten Sätzen werden im Anschluss in der Regel nicht durch Personalpronomen ersetzt. Dies kommt lediglich einmal vor und ist sprachlich nicht vollständig korrekt, da das Wasser seinen Aggregatzustand geändert hat und zu Dampf geworden ist und daher das Personalpronomen er verwendet werden müsste: „Das Wasser wird zu Dampf, steigt in die Höhe zu den Wolken. In den Wolken wird es zu Wasser und dann regnet es.“ Beim zweiten MZP fertigte Isabel den folgenden Text zur Wettererscheinung des Gewitters an: (5) Ein Wärmegewitter haben wir alle schon mal erlebt. Es entsteht, wenn sich viele Wassertropfen aneinander reiben. Dadurch entsteht Elektrizität. Die entlädt sich durch einen Blitz. Der Blitz kann 10 000 Grad Zelsius bis zu 30 000 Grad Zelsius heiß werden. Wenn du den Blitz siehst, ist auch meistens der Donner zu hören, weil sich das Licht schneller ausbreitet als der Schall. Im Vergleich zu ihrem ersten Text verwendet Isabel hier mehr fachbezogene Begriffe und Fachbegriffe, inklusive Komposita (Elektrizität, Blitz, Grad, Zelsius, Donner, Licht, Schall, Wärmegewitter, Wassertropfen). Zudem finden sich sowohl ein trennbares Verb (ausbreiten), als auch untrennbare (erleben, entstehen, entladen) und Reflexivverben (sich ausbreiten, sich reiben, sich entladen). Da die einfachen Verben in diesem Text nicht mehr dominieren, kann dieser Text als stärker bildungssprachlich charakterisiert werden. Auf syntaktischer Ebene finden sich in Isabels Text zwar keine Parataxen und doppelten Prädikationen, aber sie verwendet Hypotaxen und bildet in diesem Zusammenhang zwei Konditionalsätze und einen Kausalsatz. Es zeigt sich hier ebenso wie bei Nadja, dass die Schülerin sowohl auf die Sprachhandlung des Beschreibens zurückgreift, jedoch auch das Erklären eine Rolle spielt. Durch die Verwendung des Kausalsatzes, der mit der Konjunktion weil eingeleitet wird, ist diese Sprachhandlung in Isabels Text deutlicher zu erkennen als bei Nadja. Einen weiteren Hinweis liefert das Pronominaladverb dadurch, welches die Inhalte miteinander verbindet. Isabel greift außerdem in diesem Text grammatikalisch richtig auf das Personalpronomen es zurück („Ein Wärmegewitter haben wir alle schon mal erlebt. Es entsteht, wenn sich viele Wassertropfen aneinander reiben.“). Darüber hinaus nutzt sie das Demonstrativpronomen die zur Vermeidung einer Wiederholung („Dadurch entsteht Elektrizität. Die entlädt sich durch einen Blitz.“). Im Vergleich zum vorherigen Text gelingt es der Schülerin somit besser, ihren Text sprachlich zu variieren. So kommt lediglich einmal eine Wiederholung vor („Die entlädt sich durch einen Blitz. Der Blitz kann 10 000 Grad Zelsius bis zu 30 000 Grad Zelsius heiß werden.“). Ein weiteres bildungssprachliches Mittel, das Isabel verwendet, ist eine Infinitivergänzung („zu hören“). Genau wie Nadja (vgl. Bsp. 2) stellt auch sie zudem einen Vergleich an („weil sich das Licht schneller ausbreitet als der Schall“). Isabels Text ist vorwiegend durch das unbelebte <?page no="301"?> Bildungssprachliche Kompetenzen in der Primarstufe im Medium der Schrift 301 Agens als Handlungsträger unpersönlich gestaltet, der erste und der letzte Satz des Textes enthalten jedoch Personalpronomen. Die Formulierung „Wenn du den Blitz siehst“ hätte auch mit der Passiversatzform man gebildet und dadurch verallgemeinert werden können. Der erste Satz enthält zwar das persönliche Personalpronomen wir, jedoch kann dadurch auch verdeutlicht werden, dass es sich um ein allseits bekanntes und damit typisches Wetterphänomen handelt, welches in der Lebenswelt jedes Menschen vertreten ist: Ein Adressatenbezug wird hergestellt. Somit muss ein eher persönlich formulierter Satz nicht zwangsläufig deshalb weniger bildungssprachlich sein, weil auch er funktional sein kann (vgl. Fornol 2017). Auf diskursiver Ebene fällt auf, dass Isabel erneut keine Überschrift formuliert hat. Sie leitet ihren Text jedoch anschaulich ein. Im Anschluss bestehen aber einige Auslassungen, da für den Adressaten nicht ersichtlich wird, wo sich die Wassertropfen aneinander reiben. Die Voraussetzungen durch das Wetter und die Wolkenbildung werden von der Schülerin nicht erwähnt. Die darauffolgenden Sätze sind aber inhaltlich gut nachzuvollziehen, sodass insgesamt von einer logischen Reihenfolge gesprochen werden kann. Aus fachlicher Sicht ist es nicht zutreffend, dass die Elektrizität sich entlädt (sondern die Spannung) und man den Donner nicht gleichzeitig mit dem Blitz wahrnimmt, sondern erst danach, sodass die Erklärung fachlich nicht mit der vorherigen Darstellung in Verbindung gebracht werden kann. Positiv hervorzuheben ist, dass auch Isabel durch die Temperaturangaben Details zum Vorgang liefert. Die Formulierung bis zu erweist sich für sie jedoch als sprachliche Hürde: „Der Blitz kann 10 000 grad Zelsius bis zu 30 000 Grad Zelsius heiß werden.“ Beim dritten MZP verfasste Isabel den folgenden Text: (6) Der Urknall Nach der Urknalltheorie passte das Weltall in ein winzig kleines Körnchen, eine Wolke, die aus Staubteilchen und Gas bestand. Die Wolke erwärmte sich und die Teilchen verschmolzen. Dann kamen auch die ersten Sterne zu einem. Der Sterne war unsere Sonne. Isabel wählt dieses Mal eine passende Überschrift für ihren Text, der durchgehend durch die Sprachhandlungsform des Beschreibens geprägt ist. Inhaltlich ist er ebenso wie die anderen beiden Texte nicht vollständig. So lässt die Schülerin wesentliche Aspekte im ersten Satz, wie den Urknall, aus und auch zwischen dem ersten und zweiten sowie dem zweiten und dritten Satz bestehen inhaltliche Lücken. Aus sprachlicher Sicht ist der Text gut verständlich, jedoch ist die Formulierung mit dem Passe-Partout-Verb 11 kommen eher 11 „Ein Passe-Partout-Verb hat keine feste, prototypisierbare Bedeutung und Struktur, sondern reguliert die Auswahl, Besetzung und Perspektivierung von Argumentstellen entsprechend pragmatisch-konstekkativen Grundbedingungen“ (Lange 2005: 1). <?page no="302"?> Sarah Fornol 302 der Umgangssprache zuzuordnen: „Dann kamen auch die ersten Sterne zu einem.“ Passender wäre es, von der Entstehung der Sterne zu sprechen oder davon, dass sie in die Galaxie der Menschen gelangten. Zudem spricht Isabel zunächst von mehreren Sternen und anschließend von einem einzelnen, den sie jedoch durch einen bestimmten Artikel einführt („Der Sterne war unsere Sonne“), wodurch nicht deutlich wird, dass es sich um einen Stern aus der vorher genannten großen Anzahl an Sternen handelt. Aus fachlicher Sicht ist die Gleichsetzung des Körnchens und der Wolke, die das Mädchen im ersten Satz vornimmt, nicht korrekt. Rein sprachlich sind die ersten beiden Sätze, die Isabel formuliert, jedoch als stark bildungssprachlich zu bezeichnen. So stellt der erste Satz eine Hypotaxe dar, die einen Relativsatz sowie eine Apposition enthält: „Nach der Urknalltheorie passte das Weltall in ein winzig kleines Körnchen, eine Wolke, die aus Staubteilchen und Gas bestand.“ Eine Satzerweiterung durch eine Apposition war bislang im gesamten Datenkorpus nur sehr selten zu verzeichnen. Der zweite Satz von Isabels Text stellt eine Parataxe dar. Die übrigen beiden Sätze sind einfache Hauptsätze, die sich in der sprachlichen Qualität von den beiden Satzreihen stark unterscheiden. Eine Verbindung deutet das Mädchen aber durch das temporale Adverb dann an, bei dem es sich um das einzige kohäsive Mittel im Text handelt. Personalpronomen werden nicht verwendet, sodass es bisweilen auch zu Wiederholungen (die Wolke, die Sterne) kommt. Der lexikalische Schwerpunkt des Textes befindet sich in den ersten beiden Sätzen, was durch die dort vorhandene Mehrzahl der verwendeten fachbezogenen Begriffe und Fachbegriffe, zu denen auch Komposita gehören, zustande kommt (Urknall, Körnchen, Wolke, Gas, Teilchen, Sterne, Sonne, Urknalltheorie, Weltall, Staubteilchen). Isabel verwendet darüber hinaus in diesen Sätzen untrennbare Verben (bestehen, erwärmen, verschmelzen), die z.T. reflexiv gebraucht werden (sich erwärmen). Eine detaillierte Veranschaulichung liefert die Schülerin durch die Verwendung von Adjektiven: „ein winzig kleines Körnchen“. Isabel gelingt es außerdem, den Text durchgängig zu entpersonifizieren, wobei das Personalpronomen im letzten Satz ebenso wie bei Nadja (Bsp. 3) zu interpretieren ist. Auch Isabel beachtet das Präteritum als grundlegende Zeitform, behält diese jedoch durchgängig bei. Insgesamt kann konstatiert werden, dass Nadja, die den Angaben des Elternfragebogens zufolge bilingual aufgewachsen ist, drei Texte angefertigt hat, die stark konzeptionell schriftlich geprägt sind, und es ihr gelingt, ihre Leistungen im Laufe eines Jahres zu verbessern. Isabels Texte sind im Vergleich zwar weniger bildungssprachlich, jedoch gelingt es auch ihr, sich sprachlich weiterzuentwickeln und vermehrt bildungssprachliche Mittel in ihren Texten zu gebrauchen. Deutlich wurde insbesondere bei ihrem dritten Text, dass fachliche und sprachliche Kompetenzen einander nicht zwangsläufig entsprechen. <?page no="303"?> Bildungssprachliche Kompetenzen in der Primarstufe im Medium der Schrift 303 6 Zusammenfassung Aufgezeigt werden konnte anhand der deskriptiven Darstellung der quantitativen Ergebnisse, dass Grundschulkinder beim Verfassen von Texten auf viele der in der Literatur angeführten bildungssprachlichen Mittel zurückgreifen. Durch die Analyse der beiden Fallbeispiele wurde deren Verwendung exemplarisch aufgezeigt und veranschaulicht, dass der alleinige Rückschluss auf die Variable DaZ für eine Zuweisung über bildungssprachliches Können zu kurz greift. Ersichtlich wurde auch, dass bildungssprachliche Kompetenzen sowohl auf inhaltlicher wie auch auf fachlicher Ebene und in ihrem Zusammenspiel in den Blick genommen werden sollten. Eine bildungssprachliche Ausdrucksweise muss nicht zwangsläufig nur durch Merkmale konzeptioneller Schriftlichkeit geprägt sein. Vielmehr können (im Primarbereich) je nach Kontext auch Elemente konzeptioneller Mündlichkeit wie einfache Satzmuster oder indirekte Verallgemeinerungen als angemessen charakterisiert werden. Dementsprechend ist dafür zu plädieren, den Blick auf bildungssprachliche Kompetenz dahingehend zu erweitern, dass diese mehr als nur Merkmale konzeptioneller Schriftlichkeit umfassen kann und von einer Beschreibung bildungssprachlicher Indikatoren auf einer rein sprachlichen Oberfläche, also ohne Einbezug des Kontexts, abzusehen ist. Die vertiefende Analyse aller drei von den Schülerinnen angefertigten Texte lieferte außerdem einen Einblick in die Weiterentwicklung bildungssprachlicher Kompetenzen im Laufe eines Schuljahres, welche die Mädchen trotz oder auch gerade wegen der steigenden fachlichen Anforderungen erfreulicherweise vollzogen haben. Literatur Ahrenholz, Bernt (2013): Sprache im Fachunterricht untersuchen. In: Röhner, Charlotte & Hövelbrinks, Britta (Hrsg.): Fachbezogene Sprachförderung in Deutsch als Zweitsprache. Theoretische Konzepte und empirische Befunde zum Erwerb bildungssprachlicher Kompetenzen. Weinheim: Juventa, 87-98. Bailey, Alison L. 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Für den Fachunterricht gilt dabei, dass das Schreiben nicht nur als Medium der Kommunikation dienen kann, sondern vor allem auch als Werkzeug des Denkens, welches ermöglicht, spezifisches Inhaltswissen, erschließendes Verstehen und kognitive Fähigkeiten auszubauen (vgl. Rijlaarsdam et al. 2014: 550). Dabei wird aus der Perspektive der Schreibentwicklungsforschung formuliert, dass Unterricht grundsätzlich die Aufgabe habe, Schreiben zu ermöglichen (vgl. Wrobel 2014: 98 oder Steinhoff 2014: 342), denn eine Schreibentwicklung benötige die Einbettung in Schreibhandlungskontexte und ein hinreichendes Anforderungspotential (vgl. Pohl 2014: 124 oder Oehme 2014: 167). Nur dadurch wird es Lernenden ermöglicht, sich in ihren Schreibfähigkeiten weiterentwickeln zu können. Für den Sachfachunterricht erhält die epistemisch-heuristische Funktion des Schreibens (vgl. Feilke 2005: 51 oder Wrobel 2014: 96) eine besondere Bedeutung. Denn Schreiben wird hier nicht nur zum Selbstzweck genutzt, sondern Lernende müssen erkennen, wie sie das Schreiben als Werkzeug zum fachspezifischen Lernen nutzen können (vgl. Rijlaarsdam et al. 2014: 552). Dockrell (2014: 508) führt für den „simple view of writing“ ein Modell an, welches die Bereiche Transcription (handwriting and spelling), Text generation (words, sentences, and discourse) und Executive functions (attention, planning, reviewing, revising, and strategies for selfregulation) umfasst, die wiederum über das Working memory miteinander verbunden sind. Die Textproduktion ist durch das Arbeitsgedächtnis bestimmt (vgl. Dockrell 2014: 510). Denn dieses vermittelt zwischen den drei <?page no="308"?> Sven Oleschko 308 Anforderungen und weist die kognitiven Ressourcen zu. Gerade junge Lernende müssen ihre Kapazitäten fokussieren und legen den Schwerpunkt auf die Motorik (Schriftbild), das Regelwissen (Orthografie und Grammatik) oder die Sachebene (spezifische Wissensbestände/ Fachkonzepte). Im Sachfachunterricht sollte die Sachebene im Fokus der Schreibaktivitäten liegen und weniger die Motorik oder das Regelwissen, gleichwohl diese beiden Bereiche ebenfalls zur Qualität eines Textes beitragen. Allerdings wird ein schülerseitig produzierter Text im Sachfachunterricht nicht fachsprachlicher, nur, weil die Orthografie oder das Schriftbild sich verbessern. Für das domänenspezifische Sprachhandeln 1 sind andere Merkmale entscheidender, die weniger die Textoberfläche betonen (vgl. Oleschko 2015: 80). Hier geht es um domänenspezifische Diskursfunktionen (vgl. Mulvad 2009: 27), die die Lernenden erwerben müssen, um fachspezifisch eigene Texte produzieren zu können. Aufgrund der unterrichtlichen Lernumgebung erhalten Lernende aber kaum ausreichend Gelegenheit, in ein authentisches Schreibhandeln hineinwachsen zu können. So erhalten sie laut Beobachtungen (vgl. Rijlaarsdam et al. 2012: 192) in einer achten Jahrgangsstufe weniger als eine Stunde oder in der zwölften Jahrgangsstufe kaum die Gelegenheit, mehr als drei Seiten zu schreiben. Schreiben als Prozess mit eigenständigem Planen, Formulieren und Überarbeiten eines Textes kann somit nur sehr basal umgesetzt werden. Dabei ist das (fachspezifische) Schreiben als ein komplexer Prozess zu verstehen, welcher eine hinreichende Lernumgebung benötigt, um gute Texte hervorzubringen. Dieser Beitrag fokussiert daher die metakognitiven Aktivitäten, die beim fachspezifischen Schreiben am Beispiel einer Schaubildbeschreibung von Lernenden durchlaufen werden müssen, und zeigt mit einem Instrument zur domänenspezifischen Sprachdiagnostik, welche texttiefenorientierten sprachlichen Mittel in eine Analyse treten können. Am Beispiel der Kategorie Themenentfaltung wird mit Benchmarktexten aufgezeigt, wie die Textgüte eingeschätzt werden kann. 2 Zur Bedeutung kognitiver Merkmale beim Schreiben Der Schreibprozess wird von unterschiedlichen autorenseitigen Wissensbereichen bestimmt (vgl. Eysenck & Keane 2010: 443). Dabei werden unterschiedliche Wissensbereiche wie conceptual, socio-cultural oder metacognitive knowledge unterschieden (Alexander, Schallert & Hare, zitiert in Eysenck & Keane 2010: 443). Gerade das metakognitive Wissen erscheint bedeutsam, da 1 Mit Domänenspezifität ist das fachliche sprachliche Handeln in der Domäne der Gesellschaftswissenschaften bezeichnet. In vielen nicht-gymnasialen Bildungsgängen der Sekundarstufe I wird ein Konglomeratsfach Gesellschaftslehre unterrichtet, welches sich aus den Bezugsdisziplinen Geschichte, Geografie, Sozialwissenschaften und Politik zusammensetzt. <?page no="309"?> Domänenspezifische Schreibfähigkeit messen 309 dieses für die Planung und Überwachung des Schreibprozesses notwendig ist. Eine Vorstellung von Metakognition als „thinking about thinking“ greife nach Dimmitt & McCormick (2012: 157) zu kurz. Ihrem Verständnis entsprechend umfasse Metakognition auch die executive function und die selfregulation. Denn das Bewusstwerden fordert motivationale und andere Aspekte ein, die Lernziele effektiver erreichen lassen können (vgl. Mietzel 2007: 262). Im Verlaufe der kognitiven Entwicklung ergeben sich sowohl qualitative als auch quantitative Veränderungen, die durch den Anstieg der Kapazitäten des Arbeitsgedächtnisses und auch der Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit im Entwicklungsverlauf bedingt sind (vgl. Anderson 2013: 305). Junge Lernende sind kaum in der Lage, ihr Lernen selbst zu überwachen, ohne in der Fokussierung des Themas/ Problems eingeschränkt zu sein. Erst mit Beginn der Sekundarstufe I entwickeln Lernende ein Bewusstsein und Verstehen darüber, wie Lernen verstanden werden kann und dass es ein dynamischer Prozess aus Aufmerksamkeit und Bedeutungsfindung ist (vgl. Dimmitt & McCormick 2012: 165). Dem Arbeitsgedächtnis kommt hier eine entscheidende Funktion zu, da es die mentale Kapazität für Motorik, Regelwissen und die Sachebene bereithält. Dabei sind die Kapazitäten allerdings limitiert und ist die Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit unterschiedlich entwickelt, so dass mit mehr Schreiberfahrung auch die Limitierungen verringert werden können (vgl. Eysenck & Keane 2010: 446). Neben dem Wissen um die eigene Kognition (hier Metakognition) wird auch das Wissen über eigene Aufmerksamkeitsprozesse als entscheidend für das Lernen und Schreiben angesehen. Denn nur, wenn die Lernenden in der Lage sind, zunehmend ihre Aufmerksamkeit zu kontrollieren und diese ausreichend für die Bearbeitung einer Aufgabe zu nutzen, gelingt es ihnen, qualitativ bessere Leistungen zu erzielen (vgl. Mietzel 2007: 262). Das Schreiben erfordert von den Lernenden die Fähigkeit, ihren eigenen Prozess zu steuern und zu überwachen. Im Kontext des Fachunterrichts scheint diese Komplexität häufig weniger stark wahrgenommen zu werden, da Lernende - wie eingangs erwähnt - kaum Gelegenheit erhalten, sich ihrem eigenen Schreibprozess und seinen unterschiedlichen Handlungsschritten bewusst zu werden. Mit der vorgelegten Heuristik zum Handlungsablauf einer Beschreibung (vgl. Oleschko 2013: 124) und der Erweiterung um konkrete Aspekte der Textproduktion (vgl. Oleschko & Schmitz 2016) liegt ein Modell vor, welches den mentalen Prozess von der Aufmerksamkeit für ein Schaubild bis zur Textproduktion prototypisch rekonstruiert (vgl. Abb. 1). Die internen Verarbeitungsschritte zeigen, dass es sich um zahlreiche (meta-) kognitive Prozesse handelt, die sich wiederum aufeinander beziehen. Dabei ist nicht nur die Bildverarbeitung für Lernende herausfordernd, sondern auch die externe Repräsentation (mündliche oder schriftliche Ausführung) des generierten mentalen Modells, welches den Anforderungen einer Beschreibung gerecht werden muss (zur Herausforderung der Zieldefinition einer <?page no="310"?> Sven Oleschko 310 Schaubildbeschreibung vgl. Oleschko 2014a). Das Generieren mentaler Modelle ist dabei für Lernende nicht ohne Weiteres zu leisten, da viele von ihnen genauso wie mit dem Lesen eines Textes herausgefordert sind (vgl. Bernhardt 2007: 432). Abb. 1: Heuristik des Handlungsablaufs Beschreiben (eigene Darstellung verändert nach Oleschko 2013 und ergänzt um Becker-Mrotzek & Schindler 2007). In der theoretischen Diskussion um mentale Modelle steht die Konkretisierung abstrakten kategorialen Wissens im Mittelpunkt sowie die Frage, wie die Struktur des Wissens zu einer konkreten Wahrnehmungssituation oder einer vorgestellten Situation in Beziehung gesetzt wird (vgl. Engelkamp & Zimmer 2006: 577). Ähnlich wie bei den Textverarbeitungsmodellen davon ausgegangen wird, dass ein internes Modell entwickelt wird, welches auf den im Text beschriebenen Sachverhalt gründet (vgl. Christmann 2006: 617), kann das Verständnis bei der Textproduktion auf Grundlage eines Schaubildes analog gebildet werden. Auch hier geht es darum, dass die Lernenden als Betrachter Bedeutungseinheiten wahrnehmen, die sie mit Vorwissen in Beziehung setzen und dadurch ein internes Modell erhalten, welches auf den durch das Bild dargestellten Sachverhalt entsteht. Die interne Vorstellungsbildung mündet in einem mentalen Modell, welches ab einem Zeitpunkt der Informationsverarbeitung durch ein Modell der Textproduktion ergänzt wird. Somit <?page no="311"?> Domänenspezifische Schreibfähigkeit messen 311 erfordert die Transformation des mentalen Modells in einen schriftlichen Text von den Lernenden, erlernte Muster zur Verschriftlichung anzuwenden. 3 Sprachhandlung als zentrale Kategorie für den Fachunterricht Damit Lernende einen guten Text produzieren können, benötigen sie unterschiedliches Wissen. Zum einen geht es um das Wissen, welches ihnen hilft, ihren Schreibprozess selbst zu gestalten (siehe Abschnitt 2). Daneben benötigen sie aber auch einen Fachwissensbestand (bzw. Präkonzepte zum zu verarbeitenden Sachverhalt) und Sprachwissen. Das Fachwissen hilft, Informationen aus dem Bild zu erkennen und diese als Auslöser für weitere Aktualisierungen oder Erweiterungen zu nutzen (vgl. Perzept- und Vorstellungsbildung im Modell). Das Wissen um sprachliche Strukturen bezieht sich nicht nur auf die Wortebene, wie häufig in der Schule wahrgenommen, sondern die Lernenden müssen vielmehr in die Lage versetzt werden, für den Fachunterricht typische Sprachhandlungen oder auch Diskursfunktionen realisieren zu können. Hierzu zählen dann unterschiedliche Wissensbestände (wie Fachinhalte, Sprache und Textaufbau), die genutzt werden müssen. Die Fachwortebene gilt dabei schon länger als weniger herausfordernd sowohl für einals auch mehrsprachige Lernende (vgl. Steinmüller & Scharnhorst 1987: 7). Das Wissen um Textprozeduren kann helfen, die Qualität eines zu produzierenden Textes zu erhöhen. Sie werden als sprachliche Einheiten mittlerer Größe, die zwischen Wortebene und Textganzem zu finden sind (vgl. Knopp et al. 2013: 114), verstanden. Mit Textprozeduren wird die Verknüpfung von Inhalt und kommunikativer Absicht erreicht, wodurch Schreibroutinen entstehen können (vgl. Knopp et al. 2013 oder Wrobel 2014: 93). Nach Wrobel (2014) stellen diese textartspezifische Formeln, Kollokationen und idiomatisch geprägte Ausdrücke bereit. Textprozeduren helfen dabei, den Prozess der Textproduktion zu ermöglichen und gleichzeitig zu entlasten (vgl. Wrobel 2014). Die fachspezifischen Sprachhandlungen sind dabei in unterschiedlichen fachdidaktischen Arbeiten bereits in den Fokus getreten (vgl. für Mathematik Erath & Prediger 2014 oder für Gesellschaftslehre Oleschko, Altun & Günther 2015). Hier werden sowohl mündliche wie schriftliche Diskurspraktiken näher beleuchtet. Bei Erath & Prediger (2014: 348) geht es darum, den mathematischen Kern von Erklärpraktiken zu rekonstruieren und deren fachspezifischen Gehalt zu erfassen. Auch in anderen fachdidaktischen Arbeiten wird zunehmend auf die spezifische Erfassung von im Fachunterricht verlangten Sprachfähigkeiten hingewiesen (vgl. für Geschichte bspw. Schrader 2013: 31). Im aktuellen Diskurs um Sprachbildung wird die Bedeutung von Funktionswörtern (Konnektoren) (vgl. Ricart Brede 2014 oder Ferraresi 2014), Verben (vgl. Redder 2013) und Nominalphrasen (vgl. Siekmeyer 2013) für bildungssprachliche bzw. alltäglich-wissenschaftsprachliche Texte diskutiert. <?page no="312"?> Sven Oleschko 312 Einen Hinweis auf die Textqualität geben zum einen über satzwertige Einheiten hinausgehende sprachliche Mittel, aber auch Funktionswörter. Damit Lehrerinnen und Lehrer eine lernförderliche Umgebung schaffen können, ist die Kenntnis über fachspezifische Sprachgebrauchsweisen und die dem Fach inhärenten Diskursfunktionen und deren Spezifika bedeutsam. Denn nur mit einer für den Fachunterricht ausreichenden Sprachfähigkeit können sich die Lernenden die fachspezifischen Lerngegenstände und Diskurspraktiken aneignen. Hierzu benötigen sie Unterstützung im Erwerb als auch im Ausbau bereits vorhandener Wissensbestände. 4 Herausforderung einer domänenspezifischen Sprachdiagnostik Für die Einschätzung der Schreibfähigkeiten von Lernenden existieren unterschiedliche Instrumente, welche eine diagnostische Funktion besitzen oder zur Orientierung für Lehrerinnen und Lehrer dienen (wie z.B. Bildungsstandards). Dabei besitzen die Instrumente unterschiedliche Qualitäten, welche helfen können, einen Globaleindruck abzubilden und einzuordnen oder eher dafür genutzt werden, eine Förderdiagnostik ausgehend vom analysierten Text zu ermöglichen. Die in den Instrumenten genutzten Kategorien unterscheiden sich hinsichtlich der Konkretion und Inferenz. Für das konkrete und niedrig-inferente Einschätzen von Schülertexten können ausgewählte Kategorien zum Teil zu unspezifisch oder wiederum andere zu aufwendig für die Analyse sein. Hier kann zwischen Einsatz und Ziel der Analyse unterschieden werden. Bildungsstandards haben Orientierungsfunktion und können mit zu überprüfenden Heuristiken helfen, einen Überblick über Textqualitäten zu gewinnen. Das Ziel von Diagnoseinstrumenten ist, eine verlässliche Qualitätsaussage zur Textqualität treffen zu können, indem spezifische Kategorien im Text untersucht werden. Die Bildungsstandards Sprachen aus Luxemburg (vgl. Ministère de l'Éducation nationale et de la Formation professionnelle 2008: 71) arbeiten beispielsweise mit einer vierstufigen Skala, mit der das sprachliche Niveau der Schülertexte eingeschätzt werden soll. Die Diagnoseinstrumente für einzelne Sprachhandlungen (Berichten, Beschreiben, Erklären und Argumentieren) des Projektes FörMig (vgl. u.a. Lengyel et al. 2009), die helfen sollen, die bildungssprachliche Entwicklung in der Sekundarstufe I zu beobachten, weisen eine sechsstufige Skala für unterschiedlich ausgewählte Kategorien aus. Die Herausforderung, die sich aus den benannten Beobachtungsbelegen (hier Indikatoren für die Textqualität) ergibt, ist das Merkmalsverständnis verschiedener Urteiler. Die ausgeführten Indikatoren zeigen, dass die Lernenden beispielsweise ihre Texte „angemessen“ gliedern (vgl. Ministère de l'Éducation nationale et de la Formation professionnelle 2008: 71). Dieser Indikator <?page no="313"?> Domänenspezifische Schreibfähigkeit messen 313 verdeutlicht, dass ein hohes Maß an Schlussfolgerungen (Inferenzen) notwendig wird, um vom konkreten Beobachtungsgegenstand (Text) auf das Vorhandensein dieses Merkmals (Gliederung) zu schließen. Da ein solches globales Merkmal ausschließlich von der Auslegung des Urteilers gefüllt wird, können sich die Ratings bezüglich der angemessenen Gliederung zwischen verschiedenen Urteilern stark unterscheiden. In der Regel ist es für eine Vergleichbarkeit und damit die Reliabilität entscheidender, globale Merkmale in konkretere und besser beobachtbare bzw. eindeutig zuzuordnende zu operationalisieren. Hier könnte der Indikator Angemessenheit in unterschiedlichen Ausprägungen vorgegeben werden, damit die Qualität der Angemessenheit zugeordnet werden kann. Nach diesem Beispiel lassen sich die Kategorien in den FörMig-Instrumenten anführen. Hier ist der Indikator „(fach-)sprachliche Präzision“ in sechs Stufen gegliedert. Stufe 4 wird bspw. vergeben, wenn der Rater den Eindruck hat, dass die Lernenden einen „differenzierten Wortschatz” genutzt haben. Auch hier zeigt sich, dass die zur Verfügung stehenden Ausprägungen trotz Abstufungen immer noch hochinferent sein können. Denn erst wenn ein geringes Maß an Schlussfolgerungen notwendig ist, um das Vorhandensein dieses Indikators zu beurteilen, kann von niedrig-inferenten Urteilen gesprochen werden. Die genannten FörMig-Instrumente (bildungssprachliche Entwicklungen in der Sekundarstufe I) sind weniger hoch-inferent als die Niveaustufen aus den Bildungsstandards aus Luxemburg und dennoch verlangen beide ein hohes Maß an Schlussfolgerungen von den Urteilern. Es kann unterstellt werden, dass die „formale Exaktheit der Merkmalserfassung“ (Kubinger 1996: 36), damit die ‚Zuverlässigkeit‘, „mit der das Ergebnis richtig, im Sinne von exakt ist” (vgl. ebd.), bei diesen Instrumenten nicht gegeben ist. Die nicht ausreichende Reliabilität eines FörMig-Instruments - zur Beobachtung der bildungssprachlichen Entwicklung am Beispiel des Beschreibens - ist bei Oleschko (2014b: 90) ausführlich diskutiert. Die Entwicklung eines Diagnoseinstruments, welches niedrig-inferente Ratings verlangt, ist in der Regel in der Auswertungspraxis aufwendiger. Denn hier müssen die Urteiler konkrete Indikatoren und die zuvor festgelegten Ausprägungen mit dem Vorkommen im Text abgleichen. Im direkten Vergleich zu den bisher genannten ist das von Oleschko (2015) vorgestellte Instrument stärker analytisch (vgl. Abb. 2). Ein solches analytisches Modell fordert auf, keine Globalurteile zu vergeben, sondern anzuzeigen, welche Ausprägung der einzelnen Indikatoren im zu ratenden Text jeweils vorhanden ist. Bei der Entwicklung ist darauf zu achten, dass die möglichen Ausprägungen zum einen theoretisch angenommen werden können und die Bezeichnungen der Abstufungen zum anderen so formuliert sind, dass sie kaum von der Auslegung des einzelnen Raters abhängig sind. Dabei kann die reliable Messung von Textqualität mit analytischen Verfahren als herausfordernd bezeichnet werden (vgl. <?page no="314"?> Sven Oleschko 314 Bremerich-Vos & Possmayer 2013: 294 oder Knopp, Becker-Mrotzek & Grabowski 2013: 308). Damit niedrig-inferente Beobachtungsbelege beurteilt werden können, verschwinden andere Kategorien, die theoretisch nicht ausreichend abbildbar oder nur global herleitbar sind. Diese tragen dennoch zur Einschätzung von Textqualität bei, erfüllen in der Regel aber nicht die Ansprüche der klassischen Testtheorie. Abb. 2: Interferenzen bei unterschiedlichen Diagnoseinstrumenten (eigene Darstellung) 4.1 Instrument zur domänenspezifischen Sprachdiagnostik Im vorherigen Abschnitt ist auf die Herausforderung von Instrumenten zur Messung der Textqualität hingewiesen worden. Da eine globale Messung der gesamten bzw. allgemeinen Sprachkompetenz schwer zu modellieren ist, wird im Folgenden ein selbst entwickeltes Instrument vorgestellt, für das die Sprachhandlung Beschreiben theoretisch operationalisiert und an 1792 Schülertexten zu Schaubildern (der Bezugsdisziplinen Geschichte, Geografie und Sozialwissenschaften/ Politik) empirisch überprüft wurde. 2 In diesem Beitrag wird die Auswertung der Themenentfaltung näher ausgeführt, die hohe Korrelationen mit den Kategorien Konnektoren, Nominalphrasen und Verben aufweist. Die Interrater-Reliabilitäten für diese sprachlichen Ausdrücke (für knapp die Hälfte der Texte N = 679) liegen alle bei ≥.95 (Konnektoren κ = .95, Nominalphrasen κ = .96 und Verben κ = .96). Bei der Berechnung der bivariaten Analysen (Spearman-Rangkorrelation r s ) wird deutlich, dass die genannten Kategorien mit der Themenentfaltung ( κ = .91) positiv korrelieren. Diese moderaten Korrelationen (zwischen r s = <.40 und r s = <.43) deuten 2 Die Lernenden verteilen sich wie folgt auf die einzelnen Jahrgänge: 579 aus dem Jahrgang 5, 582 aus dem Jahrgang 8 und 612 aus dem Jahrgang 10. 50,9% (902) der Probanden waren männlich und 49,1% (871) weiblich. 979 (57,0%) der Lernenden gaben an, vor Schuleintritt ausschließlich deutsch und 740 (43,0%) mehrsprachig aufgewachsen zu sein. Eine genaue Beschreibung der Stichprobe und das vollständige Diagnoseinstrument können bei Oleschko 2015 nachgelesen werden. konkret niedrig-inferent abstrakt hoch-inferent Bildungsstandards Luxemburg Diagnoseinstrumente aus FörMig weniger aufwendig stärker aufwendig domänenspezifische Sprachdiagnostik Beobachtungsbelege Auswertung <?page no="315"?> Domänenspezifische Schreibfähigkeit messen 315 darauf hin, dass die untersuchten sprachlichen Ausdrücke miteinander zusammenhängen. Korrelationen lassen keine Kausalinterpretation zu, können aber helfen, bestimmte Zusammenhänge genauer in den Blick zu nehmen. Die Themenentfaltung ist als der Indikator definiert, welcher anzeigt, wie die Performanz der sachlogischen Strukturierung im Text vorzufinden ist. Dabei gibt es eine vierfache Unterscheidung: nicht vorhanden (Stufe 0), assoziative Verkettung (Stufe 1), sachorientierte Verkettung (Stufe 2) und kategoriale Einordung (Stufe 3). Die Bedeutung der Themenentfaltung für domänenspezifische Schreibprodukte ist bereits diskutiert (vgl. Oleschko & Schmitz 2016). Es kann angenommen werden, dass über die berichteten Zusammenhänge zwischen den Kategorien die Interpretation, dass Kognition und Sprache nicht voneinander zu trennen sind, nun auch an konkreten sprachlichen Einheiten verdeutlicht werden kann. Denn wenn Lernende in der Themenentfaltung ihres Textes höhere Stufen erreichen, bedeutet dies auch, dass sie in den drei anderen Kategorien komplexere Ausprägungen realisieren. 4.2 Benchmarktexte für die Kategorie Themenentfaltung Da die im Text zu beobachtetende Ausprägung der Themenentfaltung mit den drei genannten sprachlichen Kategorien korreliert, sollen diese Zusammenhänge an drei Schülertexten, die unterschiedliche Stufen der Themenentfaltung zugewiesen bekommen haben, illustriert werden. Die dazu herangezogenen Benchmarktexte aus den verschiedenen Bezugsdisziplinen des Gesellschaftslehreunterrichts verdeutlichen, wie Lernende ihre Fachkonzepte (bzw. Präkonzepte) aktiveren, um den durch das Schaubild gewonnenen Sachverhalt mit ihrem eigenen sprachlich gebundenen Wissen wiederzugeben und somit zu verarbeiten. Die Stufe 1 zeichnet sich dadurch aus, dass die Lernenden subjektiv als bedeutsam erachtete Bedeutungseinheiten aus dem Bild nutzen und ‚irgendwie‘ miteinander verketten. Hier zeigt sich, dass sie auf sprachlich gebundene Informationen aus dem Schaubild zurückgreifen. Auf Stufe 2 wird der Sachverhalt sachlogisch stärker aufgebaut. Damit eine solche Struktur erreicht werden kann, verknüpfen die Lernenden einzelne durch das Schaubild gewonnene Wissenseinheiten und geben so ihre subjektiv konstruierte Wissensstruktur wieder. Eine kategoriale Einordnung, in der dahinterstehende Konzepte benannt werden, ist in Stufe 3 zu finden. Hier präsentieren die Lernenden eine sachlogische Struktur, welche auf Fachkonzeptbasis realisiert ist. Sie können die durch das Bild gewonnenen Bedeutungseinheiten in bestehende Wissenslandkarten einordnen und formulieren dies explizit. Auch finden sich häufig Angaben weiterer Wissensbestände, die im thematischen Kontext des durch das Bild ausgelösten Themenbereichs stehen. <?page no="316"?> Sven Oleschko 316 Tab. 1: Benchmarktexte für die Kategorie Themenentfaltung Stufe Schülertext (Bezugsdisziplin Geschichte, Geographie oder Politik) 1 „Die folgende darstellung spielt in Athen. Es gibt ca. 110.000 sklaven; 35 000 Metöken und 110.000 Bürger mit Frauen. Athen hat ca. 40 000 Bürger. Die Minarchie hat einen König, Aristokratie und die Demokratie haben keinen König. Im Gegensatz zum König haben sie adelige.“ (SI-8-2-151, Geschichte) 2 „Im Schaubild D1 sieht man das vor 700. v.Chr. der König an oberster Stelle mit den Adligen. Zwischen 700 und 500 vor Chr. ist die Aristokratie an der Macht es gibt keinen König der Herrscht. Sondern nur noch die Adligen. In der Demokratie um 500 vor Chr. herrschen die Adligen und Bürger und Frauen mit Kinder um ihre eigene Meinung zu äußern. Man kann im Schaubild sehen wie die Bevölkerung Athens um 430 v. Chr. war.“ (SV-8-2-1605, Geschichte) 3 „Um 700 v. Chr. herrschte der König und der Adel über Athen. Diese Regierungsform nennt man Monarchie. Zu dieser Zeit bestand die sogenannte „Mittelschicht“ aus normalen Bürgern. Damals zählten die Frauen und Kinder nicht als Bürger, aber waren dennoch Teil der Mittelschicht. Ihre Arbeit bestand aus Bauern, Handwerkern und Händlern. Darunter traten die „Metöken“. Sie waren Zugewanderte, aus anderen Ländern. Wichtig, aber ohne Wert waren die Sklaven. Um 500 v.Chr. gab es keinen König mehr. Der Adel war der alleinige herrscher. Doch da die Regierung nicht aus einer Person bestand, war es keine Monarchie sondern eine Aristokratie. Die Schichten waren noch immer gleich aufgeteilt. Nach 500 v.Chr. änderte sich die Regierungsform zu einer Demokratie. Es waren mehr Herrscher und das Volk durfte bestimmen, was verändert wurde und was blieb. Es gab vereinzelte Parteien die wiederum über veränderung abstimmten und Ideen zur Verbesserung des Landes oder des Volkes einbrachten. Dadurch, dass es mehr Herrscher gab, waren es weniger Bürger. Sie verringerten ihre Zahl. Die anderen beiden Schichten (Metöken und Sklaven.) veränderten sie sich nicht.” (SI-8-5-234, Geschichte) In der Auswertung der Schülertexte (N = 679), die von beiden Ratern beurteilt sind, zeigt sich, dass die Stufe 3 in allen drei untersuchten Jahrgängen am wenigsten häufig in den Schülertexten zu finden ist. Die Stufen 1 und 2 verteilen sich annähernd gleich (vgl. Tab. 2). <?page no="317"?> Domänenspezifische Schreibfähigkeit messen 317 Tab. 2: Ausprägung des Indikators Themenentfaltung (bei N = 679) Jahrgang Gesamt 5 8 10 Themenentfaltung Stufe 0 1 1 0 2 Stufe 1 123 96 48 267 Stufe 2 45 106 140 291 Stufe 3 4 44 71 119 Gesamt 173 247 259 679 Die Schülertexte zeichnen sich durch einen unterschiedlichen Grad an Aktivierung von Prä- und Fachkonzepten aus, was indirekt über die Themenentfaltung angezeigt ist. Dies ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Versprachlichung von Fachkonzepten für die meisten Lernenden eine Herausforderung darstellt. Hier müssen sowohl fachliche Wissensbestände als auch sprachliche Fähigkeiten genutzt weden, um das Fachkonzept in einem Text darstellen zu können. Da eine Beschreibung immer auf sprachlich etabliertes Wissen zurückgreift (vgl. Feilke 2005: 51ff.), sind die unterschiedlichen Ausprägungen in der dargestellten Kategorie auch als ein Hinweis auf die Divergenzen im (Fach-)Wissensbereich zu sehen. Es kann somit ein Zusammenhang zwischen Fachwissen und Fachsprache unterstellt werden, der keineswegs neu ist. Die ersten Analysen der vorgestellten Untersuchung geben aber einen Hinweis darauf, an welchen Kategorien dieser erkennbar werden kann. 5 Schreiben im Kontext der gesellschaftswissenschaftlichen Unterrichtsfächer Schreiben stellt eine komplexe Handlung dar (Feilke 2014; Oehme 2014; Wrobel 2014), die im Kontext des Fachunterrichts theoretisch schwer zu modellieren ist. Zumal davon ausgegangen werden kann, dass die Modellierung der einen Schreibkompetenz nicht möglich ist (vgl. Feilke 2014: 42). Vor diesem Hintergrund wurde die Modellierung einer domänenspezifischen Sprachdiagnostik für die Sprachhandlung Beschreiben vorgestellt. Hier zeigt sich, dass der Diskurs um domänenspezifische Sprachdiagnostik für schriftliche Sprachäußerungen erst in den Anfängen steckt. Die Verknüpfung von unterschiedlichen theoretischen Ansätzen scheint besondere Herausforderungen zu bergen. Darüber hinaus eröffnet sie aber auch neue Blickwinkel und Forschungsfelder. In der Fachdidaktik Politik wird beispielsweise die Bedeutung der Fachkonzepte und deren konsitutierenden Begriffe für das politische Lernen diskutiert (vgl. Breit & Weißeno 2013: 151). Hier wird davon ausgegangen, <?page no="318"?> Sven Oleschko 318 dass diese Konzepte die Bewältigung von Aufgaben ermöglichen (vgl. Breit & Weißeno 2013: 153). Allerdings scheint hier der Fokus stark auf der Wortebene zu liegen, da argumentiert wird, dass „die Nutzung der Begriffe den Erwerb der Fachsprache“ (Breit & Weißeno 2013: 162) fördere. Weißeno (2015: 84) verweist darauf, dass die Lernenden nicht nur die konstituierenden Begriffe kennen und wissen müssen, welches Fachkonzept sie repräsentieren, sondern sie müssen diese auch selbstständig anwenden lernen, um bspw. politische Texte schreiben zu können. In den Fachdidaktiken des Gesellschaftslehreunterrichts wird die Bedeutung der Sprache für das fachliche Lernen zunehmend stärker diskutiert (vgl. für Geschichte Handro 2015, für Politik Weißeno 2015 oder für Geografie Budke et al. 2015). Es zeigt sich, dass hier vor allem Sprachhandlungen wie Argumentieren oder Erklären Gegenstand der Forschung sind. Denn diese verknüpfen stärker das fachliche und sprachliche Lernen, als es der Fokus allein auf der Wortebene leisten könnte. Inwiefern die schulische Lernumgebung das Schreiben im Fachunterricht - so wie eingangs verstanden - fördert, kann bisher kaum berichtet werden. Da der Fachunterricht Gesellschaftslehre im Diskurs um Sprachbildung nicht ausreichend repräsentiert scheint, obwohl bekannt ist, dass dieser andere sprachliche Anforderungen an die Lernenden stellt als andere Unterrichtsfächer (vgl. Short 1997: 217), wäre eine systematische Forschungsaufnahme wünschenswert. 6 Diskussion und Ausblick Die Bedeutung von sprachlichem Handeln im Fachunterricht ist für das schulische Lernen besonders relevant, da diese fachspezifische Sprachstrukturen und die Verlinkung zum fachlichen Lernen besser in den Blick zu nehmen scheinen als die Betrachtung isolierter sprachlicher Mittel. Im Unterricht werden sprachliche Handlungen verwendet, „die sich gesellschaftlich bewährt haben und über die auch andere verfügen“ (Hoffmann 2013: 26). Mit ihnen werden domänenspezifische Auseinandersetzungen und Wissensbestände verarbeitet. Sie können als kommunikatives Handeln verstanden werden, mit denen individuelle Ziele verfolgt werden, welche in ihrer Verwirklichung vom kommunikativen Zweck abhängen (vgl. Ehlich & Rehbein 1979: 250). Wie solche sprachlichen Handlungen im jeweiligen Fach verstanden werden können und wodurch sie sich genau auszeichnen, ist bisher nur in Ansätzen Gegenstand fachdidaktischer Forschung (vgl. Erath & Prediger 2014). Dabei zeigen sich in den wenigen Arbeiten bereits erste Erkenntnisse, die mehr Aufschluss über das fachsprachliche Lernen im Kontext der schulischen Unterrichtsfächer geben und die Notwendigkeit zur vertieften Auseinandersetzung mit fachlichen Sprachhandlungen verdeutlichen. <?page no="319"?> Domänenspezifische Schreibfähigkeit messen 319 Dabei unterscheiden sich die Forschungsaktivitäten zwischen den einzelnen Fachdidaktiken erheblich. Es kann konstatiert werden, dass für die gesellschaftswissenschaftlichen Bezugsdisziplinen bisher kaum Erkenntnisse vorliegen, obwohl erkannt ist, dass das Lernen in dieser Domäne nur über Sprache möglich ist. Dabei wäre ein Ansatz, wie er aktuell in der Mathematikdidaktik (vgl. Erath & Prediger 2014) verfolgt wird, wünschenswert, da so in authentischen Interaktionsformen des Unterrichts die zu leistenden sprachlichen Handlungen rekonstruiert werden könnten. Darüber hinaus ähneln sich Mathematik und Gesellschaftswissenschaften bedingt, in beiden Domänen werden abstrakte Wissenskonzepte zum Unterrichtsgegenstand. Dabei ist die Wissensstrukturierung in den Gesellschaftswissenschaften - im Gegensatz zu den Naturwissenschaften und Mathematik - heterarchisch organisiert. Wie Lernende in gesellschaftswissenschaftlichen Unterrichtsfächern mit heterarchischer Wissensstruktuierung in ihren Texten umgehen, ist bisher völlig unbekannt. Zur Textorganisation in diesen Fächern gibt es kaum Erkenntnisse. Dabei ergeben sich hier Notwendigkeiten, die auch die vorliegende Studie anzeigt: Ist es völlig arbiträr, welchen Bildausschnitt Lernende als Beginn ihrer Beschreibung nutzen? Wie kann ein Textaufbau unterstützt werden, wenn der Wissensbestand nicht hierarchisch organisiert ist? Wie können Lernende beim Erlernen des Textaufbaus bei heterarchischer Wissensstrukturierung unterstützt werden? Wie sollte eine Unterstützung im Unterricht erfolgen? Wie kann die Textqualität gemessen werden, wenn es keinen verbindlichen Aufbau bzw. Wissenspräsentation gibt? Daneben eröffnen sich Fragen der unterrichtlichen Wirklichkeit: Wie kann Schreiben als Prozess in einem Unterrichtsfach mit einem Wochendeputat von 1-2 Unterrichtsstunden zielführend organisiert werden? Auch ist die Frage nach der kontextspezifischen Unterrichtsentwicklung hinsichtlich der Schreibanlässe in Schulen genauer zu untersuchen, die sich in ihrer Schülerkomposition erheblich unterscheiden. Denn diese Schulen sind, trotz der Feststellung eines Unterstützungsbedarfs (in NRW sind es vor allem Standorttyp 5 Schulen oder in Zürich/ Schweiz sogenannte QUIMS Schulen), aufgefordert, die gleichen Kernlehrpläne in gleicher Zeit umzusetzen - wohlwissend, dass die Lernenden einer größeren Unterstützung bedürfen. Dabei existieren gerade für diese sprachlich divers zusammengesetzten Lerngruppen bisher kaum Ansätze zur Schreibförderung im Fachunterricht. Der Beitrag hat dabei eine zentrale Sprachhandlung für diesen Fächerverbund genauer in den Blick genommen, es ist aber weitere fachdidaktische Forschung notwendig, um konsistentere Aussagen zum Schreiben im Fachunterricht Gesellschaftslehre treffen zu können. <?page no="320"?> Sven Oleschko 320 Literatur Anderson, John R. (2013): Kognitive Psychologie. Berlin: Springer. Becker-Mrotzek, Michael & Schindler, Kirsten (2007): Texte schreiben. Duisburg: Gilles & Francke. Bernhardt, Markus (2007). Vom ersten auf den zweiten Blick. 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