Kontrastive Linguistik
Eine Einführung
0307
2016
978-3-8233-9016-9
978-3-8233-8016-0
Gunter Narr Verlag
Joachim Theisen
In diesem Buch für Studienanfänger, aber auch für fortgeschrittene Lerner werden verschiedene Sprachen, vor allem Deutsch, Englisch, Französisch und Griechisch, auf allen sprachlichen Ebenen kontrastiv miteinander verglichen. Dabei werden grundlegende Fragen der Kontrastiven Linguistik geklärt. Der Band spannt einen Bogen über Morphologie und Wortbildung, Lexik und Semantik bis zur Pragmatik und Syntax. Auch die Übersetzungsproblematik wird erörtert sowie der Frage nachgegangen, wie in unterschiedlichen Sprachen die (kommunikativen) Lasten zwischen Sprecher und Hörer verteilt sind.
<?page no="0"?> Kontrastive Linguistik Joachim Theisen Eine Einführung <?page no="3"?> Joachim Theisen Kontrastive Linguistik Eine Einführung <?page no="4"?> Joachim Theisen ist Dozent für Geschichte der deutschen Sprache und Literatur an der Universität Athen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. © 2016 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.narr-studienbuecher.de E-Mail: info@narr.de Printed in the EU ISSN 0941-8105 ISBN 978-3-8233-8016-0 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> Inhalt Abkürzungen und notationelle Regeln .......................................... 8 Griechische Laute und Buchstaben ............................................. 10 0 Vorwort .................................................................... 11 1 Einleitung ................................................................. 12 2 Perspektiven und Geschichte der KL .......................... 19 2.1 Kontrastive Perspektiven ...............................................................19 2.2 Geschichte der KL ..........................................................................27 2.3 Sprache und Sprechen ...................................................................34 3 Abgrenzungen und Horizonte .................................... 38 3.1 Sprachliche Universalien ...............................................................39 3.2 Sprachtypologie .............................................................................42 3.3 Historisch-vergleichende Sprachwissenschaft ...............................45 3.4 Sprache und Sprechen ...................................................................47 3.4.1 Erstspracherwerb ................................................................................ 49 3.5 Varietätenlinguistik .......................................................................52 3.6 Sprachkontakt ................................................................................55 3.7 Interkulturelle Kommunikationswissenschaft und kulturwissenschaftliche Linguistik.................................................57 4 Laute und Silben (Phonologie und Phonotaktik) ......... 61 4.1 Aus Lauten werden Silben - kleiner sprachlichmathematischer Exkurs..................................................................67 4.2 Zahlen, Körperteile und Konjugationen.........................................68 4.3 Was geschieht mit Fremdlauten? ...................................................77 5 Morphologie und Wortbildung ................................... 80 5.1 Morphologie...................................................................................82 5.1.1 Deklinationen...................................................................................... 82 5.1.2 Konjugationen..................................................................................... 87 5.1.3 Suppletive Wortformen....................................................................... 93 5.2 Wortbildung ...................................................................................94 6 Wortschätze (Lexikologie und Semantik).................. 102 6.1 Wortfelder ....................................................................................105 6.2 Beispiele .......................................................................................110 <?page no="6"?> 6 Inhalt 6.2.1 Farbwörter ........................................................................................ 110 6.2.2 Wochentage, Monate und Jahreszeiten ............................................ 114 6.2.3 Verwandtschaftsnamen - Wer ist mit wem wie verwandt? .............. 118 6.3 Eigennamen .................................................................................122 6.3.1 ... und Gattungsnamen...................................................................... 122 6.3.2 Wo liegt die Grenze zwischen Eigennamen und Gattungsnamen? ... 125 6.3.3 Vornamen und Nachnamen .............................................................. 128 6.3.4 Asterix und die Motivierung des Wortschatzes................................. 129 6.4 Falsche Freunde ...........................................................................134 7 Sprachliche Ordnungssysteme ................................. 136 7.1 Verweise.......................................................................................136 7.2 Genussysteme...............................................................................138 7.3 Pronominalsysteme ......................................................................144 8 Pragmatik ............................................................... 148 8.1 Sprechakte - danken und „bitten“ ...............................................149 8.2 Anrede- und Höflichkeitssysteme ................................................151 8.3 Schimpfen und fluchen ................................................................155 8.4 Baustellen.....................................................................................159 9 Satzvergleiche / Sätze / Sätzchen ............................. 162 9.1 Einwortsätze und Ellipsen............................................................162 9.2 Attribute.......................................................................................164 9.3 Satzglieder in Sätzen....................................................................167 9.4 Kongruenz ....................................................................................169 9.5 Konstruktion nach dem Sinn........................................................171 10 Schriftlichkeiten...................................................... 173 10.1 Globalisierte Schriftlichkeit standardisiert ..................................176 10.2 Globalisierte Schriftlichkeit privat...............................................180 11 Übersetzen .............................................................. 183 11.1 Was muss man wissen .................................................................183 11.2 Was muss ein Computer wissen, der übersetzen soll? .................188 12 Sprachwandel und Ökonomisierung......................... 198 12.1 Tempus.........................................................................................203 12.2 Artikel ..........................................................................................205 12.3 Präpositionen ...............................................................................206 12.4 Konjunktionen..............................................................................208 12.5 Grenzen der Ökonomisierung ......................................................210 <?page no="7"?> 7 Inhalt 13 Sprecher und Hörer - Hörer und Sprecher ................ 212 13.1 KL .................................................................................................216 13.2 Ambiguität ...................................................................................218 13.3 Modalisierungen ..........................................................................222 13.4 Mündliche und schriftliche Kommunikation ...............................230 13.5 Gravitationszentren......................................................................236 14 Glossar.................................................................... 243 15 Literaturverzeichnis ................................................ 253 <?page no="8"?> Abkürzungen und notationelle Regeln AE Altenglisch AF Altfranzösisch AG Altgriechisch Ahd. Althochdeutsch Akk. Akkusativ D Deutsch Dat. Dativ DWB Grimm/ Grimm: Deutsches Wörterbuch E Englisch F Französisch Fem. Femininum G Griechisch (= Neugriechisch) Gen. Genitiv I Italienisch Ide. Indoeuropäisch IPA Internationales Phonetisches Alphabet. Phonetische Umschrift ist aus Pons-Online (www.pons.com) übernommen. KL Kontrastive Linguistik L Latein Mask. Maskulinum Mhd. Mittelhochdeutsch Neutr. Neutrum Nhd. Neuhochdeutsch Nom. Nominativ Pl. Plural S Spanisch Si. Singular T Türkisch VLat. Vulgärlatein * ungrammatischer Satz oder Ausdruck Hinzu kommen selbstverständlich allgemein(er) übliche Abkürzungen, allerdings halte ich mich an keine Abkürzungspflicht. Die Abkürzungen für die Sprachen werden normalerweise nur getrennt von Bindestrich nebeneinandergestellt: D-E-F-G = Deutsch, Englisch, Französisch, Griechisch. Phoneme stehen in / ... / , (Allo-)Phone in [...] (Kap. 4). Als Anführungszeichen verwende ich „...“ nach deutschen Regeln, also „baby“ und nicht “baby”, „mère“ und nicht « mère », „ μ παμπάς “ und nicht « μ παμπάς ». Die griechischen Wörter und Sätze sind auch in lateinischer Umschrift gegeben; dabei unterscheidet sich die Umschrift des Altgriechischen von der des Neugrie- <?page no="9"?> 9 Abkürzungen und notationelle Regeln chischen, Beispiel: βάρβαρος ist AG ‚bárbaros‘ und G ‚várvaros‘. Insgesamt gelten dabei folgende Leseregeln: d [ð] (engl. stimmhaftes [th]) ch ist folgendermaßen zu lesen: als [ç] (wie in D ich) vor e und i und als [x] (ach) vor a, o und u. Es gibt also eine zu D ganz analoge Regel, doch ist die Richtung gerade umgekehrt. oí [o-i] - Da es in G keine Diphthonge gibt, werden [in der lateinischen Umschrift] diphthongisch aussehende Vokalkombinationen grundsätzlich getrennt ausgesprochen. sch wird getrennt ausgesprochen als [s-ch] th [θ] (engl. stimmloses [th]) z stimmhaftes [s] Zitate aus dem und Verweise auf das Internet sind im Literaturverzeichnis mit Abrufdatum nachgewiesen. <?page no="10"?> Griechische Laute und Buchstaben Name gesprochen geschrieben in G in AG in G in AG groß klein Alpha Alpha a a, aː Α α Vita Beta v b Β β Gamma Gamma ɣ, j g Γ γ Delta Delta ð d Δ δ Epsilon Epsilon ԑ e Ε ε Zita Zeta z zd, dz Ζ ζ Ita Eta i ԑː Η η Thita Theta θ tʰ Θ θ Iota Iota i, j i, iː Ι ι Kappa Kappa k, kʲ k Κ κ Lambda Lambda l l Λ λ Mi My m m Μ μ Ni Ny n n Ν ν Xi Xi ks ks Ξ ξ Omikron Omikron ɔ o Ο ο Pi Pi p p Π π Ro Rho r r, rʰ Ρ ρ Sigma Sigma s s, z Σ σ (am Wortende: ς) Taf Tau t t Τ τ Ipsilon Ypsilon i, u, v, f y, yː Υ υ Phi Phi f pʰ Φ φ Chi Chi x, ç kʰ Χ χ Psi Psi ps ps Ψ ψ Omega Omega ɔ ɔː Ω ω <?page no="11"?> 0 Vorwort Diese Einführung stützt sich auf eine Vorlesung, die ich an der Athener Universität als Einführung in die Kontrastive Linguistik gehalten habe. Aus einsichtigen Gründen konzentrierten sich damals die Kontraste auf das Sprachenpaar Deutsch und Griechisch, was sich aufgrund der spezifischen Verwandtschaft zwischen beiden Sprachen als sehr gewinnbringend erwies. Als weitere Sprachen, um die Beispiele in Deutschland nachvollziehbarer zu machen, sind nun Englisch und Französisch hinzugekommen. Auf phonetische Umschrift habe ich (in den meisten Fällen) verzichtet, da sie nach meiner Erfahrung nur hartgesottene Phonologen und Phonetiker flüssig zu lesen vermögen. Die Einträge im Literaturverzeichnis beschränken sich hauptsächlich auf leicht zugängliche Titel. Außerdem sind, wo verfügbar, entsprechende URLs angegeben. Zu danken habe ich selbstverständlich; für fremdsprachliche Verlässlichkeit: Olga Laskaridou für G (und alles andere), Valérie Se churn und Johannes Theisen für F, außerdem Winfried Lechner für unermüdliche (anstrengende und umso hilfreichere) Anregungen sowie inhaltliche Belastbarkeit. Wo es doch nicht tragfähig ist: Jeder Einsturz geht selbstverständlich auf meine Kosten. e <?page no="12"?> 1 Einleitung Eine Einführung in die KL sieht sich verschiedenen Problemen gegenüber, und ein Autor einer solchen Einführung hat es noch mit viel mehr zu tun. Um mit den banalsten zu beginnen: Bei 7102 Sprachen, zu denen man auf ethnologue.com (17.12.15) als „known living languages“ Informationen findet, gibt es ca. 50 Millionen Vergleichspaare, und zusätzlich eine ganze Menge Perspektiven, unter denen diese Sprachen einander gegenübergestellt werden können; um nur ein paar Beispiele zu nennen: „The Passive Aspect in English, German and Russian“ (Beedham 1982), „Deutsche und französische Syntax im Formalismus der LFG“ (Berman/ Frank 1996), „Begrüßung, Verabschiedung und Entschuldigung in Kamerun und Deutschland: zur linguistischen und kulturkontrastiven Beschreibung von Sprechakten in der Alltagskommunikation“ (Diyani Bingan 2010). Eigentlich sollte diese Vielzahl von möglichen Ansätzen ja kein Problem sein, doch KL versteht sich wesentlich als Detailwissenschaft, die ihre Erkenntnisse nicht aus zusammenfassenden Beobachtungen gewinnt, sondern aus minutiösen Zugriffen. Sie tritt nicht zurück, um einen Überblick zu gewinnen, sondern arbeitet eher mit Lupe und Mikroskop. Man kann selbstverständlich exemplarisch zugreifen (was im Folgenden auch getan wird), allerdings gerät man dabei leicht in eine andere linguistische Teilwissenschaft, nämlich die Sprachtypologie. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Sprache und Sprachen, ihren Erscheinungsformen und ihren Funktionen, kann man folgendermaßen darstellen: D-E D-F D-G D-S D-I E-Chin. Deutsch Englisch Französisch G-T T-D Spanisch Allgemeine Linguistik Griechisch E-G F-D Türkisch Chinesisch Italienisch Chin.-D D-E-F D-E-G D-E-F-G E-F-G-T F-E Abb. 1: Von innen nach außen: Allgemeine - einzelsprachige - kontrastive Linguistik Im Mittelpunkt steht die allgemeine und damit zwangsläufig formale Linguistik, die danach fragt, was Sprache als Sprache ausmacht. Darin gibt es auch Fragen nach der Universalgrammatik, d.h. nach den gemeinsamen Merkmalen aller menschlichen Sprachen. In einem ersten Umlauf stellen sich Fragen danach, wie diese Merkmale in Einzelsprachen realisiert sind, D-E-F-G-... Zu diesen Fragen gehören auch die nach dem Werden und den Gebrauchsweisen ihrer historischen und aktuellen Erscheinungsformen. In einem zweiten Umkreis finden die kontrastiven Vergleiche statt; einige sind oben genannt. Je nach Fragestellung ist es selbstverständlich entscheidend, ob es um D-F oder F-D geht: ob F in der Perspektive des D oder D in der Perspektive des F dargestellt wird; D hat z.B. weniger Zeitformen als F, F hat weniger Kasus als D usw. Die Konturen einer Sprache werden erst im spezifischen Licht einer und mehrerer anderen lesbar. Beim Erstellen eines Phantombilds verlässt sich der Zeichner (und erst recht der Bediener eines Computerprogramms) niemals auf die bloße Erinnerung der Augenzeugen, sondern geht immer von konkreten Vorstellungen <?page no="13"?> 13 1 Einleitung und Bildern aus und bietet dabei immerzu visuelle Alternativen an. So etwas wie eine „freihändige“ Erinnerung und Beschreibung ist kaum zu visualisieren. Ein Beispiel aus einem ganz anderen Kontext: Im Parzivalroman Wolframs von Eschenbach vom Anfang des 13. Jhs. tritt die Gralsbotin Cundrîe auf, die den ahnungslosen Parzival vor dem gesamten Artushof verflucht, eine hochgebildete Dame, allerdings potthässlich, genast wie ein Hund, aus ihrem Mund ragen zwei Eberzähne, die Ohren sind wie die von einem Bär, die Hände mit einem Affenfell überzogen und die Fingernägel wie Löwenkrallen - so kann man sich die Frau lebhaft vorstellen und versteht auch, dass sich kein Mann je um ihre Liebe bemüht hat (Wolfram 2006: Bd. 1, 520 [313,21-314,10]). Blindes Beschreiben führt zu unzähligen Missverständnissen. Zwar kann jeder in irgendeinem Wörterbuch nachsehen, was groß bedeutet und was eine Nase ist, aber eine große Nase und buschige Augenbrauen, ein spitzes Kinn, was heißt das schon? Bei Sprachen funktioniert das ganz ähnlich, wenn auch die Beschreibungssprachen von Sprachen viel detaillierter kategorisiert und damit selbstverständlich (wissenschaftlich) zwar nicht vollständig, aber doch weitgehend eindeutig verwendbar sind. Wegen der Vielzahl der Aspekte, die hier zur Sprache kommen müssen, und auch, weil es sich um eine Einführung in eine Wissenschaft handelt, deren konkrete Beobachtungen höchst punktuell sind, ist die Notwendigkeit jedoch umso größer, verständlich zu bleiben. Meine Auswahl der Sprachen D-E-F-G, um die es vorwiegend gehen wird, ist - über das Anekdotische des Vorworts hinaus - zu begründen. Dass Deutsch hier von Bedeutung ist, muss nicht erklärt werden, da moderne Linguistik sich aber erst durch ihre Konzentration auf die Synchronität konstituierte, muss kurz erläutert werden, warum hier auch eine diachrone Perspektive eingenommen wird: Wann ich mein letztes Auto gekauft habe, kann ich zumindest aufs Jahr genau sagen, und wenn nicht, sehe ich in meinem Auto- oder Rechnungsordner nach. Wann ich mit ihm zum TÜV muss, kann ich auf dem hinteren Nummernschild ablesen, und wann wieder ein Service fällig ist, darauf weist mich spätestens ein freundlicher Brief der freundlichen Werkstatt hin, die es zuletzt instandgehalten hat und weiterhin mein Geld verdienen will. Dann entscheidet sich, ob es sich noch mal lohnt oder nicht. Wenn ja, wird allerhand ausgebessert, wenn nein, behalte ich es trotzdem, weil es mir ans Herz gewachsen ist (doch muss ich irgendwann in eine Oldtimer-Werkstatt wechseln), kaufe ein neues oder vielleicht gar keins mehr, weil ich auf Fahrrad oder ÖNV umsteige. Sprache kann ich weder verschrotten noch wechseln (es sei denn, ich ziehe um) und auch nur in den seltensten Fällen gegen ein anderes System ersetzen; ich muss mich vielmehr Zeit meines Lebens mit ihren unverwüstlichen Stärken ebenso wie Unzulänglichkeiten herumschlagen, oder ich halte für immer den Mund. Egal, für was ich mich entscheide: Wenn ich etwas von ihrer Funktionsweise verstehen will, lohnt es sich, mich mit ihrer Geschichte zu beschäftigen, nicht anders als ein Arzt sich (hoffentlich) mit meiner Krankheitsgeschichte (und allem, was dazugehört) befasst und ein Literaturwissenschaftler nicht nur mit den Neuerscheinungen dieses Jahres. Selbstverständlich bleibt dabei der Fokus auf der Gegenwart, auch in der KL. Doch anders als bei Autos werden nur die wenigsten Teile in einer Sprache spurlos entsorgt, sondern - teilweise mit anderer Funktion - weiterverwendet. Es wird also immer auch ein Blick in die Ge- <?page no="14"?> 14 1 Einleitung schichte der behandelten Sprachen zu werfen sein; in der weiteren Reihenfolge des Alphabets, aber auch ihrer aktuellen internationalen Bedeutung sind das: Englisch ist ebenso wie D eine germanische Sprache, also mit D auf eine ehemals gemeinsame Sprache zurückzuführen, vorsichtiger und wahrscheinlich richtiger formuliert: auf Dialekte, noch vorsichtiger: auf lokale Sprechgewohnheiten. Diese gemeinsamen Wurzeln sind alt, haben aber ihre Spuren hinterlassen, nicht nur in Lautbestand und Silbenstruktur, sondern auch auf allen anderen Ebenen der beiden Sprachen. Noch älter ist die Verwandtschaft dieser beiden Sprachen mit dem Französischen, das z.B. mit dem Italienischen, Spanischen, Portugiesischen zu den romanischen Sprachen gehört, die ihre gemeinsame Herkunft im Lateinischen haben. Dabei sind vor allem zwei Aspekte zu bedenken: 1) Der französische Sprachraum grenzt an den deutschen. Jahrhundertelang, auch noch über die deutsch-französische Feindschaft des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jhs. hinweg, galten rechts des Rheins Sprache und Kultur von links des Rheins als vorbildlich. Voltaire schrieb 1750 aus Potsdam, dass er sich fühle wie in Frankreich, denn man spreche nur Französisch, Deutsch sei für die Soldaten und die Pferde („Je me trouve ici en France. On ne parle que notre langue, l’allemand est pour les soldats et pour les chevaux“; zit. nach Polenz 1994: 66). Auch sein Gastgeber der nächsten drei Jahre, Friedrich der Große, sprach in Gesellschaft üblicherweise und selbstverständlich Französisch. Jahrhundertelang wurden zahllose Wörter übernommen, mit immer fremderer Aussprache, die irgendwie bewältigt werden musste - oder auch nicht. 2) Schon Latein übte unermesslichen Einfluss auf die germanischen Sprachen aus. In dem Gebiet, auf dem später irgendwann D gesprochen wurde, gab es die meiste Zeit eine zweischichtige, anschaulicher: mehrstöckige Kultur. Im Keller wurde „Deutsch“ gesprochen, in allen Stockwerken darüber Latein, in Theologie, Jura, Wissenschaft, Verwaltung, also in all den Bereichen, die die geistige Infrastruktur einer tendenziell modernen Gesellschaft bilden. Den Einfluss einer oder mehrerer Sprachen auf eine andere, hier von F und L auf D, zu negieren, würde dem höchst labilen Gleichgewicht einer Sprache nicht gerecht werden, die immerhin in jedem einzelnen Sprechakt (vgl. Kap. 9) möglichst robust auftreten und verfügbar sein muss, damit sie überhaupt als Kommunikationsmedium taugt - das Gleichgewicht: zwischen Sprache und Kommunikation. 1 Schließlich das Griechische: Ganz an der Peripherie Europas gesprochen, ist G zwar nicht die älteste, aber die am längsten überlieferte Sprache Europas, die zudem sowohl im Bereich der Wissenschaft, aber auch der Technik eine herausragende Rolle spielt, vorwiegend deshalb, weil sich alles Griechische gebildet anhört, und zwar vorwiegend deshalb, weil es (nicht nur) von D weit genug entfernt ist, um einerseits anders zu sein und sich andererseits lautlich doch in die eigene 1 Damit ist aber auch ein wesentliches Merkmal sprachlicher Kommunikation angesprochen: Von einer idealen Sprache kann zwar geträumt werden, im Alltagsmodus des Menschen ist das jedoch ein Albtraum, ebenso bedrohlich wie die Macht der Maschinen in Science Fiction- Filmen, da eine solche Sprache eine Maschine mit allen negativen Implikationen wäre. <?page no="15"?> 15 1 Einleitung Sprache integrieren zu lassen. Der Hauptgrund, warum sich als vierte Sprache G lohnt, ist aber folgender: G repräsentiert eine Sprache, deren Entwicklung ganz anders verlief als die von D, was damit zu tun hat, dass G vor knapp 2800 Jahren zum ersten Mal verschriftlicht wurde, D aber erst vor nicht einmal 1300 Jahren; dazwischen liegen eineinhalb Jahrtausende. Durch die Gegenüberstellung dieser beiden Sprachen lassen sich unterschiedliche Gravitationszentren (vgl. Kap. 13) ausmachen, die sich auch unter dem Einfluss der Schriftlichkeit herausbilden und entwickeln. G ist zwar auch mit den drei anderen Sprachen verwandt, allerdings handelt es sich bei G eher um so etwas wie eine Erbtante vom Anfang und Rand der Welt, die man nie gesehen hat, aber deren Päckchen und Überweisungen immer rechtzeitig und damit höchst hilfreich eintreffen. Griechenlands Lage im äußersten Südosten Europas, zudem jenseits der Adria, die nicht einmal Goethe überquerte, sondern sich lieber dafür entschied, „das Land der Griechen mit der Seele zu suchen“, brachte ein hohes Maß an Isolation gegenüber anderen europäischen Sprachen mit sich. Zwar wirkte G lange Zeit auf das Lateinische, und es gingen noch weit über das 5. Jh. hinaus vom dann byzantinischen Reich starke kulturelle Impulse in Richtung Europa aus; doch selbst Intellektuelle hatten in anderen Ländern Europas Probleme mit der doch sehr ungewohnten Schrift. G ist gegenüber D-E-F eine sprachliche Insel. Und dann verschwand es für mehr als ein Jahrtausend aus allen sprachlichen Kontexten Europas. Damit eignet sich G aber im Kontext anderer europäischer Sprachen in besonderer Weise für einen kontrastiven Vergleich, weil es mit ihnen einen gemeinsamen Ursprung hat (es ist eine ide. Sprache), sich aber doch weitgehend unbeeinflusst von den anderen Geschwistern und Kusinen entwickelt hat; es handelt sich um einen eigenständigen Zweig innerhalb der ide. Sprachen. Um gleich einem Missverständnis vorzubeugen: Selbstverständlich entwickelt sich eine Sprache nicht, ebenso wenig wie sich Literatur entwickelt oder Architektur oder irgendetwas anderes vom Menschen Gemachte. Was nach Entwicklung aussieht, ist immer nur das, was Menschen einerseits anstoßen, andererseits zulassen, vielleicht auch erzwingen, z.B. eine Sprache, die solche Verkürzungen wie die Formulierung, dass sich eine Sprache entwickelt, zulässt und auch verstehen lässt. Je ausführlicher und hoffentlich einleuchtend die Auswahl der vier Sprachen D- E-F-G begründet werden kann, desto deutlicher wird aber auch das Manko dieser Auswahl. Denn KL fragt ja von ihrer Anlage her nicht nach Verwandtschaft oder historischer Parallelität, sondern vergleicht im (allerdings etwas sonderbaren) Idealfall zwei blind ausgewählte Sprachen miteinander, und dabei stehen, wie bemerkt, eine große Anzahl an Partnern zur Verfügung. So begrüßenswert es ist (um nur diesen einen Ausgangspunkt aufzugreifen), Höflichkeitsformen in D mit denen des Kamerunischen zu kontrastieren: In einem strikt synchronen Ansatz sind viele Erkenntnisse aus der Zeit der Beobachtung zur Zeit der Drucklegung schon überholt, was vor allem damit zu tun hat, dass Sprachen in immer großflächigerem Sprachkontakt stehen (Kap. 3.6), wodurch sowohl Diffundierungen als auch Barrikaden ausgelöst werden können. Meine Darstellung beschränkt sich auch deshalb nicht auf einen nur synchronen Vergleich, von dem die KL ursprünglich einmal ausgegangen war. Ebenso wie sich die Verschiedenheit von Menschen durch ihre Herkunft und ihre Geschichte zumindest teilweise erklären lässt, versteht man die spezifischen Funktionsweisen <?page no="16"?> 16 1 Einleitung von Sprachen viel besser, wenn man sich die Frage stellt, welchen Anforderungen sie nicht nur heute gerecht werden müssen, sondern bisher schon gerecht wurden. Das hat auch etwas damit zu tun, dass es z.B. Volksetymologie gibt: Man will wissen, woher Wörter kommen, besonders dann, wenn man meint, es ohne weiteres herausfinden oder sich gar selbst erklären zu können - so weiß man natürlich, warum der Maulwurf Maulwurf heißt, denn man kann ganz einfach eigene (vermeintliche) Beobachtung und Wort(zusammensetzung) zusammenzählen und landet dabei, dass der Maulwurf die Erde mit dem Maul aufwirft; und eine Hängematte heißt Hängematte, weil es eine Matte ist, die hängt oder auf der man abhängen kann. 2 Zahlen sind durchsichtig auf ein System, warum sollte es Sprache nicht auch sein? Doch besteht sie (für den Normalgebrauch) nicht nur aus zehn Ziffern und einem Komma, mit denen man fast die ganze Welt zählen kann, sondern aus etwas mehr Phonemen, die eine Menge Wörter ergeben, die wieder eine Menge Wörter ergeben (Kap. 5), aus denen man noch mehr Sätze bilden kann, mit denen man die ganze Welt darstellen und noch viel mehr andere Welten erzählen kann. Wenn man noch einmal die Sprachen nachzählt, steht man natürlicherweise vor der Frage, welchen Status die Standardvarietät einer Sprache gegenüber ihren Gebrauchsweisen hat, und landet entweder in der Varietätenlinguistik, der Dialektforschung oder der Soziolinguistik. Das 3. Kapitel wird sich mit den Abgrenzungen der KL gegenüber Nachbarwissenschaften beschäftigen, denn ein kontrastiver Zugriff gehört zwar zum Kern der KL, ist aber selbstverständlich nicht von ihr reserviert. Ein Schwerpunkt wird auch auf der Erörterung des Sinns eines kontrastiven Ansatzes innerhalb der Linguistik liegen. Dabei werden in einem ersten Anlauf auch wichtige methodische Grundlagen geklärt. Zuvor wird aber im 2. Kapitel die Geschichte der KL und der Kontrastivität in der Sprachwissenschaft nachgezeichnet. Die folgenden sieben Kapitel (4-10) widmen sich dann unterschiedlichen sprachlichen Ebenen von der Phonologie bis zur geschriebenen Sprache. Das 11. Kapitel zeigt an relativ einfachen Sätzen, was und wie viel ein Computerprogramm über zwei Sprachen wissen muss, um aus der einen in die andere übersetzen zu können. Das 12. Kapitel behandelt Sprachwandel und seinen Antrieb, die Ökonomisierung von Sprachen, und versucht herauszufinden, wie Entwicklungen in unterschiedlichen Sprachen zu erklären sind. Im abschließenden 13. Kapitel geht es um ein Thema, das bisher merkwürdigerweise nur ganz am Rand der Linguistik (und in der KL, soweit ich sehe, noch gar nicht) diskutiert wurde, obwohl es höchst aufschlussreich ist: Wie sehen in unterschiedlichen Sprachen die Last- und Kräfteverhältnisse zwischen Sprecher- und Hörerrolle aus: Wer muss was und wie viel für das Verstehen und damit das Gelingen der Kommunikation leisten? 2 Der Maulwurf heißt so, weil er - zum Leidwesen von Bauern und Gärtnern - Erdhaufen aufwirft (irgendwann gab es mal in D eine bedeutungstragende Silbe mû, die zu mûl erweitert wurde, das zu Maul umgewandelt wurde, ebenso wie aus mhd. hûs im Nhd. Haus wurde.), und die Hängematte heißt so, weil ein haitianisches Wort hamáka im Holländischen als hangmak oder hangmat verstanden und dann auf ziemlich rustikale Weise lautlich eingedeutscht wurde (Olschansky 2005: 99f, 216; DWB). <?page no="17"?> 17 1 Einleitung Mit der Auswahl von D-E-F-G als Hauptzeugen beschränke ich mich bewusst auf ide. Sprachen. Das bedeutet nicht, dass nicht hin und wieder auch andere in den Vergleich einbezogen werden. Allerdings kommt es nicht auf die Wiederholung der banalen Feststellung an, dass kulturelle Unterschiede auch sprachlich zum Ausdruck kommen (Deutscher 2012): Knallgelb von tiefblau zu unterscheiden, ist mit einem Blick gemacht und danach langweilig; spektakulär sind stattdessen kleine Unterschiede, die erst mal aufgespürt werden müssen und vielleicht auch erklärt werden können. Je nach Fragestellung wird dabei auch Latein und Altgriechisch zu Rate gezogen, um Antworten geben zu können, die sich allein anhand von Momentaufnahmen nicht zuverlässig auffinden lassen. Die Verwandtschaftsverhältnisse zwischen D-E-F-G zeigt folgende Karte; die (kleine) Auswahl an romanischen Sprachen ist darin kursiv gedruckt, die der germanischen Sprachen fett, und Griechisch steht ganz alleine: Abb. 2: Indoeuropäische Sprachen in Europa <?page no="18"?> 18 1 Einleitung Während Abb. 2 die geographischen Verhältnisse der Sprachen in Europa darstellt, gibt Tab. 1 die verwandtschaftlichen Beziehungen wieder, die sich historisch entwickelt haben, was hier aber nur ganz knapp kommentiert werden kann: Zwischen D-E und G ist die Verwandtschaft nicht gerade eng; und dann haben sie sich auch noch ziemlich weit auseinandergelebt, wie vor allem Kap. 4 zeigen wird. F liegt als romanische Sprache, trotz der geographischen Nachbarschaft zu D-E, genetisch auch nicht direkt nebenan. I n d o e u r o p ä i s c h Griechisch Keltisch Italisch Phrygisch Germanisch ... Slavisch Iranisch Indisch ... Lateinisch Oskisch, Umbrisch, ... Skandinavisch Süd-/ Westgermanisch Ostgermanisch Romanisch Norwegisch, Schwedisch, Dänisch, ... Nordseegermanisch Rhein- Weser- Germanisch Elbgermanisch Gotisch, ... (ausgestorben) Französisch Italienisch Spanisch ... Englisch ... Fränkisch ... Alemannisch Bairisch ... Mitteldeutsch Oberdeutsch Hochdeutsch Tab. 1: Die Verwandtschaft indoeuropäischer Sprachen (nach Sonderegger 1979: 71) Heute stehen, mit Ausnahme der fernöstlichen und vieler afrikanischer Sprachen, die meisten Sprachen der Welt unter dem Einfluss des Indoeuropäischen. Gesprochen werden sie, nach einer Darstellung von 2012, von 3 Milliarden Menschen, vor allem in Europa, Asien und fast dem gesamten amerikanischen Kontinent; die nächstgrößere Sprachfamilie ist das Sinotibetische mit 1,3 Milliarden Sprechern. Dann kommt das Afroasiatische mit (nur noch) 390 Millionen (Kausen 2012: 13). <?page no="19"?> 2 Perspektiven und Geschichte der KL 2.1 Kontrastive Perspektiven Leben, auch menschliches, ereignet sich nicht nur zwischen Kontrasten, zwischen Geburt und Tod, klein und groß, sondern auch in Kontrasten, sowohl natürlichen in Sommer und Winter, Tag und Nacht, weiblich und männlich, als auch kulturellen: Herren und Knechten, Regierenden und Regierten, Direktoren und Sekretärinnen, Einheimischen und Fremden. Man kann noch so sehr darauf pochen, dass alle Menschen gleich seien, z.B. vor dem Gesetz: Die meisten stehen nach wie vor unter dem Eindruck, dass alle anderen anders sind als man selbst, in welcher Hinsicht auch immer. Die längste Zeit, seit es Menschen gibt, sahen sie jedoch alle ziemlich gleich aus, was ganz einfach daran lag, dass die beiden Beine, die sie hatten, als einzige Mobilitätsinstrumente kaum ausreichten, um ganz anderen, etwa andersfarbigen, Menschen zu begegnen. Hinzu kamen Ängste vor dem und den Fremden, die aus unterschiedlichen Gründen eher geschürt als abgebaut wurden. Außerdem: Wenn man überhaupt einmal mit den anderen, jenseits der Grenzen des eigenen Alltags, in Kontakt geriet, stellte man fest, dass sie sich ganz anders kleideten, ganz anderen Schmuck trugen, nach anderen Rezepten ihre Speisen zubereiteten und vor allem merkwürdige Laute von sich gaben, die gar keine richtige Sprache waren und deshalb auch von keinem normalen Menschen verstanden wurden. Und außerdem glaubten sie wahrscheinlich an die völlig falschen Götter! Auch vor zweieinhalbtausend Jahren wurde in Südosteuropa, um genauer zu sein: und auch in Kleinasien, wo bekanntlich die „Wiege der europäischen Kultur“ stand, „das menschliche Geschlecht in zwei Teile“ geteilt, „wie hier bei uns die meisten zu unterscheiden pflegen, daß sie das Hellenische als eines von allem übrigen absondern für sich, alle andern unzähligen Geschlechter insgesamt aber, die gar nichts untereinander gemein haben und gar nicht übereinstimmen, mit einer einzigen Benennung Barbaren heißen und dann um dieser einen Benennung willen auch voraussetzen, daß sie ein Geschlecht seien.“ (Platon 1977: Bd. 5, 17 [Politikos 262d]) 1 Nicht Sokrates spricht hier, sondern ein „Fremder“, namenlos, der als solcher schon eine eigene, eben „fremde“, Perspektive mit ins Spiel bringt. Aus dem Sophistes-Dialog (216a) erfährt man immerhin, dass er aus Elea in Süditalien stammt. Nach Herodot, dem „Vater der Geschichtsschreibung“ (484-425 vor Chr.), nannten aber auch die Ägypter alle, die nicht ägyptisch sprachen, Barbaren ( βάρβαροι [bárbaroi], 2,158); allerdings gab es mindestens einen, der solchen Vorurteilen auf den Grund gehen wollte. Auch davon erzählt Herodot (2,2), wobei er auch nicht versäumt, seinen hochnäsigen Landsleuten, die meinten, sie seien was Besseres, über den Mund zu fahren - es ist zudem das erste linguistische Experiment der Geschichte : 1 Laut Meyer 1901: Bd. 3, 112 bedeutet βάρβαρος (bárbaros) ‚unverständlich, unverständlich sprechend, fremdsprachig ‘ ; dann überhaupt ‚ungriechisch, ausländisch, ungebildet‘. <?page no="20"?> 20 2 Perspektiven und Geschichte der KL Der Pharao Psammetich I. (664-619 vor Chr.) wollte wissen, ob die Ägypter tatsächlich, wie sie chauvinistischerweise glaubten, das älteste Volk der Welt seien und ordnete Folgendes an: Man nehme zwei Neugeborene und gebe sie einem Ziegenhirten in Pflege mit der strikten Anweisung, dass er kein Wort mit ihnen rede; sie müssten jedoch mit ausreichend Ziegenmilch versorgt werden, was ja durchaus gesund ist. Sobald die Zeit ihres Lallens vorbei sei, solle der Ziegenhirte genau hinhören, und wenn er etwas Wortartiges, irgendwie Artikuliertes vernehme, müsse er das unverzüglich dem Pharao melden. Zwei Jahre dauert’s, doch hat der Hirte dann keine allzu erfreuliche Nachricht für den Pharao: Das erste Wort der beiden Kinder ist nämlich leider kein ägyptisches, sondern lautet βεκός (bekós). Nachdem alle ägyptischen Wörterbücher erfolglos durchgesehen sind, schickt Psammetich halt doch seine Wissenschaftler in aller Herren Länder, und tatsächlich kommt einer von den Phrygern (aus Kleinasien) zurück und weiß zu berichten, dass die tatsächlich ein solches Wort haben, was - nach all der Milch - auch noch passenderweise ‚Brot‘ bedeute. Herodot musste sich schon bald den Spott einiger (besserwisserischer) Zeitgenossen anhören: Die Kinder hätten nur das Meckern der Ziegen (bek-bek) nachgeahmt, und die ägyptischen Geschichtenerzähler hätten sich über den griechischen Touristen lustig gemacht, indem sie einfach -os als typisch griechische Endung anhängten. Wie auch immer: Die Geschichte bleibt höchst aufschlussreich, aus verschiedenen Gründen: Das von den Kindern gesprochene „Wort“ (erstaunlicherweise ist es weder Mama noch Papa oder μαμά und μπαμπάς ) wird offenbar mühelos aus anderen Lauten isoliert und dabei nicht mit einem ägyptischen Wort identifiziert (es gab durchaus ähnlich klingende). Außerdem wartet man nicht auf das zweite Wort, selbstverständlich deshalb, weil es sich gar nicht in den Experimentaufbau hätte einordnen lassen: Würde es der zweitältesten Sprache entstammen? Schon der Grundgedanke ist aber erstaunlich, insofern phylogenetische und ontogenetische Entwicklung ohne weiteres parallelisiert werden: Was der einzelne Mensch als erstes sagt, hat auch die Menschheit als Gattung als erstes gesagt. Und noch grundsätzlicher: Der Mensch ist durch Sprache definiert. Man kann schon von hier aus den Umkehrschluss ziehen, dass Sprache auch dazu dient, Gegensätze zu markieren, nicht inhaltlich, sondern rein sprachlich, und das gilt auch für die Sprachverwendung selbst. Um die Trennung in Griechisch und Barbarisch zu erweitern und ein wenig zu verfeinern: Französisch ist zum Verlieben, Italienisch melodisch, Spanisch machistisch, Deutsch hart, und alles ist Geschmackssache. 2 Franzosen gelten insgesamt als geschwätzig, während Heinrich Heine Schweigen als ‚Konversation mit einem Engländer‘ definierte. Über die Iren schrieb ein Holländer zu Be- 2 Und es gibt, wenn man will, weitere Abstufungen. Schon zu Beginn des 14. Jhs. Charakterisiert Hugo von Trimberg in seinem „Renner“ (auch nachzulesen in: Barbour/ Stevenson 1998 63) die deutschen Dialekte. Um den Zauber der Textstelle wenigstens einigermaßen zu erhalten, versuche ich gar nicht erst eine Interpretation, sondern übertrage nur (auch die Bilder) aus dem Mhd. ins Nhd.: ‚Die Schwaben spalten die Wörter, die Franken falten sie zusammen, die Bayern zerreißen sie, die Thüringer sperren sie auf, die Sachsen kürzen sie, die Rheinländer zerdrücken sie, die Wetterauer würgen sie, die Meißener pressen sie heraus, ...‘ Es ist deutlich, worauf es Hugo ankommt: Wörter werden im Mund gemacht, mit dem auch gegessen und getrunken wird; Sprache wird von ihm sehr gegenständlich verstanden. : <?page no="21"?> 21 2.1 Kontrastive Perspektiven ginn des 17. Jhs., sie hätten derart gespaltene Zungen, dass sie zwei Gespräche gleichzeitig und unabhängig voneinander führen könnten. Die Italiener sind ebenfalls nicht fähig, den Mund zu halten, während es der Finne nicht schweigsam genug haben kann (Collett 1994: 207ff.): Menschen, die mehr oder weniger gleich aussehen, werden über die Sprache und ihre sprachliche Ausdrucksweise definiert und definieren sich selbst darüber, zwischen national und individuell. Derartige Stereotypen einerseits und Identifizierungsmechanismen andererseits, die es, wie gesehen, ja nicht erst seit gestern gibt, belegen, dass Sprache nicht hauptsächlich als ein Medium wahrgenommen wird, mit dem sich Informationen übertragen lassen. Sie geben auch Anlass zu der Frage, welche Ebenen KL eigentlich zu bedenken hat. Im ersten Buch der Bibel von ca. 1000 vor Chr. gibt es ebenfalls spannende Geschichten, die erkennen lassen, dass man sich auch anderswo sehr früh Gedanken über Sprache und vor allem Sprachverschiedenheit machte. Adam wurde es im Paradies schnell langweilig; Gott hatte aber glücklicherweise ein Einsehen, in der Übersetzung Martin Luthers von 1545: Vnd Gott der HERR sprach / Es ist nicht gut das der Mensch allein sey / Jch wil jm ein Gehülffen machen / die vmb jn sey. Denn als Gott der HERR gemacht hatte von der Erden allerley Thier auff dem Felde / vnd allerley Vogel vnter dem Himel / bracht er sie zu dem Menschen / das er sehe / wie er sie nennet / Denn wie der Mensch allerley lebendige Thier nennen würde / so solten sie heissen. Vnd der Mensch gab einem jglichen Vieh / vnd Vogel vnter dem Himel / vnd Thier auff dem felde / seinen namen / Aber fur den Menschen ward kein Gehülffe funden / die vmb jn were. (1. Mos. 2,19-20) Allzu groß ist Adams Pech aber dann doch nicht, denn nach all dem Namen(er)finden ist er müde, legt sich schlafen und wird nach dem Aufwachen nicht mehr allein sein. Spannend ist die Geschichte vor allem deshalb, weil hier eine Theorie vertreten ist, die erst wieder im 20. Jh. eine Rolle spielt, wenn auch nicht in dieser letzten Konsequenz, wie sie vor 3000 Jahren vertreten wurde: Die sogenannte Relativitätstheorie der Sprache, deren Hauptvertreter Edward Sapir (1884-1939) und Benjamin L. Whorf (1897-1941) sind, geht davon aus, dass wir die Welt nur so sehen, wie sie uns von der Sprache aufbereitet ist. Der Autor des ersten Buchs der Bibel ist bereits einen großen Schritt weiter: Sprache bildet Wirklichkeit nicht nur in sehr spezifischer Weise ab, sondern sie ist vor allem ein Medium der Wahrnehmung. Erst im Vorgang des Benennens stellt Adam fest, ob eines der Tiere zu ihm passt oder nicht: Er sieht nicht, ob sich unter ihnen eine Frau befindet, mit der er als Gehülffe etwas anfangen kann, sondern er liest dem Gesehenen dessen Namen ab und erkennt darin dessen Wesen. Deshalb hat Adam nach dem Erwachen auch keine „Frau“, sondern der (hebräische) îsch, der Mensch, hat seine ischâh, oder bei Luther ebenso konsequent: der Mann seine Mennin (1. Mos. 2,23): Die beiden müssen sprachlich zusammenpassen, sonst passt gar nichts. Nachdem Gott die ganze Welt in der Sintflut dann doch wieder untergehen ließ (nur eine Handvoll Seefahrer überlebten gemeinsam mit der Grundausstattung eines zoologischen Gartens), wird auch die neue Menschheit wieder aufmüpfig und beginnt einen Turm zu bauen, um am Himmel anklopfen und selbst in ihm wohnen zu können. Der Anlass für diesen Wahn ist das grenzenlose Überlegenheitsgefühl der Menschen, das sich aus nichts anderem ergibt als aus der Gemeinsamkeit ihrer Sprache; jedenfalls ist das Gottes Meinung: Als (selbstverständlich) überzeug- <?page no="22"?> 22 2 Perspektiven und Geschichte der KL ter Monotheist zerstört er nicht nur den Turm, sondern auch die Einheit der menschlichen Sprache, und weil die Menschen sich jetzt nicht mehr verstehen und verständigen können, lassen sie Babel hinter sich und wandern in alle Himmelsrichtungen aus (1. Mos. 11). Niemand kommt offenbar auf die Idee, die (fremd gewordene) Sprache des anderen zu erlernen, um doch mit ihm kommunizieren zu können. Immerhin hat aber Gott eine Sorge weniger, der er sich tatsächlich erst wieder als christlich gewordener Gott annimmt, nämlich an Pfingsten. 50 Tage nach der Auferstehung Christi kommt der Heilige Geist vom Himmel auf die JüngerInnen herab, und sie werden plötzlich von allen verstanden, die sich nicht genug darüber wundern können - wieder Luther: Sihe / sind nicht diese alle / die da reden / aus Galilea? Wie hören wir denn / ein jglicher seine Sprache / darinnen wir geboren sind? Parther vnd Meder / vnd Elamiter / vnd die wir wonen in Mesopotamia / vnd in Judea / vnd Cappadocia / Ponto vnd Asia / Phrygia vnd Pamphylia / Egypten / vnd an den enden der Lybien bey Kyrenen / vnd Auslender von Rom / Jüden vnd Jüdegenossen / Kreter vnd Araber / Wir hören sie mit vnsern Zungen / die grossen Thaten Gottes reden. Sie entsatzten sich alle / vnd wurden jrre / vnd sprachen einer zu dem andern / Was wil das werden? Die andern aber hattens jren spot / vnd sprachen / Sie sind vol süsses Weins. (Apg 2,7-13) Hier geht es ganz offensichtlich nicht nur um die Verschiedenheit der Sprachen, sondern noch um etwas anderes, was ebenfalls erst im 20. Jh. wissenschaftlich eingeholt wurde, nämlich um Kommunikation: Es ist nach wie vor ein erheblicher Unterschied, ob wir eine Sprache lernen oder ob wir mit anderen Menschen trotz ihrer uns fremden Sprache kommunizieren können. Das war die Botschaft der Pfingstgeschichte, die eben nicht für eine Fremdsprachenschule warb, sondern für eine neue Religion. Bereits 150 bis 200 Jahre vor der Apostelgeschichte hatte in Alexandria der griechische Philologe Dionysius Thrax (vermutlich 170-90 vor Chr.) die erste Grammatik einer europäischen Sprache geschrieben. Dabei war es jedoch um eine sehr spezielle Form sprachlicher Kommunikation gegangen, nämlich um die Erschließung historischer Texte: Es handelte sich, auf ganz wenigen Seiten (der Text besteht in der Ausgabe von G. Uhlig von 1883 aus gerade einmal 20.000 Zeichen, das entspricht etwa sieben Seiten dieses Buches), um eine Sprachbeschreibung, deren Prämissen sehr genau bedacht werden müssen. Die griechischen Klassiker (vor allem Homer und die Tragiker, aber auch die mittlerweile klassisch gewordenen Philosophen), deren Texte jahrhundertealt und schon Jahrhunderte zuvor schriftlich fixiert worden waren, und zwar zum Teil höchst autoritativ in sogenannten Staatsausgaben, mussten weiterhin verständlich bleiben. Daran hing die gemeinsame kulturelle Tradition Griechenlands und der Menschen, die sich als Griechen fühlten oder es per Verfassung waren. Diese Tradition musste einigermaßen am Leben erhalten werden, ohne dabei aber die allgemein anerkannten Meister zu verfälschen, indem sie dem alltäglichen Sprachgebrauch ausgeliefert würden. „Grammatik“ wird von Dionysius definiert als ‚empirische Kenntnis des Gebrauchs der Sprache, wie er unter Dichtern und (Prosa-)Schriftstellern üblich ist‘ ( Γραμματική ἐστιν ἐμπειρία τῶν παρὰ ποιηταῖς τε καὶ συγγραφεῦσιν ὡς ἐπὶ τὸ πολὺ λεγομένων [Grammatiké éstin empeiría ton pará poietaís te kai syngrafeúsin hos epí to polý legoménon]). Ihr vornehmster Teil, so steht es im sechsten Punkt der Einleitung, ist deshalb die Beschäftigung mit poetischen Texten ( ἕκτον κρίσις <?page no="23"?> 23 2.1 Kontrastive Perspektiven ποιημάτων, ὃ δὴ κάλλιστόν ἐστι πάντων τῶν ἐν τῇ τέχνῃ [hékton krísis poiemáton, ho de kállistón esti pánton ton en tei téchnei], Dionysius Thrax 1883: 5f.) Der Ausgangspunkt der Grammatik ist damit sehr eindeutig ein funktionaler; für gesprochene Sprache interessiert sie sich aber gar nicht. Dafür war schon lange die Rhetorik zuständig, soweit es sich um öffentliche und öffentlich vorgetragene Sprache handelte. Alles andere war Alltagskommunikation, die noch Jahrhunderte lang keinerlei Bewusstsein für sprachliche Richtigkeit entwickelte; methodisch dauert es gar bis zu de Saussures „Cours de linguistique générale“ zu Beginn des 20. Jhs., bis gesprochene Sprache zum Gegenstand der Linguistik werden konnte. Rom verhielt sich solchen Überlegungen gegenüber zunächst sehr robust. Dort bezeichnete man sich selbst, als man noch auf seine bäuerlichen Tugenden stolz war, in Übereinstimmung mit der griechischen Terminologie als barbari. Und erst als seit dem 3. vorchristlichen Jh. immer mehr Römer ihre landwirtschaftlichen Wurzeln vergessen wollten, weil sie doch lieber großstädtisch waren, und begannen, sich kulturell an Griechenland zu orientieren, hatten sie einiges an Interpretationsarbeit zu leisten. Zwar blieben sie sich der Verschiedenheit des Lateinischen vom Griechischen bewusst; umso mehr mussten sie nun aber jeden Verdacht der eigenen Barbarei abweisen: Dem ἑλληνισμός (hellenismós), dem griechischen Selbstverständnis von der eigenen kulturellen, weil sprachlichen Überlegenheit, wurde jetzt m it der Latinitas etwas entgegengesetzt, das schließlich ohne weiteres mit ihm verschmolz, zumal mit den Germanen ganz neue Barbaren entdeckt worden waren, die spätestens von Tacitus (um 100 nach Chr.) als Vertreter der selbst längst verlorenen kulturell unverfälschten (ehemals römischen) Tugend dargestellt werden konnten. Wer in Rom etwas auf sich hielt, sprach selbstverständlich Griechisch, was unvoreingenommen zu bedenken und zunächst einfach zu benennen ist: Im römischen Reich war man sich - zumindest eine gewisse Zeit lang - durchaus darüber im Klaren, dass die Einverleibung Griechenlands dazu berechtigte, Griechisch als eigene Sprache zu verwenden. Wer es (sich leisten) konnte, lebte zweisprachig; das war beispielsweise auch noch während der Kaiserzeit in Neapel so. (Poccetti/ Poli/ Santini 2005: 124ff.) Diese funktionale Zweisprachigkeit lebte nach dem Zerfall des römischen Reichs in Europa wieder auf und hielt bis tief in die Neuzeit hinein an, nicht als Kontrast zwischen Griechisch und Latein, sondern zwischen Latein und der jeweiligen Volkssprache, am längsten zwischen Latein und Deutsch. 3 Er mündet auch sehr schnell in einen Gegensatz zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. In den 60er Jahren des 9. Jhs. übersetzte der elsässische Mönch Otfrid von Weißenburg die vier Evangelien aus dem Lateinischen in eine fränkische Evangelienharmonie - zunächst zwei Erläuterungen: 1) „Ins Fränkische“, denn „das Deutsche“ war (als Standardsprache) noch jahrhundertelang entfernt. 3 Umgekehrt wurde auch in Konstantinopel, nachdem sich das Machtzentrum des römischen Reichs im 4. Jh. von Italien in den Osten verschoben hatte, ganz selbstverständlich auch dort und immerhin bis in die erste Hälfte des 7. Jhs. (unter Kaiser Herakleios), Latein als Staats- und Verwaltungssprache verwendet (Norwich 2008: 167). <?page no="24"?> 24 2 Perspektiven und Geschichte der KL 2) Unter „Evangelienharmonie“ ist eine einigermaßen einheitliche Biographie des Lebens Jesu Christi zu verstehen - mit den vier verschiedenen Fassungen des Matthäus, Markus, Lukas und Johannes und ihren theologischen Feinheiten konnte man (in der Volkssprache) noch sehr lange nichts anfangen. Otfrid schreibt in seinem Vorwort den ersten linguistischen Kommentar des nachantiken Mitteleuropa unter der Fragestellung (und Überschrift): „Cur scriptor hunc librum theotisce dictaverit.“ (‚Warum der Autor dieses Werk in der Volkssprache geschrieben hat.‘) Seine Antwort lautet nicht etwa: „Damit ihr Franken das Evangelium, die gute Nachricht, in eurer Muttersprache lesen könnt“ - es dauerte noch gut 650 Jahre, bis Luther dazu in der Lage war. Otfrid will stattdessen nur etwas demonstrieren, nämlich: Auch wir Franken können in unserer Volkssprache über wichtige und sogar heilige Geschehnisse schreiben! Diese Übersetzung war in keiner Weise dafür gedacht, von irgendjemandem - der nicht selbst die lateinische Bibel lesen konnte - gelesen zu werden, sondern ausschließlich dafür, den in vier Widmungsschreiben auf Latein angeredeten Herren, darunter König Ludwig, ein Erz- und ein normaler Bischof, an die die Exemplare geschickt wurden, davon zu überzeugen, dass das Christentum nun auch die Volkssprache erreicht hatte - Lesen in der Volkssprache war ohnehin noch ganz unmöglich, weil man das nirgendwo lernen konnte. Das fränkische Alphabet, wie gleichzeitig auch das schwäbische und bayrische und so weiter und später bekanntlich auch das deutsche, war und blieb immer ein lateinisches - und ebenso war es im Französischen, Spanischen, Italienischen, Englischen und allen anderen europäischen Sprachen mit Ausnahme des Griechischen und der slawischen Sprachen. Zwar gab es im frühen Mittelalter ein paar Bemühungen, neue „deutsche“ Buchstaben zu erfinden, aber die hatten keine Chance, sich durchzusetzen, und zwar aus einem sehr einfachen Grund, der im deutschen Wald zu suchen ist. Man muss sich vergegenwärtigen, dass die Klöster, in denen überhaupt geschrieben werden konnte, dutzende Kilometer voneinander entfernt lagen und keineswegs so leicht zu erreichen waren wie Theben oder Delphi von Athen aus. Wenn und wo es früher römische Straßen gegeben hatte, waren sie mindestens unter Gestrüpp verschwunden, und es war nicht so einfach (und ungefährlich), von Weißenburg nach Sankt Gallen, südlich des Bodensees, zu kommen oder auch nur nach Straßburg im Süden oder Speyer im Norden. Schriftliche Kommunikation ist jedoch zwingend auf vorgängige mündliche Verständigung angewiesen: Lesen muss gelernt werden, und Buchstaben müssen eindeutig identifiziert werden können und zwar als die, die der Schreiber gemeint hat. Deshalb hat Karl der Große erhebliche Anstrengungen unternommen, um in seinem ganzen Reich eine einheitliche und lesbare Schrift durchzusetzen, die karolingische Minuskel. Dabei blieb (auch noch Jahrhunderte später) eine Anpassung des Alphabets an deutsche (ebenso wie an englische oder französische) Dialekte auf der Strecke. Die Römer waren da erheblich kreativer gewesen, allerdings mussten sie auch L schreiben und nicht G, während die Deutschen, Engländer und Franzosen nicht D-E-F schrieben, sondern L. Tatsächlich war Latein eine fantastische Schriftsprache, was aber daran lag, dass das mündliche L phonetisch eine äußerst übersichtliche Sprache war: In 24 Buchstaben lässt sie sich (fast) unmittelbar aus <?page no="25"?> 25 2.1 Kontrastive Perspektiven dem Mündlichen ins Schriftliche übertragen; pro Phonem gab es (fast) ein Graphem (die Markierung der Kürze oder Länge fehlt). In den romanischen Nachfolgesprachen des L und erst recht in den germanischen Sprachen war das ganz anders: Man hatte die Buchstaben aus L und kannte ihre zugehörigen Lautwerte, doch gab es diese Lautwerte in den Volkssprachen nicht, und umgekehrt: Es gab Laute, für die kein Buchstabe zur Verfügung stand. Hier nur zwei Beispiele: Weder der Konsonant in ich noch der in ach noch der erste Konsonant in schön war in L bekannt, und deshalb gab es selbstverständlich auch keinen Buchstaben dafür. Die deutsche Schreibweise hat ersichtlich nichts mit der Aussprache zu tun - und den Vokal in schön gab’s lateinisch auch nicht. Man wusste sich zu helfen, vor allem aber damit, dass man fünf gerade sein ließ, weil es nämlich nicht auf spezifische Sprechweisen ankam, sondern auf internationale Verständigung. Und dieser Horizont internationaler Verständigung war überhaupt erst Anlass und Möglichkeit einer Standardsprache - wenn die Internationalität auch erst in Abgrenzung zu den Nationalismen des 19. Jhs. mit ihren verheerenden Folgen im 20. Jh. zu einem positiven Begriff werden konnte. Was aber bleibt, ist, dass europäische Geschichte die meiste Zeit eine mindestens zwei-, wenn nicht mehrsprachige Geschichte war und ist. D ist nicht nur lexikalisch, sondern auch in ganz erheblichem Ausmaß syntaktisch und grammatikalisch von L beeinflusst, bis hin zur Einführung zuvor ganz unbekannter Verbformen. In dieser Situation ist es nicht verwunderlich, dass es sich fast immer schon lohnte, eine Fremdsprache zu lernen, erst mal nicht horizontal, weil man aus welchen Gründen auch immer ins Ausland reisen wollte, sondern vertikal (Volkssprache - Latein), um andere Sprachfunktionen beherrschen zu lernen, die dann allerdings auch länderübergreifend einsetzbar waren; L war nicht (wie heute E) alltägliche, aber eben theologische, wissenschaftliche, politische, ... lingua franca. Theologie Wissenschaft Politik ... (schriftlich) Latein Alltag (mündlich) E F Fränkisch Schwäbisch Bayrisch VLat. Abb. 3: Vertikale und horizontale Zweisprachigkeit Die „Pariser Gespräche“ mit Übersetzungsgleichungen auf (heutigem) A1-Niveau aus dem frühen 10. Jh. sind ganz singulär, zumindest innerhalb der erhaltenen Überlieferung. Sie befinden sich an den Rändern und in Leerstellen eines Glossars, setzen aber nicht, wie der (später vergebene) Titel erwarten ließe, D und F nebeneinander, sondern D und (Vulgär-)Latein. Einige Beispiele (das Nhd. der rechten Spalte stammt natürlich nicht aus dem 10. Jh.): Gueliche lande cumen ger .i. de qua patria? Aus welchem Land kommst du? E guas mer in gene francia .i. in francia fui. Ich war in jenem Frankreich. Guæz ge dar daden .i. quid fecisti ibi? Was hast du da gemacht? <?page no="26"?> 26 2 Perspektiven und Geschichte der KL Min erro guillo tin esprachen .i. senior meus uult loqui tecum. Mein Herr will mit dir sprechen. Erro, su guillo .i. et ego sic uolo. Das will ich auch. Guesattilae min ros .i. mitte sellam. Sattle mein Pferd. E guille thar uthz rite .i. fors uolo ire. Ich will ausreiten. Guar es taz uip? .i. ubi est tua femina? Wo ist deine Frau? Quandi næ guarin ger za metina .i. quare non fuisti ad matutinas? Warum warst du nicht in der Frühmesse? En uale .i. ego nolui. Ich wollte nicht. Ger ensclephen bit te uip in ore bette .i. tu iacuisti ad feminam in tuo lecto. Du hast dich zu einer Frau ins Bett gelegt. Tab. 2: „Pariser Gespräche“ (10. Jh.) (Braune/ Ebbinghaus 1979: 35) Spätestens während der großen europäischen Auswanderungswellen seit dem 18. Jh. drängte sich die Notwendigkeit in den Vordergrund, eine Fremdsprache zu lernen, um seinen neuen Alltag im Ausland bewältigen zu können. Wie ging das vor sich? Schon im Mittelalter gab es in Europa eine enorme Mobilität. Viele Christen pilgerten z.B. aus Deutschland durch die linke Hälfte Europas nach Santiago de Compostela im äußersten Westen Spaniens, und viele andere (in Rüstungen oder auch nicht) durch die rechte Hälfte und darüber hinaus ins „Heilige Land“. Wie verständigte man sich auf solchen Reisen? Im Nahen Osten gab es kaum Probleme, da man ja gekommen war, um den muslimischen Heiden den Schädel einzuschlagen und wieder unter sich zu sein. 4 In Santiago und dem Weg dorthin hatte man ganz andere Interessen, nämlich verstanden zu werden, aber dabei ging es selbstverständlich nicht um Diskussionen über potentielle Atommüllendlagerstätten, Strukturalismus oder Fluoreszenzmikroskopie, sondern um fundamental menschliche Bedürfnisse: „Ich bin müde. Ich habe Hunger. Mir ist kalt. Wie komme ich da und da hin? “ - Die Elementarität dieser Bedürfnisse sichert sowohl die Verständlichkeit als auch die Verständigung; es ist ein rein biologischer Mechanismus, insofern Sprache zur biologischen Grundausstattung des Menschen gehört. Außerdem ließ sich aber das Meiste auch gestisch bewältigen, zumal alle Kommunikationspartner sich jeweils in derselben Situation befanden. Und es darf auch nicht vergessen werden, dass die Sprache, in der man sich an Gott wandte, nicht die eigene war und es (in der katholischen Kirche bis ins 20. Jh.) zu den Selbstverständlichkeiten gehörte, seine eigenen Worte in diesem Gespräch nicht zu verstehen, weil Gott nur L sprach. 4 Dass es selbstverständlich nicht ganz so plakativ war, legen Freidanks Akkon-Sprüche (vermutlich) aus den Jahren 1228-1229 nahe, mit denen er die gottlosen Zustände in der palästinensischen Stadt beklagt, u.a.: „Kristen unde heiden / sint z‘ Akers ungescheiden; / aller bilgerîne kraft / scheidet niht ir gevaterschaft. / beide alten unde jungen / sprechent heidenische zungen.“ (156,6-11: ‚Christen und Heiden sind in Akkon ein und dasselbe; alle Bemühungen der Pilger richten nichts gegen diese Vetternwirtschaft aus. Die Alten wie auch die Jungen sprechen heidnisch.‘) (Freidank 1991: 194; Übers. J.T.) Ungefähr gleichzeitig sieht Neidhart(s lyrisches Ich) die Situation ganz anders: Es will dringend zurück nach Österreich, nicht nur zu seiner Liebsten, sondern auch, weil die Franzosen seine Lieder nicht verstehen (Neidhart 1975: 20ff = Sommerlied 11). - Ähnlich ging es auch schon Ovid während seiner Verbannung am Schwarzen Meer (Poccetti/ Poli/ Santini 2005: 43). <?page no="27"?> 27 2.2 Geschichte der KL Im 18. Jh. fuhr kein Franzose oder Deutscher nach Amerika, um dort zu urlauben oder sein Seelenheil zu finden, sondern um in dieser oder jener Armee zu kämpfen, und dann im 19. Jh., um möglichst eine Karriere vom Tellerwäscher zum Millionär zu machen - je anspruchsvoller die kommunikativen Anforderungen wurden, desto spezifischer musste man auch die sprachlichen Anforderungen erfüllen, denen man ausgesetzt wurde: Wer die Arbeit nicht korrekt erledigte, hatte ohnehin keine Chance, und wusch weiter Teller. Doch wer die Arbeit korrekt erledigen wollte, musste die Landessprache beherrschen, immerhin so weit, dass er seine Ziele in einer potentiell feindlichen Umwelt erreichen konnte, gegen alle anderen, die dieselben Ziele hatten, weil sie aus demselben Grund nach Amerika gekommen waren; und es gab damals bei weitem mehr Tellerwäscher als Millionäre, und wenn es keine Spülmaschinen gäbe, hätte sich daran bis heute nichts geändert. 2.2 Geschichte der KL Um nun viele einzelne historische Kontexte zu überspringen und zur fast schon aktuellen KL zu gelangen: Die ersten Gastarbeiter, die in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts aus dem Süden ins gelobte Wirtschaftswunderland diesseits der Alpen kamen, hatten zuvor keinerlei Möglichkeit und das hieß auch: kein Geld, um die fremde Sprache zu lernen. Was aber auch gar nicht nötig war, da sie ja erstens (das war die Utopie) als Gäste kamen - und um die kümmert und sorgt man sich üblicherweise - und zweitens (das war die Realität) sie einfach nur Gerätschaften und Maschinen zu bedienen hatten, von einem Besen oder einer Mülltonne bis zum Produktionsband in der Autofabrik. Und überhaupt nicht vorbereitet waren die Italiener, Türken, Griechen, ... darauf, dass sie sich mit Ämtern herumschlagen mussten und mit Nachbarn. Diesen konnte man ja aus dem Weg gehen, aber meistens war es umgekehrt: Diese nicht immer freundlichen Nachbarn gingen ihnen aus dem Weg, was zu einem erheblichen Maß an Ghettoisierung führte, und die Kommunikation mit den Ämtern funktionierte mehr schlecht als recht, wie dazumal auf dem Pilgerweg nach Santiago: Weil Deutschland ein Interesse daran hatte, dass die Ausländer blieben, und die Ausländer ein Interesse daran hatten zu bleiben, Deutschland, weil es die Arbeitskräfte brauchte, und die Arbeitskräfte, weil sie das Geld brauchten. Bis dahin war Fremdsprachenunterricht eine sehr luxuriöse Angelegenheit gewesen - dass die alten Römer, die etwas auf sich hielten, ihre Söhne nach Griechenland schickten, und dann wieder seit der Renaissance Adlige und sonstige wohlhabende Väter ihre Söhne in der Begleitung mehr oder weniger sprachbegabter Vasallen durch halb Europa, spielt hier nur am Rand eine Rolle. Nun wurde aber, kurz nach der Mitte des 20. Jhs. in den USA, der große Vorteil des geordneten und damit erfolgversprechenden Fremdsprachenlernens entdeckt, unter anderem, weil man (nicht nur in den USA) während des 2. Weltkriegs gemerkt hatte, dass eine gemeinsame Sprache sehr hilfreich dabei ist, niemanden töten zu müssen. Außerdem war, auch durch den technischen Innovationsschub des Kriegs, die Welt kleiner geworden; anders als noch 100 Jahre zuvor überquerte man den Atlantik nicht nur einmal im Leben, und nicht nur der <?page no="28"?> 28 2 Perspektiven und Geschichte der KL Arbeitsmarkt wurde insgesamt internationaler, sondern auch die eigene Neugier. Linguisten, wer sonst, waren gefragt, um die Schwierigkeiten im Fremdsprachenunterricht zu identifizieren und möglichst systematisch zu beheben. Das war, sehr grob gezeichnet, der Ausgangspunkt der KL als Wissenschaft. Und das war auch lange Zeit ihr eigentliches Problem, und zwar aus einem einfachen kategorialen Grund: Linguistik oder Sprachwissenschaft ist die Wissenschaft von der Sprache. Sowohl die Rhetorik als auch die „Poetik“ des Aristoteles als auch die Grammatik des Dionysius Thrax („ Διονυσίου τοῦ Θραικὸς τέχνη γραμματική “ [Dionysíou tou Thraikós téchne grammatiké] ‚Des Dionysius Thrax grammatische Kunst‘) waren selbstverständlich „téchnes“. Τέχνη (téchne) ist lateinisch ars. Τέχνη setzt schon Aristoteles scharf von ἐπιστήμη (epistéme) ab: Jene ist Praxis, diese ist Theorie. Tatsächlich wird in germanischen Sprachen aus τέχνη in D Technik oder in E technique, also etwas Praktisches. Auch das lateinische ars lebt im Germanischen weiter: E ártist ist der Künstler, D Artíst hingegen derjenige, der im Zirkus auftritt und z.B. in schwindelnder Höhe über ein Seil laufen kann. Der engl. artist ist in D der Künstler, und Kunst kommt bekanntlich (was kein Witz ist) von können: Wer etwas besonders gut kann, ist ein Künstler. Erst vor gut 200 Jahren ist aus diesem Künstler ein besonderes Wesen geworden, unter dem Eindruck des Geniekults. Der Techniker hat seither dessen Stelle eingenommen: Er hat gelernt, aus den Erkenntnissen der Naturwissenschaften etwas Sinnvolles, weil Praktisches zu machen. Dasselbe versuchte - in ihren Anfängen - die KL, indem sie sich vorgenommen hatte, die Schwierigkeiten im Fremdsprachenunterricht zu minimieren. Der ihr zugrundeliegende Gedanke war: Von einer Sprache zu einer anderen ist ein sehr spezifischer Weg zurückzulegen, und je besser man diesen Weg kennt, desto sicherer erreicht man das Ziel, nämlich das Beherrschen der Fremdsprache. Das hört sich einfach an, ist aber in der Praxis, wie sie jeder kennt, der eine Fremdsprache lernt, mit sehr vielen Problemen verbunden, denn der Kontrast zwischen zwei Sprachen (L1 und L2) sieht nicht so aus wie in Abb. 4a, sondern wie in 4b oder 4c - man beachte dringend das Kleingedruckte: a) b) c) L1 (a) L2 (a) L1 (a) L2 (e) L1 (a) L2 (a) L1 (b) L2 (b) L1 (b) L2 (c) L1 (b) L2 (b) L1 (c) L2 (c) L1 (c) L2 (a) L1 (c) L2 (c) L1 (d) L2 (d) L1 (d) L2 (d) L1 (d) L2 (d) L1 (e) L2 (e) L1 (e) L2 (...) L1 (e) L2 (e) L1 (...) L2 (...) L1 (...) L2 (b) L1 (...) L2 (...) Abb. 4: Beziehungen zwischen zwei Sprachen Selbstverständlich ist Abb. 4 typisiert, indem nur Variablen einander zugeordnet sind. In scheinbar ungeordneter und häufig nicht vorhersagbarer Weise sind diese Variablen in verschiedenen Sprachen jedoch ganz unterschiedlich geordnet, und nur sehr instabile Sprachen lassen es zu, dass sie im Sprachkontakt von einer anderen Sprache beherrscht werden, was häufig auch durch einen Schriftlichkeitssog verursacht wird; so geschehen auch in D unter dem Einfluss von L im Übergang zur Schrift: L hat - als schriftliche Sprache - eine sehr stabile Struktur, D braucht eine und nimmt sie woher? Aus dem Schriftlichen, aus L. - Ich hoffe, es wird noch <?page no="29"?> 29 2.2 Geschichte der KL hinreichend deutlich, wie Abb. 4 zu verstehen ist, sie stellt gewissermaßen das gröbste Raster dar, in dem KL operiert. Wir brauchen geeignete Landkarten oder noch besser: Navigationssysteme, um uns zwischen zwei Sprachen zurechtzufinden! - Eine solche Forderung und anschließende Anleitung zum Fremdsprachenlernen ist aber noch lange keine Wissenschaft, allenfalls in eminent alltagssprachlichem Sinn, in dem z.B. die Programmierung einer Fernbedienung „eine Wissenschaft für sich“ ist. Normalerweise spricht man in solchen Fällen aber von einer Gebrauchsanweisung, die in der Regel keine Rücksicht auf individuelle Befindlichkeiten nimmt: Entweder ich freunde mich mit der Fernbedienung an oder eben nicht, und wenn nicht, muss ich halt jedes Mal von der Couch aufstehen, sobald ich am Fernsehgerät die Lautstärke hoch oder runter stellen oder zwischen den Programmen wechseln will. Beim Lernen einer Fremdsprache gibt es einen kleinen, aber, wie man zu Recht meinte, wichtigen Unterschied: Die Leute, die eine Fremdsprache lernen, lassen sich immerhin danach unterscheiden, welche Sprache sie schon (als Muttersprache) beherrschen. Dazu, im Vorgriff auf die folgenden Kapitel einige Beispiele: - Ein Grieche, der D lernt, muss eine Menge zusätzliche Vokalphoneme lernen, und ein Engländer oder Deutscher, der G lernt, eine ganz andere Silbenstruktur. (Kap. 4) - Ein Franzose wird mit den Regeln der deutschen Wortbildung, die sehr kreativ ist, andere Probleme haben als mit den Regeln der englischen oder griechischen Wortbildung. (Kap. 5) - Der Wortschatz verwandter Sprachen (D-E-F-G) steht vermutlich eher in einem 1: 1-Verhältnis (oder zumindest 1: 1,2 oder 1: 1,4) als der zwischen ganz fremden Sprachen, zumal deren kulturelle Kontexte (in den meisten Fällen) ebenfalls einander ganz fremd sind. Umso problematischer ist es dann jedoch, wenn es trotzdem auch bei verwandten Sprachen ganz unerwartete Unterschiede gibt. (Kap. 6) - Deiktische Ausdrücke gibt es in allen Sprachen, was einfach damit zu erklären ist, dass (mündliche) Sprachen in menschlichen Kommunikationen erst mal nur nebensächlich sind, sie schmiegen sich vielmehr in vorgegebene Situationen (und Bedürfnisse) ein - aber wie machen sie das genau? (Kap. 7) - Engländer oder Amerikaner, die D lernen, sollten wissen, welchen Gesprächspartner man mit du anredet und welchen man besser mit Sie; ein Franzose dürfte dabei weniger Probleme haben und ein Grieche ebenso. (Kap. 8) - Einem Engländer, dessen Muttersprache eine sehr strikte Wortstellung verlangt, damit ihre Sätze den gewünschten Sinn ergeben, dürften die stilistischen Möglichkeiten einer Sprache mit relativ freier Wortstellung wie in G schwerer zu vermitteln sein als einem Deutschen. (Kap. 9) - Die Regeln schriftlicher Texte, nicht nur in den hier ins Zentrum gestellten Sprachen, gleichen sich immer mehr an. Löst sich damit das Aufgabenfeld der KL auf? (Kap. 10) - Ein Grieche, der E oder F lernt, muss erst mal das passende (= lateinische) Alphabet lernen, ein Franzose, der vor derselben Aufgabe steht, aber nicht; und <?page no="30"?> 30 2 Perspektiven und Geschichte der KL alle drei müssen die chinesische Schrift lernen, wenn sie irgendwann mal eine chinesische Zeitung lesen wollen. Aus all diesen (und mehr) Gründen leuchten Sinn und Notwendigkeit zweisprachiger Grammatiken (und auch Wörterbücher) ein: Ein Lehrbuch, das nur die grammatischen Strukturen der Zielsprache (L2) beschreibt, dürfte weniger hilfreich sein als eines, das diese Strukturen mit denen der jeweiligen Muttersprache der Lernenden (L1) in Beziehung setzt und sowohl auf Gemeinsamkeiten als auch auf Unterschiede hinweist. Man kann nicht unbedingt grammatisches Wissen über die eigene Muttersprache voraussetzen, und das gilt nicht nur bei jugendlichen Fremdsprachenlernern. Allerdings ist es darüber hinaus sinnvoll, sich mit der Frage zu befassen, in welcher Hinsicht sich Sprachen grundsätzlich ähnlich sind oder grundsätzlich unterscheiden, und zwar nicht nur ganz allgemein, sondern auf sehr konkreter und zugleich sehr tiefliegender Ebene. (Kap. 12, 13) Die KL hat sich bis in die 70er Jahre (und auch noch weiter) in diese Richtungen entwickelt. Sie waren einerseits in ihrer praxisorientierten Herkunft angelegt und ergaben sich andererseits aus ihrem notwendigerweise dann doch eingesehenen Wissenschaftsdefizit. 1972 erschien in Deutschland ein von Gerhard Nickel herausgegebener „Reader zur kontrastiven Linguistik“. Wenn man die Einleitung heute liest, kann man nur sagen: Damals hatte man noch Träume! Der Hg. hat auf 170 Seiten 13 Aufsätze zu den unterschiedlichsten Themen der KL versammelt und schließt seine Einleitung: Einen vollständigen Überblick über den derzeitigen Stand der kontrastiven Linguistik mit allen bestehenden Modellansätzen und eine strikte Kohärenz innerhalb dieses Bandes anzustreben, wäre angesichts der derzeitigen heterogenen Tendenzen auf diesem Gebiet gewiß vermessen gewesen und es wird noch vieler, vor allem empirischer Untersuchungen bedürfen, bevor sich klare abschließende Aussagen zum Wert kontrastiver Analysen in Theorie und Praxis (Hervorhebung: J.T.) machen lassen. (Nickel 1972: 13) 5 Nach Rein 1983 (der sich auf Nickel 1972 beruft, der sich auf Krzeszowski in Nickel 1972 beruft) ist „folgende Einteilung des Gesamtblocks der KL in zwei Hauptzweige mit jeweils zwei Unterpunkten“ sinnvoll: 1. Theoretische KL 2. Angewandte KL a) Allgemeine theoretische KL b) allgemeine angewandte KL b) Besondere theoretische KL b) spezifische angewandte KL (Rein 1983: 6) Bewusst habe ich hier alle Merkwürdigkeiten (allgemeine - besondere - spezifische), typographischen Besonderheiten (Großbuchstaben - Kleinbuchstaben hinter den Klammern) und Fehler (2.b und 2.b) als Symptom übernommen: Die KL war sich auch in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts ihrer selbst noch äußerst unsicher. Aber deutlich ist, dass in dieser Gegenüberstellung (und in aristotelischer 5 Nickels Reader erschien vor der ersten Ölkrise von 1973, die, wie jedenfalls im Rückblick deutlich geworden ist, den Glauben an ein für allemal feststehende Wahrheiten und Bequemlichkeiten (zumindest im sogenannten Westen) erheblich erschütterte. Heute ist man immerhin doch noch ein bisschen aufgeklärter und viele Wissenschaften werden von Wissenschaftlern (und der Notwendigkeit, ihre Familie am Leben halten zu müssen) am Leben gehalten - und gesteht sich und anderen das sogar (mitunter) auch ein. - Wer erwartet da noch „klare abschließende Aussagen zum Wert“ von irgendetwas? <?page no="31"?> 31 2.2 Geschichte der KL Terminologie) „1.“ die Wissenschaft betrifft und „2.“ die Technik. Ich vermute, dass gar nicht so weit hinter dieser Einteilung Albert Einsteins erst spezifische und dann allgemeine Relativitätstheorie nicht nur terminologisch Pate stand, wie auch schon in der linguistischen Relativitätstheorie von Sapir und Whorf (Kap. 2.1). Norbert Fries greift in seiner Tübinger Habilitationsschrift von 1988 Reins Unterscheidung auf; ich zitiere seine wichtigsten Definitionen: Die theoretische Komponente der Angewandten Kontrastiven Linguistik hat linguistische Analysen von Einzelsprachen zu liefern, welche in ihren Zielsetzungen auf bestimmte praktische Anforderungen ausgerichtet sind, und welche in der angewandten Komponente der Angewandten Kontrastiven Linguistik der Praxis zugänglich gestaltet werden. (Fries 1988: 5) Für die Theoretische Kontrastive Linguistik als eine allgemeine Sprachsystemtheorie ist zum heutigen Forschungsstand hingegen zu erwarten, daß sie sich nicht in der Beschreibung von Einzelphänomenen zu Zwecken bestimmter praktischer Anforderungen realisiert; sie hat im Gesamtzusammenhang der Theoretischen Linguistik interessante Fragestellungen zu formulieren, welche nach heutigem Wissen zu einem Teil nur durch entsprechende kontrastive Analysemethoden beantwortet werden können. (ebd.: 16-17) Der angesprochene Unterschied zwischen angewandter und theoretischer KL stellt sich mittlerweile in etwas anderem Licht dar. 2002 erschien z.B. ein Sammelband mit dem Titel „Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen? “, dessen Aufsätze auf eine Berliner Ringvorlesung zurückgehen. Die Frage ist griffig, aber dennoch etwas eigenartig gestellt. Das Thema, um das es darin geht, ist vergleichbar mit der Frage: „Was war zuerst da: die Henne oder das Ei? “ Wie nicht nur alle Nicht-Vegetarier wissen, gibt es einen erheblichen (visuellen, lautlichen, geschmacklichen, sattmachenden usw.) Unterschied zwischen der einen und dem anderen. Selbstverständlich sind beides Entitäten, die nicht nur wegen ihrer je eigenen Komplexität als Systeme beschrieben werden können, das Ei wahrscheinlich etwas weniger komplex als die Henne, die immerhin z.B. noch ein Sexualleben hat. Ich bin mir nicht so ganz sicher, ob in diesem Vergleich die Sprache das Ei ist oder die Henne. Hier beginnen schon das Ei zu faulen und die Henne zu hinken, weil es in diesem Vergleich nicht um das Sprechen vor der Sprache, sondern um das Sprechen als mehr oder weniger wichtigen Bestand der Kommunikation geht. Sprechen ist (wenn man von allen moderneren, das sind technischen, Möglichkeiten einmal absieht, die wiederum ganz andere Systeme bilden) Bestandteil der Kommunikation, die selbstverständlich ihrerseits ein System ist, und nun kommt’s darauf an: Fokussiert man auf die Sprache, ist alles andere nur Paralinguistisches, was wissenschaftlich allerdings erst relativ spät an die Linguistik angedockt wurde, obwohl es eigentlich sowohl historisch (Psammetich) als auch individuell (Baby) als auch praktisch (Urlaub in Irgendwo) vor dem eigentlichen Gegenstand der Linguistik angesiedelt ist: Bevor man sich sprachlich verstand oder versteht, verständigte und verständigt man sich mit Händen und Füßen - with gestures - avec les mains - με χειρονομίες (me chironomíes). Diese Frage ist aber grundlegend und entscheidet auch darüber, ob es um theoretische oder angewandte KL geht: Welches System legt man zugrunde - das kommunikative oder das sprachliche? Das lässt sich durchaus entscheiden, aber nur im ersten Kreis um die allgemeine Linguistik von Abb. 1; in der KL ist das Problem etwas vertrackter: Es ist nämlich schlechterdings unmöglich, beides voneinander zu trennen. Um es sehr plakativ zu sagen: Einge- <?page no="32"?> 32 2 Perspektiven und Geschichte der KL fleischte Hamburger sagen allenfalls Guten Tag (oder Moin), wenn sie sich sehen, schon südlicher in Deutschland gibt man sich die Hand zur Begrüßung, vor einem gewissen Alter gibt’s sogar Küsschen, und noch weiter im Süden Europas (z.B. in Griechenland) schmatzen sie einem nur so um die Ohren, und dann wird drauflos palavert. Was kann da miteinander verglichen werden? Sprache? Gestik? Mimik? Körperkontakt? Oder konkret Küsse? Diese Antwort fällt noch viel schwerer als die Auflösung von Abb. 4c, und ich komme in Kap. 13.5 darauf zurück. In den letzten Jahrzehnten befreiten sich kontrastiv arbeitende Linguisten zunehmend auch in anderer Hinsicht aus dem oben festgezurrten Korsett, stellten zwei (oder auch mehr) Sprachen je nach eigener Sprachkompetenz einander gegenüber und fühlten sich frei, zwischen Phonetik und Textlinguistik den Vergleich auf einer beliebigen Ebene unter einem beliebigen Gesichtspunkt anzustellen, wohl wissend, dass eine kontrastive Betrachtung immer interessante Ergebnisse liefert, zumal bei Sprachen: Sie haben alle denselben Ausgangspunkt in ihrer biologischen Veranlagung und dieselbe Funktion als Kommunikationsmittel. Bekanntlich sind sowohl Veranlagung als auch Funktion äußerst breit gestreut, doch während aus der Veranlagung während des Spracherwerbs die Muttersprache hervorgeht, können lebenslang immer neue Funktionen und Anwendungen entdeckt werden. Schon für „einfache“ Linguisten gibt es eine Menge Arbeit, für kontrastive noch viel mehr. Bis heute werden daher aber auch immer wieder die Grenzen der KL abgesteckt, so von einem der führenden deutschen kontrastiv arbeitenden Linguisten, dem mittlerweile emeritierten Berliner Anglisten Ekkehard König: sehr strikt in einem kurzen Beitrag von 2011 sowie etwas flexibler in einem Aufsatz (gemeinsam mit Marek Nekula) von 2013. Ich führe die beiden Vorschläge zusammen, in Klammern stehen die Veränderungen, Lücken und Ergänzungen des späteren Aufsatzes: - Synchronie: Die KL ist ausschließlich (2013: primär) synchron orientiert - Granularität: Ihr Gegenstand sind feinkörnige Beobachtungen zu Kontrasten zwischen Sprachen - Skopus: Die KL beschäftigt sich (2013: + vor allem) mit umfassenden Vergleichen von Sprachpaaren. (2013: + Die Bezeichnung Bilingualer Sprachvergleich bringt dies besonders deutlich zum Ausdruck.) - Perspektivierung: Ihr Mehrwert besteht u.a. darin, dass eine Sprache aus der Perspektive einer anderen beschrieben wird. Aus dieser Perspektivenwahl ergeben sich neue Beobachtungen. - (2013: + Theoretischer Rahmen: Der theoretische Rahmen spielt insofern eine Rolle, als durch verschiedene Ansätze unterschiedliche Eigenschaften von Sprachen in den Blick kommen können. Für die optimale Formulierung von Kontrasten kann eine Synthese verschiedener Ansätze sinnvoll sein.) - Zielsetzung: Ihre Zielsetzung sind weitreichende (2013: + falsifizierbare) Verallgemeinerungen über Kontraste (2013: + zwischen Sprachpaaren). Die Wahl eines theoretischen Rahmens ist sekundär. (letzter Satz fehlt 2013) - Falsifizierbarkeit: Die Aussagen der KL sind falsifizierbar. (fehlt 2013) (König 2011: o.S.; König/ Nekula 2013: 16-17) <?page no="33"?> 33 2.2 Geschichte der KL Ich orientiere mich im Folgenden an dieser Zusammenstellung, rechne aber stillschweigend auch andere Gesichtspunkte mit ein; auf Abgrenzungsfragen geht das nächste Kapitel detaillierter ein. Die Orientierung an der Synchronie bedeutet mittlerweile nicht mehr, dass KL jeden historischen Aspekt ausblendet. Gerade bei dem Vergleich zwischen Sprachen, die genetisch miteinander verwandt sind, lohnt sich die Fragestellung, warum sie sich auseinander entwickelt haben - oder eben nicht. Die feinkörnigen Beobachtungen sollen die KL vor allem von der Sprachtypologie unterscheiden, worauf oben schon hingewiesen wurde, doch ist diese Grenze höchst fließend. In immer mehr Fällen wird sie mittlerweile ohnehin von den Umständen aufgehoben, da immer mehr Sprecher kleiner Sprachen die letzten Sprecher kleiner Sprachen sind. Große Sprachen hingegen ändern sich mit immer größerer Geschwindigkeit, zumal diese Änderungen sich heute in bis vor kurzem noch ungeahnten Textsorten und in ungeahnter Bandbreite auch schriftlich manifestieren. Allerdings ist auch darauf hinzuweisen, dass der sprachtypologische Blick von oben bei hinreichend verteiltem und geduldigem Fleiß durchaus in die konkreten Vergleichsebenen vordringen kann, wie bereits einige der Darstellungen bei wals.info zeigen - auf diese Seite sei hier ausdrücklich hingewiesen. 6 Ähnliches ist zum nächsten Aspekt zu sagen: Dass die KL sich mit umfassenden Vergleichen von Sprachpaaren beschäftigt, wird nicht (mehr) von allen kontrastiven Linguisten geteilt, da es - unter theoretischer Perspektive - interessanter und ertragreicher sein kann, mehrere Sprachen unter einem gemeinsamen Aspekt miteinander zu vergleichen. (Vgl. dazu auch die Aufsätze in Dammel/ Kürschner/ Nübling 2010) Ob die Wendung „bilingualer Sprachvergleich“ (oder entsprechend tri-, ...-lingualer) dann besonders glücklich ist, sei dahingestellt. Die Perspektivierung ist selbstverständlich unbestritten, da sie sich aus einer einfachen Tautologie ergibt: Ihre Kontrastivität beruht auf ihrem kontrastiven Ansatz. Dass die Wahl eines theoretischen Rahmens sekundär bleibt, ist ein Zugeständnis an alle kontrastiv arbeitende Linguisten (und Fremdsprachenunterrichtstheoretiker), die zwar wissen, wie man sich in die Unterschiede zwischen Sprachen vertieft, die von formaler Linguistik aber weniger Ahnung haben. Dazu gehört auch die Abweisung eines streng formalen Ansatzes, von dem aus letztlich alle Sprachen gleich sind, weil sie alle auf einer Universalgrammatik basieren, wohingegen die angedeutete Harmonisierung in der Formulierung von 2013 den Anforderungen des Themas nicht ganz gerecht wird. Der Zusammenhang zwischen Universalgrammatik und kontrastiv beleuchteten Grammatiken ist schon in Abb. 1 dargestellt. Schließlich ist KL auch eine empirische Wissenschaft, die es mit tatsächlich gesprochenen (und geschriebenen) Sprachen zu tun hat, was banalerweise auch bedeutet: Sprachen unterliegen ständigen Änderungen; KL muss ständig am Ball bleiben, sie ist, ernst genommen, in ihrem synchronen Aspekt eine der aktuellsten 6 „The World Atlas of Language Structures (WALS) is a large database of structural (phonological, grammatical, lexical) properties of languages gathered from descriptive materials (such as reference grammars) by a team of 55 authors.“ (wals.info; 02.01.16) <?page no="34"?> 34 2 Perspektiven und Geschichte der KL Teillinguistiken, da sie mindestens zwei aktuelle Sprachverwendungsweisen, nämlich in L1 und L2, bedenken muss. Und wie auch schon erwähnt, stellt sich bei jedem Sprachvergleich selbstverständlich die Frage nach dem tertium comparationis: In welchem Bereich werden Sprachen miteinander verglichen und von welcher Seite aus? Abb. 4 zeigte schon, dass sich sprachliche Strukturen nicht einfach so entsprechen. Fragt man z.B., wie die Äußerung einer zukünftigen Tätigkeit sprachlich realisiert ist (morphologisch wie in L oder adverbial wie in D, Kap. 2.3) oder fragt man, ob es so etwas wie einen neutralen Zukunftsmarker in D überhaupt gibt und welchen Stellenwert einerseits im Sprach- und andererseits im Verwendungssystem die (ungefähr im 14. Jh. eingeführte und heute mündlich kaum noch verwendete) periphrastisch gebildete Futurform hat: Was in der einen Sprache Morphologie ist, ist in der anderen Wortbildung oder Syntax. Was in der einen gewachsen ist, drängelt sich in der anderen zwischen vorhandene, indigene Strukturen. 2.3 Sprache und Sprechen Dazu vorab zwei Beispiele: Der schon genannte Otfrid von Weißenburg behauptet in seinem linguistischen Vorwort, dass die Volkssprache mittlerweile mit allen Versprachlichungsanforderungen fertig werden könne; sein Sprach- und Stilideal fand er aber selbstverständlich im Lateinischen. Dabei ging er tatsächlich sehr frei mit seiner Vorlage um (zum Übersetzungsproblem: Kap. 11). Anders ging es bei religiösen Gebrauchstexten zu, wie das folgende Zitat zeigt; es handelt sich um die beiden ersten Sätze des sog. Apostolischen Glaubensbekenntnisses mit drei Übersetzungen ins Alt-, Mittel- und Neuhochdeutsche. 7 Credo in deum patrem omnipotentem, creatorem caeli et Gilaubiu in got fater almahtîgon, scepphion himiles enti Ich geloube an got vater almechtigen schephaer himels unde Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und terrae. Et in Jesum Christum, filium eius unicum, dominum nostrum. erda. Endi in heilenton Christ suno sînan einagon, truhtin unseran. der erde. unde an Jesum Christ sun sinen einigen herren unseren. der Erde, und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn Tab. 3: Credo interlinear Da kein Grund besteht, sich über solche Übersetzungsleistungen lustig zu machen (vgl. Kap. auch 11.1), spare ich mir in 1) die Kästchen: 1D) Normalerweise lassen sich Übersetzungen nicht in dieser Weise untereinanderstellen 7 In der jeweils ersten Zeile steht der lateinische Urtext, in der zweiten eine südrheinfränkische Übersetzung aus dem „Weißenburger Katechismus“ vom Ende des 8. Jhs. (Braune/ Ebbinghaus 1979: 35), in der dritten eine mhd. Fassung aus dem „Millstätter Psalter“ des 12. Jhs. (Eggers 1986, Bd. 1, 484) und in der vierten der aktuelle deutsche Text der katholischen Liturgie. <?page no="35"?> 35 2.3 Sprache und Sprechen 1E) *Normally let themselves translations not in this manner under each other set 1F) *Normalement laissent se traductions ne pas en cette façon sous l’un et l’autre fournir 1G) *Κανονικά αφήνουν εαυτές μεταφράσεις δεν σε αυτόν τρόπο υπό το ένα τον άλλον παρέχουν (kanoniká afínun eaftés metafrásis den se aftón trópo ipó to éna ton állon paréchun) ..., was aber selbstverständlich gar nicht hätte erwähnt werden müssen. Dennoch ist auf einige Punkte hinzuweisen. Zunächst ist zu bedenken, dass es sich bei den ahd. und mhd. Fassungen um lokale, d.h. dialektale Varianten handelt, während die nhd. Version Standarddeutsch ist, was aber in anderem Zusammenhang diskutiert werden müsste. - Bis zum Mhd. gibt es einen einzigen Artikel; während in himels der Genitiv noch am Wortende markiert ist, ist das bei erde nicht mehr möglich. Dafür wird der (aus dem ahd. Demonstrativpronomen entstandene) Artikel verwendet, dessen Form des als Genitiv eindeutig ist. Er wird allerdings nur dort verwendet, wo er im Interesse der Verständlichkeit wirklich notwendig ist. Im Nhd. ist er längst systematisiert (den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde), was sehr viel mit sprachlichen Routinen zu tun hat: Auf Dauer lohnt es sich einfach nicht, sich bei jedem Substantiv zu fragen, ob ein Kasus am Ende markiert ist; die Regel: „Setz einen Artikel davor! “ ist (zumal mündlich) erheblich leichter zu handhaben, Markierungen am Wortende können damit wegfallen. Dasselbe gilt - allerdings schon in Mhd. - für das Personalpronomen: D hat sich von einer Pro-Dropzu einer Non-Pro-Drop-Sprache entwickelt. 8 Schließlich: Bis zum Mhd. hat sich die Wortstellung aus L exakt erhalten; erst im Nhd. hat sie sich (ein wenig) emanzipiert, selbst gegen die Autoritäten des L und des Glaubensbekenntnisses. Derartige Emanzipationen finden nicht von heute auf morgen statt. Man muss nur bedenken, dass auch heute noch viele Jugendliche nach Einschätzung ihrer Eltern und Lehrer kein Deutsch mehr sprechen, wenn sie sich in ihrem Sprechen ein wenig von deren Sprache und Sprechen absetzen wollen. Die gerade diskutierten Sätze samt ihrer Fortsetzung haben - für diejenigen, die sie sonntäglich als Gebet sprechen - eine sehr ernste Bedeutung. Auf die sprachliche Fassung kommt es nur insoweit an, als sie verständlich sein muss, wie auch der Beginn des Unser Vater, nein: Vater unser zeigt. Daraus ergibt sich aber sehr deutlich eine Frage: Gab es in Ahd. (schon) eine Grammatik oder ist die deutsche Grammatik (noch) eine lateinische? Damit ist zunächst eine sprachgeschichtliche Dimension eröffnet, der es sich lohnen würde nachzugehen. Zugleich eröffnet sich aber eine ganz andere Ebene des Sprachvergleichs, die danach fragen lässt, wie stabil grammatische Strukturen eigentlich sind. Nicht nur im religiösen Bereich war Latein dem Deutschen in all seinen damaligen Dialekten überlegen, L war die Superstratsprache schlechthin, und so konnte es also (bei denen, die einigermaßen intellektuell klingen wollten) kein Fehler sein, sich, nicht nur beim Wortschatz, an ihm zu orientieren. 8 Pro-Drop-Sprachen sind solche, die im finiten Satz kein getrennt hörbares Subjekt haben - die Markierung am Verb genügt. Dazu gehört G. Non-Pro-Drop-Sprachen brauchen hingegen zwingend ein eigenständiges Subjekt: D-E-F. Selbstverständlich gibt es Ausnahmen (Kap. 9). <?page no="36"?> 36 2 Perspektiven und Geschichte der KL Solcher Einfluss - den es durchaus auch in umgekehrter Richtung gab, was (europaweit) zum Vulgär- oder sogenannten Küchenlatein führte, in dem sich morphologische, lexikalische und syntaktische Eigenarten der Volkssprachen sammelten, bevor die Latinitas in der Renaissance wieder entdeckt und gepflegt wurde - lässt sich aus der KL nicht herausrechnen, im Gegenteil: Er muss immer mitbedacht werden, es sei denn, es werden Sprachen miteinander verglichen, die tatsächlich weder räumlich noch zeitlich irgendetwas miteinander zu tun haben, was aber ein Widerspruch in sich wäre, denn KL geht selbstverständlich von Beziehungen zwischen Sprachen aus und festigt sie durch ihre Beobachtungen. Denkt man von hier aus weiter, gelangt man unweigerlich zu einem sehr entscheidenden Methodenproblem, das auf den Schultern der Frage nach dem tertium comparationis sitzt: Welche Metasprache ist angemessen, um zwei Sprachen jeweils adäquat zu beschreiben? Dabei geht es nicht um die Frage nach passenden Wortgleichungen, sondern um die grundsätzliche Vergleichbarkeit der beobachteten Phänomene. Und es geht ebenfalls um die Vergleichbarkeit hinsichtlich der kommunikativen Mitarbeit der beiden beteiligten Partner. Um zu demonstrieren, was damit gemeint ist, wähle ich ein Beispiel, das zwar nicht alle Dimensionen klärt, was hier ohnehin nicht angestrebt ist, das aber den Vorteil hat, leicht nachvollziehbar zu sein. Außerdem kann anhand dieses Beispiels gezeigt werden, wie tief schon anhand so verwandter Sprachen wie den hier gewählten KL lohnend (nach)bohren kann. Ich greife auf das „Futur“ zurück, und stelle Äußerungsgleichungen aus D-E-F-G-I-L untereinander: 2D) Ich komme morgen. 2E) I’ll come tomorrow. 2F) Je viendrai demain. 2G) Θα έρθω αύριο. ( th a értho ávrio.) 2I) Verrò domani. 2L) Cras veniam. Wie erschließt sich jeweils die Bedeutung der Äußerung für einen muttersprachlichen Kommunikationspartner? Um bei der Ausgangssprache D zu beginnen: Der Sprecher spricht über sich als jemanden, der etwas tut. Er kommt - wann? morgen, was der Hörer als letztes erfährt. Dass ich Subjekt des Satzes ist, wird zweimal markiert, einmal im Personalpronomen ich vor dem Verb, und das zweite Mal am Verbende; es gibt zwar noch eine zweite Verbform komme (Konjunktiv 1), die jedoch nur in Nebensätzen auftreten kann. Deshalb ist auch eine Telegrammvariante dieses Satzes möglich: „Komme morgen.“ Telegrammvarianten haben den Vorteil, das wirklich nur Notwendige zu sagen, und zwar nur einmal, was umgekehrt bedeutet: In Alltagssprache sind viele Äußerungen redundant, was aber vor allem daran liegt, dass sie auch andere, nichtsprachliche Kommunikationskanäle nutzen; man kann allerdings erwarten, dass diese Redundanz aufgehoben wurde und noch wird (Kap. 12, 13). - In E wird nicht die Person doppelt markiert, sondern die Zeit: Sowohl enklitisch am Pronomen (’ll) als auch im Zeitadverb am Ende des Satzes. - In F überschneiden sich beide Strategien: Sowohl die Person (in Pronomen und Verbendung) als auch die Zeitstufe (in Verbendung und Adverb) sind doppelt markiert. - G muss mit einem Futurmarker ( θα ) beginnen, und dann gibt es drei Möglichkeiten : Das Futur Continuum ( θα έρχομαι [tha érchome]), das z.B. etwas mehrmals Geschehendes aussagt, das Futur Exactum ( θα έρθω [tha értho]), das et- <?page no="37"?> 37 2.3 Sprache und Sprechen was einmalig Stattfindendes aussagt, und das Futur 2 ( θα έχω έρθει [tha écho érthi]), das (u.a.) wie in D etwas benennt, was in der Zukunft stattgefunden haben wird. Die Zeitstufe ist auch hier zweifach markiert (konkretisiert im Zeitadverb), während die Person ausschließlich am Verbende markiert ist. - Auch I verlässt sich, ebenso wie schon L, auf die einfache Markierung der Person am Verbende, und beide drücken auch die Zeitstufe doppelt aus, am Verb und im Adverb. Bei den Sätzen 2) handelt es sich um Standardvarianten in den jeweiligen Sprachen. In D lässt sich selbstverständlich auch die Futurform verwenden (Ich werde morgen kommen), und da eine Handlung oder ein Ereignis in der Zukunft immer einer gewissen Unsicherheit unterliegt und eine futurische Aussage in der Ich- Form häufig als Versprechen oder Warnung oder Drohung wahrgenommen wird, kann es je nach Intensität gewichtet werden, zwischen 2D‘) und 2D‘‘), was selbstverständlich auch in der Präsensform möglich ist und selbstverständlich für die anderen Sprachen ebenfalls gilt; aber das alles muss hier nicht ausgeführt werden: 2D‘) Ich werde vielleicht morgen kommen. 2D‘‘) Ich werde auf jeden Fall morgen kommen. Natürlich geht auch Ich verspreche dir hoch und heilig, morgen zu kommen, aber solche Varianten werden, wenn auch nur kurz, in Kap. 8 diskutiert. Die aspektualen Futurformen des G lassen sich in D hingegen in keiner Verbform abbilden, sondern allenfalls adverbial. Verstanden werden aber selbstverständlich sowohl Äußerungen in G als auch in D und E-F-I-L-..., und zwar so, dass der Sprecher keinen Grund hat, sich zu beschweren. In einer deutschen Vorabendfernsehserie („Notruf Hafenkante“) kommunizieren Polizisten im Außendienst immer mal wieder mit einem Polizisten im Innendienst, nämlich in der Zentrale, und was immer ein Polizist im Außendienst in das Funkgerät spricht - der Polizist im Innendienst antwortet stets: „Das ist verstanden.“ Auch wenn die Reflexion dieser Antwort eher eine (sehr zentrale! ) Angelegenheit der Sprachphilosophie ist, muss dennoch, unter sehr spezifischer kontrastlinguistischer Perspektive, Kap. 13 eine Antwort versuchen. Damit sind Perspektiven eröffnet, die - teilweise und größtenteils nur holzschnittartig - auf verschiedenen sprachlichen Ebenen in den folgenden Kapiteln dargestellt und diskutiert werden. <?page no="38"?> 3 Abgrenzungen und Horizonte Um zunächst noch einmal klarzustellen: KL kontrastiert nicht einzelsprachige Linguistiken (anglistische, germanistische, gräzistische, romanistische usw.), was durchaus interessant sein könnte, sondern es geht ihr um die Kontrastierung verschiedener Sprachen unter unterschiedlichen Gesichtspunkten. Dabei muss sie sich sinnvollerweise von anderen linguistischen Teildisziplinen abgrenzen. In diesem Kapitel werden die Grenzziehungen beschrieben. An den Beginn stelle ich eine Übersicht, die, nicht nur in ihrer Rechteckigkeit, sondern vor allem ihrer Abstraktheit, der unmittelbar erlebten Wirklichkeit selbstverständlich nicht entspricht. Um was es geht, ist aber ungefähr Folgendes: Familie: . . . Schmidt Müller Hansen Dorf: . . . Upflamör Hildrizhausen Herrenberg . . . Dialekt: . . . Südrheinfränkisch Schwäbisch Hochalemannisch . . . Sprache: . . . Dänisch Deutsch Englisch . . . Sprachzweig: . . . Keltisch Germanisch Italisch . . . Sprachfamilie: . . . Sinotibetisch Indoeuropäisch Afroasiatisch . . . Ausdruck: . . . Mimik Sprechen Gestik . . . Kommunikation: . . . Berühren Schreien Zeigen . . . Wahrnehmung: . . . Sehen Hören Riechen . . . Abb. 5: Wahrnehmungs- und Kommunikationsradien in D Von oben nach unten: Sprechen geschieht in einem sehr engen Horizont; wenn man nicht allzu laut schreien will, beträgt sein Radius vielleicht 5 Meter, der innerhalb des Wohnortes durchaus mobil ist. Die dortige Sprechweise (in Hildrizhausen) ist eine lokale Variante des Schwäbischen, das eine dialektale Varietät der (National-)Sprache Deutsch ist. Deutsch ist eine germanische Sprache, und alle germanischen Sprachen gehören zum Indoeuropäischen (oder auch Indogermanischen). Daneben gibt es zahlreiche andere Sprachen und Sprachgruppen. Mit all diesen Sprachen lässt sich kommunizieren, allerdings ist Sprache nur eine Sonderform der Kommunikation; Kinder beginnen mit Schreien und lernen noch vor dem Sprechen, auf die Objekte ihrer Begierde zu zeigen. Voraussetzung der Kommunikation ist aber die vielfältige Wahrnehmung der Umwelt - die Punkte links und rechts in Abb. 5 bedeuten also, dass es auf den jeweiligen Ebenen noch eine ganze Menge andere Möglichkeiten gibt. Wahrnehmungs- und Kommunikationsradien haben sich heute im Vergleich zu früher in ganz entscheidender Weise verschoben: Man ist längst daran gewöhnt, die ganze Welt sehen zu können, auch wenn man den ganzen Tag in seinem Zimmer im Souterrain am Computer sitzt. Selbst von dort kann man mit aller Welt kommunizieren, und wenn man doch mal den Bus oder die Metro in die Stadt nimmt, ändert sich auch nichts daran, weil man ja ein Smartphone oder Tablet mit Zugang zum Internet hat. Solange aber Kinder in unmittelbarem (= körperlichem) Kontakt sprechen lernen, sind diese Kommunikationsformen und Sprachverwen- <?page no="39"?> 39 3.1 Sprachliche Universalien dungen nach wie vor sekundär, was selbstverständlich nicht bedeutet, dass sie (in anderen Kontexten) nicht zu berücksichtigen wären. Abgekürzt ist das obige Schema aber auch deshalb, weil die kleine Beate in Hildrizhausen nicht notwendigerweise hildrizhausisch lernt, weil nämlich ihre Mutter in der Nähe von Berlin aufgewachsen ist, und ihr Vater auf der Peloponnes, und weil in den Familien ihrer FreundInnen Dialekte und Dialektlosigkeit ganz ähnlich und ganz normal gemischt sind. In den meisten Situationen und in vieler Hinsicht gibt es kein Problem, Kontraste zu erkennen. Dabei geht man jedoch von selbstverständlichen Voreinstellungen zu Vergleichsmöglichkeiten aus. Man kann ohne weiteres behaupten, ein Regenwurm sei kleiner als der Mond, doch dürfte es schwerfallen, irgendein tertium comparationis zu finden, das einen solchen Vergleich sinnvoll macht; die Größe allein ist wenig aussagekräftig, zumal die beiden Größen viel zu weit auseinanderliegen. Einen verlorenen Diamanten als „etwas größer als ein Stecknadelkopf“ zu beschreiben, ist jedoch trotz des ganz unterschiedlichen Preises einleuchtend: Alle Freundinnen wissen, wonach sie auf dem Teppich suchen müssen. Die meisten Dinge und Menschen in unserer Umgebung sowie ihre Verhältnisse zueinander sind uns früher oder später so vertraut, dass wir sie einfach als das nehmen, was sie sind, ohne zu merken, dass sie das nur für uns sind. Dasselbe gilt für unsere Muttersprache. Ihr Lexikon und ihre Grammatik sind jedem Kind selbstverständlich so selbstverständlich, dass es keine Ahnung davon hat, dass es so etwas wie ein Lexikon oder eine Grammatik überhaupt gibt. Bevor man fragt, was eine Sprache von einer oder allen anderen unterscheidet, empfiehlt es sich daher, sich auch mit den Gemeinsamkeiten zu beschäftigen. 3.1 Sprachliche Universalien Trotz der Sprachverwirrung im 11. Kapitel des ersten Buchs der Bibel haben alle menschlichen Sprachen einige Merkmale gemeinsam, was ja keineswegs verwunderlich ist, da die Antwort auf die Frage, was menschliche Sprache ist, natürlich die gemeinsamen Merkmale menschlicher Sprachen benennen muss. Vor diesem gemeinsamen Hintergrund lassen sich dann die spezifischen Eigenschaften einzelner Sprachen kontrastiv charakterisieren. Eine andere Frage ist, wie es zu den Gemeinsamkeiten kommt. Die gängigste These lautet, dass allen Menschen, weil sie Menschen sind, menschliches Sprachvermögen angeboren ist, aber das muss hier nur ganz kurz dargestellt werden (Kap. 3.4.1). Erst einmal ist der Hintergrund in seinen wichtigsten Merkmalen zu kennzeichnen. Sprachliche Universalien, Eigenschaften, die allen menschlichen Sprachen gemeinsam sind, lassen sich einteilen in theoretische oder systematische und in empirisch feststellbare. Die empirisch feststellbaren Universalien könnten auch ganz anders sein; sie werden üblicherweise als Bedingungen formuliert. Eine lautet etwa: Wenn eine Sprache einen Dual hat, hat sie auch einen Plural. Die systematischen hingegen, auf die ich mich im Folgenden beschränke, sind konstitutiv für menschliche Sprache, anders formuliert: Hätte eine Sprache diese Eigenschaften nicht, wäre sie keine menschliche Sprache. <?page no="40"?> 40 3 Abgrenzungen und Horizonte Sprache wird gesprochen, sie ist ein akustisch wahrgenommenes und daher lautlich artikuliertes Medium - Gebärdensprache ist (heute) sekundär, aber auch für sie gilt: Sprache ist in höchstem Maße vergänglich: Wenn sie nicht im selben Moment der Produktion wahrgenommen wird, kann sie nie wieder wahrgenommen werden; sie hinterlässt keinerlei Spuren außer in und zwischen den Ohren eines bewussten oder unbewussten Hörers. Man kann zwar (mittlerweile, um genauer zu sein: erst seit einigen tausend Jahren, und das gilt auch nur für Spezialisten) das Medium wechseln, indem man Papier und Tinte nimmt und anfängt zu schreiben. Doch Schrift hat mit Sprache nur so viel zu tun wie eine Partitur mit dem Pfeifen unter der Dusche. (Kap. 10) Sprache steht jedem Menschen zur Verfügung, und jeder Mensch kann sprechen, was er will. Diese Kategorie „Verfügbarkeit“ ist jedoch höchst problematisch, was wiederum unter der Dusche deutlich wird: Ich würde gerne besser pfeifen können, aber mir sind aufgrund mangelnder Begabung und Übung recht enge Grenzen gesetzt. (Immerhin schaffe ich es aber, einen solchen Satz zu formulieren.) Die Verfügbarkeit hat wohlgemerkt nichts mit dem Sprecher als linguistischen Aktanten im Sinne Chomskys zu tun; ich komme gleich auf ihn zurück. Sprache ist sowohl digital als auch analog strukturiert (vgl. Goodman 2012 Stetter 2005): Einerseits gibt es scharfe Grenzen zwischen sprachlichen Einheiten, die sicherstellen, dass ein Wort von einem anderen unterschieden werden kann: Man kann Paar aussprechen, wie man will, doch ist es sinnvoll, es immerhin ein bisschen anders auszusprechen als Bar. Leuchtet das ein? Natürlich nicht (und das ist das Andererseits), weil es vermutlich keine Äußerung gibt, in der man Paar und Bar verwechseln könnte, und dasselbe gilt für gern und Kern, Teer und der usw. Selbstverständlich kann man sich eine Menge Beispielsätze ausdenken, in denen es doch zu Verwechslungen kommen kann, doch gehört es ebenfalls zur menschlichen Sprache, dass (in den oben umrissenen Situationen) üblicherweise keine Beispielsätze mit ihr formuliert werden, sondern dass sie zur Kommunikation verwendet wird; Kommunikation (nicht nur menschliche) ist per definitionem auf Verständigung angelegt. Zugleich gibt es aber tendenziell unendlich viele Abstufungen zwischen zwei Äußerungen. Dass es dabei auch zu Missverständnissen kommen kann, ist auch selbstverständlich. In Kap. 13 wird das in sehr grundsätzlicher Weise diskutiert. Sprache beruht zudem auf einer konventionellen Symbolizität: Kein Laut, kein Wort, kein Satz hat eine in irgendeiner Weise „natürliche“ Bedeutung, sondern alles Sprachliche bezieht all seine Bedeutung ausschließlich aus kommunikativer Vereinbarung; anders wäre die Verschiedenheit menschlicher Sprachen gar nicht zu verstehen. Grundsätzlich ist jeder Mensch in der Lage, jede menschliche Sprache als Muttersprache zu erwerben; nicht eine spezifische Sprache ist angeboren, sondern die Sprachfähigkeit. Welche Sprache ein Mensch als Muttersprache erwirbt, hängt allein von der Umgebung ab, in der er aufwächst, wobei unter „Umgebung“ konventionellerweise alles zu verstehen ist, was den Menschen umgibt. Eine der merkwürdigsten und zauberhaftesten Eigenschaften menschlicher Sprache ist jedoch ihre Reflexivität: Sprache ist der einzige Code überhaupt, der sich mit den ihm eigenen Mitteln selbst reflektieren lässt, abgesehen von künstlichen, d.h. konstruierten Sprachen (Logik), die im Folgenden aber außer acht bleiben, zumal sie erst mal normalsprachlich vermittelt werden müssen. Jede mensch- ; <?page no="41"?> 41 3.1 Sprachliche Universalien liche Äußerung lässt sich in Anführungszeichen setzen. Sie wird dadurch radikal ihrer Situation entbunden und kann auch als (rein sprachliche) Aussage diskutiert werden, die beispielsweise auf ihre Wahrheitswerte hin befragt wird. Dazu kommen die Polarität und die Modalität sprachlicher Äußerungen: Was gesagt wird, kann verneint, aber auch bekräftigt, angezweifelt oder in beliebiger Weise perspektiviert werden. Menschliche Sprache ist komplex in dem Sinne, dass sie aus verschiedenen, hierarchisch gestuften und in sich geschlossenen Strukturen besteht: Aus einer Kombination von Lauten ergeben sich Wörter, aus einer Kombination von Wörtern Sätze. Geschlossen (allerdings nur in strikt synchroner Betrachtung) ist allein die unterste, phonologische Ebene: Jede Einzelsprache (genauer: jeder Dia- und sonstiger -lekt) hat ein begrenztes Phoneminventar, alle menschlichen Sprachen zusammen ebenfalls, doch in allen Sprachen lassen sich aus den zur Verfügung stehenden Phonemen - je nach Bedarf - unzählig viele Wörter bilden und aus diesen Wörtern unzählig viele Sätze. Ob sie tatsächlich gebildet werden oder nicht, ist ganz gleichgültig; tatsächlich werden nur die allerwenigsten möglichen Sätze je gesprochen, da die Sprecher einer Sprache eben keine Chomskyschen Sprecher sind, die Sätze mit unendlich vielen Wörtern produzieren könnten. In menschlicher Sprache gibt es nicht-präsentische und nicht-indikativische Aussageformen: Menschen können nicht nur über aktuell anwesende Sachverhalte sprechen, sondern genauso selbstverständlich sowohl über vergangene und zukünftige als auch über sonstwie abwesende, konkret: In Hildrizhausen kann ich von meinem Parisurlaub von vor 5 Jahren schwärmen, und umgekehrt. Außerdem konnte ich in Paris davon schwärmen, dass ich in 5 Jahren zuhause in Hildrizhausen von meinem Parisurlaub schwärmen werde, und kann noch in 10 Jahren davon schwärmen, wie ich vor 15 Jahren davon schwärmte, in Paris gewesen zu sein, oder anders herum usw. Außerdem kann ich von einem Besuch in London schwärmen, ohne jemals dort gewesen zu sein. Mit menschlicher Sprache lassen sich Weltausschnitte nicht nur (in irgendeiner Weise) denotieren, sondern auch erzeugen: Menschliche Sprache hat nicht nur eine referentielle, sondern auch eine konstruktive Kraft, die auch das Lügen ermöglicht, und Lügen gehören ebenfalls ganz wesentlich zu menschlicher Sprache. Und in beiden Fällen muss sie sich nicht einmal auf die wörtliche Bedeutung ihrer Wörter verlassen: Die nicht-wörtliche Bedeutung von Äußerungen ist ebenfalls eine exklusive Eigenschaft menschlicher Sprache und ermöglicht beispielsweise Metaphern und Metonymien, aber auch indirekte Sprechakte. Entscheidend ist dabei nicht, ob diese Merkmale an der sprachlichen Oberfläche ausgeprägt, sondern ob sie kommunikativ wirksam sind: Nur Menschen können das eine sagen, aber etwas ganz anderes meinen. 1 Nur Menschen können sprachlich Welten entwerfen und z.B. von geflügelten Pferden, Gespenstern und Liebe sprechen. Die Themen und das heißt: die Grenzen dieses Sprechens sind niemals sprachlich, sondern immer und ausschließlich kulturell bedingt. Abschließend noch mal ein Blick in den biblischen Bericht von der Namensgebung im Paradies: Mit Sprache lässt sich Welt nicht nur abbilden und erzeugen, 1 Dieser Satz stimmt nicht ganz. Es scheint Affenarten zu geben, die, wenn auch in sehr beschränktem Umfang, etwas äußern, um etwas anderes zu meinen (Sommer 1994: 70ff.). <?page no="42"?> 42 3 Abgrenzungen und Horizonte sondern in ganz grundsätzlicher Weise wahrnehmen. Sprachliche Benennung gliedert Welt, und zwar durch verschiedene Sprachen in je unterschiedlicher Weise (Kap. 6). Dazu gehört erstaunlicherweise auch, dass jemand eine Sprache gar nicht perfekt beherrschen muss, um ihre Funktionsweise zu verstehen, und man kann sprachliche Äußerungen verstehen, die man nie zuvor verstanden hat, selbst dann, wenn darin Wörter vorkommen, die man nicht kennt. Alle genannten Eigenschaften sind Eigenschaften menschlicher Sprache; KL hat sie daher als gegeben anzunehmen. Sie kann durchaus danach fragen, wie jeweils in der Besonderheit der Sprachen diese universalen Eigenschaften realisiert sind. Wie werden z.B. nicht-präsentische Zeitformen sprachlich abgebildet? (Diese Frage setzt voraus, dass präsentische Zeitformen primär sind, was sie aber höchstwahrscheinlich auch sind.) Dass es im Deutschen keine indigene Futurform gibt, wurde schon erwähnt. Im Vietnamesischen z.B. gibt es überhaupt keine Tempusformen; die Kategorie ist nicht vorhanden. Wie spricht man also über Vergangenheit oder Zukunft? Eine Erzählung, deren Handlung in der Vergangenheit spielt, beginnt mit Co, womit der gesamte folgende Text (in der einzig existierenden Verbform erzählt) in die Vergangenheit gesetzt ist - höchst bequem für den Sprecher, etwas aufwändiger für den Hörer (Kap. 13.4). 3.2 Sprachtypologie Ob 2 es wirklich 7102 Sprachen auf der Welt gibt, weiß kein Mensch, was im Wesentlichen zwei Gründe hat, die jedoch über eine gemeinsame Schnittmenge verfügen. Niemand, auch keine noch so sorgfältig koordinierte Forschergruppe, kann zeitgleich feststellen und veröffentlichen, wo welche Sprachen gesprochen werden, und zugleich entscheiden, wo die Grenze zwischen Sprachen und Dialekten zu ziehen ist. Ein Beispiel dazu: Die skandinavischen Sprachen Dänisch, Norwegisch und Schwedisch ähneln sich so sehr, dass Dänen, Norweger und Schweden keine allzu großen Probleme haben, sich miteinander zu verständigen; mit einer kleinen Einschränkung: je nachdem, welchen Dialekt sie sprechen. Um drei Sprachen handelt es sich eigentlich nur, weil es einen dänischen, einen norwegischen und einen schwedischen Staat gibt; Staatlichkeit ist jedoch allenfalls eine sekundäre linguistische Kategorie. Solche sekundären Kategorien sind aber keineswegs zu vernachlässigen: Es sind staatliche Instanzen, die etwa durch orthographische Vorschriften und Schulgrammatiken einem bestimmten Sprachgebrauch ein hohes Maß an Normativität verleihen, und Schrift entfaltet zusätzlich eine sehr große und in höchstem Maß konservative Kraft. Wer eine Fremdsprache lernt, lernt eine so zustande gekommene Standardvariation (die von kaum einem Muttersprachler wirklich verwendet wird). Man kann Sprachen jedoch auch unter ganz anderen, ihnen inhärenten Merkmalen beschreiben. Ich stelle wieder nur ein Beispiel vor: Sequenzialität ist ebenfalls eine sprachliche Universalie, die aus ihrer spezifischen Form der Vergänglichkeit resultiert. Sprachen lassen sich danach klassifizieren, in welcher Reihenfolge Wörter, Wortarten, Satzglieder in einem Satz hintereinander geordnet sind. Um 2 Vgl. zum Folgenden auch Hellinger 1977 und die dort genannte Literatur. <?page no="43"?> 43 3.2 Sprachtypologie viele Diskussionen, die hier nicht von Interesse sind, zu überspringen, und allerhand vorauszusetzen, was hier ebenfalls nicht dargelegt werden muss: In einem (mehr oder weniger normalen, transitiven) Satz wird ausgesagt, dass jemand (jemandem) etwas tut. Es gibt ein Subjekt, ein Verb und ein Objekt: eine Subjektstelle, eine Verbstelle und eine Objektstelle (und eventuell auch andere Objektstellen), das Ganze abgekürzt: SVO. wals.info listet insgesamt 1377 Sprachen auf und gibt dazu folgende Werte an; ich vermerke auch die entsprechenden Prozentangaben (wals.info; „kdR“ ist meine Abkürzung und heißt: ‚keine dominante Reihenfolge‘): SOV 565 41,03 % SVO 488 35,44 % VSO 95 6,90 % VOS 25 1,82 % OVS 11 0,80 % OSV 4 0,29 % kdR 189 13,73 % Tab. 4: Satzgliedstellungen in 1377 Sprachen Die folgenden ganz einfachen Beispiele zeigen, zu welchen Sprachen D-E-F-G gehören: 3D) Der Mann liebt die Frau. Die Frau liebt der Mann. 3E) The man loves the woman. The woman loves the man. 3F) L’homme aime la femme. La femme aime l’homme. 3G) Ο άντρας αγαπάει τη γυναίκα. Τη γυναίκα αγαπάει ο άντρας. (o ándras agapái ti jinéka. ti jinéka agapái o ándras.) D und G sind kdR-Sprachen, über die Wortstellung im Satz lassen sich stilistische Varianten realisieren, was besonders bei längeren Sätzen von Bedeutung ist. In D gibt es aufgrund seiner inneren Sprachstruktur einige zusätzliche Besonderheiten. Die Normalstellung im Hauptsatz ist SVO, im Nebensatz jedoch SOV; oder doch nicht? Zumindest nach weil setzt sich seit Jahren im Mündlichen SVO durch, nur im Fremdsprachenunterricht ist das nach wie vor unerlaubt. Eine andere Eigenart zwingt dazu, weiter zu spezifizieren. Tatsächlich sieht die Hauptsatzfolge nämlich so aus: SV f O(V i ), wobei es sich bei V f um finite Verbformen handelt, bei V i um infinite. 4D) Der Mann liebte die Frau. Die Frau liebte der Mann. 4D‘) Der Mann hat die Frau geliebt. Die Frau hat der Mann geliebt. Wie deutlich zu sehen, ist der Unterschied in D rein syntaktisch, inhaltlich ändert sich gar nichts, ob man eine (eingliedrige) Präteritumform verwendet oder eine (zweigliedrige) Perfektform. In E-F-G gibt es zwar ebenfalls zweigliedrige Verbformen, doch werden sie nicht getrennt, weil sie nicht getrennt werden können. E und F haben eine (fast) strikte SVO-Folge; die Umstellung von Subjekt und Objekt führt zu einer anderen Satzbedeutung, da Subjekt- und Objektrolle nicht morphologisch, sondern ausschießlich syntaktisch markiert sind; es sei denn (in F), das Objekt ist pronominal realisiert, wie unten in 5). Die SVO-Folge hat, wie man sieht, nichts mit sprachlicher Verwandtschaft zu tun: Unter den ide. Sprachen sind alle vier am häufigsten auftretenden Reihenfol- <?page no="44"?> 44 3 Abgrenzungen und Horizonte gen vertreten: SOV, SVO, VSO, kdR. Auch unter den germanischen Sprachen gibt es unterschiedliche Typen. Die Typologie hat auch nichts mit geographischer Nachbarschaft zu tun. Außerdem überschneidet sich die Reihenfolge mit der in einigen Sprachen vorhandenen Möglichkeit bzw. Notwendigkeit, die Subjektposition unbesetzt zu lassen, da sie hinreichend am Verbende markiert ist. Tendenziell sind in solchen Pro- Drop-Sprachen reine V-Sätze möglich. 5D) Ich liebe dich. Es regnet. 5E) I love you. It’s raining. 5F) Je t’aime. Il pleut. 5G) Σ’αγαπώ. (s’agapó.) Βρέχει. (vréchi.) Unter diesen Sprachen ist allein G eine Pro-Drop-Sprache. Allerdings gilt diese Charakterisierung nur für das (schriftliche) System, solange es nicht teuer wird; vgl. das Telegramm in Kap. 2.2: Telegramme kosten pro Wort. Und während in G das Subjekt am Verbende markiert ist, wird es im mündlichen D am Verbanfang markiert (während gleichzeitig, wo es phonologisch und morphologisch möglich ist, das Verbende gekürzt wird): Chlieb dich. - Sregnet. (Vgl. Kap. 9.1) In Kap. 12 wird im Zusammenhang mit Grammatikalisierungsstrategien zu fragen und zu zeigen sein, in welcher Weise Wörter strukturell (und systematisch) verändert wurden und werden, um Relationen zu markieren. Eine andere typologische Klassifizierung lässt sich mit den Begriffen „synthetisch“ und „analytisch“ benennen; differenziertere Unterscheidungen müssen hier nicht bedacht werden (Haspelmath u.a. 2001). Sie basiert auf der Beobachtung, dass manche Sprachen morphologisch dichter sind als andere, gehen also davon aus, dass der Kern einer Sprache ihre Morphologie sei: Was synthetische Sprachen in einem Wort sagen können, dazu brauchen analytische Sprachen mehrere Wörter; üblicherweise trennen sie zwischen Inhaltswörtern einerseits und den Benennungen semantischer Relationen zwischen den Bedeutungen der Inhaltswörter andererseits - das hört sich kompliziert an, ist aber doch ganz einfach. In 6) sind folgende Inhaltskomponenten ausgesagt: WER - WANN - WOHIN - WAS. Ich ordne die Komponenten den Satzgliedern in den einzelnen Sprachen zu, da auf diese Weise verständlicher wird, was gemeint ist. 6D) Ich [WER] bin [ WANN] nach Rom [WOHIN] gekommen [WAS] . 6E) I [WER] have [ WANN] come [WAS] to Rome [WOHIN] . 6F) Je [WER] suis [ WANN] venu [WAS] à Rome [WOHIN] . 6G) Ήρθα [WAS-WANN-WER] στη Ρώμη [WOHIN] . (Írtha sti Rómi.) 6L) Veni [WAS-WANN-WER] Romam [WOHIN] . Für dieselbe Äußerung braucht man je nach Sprache 5, 3 oder 2 Wörter 3 , und die Pfeilchen in D-E-F besagen, dass sich erst im weiteren Verlauf der Sätze die eigentliche Bedeutung von bin - have - suis ergibt; in G-L gibt es diese Verzögerung nicht. Humboldt hat den Unterschied zwischen synthetischem und analytischem Sprachbau eindeutig gewertet: Synthetisch ist gut, analytisch ist schlecht, weil der 3 Dass sich die 5 Wörter in D bei Verwendung einer anderen Vergangenheitsform auf 4 reduzieren lassen („Ich kam nach Rom.“), muss hier nicht reflektiert werden. <?page no="45"?> 45 3.3 Historisch-vergleichende Sprachwissenschaft menschliche Geist - warum auch immer - sich in synthetischen Sprachen sehr viel besser selbst aussagen könne. Um Englisch und Chinesisch, beides Paradebeispiele für analytische Sprachen, musste Humboldt daher zwangsläufig einen großen Bogen machen. 4 3.3 Historisch-vergleichende Sprachwissenschaft Während Sprachtypologie in synchronem Zugriff sprachliche Systeme zum Gegenstand hat, um sie auf sehr hohem Abstraktionsniveau zu klassifizieren, war alle sonstige Sprachwissenschaft des 19. Jhs. ausschließlich historisch orientiert und daher auch nur historisch-vergleichend. Aus der gleichzeitigen Geschichtswissenschaft glaubte man lernen zu müssen und gelernt zu haben, dass es in Gesellschaften nicht anders zugeht als in der Natur: Sie entstehen, wachsen und gedeihen und dann vertrocknen oder verfaulen sie wieder. Das leuchtete umso mehr ein, als man dieses Geschichtsmodell ja schon aus der Bibel kannte: Irgendwann ist alles zu Ende, weil Gott es so gefällt. Die scheinbar selbstverständliche Folgerung: Je mehr man sich mit der Vergangenheit beschäftigt, desto mehr erfährt man über die Gegenwart und die Zukunft. Zudem hatte man sich schon (spätestens) seit den 60er Jahren des 18. Jhs., angelegt u.a. in Winckelmanns „Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst“ von 1755, daran gewöhnt, alles Positive ausschließlich in der Vergangenheit finden zu müssen. Die Klassiker entdeckten die Antike, die Romantiker das Mittelalter, und alle zusammen kamen aus ihrer Begeisterung für das jeweils gewählte Gestern oder Vorgestern gar nicht mehr heraus. Einig waren sie sich darin, dass alles Alte zweifellos besser war als alles Moderne. Modernes wurde nämlich gerade erst hervorgebracht und war zudem ein französisches Wort, hing irgendwie mit Mode zusammen, und dazu hatte Schiller in seiner „Ode an die Freude“ von 1785 Endgültiges (und selbstverständlich Negatives) geschrieben („was der Mode Schwerd getheilt“), was Beethoven dann in seiner „Neunten“, nach Schillers überarbeiteter Version, auch etwas harmloser schmettern ließ: „was die Mode streng geteilt“. Und den Weimarer Klassikern folgten, weit über ihren Tod hinaus und dann gesellschaftlich legitimiert durch Humboldts humanistisches Gymnasium, zahlreiche maßgebliche Intellektuelle und dann auch alle und größtenteils weniger begabte Schulbuchautoren und Lehrer, während das gemeine Volk, dem Luther einmal aufs Maul geschaut hatte, allerdings kaum etwas von ihnen wissen wollte. Auch Sprachwissenschaft hatte nicht das Geringste mit der Sprache zu tun, die alltäglich gesprochen wurde, sondern war eine ausschließlich historische Wissenschaft. Die Leitfrage lautete weder: Wie funktioniert Sprache? noch: Wie lässt sich eine heute gesprochene Sprache beschreiben? , sondern: Wie ist eine Sprache zu dem geworden, was 4 Nur zwei Sätze aus der Akademierede vom 17. Januar 1822 „Ueber das Entstehen der grammatischen Formen, und ihren Einfluss auf die Ideenentwicklung“: „Dass nur die grammatisch gebildeten Sprachen vollkommne Angemessenheit zur Ideenentwicklung besitzen, ist unläugbar.“ (Humboldt 1979: 60) „Dass Sprachen mit keinen, oder sehr unvollkommnen grammatischen Formen störend auf die intellectuelle Thätigkeit einwirken, statt sie zu begünstigen, fliesst, wie ich gezeigt zu haben glaube, aus der Natur des Denkens und der Rede.“ (62) <?page no="46"?> 46 3 Abgrenzungen und Horizonte sie - vor allem schriftlich und normativ festgelegt - heute ist? Schriftliches nahm überhaupt den größten Raum ein, denn erstens hatte man nichts anderes, zweitens aber hatte Schriftliches bekanntlich Geld gekostet, weshalb selbstverständlich nur „Wertvolles“ überliefert worden war. Das Stilideal, und damit auch das Sprachideal, war schriftlich: Man (= wer gesellschaftlich etwas auf sich hielt) hatte so zu sprechen, wie man (= Goethe, Schiller, ...) geschrieben hatte. Das wurde bis ins 20. Jh. auch in den Schulen so unterrichtet. Tatsächlich hatte dieser pädagogische Impetus der Auseinandersetzung mit Sprache nicht nur in Deutschland schon eine lange und weit über die Klassiker zurückreichende Tradition. Der mit der rasanten Ausbreitung des Buchdrucks einhergehende Schriftlichkeitsschub, der immer mehr, weil volkssprachige und erschwingliche, Texte unters Volk brachte, und die damit verbundene quantitative Steigerung des Lesevermögens, brachte auch in Deutschland seit ca. 1600 (mehr oder weniger) eigene Stilideale hervor, die sich, etwa in Opitz’ „Buch von der Deutschen Poeterey“ (1624), bewusst von anderssprachigen = andersnationalen Regelwerken und antiker Literatur absetzten. Die ganze deutsche, ähnlich wie die gesamte europäische Literatur vom Barock bis zum Sturm und Drang, der allerdings nur eine kleine Unterbrechung bildete, bevor es zur Klassik weiterging, lebte stilistisch und sprachlich von ihrem Gegensatz zur Alltagssprache, was aber selbstverständlich nichts Neues war: Literatur war schon in der Antike dadurch gerechtfertigt (vgl. oben zu Dionysius Thrax), dass sie mit Alltagssprache nichts zu tun hatte; wenn der Athener Komödiendichter Aristophanes (ca. 450-380 vor Chr.) sie auf die Bühne brachte, konnte er sich der Lacher seines Publikums sicher sein. Es ging aber gar nicht nur um Literatur, sondern auch um Wissenschaft und Verwaltung. Gottsched brachte 1729 seinen ausführlichen und selbstverständlich normativen „Versuch einer critischen Dichtkunst“ heraus, 1736 folgte eine „Ausführliche Redekunst“ und erst 1748 eine Grammatik, in deren Titel er auf die „Kunst“ (ars - τέχν - s.o.) aber auch nicht verzichten konnte: „Grundlegung der deutschen Sprachkunst“. Erst im letzten Viertel des 18. Jhs. erwachte auch ein Interesse sowohl an der Sprache, die man aus dem Alltag kannte (die aber selbstverständlich verbessert werden musste), als auch an dem Zusammenhang der Sprachen untereinander: 1774-1786 erschien Adelungs „Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart“ in 5 Bänden; 1786 veröffentlichte der englische Jurist William Jones seine Vermutungen, dass es eine große Sprachfamilie zwischen Indien und Westeuropa gäbe, zwischen Sanskrit und dem Keltischen; seit 1819 erschien Jacob Grimms „Deutsche Grammatik“, die eigentlich eine germanische Grammatik ist, weil sie D mit allen anderen germanischen Sprachen kontrastierte. Darin gab es tatsächlich schon allerhand Hinweise, die in einer weniger rückwärtsgewandten Atmosphäre als Anregung für etwas Neues hätten verstanden werden können. In der Vorrede zur Neuauflage des ersten Teils von 1840 unterscheidet Grimm „zwei arten des sprachstudiums“: Die eine beschäftigt sich mit dem „zweck“ der Sprache, und da ist sie „ein bloßes mittel“. „Dabei bedingen sich inhalt und form wechselseitig, und indem das verständnis der rede und poesie wächst, wird auch lohnende ausbeute für die grammatik davon getragen.“ Der Ausgangspunkt dieser Art ist bei Dionysius Thrax zu suchen. η <?page no="47"?> 47 3.4 Sprache und Sprechen Minder um lebendige äußerung und gesammteindruck zu thun ist es der andern behandlungsart, die wir dafür in das innere dringen und sich die sprache zum unmittelbaren zweck machen sehn. [...] Man könnte diese sprachforschung im gegensatz zu jener behaglich anschauenden die zergliedernde nennen, weil nicht sowol der natürlich freien bewegung aller gelenke oder dem leisen athemzug der sprache gelauscht, als vielmehr in ihren leib eingeschnitten wird, dessen knochen und sehnen zu ernsterer besichtigung einladen. Wie nun die fortschritte der anatomie überhaupt von vergleichung abhängen, ist auch hier eine vergleichende sprachkunde entsprungen, welche sich ihre regeln aus dem nebeneinander halten des geschichtlich abgestuften, so wie des zwar verschiednen, jedoch verwandten und sich berührenden bildet. (Grimm 1840: XII-XIII) Grimms zweite Art hätte die Grundlegung der modernen, synchronen bis zur formalen Linguistik ebenso wie der KL sein können - man hätte Grimm nur zu Ende denken müssen. „bewegung“ und „athemzug“ sind die Anwendung (in der Literatur), die „anatomie“ schneidet und untersucht einen aktuellen, synchronen Zustand, sie will wissen, wie das Ganze (vor der Bewegung) funktioniert, aber: Die Zeiten waren halt nicht danach. Stattdessen „stellte“ Hermann Paul, nach Grimm einer der einflussreichsten Germanisten des 19. Jhs., noch 1880 und auch noch in der letzten von ihm selbst herausgegebenen 5. Auflage seiner „Prinzipien der Sprachgeschichte“ (1920) „in Abrede“, „dass es noch eine andere wissenschaftliche Betrachtung der Sprache gäbe, als die geschichtliche“ (Paul 1975: 20). Der historische Ansatz hatte zur positiven Folge, dass hervorragende, noch heute (in Überarbeitungen) maßgebliche Grammatiken des Gotischen, Althochdeutschen, Mittelhochdeutschen usw. erarbeitet wurden, wie auch die meisten wichtigen Texte der mittelalterlichen Literatur verlässlich herausgegeben wurden. Die weniger sinnvolle Konsequenz war die vorläufige Festlegung der Sprachwissenschaft auf historische Sprachstufen und - immer noch - schriftliche Texte, mithin auf alte Schriftlichkeit, die mit moderner mündlicher Sprache gar nichts zu tun hatte. Es bedurfte einiger weiterer und sehr energischer Anläufe, bis die Sprachwissenschaft, die dann irgendwann auch in Deutschland „Linguistik“ hieß, dort angekommen war, wo Paul sie schon am Ende seiner Einleitung, irgendwie prophetisch, aber irgendwie auch als Horrorvision gezeichnet hatte, da er es nicht lassen konnte, sie doch in die historische Dimension zurückzubinden: Das einzige, was nun etwa noch von nichtgeschichtlicher Betrachtung übrig bliebe, wären allgemeine Reflexionen über die individuelle Anwendung der Sprache, über das Verhalten des Einzelnen zum allgemeinen Sprachusus, wozu dann auch die Erlernung der Sprache gehört. Dass aber gerade diese Reflexionen aufs engste mit der Betrachtung der geschichtlichen Entwickelung zu verbinden sind, wird sich im folgenden zeigen. (Paul 1975: 21-22) 3.4 Sprache und Sprechen In seinen Genfer Vorlesungen schränkt Ferdinand de Saussure den Gegenstand der Linguistik von drei Seiten her ein: 1) Gegenüber Paul wirft er jede historische Dimension als Ballast ab: Linguistik hat ausschließlich synchron zu sein. <?page no="48"?> 48 3 Abgrenzungen und Horizonte 2) Ebenso wenig wie Paul interessiert ihn aber „die individuelle Anwendung der Sprache“: Linguistik beschäftigt sich nicht mit den „paroles“, dem je aktuellen Sprechen in seinen unzähligen Varianten und Variationen, sondern ausschließlich mit dem Sprachsystem, der „langue“. 3) Während Paul es zwangsläufig mit schriftlicher Sprache zu tun hatte (Thomas Alva Edisons erstes Tonaufnahmegerät, der Phonograph, stammt von 1877, das leistungsfähigere Grammophon erst von 1887), verbannt de Saussure schriftliche Sprache aus den schon erwähnten Gründen kategorisch aus der Linguistik. Sie darf es nur mit gesprochener Sprache zu tun haben, aber eben nur insofern sie einem rein sprachlichen System, einer Grammatik, folgt und nicht irgendwelchen immer nur sekundären textuellen oder gleichfalls sekundären kulturellen Regeln. Als de Saussure 1914 starb, war das Ganze nur ein - bezeichnenderweise mündlicher - Versuch. Zu weltweiter Wirkung verhalf ihm erst die schriftliche Zusammenfassung (und Interpretation) der Vorlesungen durch zwei seiner Schüler, die 1916 auf Französisch, in deutscher Übersetzung 1931, auf Englisch gar erst 1971 erschien. Die Wirkungsgeschichte muss hier nicht nachgezeichnet werden, zumal (auch) diese Linguistik eine kontrastive Perspektive zwar hätte eröffnen können, denn es wäre ja immerhin interessant gewesen, verschiedene Sprachsysteme miteinander zu vergleichen, wenn es nun schon eine theoretische Grundlage gab, doch tat es niemand. Erst recht gilt die strikte Abgeschlossenheit des (sprachlichen) Systems nach außen für Chomskys generativen Ansatz; in den „Reflexionen über die Sprache“ steht: Die Theorie der Kommunikationsintention ist, so scheint es, ein blinder Verbündeter. Wir müssen unterscheiden zwischen der wörtlichen Bedeutung des von S geäußerten sprachlichen Ausdrucks und dem, was S mit dem Äußern dieses Ausdrucks (bzw. mit seinem Sagen, daß so-und-so, egal, welchen Ausdruck er verwendete) meinte. Nur der erste Begriff ist in der Sprachtheorie zu erklären. Der zweite hat mit Sprache nichts Besonderes zu tun; ich kann genauso gut fragen, was S mit seinem Türenzuschlagen meinte. (Chomsky 1977: 95) Chomskys eigener kompetenter Sprecher schlägt keine Türen zu und ist auch sonst ganz und gar kein normaler Mensch, sondern zeichnet sich als „idealer Sprecher / Hörer“ dadurch aus, dass er in einer völlig homogenen Sprachgemeinschaft lebt, seine Sprache ausgezeichnet kennt und bei der Anwendung seiner Sprachkenntnis in der aktuellen Rede von solchen grammatisch irrelevanten Bedingungen wie - begrenztes Gedächtnis - Zerstreutheit und Verwirrung - Verschiebung in der Aufmerksamkeit und im Interesse - Fehler (zufällige oder typische) nicht affiziert wird. (Chomsky 1970: 13) Auch die Entwicklung der generativen Grammatik muss hier nicht referiert werden; sehr wohl aber lohnt sich (noch einmal aus anderer Perspektive) eine Reflexion des Zusammenhangs zwischen Sprache und Sprechen, nicht nur, weil sich etwa im sehr praktisch erlebbaren und konkret erlebten Kontext des Erlernens ei- <?page no="49"?> 49 3.4 Sprache und Sprechen ner Fremdsprache die Frage stellt, was man eigentlich lernt: Sprache oder Sprechen, sondern vor allem, weil KL sich mit beidem beschäftigt: sowohl mit dem System als auch der Sprachverwendung. John Searle, gegen den Chomskys Beispiel des Türen zuschlagenden S vermutlich gerichtet ist, hat, um zu klären, was Sprechakte seien, zwei Arten von Regelsystemen unterschieden: „Regulative Regeln regeln eine bereits existierende Tätigkeit, eine Tätigkeit, deren Vorhandensein von den Regeln logisch unabhängig ist. Konstitutive Regeln konstituieren (und regeln damit) eine Tätigkeit, deren Vorhandensein von den Regeln logisch abhängig ist.“ (Searle 1986: 54-55) Im ersten Fall geht es also darum, gesellschaftlich relevante Verhaltensweisen zu kanalisieren; dazu gehören z.B. Tischmanieren und Höflichkeitsrituale und sinnvollerweise auch die Straßenverkehrsordnung: Essen können wir auch ohne Manieren, weil wir ja satt werden wollen, Begegnungen finden auch ohne jeden Anflug von Höflichkeit statt, Auto fahren könnte man ohne die StVO, wenn auch wahrscheinlich nicht allzu lange. Passende Beispiele für die zweite Art Regeln sind Schach, Fußball und eben alles, was es ohne die Regeln überhaupt nicht gäbe. Die konstitutiven Regeln sind es auch, die Sprechakte erschaffen, wie Versprechen, Ernennungen, Befehle. Searle geht von der Hypothese aus, „daß eine Sprache zu sprechen bedeutet, in Übereinstimmung mit Regeln Akte zu vollziehen“ (Searle 1986: 59). 3.4.1 Erstspracherwerb Auch in unserem Zusammenhang stellt sich nun die Frage, was für Regeln es eigentlich sind, die Kinder lernen, wenn sie sprechen lernen. Sind sie regulativ? Dafür spricht, dass Sprechen, nicht nur aus der Perspektive des Kindes, nur eine, wenn auch überaus praktische und äußerst energiesparende, Form der Kommunikation ist. Oder sind sie konstitutiv, da es Sprache ohne grammatische Regeln nun mal nicht geben kann? Je nachdem, ob Sprache als Bestandteil der Kommunikation kategorisiert oder als eigenes Regelsystem betrachtet wird. Dass diese Alternative nicht ganz zutreffend ist, lernt man von Kindern. „Erstspracherwerb“ ist eine arg verkürzte Ausdrucksweise für viel umfassendere Erwerbsvorgänge: Ich muss mich hier jedoch exemplarisch auf zwei Bereiche beschränken: Lexik und Morphologie, und auch dabei kann selbstverständlich nur ganz Weniges herausgegriffen werden. Schon lange vor dem ersten Mama oder Papa besitzt ein Kind die Fähigkeit zu kommunizieren, die auch zur Fähigkeit wird, Welt zu verstehen. Mit der Möglichkeit, Laute zu äußern, ist zunächst in sehr allgemeinem Sinn die Außenseite des Kindes in die umgebende Welt erweitert, wenn das Kind selbst auch weder über die Grenzen(losigkeit) dieser Welt noch über deren Andersartigkeit schon Bescheid weiß oder auch nur weiß, dass man über so etwas überhaupt Bescheid wissen kann. Selbstverständlich hat es von all diesen Zusammenhängen keine Ahnung. Mit den Wörtern, die das Kind lernt, lernt es auch, Welt zu benennen, stark vereinfacht: Papa meint den Vater (und zunächst vielleicht auch noch ein paar andere Männer), Mama meint die Mutter (und ... Frauen), Dada meint den Rest der Welt, der notfalls mit Händen und Blicken deiktisch spezifiziert werden kann. Jedes weitere Wort engt den Bedeutungsumfang von Dada ein und ordnet Welt nach den Regeln der Muttersprache, was normalerweise die Sprache der Umgebung des <?page no="50"?> 50 3 Abgrenzungen und Horizonte Kindes ist. Wie das konkret abläuft, kann hier nicht beantwortet werden; beim Zweitspracherwerb funktioniert das jedenfalls etwas anders: Die Umwelt ist (mental) schon geordnet und was lexikalisch gelernt werden muss, sind vor allem Entsprechungen; dass das aufwendig genug ist, weiß man und wird auch z.B. Kap. 6 bedenken. In Sätzen (vieler Sprachen) muss die Form von (Inhalts-)Wörtern ihrer syntaktischen Funktion angepasst werden. Dabei sollten die Regeln der jeweiligen Grammatik befolgt werden, die regulative Regeln sind; sie sind in allen Sprachen mehr oder weniger unterschiedlich. Wie ist das aber für Kinder, die nicht wissen, dass es so etwas wie eine Grammatik mit all ihren Dimensionen gibt? Zunächst lernen sie keine Wörter im Sinne eines geschriebenen Wörterbuchs, sondern einzelne Wortformen. Jede dieser Wortformen bildet einen Eintrag im mentalen Lexikon. Dieses Lexikon beansprucht mit der steigenden Anzahl an Wörtern immer mehr Platz im Kopf, Platz, der aber dringend für anderes Wissen benötigt wird. Bekanntlich ist Leben nur möglich, wenn es sich Energie besorgt und mit ihr möglichst sparsam umgeht. Beides ist besonders wichtig für ein Kind (und überhaupt für heranwachsende Lebewesen), das in höchstmöglicher Geschwindigkeit lernen muss, sich in seiner Umwelt zurechtzufinden. Dabei lohnt es sich, zu ordnen und aufzuräumen. Der Erwerb der Präteritumformen der deutschen Verben zeigt das sehr deutlich. gehe - ging, singe - sang, esse - aß: Das sind sechs Einträge. Sobald die Regel der Präteritumbildung der schwachen Verben aber einmal erkannt ist (mache - machte, wehe - wehte, frage - fragte), kann die Anzahl der Einträge radikal reduziert werden; aus allen zwölf (und es kommen ja noch jede Menge dazu) werden sechs plus eins: die sechs lexischen plus der eine Eintrag für die (regelmäßige) Präteritumbildung. Als Ergebnis hört man aus Kindermund, neben den korrekten Formen der schwachen Verben: gehte, singte, esste. Und Eltern und sonstige Erzieher können korrigieren, soviel sie wollen: Jedes Kind beharrt auf den Formen, die nach den von ihm entdeckten Regeln korrekt sind (die Selbstentdeckung ist entscheidend! ), egal, wie oft es verbessert wird, bis es wiederum gelernt hat, dass Regeln auch Ausnahmen haben können und es sinnvoll ist, auch diese zu lernen. Dabei weiß es weder etwas von konstitutiven noch von regulativen Regeln, sondern folgt einem ganz banalen Interesse: „Wie komme ich am schnellsten, d.h. mit möglichst wenig eigenem Energieverbrauch an den rosafarbenen Lutscher da oben im Regal? “ Dieses Interesse ergibt sich aus dem Grundtrieb (oder der Grundmotivation) des Lebens, nämlich am Leben zu bleiben, reguliert vom innersten Kern des Gehirns, dem Hypothalamus, gerade ein paar Kubikmillimeter groß (Thompson 2012: 197ff.; Bear/ Connors/ Paradiso 2009: 205ff.). Ein menschliches Gehirn braucht für seine Arbeit ca. 30 Watt. Das ist, verglichen mit seiner Leistungsfähigkeit, nicht sehr viel, aber auch diese Energie muss irgendwoher kommen, und in Zeiten ohne regelmäßiges Einkommen und ohne Supermärkte war sie nur in einer Umwelt zu finden, in der alle anderen (Menschen ebenso wie Tiere) vor derselben Herausforderung standen und die deshalb notwendigerweise sehr feindlich war. Die beiden effektivsten Möglichkeiten der Energieersparnis im Spracherwerb und in der Sprachverwendung bestehen darin, das (mentale) Lexikon von allen unnötigen Einträgen zu befreien und Redundanzen zu vermeiden, sowie alles daran zu setzen, auf Anhieb verstanden zu werden. <?page no="51"?> 51 3.4 Sprache und Sprechen Deshalb ist es sinnvoll, irgendwann die Regeln zu übernehmen, an die sich fast alle anderen Sprachverwender in der Umgebung auch halten. Diese Regeln nenne ich Gelingensregeln. Wer sie (ab einem bestimmten Alter) nicht befolgt, muss damit rechnen, ständig unterbrochen zu werden, er wird seine Äußerungsabsicht nicht ohne Mehraufwand realisieren können. Das ist aber das Schlimmste, was einem (nicht nur unter biologischer Perspektive) auf Dauer geschehen kann. Deshalb muss auch alles darangesetzt werden, jeden Wechsel von Objektzu Metasprache zu vermeiden, es sei selbstverständlich, man ist Linguist. Jedes Sprechen über die Sprache („Das heißt nicht ‚gehte‘, sondern ‚ging‘! “ = Metasprache) bremst die Kommunikation (= Objektsprache); ein Kind, das gerade erst lernt, über Welt zu sprechen, weiß nichts mit Sprechen über Sprache anzufangen. Sprechen lernen bedeutet nichts anderes, als zu lernen, seine eigenen Absichten unter energetischem Aspekt so günstig wie möglich zu realisieren, und das heißt: sich selbst gegen alle anderen Mitbewerber zu behaupten. Das bedeutet nicht, in jeder neuen kommunikativen Situation abwägen zu müssen, was am ökonomischsten ist, sondern in jeder kommunikativen Situation verschiedene Register zur Verfügung zu haben und ein „Regelwerk“, nach dem jeweils genau das Register gezogen wird, das die eigene Absicht am ehesten gelingen lässt. (Nicht nur) für Kinder ist dabei eines der wichtigsten Register, auf Sprache ganz zu verzichten, und stattdessen zu lächeln, den anderen zu streicheln, in den Arm zu nehmen, oder auch zu weinen. Wie der Spracherwerbsprozess konkret funktioniert, ist von einer zur anderen Gesellschaft unterschiedlich und hängt ganz entscheidend davon ab, ob es eine Schulpflicht gibt oder nicht: In „vor-schulischen“ Gesellschaften werden Kinder nicht darauf getrimmt, ab einem gewissen Alter „richtig“ zu sprechen. Am Ende des Erwerbsprozesses (wann immer das ist) steht jedenfalls der „native speaker“, der allerdings nicht zu verwechseln ist mit einem Sprecher auf C2-Niveau des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen. Was dort „muttersprachliche Verwendung“ genannt wird, hat mit muttersprachlicher Verwendung sehr wenig zu tun, denn der Referenzrahmen verlangt Kompetenzen in allen vier sprachlichen Fertigkeiten, der muttersprachliche „Muttersprachler“ muss aber weder Texterörterungen schreiben (es sei denn fürs Abitur) noch wissenschaftliche Aufsätze verstehen können, sondern er versteht es zu allererst, seine kommunikativen und das sind im obigen Sinne auch biologischen Bedürfnisse zu befriedigen und dafür entsprechende Strategien zu entwickeln, ob sie nun sprachlich sind oder nicht. Damit ist erneut der Unterschied markiert zwischen Sprache und Sprechen. Was das Kind erwirbt, ist nach Abb. 5 Kommunikation und Hildrizhausisch (mit den erwähnten Einschränkungen), oder Kommunikation und Birminghamisch, Kommunikation und Quimperisch, Kommunikation und Thessalonikisch - Standardsprache kommt erst in der Schule dran (seit es die beiden - den Standard und die Schule - überhaupt gibt). <?page no="52"?> 52 3 Abgrenzungen und Horizonte 3.5 Varietätenlinguistik Ebenso wie die KL ist auch die Varietätenlinguistik (erstaunlicherweise) relativ jung. Ihre Themen sind, wie der Name sagt, sprachliche Varietäten, aber in jeder Hinsicht: Bei diatopischen Varietäten handelt es sich um Dialekte, bei diastratischen um Soziolekte, bei diaphasischen um Sprachstile und -register, während diamesische Varietäten aufgrund ihrer medialen Repräsentation unterschieden werden: mündlich oder schriftlich. Die Varietätenlinguistik hat an so unterschiedlichen linguistischen Teilwissenschaften wie Dialektologie, Soziolinguistik, Stilistik, Kommunikationsstrategie teil, aber eben auch an KL, wenn sie sich z.B. mit Kiezdeutsch beschäftigt. Sie reagiert auf die Tatsache, dass jede sprachliche Äußerung in vielfacher Hinsicht kommunikativ eingebunden ist, was trivialerweise bedeutet: Ein historisch gewordenes Individuum spricht zu einem historisch gewordenen Individuum (oder zu mehreren), um irgendetwas zu erreichen. Indem alle Verallgemeinerungen dieser Formulierung konkretisiert und reflektiert werden, sind die Erkenntnisse der Varietätenlinguistik aber keineswegs trivial. Dass es ihr ebenfalls um Kontraste geht, ist klar. Die wichtigsten seien kurz beleuchtet. Dabei unterscheide ich sieben Vergleichspaare (a-g), die selbstverständlich beliebig miteinander kombiniert werden können und müssen. - Ich beginne (ein bisschen unerlaubterweise, doch geht es um den unmittelbaren Vergleich) mit der KL, fasse dabei einiges kurz zusammen und komme dann zu anderen Kontrasten. - L1 und L2 meinen die Sprachen - alle anderen Abkürzungen sind ad hoc erklärt. a) L1 i und L2 ii = eine Sprache und eine beliebige andere Sprache [ i und ii = Sprachfamilien oder Sprachzweige] Dieser Kontrast ist der Ausgangspunkt der KL. Zwei Sprachen werden miteinander verglichen. Allerdings stand am Anfang der praktische oder auf Griechisch (s.o.) „technische“ Gesichtspunkt: D und Vietnamesisch wurden einander gegenübergestellt, damit in einem Lehrbuch einem Deutschen, der Vietnamesisch lernen will, die spezifischen Tücken des Vietnamesischen beigebracht werden können, und umgekehrt, aber mit entsprechend anderen Schwerpunkten. Der wissenschaftliche Aspekt: Aus dem detaillierten Vergleich zweier ganz unterschiedlicher Sprachen erfährt man nicht nur viel über diese beiden Sprachen, sondern noch mehr über Sprache. b) L1 i und L2 i = eine Sprache und eine andere Sprache derselben Familie oder desselben Zweigs Bei den großen europäischen Sprachen handelt es sich um indoeuropäische Sprachen, entweder um romanische (F-S-I-...) oder germanische (D-E-...). Sprachen, die miteinander verwandt sind, sie haben eine gemeinsame Geschichte und bringen aus ihr gemeinsame Merkmale mit, von denen nach der (allmählichen) Trennung erstens einige erhalten bleiben, zweitens sich einige verändern, während drittens andere abgebaut werden und viertens manche neu hinzukommen. All diese Traditionen und Veränderungen können historisch erklärt werden, wenn zum Teil auch nur hypothesenartig. Ein ausschließlich synchroner Ansatz muss nach dieser Geschichte nicht fragen. Wenn man aber Sprachen miteinander vergleicht, sollte man besser wissen, woher Gemeinsamkeiten und Unterschiede kommen: Sind diese his- <?page no="53"?> 53 3.5 Varietätenlinguistik torisch bedingt oder jene auf sprachliche Universalien (wie auch immer im Einzelnen) zurückzuführen? c) L1 a und L1 b = ein Dialekt und ein anderer Dialekt derselben Sprache [ a und b = Dialekte] Das Deutsch, das in der „Tagesschau“ zu hören ist und im Sprachunterricht und auch im Fremdsprachenunterricht gelernt wird, ist eine sehr junge Erfindung. Als Martin Luther die Bibel übersetzte, zunächst das Neue Testament 1522, das sofort reißenden Absatz fand, übersetzte er nicht ins Deutsche, das es noch gar nicht gab, sondern ins Sächsische. In Tübingen verstand das kaum jemand; deshalb legten die Drucker ein Wörterbuch dazu: Sächsisch - Schwäbisch, Sächsisch - Bayrisch für München usw. Es dauerte noch sehr lange, bis Deutsche in gemeinsamen Grenzen lebten und (zumindest schriftlich und öffentlich) auch eine gemeinsame Sprache hatten. 1880 erschien zum ersten Mal „der Duden“, das war: Konrad Dudens „Vollständiges Orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache“, 1898 folgte das mündliche Gegenstück, „der Siebs“, das war: Theodor Siebs’ „Deutsche Bühnenaussprache“. Nach allen vorangegangenen Versuchen (die es in anderen Ländern Europas selbstverständlich ebenfalls gab) wurde Sprache jetzt in die Standardisierung getrieben. Und da es mittlerweile eine allgemeine Schulpflicht gab, konnte (und musste) die Schule dafür sorgen, dass dialektale Unterschiede zumindest in der Öffentlichkeit eingeebnet wurden. Ein Vergleich zwischen zwei oder mehreren Dialekten einer Sprache ist eine sehr spannende Sache, da es sich dabei (heute) um eine sehr schöne Dreierbeziehung handelt, z.B. Sächsisch und Schwäbisch und als gemeinsamer Partner Standarddeutsch, das sowohl Sachsen als auch Schwaben in der Zeitung lesen und im Fernsehen hören. Die KL beschäftigt sich üblicherweise nicht mit dem Vergleich von Dialekten, was aber hauptsächlich historische Gründe hat. Trotzdem kann sie bei solchen Dreierbeziehungen nicht nur zuschauen, sondern auch ein Wörtchen mitreden. Allerdings ist diese Einführung nicht der Ort, diese Diskussion zu führen. Dasselbe gilt für: d) L1 a und L2 a = ein Dialekt der einen Sprache und ein Dialekt einer anderen Sprache Ein solcher Vergleich lohnt sich am ehesten, wenn die verschiedensprachigen Dialekte an den Grenzen zwischen den beiden Sprachen gesprochen werden, deren Dialekte sie sind - was eine ebenso umständliche wie problematische Formulierung ist, aber das muss hier nicht interessieren. Immerhin würde es sich sonst um einen Sprachvergleich handeln, wie unter a-c beschrieben, und man müsste nicht weiter darauf eingehen. Solange es keine nationale Rückbindung gibt, steht ja nicht fest, in welche Richtung man sich (sprachlich oder kulturell) orientiert bzw. orientieren muss. Ein anderes Beispiel als etwa Alemannisch und Elsässisch an der deutsch-französischen Grenze: Das Niederdeutsche war mit dem Englischen in vieler und ist mit ihm immerhin noch in mancher Hinsicht näher verwandt als mit dem Hochdeutschen. Der Ärmelkanal ist eine durchaus stabile Grenze zwischen dem Angelsächsischen und dem Deutschen, der Schwarzwald ließ sich immerhin mit einiger Mühe überwinden, doch der Rhein dahinter war auch noch relativ breit, und beides zu- <?page no="54"?> 54 3 Abgrenzungen und Horizonte sammen ein ernst zu nehmendes Hindernis, wenn man aus dem Alemannischen ins Elsässische kommen wollte und umgekehrt, die Alpen zwischen Deutsch im Norden und Französisch, Rätoromanisch und Italienisch im Süden. Bekanntlich sind heute aber weder Ärmelkanal noch Schwarzwald plus Rhein oder die Alpen Hindernisse, nicht nur, weil es Straßen und Brücken, Fähren und Tunnel gibt, oder weil, aus vorwiegend wirtschaftlichen Gründen, es einen sehr intensiven Dialektmix gibt (schon seit dem 19. Jh. etwa in Berlin, heute aber weltweit in allen Ballungsräumen), sondern vor allem wegen Kommunikationsmöglichkeiten, die keine Grenzen mehr kennen: Telefon (mündlich) und Skype (mündlich und visuell), Internet sowieso. Dialekte mischen sich, weil niemand (außer Linguisten und selbst ernannte Sprachpfleger) sich darum schert, ob Dialekte überleben, denn jede Schwäbin will in Straßburg und jeder Südfranzose in der Schweiz, wenn es sie oder ihn aus beruflichen oder amourösen oder sonstigen Gründen dorthin verschlagen hat, überleben und, wenn es geht, erfolgreich sein. Aber selbstverständlich gibt es auch Situationen, in denen der Bayer gegenüber dem Preußen, der Mailänder gegenüber dem Neapolitaner auf seinem Dialekt beharrt. e) L1 1 und L1 2 = eine Epoche und eine andere [ 1 und 2 = Sprachepochen] Dass D Weib mit E wife irgendwie verwandt ist, hört man. Doch meint Weib etwas ganz anderes als wife. Diese ist die Ehefrau, jenes mittlerweile eine ziemlich abfällige Benennung für ein menschliches weibliches Wesen, wobei erstaunlicherweise dieses weiblich keinerlei Abfälligkeit beinhaltet und die Abfälligkeit in weibisch eine ganz andere ist. Wie kam es dazu? Um 1200, zu den Hochzeiten des Minnesangs („Hochzeiten“ mit langem, geschlossenem o [o], denn Hochzeiten, mit kurzem, offenem o [ɔ], gab es im Minnesang nicht) bezeichnete das wîp die Frau in ontologischer Perspektive (Luther nahm dafür bekanntlich mennin), die männliche Entsprechung war man. Mhd. frouwe war eine soziologische Benennung, auf Nhd. am ehesten mit ‚Herrin‘ wiederzugeben - die männliche Entsprechung demgemäß herre. Der Minnesang hatte so seine Eigenarten: Zu seinen Regeln gehörte, dass (in einigen seiner Untergattungen) der Mann sich der Frau völlig unterwarf, und dass er sie in diesem vertikal gerichteten Verhältnis als frouwe anredete, kann daher nicht verwundern. 5 In einer Zeit, in der die Liebe entdeckt wurde als eine personale Beziehung zwischen Ich und Du, in der die Personalität in dieser Zweierbeziehung die Diskurshoheit gewann, musste frouwe sich gegenüber wîp in den Vordergrund schieben: wîp (‚Weib‘) war irgendwann höchst despektierlich geworden, und frouwe (‚Frau‘ und ganz ohne zusätzliche gesellschaftliche Bedeutung) trat an seine Stelle. Solche Bedeutungsentwicklungen (aber auch sonstige innersprachlichen Entwicklungen, morphologisch, lexisch, syntaktisch, pragmatisch usw.) sind eigentlich Gegenstand der Sprachgeschichte. Besonders, wenn sie sich vor der eigenen Nase vollziehen oder vollzogen werden, gehen sie aber auch die Varietätenlinguistik an. Der Bedeutungswandel von Weib vollzog sich in D über Jahrhunderte. Neger, Mohr, 5 Walther von der Vogelweide hat, wie auch sonst öfter, einen genialen (dichterischen) Einfall: „Herzeliebez vrowelîn“ lässt er die Geliebte anreden und hebt mit dieser Koseform jede soziale Grenze auf. (Walther 1996: 102 [L 49,25]) <?page no="55"?> 55 3.6 Sprachkontakt auch Mohrenkopf und Negerkuss und vieles andere wurden innerhalb einer halben Generation als politisch inkorrekt und höchst abwertend indiziert. Sprache erlebt heute in einer viel größeren Öffentlichkeit und unter viel größerem äußerem Zwang als je zuvor eine ganz anders gestaltete Veränderung. Selbstverständlich sind solche einzelsprachlichen Entwicklungen aber auch kontrastiv zu analysieren. f) L1 α und L1 β = eine Gruppe und eine andere [ α und β = gesellschaftliche Gruppen] Hier sind drei verschiedene Kontraste zu bedenken, die sich ihrerseits überschneiden können: 1) Auch demokratische Gesellschaften sind sozial nicht homogen, sondern gliedern sich in verschiedene Schichten, ganz grob: Unterschicht, Mittelschicht und Oberschicht. Diesen Schichten lassen sich unterschiedliche Sprachvarietäten zuordnen, zwischen restringiertem und elaboriertem Code (um die Terminologie von Basil Bernstein zu verwenden), was selbstverständlich auch etwas mit Schulbildung zu tun hat. 2) Eher horizontal unterscheiden sich etwa einzelne Berufsgruppen voneinander, deren Fachsprachen über einen mehr oder weniger umfangreichen Sonderwortschatz verfügen. Dabei handelt es sich entweder um Alltagswörter, die je nach Kontext eine spezifische Bedeutung erhalten („köpfen [...] ‚jemanden hinrichten‘ (Strafvollzug) [...] ‚einen Ball mit dem Kopf (wohin) stoßen‘ (Fußballspiel) [...] ‚mit einem Kopf versehen‘ (z.B. Karteikarten in der Bürotechnik) [...] ‚einen Kopf ausbilden (z.B. Salat im Gartenbau)“; Polenz 1991: 42), oder um Wörter, die ausschließlich im jeweiligen Arbeitsbereich verwendet werden (herunterladen: eine Datei aus dem Internet auf den eigenen PC kopieren). 3) Zu sprechen, wie alle schon immer gesprochen haben, ist ziemlich langweilig. Nicht nur Dichter, sondern vor allem Jugendliche haben die Lust oder das Bedürfnis, sich ihre eigene Sprache zu basteln. Anders als etwa schichtenspezifische Kontraste sind Unterschiede zwischen Jugend- und Erwachsenensprache bewusst und einseitig als solche gemacht. Sie sind - tendenziell - Protest und/ oder Ausdruck eigener Identität. g) L1 M und L1 S = ein Medium und ein anderes [ M und S = mündlich und schriftlich] Als letztes ist ein medienübergreifender Kontrast zu nennen: Mündliche Sprache ist von schriftlicher sehr deutlich unterschieden und zu unterscheiden, was damit zu tun hat, dass Sprache im Mündlichen nur ein Bestandteil der Kommunikation ist, während sie im Schriftlichen alleiniges Kommunikationsmedium ist; Kap. 10 geht (auch unter anderem Gesichtspunkt) darauf ein. 3.6 Sprachkontakt Sprachkontaktforschung (vgl. Riehl 2009) kann als eine Sonderform der (angewandten) KL angesehen werden. Sie fragt danach, wie Sprachen, deren Sprecher in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander leben, wechselseitig aufeinander wirken. Genau genommen und selbstverständlich findet Sprachkontakt aber immer statt, wenn zwei Menschen miteinander sprechen, da jeder seine eigenen sprachlichen Gewohnheiten hat, die auch die Gewohnheiten des anderen beeinflussen. Schränkt man den Begriff aber auf den Kontakt zwischen zwei Sprachen ein, so konnte bis <?page no="56"?> 56 3 Abgrenzungen und Horizonte vor kurzem von Sprachkontakt nur in rein geographischem Sinn gesprochen werden. Seit das Internet jedoch Bestandteil des Alltags und der alltäglichen Kommunikation wurde, ist geographische Nachbarschaft nicht mehr unbedingte Voraussetzung. Fremdsprachen sind nur noch einen Mausklick entfernt. Allerdings muss dabei auch bedacht werden, dass der Sprachkontakt über das Internet anonym ist und eben nichts mit Nachbarschaft und all ihren Implikationen, visuell, auditiv, olfaktorisch, emotional, zu tun hat. Ein besonderes Problem spielt dabei auch (mal wieder) die Schrift: Das Griechische kann als „kleine“ Sprache, anders als etwa das Chinesische, kaum damit rechnen, jemals zu eigenen URLs und Email-Adressen zu kommen: Die TLD (Top-Level Domain) für Deutschland ist de von „deutsch“ und nicht etwa ge von „german“, die griechische hingegen ist gr von „greek“. Wer als Grieche im Internet unterwegs sein will, muss über seine Tastatur erst mal den Zeichensatz umschalten, mit dem er allerdings, vermutlich seit er spätestens in der Schule Englisch gelernt hat, vertraut ist. Die germanischen Sprachen hatten zwar ebenfalls einen eigenen Zeichensatz; bevor aber das lateinische Alphabet übernommen wurde, gab es nur eine höchst marginale Schriftlichkeit mit Hilfe von Runen, deren Herkunft noch immer nicht verlässlich geklärt ist (Düwel 2008: 175ff.). Ein paar fleißige Mönche haben sich an einer Ergänzung des lateinischen zu einem germanischen Alphabet versucht, allerdings bekanntlich (und s.o.) ohne Erfolg und so kommt es zu der merkwürdigen Situation, dass eine der agilsten und meistgesprochenen Sprachen der Welt (ich meine E) mit der Schrift einer toten Sprache geschrieben wird. Niemanden stört’s, man wundert sich nicht einmal darüber. Dass heute aber eine „kleine“ Sprache (und Schrift! ) sich von einer übermächtigen Sprache und ihrer Schrift überrollt fühlt, kann man vielleicht nachvollziehen. Welche Rolle das im Alltag spielt, ist nicht ganz sicher zu bestimmen: Einerseits ist das lateinische Alphabet, das in Griechenland als englisches wahrgenommen wird, leichter zu verwenden, weshalb viele (besonders Jugendliche) ihre SMS und Facebookeinträge gerne auf „Greeklish“ bzw. „Grenglish“ schreiben, auch wenn sie das andererseits nicht ohne weiteres zugeben, weil sie ja immerhin Griechen sind, und ebenfalls spätestens in der Schule gelernt haben, stolz darauf zu sein. Nicht nur nach Mark Twains Meinung ist E, im Gegensatz vor allem zu D, eine sehr einfache, in 30 Stunden zu erlernende Sprache. 6 Das hat vor allem historische Gründe: E hatte schon eine jahrhundertelange Kontaktgeschichte hinter sich, bevor es in Amerika, in Kontakt und durch Kontakt, zur Weltsprache wurde. Dabei waren vor allem andere germanische, aber auch romanische und keltische Sprachen beteiligt. Sehr vereinfacht gesagt: E hat alle irgendwie miteinander kompatiblen Ökonomisierungsstrategien der Sprachen, mit denen es in Kontakt stand, aufgenommen und umgesetzt. Damit ist - in Kontakt, was heißt: in Auseinandersetzung zwischen eigener und fremder Sprache - eine gemeinsame Sprache entstanden, die sich gewissermaßen auf ihren eigentlichen Zweck 6 „My philological studies have satisfied me that a gifted person ought to learn English (barring spelling and pronouncing) in thirty hours, French in thirty days, and German in thirty years. […] If it is to remain as it is, it ought to be gently and reverently set aside among the dead languages, for only the dead have time to learn it.” (Twain 1906: 305) Dass diese „Einfachheit“ eine Legende ist, weiß jeder, der Leistungskurs E gemacht oder Mark Twain gelesen hat. <?page no="57"?> 57 3.7 Interkulturelle Kommunikationswissenschaft und kulturwissenschaftliche Linguistik reduziert hat: Sie selbst ist nur insofern von Bedeutung, als sie der gemeinsamen Kommunikation dient. E ist ein Sonderfall und eben deshalb als lingua franca so erfolgreich. Häufiger wird Sprache aber als Identifikationsmedium genutzt, und wenn man das ernst nimmt, hält man sie besser „rein“: Sprachpurismus sorgt dafür, dass das auch so bleibt, indem er (um es aus einer nationalen Perspektive zu sagen) sich bemüht, Fremdwörter zu verdeutschen und außerdem eine gesellschaftliche Bewegung in Gang zu setzen, die darauf Wert legt, das Eigene von allem anderen, „Fremden“, abzugrenzen. Glücklicherweise gibt es jedoch viel mehr ganz normale Menschen, die das ‚nicht wirklich‘ (not really) mitmachen. Drei eklatante Beispiele für die Auswirkungen von Sprachkontakt seien abschließend genannt: 1) Als die römische Gesellschaft schriftlich wurde und L eine elaborierte Grammatik brauchte, konnte man sich problemlos an AG orientieren, ebenso wie das „Deutsche“ seit dem 8. Jh. L als Vorbild nahm. 2) Auf den nord- und mittelamerikanischen Plantagen arbeiteten Sklaven aus ganz Afrika, von den Besitzern bewusst danach ausgewählt, dass niemand die Sprache der anderen verstand, damit sie sich nicht gegen ihre Herren verabreden konnten. In dieser Situation vielfachen Sprachkontakts, mehrerer afrikanischer Sprachen und des amerikanischen Slangs der Sklaventreiber, setzte sich nicht eine Sprache durch, sondern es entstanden neue, Kreolsprachen. 3) Das Japanische stand seit den ersten überlieferten Quellen unter allerstärkstem Einfluss des Chinesischen, dessen Schrift es auch übernahm, obwohl es sich strukturell um eine völlig andere Sprache handelte, für die die chinesische Schrift eigentlich ganz ungeeignet war. Auf das letzte Beispiel kann später leider nicht mehr eingegangen werden. 3.7 Interkulturelle Kommunikationswissenschaft und kulturwissenschaftliche Linguistik Sprache lässt sich zwar formal analysieren, doch die Sprachen, die wir sprechen, unterscheiden sich nicht nur grammatisch voneinander, sondern auch kulturell, da sie in unterschiedlichen kulturellen Kontexten, die ebenfalls bestimmten Regeln folgen, funktionieren (müssen). Auch KL sollte das, mindestens in ihrem pragmatischen Teil, bedenken, die Hauptarbeit allerdings der interkulturellen Kommunikationswissenschaft und der kulturwissenschaftlichen Linguistik überlassen. Solange alle in ihrem Dorf bleiben, braucht man keine KL, es lohnen sich überhaupt keine Linguisten; sie hätten keinerlei berufliche Perspektive. Sobald aber die Welt zum Dorf wird, stellt man unweigerlich fest, dass andere Bewohner anders sprechen, sich aber auch nicht-sprachlich anders ausdrücken und sich überhaupt anders verhalten. Das gilt selbstverständlich nicht nur für Einzelne, sondern vor allem für ganze Gesellschaften, was aufgrund von langen und vielen und vielfach ineinander verflochtenen Traditionssträngen dazu führt, dass sie eine je eigene <?page no="58"?> 58 3 Abgrenzungen und Horizonte Identität entwickeln, die sich dann auch gegenüber anderen behaupten muss, und die anderen auch usw. Es gibt heutzutage viele Möglichkeiten, mit anderen Kulturen (und ihren Sprachen) in Kontakt zu geraten, vom Internet ganz zu schweigen: im Urlaub (wenn man es nicht nur auf knackige Bräune abgesehen, sondern vielleicht auch Spaß am Auslandsflirten und an Museen, an landestypischer Folklore und Küche hat), im Fernsehen gibt es allerhand Dokumentationen, oder man kommt auf die Idee, im Ausland zu arbeiten oder wird von seinem Arbeitgeber dorthin geschickt oder was auch immer. Im Fall des Arbeitens ist es sinnvoll, nicht nur die fremde Sprache zu lernen, sondern sich auch mit den sogenannten „Sitten und Gebräuchen“ des Landes und seiner Gesellschaft einigermaßen vertraut zu machen - das hängt aber ganz von der Position innerhalb der Firma ab. Es ist tatsächlich eine Machtfrage: Wenn eine europäische Automarke in China Autos verkaufen will, tut sie sehr gut daran, nicht nur Design und Technik chinesischem Geschmack zu unterwerfen, sondern sich auch an chinesische Kommunikationsregeln zu halten. Andererseits kann es sich ein Unternehmen wie Facebook, das nur international ist, was es ist, leisten, eigene Kommunikationsformen gegen alle (ca. eineinhalb Milliarden) Mitglieder durchzusetzen. Der Grund ist in beiden Fällen, wenig verwunderlich, derselbe: Es geht ums Geld - im einen Fall will es die eine europäische Firma, im anderen eine unüberschaubare Zahl von Firmen aus aller Welt. In den meisten Fällen, von denen ich nur ganz wenige kurz angedeutet habe, ist interkulturelle Kommunikation interessegeleitet, aber eben nicht im alltäglichen Sinn wie alles Sprechen, sondern einem höheren Ziel unterworfen; alltäglich wird sie erst, wenn man die fremde Kultur nicht mehr als fremde wahrnimmt und in der Kommunikation keinerlei Fremdheit mehr zum Ausdruck kommt. Kommunikation beruht, ebenso wie ihre Sonderform Sprache, in sehr hohem Maß auf Gewohnheit, und Gewohnheiten abzulegen, ist äußerst schwierig, vor allem aber wenig ratsam. Ohne sie wäre Leben gar nicht möglich, da biologische Abläufe selbstverständlich routinisiert sein müssen, ebenso wie (ab vielleicht 18) Autofahren. Auch dahinter steht das Prinzip der Energieersparnis. Deshalb fällt es so schwer, neue Gewohnheiten zu lernen und alte abzulegen, vor allem, wenn sie so komplex sind wie eine Sprache oder die Grundregeln einer Kultur. Sie aber überhaupt einmal herauszufinden und als solche zu akzeptieren, ist so schwierig, weil sie zuvor nie als solche wahrgenommen wurden. Und auch darin besteht eine Parallele zur Sprache: Muttersprachler sprechen ihre Muttersprache ziemlich perfekt, wissen aber nicht, warum, weil sie keine Ahnung von Grammatik haben. (Vgl. Lüsebrink 2008 Heringer 2010) Während interkulturelle Kommunikationswissenschaft davon ausgeht, dass man eigene Routinen relativieren muss, um damit Raum für neue zu schaffen, befasst sich kulturwissenschaftliche Linguistik mit der Frage, wie spezifische Aussageabsichten in verschiedenen Kulturen sprachlich umgesetzt werden (vgl. Kuße 2012). Damit ist sie noch näher an der KL zu verorten: Kulturwissenschaftliche Linguistik sieht Sprache in Kommunikation eingebunden, genauer: in verschiedenen öffentlichen Diskursen, in denen sie je anders und jeweils abhängig von den eigenen kulturellen Systemen verwendet wird. Ihr Hauptthema ist die Frage, wie ein Sachverhalt (in der jeweiligen Situation) sprachlich adäquat behandelt wird. Dabei geht es ; <?page no="59"?> 59 3.7 Interkulturelle Kommunikationswissenschaft und kulturwissenschaftliche Linguistik ihr nicht um die Erforschung kommunikativer Möglichkeiten (was Aufgabe der Pragmatik ist), sondern um die sprachwissenschaftliche Feststellung und Beschreibung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Wenigstens ein Beispiel soll erwähnt werden: 7D) Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland 7E) - 7F) Constitution 7G) Σύνταγμα της Ελλάδας (Síndagma tis Elládas) Die deutsche Verfassung heißt „Grundgesetz“, auch nach der Wiedervereinigung; eine englische gibt es gar nicht (selbstverständlich aber „so etwas wie eine Verfassung“, während die „Bill of Rights“ von 1689 vorwiegend die Rechte des Parlaments innerhalb der Monarchie stärkte), die französische hält es (verständlicherweise) nicht für nötig, ihren Geltungsbereich schon im Titel zu nennen, und die griechische drückt von vornherein klar aus, dass es sich (ähnlich wie in D und wörtlich übersetzt) um ‚die Verfassung Griechenlands‘ handelt. Da England hier ausfällt, nehme ich für die Diskussion im nächsten Absatz „The Constitution of the United States“ als immerhin englischsprachigen Ersatz. Zunächst aber ist ein kurzer Blick in die Wörterbücher zu werfen, um nachzusehen, was verfassen in E-F-G bedeutet: 8D) verfassen 8E) write sth, draw up 8F) rédiger, écrire 8G) συντάσσω, (συγ)γράφω (sindáso, [sin]gráfo) Diese Übersetzungen haben semantisch mit „Verfassung“ nichts zu tun, allerdings gibt es immerhin in D wie auch in G morphemische Verwandtschaften zwischen Verb und Substantiv. Überall liegt jedoch ein signifikanter Unterschied zwischen alltagssprachlichem und politischem Sprachgebrauch vor: Der erste reguliert sich in der Kommunikation selbst, der zweite hingegen ergibt sich aus historischen Abhängigkeiten und Verpflichtungen und schafft auch zukünftige nationale Identität. Ein Mensch oder Auto kann sich in schlechter Verfassung befinden, aber nicht in „mauvaise constitution“, „bad constitution“ oder „ κακό σύνταγμα “ ( kakó síndagma). Gerade Verfassungen haben eine sehr individuelle Geschichte, ebenso wie die „Verfassungslosigkeit“ des „United Kingdom“, das auf Tradition, nämlich Gewohnheitsrecht beruht, welches aber nie abstrakt formuliert wurde. Eine individuelle Geschichte haben auch die Namen von Nationen und Staaten (die hier ebenfalls nicht nachgezeichnet werden kann, aber beides in verschiedenen Sprachen zu unterscheiden, ist ebenfalls ein spannendes Thema sowohl der KL als auch der kulturwissenschaftlichen Linguistik); darin können zwei verschiedene Perspektiven eingenommen werden: eine von innen nach außen, in der Gattungsnamen als Eigenamen genutzt werden (United States, United Kingdom), und eine von außen nach innen, in der Eigennamen Eigennamen bleiben (Deutschland, France, ‚Elláda‘). Von hier aus kann kulturwissenschaftliche Linguistik fragen, wie, unter welchen Bedingungen, für wen usw. Verfassungen, Gesetze oder Verordnungen formuliert werden und welchen Einfluss diese Formulierungen auf das öffentliche Leben haben. <?page no="60"?> 60 3 Abgrenzungen und Horizonte Die Namen der Verfassungen haben eine sehr klar nachzuzeichnende Geschichte, aus der sich aber auch die Zukunft der jeweiligen Nation definiert: Das Grundgesetz hieß so, weil der Westen Deutschlands aus historischen Gründen alle Geschichtlichkeit und damit auch die Erinnerung an die Weimarer „Verfassung“ aufgeben musste und durfte. Man hatte die Chance, neu anzufangen, was offenbar nur möglich schien mit einem neuen Namen für die Verfassung. Wie findet die Aktualisierung der Verfassungen statt? Die Vereinigten Staaten reformieren ihre constitution nicht wie die anderen Staaten, sondern schufen (bereits 1789), durch die Einrichtung der amendments (‚Verfassungszusätze‘) eine Tradition, die es eigentlich gar nicht gab. Das führte z.B. dazu, dass die Gleichberechtigung der Geschlechter, die im Grundgesetz, in der französischen Constitution und dem Sindagma ziemlich weit vorne steht, in Amerika aber erst der 19. Zusatzartikel ist, zudem in sehr knapper Formulierung auf das Wahlrecht beschränkt. Bedeutet das etwas für die politische und gesellschaftliche Wirklichkeit, die tatsächliche Gleichberechtigung von Mann und Frau? Natürlich nicht. Aber kulturwissenschaftliche Linguistik kann die richtigen Fragen stellen, um herauszufinden, warum es hier so und dort ganz anders ist. Damit ist eine Grenze zwischen interkultureller Kommunikation und kulturwissenschaftliche Linguistik gezogen, auch wenn sie nicht immer respektiert wird: Interkulturelle Kommunikation hat es mit Anwendungen zu tun und muss auch konkrete mündliche Kommunikationen bedenken. Kulturwissenschaftliche Linguistik geht von der Frage aus, welchen Stellenwert Sprache in der Öffentlichkeit hat und wie die gesamte gesellschaftliche Infrastruktur sprachlich organisiert ist. Für KL, die nicht nur Sprachen, sondern auch Sprechen analysieren will, bedeutet das, dass sie sich darüber im Klaren sein muss, welchen Aufwand sie zu betreiben hat, um kompetent über Sprache und Sprechen in öffentlichen Räumen reflektieren zu können, weil Sprache und Sprechen in öffentlichen Räumen niemals nur sprachliche Voraussetzungen haben. Nach diesen Bemerkungen zu Aufgabe und Stellenwert der KL innerhalb der Linguistik und gegenüber anderen (Sprach- und Kultur-)Wissenschaften, fragen die folgenden Kapitel nach konkreten sprachlichen Unterschieden, wie angekündigt: vor allem zwischen D-E-F-G. Dabei können selbstverständlich in einer so knapp bemessenen Einführung nicht alle angesprochenen Horizonte nachgezeichnet oder gar erweitert werden. <?page no="61"?> 4 Laute und Silben (Phonologie und Phonotaktik) Ausrufe, Gespräche, Vorträge und alles andere, was Menschen äußern, bestehen aus einer ungeordneten oder in irgendeiner Weise geordneten Abfolge von Lauten. Ungeordnet sind das unartikulierte Schreien von Kindern, Seufzer, Brummen, Grummeln und Derartiges, geordnet sind sprachliche Äußerungen, und einfach gesagt: Sprachen unterscheiden sich durch ihre Ordnungssysteme. Johann Sebastian Bach soll über das Orgelspiel gesagt haben: „Alles, was man tun muss, ist, die richtige Taste zum richtigen Zeitpunkt zu treffen.“ (zvnl.de) Sprechen funktioniert nicht wesentlich anders, und doch gibt es natürlich große Unterschiede. Zum Sprechen braucht man kein Instrument in Leipzig, sondern alles Notwendige hat man bei sich, und das sind nicht nur die sogenannten Sprechwerkzeuge, sondern auch Blicke, die sich treffen können, ein Gesicht, das etwas ausdrücken, zwei Hände, mit denen man auf etwas zeigen und auch sonst allerhand machen und verdeutlichen kann. Außerdem gibt die Orgel, wenn’s gut geht, immer denselben Ton von sich, wenn jemand auf dieselbe Taste drückt, während menschliche Laute, auch anders als bei Robotern, niemals dieselben sind, sondern immer nur die gleichen. Verständlichkeit hat nichts mit der konkreten physikalischen Realisierung eines Lauts zu tun, sondern mit der Einhaltung von kontextsensitiven Grenzen. Um ein Beispiel aus Kap. 3 aufzugreifen und auf phonetische Umschrift vorerst zu verzichten: 9Da) Danach setzte sich das Paar doch in eine Bar. 9Db) Danach setzte sich das Paar doch in eine Par. 9Dc) Danach setzte sich das Baar doch in eine Bar. Jeder dieser Sätze wird in einer Situation von jemandem geäußert, dessen Sprechgewohnheiten ich als Hörer (und Bestandteil der Situation) normalerweise kenne. Ob jemand lispelt oder Probleme mit dem Unterschied zwischen stimmhaften ([b]) und stimmlosen ([p]) Plosiven hat, spielt nur in Ausnahmefällen eine Rolle. Trotz dieser grundsätzlichen Unterschiedlichkeit der tatsächlichen Aussprache, die sich aus allerhand konkreten Bedingungen ergibt (Dialekt, Physiognomie, zahnlichem und überhaupt gesundheitlichem Zustand, Körpergewicht, Alter, Müdig- oder Munterkeit, Tages- und Jahreszeit usw.) lassen sich Sprachlaute klassifizieren und ordnen. Diese klassifizierbaren Laute sind die Phoneme, die man aus allen Sprachen der Welt zusammentragen kann, oder man beschränkt sich auf das Phoneminventar einer Sprache, um es zum Beispiel mit dem Inventar einer anderen Sprache zu kontrastieren. Ich werde mich hier noch weiter beschränken und zwar auf die Vokalsysteme in D-E-F-G, werfe aber doch immer mal wieder Seitenblicke auch auf die Konsonanten, weil sonst die Schwerpunkte und Schwerpunktverlagerungen nicht verständlich werden. Zunächst muss man sich jedoch über den systematischen Status der Laute einer Sprache Klarheit verschaffen. Die wichtigen Begriffe, die dabei differenziert werden müssen, sind Phonem, Allophon und Phon. Obwohl die Sätze 9Da) bis 9Dc) trotz unterschiedlicher Aussprache dasselbe bedeuten, gibt es einen systematischen Unterschied zwischen dem Laut [p] und dem Laut [b]. Es handelt sich um Phoneme, nämlich / p/ und / b/ , und zwar deshalb, weil beide Laute im Aussprache- <?page no="62"?> 62 4 Laute und Silben (Phonologie und Phonotaktik) wörterbuch, d.h. kontextunabhängig, bedeutungsunterscheidend sind: ein Paar ist etwas anderes als eine Bar. Dasselbe gilt auch für die beiden a-Laute in Danach, egal, wie man das Wort in einer konkreten Situation ausspricht, denn ein Bann ist etwas anderes als eine Bahn. Solche Wörter, die sich in nur einem Laut unterscheiden, heißen „Minimalpaare“ (die aber auch Gruppenphänomene sein können wie in Tab. 14). Die distinktive Funktion von Phonemen hat eine Grenze in den Aussprachevarianten in 9D), denen selbstverständlich kein systematischer Status zukommt; bei ihnen handelt es sich um Phone, die mehr oder weniger zufällig zustandekommen. Eine andere Grenze bilden die Homophone: Auch ein Schloss ist etwas anderes als ein Schloss und eine Bank etwas anderes als eine Bank. In D gibt es relativ wenige Homophone, in F und auch in E erheblich mehr, wenn auch nicht so viele wie im Chinesischen, das von ihnen geradezu überschwemmt ist. Ebenfalls Varianten sind Allophone, die jedoch nicht von den Zufälligkeiten eines Sprechers abhängig sind, sondern von der Stellung eines Phonems im Wort. In D sind der ich- und der ach-Laut ([ç] und [x]) Allophone, da sie Stellungsvarianten eines einzigen Phonems sind, als das / ç/ angenommen wird, da der ich-Laut in mehr Umgebungen auftritt als der ach-Laut: nicht nur nach allen vorderen Vokalen (ä, e, i, ö, ü, y), sondern auch nach Konsonanten (durch, Dolch), im Silbenansatz der Diminuitivsilbe (rauchen vs. Frauchen) und in zahlreichen Fremdwörtern (Bronchien, Chemie). Die folgenden Sätze 10) eignen sich ganz gut, um die phonetischen Unterschiede in D-E-F-G zu verdeutlichen. Da der Inhalt nicht interessiert, ist gleich die IPA-Umschrift mitgegeben; Akzente habe ich nicht gesetzt. 10D) Ich habe ein zu schönes Haus, mit fantastischer Aussicht übers stürmische oder ruhige Meer, doch ohne Blumenbeete. (17 Wörter, 96 Buchstaben) ɪç haːbə ain tsuː ʃø: nəs haus mɪt fantastɪʃɐ auszɪçt y: bɐs ʃtʏrmɪʃə o: dɐ ru: ɪgə me: ɐ̯ dɔx o: nə blu: mənbe: tə. (77 Laute) 10E) I have a too beautiful house with a fantastic view over the stormy or calm sea but without flowerbeds. (19 Wörter, 83 Buchstaben) aɪ hæv ə tu: bju: tɪfəl haʊs wið ə fæntæstɪk vju: əʊvəʳ ðə stɔ: mi ɔ: ʳ kɑ: m si: bʌt wɪðaʊt flaʊəʳbedz. (67 Laute) 10F) J’ai une maison trop belle, avec une vue fantastique sur la mer orageuse ou calme, mais sans parterres de fleurs. (20 Wörter, 90 Buchstaben) ʒɛ yn mɛzɔ̃ tʀo bɛl avɛk yn vy fɑ̃tastik syʀ la mɛʀ ɔʀaʒøz u kalm mɛ sɑ̃ paʀtɛʀ də flœʀ. (66 Laute) 10G) Έχω ένα πολύ ωραίο σπίτι, με θέα στην τρικυμιώδη ή ήρεμη θάλασσα, αλλά χωρίς παρτέρια λουλουδιών. (16 Wörter, 79 Buchstaben) ɛɣɔ ɛxɔ ɛna pɔli ɔrɛɔ spiti mɛ θɛa stin tricimiɔði i irɛmi θalasa ala xɔris partɛria luluðiɔn. (7 4 Laute) Unter diesen Sprachen hat G das einfachste Vokalsystem, es gibt genau 5 Vokale: / a, ɛ, i, ɔ, u/ , die keine bedeutungsunterscheidende Quantität haben. Diphthonge gibt es gar keine, allerdings kommen relativ viele Hiate vor, d.h. es treffen häufig zwei Vokale, die zu verschiedenen Silben gehören, aufeinander; in 10G) ist das fünfmal der Fall: ɛ.a, ɛ.ɔ, i.a und 2x i.ɔ. Grundsätzlich können alle Vokale in dieser Weise gegeneinander stehen (zur Silbenstruktur vgl. Kap. 4.3). In AG sah das System noch ganz anders aus: Es gab 7 Monophthonge, von denen zwei ( / e, o/ ) stets kurz, zwei (/ ԑː, ɔː/ ) stets lang waren und drei sowohl kurz als auch lang sein konnten (/ a, aː, i, iː, y, yː/ ). Außerdem gab es 7 Kurzdiphthonge (/ ai, ei, oi, yi, au, eu, <?page no="63"?> 63 ou/ ) und 6 Langdiphthonge (/ aːi, ԑːi, ɔːi, ԑːü, ɔːü, aːü/ ). Insgesamt umfasste das System also 23 vokalische Phoneme, die alle als Silbenkerne fungieren konnten. Schon in klassischer Zeit wurden sie jedoch reduziert, das ganze System befand sich durch dialektale Sonderentwicklungen, Lautwandel, Kürzung, Quantitätentausch, Vokaldehnung und Kontraktion in Bewegung (Bornemann/ Risch 2012: 3f.), war also den Anforderungen täglicher Kommunikation unterworfen, wozu allerdings auch die Tendenz zu einer mindestens schriftlichen Standardsprache gehörte, mit der man sich in ganz Griechenland, und später in der ganzen hellenistischen Welt, verständigen konnte. Bei den konsonantischen Phonemen ist ebenfalls allerhand in Bewegung gewesen, allerdings nahm ihre Zahl nicht ab, sondern zu, wenn auch längst nicht so radikal, nämlich von 18 auf 23. Bei den germanischen Sprachen D und E sehen Phonembestand und dessen Entwicklung signifikant anders aus. 10D) hat 13 verschiedene Monophthonge (/ a, aː, ɐ, ɐ̯, ɔ, ə, eː, ɪ, o: , øː, uː, ʏ, yː/ ) sowie 2 Diphthonge (/ ai, au/ ); insgesamt sind es 16 + 3. 1 Hiate gibt es auch (uː.ɪ eː.ɐ̯). In 10E) sind 11 Monophthonge (/ ɑː, æ, e, ə, ə , ɪ, i, iː, ɔː, uː, ʌ/ ) gebraucht und 3 Diphthonge (/ aɪ, aʊ, əʊ/ ). Anders als in G gibt es in E kurze und lange Vokale, nach Viereck/ Viereck/ Ramisch 2002: 19 ist die Vokallänge jedoch nicht bedeutungsunterscheidend und muss damit phonemisch nicht berücksichtigt werden (anders als in D: raten - Ratten, Beet - Bett, Bienen - binnen). Damit gibt es 12 Monophthonge und 8 Diphthonge in der Standardaussprache des britischen Englisch (RP = Received Pronunciation). 2 An Konsonanten gibt es in D 21 (bzw. 25, wenn man / pf, ts, tʃ, dʒ/ als Einzellaute auffasst), in E 22 (bzw. 24 unter Einbeziehung von den auch möglichen / tʃ, dʒ/ ). Das (nur zu erschließende) Urgermanische verfügte über ein sehr einfaches Vokalsystem aus jeweils vier Kurz- (/ a, e, i, u/ ) und Langvokalen (/ eː, ɪː, oː, uː/ ) sowie in der Länge nicht differenzierten Diphthongen (/ ei, ai, eu, au/ ) (Braune/ Eggers 1975: 18). Dazu kamen 17 (Braune/ Eggers 1975: 80) oder vielleicht auch 24 (Kausen 2010: 115) Konsonanten. Das klassische L, das hier als Ausgangssprache von F bedacht werden muss, hatte 10 Monophthonge, 5 kurze und 5 lange (/ a, aː, e, eː, i, iː, o, oː, u, uː/ ), 4 Diphthonge (/ ae, au, eu, oe/ ) und 17 Konsonantenphoneme (Throm 1965: 8f.). In 10F) finden sich 10 orale und 2 nasale (/ ɑ̃ , ɔ ̃ / ) Vokale; die Gesamtzahl beträgt 12 (/ a, ɑ, ɛ, e, ə, i, ɔ, o, ø, œ, u, y/ ) +4 (/ ɑ̃ , ɛ ̃ , œ̃ , ɔ ̃ / ). Zwischen ihnen und den 18 Konsonanten gibt es noch 5 Halbkonsonanten. Da die Zahlenverhältnisse in der bisherigen Darstellung sehr unübersichtlich sein dürften, sind sie in Tab. 5 noch einmal zusammengestellt. Germ D E L F AG G monophthongische Phoneme 8 16 12 10 12 10 5 diphthongische Phoneme 4 3 8 4 4 13 konsonantische Phoneme 17 21 22 17 18 18 23 Summe der Phoneme 29 40 42 31 34 41 28 Tab. 5: Anzahl der Phoneme in D-E-F-G und deren Vorgängersprachen 1 Diphthonge wie in [teːɐ], [tiːɐ], [toːɐ], [kuːɐ], [ha: ɐ] sind hier nicht berücksichtigt, da sie stellungsbedingt und damit nicht phonemisch sind. 2 Jones (nach Langenscheidt 1973: 17) listet hingegen ein kurzes und langes i (/ i, i: / ), kurzes und langes ə (/ ə, ə: / ), kurzes und langes ɔ (/ ɔ, ɔ: / ) und kurzes und langes u (/ u, u: / ) auf. 4 Laute und Silben (Phonologie und Phonotaktik) <?page no="64"?> 64 4 Laute und Silben (Phonologie und Phonotaktik) D E F G Vokale 16 (84,21%) 12 (60%) 16 (100%) 5 (100%) vorn 9 (56,25%) 4 (33,33%) 7 (43,75%) 2 (40%) i vie [vi] νησί [nisi] (‚Insel‘) i: Liebe [li: bə] sea [si: ] y brulé [bʀyle] y: Hüte [hy: tə] ɪ Ritter [rɪtɐ] pink [pɪŋk] ʏ Küsse [kʏsə] e bed [bed] fée [fe] e: See [ze: ] ø peu [pø] ø: blöd [blø: t] ɛ schellen [ʃɛlən] faire [fɛʀ] ενέργεια [ɛnɛrjia] ɛ: schälen [ʃɛ: lən] (‚Energie‘) œ Böller [bœlɐ] peur [pœʀ] æ bad [bæd] ɛ ̃ pain [pɛ ̃ ] zentral 3 (18,75%) 3 (25%) 4 (25%) 1 (20%) ə Gebirge [gəbɪrgə] mother [mʌðəʳ] le [lə] ɜ: shirt [ʃɜ: t] a Bann [ban] claque [klak] μπάλα [bala] a: Bahn [ba: n] (‚Ball’) ɑ̃ plan [plɑ̃] ʌ cutter [ˈkʌtəʳ] œ̃ lundi [lœ̃ di] hinten 4 (25%) 5 (41,67%) 5 (31,25%) 2 (40%) u clou [klu] γουροὐνι [ɣuruni] u: Mus [mu: s] cool [kɔ: l] (‚Schwein‘) ʊ Mund [mʊnt] cook [kʊk] o mot [mo] o: Moos [mo: s] ɔ Most [mɔst] pomme [pɔm] κωμικός [kɔmikɔs] ɔ: call [kɔ: l] (‚lustig‘) ɑ pâte [pɑt] ɑ: father [fɑ: ðəʳ] ɒ flop [flɒp] ɔ̃ long [lɔ̃ ] Diphthonge 3 (15,79%) 8 (40%) 0 (0%) 0 (0%) a͜i Leid [lait] aɪ lie [laɪ] a͜u Haus [haus] aʊ mouse [maʊs] eɪ lake [leɪk] eə share [ʃeəʳ] əʊ hope [həʊp] ɪə clear [klɪəʳ] ɔ͜i toy [tɔɪ] ɔ͜y scheu [ʃɔy] ʊə pure [pjʊəʳ] Tab. 6: Silben in D-E-F-G nach Artikulationsort <?page no="65"?> 65 Die Übersicht in Tab. 6 listet die Vokale, sowohl Monophthonge als auch Diphthonge, die in D-E-F-G als Phoneme Silbenkerne sein können. Sie sind nach ihrem Artikulationsort geordnet. Es sind auch jeweils Beispiele mitgegeben. Das Auffallendste noch einmal zusammengefasst: Weder F noch G haben Diphthonge, während sie in E 40% aller vokalischen Phoneme ausmachen. In F und G gibt es zwar aufeinanderfolgende Vokale (Hiate), aber sie gehören eben nicht zu einer Silbe. Was außerdem auffällt: Der zentrale Artikulationsort ist in allen vier Sprachen unterrepräsentiert. D hat einen sehr starken, F immerhin einen markanten Schwerpunkt vorn, E hinten, während G unter diesem Aspekt völlig ausgeglichen ist (vorn und hinten je 40%, zentral 20%). Unter ganz praktischem Gesichtspunkt ist vorerst festzuhalten: Die GriechInnen müssen am meisten vokalische Phoneme wieder-lernen, ungefähr 15, wenn sie E oder D lernen. Wenn sie (und natürlich nicht nur die GriechInnen! ) gerade geboren sind und nicht einmal alleine essen, sitzen, geschweige denn laufen, weder Beine noch Arme noch Augen richtig koordinieren können, verfügen sie in ihrem kleinen, noch sehr unentwickelten Köpfchen über einen kompletten Phonemsatz aller menschlichen Sprachen, wahrscheinlich zutreffender formuliert: Sie verfügen über die Möglichkeit, Laute voneinander zu unterscheiden, die in ihrer eigenen Umwelt auftretenden herauszufiltern, als relevant wahrzunehmen und (als Phoneme und Allophone) zu klassifizieren und sich zu merken. Dazu gehört andererseits auch die Fähigkeit, alle anderen rauszuwerfen, weil sie offensichtlich unwichtig sind - die zuständigen Neuronen und Synapsen werden immerhin dringend fürs zukünftige Leben benötigt. Diese Differenzierung geschieht mit ca. 12 Monaten, nicht zufällig in einem Alter, in dem sie mit der geordneten Produktion der Laute ihrer Muttersprache beginnen (Klann-Delius 2008: 25ff.). Dass zu den Notwendigkeiten zukünftigen Lebens Fremdsprachenlernen gehört, ist dabei leider nicht bedacht, was zur Folge hat, dass man sich im späteren Fremdsprachenunterricht diese Laute wieder mühsam beibringen (lassen) muss. Andere LernerInnen haben es aber auch nicht viel leichter: Trotz der gemeinsamen Herkunft von E und D aus dem Germanischen gibt es in D knapp 15 vokalische Phoneme, die Engländer neu lernen müssen, und umgekehrt ebenso; auch die Deutschen, die sich auf ihren Frankreichurlaub vorbereiten, haben phonologisch viel dazuzulernen; G ist vokalisch eindeutig die leichteste Sprache. Die Umkehrung gilt aber auch: Wer G perfekt sprechen will, muss sich für dessen Sätze am meisten vokalische Laute abgewöhnen. Im Mund sehen die Verhältnisse im Kontrast zwischen D und G folgendermaßen aus: 4 Laute und Silben (Phonologie und Phonotaktik) <?page no="66"?> 66 4 Laute und Silben (Phonologie und Phonotaktik) Deutsch Griechisch vorn zentral hinten hoch i iː y y: u u: ɪ ʏ ʊ e eː ø øː o oː mittel ə ɛ ɛː œ ɔ ɐ tief a aː i u ɛ ɔ a Abb. 6: (Deutsches) Vokaltrapez und (griechisches) Vokaldreieck (nach Hall 2000: 34 und Mackridge 1992: 18) Dass die Verteilung und Zuordnung der vokalischen Phoneme nicht ganz so eindeutig ist, wie hier dargestellt, muss auch noch angemerkt werden. Sie kann gar nicht eindeutig sein. Sprachen leben nicht nur, sondern sie tun das synchron in vielfältigen Erscheinungsformen und Verwendungsweisen. Deshalb lohnt es sich, auch hier wenigstens kurz den Zusammenhang zwischen System und Verwendung zu reflektieren, denn selbstverständlich leben nicht die Sprachen, sondern diejenigen, die sich - als Mutter- oder Fremdsprachler - ihrer bedienen, um wie auch immer durch den Tag zu kommen. Die phonetische Umschrift in den obigen Beispielsätzen und Tabellen folgt den Standardaussprachen der vier Sprachen. Wie diese Standardaussprache konkret zustande gekommen ist, muss nicht nachgezeichnet werden. Es genügt eine kurze Antwort auf die Frage, wie überhaupt eine Standardaussprache, die von den phonetischen Umschriften abgebildet wird, zustande kommt und ab wann sie notwendig ist. Solange ich und du miteinander sprechen, dürften wir beide Interesse daran haben, uns einander verständlich zu machen. Wenn (mögliche) Zuhörer aus einem nicht mehr persönlich überschau- und kontrollierbaren Radius hinzukommen, müssen eventuelle Verständlichkeitshemmer berücksichtigt werden. Dazu bedarf es eines Bewusstseins, dass man, mit ein wenig phonetischer und lexischer Anstrengung, durchaus einander verstehen kann. Die Entdeckung dieser übergreifenden Gemeinsamkeit führt üblicherweise, in Griechenland schon sehr früh, vor gut 2500 Jahren, und meist auch lange vor der Ausbildung eines Nationalgedankens, zu einem sprachlichen Zusammengehörigkeitsbewusstsein. Historisch waren es dann aber erst zwei durchaus miteinander zusammenhängende Faktoren, die eine standardisierte Aussprache einer standardisierten Sprache notwendig machten: Einerseits die zunehmende Mobilität, etwa durch die Eisenbahn, aber auch die rein sprachlich potenzierte Mobilität, die zugleich eine erhöhte Anonymität in Rundfunk und später Fernsehen bedeutete, andererseits das sich wechselseitig, und d.h. auch gegenseitig befeuernde Nationalbewusstsein im 19. Jh. In einer Sprache, die (bisher) nur in zahlreichen dialektalen Individualitäten gesprochen wurde, lässt sich eine Standardaussprache jedoch nicht als irgendeine gemeinsame Schnittmenge festhalten, sondern es werden sowohl sprachinterne als auch Akzeptanzfaktoren berücksichtigt, nicht beim „gemeinen Mann“, auf den Martin Luther im 16. Jh. noch Wert legte, sondern bei Gebildeten. Standard(aus)sprache ist immer et- <?page no="67"?> 67 4.1 Aus Lauten werden Silben - kleiner sprachlich-mathematischer Exkurs was von oben Bestimmtes, ihr positiv formuliertes Ziel ist es, dass eine Sprache über alle Dialektgrenzen hinweg verstanden wird und auch als derart verständliche Sprache als Fremdsprache gelernt werden kann. Dass dabei eine Menge Kompromisse eingegangen werden müssen, ist weder zu verhindern noch zu bedauern. Einem nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sprachlich und dialektal so gespaltenen Land wie Italien wurde im 19. Jh. als seine gemeinsame (Aus)Sprache das nicht nur schriftliche, sondern auch literarische Toskanisch des 14. Jhs. (Dante, Petrarca, Boccaccio) verordnet. In Griechenland war als offizielle (Amts- und Schul-)Sprache bis 1976 eine sehr stark am klassischen Griechisch, genauer an dessen attischem Dialekt orientierte Varietät vorgeschrieben (Katharevousa = ‚reine Sprache‘), bis die im Alltag gesprochene Dimotiki (‚Volkssprache‘) auch im öffentlichen Diskurs anerkannt wurde. Wie die Verhältnisse sich im Einzelnen auch immer darstellen: Aussprachen, auch standardisierte, können sich ändern, solange es keine Autorität gibt, die eine falsche Aussprache dauerhaft sanktioniert (balkɔ ̃ > balkɔŋ > balkoːn) - D-E-F-G- Lehrer geraten meistens schneller in Vergessenheit, als ihnen lieb ist. Die einzige Instanz, die wirklich entscheidend ist, ist immer das Verstehen des Hörers und Sprechers. 4.1 Aus Lauten werden Silben - kleiner sprachlich-mathematischer Exkurs Vorerst sind noch einmal die Zahlen aus Tab. 5 aufzugreifen. Die Anzahl der Phoneme der dort gelisteten Sprachen bewegt sich in einem relativ schmalen Korridor zwischen 28 und 42, bei den Konsonanten ist er besonders eng (17-23), entsprechend breit ist er bei den Vokalen: zwischen 5 und 23. Tatsächlich gibt es Sprachen mit erheblich mehr und solche mit erheblich weniger Phonemen; bei ihnen handelt es sich jedoch um sehr kleine Sprachen, ob das nun Zufall ist oder nicht. Die zwölf „Weltsprachen“, die insgesamt von knapp 3,5 Milliarden Menschen als Muttersprache und von knapp 5,5 Milliarden Menschen als Mutter- oder Zweitsprache gesprochen werden, haben zwischen 29 und 45 Phonemen, mit einem einzigen relativ heftigen Ausschlag: Im Portugiesischen gibt es 54 Phoneme, neben 14 Einzelvokalen auch 15 Diphthonge. Allgemein: Ungefähr 35 Phoneme, dazu einige Allophone, insgesamt also ca. 40-50 Laute, mit signifikantem Übergewicht der Konsonanten, scheinen für eine menschliche Sprache recht sinnvoll zu sein, weil - offensichtlich - recht bequem zu handhaben. Jede Sprache hat sehr spezifische Bauregeln für Silben, mit denen sich die Phonotaktik beschäftigt. Ich setze mich erst einmal über alle Regeln hinweg und stelle rein rechnerische Überlegungen an. Dabei gehe ich von einer Sprache aus, die bei 25 Konsonanten und 5 Vokalen nur aus KV-(= Konsonant-Vokal-)Silben besteht, in der es also außer dieser einen keine sonstigen Stellungsbeschränkungen gibt, und nehme zunächst an, dass sie nur aus einsilbigen Wörtern besteht: Dann gibt es genau 125 verschiedene und mögliche „Wörter“, mit denen man natürlich nicht allzu weit kommt, um über irgendetwas sinnvoll zu reden (doch für Niveau A1 würde es vorerst reichen). Sobald jedoch eine zweite Silbe dazu genommen wird (KV.KV), stehen bereits 15.750 Wörter zur Verfügung; damit kann man dann <?page no="68"?> 68 4 Laute und Silben (Phonologie und Phonotaktik) schon allerhand anfangen. Bei drei Silben (KV.KV.KV) wäre man bei knapp 2 Millionen Wörtern - viel größer ist die Welt in menschlicher Wahrnehmung nicht. In D mit ca. 20 Vokalen und 20 Konsonanten hätte man schon bei nur zweisilbigen Wörtern (der immer gleichen Silbenbauweise KV) mehr als 150.000 Exemplare und bei dreisilbigen kaum vorstellbare 60 Millionen. Und bekanntlich lässt D Silben wie KKV, KVK usw. nicht nur nicht zu, sondern liebt sie geradezu. Eine solche rein „summierende“ Sprache wäre ebenso möglich wie aber vor allem extrem lästig, weil sie ganz erhebliche, und auf Dauer kaum zu bewältigende, Anforderungen an das Gedächtnis stellen würde. Deshalb haben auch die Wortschätze aller Sprachen zwar eine arbiträre Basis, darüber jedoch systematische und das heißt: nachvollziehbare Wortbildungsregeln und damit mehr oder weniger auch vorhersehbare Wortbildungen. Anders wäre eine Sprache, erst recht mit dem entwickelten Köpfchen eines Erwachsenen, der in immer neuen Situationen damit klarkommen muss, kaum zu handhaben. Eine kleine Übersicht zeigt diese triviale Tatsache: Nom. Si. Nom. Pl. 1. Si. Präs. 1. Si. Prät. 11D) Frau (KKV) Frauen (KKV.VK) spiele (KKV.KV) spielte (KKVK.KV) 11E) woman (KV.KVK) women (KV.KVK) play (KKV) played (KKVK) 11F) femme (KVK) femmes (KVK) joue (KV) jouais (KV.V) 11G) κυρία (ki.rí.a) (KV.KV.V) κυρίες (ki.rí.es) (KV.KV.VK) παίζω (pé.zo) (KV.KV) παίξω (pék.so) (KVK.KV) Der Plural eines Substantivs oder die Vergangenheitsform eines Verbs kann innerhalb einer Sprache auf vielfältige Weise gebildet werden, entscheidend ist aber: Er oder sie wird gebildet. Es gibt kein Substantiv, dessen Nominativ Si. VW lautet, dessen Genitiv Si. Elefant und Genitiv Pl. Ohrläppchen - die unterschiedlichen Eigenarten der Wortbildung sind ein Thema in Kap. 5, wo dann allerdings auch Suppletivformen diskutiert werden müssen, um die Motivierung des Wortschatzes geht es in Kap. 6. 4.2 Zahlen, Körperteile und Konjugationen Vorerst drei „Wortreihen“, die in D-E-F-G, aber auch in vielen anderen Sprachen ähnlich strukturiert sind. Ich beginne mit den Zahlwörtern bis 13 und ihren Silbenstrukturen. - Anders als bisher wird hier der eine stellungsbedingte Diphthong in D (in vier) als Vokal, allerdings mit v (= Halbvokal) notiert, außerdem der Halbkonsonant in F (in huit) mit k (= Halbkonsonant). Die Punkte markieren die Silbengrenzen. D E F G eins (VKK) one (KVK) un, une (V, VK) έ.να, μ.ία, έ.νας (é.na, mí.a, é.nas) (V.KV, KV.V, VK.VK) zwei (KV) two (KV) deux (KV) δύ.ο (dí.o) (KV.V) drei (KKV) three (KKV) trois (KKV) τρείς, τρί.α (tris, trí.a) (KKVK, KKV.V) vier (Kv) four (KV) quatre (KVKK) τές.σε.ρις, τές.σε.ρα (té.se.ris, té.se.ra) (KV.KV.KVK, KV.KV.KV) fünf (KVKK) five (KVK) cinq (KVK) πέν.τε (pén.de) (KVK.KV) <?page no="69"?> 69 4.2 Zahlen, Körperteile und Konjugationen sechs (KVKK) six (KVKK) six (KVK / KV) έ.ξι (é.ksi) (VK.KV) sie.ben (KV.KVK) seven (KV.KVK) sept (KVK) εφ.τά (ef.tá) (VK.KV) acht (VKK) eight (VK) huit (kVK / kV) οχ.τό (och.tó) (VK.KV) neun (KVK) nine (KVK) neuf (KVK) ε.ννέ.α (e.né.a) (V.KV.V) zehn (KVK) ten (KVK) dix (KVK / KV) δέ.κα (dé.ka) (KV.KV) elf (VKK) e.le.ven (V.KV.KVK) onze (VK) έν.δε.κα (én.de.ka) (VK.KV.KV) zwölf (KKVKK) twelve (KKVKK) douze (KVK) δώδεκα (dó.de.ka) (KV.KV.KV) drei.zehn (KKV.KVK) thir.teen (KV.KVK) treize (KVK) δε.κα.τρείς, δε.κα.τρί.α (de.ka.trís, de.ka.trí.a) (KV.KV.KKVK, KV.KV.KKV.V) Tab. 7: 1-13 in D-E-F-G Ausgehend von der Tatsache, dass alle vier Sprachen ide. näher oder ferner miteinander verwandt sind, kann die Analyse von Tab. 7 auf drei Beobachtungen beschränkt werden: 1) Die Silbenstrukturen zeigen, was aber nicht anders zu erwarten ist: D und E stehen sich als germanische Sprachen näher als beide zu F und alle drei zu G. 2) Die Strukturen in D-E sind komplexer als in F und in G: D hat insgesamt 15 Silben (bei 46 Einzellauten), E hat 17 (bei ebenfalls 46 Einzellauten), F hat nur 13 Silben (bei nur 36 bzw. 34 Einzellauten, je nach generischer Variante), G hingegen hat 30 bzw. 32 Siben (bei 60 bzw. 62 Einzellauten, je nach generischer Variante). 3) In dieser kleinen Auswahl, deren Wörter aber grundlegend sind, bestehen die Silben in D also durchschnittlich aus 3,07 Lauten, in E aus 2,71, in F aus 2,77 (2,62, wiederum je nach generischer Variante), in G aber nur aus 2,00 bzw. 1,94. Salopp gesagt: Insgesamt ist F die kürzeste Sprache, während nach dem hier angelegten silbenstrukturellen Maßstab D die komplexeste, G die einfachste ist. Diese Annahme wird durch die von den nächsten Tabellen nahegelegten Beobachtungen bestätigt. In Tab. 8, in der die Benennungen von 30 Körperteilen zusammengestellt sind, ist vor D auch eine frühere Sprachstufe, nämlich Ahd. ungefähr aus dem 10. Jh., angegeben, worauf an dieser Stelle aber noch nicht eingegangen werden muss; allerdings wird es in der späteren Argumentation benötigt. (In Ahd. sind nicht alle überlieferten Varianten vermerkt.) Ahd. D E F G haubit 1 Kopf head tête κεφάλι (kefáli) hâr Haar hair cheveu μαλλί (mali) 1 kopf ist in Ahd. noch ‚Becher‘, als hätten alle Althochdeutschen tatsächlich aus Schädeln ihren Met getrunken. <?page no="70"?> 70 4 Laute und Silben (Phonologie und Phonotaktik) hirni Hirn brain cerveau μυαλό (mialó) stirna Stirn forehead front μέτωπο (métopo) ôra Ohr ear oreille αφτί (aftí) ouga Auge eye oeil μάτι (máti) nasa Nase nose nez μύτη (míti) mund Mund mouth bouche στόμα (stóma) zunga Zunge tongue langue γλώσσα (glósa) zan, zand Zahn tooth dent δόντι (dóndi) kinni Kinn chin menton πιγούνι (pigúni) hals Hals neck cou λαιμός (lemós) slunt Schlund throat gosier λάρυγγας (láringas) arm Arm arm bras χέρι (chéri) hant, hand Hand hand main χέρι (chéri) fingar, finger Finger finger doigt δάχτυλο (dáchtilo) brust, prust Brust breast poitrine στήθος (stíthos) hërza Herz heart coeur καρδιά (kardiá) bûh, bûch Bauch belly ventre κοιλιά (kiliá) bein, pein Bein leg jambe πόδι (pódi) knio, kniu Knie knee genou γόνατο (gónato) fuoz, fuaz Fuß foot pied πόδι (pódi) zêha Zeh toe orteil δάχτυλο του ποδιού (dáchtilo tu podiú) bluot, bluat Blut blood sang αίμα (éma) lîh, lîch Leib body corps σώμα (sóma) tharam Darm bowel intestin έντερο (éndero) ars Arsch ass cul κώλος (kólos) hût Haut skin peau δέρμα (dérma) gilid Glied limb membre άκρο (ákro) gisiht Gesicht face visage πρόσωπο (prósopo) Tab. 8: 30 Körperteile in Ahd.-D-E-F-G In D befinden sich unter diesen 30 Benennungen gerade einmal fünf, die aus mehr als einer, nämlich zwei Silben bestehen, umgekehrt gibt es in G keine einzige Benennung mit nur einer Silbe. Die meisten der 70 Silben des G sind nach dem Muster Konsonant-Vokal (KV) aufgebaut oder bestehen überhaupt nur aus einem Vokal. Im Ahd. sind es immerhin knapp 50 Silben. Bevor ich zur ausführlichen Analyse komme, folgt noch eine Tabelle mit Konjugationsparadigmen: Ahd. D E F G ziuhu ziehe pull tire τραβάω, τραβώ (traváo, travó) ziuhis, (-ist) ziehst pull tires τραβάς (travás) ziuhit zieht pulls tire τραβάει, τραβά (travái, travá) ziohemês, (-ên) ziehen pull tirons τραβάμε, τραβούμε (traváme, travúme) ziohet zieht pull tirez τραβάτε (traváte) ziohent ziehen pull tirent τραβάν(ε), τραβούν(ε) (traván[e]), travún[e]) Tab. 9: Konjugationen in Ahd.-D-E-F-G Wie in allen drei Tabellen 6-8 sehr deutlich zu sehen ist, tendieren sowohl D (vom Ahd. zum Nhd.) als auch F und E (was hier nicht nachgezeichnet werden muss) <?page no="71"?> 71 4.2 Zahlen, Körperteile und Konjugationen zum Einsilbenwort, allerdings in unterschiedlicher Weise: D und E kürzen hinten, die erste betonte Silbe bleibt erhalten. Im Ahd. ist bei den Verben die Endung als Personalendung strukturell immer noch notwendig, obwohl das Personalpronomensystem bereits ausgebildet ist, doch es wird noch nicht konsequent verwendet. Im Mhd. sind die Nebensilben dann schon abgeschwächt und die Stammsilbe ist vereinheitlicht: ziuhe, ziuhest, ziuhet, ziuhen, ziuhet, ziuhent. Dass schon hier zwei, und dann im Nhd. zweimal zwei Formen zusammenfallen, ist der Bequemlichkeit des Sprechers geschuldet, ebenso wie die Hebung des Stammvokals [ü: ] > [i: ] und die Normalaussprache in einer Silbe ([tsiː tsiːst - tsiːt - tsiːn - tsiːt - tsiːn]). In F hingegen hat sich eine regelmäßige Betonung auf der letzten Silbe etabliert, so dass nicht das semantische Zentrum des Worts hervorgehoben wird, sondern gegebenenfalls auch die Flexionsendung, ähnlich wie in G, wo Kürzungen allerdings aus Gründen des ganzen phonologischen Systems nicht erlaubt sind: Alle drei letzten Silben müssen fähig sein, den Akzent zu tragen, sie dürfen also keinesfalls abgeschwächt werden, da die Gefahr viel zu groß wäre, sie zu verlieren. Zwar gibt es in G ebenfalls Haupt- und Nebentonsilben; weil aber ihre Verteilung nicht systematisch festgelegt ist, ist auch das Gefälle zwischen ihnen bei weitem nicht so groß wie in den germanischen Sprachen oder in F. (Die ε der Endungen in der 3. Pl. von G sind nicht eingeklammert, weil sie etwa wegfallen könnten, sondern weil sie aus Gründen der Euphonie, des Wohlklangs, hinzutreten können.) Das hatte und hat bemerkenswerte Folgen. Das Vokalsystem in G muss, vor allem im Interesse der Verständlichkeit, insgesamt breit gefächert bleiben. Einzelne Vokale innerhalb der äußersten Grenzen / i e a o u/ sowie Diphthonge, die sich notwendigerweise in diesem Dreieck bewegen, konnten zwischen AG und G problemlos aufgegeben werden, weil G, aufgrund seiner Betonungsregeln, eine sehr strikte Silbensprache (geworden) ist. Selbst die Wörter des Grundwortschatzes müssen daher, wie gesehen und anders als in D-E-F, unter silbischem Aspekt relativ lang sein. Während G eine Silbensprache ist, sind D-E Wortsprachen (vgl. Nübling u.a. 2008: 11ff.); F steht irgendwo dazwischen, weshalb es in der folgenden Diskussion nicht berücksichtigt werden muss. Natürlich bestehen auch die Wörter in D-E aus Silben, doch ist in D-E einerseits und in G andererseits das phonologische Gravitationszentrum ein anderes: In G befindet es sich in der Silbe, in D-E im Wort. Um dahinter zu kommen, was das bedeutet, muss man sich den Aufbau einer Silbe ansehen, wobei hier allerdings einiges abgekürzt werden muss, aber auch abgekürzt werden kann. Grundsätzlich kann eine Silbe aus drei Elementen bestehen: dem Silben-Onset, dem Silben-Nukleus und der Silben-Koda; der Nukleus besteht normalerweise aus einem Vokal oder einer Vokalverbindung (es sei denn, es handelt sich in D um ein silbisches l ̩ , m̩ , n̩ oder ŋ̍; diese Silbizität ist im Unterstrich unter dem Konsonanten bzw. dem Oberstrich repräsentiert); Onset und Koda werden entweder von einem oder mehreren Konsonanten gebildet. Ein Beispiel: wir haben auf Ahd. (habemes) und D-E-G (wir haben - we have - έχουμε [échume]); diesmal in IPA: <?page no="72"?> 72 4 Laute und Silben (Phonologie und Phonotaktik) Onset Nukleus Koda Onset Nukleus Koda Onset Nukleus Koda Ahd. K V K V K V K h a b e: m e: s D K V K V K V K v i: ɐ̯ h a: b n̩ E K V K V K w i: h æ v G V K V K V ɛ ch u m e Tab. 10: Silbenstrukturen in Ahd.-D-E-G In allen vier Sprachen bestehen die Silben aus Onset und Nukleus, mit der einen - nicht verwunderlichen - Ausnahme der ersten Silbe in G; die Koda ist hingegen nicht konsequent gefüllt. Die Anzahl der Silben ist in allen Sprachen mit Ausnahme von E gleich, allerdings befindet sich die Personenmarkierung in D-E als Pronomen vor dem Verb; in E ist die Endmarkierung komplett abgebaut, nachdem es in AE noch für den gesamten Plural habbaþ hieß (Lehnert 1978: 111). In umgangssprachlichem, mittlerweile auch in vielen Gegenden auch normalsprachlichem D ist die dritte Silbe (in Vergleich zu Ahd.) ebenfalls zusammengezogen, indem die Endung in silbischem n̩ (oder m̩ : haːbm̩ ) an den Onset herangerückt ist. Von hier aus sollten noch einmal die ersten Wörter eines Kindes angesehen werden, das seine Muttersprache lernt; ich kürze hier Onset und Nukleus als Ons. und Nukl. ab, während die Koda gar nicht erst berücksichtigt werden muss: Ons. Nukl. Ons. Nukl. Ons. Nukl. Ons. Nukl. Ons. Nukl. Ons. Nukl. K V K V K V K V K V K V p a p a m a m a d a d a Tab. 11: Silbenstrukturen von Papa und Mama und Dada Dass die ersten Äußerungen eines Kindes (Sprachen-übergreifend! ) aus einfachen Abfolgen von K und V bestehen, also aus Onset und Nukleus, bestätigt, dass eine derartige Silben-(und darauf basierender Wort-)Struktur in der Aussprache besonders leicht zu bewältigen ist. Auch im Musikunterricht werden Melodien bekanntlich auf „la“ einstudiert, aber niemals auf „al“ oder gar „lal“, was nicht zufällig eine völlig andere Assoziation auslöst. In D hingegen gibt es Ungetüme wie dieses: Onset Nukleus Koda K K K V K K K ʃ t r aɪ ç s t Tab. 12: streichst Hier besteht nicht nur der Onset aus drei Konsonanten, sondern nach dem Silbenschluss [ç] folgen auch noch [s] und [t] als extrasilbische Laute, und die sind in D (als einer Wortsprache) keine Seltenheit, sondern morphologisch sogar ausdrücklich vorgesehen: Mindestens die 2. Si. Präsens und Präteritum der Verben haben zusätzlich zwei extrasilbische Konsonanten (lachst, rätst, rittst, holst), es sei denn, es findet eine e-Erweiterung statt (lachtest, rietest, reitest, holtest); Ähnliches gilt für <?page no="73"?> 73 4.2 Zahlen, Körperteile und Konjugationen den Genitiv Si. der Substantive. In G gibt es solche die Aussprache komplizierenden Regelmäßigkeiten nicht. Wie deutlich zu sehen: Kompliziert wird es mit den Konsonanten in Onset und Koda oder nach Koda, und eben darin liegt das phonologische Gravitationszentrum einer so ausgeprägten Wortsprache wie D: Wörter werden, eher mehr als weniger, systematisch, in eine Silbe zusammengezogen. In G kommen durchaus Silben vor, die nach dem Muster KVK aufgebaut sind, wie in τέσ.σε.ρις, λά.ρυγ.γας und δέρ.μα aus den obigen Listen. Es gibt auch Konsonantendoppelungen im Onset, wie in στό.μα ; allerdings gibt es in G so gut wie keine Silben, die extrasilbisch fortgeführt werden. Die weitaus meisten Silben realisieren KV. Während Silbensprachen dazu neigen, die Silben nach hinten offen zu halten (die Koda unbesetzt zu lassen), drängen Wortsprachen (wie D) dazu, Silben mit einer Koda abzuschließen und deshalb offene Silben zu eliminieren. Die dabei auftretenden Tendenzen widersprechen sich nur scheinbar. Alle deutschen Infinitive sind (standardsprachlich) hinten geschlossen: Da gibt es immer ein n und in manchen Fällen noch deutlicher ein ln oder rn. Allerdings werden diese Inifinitivendungen ohne einen irgendwie realisierten e-Laut mit silbischem Konsonant gesprochen (s.o.). Die meisten Formen der 1. Si. Präsens sind jedoch hinten offen (nehme, gebe, habe, laufe, ...). Folgerichtig wird im gesprochenen Deutsch diese Öffnung (systematisch) zurückgenommen, indem der finale Vokal [ə] in der Aussprache eliminiert wird: geschrieben gesprochen Ich nehme ein Würstchen. ɪç ne: m n vʏrstçən. Ich gebe dir eine Ohrfeige. ɪç ge: p di: ɐ̯ nə o: ɐ̯faigə. Ich habe keine Lust mehr. ɪç hap kainə lʊst me: ɐ̯ . Ich laufe mal kurz zum Bäcker. ɪç lauf ma: l kʊrts tsʊm bɛkɐ. Tab. 13: Vokalelision in gesprochenem D In D gibt es zwar distinktive Unterschiede zwischen langen und kurzen Vokalen (Kahn - kann, zogen - zocken), was es jedoch nicht gibt, und zwar aus systematischen Gründen als Wortsprache nicht geben kann, sind kurze offene betonte Silben innerhalb eines Wortes. In der Umschrift in Tab. 14 gebe ich wieder die Silbengrenzen an, die bei kurzer vorangehender Silbe innerhalb des folgenden Konsonanten liegen (deshalb der Punkt unter dem konsonantischen Lautzeichen, der Konsonant ist nach der hier vertretenen Auffassung „ambisilbisch“, was aber nicht weiter diskutiert werden kann; vgl. Hall 2000: 263ff.): lange Silbe kurze Silbe legen [leː.gən] lecken [lɛḳən] rußen [ruː.sən] Russen [rʊṣən] Schote [ʃoː.tə] Schotte [ʃɔṭə] Staren [ʃtaː.rən] starren [ʃtaṛən] Hehler [hɛ.lɐ] Heller [hɛḷɐ] Tab. 14: Lange (offene) und kurze (geschlossene) Silben in D Die langen Silben in der ersten Spalte sind offen, die Silbengrenze liegt nach dem Nukleus. In den kurzen Silben der zweiten Spalte liegt die Silbengrenze in dem <?page no="74"?> 74 4 Laute und Silben (Phonologie und Phonotaktik) Konsonanten, der sowohl als Koda als auch als Onset fungiert. Auch das hat systematische Gründe: Im Mhd. (gesprochen und geschrieben ungefähr zwischen 1050 und 1350) war das noch anders. Damals waren, vom Ahd. her, alle offenen Silben kurz. Vogel wurde im Mhd. nicht [foːgəl] gesprochen, sondern [fɔgəl], lesen nicht [leːzən], sondern [lɛzən], liegen nicht [liːgən], sondern [lɪgən] usw. Was geschah im Übergang vom Mhd. zum Nhd.? Die offenen Silben konnten unmöglich geschlossen werden, weil das eine Menge Homophone zur Folge gehabt hätte; es hätte keinen Unterschied mehr zwischen nagen und Nacken, zwischen legen und lecken usw. gegeben. An sich stören Homophone nicht allzusehr, andere Sprachen funktionieren auch mit ihnen, doch hat sich offenbar das phonologische System des D dagegen „gewehrt“, und aus allen kurzen betonten Vokalen in offenen Silben wurden lange gehobene Vokale; die Betonung blieb erhalten. Wenn es aus systematischen Gründen schon nicht möglich war, eine konsonantische Grenze zu errichten, so ließ sich mit der Längung des Vokals die Silbe doch immerhin dehnen. An dieser Stelle noch mal zur Erinnerung: In G gibt es keine langen Vokale, in D hingegen wird die Vielzahl an Vokalen weidlich ausgenutzt und muss selbstverständlich ausgenutzt werden, wenn das einsilbige Wort tatsächlich ein Ziel phonologischer Entwicklung ist. 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) 8) 9) 10) [a] Lacken fallen stallen hassen lassen Massen nassen Rassen Button Ratten [a: ] lagen fahlen stahlen Hasen lasen maßen Nasen rasen baten raten [e: ] legen fehlen stehlen lesen Rees beten Reeten [ɛ] lecken fällen stellen Hessen lässig messen nässen betten retten [ɛ: ] lägen stählen läsen bäten Räten [ɪ] stillen hissen missen Nissen rissen bitten ritten [ɪ: ] liegen fielen Stielen hießen ließen miesen niesen Riesen bieten rieten [ ͻ ] locken vollen Stollen Nossen Rossen Botten rotten [o: ] logen Fohlen gestohlen Hosen losen Moosen Rosen boten roten [ö] lögen völlig lösen Mösen böten röten [ʊ] Stullen Russen [u: ] lugen stuhlen Husum Loser Musen rußen buhten Ruten [ü] Lücken füllen müssen Nüsse Bütte rütteln [ü: ] lügen fügen Stühle müßig büte [aʊ] laugen faulen hausen lausen mausen raus bauten Rauten [a͜i] feilen steilen heißen leisen Meisen reisen Beitel reiten [ɔ͜y] leugnen fäulen Häuser Läusen Mäusen Reusen beuten Tab. 15: Bedeutungsunterschiede aufgrund des Silbennukleus in D Alle Wörter in Tab. 15 sind - mehr oder weniger gebräuchliche - Wörter in D, mit Ausnahme der beiden kursiv gesetzten Fremdwörter. Die Einträge unterscheiden sich zunächst im Silbennukleus, also in den durchgehend betonten Vokalen; diese sind distinktiv. In den Spalten 4 bis 8 bestimmt die Vokallänge jedoch auch den anschließenden s-Laut: Nach langen Vokalen ist er stimmhaft [z], nach kurzen ist er stimmlos [s]. Noch etwas anderes ist jedoch interessant: die doch relativ geringe Anzahl an Beispielen. Wie man sich anhand von Tab. 15 denken kann, gibt es erheblich mehr Wortpaare und Worttriple, die sich nur in den Vokalen unterschei- <?page no="75"?> 75 4.2 Zahlen, Körperteile und Konjugationen den, doch wird in keinem Fall das gesamte Repertoire an möglichen Oppositionen ausgeschöpft. An sich wäre das ja eine ideale Möglichkeit, zu neuen Wörtern zu kommen. Allerdings ist die produktive Phase der Wortschöpfung längst vorbei und es gibt mittlerweile so viele Möglichkeiten der Wortbildung, dass es sich nicht lohnt, die noch zahlreich vorhandenen Lücken zu füllen. In G, wie in Silbensprachen allgemein, braucht man sich mit solchen Überlegungen gar nicht erst abzugeben. So gibt es, was Wortstruktur und Wortlänge angeht, auch keinen Unterschied zwischen dem AG Homers und dem heutigen G, und es können ohne weiteres eine Menge altgriechischer Wörter unverändert im Neugriechischen weiterleben ( παιδεία, τραγωδία, μέγεθος, τέλος, ... [pedía, tragodía, méjethos, télos] - ‚Bildung, Tragödie, Größe, Ende‘). Das gilt nicht für D und genauso wenig für E und F. Man kann folgern: Wenn es so strikte Akzentregeln gibt wie in D-E-F (so unterschiedlich sie auch sein mögen), tendieren Wörter dazu, ihren semantischen Schwerpunkt in einer einzigen Silbe zu konzentrieren. Von der anderen Seite aus formuliert: In Silbensprachen bedeutet eine einzelne Silbe fast gar nichts, weil die meisten Silben mindestens eine andere brauchen, um semantisch relevant zu sein; in Wortsprachen hingegen hat - tendenziell - jede Silbe eine eigene Bedeutung. Das wird in Deklinationsparadigmen sehr deutlich; die Artikel und (beispielhaft genannten) Präpositionen in der folgenden Tabelle sind hier von entscheidender Bedeutung: D E F G Si. N das Kind the child l’ enfant το παιδί (to pedí) G des Kinds (Kindes) of the child de l’enfant του παιδιού (tu pediú) D dem Kind (Kinde) to the child à l’enfant στο παιδί (sto pedí) A das Kind the child l’enfant το παιδί (to pedí) Pl. N die Kinder the children les enfants τα παιδιά (ta pediá) G der Kinder of the children des enfants των παιδιών (ton pedión) D den Kindern to the children aux enfants στα παιδιά (sta pediá) A die Kinder the children les enfants τα παιδιά (ta pediá) Tab. 16: Deklinationsparadigmen in D-E-F-G In G ist (in diesem Beispiel) in keinem Kasus der Wortstamm betont; im Gegenteil rückt der Akzent im Genitiv Si. und im gesamten Pl. noch weiter vom Stamm weg auf die Endung. Eine solche Entfernung der Betonung vom Stamm ist in D ganz unmöglich. Vielmehr gibt es hier (wie erwartet) eine gegenläufige Entwicklung: Wo es phonologisch möglich ist, wird die unbetonte Nebensilbe der Endung in der Aussprache unterschlagen oder mindestens abgeschwächt. So wird im Genitiv Si. der ursprünglich silbischen Kasusmarkierung der Nukleus entzogen und die Koda direkt an den Stamm angebunden (statt Kindes: Kinds). Zugleich fallen sowohl im gesprochenen als auch - in dessen Folge - im geschriebenen Deutsch redundante Kasusmarkierungen weg: Das „Dativ-E“ ist eine solche redundante Markierung, da der Artikel (dem / einem) bereits eindeutige Auskunft über den Kasus gibt. Im Plural bleibt die Zweisilbigkeit zwar erhalten, allerdings wird die Endung auch hier abgeschwächt, indem sie geöffnet wird: [kɪndɐ]. Im Dativ ([kɪndɐn] oder [kɪndərn]) ist sie zwar geschlossen, bleibt aber selbstverständlich ohne Akzent. <?page no="76"?> 76 4 Laute und Silben (Phonologie und Phonotaktik) Die Festlegung des Wortakzents auf die Stammsilbe führt also in D dazu, dass das Wort tendenziell in eine Silbe zusammengeschoben wird. Dabei sind nicht die zusammengesetzten Wortungetüme gemeint, die vor allem im Amtsdeutsch gerne vorkommen (BaföG = Bundesausbildungsförderungsgesetz), oder die alltäglichen Zusammensetzungen wie Farbfernseher, obwohl allerdings gerade diese alltäglichen Zusammensetzungen ein weiterer Beleg sind: der Farbfernseher besteht phonologisch nur aus drei (je nach Aussprache vier) Silben = drei Wörtern, die nach deutschen Wortbildungsregeln jedoch als ein Wort wahrgenommen und geschrieben werden. Außerdem sollte auffallen (in Tab. 16 ist durch Fettdruck hervorgehoben, worauf es hier ankommt), dass Kasusmarkierungen und Präpositionen in einem sehr instabilen Verhältnis zueinander stehen. Hier ist es D, das irgendwie zwischen E-F auf der einen und G auf der anderen Seite steht. In E-F gibt es eine unmarkierte Form für den Singular und eine markierte Form für den Plural. D befindet sich seit langem auf dem Weg zu denselben Verhältnissen: im Singular wird die Dativ-Endung abgebaut, die Genitiv-Endung fehlt in bestimmten Kontexten schon seit Jahrhunderten: „Werthers Leiden“ ist richtig, aber „Die Leiden des jungen Werther“ (seit 1787) ebenfalls, nachdem die Erstauflage des Romans von 1774 noch „Die Leiden des jungen Werthers“ geheißen hatte. Auffallenderweise stimmen in allen vier Sprachen (und vielen weiteren) mindestens die Nominativ- und Akkusativformen überein, was selbstverständlich nicht nur im Rahmen der Phonologie, sondern auch der Morphologie zu bedenken ist, und auch nicht nur dort, sondern außerdem in der Syntax. Eingefroren ist jedoch - in D und nur im Mask. - die Verschiedenheit des Artikels in Nominativ und Akkusativ Si. (der - den). Die Tabelle zeigt (und das gilt nicht nur für dieses Beispiel), dass Substantive phonetisch entlastet werden: Ihre syntaktische Bedeutung wird entweder topologisch, über die Stellung innerhalb des Satzes, zugewiesen, oder durch ausgelagerte Wörter, nämlich Artikel und Präpositionen. Daher konnten in E und F alle, in D und G immerhin einige Kasusmarkierungen aufgegeben werden. Was hier zu fassen ist, ist die Entwicklung von synthetischen Sprachen, in denen inhaltliche und syntaktische Informationen in einem einzigen Wort ausgesagt werden, zu analytischen Sprachen, die mehr oder weniger sauber zwischen beidem trennen. Dass analytische Sprachen als Sprachen konsequenter sind, muss nur deshalb betont werden, weil Wilhelm von Humboldt und eine Menge Sprachwissenschaftler und Linguisten in seinem Gefolge der Überzeugung waren und sind, dass das Gegenteil der Fall sei. Analytische Sprachen basieren jedoch auf dem fundamentalsten sprachlichen Universale schlechthin: Jede Sprache geschieht in der Zeit, jede Äußerung hat einen Anfang und ein Ende, was sowohl für die Produktionsals auch für die Rezeptionsseite gilt. Demgegenüber geschieht visuelle Wahrnehmung der Welt von ihrer Anlage her synchron, was auch bedeutet, dass der Seher stets selbst entscheiden muss, was wichtig ist. In sprachlicher Kommunikation wird diese Entscheidung zuallererst vom Sprecher getroffen. Indem (europäische) Sprachen zu analytischem Bau tendieren, ziehen sie die Konsequenz aus dieser grundsätzlichen Sequenzialität (Hinrichs 2004). Ob ein oder mehrere grammatische Lexeme vor oder hinter dem semantischen steht oder stehen, ist in dieser Perspektive irrelevant. <?page no="77"?> 77 4.3 Was geschieht mit Fremdlauten? Wie erwähnt, deutet die Tatsache, dass die ersten Wörter von Kindern dem Muster KV.KV folgen, darauf hin, dass eine Silbensprache (deren Silben nach hinten offen sind, also ohne Koda) leichter auszusprechen ist als eine Wortsprache, deren Silben (im Idealfall) geschlossen sind und (in vielen Fällen) durch extrasilbische Elemente erweitert werden. Andererseits ist aber eine Sprache, deren Silben dem komplexeren Muster KVK folgen, leichter zu verstehen, da erstens die Wörter tendenziell kürzer sind und zweitens, rein rechnerisch, die Zahl der möglichen Silben erheblich größer ist, zumal bei der Möglichkeit, extrasilbisch zu erweitern. Hinzu kommt folgender Unterschied in Wortsprachen: Komplexe Silben stehen ausschließlich in betonter Position, während die einfacheren KV-Silben unbetont sind / sein können. Da die betonten Silben aber zumeist den Wortstamm bilden, d.h. die semantische Hauptinformation liefern, ist die Inhaltsseite der Wörter phonologisch exponierter und damit leichter zu erfassen. In der Silbensprache G gibt es eine solche Stammpräferenz der Betonung nicht; so heißt es zwar κύριος , aber κυρία (kírios, kiría ‚Herr, Frau‘]). Die Decodierung des lautlichen Ereignisses fällt daher schwerer. Bei Abb. 7 handelt es sich um zwei Oszillogramme der mündlichen Wiedergabe der Benennungen der Körperteile aus Tabelle 6: oben G, unten D. Wie deutlich zu sehen, sind die deutschen Körperteile in der Aussprache kürzer als die griechischen (29 gegenüber 34,5 Sekunden). Bezogen auf die Silbenzahl ist D aber langsamer als G: 35 Silben in D gegenüber 70 Silben in G. Pro Silbe entspricht das 0,8 Sekunden in D, aber nur 0,5 Sekunden in G. Das liegt selbstverständlich daran, dass die griechischen Silben kürzer sind. In der Sprechgeschwindigkeit bringt die geringere Silbenzahl einer Wortsprache also nicht so viel, wie man vielleicht denken könnte, weil eben die Silben komplexer sind. Abb. 7: Oszillogramme der Aussprache der Benennungen von Körperteilen in G (oben) und D (unten) 4.3 Was geschieht mit Fremdlauten? Sprachen existieren nicht isoliert voneinander, nur übereifrige Sprachpfleger meinen immer wieder, sie isolieren zu müssen. Tatsächlich werden aber mit fremden Sachen immer auch fremde Wörter übernommen, die entweder, von den eher Sprachbegabten, fremd ausgesprochen oder in das eigene Phoneminventar integriert werden. Normalerweise und im Lauf der Zeit regelt sich das ganz von selbst. In D gibt es eine Vielzahl lateinischer Wörter, die nur noch Sprachhistoriker als solche erkennen, weil sie vollkommen, auch lautlich, in D integriert wurden, wobei Substantive etwa ihre Deklinationsendungen verloren, weil sie nicht mehr ge- <?page no="78"?> 78 4 Laute und Silben (Phonologie und Phonotaktik) braucht wurden, während die jeweils sprachspezifischen Adjektivendungen problemlos angepasst werden, von G nach L und von L nach D-E-F; eine kleine Liste: 12L) murus fenestra vinum tragicus comicus 12Ahd.) mura/ muro fenstar wîn - - 12D) Mauer Fenster Wein tragisch komisch 12AE) mûr fenester wîn trâisc - 12E) wall window wine tragic comical 12AF) mur fenêtre vin - - 12F) mur fenêtre vin tragique comique 12AG) τεĩχος θυρίς, παρόδιος οἶνος τραγικός κωμικός (teíkhos thyrís, paródios oínos tragikós komikós) 12G) τείχος παράθυρο κρασί, οίνος τραγικός κωμικός (tíchos paráthiro krasí, ínos trajikós komikós) Die ersten drei Beispiele sind in L-D-E-F einerseits und G andererseits verschiedene Wörter, E hat in zwei Fällen andere Wörter, von denen es das erste (wall) auch (mit etwas anderer Bedeutung) in D gibt. Die meisten Wörter aus AG oder L hatten seit den ersten Jahrhunderten nach Chr. viel Zeit, um in D-E-F heimisch zu werden. Zahllose Übernahmen seit dem 19. Jh. aber sind noch deutlich als Fremdwörter zu erkennen, was auch damit zusammenhängt, dass sie schriftlich fixiert wurden, was sie, zunächst und besonders im Mündlichen, allerdings nicht vor Kürzungen bewahrt hat: (Omni)Bus, Auto(mobil), Foto(grafie), Foto(apparat), ... Französische und englische Wörter werden teils phonetisch übernommen, teils eingedeutscht: Aus [balkɔ ̃ ] kann [balkɔŋ] oder [balkoːn] werden, aus [sigaʀɛt] wird [tsigarɛtə] mit Affrikate am Anfang und einem Schluss, der sich auf nette, hätte, Kette reimt, und aus F [tynɛl] oder E [tʌn ə l] wird D [tʊnəl]. Andererseits arbeiten wir immer noch mit einem Computer [kɔmpju: tɐ], wenn’s im Standardenglischen auch [kəmpju: təʳ] heißt, der allerdings auch ein PC ([pe: tse: ] und eher selten ein [pi: si: ]) ist. E, vor allem das amerikanische E, ist gnadenloser, indem es die meisten Fremdlaute anglisiert bzw. amerikanisiert [kɪndəgɑ: t ə n], ebenso wie sie in F französiert und in G gräzisiert werden. Lohnt es sich, wegen eines fremden Wortes gleich eine fremde (Aus)Sprache zu lernen oder ist nicht die Hauptsache, dass man sich verständlich machen kann? Man muss drei Sprechweisen unterscheiden: Eines ist eine muttersprachliche Aussprache der „native speaker“, die allerdings dia-, sozio- und anders-lektal geprägt ist und darauf beruht, dass dieser „native speaker“ (von Prüfungssituationen abgesehen) nicht spricht, um richtig zu sprechen, sondern zwischen „wie ihm der Schnabel gewachsen ist“ einerseits und andererseits, um verstanden zu werden. Etwas anderes ist eine sprachenübergreifende Gebrauchsaussprache, wozu der griechische „Akzent“ in D gehört, der französische in E usw.; auch hier geht es um das Verstandenwerden: die griechischen [gɛ: tə] und [ni: tsə] hören sich vielleicht lustig an, sind in ihrem jeweiligen Kontext aber doch eindeutig, nämlich (das nur, weil es hier den Kontext nicht gibt) ‚Goethe‘ und ‚Nietzsche‘. Und etwas Drittes ist die, euphemistisch sogenannte, „Standardaussprache“, die eher eine recht selten verwendete Hochaussprache ist, wie sie in Aussprachewörterbüchern festgelegt und von kaum jemandem außer Nachrichtensprechern wirklich gesprochen wird. Nur in mündlicher Kommunikation, in gesprochener Sprache, konkreter: im Sprechen und Hören treffen Sprachverwendungen unmittelbar aufeinander, und <?page no="79"?> 79 4.3 Was geschieht mit Fremdlauten? dabei kommt es, anders als im Schriftlichen, auf unmittelbare Verständlichkeit an. Eben dies ist es, was Beharren oder Wandel von Sprachen maßgeblich beeinflusst, von allen Sprachen, es sei denn, sie werden künstlich eingezäunt. <?page no="80"?> 5 Morphologie und Wortbildung In diesem und dem folgenden Kapitel geht es um Wörter und um Wortschatz, zunächst um Veränderlichkeiten und Zusammensetzungen und dann um Bedeutungen. Dass sich das (wie vieles in Sprache[n]) nicht sauber trennen lässt, ist klar, aber ich will doch kurz begründen, warum die Kombination aus Morphologie und Wortbildung sinnvoll ist und die Abtrennung der Lexik ebenfalls. Dass viele Wörter veränderlich sind, scheint selbstverständlich zu sein; dies geschieht systematisch, in Deklinations- oder Konjugationsparadigmen. Man wundert sich nicht darüber, dass Haus und Häuser, house und houses, maison und maisons, σπίτι ( spíti) und σπίτια ( spítia ) zusammengehören. Dass es sich dabei jeweils um Singular und Plural handelt (wobei man in F gar keinen Unterschied hört), muss gelernt werden, doch wäre es viel aufwendiger, wenn man lernen müsste, dass der Plural von Haus Gustav heißt, der von house football usw. (Kap. 4.1), und wir würden uns sehr darüber wundern, weil Sprache immerhin von Menschen für Menschen gemacht ist. Allerdings wundern wir uns nicht so sehr darüber - um bei D zu bleiben (aber nicht nur spaßeshalber sind im Folgenden auch die E-F-G-Wörter angegeben) -, dass es zwar Baum (tree - arbre - δέντρο [déndro]) heißt und man auch Tannenbaum (Christmas tree - sapin [de Noël] - χριστουγεννιάτικο δέντρο [christujeniátiko déndro]) sagen kann, doch der eigentliche, nicht-weihnachtliche Name ist Tanne (fir - sapin - έλατο [élato]), und andere Bäume heißen nicht Eichenbaum oder Buchenbaum, sondern nur Eiche (oak - chêne - δρυς [dr s]), Buche (beech - hêtre - οξιά [oksiá]) usw., was alles keinerlei Ähnlichkeit mit Baum (...) hat - auch wenn es Apfelbaum, Birnbaum, Pfirsichbaum, Mandelbaum usw. gibt. Andererseits wissen wir ziemlich genau (oder nicht? ), dass ein Adjektiv, das auf -bar endet, irgendetwas bezeichnet, was man machen kann, und ein Adjektiv auf -los benennt irgendetwas, dem etwas fehlt: Was essbar (edible / eatable - comestible - φαγώσιμος [fagósimos] ) ist, kann man essen, was trinkbar (drinkable - potable - πόσιμος [pósimos]) ist, kann man trinken, und beides ganz gefahrlos = ohne Gefahr (safe / harmless - sans danger - ακίνδυνος [akíndinos]); was lesbar (legible - lisible - ευανάγνωστος [evanágnostos]) ist, kann man lesen, ob das gefährlich ist oder nicht, spielt keine Rolle, da die Zeiten ja gottlos = ohne Gott? (godless - irréligieux - ασεβής / άθεος [asevís / átheos]) geworden sind. All das ist ziemlich sonderbar (strange - étrange - παράξενος [paráksenos]), oder sollte man es nicht wunderbar (wonderful / marvellous - fantastique / merveilleux - θαυμάσιος / υπέροχος [thavmásios / ipérochos]) finden, wie wandelbar (changeable - variable - ευμετατρέψιμος [evmetatrépsimos]) Sprache ist? Ohne die Wortgruppen näher analysieren zu wollen oder zu müssen, soll nur festgestellt werden: Es gibt durchaus Gemeinsamkeiten zwischen den Sprachen, doch ist nicht verlässlich voraussagbar, worin sie im Zusammenhang zwischen Wortbildung und Semantik bestehen. Der deutsche Wortschatz basiert auf nicht einmal 9.000 verschiedenen Wortstämmen (Splett 2009 geht von 8.264 aus), aus denen durch verschiedene Arten der Wortbildung ein paar Millionen verschiedene Wörter gebastelt werden können, dazu kommen auch noch eine Menge Fremdwörter, die ebenfalls kombinier-, i <?page no="81"?> 81 5 Morphologie und Wortbildung erweiter- und veränderbar sind. Es ist eine sehr einfache Rechnung: Ein paar Millionen Wörter zu erlernen (ich erinnere auch an die Rechnung in Kap. 4.1) ist ziemlich unmöglich; ein paar Tausend und dazu ein paar Hundert Bastelanleitungen, ist aber ganz offensichtlich problemlos machbar. Um einen Mittelwert zu nehmen: 5.000 x 500 (das sind insgesamt 5.500 Einheiten, die zu lernen sind) = 2.500.000, vollkommen ausreichend, und mit ein bisschen Erfahrung und gesundem Menschenverstand lässt sich das noch weiter vervielfachen, weil man Wörter auf ganz unterschiedliche Weise miteinander verbinden kann, wozu man nur noch eine Metaregel braucht, die besagt, welcher Wortteil den anderen determiniert: Ein Glasfenster ist etwas anderes als Fensterglas, Kartoffelsalat etwas anderes als eine Salatkartoffel und ein Baumstamm etwas ganz anderes als ein Stammbaum. Und nicht zu vergessen: Als aktiver Wortschatz genügen ca. 1 000 bis 5 000 Wörter, in alltäglicher Kommunikation noch weniger. Es gibt, wie schon im letzten Kapitel zu sehen war, in jeder Sprache sehr spezifische Möglichkeiten, einerseits mit immer größerer Informationsfülle umzugehen, andererseits diesen Umgang immer handhabbar zu halten. Sprachen, ihre Wortschätze und Grammatiken, sind selbstkonstituierende Systeme, ähnlich wie Rechtssysteme: Zwar dauert es eine gewisse Zeit, bis es geeignete Gesetze gegen Internetkriminalität gibt, weil es sich dabei um „Neuland“ 1 handelt, und das Rechtssystem kann durchaus versagen, aber niemand wird behaupten, dass man ein ganz anderes System bräuchte, beispielsweise ein Mittagessenssystem, um der Internetkriminalität Herr zu werden. Fast genauso ist es mit der Sprache: Wenn man an kommunikative Grenzen stößt, kann man durchaus die (Fach-)Sprache wechseln, aber ein solcher Wechsel ist ein Wechsel von einer Sprache zu einer anderen Sprache und nicht etwa zu Rolladenkästen. Noch Ende des 17. Jhs. war es fast unmöglich, auf Deutsch Philosophie zu betreiben (Leibniz 1697), weil es keine geeignete Terminologie gab, und es gibt vermutlich nur noch eine kurze Zeit lang viele kleine Sprachen, die deshalb verschwinden, weil sie in einer größer (oder kleiner? ) werdenden Welt nicht mehr alle kommunikativen Bedürfnisse befriedigen können. Andererseits gibt es aber auch Situationen, in denen Sprache versagt und in denen es sinnvoll scheint, nicht-sprachliche Kommunikationsformen zu wählen und eben doch nicht von einer Sprache zu einer anderen, sondern zu Blumen oder Streicheleinheiten oder anderem zu wechseln. Doch auch das löscht Sprache nicht aus und belegt keinesfalls, dass nicht-sprachliche Kommunikation grundsätzlich besser ist als sprachliche. Man tut stattdessen sehr gut daran, freundlich mit ihr umzugehen, sich darüber zu freuen, dass man in vielen Sprachen sehr leicht aus einem Tätigkeitsverb eine Berufsbezeichnung bilden kann, und sich darüber zu wundern, dass das keineswegs regelhaft geschieht. Wer lehrt, ist ein Lehrer (teach - teacher, enseigner - enseignant, διδάσκω - δάσκαλος [didásko - dáskalos]), wer malt, ist ein Maler (paint - painter, peindre - peintre, ζωγραφίζω - ζωγράφος [zografízo - zográfos]), wer baut (build - construire - χτίζω [chtízo]), ist aber kein Bauer (farmer - paysan - αγρότης [agrótis]), sondern ein Bauarbeiter (building [or construction] worker - ouvrier du bâtiment - οικοδόμος [ikodómos]), und ein Müller (miller - meunier - μυλωνάς 1 Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Pressekonferenz mit dem amerikanischen Präsidenten Barack Obama am 19.06.2013 in Berlin: „Das Internet ist für uns alle Neuland.“ . . <?page no="82"?> 82 5 Morphologie und Wortbildung [milonás]) müllt (*mill - *meunir - * μυλώνω [milóno]) nicht, sondern mahlt (grind - moudre - αλέθω [alétho]), ohne jedoch *Mahler (*grinder - *moutre - *αλέθος [aléthos]) zu sein, und ein Schneider (tailor - tailleur - ράφτης [ráftis]) schneidet (cut - couper - κόβω [kóvo]) nicht nur, aber nicht etwa Papier oder Pappe, stattdessen näht (sew - coudre - ράβω [rávo]) er auch, und insgesamt kann man sagen, dass er schneidert (*tail [work as a tailor] - *tailler [être tailleur] - ράβω [rávo]), während ein Kocher (stove - réchaud - βραστήρας [vrastíras]) gar niemand ist, denn wer kocht (cook - cuisiner / faire la cuisine - μαγειρεύω [majirévo]), ist ein Koch (cook - cuisinier - μάγειρας [májiras]) in einer Küche (kitchen - cuisine - κουζίνα [kuzína]; diese griechische κουζίνα ist aber nicht nur die Küche, sondern auch der Herd mit zugehörigem Ofen). Nach diesen Beispielen ist klar, dass ich die obige Formulierung revidieren muss: Mit „gesundem Menschenverstand“ hat das relativ wenig zu tun, warum es Fremdsprachenlernern auch so schwer fällt, mit allen Inkonsequenzen einer für sie neuen Sprache fertig zu werden. Da ist es immerhin von Vorteil, dass man Inkonsequenz als Kategorie ja aus der eigenen Muttersprache kennt und selbstverständlich nicht damit rechnet, es könnten in einer Fremdsprache geordnetere Verhältnisse herrschen. Wo allerdings genau die Unordnung herrscht und wie sie jeweils systematisiert ist, muss durchaus gelernt werden. Dass es in diesem Kapitel eher um die Ordnungen geht als um die Unvorhersagbarkeiten, wird nicht erstaunen. Es stellt sich nämlich die sehr grundsätzliche Frage, wie flexibel, wie geschmeidig Sprachen ihren Benutzern zur Verfügung stehen, wie dehnbar sie sind und doch noch und gerade damit ihre Funktion erfüllen. Ganz einfach und ganz unwissenschaftlich gefragt: Wie kommt es, dass die höchst entwickelte Morphologie des Proto-Ide. sich in E fast in Nichts aufgelöst hat und trotzdem erheblich mehr mit E anzufangen ist, als ein Protoindoeuropäer sich das vor ein paar tausend Jahren vorstellen konnte? Ich suche eine Antwort auf diese Frage im Vergleich einiger morphologischer Gewohnheiten und Möglichkeiten in D-E-F-G und deren Vorläufern. Dafür werfe ich zunächst einen kurzen Blick auf Deklinationen, wende mich (wieder) den etwas spannenderen Konjugationen zu und gehe schließlich auf einen Sonderbereich ein, nämlich die suppletiven Wortformen (die ungefähr nach Haus und Gustav funktionieren). Im zweiten Teil dieses Kapitels werden die wichtigsten Wortbildungsmöglichkeiten auf ihre Fruchtbarkeit hin untersucht. 5.1 Morphologie 5.1.1 Deklinationen Schon Kap. 4 hat gezeigt, dass in D-E gegenüber älteren Sprachstufen die Wortendung abgeschliffen, anders gesagt: ein zweites, nämlich grammatisches Morphem eliminiert wird, weil eine doppelte Markierung, einerseits als Artikel oder Pronomen vor und andererseits als Endung nach dem lexikalischen Morphem, selbstverständlich redundant ist und damit sehr unökonomisch. In dem oben (Tab. 16, Kap. 4.2) als Beispiel herangezogenen Deklinationsparadigma ist F am weitesten gegangen. Um von hier aus die größte Spanne zu benennen: Im Proto-Ide. gab es acht <?page no="83"?> 83 5.1 Morphologie Kasus (Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ, Ablativ, Vokativ, Instrumental, Lokativ), jeweils in Si. und Pl., wahrscheinlich auch in Dual, was im Höchstfall zu 24 unterschiedlichen Wortformen führen konnte. In mündlichem F (code phonique) ist eine einzige, nämlich die kürzest mögliche übriggeblieben [ɑ̃ fɑ̃ ]. Allerdings gab es im Proto-Ide. keine Artikel, ebenso wenig wie später in L; die Artikel der romanischen Sprachen sind aus dessen Demonstrativpronomen entstanden, deren Einzelformen (in F) aber auch wieder weitgehend abgebaut wurden. Ob es sich bei einer Substantivform in F um Singular oder Plural handelt, ist heute allenfalls noch am Artikel zu hören. Um die Entwicklung (in den ide. Sprachen) sehr zu typisieren, die darauf hinausläuft, dass die Inhaltswörter grammatisch (und die grammatischen Wörter semantisch) entlastet werden, und von da aus die Unterschiede beschreiben zu können: Proto-Ide. semantische +grammatische Morpheme AG / G grammatisches Lexem semantische +grammatische Morpheme D-F grammatisches Lexem semantisches Lexem E P o s i t i o n i m S a t z Tab. 17: Aus Morphologie wird Syntax Die grammatischen Morpheme haben im striktesten Fall einiges an Arbeit zu leisten, indem sie drei Kategorien markieren müssen: Genus, Kasus, Numerus, d.h.: Sie müssen einigermaßen deutlich gegeneinander markiert sein. Da AG das ausgeprägteste System hat, stelle ich es in einer Auswahlübersicht dar. Ich beschränke mich auf drei nach Genus unterschiedenen Paradigmen und stelle G daneben. Die lateinische Umschrift kann ich in diesem Fall weglassen, da die Beispiele so gewählt sind, dass die Unterschiede, auf die es ankommt, im Schriftbild sichtbar sind; was wichtig ist, ist in der anschließenden Diskussion umgeschrieben. AG (Mask.) G (Mask.) AG (Fem.) G (Fem.) AG (Neutr.) G (Neutr.) Si. Nom. ὁ λόγος ο λόγος ἡ ἰδέα η ιδέα τὸ δῶρον το δώρο Gen. τοῦ λόγου του λόγου τῆς ἰδέας της ιδέας τοῦ δώρου του δώρου Dat. τῷ λόγῳ Präp.+A. τῇ ἰδέᾳ Präp.+A. τῷ δώρῳ Präp.+A. Akk. τὸν λόγον τον λόγο τη ιδέα τὸ δῶρον το δώρο Vok. ὦ λόγε λόγε ἡ ἰδέα - ὦ δῶρον - Pl. Nom. οἱ λόγοι οι λόγοι αἱ ἰδέαι οι ιδέες τὰ δῶρα τα δώρα Gen. τῶν λόγων των λόγων τῶν ἰδεῶν των ιδεών τῶν δώρων των δώρων Dat. τοῖς λόγοις Präp.+A. ταῖς ἰδέαις Präp.+A. τοῖς δώροις Präp.+A. Akk. τοὺς λόγους τους λόγους τὰς ἰδέας τις ιδέες τὰ δῶρα τα δώρα Vok. οἱ λόγοι λόγοι αἱ ἰδέαι - τὰ δῶρα - Tab. 18: Deklinationen in AG und G Dazu 4 Bemerkungen - auf die Akzentverhältnisse muss hier nicht eingegangen werden: τὴν ἰδέαν <?page no="84"?> 84 5 Morphologie und Wortbildung 1) Der Dativ wurde in G vollständig abgebaut und durch eine Präpositionalphrase mit Akk. ersetzt, ähnlich wie in E und F, was bei deutschlernenden Engländern, Franzosen und Griechen zu ständigen Problemen führt: 13D) Ich gebe das Buch meinem Bruder. 13E) I give the book to my brother. 13F) Je donne le livre à mon frère. 13G) Δίνω το βιβλίο στον αδελφό μου. (díno to vivlío ston adelfó mu.) 2) Im Si. wurden Mask. und Neutr. in Nom. und Akk. durchgehend, in Fem. immerhin im Akk. um den Schlusskonsonant gekürzt. 3) Die Kasusmarkierung wurde damit tendenziell in den Artikel verlagert. Dabei konnten einerseits in Fem., andererseits zwischen Fem. und Mask. formale Homonyme ohne weiteres in Kauf genommen werden, da in Kombination aus Artikel und Substantivendung Eindeutigkeit hergestellt wurde. Im Einzelnen: Aus den Doppelmarkierungen wird einfache Markierung η ιδέα - την ιδέα (i idéa - tin idéa), was auch deshalb möglich ist, weil die (irgendwo dazwischenstehende 2 ) Dativform τῇ ἰδέᾳ (tei idéai) weggefallen ist. In Pl. Nom. Fem. und Mask. kann im Artikel auf weitere Unterscheidung verzichtet werden. 4) Grundsätzlich: Die Endungen sind, a) insofern sie den Numerus markieren, sowohl in AG als auch in G sehr differenziert; b) insofern Sie das Genus markieren, vor allem zwischen Mask. und Neutr., nicht sehr differenziert, c) insofern sie den Kasus markieren, in AG differenzierter als in G. Was bedeuten diese Beobachtungen, die sich auch in D-E-F-L, und hier wie dort vor allem in mündlicher Sprache aufzeigen lassen, unter kontrastivem Gesichtspunkt? Ich beginne mit dem Genus. In (den meisten) ide. Sprachen gibt es immer noch, zumindest rudimentär, drei Genera: Mask., Fem. und Neutr. Die Unterscheidung geht davon aus, dass es einerseits Lebewesen, und zwar männliche und weibliche, gibt und andererseits Gegenstände, Sachverhalte usw. Dass eine solche Unterscheidung sich nicht ohne weiteres durchhalten lässt, ist allerdings von vornherein klar, unter anderem aus folgendem Grund: Bei den meisten Lebewesen ist nicht so leicht zu bestimmen, ob ein konkretes Exemplar männlich oder weiblich ist, z.B. bei Mäusen, Fliegen, Schmetterlingen, aber europäische Stadtbewohner dürften selbst bei Elefanten Probleme haben. Welches Genus soll ein übergeordneter Begriff haben, der sowohl die weiblichen als auch die männlichen Exemplare einer biologischen Art oder Gattung benennt? Ein Beispiel, in der Anordnung von D ausgehend: 2 Die ursprünglich diphthongische Endung αι wurde in nachklassischer Zeit zu langem α ; das ι wurde als sogenanntes iota subscriptum unter das α geschrieben (bzw. blieb bei Großbuchstaben als iota adscriptum auf Zeilenebene erhalten: Αι (Bornemann/ Risch 2012: 4); in G wurden diese beiden Iotas eliminiert: aus AG Ἅιδης (Haides) wird Ἀδης (Ádis). ἡ ἰδέα - τὴν ἰδέαν (he idéa - ten idéan) <?page no="85"?> 85 5.1 Morphologie Neutrum das Rind the cow le bovin το βόδι (to vódi) Maskulinum der Stier der Ochse the bull l’ox le taureau le bœuf ο ταύρος το βόδι (o távros to vódi) Femininum die Kuh the cow la vache η αγελάδα (i ajeláda) Abb. 8: Rinder Dass eine Sprache mit Rind auf ein Neutrum (d.h. weder Fem. noch Mask.) ausweicht, leuchtet nicht so ohne weiteres ein. Und dass der Ochse sein männlichstes Merkmal und seine (rein biologisch) männliche Funktion verloren hat, aber nicht seinen männlichen Artikel, sieht man dem Wort auch nicht an (wobei Deutschlerner bei Wörtern, die auf e enden, eher zu Fem. neigen). Gilt das auch für die anderen Sprachen? Wie man’s nimmt: Aus E kann man ohnehin keine Erkenntnisse gewinnen, weil der Artikel immer nur the ist und die Endung des Substantivs keinerlei Auskunft gibt, weil es keine Endung gibt. F sollte man aber auch nicht vertrauen, da sowohl die Gattungsbezeichnung als auch die beiden männlichen Vertreter mit le nichts verraten können, da es kein Neutr. gibt, während la vache qui rit auf den Käseschachteln tatsächlich ein wenig weiblich aussieht. G nimmt hingegen die Geschlechtslosigkeit sowohl der Gattung als auch des deutschen Ochsen ernst, was jedoch gleich weiter erörtert werden muss. Vorerst und ohne eine Menge anderer Beispiele zitieren zu müssen: Die eine Sprache macht es so, die andere so - das ist die semantische Seite. Wenn aber der Wortschatz von Sprachen - bekanntlich - auf Konventionalität beruht, spricht ja nichts dagegen, auch den generischen Zusammenhang zur Welt ganz aufzugeben oder rein sprachlich zu motivieren. Eben das ist der Fall in den obigen Benennungen in G: Substantive auf -a sind fem., und die auf -i sind neutr., mit dem Geschlecht des Lebewesens in der Welt hat das gar nichts zu tun; selbstverständlich gilt diese Regel aber auch nicht ohne Ausnahme, sondern auch hier geht einiges ziemlich durcheinander. In D gibt es - erstaunlicherweise - für Neutr. die konsequenteste Genuszuweisung bei den Diminuitiv- (oder Kose-)Formen -chen und -lein; bei Fem. sind es die Abstrakta auf -heit, -keit und -ung; Maskulina sind hingegen eher semantisch motiviert (vielleicht mit Ausnahme von Liebling, was mask. und fem. sein kann, je nachdem, wer zu wem spricht, und dann gibt es z.B. noch den Lehrling, der sprachlich mask. ist, inhaltlich aber selbstverständlich auch fem. sein kann, wenn man das Wort nicht aus ideologischen oder anderen Gründen ganz ablehnt und lieber Auszubildende/ r oder die Abkürzung die oder der Azubi verwendet, was wahrscheinlich auch sinnvoller ist).Aufgrund der Stammbetonung in den germanischen Sprachen und dem daraus folgenden Abbau des grammatischen Morphems am Ende des Worts, lässt die Wortform in diesen Sprachen aber ohnehin keinen Rückschluss mehr auf das Genus zu. Zwar gibt es Gebrauchsregeln (so sind in D alle alkoholisch starken Ge- <?page no="86"?> 86 5 Morphologie und Wortbildung tränke wie auch - selbstverständlich! - alle Automarken mask.), aber es gibt, anders als in G, nur noch historisch zu verstehende formale Regelmäßigkeiten. Im Gegensatz dazu hat E es ganz aufgegeben, das Genus an Substantiven zu markieren; es spielt hingegen in pronominaler Wiederaufnahme eine Rolle (Kap. 7.2). F macht in dieser Hinsicht der Sprache ein Zugeständnis, wenn auch nur ein kleines, insofern im Singular vor allen Substantiven, die mit einem Vokal beginnen, die Genusmarkierung sowohl mündlich als auch schriftlich aufgegeben ist (la/ le > l’). Auch im Numerus wurde semantische Motiviertheit abgebaut. Wie schon erwähnt, gab es eventuell im Proto-Ide., sicher aber z.B. im archaischen, vorklassischen AG zwischen Singular und Plural noch einen Dual, der Dinge benannte, die in der Regel paarweise auftreten: Füße, Hände, Eltern usw. Von einem Dual haben sich z.B. im Bairischen in es und enk noch formale Reste erhalten, die aber mittlerweile pluralisch verwendet werden als ‚ihr‘ und ‚euch‘. Warum gab es ihn einmal und gibt es ihn in sehr wenigen Sprachen noch? Offenbar war man irgendwann der Meinung, dass sich Welt in Sprache auf diese Weise irgendwie korrekt abbilden lässt: Was in der Welt zusammengehört, muss auch sprachlich als zusammengehörend markiert sein - von wegen Konventionalität! Die Eliminierung des Duals belegt, dass Sprache, je mehr kommunikative Anforderungen an sie gestellt wurden, umso abstrakter wird. Es treffen dabei zwei Systeme aufeinander: Ein sprachliches, das Welt abbilden, und ein kommunikatives, das Verständigung ermöglichen will / soll / kann / muss. Die Kommunikation gewinnt eindeutig und selbstverständlich die Oberhand. Die zunehmende Abstraktheit gilt in den ide. Sprachen für alle drei grammatischen Kategorien des Nomens; in besonderer Weise aber für das Kasussystem, von dem nicht mehr allzu viel übrig geblieben ist. Die syntaktische Funktion von unterschiedlichen Kasus wird von Präpositionalgefügen erfüllt. Das ausgeprägte Kasussystem erspart L, sehr vereinfacht gesagt, ein Artikelsystem (vgl. Kap. 12.1). In F ist es eher umgekehrt: keine Spur der lateinischen Kasus mehr, stattdessen Artikel, die allerdings nicht (mehr) zwischen den verschiedenen Kasus, sondern nur zwischen Genera und Numeri unterscheiden. Und E geht, wenn auch historisch aus anderen Gründen, noch einen Schritt weiter: Alle Kasusmarkierungen sind verschwunden, und auch die Genitivmarkierung bei Eigennamen wird durch Analogieausgleich mehr und mehr ersetzt: 14E) Peter’s house | the house of my family > the house of Peter Bekanntlich verabschieden sich auch Deutsche (vorzugsweise umgangssprachlich) von ihrem possessiven Genitiv: 14D) Peters Haus | das Haus meiner Familie > das Haus von/ vom Peter, dem Peter sein Haus | das Haus von meiner Familie, meiner Familie ihr Haus Abschließend noch einmal ein Blick auf Tab. 17: Wenn tendenziell grammatische Morpheme eliminiert und als isolierte bzw. isolierbare Lexeme ausgelagert werden, wie auch in den Sätzen 14) zu sehen, bricht ein synthetisch zu nennendes Deklinationssystem zusammen: Genus und Kasus werden als Kategorien überflüssig. Aus Gründen der Verständlichkeit muss die Numerusunterscheidung jedoch in irgendeiner Markierung erhalten bleiben: E macht das merkwürdigerweise morphemisch (the house - the houses), F lexemisch: la maison - les maisons, das Plural-s <?page no="87"?> 87 5.1 Morphologie ist jedoch ein Schriftlichkeitsrelikt, das mündlich längst beseitigt ist, es sei denn, das folgende Wort beginnt mit einem Vokal. D und G sind traditioneller, sie haben in den meisten Fällen nach wie vor Doppelmarkierungen, was unter ökonomischem Gesichtspunkt ziemlich katastrophal ist und beide Sprachen für Nichtmuttersprachler auch so schwer erlernbar macht. 5.1.2 Konjugationen Dieses Kapitelchen werde ich auch dazu nutzen, vor (oder nach) dem System auch den Gebrauch, d.h. vor (oder nach) der Sprache auch das Sprechen zu diskutieren - auf die in den Klammern zitierte Diskussion muss ich mich allerdings nicht einlassen (vgl. Krämer/ König 2002). Eine solche Diskussion ist bei der Behandlung der Verbparadigmen besonders angebracht, da sich die grammatischen Kategorien des Verbs mehr als alle anderen einer Digitalisierung entziehen: Die grammatisch bedingten Homonyme des Nomens sind normalerweise problemlos syntaktisch auflösbar (Kap. 9), ebenso wie alle homonymen Präpositionen; die grammatischen und pragmatischen Homonyme des Verbs hingegen sind in vielen Fällen nur kommunikativ zu dekodieren. Wie das geschieht, ist jedoch von Sprache zu Sprache verschieden; ich erinnere an die futurischen Aussagen in den Beispielen 2) und verweise voraus auf Kap. 13. Im Zentrum der (meisten) Sätze menschlicher Sprachen steht eine Verbalphrase, was ganz einfach daran liegt, dass alles auf der Welt entweder ist oder wird, geschieht oder gemacht wird, und das gilt eben auch für Sprache, weshalb (fast) alle Sätze, denen eine Verbalphrase fehlt, offensichtlich Ellipsen sind. Wer spricht, handelt, was nicht erst seit der Formulierung der Sprechakttheorie in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts der Fall ist. 15D) Hilfe! = Ich brauche Hilfe. 15E) Happy birthday! = Ich wünsche dir einen schönen Geburtstag! 15F) Merde! = So eine Sch...! 15G) Τι κάνεις Καλά. (Ti kánis Kalá.) = Wie geht es dir? Mir geht es gut. Das Verb (im Zentrum einer Verbalphrase) ist ein höchst komplexer syntaktischer Mitspieler, es muss erheblich mehr leisten als alle anderen, und es wird ihm auch erheblich mehr zugemutet, aber auch zugetraut als allen anderen. Was das genau bedeutet, lässt sich am frühen Ahd. zeigen, weil es ein relativ übersichtliches Formensystem hat. Dabei muss man sich selbstverständlich bewusst sein, dass Ahd. eine mündliche Sprache war, die uns allerdings nur schriftlich bekannt ist. Im Folgenden werden zunächst die in D-E-F-G und deren Vorgängersprachen verfügbaren Verbformen zusammengestellt. Dabei muss auf terminologische Differenzierungen (Präteritum / Imperfekt / past tense / Paratatikos; Konjunktiv / Subjonctif) kein Wert gelegt werden, da es nicht auf die semantische Funktion ankommt, sondern auf die Formen(bildung), allerdings habe ich bei Unterschieden die einzelsprachlich üblichen Bezeichnungen beibehalten. - Als erstes die Gemeinsamkeiten, d.h. die Universalien von D-E-F-G: - Genus: Alle Sprachen haben eigenständige Aktivformen; Passiv gibt es auch in allen Sprachen, allerdings ist es nur in L, AG und G synthetisch gebildet, als eigene Form, in allen anderen Sprachen findet die Bildung periphrastisch statt. ; ; <?page no="88"?> 88 5 Morphologie und Wortbildung - Tempus: Alle Sprachen haben eine Gegenwarts- und eine Vergangenheitsform: Präsens, Präteritum. Darüber hinaus gibt es in allen Sprachen, mit Ausnahme des Ahd. und AE, zusätzliche Verbformen, sowohl für Vergangenheit als auch für Zukunft. - In dieser Kategorie sind auch Aspektformen genannt (s.u.); das ist nicht ganz sauber, lässt sich hier aber auch nicht säubern. - Modus: Alle Sprachen haben einen Indikativ, mit dem Weltausschnitte als so seiende ausgesagt werden, und einen Imperativ, der allerdings in allen Sprachen defekt ist: Nirgendwo existiert ein Imperativ in 1. Si. - Numerus: Alle Sprachen haben Singular und Plural. - Person: Alle Sprachen haben (in Si. und Pl.) eine 1., 2. und 3. Person, d.h.: Sprecher/ in, Angesprochene/ r (beides ohne Differenzierung! ), Referenzperson oder -gegenstand (ohne Differenzierung des grammatischen Geschlechts). - Die Kategorie Person muss daher in der folgenden Tabelle nicht auftauchen. Als Partizipien diffenziere ich nur grob zwischen 1 und 2, normalerweise Präsens und Vergangenheit. Es bleiben folgende zusätzlichen Formen und Formmöglichkeiten; das sieht aufwändig aus, vor allem, weil es so große Unterschiede zwischen den Sprachen gibt. Periphrastische Bildungen sind kursiv gesetzt; wo bei den infiniten Verbformen nur „Infinitiv“ oder „Infinitif“ steht, handelt es sich um Infinitiv Präsens. Kategorie Formmöglichkeiten Ahd. Modus 1 Optativ infinite 3 Infinitiv, Partizip 1+2 D Tempus 4 Plusquamperfekt, Perfekt, Futur 1+2 Modus 2 Konjunktiv 1+2 infinite 3 Infinitiv, Partizip 1+2 AE 3 Modus 1 Optativ infinite 3 Infinitiv, Partizip 1+2 E Tempus 12 past perfect, past perfect continuous, past tense continuous, perfect, perfect continuous, present perfect, present perfect continuous, present continuous, future, future continuous, future perfect, future perfect continuous Modus 2 Conditional, Subjunctive infinite 3 Infinitiv, Partizip 1+2 L Tempus 4 Futur 1+2, Perfekt, Plusquamperfekt Modus 2 Konjunktiv 1+2 infinite 6 Infinitiv, Gerundium, Supinum, Partizip 1+2, Gerundivum AF Tempus 3 Passé simple, Futur, Passé composé Modus 2 Subjonctif, Conditionnel infinite 3 Infinitif, Gérondif, Partizip 2 F Tempus 6 Futur proche, Futur simple, futur antérieur, Passé simple, Passé composé, Plus-que-parfait, Passé antérieur, imparfait Modus 2 Subjonctif, Conditionnel infinite 6 Infinitif, Infinitif passé, Gérondif, Partizip 1+2, Participe passé composé AG Genus 1 Medium Tempus 5 Futur 1+2, Aorist, Perfekt, Plusquamperfekt 3 nach Lehnert 105. 112f. <?page no="89"?> 89 5.1 Morphologie Modus 2 Konjunktiv, Optativ Numerus (1) (Dual) infinite ? Infinitiv, Partizip „je im Präsens, Futur, Aorist, Perfekt zu jedem der zwei bezw. drei Genera verbi“ (Bornemann/ Risch 2012: 75), zwei Verbaladjektive G Tempus 6 Aorist, Futur 1 (continuum, exactum)+2, Perfekt, Plusquamperfekt Modus 1 Konjunktiv infinite 3 Infinitiv Aorist, Partizip 1 und 2 Tab. 19: Verbformen in D-E-F-G und deren Vorgängersprachen Um die Tabelle zu erschließen, sind einige Bemerkungen sinnvoll: 1) In der dritten Spalte stehen die zusätzlichen Formmöglichkeiten zu den oben festgestellten gemeinsamen. Am wenigsten Formen haben Ahd. und AE, beides germanische Sprachen, beides Sprachen, die erst sehr spät verschriftlicht wurden. Dasselbe gilt zwar auch für AF, doch basiert dieses auf L als einer sehr formenreichen und schriftlichen Sprache. 2) Ahd. und AE verfügen über keinen Konjunktiv, mit dessen Hilfe Aussagen über die Welt in sehr allgemeiner Weise (verbal) modalisiert werden können (in D z.B. in indirekter Rede), sondern nur über einen Optativ, der allein die Perspektive des Sprechers benennt. In E wurde diese Perspektive ins Futur umgrammatikalisiert; aus gutem Grund: Aussagen über die Zukunft sind stets ungewiss, selbst diejenigen, die der Sprecher (im Optativ) über sein eigenes Verhalten trifft, denn niemand weiß, was morgen geschieht. Mit „I will“ findet somit ein Übergang aus der Kategorie Modus zur Kategorie Tempus statt. 3) Die Infinitive in D und E sind sehr einfach in allen Zeiten und Genera zu bilden; die Duden-Gammatik nennt für D jede Menge, nämlich folgende: Infinitiv Präsens Aktiv, Infinitiv Futur I Aktiv, Infinitiv Perfekt Aktiv, Infinitiv Futur II Aktiv, Infinitiv Präsens (Vorgangs)passiv, Infinitiv Perfekt (Vorgangs)passiv, Infinitiv Präsens (Zustands)passiv, Infinitiv Perfekt (Zustands)passiv. Sie werden in außerordentlich zahlreichen Kontexten gebraucht: bei den Futurformen, im Anschluss an Modalverben, in Inhaltssätzen usw. AG konnte ebenfalls sehr viele Infinitive bilden, eine Möglichkeit, die im modernen G völlig aufgegeben ist; der Infinitiv Aorist wird ausschließlich für die Bildung von periphrastischen Verbformen benötigt, einen Infinitiv im Präsens gibt es nicht mehr. Diese systematische Leerstelle hat z.B. sehr konkrete Auswirkungen auf die sprachliche Gestaltung von Rezepten (Kap. 10.1) und Gebrauchsanweisungen. Grundsätzlich heißt das: Es gibt in G keine selbstständigen infinitiven Verbformen, von D aus gesagt: keine Unterscheidung zwischen um zu- und damit-Konstruktionen: 16D) Ich kaufte mir ein Fahrrad, um schneller in die Schule zu kommen. - Ich kaufte meiner Tochter ein Fahrrad, damit sie schneller in die Schule kommt. 16G) Αγόρασα ένα ποδήλατο για να έρχομαι πιο γρήγορα στο σχολείο. - Αγόρασα στην κόρη μου ένα ποδήλατο, για να έρχεται πιο γρήγορα στο σχολείο. ( Α górasa éna podílato ja na érchome pjó grígora sto scholío. - Α górasa stin kóri mu éna podílato, ja na érchete pjó grígora sto scholío.) 4) Die meisten Tempora sind bei E eingetragen, was allerdings daran liegt, dass sich in E Temporal- und Aspektformen (ebenso wie in G, aber differenzierter) <?page no="90"?> 90 5 Morphologie und Wortbildung ergänzen und überlagern. In D gibt es mittlerweile zu den englischen continuous-Formen Entsprechungen, z.B. die sogenannte „rheinische Verlaufsform“ („Ich war am Arbeiten, als ...“), die aber noch nicht abschließend grammatikalisiert sind (Szczepaniak 2011: 29) und deshalb oben nicht erwähnt sind. Darüber hinaus ist zu bemerken, dass die Zahl der Verbformen im Lauf der Zeit in allen Sprachen zugenommen hat, zum Teil ganz erheblich, mit der Ausnahme allerdings des modernen G. Allerdings verdient die Tatsache Aufmerksamkeit, dass im Mündlichen gar nicht alle Aussagemöglichkeiten genutzt werden. Selbstverständlich nicht, und zwar aus verschiedenen Gründen: Aussagemöglichkeiten sind im Sprachsystem angelegt, das aber nichts mit Kommunikation zu tun hat, und deshalb auch keine kommunikativen Umstände bedenken kann. Andererseits gehören zur sprachlichen Grundausstattung, die von Kindern (vor-schulisch) erworben wird, keineswegs alle Feinheiten der (schriftlichen) Grammatik einer Sprache, und man versteht sich bestens, u.a. deshalb, weil man nachfragen und sich des Verständnisses vergewissern kann. Dennoch ist natürlich auch der Sprachgebrauch durch das Sprachsystem vorgegeben. Wenn es im (frühen) Ahd. und ebenso in AE nur zwei Tempora gab, nämlich Präsens und Präteritum, bedeutet das natürlich nicht, dass man keine Aussagen über die Zukunft machen konnte. Wie in allen anderen Sprachen und Sprachstufen lassen sich auch in D-E-F-G einerseits Zeiten (periphrastisch) zusammensetzen oder andererseits z.B. adverbial ausdrücken, aber grundsätzlich wird man eher auf die Verständnisbereitschaft des Hörers zählen müssen und wahrscheinlich auch können. Wie schon gesehen, ist das Futur in D eine rein linguistische Zeitform, die kommunikativ nicht gebraucht wird. Das Verb im Satz „Ich fahre nach Andalusien“ hat nur genau dann präsentische Bedeutung, wenn ich im Zug oder Auto oder auf dem Fahrrad sitze und mich aktuell auf dem Weg nach Andalusien befinde, und gleichzeitig jemand anderes, ein Hörer, mit mir im Abteil, Auto, auf einem anderen Fahrrad neben mir oder auf einem Tandem vor oder hinter mir sitzt, in dessen Ohren ich diesen Satz äußere. Die Wahrscheinlichkeit jedoch, diesen Satz in einer dieser Situationen zu äußern, ist aus leicht einsichtigen Gründen extrem gering, wohingegen die Wahrscheinlichkeit, dass die Präsensform des Verbs hier futurische Bedeutung hat, bei weitem überwiegt: im kommenden Frühjahr, Sommer, Herbst oder Winter, am soundsovielten, je nachdem z.B., wie die Frage lautete - von Handygesprächen auf dem Fahrrad ist hier selbstverständlich abzusehen, da wegen des wechselseitig fehlenden Kontextwissens am Handy auch situative Gegebenheiten versprachlicht werden müssen. Ähnliches gilt für andere linguistische Tempora, die in der alltäglichen Kommunikation kaum eine Rolle spielen. Je nach Wohnort verwendet ein Deutscher entweder Präteritum oder Perfekt für die Vergangenheit oder, z.B. irgendwo tief in Schwaben, vielleicht auch Plusquamperfekt. In anderen Sprachen ist das hingegen ganz anders: Die spezifischen Temporalformen sind je nach Aussageabsicht mehr oder weniger zwingend vorgeschrieben. Ein anderes Beispiel: D hat gegenüber Ahd. als Modi nicht nur Indikativ, Konjunktiv und (rudimentären) Imperativ, sondern auch einen Konjunktiv 2 (oder Präteriti). Dieser zweite Konjunktiv ließ sich aber nicht so ohne weiteres im vorhandenen System unterbringen. Die schwachen Verben haben keinen Platz dafür, weshalb die entsprechende Form periphrastisch gebildet werden muss: <?page no="91"?> 91 5.1 Morphologie 17D) Man warf ihm vor, er lüge wie gedruckt. | Man warf ihm vor, er sagte nicht die Wahrheit. > er würde nicht die Wahrheit sagen. > er würde wie gedruckt lügen. Das System wird formal aufgeweicht und muss formal aufgeweicht werden, da es nicht genügend Formen zur Verfügung stellt. Ganz anders sieht es etwa in G aus. Dort gibt es 2 Konjugationen, von denen die zweite zwei Gruppen umfasst, von denen eine wiederum im Passiv in zwei Gruppen zu teilen ist - genauer muss das nicht erläutert werden, aber die einzelnen Verbformen sind wichtig. (In der folgenden Tab. 20 gelten als Abkürzungen: (A)ktiv, (P)assiv, Präs(ens), Fut(ur) cont- (inuum), Fut(ur) ex(actum), Plusqu(amperfekt), Imp(erativ)). Dabei sind alle Verformen, die das System vorsieht, aufgelistet, auch wenn sie selbstverständlich nicht alle gleich häufig und alltäglich verwendet werden. Angegeben ist jeweils die 1. Si., mit Ausnahme selbstverständlich bei den Imperativen. Form 1. Konj. 2.1. Konj . 2.2.A. Konj . 2.2.B. Konj . ‚(be)zahlen‘ ‚lieben‘ ‚schlafen‘ ‚halten für‘ Präs A πληρώνω (pliróno) αγαπώ (agapó) κοιμάμαι (kimáme) θεωρώ (theoró) Präs P πληρώνομαι (plirónome) αγαπιέμαι (agapiéme) - θεωρούμαι (theorúme) Paratatikos A πλήρωνα (plírona) αγαπούσα (agapúsa) κοιμόμουν (kimómun) θεωρούσα (theorúsa) Paratatikos P πληρωνόμουν (plironómun) αγαπιόμουν (agapiómun) - θεωρούμουν (theorúmun) Aorist A πλήρωσα (plírosa) αγάπησα (agápisa) κοιμήθηκα (kimíthika) θεώρησα (theórisa) Aorist P πληρώθηκα (pliróthika) αγαπήθηκα (agapíthika) - θεωρήθηκα (theoríthika) Fut cont A θα πληρώνω (tha pliróno) θα αγαπώ (tha agapó) θα κοιμάμαι (tha kimáme) θα θεωρώ (tha theoró) Fut cont P θα πληρώνομαι (tha plirónome) θα αγαπιέμαι (tha agapiéme) - θα θεωρούμαι (tha theorúme) Fut ex A θα πληρώσω (tha pliróso) θα αγαπήσω (tha agapíso) θα κοιμηθώ (tha kimithó) θα θεωρήσω (tha theoríso) Fut ex P θα πληρωθώ (tha plirothó) θα αγαπηθώ (tha agapithó) θα θεωρηθώ (tha theorithó) Fut 2 A θα έχω πληρώσει (tha écho plirósi) θα έχω αγαπήσει (tha écho agapísi) θα έχω κοιμηθεί (tha écho kimithí) θα έχω θεωρήσει (tha écho theorísi) Fut 2 P θα έχω πληρωθεί (tha écho plirothí) θα έχω αγαπηθεί (tha écho agapithí) - θα έχω θεωρηθεί (tha écho theorithí) Perfekt A έχω πληρώσει (écho plirósi) έχω αγαπήσει (écho agapísi) έχω κοιμηθεί (écho kimithí) έχω θεωρήσει (écho theorísi) Perfekt P έχω πληρωθεί (écho plirothí) έχω αγαπηθεί (écho agapithí) - έχω θεωρηθεί (écho theorithí) Plusqu A είχα πληρώσει (ícha plirósi) είχα αγαπήσει (ícha agapísi) είχα κοιμηθεί (ícha kimithí) είχα θεωρήσει (ícha theorísi) Plusqu P είχα πληρωθεί (ícha plirothí) είχα αγαπηθεί (ícha agapithí) - είχα θεωρηθεί (ícha theorithí) Imp Präs A πλήρωνε (plírone) αγάπα (agápa) - - Imp Präs P - - - - Imp Aorist A πλήρωσε (plírose) αγάπησε (agápise) κοιμήσου (kimísu) θεώρησε (theórise) Imp Aorist P πληρώσου (plirósu) αγαπήσου (agapísu) - θεωρήσου (theorísu) Tab. 20: Konjugationen in G <?page no="92"?> 92 5 Morphologie und Wortbildung In beiden Konjugationen und den Unterparadigmen der zweiten sind alle Formen aller acht Tempora in beiden Modi eindeutig, ebenso die Imperative. Dafür sind verschiedene Möglichkeiten genutzt, die innerhalb des Systems sehr stabil sind: Betonung, Endung, Stamm, Partikel, Periphrase. Da es also keinen Anlass gibt, wegen Doppeldeutigkeiten (Homonymen) diese Differenzierung abzubauen, werden die verschiedenen Formen auch konsequent genutzt und müssen deshalb auch genutzt werden: Das System bedingt den Gebrauch, der Gebrauch stützt das System. Die unterschiedlichen Zeiten sind zudem, noch deutlicher als in E, durch Aspekte überlagert. Mit Paratatikos („Präteritum“) wird etwas ausgesagt, was in der Vergangenheit geschah, während der Aorist ausdrückt, dass es überhaupt geschah. Perfekt steht, wenn etwas in der Vergangenheit abgeschlossen ist, Plusquamperfekt wird verwendet wie in D: für etwas, das vor etwas anderem Gewesenen gewesen, vor etwas anderem Geschehenen geschehen ist. Ähnlich wie zwischen Paratatikos und Aorist wird zwischen Futur continuum und exactum unterschieden: Das erste benennt etwas, was immer wieder in der Zukunft stattfindet oder getan wird / werden soll, das zweite die Einmaligkeit eines zukünftigen Ereignisses oder einer Handlung. Auch im Imperativ gibt es Unterschiede: Der präsentische meint ein ständiges Verbot oder Gebot, der aoristische ein einmaliges. In dieser Formenvielfalt gibt es jedoch keine verbalen Konjunktivformen; eine Verbform wird vielmehr in den Konjunktiv gesetzt, indem ihr ein να ( na) oder ας ( as) vorangestellt wird. In D entspricht dem eine Infinitivkonstruktion oder ein so dass- oder damit-Satz (s.o.). Wenn verbale Mehrdeutigkeit (vor allem in G) ausgeschlossen ist, stellt sich die Frage, ob sich die Frage lohnt, warum D im Vergleich zu den drei anderen Sprachen so wenige Tempusformen hat. Und lohnt sich außerdem die Frage, warum sich mit der „rheinischen Verlaufsform“ eine neue bildet? Tatsächlich hängen beide Fragen sehr eng miteinander zusammen, denn dass E mehr Tempusformen hat, liegt eben an der robust grammatikalisierten Verlaufsform, die in D neu (und damit ebenfalls periphrastisch) gebildet wird. Und dass G über mehr und eindeutig identifizierbare Formen verfügt (anders als E auch in Person und Numerus), ist damit zu begründen, dass G schon sehr lange eine ausgebaute, indigene, vor allem aber sehr früh verschriftlichte und damit höchst konservative Grammatik hat, während in F die lateinische weiterlebt, an der sich später zumindest zeitweise sowohl D als auch E orientiert haben. Eine andere Frage ist noch zu beantworten, ausgehend von einer Besonderheit in F: Dort gibt es eine Zeitform, das Passé récent, das für eine Zeit verwendet wird, die unmittelbar vor dem Sprechen liegt: „Je viens de lire.“ (‚Ich habe gerade eben gelesen.‘) Die Übersetzung zeigt wiederum, wie schon die futurischen Sätze 2), dass in D temporale Aspekte bevorzugt adverbial wiedergegeben werden; das rein verbale Temporalsystem ist in seiner Differenziertheit mündlich zu wenig verankert, zumal gegen seine Notwendigkeit (mindestens mündlich) tatsächlich einiges spricht. Das Präsens wird in allen vier (und vielen anderen) Sprachen nicht nur für etwas gebraucht, was sich aktuell, zum Zeitpunkt des Sprechens, ereignet, sondern z.B. auch für Gewohnheiten und in Definitionen. 18D) Katharina spielt Golf. - Peter sagt, Golf ist nur was für Snobs. 18E) Katharina plays golf. - Peter says golf is only for snobs. 18F) Katharina joue au golf. - Pierre dit que le golf est seulement pour les snobs. <?page no="93"?> 93 5.1 Morphologie 18G) Η Καταρίνα παίζει γκολφ. - Ο Πέτρος λέει ότι το γκολφ είναι μόνο για τους σνομπ. (i Katarína pézi golf. - o Pétros léi óti to golf íne móno ja tus snob.) Vergangenheits- und Zukunftsformen sind in ganz anderer Weise vieldeutig. Es gibt, von L her, auch in (eher schriftlichem) D eine consecutio temporum (Zeitenfolge): „Nachdem es angefangen hatte zu regnen, stieg Noah in die Arche.“ Allerdings konkretisiert und relationiert diese consecutio temporum nur das Verhältnis der beiden Ereignisse zueinander und sagt selbstverständlich nichts über die absolute zeitliche Entfernung zur Gegenwart des Sprechens aus. Diese Entfernung ist entweder aus dem Äußerungskontext ersichtlich („Was haben Sie am Abend des 27. August 2015 gemacht? “ - „Ich war mit Freunden im Konzert und danach beim Essen.“) oder wird direkt, und d.h. deiktisch, benannt: „Vorgestern hat es geregnet.“ Die Vergangenheitsformen selbst geben, ebenso wie die Zukunftsformen, keinerlei konkrete Auskunft. Es kann daher sehr ökonomisch sein, Tempusformen gar nicht zu differenzieren, wenn sie im System nicht schon angelegt sind. (Kap. 6.2.2, 12.1) 5.1.3 Suppletive Wortformen Sehr exklusive und damit umso spannendere morphologische Möglichkeiten sind in suppletiven Wortformen (von L supplere ‚ergänzen, nachfüllen‘) realisiert, die von der Morphologie allein eigentlich gar nicht mehr erfasst werden können, da sich in ihnen Morphologie und Semantik in ganz besonderer Weise kreuzen. Vorab ein Beispiel, in dem suppletive und nicht-suppletive Adjektivformen nebeneinander gestellt sind: 19D) viel - mehr - am meisten groß - größer - am größten 19E) much - more - most big - bigger - biggest 19F) beaucoup - plus de - le plus de grand - plus grand - le plus grand 19G) πολύς - περισσότερος - πλείστος μεγάλος - μεγαλύτερος - ο μεγαλύτερος (polís - perisóteros - plístos megálos - megalíteros - o megalíteros) In keiner Sprache wäre es ein Problem, die Steigerungsformen auch links regelmäßig zu bilden: viel - *vieler - *am vielsten, much - *mucher - *muchest, beaucoup - *plus beaucoup - *le plus beaucoup, πολύς - *πολύτερος - *ο πολύτερος (polís - políteros - o políteros). Diese Formen werden durchaus von Fremdsprachenlernern gebildet, aber in keiner Sprache von ihren Muttersprachlern, obwohl sie, formal, viel einfacher und damit auch ökonomischer wären; aber sie sind alle falsch, deshalb die Sternchen. Suppletive Formen müssen stets einzeln gelernt werden, was selbstverständlich einen ganz erheblichen Mehraufwand darstellt. Eine obige Rechnung noch einmal konkretisiert: Bei 100 Adjektiven sind suppletiv 300 Einheiten (Grundform - Komparativ - Superlativ) zu lernen und zu merken; bei regelmäßiger Bildung der Steigerungsformen sind es im Idealfall nur 102 Einheiten, nämlich die Grundform und die beiden Regeln zur Bildung des Komparativs und des Superlativs. Grundsätzlich sind Unregelmäßigkeiten lernaufwendig, aber eben deshalb auch erheblich markanter als Regelmäßigkeiten. Warum gibt es sie da, wo sie heute noch zu finden sind? Es hat ganz offensichtlich etwas mit Denkgewohnheiten zu tun. <?page no="94"?> 94 5 Morphologie und Wortbildung Ich greife einen Gedanken wieder auf, der schon in Kap. 3 angestoßen wurde: Groß - größer - am größten sieht ziemlich harmlos aus, ist es auch, wenn man sich z.B. drei Geschwister vorstellt: Paul ist mit seinen 1,30 m schon groß, die ältere Sonja (1,42 m) ist größer und der älteste, Peter (1,63 m), ist am größten. Neben Sonjas Puppen (0,30 m) ist aber schon Paul am größten, und Peter, im Vergleich zu seinen Klassenkameraden ziemlich klein, und auch die riesigen Klassenkameraden (bis 1,85 m) neben dem Eiffelturm (324 m). Die meisten Adjektive, aber auch viele von ihnen abgeleteiteten Substantive, benennen relative Verhältnisse (groß, schön, bunt, hell usw.), die jeweils nur in einem sehr eingeschränkten Verhältnis in Beziehung zueinander stehen. Ein Stuhl ist in ganz anderer Weise schön als eine Prinzessin oder eine Briefmarke, und man wird in wörtlicher Bedeutung kaum sagen, dass der Stuhl schöner ist als die Prinzessin oder die Briefmarke; eher noch kann man Äpfel mit Birnen vergleichen. Das Beispiel zeigt (wieder), auf welch abstrakter Ebene Sprache funktioniert. Sie muss auf dieser Ebene funktionieren, weil sich anders über Welt nicht vernünftig sprechen ließe, oder man bräuchte für die unterschiedlichen Schönheiten unterschiedliche Wörter, die es in einigen Fällen tatsächlich gibt: blond - blond - blond - ξανθός (ksanthós) lässt sich (in eigentlicher Bedeutung) tatsächlich nur für Haare verwenden. In Suppletivformen ist hingegen ein vor-abstrakter Zustand zu fassen, deutlich in folgendem grundlegenden Paradigma. Die heutigen Konjugationen setzen sich aus verschiedenen Verben zusammen (detailliert muss das hier nicht ausgeführt werden). In G darf man sich nicht von der gleichen Aussprache des εί und ή als [i] täuschen lassen; die altgriechische Aussprache war [ei] und [ɛ]. D E F G 1.Si. bin war am was suis étais είμαι (íme) ήμουν (ímun) 2.Si. bist warst are were es étais είσαι (íse) ήσουν (ísun) 3.Si. ist war is was est était είναι (íne) ήταν (ítan) 1.Pl. sind waren are were sommes étions είμαστε (ímaste) ήμασταν (ímastan) 2.Pl. seid wart are were êtes étiez είσαστε (ísaste) ήσασταν (ísastan) 3.Pl. sind waren are were sont étaient είναι (íne) ήταν (ítan) Part. gewesen been été - Tab. 21: sein - be - être - είμαι Dass ein anderes suppletives Verb in D-E-F-G (und nicht nur dort) gehen / ging - go / went - aller / vais, irai - πηγαίνω / πάω (pijéno / páo) ist, verwundert nicht: Sein und Bewegen sind Grundvoraussetzungen und -gegebenheiten der Welt und des Lebens. 5.2 Wortbildung Alle Wörter einer Sprache sind irgendwann entstanden, und viele sind, wie gerade gesehen, sehr alt und stammen aus einer Zeit sehr konkreten gegenständlichen Denkens. Die meisten Wörter der ide. Sprachen, somit auch von D-E-F-G, lassen <?page no="95"?> 95 5.2 Wortbildung sich tatsächlich auf irgendeinem Weg bis zum Proto-Ide. zurückverfolgen, zu der Sprache, aus der alle ide. Sprachen in den letzten Jahrtausenden entstanden sind. 4 Nehmen wir als Beispiel ein ziemlich modernes Wort: Computer [kəmpju: təʳ]. Das deutsche [kɔmpjuːtɐ] und griechische [kɔmbjutɛr] Fremdwort kommt aus E, wo es aber nicht „erfunden“, sondern wohin es aus L übernommen wurde: computare heißt ‚zusammenrechnen, ausrechnen‘. Es ist zusammengesetzt aus cum ‚mit‘ und putare ‚rechnen‘. putare seinerseits kommt von AG πυθέσθαι (pyt h ést h ai), was ‚erfahren, erforschen‘ bedeutet. Und das zugrundeliegende ide. *bhudh- oder *bheudhist: ‚wach sein, wecken, beobachten; geweckt, geistig rege, aufmerksam sein, erkennen, oder andere dazu veranlassen (aufpassen machen, kundtun, gebieten; darbieten)‘ (Pokorny 1959: 150). Wörter - nicht nur in diesem Fall - haben die wunderbare Eigenschaft, höchst flexibel zu sein, insofern gleichen sie Honiggläsern: Ist der Honig aufgebraucht, kann man sie mit selbst gemachter Marmelade füllen, eine Blume drin pflanzen, Büroklammern, Heftzwecken oder sonst was darin aufbewahren oder seine Bleistifte griffbereit halten. Und Wörter müssen vor ihrer Weiterverwendung nicht einmal gespült werden. Nur ganz wenige sterben aus, aber erst dann, wenn andere Wörter bereit sind, ihre Bedeutungen zu übernehmen, soweit sie sich nicht überlebt haben. Schöne Beispiele sind in D das Substantiv Minne und das Verb minnen, dessen Bedeutungen von Liebe und lieben übernommen wurden, wobei selbstverständlich alles wegfiel, was zum hochmittelalterlich-höfischen Konzept des Minnesangs gehörte, den es seit dem Spätmittelalter aber nicht mehr gab; minnen war da schon, konterkarierend, um es zurückhaltend zu formulieren, zum rein (und heftig vollzogenen) geschlechtlichen Teil der Liebe geworden. In F, das sich als eher fremdwortfeindliche und vor allem anglophobe Sprache die Wörter gerne selbst macht, wird Computer, über L, zu ordinateur, Spanisch schwankt zwischen aus F kommendem ordenador und computador, wie es auch in D den Rechner gibt, während das Italienische englisch eindeutig ist: computer [kəmpju: tə, kompjuter], doch G hat ebenfalls als Standardbezeichnung (ηλεκτρονικός) υπολογιστής (ilektronikós ipolojistís ‚elektronischer Rechner‘). Wenn’s was Neues gibt auf der Welt, greift man gern auf alte Wörter zurück und gibt ihnen eine neue Bedeutung oder lässt sie sich diese neue Bedeutung nehmen. Häufig nimmt man dazu auch Wörter aus fremden Sprachen, eine Zeitlang hat man sich gerade bei den ganz neuen Sachen aus den ganz alten Sprachen des Altertums, AG und L, bedient, in D häufig vermittelt über E oder F. Niemand denkt heute noch bei Computer an eine ‚elektron. Rechenmaschine‘, wie die Definition in Wahrigs Deutschem Wörterbuch von 1971 lautet, und eine ‚elektron. Datenverarbeitungsmaschine‘, so immer noch der Wahrig von 2008, fällt einem wohl auch nicht als erstes ein, weil diese deutschen Wörter längst verdrängt wurden. Oder es werden Eigennamen bzw. deren verbale Ableitung lexikalisiert, in diesem Beispiel allerdings nur in D: röntgen - x-ray - radiographier - ακτινογραφώ (aktinografó) . Oder 4 Daneben gibt es, z.B. in D, einige wenige Fremdwörter aus nicht-ide. Sprachen, die durch Kulturkontakt oder Handelsbeziehungen übernommen wurden, z.B. Schach(matt) aus dem Arabischen oder - viel später - die Hängematte (Kap. 1, FN 2). - Ganz anders ist es im Persischen, das ebenfalls eine ide. Sprache ist, jedoch an der Außengrenze des ide. Gebiets: Durch Eroberung und islamischen Missionseinfluss hat es ca. 40% seines Wortschatzes aus dem Arabischen, einer semitischen Sprache, übernommen. <?page no="96"?> 96 5 Morphologie und Wortbildung man bedient sich eines Fremdworts, das es gar nicht gibt; das prominenteste und alltäglichste Beispiel in D ist das [hɛːndi] (mobile [phone] - [téléphone] portable / mobile - κινητό [τηλέφωνο] [kinitó tiléfono]). Neue Wörter können aber auch auf andere Weise zustande kommen, ohne dass man sie neu erfinden müsste. Dazu gibt es Wortbildungsmuster, die (in unterschiedlicher Weise) in allen ide. Sprachen vorhanden sind. Das Wort Wortbildungsmuster ist, nach oben schon genannten Beispielen, ein wunderschönes weiteres Beispiel für eine Wortbildung. Es besteht aus drei Wörtern: Wort, Bildung, Muster. Über Wort braucht man sich hier nicht viele Gedanken zu machen, sehr wohl aber über Bildung. Das zugrundeliegende Verb ist bilden, allerdings nur im recht eingeschränkten Sinne von ‚herstellen‘ (E build! ), das im heutigen D sehr weit von ursprünglichem Bild entfernt ist. Das Muster, auch wenn es sich nicht so anhören mag, weil es vollkommen in den deutschen Wortschatz integriert ist, stammt aus den romanischen Sprachen, I mostra, F montre (heute ‚Uhr‘), S muestra. In anderen Kontexten ist ein Muster etwas, das etwas exemplifiziert, eine Farbe oder Beschaffenheit (vgl. Goodman 2012). Ein Wortbildungsmuster hingegen ist so etwas wie eine Vorlage, mit der wir es schon zu Beginn dieses Kapitels zu tun hatten. Dass es dabei eher um Formales als Inhaltliches geht, belegt wieder den (mittlerweile) erreichten hohen Abstraktionsgrad von Sprache in den hier diskutierten Sprachen. Die E-F-G-Entsprechungen zu Wortbildungsmuster lauten: word formation pattern - modèle de formation des mots - πρότυπο σχηματισμού (των) λέξεων (prótipo schimatismú [ton] lékseon). Dem einen deutschen Wort entsprechen 3 in E, 5 in F und 4 in G. Eine solche Gegenüberstellung ist jedoch äußerst problematisch und müsste eigentlich sehr tief in die Diskussion über den Wortbegriff hineinführen, allerdings an anderem Ort; hier muss ich mich auf eine einzige Bemerkung beschränken: Nach Humboldts sprachtypologischer Unterscheidung kann man behaupten, dass D auf der Ebene der Wortbildung (vor allem in den Möglichkeiten der Komposition) eine hochgradig synthetische Sprache ist, während E-F-G analytisch vorgehen: In E gibt es (so gut wie) keine Fugenelemente, mit denen in D verschiedene Wörter unproblematisch zu einem zusammengeklebt werden; F und G gehen eher genitivisch vor (wenn es adjektivisch nicht möglich ist) und halten auch eine andere Reihenfolge der Wörter ein, aber macht ja nichts. Ich wähle zunächst ein relativ unspektakuläres Beispiel, ein Allerweltswort, um die Möglichkeiten der Wortbildung in D-E-F-G in Grundzügen darzustellen. Später stelle ich dann einige Beispiele aus anderen möglichen Wortbildungsmustern vor. Damit es nicht allzu unübersichtlich wird, lege ich eine Darstellungsweise zugrunde, die zunächst mal zwischen Substantiv, Adjektiv und Verb unterscheidet. In diesen Wortdreiecken geht es nicht um Bedeutungsentsprechungen, sondern um Wortentsprechungen, und es werden vorerst nur Verwandte ersten Grades aufgeführt: Es gibt einen semantischen Stamm und nur ein einziges grammatisches Morphem, ein e, das aus lieb Liebe macht oder ein en, das für lieben gebraucht wird. Dass das nicht so ganz einfach ist, wird gleich deutlich werden, und es ist hier auch egal, was zuerst da war, das Substantiv, das Verb oder das Adjektiv. Wenigstens das Offensichtlichste wird im Anschluss erörtert, wobei ich die Frage zwar stelle, aber nicht beantworte, ob in dieser kleinen Liste tatsächlich nur Verwandte ersten Grades enthalten sind - es würde viel zu weit führen. <?page no="97"?> 97 5.2 Wortbildung Liebe / Liebelei love / lover amour / amourette / amant αγάπη (agápi) lieb / lieblich / liebevoll / lieblos loving / beloved / lovely amoureux / aimable / aimant / aimanté αγαπητός / αγαπημένα / αγαπημένος (agapitós / agapiména / agapiménos) lieben / liebeln love aimer / s’amouracher αγαπώ / αγαπίζω (agapó / agapízo) Abb. 9: Liebe Nicht einmal lieb, Liebe und lieben ist unproblematisch. Um die Diskussion aber ein wenig zu vereinfachen, zitiere ich zu Liebe den Eintrag aus Wahrig 1971: starke Zuneigung, starkes Gefühl des Hingezogenseins, opferbereite Gefühlsbindung, ... <i.e.S. [im engeren Sinne]> starke geschlechtsgebundene, opferbereite Gefühlsbeziehung; Ggs. [Gegensatz]: Haß; heftiger Drang, heftiges Verlangen, Streben nach etwas (Freiheits~, Gerechtigkeits~, Wahrheits~); <umg. [umgangssprachlich]> Gefälligkeit, Freundlichkeit. Niemand denkt an so was, wenn er von seiner Liebe zu jemandem spricht, und schon gar nicht, wenn er oder sie sagt: „Ich liebe dich.“ Und genau so: „I love you - Je t’aime - Σ’αγαπώ [S’agapó])“. Außerdem wissen wir alle sehr genau zu unterscheiden zwischen „Ich liebe dich“ und „Ich liebe Schokolade“. Niemand denkt nach gedruckten Wörterbüchern, sondern jeder nach seinem privaten mentalen Lexikon, das mit jeder passiven und aktiven Wortverwendung angereichert und modifiziert wird. Das Adjektiv lieb hat in den meisten Verwendungen gar nichts mit Liebe zu tun. Wenn ich eine E-Mail beginne mit „Liebe Frau Prof. Winterfeld“, sagt das überhaupt nichts über meine Gefühle für diese Frau Professor aus, und wenn der kleine Klaus lieb ist, meint das eigentlich nur, dass man sich nicht um ihn kümmern muss, weil er ganz friedlich in einer Ecke spielt. Lieblos hingegen ist jemand, der sich keine Mühe gibt, was auch beim Kochen der Fall sein kann, und sein angenehmeres Gegenteil ist liebevoll, was aber auch nichts mit Wahrigs Liebe zu tun hat, und e vor voll in liebevoll oder kein e vor los in lieblos hat nur etwas mit der Bequemlichkeit der Aussprache (Euphonie) zu tun. In viel höherem Maß ist lieblich Geschmackssache: Weine, von denen viele am nächsten Morgen Kopfweh bekommen, sind es, aber auch Bilder, Landschaften, Lächeln und allerhand andere Sachen können es sein. Was liebeln bedeutet, müsste ich nachsehen, es hört sich jedenfalls nicht so ernst und tief an wie lieben, ist eher etwas für den Urlaub wie auch die Liebelei. Wie sieht es in den anderen Sprachen aus? Der lover ist der Liebhaber (immer auch weiblich) und auch z.B. in Musikliebhaber, der Geliebte, und kann in Zusammensetzungen, auch als Fremdwort (als latin lover) auch nur so aussehen, als sei er einer, dann jedenfalls sehr gut. Loving ist ‚(dich) liebend‘, z.B. im Briefschluss, während lovely einerseits lieblich entspricht, andererseits aber auch alles je nach <?page no="98"?> 98 5 Morphologie und Wortbildung Kontext, was auf angenehme Weise positiv bis ‚süß‘ ist. Beloved kann ‚geliebt’ sein, aber auch als Substantiv verwendet werden, dann eben der oder die ‚Geliebte‘. Love als Substantiv und Verb sind in ihrem Bedeutungsumfang ebenso weit wie in D: Jeder Popstar loves und liebt bekanntlich sein Publikum, genauso wie jeder Politiker sein Volk und Vaterland, was aber auch in F und G der Fall ist. In F kommt noch etwas anderes hinzu: Alle Wortarten gehen auf dasselbe lateinische amare zurück, doch aimer und amour haben sich schon recht früh voneinander getrennt: Spätestens seit dem 11. Jh. ist aimer ‚jdn. oder Gott lieben‘. In merkwürdig konkretisierender Weise steht seit dem Mittelalter aimant für etwas aus Eisen, und heute bedeutet es nicht nur als Adjektiv ‚liebevoll, zärtlich‘, sondern immer noch auch ‚Magnet‘, das als Adjektiv ‚magnetisierend‘ aimanté hat. Die Diminuitivform von amour (amourette) entspricht D Liebelei, aber auch ‚Zittergras‘ und ‚Maiglöckchen‘, und das Adjektiv amoureux ist sowohl ‚liebevoll‘ als auch ‚verliebt‘ und ‚zärtlich‘. Dazu gehört das von amour abgeleitete s’amouracher als ‚sich verlieben‘. aimable ist als Adjektiv ‚freundlich, liebenswürdig, zuvorkommend‘, aber mehr nicht. In G verhält es sich nicht viel anders, aber bisschen weiter. αγάπη ist die ‚Liebe‘, αγάπη μου (agápi mu) ist ‚meine Liebe‘, je nach Geschmack in D vielleicht eher ‚mein Liebling‘, aber in ‚Liebe meines Lebens‘ mittlerweile ziemlich gängig. αγαπώ ist ‚lieben‘ in allen Schattierungen, doch αγαπίζω bedeutet ‚versöhnen‘. Auch bei den Adjektiven ist der Bedeutungsumfang insgesamt etwas umfangreicher. αγαπητός entspricht ‚lieb‘, auch in der Anrede, αγαπημένα ist feminine Form des Partizips, heißt aber als Adverb ‚in gutem Einvernehmen‘, man verträgt sich also, während αγαπημένος hier als Partizip eigentlich nichts zu suchen hat (und nur wegen des Adverbs in die Liste aufgenommen wurde), es heißt, durchaus erwartbar, ‚geliebt‘. Man sieht: Die Perspektiven und der Zusammenhang der Benennungen sind jeweils unterschiedlich, und die Ableitungen geschehen formal unterschiedlich, teilweise aus lang zurückliegenden historischen Gründen, doch es gibt in allen Sprachen annähernd dieselben Möglichkeiten, Aussageabsichten zu erfüllen, zumal es eine Menge konkrete Verwendungsweisen gibt, die immer wieder neue Perspektiven eröffnen, wenn auch außerhalb des gedruckten Lexikons, in dem man sich üblicherweise ohnehin nicht informiert. Die Ableitung oder Derivation, die bisher dargestellt wurde, führt zu Verwandten ersten Grades. Dabei handelt es sich um Substantive, Adjektive und Verben, die aus Adjektiven, Verben und Substantiven gebildet werden usw. Gewissermaßen zu Zwillingsgeschwistern führt der Sonderfall des Wortartwechsels oder der Konversion. In D kann man aus jedem Verb ein Substantiv machen, dazu braucht man (je nach Kontext) höchstens einen Artikel oder - schriftlich - einen Großbuchstaben: kochen > das Kochen, laufen > das Laufen, lachen > das Lachen, ...; vor allem in Subjektposition fällt der Artikel aber normalsprachlich weg. In G gibt es die Tendenz, diese praktische Bildungsmöglichkeit zu übernehmen; dazu wird jedoch ein Infinitiv als Verbalnomen benötigt, den es in G aber gar nicht mehr gibt. Deshalb wird er (allerdings erst neuerdings) aus dem AG wiederbelebt: Ein Möbelgeschäft kann demnach Νέο Κατοικείν (néo katikín) heißen: ‚Neues Wohnen‘. In vielen anderen Fällen ist das, was in D substantivierte Infinitive sind, in eigenen Formen lexikalisiert. In E, wo die Infinitivform mit to markiert werden muss, wird als substantiviertes Verbalnomen standardmäßig das Partizip Präsens, ohne Arti- <?page no="99"?> 99 5.2 Wortbildung kel, verwendet, während F, wenn es keine lexikalisierten Formen gibt, wie in D den Infinitiv verwendet, allerdings grundsätzlich ohne Artikel: 20D) Kochen / Laufen / Lachen ist gesund. 20E) Cooking / running / laughing is healthy. 20F) Cuisine / courir / rire est bon pour la santé. 20G) Το μαγείρεμα / το τρέξιμο / το γέλιο είναι υγιές. (to majírema / to tréksimo / to jélio íne ijiés.) Μ an kann auch aus (fast) jedem Adjektiv und Partizip ein Substantiv machen: 21D) Der Dicke / Schlanke / Geflohene / Liebende ist sympathisch. 21E) The thick (one) / slim (one) / escaped (one) / loving (one) is sympathetic. 21F) Le gros / le mince / l’évadé / l’amant est sympathique. 21G) Ο χοντρός / λεπτός / δραπέτης / εραστής είναι συμπαθητικός. (o chondrós / leptós / drapétis / erastís íne simbathitikós.) Dabei gibt es durchaus stilistische Vorgaben und Grenzen, die aber nicht im Einzelnen diskutiert werden müssen. Die Tatsache, dass etwas vom System her möglich ist, bedeutet nicht unbedingt, dass es auch sinnvollerweise realisiert wird: Der Liebende ist in den meisten Kontexten wohl der Geliebte oder Liebhaber, the loving (one) dürfte meistens besser the lover sein usw. In Einzelfällen lassen sich mittlerweile auch andere Verbformen zu Substantiven konvertieren, was jedoch einzelsprachlich ganz unterschiedlich geregelt ist, E ist in dieser Hinsicht in der Regel dominant, insofern eine englische Infinitivform (vermutlich, weil ohne to) erstaunlicherweise als finite Verbform oder als Fremdwort (in F-G) übernommen wird: 22D) Ein Hut ist in diesem Jahr ein absolutes Muss. 22E) A hat is an absolute must in this year. 22F) Cette année, porter un chapeau est un must. 22G) Ένα καπέλο είναι ένα απόλυτο μαστ φέτος. (éna kapélo íne éna apólito mast fétos.) Dass es - zunächst umgangssprachlich, mittlerweile aber auch lexikalisiert - noch ganz andere Wortartenwechsel gibt, zeigt das folgende Beispiel: 23D) Das Auf und Ab des Lebens. 23E) The ups and downs of life. 23F) Les hauts et les bas de la vie. 23G) Τα σκαμπανεβάσματα της ζωής. (ta skambanevásmata tis zoís.) In D werden einige Adverbien schon seit einiger Zeit als prädikativ gebrauchte Adjektive verwendet; in E-F gibt es ebenfalls solche offiziell erst mal „ungenehmigte“ Wortartwechsel - in G habe ich keinen gefunden: 24D) Die zu(n)e Tür, das aufe Fenster. 24E) time-out 24F) un monsieur très bien 24G) ? ? ? Auch in D hören sich aber (noch) Adverbien in attributiver Position in höchstem Maß umgangssprachlich an. Dass sich so etwas nicht interlinear übersetzen lässt, ist klar, aber selbstverständlich haben auch andere Sprachen ihre Besonderheiten, die vom Gebrauch ausgehen, aber immer ein paar Jahr(zehnt)e brauchen, bis sie standardsprachlich akzeptiert und damit ins System eingebunden sind. <?page no="100"?> 100 5 Morphologie und Wortbildung Der Zusammenhang zwischen Substantiv, Verb und Adjektiv ist einigermaßen ausgewogen in D-E-F-G anzutreffen - irgendwoher müssen ja die Aussagemöglichkeiten kommen. Mit „ausgewogen“ ist jedoch, wie schon erwähnt, keineswegs „vorhersagbar“ gemeint. Um das Gegenteil der Liebe zu nehmen: Hass gegen Liebe und hassen gegen lieben ist kein allzu großes Problem, aber eher zufällig; hässlich ist aber etwas ganz anderes als das Gegenteil von lieblich, und das Gegenteil von liebevoll heißt hasserfüllt usw. In E sieht es folgendermaßen aus: hate - to hate - hateful, was aber ‚hassenswert‘ bedeutet, während hasserfüllt ‚full of hate‘ ist, auch das muss hier aber nicht weiter ausgeführt werden. Die weitere und zum Teil sehr große Verwandtschaft, die durch Zusammensetzung oder Komposition zustandekommt (mit allerhand [wiederum] Besonderheiten), ist in D eher un-, in E-F-G eher überschaubar: Wo E-F-G mehrere Wörter brauchen, werden sie in D zusammengeklebt und ergeben sog. Determinativkomposita. In einem relativ beliebigen deutschen Wörterbuch (es handelt sich wieder um Wahrig 1971) stehen folgende zur Verwandtschaft der Mutter Liebe gehörende Einträge, hier nach Wortarten geordnet: 25D) - Liebediener, Liebedienerei, Liebenswürdigkeit, Liebesabenteuer, Liebesapfel, Liebesbrief, Liebesdienst, Liebeserklärung, Liebesgabe, Liebesgedicht, Liebesgeschichte, Liebesglück, Liebesgott, Liebesgöttin, Liebesheirat, Liebeskummer, Liebesleben, Liebeslied, Liebesmahl, Liebesmühe, Liebespaar, Liebesszene, Liebestätigkeit, Liebestrank, Liebesverhältnis, Liebeswerk, Liebfrauenkirche, Liebfrauenmilch, Liebhaber, Liebhaberausgabe, Liebhaberbühne, Liebhaberei, Liebhaberin, Liebhaberpreis, Liebhabertheater, Liebhaberwert, Liebkosung, Lieblingsbeschäftigung, Lieblingsfarbe, Lieblingsspeise, Lieblosigkeit, Liebreiz, Liebstöckel - liebebedürftig, liebedienerisch, liebeleer, liebenswert, liebenswürdig, liebreizend - liebenswürdigerweise - liebäugeln, liebbehalten, liebedienern, liebgewinnen, liebhaben, liebkosen Selbstverständlich könnte man die drei im Lexikon verzeichneten Lieblings- Wörter durch allerhand anderes ergänzen, denn dass es Lieblingsbeschäftigung, Lieblingsfarbe und Lieblingsspeise ins Lexikon geschafft haben, ist eher Zufall. Wie wäre es mit Lieblingsapfelsorte, -buch, -chinese, -datum, -eingang, -feind - der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, wie aber ebenfalls in allen anderen Sprachen nicht, auch wenn in ihnen nicht vorgesehen ist, alle Bestandteile der Äußerungen unbedingt zusammenzukleistern, sondern sie nebeneinanderzustellen (E) oder genitivisch oder vielleicht adjektivisch zusammenzubinden (F-G). In den bisher genannten Wortbildungsmustern gleichen sich D-E-F-G, auch wenn ihre Funktionsweise selbstverständlich nicht in allen Sprachen gleich ist. Schließlich muss aber immerhin noch exemplarisch und kurz ein Wortbildungsschema genannt werden, das es in D gibt, in E eher selten, in F-G hin und wieder: die geschlechtsspezifische Markierung in Berufsbezeichnungen. 26D) der Bauer / die Bäuerin; der Arzt / die Ärztin; der Schauspieler / die Schauspielerin 26E) the farmer / the farmer; the doctor / the doctor; the actor / the actress 26F) le paysan / la paysanne; le docteur / la doctoresse; l’acteur / l’actrice 26G) ο αγρότης / η αγρότισσα; ο γιατρός / η γιατρός; ο ηθοποιός / η ηθοποιός (o agrótis / i agrótisa; o jatrós / i jatrós; o ithopiós / i ithopiós) <?page no="101"?> 101 5.2 Wortbildung In D ist diese Markierung sprachlich systematisiert 5 , auch wenn sich die gesellschaftliche Gepflogenheit mitunter bzw. eine Zeit lang dagegen sträubt, nach der Frau Professor die Frau eines Professors ist (relativ hartnäckig in Österreich) oder selbst eine Professorin, als die sie dann aber Frau Professorin genannt werden sollte (welche Instanz steckt hinter diesem „sollte“? ). In E gibt es eine solche Diskrepanz zwischen sprachlicher Regel und gesellschaftlicher Gewohnheit so gut wie gar nicht, weil die Toleranz aufgrund der Tatsache, dass die Genusmarkierung generell abgebaut wurde, erheblich größer ist, auch wenn es Sonderformen (actress gegen actor) gibt. F bedient sich, wo es geht und wie in D, einer passenden Endung und markiert das Geschlecht, wenn es im Artikel möglich ist (l’actrice vs. la doctoresse), ebenfalls doppelt. G ist insgesamt am flexibelsten, in einigen Fällen genügt der Artikel (o jatrós / i jatrós ‚der Arzt / die Ärztin), in anderen kommt die entsprechende Substantivendung hinzu (o agrótis / i agrótisa ‚der Bauer / die Bäuerin‘; ein sprachliches System ist dabei allerdings nicht zu erkennen, aber wahrscheinlich ein kulturelles. Auf dieses Thema der Genusmarkierung ist in Kap. 7 aber noch einmal einzugehen, wo es um einen Ausgleich zwischen sprachlichem System und kommunikativem Bedürfnis geht. 5 Immerhin eine Ausnahme sei aber genannt: der Zauberer - die Zauberin, aus der jedoch umgangssprachlich häufig die Zauberererin wird, auch wenn es sich nicht schön anhört. Nachdem Kinder als Gegensatz von Zauberer aber auch Hexe gelernt haben, scheint diese Abweichung ebenfalls semantische Gründe haben; vgl. auch die Besonderheiten Witwe und Braut in Kap. 6. <?page no="102"?> 6 Wortschätze (Lexikologie und Semantik) Wörter und ihre Bedeutungen miteinander zu vergleichen, ist ziemlich langweilig. Deshalb werden in diesem Kapitel Wortschätze gegenübergestellt, die immerhin etwas über die Kultur, in der sie verwendet werden, aussagen. Dabei geht es vor allem um die Frage, warum etwas so heißt, wie es heißt. Aber selbstverständlich geschieht das in ganz kleinem Rahmen. Kinder, die gerade Sprechen und Sprache entdeckt haben, kommen (wie schon erwähnt) immerhin ein paar Tage lang mit drei Wörtern aus: Mama, Papa, Dada. Die Interpretation (besonders von Dada) leisten die Erwachsenen. Wer aber annehmen wollte, dass immerhin deren Welt ein für allemal sprachlich organisiert sei, liegt völlig falsch, was eine ganze Menge Gründe hat. Um nur folgende zu nennen: Dada aus Kindermund hat eine ganz andere Bedeutung als bei Hans Arp, Hugo Ball oder Tristan Tzara und entsprechend interessierten Literaturwissenschaftlern oder Lesern. Je mehr Wörter wir kennen, desto größer wird unsere Welt, denn: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“ (Wittgenstein 1984: 67), aber desto enger rücken die Begriffe auch zusammen. Ob man aber über einen aktiven Wortschatz von 25.000 Einheiten (möglicherweise Shakespeare) verfügt oder nur von 500 - auch Konrad Adenauer, dem diese 500 nachgesagt werden, ist einigermaßen erfolgreich durchs Leben gekommen. War Adenauers Welt kleiner als die Welt Shakespeares? Wenn man annimmt, dass Sprache nicht nur Ausdrucks-, sondern auch Wahrnehmungsmedium ist, muss die Frage eindeutig bejaht werden, konkret und soziologisch formuliert: Sie war kleinbürgerlicher. Je differenzierter der Wortschatz, desto differenzierter die Welt: Der Bauer kann ohne weiteres zwischen Kuh, Stier, Ochse und Kalb unterscheiden; die Urlauber auf dem Bauernhof sehen hingegen keinen Unterschied, solange sie nicht wissen, dass es einen Unterschied gibt, der über das individuelle Aussehen hinausgeht. Abb. 10: Rinder auf der Weide Abb. 11: Wisent, Altamira, ca. 14.000 vor Chr. <?page no="103"?> 103 6 Wortschätze (Lexikologie und Semantik) Aus Kühen (genauer: Rindern) kann man hierzulande eine leckere Mahlzeit machen, während sie in Indien (pauschal gesagt) heilig und damit für die Küche tabu sind. Sie haben selbstverständlich in der indischen (genauer: hinduistischen) Kultur einen ganz anderen Stellenwert als in der europäischen. Den Kühen selbst sieht man das ja nicht an - oder doch? Doch! Denn der Unterschied liegt allein im Auge des Betrachters. Man könnte das kultur- oder religionsgeschichtlich erklären, aber beides muss hier nicht sein. Allerdings lohnt sich als dritter Blick ein (prä)historischer: Bei Abb. 11 handelt es sich nicht um die - realistische - Darstellung eines Bos primigenius taurus (Hausrind), sondern um die eines Bison bonasus (Wisent, mittlerweile fast ausgestorben) - aber so genau muss hier gar nicht differenziert werden. Was hier interessiert, ist Folgendes: Diese Darstellung hatte, nach allem, was man heute weiß oder vermutet, eine bestimmte Funktion, sei es als eine Art Jagdzauber, sei es als Opferbild. Abb. 10 hat eine solche Funktion natürlich nicht (aber möglicherweise tut man sich in 16.000 Jahren ebenfalls schwer, sie zu verstehen). Was hat das mit Sprachen, Wortschätzen und Welt zu tun? Die Welt, der konkrete Weltausschnitt, ist in allen Fällen mehr oder weniger gleich: ein Tier auf vier Beinen. Die Unterschiede werden durch Menschen und ihre mehr oder weniger reflektierten Interessen gemacht. Um das letzte Kapitel nicht ganz zu vergessen: Noch mal zwei Beispiele aus der Wortbildung. Wenn es nicht ohnehin eigene Wörter gibt (Mann - Frau, Hengst - Stute; je nach methodischem Ansatz kann man sie auch als suppletive Formen verstehen), werden in D bei der Benennung von Lebewesen weibliche Formen von männlichen abgeleitet und nicht umgekehrt (Lehrer - Lehrerin, und nicht etwa Lehrer - Lehre). Es gibt jedoch (mindestens) zwei sehr bedeutsame Ausnahmen. 1) Die weibliche Entsprechung zum Witwer ist nicht etwa die *Witwerin, sondern die Witwe. Ganz offensichtlich ist ausnahmsweise die Witwe das Grundwort und nicht der Witwer. Tatsächlich war das so, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse danach waren. Starb nämlich eine Ehefrau, änderte sich für den hinterbliebenen Gatten höchstens emotional etwas, gesellschaftlich aber nichts. Starb hingegen der Ehemann vor der Frau, änderte sich für sie alles. Sie brauchte dringend einen Neuen - wollte sie nicht eine „lustige Witwe“ werden, also eine Frau mit (für viele Männer angenehm) schlechtem Ruf: Jeder besuchte sie, um anschließend über sie zu lästern, weil sie ja jeder besuchen konnte. Dagegen wurde zeitweise und in einigen gesellschaftlichen Kreisen sehr offiziell geregelt: Im Spätmittelalter stand die Frau eines Handwerkers, wenn sie Witwe geworden war, (mancherorts) dem „ersten - oder auch [...] erstbesten“ Gesellen zur Verfügung (Opitz 1993: 330): Er übernahm mit der Werkstatt auch sie. Dass es sich sprachlich in E genauso verhält, ist nicht verwunderlich: widow ist die, widower der Hinterbliebene; in F-G, sowie in L und anderen romanischen Sprachen gibt es hingegen die üblichen geschlechtsspezifizierenden Endungen: F: veuve nach veuf; G: χήρα (chíra) nach χήρος (chíros); I: vedova nach vedovo; S: viuda nach viudo, beides von L: vidua nach viduus. 2) Ähnliches gilt für die beiden Menschen, die man für eine Ehe braucht. Der Mann suchte sich seit jeher (was man landläufig darunter versteht) eine Frau, <?page no="104"?> 104 6 Wortschätze (Lexikologie und Semantik) die dann seine Braut wurde. Dass sich eine Frau einen Mann suchte, war in patriarchalischen Gesellschaften undenkbar (schon im Mittelalter wird das aber und übrigens zum Teil scharf kritisiert); ein männlicher Gegenbegriff zu Braut war gar nicht notwendig. Und wenn er dann doch gebildet wird, dann sehr aufwendig abgeleitet: Bräutigam, in E ist es zur bride der bridegroom, was aus Gründen der üblichen menschlichen Faulheit abgekürzt wird zu groom. Wiederum geht es in F rein sprachlich zu: mariée nach marié; ebenso in I: sposa oder fidanzata nach sposo, fidanzato, teilweise von L: sponsa - sponsus; S: novia - novio. G ( νύφη - γαμπρός [nífi - gambrós]) stellt hier einen merkwürdigen Sonderfall dar, auf den später (Kap. 6.2.3) und unter anderem Gesichtspunkt eingegangen werden muss. Sprache drückt immer nur aus, was die Gesellschaft, in der sie gesprochen wird, braucht, und gleichzeitig geht die Gesellschaft sehr elastisch mit ihrer Sprache um, wie bereits früher an dem Wort Computer und seiner Herkunft gesehen wurde. Dass verschiedene Sprachen (und Kulturen) in unterschiedlicher Weise damit umgehen, bedarf keiner Diskussion. Aber die (bisher) drei Sichtweisen der Kühe zeigen noch etwas anderes: Ein und derselbe Wirklichkeitsausschnitt wird nicht nur unterschiedlich benannt (das ist der lexische Unterschied zwischen den Sprachen), sondern diese Benennungen haben auch ganz unterschiedliche Konnotationen oder Assoziationen um sich herum. Der Unterschied zwischen Konnotationen und Assoziationen wird in der Linguistik auf verschiedene Weise beschrieben. Es gibt einerseits die Annahme, dass die beiden Wörter Synonyme, also austauschbar sind; andererseits (und häufiger) wird aber folgendermaßen abgegrenzt: Eine Konnotation ist ein kulturell vermitteltes und bedingtes Mehr an Bedeutung eines Wortes, eine Assoziation hingegen ist ein individuell bedingtes Mehr an Bedeutung (vgl. Löbner 2003: 48ff.). Sowohl Konnotationen als auch Assoziationen sind selbstverständlich Wandlungen unterworfen, zumal es in öffentlichem Sprachgebrauch z.B. eine sehr deutliche Tendenz dahin gibt, unangenehme Konnotationen zu vermeiden, um auf jeden Fall politisch korrekt zu bleiben, und da Assoziationen ohnehin individuell sind, verstehen sich deren Wandlungen ganz von selbst. Dimitra sieht eine Kuh und denkt an Milch, Wilhelm läuft das Wasser im Mund zusammen, weil er gleich ein saftiges Steak vor sich sieht, während dem oben erwähnten traditionellen Inder mit Sicherheit nichts Kulinarisches einfällt. Und was dem Steinzeitmenschen einfiel, weiß heute überhaupt niemand mehr. Und - was wichtig ist: Bei diesen Unterschieden geht es nicht nur um persönliche, sondern um gesellschaftliche und kulturelle Vorgaben. Ich denke und assoziiere genau in der Sprache, mit deren Hilfe ich die Welt sehe, in die ich mir die Welt übersetze, genauer: in der Sprache, in der sie, die Sprache, mir die Welt übersetzt. Selbstverständlich ist das individuell unterschiedlich: Einem Vegetarier liegt das Schnitzel ebenso fern wie dem streng gläubigen Hindu, aber aus ganz anderem Grund. Es dreht sich irgendwie im Kreis. Wortschatz hat es grundsätzlich an sich, dass er einerseits öffentlich ist, andererseits höchst privat. Gertrude Stein schrieb 1935: „A rose is a rose is a rose is a rose.“ Sie hätte das noch seitenweise fortsetzen können: Niemandem konnte sie <?page no="105"?> 105 6.1 Wortfelder damit verbieten, bei einer Rose nicht nur an eine Rose, sondern an Liebe, den Himmel auf Erden, ewig haltende Schwüre, angedrohten Selbstmord oder was auch immer zu denken, z.B. an Rainer Maria Rilkes Grabspruch von 1926: Rose, oh reiner Widerspruch, Lust Niemandes Schlaf zu sein unter soviel Lidern. Dazwischen spielt sich (auch) Wortschatz ab. 6.1 Wortfelder Abb. 12: Das Skelett eines Rinds Dass das alles nicht immer so dramatisch ist (wir sprechen ja in der Regel sehr erfolgreich miteinander), verdeutlicht das Bild des Rinds in Abb. 12: Darin sind einige anatomische Benennungen verzeichnet. Das sieht zwar etwas altertümlich aus, ist aber doch ganz vernünftig, wenn es auch hier auf rindliche Einzelheiten natürlich nicht ankommt. Ein Rind besteht aus verschiedenen Teilen, und jedes Teil hat seinen Namen: Hinterschienbein, Sprunggelenk, Unterschenkel, Oberschenkel, ... - so steht’s da. Und so hat auch ein Tisch Beine und eine Tischplatte, und ein Stuhl hat Beine, eine Sitzfläche und eine Rückenlehne, vielleicht auch Armlehnen usw. Jedes Bilderlexikon zeigt uns die Welt so. Allerdings eine einsprachige Welt. Geht man über die Sprachgrenzen hinaus, sieht die Welt mitunter ganz anders aus, aber manchmal eben auch schon in ein und derselben Sprache. In Abb. 13 gibt es acht Rinder, die metzgerisch aufbereitet sind. Als Laie, der als Nichtvegetarier hin und wieder auch Rindfleisch isst, bin ich nicht nur von Sprache zu Sprache, sondern auch innerhalb jeder Sprache einigermaßen verwirrt (und ich versichere, bei der Auswahl der Bilder keineswegs böswillig vorgegangen zu sein). <?page no="106"?> 106 6 Wortschätze (Lexikologie und Semantik) a) b) c) <?page no="107"?> 107 6.1 Wortfelder d) e) Brisket <?page no="108"?> 108 6 Wortschätze (Lexikologie und Semantik) f) g) h) Abb. 13: Rinder in D-E-F-G Dass es selbst bei einem so übersichtlichen Weltausschnitt wie einem Rind nicht nur ganz unterschiedliche Zugriffe gibt, sondern auch ganz unterschiedliche Teilbenennungen, zeigt, dass das Sprechen über Welt erst die Welt so macht, wie wir sie wahrnehmen, und das ist von Sprache zu Sprache durchaus unterschiedlich. Wie schon bemerkt, war Leibniz noch Ende des 17. Jhs. der Meinung, dass es auf Deutsch keine Philosophie geben könne: Der Wortschatz fehlte. Auf der anderen Seite halten sich hartnäckig Gerüchte, dass Indianer Dutzende Wörter für „Grün“ <?page no="109"?> 109 6.1 Wortfelder und Eskimos mindestens ebenso viele für „Schnee“ haben: Die Zahl stieg von der ersten Feststellung 1911 (von Franz Boas) bis 1984 (in der New York Times) von 4 auf 100 (Beller/ Bender 2010: 257). Neueste Forschungen, die an der Universität Glasgow durchgeführt wurden und über die n-tv.de am 24.09.2015 berichtete, haben nun neuerdings zu Tage gefördert, dass es demgegenüber im Schottischen sage und schreibe 421 Wörter für Schnee gibt, obwohl in Schottland „gar nicht so viel Schnee im Laufe eines Jahres“ fällt. 1 Demgegenüber sind Schulnoten sehr leicht zu überblickende und in der Praxis notwendigerweise geschlossene Wortfelder. Da ist 1 nicht gleich 1 wie in der Mathematik, sondern an deutschen Schulen ist 1 hervorragend, in Griechenland jedoch eine Katastrophe; dort braucht man nämlich (in der Schule) eine 20, um hervorragend zu sein, an der Universität jedoch nur eine 10, weil es darüber nichts mehr gibt. Mit Wörtern ist es nicht anders als mit Noten: Es hängt immer davon ab, zu welchem Wortfeld ein Wort (in seiner Sprache) gehört; erst von seinen Nachbarn erhält es seine Bedeutung. Absolute Äquivalenz von Benennungen in verschiedenen Sprachen gibt es nicht. Wenn sie gebraucht wird, einigt man sich daher auf künstliche Sprachen, wie etwa bei der Benennung von Pflanzen und Tieren. Das Rind wurde durch Carl von Linné im Jahr 1758 innerhalb seiner Taxonomie („Systema naturae“) Bos taurus genannt und heißt heute (in der aktuellen dreigliedrigen Namensversion): Bos primigenius taurus. Und es heißt wissenschaftlich in allen Sprachen so, oder anders gesagt: Alle Biologen, egal welcher (Mutter-)Sprache, haben sich darauf geeinigt, sich dieser Terminologie zu bedienen. Und Entsprechendes gilt für alle (naturwissenschaftlichen, medizinischen, verwaltungstechnischen, ...) Fachsprachen. Jede Sprache sieht die Welt aus einer eigenen Perspektive. Allzu gravierende Unterschiede darf man bei so nah verwandten Sprachen wie den ide. natürlich nicht erwarten. Andererseits gibt es in jeder Sprache jede Menge Beispiele für diese grundlegende Perspektivität der Benennung; in jedem Lexikon ist sie enthalten. Es gibt nicht nur (aber auch nicht konsequent in allen Sprachen) Mensch - man - homme ἀνθρωπος (ánthropos), sondern (Perspektive Geschlecht: ) Mann - man - homme - άντρας (ándras) oder Frau - woman - femme γυναίκα (jinéka), (Perspektive Alter: ) Kind - child - enfant - παιδί (pedí), Erwachsene/ r - adult - adulte - ενήλικος/ ενήλικη (enílikos/ eníliki), Senior/ in - senior - personne âgée - άνδρας τρίτης ηλικίας (ándras trítis ilikías), Greis/ in - very old man - vieillard/ vieille - γέρος/ γριά (jéros/ griá), (Perspektive Beruf: ) Verfassungsrichter/ in - constitutional [court] judge juge auprès de la Cour constitutionnelle - δικαστής στο συνταγματικό δικαστήριο (dikastís sto sindagmatikó dikastírio), (Perspektive intellektuelle Fähigkeiten: ) Dummkopf - idiot / fool - andouille - βλάκας (vlákas), Intellektuelle/ r intellectual intellectuel(le) δ ι α νοού μ ενος / δ ι α νοού μ ενη (dianoúmenos/ dianoúmeni). 1 Da diese Äußerung wie jede andere auch (in jeder Sprache) für Interpretationen offensteht: Die Quersumme von 421 ist 7 - seit alters eine besondere, heilige Zahl - und 3 als Anzahl der Ziffern von 421 ist natürlich auch eine besondere (heilige) Zahl. Zudem ist 421 eine Primzahl und ihre Ziffern ergeben sich aus: 4: 2=2: 2=1 - bei so vielen Besonderheiten kann man sich schon fragen, welchen Wortbegriff die schottischen Forscher bei ihrer Zählung zugrundegelegt haben (oder ob sie sich nicht doch einfach einen Spaß erlaubt haben - vielleicht aber auch n-tv selbst). <?page no="110"?> 110 6 Wortschätze (Lexikologie und Semantik) Dass diese Perspektivität des Wortschatzes nicht in allen Sprachen die gleiche sein kann, leuchtet unmittelbar ein. Jede Sprache hat ihre eigene Geschichte, gehört zu einer eigenen Kultur und hat daher eigene - historisch und kulturell bedingte - Interessen. Dazu kommt: Es gibt unzählige Wortfelder, in denen die Grenzen zwischen den Mitgliedern nur ganz vage gezogen sind. Ob jemand Kind, Jugendlicher oder Erwachsener ist, ob etwas klein oder groß ist, hängt von der Perspektive und vom Kontext ab: Der kleine Paul ist im Vergleich zur großen Spinne Helga groß - das hatten wir schon, doch auch wer nach Jugendstrafrecht verurteilt wird, kann (in anderer Hinsicht) schon erwachsen sein. Bei den meisten Wortfeldern handelt es sich um analoge Systeme. In Kap. 8.2 wird es darum gehen, dass unterschiedliche Sprachen ganz unterschiedliche Anredesysteme haben. Doch so einfach oder umfangreich sie auch sein mögen: Es sind jeweils immer vollständige Systeme, egal ob sie nur aus einem, aus zwei oder aus einigen Dutzend Komponenten bestehen; die D-E-F-G-Systeme sind gegenüber dem japanischen nicht etwa defekt, sondern nur einfacher, aus historischen und kulturellen Gründen. Werfen wir von hier aus noch zwei Blicke auf das Rind, diesmal nicht unter historischem, kulturellem, religiösem Aspekt, sondern mit leerem Magen. 1) Wie lassen sich die Unterschiede zwischen den Abbildungen erklären? 2) Welche Abbildung ist richtig? Die erste Frage ist leicht zu beantworten, man muss sich die Rinder nur ansehen. Sie sind in jedem Fall typisiert, ebenso wie die Einteilung der Fleischstücke. Beides muss typisiert sein, da kein Rind einem anderen genau gleicht. Außerdem kann man davon ausgehen, dass die Autoren der Bilder in Abb. 13 die Absicht haben, den Lesern (und das waren wahrscheinlich zunächst einmal Kunden in einer Metzgerei) Wissen zu vermitteln, und sie können dabei ganz sicher davon ausgehen, dass keiner der Kunden tatsächlich der Meinung ist, ein Rind sei wie ein Puzzle aus einzelnen Fleischstücken zusammengesetzt. Die zweite Frage lässt sich ebenso selbstverständlich überhaupt nicht beantworten und ebenso wenig wie die erweiterte Frage, welche Sprache die Welt denn richtig abbilde. Diese beiden Fragen sind natürlich ganz falsch gestellt. Wer meint, eine Sprache entspreche der Welt eher als eine andere, kann auch behaupten, dass eine Kuh eher nach Kuh aussieht als nach cow, nach vache oder nach αγελάδα (ajeláda). Eher noch haben die Abbildungen etwas mit dem Preis beim jeweiligen Metzger zu tun. 6.2 Beispiele Im Folgenden diskutiere ich so kurz wie möglich drei Wortfelder, wobei auch schon gefragt wird, in welcher Weise Wortschatz motiviert ist. 6.2.1 Farbwörter Im 19. Jh. gab es ein höchst interessantes wissenschaftliches Gerücht: Die alten Griechen seien farbenblind gewesen. Tiefgreifende Textanalysen hatten nämlich zutage gefördert, dass das Mittelmeer, auf dem Odysseus nicht nach Hause kam, bei Homer dieselbe Farbe hatte wie (Rot)Wein (Deutscher 2012: 34ff.), z.B. in <?page no="111"?> 111 6.2 Beispiele Odyssee 2,421: „ ἀκραῆ ζέφυρον, κελάδοντ’ ἐπὶ οἴνοπα πόντον.“ (ungefähr: ákrae dzéfyron keládont’epí oínopa pónton); Voß übersetzt: „Leise streifte der West das rauschende dunkle Gewässer“. Tatsächlich ist οἴνοπα aber Adjektivableitung von οἶνος (‚Wein‘), und auch Stiere (Ilias 13,703; Odyssee 13,3) haben dieselbe „Farbe“. Farbwahrnehmung ist etwas sehr Subjektives: Wer farbenblind oder rot-grünblind oder -fehlsichtig ist, und das sind heute immerhin 5% der Menschen, sortiert Welt anders als Normalsehende. Dennoch gibt es mittlerweile nicht nur naturwissenschaftlich ausgearbeitete Farbsystematiken (RGB, CMYK, ...), sondern auch belastbare Übersetzungsmöglichkeiten. Spannend ist, wie es dazu gekommen ist. Welche visuellen Eigenschaften der Welt können von Sprachen benannt werden? Als es noch traditionelle Fotoapparate gab und die Negative zu Fotos entwickelt werden mussten, entschied man sich für matt oder glänzend - die glänzende Variante sah besser aus, hatte aber den Nachteil, dass man jeden Fingerabdruck darauf sah. Diese Alternative gab es auch schon, als die Farbfotografie für viele noch unerschwinglich war. Doch seit alles bunt geworden ist, wäre es einigermaßen sinnlos, Bilder in Rot oder Blau oder Gelb zu drucken. Tatsächlich gibt es genau diese beiden unterschiedlichen Möglichkeiten der Benennung von visuell Wahrnehmbarem (matt und glänzend) schon in AG: μαυρός (maurós) ist sehr allgemein ‚dunkel, unscheinbar‘, in G dann allerdings ‚schwarz‘, während μέλας (mélas) sowohl ‚schwarz‘ als auch ‚dunkel‘ ist; der Schwarzwald heißt Μέλας Δρυμός (mélas drimós), und auch in D bedeutet Schwarzja nicht eine Farbe, sondern dunkel, wie auch in schwarz vor Augen, schwarz sehen usw. Darüber hinaus werden Farbbenennungen häufig kontrastiv verwendet (Bleichgesicht gegen Rothaut - paleface / redskin - visage pâle / Peau-Rouge - χλωμό πρόσωπο / ερυθρόδερμος [chlomó prósopo / erithródermos]) und in vielen Fällen noch deutlicher metaphorisch oder metonymisch, etwa in Bezug auf politische Parteien. Man muss (natürlich nicht nur) bei Farbbenennungen also sehr sorgfältig Selbstverständlichkeiten voneinander trennen, um nicht Milch für Weißwein zu halten. In einer wegweisenden Studie von 1969 mit dem Titel „Basic Color Terms: Their Universality and Evolution“ haben Brent Berlin und Paul Kay gezeigt, dass Kulturen Farbadjektive in einer bestimmten Reihenfolge entwickeln. Grundlegend sind dabei dunkel-kalt und hell-warm - wie bei den alten Griechen. In einer nächsten Stufe käme Rot hinzu und dann weitere insgesamt elf Farben - Pink (außer in E) und Türkis gab es 1969 noch nicht, die Anzahl der geläufigen Farbadjektive wird auch weiterhin zunehmen. Warum Blau (in allen europäischen Sprachen) erst nach Grün und Gelb kommt, hat unter kulturwissenschaftlicher Perspektive Michel Pastoureau 2000 ausführlich dargelegt. In Tab. 22 sind die Farben (allerdings nur in einer mittlerweile kleinen Auswahl) in der Reihenfolge verzeichnet, in der sie in Kulturen verwendet werden (nach Deutscher 2012: 103). Sie ist also folgendermaßen zu lesen: Eine Kultur, die ein Wort für „braun“ hat, hat auch alle sechs darüberstehenden Benennungen, aber keine von denen darunter, so lautet jedenfalls die urprüngliche Theorie, von der ich hier der Einfachheit halber ausgehe, ohne die Lücken diskutieren zu müssen; warum einige Benennungen kursiv gesetzt sind, wird später erläutert. Und dass in einem System nur mit zwei Farbwörtern schwarz und weiß etwas anderes <?page no="112"?> 112 6 Wortschätze (Lexikologie und Semantik) bedeuten als in einem differenzierteren System z.B. mit elf Farbwörtern, ist klar, und deshalb konnte Homer auch das Meer weinfarben nennen. D E L F AG G weiß white albus, candidus blanc φανός, λευκός, ... (fanós, leukós) άσπρος, λευκός (áspros, lefkós) schwarz black ater, niger noir μέλας, μαυρός (mélas, maurós) μαύρος (mávros) rot red ruber rouge ῥούσιος (roúsios) κόκκινος (kókinos) grün green viridis, prasinus vert χλωρός (chlorós) πράσινος (prásinos) gelb yellow flavus jaune ξανθός (ksant h ós) κίτρινος (kítrinos) blau blue caeruleus bleu καλλάϊνος, πτωκί, γλαυκός (kaláïnos, ptokí, glaukós) μπλε, γαλανός, γαλάζιος (blé, galanós, galázjos) braun brown fuscus, coloratus brun - καφέ (kafé) purpur purple purpura pourpre φοίνιξ (foíniks) πορφύρα (porfíra) rosa pink roseus rose - ροζ (róz) orange orange - orange - πορτοκαλής (portokalís) grau grey canus gris ψαρός, πολιός, σπόδιος (psarós, poliós, spódios) γκρίζος (grízos) Tab. 22: (Einige) Farbwörter in D-E-F-G und deren Vorgängersprachen Der (erste) Kontrast zwischen hell und dunkel, zwischen glänzend und matt, hat den romanischen Sprachen zu ihrem Wort für weiß verholfen: F blanc, I bianco, S blanco. Diese Wörter gehen auf ein germanisches Wort zurück, in D blank, heute keineswegs mehr ein Farbwort. Dafür wurde albus, das in D Albino noch weiterlebt, aufgegeben. Statt blank hätte man auch das gleichbedeutende candidus farblich weiterentwickeln können, allerdings war das bereits metaphorisiert zu ‚rein, arglos, naiv‘. Das englische black hat merkwürdigerweise dieselben Großeltern; es kommt auch von einem germanischen *blaka-, das auch noch in Ahd. blah-mâl zu fassen ist: ‚schwarzer Fleck‘. Damit zusammen hängt auch AG φλέγω (flégo) einerseits in der Bedeutung ‚(ver)brennen‘, auch im übertragenen Sinn: ‚(in Leidenschaft) entflammen‘, und andererseits im Feuer stehen, leuchten, glänzen. Hier gibt es beide Bedeutungsdimensionen friedlich nebeneinander. Das lateinisch-romanische niger hat in E bekanntlich eine unrühmliche Geschichte erlebt, und zwar dadurch, dass Konnotationen die Denotation überlagert haben. 2 D schwarz, das auch in E swarthy 2 Um hier noch einmal kurz die political correctness von oben ins Spiel zu bringen. Am 01.09.2015 erschien bei tagesschau.de ein Artikel über eine „Verbale Entgleisung“ des bayrischen Innenministers; es ging um Flüchtlinge in Deutschland, und Herr Herrmann sagte den Satz: „Roberto Blanco ist ein wunderbarer Neger“. Das ganze (gesellschafts)politische Drumherum spielt hier keine Rolle, aber dass der Autor des Artikels (der seinen Namen leider nicht preisgegeben hat) meinte, folgenden Satz schreiben zu müssen: „Das Wort ‚Neger‘ gilt als diskriminierend für schwarze Menschen und seine Verwendung als abwertend und rassistisch.“ - Nicht nur (denotative) Wortbedeutungen muss man lernen, sondern selbstverständlich auch Konnotationen. Interessant scheint mir aber hier die Tatsache, dass selbst tagesschau.de mit einem höchst kurzen Gedächtnis seiner User rechnet. <?page no="113"?> 113 6.2 Beispiele weiter existiert, hat als Ausgangsbedeutung dunkel und damit eine ähnliche Entwicklung hinter sich wie zwischen AG und G. Bei rot ist das gesamte Wortfeld sprachenübergreifend spannend, weil es zeigt, in welcher Weise die Benennungen von Farben mit denen anderer Eigenschaften zusammenhängen können: Es gehört zu ide. *reudh-, wozu ebenfalls L robigo ‚(roter) Rost‘ gehört, aber auch das Adjektiv robustus, was alles Harte und Feste benennen kann: Die Farbbenennung als solche ist ganz offensichtlich zweitrangig. Dieselbe Herkunft haben die oben nicht aufgeführten AG-Varianten ἐρυθρός, ἐρευθής (eryt h rós, ereut h ís); in G ist hingegen ein ganz neues Wort übernommen, erstaunlicherweise aus L: coccinus ist ‚scharlachfarben‘ (von coccum ‚Scharlachbeere‘). Die germanische Wortfamilie um grün und green ergibt sich in ihrer farblichen Bedeutung aus einem ide. Stamm *ghro-, den es auch noch in E grow gibt, wozu auch D Gras gehört: Aus dem Wachsenden, das in der Natur grün ist, wurde das Farbwort. Dasselbe gilt für AG, woher Chlorophyll kommt, für G, ebenfalls von der Wiese, dem Gras und für L mit den romanischen Sprachen: Ide. *ṷeis- ‚sprießen, wachsen‘ wird in L zum Verb vireo ‚grünen‘ und eben viridis: In all diesen Fällen ist die Farbe zunächst eine Assoziation, die dann auch metaphorisch verwendet werden kann: beim Greenhorn, das in D grün hinter den Ohren ist. Gelb ist auf den ersten Blick ziemlich langweilig, doch ist das ide. Grundwort wiederum ein sehr allgemeines Farbwort und kann ebenfalls ‚glänzen‘ und ‚schimmern‘ bedeuten, außerdem gelb, grau, blau oder grün - daher kommt AG ‚grün‘, aber auch ‚Galle‘ und ‚Zorn‘. AG ξανθός (ksant h ós) ist in G eingeengt auf ‚blond‘, es sei denn, man will ein Bier, das ebenfalls ξανθή (ksant h í) sein kann, wie auch in D oder F (une blonde). L flavus kreuzt sich mit D blau: Beides geht auf ide. *bhlēṷo-s zurück: ‚blau, gelb, blond‘. Ein anderes Kreuz ergibt sich wiederum aus AG χλωρός (chlorós), das in L galbus wird und in F zu jaune, in I zu giallo führt, während S sich der Kanarischen Melone (amarillo) bedient, ähnlich wie G der Zitrone ( κίτρινος [ kítrinos ]) , beides sehr moderne Farbbezeichungen, die sich auf relativ konkrete Weltausschnitte stützen. Es wird nicht erstaunen, dass ungefähr hier die kulturell späten Farben anfangen, die nun nicht mehr einzeln vorgeführt werden müssen; alle, die in der obigen Tabelle kursiv gedruckt sind, stützen sich nachvollziehbar auf konkrete Weltausschnitte. Allerdings lohnt zu grau noch ein Satz. Neben der Rückführung auf ide. *ghrē-, wiederum ‚strahlen, glänzen‘, spielt als zusätzliche Bedeutungskomponente eine Rolle, dass es mit alt assoziiert wird; L canus hängt mit senex (‚alt‘) zusammen: Die - haarigen - Begleitumstände des Alters ergeben das Farbwort. Insgesamt zeigen die Farbwörter, in welch unterschiedlicher Weise Sprachen Weltausschnitte benennen, und vieles dabei ist durchaus motiviert: Aus dem Aussehen eines Stückes Obst (orange) oder einer Kaffeebohne ( καφέ [kafé]) lässt sich ohne weiteres ein Farbwort machen. Was die Wörter ursprünglich einmal bedeutet haben oder nebenbei auch noch bedeuten, ist dabei ganz unerheblich: Mein orangenes T-Shirt hat mit einer Orange nur die Farbe gemeinsam, und bei solchen Alltäglichkeiten mache ich mir normalerweise keine Gedanken; andererseits wird unerfahrenen Essern bei Spaghetti mit Tomatensoße ein rotes T-Shirt empfohlen, obwohl es zwischen rot und Tomate weder in D noch in den anderen Sprachen irgendeinen sprachlichen Zusammenhang gibt, warum auch? <?page no="114"?> 114 6 Wortschätze (Lexikologie und Semantik) 6.2.2 Wochentage, Monate und Jahreszeiten Ein wenig anders sieht es bei rein gesellschaftlichen Vereinbarungen aus. Ich wähle hier solche, die der zeitlichen Organisation des Lebens dienen. Dabei lassen sich unterschiedliche Benennungssysteme unterscheiden: 1) deiktische, 2) hierarchisch geordnete und 3) kulturell vereinbarte. 1) Deiktische Systeme sind symmetrisch angeordnet: 27D) ... - gestern - heute - morgen - ... 27E) ... - yesterday - today - tomorrow - ... 27F) ... - hier - aujourd’hui - demain - ... 27G) ... - χθες - σήμερα - αύριο - ... (chthes - símera - ávrio) Es handelt sich um höchst rudimentäre Systeme, da sie nur mit Tagen funktionieren, aber weder mit Stunden noch mit Wochen oder Monaten - in G gibt es aber tatsächlich einen (zumindest teilweise) lexikalisierten dreistufigen Jahresverweis: πέρυσι/ πέρσι - φέτος - του χρόνου (périsi/ pérsi - fétos - tu krónu ‚letztes Jahr, dieses Jahr, kommendes Jahr‘), in Süddeutschland und Österreich sagt man immerhin heuer für ‚dieses Jahr‘, entstanden aus einer ahd. Instrumentalverbindung hiu jâru, die ganz ähnlich funktioniert wie F aujourd’hui ‚am heutigen Tag‘; schon in L gab es horno für ‚dieses Jahr‘). Die Tagesverweise lassen sich mehr oder weniger bequem nach beiden Seiten (symmetrisch) erweitern: 28D) ... - vorvorgestern - vorgestern - ... - übermorgen - überübermorgen - ... 28E) ... - three days ago - the day before yesterday - ... - the day after tomorrow - the day after the day after tomorrow / in three days 28F) ... - avant avant-hier - avant-hier - ... - après demain - dans trois jours 28G) ... - αντιπροχθές - προχθές - ... - μεθαύριο - αντιμεθαύριο (andiprochthés - prochthés - ... - methávrio - andimethávrio) Diesem deiktischen System sind je unterschiedliche Grenzen der Überschaubarkeit gezogen: vorvorvor... und überüberüber... lassen sich durchaus formulieren, aber sind schon sehr unverständlich (zumal der Hörer nicht weiß, ob der Sprecher überhaupt noch die Kontrolle über seine Äußerung hat; in three / four / five ... days oder dans trois / quatre / six ... jours bleiben übersichtlicher, weil nachvollziehbarer. Irgendwann empfiehlt es sich in allen Sprachen, in ein anderes System zu wechseln. G nimmt es ohnehin nicht so genau: αντιπροχθές (‚vorvorgestern‘) wird so gut wie gar nicht verwendet, hingegen heißt προχθές (‚vorgestern‘) meistens und höchst individuell: ‚kommt mir so vor, als sei es vorgestern gewesen‘ und das kann durchaus länger als eine Woche her sein. 2) Mehr oder weniger hierarchisch geordnet ist ein System, in dem verschiedene Skalen ineinandergeschoben sind: Es beginnt mit Übergängen zwischen den beiden Hyperfeinstrukturniveaus eines Caesium-133-Atoms; es sind genau 9.192.631.770 Übergänge, bis 1 Sekunde erreicht ist. Die Sekunde 3 kann nach unten verfeinert 3 Sekunde - second - seconde gehen ebenso wie Minute - minute - minute auf L zurück: secundus kommt von sequi ‚folgen‘ und ist ‚der folgende, zweite‘; minutus ist Partizip von minuo ‚mindern‘ und schon in der Spätantike ein „Zeitteilchen“, allerdings wurden damals nur 10 Minuten pro Stunde gezählt. (Georges 1998: 935). G funktioniert ähnlich. λεπτό (leptó) <?page no="115"?> 115 6.2 Beispiele werden (Milli-, Mikro-, Nano-, Pico-, ...sekunde - die Benennungen sind in D-E-F-G gleich). Nach oben summieren sich 60 Sekunden zu einer Minute, und 60 Minuten sind eine Stunde - hour - heure - ώρα (óra) und 24 Stunden ein Tag - day - jour - (η)μέρα ([i]méra). Danach wird es vollends unregelmäßig: 7 Tage ergeben eine Woche - week - semaine - (ε)βδομάδα ([e]vdomáda), womit man aber nicht weiterkommt. Die zweite Möglichkeit deshalb: 30 oder 31 oder 28 bzw. 29 Tage ergeben einen Monat - month - mois - μήνας (mínas), und wenn man zwölf von diesen unregelmäßigen Einheiten zusammennimmt, ist man dann allerdings präzise bei einem Jahr - year - an - χρόνος (krónos), von wo sich nun geordnet fortfahren lässt in Jahrzehnt - decade - décennie - δεκαετία (dekaetía), Jahrhundert - century - siècle - αιώνας (eónas), Jahrtausend - millennium - millénaire - χιλιετία (chilietía) usw. Es gibt selbstverständlich eine Vielzahl anderer Kalender, doch in Europa scheiterte nicht nur der französische Revolutionskalender, der auf einem strikten Dezimalsystem beruhte. Selbst alternative Monatsnamen, von Karl dem Großen im 9. Jh. verfügt, konnten sich nicht durchsetzen. Der Grund ist leicht einzusehen: Ein allgemeingültiger Kalender lohnt sich umso mehr, je mehr Menschen, vor allem aber Autoritäten, sich ihm anschließen. In dörflichen Gesellschaften ist er jedoch überflüssig. Solange nicht einmal der Jahresanfang feststeht (Grotefend 1982: 11ff.), ist es sinnlos, sich über den Gültigkeitsbereich des jeweiligen Kalenders hinaus mit dessen Hilfe verständigen zu wollen. Das bedeutet auch, dass ein solches System möglichst allgemeingültig sein sollte, über Kultur-, Länder- und Sprachgrenzen hinweg. Dabei stellt sich heraus, dass Monats- und Tagesnamen (Wochennamen gibt es nur in Ausnahmefällen) ebenso eindeutig sind wie Jahreszahlen oder Millisekunden, egal, wie sie heißen und woher die Namen stammen. Ich beschränke mich auf D-E-F-G, brauche allerdings AG und L wieder als Vorgänger: D E L F AG G Montag Monday dies lunae lundi Σελήνης ἡμέρα (Selénes heméra) Δευτέρα (deftéra) Dienstag Tuesday dies Martis mardi Ἄρεως ἡμέρα (Áreos heméra) Τρίτη (tríti) Mittwoch Wednesday dies Mercurii mercredi Ἑρμοῦ ἡμέρα (Hermoú heméra) Τετάρτη (tetárti) Donnerstag Thursday dies Iovis jeudi Διòς ἡμέρα (Diós heméra) Πέμπτη (pémpti) Freitag Friday dies Veneris vendredi Ἀφροδίτης ἡμέρα (Afrodítes heméra) Παρασκευή (paraskeví) Samstag / Sonnabend Saturday dies Saturni samedi Κρόνου ἡμέρα (Krónou heméra) Σάββατο (sávato) Sonntag Sunday dies Solis dimanche Ἡλίου ἡμέρα (Helíou heméra) Κυριακή (kirijakí) Tab. 23: Wochentage in D-E-F-G und deren Vorgängersprachen ‚Minute‘ hat sich aus dem Hellenistischen λεπτόν (leptón) ergeben, was etwas Kleines benannte, weshalb daraus auch nicht nur eine Zeit-, sondern auch eine Währungseinheit werden konnte: 60 Lepta = 1 Stunde, 100 Lepta = 1 Drachme (mittlerweile 1 Euro). Die δευτερόλεπτο (devterólepto) ‚Sekunde‘ ist nach römischem Vorbild gebildet: δεύτερος, -η, -ο (dévteros, -i, -o) ist ‚der, die, das zweite‘. <?page no="116"?> 116 6 Wortschätze (Lexikologie und Semantik) Zunächst fällt auf (selbstverständlich auch, weil es kursiviert ist), dass die Tagesnamen fast überall als Namen von Tagen markiert sind, am systematischsten in AG und E-L, in F nicht mehr ohne weiteres erkennbar. In G fehlt diese Markierung zwar völlig, doch sind die ersten vier Tagesnamen eindeutig als Ellipsen zu verstehen: zweiter, dritter, vierter, fünfter (Tag). Vorausgesetzt ist hier die Woche als feststehende Maßeinheit mit einem selbstverständlichen Anfang, den es so aber gar nicht mehr gibt: Der erste Tag der Woche ist (in christlichem Kontext) der Sonntag; erst seit (in der modernen Arbeitswelt) Samstag und Sonntag zum Wochenende - weekend - week-end - Σαββατοκύριακο (savatokíriako ‚Samstagsonntagliches‘) zusammengefasst sind, beginnt die Woche mit dem Montag. Würde es sich deshalb lohnen, die Tage neu zu benennen? Natürlich nicht, weil Δευτέρα, Τρίτη, ... längst lexikalisiert sind: Sie haben sich von ihrer Motivierung gelöst. Warum die Wochentage bis Donnerstag nur durchgezählt werden, versteht man ohne weiteres aus den Benennungen der drei verbleibenden Tage. Παρασκευή gehört zum Verb παρασκευάζω (paraskevázo) ‚vorbereiten‘ und kommt aus dem Aramäischen, der Sprache, die Jesus selbst gesprochen hat: An Παρασκευή bereitete man den Sabbat vor, wie denn auch der darauf folgende Tag heißt: Σάββατο , ein Wort aus dem Hebräischen. Der letzte Tag ist dann - christlich - der Tag des Herrn: Κυριακή , der eigentlich d er erste sein sollte. Die Benennung der Wochentage hat sich in G radikal gegenüber AG geändert. Dort hatten fünf Tage ihre Namen von fünf Göttern erhalten, die auch schon den Planeten ihren Namen gegeben hatten, während zwei Tage ihre Namen von den offensichtlichsten Himmelskörpern (Mond und Sonne) hatten. Die Römer übersetzten dieses System einfach, aber erst im Laufe des 2. Jhs. vor Chr.; die vorherige altrömische Woche war rein pragmatisch geprägt: Sie dauerte von einem Markttag zum nächsten, 9 Tage. In den romanischen und germanischen Sprachen wurden nicht etwa neue Systeme eingeführt, sondern im Romanischen unterliegen die Namen der ganz normalen Sprachentwicklung, bis sie zementiert waren, im Germanischen werden sie dem immer noch bevölkerten, weil vorchristlichen Götterhimmel angepasst. Montag ist eine Lehnübersetzung von dies lunae, was eine Lehnübersetzung von AG Σελήνης ἡμέρα ist. Bei Dienstag handelt es sich ebenfalls um eine Lehnübersetzung; im Niederdeutschen war „Thingsus“ (der Beschützer des Dings [‚Volksversammlung‘]) ein Beiname des germanischen Kriegsgottes. Von diesem Thingsus wurde - gemäß L - der Dienstag gebildet (der dann allerdings erst im 17. Jh. im ganzen deutschen Sprachgebiet verbreitet war). Mittwoch fällt ersichtlich aus den römisch motivierten Namen heraus; L Mercurii dies (AG ρμο ἡμέρα ) hätte zu einem Anklang an Wotan geführt, den es in E auch tatsächlich gibt: Wednesday. In Deutschland (was es aber noch nicht gab) hingegen setzte sich die christliche Geistlichkeit durch. Sie schlug das völlig neutrale kirchenlateinische media hebdomas vor, was dann auch wörtlich übersetzt wurde; auch hier ist selbstverständlich der Sonntag als erster Tag der Woche angenommen. Der Donnerstag ist dann wieder eine Lehnübersetzung: Dem lateinischen Gott Jupiter (Iovis dies) entsprach im Germanischen ungefähr der Wettergott Donar (der auch dem Donner zu seinem Namen verhalf). Für den Freitag wurde auf die germanische Göttin Frîa zurückgegriffen, die wie Venus und Aphrodite die Göttin der Liebe war (noch heute heißen danach die Kunden von Prostituierten Freier). Mit dem folgenden Tag wird dann doch auch ῦ Ἑ <?page no="117"?> 117 6.2 Beispiele die deutsche Woche christlich; eigentlich wäre jetzt Saturni dies dran, der in E zu Saturday wurde. In D sorgen aber von Süden her griechische Missionare für den Samstag: Sie brachten das Vulgärgriechische sambaton (aus AG Σάββατο) ins Gotische (*sambatō), das in Ahd. zu sambaztag verdeutlicht wurde. Im Norden des dt. Sprachgebiets sind angelsächsische Missionare am Werk und orientieren sich am Sonntag als dem Tag des Herrn: Der Sonnabend ist der Vorabend des Sonntags, eine Benennung, die dann aber auf den ganzen Tag ausgedehnt wird. Der Sonntag selbst schließlich ist wiederum Lehnübersetzung von L dies Solis, woran in christlichem Umfeld niemand etwas auszusetzen haben konnte, war doch Christus (der Herr) längst gleichgesetzt worden mit dem „sol invictus“, der unbesiegbaren Sonne; somit ist auch der deutsche Sonntag der Tag des Herrn. Die Benennungen der Wochentage zeigen, dass solche kulturellen Setzungen durchaus veränderlich sind (wie in G), dass es aber ebenfalls möglich ist, ohne Rücksicht auf die konkrete Bedeutung, eine schon vorhandene Benennung beizubehalten. Sobald sie lexikalisiert ist, was in diesem Fall auch heißt, dass ein normaler Sprachverwender die eigentliche Motivation nicht mehr durchschaut, gibt es keinen Grund mehr, sie auszutauschen, denn die Frage, was sie „eigentlich“ bedeutet, ist im und für den Gebrauch egal, was aber nicht ausschließt, dass sie (auch wissenschaftlich) interessant bleibt. - Damit komme ich zu 3) einem kulturell vereinbarten System ganz anderer Art, das auch einen ganz anderen Anspruch erhebt: Es geht um das christliche liturgische Jahr, das einerseits feststehende Feiertage kennt, andererseits bewegliche, die für jedes Jahr neu festgelegt werden müssen. Das führte in den frühen Jahrhunderten des Christentums zu heftigen Streitigkeiten zwischen den einzelnen Gegenden und Ideologien, die heute kaum noch nachvollziehbar sind, auf die hier deshalb auch nicht eingegangen werden kann. Eine solche mit Festen durchsetzte Zeit mit einer hohen Anzahl an Feiertagen, rhythmisiert die Zeit nach diesen Tagen, nach den „Herren-“, Marien- und Heiligenfesten, die teilweise ihre eigene Zeit um sich herum bildeten: Ostern mit vorangehender Fastenzeit und Karwoche und anschließender Osterwoche und Osterzeit mit Himmelfahrt, Pfingsten, Fronleichnam; Weihnachten mit vorangehender Adventszeit und anschließender Weihnachtszeit mit Drei-Königen bis Mariae Lichtmess, mit Vorabendfeiern (u.a. Heiligabend, was aber den ganzen Tag benennt) usw. All das erfordert einen sehr umfangreichen Wortschatz, der von der jeweiligen religiösen Superstratsprache zur Verfügung gestellt und entweder übernommen oder übersetzt wird. Ich nenne nur einige Auffälligkeiten: Advent wird in D-E-F als Fachbegriff aus L adventus (‚Ankunft‘) übernommen. Da es in der orthodoxen Kirche eine solche Einrichtung aber nicht gibt, wird dort (heute) rein erklärend übersetzt - auch wenn’s nicht ganz richtig ist: η περίοδος των τεσσάρων εβδομάδων πριν από τα Χριστούγεννα (i períodos ton tesáron evdomádon prin apó ta Christújena) ‚der Zeitraum der vier Wochen vor Weihnachten‘. Heiligabend gibt es so nur in D, ähnlich aber auch in E-F-G als (Vor-)Abend von Weihnachten: Christmas Eve - soir de Noël παραμονή Χριστουγέννων (paramoní Chistujénon). Epiphanie für das Fest der hl. drei Könige ist in D-E-F über L aus G gekommen, heißt dort zwar auch und zuerst ‚Erscheinung‘, der gebräuchlichere Name für das Fest ist jedoch Θεοφάνια (Theofánia) ‚Erscheinung Gottes‘. Die Karwoche, die in D kaum jemand noch versteht - das nur hier und fast die ganze Woche über erhaltene kar bedeutet <?page no="118"?> 118 6 Wortschätze (Lexikologie und Semantik) „wehgeschrei, klage“ (DWB: Karfreitag) -, ist in E-F die holy - sainte und in G die Μεγάλη (megáli) ‚Große‘ Woche, wo es auch konsequent Μεγάλη Πέμπτη (megáli pémpti) ‚Großer Donnerstag‘ und Μεγάλη Παρασκευή (megáli paraskeví) ‚Großer Freitag‘ heißt, und F bleibt auch bei saint, während E den Maundy Thursday und (heilsgeschichtlich nachvollziehbar) den Good Friday und D einen ganz aus der Reihe fallenden Gründonnerstag hat, dessen Name mit Sicherheit volkstümlich, aber auch ungeklärt ist: Vermutlich hat es im Sinne des in 6.2.1 diskutierten grün etwas mit dem anbrechenden Frühling zu tun, dessen beginnendes Leben von Ostern her als neues Leben verstanden wird. Auch Ostern deutet in diese Richtung: Ob es tatsächlich eine germanische Frühlingsgöttin „Ôstarâ“ gab, auf die Beda Venerabilis im 9. Jh. den Namen zurückführt, oder nicht; germ. austrô (L auster) ‚Morgenröte‘, kann auf „die zeit des wiedererwachens der natur, des frühlings, sodann auf das in dieser zeit stattfindende christliche auferstehungsfest [...] übertragen worden“ sein (DWB: Oster). Πάσχα (páscha) hingegen ist leicht zu erklären, wie in L pascha, das in F zu Pâques wird, zitiert es das höchste jüdische Fest. In der katholischen Liturgie wurde diesem Kontext ausgewichen zum ‚Sonntag der Auferstehung‘: Dominica Resurrectionis. Pfingsten schließlich ist in G der 50. (Tag nach Ostern), was sich aus der Apostelgeschichte (2,1) ergibt, wo von der „ἡμέρα τñς πεντηκοστñς“ (heméra tes pentekostés), vom ‚50. Tag‘ die Rede ist. Diese Zeitangabe wird als Fremdwort (Dominica Pentecostes) in L zitiert, von da in F (la Pentecôte) und, mit allerhand lautlichen Veränderungen in D. Im amerikanischen E gibt es das Fremdwort ebenfalls (Pentecost), in England selbst heißt das Fest Whit oder Whitsun(day), das sich aus einem Whitesunday ergeben haben soll, möglicherweise aber auch von den pfingstlichen Zeugen (witnesses; vgl. Apg 2,32) kommt. 6.2.3 Verwandtschaftsnamen - Wer ist mit wem wie verwandt? Anders als Wochentage und Monate sind Verwandtschaftsbeziehungen naturgegeben, aber selbstverständlich nicht ihre Benennungen. Verwandtschaftsbeziehungen sind grundsätzlich horizontal und vertikal, synchron und diachron strukturiert, nicht nur in irgendeiner Kultur, nicht nur beim Menschen, sondern das ist bei (nahezu) allen Lebewesen so: Das eine ist die Geschwisterebene, das andere die Eltern-Kind- oder Generationen-Ebene. Im Zentrum steht immer ein Ich oder (lateinisch) Ego. Von Ego aus sind unterschiedliche Abstände möglich, in synchroner Dimension sind in Tab. 24 drei benannt (Ego s+1 , Ego s+2 , Ego s+3 ); um die Darstellung einigermaßen übersichtlich gestalten zu können, musste hier nach Geschlecht getrennt werden. In diachroner Dimension sind insgesamt sechs Stufen angegeben: Ego d-3 ... Ego d+2 . Dass auch Verwandtenbenennungen motiviert sind, bedeutet selbstverständlich nicht, dass die Motivierung in allen Sprachen gleich ist. Im Gegenteil: Gerade hier stehen gesellschaftliche Bedürfnisse im Vordergrund. Alle Väter und Mütter gehen (in allen ide. Sprachen) auf gemeinsame Wurzeln zurück, woraus man schließen kann, dass in einer proto-ide. Gesellschaft die Beziehung zu den Eltern einen hohen Stellenwert hatte. Doch schon auf den nächsten weiteren diachronen oder synchronen Stufen gibt es solche Benennungsparallelen nicht mehr; sie sind nur <?page no="119"?> 119 6.2 Beispiele noch germanisch, romanisch oder griechisch, wobei es durchaus wechselseitige Einflüsse zwischen den (west)europäischen Sprachen gibt. männlich weiblich s+3 s+2 s+1 s+1 s+2 s+3 d-3 Urgroßvater great-grandfather arrière-grand-père προπάππος (propápos) Urgroßmutter great-grandmother arrière-grand-mère προγιαγιά (projiajiá) d-2 Großvater, Opa grandfather, grandpa grand-père παππ ούς (papús) Großmutter grandmother, grandma, granny grand-mère γιαγιά (jiajiá) d-1 Onkel uncle oncle θείος (thíos) Vater father père πατέρας (patéras) Mutter mother mère μητέρα, μάνα (mitéra, mána) Tante aunt tante θεία (thía) d0 Schwager brother-in-law beau-frère γαμπρός, κουνιάδος (gambrós, kunjádos) Cousin (Vetter) cousin cousin (ε)ξάδελφος ([e]ksádelfos) Bruder brother frère αδελφός (adelfós) Ego M | F Schwester sister soeur αδελφή (adelfí) Kusine (Base) cousin cousine (ε)ξαδέλφη ([e]ksadélfi) Schwägerin sister-in-law belle-soeur νύφη, κουνιάδα (nífi, kuniáda) d+1 Schwiegersohn son-in-law gendre γαμπρός (gambrós) Neffe nephew neveu ανιψιός (anipsiós) Sohn son fils γιος (jiós) Tochter daughter fille κόρη (kóri) Nichte niece nièce ανιψιά (anipsiá) Schwiegertochter daughter-inlaw belle-fille νύφη (nífi) d+2 Enkel grandson petit-fils εγγονός (engonós) Enkelin granddaughter petite-fille εγγονή (engoní) Tab. 24: Verwandtschaftsnamen in D-E-F-G Oberhalb von d-1 gibt es nur noch zusammengesetzte Benennungen: Groß-, Urgroß-, ...vater/ mutter, und so auch in E-F-G. In d+2 setzt F d+1 fort: fils - petit-fils. E spiegelt hingegen das Benennungsmuster der Vergangenheit in die Zukunft: d-2 ist grandfather, d+2 grandson. Ebenso funktioniert übrigens auch Enkel, das eine Verkleinerungsform von ahd. ano ist, ‚Ahne, Vorfahr‘. In beidem spiegelt sich offenbar ein germanischer Glaube daran, dass die Vorfahren in den Nachgeborenen wieder lebendig sind. εγγονός ist (schon in AG) Ablautbildung zu γένος (jénos) ‘Geschlecht’, wurde aber erst später auf d+2 festgelegt. In der Horizontalen (d0) begegnen in s+1 zunächst Bruder und Schwester; beide gehen auf ide. Wörter zurück. Hinter Schwester - sister - soeur vermutet man das ide. *ser-, was einfach Frau bedeutete; Schwestern haben - als beliebige Frauen - in der Sippe nie eine große Rolle gespielt. In s+2 fällt auf: Vetter und Base gibt es durchaus in D, aber schon seit langem setzt sich cousin/ e aus F durch, <?page no="120"?> 120 6 Wortschätze (Lexikologie und Semantik) ebenso wie in E. Die späte Übernahme lässt den Schluss zu, dass Kusinen und Cousins in den entsprechenden Gesellschaften ebenfalls nie eine spezifische Rolle gespielt haben. In s+3 zeigt E eine juristische Tendenz (...-in-law): durch Heirat zustandegekommene Verwandtschaftsbeziehungen sind gesetzlich geregelt. F geht hingegen eher davon aus, dass angeheiratete Mitglieder aus ästhetischen Gründen genommen wurden (beau/ belle), mit einer Ausnahme: Der belle-fille steht auf männlicher Seite auch der gendre gegenüber, der aus L dorthin gekommen ist: gener ist der ‚Schwiegersohn‘, aber auch der ‚Schwager‘, im weiteren Sinne sind es alle Familienmitglieder, die männlich und angeheiratet sind. Das Wort hängt etymologisch mit G γαμπρός zusammen, dessen altgriechischer Ursprung γαμέω (gaméo) ist: ‚heiraten, verheiratet werden, geheiratet werden‘, in G allerdings (als γαμώ [gamó]) nur noch in der Bedeutung ‚ficken‘; die Verwandtschaft ist aufgekündigt. In D gibt es die sehr interessanten Schwager und die davon abgeleitete Schwägerin. Im Mittelhoch- und Mittelniederdeutschen ist er sowohl der Schwager (allerdings nur als Bruder der Frau) als auch der Schwiegervater (der Vater der Frau) als auch der Schwiegersohn (der Sohn der Schwester). Heute ist das alte Schwager in Standard-D in verschiedene Benennungen auf drei verschiedenen Ebenen differenziert: Schwiegervater/ -mutter auf d-1, Schwager/ Schwägerin auf d0 sowie Schwiegersohn/ -tochter auf der Ebene d+1. Dieses Phänomen derselben Benennung auf verschiedenen Ebenen gibt es immer noch in G, sowohl auf weiblicher als auch auf männlicher Seite, allerdings in unterschiedlichen Wortstämmen. Die weibliche Entsprechung zu γαμπρός ist νύφη , AG νύμφη (nýmfe), was einerseits die ‚Braut‘, andererseits, wie leicht zu vermuten, die ‚Nymphe‘ ist: Das gemeinsame Merkmal ist das Unverheiratetsein. ‚Braut‘ ist als Bedeutung in G erhalten geblieben, neu hinzugekommen sind aber ‚Schwägerin‘ und ‚Schwiegertochter‘, die - rein sprachlich - nicht so recht in die Familie - des Mannes - aufgenommen sind. Die beiden Alternativbenennungen - κουνιάδος als Bruder der Frau bzw. des Mannes, κουνιάδα als Schwester der Frau bzw. des Mannes - sind aus dem Venezianischen (cugnado/ cugnada) übernommen; Venedig war zeitweise (13./ 17. Jh.) Besatzungsmacht in Griechenland. Kann man aus diesen Beobachtungen irgendwelche weiteren Schlüsse ziehen, die nicht historischer Art sind, etwa zur Bedeutung der Verwandtschaft in der heutigen deutschen, englischen, französischen oder griechischen Gesellschaft? Selbstverständlich nicht. Der heutige Wortschatz ist (unterstützt durch Schriftlichkeit, Wörterbücher und auch Fremdsprachenunterricht) in sich derart stabil, dass die ursprünglichen Motive hinter dem Gebrauchswert völlig zurückgetreten sind, wie schon bei den Farbwörtern und Wochentagen gesehen. Hinzu kommt in diesem speziellen Fall jedoch (ähnlich wie bei der Anwendung des Kalenders), dass lokales Gewohnheitsrecht mehr und mehr durch nationales und internationales Recht abgelöst wird. Mit den Benennungen, die es heute in D-E-F-G gibt, kommt man ohne weiteres aus, da gesellschaftliche Beziehungen und Verpflichtungen zunehmend von verwandtschaftlichen Abhängigkeiten entlastet werden; entsprechende Verhältnisse heißen heute nicht mehr Nepotismus - nepotism - népotisme - νεποτισμός (nepotismós), sondern zwar immer noch Vetternwirtschaft (cronyism - favoritisme - in Griechenland, einer nach wie vor sehr traditionellen Gesellschaft, allerdings nach wie vor: νεποτισμός ), aber die Beteiligten sind, in D, Amigos. <?page no="121"?> 121 6.2 Beispiele Im gesellschaftlichen Diskurs gibt es immer weniger verwandtschaftliche Benennungen, sogenannte Nennonkel sind so gut wie ausgestorben, zumal generationenübergreifende Anreden mit dem Vornamen ohnehin keine Verwandtschaftsnamen mehr zulassen, auch wenn (jedenfalls in deutsch-synchronisierten Filmen) einige männliche Menschen dunkler Hautfarbe sich unentwegt mit ‚Bruder‘ ansprechen, eine höchst interessante Parallele übrigens zu einer Szene im schon zitierten Parzival-Roman Wolframs von Eschenbach: Als junger Kerl hat der noch völlig asoziale Parzival einen ihm unbekannten Ritter, Ither, getötet. Jahre später wird er von einem seiner Onkel, dem fromm und Einsiedler gewordenen Trevrizent, deshalb des Brudermords bezichtigt. Tatsächlich waren die beiden miteinander verwandt, denn Parzival ist der Sohn von Gahmuret, dem Sohn von Gandin, dem Sohn von Addanz, dem Sohn von Lazaliez, dem Sohn von Mazadan, dessen Sohn Brickus war, dessen Sohn Utepandragun war (der Vater des Königs Artus), und dessen Schwester war die Mutter von Ither - mit anderen Worten: Was Schiller als Utopie beschrieb, wird hier bereits als Wirklichkeit verstanden: Alle Menschen sind Brüder. Ein kurzer Blick soll abschließend noch auf ein ganz anderes, nämlich chinesisches - immer noch aktives - Benennungssystem geworfen werden, ein kurzer Blick deshalb, weil es auf den oben berücksichtigten Ebenen d-3 bis d+2 und s0 bis s+3 weitaus mehr Benennungen kennt. Ich muss mich auf die Ebene d0 beschränken: Deren Mitglieder verdeutlichen schon die Systematik, auf die es ankommt. Dabei spare ich die chinesischen Schriftzeichen aus und gebe nur die Pinyin-Umschrift: gē ge älterer Bruder dì di jüngerer Bruder jiě jie ältere Schwester meì mei jüngere Schwester táng xiōng älterer Cousin (Sohn eines Bruders des Vaters) biǎo gē älterer Cousin (Sohn einer Schwester des Vaters oder eines Geschwisters der Mutter) táng dì jüngerer Cousin (Sohn eines Bruders des Vaters) biǎo dì jüngerer Cousin (Sohn einer Schwester des Vaters oder eines Geschwisters der Mutter) táng jiě ältere Cousine (Tochter eines Bruders des Vaters) biǎo jiě ältere Cousine (Tochter einer Schwester des Vaters oder eines Geschwisters der Mutter) táng meì jüngere Cousine (Tochter eines Bruders des Vaters) biǎo meì jüngere Cousine (Tochter einer Schwester des Vaters oder eines Geschwisters der Mutter) jiě fu Schwager (Mann einer älteren Schwester) meì fu Schwager (Mann einer jüngeren Schwester) dì meì Schwägerin (Frau eines jüngeren Bruders) sǎo zi Schwägerin (Frau eines älteren Bruders) Tab. 25: Verwandtschaftsnamen im Chinesischen Das System ist deutlich und wird ebenso für alle Verwandtschaftsbezeichnungen gehandhabt: Sie setzen sich aus Einzelwörtern zusammen, die jeweils semantische <?page no="122"?> 122 6 Wortschätze (Lexikologie und Semantik) Merkmale nach Geschlecht, Alter und Entfernung von Ego in d und s benennen, und das geschieht sehr konsequent. Alle Wörter lassen sich in jeder anderen Sprache selbstverständlich auflösen, und so wird aus táng xiōng der Sohn meines Onkels, nämlich des Bruders meines Vaters, der älter ist als ich, und aus biǎo gē wird je nach Situation mein Cousin, der Sohn einer Schwester meines Vaters, der Sohn eines Bruders oder einer Schwester meiner Mutter, und der ist älter als ich. Wie deutlich zu lesen ist: D (und E-F-G ebenso) muss viel umständlicher sein, aber es ist auch hier wie in der Küche oder am Schreibtisch: Was ich jederzeit brauche, sollte ohne weiteres griffbereit sein, und wer nicht mindestens einmal pro Woche Raclette isst, sollte das Raclette-Set nicht unbedingt in seiner kleinen Küche auf der Arbeitsplatte stehen lassen, wenn er diese täglich fürs Zwiebelschneiden oder Kartoffelschälen braucht, und die Zeitung vom letzten Monat sollte ich auch mal von meinem Schreibtisch ins Altpapier schmeißen; detaillierte Verwandtschaftsnamen gab es früher auch in D-E-F-G, aber das ist hier nicht das Thema. Immerhin kann man gespannt sein, wie die chinesischen Verwandtschaftsnamen sich weiterentwickeln in einer Gesellschaft, die offiziell bis 01.01.2016 nur ein Kind pro Ehepaar zugelassen hat. Man kann sich beide Richtungen vorstellen. 6.3 Eigennamen Wenn KL sich mit Wortschätzen befasst, darf sie Eigennamen auch nicht ausschließen. Der Grund dafür liegt vor allem in der spezifischen Funktion von Eigennamen sowie in ihrer Herkunft. Wir werden sehen, dass der Umgang mit ihnen in unterschiedlichen Sprachen und Kulturen ganz unterschiedlich ist. Selbstverständlich gibt es Gemeinsamkeiten, um die es gleich in Kap. 6.3.1 gehen wird. Anschließend ist aber zu fragen, worin die Unterschiede bestehen und wie sie zustande kommen. Außerdem wird, u.a. anhand einiger Namen aus „Asterix“, kurz angesprochen, welche - kommunikativen und gesellschaftlichen - Möglichkeiten in Eigennamen stecken. 6.3.1 ... und Gattungsnamen Ein Eigenname (nomen proprium) unterscheidet sich von einem Gattungsnamen (nomen appellativum) darin, dass er nur auf einen einzigen Weltausschnitt referiert, auf einen einmalig existierenden Gegenstand oder ein einmalig existierendes Lebewesen. Um es zur Abwechslung mal italienisch zu machen: Abb. 14 zeigt den Unterschied: Mensch, Europäer, Italiener, Mann, Vater, Frau, Kind, Tochter, Mädchen, Sohn, Junge, ... sind Gattungsnamen; einfach gesagt: Es gibt eine ganze Menge Menschen, Europäer, Italiener, ... Wichtig sind dabei auch die drei Punkte: Gattungsnamen lassen sich theoretisch durch immer neue Namen ergänzen. Giorgio Corleone (das ist der große ohne Röckchen) kann man auch als Glatzkopf, als Sizilianer (wenn er dort wohnt), als Einwohner von Palermo (wenn er dort wohnt), als Mafiaboss (wenn er das ist), als Reichen, als 40-Jährigen, als Bandenchef, als Kriminellen, als Waffenbesitzer und so weiter benennen - jeweils: wenn er das ist. Ähnliches gilt für seine Frau Anna und die beiden süßen Kinder Maria und Luigi. Eigen- <?page no="123"?> 123 6.3 Eigennamen namen sind dagegen einmalig, was allerdings gleich konkretisiert werden muss: einmalig nur in einem bestimmten Kontext. Mit Sicherheit gibt es mehrere Giorgio Corleone in Italien, vielleicht auch in Sizilien und vielleicht sogar in Palermo. Trotzdem bleibt Giorgio Corleone ein Eigenname; es gibt nämlich auch bei Eigennamen Homonyme, wie bei Gattungsnamen etwa in D Schloss, in E jam, in F tour, in G όρος (óros ‚Berg, Bedingung‘). Die Einzigartigkeit zwischen Name und Referent wird dadurch aber nicht aufgehoben. - Paradebeispiele für Eigennamen „in einem bestimmten Kontext“ sind mittlerweile Mitgliedernamen (Nicknames) in Internetforen und Emailadressen. Dahinter stehen jeweils Datenbanken, die fehlerfrei nur dann funktionieren können, wenn jeder Name nur einmal vorkommt und damit wirklich ein-deutig ist: Wenn giorgio.corleone12 schon vergeben ist, sucht man halt weiter und wählt als nächste freie Ziffer (vielleicht ist es ja das Geburtsdatum, das Alter, Geburtsdatum der Mutter oder einfach nur eine Lieblingszahl - man muss rumprobieren) schließlich ...112 - die Auswahl in den Klammern zeigt noch einmal, wie viele Koordinaten nötig sein können (und es sind bei weitem nicht alle genannt), um wirkliche Eindeutigkeit herzustellen. Solche Namensgebungen sind mittlerweile international geregelt, da im Internet (glücklicherweise noch) keine nationalen Grenzen gezogen sind. Es gibt noch einen anderen sehr interessanten Aspekt des Verhältnisses zwischen Eigenname und Gattungsname. Die Frage, mit der man sich diesem Aspekt nähern kann, lautet: Kann man einen völlig bedeutungslosen Namen erfinden? Man muss hier gar keine Diskussion versuchen - die Antwort lautet ohnehin „Nein“. Um das zu verdeutlichen, wähle ich erst einmal zwei höchst prominente altgriechische Namen, den eines Autors und den Namen eines seiner Protagonisten: Ὅμηρος (Hómeros ‚Homer‘) und Ὀδυσσεύς (Odyséus ‚Odysseus‘). Das altgriechische Adjektiv ὅμηρος (hómeros) ist ‚zusammengefügt, vereinigt‘, das Substantiv το ὅμηρον (to hómeron) heißt ‚Unterpfand, Geisel‘. Wie kommt aber der Dichter zu seinem Namen? Laut der „Vita Homeri“ eines Autors, der sich selbst Herodot nennt, soll bei den Kymäern (in Kleinasien) ὅμηρος ‚blind‘ geheißen haben, „woraus die Sage von Homer’s Blindheit erklärt wird“ (Pape 1914: Bd. 2, 331). Wie ist so etwas zu verstehen? Abb. 14: Gattungsnamen und Eigennamen <?page no="124"?> 124 6 Wortschätze (Lexikologie und Semantik) Auch Ὀδυσσεύς kommt nicht ohne Bedeutungszuweisung davon. Homer selbst erklärt in Od. 19,399-409 - ich zitiere wieder die etwas altertümliche Übersetzung von Johann Heinrich Voß: Dieser Autolykos kam in Ithakas fruchtbares Eiland, Eben da seine Tochter ihm einen Enkel geboren. Eurykleia setzte das neugeborene Knäblein Nach dem fröhlichen Mahl auf die Kniee des Königs und sagte: Finde nun selbst den Namen, Autolykos, deinen geliebten Tochtersohn zu benennen, den du so herzlich erwünscht hast. Und Autolykos sprach zu seinem Eidam und Tochter: Liebe Kinder, gebt ihm den Namen, den ich euch sage. Vielen Männern und Weibern auf lebenschenkender Erde Zürnend, komm ich zu euch in Ithakas fruchtbares Eiland. Darum soll das Knäblein Odysseus, der Zürnende, heißen. 4 Die etymologische Herkunft liegt in beiden Fällen im Dunkeln, die offensichtliche Bedeutung des griechischen Wortes ergibt keinen „Sinn“, deshalb wird selbstverständlich interpretativ nachgeholfen. Hinter diesem Interpretationsbedürfnis steht das menschliche Unvermögen, die eigene Sprache, und damit auch deren Wörter, für etwas anderes zu nehmen als für das, was sie funktional ist: ein Kommunikationsmittel. Die Bedeutung sowohl von Wörtern als auch von Grammatik ist aber nun mal konventionell festgelegt, anders geht’s nicht. Da jeder Mensch in eine bereits funktionierende Sprachgemeinschaft hineingeboren wird und eine bestens funktionierende Sprache lernt, darf er allerdings auch damit rechnen und davon ausgehen, dass alles in dieser Sprache Bedeutung hat. Dazu kommt irgendwann auch die weiterführende Frage, was etwas (ein Satz, ein Wort, ein Name) „eigentlich“ bedeutet, eine Frage, die sowohl der Bibelexegese und Literaturwissenschaft als auch der Etymologie und Volksetymologie zugrunde liegt (Kap. 1). Diese Form der Eigentlichkeit führt selbstverständlich und stets über die aktuelle Kommunikation hinaus. Festzuhalten bleibt jedoch im Rahmen des aktuellen Themas und Kapitels, dass die Unterscheidung zwischen Eigenname und Gattungsname eine rein funktionale Unterscheidung ist: Mit einem Gattungsnamen kann man Weltausschnitte benennen, die und weil sie einander gleichen: Baum - tree - arbre δέντρο (déndro), Haus - house - maison σπίτι (spíti), Freundschaft friendship amitié φιλία (filía). Mit einem Eigennamen benennt man einen einzigen Weltausschnitt, um ihn eben dadurch von allem anderen abzutrennen, zu individualisieren. Man kann deshalb auch sagen: Gattungsnamen legen keinen Wert auf die Unterschiede (der verschie- 4 Αὐτόλυκος δ' ἐλθὼν Ἰθάκης ἐς πίονα δῆμον παῖδα νέον γεγαῶτα κιχήσατο θυγατέρος ἧς τόν ῥά οἱ Εὐρύκλεια φίλοισ' ἐπὶ γούνασι θῆκε παυομένῳ δόρποιο, ἔπος τ' ἔφατ' ἔκ τ' ὀνόμαζεν· „Αὐτόλυκ', αὐτὸς νῦν ὄνομ' εὕρεο, ὅττι κε θεῖο παιδὸς παιδὶ φίλῳ· πολυάρητος δέ τοί ἐστι.“ τὴν δ' αὖτ' Αὐτόλυκος ἀπαμείβετο φώνησέν τε· „γαμβρὸς ἐμὸς θύγατέρ τε, τίθεσθ' ὄνομ', ὅττι κεν εἴπω· πολλοῖσιν γὰρ ἐγώ γε ὀδυσσάμενος τόδ' ἱκάνω, ἀνδράσιν ἠδὲ γυναιξὶν ἀνὰ χθόνα βωτιάνειραν· τῷ δ' Ὀδυσεὺς ὄνομ' ἔστω ἐπώνυμον.“ (zit. nach: http: / / el.wikisource.org/ wiki) <?page no="125"?> 125 6.3 Eigennamen denen Bäume, Häuser, Freundschaften), sondern auf die Gemeinsamkeiten. Eigennamen benennen hingegen nicht die Ähnlichkeiten, sondern die Verschiedenheiten. Insofern etwas mit einem Gattungsnamen benannt wird, gehört es zu einer Klasse von (gleichartigen) Weltausschnitten, insofern etwas mit einem Eigennamen benannt wird, unterscheidet es sich von allen anderen, und das gilt (vermutlich) für alle Sprachen. 6.3.2 Wo liegt die Grenze zwischen Eigennamen und Gattungsnamen? Wie durchlässig aber die Grenze zwischen Eigenname und Gattungsname wirklich, nämlich im Alltag, ist, zeigen einige Beispiele und Beobachtungen. 2006 wurde von der Universität Chemnitz eine Studie veröffentlicht mit dem Titel „Ein Vorname sagt mehr als 1000 Worte - Zur sozialen Wahrnehmung von Vornamen“. Das Ergebnis: Vornamen machen Eindruck auf Menschen, und der Eindruck, den Vornamen auf Menschen machen, wird auf die Person übertragen, die diesen Namen trägt. Ein Junge, der Uwe heißt, gilt als unattraktiv, unintelligent, unmodern, während - der glückliche! - Alexander das genaue Gegenteil ist: attraktiv, intelligent und modern. Drei Jahre später wurde eine ähnliche Untersuchung von der Arbeitsstelle „Kinderforschung“ an der Universität Oldenburg durchgeführt; diesmal wurden 2000 GrundschullehrerInnen aus ganz Deutschland befragt. Die Ergebnisse von 2006 wurden weitgehend bestätigt. Interessant ist aber nicht, welcher Name wie eingeschätzt wird, sondern die einfache Tatsache, dass man überhaupt Rückschlüsse zieht vom (Vor-)Namen auf den Träger dieses Namens, obwohl doch jeder weiß, dass kein Mensch sich seinen Vornamen selbst ausgesucht hat. Ein Kommentar auf den Fragebögen lautete: „Kevin ist kein Name, sondern eine Diagnose! “ In Zahlen: Zu 54,4% beurteilten GrundschullehrerInnen Schüler mit dem Vornamen Kevin als „verhaltensauffällig“ (Kaiser 2009: 3). In diesem Beispiel ging es um persönliche Eindrücke, um den Klang von Namen, vielleicht auch um die Motivation der Namensgeber - man weiß es nicht. Im folgenden Beispiel geht es um Bedeutung, aber auch persönliche. Es führt auch zu den kulturellen und sprachlichen Unterschieden der Namensgebung. Im Februar 2010 weigerte sich eine deutsche Zahnärztin, einen 16-jährigen Jugendlichen mit dem Vornamen ǧihād = Dschihad zu behandeln. Dieses Wort ist Deutschland seit dem 11. September 2001 relativ vertraut, und es bedeutet, wie man wahrscheinlich ebenfalls weiß: ‚Heiliger Krieg‘; die Konnotationen sind jedenfalls gefährlich! Die Zahnärztin rechtfertigte sich denn auch, sie habe mit dem Namen sofort Gewaltbereitschaft verbunden. Hatte sie wirklich Angst, der Junge fliegt ihr mitsamt seinem Namen um die Ohren? Die Ärztin hat sich später entschuldigt. Was kann sie sich aber - ernsthaft - gedacht haben? Aus den damaligen Presseberichten ging das nicht hervor, aber man kann immerhin vermuten, dass sie Dschihad nicht als einen Namen wie jeden anderen verstand, sondern als Programm, vielleicht auch als einen Namen, den der Junge sich selbst zugelegt hat, um so seine eigene politische Überzeugung zum Ausdruck zu bringen, oder als Auftrag von seinen Eltern, was tatsächlich nicht ganz abwegig wäre: Dschihad ist in islamischen Gesellschaften ein sehr verbreiteter Vorname, bedeutet aber seit dem 19. Jh., ganz unbewaffnet und unkriegerisch, nichts anderes als den bedingungslosen Einsatz für Gott <?page no="126"?> 126 6 Wortschätze (Lexikologie und Semantik) (Berger 2010: 221ff.), also etwas wie (im deutschen 18. und 19. Jh.) Gottlob oder Fürchtegott oder auch Amadeus. Der Ärztin kann man ihre Angst schlecht verargen, denn in D gibt es heute keine Vornamen mehr, die zugleich als Gattungsname gebraucht werden und umgekehrt. Das liegt an der (in Kap. 4 besprochenen) strukturellen Umformung von D seit dem Althochdeutschen. Walther ist nicht mehr durchsichtig auf seine ahd. Herkunft; ganz anders ist das bei griechischen oder auch bei chinesischen Vornamen und, wie gerade dargestellt, bei arabischen. G D Chinesisch Ελπίδα (elpída) Walther Jiao Eigenname Gattungsname Eigenname Gattungsname Eigenname Gattungsname Sieg < waltan ‚walten, herrschen‘ + heri ‚Heer‘ > ‚Herrscher über das Heer‘ bezaubernd, liebenswert Tab. 26: Gattungsnamen als Eigennamen Sowohl Ελπίδα als auch Jiao bedeuten etwas, Walther hat (in anderer Form, nämlich als Waltharius) einmal etwas bedeutet, heute ist der Name jedoch auf keine Bedeutung mehr durchsichtig. Deutsche Vornamen lassen zwar noch Rückschlüsse auf ihre Herkunft zu (die entsprechenden Informationen findet man mehr oder weniger zutreffend in jedem Vornamenbuch), synchron haben sie jedoch keine Gattungsnamen mehr „als Geschwister“ - weder denkt jemand bei Wolfgang an den Gang eines Wolfs noch bei Walther oder Walter an jemanden, der über ein Heer herrscht. In Griechenland kann es jedoch folgenden Witz (unter Männern) geben: „Fürs neue Jahr wünsch ich dir Liebe, Hoffnung, Freude, ...“ Das sind: Αγάπη, Ελπίδα, Χαρά, ... (Agápi, Elpída, Chará, ...), was alles weibliche Vornamen sind. Wie wahrscheinlich überall auf der Welt woll(t)en auch germanische Eltern natürlich nur das Beste für ihr Kind, von dessen Zukunft sie ja noch keine Ahnung hatten. Das Beste, was man ihm nicht nur für heute und morgen (wie Muttermilch, eine gute Erziehung), sondern für das ganze Leben, mitgeben konnte, war ein hübscher Name - hübsch? Darauf kam es natürlich nicht an, sondern eine Bedeutung musste er haben, eine positive, so dass er immerhin abfärbt auf das Kind - was für eine erstaunliche Vorstellung, dass ein Name Macht gewinnt über das von ihm Benannte. Dahinter steht selbstverständlich auch der Gedanke, dass der Name vom Benannten als Auftrag verstanden wird. In einem merkwürdigen Bedingungsverhältnis wird ein Anspruch (in der Regel) des Vaters als Auftrag an den Sohn weitergegeben. Das hat auch mit dem Bedürfnis zu tun, mit dem eigenen Tod nicht vollständig von der Erde zu verschwinden. Gerade in traditionellen Gesellschaften ist dieses Bedürfnis systematisiert, wodurch die Namensgebung konventionalisiert ist: Der erstgeborene Sohn erhält den Namen des Vaters des Vaters, der zweitgeborene den Namen des Vaters der Mutter usw. Die Namenwahl für Töchter ist dabei in patriarchalischen Gesellschaften in der Regel flexibler, da in ihnen Mädchen und spätere Frauen in der Erbfolge ohnehin uninteressant sind. In den Söhnen <?page no="127"?> 127 6.3 Eigennamen aber soll das Erbe der Vorfahren, sollen die Vorfahren selbst weiterleben; in D hat sich das - wie gesehen - auch sprachlich niedergeschlagen, in den Enkeln leben die Ahnen weiter. 5 Eine weniger prätentiöse, aber ebenso einfache Form der Namensgebung gab es jahrhundertelang in christlichen Gesellschaften: Das Neugeborene bekam den Namen des oder der Heiligen vom Tag seiner Geburt. Damit kamen sich allerdings zwei Motivationen in die Quere, womit sich die Semantik des Namens früher oder später tatswächlich in Nichts auflöste. Aus historischer Perspektive formuliert, ist so der Name wirklich zu einem Eigennamen geworden, der nur noch das eine Individuum benennt, das in Kommunikationen (der Einfachheit halber) eindeutig identifiziert werden soll. Sprache - und das gilt für alle Sprachen - ist damit tatsächlich reduziert auf ein 1: 1-Verhältnis zwischen Benennung und Benanntem. Genau das visieren alle Anhänger von Idealsprachen an, aber das funktioniert eben immer nur in einem klar umrissenen Kontext, etwa im schon genannten Linnéschen System. Aus kontrastivlinguistischer Perspektive gibt es hier keine allzu bedeutsamen Erkenntnisse. Es sei denn folgende: Das Bedürfnis, jemanden (oder auch etwas: mein Haus, mein Auto, mein Boot) mit einem individuellen Namen zu belegen, lässt auf ein fundamentales Anliegen schließen, sich die Welt individuell verfügbar zu machen. Das geschieht eben auch über Sprache, egal ob D-E-F-G oder sonst eine. Dass in verschiedenen Kulturen dabei dieselben Denkmuster wirken, zeigt folgender Vergleich: Der deutsche Dietrich und der griechische Δημοσθένης (AG: Demost h énes, G: Dimosthénis) scheinen (außer dem fast gleichen Anfangsbuchstaben) gar nichts miteinander zu tun zu haben; tatsächlich bedeuten beide Namen aber genau dasselbe: Thiot- (>Diet-) und Demosind ‚Volk‘, -rich und -st h énes sind ‚mächtig‘; solange der Name in seinen Einzelheiten noch verstanden wird, ist es in beiden Sprachen ein und derselbe Anspruch und Auftrag. Sobald Namen aber entsemantisiert sind, lohnt es sich nicht mehr, nach irgendeiner Bedeutung zu suchen, sondern es fällt allenfalls noch auf, wenn eine bezaubernde deutsche Dame Rosa Wutz heißt, was aber auch keine Bedeutung mehr hat, woher auch: Die Eltern haben sich einen Spaß erlaubt (weil es ja nur ein Mädchen war), oder sie hat (als ursprüngliche Rosa Mann) einen Mann mit dem falschen Nachnamen geheiratet oder ... - zu viele Möglichleiten, um eine verlässliche Bedeutung ergeben zu können. 5 Der französische Politiker und Schriftsteller François-René de Chateaubriand berichtet in seinen Memoiren (deutsche Übersetzung von 1849) über die Namensgebung der Indianer Nordamerikas, wo er sich 1791 aufhielt: „Noch heute überträgt man dem Neugebornen, um ihn zu ehren, den Namen der ältesten, unter seinem Dache lebenden Person, z.B. der Grossmutter, denn die Namen werden immer aus der weiblichen Linie genommen. Von diesem Augenblick an nimmt das Kind die Stelle der Frau ein, von welcher es den Namen empfangen hat; man legt ihm, wenn man mit ihm spricht, den Verwandtschaftsgrad bei, welchen dieser Name wieder aufleben macht, und so kann es kommen, dass ein Oheim seinen Neffen als Großmutter begrüsst. So lächerlich diese Gewohnheit erscheint, so hat sie doch etwas Rührendes. Sie ruft die alten Verstorbenen ins Leben zurück; sie erneuert in der Schwäche der ersten Jahre die Schwäche der letzten; sie führt die äussersten Punkte des Lebens, den Anfang und das Ende der Familie, einander näher; sie theilt den Vorfahren eine Art von Unsterblichkeit mit und denkt sie als anwesend unter ihrer Nachkommenschaft.“ (zit. nach Pott 1853: 20.) <?page no="128"?> 128 6 Wortschätze (Lexikologie und Semantik) 6.3.3 Vornamen und Nachnamen Möglicherweise hieß einer der Vorfahren von Giorgio Corleone aus Abb. 14 einfach nur Giorgio, war ein Sohn des Schuhmachers Leonardo, der die Werkstatt unterhalb der Burg übernommen hat, ein etwas dicker, geschäftstüchtiger Handwerker, der seit seiner Kindheit stottert. Im Lauf der Jahrzehnte und Jahrhunderte hatte nicht nur die Einwohnerzahl seines Dorfs, in dem er aufgewachsen ist, zugenommen, sondern es gab auch neue Kontakte zu den Nachbardörfern, zur nächstgelegenen Stadt, aufs italienische Festland. Je größer der Kommunikationsradius wurde, mit desto mehr Menschen kam Giorgio in Kontakt und desto weniger reichte der einfache Name Giorgio, um ihn zu identifizieren, desto weniger konnte der Name Giorgio die Funktion eines Eigennamens erfüllen. Daher gab man ihm im alltäglichen Gespräch, das über das eigene Haus oder die unmittelbare Nachbarschaft hinausging, einen zusätzlichen Namen, einen Spitznamen - nickname - sobriquet - παρατσούκλι (paratsúkli), zumal Giorgio in Corleone ein sehr beliebter Name war. Was kam dabei in Frage? Nach den oben gegebenen Informationen (und es gibt noch ein paar Dutzend mehr) könnte das sein Stottern gewesen sein, dann nannte man ihn Giorgio Tartaglia, oder nach seinem Leibesumfang Giorgio Grassi oder Grassani, Grassini oder ähnlich, oder nach der Lage seiner Werkstatt Giorgio Rocca, oder nach seinem Beruf Giorgio Scarpone oder Scarpa, oder nach seinem Vater Giorgio Leonardelli. Weil er aber als erster Schuhmacher Siziliens seine Schuhe bis nach Italien verkaufte, brachte er von dort dann doch den Namen Giorgio Corleone nach ganz Itaien mit. So entstehen Nachnamen. Das Prinzip ist in allen ide. Sprachen dasselbe, und dieses Prinzip ist ganz einfach: Der Vorname erhält einen Zusatz, der sich aus irgendeinem individualisierenden Merkmal ergibt, wie mit den wenigen Beispielen oben gezeigt werden sollte. In Griechenland (das es damals aber noch nicht gab) geschah die Herausbildung von Nachnamen hauptsächlich in der zweiten Hälfte des 15. Jhs. Das leuchtet ein: Konstantinopel war von den Türken erobert, im ehemaligen byzantinischen Reich musste eine neue Verwaltung installiert, die Bevölkerung musste neu identifiziert werden. Normalerweise geht es dabei um Steuern und deren Eintreibung: Die Einwohner müssen irgendwie katalogisiert werden - das hört sich schlimm an, ist aber nicht nur notwendig, sondern auch sinnvoll, damals im Interesse der Machthaber, heute - glücklicherweise: Damit eine Gesellschaft (mit ihrer Infrastruktur, die hoffentlich allen zugute kommt) funktionieren kann - Giorgio Corleone blieb ja trotz seiner Steuernummer immer noch er selbst. Die italienische Möglichkeit, auf den Namen des Vaters zurückzugreifen, gibt es auch in anderen Sprachen, z.B. im Dänischen: Peter Petersen (Peter, der Sohn des Peter); im Russischen ist diese Möglichkeit nach dem Muster: Vorname Vatersname Herkunftsname systematisiert: Fjodor Michailowitsch Dostojewski (Fjodor, Sohn des Michail, aus einem Adelsgeschlecht, dem der Ort Dostojewo gehörte; der Name ist, wie man sieht, mehrfach individualisiert). In G wird sie mit Hilfe von Endungen in lokalem Dialekt umgesetzt. Von daher lässt sich darauf schließen, woher eine Familie stammt; ein paar Beispiele: -άκης (-ákis) lässt auf Kreta schließen; -έλλης (-éllis) auf Lesbos; -ίδης (-ídis) und -ιάδης (iá dis) auf Pontus oder Kleinasien, -όπουλος (-ópulos) auf die Peloponnes. Der Hauptteil des Namens, vor diesen Endungen, ist in den meisten Fällen patronymisch, ähnlich wie im Russischen: Der <?page no="129"?> 129 6.3 Eigennamen eigentliche Name stammt vom Vater. Es gibt jedoch selbstverständlich auch andere Möglichkeiten: Der Name stammt von der Mutter (matronymisch), von der Herkunft (toponymisch), vom Beruf, von auffallenden Eigenschaften usw. - s.o. Nicht überall ist die Herkunft der Familiennamen aber so vielfältig. In China gibt es mehr als 8000 verschiedene Nachnamen; wirklich gebräuchlich sind allerdings nur ca. 700 - bei einer Bevölkerungszahl von 1,375 Milliarden (2015) bedeutet das aber, dass rein statistisch ca. 165.000 Menschen denselben Nachnamen tragen. Gäbe es dasselbe Verhältnis in Griechenland, würde das (bei einer Bevölkerung von 11 Millionen) bedeuten, dass es nur 65 verschiedene Nachnamen gäbe, in Deutschland (ca. 80 Millionen Einwohner) käme man auch nur auf knapp 500 Nachnamen usw. Die Zahlen deuten schon darauf hin, dass chinesische Nachnamen eine andere Herkunft haben müssen als europäische, besonders, wenn man bedenkt, dass tatsächlich ca. 250 Millionen (knapp 20% der Bevölkerung) einen der drei Nach- oder Familiennamen Li, Wang und Zhang tragen; im April 2007 hießen knapp 93 Millionen Chinesen mit Nachnamen Wang. Die Auswahl an Vornamen muss gar nicht besonders groß sein: Es gibt in China besonders viele Namengleichheiten, was in letzter Zeit offenbar problematisch wird (Schweiz-China 2007: 16). So weit verbreitet die Familiennamen auch sind: Dennoch wird im Chinesischen stets der Familienname als erstes angegeben. Das Prinzip „in einem bestimmten Kontext“ ist hier äußerst dominant: China, von seiner Namenssystematik her, ist eine sehr lokal orientierte Gesellschaft. 6.3.4 Asterix und die Motivierung des Wortschatzes Nicht nur wirklich lebenden Menschen werden Namen gegeben, auch fiktive Personen brauchen welche. Dass diese Namen nicht zufällig sind, ist klar: Vornamen und Nachnamen können hier völlig frei gewählt werden; selbstverständlich handelt es sich dabei aber um sprechende Namen. Normalerweise bleiben sie in Übersetzungen erhalten, in einigen Fällen werden sie jedoch dem jeweiligen Kulturkreis angepasst, um in ähnlicher Weise sprechend zu bleiben. Als kleines Beispiel sind in Tab. 27 zehn Namen aus den „Asterix“-Comics in D-E-F-G zusammengestellt, E differenziert nach den englischen und amerikanischen Ausgaben. D E (UK) E (US) F G Asterix Asterix Asterix Astérix Αστερίξ (Asteríks) Obelix Obelix Obelix Obélix Οβελίξ (Ovelíks) Idefix Dogmatix Dogmatix Idéfix Ιντεφίξ (Idefíks) Miraculix Getafix Magigimmix Panoramix Πανοραμίξ (Panoramíks) Troubadix Cacofonix Malacoustix Assurancetourix Κακοφωνίξ (Kakofoníks) Majestix Vitalstatistix Macroeconomix Abraracourcix Μαζεστίξ (Mazestíks) Methusalix Geriatrix Arthritix Agecanonix Μαθουσαλίξ (Mathusalíks) Verleihnix Unhygienix Epidemix Ordralfabétix Αλφαβητίξ (Alfavitíks) Automatix Fulliautomatix Fulliautomatix Cétautomatix Αυτοματίξ (Avtomatíks) Gutemine Impedimenta Belladona Bonemine Μιμίνα (Miníma) Tab. 27: Die Hauptnamen aus „Asterix“ in D-E-F-G Asterix ist überall Asterix, Obelix ist überall Obelix - das sind die Identifikationsnamen der ganzen Serie. Alle anderen Namen eröffnen hingegen je unterschiedli- <?page no="130"?> 130 6 Wortschätze (Lexikologie und Semantik) che Konnotationsräume. Um hier nur ein Beispiel herauszugreifen: Panoramix referiert in F auf die Weitsicht, die der gallische Druide hat, in G ebenfalls, da panorama in F immerhin ein griechisches Fremdwort (von πανόραμα [panórama] ) ist. In D gibt es das Wort zwar auch; dort ist seine Bedeutung allerdings ins eher Ästhetische im Sinne einer schönen Aussicht verschoben. Magigimmix in E(US) dürfte auf die Firma Magimix zurückgehen, gegründet 1971 in Burgund und bekannt für ihre Mixer. Das deutsche Miraculix nimmt Bezug auf den Zaubertrank, den er braut, und das englische Getafix spielt - über Drogen - ebenfalls auf den Zaubertrank an. Da diese Namen bewusst gewählt sind, ist ihnen selbstverständlich eine Bedeutung zugewiesen. Sie sind Paradebeispiele für die Motivierung von Wortschatz, ein Phänomen, das, unter anderem Gesichtspunkt, schon in Kap. 5 kurz zu besprechen war. Tatsächlich sind aber die meisten Wörter einer Sprache motiviert, auch wenn ihr Stamm nicht mehr durchsichtig ist. - Als Beispiel frage ich im Folgenden, wie lesen - read (pick) - lire (cueillir, ramasser) - διαβάζω (diavázo) zu ihren heutigen Bedeutungen gekommen sind. Lesen hat heute bekanntlich zwei Bedeutungen: Als Standard ‚Bücher, Zeitungen usw. lesen‘, und zweitens ‚Wein, Ähren usw. lesen‘. Diese letztere liegt aber näher an der ursprünglichen Bedeutung. Ist die ursprüngliche Bedeutung die wahre? Das Wort Etymologie legt das nahe: το ἔτυμον (to étymon) heißt „die wahre Bedeutung eines Wortes nach seiner Abstammung von der Wurzel“ (Pape 1914: Bd. 1, 1053), abgeleitet vom Adjektiv ἔτυμος (étymos) ‚wahr, echt, wirklich‘ (ebd.). Jeder kennt den Unterschied zwischen ‚Zeitung lesen‘ und ‚Wein lesen‘, und es hilft nicht unbedingt, von der ursprünglichen Bedeutung die heutige klären zu wollen. Allerdings kann man mit den richtigen Fragen allerhand über die Benennungsmotivation erfahren. - Tatsächlich stammt das deutsche lesen von einer ide. Wurzel *les, die so viel wie ‚zusammensuchen, aufsammeln‘ bedeutet. Im Germanischen bleibt es auch zunächst dabei, bis ins Ahd., als die neuere Bedeutung hinzukam. Man übernahm sie aus L, von legere, das, auf die ide. Wurzel *leg zurückgehend, ebenfalls zunächst ‚auflesen, sammeln‘ bedeutete. Derselbe Bedeutungswandel vollzog sich demnach schon in L. Wie kam es dazu? Man kann das im einen wie im anderen Fall nur historisch erklären. Die irgendwann neue Kulturtechnik des (Codex- oder Bücher-)Lesens musste ja irgendwie benannt werden und man wählte dafür in beiden Sprachen einen Vorgang, der ebenso wie das sukzessive Verfolgen der Buchstaben auf dem Blatt ein gerichteter Vorgang ist, bei dem etwas aufgesammelt wird, das eine Mal Beeren zum Beispiel, das andere Mal eben Buchstaben. Kann man aber nicht noch weiter zurückgehen? Tatsächlich gibt es schon in AG ein Wort, das aus *leg entstanden ist: λέγω ( légo). (Alle griechischen Belege im Folgenden aus Pape 1914 und die Übersetzungen von Voß.) Von Homer noch in der Bedeutung ‚legen, liegen, hinlegen‘ gebraucht (die Verwandtschaft ist hör- und lesbar), verschiebt sich diese, schon bei Homer, hin zu ‚zusammenlegen, lesen, sammeln‘; Agamemnon sagt zum Beispiel nach dem Tod des Patroklos: „ αὐτὰρ ἔπειτα / ὀστέα Πατρόκλοιο Μενοιτιάδαο λέγωμεν“ (autár épeita ostéa Patrókloio Menoitiádao légomen; ‚lasst uns / Sammeln umher das Gebein des Menötiaden Patroklos‘; Ilias 23,238-239). Hinzu kommt ‚auswählen‘, wiederum Homer: „ οὐδέ κεν ἄλλως / κρινάμενος λέξαιτο κατὰ πτόλιν ἄνδρας ἀρίστους “ (oudé ken állos krinámenos léksaito katá ptólin ándras arístous; ‚Man würde / Schwerlich in einer Stadt so treffliche Männer erlesen! ‘, Odyssee 24,107-108). Dann gibt es noch eine dritte <?page no="131"?> 131 6.3 Eigennamen Bedeutung, die ein wichtiges Bindeglied zum Lesen darstellt: ‚dazu legen, zählen, rechnen, aus Einzelnen eine Reihe machen, in der man es aufzählt‘: Odysseus erzählt, wie er Poseidon überlistete, indem er sich zu den Robben legte, die Poseidon zählte, „ λέκτο δ᾽ἀριθμόν·/ ἐν δ᾽ἡμέας πρώτους λέγε κήτεσιν“ (lékto d’arit h món en d’heméas prótous lége kétesin; ‚und zählte sie alle. / Also zählt er auch uns für Ungeheuer‘; Odyssee 4,452), und in der Ilias reiht (mit demselben Wort benannt) Agamemnon Schimpfwörter aneinander (Ilias 2,221 - Voß übersetzt allerdings mit ‚kreischen‘). An dieser Stelle biegt die weitere Bedeutungsentwicklung ab, nämlich von der Rezeption zur Produktion, eine Abbiegung, die sich in D allerdings ebenfalls vollzieht. Ahd. zalōn ist ‚zählen, (be)rechnen‘, wozu auch das engl. talk (von altsächsischem talōn) gehört, in D ist daraus zahlen geworden, und ahd. zellan bedeutet ebenfalls noch ‚zählen, rechnen‘, aber auch ‚aufzählen‘ und ‚erzählen‘, außerdem ‚berichten‘ und ‚sagen‘. Diese letzte Facette des ganz normalen Sagens ist in D wieder verschwunden, in G wurde es zur Hauptbedeutung: λέγω ( légo; s.o.), oder mit eliminiertem g: λέω ( léo) ist heute noch ‚sagen‘. Das Hauptwort für lesen ist in AG ἀναγιγνώσκω (anagignósko). Homer verwendet es in der Bedeutung ‚erkennen, genau erkennen‘, bei Herodot bedeutet es ‚wieder erkennen, anerkennen‘, später dann ‚unterscheiden‘, auch ‚überreden‘, erst im attischen Griechisch setzt sich die Bedeutung ‚lesen‘ durch. Warum? Zwei Möglichkeiten kommen in Frage. Die eine: Die Buchstaben, die ich lese, ändern sich ja nicht; indem ich lese, erkenne ich jedes Mal denselben Text wieder. So heißt es immer noch, jedenfalls in D: „Da steht‘s doch! “ Schrift ist etwas Feststehendes, anders als mündliche Überlieferung, die vergänglich (von gehen! ) ist. Die andere: Wer in der Antike las, las laut, und die Hörer erkannten den Text wieder, zum Beispiel aus mündlichen Erzählungen, oder: aus vorausgegangenen Lektüren. (Svenbro 2005) Wie kommt es aber, dass derselbe ide. Ausgangspunkt das eine Mal im ‚Sagen‘ mündet, wie in G, das andere Mal im ‚Lesen‘, wie in L. G liegt offenbar die Vorstellung zugrunde, dass Ge-zähltes, Er-zähltes laut wiedergegeben wird, der Sprechakt löst sich von seinem Anlass - dem Aufgereihten, dem der Reihe nach Durchgegangenen - und verselbständigt sich in der Folge des Gelesenen. L hingegen bleibt beim Aufsammeln und benennt mit demselben Wort dann auch das „Aufsammeln“ der Buchstaben. Wenn es so einfach wäre! Das etymologische Feld lesen hält noch ein paar weitere Überraschungen bereit. Die Substantivbildung zu λέγω (légo) ist in AG λόγος (lógos), mit dem bekanntlich Goethes Faust seine Probleme hat. Er versucht es mit ‚Wort‘ - nein. ‚Sinn‘ - nein. ‚Kraft‘ - nein. ‚Tat‘! ? - Weiter geht die Suche dann nicht, denn in diesem Moment kommt der Pudel. Λόγος ist tatsächlich ein riesiges und daher zentrales Wort, nicht nur zu Beginn des Johannes-Evangeliums, mit dem sich Faust herumschlägt, sondern schon sehr früh in der griechischen Philosophie (Kranz 1950). Grundbedeutung ist ‚das Sprechen u. der Inhalt des Sprechens‘. Was passiert damit in L? Es wird durchaus übernommen, aber offenbar ist zu dieser Zeit der Bedeutungsunterschied zwischen lateinischem lego und griechischem λέγω schon bewusst. logos ist auch in L ‚Wort‘, aber auch ‚Scherzrede‘, auch die Fabeln des Äsop werden beispielsweise als „logoi“ bezeichnet, das ist - bei den rationalen Römern - ‚Geschwätz, dummes Zeug‘. Die Karriere des Wortes aus AG lässt sich in L danach verständlicherweise nicht mehr <?page no="132"?> 132 6 Wortschätze (Lexikologie und Semantik) fortsetzen. Man braucht ein anderes Wort, und das wird ratio sein. ratio ist die Substantivableitung des Verbs reor und bedeutet irgendwann, was ja auch in D rational durchschlägt, ‚Vernunft‘. reor selbst ist noch nicht so weit wie das Substantiv und heißt nur ‚meinen, glauben, etwas für etwas halten‘, zunächst aber, wen wundert‘s, ‚(be)rechnen‘. Auch ratio beginnt mit dieser Bedeutung. Die ide. Wurzel *rê, von der die lateinische Wortfamilie kommt, reicht über das Gotische bis in D hundert; auch gerade gehört dazu. Das entsprechende Substantiv kommt ebenfalls über das Gotische (raþiô ‚Zahl, Rechnung, Rechenschaft‘; Pokorny 1959: 59) in D, zunächst aber nur in dieser Bedeutung: Ahd. radja oder redea ist ‚Rechenschaft, Rede, Antwort, Erzählung‘. Nur Notker, der um das Jahr 1000 eine ganze Menge biblische, aber auch andere lateinische Texte übersetzt hat, möglicherweise mit denselben Skrupeln wie Faust, scheint die lateinische Bedeutung entlehnt zu haben, und sein reda wurde zu Rede: Dass eine Rede ‚überlegt‘ ist, versteht sich für ihn von selbst. Um noch etwas weiter zu fragen: Wenn G λέγω als Grundbedeutung ‚sagen‘ hat - woher kommen die entsprechenden Wörter in D und L? dico stammt wie G δείχνω ( díchno) (AG δεικνύω [deiknýo]) vom Ide. *deik, das sich in D als Fremdwort eingenistet hat: als Substantiv Deixis, oder adjektivisch: deiktisch. Auch in Paradigma taucht es auf (G δείγμα [ dígma] ist sowohl ‚Beweis‘ als auch ‚Beispiel‘). Der digitus in L ist der ‚Finger‘, mit dem man auf etwas zeigen kann - und nimmt man alle Lautentwicklungen zusammen, gelangt man von AG δεικνύω zu D zeigen (mit Bedeutungsidentität) und zeichnen (mit Bedeutungsveränderung), aber auch zu zeihen (‚anschuldigen‘), zum Zeichen und zum Zeh. Außerdem gibt es in L noch das Wort dicare als ‚feierlich verkünden, zusprechen, weihen‘ (Pokorny 1959: 188), von dessen Ableitung indicare das deutsche Fremdwort Indiz als ‚Anzeichen‘ kommt. Sagen ist aber auch nicht ohne: *sek ist die ide. Wurzel, die in L in der Bedeutung ‚folgen‘ zu insequi wird - das gab es oben schon mal in G, nämlich in ‚Folgen, Nachzählen des Gesammelten‘ - und noch weiter oben (wegen der Sekunde) in Kap. 6.2.2, Anm. 3. Und wenn wir schon sprachenübergreifend die doppelte Überkreuzung von schriftlicher Sprachrezeption zu mündlicher Sprachproduktion haben, lohnt sich auch die Frage, wie es sich denn mit den beiden anderen sprachlichen Fertigkeiten verhält. Um gleich oben anzuknüpfen: Zum lateinischen dicere wurde auch ein Intensivum gebildet (dictare), was heißt: ‚wiederholt sagen‘ oder ‚vorsagen‘, und in D als Fremdwort diktieren übernommen wird, von wo aus es sich aber auch weiterbildet, eingedeutscht wird zu dichten; wenn Goethe dichtete, diktierte er zumeist. Bei der Benennung der Kulturtechnik des Schreibens wurde beim rein handwerklichen Vorgang angesetzt: Ide. *skeribh ist in AG σκαρ φάομαι (skarifáomai) ‚kratzen, aufritzen‘, das Substantiv σκάρ φος (skárifos) ist das Instrument, der Griffel, sowie das Ergebnis des Kratzens: der Umriss oder die Skizze. L scribo bedeutet von daher ‚mit dem Griffel eingraben‘ und dann ‚schreiben‘, was schon im Ahd. als scriban übernommen wurde. Hören ist nicht ganz so unspektakulär, ebenfalls seit dem Ahd. belegt (hōren), verwandt auch mit AG und G ἀκούω / ακούω (akúo). Dazu gibt es jedoch auch eine ide. Wurzel *skeu, ‚wahrnehmen‘, das in D zum visuellen Wahrnehmen, nämlich schauen wird, in E hingegen zu show, ‚zeigen‘. L schert aus und unterlegt der ι ι <?page no="133"?> 133 6.3 Eigennamen Wahrnehmung ihren Grund: cavere ist ‚sich in acht nehmen, sich vorsehen‘. L audire, ‚hören‘, gehört mit dem altgriechischen Verb für die allgemeine Wahrnehmung zusammen, αισθάνομαι (est h ánom ) (Walde 1910: 71). Es lohnt sich, noch einen Schritt weiterzugehen: Was gehört oder gelesen wird, sollte, im Interesse des Sprechers oder Schreibers, auch verstanden werden. Das deutsche Wort dafür ist verstehen. Bei Kluge heißt es dazu: „‚Er versteht seine Sache‘ ist ursprünglich Rechtsausdruck ‚er vertritt sie (vor dem Thing) in überlegener Weise, bis er obsiegt‘. [...] Von der geistigen Beherrschung einer (Rechts-)Sache geht die Entwicklung zum richtigen Erfassen eines geistigen Zusammenhangs.“ (Kluge 1975: 818) Das umgangssprachliche kapieren geht auf L capio (‚nehmen, fassen, ergreifen‘) zurück. Das Standardwort in L ist comprehendo, eigentlich ‚zusammenfassen, zusammenhalten‘, das zu comprendere in I, zu comprendre in F wird. AG scheint kein Standardwort zu haben, G καταλαβαίνω ( katalavéno) ist in AG καταλαμβάνω (katalambáno) und bedeutet ‚erfassen, begegnen, treffen‘, AG μανθάνω (mant h áno) ist ‚lernen‘ und in der Vergangenheitsform (Aorist) ‚verstehen‘, das in G μαθαίνω (mathéno) nur noch ‚lernen‘ ist. Oben habe ich bei G ἀναγιγνώσκω (anagignósko) für ‚lesen‘ eine Lücke gelassen, die noch ausgefüllt werden muss. Die ide. Wurzel dazu lautet (mit Ablautvarianten) *gen, *gne, *gno, aus der auch L cognosco kommt, ‚erkennen‘, gotisch kunnan, wie auch D kennen. In AG und G gehört auch das Wort γεγονός (jegonós) dazu, in der Bedeutung ‚laut gesprochen, vernehmlich‘, auch hier eine Überkreuzung. G bildet für ‚Lesen‘ ein neues Wort, ebenfalls ein Kompositum: διαβάζω ( diavázo ) , zusammengesetzt aus ‚auseinander‘ und ‚legen‘; auch διαβάζω ist ‚lernen‘. Überblickt man das etymologische Feld der sprachlichen Grundfertigkeiten, ausgehend von ‚Lesen‘, stellt man fest, dass es dabei munter drunter und drüber geht. Schreiben ist dabei das einzig Feststehende, und das einzige handwerklich zu Verfertigende, beim Lesen scheint man hingegen erhebliche Probleme zu haben, es genau zu fassen und zu benennen, was eigentlich dabei geschieht: der Vorgang des sukzessiven Entzifferns der Buchstaben in der Zeile oder das Wiedererkennen des unveränderlichen Textes. F setzt als romanische Sprache L fort: dicere > dire; legere > lire. E schert jedoch vollkommen aus: Nicht verwunderlich ist allerdings, dass auch write beim „Ritzen“ ansetzt, allerdings nicht im Rückgriff auf L, sondern bei den Runen beginnend, aus deren Umkreis übrigens auch das Buch kommt: Die Runen wurden auf Bretter aus Buchenholz geritzt. (Und die Buchstaben sind die Runenzeichen auf diesem Holz.) Auch read hat etwas damit zu tun. Mit dem Runenalphabet wurden keine Alltagstexte aufgezeichnet, sondern heilige Texte, die ausschließlich von religiösen Experten gelesen und vor allem verstanden werden konnten. Da war ein hohes Interpretationsvermögen verlangt, das für alle umstehenden Laien leicht nach ‚Raten‘ aussehen konnte. Die ide. Wurzel dazu steht schon oben: *re in reor, das über ratio zu Rede wurde. Im Angelsächsischen wird daraus raedan, neben ahd. rātan; dieses wird zu nhd. raten, und jenes in E zu read. Da man davon ausgehen kann, dass die meisten Wörter nicht nur in D-E-F-G, sondern in allen Sprachen, ab- und hergeleitete und zusammengesetzte Wörter sind (was also ebenfalls ein sprachliches Universale wäre), lohnt sich an der Schnittstelle zwischen Sprache und Kultur nach den Motivierungen zu fragen. Dabei ist aber selbstverständlich auch zu bedenken, dass viele formale Möglichkeiten systematisiert sind (Kap. 5.2). ai <?page no="134"?> 134 6 Wortschätze (Lexikologie und Semantik) Und die vielen ähnlich lautenden Wörter in unterschiedlichen Sprachen und unterschiedlichen Sprachstufen mit unterschiedlichen Bedeutungen leiten zum folgenden kurzen Kapitel über. 6.4 Falsche Freunde Das englische become (‚werden‘) und das deutsche bekommen, das deutsche Apparat und das französische apparat (‚Pomp, Prunk‘), das griechische αποθήκη (apothíki, ‚Lagerraum‘) und das deutsche Apotheke sind alles falsche Freunde - false friends - faux amis - ψευ δ ό φ ι λ ες λ έξεις [psevdófiles léksis]). Sie haben allerdings weder mit Freundnoch mit Feindschaft etwas zu tun. Falsche Freunde sind Wörter, die sich in verschiedenen Sprachen gleich anhören oder die - geschrieben - gleich aussehen, die aber doch etwas ganz anderes bedeuten. Man kann sagen, dass sie (ähnlich wie einzelsprachliche Homonyme oder -graphe oder -phone) auf dem Unterschied zwischen Schein und Sein beruhen. In mindestens zweierlei Hinsicht sind sie interessant. Sie legen Zeugnis davon ab, in welch unterschiedliche Richtungen sich miteinander verwandte Sprachen entwickeln: Die Bedeutung von E become gibt es durchaus noch in D: In „Wohl bekomm’s! “ ist die Nähe zu E noch zu ahnen: „Es soll dir / für dich gut werden.“ Die Standardbedeutung ist selbstverständlich eine ganz andere, und wer become mit bekommen übersetzt, macht einen Fehler, und wer es bei „Wohl bekomm’s! “ im Englischen mit become versucht, ebenfalls. Andere falsche Freunde sind diejenigen, die - irgendwann einmal - als Fremdwörter aus einer anderen Sprache übernommen wurden; Beispiele folgen gleich. D hat im Laufe seiner Geschichte immer wieder aus dem griechischen Wortschatz geschöpft, aus unterschiedlichen Gründen. Die meisten dieser Fremdwörter wurden zu einem bestimmten Zweck übernommen, wurden dabei auf eine bestimmte Bedeutung festgelegt und erfüllen diesen Zweck weiterhin. Vorab dieses Beispiel: In den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung gab es Leute, die für ihren christlichen Glauben Zeugnis ablegten, indem sie sich öffentlich zu ihrem Glauben bekannten. Die gesellschaftspolitischen Umstände waren damals aber danach, dass viele dieser „Zeugen“ ihr Bekenntnis mit dem Leben bezahlten. In genau dieser Bedeutung (jemand, der für seinen - christlichen - Glauben gestorben ist) wurde AG μάρτυρ oder μάρτυρος (mártyr, mártyros) - schon im frühen Mittelalter - in D übernommen, aber nur in genau dieser Bedeutung; ähnlich auch in E-F. Das deutsche Wort Zeuge, dessen Bedeutung mit Glauben nichts zu tun hat, wurde erst um 1200 neu gebildet, was auch mit einer Aktualisierung des deutschen Rechtssystems zu tun hatte. Märtyrer - martyr - martyr war damit - von Anfang an - in D-E-F festgelegt auf denjenigen, der für seinen christlichen Glauben gestorben war. Mittlerweile ist der Bedeutungsumfang zwar erweitert auf all diejenigen, die für ihre Überzeugung ihr Leben opfern, aber als Zeugen vor Gericht, wie in G, lässt sich das Wort nach wie vor nicht verwenden. In der folgenden kurzen Liste (nach Alexiadis 2008) sind einige griechische Wörter zusammengestellt, die irgendwann in D übernommen wurden, allerdings entweder in anderer oder nur in eingeschränkter Bedeutung. Es ist nicht notwendig, jede Übernahme danach zu befragen, wann und warum sie geschah. Das +- Zeichen in der rechten Spalte bedeutet, dass das griechische Wort zusätzlich zur <?page no="135"?> 135 6.4 Falsche Freunde deutschen eine umfangreichere Bedeutung hat. Ohne +-Zeichen heißt: Da ist die (im Vergleich mit D andere) Bedeutung des griechischen Wortes (geblieben). Akribie - ακρίβεια peinliche Genauigkeit + Teuerung Apokalypse - αποκάλυψη Untergang der Welt + Geständnis, Aufdeckung Aroma - άρωμα Geschmack, -sstoff, Duft + Parfum Arterie - αρτηρία Schlag-, Pulsader + große Straße Askese - άσκηση enthaltsame Lebensweise + Übung, Manöver Atom - άτομο kleinstes Teilchen + Mensch, Einheit Axiom - αξίωμα Grundsatz + Rang, Amt, Posten Banause - βάναυσος Mensch ohne Kunstverstand + gewalttätiger Mensch Bibliothek - βιβλιοθήκη Bücherei + Bücherregal, -schrank Charisma - χάρισμα Ausstrahlung eines Menschen + Geschenk, Gabe Despot - δεσπότης Tyrann Bischof, Hausherr Diplom - δίπλωμα amtliche Urkunde, Zeugnis + Führerschein Episode - επεισόδιο Nebenhandlung, kurzes Ereignis + Streit Epoche - εποχή geschichtlicher Zeitabschnitt + Jahreszeit, Zeitpunkt Idiot - ιδιώτης Dummkopf, Trottel Privatmensch, -person katholisch - καθολικός katholisch + allgemein Klerus - κλήρος Priesterschaft + Los, Verlosung, Erbteil Kosmos - κόσμος Weltall + Leute, Natur Liturgie - λειτουργία Gottesdienst + Funktion, Amt Metropole - μητρόπολη Hauptstadt + Kathedrale Pathos - πάθος Leidenschaft + Qual, Folter Patriot - πατριώτης Anhänger seines Vaterlandes + Mitbürger, Mitbewohner Prothese - πρόθεση Ersatz für ein Körperteil + Absicht; Präposition Skepsis - σκέψη kritischer Zweifel + Überlegung, Gedanke Symphonie - συμφωνία Musikstück, Ensemble + Einigkeit und Vertrag taktisch - τακτικός planmäßig + regelmäßig, ordentlich Theke - θήκη Schanktisch in einer Bar Hülle These - θέση Behauptung + Ort, Platz Zone - ζώνη Gegend + Gürtel Tab. 28: Falsche Freunde in D und G <?page no="136"?> 7 Sprachliche Ordnungssysteme Persönlich und auf seinem eigenen Schreibtisch mag man zu Ordnung stehen, wie man will: Ohne Ordung wären aber weder Leben noch Sprache möglich: Leben nicht, weil in einem Organismus alles ziemlich aufgeräumt ist und sein muss, damit er funktioniert und nicht gleich sein Leben verliert, und Sprache nicht, weil es ohne Ordnung nicht die Möglichkeit gäbe, einzelne ihrer Bestandteile auf verständliche und das heißt verlässliche Weise zueinander in Beziehung zu setzen. Ordnung erleichtert Textproduktion und -rezeption nicht nur, sondern macht sie erst möglich. In diesem Kapitel geht es um einige der kleinen Helferchen, die große Zusammenhänge herstellen: Artikel und Pronomen. Ich hole dazu aber zunächst etwas aus. 7.1 Verweise An einem Sonntag im Mai verlässt eine Biene ihren Bienenstock und summt los. Nach einigen hundert Metern in weitem Zickzack über uninteressante Straßen und Fußballplätze landet sie auf einem Apfelbaum in voller Blüte und dann auf noch einem und auf noch einem. Sie kehrt zurück in ihren Stock und beginnt zu tanzen, keinen Freudentanz führt sie auf, sondern einen Orientierungstanz. Kurz darauf macht sich ein ganzer Schwarm auf den Weg, ohne Zickzack, sondern schnurstracks zu den Äpfeln. Sowohl die Art und Weise der Informationsbeschaffung als auch Syntax und Semantik des Bienentanzes sind angeboren. Dieses ganze System funktioniert perfekt, was bedeutet: Es ist darauf angelegt, ganz eindeutig zu sein, und es ist ganz eindeutig, weil es nur auf diese Weise perfekt funktionieren kann. Selbst wenn (z.B. ein menschlicher) Jemand während des Tanzes die senkrecht stehende Wabe aus dem Stock entfernt und auf den Boden legt, finden die Bienen ihre Apfelbäume, da der Tanz auch Schwerkraft und Sonnenstand als Bedeutungskomponenten einbezieht, was nicht nur sehr praktisch ist, sondern selbstverständlich auch in höchstem Maße energiesparend. Nach demselben Prinzip funktioniert menschliche Sprache. Aber um erst noch kurz bei den Bienen zu bleiben und das zu kontrastieren: Keine einzige Biene kann vom gestrigen Ausflug erzählen, und es gibt auch kein Lob, aber auch keinen Trost, wenn’s doch mal nicht geklappt hat. Die einzige Kommunikation, die zwischen Bienen möglich ist, ist eine strikt referentielle, die zugleich strikt situationell ist: Sie lässt nur Äußerungen über zuvor selbst erfahrene Umwelt zu, wobei die Erfahrungen unter dem einzigen Aspekt der Energiegewinnung gemacht werden, und sie beschränkt sich ausschließlich auf Wegbeschreibungen. Menschliche Sprache hat systematisch und vermutlich auch evolutionär in derselben Eindeutigkeit ihren Ursprung und in derselben „Absicht“, Energie zu sparen. Selbstverständlich geht es hier nicht um einen phylogenetischen Nachweis (wie alles vor langer, langer Zeit einmal begann), sondern ich beginne noch einmal ontogenetisch, mit dem Spracherwerb. <?page no="137"?> 137 7.1 Verweise Im ersten Buch seiner Bekenntnisse schildert Augustinus, wie er sprechen gelernt hat, eine Stelle, die auch Ludwig Wittgenstein an den Beginn seiner „Philosophischen Untersuchungen“ gestellt hat. [...] schon war ich nicht mehr der sprachlose Säugling, sondern ein Junge, der sprechen konnte. Daran erinnere ich mich, doch wie ich sprechen lernte, erfuhr ich erst später. Denn nicht die Erwachsenen lehrten es mich, indem sie mir die Wörter in einer bestimmten didaktischen Abfolge vorgelegt hätten, wie sie es später mit den Buchstaben taten, sondern ich selbst mit dem Geist (mens), den du mir, mein Gott, gegeben hast: [...] Ich behielt es im Gedächtnis, wenn Erwachsene eine Sache beim Namen nannten und wenn sie dann diesem Laut entsprechend ihren Körper irgendwohin bewegten. Ich sah das und merkte mir, dass sie mit den Lauten das Ding bezeichneten, das sie mir zeigen wollten. Dass sie das wollten, verriet ihre Körperbewegung (motus corporis), die gewissermaßen die Natursprache aller Völker ist; sie besteht in Mienenspiel, Augenausdruck und Gestikulation; durch Handlung und Stimme zeigt sie den Zustand der Seele an, die etwas erstrebt oder erreicht, etwas abweist oder flieht. So lernte ich allmählich, dass die Wörter, die in verschiedenen Sätzen an ihrer Stelle vorkamen und die ich oft gehört hatte, die Zeichen für bestimmte Dinge waren. Dann gewöhnten meine Lippen sich daran, diese Zeichen hervorzubringen, und ich begann, meine Wünsche durch sie auszudrücken. So tauschte ich, um Willensbewegungen anzuzeigen, Zeichen aus mit den Menschen, mit denen ich zusammenlebte, und damit fuhr ich hinaus auf das stürmische Meer der menschlichen Gesellschaft, unterworfen der elterlichen Gewalt und dem Willen der Erwachsenen. (Augustinus 2009: 51/ 53 [VIII.13]) Dass bei (dem heiligen) Augustinus Gott der letzte Grund der Sprechfähigkeit ist, kann nicht erstaunen. Die von Gott geschenkte mens ist es, die zwischen menschlichen Gesten und Umwelt einen Zusammenhang und daher eine Bedeutung vermutet. Wie bei den Bienen ist dieser Zusammenhang zunächst rein referentiell, und auch in dieser Hinsicht, worauf Wittgenstein abheben wird, sehr eingeschränkt: Er nennt diesen Ausschnitt des Spracherwerbs „Abrichten“ (Wittgenstein 1984: 239), alles andere müsse erklärt werden, da es nicht möglich sei, auf einen Gegenstand zu zeigen und z.B. dessen Farbe zu meinen. Diese Erweiterung muss hier aber nicht weiter verfolgt werden. Die referentielle Beziehung, die Verbindung zwischen Wort und Welt, ist der Anfang der Sprache (selbstverständlich nicht der Kommunikation). Eine solche Beziehung setzt aber voraus, dass die Welt strukturiert wird und strukturiert wahrgenommen wird, nicht anders als bei den Bienen, wozu auch gehört, dass die einzelnen Weltausschnitte begrifflich systematisiert werden. Für Bienen kommt es nicht auf einen individuellen blühenden Apfelbaum an, sondern, wie Platon gesagt hätte (wenn er Deutscher gewesen wäre) auf das Blühendapfelbaumsein (vielleicht auch Apfelbaumblühendsein). Damit wird Welt auch geordnet: Alle Apfelbäume bekommen einen einzigen Namen. Das Praktische an dieser Ordnung ist, dass sie hierarchisch ist: Wenn ich den einen von einem anderen nicht unterscheiden kann, bin ich nicht sprachlos, sondern spreche einfach von Baum: Menschliche Sprachlosigkeit ist ein vollkommen anderes Phänomen als bien- oder andere tierische Sprachlosigkeit. Um das zu verallgemeinern: Bedeutung kommt zustande durch eine Zeigegeste, die eine Verbindung schafft von Sprache zu Welt, wie immer sie aussieht. Dass dies immer einzelsprachlich der Fall ist und damit die Ordnung, in die die Welt gebracht wird, immer eine einzelsprachliche Ordnung, hat nicht nur Kap. 6 gezeigt, sondern macht KL auch erst sinnvoll. Damit ist es aber noch lange nicht getan. <?page no="138"?> 138 7 Sprachliche Ordnungssysteme Zu den Trivialitäten gehört auch, dass die Verbindungen nicht jedes Mal neu hergestellt werden müssen, sondern im mentalen Lexikon abgelegt werden, anders gesagt: In der Regel spart man sich das Zeigen, aber eben nicht immer, denn häufig ist es sinnvoll, nicht nur, wenn man den einen Baum nicht von einem anderen unterscheiden kann, doch die Hand aus der Tasche zu nehmen und den Zeigefinger auszustrecken. In anderen Fällen ist es sehr bequem, „Guck mal da hinten! “ zu sagen und darauf zu vertrauen, dass dem Gesprächspartner da hinten schon dasselbe auffallen wird. Gerade dieses Vertrauen ist Bienen nicht möglich, noch weniger das Vertrauen auf dieses Vertrauen: Beides sorgt dafür, dass menschliche Sprache so flexibel ist und damit so geeignet für menschliche Kommunikation; außerdem aber auch dafür, dass es in ihr einen Unterschied gibt zwischen Sagen und Meinen. Zum feststehenden Kern des Wortschatzes von Sprachen gehören vier deiktische Wörter, deren Bedeutung nicht so vage ist wie „da hinten“. Sie benennen den Sprecher, den Hörer, den Zeitpunkt und den Ort des Sprechens. Einige dieser Wörter haben lexische oder kommunikative (partielle) Synonyme, vor allem die Angabe des Zeitpunkts ist dehnbar (Kap. 6.2.2) und vor allem lassen sich Zeit und Ort durch Kombinationen mit anderen deiktischen Ausdrücken wiedergeben: 29D) ich - du - jetzt (heuer) - hier / in diesem Land / an diesem Ort / ... 29E) I/ me - you - now - here / in this land / on this place / ... 29F) je/ moi - tu/ toi - maintenant - ici / dans ce pays-ici / dans ce lieu / ... 29G) εγώ - εσύ - τώρα - εδώ / σε αυτή τη χώρα / σε αυτό το τόπο (egó - esí - tóra - edó / se aftí ti chóra / se aftó to tópo Außer diesen direkten Verweisen auf die Welt, die erheblich dazu beitragen, Wörter , und damit Energie , zu sparen (und den Gesprächspartner nicht unnötig zu langweilen), gibt es auch innertextuelle, rein sprachinterne Verweise, die mit denselben Vorteilen, aber doch ganz anders funktionieren; es sind anaphorische Ausdrücke. Würden sie so funktionieren wie deiktische Ausdrücke, müsste man im Schriftlichen an einer bestimmten Stelle des Textes z.B. ein beliebiges Symbol und von diesem Symbol ausgehende Pfeile verwenden, die auf eine andere Textstelle verweisen. Tatsächlich geschieht das - eleganter - im Fußnotensystem eines solchen Buches. 1 In mündlicher Kommunikation wird diese Möglichkeit aus Gründen der Bequem- und Verständlichkeit noch seltener gebraucht; allenfalls in Wendungen wie „Hab ich dir vor fünf Minuten erst gesagt! “, die aber nicht immer erfolgreich sind. Wenn sie sprachintern funktionieren sollen, müssen sie erheblich exakter sein; das geht aber nur, wenn die Sprache selbst einer Ordnung folgt, und das kann selbstverständlich nur eine sprachinterne Ordnung sein. 7.2 Genussysteme Ich beginne mit folgendem Beispiel (auch in Gedenken an Saussure), stelle jedoch sowohl externe als auch interne Beziehungen dar: 1 Oben im Text steht eine 1, die (eindeutig) auf diese 1 am Ende dieser Seite verweist. / ... / ...) <?page no="139"?> 139 7.2 Genussysteme 30D) Der Baum fiel um. Er stand nicht mehr auf. 30E) The tree fell down. It did not get up. 30F) L’arbre est tombé. Il ne s’est pas relevé. 30G) Το δέντρο έπεσε. Δεν σηκώθηκε ξανά. (to déndro épese. dén sikóthike ksaná.) Im jeweils ersten Satz ist der (sprachliche) Baum männlich (D), geschlechtslos (E- F) und sächlich (G). Dem Baum selbst (auch dem in der Natur) sieht man das nicht an. Der Welt, wie wir sie sehen, wird am ehesten E-F gerecht, da sich die meisten Baumarten nicht nach Geschlecht unterscheiden lassen, doch wäre es selbstverständlich albern anzunehmen, dass the tree - l’arbre dieser Tatsache gerecht werden wollten: Geschlecht in der Natur ist etwas anderes als in der Sprache. Und Bäume sind in natürlichem Sinne auch nicht sächlich wie in G und - nach dem zweiten Satz - dann doch in E. In F stellt sich heraus, dass der Baum wie in D männlich ist. - Niemand sieht Welt aber unter dieser Perspektive (Kap. 6). Jede Sprache, die ein Genussystem entwickelt oder aus einer früheren Sprachstufe beibehalten hat, muss zwangsläufig alle Dinge und Vorstellungen dieser Welt, d.h. alles, was sich substantivisch aussagen lässt, einem der in ihr zur Verfügung stehenden Genera zuweisen. Diese Zuordnungspflicht gilt selbstverständlich nicht nur für die Genussysteme, sondern für alle grammatischen Kategorien, was in D bedeutet: Beim Substantiv entweder mask. oder fem. oder neutr.; bei Substantiv und Verb entweder Si. oder Pl., beim Verb entweder Aktiv oder Passiv usw. Bei den Farbwörtern lässt sich immer noch ein Farbton dazwischen schieben (wissenschaftlich nicht grenzenlos), und mittlerweile gibt es auch nicht nur schnurgebundene Telefone und solche mit Mobilteil, sondern auch Handys und Smartphones und Phablets oder Smartlets, und mal sehen, was die Zukunft noch bringt. Bei all dem handelt es sich um analoge Ordnungen. Grammatische Kategorien hingegen konstituieren ein digitales Raster (Kap. 3.1). Dass sich zwischen die (ide.) Genera ein Neues schieben könnte, wie orange zwischen rot und gelb oder türkis zwischen grün und blau, ist nicht möglich. Wie schon gesehen, verläuft die Entwicklung in die umgekehrte Richtung: Genera werden abgebaut. Dasselbe gilt für Numeri: Eher verschwindet ein Dual, als dass ein Trial oder Quadral neu gebildet wird. Auf die grundsätzliche Problematik des sprachlichen Genus und dessen Zusammenhang mit der Welt wurde schon in Kap. 5.1.1 eingegangen. In F gibt es ebenfalls eine Zuordnungspflicht, aber nur zu Mask. oder Fem., da Neutr. aufgegeben wurde, sowohl in der Markierung am Substantiv selbst als auch im Artikel. In E-G stehen alle drei Genera zur Verfügung, jedoch in unterschiedlicher Weise. In G, wie in D, braucht immerhin jedes Substantiv (mit Ausnahme des unbestimmten Plurals und einigen stilistischen Verwendungen) einen entsprechenden Artikel; sie unterscheiden sich auch (fast durchgehend) im Genus voneinander, zumindest im <?page no="140"?> 140 7 Sprachliche Ordnungssysteme Singular. In E ist der Artikel zwar ebenso notwendig, doch ist der generische Unterschied verloren gegangen, und die ganze Angelegenheit ist insgesamt etwas komplizierter und auch viel interessanter, da man einem Substantiv grundsätzlich nicht ansieht, welches Genus es hat; das stellt sich erst bei einer pronominalen Wiederaufnahme heraus (Kap. 7.3). Dann zeigt sich, dass die Benennungen für männliche Menschen mask. und die Benennungen für weibliche Menschen fem. sind, alles andere ist neutr., aber dies eben nicht grundsätzlich. Wenn man nämlich eine persönliche Beziehung zu einem Tier oder einem Auto entwickelt hat, kann man das auch in sehr spezifischer Weise sprachlich wiedergeben: Dann ist es nicht mehr it, sondern he oder she. Die Genuszugehörigkeit liegt also ganz im Ermessen des Sprechers. Bei (weiblichen) Schiffen mag es sich um nationale Emotionen handeln, bei Autos und Tieren sind es rein persönliche. Das Phänomen ist einerseits merkwürdig, andererseits aber doch höchst konsequent: Merkwürdig, weil das grammatische Geschlecht mit einem (irgendwie) natürlichen gleichgesetzt wird, allerdings sehr individuell und nach den persönlichen Vorlieben des Sprechers. Konsequent deshalb, weil Grammatik damit der Kommunikation untergeordnet wird: Das Genus, nachdem es von seinem Bezug zur Welt entlastet ist, wird als Kategorie nicht etwa aufgegeben, sondern genutzt, um den ganz persönlichen Bezug zwischen dem Sprecher und seiner Welt zu benennen. Es liegt hier also die Emotionalisierung einer grammatischen Kategorie vor. Heute ist (bei den hier diskutierten Sprachen) am ehesten noch in G das sprachliche Genus am Substantiv selbst abzulesen. Tendenziell ist in den ide. Sprachen jedoch die Endung des Substantivs von der Aufgabe, das Genus zu markieren, entlastet worden, indem der Marker, in D-F-G ganz eindeutig, vor das Substantiv, nämlich in den Artikel, verlegt wurde; das Substantiv wurde in hohem Maße entgrammatikalisiert. In D lässt sich das in der Entwicklung vom Ahd. schon zum Mhd. sehr deutlich nachvollziehen. (Vgl. die Interlinearversionen des Credo in Kap. 2.2.) Im Si. ist das Genus in D-F-G tatsächlich am Artikel markiert, im Pl. allerdings nur in G. In der folgenden Übersicht sind bestimmte und unbestimmte Artikel in den jeweiligen Kasus nebeneinandergestellt; dabei gehe ich von der Höchstzahl der Kasus (in D) aus und nenne die entsprechenden präpositionalen Kasusmarker (wie schon in Tab. 16). Eindeutige Genusmarker sind durch Fettdruck hervorgehoben: Singular D E F G mask. Nom. der ein the a le / l’ un ο ένας Gen. des eines of the of a du / de l‘ d’un του ενός Dat. dem einem to the to a au / à l’ à un στο(ν) σ’ένα(ν) Akk. den einen the a το(ν) ένα(ν) fem. Nom. die eine the a la / l’ une η μια Gen. der einer of the of a de la / de l’ d’une της μιας Dat. der einer to the to a à la / à l’ à une στη(ν) σε μια Akk. die eine the a τη(ν) μια neutr. Nom. das ein the a το ένα Gen. des eines of the of a του ενός Dat. dem einem to the to a στο σ’ένα Akk. das ein the a το ένα le / l’ un la / l’ une <?page no="141"?> 141 7.2 Genussysteme Tab. 29: Die Artikel in D-E-F-G Sehen wir uns zwei Sätze in D-E-F-G an; erst den einen, in dem die tatsächlich realisierten Genera angegeben sind: 31D) Der Pianist [mask.] spielt das Musikstück [neutr.] für die Lehrerin [fem.] . 31E) The pianist plays the piece of music for the teacher. 31F) Le pianiste [mask.] joue le morceau de musique [mask.] pour l’institutrice [fem.] . 31G) Ο πιανίστας [mask.] παίζει το μουσικό κομμάτι [neutr.] για τη δασκάλα [fem.] . (o pianístas pézi to musikó komáti ja ti daskála.) Der, das und die in 31D) sind Artikel und damit zugleich Genus-Marker. Sie sind aber nicht eindeutig; der kann Nom. Si. mask., Gen./ Dat. Si. fem. oder Gen. Pl. sein; das kann Nom./ Akk. Si. neutr. sein; die kann Nom./ Akk. Si. fem. oder Nom./ Akk. Pl. sein. Wir müssen hier nicht ganz in die Tiefe gehen, aber es ist wichtig zu sehen, wie diese Mehrdeutigkeiten aufgelöst werden. Dazu nehmen wir an, wir haben - wie ein schlecht programmierter Computer (Kap. 11) - keine Ahnung, wie die entsprechenden Substantive im jeweiligen Kasus lauten müssten und welches Genus sie haben. Ein sinnvoller Ansatzpunkt ist das zugrundeliegende Satzmuster. Dafür brauchen wir nicht alle Satzmuster zu diskutieren, die von dem Verb spielen aus möglich sind, sondern können der Einfachheit halber von demjenigen ausgehen, das hier von Bedeutung ist; und wir müssen auch nicht alle grammatischen Fundamente offenlegen. Das Muster sieht folgendermaßen aus; die in diesem Muster jeweils notwendigen Kasus sind auch gleich mit angegeben: Subjekt [Nom.] - Verb - direktes Objekt [Akk.] - Präpositionalphrase [für - for - pour - για +Akk.] . Damit ist die Auswahl der Artikelformen bereits sehr eingeschränkt, und zwar auf: Subjekt [Nom.Si.mask.] - Verb - direktes Objekt [Akk.Si.neutr.] - Präpositionalphrase [Akk.Si./ Pl.fem.] . Bei der Präpositionalphrase muss die Form des Substantivs für die Identifizierung einspringen: Lehrerin kann (nach den Regeln der deutschen Morphologie) kein Plural sein. In 31G) ist die Sache noch etwas einfacher: ο kann nur mask. Si. sein, und τη nur fem. Si. το ist auf jeden Fall Si., aber entweder Akk. mask. oder Nom./ Akk. neutr.; aufgrund des zugrundeliegenden Satzmusters (das dasselbe ist, wie in D Plural mask. Nom. die - the - les (des) οι - Gen. der - of the of des des των - των Dat. den - to the - aux à des - - Akk. die - the - les (des) τους - fem. Nom. die - the - les (des) οι - Gen. der - of the of des des των - των Dat. den - to the - aux à des - - Akk. die - the - les (des) τις - neutr. Nom. die - the - τα - Gen. der - of the of των - των Dat. den - to the - - - Akk. die - the - τα - <?page no="142"?> 142 7 Sprachliche Ordnungssysteme und auch in E-F) scheidet auch hier der Nominativ aus. Und auch hier kann dann die Endung des Substantivs einspringen: -άτι deutet eindeutig auf Singular hin. In 31E) stehen alle Substantive im Si. (sie haben keinen Pluralmarker) und fertig. Weder Kasusnoch Genusmarker gibt es. Bei piece spielt es keine große Rolle, ob mask., fem. oder neutr., aber es könnte durchaus wichtig sein zu wissen, ob ein Pianist oder eine Pianistin für einen Lehrer oder eine Lehrerin spielt; das sind immerhin vier Möglichkeiten. Wie findet man die richtige heraus? Aus dem vorliegenden Satz gar nicht; das ist aber auch gar nicht nötig, wie oben schon gesehen: Man muss sich nur ein bisschen gedulden, bis man mehr Diskurskenntnis hat. Der zweite Satz beantwortet, wie schon oben, die Frage: 32D) Er [mask.] hat es [neutr.] für sie [fem.] komponiert. 32E) He [mask.] composed it [neutr.] for her [fem.] . 32F) Il [mask.] l’ [mask./ fem.] a composé pour elle [fem.] . 32G) Το [neutr.] έγραψε γι ’ αυτήν [fem.] . (To égrapse j’aftín.) Hier ist nun in E alles klar, und man sieht auch, wie hilfreich Genera sind, wenn auch in diesem Satz in spezieller Weise: Die Ersetzung der Substantive durch - in dieser Hinsicht und diesem Kontext eindeutige - Personalpronomen macht den Text durchsichtiger und damit leichter verständlich. Dasselbe gilt dann auch für D- G, auch für F, wo die Auflösung des Genus von l’ gar nicht nötig ist, weil der Kontext nun auch eindeutig ist. Die Möglichkeit, mit Hilfe von „Platzhaltern“ (Proformen jeglicher Art) innertextuell zu verweisen, ist äußerst ökonomisch; und unter anderem die Genussysteme sind es, die dafür sorgen, dass die Verständlichkeit dennoch gewahrt bleibt. In Sprachen ohne oder mit einfachen, groben Genussystemen bleiben daher viele Pronominalkontexte ambig, also mehrdeutig: 33D) Ein Auto fuhr gegen eine Mauer. Sie wurde vollkommen zerstört. 33E) A car crashed into a wall. It was completely destroyed. 33F) Une voiture a percuté un mur. Il a été complètement détruit. 33G) Ένα αυτοκίνητο έπεσε σ ’ έναν τοίχο. Καταστράφηκε ολοσχερώς. (éna aftokínito épese s’énan tícho. katastráfike oloscherós.) In D-F weiß man auf Anhieb, was kaputt gegangen ist (die Mauer, aber das Auto: deshalb muss sich Sie auf die Mauer beziehen und in F Il auf mur); in E-G weiß man es bisher noch nicht. Das gilt natürlich nur für die konkreten Fassungen 33E) und 33G), und zwar aus unterschiedlichen Gründen, in G, weil ein pronominales Subjekt ausgelassen werden kann, da es - allerdings genuslos, und das ist folgenreich - am Verb markiert ist. Selbstverständlich lässt sich der Sachverhalt auch in E-G eindeutig formulieren, was auch ebenso selbstverständlich getan wird, wenn der Kontext nicht für Eindeutigkeit sorgt und wenn man auf Anhieb verstanden werden will. Das bedeutet aber: Die Struktur der pronominalen Verweise hat entscheidenden Einfluss auf die Diskursstruktur von Sprachen und damit auch auf die jeweils notwendige Mitarbeit beider Partner beim Gelingen der Kommunikation. Damit beschäftigt sich auch Kap. 13. Schon hier setze ich die Substantive der Satzgleichungen 33) in den Plural, um zu sehen, was dabei herauskommt: 34D) Autos fuhren gegen Mauern. Sie wurden vollkommen zerstört. 34E) Cars crashed into walls. They were completely destroyed. <?page no="143"?> 143 7.2 Genussysteme 34F) Des voitures percutent les murs. Ils ont été complètement détruits. 34G) Αυτοκίνητα έπεσαν σε τοίχους. Καταστράφηκαν ολοσχερώς. (aftokínita épesan sé tíchus. katastráfikan oloscherós.) Nur in F versteht man - nach diesen zwei Sätzen -, wer den Schaden erlitten hat. Das Verweissystem in D-E funktioniert in dieser geringen Distanz nicht eindeutig, in G (als Pro-Drop-Sprache) ist es gar nicht erst darauf ausgelegt. Noch mal: In allen Sprachen lässt sich das ohne weiteres vereindeutigen, wenn es aus kommunikativen Gründen notwendig oder auch nur erfreulich wäre. Um diese feinkörnigen Unterschiede ganz deutlich zu kontrastieren, und um auch die bisherige Argumentation zu relativieren, zitiere ich ein Genussystem, das ausschließlich semantisch motiviert zu sein scheint (Rechtschreibfehler aus der Quelle sind hier stillschweigend korrigiert). Im Dyirbal, einer australischen Sprache, die schon 2006 (mit nur noch einer Handvoll Sprechern) fast ausgestorben war, gibt (oder mittlerweile gab? ), es vier Genera: bayi-Genus Männer, Kängurus, Opossums, Fledermäuse, viele Schlangen, Fische und Insekten, einige Vögel, ‚Mond‘, Stürme, Regenbogen, Boomerang, einige Speere balan-Genus Frauen, Beutelratten, Hunde, Schnabeltier, einige Schlangen und Fische, viele Vögel, Leuchtkäfer, Skorpion, Grille, Dinge, die mit Feuer oder Wasser zu tun haben, Sonne, Sterne, einige Speere, Schilde, einige Bäume, ... balam-Genus Nichtfleischliche Nahrung, Honig, essbare Früchte und Pflanzen, die diese hervorbringen bala-Genus Körperteile, Fleisch, Bienen, Wind, Yams, einige Speere, viele Bäume und Kletterpflanzen, Gras, Steine, Geräusche, Sprache, ... Tab. 30: Die Genera im Dyirbal (Krifka 2006) Das sieht sehr willkürlich aus, jedenfalls für eine andere, z.B. ide. Sichtweise. Man kann selbstverständlich annehmen, dass die Motivierung der (grammatischen) Genera im Leben der Sprecher des Dyirbal nachvollziehbar ist, doch sollte man besser, weil mit viel höherer Wahrscheinlichkeit, davon ausgehen, dass der Zusammenhang für sie genauso undurchsichtig ist wie für jeden Sprecher und Hörer einer beliebigen anderen (Mutter-)Sprache. Denn die Erklärung, „es [gäbe] eine Reihe von Kriterien: Mythologische Rollen, wichtige Eigenschaft wie Gefährlichkeit (z.B. giftige Fische in balan-Genus)“ (Krifka 2006), könnte, nur ein wenig abgewandelt, auch auf D zutreffen; erinnert sei an die männlichen Autos, aber immerhin ist es das Auto, und die Gefährlichkeit von (rein sprachlich gesehen) männlichen Tieren. Jedenfalls gibt es auch in der obigen Zusammenstellung keinen Hinweis darauf, dass das natürliche Geschlecht in irgendeiner Weise auf das sprachliche Genus durchsichtig ist, es sei denn bei Männern und Frauen. Doch ist diese Schlussfolgerung selbstverständlich zunächst auf meine mangelnde Kenntnis des Dyirbal und seiner Welt zurückzuführen. Warum gibt es (soweit ich weiß) keine natürliche Sprache, in der ein Genussystem vollkommen stringent durchgehalten ist, entweder in Übereinstimmung mit der Natur oder rein sprachlich? Offenbar lohnt sich eine solche Stringenz nirgendwo, weil Sprache nun mal nicht für Linguisten geschaffen oder ihnen angebo- <?page no="144"?> 144 7 Sprachliche Ordnungssysteme ren wurde, sondern sich in Kommunikation bewähren muss, und die besteht nicht aus einzelnen Sätzen, sondern währt so lange, bis alle Unklarheiten (wenn auch nur scheinbar) beseitigt sind, und das geschieht normalerweise nicht nur in den eigenen Sätzen des Sprechers, sondern auch in der Geduld und den eventuellen Nachfragen des Hörers, und umgekehrt, und ihrem beiderseitigen Vertrauen, und selbstverständlich häufig in der Vorfreude auf spätere Gespräche. Wer ein steriles, zu (fast) 100 Prozent eindeutiges System will, lernt Esperanto oder hat Pech gehabt. Natürliche Sprachen verändern sich nach den Bedürfnissen ihrer Sprecher, und das sind an erster Stelle nicht die Fremdsprachenlerner. So sinnvoll sprachinterne Ordnungssysteme sind: Sie sind kein Selbstzweck, sondern dienen nur der Vereinfachung der Kommunikation. Und wenn die auch ohne z.B. ein ausgeprägtes Genussystem auskommt, kann es auch verschwinden, wie (fast) in E. Es sei denn, es gibt gesellschaftliche Interessen, die es neu, konsequent und auf Kosten sprachlicher Einfachheit aktivieren. Hierher gehören mündlich die Bürger und Bürgerinnen und schriftlich der/ die Lehrer/ in oder die/ der SpielerIn: Von linguistischer Seite aus ein durchaus merkwürdiges Vorgehen, da es auch in D, noch einmal, keinen offenbaren Zusammenhang (mehr) zwischen natürlichem und sprachlichem Geschlecht gibt; von gesellschaftlicher Seite aus jedoch durchaus sinnvoll, insofern damit die hohe Identifikationskraft von Sprache morphologisch umgesetzt wird. In E-F ist das nicht möglich, da keine eindeutig weibliche Endung verfügbar ist. In G gibt es zwar geschlechtsspezifische Berufsbezeichnungen, die aber nicht einheitlich gehandhabt werden; immerhin kann der Artikel Auskunft geben: der Lehrer - ο δάσκαλος (o dáskalos), die Lehrerin - η δασκάλα (i daskála), aber der Arzt - ο γιατρός (o jatrós), die Ärztin - η γιατρός (i jatrós) (vgl. Kap. 5.2). 7.3 Pronominalsysteme Wie gesehen, hängen Genus- und Pronominalsysteme eng zusammen: Ein - wenn auch am Substantiv unsichtbares - Genus ermöglicht eine pronominale Wiederaufnahme. Dabei wird ein entsprechendes Pronomen der 3. Person eingesetzt; die Pronomen der 1. und 2. Person sind deiktische Ausdrücke, und zwar (zum größten Teil) eindeutige. Es ist zudem viel einfacher, ich zu sagen als meine Person oder die Person des aktuellen Sprechers oder Joachims Person, obwohl im mittelalterlichen D tatsächlich noch mîn lîp ‚mein Leib, mein Leben‘ geschrieben wurde und ‚ich‘ gemeint war, wenn auch einige Menschen in einigen ihrer Sätze (vor Mikrophonen) einen bestimmten oder vorzugsweise unbestimmten Artikel verwenden, dann ihren Namen und dann eine Aussage machen über diese ihre Person: „Ein X.Y. geht ...“. Ich beschränke mich hier auf die Personalpronomen und zwar ausschließlich in Subjektposition, d.h. im Nominativ. In D-E-F-G entsprechen sie sich mit zwei Ausnahmen: F-G unterscheiden auch in der 3. Pl. die (zur Verfügung stehenden) Genera: 2 2 Mit den Höflichkeitsformen befasst sich Kap. 8.2. <?page no="145"?> 145 7.3 Pronominalsysteme Singular Plural D E F G D E F G 1. ich I je εγώ (egó) wir we nous εμείς (emís) 2. du you tu εσύ (esí) ihr you vous εσείς (esís) 3. er sie es he she it il elle αυτός (aftós) αυτή (aftí) αυτό (afto) sie they ils elles αυτοί (aftí) αυτές (aftés) αυτά (aftá) Tab. 31: Die Personalpronomen in D-E-F-G Auch hier fanden Vereinfachungen gegenüber früheren Sprachstufen statt, in D-E morphologische: In D führte das zur Homonymie zwischen 3. Si. fem. und 3. Pl., in E zwischen 2. Si. und Pl.; in F-G phonologische: in F existiert Homophonie zwischen Si. und Pl. der 3. Person: [il] - [il], [ɛl] - [ɛl], und in G zwischen 3. Si. fem. und 3. Pl. mask.: [afti] - [afti]. In allen vier Sprachen gibt es verstärkende Varianten der oben verzeichneten Grundformen, zusätzlich zur - im Mündlichen - selbstverständlichen Möglichkeit einer intonatorischen Hervorhebung. In D ist das System am einfachsten, neben den Grundformen können Verstärkungen ausschließlich analytisch gebildet werden, z.B. nach den Mustern: sie selbst; sie war es, die ... Ähnliches gilt für E. Im Unterschied zu D („Wer war das? “ - „Ich.“) kann dort die Grundform aber nicht elliptisch verwendet werden; sie wird dann durch me ersetzt: „Who was it? “ - „Me.“ In F gibt es eine einfach markierte Form, die ebenfalls analytisch gebildet wird, jedoch durch Zusatz einer verstärkten Form des Personalpronomens selbst: moi je | toi tu | lui il | elle, elle | nous, nous | vous, vous | eux ils | elles, elles. Wie die Zeichensetzung zeigen soll: Die verstärkten Formen (moi, toi, lui, eux) können in vollständigen Sätzen nicht allein vorkommen, allerdings stehen sie zwingend in elliptischen Antworten: „Qui était-il? - Lui.“ - dasselbe Phänomen wie bei der 1. Si. in E. Darüber hinaus gibt es doppelt markierte Formen zur kontrastiven Hervorhebung (C’est moi qui), die den einfach markierten Varianten in D-E entsprechen. G sieht ganz harmlos aus, jedoch ist das Personalpronomen selbst schon markierte Form, da Verben üblicherweise, wegen der Personenmarkierung am Verb selbst, ohne Pronomen verwendet werden. Die doppelte Hervorhebung ist dieselbe wie in den anderen Sprachen: Εγώ είμαι αυτός που ... (egó íme aftós pu ‚ich bin der, der ...‘). Das ist alles nicht sehr aufregend. Es bestätigt zu allererst, dass es im Normalfall eigentlich vollkommen egal ist, ob bei der Artikulation eines Sachverhalts intonatorische, phonologische, morphologische oder syntaktische Mittel genutzt werden. Es gibt in allen Sprachen unmarkierte und markierte Formen auf allen sprachlichen Ebenen, auch bei den Personalpronomen, und da ist es wie in der Küche und sonstwo auftretenden Gerüchen: Die Nase hat die wunderbare, aber halt auch bedauerliche Fähigkeit, sich in relativ kurzer Zeit an olfaktorisch Wahrnehmbares zu gewöhnen, was aber auch bedeutet, dass Wohlgerüche ebenso wie Gestänke irgendwann weg sind, weil die Hauptsache ist, dass der dazugehörige Mensch einigermaßen ungestört weiterleben kann; und besser wenig Unangenehmes als ein bisschen was Angenehmes. Aus fast demselben Grund gibt es die gerade dargestellten Markierungen. Sie dienen selbstverständlich der unproblematischen Verständlichkeit. Darüber hinaus gibt es aber das Bedürfnis, sie von Mal zu <?page no="146"?> 146 7 Sprachliche Ordnungssysteme Mal zu verstärken. Und das ist weder mündlich (man spricht lauter bis zum Schreien: Hilfe! - Help! - Au secours! - Βοήθεια ! [voíthia] - doch kommt es bei diesen Rufen und Schreien wirklich nur auf die Lautstärke an) noch mündlich bzw. schriftlich ein Problem: „Er war es und nur er und er allein und niemand anderes als er, der ...“ - aber die Übersetzungen spare ich mir. Derlei Verstärkungen sind mitunter auch bei rein deiktischen Ausdrücken angebracht bis notwendig - ich springe damit kurz zurück in Kap. 7.1. Lexikalisierungen deuten immer darauf hin, dass es ein hohes und damit eindeutiges Verständnisbedürfnis gibt. Wie heuer aus *hiu jaru entstanden ist, so kommt heute aus ahd. *hiu tagu, wie L hodie aus hoc die (‚dieser Tag‘). F ist irgendwann übers Ziel hinausgeschossen, indem sich lateinisches hodie zu hui [ɥi] entwickelte, eine phonologische Form, die zu unauffällig ist, um ihre doch relativ wichtige Bedeutung zu repräsentieren. Deshalb wurde die Entsprechung zu aujourd’hui (‚am Tag des heute‘) neu lexikalisiert, eine Form, die den Vorteil hat, sehr widerstandsfähig gegen eventuelle Kürzungen zu sein. 3 Zur Bedeutung der Pronomen für die Ökonomie innerhalb eines Diskurses wurde oben schon das Wichtigste gesagt. Jetzt sollen nur noch zwei weitere Aspekte beschäftigen: 1) die fehlende Genus-Differenzierung in der 1. und 2. Si. im Vergleich zur vorhandenen Differenzierung in der 3. Si.; 2) die 3. Pl. Auf die unauffällig aussehende 1. Pl. geht Kap. 9.4 ein. 1) In allen vier Sprachen ist der Referent, über den gesprochen wird, im Rahmen des jeweils systematisch Möglichen pronominal differenziert, während in keiner Sprache markiert ist, ob der Sprecher oder Hörer männlich oder weiblich ist: Abb. 15: Die Personalpronomen in der Kommunikation Man kann argumentieren, dass die einfache, genuslose Benennung des Ich und des Du der Sprachökonomie entspricht: Warum soll man das Geschlecht im Pronomen der 1. und 2. Person sprachlich unterscheiden, da in einer Dialogsituation das Geschlecht der Teilnehmer ohnehin beiden Partnern (und möglichen anderen auch) offensichtlich ist? Das leuchtet ein, zumal es die bekannten Probleme mit dem Genus gibt. Dagegen wäre aber zu halten, dass auch viele persönliche Dialoge in gesellschaftlichen Räumen stattfinden können: Meinen liebsten Kollegen, mit dem ich seit Jahren befreundet bin, spreche ich in einigen Öffentlichkeiten trotzdem mit „Herr Professor“ und Nachnamen an, weil auch in der Kommunikation die Gesellschaft und der gesellschaftliche Kontext die Sprache vorgeben und nicht umge- 3 In ähnlicher Weise wurde in F aus dem lateinischen Monatsnamen Augustus âout [u], was ebenfalls zu unauffällig ist, weshalb es neu verstärkt wird als [ut]; Berschin/ Felixberger/ Goebl (2008): 108 mit weiteren Beispielen. er - sie - es he - she - it il - elle αυτός - αυτή - αυτό ich du (Sie) I you je tu (vous) εγώ εσύ (εσείς) <?page no="147"?> 147 7.3 Pronominalsysteme kehrt. - Kap. 8.2 wird noch einmal unter anderem Aspekt auf die Personalpronomina und auch auf die oben in Klammern stehenden Distanzformen eingehen. 2) Bei der 3. Pl. ist der Referent nicht nur in E, sondern auch in D unter Genusaspekt missverständlich: Weder ist das grammatische Genus noch das biologische Geschlecht in sie / they zu erkennen. Und auch in F-G, wo tatsächlich nach Genus unterschieden wird, kann Eindeutigkeit nur in wenigen Fällen hergestellt werden. Normalerweise werden Referenten nicht über Pronomen in einen Diskurs eingeführt, sondern Pronomen werden anaphorisch, rückverweisend, und nicht kataphorisch, vorausverweisend, verwendet: Man weiß schon vorher, wovon die Rede ist. Es ist aber von gesellschaftlicher Relevanz, welche Prioritäten beim Gebrauch gesetzt werden. In D-E gibt es systematisch keinerlei Unterscheidungsmöglichkeit, in F-G aber durchaus, sie sehen - bei (lebenden) Referenten mit unterschiedlichem biologischem und sprachlichem Geschlecht - folgendermaßen aus (und sind selbstverständlich missverständlich): D E F G Mask.+Fem. Mann und Frau sie (? ) they (? ) ils (mask.) αυτοί (mask.) Mask.+Neutr. Mann und Kind sie (? ) they (? ) ils (mask.) αυτοί (mask.) Fem.+Neutr. Frau und Mädchen sie (? ) they (? ) elles (fem.) αυτές (fem.) Fem.+Neutr. Frau und Kind sie (? ) they (? ) ils (mask.) αυτοί (mask.) Neutr.+Neutr. Kind und Tier sie (? ) they (? ) ils (mask.) αυτά (neutr.) Tab. 32: Die männliche Dominanz in der 3. Pl. der Personalpronomen Spannend ist vor allem G: In der Standardverwendung steht die weibliche Form ( αυτές [aftés]) nur dann, wenn beide Subjekte biologisch weiblich sind, während selbst bei Fem. und Neutr. die männliche Form ( αυτοί [aftí]) ausgelöst wird. Nur bei mehrfachen grammatischen Neutra, die keinen Rückschluss auf das tatsächliche biologische Geschlecht der Referenten zulassen, steht auch das Pronomen im Neutrum. Warum gibt es aber nur in F-G eine Unterscheidung auch in der 3. Pl.? Es lohnt sich, umgekehrt zu fragen: Warum gibt es sie in D-E nicht, genauer: Warum gibt es sie nicht mehr? Sowohl in Ahd. als auch in AE (jedenfalls schriftlich) wurde im Plural noch differenziert. Und wie oben gesehen: Je differenzierter das Pronominalsystem, desto eindeutiger kann innertextuell, aber auch kontextuell verwiesen werden. Doch hat die Differenzierung in der Unmöglichkeit, sprachliches und natürliches Genussystem zur Deckung zu bringen, offenbare Grenzen. Die Unterscheidung, wie in Tab. 32 deutlich zu sehen, lohnt sich eigentlich gar nicht, denn sie muss Prioritäten setzen, und die sind in patriarchalischen Gesellschaften ohnehin männlich. In D-E wurde schon vor Jahrhunderten die Konsequenz gezogen: Wenn die Form sowieso meistens männlich ist bzw. sein muss, sind die anderen Formen überflüssig und können eliminiert werden. In Sprache ist ein gewisses Maß an Mehrdeutigkeit ja auch kein Problem, da sie immer kommunikativ aufgelöst werden kann (Kap. 13.2), und wenn das nicht funktioniert, hört man im günstigsten Fall einfach auf, miteinander zu sprechen, und im weniger günstigen Fall nimmt man halt die Fäuste zu Hilfe. Doch für die persönliche Unfähigkeit miteinander zu sprechen, ist ja nicht die Sprache verantwortlich. <?page no="148"?> 8 Pragmatik Wenn zwei Menschen miteinander sprechen, sprechen zwei Menschen miteinander. Sie haben beide, um nur Weniges zu nennen, ein Geschlecht, ein Alter, einen Beruf (oder nicht), ein bestimmtes Aussehen, stehen in einem spezifischen Verhältnis zueinander und sprechen aus irgendeinem Grund in einer konkreten Situation miteinander. In diesem Kapitel geht es um dieses Miteinandersprechen. Wer ein Auto besitzt und auch damit fährt, muss hin und wieder tanken. Das macht er üblicherweise so: Er fährt zu einer Tankstelle, hält vor einer Zapfsäule, und dann geht es je nach Land (ich wähle nur zwei) folgendermaßen weiter: in Deutschland in Griechenland Er steigt aus dem Auto, öffnet den Tankdeckel, nimmt den entsprechenden Tankstutzen, den er in das Einfüllrohr steckt, öffnet den Durchlauf, schaltet sehr wahrscheinlich auf automatischen Durchlauf (der eine automatische Stoppvorrichtung hat) und wartet, oder er putzt währenddessen die Scheiben, füllt den Wasserbehälter für die Scheibenwischanlage auf oder macht sonst etwas. Wenn der Durchlauf automatisch gestoppt wurde, zieht er den Tankstutzen aus dem Tank (vielleicht hat er ihn zuvor auch noch einmal geöffnet, mit Blick auf die Zapfsäule, um auf einen möglichst runden Rechnungsbetrag zu kommen), hängt ihn zurück an die Zapfsäule, schließt den Tank, geht in den Tankstellenkiosk, nennt die Zapfsäulennummer, wird möglicherweise gefragt, wie er bezahlen will, bezahlt, bedankt sich (oder auch nicht, und der Kassierer ebenfalls), geht zu seinem Auto zurück, steigt ein und fährt los. Er wartet, bis ein Tankwart kommt, von dem er begrüßt wird und den er begrüßt und dem er den Schlüssel für den Tankdeckel gibt, sagt, was (einfach, Superplus, Diesel) und wieviel er will (‚für 20 Euro‘, ‚vollmachen‘); der Tankwart weist möglicherweise auf ein Sonderangebot, z.B. von Superplus hin, der Autofahrer antwortet entsprechend, wartet auf die Rückkehr des Tankwarts, der hinten den Tank befüllt, während er weiterhin Musik hört oder telefoniert. Der Tankwart gibt ihm den Schlüssel zurück und bekommt dafür das Geld, bedankt sich, beantwortet eventuell noch die Frage, ob er eine Quittung brauche, bekommt sie, zusammen mit einem Abschiedsgruß, den er, wenn er will, erwidert, und fährt los. Selbstverständlich gibt es sowohl an einer Stuttgarter als auch an einer Athener Tankstelle viel mehr potentielle Gespräche außer den oben durch Kursivdruck vermerkten: Über das Wetter, den Benzinpreis, den Urlaub usw., und wenn sich TankerIn und KassiererIn bzw. TankwartIn kennen, weil die Tankerin immer an derselben Tankstelle tankt, über vieles mehr, und wenn es sich tatsächlich um eine Tankerin handelt, kommen möglicherweise noch einige Komplimente hinzu, weil das eher in Richtung M>F als in Richtung F>M üblich ist, usw. Im zugrundeliegenden „Tankskript“ gibt es jedenfalls in G erheblich mehr zwischenmenschlichen Kontakt als in D. Damit sind in G auch mehr Sprechanlässe verlangt als in D. Sie sind jedoch hier wie dort weitgehend standardisiert, wie die meisten Dialoge zwischen Menschen, die einander nicht kennen. Wer seine Muttersprache erwirbt, erwirbt normalerweise auch das passende, auch sprachliche, Verhalten in immer wiederkehrenden Situationen. Dabei bleibt es selbstverständlich jedem unbenommen, vom Standardverhalten abzuweichen, und alle anderen haben ebenso das Recht, ihm vorzuhalten oder im Stillen der Meinung zu sein, er <?page no="149"?> 149 8.1 Sprechakte - danken und „bitten benehme sich daneben (in dieser sprachlichen Wendung, soweit ich weiß, allerdings nur in D). Die Standardisierung beruht auf dem, was Herbert Paul Grice als Konversationsmaximen beschrieben hat, die Umfang, Wahrheitsgehalt, Relevanz und Eindeutigkeit einer Äußerung betreffen. Sie bilden einen universal geltenden Rahmen, in dessen Grenzen sich selbstverständlich niemand halten muss, doch ist jeder Schritt aus diesem Rahmen heraus interpretationsbedürftig, weil er Fragen aufwirft. Sowohl die deutsche Kassiererin als auch der griechische Tankwart würden sich ziemlich wundern, wenn der Autofahrer auf die Frage: Wie geht’s? - Τι κάνεις; (ti kánis? ) etwas ganz anderes antworten würde als: Gut. Und Ihnen? - Καλά. Εσείς; (kalá. esís? ), sondern zum Beispiel anfinge zu erzählen, dass im Job ... und zu Hause ... und die politische Situation ... und überhaupt. Irgendeinen Grund gibt’s immer, und von hier aus sind dann wieder alle Varianten möglich: Weil ihm das Thema (aus welchem Grund auch immer) auf der Seele brennt, weil er gerne redet, weil er nichts anderes zu tun hat, von seiner Geliebten verlassen wurde, ihm der Tankwart oder die -in, gefällt, er schon jetzt zu viel getrunken hat usw. Wie man weiß, gibt es derartige Ausuferungen aber vor allem in Anfangssequenzen von Filmen, jedoch selten im richtigen Leben. Bleiben wir im richtigen Leben. John R. Searle hat 1969 (dt. Ausgabe 1971, hier Searle 1986: 88ff.) ausführlich dargelegt, welche Voraussetzungen und Bedingungen erfüllt sein müssen, damit ein Versprechen als Versprechen funktioniert; das muss hier nicht dargelegt werden. Versprechen folgen in allen Sprachen immerhin ähnlichen Regeln, was hauptsächlich daran liegt, dass Versprechen zur Grundausstattung menschlicher Kommunikation gehören, und dementsprechend Grundbedürfnisse befriedigen, in beiden Richtungen. Ich beschränke mich auf viel kleinere Ausschnitte von Sprechakten, um der Frage nachzugehen, wie danken und „bitten“ in D-E-F-G vollzogen werden. 8.1 Sprechakte - danken und „bitten Danken und „bitten“ entsprechen sich in der hier gemeinten Bedeutung nicht (deshalb die Anführungszeichen), da dieses „bitten“ bedeutet, dass einer einen anderen in höflicher Form ermuntert, etwas für sich (den Bittenden) zu tun - es ist das Zauberwort mit den zwei t. Ein eigenständiges Verb als Ableitung der Bedeutung „antworten auf Danke“ gibt es nicht, weder in D noch in E-F-G. Doch gibt es durchaus unterschiedliche Varianten, einen - wechselseitigen - Sprechakt des Dankens und Bitte-Sagens zu vollziehen. In allen Sprachen gibt es aber ein Grundwort, das auf unterschiedliche Weise erweitert werden kann, wobei es sich - meistens - entweder um eine Vor- oder eine Nacherweiterung oder beides handelt. Dass es nämlich, ebenfalls überall, andere Möglichkeiten gibt, sich zu bedanken - Umarmung, Kuss, „Du bist ein Schatz / mein Held / ...! “ ... - muss vorerst ausgeblendet werden, ebenso wie vollständige Sätze nach dem Muster Ich danke Ihnen ... - I thank you very much - Je vous remercie - Σας ευχαριστώ πολύ (sas efcharistó polí). 35D) danke (vor: ) vielen Dank, herzlichen Dank, herzlichsten Dank, besten Dank, lieben „ „ <?page no="150"?> 150 8 Pragmatik Dank, schönen Dank, tausend Dank, vielen lieben Dank, vielen herzlichen Dank, ganz großen Dank, ... (nach: ) danke sehr, danke schön, danke vielmals, ... 35E) thank you, thanks (vor: ) many thanks, a lot of thanks, … (nach: ) thank you so much, thank you very much, thanks a bunch, thanks a lot, thanks a million, … 35F) merci (vor: ) grand merci, beaucoup de mercis, mes meilleurs remerciements (nach: ) merci beaucoup, merci bien, merci mille fois, ... 35G) ευχαριστώ (efcharistó) (vor: ) χίλια ευχαριστώ, σας ευχαριστώ, πολλά ευχαριστώ (chília efcharistó, sas efcharistó, pollá efcharistó) (nach: ) ευχαριστώ πολύ, ευχαριστώ πάρα πολύ, ευχαριστώ θερμά (efcharistó polí, efcharistó pára polí, efcharistó thermá) Zu danken ist in den meisten Situationen ein durch und durch standardisierter Akt, wie an der Tankstelle, kann aber auch ein höchst emotionaler sein. Dieser Spagat zwischen Öffentlichkeit und Intimität bringt es notwendigerweise mit sich, dass die Emotionalität sich sprachlich immer wieder neu erfinden muss, damit beim Gegenüber die empfundenen (oder vielleicht auch nur geheuchelten) Gefühle als echte ankommen. In D stehen ihr eine ganze Menge sprachlicher Möglichkeiten zur Verfügung - nirgendwo gelistet sind die tendenziell unendlichen Wiederholungen: vielen vielen vielen ... Dank - very very very ... - beaucoup beaucoup beaucoup … - πάρα πάρα πάρα ... Es ist, wie man sieht, überall dasselbe Muster. G ist jedoch im Grundbestand höchst sparsam und verlässt sich in der Regel auf diese Wiederholungen oder, was aber häufiger der Fall ist, überlässt die Emotionen eben nicht der (immer konventionellen und damit standardisierten) Sprache, sondern erweitert (oder beschränkt? ) die Kommunikation auf ganz Persönliches und Individuelles zwischen Ich und Du: Blicke, Berührungen, Umarmungen, Küsse ... Wenn ein solcher Ausdruck von Emotionalität auch ebenfalls standardisiert sein mag: Ein Kuss schmeckt oft besser und „echter“ als tausend Dank oder thanks a million. Wo kommen diese Worte, die Mimik, die Gestik (und die gerade gesetzten Anführungszeichen) her? Die Grundausstattung wird im relativ frühen Spracherwerb vermittelt. Die Besonderheiten, die es erlauben, dass im Akt des Bedankens auch die Emotionen sicht- und hörbar sind, ergeben sich aus Erfahrungen mit Eltern, Freunden, Nachbarn, Fernsehsendungen usw. und deren individuellen Erweiterungen. In „Tune in Tomorrow“ von 1990, einer von der Kritik nicht ganz so bejubelten Verfilmung von Mario Vargas Llosas Roman „La tía Julia y el escribidor“ (‚Tante Julia und der Kunstschreiber‘), gibt es folgende Szene zwischen Pedro Carmichael, einem skurrilen Seifenopernhörspielautor (gespielt von Peter Falk), und dem noch sehr jungen Martin Loader (Keanu Reeves), der in seine Tante Julia (Barbara Hershey) verliebt ist. Im Autoradio hat Martin in der aktuellen Hörspielfolge exakt das Gespräch gehört, das er kurz zuvor mit seiner Tante und Liebsten Julia geführt hat. Wütend stellt er Pedro zur Rede: Martin: „Why, Pedro? Why? “ Pedro: „Why what? “ Martin: „Why did you do it? ” Pedro: „Why did I do what? ” <?page no="151"?> 151 8.2 Anrede- und Höflichkeitssysteme Martin: „Why did you put what we said on the radio? ” Pedro: „Martin, my boy! Let me ask you one question.” Martin: „What? “ Pedro: „What’s more important? Life or art? “ Martin: „But it wasn’t art. You just copied word for word, what we said! “ Pedro: „And where did you get the words you’ve used? Your attitudes, the so-called feelings in your stupid heart: From me, from us, writers. You feed on us, we feed on you.“ (youtube.com) Wann und wo und von wem und wie haben wir gelernt, Gefühle zu äußern, und zwar so, dass meine Liebste sie auch genau so tief versteht, wie tief ich sie in meinem Herzen hege? Ebenso, wie wir (phonetisch, morphemisch, lexisch, syntaktisch, textuell) sprechen lernen, müssen wir selbstverständlich nicht nur auch lernen, wie bestimmte Sprechakte zu bewältigen sind, sondern auch, wie wir Sprechakte persönlich, d.h. unkonventionell gestalten, damit innerhalb der Grice’schen Maximen noch irgendetwas Individuelles von mir als Sprecher hör-, aber auch sicht-, letztlich spürbar bleibt. Dieses Lernen geschieht mittlerweile international (Fernsehen, Internet, Skype, Facebook, ...), was auch heißt, dass sich der Vollzug von Sprechakten über sprachliche Grenzen hinweg einander angleicht, mit Tendenz zu E, das seit Jahrzehnten zur Superstratsprache schlechthin geworden ist und weiter wird, eben weil es kommunikativ relativ leicht zu bewältigen ist. Auf eine griechische Besonderheit ist aber hinzuweisen. Wo in D (nicht immer ganz ernst gemeint) explizit gemacht wird, dass der Sprecher im Namen einer Organisation spricht („Die Firma dankt! “), ist es in G selbstverständlich, dass eine Kassiererin im Supermarkt, ein Berater der Telefongesellschaft am Telefon, aber auch ein Gast in der Taverne (zum Kellner) sagt: Ευχαριστούμε (efcharistúme ‚Wir danken‘), nämlich jeweils ganz im Namen des Unternehmens, für das die Angestellten sprechen, oder als Vertreter seiner Freundinnen und Freunde in der Taverne. In G gibt es offenbar auch einen größeren Abstand zwischen sprachlicher Kommunikation einerseits und mimischer und gestischer andererseits. Es muss von hier aus nur noch kurz bemerkt werden, dass auch bei dem auf ein danke antwortendes bitte die Zahl der Variationen in D-E-F weit vor G liegt. Auffallenderweise gibt es aber in keiner dieser Sprachen die Möglichkeit, den Sprechakt bitte lexisch zu steigern: Nirgendwo gibt es ein Viele, tausend, herzlich, liebe, ... bitte. Möglicherweise, weil ein mimisches, gestisches, körperliches bitte viel normaler, weil angenehmer und begehrenswerter ist als jede sprachliche Be- oder Umschreibung. 36D) bitte; gern; nicht (da)für 36E) you’re (very) welcome; don’t mention it; not at all; my pleasure 36F) de rien; je t’en / vous en prie; il n’y a pas de quoi 36G) παρακαλώ, (δεν κάνει) τίποτα (parakaló, [den káni] típota) 8.2 Anrede- und Höflichkeitssysteme Höflichkeit ist eine ziemlich moderne Erfindung. Der bekanntlich arg misanthrope deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer meinte 1851 in seinen „Parerga und Paralipomena“, sie am Beispiel einer „Gesellschaft Stachelschweine“ (Dithmar 1972: 216) erklären zu müssen: Aufgrund ihrer Stacheln kämen sie sich immer nur so <?page no="152"?> 152 8 Pragmatik nahe, dass sie sich nicht aneinander verletzen und wie sie es brauchen, damit ihnen warm ist. Den modernen (europäischen) Höflichkeitsbegriff erfunden hat bekanntlich Freiherr Adolph Franz Friedrich Ludwig Knigge in seinem Buch „Über den Umgang mit Menschen“ von 1788. Tatsächlich gibt es „Höflichkeit“ aber schon seit dem europäischen Mittelalter. 37D) Höflichkeit 37E) courtesy, courteousness, politeness 37F) courtoisie, politesse 37G) ευγένεια (efjénia) Wie die Wörter ohne weiteres erkennen lassen, stammen sie in D-E-F sprachlich vom mittelalterlichen (Herrscher-)Hof - court - cour ab; politeness - politesse kommen von L politus (‚geschmackvoll, kultiviert‘), das vermutlich mit AG πόλις (pólis ‚Stadt‘) zusammenhängt. In G selbst ist es aufgrund der ganz anderen Geschichte Griechenlands nicht genau so, aber ganz ähnlich: Während in D-E-F tatsächlich der Hof selbst als Ort im Hintergrund des Begriffs steht, sind es in G die Bewohner des Hofs, die zu einem ‚guten Geschlecht‘ ( ευγένεια ) gehören. Die Motivierung des Wortes ist aber immer das eigene Verhalten in Gesellschaft mit Menschen, die man eigentlich nicht kennt. Dass sie auch nach dem Kennenlernen noch gepflegt wird, ist meistens angenehm. Das mhd. hövesch (‚höfisch‘) entwickelte sich zu hübsch weiter, höflich bezeichnete wie auch die anderssprachigen Entsprechungen ursprünglich das korrekte Verhalten am Hof, d.h. in einer Öffentlichkeit, deren Verhaltensweisen standardisiert sind. Die beiden Menschen aus dem Eröffnungssatz dieses 8. Kapitels verkehren (nehmen wir mal an) im Bewusstsein ihrer gesellschaftlichen Position höflich miteinander: Inge Müller wird mit Frau Professor angesprochen und die nette Gabi als Frau Direktorin Moosmaier-Strudel. Anredesysteme reflektieren die gesellschaftliche Position der Gesprächspartner, und dies kann sehr allgemein oder sehr differenziert erfolgen. In D-F-G gibt es zwei Möglichkeiten, einander anzureden: Man duzt sich oder man siezt sich, man sagt tu oder vous, εσύ (esí) oder εσείς (esís); in E gibt es hingegen nur eine Möglichkeit: you. Du - tu - εςύ bringen Nähe, Sie - vous - εσείς Distanz zum Ausdruck. Das eine ist normalerweise mit dem Vornamen verbunden, das andere mit dem Nachnamen; auf diese Weise wird auch das einheitliche you in E unterschieden. Das ist mal wieder einigermaßen unspektakulär, was aber Platz lässt für die Frage, wie es zu solch einheitlichen Anredesystemen überhaupt kommen konnte, die es mehr oder weniger identisch auch in allen anderen europäischen Sprachen gibt. Die Systeme in D-E-F-G sehen so aus: Nähe (Singular) Distanz (Plural) D E F G D E F G 2. Pers. du you tu εσύ you vous εσείς 3. Pers. Sie Tab. 33: Anredesysteme in D-E-F-G <?page no="153"?> 153 8.2 Anrede- und Höflichkeitssysteme Warum die distanzierte Anrede im Plural steht, ist historisch zu erklären (Besch/ Wolf 2009: 117ff.): Seit dem späten 3. Jh. regierte nicht nur ein römischer Kaiser, sondern zwei (oder auch mehr), in West- und in Ostrom (oder sonstwo), die in gemeinsamen Dokumenten als nos (‚wir‘) auftraten. Diesem Pl. der 1. Person entsprach dann verständlicherweise die Anrede in der 2. Pl.: vos (‚ihr‘). Dabei ist es dann auch geblieben, nicht nur in der Ansprache an den Kaiser, sondern generell an sozial höher gestellte Personen. Dass die Distanzform in D ausschert und in der 3. Pl. steht, hat ebenfalls historische Gründe. Im Mittelalter wurde geihrzt, und auch das blieb noch lange so: Friedrich Schiller schrieb in seinen Briefen persönliche Freunde mit Du an, gesellschaftlich annähernd gleichgestellte Personen, wie Goethe, mit Sie, und Adlige mit Euer Exzellenz, auch abgekürzt: E.E.; Kleist kürzte gern mit Ew. Exzellenz ab oder verwendete als alternative Anrede nach oben Ew. Hochwohlgeboren. Das Sie der 3. Pl. kam über älteres er in das Höflichkeitssystem. Er war zunächst die „Anrede“ an jemanden, den man nicht persönlich anzureden wagte, weil er sozial höher stand, kippte dann aber (auch bei Schiller) zu einer „Anrede“ an jemanden, den man nicht persönlich anreden wollte, um sich nicht mit ihm auf dessen tiefere soziale Stufe stellen zu müssen. Von daher hat das Sie seine Distanz erhalten. Wenn in Schillers „Don Carlos“ der Marquis von Posa den König von Spanien auffordert: „Geben Sie Gedankenfreiheit“, ist das bei allem revolutionären Anspruch eine sprachliche Unterwürfigkeitsgeste, und tatsächlich lautet die anschließende Regieanweisung: „(Sich ihm zu Füßen werfend)“. Einen entscheidenden Beitrag zur Vereinfachung dieses vierstufigen Systems (du, er, Sie, Ihr) hat die französische Revolution mit den auf sie folgenden gesellschaftlichen Beben in ganz Europa geleistet. Im revolutionären Frankreich gab es ein Gesetz, welches das vous verbot: Alle Franzosen wurden dazu verpflichtet „de tutoyer sans distinction“: ‚sich ohne Unterschied zu duzen‘ (Besch/ Wolf 2009: 124). Ganz hat sich das nicht durchgesetzt, noch heute ist es - vor allem in den sogenannten besseren Kreisen - nicht ganz ungewöhnlich, dass Kinder ihre Eltern auch einzeln mit vous ansprechen, auch im privaten Umfeld des Zuhauses. In D hat sich in den vergangenen 200 Jahren viel mehr geändert. Er und Ihr sind (außer in ganz wenigen dialektalen Konteten) völlig verschwunden, das Sie wurde zugunsten des du zurückgedrängt. Heute kommen kein Student und keine Studentin mehr auf die Idee, andere StudentInnen zu siezen, wie das in den 60er Jahren des 20. Jhs. noch üblich war. Außerdem macht sich auch hier der Einfluss des amerikanischen Englisch bemerkbar; dabei gibt es allerdings ein großes Missverständnis: Das englische und amerikanische you war ursprünglich keineswegs die Entsprechung zu du, sondern zum Sie: Von da aus, das heißt von „oben“ her, wurde die Bezeichnung verallgemeinert; die Entsprechung zu du war thou, das mitterweile ausgestorben ist. Da die aus L stammenden Anredesysteme in den europäischen Sprachen zwischen Singular und Plural unterscheiden, es in E aber keine Pluralmarker am Verb mehr gibt 1 , verliert das Pronomen seine unterscheidende Kraft; die Aufgabe der Differenzierung von Nähe und Distanz müssen die substantivische Anrede (Mister, Sir, Missis, Madam) und der Vor-/ Nachname übernehmen. In G hingegen sieht es 1 Das finite Verb der Verlaufsform ist im Plural homonym mit der 2. Singular: „you / they are coming“. <?page no="154"?> 154 8 Pragmatik ein bisschen anders aus. Das oben schon angesprochene Verstecken des Sprechers hinter der Institution oder Firma oder das (höfliche) Sprechen für die Freunde, für die man spricht, hat eine Entsprechung in der 2. Pl. Als der Erzengel Gabriel Maria in Nazareth besuchte, begrüßte er sie mit χαĩρε (k h aíre ) , das als χαίρε (chére) in G immer noch ‚Sei gegrüßt! ‘ oder einfach ‚Hallo! ‘ heißt. Die Pluralform χαίρετε (chérete) ist hingegen jenseits einer Numerusunterscheidung als ganz alltägliche Begrüßungs- und Abschiedsformel (‚guten Tag‘, ‚Auf Wiedersehen‘) lexikalisiert. Die Verschiebung des Anredesystems in E nach oben (die Tendenz von thou zu you) entspricht einem allgemeinen Trend der Sprachgeschichte(n). Die besseren Kreise verwenden eine Sprache, die sich viel vornehmer anhört als die der einfachen Leute. Und wenn die einfachen Leute schon nicht die finanziellen Möglichkeiten haben, sich gesellschaftlich zu verbessern, können sie sich immerhin eine vornehmere Sprache leisten; die kostet nichts. So kam in D die Frau zu ihrer heutigen Bedeutung gegen das Weib (Kap 3.5). Dass die Entwicklung in den Anredesystemen seit einigen Jahrzehnten in D-E-F-G durchgehend gegenläufig ist, nämlich von oben nach unten, ist nicht so sehr darauf zurückzuführen, dass die Schichtentrennungen durchlässiger geworden wären, sondern dass wesentlich mehr zwischenmenschliche Kontakte außerhalb festgelegter gesellschaftlicher Gepflogenheiten stattfinden, z.B. in Urlaub und Sport. Ganz anders sieht es in Japan aus. Wirklich? Dort gibt es eines der kompliziertesten Anredesysteme überhaupt, in dem das Verhältnis zwischen Sprecher und Angesprochenem höchst sensibel berücksichtigt ist; dabei geht es sowohl um das Geschlechterverhältnis als auch um die soziale Differenz mit sehr detaillierten Abstufungen zwischen Nähe und Distanz (Miller 1993: 278ff.). Das hat zur Folge, dass man sehr genau Bescheid wissen muss, mit wem man es im Gespräch zu tun hat, und wenn einem das nicht bekannt ist, ist es ratsam, besser zu hoch als zu tief zu greifen. Was zwangsläufig (vermute ich) dazu führen wird, dass es ebenfalls abgesenkt wird oder werden wird. Von hier aus komme ich noch einmal auf die oben gestellte Frage nach den recht einheitlichen europäischen Anredesystemen zurück. Sie haben tatsächlich sehr viel mit Demokratisierung zu tun. Wenn man die Briefe Friedrich Schillers (um ihn noch einmal zu bemühen) an E.E., wer auch immer das konkret ist, liest, stellt man einen erheblichen Unterschied zu seinen Briefen an Freunde fest. Das ist selbstverständlich ein Reflex auf die verschiedenen Stilebenen, die seit der Antike in Rhetoriklehrbüchern unterschieden werden: niederer Stil (genus subtile oder humile: die Sprache des einfachen Volkes), mittlerer Stil (genus medium: die normale Sprache der Gebildeten, die diese Unterscheidung getroffen haben), hoher Stil (genus grande: für ganz besondere, öffentliche Anlässe) (vgl. Ueding/ Steinbrink 1986: 212ff.). Man sollte annehmen, dass es solche Unterschiede heutzutage nicht mehr gibt. Gibt es aber doch, denn trotz der Demokratisierung von Gesellschaften und Anreden geistert diese Unterscheidung immer noch durch europäische Schulen und Universitäten und schlägt sich z.B. in schriftlichen Arbeiten, auch im Fremdsprachenunterricht, nieder. Deren Sätze sind häufig so aufwändig, um ja die Regeln des vermeintlich richtigen genus, nämlich grande, zu befolgen, dass ein Muttersprachler sie kaum noch versteht (Kap. 10). <?page no="155"?> 155 8.3 Schimpfen und fluchen 8.3 Schimpfen und fluchen Anders als Sprache (ihre Wörter und ihre Grammatik) lässt sich Kommunikation nicht zwischen zwei Buchdeckeln unterbringen, sondern hat mit Ich und Du zu tun. In einer solchen Situation lernt ein Kind Sprechen und Sprache. Zu ersten Irritationen kommt es üblicherweise, wenn die Eltern merken, dass ihre süßen Kleinen sich an kommunikativen Regeln orientieren, die - offiziell und öffentlich - nicht ihre eigenen sind, nämlich (in D) beim ersten A...ch, das sie von Nachbarn oder Nachbarskindern oder aus dem Kindergarten mitbringen. Über jedes Wort, das ein Kind lernt, freut man sich daheim, nur nicht über diese bösen, schlechten Wörter. Schimpfwörter werden schon in der Phase des Spracherwerbs deutlich aus dem Wortschatz herausgehoben. Kein Kind entkommt ihnen, aber sobald sie von ihm - wie andere Wörter auch - wiederholt werden, reagiert die erwachsene Umwelt in der Regel ganz anders: „Pfui! “ Gerade deshalb werden sie umso tiefer im Gehirn versteckt und mit sehr viel Energie aufgeladen, was man aber erst in späteren Jahren lernt: Es tut einfach gut, zu fluchen und zu schimpfen. Das kann zu sehr merkwürdigen Sprechakten führen, wenn sie nämlich nur einen einzigen Kommunikationspartner haben, allein den Sprecher, der sich im Auto die Seele aus dem Leib brüllt, wohlwissend, dass ihn niemand hört. So unterschiedlich Sprachen und Gesellschaften auch sind, so ist ihnen auf jeden Fall eines gemeinsam: In allen Sprachen und Kulturen wurde und wird geflucht. Ob das Fluchen der alten Griechen wirklich so harmlos war, wie es uns überliefert ist, kann man bezweifeln. Bei Zeus, Ares und anderen Göttern sollen die Männer geflucht haben, bei Hera, Athena und anderen Göttinnen die Frauen. Dazu kam allerhand Gemüse (vorzugsweise Knoblauch, Zwiebeln und Kohlköpfe, was nicht ganz unverständlich ist). Sokrates soll auch beim Hund und bei der Gans geflucht haben (Collett 1994: 49ff.). Auch schimpfen konnten die alten Griechen verdammt gut, schon die allerersten, die wir kennen. Die „Ilias“ beginnt mit einem Streit zwischen Achilles und Agamemnon. Des Achilles Wut erreicht ihren Höhepunkt, als er sein Schwert nehmen und damit auf Agamemnon, der immerhin der Anführer aller Griechen vor Troja ist, einschlagen will: Aus (Schimpf-)Worten wollen Taten werden! Auf göttliche Weisung lässt er das Schwert dann zwar stecken, aber seine Wut, zu deren Beschreibung Homer gleich zu Beginn die Göttin anruft ( Μῆνιν ἄειδε, θεά, Πηληιάδεω Ἀχιλῆος [Ménin áeide, t h eá, Peleïádeo Achiléos] ‚Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus‘; Voß), ist noch lang nicht verraucht. Mit wüsten Beleidigungen fährt er nun fort, nennt Agamemnon einen Säufer mit dem Blick eines Hunds und dem (feigen) Herz eines Hirschs, der nie selbst in der Schlacht kämpfe; stattdessen vergreife er sich an der Beute seiner Untergebenen und gebe anderen Feiglingen Befehle. Das ist nicht nur ziemlich heftig, sondern ein fulminanter Beginn der gesamten abendländischen Literatur und zugleich von großer psychologischer Einsicht, auch in die Funktion von Sprache insgesamt - man kann nur dankbar dafür sein! Was für ein Sprechakt ist ein Fluch oder Schimpfwort? Wenn Götz von Berlichingen in Goethes Schauspiel die berühmten Worte sagt, die allerdings drastischer sind als üblicherweise zitiert: „Sag deinem Hauptmann: Vor Ihro Kaiserliche <?page no="156"?> 156 8 Pragmatik Majestät hab ich, wie immer, schuldigen Respekt. Er aber, sag’s ihm, er kann mich im Arsche lecken! “, ist damit ja nicht gemeint, dass der Hauptmann ihn tatsächlich ... Es handelt sich vielmehr um einen Sprechakt mit zwei Funktionen. Erstens ist es ein relativ gewöhnlicher indirekter Sprechakt, der allerdings über hohes metaphorisches Potential verfügt: Er bringt die Verachtung Götzens für den Hauptmann zum Ausdruck. Zweitens aber ist es ein selbstreferentieller Sprechakt, eine Äußerung, die sich eigentlich selbst genug ist, wie beim Autofahrer. Ein Fluch oder Schimpfwort kann dem Sprecher eine ungeheure Erleichterung verschaffen. Es ist, wie wenn sich - Entschuldigung! - eine lang anhaltende Verstopfung löst - vielleicht ist diese Parallele aber auch der Grund dafür, warum so viele Flüche und Schimpfwörter fäkalisch sind, jedenfalls in D. Heute weiß man, dass Schimpfwörter besondere Wörter sind, anders als alle anderen. Normale Wörter werden irgendwo in der Großhirnrinde gespeichert und bei Bedarf von dort abgerufen. Die Großhirnrinde ist die genuine Primatenregion des Gehirns; unsere nächsten Verwandten, Affen, haben sie zwar auch, aber längst nicht in der Größe und Differenzierung wie der homo sapiens. Schimpfwörter sind hingegen ganz tief im Gehirn abgelegt, zwar nicht in den paar Kubikmillimetern des Hippothalamus, aber doch im limbischen, animalischen und emotionalen Zentrum; schon allein deshalb haben sie nicht nur eine referentielle und auch nicht nur eine kommunikative Funktion, sondern im wahrsten Sinne „zutiefst“ eine Ausgleichsfunktion: Schimpfwörter und Flüche binden das Vermögen des Menschen, rational zu denken, an seine natürliche Herkunft zurück. Und zudem ist gegenüber der Gefahr, sich seine Faust auf der Tischplatte zu verletzen, ein Schimpfwort eine recht feine und meistens auch kostenlose Sache - wenn nicht gerade ein Polizist vor mir steht. (Vgl. Jay 1999) Dass diese Ausgleichsfunktion in verschiedenen Kulturen in verschiedener Weise erfüllt wird, ist nicht verwunderlich. Das animalische Zentrum mag bei allen Menschen gleich sein; die Sprachen hingegen, mit deren Hilfe und in denen (wenn’s geht) rational gedacht wird, sind unterschiedlich. Grundsätzlich kommt es bei Flüchen und Schimpfwörtern ja darauf an, dass die verwendeten Wörter in spezifischer Weise aufgeladen sind. Da ist es dann gar nicht entscheidend, ob man bei einem Kohlkopf flucht oder bei Nudeln und Bohnen wie ein Italiener: Pasta- Fazula. Das hört sich, richtig geschrien! , gut an und, erst einmal als Fluch etabliert, erfüllt es auch seinen Zweck. Ein allgemeines Merkmal von Flüchen und Schimpfwörtern ist die Grenzüberschreitung, der Tabubruch; je mehr Tabubrüche, desto besser, aber auch: desto schwächer wirken die Flüche auf Dauer und müssen also immer mehr Tabus brechen. Deshalb werden Flüche gern gesteigert; die folgenden Beispiele, da schriftlich, sind allerdings sehr akademisch: 38D) Arschloch - Riesenarschloch, Hund - Schweinehund, Sau - Drecksau 38E) arsehole - fat arsehole, shit - holy shit 38F) con - grand con - sale con(ne) - connard / connasse 38G) μαλάκας - πολύ / μεγάλος / εντελώς μαλάκας, ηλίθιος - πανηλίθιος (malákas - polí / megálos / entelós malákas, ilíthios - panilíthios, Arschloch - sehr / großes / völliges Arschloch, Idiot - Vollidiot) Diese (notwendige) Steigerung hängt konkret damit zusammen, dass alle Tabubrüche mit der Zeit ihre provokative Kraft verlieren. Die Bedeutung von Wörtern wird <?page no="157"?> 157 8.3 Schimpfen und fluchen verändert, in der Regel verschlechtert. So hieß das menschliche Hinterteil schon vor langer Zeit in D Arsch, ohne in irgendeiner Weise vulgär zu sein; sobald das einfache Volk sich das Wort aber aneignet, müssen die da oben natürlich die Nase rümpfen und sich andere Wörter besorgen. Irgendwann, über allerhand Zwischenstufen, war derselbe Hintern dann auch der Unaussprechliche und damit aus der Sprache (möglichst) ganz verabschiedet. Natürliche Sprachen funktionieren unter anderem deshalb so gut, weil sie für ein und dieselbe Sache unter verschiedenen Perspektiven viele verschiedene Wörter bereithalten, die jeder Sprecher in unterschiedlicher Weise in seinem mentalen Lexikon gespeichert hat (Kap. 6.1). Viele dieser Wörter haben aufgrund ihrer Perspektivität nicht nur stilistischen Wert, sondern beinhalten auch Werturteile; in Tab. 34 gibt es ein - sehr zurückhaltendes! , weil etwas veraltetes - Beispiel dafür: Frau (Mensch, weiblich, Gattungsbezeichnung) schlicht - stilneutral hohe Stillage / Schicht mit sexueller ohne sexuelle Erfahrung besondere Eigenschaften Ehefrau Ehefrau jung Mädchen schlampig, unordentlich Schlampe allgemein Dame Mutter Mutter reif Jungfrau dick, plump Trampel Ehefrau Gemahlin Mann gestorben Witwe alt Jungfer böse, hässlich Hexe Prostituierte Call-Girl ledig Fräulein leichtfertig Flittchen verführerisch, kalt Vamp Frau Jungfrau Prostituierte Dirne, Hure niedere Stillage / Schicht Weib Tab. 34: Wortfeld Frau (nach König 1985: 22) Ein derart dicht besetztes und perspektivisch gebrochenes Wortfeld gibt es in D-E- F-G für Mann nicht. Und es sind hier nicht einmal alle Wörter notiert, aber auf die Menge kommt es gar nicht an, auch nicht auf so Kleinigkeiten, dass die Schlampe sich in heutigem Sprachgebrauch nicht dadurch auszeichnet, dass sie unordentlich ist. In 36 stehen dennoch die Übersetzungen aus Pons - und in Klammern eine Auswahl von Rückübersetzungen: 39D) Schlampe 39E) slut ([liederliche] Schlampe), tart (leichtes Mädchen, Nutte, ...), bitch (Miststück, Hure) 39F) souillon (Schmutzfink), traînée (Nutte), connasse (blöde Sau) 39G) τσαπατσούλα, βρομιάρα (tsapatsúla, vromiára; Ferkel, Dreckskerl) Ich greife noch ein anderes Wort heraus, die böse, hässliche Hexe. Was eine Hexe ist, wissen in meinem Erfahrungsbereich Hänsel und Gretel am besten, das wusste aber auch die Inquisition der katholischen und protestantischen Kirchen, die seit der frühen Neuzeit unliebsame Frauen als solche verbrannt haben, weil sie ja mit dem Teufel im Bund standen. Wenn Peter seine Frau Beate Hexe nennt, tut ihm das wahnsinnig gut, aber nicht etwa, weil er sie zum Abendessen grillen oder verbrennen will; er will nur seine Wut darüber zum Ausdruck bringen, dass sie ihm <?page no="158"?> 158 8 Pragmatik einen gemütlichen Fußballabend mit seinen Saufkumpanen vermiest hat. Zwei Tage lang ist Beate beleidigt und spricht kein Wort mit ihm, da kann er noch so nett sein und sogar den Müll rausbringen. - Woher hat das Wort eine solche Macht, dass es einerseits Peters ganze Wut aufnehmen und ableiten, und andererseits Beate derart verletzen kann? Im Griechisch-Wörterbuch (pons. com [15.01.16]) steht unter Hexe (ich kürze auf das Notwendigste zusammen): „1. (im Märchen) hist: μάγισσα , 2. (Schimpfwort) στρίγγλα (! ) 2 (stríngla)“, und unter στρίγγλα steht: „Kratzbürste, Biest, Hexe“. Welches der gr. Wörter hat dieselbe Wirkung wie Hexe? μάγισσα (májisa) gehört nicht nur ins Märchen und die Geschichte, sondern ist als Anrede auch erotisch aufgeladen, käme also für Petros aktuell ganz und gar nicht in Frage. Könnte er, als Grieche, in derselben Situation und mit derselben Wirkung στρίγκλα sagen? Wohl kaum. Die Energie, die D Hexe hat, hat in G eher Μαλακισμένη (malakisméni ‚Verfluchte ...! ‘). Man könnte viele andere Schimpfwörter in vielen anderen Sprachen miteinander vergleichen: Die richtige Übersetzung von Schimpfwörtern kann fast nirgends eine wörtliche Entsprechung sein, sondern sie muss eben diese Energie bereithalten, auf die es ankommt. Und die ist in jeder Sprache, weil Kultur anders verteilt. Das englische bloody heißt in D ‚blutig‘ (womit es ja auch verwandt ist); in F: ensanglanté, in G: αιματηρός (ematirós). Not bloody likely heißt aber nicht, wie Google Translator meint: ‚Nicht blutiger wahrscheinlich‘ (05.01.16); eher schon ‚kommt nicht infrage! ‘, wie Pons vorschlägt (05.01.16), aber darin fehlt natürlich die tabubrechende Energie, die am 14.04.1914 viele Londoner ins Theater lockte. (Zum Folgenden noch mal: Collett 1994: 49ff. und Gauger 2012) Dort wurde George Bernard Shaws Theaterstück „Pygmalion“ aufgeführt (die Weltpremiere hatte am 16.10.1913 in deutscher Übersetzung in Wien stattgefunden). Der Linguistikprofessor Higgins versucht das Blumenmädchen Eliza Doolittle in eine Herzogin zu verwandeln, indem er ihr herzogliches Englisch beibringt, also nicht nur Hoch-, sondern Höchstsprache (genus grande). Nach einer Einladung zum Tee, auf der sich Miss Doolittle ganz gut geschlagen und nur vornehme Floskeln von sich gegeben hat, wird sie gefragt, ob sie zu Fuß nach Hause gehe: „Not bloody likely! I am going in a taxi“, lautet ihre Antwort. Bloody wurde so zum „Shawian Word“. Ob bloody wirklich von by Our Lady kommt, weiß man nicht. Diese Herkunft würde aber der Tatsache entsprechen, dass in E gern religiös geflucht wird, ob das God’s Wounds sind, wie schon Queen Elisabeth I. gerne schrie (und woraus auch einfach Zounds! wurde), oder God’s Truth (> Struth), God’s Nails (> Snails) oder Jeepers Creepers, hinter dem sich Jesus Christus verbirgt. Diese Verballhornungen, die es auch in anderen Sprachen gibt (Sakrament > Sack Zement), reagieren auf das Bedürfnis, den Tabubruch doch wieder zu verstecken, was besonders in prüden und bigotten Gesellschaften zu beobachten ist: Rein buchstäblich ist man unschuldig, aber weil jeder (vor allem aber: man selbst! ) weiß, was gemeint ist, tut’s halt doch gut. Offensichtlicher als bloody ist Goddam, was den Engländern bei den Franzosen den Spitznamen Les Goddems eingebracht hat. 2 Das Ausrufezeichen steht, weil es im griechischen Wörterbuch ( Λεξικό της κοινής νεοε λλ ηνικής ‚Lexikon der neugriechischen Gemeinsprache‘) ein solches Wort nicht gibt, sondern nur στρίγκλα (strínkla). <?page no="159"?> 159 8.4 Baustellen Wie in England wird aber auch in den meisten katholischen Ländern gern religiös geflucht, in Italien zum Beispiel Porco Dio! , in Spanien Me cago en Dios! , was ich lieber nicht übersetze. In protestantischen Ländern, die in religiöser Hinsicht eher vorsichtiger sind, weil sie keine Beichte kennen, die jede Sünde und damit auch jede Blasphemie ungeschehen macht, auch in Deutschland, flucht und schimpft man eher fäkalisch oder sexuell. In Griechenland ist die Bandbreite des Fluchens aber besonders groß: sexuell, fäkalisch, religiös. Überall aber ist in der anonymen Öffentlichkeit des Fernsehens authentisches Fluchen und Schimpfen verpönt und wird entweder verstummt oder durch einen Piepston ersetzt. In Amerika sind Fuck und Shit in aller Munde, aber in Fernsehen und Radio (in nicht-fiktionalen Zusammenhängen) wird beides mit einer sechsstelligen Buße bestraft. Das hört sich trivial an, ist unter sprachlichem Aspekt aber durchaus bezeichnend, zumal es die Sonderstellung von Fluch- und Schimpfwörtern belegt. Sie sind zu allererst individueller Ausdruck, und sollen zweitens einen sehr persönlichen Eindruck bei einem sehr konkreten Hörer hinterlassen, aber wenn sie drittens in die Ohren eines kommunikativ völlig Unbeteiligten geraten, kann keine staatliche Behörde mehr für gesellschaftlichen Frieden garantieren; da ist ein Pieps erheblich einfacher. - Und damit genug davon. 8.4 Baustellen Einige Texte im öffentlichen Raum sind in höchstem Maße standardisiert. Während Werbeplakate damit wetteifern, immer anders und möglichst originell zu sein, tun Wegweiser, Busfahrpläne, auch Börsenkurse gut daran, heute so auszusehen wie gestern, um immer in gleicher Weise und Eindeutigkeit verständlich zu sein. Ich wähle einen einzigen Textanlass, und stelle je ein Bild aus D-E-F-G in Abb. 16 zusammen. Zwar sehen nicht alle deutschen Baustellenschilder so aus wie das hier abgebildete (es gibt auch weiße mit roter oder blauer Schrift), doch ist das gelbe das typischste. Es verbietet das Betreten der Baustelle und hat einen merkwürdigen zweiten Satz, der, um es ganz allgemein und unjuristisch zu formulieren, die Verantwortung für das Verhalten von Kindern deren Eltern zuweist. Man muss nicht über juristisches Fachwissen verfügen, sondern nur eine Internetsuchmaschine bedienen können, um herauszufinden, was in § 828 BGB über Minderjährige und in § 832 BGB über Aufsichtspflicht steht; ich beschränke mich auf (einen Ausschnitt aus) § 832. (1) Wer kraft Gesetzes zur Führung der Aufsicht über eine Person verpflichtet ist, die wegen Minderjährigkeit [...] der Beaufsichtigung bedarf, ist zum Ersatz des Schadens verpflichtet, den diese Person einem Dritten widerrechtlich zufügt. Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, wenn er seiner Aufsichtspflicht genügt oder wenn der Schaden auch bei gehöriger Aufsichtsführung entstanden sein würde. (§ 832 BGB) <?page no="160"?> 160 8 Pragmatik Abb. 16: Baustellen Doris, Laura, Frieder und Wolfgang sind 5 Jahre alt und ihre Familien wohnen in einem Neubaugebiet, in dem noch längst nicht alle Häuser fertig sind. Lesen können die vier frischen Freunde noch nicht, weshalb die Eltern, im Bewusstsein ihrer Aufsichtspflicht, ihnen eingeschärft haben, dass sie nicht auf den umliegenden Baustellen spielen dürfen. Woran können die Kinder eine Baustelle als solche erkennen, zumal das Haus von Doris’ Familie selbst noch eingerüstet ist, in Lauras Garten steht noch ein Bagger, bei Frieder wird gerade das Dachgeschoss ausgebaut und neben Wolfgangs Haus wird immer noch eine Doppelgarage gebaut? Die Definitionsprobleme müssen nicht vertieft werden, aber nehmen wir an, Frieders Eltern, die beide auch keine Juristen sind, erklären ihm, dass sie das bezahlen müssen, wenn er auf der Baustelle etwas kaputt macht. Die vier lassen sich nicht abschrecken und spielen doch in der zukünftigen Bussardstraße. Doris fällt die Treppe runter, weil es noch kein Treppengeländer gibt, Laura stolpert über das Stromkabel der Betonmischmaschine, Frieder schlägt sich den Kopf am Gerüst an und Wolfgang stürzt - glücklicherweise nur aus dem Erdgeschoss - in den Aufzugschacht. Kaputt gegangen ist nichts, nur die Kinder. Wer haftet? Tatsächlich sind es keineswegs die Eltern, sondern der Baustellenbetreiber, weil er die Baustelle nicht sachgemäß, z.B. durch einen Zaun, der für Kinder nicht ohne weiteres zu überwinden ist, gesichert hat. Auch das will ich nicht vertiefen, sondern es geht um Folgendes: Ein wahrscheinlich hunderttausendfach in Deutschland stehendes <?page no="161"?> 161 8.4 Baustellen Warnschild, das auch die Beziehung zwischen Eltern und Kindern betrifft, ist in dieser Form eigentlich Blödsinn. Es dient der Abschreckung, allerdings mit sehr stumpfen Waffen. Weitaus sinnvoller sind die englischen und französischen Schilder, die allerdings nicht in gleicher Weise vereinheitlicht sind; beide gibt es auch in ganz anderer Form und mit ganz anderem Text, das englische auch mit weniger auffälliger Rechtschreibung. Anders als in D wird auf die Gefahren hingewiesen, die es auf Baustellen nun mal gibt, gedroht wird nicht, sondern gewarnt, in E auch mit den beiden herausgehobenen Ausrufezeichen, in F mit den beiden aufgemalten Schildern, die auf Helmpflicht und Parkverbot hinweisen, womit (wenn man sich denn daran hält) dann auch das Auto nicht kaputt geht, falls doch mal ein Brett oder sonst was vom Kran fallen sollte. Das griechische Schild ist einzigartig. Im Internet (und in Athen) habe ich keine Standardvariante gefunden, sondern nur dieses eine, allerdings schon am 24.05.2012, im Juli 2015 war es im Internet nicht mehr aufzutreiben. Das Schild hing an einem - auch in Deutschland erforderlichen - Zaun mit dem - handschriftlichen - Text ΕΡΓΟΤΑΞΙΟ ΑΠΑΓΟΡΕΥΕΤΑΙ Η ΕΙΣΟΔΟΣ (ergotáksio apagorévete i ísodos ‚Baustelle Eingang verboten‘). Die Einzigartigkeit dieses Schilds liegt nicht darin, dass Schilder in Griechenland nicht beliebt wären, im Gegenteil: Man liebt sie sehr und überall. Jedoch scheint das Denkmuster ein anderes zu sein: Es wird nicht mit rechtlichen Konsequenzen gedroht wie in D, nicht vor Gefahren gewarnt wie in E-F, sondern es wird mehr oder weniger selbstverständlich davon ausgegangen, dass auch ein Grundstück, auf dem gebaut wird, ebenso wie jedes Grundstück, auf dem bereits ein Haus steht, irgendjemandem gehört, und das betritt man ja üblicherweise nicht einfach so. Zaun ist Zaun - warum soll man den zu einem Vorgarten respektieren, den zu einer Baustelle aber nicht? Aber weil das Haus noch nicht fertig ist und offensichtlich noch niemand darin wohnt, empfiehlt sich halt doch ein Hinweis. Aber wie vieles in Griechenland steht das nicht so ganz fest. Am 07.10.2015 fand ich dann doch noch folgendes Schild: Abb. 17: Griechische Baustelle Die Übersetzung lautet einigermaßen wörtlich: ‚Verboten ist der Eingang für die Nicht-Arbeit- Habenden‘, oder: ‚Unbefugten ist der Zutritt nicht gestattet‘. Und das handschriftliche „239/ 14“ bedeutet: die 239. Baugenehmigung (des entsprechenden [Vor-]Orts von Athen) von 2014. Die hier anschließende Frage, ob es um Deutschlands Baustellen mehr oder weniger Zäune gibt als in anderen Ländern, wäre durchaus im Rahmen der Linguistik, auch der KL, zu beantworten. Ihre Beantwortung könnte nämlich auch Aufschluss darüber geben, in welchem Maß sprachliche Bedeutung außerhalb von Wörterbüchern gesellschaftlich fundiert ist. <?page no="162"?> 9 Satzvergleiche / Sätze / Sätzchen Wie sagt man aus, was man aussagen will? Das Einfachste, was bei einfachen Aussageabsichten auch funktioniert, wenn man Kind ist und der Gesprächspartner ein Erwachsener, ist eine Kombination aus Wörtern und Gesten und dem mehr oder weniger unbewussten Vertrauen, dass der andere schon alles richtig verstehen wird (3.4.1, wobei allerdings die Frage nach wie vor unbeantwortet bleibt, ob ich als Kind wirklich wusste, was ich eigentlich wollte). In vielen Situationen (u.a. allen schriftlichen) muss man sich jedoch allein auf die Sprache verlassen (können), zumal man nicht immer Zeit und Lust auf Ratespiele hat. Das hat viel mit Einübung und Gewohnheit und vor allem mit Gelingenserfahrungen zu tun. Es ist einfach sinnvoll, sich an gewisse Regeln zu halten. Eine kontrastiv-vergleichende Syntax würde den Rahmen dieses Büchleins selbstverständlich unbezahlbar sprengen. Einige wenige sprachtypologische Unterschiede sind schon in Kap. 3.2 genannt. Hier stütze ich mich nur auf einzelne Satzvergleiche, die einige wenige syntaktische Phänomene beleuchten, und zwar wähle ich (vorwiegend) Sätze aus einer neugriechischen Grammatik von 1986 mit den dort verzeichneten deutschen Übersetzungen (Ruge 1986: 98-105). Es handelt sich um sehr einfache Sätze. Bei ihrer Diskussion geht es vor allem um strukturelle Unterschiede zwischen D-E-F-G. Wo es jedoch keine signifikanten Unterschiede zwischen D-E-F gibt, belasse ich es allerdings bei D als Kontrastsprache zu G. 9.1 Einwortsätze und Ellipsen 40D) a) Es schneit. - b) Es regnete. - c) Wir arbeiten. 40G) a) Χιονίζει . (chionízi.) - b) Έβρεχε . (évreche.) - c) Δουλεύουμε . (dulévume.) G ist eine Pro-Drop-Sprache, D-E-F sind Non-Pro-Drop-Sprachen: G braucht kein extraverbales Subjekt, D-E-F brauchen es, nicht aus inhaltlichen, sondern aus rein grammatischen, also sprachlichen Gründen. Es bedeutet nichts, sondern muss allein eine Funktion erfüllen, in Verbindung mit schneien und regnen und einigen anderen Witterungsverben ist nur noch dieses Subjekt möglich, anders als bei 40Dc), wo etwa auch „Ameisen“ möglich sind. In einem Kirchenlied aus dem 18. Jh. konnte es jedoch noch heißen: „Tauet, Himmel, den Gerechten, Wolken regnet ihn herab.“ Ganz so einfach ist es aber doch nicht, hauptsächlich aus zwei Gründen: Die korrekten Formen in D sind zwar die obigen, umgangssprachlich, mündlich, also normalsprachlich heißt es aber eher: Sschneit. - Sregnete. Das extraverbale Subjekt wird klitisiert: so dicht ans Verb geschoben, dass beide zusammen zu einem Wort werden. 1 Allerdings ist diese Form sehr strikt ans Mündliche gebunden: In D ist (bisher) nicht vorgesehen, dass Verschmelzungen von Subjekt und Verb formalisiert oder gar systematisiert werden. Es hat zwar, wie andere ide. Sprachen auch, nichts gegen Präfixe, doch ginge es hier um viel mehr, nämlich um die Eliminie- 1 Nach wie vor muss ich nicht nur einer Diskussion darüber aus dem Weg gehen, was ein Wort ist, sondern kann nicht einmal darstellen, worin der Diskussionsbedarf liegt. <?page no="163"?> 163 9.1 Einwortsätze und Ellipsen rung einer grammatischen Kategorie, was allerdings zudem nicht in allen Fällen möglich und damit nur schwer zu systematisieren wäre; *rarbeiten wäre zwar als Wort möglich, aber (noch? ) nicht als Äußerung für ‚wir arbeiten‘ verständlich. Durchaus gibt es aber einen Verbmodus, der auch in D ohne Subjekt auskommt: der Imperativ in Si. (arbeite! ) und Pl. (arbeitet! ). Auch das verdient kurz diskutiert zu werden: Imperativsätze sind in merkwürdiger Weise elliptische Sätze, da sie des oder der Angesprochenen als Subjekt bedürfen; nur die Höflichkeitsform (= Distanzform) macht einen ganzen Satz daraus: Arbeiten Sie! Normalerweise sparen elliptische Sätze semantische oder grammatische Informationen aus, die an anderer Stelle schon gegeben wurden und an aktueller Stelle eindeutig ergänzt werden können. 41D) Anna isst Nudeln. Peter (isst) auch (Nudeln). - „Wie spät ist es? “ „(Es ist) 10 (Uhr).“ 41G) Η Άννα τρώει μακαρόνια. Και ο Πέτρος (τρώει μακαρόνια). - „Τι ώρα είναι; “ „(Είναι) 10 (η ώρα )“. (i ána trói makarónia. ke o pétros [trói makarónia]. - ti óra íne? [íne] 10 [i óra]). Imperative hingegen beziehen ein Referenzobjekt, nämlich den Hörer, als Subjekt in den Satz ein, sparen es aber, anders als in anderen Sätzen mit deiktischen Subjekten, systematisch aus. Man könnte daraus folgern, dass - wie in G - die Verbendung für diese Ersparnis verantwortlich ist, doch das trifft nicht zu, da, nicht nur in dem konkreten Beispiel 42), die singulare Imperativform identisch ist mit der (gesprochenen) 1. Si. und die plurale mit der 2. Pl., die wiederum identisch ist mit der 3. Si. 42D) Sag! - Sagt! 42G) Πες! - Πείτε! (pes! - píte! ) Hier ist es tatsächlich so, dass in D der Imperativ durch den Wegfall des Pronomens entsteht, welches in allen anderen Formen (standardsprachlich) stehen muss. Das heißt andererseits: Aufgrund der synthetischen Struktur von G kann es dort keine verbalen Ellipsen geben, eine Form ohne Personenendung steht gar nicht zur Verfügung. Auch in D gibt es eine Vielzahl von Einwortsätzen, wenn über deren Status auch gestritten werden kann. Ich wähle nur zwei - schon bekannte: 43D) a) Danke. - b) Bitte. 43G) a) Ευχαριστώ. / Ευχαριστούμε. (efcharistó. / efcharistúme.) - b) Παρακαλώ. / Παρακαλούμε. (parakaló. / parakalúme.) In 43G) stehen vollständige Sätze, es handelt sich jeweils um die 1. Si. oder Pl. Präsens Aktiv des Verbs. In 43D) ließe sich die erste Äußerung problemlos zu einem vollständigen Satz ergänzen (Ich danke. / Wir danken.), die zweite hingegen nicht (Kap. 8.1). Es handelt sich in beiden Fällen um kommunikative Formeln, wie auch z.B. in Hilfe! , deren Subjektstelle selbstverständlich der Sprecher einnimmt, während ohne weiteres ein passendes Verb ergänzt werden kann, und zwar (unter kommunikativem Aspekt) systematisch, im letzten Fall nicht etwa Ich biete dir meine Hilfe an, sondern Ich brauche deine Hilfe! , oder man ergänzt ein Pronomen: Hilf mir! - Helfen Sie mir! <?page no="164"?> 164 9 Satzvergleiche / Sätze / Sätzchen Unter der Überschrift „Unvollständige Sätze“ gibt es bei Ruge auch folgende Beispiele für Ellipsen: 44D) a) Leiden sind (werden zu) Lehren. - b) Es ist Zeit, daß wir (weg)gehen. - c) Alles ist in Ordnung. - d) Ihre Augen waren grün, meine braun. 44G) a) Παθήματα μαθήματα. (pathímata mathímata.) - b) Ώρα να φύγουμε. (óra na fígume.) - c) Όλα εντάξει. (óla endáksi.) - d) Τα δικά της μάτια πράσινα, τα δικά μου καστανά. (ta diká tis mátia prásina, ta diká mu kastaná.) Ruges Grammatik ist mittlerweile 30 Jahre alt. In dieser Zeit ist auch D auf dem Weg zur Sparsamkeit nicht stehengeblieben; G hat sich selbstverständlich auch gewandelt. Leiden Lehren ist zwar nach wie vor nicht auf Anhieb verständlich, aber Zeit zu gehen üblicher, ebenso wie Alles in Ordnung, und mündliches Leiden lehren ist ziemlich gut. Auch in 44Dd) kann das Verb problemlos eingespart werden: Sie: grüne Augen, ich: braune oder: Ihre grünen Augen und meine braunen. Formelhafte Wendungen wie in 44Ga) gibt es selbstverständlich auch in anderen Sprachen; drei Titel von Shakespeareschen Dramen genügen hier. Teilweise handelt es sich um Ellipsen, teilweise nicht: 45D) a) Viel Lärm um nichts. - b) Ende gut, alles gut. - c) Verlorene Liebesmüh. 45E) a) Much Ado about Nothing. - b) All’s Well That Ends Well. c) Love’s Labour’s Lost. 45F) a) Beaucoup de bruit pour rien. - b) Tout est bien qui finit bien. - c) Peine d’amour perdues. 45G) a) Πολύ κακό για το τίποτα. (polí kakó ja to típota.) - b) Τέλος Καλό Όλα Καλά. (télos kaló óla kalá.) - c) Αγάπης Αγώνας Άγονος. (agápis agónas ágonos.) 9.2 Attribute 46D) a) Die Geschehnisse bis 1843. - b) Er traf die Ärzte dort. - c) Er traf die dortigen Ärzte. 46G) a) Τα ως το 1843 γεγονότα. (ta os to 1843 jegonóta.) - b) Είδε τους γιατρούς εκεί. (íde tus jatrús ekí.) - c) Είδε τους εκεί γιατρούς. ( íde tus ekí jatrús.) G bot noch vor kurzem die Möglichkeit (und bietet sie schriftlich, also hochsprachlich, immer noch), allerhand Attribute zwischen Artikel und Substantiv unterzubringen: ‚*Die bis 1843 Geschehnisse‘ (46Ga); in D sind (auch schriftlich) an dieser Position nur Adjektive oder Partizipien erlaubt; diese können durchaus links erweitert werden (möglich ist zum Beispiel: „Die bis 1843 sich ereignet habenden Geschehnisse“; aber wer sagt so etwas? ). Stattdessen kann das Substantiv in D rechts erweitert werden, nicht nur durch Genitive („Die Geschehnisse der Jahre vor 1843“) oder Relativsätze („Die Geschehnisse, die sich vor 1843 ereignet haben“), sondern auch durch andere Zusätze: temporal wie in 46Da), lokal („Die Ereignisse auf dem Fußballplatz“), kausal („Die Verhaftung wegen des Mordes“) usw. In G konnten diese Zusätze in den aus Artikel und Substantiv gebildeten Rahmen eingebettet bleiben, heute aber in Normalsprache (höchstens genus medium) nicht mehr, so schnell ändert sich Sprache, was aber auch etwas mit dem Einfluss des E zu tun haben dürfte, das eine sehr strikte Wortstellung verlangt. Die Sätze 46Gb) und c) und 46Db) und c) sind sehr künstlich. In jedem beliebigen Kontext, in dem sie die Chance hätten, geäußert zu werden, könnten sie aus- <?page no="165"?> 165 9.2 Attribute getauscht werden, weil ohnehin eindeutig wäre, was jeweils gemeint ist. Trotzdem haben beide Sprachen die Möglichkeit, das jeweils Gemeinte auch sprachlich zu differenzieren, und beide Sprachen gehen dabei mittlerweile ähnlich vor: In D muss, aus dem gerade genannten Grund, aus dem Adverb ein Adjektiv werden, und G hat seine ursprüngliche „Wortartentoleranz“ verloren: In 46Gc) wird nun üblicherweise ebenfalls ein Adjektiv verwendet: „ Είδε τους εκείνους γιατρούς“ (íde tus ekínus jatrús), also statt: ‚*Ich treffe die dort Ärzte‘: ‚Ich treffe die dortigen Ärzte‘. Umgangssprachlich gibt es jedoch in D in einigen Fällen die Tendenz, nicht etwa die syntaktischen Regeln aufzuheben, sondern - gerade um die syntaktischen Regeln weiter einhalten zu können - relativ neuartige Wortartwechsel zuzulassen und ohne weiteres aus einem Adverb ein Adjektiv zu machen und als solches zu verwenden: Vgl. die Sätze 24). Ich knüpfe hier an und komme zu adverbialen und prädikativen Bestimmungen: 47D) a) Ich fuhr dorthin. - b) Ich fuhr nach Athen. 47G) a) Πήγα εκεί. (píga ekí.) - b) Πήγα στην Αθήνα. (píga stin Athína.) Da D zwischen Richtungs- und Ortsangaben systematisch unterscheidet, muss in D auch in der Kommunikation zwischen Richtungs- und Ortsangaben unterschieden werden - es sei denn, der umgangssprachliche Druck wird (irgendwann) groß genug (s.u.). G εκεί ist dort und dorthin, aber in D gibt es z.B. noch da - dahin, hier - hierhin. Auch in Präpositionalphrasen wird differenziert. In G heißt es sowohl „ Πήγα στην Αθήνα “ als auch „ Μένω στην Αθήνα“ (méno stin athína); in D: „Ich ging nach Athen“ und „Ich lebe in Athen“. E steht irgendwo dazwischen: Richtungs- und Ortsangaben werden in den Adverbien normalerweise nicht unterschieden, allerdings gibt es ebenfalls unterschiedliche Präpositionen: „I was going to Athens.“ - „I am living in Athens.“ Diese präpositionalen Zuordnungen werden in E stringent durchgehalten, während es in D ein recht komplexes System von Unterscheidungen gibt und in G alles ziemlich gleich ist: 48D) a) Ich fahre in die Schweiz. - b) Ich lebe auf Mykonos. - c) Ich gehe zur Party. 48E) a) I am going to Switzerland. - b) I am living in Mykonos. - c) I am going to the party. 48F) a) Je vais en Suisse. - b) Je vis à Mykonos. - c) Je vais à la fête. 48G) a) Πάω στην Ελβετία. (páo stin Elvetía.) - b) Ζω στη Μύκονο. (zo sti Míkono.) - c) Πάω στο πάρτι. (páo sto párti.) Es gibt in G noch andere Möglichkeiten, adverbiale Bestimmungen zu realisieren, die in D umschrieben werden müssen: 49D) a) Lass(t) uns zusammen gehen (als eine Gesellschaft). - b) Er ging hinaus, um spazieren zu gehen. 49G) a) Πάμε παρέα. (páme paréa.) - b) Βγήκε περίπατο. (vjíke perípato.) Wörtliche (aber unmögliche) Übersetzungen wären ‚*Gehen wir Freundeskreis. - *Er ging aus Spaziergang.‘ Παρέα (paréa) in 49Ga) ist in Griechenland so etwas wie eine gesellschaftliche Einrichtung, für die es keine deutsche Entsprechung gibt; ich habe es mit Freundeskreis versucht (Ruge mit ‚Gesellschaft‘), es sind die Leute, mit denen man sich abends, am Wochenende oder im Urlaub trifft, zu dem aber auch entferntere Bekannte gehören können. In 49Da) lässt sich kein Substantiv verwenden, man <?page no="166"?> 166 9 Satzvergleiche / Sätze / Sätzchen könnte auf die Konstruktion in Klammern zurückgreifen, wenn auch mittlerweile ohne Artikel: Lasst uns als Gesellschaft gehen, doch so etwas sagt niemand. Dass πάμε (páme) in diesem Fall aber nicht ‚wir gehen‘ heißt, sondern ‚gehen wir‘ (oder ‚lass(t) uns gehen‘), ergibt sich nur aus dem Kontext, genauer: Der Kontext legt den Sprechakt fest und bestimmt damit auch das Verständnis. In G kann die Äußerung selbst viel vager bleiben als in D. 49Db) ist ein durchaus möglicher, aber nicht unbedingt üblicher deutscher Satz. Er ging spazieren reicht normalerweise vollkommen, da deutsche Spaziergänge sehr üblich im Freien und außerdem in der Natur stattfinden; genau in dieser Form gehören sie aber nicht zum griechischen Alltag. Das verbreitetere κάνω βόλτα (káno vólta) kann ‚spazieren gehen‘ heißen, aber auch ‚in der Stadt (bummeln)‘ oder auch ‚spazieren fahren‘. Die prädikativ gebrauchten Substantive in den folgenden Sätzen 50) sind in G allein durch die Kongruenz in den Satz eingebunden, die sich in 50Gb) erst aus dem Äußerungskontext ergibt: Wenn eine Frau angesprochen wird, muss die weibliche Form des Adjektivs verwendet werden: μικρή (mikrí). In D ergibt sich eine sinnvolle Aussage nur bei Verwendung einer prädikativen Konjunktionalgruppe (Duden 1998: 649): 50D) a) Michael starb als Soldat. - b) Haben Sie als Kind Krankheiten durchgemacht? 50G) a) Ο Μιχάλης πέθανε στρατιώτης. (o Michális péthane stratiótis.) - b) Περάσατε αρρώστιες μικρός; (perásate arósties mikrós? ) In 50Ga) genügt die Wortstellung (und damit eine bestimmte Satzstruktur), um den Sinn zu markieren: Ο στρατιώτης Μιχάλης πέθανε (o stratiótis Michális péthane) wäre etwas anderes, nämlich ‚Der Soldat Michalis starb‘. In D muss die Wortstellung expliziert werden: Der Soldat Michael starb ist möglich, *Michael starb Soldat aber nicht. Die Position hinter dem Verb muss - redundant - mit Hilfe von als markiert werden. Dasselbe gilt für 51a). Auch hier wirkt die Regel, dass in G die prädikativ gebrauchten Adjektive kongruent zum Bezugssubstantiv sein, d.h. in Genus, Numerus und Kasus mit ihm übereinstimmen müssen, während in D die jeweilige Grundform steht (die es in G gar nicht gibt); in G erstreckt sich das Kongruenzprinzip auch auf den Kasus: 51Gb-c). 51D) a) Die Frau betrachtete sie schweigend. - b) Die Arbeiter sind krank. - c) Die Luft machte die Arbeiter krank. 51G) a) Η γυναίκα τους κοίταξε αμίλητη. (i jinéka tus kítakse amíliti.) - b) Oι εργάτες είναι άρρωστοι. (i ergátes íne árosti.) - c) Ο αέρας έκανε τους εργάτες άρρωστους . (o aéras ékane tus ergátes árostus.) In D wird systematisch zwischen attributivem Gebrauch und prädikativem Gebrauch des Adjektivs nicht nur semantisch unterschieden, sondern auch formal, in G nicht: In D richtet sich die Form des Adjektivs allein in attributiver Stellung nach dem Substantiv, zu dem es gehört. Wann immer es nicht zwischen Artikel und Substantiv steht (oder, wo kein Artikel im Spiel ist, vor dem Substantiv), wirft es die Zwänge der Kongruenz ab und zieht sich auf seine Grundform zurück, während es sich in G stets nach dem Substantiv, zu dem es gehört, richten muss. Dieser Unterschied ist umso interessanter, als es G in anderen Kongruenzfragen merkwürdigerweise längst nicht so genau nimmt wie D (Kap. 9.5). Wie kann man das erklären? <?page no="167"?> 167 9.3 Satzglieder in Sätzen Wie schon häufig betont, sind in G aufgrund seiner (synthetischen) Struktur die Deklinationsendungen von größerer Bedeutung als in D-E-F. Was hier in die Satzgliedstellung verlagert ist, leistet in G die korrekte Wortform, die am Ende markiert ist. Die Anziehungskraft des Substantivs wirkt in D nur unmittelbar und nur nach links; auch (rechts stehende) Appositionen unterliegen daher nicht der Kongruenz: Ein Bauarbeiter, groß und stark ..., eine Bauarbeiterin, groß und stark ... In G hingegen wirkt das Substantiv stärker, auch mittelbar (über das Verb hinweg) nach rechts, während in D das Adjektiv in prädikativer Verwendung frei ist; noch im Mhd. gab es jedoch flektierte Formen in prädikativer Stellung (Paul/ Wiehl/ Grosse [1989]: 360). In G muss überall Farbe bekannt werden, weil eine Grundform wie in D nicht existiert und nicht existieren kann (Kap. 4), weshalb in der folgenden Abbildung nur das Kästchen für das prädikativ gebrauchte Adjektiv in D weiß bleiben darf: Adjektiv Substantiv Substantiv Adjektiv Das schöne Haus Das Haus ist schön. Το ωραίο (to oréo σπίτι spíti) Το σπίτι (to spíti είναι íne ωραίο. oréo.) Adjektiv Substantiv Substantiv Adjektiv Abb. 18: Die Gravitationskräfte des Substantivs auf das Adjektiv in unterschiedlicher Stellung in G und D Ein paar Besonderheiten verdienen jetzt noch Aufmerksamkeit. 9.3 Satzglieder in Sätzen 52D) a) Ich habe nichts zu Petros gesagt. - b) Er kleidet sich nach der Mode. 52G) a) Δεν είπα τίποτα στον Πέτρο. (den ípa típota ston pétro.) - b) Ντύνεται της μόδας. (dínete tis módas.) Tatsächlich kann man in D nichts zu Petros sagen, der Dativ (und eine Umstellung) ist aber heute üblicher: „Ich habe Petros nichts gesagt.“ Und während der Grieche oder die Griechin sich της μόδας ( tis módas) - *der Mode kleidet, trägt der oder die Deutsche seine Kleider nach der Mode. In diesem Fall braucht D eine Präpositionalphrase, während G mit einem einfachen Genitiv auskommt. Es scheint in beiden Sprachen keine einheitliche Tendenz entweder zu Objektkasus oder zu Präpositionalphrasen zu geben. Tatsächlich ist in D der Dativ sehr robust etabliert (in G schon lange weggefallen), während der Genitiv seit Jahrzehnten als Objektkasus auf recht wackligen Beinen steht und entweder zum Dativ hin umfällt (wegen des Regens > wegen dem Regen) oder zu einer Präpositionalphrase (des Mordes anklagen > wegen Mord anklagen). Eine der fiesen Kleinigkeiten in der deutschen Satzgliedstellung begegnet in den Sätzen mit dreiwertigen Verben: Subjekt (S) - direktes Objekt (D) - indirektes Objekt (I). Am Beispiel geben geht es im Folgenden nur um die Normalstellungen beim Austausch der Substantive durch Pronomina. Dabei hebe ich das Subjekt fett, das indirekte Objekt durch Kursivdruck, das direkte Objekt durch Unterstreichung hervor. Dahinter steht die Reihenfolge der Satzglieder. <?page no="168"?> 168 9 Satzvergleiche / Sätze / Sätzchen 53D) a) Er gibt dem Vater ein Buch. SID b) Er gibt ihm ein Buch. SID 53E) a) He is giving a book to his father. SDI b) He is giving a book to him. SDI 53F) a) Il donne un livre à son père. SDI b) Il lui donne un livre. SID 53G) a) Δίνει στον πατέρα ένα βιβλίο. (díni ston patéra éna vivlío.) (S)ID b) Του δίνει ένα βιβλίο. (tu díni éna vivlío.) I(S)D 53D) c) Er gibt es dem Vater. SDI d) Er gibt es ihm. SDI 53E) c) He is giving it to his father. SDI d) He is giving it to him. SDI 53F) c) Il le donne à son père. SDI d) Il le lui donne. SDI 53G) c) Το δίνει στον πατέρα. (to díni ston patéra.) D(S)I d) Του το δίνει. (tu to díni.) ID(S) Alle Satzgliedstellungsmöglichkeiten sind vertreten. In jeder Sprache gibt es sehr spezifische Regeln, die in kontrastiven Grammatiken auch möglichst nachvollziehbar dargelegt werden sollten; hier müssen sie aber nicht im Einzelnen besprochen werden. Nur auf das Offensichtlichste sei hingewiesen: In D-E-F beginnen alle Sätze mit dem Subjekt, in G ist das Subjekt ohnehin nur verbal markiert, doch kann das Verb mit Subjektmarker auch dort von beiden Objekten verdrängt werden. Überhaupt hat G die reichhaltigsten Variationen, die allerdings nicht beliebig, sondern in hohem Maße standardisiert sind: *Το του δίνει (to tu díni) ist (der Stern zeigt es) ungrammatisch. Anders als in E, wo allein die Stellung darüber Auskunft gibt, ob es sich (bei substantivischer Besetzung) um Subjekt, direktes oder indirektes Objekt handelt, sind die Stellungen in G in Bezug auf die Formen redundant. Dasselbe gilt auch für D. Das eine oder das andere würde genügen - welchen Sinn haben dann solche Doppelregeln? Selbstverständlich ist das mal wieder eine sinnlose Frage, doch ist immerhin zu bedenken, dass normative Grammatiken (und dazu gehören die meisten Grammatiken für den Fremdsprachenunterricht) ebensolche Fragen beantworten, indem sie festlegen, wie eine Sprache zu sein hat. Tatsächlich kann man den Redundanzen, die sich aus derartigen Doppelregeln ergeben, aber einen Zweck unterstellen: Es ist relativ ratsam, sich an ihre Befolgung zu halten, da jede (ursprünglich normale) Kommunikation von derart vielen Störungen bedroht wird, dass es allemal besser ist, sich an zwei Regeln zu halten, weil jede Antwort auf eine metasprachliche Nachfrage („Was meinst du damit? “) immer das größere Übel ist, da es Nachfragen sowieso häufig genug gibt - aber aus inhaltlichen Gründen! 2 Immerhin lohnt es sich stets, so oder so, dafür zu sorgen, dass jede Äußerung für jeden je aktuellen Hörer eindeutig ist. Aber hin und wieder kommen sich Form und Sinn in die Quere, Syntax und Semantik, doch auch da ist es sinnvoll, sich an Regeln zu halten, weil sich niemand über derartige Widersprüche Gedanken macht und auch hin und wieder in Kauf nimmt, nicht ganz damit klar zu kommen (und dies auch beim Gesprächspartner voraussetzen kann), es sei denn, er 3 ist Linguist oder Sprachpfleger oder hat 1,99 Euro pro Minute (05.01.2016) für die Duden-Sprachberatung übrig - dann ist er dieser Sorge bar. Irgendwas verstanden? 2 Heißt es eigentlich sehr häufig oder sehr oft? Normative Grammatiken wissen das, und noch entspricht eine sehr ofte Frage wahrscheinlich nicht dem Geschmack der meisten deutschen Muttersprachler. 3 Wer es also ganz hart will: Auf wen bezieht sich dieses er: auf den Gesprächspartner (der allerdings in Klammern steht), oder auf niemand als Subjekt des weil-Satzes, was ein immerhin klitzekleines logisches Problem ist? <?page no="169"?> 169 9.4 Kongruenz 9.4 Kongruenz Schon bei der Diskussion der Pronomina in Kap. 7.3 wurde gesehen, dass in bestimmten Situationen sprachliche „Richtigkeit“, die sowohl der Syntax als auch der Semantik gerecht werden will, nicht erzielt werden kann; sie definiert sich (vor allem bei Lebewesen) allein aus gesellschaftlichen Konventionen. Da es aber in D- E-F im Plural keinen Unterschied (mehr) gibt zwischen Mask., Fem. und Neutr., muss insofern auch keine Entscheidung getroffen werden; nur in G kann, in einer markierten Variante, differenziert werden. Ein ganz ähnlich gelagertes Problem liegt in der Numeruskongruenz vor. Hier entscheidet jedoch keine gesellschaftliche Regel, sondern (scheinbar ausschließlich) eine sprachliche. Diese Regel ist in D-E- F-G ganz einfach: Wenn es mehr als ein (grammatisches) Subjekt gibt, steht das Verb im Plural. Aber in welcher Form? (Die folgenden Beispielsätze sind etwas eintönig, sollen aber auch nur das Phänomen der Kongruenz verdeutlichen.) Zunächst ein einfacher Fall und ein Sonderfall: 54D) a) Das Mädchen und der Junge lachen. - b) Das Mädchen lacht und der Junge (auch). 54G) a) To κορίτσι και το αγόρι γελάνε. (to korítsi ke to agóri jeláne.) - b) Γελάει το κορίτσι και το αγόρι. (jelái to korítsi ke to agóri.) Ein Mädchen und ein Junge sind zwei (Menschen). In G gibt es jedoch die Möglichkeit, wie in 54Gb), einen Satz mit einem Verb in der Erwartung auf ein singulares Subjekt zu beginnen; wird dieses (nachträglich) um ein zweites erweitert, bleibt der Satz dennoch korrekt, obwohl damit offensichtlich gegen die Regeln der Kongruenz verstoßen wird. In D gibt es tatsächlich ebenfalls diese Möglichkeit, wenn das Bemerken des Verstoßes häufig auch (z.B. mit auch) markiert wird. Sobald zum Plural des Subjekts u.a. eine 1. Person (Si. oder Pl.) gehört, steht das Verb, um die Kongruenz zu wahren, in der 1. Pl., wenn es in D wegen der Formengleichheit zur 3. Pl. auch nicht auffällt: 55D) Maria und ich / Maria und wir / Du und ich / Du und wir / Ihr (Sie) und ich / Ihr (Sie) und wir lachen. 55G) H Μαρία και εγώ / H Μαρία και εμείς / Εσύ και εγώ / Εσύ και εμείς / Εσείς και εγώ / Εσείς και εμείς γελάμε. (i María ke egó / i María ke emís / esí ke egó / esí ke emís / esís ke egó / esís ke emís jeláme.) Wenn eine 2. Person (Si. oder Pl.) zusammen mit einer dritten das Subjekt bildet, steht auch das Verb in der 2. Pl.: 56D) Du und Maria / Ihr und die Touristen lacht. 56G) Εσύ και η Μαρία / Εσείς και οι τουρίστες γελάτε. (esí ke i maría / esís ke i turístes jeláte.) Um es sportlich zu formulieren: Die erste siegt über die zweite, die zweite über die dritte Person, der Sprecher dominiert den Hörer und der Hörer alle Referenten außerhalb des Gesprächs. In diesem Fall zeigt sich recht deutlich: Sprache kommt von Sprechen. Die 1. und 2. Pl. gibt jedoch ein Problem auf, das ich erst einmal einzelsprachlich in D darstelle: Wer ist mit wir gemeint, wenn wir wir sagen? Fünf Beispiele, die aus folgender Situation herausgegriffen sind: Ludwig Neumann ist seit einem <?page no="170"?> 170 9 Satzvergleiche / Sätze / Sätzchen Jahr mal wieder zu einer Party bei Josef Keller eingeladen, Freunde und Freundinnen aus der Schulzeit sind auch da, Ludwigs Frau konnte allerdings nicht mitkommen. Ludwig spricht mit Josef: 57D) a) Wir würden uns freuen, wenn du uns mal besuchen kommst. b) Wir könnten am Wochenende ins Stadion gehen. c) Wir könnten doch mal zusammen einen Ausflug machen. d) Wir sehen uns nächstes Jahr wieder? e) Wir machen nächstes Jahr bei uns eine Party. Bei fünf Beispielsätzen liegt es natürlich nahe, anzunehmen, dass wir fünf Bedeutungen haben kann. Um es kurz zu machen: In a) meint Ludwig sich selbst und seine Frau - aber nicht Josef, was relativ eindeutig zu verstehen ist. In b) sind nur Ludwig und Josef gemeint, die beiden, die miteinander sprechen, allerdings hört man das dem Satz nicht an. In c) meint Ludwig sich selbst, seine Frau und Josef, allerdings hört man das dem Satz nicht an. In d) meint Ludwig sich selbst, Josef und alle anderen Partygäste, allerdings hört man das dem Satz nicht an. In e) können alle gemeint sein: Ludwig selbst, seine Frau, Josef und die anderen anwesenden Partygäste, was man dem Satz aber auch nicht anhört. Tab. 35 zeigt, wie wir grundsätzlich verwendet werden kann. In D-E-F-G gibt es für alle Bedeutungen nur dieses einzige wir - we - nous - ( εμείς [emís]) 4 . Den Rest des Verständnisses muss der Hörer erledigen. Ob diese fünf verschiedenen Möglichkeiten des wir in einer Sprache tatsächlich lexisch realisiert sind, weiß ich nicht. Bekannt sind aber folgende Unterscheidungen, ohne sie hier katalogisieren zu wollen: a) der Gesprächspartner ist nicht mitgemeint = Ludwig und seine Frau, aber nicht Josef, mit dem Ludwig gerade spricht (exklusiv: ich und andere, die zu mir als Sprecher gehören); b) nur die beiden Gesprächspartner sind gemeint = nur Ludwig und Josef (minimal inklusiv: ich und du, aber keine anderen); c) ich und du sowie alle, die in der konkreten Gesprächssituation zu beiden gehören. Das können, wie in 57Dd), Ludwig und Josef samt Ehefrauen, Familien und FreundInnen sein, bei anderen Äußerungen (Wir steuern auf eine Katastrophe zu! ) aber auch die gesamte Menschheit (erweitert inklusiv). Unser wir - we - nous - ( εμείς ) ist für uns völlig selbstverständlich; ein kontrastiver Blick darauf kann aber auch hier das Bewusstsein dafür schärfen, dass nicht alles so selbstverständlich sein muss. Für die Kommunikation (in D-E-F-G) bedeutet das 4 Die Klammer steht, weil das Pronomen in G strukturell nicht notwendig ist. a) ... ich du b) ich du c) ... ich du d) ich du ... e) ... ich du ... Tab. 35: Wer ist wir? <?page no="171"?> 171 9.5 Konstruktion nach dem Sinn nämlich: Der Hörer muss sich in der fünffachen Mehrdeutigkeit des wir selbst zurechtfinden, muss mitdenken, um zu verstehen, was der Sprecher mit wir tatsächlich sagt und meint, und im Zweifelsfall muss er eben nachfragen. Im letzten Kapitel wird es darum gehen, dass dieser Gesichtspunkt der Mitarbeit des Hörers (und Lesers) eine ganz entscheidende und in verschiedenen Sprachen unterschiedliche Rolle spielt. Imperative der 1. Pl. sind in D-E-F-G morphologisch nicht verfügbar. 56Ga) Πάμε (páme) ist sowohl ‚Wir gehen‘ als auch ‚Gehen wir! ‘, aber auch ‚Gehen wir? ‘ und diese letzten Varianten sind nur intonatorisch voneinander zu unterscheiden, wie auch in F; E hat damit jedoch Probleme: 58D) a) Gehen wir! - b) Lass(t) uns gehen! - c) Gehen wir, Leute! 58E) a) *Go we! - b) Let’s go! - c) Let’s go, guys! 58F) a) Allons! / Allons-nous en! - b) Laisse(z)-nous partir! - c) Allons-y les gars / filles! 58G) a) Π ά μ ε. (páme.) - b) Ας φύγουμε ! (as fígume! ) - c) Πάμε παιδιά ! (páme pediá! ) Neben dem ungrammatischen Satz 58Ea) fallen die Klammern in 58Db) und 58Fb) auf. D-F können immerhin differenzieren zwischen dem wir in 57Da) und dem in 57Dc-e), also dem Ich und Du des aktuellen Dialogs, auch wenn es mehrere Gesprächspartner gibt, und der Einbeziehung der anderen, die zum Sprecher, oder anderen, die zum Hörer gehören. Der Grund dafür ist, gegenüber E, dass die Verbendungen wenigstens noch rudimentär erhalten sind, gegenüber G hingegen, dass es dort zwar ein Verb αφήνω (afíno) ‚lassen‘ gibt, welches aber nicht die Bedeutung von lassen in 58Db haben kann; ας (as) ist eine Partikel, die Nebensätze einleitet. Dass man sich, in einigen Sprachen eindeutig, in anderen weniger eindeutig, für Bedeutung oder Sprache entscheiden muss, haben wir schon öfters gesehen. Bereits antike Grammatiker haben die Entscheidung für die Bedeutung begrifflich gefasst als constructio ad sensum. Aber mit einem neuen Begriff ist es nicht unbedingt getan. 9.5 Konstruktion nach dem Sinn Zu allererst gibt es ein notationelles Problem: 59D) Takis geht zusammen mit Eleni zur Schule. 59G) Ο Τάκης με την Ελένη πηγαίνουν μαζί στο σχολείο. (o Tákis me tin Eléni pijénun mazí sto scholío.) 59D) ist eindeutig: Es gehen zwar zwei Kinder in die Schule, doch das grammatische Subjekt steht im Singular - Eleni geht ja nur mit; der Satz ist vollkommen korrekt. In 59G) gehen dieselben beiden Kinder in die Schule, und es gibt ebenfalls ein grammatisches Subjekt im Singular (Ο Τάκης) , aber das Verb steht trotzdem im Plural, weil es hier nicht auf die Grammatik, sondern auf den Inhalt ankommt. Kann der Satz aber überhaupt grammatisch korrekt sein? Nein, wenn man rein grammatisch urteilt; durchaus aber, wenn akzeptiert wird, dass Grammatik und Bedeutung in Sprache zusammengehören. Streng genommen müsste also ein Stern davor, wie sich das bei ungrammatischen Sätzen gehört, oder doch nicht? Es ist, wie bemerkt, eine rein notationelle Vereinbarung, die übrigens auch regelt, ob vor <?page no="172"?> 172 9 Satzvergleiche / Sätze / Sätzchen den elliptischen Sätzen in 41), aber auch schon früher, ein Stern stehen muss oder nicht. D orientiert sich, was wir schon gesehen haben, eher an der Form, weshalb in D ein Paar Schuhe 149,90 Euro kostet, während dasselbe Paar Schuhe in G sowohl 149,90 Euro κοστίζει (kostízi ‚kostet‘) als auch κοστίζουν (kostízun ‚kosten‘): Das Paar ist Singular, die Schuhe aber Plural. Deutsche, die wenig Ahnung von G haben, verstehen einen Satz wie 60) mit Sicherheit falsch, weil sie nicht wissen, wie viele Menschen in die Disco gehen: 60D) Wir gehen mit Peter in die Disco. 60G) Πάμε με τον Πέτρο στη ντίσκο. (páme me ton Pétro sti dísko.) In G weiß man es auch nicht unbedingt, doch die - gebräuchlichste - Verstehensvariante ist (nach 59G): ‚Ich und Peter gehen in die Disco.‘ - genau zwei Personen, Sprecherin und Peter, und niemand sonst. Ist der obige Satz „Das Paar ist Singular, die Schuhe aber Plural.“ grammatisch? Kriegt er einen Stern oder nicht? Auch D nimmt es nicht immer ganz genau, jedenfalls ist es vielen Sprechern und Schreibern häufig zu umständlich, auf grammatische Richtigkeit zu achten. Selbstverständlich könnte man dafür eindeutige Regeln sehr präzise definieren, doch warum soll man das tun, da niemand, der sprechen lernt und spricht, seine Zeit damit zubringen will (und muss und kann), diese eindeutigen Regeln präzise zu lernen, denn wenn er spricht, spricht er normalerweise mit jemandem, der keine Lust hat, seine Zeit damit zuzubringen, diese eindeutigen Regeln präzise zu lernen usw. Deshalb dieses letzte Beispiel, das in D eigentlich nur diese eine „richtige“ Variante hat: 61D) Weder Takis noch Petros kommt. 61G) Ούτε ο Τάκης ούτε ο Πέτρος έρχονται / έρχεται. (úte o Tákis úte o Pétros érchonte / érchete.) G ist toleranter, aber auch in D wird niemand (es sei denn, er ist Linguist oder Sprachpfleger) die Kommunikation beenden, wenn er den Satz hört Weder Takis noch Petros kommen. Hört sich das nicht auch irgendwie normaler an, da ja immerhin grammatisch zwei Subjekte genannt sind, auch wenn sie sich (weder ... noch ...) gegenseitig ausschließen? Das sind die sogenannten „Zweifelsfälle der deutschen Sprache“ (1,99 € pro Minute). Es ist wunderbar, dass es sie gibt, ansonsten könnte man sich auch mit Zahlen unterhalten und darüber klagen, wo die Menschlichkeit bleibt - mit Zahlen oder mit Hilfe von Zahlen? - was kein Kongruenz- und damit grammatisches Problem ist, sondern eines der Formulierung, des Verstehens, vor allem aber des Verstehenwollens. <?page no="173"?> 10 Schriftlichkeiten In den 80er Jahren fuhr ein Freund von mir mit der Eisenbahn nach Griechenland. In Jugoslawien, das es damals noch gab, meinte ein freundlicher Mitreisender, dem es zu anstrengend war, sich nur mit Händen und Füßen zu verständigen, ihm wenigstens ein paar Worte Serbisch beibringen zu müssen. Er bat um ein Blatt Papier und einen Stift und schrieb darauf sehr angestrengt ein paar Minuten lang. Dann gab er ihm das Blatt zurück mit der Aufforderung vorzulesen, was da stand. Darauf stand (selbstverständlich nicht in dieser sauberen (weil digitalen) Schriftart): 1 2 3 4 5 6 7 8 9 1 0 Ziffern und Zahlen heißen zwar in allen Sprachen anders, doch haben sie die wunderbare Eigenschaft, in fast allen Schriften gleich auszusehen, was ganz einfach daran liegt, dass das so praktisch ist und umgekehrt (merkwürdigerweise gilt das aber nicht für das Arabische, obwohl sie ja bei uns [= D-E-F-G] als arabische Ziffern bekannt sind). Griechen und Römer waren in Zahlen nicht besonders begabt; sie verwendeten Buchstaben als Zahlen, was jede Rechenoperation ziemlich kompliziert machte. Heute läuft praktisch jede schriftliche Kommunikation über Zahlen sieht in Zahlen so aus: 01001000 01100101 01110101 01110100 01100101 00100000 01101100 11000011 10100100 01110101 01100110 01110100 00100000 01110000 01110010 01100001 01101011 01110100 01101001 01110011 01100011 01101000 00100000 01101010 01100101 01100100 01100101 00100000 01110011 01100011 01101000 01110010 01101001 01100110 01110100 01101100 01101001 01100011 01101000 01100101 00100000 01001011 01101111 01101101 01101101 01110101 01101110 01101001 01101011 01100001 01110100 01101001 01101111 01101110 00100000 11000011 10111100 01100010 01100101 01110010 00100000 01011010 01100001 01101000 01101100 01100101 01101110. Dazu reichen lauter Nullen und Einsen, in entsprechender Kombination und Ausführlichkeit, vollkommen aus: Pro Zeichen, auch Leerzeichen (= 00100000, ich habe sie unterstrichen), acht Ziffern = 1 Byte. Zahlen spielen in schriftlicher Kommunikation aber noch eine ganz andere Rolle. Selbstverständlich liegt mir (und dem Verlag) viel daran, dass möglichst viele Menschen dieses Buch lesen. Bei E-Mails ist es mir jedoch lieber, wenn wirklich nur die von mir gewünschte Adressatin erfährt, was ich (ihr! ) zu sagen habe. E- Mails passen, anders als traditionelle Briefe, in keinen Briefumschlag, den man zukleben kann, in dem Vertrauen, dass ihn wirklich nur die von mir gemeinte Adressatin öffnet. Herodot erzählt die schöne Geschichte von Histiaios von Milet, der, von den Persern gefangen, seinem Schwiegersohn Aristagoras eine geheime Botschaft zukommen lassen will: Damit sie tatsächlich geheim bleibt, lässt er seinem treuesten Sklaven den Kopf rasieren, tätowiert die Mitteilung in dessen Kopfhaut, wartet, bis die Haare nachgewachsen sind, und schickt ihn los (Herodot 1961: 5,35). Eine etwas umständliche Methode, die außerdem höchst zeitaufwändig ist, und sobald sie sich einmal herumgesprochen hat, wird niemand mehr seine Frisur behalten dürfen, der in Feindesland unterwegs ist. Heute wird das Problem der <?page no="174"?> 174 10 Schriftlichkeiten Geheimhaltung mit Hilfe von Primzahlen gelöst; dabei wird aber ebenfalls auf Zeit gesetzt: Die heute immer noch verwendete RSA-Verschlüsselung wurde 1977 von Ron Rivest, Adi Shamir und Leonard Adleman erfunden (und nach ihnen benannt), sie arbeitet mit wirklich großen Primzahlen, multipliziert zwei von ihnen miteinander und rechnet damit, dass in absehbarer Zeit kein Computer der Welt die Summe in ihre beiden Faktoren zerlegen kann (Singh 2012: 331ff.). Ein Beispiel: Die Summe 2.077.153.937 ist recht einfach, nämlich das Ergebnis der Multiplikation von zwei nur fünfstelligen Primzahlen: 33.391 und 62.207. RSA arbeitet mit Primzahlen, die mehrere hundert Stellen lang sind. Wie das Verfahren genau funktioniert, muss hier leider nicht interessieren, weil es zu weit von der KL wegführen würde. Wichtig sind jedoch die beiden Tatsachen, dass schriftliche Kommunikation, wenn sie privat bleiben soll, auf Verschlüsselungsverfahren angewiesen ist und dass sie, über PC oder Smartphone, in allen Sprachen der Welt nur mit Hilfe von Zahlen funktionieren kann. Außerdem stehen hinter allen Internetauftritten Zahlen, denn jede Internetseite, deren Name in der URL eingegeben wird, muss über ein Domain Name System (DNS) in eine numerische Adresse aufgelöst werden, die weltweit nur ein einziges Mal vergeben ist. Auf der anderen Seite der Schriftlichkeit, mit der sie überhaupt erst begann, steht aber nicht die Privatheit, sondern die Öffentlichkeit. Als man anfing, Gesprochenes festzuhalten, hatte dies einen sehr spezifischen Sinn. Um zwei Situationen zu nennen, die exemplarisch für den Vorteil öffentlicher Schrift stehen: Der sumerische König - wie auch immer er vor ein paar tausend Jahren hieß - wollte wissen, ob alle seine Untertanen ihre Steuern gezahlt haben, und bei den vielen Untertanen in dem sehr großen Land, das er nach und nach dazuerobert hatte, kam eine rein mündliche Auskunft natürlich nicht mehr in Frage. Die Information musste dauerhaft bleiben - und tatsächlich haben die damaligen Schreiber den sumerischen König nicht enttäuscht: Der König ist zwar lange tot, doch die Steuerlisten sind bis heute erhalten. Jahwe dürfte hingegen weniger zufrieden sein: Die Gesetzestafeln, die er Moses ausgehändigt hat, sind wahrscheinlich ein für allemal verloren. Doch die Idee selbst war genial: Moses kam vom Berg Sinai herunter und hatte wirklich etwas vorzuweisen, keine leeren Worte, sondern in Stein gemeißelt! Wer immer etwas dagegen einwenden wollte: Da steht’s doch! , wie Wagner dann ein paar tausend Jahre später zu Faust sagen wird und alle Gegenargumente blockiert: Schwarz auf Weiß. Jedenfalls für den, der zu lesen verstand. Dass das nicht so ganz richtig ist, weiß man spätestens seit ungefähr 370 vor Chr., als Platon seinen „Phaidros“ schrieb und darin Sokrates sagen lässt: Denn dieses Schlimme hat doch die Schrift, Phaidros, und ist darin ganz eigentlich der Malerei ähnlich; denn auch diese stellt ihre Ausgeburten hin als lebend, wenn man sie aber etwas fragt, so schweigen sie gar ehrwürdig still. Ebenso auch die Schriften: Du könntest glauben, sie sprächen, als verständen sie etwas, fragst du sie aber lernbegierig über das Gesagte, so bezeichnen sie doch nur stets ein und dasselbe. Ist sie aber einmal geschrieben, so schweift auch überall jede Rede gleichermaßen unter denen umher, die sie verstehen, und unter denen, für die sie nicht gehört, und versteht nicht, zu wem sie reden soll und zu wem nicht. Und wird sie beleidigt oder unverdienterweise beschimpft, so bedarf sie immer ihres Vaters Hilfe; denn selbst ist sie weder sich zu schützen noch zu helfen imstande. (Platon 1976: Bd. 4, 56 [275d-275e]) <?page no="175"?> 175 10 Schriftlichkeiten Platon hätte die Meinung seines Lehrers auch auf sich beruhen lassen können. Hat er aber nicht - und seither können er und Sokrates jederzeit und an jedem Ort interpretiert werden. Um hier aber keine Philosophiegeschichte betreiben zu wollen: Zwischen mündlicher und schriftlicher Sprache klafft ein riesiger Abgrund, der theoretisch am sinnvollsten so darzustellen ist: Der Sprecher spricht mit einem Hörer, und der Hörer hat jedes Recht, selbst zu sprechen und den Sprecher als Hörer in Anspruch zu nehmen - dass es allerdings nicht so formal abläuft, weiß jeder, sondern man redet, plaudert, quatscht, klönt usw. einfach miteinander. Sobald aber Schrift ins Spiel kommt, sieht es völlig anders aus: Ich sitze zuhause im Angesicht meines Computers und sehe sehr genau, was ich schreibe, aber keinen einzigen Leser - und Sie, die ich nicht kenne, lesen, wenn Sie wollen, Wort für Wort, aber sehen und kennen mich auch nicht. Schriftliche und mündliche Kommunikation beruhen auf zwei völlig verschie denen Modellen. Nicht nur gibt es in schriftlicher Kommunikation nur Schrift und nichts, was sich nicht mit Schrift machen ließe, sondern schriftliche Kommunikation ist vor allem eine strikt zweiteilige Kommunikation: Die eine geschieht zwischen dem Autor und seinem Text, die andere zwischen dem Leser und seinem Text. Ich will hier nicht darüber streiten, ob es sich dabei um ein und denselben Text handelt. Doch sollte der Autor, und zwar vor allem, aber nicht nur, der Autor öffentlicher Texte alle Voraussetzungen dafür schaffen, dass der Leser den Text so versteht, wie er (der Autor) ihn gemeint hat, und zwar eindeutig und, nicht nur aus Gründen der Freundlichkeit, möglichst rasch und unproblematisch so verstehen kann (grundlegend dazu: Koch/ Oesterreicher 1985). Das Fundament deutscher bürgerlicher Bildung im 19. Jh. bestand im Altgriechisch- und Lateinunterricht. Was im humanistischen Gymnasium gelehrt und gelernt wurde, war schriftliche Sprache, und Homer und vor allem Ciceros Sätze gaben einem auch genug Rätsel auf, die erst mal geknackt werden mussten. Mit Kommunikation hatte das nichts zu tun: Altgriechisch wurde (nach dem Altertum) niemals gesprochen, L nur noch in der Kirche und noch eine Weile an der Universität. Heutiger D-E-F-G- (und anderer Fremdsprachen-)Unterricht ist ganz anders. Indem Kommunikation gelehrt wird, wird zunächst Mündlichkeit gelehrt, Hörverstehen und mündlicher Ausdruck, damit man sich miteinander unterhalten kann; Produktion und Rezeption schriftlicher Texte stehen heute erst an zweiter Stelle. So überholt der „humanistische“ Ansatz ist, so sehr ist auch der auf mündliche Kommunikation konzentrierte Fremdsprachenunterricht zu hinterfragen: Die 12jährige Elpida lebt in Thessaloniki und begegnet in ihrem Alltag nie einem Deutschen, Engländer oder Franzosen, mit dem sie Interesse haben könnte, sich zu unterhalten. Dennoch lernt sie als erstes, sich ihnen (mündlich) vorzustellen, mit Namen, Alter, Herkunft, Hobbys, Haustieren und Lieblingsurlaubsort. fast gleichzeitig sitzt sie stundenlang am Computer und bräuchte nur ein paar Mal zu klicken, um deutsche, englische, französische Seiten lesen zu können, oder um über soziale Netzwerke stundenlang mit deutschen, englischen oder französischen Kindern zu chatten. Einerseits steht eine unüberschaubare Anzahl öffentlicher Texte zu weltweiter Verfügung, andererseits kann man aber auch „persönlich“ bis sehr intim begegnen, wem man will (oder besser nicht). <?page no="176"?> 176 10 Schriftlichkeiten Damit sind auf verschiedenen Ebenen die beiden Pole schriftlicher Kommunikation genannt, um die es in diesem Kapitel - nach ausführlicher Einleitung - gehen wird. 10.1 Globalisierte Schriftlichkeit standardisiert Irgendwo habe ich einmal gelesen, dass Karin Tietze-Ludwig, zwischen 1967 und 1998 die „Lottofee“ in der ARD, am meisten Heiratsanträge aller jemals gelebt habenden deutschen Frauen erhalten habe. Viele Männer scheinen offenbar der Meinung gewesen zu sein, dass sie sich höchstselbst die Lottozahlen ausdenkt und aufschreibt, und mit dem entsprechenden männlichen Charme an ihrer Seite würde sie sich auch genau die Zahlen ausdenken und aufschreiben, die der Mann in der Woche zuvor getippt hatte. - Irgendjemand muss Texte machen, weil Texte einen Autor haben, ist die landläufige Meinung. Neuerdings ist die Frage nach dem Autor aber nicht mehr selbstverständlich zu beantworten. Ein Busfahrplan wird von dem Träger des öffentlichen Nahverkehrs geschrieben; meine Hauptsache ist, dass der Bus auch tatsächlich pünktlich ist. Einen Busfahrplan zu lesen, ist eine relativ spezielle (aber nicht allzu schwierige) Herausforderung; der Plan besteht aus einer Tabelle mit einigen Anmerkungen, in denen wahrscheinlich die Gültigkeitsdauer und einige Ausnahmen (für Feiertage oder Schulferien) stehen. Das ist möglicherweise in sehr vielen Ländern so. In Athen gibt es solche Busfahrpläne aber nur an den Ausgangsstationen, und erheblich vergröbert, und auch darauf ist kein Verlass. Kein Wunder, da das Verkehrschaos im Laufe eines Tages seine zeitlichen Spuren hinterlässt. Doch auch bei der Metro, wo eigentlich gar nichts chaotisch zugeht, gibt es keine verlässlichen Fahrpläne, sondern - wie auch an anderen Metro-, Bus-, Straßen- und U-Bahnstrecken möglicherweise weltweit - eine elektronische Anzeige, deren Zeitausgabe durch Infrarotsender oder GPS-Informationen ausgelöst wird. Wer ist der Autor dieser Texte? Das ist eine Humboldt-Frage. Die angemessenere Frage lautet hingegen: Wie kann man einen Text so verfassen, dass er für möglichst alle potentiellen Leser verständlich und hilfreich ist? Es gibt einige Weltausschnitte, denen eine Ordnung inhärent ist, z.B. eben die Abfahrtszeit von Bussen. Niemandem irgendwo auf der Welt ist damit gedient, zu erfahren, dass der nächste Bus blau oder grün ist, dass Herr Ming oder Frau Schulze am Steuer sitzt oder welche Buchstaben und Zahlen auf dem Nummernschild stehen. Kulturelle Wirklichkeit wird zunehmend standardisiert, was mit verschiedenen Faktoren zusammenhängt, zu denen weltweite Mobilität gehört, vor allem aber die Normierung der Schnittstelle zwischen Individuum und Öffentlichkeit. Letztlich hängt es daran, ob etwas praktisch ist, d.h. unkompliziert, oder nicht. Das Ganze ist - mal wieder - eine Frage der Energieersparnis, und die Rechnung ist sehr einfach: Eine sinnvoll eingesetzte Lichtschranke oder ein ausgetüfteltes GPS-System verursacht dem Produzenten (dem Betreiber des öffentlichen Nahverkehrs) einige Kosten, doch alle Rezipienten (alle ÖNV-Nutzer) profitieren dann fast kostenlos davon. Als Schriftlichkeit erfunden wurde, und noch bis vor wenige Jahrzehnte, war das Verhältnis ganz anders. Vor vielen Jahren habe ich mich einmal aus meiner <?page no="177"?> 177 10.1 Globalisierte Schriftlichkeit standardisiert Wohnung ausgesperrt und notwendigerweise einen Schlüsseldienst angerufen. Ein Herr kam, öffnete in ca. 10 Sekunden meine Wohnungstür und bekam dafür 120 (in Worten: einhundertundzwanzig) DM. Ich fragte ihn, wie er das gemacht habe, und er machte mir klar, dass er mir das natürlich nicht verrate, weil er sonst nichts mehr verdiene. Genau so funktionierte frühe Schriftlichkeit: Wer lesen und schreiben konnte, ließ sich selbstverständlich dafür bezahlen, ebenso wie ein Bauer für sein Getreide bezahlt wurde, ein Müller für sein Mehl, ein Bäcker für sein Brot, und auch ein Türöffner für sein Türöffnen. Heute ist Lesen und Schreiben glücklicherweise so gut wie kostenlos, und schriftliche Kommunikation wird durch spezifische Sachverhalte bestimmt, die immer weniger mit konkreter Kultur zu tun haben, sondern mit Schriftlichkeit als solcher: In allen schriftlichen Kulturen sehen Busfahrpläne, Börsenkurse, Sportergebnisse, Wetterberichte, Sonderangebote usw. mehr oder weniger gleich aus, weil die Informationsbedürfnisse von Menschen, die den öffentlichen Nahverkehr verwenden, von Aktienbesitzern, Sportinteressierten usw. in allen Sprachen und Kulturen dieselben sind; Abbildungen von entsprechenden Texten kann ich mir daher sparen. Umgekehrt: Zeitungen, Nachrichtenseiten im Internet usw. tun gut daran, ihren möglichen Lesern mit größtmöglicher Freundlichkeit zu begegnen. Wer den Lesern Steine in den Weg legt, hat sie (nicht die Steine) schon verloren, da andere Portale genauso kostenlos sind. Und wer meint, mit journalistischer Aufrichtigkeit oder Verlässlichkeit argumentieren zu müssen, hat es mit Gesprächspartnern bzw. Lesern mindestens über 2000 Euro netto monatlich zu tun, was aber nichts mit Sprache zu tun hat. Bücher und Zeitungen kosten Geld, das Internet aber ist kostenlos - nach Bezahlung der Flatrate. Zur Globalisierung der Schriftlichkeit gehört aber nicht nur die Vereinheitlichung von Textmustern, sondern auch eine weltweit funktionierende Übersetzungstechnologie. Damit wird sich das nächste Kapitel befassen; hier geht es jetzt um die Texte selbst, genauer: um einen einzigen, allerdings sehr prominenten. Auf der Internetseite der Vereinten Nationen gibt es (am 04.08.15) 443 (am 09.01.16 erfreulicherweise 466) Übersetzungen der Resolution 217 A (III) vom 10.12.1948, das ist die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ (ohchr.org). In allen Sprachen sind es dieselben Menschenrechte, die jeweiligen Formulierungen haben nichts mit persönlichen Interpretationen zu tun wie etwa bei der Übersetzung literarischer Texte. Auch kommt es hier nicht auf sprachliche Eleganz an, sondern allein auf den Inhalt. Ich beschränke mich wieder auf D-E-F-G und gebe erst ein paar formale und statistische Informationen, im Anschluss konzentriere ich mich auf ganz wenige Einzelheiten: D E F G Überschrift Präambel Preamble Préambule Π ΡΟΟΙΜΙΟ (proímio) Umfang 30 Artikel 30 Articles 30 Articles 30 ΑΡ Θ ΡΑ (árthra) Wörter 1664 1773 1968 1933 Zeichen mL 11862 10601 11855 12370 Buchstaben 10288 8919 9977 10527 Buchstaben/ Wort 6,18 5,03 5,07 5,45 Tab. 36: Die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ in ein paar Zahlen <?page no="178"?> 178 10 Schriftlichkeiten F hat immerhin 304 Wörter mehr als D, das sind 18,2%, doch ist die Zahl der Zeichen mL (= mit Leerzeichen) in D-F ziemlich genau gleich, während G bei weitem am meisten Zeichen hat, z.B. 16,7% mehr als E. Bei der Wortlänge liegt hingegen D signifikant vorne, 19% vor E. - Sagen diese Zahlen etwas aus? Ein wenig über die Sprachstruktur (vgl. Kap. 4 zu D und G), ansonsten bräuchte man aber viel längere Texte, um etwas Belastbares über die Sprachen aussagen zu können. So beträgt die „mittlere Länge der etwa 135.000 Wörter im Rechtschreibduden [...] 10,6 Buchstaben (Duden 2009)“ (Müller 2013: 32). Die Differenz zu den 6,18 Buchstaben/ Wort dürfte sich allerdings auch damit erklären lassen, dass der Rechtschreibduden dabei helfen will, schwierige Wörter richtig zu schreiben, und schwierige Wörter sind (gerade in D) lange Wörter, zumal die letzte Rechtschreibreform Getrennt- und Zusammenschreibung mit Tendenz zur Zusammenschreibung neu geordnet hat. Umso erfreulicher, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte - Universal Declaration of Human Rights - Déclaration universelle des droits de l’homme - ΟΙΚΟΥΜΕΝΙΚΗ ΔΙΑΚΗΡΥΞΗ ΓΙΑ ΤΑ ΑΝΘΡΩΠΙΝΑ ΔΙΚΑΙΩΜΑΤΑ (ikumenikí diakíriksi ja ta anthrópina dikeómata) offenbar in D-E-F-G auf (linguistisch) schwierige Wörter verzichtet. Die Präambel beginnt mit sieben Kausalsätzen (Da/ da ... - Whereas ... - Considérant que ... - Επειδή [epidí] ...), in denen begründet wird, warum die Generalversammlung die Erklärung verkündet. Das hört sich feierlich an und sieht auch feierlich aus, zumal in E-F-G, wo alle Kausalsätze mit einem Großbuchstaben beginnen, obwohl sie in E-F auch alle mit einem Komma enden; G schreibt den Namen der Organisation komplett in Majuskeln ( Η ΓΕΝΙΚΗ ΣΥΝΕΛΕΥΣΗ [i jenikí sinélefsi]) ebenso wie die Artikelüberschriften. Offenbar geht es doch auch um ein wenig Eleganz, aber auch um Abwechslung. Auf die Gefahr hin, dass es jetzt wieder ein bisschen langweilig wird: Die Subjekte der meisten Artikel sind Menschen oder Keine Menschen. Art. 1 beginnt feierlich mit Alle Menschen - All human beings - Tous les êtres humains - 'Ολοι οι άνθρωποι (óli i ánthropi); auch Art. 7 und 20 beginnen mit Alle Menschen und ein zweiter Satz in 7 mit Alle, in E aber mit All und Everyone, in F mit Tous und Toute personne und in G mit 'Ολοι (óli) und Καθένας (kathénas). Im Si. entsprechen sich Jeder - Everyone - Chacun - Κάθε άνθρωπος (2), Jeder - Everyone - Tout individu - Κάθε άτομο (káthe átomo) (3), und um weiter nur die weiteren Varianten zu nennen: Tout individu, L’individu, Το άτομο , während dem deutschen Niemand durchgehend No one, Nul und Κ α νείς (kanís) entsprechen. Sind die unterschiedlichen Subjekte irgendwie zu erklären? Ich wähle zwei Artikel, zunächst 15: 62D) Jeder hat das Recht auf eine Staatsangehörigkeit. 62E) Everyone has the right to a nationality. 62F) Tout individu a droit à une nationalité. 62G) Καθένας έχει το δικαίωμα μιας ιθαγένειας. (kathénas échi to dikéoma mias ithajénias.) Um das zunächst noch einmal nebenbei zu bemerken: Die Sätze in den vier Sprachen sehen aus, als wären es Interlinearversionen, mit Ausnahme des Genitivs μιας ιθαγένειας in G. D und G müssen, was das grammatische Geschlecht angeht, Farbe bekennen - 1948 gab es noch keine feministischen Doppelformeln. E ist, wie gerade schon gesehen, ebenso monoton wie D, während F einen bewussten Gegen- <?page no="179"?> 179 10.1 Globalisierte Schriftlichkeit standardisiert satz zwischen Individuum und Nation formuliert. Dass das kein Zufall ist, zeigt Art. 19, in dem es um la liberté d’opinion et d’expression geht, und ganz deutlich Art. 29, wo auch G den Gegensatz aufnimmt: 63D) Jeder hat Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, ... 63E) Everyone has duties to the community ... 63F) L’individu a des devoirs envers la communauté ... 63G) Το άτομο έχει καθήκοντα απέναντι στην κοινότητα, ... (to átomo échi kathíkonda apénandi stin kinótita, ...) Man könnte noch auf viele kleine Auffälligkeiten hinweisen; nur noch zwei davon: Art. 20, wo nur in D Alle Menschen das Recht haben, sich zu versammeln, da es ja ganz sinnvoll ist, bei Versammlungen von Menschen im Plural zu sprechen; die anderen Subjekte sind: Everyone - Toute personne - Καθένας (kathénas), alle im Singular; und das Ende der Präambel: Dort steht zunächst, dass alle[n] Völker[n] und Nationen - all peoples and all nations - tous les peuples et toutes les nations - όλοι οι λαοί και όλα τα έθνη (óli i laí ke óla ta éthni) auf das Ideal der Menschenrechte verpflichtet werden sowie dazu, deren Anerkennung und Einhaltung zu gewährleisten, 64D) durch die Bevölkerung der Mitgliedstaaten selbst wie auch durch die Bevölkerung der ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Gebiete 64E) both among the peoples of Member States themselves and among the peoples of territories under their jurisdiction 64F) parmi les populations des Etats Membres eux-mêmes que parmi celles des territoires placés sous leur juridiction 64G) τόσο ανάμεσα στους λαούς των ίδιων των κρατών μελών όσο και ανάμεσα στους πληθυσμούς χωρών που βρίσκονται στη δικαιοδοσία τους (tóso anámesa stus laús ton ídion ton kratón melón óso ke anámesa stus plithizmús chorón pu vrískonte sti dikeodosía tus) Die deutsche Version vermeidet das in den Jahrzehnten zuvor nationalsozialistisch aufgeladene Wortfeld Volk; es steht nur in Art. 21,3, in ausdrücklich demokratischem Kontext: „Der Wille des Volkes bildet die Grundlage für die Autorität der öffentlichen Gewalt; dieser Wille muß durch regelmäßige, unverfälschte, allgemeine und gleiche Wahlen mit geheimer Stimmabgabe oder in einem gleichwertigen freien Wahlverfahren zum Ausdruck kommen.“ E hat kein Problem damit, während F ganz rational vorgeht, wie in der Schule gelernt, und die Wiederholung des Ausdrucks vermeidet, aber nur G differenziert in ‚Völker‘ und ‚Bevölkerungen‘. Kann man daraus irgendwelche Schlüsse ziehen? Außer dem deutschen: Nein. Es kommt immer wieder vor, dass die denotative Bedeutung konnotativ verdrängt wird: Das deutsche „Wörterbuch des Unmenschen“ (Sternberger/ Storz/ Süskind 1985) ist besonders und in einzigartiger Weise lang und aufschlussreich, was hier aber nicht dargelegt werden muss. Es lohnt sich allerdings der Hinweis darauf, dass - und da hatte Humboldt durchaus Recht - in unterschiedlichen Sprachen unterschiedlich gedacht wird, aber nicht besser oder schlechter, komplexer oder primitiver, sondern jeweils mit oder immerhin flankiert von unterschiedlichen historischen oder gesellschaftlichen Konnotationen. Hier wirkt auch die Tatsache, dass Schrift nicht so schnell vergänglich ist, und das war ja einer der Gründe, warum ich hier die Erklärung der Menschenrechte diskutiert habe: Man sollte sich auf sie verlassen können und nicht dem Risiko ausgesetzt sein, einer Übersetzungsungenauigkeit oder nur einem Versehen aufzu- <?page no="180"?> 180 10 Schriftlichkeiten sitzen. Schriftlichkeit muss belastbar sein, eben weil dem Autor bewusst sein muss, dass der Leser mit dem Text allein ist. Dass es dennoch Verfassungsauslegungen und Verfassungsgerichte gibt, die über Einzelfälle entscheiden, widerspricht dem keineswegs. Als ein anderes Beispiel hätte ich Kochrezepte wählen können, aber das kann jetzt nur noch kurz angedeutet werden. Die D-E-F-G-Internetseiten der entsprechenden Portale sehen fast alle gleich aus: Da gibt es eine Zutatenliste und einen Anweisungstext, mit Portionsangabe, dazu in den meisten Fällen den Namen (oder Nickname) der Autorin oder des Autors, Fotos und Kommentare. Ich wähle ein griechisches Nationalgericht (Pastitsio), das (wie auch die italienische Lasagne und Dutzende andere ehemaligen Nationalgerichte) mittlerweile in ganz Europa verbreitet ist. Die einzelnen Komponenten einer so hochkomplexen Mahlzeit wie Pastitsio lassen sich in unterschiedlicher Reihenfolge zubereiten, worum es hier aber nicht geht; ich nehme nur vier zueinanderpassende Sätze und unterstreiche die Verben, auf die es ankommt: 65D) Hackfleisch anbraten, Zwiebel- und Tomatenwürfel, Tomatenmark und Knoblauch dazugeben. (chefkoch.de) 65E) Heat olive oil in a large saute pan. Add ground beef and cook over medium-high heat until pink color disappears, about 5 minutes. Add onions and cook until they are translucent, about 5 minutes more. (greekfood.about.com) 65F) Hacher les oignons, les faire revenir dans une sauteuse dans un peu d’huile. Ajouter la viande hachée émiettée, cuire, ajouter le coulis de tomate, saler, poivrer, ajouter la cannelle et le bouillon. (750g.com) 65G) Σε πλασοτέ κατσαρόλα ζεσταίνουμε το ελαιόλαδο και σοτάρουμε τον κιμά απλώνοντάς τον με κουτάλα. (se plasoté katsaróla zesténume to eleólado ke sotárume ton kimá aplónondás ton me kutála) (argiro.gr) Das eine Rezept mag ausführlicher sein als das andere, aber alle funktionieren gleich: In D-E-F haben sich Infinitive als (schriftliche, weil anonyme) Appellativform durchgesetzt, in G ist das nicht möglich, weshalb entweder der Pluralis auctoris verwendet wird (eine Autor und Leser inkludierende wir-Verwendung; Kap. 9.4) oder als unmittelbare Aufforderung die 2. Si.; in anonymen öffentlichen Texten ist die erste Variante gebräuchlicher. Selbstverständlich sind alle Rezepte deshalb ähnlich, weil das „Pastitsio-Kochskript“ überall ähnlich ist, da das Ergebnis überall (einigermaßen) dasselbe sein sollte. Es gibt überall Varianten (in einem griechischen Rezept werden zwei große Tassen Öl vorgeschlagen - das kriegt man woanders auch mit zwei Esslöffeln hin). Allerdings gilt das nur in Gesellschaften mit demokratischer Öffentlichkeit, für die auch das Internet steht: Starkochs bereiten zwar allerhand im Fernsehen zu, doch kein Nachkocher erhält, weil er einem solchen Rezept folgt, einen Stern. Und vor der Standardisierung öffentlicher, d.h. in diesem Beispiel schriftlicher Kommunikation kochte man ohnehin nach Gefühl. 10.2 Globalisierte Schriftlichkeit privat Mit der Globalisierung und Standardisierung schriftlicher Textsorten einher geht ein hohes Maß an Individualisierung, was aber nur scheinbar ein Gegensatz ist. Diese Individualisierung wird nämlich tatsächlich systematisch eingeschränkt. In <?page no="181"?> 181 10.2 Globalisierte Schriftlichkeit privat sogenannten RFCs (Requests for Comments), die einfach nach ihrem Erscheinen durchnummeriert sind, werden sukzessive Standards für Internetauftritte und über das Internet verlaufende Kommunikation geschaffen, die zwar nicht verbindlich sind, die aber, als vernünftig und nachvollziehbar eingesehen, sinnvollerweise befolgt und damit etabliert werden, und zwar international. Die Notwendigkeit solcher hoch formalisierter Regeln ergibt sich daraus, dass ganz unterschiedliche Kulturen, Sprachen, Nationen, Gewohnheiten und Individuen sich anonym begegnen (können), die in den meisten Fällen nichts voneinander wissen. Dabei kommt es auch zu einem höchst umfassenden Sprachkontakt, wobei zwar in absehbarer Zeit nicht damit zu rechnen ist, dass sich sprachliche Unterschiede aufheben, sehr wohl jedoch kommunikative Unterschiede. Außerdem verlieren in zunehmendem Maß kleine Sprachen ihre Bedeutung. Schon im Oktober 1995 formulierte RFC 1855: Remember that the recipient is a human being whose culture, language, and humor have different points of reference from your own. Remember that date formats, measurements, and idioms may not travel well. Be especially careful with sarcasm. (tools.ietf.org) (Anders als für die Erklärung der Menschenrechte gibt es keine offizielle Übersetzung, da die Sprache des Internets nun mal E ist.) In den letzten 20 Jahren hat sich viel getan: Einerseits gibt es unzählige Meinungsseiten, z.B. auf Internetauftritten von Nachrichtenportalen, andererseits gibt es einen gewissen Höhepunkt in anonymer Zusammenarbeit auf Wiki-Seiten, an deren Erstellung jeder relativ problemlos mitarbeiten kann. Derartige Seiten sind in der Regel einsprachig eingerichtet, aus dem einfachen Grund, dass es in allen Internet-Verkehrssprachen relativ unüberschaubare Angebote gibt und persönliche Meinungen einen sehr engen Kommunikations- und Interessenshorizont haben. Nur ein Beispiel: Wenn in der deutschen Öffentlichkeit über Finanzhilfen für Griechenland diskutiert wird, tauchen selbstverständlich in den Medien Berichte über die faulen Griechen auf, und selbstverständlich fühlen sich einige Leute bemüßigt, nicht nur alles besser zu wissen, sondern auch andere in Foren belehren zu müssen, ohne zu bemerken, dass sie nicht am heimischen Stammtisch sitzen, und umgekehrt gilt das selbstverständlich auch, allerdings sind an griechischen Stammtischen die Deutschen eher herzlos. Dieses grundlegenden Unterschieds muss man sich klar bewusst sein: Die Kumpels im Wirtshaus kennen mich und haben ebenfalls einen harten Tag hinter sich und ein Bier (oder das fünfte) in der Hand; die im Internet hingegen: keine Ahnung. Und man weiß nicht einmal, ob das, was jemand im Internet veröffentlicht hat, auch wirklich gelesen oder nur überflogen und (komplett miss-)verstanden wird. (Dass es mittlerweile ganz andere Themen gibt, über die man Ähnliches schreiben könnte, liegt selbstverständlich daran, dass es selbstverständlich immer ganz andere Themen gibt und geben wird.) Um die meisten der oben gemeinten Seiten wird man eher einen Bogen machen, zumal die Zeit gar nicht ausreicht, sie alle zu besuchen und zu lesen, und man wird sich derartige Subjektivitäten von Leuten, die man gar nicht kennt, nicht auch noch in anderen Sprachen antun wollen. Dieser Aspekt hat mit KL zwar nur am Rande zu tun, allerdings ergeben sich daraus ungeheure Konsequenzen. Es geht um einen fundamentalen Wechsel der Kommunikationsgewohnheiten von der <?page no="182"?> 182 10 Schriftlichkeiten Nähe in die Ferne, von der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit, von der Vertrautheit zur Anonymität, und damit auch von der Körperlichkeit zur Virtualität, von der Gleichzeitigkeit zur Nachzeitigkeit. Man kann gespannt sein, welchen Einfluss all das auf die Sprache haben wird. Damit bin ich bei der ganz privaten Kommunikation über Handys, Smartphones und im Internet. D-E-F-G-Unterricht, der kein Fremdsprachenunterricht ist, lehrt auch die Anfertigung von Texten: Aufsätze aller Art, Nacherzählungen und Inhaltsangaben, Bildbeschreibungen, Erörterungen usw. All das ist für Pädagogen wahrscheinlich sehr interessant, weil sie gelernt haben, dass es interessant ist - die meisten SchülerInnen finden es sterbenslangweilig, zumal sie eine mehr oder wenige vage Ahnung davon haben, dass sie ihr Leben lang nie wieder Aufsätze irgendwelcher Art, ..., schreiben werden, ob sie Handwerker oder Physiker oder Ingenieure oder Pilot ... sein werden, es sei denn, sie lernen einen Beruf wie den, in dem sie solche Bücher schreiben wie dieses. Die Erfindung der Schrift ist eine fantastische Sache gewesen. Tatsache ist aber, dass - bis vor kurzem - kaum jemand, der in der Schule schreiben gelernt hat, auch wirklich jemals etwas außerhalb der Schule schrieb, seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts wahrscheinlich höchstens mal eine Postkarte aus dem Urlaub an die Oma, die eine ganz andere Sprache sprach; auch für diese Postkarten gab es auch damals schon einen gewissen Standard. Mittlerweile hat sich das Schreibmaterial geändert: Kein Kugelschreiber, kein Papier, sondern ein paar Finger und ein Touchscreen, auf dem eine Tastatur abgebildet ist, oder ein PC mit Bildschirm und Tastatur. Das hat folgenden Vorteil: Die Schrift - Times New Roman, Arial, ..., anders als die Handschrift, die beim Schönschreiben in der Schule trainiert wurde - ist eindeutig, nämlich digital. Und folgenden Nachteil: Man muss bei den kleinen Bildschirmen der Smartphones treffsicher sein und bei Handys ziemlich viele Tasten drücken. Das hat zur Folge, in allen Sprachen, in denen solche Kommunikationen stattfinden, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass kein Lehrer und keine Lehrerin auf irgendeine Dimension sprachlicher Richtigkeit oder Eleganz achtet: Die Botschaft muss möglichst kurz und trotzdem eindeutig sein, denn je länger, desto aufwändiger und teurer. Mir liegt nur daran, dass ein anderer mich versteht, und wenn doch nicht, sollte ich sehr rasch in der Lage sind, das Nichtverstehen oder Missverstehen zurechtzurücken. Und wenn das doch nicht geht, kann ich immer noch auf sogenannte Emoticons ausweichen: Zwischen „war doch nicht so gemeint! “ und „leck mich! “ Einzelsprachliche Formulierungen sind dabei nicht mal vorgesehen, sondern das Ganze funktioniert konzeptionell international. Darin spiegelt sich die Entstehung einer internationalen Kultur, die programmatisch schriftlich ist. Es geschieht hier zweierlei: Die Alphabetschrift wird ergänzt durch ideografische Schriftzeichen, und auch andere ideografische oder logografische Schriftsysteme werden dadurch erweitert. Natürlich endet das Ganze nicht bei Ikea, auf dessen Aufbauanleitungen nur noch der Name der Firma und der des Schranks stehen, ein paar Wörter bleiben notwendig, es sei denn, man fasst sie - ebenfalls mehr oder weniger international - zu Floskeln zusammen, was man ja auch schon früher gemacht hat: ff., mfg, LG und jetzt halt 4u, BB und lol. <?page no="183"?> 11 Übersetzen 11.1 Was muss man wissen ... Zu Beginn des 20. Jhs. erschien in München ein Buch des bayrischen Volksschriftstellers Ludwig Thoma mit dem Titel „Jozef Filsers Briefwexel“. Darin macht sich der Autor in unbeholfenem Bayrisch lustig über die aktuellen politischen Zustände im Land. In den 70er Jahren griff die Süddeutsche Zeitung dieses Genre auf und veröffentlichte sogenannte „Filserbriefe“; in grauenhaftem Englisch schrieb „Your true Gisela“ Briefe über tagesaktuelle Themen. Ein kleines Beispiel - dabei geht es um die Volkszählung, die für das Jahr 1981 geplant war, wegen gesetzgeberischer Pannen, einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1983 und zahlreicher Bürgerproteste aber erst 1987 stattfinden konnte. Dear Peter, the May is come, the trees knock out. Now is it here in all mouths: Everybody in this our land must be counted and outfill an asking-bow. I have so an unwell feeling thereby but my aunt Lissy says always: Onstandy people have nothing gohome to hold. But all the terrorists, the light-shy gesindle and other criminal elements must also now colour confess. All have namely ontogive, who their workgiver is - with full address, so this can light be overproved. And then will we yes see. (Daum 1992: 58) 1 Das geht auch andersherum: Kostspielige Gisela, fürgebe mich, daß ich für so lange nicht in Berührung war, aber spätlich bin ich auf zu den Augenbällen in Arbeit gewesen. In Addition war ich für eine Weile flach auf meinem Rücken mit einer bösen Kälte. Die Grippe tat die Runden in der ganzen Kompanie und für Wochen schienen die Leute ihre meiste Zeit beim Blasen ihrer Nase zu spendieren. Es war genug, Dich die Wand hinaufzutreiben. Dank Güte ist das jetzt alles über und Dinge sind zurück zu normal. (Daum 1992: 56) 2 Was muss man von einer Sprache wissen, wenn man (sinnvoll und verständlich) übersetzen will? Zunächst und vor allem Banalitäten: a) dass jede Sprache einen Wortschatz hat, aber jede Sprache ihren eigenen; b) dass jede Sprache eine Grammatik hat, aber jede Sprache ihre eigene. Und bevor man übersetzt, muss man sich darüber im Klaren sein, 1) was man übersetzt, 2) für wen man übersetzt und 3) warum man übersetzt. Und die Antworten hängen verständlicherweise sehr eng zusammen. 1 In korrektem Englisch heißt das: Dear Peter, May has come, the trees are budding. There is only one topic of conversation here: Everybody in this land of ours will have to be counted and will have to fill in a questionnaire. I have an uneasy feeling about it, but my aunt Lizzy always says: Honest people have nothing to hide. But all the terrorists, the shady riff-raff and other criminal elements will also have to make a clean breast of it. Because everybody will have to indicate their employer, with full address, so that it can be easily checked. And then we’ll see, won’t we? (Daum 1992: 105) 2 Dear Gisela, Forgive me for not being in touch for so long, but lately I’ve been up to the eyeballs in work. In addition I was flat on my back for a while with a nasty cold. The flue was doing the rounds in the whole company and for weeks people seemed to spend most of their time blowing their noses. It was enough to drive you up the wall. Thank goodness that's all over now and things are back to normal. (Daum 1992: 103) <?page no="184"?> 184 11 Übersetzen 1) Was? Die einfachste Antwort ist zugleich die problematischste: Einen Text. Was ist ein Text? Was macht etwas zu einem Text? Und worin bestehen die Unterschiede zwischen einem Text in der Ausgangssprache und einem Text in der Zielsprache? Gibt es allgemeine Textmerkmale oder sind sie einzelsprachlich je anders? In D-E-F-G ist die Standardisierung öffentlicher Texte so weit fortgeschritten, dass es in ihrem Äußeren kaum noch Unterschiede gibt, mit kleinen Ausnahmen; z.B. wird das Datum in Europa nach dem Format „Tag Monat Jahr“ geschrieben, im amerikanischen E jedoch im Format „Monat Tag Jahr“. In der EU gibt es zurzeit 24 Amtssprachen, in denen alle Dokumente der EU veröffentlicht werden müssen. Da leuchtet ein, dass Verwaltungssprache in hohem Maße normiert ist. Um die Banalitäten a) und b) aufzugreifen: Für jeden Vorgang, jedes Ereignis, jede Maßnahme gibt es in jeder Sprache genau ein Wort, das diesen Vorgang, dieses Ereignis, diese Maßnahme exakt benennt. Der Wortschatz ist nicht nur überschaubar, sondern es gibt zwischen allen 24 Sprachen eindeutige Wortgleichungen. Noch mal zu den Kühen aus Kap. 6: Alle Biologen haben sich auf die (nach-)Linnésche Klassifizierung geeinigt, die überall dieselbe ist, festgelegt auf eine einzige Sprache, nämlich L: Ein Übersetzungsproblem kann es hier nicht geben, Bos primigenius taurus kann in D weiterhin Hausrind, Rind oder Kuh bleiben, und für alle anderen Sprachen der Welt (in deren Welt es Kühe gibt) gilt dasselbe. Die europäische und internationale Politik und Verwaltung hingegen hat sich nicht auf eine einzige Sprache geeinigt, sondern auf jeweils eindeutige Übersetzungsgleichungen, die für alle (beteiligten) Sprachen gelten und gelten müssen, weil es sonst eine in ihren politischen und verwaltungstechnischen Folgen katastrophale Verwirrung gäbe. Zudem besteht die Syntax dieser Sprachen aus einer sehr begrenzten Anzahl an Satzmustern; mit Alltagssprache(n) hat das nicht viel zu tun. Als Beispiel nur der Titel des Dokuments JOC_2015_289_R_0006 der EU vom 04.09.2015 (eur-lex. europa.eu); eine interlineare Darstellung spare ich mir, die Versionen unter „GÜ“ dienen am Ende dieses Kap. 11.1 als Überleitung zu Kap. 11.2: 66D) Zusammenfassung der Stellungnahme des Europäischen Datenschutzbeauftragten zum Abkommen zwischen der EU und der Schweiz über den automatischen Austausch von steuerlichen Informationen GÜ Zusammenfassung der Stellungnahme des Europäischen Datenschutzbeauftragten zu der EU und der Schweiz Vereinbarungen über den automatischen Austausch von Steuerinformationen 66E) Executive summary of the Opinion of the European Data Protection Supervisor on the EU-Switzerland agreements on the automatic exchange of tax information 66F) Résumé de l’avis du contrôleur européen de la protection des données sur l’accord entre l’UE et la Suisse sur l’échange automatique d’informations fiscales GÜ Résumé de l’avis du contrôleur européen de la protection des données sur les accords UE-Suisse sur l’échange automatique d’informations fiscales 66G) Περίληψη της γνωμοδότησης του Ευρωπαίου Επόπτη Προστασίας Δεδομένων σχετικά με τις συμφωνίες μεταξύ της ΕΕ και της Ελβετίας για την αυτόματη ανταλλαγή φορολογικών πληροφοριών (perílipsi tis gnomodótisis tu Evropéu Epópti Prostasías Dedoménon schetiká me tis simfoníes metaksí tis EE ke tis Elvetías ja tin aftómati andalají forolojikón pliroforión) GÜ Συνοπτική παρουσίαση της γνωμοδότησης του Ευρωπαίου Επόπτη Προστασίας Δεδομένων σχετικά με τις συμφωνίες ΕΕ-Ελβετίας σχετικά με την αυτόματη ανταλλαγή φορολογικών πληροφοριών (sinoptikí parusíasi tis gnomodótisis tu Evropéu Epópti Prostasías Dedoménon schetiká me tis simfoníes EE-Elvetías schetiká me tin aftómati andalají forolojikón pliroforíon) <?page no="185"?> 185 11.1 Was muss man wissen ... Ganz anders sieht es bei literarischen Texten aus, die gerade von ihrer Mehrdeutigkeit leben, die Metaphern und Metonymien verwenden, die sich auch auf einer rein lautlichen oder prosodischen Ebene abspielen. Und bei der Übersetzung lyrischer Texte muss man zusätzlich noch andere Entscheidungen treffen: Behält man Versmaß, Reimschema, Reimvokal usw. bei oder übersetzt man „frei“? Der KL fällt selbstverständlich nicht die Aufgabe zu, Anleitungen zum richtigen Übersetzen zu geben; sie kann jedoch die Unterschiede feststellen und Alternativen diskutieren und damit auch die Möglichkeiten benennen, die es in der einen Sprache gibt, in der anderen nicht. Wenn man nach dem tertium comparationis einer Übersetzung fragt, fragt man danach, welcher Aspekt eines Textes von der einen Sprache in die andere hauptsächlich übernommen wird (oder werden soll). Ein lateinisches Beispiel mit deutscher Übersetzung (das Gedicht ist anonym überliefert, zit. nach Staiger 1972: 14): Nulla unda Keine Quelle Tam profunda So tief und schnelle Quam vis amoris Als der Liebe Furibunda. Reißende Welle. Auch wenn man kein L kann: Man hört, dass das Gedicht links sehr tief gestimmt ist, der Laut [u] ist wichtig, er spiegelt das Abgründige der Liebe wider. Die deutsche Übersetzung hält sich im Wortlaut (womit nicht der Laut, sondern die Bedeutung eines Wortes gemeint ist) eng an die Vorlage - wo es geht. Das tiefe nulla unda wird in D heller; ‚Quelle‘ als Übersetzung von unda steht nicht im Wörterbuch; passt aber ganz gut zum Konzept der Liebe. Was im lateinischen Text die unergründliche Tiefe der Liebe ist, wird in D zeitlich aufgelöst: Zwar tief, aber vor allem schnelle und, dann wieder wörtlich: furibunda = ‚reißend‘. Lautlich gilt das Gleichheitszeichen aber auch hier nicht: L tief gestimmt, in D eher auf das scharfe s konzentriert. In beiden Fassungen wird einiges über die Liebe ausgesagt, aber es wird ganz Unterschiedliches darüber ausgesagt - ob man dem zustimmt, bleibt selbstverständlich jedem einzelnen (Laut-)Leser überlassen. Ein anderes Beispiel, das in aller Kürze zeigt, von welchen Bedingtheiten Übersetzungen, was auch heißt: Texte in verschiedenen Sprachen, abhängig sind: Ein Film von 1968, der das Genre des Westerns neu begründete, von Sergio Leone und mit Charles Bronson, Henry Fonda und Claudia Cardinale in den Hauptrollen, heißt im italienischen Original: „C’era una volta il West“ und in D-E-F-G: 67D) Spiel mir das Lied vom Tod 67E) Once Upon a Time in the West 67F) Il était une fois dans l’Ouest 67G) Κάποτε στη Δύση (kápote sti dísi) Keine Sprache übersetzt den Titel wörtlich, was in D wäre: ‚Es war einmal der Westen‘. Immerhin gehen E-F phraseologisch vor: Sie übertragen den typischen italienischen Märchenanfang (C’era una volta ...), allerdings folgt darauf nicht ein Subjekt, sondern eine Ortsangabe, wie auch in G (‚im Westen‘; Wilder Westen = Άγρια Δύση [ágria dísi]), das jedoch ohne typischen Märchenanfang beginnt; der lautet nämlich: Μια φορά και έναν καιρό (mia forá ke énan keró). Κάποτε (kápote) ist ‚einmal, früher einmal, irgendwann‘. D schert jedoch völlig aus, was daran liegen dürfte, dass man 1968 den Westen auf jeden Fall mit Wilden hätte ergänzen müs- <?page no="186"?> 186 11 Übersetzen sen, da der Westen die BRD gegenüber der DDR war: Bei Es war einmal der Westen oder ... im Westen hätte man eher eine sozialistische Abrechnung mit dem Kapitalismus der Bundesrepubik erwartet, und Es war einmal im Wilden Westen hört sich in seiner Mischung aus Märchen, Sheriff und Outlaws etwas albern an. (Aber alle oben zitierten Varianten sind höchst rhythmisch, was immer das heißt und hier leider unwichtig ist.) 2) Für wen? Im Normalfall unterscheidet sich der mögliche Leser einer Übersetzung vom möglichen Leser des Originals vor allem darin, dass er die Sprache des Originals nicht versteht. Es gibt aber auch gar nicht so wenige Ausnahmen: Zum Beispiel die Übertragungen der klassischen Abenteuerromane wie „Treasure Island“ (von Robert Louis Stevenson) oder „Robinson Crusoe“ (von Daniel Defoe) als sogenannte Jugendfassungen (vgl. Theisen 1996). Hinzu kommt ein historischer Aspekt: Viele moderne Bibelübersetzungen bemühen sich bewusst darum, den Text zu aktualisieren, damit er für heutige Leser überhaupt noch lesbar ist. Das hat schon Martin Luther so gemacht. Auch aktuelle Homer-Übersetzungen der „Ilias“ oder „Odyssee“ haben bei heutigen deutschen Lesern mehr Chancen als die Hexameterfassungen von Johann Heinrich Voß vom Ende des 18. Jhs. Für die Homer- Übersetzungen ins Neugriechische gilt das ebenso wie für Übersetzungen von mittelalterlicher Literatur ins moderne Deutsch. - Damit ist schon die 3. Frage angeschnitten: 3) Warum? Auch auf diese Frage liegt die Antwort nahe: Weil Menschen, die die Originalsprache eines Textes nicht verstehen, ein Interesse an dem Text haben. Das ist wiederum bei Homer der Fall, gilt aber auch für Beipackzettel von elektrischen Geräten, auf denen die Sicherheitshinweise in gut zwei Dutzend verschiedenen Sprachen abgedruckt sind, während nicht nur das schon erwähnte schwedische Möbelhaus auf Text völlig verzichtet und sich auf Abbildungen beschränkt, die gar nicht erst übersetzt werden müssen. Hier wurde eine nicht-alphabetische, universell verständliche logographische Schrift entwickelt, weil es insgesamt billiger ist: Der Esstisch LISABO hat zwar in Deutschland und China unterschiedliche Artikelnummern, doch die Aufbauleitung ist ein und dieselbe, da es auf ihr weder ein deutsches noch ein chinesisches Wort gibt und geben muss. Eine andere Antwort auf „Warum? “ wurde schon gegeben: Gerechtigkeit, wie in der EU: Jeder hat das Recht, Gesetze und Verordnungen zu lesen und zu verstehen, und zwar in seiner Muttersprache - nicht ganz: sondern in einer der Sprachen, die in einem Mitgliedsland der EU offiziellen Status als Nationalsprache haben, und diese sind folgende 24 in folgenden (europäischen) Ländern: Bulgarisch Bulgarien, Athos (Griechenland) Dänisch Dänemark, Grönland, Färöer Deutsch Deutschland, Österreich, Schweiz, Liechtenstein, Luxemburg, Belgien, Südtirol (Italien), AMS 3 in Italien, Rumänien, Russland, Slowakei, Tschechien, Ungarn Englisch Gibraltar, Guernsey, Irland, Isle of Man, Jersey, Malta, Vereinigtes Königreich Estnisch Estland Finnisch Finnland; AMS in Estland, Finnmark (Norwegen), Schweden 3 AMS = Anerkannte Minderheitensprache. <?page no="187"?> 187 11.1 Was muss man wissen ... Französisch Frankreich, Belgien, v.a. Wallonien, Luxemburg, Schweiz, v.a. Romandie, Monaco, Jersey, Guernsey, Aostatal („Frankoprovenzalisch“, Italien); AMS in: Italien Gaeilge (Irisch) Irland, Nordirland Griechisch Griechenland Italienisch Italien, Schweiz, San Marino, Vatikanstadt, Souveräner Malteserorden; AMS in Koper, Izola und Piran (Slowenien), Gespanschaft Istrien (Kroatien) Kroatisch Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Montenegro (regional), Ungarn (regional), Burgenland (Österreich, regional), Vojvodina (Serbien, regional) Lettisch Lettland Litauisch Litauen; AMS in Polen Maltesisch Malta Niederländisch Niederlande, Belgien (v.a. Flandern) Polnisch Polen; AMS in Bosnien und Herzegowina, Bukowina (Rumänien), Westkarpaten (Slowakei), Schlesien (Tschechien), Westukraine (Ukraine) Portugiesisch Portugal Rumänisch Moldawien, Rumänien, Vojvodina (Serbien), Athos (Griechenland); AMS in Ungarn, Ukraine, Zentralserbien (Serbien) Schwedisch Schweden, Finnland Slowakisch Slowakei, Vojvodina (Serbien); AMS in Österreich Slowenisch Slowenien, Friaul-Julisch Venetien (Italien), Kärnten (Österreich); AMS in Steiermark (Österreich) Spanisch Spanien Tschechisch Tschechien; AMS in Österreich Ungarisch Ungarn, Vojvodina (Serbien), Bezirke Oberwart & Oberpullendorf (Österreich); AMS in Kroatien, Burgenland (Österreich), Rumänien, Slowakei, Slowenien, Transkarpatien, Ukraine Tab. 37: Die Amtssprachen der EU und ihre Verbreitungsgebiete in Europa (zusammengestellt nach wikipedia; 04.09.15) Schon in Kap. 2.1 (Tab. 2) wurden ein paar europäische Übersetzungen (D-L-F) zitiert. Im 10. Jh. waren sie lediglich eine Handreichung für Reisende. Aus dem 10. (oder 11.) Jh. ist jedoch ein Text überliefert, der auf ein politisches Ereignis des Jahres 842 zurückgeht: Zwei der Enkel Karls des Großen hatten sich gegen ihren ältesten Bruder, Kaiser Lothar, verbündet und ihn in der Schlacht von Fontenoy (25.06.841) besiegt. Am darauffolgenden 14. Februar 842 trafen sie sich mit ihren Heeren in Straßburg und legten einander Treueeide ab: Ludwig der Deutsche schwor seinem Bruder auf romanisch, der „französische“ Karl der Kahle seinem Bruder auf „deutsch“ die Treue, und die Heere wiederholten den Schwur in ihrer jeweiligen Landessprache. Diese „Straßburger Eide“ erfüllten erstens den Zweck, den die Übersetzungen der europäischen Institutionen heute haben. Übersetzungen mit diesen Funktionen gab es aber auch schon lange vorher, etwa auf dem „Stein von Rosette“ von 196 vor Chr.: Dabei handelt es sich um das sogenannte „Priesterdekret von Memphis“ des ägyptischen Pharaos Ptolemaios V., das in drei Schriften veröffentlicht wurde, so dass es alle verstehen konnten, die es betraf: Hieroglyphisch, Demotisch, Griechisch. Dieser Stein von Rosette spielte eine wichtige Rolle bei der Entzifferung <?page no="188"?> 188 11 Übersetzen der Hieroglyphenschrift durch Jean-François Champollion 1822 (Doblhofer 2008). Die verschiedenen Sprachfassungen der Straßburger Eide dienten aber zweitens dem Verständnis des selbst Gesagten: Jeder sollte wissen, was er schwört - in der katholischen Kirche hatte sich dieser Gedanke bis ins 20. Jh. noch nicht ganz durchgesetzt. Mit dem Zusammenwachsen Europas nach dem 2. Weltkrieg auf wirtschaftlicher und dann politischer Ebene, der damit einhergehenden immer größeren institutionellen Verflechtung stieg selbstverständlich der Übersetzungsbedarf in ungeheurem Maße an. Dazu waren Routinen zu entwickeln, die möglichst maschinell erledigt werden konnten und anschließend hoffentlich nur noch korrigiert werden mussten. Kostenlose Beispiele finden sich in den Texten 66. Unter GÜ stehen dort die Übersetzungen des Textes durch Google-Übersetzer jeweils aus E in die drei anderen Sprachen (04.09.15). Es gibt wenige Varianten, und die sehr wenigen Fehler sind äußerst marginal und sehr leicht zu beheben, was hier aber nicht weiter diskutiert werden kann. Die Ausgangsfrage war, was man von einer Sprache wissen muss, wenn man einen Text in eine andere Sprache übersetzen will. Selbstverständlich ist diese Frage nur die eine Hälfte. Richtig ist es, danach zu fragen, was man über die beiden Sprachen wissen muss. Ich digitalisiere diese Frage: 11.2 Was muss ein Computer wissen, der übersetzen soll? Welche Verständnis- und Übersetzungsmöglichkeiten hat der folgende Satz: 68D) Der Maler schreibt seiner Bank einen Brief. Für einen Muttersprachler sollte der Satz keinerlei Probleme bereiten, wenn auch in keiner Weise zu entscheiden ist, ob es sich bei dem Maler um einen Kunstmaler oder einen Anstreicher handelt. Das Homonym Bank aufzulösen, ist (für menschliche Sprachverwender) hingegen wenig problematisch, obwohl beide Lexeme zwar grammatikalisch weiblich sind, aber trotzdem Sachen benennen, und solchen schreibt man üblicherweise keine Briefe. Doch erstens ist die Differenz zwischen natürlichem und grammatischem Genus systematisiert und daher nicht mehr bedeutungsrelevant, und zweitens ist offensichtlich, dass Bank hier metonymisch gebraucht ist: Es kann nicht die Bank als Gebäude, sondern muss die Bank als Institution meinen, in der Menschen arbeiten. Man kann also annehmen, dass der Brief an einen Mitarbeiter der Bank in dessen Eigenschaft als Mitarbeiter der Bank gerichtet ist. Da Metonymie kein einzelsprachliches Phänomen ist, lässt sich getrost übersetzen: 68E) The painter is writing a letter to his bank. 68F) Le peintre écrit une lettre à sa banque. 68G) Ο ζωγράφος γράφει ένα γράμμα στην τράπεζά του. (o zográfos gráfi éna gráma stin trápezá tu.) Die Übersetzung in G setzt allerdings voraus, dass der Maler tatsächlich ein ζωγράφος (zográfos) (‚Kunstmaler‘) und nicht ein μπογιατζής (bojadzís) (‚Anstreicher‘) ist, entweder für das eine oder das andere muss man sich entscheiden. Das - nicht sehr elegante - Textchen geht weiter: <?page no="189"?> 189 11.2 Was muss ein Computer wissen, der übersetzen soll? 69D) Er war sehr unfreundlich. Wer? Der Maler oder der Brief? Auf beides, eventuell sogar auf den metonymisch gemeinten Mitarbeiter, kann sich das grammatikalisch männliche er beziehen (Kap. 7.3). In E-F allerdings muss man sich entscheiden: Entweder he - il (Maler bzw. Mitarbeiter) oder it - elle (Brief). In G muss man erst in der Endung des prädikativ gebrauchten Adjektivs Farbe bekennen (Kap. 9.2): 69E) He / It was very rude. 69F) Il / Elle était très désagréable. 69G) Ήταν πολύ αγενής / αγενές. (ítan polí ajenís / ajenés.) Um derartige Doppeldeutigkeiten aufzulösen, wenn es nicht schon der Kontext macht, kann man in manchen Fällen den Autor selbst fragen; in Büchern heißt das dann „(vom Autor) autorisierte Übersetzung“. In den meisten Fällen (literarischer Texte, aber auch von Sachtexten) befindet sich der Übersetzer jedoch in derselben Situation wie jeder Leser, wenn er auch ein bisschen besser ausgebildet sein sollte, z.B. in eben solchen Dingen, wie sie hier diskutiert werden. Die Entscheidung, wer in 68-69 tatsächlich unfreundlich war, muss er selbst treffen, und jede solcher Entscheidungen muss selbstverständlich verantwortet werden. Außerdem muss man sich im Klaren darüber sein, dass man als Übersetzer wirklich die letzte Instanz ist, hinter die kein Leser der Übersetzung zurück kann, wenn er sie nicht mit dem Original vergleicht. Dazu müsste er aber selbst ausgangssprachlich kompetent sein. Dass ein Übersetzungsprogramm irgendwelche Entscheidungen (gegenüber einem Text) verantwortet, ist natürlich nicht anzunehmen. Es kann immer nur so gut sein wie seine Programmierer weitsichtig sind. Es verfügt über kein Weltwissen, wenn es ihm nicht explizit beigebracht wurde, und mit sinnvollen Präsuppositionen ist auch nicht zu rechnen. Das muss kurz erläutert werden: Weltwissen ist das Wissen, das man bewusst oder unbewusst von der Welt hat. Dazu gehört nicht nur, dass man weiß, wie die Hauptstadt von Indonesien heißt, sondern auch so Selbstverständlichkeiten wie, dass es nachts dunkel ist, es sei denn, der Mond scheint oder die Straßenlaternen brennen oder die Schreibtischlampe ist an und so weiter, und dass es in all diesen Fällen nicht so hell ist wie tagsüber, sondern sehr spezifisch, was nichts mit der objektiven Helligkeit, die in einer physikalischen Maßeinheit wiederzugeben wäre, zu tun hat usw. So was reflektiert man in der Regel nicht, sondern das „weiß man einfach“. Ein Computer weiß aber nichts einfach. Dasselbe gilt für Präsuppositionen. In 68) ist zum Beispiel präsupponiert (d.h. vorausgesetzt), dass es einen Maler gibt, der eine bestimmte Beziehung zu einer Bank hat, die „seine“ Bank ist, und was eine Bank ist (und die es natürlich wirklich gibt), in der Bedeutung ‚Geldinstitut‘ und dem Sinne, dass er dort ein Konto hat und vielleicht einen Kredit - und wiederum usw. - Weltwissen und Präsuppositionen haben sehr viel mit „usw.“ zu tun, weil sie kaum je von jedem Kommunikationspartner wirklich in allen Einzelheiten expliziert werden können, und schon gar nicht findet man eine gemeinsame Grundlage des Verständnisses, sondern man einigt sich immer irgendwie auf ein „ungefähr“. Woher sollte ein Computer so etwas wissen, und wie kann man ihm alle „usw.“ beibringen? Er kennt keine Geschichte, nur die, auf die man ihn aktiv (mit Zeit- und Energieaufwand) programmiert hat. Das ist das Entscheidende: Dem Compu- <?page no="190"?> 190 11 Übersetzen ter muss alles aktiv beigebracht werden, und „alles“ meint wirklich „alles“. Aber da wir selbst natürlich auch alles irgendwo und irgendwie gelernt haben, aber das meiste nebenher, ohne es zu merken, können uns die Fehler, die ein Computer beim Übersetzen macht, die Selbstverständlichkeiten unseres sprachlichen und weltlichen Wissens zeigen. In der folgenden Abbildung, die ich von der Internetseite einer Firma ausgeliehen habe, die Software für maschinelles Übersetzen produziert, sind oben drei Schritte unterschieden: Analyse, Transfer und Synthese. Die Analyse betrifft die Ausgangssprache, der Transfer die Schnittstelle zwischen beiden Sprachen, die Synthese die Zielsprache. Ich lege diese Abb. 19 der weiteren Diskussion zugrunde. Abb. 19: Die drei Phasen einer (maschinellen) Übersetzung (linguatec.net) In einem ersten Schritt („Source Analysis Morphology“) wird die Morphologie der Ausgangssprache analysiert; diese Analyse ergibt für 68D: 68D‘) Der [best.Art.|Nom.Si.Mask.] Maler [Subst.|Nom.Si.Mask.] schreibt [Verb|3.Si.Ind.Präs.] seiner [Poss.Pron.|Dat.Si.Fem.] Bank [Subst.|Dat.Si.Fem.] einen [unbest.Art.|Akk.Si.Mask.] Brief [Subst.|Akk.Si.Mask.] . Diese Beschreibung ist längst nicht vollständig, denn den Wörtern Der, Maler, seiner, Bank, einen, Brief sieht man zumindest den Kasus nicht an. Ein deutscher Muttersprachler kennt den Kasus (auch wenn er nicht weiß, was ein Kasus überhaupt ist), aber woher kennt ihn das Programm? Genau genommen muss die Analyse deshalb so aussehen: 68D‘‘) Der [best.Art.|Nom.Si.Mask.; Gen./ Dat.Si.Fem.; Gen.Pl.] Maler [Subst.|Nom./ Dat./ Akk.Si.Mask.; Nom./ Gen./ Akk.Pl.] schreibt [Verb|3.Si.Ind.Präs.] seiner [Poss.Pron.|Gen./ Dat.Si.Fem.; Gen.Pl.] Bank [Subst.|Nom./ Gen./ Dat./ Akk.Sing.Fem.] einen [unbest.Art.|Akk.Si.Mask.] Brief [Subst.|Nom./ Dat./ Akk.Si.Mask.] . <?page no="191"?> 191 11.2 Was muss ein Computer wissen, der übersetzen soll? Der nächste Schritt („Lexical search [Base form]“), die lexikalische Suche nach der Grundform, ergibt: Form im Text: Der Maler schreibt seiner Bank einen Brief Grundform: der Maler schreib-en sein [Poss.] Bank ein Brief Tab. 38: Textformen und Grundformen (Diese Reduzierung müsste eigentlich ausführlich diskutiert werden, da bei Der, seiner und einen keineswegs feststeht, welches die hier relevante Grundform ist, allerdings muss ich diese Diskussion hier aussparen.) Der nächste Schritt, die „Sentence and Word Segmentation“ analysiert den Satz unter der Fragestellung, ob die Wörter des Satzes eine rein lexikalische Bedeutung oder ob einzelne Wortgruppen (auch) eine phraseologische Bedeutung haben. In dem Satz über den einen Brief schreibenden Maler gibt es keine phraseologische Bedeutung. Aber man muss bei allen Wortgruppen auf der Hut sein. Was bedeutet dieses Wort Hut? Hut (hat - chapeau - καπέλο [kapélo]) ist zunächst eine Kopfbedeckung von einigermaßen fester Form (im Gegensatz zu einer Mütze - cap - bonnet - σκούφος [skúfos]). Das Wort hängt mit dem Verb hüten (look after / mind - garder - φυλάω / προσέχω [filáo / prosécho]) zusammen: Wer einen Hut trägt, ist behütet, im Sinne von ‚geschützt‘, gegen Regen und Kälte. Hüten heißt deshalb auch: ‚auf jemanden aufpassen‘; so hütet der Schäfer seine Schafe: Er passt auf sie auf. Und auf der Hut sein (be on one’s guard - se tenir sur ses gardes - φυλάγομαι από κάτι [filágome apó káti]) heißt deshalb: ‚sich in Acht nehmen, auf sich selbst aufpassen‘. Man muss also unterscheiden zwischen der Hut und die Hut. Der Ladenhüter (shelf warmer - rossignol - αζήτητο εμπόρευμα [a z ítito embórevma]) ist aber, anders als der Schäfer in Bezug zu seinen Schafen, nicht jemand, der auf einen Laden aufpasst, sondern (viel weiter gedacht) etwas, was sich nicht verkaufen lässt, ein aus der Mode gekommenes Kleid zum Beispiel oder ein aus der Mode ge kommener Hut. Wer jedoch seinen Hut nimmt (pack one’s bag / step down / dismiss - rendre son tablier - παίρνω το καπέλο μου [pérno to kapélo mu]), nimmt in den meisten Fällen nicht nur seine Kopfbedeckung, sondern kündigt seine Arbeitsstelle. Solche bedeutungsübergreifende etymologische Verwandtschaften gibt es jede Menge, in jeder Sprache. Wie in Kap. 6 gezeigt, müssen Wörter irgendwo herkommen, ganz neue zu erfinden und dann auch noch im allgemeinen Wortschatz zu etablieren, ist äußerst schwierig; vorhandene mit einer neuen Bedeutung zu belegen, ist viel einfacher, in allen Sprachen, doch jede Sprache macht das anders, wenn es auch zahlreiche sprachübergreifende Metaphern, Metonymien und andere Formen uneigentlichen Sprechens gibt, die eigentlich nur Belege für Bedeutungs- und Sprachentwicklung sind. Um all das aufzulösen, braucht man und vor allem braucht ein Übersetzungsprogramm im Hintergrund ein verdammt dickes Wörterbuch, das fortlaufend erweitert und aktualisiert werden muss. Doch je dicker es ist, desto mehr Entscheidungshilfen muss es auch geben. Drei richtig und richtige deutsche Beispiele, die sehr spezifische, auch historisch bedingte, Konnotationen haben, mit Übersetzungen aus Pons und Google- Übersetzer (GÜ): <?page no="192"?> 192 11 Übersetzen 70D) a) eiserner Wille - b) deutsche Eiche - c) wie ein Fels in der Brandung 70E) a) iron will (Übersetzung von eherner Wille) - b) - c) stand as firm as a rock (Pons) a) iron will - b) German oak - c) like a rock in the surf (GÜ) 70F) a) ferme intention (Übersetzung von fester Wille) - b) - c) - (Pons) a) volonté de fer - b) Oak allemand - c) comme un rocher dans le ressac (GÜ) 70G) a) ατσαλένια / γρανιτένια / χαλύβδινη / γρανιτώδης θέληση (atsalénja / graniténja / chalívdini / granitódis thélisi) - b) - c) - (Pons) a) σιδερένια θέληση / (siderénja thélisi) - b) Γερμανικά Oak (jermaniká oak) - c) σαν ένα βράχο στην κυματωγή (san éna vrácho stin kimato í) (GÜ) Ohne die Übersetzungen einzeln diskutieren zu müssen: Das Wörterbuch gibt die Informationen, die seine Autoren geben können, und wo es ihrer (und des Verlags) Meinung nach im vorgegebenen (Preis-)Rahmen möglich ist; die Internetübersetzungsmaschine GÜ muss jedoch eine Übersetzung geben, und wo sie eine Wissenslücke hat, greift sie auf irgendetwas zurück, was sie von woandersher weiß. Woher kommt aber die Lücke? Und warum wird sie so gefüllt, wie sie gefüllt wird? Was weiß die Maschine also? Tatsächlich kennt GÜ durchaus sowohl das richtige französische chêne als auch das richtige griechische δρυς (dris), und german oak wird auch als chêne allemand bzw. Γερμανικά (! ) δρυς (Jermaniká dris) übersetzt - die Großbuchstaben deuten darauf hin, dass das Programm durchaus Phrasen als solche erkennt und ein deutsches Auto von einer Deutschen Eiche unterscheiden kann. Neben Wortgleichungen und phraseologischen Entsprechungen, die zu Banalität a) gehören, kommt es bei Übersetzungen selbstverständlich genauso sehr auf Banalität b) an, die Syntax. Die „Syntax analysis“ führt, nachdem in der Grammatik der Ausgangssprache nachgeschlagen wurde, zu folgendem sehr übersichtlichen Schema von 68 (in dem ich auf Abkürzungen verzichte: Satz Nominalphrase Verbalphrase Verb Nominalphrase Nominalphrase Artikel Nomen Possessivpronomen Nomen Artikel Nomen Der Maler schreibt seiner Bank einen Brief. Abb. 20: Syntaktische Analyse Die „Semantic analysis“ ist dafür zuständig, die Konvergenz der lexikalischen Analyse innerhalb des gesamten Textes sicherzustellen: Einen Brief kann man an eine Bank (= Geldinstitut) schreiben, aber nicht an eine Bank (= Sitzgelegenheit). Wie gesehen, ist diese semantische Analyse nicht immer ganz einfach. Das liegt daran, dass die Bedeutung eines Wortes in einem Kontext (und nur im Lexikon selbst existieren Wörter ohne Kontext! ) von ungeheuer vielen Informationen des Kontexts (manchmal im weitesten Sinne! ) abhängig ist. Allerdings muss man erst einmal begreifen (oder einem Übersetzungsprogramm vermitteln), welche Informationen jeweils tatsächlich relevant sind. Hier stellt sich auch die Frage nach dem Sinn einer Äußerung. Selbstverständlich kann man auch Unsinniges übersetzen (lassen) und sollte erwarten, dass die Unsinnigkeit auf demselben Niveau erhalten bleibt. In der Tat kann man etwa bei j <?page no="193"?> 193 11.2 Was muss ein Computer wissen, der übersetzen soll? GÜ mit Chomskys berühmten farblosen grünen Ideen, die wütend schlafen (Chomsky 1973: 17), in D-E-F-G endlose Schleifen ziehen und man gelangt stets zu denselben sinnvoll-sinnlosen Sätzen. So gut geht es nicht immer. Sehr aussagekräftige Beispiele sind Sätze mit Wörtern, die in verschiedenen Kontexten verschiedene Bedeutungen haben. Als Beispiel wähle ich das Verb einstellen 4 und folgende Sätze: 71D) Die Frau bewarb sich bei dem Unternehmen. Das Unternehmen stellte sie ein. 72D) Bei der Produktion gab es viele Fehler. Das Unternehmen stellte sie ein. In 71D) gibt es eine - etwas zu explizite und daher ungewöhnliche - Wiederaufnahme von Unternehmen des ersten Satzes durch Unternehmen im zweiten Satz. Im pronominalen sie ist Die Frau wiederaufgenommen. 72D) ist weniger eindeutig, aber durchaus normal: sie ist die Produktion, für die das Unternehmen verantwortlich ist. Im Folgenden treten die frei im Internet verfügbaren Google- (GÜ) und Bing- Übersetzer (BÜ) gegeneinander an. Die jeweils erste Übersetzung ist eine korrekte Variante. Ich beginne englisch: 71E) The woman applied to the company for a job. The company hired her. 71E) GÜ The woman applied in the company. The company hired her. 71E) BÜ The woman applied for the company. The company hired them. 72E) There were many mistakes during production. The company terminated it. 72E) GÜ During production, there were a lot of mistakes. The company hired her. 72E) BÜ There were many errors in production. The company hired them. D sie ist zwar ambig; woher BÜ in 71E) aber den Plural them nimmt, ist unverständlich. Dasselbe gilt für 72E), wo es im Vorsatz zwar einen Plural gibt, doch macht der Bezug auf errors wenig Sinn. Außerdem kennen beide Programme offenbar nicht die unterschiedlichen Verwendungsweisen von einstellen, die hire eben nicht hat. Immerhin ist BÜ aber so flexibel, dass er die Satzglieder umstellt; derselbe Algorithmus wird auch in F und G angewandt. 71F) La femme pose sa candidature dans l’entreprise. L’entreprise l’a embauchée. 71F) GÜ La femme appliqué dans l’entreprise. L’entreprise l’a embauchée. 71F) BÜ La femme est appliquée pour la société. La société a engagé à eux. 72F) Pendant la production, il y avait beaucoup d’erreurs. L’entreprise l’a cessé. 72F) GÜ Pendant la production, il y avait beaucoup d’erreurs. L’entreprise l’a embauchée. 72F) BÜ Il y a beaucoup d’erreurs en production. La société a engagé à eux. In 71F) greifen sowohl GÜ als auch BÜ beim Verb ziemlich daneben, GÜ übersetzt sogar das finite durch ein infinites Verb: Damit wird die Syntax zerstört, was umso merkwürdiger ist, als eine Regel, dass jeder Satz ein finites Verb haben muss, relativ einfach zu implementieren wäre. Die Bedeutung von appliquer ist beiden Programmen durchaus bekannt; rückübersetzt ergibt sich bei GÜ: „Die Frau in der Ge- 4 Ein qualifizierter Blick auf die Dreifachbedeutung von Einstellung („Die Einstellung der Produktion ...“, „Die Einstellung neuer Arbeitnehmer ...“, „Die Einstellung des Ministers zur Einstellung der Produktion und gleichzeitigen Einstellung neuer Arbeitnehmer ...“) ist hier allerdings zu aufwändig. <?page no="194"?> 194 11 Übersetzen sellschaft angewendet.“ und bei BÜ: „Die Frau wird auf die Unternehmen angewendet.“ Die Verben im zweiten Satz von 71F) sind hingegen richtig, was für 72F) aber wiederum nicht gilt. Immerhin sind beide Programme in ihrer Fehlerhaftigkeit konsequent. In BÜ scheint zudem in allen Sprachen derselbe (falsche) Algorithmus angewandt zu werden, der in gewissen Umgebungen für sie die Pluralform wählt, das gilt dann auch für G ( τους statt την ). 71G) Η γυναίκα υπέβαλε αίτηση στην εταιρεία. (i jinéka ipévale étisi stin etería. Η εταιρεία την προσέλαβε. i etería tin prosélave.) 71G) GÜ Η γυναίκα που εφαρμόζεται στην εταιρεία. (i jinéka pu efarmózete stin etería. Η εταιρεία την προσέλαβε. i etería tin prosélave.) 71G) BÜ Η γυναίκα που εφαρμόζεται για την εταιρεία. (i jinéka pu efarmózete ja tin etería. Η εταιρεία τους προσέλαβε. i etería tus prosélave.) 72G) Η παραγωγή ήταν ελαττωματική. (i paragojí ítan elatomatikí. Η εταιρεία την σταμάτησε. i etería tin stamátise.) 72G) GÜ Κατά τη διάρκεια της παραγωγής, υπήρχαν πολλά λάθη. (katá ti diárkia tis paragojís, ipírchan polá láthi.) Η εταιρεία την προσέλαβε. i etería tin prosélave.) 72G) BÜ Υπήρχαν πολλά λάθη στην παραγωγή. (ipírchan polá láthi stin paragojí. Η εταιρεία τους προσέλαβε. i etería tus prosélave.) In G wird erstaunlicherweise beim Verb auf dasselbe Wörterbuch zurückgegriffen wie in F, die Rückübersetzung ergibt in 71G bei GÜ: „Die Frau angewendet, um das Unternehmen.“, bei BÜ: „Die Frau, die für das Unternehmen angewendet.“ Die Vergangenheitsform geht übrigens verloren. Ich fasse die Darstellung kurz zusammen: Dass es in beiden Programmen sehr lückenhafte Lexika gibt, ist nicht verwunderlich - die können mit ein bisschen Fleiß aufgefüllt werden. Allerdings ist der Blick sehr eingeschränkt, so etwas wie Weitblick gibt es überhaupt nicht. Gibt man nämlich 73D) ein, werden bessere Übersetzungen geliefert: 73D) Das Unternehmen stellte die Produktion ein. 73E) GÜ The company ceased production. 73E) BÜ The company ceased production. 73F) GÜ La société a cessé la production. 73F) BÜ La compagnie a cessé la production. 73G) GÜ Η εταιρεία σταμάτησε την παραγωγή. (i etería stamátise tin paragojí.) 73G) BÜ Η εταιρεία σταμάτησε την παραγωγή. (i etería stamátise tin paragojí.) Die einfache Schlussfolgerung: Ein zu weiter Kontext bringt (die hier verwendeten) Übersetzungsprogramme durcheinander, weil sie zu viele Entscheidungen treffen müssen, auf die sie offenbar nicht vorbereitet sind, weil sie niemand vorbereitet hat. Wie schon bemerkt: Der Unterschied zwischen Sagen und Meinen hängt schriftlich in der Luft, und man braucht einen wirklich riesigen Horizont, um überhaupt die Chance zu haben, das Richtige zu treffen - es sei denn, noch einmal, es handelt sich um so einfache Texte wie Busfahrpläne oder EU-Verordnungen, deren Funktionsweise auf ein-eindeutigen Entsprechungen beruht: Ein Eintrag im einen Lexikon entspricht genau einem Eintrag im anderen Lexikon. Und syntaktisch kann man im Zweifelsfall auf eine jahrhundertealte Technik zurückgreifen: Interlinearübersetzung. <?page no="195"?> 195 11.2 Was muss ein Computer wissen, der übersetzen soll? Internetsuchmaschinen (genauer: deren Betreiber) sind unentwegt dabei, ihre Suchalgorithmen zu verbessern, um ihren Nutzern möglichst nur die Seiten zu liefern, die sie wirklich interessieren könnten (und die die Werbekunden ihnen präsentieren wollen). Davon hängt ihr Erfolg ab, und den gibt es nur, wenn alle bisherigen Suchroutinen inklusive aller Nutzerreaktionen ausgewertet werden. Indem in frei verfügbaren Übersetzungsprogrammen wie GÜ und BÜ aber jeder (auch weniger kompetente) Nutzer seine Verbesserungsvorschläge eintragen kann, ist natürlich auch allerhand Blödsinn die Tür geöffnet. Ich fahre mit der Diskussion von Abb. 19 fort. Die „Pronoun Resolution“ ergibt in 66) (zur Erinnerung: „Der Maler schreibt seiner Bank einen Brief.“), dass seiner sich auf den Maler beziehen muss, während das er in 69) („Er war sehr unfreundlich.“) nicht eindeutig zuzuordnen ist; das muss sich dann in der Zielsprache entscheiden. In 71/ 72) tendierte GÜ pauschal zu einem singularen Verständnis von sie (her - l’ - την [tin]), was möglicherweise nur zufällig richtig war, während BÜ den Plural (them - eux - τους [tus]) vorzieht. Für die Zufälligkeit spricht die Übersetzung von 74D: 74D) Die Kinder sind auf der Straße. Sie spielen. 74E) GÜ The children are on the street. You play. 74E) BÜ The children are on the road. Play. 74F) GÜ Les enfants sont dans la rue. Vous jouez. 74F) BÜ Les enfants sont sur la route. Jouer. 74G) GÜ Τα παιδιά είναι στο δρόμο. Μπορείτε να παίξετε. (ta pediá íne sto drómo. boríte na péksete.) 74G) BÜ Τα παιδιά που είναι στο δρόμο. Παιχνίδι. (ta pediá pu íne sto drómo. pechnídi.) In keiner Übersetzung wird Sie auf die Kinder des vorangegangenen Satzes bezogen, sondern wird entweder als Bestandteil der Höflichkeitsform verstanden, und in G noch distanziert als ‚Ihr könnt spielen‘ (in GÜ), während sich BÜ jeder Entscheidung enthält und substantivisch bleibt: ‚Spiel‘ in E, ‚Spielen‘ in F, ‚Spiel‘ in G. Die Transferphase beginnt damit, dass aus dem zielsprachigen Lexikon die richtigen Entsprechungen ausgesucht werden, das ist der „Lexikographic Transfer“. Beispiele dafür sind oben gegeben. Der „Structural Transfer“ meint den Vergleich zwischen ausgangssprachiger syntaktischer Analyse und zielsprachiger syntaktischer Analyse, wozu auch die Übertragung eventueller Phraseologismen gehört. Dabei sollte auf „Source-Target Transfer Rules“ zurückgegriffen werden, denn selbstverständlich handelt es sich bei keiner Übersetzung um die erste, sondern Übersetzen hat eine Geschichte: Welche Entsprechungen haben sich bereits etabliert? Nur ein Beispiel: Die Programmierer hinter GÜ sind sich offenbar nicht über den Status des Griechischen als Pro-Drop-Sprache im Klaren. Selbstverständlich kann man in G (in vielen Fällen) zur Verstärkung dennoch ein Personalpronomen verwenden, und es dürfte für ein Programm schwer zu entscheiden sein, ob ein wir in D betont ist und damit ein Satz mit zusätzlichem εμείς (emís) zu übersetzen ist oder nicht. Allerdings sind viele Übersetzungen in 75) in ihrer Willkürlichkeit nicht recht nachvollziehbar; einiges Willkürliche ist unterstrichen: 75D) Er geht. - Er geht nach Hause. - Wir gehen. - Wir gehen nach Hause. 75E) GÜ He goes. - He goes back home. - We go. - We go home. 75E) BÜ He goes. - He goes home. - We go. - We’re going home. <?page no="196"?> 196 11 Übersetzen 75F) GÜ Il va. - Il rentre chez lui. - Nous allons. - Nous rentrons à la maison. 75F) BÜ Il se rend. - Il rentre à la maison. - Nous allons. - Nous allons rentrer à la maison. 75G) GÜ Πηγαίνει. - Πηγαίνει στο σπίτι. - Εμείς πάμε. - Εμείς πάμε σπίτι. (pijéni. - pijéni sto spíti. - emís páme. - emís páme spíti.) 75G) BÜ Πηγαίνει. - Γυρίζει στο σπίτι. - Πάμε. - Εμείς πάμε σπίτι. (pijéni. - pijéni sto spíti. - páme. - emís páme spiti.) Es ist kaum anzunehmen, dass es sich jeweils um „Wechsel im Ausdruck“ handelt, zumal es gar keinen Kontext gibt. In der Synthesephase muss die morphologische Korrektheit in der Zielsprache hergestellt werden („Morphological Generation“) (wozu die morphologischen Regeln der Zielsprache [„Target Generation Morphology“] befragt werden). Außerdem muss der Text (nach den Regeln der Zielsprache) linearisiert, also in eine serielle Ordnung gebracht werden („Linearization“). Soweit der sehr knappe Kommentar des Schemas. Die wichtigsten Selbstverständlichkeiten, die einem Übersetzungsprogramm beigebracht werden müssen, sind darin enthalten. Dass sie in den hier verwendeten Übersetzungsprogrammen nicht immer richtig angewandt werden, zeigen die Beispiele allerdings sehr deutlich: Man bekommt vielleicht eine Ahnung vom Inhalt, auf sprachliche Richtigkeit sollte man sich aber nicht verlassen. Und es ist auch deutlich geworden, was Übersetzungsprogramme nicht leisten können: Sie können Sätze, Aussagen von einer Sprache in eine andere übertragen, aber niemals Äußerungen, weil Äußerungen immer sowohl anekdotisch als auch historisch sind. In einer „Einführung in die Gesprächsanalyse“, die 2001 in 4. Auflage erschienen ist, gibt es zwei „Gesprächstexte in wissenschaftlicher Aufzeichnung“. Nach Einleitungen, in denen auch steht, was alles nicht transkribiert ist, gibt es ein Verkaufsgespräch und ein Partygespräch. Das Verkaufsgespräch dauert etwas mehr als 8 Minuten und ist auf 32 Seiten transkribiert, der 3 Minuten und 22 Sekunden dauernde Ausschnitt aus dem Partygepräch beansprucht 30 Seiten. Dazu kommen selbstverständlich Notationsbesonderheiten, damit ein Leser einigermaßen nachvollziehen kann, wie die Gespräche abgelaufen sind, z.B.: „jA‘ das wÄre nEtt‘“ mit dem zusätzlichen Kommentar: „sehr schnell, unbetont / freundlich-höflich“ (Henne/ Rehbock 2001: 116-117; die Gespräche: 83-151). Dass diese Gespräche bereits 1976 bzw. 1977 aufgenommen wurden, belegt nicht, wie schwierig eine solche Aufnahme ist, sondern wie kompliziert und aufwändig eine solche Transkription ist; dabei muss immer noch auf das Wohlwollen der Leser gezählt werden, denn Kommentare wie „sehr schnell, unbetont / freundlich-höflich“ oder „verlegen/ überfreundlich, ...“ sind durchaus interpretabel. Und die knappen, ungefähr zweiseitigen Einleitungen erfassen vor allem beim „Partygespräch“ selbstverständlich nur einen winzigen Bruchteil der gemeinsamen Geschichte der Beteiligten. All das sinnvoll zu programmieren, ist nicht nur mit gewaltigem Aufwand verbunden, sondern macht eigentlich auch keinen Sinn, solange man nicht alle Humanwissenschaften komplett automatisieren will. Es wäre eine höchst beängstigende Entsprechung zum Laplaceschen Dämon, der alles korrekt voraus- und zurücksagen kann, zumal (Kap. 3.4.1 und 13) Verständnis sich zwischen Sprecher und Hörer und da- <?page no="197"?> 197 11.2 Was muss ein Computer wissen, der übersetzen soll? mit zwischen verschiedenen Verständnisvorschlägen abspielt. Dann nimmt man doch lieber ein paar Fehler in Kauf und lernt - mit allen damit verbundenen Schwierigkeiten - die Fremdsprache (und -kultur) selbst. <?page no="198"?> 12 Sprachwandel und Ökonomisierung In Kap. 3.4.1 wurde erwähnt, dass deutsche Kinder, die dabei sind, ihre Muttersprache zu erwerben, irgendwann statt „ging“, was ihnen zunächst keine Probleme bereitet, „gehte“ sagen und diese Form gegen alle Interventionen ihrer Eltern verteidigen - und für Kinder mit einer anderen Muttersprache gilt das in vergleichbaren Fällen selbstverständlich ebenso. Es wurde auch schon erwähnt, dass Regeln eine wunderbare Einrichtung sind, weil ihr Erlernen und Befolgen erstens das Gehirn trainieren und deshalb zweitens eine Menge Kapazitäten freisetzen, die für andere überlebenswichtige Dinge genutzt werden können. Wenn Regeln aber so wunderbar sind, stellt sich zwangsläufig die Frage, warum es in Sprachen überhaupt Ausnahmen („ging“) gibt. Tatsächlich tendiert eine Kunstweltsprache wie Esperanto dazu, keinerlei Ausnahmen zuzulassen, und naturwissenschaftliche Sondersprachen sowie jede andere rein formale Sprache können sich irgendwelche Regelabweichungen selbstverständlich gar nicht leisten, weil sie sich damit selbst aufheben würden. Warum gibt es in natürlichen Sprachen Phänomene, die - nicht nur von Ausländern - als Ausnahmen gelernt werden müssen? Warum gibt es so etwas wie Sprachwandel und Ökonomisierung? Es ist wie mit Autos: Irgendwann war der reine Geschwindigkeitsrausch ausgeschlafen und man wurde auf die Zig-Tausend Verkehrstoten aufmerksam: Die Autos wurden sicherer, die Straßenverkehrsordnung vernünftiger. Irgendwann gab es eine Ölkrise: Die Autos wurden sparsamer im Verbrauch, was auch mit dem C W -Wert zu tun hatte, gleichzeitig aber visuelle Gewohnheiten und damit den Geschmack veränderte. Der Unterschied besteht allein darin, dass Sicherheit, Verbrauch und Design von Autos auf die Forschung von Ingenieuren und Entscheidungen von Konzernvorständen zurückzuführen sind, während Sicherheit, Verbrauch und Design von Sprache sich irgendwie unter der Hand ändern, manche sagen: unter der unsichtbaren Hand („invisible hand“; Keller 2003). Diese Theorie, die im Wesentlichen nichts anderes besagt, als dass sich Sprache immer den aktuellen Bedürfnissen ihrer Sprecher anpasst, muss hier nicht ausführlicher dargelegt werden. Es geht aber durchaus um die Frage, wie D-E-F-G zu D-E-F-G geworden sind. Um diese Frage zu beantworten, müsste man selbstverständlich höchst umfangreiche Sprachgeschichten erzählen. Hier ist hingegen nur für ganz Weniges Platz. Seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts kamen, zunächst aus Italien, „Gastarbeiter“ (Kap. 2.2) nach Deutschland. Sie kamen als meist ungelernte Arbeitskräfte und hatten sich in einem Land zurechtzufinden, dessen Sprache sie nicht sprachen und von dessen Bewohnern sie nicht immer freundlich aufgenommen wurden. Die wenigsten von ihnen waren auf diese Situation vorbereitet, schon gar nicht sprachlich. Selbst das Wort „Integration“ gab es (in diesem Kontext) nicht, Deutschunterricht sowieso nicht. Um sich im Alltag und am Arbeitsplatz verständigen zu können, wurde genau so viel Deutsch gelernt, wie man zu dieser Verständigung brauchte, im Alltag und am Arbeitsplatz. Dieses „Gastarbeiterdeutsch“ (GAD) ist seit Ende der 60er Jahre auch zum Gegenstand der Linguistik geworden. Die leitenden Fragen dabei waren, wie sich ein rein funktionsbezo- <?page no="199"?> 199 12 Sprachwandel und Ökonomisierung genes, situatives und kommunikatives Lernen auf die Form der zu lernenden Sprache auswirkt, und wie die sprachliche Interaktion zwischen den sogenannten Pidgin- und den Muttersprachlern aussieht. Pidgin ist die „chines. Entstellung von engl. business ‚Geschäft‘“ (Wahrig 2008) und benannte ursprünglich eine Hilfssprache im geschäftlichen Austausch zwischen Europäern und Chinesen. Pidgin ist eine sprachliche Kommunikationsform, die einer einzigen Regel folgt: Sich verständlich machen. Diese Regel ist aus einem Imperativ entstanden, dessen Befolgung in beachtenswerter Weise auf die Mitwirkung anderer angewiesen ist, nämlich auf die Befolgung eines zweiten Imperativs. Diese beiden: „Sei verständlich! “ auf der einen Seite und „Versteh! “ auf der anderen sind zwar auf Sprache angewiesen, aber auch auf weit mehr - Kap. 13 kommt unter dem Gesichtspunkt, welchen Beitrag die beiden Partner zum Gelingen der Kommunikation leisten müssen, darauf zurück. In den folgenden Sätzen sind auch die Satzzeichen zu lesen: 76D) Gehen Strand? 76E) Go beach? 76F) Aller plage? 76G) Πάμε παραλία; (páme paralía? ) 76D) hört sich nach mittlerweile sogenanntem Kiez-Deutsch an, 76E-F) passt in meinen Ohren irgendwie gar nicht, doch ist 76G) durchaus korrekt, was gleich noch bedacht wird. Alle Sätze sind jedoch für jeden verständlich, der nicht gerade D-E-F-G-Lehrer ist und nicht auf sprachliche Korrektheit Wert legt, sondern den Menschen, der vor ihm steht, verstehen will. Es gab schon häufig Anlass zu bedenken, dass dies zwei völlig verschiedene Sachen sind. Hier geht es noch einmal verschärft genau darum. Pidgin ist eine Sprechweise, die in einer sehr konkreten Situation funktioniert, und nur, wenn der andere mitmacht: Auf dem Einwohnermeldeamt, wo die Einwohnermeldebeamtin nichts anderes erwartet, als dass jemand, der vor ihrer Theke steht, nichts anderes will als eine Aufenthaltserlaubnis, zumal der Mensch, der an der anderen Seite der Theke steht, irgendwie ausländisch aussieht und offensichtlich kein D-E-F-G kann und nichts weiter von ihr wollen kann als eine Aufenthaltserlaubnis. - Ich entschuldige mich für diesen hässlichen Satz. Peter Handke hat das, was ich meine, in den „Veränderungen im Lauf des Tages“, einem Stück aus der „Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt“ viel eleganter ausgedrückt: Sobald ich auf die Straße trete - tritt ein Fußgänger auf die Straße. Sobald ich in die Straßenbahn einsteige - steigt ein Fahrgast in die Straßenbahn. Sobald ich den Einkaufswagen durch den Selbstbedienungsladen schiebe - schiebt ein Kunde den Einkaufswagen durch den Selbstbedienungsladen. (Handke 1969: 49) In solchen und anderen Situationen (beim Einkaufen, auf einer Party, ...) findet Kommunikation statt, während Sprache, für Linguisten, stets zwischen zwei Buchdeckeln eingeklemmt ist. Doch beides gehört selbstverständlich irgendwie zusammen, und die meisten GAD-Sprecher haben ihre eigene Zukunft erlebt, trotz sprachlicher Defizite, oder vielleicht auch wegen? Wie viele Frauen und Männer lagen Männern und Frauen zu Füßen eben wegen dieser (süßen / männlichen / sonstwie? ) sprachlichen Defizite (die aber von einer Menge anderer Vorzüge wett- <?page no="200"?> 200 12 Sprachwandel und Ökonomisierung gemacht wurden)? Da es hier aber um Sprache geht und daher um Linguistik, und konkret um kontrastive, interessieren selbstverständlich nur sprachliche Bettgeschichten. Die führen aber direkt in die Kreolsprachen. Die Situation für Italiener im Deutschland der 50er und 60er war in vieler Hinsicht nicht beneidenswert, doch gab es auch schon viel Schlimmeres: Die Sklavenhändler und Sklavenhalter ein paar Jahrhunderte zuvor in Amerika waren dummerweise nicht dumm. Um die Möglichkeit von Aufständen zu minimieren, wurden die Sklaven deshalb unter ethnischen und damit auch sprachlichen Gesichtspunkten gemischt: So konnten sie sich nicht ohne weiteres miteinander verständigen (und einen Aufstand anzetteln). Natürlich verständigten sie sich doch, aber nicht, indem einer des anderen Sprache oder die Sprache des Sklavenhalters lernte, sondern indem sie, und zwar in sehr kurzer Zeit, eine neue, eine Kreolsprache schufen. Das linguistische Interesse an Kreolsprachen versteht sich genau daher, dass sie sehr schnell entstanden sind und an die nächste Generation bereits als Muttersprache weitergegeben wurden: Sie erfüllen alle kommunikativen Bedürfnisse ihrer Sprecher. 1 Auch darin unterscheiden sie sich von Pidginsprachen, die nur für die Kommunikation zwischen Substrat- und Superstratsprache und -sprechern tauglich sind. Pidginsprachen funktionieren (von wenigen Ausnahmen abgesehen) nur vertikal, zwischen der eigenen und der fremden, aber gesellschaftlich überlegenen Sprache; Kreolsprachen hingegen funktionieren, generationsübergreifend, sowohl vertikal als auch horizontal. Der Unterschied sieht so aus: Superstratsprache Superstratsprache ↕Pidgin↕ ↕ <--------------------------------------------> Substratsprache Substratsprachen ↓ Kreol Abb. 21: Die verschiedenen Dimensionen von Pidgin- und Kreolsprachen Im Pidgin bleiben Superstrat- und Substratsprachen immer Fremdsprachen füreinander; Kreolsprachen werden zu einer gemeinsamen Sprache. So ist Haitianisch eine Kreolsprache, die im Kontakt zwischen der Superstratsprache Französisch einerseits und den Substratsprachen der Eingeborenen sowie der eingeschleppten Afrikaner andererseits vor etwas mehr als 300 Jahren entstanden ist. Heute ist es Nationalsprache von Haiti. Was geschieht bei der Entstehung einer Kreolsprache? Da die vertikale Kommunikation mit den Sprechern der Superstratsprache aus machtpolitischen Gründen Vorrang hat vor der horizontalen Kommunikation unter den Sklaven, schöpft das - neu zu schaffende - Kommunikationsmittel vorwiegend aus dem Lexikon der Superstratsprache. Und weil selbstverständlich kein systematischer Sprachunterricht stattfindet, bleiben sowohl Wortschatz als auch Grammatik funktional orientiert, nach der Devise aller Kommunikation in Notsituationen: Hauptsache, ich 1 So heißt es, obwohl selbstverständlich niemand weiß, welches die kommunikativen Bedürfnisse ihrer Sprecher waren. <?page no="201"?> 201 12 Sprachwandel und Ökonomisierung werde von dir verstanden! Und Hauptsache, ich verstehe dich! Es wird keine Energie in grammatische Richtigkeit (Sprache) investiert, sondern ausschließlich in Verständlichkeit (Kommunikation); diese Investition findet von beiden Seiten, Sprechern und Hörern, in gleichem Maße statt, da beide Seiten (normalerweise) ein gleich großes Interesse haben, einander zu verstehen und sich verständlich zu machen. Hier geht es aber auch um die Frage, wie Sprachen als Sprachen entstehen, was nichts anderes heißt als: Wie kommt Grammatik zustande? Zwei Beispiele: Das französische Verb finir (‚beenden‘) wird, wie die folgenden Sätze (aus Frowein 2005: 14-16) zeigen, in verschiedenen Kreolsprachen in ganz unterschiedlicher Weise verwendet. Worauf es dabei ankommt: Das Wort (in welcher Form auch immer) kann genutzt werden, um irgendeinen Aspekt des Endes oder Zuendeseins oder Zustandekommens zu benennen: temporal, quantitativ, qualitativ, auch im Sinne von ‚vollkommen‘. 77a) […] c’est assez pour aujourd’hui, nous finirons une autre fois. ‚Es ist genug für heute, wir werden (es) ein anderes Mal beenden.‘ (Standard-F) 77b) M fini travay-la. ‚Ich habe die Arbeit beendet.‘ (Haitianisch) 77c) Travay-la fini; ay pozé kò a ou! ‚Die Arbeit ist (jetzt) beendet; geh und mach eine Pause! ‘ (Französisch-Guyana) 77d) Anu ale, mô dalô, u’ n gâje. ‚Nun geh, mein Freund, du hast (jetzt) genug erreicht (geschafft).‘ (Seychellois) 77e) Quand tout la fini prêt, frrr [...] Canards y s’envole. ‚Als alles ganz fertig war, frrr [...] flogen die Enten davon.‘ (Réunionnais) 77f) Mon Dié moi fini bète. ‚Mein Gott, ich bin völlig blöd.‘ (Morysien [Mautirius]) 77g) M’pa t’a-vlé l’fin-kônê sa. ‚Ich möchte nicht, dass er die ganze Geschichte erfährt.‘ (Haitianisch) 77h) Enkò yé di-konsa ou ka-chanté fini. ‚Und außerdem, sie sagen du singst perfekt.‘ (Französisch-Guyana) 77i) Mel li te fini muri! ‚Aber er war schon tot! ‘ (Louisianisch) 77j) Lé-Roi fini faire eine la loi qui nous tous va sivre bientot […] ‚Der König ist (definitiv) fertig damit, das Gesetz zu erlassen [...]‘ (Morysien [Mauritius]) Ein anderes Merkmal von Kreolsprachen soll ebenfalls nur kurz erwähnt werden. Hierbei wird auch sehr deutlich, dass es sich um rein mündlich entstandene Sprachen handelt: Französisch Mau/ SeyCr RéuCr LouCr Hai/ MarCr le chien ‚der Hund‘ lisyê syên chyên chên, chyên la pluie ‚der Regen‘ lapli lapli plwi, pli lapli du feu ‚des Feuers‘ dife (di/ də) fe (di)fe dife un/ l’âme ‚eine/ die Seele‘ nam nam, lam n-m des/ les affaires ‚die Angelegenheiten‘ zafer zafè (z)afè des/ les oiseau ‚die Vögel‘ zozo, zwazo zozo, zwazo zozo, zwazo zwazo, zwèzo Tab. 39: Die Agglutination des Artikels in französischbasierten Kreolsprachen (nach Frowein 2005: 18) [Mau/ Sey: Mauritius/ Seychellen; Réu: Réunion; Lou: Louisiana; Hai/ Mar: Haiti/ Martinique] <?page no="202"?> 202 12 Sprachwandel und Ökonomisierung Es ist klar zu sehen, wie der Artikel mit dem Substantiv verschmolzen wird: Aus la pluie wird lapli; im louisitanischen Kreol aus un âme (mit unbestimmtem Artikel) nam und gleichzeitig aus l’âme (mit bestimmtem Artikel) lam. Wenn aus les affaires zafer werden kann, zeigt das noch offensichtlicher, dass diese Sprachen selbstverständlich nach dem Gehör entstanden sind und es keine schriftliche Verifizierung gibt. Wie gehen sie mit Grammatik um? Sie wird, pauschal gesagt, zusammengestrichen auf das unbedingt Notwendige. Dazu folgende Sätze aus dem Haitianischen, mit standardfranzösischer Version und deutscher Übersetzung: 78a) Li malad. Il / elle est malade. Er / sie / es ist krank. 78b) Li te malad. Il / elle était malade. Er / sie / es war krank. 78c) Li pa te malad. Il / elle n’était pas malade. Er / sie / es war nicht krank. Dass das Kopulaverb in 78a) fehlt, ist typisch für kommunikativ ausgerichtete Sprachen: Er krank ist ja genauso verständlich wie Er ist krank. Es werden aber auch die beiden frz. Personalpronomen zusammengelegt zu li. In Kap. 7.3 wurde gezeigt, wie sinnvoll, weil ökonomisch, Pronominalsysteme sind; Kreolsprachen, die in ihrer Entstehung immer in einem unmittelbar erlebbaren Kontext funktionieren, brauchen ein solches entwickeltes System jedoch gar nicht, da ja die Situation und Hände und Blicke darüber Auskunft geben, wer oder was gemeint ist. In 78b) muss die Vergangenheit abgebildet werden. Dazu wird doch auf das französische Kopulaverb zurückgegriffen, allerdings wird es morphologisch und damit phonetisch zusammengestrichen: était wird zu te, und das ist keine Verbform mehr, sondern wirklich einfach Präteritummarker; in derselben Weise ist - ebenfalls vor Jahrhunderten - die dt. Verbendung -te als Präteritummarker entstanden (Kap. 12.1). Ähnlich wird mit der französischen Verneinung umgegangen (78c). ne ... pas ist historisch gewachsen; in einer Situation, in der es kein historisches Sprachbewusstsein geben kann, spielt diese historische Perspektive aber keine Rolle: Das akustisch unauffällige ne, vor Vokal ohnehin zu n verkürzt, kann wegfallen und das pas wird an die prominentere erste Position gerückt, auch dies im Interesse leichterer Verständlichkeit. Die Entwicklungen, die gerade dargestellt wurden, machen sehr deutlich, was sprachliche Ökonomisierung ist: Ohne Rücksicht auf das Gewordensein sprachlicher Erscheinungen wird nur das beibehalten, was zur Verständlichkeit notwendig ist. Diese Konzentration auf die Verständlichkeit (und gleichzeitige Missachtung der Geschichtlichkeit) wirkt aber nicht nur in der Entstehung von Kreolsprachen, sondern beherrscht jede sprachliche Entwicklung, neuzeitlich immer wieder durch sogenannte Sprachschützer oder -pfleger gebremst, aber kaum jemals nachhaltig verhindert. Ich greife vier Entwicklungen heraus, die sich in D-E-F-G sehr bequem kontrastiv darstellen lassen. Und am Ende wird die Frage zu stellen sein, wie weit Ökonomisierung gehen kann. <?page no="203"?> 203 12.1 Tempus 12.1 Tempus Eine der bekanntesten Passagen der schon zitierten „Bekenntnisse“ des Augustinus handelt von der Zeit, der jeder unterworfen ist, über deren Wesen aber niemand etwas sagen kann. Das Sprechen über zeitliche Verhältnisse ist in vielen Sprachen aber digitalisiert, indem verschiedene Zeitabschnitte fünf grammatischen Formen zugewiesen sind, deren traditionelle deutsche Benennungen sind: Vorvergangenheit - Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft - gewesene Zukunft So ist es (in D-E-F-G) selbstverständlich, sagen zu können (mit immerhin einer Auswahl an zur Verfügung stehenden Zeiten; Kap. 5.1.2): Vorvergangenheit Vergangenheit Gegenwart Zukunft gewesene Zukunft 79D) ich war gegangen ich ging / bin gegangen ich gehe ich werde gehen ich werde gegangen sein 79E) I had gone I went / I was going I go / I’m going I will go I'll be gone 79F) j’étais allé je suis allé / J’allais je vais j’irai / je vais aller je serai allé 79G) είχα πάει (ícha pái) πήγα / πήγαινα (píga / píjena) πάω oder: πηγαίνω (páo, pijéno) θα πάω (tha páo) θα έχω πάει (tha écho pái) Und ein grundsätzliches Problem wird an dieser Zusammenstellung ebenfalls deutlich - aber auch seine sehr bequeme Lösung: Gerade Allerweltswörter wie gehen - go - aller - πάω / πηγαίνω (páo / pijéno) lassen sich nicht fünffach variieren, so dass für die verschiedenen Zeitstufen der semantische Kern, der Stamm, erhalten bleiben könnte. gehe und ging haben morphologisch nichts miteinander zu tun, ebenso wenig wie go und went, vais und aller - wir hatten das schon bei den Suppletiven. Die meisten Verbformen werden allerdings anders gebildet, nämlich „schwach“ oder regelmäßig: Da gibt es (semantisch) keine Missverständnisse, und grammatisch ist alles ganz leicht, die Grammatik ist ausgelagert, in E-F-G in mehrfacher Weise für unterschiedliche Verbformen, z.B. nach Aspekt (Kap. 5.1.2). In D wurden (relativ wenige) Verbformen künstlich (d.h. schriftlich) nach lateinischem Vorbild geschaffen, ohne sich in normalem (mündlichem) Sprachgebrauch jemals durchgesetzt zu haben: Die norddeutsche Vergangenheitsform ist das Präteritum, die süddeutsche das Perfekt. Vorvergangenheit Vergangenheit Gegenwart Zukunft gewesene Zukunft 80D) ich hatte gespielt ich spielte / habe gespielt ich spiele ich werde spielen ich werde gespielt haben 80E) I had played I played / I was playing I play / I’m playing I will play I’ll have played 80F) j’avais joué je jouais / j’ai joué je joue je jouerai / je vais jouer je l’ai joué 80G) είχα παίξει (ícha péksi) έπαιξα (épeksa) παίζω (pézo) θα παίξω (tha pékso) θα έχω παίξει (tha écho péks i ) <?page no="204"?> 204 12 Sprachwandel und Ökonomisierung Diese Wörter und Wortgruppen sehen schon viel übersichtlicher aus. Sie setzen jedoch voraus, dass eine klare Trennlinie gezogen ist zwischen Inhalt und Form, in diesem Fall: inhaltlicher und temporaler Bedeutung. Alle Formen sind in beider Hinsicht durchsichtig, und das gilt in gleicher Weise für alle regelmäßig (in D: schwach) gebildeten Verbformen. In D sind ca. 95% aller Verben schwach, wenn auch die anderen 5% (starker und unregelmäßiger) Verben zu 60% gebraucht werden (Nübling u.a. 2008: 57). Starke und vor allem unregelmäßige Verben wie sein, gehen, tun sind viel älter und werden viel häufiger gebraucht, weil sie eben Grundtätigkeiten und -ereignisse des alltäglichen Lebens benennen. Das letzte starke Verb stammt allerdings aus dem 13. Jh. Seither sind nur noch schwache Verben entstanden. Ähnliches gilt auch für E-F-G. Starke Verben sind zwar ebenfalls regelmäßig gebildet, doch nach (heute) nicht mehr so einfach nachvollziehbaren Regeln. Es lohnt sich hier nicht, sich in diese Bildungsweisen zu vertiefen. Aber es lohnt durchaus, die beiden Zusammenstellungen 79) und 80) zu vergleichen, in denen nicht einmal alle Zeitformen gelistet sind. Sowohl bei den starken als auch bei den schwachen Verben genügt das Verb selbst zur Bildung der verschiedenen Zeitformen nicht, sondern es werden sogenannte Hilfsverben benötigt, die so heißen, weil sie dabei helfen, Zeitformen zu bilden. In D sind das sein, haben und werden sowie Kombinationen daraus. Die anderen Sprachen handhaben es ebenso; in 81) sind die jeweiligen Hifsverben nochmal zusammengestellt: Vorvergangenheit Vergangenheit Gegenwart Zukunft gewesene Zukunft 81D) sein / haben sein / haben - werden werden + haben 81E) be / have be / have - / be will will + have 81F) être / avoir être / avoir - - / aller avoir / être 81G) έχω (écho) έχω (écho) - θα θα + έχω All diese Hilfsverben haben ihre ursprüngliche Bedeutung nicht verloren: Peter ist Fußballtrainer, hat keine Zeit und wird langsam älter - usw. In D gibt es die für Ausländer sehr lästige Regel, dass die Verben der Eigenbewegung (auf ein Ziel hin) (und einige andere) Perfekt und Plusquamperfekt mit „sein“ bilden und nicht, wie alle anderen, mit „haben“. Inhaltlich ist das nicht zu rechtfertigen, zumal es eine Menge Ausnahmen gibt: „ich habe mich bewegt“. Darum geht es hier aber nicht, sondern nur um Folgendes: In ihrer Funktion als Hilfsverben sind diese Verben zu Markern geworden, wie auch θα in G, das allerdings keine andere Bedeutung hat, als die Zukunft zu markieren. Damit komme ich wieder zu den schwachen Verben, deren Präteritumformen in D-E ebenfalls einmal periphrastisch gebildet wurden; die Entwicklung kann hier nur sehr verkürzt dargestellt werden, doch verlief sie ungefähr so, wie das oben schon im Haitianischen (78b) beobachtet wurde. Um die Vergangenheitsform eines Verbs zu bilden, wurde an die präsentische Grundform die Vergangenheitsform von tun angehängt, was ungefähr Folgendes ergab: 82D) ich bilde > ich bilde tat > ich bildeta > ich bildete Und fertig war das Präteritum - wie schon bemerkt: sehr verkürzt. Derartige Grammatikalisierungen, in denen Inhaltswörter ihren eigentlichen Inhalt verlieren, gibt es in allen Sprachen. In Kreolsprachen entstehen sie sehr schnell, aus der Not geboren, in Sprachen, die weniger gesellschaftlichen Zwängen (tha) (tha + écho) <?page no="205"?> 205 12.2 Artikel unterworfen sind, kann es schon mal ein paar Jahrhunderte dauern, bis die inhaltliche Bedeutung (zumindest in einigen Kontexten) völlig verschwunden ist. Das Phänomen selbst kann natürlich auch bewusst genutzt werden: Die Futurform wurde in D sehr spät gebildet; in E ist die ursprünglich einmal enthaltene Modalität linguistisch immer noch nachvollziehbar, heute allerdings nicht mehr semantisiert: will hat inhaltlich nichts mehr mit dem Willen zu tun, sondern markiert nur noch die Zukunft. Und werden in D bedeutet als Zukunftsmarker auch nicht mehr ‚entstehen, sich entwickeln‘. Es handelt sich um eine Sonderform von Homonymie: Ein und dieselbe Wortform bedeutet nicht nur Unterschiedliches, sondern hat unterschiedliche sprachliche Funktionen: als Inhaltsträger oder als grammatischer Marker. Es ist - mal wieder - wie in der Küche: Zwiebeln, in richtiger Dosierung und gut angebraten, können manches Essen verfeinern, während sie in einer Zwiebelsuppe das Essen selbst sind. 12.2 Artikel Irgendwann in den ersten Stunden des Lateinunterrichts lernt(e) man Sätze wie die folgenden, hier gleich mit Interlinearübersetzung in D: 83L) porta crepat. agricola laborat. agricola ancillam amat. 83D) *Tür knarrt. *Bauer arbeitet. *Bauer Magd liebt. Während am Lateinischen nichts auszusetzen ist, sind die Übersetzungen ins D keine grammatischen Sätze - deshalb die Sterne. Das liegt (vor allem) daran, dass es in D Artikel gibt und in L nicht, und „Artikel gibt“ heißt (in vielen Kontexten), dass vor einem Substantiv der Artikel verwendet werden muss. Allerdings muss man sich - anders als in L und weil es bestimmte und unbestimmte Artikel gibt - entscheiden: ‚Eine Tür‘ oder ‚Die Tür‘ ... ‚Ein Bauer liebt eine Magd‘, ‚Ein Bauer ... die Magd‘, ‚Der ... die ...‘ - das sind gleich drei verschiedene Welten. Und diese Welten gibt es auch in E-F-G, denn all diese Sprachen haben sowohl einen bestimmten als auch einen unbestimmten Artikel. In den meisten Sprachen hängt der unbestimmte Artikel mit der Zahl 1 zusammen: eins / ein, eine, ein - one / a (an) - un, une / un, une - ένας, μία, ένα / ένας, μια, ένα (éna s , mía, éna / éna s , mia, éna). Die spannendste Frage ist hingegen, warum eine so prominente Sprache wie L keinen Artikel kennt und damit offenbar jede Menge Unklarheiten in Kauf nimmt. Die Antwort greift schon auf Kap. 12.4 vorweg: L war erst mal eine mündliche Sprache. Während AG schon lange verschriftlicht war, wussten die Römer nicht einmal, was Schreiben überhaupt ist, und noch Jahrhunderte später wurden griechische Sklaven als Schreiber und Vorleser nach Rom importiert. Auch wenn diese Darstellung etwas plakativ ist: In rein mündlich gebrauchter Sprache sind Artikel einfach überflüssig, da ein Sprecher mit einem Blick oder einer Handbewegung die Aufmerksamkeit jederzeit auf das lenken kann, was er meint, auf die eine oder die andere Tür, den einen oder anderen Bauern, diese oder jene Magd, und mit zwei Händen kann man sogar einen bestimmten (diesen) Bauern einer bestimmten (dieser) Magd zuweisen. Diese gerade verwendeten Demonstrativpronomen sind tatsächlich der Ursprung der Artikel, sowohl in den romanischen als auch in den germanischen Sprachen. L hat vier verschiedene Demonstrativa, die (nach Throm <?page no="206"?> 206 12 Sprachwandel und Ökonomisierung 1965: 44-45) kommunikativ unterschieden sind: „hic, haec, hoc bezeichnet, was zeitlich und räumlich im Bereich des Sprechers liegt, auch diesen selbst (1. Person) ... iste, ista, istud bezeichnet den Bereich des Angesprochenen (2. Person) ... ille, illa, illud bezeichnet den Bereich des (in gutem oder bösem Sinn) Besprochenen und Entfernteren (3. Person)“ und is, ea, id wird „besonders in der Erzählung“ verwendet. Zusammengefasst: Die lateinischen Demonstrativa haben etwas mit Kommunikation zu tun, die Artikel - seit es sie gibt - mit Sprache. Das gilt schon für AG und dann erst recht für modernere ide. Sprachen. Artikel vereinfachen das sprachliche Verständnis, was auch zu der Textregel führt, dass unbekannte Weltausschnitte mit einem unbestimmten Artikel eingeführt werden, bevor sie mit einem bestimmten wieder aufgenommen werden können. 84D) Vor 70 Jahren geht ein Bild um die Welt: Der berühmte Kuss eines Soldaten steht für die Freude einer gesamten Nation. (n-tv.de). 84E) 70 years ago an image goes around the world: The famous kiss of a soldier stands for the joy of an entire nation. 84F) Il y a 70 ans, une image a fait le tour du monde: le fameux baiser d’un soldat représente la joie de toute une nation. 84G) Πριν από 70 χρόνια μια εικόνα κάνει το γύρο του κόσμου: Το διάσημο φιλί ενός στρατιώτη συμβολίζει τη χαρά ενός ολόκληρου έθνους. (prin apó 70 chrónja mia ikóna káni to jíro tu kósmu: to diásimo filí enós stratióti simvolízi ti chará enós olókliru éthnus.) Ohne auf alle Besonderheiten der Artikelverwendung einzugehen, seien nur zwei Besonderheiten in F genannt: Der unbestimmte Artikel, der sogenannte Teilungsartikel, steht in Singular und Plural auch als Bestandteil des Partitivs. Das sieht z.B. so aus: 85D) Wir hörten gute Musik. 85E) We listened to good music. 85F) Nous avons écouté de la bonne musique. 85G) Ακούσαμε καλή μουσική. (akúsame kalí musikí.) Außerdem gibt es feststehende Wendungen, zu denen der unbestimmte Artikel im Plural gehört: des jeunes gens, des grands magasins, des bons mots, ... Notwendig ist der unbestimmte Artikel auch in Kontexten wie: des hommes sont venus; ohne Artikel ist der Satz ungrammatisch: *hommes sont venus. In F hat sich der Gebrauch des Artikels am konsequentesten, auch unter allen romanischen Sprachen, durchgesetzt. Damit ist ein System etabliert, das keinerlei kommunikative Funktion hat, sondern ausschließlich eine sprachliche. Die Kategorie „Artikel“ hat sich hier, anders als in D-E-G, voll entfaltet. 12.3 Präpositionen Präpositionen - prepositions - prépositions - πρόθεσεις (próthesis) sind eine ganz besondere Wortart. Das beginnt schon bei ihrem Namen, der besagt, dass sie vor etwas stehen, und gemeint ist: vor einem Substantiv. Dieses wird mit ihrer Hilfe und in spezifischer Weise in den Satz eingebunden. Dabei scheinen einige Präpositionen so eindeutig zu sein, dass man sich wenig Gedanken darüber machen muss: <?page no="207"?> 207 12.3 Präpositionen 86D) Der Stuhl steht unter / vor / hinter / auf / neben dem Tisch. 86E) The chair stands under / in front of / behind / on / next to the table. 86F) La chaise est sous / devant / derrière / sur / à côté de la table. 86G) Η καρέκλα είναι κάτω από το / μπροστά από το / πίσω από το / δίπλα από το τραπέζι. (i karékla íne káto apó to / brostá apó to / píso apó to / dípla apó to trapézi.) Aber schon diese Beispiele zeigen, dass sich ein paar Gedanken, gerade unter kontrastiver Perspektive, eben doch lohnen. Die meisten dieser einfachen Präpositionen haben eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Bedeutungen; ausgehend von D unter nenne ich einige Gleichungen: 87a) unter freiem Himmel - in the open air - à l’extérieur - στο ύπαιθρο (sto ípethro) 87b) unter dem Durchschnitt - below average - inférieur à la moyenne - κάτω από το μέσο όρο (káto apó to méso óro) 87c) unter anderem - among other things - entre autres (choses) - μεταξύ άλλων (metaksí álon) 87d) einer unter vielen - one of many - juste un numéro - έν α ς εκ τ ω ν π ο λλ ών (énas ek ton pollón) 87e) unter uns - between you and me - entre nous - μεταξύ μας (metaksí mas) 87f) unter Lebensgefahr - at risk to one’s life - au péril de sa vie - με κίνδυνο της ζωής (me kíndino tis zoís) 87g) unter der Woche - during the week - au cours de la semaine - κατά τη διάρκεια της εβδομάδας (katá ti diárkia tis evdomádas) 87h) unter Umständen - possibly - dans certaines circonstances - ενδεχομένως (endechoménos) In den meisten Verwendungsmöglichkeiten hat unter und haben viele andere Präpositionen, selbstverständlich auch in den anderen Sprachen, ihre eigentliche Bedeutung verloren. Mitunter findet auch ein Präpositionswechsel statt, was eben deshalb möglich ist, weil sie vollkommen desemantisiert sind. Hartmann von Aue hat Ende des 12. Jhs. „an den buochen“ gelesen, mittlerweile liest man schon lange in einem Buch. Wenn die ursprüngliche Bedeutung etwas mit „innen“ zu tun hat, ist davon nichts mehr geblieben, weder bei in einer Woche noch bei in der Tat usw. Die höchste Desemantisierung bedeutet die größtmögliche Grammatikalisierung. Damit kommt eine sprachgeschichtliche Entwicklung systematisch zurück zu ihrem Anfang. Schon in L kann der Akkusativ als räumlicher Zielkasus ohne Präposition verwendet werden: „Domum, Romam, lusum eamus! “ - ‚Gehen wir nach Hause, nach Rom, zum Spielen! ‘ In AG gibt es sowohl einen lokalen Dativ auf die Frage „Wo? “ als auch einen temporalen Dativ auf die Frage „Wann? “ In D-E-F-G sind ebenfalls präpositionslose Zeitangaben möglich; beides jeweils mit unterschiedlichen Bedeutungsnuancen und Gebräuchlichkeiten: 88D) Wir kommen in der nächsten Woche | nächste Woche. 88E) We’ll arrive in the next week | next week. 88F) Nous arriverons pendant la semaine prochaine | la semaine prochaine. 88G) Ερχόμαστε μέσα στην επόμενη εβδομάδα | την επόμενη εβδομάδα. (erchómaste mésa stin epómeni evdomáda | tin epómeni evdomáda.) In G besteht außerdem die Möglichkeit, in Zielangaben die Präposition wegzulassen. Πάμε στο σπίτι > Πάμε σπίτι ( páme sto spíti > páme spíti ,Gehen wir nach Hause‘) , Πάμε στην παραλία > Πάμε παραλία (páme stin paralía > páme paralía ‚Gehen wir zum Strand‘; vgl. 76). Auch das Kiezdeutsche „Gehst du Bahnhof? “ ist im <?page no="208"?> 208 12 Sprachwandel und Ökonomisierung Sinne sprachlicher Ökonomisierung sehr konsequent: In Sätzen mit einem Verb der Selbstbewegung kann eine Ortsangabe nur eine Zielangabe sein - von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen („Sie hüpfte ins Wohnzimmer - im Wohnzimmer“.) Zudem ergibt sich daraus ein erhebliches Maß an Vereinfachung, da die Richtungspräpositionen, gerade für Fremdsprachenlerner, sehr schwer zu handhaben sind, zumal in allen vier Sprachen eine ganze Reihe von Sonderregeln für verschiedene Präpositionen greifen. - In E existiert die Möglichkeit der präpositionslosen Zielangabe ebenfalls, aber (noch? ) nur in stehenden Wendungen: „Coming home.“ 12.4 Konjunktionen Konjunktionen verbinden verschiedene Ausdrücke zu einem Satzteil oder Satzteile miteinander oder Teilsätze zu (mehr oder weniger) komplexen Sätzen. In L lässt sich ihre Entstehung einfach nachvollziehen: Sie wurden notwendig, als L nicht mehr nur die Sprache einer Regionalmacht irgendwo in Italien war, sondern die einer Weltmacht, die einen erheblich größeren Verwaltungsaufwand bewältigen musste, und dies selbstverständlich schriftlich und über immer größere, auch kulturelle, Entfernungen hinweg. Temporale, kausale, adversative, konzessive, ... Beziehungen zwischen zwei Aussagen lassen sich mündlich ohne weiteres intonatorisch, gestisch, mimisch verdeutlichen, schriftlich hingegen nicht; im Schriftlichen müssen sie versprachlicht werden. Noch Cato der Ältere, von dem nicht allzu viel erhalten ist, folgt - etwa in einer Rede von 167 vor Chr. - einem Stil, der „die Periode vielschichtig“ gliedert, doch werden die Äußerungen konzessiver Natur, die in ihr vorherrschen, meist parataktisch mit einer Folge von affirmativen Sätzen ausgedrückt, auf die unmittelbar ein beigeordneter Satz folgt, der mit sed, tamen, atque eingeleitet wird und die Negation einschließt. In der Tat argumentiert Cato „nach dem Ausschlussverfahren, einem langen Verfahren, das von der Vollständigkeit, vom Bestreben alle Punkte anzusprechen gekennzeichnet ist“ [...], entsprechend einer kulturellen Ideologie, dass der Bauer auf Konkretes ausgerichtet und bereit sei, mit Geduld unter den vorgeschlagenen Möglichkeiten die beste Lösung zu erreichen. Man kann offenbar davon ausgehen, dass „die Hypotaxe noch nicht mit einem adäquaten Gebrauch der Konjunktions-Partikel verdeutlicht wird“, was der Grund dafür ist, dass „wir vermuten müssen, dass die hypotaktischen Beziehungen de facto in der gesprochenen Rede noch mit der Stimmführung ausgedrückt wurden“ [...]. (Poccetti/ Poli/ Santini 2005: 264) Innerhalb eines guten Jahrhunderts wurde Latein zur schriftlichen Sprache par excellence, sowohl in Literatur als auch in gesellschaftlichen Gebrauchstexten, und in dieser Form erstarrte sie als „Latinitas perennis“ 1 , bevor sie sich ca. seit dem 4. Jh. in den romanischen Sprachen dann doch auflöste. 1 Das ist ein sehr schönes Beispiel für den Bedeutungswandel, der mit kulturellen Veränderungen einhergeht: perennis heißt ursprünglich ‚das ganze Jahr über‘; dahinter steht die Vorstellung einer Zeit, die alle (vor allem landwirtschaftlich erlebbaren) Jahreszeiten umfasst. Von da aus und im Übergang zu einem nicht landwirtschaftlich erlebbaren Kontext <?page no="209"?> 209 12.4 Konjunktionen Ich stelle hier nur ein einziges Beispiel dar. Unterordnende Konjunktionen bilden mentale Strukturen in schriftlicher Sprache ab: 89D) Weil ich Hunger habe, pflücke ich ein paar Äpfel, damit ich sie essen kann. 89E) Because I’m hungry, I pick a few apples, so I can eat them. 89F) Puisque je suis affamé, je prends quelques pommes, donc je peux les manger. 89G) Επειδή πεινάω, μαζεύω μερικά μήλα, για να τα φάω. (epidí pináo, mazévo meriká míla, ja na ta fáo.) Mündlich lässt sich das ohne weiteres auch parataktisch vermitteln, z.B. durch einfache Reihung; damit kann man auf sehr unangestrengte Weise die Aufwändigkeit der Sätze 89) vermeiden: 90D) Ich habe Hunger, pflücke ein paar Äpfel und esse sie. 90E) I’m hungry, pick a few apples and eat them. 90F) Je suis affamé, je prends quelques pommes et je les mange. 90G) Πεινάω, κόβω μερικά μήλα και τα τρώω. (pináo, kóvo 2 meriká míla ke ta τρóο .) Wer D-E-F-G einigermaßen kennt und zudem mindestens über folgendes Weltwissen verfügt: 1) Hunger kann u.a. durch den Verzehr von Äpfeln gestillt werden; 2) Äpfel werden üblicherweise nicht am Baum hängend zu sich genommen, und deshalb 3) bevor Äpfel gegessen werden, müssen sie gepflückt worden sein, versteht die kausalen und finalen Beziehungen mit, die in der mentalen Grammatik abgelegt sind, ob sie sprachlich konjunktional wiedergegeben werden oder nicht. Selbstverständlich gibt es Abhängigkeiten und Ereignisfolgen, die nicht so leicht zu durchschauen sind wie beim Essen, und wenn zudem eine Hörerin nicht einfach nachfragen kann, falls sie in ihrem Verständnis unsicher ist, lohnt es sich, eindeutige Scharniere zwischen den Einzelaussagen zu installieren - das sind die Konjunktionen. In den (schriftlichen! ) Sprachen der Logik oder Mengenlehre kann man sich auf ganz neue Symbole einigen, die eine eindeutige Bedeutung haben (≡≢⊂⊃⊄⊇usw.); die Nutzer natürlicher Sprachen greifen auf bestehende Wörter oder Wortverbindungen zurück, und wenn im Lauf der Zeit deren Bedeutung auf diese neue Rolle festgelegt ist, ist der Vorgang der Grammatikalisierung erstmal abgeschlossen; wie bei den Präpositionen gesehen, kann er aber durchaus noch weitergehen: weil ist semantisch festgelegt auf die Markierung einer kausalen Beziehung (im weil-Satz wird ein Grund für etwas genannt), in oder unter (87) ist semantisch auf gar nichts mehr festgelegt. Woher kommen die einen Kausalsatz einleitenden Konjunktionen in D-E-F-G? Das ist relativ kurz erklärt: Weil entstand aus einem mhd. Substantiv wîle, das in D Weile weiterlebt (im Sinne von: ‚eine kurze Zeit lang‘, es sei denn, sie wird zu lang und artet in Langeweile aus). Dieses Substantiv gibt es auch noch in E, doch wurde in while nicht nur die ursprüngliche temporale Bedeutung grammatikalisiert (‚während‘), sondern auch der der Gleichzeitigkeit häufig innewohnende Kontrast (‚obwohl, wogegen‘). In D lässt sich die Bedeutungsentwicklung, genauer: die Verschiebung von einer inhaltlichen zu einer grammatischen Bedeutung, also die (in Rom, das mittlerweile zur Großstadt geworden war) erweiterte sich die Bedeutung zu ‚immerwährend‘, also die ‚niemals vergehende Latinität‘. 2 Es gibt in G keine genaue Entsprechung für ‚pflücken‘; μαζεύω ist ‚einsammeln‘, κόβω ist ‚schneiden‘. ( ) <?page no="210"?> 210 12 Sprachwandel und Ökonomisierung Grammatikalisierung, damit begründen, dass eine kausale Abhängigkeit immer auch eine temporale ist: Weil es regnet, öffne ich den Regenschirm. = Erst beginnt es zu regnen, dann öffne ich den Regenschirm. Because geht, wie ebenso leicht zu sehen ist, auf ein lateinisches causa ‚Grund‘ zurück, das aber erst über F par cause nach E gelangt und um 1300 bi cause wurde, das einen abhängigen Nebensatz einleiten konnte, alternativ zu why; ab ca. 1400 wird es auch als ein Wort, also zusammen geschrieben. Auch parce que ist erst im Lauf der Zeit (fast) zusammengewachsen, noch im 17. Jh. forderte Claude Favre de Vaugelas, einer der Mitbegründer der Académie française, doch bitte nicht par ce que zu schreiben, das sich ziemlich wörtlich aus ‚wegen dem das‘ ergeben hat. Hier liegt eine ähnliche Entwicklung vor wie in D beim nebensatzeinleitenden dass: Ich sage dir das: Es regnet. > Ich sage dir, dass es regnet. G επειδή (epidí) ist in AG ursprünglich: ἐπεὶ δή (epeí de); auch hier gibt es wie in D-E eine zeitliche Vorstellung: ‚nach dem‘ (und wie in F eigentlich mehrere Wörter). Aber es gibt noch zwei andere Konjunktionen, mit denen sich kausale Abhängigkeiten markieren lassen: διότι (dióti), hinter dem AG διό τι (dió ti) steht: ‚weswegen was‘, ebenfalls kausal, und γιατί (jatí), das auch fragesatzeinleitend verwendet wird in der Bedeutung ‚warum‘; es geht zurück auf: διά τι (diá ti), ‚durch was‘. Temporale oder mediale Wendungen werden also zu kausalen grammatikalisiert, wobei ihre ehemalige Bedeutung aufgegeben wird. Dass die Grammatikalisierungen, nicht nur in der Entstehung von Konjunktionen, und nicht nur in D-E-F- G, denselben Gesetzmäßigkeiten folgen, zeigt, dass Sprache und Sprachen sich überall, wenn nicht in gleicher, so doch in ähnlicher Weise in kommunikative Bedürfnisse einpassen. Dazu brauchen sie so viel Grammatik, wie nötig ist, damit sich ihre Nutzer möglichst unkompliziert miteinander unterhalten können, und sie brauchen nicht mehr Grammatik, als nötig ist, damit sich ihre Nutzer möglichst unkompliziert miteinander unterhalten können. Weshalb bei den - sehr häufig verwendeten - dass- und weil-Sätzen auch die (in D markierte) Nebensatzstellung SOV im Mündlichen aufgegeben wird. Was nichts mit der Bedeutung zu tun hat, sondern ausschließlich mit der Frequenz: in den (wesentlich selteneren) da-Sätzen bleibt SOV erhalten. 12.5 Grenzen der Ökonomisierung Ökonomisierung hat mindestens fünf Grenzen: 1) Wo mit Sprache gespielt wird, nach Jakobson 1979: 92ff. also ihre poetische Funktion im Vordergrund steht, ist Ökonomisierung höchst kontraproduktiv. Raymond Chandler (in Kap. 13.2) hat großen Sinn für Kürze, doch seine Romane leben von ihrer paarhundertseitigen sprachlichen Finesse und nicht von „Frau: tot - Mörder: Gärtner“. In vielen Kulturen werden Kinder mit Kinderreimen in dieses Spiel eingeführt. 2) In Situationen, in denen Wahrheit und Zuverlässigkeit der Äußerung eine Rolle spielen, hat Ökonomie eine sehr eindeutige Grenze: Was wahr ist, muss wahr bleiben, und die wichtigste Voraussetzung dafür: Es muss verständlich bleiben. <?page no="211"?> 211 12.5 Grenzen der Ökonomisierung 3) Unsere Kenntnis von früheren Sprachstufen ist genau genommen die Kenntnis früherer Schriftsprachstufen. Erst seit der Möglichkeit, sich in Chatrooms zu unterhalten, sind immerhin die Stilunterschiede zwischen mündlicher und schriftlicher Kommunikation weggefallen, wenn auch die Bedingungen sich nicht angeglichen haben, es gibt nach wie vor keinen gemeinsamen Kommunikationsraum. Mündlich wird die Eindeutigkeit einer Äußerung häufig ganz leicht durch deiktische Ausdrücke hergestellt, was sich schriftlich nicht nachvollziehen lässt. Schrift ist - fast - immer weniger ökonomisch als Mündliches; Ausnahmen sind spezifisch schriftliche Textgattungen wie Tabellen (Fußballergebnisse, Börsenkurse, Busfahrpläne, ...), Karten (Wetter-, Land-, ...-), Sonderangebote usw. 4) Zwar nicht historische Sprachstufen, wohl aber Traditionen, die in historische Sprachstufen zurückreichen, bilden (nationale) Identifikationsmuster: Homer und die Tragiker bei den Griechen, Cicero und Vergil bei den Römern, Dante bei den Italienern, Cervantes bei den Spaniern, Shakespeare bei den Engländern, spätestens Voltaire bei den Franzosen, Goethe und Schiller bei den Deutschen. Aber kein Mensch hat zur jeweiligen Zeit so gesprochen wie die genannten Meister, nicht einmal sie selbst. Und das schließt dann wieder an den ersten Punkt an, aber nicht nur: Homer, Cicero, Dante ... wirken nicht nur deshalb als vorbildlich, weil sie so tolle Sachen geschrieben haben, sondern weil sie - wie auch immer man das formulieren will - das Beste aus ihrer Sprache herausholten bzw. ihr beibrachten, ob das die Melodik ist, die Syntax, die Lexik, was auch immer. 5) Es gab nie so viel Gesprächs- und Schreibbedarf wie heute, weil es nie so viele Menschen gab, die noch nie so viele Kommunikationsmöglichkeiten hatten und noch nie so alt wurden wie heute, kurzum: Es gab noch nie eine Kommunikationsgesellschaft, und eine Leistungsgesellschaft, die nur sprach- und schriftlich funktionieren kann, gibt es auch noch nicht allzu lange. Beides zusammen kurbelt die Ökonomisierung an, doch wo es in der Wirtschaft Globalisierung gibt, die alles billiger macht, von der Unterhose bis zur Limousine, hat Sprache, wenn man sie erst einmal kann, den unschätzbaren Vorteil, von vornherein kostenlos zu sein, sie muss gar nicht billiger werden, weshalb es sich andersherum lohnt, ihr ihre Identität zu erhalten: So günstig ist keine andere Möglichkeit, auch seine eigene Identität (als Sprecher) zu wahren. <?page no="212"?> 13 Sprecher und Hörer - Hörer und Sprecher Wenn zwei Menschen miteinander kommunizieren, mündlich oder schriftlich, und davon abgesehen, worum es geht, gibt es drei Partner und zwischen ihnen vier mögliche Beziehungen: 1) Sprecher/ Schreiber Äußerung Hörer/ Leser 2) Sprecher/ Schreiber Äußerung Hörer/ Leser 3) Sprecher/ Schreiber Äußerung Hörer/ Leser 4) Sprecher/ Schreiber Äußerung Hörer/ Leser Abb. 22: Kommunikationen 1) Die erste Konstellation kommt außerordentlich häufig vor: Der Sprecher konzentriert sich auf seine Äußerungen und interessiert sich nicht dafür, was und wie sie beim Hörer ankommen, er hört sich halt gern reden. 2) Auch das ist sehr verbreitet, vor allem in schriftlicher Kommunikation: Niemand kann bei Homer nachfragen, was er denn eigentlich in der „Ilias“ gemeint habe, was dann auch - erst sehr spät - methodisiert wurde: Was der Autor „eigentlich“ meint, ist ganz uninteressant, im literarischen Text hat nämlich alles Bedeutung (z.B. Lotman 1981: 27) und der Leser liest, wie es ihm und seiner Theorie passt, er ist mit dem Text grundsätzlich allein, so dass der Autor nur stören könnte, zumal er in den meisten Fällen und (aufgrund seiner sehr spezifischen Autorität) vernünftigerweise gar nicht in der Lage ist, selbst Auskunft zu geben: Geschichten entwickeln sich, ebenso wie Verständnisse, ebenso wie Bedeutungen. Dasselbe gilt aber auch für schriftliche Alltagskommunikation: Pierre schreibt an Louise eine Urlaubskarte von den Malediven, um eine alte Beziehung wieder zum Leben zu erwecken, doch Louise versteht: Der will mir doch nur klarmachen, dass er sich so einen fetten Urlaub leisten kann, und ich nicht! 3) Glücklicher- und unglücklicherweise gibt es auch diese „Unterbrechung“ relativ oft, glücklicherweise z.B. in den Anfängen einer Kommunikation: Anna und Otto sind derart ineinander verschossen, dass alles, was sie zueinander sagen, so süß wie Schalmeienklang ist, und der Inhalt ist gar nicht so wichtig, Meinungsverschiedenheiten kommen nicht in Frage. Sind die Geigen aber erst mal vom Himmel gefallen, kann Otto (unglücklicherweise) noch so klug daherreden, Anna will es einfach nicht mehr hören und schaltet auf Durchzug, und sie plappert ohnehin immer nur dasselbe dumme Zeug! 4) Diese Situation ist wirklich geglückte Kommunikation. Der Hörer versteht, was der Sprecher meint. Das hat nicht nur etwas mit Idylle zu tun, sondern auch mit Busfahrplänen, Fußballergebnissen und Gesetzestexten - am schwedischen <?page no="213"?> 213 13 Sprecher und Hörer - Hörer und Sprecher Parlament arbeiten 4 Linguisten daran, für die Verständlichkeit amtlicher Verlautbarungen zu sorgen, am deutschen Bundestag zwei halbe (Mertzlufft 2010: 205ff.). In Kap. 4 ging es um den Unterschied zwischen Silbensprachen und Wortsprachen, und es wurde auch schon festgestellt, dass Silbensprachen leichter zu sprechen sind als Wortsprachen. Grundsätzlich lohnt es sich, in sprachtypologischer, aber auch in kontrastivlinguistischer Perspektive, diese Feststellung zu verallgemeinern und danach zu fragen, wie die kommunikativen Leistungen innerhalb der gerade dargestellten Konstellationen zwischen den Gesprächspartnern verteilt sind, und wie das in verschiedenen Sprachen aussieht. Diese Frage hat eine persönliche, eine psychologische und eine sprachliche Seite, die nicht immer strikt getrennt werden können, aber auch nicht müssen. Und man kann sie auch salopp stellen: Warum soll ich als Sprecher allein etwas für Verständlichkeit tun? Du als Hörer kannst gefälligst auch was machen! Nach Humboldt ist eine Sprache umso besser, je eher sie dem Sprecher ermöglicht, sich selbst auszudrücken (Kap. 3.2). Dazu gehört eine elaborierte Grammatik. Vor allem Chomskys verschiedene Versionen der generativen Grammatik folgen diesem Gedanken unter Rückgriff auf Descartes (letztlich aber auf Aristoteles) ganz selbstverständlich. Sein kompetenter Sprecher ist derjenige, der die grammatische Tiefe einer Sprache völlig ausloten kann und perfekt beherrscht. Dabei gehen ihm jedoch alle menschlichen Eigenschaften ab (die gerade genannten zwei anderen Seiten). Ganz anders sieht das die nahezu gleichzeitig entwickelte Sprechakttheorie, indem sie nicht die grammatische, sondern die pragmatische Beherrschung der Sprache in den Vordergrund stellt: Sprache besteht nicht (nur) aus wohlgeformten Sätzen, sondern mit Sprache kann man vor allem eine Menge Handlungen ausführen (Kap. 8.1). Gemeinsam ist diesen in Herkunft und Perspektive so unterschiedlichen Ansätzen mit ihren unterschiedlichen Akzenten auf Sprachsystem einerseits und Sprachfunktion andererseits aber eines: Sie gehen beide vom Sprecher aus. Der Sprecher ist es, der die Sprache beherrscht; der Sprecher ist es, der mit Sprache handelt. Eine aus dieser ersten sich ergebende zweite Gemeinsamkeit von generativer Grammatik und Sprechakttheorie ist die Überzeugung, dass sich auf der jeweils fokussierten Ebene etwas Richtiges von etwas Falschem unterscheiden lässt: Was der einen der wohlgeformte Satz ist, ist der anderen der erfolgreiche Sprechakt. Der Einhaltung korrekter syntaktischer Strukturen entspricht die Befolgung der sprechakttheoretischen Gesetzmäßigkeiten. Das heißt aber zunächst nichts anderes, als dass es in beiden Ansätzen keine Differenz gibt zwischen dem Gemeinten des Sprechers und dem Verstandenen des Hörers, jedenfalls wird das nicht in angemessener Weise reflektiert. Ein Hörer spielt weder hier noch dort eine Rolle. In der Grammatik findet er nur als möglicher Sprecher Berücksichtigung, und in der Sprechakttheorie ist er ohnehin dem Sprecher vollkommen ausgeliefert, denn die Aufgabe des Hörers besteht nur darin, richtig, d.h. der Intention des Sprechers gemäß, zu reagieren; seine tatsächliche Reaktion wird jedoch nur insofern bedacht, als aus ihr Rückschlüsse auf die Richtigkeit der Durchführung des Sprechakts gezogen werden. <?page no="214"?> 214 13 Sprecher und Hörer - Hörer und Sprecher Was geschieht aber, wenn ein kompetenter Sprecher mit umfangreichem Lexikon und elaborierter Grammatik auf einen weniger kompetenten Hörer mit kleinem Lexikon und rudimentärer Grammatik stößt, und umgekehrt? Und was geschieht, wenn der Sprecher seinen indirekten oder auch direkten Sprechakt vorbildlich durchführt, aber der Hörer versteht nur „Bahnhof“? Da sich zwar theoretisch Sprachsystem und Sprachfunktion unterscheiden lassen, in der Kommunikation aber nicht, ergeben sich eine Menge mögliche Konstellationen. Die meisten interessieren hier nicht, aber es lohnt sich, (zunächst) zwei zu typisieren: 1) Ein höflicher Franzose, der gerade D lernt, trifft auf einen sturen Hamburger Oberlehrer, der unaufhörlich wohlgeformte grammatische Sätze äußert und grandios abwechseln kann zwischen direkten und indirekten Sprechakten. Der Franzose hat die größten Probleme, ihn zu verstehen, zumal sein Gegenüber ihn, wenn er selbst etwas sagen oder nur nachfragen will, in jedem Satz unterbricht, um ihn zu korrigieren, weil sein Deutsch ja so schlecht ist. Irgendwann ziehen es beide vor, die Kommunikation ganz aufzugeben. 2) Die knapp 2-jährige Griechin Evi sitzt im Hochstuhl am Esstisch und sagt: „papuz.“ Die Mama, die am Herd steht, antwortet (auf G): „Genau, mein Schatz, das sind meine Schuhe.“ oder: „Du hast ja deinen Schuh ausgezogen.“ oder: „Willst du deine Schuhe anziehen? “ oder: „Sollen wir rausgehen? “ oder: „Jetzt gibt’s gleich was zu essen, mein Liebling, danach wird geschlafen und dann gehen wir einkaufen.“ Der Unterschied ist klar: Im ersten Fall ist der Franzose zwar kein kompetenter Sprecher, aber dennoch bereit, kommunikative Arbeit zu leisten, während der Hamburger nicht in der Lage ist, irgendeine Verantwortung im Interesse der Erreichung eines gemeinsamen kommunikativen Ziels zu übernehmen. Im zweiten Fall ist der eine Partner sprachlich noch erheblich inkompetenter als der Franzose in D, doch gibt die Mama sich alle Mühe, Evi zu verstehen, d.h. dem, was sie von sich gibt, eine Bedeutung beizulegen. Alles, was die Mama machen kann, ist jedoch, ihr Bedeutungsmöglichkeiten anzubieten, und ob die „richtige“ Bedeutung wirklich dabei ist, wird sie niemals verlässlich herausfinden, denn das Töchterchen kann auch auf Nachfrage nichts anderes sagen als „papuz“, doch eventuell hört es eine Alternative (wenn es sie denn richtig versteht), die ihr viel besser gefällt als das ursprünglich von ihr „Gemeinte“, und das ist dann richtig verstanden. 3) Um dem Hamburger aber noch einen Chance zu geben: Eine Griechin, die etwas besser D kann als der Franzose (und zudem etwas hübscher ist), äußert innerhalb einer Erzählung einen der beiden folgenden Sätze: 91Da) Das Feuer ist sehr schnell erloschen, weil es glücklicherweise angefangen hat zu regnen. 91Db) Das Feuer ist sehr schnell erloschen, obwohl es glücklicherweise angefangen hat zu regnen. 91Da) leuchtet ein, 91Db) nicht; grammatisch ist an beiden nichts auszusetzen. Im zweiten Satz stehen das Erlöschen des Feuers und der einsetzende Regen jedoch in alltagsweltlichem Widerspruch zueinander, der zudem durch die Be- <?page no="215"?> 215 13 Sprecher und Hörer - Hörer und Sprecher wertung glücklicherweise verschärft wird. Der kompetente Hörer wird entweder nachfragen oder (wie hier) die korrekte semantische Beziehung zwischen beiden Sätzen selbst herstellen, in der Annahme, dass die hübsche Sprecherin die beiden Konjunktionen weil und obwohl einfach nur verwechselt hat; kann ja vorkommen. Aus dem bisher Gesagten könnte man schließen, dass zwar nicht immer der Sprecher die Regeln der Kommunikation bestimmt, aber doch derjenige, der die höhere Kompetenz hat. Das ist aber keineswegs so. Zwei weitere Beispiele, sehr plakativ dargestellt, ein mündliches und ein schriftliches: 4) Herz und Ziel der Rhetorik von ihren Anfängen in der Antike bis heute ist die von ihr anvisierte Wirkung. Schon in ihrer Ursprungslegende vom Ende der Tyrannis in Sizilien ist das selbstverständlich: Da kein Recht mehr mit Gewalt durchgesetzt wurde, musste es verhandelt werden, und dazu musste man eine Mehrheit unter den Zuhörern finden, die am Ende darüber abstimmten (vgl. Stroh 2009: 41ff.). Der Redner (vor Gericht) hatte sich ganz seiner Sache zu unterstellen, doch diese Sache war nicht etwa der Verhandlungsgegenstand selbst, sondern das Interesse des Auftraggebers, für den er am Rednerpult stand. Und das Ziel der Rede konnte ausschließlich über die Hörer erreicht werden. Der Redner musste selbstverständlich Sprache und Gesetze beherrschen, doch indem er (öffentlich) sprach, lieferte er sich dieser Öffentlichkeit aus. Die Wirkmächtigkeit einer Rede ließ sich - sprechakttheoretisch gesprochen - nur an ihrer Perlokution ermessen, die, wie Sokrates (angeblich) den Sophisten als Redelehrern in Athen vorwarf, darin bestand, dass die Hörer am Ende die eigentlich schlechtere Sache für die bessere hielten und entsprechend abstimmten. Dass es dennoch den Anschein hat, als würde der Redner die Hörer beherrschen, liegt zum größten Teil daran, dass die Hörer in synchroner Wechselwirkung zueinander stehen, was aber nichts anderes bedeutet, als dass die perlokutive Kraft vom Redner allenfalls initiiert wird; entfaltet und multipliziert wird sie wesentlich in der Masse. Ähnliches gilt deshalb selbstverständlich für Massenmedien: Der Grundversorgungsauftrag der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ist erfüllt, wenn die meisten Menschen mindestens einmal in der Woche vor dem Fernseher zufrieden sind, so dass sie in der nächsten Woche hoffentlich öfter einschalten, und die privaten Sender richten sich ohnehin nach dem Geschmack ihres Publikums. 5) Schließlich ein sehr punktuelles Beispiel: Milan Kundera weist in seinen literarisch-politischen Essays unter dem Titel „Der Vorhang“ auf die Unterschiede der Literaturen großer und kleiner Länder und Sprachen hin. Kafka, hätte er Tschechisch geschrieben, wäre niemals bekannt geworden. Max Brod hatte zwei Jahrzehnte damit zu tun, ihn im deutschen Sprachgebiet bekannt zu machen, von wo aus er erst dann weltweit beachtet wurde; vom viel kleineren tschechischen Sprach- und Literaturraum wäre das vollkommen unmöglich gewesen (Kundera 2008: 51). Die bloße Anzahl der Leser entscheidet darüber, ob man jemanden etwas sagen lässt oder nicht, ob das Geschriebene irgendwo verstaubt oder ins allgemeine Bewusstsein dringt, ob es überhaupt rezipiert wird und vielleicht sogar Bewusstsein verändern kann. Und wie oft schwappen <?page no="216"?> 216 13 Sprecher und Hörer - Hörer und Sprecher große literarische (und andere) Erfolge aus den USA nach Europa herüber und wie selten in die andere Richtung hinüber? 13.1 KL Was haben diese Situationen und Beispiele mit KL zu tun? Ob Franzose und Deutscher oder Griechin, ob Evi und Mama oder Pierre und Papa, der Areopag in Athen oder der Berliner Sportpalast, Kafka oder - um auch hier ganz plakativ zu bleiben - van Gogh: Die Muster sind überall dieselben, was ja auch nicht verwundert, da ihnen eine (vorsichtig formuliert) westeuropäische soziokulturelle Grammatik zugrunde liegt. Unterschiede gibt es selbstverständlich trotzdem, sie beginnen spätestens in der Schule. Ich greife das schon früher erwähnte Beispiel der Notenskalen noch einmal auf, diesmal auch erweitert durch die englischen und französischen und die ECTS-Noten, die innerhalb des Bologna-Prozesses etabliert wurden: D 1 2 3 4 5 6 E A* A B C D E U F 20 19 18 17 16 15 14 13 12 11 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 G 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 ECTS A B C D E FX F Tab. 40: Schul- / Universitätsnotensysteme in D-E-F-G-ECTS 1 Drei Aspekte verdienen hervorgehoben zu werden: 1) Bestanden hat man in Deutschland mit zwei Drittel der Noten, in England mit sechs Siebtel, in Frankreich mit der Hälfte, in Griechenland mit drei Fünftel, das sind jeweils die Noten links der doppelten Linie. 2) In England ist durchgefallen durchgefallen, während die Studierenden oder Schüler in Frankreich am genauesten Auskunft darüber erhalten, wie schlecht sie tatsächlich abgeschnitten haben. Das kann durchaus von Bedeutung sein, wenn man etwa in einem (deutschen) Zeugnis eine 5 mit einer 3 ausgleichen kann, eine 6 aber nicht. 3) Wichtiger für die KL ist eine andere Frage: Eine griechische Studentin ist mit dem Erasmus-Programm für ein Semester in Berlin. Die dort erbrachten Leistungen sollen in Athen anerkannt werden. Vier Noten müssen umgerechnet werden auf sechs bzw. zwei auf drei: ein Ding der Unmöglichkeit! Natürlich nicht, denn mittlerweile gibt es ein gesamteuropäisches Notensystem zwischen A und E (bestanden! ) mit entsprechenden Umrechnungskursen. Um das Ganze aber zu vereinfachen: In Athen (wo die ECTS-Noten sich noch nicht durchgesetzt haben) muss man sich zwingend entscheiden, ob z.B. das in Berlin erworbene A als griechische 10 oder 9 gewertet wird. Da es unmöglich ist, an der Berliner Universität nachzufragen, ob es ein gutes oder schlechtes A war, liegt 1 Zur Erinnerung: An griechischen Schulen gibt es dasselbe System wie in Frankreich; mit dem hier verwendeten zehnstufigen System wird an Universitäten bewertet. <?page no="217"?> 217 13.1 KL es im Ermessen der Athener Abteilung, eine 10 oder eine 9 zu geben. Worauf das hinausläuft: Die Inkompatibilität der Systeme muss irgendwie gehandhabt werden und wird selbstverständlich irgendwie gehandhabt. Wie es keine unmittelbare Übereinstimmung zwischen den einzelnen Noten in den verschiedenen Systemen gibt, so gibt es auch keine unmittelbare Übereinstimmung zwischen den einzelnen Wörtern in den lexischen Systemen der verschiedenen Sprachen. Und dasselbe gilt für morphologische Muster, syntaktische Strukturen und pragmatische Modelle sowie für alle Übergänge und Kreuzungen; erinnert sei nur an die unterschiedlichen Futurmarker, wie in 2). Das hat historische Gründe, die auf unterschiedliche sprachliche Gravitationszentren zurückzuführen sind; Kap. 4 über Phonologie und Phonotaktik ist darauf exemplarisch im Vergleich von D und G eingegangen. Ich greife hier auf das „Zwiebelmodell“ der Sprache zurück, das Friedhelm Debus 1980 im Lexikon der Germanistischen Linguistik vorgestellt hat (vgl. Nübling u.a. 2008: 2, Szczepaniak 2011: 4). Allerdings variiere ich dieses Modell und füge ihm eine Dimension hinzu, die im Rahmen der KL, wie sie hier dargestellt wurde, notwendig ist, nämlich die Gravitationszentren. Sehr schematisch zeigt das Abb. 23: Abb. 23a und b: Unterschiedliche Gravitationszentren von Sprachen Es geht hier nicht nur um das Verhältnis zwischen verschiedenen Sprachen, sondern auch um das Verhältnis zwischen Sprache und Kommunikation. Damit nehme ich auch die Beschreibung aus Kap. 2.2 wieder auf: Abb. 23a zeigt ein Sprachmodell mit Phonologie, Morphologie und Syntax im Zentrum. In größer werdendem Abstand zu diesem Zentrum sind mit Wörterbuch, Redewendungen und Formen uneigentlichen Sprechens (Metapher, Metonymie, ...) Elemente der Semantik angeordnet. Nach außen folgen mit der Pragmatik die Sprachfunktionen: Was wird wie <?page no="218"?> 218 13 Sprecher und Hörer - Hörer und Sprecher mit Sprache gemacht? Ganz außen befinden sich die (gesellschaftlichen) Bedingtheiten von Sprache. Man könnte auch noch andere Komponenten hinzufügen, aber darauf kommt es hier nicht an. Das Ganze ist angeordnet auf konzentrischen Kreisen - der erwähnten zusätzlichen Dimension. Was damit gemeint ist, zeigt Abb. 23b, in der die beiden Kreissysteme kein gemeinsames Zentrum haben. Stattdessen ist das sprachliche Zentrum an den Rand, die Pragmatik in die Mitte gerückt. Damit ist z.B. die Kommunikation der kleinen Evi wiedergegeben: In Sprache kennt sie sich noch nicht so gut aus, doch ihre kommunikativen Ziele, bei deren Bestimmung ihr die Mama hilft, erreicht sie doch. Und Ähnliches gilt auch für die Griechin in Hamburg. Weil die beiden Abbildungen, wie bemerkt und wie man sieht, äußerst schematisch sind, noch einige Bemerkungen. 1) Wenn der Schwerpunkt, wie in 23b, auf der Pragmatik liegt - nicht nur bei Evi, sondern in rein mündlichen Sprachen -, fallen etliche Komponenten ohnehin weg, nämlich alle, die ein Sprachbewusstsein und Sprachreflexion voraussetzen. 2) Damit zusammen hängt, was hier ganz ausgeblendet ist, aber in Kap. 13.4 noch zu diskutieren sein wird: Sobald Sprache verschriftlicht werden kann und wird, ist sie selbst zu einem Objekt geworden, das in spezifischer Weise bedacht und reflektiert werden kann. Damit bildet sie nicht mehr nur eine Brücke zwischen den beiden Kommunikationspartnern, sondern wird aufgrund der nun zustande gekommenen Dauer ein ganz besonderer eigener Partner, und zwar in mehrfacher Hinsicht. 3) Von da aus muss klargestellt werden, dass Abb. 23a nur unter strikt linguistischem Aspekt der Normalfall ist, während 23b eher der kommuniative Normalfall ist. In AG beispielsweise verschob erst Dionysius Thrax den Schwerpunkt in die Position von 23a, und ihm ging es nicht um gesprochene, sondern aussschließlich um geschriebene und zudem alte Sprache. 13.2 Ambiguität Als Tristan und Isold in dem Roman Gottfrieds von Straßburg von ungefähr 1210 (nach dem versehentlichen Genuss des Minnetranks und außerdem auf einem Schiff, wo man ohnehin auf wackligem Boden steht! ) zum ersten Mal die eigentlich verbotene Liebe genossen haben und die Reise zu Isoldes zukünftigem Ehemann Marke weitergeht, der außerdem Tristans Onkel ist (es ist schon hier kompliziert mit der Liebe), da fragt der noch etwas unerfahrene Tristan seine Liebste nach ihrem Kummer. Isolde spricht ein wenig F: „lameir“ sprach sî „daz ist mîn nôt, lameir daz swaeret mir den muot, lameir ist, daz mir leide tuot.“ (Gottfried 2011: Bd. 1, 668 [11986-11988]) Das soll heißen: lameir ist ihr Kummer, lameir bedrückt ihre Stimmung, lameir ist es, was ihr Schmerzen zufügt. Und das bedeutet? Tristan muss eine Weile darüber nachgrübeln, findet aber dann doch heraus, dass lameir ‚Liebe‘ heißt, lameir ‚bitter‘ und lameir ‚Meer‘ oder (schriftlich) ein bisschen genauer: l’ameir - l’ameir - la meir. 2 Schon seit langem ist es in F sinnvoll, zwischen einem Code phonique und ei- 2 Von Ingo Insterburg gibt es folgenden Sketch: Er hätte gern beim Grand Prix d’Eurovision (heute Eurovision Song Contest) mitgemacht und hatte ein Lied geschrieben. "Ich heirate die <?page no="219"?> 219 13.2 Ambiguität nem Code graphique zu unterscheiden, was Homonyme auftrennt in Homophone (gleich lautend) und Homographe (gleich geschrieben); diese sind selbstverständlich ein sekundäres Phänomen - aber ich komme gleich darauf zurück. Bei Gottfried wird offensichtlich mit Homophonie gespielt, und, ohne alle inhaltlichen Implikationen auflösen zu wollen, der Liebe Eigenschaften des Bitteren und des Meeres zugewiesen, die tatsächlich die gesamte folgende Handlung prägen (und selbst der manchmal etwas begriffsstutzige Tristan versteht es irgendwann). Mit Sprache, mit Wörtern zu spielen, ist ein ungeheures Vergnügen, weshalb es einem auch in vielen Kulturen schon als Kind beigebracht wird: „Am dam des“, „Hickory, dickory, dock“, „Alouette, gentille alouette“, „Α μπε μπα μπλομ“ (A be ba blom) und jeder weiß, dass Sprache hier keinerlei Bedeutung hat. In normalen, einigermaßen bedeutungshaltigen (und schon gar nicht literarischen) Gesprächen lösen sich Homonyme in relativ kurzer Zeit im Laufe eines Gesprächs in Eindeutigkeit auf, wenn sie überhaupt als Homonyme wahrgenommen werden. Wie gesehen haben viele Präpositionen ihre Bedeutung verloren, indem sie grammatikalisiert wurden, und daher sind sie homonym. F hat unter allen ide. Sprachen die meisten Homonyme, genauer: im Code phonique die meisten Homophone. Gottfried nimmt sich die Freiheit, sie als Homographen wiederzugeben. Homophone und allgemein Homonyme sind nur kontextuell richtig zu verstehen, was aber im Normalfall kein Problem ist; wäre es nämlich ein Problem, gäbe es sie nicht, da es relativ sinnlos wäre, sich eines Kommunikationsmittels zu bedienen, mit dem man nicht kommunizieren kann, oder umgekehrt: sich eines Kommunikationsmittels zu bedienen, das nicht in der gewünschten Weise funktioniert. Selbst die Fülle von Homonymen im Chinesischen ist kommunikativ handhabbar. Sie kommt dadurch zustande, dass in (klassischem) Chinesisch tendenziell jedes Wort aus einer Silbe besteht. In modernem Chinesisch ließen sich zwar aus 22 Silbenanlauten und 38 Silbenauslauten 836 Silben bilden (was auch nicht sehr viel ist), doch sind es tatsächlich noch viel weniger, nämlich nicht einmal 500. Da Chinesisch wie die meisten Sprachen der Welt eine Tonsprache ist - der Tonverlauf ist bedeutungsunterscheidend -, kann diese Zahl zwar mit der Anzahl der Tonhöhen (vier) multipliziert werden, doch ergibt das noch immer keine besonders hohe Zahl - auch hier ist Chinesisch jedoch sparsamer, als es das System rechnerisch zulässt, es verfügt insgesamt nur über ca. 1300 Sprechsilben. (Kneussel 2007: 2f.) Chinesisch ist nicht nur geographisch von D-E-F-G weit entfernt. Es gehört zu den sinotibetischen Sprachen und umfasst eine Menge Dialekte, die untereinander zum Teil gänzlich unverständlich sind. Dass es eine Sprache für einen relativ kleinen Kommunikationsradius ist, wurde schon bemerkt (Kap. 6.3.3), genauer also: seine Dialekte. Und es ist damit auch eine eminent mündliche Sprache. Dazu gehört auch, dass es höchst flexible Wortbedeutungen hat und sich eben auch so viele Homophone leisten kann. Schriftlich sind einige von ihnen bezeichnenderweise aufgelöst. Im Folgenden stelle ich als Beleg für beides eine Übersicht aus fröhliche Marie." Da ein deutsch gesungenes Lied aber keine Chance hat, singt er es auf Englisch: „I will marry the merry Mary.“ (volksfreund.de) <?page no="220"?> 220 13 Sprecher und Hörer - Hörer und Sprecher Wendt 1987 und die Wörterbucheinträge aus www.chinesisch-lernen.org (09.01.16) zusammen: 3 Wendt www.chinesisch-lernen.org zhōng (1) Mitte, unterbrechen, abrechnen, Hilfswort zur Andeutung des Präsens 中 mittelmäßig, neutral, Mitte, Zentrum, China, treffen, betroffen sein, getroffen sein zhōng (2) treu, ehrlich, rechtschaffen 忠 treu, getreu, hingebungsvoll zhōng (3) Tasse, Glas, Becher 盅 Becher, Schälchen zhōng (4) herzlich, aufrichtig 衷 Herzensgrund zhōng (5) Ende; endlich; ganz; Tod; sterben 终 ganz, Ende, Schluß, enden, sterben, doch noch, letztlich, letzten Endes zhōng (6) Uhr; Stunde 钟 Glocke, Uhr, Zuneigung zhōng (7) vereinigen; Glas, Tasse Tab. 41: zhōng Diese sieben zhōng werden alle im ersten Ton gesprochen; es gibt weitere vier zhŏng im dritten Ton, weitere fünf zhòng im vierten Ton. Dabei hat die Sprache die Möglichkeit des zhong im zweiten Ton nicht ausgenutzt; ein zhóng fehlt. (Wendt 1987: 59f.) 4 Dazu zwei Bemerkungen: Die kleine Tabelle (mit der Fußnote) zeigt deutlich, was mit der Flexibilität des Wortschatzes gemeint ist; die Einträge differieren erheblich sowohl in der Bedeutung als auch in der Wortart. Das heißt zweitens: Beim Lesen, vor allem aber beim Hören muss im Chinesischen erheblich mehr Verstehensarbeit geleistet werden als in D-E-F-G. Aber D ist auch nicht ganz ohne. Auch wenn „Fälle von Homonymie sehr selten und zufallsbedingt sind, gibt es zigtausend Fälle von Polysemie“ (Löbner 2003: 60). Der Unterschied besteht darin, dass es sich bei Homonymen um zwei verschiedene Lexeme handelt, die zufällig dieselbe Lautund/ oder Schriftform haben, aber zwei ganz unterschiedliche Bedeutungen, während Polyseme ein einziges Lexem sind, die verschiedene Bedeutungsvarianten haben (Löbner 2003: 62). Die Abgrenzung ist nicht immer leicht, zumal irgendwo dazwischen Lexeme stehen, die merkwürdigerweise gegensinnige Bedeutungen haben - Peter Rolf Lutzeier hat sie im „Wörterbuch des Gegensinns im Deutschen“ (bis 2012 bis zum Buchstaben Q ) auf ca. 1600 Seiten mit einer Fülle von Textbelegen zusammengestellt; ein paar Beispiele: beitrag Artikel, Aufsatz finanzieller Betrag bekleiden mit etwas versehen innehaben erlassen verkünden von einer Verpflichtung entbinden; freistellen flügel Körperteil eines Vogels oder Insekts Teil eines Gebäudes, Spielfeldes oder einer Gruppe heraushalten aus einem Bereich in einen Bereich halten fernhalten 3 pons.com hat nur: 中 ‚Mitte, Zentrum, China, in‘. 4 In Ergänzung dazu die Einträge aus www.chinesisch-lernen.org: 1 zhǒng: 肿 geschwollen, anschwellen. 4 zhòng: 众 Massen, zahlreich; 重 Gewicht, achten, beachten, schwer, gewichtig, tief, stark, wichtig; 种 anbauen, pflanzen, Art, Sorte, Rasse, Samen, Typ, Muster; 仲 mittel, vermittelnd, zweite, zweitgrößte. <?page no="221"?> 221 13.2 Ambiguität nachsehen hinterherblicken; nachschlagen etwas normalerweise Beanstandenswertes nicht übel nehmen pass Straße, auf der man ein Gebirge überqueren kann Zuspiel quartier Unterkunft Stadtviertel Tab. 42: Gegensinn in D Der Aufwand, den ein Hörer als kompetenter Hörer hier auf lexischer Ebene zu leisten hat, mag größer sein als bei „einsinnigen“ Wörtern, doch fällt er in alltäglichen Gesprächen kaum ins Gewicht, weder in D noch im Chinesischen oder einer anderen Sprache, denn eine der banalsten und damit fundamentalsten Regeln der Natur, des Lebens und damit auch der menschlichen Sprache lautet: Rechne bei allem mit allem! Wozu auch die Umkehrung gehört: Mach aus allem alles! Dazwischen gibt es jede Menge, worauf man aber vorbereitet ist, ontogenetisch spätestens seit Mamas Interpretationsangeboten. Unter anderem deshalb können Äußerungen ohne jeden sprachlichen Inhalt und deshalb auch sprachenübergreifend am spannendsten sein. Am 31. Mai 1946 schrieb der amerikanische Krimiautor Raymond Chandler in einem Brief an Charles Morton vom Atlantic Monthly: Wenn man sich um Wörter zu sehr um ihrer selbst willen kümmert, kann man keine guten Filme machen. Dafür ist der Film nicht da. Die besten Szenen, die ich je geschrieben habe, waren praktisch einsilbig. Und die beste kurze Szene, die ich meines Erachtens schrieb, war eine, in der das Mädchen dreimal in drei verschiedenen Betonungen ‚ahhm‘ sagte, und damit hatte sich’s. (MacShane 1984: 180f.) Das „Mädchen“ (in Chandlers Sinn verkörpert von Veronica Lake) steht in „The Blue Dahlia“ an einer Theke. Ein Mann stellt sich neben sie und spricht / macht sie an. Was Chandler meint: Ein ausführlicherer Dialog hätte von ihrer Körpersprache und Körperlichkeit abgelenkt, und Körpersprache ist oft (nicht nur bei Veronika Lake) spannender als Sprachesprache. Ein letztes Beispiel: Schon mehrmals wurde L als schriftliche Sprache bezeichnet - nachdem Rom zum Weltreich geworden und innerhalb der Verwaltung (schriftliche) Eindeutigkeit verlangt war. Eine Folge bestand darin, dass entweder neue Wörter gebildet wurden oder vorhandene Wörter je nach Kontext mit einer Vielzahl neuer Bedeutungen belegt wurden. Dabei muss (selbstverständlich) mit der geistige Flexibilität der Sprachverwender gerechnet werden. Ich verlasse mich hier wieder auf das „Ausführliche Handwörterbuch“ von Georges 1998: 678ff. und greife nur einige Bedeutungen und Verwendungsweisen eines einzigen Wortes und seines Plurals heraus: littera ist der ‚Buchstabe‘, prima litterarum elementa bei Quintilian: das ‚ABC‘, ‚Alphabet‘, Tacitus schreibt von miraculum litterarum und meint das ‚Wunder der Schreibkunst‘, und bei Seneca ist litteras discere ‚das Alphabet lernen‘. Wenn Plautus scire litteras schreibt, ist das: ‚die Buchstaben kennen, d.h. lesen oder schreiben können‘, während es bei Vitruv auch ‚die Buchführung verstehen‘ bedeuten kann. Die Bedeutungserweiterung wird aber jetzt erst richtig spannend, nämlich in den metonymischen und dann poetischen Verwendungen: Im Singular ist littera auch: ‚Schriftzüge‘, ‚Handschrift‘, oder ‚das Geschriebene‘, ‚die Aufzeichnung‘, ‚das Schreiben‘, ‚Brief‘, ‚Handschrift‘, was auch eine ‚Schuldverschreibung‘ und ein ‚Schuldschein‘ sein kann, außerdem ‚Grab- <?page no="222"?> 222 13 Sprecher und Hörer - Hörer und Sprecher schrift‘ und - bei Ovid - ‚Literaturrichtung‘. Im Plural sind litterae verständlicherweise ‚das Geschriebene‘ und deshalb ‚schriftliche Aufzeichnung‘ und ‚Schrift‘, ‚Schriftstück‘, ‚Aufsatz‘, ‚Dokument‘, ‚Urkunde‘, ‚Verfügung‘, ‚Kontrakt‘, ‚Schriftstücke‘, ‚Dokumente‘, ‚Werke‘, ‚Schriften‘, ‚Protokolle‘, ‚Weissagebücher‘, ‚Gebetsformeln‘, ‚Ritualbücher‘, ‚schriftliche Beweise‘, ‚Urkunden‘, ‚Ernennungsschreiben‘, ‚Diplom‘, außerdem (auch wieder! ) ‚Brief‘, ‚Schreiben‘, auch ein amtliches, ‚Bericht‘, ‚Erlass‘, ‚Botschaft‘, ‚Depesche‘, ‚Auftrag‘, und dazu kommen jede Menge Zusammenstellungen, wie z.B. litterae divinae, die etwa bei Cicero ‚heilige Schrift‘ sind - alle anderen spare ich mir hier, um nur noch darauf hinzuweisen, dass litterae auch ‚wissenschaftliche Kenntnisse‘, ‚Bildung‘, ‚Wissenschaften‘, ‚Gelehrsamkeit‘, ‚wissenschaftliche Beschäftigung‘, ‚wissenschaftliche Studien‘, ‚Sprachstudium‘, ‚Sprachwissenschaft‘ und ‚Literatur‘ bedeuten können, und auch hier gibt es wieder eine großwe Zahl von Zusammensetzungen. Wie kam man mit einer solchen Vielfalt an Bedeutungen zurecht? Ganz einfach: Mit gutem Willen, und außerdem, indem man eine Äußerung nicht Wort für Wort versteht, sondern als ganze und im Äußerungskontext. Darüber hinaus: Niemand dürfte ein sprachwissenschaftliches und das heißt: metasprachliches Interesse daran gehabt haben. Die Erklärung ist ziemlich einfach: Niemand hat das Verständnis nach Heller und Pfennig oder Cent abgerechnet, und noch einfacher: Es gab keine Wörterbücher, in denen Rechenschaft über das eigene Verständnis abgelegt werden musste, sondern Verständnis war allein an den je individuellen Äußerungskontext gebunden, und das galt auch noch schriftlich. Es kommt hier aber nicht auf die Bedeutungsvielfalt als solche an, sondern, noch einmal, auf die notwendige Bereitschaft des Hörers bzw. Lesers, Verstehen zu leisten, vor allem aber auf das Ausgeliefertsein des Sprechers bzw. Schreibers an sein nur scheinbar passives Gegenüber. Die Vielfalt der deutschen Übersetzungen oben zeigt aber auch, dass es auf Dauer ratsam ist, neue Wörter zu etablieren, weil das natürlich kommunikativ viel eindeutiger ist und zudem: Man weiß ja nie, mit was für einem (kritischen bis bösartigen) Hörer oder Leser man es zu tun bekommt. 13.3 Modalisierungen Wenn Sprache verwendet wird, spricht in der Regel ein Sprecher zu einem Hörer, weil er ihm etwas mitteilen will. Nach Karl Bühlers Sprachmodell aus dem Jahr 1934, das immer noch unschlagbar einleuchtend ist, will er (der Sprecher) 1) dem Hörer etwas über sich selbst sagen oder 2) etwas über die Welt sagen oder 3) direkt dem Hörer gegenüber einen Anspruch erheben: 1) Ausdrucks-, 2) Darstellungs-, 3) Appellfunktion. Dass es nicht ganz so eindeutig ist, weiß aber jeder, der schon einmal Durst hatte, aber trotzdem nichts zu trinken bekam, weil er seine Frau oder den Kellner anschnauzte: „Bier her! “ Ein Appell kann freundlich oder unfreundlich geäußert werden, höflich oder unhöflich, wofür es gesellschaftliche Regeln gibt, die aber normalerweise nicht eingehalten werden müssen, wenn es nicht um die Einhaltung gesellschaftlicher Regeln geht, sondern um Menschenleben, und der Nochsprecher in einem Meer, See oder Fluss zu ertrinken droht, dann reicht überall so etwas wie Hilfe! - Help! - Au secours! - Βοήθεια (voíthia)! und am <?page no="223"?> 223 13.3 Modalisierungen besten alles möglichst laut. Der Sprecher kann nicht nur in verschiedener Weise und Intensität versuchen, direkten Einfluss auf den Hörer auszuüben, sondern er kann in seiner Äußerung auch selbst unterschiedliche Perspektiven zu seiner Äußerung einnehmen, wobei auch hier keine klare Grenze zu ziehen ist, und das aus verschiedenen Gründen, die mit der Direktheit und Indirektheit von Sprechakten und daher auch mit Höflichkeit zu tun haben: 92D) Bier her! - Hol mir mal ’ne Flasche Bier! - Ich kann / könnte ein Bier vertragen. - Würdest / könntest / willst du mir ein Bier holen? - Dürfte / könnte ich ein Bier kriegen? - Ein Bier wäre jetzt schön! - Bitte hol mir mal ein Bier und bring dir doch auch eins mit. - Hab ich einen Durst! - Hast du auch solchen Durst? - ... Deutsche (und die meiste anderssprachige) Höflichkeit funktioniert vorwiegend auf Distanz, doch Distanz kann auf unterschiedliche Weise hergestellt werden: durch Modalverben, Konjunktiv und gerade noch verständliche Indirektheit des Ausdrucks bei umso größerem Grad der Bekanntschaft zwischen Sprecher und Hörer. Der letzte Beispielsatz („Hast du auch solchen Durst? “) ist unverständlich, wenn der Angesprochene nicht weiß, dass ich am liebsten Bier trinke. Da ich gerade aber gar keinen Durst habe, lasse ich die Wirkung auf den Hörer beiseite und konzentriere mich - jetzt wieder kontrastiv - auf die unterschiedlichen Möglichkeiten, die Einstellung des Sprechers bzw. des zitierten Sprechers zum Gesagten zum Ausdruck zu bringen. Dabei gehe ich von D aus, das über ein besonders kompliziertes System im Gebrauch der sogenannten Modalverben verfügt. Sie haben nicht nur zahlreiche Bedeutungsdimensionen (Duden 1998: 93ff.), sondern diese überschneiden sich auch je nach der aktuellen Beziehung zwischen Sprecher und Hörer. Zudem können sie in Äußerungen auftreten, die semantisch grundsätzlich nicht aufzulösen sind: 93D) Du solltest am Mittwoch nach Korinth fahren. > Ich wünsche mir von dir / befehle dir, dass du am kommenden Mittwoch nach Korinth fährst. > Ich halte es in deinem Interesse für gut, wenn du am kommenden Mittwoch nach Korinth fährst. > Du hättest doch am vergangenen Mittwoch nach Korinth fahren sollen! Die (sprachgeschichtliche) Herkunft von wollen, sollen und müssen liegt in sehr ehrlicher Weise darin, dass man mit wollen, sollen und müssen nur ganz beschränkt referentielle Äußerungen machen kann: „Ich will Eis“, „Du sollst nicht töten“ oder „Ich muss / du musst nach Hause fahren“ beziehen sich auf Handlungen in einer Zeit, die zum Zeitpunkt der Äußerung schlechterdings nicht zur Verfügung steht. Eine „neutrale“ Zukunftsform, die davon ausgeht, dass über Zukünftiges genauso verlässlich zu sprechen ist wie über Vergangenes oder Gegenwärtiges, wurde, wie gesagt, sowohl in D als auch in E relativ spät grammatikalisiert, in E mit will, in D mit werden (Kap. 12.1). F hat, von L her, eine indigene, synthetische Futurform, G ebenfalls. - Die F-G-Entsprechungen zu den deutschen Modalverben in all ihren Verwendungsweisen darzulegen, wäre in diesem Rahmen aber viel zu aufwändig. Ich beschränke mich daher auf die Frage, was ein Hörer in Zusammenhang mit den Modalisierungen einer Aussage zu leisten hat. In AG ist immerhin eine Modalisierungsmöglichkeit in einer synthetischen Verbform vorhanden: der Optativ, mit dem der Sprecher einen Wunsch zum Aus- <?page no="224"?> 224 13 Sprecher und Hörer - Hörer und Sprecher druck bringen kann; außerdem gibt es eine Modalpartikel ( ἂν [an]), mit der ausgedrückt werden kann, dass „der Verbinhalt an eine Bedingung geknüpft ist im Sinne eines deutschen Zusatzes wie ‚unter Umständen‘, ‚gegebenenfalls‘, ‚etwa‘, ‚wohl‘“ (Bornemann/ Risch 2012: 229). Während in D eine synthetische Äußerungsmöglichkeit erhalten geblieben ist, allerdings nicht mithilfe einer zusätzlichen Verbform (wie dem Optativ in AG), sondern unter Ausnutzung des Konjunktivs („Gewönne doch der Konjunktiv! “ [Schneider 2010]), kommt G nur noch analytisch zurecht, mit θα (tha), das (ebenfalls mehrdeutig) hauptsächlich als Futurmarker fungiert. Um nun auf die einzelnen Modalisierungsmöglichkeiten in D und ihren Entsprechungen zu kommen (ich beschränke mich, wie angedeutet, auf F und G): Die Sätze, die im Folgenden vorgestellt werden, wurden von einer zweisprachig (deutsch-griechisch) aufgewachsenen Griechin (OL) in G und einem deutschen Französischlehrer (JT) sowie einer Französin (VS) mit Deutschkenntnissen auf Niveau C1 in F übersetzt. Dabei habe ich 15 Möglichkeiten herausgegriffen, gehe in der Darstellung jedoch von G und F aus, wenn ich auch die alphabetische Reihenfolge der Sprachen beibehalte. In D ist auch (sehr knapp und kursiv) die Äußerungssituation angegeben, deren Übersetzung aber ausgespart werden kann; das Ganze ist, wie sich schon gleich herausstellen wird, eine Spielerei, doch ist mir zur Zeit noch schleierhaft, wie man dieses Thema sonst darstellen könnte. Ich fange unverfänglich an und unterstreiche jeweils die Modalverben und ihre Entsprechungen: 94D) Die strapazierte Hausfrau: Ich muss Urlaub machen. 94F) Je dois prendre des congés. (JT) - Je dois prendre des vacances. / Il faut que je prenne des vacances. (VS) 5 94G) Πρέπει να πάω διακοπές . (prépi na páo diakopés.) F hat ein Modalverb, das müssen in D entspricht (devoir), aber auch eine unpersönliche Formulierung il faut que, in 94F) wörtlich ungefähr: ‚Es muss (sein), dass ich Urlaub mache.‘ G hat ebenfalls diese unpersönliche Formulierung: πρέπει να entspricht sehr genau il faut que. 95D) Zum schlechtgelaunten Peter: Du solltest Urlaub machen. 95F) Tu devrais prendre des congés. (JT) - Tu devrais prendre des vacances. (VS) 95G) Πρέπει να κάνεις διακοπές. (prépi na kánis diakopés.) In 95G) lassen sich im objektiven Gebrauch die konjunktivischen Abtönungen in D-F nicht abbilden; wie bei il faut que gibt es G ‚müssen‘ nur in 3. Si., aber eben keinen Ausweg in ein anderes Modalverb. Die Dringlichkeit oder Herzlichkeit der Empfehlung (die Entscheidung darüber hängt weitgehend von der Intonation ab) ist mit dem Zwang zusammengefasst. - Auch ein ärztlicher Ratschlag wird (sinnvollerweise) in F-G mit ‚müssen‘ erteilt, wenn es selbstverständlich auch andere Ausdrucksmöglichkeiten gibt: 96D) Fritz ist traurig, weil sein Hund gestorben ist. Um auf andere Gedanken zu kommen, soll er Urlaub machen. 5 Die Übersetzungsvarianten für Urlaub und Urlaub machen / nehmen / in Urlaub fahren behalte ich hier bei, diskutiere sie aber nicht. <?page no="225"?> 225 13.3 Modalisierungen 96F) Pour se changer les idées, ce serait bien pour lui de prendre des congés. (JT) - Afin de se changer les idées, il doit partir en vacances. (VS) 96G) ... πρέπει να κάνει διακοπές. (... prépi na káni diakopés.) Auch in G gibt es den subjektiven Gebrauch von Modalverben, für den in D der Konjunktiv 2, in F Conditionnel présent benutzt wird; dazu zwei Beispiele, auch wieder mit alternativen Ausdrucksmöglichkeiten, deren Stellenwert später diskutiert werden muss: 97D) Weißt du, wo Doris ist? Sie müsste Urlaub machen. 97F) Elle devrait être en congé. (JT) - Elle devrait être en vacances. / Probablement qu’elle est en vacances. (VS) 97G) (Θα) πρέπει να κάνει διακοπές. ([tha] prépi na káni diakopés.) Auch müsste kann ebenso wie sollte in F mit devrait wiedergegeben werden, das aber nicht mehr das gleich folgende dürfte abdeckt. In G kann man für beides wieder ‚müssen‘ verwenden oder man verwendet es mit der Futurpartikel θα , was zu einer ungefähren Entsprechung des Konjunktiv 2 in D führen kann. Die Differenzierung ist, anders als in D, aber nicht systematisiert: 98D) Wo ist Herr Hoffmann? Er dürfte Urlaub machen. 98F) Je pense qu’il est en congé. (JT) - Il y a de fortes chances pour qu’il soit en vacances. / Il est fort probablement en vacances. (VS) 98G) (Θα) πρέπει να είναι διακοπές. / Μάλλον κάνει διακοπές. / Νομίζω πως κάνει διακοπές. ([tha] prépi na íne diakopés. / mállon káni diakopés. / nomízo pos káni diakopés. ‚Er muss Urlaub machen.‘ / ‚Wahrscheinlich macht er Urlaub.‘ / ‚Ich denke, dass er Urlaub macht.‘) Der Wunsch, der in D mit dem Konjunktiv 2 ausgesagt werden kann, braucht in G ebenfalls die Präteritumsform (éprepe), der in diesem Fall aber θα vorangestellt werden muss: 99D) Nachdem Klaus schon wieder am Schreibtisch eingeschlafen ist: Ich müsste Urlaub machen. 99F) Je devrais prendre des congés. (JT) - Je devrais prendre des vacances. / Il faudrait que je prenne des vacances. (VS) 99G) Θα έπρεπε να κάνω διακοπές. ([tha] éprepe na káno diakopés.) In F wird wieder das Conditionnel von devoir verwendet, bzw. die Conditionnelform von il faut. - Um hier anzuschließen, noch einmal ein frz. Satz mit devoir: 100D) Niemand weiß, wo Anna ist, aber Robert hat was gehört: Sie soll Urlaub machen. 100F) Il pense qu’elle est en congé. (JT) - Elle doit être en vacances. / Il paraît qu’elle est en vacances. / On dit qu’elle est en vacances. (VS) 100G) Κάνει, λέει, διακοπές. (Káni, léi, diakopés.) Nur in D kann bei Verwendung von Modalwörtern differenziert werden, hier insofern, als aus dem Gerücht (sollen) in F-G eine Überzeugung wird. Ich übersetze die frz. Varianten zurück: ‚Er denkt, dass sie Urlaub macht.‘ (von: JT) - ‚Sie muss im Urlaub sein.‘ / ‚Es scheint, dass sie im Urlaub ist.‘ / ‚Man sagt, dass sie im Urlaub ist.‘ (von: VS) Die letzte Variante entspricht auch G, wo es allerdings keine eindeutige und eindeutig unterscheidbare Übersetzung von ‚man‘ oder ‚on‘ gibt; λέει ( léi) ist sowohl ‚er sagt‘ als auch ‚man sagt‘, weshalb gr. DeutschlernerInnen so große Probleme bei der Formulierung von Sätzen mit unpersönlichem Subjekt haben, vor <?page no="226"?> 226 13 Sprecher und Hörer - Hörer und Sprecher allem in Nebensätzen; häufig kommt so etwas heraus: *„Wenn man Urlaub macht, muss er Geld haben.“ Von hier aus lässt sich nun ohne weiteres an G anknüpfen: 101D) Was hat eigentlich Ludwig den ganzen Sommer über gemacht? Er will Urlaub gemacht haben. 101F) Il dit avoir été en congé. (JT) - Il prétend être parti en vacances. (VS) 101G) Έκανε, λέει, διακοπές. (Ékane, léi, diakopés.) Die subjektive Verwendung des dt. wollen gibt es in keiner der beiden anderen Sprachen, die Entsprechung ist in G am vagsten: ‚Er machte, sagt er / sagt man, Urlaub‘, aber auch in F geht es nur mit ausdrücklich benanntem Sprechakt, der die in D implizite Bedeutung expliziert. D dürfen und können bedeuten in vielen Sätzen etwas ganz anderes. Wenn die kleine Petra Schlittschuhlaufen darf, heißt das noch lange nicht, dass sie es auch kann, und wenn der etwas größere Peter Fußball spielen kann, heißt das keineswegs, dass seine Eltern ihn an einen europäischen Spitzenclub verkaufen, damit er dort Fußball spielen darf. So feinsinnige Unterschiede sind den anderen Sprachen fremd; ich wähle gleich zwei Beispiele: 102D) a) Der Vater zu seinem Sohn: Du darfst Urlaub machen. b) Ich habe meine Arbeit erledigt, jetzt kann ich Urlaub machen. 102F) a) Tu peux prendre des congés. (JT) - Tu peux partir en vacances. (VS) b) maintenant je peux partir en vacances. (JT) je peux maintenant partir en vacances. (VS) 102G) a) Μπορείς να κάνεις διακοπές. (Borís na kánis diakopés.) b) τώρα μπορώ να κάνω διακοπές. (tóra boró na káno diakopés.) Weder in F noch in G gibt es eine Unterscheidung zwischen ‚dürfen‘ und ‚können‘. Auch in D handelt es sich nur um Nuancen, und wenn das Söhnchen in 102Da) in Urlaub fahren darf, ist damit auch impliziert, dass er kann; andererseits kann er natürlich (weil er mit seinen 17 Jahren durchaus in der Lage ist, in ein Flugzeug zu steigen) und trotzdem kann und darf der Papa es ihm verbieten. In 102Db) bleibt ein bisschen in der Schwebe, wer das Können ermöglicht. Geht eine Erlaubnis (von Chef oder Papa) voraus, oder gönne ich mir das selbst? Diese Frage zielt schon auf das Ende dieser kleinen Verwirrung ab. Doch zunächst noch ein paar andere Beispiele: Nicht nur können und dürfen, sondern damit auch könnten geraten durcheinander: 103D) Was machst du im Sommer? Ich könnte Urlaub machen. 103F) Je pourrais partir en vacances. (JT) - Je vais peut-être partir en vacances. / Ce serait possible que je parte en vacances. (VS) 103G) Θα μπορούσα να κάνω διακοπές. (Tha borúsa na káno diakopés.) In F steht wieder das Conditionnel (von pouvoir) zur Verfügung, allerdings verwendet die Französin es in ihrer Übersetzung nicht, sondern eine sehr analytische (aber auch schon längst grammatikalisierte) Form mit aller + Infinitiv (+ ‚vielleicht‘) bzw. eine unpersönliche Redeeinleitung: ‚Es ist möglich, dass‘. In G wird ebenfalls eine unpersönliche Wendung benutzt: ‚Es könnte sein, dass‘. Schließlich noch als Beispielsätze zwischen dt. wollen, dessen Gebrauch im gr. Deutschsprachenunterricht besonders auf den unteren Niveaus als unhöflich vermittelt wird, und dem möchten, das als höflich gilt. Tatsächlich sagt man an einer <?page no="227"?> 227 13.3 Modalisierungen deutschen Wursttheke eher: „Ich möchte 100 g Schwarzwälder Schinken.“ als „Ich will ...“; in der Nähe des Schwarzwalds ist aber noch üblicher: „Ich krieg ...“, und wo ist da die Höflichkeit? Sie ist selbstverständlich nicht nur eine sprachliche, sondern zunächst eine dialektale, weil kulturelle Angelegenheit. 104D) Sabine: Ich will Urlaub machen. Der Angestellte zu seinem Chef: Ich möchte Urlaub machen. 104F) Je veux prendre des congés. (JT) - Je veux partir en vacances. (VS) J’aimerais prendre des congés. (JT) - Je souhaiterais avoir des vacances. / J’aimerais bien avoir des vacances. (VS) 104G) Θέλω να κάνω διακοπές. (thélo na káno diakopés.) Θα ήθελα να κάνω διακοπές. ( tha íthela na káno diakopés.) Dass der Angestellte seinem Chef gegenüber höflich auftreten muss / sollte, leuchtet ein, wenn er wirklich Urlaub haben will (! ). Für diese Höflichkeitsform gibt es in G kein eigenes Wort, auch nicht in F, weshalb es relativ wortreich umschrieben werden muss, was selbstverständlich auch in G möglich wäre, und was selbstverständlich auch in D gemacht werden kann: „Ich würde gerne, wenn Sie nichts dagegen haben, in den nächsten zwei Wochen ...“ usw. ... o.a. ... Es können nun einige interessante Schlüsse gezogen werden: 1) In D gibt es mit Hilfe von Modalverben eine Vielzahl von Aussagemöglichkeiten, mit denen der Sprecher seine jeweils aktuelle Perspektive zum ausgesagten Sachvervalt zum Ausdruck bringen kann; diese (verbalen) Möglichkeiten stehen in F-G nur sehr beschränkt zur Verfügung. 2) In allen Sprachen - deshalb wurden oben auch Varianten zitiert - lässt sich das Meiste sehr zuverlässig ausdrücken. Um nur ein Beispiel zu wiederholen: F devoir ist in D sowohl müssen als auch sollen als auch sollten. D liegt damit, was die Differenzierungen angeht, weit voraus. Aber selbstverständlich ist das Quatsch, wenn man von Aussagemöglichkeiten spricht, weil hier nur auf der Ebene der Modalverben diskutiert wurde. Um an die Sätze 10) zu erinnern: In der dt. Normalvariante gibt es kein Futur als Verbalparadigma, was aber nicht bedeutet, dass keine Aussagen über die Zukunft getroffen werden können, weil entweder ein entsprechendes Adverb oder eine Adverbialphrase verwendet wird (morgen, in einer Woche, ...) oder aber, noch einfacher, muss in D eine Aussage wie „Ich fahre nach Andalusien“ aktuell futurisch verstanden werden; die Diskussion darüber wurde in Kap. 5.1.2. geführt, ebenfalls nur mit wenigen situativen Angaben. Die Situation macht’s! In den obigen Beispielen war hingegen die Nennung der Situation nur ein sehr marginales Andeuten. Damit: 3) Ob man in D will oder möchte verwendet, hängt vom persönlichen Verhältnis ab, ob man „er will in Urlaub gewesen sein“ oder „er behauptet, im Urlaub gewesen zu sein“ sagt, ist ganz unerheblich, es sei denn, man liefert einen Beitrag zu einem Stilistik- oder Rhetorikwettbewerb oder schreibt auf einem deutschen Gymnasium eine Klassenarbeit oder legt gerade die C2-Prüfung des Goethe-Instituts ab - und dasselbe gilt (in ihren jeweiligen Möglichkeiten) für die anderen Sprachen auch, was sich alles nach viel anhört, aber nur wenig ist, nämlich: Es kommt immer auf Verständlichkeit und Verstehen an: Es ist sinnvoll, dass <?page no="228"?> 228 13 Sprecher und Hörer - Hörer und Sprecher der Sprecher sich um Verständlichkeit bemüht, der Hörer um Verstehen, doch sind das keine Imperative, sondern liegt einfach in beider Interesse. Und wenn nicht, dann halt nicht; allen Teilnehmern ist es unbenommen, einander verstehen zu wollen oder doch lieber zu streiten - was ja auch eine sinnvolle Form der Kommunikation sein kann. 105D) Idiot! - Idiotin! 105E) Idiot! - Idiot! 105F) Idiot! - Idiote! 105G) Ηλίθιε! - Ηλίθια! (Ilíthie! - Ilíthia! ) Jeder dieser Ausrufe kann so und so gemeint sein und kann so oder so verstanden werden - und wenn es gar kein Ausruf ist? Mit Sicherheit gibt es tausende Frauen und Männer, die ein paar ihrer schönsten Momente erlebten, als ihnen jemand 105) (je nach Sprache und Geschlecht) ins Ohr geflüstert hat, und wahrscheinlich ebenso viele humorlose (aber das lässt sich kaum objektiv konstatieren), die danach mit dem Sprecher nichts mehr zu tun haben wollten. Es ist deutlich, worauf es ankommt: Sprache ist immer eingebunden in ... - Und diese drei Punkte machen ihre Bedeutung aus. Dass es (wissenschaftlich) nicht immer auf Alltagsbedeutung ankommt, ist einleuchtend, aber in welcher Bedeutung? Das machen ich und du unter uns aus. Wie auch immer. - Mehr Verlässliches lässt sich nicht sagen. Damit kann wieder auf die obigen Satzvergleiche zurückgekommen werden: Der Sprecher hat, natürlich nicht nur in D-F-G, grundsätzlich die Möglichkeit, seine Einstellung zum Gesagten auf seine Art zum Ausdruck zu bringen, und diese Einstellung kann in vieler Hinsicht selbst wieder systematisiert sein, nicht-sprachlich: Claudia weiß immer alles besser und setzt hinter alles ein Fragezeichen; Mary kann ihre Ironie nicht ablegen; François fühlt sich ständig in der Defensive; Dimitra will immer politisch korrekt sein, und viele andere weder das eine noch das andere usw. Aber man kennt sich, mehr oder weniger gut, und mehr oder weniger Missverständnisse gibt es, und wenn es sie gibt, lassen sie sich auch wieder aus der Welt räumen, oder eben nicht usw. Sprache wird von Sprechern nicht nur gesprochen, sondern von Sprechern auch gemacht, doch nicht mal am meisten von ihnen, sondern viel mehr von ihren Hörern: Sprecher können allerhand Ausdrucksvarianten probieren, aber auch für die erwachsenen gilt immer noch dasselbe wie schon für die ganz kleinen: Wenn es nicht gelingt, wenn der Hörer also nicht einigermaßen versteht, was mit dem Gesagten gemeint war, ist es sehr rasch sehr ratsam, eine eindeutigere Formulierung zu wählen. Genau das geschieht, und zwar überall, wo man Wert darauf legt, verstanden zu werden. Noch einmal konkret anhand der obigen Beispiele: Das objektive und subjektive Verständnis deutscher Modalverben ist Sprach- und Grammatikwissen, das in der Schule vermittelt wird, aber wie so vieles, was in der Schule vermittelt wird: Man braucht es im Leben eigentlich nicht. Es ist nicht anders als mit den starken Verben in D (Theisen 2015: 138ff.): 106D) Spönne ich, stöhle ich Flöhe, büke und äße sie, wenn du es beföhlest. <?page no="229"?> 229 13.3 Modalisierungen Diese Verbformen gibt es noch im Wahrig von 1971. Niemand sagt so was heute aber, sondern viel verständlicher: 106D‘) Wenn ich spinnen würde, würde ich Flöhe stehlen, sie backen und essen, wenn du es befiehlst. Der (ehemals systemgerecht) stark gebildete Konjunktiv 2 von spinnen, stehlen, backen, essen und befehlen wird so selten gebraucht, dass sogar die (immer noch) schriftlich orientierte Linguistik sich mittlerweile auch offiziell (z.B. in neueren Ausgaben des Duden) von diesen Formen verabschiedet hat: Nicht nur ist, wie Wittgenstein meinte, die Bedeutung eines Wortes sein Gebrauch in der Spache, sondern auch Grammatik wird im Gebrauch gemacht. Der wichtigste Partner in diesem Gebrauch ist allerdings nicht der Sprecher, sondern der Hörer: Wenn dieser Hörer sowieso nicht versteht, was der Sprecher meint, soll der doch besser gleich den Mund halten. Als Humboldt seine Begeisterung für das Griechische zum Ausdruck brachte, hatte er selbstverständlich das Altgriechische im Sinn. Am 17. Januar 1822 (Kap. 3.2, FN 4) war selbst Lord Byron noch nicht in Griechenland eingetroffen, um den dortigen Freiheitskampf anzuführen; das Land wurde nach wie vor eher mit der Seele ge-, als mit dem Schiff oder zu Fuß besucht. Während L im Mittelalter seinen Niedergang bis in die Küche erlebt hatte, war Humboldts AG eine - in seinem Verständnis - absolut reine Sprache geblieben. Das war auch nicht verwunderlich, weil Humboldts Griechisch (AG) eine ausschließlich schriftliche Sprache war, die niemals mit einem anwesenden Kommunikationspartner rechnete, die also präzise sein musste, um über Zeit und Raum hinweg verstanden zu werden. G ist demgegenüber eine eminent mündliche Sprache, in sehr wörtlichem Sinn: Sprache des Volkes ( δημοτική [ γλώσσα ]), imotikí (glóssa), was auch einmal Deutsch (ahd. diotisk ‚volklich‘) gewesen war, damals gegen L - ich komme gleich darauf zurück. 1991 erschien in Boston ein wunderbares Buch von Arthur Geisert mit dem Titel „Oink“. Ich verwende hier die deutsche Übersetzung von 1994 mit dem Titel „Oink“: „Eine Geschichte aus der Zeit, als Schweinchen noch Mittagsschlaf hielten - und als Schweinemütter noch richtig böse werden konnten, wenn die Kleinen statt dessen Unfug machten.“ - so steht’s hinten auf dem Buch. Auf allen 30 Seiten davor wird von der einen Erwachsenen und den acht Kindern nur ein einziges Wort gesprochen, aber das sehr oft: „Oink“, z.B. wenn die Mama die süßen Kleinen zum Essen ruft, und sie schmatzen und die Mamasau sauer ist. d <?page no="230"?> 230 13 Sprecher und Hörer - Hörer und Sprecher Abb. 24: „Oink“ Die Situation (und Buchstabengröße) gibt diesen Wörtern ihren Sinn - Humboldt hätte keinen Spaß gehabt an dem Buch, weil die darin verwendete Sprache höchstmöglich reduziert ist und die gesamte Verstehensleistung beim Leser liegt. Menschliche Sprachen haben ein paar mehr Wörter als schweinliche, aber letztlich läuft es auch bei ihnen auf dasselbe hinaus: Es liegt am Hörer oder Leser, ob der Sprechakt oder Schreibakt gelingt, denn er kann sich diesem Gelingen jederzeit (nicht nur kurz vor einer Scheidung oder dem Ausbruch eines anderen Kriegs) vollständig entziehen. 13.4 Mündliche und schriftliche Kommunikation Ich führe hier die Diskussion aus Kap. 13.1 weiter und lege über das Modell der Abbildungen 23 die Schrift. Worin unterscheidet sich eine rein mündliche Sprache von einer verschriftlichten und worin besteht der Unterschied zwischen mündlicher von schriftlicher Kommunikation? Es geht hauptsächlich um Flexibilität. Das Reich der Gonja in Nordghana wurde von Ndewura Japka gegründet, der es in sieben Bezirke aufteilte: für jeden seiner Söhne gab es einen Bezirk - so lau- <?page no="231"?> 231 13.4 Mündliche und schriftliche Kommunikation tete die Geschichte um 1900. Im Lauf der Jahrzehnte wurden (von den englischen Machthabern) aus verwaltungstechnischen Gründen zwei Bezirke aufgelöst, und Ende der 1950er Jahre erzählte man: Japka hatte fünf Söhne ... (Goody/ Watt 1986: 71f.). In schriftlichen Kulturen sind solche Anpassungen schlechterdings nicht möglich. Deshalb ist es, um das eklatanteste Beispiel zu nennen, Schriftreligionen völlig unmöglich ihrer eigenen Tradition zu entkommen, sie müssen an dem einmal aufgeschriebenen heiligen Text festhalten, was zum bekannten und mitunter mörderischen Modernitätsdefizit der angeblich ganz Frommen führt. Selbstverständlich lässt sich interpretieren, doch je mehr Interpretationsarbeit geleistet werden muss, desto mehr klaffen Meinen und Verstehen auseinander, und da ein (schriftlicher) Text sich ohnehin nicht wehren kann, ist er ins völlige Belieben des Lesers gestellt; weil er jedoch schriftlich ist, kann er höchst komfortabel als Autorität für alles Mögliche herhalten (Kap. 10), immerhin so lange, wie jedes geschriebene Wort bares Geld gekostet hat, bis in die Zeiten der Telegrafie, aber noch darüber hinaus: Auch eine Twitternachricht kann ihrem Urheber verhängnisvoller werden als ein blöder Spruch am Stammtisch. Deshalb musste z.B. der Kulturbeauftragte der im Juni 2015 frisch gewählten Madrider Bügermeisterin kurz, nachdem er angetreten war, gleich wieder zurücktreten, weil aufmerksame Twitterer einen antisemitischen Tweet von ihm aufgestöbert hatten; dass der bereits vier Jahre alt war, spielte dabei keine Rolle. (sueddeutsche.de) 6 Es muss nun Folgendes bedacht werden: Meinen Sagen | Schreiben Hören | Lesen Verstehen Abb. 25: Meinen und Verstehen Erst mal muss man die Sprache beherrschen, damit der Übergang vom Meinen zum Sagen oder Schreiben auch glückt - das wurde oben schon diskutiert, Kinder und frühe FremdsprachenlernerInnen (jeden Alters) haben damit erhebliche Probleme. Man kann den Unterschied daher auch anders fassen und landet wieder beim grundsätzlich übergeordneten kommunikativen Verhältnis. Abb. 26 (sieht übertrieben aus, aber so war’s tatsächlich) zeigt das Grundprinzip schriftlicher Kommunikation; der Text, den ich als (erstes) Beispiel gewählt habe, stammt aus dem „Dresdner Anzeiger“ vom 2. August 1804, es sind 290 Wörter in zwei Sätzen. 6 Dass auch Schriftlichkeit nicht ganz akkurat ist, zeigt sich z.B. daran, dass die Meldung sich bei welt.de in den Begleitumständen ein wenig anders liest. Überhaupt ist es mit der Schriftlichkeit so eine Sache, die hier aber weitgehend ausgeblendet werden muss, um die Diskussion nicht zu sehr zu belasten; deshalb nur noch folgender Hinweis: Die Möglichkeiten der Schriftlichkeit in Europa wurden keineswegs nur begrüßt, weil das Schwarz-auf-Weiße ganz und gar nicht als verlässliches Zeugnis galt, da es ja durch keine greifbaren Zeugen zu belegen war. Tatsächlich waren wahrscheinlich die meisten Urkunden des 12. Jhs. Fälschungen (vgl. Mostert 2008). <?page no="232"?> 232 13 Sprecher und Hörer - Hörer und Sprecher 1) Steckbrief. Es ist der bey uns, wegen Verfertigung und Ausstreuung einiger Drohungsschriften und Pasquille, sowohl als wegen des Verdachts des boshaften Feueranlegens, in gefänglicher Haft und Untersuchung befangene Bergarbeiter, Gottlieb Ehrenreich Behr, von hier gebürtig, in der Nacht des 18. dieses Monats aus dem Gefängniß, mittelst Durchbrechung der Decke desselben, entwichen, hat die Beinschelle und Kette mit sich genommen und ist durch die demselben sogleich in die hiesigen benachbarten Gegenden nachgesendeten Steckbriefe bis jetzt noch nicht wieder zu erlangen gewesen. Es werden demnach alle und jede Gerichts=Obrigkeiten von uns hierdurch zur Hülfe Rechtens und dienstergebenst ersuchet, gedachten Behr, welcher 21 Jahr alt, langer und schmächtiger Statur, auch von guter Bildung und vollen Angesichts, mit einigen Pockennarben, ist, die blonden Haare an den Seiten verschnitten, hinten aber in einem kurzen und schwachen Zopf trägt, eine gute Hand schreibet, ziemliche Fertigkeit in schriftlichen Aufsätzen besitzet, sich anständig beträgt, dabey aber im Antworten sehr versteckt und zurückhaltend ist nach der Anzeige seiner, wegen der beförderten Flucht desselben, zum Arrest gebrachten Mutter, bey der Entweichung einen runden Huth aufgehabt hat, in einer blau tuchnen Weste, mit Seitentaschen und Klappen, auch weißen Knöpfen, darunter aber in einem grau tuchnen Gillet und weißledernen kurzen Beinkleidern, über solchen annoch in ein Paar langen von blau und weißstreifiger klein geköperter Leinwand gefertigten Beinkleidern, an den Seiten herunter mit beinernen Knöpfen versehen, bekleidet gewesen ist, ein schwarz wollnes Tuch um den Hals, an den Füßen grau zwirne Strümpfe und gespitzte Schuhe ohne Schnallen getragen hat, daferne er sich unter irgend einer Gerichtsbarkeit betreten lassen sollte, denselben, als einen gefährlichen Menschen, sofort zum Arrest zu bringen und uns, wegen dessen Abholung, schleunige gefällige Nachricht anhero zu ertheilen, darwegen aber sich der Ausstellung gewöhnlicher Reversalien und Erstattung der aufgelaufenen Gerichtskosten zu gewärtigen. Bergstadt Altenberg in Sachsen, den 21. July 1804. Der Rath allda. Abb. 26: Schriftliche Kommunikation Dieser Steckbrief ist über 200 Jahre alt, und der Autor hat ganz offensichtlich keine Ahnung davon, dass Sprache ein Kommunikationsmittel ist. Es geht darum, einen entflohenen Verbrecher dingfest zu machen, doch wird dazu eine Sprache verwendet, die nur als Fachsprache beschrieben werden kann; das ist die Sprache, von der Mark Twain schrieb, es handele sich um eine tote Sprache: Der Autor sitzt zu Hause und bastelt seinen Satz; wenn der Leser ihn verstehen will, muss er ihn entschlüsseln, die Hauptlast liegt wohl oder übel bei ihm. Das Problematische an schriftlicher Kommunikation kommt daher, das ich als Autor nicht miterlebe, wie ein Leser das Buch gelangweilt zuklappt oder verärgert in die Ecke wirft. Wer denkt, dass solche Zeiten längst vorbei sind, täuscht sich. Mittlerweile hat sich unter dem Druck wissenschaftlicher Globalisierung einerseits, steigender StudentInnenzahlen und gesunkener Gehälter an Universitäten auch in Deutschland wissenschaftliche Literatur etabliert, die verständlich ist. Noch 1980 war ungeniert ein solcher Satz möglich (keineswegs von einem wissenschaftlichen Anfänger! ), dessen Zitierung sich hier vor allem deshalb lohnt, weil er aus einem Aufsatz stammt mit dem sehr schönen Untertitel „Zur Verständigung über ‚Stil‘ in der Angewandten Linguistik“ - ich bin so frei und unterstreiche die verwendeten Fremdwörter: Die offenen Fragen der gruppen-, schichten-, klassenspezifischen Variation, der Relation von Stilebenen und Sozialstratifikation, der soziologisch beschreibbaren Bedingungen in der Ausbildung von sprachlichen Subsystemen, der Definition und Relation von ‚Norm‘ <?page no="233"?> 233 13.4 Mündliche und schriftliche Kommunikation und ‚Devianz‘ (Gruppennorm, Gattungsnorm, Zeitnorm, Individualnorm etc.), des Einflusses soziostruktureller Objektiva (Dynamik und Statik sozialer Position, die eine neopositivistische Soziologie oft nicht genügend reflektiert durch die Begriffe der ‚Rolle‘ und des ‚Status‘ zu reifizieren Gefahr lief), der Relation von idiolektisch-endogenen Stilschichten zu soziolektisch-exogenen Stilkonstituenten (Sanders 1977, pp 63-124), der durch Tabuisierungen, Stigmatisierungen etc. sozial bedingten stilistischen Restriktionen, der literarischen Simulationen ‚natürlicher‘, also auch sozial variierter Kommunikation, der sozialen Bedingtheit rhetorisch-persuasiver Strategien ... - Fragen also - der Katalog ließe sich unschwer fortsetzen - im Grenzbereich zwischen Sprachlichem und Außersprachlichem, der das sektionsspezifische zur intersektionslinguistischem Interesse hin transzendiert, sind nur durch die Erarbeitung eines integrativen Analyseinstrumentariums sinnvoll, d.h. erfolgversprechend anzugehen, das notwendig über allzu schematische Rubrizierungen konventionell textwie soziolinguistischer Provenienz hinausgreift - im Dienste phänomenologischer Präzision und explanativer Adäquatheit. (Hess- Lüttich 1980: 99) Sätze wie diese zeigen sehr deutlich, dass Sprache nicht nur zum Kommunizieren gebraucht wird, sondern auch als Panzer verwendet werden kann: Ich habe hart für mein Wissen gearbeitet, warum soll es dir leichter fallen? Während jedoch unverständliche Äußerungen von Kindern üblicherweise auf das Verständnis von Mama und Papa stoßen, bleibt das Buch nur dann offen, wenn ich bei dem Herrn Professor eine Prüfung darüber ablegen muss, ansonsten suche ich mir ein Buch, dessen Lektüre mich weniger Zeit kostet und nach der ich dann wahrscheinlich auch klüger bin. Statt auf die Zusammenhänge im Einzelnen einzugehen, gebe ich eine historische Antwort auf die Frage nach dem Unterschied zwischen schriftlichen und mündlichen Sprachen. Nachdem die „Ilias“ und die „Odyssee“ auf griechischen Marktplätzen ein paar Jahrhunderte lang vorgetragen worden waren, wurden die beiden Erzählungen nicht nur aufgeschrieben, sondern auch in bestimmten Fassungen autorisiert. Belegt ist eine solche Autorisierung schon relativ früh für die Tragödientexte von Aischlylos, Euripides und Sophokles, die um 330 vor Chr. der Athener Redner Lykurgos in sogenannten „Staatsexemplaren“ aufschrieben ließ: Es enthielt die Werke der drei großen Tragiker in einer Textgestalt, die für die häufigen Wiederaufführungen fortan verbindlich war. Der Staatsschreiber, so besagt unsere Nachricht, mußte den Schauspielern den Wortlaut ihrer Rolle aus dem öffentlichen Texte vorlesen, und sie hatten ihre Kopien entsprechend zu berichtigen. Diese ganze Maßnahme war augenscheinlich notwendig geworden, da die im Archiv aufbewahrten Exemplare, welche die Dichter ehedem bei der Bewerbung um Zulassung zum Agon eingereicht hatten, erneuert werden mußten. Offenbar konnte man aber als Ersatz nicht diejenigen Texte wählen, die der Buchhandel feilhielt; denn diese waren durch Lesefehler entstellt, oft auch durch Eingriffe der Regisseure und Schauspieler. Ob es Lykurg gelang, unverfälschte Kopien von den Nachkommen der Dichter zu erhalten, wissen wir nicht. Wir dürfen aber annehmen, daß er alles tat, um in jedem strittigen Falle die beste Fassung zu finden. (Erbse 1988: 217-218) Die hier eingenommene Perspektive markiert sehr genau die Grenze zwischen mündlicher und schriftlicher Sprache. Mündliche Sprache hat - erst recht bei Theateraufführungen - nichts mit Ehrfurcht vor dem Text zu tun, sondern ist nur auf Wirkung angelegt; schriftliche hingegen schafft Traditionen, ist höchst konservativ und einerseits von jeder Situation gelöst, damit aber andererseits für jede andere, einigermaßen vergleichbare Situation offen, was natürlich auch ein sehr großer <?page no="234"?> 234 13 Sprecher und Hörer - Hörer und Sprecher Vorteil ist. Die Konsequenzen sind aber offensichtlich: Schriftliche Sprache erstarrt in ihrer Grammatik; sie ist es, die Dionysius Thrax in seiner „ τέχνη γραμματική“ ( téchne grammatiké)“ darlegt und erklären muss. Während (nicht nur für Kinder) in mündlichen Gelingensregeln gelten, sind im Schriftlichen systematische Regeln entscheidend, die mit der aktuellen Situation selbstverständlich nichts zu tun haben. Im einen Fall ist die Situation entscheidend, im anderen die Sprache; im Mündlichen verstehe ich den anderen, im Schriftlichen seinen Text, deshalb sieht mündliche Kommunikation, ganz anders als die schriftliche in Abb. 26, so aus wie in Abb. 27: oder sogar so: Abb. 27: Mündliche Kommunikation Je früher eine Sprache verschriftlicht wurde, desto stabiler ist ihre Grammatik - erst mal bei den Intellektuellen, die aber auch für die Bildung der nächsten Generation verantwortlich sind, und auch ganz einfach deshalb, weil Schrift, anders als gesprochene Sprache, nicht nur bleibt, sondern auch erheblich teurer ist. Homer und die Tragiker wurden aufgezeichnet, die Komödiendichter mussten noch ein bisschen warten, weil es sich für das nationale Selbstbewusstsein offenbar nicht lohnte. Alltagsgespräche sind ganz einfach nicht prominent genug und ohnehin mehr oder weniger reproduzierbar; da wäre jedes Stück Papier (und erst recht das viel teurere Pergament, Papyrus oder gar ein Stück Marmor) für nichts und wieder nichts verschwendet. Merkwürdigerweise ermöglicht demgegenüber aber erst Schrift Sprachwissenschaft. Was mit einer schriftlichen Sprache (mündlich) geschehen kann, hat das Lateinische erfahren; es wurde das ganze Mittelalter hindurch gesprochen, sogar über höchst wichtige Themen, doch eben darin ging seine Grammatik verloren, sie löste sich in Kommunikation auf und wurde dann erst wieder im Humanismus als System (= schriftlich) wiederentdeckt. Ähnliches passierte in der Geschichte des Griechischen zwischen der Antike und der mündlichen Gegenwart im „Befreiungskampf“ des 19. Jhs. und bis heute: Mit der Katharevousa, der ‚reinen Sprache‘ wurde an der Antike angeknüpft, aber es setzte sich halt doch die Volkssprache durch. Da es hier aber schon genug lateinische, alt- und neugriechische Beispiele gab, wähle ich jetzt eine ganz andere Sprache als ein sehr schönes (und bequem nachvollziehbares) Beispiel einer mündlichen Sprache: Vietnamesisch - immerhin der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts (um die Wahrheit zu schreiben: Ich weiß nicht, welche Entwicklung das Vietnamesische in den letzten Jahrzehnten erlebt hat, aber es geht hier auch nur um das Muster). Die folgende Geschichte vom sprechenden Teufel beginnt mit Có. Die Funktion dieses Eröffnungswortes ist es, den gesamten anschließenden Text in die Vergangenheit zu setzen, ein sehr ökonomisches Verfahren: Man muss im Vietnamesi- <?page no="235"?> 235 13.4 Mündliche und schriftliche Kommunikation schen keine Zeitformen lernen, sondern sagt nur ein einziges Mal có; das geht zu Lasten des Hörers, der bei allen folgenden (zeitlosen) Verbformen die Vergangenheit mitdenken muss. Aber nicht nur das. Hier kommen erst einmal Übersetzung und Text; in der 1. Zeile steht das Vietnamesische, in der 2. die Aussprache, in der 3. eine Interlinearübersetzung. Als Verständnishilfe folgt eine grammatisch nachvollziehbare Übersetzung in D. Ein Vergleich der beiden Übersetzungen macht das hohe Maß an Verständnisleistung, das hier vom Hörer zu erbringen ist, deutlich bewusst. Abb. 28: Der sprechende Teufel (Text aus: G. Cordier. Cours de langue annamite, Hanoi 1932, aus Wendt 1987: 340-342) Der sprechende Teufel 1. Ein Mann floh einmal vor seinen Feinden und verbarg sich in einem fernen Berg in einer tiefen Höhle. <?page no="236"?> 236 13 Sprecher und Hörer - Hörer und Sprecher 2. Eines Nachts, der Wind war frisch und der Mond schien, bemerkte der Mann plötzlich einen Teufel, der unter einem Weidenbaum umherstreifte; in höchster Angst streckte er sich der Länge nach aus und wagte nicht, sich zu rühren. 3. Als der Teufel das bemerkte, kam er heran und sagte: Warum kommst du nicht her, um dich zu unterhalten? 4. Der Mann zitterte wie Espenlaub, antwortete aber: (Verzeihen Sie), edler Herr, ich habe solche Angst vor Ihnen. 5. (Darauf) sagte der Teufel: Wie (kann man) so dumm sein! Was ist da zu fürchten? ‚Wenn man schon von etwas Schrecklichem spricht, so ist es vor allem das menschliche Geschlecht, (das) man mehr als alles andere fürchten muß. 6. Bitte, denken Sie doch mal nach: Wer hat Sie in ein derartiges Elend gestürzt, die Menschen oder der Teufel? ‘ 7. Nachdem der Teufel das gesagt hatte, lachte er auf und verschwand. (Wendt 1987: 342) Diese Sprache steht in absolutem Gegensatz zu Humboldts Idealsprache: Dem Empfänger (Leser oder Hörer) werden einige Brocken hingeworfen; mag er jetzt sehen, wie er aus diesen Sprachbrocken das richtig erkennen kann, was der Sender (der Schreiber oder Sprecher) ihm mitteilen will. Der Empfänger erhält keine fertig ausgearbeitete Botschaft mit allen Hinweisen (Flexionsendungen, Kasuspartikeln usw.), um jede Zweideutigkeit der Mitteilung von vornherein zu beheben, sondern er muß die Beziehungen zwischen den Wortgruppen zum großen Teil selbst herstellen. (Wendt 1987: 347) Wenn man sich von der Vorstellung befreit hat, dass der Sprecher die Kommunikation und die Sprache beherrscht (im Sinne von: über die Kommunikation und die Sprache herrscht), ist das kein so schlechtes Modell, allerdings muss dazu das muß ersetzt werden: „er darf die Beziehungen zwischen den Wortgruppen zum großen Teil selbst herstellen“; der Hörer hat auch seine Rechte, und Kommunikation ist eine ausgewogene Angelegenheit oder sollte es doch sein. Schon die (sehr knappe) Diskussion der Modalisierungen hat gezeigt, welchen Unterschied es zwischen den Verstehensleistungen in verschiedenen Sprachen gibt. Grundsätzlich ist es in allen Sprachen ebenso möglich wie wünschenswert, sich zu verständigen und sich zu verstehen, weil es ein Spiel ist, deren Mitspieler nicht gegeneinander antreten, sondern miteinander ein gemeinsames Ziel erreichen wollen (sollten). 13.5 Gravitationszentren Damit komme ich abschließend noch einmal auf die Gravitationszentren zurück. In Kap. 4.1 wurde festgestellt, dass eine rein mathematisch aufgebaute Sprache ihre Aufgabe nur sehr schwer erfüllen könnte, und immer wieder konnte darauf hingewiesen werden, dass Sprachen in der Regel ihre systematischen Möglichkeiten nicht ausnutzen: Sie beschränken sich auf wenige Phoneme, Silben, Wörter usw. Sie tendieren eher dazu, im Lauf der Zeit Kasus, Numeri, Genera zu verlieren, als neue zu erfinden. Es bilden sich Gravitationszentren heraus, die vor allem dem Menschsein menschlicher Sprachverwender geschuldet sind. So ist es erheblich einfacher, motivierte Wörter zu verstehen und zu lernen als arbiträre, weshalb die meisten Wörter und Phrasen tatsächlich motiviert sind. In der einen Sprache ist die Morphologie besonders ausgebildet, in einer anderen die Syntax: Wo es eine <?page no="237"?> 237 13.5 Gravitationszentren strikte Wortstellung gibt, bedarf es kaum einer Morphologie, ebenso wenig wie in einer Sprache mit festem Akzent, in der dann auch Silbenonset und -koda angereichert werden können, usw. Wo diese Gravitationszentren sich jeweils entwickeln, ist grundsätzlich egal und hängt wahrscheinlich von einigermaßen zufälligen Vorgaben ab. Im Vergleich zwischen L und D kann man das sehr schön verstehen: L musste (ich wiederhole noch einmal) im späten 3. vorchristlichen Jh. schriftlich werden, weil die immer umfangreicher werdende Bürokratie ohne Schrift, ohne deren Verlässlichkeit und Nachprüfbarkeit, ohne Archivierungsmöglichkeiten, nicht mehr auskam. Außerdem, wie schon in Griechenland, entwickelte sich das Bedürfnis, öffentliche Reden für die Zukunft aufzubewahren; indem sie als Muster fungierten, wurden sie vorbildlich, damit wurde aber ihr sprachlicher Ausdruck zementiert. Als solcher konnte er nun analysiert werden, was in besonders ausgefeilter Differenzierung im 1. nachchristlichen Jh. durch Quintilian geleistet wurde. Nachdem die Redner und dann auch literarische Autoren Farben in die Sprache brachten, konnten diese Farben als colores rhetorici auch unterrichtet werden. Man konnte sich je nach gewünschter Wirkung beispielsweise entscheiden zwischen Parallelismus und Chiasmus, zwischen Klimax und Antiklimax, lernte den Unterschied zwischen Alliteration und Anapher usw. All das gab es in D lange nicht. L war anfangs auf Rom und Latium beschränkt, blieb aber auch mit der Ausdehnung des römischen Reichs zentralisiert; ein gutes Beispiel ist Quintilian selbst, der aus Spanien stammte, aber in Rom und von Rom aus wirkte. Außerdem wurde aktiv Sprachpolitik betrieben. Der zweite römische Kaiser Tiberius, der zwischen 14 und 37 regierte, „befiehlt einem Soldaten, eine Frage, die ihm auf Griechisch gestellt wird, nur auf Latein zu beantworten“, schreibt Sueton in seiner Biographie (Poccetti/ Poli/ Santini 2005: 127) Die Dialekte in Mitteleuropa führten demgegenüber sehr lange ein geographisches Eigenleben in sehr engem Radius, von einzelnen Autoren wurden zwar Versuche der Verschriftlichung unternommen, allerdings stets ausgehend von und orientiert an L, was nicht nur rhetorische Muster, sondern auch grammatische Kategorien und das Alphabet betraf, und das, obwohl L ganz anders organisiert war als die germanischen Dialekte. Die Kommunikation fand ausschließlich mündlich statt und geichzeitig wurde ausschließlich miteinander gesprochen. Zwischen Alpen und Nordsee gab es keine öffentliche und schriftlich belegte Redekultur. Auch als im 12. Jh. von Frankreich aus die literarische Produktion zunahm, wurde auf schriftliche Fixierung offenbar nicht allzu viel Wert gelegt; z.B. wurde die Große Manessische Liederhandschaft erst ein gutes Jahrhundert nach dem erstnaligen Vortrag der in ihr gesammelten Lieder angefertigt. Und einer der zentralen Texte der sogenannten staufischen Klassik, Hartmanns „Erec“ von vielleicht 1180, ist (von ganz wenigen Fragmenten abgesehen) nur in einer einzigen Handschrift vom Beginn des 16. Jhs. überliefert. D war sehr lange nicht am System interessiert, sondern allein an Kommunikation, weshalb Luther, noch in der ersten Hälfte des 16. Jhs., ausdrücklich „die mutter jhm hause / die kinder auff der gassen / den gemeinen man auff dem marckt drumb fragen / und den selbigen auff das maul sehen [musste] / wie sie reden / und darnach dolmetzschen / so verstehen sie es den / und mercken, das man Deutsch mit jn redet“ (Luther 1974, Bd. 3: 246*). Das machte (nicht nur in Deutschland) jedoch nicht so recht Schule, und als man begann, sich wissenschaftlich mit Sprache zu beschäftigen, war man sich ohnehin zu fein für alles, was aus dem Maul des Volkes kam. <?page no="238"?> 238 13 Sprecher und Hörer - Hörer und Sprecher Sprache blieb schriftliche Sprache, bis de Saussure dann die Reißleine zog. Konsequenterweise drängte er darauf, die Implikationen schriftlicher Sprache aus der Sprachwissenschaft rauszuhalten: Stilistik, Pressesprache, aber auch Rhetorik, alles, was an Sprache in irgendeiner Weise kulturell gemacht war und wurde. Das war die eine Grenze, die er zog, die andere war die Psychologie. Damit hatte er Sprache auf sich selbst konzentriert, negierte aber auch jede Funktion und ebenso ihr Gewordensein, nicht nur Grammatikalisierungen, sondern ebenso Gelingensregeln und Gravitationszentren. Sprechenlernende Kinder lernen zwar auch Sprache als System, doch lernen sie ein System, weil die Anwendung eines Systems immer erfolgversprechender ist als sich jedesmal auf neue Einzelheiten einzustellen. Dass sie lernen, Sätze nicht nur zu verstehen, sondern auch zu formulieren, die sie nie zuvor gehört haben, ist nicht so bemerkenswert, wie es häufig dargestellt wird: Ihr Körper ist auch darauf eingestellt, Dinge zu essen (und zu verwerten), die sie noch nie zuvor gegessen haben, Treppen hinauf und hinunter zu steigen, auch wenn sie nicht irgendeiner Norm entsprechen, und wenn sie doch einmal stolpern, sich instinktiv vor den schlimmsten Folgen zu schützen. Das Leben ist voll von Dingen, die einem zum ersten Mal begegnen und die man zum ersten Mal macht. Auf einige Phänomene ist nun unter dem Gesichtspunkt der Gravitationszentren noch aufmerksam zu machen. Vom Urgermanischen zu D nimmt die Anzahl der Vokalphoneme erheblich zu (12>19); von AG zu G nimmt sie in noch drastischerem Ausmaß ab (23>5), wobei alle Diphthonge verlorengegangen sind. Während Wörter in den germanischen Sprachen zur Einsilbigkeit tendieren, bleibt in G die Silbenzahl erhalten: Altgriechische Wörter können daher unerkannt im neugriechischen Lexikon stehen, ahd. Wörter jedoch keinesfalls in Duden oder Wahrig. Die germanische Einsilbigkeit basiert auf einem Ausbau der konsonantischen Onsets und Kodas sowie damit zusammenhängend einer Bereicherung des Vokalinventars. Einfach gesagt: Je kürzer Wörter (sein wollen), desto mehr Vokale werden gebraucht und anders herum: Je mehr Silben die Wörter haben, desto weniger Vokale werden gebraucht. Zu beiden aktuellen Sprachen hin fanden Vereinfachungen statt, aber mit je unterschiedlichen Gravitationszentren. In allen Sprachen besteht die Möglichkeit, den Wortschatz durch verschiedene Wortbildungsmittel zu erweitern und je aktuellen Aussagebedürfnissen anzupassen. Auf einem sehr stabilen Fundament von indigenen oder immerhin als indigen empfundenen Wortstämmen werden neue Wörter abgeleitet. Dabei wirken von Sprache zu Sprache unterschiedliche Konnotationen und Motivationen; ganz wenige Beispiele mit ganz kurzen Kommentare: 107) fliegen und Flug sind Ablautungen (Vokalvariationen im Wortstamm) und beides kommt von L volo, wobei das o der ersten Silbe eliminiert wurde, während Vogel nur germanisch ist (DWB). E plane (<L planus ‚platt, eben, flach‘ < AG παλάμη [paláme] ‚flache Hand‘) hat offenbar etwas damit zu tun, dass Flugzeuge anders als ältere Fluggeräte relativ flach waren und sind, während in aircraft die Energie steckt, die den Flieger in der Luft hält. In F kommen alle Wörter mehr oder weniger unmittelbar aus L, entweder von volo ‚fliegen‘ oder avis ‚Vogel‘; nur die mouche stammt (ebenso wie D Mücke) von L musca (< AG μ υΐ σ κ α [myís a] = Deminuitiv von μ υῖ α [myía]. G hat dieses k <?page no="239"?> 239 13.5 Gravitationszentren Wort, phonetisch leicht abgewandelt, behalten ( μύγα [míja]) und bildet aus dem Verb πετώ (‚fliegen‘ ) auch den ‚Flug‘ ( πτήση gebräuchlicher als πέταγμα) ; die griechischen Wörter für Flugzeug und Flieger jedoch sind Fremdwörter aus E. 107D) fliegen Fliege Flug Flugzeug Flieger / Flieger 107E) fly fly flight (air[o])plane / (air)craft plane / pilot 107F) voler mouche vol avion avion / aviateur 107G) πετώ μύγα πτήση / πέταγμα αεροπλάνο / αεροσκάφος αεροπλάνο / πιλότος (péto míja ptísi / pétagma aeropláno / aeroskáfos aeropláno / pilótos) Wortbildung hat, wie an diesem Beispiel zu sehen, sehr deutlich nicht nur etwas mit Sprache zu tun, insofern sie aus Lexikon und Grammatik besteht, sondern viel mehr mit der Gesellschaft, in der die Wörter als Bestandteil einer Äußerung verwendet werden. Ist es Fantasielosigkeit, dass in 108 überall dasselbe Muster verwendet wird? 108D) Flug-hafen < Hafen 108E) air-port < port ‚Hafen‘ 108F) aéro-port < port ‚Hafen‘ 108G) αερο-λιμένας < λιμένας ‚Hafen‘ Man müsste genauer fragen, ob dahinter dieselben Denkgewohnheiten wirken (und wenn ja, warum? ) und welche Sprache sich ein Vorbild an einer anderen nimmt - und wenn ja, an welcher? Die Frage ist deshalb spannend, weil hier allerhand Abhängigkeiten ineinanderlaufen, wie eine Rückkehr zu den Haltestellen terrestrischer Fortbewegungsmittel zeigt; ich muss mich allerdings auf Weniges beschränken: 109D) Bahnhof Busbahnhof Haltestelle 109E) (railway) station bus station stop / station (Bahn) 109F) gare / station gare routière arrêt (Busse) / station (Straßen-, S- und U-Bahn) 109G) (σιδηροδρομικός) σταθμός σταθμός λεωφορείων στάση / σταθμός (sidirodromikós) stathmós stathmós leoforíon stási / stathmós) Haltestellen sind etwas, dem man in Städten häufig begegnet, ob man persönlich Bus oder Bahn fährt oder nicht. Sie gehören zum Alltag, und daher können sich ihre Benennungen relativ leicht und rasch einbürgern, d.h. heimisch werden, eine Metapher, die es in E-F-G ebenfalls gibt: in E (become established) ebenfalls aus gesellschaftlicher Perspektive, in F (s’implanter) mit zusätzlichen biologischen Konnotationen, während G mal wieder seine altgriechische Herkunft nicht abschütteln kann: καθιερώνομαι (kathierónome) kommt von AG καθιέρωσις (kat h iérosis) ‚Weihung, Einweihung‘. - Im Sprachgebrauch sind diese Herkünfte aber ganz unerheblich. Busbahnhof ist längst lexikalisiert, weil noch früher Bahnhof über die ursprüngliche Motivation hinaus lexikalisiert wurde. Und wenn man verschiedene Wörterbücher zu Rate zieht, stellt man leicht fest (was oben nur angedeutet ist), dass Haltestellen oder Stationen, Bahn- und Busbahnhöfe mal so mal so übersetzt sind, Hauptsache, man kann sich verständigen, denn noch mal über Wittgenstein hinaus: Die Bedeutung eines Wortes ist nicht der Gebrauch in der Sprache, sondern im jeweiligen Äußerungskontext, und dies umso mehr, je mehr Äußerungskontexte es gibt (in einer Stadt, wo Busse und Bahnen fahren, sind es erheblich mehr als auf dem Land - dort sagen sich allerdings Fuchs und Hase „Gute Nacht“). ) <?page no="240"?> 240 13 Sprecher und Hörer - Hörer und Sprecher Sprachentwicklung hängt sehr häufig und sehr deutlich von Frequenzen ab: Was alltäglich gebraucht wird, bürgert und schleift sich ohne weiteres möglichst griffig ein (Theisen 2015), und so wird aus einem altehrwürdigen und fremdländisch klingenden Automobil, aus AG αυτός (aftós ‚selbst‘) und L mobilis (‚beweglich‘) gebildet: sAuto. In G wurde rückübersetzt aus Automobil zu αυτοκίνητο (aftokínito ‚selbstbeweglich‘), was sich aber schlecht kürzen lässt zu α ύτο , weil das einfach nur ‚selbst‘ heißt, während in D Auto nichts anderes ist als Auto. Aber: Griechliche Autohändler nennen ihre Läden mittlerweile gerne (wenn nicht Car...) AUTO..., wobei natürlich der Kontext klar macht: Das ist ein Fremdwort - die besten Autos kommen halt doch aus Deutschland (in Griechenland werden keine gebaut). Ein Gebrauchtwagen-Händler hat die Internetadresse: http: / / www.auto-hellas.car.gr, worin natürlich auch wieder das Alphabetproblem eine Rolle spielt. Griechische Wörter wurden exportiert (genauer gesagt: von außen usurpiert) und kommen dann als Fremdwörter zurück. Nur dies noch: αυτοκίνητο wurde mittlerweile doch gekürzt, jedoch nicht auf den ersten Wortteil, sondern auf den zweiten: κίνητο (kínito) ist, aber in ganz anderem Kontext, zum Beweglichen geworden, nämlich zum Mobiltelefon, dem „Handy“. In Kap. 13.2 ging es zuletzt um Homonyme und Homophone. Homophone sind selbstverständlich das ältere, weil vor-schriftliche Phänomen. Im Chinesischen gibt es jede Menge, in F auch nicht wenige, D geht ihnen eher aus dem Weg. Ist das eine Mentalitätsfrage? Wenn die deutsche Großschreibung der Substantive mit dem Argument verteidigt wird, ohne Großschreibung wisse man ja nicht, ob „der gefangene floh“ ein gefangenes Tier sei oder auf eine Gefahr der öffentlichen Sicherheit hindeute, gewinnt man leicht den Eindruck, dass der Deutsche in bedenklichem Maße sprachlich kurzatmig ist. Er nimmt gern die Lupe zur Hand, um herauszufinden, was jeweils aktuell geäußert wird. Oder ist es von L und dessen Latinitas her die Ehrfurcht vor der Sprache? Bevor ich aber dazu komme, ist noch einmal ein kurzer Blick auf das (Substantiv-)Genus zu werfen. Selbstverständlich ist sprachliches Genus eine Hilfestellung, die von außen, nämlich der Welt, kommt (Mann - Frau) und ein Ordnungssystem einführt, das recht praktisch sein kann. Allerdings muss sich jede Sprache entscheiden: Orientiert sie sich an natürlichem Geschlecht oder führt sie ein eigenes System ein, z.B. aufgrund der Endung des Substantivs? Kasusendungen können aufgegeben werden, etwa zugunsten von Präpositionen, Numerusendungen auch, und dasselbe gilt auch für Genusendungen, wie in E und F geschehen, hier mehr, dort weniger. Tatsächlich bleiben sie aber in allen Sprachen erhalten, wenn sie auch versteckt werden und sich erst in längeren Diskursen offenbaren. In Pronominalsystemen ist nämlich Farbe zu bekennen, doch offenbar gibt es Sprachen mit einem relativ langen kommunikativen Atem, was auch bedeutet, dass sprachliche Eindeutigkeit hinter kommunikativer Adäquatheit zurücksteckt. Andererseits gibt es Sprachen mit einem relativ kurzen kommunikativen Atem, was dadurch zustandekommt, dass Sprache und Kommunikation voneinander gelöst werden - ich erinnere an die beiden Beispiele in Kap. 13.4 (Abb. 26 und das darauf folgende Zitat). Und damit bin ich exemplarisch bei einem letzten Schwerpunkt. Um was geht es in Sprache und Sprechen: Sprachliche Richtigkeit oder kommunikative Freund- <?page no="241"?> 241 13.5 Gravitationszentren lichkeit? Berühmt-berüchtigt ist die deutsche Satzklammer. Mal wieder Mark Twain, dessen moderner Held als „Connecticut Yankee in King Arthur’s Court“ die stets munter drauflos plaudernde Sandy getroffen hat: She had exactly the German way; whatever was in her mind to be delivered, whether a mere remark, or a sermon, or a cyclopedia, or the history of a war, she would get it into a single sentence or die. Whenever the literary German dives into a sentence, that is the last you are going to see of him till he emerges on the other side of his Atlantic with his verb in his mouth. (Twain 1889: 279f.) Auch im ersten Jahrhundert nach Twain hat sich nicht viel geändert. Ein korrekter Satz war dem Deutschen das Nonplusultra, was so weit führte, dass man Ausländern den Ratschlag geben konnte, Deutsche besser nicht zu unterbrechen, weil ihre Hauptsache erst am Ende ihrer Sätze käme. Die deutsche Satzklammer ergibt sich aus verschiedenen Eigenschaften des Deutschen: a) trennbare Verben, b) Nebensatzstellung, c) periphrastische Bildung von Verbformen. 110Da) Über die Weihnachtsfeiertage nahm Herr Leippold trotz der medizinischen Betreuung durch Frau Dr. Holderbusch und dem Besuch seiner Kinder aus erster, zweiter und dritter Ehe, die er seit elf Jahren nicht gesehen hatte, vier Kilo ? 110Db) Über die Weihnachtsfeiertage nahm Herr Leippold, der seine Kinder sowohl aus erster, zweiter als auch dritter Ehe, die er schon seit elf Jahren nicht mehr gesehen hatte, für zwei Tage ? , trotz der medizinischen Betreuung durch Frau Dr. Holderbusch vier Kilo ? 110Dc) Über die Weihnachtsfeiertage hat Herr Leippold, den seine Kinder sowohl aus erster, zweiter als auch dritter Ehe, die er schon seit elf Jahren nicht mehr gesehen hatte, für zwei Tage besucht hatten, und trotz der medizinischen Betreuung durch Frau Dr. Holderbusch vier Kilo ? Diese Sätze sind selbstverständlich konstruiert, aber das sind bekanntlich alle Sätze, insofern sie einer Grammatik folgen. Man gewinnt jedoch leicht den Eindruck, dass Chomskys idealer Sprecher ein deutscher Sprecher - natürlich nicht! , sondern ein deutscher Schreiber war. Allerdings haben in den letzten Jahren auch deutsche Schreiber und Sprecher ihr kommunikatives Gegenüber entdeckt, was auch bedeutet: Dem Hörer (und Leser) wird nun doch ein bisschen mehr zugetraut, was aber auch bedeutet, dass er (sprachlich) entlastet wird. Einerseits hat er ein Recht auf Verstehen und andererseits wird nicht nur vom Sprecher, sondern mittlerweile auch von Grammatikern ernst genommen, dass beide, Hörer und Leser, z.B. einen Relativsatz richtig zuordnen können, auch wenn dieser nicht unmittelbar ans Substantiv anschließt. Gleichzeitig ist jedem Sprecher zuzumuten, verständliche Sätze zu formulieren, da der Hörer sich ebensowenig wie der Sprecher an Schriftlichkeit orientieren muss, zumal es gerade Schriftlichkeit ist, die den linguistischen Sprecher (im Sinne Chomskys) kennzeichnet - vgl. Kap. 3.4 und dort Chomsky 1970: 13. Statt weiterer Erklärungen noch einmal die Sätze 110 in normalen (drei) Sätzen: 110D‘) Über die Weihnachtsfeiertage hat Herr Leippold vier Kilo abgenommen, trotz der medizinischen Betreuung durch Frau Dr. Holderbusch. Seit elf Jahren hatte er seine Kinder aus erster, zweiter und dritter Ehe nicht mehr gesehen. Jetzt haben sie ihn für zwei Tage besucht. <?page no="242"?> 242 13 Sprecher und Hörer - Hörer und Sprecher Darunter kann man sich auf Anhieb allerhand vorstellen, wobei aber die Sprache nicht mehr im Weg steht. Das Gravitationszentrum - auch in D-E-F-G - liegt mittlerweile und glücklicherweise in Verständlichkeit, d.h. Kommunikation, in der sich nicht der Sprecher und Schreiber mehr oder weniger rücksichtslos durchsetzen kann, wie in den Beispielen aus Kap. 13.4 aus den Jahren 1804 und 1980. Endlich kommen auch Hörer und Leser zu ihrem Recht. Das liegt aber auch daran, dass schriftliche Sprache sich immer mehr an mündlicher Sprache orientiert, unter anderem, weil es heute kostenlose Schriftlichkeit gibt - wenn man denn seine Flatrate rechtzeitig bezahlt hat. Immerhin haben sich normative Grammatiken überlebt und wurden von Grammatiken der normalen Sprache abgelöst, d.h. der verwendeten Sprache und nicht der zu verwendenden, da es letzt- und hauptsächlich um Verständlichkeit geht, und die hat sehr viel zu tun mit 111D) Freundlichkeit 111E) kindness 111F) amabilité 111G) φιλικότητα (filikótita) <?page no="243"?> 14 Glossar Dieses Glossar erhebt selbstverständlich nicht den Anspruch, die Begriffe umfassend zu erklären, zumal viele von ihnen kontrovers diskutiert werden. Hier kann es lediglich um knappe Orientierungen gehen. - In Klammern stehen die Kapitel, in denen sie von Bedeutung sind. Einfache Pfeile ( ) verweisen auf andere Einträge, Doppelpfeile ( ) ebenfalls, jedoch auf solche, zu denen sie selbst in Opposition stehen. Ein Allophon ist entweder eine freie oder eine stellungsbedingte Aussprachevariante eines Phonems. Frei ist sie, wenn das Phonem unterschiedlich realisiert werden kann, wobei es keinen Zwang für die eine oder andere Variante gibt (Zungen-R vs. gerolltem R); stellungsbedingt ist sie, wenn die Realisierung von der lautlichen Umgebung vorgeschrieben ist (achvs. ich-Laut). (4) Unter Ambiguität versteht man die Nichteindeutigkeit sprachlicher Ausdrücke. Von der etymologischen Herkunft her (L ambo ‚zwei‘) sind zwei Bedeutungen gemeint, es sind aber häufig auch eine ganze Menge mehr, die jeweils erst im Äußerungskontext vereindeutigt werden. (13.2) Analoge Systeme haben sehr viel mit Übergängen, Geschmeidigkeit und Elastizität zu tun. Zwischen Bekannter und Freund gibt es keine eindeutige und eindeutig feststehende Grenze. Natürliche Sprachen sind allerdings nicht nur analoge, sondern zugleich auch digitale Systeme. (3.1, 7.2) Rein analytische Sprachen transportieren, anders als synthetische, in jedem Wort nur eine einzige Information, entweder eine lexikalische oder eine grammatische; syntaktische Relationen werden allein von der Wortstellung geliefert. (3.2, 4.2, 5.2, 7.3) Aorist heißt (in G) eine Vergangenheitsbzw. Aspektform des Verbs, die einen einmaligen Akt bezeichnet. In D gibt es keinen Aorist, da es keine Aspektform des Verbs gibt. ( Paratatikos) (5.1) Aspekt ist eine verbale Kategorie, mit deren Hilfe der Sprecher seine Perspektive auf ein Ereignis, eine Handlung oder einen Vorgang zum Ausdruck bringen kann. Vorwiegend steht dabei Einmaligkeit vs. Dauer zur Auswahl. (5.1) Eine Assoziation ist das, was jeder Sprecher und Hörer individuell mit einem Wort verbindet, woran er denkt, wenn er es sagt oder hört, zusätzlich zur Bedeutung des Wortes, die jeder im Lexikon nachlesen kann. ( Denotation, Konnotation) (6) <?page no="244"?> 244 14 Glossar Mit einem Attribut lassen sich Gegenstände, Vorstellungen, Handlungen usw. spezifizieren. In der Philosophie ist ein Attribut eine Eigenschaft, die nicht zum Wesen einer Sache oder eines Menschen gehört. (9.2) Eine constructio ad sensum (Konstruktion nach dem Sinn) folgt nicht grammatischer Richtigkeit, sondern eher dem gesunden Menschenverstand. Sie ist nicht in jeder Sprache möglich, aber auch z.B. in D verständlich: „Ein Paar Schuhe kosten 79 Euro.“ (9.5) Deiktische Ausdrücke sind an konkrete Äußerungen gebunden. Sie haben ihre Bedeutung nicht lexikalisch, sondern gewinnen sie ausschließlich kommunikativ: Ich ist immer der Sprecher, heute immer der Tag, an dem heute gesagt wird. (3.4, 5.1, 6.2, 7.1, 7.3, 12.5) Denotation ist die Bedeutung eines Wortes, die man im Wörterbuch nachlesen kann. (10.1, 12.5) Derivation ist ein Wortbildungsverfahren, mit dessen Hilfe ein Wort aus einem anderen abgeleitet wird. Dabei wird das Grundwort mit einem oder mehreren Zusätzen (Affixen) erweitert, auch ein Wortartenwechsel kann stattfinden: schreiben - be-schreiben - un-be-schreib-lich - Un-be-schreib-lich-keit. (5.2) Eine diachronische Perspektive auf eine Sprache befasst sich mit deren Entwicklungen im Lauf der Zeit. ( synchronisch) (1) Ein Dialekt ist eine lokale Variante einer Sprache. Nicht ohne Weiteres lässt sich das eine vom anderen scharf trennen. Grenzen sind in vielen Fällen national oder ethnisch gezogen. (1, 2.1, 2.3, 3, 3.2, 3.5, 3.7, 13.2, 13.5) In digitalen Systemen sind alle Einheiten eindeutig voneinander abgegrenzt. Am einfachsten lässt sich das an Zahlen veranschaulichen: 1 ist und bleibt immer etwas strikt anderes als 2; dazwischen gibt es (im System der ganzen Zahlen) eine scharfe Grenze. (3.1, 5.1, 7.2, 10.2, 12.1) Ein Eigenname benennt, im Gegensatz zu einem Gattungsnamen, einen singulären Weltausschnitt als singulären Weltausschnitt; wie viele Kate Middletons es auf der Welt auch geben mag, der Name Kate Middleton meint (im jeweiligen Kontext) immer nur eine einzige. (6.3) Eine Ellipse hat in linguistischem Sinn nichts mit Planetenbahnen zu tun, sondern meint einen Satz, dessen syntaktische Korrektheit erst im Verständnis vollzogen wird: „Wie heißt du? “ - (Ich heiße) „Peter.“ Ellipsen kommen in Alltagskommunikation äußerst häufig vor. (5.1, 6.2, 7.3, 9.1) Erweitert inklusiv ist eine Möglichkeit, wir - we - nous - ε μ είς (emís) zu gebrauchen. Neben mir, dem Sprecher, und dir, dem Hörer, sind dabei alle mitgemeint, die in der aktuellen Situation zu Sprecher und Hörer gehören. (9.4) <?page no="245"?> 245 14 Glossar Exklusive Verwendung von wir - we - nous - ε μ είς (emís) meint mich als Sprecher, aber nicht einen der anwesenden Hörer, sondern „meine“ Abwesenden („Wir fahren am Wochenende nach ...“ - Sie [die Hörer oder Leser] kommen aber nicht mit.) (9.4) Falsche Freunde - false friends - faux amis ψευδόφιλες λέξεις (psevdófiles léksis) sind Wörter aus verschiedenen Sprachen, die wunderbar zusammenzupassen scheinen, aber eben nur scheinen, weil Wort und Bedeutung, Ausdrucks- und Inhaltsseite, nun mal völlig verschiedene Seiten sind: become = bekommen? - Nein! ( Symbolizität) (6.4) Falsifizierbarkeit ist eine Art Gegenprobe. Eine Aussage kann nur solange als wahr behauptet werden, wie sie nicht widerlegt werden kann. Häufig, gerade bei empirisch zu belegenden Aussagen, ist diese Widerlegung weniger aufwendig als ein positiver Beweis. (2.2) Freundliche Texte und allgemein freundliche Sprache meinen eine Form der Kommunikation, in der der Schreiber oder Sprecher sein Gegenüber ernst nimmt, und anders herum: Wer verstanden werden will, sollte so freundlich sein, sich verständlich auszudrücken. (10) Futur continuum ist eine Zukunftsform (in G), die einen fortwährenden Zustand in der Zukunft benennt. (2.3, 5.1) Futur exactum ist eine Zukunftsform (in G), die eine zukünftige (einmalige) Handlung benennt. (2.3, 5.1) Ein Gattungsname gilt immer für viele gleiche Weltausschnitte: Rind - cow - bovin - β ό δ ι (vódi). ( Eigenname) (6.3) Gelingensregeln nenne ich Regeln, die man (schon als Kind) befolgen sollte, wenn man kommunikativ Erfolg haben will. ( Konstitutive Regeln, Regulative Regeln,) (3.4, 13.4, 13.5) Grammatikalisierung ist eine sprachliche Strategie, über die Inhaltswörter in Strukturwörter überführt werden: Aus mhd. wîle (‚Weile‘) werden Konjunktionen, in E while, in D weil. (5.1, 7.2, 12.11, 12.4, 12.5, 13.2, 13.3, 13.5) Granularität meint in der KL die Detailliertheit von Einzelbeobachtungen im Vergleich von Sprachen, gewissermaßen mit Lupe und Mikroskop. (2.2) Unterschiedliche Sprachen haben unterschiedliche Gravitationszentren: In germanischen Sprachen (D-E) gibt es z.B. die Tendenz, Wörter auf eine (Stamm-)Silbe zusammenzuschrumpfen, während in G einzelne (auch Nebenton-)Silben erhalten bleiben. (4.2, 13.1, 13.5) <?page no="246"?> 246 14 Glossar Hellenismos ist die Tendenz im antiken Griechenland, die eigene Kultur und Sprache gegen alle außergriechischen Tendenzen als überlegen zu behaupten: Alle anderen sind Barbaren! (2.1) Hochsprache ist (in einigen Ländern) eine mündliche und schriftliche Form von (National-)Sprache, die nur in sehr offiziellen Situationen gesprochen oder geschrieben wird. (4.3) Homonyme sind Wörter, die gleich lauten und (schriftlich) gleich aussehen, aber ganz Unterschiedliches bedeuten: „Mein Vater hat mir ein Schloss vererbt, aber den Schlüssel hat meine Schwester bekommen.“ (4.2, 5.1, 6.3, 7.3, 11.2, 12.1, 13.1, 13.2) Homophone sind Wörter, die gleich lauten. Dazu kommt es in einigen Sprachen aufgrund von Sprechgewohnheiten. Beispiel: in F wird sowohl âout als auch ou als [u] ausgesprochen. (4, 7.3, 13.2) Indoeuropäisch ist die größte Sprachfamilie der Welt, die zwischen Atlantik und Indien (mit relativ kleinen Lücken) gesprochen wird; weil im Osten Indien liegt und im Westen Germanien lag, heißt diese Sprachfamilie auch Indogermanisch. (1) Interkulturelle Kommunikation ist die Kommunikation zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen. Die interkulturelle Kommunikationswissenschaft beschäftigt sich mit den Bedingungen und Bedingtheiten des Sprechens und Verstehens zwischen unterschiedlichen Kulturen. (3.7) Interlinearversionen sind Übersetzungen, in denen ein Ausgangstext möglichst Wort für Wort übersetzt wird. Das galt (in Europa) hauptsächlich für religiöse Texte, die aus dem Lateinischen in eine Volkssprache übersetzt wurden. (2.2, 10.1, 11.1, 11.2, 12.2, 13.4) Koda ist der konsonantische Silbenauslaut. (4.2) Unter Kommunikationsradius versteht man die Reichweite der eigenen Kommunikationsmöglichkeiten. In mündlicher Sprache war er einmal erheblich geringer als in schriftlicher. Seit es neue, elektronische Kommunikationsformen gibt, sind diese Reichweiten allerdings ganz erheblich, nämlich weltweit ausgeweitet. (6.3, 13.2) Kompetenz ist in linguistischem Sinn das theoretisch mögliche Sprachvermögen eines Menschen, der von keinen menschlichen Schwächen, wie z.B. nachlassendem Gedächtnis oder mangelnder Aufmerksamkeit, beeinträchtigt ist. ( Performanz) (3.4, 13) Komposition ist die Zusammensetzung von zwei Wörtern zu einem neuen, nämlich zusammengesetzten Wort. (5.2) <?page no="247"?> 247 14 Glossar Kongruenz ist die grammatische Übereinstimmung zwischen verschiedenen Satzgliedern; ein Verb muss z.B. denselben Numerus haben wie das zugehörige Substantiv; Menschen braucht gehen, Mensch braucht geht. (9.2, 9.4) Konnotationen sind Wortbedeutungen, die normalerweise nicht im Wörterbuch stehen, sondern kulturell vermittelt sind. Eine Rose ist eine Blume; dass sie auch für ‚Liebe‘ steht, ist die Konnotation von Rose. ( Assoziation, Denotation) (6, 6.2, 6.3, 10, 11.2, 12.5) Konstitutive Regeln bringen Sprach- und andere Spiele hervor: Ohne diese Regeln gäbe es kein Schach- oder Fußballspiel, eben weil konstitutive Regeln diese Spiele erst hervorbringen. ( Gelingensregeln, Regulative Regeln) (3.4) Konstruktivität gehört zur Grundmöglichkeit menschlicher Sprache. Diese kann nämlich Welt nicht nur abbilden, sondern auch erschaffen. (3.1) Kopulaverben sind Verben, die nur mit einem zusätzlichen Prädikatsausdruck auftreten können (*Peter ist. - Peter ist allein / Maurer. (12) Kreolsprachen sind in den Sklavenhaltergesellschaften der Neuzeit entstanden: Wo sich mindestens zwei Menschen nicht in ihrer Muttersprache unterhalten konnten, bildeten sie sich eine neue Sprache, die für die alltägliche Kommunikation, aber auch sehr schnell zur Befriedigung aller anderen Kommunikationsbedürfnisse genügte, und deshalb auch als neue Muttersprache an die nächste Generation weitergegeben wurde. (3.6, 12) Kulturwissenschaftliche Linguistik legt ihren Schwerpunkt auf Pragmatik: Wie wird Sprache in unterschiedlichen Kulturen in jeweils vergleichbaren (mündlichen und schriftlichen) Situationen verwendet? (3.7) Latinitas (in der hier gebrauchten Verwendung) ist die reine lateinische Sprache, die es außerhalb der Hochliteratur im Jahrhundert um die Zeitenwende nur immer mal wieder als Utopie von der Reinheit einer Sprache gegeben hat. Zwei ihrer Hauptvertreter sind Cicero und Caesar. (2.1, 2.3) Eine Lexikalisierung hat stattgefunden, wenn ein (zusammengesetztes) Wort nicht mehr auf seine ursprüngliche Motivierung hin durchsichtig ist, sondern eine eigene Bedeutung angenommen hat, wie sie dann im Wörterbuch steht: Busbahnhof. Sie kann auch von einem Eigennamen ausgehen, der etwa zu einem Verb wird: röntgen. (5.2, 6.2, 7.3, 8.2) Lexikologie beschäftigt sich nicht nur mit dem Wortschatz einer Sprache, sondern vor allem auch mit der Struktur dieses Wortschatzes. (6) Eine lingua franca ist eine Sprache, die über alle nationalen Grenzen hinweg als tendenziell weltweites Kommunikationsmittel verwendet werden kann. Paradebeispiel war L, das in Europa länger als ein Jahrtausend in allen (nichtalltäglichen) <?page no="248"?> 248 14 Glossar Situationen gesprochen, geschrieben und verstanden wurde, obwohl es die längste Zeit Niemandes Muttersprache mehr war. (2.1) Ein Marker oder eine Markierung an einem Wort gibt zu erkennen, zu welcher grammatischen Kategorie die spezifische Wortform gehört bzw. welche nicht-lexikalische Bedeutung sie trägt, z.B. Plural, Vergangenheit. (2.2, 2.3, 7.2, 8.2, 12.1, 13.1, 13.3) Metasprache ist Sprache über Sprache und über Sprechen. ( Objektsprache) (3.4) Minimal inklusiv meint eine Wir-Äußerung, die tatsächlich nur den Angesprochenen und den Sprecher meint; also hier wären das: Sie und ich. (9.4) Eine Modalisierung perspektiviert eine Aussage: „Peter ist groß“ „Ich versichere / glaube / vermute / bezweifle / ..., dass Peter groß ist.“ (13.3) Morphologie beschäftigt sich mit den Regeln der Veränderlichkeit und Veränderbarkeit von Wortformen. Dabei geht es um die Möglichkeiten, einen Wortstamm seinen konkreten Verwendungsweisen im Satz in Wortart, Kasus, Numerus, Genus usw. anzupassen. (5.1, 11.2, 13.5) Mündlichkeit ist selbstverständlich die normalste Verwendungsmöglichkeit von Sprache. Sie hatte jahrtausendelang den größten Einfluss auf die Sprachentwicklung. ( Schriftlichkeit) (2,1, 3.5, 13.4) Non-Pro-Drop-Sprachen, zu denen D-E-F gehören, haben nicht die Möglichkeit, korrekte Sätze ohne hörbares Subjekt zu bilden. In D gilt nicht regnet, sondern nur Es regnet oder aber allerdings umgangssprachlich: Sregnet. ( Pro-Drop-Sprachen) (2.3, 9.1) Nukleus ist der vokalische Silbenkern. (4.2) Objektsprache ist die Sprache, die normale Menschen (wenn sie keine Linguisten sind) zu mindestens 99% verwenden, wenn sie sprechen, ohne sich über Sprechen oder Sprache selbst zu unterhalten. ( Metasprache). (3.4) Ökonomisierung meint in der Linguistik die Tendenz, dass Sprache von ihren Sprechern und Hörern immer mehr auf ihre Kommunikationsfähigkeit reduziert wird: Was ist wirklich nötig, um mich meinem Gegenüber verständlich zu machen? (3.6, 12, 12.5) Onset ist der konsonantische Beginn einer Silbe. (4.2) In einem Deklinations- oder Konjugationsparadigma sind im Höchstfall alle möglichen Formen eines Substantivs oder Verbs zusammengestellt. (5.1) <?page no="249"?> 249 14 Glossar Paratatikos ist (in G) eine Vergangenheitsform des Verbs. Mit ihr wird z.B. ein Vorgang benannt, der langandauernd war; eine ungefähre Entsprechung in D: „Das ganze letzte Jahr lebte ich in Frankfurt.“ ( Aorist) (5.1) Performanz ist die je aktuelle Sprach- und deshalb Sprechmöglichkeit eines Menschen, die allen menschlichen Schwächen und Bedingtheiten unterworfen ist. ( Kompetenz) Ein Phon ist in der Linguistik ein Laut, der in einer mündlichen Äußerung unterschieden werden kann und damit segmentierbar ist. ( Allophon, Phonem) (4) Ein Phonem ist eine bedeutungsunterscheidende abstrakte Einheit, die in einer Äußerung je individuell (als Phon) realisiert wird. ( Allophon, Phon) (4) Der Gegenstand der Phonetik sind die Phone, ihre Artikulation und ihre Verstehbarkeit im Sprechen von Sprachen. (4) Phonologie beschäftigt sich mit der (bedeutungsunterscheidenden) Funktion von Phonemen in menschlichen Sprachen. (4) Phonotaktik ist die Lehre davon, wie Silben und Silbenbestandteile in einer Sprache gebildet werden dürfen und wie nicht. (4) Phraseologie fragt nach Herkunft und Bedeutung von Phrasen, das sind feste Wortverbindungen (Redewendungen), die als solche eine andere Bedeutung haben als die Summe ihrer Einzelwörter. (11.1, 11.2) Pidginsprachen entstehen unter hohem kommunikativen Druck: Man muss (im Ausland) kommunizieren, um zu (über)leben, ohne aber Wörterbuch und Grammatik der verlangten Sprache zu beherrschen. Deshalb beschränkt man sich auf die Verwendung von möglichst einfachen Grundformen. Anders als Kreolsprachen entwickeln sich Pidginsprachen aber nicht zu Muttersprachen, sondern werden konstant als defektiv wahrgenommen. (12) Pragmatik befasst sich mit der Einbindung von Sprache in ihren jeweiligen kommunikativen Kontext und mit ihrer Rolle darin. (8, 13.1) Präsuppositionen sind Annahmen, die in sprachlicher Kommunikation vorausgesetzt werden. So präsupponiert der Satz „Klaus ist schön“, dass es überhaupt einen Klaus gibt. (11.2) Pro-Drop-Sprachen brauchen kein lexisches bzw. hörbares Subjekt. In G ist χ ιονίζει (chionízi) nicht nur möglich, sondern auch nicht anders erlaubt: Es gibt keine Möglichkeit eines extraverbalen Subjekts. ( Non-Pro-Drop-Sprachen) (2.3, 3.2, 7.2, 9.1, 11.2) <?page no="250"?> 250 14 Glossar Protoindoeuropäisch ist die Sprache, die nur erschlossen werden kann, aus der sich aber alle ide. Sprachen entwickelt haben. Zugrunde liegt dabei die Annahme, dass es eine Gruppe Menschen gab, die sich (vor vielleicht 5.500 Jahren und vielleicht nördlich des Schwarzen Meers und vielleicht aus Nahrungsmittelknappheit) „auseinandergelebt“ hat. (5, 6.2) Referentialität ist die Verbindung zwischen Sprache und Welt: Indem ich spreche, referiere ich auf etwas, d.h. benenne ich etwas, was Bestandteil der Welt ist. (3.1, 3.4, 6.3, 7.1, 7.3, 8.3, 13.3) Regulative Regeln regeln ein Verhalten, das es auch ohne sie gäbe: Essen würden wir, wenn wir etwas zu essen haben, auch ohne Tischmanieren, doch Tischmanieren machen es (in vielen kulturellen Kontexten) zivilisierter. ( Gelingensregeln, Konstitutive Regeln) (3.4) Die Relativitätstheorie (der Sprache) geht davon aus, dass wir Welt sprachlich erkennen, dass Sprache auch ein Wahrnehmungsorgan ist. Je nachdem, welche Sprache wir (als Muttersprache) verwenden, sieht die Welt so oder so aus. (2.1, 2.2) Schriftlichkeit hat, wenn es sie gibt, ganz erheblichen Einfluss auf die Entwicklung einer Sprache. Sie wirkt höchst konservativ, da sie die grundsätzliche Vergänglichkeit mündlicher Sprache aufhebt. ( Mündlichkeit) (2.1, 2.2, 3.3, 5.1,10) Sequenzialität ist ein unaufhebbares Universale menschlicher Sprache: Jede sprachliche Äußerung hat - anders als ein Bild - einen Anfang und ein Ende. (3.2, 4.2) Als Silbensprache bezeichnet man eine Sprache, die es sich nicht leisten kann, Silben zu verlieren, weil diese (z.B. in Deklinations- und Konjugationsparadigmen) als Akzentträger gebraucht werden. ( Wortsprache) (4.2, 13) Ein Skript ist so etwas wie eine (ungeschriebene) Regieanweisung für Alltagshandlungen und allgemein: Abläufe in Leben und Natur, die sich aus der Sequenzialität, dem natürlichen Lauf der Dinge, aber auch aus gesellschaftlichen und persönlichen Gewohnheiten ergibt. (8, 10.1) Sprachpurismus versucht, eine Sprache rein zu halten von fremdsprachlichem Einfluss. Sprachpuristen kommt es nicht auf unmittelbar gelingende Kommunikation an, sondern auf die Sprache selbst und ihre nationale identifikatorische Funktion. (3.6) Sprachtypologie klassifiziert Sprachen unter verschiedenen Gesichtspunkten, die weder historisch sind noch mit Verwandtschaft etwas zu tun haben. Es geht dabei z.B. um die Wortstellung im Satz oder das Phoneminventar. (3.2) <?page no="251"?> 251 14 Glossar Sprachwandel belegt, dass Sprache sich den jeweils aktuellen Kommunikationsbedürfnissen (und -radien) ihrer Sprecher und Hörer anpasst. Dabei spielt auch das je eigene Gravitationszentrum einer Sprache eine Rolle. (12) Ein Sprechakt ist das, was wir machen, wenn wir sprechen. Dabei geht es um mehr oder weniger dramatische Dinge wie beleidigen, verfluchen, verheiraten, zur Ministerin ernennen, aber selbstverständlich auch um weniger Auffälliges wie bitten, informieren, unterhalten. (3.1, 3.4, 5.1, 6.3, 8.1, 8.3, 13, 13.3) Sprechen ist die mündliche Verwendung von Sprache. Ob es der Sprache (die das System darstellt) vorausgeht oder ihr folgt, ist dieselbe Frage wie die nach der Priorität von Henne und Ei. Sprechgewohnheiten sind individuelle (mündliche) Sprachverwendungen, die sich in spezifischen Umgebungen herausbilden. Da Sprechen kommunikativ geschieht, passen sich Sprechgewohnheiten aneinander an, und Dialekte und Sprachen bilden sich heraus. (1, 4) Standardsprache wird zwischen Umgangssprache und Hochsprache verwendet, zwischen individuellen Aussprachegewohnheiten und sehr offiziellen Sprechanlässen bzw. schriftsprachlichen Gesetzmäßigkeiten. (4.3) Wenn zwei Sprachen (in welchen Kontexten auch immer) aufeinandertreffen, ist Substratsprache diejenige, die von der Superstratsprache dominiert wird. Dabei kann es zu durchaus recht komplizierten Verhältnissen kommen: So war Latein in vielen mittelalterlichen Verwendungsweisen europäischen Volkssprachen überlegen, und doch haben diese L zu Vulgärlatein „gemacht“. (2.3, 6.2, 8.1, 12) Suppletive Wortformen sind solche, die sich innerhalb eines Paradigmas nicht durch Flexion oder Derivation (Mensch - Menschen, mache - machte machbar) auseinander ergeben, sondern aus verschiedenen Stämmen entstanden sind: gehen / ging - go / went - aller / vais, irai - πηγαίνω / πάω (pijéno / páo). (5.1) Symbolizität ist die Eigenschaft menschlicher Sprache, in ganz beliebiger Weise etwas benennen zu können, ohne dass es einen Zusammenhang zwischen Benennung und Benanntem gibt. ( Falsche Freunde) (3.1) Eine synchronische Perspektive auf eine Sprache blendet deren Gewordensein aus, sondern beschäftigt sich ausschließlich mit ihrem Zustand zu einem bestimmten Zeitpunkt, ganz egal, wann sich dieser befand oder befindet. ( diachronisch) (2.2, 3.3, 3.4, 3.5) Syntax beschreibt die Regeln, nach denen wohlgeformte Sätze einer Sprache gebildet werden. (9, 11, 13) Synthetische Sprachen haben die Möglichkeit, viele (lexikalische, grammatische und damit auch syntaktische) Informationen in ein und demselben Wort unterzu- <?page no="252"?> 252 14 Glossar bringen. G ist eine synthetische Sprache, E nicht. ( analytische Sprachen). (3.2, 4.2, 5.2, 7.3) Tempus ist eine grammatische Kategorie des Verbs, mit deren Hilfe die Dimension Zeit ausgesagt wird. Dabei ist die consecutio temporum (Zeitenfolge; z.B. Vorvergangenheit - Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft) von Bedeutung; in deren Raster werden zeitliche Abläufe der Welt, meist in irgendeinem Sinn relational, sprachlich abgebildet. (5.1) Umgangssprache wird verwendet, wenn man nicht auf sprachliche Schön- oder Reinheit Wert legt und auch nicht unbedingt an seinen bisherigen Sprechgewohnheiten festhalten will, sondern sich einfach nur verständlich machen und verstehen will. (4.3) Sprachliche Universalien sind Eigenschaften menschlicher Sprachen, die allen menschlichen Sprachen gemeinsam sind; und nur, weil menschliche Sprachen diese Eigenschaften haben, sind sie menschliche Sprachen; drei Beispiele: Alle menschlichen Sprachen sind sequenziell ( Sequenzialität), haben Vokale und Konsonanten, konstituieren einige ihrer Wortbedeutungen arbiträr ( Symbolizität). (3.1, 3.5, 5.1) Weltwissen ist Wissen von der Welt, das man hat, weil man in der Welt lebt. In modernen Gesellschaften umfasst es auch (allerdings in nicht scharf gezogenen Grenzen) schriftlich oder über andere Medien oder übers Internet vermitteltes Wissen. (11.2, 12.4) Ein Wortfeld umfasst inhaltlich zusammengehörige Wörter. Man kann geschlossene und offene Wortfelder unterscheiden; zu den geschlossenen zählen etwa Schulnoten oder Farbwörter, zu den offenen gehören Bezeichnungen für Emotionen. (6, 8.3, 10.1) Wortsprachen tendieren dazu, lexische und grammatische Informationen in jeweils einzelnen Wörtern zu trennen. Deshalb sind sie auch analytische Sprachen; typische Beispiele sind D und vor allem E. ( Silbensprachen) (4.2, 13) <?page no="253"?> 15 Literaturverzeichnis Aarts, Bas (2011): Oxford Modern English Grammar, Oxford: University Press. Adelung, Johann Christoph (Hg.) (1811): Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen, 4 Bde., 3. Auflage, ergänzt durch Dietrich Wilhelm Soltau und Franz Xaver Schönberger, Wien: Bauer. [http: / / lexika.digitale-sammlungen.de/ adelung/ online/ angebot] Alexiadis, Georgios (2008): Zwischensprachliche Interferenzerscheinungen innerhalb der kontrastiven Linguistik und der Neurolinguistik am Beispiel Deutsch- Neugriechisch, Diss. Augsburg. 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Kap. 6.1, Abb. 13 (Rinder) (03.10.15): a) http: / / falk-kulinarium.de/ wordpress/ flank-steak-mit-sauce-bernaise/ b) http: / / www.metzgerei-kohnen.de/ html/ rind.html c) http: / / www.grillsportverein.de/ forum/ threads/ schnittanweisung-fuermetzger-zumchneiden-von-flanksteak.141659/ d) http: / / masterman535.hubpages.com/ hub/ Diagram-of-How-to-Butcher-a- Beef-Cow e) http: / / www.cuisine-astuce.com/ wp-content/ uploads/ 2009/ 01/ decoupe_vache.gif f) http: / / www.laboucheriederivotte.fr/ Boeuf-1-fr g) http: / / www.mama365.gr/ 17109/ gnoriste-ta-merh-toy-kreatos-kaimathetepos-mageirefontai.html h) http: / / paliouras.moudania.com/ mosxari.html Kap. 6.1 (Schnee auf Schottisch): http: / / www.n-tv.de/ wissen/ Schottenuebertreffen-die-Inuit-article15995941.html (24.09.15; 09.01.16). 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Kap. 12.2 (Küssende): http: / / www.n-tv.de/ panorama/ Hunderte-Paare-kuessensich-auf-Times-Square-article15726461.html (14.08.15; 09.01.16). Kap. 13.2, FN 2 (Ingo Insterburg): http: / / www.volksfreund.de/ nachrichten/ region/ mosel/ aktuell/ Heute-in-der- Mosel-Zeitung-Zw-246-lf-Punkte-f-252-r-den-Virtuosen; art671,1643171 (03.03.2008; 09.01.16). Kap. 13.2 (Chinesisches Wörterbuch): www.chinesisch-lernen.org (09.01.16). Kap. 13.4, FN 6 (Madrider An- und Rücktritt): http: / / www.sueddeutsche.de/ kultur/ schauplatz-madrid-schluss-mit-lustig- 1.2523169 (16.06.15; 09.01.16) und: http: / / www.welt.de/ politik/ ausland/ article142552698/ Politiker-tritt-nachantisemitischem-Tweet-zurueck.html (16.06.15; 09.01.16). <?page no="264"?> Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de JETZT BES TELLEN! JETZT BES TELLEN! Natascha Müller, Laia Arnaus Gil, Nadine Eichler, Jasmin Geveler, Malin Hager, Veronika Jansen, Marisa Patuto, Valentina Repetto, Anika Schmeißer Code-Switching Spanisch, Italienisch, Französisch. Eine Einführung narr studienbücher kartoniert 2015, 373 Seiten €[D] 39,00 ISBN 978-3-8233-6433-7 Code-Switching ist ein Sprachstil, der sich durch das Mischen mehrerer Sprachen auszeichnet und wie jeder andere Sprachstil pragmatischen und syntaktischen Beschränkungen unterliegt. Während LinguistInnen Code-Switching als Indiz für einen hohen Beherrschungsgrad der Sprachen ansehen, wird das Sprachenmischen vom Laien als Kompetenzmangel wahrgenommen. Dies ganz besonders bei Kindern, welche im vorliegenden Werk im Vordergrund stehen. Die Einführung legt dar, dass bilinguale Kinder schon sehr früh, im Alter von zwei Jahren, die pragmatischen und syntaktischen Regularitäten des Code-Switching beherrschen. Sie tun dies selbst dann, wenn ihre Sprachentwicklung nicht in beiden Sprachen gleich schnell vonstattengeht. narr studienbücher gebunden 2015, 373 Seiten €[D] 68,00 ISBN 978-3-8233-6962-2 <?page no="265"?> Seit 30 Jahren ist keine deutschsprachige Einführung in die Kontrastive Linguistik mehr erschienen. In diesem Buch für Studienanfänger, aber auch für fortgeschrittene Lerner werden verschiedene Sprachen, vor allem Deutsch, Englisch, Französisch und Griechisch, auf allen sprachlichen Ebenen kontrastiv miteinander verglichen. Der Band spannt einen Bogen von der Phonologie über Morphologie und Wortbildung, Lexik und Semantik bis zur Pragmatik und Syntax. Auch die Übersetzungsproblematik wird erörtert sowie der Frage nachgegangen, wie in unterschiedlichen Sprachen die (kommunikativen) Lasten zwischen Sprecher und Hörer verteilt sind. ISBN 978-3-8233-8016-0